Nietzsches Vater oder die Katastrophe des deutschen Protestantismus: Eine Biographie 9783050073439, 9783050030777


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German Pages 419 [424] Year 2000

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Table of contents :
Präludium
Eilenburg
1. Napoleonischer Kanonendonner
2. Preußische Zucht
3. Protestantischer Geist
4. Ein Knabe von trefflicher Art
5. Lernen und Dichten
6. Glaube und Tugend (Der Vater)
7. Der Anblick des Todes
8.Gehorsam und Liebe (Die Mutter)
9. Die Predigt eines Kindes
10. Hallenser Vorspiel
Interludium I
Roßleben
1. Das Gesetz
2. Rhodoscia
3. Benedikt Wilhelm (Der Rektor)
4. Georg Hartmann von Witzleben (Der Erbadministrator)
5. Der Unterricht
6. Die Sehnsucht
7. Der Spott
8. Das Mäusenest
9. Die Maschine
10. Kunst und Kultur
11. Der Pfaffe
12. Predigt über eine höchsterwünschte Tugend
13. Die Prüfung
14. Das Bekenntnis einer schönen Jünglingsseele
Interludium II
Halle
1. Friedloser Friede
2. Theologengezänk
3. Ein frommer Dunkelmann
4. Ein sanfter Freund der Vernunft
5. Liebe und Schnupfen
6. Das Studium
7. Predigt und Erwecklichkeit
8. Höhere Gemeinschaft mit Christus
9. Das erste Examen
Interludium III
Altenburg
1. Docendo Discimus
2. Glaubenskämpfe
3. Ein frommer Fürst
4. Höfische Mädchenerziehung
5. Diskurs mit einem treuen Freund
6. Das zweite Examen
7. Ein huldreicher König
Interludium IV
Röcken
1. Stolz, Furcht und Anmaßung
2. Das Amt
3. Das Regiment der Frauen
4. Fränzchen
5. Die Kinder
6. Lichtfreunde
7. Revolution
8. Die Krankheit zum Tode
Postludium
Danksagung
Literaturverzeichnis
Personenregister
Abbildungsnachweis
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Nietzsches Vater oder die Katastrophe des deutschen Protestantismus: Eine Biographie
 9783050073439, 9783050030777

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Klaus Goch

Nietzsches Vater

Klaus Goch

Nietzsches Vater oder Die Katastrophe des deutschen Protestantismus Eine Biographie

Akademie Verlag

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Goch, Klaus: Nietzsches Vater oder die Katastrophe des deutschen Protestantismus : eine Biographie / Klaus Goch. Berlin : Akad. Verl., 2000 I S B N 3-05-003077-1

© Akademie Verlag G m b H , Berlin 2000 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach D I N / I S O 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Ubersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren — reproduziert oder in eine von M a s c h i n e n , insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Satz: Werksatz Schmidt & Schulz, Gräfenhainichen Druck: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Langensalza Bindung: R . Oldenbourg Grafische Betriebe, Kirchheim Einbandgestaltung: Petra Florath, Berlin Printed in the Federal Republic of Germany

Meiner Frau Marianne und meinem Sohn Sebastian in Liebe und Dankbarkeit

Kreuz und Krone sind verbunden, Kampfund Kleinod sind vereint. Christen haben alle Stunden Ihre Qual und ihren Feind Doch ihr Trost sind Christi Wunden. Kreuz und Krone sind verbunden, Kampfund Kleinod sind vereint. (Joh. Seb. Bach, Aria, Alto, BWV 12)

Inhalt

Präludium

1

Eilenburg

3

1. Napoleonischer Kanonendonner 2. Preußische Zucht 3. Protestantischer Geist 4. Ein Knabe von trefflicher Art 5. Lernen und Dichten 6. Glaube und Tugend (Der Vater) 7. Der Anblick des Todes 8. Gehorsam und Liebe (Die Mutter) 9. Die Predigt eines Kindes 10. Hallenser Vorspiel

3 5 11 19 31 41 56 60 70 72

Interludium I

93

Roßleben

95

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12.

Das Gesetz Rhodoscia Benedikt Wilhelm (Der Rektor) Georg Hartmann von Witzleben (Der Erbadministrator) Der Unterricht Die Sehnsucht Der Spott Das Mäusenest Die Maschine Kunst und Kultur Der Pfaffe Predigt über eine höchsterwünschte Tugend

95 98 106 110 114 128 137 144 150 160 170 177

X

Inhalt

13. Die Prüfung 14. Das Bekenntnis einer schönen Jünglingsseele

181 185

Interludium II

189

Halle

192

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.

Friedloser Friede Theologengezänk Ein frommer Dunkelmann Ein sanfter Freund der Vernunft Liebe und Schnupfen Das Studium Predigt und Erwecklichkeit Höhere Gemeinschaft mit Christus Das erste Examen

192 198 207 212 216 223 233 246 256

Interludium III

263

Altenburg

266

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Docendo Discimus Glaubenskämpfe Ein frommer Fürst Höfische Mädchenerziehung Diskurs mit einem treuen Freund Das zweite Examen Ein huldreicher König

266 271 282 287 293 303 310

Interludium IV

319

Röcken

323

1. 2. 3. 4. 5. 6.

Stolz, Furcht und Anmaßung Das Amt Das Regiment der Frauen Fränzchen Die Kinder Lichtfreunde

323 329 336 341 351 359

Inhalt

7. Revolution 8. Die Krankheit zum Tode

XI

372 377

Postludium

393

Danksagung

395

Literaturverzeichnis Personenregister Abbildungsnachweis

397 405 409

Präludium

Ein Buch über Nietzsches Vater zu schreiben - das könnte, im Hinblick auf Leben und Denken des Sohnes, durchaus eine müßige Beschäftigung sein. Der Vater verschwindet schon früh, kaum mag es also sehr ergiebig sein, über väterliches Vorbild oder väterlichen geistigen Einfluß, über Liebe oder auch Haß zum Vater eingehende Erörterungen anzustellen, ohne dabei der Gefahr zu erliegen, Kausalitäten herzustellen oder sogar lebensgeschichtliche Phantasie-Gemälde zu entwerfen, die, wie feinsinnig sie auch immer sein mögen, niemals im strengen wissenschaftlich-philologischen Sinn bewiesen, also höchstens einer gebildeten Unterhaltungsliteratur zugerechnet werden können. Und doch hat sich die Nietzsche-Forschung jüngerer Zeit mit erstaunlicher Subtilität der Gestalt des Vaters angenommen, allerdings ohne ihren klugen Erwägungen ein auch nur halbwegs tragfähiges biographisches Fundament zu verschaffen. Da wird zum Beispiel gesagt, Friedrich Nietzsche habe seine Vaterlosigkeit als daseinszerstörenden Defekt erfahren, so daß er sich in selbststabilisierende Vollkommenheits- und „Wille zur Macht"-Visionen habe flüchten müssen; da wird dann auch erklärt, sein „Gott ist tot"-Verdikt sei dem frühkindlich-traumatisierend erlebten Tod des eigenen Vaters geschuldet. - Man könnte solche auf Kongressen und in dicken Büchern mit einiger Beredsamkeit dem staunenden Publikum angebotenen Konstruktionen unter freundlich-humanem Blickwinkel als anregende Spekulationen, unter wissenschaftskritischem Aspekt als Ausdruck eines die Philosophie überwältigenden Schwundstufen- oder Vulgärfreudianismus bezeichnen, methodologisch aber als jene Denk-Unart, die man petitio principii nennt und die von Schopenhauer als das fragwürdige Verfahren erklärt wird, einem Lehrsatz, der keine unmittelbare Gewißheit hat, eine solche gleichsam apriorisch beizulegen. - Um der Gefahr dieses substanzlosen, im besten Falle „interessanten" Meinens und Dafürhaltens zu entkommen, aber dennoch im Medium der Vater-Biographie einen Beitrag zum Verständnis Friedrich Nietzsches zu leisten, ist es vielleicht erkenntnisfordernder, den philologisch-historischen (oder auch: ideengeschichtlichen) Weg zu beschreiten. Anhand der zahlreich vorhandenen Dokumente könnte Nietzsches Vater als eine Pfarrer- und Theologen-Gestalt beschrieben werden, die in ihrer Lebensgeschichte auf prägnante Weise den Widerstreit zwi-

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Präludium

sehen Aufklärung und Restauration, zwischen Glauben und Vernunft, theologisch zwischen Rationalismus und Supranaturalismus erfahrt, also all jene Dissonanzen und Figuren der Selbst-Destruierung biographisch repräsentiert, die Friedrich Nietzsche in einem Denkbild aufscheinen läßt, das er unter dem Titel „Der Bauernaufstand des Geistes" (FW/KSA 3, 602ff.) in kritischer Absicht der Geschichte des protestantisch-lutherischen Geistes gewidmet hat. Es könnte also durchaus ein erkenntnisleitendes Interesse sein, im Vater, in seiner Glaubens- und Lebenshaltung, jene Elemente sichtbar zu machen, die später bei seinem Sohn zum Anlaß und Ausgangspunkt einer vernichtenden Kritik des Christentums werden — und somit das D e n k e n des Sohnes die radikale Negation der väterlichen Existenz notwendig nach sich zieht, so daß denn alles, was im Leben und in dem B e w u ß t sein des Vaters durch Glaubensexaltation noch einmal (scheinhaft) gerettet, was verborgen, unterdrückt und verschwiegen wird, im Sohn zum Ausdruck kommt, auch wenn Friedrich Nietzsche noch im „Ecce h o m o " uns den Vater als das schöne, edle, geradezu „engelhafte" Muster eines evangelischen Landgeistlichen (maskierend und verschleiernd) vorfuhren will (EH, KSA 6, 267f.). Das „Zarathustra"-Wort „Was der Vater schwieg, das kommt im Sohne zum R e d e n " (Z II, KSA 4, 129) kann dabei die R i c h t u n g angeben, die uns erlaubt, darüber nachzudenken, ob und auf welche Weise der hoch-ethische Glaubensentwurf des Vaters in einer (dialektisch vermittelten) Beziehung steht zu Friedrich Nietzsches wütender Verneinung aller traditionellen Moral und Gläubigkeit, die nicht nur innerhalb einer vom Protestantismus zutiefst geprägten familiären Lebenskultur, sondern auch ideengeschichtlich einen einmalig-radikalen Bruch markiert und somit die „private" Historie einer deutschen Familie uns, jenseits aller subjektivistischen Psychologie, zu einer objektiv gültigen Erkenntnis verhelfen und auch heute noch lehrreich sein kann. Dazu ist es jedoch erforderlich, das Leben des Vaters zu beschreiben, so daß denn jener, der sich, ehe er freudianisch-analytisch tätig wird, bescheiden dieser Aufgabe stellt, einer vielleicht doch nicht gänzlich müßigen Beschäftigung nachgehen mag.

Eilenburg

Í. Napoleonischer

Kanonendonner

„Mein Vater wurde am 10. Oct. des Schlachtjahres 1813 geboren, in Eilenburg: die Niederkunft erfolgte, nachdem am Abende vorher Napoleon mit seinem Stabe in Eilenburg eingerückt war." 1 Diese Notiz Friedrich Nietzsches ist historisch korrekt: Am 9. Oktober gegen 10 U h r abends hatte der Kaiser in der kleinen, dem Königreich Sachsen zugehörigen Stadt sein Nachtquartier genommen - in der Torgauer Straße Nr. 37, nicht weit entfernt vom Pfarrhaus an der Stadtkirche St. Nicolai, in dem, wie die Geburtsurkunde belegt, am „zehnten October eintausendachthundert und dreizehn früh halb drei U h r 2 Carl Ludwig Nietzsche als Sohn des Oberpfarrers und Superintendenten Friedrich August Ludwig Nietzsche und seiner Ehefrau Erdmuthe Dorothea, geborene Krause, das Licht der Welt erblickt; acht Stunden später, gegen elf U h r morgens, verläßt der Empereur die Stadt und begibt sich ins Dübener Schloß, u m dort mit seinen Generälen einen Kriegsrat abzuhalten. Es sind für ihn, wie er später bekennt, die schrecklichsten Tage seines Lebens: Er ist nur mangelhaft informiert über die Bewegungen der gegnerischen preußisch-russischen Truppen unter Marschall Blücher; er kann sich der Loyalität seiner königlich-sächsischen Kampfgenossen gar nicht mehr sicher sein; er ahnt, daß eine endgültige Entscheidung in diesen langen Kämpfen, die man in Deutschland als Befreiungskriege bezeichnet, nahe bevorsteht — nach quälenden Stunden des Zögerns gibt er schließlich den verhängnisvollen Befehl zum Abmarsch nach Leipzig. A m 18. Oktober 1813 wird dort zum Generalangriff geblasen, und nach neunstündigen erbitterten Gefechten ist das Heer des Kaisers vernichtend geschlagen, ein Kampf, der später als große Leipziger Völkerschlacht in die Geschichtsbücher eingehen wird, da er das nahe Ende der napoleonischen Herrschaft über Europa aufs deutlichste signalisiert. In

1 Friedrich Nietzsche, Brief aus Sils-Maria an C. A. Burkhardt in Weimar (Entwurf), Mitte Juli 1887 (KSB 8, 109). 2 Carl Ludwig Nietzsche, Geburtszeugnis, GSA 100/415.

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Eilenburg

Eilenburg läßt der „Kanonendonner [...] die Fenster klirren und den Boden erbeben". 3 Die kriegerisch-politischen Ereignisse, die in den ersten Lebenstagen Carl Ludwig Nietzsches stattfinden, sind in der Tat von hoher Bedeutung fur den Verlauf der europäischen Geschichte. Sie haben eine Neuordnung des Kontinents zur Folge, und sie sind, angesichts des erfolgreichen Kampfes gegen den Eroberer Napoleon, von großer Wichtigkeit für die Entstehung eines deutschen Nationalbewußtseins, so daß die alte Kleinstaaterei mit ihren zahllosen souveränen Fürstentümern langsam ins Wanken gerät und ein geeintes, starkes, selbstbewußtes Reich, wenn auch vorerst nur theoretisch, am geschichtlichen Horizont erscheint. Carl Ludwigs Heimatstadt bringen sie in dieser Zeit aber zunächst nur Elend, Hunger und Seuchen, begleitet von einer fast vollständigen Auflösung der öffentlichen Sicherheit. Schon 1812, nach dem kläglich gescheiterten napoleonischen Feldzug gegen Rußland, waren die ungeordnet und fluchtartig zurückkehrenden französischen Truppen in Eilenburg eingefallen, „erfroren, verhungert, mit allerlei Krankheiten in ihren abgemergelten Körpern". 4 Am Nervenfieber, das sie eingeschleppt haben, sterben in den folgenden zwölf Monaten 123 Einwohner. Im Oktober 1813, also in den Tagen der Geburt Carl Ludwig Nietzsches, hat sich das städtische Leben vollends in ein Chaos verwandelt. Der Chronist berichtet: „In dieser Zeit lagerten hier und in der Umgebung etwa 60000 Mann Soldaten. Eilenburg und Umgebung seufzte geradezu unter dem Druck des französischen Heeres. Alle Vorräte waren aufgezehrt, Pferde und Viehherden an den verborgensten Orten aufgespürt und fortgetrieben oder sofort geschlachtet worden. Leben und Eigentum der friedlichen Bürger war völlig schutzlos, Häuser und Zäune wurden zu Wachtfeuern verwendet. Hunderte von Familien irrten ohne Obdach und Nahrung, ohne warme Kleider, bettelnd umher." 5 Carl Ludwig Nietzsche ist gerade einen Tag alt, da erscheint in Eilenburg der mit Napoleon verbündete König Friedrich August von Sachsen, begleitet von seiner Familie. Die ihm folgenden sächsischen Regimenter müssen gleichfalls noch in der bereits mit Truppen überfüllten Stadt untergebracht werden. Auf dem Nicolai-Kirchplatz, also vor dem Geburtshaus, errichten die Soldaten ein Biwak; die benachbarte Knabenschule

3 In einem Bericht „Eilenburg in den Jahren 1813 bis 1817", Eilenburger Neueste Nachrichten, 29.7.1926, Nr. 175 (Stadtarchiv Eilenburg). 4 Ebd. 5 Ebd. Zu den Geschehnissen in Eilenburg auch: Vettermann, Rolf - Jahre und Tage vor und nach der Völkerschlacht. Ein Beitrag zur Geschichte Eilenburgs von 1789—1815, Eilenburg 1988/Rolf Vettermann, Die Tage vor der Völkerschlacht. Unsere Heimat im Kampf gegen die napoleonische Fremdherrschaft, 1963 (Stadtarchiv Eilenburg/Gundermann, Friedrich, Chronik der Stadt Eilenburg, 1879 (Stadtarchiv Eilenburg)/„Eilenburg im Frühjahr 1813", Eilenburger Nachrichten Nr. 107 1913 (Stadtarchiv Eilenburg).

Preußische Zucht

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verwandeln sie in einen Pferdestall. Noch im hohen Alter wird sich Erdmuthe Nietzsche, die Mutter, mit Schaudern an ihr unruhiges, vom Kriegslärm empfindlich gestörtes Wochenbett erinnern. Sie konnte, wie ihre Enkelin Elisabeth später berichtet, „nie ohne Bewegung davon sprechen, wie unheimlich und furchtbar jener Herbst gewesen sei [...] all jene düstern Nächte hindurch habe man das •eilige, eintönige Marschieren der Regimenter gehört. [...]" 6 Und immer wieder habe Freund und Feind das Pfarrhaus aufgesucht, um sich bei ihrem Ehemann, dem Superintendenten Friedrich August Ludwig Nietzsche, seelsorgerlichen Rat und pastorale Hilfe zu erbitten. „Großmütterchen sagte, daß sie das schauerliche Pochen an den Fensterläden aus jener Zeit noch jahrelang in ihren Träumen gehört habe und schreckhaft emporgefahren sei." 7

2. Preußische Zucht Die Niederlage Napoleons in der großen Völkerschlacht bei Leipzig hat für die Bürger Eilenburgs weitreichende Folgen — ihr Landesherr, der König von Sachsen, wird als Verbündeter des geschlagenen Kaisers gefangengesetzt, nach Berlin verschleppt und unter die Gewalt des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. gebracht. Das Schicksal der kleinen, von den Kriegsnöten schwerstens belasteten Stadt ruht zunächst in den Händen eines Gouverneurs aus der Armee des mit Preußen alliierten russischen Zaren; als dann, nach dem Wiener Kongreß, die Neuordnung Europas im September 1814 kodifiziert und abgeschlossen ist, wird das Amt Eilenburg (mit Torgau und Delitzsch) am 15. Mai 1815 dem Königreich Preußen einverleibt, zur Strafe für den sächsischen König, der sich zu lange und zu hartnäckig auf die Seite des zunächst siegreichen, jetzt aber im Niedergang begriffenen korsischen Eroberers geschlagen hatte. Es fällt den Eilenburgern allerdings am Anfang gar nicht leicht, sich einem neuen Landesherrn, einem neuen Staatsgebilde, also dem neuen preußischen Geist anzubequemen. In den Straßen der Stadt sieht man zuweilen wohlgeachtete Bürger, die als Zeichen stiller Rebellion gegen die preußische Herrschaft eine rote Nelke im Knopfloch ihres Anzugs tragen und auf diese Weise ihre fortwährende Treue zum Kaiser Napoleon und zum sächsischen König signalisieren, ganz zu schweigen davon, daß der preußische Adler, als neues Hoheitszeichen an den Stadttoren befestigt, des öfteren zu nächtlicher Zeit „mit Schmutz beworfen" 8 wird - um so eindringlicher und nachdrücklicher müssen deshalb die Be-

6 Förster-Nietzsche, Elisabeth - Der junge Nietzsche, Leipzig 1912, 3 f. 7 Ebd., 4. 8 Rolf Vettermann, Jahre und Tage vor und nach der Völkerschlacht, ebd., 30.

