Die Rechtslage des deutschen Protestantismus 1800 und 1900 [Reprint 2019 ed.] 9783111602707, 9783111227535


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Vorträge der theologischen Konferenz zu Gießen
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Die Rechtslage des deutschen Protestantismus 1800 und 1900 [Reprint 2019 ed.]
 9783111602707, 9783111227535

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Vorträge der theologischen Konferenz px Gießen. 15. Folge. ------------ -----------

Die Uechtslage bcs

deutschen RrotestantiÄnuF 1800 und 1900. Bon

Hrich Aoerster, Pfarrer in Frankfurt am Main.

Gießen I. Ricker'sche Verlagsbuchhandlung (Alfred Töpelmann) 1900.

Alle Rechte Vorbehalten.

Es ist mit dem Thema abgesehen auf einen Vergleich, auf eine deutliche Hervorhebung des Neuen, was uns die

Rechtsentwicklung

hundert

der evangelischen Kirche

gebracht hat,



im 19. Jahr­

oder, da wir alle doch dieser

evangelischen Kirche nicht als gleichgültige Zuschauer gegen­ überstehen, sondern ihre Glieder und Diener sind, auf eine

Bilanz,

worin wir die Verluste und den Gewinn dieser

Entwicklung recht rechnungsmäßig buchen.

Welches

war die Rechtslage der evangelischen Kirche

oder genauer gesagt des deutschen Protestantismus am Ende des 18. Jahrhunderts?

Lassen wir dabei seine Beziehung

zum Heil. Röm. Reich und zum Papst außer dem Spiele, so wird sie sich so formulieren lassen: Es gab viele einzelne

evangelische Gemeinden,

deren jede ihre eigne

Geschichte

und daher auch ihre eignen Bildungen in Verfassung, Kultus

und Ausprägung gleich

des

Bekenntnisstandes hatte

vor allem die Geistlichen waren.

wobei

Es gab ein protestantisches

Kirchenwesen des preußischen, hessischen u. s. w.

d. h.



bedacht werden muß, daß die Bildner naturgemäß

eine

landesherrliche Verwaltungsbehörde,

Staates, polizeilich

argwöhnisch, wie es dem Wesen des absoluten Polizeistaates entspricht, aber doch gutmütig genug, um in die eigne Ent1*

4 Wicklung der Gemeinden nicht allzu tief einzugreifen.

Es

gab ein Gefühl der Verbundenheit unter den Genossen der­ selben Religionspartei, und damit eine ideale Größe: luthe­

rische, reformierte Kirche;

unbeschränkt

durch

in ganz

blaffen Umriffen und

irgendwelche Landesgrenzen

auch eine

Gemeinschaft aller protestantischen Religionsverwandten. Aber eS gab nicht eine evangelische Kirche, d. h. eine

rechlliche Verbindung aller evangelischen Gemeinden eines

Lande-.

Diese Sätze gilt eS zunächst anschaulicher zu machen. WaS

war die

evangelische

18. Jahrhunderts in der Theorie?

Kirche

am Schluß

deS

Es ist die Theorie des

NaturrechtS, die wir erst im letzten Jahrzehnt durch Sohm und Rieker in ihrer Bedeutung für die Rechtsentwicklung der Kirche haben würdigen und als eine einheitliche haben anfchauen lernen; die Theorie, deren Aufkommen der ent­ scheidende Markstein deS Anfangs der modernen Zeit ist,

weil sie den modernen Staat und die moderne Einzelper­ sönlichkeit geschaffen hat. Die springenden Punkte sind folgend«: ES giebt über­ haupt nur einen einzigen Träger der Rechtsgewalt, und

dieser ist unumschränkt: daS ist der Staat, summum imperium, quod in omni civitate exietit et quo velut anima,

illa vivit ac libratur (Pufendorf).

Neben dieser Staats­

gewalt giebt es keine zweite selbständige, nur abgeleitete, übertragne Gewalt.

Jnfolgedesien hat der Staat auch Ge­

walt über die Kirche; und eS hängt von ihm ab, wie weit er

der Kirche

eine eigne Gewalt zugestehen roiH.

Sie

empfängt von ihm ihr Recht, und sie kann dasselbe von ihm nur so weit empfangen, als es seinen Zwecken dient.

5 Dieser Staatszweck aber ist kein andrer als die salus

publica, er reicht nicht über diese Welt hinaus.

walt des

gegenüber den

Staates

Die Ge­

wacht deshalb

Kirchen

lediglich über der Sicherung und Nichtverhinderung dieses Weiter

Zweckes.

reicht sie

Sie erstreckt sich nicht

nicht.

auf das Innere der Religion: Religio non est objectum

legum

humanarum

actiones

Wie

extemae.

sondern

(Thomasius), ist

es

nun

aber

nur

auf die

mit der vom

Staat abgeleiteten, von ihm den Kirchen zugestandenen Ge­ Wer ist ihr Träger?

walt?

Hier muß der wichtigste Punkt zur Sprache kommen: Die Meister des Naturrechts, Pufendorf, Mosheim, Böhmer,

Pfaff betrachten

die Kirche

nicht als etwas von oben ge­

schaffnes, durch göttliche Veranstaltung und Stiftung zustande

gekommnes; sondern als ein collegium, quae

sind

als

einen Verein,

libera hominum coitione constat (Pufendorf).

es

denn die Einzelnen,

So

die sich freiwillig verbunden

haben, nach einer gewiffen Lehrform Christum gesellschaftlich

zu ehren (Mosheim), welche die Träger des in der Kirche

herrschenden Rechtes sind, soweit dies nicht in den Händen Es giebt innerhalb

der Obrigkeit liegt.

der Kirche nicht

Herrschende und Unterthanen, sie find alle gleich, es giebt überhaupt kein (rechtliches) Regimen ecclesiasticum, sondern

nur — ich möchte sagen — ein freundwilliges Übereinkommen,

dem sich jeder durch

entziehen

und

zu

Absonderung

dem

von dem

Kirchenverein

er durch Rechtsgewalt nicht ange­

halten werden kann.

Man kann sagen, daß das Naturrecht

ein Kirchenregiment

nur

aus

dem

Willen

der kirchlichen

Bereinsgenossen konstruiert, oder da dieser Wille ein recht­

lich

schwer faßbarer ist,

daß es das Kirchenregiment auf-

6 hebt — soweit es nicht mit Matthäus Pfaff eben der recht­

lichen Unfaßbarkeit wegen die jura collegialia der Obrigkeit pacto vel tacito vel expresso überlassen denkt. Damit hängt ein weiteres zusammen: Wenn das Wesen

des Kirchenvereins durch den freiwilligen Zusammenschluß

Gleichgläubiger

Gottesdienst

zu gemeinsamem

konstituiert

wird, so kann als Urform der Kirche nur die Einzelgemeinde

gelten.

Diese ist ja das prius, die societas simplex, die

Religionspartei das posterius,

societas composita.

jene nur durch den Willen der einzelnen Frommen,

Wie

so be­

steht diese nur durch den Willen der einzelnen Gemeinden und

hat nur

Rechtsbuch

von

des

diesen

ihre Gewalt.

Naturrechts,

das

Das klassische

Preußische Allgemeine

Landrecht, zieht daraus folgerichtig den Schluß, daß es als Rechtsgrößen nur die Lokalgemeinden anerkennt und diesen die Verbindung untereinander überläßt.

„Mehrere Kirchen­

gesellschaften, wenn sie gleich zu einerlei Religionspartei ge­ hören, stehen dennoch unter sich in keiner notwendigen Ver­

bindung." Diese den einzelnen Kirchengliedern oder einzelnen Ge­ meinden bleibende Kirchengewalt — wie Es sind

doch

weit reicht sie?

nicht geringe Rechte, die den Kirchen selbst

auszuüben überlassen sind,

aber es

hat keinen Zweck, sie

im einzelnen aufzuzählen; vielmehr soll nur auf zwei Punkte

nachdrücklich hingewiesen werden.

Nämlich, daß es zu einer

Fixierung dieser Rechte und zu ihrem geordneten Gebrauch nur höchst selten kommen konnte, da das Organ fehlte, gültige

Rechtssätze zu stellen,

auch der individualistische Zug der

Zeit dem widerstrebte, daher denn das ganze Gebiet, das

die Rechtsordnung des Staates freiließ, dem Zufall und d. h.

7 in den meisten Fällen der Willkür der Geistlichen überlasten

Und sodann, daß die Bereinsgewalt, diesem Zuge

blieb.

der Zeit entsprechend, der Glaubens- und Gewiffensfreiheit

des Pfarrers weiten Spielraum ließ innerhalb der Grenze, daß dadurch nicht der öffentliche Friede als ein integrierendes

Moment der salus publica

gefährdet werde, in welchem

Falle die Staatsgewalt einzugreifen kompetent war.

Ueberschauen Sie diese theoretischen Sätze, so finden Sie die Schilderung bestätigt, die ich anfangs gab: Es giebt nur zwei rechtlich handliche Institutionen: die Einzelgemeinde

und die

Alles andere ist nicht

staatliche Kirchenpolizei.

Rechtsgröße.

Nur wie ein Schatten lagert über dem Ganzen

die Idee einer evangelischen Kirche.

Wie anders die heutige kirchenrechtliche Theorie!

ES gilt hervorzuheben das, worin sie nur Fortbildung der älteren ist, und worin das neue liegt, das sie geschaffen hat.

Gleichgeblieben ist die Auffassung vom Staat als dem

souveränen Inhaber aller Zwangsgewalt und vom Staats­ zweck als einem irdischen.

Gleichgeblieben, ja erst durchge­

führt ist der Grundsatz, daß den Staat die Kirchen nur so­ weit angehen, als sie die salus publica nicht stören, sondern

fördern.

Gleichgeblieben auch ist die Definition der Kirchen

als Vereine und Genoffenschaften.

Denn erst in der aller­

letzten Zeit hat die kirchenrechtliche Theorie die Unterord­ nung

der Kirchen unter diesen

Begriff prinzipiell

über­

wunden; die für die prakttsche Ausgestaltung der Rechtslage

der evangelischen Kirche maßgebende Anschauung aber hat jene Grundthese vom Naturrecht beibehalten, ja sie — sehr im

Widerspruch zur geschichtlichen Wahrheit — als die urchrist­

liche und genuin-reformatorische behauptet.

