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German Pages 326 [331] Year 1999
Kronberger Kreis sammelten sich evangelische Persönlichkeiten aus
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verschiedenen Bereichen des öffentlichen Lebens. Der Kreis bestand von 1951 bis zum Ende der siebziger Jahre. Angesichts des Mangels an demokratischer Tradition bei den deutschen Protestanten sollte eine doppelte Lobbytätigkeit entfaltet werden: zur Stabilisierung des evangelischen Einflusses in der vermeintlich katholisch dominierten Bundesrepublik und zur Stabilisierung der Bundesrepublik mittels Unterstützung der CDU-Politik in den fünfziger und sechziger Jahren. Die Geschichte des Kronberger Kreises ist ein Beispiel für den Wandel politischer und wirtschaftlicher Leitbilder im konservativprotestantischen Spektrum der westdeutschen Gesellschaft.
Thomas Sauer ist Historiker
Oldenboun
Sauer
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Westorientierung im deutschen Protestantismus?
Ordnungssysteme Studien zur
Ideengeschichte der Neuzeit
Herausgegeben von Dietrich Beyrau, Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael Band 2
R.Oldenbourg Verlag München 1999
Thomas Sauer
Westorientierung
im deutschen Protestantismus? Vorstellungen und Tätigkeit des Kronberger Kreises
R.Oldenbourg Verlag München 1999
Die Deutsche Bibliothek
CIP Einheitsaufnahme -
Sauer, Thomas:
Westorientierung im deutschen Protestantismus? : Vorstellungen und Tätigkeit des Kronberger Kreises / Thomas Sauer. München : Oldenbourg, 1999 (Ordnungssysteme ; Bd. 2) -
ISBN 3-486-56342-4
© 1999 R. Oldenbourg Verlag GmbH, München Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Internet: http://www.oldenbourg.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen.
Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf Titelbild: Roman Clemens: Spiel aus Form, Farbe, Licht und Ton (1929) © Theaterwissenschaftliche Sammlung, Universität zu Köln Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht). Gesamtherstellung: R. Oldenbourg Graphische Betriebe, München ISBN 3-486-56342-4
Inhalt Vorwort.
Einleitung
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I. Der Protestantismus in der Nachkriegszeit II. Der Kronberger Kreis 1. 2. 3. 4.
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Die Vorgeschichte Die Gründung des Kronberger Kreises Die Denkschrift zur Wiederbewaffnung. Die weitere Entwicklung des Kronberger Kreises. .
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geistige Profil des Kronberger Kreises: Christlichkonservative Protestanten in der Bundesrepublik Deutschland
VII 1
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III. Das
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1. Demokratie und Parteien. 2. Die Deutsche Frage, Europa und die internationalen Beziehungen 3. Wirtschafts- und Sozialpolitik.
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Öffentlichkeit.
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Die Evangelischen Akademien Der Deutsche Evangelische Kirchentag. Die evangelische Publizistik. Der evangelische Arbeitskreis der CDU.
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V. Resümee: Der Kronberger Kreis vor dem Hintergrund des Selbstverständnisses der Bundesrepublik Deutschland.
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Abkürzungen.
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Quellen und Literatur
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IV. Schnittstellen
1. 2. 3. 4.
Personenregister
zur
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Vorwort Zur Entstehung dieses Buches haben über einen langen Zeitraum viele beigetragen, und deshalb gilt es Dank zu sagen. Die Studie entstand im Rahmen des Forschungsprojektes „Westernization" am Seminar für Zeitgeschichte der Universität Tübingen. Dem Projektleiter, Professor Dr. Anselm Doering-Manteuffel, gilt mein erster Dank. Er hat die Untersuchung angeregt und von der Konzeptionsphase bis zur Drucklegung betreut. Die gemeinsame Forschungsarbeit mit ihm und meinen Kollegen Dr. Gudrun Kruip und Dr. Michael Hochgeschwender fand stets in einer persönlich freundlichen und wissenschaftlich anregenden Atmosphäre statt. Allen, die bei der Erschließung der Quellen geholfen haben, möchte ich ebenfalls meinen Dank aussprechen: Frau Dr. Blumenberg-Lampe im Archiv für Christlich-Demokratische-Politik in St. Augustin, die mit beträchtlichem persönlichem Einsatz meine Recherchen im Nachlaß Otto A. Friedrichs und in den Beständen des Evangelischen Arbeitskreises der CDU/CSU unterstützt hat; Herrn Dr. Otte, der mich bei den Nachforschungen im Landeskirchlichen Archiv der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannover betreut hat, sowie allen Mitarbeitern in deutschen und amerikanischen Archiven, die durch ihre zuvorkommende Hilfsbereitschaft die Suche nach neuen Quellen ermöglicht oder erleichtert haben. Ein besonderes Wort des Dankes gilt Rechtsanwalt Dr. Gerold Küster. Er hat mir die Tagebucheintragungen seines Vaters, Otto Küster, über die Treffen des Kronberger Kreises nicht nur zugänglich gemacht, sondern auch erschlossen und in transkribierter Form zur Verfügung gestellt. Sehr hilfreich waren die Gespräche, die ich mit den Zeitzeugen führen konnte, die sich freundlicherweise dafür Zeit genommen haben. Für zahlreiche weiterführende Hinweise danke ich Professor Dr. Martin Greschat und Dr. Hans Bolewski, mit dem ich ausführlich über das Umfeld Hanns Liljes und die Akademiearbeit in Loccum sprechen konnte. Eine große Hilfe waren die Diskussionen im Tübinger zeitgeschichtlichen Oberseminar und die anregenden Debatten der Projektworkshops. Darüber hinaus sei all jenen Freunden und Kollegen gedankt, mit denen ich das Thema immer wieder diskutiert habe und die mir über manche „Klippe" hinweggeholfen haben. Die mühselige Arbeit des Korrekturlesens haben in vorbildlicher Weise Dr. Michael Hochgeschwender, Dr. Ralf Vollmuth und Dr. Torsten Oppelland auf sich genommen. Ihrer akribischen Durchsicht des Manuskripts hat die Druckfassung viel zu verdanken. Ein weiterer herzlicher Dank geht an die VW-Stiftung, die das „Westernization"-Projekt finanziert und auch den Druck der vorliegenden Studie erst möglich gemacht hat.
Jena, im April 1998
Thomas Sauer
Einleitung Wie kein anderes Land in Europa ist Deutschland seit der Reformation von konfessionellen Gegensätzen geprägt worden. Das spannungsvolle Mit- und Gegeneinander von Protestantismus und Katholizismus hat tiefe Spuren in der deutschen Geschichte hinterlassen. Als religiöse, geistige und gesellschaftlich wirksame Phänomene haben die beiden großen Konfessionen über Jahrhunderte hinweg bedeutenden Einfluß auf die Entwicklung Deutschlands ausgeübt. Diese Tatsache ist weithin unbestritten. In den Publikationen zur Zeitgeschichte, insbesondere zur Geschichte der Bundesrepublik, sind konfessionelle Aspekte bisher aber nur wenig berücksichtigt worden.' Der Schwerpunkt der kirchlichen Zeitgeschichtsforschung2 liegt bis heute auf Untersuchungen zum Kirchenkampf während des Dritten Reiches, und von der „allgemeinen" Geschichtswissenschaft wurden religiös-konfessionelle Themen selten aufgegriffen. Wir besitzen deshalb nur spärliche Kenntnisse darüber, wie Religion und Konfessionalität3 auf die politisch-gesellschaftlichen Veränderungen der fünfziger und sechziger Jahre eingewirkt haben, wie gewichtig ihr Einfluß war und welchen Transformationsprozessen sie selbst dabei unterworfen gewesen sind. Schon die Ausgangslage war neu. Die Gewichte zwischen den Konfessionen hatten sich in der neugegründeten Bundesrepublik verschoben. Erstmals seit Gründung des Kaiserreichs herrschte in einem deutschen Staat konfessionelle Parität zwischen Protestanten und Katholiken. Zahlreiche Evangelische glaubten
') Darauf ist wiederholt hingewiesen worden; vgl. zuletzt Anselm Doering-Manteuffel: Deutsche Zeitgeschichte nach 1945. Entwicklungen und Problemlagen der historischen Forschung zur Nachkriegszeit, in: VfZ 41 (1993), S.l-29, hier S.22. Ders.: Entwicklungslinien und Fragehorizonte in der Erforschung der Nachkriegsgeschichte, in: Adenauerzeit. Stand, Perspektiven und methodische Aufgaben der Zeitgeschichtsforschung ( 1945— 1976) (Rhöndorfer Gespräche, Bd. 13), Bonn 1993, S.6-30, hier S.22f. Siehe auch Joachim Mehlhausen: Widerstand und protestantisches Ethos. Eine historische Skizze, in: Christliches Ethos und der Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Europa, hg. von Anselm Doering-Manteuffel und Joachim Mehlhausen (KuG, Bd.9), Stuttgart-Berlin-Köln 1995, S. 17-33, hier S.29. 2) Zur kirchlichen Zeitgeschichte siehe das folgende Kapitel. Dort im Anmerkungsapparat ist auch die einschlägige Forschungsliteratur zur Bundesrepublik besprochen. Einen Forschungs- und Literaturbericht bietet Clemens Vollnhals: Kirchliche Zeitgeschichte nach 1945. Schwerpunkte, Tendenzen, Defizite, in: Christentum und politische Verantwortung. Kirchen im Nachkriegsdeutschland, hg. von Jochen-Christoph Kaiser und Anselm DoeringManteuffel (KuG, Bd.2), Stuttgart-Berlin-Köln 1990, S. 176-191. 3) Entgegen manchem Vorurteil sind Religion und Konfessionalität auch in weitgehend säkularisierten Gesellschaften noch relevante Größen. Im Wahlverhalten der Deutschen lassen sich beispielsweise konfessionelle Prägungen bis weit in die siebziger Jahre nachweisen. Vgl. dazu Karl Schmitt: Konfession und Wahlverhalten in der Bundesrepublik Deutschland (Ordo Politicus, Bd. 27), Berlin 1989. Zu politikwissenschaftlichen Zugängen zum Themenkomplex Kirche und Politik siehe die Literaturübersicht in dem einleitenden Aufsatz kein Thema von Göttrik Wewer: Politische Funktion und politischer Einfluß der Kirchen für die Politikwissenschaft der Bundesrepublik? in: Die Kirchen und die Politik, hg. von dems. und Heidrun Abromeit, Opladen 1989, S.3^t6. -
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Einleitung
deshalb, der Protestantismus habe seine dominierende kulturelle und gesellschaft-
liche Stellung, die er nach 1871 errungen und auch nach dem Untergang der Monarchie bewahrt hatte, an den Katholizismus verloren. Ihnen schien es so, als sei mit den Unionsparteien der politisch bestens organisierte Katholizismus zur Macht gekommen. Wie reagierten die Protestanten auf die objektiv wie subjektiv so grundsätzlich veränderte Situation? Wie haben sie ihren Platz in dem neuen Staatswesen gefunden und behauptet? Die Antwort auf diese Fragen hängt maßgeblich davon ab, wie die Entwicklung des Protestantismus seit dem Kaiserreich eingeschätzt wird. Die wissenschaftliche Fachliteratur und die historisch-politische Publizistik haben ein Geschichtsbild entworfen, das trotz differenzierter Interpretationen etwa bei Thomas Nipperdey, Martin Greschat oder Kurt Nowak insgesamt einen Protestantismus zeigt, der sich zwischen 1871 und 1945, in mehr als einem dreiviertel Jahrhundert, nur wenig veränderte. Er wird in der Nachkriegshistoriographie beinahe ausschließlich als ein konservativer, herrschaftsstabilisierender und vielfach antidemokratischer Faktor in der deutschen Geschichte gesehen und somit einer negativen Kontinuitätslinie zugeordnet, die mehr oder weniger direkt von Bismarck zu Hitler geführt habe. Dieser Befund ist das Ergebnis einer grundsätzlichen Neubewertung des Protestantismus, die im Zusammenhang mit der Revision des kleindeutsch-borussischen Geschichtsbildes erfolgte und mit der die bis dahin gültigen Urteile quasi umgekehrt wurden. Galt protestantische Tradition bei den Historikern des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts mit wenigen Ausnahmen noch als Höhepunkt und Vollendung preußisch-deutscher Geschichte, so wurde sie bei der Suche nach den Ursachen des Nationalsozialismus zum konstitutiven Bestandteil einer deutschen Kultur und Geschichte uminterpretiert, die tiefreichende Fehler und Defizite aufgewiesen und in die „deutsche Katastrophe"4 geführt habe. Dieser Umbruch in der Bewertung des Protestantismus hat sich in der Historikerzunft allerdings erst im Laufe der sechziger Jahre zunehmend durchgesetzt. Die nach 1945 vielfach geforderte Revision des deutschen Geschichtsbildes war bis dahin nicht eingelöst worden.5 Stattdessen hatte zunächst eine Sicht dominiert, für die exemplarisch Gerhard Ritter, der Doyen der deutschen Geschichtswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg, stehen kann. Ritter betonte aufgrund seines tief verankerten kleindeutsch-borussischen Geschichtsbewußtseins, daß die preußisch-deutsche Entwicklung auch ihre „guten" Seiten besessen habe, obwohl selbst er den Werdegang Deutschlands seit Mitte des 19. Jahrhunderts inzwischen kritischer beurteilte.6 Die von der „Fischer-Kontroverse" um die deutschen -
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Friedrich Meinecke: Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen, Wiesbaden 31947. 5) Vgl. Winfried Schulze: Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, München 1993, S.302-311. Ebd. S.46L, Anm.2, sind die zahlreichen Werke der politisch-publizistischen Literatur aus den ersten Nachkriegsjahren aufgeführt, in denen versucht wurde, einen Irrweg der gesamten deutschen Geschichte der Neuzeit aufzuzeigen. Da sie weder methodisch noch konzeptionell überzeugen konnten, übten sie keine dauerhafte Wirkung aus. 6) Offensichtlicher noch als in seinen historischen Werken tritt der Versuch Ritters, preußisch-deutsche Traditionen für die Bundesrepublik fruchtbar zu machen, in einer Rede hervor, die er anläßlich des Tages der Deutschen Einheit 1955 vor dem Bundestag hielt. Ritter
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Einleitung
Kriegsziele im Ersten Weltkrieg ausgelöste Debatte um die Kontinuitätslinien der
deutschen Geschichte vom Kaiserreich zum Nationalsozialismus beinhaltete einen Generalangriff auf das von Ritter vertretene Geschichtsbild.7 Die Auseinandersetzung wurde nicht zuletzt deshalb mit großer Heftigkeit geführt.8 In der Argumentation Fritz Fischers, der im Laufe der Kontroverse seine Thesen zusehends verschärfte,9 nahm der Protestantismus als eigentlicher Träger der negativen Kontinuitätslinie der deutschen Geschichte eine zentrale Stelle ein.10 Diese Bewertung
sprach von den „besten und wertvollsten Überlieferungen deutscher Geschichte", zu denen „die selbständige Entwicklung deutscher Freiheitsideale" gehöre und fuhr fort: „Der Staat ist politische Volksgemeinschaft, die sich als sittliche Gemeinschaft freier Volksgenossen zu bewähren hat; die Freiheit ist freiwillige Hingabe zum Dienst an solcher Gemeinschaft,
in der allein sich der Mensch als sittliches Wesen vollendet und damit erst zur Persönlichkeit im höheren Sinne reift." (Gerhard Ritter: Von der Unteilbarkeit deutscher Vaterlandsliebe, in: Bewährung im Widerstand. Gedanken zum deutschen Schicksal, hg. von Wolfgang Schütz, Stuttgart 1956, S.23-40, hier S.35f.). 7) Der Begriff „Fischer-Kontroverse" wurde nach Imanuel Geiss von Gerhard Ritter geprägt (Imanuel Geiss: Die manipulierte Kriegsschuldfrage, in: MGM 34 [1983], H. 2, S.3160, hier S.50, Anm. 1). Die wichtigsten Texte sind abgedruckt bei Ernst W. Lynar (Hg.): Deutsche Kriegsziele 1914—1918. Eine Diskussion, Frankfurt a.M. 1964. Zum Gang der Debatte siehe: Gregor Schöllgen: Griff nach der Weltmacht. 25 Jahre Fischer Kontroverse, in: HJ 106 (1986), S.386-406. Arnold Sywottek: Die Fischer-Kontroverse. Ein Beitrag zur Entwicklung des politisch-historischen Bewußtseins in der Bundesrepublik, in: Deutschland in der Weltpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts. Fritz Fischer zum 65. Geburtstag, hg. Imanuel Geiss: von Imanuel Geiss und Bemd Jürgen Wendt, Düsseldorf 1973, S. 19-47. Studien über Geschichte und Geschichtswissenschaft, Frankfurt a.M. 1972. 8) Das religiös-geschichtliche Bewußtsein der Hauptkontrahenten Ritter und Fischer dürfte eine bedeutende, bisher nur wenig beachtete Rolle gespielt haben. Beide waren in der evangelischen Kirche verwurzelt. Ritter entstammte einem Pfarrhaus und war lange Jahre Mitglied der badischen Landessynode. Fischer, in Bayern geboren und der „süddeutsch-föderalistischen Kulturwelt" verbunden, studierte neben Geschichte auch Theologie und promovierte zum Lie. Theol. Seine historische Dissertation trägt den Titel: „Moritz August von Bethmann Hollweg und der deutsche Protestantismus". In seinem Vortrag vor dem 20. Deutschen Historikertag 1949 in München ordnete Fischer die reformiert-kalvinistische Tradition den westeuropäischen Verfassungsstaaten mit ihrem „Pathos der Freiheit" zu, die deutsch-lutherische dagegen dem „Pathos des Gehorsams" und kam zu dem Schluß: „Von einem solchen Aspekt her stellt sich die Geschichte der Beziehung von Religion und Politik im protestantischen Deutschland des 19. Jahrhunderts als ein einziger Fehlweg dar." (Fritz Fischer: Der deutsche Protestantismus und die Politik im 19. Jahrhundert, in: Ders.: Der Erste Weltkrieg und das deutsche Geschichtsbild. Beiträge zur Bewältigung eines historischen Tabus. Aufsätze und Vorträge aus drei Jahrzehnten, Düsseldorf 1977, S.47-88). Zu Fischer vgl. die Einleitung von Imanuel Geiss und Bernd Jürgen Wendt in: Deutschland in der Weltpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts. Fritz Fischer zum 65. Geburtstag, hg. von Imanuel Geiss und Bernd Jürgen Wendt, Düsseldorf 1973, S.9-17; zum Lebenslauf Ritters siehe Klaus Schwabe: Zur Einführung: Gerhard Ritter Werk und Person, in: Gerhard Ritter: ein politischer Historiker in seinen Briefen, hg. von Klaus Schwabe und Rolf Reichardt, Boppard 1984, S. 1-170. 9) Siehe v.a. den Aufsatz von Fritz Fischer: Der Stellenwert des Ersten Weltkrieges in der Kontinuitätsproblematik der deutschen Geschichte, in: HZ 229 ( 1979), S. 25-53, sowie dessen Monographie: Bündnis der Eliten. Zur Kontinuität der Machtstrukturen in Deutschland 1871-1945, Düsseldorf 1979. 10) Vgl. Martin Greschat: Weder Neuanfang noch Restauration. Zur Interpretation der Deutschen Evangelischen Kirchengeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Protestanten in der Zeit. Kirche und Gesellschaft in Deutschland vom Kaiserreich bis zur Gegenwart, hg. von Jochen-Christoph Kaiser, Stuttgart-Berlin-Köln 1994, S. 154-179, hier S. 161f. -
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Einleitung
veränderte sich auch nicht, als im Gefolge der „Fischer-Kontroverse" allmählich sozial- und strukturgeschichtliche Ansätze in das Methodenrepertoire der Geschichtswissenschaft aufgenommen wurden. Die Sozialgeschichte" zog einen allgemeinen Religionsbegriff12 heran und nahm den Protestantismus unter modernisierungstheoretischem Blickwinkel in der Regel ebenfalls als ausschließlich rückwärtsgewandtes Widerstandspotential gegen die Moderne wahr.'3 In der Sonderwegsdebatte, der durch die „Fischer-Kontroverse" der Weg bereitet worden war, wurde die negative Kontinuitätslinie endgültig zum zentralen Strang deutscher Geschichte erklärt.14 Eine Reihe von (im weitesten Sinne) liberalen Historikern des angloamerikanischen Sprachraums hatte die These eines Abweichens der deutschen Entwicklung vom Muster der übrigen westlich-liberalen Staaten zuerst vertreten, und in den siebziger Jahren wurde sie nach und nach in Deutschland rezipiert. Die Unfähigkeit, eine liberale Demokratie nach westlichem Vorbild hervorzubringen, betrachteten die „Sonderwegshistoriker" als das eigentliche Defizit der deutschen Vergangenheit. Diese verhängnisvolle Fehlentwicklung sei geradezu zwangsläufig auf die nationalsozialistische Machtergreifung zugelaufen. Verfechter der Sonderwegsthese begriffen die deutsche Geschichte vornehmlich als Vorgeschichte Hitlers; als genuin deutsch betrachtete Traditionen wurden teil-
") Vgl. Wolfgang Schieder: Religion in der Sozialgeschichte, in: Sozialgeschichte in Deutschland. Entwicklung und Perspektiven im internationalen Zusammenhang, Bd.3. Soziales Verhalten und soziale Aktionsformen in der Geschichte, hg. von Wolfgang Schieder und Volker Sellin, Göttingen 1987, S.9-31. 12) Der allgemeine Religionsbegriff versteht unter Religion alle subjektivistischen, der Befriedigung innerweltlicher menschlich-psychologischer Bedürfnisse dienenden Sinndeutungsversuche. Die soziologischen Grunddeterminanten solcher sinnstiftenden Gedankensysteme können von Historikern untersucht werden. Ihre Inhalte treten dagegen hinter dem Bestreben zurück, Religion möglichst umfassend zu definieren. Deshalb können moderne Ideologien wie Nationalismus oder Faschismus unter dem Blickwinkel eines allgemeinen Religionsbegriffs ebenso als religiöse Phänomene verstanden werden, wie etwa die monotheistischen Weltreligionen. Vgl. zur Kritik am allgemeinen Religionsbegriff der Sozialgeschichte Wolfgang Altgeld: Katholizismus, Protestantismus, Judentum. Über religiös begründete Gegensätze und nationalreligiöse Ideen in der Geschichte des deutschen Nationalismus (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe B, Bd.59), Mainz 1992, S. 13-18. 13) Das gilt gleichermaßen auch für den Katholizismus. Wenn das Säkularisierungstheorem als Teil einer umfassenden Modernisierungstheorie in ersten Linie als Entchristlichungsund Entkirchlichungsprozeß verstanden wird, läßt es keine andere Sichtweise der Kirchen und Konfessionen zu, denn dann ist allein schon die Existenz und mehr noch der Selbstbehauptungswille von Religionsgemeinschaften per se ein antimodernes Phänomen. Vgl. W. Altgeld: Katholizismus, Protestantismus, Judentum, S. 18-24. '") Zur Sonderwegsdebatte vgl. Helga Grebing: Der „deutsche Sonderweg" in Europa 1800-1945. Eine Kritik, Stuttgart-Berlin u.a. 1986. Bernd Faulenbach: „Deutscher Sonderweg". Zur Geschichte und Problematik einer zentralen Kategorie des deutschen geschichtlichen Bewußtseins, in: APuZ 33/1981, S.3-21. Ders.: Ideologie des deutschen Weges. Die deutsche Geschichte in der Historiographie zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München 1980. Deutscher Sonderweg Mythos oder Realität. Kolloquien des Instituts für Zeitgeschichte, München-Wien 1982. David Blackbourn/Geoff Eley: Mythen deutscher Geschichtsschreibung. Die gescheiterte bürgerliche Revolution von 1848, Frankfurt a.M.-Berlin-Wien 1980. Siehe auch Nicolai Hammersen: Politisches Denken im deutschen Widerstand. Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte neokonservativer Ideologien 1914-1944 (Beiträge zur Politischen Wissenschaft, Bd.67), Berlin 1993, S.90, Anm.49. -
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weise zurückgreifend bis in die Zeit der Reformation als Wurzel einer deutschen Pathologie ausgemacht, Bismarck, sogar Luther zu „Steigbügelhaltern" Hitlers erklärt. Zwar wird die Sonderwegsthese nach intensiver (geschichts- und politik-) wissenschaftlicher Debatte in den späten siebziger und zu Beginn der achtziger Jahre heute kaum noch uneingeschränkt aufrechterhalten,15 die eingehende Beschäftigung der damit zusammenhängenden Einzelfragen hat aber auf ideengeschichtlichem Gebiet Erkenntnisse zu Tage gefördert, die als Charakteristika eines spezifisch deutschen „Sonderbewußtseins"16 Eingang in die Literatur gefunden haben. Dieses Sonderbewußtsein wurde wiederum vornehmlich protestantischkonservativen Eliten zugeschrieben. Am Ende der hier nur kurz umrissenen Forschungsdebatten war ein Bild des Protestantismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert entstanden, das knapp zusammengefaßt etwa so aussah: Der Protestantismus erlebte im Deutschland des 19. Jahrhunderts einen steten Aufstieg und ein Anwachsen seiner gesellschaftlichen Bedeutung. Mit dem Sieg Preußens über das katholische Österreich 1866 und der Reichsgründung nach dem deutsch-französischen Krieg im Jahr 1871 etablierte sich ein Staat als Vormacht in Deutschland, der in dezidiert protestantischer Tradition stand. Schon die preußischen Reformen zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatten sich nicht zuletzt religiös begründet,17 und für die nationale Einheitsbewegung gehörten Christentum und Protestantismus mit Germanen- bzw. Deutschtum eng zusammen. Die beständig stärker werdende Betonung dieser Verbindung nach 1871 führte dann dazu, daß sich das sogenannte nationalprotestantische Paradigma herausbildete18, worin deutsch und protestantisch nun untrennbar miteinander verknüpft waren und in übersteigerter Form sogar in eins fallen konnten; evangelisch und deutsch, Thron und Altar, Kaisertum, Deutsches Reich und Protestantismus wurden mehr und mehr miteinander identifiziert.19 In der Geschichtsinterpretation der kleindeutsch-
15) Vgl. Wolfgang Bergem: Tradition und Transformation. Eine vergleichende Untersuchung zur politischen Kultur in Deutschland, Opladen 1993, S.73-75. Zum Gang der Debatte siehe die Einleitung von GeoffEley zu seinem Buch: Wilhelminismus, Nationalismus, Faschismus. Zur historischen Kontinuität in Deutschland (Theorie und Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, Bd.3), Münster 1991, S. 15-30. 16) Karl Dietrich Bracher hat diesen Begriff bei einem 1982 durchgeführten Kolloquium des Instituts für Zeitgeschichte geprägt und der Sonderwegsthese entgegengestellt. Vgl. das Referat Brachers in: Deutscher Sonderweg, S.46-53, hier S.46. 17) Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat, -
München 41987,S.436. 18) Günther van Norden: Der deutsche Protestantismus. Zwischen Patriotismus und Bekenntnis, in: Kirchen in der Diktatur. Drittes Reich und SED-Staat, hg. von Günther Heydemann und Lothar Kettenacker, Göttingen 1993, S.88-108, hier S. 104. 19) Vgl. F. Fischer: Der Stellenwert des Ersten Weltkrieges, S.46f. Thomas Nipperdey: Religion im Umbruch. Deutschland 1870-1918, München 1988, S.94. Thomas M. Gauly: Konfessionalismus und politische Kultur in Deutschland, in: APuZ 20/1991, S.45-53, hier S.47. Karl Kupisch: Die Wandlungen des Nationalismus im liberalen deutschen Bürgertum, in: Volk Nation Vaterland. Der deutsche Protestantismus und der Nationalismus, hg. von Horst Zillessen (Veröffentlichungen des SWI, Bd.2), Gütersloh 1970, S.111-134, hier S. 125-127. -
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Einleitung
borussischen Historiker, die dieses Paradigma in ihren Werken verbreiteten,20 hatte Preußen seine weltgeschichtliche Aufgabe in der Einigung Deutschlands unter protestantischer Vorherrschaft erfüllt. Der Katholizismus wurde in dieser Deutung der damaligen „Zeitgeschichte" nur durch die antikatholische Brille als Widerpart gegen den nationalen Aufstieg Deutschlands wahrgenommen.21 Durch die tatsächliche politische Entwicklung scheinbar bestätigt, wurden Droysen, Sybel und vor allem Heinrich von Treitschke22 zu den populärsten Historikern für die protestantische Führungsschicht des Kaiserreichs,23 während ein Autor wie der katholische Exil-Hannoveraner Onno Klopp bestenfalls in extrem föderalistischen oder partikularistischen katholischen Kreisen Süddeutschlands Leser fand.24 Beeinflußt von der älteren, zum Teil aus der französischen Aufklärung stammenden und in der deutschen Nationalbewegung weitertradierten Idee der Nation, verbunden mit Hegelscher Staatsmetaphysik mutierte das kleindeutsch-protestantische Geschichtsbild zur „nationalprotestantischen Geschichtstheologie".25 Staat und Nation erhielten religiöse Weihe; kaiserlicher Herrschaft und staatlicher Obrigkeit wurde göttlich sanktionierte Legitimität zugeschrieben,26 das Bündnis von Thron Dieses Geschichtsbild ist auch im damaligen Geschichtsunterricht vermittelt worden, der im 19. Jahrhundert vielfach noch von Theologen gegeben wurde; vgl. Klaus Scholder: Neuere deutsche Geschichte und protestantische Theologie. Aspekte und Fragen, in: Ders..Die Kirchen zwischen Republik und Gewaltherrschaft, hg. von Karl Otmar von Aretin und Gerhard Besier, Berlin 1988, S.75-97, hier S.90-92. 21) Vgl. W. Altgeld: Katholizismus, Protestantismus, Judentum. Trotz der heftigen antikatholischen Affekte auf protestantischer Seite greifen die Schlüsse, die Altgeld in seinem Buch zieht, zu weit, wenn er Antikatholizismus und Antisemitismus quasi zum eigentlichen Wesenskern des nationalen Protestantismus erklärt. 22) Zu Treitschke siehe Georg Iggers: Heinrich von Treitschke, in: Deutsche Historiker, hg. von Hans-Ulrich Wehler, Göttingen 1973, S. 174-188. Immer noch lesenswert ist die 1952 erstmals erschienene Studie von Walter Bussmann: Treitschke. Sein Welt- und Geschichtsbild (Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft, Bd. 3/4), Göttingen-Zürich 21981. Vgl. auch Friedrich Wilhelm Graf: Protestantische Theologie in der Gesellschaft des Kaiserreichs, in: Profile des neuzeitlichen Protestantismus, Bd.2, Teil 1, Gütersloh 1992, S. 12117, hier S.20f. 23) Vgl. etwa die Lobeshymne auf Ranke, Mommsen, Droysen und Sybel bei Adolf Lasson: Der Protestantismus und die Wissenschaft im XIX. Jahrhundert, in: Der Protestantismus am Ende des XIX.Jahrhunderts in Wort und Bild, hg. von C. Werckshagen, Bd.2, Berlin [1902], S. 1176-1184, hier S. 1182f. Lasson begründet den Vorrang protestantischer Historiker mit deren angeblicher Objektivität (S. 1182): „Kein Katholik kann Martin Luther Gerechtigkeit erweisen; aber wohl vermag der Protestant selbst einem Loyola gerecht zu werden." 24) Klopp ist bis heute weitgehend vergessen geblieben, er fand bisher auch in Hans-Ulrich Wehlers Reihe ,Deutsche Historiker' keine Aufnahme; lediglich das katholische ,Hochland' und der Sohn Klopps haben Anfang der fünfziger Jahren an ihn erinnert; vgl. Willy Real: Onno Klopp und Preußens deutsche Politik, in: Hochland 43 (1951), S.615-617; sowie Wiard von Klopp: Onno Klopp, Leben und Wirken, hg. von Franz Schnabel, München 1950. 25) T. Nipperdey: Religion, S.94. 26) Hans-Ulrich Wehler hat in diesem Zusammenhang wenn auch unter der kaum begründeten Einbeziehung des Katholizismus „Religion als Legitimationsideologie" bezeichnet (Hans-Ulrich Wehler: Das deutsche Kaiserreich 1871-1918 [Deutsche Geschichte, Bd.9], Göttingen 1973, S. 118), Wolfgang Tilgner spricht von einer „politischen Hoftheologie" (Wolfgang Tilgner: Volk, Nation und Vaterland im protestantischen Denken zwischen Kai-
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Einleitung
und Altar als ein Wesensmerkmal des Reiches betrachtet.27 Dies galt für beide Hauptströmungen des Protestantismus im 19. Jahrhundert, für liberale wie konservative Protestanten.28 Die „Nationalisierung" des Protestantismus und umgekehrt die „Protestantisierung" der Nation waren die Antwort der Evangelischen auf die neugewonnene staatliche Einheit, während die Katholiken im Kulturkampf ins gesellschaftliche Ghetto abgedrängt wurden. Vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Prosperität und wachsenden internationalen Ansehens verfestigte sich in den folgenden Jahrzehnten ein protestantischdeutsches Selbstbewußtsein, das nicht nur Katholiken,29 Juden und Sozialdemokraten als Staatsbürger geringachtete, sondern sich auch in deutlicher Abgrenzung vom Ausland definierte. Diese nationalprotestantische Hybris war in zahlreichen Publikationen anzutreffen30 und kam schließlich besonders pointiert in der deutserreich und Nationalsozialismus [1870-1933], in: Volk Nation Vaterland. Der deutsche Protestantismus und der Nationalismus, Gütersloh 1970, S. 135-171, hier S. 138). 27) F. Fischer: Der Stellenwert des Ersten Weltkrieges, S.27. 28) Bei letzteren allerdings entgegen ihrer ursprünglichen Tradition, war doch der konservative Protestantismus vor 1871 mehr landeskirchlich als national orientiert. Thomas Nipperdey und Friedrich Wilhelm Graf haben früher schon auf diese Tatsache hingewiesen, die jüngst von Kurt Nowak noch einmal betont hervorgehoben worden ist. Siehe T. Nipperdey: Religion, S.94f. -F.W. Graf: Protestantische Theologie, S. 13. Kurt Nowak: Geschichte des Christentums in Deutschland. Religion, Politik und Gesellschaft vom Ende der Aufklärung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, München 1995, S. 145f. Vgl. auch Michael J. Inakker: Zwischen Transzendenz, Totalitarisme und Demokratie. Die Entwicklung des kirchlichen Demokratieverständnisses von der Weimarer Republik bis zu den Anfängen der Bundesrepublik (1918-1959) (Historisch-Theologische Studien zum 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 8), Neukirchen-Vluyn 1994, S.23f. 29) Vgl. etwa die Rede Heinrich von Treitschkes zum Lutherjubiläum im Jahr 1883, in der die Katholiken als Bevölkerungsteil überhaupt nicht mitgedacht sind: Heinrich von Treitschke: Luther und die deutsche Nation. Vortrag gehalten in Darmstadt am 7. November 1883, Berlin 1883. 30) So heißt es in der Einleitung eines als „Heerschau" des deutschen Protestantismus anläßlich der Jahrhundertwende herausgegebenen Werkes: „Die Wurzel deutscher Kraft ist deutscher Glaube. In den Tiefen des deutschen, des germanischen Gemütes ruht der verborgene Schatz männlichen Christenglaubens, innigen Christensinnes. Rechte deutsche Art ist zugleich rechte christliche Art. Das war so zur Zeit der Väter und wird, will's Gott, so sein zur Zeit der Enkel. Der Glaube der germanischen Stämme ist das Christentum der Reformation. Das protestantische Christentum ist der Glaube, der deutsches Wesen mit seiner Kraft und seinem Trutz nicht erdrückt, sondern entfaltet; das evangelische Christentum ist der Glaube, der deutsches Gemütsleben mit seiner sonnigen Innigkeit nicht verweichlicht, sondern festigt und adelt. Und wie im Verlaufe unseres Jahrhunderts die Völker germanischer Herkunft siegreich die Weltherrschaft an sich gerissen haben, so tritt auch das protestantische Christentum in sei-
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nen wunderbar mannigfaltigen Formen und seinen reichen Gestaltungen als der eigentliche Träger christlicher Kultur verheißungsvoll über die Schwelle des neuen Jahrhunderts. Der Protestantismus ist der Fels, auf dem sich die Kultur der deutschen Stämme, der germanischen Rasse aufbaut. Der Protestantismus ist das Fundament ihrer politischen Macht, ihrer sittlichen Tüchtigkeit, ihrer unerschrockenen, sieghaften Wissenschaft, ihres kraftvollen künstlerischen Schaffens. Der Protestantismus ist unser Ruhm in der Vergangenheit, unsere Kraft in der Gegenwart, unsere Hoffnung für die Zukunft." (C. Werckshagen: Zur Einführung, in: Der Protestantismus am Ende des XIX. Jahrhunderts in Wort und Bild, hg. von C. Werckshagen, Bd. 1, Berlin [1902], O.S.).
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Einleitung
sehen Kriegspropaganda während des Ersten Weltkrieges zum Ausdruck. Während die Polemik gegen die Gegner im Innern angesichts der militärischen Bedrohung von außen ganz in den Hintergrund trat, griffen zahlreiche Autoren jetzt Denkfiguren wieder auf, die schon in der Deutung des deutsch-französischen Krieges von 1871 vereinzelt enthalten gewesen waren:31 Der Krieg wurde als Verteidigungskampf Deutschlands gegen den Ansturm der westlichen Zivilisation interpretiert, zur Schlacht deutscher Kultur gegen den „Westen" stilisiert, die „Ideen von 1914"32 den „Ideen von 1789" entgegengestellt. Als undeutsch und aggressivgefährlich galten Liberalismus, Individualismus, Materialismus, Atheismus und nicht zuletzt Republikanismus und Demokratie. Gegen den Liberalismus setzte man die „deutsche Idee der Freiheit",33 die sich in der pflichtgetreuen Ein- und Unterordnung in das Staatsgefüge erfüllen sollte.34 Als Gegensatz gegen westlichen Individualismus wurde eine Gemeinschaft des deutschen Volkes „als Hort und Garant der Kultur"35 postuliert; einer westlich-materialistischen Weltanschauung kontrastierte man einen romantisch-idealistischen deutschen Sinn, der nach höheren, geistigen Werten strebe;36 dem unterstellten Atheismus der westlichen Völker dünkte sich die Innerlichkeit und Tiefe deutschen Glaubens überlegen; Republikanismus und Demokratie wurden als nicht zum deutschen Volkscharakter passend erklärt, dem die monarchische Staatsform und die preußisch-deutsche Staatsidee entspreche. Der Krieg wurde in dieser Perspektive vornehmlich als Ausbruch „des uralten deutschen Kampfes gegen den Geist des Westens"37 und als „Kulturkrieg"38 wahrgenommen, der auf einem politisch-ethischen Gegensatz be-
") Vgl. EW. Graf: Protestantische Theologie, S. 14f.
Martin Greschat: Krieg und Kriegsbereitschaft im deutschen Protestantismus, in: Protestanten in der Zeit. Kirche und Gesellschaft in Deutschland vom Kaiserreich bis zur Gegenwart, hg. von Jochen-Christoph Kaiser, Stuttgart-Berlin-Köln 1994, S.51-66, hier S.53. 32) Vgl. N. Hammersen: Politisches Denken, S.93-96. T. Nipperdey: Religion, S.98f. Hermann Lübbe: Politische Philosophie in Deutschland. Studien zu ihrer Geschichte, Basel-Stuttgart 1963, v.a. S.207-219. 33) Vgl. N. Hammersen: Politisches Denken, S. 108-114; sowie W. Bergem: Transformation, S.83f, dessen Interpretation m.E. hier wie auch an zahlreichen weiteren Stellen viel zu weit geht und wegen ihres pauschalisierenden Charakters fragwürdig bleibt. 34) Nipperdey bezeichnet diese Akzentuierung des Freiheitsbegriffs als protestantisch: „Opfer und Hingabe an das Ganze, das war sehr protestantisch." (T. Nipperdey: Religion, -
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S.104).
35) N. Hammersen: Politisches Denken, S. 101, vgl. auch ebd., S.97-104. 36) Vgl. Bernd Faulenbach: Ideologie des deutschen Weges. Die deutsche
Geschichte in der Historiographie zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München 1980, S.32. Im Streben nach dem „Absoluten" bei gleichzeitiger Geringschätzung der praktischen Politik sieht Hagen Schulze eine der Konstanten deutscher politischer Kultur. Vgl. Hagen Schulze: Die Versuchung des Absoluten. Zur deutschen politischen Kultur im 19. und 20. Jahrhundert, in: APuZ 7/1984, S.3-10, und im Anschluß daran W Bergem: Transformation, S.78-80. ") So im Jahr 1918 Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen, Berlin 1918, S.7. Weitere Hinweise bei Daniel Argeies: Thomas Manns Einstellung zur Demokratie. Der Fall eines .progressiven Konservativen', in: Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik. Zur politischen Kultur einer Gemengelage, hg. von Manfred Gangl und Gérard Raulet, Darmstadt 1994, S.221-231. 38) Emst Troeltsch: Deutsche Zukunft, Berlin 1916, S.8. Vgl. auch ders.: Das Wesen der Deutschen. Rede gehalten am 6.Dezember 1914 in der vaterländischen Versammlung in der
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ruhe und in dem man sich „durch einen scharfen Strich und Schnitt [...], der uns von dem Westen geistig trennt",39 behaupten müsse. Trotz der Niederlage, trotz des Endes der Monarchie und der Ausrufung der Republik blieb das nationalprotestantische Paradigma bei Pastoren wie im Kirchenvolk weiterhin vorherrschend;40 etwa 80% der Geistlichen waren dieser konservativen Tradition zuzuordnen.41 Sie führte zahlreiche Protestanten in die Reihen der prinzipiellen Republikgegner, in die Nähe der geistesverwandten Konservativen Revolution42 und (partei)politisch zur DNVP43 Um den festen Glauben an die kulturelle Mission der Deutschen und an deren besondere Stellung im geschichtlichen Heilsplan Gottes Karlsruher Stadthalle, Heidelberg 1915, sowie ders.: Der Kulturkrieg. Rede am 1. Juli 1915 gehalten (Deutsche Reden in schwerer Zeit, H. 27), Berlin 1915. Ernst Troeltsch stand wie andere liberale Theologen auch mit zunehmender Dauer des Krieges dem übersteigerten Nationalismus und einer expansiven Kriegszielpolitik kritisch gegenüber. Siehe T. Nipperdey: Religion, S. 100, H. Lübbe: Politische Philosophie, S.227-238. Zu Troeltsch vgl. Trutz Rendtorff: Ernst Troeltsch, in: Gestalten der Kirchengeschichte, hg. von Martin Greschat, Bd. 10,1. Die neueste Zeit III, Stuttgart-Berlin-Köln 1993, S. 185-203; sowie Friedrich Wilhelm Graf/Hartmut Ruddies: Religiöser Historismus. Ernst Troeltsch (1865-1923), in: Profile des neuzeitlichen Protestantismus, Bd. 2, Teil 2, hg. von Friedrich Wilhelm Graf, Gü-
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tersloh 1993, S.295-335. 39) So Arthur Moeller van den Brück 1916 in einem Zeitungsartikel, zitiert nach Harry Pross: Die Zerstörung der deutschen Politik. Dokumente 1871-1933, (Neuausgabe) Frankfurt a.M. 1983, S.195. *°) Vgl. M.J. Inacker: Transzendenz, S.54f. Abweichende Strömungen im deutschen Protestantismus wie die liberale Richtung, die sich um Martin Rade und die Zeitschrift ,Christliche Welt' konzentrierte, sowie religiös-sozialistische Gruppierungen, als deren führender theologischer Kopf Paul Tillich zu nennen ist, werden in der Literatur nur selten berücksichtigt. Kurt Nowak hat anhand der Positionen von Gottfried Traub, Ernst Troeltsch und Adolf von Harnack auf die Breite des politischen und theologischen Spektrums innerhalb des Protestantismus der Weimarer Zeit hingewiesen, siehe Kurt Nowak: Protestantismus und Nationalstaat im 20. Jahrhundert. Weimarer Republik Drittes Reich DDR/Bundesrepublik Deutschland, in: PTh 80 (1991), S.446-458. Zu Rade vgl. Anne Christine Nagel: Martin Rade Theologe und Politiker des Sozialen Liberalismus. Eine politische Biographie, Gütersloh 1996. Christoph Schwöbel: Martin Rade, in: Gestalten der Kirchengeschichte, hg. von Martin Greschat, Bd. 10,1. Die neueste Zeit III, Stuttgart-Berlin-Köln 1993, S. 163-173. Hartmut Ruddies: Liberales Kulturluthertum. Martin Rade (1857-1940), in: Profile des neuzeitlichen Protestantismus, hg. von Friedrich Wilhelm Graf, Bd. 2, Teil 2, Gütersloh 1993, S. 398^122. Zu Tillich siehe Karl Heinz Ratschow: Paul Tillich, in: Gestalten der Kirchengeschichte, hg. von Martin Greschat, Bd. 10,2. Die neueste Zeit IV, Stuttgart-BerlinKöln 1993, S. 123-149. 41) T. Nipperdey: Religion, S. 100. Siehe auch Karl-Wilhelm Dahm: Pfarrer und Politik. Soziale Position und politische Mentalität des deutschen evangelischen Pfarrerstandes zwischen 1918 und 1933, Köln-Opladen, 1965 der 70 bis 80% der Pfarrer dem „konservativnationalen Typus" zurechnet; sowie unter Bezugnahme auf Dahms Arbeit Ernst Wolf: Volk, Nation, Vaterland im protestantischen Denken von 1930 bis zur Gegenwart, in: Volk Nation Vaterland. Der deutsche Protestantismus und der Nationalismus, hg. von Horst Zillessen (Veröffentlichungen des SWI, Bd.2), Gütersloh 1970, S. 172-212, hier S. 174f. Als Lokalstudie zu Württemberg vgl. David J. Diephouse: Pastors and Pluralism in Württemberg 1918-1933, Princeton 1987. 42) Vgl. Kurt Sontheimer: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933, München (dtv) 31992. Stefan Breuer: Anatomie der Konservativen Revolution, Darmstadt 1993. 43) K.-W. Dahm: Pfarrer, S. 148-151. K. Scholder: Neuere deutsche Geschichte, S.87f. M.J. Inacker: Transzendenz, S.45. -
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nicht aufgeben zu müssen,44 hatten sie unevangelische, unkirchliche, atheistische und antichristliche Kräfte45 für die Niederlage und den Untergang des Kaiserreichs als Verantwortliche ausgemacht und in der Dolchstoßlegende die willkommene, naheliegende Erklärung für den verheerenden Ausgang des Weltkrieges ge-
funden.46 Unter den evangelischen Theologen blieb antiwestliches und antiameri-
kanisches Gedankengut, bedingt durch die weitgehende akademische Isolation während der Weimarer Jahre, nicht auf die Kreise der National-Konservativen beschränkt, sondern erfaßte auch „politisch linke Repräsentanten der Religiösen Sozialisten",47 gehörte also praktisch zum Gemeingut der religiös Gebildeten. Häufig und zwar nicht nur in bildungsbürgerlichen Kreisen war Sehnsucht nach der glorifizierten Kaiserzeit anzutreffen, meist verbunden mit einer Ablehnung der Republik, die unfähig erschien, die ökonomischen Probleme, Inflation und Weltwirtschaftskrise, in den Griff zu bekommen und die auch für den Verlust von Deutschlands Macht und Größe verantwortlich gemacht wurde. Gerade die im rechten Parteienspektrum der Weimarer Republik beheimateten Protestanten begrüßten deshalb 1933 die „nationale Wiedergeburt" Deutschlands, die mit der nationalsozialistischen Machtübernahme ausgerufen wurde,48 als Erfüllung ihrer
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Wunschvorstellungen:49
„Gewollt und bejaht wurde der antiliberale, der antidemokratische und antiparlamentarische Obrigkeitsstaat, der in einer Person zusammengefaßte autoritäre Machtstaat, in dem die Tugenden der Ehre, der Pflicht und Dienstbereitschaft wieder gefeiert werden konnten und wo Freiheit primär als Dienst und nicht im Sinne des verabscheuten Gleichheitsideals verstanden wurde."
**)
Dieser Glaube war während des Krieges stets kräftig genährt worden. Vgl. exemplarisch die Aussage eines Hochschullehrers: „Wir sind die Auserwählten Gottes unter den Völkern. Daß unsere Gebete zum Sieg erhört werden, ist nach der religiös-sittlichen Weltordnung eigentlich ganz selbstverständlich." (zitiert nach M. Greschat: Krieg, S.65, dort auch weitere
Belege).
45) Vgl. Karl-Wilhelm Dahm: Christentum und Nation, in: Gesellschaftliche Herausforde-
rung des Christentums. Vom Kulturprotestantismus zur Theologie der Revolution, hg. von Wilhelm Schmidt, München 1970, S.48-58. 46) F. Fischer: Der Stellenwert des Ersten Weltkrieges, S.39. K.-W. Dahm: Pfarrer, S. 166f. M.J. lnacker: Transzendenz, S.40f. W. Tilgner: Volk, S. 157. 47) F.W. Graf: Protestantische Theologie, S.69. 48) Hinter der Genugtuung vieler Protestanten über den Untergang der Weimarer Republik stand nach Günter Brakelmann „unser Kampf als Protestantismus gegen die sogenannten Prinzipien von 1789, gegen den Westen" (Günter Brakelmann: „Grundsätzliche Überlegungen zum Verhältnis Kirche und Staat aus vierzigjähriger Erfahrung in der Bundesrepublik Deutschland", Referat, Tutzing, 15.Oktober 1992, in: epd Dokumentation 4/93, S.9-15, hier S. 10). 49) Als Grund dieser Zustimmung führt Kurt Nowak an: „In der nationalen Revolution' projizierte der deutsche Protestantismus seine jeweiligen nationalen Wunschbilder auf das .Dritte Reich'." (K. Nowak: Protestantismus, S.453). 50) Martin Greschat: Bekenntnis und Politik. Voraussetzung und Ziele der Barmer Bekenntnissynode, in: Protestanten in der Zeit. Kirche und Gesellschaft in Deutschland vom Kaiserreich bis zur Gegenwart, hg. von Jochen-Christoph Kaiser, Stuttgart-Berlin-Köln 1994, S.99-116, hier S.lll. Ausdrücklich weist Greschat darauf hin, und dies verdient noch einmal hervorgehoben zu werden, daß mit den national-konservativen Staatsvorstellungen vieler Protestanten keineswegs auch die Zustimmung zur nationalsozialistischen Ideologie verbunden war. -
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Solche nationalkonservativen Einstellungen reichten bis weit in die Kreise der Bekennenden Kirche (BK), also bis in die Opposition gegen die nationalsozialistische Kirchenpolitik hinein, weshalb auch hier das Aufatmen über das Ende der „Systemzeit" und Fehleinschätzungen über den Charakter der NS-Bewegung weit verbreitet waren. Aus diesem Grund müssen selbst die Mitglieder der Barmer Bekenntnissynode „zu den Totengräbern der ersten deutschen Republik" gerechnet werden." Die ungebrochene nationalprotestantische Orientierung führte in der NS-Zeit viele Protestanten in „ein schier auswegloses Dilemma zwischen national und nationalsozialistisch".52 Zwar wurde Hitlers Expansionskrieg durch protestantische Theologen anders als die Ereignisse der Jahre 1871 und 1914-18 zwischen 1939 und 1945 nur ganz vereinzelt verklärt;53 bis zur Wende des Krieges im Jahr 1943 fanden die militärischen Erfolge Deutschlands allerdings größtenteils Zustimmung. Den Weg in den politischen Widerstand dagegen gingen nur sehr wenige, die meisten standen bis zum bitteren Ende auf der Seite ihrer Obrigkeit.54 -
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Diese Sicht des Protestantismus, die gewiß viel Richtiges enthält, hat erhebliche Konsequenzen für das historische Urteil über den weiteren Weg der deutschen Geschichte. Wenn sie ohne Einschränkungen zuträfe, dann muß es entweder einen radikalen Bruch in der „Stunde Null" und danach den totalen Neubeginn gegeben haben. Oder es muß davon ausgegangen werden, daß in der nach der totalen Niederlage und der Besatzungszeit im Westen mit Hilfe der drei Siegermächte entstandenen zweiten Republik55 aus der Erbmasse des Protestantismus dessen obrigkeitsstaatliche Tradition, Untertanengesinnung, antidemokratische Einstellungen, autoritärer Etatismus und konservativ-reaktionäres Gedankengut noch jahrelang weiterwirkten. Tatsächlich ist vor allem in der kirchlichen Zeitgeschichtsschreibung, die zu nicht geringem Teil die „seriöse Fachliteratur zur politischen Nachkriegsentwicklung [...] kaum zur Kenntnis genommen" hat,56 letzteres behauptet
51)
Günter Brakelmann nimmt Gustav Heinemann und Ludwig Metzger als einzige ausdrücklich aus (G. Brakelmann: Überlegungen, S.9). Zum nahezu gleichen Ergebnis kommt Martin Greschat: Die Bedeutung der Sozialgeschichte für die Kirchengeschichte. Theoretische und praktische Erwägungen, in: HZ 256 (1993), S.67-103; vgl. auch M. Greschat: Bekenntnis und Politik, S. 109-114. 52) K. Nowak: Protestantismus, S.454. 53) E. Wolf: Volk, Nation, Vaterland, S.203. 54) Ebd., S. 203-206. 55) Zur Vor- und Gründungsgeschichte der Bundesrepublik siehe die Übersichtsdarstellungen von Wolfgang Benz: Die Gründung der Bundesrepublik. Von der Bizone zum souveränen Staat, München 21986. Christoph Kiessmann: Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945-1955 (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 193), Bonn 41986. Westdeutschlands Weg zur Bundesrepublik 1945-1949. Beiträge von Mitarbeitern des Instituts für Zeitgeschichte, München 1976. Josef Becker/Theo Stammen/Peter Waldmann (Hgg.): Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Zwischen Kapitulation und Grundgesetz, München 1979. 56) Vgl. C. Vollnhals: Kirchliche Zeitgeschichte, S. 182. Einen guten Überblick über den Forschungsstand bis Anfang der achtziger Jahre bietet Anselm Doering-Manteuffel: Die Bundesrepublik in der Ära Adenauer. Außenpolitik und innere Entwicklung 1949-1963, Darmstadt 1983; weiter reicht Rudolf Morsey: Die Bundesrepublik Deutschland. Entstehung und Entwicklung bis 1969, (Oldenbourg Grundriß der Geschichte, Bd. 19), München -
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und die Geschichte des Protestantismus in der Bundesrepublik als ungebrochene Fortsetzung der deutschnationalen, antidemokratischen Traditionslinie dargestellt worden.57 Unter den evangelischen Kirchenhistorikern, in aller Regel Theologen, wirkte das Verdikt ungebrochen weiter, das Karl Barth, der bedeutendste theologische Kopf der Bekennenden Kirche, über Deutschland gesprochen hatte. Er hatte gefordert, die „innere Remedur des deutschen Wesens dürfe sich nicht nur auf die Hitlerzeit erstrecken, sondern müsse bis auf deren Wurzeln in der Zeit Bismarcks, ja Friedrichs des Großen zurückgehen."58 Die Medizin, die Barth den Deutschen verordnete, war seine eigene Theologie. Theologisch-kirchengeschichtliche Autoren, die sich dem deutsch-schweizerischen Theologen verpflichtet fühlten, sind seither nicht müde geworden zu behaupten, der barthianische Flügel der Bekennenden Kirche sei weitgehend frei allein dafür verantvon allen belastenden demokratiefeindlichen Traditionen wortlich, daß im Laufe der sechziger Jahre demokratische Ideen im Protestantismus zum Durchbruch gekommen seien.58 Die „profane" Zeitgeschichtsschreibung hat diese einlinig negative Beurteilung des bundesdeutschen Protestantismus weder grundsätzlich in Frage gestellt, noch zu einer differenzierteren Sicht etwas Entscheidendes beitragen können. Die protestantischen Traditionen werden deshalb bis heute in der kirchengeschichtlichen Literatur wie in der historisch-politischen Publizistik als schwere Belastung für die Demokratisierung der Bundesrepublik gewertet. Nur zwei typische Beispiele seien genannt, die beliebig vermehrt werden könnten. Bei Martin und Sylvia Greiffenhagen heißt es im Kapitel über den „religiösen Faktor" im politischen Leben der Bundesrepublik bezüglich des Protestantismus: „Die politische Kultur Deutschlands ist über Jahrhunderte von zwei Faktoren geprägt: dem Geiste militärisch-feudaler Untertanengesinnung und einer Theologie, welche diese politische Kultur als religiös gebotene Haltung abstützte."60 Und Werner Jochmann faßt das Ergebnis seiner Bestandsaufnahme über die evangelische Kirche nach 1945 so zu-
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an der Restaurationsthese der evangelischen Zeitgeschichtsschreibung vgl. folgende Kapitel, insbesondere Anm.35. 5S) Karl Barth: How my mind has changed, in: „Der Götze wackelt". Zeitkritische Aufsätze, Reden und Briefe von 1930 bis 1960, hg. von Karl Kupisch, Berlin 1961, S. 181-209. Vgl. auch die angeführten Belege bei Wolfgang Huber: Kirche und Öffentlichkeit (Forschungen und Berichte der Evangelischen Studiengemeinschaft, Bd.28), Stuttgart 1973, S.437. Barth führte in seiner theologischen Kritik am Luthertum die negative Kontinuitätslinie direkt auf Luther zurück (ebd.): „Das deutsche Volk leidet an der Erbschaft des größten
Zur Kritik
das
christlichen Deutschen: an dem Irrtum Martin Luthers hinsichtlich des Verhältnisses von Gesetz und Evangelium, von weltlicher und geistlicher Ordnung und Macht, durch den sein natürliches Heidentum nicht sowohl begrenzt und beschränkt als vielmehr ideologisch verklärt, bestätigt und bestärkt worden ist." Siehe dazu Manfred Jacobs: Die Entwicklung des deutschen Nationalgedankens von der Reformation bis zum deutschen Idealismus, in: Volk Nation Vaterland. Der deutsche Protestantismus und der Nationalismus, hg. von Horst Zillessen (Veröffentlichungen des SWI, Bd.2), Gütersloh 1970, S.51-110, hier S.51f. 59) Vgl. z.B. Wolfgang Huber: Protestantismus und Demokratie, in: Protestanten in der Demokratie. Positionen und Profile im Nachkriegsdeutschland, hg. von dems., München 1990, S. 11-36. ''") Martin und Sylvia Greiffenhagen: Ein schwieriges Vaterland. Zur politischen Kultur im vereinigten Deutschland, München-Leipzig 1993, S.208f.
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„Mit ihrer starken Traditionsgebundenheit hat die evangelische Kirche sehr entscheidend die vielen fruchtbaren Ansätze zu einer geistigen und politischen Neuorientierung des deutschen Volkes zunichte gemacht."61 Daß der Protestantismus zur Konsolidierung der Bundesrepublik und zu ihrer demokratischen „Erfolgsgeschichte" einen nicht unerheblichen Beitrag geleistet habe, wird dagegen eher selten vertreten.62 Frederic Spotts steht deshalb weitgehend allein, wenn er dem Urteil der Greiffenhagens und Jochmanns diametral entgegengesetzt als Ergebnis seiner Untersuchung über den Zusammenhang von „Kirche und Politik" feststellt: sammen:
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„Die liberale Demokratie erfordert die allgemeine Anerkennung gewisser politischer Voraussetzungen und Verfahrensweisen: Toleranz, Pluralismus, Kompromiß und Zusammenar-
beit. Trotz ihrer inneren Auseinandersetzungen wegen politischer Fragen tat die evangelische Kirche im allgemeinen alles, was eine Kirche überhaupt tun kann, um dieses Verhalten im öffentlichen Leben Deutschlands zu fördern. [...] Die evangelische Kirche war einer der wichtigsten Förderer der Bedingungen und Verfahrensweisen, die die liberale Demokratie in Deutschland erfolgreich werden ließ."63
Solch gegenteilige Urteile wecken das wissenschaftliche Interesse. Um überprüfen zu können, welche der zitierten Thesen tragfähiger ist, müssen methodische Vorentscheidungen getroffen werden, die von vornherein Beschränkungen auferlegen. So wird in vorliegender Studie bewußt darauf verzichtet, den Protestantismus als Ganzes zum Gegenstand der Untersuchung zu wählen, denn konfessionelle Großgruppen sind in den komplexen Zusammenhängen einer modernen Gesellschaft kaum als einheitliche Größen faßbar. Sie bauen sich vielmehr aus einer Vielzahl von kleineren Einheiten auf, die sich aufgrund lokaler oder organisatorischer Gegebenheiten oder aufgrund von Gemeinsamkeiten in der Wertorientierung zusammenfinden. Die vorliegende Untersuchung konzentriert sich deshalb ganz bewußt nur auf einen bestimmten Ausschnitt aus dem breiten Spektrum innerhalb des Protestantismus. Der Entschluß, eine bestimmte, sozial eingrenzbare Gruppe mit weitgehend gleicher theologischer und politisch-gesellschaftlicher Grundüberzeugung unter den Protestanten als Forschungsgegenstand zu wählen, ist mit beeinflußt von der Erkenntnis, daß gerade in Deutschland der Protestantismus durch eine besondere, historisch gewachsene Vielgestaltigkeit gekennzeichnet ist, die in verschiedenen landeskirchlichen, konfessionellen und theologischen Prägungen, in einer breit gefächerten sozialen Herkunft der evangelischen Kirchenangehörigen sowie in 61
)
Werner Jochmann:
Evangelische Kirche und politische Neuorientierung in Deutschland
1945, in: Deutschland in der Weltpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts. Fritz Fischer zum 65. Geburtstag, hg. von Imanuel Geiss und Bernd Jürgen Wendt, Düsseldorf 1973, S.545-562,
hier S. 562. 62) Dorothée Buchhaas-Birkholz: „Zum politischen Weg unseres Volkes". Politische Leitbilder und Vorstellungen im deutschen Protestantismus 1945-1952. Eine Dokumentation (Veröffentlichung der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien), Düsseldorf 1989, S.9. -M.J. Inacker: Transzendenz, S.3. -Jonathan R.C. Wright: The Church in Politics. Reflections on German Protestantism in the 20th Century, in: und über Barmen hinaus. Studien zur Kirchlichen Zeitgeschichte. Festschrift für Carsten Nicolaisen zum 4. April 1994 (AKZ, Reihe B, Bd.23), Göttingen 1995, S.63-71. 63) Frederic Spotts: Kirchen und Politik in Deutschland, Stuttgart 1976, S.305f. ...