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Eilenburg

mühungen der politischen und geistlichen Stadt-Autoritäten sein, ihren Schutzbefohlenen die Unvermeidlichkeit und die künftig vielleicht sogar zu erwartenden Vorteile solchen Machtwechsels vor Augen zu fuhren, wobei es selbstverständlich ist, daß Carl Ludwig Nietzsches Vater, als weithin respektierter Prediger und Seelsorger, in diese Uberzeugungsarbeit aufs stärkste eingebunden wird, in schöner Harmonie mit der weltlichen Macht in Gestalt des Bürgermeisters Dr. Kranold, der in jenen unruhigen Tagen eine bemerkenswerte Umsicht und Wendigkeit an den Tag zu legen vermag. So wird denn, um der Bevölkerung ein Schauspiel zu bieten und ihr die Loyalität zur preußischen Krone zu erleichtern, am 3. August 1815 ein großes Huldigungsfest zu Ehren Friedrich Wilhelms III. veranstaltet, eine prachtvolle Inszenierung mit morgendlichem Glockenläuten, mit einem Festumzug, mit einer aufmunternden Rede des Bürgermeisters, und nicht zuletzt mit einem Gottesdienst, in dem der Segen des höchsten Herrn für seinen Stellvertreter auf Erden, den neuen Herrscher in Berlin, herbeigefleht und zu treuem Gehorsam und unwandelbarer Submisson mit pastoralem Nachdruck aufgefordert wird. Es ist jedoch, in der folgenden Zeit, nicht zu viel Uberredungskraft erforderlich, um die Bewohner Eilenburgs von den Segnungen der preußischen Herrschaft zu überzeugen: Sie sind nun Teil des größten und ökonomisch fortschrittlichsten deutschen Landes, einer „perfekt konstruierte[n] Staatsmaschine"9 mit ihrem in der ganzen Welt bewunderten, straff und klar gegliederten Verwaltungsapparat, der die Grundlage bildet für einen jetzt sprunghaft einsetzenden wirtschaftlichen Aufschwung, der das fast noch mittelalterlich wirkende königlich-sächsische Landstädtchen binnen kürzester Frist in einen modernen Industriestandort verwandelt. Diese Entwicklung wird dadurch besonders gefördert, daß Eilenburg zur preußischen Grenzstadt geworden ist. Sächsische Kaufleute und Unternehmer lassen sich nieder, gründen neue Betriebe oder nehmen eine Produktionsverlagerung vor, um auf diese Weise „den direkten und zollfreien Zugang zum riesigen preußischen Markt" zu gewinnen 10 , wobei die Nähe Eilenburgs zur großen Handelsmetropole Leipzig für diese Fabrikanten gleichfalls günstig ist. Das weiche Wasser des Flüßchens Mulde begünstigt insbesondere die Erweiterung der bereits vorher in bescheidenem Maße vorhandenen textilen Manufakturen, so daß die Stadt schon bald ein wichtiges Zentrum der preußischen Textilindustrie genannt werden kann. „Zuwanderungen von spezialisierten Arbeitskräften aus vielen Teilen Deutschlands und darüber hinaus sowie von Dörflern der Umgebung" 11 bewirken einen starken Anstieg der Bevölkerung, und schon im Jahre 1820 ist es daher notwendig,

9 Sebastian Haffner, Preußen ohne Legende, Hamburg 1979, 291. 10 Andreas Flegel, Eilenburg, in: Von Eilenburg nach Düben, Herausgeber: Torgauer Verlagsgesellschaft, Torgau 1993, 19. 11 Ebd.

Preußische Zucht

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die Stadtbefestigungsanlagen aus dem Mittelalter niederzulegen, um Platz fur neue, moderne Wohngebiete zu schaffen. Hat also der zwangsverordnete Ubertritt nach Preußen fiir die Eilenburger, trotz aller anfänglicher Skepsis, gerade auch in wirtschaftlicher Hinsicht durchaus positive Folgen, so befördert er doch andererseits eine Entwicklung, die negative und bedrohliche Aspekte enthält: Es erfolgt, in einer Art von Auflösungsprozeß, ein gründlicher, fast revolutionär zu nennender Umbruch der traditionellen sozialen Strukturen - bis hin zur Entstehung eines Industrieproletariats, das nicht mehr bruchlos in die hergebrachte gesellschaftliche Ordnung integriert werden kann und ein ständiger politischer und kultureller Unruhefaktor zu werden vermag, da es an die bisher unbefragt geltenden Lebensformen des städtischen Gemeinwesens, an die überkommenen Werte, schließlich an Staat und Religion nicht mehr substantiell-verläßlich gebunden ist. Der scheinbar unaufhaltsame, durchaus willkommene ökonomische Fortschritt verstärkt also auf äußerst gefährliche Weise die Tendenz zur Atomisierung und Destruktion der ursprünglichen organischen Gemeinschaft und bewirkt den Zerfall der sozialen Einheit in partikulare Einzelund Gruppeninteressen, wobei am Ende sogar die Grundlagen des politischen Systems und die preußisch-monarchische Herrschaft in einen äußerst bedenklichen Legitimationszwang geraten könnten. So ist denn das Herrscherhaus in Berlin, mitsamt seinen gehorsamen Vertretern in den Provinzen und Städten, eifrigst und mit großer intellektueller Kraft bestrebt, den Untertanen neue, tragende Werte zu vermitteln. Allerdings versucht man, auf historisch folgenreiche Weise, die notwendige Neu-Konstituierung einer verpflichtenden Staatsidee nicht mit dem nüchternen Blick auf die konkrete Gegenwart zu leisten, sondern durch den gewagten, anachronistischen Rückschritt in eine Vergangenheit, die philosophisch-theologisch durch das aufklärerische Denken, praktisch-politisch durch die Französische Revolution endgültig überwunden schien. Man entwirft, beflügelt von den irrationalen Phantasien der romantischen Dichter und Deuter, eine „Gegenideologie zur Aufklärung, [im] Rückgriff auf die Kräfte des Gemüts gegen den Anspruch der Vernunft"; man ist bemüht, „das Mittelalter wieder ins Leben zu rufen, das christliche Königtum, das Rittertum, die feudalen Gefühlswerte von Treue und Gefolgschaft". 12 Dieses großangelegte Projekt der Re-Christianisierung und der politischen Restauration erstreckt sich über das gesamte Europa und findet in der „Heiligen Allianz" des Jahres 1815 seinen vorläufigen Höhepunkt 13 ; es wird allerdings in

12 Sebastian Haffner, ebd. 13 Ausfuhrlich zur Epoche der Restauration in Preußen: Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866, Bürgerwelt und starker Staat, München 1984, 404ff. - Vgl. auch: Hagen Schulze, Gibt es überhaupt eine deutsche Geschichte?, Stuttgart 1998, S. 28ff.

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Eilenburg

Preußen mit besonderem Nachdruck verfolgt, obwohl (oder gerade weil) der preußische Staat ursprünglich geprägt war durch die strikte Trennung von weltlicher Herrschaft und individueller Praxis des Glaubens, hatte er doch stets die Religion zur Privatsache erklärt und die Aufgabe des Staates (in der Gestalt des Königs) darin gesehen, Handel und Wandel nach möglichst rationalen Prinzipien zu gestalten, keineswegs aber den Untertanen in den ganz subjektiven religiösen Dingen bindende Vorschriften zu machen, getreu der Maxime Friedrichs des Großen, daß jeder Mensch nach seiner eigenen Fasson selig werden solle. Es galt ein von aufklärerischen Prinzipien bestimmter Staatsatheismus, der dem gesellschaftlichen Einfluß der institutionalisierten christlichen Kirchen enge Grenzen setzte. Nun aber soll, unter der Ägide des frommen Königs Friedrich Wilhelm III., die politische Herrschaft erneut metaphysisch gerechtfertigt werden, so daß der Staat, gemäß dem mittelalterlichen Denken, wieder als irdischer Ausdruck einer göttlich-transzendenten Ordnung erscheint und im praktischen Vollzug dieses „theologisch" fundierten Modells die politische Macht des Throns und die geistliche Macht des Altars aufs engste zusammenwirken. Der alte, rational organisierte Staatsapparat verwandelt sich so, auf paradoxe Weise, in ein effektives Instrument zur Durchsetzung irrationaler Werte — eine folgenschwere Entwicklung, die viele, den Idealen der Aufklärung verpflichtete Geister sehr kritisch betrachten, wie denn zum Beispiel rückblickend ein großer deutscher Dichter verächtlich und bitter bemerkt: „Ich traute nicht diesem Preußen, diesem langen frömmelnden Kamaschenheld mit dem weiten Magen, und mit dem großen Maule, und mit dem Korporalstock, den er erst in Weihwasser taucht, ehe er damit zuschlägt. Mir mißfiel dieses philosophisch christliche Soldatentum, dieses Gemengsei von Weißbier, Lüge und Sand. Widerwärtig, tief widerwärtig war mir dieses Preußen, dieses steife, heuchlerische, scheinheilige Preußen, dieser Tartüff unter den Staaten." 14 Diese höchst pointierte, fast „zersetzende" Kritik des restaurativ gefärbten Preußentums hätte man im Mikrokosmos Eilenburg, der die Tendenzen der Zeit zwar verkleinert, aber doch präzise widerspiegelt, wahrscheinlich mit Abscheu quittiert. Die fuhrenden politischen und geistlichen Köpfe der Stadt sind nach dem Schrecken der Befreiungskriege vielmehr eifrigst bemüht, den christlich überhöhten preußischen Geist in die provinzielle Praxis umzusetzen, und es ist insonderheit Carl Ludwig Nietzsches Vater, der mit großem Engagement das mit administrativem Druck eingeleitete Programm der Re-Christianisierung zu befördern versucht, obwohl ihm doch, als philosophisch-literarisch hochgebildetem Theologen und Gelehrten, eine gewisse reservatio mentalis gegenüber der alt-

14 Heinrich Heine, Vorrechte zu „Französische Zustände", in: Heinrich Heine, Sämtliche Schriften, Band 5 (Schriften 1831—1837), herausgegeben von Klaus Briegleb, München 1976, 95.

Preußische Zucht

9

neuen Staatsfrömmigkeit zu eigen sein sollte. Er gründet „auf Befehl und Veranstaltung unsers weisen Königs" 15 einen Verein, der „nichts Geringeres als das Beste und Heiligste, was der Mensch kennt und hat, [...] die Religion und das Christenthum" 16 mit neuer Kraft ins Bewußtsein der Amtsbrüder und des einfachen Kirchenvolkes einpflanzen und ihnen immer wieder deutlich machen soll, daß sich das Leben und die Wohlfahrt eines guten preußischen Untertans im Gehorsam gegenüber den Geboten der christlichen Lehre erfüllt. Am 23. Februar 1817 erläutert er, von der Kanzel der Stadtkirche St. Nicolai herab, den Zweck und das Ziel dieses Vereins, nämlich: „[...] daß wir auch unsern Gemeinden, deren ewiges Heil uns so sehr am Herzen liegen soll, zu einem immer religiösem und wahrhaft christlichen Sinn verhelfen". 17 Seine zeitkritisch getönte Predigt macht deutlich, wie stark bei ihm ein Gespür dafür vorhanden ist, daß die Wirren des nun überstandenen napoleonischen Krieges weitreichende soziale und kulturelle Irritationen und Umbrüche zur Folge hatten und es deshalb von entscheidender Bedeutung ist, das sich lockernde Band zu den zentralen Werten des Christentums wieder zu festigen: „Wie nöthig die Hervorrufung, die Beförderung und Ausbreitung dieses religiösen ud wahrhaft christlichen Sinnes in unsern Gemeinden sey, das darf ich euch wohl hier nicht erst weitläufig auseinander setzen. Nur umsehen dürft ihr euch in dem engern oder weitern Kreise eurer Bekanntschaft die Menschen betrachten, und ihr werdet mich gewiß sogleich verstehen und es selbst fühlen, woran es fehlt und was eigentlich da seyn sollte. Ach, die wahre, tiefe Ehrfurcht vor Gott, die herzliche Hingabe an seine ewige Vaterliebe, die fromme Anhänglichkeit an unsern Heiland, die alles andere ausschließende Liebe zum Worte Gottes, die fleißige Abwartung der öffentlichen Gottesverehrungen, die feierliche Theilnahme an dem heiligen Abendmahle und dann die schönen und für jeden ächten Christen ganz unentbehrlichen Gesinnungen und Tugenden der Redlichkeit, der Berufstreue, der Menschenliebe, der Demuth, der Keuschheit und Mäßigkeit, die, die haben in unseren Gemeinden sehr stark abgenommen, die, die sind beinahe schon ganz verloren gegangen; und gesetzt auch, daß es hier und da noch einige solche Menschen giebt, die sich durch die eben genannten christlichen Tugenden und Gesinnungen auf das rühmlichste auszeichnen, so giebt es gewiß dagegen gleich Hunderte und Tausende, bei welchen auch fast keine Spur

15 Ueber Beschaffenheit, Zweck und Geist der jetzt veranstalteten Synoden- und Predigervereine. Eine Synodalpredigt am 23ten September 1817 in der Stadtkirche zu Eilenburg gehalten und zugleich zur Unterstützung einer höchst armen vierundsiebzigjährigen Prediger-Witwe, herausgegeben von Dr. Fr. Aug. Ludwig Nietzsche, Hauptpfarrern und Superintendenten daselbst, Leipzig bei C. H. F. Hartmann (GSA 100/11), 13. 16 Ebd. 17 Ebd., 21.

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Eilenburg

mehr von wahrer christlicher Gottseligkeit und von einem Sinne, wie ihn Jesus verlangt, anzutreffen ist. Kaum weiß man jetzt noch, was wahre christliche Gottseligkeit sey, geschweige denn, daß man die eigentlichen Grundsätze, die Gefühle und Gesinnungen derselben im Herzen tragen sollte. Nur Sinnengenuß und Streben nach Sinnengenuß und Beneiden um Sinnengenuß, nur das ist der traurige, der verderbliche und alles wahre Gute tödtende Zeitgeist, der jetzt so sehr und allgemein überhand genommen hat, und selbst in den letzten, schrecklichen Kriegsjahren, wo doch Gott so gewaltig mit uns sprach und uns die Vergänglichkeit der Erde und alles dessen, was sie hat und darreicht, mit so vielen tausend ganz unverhörbaren Donnerstimmen predigte, selbst da hat nicht einmal, was man doch hätte erwarten sollen, jener Zeitgeist mit seinem unausbleiblichen Verderben vertilgt werden können. Der beliebte Götze, dem alles huldigt, steht immer noch da, und das große Triebrad, das alles in Bewegung setzt, ist immer noch in seinem Umschwünge! Daß es nun hier endlich einmal besser werde, und die Welt um uns her aus dem Argen, in welchem sie noch liegt, sich kräftig emporheben und jeder Mensch von der Ungerechtigkeit abtrete, und sich nur an das Eine was Noth ist und Noth thut, halten lerne, deswegen sollen wir uns eben vereinigen und dazu sollen wir einander gegenseitig unsern Verstand, unsre Kenntnisse, unser Herz, unsre Gefühle und unsere Erfahrungen leihen." 18 Diese im hohen Ton evangelischer Kanzelrhetorik vorgetragene Klage über die allgemeine Sittenverderbnis der Zeit dient dem Superintendenten Friedrich August Ludwig Nietzsche auf bezeichnende Weise zur Begründung eines die weltliche Herrschaft abstützenden Projekts der christlich-moralischen Wiederaufrüstung. Wie denn im Kampf gegen Napoleon „unser deutsches Vaterland, das unserm Herzen so theuer und werth ist, [...] durch einen Verein der tapfersten Helden, die von Patriotismus und vom Gefühl für Recht und Freiheit entflammt waren, aus seiner Knechtschaft glorreich wider errettet worden [ist]",19 soll nun dieser äußere Sieg durch eine innere Umkehr ergänzt, befestigt und vollendet werden, wobei bemerklich ist, daß die Zentralbegriffe einer durchaus aufgeklärten protestantisch-theologischen Ethik - Tugend, Redlichkeit, maßvolles Leben restaurativ in den Dienst jener alten, orthodoxen lutherischen Lehre gestellt werden, die den Christen befiehlt, in täglicher Reue und Buße privat ihres Glaubens zu leben — und öffentlich der irdischen, von Gott verordneten und gesegneten Macht gehorsam zu sein. Die Eilenburger Christen, die da an diesem NovemberSonntag des Jahres 1817 andächtig den eindringlichen Worten ihres Oberpredigers und Seelenhirten lauschen, vernehmen denn also eine die wirren Zeiten anscheinend überdauernde, nur allzu bekannte uralt-reformatorische Botschaft: Seid gut

18 Ebd., 21 f. 19 Ebd., 11.

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und fromm, seid Untertan der Obrigkeit, gleich, ob in der Gestalt des Königs von Sachsen oder in der des neuen Herrschers in Berlin.