Doch hat auch

8 fie in steigendem Maße wie die Lehre von der Entstehung

der Kirche aus dem Willen der Einzelnen umgeworfen, so

cmerkannt, daß Kirchen jedenfalls keine Korporationen wie andere auch seien, sondern ihnen auch begrifflich eine Aus­

nahmestellung

zukommt,

oder

aber

Definition überhaupt verzichtet.

auf

eine

Gleichgeblieben,

begriffliche und auch

erst infolge der Wandlung des Staates aus einem Polizeizum Rechtsstaat durchgesetzt, ist die Anerkennung der Kirche

als

eines

selbständigen Lebensgebiets, besten Inhalt vom

staatlichen Regiment unabhängig ist, so daß dieses fich aus

das jua circa sacra zu beschränken hat, d. h. auf die Ab­ steckung der Grenzen, in welchen die Kirche sich frei bewegen

kann, und auf die Schaffung ihrer rechtlichen Organe. folgedesten kann die

Jn-

heutige Theorie die Rechtsentwicklung

der evangelischen Kirche als »ein Fortschreiten von ursprüng­ licher Einheit und Verbindung zu schärferer Unterscheidung

imd Lösung" ansehen, kann sie die grundsätzliche Verschieden­

heit von Staat und Kirche betonen, und für diese das Ver­ hältnis einer ethischen Gleichordnung mit dem Staat postu­ lieren, d. h. in

allen inneren Angelegenheiten Selbstver­

waltung und Unabhängigkeit von Staatsregierung und Parla­ ment (Kahl).

Aber: Wer ist eS nun, der sich selbst regiert? Wer ist der Träger deS jus in sacra? Das sind nicht die Einzelnen

und nicht die Einzelgemeinden, da der historische Sm« weder in jenen noch in diesen die konstitutiven Elemente der Kirche mehr

anzuerkenne»

vermag.

Träger

der

Kirchenvereins­

gewalt ist die evangelische Kirche, ein selbständiges Rechts­

subjekt, vom Staat geschaffen und mit Zwangsgewalt aus­ gestattet.

WaS ist die evangelische Kirche im Rechtsfinne?

9

Das sind die Behörden, in denen die Gewalt deS Landes­ herm als membrum praecipuum der Kirche — durch die Konsistorien, und der Gemeinden — durch die Wahl von

Synoden, und der Einzelnen — durch die Wahl von Pres­

byterien,

zusammengefloffen

ist.

Dadurch ist ein

große-

Stück Selbstbestimmungsrecht den Gemeinden und einzelnen

Gemeindegliedem,

also auch den Geistlichen, entzogen und

auf eine über ihnen stehende Größe übertragen

worden.

Freilich sind diese an der Gewalt der Kirche beteiligt —

durch die Wahlen —, auch darf nicht verkannt werden, daß

sie immer noch ein gut Teil Selbstherrlichkeit haben, dafür aber ist die Einzelgemeinde nur mehr die Zelle im Organisnius der Kirche, hat in dieser ihren Rechtsgrund, genießt

nur, weil zu dieser gehörig, ihre Privilegien, und wird von dieser beherrscht. Kirche?

Und wie weit reicht diese Gewalt der

Sie ist fixiert gegenüber dem Staat, da sie nichts

erzwingen darf, was gegen dessen Zweck verstößt.

Sie ist

unbegrenzt und in stetem Zunehmen begriffen gegenüber den Einzelgemeinden und Kirchengliedern und

erstreckt sich bis

unmittelbar in das Heiligtum des Glaubens und deS Ge­

wissens. Der Unterschied zwischen diesen

beiden Theorien ist

augenfüllig: Zwischen 1800 und 1900 liegt die Entstehung

der evangelischen Kirche als einer mit eigner walt ausgestatteten Größe.

Zwangsge­

Der deutsche Protestantismus

hat sich damit geschaffen, was er seit der Reformation nicht beseffen hatte, evangelisches Kirchentum, kirchliche Rechtsordnung.

Aber vielleicht hat der Protestantismus dies Kirchen­ tum ursprünglich nicht haben wollen?

Vielleicht ist es

etwas seinem Wesen und den reformatorischen Gmndgedanken

10 Fremdes? Unzweifelhaft ist das der Fall. „Die Refor­ mation war die prinzipielle Negierung und Überwindung der Kirchengestalt des Gottesreichs" (Haupt).

stantismus konnte es nur durch

Der Prote­

eine Berläugnung seines

Wesen- zu einer ecclesia proprie

dicta bringen.

Was

Luther in einer notgedrungenen und nie genug zu bedauern­

den Anlehnung

an den Sprachgebrauch Kirche nennt, das

Volk der Gläubigen, die Christenheit, der Leib Christi, das

ist gar keine Kirche, keine politische Größe, spottet jeder Für ihn giebt es auf Erden nur

rechtlichen Organisation.

ein Gemeinwesen, eine einzige societas, die christliche Gesell­ schaft, innerhalb deren zwei Gewalten herrschen: die Rechts­

gewalt und die Wortgewalt.

Das Organ der ersteren kann

man ja — niodern — Staat, das der letzter« — modern

— Kirche nennen, aber Kirche und Staat stehen dann nicht als zwei Kreise nebeneinander, sondern sie stellen zwei Kegel­

spitzen über einer Grundfläche (Volk) dar.

Dieser reforma­

torische Grundgedanke ist verlassen, wo Kirche und als getrennte Größen Trennung hat das

Staat

nebeneinander gestellt werden. Diese

Naturrecht

der Aufklärung vollzogen.

Nur freilich wird man fragen müssen, wo

diese Berläug­

nung der Reformation eingesetzt hat, ob beim Staats- oder beim Kirchengedanken, d. h. ob die Bildung einer Rechts­

kirche nicht erst die notwendige Folge davon gewesen ist, daß sich der Staat seines reformatorischen Charakters entkleidet,

und die Wortgewalt dadurch widerwillig und mit weitgehen­

der Beibehaltung reformatorischer Gedankenreste gezwungen hat, sich einen eignen Rechtsleib zu schaffen. Indessen

der

die

Wirklichkeit

Theorie und

ist

immer

Abstraktion

nur

der

Abschattung Institutionen.

11

Niie

entsprechen

diese

ihr ganz,

sie

sind

inkonsequenter veraltet be-

unid von Resten eines von

der Theorie

urrteilten Systems durchsetzt.

Dieser Wirklichkeit wenden wir

als

ums nunmehr zu.

Ich erinnere dabei zuerst an ein Wort des Thomasius, dars ich schon oben zitierte: religio non est objectum legum

lnumanarum.

In der That ist im

18. Jahrhundert das

Geebiet dessen weiter, das man nicht durch Gesetze zu regeln

fidi) anm^ßte.

Und

da der Unterschied zwischen Staatsge­

setztzen und Kirchengesetzen noch nicht erfunden war, so war auif diesem weiten Gebiete eine eigne, wildwachsne Entwicklmng möglich. Die kirchlichen Behörden — in Preußen das Luthe­

rische Oberkonsistorium, das deutsch-reformierte Kirchendirektorrium,

das

französisch-reformierte Consistoire suptirieur,

umter Oberaufsicht des geistlichen Departements des Staats-

miinisteriums, in Hessen die Kirchen- und Schulkollegien rc. — tragen den Charakter reiner landesherrlicher Behörden,

eboen deshalb aber gilt auch für ihre Funktionen die Be­ schränkung, die der Staat der Aufklärung sich den Kirchen-

gefsellschaften gegenüber auferlegte: sie haben in das Innere

derr Religionsangelegenheiten nicht hinein zu reden.

Nun

istt nicht zu leugnen, daß in dem bloßen Dasein solcher Be­

hörden eine starke Versuchung liegt, über diesen Grundsatz hiinüberzugreifen, und das ist oft geschehen, zumal die Grenzen

zwischen

äußern

und

innern

Religionsangelegenheiten

ja

auißerordentlich dehnbar sind; dennoch ist zu behaupten, daß

es> für viele Teile des innerkirchlichen Lebens eine mit Rechtsgedwalt gebietende Behörde, kirchliche Rechtsordnung, einfach niccht gab.

12 Beweisend dafür ist, wie außerordentlich frei und mannig­

faltig sich die kirchlichen Institutionen und 18. Jahrhundert entwickelten.

Gebräuche im

Ich nehme meine Beispiele

aus der preußischen Landeskirche, einfach

weil ich dort die

Zustände am genauesten kenne.

Groß war die

Mannigfaltigkeit

fassung der einzelnen Gemeinden.

schon

in

der Ver­

Man erkennt an den

verschiedenen Formen oft auch deutlich ihren Ursprung.

Ich

erinnere nur im Vorbeigehen daran, daß sich nicht wenige «formierte Gemeinden mehr oder weniger spärliche Reste

der alten Presbyterialverfassung erhalten hatten; daß in den Städten das Kirchenregimeut vielfältig in den Händen der

Stadtobrigkeit, und auf dem Lande in den Händen der Patrone lag.

Verschieden war die Beteiligung der Laien

an der Gemeindeverwaltung.

ES gab Inspectio synthetica —

Pfarrer und Bürgermeister, Pfarrer Schultheiß und Schöffen,

auch durch Versammlung der Hausväter —, oder Inspek­ tion nur durch die geistlichen Superintendenten.

Es gab

Gemeinden mit und ohne Kirchenvorsteher, und diese wieder

mit verschiedenen Kompetenzen.

Verschieden war die Be-

setzungSart der geistlichen Stellen: Wahl, Berufung durch die

Patrone, Ernennung durch die landesherrliche Behörde; auch über die Vorbildung und Wahlfähigkeit der Geistlichen sind

nur teilweise einheitliche Bestimmungen nur unvollkommen

durchgesetzt worden.

Verschieden war der Zusammenhang der

Geistlichen unter einander: Inspektionen und Ephorien, denen der Inspektor oder Superintendent vom König oder von der

Stadtobrigkeit gesetzt wurde, Klaffen, Convente, die sich ihre Superintendenten, Metropoliten oder

selbst wählten.

wie sie sonst hießen,

Verschieden waren die Verpflichtungen, die

13 Bterteilung der Kirchenbaulast, der Sustentation der Kirchen-

dieener, das Berfügungsrecht über das Kirchengut, es ist ein

umgeheurer Wirrwar rechtlicher Beziehungen.