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deren Verwurzelung in unterschiedlichen geistesgeschichtlichen und politischen Traditionen ihre Ursache hat. Mit dem Begriff „Protestantismus"64 ist die Gesamtheit aller Kirchen, religiösen Gruppen und Bewegungen bezeichnet, die sich auf die Reformation gründen. Als nicht ausschließlich konfessions-, sondern auch geistes- und sozialwissenschaftlicher Begriff aufgefaßt, soll „Protestantismus" zugleich auch alle Gedanken, Programme und kulturellen Phänomene beinhalten, die unter Berufung auf reformatorische Tradition in der Geschichte wirksam geworden sind.65 So nämlich eröffnet sich die Möglichkeit, den Blick auf die gesellschaftlich-politische Dimension von Religion und Glaube zu richten, ohne den Bereich der kirchlichen Entscheidungsgremien (Kirchenleitungen, Synoden, Rat der EKD etc.) deshalb ausklammern zu müssen.66 Religiös motiviertes Handeln von einzelnen geschichtlichen Persönlichkeiten läßt sich auf diese Weise ebenso in den Blick nehmen wie die wertsetzende und identitätsstiftende Rolle, die Religion und Kirche für Menschen in einer (noch teilweise) christlich geprägten Gesellschaft gespielt haben.
M)
Das .Evangelische Staatslexikon' vermeidet eine Definition, verweist auf den Artikel über die „Evangelische Kirche in Deutschland" und erläutert hier das reformatorische Kirchenverständnis, das der organisatorischen Verfaßtheit der Kirche gegenüber der unsichtbaren Glaubenskirche eine untergeordnete Rolle zuweist. Kirche kann demnach „als Institution und Rechtsgröße in sehr verschiedenen Ausformungen existieren" (Erwin Wilkens: Evangelische Kirche in Deutschland, in: Evangelisches Staatslexikon, hg. von Roman Herzog, Hermann Kunst u.a., Stuttgart 31987, Bd.l, Sp.816-836, hier Sp.816f.). Vgl. Hans Friedrich Geisser: Protestantismus, in: ebd., Bd.2, Sp.2665-2672, hier Sp.2665). Siehe auch die unterschiedlichen Definitionsansätze bei Hanfried Krüger: Protestantismus, in: Ökumene-Lexikon. Kirche, Religionen, Bewegungen, hg. von dems. u.a., Frankfurt a.M. 1987, Sp.999f, und im Kontrast dazu die Begriffsbestimmungen von „Katholizismus" bei Karl Lehmann: Katholizismus. I. Begriff, im ersten Band des .Evangelischen Staatslexikons' (Sp. 1486). 65) Dieser Versuch einer Begriffsumschreibung basiert auf: Konrad Raiser: Protestantismus, in: Evangelisches Kirchenlexikon. Internationale theologische Enzyklopädie, hg. von Erwin Fahlbusch, Jan Milii u.a., Göttingen 1992, Sp. 1351-1358. Rudolf von Thadden/ Thomas Klingebiel: Protestantismus, in: Wörterbuch des Christentums, hg. von Volker Drehsen, Hermann Häring u.a., Gütersloh 1988, S. 1007-1009. Peter Meinhold: Protestantismus, in: Sacramentum Mundi. Theologisches Lexikon für die Praxis, hg. von Karl Rahner, Adolf Darlap u.a., Bd.3, Freiburg-Basel-Wien 1969, Sp. 1338-1353, sowie H. Krüger: Protestantismus, E. Wilkens: Evangelische Kirche, und H.F. Geisser: Protestantismus. ) Da sich die evangelischen Kirchenhistoriker häufig auf diesen Bereich konzentrieren, bleiben ihnen die Ausstrahlung der gremienintemen Konflikte auf „Kirchenvolk" und Gesamtbevölkerung verborgen. Anhand der Untersuchung von Johanna Vogel (Johanna Vogel: Kirche und Wiederbewaffnung. Die Haltung der Evangelischen Kirche in den Auseinandersetzungen um die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik 1949-1956 [AKZ, Reihe B, Bd.4], Göttingen 1978) und der Studie Anselm Doering-Manteuffels (Anselm DoeringManteuffel: Katholizismus und Wiederbewaffnung. Die Haltung der deutschen Katholiken gegenüber der Wehrfrage 1948-1955 [Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe B, Bd. 32], Mainz 1981 ) läßt sich die Ziel- und Methodendifferenz zwischen „Profanhistorikern" und evangelischen Zeithistorikern aufzeigen: Während Doering-Manteuffel sowohl die („amts-")kirchlichen Stellungnahmen als auch die Diskussionen in kirchennahen Zeitungen und Verbandspublikationen auswertet und daraus die verschiedenen Positionen kirchlicher Gruppen innerhalb des Katholizismus gewinnt, zieht Vogel fast ausschließlich Dokumente kirchlicher Leitungsgremien heran, um auf dieser Quellengrundlage die heftigen Kämpfe innerhalb von Synode und Rat der EKD nachzuzeichnen. -
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Wie im Vorangegangenen bereits angedeutet wurde, versteht sich diese Untersuchung nicht als eine Arbeit zur evangelischen Kirchengeschichte. Zwar ist im Bereich der kirchlichen Zeitgeschichte in jüngster Zeit eine Methodendiskussion in Gang gekommen, weil einige Kirchenhistoriker die Fixierung auf theologieund organisationsgeschichtliche Themen aufbrechen und neue Zugänge zu einer als Teil der Sozial- oder Gesellschaftsgeschichte verstandenen Kirchengeschichtsforschung eröffnen wollen;67 ihr Forschungsgegenstand aber ist und bleibt legitimerweise die Kirche und ihre Entwicklung vor dem Hintergrund des gesamtgesellschaftlichen Wandels. Demgegenüber zielt die Fragestellung „Westorientierung im deutschen Protestantismus?" primär auf Veränderungen in der Gesellschaft und untersucht, welchen Anteil der Protestantismus daran hatte und erst in zweiter Linie welche Rückwirkungen diese auf ihn selbst ausgeübt haben. Als Frageraster dient der vorliegenden Studie ein Konzept, das im Rahmen des Forschungsprojekts „Westernization" am Seminar für Zeitgeschichte der Universität Tübingen entwickelt worden ist. Ausgangspunkt der Überlegungen war dabei, daß sowohl in der Selbsteinschätzung der Westdeutschen wie auch in der Sicht des Auslandes die Bundesrepublik als Teil des Westens verstanden wurde. Im wirtschaftlichen,68 politischen69 und militärischen Bereich,70 in jüngster Zeit auch auf dem Gebiet der Alltagskultur71 ist der Integrationsprozeß des westlichen Teilstaates in die atlantische Staatengemeinschaft bereits nachgezeichnet worden; der ideellen Sphäre wurde dagegen bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt.72 Das Tübinger Projekt beschäftigte sich deshalb mit der Frage, wie sich der neuentstandene westdeutsche Staat in die Gemeinschaft des „freien Westens" einge-
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67)
Siehe dazu M. Greschat: Bedeutung der Sozialgeschichte. Joachim Mehlhausen: Zur Methode kirchlicher Zeitgeschichtsforschung, in: EvTh 43 (1988), H. 6, S.508-521. Rudolf von Thadden: Kirchengeschichte als Gesellschaftsgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 9 (1983), S.598-614. Vgl. auch das Sonderheft der KZG 5 (1992), insbesondere den Aufsatz von Jonathan Sperber: Kirchengeschichte als Sozialgeschichte Sozialgeschichte als Kirchengeschichte, in: ebd., S. 11-17; sowie den 8. Band der Reihe .Konfession und Gesellschaft': Anselm Doering-ManteuffeUKurt Nowak (Hgg.): Kirchliche Zeitgeschichte. Urteilsbildung und Methoden (KuG, Bd. 8), Stuttgart-Berlin-Köln 1996. 68) Siehe Ludolf Herbst/Werner Bührer/Hanno Sowade (Hgg.): Vom Marshallplan zur EWG. Die Eingliederung der Bundesrepublik in die westliche Welt, München 1990. Christoph Buchheim: Die Wiedereingliederung Westdeutschlands in die Weltwirtschaft 19451958, München 1990. 69) Siehe Arnulf Baring: Außenpolitik in Adenauers Kanzlerdemokratie. Bonns Beitrag zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (Schriften des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für auswärtige Politik, Bd. 28), München-Wien 1969. Ludolf Herbst: Option für den Westen. Vom Marshallplan bis zum deutsch-französischen Vertrag, München 1989. ™) Vgl. Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik 1945-1956, Bd. 1. Von der Kapitulation bis zum Pleven-Plan, hg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, München-Wien 1982. Bd. 2. Die EVG-Phase, München 1990. Gerhard Wettig: Entmilitarisierung und Wiederbewaffnung in Deutschland 1943-1955. Internationale Auseinandersetzungen um die Rolle der Deutschen in Europa, München 1967. 71) Vgl. Kaspar Maase: Bravo Amerika. Erkundungen zur Jugendkultur der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren, Hamburg 1992. Bernd Polster (Hg.): Westwind. Die Amerikanisierung Europas, Köln 1995. 72) Vgl. Anselm Doering-Manteuffel: Dimensionen von Amerikanisierung in der deutschen Gesellschaft, in: Archiv für Sozialgeschichte 35 (1995), S. 1-34, hier v.a. S.25-35. -
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fügt hat, die sich eben nicht nur als politisch-militärischer Zweckverband sondern auch als Wertegemeinschaft verstanden hat.73 Die Projektstudien untersuchen präziser gefaßt ob, wie und in welcher Weise jene ideell-ideologischen Konzepte in der Bundesrepublik rezipiert wurden, die in der Zwischenkriegszeit in den USA entfaltet worden waren und seit 1945 das politische Programm der amerikani-
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schen Administrationen flankierend ergänzt haben.74 Es handelte sich dabei um ein Ideologieangebot, das unter den spezifischen Bedingungen des Kalten Krieges die westliche Staatengemeinschaft gegen den Kommunismus abgrenzen, immunisieren und dauerhaft résistent machen sollte. Die Komponenten dieses ideologischen Systems, das eine beträchtliche Kohäsionskraft besaß, betrafen alle relevanten Ebenen des politisch-gesellschaftlichen Lebens. Um näher bestimmen zu können, welche Vorstellungen mit „Westen" verbunden waren, sollen folgende separate, nichtsdestoweniger aber eng miteinander verflochtene Teilbereiche unterschieden werden: der ökonomische, der politische und der kulturelle.75 Auf ökonomischem Gebiet wirkte allein schon die wirtschaftliche Potenz der USA überzeugend. Mit schier unerschöpflichen Ressourcen und einem Warenangebot ausgestattet, das den Deutschen in den ersten Nachkriegsjahren wie aus einer anderen Welt erscheinen mußte, ging von dem amerikanischen Wirtschaftssystem eine Faszination aus, die im kriegszerstörten Deutschland viele Menschen in ihren Bann zog. Der „reiche Onkel aus Amerika" war in jenen Jahren ebenso sprichwörtlich wie die „Tellerwäscherkarriere". Was hinter solchen sprachlichen Fixierungen stand, war die Vorstellung eines kaum vorstellbar hohen Lebensstandards für jedermann, einer in Technologie und Produktionskapazitäten unerreichbar überlegenen Wirtschaft und einer Chancengleichheit, die jedem den Zugang zu individuellem Wohlstand und Reichtum eröffnete. Im politischen Bereich verband sich mit dem Begriff „Westen" die Vorstellung von Demokratie, verstanden als ein parlamentarisch-repräsentatives Mehrparteiensystem auf der Basis gleicher, freier und geheimer Wahlen, das Meinungsfreiheit und die grundlegenden Menschenrechte garantierte. Zwar suchte die politisch-intellektuelle Elite in Deutschland an die liberalen demokratischen Traditionen Deutschlands im 19.Jahrhundert anzuknüpfen, bei der Mehrheit der Bevölkerung aber prägten die USA als das tagtäglich in Zeitungen, Rundfunk und bald auch im Fernsehen präsente Vorbild für eine „westliche Demokratie" stärker das Bewußtsein als die Erinnerung an die Revolution von 1848. -
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73) Vgl. zu diesem Aspekt den Abschnitt 1.2. der Untersuchung von Gudrun Kruip: Journa-
lismus zwischen westlichen Werten und deutschen Denktraditionen (Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit, Bd. 3), München 1998, die ebenfalls im Rahmen des „Westernization"-Projekts entstanden ist. 74) Vgl. dazu bei Michael Hochgeschwender: Freiheit in der Offensive? Der Kongreß für kulturelle Freiheit und die Deutschen, (Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit, Bd. 1), München 1998, die Abschnitte 1.1. und II. 1., sowie Michael H. Hunt: Ideology and U.S. Foreign Policy, New Haven/London 1987. Frank A. Ninkowich: Diplomacy of Ideas. U.S. Foreign Policy and Cultural Relations 1938-1950, Cambridge 1981. Emily S. Rosenberg: Spreading the American Dream. American Economic and Cultural Expansion, 1890-1945, New York 1982. 75) Siehe zum folgenden Abschnitt A. Doering-Manteuffel: Dimensionen von Amerikanisierung, S.26f. -
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Im kulturellen Sektor gehörte zum Bild des „Westens" die Freiheit von Wissenschaft und Kunst, von Forschung und Lehre sowie die neugewonnene Möglichkeit zum intellektuellen Austausch auf internationaler Ebene. Die Kontakte von Geistes- und Naturwissenschaftlern, von Schriftstellern und bildenden Künstlern über die jeweiligen Landesgrenzen hinweg eröffneten neue Möglichkeiten der Kooperation im Bereich der sogenannten Hochkultur. In der Alltagskultur trat an die Stelle eines zackig-militärischen Auftretens vor allem bei Jugendlichen ein betont ziviler Habitus nach amerikanischem Muster. Das brachte Veränderungen mit sich, die sich bis auf die Wahl der Kleidung und des Musikstils auswirken konnten und auch den sozialen Umgang miteinander neuen Konventionen unterwarf. Trotz gravierender schichtenspezifischer Unterschiede bildete sich so in den fünfziger Jahren eine Jugendkultur, die den endgültigen Abschied vom uniformierten, fähnchenschwingenden und in Reih und Glied marschierenden HJ-Pimpf bedeutete. Die mit dem „Westen" assoziierten (Vor-)Bilder und Werte sind auf allen drei Ebenen als analytische „Hilfskonstruktionen" und im strengen Sinne als idealtypisch anzusehen, das heißt, sie sind idealisierte Abstraktionen, denen die gesellschaftlichen Realitäten in den Ländern des „freien Westens" und insbesondere in der westlichen Führungsmacht, den USA, nur sehr bedingt entsprachen.76 Nichtsdestoweniger war diese „Ideologie des Westens" im Bewußtsein der damaligen Zeitgenossen gegenwärtig. Sie präsentierte sich ideologieskeptisch im Gewände des zeittypischen Antitotalitarismus als pragmatische Konsensformel, die zur konstruktiven Integration in die westliche Staatengemeinschaft einlud. Diese in sich hochideologische Konstruktion hatte die Funktion, die hegemoniale Stellung der USA in der westlichen Hemisphäre auch auf geistig-ideellem Gebiet zu festigen. Die Vereinigten Staaten boten so nicht nur das militärische, sondern auch das ideologische Dach, unter dem sich die westlichen Staaten vor dem Kommunismus sicher fühlen sollten. Es war dabei nicht das vorrangige Ziel der Amerikaner, die Identitäten der verschiedenen westlichen Nationen zu zerstören und an deren Stelle maßstabsgetreue Kopien der USA zu installieren;77 stattdessen offerierten sie ein pragmatisch-ideologiefrei getarntes Ideologiekonzept, das unterschiedliche nationale Traditionen nicht gewaltsam in ein Schema zwängte, sondern aufgrund seiner Flexiblilität mit diesen verwoben und so von ganz unterschiedlich geprägten Gesellschaften adaptiert werden konnte.78 Dabei waren einzelne Elemente dieses westlichen Ideologieangebots durchaus veränderbar. Der Grad solcher Modifikation hing jeweils ganz entscheidend von den Voraussetzungen in den jeweili-
76)
Die verschiedenen in Deutschland anzutreffenden Amerikabilder waren
wenn
auch im
allgemeinen uneingestanden zumeist Überzeichnungen der US-amerikanischen Gegebenheiten. Die ungeheure Faszination, die der wirtschaftliche und technologische Fortschritt im „Land der unbegrenzten Möglichkeiten" auf viele Deutsche ausübte, basierte ebenso auf Klischees und Stereotypen wie die (auch in kirchlichen Kreisen) weit verbreitete vehemente kulturelle Kritik am „Amerikanismus"; vgl. A. Doering-Manteuffel: Dimensionen von Amerikanisierung. A". Maase: Bravo Amerika, S.41-61. Gesine Schwan: Das deutsche Amerikabild seit der Weimarer Republik, in: APuZ 26/1986, S.3-15. 77) Vgl. Hermann-Josef Rupieper: Die Wurzeln der westdeutschen Nachkriegsdemokratie. Der amerikanische Beitrag 1945-1952, Opladen 1993, S.38. 78) Vgl. Geir Lundestad: The American „Empire" and other Studies of US Foreign Policy in a Comparative Perspective, London u.a. 1990. -
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gen Ländern ab. Deutschland war in der gesamten Zwischenkriegszeit politisch mehr oder weniger isoliert geblieben und daher auch teilweise vom kulturellen Austausch auf internationaler Ebene ausgeschlossen.79 Das Land war mit seinen kaum ausgeprägten demokratischen Traditionen und dem aggressiven Nationalismus nach außen weit entfernt von dem Idealbild der offenen, pluralistischen, marktwirtschaftlichen Gesellschaft einer liberalen Demokratie, als deren Verkörperung sich die USA darzustellen suchten. Insofern hat sich gerade in Deutschland in den beiden Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg der Anpassungsdruck hin zu einem westlich geprägten, repräsentativ-demokratischen System besonders stark entfaltet. Davon waren auch die Konfessionen als Teil der bundesdeutschen Gesellschaft betroffen. Während dem Katholizismus westliche Wertvorstellungen nicht völlig fremd waren,80 müßte der Protestantismus, wenn seine Zuordnung zur „negativen" Linie deutscher Geschichte zutreffend ist, entweder eine radikale Abkehr von seinen Traditionen vollzogen haben oder aber ein Residualbereich klassisch deutscher Obrigkeitsgesinnung gewesen sein, der für eine „Westernisierung" im Sinne der westlich-amerikanischen Vorstellungen unerreichbar geblieben ist: Hat der Protestantismus mit seiner Geschichte gebrochen und seine obrigkeitsstaatliche Traditionen durch das westliche Ideologieangebot ersetzt oder hat er es rundweg abgelehnt? Sind möglicherweise einzelne Ideologeme daraus entnommen und mit eigenen Traditionsbeständen verwoben beziehungsweise amalgamiert worden, um sie so produktiv für die Integration der Protestanten in die Bundesrepublik und damit der westlichen Welt fruchtbar zu machen? Es geht bei dieser Fragestellung also um die Rekonstruktion kollektiver Ideen und Deutungsmuster und um die Frage nach ihrer Zuordnung zu traditionell deutschen oder westlich-atlantischen Traditionslinien. Als Träger und Vermittler solcher Wertekategorien kommen in erster Linie meinungsbildende und meinungsführende Kreise in Betracht, da bei ihnen ein aktives Interesse an der Verbreitung ihrer eigenen Wertvorstellungen vorausgesetzt werden kann. Personengruppen mit Multiplikatorenfunktion sind vor allem Journalisten, Schriftsteller, Politiker, Wirtschaftsführer, Wissenschaftler, Gewerkschaftsfunktionäre oder Angehörige von Leitungsgremien in Kirchen oder Verbänden. Eine ganze Reihe derartiger Funktionsträger war im Bereich des Protestantismus unter den Mitgliedern des Kronberger Kreises zu finden. Der nach seinem Tagungsort, Kronberg im Taunus, benannte Zusammenschluß vereinigte Kirchenvertreter, evangelische CDU-Politiker, Bundes- und Landesminister sowie Wirtschaftsfachleute und Zeitungsredakteure. 1951 von Eberhard Müller, Reinold von
79)
Der deutsch-amerikanische Kulturaustausch in den Jahren der Weimarer Republik ist in jüngster Zeit zunehmend auf wissenschaftliches Interesse gestoßen, vgl. dazu Elisabeth Glaser-Schmidt: Verpaßte Gelegenheiten? (1918-1932), in: Deutschland und die USA im 20. Jahrhundert. Geschichte der politischen Beziehungen, hg. von Klaus Larres und Torsten Oppelland, Darmstadt 1997, S.31-61, hier S.47f. (mit weiterführender Literatur). 80) Vgl. Karl Rohe: Zur Geschichte des sozialen und politischen Katholizismus im Ruhrgebiet, in: Berichte und Beiträge. Bistum Essen, Sekretariat Kirche und Gesellschaft, H. 12. Zur geschichtlichen Erforschung und Dokumentation des sozialen und politischen Katholizismus im 19. und 20. Jahrhundert im Ruhrgebiet. Forschungsprobleme, Defizite, Impulse. Fachtagung 1990, Essen 1992, S.25-37, hier v.a. S.25f.
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Thadden-Trieglaff und Hanns Lifje als innerkirchliches Gegengewicht gegen die protestantischen Wiederbewaffnungsgegner gegründet, reichten die selbstgesteckten Ziele der Gruppe über den kirchlichen Bereich hinaus. Das Gewicht des Protestantismus in Staat und Gesellschaft der Bundesrepublik sollte gestärkt und eine gezielte Förderung von evangelischem Nachwuchspersonal für höchste Ämter in Politik und Wirtschaft in die Tat umgesetzt werden. Der Kronberger Kreis, der stets einen informellen Charakter bewahrte, repräsentierte einen sozial vergleichsweise homogenen Ausschnitt des deutschen Nachkriegsprotestantismus. Seine Gründungsmitglieder entstammten in der Regel kirchengebundenen Elternhäusern, waren in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts oder im ersten Jahrzehnt nach der Jahrhundertwende geboren und bekleideten nach 1945 wichtige öffentliche Ämter. Sie waren zum größten Teil seit Jahren miteinander bekannt oder befreundet und wußten um ihre gemeinsamen theologischen und politischen Grundpositionen. Bei ihren bis in die siebziger Jahre regelmäßig stattfindenden Tagungen beschäftigten sie sich mit allen Bereichen des ökonomischen, politischgesellschaftlichen und kirchlichen Lebens. Insofern stellt die Gruppierung ein nahezu ideales Studienobjekt für die erkenntnisleitende Frage dar. Um der Gefahr einer Darstellung im Sinne des klassischen Historismus zu entgehen, wurde der ideengeschichtliche Ansatz um einen individualbiographischen erweitert, da so die soziale Trägerschaft bestimmter Gedanken- und Vorstellungsmuster mit einbezo-
gen werden konnte. Das erste Zwischenergebnis, das die Untersuchung zu Tage förderte, war die Erkenntnis, daß von einem durch den Untergang des Dritten Reiches ausgelösten Bruch in der Gedanken- und Vorstellungswelt, von einer abrupten, grundlegenden „Konversion" hin zu westlich-demokratischen Vorstellungen keine Rede sein kann. Zugleich waren die von den Angehörigen des Kronberger Kreises vertretenen Ideen nicht ohne weiteres den oben dargestellten obrigkeitshörigen, apolitischen und national fixierten Traditionslinien im deutschen Protestantismus zuzuordnen. Vielmehr zeigte sich, daß eine prinzipielle Offenheit gegenüber bestimmten Wertekategorien westlicher Provenienz bei den Mitgliedern des Kreises durchaus vorhanden war. Erst der Rückgriff auf die persönlichen Lebenserfahrungen der „Kronberger" in den zwanziger und dreißiger Jahren erschloß den Zugang zum Verständnis ihrer eigenen spezifischen Traditionsverbundenheit, die nicht allein in Deutschland wurzelte, sondern durch intensive ökumenische Kontakte mit der westeuropäischen und angelsächsischen Welt gekennzeichnet war. Hier wurde in der Weimarer Zeit und in den Friedensjahren des Dritten Reiches bereits der Boden bereitet für die später unter gänzlich veränderten politischen Konstellationen erfolgte Auf- und Übernahme bestimmter Elemente des westlichen Ideologie-
angebots. Am Anfang der Darstellung
steht deshalb ein Überblick über den nicht selten eng miteinander verflochtenen Lebens- und Berufsweg der Gründer des Kronberger Kreises seit der späten zwanziger Jahren. Im zweiten Hauptkapitel wird dann der Versuch unternommen, die in den Plenardebatten des Kreises vertretenen Ideen entweder primär deutschen oder primär westlich-atlantischen Traditionslinien zuzuordnen. Die Analyse behandelt dabei die wichtigsten und meistdiskutierten Themenfelder, mit denen sich die Gruppe bei ihren Zusammenkünften be-
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schäftigt hat. Im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie in den Kernbereichen der inneren und äußeren Politik der Bundesrepublik war eine ganze Reihe ideeller Komponenten westlich-amerikanischer Herkunft nachzuweisen, die teilweise modifiziert mit traditionell deutschen Wertvorstellungen verbunden wurden. Das Ergebnis dieses Verschmelzungsprozesses kann als eine spezifisch
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bundesdeutsche, konservative Variante deutsch-westlicher „Mischkultur" betrachtet werden.81
Im letzten Teil der Untersuchung werden die Vermittlungswege, deren sich die Mitglieder des Kronberger Kreises bedienten, um ihre Gedanken publik zu machen, näher betrachtet. Die Evangelischen Akademien, die evangelische Publizistik, der Deutsche Evangelische Kirchentag und im Bereich der Parteipolitik der Evangelische Arbeitskreis der CDU waren Foren, auf denen die Ideen und Anschauungen der „Kronberger" einem interessierten Publikum präsentiert und Medien, mit deren Hilfe sie in die Öffentlichkeit transferiert werden konnten. Die Mitglieder des Kreises nutzten diese „Schnittstellen", um eigene gedankliche Impulse in Debatten und Diskussionen breiterer evangelischer Bevölkerungsschichten einzubringen. Naturgemäß hinterläßt ein informeller Gesprächskreis ohne feste organisatorische Struktur und geschäftsführende Zentrale nur wenig schriftlich fixiertes Material, das der Historiker zur Rekonstruktion von Meinungsbildungsprozessen oder von Positionen einzelner Redner heranziehen kann. Im Falle des Kronberger Kreises ist die Quellenlage insgesamt als recht günstig zu bezeichnen. Zwei regelmäßige Tagungsteilnehmer, Erich Ruppel und Otto A. Friedrich, fertigten zum privaten Gebrauch Stichwort- oder Kurzprotokolle der Kronberger Verhandlungen an, und der Stuttgarter Rechtsanwalt Otto Küster notierte zusammenfassende Nachbetrachtungen in seinem Tagebuch.82 Auf der Grundlage dieser Quellen kann der allgemeine Diskussionsgang nachgezeichnet und die Argumentation einzelner Gesprächsteilnehmer dargestellt werden. Die Aufzeichnungen Ruppels83 stammen vor allem von Treffen der frühen fünfziger Jahre, während die ausführlichen sogenannten Log-Notizen Friedrichs84 Aufschluß über die Unterredungen der sechziger Jahre geben. Von einigen Zusammenkünften liegen mehrere schriftliche Zeugnisse vor,85 deren inhaltlicher Vergleich ein so hohes Maß an Übereinstimmung -
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Die Ebene der Wissenschafts- und Bildungspolitik scheint dagegen fast ausschließlich deutschen Traditionen verhaftet geblieben zu sein. Diesen Eindruck vermitteln jedenfalls die Kronberger Diskussionen. Da Bildungsfragen keine zentrale Rolle in den Debatten des Kronberger Kreises zukam, war eine detaillierte Analyse auf der schmalen Grundlage des vorliegenden Quellenmaterials nicht möglich. 82) Das Tagebuch Otto Küsters befindet sich im Privatbesitz der Familie Küster und wurde dem Verfasser dankenswerterweise von Gerold Küster, einem Sohn des Tagebuchautors, in maschinenschriftlicher Transkription zur Verfügung gestellt. 83) Die Mitschriften Ruppels befinden sich im Landeskirchlichen Archiv Hannover (LkA Hannover), N 60, 374. 84) Der Nachlaß Otto A. Friedrichs wird im Archiv für christlich-demokratische Politik (ACDP, Bestand 1-093) in Bonn/St. Augustin aufbewahrt. 85) So z.B. von der Tagung am 576.7. 1958 (ACDP 1-093-40/2 und LkA Hannover N 60, 374). Die Log-Notizen Otto A. Friedrichs aus dem Archiv für christlich-demokratische Politik und das Protokoll Erich Ruppels, das sich im Landeskirchlichen Archiv in Hannover
genuin
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daß von einer großen Zuverlässigkeit der Aufzeichnungen ausgegangen werden kann. Die Korrespondenzen der Mitglieder des Kreises untereinander, die Einladungsschreiben zu den Kronberger Treffen, die in der Regel die Tagesordnung enthalten und die Referate ankündigen, sowie kurze Berichte über die Ergebnisse der Diskussionen sichern die Darstellung weiter ab. Zu den benutzten unveröffentlichten Quellen gehören daneben auch Entwürfe für Reden bei öffentlichen
zeigt,
etwa Akademietagungen, Versammlungen des Evangelischen Arbeitskreises oder Jahrestagungen von Wirtschaftsverbänden, in denen sich Mitglieder des Kreises zu Fragen äußerten, die in Kronberg besprochen worden sind. Da die in den internen Debatten vertretenen Positionen auch in gedruckten Quellen ihren Niederschlag gefunden haben, sind Aufsätze, Zeitungsartikel oder eigenständige Publikationen von „Kronbergern" ebenfalls ausgewertet worden. Die umfangreichsten und wichtigsten Quellenbestände für die Geschichte des Kronberger Kreises stammen aus den Hinterlassenschaften seiner Gründer. Die Akten Eberhard Müllers werden im Archiv der Evangelischen Akademie Bad Boll (EABB)86 aufbewahrt, der Nachlaß Hanns Liljes ist im Landeskirchlichen Archiv Hannover87 zu finden, und der Bestand des Deutschen Evangelischen Kirchentages im Evangelischen Zentralarchiv in Berlin enthält die Unterlagen Reinold von Thaddens zum Kronberger Kreis.88 Im Archiv für christlich-demokratische Politik in Bonn/St. Augustin lagern die Nachlässe einer Reihe von evangelischen CDUPolitikern, die Mitglieder des Kreises gewesen sind.89 Daneben sind in St. Augustin auch die Archivalien des Evangelischen Arbeitskreises (EAK) der CDU deponiert. Der EAK diente in den frühen fünfziger und dann wieder Mitte der sechziger Jahre als „Schaltstelle" zwischen Kronberger Kreis und Unionsparteien. Als besonders aufschlußreich können die Ergebnisse der Recherchen in US-amerikanischen Archiven gelten. Der Nachlaß Carl Joachim Friedrichs, eines führenden
Veranstaltungen,
befindet, stimmen nicht nur in der Reihenfolge der Debattenredner und dem Inhalt ihrer Beiträge weitgehend überein; sie sind teilweise bis in wörtliche Formulierungen hinein dek-
kungsgleich. Die Tagebuchaufzeichnungen Otto Küsters stützen die vorliegenden Gesprächsmitschriften zusätzlich ab und reichen, insbesondere was die Redebeiträge Küsters betrifft, manchmal sogar über diese hinaus.
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Im Archiv der Boiler Akademie ist das Material zum Kronberger Kreis unter der ArEs handelt sich dabei um 12 Aktenordner mit Korrespondenzen sowie Telefon- und Aktennotizen, die sich über den gesamten Zeitraum des Bestehens des Kreises erstrecken. Darüber hinaus waren in den Beständen der Direktion Müller weitere Dokumente aus dem Umfeld des Kronberger Kreises zu finden, die ebenfalls ausgewertet wurden. 87) Neben der Handakte Erich Ruppels zum Kronberger Kreis (LkA Hannover, N 60, 374) wurden v.a. Bestände der Kirchenkanzlei Hannover herangezogen, die zum nicht gesperrten Teil des Nachlasses Hanns Liljes (L 3 I-III) gehören. Auch der Nachlaß von Adolf Wischmann (N 78) enthielt Hinweise auf Aktivitäten des Kronberger Kreises. 88) Der Zugang zum Bestand des Deutschen Evangelischen Kirchentages wurde nur für eine Akte, die sich ausschließlich auf den Kronberger Kreis bezieht, gestattet. Inzwischen sind die Archivmaterialien des Kirchentages für die Forschung freigegeben; sie konnten aber in die vorliegende Untersuchung nicht mehr einbezogen werden. 89) Z.B. die Nachlässe Ernst Lemmers (ACDP 1-280), Edo Osterlohs (1-262) oder Robert Tillmanns (1-229 ). Auch wenn die dort eingesehenen Archivalien in der vorliegenden Arbeit zum Teil nicht zitiert werden, waren sie insofern von Bedeutung, als sie Bekanntes bestätigten und das Bild von der Tätigkeit des Kronberger Kreises abrundeten.
chivsignatur AZ 90 verzeichnet.
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Politikwissenschaftlers unter den deutschen Emigranten in den USA, der dem Universitätsarchiv in Harvard übergeben worden ist, enthält nicht nur Briefe seines Bruders Otto, sondern auch Aufzeichnungen über die beiden Auftritte Carl Joachims in Kronberg. Wichtige Hinweise auf Kontakte von Mitgliedern des Kreises in den Vereinigten Staaten sowie über die Einschätzung der kirchlichen Lage in Deutschland durch amerikanische Regierungsstellen sind in der staatlichen Aktenüberlieferung in den National Archives enthalten. Weitaus weniger umfangreich als die archivalische Grundlage ist die zur Verfügung stehende Literatur. Gegenstand einer wissenschaftlichen Untersuchung ist der Kronberger Kreis bisher nicht gewesen. Vielmehr ist den meisten Historikern die Existenz des Kronberger Kreises bis in jüngste Zeit unbekannt geblieben.90 Erwähnung findet der Kronberger Kreis lediglich in Volker Berghahns 1993 erschienener Biographie Otto A. Friedrichs91 sowie in zwei jüngst publizierten Aufsätzen, die sich mit der Rolle Eberhard Müllers und der Evangelischen Akademie Bad Boll im Streit um die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik beschäftigen.92 Die erwähnte Friedrich-Biographie behandelt den Kreis aber ebensowenig wie die Darstellung über das politische und kirchliche Wirken von Hermann Ehlers93 oder die noch zu Lebzeiten des „Titelhelden" verfaßte Monographie Werner Huhnes über Reinold von Thadden-Trieglaff.94 Selbst in den Autobiographien und Lebenserinnerungen seiner Gründungsmitglieder, etwa von Eberhard Müller,95 Hanns Lilje96 oder Heinrich Kost97 wird der Zusammenschluß nicht erwähnt. Das gilt auch für alle Aufsätze, in denen Mitglieder des Kronberger Kreises behandelt werden,98 und die nicht selten die Lebensgeschichte und das kirchliche und politische Wirken ohnehin nur kursorisch darzustellen vermögen.
"O Vgl.
Karl Dietrich Erdmann (Hg.): Hermann Ehlers: Präsident des Deutschen Aufsätze und Briefe 1950-1954, Boppard am Rhein 1991, S.471, Anm.4, wo der Bearbeiter ohne genauere Kenntnis des Kronberger Kreises nur von „einem Kreis, dem u.a. Landesbischof Lilje und Kirchentagspräsident von Thadden-Trieglaff angehörten", sprechen kann. 91) Volker R. Berghahn: Otto A. Friedrich, ein politischer Unternehmer. Sein Leben und seine Zeit 1902-1975, Frankfurt a.M.-New York 1993, S.8. 92) Uwe Walter: Welt in Sünde Welt in Waffen. Der Streit um die Wiederbewaffnung, in: Fünfzig Jahre Evangelische Akademie Bad Boll. Aufbruch zum Dialog. Auf dem Weg zu einer Kultur des Gesprächs, hg. von Manfred Fischer, Stuttgart 1995, S. 121-137, hier S. 127. Christoph Nösser: Das Engagement der Evangelischen Akademie Bad Boll in der Frage der westdeutschen Wiederbewaffnung, in: Das evangelische Württemberg zwischen etwa
Bundestages. Ausgewählte Reden,
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Weltkrieg und Wiederaufbau, hg.
von Rainer Lächele und Jörg Thierfelder, Stuttgart 1995, S. 171-194, hier S. 179. 93) Andreas Meier: Hermann Ehlers. Leben in Politik und Kirche, Bonn 1991. 94) Werner Huhne: Thadden-Trieglaff. Ein Leben unter uns, Stuttgart 1959. Die Darstellung Huhnes reicht nur bis ins Jahr 1957. 95) Eberhard Müller: Widerstand und Verständigung. Fünfzig Jahre Erfahrungen in Kirche und Gesellschaft 1933-1983, Stuttgart 1987. 96) Hanns Lilje: Memorabilia. Schwerpunkte eines Lebens, Nürnberg 1973. 97) Heinrich Kost: Was mich bewegt. Gedanken zur Gesellschaft von heute und morgen, Düsseldorf 1975. 98) Friedebert Lorenz: Reinold von Thadden-Trieglaff, in: Gestalten der Kirchengeschichte, hg. von Martin Greschat, Bd. 10,2. Die neueste Zeit IV, Stuttgart-Berlin-Köln 1993, S. 176-186. Wilhelm Gerhold: Hanns Lilje, stellv. Vorsitzender des Rats, Landesbi-
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Nicht viel besser ist die biographische Forschungslage für weitere Personen aus der Führungsriege der deutschen Evangelischen Kirche. So liegen zwar mit den Monographien von James Bentley, Dietmar Schmidt und Diether Koch umfangreiche Werke über Martin Niemöller99 und Gustav Heinemann,'00 die beiden führenden Adenauer-Gegner in der evangelischen Kirche, vor, doch weder ihre Mitstreiter wie Held, Iwand oder Mochalski noch ihre wichtigsten Gegenspieler sind bisher eingehender, wissenschaftlich fundierter biographischer Forschung unterzogen worden. So ist lediglich über Hans Asmussen schon in den achtziger Jahren eine wissenschaftliche Biographie erschienen.101 Die 1989 publizierte Lebensbeschreibung des langjährigen Ratsvorsitzenden Otto Dibelius ist von einem seiner früheren Mitarbeiter verfaßt worden, der nicht immer der Gefahr entgangen ist, aus Sympathie mit seinem „Helden" die Zusammenstöße und Spannungen innerhalb der EKD „schönzureden".102 Fundierte biographische Studien, die nicht nur die Lebensgeschichten von wichtigen Akteuren der evangelischen Kirche nach dem Zweiten Weltkrieg nachzeichnen, sondern auch deren soziale und ideelle Herkunft untersuchen, sind nach wie vor ein Desiderat der Protestantismusfor-
schung.
schof der Evang.-Luth. Landeskirche Hannovers, Leitender Bischof der Vereinigten Evang.-Luth. Kirche Deutschlands, in: Zum Dienst berufen. Lebensbilder leitender Männer der Evangelischen Kirche in Deutschland, hg. von Jürgen Bachmann (Fromms Taschenbücher „Zeitnahes Christentum", Bd.29), Osnabrück 1963, S.33^12. Dietmar SchmidtHans Puttfarcken, Ministerialdirigent, Präses der Synode der EKD, in: ebd., S. 79-82. Christoph Baumgartner: Adolf Wischmann, Präsident des Außenamtes der Evangelischen -
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Kirche in Deutschland, in: ebd., S.231-234. Kurt Pritzkoleit: Männer Mächte Monopole. Hinter den Türen der westdeutschen Wirtschaft, Düsseldorf 1960 (siehe darin die Kapitel „Robert Pferdmenges: Eliten finden zueinander", S.40-54, sowie „Heinrich Kost: Bergmann nach Tradition, Beruf und Berufung", S. 64—70). ") James Bentley: Martin Niemöller. Eine Biographie, München 1985. Dietmar Schmidt: Martin Niemöller. Eine Biographie, Stuttgart 1983. Aus der umfangreichen Niemöller-Literatur seien exemplarisch einige weitere Beiträge genannt: Martin Greschat: Martin Niemöller, in: Gestalten der Kirchengeschichte, hg. von dems., Bd. 10,2. Die neueste Zeit IV, Stuttgart-Berlin-Köln 1993, S. 187-204. Kurt Scharf: Martin Niemöller, in: Protestanten in der Demokratie. Positionen und Profile im Nachkriegsdeutschland, hg. von Wolfgang Huber, München 1990, S. 193-204. Franz Beyer: Menschen warten. Aus dem politischen Wirken Martin Niemöllers seit 1945, Siegen 1952. Wilhelm Niemöller: Neuanfang 1945. Zur Biographie Martin Niemöllers nach seinen Tagebuchaufzeichnungen aus dem Jahre 1945 (Antworten 16), Frankfurt a.M. 1967. 10°) Diether Koch: Heinemann und die Deutschlandfrage, München 21972. Vgl. auch den biographischen Aufsatz Kochs in: Gestalten der Kirchengeschichte, hg. von Martin Greschat, Bd. 10,2. Die neueste Zeit IV, Stuttgart-Berlin-Köln 1993, S.225-243. Siehe auch Johannes Rau: Gustav Heinemann, in: Protestanten in der Demokratie. Positionen und Profile im Nachkriegsdeutschland, hg. von Wolfgang Huber, München 1990, S.55-68. Beide Autoren gehörten zum engeren politischen Umfeld Heinemanns. 101) Enno Konukiewitz: Hans Asmussen. Ein lutherischer Theologe im Kirchenkampf (Die Lutherische Kirche, Geschichte und Gestalten 6), Gütersloh 1984. 102) Robert Stupperich: Otto Dibelius. Ein evangelischer Bischof im Umbruch der Zeiten, Göttingen 1989. -
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I. Der Protestantismus in der
Nachkriegszeit
Ohne die Rückschau auf den
Kirchenkampf kann die weitere Entwicklung der des deutschen Protestantismus nur unzureichend verstanden werden,1 denn in die Zeit der nationalsozialistischen Diktatur fielen grundlegende Weichenstellungen, die weit über 1945 hinaus bestimmend blieben. Ein kursorischer Überblick über die Geschichte des Kirchenkampfes2 ist an dieser Stelle deshalb unverzichtbar.3 evangelischen Kirche und
') Auf knappem Raum die Geschichte des deutschen Protestantismus von 1945 bis zum Ende der sechziger Jahren einigermaßen detailliert und zugleich umfassend darzustellen, ist auf der Grundlage der bis heute vorliegenden wissenschaftlichen Untersuchungen kaum möglich. Die Ursache dafür liegt vor allem in der „Forschungslandschaft" im Bereich der evangelischen kirchlichen Zeitgeschichte begründet, die, wie Clemens Vollnhals in seinem 1990 erschienenen Literaturbericht herausgearbeitet hat, in erster Linie „Hausgeschichtsschreibung" (C. Vollnhals: Kirchliche Zeitgeschichte, S. 176) ist, d.h. nur von Angehörigen der eigenen Konfession betrieben wird. Diese Tatsache hat eine z.T. bis in die jüngste Vergangenheit reichende Verengung der Perspektive auf im engen Sinne kirchliche und theologische Themen zur Folge, während sowohl die gesellschaftliche Dimension der evangelischen Konfession wie auch die geistesgeschichtliche Relevanz protestantischer Prägungen im Kontext der neueren Zeitgeschichte bisher nur unzureichend zudem meist einseitig behandelt worden sind. Die einzige Gesamtdarstellung der Geschichte der Kirchen in der Bundesrepublik stammt bezeichnenderweise von einem Amerikaner. Das Buch von F. Spotts über die „Kirchen und Politik" behandelt die Zeit von 1945 bis 1972, enthält aber eine Reihe von sachlichen Fehlern (v.a. bezüglich der katholischen Kirche; so wird, um nur ein Beispiel zu nennen, das Reichskonkordat als „das erste in der Geschichte Deutschlands", [S. 31 ] bezeichnet) sowie Fehleinschätzungen und ist deshalb nur mit Vorsicht zu gebrauchen. Seit 1989 liegt mit dem Werk von Karl Herbert: Kirche zwischen Aufbruch und Tradition. Entscheidungsjahre nach 1945, Stuttgart 1989, erstmalig eine Monographie zur evangelischen Kirche zwischen Kriegsende und Mitte der siebziger Jahre vor. Der Autor war als Pfarrer Mitglied der Bekennenden Kirche an der Seite Martin Niemöllers und später als stellvertretender Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau an den innerkirchlichen Auseinandersetzungen beteiligt und konzentriert sich in seiner Darstellung auch ganz auf diese Thematik. 2) Auf den Untersuchungen zum Kirchenkampf liegt bis heute der Schwerpunkt evangelischer Zeitgeschichtsschreibung (vgl. C. Vollnhals: Kirchliche Zeitgeschichte, S. 176). Ein Blick in die Jahresbibliographie der .Kirchlichen Zeitgeschichte', die auch Arbeiten zur katholischen Kirche aufführt, bestätigt die These von Vollnhals: Die Literatur zur zwölfjährigen NS-Zeit füllt neun Seiten, während die Publikationen zu den 45 Jahren gesamtdeutscher Geschichte zwischen 1945 und 1990 auf sieben Seiten Platz finden (vgl. KZG 7, 1994, S. 455^170). Zur Erforschung der evangelischen Kirchengeschichte während des Dritten Reiches wurde bereits 1955 die „Kommission der Evangelischen Kirche in Deutschland für die Geschichte des Kirchenkampfes" gegründet, die vor allem mit Theologen des bruderrätlichen Flügels der Bekennenden Kirche besetzt war. Deren Interpretationen bestimmten über Jahre hinweg die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, weshalb Klaus Scholder von einem „Monopol im Sinne der ,Dahlemer Richtung'" gesprochen hat (Klaus Scholder: Altes und Neues zur Vorgeschichte des Reichskonkordats. Erwiderung auf Konrad Repgen, in: Ders.: Die Kirchen zwischen Republik und Gewaltherrschaft. Gesammelte Aufsätze hg. von Karl Otmar von Aretin und Gerhard Besier, Berlin 1988, S. 171-203, hier S.178; vgl. auch C. Vollnhals: Kirchliche Zeitgeschichte, S.176). Erst seit den ausgehenden sechziger Jahren wurden die bis dahin vorliegenden Erkenntnisse durch neue Untersuchungen zeitlich und thematisch erweitert. Die Umbenennung der Kom-
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/. Der Protestantismus in der Nachkriegszeit
Schon bald nach der nationalsozialistischen Machtergreifung, im Zuge von Hitlers Gleichschaltungspolitik, entbrannten innerhalb der evangelischen Kirche die Auseinandersetzungen um die Kirchenführung. Die Deutschen Christen (DC), eine völkisch-nationale und nationalsozialistische Gruppierung, hatten bei den Kirchenwahlen im Juli 1933, die auf der Grundlage der unter staatlichem Einfluß neugeschaffenen Reichskirchenverfassung durchgeführt worden waren, mit Unterstützung Hitlers und der NSDAP in fast allen Synoden die Mehrheit errungen.4 Ludwig Müller, als Vertrauensmann des „Führers" von der ersten Reichssynode im Herbst 1933 zum Reichsbischof gewählt, gliederte im Laufe des folgenden Jahres die einzelnen Landeskirchen in die Reichskirche ein. Lediglich die „intakten" lutherischen Landeskirchen von Württemberg, Bayern und Hannover konnten sich dieser Gleichschaltungspolitik entziehen. Sie schlössen sich der schon Ende 1933 in den „zerstörten" Landeskirchen entstandenen innerkirchlichen Opposition, der in Bruderräten organisierten Bekennenden Kirche (BK), an. Beide Flügel waren keine Widerstandsgruppen im politischen Sinn.5 Die außen- und in mission in
„Evangelische Arbeitsgemeinschaft für kirchliche Zeitgeschichte" hat dieser Entwicklung Rechnung getragen. Trotzdem sind monographische Arbeiten über die fünfziger und sechziger Jahre bis heute selten geblieben, während die Besatzungszeit, vor allem bezüglich des Themas Entnazifizierung, inzwischen gut aufgearbeitet ist. 3) Aus der kaum noch zu überschauenden Literatur zum Kirchenkampf seien hier nur die wichtigsten Gesamtdarstellungen genannt: Kurt Meier: Der evangelische Kirchenkampf. Gesamtdarstellung in drei Bänden, Göttingen 1976-1984, sowie Klaus Scholder: Die Kirchen und das Dritte Reich, 2 Bde., Berlin 1977 und 1985. Scholders zweibändiges Werk blieb unvollendet und umfaßt nur die Vorgeschichte des Kirchenkampfes und dessen Anfänge bis ins Jahr 1935. Siehe auch den instruktiven Überblicksartikel Scholders (Stichwort „Kirchenkampf') im .Evangelischen Staatslexikon', Bd. 1, Sp. 1606-1636. Das Taschenbuch von Georg Denzler und Volker Fabricius behandelt sowohl die katholische wie die evangelische Kirche und ist mit einem Quellenanhang versehen, in dem zentrale Dokumente zur Kirchengeschichte im Dritten Reich abgedruckt sind: Georg Denzler/Volker Fabricius: Christen und Nationalsozialisten. Darstellung und Dokumente, Frankfurt a.M. 1993.
4) Lediglich in Bayern, Hannover und Württemberg sowie in der preußischen Kirchenpro-
vinz Westfalen konnten sich die Deutschen Christen nicht durchsetzen; diese Kirchen werden deshalb als „intakt" im Gegensatz zu den von den DC zerstörten bezeichnet. 5) Trotzdem hat es Ansätze zum politischen Widerstand in der BK gegeben, deren systematische Untersuchung aber noch aussteht. Erst mit Hilfe eines differenzierten Widerstandsbegriffs konnte die Forschung danach fragen, ob es außer der Gegenwehr von bekannten Einzelpersönlichkeiten noch weitere Formen widerständigen Verhaltens gegeben hat. Vgl. Kurt Nowak: Kirche und Widerstand gegen den Nationalsozialismus 1933-1945 in Deutschland. Erwägungen zu einem Forschungsproblem der kirchlichen Zeitgeschichtsschreibung unter besonderer Berücksichtigung des Luthertums, in: Nordische und deutsche Kirchen im 20. Jahrhundert. Referate auf der Internationalen Arbeitstagung in Sandbjerg/Dänemark 1981, hg. von Carsten Nicolaisen (AKZ, Reihe B, Bd. 139), Göttingen 1982, S. 122-149. Gerhard Besier: Ansätze zum politischen Widerstand in der Bekennenden Kirche. Zur gegenwärtigen Forschungslage, in: Ders.: Die evangelische Kirche in den Umbrüchen des 20. Jahrhunderts, Bd. 1 (Historisch-Theologische Studien zum 19. und 20. Jahrhundert, Bd.5/1), Neukirchen-Vluyn 1994, S.227-242. 7. Mehlhausen: Widerstand, S.27-33. Siehe auch Armin Boyens: Widerstand der Evangelischen Kirche im Dritten Reich, in: Nationalsozialistische Diktatur 1933-1945. Eine Bilanz, hg. von Karl Dietrich Bracher, Manfred Funke und Hans-Adolf Jacobsen (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 192), Bonn 1986, S.669-686. Boyens hat hier in Anlehnung an Ernst Wolf von der BK als einer „Widerstandsbewegung wider Willen" gesprochen (S.685 f.). -
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eingeschränktem Maße auch die innenpolitischen Maßnahmen der nationalsozialistischen Regierung wurden vorwiegend aus nationalen Motiven häufig bejaht, zumindest aber widerstandslos hingenommen. Bis zuletzt hat die Beken-
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nende Kirche ihre Stimme nicht entschlossen gegen die zahllosen Rechtsbrüche und Verbrechen des Regimes erhoben. Die Ursache dafür lag in ihrem Selbstverständnis begründet: Aus der theologischen Überzeugung, daß die Kirche allein an Schrift und Bekenntnis gebunden sei, erwuchs der Widerstand gegen den Totalitätsanspruch der NS-Parteiideologie und gegen die staatlichen Versuche, in den innerkirchlichen Bereich einzugreifen; eine Ablehnung des nationalsozialistischen Staates und seines Führers Adolf Hitler als legitime Obrigkeit war damit keineswegs verbunden. Die Barmer Theologische Erklärung, auf der ersten Reichsbekenntnissynode im Jahr 1934 verabschiedet, wurde zum zentralen Dokument der theologisch motivierten Abwehrhaltung gegenüber nationalsozialistischen Infiltrationsversuchen und Vereinnahmungstendenzen.6 Trotz dieser gemeinsamen Grundlage war das konkrete Verhalten der Bekennenden Kirche sowohl gegenüber staatlichen Stellen wie auch gegenüber der zunehmend schwächer werdenden deutsch-christlichen Bewegung, die sich zum Teil durch radikale Forderungen wie etwa die Abschaffung des Alten Testaments diskreditiert hatte, durchaus verschieden und führte schließlich zur Spaltung der Bekennenden Kirche. Die „intakten" Landeskirchen und einige lutherische Bruderräte, seit 1936 im sogenannten Lutherrat zusammengeschlossen, waren zur partiellen Zusammenarbeit mit staatlich eingesetzten Kirchenleitungen bereit, suchten wegen des grundsätzlichen Festhaltens am volkskirchlichen Konzept möglichst auf die „neutralen" kirchlichen Mittelgruppen Rücksicht zu nehmen und tolerierten sogar deutsch-christliche Minderheiten in den eigenen Reihen. Ganz anders verhielten sich die „radikalen" Bruderräte, die vor allem in Preußen vertreten waren und dort einer deutsch-christlichen Kirchenleitung gegenüberstanden. Sie waren stärker von der Theologie Karl Barths beeinflußt und beharrten kompromißlos auf den Beschlüssen der zweiten Bekenntnissynode von Berlin-Dahlem, in denen die Bekennende Kirche zur allein legitimierten Kirchenleitung erklärt worden war; eine Kooperation mit kirchlichen Gruppierungen, die sich zur Zusammenarbeit mit den Deutschen Christen bereit fanden, war damit ausgeschlossen.7 Zu Beginn der vierziger Jahre versuchte der Württemberger Landesbischof Theophil Wurm, die getrennten und zerstrittenen Flügel der Bekennenden Kirche im Kirchlichen Einigungswerk zusammenzuführen.8 Dessen Grundlage, die drei-
6)
Zur Barmer Bekenntnissynode vgl. aus der umfangreichen Literatur: M. Greschat: Bekenntnis und Politik. Ernst Wolf: Barmen. Kirche zwischen Versuchung und Gnade, München 1957. K. Scholder: Kirchen, Bd.2, 5. Kapitel, S. 159-219. 7) Zum theologischen „Profil" der verschiedenen kirchlichen Gruppierungen vgl. Günther van Norden: Die evangelische Kirche am Vorabend des Zweiten Weltkrieges, in: Evangelische Kirche im Zweiten Weltkrieg, hg. von dems. und Volkmar Wittmütz (Schriftenreihe des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte, Bd. 104), Köln 1991, S. 103-120. 8) Vgl. dazu die Arbeiten von Jörg Thierfelder: Das kirchliche Einigungswerk des württembergischen Landesbischofs Theophil Wurm, Göttingen 1975, sowie Ders.: Das kirchliche Einigungswerk des württembergischen Landesbischofs Theophil Wurm und seine Kri-
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zehn Sätze über
„Auftrag und Dienst der Kirche", auf die sich Vertreter der verGruppierungen geeinigt hatten, knüpften an die Barmer Theologische Erklärung an und fanden auch weitgehend Zustimmung; zu einer praktischen Zuschiedenen
sammenarbeit aber kam es bis 1945 kaum noch. Das
Kriegsende brachte nicht nur den Untergang des Nationalsozialismus mit
sich, sondern auch die Besetzung Deutschlands durch Truppen der alliierten Sie-
germächte und die Übernahme der Exekutive durch Militärregierungen. Die Kirchen wurden dadurch mit völlig neuartigen Problemen konfrontiert. Einerseits suchten die alliierten Behörden Kirchenvertreter als Ansprechpartner, etwa wenn es bei der Neubesetzung von Ämtern um die Suche politisch unbelasteter Kandidaten ging; andererseits artikulierten die Kirchen die Interessen ihrer Mitglieder gegenüber den Siegermächten, beispielsweise in den kirchlichen Protesten gegen die alliierte Entnazifizierungspraxis.9 Außerdem übernahmen die Kirchen eine ganze Fülle sozialcaritativet Aufgaben in der Betreuung von Flüchtlingen und Vertriebenen,10 von Ausgebombten oder Waisen. „Am Anfang waren die Kirchen und kein Staat"", so hat Martin Greschat deshalb diese Situation beschrieben, die trotz gravierender Unterschiede in der Politik der Besatzungsmächte im Einzelnen in allen westlichen12 Zonen grundlegende Gemeinsamkeiten aufwies:13 -
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tiker, in: Evangelische Kirche im Zweiten Weltkrieg, hg. von Günther van Norden und Volkmar Wittmütz (Schriftenreihe des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte, Bd. 104), Köln 1991, S.241-257.
9) Vgl.
zur Haltung der Kirche gegenüber der Entazifizierungspolitik Clemens Vollnhals: Evangelische Kirche und Entnazifizierung 1945-1949. Die Last nationalsozialistischer Vergangenheit (Studien zur Zeitgeschichte, Bd.36), München 1989. Ders.: Entnazifizierung und Selbstreinigung im Urteil der evangelischen Kirche. Dokumente und Reflexionen 1945-1949 (Studienbücher zur kirchlichen Zeitgeschichte, Bd. 8), München 1989. Gerhard Besier: „Selbstreinigung" unter britischer Besatzungsherrschaft. Die Evangelisch-lu-
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therische Landeskirche Hannovers und ihr Landesbischof Marahrens 1945-1947 (Studien zur Kirchengeschichte Niedersachsens, Bd.27), Göttingen 1986. K. Herbert: Kirche zwischen Aufbruch und Tradition, S. 80-92. 10) Vgl. Hartmut Rudolph: Evangelische Kirche und Vertriebene 1945-1972, 2 Bde., Göttingen 1984 und 1985. ") Martin Greschat: Die Kirchen in den beiden deutschen Staaten nach 1945. Helmut Berding zum 60. Geburtstag, in: GWU 42 (1991), S.267-284 (auch abgedruckt in: Ders.: Protestanten in der Zeit. Kirche und Gesellschaft in Deutschland vom Kaiserreich bis zur Ge-
genwart, hg.
von
12)
Jochen-Christoph Kaiser, Stuttgart-Berlin-Köln 1994).