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In Eilenburg kann sich das wieder christlich gewordene Preußentum ganz mühelos mit einem altvertrauten Luthertum verbinden. Der Geist der Stadt ist aufs tiefste protestantisch geprägt, und ihre Bürger sind in nicht geringem Maße stolz darauf, daß sich der Ort bereits im Jahre 1525 - noch vor dem großen, bedeutenden Leipzig — zum neuen Glauben bekennt. Der Reformator weilt des öfteren in Eilenburg, um dort höchstselbst zu predigen und seine neue Lehre zu verkünden - beeindruckt vom Reichtum der Stadt, die er in der ihm eigenen bildhaften Sprache eine „angenehme Schmalzgrube" 20 nennt, soll er sogar erwogen haben, hier seinen Alters- und Ruhesitz zu nehmen. Eilenburg ist zu Beginn des 16. Jahrhunderts in der Tat eine wohlhabende Stadt, hauptsächlich durch die reichlichen Erträge aus dem hochentwickelten, allseits bekannten Brauereiwesen, wie denn ein Chronist bemerkt: „Insonderheit hat Gott diesen Ort gesegnet mit herrlicher und nützlicher Braunahrung. Im Sommer bleibt es wegen der guten und kühlen Bergkeller [...] völlig dauerhaft. Wenn fast alle Biere nach Pfingsten und Johannis matt und wandelbar werden, so ist es noch [...] bis Michaelis und noch länger ganz unverändert. Vor allem ist es gesund und wohlschmeckend, wird auch von schöner brauner Farbe gar anmutig befunden." 21 Es ist wohl gerade der Wunsch, diesen so angenehmen Wohlstand zu wahren, zu mehren und gegen fremde, unberechtigte Ansprüche zu verteidigen, der die Eilenburger schon recht früh hellhörig macht für die umstürzlerische Predigt des Wittenberger Gelehrten. Der Reichtum der bürgerlichen Schicht hatte nämlich etliche Mönchsorden und Bruderschaften angelockt, deren materielle Forderungen ein immer stärker werdendes Hemmnis für den wirtschaftlichen Fortschritt darstellen, so daß es nicht so sehr Martin Luthers diffizile theologische Erörterungen sind, die den Eilenburgern imponieren, sondern eher seine rücksichtslose, öffentliche Verdammung eines pervertierten Mönchstums, das unter dem Vorwand des gottgefällig-heiligen Lebens nichts weiter ist als ein christlich verbrämtes ökonomisches Schmarotzertum. Das eindeutige Urteil, das der zornige Reformator über diese wirtschaftlich so schädlichen Bruderschaften fallt, entspricht nur allzu gut ihren eigenen leidvollen Erfahrungen: „Da läßt man eine Messe oder etliche halten, darnach ist der ganze Tag und Nacht dem Teufel zu eigen gegeben

20 Bei Andreas Flegel, ebd., 11. 21 Bei Andreas Flegel, ebd., 11.

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mit Fressen und Saufen. Solche wiithende Weise hat der böse Geist eingetragen, und läßt es eine Brüderschaft heissen, so es mehr eine Lüderey ist. Es wäre viel besser, wenn keine Brüderschaft in der Welt wäre, als daß solcher Unfug geduldet würde, [...] da nichts mehr, denn Fressen und Saufen, unnütz Geld verthun, plärren, schreyen, tanzen und Zeitverlieren ist." 22 In Eilenburg sind es die sogenannten Antoniusmönche, die mit einiger Erfindungsgabe und fast krimineller Energie am städtischen Wohlstand teilhaben wollen; hatten sie einstmals im sozialen Bereich, in der Altenpflege und Armenfürsorge, durchaus segensreich gewirkt, so ist es nun ihr wichtigstes Bestreben, im Namen Gottes und im angeblichen Auftrag der heiligen Kirche, immer höhere Abgaben und Gratifikationen von den Bürgern zu fordern. Dem wachsenden Mißtrauen, dem immer stärker werdenden Zweifel an der Rechtmäßigkeit ihrer Wünsche begegnen sie mit einer Inszenierung, die auf betrügerische Weise an die Wundergläubigkeit und Heiligenverehrung der christlichen Laien appelliert (und daraus gleichzeitig ein einträgliches Geschäft zu machen versucht): Sie installieren in ihrer Kapelle das Standbild der vorgeblich sündenvergebenden, krankheitsheilenden „lebendigen" Maria, einer Gottesmutter also, die angsteinflößend ihren Kopf bewegt und mit den Augen rollt, wenn ihr ein armer, reuiger Sünder entgegentritt. Diese Figur ist allerdings im Inneren hohl, so daß ein Mönch hineinschlüpfen, durch ein „heimliches Loch" 23 die Gläubigen beobachten und mit Hilfe „verborgener Schnüre, Drat-Züge und andere[r] Instrumenta" 24 den Kopf und die Augen „regieren und regulieren [kann] Dahero mancher, der es an Vermögen gehabt ein stattliches am Gelde, oder anderen Sachen, umb solches wiederumb zu versöhnen, und bey demselben Gnade zu erwerben, ihm auffgeopfert." 25 Nachdem nun aber Doktor Martin Luther im November 1519 in die Stadt gekommen war, um „die Verbesserung des kirchlichen Wesens dringend anzugehen, [...] den alten Sauerteig auszufegen und das helle Licht unter dem Scheffel hervorzuziehen", 26 verliert diese kunstvolle Maria-Maschine endgültig ihre Faszination; zornig und zugleich beschämt müssen die Eilenburger erkennen, daß sie zu einem Götzenbild gebetet haben, „welches bloß zum Betrug, Aeffung und Verführung der Leute verfertigt gewesen". 27 Von nun an sind sie glühende Anhänger der Reformation, so daß der Chronist mit Stolz vermerken kann: „Nicht die gegen Luthern und seine Anhänger vom päbstlichen Stuhl geschleuderte Bann-

22 Zit. in: Chronik der Stadt Eilenburg und Umgegend, herausgegeben von Carl Geißler, Rector der Stadtschule, Delitzsch 1829, 76. 23 Bei Andreas Flegel, ebd., 10. 24 Ebd. 25 Ebd. 26 Chronik der Stadt Eilenburg, ebd., 80. 27 Bei Andreas Flegel, ebd., 10.

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bulle; nicht die Verbrennung der von Luther geschriebenen Bücher; nicht die Schmähungen und Drohungen, welche die Diener der römischen Kirche auf allen Kanzeln und namentlich auch in unserer Stadt-Kirche aussprachen, [...] vermochten die Sehnsucht nach der reinen Bibellehre zu unterdrücken." 28 Als nun am 13. November 1520 Martin Luther in der Stadt weilt, bitten ihn die Bürger um Rat und Unterstützung bei dem Bemühen, in Eilenburg die Verbesserung des „kirchlichen Wesens" im reformatorisch-lutherischen Sinne einzuleiten, und wenig später erscheint denn auch der Wittenberger Augustiner Gabriel Didymus Zwilling, der am Neujahrstag des Jahres 1522 die erste evangelische Predigt hält und das Abendmahl in beiderlei Gestalt austeilt. Er ist ein gänzlich kompromißloser Anhänger der neuen Lehre und geht in seiner Theologie zuweilen weit über die Positionen Luthers hinaus - und er verfugt über eine äußerst geschickte, die Emotionen der Zuhörer aufwühlende Beredsamkeit. Schonungslos spricht er von der Verkommenheit der alten Kirche, die das klare Licht des Evangeliums verdunkelt hat und deshalb zerstört werden muß. 29 So nimmt es nicht wunder, daß seine rücksichtslose, manchmal auch böswillig-agitatorische Rede den um so härteren Widerstand jener Kräfte hervorruft, die ihre Privilegien und Rechte bedroht sehen und aus diesem Grunde die traditionelle Ordnung mit allen Mitteln verteidigen wollen; verständlich, daß vor allem die Antonius-Mönche versuchen, „durch List nicht minder als durch Gewalt 30 den radikalen, unbequemen Prediger aus der Stadt zu vertreiben. Sie verriegeln und verrammeln das Portal der Stadtkirche, damit ihm der Zutritt zur Kanzel verwehrt ist, und sie besetzen das Pfarrhaus, um ihn obdachlos zu machen. Sie provozieren damit allerdings Handgreiflichkeiten und Tumult bei jenen, die durch Zwilling zu fanatischen Anhängern der Reformation geworden sind: Am 12. Januar 1522 wird die Pfarrerswohnung gestürmt, dann prügelt man die antonitischen Hausbesetzer erbarmungslos zur Stadt hinaus - ein Aufruhr, an dem sich auch „etzliche Knaben, nicht über 12 Jahre alt" und sogar „etzliche ausländische arme Schueler von Augsburgk, Frankfort an der Oder" sowie „etzliche arme Drescher und Tagelöhner" beteiligten.31 Allerdings fugt diese „gewaltsame und unkluge Selbsthülfe" 32 der reforma-

28 Chronik der Stadt Eilenburg, ebd., 78. 29 Zwilling ist zunächst Anhänger des „linken Flügels" der Reformation, wird später jedoch ein treuer Anhänger Luthers: „Im Anfange des Jahres 1521 verließ er das Kloster und widersetzte sich mit Nachdruck dem Pabstthum. Später nahm er an Carlstadts Bilderstürmerey lebhaften Anteil und betrieb das Geschäft so eifrig, daß sich die Anhänger nach ihm Gabrieliten nannten. Durch Luthers Umgang ward er jedoch anderer Gesinnung und ein wackerer Vertheidiger des Protestantismus." (Chronik der Stadt Eilenburg, ebd., 79). 30 Ebd. 31 Bei Andreas Flegel, ebd., 13. 32 Chronik der Stadt Eilenburg, ebd., 80.

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torischen Sache großen Schaden zu: Überall im Land ist man entsetzt über die Brutalität der Eilenburger Bürger, und es bleibt nicht aus, daß sich die landesherrliche Obrigkeit richterlich einschaltet und die Anfuhrer der Gewaltaktion verhaften und einkerkern läßt, wobei einige Festgesetzte schließlich an den Folgen der Haft „gesterbet und von ire Gesundheit gebracht". 33 Der mutige, überzeugungskräftige, aber doch wohl ein wenig zu radikale Prediger Zwilling verläßt die Stadt in Trauer und Resignation. War also der erste Versuch, der Reformation zum Siege zu verhelfen, recht kläglich gescheitert, so läßt sich die Eilenburger Bürgerschaft, repräsentiert durch die Ratsherren der Stadt, von „der Ausführung ihres Plans keineswegs abschrecken" 34 — und wieder ist es der Reformator selbst, der ihnen hilfreich zur Seite steht. Er überredet den ehemaligen Domprediger von Magdeburg, Andreas Kauxdorf, das Pfarramt zu übernehmen, in der Hoffnung, daß dieser behutsame, bedächtige und kompromißbereite Theologe eher in der Lage ist, einen ruhigen und gewaltlosen Ubergang zur neuen Lehre und zum neuen Ritus ins Werk zu setzen. Kauxdorf erfüllt diese Erwartung auf mustergültige Weise: er läßt am Anfang die katholische und evangelische Messe in der Stadtkirche wechselweise abhalten, um „den schwachen Gemüthern, die etwa noch an dem Katholicismus hängen möchten, nicht anstößig zu werden". 35 Unter der gnädigen Protektion des sächsischen Kurfürsten beginnt ein langsamer, aber doch unumkehrbarer reformatorischer Wandel; schließlich verläßt der letzte katholische Prediger die Stadt, und „alle Gegenstände, welche vielleicht noch an den päbstischen Glauben erinnern konnten" 36 , werden aus den Gotteshäusern entfernt. Zur allergrößten Freude der Eilenburger verschwinden endlich auch die so sehr verhaßten Antonius-Brüder; ihr scheinlebendiges, betrügerisches Marienbild läßt Kauxdorf auf den Marktplatz tragen, wo es „dem Volke zur lustigen Schau" 37 aufgestellt und dann zertrümmert wird. Im Jahre 1525 ist Eilenburg eine rein protestantische Stadt, und der Chronist bemerkt mit Genugtuung: „So hatten denn endlich unsre Vorfahren, nach manchen harten Kämpfen und Widerwärtigkeiten, ihre Wünsche erreicht, und sie fühlten sich glücklich, das helle und erwärmende Licht des Evangeliums früher in ihrer Mitte aufgehen zu sehen als in den benachbarten Städten." 38 Von nun an ist in Eilenburg, trotz aller Irrungen und Wirrungen, wie sie kennzeichnend sind für die Geschichte des Protestantismus, die evangelische Lehre das letztlich einigende geistige Band und die kulturell-mentale Substanz des Gemeinwesens — also diese

33 34 35 36 37 38

Bei Andreas Flegel, ebd., 13. Chronik der Stadt Eilenburg, ebd., 80. Ebd., 82. Ebd. Ebd., 83. Ebd.

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einfache und zugleich doch so harte Rede von dem in irdischer Sünde gefangenen Menschen, der nicht durch gute Werke, nicht durch die Fürsprache der Heiligen, nicht durch die Jesusmutter Maria, nicht durch priesterliche Macht vor dem allein in Christus erscheinenden Gott gerecht und selig zu werden vermag, sondern nur durch den ernsthaften, hoffenden Glauben an die unerforschliche, frei wartende himmlische Gnade; also diese unerbittlich schroffe Rückwendung zur Heiligen Schrift als alleingültiger Quelle göttlicher Offenbarung; also dieser klare und unerbittliche Daseinsentwurf, der im privaten und im öffentlichen Leben das Individuum in eine unmittelbare, durch keine freundlich-irdische Instanz gemilderte Verantwortung vor Gott zu ziehen versucht, ihm die ständige Erforschung des persönlichen Gewissens zwangsläufig auferlegt und zuweilen ein zerrissenes Bewußtsein erzeugt, in mißtrauischer Verachtung gegenüber dem ästhetisch-schönen Schein der weltlichen Dinge, die zwar theoretisch im Denken und praktisch im (politischen) Handeln als Ausdruck göttlicher Schöpfung bewahrt und geschätzt werden müssen, zur ewigen Gnade und zum Heil der Seele aber untauglich und gänzlich nutzlos sind. Diese neue evangelische Lehre, wie sie in den zahllosen Flugschriften, Pamphleten und Traktaten Luthers und seiner Mitstreiter eingehend entfaltet wird, findet durch den einige Jahrzehnte vorher erfundenen Buchdruck eine erstaunlich schnelle Verbreitung, und die Eilenburger Bürger sind recht stolz darauf, daß mit fast jedem dieser Erzeugnisse auch der Name ihrer Stadt in Deutschland bekannt wird, ist hier doch eine Druckerei ansässig, die „eine Vielzahl von Reformationsschriften und allgemeine Zeitfragen behandelnde Bücher verschiedener Autoren, darunter viele Schriften Luthers" 39 herstellt und verbreitet. Im noch katholischen Leipzig wird im Jahre 1521 die Herstellung von Reformationsliteratur verboten, so daß die dort ansässigen Drucker in Gebiete ausweichen müssen, die der lutherischen Lehre schon ergeben sind. In Eilenburg läßt sich der Meister Nikolaus Widemar nieder, „der seine Kunst vollkommen uneigennützig in den Dienst der Reformation stellt".40 Seine Werkstatt ist also eine hochbedeutende protestantische Publikations- und Kommunikationszentrale, die allerdings nicht nur die Schriften Luthers, sondern auch die aufrührerischen Pamphlete Thomas Müntzers verlegt, jenes streitbaren Predigers, der mit großer Beredsamkeit die politisch-revolutionären Elemente der reformatorischen Botschaft entwickelt und dann unmittelbar, im Bauernkrieg, in die gesellschaftliche Praxis zu übertragen versucht, wodurch er sich den unerbittlichen Zorn seines einstigen Freundes und Lehrers Martin Luther zuzieht. Das Eilenburger Druck-Programm des Nikolaus Widemar spiegelt auf diese Weise einen grundsätzlichen, schon früh bemerklichen Konflikt

39 Andreas Flegel, ebd., 14. 40 Ebd.

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wider - eine anscheinend unauflösliche Dissonanz, die in der wechselvollen Geschichte des Protestantismus von fast selbstzerstörerischer Wirkung ist: Da wird zum einen die Erkenntnis verbreitet, daß die reformatorische Befreiung des Menschen von der alleinigen Glaubensautorität der katholischen Kirche und die daraus sich ableitende Konstituierung eines autonomen, unmittelbar zu Gott sich verhaltenden Individuums zwangsläufig auch dessen Recht einschließt, die Legitimität des weltlichen Regiments in Frage zu stellen, bis hin zum revolutionären, möglicherweise gewaltsamen Umsturz einer bestehenden Ordnung, da jeder Theologie stets eine innerweltlich-politische, anthropologische Dimension zu eigen ist; da wird, zum anderen, die Freiheit eines Christenmenschen dadurch begründet, daß ihm unter dem Schirm einer gottgewollten, apriorisch festgelegten, objektiv gültigen weltlichen Obrigkeit ein Raum zugewiesen ist, in welchem er der Subjektivität seines ganz persönlichen Glaubens zu leben vermag, geborgen in einer von der Macht geschützten Innerlichkeit, die dem theologischen Denken befiehlt, vor der Faktizität des Politischen, vor der christlich fundierten Kritik des Bestehenden innezuhalten. Thomas Müntzers christliche Schlachtgesänge, das Luthersche „Seid Untertan der Obrigkeit - zwischen diesen beiden Extremen schwankt in den folgenden Zeitläuften, auch in Eilenburg, die protestantische Predigt, und obwohl immer wieder mittlere, vermittelnde Lehrgebäude erfunden und entwickelt werden, so bleibt doch das reformatorische Denken stets in der selbstdestruktiven Gefahr, an seinen eigenen inneren Widersprüchen zu scheitern und zwischen Weltflucht und Weltüberwältigung zugrunde zu gehen, da dieses von keiner unangreifbar letzten Autorität zusammengehaltene Glaubens- und Kultursystem die unterschiedlichsten und widersprüchlichsten Lebensentwürfe einschließen kann: die ganz in die Innerlichkeit zurückgenommene gläubig-schöne Seele, die sich ausschließlich unpolitischer Betrachtung widmet und der die äußere Welt unwirklich-wesenlos erscheint - dann aber auch, im schroffen Gegensatz dazu, den Glaubensfanatiker, der schon die irdisch-menschliche Welt umstürzen und das Himmelreich auf Erden gewaltsam herbeiführen will. Mag nun der protestantische Geist in dieser seiner inneren Zerrissenheit ein permanenter, historisch und politisch durchaus verhängnisvoller Unruhefaktor sein, so ist ihm andererseits doch ein Impuls zu verdanken, der Kunst und Kultur, die Poesie und vor allem die Musik ganz entschieden fördert und zu hoher Blüte bringt. Schon für den Reformator Martin Luther hat die Begabung des Menschen zum künstlerischen Ausdruck eine wichtige Aufgabe hinsichtlich seiner individuellen Heilsgeschichte. Die Dichtung, aber ganz besonders die Musik haben nämlich den Zweck, die zuweilen traurige gläubige Seele (die anima triste) aufzumuntern und den in seinem Sündenstande melancholischen Geist heiter zu stimmen und ihn vorzubereiten auf die große Freude göttlichen Gnadenwirkens — in dieser dienenden Funktion sind Poesie und Musik durchaus wichtige Bestand-

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teile des protestantischen Glaubenslebens. Auf diesem Hintergrund entsteht schon früh der protestantische Choral, eine erstaunlich dauerhafte Kunstgattung, in der sich, gemäß der theologisch bestimmten ästhetischen Grundlage, Wort und Musik innig verbinden zur Glaubensbefestigung im Medium der schönen Kunst. Er kann beschrieben werden als ein geistliches Gedicht mit einer einfachen volksliedhaften, für den Gruppengesang geeigneten Melodie; er hat seinen festen Platz in der Liturgie, der Agenda der evangelischen Gottesverehrung; ist aber auch immer präsent im häuslichen, privaten Bereich; er dient der ganz persönlichen Erbauung des einzelnen Gläubigen; vor allem aber ist er wichtigstes Element jener musikgeschichtlich so fruchtbaren und folgenreichen protestantischen Kantoreipraxis, der die musikalisch-künstlerische Ausgestaltung des Gottesdienstes mit Chor- und Instrumentalmusik obliegt und die zur Keimzelle einer Tradition wird, deren glänzendste Höhepunkte mit den Namen Heinrich Schütz und Johann Sebastian Bach untrennbar verbunden sind. Es nimmt nun nicht wunder, daß in dem so früh und so nachdrücklich protestantisch gewordenen Eilenburg diese reformatorische, unmittelbar auf Luther zurückgehende Musik-Tradition schon bald eine wichtige Rolle im geistlichen und kulturellen Leben der Stadt zu spielen beginnt - bereits im Jahre 1565 wird vom Superintendenten Döbler eine „Cantorey" installiert, die zur musikalisch-künstlerischen Ausgestaltung der sonntäglichen Gottesdienste, der Hochzeitsfeste und der Leichenbegängnisse beitragen soll. Sie zeigt ihre Kunst aber auch anläßlich ganz weltlicher, gesellschaftlicher Ereignisse, wobei sich insbesondere ihre jährlich am Johannistag stattfindenden „Konvente" großer Beliebtheit erfreuen; fortgeführt und erneuert wird diese evangelische Musik-Kultur von einem Mann, der als Dichter, Musiker und Theologe den Namen seiner Heimatstadt weithin bekannt werden läßt: Es ist Martin Rinckardt, der Schöpfer des allseits bekannten Chorais „Nun danket alle Gott" 41 . Ursprünglich als ein schlichtes Tischgebet entstanden, mutiert dieses Kirchenlied im Laufe der Zeit zu einem deutsch-vaterländischen Hymnus nach siegreich beendeter Schlacht und wird in dieser Funktion schließlich Ausdruck und Symbol eines nationalistisch pervertierten Protestantismus und einer fragwürdigen, historisch äußerst verhängnisvollen Gott-mit-uns-Ideologie 42 - zum

41 Ausfuhrlich zu Rinckardt und zu seinem Wirken in Eilenburg: Wilhelm Biichting und Siegmar Keil, Martin Rinckardt, Leben und Werk, herausgegeben von der Evangelischen Kirchengemeinde St. Nikolai Eilenburg, Eilenburg 1996; auch: Wilhelm Büchting, Martin Rinckardt, ein Lebensbild des Dichters von „Nun danket alle Gott" auf Grund aufgefundener Manuskripte, Göttingen 1903. 42 Dieses Musterbeispiel einer kulturellen Perversion beginnt anscheinend nach der Schlacht bei Leuthen (1757) und fuhrt über Waterloo, Sedan und Tannenberg hin zu jenem, da 1940 im reichsdeutschen Rundfunk der Sieg über Frankreich mit „Nun danket alle Gott" verkündet wird. - Vgl. Büchting/Keil, ebd. 131.