Interessanter noch erscheint uns die Buntheit auf dem

Gtebiete des Kultus. Ausdrücklich hatte das Allgemeine Landreecht den Einzelgemeinden das Recht zugesprochen, wegen deer äußeren Form und Feier des Gottesdienstes dienlich« Frormen einzuführen. D. h. in Anbetracht des Übergewichts

deer Geistlichen in liturgischen Fragen, es war in das Be-

lieeben des Geistlichen gestellt, wie er den Gottesdienst kultissch gestalten wollte. Btlüten diese

Welche zum Teil

Mllkür getrieben, liest man am besten und 1800—1809 erschienenen

ercgötzlichsten nach in dem von

Jtournal von H. B. Wagnitz in Halle. ertließ das

sehr wunderliche

geistliche Departement

Am 29. Dez. 1811

des preußischen Ministe-

rirums des Innern an die 7 damals bestehenden Regierungen einte Verfügung, die in ihren Bezirken gebräuchlichen Agenden umd Liturgien zu ermitteln.

Es stellte sich heraus, daß eS

einte einigermaßen feste Ordnung in diesen Dingen überhaupt niicht gab. Neben der altbrondenburgischen Agende von 1717, deer altpreußischen von 1789 — „die jedoch von jedem Geist-

liöchen mit der größten Willkür gebraucht werden" — find

einte Fülle von Agenden int Gange, z. B. in dem verhältniismäßig kleinen Regierungsbezirke Marienwerder die Schles-

wng-Holsteinische, die alte Märkische, die alte Sächsische, di«

voon dem früheren Generalsuperintendenten in Stettin, Rothe,

veerfaßte, die Danziger, die Elbinger, die Golzische Privataggende, die Zollikofersche; und

gewiß hat die Regierung

daamit

Verschiedenheit

die

ericschöpst.

wirklich, bestehende

Nicht

einmal

in

der Form

noch

nicht

des sonntäglichen

14 Hauptgottesdienstes

bestand

einigermaßen Übereinstimmung.

Im Jahre 1806 wurde eine Rundfrage über die in de» refor­

mierten Gemeinden

gebrauchten Gesangbücher veranstaltet;

die damals 142 Gemeinden hatten 31 verschiedene Gesang­ bücher.

Ein schon früher unter dem Minister von Zedlitz

gemachter Versuch,

die Massenhaftigkeit der Gesangbücher

in den lutherischen Gemeinden zu beseitigen, fand an dem Individualismus der Gemeinden so harten Widerstand, daß

er aufgegeben werden mußte. Auch auf dem zartesten Gebiete, dem der Lehre, haben

wir im 18. Jahrhundert bis zum Wöllnerschen ReligionSedikt

das Fehlen rechtlicher Regelung

zu konstatieren.

ES ist

eigentlich nicht nötig, über diese Seite der Sache viel zu reden: beweist doch das schnelle Borwärtsdringen der Stuf«

kltirung wie des Piettsmus innerhalb des Luthertums klär-

lich, daß es eine Lehrdisziplin nicht gab.

Das 18. Jahr­

hundert kennt keine Prozesie gegen Geistliche wegen Irrlehre, und es kennt kein Wächteramt des Kirchenregiments über

der Orthodoxie der Kirchendiener.

Das Landrecht legt den

Geistlichen in ihrer Lehre nur die Verpflichtung der Fried­

fertigkeit und Verträglichkeit auch gegenüber andern Reli­ gionsparteien auf.

Sonst bestimmt es noch folgendes: „In

ihren Amtsvorträgen

und bei dem öffentlichen Unterricht

müssen sie zum Anstoß der Gemeinde nichts einmischen,

waS den Grundbegriffen ihrer Religionspattei widerspttcht. Inwiefern sie, bei innerer Überzeugung von der Unrichtigkeit dieser Begriffe, ihr Amt dennoch fortsetzen können, bleibt ihrem Gewissen überlassen."

In der That, so ernst gerade

um die Wende des Jahrhunderts, besonders nach dem un­

glücklichen Feldzug von 1806 immer wiederholte Kabinets-

15 ordres einschärfen, es sei auf die Wegschaffung physisch und moralisch untauglicher Personen aus ihren Ämtern Bedacht zu nehmen, nie — mit einer Ausnahme, auf die wir noch kommen werden — tritt uns der Gedanke darin entgegen,

daß die Kirchenbehörde auch über die Lehre der Geistlichen zu Gericht sitzen sollte. Die Verpflichtung und Vereidigung der Geistlichen und Kandidaten hat in diesem ganzen Zeitraum nur den Sinn

einer negativen Schranke jedweder Polemik.

Der reformierte

Kandidateneid lautete: „Nachdem u. s. w., bekenne ich mich nach der besten Überzeugung meines Gewissens mit Hand

und Herzen zu der Konfession des Höchstseligen Kurfürsten

Johannis Sigismundi, insofern sie nach meiner jetzigen Einsicht, die ich unter göttlicher Gnade durch fortgesetzten

Fleiß immer vollkommner zu machen suchen werde, mit den heiligen kanonischen Büchern Alten und Neuen Bundes,

der einzigen wahren Richtschnur des Glaubens der Christen, übereinkommt,

und soll und will ich den in Religions­

edikten annis 1614, 1662 und 1664 ergangenen Kurfürst­ lichen

Edikten

treulich

und

gehorsam nachleben."

Diese

Edikte haben sämtlich nur das Verbot konfessionellen Streites zum Inhalt.

Wie weitherzig ist diese Verpflichtung!

Dafür noch

ein weitres Zeugnis: Im Jahre 1826

forschte das geistliche Ministerium nach,

auf welche symbo-

lichen Bücher der lutherischen oder reformierten Konfession die betr. evangelischen Prediger bei der Ordinationshandlung oder auch durch die Bestätigungsurkunden verwiesen würden.

Das Ergebnis ist sehr überraschend:

Es bestand überhaupt

keinerlei Verpflichtung auf die symbolischen Bücher in den Regierungsbezirken Königsberg, Gumbinnen, Danzig, Marien-

16

Werber, Berlin, Potsdam, Frankfurt, Cöslin, Oppeln, Pofen, Bromberg, Münster, Minden, Koblenz, Trier, Aachen; also im bei weiten größten Teile der preußischen Monarchie. In vielen Gemeinden wurde nach dem Formular vom 27. Oktober 1813 vociert und bestätigt: „ ... die ihm anvertraute Gemeinde mittels fleißigen Unterrichts im Worte GotteS, sowie solches in der Heiligen Schrift enthalten ist, als ein guter Seelsorger lehren, trösten, warnen ..." Aller­ dings hielten die Privatpatrone vielerorten Verpflichtungen ganz verschiedener Art inne. So z. B. vor allem in Sachsen, auch in Schlesien und Teilen von Pommern. In Stralsund hieß eS: lehren „nach dem Inhalt der Heiligen Schrift und in Gemäßheit der symbolischen Bücher der evangelischen Kirche." Ähnlich in ArnSberg. Am modernsten mutet uns die in Düfleldorf übliche Formel an, wo bei der Rezeptton der Geistlichen in KreiS- und Provinzialsynoden verpflichtet wurde „auf das Wort GotteS, wie eS in der Augsburgischen Konfession und dem großen und kleinen Katechismus Luthers vorgetragen worden, oder: im Heidelberger Katechismus ent­ halte» ist". In diese Freiheit hat ja nun allerdings das Wöllnersche Religionsedikt vom 9. Juli 1788 einzuschneiden ver­ sucht. Wer es heute liest, der begreift den Sturm der Ent­ rüstung kaum, den eS hervorrief — man ist ja heute viel strenger! Aber gerade dieser Sturm der Entrüstung, dem eS ja auch gelang, die Wirkung deS Edikts aufzuheben, zeigt unS, wie man empfand. Ich will nur eine Stimme anführen, die besonderes Gewicht hat. Der geistliche Oberkonfistorialrat und Hofprediger Sack, der Seelsorger der Königlichen Familie und Konfirmator deS Kronprinzen, nach-

17 maligen Königs Friedrich Wilhelms LLL,

kein Rationalist,

sondern Supranaturalist, fühlte sich durch sein Gewissen ge­

zwungen, reichen.

dem Könige

eine persönliche Vorstellung

einzu­

Er erklärte darin sein lebhaftes Bedenken gegen

die Bestimmung des Edikts, daß die symbolischen Bücher

einer jeden Konfession für die Lehrer Vorschrift und Norm sein sollten, und daß die Abweichung von denselben mit Kassation und härterer Ahndung bedroht werde. Ähnliche

Verordnungen seien bereits früher ergangen, haben sich aber

als

undurchführbar

erwiesen,

weil

in den symbolischen

Büchern der protestantischen Kirche selbst alle bloß mensch­ liche Autorität in Religions- und Glaubenssachen als unzu­

verlässig verworfen wird, und weil eine ganz genaue Hand­ habung dieses Gesetzes allen Fortschritt der Erkenntnis in

der Religion aufhalten,

die Gewissen vieler Menschen be­

drücken und der Berhetzungssucht nebst allen daraus entstehenden großen Übeln Vorschub thun würde. Dann fährt er fort:

„Sollten aber bei der gegenwärtigen Lage des Reli­

gionszustandes alle Lehrer durch obrigkeitliche Gewalt an­

gehalten werden, sich nach den Bestimmungen der symbolischen

Bücher der Kirche, zu der sie gehören, zu richten, und dann überall auf die Befolgung dieses Befehls mit der gehörigen Treue und Strenge gehalten werden, so ist zu besorgen und

fast unvermeidlich, Kirche einschleichen,

daß

eine große Heuchelei sich

in die

viel Streit und Unruhe entstehen, die

Gewalt der Obrigkeit und die Macht der Wahrheit in einen

gefahrvollen und ungleichen Kampf geraten und Mißtrauen

und Argwohn die Unterweisungen der Lehre so viel frucht­

loser machen werde, ohne daß der heilsame landesväterliche Endzweck erreicht wird. Foer st er, Tie Rechtslage.

2

18 „Wenigstens entsteht durch die in dem allergnädigst er-

lassnen Edikt enthaltne ernstliche Verordnung für alle die­ jenigen öffentlichen Lehrer, die nicht in allen Stücken dem

alten Lehrbegriffe, wie er in den symbolischen Büchern be­

stimmt und vorgetragen ist, zugethan sind, eine höchst pein­ liche Verlegenheit, nämlich: entweder in steter Furcht, ange­ geben und

gestraft zu werden,

Landesherrn zu handeln,

gegen die Befehle ihres

oder wenn sie nicht Mut genug

haben, Amt und Brot um des Gewiffens willen aufzugeben, Heuchler zu sein und Andern etwas als seligmachende Wahr­

heit zu empfehlen, was sie selbst nicht dafür erkennen.