Die Entwicklung in der sowjetischen Zone kann in diesem auf die spätere Bundesrepublik konzentrierten Überblick außer Acht bleiben. Vgl. dazu Horst Dähn: Konfrontation oder Kooperation? Das Verhältnis von Staat und Kirche in der SBZ/DDR 1945-1980, Opladen 1982. Kurt Meier: Volkskirchlicher Neuaufbau in der Sowjetischen Besatzungszone, in: Die Zeit nach 1945 als Thema kirchlicher Zeitgeschichte, hg. von Victor Conzemius, Martin Greschat und Hermann Kocher, Göttingen 1988, S.213-234. Manin Onnasch: Die Situation der Kirche in der sowjetischen Besatzungszone 1945-1949, in: KZG 2 (1989), S.210-220. Jürgen Seidel: „Neubeginn" in der Kirche? Die evangelischen Landes- und Provinzialkirchen in der SBZ/DDR im gesellschaftspolitischen Kontext der Nachkriegszeit (1945-1953), Göttingen 1989. Aus Sicht der DDR-Wissenschaft: Gerhard Wolter: Die Strategie und Taktik der KPD und SED bei der Einbeziehung christlicher Kräfte in die Lösung der Lebensfragen der deutschen Nation (1933-1950), Leipzig 1968. ") Die amerikanische Zone ist bisher am eingehendsten untersucht worden, vgl. Armin Boyens: Die Kirchenpolitik der amerikanischen Besatzungsmacht in Deutschland von 1944-1946, in: Kirchen in der Nachkriegszeit. Vier zeitgeschichtliche Beiträge (AKZ, Rei-
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Sowohl die katholische, wie auch mit starken Einschränkungen die evangelische Kirche hatten den Untergang des NS-Regimes und den Zerfall der deutschen Verwaltungsstrukturen organisatorisch relativ unbeschadet überlebt. Hinzu kam, daß führende Vertreter beider Konfessionen sich und ihre Kirchen als Widerstandsgruppen gegen den Nationalsozialismus verstanden und darstellten und daß diese Selbstdarstellung von den Siegermächten akzeptiert wurde. Derart moralisch legitimiert, sahen die Kirchen die Chance, im geistigen Vakuum der Zusammenbruchgesellschaft christliche Wertvorstellungen als Grundlage einer tiefgreifenden Neuorientierung der Deutschen zu verankern.14 Um diese Aufgabe erfolgreich wahrnehmen zu können, erschien vielen in der evangelischen Kirche als unabdingbare Voraussetzung, zunächst die verschiedenen Kräfte organisatorisch zusammenzuführen.15 Der Württemberger Landesbischof Theophil Wurm, der mit dem Kirchlichen Einigungswerk schon während des Krieges einen ähnlichen Versuch unternommen hatte, ergriff die Initiative und lud, logistisch unterstützt von der amerikanischen Besatzungsmacht,16 die deutschen „Kirchenführer" zu einer Konferenz nach Treysa ein, deren vorrangiges Ziel -
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he B,
Bd.8), Göttingen 1979, S.7-99. Reinhard Scheerer: Kirchen für den Kalten Krieg. Grundzüge und Hintergründe der US-amerikanischen Religions- und Kirchenpolitik in Nachkriegsdeutschland (Pahl-Rugenstein Hochschulschriften, Gesellschafts- und Naturwissenschaften, Bd. 208), Köln 1986. Scheerers Darstellung ist allerdings formal häufig ungenau und sachlich recht oberflächlich, so daß sie dem selbst erhobenen Anspruch (S.7), die Forschungslücke über die Kirchenpolitik der amerikanischen Militärregierung zwischen 1944 und 1949 zu schließen, nicht gerecht werden kann. Zur französischen Kirchenpolitik siehe Jörg Thierfelder: Die Kirchenpolitik der Besatzungsmacht Frankreich und die Situation der evangelischen Kirche in der französischen Zone, in: KZG 2 (1989), S. 221-238. Zur britischen Zone vgl. G. Besier: „Selbstreinigung". 14) Vgl. zu diesem Abschnitt: C. Kiessmann: Doppelte Staatsgründung, S.59-63. M.J. Inacker: Transzendenz, S. 163-168. John S. Conway: Die Rolle der Kirchen bei der „Umerziehung" in Deutschland, in: Das Unrechtsregime. Internationale Forschung über den Nationalsozialismus, Bd. 2. Verfolgung Exil Belasteter Neubeginn, hg. von Ursula Büttner, Hamburg 1986, S. 359-370. Speziell zur evangelischen Kirche: W. Jochmann: Evangelische Kirche, S.545. Jörg Thierfelder: Einleitung, in: Kirche nach der Kapitulation. Bd. 1. Die Allianz zwischen Genf, Stuttgart und Bethel, hg. von Gerhard Besier, Jörg Thierfelder und Ralf Tyra, Stuttgart-Berlin-Köln 1989, S.8-50, hier S. 11. D. Buchhaas-Birkholz: Zum politischen Weg, S. 12. Ulrich Scheuner: Die Stellung der evangelischen Kirche und ihr Verhältnis zum Staat in der Bundesrepublik 1949-1963, in: Kirche und Staat in der Bundesrepublik 1949-1963, hg. von Anton Rauscher (Beiträge zur Katholizismusforschung, Reihe -
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B), Paderborn-München u.a. 1979, S. 121-150, hier S. 123. Annemarie Smith-von Osten: Von Treysa 1945 bis Eisenach 1948. Zur Geschichte der Grundordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland (AKZ, Reihe B, Bd.9), Göttingen 1980, S.22-24. F. Spotts: Kirchen und Politik, S.45-78. Zur katholischen Kirche vgl. Thomas Großmann: Zwischen Kirche und Gesellschaft. Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken 1945-1970 (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe B, Bd. 56), Mainz 1991, S. 9 und 24f. Hans Maier: Die Katholische Kirche in der Bundesrepublik Deutschland, in: Deutschland-Handbuch. Eine doppelte Bilanz 1949-1989, hg. von Werner Weidenfeld und Hartmut Zimmermann (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 275), Bonn 1989, S. 165-173, hier S. 166. 15) W. Jochmann: Evangelische Kirche, S.549. 16) Vgl. Clemens Vollnhals (Bearb.): Die evangelische Kirche nach dem Zusammenbruch. Berichte ausländischer Beobachter aus dem Jahre 1945 (AKZ, Reihe A, Bd. 3), Göttingen 1988, S.XXVII; sowie/ Thierfelder: Einleitung, S.47f. -
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/. Der Protestantismus in der Nachkriegszeit
war, eine neue gesamtdeutsche kirchliche Organisation zu vereinbaren.17 Die Voraussetzungen für ein Gelingen der Treysaer Tagung waren alles andere als günstig. Die tiefreichenden Spannungen zwischen den konfessionellen und kirchenpolitischen Gruppierungen innerhalb der evangelischen Kirche insgesamt sowie zwischen den beiden Flügeln der Bekennenden Kirche im besonderen waren bereits vor dem Zusammentreffen in Treysa erneut zu Tage getreten.18 Jetzt kamen jene Differenzen wieder offen zum Vorschein, die während des Kirchenkampfes phasenweise von der von außen kommenden Bedrohung notdürftig überdeckt es
worden
waren.
Der bruderrätliche, mehrheitlich von der Theologie Karl Barths beeinflußte Flügel der Bekennenden Kirche (Reichsbruderrat) versammelte sich auf Initiative Martin Niemöllers vom 21.-23. August 1945 in Frankfurt und beriet über die Gestaltung einer künftigen Kirchenorganisation.19 Die Beschlüsse der Bruderratstagung fielen dann entgegen manchen Befürchtungen moderat aus und vereitelten Wurms Pläne nicht schon im Vorfeld der Treysaer Kirchenkonferenz. Der Reichsbruderrat war von seinem seit der Dahlemer Bekenntnissysnode erhobenen Führungsanspruch als alleinig legitimierter Vertreter der evangelischen Kirche in Deutschland abgerückt, der noch im Eröffnungsreferat der Frankfurter Tagung von Martin Niemöller eingefordert worden war.20 Die wichtigsten Gründe für diese Entscheidung dürften die dünne Personaldecke des Reichsbruderrates und die bereits vollzogene Zusammenarbeit mit den kirchlichen Mittelgruppen in einigen Landeskirchen gewesen sein. Gefahr drohte den Plänen Wurms aber auch von anderer Seite. Der sogenannte Lutherrat, in dem seit 1936 die Landeskirchen Bayerns, Württembergs, Hannovers und Sachsens gemeinsam mit lutherischen Mitgliedern der bruderrätlich organisierten Landeskirchen zusammengeschlossen waren, trat am 24. August zu einer dreitägigen Tagung in Treysa zusammen, auf der eine eigene, konfessionell geschlossene lutherische Kirche Deutschlands gebildet werden sollte. Der bayeri-
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17)
Zur Treysaer Konferenz vgl. A. Smith-von Osten: Treysa. -Armin Boyens: Treysa 1945 Die evangelische Kirche nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches, in: ZKG 82 (1971) S.29-53. K. Herben: Kirche zwischen Aufbruch und Tradition, S.48-60. Siehe auch die Einleitungen der Herausgeber in dem jüngst erschienen Band Gerhard Besier/ Hartmut Ludwig/Jörg Thierfelder (Hgg.): Der Kompromiß von Treysa. Die Entstehung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) 1945. Eine Dokumentation (Schriftenreihe der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, Bd. 24), Weinheim 1995. 18) Zur Vorgeschichte der Treysaer Konferenz vgl. A. Smith-von Osten: Treysa, S. 25-101. 7. Thierfelder, Einleitung. Ders./Gerhard Besier: Einleitung, in: Kirche nach der Kapitulation. Bd. 2, Auf dem Weg nach Treysa, hg. von Gerhard Besier, Hartmut Ludwig u.a., Stuttgart-Berlin-Köln 1990, S.8-20. 19) Vgl. zur Bruderratstagung in Frankfurt A. Smith-von Osten: Treysa, Kapitel 4, S.48-69. 20) A. Smith-von Osten: Treysa, S.62 und 64-66. C. Vollnhals: Kirche und Entnazifizierung, S.29. K. Herben: Kirche zwischen Aufbruch und Tradition, S.38-46. Johannes Kahle behauptet dagegen die Aufrechterhaltung des Alleinvertretungsanspruchs (Johannes Kahle: Evangelische Kirche und Demokratie. Der Einordnungsprozeß der Deutschen Evangelischen Kirche in das demokratische Funktionssystem der Nachkriegsära in den Westzonen [Reihe Geschichtswissenschaft, Bd. 13], Pfaffenweiler 1988, S.55). Da Kahle Quellen und Literatur zumeist völlig unkritisch rezipiert, ist hier Vollnhals, Herbert und von Osten -
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zu
folgen.
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/. Der Protestantismus in der Nachkriegszeit
sehe Landesbischof Hans Meiser war der exponierte Verfechter dieser Konzeption, die in Treysa vorerst scheiterte. Wurm und die übrigen Vertreter der Württemberger Landeskirche versagten ihre Zustimmung, so daß ein vorbereiteter Verfassungsentwurf nicht verabschiedet werden konnte; lediglich ein Verfassungsausschuß für eine künftige Ordnung der VELKD wurde gebildet.21 Zwischen den Vertretern des Reichsbruderrats und des Lutherrats bestanden von dieser Ausgangslage her auf der vom 27.-30. August 1945 stattfindenden Treysaer Konferenz tiefgreifende Differenzen. Nur mühsam gelang es Wurm mit Unterstützung Bodelschwinghs, den von allen Seiten gewünschten und angestrebten Kompromiß herbeizuführen.22 Der persönlichen Autorität Wurms, die weithin anerkannt wurde, dürfte dabei ein wichtiger Stellenwert zugekommen sein.23 So gelang in Treysa die Einigung auf eine vorläufige Ordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKÍD, später EKD).24 In deren Leitung setzte sich unter dem Eindruck ihrer moralischen Legitimation die Bekennende Kirche weitgehend durch, wobei versucht wurde, eine Balance zwischen den Flügeln herzustellen.25 Vorsitzender des zwölfköpfigen Rates der EKD, der aus sechs Lutheranern, vier Unierten und zwei Reformierten bestand, wurde Theophil Wurm, Martin Niemöller sein Stellvertreter.26 Armin Boyens kommentierte in seinem 1971 verfaßten Aufsatz über die Treysaer Konferenz deren Ergebnisse so: „Man kann von einem Regierungswechsel sprechen. Aber es ist ein Regierungswechsel innerhalb des alten Systems. Das System ist dasselbe."27 Boyens schloß sich damit Kritikern der Kompromißlösungen vom August 1945 an, die bereits direkt nach der Konferenz ihre Bedenken gegen die Entscheidungen von Treysa artikuliert hatten.28 Sie be-
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21)
Zur
Lutherratstagung
siehe A. Smith-von Osten:
Treysa, Kapitel 7,
S. 92-101.
A.
Boyens: Treysa, S.44. K. Herbert: Kirche zwischen Aufbruch und Tradition, S.46-48. 7. Vogel: Kirche und Wiederbewaffnung, S.37^U. 22) So heißt es etwa bei Robert Stupperich: „Nur in einem Punkte waren sich die Beteiligten einig: ,Daß die Einheit festgehalten werden soll.'" (R. Stupperich: Dibelius, S.375). Vgl. auch A. Boyens: Treysa, S.46. K Herben: Kirche zwischen Aufbruch und Tradition, -
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S.53f.
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2') Belege bei 7. Thierfelder/G. Besier: Einleitung, S. 14-18. Vgl. auch A. Boyens: Treysa, S.36, und C. Vollnhals: Kirche und Entnazifizierung, S.31.
24)
Zu den Verhandlungen vgl. die Darstellungen und Quelleneditionen A. Smith-von Osten: Treysa; A". Herbert: Kirche zwischen Aufbruch und Tradtion, S.48-57; A. Boyens: Treysa. Siehe auch G. Besier/H. Ludwig/J. Thierfelder: Der Kompromiß von Treysa. Zu den kirchenrechtlichen Fragen siehe Heinz Brunotte: Die Grundordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland. Ihre Entstehung und ihre Probleme, Berlin 1954. Endgültig verabschiedet wurde die Grundordnung der EKD erst 1948 in Eisenach. 25) Trotzdem hat Hanns Lilje später in seinen Lebenserinnerungen von einer „Machtübernahme" der BK gesprochen, auch wenn er den Begriff nur in Anführungszeichen verwandte (H. Lilje: Memorabilia, S. 164). 26) Zur Zusammensetzung des Rates der EKD siehe A. Smith-von Osten: Treysa, S. 130— 134. 27) A. Boyens: Treysa, S.48. 28) Zur zeitgenössischen Beurteilung der Ergebnisse der Treysaer Konferenz siehe A. Smith-von Osten: Treysa, S. 141-164. K. Herbert: Kirche zwischen Aufbruch und Tradition, S. 57-60. Insgesamt überwog damals die Zustimmung zum Kompromiß von Treysa bei weitem. Auch die Autoren der wissenschaftlichen Literatur haben den Kompromiß von Treysa wenn auch vorsichtig überwiegend positiv bewertet; eine Ausnahme sind Auto-
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/. Der Protestantismus in der Nachkriegszeit
dauerten, daß der in den Bruderräten erfolgreich erprobte Aufbau „von unten", von den Gemeinden her, ausgeblieben war, daß sich die als überlebt empfundene Kirchenbürokatie durchgesetzt habe.29 Hermann Diem, als Leiter der ,Kirchlich-
theologischen Sozietät in Württemberg'30 bereits während des Dritten Reiches ein Gegner von Wurms Einigungsbestrebungen31, war einer der entschiedensten Verfechter dieser Beurteilung. In seiner 1947 veröffentlichten Schrift „Restauration oder Neuanfang in der evangelischen Kirche?"32 bezog er sich ausdrücklich auf Karl Barth und betonte die „Übereinstimmung in der Sicht der uns heute gestellten Aufgaben und Probleme"33. Tatsächlich hatte Barth34 nicht erst in dem von Diem angeführten Vortrag „Die Evangelische Kirche in Deutschland nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches" vor Restaurationsbestrebungen gewarnt, sondern schon im November 1945 in Stuttgart zu bedenken gegeben:
„Aber Restauration tut's heute nicht. Restauration ist nicht das, was das deutsche Volk nötig hat. Und Restauration allein, sei es in der Verwaltung, sei es in der Wirtschaft, sei es in der
die von ihrem Standpunkt einer radikal bruderrätlich-barthianischen Theologie aus Treysa als „Verhängnis" bezeichnen (z.B. Hans Gerhard Fischer: Evangelische Kirche und Demokratie nach 1945. Ein Beitrag zum Problem der politischen Theologie [Historische Studien, H. 407], Lübeck-Hamburg 1970, S.47. Vgl. auch 7. Kahle: Kirche und Demokratie, S. 54-61). 29) Zahlenmäßig war diese Gruppe allerdings klein, vgl. 7. Kahle: Kirche und Demokratie, S.56 und 59, sowie Martin Möller: Evangelische Kirche und Sozialdemokratische Partei in den Jahren 1945-1950. Grundlagen der Verständigung und Beginn des Dialoges (Göttinger Theologische Arbeiten, Bd.29), Göttingen 1984, S.75. 30) Vgl. Martin Widmann: Paul Schempp Hermann Diem Kurt Müller Alfred Leikam Georg Casalis: Der Vorschlag eines Neuanfangs im Jahre 11 nach Barmen für die Kirche Jesu Christi in Deutschland und anderswo, in: Das evangelische Württemberg zwischen Weltkrieg und Wiederaufbau, hg. von Rainer Lächele und Jörg Thierfelder, Stuttgart 1995, ren,
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S. 89-112. Diethard Buchstädt: Die Sozietät und die Kirchlichen Bruderschaften, in: ebd., S. 113-132. Widmann vertritt in seinem Beitrag die Ansicht, daß der Vorschlag der Sozietät zum Neuanfang der Kirche aus dem Jahr 1945 „für uns heute so brauchbar ist, wie vor 50 Jahren" (S.90). Er macht sich zugleich die zeitgenössische Kritik vollkommen ungebrochen zu eigen, so als habe zwischen Kriegsende und Gegenwart keinerlei Entwicklung stattgefunden. 31) Vgl. dazu Hermann Diem: Ja oder nein. 50 Jahre Theologie in Kirche und Staat, Stuttgart-Berlin 1974, S.119f. Zu den grundlegenden Differenzen zwischen Diem und Wurm siehe auch den Brief Diems an den Landesbischof vom 18.3. 1939, ebd., S.93-114. 32) Hermann Diem: Restauration oder Neuanfang in der evangelischen Kirche? Stuttgart 1946. Vgl. K. Herbert: Kirche zwischen Aufbruch und Tradition, S. 116-122. Zur Restaurationsdebatte in der historischen Forschung grundlegend der Aufsatz von M. Greschat: Weder Neuanfang noch Restauration. 33) H. Diem: Restauration, S.9. Die Warnung vor restaurativen Tendenzen war unter BKTheologen weit verbreitet. Martin Niemöller z.B. äußerte in einer Rede vor württembergischen Pfarrern: „Wir brauchen nicht Restauration, sondern Renovation, nicht Erhaltung des Kirchenrechts, der Kirchenverfassung, der menschlichen Sicherungen, der Sitte sie sind nicht kirchenbildend -, sondern Gemeinde und Kirchenordnung." (Zitiert nach K. Herbert: Kirche zwischen Aufbruch und Tradition, S. 119). 34) Karl Barth hatte dem Kompromiß von Treysa allerdings zugestimmt, wie Karl Herbert meinte „für viele sicher überraschend" (K. Herbert: Kirche zwischen Aufbruch und Tradition, S. 58). -
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Kirche, sei es in der Schule, sei es im Lebensstil Restauration allein heißt Reaktion, Wie-
derherstellung der alten Gefahrenquellen."35
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Theophil Wurm hatte sich ebenfalls gegen eine kirchliche Restauration ausgesprochen. Er verband allerding mit seiner Warnung ganz andere Vorstellungen als Barth und Diem: Der Landesbischof hielt einen teilweisen personalen Neuanfang in den Kirchenleitungen durchaus für notwendig,36 am ekklesialen Grundkonzept aber sollte festgehalten werden. Die Volkskirche, für deren Erhalt er sich letztendlich erfolgreich während der NS-Zeit eingesetzt hatte, besaß für ihn eindeutig Priorität gegenüber alternativen Kirchenmodellen.37 In einer radikalen Neuordnung, einer rigorosen Abkehr von der bisherigen kirchlichen Struktur und einem totalen Neubeginn der Kirche in der „Stunde Null", wie von Barth, Diem oder Niemöller gefordert, mußte Wurm deshalb eine Infragestellung all dessen erkennen, was er im Kirchenkampf gegen den Anspruch des Nationalsozialismus verteidigt hatte. Die Volkskirche jetzt, nachdem das Dritte Reich überstanden war, den kleinen innerkirchlichen Oppositionsgruppen zu opfern, kam deshalb nicht in Frage. Der Württemberger Landesbischof wußte in dieser Frage die Mehrheit der Kirchenleitungen und der Gemeinden hinter sich, denn: „Die radikalen Reformer, -
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Karl Barth: Ein Wort an die Deutschen. Vortrag gehalten auf Einladung des württembergischen Ministeriums des Innern im Württ. Staatstheater zu Stuttgart am 2. November 1945, Stuttgart [1946], S.23. Bis heute herrscht das Restaurationsparadigma in den Analysen der evangelischen Zeitgeschichtsschreibung vor. Trotz der treffenden Einschätzung Martin Greschats (M. Greschat: Weder Neuanfang noch Restauration, S.157), daß es sich bei dem Restaurationsbegriff „um eine Kampfaussage, eine polemische Formulierung zur Durchsetzung des eigenen Anliegens und zur Disqualifizierung der Position des Gegners" handelt, die deshalb das komplexe Verhältnis von Kontinuität und Neubeginn nicht hinreichend zu charakterisieren vermag, sind die meisten Autoren darüber bisher nicht hinausgekommen (vgl. R. Scheerer: Kirchen für den Kalten Krieg. -Johannes Degen: Diakonie und
35)
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Restauration. Kritik am sozialen Protestantismus in der BRD, Neuwied 1975. Ewald Hein-Janke: Der Beitrag der evangelischen Kirche zur Restauration in Deutschland in den Jahren 1945-1949 [Dahlemer Hefte, Bd.3], Berlin 1975. Harry Noormann: Protestantismus und politisches Mandat 1945-1949. Bd. 1. Grundriß, Bd.2. Dokumente und Kommentare, Gütersloh 1985. Polemisch überzeichnet Hans Prolingheuer: Kleine politische Kirchengeschichte. 50 Jahre evangelischer Kirchenkampf von 1919 bis 1969, Köln 1984). Karl Herbert z.B. stellt sich in seiner 1989 erschienenen Monographie zur Nachkriegsgeschichte der evangelischen Kirche nicht einmal mehr die Frage, was überwog, Kontinuität oder Neuanfang. Die analytische Herausforderung der Beschäftigung mit der protestantischen Nachkriegsgeschichte besteht für ihn nur noch darin, herauszufinden, wie es „letztlich zur Restauration, der Wiederherstellung der Kirche vor 1933", gekommen sei (K Herbert: Kirche zwischen Aufbruch und Tradition, S.9). Der verengte Blick auf die „radikale" Flügelgruppe -
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angebliche „Niederlage" nach 1945 hat zur Folge, daß der lutherische, politisch vorwiegend konservative Protestantismus lediglich als deren Widerpart wahrgenommen wird und Fragen nach seiner Entwicklung beinahe vollständig ausgeblendet bleider BK und deren
(M.J. Inacker: Transzendenz) hat jüngst die These vertreten, den innerkirchlichen Auseinandersetzungen der fünfziger Jahre komme eine Katalysatorfunktion für die Einbindung der evangelischen Kirche in den demokratischen Staat zu, beide Seiten hätten also zu diesem Prozeß mehr oder weniger unfreiwillig ihren Beitrag geleistet. sei36) Der Landesbischof von Hannover beispielsweise, August Marahrens, war aufgrund ner mangelnden Distanz gegenüber den nationalsozialistischen Machthabern auch in den Augen Wurms eine Belastung für die evangelische Kirche. In diesem Fall war er mit Niemöller einer Meinung, vgl. K. Herbert: Kirche zwischen Aufbruch und Tradition, S.52. 3?) Vgl. M. Greschat: Weder Neuanfang noch Restauration, S. 166-168. ben. Michael J. Inacker
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theologisch zumeist an Barth orientiert, stellten auch innerhalb der Bruderräte nur eine, wenn auch wortgewaltige, Minderheit dar."38 Die so gänzlich verschiedenen Konzepte für die Gestalt und den weiteren Weg der Kirche nach 1945 basierten auf grundlegenden theologischen Vorentscheidungen, die bereits den Kirchenkampf geprägt hatten, im Rahmen dieses Überblicks aber nur am Rande behandelt werden können. Nur soviel sei angemerkt: Der Konflikt entzündete sich an der Barmer Theologischen Erklärung, präziser: an der Frage nach den Konsequenzen aus ihren Thesen. Einer der zentralen Streitpunkte war, wie das Verhältnis von Kirche und legitimer Obrigkeit, von Kirche und Staat, zu definieren sei und welchen Auftrag die Kirche in der Gesellschaft zu übernehmen habe.39 In der theologischen Konzeption Karl Barths stand auch der Bereich der Politik und der Machtausübung unter der Königsherrschaft Jesu Christi. Christus sei der Mittelpunkt, um den sich sowohl der engere Kreis der Christengemeinde als auch der weitere Kreis der Bürgergemeinde legen.40 Von diesem christozentrischen Ansatz her forderte Barth das volle Engagement der Christen für das politisch-gesellschaftliche Leben aus christlicher (evangelischer) Verantwortung, wobei konkrete Entscheidungen nicht direkt aus dem Christentum, das über keine ihm eigene Staatstheorie verfüge, zu begründen seien, sondern lediglich aus der besseren politischen Einsicht. Die Überlegungen lutherischer Theologen basierten dagegen auf einer (teilweise modifizierten und abgeschwächten) ZweiReiche-Lehre, die versuchte, die rein kirchlich-geistige Sphäre von der bürgerlichweltlichen zu trennen und kirchliche und politische Stellungnahmen streng voneinander zu scheiden.41
38) 39)
C. Vollnhals: Kirche und Entnazifizierung, S.33. Es ging dabei vor allem um die Auslegung der Schlußsätze von Abschnitt 2, in denen es hieß: „Wir verwerfen die falsche Lehre, als gebe es Bereiche unseres Lebens, in denen wir nicht Jesus Christus, sondern anderen Herren zu eigen wären, Bereiche, in denen wir nicht der Rechtfertigung und Heiligung durch ihn bedürfen." 40) Grundlegend Karl Barth: Christengemeinde und Bürgergemeinde, in: Kirche und moderne Demokratie, hg. von Theodor Strohm und Heinz-Dietrich Wendland (Wege der Forschung, Bd. 205), Darmstadt 1973, S. 14-54, zuerst erschienen in der Reihe Theologische Studien, H. 20, Zollikon/Zürich 1946. Vgl. dazu auch H.G. Fischer: Evangelische Kirche und Demokratie, S. 148-155. 41) Vgl. D. Buchhaas-Birkholz: Zum politischen Weg, S.26. Lutherisch ist hier und im Folgenden nicht landeskirchlich-konfessionell gemeint, sondern soll die Zugehörigkeit zu einer theologisch-geistesgeschichtlichen Traditionslinie ausdrücken. Entsprechendes gilt für den Terminus „Barthianer". Innerhalb der beiden Richtungen gab es selbstverständlich eine gewisse Bandbreite der theologischen Ansichten; sie werden im Rahmen dieses Überblicks aber zugunsten der Gruppenbezeichnungen nicht weiter berücksichtigt. Ob den Angehörigen der beiden Gruppen jeweils ein spezifisches soziales Profil eigen war, ob sich also Ursachen für die individuelle, primär theologische Entscheidung in Herkunft, Ausbildung, ökonomischer Lage oder gesellschaftlicher Position ausmachen lassen, müßte noch untersucht werden. Die Anregungen von Clemens Vollnhals, Martin Greschat und Anselm Doering-Manteuffel, sozialwissenschaftliche Methoden für die kirchliche Zeitgeschichte fruchtbar zu machen, könnten möglicherweise einen neuen Zugang zu den Fragen der innerkirchlichen Fraktionsbildung eröffnen und die vorliegenden Forschungsergebnisse M. erweitern und vertiefen. Siehe C. Vollnhals: Kirchliche Zeitgeschichte, S.186. Greschat: Die Bedeutung der Sozialgeschichte, S..72-77. Anselm Doering-Manteuffel: Griff nach der Deutung. Bemerkungen des Historikers zu Gerhard Besiers Praxis der ,kirch-
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Von diesen theologischen Grundüberlegungen ausgehend, wurde auch das Verhalten der Kirchenführer während der NS-Zeit höchst unterschiedlich beurteilt. Ausdruck dieser Differenzen war die langandauernde und kontrovers geführte Debatte um die Schuld der Kirche am und im Nationalsozialismus. Die Texte, an denen sich die leidenschaftlich geführte Diskussion entzündete, waren die .Stuttgarter Schulderklärung' des Rates der EKD und das sogenannte ,Darmstädter Wort'. Die ,Stuttgarter Schulderklärung' wurde anläßlich einer Begegnung des Rates der EKD mit Vertretern des Ökumenischen Rates am 18. und 19.Oktober 1945 abgegeben.42 Die endgültige Fassung der Erklärung war eine Kompromißlösung, die liehen Zeitgeschichte', in: Kirchliche Zeitgeschichte. Urteilsbildung und Methoden, hg. von dems. und Kurt Nowak (KuG, Bd.8), Stuttgart-Berlin-Köln 1996, S.79-89. Siehe dazu die Entgegnung Gerhard Besiers: „Methodological Correctness". Anspruch und Wirklichkeit in der Wahrnehmung des sozialgeschichtlich orientierten Historikers Anselm DoeringManteuffel, in: ebd., S.90-100. 42) Die .Stuttgarter Schulderklärung' ist das am intensivsten bearbeitete Einzelthema der evangelischen Nachkriegsgeschichte. Das hat seinen guten Grund: In der Auseinandersetzung über die Schuld der Kirche, wie sie in Stuttgart und später in Darmstadt bekannt wurde, kreuzten sich die verschiedenen theologischen, kirchenpolitischen und politischen Linien der dreißiger Jahre wie im Brennpunkt einer Linse. Aus der umfangreichen Literatur zur .Stuttgarter Schulderklärung' seien genannt: Martin Greschat (Hg.): Die Schuld der Kirche. Dokumente und Reflexionen zur Stuttgarter Schulderklärung vom 18719. Oktober 1945 (Studienbücher zur kirchlichen Zeitgeschichte, Bd.4), München 1982. Ders.: Im Zeichen der Schuld. Vierzig Jahre Stuttgarter Schuldbekenntnis. Eine Dokumentation, Neukirchen 1985. Gerhard Besier: Zur Geschichte der Stuttgarter Schulderklärung vom 187 19.Oktober 1945, in: Ders./Gerhard Sauter: Wie Christen ihre Schuld bekennen. Die Stuttgarter Erklärung 1945, Göttingen 1985, S.9-61. -Ders.: „Durch uns ist unendlich viel Leid über viele Völker und Länder gebracht worden". Schulderkenntnis und Schuldbekenntnis in der Geschichte unseres Jahrhunderts, in: Glaube und Lernen 1 (1986), S. 120-129. Hartmut Ludwig: Karl Barths Dienst der Versöhnung. Zur Geschichte des Stuttgarter Schuldbekenntnisses, in: Zur Geschichte des Kirchenkampfes. Gesammelte Aufsätze 2 (AGK, Bd.26), Göttingen 1971, S.265-310. Armin Boyens: Das Stuttgarter Schuldbekenntnis John vom 19.0ktober 1945. Entstehung und Bedeutung, in: VfZ 19 (1971), S.374-397. S. Conway: How Shall the Nations Repent? The Stuttgart Declaration of Guilt, October 1945, in: The Journal of Ecclesiastical History 38 (1987), S.596-622. F. Spotts: Kirchen und Politik, S. 17f. H. Noormann: Protestantismus und politisches Mandat, Bd. 1, S.5058. K. Herbert: Kirche zwischen Aufbruch und Tradition, S.61-73. Die Reaktionen auf die Schulderklärung behandeln: Kurt Jürgensen: Die Schulderklärung der Evangelischen Kirche in Deutschland und ihre Aufnahme in Schleswig-Holstein, in: Kirche und Nationalsozialismus. Beiträge zur Geschichte des Kirchenkampfes in den evangelischen Landeskirchen Schleswig-Holsteins, hg. von Klauspeter Reumann, Neumünster 1988, S. 381—406. Enno Konukiewitz: Die Rezeption der Stuttgarter Schulderklärung in Oldenburg, in: Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 84 (1986), S.207-243. K Herbert: Kirche zwischen Aufbruch und Tradition, S. 73-80. Vgl. auch die kritische Stellungnahme Kurt Nowaks, der die Stuttgarter Erklärung für „problematischer" hält als das vergleichbare Hirtenwort der katholischen deutschen Bischofskonferenz vom August 1945 (K. Nowak: Geschichte des Christentums, S.292), sowie die polemische Kritik von Walter Bodenstein: Ist nur der Besiegte schuld? Die EKD und das Stuttgarter Schuldbekenntnis von 1945, Frankfurt a.M.-Berlin 1986 (zuvor in leicht veränderter Fassung Ders.: Ist nur der Besiegte schuld? Kritischer Rückblick auf das Stuttgarter Schuldbekenntnis [Veröffentlichung der zeitgeschichtlichen Forschungsstelle Ingolstadt, Bd. 15], Ingolstadt 1984. In dem Band auch mit gleichem Tenor Erich Schwinge: Die Lage bis zum Stuttgarter Schuldbe-
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kenntnis).
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auf den Entwürfen von Hans Asmussen und Otto Dibelius beruhte.43 Der Text, nur zögernd der deutschen Öffentlichkeit bekanntgemacht,44 wies in seinen Formulierungen Unscharfen auf, die unterschiedlichen Interpretationen Raum gaben: Wurde so etwa von Martin Niemöller das Bekenntnis der Schuld und folglich die Notwendigkeit eines Neuanfangs ganz in den Vordergrund gestellt, so neigten lutherische BK-Theologen wie Hans Asmussen eher dazu, das Hauptaugenmerk auf jene Passagen zu legen, in denen vom Widerstand der evangelischen Kirche gesprochen wurde wenn auch mit der Einschränkung, daß man nicht genügend widerstanden habe.45 Deshalb wurde von ihrer Seite der radikale Bruch mit der Vergangenheit abgelehnt; stattdessen gelte es, die Widerstandstradition fortzuführen und für die Zukunft fruchtbar zu machen. Extrem nationalkonservative Kritiker schließlich bestritten die Berechtigung der Schulderklärung überhaupt: Nicht die Deutschen, vielmehr der Versailler „Schandfrieden" sei für Hüter und den Krieg verantwortlich; mit der Anerkennung der alliierten Kollektivschuldthese habe die Führung der evangelischen Kirche das deutsche Volk verraten. So oder ähnlich lauteten die gängigsten Argumente aus dieser Richtung.46 Die Tatsache, daß die Erklärung in Stuttgart anläßlich einer ökumenischen Begegnung abgegeben worden war, ließ darüber hinaus Spielraum für weitere Spekulationen. Das Zusammentreffen mit ausländischen Kirchenvertretern nährte Gerüchte, der EKD sei das Schuldeingeständnis durch die ausländischen Glaubensbrüder aufgezwungen worden.47 Diese Unterstellung diente denen, die sich ein klareres und eindringlicheres Wort zum kirchlichen Versagen gewünscht hatten, dazu, die angebliche innere Distanz einiger evangelischer Kirchenführer gegenüber der Stuttgarter Erklärung zu kritisieren. Gleichzeitig nutzten andere diesen Verdacht, um ihre Zustimmung zu relativieren und damit der teilweise heftigen Kritik aus dem „Kirchenvolk" zu begegnen.48 -
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43) Die Entwürfe und der endgültige Text sind abgedruckt bei M. Greschat: Die Schuld der Kirche, S. 100-103. **) Für die spätere öffentliche Kritik an der Stuttgarter Erklärung dürfte die Art und Weise
mitverantwortlich gewesen sein, mit der die Presse über das angebliche politische Eingeständnis der alleinigen deutschen Kriegsschuld seitens der Kirchenvertreter berichtete. Unverständlich bleibt in diesem Zusammenhang die Medienpolitik des Rates der EKD, der die wichtige Erklärung zunächst gar nicht zur Veröffentlichung vorgesehen hatte. 45) Deutlich treten die unterschiedlichen Positionen und der unüberwindlich breite Graben dazwischen in den Schreiben Asmussens und Niemöllers hervor, die in der Edition von Dorothée Buchhaas-Birkholz abgedruckt sind (siehe D. Buchhaas-Birkolz: Zum politischen Weg, Dok. 7 und 8, S. 60-74, vgl. auch die Einleitung der Herausgeberin, S.22). Zwischen den Zeilen ist in den Schreiben die tiefe persönliche Entfremdung zwischen den beiden BKTheologen zu lesen. Sachlicher, nichtsdestoweniger ebenso unvereinbar sind die Standpunkte in dem Briefwechsel zwischen Helmut Thielicke und Hermann Diem, der unter dem Titel „Die Schuld der Anderen" im Jahr 1948 herausgegeben wurde. 46) Beispiele in der Edition von M. Greschat: Schuld der Kirche. 47) Vgl. H. Noormann: Protestantismus und politisches Mandat, Bd. 1, S.52f. 7. Vogel: Kirche und Wiederbewaffnung, S.21. Da einige Theologen bereits während des Krieges über eine Schulderklärung nachgedacht hatten, ist dieser Verdacht als unhaltbar zurückzuweisen, vgl. K. Herbert: Kirche zwischen Aufbruch und Tradition, S.62-66. 48) Harry Noormann beschreibt die vielfach ablehnende Reaktion der kirchlichen Basis so: „In Stuttgart sprachen sozusagen Generäle mit meuternden Truppen im Rücken." (H. Noormann: Protestantismus und politisches Mandat, Bd. 1, S.56; vgl. auch ebd., Bd. 2, S.43-56). -
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/. Der Protestantismus in der Nachkriegszeit
Die Kreise, denen die .Stuttgarter Schulderklärung' nicht weit genug ging, drängten darauf, das kirchliche Schuldbekenntnis weiter zu konkretisieren. So ent-
stand das wesentlich deutlicher formulierte ,Wort des Bruderrates der EKD zum politischen Weg unseres Volkes',49 später bekannt unter dem Namen ,Darmstädter Wort'50. Die Verfasser51 erläuterten darin, wo ihrer Meinung nach die politische Schuld der Deutschen lag:52 in ihrer nationalen Hybris mit dem Glauben an eine besondere deutsche Sendung, in dem Vertrauen auf eine autoritäre Staatsführung und militärisch gestützte Machtpolitik sowie in der Versuchung, die Nation auf den Thron Gottes zu setzen. Die Kirche habe versagt, weil sie eine Allianz mit den konservativen Kräften eingegangen sei, das Recht zur Revolution verneint und stattdessen politische Schwarz-Weiß-Malerei mitgetragen habe. Außerdem habe sie nicht erkannt, daß „der ökonomische Materialismus der marxistischen Lehre" eine stete Anfrage an den Auftrag der Kirche in ihrem Einsatz für Schwache und Entrechtete darstelle. Als Konsequenz aus den genannten Irrwegen forderte die Erklärung, die Kirche dürfe nicht der Parole „Christentum und abendländische Kultur"53 folgen, sondern müsse für die „Umkehr zu Gott und Hinkehr zum Nächsten" eintreten.
49) 50)
Text bei K Herbert: Kirche zwischen Aufbruch und Tradition, S.385f. Die vorliegende Literatur zum ,Darmstädter Wort' wertet das Dokument in weitgehender Übereinstimmung als die entscheidende Grundlage einer demokratieoffenen, der Sozialdemokratie aufgeschlossen gegenüberstehenden und richtungsweisenden Programmschrift der deutschen evangelischen Kirche. Vgl. Hartmut Ludwig: Die Entstehung des Darmstädter Wortes. Martin Niemöller zum 85. Geburtstag am 14. Januar 1977 gewidmet, in: Junge Kirche, 38 (1977), Beiheft zu Nr. 8/9, S. 12f. Erwin Wilkens: Zum „Darmstädter Wort" vom 8. August 1947, in: Zukunft aus dem Wort. Helmut Claß zum 65. Geburtstag, hg. von Günther Metzger, Stuttgart 1978, S. 151-169. Günter Brakelmann: Kirche und Schuld: Das Darmstädter Wort von 1947, in: Ders.: Kirche in den Konflikten ihrer Zeit: 6 Einblicke, München 1981, S. 162-187. -Martin Greschat: Übernahme von Verantwortung, in: Zur Bildung öffentlicher Verantwortung an der Hochschule. Evangelische Studentinnengemeinde als Ort kritischer Auseinandersetzung mit dem naturwissenschaftlichen Fortschritt, hg. von Friedrich Heckmann (Theologie im Gespräch, Bd.6), Essen 1988, S.67-86. Ders.: Kirche und Öffentlichkeit (1945-1949), in: Kirchen in der Nachkriegszeit. Vier zeitgeschichtliche Beiträge (AKZ, Beihe B, Bd.8), Göttingen 1979, S. 100-124. Bertold Klappert: Bekennende Kirche in ökumenischer Verantwortung. Die gesellschaftliche und ökumenische Bedeutung des Darmstädter Wortes (Ökumenische Existenz heute, Bd. 4), München 1988. H. Noormann: Protestantismus und politisches Mandat, Bd. 1, S.147153. H.G. Fischer: Kirche und Demokratie, S.59-63. K. Herbert: Kirche zwischen Aufbruch und Tradition, S.95-107. Hans Prolingheuer: Wir sind in die Irre gegangen. Die Schuld der Kirche unterm Hakenkreuz, nach dem Bekenntnis des „Darmstädter Wortes" von 1947 (Kleine Bibliothek. Kirche und Gesellschaft, Bd. 451), Köln 1987. 51) Zwölf von 43 zur Versammlung Geladenen waren erschienen und hatten den Text einstimmig verabschiedet. Verantwortlich für die Abfassung dieses Wortes waren u.a. Karl Barth, Hermann Diem, Martin Niemöller, Hans Joachim Iwand, Wilhelm Niesei, Ernst Wolf und Bernhard Forck; vgl. H. Noormann: Protestantismus und politisches Mandat, Bd. 1, S.147. 52) Anders als das .Stuttgarter Schuldbekenntnis', in dem unklar blieb, wer die bekennenden Subjekte (wir, uns) eigentlich waren, sprach das ,Darmstädter Wort' von den „falschen und bösen Wegen, auf welchen wir als Deutsche in unserem politischen Wollen und Handeln in die Irre gegangen sind." 53) Alle Zitate aus dem Darmstädter Wort nach K. Herbert: Kirche zwischen Aufbruch und Tradition, S.385. -
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Das ,Darmstädter Wort' provozierte noch entschiedeneren Widerspruch als das ,Stuttgarter Schuldbekenntnis'. Es verschärfte nämlich gerade jene Aussagen, die
im Zentrum der Kritik von konservativen Kirchenvertretern und weiten Teilen der kirchlichen Öffentlichkeit an .Stuttgart' gestanden hatten. Besonders das Auflisten des deutschen Schuldkontos erregte die Gemüter, und daß der Reichsbruderrat den Sozialismus als stete Anfrage an die Christen ernstzunehmen mahnte, im vorletzten Abschnitt aber direkt gegen die CDU und deren Parteiideologie Stellung bezog, ließ die Wogen noch höher schlagen; ,Darmstadt' blieb selbst in „bruderrätlichen Kreisen heftig umstritten"54. Mehr noch als in den Debatten über die .Stuttgarter Schulderklärung' wurden in den Kontroversen über das .Darmstädter Wort' die Frontlinien deutlich, die bis in die Zeit des Kirchenkampfes zurückreichten und über die beiden ersten Nachkriegsjahrzehnte hinaus die deutsche evangelische Kirche beherrschten. Der Text des Reichsbruderrates vom August 1947 polarisierte dabei die kirchliche Öffentlichkeit nicht allein aufgrund seiner pointierteren Formulierung stärker als die Stuttgarter Erklärung, sondern auch, weil anders als im Oktober 1945 inzwischen die innenpolitische Nachkriegsordnung Deutschlands Gestalt angenommen hatte und die weltpolitische Konstellation des Ost-West-Konflikts ihren Schatten auf das geteilte Land warf. Unter diesen Voraussetzungen forderte das .Darmstädter Wort' weit konkreter zu verändertem Handeln und einer Revision traditioneller Verhaltensweisen heraus als das ,Stuttgarter Schuldbekenntnis'. Vereinfacht ausgedrückt, verlangte der Reichsbruderrrat einen radikalen Bruch mit dem vorherrschenden nationalen Geschichtsbild, politische Neutralität zwischen den sich formierenden Machtblöcken und eine Abwendung von der CDU. Das waren Zumutungen für konservative Protestanten, die weit über ihren eigenen Denk- und Er-
fahrungshorizont hinausgingen. In jedem einzelnen der drei genannten zentralen Punkte des ,Darmstädter Wortes' lagen die Positionen zwischen barthianisch geprägten Bruderrätlern und kon-
C. Vollnhals: Kirchliche Zeitgeschichte, S.179. Wenn Vollnhals weiter ausführt, das ,Darmstädter Wort' „vermochte den weiteren Kurs kaum zu beeinflussen", so gilt das nur eingeschränkt, nämlich im Hinblick auf den „mainstream" in der evangelischen Kirche. Nicht in ausreichender Weise berücksichtigt ist dabei aber, daß es sich bei der Darmstädter
54)
Erklärung
um
das Votum einer relativ kleinen
Flügelgruppe
in der
evangelischen
Kirche
handelte, die hier ihr politisches und theologisches Manifest formuliert hatte, dem sie in den folgenden Jahren treu blieb. Als repräsentativ für die gesamte Bandbreite des kirchlichen Spektrums kann das „Wort" deshalb nicht gelten, auch wenn Karl Herbert behauptet, die Zusammensetzung bei der Bruderratstagung sei „keineswegs einseitig" gewesen (K. Herbert: Kirche zwischen Aufbruch und Tradtion, S.98). Herbert führt als Beweis die landeskirchliche Herkunft der Teilnehmer an. Um die ging es aber gerade nicht, sondern um die
und diese lag auf einer Linie. Das inhaltliche Gewicht des Wortes wird durch diese Feststellung freilich nicht entwertet, allerdings die Reichweite seiner Verbindlichkeit begrenzt. Genau das scheint auch Gerhard Besier im Sinn zu haben, wenn er zugespitzt bemerkt, daß hier „eher zufällige Mehrheiten, die in Wahrheit Minderheitenvoten waren" die Gunst der Stunde genutzt hätten, um repräsentativ ihre Stellungnahme publik zu machen (Gerhard Besier: Zur ekklesiologischen Problematik ausvon „Dahlem" [ 1934] und „Darmstadt" [1947]. Historisch-theologische Umbrügehend von einer These Klaus Scholders, in: Ders.: Die evangelische Kirche in den19. und chen des 20.Jahrhunderts, Bd. 1 [Historisch-Theologische Studien zum 20. Jahrhundert, Bd.5/1], Neukirchen-Vluyn 1994, S. 143-165, hier S. 155).
theologisch-politische Position der Anwesenden
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Überlegungen,
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/. Der Protestantismus in der Nachkriegszeit
servativen Lutheranern so weit auseinander, daß eine Verständigung unmöglich Da von beiden Seiten in die politischen Auseinandersetzungen jeweils auch theologische Argumente ins Spiel gebracht wurden oder zumindest im Hintergrund mitschwangen, waren die Wunden, die sich die Gegner in den erbitterten Kämpfen der folgenden Jahre schlugen, besonders tief und schmerzhaft. Was sich die beiden Seiten dabei jeweils vorwarfen, war eben nicht nur, die falsche politische Entscheidung in einer konkreten geschichtlichen Situation zu treffen, sondern auch, dies aufgrund von Irrtümern in der Theologie zu tun. Das betraf den Kern des religiösen und kirchlichen Selbstverständnisses der beteiligten Akteure und macht deutlich, worum es letztlich ging: um die Wesens-, Standort- und Funktionsbestimmung der Kirche und des Protestantismus in der sich verändernden Welt, konkret, in den modernen, sich auseinanderentwickelnden Gesellschaften der beiden deutschen Teilstaaten.55 Die völlig voneinander abweichenden theologischen Ansätze und die zwar nicht darin grundgelegten, aber damit verbundenen konträren politischen Optionen der kirchenpolitischen Gruppen erwiesen sich als eine schwere Belastung für den Prozeß der Einwurzelung des Protestantismus in die Bundesrepublik. Die nicht abgetragenen Hypotheken des Kirchenkampfes sowie das Fehlen einer verbindlichen Sozialethik führten dazu, daß in den meisten drängenden Fragen der Nachkriegszeit die aktiven kirchlichen Flügelgruppen zu gegensätzlichen Antworten kamen. Das begann schon mit dem grundsätzlichen Problem, welche Haltung die Kirche gegenüber der Demokratie56 einzunehmen habe. Weder Barthianer noch Lutheraner wurden in der sogenannten Stunde Null schlagartig zu Demokraten. Bei-
war.
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55)
Die Geschichte des DDR-Protestantismus wird in der weiteren Darstellung nur insoweit berücksichtigt, als sie direkte Rückwirkungen auf die westdeutsche Entwicklung hatte. In den fünfziger und sechziger Jahren bestanden zunächst noch enge Verflechtungen zwischen den evangelischen Kirchen in Ost- und Westdeutschland. Mit dem Mauerbau und der Gründung eines eigenständigen DDR-Kirchenbundes lockerten sich später die Verbindungen, zugleich fand unter dem Konzept der „Kirche im Sozialismus" ein „Einwanderungsvorgang
der Kirche in die realsozialistische Gesellschaft" statt (Heino Falcke: Kirche im Sozialismus, in: Kirchen in der Diktatur. Drittes Reich und SED-Staat, hg. von Günther Heydemann und Lothar Kettenacker, Göttingen 1993, S. 259-281, hier S.259), der mit den Verhältnissen in der Bundesrepublik kaum noch Parallelen aufwies. 56) Mit dem Problem Kirche und Demokratie setzen sich eingehend auseinander: M.J. Inacker: Transzendenz. H.G. Fischer: Kirche und Demokratie. 7. Kahle: Kirche und Demokratie. H. Noormann: Protestantismus und politisches Mandat. Die drei letztgenannten Autoren sind strikte Anhänger der Restaurationsthese und scharfe Kritiker lutherischer Positionen. Kahle z.B. schreibt (S.103): „Durch das offensichtliche Festhalten der [...] das deutsche Luthertum nach 1945 auch in der politischen Dimension prägenden Theologen an der Maxime von Römer 13 wurde eine Untertanenmentalität gefördert, die einer Restitution autoritärer gesellschaftlicher resp. politischer Strukturen Vorschub leisten mußte." Trotz aller nachweisbaren Kontinuitäten in Politik und Gesellschaft sowie des unzweifelhaften Demokratiedefizits weiter Teile des Luthertums macht es sich Kahle in der zitierten Passage zu einfach. Die Bundesrepublik war eben nicht nur ein simpler Neuaufguß althergebrachter autoritärer Staats- und Gesellschaftsstrukturen, für den lutherische Theologie verantwortlich gemacht werden kann. Die Prozesse, die bis zum Ende der sechziger Jahre zu einer demokratisch verfaßten und gesellschaftlich pluralistischen westdeutschen Republik führten, waren weitaus vielschichtiger, als der Autor hier erkennen läßt. -
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den
Richtungen fehlte eine spezifische Demokratietheorie und auf beiden Seiten die Distanz zur demokratischen Staatsform stark ausgeprägt insofern gab es durchaus Gemeinsamkeiten. Frühe Nachkriegsäußerungen von Otto Dibelius, dem Bischof der evangelischen Kirche von Berlin-Brandenburg, unterscheiden sich deshalb auch keineswegs von Gedanken, wie sie etwa Martin Niemöller zum Ausdruck brachte. Dibelius beurteilte im Sommer 1945 die Chance, in Deutschland die demokratische Staatsform zu etablieren, skeptisch, denn er hielt die Demokratie für eine ausländische Ideologie, die zudem bei der deutschen Bevölkerung untrennbar mit schlechten Erfahrungen aus Weimarer Zeiten verknüpft sei.57 Martin Niemöller meinte etwa zur gleichen Zeit gegenüber alliierten Reportern, eine starke Autorität sei für die Deutschen unverzichtbar, denn in dieser Hinsicht unterschieden sie sich deutlich von den angelsächsischen Nationen.58 Diese bei beiden Kirchenvertretern übereinstimmend anklingende Skepsis gegenüber der Demokratie war aber auch schon das Ende der Gemeinsamkeiten. In Theorie wie Praxis bewegten sich die Positionen, für die die Genannten exemplarisch stehen, auseinander. Vor allem lutherischen Theologen ist es dabei nicht gelungen, in ihren Publikationen ein positives Verhältnis zum demokratischen System zu finden; sie waren nicht in der Lage, die Fesseln, die ihnen ihre Interpretation von Römer 13 angelegt hatte, zu sprengen. So hieß es etwa in Walter Künneths 1954 erschienenem Buch .Politik zwischen Dämon und Gott. Eine christliche Ethik des Politischen':59 „Es ist eine an Komik grenzende Illusion demokratischer Bürger, sich einzubilden, selbst die Regierung darzustellen und ein Stück obrigkeitliche Vollmacht zu verkörpern." Künneth, ein angesehener lutherischer Theologe, dessen Aussagen für seine Richtung repräsentativ stehen können, kam zu diesem Urteil, weil nach der Staatslehre des Luthertums in jeder Staatsform eine Obrigkeit als „Repräsentation der Staatsautorität" vorhanden sein müsse, die vom „Untertanen" ohne Wenn und Aber anzuerkennen sei. Sie sei in Gott verankert und existiere deshalb unabhängig vom Wollen der Bürger. In diese Konzeption einer metaphysischen Staatsbegründung war eine staatliche Gewalt, die vom Volke ausgeht und sich vor diesem zu verantworten hat, kaum zu integrieren, mußte sie doch immer gegenüber einer unmittelbaren Verankerung in Gott von minderer Legitimität und Autorität bleiben. Künneths Ansicht entsprach zwar nicht den Prinzipien der modernen Demokratietheorie, in der Praxis aber ermöglichte seine Interpretation ihren Anhängern, die Verfassungsorgane des deutschen Weststaates als legitime Obrigkeit anzuerkennen.60 Das hatte eine beträchtliche stabilisierende Wirkung, die der Konsolidierung des repräsentativ-demokratischen Systems der Bundesrepublik zugute war
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")
So in dem Bericht von Marshall M. Knappen „Report on Conference with Dr. Dibelius, Bishop of German Evangelical Church in Brandenburg-Berlin (28. Juli 1945)" abgedruckt in C. Vollnhals: Evangelische Kirche nach dem Zusammenbruch, S. 60. 58) In den USA erschien das Niemöller-Interview unter der Überschrift „Niemoeller sees Germany unfit for democracy on US lines". Vgl. C. Vollnhals: Die evangelische Kirche nach dem Zusammenbruch, S.36, Anm.3. 59) Berlin 1954. Das folgende Zitat ebd., S. 158. 60) Vgl. H.G. Fischer: Evangelische Kirche und Demokratie, S. 119.
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kam.61 Und von dieser Position aus ließ sich im Rahmen dieses Systems durchaus gut Politik betreiben: Indem Künneth das politische Votum des Christen allein vom Maß seiner Sachkenntnis abhängig machte, sprach er dem Durchschnittsbürger zwar das Mitbestimmungsrecht über die Fragen der „großen Politik" ab, dem
fachkundigen Politiker eröffnete er dagegen den notwendigen Spielraum für pragmatische Problemlösungen und vorläufige Kompromisse.62 Wie der christliche Glaube die konkrete Entscheidung eines politisch Verantwortlichen mitbestimmen könnte, dazu wußte Künneths „Ethik des Politischen" allerdings nichts zu sagen. Genau hier lag aber die zentrale Forderung der barthianischen Ethik für den politischen Bereich. Christliche Verantwortung reichte in dieser Konzeption über den engen Kreis der Christengemeinde in den säkularen, staatlichen Bereich hinein. Hier sollten der einzelne Gläubige und die Kirche seinen und ihren Dienst leisten nicht für eigene Machtansprüche, sondern für das Wohl der Gesamtheit.63 Daraus ergab sich die Forderung nach weitreichender politischer Partizipation der Christen. Besonders bedeutend waren den Barthianern deshalb plebiszitäre Elemente in der Demokratie, über die auch Parlamentsauflösungen und Regierungswechsel außerhalb der turnusmäßigen Wahlen herbeizuführen sein sollten. Obwohl Barth der Kirche ausdrücklich die Fähigkeit absprach, eine bestimmte -
Staatslehre als „die christliche Lehre vom rechten Staat aufzustellen",64 konstatierte er eine Affinität zwischen Kirche und Demokratie.65 Und entgegen den eigenen Beteuerungen, keine bestimmte Demokratieform im Auge zu haben,66 lief seine politische Ethik nicht auf eine repräsentative, sondern auf eine direkte Demokratie hinaus, wie er sie aus seiner Schweizer Heimat kannte.67 Konkret sollte der politische Auftrag der Christengemeinde darin bestehen, der Bürgergemeinde das Evangelium zu verkünden, das in sich eben schon politisch sei, deshalb politisch-prophetisch wirke und für eine „heilsame christlich-politische Beunruhi-
gung" sorge.68 61)
Johanna Vogel, die anhand ihrer Untersuchung zur Wiederbewaffnungsfrage zum gleichen Ergebnis kommt, klagt deshalb die evangelische Kirche an, ihren Auftrag verfehlt zu haben (7. Vogel: Kirche und Wiederbewaffnung, S. 183f). 62) Vgl. die Zusammenfassung von Künneths Referat vor der Synode der EKD im Oktober 1952 bei 7. Vogel: Kirche und Wiederbewaffnung, S. 172-175. 63) Vgl. K. Barth: Christengemeinde und Bürgergemeinde, S.22f. M) Ebd., S.25 (Hervorhebung im Original). 65) So heißt es in Kapitel 29: „Man mag [...] auch dies bemerken, daß die christlich-politische Richtung und Linie, die sich vom Evangelium her ergibt, eine auffallende Neigung nach der Seite verrät, die man gemeinhin und allgemein als die des .demokratischen' Staates
zu
bezeichnen
pflegt." (Ebd., S.46).
") Ebd., S.47. 67) Barth stand der politischen Willensbildung
in einer Parteiendemokratie äußerst skeptisch gegenüber. So heißt es in „Christengemeinde und Bürgergemeinde" (S.48) etwa: „Nun sind aber die Parteien ohnehin eines der fragwürdigsten Phänomene des politischen Lebens: keinesfalls seine konstitutiven Elemente, vielleicht von jeher krankhafte, auf jeden Fall nur sekundäre Erscheinungen." 68) Ebd., S.50. Vgl. auch Paul Schempp: Das Evangelium als politische Weisheit (Kirche für die Welt, H. 16), Stuttgart 1948, S.49-54. Paul Schempp gehörte wie Hermann Diem der .Kirchlich-theologischen Sozietät in Württemberg' an, der „radikalen" innerkirchlichen Opposition gegen die „intakte" Kirchenleitung unter Theophil Wurm.