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schrecklichen Hohn auf den Poeten, der in seiner toleranten, ruhigen Gelehrsamkeit ein Musterbeispiel jenes friedfertigen und friedenstiftenden evangelischen Predigers ist, der all seine irdischen Gegner und Feinde der himmlisch wartenden Gerechtigkeit übergibt, wie denn auf einer Tafel in der Stadtkirche St. Nicolai, die zu seinem Andenken entworfen ist, die Verse zu lesen sind: Welt Strohssack gute Nacht; ich hab' ein Bette funden Und alle meine Feind' in Christo überwunden. Den will ich preisen dort mit allen Cherubim Aufs große Friedensfest mit ewig hoher Stimm. 43 Martin Rinckardt wird im Jahre 1584 in Eilenburg geboren, er kommt als Zögling der Thomasschule nach Leipzig, studiert Theologie und ist dann Kantor und Pfarrer in Eisleben, der Geburtsstadt Luthers. In seiner Zeit als Prediger in Erdeborn (in der Grafschaft Mansfeld) wird er zum kaiserlichen Poeten gekrönt und übernimmt ab 1617 ein Pfarramt in der Heimatstadt, wo er im Jahre 1649 stirbt; geprägt und überschattet ist sein Wirken von den Schrecknissen des Dreißigjährigen Krieges, jenes furchtbaren europäischen Kampfes zwischen der protestantischen und katholischen Welt. Wenn auch die Eilenburger in dieser Zeit viel Elend erfahren müssen und sich, wie der Chronist berichtet, in Hungersnöten „um das Aas eines Hundes, einer Katze" 44 schlagen, so halten sie doch unbeirrt fest an ihrem evangelischen Glauben, auch in den folgenden, zuweilen wirren Epochen, auch gegen ihre aus machtpolitischen Interessen wieder katholisch gewordenen sächsischen Landesherren, auch in dem ständigen innerkirchlichen Streit zwischen dem traditionsgebundenen, orthodoxen Luthertum und dem gefühlsseligen Pietismus, auch gegen das die Grundlagen des Glaubens fundamental angreifende Aufklärertum — bis hin zu jenem Tag im September 1817, da die örtliche Geistlichkeit ihre erste Synode unter preußischer Hoheit abhält, um sich anschließend „im feierlichen Aufzuge nach dem Gotteshause zu begeben" 45 , von dessen Kanzel dann Carl Ludwig Nietzsches Vater die ihm anvertrauten evangelischen Seelen in wohlgeschulter homiletischer Beredsamkeit dem Preußentum entgegenfuhrt.

43 Bei Büchting/Keil, ebd., 106. 44 Chronik der Stadt Eilenburg, ebd., 145. 45 Ebd., 97.

Ein Knabe von trefflicher Art

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4. Ein Knabe vortrefflicher Art Wer im Jahre 1813 als Sohn eines evangelischen Pfarrers in Eilenburg geboren wird, der ist von Anfang an und auf vielleicht lebenslang prägende Weise umhüllt von der Aura des protestantischen Geistes und der preußischen Zucht. Doch in den ersten Tagen tönt napoleonischer Kanonendonner; die Stadt ist in die kriegerischen Wirren der großen Völkerschlacht verwickelt, so daß Carl Ludwig Nietzsches Taufe entgegen der kirchlichen Vorschrift nicht am nächsten Tag, sondern erst zwei Wochen nach der Geburt, am 24. Oktober, stattfinden kann - „wegen vorhandenen Kriegsunruhen" 46 , wie das Taufregister der Kirchengemeinde St. Nicolai vermerkt, und auswärts wohnenden Paten ist der Zugang zur Stadt versperrt, so daß an ihre Stelle ehrbare einheimische Bürger treten müssen. 47 Die Wege nach Eilenburg sind vollständig unpassierbar geworden. Uberall sieht man die Truppen Napoleons zur Völkerschlacht nach Leipzig ziehen; sie wählen nahe der Stadt eine Furt durch die Mulde, immer wieder gibt es kleinere Soldatengruppen, die plündernd die benachbarten Dörfer verwüsten, in die Kirchen einbrechen und nächtens das noch ungedroschene Korn als Wachtfeuer verbrennen oder daraus kleine Feldhütten bauen. 48 Das Haus des allseits geehrten und geachteten Superintendenten Friedrich August Ludwig Nietzsche ist in diesen schrecklichen Tagen wahrlich ein Zufluchtsort für die vom Krieg gequälten Eilenburger, und es ist anzunehmen, daß der Vater erst dann die Freude über seinen kleinen Sohn recht wahrnehmen und empfinden kann, da er das Kind endlich, nachdem der Kampfeslärm ein wenig nachgelassen hat, in der Stadtkirche St. Nicolai über das Taufbecken hält — dankbar dafür, daß ihm, als Sechsundfünfzigjährigen, noch einmal die späte Gnade der Vaterschaft zuteil geworden ist, vielleicht von dem inneren Vorsatz bewegt, sich dieses Sohnes mit besonderer Liebe und Fürsorge anzunehmen, ihn sorgfaltig im christlichen Geist zu erziehen und ihm den Weg zur Nachfolge ins geistliche Amt zu eröffnen. Mag sein, daß er sich in dieser feierlichen Stunde an die Freuden und Leiden seines eigenen Lebens erinnert, an seine erste Frau Johanna Friederike, mit

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Taufregister der Ev. Kirchengemeinde St. Nicolai zu Eilenburg, Jahrgang 1813, Seite 118 b, Nr. 129. 47 Taufregister, ebd.: „Name, Stand und Aufenthalt der Taufpathen. 1.) H. Friedrich C h r i stian Gotthold Hasper, Commissionsrath und Justiz-Amtmann allhier. 2.) Frau Caroline Sophie Krause, Herrn D. Johann Friedrich Krausens, Consistorialraths und Superintendenten zu Königsberg in Preußen, Eheliebste, eine geb. Krüger, für diese hat Frau Juliane Friederike Christiane Opitzin, H. Friedrich Ferdinand Opitzens, Advokatens und Stadtschreibers allhier Eheliebste das heil. Werk verrichtet und 3.) Herr Carl Gottlob Krause, Kauf- und Handelsmann zu Plauen im Voigtlande, dessen Stelle Herr Friedrich SeyfFarth, Accis Inspektor und Gerichtsdirector allhier, vertreten hat." 48 Vgl. R o l f Vettermann, Jahre und Tage vor und nach der Völkerschlacht, ebd. 27 f.

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der er 21 Jahre lang verheiratet war, die ihm in dieser Zeit sieben Kinder geschenkt hatte, als Dreiundvierzigjährige im Jahre 1805 am Schlagfluß gestorben war, und die, wie er einst im Nachruf geschrieben hatte, ein ,,geistvolle[s] und so vortrefflich gesinnte[s] Weib" 49 war, mit dem er „in einer höchst glücklichen Ehe der schönsten Erdenfreuden unsäglich viele" 50 genießen durfte; mag sein, daß er in diesem Augenblick mit inniger Zuneigung auf seine zweite Frau Erdmuthe Dorothea blickt, die er, nach vier Jahren eines traurigen und sorgenbelasteten Witwertums, zu seiner neuen Gattin genommen, die sich in Uneigennützigkeit seiner „zum Theil noch ganz unerzogenen" 51 Töchter und Söhne angenommen und ihm im Jahre 1811 eine Tochter, Rosalie, geboren hatte, und die nun, als Kind eines vogtländischen Pfarrers und als Witwe eines weimarischen Hofadvokaten, ihre familiären mütterlichen Aufgaben und ihre repräsentativen Pflichten als Frau eines höheren evangelischen Geistlichen auf bewundernswerte, mustergültige Weise annimmt und erfüllt - freundlich, korrekt und hilfsbereit, sich ihres Standes aber immer bewußt. Es ist nur allzu verständlich, daß der kleine Sohn, in dunklen, kriegerischen Tagen als ein Lichtblick erschienen, zum häuslichen Mittelpunkt wird und alle Liebe und Fürsorge erfährt, auch wenn zwei Jahre später, 1815, noch eine zweite Tochter, Auguste, geboren wird und nun drei Kinder der heimliche Stolz des alternden Superintendenten Nietzsche sind. Nichts ist jedoch bekannt über die ersten Jahre des Sohnes, nichts über seine kindlichen Eigen- oder Unarten, nichts über frühe Krankheiten oder Unfälle — beschreibbar ist nur die kleine Eilenburger

49 Friedrich August Ludwig Nietzsche, Todesanzeige für seine Frau Johanna Friederike, geb. Richter, 1805, GSA 100/39 - Sie war die jüngste Tochter des Gerichtssakteurs Gottfried Salomon R i c h t e r aus Goseck bei N a u m b u r g , vgl. Hans von Müller, N i e t z sches Vorfahren, in: „Die Z u k u n f t " , herausgegeben von Maximilian Harden, 23. Band, Berlin 1898, 404. 50 Ebd. 51 Ebd. — Carl Ludwig Nietzsches Stiefgeschwister (zwei Kinder starben im Säuglingsalter): 1. Friedrich August Engelbert, geb. 2 5 . 5 . 1 7 8 5 in Wohlmirstedt, gest. 1.6.1858 in N i r m s d o r f (Pfarrer). 2. Christiane Friederike Juliane, geb. 14.12.1786, gest. 7.8.1866 in Plauen, verh. Opitz. 3. Friedrich Ferdinand Fürchtegott, geb. 14.12.1791 in Wohlmirstedt, gest. 3 0 . 1 0 . 1 8 3 8 in L o n d o n (Kaufmann). 4. Christiane Amalie Hedwig, geb. 1.10.1789 in Wohlmirstedt, gest. 2 . 5 . 1 8 6 6 in Plauen, verh. Schmidt. 5. Auguste Friederike Wilhelmine, geb. 11.7.1793 in Wohlmirstedt, gest. 1873, verh. Dächsei. 6. Ernestine Luise, geb. 7 . 2 . 1 7 9 8 in Wohlmirstedt, gest. 1855. 7. Lina Theres, geb. 1.6.1801 in Wohlmirstedt, gest. 2 8 . 1 0 . 1 8 6 2 in Plauen.

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Welt, die ihn am Anfang umgibt: Da ist die Stätte der Geburt, das kleine, ein wenig düstere, im Jahre 1607 erbaute Pfarrhaus; da ist, in einer Reihe gelegen, das Schulgebäude für die Knaben mit seinen acht Stuben; da steht, gleich gegenüber, das hohe Schiff der Stadtkirche St. Nicolai mit ihrem massigen, ein wenig bedrohlich wirkenden Turm; da ist, nur wenige Schritte entfernt, der weitläufige Marktplatz, das Zentrum des Handels mit seinen Verkaufsgewölben für die Bäcker und Fleischer, an einer Seite begrenzt vom prächtigsten Gebäude der Stadt, dem Rathaus, das (nach einem Brand) im Jahre 1544 im Stil der Renaissance errichtet worden war und Zeugnis ablegt von der Wohlhabenheit der damaligen Bürger; da sind die Straßen und Gassen, die Pfarrgasse, die Eckardtsgasse und die Judengasse, der Entenpfuhl und der Eselsplatz, schließlich die große Leipziger und die Torgauer Straße, die zu den beiden Stadttoren fuhren und Teil des wichtigen Handelsweges von Leipzig nach Frankfurt/Oder sind; da ist, etwas weiter entfernt, die Bergkirche St. Marien, das zweite große Gotteshaus der Stadt, in dem einst Martin Luther gepredigt hatte, dahinter, auf einer Anhöhe liegend, das Schloß der Herren von Ilburg, einem alten Wettiner Burggrafengeschlecht, das in mittelalterlicher Zeit der Stadt ihren Namen gegeben hatte; 52 annehmen aber darf man wohl, daß auf den langsam erwachenden und sich seiner Umwelt bewußt werdenden kindlichen Geist, neben den vertrauten häuslichen Kammern und Stuben, die mächtige Kirche St. Nicolai, die Wirkungsstätte des Vaters, den stärksten, prägendsten Eindruck vermittelt. Da hört das Kind täglich diese im Jahre 1601 vom Erfurter Meister Mörinck gegossenen vier Glocken, die (wie der Chronist beschreibt) noch immer „mit ihrem hellen und harmonischen Klang zur Andacht rufen, den Anbruch eines hohen Festes am frühen Morgen uns verkündigen und am schauerlichen Vorabende der Todtenfeier durch ihr dumpfes Getön Gefühle der Wehmuth und Erinnerungen an den Tod in uns erregen". 53 Da sieht das Kind den weiten Innenraum der Kirche mit seinen hohen gotischen Bögen und Pfeilern; da hört es, mit Wohlgefühl und leichtem Schaudern zugleich, den Klang der mächtigen Orgel, die im Jahre 1568 von einem Meister Simon Zenker gebaut worden war; da blickt es auf den Altar, den Taufstein, auf die über dem schönen Gestühl der Ratsherren schwebende Kanzel, also auf den Ort, an dem der Vater das Wort des Herrn seiner Gemeinde verkündet und auslegt; da sieht es endlich im Chorraum die dunklen Porträts jener verehrenswürdigen Männer, die seit der Reformation der Stadt die evangelische Lehre gepredigt und nahegebracht hatten: Martin

52 Von der Stadt, wie sie Carl Ludwig Nietzsche gekannt hat, ist heute kaum noch etwas erhalten: Zwei Wochen vor Ende des Zweiten Weltkrieges wurde Eilenburg fast vollständig in Schutt und Asche gelegt; sie gehört zu den am stärksten zerstörten deutschen Städten. Das Rathaus und die Nikolaikirche sind mustergültig wieder aufgebaut. (Vgl. Andreas Flegel, ebd. 21). 53 Chronik der Stadt Eilenburg, ebd. 37.

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Luther, Philipp Melanchton, den Eilenburger Reformator Kauxdorf, den Kantoreibegründer Döbler, den Poeten und Prediger Rinckardt und etliche andere Geistliche, die dem Vater in seinem hohen Amt würdig und glaubensfest vorangegangen waren. Den größten Eindruck aber hinterläßt der feierliche sonntägliche Gottesdienst mit seinem für das Kind am Anfang fast beängstigenden, dann aber immer schöner und vertrauter werdenden Ritual: Da wird, nach dem Glockengeläut und dem Orgelvorspiel, ein Morgen-Choral gesungen, es folgt die Liturgie, intoniert vom Prediger, dann wird, nach dem Hauptlied des Sonntags, das Evangelium und das Glaubensbekenntnis gesprochen, anschließend steigt, als Höhepunkt, der Pfarrer auf die Kanzel und erklärt in seiner Predigt den für den Sonntag vorgeschriebenen Bibeltext, am Ende steht das heilige Abendmahl, beschlossen vom Segen und einem letzten Choral; besonders faszinierend aber mag für den kleinen Pfarrerssohn Carl Ludwig Nietzsche die herrliche geistliche Chor- und Instrumentalmusik sein, die an hohen Fest- und Feiertagen in der Nicolaikirche erklingt, und so ist denkbar, daß ein erstes, im Gedächtnis wach bleibendes und der späteren Erinnerung zugängliches Ereignis für ihn jenes große kirchliche Jubelfest ist, das 1817, vier Jahre nach seiner Geburt, in Eilenburg mit feierlichen Gottesdiensten aufwendig begangen wird, nämlich die Feier zum 300. Jahrestag der Reformation, die das Eilenburger Bürgertum, nachdem der Krieg glücklich vorüber ist und man die Segnungen der neuen preußischen Herrschaft langsam zu schätzen versteht, mit einiger Intensität und in schönster Harmonie mit der städtischen Geistlichkeit ins Werk zu setzen versteht. Da hört das Kind Carl Ludwig Nietzsche, wie mit Inbrunst der Choral „Ein feste Burg ist unser Gott" gesungen wird, dieses frühe lutherische Kampf- und Uberwältigungslied; da sieht es „feierliche Aufzüge, [...] die herrlichen und mit Inschriften versehenen Kanzelund Altarbekleidungen, [...] die in vielen Kirchen aufgehangenen Fahnen" 54 ; da mag es eine erste dunkle Ahnung davon erhalten, daß diese protestantische „ecclesia triumphans" zum Mittelpunkt des Daseins und zur einzigen Instanz werden könnte, die Geborgenheit, Schutz und das Gefühl der Lebenssicherheit vermittelt, zumal es auch schon jetzt bemerken mag, daß der im häuslichen Bereich ganz zuverlässig Halt gebende, beschützende, Recht und Sitten stiftende Vater kraft seines geistlichen Amts untrennbar mit dieser schönen Gottesverehrung verbunden ist und ihn deshalb eine ganz besondere, gewissermaßen überirdischgöttliche Aura umgibt. So ist es denn fast müßig festzustellen, daß für Carl Ludwig Nietzsche zutrifft, was zu jener Zeit allen Pfarrerssöhnen und -töchtern gemeinsam ist: auch ihm bleibt, gleichsam vom ersten Tage an, die in der Bürgerschicht ansonsten übliche Trennung der privaten Sphäre vom öffentlichen Wirkungskreis des familiären