„Ich bin überzeugt, daß sehr viele meiner Amtsbrüder von beiden Protestantischen Kirchen sich seit der Publikation

dieses Edikts in dieser unglücklichen Lage befinden; und daß darunter

viele

Lehrer sind.

rechtschaffne

Christen

und

sehr

nützliche

Menschen ohne Gewiffen ergreifen in solchen

Umständen sehr bald ihre Partei; sie hängen den Mantel nach dem Winde und lügen ohne Scheu eine Überzeugung, die sie nicht im Herzen haben; sie sprechen nicht, wie sie

denken, sondern wie es ihrem zeitlichen Glücke vorteilhaft ist, und wie man will, daß sie sprechen sollen; die aber Gott fürchten, müssen einen harten Kainpf ausstehen und wissen nicht, wie sie Gehorsam gegen die Obrigkeit mit dem Gehor­

sam gegen ihr Gewissen, schuldig sind,

und das, was sie ihrem Amte

mit der Pflicht der Sorge für die Ihrigen

vereinigen können und dürfen.

„Auch ich habe unter diesem Kampfe gelitten, aber ich

habe

keinen Ausweg,

mich

selbst

zu beruhigen, finden

können, als den, meine Denkungsart und Gesinnung ehrer­

bietigst und ohne alle Zurückhaltung anzuzeigeu, als welches

19 ich

auch

dem gnädigen und mir unschätzbaren Vertrauen,

dessen Se. Maj. mich besonders gewürdigt haben, schuldig zu sein glaube. „Nach meiner Überzeugung und nach der Lehre der

Protestanten ist das Wort Gottes, wie es in der heiligen Schrift enthalten ist, die einzige allgemein verbindliche Richt­

schnur des christlichen Glaubens, nach welcher also alle bloß

menschliche

Lehrbücher

und

Glaubensbekenntniffe

geprüft

werden dürfen und von gewissenhaften Lehrern auch geprüft

werden müssen. „Für so übereinstimmend mit der heiligen Schrift ich nun auch den in den symbolischen Büchern beider Kirchen

festgesetzten Lehrbegriff in allen wesentlichen Artikeln erkenne, so

ist meiner Einsicht nach

in diesen Büchern doch teils

manches enthalten, was bloß theologische und schwere Unter­ suchungen betrifft und also nicht zu dem allgemeinen christ­

lichen Unterricht

gehört,

der auf der Kanzel oder in den

katechetischen Unterweisungen

der

Kinder gegeben werden

soll; teils befinden sich darin auch solche Vorstellungsarten,

durch welche von den Geheimnissen des Glaubens mehr be­ stimmt und erklärt ist, als die Bibel davon bestimmt und

erklärt hat. „Dieser Überzeugung

Lehramt alles,

nur

unter

gemäß habe ich ein christliches

der Bedingung übernehmen können:

was Menschen bestimmt und festgesetzt haben, nach

der alleinigen Vorschrift des göttlichen Wortes prüfen, und

dann das, und nur das, was ich als Wahrheit erkenne,

auch lehren zu dürfen.

Auch

habe ich mich bei Antritt

meines Amtes nur verpflichtet, den symbolischen Büchern ge­ mäß zu lehren, insofern ich sie nach meiner besten Einsicht 2*

20 mit der heiligen Schrift übereinstimmend erkennen würde;

wie eS mein im Jahre 1769 ausgestellter und

bei den

Asten des Kirchendirestorii befindlicher Revers beweiset. „Seit 20 Jahren habe ich nun das Predigtamt ver­

waltet, und ich darf zu Gott hoffen, daß es nicht ohne allen Nutzen geschehen sei: Ich bin meines Wiffens keiner Irr­ lehre oder Ketzerei beschuldigt oder verdächtigt worden; ich

habe die Lehre Christi nach meinem besten Wiffen und nach dm Einfichten, die mir Gott schenste, mit Borbeigehung

aller theologischer Streitigkeitm und Nebenstagen, und be­ ständig in ihrer Abzweckung auf Beflerung und Trost mensch-

licher Seelen vorgetragen, aber ich habe nichts von dem, wovon ich selbst keine völlige Überzeugung hatte, Andern als unumstößliche wichtige Wahrheit oder als

Seligkeit eingeschärft.

Alles Bestreitens

nötig zur

andrer Meinung

habe ich mich enthalten, wenn ich sie nicht für gefährlich er­

kannte, und den landesherrlichen Befehlen, die auf Duldung und Frieden abzwecken, habe ich mich gemäß betragen.

Da­

bei habe ich den Kandidaten des Predigtamts die Ver­

pflichtung: den Lehrbegriff ihrer Kirche recht gründlich zu studieren, eingeschärft und sie ermahnt, sich eine solche Ein­ sicht und feste Überzeugung zu erwerben, daß sie nicht von einem jeden Winde neuer Lehre bald hier bald dort hin

bewegt

würden;

übrigens

aber

nach

der Vorschrift des

Apostels, Alles zu prüfen und das Gute zu behalten. „Wenn ich nun hinfüro dem Befehle, genau nach der

Vorschrift der symbolischen Bücher zu lehren, gehorchen soll: so muß ich wider diese meine Überzeugungen handeln, welches

ich als ein ehrlicher Mann nicht thun kann und

vor Gott nicht zu verantworten weiß; wenn ich aber fort-

21 meinen Unterweisungen,

fahre in

ohne Rücksicht

auf das,

was in den symbolischen Schriften bestimmt und festgesetzt ist,

nur

allein

was ich in der heiligen

das vorzutragen,

Schrift als Weg zur Seligkeit klar und deutlich gelehrt finde: so muß ich beständig besorgen, daß ich als einer, der den

Lehrbegriff seiner Kirche nicht treu und vollständig vorträgt, und

als

ein

angegeben und zur

ungehorsamer Unterthan

Rechenschaft gezogen werde."

Es

kann

daß ein

nicht wundernehmen,

solcher

Ein

spruch nicht wirkungslos blieb. der staatlichen Rechtslage

Überschauen wir das Bild

vor 100 Jahren, so sind wir überrascht, wie groß der freie Spielraum

für Gemeinde und

Geistliche

im

Rahmen des

viel geschmähten territorialistischen Systems gewesen ist.

Der

Individualismus, der dem Protestantismus von seiner Ge­

burt her als köstliches Erbteil im Blute steckt, und die Frei­ heit gegenüber allen autoritären Ordnungen haben sich frei entfalten können.

Das Staatsrecht läßt die Hand weg von ein Kirchenrecht,

allen innerkirchlichen Angelegenheiten,

das

sie mit Zwangsgewalt ordnete, gab es nicht. Die Kirche ist durch­

Wie anders die Gegenwart!

zogen

von

Rechtsordnungen,

die die

freie Bewegung

de-

Einzelnen teils hemmen, teils in bestimmte Richtung drängen wollen.

Schon breitet sich über weite Gebiete des kirchlichen

Lebens

strenge Gleichförmigkeit

auS;

wenigstens

innerhalb

der einzelnen Landeskirchen giebt es nur einerlei Berfaffung, Kultus und Lehre — soweit freilich nicht der unzähmbare Drang

des

Lebens

stärker ist

als

die

fixierte

Ordnung.

Tendenz

der kirchlichen

Entwicklung geht in dieser Richtung weiter.

Unverkennbar

Und

täuschen

wir uns

nicht:

die

22 wird der Einfluß der Persönlichkeit des Pfarrers und Theo­ logen aus dem Gottesdienst noch mehr auSgeschaltet, das Individuell«, Örttiche noch mehr abgeschliffen, das Subjek-

ttve und dem Einzelfall

angepaßte noch mehr ins Unrecht

gesetzt, dagegen das Jnstituttonelle, Objektive,

Autoritäre

noch weiter gefördert und ausgebaut werden.

Nur auf Einiges darf ich zum Belege dafür den Unger

legen. Im Gebiete der Kirchenverfasiung zuerst.

Die Grund­

züge der Kirchengemeinde- und Synodalordnung, das System

des gesamten äußern Kirchenwesens ist heute, fast könnte man sagen: in ganz Deutschland dasselbe.

Die Verbindung

der Konsistorial- und Presbyterialordnung hat sich fast überall durchgesetzt

und

beherrscht einheitlich die neueren Kirchen­

ordnungen. In den Einzelgemeinden ein engeres und weiteres

Gremium von weltlichen Vertretern. Die kleine Landgemeinde

von 300, 400 Seelen arbeitet mit demselben Apparat, wie

die

großstädttsche

Massengemeinde

(auch dies kommt vor)

100000.

von

80000 oder

gar

Jede Gemeinde, jeder

Pfarrer stehen im gleichen Abhängigkeitsverhältnis vom Kon­

sistorium und Oberkonfistorium; Sonderrechte einzelner Städte

sind von der Uebermacht der landesherrlichen Behörden er­ stickt; nur vor den Patronaten hat man — nicht eben er­ freulicherweise — halt gemacht.

Dieselbe Kirchenbuchführung,

dieselbe Abgrenzung der Rechte zwischen Pfarrer und Reprä-

f entarten, Einzelgemeinde und Kirchenkörper, die gleiche Ein­ ordnung

der einzelnen

Gemeinden, so verschieden sie an

Größe, Bedeutung, Geschichte, Kirchlichkeit sind, in den Ge­ samtorganismus, nur ein wenig gemildert durch Abstufungen

in der Zahl der in die Synode zu entsendenden Bertteter.

23 Ist nun auf diesem Gebiete die Entwicklung

aus

der

Mannigfaltigkeit zur Einförmigkeit vielleicht als Fortschritt zu

buchen, so dürfte das Urteil über die einheitliche Ord­

nung des

Kultus

gesetzgebung zwingt denselben

doch zweifelhafter sein.

Die Agenden­

allen Gemeinden eines K^rchengebietes

sonntäglichen Gottesdienst

Ob die Kirche

auf.

heizbar oder nicht, ob 2000—-3000, oder 20—30 Kirchen­

besucher: dieselbe Form muß eingehalten werden; — und

wie viel natürlicher wäre es doch oft, einfachere Formen zu verwenden.

Ob eine Gemeinde voll hoher Intelligenz, die

sich leicht in die liturgisch gehobene, oft antikisierende Sprache

unsrer Gebete hineinfindet, oder eine schlichte Landgemeinde, fiir die diese einfach unverständlich ist, ein verschiednes Be­ Ob's eine kirchliche, für die das

dürfnis wird nicht anerkannt.