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Zur Unruhe in der Bundesrepublik haben die Anhänger der barthianischen Richtung dann reichlich beigetragen. Vor allem auf ihren Schultern ruhte die außerparlamentarische Opposition gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik und die atomare Ausrüstung der Bundeswehr,69 die über Jahre hinweg die Kirche und die politisch interessierte Öffentlichkeit beschäftigte.70 Der Gefahr, aufgrund eines extensiv interpretierten politisch-prophetischen Mandats der Kirche, einen quasi „dogmatischen" Absolutheitsanspruch zu erheben, wie sie der politischen Ethik Barths immanent war, sind die „deutschen Barthianer"71 dabei nicht immer entgangen.72 Das machte die Verständigung mit den kirchlichen und politischen Gegnern nahezu unmöglich und führte die EKD mehrfach an den Rand der Spaltung. Nur mit Mühe konnte die kirchliche Einheit bewahrt werden. Das Zerbrechen der EKD wurde letztlich verhindert, weil auf den beiden miteinander streitenden Seiten nur wenige tatsächlich bereit waren, die als besonderen Wert geschätzte kirchliche Gemeinschaft aufzukündigen. Der Preis, der dafür gezahlt werden mußte, war hoch: Um sich nicht auf eine der beiden theologischen Strömungen, mit ihren jeweiligen politischen Präferenzen festlegen zu müssen, stellte die Kirche die Entscheidung in den Friedens- und Rüstungsfragen schließlich den einzelnen Gläubigen frei und verzichtete damit auf eine eigene politische Stellungnahme. Die nachteilige Folge dieses innerkirchlichen Meinungspluralismus war, daß die evangelische Kirche auch in den folgenden Jahren weder politisch noch sozialethisch mit einer Stimme zu sprechen vermochte. Das schwächte ihre Position, insbesondere im Vergleich mit dem Katholizismus, der sich trotz teilweise divergierender Interessen von Episkopat, Verbandskatholizismus und den katholisch dominierten Unionsparteien weit geschlossener präsentierte, als das die evangelische Kirche je konnte.73
69) Grundlegend 7. Vogel: Kirche und Wiederbewaffnung. Siehe dazu auch die Editionen:
Christian Walter (Hg.): Atomwaffen und Ethik. Der deutsche Protestantismus und die atoAufrüstung 1954—1962. Dokumente und Kommentare, München 1982. Ders./Werner Rausch (Hgg.): Evangelische Kirche in Deutschland und die Wiederaufrüstungsdiskussion in der Bundesrepublik 1950-1955, Gütersloh 1978. K. Herbert: Kirche zwischen Aufbruch und Tradition, S.276-297. ™) Vgl. dazu Abschnitt II.3. dieser Arbeit. 71) So F. Spotts: Kirchen und Politik, S. 108. 72) Das gilt für die Wiederbewaffnungsfrage der frühen fünziger Jahre ebenso wie für die Auseinandersetzungen um die atomare Ausrüstung der Bundeswehr. Die ,Handreichung an die Gemeinden zur Wiederaufrüstung' beispielsweise, die von den Kirchlichen Bruderschaften im Oktober 1950 veröffentlicht wurde, erklärte in der Wehrfrage den Status confessionis für gegeben. Das schloß alle, die glaubten, sich anders entscheiden zu müssen, aus der kirchlichen Gemeinschaft aus (Vgl. 7. Vogel: Kirche und Wiederbewaffnung, S. 137 und 144). Es darf in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben, daß Heinemann und Niemöller, die bekanntesten Exponenten der kirchlichen Opposition gegen den Wiederbewaffnungskurs Adenauers, den ethischen Rigorismus der Kirchlichen Bruderschaften nicht mitgetragen, sondern trotz aller Differenzen in der Sache an der Einheit der EKD festgehalten haben. 71) Trotzdem war der Katholizismus der fünfziger und sechziger Jahre kein monolithischer Block. Die internen Konflikte nahmen aber nie das Ausmaß an wie im Protestantismus. Das ließ auf theologischer Ebene das verbindliche römische Lehramt nicht zu; im politischen und gesellschaftlichen Bereich waren neben der im interkonfessionellen Vergleich engen Bindung der katholischen Laienschaft an die kirchliche Hierarchie vor allem die bewährten mare
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Die tiefen Gräben zwischen den verschiedenen Gruppierungen im westdeutschen Protestantismus zeigen sich auch, wenn man die parteipolitische Orientierung der Evangelischen näher betrachtet.74 In dieser Frage hatte sich die EKDFührung mehrheitlich schon sehr früh festgelegt. Im Treysaer „Wort zur Verantwortung der Kirche für das öffentliche Leben",75 an dessen Formulierung der Freiburger Historiker Gerhard Ritter maßgeblich beteiligt gewesen war,76 hatte sie ihre Sympathie für die neugegründeten Unionsparteien ausgesprochen.77 Auch in den Strukturen des politischen und sozialen Katholizismus dafür verantwortlich, daß die Katholiken als eine gesellschaftliche Gruppe wahrgenommen wurden, die mit relativ einheitlicher Stimme sprechen konnte. 74) Geschichtswissenschaftlich fundierte Untersuchungen über das Verhältnis des Protestantismus und seiner verschiedenen Strömungen zu den Parteien sind nach wie vor kaum zu finden. In der Literatur wird bezüglich der CDU meist auf die Arbeit von Reinhard Schmeer verwiesen, die als unveröffentlichte Magisterarbeit aus dem Jahr 1973 zum einen bereits älteren Datums, zum anderen nur schwer zugänglich ist (Reinhard Schmeer: Evangelische Kirche und CDU im Rheinland, 1945-1949, Magisterarb. masch. Münster 1973). Ebenfalls aus den frühen siebziger Jahren stammt die einzige monographische Darstellung zum Evangelischen Arbeitskreis der CDU (Peter Egen: Die Entstehung des Evangelischen Arbeitskreises der CDU/CSU, o. Ort [1971]). Gerhard Besiers Aufsatz zum Evangelischen Arbeitskreis fügt den Ergebnissen Egens nur wenige neue Aspekte hinzu (Gerhard Besier: „Christliche Parteipolitik" und Konfession. Zur Entstehung des Evangelischen Arbeitskreises der CDU/CSU, in: Ders.: Die evangelische Kirche in den Umbrüchen des 20.Jahrhunderts, Bd.2 [Historisch-Theologische Studien zum 19. und 20.Jahrhundert, Bd.5/2], Neukirchen-Vluyn 1994, S. 108-130). Das Buch von Martin Möller über die Evangelische Kirche und die SPD ist auf die Besatzungszeit und die ersten Jahre der Bundesrepublik beschränkt und geht in weiten Teilen systematisch (im theologischen Sinn) vor, wobei sich Möller weitgehend die ethisch-moralische Kritik der zeitgenössischen CDU-Kritiker zu eigen macht (M. Möller: Evangelische Kirche und Sozialdemokratische Partei). 75) Vgl. K. Herbert: Kirche zwischen Aufbruch und Tradition, S. 108f. 76) Vgl. Kurt Nowak: Gerhard Ritter als politischer Berater der EKD (1945-1949), in: Die Zeit nach 1945 als Thema kirchlicher Zeitgeschichte, hg. von Victor Conzemius, Martin Greschat und Hermann Kocher, Göttingen 1988, S.235-256. Siehe auch den kurzen Hinweis bei H. Noormann: Protestantismus und politisches Mandat, Bd. 1, S. 137f. Ritter, der gemeinsam mit dem ihm weltanschaulich nahestehenden Hans Asmussen schon 1945 vorgeschlagen hatte, eine „Politische Kammer" der EKD einzurichten, orientierte sich mit dieser Anregung ausdrücklich an amerikanischen Vorbildern; auch dort würden politische Stellungnahmen von kirchlicher Seite von Fachleuten und Spezialisten vorbereitet und erarbeitet. Den Kommissionen, die Ritter im Blick hatte, stand bis 1947 der spätere US-Außenminister John Foster Dulles vor. Er hatte bereits seit 1940 in der „Commission to Study the Bases of a Just and Durable Peace" des Federal Council of Churches mitgearbeitet. Sein Bruder war in den fünfziger Jahren Chef der CIA und damit verantwortlich für die finanzielle Unterstützung von antikommunistischen Organisationen wie der Moralischen Aufrüstung (MRA) oder dem Kongreß für kulturelle Freiheit (CCF). Zur kirchlichen Tätigkeit von Dulles siehe H. Noormann: Protestantismus und politisches Mandat, Bd. 1, S. 168. R. Scheerer: Kirchen für den Kalten Krieg, S.21-23. 77) Unter Punkt sieben hieß es dort: „Die an vielen Orten bereits in Gang gekommenen Bestrebungen, politische Gegensätze zwischen Protestantismus und Katholizismus auszuräumen, die Gemeinsamkeit des Kampfes gegen den Säkularismus zu betonen und so eine gegenseitige geistige und politische Annäherung beider Konfessionen vorzubereiten, verdienen ebenso unsere Unterstützung wie die Bemühungen katholischer Prälaten und Laienkreise, ein Wiederaufleben der ehemaligen Zentrumspartei zu verhindern und statt dessen ein politisches Zusammengehen beider Konfessionen auf dem Boden einer christlichen Union zu ermöglichen." (Zitiert nach H. Noormann: Protestantismus und politisches Mandat, Bd. 1, S. 137). -
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Wahlaufrufen der EKD kam diese parteipolitische Orientierung zum Ausdruck. Allerdings blieben die evangelischen Empfehlungen an das Wahlvolk doch weit entfernt von der unzweideutigen Unterstützung der katholischen Bischöfe für die CDU.78 Die EKD mußte Rücksicht auf die „linke" Minderheitsgruppe nehmen, die sich in ihrer Ablehnung der christlichen Sammlungspartei CDU einig wußte.79 Von barthianischer Seite wurde vor allem eingewandt, Parteipolitik unter dem Signum „christlich" könne es im Vollsinn des Wortes gar nicht geben; außerdem wohne dieser Etikettierung die Tendenz inne, alle anderen Parteien als unchristlich abzustempeln.80 Das letztgenannte Argument wurde 1953 von der SPD als Wahlkampfthema aufgegriffen. Entgegen dem Selbstverständnis der CDU, die betonte, daß sie die Konsequenz aus dem Scheitern der Weimarer Republik gezogen habe und erstmals beide Konfessionen auf politischer Ebene zusammenführe, suchten die SPD wie auch Heinemanns Gesamtdeutsche Volkspartei (GVP),81 die Union als rein katholische Partei, als verlängerten Arm eines klerikalen Katholizismus darzustellen.82 Damit wurde auf althergebrachte antikatholische Ressentiments angespielt, die nach wie vor im Protestantismus virulent waren und zur Skepsis gegenüber der interkonfessionellen politischen Zusammenarbeit beitrugen. Die CDU-Protestanten ihrerseits versuchten diesen Vorwürfen zu begegnen, indem sie mit dem Evangelischen Arbeitskreis der CDU (EAK) einen parteiinternen Zusammenschluß gründeten, der evangelische Interessen bündeln und stärker zur Geltung bringen sollte. Zugleich fiel ihm die Aufgabe zu, protestantische Wähler an die Union zu binden eine unabdingbare Voraussetzung, wollte die CDU/CSU mehrheitsfähig sein.83 Allein mit Hilfe der katholischen Wählerstimmen das war den Partei Strategen klar konnte das nicht erreicht werden. Im Konkurrenzkampf um Stimmen aus dem protestantischen Wählerreservoir blieb Heinemanns neutralistische GVP auf der Strecke. Nach ihrem Scheitern bei der Bundestagswahl 1953 existierte die Partei zwar zunächst weiter, um sich dann aber im Frühjahr 1957 aufzulösen.84 Die meisten ihrer führenden Repräsentanten, beispielsweise Gustav Heinemann, Erhard Eppler und Johannes Rau, aber auch zahlreiche weitere Mit-
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z.B. das Gemeinsame Hirtenwort der Bischöfe der Bundesrepublik Deutschland 14.7. 1949, abgedruckt in: Heinz Hurten (Hg.): Katholizismus, staatliche Neuordnung und Demokratie 1945-1962 (Beiträge zur Katholizismusforschung, Reihe A, Bd.7), Pader-
78) Vgl. vom
born-München
u.a.
1991, S.57-61.
H. Noormann: Protestantismus und politisches Mandat, Bd. 1, S. 136-138. 7. Kahle: Kirche und Demokratie, S. 108f. S.47-50. Paul Schempp: Die 80) Vgl. K. Barth: Christengemeinde und Bürgergemeinde,Problem einer christlichen Partei Stellung der Kirche zu den politischen Parteien und das (Kirche für die Welt, H. 3), Stuttgart 1946. unter dem 81) Vgl. Josef Müller: Die Gesamtdeutsche Volkspartei. Entstehung und Politik Primat nationaler Wiedervereinigung 1950-1957 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 92), Düsseldorf 1990. 82) Vgl. G. Besier: Christliche Parteipolitik, S. 124. Siehe auch unten Kapitel IV.4. dieser Arbeit. 83) So übereinstimmend die Ergebnisse von Peter Egen und Gerhard Besier (P. Egen: Evangelischer Arbeitskreis; G. Besier: Christliche Parteipolitik). Walter: M) Vgl. 7. Müller: Gesamtdeutsche Volkspartei, S.286-393. Peter Lösche/Franz Die SPD: Klassenpartei Volkspartei Quotenpartei. Zur Entwicklung der Sozialdemokratie von Weimar bis zur deutschen Vereinigung, Darmstadt 1992, S.332f.
79) Vgl.
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unter anderem 160 Württemberger Pastoren, traten zur SPD über. Sie stärkten das protestantische Element in der sozialdemokratischen Partei und unterstützten als „überzeugte .Godesberger'"85 deren programmatischen Wandel. Nachdem sich die kirchengebundenen „linken" Protestanten mit der außerparlamentarischen Opposition gegen die bundesrepublikanischen Wiederbewaffnungspläne ebensowenig hatten durchsetzen können wie die GVP mit ihrem neutralistischen Programm, war die Erkenntnis gewachsen, daß politischer Einfluß nur über die großen Parteien gewonnen werden konnte. Das Aufgehen der GVP in der SPD war den Sozialdemokraten bei ihrer Suche nach neuen Wählerschichten und mitten in einem Transformationsprozeß zu einer modernen Volkspartei höchst willkommen. Insofern kam der Übertritt der Evangelischen den Interessen auf beiden Seiten entgegen; sie reagierten damit auf die Parteienkonzentration in der Bundesrepublik. Die Folgen dieser Entwicklung reichten jedoch weiter: Endlich hatte auch der prononciert religiös-evangelische und politisch linksorientierte Flügel des deutschen Protestantismus seine parteipolitische Heimat gefunden.86 Das hatte wiederum Rückwirkungen auf diesen selbst. Da die Sozialdemokraten mit dem Godesberger Programm87 zunächst die innen-, 1960 auch die außen- und deutschlandpolitischen Weichenstellungen der Adenauer-Ära weitgehend akzeptiert hatten,88 waren die gesamtdeutsch orientierten Protestanten gezwungen, ihre in der ersten Hälfte der Jahrzehnts entwickelten Neutralitätskonzepte aufzugeben.89 Damit wurde eine Denktradition in den national-politischen Konsens eingebunden, die seit Gründung der Bundesrepublik deren staatliche Existenz aufgrund von Wiedervereinigungshoffnungen zur Disposition gestellt hatte.90 Die Idee eines
glieder,
85) u)
7. Müller: Gesamtdeutsche Volkspartei, S.394. Einen signifikanten Stimmenzuwachs aus dem evangelischen Wählerpotential hat der Übertritt der GVP-Politiker zur SPD bei der Bundestagswahl 1957 allerdings nicht mit sich gebracht. Wichtiger dürften deshalb die langfristigen Auswirkungen gewesen sein. Heinemann und seine politischen Weggefährten trugen dazu bei, daß sich der seit 1953 abzeichnende kontinuierliche Aufwärtstrend der Sozialdemokraten bei Protestanten stabilisieren konnte. Bei der Wahl zum vierten Deutschen Bundestag 1961 war erstmals ein markanter Anstieg der protestantischen SPD-Wähler zu verzeichnen (von 35 auf 43%; vgl. 7. Müller: Gesamtdeutsche Volkspartei, S.393f). Zur Wahl der SPD durch Protestanten siehe Gerhard Schmidtchen: Protestanten und Katholiken. Soziologische Analyse konfessioneller Kultur, Bern-München 1983. -K. Schmitt: Konfession und Wahlverhalten, v.a. S. 130-141. -Ders: Inwieweit bestimmt auch heute noch die Konfession das Wahlverhalten? Konfession, Parteien und politisches Verhalten in der Bundesrepublik, in: Konfession eine Nebensache? Politische, soziale und kulturelle Ausprägungen religiöser Unterschiede in Deutschland, hg. von Hans-Georg Wehling, Stuttgart 1984, S.21-57. 87) Vgl. P. Lösche/F. Walter: Die SPD, S. 110-115. 88) Noch 1959 hatte die SPD einen „Deutschlandplan" vorgelegt, der auf einem Neutralitätskonzept basierte. Mit Herbert Wehners Bundestagsrede von 30.6. 1960 revidierte die Partei ihre Position und bekannte sich zur Westintegration der Bundesrepublik einschließlich ihrer militärisch-bündnispolitischen Konsequenzen. Vgl. Kurt Klotzbach: Der Weg zur Staatspartei. Programmatik, praktische Politik und Organisation der deutschen Sozialdemokratie 1945 bis 1965, Berlin-Bonn 1982, S.482-503. 89) Vgl. 7. Müller: Gesamtdeutsche Volkspartei, S.395. Müller bewertet den praktischen Einfluß Heinemanns auf die Deutschlandpolitik der SPD als „nicht nennenswert". vs) Zu den konfessionellen Hintergründen für die besondere Bedeutung, die Protestanten der Wiedervereinigungsfrage beimaßen, vgl. den folgenden Abschnitt. -
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neutralen Deutschlands, das sich aus dem Ost-West-Konflikt heraushalten könne, verlor weitestgehend ihre Bedeutung. Die Gesprächs- und Verständigungsbereitschaft gegenüber dem Ostblock, die von den Neutralisten beständig eingefordert worden war, mündete auf diesem Weg in sozialdemokratische Ansätze zu einer neuen Ostpolitik, wie sie dann ausgehend von Egon Bahrs berühmter Tutzinger Rede „Wandel durch Annäherung"91 im weiteren Verlauf der sechziger Jahre in die Praxis umgesetzt wurden.92 Parallel zu den dargestellten Entwicklungen im politischen Bereich veränderten sich auch die konfessionellen Verhältnisse in der Bundesrepublik. Der sukzessive gesamtgesellschaftliche Wandel der fünfziger93 und sechziger Jahre als Beispiele seien nur das neue Konsum- und Freizeitverhalten der Bundesdeutschen sowie die demographischen Verschiebungen durch Binnenwanderung willkürlich herausgegriffen hatte erhebliche Rückwirkungen auf die kirchengebundene Bevölkerung. Davon war der Katholizismus in gleicher Weise betroffen wie der Protestantismus.94 Die zunehmende Entkirchlichung und der allgemeine Bedeutungsverlust von religiösen Orientierungen führten auf katholischer Seite zunehmend zur Erosion des traditionellen Milieus und schliffen auch im Protestantismus das konfessionelle Bewußtsein ab.95 Spannungen, wie sie noch in den fünfziger Jahren phasenweise das Klima zwischen den beiden großen Konfessionen bestimmt hatten, spielten jetzt nur noch eine untergeordnete Rolle. Dabei waren in den ersten Jahren der Bundesrepublik konfessionelle Denkmuster noch so stark ausgeprägt gewesen, daß sie beständig für Konfliktstoff sorgten:96 Von evangelischer Seite konnte das so weit gehen, daß der westdeutsche -
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9i) Vgl. Andreas Vogtmeier: Egon Bahr und die deutsche Frage. Zur Entwicklung der sozi-
Deutschlandpolitik vom Kriegsende bis zur Vereinigung (ForFriedrich-Ebert-Stiftung, Reihe: Politik und Gesellschaftsgeschichte,
aldemokratischen Ost- und
schungsinstitut
der
Bd.44), Bonn 1996, S.59-66.
Den dargestellten ideengeschichtlichen Zusammenhängen kam ebenso wie innenpolitischen Motiven nur nachgeordnete Bedeutung bei der Entwicklung der neue Ostpolitik der SPD zu; sie ist vielmehr in erster Linie vor dem Hintergrund der deutsch-deutschen Beziehungen nach dem Mauerbau und der beginnenden amerikanisch-sowjetischen Entspannung zu sehen. 93) Vgl. dazu Axel Schildt/Arnold Sywottek (Hgg.): Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre (Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert-Stiftung, Reihe: Politik und Gesellschaftsgeschichte, Bd.33), Bonn 1993. 94) Vgl. dazu die beiden Beiträge in dem oben genannten von Axel Schildt und Arnold Sywottek herausgegebenen Sammelband „Modernisierung im Wiederaufbau": Karl Gabriel: Die Katholiken in den 50er Jahren: Restauration, Modernisierung und beginnende Auflösung eines konfessionellen Milieus, S.418^130. Christoph Kiessmann: Kontinuitäten und Veränderungen im protestantischen Milieu, S.403-417. Kirchen95) Als Indikatoren können die Teilnahme an den Sonntagsgottesdiensten und die austritte dienen. Während die Zahl der sonntäglichen Gottesdienstsbesucher in beiden Konfessionen seit Bestehen der Bundesrepublik mit geringen Schwankungen beständig fiel, nahmen die Kirchenaustritte seit Mitte der sechziger Jahre sprunghaft zu; vor allem Evangelische kehrten ihrer Kirche den Rücken; vgl. die statistischen Angaben bei K. Schmitt: Konfession und Wahlverhalten, S. 65-71. auf Bundes96) Daß beispielsweise die Konfessionszugehörigkeit der Kabinettsmitglieder und Landesebene bis in die sechziger Jahre hinein regelmäßig veröffentlicht wurde, ist heute kaum noch in Erinnerung. Erst mit dem Bedeutungsverlust konfessioneller Prägungen für das politische Bewußtsein verschwand diese Praxis.
92)
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Teilstaat unter konfessionellen Motiven grundsätzlich in Frage gestellt wurde. Dazu trug nicht unerheblich bei, daß Evangelische die Bundesrepublik unter der Kanzlerschaft des Katholiken Konrad Adenauer insgesamt als einseitig römischkatholisch dominiert empfinden konnten. Von Martin Niemöller beispielsweise stammte der Satz: „Die gegenwärtige westdeutsche Regierung wurde im Vatikan gezeugt und in Washington geboren. Und das Fortbestehen des westdeutschen Staates bedeutet das Ende des europäischen Protestantismus."97 Nicht nur der hessische Kirchenpräsident deutete die Entstehung des westdeutschen Teilstaates unter konfessionellem Aspekt. Der spätere Berliner Bürgermeister, Pastor Heinrich Albertz, schilderte im .Schweizerischen evangelischen Pressedienst' seine Empfindungen anläßlich der Gründung der Bundesrepublik: „Das konfessionelle Gesicht Deutschlands hat sich in einer tragischen Weise verschoben. Wir haben in Bonn eine Regierung, ein Parlament und eine Länderkammer mit einer katholischen Mehrheit. Und da in allen diesen Gremien ja nicht nur die Stimmen gezählt werden, sondern die politischen Gewichte zur Geltung kommen, ist ganz ohne Zweifel der Purpur der Kardinäle die wichtigste Farbe gewesen, die Bonn bei seiner Eröffnung zeigte. Es ist kein Geheimnis mehr, wer die politischen Entscheidungen Westdeutschlands wesentlich beeinflußt. Die Villa des Bundeskanzlers liegt nur 30 km von der Residenz des Kardinals
Frings entfernt, f...]."98
Solche konfessionell motivierten Vorbehalte gegen die Bonner Republik hielten nicht zuletzt auch das Bewußtsein wach, mit der DDR die protestantischen Kerngebiete Deutschlands verloren zu haben und damit die Hauptlast der Kriegsfolgen tragen zu müssen. Der Wiedervereinigung kam deshalb bei Protestanten generell ein weit höherer Rang zu als bei Katholiken.99 Martin Niemöller etwa deutete an, daß er glaube, ein Großteil der Deutschen sei bereit, dafür sogar den Preis einer zeitweisen kommunistischen Herrschaft zu zahlen.100 Die Bemühungen, die Verständigung mit dem Osten voranzutreiben, um in der Deutschen Frage zu Fortschritten zu kommen, wurden daher von Protestanten auch intensiver verfolgt als von Katholiken. Während letztere sich durch die für sie günstigere konfessionelle Gliederung, die sie aus der Minderheitsposition des Kaiserreiches herausführte, und durch die christlich konservative Politik Konrad Adenauers bald in der neuentstandenen Bundesrepublik heimisch fühlten, blieb der gesamtdeutsche Vorbehalt für die Evangelischen eine Belastung, die es ihnen erschwerte, sich mit dem
97)
So in seinem Interview mit dem ,New York Herald Tribune' vom 14.12. 1949. Ganz ähnlich äußerte sich auch Paul Schempp, der „die hilflose Blindheit" beklagte, „mit der man sich der Herrschaft Amerikas und Roms hingibt" (Paul Schempp: Briefe, hg. von Ernst Bizer, Tübingen 1966, S. 194). Auch Karl Barth war von der „Antipathie gegen Amerika" bei gleichzeitiger „Verdächtigung der katholischen Kirche" nicht frei (F. Spotts: Kirchen und
Politik, S.207).
98)
Zitiert nach Norbert
Trippen:
Interkonfessionelle Irritationen in den ersten Jahren der
Bundesrepublik Deutschland, in: Staat und Parteien. Festschrift für Rudolf Morsey zum 65. Geburtstag, hg. von Karl Dietrich Bracher, Paul Mikat u.a., Berlin 1992, S.345-377, hier S.354.
") Vgl.
das empirische Datenmaterial bei G. Schmidtchen: Protestanten und Katholiken, S.248f. I0°) Der ,New York Herald Tribune' druckte die Stellungnahme Niemöllers unter dem Titel „Niemöller for United Reich, Even if It's Red" am 14.12. 1949 ab.
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westlichen Teilstaat zu identifizieren.101 Trotzdem hat der größere Teil der Protestanten Adenauers Westintegrationspolitik in det Hoffnung mitgetragen, daß die „Politik der Stärke" der letztlich erfolgreiche Weg zur Wiedervereinigung Deutschlands sein würde. Die Barthianer dagegen entwickelten eine eigene, alternative Konzeption, um dieses Ziel zu ereichen.102 Auf einem „dritten Weg", neutral zwischen den Weltmächten USA und UdSSR stehend, sollte Deutschland frei und selbständig seinen Platz in Europa behaupten. Als wiedervereinigter, blockfreier Staat, dessen Wirtschaftssystem aus einer Mischform von Plan- und Marktwirtschaft bestehen müßte, sollte Deutschland seine historische Brückenfunktion zwischen Ost und West wahrnehmen. Bruderrätliche Kreise forderten deshalb als Alternative zu Adenauers schroff antikommunistischem Kurs wiederholt zu einer differenzierten Sicht des Sowjetsystems auf und kritisierten beide Weltmächte gleichermaßen.103 Das Bestreben zur Äquidistanz gegenüber den Parteien im Ost-West-Konflikt zog teilweise krasse Fehleinschätzungen der östlichen Regime nach sich104 und relativierte auf der anderen Seite die repräsentativ-demokratischen Systeme des We-
stens.105
Die offizielle evangelische Kirche ihrerseits betonte demgegenüber stets ihre gesamtdeutsche Klammerfunktion,106 um die deutsch-deutschen Zusammengehörigkeitsgefühle ihrer Mitglieder nicht zu verletzen. In der Praxis beschränkte sich ihr Engagement je länger je mehr auf die nationale Rhetorik und sozial-caritative
"") Insofern wurden die Katholiken nach 1949 tatsächlich zu den „eigentlichen Entdeckern der Bundesrepublik als einer neuen politischen Heimat" (G. Schmidtchen: Protestanten und Katholiken, S.245).
102) Wie oben dargestellt, mündete diese national wie theologisch-konfessionell motivierte Traditionslinie Ende der fünfziger Jahre in die SPD. 103) Vgl. zu diesem Abschnitt: H. Noormann: Protestantismus und politisches Mandat, Bd. 1,S. 228-231. m) Erinnert sei an dieser Stelle exemplarisch an Karl Barths 1949 gehaltenen Vortrag „Die Kirche zwischen Ost und West", in dem es heißt: „Es entbehrt nun wirklich alles Sinnes, wenn man den Marxismus mit dem .Gedankengut' des Dritten Reiches, wenn man einen Mann von dem Format von Joseph Stalin mit solchen Scharlatanen wie Hitler, Göring, Heß, Goebbels, Himmler, Ribbentrop, Rosenberg, Streicher usw. es gewesen sind, auch nur einen Augenblick im gleichen Atem nennen wollte." (Karl Barth: Die Kirche zwischen Ost und West, in: „Der Götze wackelt". Zeitkritische Aufsätze, Reden und Briefe von 1930 bis 1960, von Karl Kupisch, Berlin 1961, S. 124-143, hier S. 137). hg. 1 ) Jonathan Wright urteilt über Barths Kritik am Westen: „In developing this argument, he came very close to a condemnation of Western democracy, reminiscent of the anti-democratic political theologians of the Weimar Republic." (J.R.C. Wright: The Church in Politics, S.67).
i06) Die Selbstwahmehmung der EKD als letzte noch bestehende gesamtdeutsche Klammer hat in der wissenschaftlichen Literatur in der Form ihren Niederschlag gefunden, daß hier nicht selten zu lesen ist, die evangelische Kirche sei „die einzige funktionierende gesamtdeutsche Institution" gewesen (Belege bei: 7. Vogel: Kirche und Wiederbewaffnung, S. 16, 41, 81, 160f. und öfter. -Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik 1945-1956, Bd.l. Von der Kapitulation bis zum Pleven-Plan, hg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, München-Wien 1982, S.533, Anm.278. -7. Müller: Gesamtdeutsche Volkspartei, S.78). Stets wird dabei außer Acht gelasssen, daß auch die katholische Kirche die institutionelle Einheit bis 1961 wahrte. Bis zu diesem Zeitpunkt waren alle deutschen Bischöfe in der Fuldaer Bischofskonferenz vertreten.
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/. Der Protestantismus in der Nachkriegszeit
Maßnahmen für die „Brüder im Osten", ohne beherzt eigene Initiativen für die Wiedervereinigung zu ergreifen. Daß dieses Verhalten vom Kirchenvolk akzeptiert wurde, hat eine Ursache in dem bereits erwähnten Schwinden des konfessionellen Bewußtseins. Was blieb, war das vorrangig nationale Zusammengehörigkeitsgefühl, das bis zum Mauerbau im Jahre 1961 die Wiedervereinigungshoffnungen am Leben halten konnte. Darin hoben sich die Protestanten aber nicht gundsätzlich von ihren katholischen Mitbürgern ab. Ein weiterer Unterschied zwischen Katholiken und Protestanten war eingeebnet worden.107 Das Schwinden der Gegensätze zwischen den beiden großen Konfessionen und das Einschmelzen der „Linksprotestanten" in die SPD, das sie unter die Parteiräson zwang, entlastete die bundesdeutsche Politik von religösen Implikationen. Das Land wurde säkularer, das religiös-ideologische Konfliktpotential nahm ab. Dieser Prozeß war einer der Faktoren, die den Erfolg der politisch-taktischen Überlegungen in Richtung auf eine Kooperation zwischen Union und SPD mitbedingten. Die Große Koalition der Jahre 1966 bis 1969 ist insofern schon Teil einer Phase neuer politisch-ideeller Konstellationen in der Bundesrepublik.108 Der ,Machtwechsel'109 zur sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt konnte nur unter diesen veränderten Voraussetzungen einen neuen Abschnitt in der Geschichte der Bundesrepublik einläuten. Betrachtet man den Weg der evangelischen Kirche in den ersten zwanzig Jahren der Bundesrepublik, so zeigt sich, daß sie in einem schmerzvollen Prozeß zur Pluralität im politischen und konfessionellen Bereich gefunden hat. Stellt man die Frage nach Restauration oder Neubeginn zurück, weil sie die falschen Alternativen offeriert, und fragt stattdessen nach Kontinuitäten und Brüchen in der Entwicklung seit den zwanziger Jahren, so wird deutlich, daß die Kontinuitäten personell, institutionell und theologisch-geistesgeschichtlich bei weitem überwiegen. Es sind Kontinuitäten auf zwei Linien: Sie reichen bei den Barthianern zum theologischen Neuansatz Karl Barths in den späten zwanziget und frühen dreißiger Jahre zurück, der in der Barmer Theologischen Erklärung seinen signifikanten Ausdruck gefunden hat. Was in der evangelisch-kirchengeschichtlichen Literatur beinahe durchgängig als Restauration bezeichnet wird, war der gescheiterte Versuch, diese Linie nach 1945, unter den Bedingungen wiedergeschenkter Freiheit, für die gesamte evangelische Kirche verbindlich zu machen. Demgegenüber setzten die Lutheraner auf die Kontinuität ihrer eigenen theologischen Tradition und ihrer Erfahrungen aus den zwanziger Jahre und dem Dritten Reich. Evangelische -
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l07) Der innerprotestantische Streit brandete in den Auseinandersetzungen um die Ostdenkschrift der EKD noch einmal auf (vgl. K. Herbert: Kirche zwischen Neuanfang und Tradition, S.324-337). Der Konflikt in der nationalen Frage war aber nur noch ein Nachbeben gegenüber den Erschütterungen des ersten Nachkriegsjahrzehnts. Der Kampf um die Ostverträge in den frühen siebziger Jahren war vorwiegend parteipolitisch dominiert, die Konfessionszugehörigkeit hatte inzwischen so viel an Relevanz eingebüßt, daß sie hinter die Identifikation mit der jeweiligen Partei zurücktrat. ,08) Vgl. F. Spotts: Kirchen und Politik, S.297. I09) So der Titel der Monographie von Arnulf Baring über die Ära Brandt-Scheel, Stuttgart 41983.
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/. Der Protestantismus in der Nachkriegszeit
Akademien, die Studentengemeinden, der Deutsche Evangelische
Kirchentag110
und nicht zuletzt die interkonfessionelle politische Zusammenarbeit im Rahmen der Unionsparteien wurden hier als das verpflichtende Erbe des Kirchenkampfes gesehen.1" Erst im Laufe der nächsten fünfzehn Jahre erkannten beide Seiten, daß sie zu Modifikationen ihrer Maximalpositionen und zu Kompromissen gezwungen sein würden, sollte die neugewonnene Einheit der evangelischen Kirche in Deutschland bewahrt werden. Das galt für den innerkirchlichen Bereich ebenso wie für den säkular-politischen."2 Die Barthianer lösten sich im Laufe dieses Lernprozesses aus dem „Schmollwinkel" der außerparlamentarischen Opposition und fanden Ende der fünfziger Jahre in der SPD ihren Platz im westdeutschen Parteiensystem. Die Lutheraner hatten dagegen schon früh „Praktiker der Macht" in ihren Reihen, die fest in den Reihen der CDU verankert waren und nicht unerhebliche Teile der konservativ-kirchlichen Protestanten an die Unionsparteien binden konnten. Ihre Hoffnung, daß sich das kritische Unruhepotential in der eigenen Kirche in der Breite des volkskirchlichen Spektrums verlieren würde, ging nicht in Erfüllung. So setzte sich bei ihnen im Laufe der Zeit die Erkenntnis durch, daß beide Strömungen ihre Berechtigung hatten. Der Lernprozeß, zu dem beide Seiten gezwungen waren, führte dazu, daß der Protestantismus als Ganzes gegenüber seinen „klassischen" Feinden, der Sozialdemokratie und den Katholiken,"3 ein neues Verhältnis finden konnte. Zwar blieb die Verständigung und Zusammenarbeit mit den früheren Gegnern jeweils auf einen bestimmten Ausschnitt des Protestantismus beschränkt, insgesamt aber trug der Protestantismus damit als Integrationsfaktor zur demokratischen „Erfolgsgeschichte" der Bundesrepublik bei.
"°) Vgl. exemplarisch E. Müller: Widerstand. H. Lilje: Memorabilia, S.69-82. Reinold Thadden-Trieglaff: Auf verlorenem Posten? Ein Laie erlebt den evangelischen Kirchen-
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kampf in Hitlerdeutschland, Tübingen 1948, S. 159f. "') Hans Prolingheuer charakterisiert die Unionsparteien als „angebliches Ergebnis des Kirchenkampfes" (H. Prolingheuer: Wir sind in die Irre gegangen, S. 168) und ordnet sie in die Tradition der antidemokratischen „Rechtsparteien" der Weimarer Republik ein. Der Autor wird mit dieser Einschätzung weder der subjektiven Ernsthaftigkeit der evangelischen CDU-Mitgründer gerecht, die einen politisch-interkonfessionellen Neubeginn wagen wollten, noch berücksichtigt er die lange parlamentarische Tradition des politischen Katholizismus, die als Erbe des Zentrums in die CDU/CSU mit eingeflossen ist. Wie immer man Programm und politische Praxis der Union beurteilt, eine un- oder gar antidemokratische Partei wie Prolingheuer nahelegt war sie nicht. "2) Ausdruck dieses neugewonnenen Verhältnisses unter den verschiedenen Gruppierungen in der evangelischen Kirche waren die Denkschriften, mit denen die EKD seit 1962 zu gesellschaftlichen und politischen Fragen Stellung nahm. Die Denkschriften stellten in der Regel ausgesprochene Kompromißtexte dar, die versuchten, einen möglichst breiten Konsens zwischen den unterschiedlichen Positionen zu erreichen. Die mangelnde Prägnanz ihrer Aussagen hat wiederholt Anlaß zur Kritik am „Denkschriftenwesen" gegeben. Vgl. Turnan Winkler: Vater der Denkschriften, in: Aktuelle Gespräche, H. 1, 37 (1989), S.23-25. -
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E. Müller: Widerstand, S. 144-147. "3) Diese Feindbilder waren so tief im protestantischen Bewußtsein verankert, daß sich auch die Deutschen Christen ihrer zum Zwecke der nationalsozialistischen Propaganda bedient hatten. Vgl. etwa die Richtlinien der Glaubensbewegung Deutsche Christen vom 26.5. 1932, in denen zum Kampf der evangelischen Kirche gegen „den gottfeindlichen Marxismus und das geistfremde Zentrum" aufgerufen wurde (Dokument Nr. 5 bei G. Denzler/V. Fabricius: Christen und Nationalsozialisten, S.256f).
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II. Der
Kronberger Kreis
1. Die
Vorgeschichte
Kronberger Kreis hat eine Vorgeschichte, die weit in die Zeit der Weimarer Republik zurückreicht. Als sich im Herbst des Jahres 1950 Reinold von ThaddenTrieglaff und Hanns Lilje mit Eberhard Müller in Bad Boll trafen, um zu überlegen, wie ihre gemeinsamen kirchlichen und politischen Interessen besser koordiniert und durchgesetzt werden könnten, blickten die drei auf eine lange Phase der Zusammenarbeit und persönlicher Freundschaft zurück. Was hatte diese Männer zusammengeführt und was verband sie? Der
Von ihrer Herkunft her konnten sie verschiedener nicht sein. Eberhard Müller, 1906 in Stuttgart geboren, war durch seine Familie im schwäbischen Pietismus verwurzelt.1 Sein Vater arbeitete als kaufmännischer Leiter für eine Stuttgarter Firma, seine Mutter war die Tochter eines Beamten.2 Hanns Lilje kam im August 1899 in Hannover zur Welt, wo sein Vater in einer Vörstadtgemeinde als Diakon wirkte.3 In seiner lutherischen Landeskirche verwurzelt, war er dennoch „mit einem Tropfen pietistischen Öls gesalbt",4 auch wenn ihm die Frömmigkeitsformen des süddeutschen Pietismus stets fremd blieben. Reinold von Thadden, Jahrgang 1891, entstammte einer gleichfalls pietistisch geprägten Familie aus Pommern, deren Lebensart ein geradezu „klassisches" Beispiel für die Kultur der ostelbischen Junker darstellt.5 Diese Herkunft prägte den „bäuerlich konservativen Grundzug seines Wesens",6 den Thadden zeitlebens nicht abstreifte. Alle drei besuchten das Gymnasium und anschließend zur akademischen Ausbildung die Universität. Lilje und Müller studierten Theologie, Reinold von Thadden begann die Ausbildung zum Juristen in Paris. Ihre Wege kreuzten sich als Mitglieder der Deutschen Christlichen Studenten-Vereinigung (DCSV).7 Die Mitarbeit in diesem studentischen Verband sollte sich als richtungsweisend für den künftigen Lebens-
') Unter den Autoren der Nachrufe auf Eberhard Müller haben besonders Eberhard Stammler und Hans Stroh auf Müllers „pietistisches Erbe" hingewiesen; vgl. Eberhard Stammler: Aufbruch in die Gesellschaft, in: Aktuelle Gespräche, H. 1, 37 (1989), S.12f, sowie Hans Stroh: Geistliche Autorität, in: ebd., S. 14-16, hier S. 16. 2) Vgl. Eberhard Müller: Mein Lebensgang (Manuskript vom 20.12. 1955 für das .Deutsche Allgemeine Sonntagsblatt', EABB, AZ 87 A 1951-1966, S. 1) sowie Christian Troebst: Kirche und Industrie, in: Aktuelle Gespräche, H. 1, 37 (1989), S. 16f. 3) H. Lilje: Memorabilia, S.U. 4) Eberhard Müller: Lutheraner mit Mitra und Krummstab, in: Christ und Welt vom 14.8. 1964, S.U. 5) Vgl. die ersten Kapitel in der Biographie W. Huhne: Thadden-Trieglaff. 6) So Eberhard Müller in dem Manuskript zu einem biographischen Artikel anläßlich des 75. Geburtstages Reinold von Thadden-Trieglaffs für die ,Zeitwende', EABB, AZ 26/11, Korr. 1962-1972. 7) Zur Geschichte der DCSV siehe Karl Kupisch: Studenten entdecken die Bibel. Die Geschichte der Deutschen Christlichen Studenten-Vereinigung, Hamburg 1964, sowie den entsprechenden Artikel bei Friedhelm Golücke: Studentenwörterbuch (Abhandlungen zum Studenten- und Hochschulwesen, Bd. 1), Würzburg "1987, S. 1 lOf.
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//. Der Kronberger Kreis
weg der drei Männer erweisen.8 Reinold von Thadden stieß als erster zur DCSV. Während des Wintersemesters 1911/12 führte ihn Georg Michaelis, der spätere Reichskanzler und ein enger Freund von Reinolds Vater, in den Kreis der DCSV ein. Hier erfuhr von Thadden inzwischen an der Universität Greifswald immatrikuliert und kurz vor dem Examen stehend seine Bekehrung, eine Wende im Leben des jungen Mannes, die nicht nur seine religiöse Existenz betraf, sondern auch einen Bruch mit den Konventionen der damaligen Gesellschaft bedeutete.9 Im Oktober 1912 löste Reinold von Thadden einen Skandal aus, als er die Duellforderung eines Korpsstudenten aus Gewissensgründen verweigerte. Der Eklat, den die Satisfaktionsverweigerung heraufbeschwor, kam einem „gesellschaftlichen Selbstmord"10 gleich. Die Affäre zog weite Kreise, bis hinauf zum Reichskanzler und schließlich zum Kaiser, und behinderte später die standesgemäße militärische Karriere des Offizieranwärters." Daß Thadden dem Zweikampf auswich, war konsequente Folge einer religiösen Entscheidung, die nachteilige gesellschaftliche Folgen nicht scheute. Nicht immer war die Distanz der DCSVer zu den anerkannten gesellschaftlichen Werten der adeligen und bürgerlichen Schichten des Kaiserreichs und dann auch der Weimarer Republik so spektakulär wie Thaddens Duell-Affäre. Aber sie war auch keine Ausnahme. Die frommen Studenten waren bei den Kommilitionen wenig geachtet, standen am Rande der akademischen Gemeinschaft.12 Sie bildeten eine kleine Minderheit,13 die sich deutlich von den vor-
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8) Lilje und Müller haben
ihre Tätigkeit bei der DCSV später so eingeschätzt. Eberhard Müller schrieb in einem autobiographischen Aufsatz: „Für die praktische Richtung meiner späteren Arbeit wurde entscheidend, daß mein Erlanger Studentenkreis mich zu seinem Senior wählte, von wo mich anschließend der junge Generalsekretär der DCSV, Hanns Lilje, für ein Jahr in die Zentrale nach Berlin berief." (Eberhard Müller: Mein Lebensgang, Manuskript vom 20.12. 1955 für das ,Deutsche Allgemeine Sonntagsblatt', EABB, AZ 87 A 1951-1966, S.3). In Liljes ,Memorabilia' heißt es: „Ein einschneidender Vorgang war aber die Tatsache, daß ich in die Leitung der Christlichen Studentenbewegung berufen wurde." (H. Lilje: Memorabilia, S. 16). 9) Von Georg Michaelis berichtet der Thadden-Biograph Werner Huhne, Michaelis habe nach seiner Bekehrung das Rauchen aufgegeben, Wein nur noch mit Wasser gemischt getrunken und sich von den gesellschaftlichen Verpflichtungen wie Kneipabenden, Herrenessen und Tanzveranstaltungen zurückgezogen, vgl. W. Huhne: Thadden-Trieglaff, S.45.
Iü) Ebd.,S.46. ") Ebd., S.46-55. 12) Die DCSV gehörte zur Gruppe der losen Vereine und Kryptokorporationen, welche die
„unterste Ebene der studentischen Organisationen" bildeten (Konrad H. Jarausch: Deutsche Studenten 1800-1970, Frankfurt a.M. 1984, S.64). Unter den evangelischen Studierenden, die das Waffenstudententum dominierten für Katholiken galt ein Duellverbot waren die locker organisierten, streng religiös ausgerichteten und das Duell ablehnenden DCSVer krasse Außenseiter. 13) Die DCSV hatte durchschnittlich weniger als tausend studentische Mitglieder. 1914 waren es rund 800, im Sommersemester 1925 zählte der Verband 939, im Wintersemester 1925/26 887 Mitglieder. Ihre Zahl stieg zum Sommersemester 1929 auf 1126 an (K. Kupisch: Studenten, S. 117 und 153). Dem standen im gleichen Jahr 41 Korporationsverbände mit zusammen 71000 studentischen Mitgliedern gegenüber. Den größten Verbänden gehörten über 8000 aktive Studenten an, z.B. der Deutschen Burschenschaft (8678 Mitglieder) oder dem katholischen CV (8493 Mitglieder), vgl. Michael Grüttner: Studenten im Dritten Reich, Paderborn-München u.a. 1995, S.31f. -
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L Die
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Vorgeschichte
herrschenden Korporationsstudenten und deren Lebensstil unterschied.14 Statt Couleurbummel mit Band und Mütze, Mensuren sowie Kneip- und Kommersgesang standen bei der DCSV Bibelstudium, religiöse Gespräche und gemeinsame Gebete auf dem Programm. Der Verband war 1897 ins Leben gerufen worden und ging auf Schüler- und Studentenbibelkreise zurück. Seine religiös-geistesgeschichtlichen Wurzeln lagen im deutschen Pietismus und der amerikanisch-englischen Evangelisations- und Heiligungsbewegung des 19. Jahrhunderts.15 Die erste christliche Studentenkonferenz in Deutschland fand im August 1890 im herrnhutischen Niesky in Schlesien statt. Sie orientierte sich am Vorbild der YMCA (Young Men's Christian Association), die in den USA und England regelmäßig solche Veranstaltungen durchführte. Die beiden Initiatoren der deutschen Konferenz, Graf Eduard von Pückler und Waldemar von Starck,16 hatten als Mitglieder des deutschen Zweigs der YMCA, des CVJM (Christlicher Verein junger Männer), die USA besucht und dort die Arbeit der Studentenkonferenzen kennengelernt.17 Ihr Versuch, das amerikanische Modell nach Deutschland zu übertragen, gelang mit Hilfe der Berliner Studentenabteilung des CVJM. Aus den jährlich stattfindenden Tagungen entwickelte sich schließlich die DCSV, die von Beginn seit 1895 im an mit den christlichen Studentenvereinigungen anderer Länder Christlichen Studentenweltbund (WSCF, World Student Christian Federation) verbunden in engem Kontakt stand. Der weltweite Zusammenschluß war geprägt von missionarischem Eifer, einer individualistisch verstandenen Heilslehre, der gemeinsam gelebten Frömmigkeit sowie starkem sozialem Engagement.18 -
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Theologie spielte dabei fast gar keine Rolle, die Bibel stand ganz im Mittelpunkt des geistlichen Lebens. Auf die intensive Beteiligung der Laien an der Evangelisationsarbeit legte der Bund besonderen Wert, die gegenseitigen Besuche der füh14) Zu den Sitten und Gebräuchen des protestantisch geprägten Korpsstudententums siehe Manfred Studier: Der Corpsstudent als Idealbild der Wilhelminischen Ära. Untersuchungen zum Zeitgeist 1888-1914 (Abhandlungen zum Studenten- und Hochschulwesen, Bd.3), Schernfeld 1990. Die DCSV stand außerhalb des Korporationswesens, das gegen Ende der Weimarer Republik im Reichsdurchschnitt etwa 60%, in einigen Universitätsstädten sogar zwei Drittel der Studierenden erfaßte, vgl. Peter Spitznagel: Studentenschaft und Nationalsozialismus in Würzburg 1927-1933, phil. Diss. Würzburg 1974, S. 172. 15) Vgl. K. Kupisch: Studenten, S.27-29. Vgl. auch die knappen Hinweise auf den Einfluß
der amerikanischen und britischen Erweckungsbewegung auf den deutschen Pietismus bei T. Nipperdey: Religion, S.78, und Eberhard Busch: Karl Barth und die Pietisten. Die Pietismuskritik des jungen Karl Barth und ihre Erwiderung (Beiträge zur evangelischen Theologie, Bd. 82), München 1978, S. 151. ) Am Beispiel Graf Pücklers, der zu den Initiatoren der Gnadauer Konferenz gehörte, zeigt sich die geistige Nähe von christlicher Studentenvereinigung und der Gemeinschaftsbewegung des 19.Jahrhunderts, vgl. K. Kupisch: Studenten, S.32. W. Huhne: ThaddenTrieglaff, S.86. 17) K Kupisch: Studenten, S.29, sowie ders.: Der deutsche CVJM. Aus der Geschichte der Christlichen Vereine Junger Männer Deutschlands, Kassel 1958, S.44. 18) Reinold von Thadden hat in der Rückschau auf die zwanziger Jahre das „Social Gospel", die „zunächst innerhalb der angelsächsischen Frömmigkeitstraditionen und innerhalb des emotionalen USA-Liberalismus entfaltete Botschaft von dem sozialethischen Gehalt der biblischen Wahrheit", mit dafür verantwortlich gemacht, daß sich karitativ engagierte protestantische Kreise lange Zeit von der sozialen Rhetorik der Nationalsozialisten blenden ließen (R.v. Thadden-Trieglaff: Auf verlorenem Posten? S.53). -
//. Der Kronberger Kreis
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renden Mitglieder aus den verschiedenen Staaten förderten den internationalen Austausch zwischen den Verbandsvertretern und den einzelnen Ländergliederungen.19 Die Mitgliedschaft in einer transnationalen Organisation war für junge Deutsche im Kaiserreich und in der Weimarer Republik keineswegs selbstverständlich, sondern eher die große Ausnahme. Ihre Bedeutung für die geistige Entwicklung der späteren Gründer des Kronberger Kreises ist deshalb kaum zu überschätzen. Als die drei späteren „Kronberger" in der Zeit der Weimarer Republik in die Führungsspitze der DCSV aufstiegen, hatten sich die Zeit- und Lebensumstände gegenüber der Gründungszeit des Verbandes grundlegend verändert. Mit dem Ende des Kaiserreichs waren nicht nur politische, sondern auch gesellschaftliche Umbrüche einhergegangen, denen die Studenten-Vereinigung Rechnung tragen mußte. Eine neue Studentengeneration kam an die Universitäten, die meisten waren ehemalige Soldaten und von den Fronterlebnissen des Ersten Weltkriegs geprägt. Die Niederlage und den Versailler Vertrag hatten sie als tiefe nationale Schande empfunden.20 Der Kampf gegen das „Diktat von Versailles" war deshalb auch eines der wichtigsten Anliegen des DCSV-Vorsitzenden Georg Michaelis, der als Nachfolger Bethmann Hollwegs während des Krieges Reichskanzler gewesen war. Immerhin gelang es ihm, die internationalen Kontakte wiederherzustellen, die in der Kriegszeit weitestgehend abgerissen waren. Seine Versuche, den Christlichen Studentenweltbund zu einer Stellungnahme gegen den Kriegsschuldparagraphen des Versailler Vertrages zu bewegen, schlugen dagegen fehl, belasteten aber das Verhältnis det DCSV zum Weltbund schwer.21 Reinold von Thadden, seit 1924 im Vorstand der Studenten-Vereinigung, wurde 1928 als Nachfolger von Michaelis zum ersten Vorsitzenden gewählt.22 Sein engster Mitarbeiter war in den folgenden Jahren der Generalsekretär des Verbandes, der frühere Studentenpfarrer der hannoverschen Landeskirche Hanns Lilje, der noch zur Amtszeit von Georg Michaelis das Generalsekretariat der DCSV übernommen hatte.23 Aus der nicht immer spannungsfreien Zusammenarbeit der beiden erwuchs eine lebenslange Freundschaft. Bei den zahllosen Besuchen in deutschen Universitätsstädten lernten die Verbandsleiter die Mitglieder und Führungspersönlichkeiten der örtlichen Kreise der DCSV kennen. Heinrich Giesen, der spätere Generalsekretär des Deutschen Evangelischen Kirchentages und enge Mitarbeiter Thaddens, war beispielsweise Senior des Berliner Kreises; Eberhard Müller wurde als Leiter des Erlanger Studentenkreises mit Hanns Lilje bekannt.24 So entstand im Laufe der Zeit ein perhin19) Vgl. zur den internationalen Kontakten der DCSV den Abschnitt „Über die Nation verlore-
Kupisch: Studenten, S.53-64. Siehe auch R.v. Thadden-Trieglaff: Auf Posten?, S.61-66.
aus" bei K nem
Zur Situation an den deutschen Hochschulen in der Weimarer Republik siehe K. Jarausch: Deutsche Studenten, S. 117-140. 21) Vgl. K. Kupisch: Studenten, S. 126-133. W. Huhne: Thadden-Trieglaff, S.88. 22) W. Huhne: Thadden-Trieglaff, S.85f. und S.92. K Kupisch: Studenten, S. 144. 23) W. Huhne: Thadden-Trieglaff, S.94. K Kupisch: Studenten, S. 136-138. H Lilje: Memorabilia, S. 16. 24) Vgl. Eberhard Müller: Mein Lebensgang (Manuskript vom 20.12. 1955 für das .Deutsche Allgemeine Sonntagsblatt', EABB, AZ 87 A 1951-1966, S.3).
20)
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sonelles Netzwerk, an das nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges angeknüpft werden konnte. Neben den Reisen im Reichsgebiet gehörten auch Auslandsreisen im Dienste der Studenten-Vereinigung zu den Pflichten der Verbandsführung. Besonders Lilje war es zu verdanken, daß sich die Beziehungen der Deutschen zum Studentenweltbund wieder zusehends normalisierten. Daß er neben Französisch das auch Thadden beherrschte25 ebenfalls Englisch sprach, erleichterte die Kontakte zum anglo-amerikanisch dominierten Studentenweltbund.26 1928 wurde der Generalsekretär der DCSV zum europäischen Vizepräsidenten der WCSF gewählt und hatte damit als einer der wenigen Deutschen ein internationales Amt inne. Reisetermine ins Ausland gehörten nunmehr zu seinen selbstverständlichen Pflichten. Zwischen 1928 und 1939 unternahm Lilje insgesamt 17 Auslandsreisen, die ihn unter anderem nach Indien, fünf Mal nach England und drei Mal in die USA führten.27 Müller und von Thadden waren nicht so häufig im Ausland unterwegs wie der Generalsekretär der DCSV. Thadden kannte Frankreich allerdings aus seiner Studentenzeit, Großbritannien besuchte er gemeinsam mit Müller28 und Lilje, in die USA reiste er zu Veranstaltungen des Christlichen Studenten-Weltbundes.29 Als Vorsitzender der DCSV fand von Thadden den Weg in die angelsächsische Welt.30 Die im Ausland geschlossenen Freundschaften konnten bis weit in die dreißiger Jahre hinein gepflegt und vertieft werden, so z.B. mit George Bell, dem Bischof von Chichester in Großbritannien, mit Eivind Berggrav, dem Bischof von Oslo, sowie mit Pierre Maury, Präsident der Reformierten Kirche Frankreichs, oder mit Willem A. Visser't Hooft, Robert Mackie und Francis Pickens Miller vom Studentenweltbund. Nicht nur auf Auslandsreisen und internationalen kirchlichen Veranstaltungen kamen die Deutschen mit ihren ausländischen Freunden zusammen. Wiederholt besuchten diese vor, aber auch noch nach der Machtergreifung -
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25) Vgl. R.v. Thadden-Trieglaff an Verwandte und liebe Freunde, Berlin-Zehlendorf, 30.12. 1945, LkA Hannover, L 3 II, 5/II. 26) Vgl. K. Kupisch: Studenten, S.139. Siehe auch E. Müller: Lutheraner mit Mitra und
Krummstab. Lilje hatte in den dreißiger Jahren eine Sprachausbildung absolviert und 1939 mit dem Dolmetscher-Examen in Englisch abgeschlossen, wie aus seinem Entnazifizierungsfragebogen hervorgeht (LkA Hannover, L 3II, 49/11). Die sprachliche Begabung Liljes und ihre Bedeutung für dessen ökumenische Arbeit, hebt auch Hans Hermann Walz in der Festschrift zum 65. Geburtstag des Landesbischofs hervor (Hans Hermann Walz: Was ist ökumenisch?, in: Abschied vom Christentum? Siebzehn Antworten von Publizisten und Theologen auf eine zeitgemäße Herausforderung, Hamburg 1964, S. 249-265, hier S.250f). 27) „Reisen. Anlage 3 zum Fragebogen", o. Ort und Datum, LkA Hannover, L 3 II, 49/11. Knappe Berichte über seine Eindrücke bei verschiedenen Reisen gibt Lilje in seinen Lebenserinnerungen; vgl. H. Lilje: Memorabilia, S. 197-202 (Indien), S.203-205 (USA), S.205-208 (UdSSR). 28) Eberhard Müller sprach kein Englisch und fühlte sich daher in Großbritannien äußerst unwohl. Erst ein nächtliches Gespräch mit Thadden und Lilje konnte ihn dazu bewegen, den Englandaufenthalt nicht vorzeitig abzubrechen; vgl. R.v. Thadden-Trieglaff an E. Müller, Fulda, 17.7. 1964, EABB, AZ 26 II, Korr. 1962-1972. 29) W. Huhne: Thadden-Trieglaff, S.97 und 104. 30) Ebd., S. 104.
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der Nationalsozialisten Deutschland und trafen sich hier mit der „DCSV-
Troika"31.
Seit 1927 war Eberhard Müller mit Reinold von Thadden bekannt. Als Leiter des Erlanger DCSV-Kreises hatte er den Vorsitzenden des Verbandes kennengelernt.32 Im Sommersemesters 1932 wurde Müller Reisesekretär der DCSV und damit als dritter der späteren Gründer des Kronberger Kreises Mitglied in der Führungsspitze der Christlichen Studenten-Vereinigung.33 Müller übernahm ein Amt, das sich in der Arbeit der amerikanischen YMCA entwickelt hatte und in vielen europäischen Ländern Nachahmung fand. Als hauptamtlich tätiger, mit voller seelsorgerischer Verantwortung beauftragter Mitarbeiter der DCSV betreute er die örtlichen Kreise des Verbandes.34 Der neue Reisesekretär war nicht einmal ein volles Jahr im Dienst der Studenten-Vereinigung, als mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten erneut ein politischer Umbruch seine Schatten auf den Verband warf. Die DCSV geriet nach dem 30. Januar 1933 gleich auf zwei Ebenen in den Sog der nationalsozialistischen Gleichschaltungsbestrebungen: als studentischer Verband und als religiöse Gemeinschaft. Im April 1933 beseitigten die Nationalsozialisten die demokratisch gewählten Allgemeinen Studentenausschüsse, führten das Führerprinzip in den Studentenverbänden und -Organisationen ein und erklärten die Deutsche Studentenschaft (DSt) zur alleinigen Vertretung der deutschen Hochschüler.35 Ausländische oder jüdische Studierende konnten demnach nicht Mitglieder der Studentenschaft sein. Diese Neuregelung brachten die DCSV in eine Zwangslage: Wollte sie sich nicht von vornherein an den Universitäten ins Abseits stellen, mußte sie um Aufnahme in die DSt nachsuchen. Lilje empfahl deshalb den örtlichen Kreisen, einen Vertreter in die „Bündische Kammer"36 der Studentenschaft am jeweiligen Hochschulort zu entsenden. Mit dem Eintritt in die Deutsche Studentenschaft wäre der Arierparagraph in der DCSV faktisch eingeführt und die Aufnahme ausländischer Mitglieder ausgeschlossen worden. Ersteres war unter theologischen und missionarischen Aspekten problematisch die DCSV wollte für alle christlichen Studenten offen bleiben -, letzteres beschwor Spannungen mit dem Studentenweltbund herauf. So war die Verbandsleitung erleichtert, als die Studentenschaft ihrerseits die -
31) Ebd., S. 105f. H. Lilje: Memorabilia, S.208-211. In Bad Boll fand z.B. vom
11.-16.5. 1932 eine europäische Führerkonferenz der christlichen Studentenbewegung statt, an der Lilje und Müller auf deutscher Seite, sowie Robert Mackie, Willelm A. Visser't Hooft, Pierre Maury und weitere ausländische Gäste teilnahmen, vgl. „Anhang zu den Berichten der christlichen Studentenbewegungen", EABB, DCSV 11. 32) Vgl. den Bericht Thaddens über das erste Zusammentreffen mit Müller; R.v. ThaddenTrieglaff an E. Müller, Fulda, 9.7. 1964, EABB, AZ 26 II, Korr. 1962-1972. Siehe auch E. Müller an R.v. Thadden-Trieglaff, o. Ort, 6.7. 1964, ebd. 33) Vgl. die Begrüßungsschreiben H. Liljes (Berlin, 22.2. 1932) und R.v. Thaddens (Trieglaff, 18.2. 1932) an den neuen Mitarbeiter, beide Schreiben EABB, DCSV 11. 34) K. Kupisch: Studenten, S.83 und 140. 35) Zur Deutschen Studentenschaft siehe F. Golücke: Studentenwörterbuch, S. 114-118, zur Gleichschaltung der Studentenverbände und -Organisationen vgl. K Jarausch: Deutsche Studenten, S. 165-175, sowie M. Grüttner: Studenten, S.62-81. 36) Mit den „Bündischen Kammern" integrierten die Nationalsozialisten die traditionellen Korporationen in die vom NSDStB dominierte DSt.