54 C h r o n i k der Stadt Eilenburg, ebd., 98.

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Oberhaupts vollständig fremd. Das Geburtshaus ist zugleich der Amtssitz des Vaters, so daß sich der Lebenskreis des Kindes engstens verbindet mit dessen beruflicher Welt, und den er folglich nicht nur in häuslicher Intimität wahrnimmt als den Herrn der Familie, sondern immer auch als eine Amtsperson, als allzeit für die Außenwelt gegenwärtigen, hochgeschätzten Seelenhirten und Berater, wodurch seine familiär-private Autorität dem Sohn nicht nur bestätigt, sondern sogar erhöht und scheinbar unangreifbar wird. Da sieht das Kind dann diese verehrte, voraussetzungslos geliebte und doch angsteinflößende Vatergestalt, wie sie in ihrem Arbeitszimmer studierend über Büchern und Papieren sitzt; da kann es hören, wie der Vater den untergebenen Amtsbrüdern freundlich, doch manchmal auch hart, Ratschläge gibt und Befehle erteilt; da kommen Menschen in das Haus, die ihre ganz persönlichen oder ihre familiären Sorgen vortragen und getröstet werden wollen; da nimmt es, anfangs mit Unverstand, immer schon teil an den vielen Gesprächen über die große Politik des Staates, über die kleinen Probleme der Stadt, über die allgemeinen Tendenzen der Zeit, über Kunst und Literatur, über Gottesgelehrtheit und Philosophie, wird also, durch die Gestalt des Vaters, ganz früh (und anfangs selbstverständlich vorbewußt) eingeführt in eine Weit des Geistes, des geschriebenen Worts, der schönen Künste und genießt damit ein Privileg, das die Grundlage bilden mag für eine auf das Wort und auf die Schrift gerichtete Entfaltung des eigenen, kindlichen Intellekts — in einer Schutz und Sicherheit gewährenden imitatio des väterlichen Lebensentwurfs. Ganz unbekannt und unentschieden aber muß bleiben, wann und auf welche Weise der kleine Superintendenten-Sohn Carl Ludwig Nietzsche, dem doch in seinem häuslichen Kreis so viele geistige Bildung und Förderung zuteil wird, die eher dunklen und belastenden Schatten wahrnimmt, die jedes Kind, das in einem protestantischen Pfarrhaus heranwächst, mehr oder minder leidvoll bedrücken, ist doch das familiäre Heim, das eigentlich ein stilles, dem öffentlichen Blick verborgenes Refugium sein sollte, immer auch ein „gläsernes Haus", für alle Bewohner der Stadt, für die dem Vater anvertraute Gemeinde stets sieht- und einsehbar, zu lesen wie ein „offenes Buch" und somit einer ständigen sozialen Kontrolle unterworfen, so daß denn über jeder evangelischen Pfarrersfamilie unausgesprochen die heimliche, aber doch beständig gegenwärtige Frage schwebt, ob und auf welche Weise der Pfarrer und Familienvater willens und fähig ist, das aus der sonntäglichen Predigt zwangsläufig hervorgehende christlich-ethische Regelsystem in seine eigene familiäre Praxis glaubwürdig und überzeugend umzusetzen; nicht nur, daß als notwendige Folge dieses hohen (äußeren) moralischen Drucks alle individuellen, familiären (inneren) Konflikte verschwiegen und verdrängt werden müssen — viel folgenschwerer und lebensbestimmender mag sein, daß in einem protestantischen Pfarrhaus auch das zunächst ganz „weltlich"-pragmatisch zu begreifende Geschäft der Kindererziehung unter den Druck eines „öffentlichen" Legitimationszwanges gerät und immer als Exemplum und Muster

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gilt für die dem Pfarrer zugewiesene Gemeinde, die am pädagogischen Konzept ihres geistlichen Hirten lernen und direkt erfahren will, wie die von ihm in seiner Predigt nachdrücklich geforderten evangelisch-theologisch begründeten Erziehungsprinzipien in der täglichen pädagogischen Praxis wirksam werden könnten. 55 Die aber sind, auch in Carl Ludwig Nietzsches Kindheitsjahren, von dem Familienbild des Reformators Martin Luther geprägt, dessen erzieherischen Ideale allerdings der Ausdruck einer einengenden, auf seelische und körperliche Gewalt gegründeten „schwarzen" Pädagogik sind, in der die Submission des Kindes unter den allein maßgebenden Willen der Eltern als unabdingbare Voraussetzung jedes Erziehungsprozesses gilt und also der kindliche „Gehorsam" als der pädagogische Schlüsselbegriff schlechthin erscheint - geradezu kanonisch formuliert in Luthers Erklärung zum Vierten Gebot: „Wir sollen Gott fürchten und lieben, daß wir unsere Eltern und Herren nicht verachten noch erzürnen, sondern sie in Ehren halten, ihnen dienen, gehorchen, sie lieb und wert halten." 56 Noch deutlicher tritt das lutherisch inspirierte Erziehungsmodell in einer 1690 erschienenen, populären und weitverbreiteten Anleitung hervor, verfaßt „zu besserem Verständnis des Katechismus D. Martin Luthers, sonderlich für die Kinder", die durch Frage und Antwort die zentrale Botschaft protestantischer Erziehungskunst entfaltet: „Wann werden die Eltern und Herrn erzürnt? Wenn man ihnen ungehorsam ist und nicht tut, was man ihnen zu tun schuldig ist. [...] Wann hält man Eltern und Herrn in Ehren? Wenn man erkennt, daß sie Gottes Ordnung sind, und ihnen deswegen dient. [...] Wann dient man den Eltern und Herrn? Wenn man ihnen alle mögliche Aufwartung beweist und für empfangene Wohltaten Gutes tut." 57 Die beigefügten Bibeltexte richten vollends eine Drohkulisse auf, die allen kindlichen Adressaten den Mut nehmen soll, gegen diese als unumstößlich deklarierten Leitsätze aufzubegehren: „Spr. 30,17. Ein Auge, das den Vater verspottet, und verachtet der Mutter zu gehorchen, das müssen die Raben am Bach aushacken, und die jungen Adler fressen. [...] Spr. 13,24. Wer seine Rute schonet, der hasset seinen Sohn; wer ihn aber lieb hat, der züchtiget ihn bald." 58 Die

55 Vgl. Martin Greiffenhagen (Hg.), Das evangelische Pfarrhaus, Eine Kultur- und Sozialgeschichte, Stuttgart 1984, Vorwort, 10. 56 Der Kleine Katechismus D. Martin Luthers samt einer kurzen Anleitung zum besseren Verständnis desselben, zusammengestellt Anno 1690, Neudruck: Gütersloh 1911, 4 - An anderer Stelle kennzeichnet Luther die Kindespflicht folgendermaßen: „[...] williger Gehorsam, Demut und Unterordnung unter alle, die über uns zu bestimmen haben, ohne jedes Widersprechen, Klagen und Murren [...]" (Martin Luther, Eine kurze Form der Zehn Gebote, in: M. Luther, Die reformatorischen Grundschriften in vier Bänden, Bd. 4: Die Freiheit eines Christen, neu übertragene und komm. Ausg. v. H. Beintker, München 1983, 56). 57 Der Kleine Katechismus D. Martin Luthers, ebd., 50f. 58 Ebd.

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Elternmacht, die den Eigenwillen des Kindes bricht und seine individuellen, auf Abgrenzung und Autonomie gerichteten Impulse zerstört, zuweilen sogar mit Hilfe körperlicher Züchtigung - das ist auch flir den kleinen Pfarrerssohn Carl Ludwig Nietzsche ein unhintergehbares, scheinbar göttlich verordnetes Faktum, so daß denn seine vordergründig schöne, dem Intellekt so forderliche Familienwelt stets heimlich durchdrungen ist von Gewalt und christlich getönter Lieblosigkeit, bestimmt von der verborgenen, manchmal auch offenen Tendenz, der geistigen Spontaneität und Kreativität engste Grenzen zu setzen, um jede angeblich schädliche Revolte, die das als Vorbild angelegte harmonisch-evangelische Familienbild in Zweifel ziehen könnte, schon im Keim zu ersticken.59 Es ist uns nicht bekannt, mit welchen Mitteln und wie intensiv die protestantisch-lutherische Pädagogik im Superintendenten-Haus zu Eilenburg praktisch zur Alltagswirklichkeit gelangt; überliefert sind uns jedoch einige theoretische Erörterungen, die der Vater, Friedrich August Ludwig Nietzsche, erzieherischen Angelegenheiten widmet, und man darf sagen, daß sie, obwohl zum Teil durchaus vom Geist der Aufklärung bestimmt, keineswegs grundsätzlich abweichen von der harten Lutherschen Erziehungslehre: Zwar ist bei ihm, anders als im anthropologisch negativ getönten „orthodoxen" lutherischen Menschenbild, das kindliche Individuum von Anfang an mit einer gleichsam apriorisch vorhandenen, allerdings noch entwicklungsbedürftigen Vernunft begabt - diese „natürliche", letztlich aber doch „gottgegebene" Fähigkeit des Kindes zum vernünftigen Handeln begründet aber keineswegs die substantielle Autonomie des Kindes, sondern wird beschränkt und verengt auf eine angeblich „naturgemäße" Einsicht in die Notwendigkeit der absoluten Elterngewalt, in ein als „natürlich" gekennzeichnetes Familiensystem, das auf der Unterordnung des Kindes unter die elterliche Macht beruht und ihm jede Abweichung von der sozial vermittelten Norm, jedes kindliche Experiment, jedes Recht auf Irrtum verweigert und als „widernatürlich" zu denunzieren versucht. Kennzeichnend für die erzieherische Haltung des Eilenburger Superintendenten ist in der Tat, daß er als literarisch-philosophisch hochgebildeter, den modernen, aufklärerischen Gedanken seiner Zeit durchaus wohlwollend gesonnener Theologe die pädagogischen Denkmuster der Aufklärung nicht etwa zur Bezweiflung oder Auflockerung des alten Lutherschen Modells benutzt, sondern auf paradoxe Weise zu dessen Radikalisierung und Verschärfung, denn nun verstößt ein Kind, das ungehorsam ist und sich auflehnt gegen Elterngewalt, nicht nur gegen Gottes heilige Ordnung, sondern auch gegen seine eigene Natur und wird auf diese Weise zu einer der sozialen Verachtung anheimfallenden, „entarteten" Kreatur.

59 Z u m Gesamtkomplex „Erziehung im ev. Pfarrhaus" vgl. Andreas Gestrich, Erziehung im Pfarrhaus, Die sozialgeschichtlichen Grundlagen, in: Martin Greiffenhagen (Hg.), ebd., 63 ff. — auch: Klaus Goch, Franziska Nietzsche, Ein biographisches Porträt, Frankfurt a. M. und Leipzig 1994, 164ff.

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In einer 1804 in Weimar gedruckten Sammlung von Predigten und Kasualreden 60 beschäftigt sich Friedrich August Ludwig Nietzsche auch mit pädagogischen Themen; so hält er zum Beispiel flir den ersten Sonntag nach Epiphanias einen Sermon, in dem er Lukas 2, V. 41-52, also die Geschichte vom zwölfjährigen Jesus im Tempel, auslegen will, wobei er sich die allerdings zu seiner Zeit ganz übliche exegetische Freiheit nimmt, den Bibeltext ein wenig zu vergessen, um vorerst der Gemeinde darzulegen, „wie falsch das unter uns gewöhnliche Sprichwort ist „Jugend hat nicht Tugend" 61 — denn würde man dieser allgemeinen, weitverbreiteten Redensart einen Wahrheitsgehalt zubilligen, so könnte dies „so manchen Jüngling und manche Jungfrau zu dem Entschlüsse bringen, sich in ihrer Jugend allen nur möglichen Arten von Lastern und Ausschweifungen zu ergeben, um sich dann beym Erwachen ihres bösen Gewissens mit dem Gedanken zu trösten: Jugend hat nicht Tugend; man kann einmal in seiner Jugend nicht fromm seyn und christlich handeln; wenn ich erst älter werde, wenn ich erst Mann oder Weib bin, dann werde ich schon ernsthafter seyn, dann werde ich schon auf allen Seiten meine Noth und Sorge haben, und dann will ich schon auch noch Tugend üben und Tugend beweisen." 62 Dieser nach seiner Meinung irrigen und gefährlichen Haltung setzt Friedrich August Ludwig Nietzsche nun schroff die eigene pädagogische Grundhaltung entgegen, ist er doch davon überzeugt, daß es keinen außer- oder vormoralischen kindlichen Freiraum gibt, sondern daß vielmehr jedes Kind und jeder heranwachsende Jugendliche schon von Anfang an kraft der in ihm göttlich angelegten Vernunft fähig ist, die weltlich-vernünftigen Tugenden, also die allgemein gültigen ethischen Normen und Verhaltensmuster zu erkennen und ihnen nachzugehen, so daß ihm kein Schonraum zuteil wird, sondern (im Gegenteil) seine Kindheitsjahre, in denen er noch offen, unverbildet, frei von üblen Einflüssen ist, als hartes Exerzierfeld zur Einübung in Gehorsam, Demut und Unterwürfigkeit verwendet werden müssen: „Wir haben ja Verstand und Vernunft. Wir sind ja vermögend, über alles, was wahr, was recht und gut ist, mit Kraft und Unbefangenheit nachzudenken. Wir werden da von Gott, von Jesu, von unsern Pflichten, von unserer Bestimmung und von alledem, was zu unserem ewigen Heil gehört, sorgfältig unterrichtet. Uberdieß tragen wir uns auch gewiß in unserer Jugend noch nicht mit alle den lrrthümern und Vorurtheilen, mit welchen wir uns alsdann gemeiniglich zu tragen pflegen, wenn wir erst eine geraume

60 Beyträge zur Beförderung einer vernünftigen Denkensart über Religion, Erziehung, Unterthanenpflicht und Menschenleben, mit immerwährender Hinsicht auf den herrschenden Geist unseres Zeitalters, von M. Friedrich August Ludwig Nietzsche, Hauptpfarrern und Superindenten zu Eilenburg. Weimar 1804, gedruckt bey den Gebrüdern Gädicke. 61 Neuzehnte Predigt, 397 ff 62 Ebd., 399.

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Zeit in der Welt gelebt und die herrschenden Grundsätze unter den Menschen auch zu den unsrigen gemacht haben. Die Stimme unseres Gewissens wird da noch nicht durch die Stimme unserer Leidenschaften und Laster überschrien. Das Gefühl der Ehre, für Schande, für unsere Pflicht und für das, was Gott gefällt, ist da noch nicht geschwächt und abgestumpft. Vielmehr tragen wir da das neue und eben deswegen um so lebhaftere und wärmere Bestreben in uns, gute Menschen zu werden, und Jedermann, Eltern und Lehrer, Freunde und Anverwandte, Pathen und Vormünder, alles, alles vereinigt sich, um uns vor Torheiten zu warnen, uns von Lastern zurückzuhalten, und uns auf die rühmlichen und so beglückenden Pfade der Weisheit und Tugend hinzuleiten." 63 Immer wieder kommt der Prediger Nietzsche auf die anscheinend wichtigste Botschaft zurück: daß nämlich Kindheit und Jugend nicht etwa nur aus Spiel und Ungebundenheit, aus juveniler Freiheit von den Pflichten der Erwachsenenwelt besteht - auch in den ersten Jahren ist ein Mensch bereits „erwachsen" dadurch, daß er sich strengstens einzuüben hat in den später von ihm erwünschten und geforderten, als christlich geltenden Kanon des sozialen Verhaltens; er muß schon als Heranwachsender „die Tugenden, die wir uns zu eigen gemacht haben, mit Thaten beweisen. [...] Der Jüngling kann z.B. ehrerbietig gegen Gott, gehorsam und dankbar gegen seine Eltern, dienstfertig und gefällig gegen seine Nebenmenschen, keusch beim Erwachen seiner jugendlichen Lüste und Leidenschaften, demüthig und bescheiden bey seinen körperlichen Vorzügen, und treu und thätig bey all den Geschäften seyn, durch die er sich jetzt auf seinen künftigen Stand und auf seine künftige Lebensart vorbereiten muß. [...] Zwar weiß ich es sehr wohl, daß sich manche Jünglinge und manche Jungfrauen immer mit dem Gedanken tragen, als wenn sie jetzt in ihrer Jugend eine gewisse Freyheit hätten, und lange nicht so fromm und so gewissenhaft handeln dürften, wie man dieses etwa in den höheren Jahren ihres Lebens von ihnen fordern könnte. Jetzt hört man sie oft sagen, sind wir noch jung, jetzt hat uns noch Niemand etwas zu befehlen, jetzt müssen wir unser Leben noch so gut als möglich genießen, und jeder, der uns dabey in den Weg tritt, uns so oder anders einschränken will, der ist unser Feind und vergißt es, daß er ehemals auch Jüngling war. Wo aber, m. Gd. [meine Gemeinde], und in welcher Bibel, oder in welchem Gesetze der Vernunft steht es denn geschrieben, daß wir in unserer Jugend eine solche zügellose Freyheit haben und da denken, reden, handeln und leben können, wie wir nur wollen? Sind wir denn etwa da noch gar keine vernünftigen Geschöpfe? Oder stehen wir da noch gar nicht unter Gott? Oder haben wir da auf alle die Regeln und Vorschriften der Wahrheit, der Ordnung und der Tugend, die uns Gott in seinem Worte giebt, noch gar keine Rücksicht zu nehmen, gleich als ob sie nur Männer und Greise, nicht aber auch

63 Ebd., 402.

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uns angingen, die wir noch in der ersten und schönsten Blüthe unseres Lebens stehen, und noch auf allen Seiten zur Lust und zum Vergnügen aufgefordert werden? Nein, auch schon in unserer Jugend müssen wir vernünftig handeln. Auch schon in unserer Jugend müssen wir alles, was recht und gut ist, lieben. Auch schon in unserer Jugend müssen wir Gott furchten, und uns vor allen Sünden und Lastern hüten. Auch schon in unserer Jugend müssen wir die Tugenden der Demuth, der Menschenliebe, der Mäßigkeit und Keuschheit beweisen, sonst verleugnen wir alle Grundsätze der Vernunft, sonst empören wir uns gegen den Gott, von weicheren wir alle abhängen, sonst übertreten wir seine Gebote und Vorschriften, und handeln so, als wenn Gott erst alsdann unser Gott, erst alsdann unser Schöpfer und Herr, erst alsdann unser Gesetzgeber würde, wenn wir in die Jahre kommen [,..]." 64 Als Kanzelredner, der sich der Pflicht unterworfen weiß, seiner Gemeinde anschauliche Beispiele dafür zu liefern, daß die These von der schon im Kinde angelegten und ihm deshalb auch abzufordernden Fähigkeit zum christlich-vernünftigen Handeln nicht nur ein schönes Phantasiegemälde ist, sondern Wahrheit besitzt und wirklich gelebt werden kann, besinnt sich Friedrich August Ludwig Nietzsche nun endlich auf den eigentlichen Predigttext des Sonntags und fuhrt als leuchtendes Exempel den zwölfjährigen Jesus im Tempel vor, wie er da, gemäß der neutestamentlichen Erzählung, als höflicher, bescheidener und kluger Knabe mit den erstaunten und entzückten Schriftgelehrten konversiert und diskutiert, gleichzeitig aber auch „seinen Eltern einen so willigen und freudigen Gehorsam leistete, daß der Evangelist ausdrücklich in unserem Texte von ihm sagen konnte: er ging mit ihnen hinab und kam gen Nazareth und war ihnen Untertan. Beweißt das nicht offenbar, daß auch Knaben, daß auch Jünglinge und Jungfrauen oft schon sehr gute Menschen sind und sehr schön handeln, wenn sie nur gleich von ihrer ersten Kindheit an recht gut geleitet, recht gut gebildet und erzogen werden, wie das bey unserm göttlichen Heilande geschehen war und noch geschah?" 65 Auch wenn dem Prediger der Einwand ganz plausibel klingt, daß dieser Heilandsknabe als Sohn des himmlischen Vaters von Anfang an und in allen Dingen vollkommen „göttlich" sei und deshalb schwerlich taugen könne zum Vorbild für die irdisch-menschliche, „ungöttliche" Kreatur, so kommt ihm doch sofort eine ganz andere, nun allerdings sehr weltliche Beispielgestalt hilfreich entgegen: Er erinnert seine Gemeinde an die lehrreiche alttestamentarische Geschichte vom schönen, aber erfreulich keuschen Joseph, dem es trotz seiner jungen Jahre durchaus gelingt, den erotisch-bösen Lockungen von Potiphars unkeuschem Weib herrlich zu widerstehen - womit er gleichzeitig jene heikle und in einer evangelisch-christlichen Familie fast immer