Apostolikum wirklich einfältiger Ausdruck des Glaubens ist,

oder eine Missionsgemeinde ist, für die

es Gegenstand un-

ausgesprochnen und ausgesprochnen Zweifels ist, immer soll es heißen: Laßet uns bekennen!

Ob ein Trinitatissonntag,

oder ein Karfteitag, oder ein Osterfest — so verschieden da­ bei die Stimmung der Kirchgänger ist —,

immer geht der

Gottesdienst denselben Gang.

Ob nicht Sündenbekenntnis

Gnadenversicherung

bester

und

in ihrer Tiefe

verstanden

würden, wenn die Gemeinde nicht jeden Sonntag dazu ver­

anlaßt würde?

Oder wir denken an die Taufordnung.

Sie setzt fast

überall eine Taufgemeinde voraus, sie ist entworfen in der Voraussetzung, daß wenigstens eine kleine Schar von inner­

lich teilnehmenden

Christenmenschen

— sind die Fälle gar so

nicht zutrifft?

anwesend

selten, wo

sei.

Aber

diese Voraussetzung

Wie peinlich ist es bei Haustaufen in sozial-

24 demokratischen Arbeiterfamilien, namens zu bekennen und zu beten!

der Versammelten

Wie wird, wenn etwa nur die

Hebamme das Kind dem Pfarrer auf die Stube bringt, die Verlesung des Apostolikums und da- Unser Vater zum opus

operatum, die Vorlegung der Tauffragen zur Farce!

Und

wie furchtbar ermüdend ist es dem Pfarrer, der vielleicht

an einem Sonntag nachmittag 10, 12 Haustaufen zu voll­

ziehen hat, immer an dasselbe Formular gebunden zu sein.

Aber das kultische Ordnungsbedürfnis geht noch weiter.

Es regelt, ob sich

ein Pfarrer an der Beerdigung eines

Selbstmörders oder an einer Feuerbestattung beteiligen darf. ES darf nicht in Betracht kommen, wer der Verstorbne ge. wesen ist, was er etwa für Motive gehabt hat, was die

Gemeinde erwartet und fordert, — man denke doch, welch eine Gelegenheit, an die Herzen heran zu kommen, z. B. daS

Begräbnis

eines

Perikopenordnung!

Selbstmörders

sein

kann!

Oder

die

Wie kann sie auf den Pfarrer drücken.

Vielleicht verlangt die Gemeinde an dem Tage etwa- ganz anderes, bewegt, aufgeregt durch ein ganz besondres Vor­

kommnis.

Vielleicht liegt der betreffende Text dem Pfarrer

besonders schlecht, er findet die Thür dazu nicht, — waS ist Gemeinde

und Pfarrer

gegenüber

der

Regel?

Ich

erinnere weiter an das Kirchenbauregulativ, an die Kleider­

ordnungen.

Und so ist es auch mit hundert anderen Dingen.

Schon hört man eS als einen Mangel kennzeichnen, daß der Pfarrer den Konfirmandenunterricht giebt nach seinem Wissen und Gewiffen, und ruft nach

exponierten Katechismen, di«

den Pfarrer zum Einpauker degradieren würden.

Und schon

ist in bedeutsamer Stunde für die größte deutsche Landes­ kirche ein Gesangbuch gefordert.

25 die Lehrordnung.

Und endlich

Es

ist apostolischer

Grundsatz: Einen andern Grund kann niemand legen außer­ Aber auf diesem einen

dem der gelegt ist, Jesus Christus.

wieviel verschleime Austastungen

Fundament —

An­

und

schauungen sind da möglich und zu allen Zeiten, wirklich ge-> wesen.

Man sollte meinen, es müsse dies als ein gesegneter

Reichtum

anerkannt

werden.

Daß

auf den Kanzeln



immer vorausgesetzt den einen Grund — verschieden gelehrt

wird, daß

da Männer

voll

eignen,

daher

gefärbten Ver-

ständniffes des Evangeliums stehen, das ist doch einfach das Natürliche.

Statt dessen wird es als unerträglicher Schade be­

klagt, als Grund der Nichtachtung der Kirche bei Juden, Heiden und Katholiken gekennzeichnet. Eine Theologie soll herrschen, und ein Bekenntnis alle Pfarrer verpflichten. Überall ist des­

halb die Bekenntnisverpflichtung wieder aufgerichtet und die zur rechtlichen Norm

Ignorierung der Lehrentwicklung hoben.

Nicht der Pfarrer, sondern

die Gemeinde urteilt Lehre,

die Kirche lehrt,

sondern die Kirche, —

er­

nicht ja

es

kann vorkommen, daß ein Geistlicher, gegen den aus seiner Gemeinde nicht ein Laut einer Beschwerde vorliegt, und der sich selbst im Einklang

mit

dennoch amtsentsetzt wird,

seinem Beruf freudig seine Lehre

weil

bekennt,

der objektiven

Norm

einer

wieder

ausgegrabenen Predigerordnung

1688

nicht

gemäß

ist.

meinde hat

den Anspruch,

nennt, Vertretung

lichen

Amtes

in

findet

wir lesen:

Und

daß das,

durch

von Ge­

sie Christentum

die Verwaltung

ihr oder als

anerkannt werde. . . .

was

„Keine

des

geist­

»gleichberechtigte Richtung*

Das Kirchenregiment

darf die Ver­

antwortung dafür nicht übernehmen, daß einzelne Gemeinden

sich Lehrer aufladen,

»nach denen

ihnen die Ohren juckend

26 Es wird durch keinen noch so gesetzmäßig zustande gekom­

menen Beschluß der .Gemeindeorgane' seiner Verantwortung

dafür entbunden, daß diese Gemeinde wenigstens noch durch

Bedienung deS reinen Worts und Sakraments im Zusammen­ hang« der Kirche GotteS verbleibe. muß

es

den

gottseligen Mut

des

Eintretenden Falle­ Glauben- haben, im

Widerspruch auch mit der ganzen Gemeinde für

eine Be­

setzung deS geistlichen Amtes Sorge zu tragen, welche die

möglichste Bürgschaft dafür giebt, daß Wort und Sakrament

lauter und rein erhalten und verwaltet werden, damit der Heilsweg offen bleibe auch für diese Gemeinde.*)" D. h. auch der Wille der christlichen Gemeinde ist nicht-

gegen die

Ordnung der Kirche'.

So hat daS Kirchentum dem protestantischen Indivi­ dualismus die Flügel beschnitten und eine Entwicklung im Verständnis deS Evangeliums innerhalb der Kirche fast un­

möglich gemacht. Ich habe ausführlich die Gefahren geschildert, die die

Entwicklung des evangelischen Kirchentums heraufbeschworen

hat, weil sie nur allzu oft mit leichtem Herzen übersehen werden.

faffen:

Um

eS

in

einem

Gesamtemdruck

zusammenzu-

Die Aufrichtung kirchlicher Rechtsordnung hat das

individuelle und persönliche Element des Protestantismus fast

erdrückt.

Die Selbständigkeit der Kirche hat die Selbstän­

digkeit des Pfarrer- und Theologen und die Selbständigkeit der Einzelgemeinde aufgezehrt.

Sie hat den Pfarrer aus

einem Zeugen des Evangeliums zum Beamten des Kirchen­

organismus

und Vollstrecker seiner Ordnungen, die Einzel-

*) Cremer, Die Befähigung zum geistlichen Amt, 2. A. S. 35,37.

27 gemeinde zum untersten Verwaltungsbezirk des Kirchenkörpers Niemand darf sich verhehlen, daß damit die Gefahr

gemacht.

einer Entwicklung in bedenkliche Nähe gerückt ist, wie sie

das

Christentum schon einmal durchgemacht hat, — als

es katholische Kirche wurde.

Denn das Wesen des Katho­

lizismus besteht darin, daß er an die Stelle der Autorität gläubiger

Persönlichkeiten die

Autorität dinglicher

Insti­

tutionen setzt.

*

*



Indessen zu lange schon haben wir bei dieser Seite der Sache verweilt.

Indem ich die Schäden eines abge-

laufnen geschichtlichen Prozesies aufrechne, komme ich mir selbst ein wenig wie ein Kind der Aufklärung vor, die es ja liebte, Gott vorzuhalten, wie unlogisch er die Geschichte gemacht habe, und die mit dem Gedanken spielte, es hätte

ja alles ganz anders und viel besser verlaufen müssen, wenn

nur früher schon so erleuchtete Männer da gewesen wären.

Nein,

es

Die

hat nicht anders kommen können.

Ausbildung des Protestantismus zum Kirchentum

hat

sich

kraft

geschichtlicher Notwendigkeit

voll­

zogen und sie hat sich unaufhaltsam vollzogen.

Das

allein schon sollte uns bedenklich machen, diese

Entwicklung nur kritisch zu betrachten, daß in jener Zeit,

da der Drang

nach einem selbständigen Kirchentum zuerst

an die Oberfläche trat, am Anfang des 19. Jahrhunderts,

überhaupt niemand, der an eine Zukunft des Protestantismus

als Religionsgemeinschaft glaubte, fich diesem Drange hat entziehen können.

Die Rechtslage der evangelischen Kirche

im territorialistischen Staat haben erträglich gefunden nur

28

die Stumpfsinnigen und die Nichts als Bureaukraten: alle anderen Richtungen im deutschen Protestantismus haben mit

Entschiedenheit eine Reform in der Richtung gefordert, daß der

zerflosiene

charakterisiert

Protestantismus Kirche die

allgemeine

werde.

Stimmung

am

18. Jahrhunderts einmal mit dem Diktum:



Hase

Ende

des

„Die Freien

wie die Frommen dachten an das nahe Ende der christlichen Welt."

Ist daS

nicht ein vernichtendes Urteil über die

Und es warm darin wirklich

kirchlichen Zustände?

alle

der fromme etwas steife König, und die reformierten

eins:

Rheinländer, die Hochgebildeten, wie Delbrück, Humboldt, Nicolovius, Süvern und die einfach kirchlichen, wie der nach­

malige

schlesische

Generalsuperintmdent

Bobertag,

die

Vertreter des landeSherrlichm Kirchenregiments wie Augusti

und

Marheinecke, und die Schwärmer

für

hierarchischen

EpiskopaliSmuS, wie Schuderoff, Küster, Neumann, Tiebel, und die Anhänger der Presbyterialverfaffung.