1. Die
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Vorgeschichte
Aufnahme der interkorporativen DCSV in die „Bündischen Kammern" ablehnte und eine Sonderregelung in Aussicht stellte.37 Doch nun drohte dem Verband neue Gefahr und zwar aus den eigenen Reihen. Denn auch die DCSV blieb vom beginnenden Kirchenkampf nicht verschont. Im Juli 1933 standen die Kirchenwahlen an, bei denen die Deutschen Christen von der nationalsozialistischen Führung unterstützt wurden. Die Anhänger der DC meldeten sich im Sommer auch in der Studenten-Vereinigung zu Wort und forderten, den Verband strikt nationalsozialistisch auszurichten und die bisherige Verbandsleitung abzusetzen. Nach zweitägigen Verhandlungen zwischen einer Delegation aus Tübingen, wo die Deutschen Christen in den DCSV-Kreisen38 besonders stark vertreten waren, und der Reichsleitung in Berlin beurlaubte von Thadden sich selbst und erteilte auch den hauptamtlichen Mitarbeitern des Verbandes Urlaub. Eine interimistische DC-Verbandsleitung sollte die Eingliederung in die Deutsche Studentenschaft in die Wege leiten.39 Dieses Vorhaben stieß auf den heftigen Widerstand der Altfreunde der DCSV. Ihre Vertreterversammlung in Berlin, die eigentlich den Weg in die DSt frei machen sollte, lehnte mit großer Mehrheit den Arierparagraphen ab, empfahl, den interkonfessionellen und interkorporativen Charakter des Verbandes zu bewahren und die frühere Verbandsspitze wieder in ihre Ämter einzusetzen.40 Zwar mußte auch die Studenten-Vereinigung künftig politische Schulungen im Sinne der nationalsozialistischen Propaganda durchführen und die DCSV-Heime in Wohnkameradschaften umwandeln, wie dies auch bei zahlreichen Korporationen geschehen war.41 Seinen religiösen Aufgaben konnte der Verband aber relativ ungestört nachgehen, da die deutsch-christliche Bewegung nach der berühmten Sportpalastkundgebung in Berlin auch in der DCSV zunehmend an Einfluß verlor. Als sich 1935 die großen Korporationsverbände selbst auflösten,42 blieb die Studenten-Vereinigung von dieser Entwicklung unberührt. Jetzt zahlte sich aus, daß der Verband seinerzeit den interkorporativen Charakter bewahrt hatte.43 -
") Vgl. K. Kupisch: Studenten, S. 180-186. Die DCSV blieb bis zu ihrer Auflösung prinzi-
piell für alle Studenten offen. In ihrer Verfassung vom 25.6. 1937 hieß es: „Mitglied in der DCSV kann jeder Student werden, der das Wort Gottes hören will, sich der Gemeinschaft der DCSV einfügt, sich ihrer Leitung unterordnet und an ihren Aufgaben nach Kräften mitarbeitet." (Verfassung der DCSV, Berlin, 25.6. 1937, LkA Hannover, L 3 I, 62/11). 38) In Tübingen bestanden anders als sonst üblich zwei DCSV-Kreise an einem Hochschulort.
39) Vgl.
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diesen Vorgängen K Kupisch: Studenten, S. 185-190. W. Huhne: ThaddenTrieglaff, S. lOOf. E. Müller: Widerstand, S. lOf. m) K. Kupisch: Studenten, S. 192-195. W. Huhne: Thadden-Trieglaff, S. lOlf. 41) Zum Kameradschaftswesen vgl. die beiden Aufsätze von Friedhelm Golücke: „Das Kameradschaftswesen in Würzburg von 1936 bis 1945" (S. 165-237) sowie „Die Wohnkameradschaft Markomannia 1933-1935. Ein erster Gleichschaltungsversuch" (S.87-114) in: Korporation und Nationalsozialismus, hg. von Friedhelm Golücke (Abhandlungen zum Studenten- und Hochschulwesen, Bd. 2), Schernfeld [1989]; siehe auch Walter R. Konrad: Markomannia vom 60. Stiftungsfest 1931 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, in: Geschichte der katholischen deutschen Studentenverbindung Markomannia, hg. von Thomas Sauer und Ralf Vollmuth, Vierow 1996, S. 17-134. 42) Vgl. K Jarausch: Deutsche Studenten, S. 171f. M. Grüttner: Studenten, S.303-316. 43) Vgl. E. Müller: Widerstand, S.43. Unter Verweis auf die interkonfessionelle und interkorporative missionarische Tätigkeit des Verbandes behaupteten sich die örtlichen DCSVzu
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In das Jahr 1935 fiel auch die Umbesetzung in der Führungsspitze der DCSV. Eberhard Müller übernahm das Amt Hanns Liljes, als dieser zum Generalsekretär des Lutherischen Weltbundes berufen wurde.44 Im voll entbrannten Kirchenkampf wuchsen der Verbandsleitung neue Aufgaben zu. Immer mehr Theologen traten der DCSV bei. Seit der Machtergreifung war ihr Anteil ständig angewachsen, 1935 gehörten mehr als 2/3 der studentischen Mitglieder theologischen Fakultäten an.45 Trotzdem war die Studenten-Vereinigung kein reiner Theologen-Verband, die künftigen Pastoren blieben nicht unter sich. Aus ihrem Selbstverständnis als Teil der Bekennenden Kirche heraus suchten die DCSVer ihren Dienst in der Verkündigung des Evangeliums zu leisten und zwar Geistliche wie Laien. Mit den Evangelischen Wochen entstand zu diesem Zweck eine neue Form der religiösen Unterweisung, die den veränderten Zeit- und Lebensumständen Rechnung zu tragen versuchte. Ihr Ziel war: -
„die Botschaft der evangelischen Kirche, wie sie in der heiligen Schrift gegeben ist, Meninsbesondere denjenigen Gliedern unserer Kirche, schen der Gegenwart nahezubringen
an den großen, unserer Kirche in der Gegenwart aufgetragenen Glaubens- und Lebensfragen denkend mitarbeiten wollen, eine Antwort auf diese Fragen zu geben versuchen."46 Die organisatorische Leitung lag in der Hand Eberhard Müllers, der in Personal-
die
...
union das Amt des Generalsekretärs der DCSV und des Geschäftsführers der Evangelischen Wochen bekleidete.47 Zu den Mitgliedern und Mitarbeitern des Reichsausschusses der Evangelischen Wochen gehörten unter anderen Reinold von Thadden, Hanns Lilje, Martin Fischer, Horst Bannach, Heinrich Giesen und Paul Humburg, der Präses der rheinischen Bekenntnissynode.48 Formal lag die Verantwortung für die Evangelischen Wochen bei der „Kammer für christliche Akademikerarbeit", die die Zusammenarbeit zwischen der DCSV und der Vorläufigen Leitung der Deutschen Evangelischen Kirche koordinieren sollte.49 Mit diesem Schritt band sich die DCSV institutionell an die Bekennende Kirche. Die seelsorgerische Aufgabe des Verbandes konzentrierte sich künftig auf die BK-Studenten, die religiöse Unterweisung der Evangelischen Wochen richtete sich an „die Gebildeten aller Stände".50 Kreise gegen Versuche der DSt, die Studenten-Vereinigung von den Hochschulen zu verdrängen. Vgl. dazu das 3. Seniorenrundschreiben im SS 1937, Berlin, 11.5. 1937, LkA Hannover, L 3
I, 62AI.
44) K Kupisch: Studenten, S.202. E. Müller: Widerstand, S.9. 45) Vgl. das Protokoll der 1. Sitzung der Kammer für christliche Akademiker-Arbeit vom -
25.4. 1935, EABB, DEW 6/4. Im Sommersemester 1934 erreichte der Anteil der Theologen mit knapp 72% den höchsten Stand (K. Kupisch: Studenten, S.205). 46) Zitiert nach K Kupisch: Studenten, S.208. Vgl. auch W. Huhne: Thadden-Trieglaff, S.139. 47) Vgl. den Nachtrag zum Protokoll der konstituierenden Sitzung des Reichsausschusses der Evangelischen Wochen vom 27.8. 1935, EABB, DEW 1/1. .Deut48) Vgl. Eberhard Müller: Mein Lebensgang, Manuskript vom 20.12. 1955 für dasHuhne: sche Allgemeine Sonntagsblatt', EABB, AZ 87 A 1951-1966, S.3. Siehe auch W. Thadden-Trieglaff, S. 138f. 49) Vgl. E. Müller: Widerstand, S.16f. und S.44, sowie das Protokoll der 1. Sitzung der Kammer für christliche Akademikerarbeit am 25.4. 1935, EABB, DEW 6/4. 50) Vgl. Eberhard Müller: Lebendige Gemeinde. Ein Wort zu den Zielen der Evangelischen Woche, in: Das evangelische Hamburg. Halbmonatsschrift für niederdeutsches Luthertum,
1. Die
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Vorgeschichte
Vom 26. bis 30. August 1935 fand die erste
Evangelische Woche in Hannover war es gelungen, Redner aus allen Flügeln der Bekennenden Kirche zu gewinnen und sogar ausländische Referenten nach Deutschland zu holen. Bei den Veranstaltungen in den beiden größten Kirchen der Stadt sprachen neben Thadden und Lilje auch Martin Niestatt.51 Sie wurde ein voller Erfolg. Den Organisatoren
möller, Hans Asmussen und Hans Meinzolt, die lutherischen Bischöfe Marahrens, Wurm und Meiser sowie der Holländer Visser't Hooft. Insgesamt etwa 4000 Zuhörer besuchten die morgendlichen Bibelstunden und die verschiedenen Vorträge.52 Weitere Veranstaltungen in anderen Städten folgten: im ersten Halbjahr 1936 fanden Evangelische Wochen in Breslau, Danzig, Frankfurt a.M., Königsberg, Leipzig, Rostock und Stettin statt. In den verschieden Städten entstanden örtliche Komitees, die an der Vorbereitung beteiligt und für Werbezwecke eingesetzt wurden.53 Natürlich blieb eine reichsweit auftretende und Organisationsstrukturen ausbildende Vereinigung der Gestapo nicht verborgen. Schon bald begannen staatliche Organe, die Arbeit der Evangelischen Wochen zu behindern. Zum ersten offenen Konflikt kam es anläßlich der zweiten gesamtdeutschen Evangelischen Woche im Juli 1936 in Stuttgart. Die Gestapo hatte dem Vorsitzenden des Reichsausschusses, Paul Humburg, verboten, in Stuttgart aufzutreten. Humburg hielt dennoch die Eröffnungsansprache und wurde dafür aus Württemberg ausgewiesen.54 In der Folgezeit häuften sich ähnliche Vorgänge sowie generelle Verbote von Evangelischen Wochen.55 Die Organisatoren argumentierten gegenüber der Gestapo, es handle sich bei den Evangelischen Wochen um rein religiöse Veranstaltungen, auf die der Staat keinen Einfluß nehmen dürfe. Den Menschen das Evangelium zu verkünden, sei eine christliche Verpflichtung, von der kein staatliches Verbot entbinden könne.56 Natürlich ließen sich die Gestapo-Beamten von dieser Argumentation nicht beeindrucken. Die letzte reichsweite Tagung fand im August 1937 in Dresden statt und mußte zum Teil in privaten Räumen abgehalten werden. Zu den großen gottesdienstlichen Versammlungen fuhren die Teilnehmer ins preußische Görlitz, wo das für Sachsen verhängte Veranstaltungsverbot nicht galt.57
vom 2.1. 1936, S. 14-17, hier S.15. Siehe auch das Rundschreiben der Deutschen Evangelischen Wochen, Berlin, 3.3. 1936, EABB, DEW 1/3. 51) K. Kupisch: Studenten, S.209. E. Müller: Widerstand, S. 18. 52) Vgl. E. Müller: Widerstand, S. 19f. Hier auch S.21-24 ein faksimiliertes Programm der ersten Evangelischen Woche. 53) E. Müller: Widerstand, S.25f. W. Huhne: Thadden-Trieglaff, S. 148f. Vgl. auch die Niederschriften über die Mitarbeiterbesprechungen der Deutschen Evangelischen Wochen vom 25.4. 1936 (EABB, DEW 1/5) und vom 30.6. 1936 (ebd., 1/6). M) Vgl. die ausführliche Darstellung der Vorgänge in Stuttgart bei E. Müller: Widerstand, S.32-35, siehe auch W. Huhne: Thadden-Trieglaff, S.139. R.v. Thadden-Trieglaff: Auf
Nr. 1
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verlorenem Posten?, S. 142-144. 55) Vgl. die verschiedenen Beispiele bei W. Huhne: Thadden-Trieglaff, S. 139f. *) Bei der verbotenen Evangelischen Woche in Darmstadt wurde die Verbotsverfügung im Eröffnungsgottesdienst verlesen und der Verstoß gegen die Anordnung folgendermaßen begründet: „Es ist der Kirche Jesu Christi von ihrem Herrn nicht erlaubt, die Verkündigung des Evangeliums aus menschlichen Rücksichten zu unterlassen." (Bericht über den Verlauf der Evangelischen Woche Darmstadt vom 31.3.-4.4. 1937. Erstattet von einer Teilnehmerin, LkA Hannover, L 3 I 62/11; vgl. auch E. Müller: Widerstand, S.36Í.). 57) E.Müller: Widerstand, S. 36-38. -
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Für das Ende der Evangelischen Wochen waren aber nicht ausschließlich die staatlichen Verbote und Repressalien verantwortlich. Die Spaltung der BK tat ein übriges, um die verheißungsvollen Ansätze zum Erliegen zu bringen. Aufgrund der wachsenden Differenzen zwischen den verschiedenen Gruppen der Bekennenden Kirche war ihr gemeinsames Auftreten, das ein Charakteristikum der Evangelischen Wochen gewesen war, nicht aufrechtzuerhalten. Der Staat holte kurze Zeit später auch zum Schlag gegen die DCSV aus. Die Studenten-Vereinigung hatte sich seit 1937 mehr und mehr „zu einem Sammelbecken der BK-Studenten" entwickelt,58 die an den Hochschulen der Bekennenden Kirche ihre theologische Ausbildung absolvierten. Diese Entwicklung war den Nationalsozialisten, insbesondere dem NSDStB (Nationalsozialistischer Deutscher Studenten Bund) ein Dorn im Auge, denn sie gewährte dissentierenden Studenten einen Freiraum, in den der Einfluß des NS-Studentenbundes trotz seiner Monopolstellung an den Universitäten nicht hineinreichte. Das Verbot der DCSV war deshalb nur eine Frage der Zeit. Es erfolgte schließlich im Sommer 1938 und beendete die Geschichte der Deutschen Christlichen Studenten-Vereinigung.59 Eberhard Müller gelang es in Verhandlungen mit dem Reichsstudentenführer, die Freigabe des beschlagnahmten Vermögens der DCSV zu erreichen. Müller zog mit seiner Familie in das ehemalige Verbandsheim in Tübingen nun „Adolf-Schlatter-Haus"60 ein und übernahm das Amt des Studentenseelsorgers in der schwäbischen Universitätsstadt. Von hier aus unterstützte er mit weiteren Mitarbeitern der früheren DCSV-Zentrale in Berlin den Aufbau der Evangelischen Studentengemeinden. Deren Leiter waren in der neugegründeten „Arbeitsgemeinschaft für evangelische Studentenarbeit" zusammengefaßt, die als Vereinigung der evangelischen Hochschulseelsorger von der Reichsstudentenführung anerkannt worden war.61 Trotz der Auflage, keinerlei hochschulpolitische Aktivitäten zu entfalten, konnten sich die meist von BK-Studentenseelsorgern geleiteten Gemeinden unter diesem organisatorischen Dach legal zu Bibelstunden versammeln und über die ehemaligen DCSV-Reisesekretäre den reichsweiten Kontakt und gegenseitigen Austausch pflegen.62 -
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,8) M. Grüttner: Studenten, S.439. Vgl. E. Müller: Widerstand, S.43f, sowie W. Huhne: Thadden-Trieglaff, S. 140f. Der Beschluß, die BK-Studenten unter dem Dach der Kammer für christliche Akademikerarbeit und der DCSV zu sammeln, war bereits auf der 1. Sitzung der Kammer für christliche Akademikerarbeit am 25.4. 1935 gefaßt worden (Protokoll, EABB, DEW 6/4).
W. Huhne: Thadden-Trieglaff, S. 141. Örtliche Verbote seitens der Gestapo hatte es bereits seit Mitte 1937 gegeben, vgl. das Seniorenrundschreiben Eberhard Müllers, Berlin, 6.12. 1937, LkA Hannover, L 3 I, 62/11. 60) Zur Geschichte des Tübinger DCSV-Heims siehe: Das Adolf Schlotte r-Baus in Tübingen. Festschrift zum 50jährigen Jubiläum 1964, o. Ort und Jahr. ) Vgl. den Vorschlag Müllers zur Gründung der Arbeitsgemeinschaft in seinem Schreiben an die Reichsstudentenführung, Tübingen, 16.1. 1939, sowie deren Antwort, Stuttgart, 30.1. 1939 (beide Schreiben LkA Hannover, L 3 I, 62/1). Siehe auch E. Müller: Widerstand, S.45f. 62) Vgl. E. Müller: Widerstand, S.44-47. Friedrich G. Lang: Studentengemeinde, in: Evangelisches Staatslexikon, hg. von Roman Herzog, Hermann Kunst u.a., Stuttgart 31987, Bd.2, Sp.3561-3564, besonders Sp.3561. -Martin Fischer: Deutsche Studenten in der Bekennenden Kirche, in: Neubau. Blätter für neues Leben aus Wort und Geist, 2 (1947), S.130-133.
59) Vgl. K. Kupisch: Studenten, S.209-211.
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Reinold von Thadden, der sich nach der Auflösung der Studenten-Vereinigung auf sein Gut im pommerschen Trieglaff zurückgezogen hatte, wurde wegen seiner Tätigkeit als Vorsitzender der pommerschen Bekenntnissynode und Mitglied des preußischen wie des Reichsbruderrates mehrfach von der Gestapo verhaftet und verhört.63 Trotzdem blieb der enge Kontakt mit den früheren Mitarbeitern der DCSV zunächst noch bestehen. Das galt auch bis weit in den Zweiten Weltkrieg hinein. Thadden war als militärischer Verwaltungskommandant des Bezirks Löwen bis zum September 1944 in der Militärverwaltung Belgiens tätig,64 Eberhard Müller nahm als Wehrmachtsseelsorger am Krieg teil, Hanns Lilje leistete keinen Militärdienst. Erst gegen Ende des Krieges rissen die Fäden im allgemeinen Chaos des untergehenden Dritten Reiches ab. Hanns Lilje verbüßte während dieser Zeit eine Haftstrafe, zu der er wegen seiner persönlichen Kontakte zu einigen Verschwörern des 20. Juli vom Volksgerichtshof verurteilt worden war. Er wurde in Nürnberg von amerikanischen Truppen befreit.65 Reinold von Thadden, der im Dezember 1944 aus der Wehrmacht ausgeschieden war, wurde auf seinem Gut in Trieglaff von sowjetischen Truppen gefangengenommen und deportiert. Er kehrte nach neunmonatiger Lagerhaft Ende 1945 schwerkrank und unterernährt nach Deutschland zurück und fand in Berlin bei den Diakonieschwestern im MartinLuther-Krankenhaus Aufnahme.66 Hier feierte er am 19. Januar 1946 mit seiner inzwischen in Berlin eingetroffenen Frau die Silberhochzeit. Bei der bescheidenen Feier hielt Pastor Martin Fischer eine Ansprache, in der er die integrativen Fähigkeiten Thaddens hervorhob und prophezeite: „Vielleicht, daß Dir einmal die Aufgabe zufallen könnte, den alten Kirchentag des vor[igen] Jahrhunderts zu beleben und viele zusammenzubringen, die sich darin sammeln ließen, daß sie mit uns sprechen: ,Wir haben geglaubt und erkannt, daß du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes'.' Zunächst aber standen die Genesung und Existenzsicherung für den nun mittellosen ehemaligen Gutsbesitzer im Vordergrund. Noch während des Berliner Krankenhausaufenthaltes erhielt Thadden Besuch von einem seiner amerikanischen Freunde. Francis Pickens Miller, der ehemalige Vorsitzende des Christlichen Studentenweltbundes, war als Offizier der US-Armee in der Reichshauptstadt stationiert. Er versorgte Thadden mit Lebensmitteln und half ihm, mit seiner Familie
63) Vgl. W. Huhne: Thadden-Trieglaff, S. 129-138, sowie E. Müller an die Mitglieder des Führerrates der DCSV, Berlin, 2.7. 1937, LkA Hannover, L 3 I, 62/11. M) W. Huhne: Thadden-Trieglaff, S. 144-151. Thadden war weder „Kommandant von Lö-
wen" wie Huhne schreibt (S. 149) noch „Stadtkommandant" wie Eberhard Müller berichtet (Manuskript eines biographischen Artikels anläßlich des 75. Geburtstages Reinold von Thadden-Trieglaff für die .Zeitwende', EABB, AZ 26/11, Korr. 1962-1972). Vgl. die Richtigstellung R.v. Thaddens an E. Müller, Fulda, 4.11. 1966, ebd. 65) E. Müller: Widerstand, S.49. Lilje erwähnt in seinen Erinnerungen die Haftzeit nur am Rande, Gründe für seine Verurteilung nennt er nicht, vgl. H. Lilje: Memorabilia, S. 19f. und S.23. Abbildung 2 zeigt Lilje während der Verhandlung vor dem Volksgerichtshof. ") R.v. Thadden-Trieglaff an Verwandte und liebe Freunde, Berlin-Zehlendorf, 30.12. 1945, LkA Hannover, L 3 II, 5/II. Vgl. W. Huhne: Thadden-Trieglaff, S. 183f. 67) Ansprache zur Silberhochzeit von Reinold von Thadden-Trieglaff und Frau Elisabeth geb. Freiin von Thüngen zu Heilsberg am 19.1. 1946 von Pastor Martin Fischer, LkA Hannover, L 3 II, 6/II.
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nach Süddeutschland überzusiedeln.68 Die Thaddens fanden bei Reinolds Schwiegermutter auf dem Heilsberg in der Nähe Brückenaus eine vorläufige Bleibe. Von dort aus besuchte Thadden im Frühjahr 1946 Bad Boll. Eberhard Müller hatte hier die erste Evangelische Akademie ins Leben gerufen.69 Im Kurhaus von Bad Boll führte er seit September 1945 Tagungen durch, bei denen die Teilnehmer in „methodisch geführten Gruppengesprächen"70 gemeinsam Fragen der christlichen Verantwortung im Alltag, im Beruf oder im öffentlichen Leben erörterten. Die Diskussionsrunden hatte Müller aufgrund seiner Erfahrungen mit der freien Gesprächsführung der DCSV-Kreise als festen Bestandteil der Akademietagungen eingeführt. Deren Tagesablauf- und dies ist ein weiterer Hinweis auf die Wurzeln in der Vorkriegszeit orientierte sich an dem Tagungsschema der Evangelischen
Wochen.71 In Bad Boll, am Fuße der Schwäbischen Alb, konnte sich Reinold von Thadden -
zugleich mit Müller sowie dem EKD-Ratsvorsitzenden und Landesbischof Theophil Wurm über eine künftige kirchliche württembergischen mit beraten.72 Auch Hanns Lilje, den Thadden anläßlich einer ZusamAnstellung menkunft des Furche-Verlages wiedersah, diskutierte er seine weiteren Berufspläne.73 Das Ergebnis dieser Gespräche war ernüchternd: Aus finanziellen Gründen konnte die Kirche Thadden lediglich eine Position in einer neu zu schaffenden „kleinen Dienstelle" für „ökumenisch-missionarische Aufgaben"74 anbieten, die kein festes Einkommen garantierte. Also folgte er einer Einladung Visser't Hoofts, mit dem er über Francis Miller noch von Berlin aus Kontakt aufgenommen hatte, in die Schweiz. In Genf fand er eine Anstellung beim Stab des Ökumenischen Rates. Zu seinen Aufgaben gehörte jetzt unter anderem die Kriegsgefangenenseelsorge. Thadden besuchte auf ausgedehnten Reisen Lager in Italien, den Niederlanden, Belgien und in Ägypten.75 Der Höhepunkt seiner ökumenischen Arbeit aber war die erste Weltkirchen-Konferenz in Amsterdam, bei der er Mitglied im Zentral-Ausschuß des Weltkirchenrates wurde. Von größerer Bedeutung als das neue Amt waren für ihn die persönlichen Kontakte, die er während der Konferenz erneuern konnte. In Amsterdam traf er Francis Pickens Miller wieder, George Bell, den Bischof von Chichester, und John Foster Dulles, den späteren amerikanischen
weiter erholen und
Außenminister.76
drängte im Laufe der Zeit immer stärker auf eine Rückkehr nach Deutschland, zumal die Evangelical und Reformed Church of America nicht beThadden
reit war, sein Gehalt weiter zu bezahlen. Unsicher, wohin ihn sein weiterer beruf-
68) W. Huhne: Thadden-Trieglaff, S. 183f. 69) Siehe dazu ausführlich unten Kapitel IV. 1. dieser Arbeit. ™) E.Müller: Widerstand, S.71. 71) Vgl. ebd., S. 71-74. LkA Hannover, L 3 II, 5/II. 72) R.v. Thadden an H. Rendtoff, Berlin-Zehlendorf, 1.2. 1946, LkA Osterzeit Hannover, L 3 II, 5/II. Vgl. 1946, H. an Freunde", Hannover, „Liebe Lilje 73) ESG 31. auch E. Müller an R. Mackie, o. Ort, 29.1. 1946, EABB, R.v. Thadden an M. Niemöller, Berlin-Zehlendorf, 20.2. 1946 Hannover, L 3 II, 5/II. ") W. Huhne: Thadden-Trieglaff, S. 194-197. 76) Ebd., S.198f.
74)
(Durchschrift),
LkA
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licher Weg führen sollte, beriet er sich wiederholt mit seinen Freunden Müller und Lilje. Schließlich nahm er eine Referentenstelle für „alle Fragen der Jugendarbeit und der Evangelisation"77 in der Kirchenkanzlei der EKD an. Seine Versuche, ein eigenständiges „Laien-,Ministerium"'78 als dritte Säule neben Außenamt und Kirchenkanzlei zu schaffen, waren zuvor an Widerständen innerhalb der EKD gescheitert. Thadden faßte damit als letzter der früheren DCSV-Führungsspitze wieder Fuß in Deutschland und in der deutschen evangelischen Kirche. Die besondere Situation des Vertriebenen hatte ihm den Start in die Nachkriegszeit besonders schwer gemacht. Eberhard Müller hatte sich als Gründer und Direktor der Evangelischen Akademie Bad Boll längst ein neues Arbeitsfeld geschaffen, und Hanns Lilje war als Bischof der Hannoverschen Landeskirche und Mitglied des Rates der EKD in höchste kirchliche Ämter aufgestiegen. Auf seine beiden Freunde konnte Thadden rechnen, als er daran ging, seinen nur vage umschriebenen Kompetenzbereich79 in der Kirchenkanzlei auszugestalten und eine Vereinigung der evangelischen Laienkräfte in die Wege zu leiten. Er konnte dabei an Vorarbeiten Eberhard Müllers anknüpfen, der die Anregung des Arnoldshainer Akademieleiters Hans Kallenbach zum „Wiederbeginn eines gesamtdeutschen kirchlichen Jahrestreffens"80 aufgegriffen hatte. Die erste Deutsche Evangelische Woche war schon im Sommer 1948 in Frankfurt durchgeführt worden. Die Wahl war auf die Stadt am Main gefallen, um die Geschichte der Evangelischen Wochen symbolisch mit der demokratischen Tradition in Deutschland zu verknüpfen, derer anläßlich des 100jährigen Jubiläums der Frankfurter Nationalversammlung in der wiederhergestellen Paulskirche gedacht wurde.81 Thadden schaltete sich nach seiner Rückkehr nach Deutschland intensiv in die Vorbereitungen für das wiederum in Frankfurt geplante Nachfolgetreffen ein.82 Dabei kam ihm zugute, daß er als Vorsitzender des aus der DCS V-Altfreundeschaft hervorgegangenen Altfreundeverbandes der Evangelischen Studentengemeinde auf frühere Mitarbeiter und Freunde zurückgreifen konnte.83 Überall im Lande sollte es „zur
77) Ebd., S.202. 7S) R.v. Thadden-Trieglaff an E. Müller, Genf, 30.1. 1948, EABB, Korr. Thadden. 79) In einem Schreiben der Kirchenkanzlei an den Vorsitzenden des Leiterkreises der Evan-
hieß es: „Herr Dr. Reinold von Thadden hat vom Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland den Auftrag, die gesamtkirchlichen Werke auf dem Gebiet der Laienarbeit, der Evangelisation und Volksmission, der Studentengemeinden und der Evangelischen Akademien sowie der Männer-, Frauen- und Jugendarbeit zu beobachten, zu koordinieren und zu aktivieren." Zitiert nach E. Müller: Widerstand, S.64f.
gelischen Akademien
m) Ebd., S.64. 81) Ebd. 82) Thadden hob in einem Schreiben an die Akademieleiter und die Vorsitzenden der Alt-
freundeverbände der Evangelischen Studentengemeinde besonders hervor, daß „alles Handeln in engster Zusammenarbeit mit Dr. Eberhard Müller, dem Vorsitzenden des Leiterkreises der Evangelischen Akademie geschieht". (Schwäbisch Gmünd, Ostern 1949, EABB, ESG 25). 83) Die DCSV war nach dem Krieg nicht wieder ins Leben gerufen worden, da die Evangelische Studentengemeinde deren Aufgaben weitgehend übernommen hatte. Die Mitglieder der Altfreundeschaften der DCSV schlössen sich auf dem Christlichen Akademikertag vom 6. bis 10. August 1947 zur Altfreundeschaft der Evangelischen Studentengemeinde zusammen. Gleichzeitig wurde auf dem Akademikertag die Gründung der Gesellschaft Evangeli-
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von Kreisen lebendiger Verantwortungsträger kommen, die sich der entscheidenden missionarischen Aufgaben unserer Zeit"84 bewußt seien und helfen sollten, die Evangelische Woche vorzubereiten. Die Laien in die Kirche einzubeziehen, sei heute mehr denn je entscheidend, führte Thadden bei der Arbeitstagung der Altfreundeschaft der Evangelischen Studentengemeinde im April 1949
Sammlung
aus: von heute ist nicht mehr in der Kirche zu Hause, weil er in der Kirche nichts zu tun, daher nichts zu vermelden und auch nichts zu verantworten hat. Wir brauchen daher eine andere Art, an den Menschen der Gegenwart heranzukommen. Der Laie muß in der Kirche wieder ernst genommen werden. Wir brauchen weiter eine Klammer für die evangelische Christenheit in Deutschland und die Überwindung der innerkirchlichen Hausmachtkämpfe. Wir brauchen eine neue Form praktischer evangelisatorischer Arbeit."85
„Der Laie
Ähnlich wie bei den Evangelischen Wochen während des Dritten Reiches wollten
die Veranstalter deshalb Redner aller kirchlichen Gruppierungen in Frankfurt zu Wort kommen lassen. Das Laientreffen sollte damit zum einen der kirchlichen Integration dienen,86 zum anderen aber auch demonstrieren, daß evangelische Christen in der Öffentlichkeit präsent sein wollten und bereit waren, an der christlichen Gestaltung der Gesellschaft mitzuwirken.87 Als Martin Niemöller es ablehnte, die Evangelischen Wochen in Frankfurt stattfinden zu lassen,88 sprang kurzfristig Hanns Lilje mit dem Angebot ein, die Veranstaltungen in Hannover durchzuführen. Der Landesbischof und seine Mitarbeiter bereiteten das Laientreffen in der sehe Akademie beschlossen, die dem Kontakt und Austausch der verbandlich organisierten Altakademiker mit den Freundeskreisen der Evangelischen Akademien dienen sollte; vgl. die Niederschrift über den christlichen Akademikertag 1947, Stuttgart, 18.8. 1947, sowie das Rundschreiben an die Altfreundeschaft der Evangelischen Studentengemeinde, Stuttgart, August 1947 (beide Dokumente EABB, ESG 19), und die gedruckte Mitteilung an die ehemaligen Altfreunde der Deutschen Christlichen Studenten-Vereinigung und an die ehemaligen Mitglieder des Bundes Christlicher Akademikerinnen, EABB, ESG 18. Siehe auch E. Müller: Widerstand, S. 61-64. 84) R.v. Thadden-Trieglaff an die Leiter der Evangelischen Akademien, die Landeskonvente der Gesellschaft Evangelische Akademie und die Vorsitzenden der Altfreundeverbände der Evangelischen Studentengemeinde, Schwäbisch Gmünd, Ostern 1949, EABB, ESG 25. 85) Bericht über die Arbeitstagung der Altfreundeschaft der Evangelischen Studentengemeinde in Deutschland in Königswinter vom 19. bis 22. April 1949, EABB, ESG 25. 86) Der Gedanke, unbeeinflußt von den innerkirchlichen Spannungen eine „neutrale" Einrichtung ins Leben zu rufen, hatte Thadden schon bei seinen Plänen für ein eigenständiges Laien-Amt in der EKD bestimmt. An Eberhard Müller hatte er dazu geschrieben: „Der gegenwärtige Zustand leidet doch zum Teil wenigstens an der immer wieder neuen Polarität zwischen Bruderräten und VELKD, zwischen lutherischer und Barthischer Theologie, zwischen Asmussen und Niemöller usf. Wäre es nicht eine ganz große Hilfe, eine ganz große Stärkung für die EKiD, wenn sie neben der Kirchen-Kanzlei, neben dem Kirchlichen Außenamt und neben dem Wirtschaftsamt des Gerstenmaierschen Hilfswerks ein Gemeindeaufbauamt zur Seite hätte, das sine ira et studio ununterbrochen und ohne theologischen Ehrgeiz die Dinge tut, die nötig sind, um den Auftrag Gottes in unserer Zeit zu erfüllen?" (R.v. Thadden an E. Müller, Genf, 30.1. 1948, EABB, Korr. Thadden). 87) W. Huhne: Thadden-Trieglaff, S.208f. nicht zufrie88) Thadden vermutete zu Recht, daß Niemöller mit der Auswahl der Redner Frankfurt zu den war und daß er aus diesem Grund versuchte, die Evangelische Woche in verhindern; vgl. W. Huhne: Thadden-Trieglaff, S.209. E. Müller: Widerstand, S.65. -
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niedersächsischen Landeshauptstadt zum überwiegenden Teil selbst vor. Thadden, in Niedersachsen kaum bekannt, blieb vorerst im Hintergrund. Zu dessen Plan, die Evangelischen Wochen zu einer Dauereinrichtung des deutschen Protestantismus mit Präsidium und Generalsekretariat umzuwandeln, stand Lilje anfangs allerdings reserviert. Erst nach einer gemeinsamen Englandreise und als mehr und mehr deutlich wurde, daß mit Gustav Heinemann, dem Präses der Synode der EKD, und dem bayerischen Synodalpräsidenten Hans Meinzolt wichtige Laienkreise Thadden unterstützten, ließ Lilje seine Bedenken fallen. Der Proklamation des Deutschen Evangelischen Kirchentages als Einrichtung in Permanenz stand nichts mehr im Wege.89 Widerstände gegen den Kirchentag gab es aber auch in den folgenden Jahren. Er war organisatorisch von der EKD unabhängig, überkonfessionell und laienbestimmt alles Gründe zur Skepsis bei Ämtsträgern der konfessionellen Landeskirchen. Um den Essener Kirchentag zu finanzieren, waren Thadden und seine beiden Mitarbeiter, der ehemalige Generalstabsoffizier Otto-Heinrich Ehlers sowie Heinrich Giesen, allein auf Spenden angewiesen. Eine erste größere Summe, 10000 DM, sandte die Evangelical and Reformed Church, aus deren Fonds Thaddens Arbeit in Genf seinerzeit bezahlt worden war. Um die Gelder für den Essener Kirchentag aufzubringen, wurde schon in Hannover ein Finanzausschuß ins Leben gerufen, dessen Vorsitz der Essener Bankier Fritz von Waldthausen übernahm. Gemeinsam mit dem Generaldirektor der Deutschen Kohlenbergbauleitung, Heinrich Kost, der mit dem Kirchentagspräsidenten seit längerem bekannt war, bahnte von Waldthausen Thadden den Weg in die Kreise der Ruhrindustriellen. Die Bergwerksdirektoren Oskar Söhngen, Hans Broche und der Bankier Gotthard Freiherr von Falkenhausen sagten finanzielle Unterstützung zu.90 Der Deutsche Evangeli-
sche Kirchentag in Essen hatte einen durchschlagenden Erfolg. Insgesamt nahmen rund 200000 Menschen an den Gottesdiensten, Bibelarbeiten und Vorträgen teil. Der Kirchentag hatte sich als das große Laientreffen des deutschen Protestantismus
etabliert.91
Als Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentages gehörte Reinold von Thadden in den folgenden Jahren zu den im In- und Ausland bekanntesten Persönlichkeiten der deutschen evangelischen Kirche. Wie seine beiden Kollegen aus der früheren Führungsspitze der DCSV hatte er den Endpunkt seiner beruflichen Laufbahn nun erreicht. Die gegenseitige Unterstützung dürfte nicht wenig dazu beigetragen haben, daß alle drei Positionen einnehmen konnten, die ihnen gestalterischen Einfluß in ihrem Arbeitsbereich sicherten. Die ehemaligen DCSVer vereinigten eine Fülle von Ämtern in ihren Händen. Hanns Lilje war nicht nur wie schon erwähnt Bischof der Hannoverschen Landeskirche und Mitglied im Rat der EKD, sondern auch Präsident des Centralausschusses der Inneren Mission, -
-
89)
"O 91
W. Huhne:
Thadden-Trieglaff, S.21 lf.
Ebd., S.218f.
) Der Deutsche Evangelische Kirchentag ist aus eigenständigen Traditionen des deutschen Protestantismus entwickelt worden. Für eine Vorbildfunktion der seit 1848 tagenden Deutschen Katholikentage gibt es keine direkten Hinweise, auch wenn Ähnlichkeiten zwischen den Laientreffen der beiden Konfessionen zu beobachten sind. Seit den fünfziger Jahren bestanden regelmäßige Kontakte zwischen Katholiken- und Kirchentag.
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//. Der Kronberger Kreis
seit 1949 stellvertretender Vorsitzender der Synode der EKD und ab 1952 Präsident des Lutherischen Weltbundes. Außerdem gab er mit dem ,Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt' die einzige überregionale protestantische Wochenzeitung neben Gerstenmaiers .Christ und Welt' heraus.92 Eberhard Müller stand an der Spitze des von ihm gegründeten Leiterkreises der Evangelischen Akademien und gehörte wie Thadden der Synode der EKD an. Außerdem war er stellvertretender Vorsitzender der Gesellschaft Evangelische Akademie und des Altfreundeverbandes der Evangelischen Studentengemeinde. Beiden Vereinigungen stand Reinold von Thadden vor,93 der zugleich auch das Amt des Vorsitzenden des Vertrauensrates der Evangelischen Studentengemeinde in Deutschland innehatte.94 Thadden und Müller garantierten so die personelle Kontinuität in der deutschen Studentenseelsorge, deren Ordnung nach dem Krieg an die Struktur der Studentengemeinden anknüpfte, wie sie sich nach dem Verbot der DCSV zwischen 1938 und 1945 entwickelt hatte. Eberhard Müller hat die evangelische Studentengemeinde der Bundesrepubulik als alleinige Rechtsnachfolgerin der Deutschen Christlichen Studenten-Vereinigung ausdrücklich bestätigt.95 Die drei Freunde, deren Lebensweg so eng miteinander verflochten war, rekrutierten in den ersten Nachkriegsjahren ihre engsten Mitarbeiter aus dem Kreis ihrer früheren Kollegen und jener Personen, die sie bei ihren Reisen im Auftrag der DCSV und der Evangelischen Wochen kennengelernt hatten. Die vielfältigen Kontakte aus dieser Zeit erwiesen sich beim kirchlichen Neu- und Wiederaufbau nach 1945 als äußerst hilfreich. Neben der Kontinuität im personellen Bereich knüpften sie auch in ihrer inhaltlichen Arbeit und deren organisatorischer Gestaltung an die Erfahrungen aus der Weimarer Republik und dem Dritten Reich an. Das gilt für die Akademiearbeit in Bad Boll und Loccum ebenso wie für die Anfänge der Studentenseelsorge nach 1945, den Kirchentag oder die evangelische Publizistik. Die Kontinuitäten überwogen bei weitem die Neuansätze. Das galt auch für die ökumenischen Kontakte, die in der Kriegszeit beinahe zum Erliegen gekommen waren. Anders als im Ersten Weltkrieg hatte es aber stets ein Minimum an Kommunikation mit den christlichen Kirchen des westlichen Auslands gegeben, die Fäden waren nie völlig abgerissen. Nach 1945 standen sich bei den ersten ökumenischen Nachkriegskontakten daher Personen gegenüber, die sich zum Teil seit 20 Jahren kannten, in dieser Zeit fast ständig in Verbindung geblieben waren und sich deshalb gegenseitig vertrauten.96 Besonders die deutsche
92) Zum .Sonntagsblatt' siehe unten Kapitel IV.3. 93) Vgl. den Bericht über die Vorstandswahlen in der Niederschrift über den christlichen
Akademikertag vom 6.-10.8. 1947, Stuttgart, 18.8. 1947, EABB, ESG 19. Hanns Lilje gehörte dem Vorstand als Mitglied ohne besondere Aufgaben an. 94) Der Vertrauensrat war nach der ersten „Ordnung der Evangelischen Studentengemeinde in Deutschland" (EABB, ESG 31) für die „gesamte Leitung der deutschen Studentengemeinde" zuständig, mußte aber später seine Aufgaben weitgehend an die Landeskirchen abgeben. Zur Entwicklung der Evangelischen Studentenseelsorge nach 1945 siehe E. Müller: Widerstand, S.56-61.
95) Bescheinigung Eberhard Müllers vom 28.2. 1950, EABB, ESG 33. Vgl. dazu auch Hans Stroh: Keine Jubiläumsfeier, in: Ansätze 36 (1964), S.9. Ge96) Vgl. etwa den Briefwechsel Eberhard Müllers mit Robert Mackie, dem schottischen neralsekretär des Studentenweltbundes, in dem keinerlei Vorbehalte gegenüber seinem
1. Die
Vorgeschichte
67
Seite hat materiell97 und ideell davon profitiert. Nach der .Stuttgarter Schulderklärung' des Rats der EKD gegenüber Vertretern der Ökumene fanden die Deutschen
schnell zurück in die internationale Kirchengemeinschaft.98 In einer Zeit, in der Deutschland als besiegtes und besetztes Land über keinerlei offizielle Auslandskontakte verfügen konnte, nahmen die ehemaligen DCSV-Funktionäre bereits ihre aus der Vorkriegszeit gewohnte Reisetätigkeit wieder auf. Kurz nach Ostern 1946 besuchte Hanns Lilje erstmals nach dem Kriege Großbritannien, um sich mit Freunden aus dem Studentenweltbund zu treffen und an einer Tagung der britischen Bibelgesellschaft teilzunehmen.99 Noch im gleichen Jahr reiste er zweimal in die Schweiz zu einer ökumenischen Hochschultagung und zu einer Beratung des Lutherischen Weltkonvents.100 Reinold von Thadden arbeitete seit April 1946 in Genf und unternahm von dort ausgedehnte Reisen in die westlichen Siegerstaaten, um deutsche Kriegsgefangene zu besuchen. Eberhard Müllers erste größere Reise wurde von der Rockefeller Foundation finanziert und führte ihn im Frühjahr 1949 für mehrere Monate in die Vereinigten Staaten, von denen er sich stark beeindruckt zeigte.101 Das Wiederanknüpfen an die früheren engen Kontakte zur Ökumene hat die späteren „Kronberger" in ihrer Selbsteinschätzung bestärkt, als Teil des deutschen Widerstands gegen den Nationalsozialismus nicht vom richtigen Weg abgeirrt zu sein. Sie wollten deshalb dort weiterarbeiten, wo sie während des Dritten Reiches unter Zwang aufgehört hatten. Ihre evangelisatorische und volksmissionarische Arbeit konnte nun nach 1945 unbehelligt von staatlichen Eingriffen wieder aufgenommen werden. Die Erfahrungen der Kirchenkampfzeit wurden also nicht als Anlaß zu einem Neuanfang gesehen, wie ihn Karl Barth, Martin Niemöller oder Hermann Diem forderten. Stattdessen mußten aus Sicht der ehemaligen DCSVer nur die im Dritten Reich verschütteten und behinderten Ansätze entfaltet werden, wobei die Gefahr, die Vergangenheit zu glorifizieren, tunlichst vermieden -
-
-
deutschen Korrespondenzpartner zu finden sind. Vielmehr stand das gemeinsame Interesse, die ökumenischen der Deutschen zu intensivieren, ganz im Vordergrund; vgl. R. Mackie an E. Müller (Übersetzung), Genf, 17.12. 1945, EABB, ESG 31 (dort auch wei-
Verbindungen
tere
97)
Schreiben).
Die Altfreundeschaft der Evangelischen Studentengemeinden beispielsweise bestritt als Nachfolgeorganisation der DCSV ihren ersten Jahresetat nach der Währungsreform zu knapp 80% aus einer Spende der Presbyterian Church der USA, vgl. das Protokoll der Vertreterversammlung der Altfreundeschaft der Evangelischen Studentengemeinde in Deutschland vom 27.-28.7. 1949 in Hannover, EABB, ESG 19. Wichtiger als die Unterstützung einzelner Verbände war aber die humanitäre Hilfe der ausländischen Kirchen für die deutsche Bevölkerung. 98) Vgl. Martin Greschat: Widerstand und Versöhnung. Der Beitrag des europäischen Protestantismus zur Annäherung der Völker, in: Christliches Ethos und der Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Europa, hg. von Anselm Doering-Manteuffel und Joachim Mehlhausen (KuG, Bd.9), Stuttgart-Berlin-Köln 1995, S. 139-154. ") H. Lilje an „Liebe Freunde", Hannover, Osterzeit 1946, LkA Hannover, L 3 II, 5/II. I0°) Ebd. "") Vgl. E. Müller an A. Vereide, General Secretary of the National Committee for Christian Leadership, o. Ort, 15.1. 1949, EABB, AZ 11. Nach seiner Rückkehr schrieb er an Heinrich Giesen: „Ich habe sehr viel gelernt und glaube eine ertragreiche Reise hinter mir zu haben." (E. Müller an H. Giesen, o. Ort, 12.7. 1949, EABB, ESG 30).
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//. Der Kronberger Kreis
werden sollte.102 Eberhard Müller drückte diese Gedanken in einem autobiographischen Aufsatz über die Mitarbeiter der DCSV und der Evangelischen Wochen so aus:
„Unsere kleine Mannschaft, die in Berlin miteinander verbunden war, trug
lebendige Fülle von Anregungen, die wie eine Saat auf das Ende der Winterstarre wartete, um zu fruchtbarer Entfaltung zu drängen."103 Die politischen Initiativen der ehemaligen DCSVer in der Nachkriegszeit zielten in verschiedener, je eigener Weise in eine gemeinsame Richtung, nämlich auf die breite Öffentlichkeit, in der die Kirche nach dem Ende des Nationalsozialismus wieder stärker präsent sein müsse. Dahinter stand die Analyse des Nationalsozialismus als Abfall von Gott, ein in kirchlichen Kreisen beider Konfessionen weit verbreitetes Interpretationsmodell.104 Diese Deutung der europäischen und deutschen Geschichte war keineswegs neu, sondern entstammte kirchlich-konservativem Gedankengut.'05 Die Evangelisationsanstrengungen der zwanziger und dreißiger Jahre hatten hier ihren Ursprung und auch der Kirchenkampf während des Dritten Reiches war als Ringen zwischen dem wahren und einem säkularisierten Gott verstanden worden.106 Angesichts wiedergewonnener kirchlicher Freiheit nach 1945 sollten nun neue Anstrengungen unternommen werden, die Gesellschaft zu rechristianisieren. Das Feld schien dafür gut vorbereitet zu sein, denn die „Konturenlosigkeit, die Unsicherheit über das, was werden soll", war weit verbreitet.107 Den orientierungslos gewordenen Menschen in dieser Situation das Evangelium als moralischen Halt und Richtschnur des Handelns nahezubringen, schien der zeitgemäße Auftrag der kirchlichen Verkündigung zu sein. Als „wichtigste unter allen kirchlichen Aufgaben"108 wurde die Jugendseelsorge betrachtet, um die 18 bis 30jährigen vor neuen Gefahren zu schützen und gegen alte Ideologien zu immunisieren. Hanns Lilje meinte: in sich eine
„Um unsere jungen Menschen kämpfen jetzt so viele Einflüsse;
es ist nicht einfach so, daß wir nun den Teufel losgeworden wären und in einer Welt ohne Versuchungen lebten; sondern nun fängt das Ringen mit all den anderen Kräften an, die aufs neue unseren Glaubens-
102) Vgl. H. Lilje an „Liebe Freunde", Hannover, o. Datum, LkA Hannover, L 3 II, 5/II. 103) E. Müller: Mein Lebensgang, Manuskript vom 20.12. 1955 für das .Deutsche Allge-
meine Sonntagsblatt', EABB, AZ 87 A 1951-1966, S.3. ,04) Das primär religiöse Verständnis der Geschichte blendete wesentliche Faktoren der politischen und ökonomischen Entwicklung aus. Die theologische Deutung von Geschichte unter dem Aspekt von Sünde und Schuld gehört aber zu den wesentlichen Elementen der christlich-jüdischen Tradition. Sie mag einseitig sein und zu kurz greifen, theologisch ist sie
legitim. 105) Vgl. dazu Martin Greschat: „Rechristianisierung" und „Säkularisierung". Anmerkungen zu einem europäischen konfessionellen Interpretationsmodell, in: Christentum und politische Verantwortung. Kirchen im Nachkriegsdeutschland, hg. von Jochen-Christoph Kaiser und Anselm Doering-Manteuffel (KuG, Bd.2), Stuttgart-Berlin-Köln 1990, S. 1-24. m) Vgl. die Aufsätze von Eberhard Müller: Die neuheidnischen Götter im Kampf wider Christus (Furche Schriften, Nr. 9), Berlin 1937, sowie: Gott und der deutsche Herrgott (FurSchriften, Nr. 14), Berlin 1938. In beiden Publikationen grenzt Müller das christliche Gottesverständnis gegen säkularisierte Varianten ab, die Rasse, Volk, Nation oder den Fühche rer
Iü7)
vergöttlichten.
Beide Zitate aus dem Brief H. LkA Hannover, L 3 II, 5/IT. I08) Ebd.
Liljes
an
„Liebe Freunde", Hannover,
Osterzeit
1946,
1. Die
Vorgeschichte
69
und unseren Gehorsam auf die Probe stellen. [...]; auf unser Volk warten die säkularisierten Sozialisten auf der einen Seite, auf der anderen die schweigende Großmacht des unmut
gestillten Nationalismus."109
probate Mittel einer zeitgemäßen Verkündigung des Evangeliums, das als wichtigstes Instrument in die Seelsorge eingeführt wurde, war das Gespräch. Die Idee der Evangelischen Akademie basierte auf der Verbreitung einer neuen, in Deutschland bisher wenig geübten Gesprächskultur. Die neugegründete Akademie in Bad Boll war diesem Ansatz verpflichtet. Eberhard Müller knüpfte dabei an die religiösen Gespräche der DCSV-Kreise an, die er als entscheidenden Faktor seiner geistigen Entwicklung bezeichnet hat.110 Auch Hanns Lilje befürwortete diese Methode und förderte die Arbeit der Evangelischen Akademie Herrmannsburg nach Kräften."1 Seit 1946 führte er außerdem in Hannover „offene Abende" mit evangelischen Jugendlichen der Stadt durch, bei denen er lediglich moderierte, aber keine Vorträge hielt. Nach Meinung Liljes erwiesen sich diese Gespräche Das
„als eine fruchtbare Arbeitsmethode, die wir auch in dem äußerlich sehr blühenden Altakademikerkreise mit Gewinn verwenden. Ich glaube, daß hier einige wichtige Erkenntnisse für die Methodik unserer Botschaft liegen, die den Monolog unserer herkömmlichen kirchlichen Verkündigung auf das glücklichste überwinden können.112 Trotz der sichtbaren Erfolge in der Arbeit der Evangelischen Akademien und des Kirchentages machte sich in Kirchenkreisen in den fünfziger Jahren bald Ernüchterung breit. Schien in der direkten Nachkriegszeit tatsächlich das „Jahrhundert der Kirche" angebrochen zu sein die Zahlen der Gottesdienstbesucher waren so hoch wie schon lange nicht mehr so nahm die Kirchlichkeit schnell ab, als sich die Lebensverhältnisse wieder normalisierten. Zu einer christlichen Durchdringung aller Lebensbereiche war es nicht gekommen, in der Politik hatte die CDU viele überzeugte evangelische Christen enttäuscht; die Vision einer christlichen Gesellschaft war in weite Ferne gerückt. Auch einige der hoffnungsvollen Ansätze der ehemaligen DCSVer waren im Sande verlaufen. Die geplanten lokalen Arbeitskreise der Akademikerschaft unter dem Dach der Gesellschaft Evangelische Akademie konnten nicht realisiert werden, weil die meisten christlichen Akademikervereinigungen, vor allem die evan-
-
gelisch geprägten nichtschlagenden Korporationsverbände eigene Wege gingen."3 Die Evangelische Studentengemeinde entwickelte sich unter dem Einfluß der einzelnen Landeskirchen anders als es die früher reichsweit operierenden ehemaligen DCSVer erwartet und erhofft hatten."4 Dem Kirchentag war zwar ein großer Er-
l09) H. Lilje an „Liebe Freunde", Hannover, o. Datum, LkA Hannover, L 3 II, 5/II. no) E. Müller: Mein Lebensgang, Manuskript vom 20.12. 1955 für das ,Deutsche Allgemeine Sonntagsblatt', EABB, AZ 87 A 1951-1966, S.2. '") Lilje bezeichnete die offene Gesprächsführung als das wichtigste neue Element der Akademietagungen in Herrmannsburg: „Aber das entscheidende Erlebnis für die Teilnehmer waren [...] die Möglichkeiten zum ruhigen, ausführlichen persönlichen Gespräch." (H. Lilje an „Liebe Freunde", Hannover, Advent 1946, LkA Hannover, L 3 II, 5/II).
"2) Ebd. "3) E. Müller: Widerstand, S.63. ll4) Ebd.,S.60f.
70
//. Der Kronberger Kreis
folg zuteil geworden, aber er blieb außerhalb der Veranstaltungswoche eine Initiative einiger weniger. Seine Ausstrahlung reichte nicht aus, das Gemeindeleben vor Ort tiefgreifend zu beeinflussen. Diese Entwicklungen drängten mehr und mehr zu der Erkenntnis, daß in absehbarer Zeit nicht damit zu rechnen war, die Gesellschaft umfassend zu rechristianisieren. Zunehmend sah sich die Kirche gezwungen, ihre Rechristianisierungskonzepte in den Hintergrund zu rücken und stattdessen darauf zu setzen, ihre Position in Staat und Gesellschaft gegenüber konkurrierenden Gruppen und Sinnangeboten zu behaupten."5 Da es der evangelischen Kirche nach 1945 nicht gelungen war, die tiefgreifenden Differenzen aus der Zeit des Kirchenkampfes wirklich aus dem Weg zu räumen, zog sie bei dieser neuen Aufgabe nicht an einem Strang. Vielmehr rivalisierten die unterschiedlichen Gruppierungen auch untereinander um Macht und Einfluß innerhalb der Kirche. Unter diesen Umständen konnte ein enger Zusammenschluß von Gleichgesinnten der Durchsetzung der gemeinsamen Interessen nur nützlich sein. Die Gründung des Kronberger Kreises lag Anfang der fünfziger Jahre somit in der Luft.
"5) Im Katholizismus gewannen deshalb integralistische Tendenzen zunehmend an Gewicht. Die engere kirchliche Anbindung der katholischen Verbände sowie neue Formen der Interessenvertretung, wie etwa durch das 1952 gegründete Zentralkomitee der Katholiken, waren ebenfalls Folgen der geschilderten Veränderungen.
2. Die
Gründung des Kronberger Kreises
Die Initiative zur Gründung des Kronberger Kreises ging im Herbst 1951 von den Persönlichkeiten aus, die auch später den bestimmenden Einfluß auf seine Entwicklung ausgeübt haben. Eberhard Müller, Reinold von Thadden-Trieglaff und Hanns Lilje trafen sich im August des Jahres in Bad Boll, um über die „Begegnung mit der Welt des Politischen""6 zu beraten. Müller drängte in seinem Einladungsschreiben an Landesbischof Lilje darauf, es nicht bei Beratungen zu belassen, sondern konkrete gemeinsame Schritte in die Wege zu leiten. Über den Verlauf des Gesprächs, an dem auch Heinrich Giesen teilnahm, gibt es keine Aufzeichnungen. Die Ergebnisse des Treffens wurden aber von Müller in einer Denkschrift mit dem Titel „Evangelische Zusammenarbeit" niedergelegt, die als das Gründungsdokument des Kronberger Kreises bezeichnet werden kann."7 Mit den Eröffnungsworten „Wir stehen allein" wurde darin die Situation der Evangelischen beschrieben, die in der Gesellschaft, in wichtigen Positionen des „wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen oder politischen" Lebens Verantwortung trügen. Während andere Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaften über feste Organisationen verfügten, in denen die Funktionsträger ihren Rückhalt unter Gleichgesinnten finden könnten, sei der Protestant auf sich selbst angewiesen. Er fühle sich daher alleingelassen, anderen Interessengruppen unterlegen und ohnmächtig ausgeliefert. Trotz allen Einsatzes könne er seine Überzeugung nicht wirksam zur Geltung bringen. Die Ursache dafür lag nach der Denkschrift in der historischen Tradition des Protestantismus, ohne daß darauf näher eingegangen wurde. Die politische Schwäche der evangelischen Kirche in Deutschland seit der Aufhebung des Summepiskopats in der Revolution von 1918 war demnach offensichtlich so tief im Bewußtsein verankert und die Schwierigkeiten und Konflikte bei der Neuorganisation der Landeskirchen unter dem Dach der EKD nach 1945 waren noch in zu frischer Erinnerung, als daß an dieser Stelle weiterführende Erklärungen notwendig gewesen wären. Eberhard Müller untermauerte im Folgenden die Initiative zur Gründung einer informellen Gruppe mit politischer Zielsetzung theologisch: Das Neue Testament fordere von allen Gläubigen gemeinsames Handeln im Auftrag und Dienst Christi.118 Der gegebene Ort für diese Zusammenarbeit sei die kirchliche Gemeinde, die jedoch in der Praxis häufig „für die besonderen Aufgaben der weltlichen Führerschaft" keinen Rückhalt bieten könne. Deshalb müsse ein Kreis von evangelischen Männern"9 gebildet werden, die im öf-
ll6) So E. Müller in seinem Korr. 1945-54.
Einladungsschreiben
an
H.
Lilje,
o.
Ort, 27.7. 1951, EABB,
"7) „Evangelische Zusammenarbeit", Denkschrift von E. Müller, o. Ort und Datum, LkA Hannovet, N 60, 374; Entwurf mit handschriftlichen Änderungen E. Müllers EABB, AZ 90/
3. Alle folgenden Zitate sind dem Exemplar aus dem LkA Hannover entnommen. "8) Die Denkschrift bezieht sich hier auf die Stellen Eph l,22f. und Kol 1,18, in denen Christus als das Haupt der christlichen Gemeinschaft bezeichnet wird, sowie auf die Abschnitte Rom 4 und 1 Kor 12,12-27, in denen die unterschiedlichen Aufgaben in den christlichen Gemeinden als ein Dienst im Auftrag Christi beschrieben werden. "9) Frauen kamen den Initiatoren des Kronberger Kreises als mögliche Träger öffentlicher Verantwortung nicht in den Sinn. Für die frühen fünfziger Jahre ist dies nicht weiter ver-
72
//. Der Kronberger Kreis
fentlichen Leben verantwortungsvolle Positionen bekleideten und bereit seien, für protestantische Interessen zu kämpfen. Diese Gruppe solle durch besonderen Rat und geistlichen Austausch die öffentliche Arbeit ihrer Mitglieder konkret unterstützen und ihnen zu mehr Durchschlagskraft verhelfen. Die Denkschrift beschrieb weiter, wer für einen solchen zu gründenden Kreis
überhaupt in Frage komme. Als entscheidendes Aufnahmekriterium wurde ein „persönliches Verhältnis zum christlichen Glauben" benannt, da die Mitgliedschaft zuallererst geistlich verpflichte, was beispielsweise durch eine gemeinsame Gebetsordnung zum Ausdruck gebracht werden könne. Außerdem sollten die Angehörigen des Kreises in irgendeiner Form innerhalb der Kirche, in einem kirchli-
chen Gremium, einem kirchlichen Werk oder einer anderen kirchlichen Institution praktisch mitarbeiten und wenigstens ein Mal im Jahr an einer Veranstaltung teilnehmen, „die der geistlichen und sachlichen Rüstung des Christen im weltlichen Leben dient". Geplant war, daß alle an der Arbeit des Kreises Mitwirkenden sich bereit erklären sollten, konkrete Aufgaben im Sinne der Gruppe zu übernehmen. In der Denkschrift werden als Beispiele genannt: die „Beschaffung von Gutachten und von Material für bestimmte Fragen, gemeinsame oder persönliche Interventionen bei öffentlichen Stellen, Erwägungen von Vorschlägen sachlicher oder personeller Art zu konkreten Fragen etc."120 Abschließend ging die Denkschrift dann noch auf die ins Auge gefaßte erste Zusammenkunft des sogenannten engeren Kreises ein, bei der jeder Teilnehmer Personen benennen sollte, die seiner Meinung nach für die Mitarbeit in einem weiteren Kreis in Frage kommen könnten. Außerdem beabsichtige man, eine erste konkrete Frage in Angriff zu nehmen, nämlich wie der Jugend ihre gesellschaftliche und politische Verantwortung deutlich gemacht werden könne. Die Denkschrift schloß mit der Warnung vor „destruktiven Kräften in unserem Volk"121 und der Mahnung, diesen unheilbringenden Tendenzen durch die Zusammenarbeit der Christen entgegenzuwirken. Ehe der weitere Verlauf des Gründungsprozesses dargestellt wird, soll auf Reaktionen der übrigen Gründungsmitglieder eingegangen werden, die Modifizierungsvorschläge zum Denkschriftkonzept beinhalteten. Erich Ruppel, ein enger Mitarbeiter Liljes in der Hannoverschen Landeskirchenkanzlei, wandte sich an Eberhard Müller, um ihm die Änderungsvorschläge mitzuteilen, die er gemeinsam mit Wilhelm Plog, einem Kollegen aus dem Landeskirchenamt, entwickelt hatte.122 Ruppel betonte den Elitecharakter des zu gründenden Kreises und verlangte deswunderlich. Aber auch später, bis zur Auflösung des Kreises in den siebziger Jahren, hat keine einzige Frau an einem der Kronberger Treffen teilgenommen. 12°) Ebd. 121) In dem Einladungsschreiben für die Gründungssitzung in Frankfurt kamen die Absender auf diese Warnung zurück: „[...] wer aufmerksam die geistigen und politischen Entwicklungen der letzten Zeit verfolgt hat, sieht mit Sorge, daß die destruktiven Kräfte in unserem Volk eine wachsende Chance zu sehen glauben. Die Zusammenarbeit der Christen untereinander und ihre brüderliche Fühlungnahme mit allen, die guten Willens sind, kann zu einem entscheidenden Beitrag für die Verhütung neuen Unheils werden." (H. Lilje, R.v. Thadden und E. Müller an R. Pferdmenges, Hannover, Fulda, Bad Boll, 22.10. 1951, LkA Hannover, L 3 III, 254). 122) E. Ruppel an E. Müller, o. Ort, 22.9. 1951, LkA Hannover, L 3 III, 254.