64 Ebd., 403ff. 65 Ebd., 411.

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beschwiegene Sphäre berührt, von der er anzunehmen scheint, daß durch sie die heranwachsende Jugend am ehesten und leichtesten vom Pfade des Gehorsams, der Demut und der Mäßigkeit abgezogen werden könnte. Joseph jedoch bekämpft den sexuellen Drang aufs mustergültigste: „Er war Jüngling, besaß die blühendste Gesundheit und befand sich zu wiederholten Malen mit jenem Weibe in der Einsamkeit, welche, zumal bey Lastern der Wollust, eine so willkommene Hehlerin ist. Auch fehlte es vielleicht jenem wollüstigen Weibe selbst nicht an Jugend, an Reiz und Schönheit, und sie mochte dem blühenden Jünglinge ohnfehlbar auch manche Versprechung machen, die ihn gar wohl, zumal da er jetzt nur Sclave im Hause war, hätte bethören können. Gleichwohl aber war nichts im Stande, dem Joseph seine Unschuld und Tugend zu rauben. [...] Muß uns hier nicht Erstaunen und Freude in gleichem Grade ergreifen, Erstaunen, daß der Jüngling so standhaft war, und Freude, daß er sein Gewissen nicht mit einer Schandthat befleckte, die ihn gewiß ewig mit Schaam erfüllt haben würde?" 66 Hier mag nun ganz besonders deutlich werden, daß die pädagogischen Maximen des Vaters und Superintendenten Friedrich August Ludwig Nietzsche nur sehr äußerlich und oberflächlich eine aufklärerische Haltung widerspiegeln — in der Substanz bleiben sie doch der alten Lutherschen Erziehungslehre verhaftet: Im Mittelpunkt aller erzieherischen Bemühungen steht nämlich keineswegs die Entwicklung des Kindes zu einem selbstbestimmenden und selbstbestimmten Individuum, das autonom, aber mit Rücksicht auf die personale Integrität der Mitmenschen über seine Triebe und Emotionen eigenverantwortlich herrscht, also gelernt hat, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen - entscheidend bleibt der fremdbestimmende und fremdbestimmte unbedingte Gehorsam des Kindes, dem Wohlergehen und Glück, schließlich die ewige Seligkeit nur dann versprochen werden können, wenn es die irdisch durch die Elternmacht vertretenen angeblich göttlichen, im Grunde allerdings ganz weltlich-bürgerlichen Gesetze ohne Protest akzeptiert und verinnerlicht, wobei es die höchste Pflicht der Eltern ist, gleichsam im Auftrag des allwissenden Gottes die kindliche Seele beständig zu erforschen und zu kontrollieren. Sie haben, wie Friedrich August Ludwig Nietzsche in einer auf landesherrlichen Befehl gehaltenen Schul- und Erziehungspredigt sagt67, die strikte Aufgabe, ihre Kinder „beständig auf den Gott [hinzuweisen], der auch mit den geheimsten Gesinnungen unseres Herzens bekannt ist" 68 , sie müssen ,jede Art von Falschheit und Verstellung an ihnen auf das ernstlichste tadeln und miß-

66 Ebd., 411. 67 „Wie wir unsere Kinder zur Redlichkeit gegen ihre Nebenmenschen gewöhnen können, Uber das gewöhnliche Evangelium am Sonntage Miserie. Dorn., Joh. 10, V. 12-16" Ebd., 416ff. 68 Ebd., 420.

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billigen." 69 Damit sie nun „nicht immer eynerley" 70 sagen müssen, empfiehlt er ihnen zum Beschluß, ihre Kinder einen Choral auswendig lernen zu lassen, der allerdings aufs klarste die Substanz protestantischer Erziehungskunst in Dichtung verwandelt: „Was ich gedenke, weissest du, du prüfest meine Seele. Du siehst es, wenn ich Guthes thu, du siehst es, wenn ich fehle. Nichts, nichts kann deinem Aug entfliehn und nichts mich deiner Hand entziehn. Du merkst es, wenn des Herzens Rath verkehrte Wege wählet; und bleibt auch eine böse That vor aller Welt verhehlet, so weißt Du sie und strafest mich zu meiner Beßrung väterlich."71 Denkbar ist, daß dieses Kirchenlied auch im privaten, familiären Kreis des Eilenburger Superintendenten-Hauses öfters gesungen wird und auf den kleinen Sohn Carl Ludwig Nietzsche großen Eindruck macht, da uns doch von ihm zwei (nicht genau datierbare) Zeichnungen erhalten sind, die auf bemerkenswerte Weise den Aussagegehalt und (teilweise) die Metaphorik des Chorais bildnerisch gestalten: Da sieht man, auf dem ersten Blatt, am oberen Bildrand drei strahlende Sonnen; der ersten ist ein Ohr eingezeichnet, sie trägt die Unterschrift „Er hört"; die zweite enthält ein Auge, darunter dann die Inschrift „Er sieht"; die dritte hat eine Hand in ihrem Inneren und ist unterschrieben mit „Er fuhrt"; unter diesen Sonnen sieht man einen Altartisch mit einem Kreuz in der Mitte; darunter, sowie links und rechts davon, die Imperative: „Glaube! Liebe! Hoffe". Da sieht man, auf dem zweiten Blatt, ein (durchsichtig gezeichnetes) Tischgestell mit einem aufgeschlagenen Buch, dessen rechter Deckel die Aufschrift „Bibel", der linke das Kürzel „C. L. N . " (Carl Ludwig Nietzsche) trägt, umgeben von der stark gezeichneten Inschrift „Das Wort Gottes mus man ehren"; auf der rechten Bildseite dann ein großer, schwarz gezeichneter Mann mit einem langen, durchaus bedrohlich wirkenden Stock in der Hand. 72 Mag sein, daß Friedrich August Ludwig Nietzsche,

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Ebd. Ebd., 426. Ebd. GSA 100/422 - Die Bilderwelt dieser kleinen Zeichnungen bietet eine aufschlußreiche Parallele zu dem Traktat des Theologen Christian Skriver, in dem es über einen Vater

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so er denn Kenntnis erhält von diesen naiven, aber doch so aussagekräftigen künstlerischen Produktionen seines Sohnes Carl Ludwig, eine stille, vielleicht auch laut geäußerte Freude und Genugtuung empfindet über die Kraft und die Intensität, mit der diese kindliche Seele schon durchdrungen ist von jenem Glaubens-, Lebens- und Familienbild, das ihm, dem Vater, als das einzig wahre, rechte, christliche erscheint. Kaum denkbar, daß er doch ein wenig schockiert sein könnte von der dunklen, gänzlich „unkindlichen" Gehorsams- und Unterwerfungsaura dieser kleinen Bilder, die aufs klarste zeigen, daß die Innenwelt des Sohnes schon völlig geprägt ist durch die phantastische Vorstellung, ausschließlich das willen- und machtlose Objekt einer stets gegenwärtigen, drohenden und strafenden himmlisch-väterlichen Autorität zu sein, wobei der ferne Gott im Himmel und der nahe Gott in der Gestalt des Vaters scheinbar ununterscheidbar ineinanderfließen. Mit großer Zufriedenheit darf nun Friedrich August Ludwig Nietzsche das aus dieser seelischen Haltung zwangsläufig und problemlos entspringende äußerlich sichtund überprüfbare soziale Verhalten seines Sohnes wahrnehmen: Carl Ludwig ist, wenn auch stets etwas schüchtern und niedergedrückt, ein in allen Dingen ruhiges, folgsames und bescheidenes Kind, das sich dem Willen der Erwachsenen unterzuordnen weiß, ohne jemals Unmut oder gar Protest zu artikulieren - im Sinne jener Eilenburger protestantischen Erziehungslehre in der Tat „ein Knabe vortrefflicher Art", wie der Archidiakonus Vörckel, ein Amtsbruder des Vaters, später mit Nachdruck bemerkt. 73

5. Lernen und

Dichten

Kaum braucht man wohl hervorzuheben, daß dieser trefflich geratene Pastorensohn Carl Ludwig Nietzsche, dessen kindliche Seele schon so früh von Pflicht und Gehorsam, von preußischer Zucht und protestantischem Geist erfüllt und durchdrungen ist, auch im Bereich der öffentlichen Erziehung, also bei dem Bemühen, sich das Wissen der Welt anzueignen, seinen Eltern nichts als Freude und Z u friedenheit bereitet. Er kommt, wie alle Eilenburger Jungen, als Sechsjähriger in

heißt, er habe beim Essen mit seinen Kindern immer eine Rute zur Hand gehabt - „wie unser lieber himmlischer Vater mit seinen Kindern, er bereitet zwar vor ihnen einen Tisch [...] und gibt ihnen öfters allerlei Gutes, geistlich und leiblich zu genießen. Doch muß die Ruthe, das liebe Kreuz, auch nicht weit sein, damit wir nicht muthwillig werden, sondern in seiner heiligen Furcht und kindlichem Gehorsam einhergehen." Zit. bei Andreas Gestrich, in: Martin Greiffenhagen [Hg.], ebd., 68. 73 Und zwar in dem „Andenken an den am 16. März 1826 verstorbenen Superindent. und Pastor an der Stadtkirche zu Eilenburg." (GSA 100/40).

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die städtische Knabenschule, einem etwas engen, düsteren Gebäude, das im Jahre 1694 errichtet wurde, 1823 allerdings, noch während seiner Schulzeit, erneuert und erweitert wird, da der nach der Eingliederung der Stadt in den preußischen Staat stark einsetzende Bevölkerungszuwachs eine beträchtliche Erhöhung der Schülerzahl zwangsläufig zur Folge hat, so daß neben jenen baulichen Veränderungen den bisherigen drei Lehrerstellen eine vierte hinzugefugt werden muß. 74 In dieser Zeit des Umbruchs wird die Schule souverän und mustergültig geleitet von dem Rektor Carl Geißler, einem klugen, umsichtigen Pädagogen, der mit seinem offenen, von Liberalität geprägten geistigen Habitus den auch in Eilenburg bemerklichen Veränderungen der Gesellschaft vielleicht etwas aufgeschlossener gegenübersteht als die örtliche Geistlichkeit, der es hauptsächlich darum geht, die überkommenen Werte, Traditionen und Sitten möglichst rein zu bewahren. 75 Es ist durchaus bemerkenswert, daß der Elementarschüler Carl Ludwig Nietzsche schon ganz früh zu diesem Mann ein tiefes Zutrauen faßt und ihn von Anfang an bewundert und verehrt, fast als eine zweite, allerdings weniger bedrohliche und angsteinflößende väterliche Autorität. Er gewinnt auch sehr schnell Zugang zu dessen privatem, familiären Kreis und ist bald der beste und engste Spielkamerad von Agnes, der fast gleichaltrigen Tochter des Hauses; auf rührende Weise versucht er, die Zuneigung dieses Mädchens zu gewinnen, und es erfaßt ihn eine Art von Kinderliebe, die ihm ein wenig Erlösung verschafft von seiner äußeren und inneren Isolation, ist er doch, bedingt durch die hervorgehobene, stets Distanz bewirkende Stellung des Vaters, immer ein wenig entfernt von den gemeinsamen Spielen, Raufereien und kindlich-knabenhaften Abenteuern der Mitschüler und Altersgenossen, von denen er sich selbstverständlich auch getrennt fühlt durch seine schon recht bald bemerkliche intellektuelle Überlegenheit, die es ihm erlaubt, das Lesen und das Schreiben schneller und früher zu erlernen als die anderen Kinder, stärkstens im Vorteil dadurch, daß er in einer vom Wort und von der Schriftkultur geprägten Familie aufwächst. So ist er denn schon als Siebenjähriger fähig, einen schön und sauber gehaltenen Brief an die Mutter zu schreiben, die sich mit seinen beiden Schwestern bei Verwandten im vogtländischen Plauen aufhält - es ist das erste uns von ihm erhaltene schriftliche Dokument: „Liebe gute Mutter Weil der Vater an Sie schreibt so will ich auch ein Briefchen an Sie schreiben. Ich bin mit zu Grigorius in Külzschau gewesen. Lina hat zu Herrn Förster geschickt, ob er mich wollte ein bischen in Aufsicht nehmen da ließ Herr Förster sagen er wollte es recht gern thun. Kommen Sie doch recht bald

74 Vgl. Chronik der Stadt Eilenburg, ebd., 50. 75 Carl Geißler ist auch der Verfasser der hier zugrunde gelegten „Chronik der Stadt Eilenburg".

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wieder zurück an die gute Rosalie und die gute Auguste ein Gruß und ein Kuß. Vergessen Sie mich nicht und behalten Sie mich lieb Dein Ludwig." 76 Mühelos erlernt Carl Ludwig Nietzsche die grundlegenden Kulturtechniken, und sehr schnell bemerken die Lehrer, daß seine ganz besonderen Begabungen im sprachlich-musischen Bereich zu suchen sind. So wird er denn schon früh mit herausragenden, „öffentlichen" Auftritten betraut: Er darf auf Abschlußfeiern und ähnlichen schulischen Festen kurze Gedichte rezitieren oder auch schon eine kleine, vorher sorgfaltig einstudierte Rede halten. Auffällig ist jedoch, daß seine Leistungen im mathematischen Fach, im Vergleich zu den anderen Unterrichtsgegenständen, äußerst mittelmäßig sind - er hegt von Anfang an eine tiefe Abneigung gegen diese Materie, die sich seinem Lehrneifer widersetzt und Abwehr und Unlust erzeugt — ein Defizit, das ihn seine gesamte Schullaufbahn begleiten und ihm über viele Jahre großen Kummer bereiten wird. Ganz wirkungslos sind hier die mehr oder minder freundlichen Ermahnungen der Lehrer und Eltern, wie denn zum Beispiel die Mutter ihm in einem Brief vom September 1823, wiederum aus Plauen, die Vorzüge der Mathematik plausibel zu machen versucht, nachdem eine Prüfung in diesem Fach wieder einmal negativ verlaufen ist: „[.··] Daß Du mit Beyfall die Gegenrede bey dem Abschiedsaktus gehalten hast, freute mich sehr, aber eben so sehr hat es mich auch betrübt, daß Du bey dem Examen in der Mathematik nicht bestanden hast. Indessen lass Dich davon nicht so sehr niederdrücken sondern nimm Dir vielmehr vor, mit recht viel Ernst und Kopf diese Wissenschaft zu betreiben, denn die es verstehen, sagen doch alle daß das Studium auch sehr interessant wäre und den Kopf aufräumt, dieses zu bewirken hat wohl auch Dein Lehrer zur Absicht, drum wende das halbe Jahr noch recht ernstlich zu Deiner Vervollkommnung an und der liebe Gott wird gewiß Deinen Fleiß mit guten Erfolg krönen [...]" 77 Mit einiger Berechtigung darf man jedoch behaupten, daß in diesem Fall die Anrufung des lieben himmlischen Vaters ziemlich vergeblich scheint und kaum ein stärkeres Interesse des Schülers Nietzsche an der Mathematik zu zeitigen vermag - viel lieber wendet er sich musisch-künstlerischen Gegenständen und Beschäftigungen zu, und schon sehr bald erhält er auch Klavierunterricht und beginnt, kleine Musikstücke zu komponieren, so zum Beispiel ein „kurzes Adagio für das Klavier"78.

76 Carl Ludwig Nietzsche, Brief aus Eilenburg an Erdmuthe Nietzsche in Plauen, 10.5.1821, GSA 100/123 - Kültzschau ist ein Dorf bei Eilenburg; Lina ist Carl Ludwigs Stiefschwester (aus der ersten Ehe des Vaters); Grigorius und Förster: nicht ermittelbar. 77 Erdmuthe Nietzsche, Brief aus Plauen an Carl Ludwig Nietzsche in Eilenburg, 9.9.1823, GSA 100/377, 1. 78 Die Komposition ist verlorengegangen; erhalten ist jedoch das Widmungsblatt: „Sontag, am 29.ten Januar 1826, als am Geburtstage unser's guten Vaters: Ein kurzes Adagio für das Klavier, von Carl Ludwig Nietzsche", GSA 100/43.

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Erhalten sind uns auch etliche Zeichnungen, in denen er seine kindlichen Erlebnisse und Eindrücke künstlerisch zu verarbeiten sucht79; vor allem aber scheint es fur ihn hilfreich und entlastend zu sein, sich lyrisch-dichterisch zu artikulieren, sicher auch angeregt von der bürgerlichen, im protestantischen Pfarrhaus jedoch mit besonderer Liebe praktizierten Tradition der Gelegenheitspoesie, die zu Festen und besonderen familiären Anlässen gern geübt wird, auch wenn deren Produkte zuweilen ein Hauch von ungewollter Komik umweht. Ein erstes Gedicht aus diesem Genre ist uns vom zwölfjährigen Carl Ludwig erhalten, da er den „theuren Eltern bei dem Eintritte des 1826 Jahres aus kindlicher Liebe" einen zehnstrophigen Dankbarkeitshymnus zukommen läßt: 80 Hinüber zur Vergangenheit Verschwind des Jahres letzte Zeit, Mit ihr auch manche Plagen, die wir bis itzt getragen. Wer war es, der bis itzt mich nährt Und meinem Geiste Licht gewährt; Wer war es, der mein Leben von neuem mir gegeben? Wer war es, der in treuer Hand Der Eltern mir ein Unterpfand Der süßen Lieb ließ finden, Wenn Krankheit, Not mich binden? Du bists, Der jede Du gabst Bei allen

o Vater aller Welt, Kreatur erhält; mir viele Freuden Lebens Leiden.

Der Vater, der bis itzt mich nährt, Die Mutter, die so sanft mich lehrt, Von Dir, der Menschen lenket, Sind sie auch mir geschenket.

79 Die Zeichnungen haben ganz unterschiedliche, z.T. schwer deutbare Bildmotive: Bauernhaus mit Windmühle, Kirchtürme, eine Art von Tempel mit Kreuz auf dem Dach, eine Kirche mit Baum, eine weitere Tempelzeichnung, eine Maschine (oder ein Sarg) - Vgl. GSA 100/422. 80 GSA 100/42 — Das Gedichtblatt ist zeichnerisch dekoriert und trägt die Inschrift: „Aus Dankbarkeit und Liebe".