Und vor

allem hat auch Schleiermacher so empfunden — freilich nicht der Berfaffer der Redm an die Gebildeten unter dm Ver­ ächtern der Religion, aber wohl der Meister der Kirchen­

leitung

und der praktischen Theologie.

Das Kirchenideal

dieser Richtungen war sehr verschieden, aber darin sind sie

alle eins, daß der Protestantismus, wolle er bleiben, Kirche werden müsse.

ES haben dabei mehrere Mommte mitgewirkt, so das

gleichzeitige

Wiedererstarken

der

katholischen Kirche,

die

Reaktion gegen die Revolution, die Romantik, eins aber

hebt sich vor allen heraus,

es ist die Entwicklung des stand einer

modernen Staates.

Der Protestantismus

Staatsidee

die ihn einfach zwang,

gegenüber,

sich den

29

Panzer einer Kirche umzulegen.

Es ist der moderne Staat,

daS heißt: der Staat des Naturrechts, derselbe Staat, der

den Gemeinden und Lehrern die Freiheit ließ, die wir oben geschildert haben.

keinen

religiösen

Er ließ sie ihnen, weil er überhaupt

transscendenten Beruf

mehr

anerkennt.

Dieser Staatsbegriff des Naturrechts und der französischen Revolution ist im Laufe des 19. Jahrhunderts in steigendem

Maße

zur Wirklichkeit

geworden.

Die Berfaffung

des

Deutschen Reiches ist seine deutlichste Ausprägung, aber auch

in den Berfasiungen der einzelnen deuffchen Territorien ist

er der durchschlagende.

Der nioderne Staat kennt keine

Pflicht, Religion zu pflegen, geschweige denn das protestan­ tische Christentum zu bewahren.

völlig neutral gegenüber.

Er steht diesen Anliegen

Er kann natürlich

anerkennen,

daß Religion auch für ihn etwas wertvolles sei, und reli­

giöse Einrichtungen unterstützen, aber nicht aus Verpflichtung gegen eine göttliche Bestimmung, sondern aus Verpflichtung

gegen eine Mehrheit seiner Unterthanen, denen Religion teuer ist.

Er hat kein Urteil, welches die wahre Religion

ist und er kann keine Religion hindern, solange sie sich nicht

gegen seine eignen Jntereffen wendet.

Er muß seinem Wesen

nach gleichgiltig gegen alle Religion diese sich selbst über­

lassen.

Das heißt, die religiöse, die protestantische Gemein­

schaft ist des Rechtsbodens zur Pflege der Religion beraubt.

Das religiöse Interesse des Staates kann sich nun nur noch

darin zeigen,

daß er dem Protestantismus

Hilst, sich die

Rechtsformen zu schaffen, die er zu seinem Leben bedarf. Die kirchliche Rechtsordnung ist die Folge des Ver­ zichts des Staates, seinerseits die Rechtsordnungen

des religiösen Lebens zu erlassen.

30 Man kann nun, wie neuerdings namentlich Rieker gethan hat, wohl betonen, daß diesem modernen Staatsbegriff der

wirkliche moderne Staat nicht völlig entspricht, daß dieser ein regere- Interesse am Protestantismus hat, als er eigentlich haben dürste; man kann auch

mit ihm hervorheben, daß

diese Auffassung vom Verhältniß des Staates zur Religion

keineswegs normal und gesund ist: niemand aber wird

bestreiten können, daß diese Auffassung die Entwicklung im 19. Jahrhundert

bestimmt

hat

und

noch heute die

herrschende ist. Wir brauchen uns nur an einigen Punkten klar zu

machen, wie vieles der moderne Staat dem Protestantismus

nicht mehr leistet, das der reformatorische Staat ihm dar­ brachte, um die Notwendigkeit eines Kirchentnms einzusehen. Ich nenne als den ersten und empfindlichsten Punkt,

an dem das Bedürfnis nach Schaffung eines Kirchentums einsetzte, die Lage des Lehrstandes, der Geistlichen.

die äußere Lage war eine klägliche geworden.

Schon Berichtet

doch — um nur ein Beispiel herauszugreifen — die Geist­

liche Kommission vom Jahre 1815, daß im Bezirke der Kur­ mark allein 93 Stellen, Wohnung und Garten miteinge­

rechnet nicht eimal 300, 18 nicht 200, 1 nicht 100 Thaler einbringen. Unter den 11 Predigern des Saganschen Kirchen­ kreises

mußten 5

im Cölibat leben, weil die Besoldung

zu dürftig war, um Frau und Familie erhalten zu können.

Die alten Pfarreinkünfte, der Dezem war gegen die Mitte des 18. Jahrhunderts um mindestens 1]3, die Accidentien Stola)

auf

den zwölften

Teil gesunken.

Noch nieder­

drückender war die allgemeine Geringschätzung des Standes

und die Unterstellung auch unter die niedrigsten administra-

31 tiven und politischen Lokalbehörden. lage der Kreise,

Damals ist die Höhen­

aus denen sich der Nachwuchs des geist­

lichen Standes rekrutiert, so erschreckend gesunken. Gewiß sind es nicht allein diese äußerlichen Momente,

die die vielen und ernsten Klagen über geistige und mora­

lische Degeneration des geistlichen Standes erklären.

Wir

machen uns schwerlich den richtigen Begriff vom Tiefftand

der damaligen Predigt, nachlässigung

des

von der Verweltlichung und Ver­

kirchlichen Handelns.

Es zeigte sich in

alledem, daß die Gemeinden weder physisch noch geistig im­ stande waren, sich den Lehrstand zu erhalten, den das geist­

lich weltliche Gemeinwesen der ^Reformation ihnen geschaffen hatte.

Und dieser Notstand ist es vor allem gewesen, der

den ersten Anstoß dazu gab, einen Rechtsorganismus zu suchen,

der die damit gestellte Aufgabe zu läsen imstande war. Diese Nötigung zum Kirchentum aber vertieft sich, wenn

wir daran denken, daß

das Lehramt

nach

evangelischem

Prinzip Träger und Hüter der religiösen Güter des Evangeliums und d. h., da das Evangelium eine geistige Größe ist, einer bestimmten Lehre ist.

Wir sind damit auf den allerschwierigsten und zartesten

Punkt gekommen, wo sich

die Verluste und

Gewinne der

kirchlichen Entwicklung des 19. Jahrhunderts aufs innigste

berühren,

ja

miteinander

verbunden sind.

Es

ist nicht

leicht, dieser Kompliziertheit der Sachlage gerecht zu werden, zumal wenn

es doch nur in den flüchtigen Strichen einer

Skizze geschehen kann.

Es ist

ganz richtig, wie Sohm ausgeführt hat, daß

Luthers Reformation der geistlichen Gewalt den Zwangs- und d. h. Rechtscharakter endgültig

abgeftreift hat.

Es

giebt

32

nur eine Rechtsgewalt, die der bürgerlichen Obrigkeit: „Wenn Zwangsgewalt im Dienste der Kirche notwendig ist, so kann der Kirche nicht durch geistliche Gewalt, sondern nur durch die weltliche Gewalt geholfen werden, dmn nur die weltliche Gewalt ist ZwangSgewalt, rechtliche Gewalt." Aber muß die Obrigkeit solche Zwangsgewalt anwenden? Da­ rauf antworteten die Reformatoren Ja! DaS Naturrecht, die Aufklärung eben so bestimmt Rein! Die Reformatoren fordern, daß die Obrigkeit mit ihrer RechtSgewalt als praecipuum membrum ecclesiae z. B. den falschen Lehrer seines Lehramts entsetze und das Lehramt neu besetze. Die Aufklärung fordert, daß die Obrigkeit es dem Gewiffen des Lehrers überlaste, wie er lehren wolle, und dem Ge­ wiffen der Hörer, ob sie ihn hören wollen. Es ist Privat­ sache. Die der Meinung sind, daß der Lehrer falsche Lehre habe, mögen dagegen protestieren, die Kirche verlosten, Pamphlete schreiben — aber irgend eine rechtliche Handhabe, den Jrrlehrer loS zu werden, giebt eS nicht. Indem der moderne Staat diesen Standpunkt einnahm, ließ er einen Dienst aussallen, den die Obrigkeit der ReformationSzeit geleistet hatte. Es ist nun die weitre Frage, ob die evangelische Kirche auf diesen Dienst verzichten darf, d. h. ob sie auf jede Rechtsordnung über die Lehre ver­ zichten kann, oder ob sie sich eine eigne Rechtsordnung über die Lehre schaffen soll. Das erstere ist wiederum die Auffaflung der Aufklärung — danach ist die Lehre Privatsache des Pfarrers, Gewistenssache, wohinein keine rechtliche Norm greift; das zweite ist die Auffaffung, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts gegen die Aufklärung durchgesetzt und den Sieg erlangt hat.

33 Dabei aber ist noch eins zu bemerken: Die Aufklärung

hatte zwar den Rechtsanspruch der Gemeinde an die Lehre des Pfarrers zerstört, sie hatte aber das Recht des Pfarrers

an seine Gemeinde bestehen lassen, oder höchstens

insofern

erweicht, als sie in den großen Städten den Parochialzwang aufhob.

Es besteht also ein Zwang für die Gemeinde,

die Kinder taufen, die Ehen einsegnen u. s. w. zu laffen, ein

Zwang, auf exercitium religionis publicum überhaupt zu verzichten, wenn ihr der Pfarrer nicht zusagt.

Diese Ver­

gewaltigung der Gemeinden durch ihre Pfarrer ist immer

das

durchschlagendste Argument für die Aufrichtung einer

Lehrordnung gewesen. Wir dürfen dabei auch daS nicht übersehen, daß diese Auf. fafsung die Komplementerscheinung zu einer andern ist, nämlich

zu der Säkularisierung der Theologie.

die

kirchliche Tendenz

mehr und

Wenn die Theologie

mehr

abstreift

und sich

mit bewußter Einseitigkeit mehr und mehr auf da- Ziel

beschränkt, die Wirklichkeit zu erkennen, so giebt sie gewisser­ maßen ihr imperatives Mandat der Kirche zurück. verschärft

sich

die Frage: WaS

Dadurch

soll in der evangelischen

Kirche gelehrt werden? Wenn der Staat eine formale und die Theologie eine materiale Gewalt, die reine Lehre zu be­

stimmen, ablehnt — was dann?