2. Die
Gründung des Kronberger Kreises
73
zu begrenzen. Mit diesem Vorschlag konnte er sich durchsetzen. War im ersten Entwurf Müllers123 noch von 30 bis 50 Einzuladenden die Rede, die jeweils zehn weitere Personen aus ihrem persönlichen Umfeld als Mitglieder vorschlagen sollten, so sprach die endgültige Fassung der Denkschrift nur noch unbestimmt davon, zum Gründungstreffen „eine Anzahl Personen aus allen Teilen der Bundesrepublik einzuladen", die dann „einige führende Persönlichkeiten evangelischen Glaubens"124 für die Mitarbeit zu benennen hätten. Ruppel schlug weiter vor, dem Kreis, den er selbst als Glaubensgemeinschaft verstanden wissen wollte, stärker den Charakter einer „Werk- und Erziehungsgemeinschaft"125 zu geben, um so zu vermeiden, daß die Gründung sich zu einem „besseren Akademikerverband" oder einem „Jünglingsverein im höheren Chor" entwickle. Da eine das gesamte Bundesgebiet umfassende Organisation sich nur ein bis zwei Mal im Jahr werde treffen können, müßten „kleine Organismen als lebendige Zellen" geschaffen werden, denen jeweils ein Seelsorger zugeordnet werden sollte. Ruppel dachte dabei an zwei Typen von Untergliederungen: Zum einen sollte je ein prominenter Laie als „exemplarische ethisch-politische Persönlichkeit" in einem Meister-Schüler-Verhältnis erzieherisch auf jüngere Mitglieder einwirken. Zum anderen könne man eine „Art Erfahrungsgemeinschaft" gründen, bei der es vor allem darauf ankomme, daß sich ihre Mitglieder gegenseitig „beraten, überwachen [sie!] und unterstützen". Insgesamt kam Ruppel zu dem Ergebnis, daß zunächst die gegenseitige Beratung wesentlich wichtiger sei als gemeinsam in die Wege geleitete Aktionen. Gegenüber konkreten Aufträgen im Dienst des Kreises, wie sie in der Denkschrift vorgesehen waren, äußerte er sich daher mehr als skeptisch; er würde als Politiker jedenfalls keiner Gemeinschaft beitreten, in der er Gefahr laufe, Aufträge von Theologen im öffentlichen Bereich ausführen zu müs-
halb, die Personenzahl eng
sen.
Ruppel machte auch konkrete Vorschläge für eine feste Verfassung des zu bildenden Kreises. Seiner Meinung nach sollte die Gründungsversammlung in feierlichem Rahmen, etwa im Kapitelsaal des Klosters Loccum stattfinden und nach dem Ort „Loccumer Bund", „Loccumer Dienstgemeinschaft" oder „Societas Sevitii Luccensis" benannt werden. Die Führung müsse in der Hand eines geistlichen Visitators liegen, dem zwei Laien als Curatores beigeordnet werden sollten. Einer habe für die inneren Angelegenheiten zu sorgen, wie Aufnahme und Auswahl der Mitglieder, Organisation, Erziehung des Nachwuchses etc., der andere sei für die Außenwirkung vorgesehen, habe die Tagungen vorzubereiten und die Studien zu überwachen. Jedem der drei Leiter sei dann ein Sekretär an die Seite zu stellen, der die laufenden Geschäfte erledigen müsse. Alle wichtigen Entscheidungen solle ein Konvent treffen, dessen Größe und Zusammensetzung sich erst im Laufe der Zeit herauskristallisieren werde. 123) Entwurf zur Denkschrift „Evangelische Zusammenarbeit" mit handschriftlichen Änderungen E. Müllers, EABB, AZ 90/3. 124) Denkschrift „Evangelische Zusammenarbeit" von E. Müller, o. Ort und Datum, LkA Hannover, N 60, 374.
123)
Dieses und die
folgenden Zitate aus dem Brief E. Ruppels an E. Müller, o. Ort, 22.9.
1951, LkA Hannover, L 3 III, 254.
74
//. Der Kronberger Kreis
Eine noch festere, ordensähnliche Struktur wurde von Hans Zehrer, dem Chefredakteur von Hanns Liljes ,Sonntagsblatt', zur Diskussion gestellt. Er hatte in seinem Urlaubsort in Kampen auf Sylt die Denkschrift Müllers und die Bemerkungen Ruppels dazu gelesen und legte nun in einem Schreiben an Wilhelm Plog ausführlich seine eigenen Gedanken dar.126 Demnach sollte ein evangelischer Orden mit fester täglicher Gebetsordung und einer vierteljährlichen mehrtägigen Klausur gegründet werden, das „Loccumer Kapitel". Als dessen alleiniges Ziel beschrieb er „die Erneuerung und Kräftigung des christlichen Glaubens in seinen Mitgliedern und die missionarische Aufgabe innerhalb der Umwelt. Es hat nicht die Aufgabe einer Ordnung oder Gestaltung des öffentlichen Lebens."127 Daß Zehrer nicht nur wie Ruppel skeptisch gegenüber konkreten Aufträgen war, sondern ein gestaltendes Mitwirken am öffentlichen Leben gänzlich ablehnte, lag in seiner Analyse der sozialen und religiösen Situation Westdeutschlands begründet, die sich grundsätzlich von der der Denkschrift unterschied. Deren Ausgangspunkt, das diagnostizierte Fehlen tatkräftiger gegenseitiger Unterstützung evangelischer Christen bei ihrer öffentlichen Wirksamkeit, hielt Zehrer schlicht für falsch: In seiner eigenen praktischen Tätigkeit empfinde er diesen Zustand in keiner Weise als Mangel. Dagegen fehle ihm eine Gemeinschaft, die die religiös-ethische Substanz mit ihm teile, ihn bestärke und ihm Trost und Zuspruch gewähre. Da Zehrer die unausgesprochene Voraussetzung der Denkschrift daß es eine religiös verwurzelte, evangelische Führungsschicht in Westdeutschland gebe bezweifelte,128 sah er die vordringlichste Aufgabe darin, das religiöse Leben zu erneuern. Die Kirchengemeinden seien in diesem Bereich ihrem Auftrag ebensowenig gerecht geworden wie die CDU als politisches Sammelbeken der Christen beider Konfessionen. In der Kirche wie in der Partei hätten bürgerlich restaurative Tendenzen die Oberhand gewonnen. Eine Vertiefung des christlichen Glaubens, die in der DDR bedingt durch äußeren Druck zu beobachten sei, habe in Westdeutschland bisher nicht stattgefunden. Deshalb müsse die Frage gestellt werden, ob es überhaupt im Willen Gottes liege, daß eine evangelische Führungsschicht zum gegenwärtigen Zeitpunkt das öffentliche Leben in der Bundesrepublik mitgestalte. „Die Bildung einer führenden staatstragenden evangelischen Schicht, die in besonderer Weise an der Ordnung und Gestaltung des öffentlichen Lebens Anteil nimmt,"129 sei deshalb hinter die Konstituierung einer Kerngemeinde zurückzustellen, die oberhalb der örtlichen Kirchengemeinden die notwendige christliche Erneuerung einzuleiten habe. In einer Zeit, in der sich die Menschen wieder verstärkt an Autoritäten orientieren wollten, sei die Ordensstruktur deshalb die gegebene Organisationsform, die den Gemeinde- oder Bruderschaftsvorstellungen vorzuziehen sei. Darüber hinaus schlug Zehrer eine weitere Gründung mit dem Namen „Evangelische Sammlung", „Evangelische Aktion" oder „Actio evangélica" vor. Sie habe orga-
-
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126) H. Zehrer an W. Plog, Kampen/Sylt, 13.11. 1951, Brief mit einem elfseitigen Diskussionsbeitrag zur Gründung einer „Evangelischen Zusammenarbeit", LkA Hannover, L 3 III,
254.
L 3 III, 254. 127) Diskussionsbeitrag H. Zehrers, S.6, LkA Hannover, 128) Diese Differenz in der Situationsanalyse dürfte der Grund dafür gewesen sein, daß Zeh-
später im Kronberger Kreis faktisch keine Rolle spielte. 129) Diskussionsbeitrag H. Zehrers, S.4, LkA Hannover, L 3 III, 254.
rer
2. Die
Gründung des Kronberger Kreises
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nisatorisch vom „Loccumer Kapitel" getrennt durch eine erheblich größere Mitgliederzahl und lokale bruderschaftliche Untergliederungen stärker in die Breite zu wirken. In der „Evangelischen Sammlung" sollten alle führenden Funktionsträger aus den Universitäten, dem Kirchentag, den Akademien, der Publizistik und der Kirche selbst zusammengefaßt werden, um sich gegenseitig im Glauben zu stärken und auf eine christliche Gestaltung des öffentlichen Lebens hinzuwirken. Aus einem 30- bis 50-köpfigen leitenden Aktionsausschuß sei ein Generalsekretariat zu bilden, das alle in Frage kommenden Persönlichkeiten nach örtlichen und beruflichen Kriterien karteimäßig zu erfassen und vertraulich zur Mitarbeit in den einzelnen lokalen Bruderschaften aufzufordern habe. Nach erfolgreicher bundesweiter Konstituierung müsse die „Evangelische Sammlung" dann mit einer Kundgebung an die Öffentlichkeit treten, um diese von ihrer Existenz und über ihre Ziele zu informieren. „Loccumer Kapitel" und „Evangelische Sammlung", so der Tenor von Zehrers Ausführungen, sei die ideale Konstellation; man müsse das eine tun und dürfe das andere nicht lassen, immer im Vertrauen auf Gott und darauf, daß sich beide Kreise hilfreich ergänzen würden. Zehrers und Ruppels Überlegungen und Vorschläge fanden zum Teil Eingang in die Diskussion über die künftige Struktur des Kreises, die bei der „Gründungssitzung" in Frankfurt a.M. breiten Raum einnahm. Die feste ordensmäßige Struktur, die beiden vorgeschwebt hatte, war von Eberhard Müller allerdings bereits im Vorfeld mit der Begründung kategorisch abgelehnt worden, dabei handle es sich um typisch norddeutsche Überlegungen, die den bürgerlich nüchterneren Süddeutschen ebenso fremd seien, wie das starke Insistieren auf Disziplin.130 Die autoritären Pläne Zehrers und Ruppels waren damit vom Tisch und wurden nicht weiter diskutiert. Die Zeit zur Vorbereitung der „Gründungsversammlung" war denkbar knapp. Anläßlich des bevorstehenden Treffens von Bundeskanzler Adenauer mit evangelischen Kirchenvertretern131 hatte Reinold von Thadden am 20. Oktober 1951 darauf gedrängt, nun endlich „zu greifbaren Plänen" zu kommen. Schon zwei Tage nach dieser Mahnung gingen die Einladungen zur ersten Zusammenkunft der „Evangelischen Zusammenarbeit" an die Empfänger.132 Die „Gründungssitzung", an der 17 Personen teilnahmen, fand am 26. und 27.November im Hotel Frankfurter Hof statt.133 Hanns Lilje eröffnete die Tagung mit einem Referat, in dem er die -
13°) 131)
E. Müller an E. Ruppel, Bad Boll, 27.9. 1951, LkA Hannover, L 3 III, 254. Bei dem Gespräch in Königswinter am 5.11. 1951 ging es um die Frage eines westdeutschen Verteidigungsbeitrages, gegen den sich in der evangelischen Kirche erheblicher Widerstand regte; vgl. dazu das folgende Kapitel. 132) Z.B. H. Lilje, R.v. Thadden und E. Müller an R. Pferdmenges, Hannover, Fulda, Bad Boll, 22.10. 1951, LkA Hannover, L 3 III, 254. Ein gleichlautendes Schreiben befindet sich auch im Nachlaß Hans Meinzolts, LkA Nürnberg, Bestand Personen XXVI, Nr. 20. '") Die handschriftliche Gesprächsmitschrift E. Ruppels verzeichnet folgende Teilnehmer: Johannes Doehring, Eberhard Müller, Friedrich Ernst, Ernst Friedlaender, Frhr.v. Hodenberg, Otto Küster, Hanns Lilje, Hans Meinzolt, Robert Pferdmenges, Wilhelm Plog, Hans Puttfarcken, Erich Ruppel, Martin Sogemeier, Reinold von Thadden-Trieglaff, Helmut Thielicke, Hermann Weinkauff und Hans Zehrer. (Protokoll E. Ruppels vom 26727.11. 1951 [in der Mitschrift Ruppel fälschlich auf den 26727.12. 1951 datiert], LkA Hannover, N 60, 374). Abgesagt hatten Volkmar Herntrich, Hermann Ehlers und Wolfgang Trillhaas;
//. Der Kronberger Kreis
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wichtigsten Argumente der Denkschrift „Evangelische Zusammenarbeit" zusammenfaßte und präzisierte.134 Es fehle in der Bundesrepublik an einer staatstragenden Schicht evangelischer Christen mit Anziehungskraft für die jüngere Generation. Zwar existiere ein „Potential an ungenutzter Willensbildung", dieses müsse jedoch organisatorisch zusammengefaßt werden,135 um wirksam zu sein. Dabei sei jeder „klerikalistische Versuch" zu vermeiden;136 die Mitglieder eines solchen Kreises sollten aber über so viel Einfluß verfügen, daß künftige gemeinsame Ak-
tionen auch tatsächlich etwas bewirken könnten.137 Als Themen, mit denen sich der Kreis beschäftigen sollte, nannte Lilje die Flüchtlingsproblematik, das Verhältnis zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern und die Frage des Proporzes der beiden großen Konfessionen im Bereich der Personalpolitik.138 Letzteres nahm Reinold von Thadden Liljes Ausführung ergänzend auf und bemerkte, daß ein Gleichgewicht zwischen den Einflußsphären der Konfessionen nur herzustellen sei, wenn die evangelische Seite genügend qualifizierte Personen für öffentliche Ämter zur Verfügung stellen könne. Häufig aber wisse man von der Eignung eines Kandidaten für ein Amt gar nichts. Deshalb sehe er die vorrangige Aufgabe des Kreises darin, evangelischen Christen Kenntnis voneinander und von ihren jeweiligen Qualifikationen zu vermitteln.139 Eberhard Müller ging als dritter Redner in seinem Beitrag auf das amerikanische System der politischen Willensbildung ein und stellte es als Orientierungsrahmen für Westdeutschland vor. In den Vereinigten Staaten gebe es, so führte er aus, neben dem Parlament eine Vielzahl von Gruppierungen, die sich für das Schicksal der sozialen Gemeinschaft verantwortlich fühlten und deshalb an deren Gestaltung mitwirkten. In Deutschland bestehe in dieser Hinsicht besonders in evangelischen bürgerlichen Kreisen ein Vakuum. Durch den geplanten Zusammenschluß könne diese Lücke ausgefüllt werden. Selbst eine nur kleine Gruppe -
-
Friedrich, Heinrich Giesen, Theodor Pfizer und Heinrich Kost (Namensliste mit handschriftlichen Ergänzungen, EABB, AZ 90/3, vgl. die Teilnehmerliste der Besprechung im LkA Hannover, L 3 III, 254, die nur 20 Namen enttrotz Zusage nicht erschienen waren Otto A.
hält).
134) Die Darstellung der Gründungssitzung stützt sich auf das handschriftliche Protokoll E. Ruppels vom 26727.11. 1951, LkA Hannover, N 60, 374. 135) Lilje warnte in diesem Zusammenhang wohl mit Blick auf Ruppel und Zehrer vor „organisatorischen Utopien" (Protokoll E. Ruppels vom 26.11. 1951, LkA Hannover, N 60, -
-
374).
,36) '•")
Ebd. Die Mitglieder des
Kronberger Kreises sollten Laien sein, die zu gemeinsamen Aktiozusammengeführt werden sollten; er verstand sich nie als Organ der offiziellen evangelischen Kirche. Im Gegenteil, mit dieser gab es Abstimmungs- und Abgrenzungsprobleme.
nen
Reinold
von
Thadden schrieb darüber an Eberhard Müller: „Mir scheint, daß wir in Loccum
unbedingt Zeit brauchen, um die von uns gedachte Funktion unserer Arbeitsgemeinschaft für Evangelische Zusammenarbeit gegenüber anderen Instanzen zu schützen, die im Sinne der violetten Restauration der Gegenwart auch die Tendenz haben, die freie, brüderlich gegründete Initiative aus der lebendigen Gemeinde heraus einzuschränken und sie durch ein rein autoritatives Handeln des Amtsträgers' zu ersetzen." (R.v. Thadden an E. Müller, Fulda, 6.3. 1953, EABB, AZ 26 II, Korr. 1949-1961). 138) Protokoll E. Ruppels vom 26.11. 1951, LkA Hannover, N 60, 374.
139)
Ebd.
2. Die
Gründung des Kronberger Kreises
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sei in der Lage, gemeinsam und geschlossen operierend, erstaunlich viel zu erreichen. Als ein mögliches Aufgabenfeld für künftige Aktionen des Kreises nannte Müller die Integration der jungen Generation, vor allem der 25 bis 35jährigen, in die Gesellschaft.140 In der anschließenden Diskussion zeigte sich schnell,141 wie groß die Übereinstimmung aller Anwesenden drüber war, daß ein Zusammenschluß führender evangelischer Christen tatsächlich nötig sei. Ernst Friedlaender, der frühere Chefredakteur der .Zeit', Hermann Weinkauff, seit 1950 Bundesgerichtspräsident in Karlsruhe, und der Kölner Bankier Robert Pferdmenges, ein Freund und Berater Bundeskanzler Adenauers, betonten besonders den Elitecharakter des Kreises. Eine strenge Auslese der Mitglieder stelle eine zwingende Notwendigkeit dar, wenn man wirklichen Einfluß ausüben wolle. Reinold von Thadden schloß sich ihnen an. Er sah den Kreis als dritte Ebene, über dem Kirchentag, der als „Sammelbecken" fungiere, und über den Akademien, obwohl diese bereits eine „Auslese" darstellten. Aber erst eine kleine Elitegruppe könne wirklich den „Gang der Dinge" beeinflussen.'42 Die eng begrenzte und sorgfältig durchgeführte Auswahl neuer Mitglieder wurde deshalb als besonders wichtig eingeschätzt. Um bei ihrer Aufnahme strenge Maßstäbe zu garantieren, sollten sie nach gemeinsamer Beratung des Kreises durch Kooptation bestimmt werden.143 Hermann Weinkauff war es dann, der das Thema der deutschen Wiederbewaffnung ansprach, um anhand dieser Frage die künftige Vorgehensweise zur gezielten Einflußnahme zu erproben. Während er nämlich die Auffassung vertrat, daß ein solcher Kreis an die Öffentlichkeit treten müsse, um seine Wirksamkeit zu entfalten, wollte Martin Sogemeier, Vorstandsmitglied im Unternehmensverband Ruhrbergbau, die Aufgaben auf interne Beratungen beschränkt wissen. Eine mittlere Position nahm in diesem Streit der Stuttgarter Jurist Otto Küster ein, der die Bildung einer „Aktionsgruppe" aus den Reihen der Kreismitglieder befürwortete, die sich punktuell zu gemeinsamem öffentlichen Vorgehen zusammenfinden könnten. Da aber die Möglichkeit von unüberbrückbaren Dissensen in Sachfragen nicht
l4°) Protokoll E. Ruppels vom 26.11. 1951 (LkA Hannover, N 60, 374), vgl. auch die Tagebuchaufzeichnungen O. Küsters vom 26.11. 1951. 141) Die folgende Zusammenfassung der Diskussionsbeiträge basiert im wesentlichen auf dem Protokoll E. Ruppels vom 26.11. 1951 (LkA Hannover, N 60, 374). Vgl. dazu auch die Tagebuchaufzeichnungen O. Küsters vom 26.11. 1951. 142) Ähnlich äußerte sich Helmut Thielicke in seinem Kommentar zu Eberhard Müllers Denkschrift „Evangelische Zusammenarbeit". In dem Schreiben hieß es: „Vielleicht ist es nicht ganz angemessen, das Wort von der Elitebildung in diesem Zusammenhang zu gebrauchen. Sie werden mich aber richtig verstehen, wenn ich sage, daß nur solche streng ausgewählten und scharf profilierten Gremien schlagkräftig sind." (Brief H. Thielikes an E. Müller, R.v. Thadden und H. Lilje, Tübingen, 31.10. 1951, LkA Hannover, L 3 III, 254). Ähnlich auch Hermann Walz, der im November 1957 zum Thema „Die Führungsaufgabe des Protestantismus in der Gegenwart" (EABB, AZ 76 672) u.a. sagte: „Führung ist immer Sache einer Minderheit gewesen. Sie ist es in der modernen Massendemokratie [...] paradoxerweise erst recht." Die zur Elite gehörenden Protestanten sollten sich seiner Meinung nach als „Gruppen in den Gruppen" organisieren, um so ihre Aufgabe erfolgreich wahrnehdie Nähe des von Walz vorgestellten Konzepts zur Praxis des Kronberger men zu können; Kreises ist offensichtlich. 143) Protokoll E. Ruppels vom 26.11. 1951, LkA Hannover, N 60, 374. -
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//. Der Kronberger Kreis
ausgeschlossen werden könne, müsse jedem die Freiheit bleiben, sich von solchen
Aktionen zu distanzieren.144 Nach einem gemeinsamen Abendessen wurde über dieses zentrale Problem weiter beraten, ohne daß man sich einigen konnte. Konsens bestand lediglich darüber, was man nicht wollte: sich nicht mit Themen von untergeordneter Bedeutung oder mit politischen Detailfragen beschäftigen, keine nur wohllautenden Appelle verabschieden und keine Grundlagenforschung betreiben. Für letztere seien die Akademien zuständig, an deren Ergebnisse man dann anknüpfen könne. Ziel des Kreises müsse dagegen sein, diese Erkenntnisse in konkrete politische Aktionen umzusetzen. Da das „Wie" einer künftigen politischen Einflußnahme umstritten blieb, griff Eberhard Müller die Anregung von Bundesgerichtspräsident Weinkauff auf, anhand der aktuellen und brisanten Frage der deutschen Wiederbewaffnung auszuloten, ob man zu einer gemeinsamen Haltung kommen und auf welchem Weg eine solche möglichst wirksam publik gemacht werden könne.145 Als am folgenden Morgen die Beratungen fortgesetzt wurden, unterstützte Bischof Lilje den Vorschlag Müllers und bald waren sich alle Teilnehmer einig, den Versuch zu unternehmen, eine gemeinsame Stellungnahme zur Wehrfrage auszuarbeiten.146 Einige Detailprobleme wurden anschließend sogleich besprochen.147 Die beiden Juristen Weinkauff und Küster, die sich an der Diskussion besonders aktiv beteiligt hatten, erhielten den Auftrag, ihre Gedanken schriftlich zu fixieren. Sie sollten allen Anwesenden vor der nächsten Sitzung zur Kenntnisnahme zugeleitet werden und als Diskussionsgrundlage dienen.148 Nachdem noch über eine mögliche Erweiterung des Kreises beraten worden war und man sich auf den Termin des nächsten Treffens geeinigt hatte, schloß Bischof Lilje die Beratungen mit der Bitte, allen Außenstehenden gegenüber die unbedingte Vertraulichkeit des Gesprächs zu wahren. Betrachtet man die Vor- und Gründungsgeschichte des späteren Kronberger Kreises,149 fallen einige Aspekte besonders ins Auge, die es verdienen, noch einmal eigens hervorgehoben und in den zeithistorischen Kontext eingebettet zu werden: Der Wille zum zielgerichteten (gesellschafts-)politischen Engagement dieser relativ kleinen Gruppe innerhalb des westdeutschen Protestantismus gründete in der gemeinsamen Lebenserfahrung der zwanziger und dreißiger Jahre. In der Endphase der Weimarer Republik hatten die späteren Mitglieder des Kronberger Krei-
l44) Vgl. Tagebuchaufzeichnung O. Küsters vom 26.11. 1951. i45) Erich Ruppel formulierte in seinem Protokoll: „In welchen Formen
kann christliche
Propaganda gemacht werden." Protokoll vom 26.11. 1951, LkA Hannover, N 60, 374. 146) Protokoll E. Ruppels vom 27.11. 1951, LkA Hannover, N 60, 374. 147) Vgl. dazu das folgende Kapitel. 148) Vgl. die Tagebuchaufzeichnung O. Küsters vom 27.11. 1951 und das Protokoll E. Ruppels vom 27.11. 1951, LkA Hannover, N 60, 374. 149) Die Bezeichnung „Kronberger Kreis" kam erst 1953 auf, als sich das Schloßhotel in Kronberg als ständiger Tagungsort etabliert hatte. Vgl. E. Müller an O. Küster, o. Ort, 10.2. 1953, EABB, AZ 90/2. Dort heißt es: „Die Bezeichnung .Freunde der Evangelischen Zusammenarbeit' werde ich in Zukunft weglassen. [...] Wir werden in Zukunft einfach vom .Kronberger Kreis' sprechen." Bis dahin hatte die Gruppe den Namen Freunde der Evangelischen Zusammenarbeit, Lilje- oder Schönbergkreis geführt. Unabhängig von den verschiedenen Benennungen wird in dieser Studie stets vom Kronberger Kreis gesprochen.
2. Die
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ihre akademische Ausbildung bereits abgeschlossen und die ersten Sprossen der „Karriereleiter" erklommen. Sie sahen sich auf dem besten Weg, in verantwortliche Führungspositionen in Kirche und Gesellschaft einzurücken. Bedingt durch die Machtergreifung der Nationalsozialisten und den beginnenden Kirchenkampf kam alles ganz anders: Die Mitgliedschaft in der Bekennenden Kirche behinderte zunächst den weiteren beruflichen Aufstieg, machte ihn teilweise ganz unmöglich. Das änderte sich natürlich auch während der Kriegsjahre nicht, die einige als aktive Soldaten erlebten. Erst in der Besatzungszeit und nach der Gründung der Bundesrepublik knüpften sie wieder an ihren beruflichen Werdegang an und erlebten teilweise einen regelrechten „Karriereschub". Aus ihrem Selbstverständnis, während der NS-Diktatur religiös motivierten Widerstand geleistet zu haben, leiteten sie die Legitimation ab, am Aufbau eines neuen, besseren Deutschlands bestimmend mitzuwirken. Ihr moralischer Anspruch, als gesellschaftliche Elite in der Bundesrepublik gestaltenden Einfluß auf die Entwicklung des Gemeinwesens ausüben zu wollen, hat hier seine Wurzel.150 Jeder, der diese Legitimation und den daraus erhoben Anspruch bestritt, wurde als Gegner wahrgenommen. In erster Linie gilt dies für den radikalen bruderrätlichen Flügel der Bekennenden Kirche, der den intakten Landeskirchen, aus denen fast alle Mitglieder des späteren Kronberger Kreises stammten, mangelnde Widerstandskraft während des Dritten Reiches zum Vorwurf machte. Die scharfen Angriffe Karl Barths und Hermann Diems gegen die Lutheraner und die lutherische Theologie gehören in diesen Kontext, in den auch der Streit um unterschiedliche Kirchen- und Gemeindekonzeptionen in der Nachkriegszeit einzuordnen ist. Die Konflikte, die während des Dritten Reiches ein einheitliches Vorgehen der Bekennenden Kirche verhindert hatten, wurden innerhalb der neugegründeten EKD nicht gelöst, sondern fortgeschrieben.'51 Die zentrale Persönlichkeit, die in den ersten Jahren der Bundesrepublik die aus dem radikalen Flügel der BK hervorgegangene kirchliche Gruppierung repräsentierte, war Martin Niemöller. Er gehörte als ehemaliger KZ-Häftling und nun als Mitglied des Rates der EKD sowie als Leiter des Kirchlichen Außenamtes zu den bekanntesten und geachtetsten Vertretern der deutschen evangelischen Kirche im In- und Ausland. Niemöller stand dem „Teilungsprodukt Bundesrepublik" grundsätzlich skeptisch gegenüber und lehnte bekanntermaßen die Wiederbewaffnungsund Westintegrationspolitik Adenauers entschieden ab. Seine anti-amerikanischen und anti-katholischen Affekte152 sorgten in der bundesdeutschen Öffentlichkeit ses
15°)
Eberhard Müller wies beispielsweise den Vorwurf, die Kirche überschreite ihren Komwenn sie zu wirtschaftlichen Fragen Stellung nehme, mit dem Hinweis auf das kirchliche Versagen während der NS-Zeit zurück. Damals habe man fälschlicherweise geglaubt „Politik, Wirtschaft und öffentliche Rechtspflege einerseits und Religion und persönliche Sittlichkeit andererseits" seien gänzlich voneinander zu trennen. Tatsächlich aber gebe es „keine ethisch wertfreien Gebiete" (E. Müller an A. Burkardt, Bad Boll, 26.11. 1954, EABB, AZ 90/6). 151) Zum Kirchenkampf und den starken Spannungen zwischen den verschiedenen kirchlichen Gruppen innerhalb der evangelischen Kirche siehe oben Kapitel I. ,52) Als Beispiel sei ein Interview angeführt, das Niemöller in seiner Wohnung einem amerikanischen Journalisten gab: „To a question from the reporter, Dr. Niemoeller replied that
petenzbereich,
80
//. Der Kronberger Kreis
wiederholt für Aufregung. Der Kronberger Kreis verstand sich von Anfang an als innerkirchlicher und politischer Gegenpol zur Niemöller-Gruppe153 und zu den neutralistischen Wiederbewaffnungsgegnern um Gustav Heinemann. Der Zeitpunkt der Gründung und die erste politische Aktion des Kreises machen dies überdeutlich. Von ganz anderer Seite drohte ebenfalls Gefahr für den Führungsanspruch evangelischer Christen, wie ihn die Mitglieder des Kronberger Kreises verstanden. Obwohl sie die interkonfessionelle Zusammenarbeit von Protestanten und Katholiken in den Unionsparteien grundsätzlich begrüßten, befürchteten sie eine Marginalisierung protestantischer Positionen innerhalb der CDU/CSU. Die unangefochtene Stellung des katholischen Rheinländers Konrad Adenauer, der seine Partei und das Kabinett nach Belieben zu beherrschen schien und die Außenpolitik allein bestimmte, gab Anlaß zur Besorgnis. In den Spitzen von Partei und Fraktion, bei hohen Ämtern in Ministerien und kommunalen Verwaltungen sahen die Teilnehmet des Frankfurter Treffens die Katholiken in der Überzahl. Gezielt auf die Stellenvergabe Einfluß zu nehmen, um den konfessionellen Proporz zu wahren oder herzustellen, war deshalb eine weitere Triebfeder bei der Gründung des Kreises. Personelle Fragen sollten deshalb zu den ständigen Aufgaben des Kreises gehören. Die konkreten Einflußmöglichkeiten auf diesem Gebiet erwiesen sich später als gering; die Pläne sind aber ein Indiz dafür, wie stark von kirchlich engagierten Christen die westdeutsche Innenpolitik der fünfziger Jahre unter konfessionellen Aspekten betrachtet wurde. Die „Anti-Niemöller-Haltung" war die kirchenpolitische Seite der Motive, den Kronberger Kreis ins Leben zu rufen;154 die gesamtpolitische bestand in dem Berelations between Protestants and Chatholics have become steadily worse since the end of the war. He attributed this in good part to the political maneuvering of the German Catholics, in particular to the planning of ,Mr. Adenauer (he persistently referred to the chancellor as ,Herr', never as ,Herr Kanzler') upon whom ,Mr.' Frings (the Cardinal of Cologne) has so much influence. Dr. Niemoeller charged that the successes of the West German Federal Republic are bought at the cost of German Protestantism. He described the Marshall plan as merely a means of bringing European countries into the sphere of the Americans for military aims, so as to strengthen the military security of the United States." Auf Einwände des Journalisten entgegnete Niemöller „that the writer was thinking as a Chatholic. The writer replied that he was thinking as an American, not as a Catholic. Dr. Niemoeller retorted that this was the same thing, since the Catholics in the United States have everything in their hands." Bericht von Sam H. Linch/Chief Division of Cultural Affairs an das Department of State, Bonn, 31.3. 1951, NA, RG 59, Box 5248. ,53) Otto Küster notierte über das Kronberger Treffen im April 1954 in seinem Tagebuch: „[...] immer geht es darum, Niemöller und seine Geistesart niederzukämpfen, wie vor 3 1/ 2 Jahren, als dieses Unternehmen begann. N. macht es ihnen wohl leicht, ihn als .Flegel' abzutun (so Lilje), [...]." (Tagebuchaufzeichnung O. Küsters vom 1.4. 1954). ,54) Das Verhältnis zu Martin Niemöller galt als ein Kriterium bei der Neuaufnahme von Mitgliedern in den Kronberger Kreis. Als der Wuppertaler Textilfabrikant Ernst-Günter Plutte kooptiert werden sollte, wies Reinold von Thadden gegen anderslautende Bedenken darauf hin, daß dieser „nicht Niemölleraner im engen Sinn des Wortes" sei. (R.v. Thadden an E. Müller, Fulda, 5.6. 1952, EABB, AZ 90/2). Trotzdem befand sich mit Hans Puttfarkken auch ein Freund Niemöllers unter den „Kronbergern". Die offenbar von innerem Zwiebesten von Otto Küster spalt geprägte Beziehung Puttfarckens zu Niemöller wird wohl amNiemöller „bald küssen, charakterisiert, der in seinem Tagebuch notierte, daß Puttfarken bald ohrfeigen möchte" (Tagebuchaufzeichnung O. Küsters vom 26.11. 1951). '
2. Die
Gründung des Kronberger Kreises
81
streben, protestantischen Interessen in Politik und Gesellschaft mehr Gewicht und
verschaffen. Welchem dieser Aspekte höhere Priorität zugemessen den vorliegenden Quellen nicht zu beantworten. Beide waren eng miteinander verflochten. Persönlichkeiten, die dem Kreis nahestanden und hohe Ämter in Staat und Gesellschaft innehatten, konnten ihr Ansehen auch bei innerkirchlichen Konflikten in die Waagschale werfen; umgekehrt stieg das Gewicht der Evangelischen in den Unionsparteien je mehr es ihnen gelang, die Opposition gegen die Regierungspolitik in der Kirche zurückzudrängen und protestantische Wähler zu binden. Die Ziele der Frankfurter Gründung waren demnach vornehmlich politisch, und zwar sowohl kirchen- wie allgemeinpolitisch. Zugleich waren sie aber religiös begründet. Aus christlicher Verantwortung wollte man Staat und Gesellschaft der jungen Bundesrepublik mitgestalten. Darin unterschieden sich die Mitglieder des Kronberger Kreises nicht von den meisten Evangelischen innerhalb der CDU. Die Einfluß
zu
wurde, ist
aus
auf politische Prozesse durch einen informellen, von seinem Selbstverständnis her parteiunabhängigen Kreis einzuwirken, war jedoch eine gänzlich andere. Es handelte sich dabei aber nicht um ein Relikt der im deutschen Protestantismus vor allem der Weimarer Jahre verwurzelten Distanz zur Politik im allgemeinen und zum Parteiwesen im besonderen.155 Die Gründe dürften andere gewesen sein: Zum einen wollte man sich nicht als kirchenpolitische Fraktion zu erkennen geben, um den innerkirchlichen Streit nicht zusätzlich anzuheizen und sich so gezielten Angriffen der Gegner auszusetzen. Zum anderen scheuten die Mitglieder des Kronberger Kreises aufgrund ihrer kirchlichen Funktion die offizielle Mitarbeit in der CDU. Dies trifft sicher für Reinold von Thadden zu, der als Präsident des (Gesamt-)Deutschen Evangelischen Kirchentags seine Kontakte zur DDR-Führung nicht gefährden durfte. Er mußte es zudem vermeiden, sich parteipolitisch festzulegen, wollte er den Kirchentag für alle kirchlichen Gruppen offenhalten. Ähnliche Motive sind auch für Hanns Lilje als Bischof der Landeskirche Hannover und für Eberhard Müller als Vorsitzendem des Leiterkreises der Evangelischen Akademien und Inhaber zahlreicher weiterer Ämter als begründet anzunehmen. Sie alle wahrten durch den vertraulichen Charakter des Kreises nach außen ihre parteipolitische Unabhängigkeit. Obwohl mit Robert Pferdmenges nur ein einziges CDU-Parteimitglied bei der Gründungssitzung anwesend war, entwickelte sich der Kreis in den folgenden Jahren mehr und mehr zu einem inoffiziellen „Knotenpunkt" im Informationsfluß zwischen den Unionsparteien und ihnen nahestehenden evangelischen Kirchenvertretern. Der westdeutsche Staat, die Bundesrepublik Deutschland, wurde von den Teilnehmern der Frankfurter Zusammenkunft als der Rahmen betrachtet, in dem der Kreis seine Aufgabe zur Mitgestaltung wahrnehmen, in dem er künftige politische
angestrebte Form,
155) Dietrich Rössler hat die Auffassung vertreten, daß die Politikferne des deutschen Protestantismus damals über alle konfessionellen und theologischen Grenzen hinwegreichte, daß die verschiedensten kirchlichen Richtungen und Gruppierungen in dieser Frage zu einem weitgehend übereinstimmenden Ergebnis kamen. Vgl. Dietrich Rössler: Theologie des gesellschaftlichen Desinteresses, in: Gesellschaftliche Herausforderung des Christentums. Vom Kulturprotestantismus zur Theologie der Revolution, hg. von Wilhelm Schmidt, München 1970.
82
//. Der Kronberger Kreis
Initiativen und öffentlichkeitswirksame Aktionen planen und durchführen wollte. Die grundsätzliche Akzeptanz des Weststaates war eine unausgesprochene Voraussetzung des gesamten Projekts. So gibt es in den Quellen zum Kronberger Kreis für ein distanziertes Verhältnis zur Bundesrepublik keine Belege. Offenbar wurde der junge Staat bereits als selbstverständlich akzeptiert. Überlegungen, Kirchenvertretet aus der DDR als ständige Mitglieder zu berufen, wurden nie in die Tat umgesetzt.
Andeutungsweise kam in den Diskussionsbeiträgen Hanns Liljes und Eberhard zum Vorschein, an welchen Vorbildern sie sich orientierten. Lilje sprach vom „Typus der öffentlichen Persönlichkeit"156 in England, der sich auch in Deutschland entwickeln müsse. Was er damit meinte, ist nicht eindeutig zu klären. Aus dem Zusammenhang der Diskussion geht aber hervor, daß Lilje unter „öffentMüllers
lichen" Persönlichkeiten Menschen verstand, die in hohen Funktionen in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft stets dem Gemeinwohl und der Staatsräson dienten. In Deutschland herrsche demgegenüber die Neigung vor, sich aus der Verantwortung zu stehlen, was unter dem Vorwand des „ohne mich" vielfach zu beobachten sei. Eberhard Müller stellte den Teilnehmern der Frankfurter Sitzung das System der politischen Willensbildung in den USA als Leitbild vor Augen.157 Er hob hervor, daß in den Vereinigten Staaten verschiedene gesellschaftliche Gruppen außerhalb der Parlamente versuchten, die öffentliche Meinung zu beeinflussen und an politischen Entscheidungen mitzuwirken. Der neugegründete Kreis sollte in dem so verstandenen politischen Prozeß als eine Art „pressure-group" die Interessen des evangelischen Bevölkerungsteils vertreten und zur Geltung bringen. Das für sich in Anspruch genommene Recht, im Namen des westdeutschen Protestantismus zu operieren und dessen Interessen zu vertreten, gründete in dem Bewußtsein, der gesellschaftlichen Elite der Bundesrepublik anzugehören. Der Kreis verstand sich selbst als Elitenzirkel und betrachtete es deshalb als eine seiner wichtigsten Aufgaben, geeigneten Nachwuchs zu fördern, also elitebildend zu wirken. Bei dem drittem Treffen des Kreises im März 1953 standen deshalb ausdrücklich „Praktische Wege der Elitebildung" auf der Tagesordnung.158 Eine fest umrissene und klar abgegrenzte Vorstellung, wer zu dieser Elite gehöre, hatten die Mitglieder des Kreises aber nicht.159 Jeder, der im öffentlichen Leben aufgrund seiner beruflichen Stellung als Entscheidungsträger und Multiplikator fungierte,
156) 157) ,58)
Protokoll E. Ruppels vom 26.11. 1951, LkA Hannover, N 60, 374. Ebd. E. Müller an die Freunde der Evangelischen Zusammenarbeit, Bad Boll, 19.3. 1952, LkA Hannover, N 60, Nr. 374. I59) Wie schwierig eine genaue Bestimmung des Begriffs „Elite" ist, verdeutlicht ein Blick auf die verschiedenen Definitionsversuche, z.B. Wilfried Röhrich: Eliten, in: Handlexikon zur Politikwissenschaft, hg. von Wolfgang W. Mickel, München 1986, S.89-93. FranzXaver Kaufmann: Elite, in: Staatslexikon. Recht, Wirtschaft, Gesellschaft, hg. von der Görres-Gesellschaft, Bd. 2, Freiburg-Basel-Wien 71986, Sp. 218-222. Friedrich Lütge: Elite, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd.3, Stuttgart 1961, S. 198-203. Vgl. auch die Aufsätze bei Wilfried Röhrich (Hg.): .Demokratische' Elitenherrschaft. Traditionsbestände eines sozialwissenschaftlichen Problems (Wege der Forschung, Bd. 139), Darmstadt 1975, insbesondere die „klassischen" Texte zur Elitentheorie von Gaetano Mosca und Vilfredo Pareto. -
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2. Die
Gründung des Kronberger Kreises
8?
galt als potentieller Mitarbeiter oder Ansprechpartner. Weitere Auswahlkriterien mußten deshalb darüber entscheiden, wer zu den Besprechungen des Kreises einzuladen war.160 Darüber herrschte nicht immer Einigkeit. So war es bereits im Vorfeld der Gründungssitzung zu einer Meinungsverschiedenheit zwischen von Thadden und seinen Freunden gekommen. Der Kirchentagspräsident hatte angekündigt, seine Mitarbeiter Heinrich Giesen, Otto Heinrich Ehlers und Eberhard
Stammler nach Frankfurt mitzubringen.161 Eberhard Müller nannte es „etwas unerwünscht [...], daß Reinold gleich mit 3 jungen Leuten ankommen will"162, und Lilje lehnte die Teilnahme der Mitarbeiter von Thaddens mit Ausnahme Heinrich Giesens gänzlich ab. Besonders wehrte er sich dagegen, daß der Journalist Eberhard Stammler das Treffen besuche. Ein wirklich offenes und vertrauensvolles Gespräch werde kaum zustande kommen, wenn ein Pressevertreter anwesend sei.163 Diskretion war nach Ansicht Liljes eines der obersten Gebote, damit der Kreis sich zu dem entwikeln könne, was er sich vorgenommen hatte. Ob er das selbstgestecke Ziel tatsächlich erreichte, wird im Folgenden zu untersuchen sein.
I6°) Dabei konnte der Eindruck entstehen, das wichtigste Kriterium sei die Mitgliedschaft in der früherem DCSV. Eberhard Müller versuchte deshalb gegenüber Johannes Doehring die Bedenken zu zerstreuen, „es werde hier etwas von den alten CSVern allein ausgekocht." (Brief E. Müllers an E. Ruppel, Bad Boll, 29.10. 1951, LkA Hannover, L 3 III Nr.254, Abschrift EABB, AZ 90/2). I61) R.v. Thadden an E. Müller, Fulda, 27.10. 1951, EABB, AZ 90/2. ,62) E. Müller an E. Ruppel, o. Ort, 29.10. 1951, EABB, AZ 90/2. I63) E. Ruppel an E. Müller, Hannover, 31.10. 1951, EABB, AZ 90/2.
3. Die Denkschrift
zur
Wiederbewaffnung
Die Diskussion über einen Beitrag der Bundesrepublik zur Verteidigung Europas bestimmte zu Beginn der fünfziger Jahre weithin die Debatten über die westdeutsche Innen- und soweit damit die grundsätzliche Frage der Westorientierung der Bundesrepublik verbunden war auch die Außenpolitik. Kein anderes Thema war in jenen Jahren so leidenschaftlich umstritten.164 Auch die evangelische Kirche war durch einige ihrer führenden Repräsentanten in diese Auseinandersetzungen involviert, zeitweise schien sogar die Spaltung der EKD über dieser Frage nicht -
-
ausgeschlossen.165
In einem Interview mit dem ,Cleveland Piain Dealer' am 3. Dezember 1949 hatte Konrad Adenauer erstmals in der Öffentlichkeit angedeutet, daß Deutschland unter bestimmten Umständen bereit sei, einen Verteidigungsbeitrag im Rahmen einer europäischen Armee zu leisten.166 Die empörten Reaktionen auf das Interview des Bundeskanzlers in der Presse, bei der parlamentarischen Opposition und seitens der Alliierten machten jedoch schnell deutlich, daß militärische Pläne zu diesem Zeitpunkt weder innenpolitisch durchsetzbar noch von den westlichen Siegermächten erwünscht waren.167 Auch in der evangelischen Kirche regte sich sofort Widerstand. Martin Niemöller profilierte sich als Sprecher dieser kirchlichen Opposition. In seinem Interview mit der ,New York Herald Tribune', das am 14.Dezember 1949, also nur zehn Tage nach Adenauers Pressegespräch erschien, fielen die berühmten Sätze, die Bundesrepublik sei im Vatikan gezeugt und in Washington geboren worden. Diese publizistische „Antwort" auf den Vorstoß des Kanzlers markiert den Auftakt von Niemöllers Kampf gegen die Wiederbewaffnung, gegen Bundeskanzler Adenauer und gegen die Westintegration des „katholischen" Teilstaats Bundesrepublik.
164) So die übereinstimmende Einschätzung bei Hans-Peter Schwarz: Die Ära Adenauer. Gründerjahre der Republik 1949-1957 (Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bd.2), Stuttgart 1981, S. 119, und Kurt Sontheimer: Die Adenauer-Ära. Grundlegung der Bundesrepublik, München 1991, S.168. Die Haltung der Parteien in der Wiederbewaffnungsfrage ist in einigen Studien behandelt worden: Udo F. Löwke: Für den Fall, daß Die Haltung der SPD zur Wehrfrage 1949-1955, Hannover 1969. Ulrich Buczylowski: Kurt Schumacher und die deutsche Frage. Sicherheitspolitik und strategische Offensivkonzeption vom August 1950 bis September 1951, Stuttgart-Degerloch 1973. Zur Politik der Regierungsparteien in der Wiederbewaffnungsfrage siehe Hans-Peter Schwarz: Adenauer. Der Aufstieg: 1876-1952, Stuttgart 31986, und Dietrich Wagner: FDP und Wiederbewaffnung. Die wehrpolitische Orientierung der Liberalen in der Bundesrepublik Deutschland 19491955, Boppard 1978. 165) Zur Haltung der evangelischen Kirche in der Wiederbewaffnungsfrage vgl. J. Vogel: Kirche und Wiederbewaffnung. Übersichten bieten K. Herbert: Kirche zwischen Aufbruch und Tradition, S. 149-219. -A. Baring: Außenpolitik, S. 208-216. -Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik, Bd. 2, S. 524—546. Hans-Adolf Jacobsen: Zur Rolle der öffentlichen Meinung bei der Debatte um die Wiederbewaffnung 1950-1955, in: Militärgeschichte seit 1945, Bd. 1. Aspekte der deutschen Wiederbewaffnung bis 1955, Boppard am Rhein 1975, S.61-98, hier S.76-81. Ernst Nölte: Deutschland und der Kalte Krieg, München-Zürich ...
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1974, S.299-303, 316.
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"*) Vgl. H.-P. Schwarz: Adenauer 1876-1952, S.735Í. I67) Zu dem Interview und den Reaktionen darauf siehe ebd., S.735-737.
3. Die Denkschrift zur
85
Wiederbewaffnung
Im Juni 1950 begann der Krieg in Korea, der starke Kräfte der amerikanischen Armee in Asien band und die Verteidigungsfähigkeit der NATO in Europa zu gefährden schien. Die Westalliierten, vornehmlich die Amerikaner, am wenigsten die Franzosen, zeigten sich daher zunehmend aufgeschlossen für einen deutschen Verteidigungsbeitrag.168 Mit den beiden Memoranden, die Adenauer am 29. August 1950'69 den Westmächten zuleitete, ergriff der Bundeskanzler erneut die Initiative, schlug eine westdeutsche Schutzpolizeitruppe vor und bot ein deutsches Kontingent für eine multinationale westeuropäische Armee an.170 Über diese diplomatischen Schritte des Regierungschefs kam es zum Bruch mit Gustav Heinemann, dessen Kompetenzbereich als Innenminister durch Adenauers Polizeipläne direkt betroffen war. Heinemann warf dem Kanzler vor, das Kabinett und ihn selbst nicht informiert zu haben, bevor er die Memoranden absandte.171 Um diesen formalen Aspekt ging es aber nur vordergründig bei dem Zerwürfnis zwischen Adenauer und seinem Minister. Die wahren Gründe lagen tiefer. Sie sind zum einen in der unterschiedlichen Beurteilung der weit- und sicherheitspolitischen Lage und zum anderen in den grundlegend verschiedenen religiös-ethischen Weltbildern der beiden Kontrahenten zu suchen.172 Während Adenauer von einer akuten Bedrohung der Bundesrepublik durch die Truppen der Sowjetunion und die DDR-Volkspolizeiverbände ausging,173 befürchtete Heinemann einen Präven-
168) Vgl. H.-P. Schwarz: Ära Adenauer 1949-1957, S. 107. 169) Abdruck bei Klaus von Schubert (Hg.): Sicherheitspolitik
der Bundesrepublik Deutschland. Dokumentation 1945-1977, Teil 1, Bonn 1977, S.79-85. Zu Entstehung und Inhalt der Memoranden vgl. L. Herbst: Option für den Westen, S.95f. H.-P. Schwarz: Ära Adenauer 1949-1957, S. 114-116. -Ders.: Adenauer 1876-1952, S.764f. -J. Vogel: Kirche und Wiederbewaffnung, S. 12lf. 17°) Vgl. L. Herbst: Option für den Westen, S.95f. Siehe auch H.-P. Schwarz, Adenauer 1876-1952, S.737-774. 171) Vgl. die detaillierte Darstellung über die Vorgänge im Kabinett bei H.-P. Schwarz: Adenauer 1876-1952, S.764-773. 172) Zu Adenauers Lagebeurteilung vgl. dessen Memoiren (Konrad Adenauer: Erinnerungen 1945-1953, Stuttgart 1965, S.373Í.) sowie die ausführliche Schilderung bei H.-P. Schwarz: Adenauer 1876-1952, S.728-735. Gustav Heinemann legte seine Sicht der Vorgänge, die zu seinem Rücktritt geführt hatten, in dem „Memorandum über die deutsche Sicherheit" vom U.September 1950 dar (KJ 77 [1950], S. 185, auch Europa Archiv 5, [1950], S.3594-3596). Vgl. auch Gustav W. Heinemann: Was Dr. Adenauer vergißt. Notizen zu einer Biographie, in: Frankfurter Hefte 11 (1956), S.455-472, hier S.462^165; zur Argumentation Heinemanns siehe auch J. Müller: Gesamtdeutsche Volkspartei, S. 47-80. D. Koch: Heinemann, S. 182-193. -MartinLotz: Evangelische Kirche 1945-1952. Die Deutschlandfrage. Tendenzen und Positionen, Stuttgart 1992, S.66-68. H.-P. Schwarz: Ära Adenauer 1949-1957, S. 123f. J. Vogel: Kirche und Wiederbewaffnung, S. 120-123. K. Herbert: Kirche zwischen Aufbruch und Tradition, S. 176-178. Andreas Hillgruber: Heinemanns evangelisch-christlich begründete Opposition gegen Adenauers Politik 1950-1952, in: Politik und Konfession. Festschrift für Konrad Repgen zum 60. Geburtstag, hrsg. von Dieter Albrecht u.a., Berlin 1983, S.503-517. 173) Bereits seit dem Frühjahr 1948 wurden in der SBZ Teile der Volkspolizei in kasernierte und militärisch ausgebildete Verbände umgewandelt; vgl. dazu den Sammelband von Bruno Thoss (Hg.): Volksarmee schaffen ohne Geschrei! Studien zu den Anfangen einer „verdeckten Aufrüstung" in der SBZ/DDR 1947-1952 (Beiträge zur Militärgeschichte, Bd.51), München 1994, hier besonders den Beitrag von Wolfgang Eisen: Zu den Anfängen der Sicherheits- und Militärpolitik der SED-Führung 1948 bis 1952, ebd., S. 141-204. -
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//. Der Kronberger Kreis
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der UdSSR im Falle einer deutschen „Remilitarisierung". Außerdem kein Vertrauen in Adenauers Westintegrationskonzept, das seiner Meinung nach die Wiedervereinigung der beiden deutschen Teilstaaten auf unabsehbare Zeit verschiebe, statt sie voranzutreiben. Für die Ablehnung eines westdeutschen Verteidigungsbeitrages führte Heinemann darüber hinaus auch geschichtstheologische Argumente ins Feld: Gott habe den Deutschen zwei Mal die Waffen aus der Hand geschlagen, nun dürften sie nicht erneut nach militärischen Mitteln greifen, sondern müßten das von Gott auferlegte Strafgericht annehmen. Adenauer zeigte sich von dieser Deutung „aufs höchste irritiert",174 war sie doch mit seinem katholisch geprägten Weltbild, in dem ein Verteidigungskrieg als legiti-
tivkrieg
setzte er
mer,
gerechter Krieg galt, gänzlich unvereinbar.175
Am 9. Oktober schied Heinemann aus dem Kabinett aus; sein Rücktritt wirkte wie ein Fanal. Als Präses der gesamtdeutschen Synode der Evangelischen Kirche gehörte er zu den bekanntesten Repräsentanten der EKD. Um ihn und Niemöller formierte sich in der Folgezeit der außerparlamentarische Widerstand gegen Adenauers Wiederbewaffnungspläne. Die Gegner der Regierungspolitik kamen dabei nicht nur aus den Reihen der evangelischen Kirche, sondern aus ganz unterschiedlichen Lagern. Nationale Rechte waren darunter ebenso zu finden wie Kommunisten, prinzipielle Pazifisten und Neutralisten.'76 Mit zahlreichen Aktionen versuchte diese heterogene Opposition Druck auf die Regierung und den Bundestag auszuüben. Dazu gehörten Demonstrationen und Kundgebungen sowie die Initiative für eine Volksbefragung gegen die „Remilitarisierung".177 Die „Ohne-mich"Bewegung zog allerdings nur kurzzeitig die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich und ebbte unter dem Eindruck des Kriegsverlaufs in Korea bald ab. Der fortbestehende Widerstand aus den Reihen der evangelischen Kirche bedeutete demgegenüber eine ernsthaftere Gefahr für die Wiederbewaffnungs- und Westintegrations-
174)
H.-P. Schwarz: Adenauer 1876-1952, S.773. Der Kanzler nutzte die geschichtstheoloHeinemanns später, um seinen ehemaligen Innenminister als weltfremden Idealisten erscheinen zu lassen, dessen politische Alternative in passivem Hinnehmen des Gegebenen bestanden habe; vgl. dazu Anselm Doering-Manteuffel: Konrad Adenauer Jakob Kaiser Gustav Heinemann. Deutschlandpolitische Positionen in der CDU, in: Die Republik der fünfziger Jahre. Adenauers Deutschlandpolitik auf dem Prüfstand, hg. Rainer Zitelmann: Gustav W. Heinemann: von Jürgen Weber, München 1989, S. 18^46. „Wenn ich nach Berlin will, steige ich nicht in einen Zug nach Paris ein." in: Adenauers Gegner. Streiter für die Einheit (Reihe Extremismus und Demokratie, Bd. 2), ErlangenBonn-Wien 1991, S.87-114, hier S.94f. Diether Koch wertet die religiösen Motive zum entscheidenden Faktor in Heinemanns politischen Überlegungen auf und kommt zu dem Schluß: „Sein [Heinemanns. Th. S.] Glaube verstärkte ,nur' die Beweiskraft rein rationaler Argumente." (D. Koch: Heinemann, S. 191). Das kann allerdings nur für denjenigen gelten, der wie Koch die religiösen Prämissen Heinemanns teilt. Für alle übrigen mußte die Überzeugungskraft der rationalen Argumente genügen. Als Beweis dafür, daß Heinemann das bessere politische Konzept besessen habe, taugt Kochs Gedankenführung daher nicht. 175) Vgl. H.-P. Schwarz: Adenauer 1876-1952, S.728. 176) Vgl. E. Nolte: Deutschland und der Kalte Krieg, S.296-313. 17?) Zu der geplanten und schließlich vom Bundesinnenministerium verbotenen Volksbefragung zur Wiederbewaffnung vgl. Hans Karl Rupp: Außerparlamentarische Opposition in der Ära Adenauer. Der Kampf gegen die Atombewaffnung in den fünfziger Jahren. Eine Studie zur innenpolitischen Entwicklung der BRD (Sammlung Junge Wissenschaft), Köln 1970, S.52f.
gische Argumentation
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3. Die Denkschrift zur
Wiederbewaffnung
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politik des Bundeskanzlers. Eine kirchenamtliches „Wort" mit einer eindeutigen Stellungnahme der EKD gegen den Wehrbeitrag drohte den zu dieser Zeit ohnehin relativ schwachen Rückhalt der Regierung Adenauer in der Bevölkerung weiter zu schwächen.178 Zudem standen mit Heinemann und Niemöller zwei prominente Sprecher an der Spitze der evangelisch-kirchlichen Opposition, die sowohl religös-ethische wie konfessionell-nationale Argumente gegen die Regierungspolitik ins Feld führten. Damit hofften sie den evangelischen Bevölkerungsteil gegen Adenauers Kurs einnehmen zu können und die Evangelischen in der CDU und unter ihren Wählern von einer weiteren Unterstützung der Wiederbewaffnungspolitik des Kanzlers abzubringen.179 Allein diese Strategie schien Aussicht auf Erfolg zu versprechen, denn über direkten politischen Einfluß in Parteien und Parlamenten verfügten die evangelischen Wiederbewaffnungsgegner nicht. Damit war der politische Streit innerhalb der evangelischen Kirche programmiert. Seine besondere Brisanz erhielt er dadurch, daß die latenten Spannungen zwischen den verschiedenen kirchlichen Gruppierungen nun offen zum Ausbruch kamen. Die EKD hatte seit Beginn der Auseinandersetzungen um den deutschen Verteidigungsbeitrag versucht, möglichst neutral zu bleiben, um den Kirchenbund keiner Zerreißprobe auszusetzen. Außerdem hatte sie als gesamtdeutsche Großorganisation auch auf ihre Mitglieder in der DDR Rücksicht zu nehmen. Nach Ausbruch des Koreakrieges gab der Rat der EKD im August auf dem Kirchentag in Essen eine Erklärung zur Wiederbewaffnung ab, in der Staaten ein ausreichender Polizeischutz zugebilligt wurde, um den Frieden zu verteidigen, in der es aber auch hieß: „Einer Remilitarisierung Deutschlands können wir das Wort nicht reden, weder was den Westen noch den Osten angeht."180 Mit dieser Formulierung wich die EKD einer eindeutigen Stellungnahme zu einem militärischen Beitrag der Bundesrepublik aus und blieb damit auf der Linie des Friedenswortes der Synode in Berlin-Weißensee.181 Da die Erklärung völlig gegensätzliche Interpretationen zuließ,182 erfüllte sie zunächst ihren Hauptzweck, die innerkirchlichen Gräben nicht weiter zu vertiefen. Mit der von Gustav Heinemann ausgelösten Kabinettskrise und dem späteren Rücktritt des Innenministers im Herbst 1950 verschärften sich jedoch auch die internen Auseinandersetzungen in der EKD zunehmend.183 Heinemanns Oppositi-
178) Hans-Peter Schwarz hat aus diesem Grund das Kapitel über das Amtsjahr 1951 mit dem Titel „Im Dauertief' überschrieben (H.-P. Schwarz: Adenauer 1876-1952, S.776796). Helmut Gollwitzer meinte, eine eindeutige Stellungnahme der EKD gegen die Wiederbewaffnung hätte „jedenfalls die Pläne Adenauers, nämlich die Westintegration, enorm erschwert"; Interview mit Helmut Gollwitzer, abgedruckt unter dem Titel „Brückenschlag zur Wiederbewaffnung" in: Aktuelle Gespräche, H. 3, 37 (1989), S. 13-16, hier, S. 14. 179) Vgl. Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik, Bd. 2, S.539. 18°) Die Erklärung wurde am 27.8. 1950 veröffentlicht, vgl. KJ 77 (1950), S. 165f. 181) Zum Friedenswort der Synode von Berlin-Weißensee vgl. J. Vogel: Kirche und Wiederbewaffnung, S. 103-116. 182) Wiederbewaffnungsgegner konnten die Erklärung als entschiedene Absage an einen westdeutschen Verteidigungsbeitrag deuten; Anhänger der Regierungspolitik interpretierten sie dahingehend, daß es nicht verboten sei, auf eine vorangegangene Aufrüstung der DDR mit der Aufstellung westdeutscher Militärkräfte zu reagieren. 183) Zu den Ereignissen vom Herbst 1950 und den verschiedenen Veröffentlichungen in deren Verlauf vgl. J. Vogel: Kirche und Wiederbewaffnung, S. 130-141.