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Drum preis ich Dich mit frohem Muth Für allen Segen, jedes Gut, das ich und sie genoßen Im Jahr, das nun verflossen. Doch willst Du noch Barmherzigkeit Gewähren mir für künftge Zeit, O so erhalt das Leben Der Eltern, mir gegeben. Tröste sie in jeder Noth, Bewahre sie vorm schnellen Tod. Und gieb ihn'n Lust und Kräfte Zu jeglichem Geschäfte. Auch ich will gerne Euch erfreun, Stets artig, fromm und fleißig sein; Will folgen, will Euch ehren Auf jeden Wink gern hören. Und sind wir dann heut übers Jahr Noch lebend, wie es itz und war, Dann werd ich Euch von neuem Durch Bessersein erfreuen. 81 Erstaunlich ist die sprachsichere Routine, mit der Carl Ludwig Nietzsche als Zwölfjähriger die poetischen Formeln und Floskeln jener protestantischfamiliären Gelegenheitslyrik zu verwenden weiß — wenn man deshalb vermuten darf, daß diese Strophen nicht vollständig seinem eigenen kindlich-literarischen Ingenium entsprungen sind, sondern zumindest teilweise auf eine ihm bereits vertraute Vorlage zurückgehen, so scheint er sich doch aufs stärkste mit der in ihnen zum Ausdruck kommenden Aussageabsicht zu identifizieren, nämlich der dichterischen Gestaltung einer evangelisch-lutherischen Familientheologie, in der die Eltern als die Statthalter Gottes auf Erden erscheinen und ihnen darum unbedingter Gehorsam und rückhaltlose Liebe entgegenzubringen sind, wobei ganz unentschieden bleiben muß, ob das Kind Carl Ludwig Nietzsche hier eine echte und wirklich empfundene innere Gefuhlswahrheit artikuliert oder, gleichsam in einen Akt der Selbstentfremdung, all jene Emotionen „inszeniert", die man innerhalb dieses christlichen Familienbilds ganz selbstverständlich erwartet und stillschweigend voraussetzt. Entscheidend für das Wohlbefinden der unfertigen Persönlich-

81 GSA 100/42.

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keit scheint die positive Reaktion der Umwelt auf seine dichterischen Versuche zu sein: Das Lob der Eltern, der Verwandten und Bekannten stärkt sein Selbstwertgefühl, und so sucht er immer wieder Gelegenheiten, die Produkte seiner kleinen Dichterwerkstatt vorzutragen. Erhalten sind zum Beispiel Geburtstagsverse für eine Verwandte im Nachbardorf Liehmena 82 sowie ein Tischgebet, von dem man vermuten darf, daß es eine gänzlich eigenständige Sprachschöpfung ist: BEY TISCHE 1. Gott du giebst allen Speis und Trank Gütig immer, ja lebenslang. Drum preißt dich das Gemüthe Und lobt deine große Güte. 2. So laßt uns nun auch dieses Mahl, Genießend jetzt im Freundschaftssaal; Wohl bekomms durch deinen Segen, Der ist uns gar sehr gelegen!83 Dieser fleißige, wohlerzogene Knabe, der schon so früh und so tief das Christentum seiner Familie annehmen kann und gleichzeitig die schöne Begabung hat, seine gläubige Gesinnung und Gesittung nach außen, im gestalteten Wort, deutlich werden zu lassen, muß er nicht bald zu der Vermutung starken Anlaß geben, daß er, in der Nachfolge seines Vaters, vorherbestimmt ist für das geistliche Amt und deshalb sein Bildungsgang so eingerichtet und gestaltet werden muß, daß er dieses Ziel möglichst schnell und sicher erreicht? Wahrscheinlich sehen ihn die Eltern, die Verwandten und Bekannten, das gesamte Eilenburger Umfeld ganz selbstverständlich in der zukünftigen Rolle eines wortmächtigen und überzeugungskräftigen evangelischen Predigers, und es ist klar, daß sie diese Erwartungen auf unmittelbare oder auch verdeckte Weise dem heranwachsenden Carl Ludwig vermitteln. Unmöglich ist jedoch zu sagen, wann und mit welcher emotionalen Kraft er diese Wünsche und Vorstellungen zu seinen eigenen macht, sie innerlich annimmt und sich damit als gehorsames Kind erweist, gleichzeitig aber auch seine Lebensperspektiven auf vielleicht verhängnisvolle Weise verengt. Vorstellbar ist, daß gerade der Vater Friedrich August Ludwig Nietzsche, der in der Schulzeit seines ihm so spät noch geschenkten Sohnes schon in das siebte Jahrzehnt des Lebens geht, mit ganz besonderem Nachdruck diesem Kind das theologische

82 „Zu der theuren Tante ihren Geburtstag gefeiert zu Liemehna am 8,e" Mai 1827", GSA 100/272. 83 GSA 100/272.

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Studium nahezulegen versucht und ihm, vielleicht sogar in direkter Ansprache, deutlich zu verstehen gibt, daß damit nicht nur ein moralisch mehr oder weniger bindender elterlicher Wunsch in Erfüllung ginge, sondern vor allem auch einem himmlisch verordneten Auftrag pflichtschuldigst Genüge getan würde - den zu verweigern aber sündhaft sei im Sinne einer Rebellion wider Gottes Gebot. Kaum einsehbar ist allerdings dem Sohn, daß hinter diesem so chrisdich begründeten Anspruch des Vaters vielleicht auch ganz pragmatisch-weltliche, ökonomische Zwänge und Bedürfnisse verborgen sind. Es muß dem Superintendenten Nietzsche nämlich nur allzu bewußt sein, daß er in absehbarer Zeit zu Gottes Ewigkeit abberufen, in der endlichen Welt aber eine noch recht junge Gattin und Mutter zurücklassen wird. Er weiß natürlich auch, daß die materielle Versorgung von Pastorenwitwen staatlich nicht abgesichert, sondern auf die Schultern der Nachkommen gelegt ist; es muß ihm deshalb ein nach außen zwar verschwiegenes, aber doch äußerst dringliches Anliegen sein, den Sohn über den Weg in ein ausreichend dotiertes Pfarramt möglichst schnell und umweglos in die Lage zu versetzen, diese unabdingbar notwendige Unterstützung später tatsächlich auch leisten zu können. So mag er denn seinem Sohn, unter Zuhilfenahme der so edel klingenden, aber doch vor allem einschüchternden, auf Zwang und Unterordnung beruhenden Familien-Ideologie, deutlichst vor Augen fuhren, daß er ohne Zögern und Schwanken sein Leben einzig auf die Pflicht hin einzurichten hat, der Mutter möglichst bald und bis ins hohe Alter hinein in jedem Belange beistehen und helfen zu können, unter Hintenanstellung eigener Interessen und Bedürfnisse. Denkbar ist, daß Friedrich August Ludwig Nietzsche ihm jene seiner zahlreichen Schriften zur Lektüre übergibt, die er bereits im Jahre 1789 zu Ehren seines eigenen Vaters verfaßt hatte und die in weiten Teilen eine emphatische Lobeshymne ist auf die angeblich immer Lebensglück und Segen spendende, beständige und unerschütterliche Treue zu Vater und Mutter: „Denn für ein Kind, das den ganzen Werth seiner Eltern wahrhaftig fühlt und zu schätzen weis, kann ich mir keine edlere Freude, kein reineres und göttlicheres Vergnügen, kein größeres Glück denken, als Eltern Wohlthaten zu vergelten, und zumal in ihrem Alter noch, Freude und Trost auf diese oder jene Art in ihren Herzen verbreiten zu können." 84 Wahrer Segen und Gottes Huld liegen in der Tat, wie Friedrich August Ludwig Nietzsche hier nachdrücklich verkündet, nur dann auf dem irdi-

84 „Ueber Vorzüge, Beschwerden und Trost im Alter. Auf besondere Veranlassung zum weiteren Nachdenken und zur Beruhigung fur gutgesinnte Greise geschrieben von F. A. L. Nietzsche, Prediger zu Wollmerstedt i. Thüringen, Leipzig bey Carl Friedrich Schneidern 1789 - Seinem verehrungswürdigen Vater dem Hochedelgebohrnen und Hochgelehrten Herrn Gotthelf Engelberdt Nietzsche, Gr. Churff. Durchl. zu Sachsen hochbestallten General-Accis-Inspector zu Bibra und Fryburg bey dessen fünfzigjährigen Amtsjubiläum gewidmet" (GSA 100/10), Vorrede, 4.

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sehen Wandel der Kinder, wenn sich die Eltern in ihrer Obhut bis an das Ende geborgen fühlen - und zum Beispiel ein alter, hilfsbedürftiger Vater ihnen ansehen kann, „wie glücklich sie sich schätzen, daß sie für ihn auf das zärtlichste sorgen, und ihm, wo möglich, die Wohlthaten, die sie ihm und seiner väterlichen Erziehung und Fürsorge verdanken, nur einigermaßen wieder vergelten können". 85 Wie weit diese Kindespflicht möglicherweise zu gehen hat, wenn der unerforschliche himmlische Rat ein hartes Schicksal verhängt — das macht er plastischdrastisch deutlich mit einer aus dem Leben selbst gegriffenen Beispielgeschichte, in der ein einfacher junger Mann den strengen kategorischen Imperativ einer uneingeschränkten Hingabe an die Eltern mustergültig zu erfüllen weiß: Seine Mutter „lag an der schmerzhaftesten Krankheit darnieder, die nun schon vierzehn Jahre gedauert hat, wodurch sie des Gebrauchs aller ihrer Glieder beinahe beraubt wurde, und wenn sich der Schmerz einstellte, gleichsam von Sinnen kam. [...] Im vorigen Jahre aber ward diese Familie noch mehr heimgesucht. Der Vater bekam einen Krebsschaden am rechten Backen. [...] Da das Uebel überhand nahm, so wurde das Haus, wo der Mann und die Frau unter den größten Schmerzen jammerten, gemieden, und zur Reinigung der ekelhaften Wunde wollte sich Niemand verstehen. Fast die ganze rechte Seite bis an den Hals ward verzehrt, man konnte die Knochen sehen, und schon wuchsen Würmer in den Wunden; auch der Geruch war äußerst empfindlich. - Hier that nun der Sohn, was schwerlich jedes Kind thun würde. Er wusch und reinigte seinem Vater die Wunde täglich etlichemal, suchte die Würmer zu tilgen, schnitt, da kein Scheermesser mehr gebraucht werden konnte, ihm mit einer Schere den Bart ab, damit er nicht ganz entstellt würde. Da der Elende keine Speise mehr genießen konnte, suchte ihm der Sohn durch ein Röhrchen etwas Brühe zur Nahrung beizubringen. Tag und Nacht hob und pflegte er den kranken Vater. [...] Dieß that er alles ohne einige Aufmunterung von andern Menschen, blos aus Liebe zu seinem Vater bis an sein trauriges Ende. [...] Jedes rechtschaffne und dankbare Kind wünschte wenigstens hier diesem edelmüthigen und vortrefflichen Bauernsohne zu gleichen." 86 Es ist wohl denkbar, daß Carl Ludwig Nietzsche, so er denn diese Geschichte, die der Vater hier recht eindrucksvoll (man könnte sagen: fast genüßlich) erzählt, mit innerer Zustimmung, wenn auch vielleicht ein wenig schaudernd, wahrnimmt und als vorbildhaft annehmen kann, ganz ohne Bewußtsein davon, daß die in ihr zum Ausdruck kommende protestantische Familienmoral den Kindern zuweilen eine kaum erträgliche, widermenschliche Selbstaufopferung empfiehlt und deutlich macht, daß es das unabwendbare Schicksal des von der Erbsünde geschlagenen Menschen sein kann, das Elend der Eltern mit dem eigenen Elend zu bezahlen.

85 Ebd. 86 Ebd., 12 (Anm.).

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Kaum denkbar, daß er in seiner kindlichen Seele etwas spürt von den dunklen, bedrohlichen Schatten, die diese strenge Lehre auf sein eigenes Leben werfen könnte - er scheint sich vielmehr ohne Protest und ohne Kritik zunehmend einzuspinnen in seinen schützenden, aber doch erschrecklich engen Kokon der Gottes- und der Elternliebe, in dessen Innenraum dann immer wieder mechanisch wirkende, flache religiöse Floskeln und altklug formulierte Ergebenheitsbekundungen produziert werden, wie beispielsweise in einem „Gedicht zu den 70ten Geburtstag unser's guten Vaters": 1) O Menschen singet Gott den Herrn Für seine Gütigkeit! Der jeden gibt das Gute gern, Ihn preiset jeder Zeit! 2) Gott, der du erhöhst das Leben, des Vaters, der uns nährt; Du läßt gelingen sein Streben Du machst uns seiner werth. 3) Drum laßt uns bitten allzugleich, Daß bey uns wirke lang, Der Vater, der in Gottes Reich, Sich reget stets mit Dank. 4) Gott, wir versprechen heilig Dir, Mit Herzen, Hand und Mund Die Eltern lieben für und für Das thut die Bibel kund. 5) Das Beten höre Du o Gott Wir alle bitten Dich Du bist ja allzeit unser Hort; erfüll es ewiglich. 6) O betet stets an den Vater, und danket ihn immer! Dem Schöpfer, Erhalter und Rather; Vergesset ja nimmer! 87 Der junge Poet kann nicht wissen, daß dieses Gedicht, in dem er noch einmal seine gehorsame, demütige Liebe zu den Eltern in ungelenke Reime faßt, schon

87 GSA 100/41.

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ein Abschiedsgesang für den verehrten Vater ist - nicht einmal drei Monate werden vergehen, bis der Superintendent Friedrich August Ludwig Nietzsche am 12. März 1826 seine letzte Predigt in der Nicolaikirche zu Eilenburg hält. Er erkrankt „schon an demselben Tage und zwar so sehr, daß er unverhohlen das Vorgefühl seines nahen Todes [ausspricht]." 88 Er stirbt wenige Tage später, am 16.3.1826, und für den zwölfjährigen Sohn ist die wichtigste Kindheitsgestalt plötzlich verschwunden — diese unangreifbare, strahlende Autorität, verehrt und hochgeachtet von der Gemeinde und den Mitbrüdern im geistlichen Amt. Nur bruchstückhaft dringen all diese tief empfundenen Beileidsbezeugungen, diese hochtönenden Trauerreden ins klare Bewußtsein des verwirrten Kindes, dem aber doch schon deutlich werden mag, daß der dahingegangene Vater in solchen wohlmeinenden, aber doch ein wenig aufdringlichen Kundgebungen zum Musterbeispiel eines hochgelehrten und zugleich mildtätig-menschlichen evangelischen Geistlichen verklärt wird, so wie es schon acht Jahre zuvor, also noch zu Lebzeiten des Vaters, der Dorfschullehrer Grose aus Liehmena in rührend bemühten Versen untertänigst versucht hatte: Still und segnend wirkt der edle Weise, Rastlos in dem eignen Wirkungskreise, Den der Weisheit Urquell ihm verliehn. Doch zur schönsten That begeistert ihn Nicht der Hang nach irdischem Gepränge, Nicht der laut'ste Beifall einer Menge; Hohes Flichtgefuhl stählt seinen Mut, Weil es gut ist, thut er, was er thut. Dennoch bleibt nicht unbelohnt das Streben, Nur dem Wohl der Bruderwelt zu leben; Nah und fern wird sein Bemühn erkannt, Ehrenvoll sein Name stets genannt. Ein erwünschtes herrliches Gelingen, Krönt sein edles Wollen und Vollbringen; Und es trohnt, sich seines Werths bewußt,

88

„Andenken an den am 16. März 1826 verstorbenen Superint. und Pastor an der Stadtkirche zu Eilenburg Dr. Friedr. Aug. Ludwig Nietzsche, seinen Freunden gewidmet, enthaltend und eine am Feste Mar. Reinig, gehaltene Predigt ,über einige besondere Gnadenerweisungen, die wir als gute Menschen auch noch in Ansehung unseres Todes von Gott zu erwarten haben', nebst der bei seinem Begräbnisse von dem Archidiakonus I. D. Vörckel gehaltenen Rede uns einem kurzen Abrisse von den merkwürdigsten Lebensumständen des Verewigten. Gedruckt bei L. Meyner in Delitzsch." (GSA 100/40).

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Gottes hoher Fried in seiner Brust. Hochverehrter! Segen war Dein Leben Lichtverbreiten stets Dein reges Streben Und zu wecken frommen Tugendsinn, War Dein hoher seliger Gewinn. Ja durch Dich, voll Liebe und Erbarmen, Wird, nach Jesu Beispiel, auch den Armen, Gottes Evangelium bekannt, Und ihr Herz dem Himmel zugewandt. Darum rinnt zu Deines Namens Ehre, lange schon im Stillen Dir die Zähre Heilger Liebe, frommer Dankbarkeit Dir Hochwürd'ger, innig froh geweiht. [...] 8 9 Wird also hier der Pfarrer Nietzsche schon in eine Lichtgestalt verwandelt, so mag der Sohn durch all die schönen Nachrufe und Trauerreden, die nun, in diesen düsteren Tagen, das irdische Wirken des Verstorbenen beschreiben und in hohen Worten würdigen, die feste Gewißheit dafür erhalten, daß es zukünftig seine bindende und daseinsbestimmende Pflicht ist, diesem Vater immer ähnlicher zu werden, ihm innerlich und äußerlich die Treue zu bewahren und seinen Idealen nachzustreben - auch wenn er mit den kleinen Mitteln seines kindlichen Verstandes noch nicht sehr viel begreifen kann von der besonderen Bedeutung dieses Mannes, von seiner Herkunft, seinem Werdegang, von seiner Welthaltung und Theologie, also von dem, was er als höchste Bestimmung einer christlichprotestantischen Existenz in dieser Welt befördern und zur Geltung bringen wollte, nämlich —

6. Glaube und Tugend (Der Vater) Der Weg zurück fuhrt nach Bibra (heute Bad Bibra), einer kleinen, aber doch sehr alten Stadt, nordwestlich von Naumburg landschaftlich reizvoll gelegen - „in eine Talsenke eingeengt" 9 0 , umgeben von den Wäldern des Finne-Gebirges. Hier hatte

89

„Seinem verehrungswürdigen Herrn Ephorus Herrn Dr. Friedrich August Ludwig Nietzsche, Hochverordnetem und bestverdientem Superintendenten der Diöces Eilenburg bei Erlangung der theologischen Doctorwürde im November des Jahres 1817 mit Ehrerbietung, Hochachtung und Theilnahme geweiht, von Gottlob Friedrich Grose, Schullehrer in Liemehna, 1818" (GSA 100/44).

90

Hermann Grössler, Führer durch das Unstruttal von Artern bis Naumburg, für Vergangenheit und Gegenwart, Freyburg (Unstrut) 1904 (Reprint hg. von Joachim Jahns, Querfurt 1995), 173.