AuS diesem Grunde, meine ich, darf ein geschichtlicher Rückblick die Aufrichtung

einer

kirchlichen Rechtsordnung

auch über die Lehre und waS damit zusammenhängt au sich nicht anders, denn als

einen Gewinn ansehen; dies

aber allerdings nur solange, als die Tendenz der Ordnung der Schutz der Gemeinden und nicht die Festlegung einer reinen Lehre als über den Gemeinden stehender Norm ist, Fo erster. Die Rechtslage.

3

34

wozu die Wiedereinführung der Bekenntuisverpflichtung und die Beauftragung deS Konsistoriums, über reine Lehre zu wachen, leider vielfach geführt hat. Ich nenne endlich

einen dritten Punkt, an dem das

Zurückweichen des modernen Staate- von religiösen Aufgaben

von selbst zur Aufrichtung eines Kirchentums nötigte.

Ich

habe manchmal beobachten zu können geglaubt, daß in dem

Ersoffen dieses Punktes der eigentliche Unterschied der kirch­

lichen -Generationen begründet ist. Wir Jüngern sind alle aufgewachsen unter dem Druck deS Übervölkerungspro­

blems. Bekanntlich setzte bald nach den Freiheitskriegen jene erstaunliche Volksvermehrung in Deutschland ein, die ihres­

gleichen in der Geschichte nicht gehabt hat, eine Vermehrung, die die Bevölkerungszahl deS Deutschen Reiches (heutigen

UmfangS) von 1816 bis 1895 um mehr als das Doppelte,

nämlich von rund 24 auf rund 52 Millionen erhöht hat. Gehen diese Zahlen denn nur den Nattonalökonomen und

Staatsmann an? Bedeutet der Geburtenüberschuß deS letzten Jahres (1899) — über 950000 — allein eine Vermeh­ rung der Hände, die arbeiten, und der Münder, die esien,

und der Arme, die die Flinte tragen können?

Bedeuten

diese Zahlen nicht vielmehr Seelen, die für Gottes Reich bestimmt sind, die erzogen, bekehrt, geheiligt werden sollen,

die das Evangelium hören und zum Bekenntnis zu diesem

Evangelium aufgerufen werden sollen?

Und nun kommt

mehr wie die Hälfte dieses Zuwachse- aus protestantischen

Landesteilen!

Bedeuten damit diese Zahlen nicht eine neue

ganz ungeheure Aufgabe für den kirchlichen ProtestanttsmuS? Denn diese neue Masse Menschen reißt sich los von der

ländlichen Scholle und sttömt in den modernen Großstädten

35 zusammen, macht die Peripheriegemeinden in wenigen Jahren zu unförmlichen Riesenkörpern anschwellen, haust in Miets­

kasernen, in deren Mitte das

kleine Vorortskirchlein, das

und

auf dürftige Gärtner-

Jahrhunderte

Fischerhäuschen

herabgesehen hat, fast verschwindet, und durch dies Zusammen­

ballen entsteht ein neuer Geist, ein unbequemer, selbstbewußter

Geist, dem gegenüber die heutige kirchliche Pädagogik macht­ los

ist, der

eine

geistige Arbeit,

eine Individualisierung,

eine Anspannung der Seelsorge und Liebestätigkeit erfordert, wie niemals zuvor.

Diese Maste drängt und

vorwärts: in katholischen Gegenden Evangelischer

ohne Kirche und

schiebt sich

entstehen Ansiedlungen

in

Schule;

evangelischen

Gegenden katholische Niederlassungen und damit Herde einer rührigen Propaganda; diese Masse drängt über die Grenzen

ins Ausland, übers Meer, — die Welt wird eine evange­ lische Diaspora; dort, wo friiher

Heiden das

Evangelium

brachten,

nur einzelne Missionare

siedeln

sich

Kaufleute,

Arbeiter, Plantagenbauer und Beamte an.

Was hat dieser Aufgabe gegenüber das naturrechtliche System zu bieten? Rein nichts. Die Tendenz des Staats der Aufklärung war, daß wir viel zu

viel Kirchen

haben, —

sie war auf Einziehung bestehender Pfarrsysteme gerichtet. Es ist den Meisten

unbekannt,

wie

stark

Einführung der Union mitgewirkt hat.

dieses Motiv

zur

Die Verschmelzung

der reformierten und lutherischen Gemeinden an einem Ort hat vom Jahre 1817 — 1840 allein in Preußen zu einer

Einziehung von 205 Pfarrstellen geführt.

Vollends: eine

Initiative, eine Aktion zur Evangelisation der Massen kann von dem modernen Staate grundsätzlich

— er ist ja paritätisch!

nicht geübt werden

Er kann dazu helfen, unterstützen, 3*

36 wie er schließlich auch andere Wohlfahrtseinrichtungen fördert, aber er kann nichts selber thun.

So bleibt die Initiative zu diesen im engsten Sinne modernen Aufgaben an der Masse den Einzelgemeinden?

Aber daS

Naturrecht kennt ja nur Entstehung der Gemeinde von unten

herauf, aus nen; wo

dem Willen der zusammentretenden Einzel­

nun dieser

ist — was da?

Wille

nicht

ist, wo er zu schwach

Da antwortet die Aufklärung: Laß jeden

glauben, was er will; wo kein Wille ist, eine Kirche zu

haben, da braucht auch keine zu sein. als eine Bankerotterklärung.

Weise versagt, ist unhaltbar.

DaS ist nichts anders,

Ein Rechtssystem, daS in dieser Die Bekenner deS

evange­

lischen Glaubens können sich auf diesen Standpunkt nie stellen, sie können nicht darauf verzichten,

Propaganda schaffen.

daß

sie Anstalten zur

Die Konsequenz aber dieses Dranges

heißt: Kirche.

So mußte der Protestantismus evangelische Kirche werden. Und weil diese Nötigungen, die dazu geführt haben, wenn

nicht alles täuscht,

an Gewicht noch zunehmen werden,

so

muffen wir Kirchlichkeit und Kirchentum pflegen, — so sehr wir eS auch einsehen, wie tief die Veränderung des alten Protestantismus greift, die damit heraufzieht.

Ich werde immer dankbar sein, daß es mir vergönnt gewesen ist,

die Unzulänglichkeit der kirchlichen Rechtslage,

wie sie die Aufklärung gestaltet hatte, selbst noch kennen zu lernen.

Die Rechtslage der evangelischen Kirche in Frank­

furt, die wir bis zum

1. Dezember

1899 gehabt haben,

war durch die Aufllärnng geschaffen und trug in allem wesent­ lichen die Züge der Aufklärungszeit an sich.

Im guten auch: eine

wundervolle Freiheit

für den

37 Pfarrer; keine Kultus-, kaum eine Lehrordnung, geschweige denn Disziplin; keine parochiale Bindung, keine Verwaltungs­

geschäfte; eine Freiheit, in der eine starke Persönlichkeit sich

unbeschränkt ausleben konnte, und die der Entwicklung charak­

tervoller Eigenart nicht ungünstig war. Aber welche bedenkliche Kehrseite hatte das Bild! Die

volle Ohnmacht nicht

nur der Kirche, sondern des Prote­

stantismus, die Unfähigkeit, sich selbst vorwärts zu helfen

und gesteigerten Aufgaben zu genügen, die unwürdige äußere

der

Lage

Geistlichen

und

ihre

ungenügende Anzahl; die

Pflege der religiösen Jntereffen Privatsache einer kleinen Zahl

von wärmer Erfaßten, die sich bald in dem, bald in jenem Verein zusammenfanden; keine Initiative, deshalb auch keine

Verantwortung, eine grauenerregende Verwahrlosung der zu­ geströmten Massen.

Ich glaube, keiner unter den wirklich kirchlich Inter­ essierten in Frankfurt hat die Einführung einer neuen Kirchen­ verfassung anders als einen Fortschritt angesehen, so klar wir uns alle darüber waren, daß die Freiheit des Pfarrers

damit an allen Ecken und Enden beschränkt werden würde.

Und so, wie hier, ist es überall gegangen und wird

es überall empfunden, wo der Protestantismus ein Kirchentum noch nicht geschaffen hat: in Bremen, in Sachsen-Co­ burg und Gotha, in den Reichslanden.

lich Beweis

Das ist doch wirk­

genug, daß der Protestantismus Kirchentum

braucht, so notwendig wie das tägliche Brot. In zwei Richtungen aber wird dies Kirchentum noch

einer

weiteren

Ausbildung

und

Verfestigung

zustreben

müssen.

Die erste ist die Ordnung des Gemeindelebens,

daö

38 die Kirchenverfassung nur in den äußersten Grundzügen hat

festlegen können.

Die Sulzesche Gemeindereform

nichts anderes, als ein Versuch,

ist

auch auf dem Gebiet der

Einzelgemeinde das persönliche, subjektive, freie Elenient aus­ zuschalten und durch offizielle Institutionen zu ersetzen.

Daher

zunächst die Aufrichtung scharfer Grenzen für Parochie und

Seelsorgebezirke und der Eifer gegen die flüssige Personal­

gemeinde, die Abschaffung der Liebesgaben und Gleichstellung der

Pfarrer

auf festes

Gehalt,

nach

einer Mtersskala

steigend, die Zurückdrängung freier Bereinsthätigkeit, die orga­

nische Gliederung der Gemeinde und damit die Erziehung der Gemeindeglieder zu einem ganz besonderen Ehrgeiz für ihre Gemeinde; die Berkirchlichung der Armenpflege.

Noch

mehr: die Amtshandlungen sollen aus seelsorgerlichen, dem einzelnen Fall und individuellen Verhältnissen

angepaßten

Akten zu Gemeindefeiern werden; in der Predigt soll an stelle der mus

freien

maßgebend

Textwahl die Reihenfolge des Katechis­ sein,

die Person des Predigers,

seine

Richtung und Theologie, darf nicht sichtbar werden — wo sie es wird, ist die Predigt schlecht und ärgert die Ge­

meinde; ja sogar die Seelsorge soll geordnet werden.

In

alledem zeigt es sich, daß diese Sulzesche Gemeindereform,

weit entfernt davon,

ein gegen das Kirchentum gerichtetes

Prinzip zu vertreten, vielmehr die äußerste Konsequenz der

kirchenbildenden Richtung des verflossenen Jahrhunderts ist. Alle die Gefahren, die dieser Richtung anhaften, wer­

den durch diese Reform gesteigert,— und dennoch, wer sähe nicht, daß wir in dieser Richtung arbeiten müssen,

daß dies die einzig mögliche Art ist, den Riesenaufgaben, die dem kirchlichen Protestantismus gestellt sind, zu genügen!