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//. Der Kronberger Kreis
onskurs gegen den Kanzler wurde publizistisch unterstützt vom Bruderrat der EKD, der am 29. September das „Wort des Bruderrates der EKiD zur Wiederaufrüstung" veröffentlichte. Darin wurde vor einer Wiederbewaffnung gewarnt, da sie die Spaltung des Landes vertiefen und die sozialen Probleme in der Bundesrepublik verschärfen werde.184 Das Wort des Bruderrates präzisierte zwar im Blick auf die aktuelle politische Situation die Ratserklärung vom Essener Kirchentag, indem es sowohl die Aufstellung eigener westdeutscher Verbände wie deutscher Kontingente innerhalb einer westeuropäischen Armee verwarf, die Formulierungen blieben jedoch moderat. Das war in dem Offenen Brief Martin Niemöllers an den Bundeskanzler ganz anders.185 Der hessen-nassauische Kirchenpräsident behauptete nicht nur, daß bereits „Rüstungsaufträge an die deutsche Industrie"186 für eine künftige deutsche Streitmacht ergangen seien, sondern kritisierte auch in scharfer Form das Grundgesetz und das politische System der Bundesrepublik: „Diese Verfassung ist ja so geschickt gearbeitet, daß das deutsche Volk wieder in einen Krieg hineingestürzt werden kann, ohne daß es zuvor überhaupt gefragt wird." Da der 1949 gewählte Bundestag nicht zur Entscheidung über die Aufstellung einer Armee legitimiert sei, komme ein solcher Beschluß „einem Volksbetrug gleich". Niemöller verlangte Neuwahlen unter dem vorrangigen Aspekt der Wiederbewaffnung als Ersatz für eine im Grundgesetz nicht vorgesehene „echte Befragung der Bevölkerung des Bundesgebietes." Er kündigte zugleich an, daß „sich evangelische Christen jeder Remilitarisierung praktisch widersetzen", notfalls auch verfassungsrechtliche Bestimmungen mißachten würden. Räume ihnen „die Bundesverfassung" das Widerstandsrecht nicht ein, „so werden wir uns wieder einmal darauf berufen müssen, daß man Gott mehr gehorchen muß als den Menschen." Niemöllers Offener Brief erschien anläßlich eines Treffens der Bruderschaften der Bekennenden Kirche187 und wurde von einer Handreichung an die Gemeinden und einem weiteren Offenen Brief der Kirchlichen Bruderschaften flankiert. Alle drei Schreiben waren zusammen mit dem Wort des Bruderrates zur Wiederaufrüstung in dem Flugblatt „An die Gewehre? Nein!"188 enthalten, das zu einer Krise des Reichsbruderrates führte, weil nicht alle Mitglieder Vorgehensweise und Argumentation Martin Niemöllers und der Kirchlichen Bruderschaften teilten.189 Da Vermittlungsversuche zwischen den unterschiedlichen Anschauungen ergebnislos
blieben,
„schmolz der Reichsbruderrat immer stärker zu der kirchenpolitischen ,Gruppe' zusammen, die Niemöller in ihm schon lange gesehen hatte, und wurde so zusammen mit den jungen
184) Vgl. ebd., S. 133-141. D. Koch: Heinemann, S.207f. K Herbert: Kirche zwischen Aufbruch und Tradition, S. 178f. 185) Text im KJ 77 (1950), S.174f., bei D. Buchhaas-Birkholz: Zum politischen Weg, S. 134f., und im Europa Archiv, 5 (1950), S.3584Í. 186) Dieses und die folgenden Zitate sind dem Abdruck des Niemöller-Briefes bei D. Buchhaas-Birkholz: Zum politischen Weg, S. 134f„ entnommen. 187) In den Bruderschaften sammelten sich vorwiegend junge, linksorientierte Mitglieder der BK. Sie trugen in der Folgezeit die entschiedene Opposition gegen die Wiederbewaffnungs- und Westintegrationspolitik. 188) Text im KJ 77 (1950), S. 196. 189) Vgl. J. Vogel: Kirche und Wiederbewaffnung, S. 134f. -
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3. Die Denkschrift zur Bruderschaften der eigentliche
nung."190
Wiederbewaffnung
84
Träger der kirchlichen Opposition gegen die Wiederbewaff-
Die Aktionen der Remilitarisierungsgegner erregten in der Öffentlichkeit und innerhalb der Kirche erhebliches Aufsehen und blieben nicht unwidersprochen. Da es sich vornehmlich um einen Streit innerhalb der evangelischen Kirche handelte, traten die evangelischen CDU-Mitglieder zur Verteidigung der Regierungspolitik auf den Plan. Die evangelischen Delegierten des CDU-Parteitages in Goslar verurteilten das Vorgehen Niemöllers und seiner Mitstreiter.191 Auch aus den lutherischen Landeskirchen erfolgte öffentlicher Widerspruch: Die Bayerische Landeskirche und die Synode der Evangelisch-Lutherischen Kirche von Hannover distanzierten sich von den Wiederbewaffnungsgegnern.192 Als Ende Oktober ein Treffen zwischen Vertretern der Bekennenden Kirche und SPD-Mitgliedern stattfand, das Spekulationen über ein Bündnis zum Sturz der Regierung Adenauer nährte, war es höchste Zeit für einen Versuch, die Wogen zu glätten. Die Erklärung des Rates der EKD vom 17.November 1950 beschwor die Einheit der evangelischen Kirche trotz starker Spannungen und stellte bezüglich der Wiederbewaffnung fest: „Die Frage, ob eine wie immer geartete Wiederaufrüstung unvermeidlich ist, kann im Glauben verschieden beantwortet werden."193 Mit dieser Erklärung rückte die EKD von der in Essen eingenommenen Position ab; das Gewicht neigte sich zugunsten der Wiederbewaffnungsbefürworter. Immerhin manövrierte die Kompromißformel die EKD für einige Zeit in ruhigeres Fahrwasser. Erst Ende 1951 zog ein neuer Sturm herauf. Eberhard Müller, der die Aktivitäten der Wiederbewaffnungsgegner mißtrauisch beobachtete, setzte sich an die Spitze ihrer innerkirchlichen Opponenten.'94 Er glaubte eine Verschwörung am Werk, bei der die von Heinemann gegründete „Notgemeinschaft für den Frieden Europas" eine „große Volksbewegung inszenieren" werde und sich dabei auf die Beschlüsse der Tutzinger Ratstagung berufen wolle.195 In Tutzing war auf Antrag des Reichsbruderrates ein Ausschuß zur Vorbereitung einer kirchlichen Stellungnahme zur Kriegsdienstverweigerung einge-
l9°) Ebd., S.135. Vgl. auchA. Baring: Außenpolitik, S.211. 191) Vgl. den Abdruck der Entschließung im .Rheinischen Merkur' vom 28.10. 1950, S.2. 192) J. Vogel: Kirche und Wiederbewaffnung, S. 131. -R. Stupperich: Dibelius, S.449. K
Herbert: Kirche zwischen Aufbruch und Tradition, S. 181. 193) KJ 77, (1950), S.222. Vgl. 7. Vogel: Kirche und Wiederbewaffnung, S. 129f. und 145f. -D. Koch: Heinemann, S.219-223. -R. Stupperich: Dibelius, S.449L-Ä:. Herbert: Kirche zwischen Aufbruch und Tradition, S. 185f. Nach Meinung Vogels wurde mit der Ratserklärung „die Wiederbewaffnungsfrage zur reinen Ermessensfrage heruntergespielt" (S. 148). Stattdessen hätte sich die EKD nach Meinung der Autorin mit der „politischen Sachfrage" der Wiederbewaffnung auseinandersetzen müssen (S. 153) und die Argumente Gustav Heinemanns und Karl Barths würdigen sollen. Die Antwort, wie bei den gravierenden politischen Differenzen eine Einigung innerhalb der EKD hätte aussehen können, bleibt die Verfasserin allerdings schuldig. 194) Zu Eberhard Müllers Rolle im Wiederbewaffnungsstreit und der Rolle, die die Akademie in Bad Boll dabei spielte, vgl. die beiden Aufsätze C. Nasser: Engagement, sowie U. Walter: Welt in Sünde. 195) Vgl. E. Müller an H. Lilje, 14.9. 1951, EABB, Korr. 1945-1954, sowie E. Müller an O. Dibelius, Bad Boll, 30.11. 1951, EABB, AZ 29 A. -
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//. Der Kronberger Kreis
setzt worden.196 Müller befürchtete eine Kampagne zur massenhaften Kriegsdienstverweigerung und nahm dies zum Anlaß, seinerseits öffentlichkeitswirksam gegenzusteuern.197 In seiner Eigenschaft als Vorsitzender des Leiterkreises der Evangelischen Akademien lud er die Führer der Evangelischen Kirche zu einem Gespräch mit Bundeskanzler Adenauer am 5.November 1951 nach Königswinter ein.198 Die Einladung war an Vertreter der verschiedenen kirchlichen Gruppierungen ausgesprochen worden,199 nicht jedoch an Heinemann und Niemöller. Die Entscheidung, die Führungspersönlichkeiten der kirchlichen Opposition zu dem Treffen nicht hinzuzubitten, war taktisch bestimmt. Die Anwesenheit der Hauptgegner der Wiederbewaffnungspolitik hätte das von Müller angestrebte Ziel gefährdet, die Befürworter der Regierungspolitik unter den Kirchenführern zu stärken. Außerdem ist fraglich, ob sich Adenauer zu einem Treffen mit seinen Hauptkontrahenten aus det evangelischen Kirche überhaupt bereit gefunden hätte.200 So aber endete das Gespräch, bei dem Adenauer in einem einstündigen Vortrag seine Politik erläuterte, „mit einem vollen Erfolg des Kanzlers".201 Müller rechtfertigte sich später gegenüber Heinemann mit vorgeschobenen Argumenten für sein Vorgehen: Staatssekretär Lenz vom Bundeskanzleramt habe von einer Einladung Heinemanns abgeraten, da ohnehin ein Treffen zwischen dem früheren Innenminister und dem Bundeskanzler bevorstehe, in dem die persönlichen Spannungen zwi-
schen beiden
ausgeräumt werden sollten. Außer Heinemann sei
nur
Niemöller
l96) Vgl. J. Vogel: Kirche und Wiederbewaffnung, S. 162f. I9?) Eberhard Müller hatte schon früher keinen Hehl daraus gemacht, daß er die Haltung der
Wiederbewaffnungsgegner ablehnte.
Seine Zeitschriftenartikel („Hat Niemöller recht?" im .Deutschen Pfarrerblatt' vom 1.11. 1950 und „Traf Niemöller ins Schwarze" in der ,Neuen Furche' vom November 1950) fanden aber nur innerkirchlich Resonanz. Vgl. zu den Reaktionen die Korrespondenz mit Kritikern, EABB, AZ 29 B.
I98) Das Königswinterer Gespräch und die darauf folgenden Auseinandersetzungen sind behandelt bei 7. Vogel: Kirche und Wiederbewaffnung, S. 164-166. K. Herbert: Kirche zwischen Aufbruch und Tradition, S. 190-192. D. Koch: Heinemann, S.294-296. C. Nasser: Engagement, S.178f. A. Baring: Außenpolitik, S.215Í. U. Walter: Welt in Sünde, S. 126f. -Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik, Bd. 2, S.544f. Eberhard Müllers Darstellung der Ereignisse und seiner Rolle dabei E. Müller: Widerstand, S. 126. '") Von den Mitgliedern des Kronberger Kreises nahmen außer Eberhard Müller Reinold von Thadden und Johannes Doehring auf kirchlicher Seite sowie Robert Pferdmenges als Begleiter des Bundeskanzlers an der Begegnung teil. Hanns Lilje war eingeladen, aber verhindert. Ob Robert Tillmanns im November 1951 bereits zum Kronberger Kreis gehörte, ist fraglich (vgl. die „Einladungsliste für die Besprechung in Königswinter am 5.11. 1951" sowie den Entwurf Karl Lohmanns vom epd zu einem Bericht über das Treffen; beide Dokumente EABB, AZ 53, 2,1). 20°) Über den Inhalt der von Robert Tillmanns vermittelten Vorbereitungstreffen Müllers mit Staatssekretär Lenz und dem Kanzler liegen keine Informationen vor; zur Vermittlerrolle von Tillmanns vgl. E. Müllers Briefe an O. Dibelius vom 9.10. 1951 sowie an R. Tillmanns vom 8.10. 1951 (beide Schreiben o. Ort, EABB, AZ 53, 2,1). 201 ) Entwurf zu einem vertraulichen Bericht Karl Lohmanns vom epd über das Königwinterer Treffen; EABB. AZ 53, 2,1. Lohmann, dessen Darstellung von Eberhard Müller kritisiert wurde (vgl. E. Müller an Landesbischof Bender, o. Ort, 12.11. 1951, ebd.), führte den Erfolg Adenauers darauf zurück, daß Dibelius dem Kanzler „nur in sehr diplomatischen Formen Widerpart" geboten habe. Vgl. das Protokoll von Hans-Rudolf Müller-Schwefe (LkA Hannover, L 3 III, 444), das auch bei E. Müller: Widerstand, S. 127-130, abgedruckt ist. -
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3. Die
Denkschrift zur Wiederbewaffnung
9!
„absichtlich" nicht eingeladen worden, da es „uns fraglich erschien, ob wir vom Kanzler die vertraulichen Auskünfte bekommen, die wir zu bekommen wünschten, wenn er dabei ist."202 Als erfahrener Politiker durchschaute Heinemann das Manöver seiner Widersacher, ohne allerdings zu wissen, daß Müller direkt an diesem Ränkespiel beteiligt war. Heinemann vermutete vielmehr, die Teilnehmer des Treffens seien vom Bundeskanzler ausgespielt worden.203 Selbst als die Berichte
Müllers über das Königswinterer Gespräch in der Presse erschienen,204 glaubte der frühere Innenminister noch, Müller sei Lenz auf den „Leim"205 gegangen. Allerdings war ihm seither klar, daß seine innerkirchlichen Gegner das Königswinterer Treffen zur „Meinungsmache" nutzten, um in der Öffentlichkeit den Eindruck zu erwecken, als habe „die große Verständigung der evangelischen Kirche mit dem Bundeskanzler" stattgefunden.206 Heinemann traf mit dieser Einschätzung genau den Tenor von Müllers Berichterstattung.207 In einem Schreiben an Heinemann gab Müller dann offen zu, den Kampf gegen die Wiederbewaffnungsgegner aufgenommen zu haben und kündigte an, ihn auch weiterführen zu wollen:
„Ich gestehe ganz offen, daß ich bewußt gegen die einseitige politische Beeinflussung der Kirche durch Sie, Niemöller und Mochalski zu arbeiten versuche. [...] Solange von der
Niemöller'schen Seite der bisherige Weg weitergegangen wird und lediglich aus Gründen abweichender politischer Auffassungen im Raum der Kirche gegen den politischen Weg des Bundeskanzlers agitiert wird, werde ich fortfahren, alles, was in meinen Kräften steht, zu tun, um Brücken des Vertrauens zwischen dem Bundeskanzler und den führenden Männern der Kirche zu bauen."208
202) 203)
E. Müller an G. Heinemann, (Abschrift), Bad Boll, 8.11. 1951, EABB, AZ 29 A. In dem Brief heißt es: „Ich bin offengestanden traurig, daß man Dr. Adenauer das Spiel so leicht macht, daß es nicht einfach eine Selbstverständlichkeit ist, daß die Evangelischen sich nicht immer einer gegen den anderen ausspielen lassen." G. Heinemann an E. Müller (Abschrift), o. Ort, 23.11. 1951, EABB, AZ 29 A. 2a4) Vgl. die Darstellung Müllers in den .Stuttgarter Nachrichten' vom 9.11. 1951, der .Frankfurter Neuen Presse' vom 13.11. 1951, in .Christ und Welt' zwei Tage später (Zeitungsausschnitte EABB, AZ 53, 2,1), in der Zentralausgabe des epd Nr.265 vom 15.11. 1951 (LkA Hannover, L 3 III, 444) sowie unter dem Titel „Politik heißt Verwirklichung" als Sonderdruck aus ,Die neue Furche' (EABB, AZ 29 A). Ursprünglich war zwischen den Teilnehmern des Gesprächs Vertraulichkeit vereinbart worden (vgl. D. Koch: Heinemann, S.295). Müller rechtfertigte sein Vorgehen Bischof Dibelius gegenüber mit dem Hinweis, daß durch Meldungen von Presseagenturen und die Pressekonferenz der Teilnehmer die Öffentlichkeit ohnehin bereits informiert gewesen sei. Er habe mit seiner Darstellung nur das Bild zurechtrücken wollen, das die Presse gezeichnet habe (E. Müller an O. Dibelius, o. Ort, 19.12. 1951, EABB, AZ 23, Korr. 1951-1960). 205) So G. Heinemann an E. Müller, Essen, 10.12. 1951, EABB, AZ 29 A. 206) Beide Zitate aus dem Brief G Heinemanns an E. Müller (Abschrift), o. Ort, 2.12. 1951, EABB, AZ 29 A. 207) Über die sachliche Richtigkeit und politische Opportunität der Presseberichterstattung Müllers nach dem Treffen in Königswinter entspann sich eine Kontroverse zwischen dem Boiler Akademieleiter und seinen Gegnern, die sich bis Mitte Februar 1952 hinzog. Vgl. dazu die Korrespondenz zwischen Müller und Heinemann, Linz und Dibelius, EABB, AZ
53,2,1.
208)
E. Müller
an
G. Heinemann,
(Abschrift), Bad Boll, 6.12. 1951, EABB, AZ 29 A.
//. Der Kronberger Kreis
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höchst zufrieden mit der öffentlichen Resonanz auf das
Müller
Königswinterer
Treffen209 plante weitere ähnliche Aktionen gegen Heinemann und Niemöller.210 -
Die offizielle Maßregelung durch den Rat der EKD wegen der Berichterstattung über Königswinter hatte ihn ebensowenig beeindruckt wie die kritischen Stimmen aus dem Umfeld Niemöllers;2" unbeirrt setzte er seinen Kampf gegen die Wiederbewaffnungsgegner fort. Im Kronberger Kreis fand Müller dabei die Unterstützung Gleichgesinnter. Bei dessen erster Sitzung am 25. und 26. November 1951 hatten sich die Teilnehmer nicht nur darauf geeinigt, eine gemeinsame Verlautbarung zur Wiederbewaffnungsdiskussion auszuarbeiten, sondern auch schon erste inhaltliche Gesichtspunkte diskutiert. Das folgende Treffen am 19. und 20. Januar 1952 sollte ausschließlich dem Zweck dienen, eine Entschließung zu formulieren, die von allen mitgetragen werden konnte. Daß dies nicht einfach werden würde, war bereits bei dem Treffen im November deutlich geworden. Die Meinungen der einzelnen Mitglieder über Inhalt und Ziel einer Denkschrift zum Wehrbeitrag lagen weit auseinander.212 Eberhard Müller befürwortete ein Schreiben an den Rat der EKD, das vor einer falschen Politisierung der Kirche warnen und den Einzelnen mahnen sollte, bei der äußeren und inneren Sicherung des Staates mitzuwirken. Der Brief müsse deshalb den „Ohne-mich-Standpunkt" kritisch beleuchten und für eine Integration der jungen Generation und der Soldatenverbände in den Staat werben; gleichzeitig sei bei einer solchen Anlage des Schreibens die Möglichkeit gegeben, die Frage nach der Staatsautorität zu thematisieren. Ernst Friedlaender wollte den Schwer-
209)
E. Müller schrieb am 7.11. 1951 an H. Lilje: „Wir haben in Königswinter ein wirklich ausgezeichnetes Gespräch mit dem Kanzler gehabt, das Pferdmenges und auch andere Politiker Thadden gegenüber als ganz hervorragend rühmten." (EABB, Korr. 1945-1954). Vgl. dazu den Brief von Staatsekretär Lenz an Eberhard Müller, Bonn, 19.11. 1951, indem es heißt: „Ich freue mich, daß auch Ihrer Auffassung nach der Nachmittag in Königswinter gute Früchte getragen hat [...]" (EABB, AZ 53, 2,1). Auch Kirchentagspräsident Reinold von Thadden wertete das Treffen positiv: „[...] ich denke noch gern an den Nachmittag in Königswinter zurück und bin durch nachfolgende Gespräche in Essen noch mehr in dem Eindruck bestärkt, daß dieser Versuch eines kirchlichen Gesprächs mit der Bundesregierung wesentlich höher zu bewerten ist, als der ähnliche neulich in Loccum." (R.v. Thadden an E. Müller, Fulda, 8.11. 1951, EABB, AZ 26/2, Korr. 1949-1961).
21°) Gemeinsam mit Staatssekretär Lenz hatte Müller im November zwei weitere Gespräche ins Auge gefaßt. Adenauer sollte sich mit der evangelischen Jugend treffen und auch mit den Evangelischen Freikirchen zusammenkommen (E. Müller an O. Lenz, Bad Boll, 23.11. 1951, EABB, AZ 53, 2,1). Vgl. auch das Schreiben Müllers an Landesbischof Bender, o. Ort, 12.11. 1951, in dem er ankündigte, „die Linie, die wir mit dem Königswinterer Gespräch begonnen haben, weiterzuführen." (Ebd.). 2") Vgl. den Brief des Ratsvorsitzenden O. Dibelius an E. Müller, Berlin, 13.12. 1951 (Abdruck im Septemberheft der .Aktuellen Gespräche', H. 3, 37 [1989]) und das Antwort- und Rechtfertigungsschreiben Müllers an Dibelius, o. Ort, 19.12. 1951 (EABB, AZ 23, Korr. 1951-1960). Siehe weiter die Schreiben von Präses E. Wilm, Bethel bei Bielefeld, 16.1. 1952, die Antwort Müllers, o. Ort, 16.1. 1952; H. Stempel an E. Müller, Speyer, 17.12. 1951, die Entgegnung Müllers, o. Ort, 19.12. 1951; H. Kloppenburg an E. Müller, Oldenburg, 3.1. 1952, die Erwiderung, o. Ort, 11.1. 1952 und eine ganze Reihe weiterer Briefe (alle Schriftstücke EABB, AZ 29 A). Vgl. auch 7. Vogel: Kirche und Wiederbewaffnung, S. 165f. C. Nasser: Engagement, S. 178f. 2'2) Die folgende Zusammenfassung des Diskussionsgangs beruht auf dem Protokoll E. Ruppels vom 27.11. 1951, LkA Hannover, N 60, 374. -
3. Die
Denkschrift zur Wiederbewaffnung
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punkt ganz anders gesetzt wissen. Er kritisierte die von Eberhard Müller vorgeschlagene Stoßrichtung gegen die „Ohne-mich-Bewegung" als einseitig und setzte sich für eine Denkschrift an die Bundesregierung ein, da sie sich über die Sorgen der Bevölkerung einfach hinwegsetze. Der Bankier Friedrich Ernst, Vizepräsident der Synode der Altpreußischen Union, wie auch der Vorsitzende des Oberlandesgerichts Celle, Freiherr von Hodenberg, gaben zu bedenken, daß dem „Ohnemich-Standpunkt" nicht von vornherein egoistische Motive zugrunde liegen müßten, sondern daß er auch das Ergebnis einer ernsthaften Gewissensprüfung sein könnte. Otto Küster schließlich forderte eine Abwägung der Argumente aller christlichen Gruppen; die Positionen Heinemanns und Niemöllers müßten einbezogen und theologisch überprüft werden. Er, der sich selbst als einer der „Linken" im Kreis bezeichnete,213 machte auch einen ersten konkreten Vorschlag, wie die Stellungnahme aufgebaut sein könnte: Nach einer kritischen Beleuchtung des „Ohne-mich-Standpunktes" und seiner möglichen Motive, sollte Verständnis für die Haltung der Jugend geäußert werden; danach sei Heinemanns Argument, Gott habe dem Volk die Waffen aus der Hand geschlagen, ernsthaft zu prüfen. Da die Oder-Neiße-Linie den Deutschen von Gott nicht ohne Grund auferlegt sei, müsse auch vor allzu raschen Bestrebungen zur Zurückgewinnung der Ostgebiete ge-
mahnt werden.214 Aufgrund ihrer besonders engagierten Teilnahme an der Diskussion wurden die beiden Juristen Küster und Weinkauff am Ende der Sitzung beauftragt, Vorschläge für eine gemeinsame Verlautbarung auszuarbeiten, die dann bei der nächsten Zusammenkunft beraten werden sollten. Hermann Weinkauffs Entwurf lag am 5. Dezember vor und wurde den übrigen Mitgliedern zur Stellungnahme zugesandt.215 Auf vier Seiten hatte der Karlsruher Bundesrichter einen Denkschriftentwurf „Zur deutschen Wiederbewaffnung"216 konzipiert. In einem einleitenden Abschnitt erläuterte er die Absicht der folgenden Ausführungen. Da der Streit um die Wiederbewaffnung die evangelische Christenheit in Verwirrung und Unsicherheit gestützt habe, gelte es, diese Frage „vom Grundsätzlichen" zu durchdenken, soweit sie „das christliche Gewissen" berühre. Fragen der politischen Zweckmäßigkeit sollten dabei außer Acht bleiben. Den zweiten Abschnitt eröffnete Weinkauff mit ordnungstheologischen Überlegungen: „Volk, Staat und Nationen sind Bestandteile der natürlichen Ordnung der Dinge, die gut sind und die sein sollen." Der Christ habe sie zu achten, zu ehren und ihnen zu dienen. Das gelte erst recht, wenn sich „Völker und Staaten zu einer höheren gerechten Friedensordnung zusammenzuschließen vermögen". Weinkauff leitete daraus das Recht ab, eine gleichberechtigte Stellung Westdeutsch-
213) Tagebuchaufzeichnung O. Küsters vom 26.11. 1951. 214) Vgl. Protokoll E. Ruppels vom 27.11. 1951, LkA Hannover, N 60, 374, und die Tage-
buchaufzeichnung O. Küsters vom gleichen Tag. 2") Der Textvorschlag wurde am 11.12. 1951 an die Mitglieder des Kreises versandt. Das
Datum wird in einem Schreiben genannt, mit dem Eberhard Müller Weinkauffs spätere Ergänzungen zum ursprünglichen Entwurf zur Kenntnis brachte (LkA Hannover, N 60, 374). ) Zwei Abschriften des Weinkauffschen Entwurfs befinden sich im LkA Hannover, N 60, 374. Aus diesen inhaltlich identischen Exemplaren wurden die folgenden Zitate entnommen.
94
//. Der Kronberger Kreis
lands zu fordern, denn nur ein Bündnis freier und gleicher Partner entspreche der natürlichen Ordnung. Der einzelne Christ sei dazu aufgerufen, im öffentlichen, rechtlichen und politischen Bereich verantwortlich mitzuarbeiten und dabei dem Recht zu dienen und dem Unrecht zu wehren. Da jedoch „innerhalb der gefallenen Schöpfung das Ungerechte, das Dämonische, die Machtgier, die Gewalt und die Unterdrückung" immer gegenwärtig seien, sei der Christ verpflichtet „der Gewalt im Dienste des Unrechts mit der Gewalt im Dienste des Rechts" entgegenzutreten. Dazu bedienten sich die Staaten der Polizei und der Streitkräfte; die Aufgabe des Einzelnen bestehe darin, den Mißbrauch der Waffen für ungerechte Zwecke zu verhindern. Im dritten Abschnitt übertrug Weinkauff diese allgemeinen Überlegungen auf die konkrete Lage Deutschlands: Das Land befinde sich infolge des Krieges, den „ein unheilvolles deutsches Regime" begonnen habe, in einer Situation der Not, der Unfreiheit und der Teilung. Die Schuld der Deutschen sah der Autor lediglich in der Tatsache, daß das Volk dieses Regime nicht habe beseitigen können. Dafür schulde es Gott Buße, den Opfern Wiedergutmachung und der Völkergemeinschaft eine Politik des Rechts und der Gerechtigkeit. Keinesfalls könne von den Deutschen dagegen das Verharren in einem Zustand geminderten Rechts, die staatliche Teilung oder Landabtretungen verlangt werden. Vielmehr sei alles rechtlich Erlaubte daran zu setzten, Deutschland zur Gleichberechtigung und auf den ihm zustehenden Platz in der Völkerfamilie zu verhelfen. Wer dagegen eine dauerhafte rechtliche Benachteiligung und Wehrlosigkeit des Landes als Gottes Strafe für Deutschland behaupte, nehme für sich prophetische Einsicht in Gottes Willen in Anspruch, könne sich aber weder auf die allgemeine christliche Lehre und Verkündigung noch auf politische Argumente berufen. Doch Weinkauff ließ es dabei nicht bewenden. Bei ihm wurde die deutsche Geschichte zum Hauptargument für die Wiederbewaffnung! Sie verpflichte, neuem Unrecht entschieden entgegenzutreten und „denjenigen Teil der Welt, der mit uns an den Grundlagen der christlich-abendländischen Kultur festhält" zu verteidigen. Ein militärischer Beitrag Westdeutschlands werde einen neuen Krieg verhindern helfen und könne deshalb nicht „in der schnöden und verächtlichen Haltung der ohne-mich-Leute" abgelehnt werden. Bezüglich einer künftigen deutschen Wiedervereinigung217 sah Weinkauff nur zwei gleichermaßen unvollkommene Alternativen: Entweder werde Westdeutschland „im Kreis der freien Völker, zu denen wir nach Herkunft und Art gehören", wiederbewaffnet und verzichte damit zunächst auf die Wiedervereinigung. Oder es entstehe ein geeinigter, waffenloser und neutraler Staat minderen Rechts, der ständig unter der Gefahr stehe, sowjetisiert zu werden oder das Schicksal Koreas zu erleiden. Beide Alternativen seien vor dem christlichen Gewissen verantwortbar. Im letzten Abschnitt, den Weinkauff Ende Dezember nachträglich erheblich erweiterte,218 ging er im Widerspruch zur Einleitung seines -
-
-
217)
Die Deutsche Frage wird hier nur am Rande behandelt, da ihr weiter unten in dieser Studie ein eigenes Kapitel (III.2.) gewidmet ist. 218) Weinkauff legte seinem Schreiben an Eberhard Müller vom 31.12. 1952 die Seiten 57 mit der erweiterten Fassung seines Entwurfes bei (EABB, AZ 90/2), deren Abschrift von Bad Boll aus an die Mitglieder des Kreises versandt wurde (vgl. LkA Hannover, N 60, 374).
3. Die Denkschrift zur
Wiederbewaffnung
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Entwurfes auf Überlegungen der politischen Zweckmäßigkeit ein. Darin widersprach er der Auffassung, daß die westdeutsche Wiederbewaffnung die Kriegsgefahr erhöhe und warnte Vertreter der evangelischen Kirche davor, religiöse und politische Argumente zu vermischen und ihr kirchliches Amt für politische Zwecke zu mißbrauchen. Weinkauffs Text blieb bei den übrigen Mitgliedern des Kronberger Kreises nicht unwidersprochen. In den schriftlichen Äußerungen, die vor der entscheidenden Beratung in Kronberg eingingen, wurden bereits die Differenzen deutlich, die auch die spätere Diskussionsrunde entzweien sollten. Freiherr von Hodenberg warnte davor zu glauben, Christen könnten den Mißbrauch von Waffen tatsächlich verhindern; die geschichtliche Erfahrung lehre genau das Gegenteil. Außerdem betonte Hodenberg, daß es keine Antwort vom Evangelium her für die von Weinkauff aufgeworfenen Fragen gebe. Dies gelte sowohl für das generelle Problem von Krieg und Bewaffnung, das sich angesichts des Vernichtungspotentials moderner Waffen besonders dringlich stelle, wie auch für das deutsche Dilemma zwischen Wiederbewaffnung und Wiedervereinigung. Letztere sei selbstverständlich wünschens- und erstrebenswert, aber nicht aus dem Evangelium herzuleiten. Weinkauff argumentiere also politisch, auch wenn der Autor das Gegenteil behaupte. Hodenberg wiederholte deshalb am Ende seines Schreibens eindringlich die Warnung, keine im Evangelium begründeten Antworten auf rein politische Fragen zu geben. Die Kirche dürfe sich keinesfalls selbst zum „Schleppenträger der Politik" machen.219 Während bei Hodenberg die direkte Befürwortung der Wiederbewaffnungspolitik Adenauers in Weinkauffs Entwurf im Zentrum der Kritik stand, setzte Friedlaender den Akzent anders. Er konzentrierte seine Einwände auf die Frage der Alternative zwischen Einheit und Freiheit. Diese Werte seien nicht gleichrangig, wie Weinkauff behaupte, wenn er zwei unvollkommene Lösungen der Deutschen Frage gegenüberstelle. Die Entscheidung des christlichen Gewissens könne nur zugunsten der Freiheit ausfallen; wer sich wie die Neutralisten anders entscheide, irre im Gewissen.220 Grundsätzliche Kritik an Weinkauffs Überlegungen äußerte Otto Küster, der keinen eigenen Gegenentwurf verfaßt hatte, sondern sich mit einer ausführlichen Entgegnung begnügte.221 Der Stuttgarter Rechtsanwalt mahnte, die theologischen Einwände Heinemanns ernst zu nehmen und die Niederlage Deutschlands im Zweiten Weltkrieg als Strafe Gottes anzuerkennen. Weinkauff gehe einfach über diese Tatsache hinweg, gelange deshalb zu falschen Schlußfolgerungen und vermische die Begründung berechtigter Notwehr mit weiteren Aufrüstungszielen, die zwar legitim, aber nicht aus dem Evangelium begründbar seien. -
219) Stellungnahme Frhr.v. Hodenbergs, Celle, 2.1. 1952, LkA Hannover, N 60, 374. 22°) Stellungnahme E. Friedlaenders zum Entwurf Weinkauffs, Hamburg, 7.1. 1952, LkA Hannover, N 60, 374.
221
) Dabei war Küster bewußt, daß er mit seiner Auffassung in der Minderheit sein würde. „Meine Grundposition weicht wohl darin von derjenigen fast aller anderen Teilnehmer des Kreises ab, daß ich das Christliche nicht so sehr in allgemeinen Standpunkten und Werturteilen als in konkreten Aufgabenstellungen und Situationsbeurteilungen sehe." (O. Küster an H. Weinkauff, Stuttgart, 14.12. 1951, EABB, AZ 20/2).
//. Der Kronberger Kreis
96
„Im Vermengen dieser Dinge zeigt sich die im Grund ungebrochene bürgerliche Lebenssinngebung, der gemäß dann auf unsere Situation, trotz aller Einsicht in ihr Schuld- und Strafgepräge, doch nicht viel anderes als die Kategorie von .Preußens Fall und Erhebung' innerlich angewendet werden. Mit unserer Lage, wie sie wirklich ist, hat das nichts zu „222
tun.
Mit diesem massiven Vorwurf sprach Küster den Weinkauffschen Überlegungen die theologische Begründung ab und charakterisierte sie als rein innerweltliche Deutung der Geschichte, die es sogar erlauben würde, die Forderung nach Rückgewinnung der „Volksdeutschen Heimatgebiete"223 zu legitimieren. Außerdem sei bei Weinkauffs Argumentation nicht ausgeschlossen, daß „Trittbrettfahrer" die bedingt positive Stellungnahme des Kronberger Kreises zur Wiederbewaffnung mißbrauchen könnten, um Ansprüche auf eine Restitution des Deutschen Reiches zu erheben und altes militaristisches Denken wiederzubeleben. Dieser Gefahr entgehe der geplante Ratschlag, wenn er sich auf die Begründung der Notwehr konzentriere und vor „Soldatenspielerei" warne. Außerdem sollte nach Meinung Küsters auch das Recht auf Kriegsdienstverweigerung für alle ohne Angabe von individuellen Gründen in den Text einbezogen werden. Am Schluß seines Schreiben
resümierte
er:
„Alle diese Ausführungen, dies sei zum Schluß wiederholt, betreffen nur die Gewissensfragen. Ihr Ergebnis ist, daß gewissensmäßig die Bejahung einer deutschen Wiederbewaffnung möglich ist. Ob sie wirklich bejaht werden soll, hängt darüber hinaus von einer Beurteilung der realen Situation und ihrer Chancen ab. Dem Ergebnis dieser Beurteilung wollen die hier gestellten Erwägungen nicht
vorgreifen."224
Eberhard Müller verfaßte am 18. Januar 1952, dem Vortag des geplanten Treffens in Kronberg, einen eigenen Entwurf,225 der den Bedenken gegen die Weinkauffschen Ausführungen Rechnung zu tragen versuchte.226 Die ordnungstheologisch begründete Empfehlung des Verteidigungsbeitrages kam darin nicht mehr vor. Stattdessen argumentierte Müller in seinem achtseitigen Text rein politisch. In seiner ausführlichen Erörterung der weit- und deutschlandpolitischen Lage machte er unmißverständlich klar, daß für ihn die Teilnahme Deutschlands an der europäischen Verteidigung die beste Garantie für die Erhaltung des Friedens sei, und daß er aus sicherheitspolitischen Gründen allen Neutralitätsvorstellungen eine klare Absage erteile. Trotzdem, so Müllers Schluß, brauche die Kirche die Wiederbewaffnung nicht direkt zu befürworten, sondern könne in dieser politischen Ermes-
222) Stellungnahme O. Küsters zu Weinkauffs Entwurf, Stuttgart, 28.12. 1951, LkA Hannover, N
223) 224) 225)
60, 374.
Ebd. Ebd.
Eberhard Müllers Entwurf trug den Titel: „Kirche und deutscher Verteidigungsbeitrag" und ist auf den 18.1. 1952 datiert (EABB, AZ 90/3; eine identische Fassung LkA Hannover, L 3 III, 254). 226) Auch Hans Puttfarcken hatte „nicht unerhebliche Bedenken" gegen Weinkauffs Entwurf, die er Eberhard Müller mündlich mitteilte, um von einer schriftlichen Entgegnung, „die doch ziemlich scharf sein müßte", Abstand nehmen zu können. Puttfarckens Einwände lagen auf der Linie Küsters, mit dessen Kritik an den Weinkauffschen Ausführungen er im großen und ganzen einverstanden war; vgl. H. Puttfarcken an E. Müller, Wiesbaden, 9.1. 1952, EABB, AZ 90/2.
3. Die
Denkschrift zur Wiederbewaffnung
97
sensfrage die Entscheidung „den berufenen Politikern und dem Verantwortungsbewußtsein eines jeden Staatsbürgers" überlassen.227 Am Samstag, dem 19. Januar 1952, trafen sich dreizehn Mitglieder des Kronberger Kreises im Gästehaus der Stadt Frankfurt in Schönberg/Kronberg, um gemeinsam eine endgültige Textfassung zu erarbeiten. Eberhard Müller eröffnete die Diskussion und plädierte dafür, in der geplanten Denkschrift den Akzent auf die unterschiedlichen Einschätzungen der politischen Situation bei Gegnern und Befürwortern der Wiederbewaffnung zu legen, da nur auf dieser Argumentations-
ebene eine überzeugende Wirkung erreicht werden könne.228 Dem eigenen Entwurf entsprechend wollte er die Themen Frieden, sozialer Fortschritt und Einheit Deutschlands ausführlich behandelt wissen. Landesbischof Lilje widersetzte sich der pointiert politischen Ausrichtung von Müllers Text und schlug stattdessen einen dreiteiligen Aufbau vor, bei dem zuerst die geläufigen einseitigen Urteile der Wiederbewaffnungsgegner sowie anschließend die grundlegenden Erkenntnisse der Staatslehre dargestellt werden sollten. Im dritten Teil könnten dann die konkreten Schlußfolgerungen für die deutsche Friedens- und Wiedervereinigungspolitik gezogen werden. Der Kreis folgte Liljes Vorschlag und beschloß, sowohl religiöse wie auch politische Überlegungen einzubeziehen. Nach dieser Vorentscheidung wurde der Entwurf Weinkauffs verlesen und ausführlich diskutiert.229 Gleich zu Beginn der Debatte kritisierte Reinold von Thadden Weinkauffs ordnungstheologische Ausführungen, wobei er von Müller und Küster unterstützt wurde. Die gesamte Passage inklusive dem aus der natürlichen Ordnung abgeleiteten Recht auf staatliche Gleichberechtigung Deutschlands wurde daraufhin gestrichen. Otto Küster notierte später zufrieden in seinem Tagebuch:
„das viele Weinkauffsche Naturrecht, die christliche .Lehre', die .Grundsätze' stoßen auf Widerstand, die kritische Sonderung zwischen diesem und jenem Geist der Wiederbewaffnung wird für notwendig und die statt dessen figurierende These W.'s, niemand denke daran, Wiederbewaffnung im Zeichen von Nationalprestige und Wiedereroberung zu treiben, schlicht für unrichtig erklärt."230
Ernst Friedlaender erinnerte daran, Heinemanns Einwand, „Gott habe den Deutschen die Waffen aus der Hand geschlagen", einzubeziehen und dahingehend zu interpretieren, daß lediglich die Waffen im Dienste des Imperialismus, nicht der Waffengebrauch im Sinne des Rechts Deutschland verboten sei. Im Laufe der weiteren Diskussion einigten sich die Teilnehmer darauf, daß der Text sowohl eine Warnung vor militaristischen Tendenzen als auch vor den politischen Fehleinschätzungen Heinemanns und Niemöllers enthalten sollte. Es müsse gezeigt wer-
227)
Entwurf E. Müllers
EABB, AZ 90/3.
228)
vom
18.1. 1952: „Kirche und deutscher
Verteidigungsbeitrag",
Die folgende Darstellung des Sitzungsverlaufs basiert auf dem Protokoll E. Ruppels 19. und 20.1. 1952 (LkA Hannover, N 60, 374) sowie auf den Tagebuchaufzeichnungen O. Küsters. ) Da Eberhard Müller die schriftlichen Diskussionsbeiträge an die Mitglieder des Kreises verschickt hatte, waren sie als Diskussionsgrundlage allen Teilnehmern der Tagung bekannt, vgl. Rundschreiben E. Müllers, Bad Boll, 14.1. 1952, EABB, AZ 90/3. 23°) Tagebuchaufzeichnung O. Küsters vom 19.1. 1952. vom
98
//. Der Kronberger Kreis
den, daß die falsche Beurteilung der politischen Realität zur falschen Gewissens-
entscheidung führe.
Die zentralen Punkte der Denkschrift schienen klar zu sein, als der Kreis gegen 22.30 Uhr eine Redaktionskommission einsetzte, der Weinkauff, Meinzolt, Friedlaender, Müller und Küster angehörten.231 Als Weinkauff mit Unterstützung Friedlaenders in der kleineren Runde seine ordnungstheologischen Argumente erneut einzubringen versuchte, wurde die Kluft unüberbrückbar. Das gesamte „Unternehmen" Kronberger Kreis drohte bereits an seiner ersten Aufgabe zu scheitern. Als Ausweg aus der Krise beschlossen die fünf gegen 0.30 Uhr, in zwei getrennten Gruppen weiterzuarbeiten. Müller und Küster, die beiden „Jüngeren",232 entwarfen in den folgenden beiden Stunden einen knapp gehaltenen Text,233 den sie am folgenden Morgen dem Plenum zur Begutachtung vorlegten. Auch die drei Älteren stellten das Ergebnis ihrer nächtlichen Arbeit vor.234 Es behielt Aufbau und Kerngedanken der ersten Fassung Weinkauffs bei, fiel allerdings wesentlich kürzer aus und war mit einigen Einschränkungen abgeschwächt worden. Sofort brachen die Differenzen zwischen den beiden Gruppen wieder auf. Jede Seite lobte ihre Textvorlage und empfahl sie als geeignete Form zur Beeinflussung der Öffentlichkeit. Müller warb mit dem Hinweis für seinen und Küsters Entwurf, dieser sei am besten geeignet, Zweifelnde davon abzuhalten, ins Niemöller-Lager „abzurutschen".235 Ein Vermittlungsversuch, der eine Kombination beider Texte vorsah, fand keine Mehrheit. Den Ausschlag gaben schließlich Bischof Lilje und Hans Puttfarken mit dem Argument, der Müller-Küstersche Entwurf sei versöhnlicher gehalten und breche die Brücke zwischen den verschiedenen innerkirchlichen Gruppierungen nicht ab. Er solle deshalb mit weiteren Unterschriften versehen an den Rat der EKD und an die Presse weitergeleitet werden. Der Weinkauffsche Text könne später nachgereicht werden, um die Wirkung in der Öffentlichkeit zu verstärken. Die Mehrheit der Teilnehmer entschied sich für diese Vorgehensweise, die drei „Älteren" verweigerten jedoch ihre Unterschrift unter Müllers und Küsters Denkschriftentwurf.236 Dieser erfuhr noch eine ganze Reihe von kleineren inhaltlichen und redaktionellen Änderungen, bevor er am 18. Februar veröffentlicht wurde.237 Insgesamt sei der Text kirchlicher und unpolitischer geworden, meinte
231)
Die Darstellung folgt hier ausschließlich den Tagebuchaufzeichnungen Küsters, da das Protokoll Ruppels lediglich über die Plenardebatte berichtet. 232) So Küster in seiner Tagebuchaufzeichnung vom 19.1. 1952. 233) Im Nachlaß Erich Ruppels ist diese Fassung als „I. Entwurf bezeichnet (LkA Hannover, N 60, 374); nur in wenigen Details abweichend ist eine weitere, auf den 20.1. 1952 datierte Textversion (ebd.). 234) II. Entwurf, o. Datum, LkA Hannover, N 60, 374. 235) So die Formulierung im Protokoll E. Ruppels vom 19.1. 1952, LkA Hannover, N 60, 374. 236) Vgl. die Tagebuchaufzeichnung O. Küsters vom 20.1. 1921 sowie das Protokoll E. Ruppels vom gleichen Tag (LkA Hannover, N 60, 374). Hans Meinzolt unterzeichnete später die Denkschrift doch noch, Weinkauff und Friedlaender änderten ihre Meinung nicht; vgl. die Liste der Unterzeichner der Denkschrift „Wehrbeitrag und christliches Gewissen", EABB, AZ 90/3. 23?) Im Archiv in Bad Boll finden sich insgesamt sechs teilweise voneinander abweichende Textfassungen, die alle nach dem Treffen des Kronberger Kreises abgefaßt wurden, EABB, AZ 90/3.
3. Die
Denkschrift zur Wiederbewaffnung
99
Eberhard Müller, als er die Zustimmung zur endgültigen Fassung von dem Mitgliedern des Kronberger Kreises einholte.238 Die wichtigsten Veränderungen betrafen die Stellungnahme zur Gewissensentscheidung. Hier wurde die Haltung der Wiederbewaffnungsgegner nicht mehr als einem „irrenden Gewissen" entspringend verurteilt, sondern nur noch gesagt, daß auch die Zustimmung zum Wehrbeitrag gewissensmäßig erlaubt sei. Außerdem war eine längere Passage über die Wiedervereinigungsproblematik eingefügt worden. Diese Änderungen beruhten allerdings nicht mehr auf Initiativen des Kronberger Kreises; es handelte sich vielmehr um Kompromisse, die notwendig geworden waren, um weitere „Unterschriften von Gewicht"239 zu erhalten. Der umtriebige Eberhard Müller hatte die Aufgabe übernommen, möglichst viele prominente und einflußreiche Persönlichkeiten der evangelischen Kirche für die Unterzeichnung der Denkschrift zu gewinnen. Bis zum 8.Februar hatte er untet anderen die Zustimmung des früheren württembergischen Bischofs Wurm, von Bischof Bender und Professor Adolf Köberle eingeholt.240 Hermann Ehlers hatte dagegen seine Unterschrift verweigert.241 Der Bundestagspräsident führte keine inhaltlichen, sondern persönliche Gründe für seine Ablehnung an.242 Er war verärgert über einen Artikel im ,Sonntagsblatt', in dem er angegriffen worden war. Da er die Urheberschaft der Denkschrift in der „Firma Lilje" vermutete, lehnte er die Unterzeichnung ab.243 Auch Reinold von Thadden hatte nach langer Überlegung darauf verzichtet, das Dokument zu unterschreiben, um seine anstehenden Gespräche mit der DDR-Führung über die Teilnahme von Kirchentagsbesuchern aus Ostdeutschland nicht zu gefährden.244 Weitere Absagen erhielt Müller vom Ulmer Oberbürgermeister Theodor Pfizer, der zugleich seine Bereitschaft zur Mitarbeit im Kronberger Kreis aufkündigte,245 von Helmut Gollwitzer, Propst zur Nieden
238)
E. Müller an die Freunde der Evangelischen Zusammenarbeit, Bad Boll, 8.2. 1952, EABB, AZ 90/3. Der endgültige Text ist abgedruckt bei E. Müller: Widerstand, S. 132f, so-
wie im KJ 79 (1952), S. 14-17. 239) E. Müller an die Freunde der Evangelischen Zusammenarbeit, Bad Boll, 8.2. 1952, EABB, AZ 90/3. 240) Rundschreiben E. Müllers mit der Bitte zur Unterzeichnung der Denkschrift „Wehrbeitrag und christliches Gewissen", Bad Boll, 8.2. 1952, EABB, AZ 90/3. 241) Eberhard Müller hatte schon am 21.1. 1952 um die Zustimmung von Ehlers und Tillmanns gebeten, vgl. E. Müller an H. Ehlers und R. Tillmanns, o. Ort, 21.1. 1952, EABB, AZ 90/1. Die Unterschrift von Robert Tillmanns fehlte nach Müllers Angaben versehentlich bei der Veröffentlichung der Denkschrift. Nicht auszuschließen ist aber, daß sie bewußt weggelassen wurde, um den kirchlichen Charakter des Dokuments hervorzuheben und den Anschein der Überparteilichkeit zu wahren. Müller fand es jedenfalls „ganz gut, daß die Politiker nicht in der Denkschrift stehen." E. Mulleran F. Ernst, o. Ort, 21.2. 1952 (ebd.). 242) Vgl. Müller an Ernst, o. Ort, 21.2. 1952, EABB, AZ 90/1. In dem Brief heißt es: „Ehlers hat sich leider nicht zur Unterschrift bereit gefunden, obwohl er inhaltlich mit der Denkschrift einverstanden ist." 243) H. Ehlers an E. Müller, o. Ort, 19.2. 1952, abgedruckt in: K.D. Erdmann: Hermann Ehlers, S.470f. 244) Thadden war „ganz unglücklich", daß er die Denkschrift mit Rücksicht auf den Kirchentag nicht unterzeichnen konnte (R.v. Thadden an E. Müller, Fulda, 12.2. 1952, EABB, AZ 26 II, Korr. 1949-1961). Vgl. auch E. Müller an H. Ehlers und R. Tillmanns, o. Ort, 21.1. 1952, EABB, AZ 90/1. 245) T. Pfizer an E. Müller, Ulm, 19.2. 1952, EABB, AZ 90/2.
//. Der Kronberger Kreis
100
Kronberger-Kreis-Mitgliedern Freiherr von Hodenberg und Adolf führten gänzlich unterschiedliche theologische Bedenken ins Feld; allein Ernst zur Nieden sprach darüber hinaus offen über Zweck und Absowie
von
den
Blomeyer.246 Alle
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sicht der Denkschrift: „Es ist auf den ersten Blick deutlich, daß dadurch die Front derer gesammelt und gestärkt werden soll, die in der Frage der Wiederbewaffnung ein eindeutiges Ja sprechen."247 Damit traf zur Nieden genau ins Schwarze, auch wenn Eberhard Müller beteuerte, die Denkschrift solle vor allem dem innerkirchlichen Frieden dienen. Sie habe lediglich verdeutlichen wollen, daß die Entscheidung für oder gegen den Wehrbeitrag eine Entscheidung der politischen Vernunft sei, in der Christen zu verschiedenen Ergebnissen kommen könnten.248 Müller interpretierte hier die Denkschrift so, als unterstreiche sie nur den bekannten Standpunkt der EKD, wie er in der Ratserklärung vom 17.November 1950 festgelegt war. Die Art und Weise, wie die Entschließung in die Öffentlichkeit lanciert worden war, hatte zu diesem Zeitpunkt aber längst klar werden lassen, daß es um eine breit angelegte Initiative ging, die darauf zielte, die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Bereits am 20. Januar war die Denkschrift inoffiziell an den Rat der EKD übersandt und bei dessen Sitzung verlesen worden.249 Die Reaktion der Anwesenden ließ so meinte Müller darauf hoffen, daß der gewünschte Erfolg in der kirchlichen und außerkirchlichen Öffentlichkeit eintreten werde.250 Noch fast einen ganzen Monat dauerte es dann, bis alle gewünschten Unterschriften beisammen waren. Am 15. Februar gab Eberhard Müller den Text mit der Bitte an die Presse, ihn im vollen Wortlaut am Dienstag, dem 19.Februar, zu veröffentlichen. Zwischen 20 und 25 vorwiegend überregionale Zeitungen hatte er zur Publikation ausgewählt.251 Mit deren überwiegend zustimmender Berichterstattung konnten die Initiatoren der Denkschrift höchst zufrieden sein. Überschriften wie „Bischöfe warnen vor Waffenlosigkeit", „Keine göttliche Weisung gegen Wehrbeitrag",252 „Evangelische Kirchenführer gegen Gewissenszwang in politischen Fragen"253 -
-
246
) Vgl. die handschriftlichen Eintragungen auf der „Liste II", in der die Empfänger des Rundschreibens vom 8.2. 1952 verzeichnet sind (EABB, AZ 90/3), sowie die Schreiben an E. Müller von H. Gollwitzer (Bonn, 13.2. 1952, ebd., AZ 90/1), E. zur Nieden (WiesbadenSonnenberg, 20.2. 1952, ebd., AZ 90/2) und Frhr.v. Hodenberg (Celle, 19.2. 1952, ebd., AZ 90/1).
247) 248) 249)
E. zur Nieden an E. Müller, Wiesbaden-Sonnenberg, 20.2. 1952, EABB, AZ 90/2. E. Müller an E. zur Nieden, o. Ort, 4.3. 1952, EABB, AZ 90/2. Das Begleitschreiben an Bischof Dibelius nannte als Unterzeichner Hans Puttfarcken, Hanns Lilje, Friedrich Ernst, Heinrich Kost (im Orginal versehentlich „Koch"), Otto Küster und Eberhard Müller (Frankfurt, 20.1. 1952, LkA Hannover, L 3 III, 448). 25°) Vgl. E. Müllers Rundschreiben an die Freunde der Evangelischen Zusammenarbeit, Bad Boll, 8.2. 1952, EABB, AZ 90/3 (ein weiteres Exemplar des Briefs befindet sich im LkA Hannover, L 3 III, 254). 251) Vgl. E. Müller an den Evangelischen Pressedienst, o. Ort, 15.2. 1952, sowie an die Redaktion der .Frankfurter Allgemeinen Zeitung', Bad Boll, 15.2. 1952 (beide Schreiben EABB, AZ 90/1). 252) Zitiert nach KJ 79 (1952), S. 17. 253) Zeitungsausschnitt aus der ,Neuen Zeitung' vom 19.2. 1952, LkA Hannover, L 3 III, 448.
3. Die Denkschrift zur
oder
Wiederbewaffnung
101
„Theologen bejahen Wehrbeitrag"254 erzielten die gewünschte Wirkung: der
Öffentlichkeit deutlich zu machen, daß Heinemann und Niemöller unter den westdeutschen evangelischen Kirchenführern eine Minderheitsposition vertraten.255
Um den Eindruck zu verstärken, Adenauers Wiederbewaffnungs- und Westintegrationspolitik werde seitens der evangelischen Kirche mehrheitlich unterstützt, hatte Eberhard Müller selbst vor bewußten Manipulationen nicht zurückgeschreckt. So stammte die in einigen Presseberichten übernommene Formulierung, die Denkschrift sei „von sämtlichen westdeutschen Landesbischöfen" unterzeichnet worden, aus seiner Feder.256 Tatsächlich aber fehlten die Unterschriften der Bischöfe von Braunschweig und der kleinen eutinischen Landeskirche.257 Die Landeskirchen mit bischöflicher Leitung stellten darüber hinaus nur einen Teil der insgesamt neunzehn evangelischen Landeskirchen der Bundesrepublik dar, wie Kritiker der Denkschrift hervorhoben.258 Zu einigen Unterschriften hatte Müller Funktions- oder Amtsbezeichnungen setzen lassen, um den Eindruck breitester Zustimmung zur Denkschrift weiter zu verstärken. Doch damit war er zu weit gegangen. Bereits am 21. Februar leitete er nach Protesten einiger Unterzeichner259 dem Evangelischen Pressedienst eine Berichtigung zu, in der klargestellt wurde, daß die Vorsitzenden der großen Verbände nicht in ihrer amtlichen Eigenschaft sondern lediglich als Privatpersonen unterschrieben hätten.260 Doch weder diese nachträgliche Korrektur noch die Einwände der Wiederbewaffnungsgegner261 konnten „in der deutschen Öffentlichkeit den Eindruck einer im wesentlichen wiederaufrüstungswilligen evangelischen Kirche [...] verwischen."262 Der Kronberger Kreis war mit dem Ziel angetreten, politi-
254) Titel der ,Welt' vom 19.2. 1951, zitiert nach U. Walter: Welt in Sünde, S. 128. 255) Vgl. zur Wirkung der Denkschrift auf die öffentliche Meinung 7. Vogel: Kirche
und C. Nasser: Engagement, S. 179. K. Herbert: Kirche zwischen Aufbruch und Tradition, S. 192f. 256) E. Müller an die Redaktion der .Frankfurter Allgemeinen Zeitung', Bad Boll, 15.2. 1952, EABB, AZ 90/1. Müller behielt diese Darstellung auch in seiner Autobiographie aus dem Jahre 1987 noch bei, vgl. E. Müller: Widerstand, S. 131. 257) Vgl. den Brief von O. Dibelius an E. Müller, Berlin, 21.2. 1952, in dem der Berliner Bischof sich erkundigte, warum die Unterschriften der beiden Bischöfe fehlten. Möglicherweise hatte Müller von ihnen keine Zustimmung erwartet und sie deshalb nicht angeschrieben oder er hatte sie schlicht vergessen. Auf der Empfangerliste des Rundschreibens vom 8.2. 1952 sind jedenfalls beide nicht verzeichnet („Liste II", EABB, AZ 90/3). 258) Vgl. das Schreiben von H. Held, E. Wilm u.a. an die westdeutschen Landesbischöfe, Bielefeld, 17.3. 1952, LkA Hannover, L 3 III, 448, gedruckt im KJ 79 (1952), S. 17f. 259) Vgl. die Schreiben von Oberkirchenrätin Schwarzhaupt, der Vorsitzenden der Evangelischen Frauenarbeit (Frankfurt a.M., 19.2. 1952), und Oberkirchenrat Manfred Müller, dem Vorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend Deutschlands (Stuttgart, 28.2. 1952), an E. Müller (beide Briefe EABB, AZ 90/2). Mitteilung E. Müllers an die Unterzeichner der Denkschrift, Bad Boll, 21.2. 1952, EABB, AZ 90/3. 261) Vgl. den Brief von H. Held, E. Wilm u.a. an die bischöflichen Unterzeichner der Denkschrift (Bielefeld, 27.2. 1952) mit dem beigelegten Brief Johannes Buschs und den „Fragen an die Entschließung: .Wehrbeitrag und christliches Gewissen'" (LkA Hannover, L 3 III, 448; Abdruck der Dokumente ohne den scharf formulierten Brief Buschs im KJ 79 [1950], S. 17-21). 262) 7. Vogel: Kirche und Wiederbewaffnung, S.167; ähnlich auch D. Koch: Heinemann, S.299, und K. Herbert: Kirche zwischen Aufbruch und Tradition, S. 192.
Wiederbewaffnung, S.166f.
-
-
r6°)
-
102
//. Der Kronberger Kreis
sehen Einfluß auszuüben. Mit seiner Denkschrift „Wehrbeitrag und christliches Gewissen" war ihm das gelungen. Den damaligen Zeitgenossen blieb verborgen, daß der Kronberger Kreis die Denkschrift erarbeitet hatte. Die Presse berichtete, „führende evangelische Theologen und Laien"263 seien die Autoren der Verlautbarung, und Hermann Ehlers vermutete sie in der „Firma Lilje", womit er der Wahrheit relativ nahe kam. Eberhard Müller nahm später in seiner Autobiographie die Urheberschaft für sich in Anspruch.264 Welche Version er dem Leiterkreis der Evangelischen Akademien präsentierte, als er das Gremium über den „Aufruf der westdeutschen Bischöfe und anderer führender Persönlichkeiten der Kirche" zur Wiederbewaffnung informierte, geht aus dem Protokoll der Sitzung nicht hervor. Es kann aber als sicher gelten, daß Müller auch gegenüber den Akademieleitern Existenz und Urheberschaft des Kronberger Kreises verschleierte.265 Die historische Forschung schrieb die Denkschrift bis in jüngste Zeit entweder einem anonymen Kreis evangelischer Christen zu266 oder bezeichnete sie Müllers offizieller Sprachregelung folgend als „Erklärung westdeutscher Bischöfe und Kirchenleute".267 Erst 1995 wurde in der Literatur erstmalig auf die Urheberschaft des Kronberger Kreises hingewiesen.268 Die Verfasser der älteren Untersuchungen zur Wiederbewaffnungsdiskussion kannten demnach weder die Entstehungsgeschichte der Denkschrift noch ihre Vorentwürfe oder die Intentionen ihrer Verfasser. Die Bewertungen in der Literatur liegen unter anderem aus diesem Grund weit auseinander. Robert Stupperich meint in seiner Dibelius-Biographie, der Text sei getragen von dem Wunsch, kirchliche Kreise des Bürgertums nicht „mit einem früher unbekannten politischen Engagement zu belasten, das zudem im Fahrwasser der politischen Opposition steuerte".269 Die Denkschrift wird in dieser Sichtweise unzutreffend als Auf-
-
263)
So übereinstimmend die .Neue Zeitung' und die .Frankfurter Allgemeine Zeitung' vom 19.2. 1950 (Zeitungsausschnitte, LkA Hannover, L 3 III 448). 264) Wörtlich heißt es bei Müller: [... ] darum verfaßte ich im Einvernehmen mit meiner Kirchenleitung drei Monate später den Vorschlag für eine Entschließung und verschickte sie an führende Kirchenmänner und bekannte evangelische Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens mit der Bitte um schriftliche Zustimmung." (E. Müller: Widerstand, S. 126). Die Autorenschaft Müllers entspricht ebensowenig den Tatsachen wie das Einvernehmen mit der württembergischen Kirchenleitung, die in keiner Weise an der Abfassung der Denkschrift beteiligt war. Müller verschleierte offensichtlich noch in den achtziger Jahren bewußt die Existenz und politische Aktion des Kronberger Kreises, vgl. auch das Interview mit Eberhard Müller, das unter dem Titel .Akademien, Kirche, Wiederbewaffnung" in der Zeitschrift der Evangelischen Akademie Bad Boll erschien (Aktuelle Gespräche, H. 3., 37 [1989], S.511, besonders S.6). 265) Protokoll der Sitzung vom 22. bis 24. April 1954 in Bad Boll, EABB, Leiterkreis der Evangelischen Akademien, Protokolle, 1 D I. 266) So wurde die Erklärung beispielsweise einem Kreis „führender evangelischer Theologen und Laien" zugeschrieben (Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik, Bd.2, S.536). ) So R. Stupperich: Dibelius, S.452. Johanna Vogel führt die „Kundgebung westdeutscher Kirchenführer und politisch engagierter evangelischer Laien" auf eine Initiative Eberhard Müllers zurück, 7. Vogel: Kirche und Wiederbewaffnung, S.166. K. Herbert: Kirche zwischen Aufbruch und Tradition, S. 192, hält Müller für den Verfasser. 268) C. Nasser: Engagement, S. 179 und S. 192, Anm.40. U. Walter: Welt in Sünde, 127f. 269) R. Stupperich: Dibelius, S.453. -
3. Die Denkschrift zur
Wiederbewaffnung
103
ruf zur politischen Enthaltsamkeit nicht nur der Kirche, sondern auch des Einzelnen gewertet. Johanna Vogel kritisiert vor allem, daß der Eindruck erweckt worden sei, es handle sich um eine offizielle Verlautbarung der EKD. Diether Koch schließt sich dieser Kritik an, unterzieht die Denkschrift aber darüber hinaus einer theologischen Analyse: Vor dem Hintergrund der lutherischen Rechtfertigungslehre bedeutet für ihn die im Text enthaltene Warnung vor einer selbstgewählten Buße „die kräftigste Warnung, die an evangelische Aufrüstungsgegner überhaupt zu richten war".270 Die theologischen Einwände gegen die Erklärung des Kronberger Kreises sind insofern berechtigt, als sie keinen Beitrag zur grundsätzlichen Diskussion über den Öffentlichkeitsauftrag der Kirche leisten konnte. Ihr theologischer Gehalt blieb dünn, was sich aus ihrer Entstehungsgeschichte erklären läßt. Der schließlich veröffentlichte Text entstand in einem gut zwei Monate dauernden Prozeß, in dem versucht wurde, Formulierungen zu finden, die von einer möglichst breiten Basis mitgetragen werden konnten. Zudem waren an der Abfassung mehr Nichttheologen als Theologen beteiligt, einige der Laien hatten gerade darin den besonderen Wert der Verlautbarung gesehen.271 Nicht zu vergessen ist schließlich, daß der vorrangige Zweck der Denkschrift auch gar nicht darin bestand, einen Beitrag zur theologischen Klärung der Frage nach dem Mandat der Kirche im demokratischen Staat zu leisten. Es ging primär um eine öffentlichkeitswirksame Demonstration, die deutlich machen sollte, daß die Positionen Heinemanns, Niemöllers und der kirchlichen Bruderschaften von weiten Kreisen der evangelischen Kirche nicht geteilt wurden.272 Dieses Ziel wurde erreicht. Insofern stellt die Denkschrift „Wehrbeitrag und christliches Gewissen" eine Zäsur im innerkirchlichen Streit um die Wiederbewaffnung dar. Nach deren Erscheinen war klar, daß gegen die geschlossene Phalanx der Lutheraner eine öffentliche Erklärung der EKD gegen die Wiederbewaffnung nicht zu erreichen war.273
27°) D. Koch: Heinemann, S.298. Martin Lotz hat ebenfalls einen Versuch unternommen, die Denkschrift des Kronberger Kreises theologisch zu analysieren und zu widerlegen. Seine Ausführungen (M. Lotz: Evangelische Kirche, S. 104f.) bleiben allerdings verworren und unverständlich. 271) Als Beispiel sei hier Hans Meinzolt angeführt, der an Eberhard Müller schrieb: „In Wirklichkeit war doch wohl der Beitrag der Laien an der Sache nicht weniger als der der Geistlichen. Ich hatte gerade gedacht, daß die Unterzeichnung durch Laien Gewicht haben könnte und habe mich für meine Person jedenfalls aus dieser Annahme heraus an dem ganzen Unternehmen beteiligt." (H. Meinzolt an E. Müller, München, 22.2. 1952, EABB, AZ 90/2).
272)
Wie stark Gegner und Befürworter der Wiederbewaffnung in der evangelischen Kirche in den einzelnen Phasen des Streits tatsächlich waren, bleibt mangels gesicherter Daten der Spekulation vorbehalten. Geht man von der Vermutung aus, daß sich die prinzipiellen Gegner des Regierungskurses vor allem aus den Reihen der Barthianer rekrutierten, so dürfte sich mit dem einsetzenden Stimmungsumschwung in der Bevölkerung seit Ausbruch des Korea-Krieges auch das Gewicht innerhalb der evangelischen Kirche zugunsten der Wiederbewaffnungsbefürworter geneigt haben. 273) Eberhard Müller hat 1989 die Denkschrift des Kronberger Kreises als „das Schlußwort der ganzen Diskussion" bezeichnet (.Akademien, Kirche, Wiederbewaffnung", S.6), und Diether Koch sieht sie durch die Unterschriften der lutherischen Landesbischöfe mit dem „Gewicht einer diese Frage abschließenden Stellungnahme" versehen (D. Koch: Heinemann, S. 296).
104
//. Der Kronberger Kreis
Der Streit um den Verteidigungsbeitrag der Bundesrepublik offenbarte das ganze Dilemma der evangelischen Kirche im geteilten Deutschland: Zum einen gab es keine gemeinsame theologische Basis, von der aus ein eindeutiges Votum für oder gegen einen deutschen Verteidigungsbeitrag zu formulieren gewesen wäre. Ohne auf teilweise fließende Übergänge Rücksicht zu nehmen, sind vereinfachend folgende Positionen erkennbar:274 Die Vertreter des radikalen Flügels der Bekennenden Kirche waren überwiegend von der Theologie Karl Barths geprägt und lehnten alle Wiederaufrüstungsbestrebungen entschieden ab. Sie plädierten dabei für ein extensiv ausgelegtes öffentliches Mandat der Kirche, die in dieser Bekenntnisfrage nicht schweigen dürfe.275 Anhänger einer Theologie der Ordnungen, wie sie auch unter den älteren Mitgliedern des Kronberger Kreises zu finden waren, kamen umgekehrt zu dem Schluß, daß sich die Christen aufgrund der weltlichen Notordnung Gottes notwendigerweise an der Verteidigung des Staates beteiligen müßten. Die „klassisch" lutherische Position dagegen verlangte ausgehend von der Zwei-Reiche-Lehre die Enthaltsamkeit der Kirche in politischen Fragen. Zum anderen bestand auch in der Einschätzung der weit- und deutschlandpolitischen Gegebenheiten kein Konsens. Gustav Heinemann glaubte, Deutschland aus dem Ost-West-Konflikt heraushalten zu können und plädierte deshalb für eine militärische Neutralität.276 Seiner Meinung nach mußten beim Nachdenken über die Deutschlandpolitik immer die sowjetischen Sicherheitsinteressen berücksichtigt werden. Für den Fall eines westdeutschen Verteidigungsbeitrages befürchtete er einen Präventivkrieg der Sowjetunion. Aus ähnlichen Gründen kam Martin Niemöller zu dem Schluß, Deutschland müsse eine Brückenfunktion zwischen Ost und West wahrnehmen, um dem Frieden zu dienen und die internationale Lage zu stabilisieren. Die innerkirchlichen Gegner Heinemanns und Niemöllers teilten dagegen weitgehend die Lagebeurteilung Adenauers. Sie sahen die Bundesrepublik von der sowjetischen Militärmacht massiv bedroht, und glaubten, sich nur mit massiver Abschreckung schützen zu können. Für sie war klar, daß man sich aus dem weltpolitischen Gegensatz zwischen USA und UdSSR nicht heraushalten konnte. Zur Entscheidung gezwungen, optierten sie für den Westen. Der Verteidi-
-
274)
Der folgende Abschnitt basiert auf der Darstellung von Axel Noack: Die Einstellung der Kirchen zu Militarismus und Pazifismus, in: Kirchen in der Diktatur. Drittes Reich und SED-Staat, hg. von Günther Heydemann und Lothar Kettenacker, Göttingen 1993, S.321344, hier S.328f. 275) Wie schwer vielen Evangelischen die Verhältnisbestimmung von Glaube und Politik fiel, kann ein Zitat Gustav Heinemanns beispielhaft verdeutlichen: „Also doch Vermanschung von Politik mit religiöser Sauce? Vielleicht ist es so, daß einem nur aus der Verbundenheit aller Aspekte die ganze Tiefe, die ganze Not aufgeht, die hier obwaltet. [...] Natürlich bleibt es dabei, daß die Entscheidung für oder gegen die Bonner Politik kein Glaubensmaßstab ist, daß auch keine der möglichen politischen Haltungen im Namen des Evangeliums vertreten werden kann. Und doch kommen wir wahrscheinlich nicht so billig davon, wie wir alle es gerne möchten, wenn wir so eilig sagen, daß man aus dem Glauben heraus zu entgegengesetzten politischen Entscheidungen kommen kann." (G. Heinemann an E. Müller, o. Ort, 26.[31.]12. 1951, EABB, AZ 29 A). 276) Vgl. zu Heinemanns „Konzept der Ausklammerung" 7. Müller: Gesamtdeutsche Volkspartei, S. 72-77.
3. Die Denkschrift zur
105
Wiederbewaffnung
gungsbeitrag wurde damit zumindest in Kauf genommen, nur wenige rangen sich wie der Kronberger Kreis dazu durch, ihn wenn auch vorsichtig zu befür-
worten.
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Das geschah und damit ist ein drittes Dilemma der evangelischen Kirche angesprochen mit Rücksicht auf die überwiegend evangelische Bevölkerung der DDR: Obwohl es nicht wenige Befürworter von Adenauers Wiederbewaffnungsund Westbindungspolitik in der evangelischen Kirche gab, warf sich kaum ein -
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führender Kirchenvertreter öffentlich für den Kanzler in die Bresche. Die Rücksicht auf „die Brüder im Osten" ließ es nicht opportun erscheinen, daß amtliche Vertreter der evangelischen Kirche für die Regierungspolitik Partei ergriffen. Offene Unterstützung für Adenauers Wiederbewaffnungskurs hätte unweigerlich Gegenmaßnahmen der SED-Führung gegen die evangelische Kirche in der DDR und die gesamtdeutsche EKD provoziert.277 So konnte in der westdeutschen Öffentlichkeit der Eindruck entstehen, die prominenten Führer der evangelischen Opposition sprächen für die überwiegende Mehrheit der Protestanten. Auf der Gegenseite artikulierten lediglich die evangelischen Unionsabgeordneten unmißverständlich ihre Unterstützung für den Kanzler.278 Da den Regierungsanhängern in kirchenleitender Funktion in der EKD oder den Landeskirchen dieser Weg verschlossen blieb, suchten sie andere Wege, um gegen die Opposition vorzugehen. Sie betonten, die Frage der deutschen Wiederbewaffnung sei eine rein politische, mahnten zu brüderlichem Umgang und beschworen den kirchlichen Frieden und die Einheit der EKD. Diesen Anliegen kam hohe Bedeutung zu. Zugleich aber erfüllte der Verweis auf den rein politischen Charakter der Entscheidung über einen westdeutschen Verteidigungsbeitrag weitere Funktionen: Er widerlegte die geschichtstheologischen und ethisch-moralischen Argumente der innerkirchlichen Opponenten zwar nicht, versuchte aber, sie zu entkräften; er führte darüber hinaus die theologische Tradition des Luthertums schlüssig fort, stärkte deren Geltung in der EKD und diente zudem dem Zweck, den Kurs des Bundeskanzlers zu stützen. Selbstverständlich war das ein eminent politisches Verhalten unter dem Vorwand der Entpolitisierung der Kirche. Die Kritiker dieser Position haben darauf zu Recht hingewiesen.279 Die Argumentation der barthianischen Wiederbewaffnungsgegner war demgegenüber in sich konsequenter, die der lutherischen Befürworter allerdings politisch realistischer. Die Initiatoren und Mitglieder des Kronberger Kreises hatten sich zusammengeschlossen, um in der Wiederbewaffnungsdebatte eine Rolle zu spielen. Mit der Wehrbeitragsdenkschrift hatten sie eine politische Aktion in die Tat umgesetzt, die ihrem Selbstverständnis als innerkirchlicher und politischer Interessenvertretung entsprach und eine bedeutende, vielleicht mitentscheidende Rolle im innerkirchlichen Kampf um die Wiederbewaffnung spielte. Mit ihrer Aktion bewiesen die
277) Vgl. dazu Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik, Bd. 2, S.537. 278) Vgl. die „Entschließung zur Frage des Verteidigungsbeitrags und der deutschen Wie-
die auf der evangelischen Arbeitstagung der CDU in Siegen erarbeitet worden war (KJ 79 [1952], S.33f). 279) D. Koch: Heinemann, S.293f. U Walter: Welt in Sünde, S.128. -7. Vogel: Kirche und Wiederbewaffnung, S. 148, 167, 183.
dervereinigung",
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106
//. Der Kronberger Kreis
Mitglieder des Kronberger Kreises, daß sie bereit und willens waren, aktiv in den Prozeß der politischen Meinungsbildung einzugreifen.280 Sie handelten aus politischer und theologischer Überzeugung und bedienten sich der Mittel der modernen Massenmedien, um ihre Meinung durchzusetzen. Während sie so als Einzelne und als kirchliche Gruppe ihre Position zur Geltung brachten, bestritten sie die von radikalen Wiederbewaffnungsgegnern erhobene Forderung, die Kirche müsse in konkreten Fragen der Politik verbindliche Stellungnahmen abgeben. Nach ihrer Auffassung sollte sich die Kirche darauf beschränken, ethische Normen und Grundsätze anzumahnen und einzufordern. Der Kronberger Kreis wirkte damit nicht nur der Gefahr einer Klerikalisierung des öffentlichen Lebens entgegen, sondern unterstützte auch den Weg der Kirche in eine pluralistische Demokratie, in der es dem Einzelnen überlassen bleibt, sich seine politische Meinung zu bilden. Für die Kirche folgte daraus die hohe Anforderung, unterschiedliche, teilweise gegensätzliche und sich ausschließende politische Positionen in ihren Reihen zu dulden und trotzdem die kirchliche Einheit
28°)
zu
bewahren.
Johanna Vogel hat das Engagement Eberhard Müllers und seiner Freunde als Parteinahme „zur Aufrechterhaltung der bestehenden politischen Machtverhältnisse" interpretiert (7. Vogel: Kirche und Wiederbewaffnung, S. 183). Sie verkennt damit den Charakter des politischen Richtungsstreits zu Beginn der fünfziger Jahre, in denen Adenauer keineswegs der unangefochtene Regierungschef der mittfünfziger Jahre war. Die Autorin unterstellt damit auch eine ungebrochene Kontinuität zum obrigkeitshörigen Luthertum des Kaiserreichs. Analog zu dieser Deutung könnte der Widerstand der Wiederbewaffnungsgegner gegen die Regierungspolitik mit der republikfeindlichen, antidemokratischen Opposition der Weimarer Zeit in Verbindung gebracht werden. Solche auf den ersten Blick vielleicht einleuchtenden Traditionsbezüge erweisen sich bei näherer Prüfung in den allermeisten Fällen als vorurteilsbelastete Konstruktionen.
4. Die weitere
Entwicklung des Kronberger Kreises
Fünf Wochen nach der Veröffentlichung der Denkschrift „Wehrbeitrag und christliches Gewissen" kam der Kronberger Kreis Ende März 1952 erneut in Schönberg bei Kronberg zusammen. Neben dem Rückblick auf die öffentliche Resonanz der Publikation berieten die Teilnehmer, wie mit dem zunächst zurückgehaltenen Weinkauffschen Denkschriftentwurf weiter zu verfahren sei.281 Angesichts der veränderten politischen Situation die Sowjets hatten am 10. März neue Vorschläge für eine Wiedervereinigung Deutschlands in der sogenannten Stalin-Note unterbreitet war der Text Weinkauffs nun überholt und wurde zu den Akten ge-
legt.282
-
Als nächstes Thema standen „Praktische Wege der Elitebildung" auf dem Pro-
gramm.283 Damit wandte sich der Kronberger Kreis einer Aufgabe zu, der Reinold
Thadden bereits bei der ersten Zusammenkunft Priorität eingeräumt hatte: der Rekrutierung von kirchengebundenem evangelischem Nachwuchs für Spitzenpositionen im wirtschaftlichen, politischen und religiösen Leben der Bundesrepublik. Da die wegen ihrer Haltung zum Nationalsozialismus politisch diskreditierten (schlagenden) Korporationen, die ohnehin nie prononciert religiös-protestantisch gewesen waren, in den frühen fünfziger Jahren nicht mehr in der Lage schievon
Karrieren
entscheidend fördern zu können und mit der nicht wiedergegründeten Altfreundeschaft der DCSV ein weiterer Verband, der unter anderem diesem Zweck gedient hatte, nicht mehr existierte, mußte nach neuen Wegen gesucht werden. Die Teilnehmer des Kronberger Treffens beschlossen deshalb, eine zentrale Personalkartei anzugelegen, in der geeignete Bewerber für höhere Ämter erfaßt werden sollten. Entscheidend für den Wert einer solchen Kartei sei, so meinte Thadden, wer deren Aufbau federführend in die Hand bekommen werde.284 In dem sensiblen Bereich der Personalpolitik kam für diese Position nur in Frage, wer absolut vertrauenswürdig war und wem man zutraute sicherzustellen, daß Nachwuchskräfte der eigenen politischen und kirchenpolitischen Richtung gezielt gefördert werden würden. Gemeinsam mit Oberkirchenrat Hansjürg Ranke von der Außenstelle der Kirchenkanzlei der EKD in Bonn suchte man eine geeignete Persönlichkeit im Bonner Raum und stieß dabei auf Professor Mann, einen früher an der Pädagogischen Akademie tätigen Hochschullehrer. Mann sollte auf kulturpolitischem Gebiet aktiv werden, während für andere Bereiche erst noch weitere Persönlichkeiten gefunden werden müßten.285 nen,
281) Über dieses Treffen existieren keine Aufzeichnungen. Vermutlich waren weder Ernst Ruppel noch Otto Küster anwesend.
282)
Von Hermann Weinkauff selbst stammte der Vorschlag, unter den aktuellen Umständen den von ihm, Meinzolt und Friedlaender erarbeiteten Entwurf nicht zu veröffentlichen (H. Weinkauff an E. Müller, Karlsruhe, 26.3. 1952, EABB, AZ 90/2). 283) Rundschreiben E. Müllers an die Freunde der „Evangelischen Zusammenarbeit", Bad Boll, 19.3. 1952, LkA Hannover, N 60, Nr.374. 284) R.v. Thadden an E. Müller, Fulda, 5.6. 1952, EABB, AZ 90/2. 285) E. Ruppel an E. Müller, o. Ort, 28.5. 1952, EABB, AZ 90/2, Durchschrift LkA Hannover, N 60, 374.
108
//. Der Kronberger Kreis
Die Zusammenarbeit mit der Kirchenkanzlei hatte ihre Vor- und Nachteile: Einerseits verankerte sie die geplante Personalstelle nahe dem politischen Machtzentrum in Bonn und verbesserte die Chancen, mit Hilfe der EKD-Vertretung bei späteren personalpolitischen Entscheidungen erfolgreich Einfluß ausüben zu können; andererseits beteiligte sie den bürokratischen Apparat der EKD-Vertretung in der Bundeshauptstadt an den Vorbereitungen der Personalkartei und hob die Pläne damit auf die Ebene einer zumindest halboffiziellen Personalförderung der evangelischen Kirche. In dem Namen „Evangelische Arbeitsgemeinschaft für öffentliche Verantwortung",286 den Ranke und Ruppel bei einem Treffen in Bonn ins Auge gefaßt hatten, kam dieser Status der Personalstelle zum Ausdruck. Um förderungswürdige Persönlichkeiten auszuwählen, war nach dem Vorbild einer vergleichbaren Kartei der hannoverschen Landeskirche287 ein kompliziertes Verfahren geplant, das vorsah, eine ganze Reihe von kirchenamtlichen Gremien an der Entscheidung zu beteiligen. Das vorgeschlagene Procederé sah als ersten Schritt vor, mit Hilfe eigens konzipierter Formblätter Angaben über in Frage kommende Personen, ihre berufliche Stellung und weitere Berufsaussichten zu erfassen sowie Informationen über deren familiären Hintergrund, über ihr Verhältnis zu Pastoren und zu weiteren kirchlichen Mitarbeitern zu sammeln.288 Die Landessuperintendenten, die Evangelische Akademie und die Leiter der kirchlichen Werke sollten auf dieser Grundlage Personalvorschläge einreichen, über die der Bischofsrat unter Hinzuziehung eines Studienleiters der Akademie und des Leiters des Männerwerkes dann zu entscheiden hätten. Den an der Auswahl beteiligten Gremien könnte die Kartei später auch für vertrauliche Auskünfte über die dort erfaßten Personen zur Verfügung gestellt werden. Zunächst sollte in einem ersten Schritt für jeden Sprengel ein Vertrauensmann des Landessuperintendenten aus dem Bereich der Justiz, der höheren öffentlichen Verwaltung, der Industrie, ein Arbeitervertreter sowie je ein Lehrer an Volks- und höheren Schulen gefunden werden. In einem zweiten Schritt seien dann später für jede der genannten Berufsgruppen ein Stellvertreter sowie weitere Mitarbeiter und vor allem Nachwuchskräfte zu erfassen, zusammenzuführen und systematisch zu fördern.289 Rankes Pläne für die Personalkartei auf Bundesebene, die zwar auf dem Entwurf der Kirchenkanzlei in Hannover aufbauten, aber nach Beratungen mit Eberhard Müller und dem Präsi-
286) 287)
E. Ruppel an E. Müller, Hannover, 28.5. 1952, LkA Hannover, EABB, AZ 90/2. Die Personalkartei der hannoverschen Landeskirche hatte eine primär kirchlich-seelsorgerische Stoßrichtung, die bundesweite Kartei zielte von vorneherein auf den politischen Bereich. Erich Ruppel wies in einem Schreiben an Eberhard Müller auf diesen gewichtigen Unterschied hin: „Ich darf dazu nur bemerken, daß der Zweck unserer Personalbogen nicht in erster Linie ist, geeignete Persönlichkeiten für Stellungen im öffentlichen Leben zu finden, sondern umgekehrt, geeignete Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens zu finden, die wir zu Mitarbeitern in unserer kirchlichen Arbeit machen können. Der Gedanke ist, zunächst einen kleinen Kreis von Persönlichkeiten auszuwählen, und diese dann nachdrücklich mehrere Jahre hindurch kirchlich zu fördern, [...]." (E. Ruppel an E. Müller, 10.4. 1952, LkA Hannover, L 3 III, 254). 288) Schreiben Rankes an E. Müller mit Anlagen, Bonn, 4.4. 1952, LkA Hannover, L 3 III, 254. 289) „Betr. Gewinnung führender kirchlicher Mitarbeiter"; Beilage zum Schreiben Rankes an E. Müller, Bonn, 4.4. 1952, LkA Hannover, L 3 III, 254.
4. Die weitere Entwicklung des
Kronberger Kreises
109
denten der Kirchenkanzlei der EKD, Heinz Brunotte, modifiziert worden waren, lehnten sich in der Auswahl der Berufsgruppen an die Struktur der Bundesministerien an. So sollten neben einem Richter je ein Vertreter des auswärtigen Dienstes, der Inneren sowie der Finanz-, Wirtschafts-, Verkehrs-, Post-, Flüchtlings-, Arbeits-, Landwirtschafts- und Wohnungsbauverwaltung in der Kartei verfügbar sein. Darüber hinaus bestand nach Rankes Auffassung Bedarf an Schulleitern, Alt- und Neuphilologen, Naturwissenschaftlern und Mathematikern. Ein wichtiges Kriterium war die Laufbahnprognose. Die ausgewählten Personen sollten aufgrund ihrer Qualifikation und beruflicher wie menschlicher Eignung in der Lage sein, im Laufe ihrer Karriere Positionen als Regierungsdirektoren oder Ministerialräte zu erreichen.290 Damit war klar, welchem Zweck die Personalkartei nach Rankes Meinung zu dienen hatte. Mit ihrer Hilfe sollte gezielt christlichen Werten verpflichteter und der evangelischen Kirche verbundener Nachwuchs für die höheren Exekutivorgane in Bonn ausgewählt und gefördert werden. Genau die gleiche Absicht verfolgte auch Hermann Ehlers, als er anregte, eine Personalkartei für den Evangelischen Arbeitskreis anzulegen. Sie sollte nicht nur potentielle Mitarbeiter der CDU unter den evangelischen Pfarrern und Laien erfassen, sondern auch Kandidaten „für die Besetzung von Beamtenstellen und anderen Posten des öffentlichen Dienstes"291 registrieren. Hintergrund der nahezu zeitgleichen Initiativen des EAK und des Kronberger Kreises zur Anlage von Personalkarteien war die verstärkte „Katholisierung" der Bundesministerien, die man auf evangelischer Seite festzustellen glaubte. Die freiwerdenden Stellen wurden vorwiegend mit Katholiken besetzt und ließen auf das Bestreben der Regierung schließen, das nach wie vor bestehende Übergewicht der Protestanten in zentralen Positionen der öffentlichen Verwaltung zu beseitigen.292 Hermann Ehlers begründete deshalb die Notwendigkeit einer planvollen evangelischen Personalpolitik so:
„Wir wollen den Versuch machen, auf diese Weise eine evangelische Personalkartei anzule-
gen, die uns endlich in den Stand setzt, dem Vorwurf zu begegnen, daß wir zwar Forderungen auf eine paritätische Besetzung von Stellen der öffentlichen Verwaltung stellten, aber nicht in der Lage seien, geeignete Persönlichkeiten zu benennen."29
Damit entsprach Ehlers ganz der Linie Thaddens und Liljes, die bei der Gründungssitzung des Kronberger Kreises betont hatten, wie wichtig Personalpolitik unter konfessionellen Gesichtspunkten sei und daß sie zu den Hauptaufgaben des neuen Zusammenschlusses gehören müsse.294 Die gemeinsame Intention legte es
29°) Ebd. 291) Rundschreiben H. Ehlers an die Mitglieder des Geschäftsfuhrenden Ausschusses des EAK der CDU, Bonn, 30.7. 1952, ACDP, IV-001-002/1. 292) Staatssekretär Walter Strauß behauptete gegenüber seinen Parteifreunden, daß diese
Entwicklung erst eingesetzt habe, nachdem Adenauer, auf Niemöllers Vorwürfe gegen das „katholische Bonn" reagierend, eine Konfessionsstatistik in Auftrag gegeben habe; vgl. das vertrauliche Kurzprotokoll der Tagung des Geschäftsführenden Ausschusses des EAK der
CDU vom 29.9. 1952, ACDP IV-001-002/1. 293) Ebd. 294) Vgl. das handschriftliche Protokoll E. Ruppels von der Gründungssitzung am 267 27.11. 1951 sowie von dem Treffen des Kronberger Kreises am 5.5. 1952, LkA Hannover, N 60, 374.
110
//. Der Kronberger Kreis
nahe, die verschiedenen Initiativen zu koordinieren. Tatsächlich trat die Personalstelle unter dem Namen „Evangelische Arbeitsgemeinschaft für öffentliche Verantwortung" ins Leben, konnte aber die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen. Als Otto A. Friedrich im November 1953 bei Eberhard Müller anfragte, wo die Arbeitsgemeinschaft „domiziliert"295 und an wen er sich dort in einer vertraulichen Personalangelegenheit zu wenden habe, mußte Müller eingestehen, daß sie noch im Aufbau begriffen sei und deshalb vermutlich keine Vorschläge unterbreiten könne.296 Das blieb auch in Zukunft so; der Versuch, mit Hilfe einer bürokratischen, eine Vielzahl von Gremien an Entscheidungen beteiligenden Instanz Personalpolitik auf höchster Ebene zu betreiben, war von vornherein zum Scheitern verurteilt. Erich Ruppel hatte das vorausgesehen und gegenüber Plänen von Oberkirchenrat Ranke, die Personalstelle bei einer eigens einberufenen großen Kundgebung der evangelischen Verbände in Bonn publik zu machen, auf Diskretion gepocht, weil Politiker gewohnt seien, in Personalfragen darauf größten Wert zu legen.297 Da die „Arbeitsgemeinschaft für öffentliche Verantwortung", die bis in die sechziger Jahre bestand,298 nie erfolgreich arbeitete, blieb das Problem einer gezielten evangelischen Personalpolitik weiter ungelöst. Der Kronberger Kreis versuchte einen Teil ihrer Aufgaben auf informeller Basis zu übernehmen. Personalfragen spielten daher in den privaten Gesprächen am Rande der Kronberger Zusammenkünfte immer eine Rolle, standen aber nicht offiziell auf dem Programm der Tagungen.299 Dessenungeachtet konnte sich der Kronberger Kreis als
295)
So in dem Schreiben von Otto A. Friedrichs Sekretär an E. Müller, Hamburg-Harburg, 5.11. 1953, EABB, AZ 90/4. 2%) E. Müller an O.A. Friedrich, o. Ort, 13.11. 1953, EABB, AZ 90/4. 297) Eberhard Müller, Oberkirchenrat Ranke sowie ein Vertreter des Evangelischen Bundes, der über gute Kenntnisse des Katholizismus verfüge, die für Personalangelegenheiten nützlich sein könnten, sollten nach Meinung Ruppels die Führung der Arbeitsgemeinschaft für öffentliche Verantwortung in Händen halten; vgl. E. Ruppel an E. Müller, o. Ort, 10.4. 1952, LkA Hannover, L 3 m, 254. 298) Thadden schlug im Januar 1964 vor, die Arbeitsgemeinschaft aufzulösen. Ihr Wirken bilanzierend schrieb er: „Nach meiner Überzeugung ist die Periode vorüber, wo die Bemühungen um ein sachliches und personales Gleichgewicht der beiden Konfessionen in Bezug auf die Ämterbesetzung an wichtigen Stellen der Bundesrepublik noch einen tatsächlichen Dienst geleistet haben. Ganz groß war übrigens dieser Dienst überhaupt niemals! Wie ich die Dinge sehe, sind die Probleme, die damals zur Debatte standen, heute auf der ganzen Linie überholt. [...] und so bleibt per saldo nur die Enttäuschung übrig, daß unsere zur Verfügung gestellten geldlichen Mittel praktisch die Hoffnungen gar nicht verwirklichen helfen konnten, die wir einst an die Gründung der Arbeitsgemeinschaft geknüpft haben." (R.v. Thadden an E. Müller, Fulda, 28.1. 1964, EABB, AZ 26 II, Korr. 1962-1972). 299) Das wurde von den Zeitzeugen einhellig berichtet. Keiner der Befragten war allerdings bereit, konkrete Beispiele zu nennen. In den Korrespondenzen von „Kronbergern" finden sich aber einige Belege für personalpolitische Initiativen: Reinold von Thadden berichtete im Juli 1952 von Gesprächen mit Bundeskanzler Adenauer, den Staatssekretären Lenz und Hallstein sowie mit Hermann Ehlers. Allerdings sei er dabei noch nicht „auf das unmittelbar in Schönberg gestellte personale Thema", die Besetzung des Botschafterpostens beim Vatikan, zu sprechen gekommen (R.v. Thadden an E. Müller, EABB, AZ 26 II, Korr. 19491961). Eberhard Müllerbat die Arbeitsgemeinschaft im Februar des Jahres für den früheren Ministerialrat im württembergischen Justizministerium, Walter Müller, tätig zu werden, damit dieser die Stelle des Senatspräsidenten im vierten Zivilsenat des Bundesgerichtshofes erhalte (E. Müller an Ministerialrat Bake, o. Ort, 11.2. 1958, EABB, AZ 90/6).
4. Die weitere
111
Entwicklung des Kronberger Kreises
Schaltstelle für kirchenverbundene, politisch konservative, CDU-nahe Nachwuchskräfte etablieren. Als der Geschäftsführende Ausschuß des Evangelischen Arbeitskreises der Unionsparteien im Oktober 1954 darüber beriet, ob „ein Ausschuß für Personalfragen bei der Bundessynode gebildet werden" solle, sprach Hermann Ehlers sich dagegen aus. Dafür seien erstens Oberkirchenrat Ranke, beziehungsweise Prälat Kunst, zweitens der Evangelische Arbeitskreis selbst und drittens der „Kronberger Kreis (Leiter-Kreis der Evangelischen Akademie)" zuständig.300 Der Vorsitzende des EAK betrachtete demnach den Kronberger Kreis zu diesem Zeitpunkt als eine Instanz, die der Union Personal für politische und administrative Spitzenpositionen zuführen sollte. Inwieweit diese Funktion in den folgenden Jahren wahrgenommen werden konnte, das heißt, wie erfolgreich der Kreis mit seiner Personalpolitik war, läßt sich nicht mit Sicherheit sagen.301 Da nach dem frühen Tod von Hermann Ehlers 1954 und Robert Tillmanns, der 1955 starb, die Zusammenarbeit zwischen Kronberger Kreis und EAK für geraume Zeit einschlief,302 dürften die personalpolitischen Einflußmöglichkeiten auf der Bonner Regierungsebene eher gering geblieben sein. Ähnlich ergebnislos wie die Anstrengungen auf personalpolitischem Gebiet waren auch die Versuche des Kronberger Kreises, den mit der Wehrdenkschrift errungenen Erfolg zu wiederholen und sich zu einer schlagkräftigen, in politischen Streitfragen geschlossen agierenden Gruppe weiterzuentwickeln. Zwei Beispiele sollen verdeutlichen, wie und warum die Initiativen des Kreises im Sande verliefen: die Vorbereitungen zum Stuttgarter Kirchentag 1952 und die Steuerdenkschrift aus dem gleichen Jahr. Auf seiner dritten Tagung wandte sich der Kronberger Kreis einer Aufgabe zu, die inhaltlich mit der Wehrdenkschrift in engem Zusammenhang stand und die eigene Position weiter stärken sollte. Auf dem Kirchentag in Stuttgart war die Kirchentagssektion III mit der Leitfrage überschrieben: „Was geht den Christen die Politik an?" Bei dieser Themenstellung war klar, daß die Frage der westdeutschen Wiederbewaffnung nicht ausgeklammert bleiben konnte. Angesichts der zu erwartenden Teilnehmerzahl und der öffentlichen Resonanz, welche die Kirchentage bisher gefunden hatten, bot sich dieses Forum geradezu an, um die eigenen Ideen und Positionen vor einem großen Publikum darzustellen. Der Kronberger Kreis
personalpolitische
30°)
Vertrauliches Protokoll des Geschäftsführenden Ausschusses des EAK
301)
Selbst die
1954, ACDP, IV-001-002/1.
Tagebuchaufzeichnungen Otto
Küsters und die
vom
6.10.
Log-Notizen Otto A. Fried-
richs, die beide nicht allein über die Plenardebatten, sondern auch über persönliche Gespräche am Rande berichteten, enthalten nur wenige Hinweise auf konkrete Fragen der Personalpolitik. So heißt es z.B. in den Log-Notizen Friedrichs vom 23.10. 1966: „Habe mit ihm [Gerhard Stoltenberg] Besetzung Wiss[enschafts]rat besprochen u[nd] Mommsen's [...] Nachfolge. Man möchte aber auch Dr. Schneider [...] Nachfolgeplatz sichern." (ACDP, I093 050/1). 302) Vgl. E. Ruppel an E. Osterloh, o. Ort, 4.7. 1956, LkA Hannover, N 60, 374. Ruppel schrieb im Auftrag des Kronberger Kreises an Edo Osterloh: „In den letzten Jahren haben wir leider etwas die Verbindung zu maßgebenden Stellen in Bonn dadurch verloren, daß Herr Bundestagspräsident Dr. Ehlers und auch Dr. Tillmanns, der ein regelmäßiger Teilneh-
Zusammenkünfte war, heimgegangen sind. Dr. cherweise nicht regelmäßig teilnehmen." mer unserer
Pferdmenges
kann verständli-
112
//. Der Kronberger Kreis
versuchte deshalb, Einfluß auf die Redner der Sektion III zu nehmen und lud sie zu zwei vorbereitenden Tagungen nach Kronberg ein. Die erste fand am 5. und 6. Mai im geschlossenen Rahmen des Kronberger Kreises statt, von den vorgesehenen Referenten der Kirchentagssektion waren lediglich die ohnehin zum Kreis gehörenden Hans Puttfarcken und Hermann Ehlers anwesend.303 Wie hoch gesteckt die Erwartungen an dieses Treffen bei Eberhard Müller waren, geht aus seinem Einladungsschreiben an Hermann Ehlers hervor. Der Kronberger Kreis, heißt es darin, habe „sozusagen im Auftrag des Kirchentages die Verantwortung" übernommen, die Arbeitsgruppe III vorzubereiten. Weiter schrieb Müller: „Ich würde es ganz besonders begrüßen, wenn Sie bei der diesmaligen Zusammenkunft dabei sein könnten, da bei diesem Treffen gewissermaßen die Weichen gestellt werden, die bis zu einem gewissen Grad darüber entscheiden, was sich bei dieser Arbeitsgruppe auf dem Kirchentag abspielen wird. Es ist zu hoffen, daß die Redner, die auf dem Kirchentag zu diesem Thema sprechen werden, bei dieser Zusammenkunft anwesend sein werden." In Kronberg beschäftigten sich die Teilnehmer der Tagung dann sowohl mit der Konzeption des Referats über die christliche Verantwortung in der Politik als auch mit dem zweiten Thema:
„Wie sehen wir die Zukunft".305 Am Ende werteten die
Kirchentagsverantwortlichen die Zusammenkunft als Erfolg: „Aufs Ganze gesehen, sind wir froh abgefahren [...]. Ist doch schön, daß wir wieder Wind in die Segel bekommen haben", schrieb Heinrich Giesen an Eberhard Müller.306 Die Ergebnisse der Besprechung sollten von Friedrich Ernst, Otto Küster und Ernst Friedlaender schriftlich zusammengefaßt und an die Referenten der Arbeitsgruppe III verschickt werden, um in die weiteren Vorbereitungen einfließen zu können.307 Dazu kamen am 20. und 21. Mai Kirchentagsmitarbeiter zu einem Treffen zusammen, bei dem auch „Denkende mehrerer Parteien und vor allen Dingen die Brüder aus dem Osten" anwesend waren, von denen der Kronberger Kreis „seine Gedanken korrigieren lassen" mußte.308 Ende Juni, knapp zwei Monate vor dem Stuttgarter Kirchentag, wurden in Kronberg die Referate bei der zweiten Vorbereitungssitzung des Kreises noch einmal besprochen. Davon, daß der Kronberger Kreis die Weichen für den Verlauf der Kirchentagssektion stellte, wie Müller vorher vollmundig angekündigt hatte, kann aber nur in sehr eingeschränktem Maß die Rede sein. Im Referat Hans Puttfarckens schlugen sich die Gespräche in Kronberg noch am deutlichsten nieder. Hermann Ehlers trug in Stuttgart dagegen vor allem die Gedanken vor, die er selbst in die Diskussion am 5. und 6.Mai eingebracht hatte. 303)
Heinrich Giesen führte in einem Schreiben an Professor Scheuner außer den GenannReinold von Thadden, Wilhelm Plog, Erich Ruppel, Oskar Söhngen und Hans Broche (irrtümlich Brosch), Ernst Friedlaender, Friedrich Ernst, Otto Küster, Eberhard Müller und sich selbst als Teilnehmer der Besprechung auf; vgl. H. Giesen an Professor Scheuner, o. Ort, 7.5. 1952, EABB, AZ 90/1. 304) E. Müller an H. Ehlers, o. Ort, 10.4. 1952, EABB, AZ 90/1. 305) Vgl. H. Giesen an Professor Scheuner, o. Ort, 7.5. 1952, EABB, AZ 90/1, sowie das Protokoll E. Ruppels, LkA Hannover, N 60, 374. 106) H. Giesen an E. Müller, Fulda, 7.5. 1952, EABB, AZ 90/1. Vgl. auch die ähnlich positive Wertung des Kirchentagspräsidenten in seinem Schreiben an Eberhard Müller; R.v. Thadden an E. Müller, Fulda, 5.6. 1952, EABB, AZ 90/2. ,07) H. Giesen an E. Müller, Fulda, 7.5. 1952, EABB, AZ 90/1. 308) H. Giesen an Professor Scheuner, o. Ort, 7.5. 1952, EABB, AZ 90/1. ten
4. Die weitere
Entwicklung des Kronberger Kreises
113
Der aus der DDR kommende Propst Hildebrand, ebenfalls als Redner vorgesehen, war zu keiner der beiden Sitzungen in Kronberg gekommen, und ob Helmut Gollwitzer,309 auf dessen Teilnahme vor allem Reinold von Thadden besonderen Wert gelegt hatte,310 Ende Juni mit den „Kronbergern" zusammentraf und sich von ihnen beeinflussen ließ, ist nicht mit Sicherheit zu sagen.3" Das tatsächliche Gewicht der ausführlichen Gespräche in Kronberg ist also eher gering zu veranschlagen, auch wenn der Verlauf der Kirchentagssektion III mit den moderaten Tönen Gollwitzers312 zur Wiederbewaffnungsfrage insgesamt den Vorstellungen der „Kronberger" entsprochen haben dürfte. Intern hatten die Treffen im Frühsommer 1952 zur Folge, daß die ungeklärte Frage nach Aufgabe und Funktion des Kreises neu aufgeworfen wurde. Reinold von Thadden wehrte sich schon nach der ersten Zusammenkunft in Mai dagegen, den Teilnehmern das Recht zu konkreten inhaltlichen Vorgaben für die Kirchentagsreferenten einzuräumen. Dafür waren zwei Gründe ausschlaggebend: Erstens sah von Thadden die Gefahr, daß der Kronberger Kreis zu starken Einfluß auf die Kirchentage gewinnen könnte, wenn er sich auf Dauer zu einer Arbeitsgruppe zur Kirchentagsvorbereitung entwickeln würde. Er plädierte stattdessen dafür, das Gremium klein zu halten und nur äußerst selten durch externe Sachverständige aus dem Umfeld des Kirchentages zu ergänzen. Außerdem schrieb er dem Kreis die viel grundsätzlichere Aufgabe zu, „die Abzeichnung der großen Linien des Denkens" zu leisten. Deshalb trat er dafür ein, den Sinn des Kreises nicht „in fortgesetzten Entschließungen und zweckbestimmten Aktionen, als vielmehr in dem Austausch unserer Meinungen und in der Klärung unserer verantwortlichen Überzeugung zu suchen".313 Erich Ruppel schloß sich Thadden an: Auch ihm schien in den vertraulichen Aussprachen über „fundamentale Öffentlichkeitsfragen" der eigentliche Wert des Kreises zu liegen. Er bat Müller deshalb, sich zurückzuhalten, wenn es darum gehe, dem Kreis konkrete Aufgaben zuzuweisen.314 Aus beiden Stellungnahmen
309)
Eberhard Müller verschwieg Gollwitzer gegenüber die Existenz des Kronberger KreiIn dem Einladungsschreiben zur Tagung am 28. und 29. Juni sprach er von einem „Treffen von etwa 15 führenden Leuten des öffentlichen Lebens in Deutschland [...], mit denen wir die Probleme der Arbeitsgruppe III durchsprechen." (E. Müller an H. Gollwitzer, o. Ort, 10.6. 1952, EABB, AZ 90/1). 3IÜ) Über Gollwitzer schrieb von Thadden an Müller: „Der muß natürlich erscheinen, wenn unser Zusammensein nicht inhaltlich entleert sein soll, und gegen ihn hat ja auch Hanns [Lilje] gar nichts einzuwenden." (R.v. Thadden an E. Müller, Fulda, 5.6. 1952, EABB, AZ 90/ ses.
2)-
31
') Über die Tagung am 28. und 29. Juli existieren weder Mitschriften Erich Ruppels noch Tagebuchaufzeichnungen Otto Küsters. ,l2) Die entscheidende Passage in Gollwitzers Rede ließ die Frage offen, ob die Wiederbewaffnung zu befürworten oder abzulehnen sei: „Es kann unter uns Uneinigkeit darüber entstehen, ob eine politische Maßnahme wirklich der Erhaltung des Friedens dient, ob also z.B. der westdeutsche Wehrbeitrag uns dem Frieden oder dem Kriege näherbringt. Ein letztes
Urteil darüber wird niemand unter uns sprechen können, da auf beiden Wegen, auf dem Wege des Ja wie des Nein zum Wehrbeitrag, Gefahren für den Frieden sichtbar sind." (Helmut Gollwitzer: Forderungen der Freiheit. Aufsätze und Reden zur politischen Ethik, München 1962). Vgl. dazu D. Koch: Heinemann, S.359f. 313) R.v. Thadden an E. Müller, Fulda 5.6. 1952, EABB, AZ 90/2. 314) E. Ruppel an E. Müller, Hannover 28.5. 1952, EABB, AZ 90/2, Durchschrift LkA Hannover, N 60, 374.
114
//. Der Kronberger Kreis
spricht das Unbehagen, sich im Auftrag des Kreises für bestimmte Interessen einsetzen zu müssen, die nicht unbedingt immer den eigenen entsprachen. Stattdessen sollte die freie Aussprache im Vordergrund stehen, die interessant, anregend und auch kontrovers sein sollte, bei der aber von keinem der Teilnehmer verlangt
werden konnte, verbindliche Beschlüsse mitzutragen. Was sich in den Äußerungen Thaddens und Ruppels aus dem Frühsommer 1952 bereits abgezeichnet hatte, wurde später Realität: Der Kronberger Kreis entwickelte sich im Lauf der Zeit zu einem reinen Diskussionsforum vor allem aufgrund eines weiteren Fehlschlags: Nach dem Stuttgarter Kirchentag ging der Kronberger Kreis ein neues „Projekt" an. Gemeinsam mit Wirtschafts- und Finanzexperten wollte er eine Denkschrift zu Steuermoral und Staatsgesinnung erarbeiten, in der das grundlegende Problem vorgeblich mangelnder Staatsloyalität der Bundesbürger thematisiert werden sollte. Taktisch und praktisch beschritt man dabei teilweise neue Wege. Der Kreis plante von Beginn an, nicht unter sich zu bleiben, sondern die Hilfe einer größeren Zahl von Fachleuten in Anspruch zu nehmen. Die Existenz des Kronberger Kreises sollte diesen dabei allerdings verborgen bleiben. Aus diesem Grund erschienen als Absender auf den Einladungen zu der vom 17. bis 19. Oktober in Unkel am Rhein stattfindenden Arbeitstagung wie vorher in Kronberg beschlossen der Deutsche Evangelische Kirchentag und der Leiterkreis der Evangelischen Akademien.315 Eberhard Müller, der dem Leiterkreis vorstand, handelte ohne vorherige Rücksprache mit seinen Kollegen von anderen Akademien, als er das Gremium für die Interessen des Kronberger Kreises in Anspruch nahm und zu der Veranstaltung einlud.316 Offiziell ging es laut Einladungsschreiben darum, eine Denkschrift zur „Steuer- und Besteuerungsmoral" zu erarbeiten, da dieses Thema auf der Tagesordnung des nächsten Kirchentags stehen werde.317 Die Vorbereitungen für die Unkeier Tagung reichten bis in den Sommer 1952 zurück, als sich Müller mit Finanzexperten und Vertretern der Wirtschaft sowie des Bundes der Steuerzahler mehrere Male in Stuttgart getroffen hatte, um er-
-
-
konzeptionelle Gedanken auszutauschen.318 Insgesamt etwa 30 Personen nahden ersten vorbereitenden Sitzungen teil, darunter einige von Heinrich Kost und Otto A. Friedrich vorgeschlagene Wirtschaftsfachleute,319 aber kein offizieller Vertreter der Gewerkschaften oder der SPD.320 Die Tagung in Unkel, zu der Finanzminister Schäffer sein Kommen zugesagt hatte, sollte zur bis dahin größten Veranstaltung des Kronberger Kreises werden. Von den insgesamt 87 an den Vorste
men an
E. Müller an R.v. Thadden, o. Ort, 26.8. 1952, EABB, AZ 52/4. Das Schreiben trägt den Vermerk: „Sofort nach dem Kirchentag erledigen!" 316) Am Ende seines Schreibens heißt es: „Ich hoffe, daß Sie mit dieser Maßnahme einverstanden sind und lade Sie alle jetzt schon zu dieser Arbeitstagung ein." (E. Müller an die Leiter der Evangelischen Akademien, Bad Boll, 12.8. 1952, EABB, AZ 52/4 und LkA Han-
315)
nover
N
78, 435).
317) Ebd. 318) Vgl. die Aktennotiz „Betr.: Vorbereitung Steuertagung" vom 27.6.
1952 sowie die Teilnehmerliste der Kommissionssitzung vom 11.8. 1952 (beide Dokumente EABB, AZ 53/5). "*) Vgl. E. Müller an O.A. Friedrich, o. Ort, 2.7. 1952, sowie die Antwort Friedrichs, Hamburg-Harburg, 7.7. 1952 (beide Schreiben EABB, AZ 52/4). 32°) Vgl. die beiden Listen der „Teilnehmer an Kommissionssitzungen zur Vorbereitung der Steuertagung in Unkel/Rhein" (EABB, AZ 53/5).
4. Die weitere Entwicklung des Kronberger Kreises
115
bereitungen Beteiligten waren etwa 50 eingeladen worden,321 es kamen aber nur rund dreißig, selbst von den damals 25 „Kronbergern" war nur ein Drittel erschienen.322 Die Teilnehmerzahl blieb also bescheiden, das Ergebnis der Tagung war es ebenfalls: Es bestand in einem vierseitigen „Entwurf eines öffentlichen Wortes zum Thema: ,Steuerethos und Staatsgesinnung in ihrer Wechselwirkung'".323 Darin wurde davor gewarnt, daß angesichts erhöhter Steuerlasten bei den Bürgern die Meinung entstehen könnte, „als sei der Staat nicht mehr der Hüter des Rechtes und ein Schützer des redlich erworbenen Eigentums".324 Ein großer Teil der finanziellen Lasten stamme aus früheren Zeiten und müsse jetzt von der Allgemeinheit mitgetragen werden. Keiner dürfe sich seinen Verpflichtungen gegenüber dem Gemeinwesen entziehen, denn Steuerhinterziehung sei kein Kavaliersdelikt. Der staatlichen Seite wurde nahegelegt, über eine Abgabensenkung nachzudenken, Bürgernähe zu praktizieren und sich so weit aus Sozialmaßnahmen zurückzuziehen, daß die Eigeninitiative der Staatsbürger nicht erstickt werde.325 Bis zum Er-
scheinen der Denkschrift Ende Juli 1953 verlief das Procederé nun nach dem von der Wehrdenkschrift bekannten Muster. Der Entwurf wurde an die Mitglieder des Kronberger Kreises und die Teilnehmer der Vorbereitungstagungen verschickt,326 nach deren schriftlicher Kritik überarbeitet327 und abschließend um die Unterzeichnung der Entschließung gebeten.328 Die Denkschrift, die unter dem Titel „Steuerethos und Staatsgesinnung" schließlich erschien, umfaßte nur noch zwei Seiten, war also etwa um die Hälfte gekürzt worden, was bei dem ohnehin dürftigen Gehalt ohne weiteren Substanzverlust vonstatten gegangen war.329 Sie trug 34 Unterschriften: 10 der Unterzeichner stammten aus dem Kronberger Kreis, die meisten anderen kamen aus den Reihen der beteiligten Finanzfachleute. Selbst der DGB-Vorsitzende Walter Freitag hatte seinen Namen unter das Dokument gesetzt und mit Fini Pfannes, der Vorsitzenden des Deutschen Hausfrauenbundes, war neben 33 Männern sogar eine Frau zu finden. Die Denkschrift wurde von einer Reihe regionaler und überregionaler Zeitungen in Auszügen veröffentlicht,330 die publi-
321)
Eberhard Müller nannte in seinem Einladungsschreiben an die Freunde der Evangelischen Zusammenarbeit (o. Ort, 15.9. 1952, EABB, AZ 53/5) die Zahl von 25 Personen, die zusätzlich zum Kronberger Kreis nach Unkel eingeladen worden seien. Die dem Brief angeheftete Liste der Mitglieder der Kreises, verzeichnet 24 Namen (ohne E. Müller). 322) Vgl. die Liste „Teilnehmer an Kommissionssitzungen, Theologen, Frankfurter Kreis, Wirtschaftsgilden", EABB, AZ 53/5. Zu den Mitgliedern des Kronberger Kreises wurden laut dieser Liste auch Helmut Gollwitzer, Helmut Thielicke und Wolfgang Trillhaas gezählt; Thielicke hatte vor dem Oktober 1952 bereits seinen Austritt erklärt, Gollwitzer dem Kreis nie angehört und Trillhaas war bis dahin zu keinem Treffen erschienen. 323) EABB, AZ 90/3. 324) Ebd. 325) Ebd. ,26) Vgl. das Begleitschreiben E. Müller an die Freunde der Evangelischen Zusammenarbeit, Bad Boll, 30.10. 1952, EABB, AZ 90/3. 327) Eine Zusammenfassung der Einwände findet sich im Archiv der Evangelischen Akademie Bad Boll, EABB, AZ 53/5. 328) Die Anschreiben mit der Bitte, die Denkschrift zu unterzeichnen, tragen das Datum vom 8.7. 1953, vgl. z.B. E. Müller an E. Plutte, o. Ort, 8.7. 1953, EABB, AZ 52/4. 329) „Steuerethos und Staatsgesinnung" (Fassung vom 20.1. 1953), LkA Hannover, N 60, 374. 33°) Liste der Zeitungen und Zeitschriften, EABB, AZ 53/5.
//. Der Kronberger Kreis
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zistische Resonanz war insgesamt aber gering. Zu wenig spektakulär war der Inhalt des Veröffentlichten. Der Versuch der „Kronberger", sich das Wissen von Experten, die nicht dem Kreis angehörten, zu Nutze zu machen und trotzdem mit etwa einem Drittel eigener Leute, die Gedankenführung in der Redaktionskonferenz für eine öffentliche Verlautbarung bestimmen zu können, war fehlgeschlagen. Die widerstreitenden Interessen im Kronberger Kreis selbst waren die entscheidende Ursache dafür, daß am Ende kein Dokument stand, das als geistiges Produkt des Kreises betrachtet werden kann, sondern ein in weiten Teilen konturloser Kompromißtext, bei dem nicht einmal klar wurde, an welche Adressaten er sich wandte: an die Bürger oder an die Regierung. Statt an einem Strang zu ziehen, hatten sich die Mitglieder des Kronberger Kreises auseinanderdividieren lassen und waren ihren individuellen Interessen sowie den eigenen unterschiedlichen wirtschafts-und fiskalpolitischen Vorstellungen gefolgt. Zur Fassung der Denkschrift, wie sie nach der Unkeier Tagung vorlag, erklärten neun von ihnen ihre Zustimmung, darunter alle drei Kirchentagsmitarbeiter, aber nur drei Vertreter der Industrie.331 Dem standen sechs Einsprüche aus dem Kreis gegenüber, vorwiegend aus den Bereichen der Landwirtschaft, der Industrie oder dem Bankgewerbe.332 Die Einwände reichten von prinzipieller Kritik und der Forderung, einen völlig neuen Text „in der Richtung des von Wilhelm Röpke vorgeschlagenen ,dritten Weges'"333 zu verfassen, bis hin zu Vorschlägen rein redaktioneller Änderungen.334 Die beiden wichtigsten Ursachen für diesen Fehlschlag waren der Mangel einer verbindlichen Wirtschafts- und Sozialethik im Protestantismus, die als Richtlinie und Korrektiv individueller Interessenlagen hätte dienen können, sowie die nach wie vor bestehenden Unklarheiten über Sinn und Zweck des Kronberger Kreises. Die letztgenannte Frage drängte mit der Unkeier Tagung verstärkt auf eine Lösung. Friedrich Ernst hegte schwerwiegende Zweifel, „ob sich die Arbeitstagung in Unkel noch im Rahmen dessen hält, was wir s.Zt. in Frankfurt als Ziel und Aufgabe unseres Kreises umrissen haben."335 Er machte keinen Hehl daraus, daß er Verlautbarungen der Kirche oder kirchlicher Kreise zu Finanz- und Steuerfragen grundsätzlich ablehnte.336 Eberhard Müller entgegnete Ernst, daß gerade die Unkeier Tagung „mehr als alle unsere bisherigen Treffen der Zielsetzung unseres 33
')
Einverstanden waren Otto Heinrich Ehlers, Heinrich Giesen und Reinold von Thadden-
Trieglaff, Hans Puttfarcken, Otto Küster und Hans Meinzolt sowie die Bergwerksdirektoren Hans Broche und Oskar Söhngen, die zum engeren Kirchentagsumfeld zu rechnen sind, als weiterer Vertreter der Wirtschaft nach einigem Zögern auch der Textilfabrikant Ernst-
Günter Plutte (Liste der mit der Denkschrift Einverstandenen, EABB, AZ 53/5, zu Pluttes Haltung siehe auch dessen Brief an E. Müller, Wuppertal/Barmen, 11.6. 1953, EABB, AZ
52/4).
Pferdmenges sowie 332) Einspruch eingelegt hatten die Bankiers Friedrich Ernst und RobertAdolf
Blomeyer (LiMartin Sogemeier, Hermann Weinkauff, Udo Fürst zu Löwenstein und ste der Einsprüche gegen die Denkschrift, EABB, AZ 53/5). AZ 52/4, 333) A. Blomeyer an L. Ihmels, Haus Beck, 15.11. 1952, EABB, 334) Z.B. von Robert Pferdmenges, vgl. R. Pferdmenges an E. Müller, Köln, 15.11. 1952, EABB, AZ 52 2,2. 335) F. Ernst an E. Müller, 25.9. 1952, Berlin-Nikolassee, EABB, AZ 52/4. AZ 52/4. 33