39 Die andere Richtung

aber,

in der das

evangelische

Kirchentum der Gegenwart einer Förderung bedarf, ist die

zuletzt von Beyschlag gewiesene auf Schaffung einer Konfö­

deration der deutschen evangelischen Landeskirchen

zur stärkern Geltendmachung der protestantischen Interessen gegenüber Rom

Diaspora.

und zur bessern Versorgung

unserer

Beyschlag hat diese Notwendigkeiten sehr klar

auseinandergesetzt, ich will dazu nur bemerken, daß mir durch­

schlagend allein der letztgenannte Grund erscheint.

Ich möchte

lieber versuchen, die Frage praktisch zu fördern. Das kann nur

geschehen, indem ich darauf Hinweise, daß sie vor allem und zuerst eine preußische Frage ist.

Denn während von einer

ganzen Zahl der außerpreußischen Landeskirchen angenommen

werden darf, daß sie der gegebenen Anregung teils günstig, teils wenigstens nicht ablehnend gegenüberstehen, wurzelt ein entschiedener Widerstand dagegen einmal in Hannover und

Schleswig-Holstein,

wo

sich

Selbständigkeitsbe­

kirchliche

strebungen mit politisch-partikularistischen Tendenzen verquickt haben,

dann aber im preußischen Kultusministerium.

Ge­

länge es, die preußischen Landeskirchen bei voller Wahrung

ihrer Selbständigkeit im Innern doch zu einer aktionsfähigen

Organisation zusammenzuschließen,

so

wäre das Zustande­

kommen einer alle deutschen Landeskirchen umfassenden Kor­

poration nur mehr eine Frage der Zeit. Ist nun irgend eine Aussicht, in Preußen das Ziel zu

erreichen?

Förderlich

dafür sind

zwei Momente,

erstens

das Vorhandensein gemeinsamer finanzieller Verbände, zwei­

tens die von allen Parteien des Landtages gleichmäßig be­ klagte Überbürdung des Kultusministeriums. Da bietet sich als der naturgemäßeste Weg zur Abhülfe die Abtrennung

40 aller evangelischen kirchenregimentlichen Geschäfte, die ja nur

noch per nefas in der Hand einer politischen Behörde sind, und ihre Übertragung auf einen selbständigen obersten Rat in evangelischen Kirchensachen.

Gelänge

eS dann,

diese

oberste Behörde mit dem evangelischen Obrrkirchenrat zu

verbinden, sei es auch nur insofern, als der Präsident beider ein und dieselbe Person wäre, so wäre damit ein großer Schritt vorwärts zur Lösung der Frage gethan.

Es

ist

offensichtlich unrichtig, daß dem bekenntnismäßige Bedenken entgegenstünden, — denn schon heute ist ja das

oberste

Kirchenregiment von Hannover, SchleSwig-Holstein u. s. w. mit Gliedern einer Kirche, in der die Union gilt, besetzt. Dieser Schritt wäre aber nichts, als die Konsequenz

der

vom

modernen

Kirchenpolitik.

Staat

seit

100 Jahren

verfolgten

ES ist keine Aussicht, daß der Staat jemals

wieder religiös-konfessionelle Aufgaben in größerm Umfange übernehme; und niemand kann das wünschen, der nicht über historischen Rückblicken das Verständnis für die Gegenwart

verloren hat.

So muß der Staat zum Ersatz dafür die

Organisation schaffen, ohne die diese durch die Expansion

des Volk-ganzen so unermeßlich gesteigerten Aufgaben unerfüllt bleiben müssen.

Er giebt damit dem Protestantismus

die Kirchenform, die zwar nicht deffen Wesen entspricht —

denn seinem Wesen entspricht keine Kirchenform — aber die er bedarf, um nicht ohnmächtig seiner geschichtlichen Stellung beraubt zu werden.

Aber so lebhaft wir das wünschen, wir dürfen uns deshalb doch nicht verblenden lassen gegen die Gefahren, die

ei» solches gestärftes Kirchentum für den reinen Geist deS

Protestantismus in sich schließt.

41 Es ist freilich zu hoffen, daß, je mehr die Größe der Aufgaben, die die evangelischen Kirchen haben, allen Be­ teiligten zum Bewußtsein kommt, desto mehr auch der enge und kleinliche Geist schwinden wird, der dies Kirchentum oft so unleidlich gemacht hat. Aber dieser Hoffnung steht doch die allgemeine Beobachtung entgegen, daß jede Kirche — heiße sie nun katholisch oder evangelisch, hannoversche oder badische — gar nicht anders kann, als in die Freiheit ihrer Diener und Kirchenglieder ganz empfindlich einzu­ schneiden. Dies Gesetz zwingt uns, nach einer Lösung der Schwierigkeit zu suchen, bei der einerseits die konzentrierte Kraft der Kirchen keine Einbuße erleidet, anderseits die Frei­ heit des Glaubens und Gewissens gewahrt bleibt. Jeder wird zugeben, daß eine solche Lösung nicht ist, daß es ja schließlich jedem freisteht, aus dem kirchlichen Verbände auszuscheiden. Denn er träte in das Nichts. Wohl aber, meine ich, bietet sich eine Lösung, wenn wir nur die letzte Konsequenz aus dem modernen Staatsbegriff ziehen. Der moderne Staat hat gar kein Interesse daran, es nur mit einer Kirche zu thun zu haben, es hat deshalb auch gar keine Nötigung, die Bildung neuer Kirchengemeinschasten zu erschweren. Hat er aber wirklich noch ein Interesse daran, daß unter seinen Bürgern religiöses Leben besteht, so mag er von diesem Grundsätze praktischen Gebrauch machen. Denn nur so können die Gefahren ausgeglichen und aufgehoben werden, die die Berkirchlichung des Protestantismus mit sich bringt. Nicht das ist unsre Notlage, daß wir Kirchentum haben — wir können es gar nicht entbehren—, sondern das, daß wir nur ein und einerlei Kirchentum haben. Denn da das Kirchentum feste Rechts-

42 ordmmgen nicht entbehren kann, so kann es gar nicht anders

sein, als daß diese Ordnungen immer bald dem, bald jenem eine Beschränkung und ein Ärgernis sind. Die Folge ist heute, daß Unzählige die Kirche abseits liegen lassen und sich vom kirchlichen Leben zurückziehen. kirchlichen Protestantismus

Rechts und links neben dem

gehen

starke Strömungen vor­

bei — und wer hätte den Mut zu behaupten, daß diese

unkirchlichen Strömungen auch alle unevangelisch

unchristlich seien? Wer müßte aber nicht

oder gar

auch, daß diese

Strömungen sich meist in das Nichts des Jndifferentismus verlieren, weil Religion nun Pflege, der Form nicht

einmal der Gemeinschaft, der

en traten

kann?

Es ist in viel

tieferem Sinne wahr, als es der Urheber dieses Diktums wohl gemeint hat: Wir haben keine Bolkskirche mehr, keine Kirche mehr, in der sich das ganze Volk (auch nur

soweit e- zum Evangelium hält) heimisch suhlte.

Nur soll

man nicht übersehen, daß in dem Wort Bolkskirche selbst eine Antinomie steckt. Kirche ist immer etwas Festes, Institutionelles,

ein Komplex von Gesetzen, Rechten und Pflichten, und wo sie daS nicht ist, ist sie ein unnützes Ding.

Das Volk aber

ist etwas Lebendiges, Wechselnde-, grade als geistige Größe unendlich

Mannigfaltiges.

deren Ordnungen

jedem

Quadratur des Zirkels.

braucht es

Eine

Kirche

zu

im Volk zusagten,

konstruieren, das

ist die

Soll unser Volk religiös sein, so

nicht Kirche, sondern Kirchen.

Wir müssen

dahin kommen, daß die mit den Landeskirchen zerfallnen

evangelischen Christen sich neue kirchliche Organisationen schaffen. Auch in diesen wird Rechtsordnung nicht entbehrt werden können, aber indem solche Ordnungen verschieden sind, wird jeder im

Volk leichter für seine Religion die zusagende Heimstätte finden.

43 wären dann

Das

allerdings

freikirchliche Bildungen.

Nun, ich weiß mich als Gegner aller Tendenzen, die dahin­ aus laufen, unsre Landeskirchen in Freikirchen umzuwandeln, deshalb, weil eine solche Entwicklung die Gefahr der Kirch­ lichkeit ins Ungemessne steigern würde.

Behalten wir nur,

was wir dank einer geschichtlichen Inkonsequenz an Landes­ kirchen haben, aber gewöhnen wir uns endlich an den Ge­

danken, daß daneben Freikirchen eine Forderung der Ge­ rechtigkeit und eine einfache Konsequenz der modernen Ent­

wicklung sind. Wenn sich die Rechtslage der evangelischen Kirche so gestaltet haben wird: starke, festgefügte, unter sich verbundne

Landeskirchen, in edlem Wetteifer mit ebenso innerlich aus­ gebauten

Freikirchen,

sie

seien

unitarisch

oder pietistisch­

dann wird der Pro­

methodistisch

oder

testantismus

ein Kirchentum haben, das den beiden An­

sprüchen genügt,

konfessionalistisch, von denen

er nie lassen kann, den An­

sprüchen der Kraft und der Freiheit.

Für uns aber, die wir berufen sind, auf dem Boden

der Landeskirchen für das Evangelium zu arbeiten, erwächst aus dem Gedankengange, den wir heute gegangen sind, eine

schwierige Doppelaufgabe.

Wir müssen die Kirche und die

Gemeinde bauen mit aller Hingebung und aller Treue.

Und

Augenblick

ver­

wir

sollen

doch

dabei

nie

und

keinen

gessen dürfen, daß dies Kirchentum, wofür wir uns ein­ fegen, nur ein relatives Gut, ein notwendiges Übel ist.

Zwischen diesen beiden Forderungen

hindurch, deren keine

aufgegeben werden darf, muß sich jeder Pfarrer seinen eignen Weg immer von neuem suchen und erbitten, und jeder, der

als Pfarrer vor allem evangelischer Christ sein und bleiben

44 will, wird

oft genug mit Schmerzen erfahren,

daß diese

beiden Forderungen ihn in einen schweren Widerstreit der Pflichten hineinziehen.

Zugleich

aber wird er

auch inne

werden, daß grade in dieser Doppelseitigkeit der ihm ge­ wordenen Aufgabe die eigentümliche Größe seines Berufes

begründet ist.