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es im Mittelalter eine große benediktinische Klosteranlage gegeben, die im Verlauf der Reformation vollständig der Zerstörung anheimgefallen war. Weithin bekannt war Bibra aber dadurch geworden, daß man dort im 17. Jahrhundert eine heilkräftige Stahlquelle entdeckt und mit Unterstützung des Herzogs Johann Adolf von Sachsen-Weißenfels zu einer bald allseits beliebten Kur-Anlage ausgebaut hatte; mit dem nun heftig einsetzenden Badebetrieb, der viele Fremde in die Stadt gebracht hatte, war allerdings auch eine Lockerung der guten Sitten einhergegangen, was sich vor allem darin geäußert hatte, daß man keineswegs nur dem heilenden Wasser die Ehre erwiesen hatte - wie denn der Pfarrer und Poet Erdmann Neumeister, bekannt als Textdichter vieler Kantaten Johann Sebastian Bachs und von 1699-1704 Prediger in Bibra, in einem Spottgedicht gewisse Unarten seiner Gemeinde deutlich beschreibt: So offt sie Freude haben, Vermehren sie den Trunck, und wenn sie Leid betrübt, So wird es ebenfalls auch durch den Trunck begraben. Wer was verkaufft und kaufft, versiegelt es damit. Berufft man die Commun, berathen sich die Zünffte, Macht man ein Testament, fällt sonst ein Handel fur, Versammelt sich der Rath und hält Zusammenkünffte, So sorget man zuerst vor eine Kanne Bier.91 Als Friedrich August Ludwig Nietzsche am 29. Januar 1756 in Bibra geboren wird, ist von der Kur-Geschäftigkeit mit ihren durchaus bedenklichen Folgen nicht mehr sehr viel zu spüren, da das Bad, nach einer verheerenden Feuersbrunst, verfallen und aus der Mode gekommen war. Er ist das siebte Kind des kurfürstlichsächsischen General-Accis-Inspektors Gotthilf Engelbert Nietzsche und seiner Ehefrau Johanna Amalia, Tochter des Pfarrers Johann Christoph Herold aus Reinsdorf bei Artern. Er entstammt also einer angesehenen bürgerlichen Familie; sein Vater, der hochbetagt als Neunzigjähriger stirbt, übt über fünfzig Jahre lang seinen verantwortungsvollen Beruf aus, der ihn verpflichtet, die den Untertanen vom sächsischen Herrscherhaus auferlegten Geld- und Sachabgaben in den Städten Bibra und Freyburg möglichst gerecht und korrekt einzutreiben, wobei man seiner Integrität und Unbestechlichkeit stets hohe Achtung und Anerkennung zollt.92

91 Zit. bei Hermann Grössler, ebd., 183. 92 Er hat dieses Amt von seinem Vater übernommen, dem Accis-Inspektor Christoph Nietzsche, der am 5.1.1739 in Bibra gestorben, dessen Geburtsdatum jedoch nicht bekannt ist. Bei den Angaben über dessen Ehefrau stößt man nun allerdings auf eine bemerkenswerte Widersprüchlichkeit. Hans von Müller nennt in seinem Beitrag „Nietzsches Vorfahren" als Gattin „Margaretha Elisabeth - der Familienname ist leider

Glaube u n d T u g e n d (Der Vater)

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im Kirchenbuche nirgends angegeben" („Die Z u k u n f t " , Hg. Maximilian Harden, 23. Bd., Berlin 1898, 408). In ihrer Replik u n d Ergänzung zu diesem Aufsatz v o m 2 5 . 6 . 1 8 9 8 („Nietzsches A h n e n " , ebd., 577) bestätigt Elisabeth Förster-Nietzsche M ü l lers Angabe u n d bringt gleichzeitig die von Friedrich Nietzsche stets mit Nachdruck betonte polnische Familienabstammung (so noch am 10.4.1888 in einem Brief an G e o r g Brandes, KSB 8, 288) ins Spiel, w e n n sie auf das von ihr selbst als zweifelhaft bezeichnete u n d in ihrer Biographie erwähnte D o k u m e n t „L'Origine de la famille de N i ë t z k y " zu sprechen kommt, in d e m , j e n e Frau Margarethe Elisabeth einen äußerst zungenbrecherischen v o r n e h m e n polnischen N a m e n trug, den ein deutsches O h r schlecht verstehen u n d eine deutsche H a n d nicht gut nachschreiben kann. Ich k o n n t e mir deshalb auch vorstellen, daß bei den Eintragungen in das Kirchenbuch der Geistliche auf die Wiedergabe dieses Namens verzichtete." (Ebd.) Sie läßt unentschieden, ob in der Person dieser Margaretha Elisabeth ein halbwegs stichhaltiger Anhaltspunkt fur polnische „Anteile" in der Nietzsche-Familie zu suchen ist, da sie doch andererseits nicht ausschließen will, daß deren E h e m a n n , also Christoph Nietzsche, j e n e r geheimnisvolle u n d in der Familienlegende i m m e r wieder auftauchende v o r n e h m e Pole ist, der im Jahre 1706 als „Mitglied der E n d e des siebenzehnten Jahrhunderts in den Grafenstand e r h o b e n e n Szlachzizenfamilie Nietzky wegen religiös-politischer Verschwörung z u m Tode verurtheilt w u r d e „(ebd.), mit Frau u n d Kindern aber nach Deutschland floh u n d seinen N a m e n von „ N i ë t z k y " in „Nietzsche" abänderte. M a x Oehler, der sich nach d e m Tode Elisabeth Förster-Nietzsches als Leiter des Nietzsche-Archivs zu Zeiten des Nationalsozialismus große, w e n n auch in höchstem M a ß e fragwürdige Meriten h i n sichtlich der „Nietzsche-Ahnenforschung" erworben hat, läßt diese Margaretha Elisabeth vollständig verschwinden: Bei ihm ist Christoph Nietzsche seit 1707 verheiratet „mit Johanna Christine Büttner, Tochter des Fürstlich sächsischen Amtsschössers J o h a n n Dietrich Büttner in Eckardtsberga." (Max Oehler, Nietzsches Vorfahren, Zerstörung der Legende von seiner polnischen H e r k u n f t , Typoskript, 4, GSA 100/1219), so auch in der von ihm veröffentlichten Stammtafel (Max Oehler, Friedrich Nietzsches A h n e n tafel, Weimar 1939). Christoph Nietzsche selbst ist als Sohn eines Häuslers u n d Fleischhauers Christoph Nietzsche aus Burkau (Oberlausitz) bezeichnet (Max Oehler, ebd., 4). M a n könnte die gerade von Friedrich Niezsche selbst inszenierte Legende von der polnischen Abstammung als den rührenden, aber doch ein wenig komischen Versuch, die eigene Familiengeschichte „interessanter" u n d „ b e d e u t e n d e r " zu machen, durchaus auf sich b e r u h e n lassen u n d es für m ü ß i g erachten, einem wie auch i m m e r gearteten Wahrheitsgehalt nachzuspüren — bemerkenswert ist allerdings, mit welcher Intensität u n d mit welcher Motivation der Ahnenforscher M a x Oehler versucht, die Nietzsches restlos u n d endgültig „einzudeutschen". Sein hier zitiertes Typoskript ist nämlich die Grundlage für einen Artikel, der in allen großen Tageszeitungen erscheinen soll, u n d zu diesem B e h u f verfaßt er folgendes Begleitschreiben an die jeweiligen Redaktionen: „Sehr geehrte Herren, in der Anlage gestatte ich mir, ihnen ein Aufsatz über Nietzsches angebliche polnische Herkunft zuzusenden, den ich gern in ihrer Z e i t u n g veröffentlicht sähe. Gerade weil Nietzsche als der bedeutendste deutsche D e n k e r der Neuzeit u n d einer der wichtigsten Wegbereiter des Nationalsozialismus i m m e r stärker in den Vordergrund des Interesses rückt, erscheint es mir wünschenswert, mit d e m Märchen von seiner polnischen A b s t a m m u n g endgültig aufzuräumen. In der polnischen Presse wird i m m e r wieder der Versuch gemacht, Nietzsche für Polen zu beanspruchen, während objektive ausländische Beurteiler ihn in seinem ganzen D e n k e n , Fühlen u n d Streben i m m e r gerade als urdeutsch e m p f u n d e n haben. Heil Hitler! M a x Oehler, Stiftung Nietzsche-

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Dem klugen, fleißigen Sohn Friedrich August Ludwig gelingt es als erstem Mitglied der Familie, eine akademische Laufbahn einzuschlagen: Er wird Alumnus in der berühmten Thomasschule zu Leipzig, „wo eine gründliche Bekanntschaft mit den Sprachen des classischen Alterthums die solide Grundlage seiner ferneren Ausbildung [wird]". 93 Im Jahre 1776 bezieht er als Student der Theologie die Leipziger Universität - bei der Entwicklung seiner Glaubens- und Lebenshaltung wird er dort vor allem geprägt von den Professoren Johann August Ernesti 94 und Samuel Friedrich Nathanael Morus 95 , am stärksten aber von Georg Joachim Zollikofer 96 , der seit 1758 als Prediger der Leipziger reformierten Gemeinde wirkt und mit dem ihn bald ein freundschaftliches Verhältnis verbindet. Nach dem Studium wird er zunächst Erzieher bei der Familie des Superintendenten Facilides im sächsischen Grimma, wo er, wie sein späterer Eilenburger Amtsbruder Vörckel bemerkt, ,jede Gelegenheit, sich immer weiter fortzubilden, eifrig [benutzt]." 97 Im Jahre 1782 wird er Magister und kehrt dann 1783 in seine engere Heimat zurück; er wird Hilfsprediger (Substitut), dann, nach dem Tod des Hauptpastors Montag, dessen Nachfolger in der Gemeinde Wohlmirstedt, nicht weit von Bibra entfernt unterhalb der Finne-Berge am Rand des Unstruttales

Archiv Weimar, Weimar, 7. August 1937" (GSA 100/1219) - Im übrigen behauptet Elisabeth Förster-Nietzsche: „ M e i n e m Bruder waren die [...] Kirchenbuchnachrichten genau bekannt, da er im S o m m e r 1866 selbst in Bibra war, u m in Kirchenbüchern u n d Archiven Nachforschungen anzustellen. Leider sind mir die Resultate nicht deutlich in der E r i n n e r u n g geblieben, da der S o m m e r 1866 ein sehr bewegter Kriegssommer war, a u ß e r d e m in N a u m b u r g die Cholera einzog. [...] In d e m Strom der großen Ereignisse verschwand der kleine Ausflug nach Bibra, für dessen Resultate ich mich auch nicht so lebhaft wie mein Bruder interessierte." (in „Die Z u k u n f t " , ebd. 577) - Vgl. Friedrich Nietzsche an Heinrich von Stein, Dez. 1882: „[...] meine Vorfahren waren polnische Edelleute, noch die M u t h e r meines Großvaters war Polin." (KSBG, 287) — Wenn ü b e r haupt, könnte n u r die Großmutter des Großvaters polnischer H e r k u n f t sein! 9 3 I. D . Vörckel, „ A n d e n k e n . . . " (GSA 100/40), ebd. 28. 94 Johann August Ernesti (1701-1781), 1734-59 R e k t o r der Thomasschule, ab 1742 auch Prof. der klassischen Philologie, der Eloquenz (1756), der Theologie (1759) an der Leipziger Universität — Werke: „Verteidigung des Willkürlichen in der Religion" (1765); „Christliche Predigten zur Verherrlichung Gottes u n d Jesu Christi" (1768-82); „Von der christlichen Disziplin" (1773). 95 Samuel Friedrich Nathanael M o r u s (1736-1792), ab 1768 Prof. der lateinischen u n d griechischen Sprache, ab 1782 Prof. der Theologie an der Leipziger Universität (als Nachfolger Ernestis); Hauptwerke: „Epitomae theologine christianae" (1789). 96 Georg Zollikofer (1730—1788), geb. in St. Gallen, zunächst Pfarrer in M u t t e n (Schweiz), seit 1758 Prediger an der reformierten G e m e i n d e in Leipzig; Werke: „Einige Betrachtungen über das Uebel der Welt" (1777); „Predigten über die W ü r d e des M e n s c h e n " (1783); „Andachtsübungen u n d G e b e t e " (1785). 97 I. D. Vörckel, „Andenken . . . " (GSA 100/40), ebd., 28.

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gelegen. 98 Dort hat die Familie von Witzleben, ein altes thüringisches Adelsgeschlecht, weitläufige Besitzungen, und es ist für Friedrich August Ludwig Nietzsche ein glücklicher Zufall, daß ihn mit dem Patronatsherrn der Wohlmirstedter Kirche, dem späteren Adjunkt des Salinendirektors von Hardenberg in Weißenfels, Georg Hartmann von Witzleben, schon recht bald eine dauernde Freundschaft verbindet"; von diesem hochgebildeten, geistig umfassend interessierten Adelsherrn wird er in allen Belangen des geistlichen Amts unterstützt und gefördert, insbesondere bei dem, was bald seine Herzensaufgabe und sein wichtigstes Anliegen ist: die Verbesserung des dörflichen Elementarschulwesens. Er setzt sich für eine Vermehrung der Unterrichtsstunden und die Erweiterung des Lehrstoffes ein, wobei ihm ganz besonders die Verstärkung des Katechismus-Unterrichts bedeutsam scheint. Wichtig ist ihm aber auch, für eine bessere Ausbildung der Lehrerschaft zu sorgen; in Wohlmirstedt gelingt es ihm, dem alten Dorfschullehrer einen jüngeren, „modernen" Pädagogen als Substitut beizuordnen — er führt ihn nicht, wie sonst üblich, im Schulhaus, sondern aufs feierlichste in der Kirche ein, um auf diese Weise demonstrativ seine „Achtung für den Schulstand" deutlich zu machen. 100 Neben diesen Bemühungen auf dem erzieherischen Gebiet, neben seinem Predigt- und Seelsorgeamt ist Friedrich August Ludwig Nietzsche während jener zwanzig Jahre, die er in Wohlmirstedt verbringt, immer wieder und mit einigem Erfolg schriftstellerisch tätig101, und es ist durchaus denk-

98 Vgl. Hermann Grössler, Führer durch das Unstruttal, ebd., 50 ff. sowie Autorenkollektiv (Lt. Hans Kugler und Werner Schmidt), Das Gebiet an der unteren Unstrut (Akademie der Wissenschaften der D D R , Institut für Geographie und Geoökologie, Arbeitsgruppe Heimatforschung, Bd. 46), Berlin 1988, 61 ff. 99 Ein Vorfahre ist Heinrich von Witzleben, der, wie später noch ausfuhrlich dargestellt wird, die nahe gelegene Klosterschule Roßleben gründet, die Carl Ludwig Nietzsche ab 1828 besucht. Georg Hartmann von Witzleben ist zu dieser Zeit, wie gleichfalls noch beschrieben wird, zu jener Zeit „Erbadministrator" der Schule. 100 Vgl. „Rede bey der Einführung Herrn Johann Wilhelm Riedels als Schullehrer-Substituten zu Wollmerstädt, in dasiger Kirche gehalten", in: F. A. L. Nietzsche, „Beyträge zur Beförderung ...", ebd. 454 - F. A. L. Nietzsche faßt seine Erfahrungen und Ratschläge in folgender Schrift zusammen: „Die höchst nöthige Verbesserung der Dorfschulen. Ein freymüthiges Wort für alle diejenigen, die etwas zur Verbesserung dieser Schulen beytragen wollen oder dürfen", Leipzig bei Göschen, 1792. 101 In Wohlmirstedt entstehen, neben der Schul-Schrift, folgende Werke: 1. „Vertheidigung der Echtheit des zweiten Petrusbriefes insbesondere gegen Grotius, von Nietzsche, „Magister der freien Künste und Pastor in Wohlmerstedt. Leipzig bei Harg Witwe", 1785. 2. „Uber Vorzüge, Beschwerden u. Trost im Alter. Auf besondere Veranlassung zum weitern Nachdenken und zur Beruhigung für gutgesinnte Greise geschrieben von F. A. L. Nietzsche, Prediger zu Wollmerstedt i. Thüringen", Leipzig bey Carl Friedrich Schneidern 1789. 3. „Gamaliel, oder über die immerwährende Dauer des Christenthums, zur Belehrung und Beruhigung bei der gegenwärtigen

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bar, daß ihm sein R u f als theologischer Autor einige Vorteile verschafft, als er sich, gemeinsam mit zahlreichen anderen Aspiranten, im Jahre 1803 um die Stelle des Superintendenten und Oberpfarres an der Stadtkirche St. Nicolai in Eilenburg bewirbt und nach langen, eingehenden Erörterungen innerhalb des Rates der Stadt als Nachfolger des Pastors Christian Gottfried Heinrich dieses Amt antreten und bereits im Juli seine Vorstellungspredigt halten darf.102 Die Eilenburger Autoritäten bemerken sehr schnell, daß sie eine gute Wahl getroffen haben - Friedrich August Ludwig Nietzsche erfüllt „alle Pflichten, die ihm als Mensch, als Christ, als Freund, als Familien-Vater und in jedem Verhältnisse seines hohen Berufstobliegen], mit der seltensten Treue". 103 Auch in Eilenburg widmet er sich mit besonderer Kraft dem Ausbau des Schulwesens, wobei er sich, gemeinsam mit dem Bürgermeister Dr. Kranold, vor allem für die bessere schulische Ausbildung der Eilenburger jungen Mädchen engagiert; er erreicht, daß der Marstall, „ein schönes und erst 50 Jahre altes Raths-Gebäude" 104 , zum Mädchenschulhaus „mit zwey Klassen und Wohnungen für zwey Lehrer" 105 um- und ausgebaut wird. In den Wirren und Nöten der Befreiungskriege ist Friedrich August Ludwig Nietzsche seiner Gemeinde stets ein geduldiger, tröstender Ansprechpartner, der auch konkrete Hilfe zu leisten versteht und beispielsweise, wie er selbst berichtet, „in dem schrecklichen Kriegsjahre 1813 besonders durch den edeln Jungfrauen-Verein in Leipzig in den Stand gesetzt [wird], die Bewohner meines damals so unglücklichen Gerichtsdorfs Kültzschau nicht nur, sondern auch mehrere von den Herren Predigern meiner Ephorie, die durch Plünderung, Einquartierung und sonst unglaublich viel gelitten haben, mit den beträchtlichsten Wohlthaten unterstützen zu können". 106 Weit stärker als seine Predigten und gelehrten Abhandlungen sind es wohl diese in Kriegszeiten praktisch sich bewährenden karitativ-humanitären Impulse, die ihm die tiefe Verehrung der Eilenburger Bevölkerung, der Stadt-Autoritäten und der ihm untergebenen Amtsbrüder einbringen, so daß der Pfarrer Georg Heinrich Friedemann Weigand, Pastor in den Nachbardörfern Battaune und Wöllnau, folgende schöne Laudatio formulieren kann, nachdem der Friede endlich wieder eingekehrt ist: „Es ist Dir nämlich jenes menschliche Verstehen, jene Milde und Güte zueigen, die nur dem Herzen derer innewohnt, die durch die festen Bande der

102 103 104 105 106

Gärung in der theologischen Welt von Nietzsche, Prediger zu Wohlmerstadt in Thüringen". Leipzig, bei Supprian, 1796. Vgl. Chronik der Stadt Eilenburg, ebd., 140. Ebd. Chronik der Stadt Eilenburg, ebd. 51. Ebd. Friedrich August Ludwig Nietzsche, „Uber Beschaffenheit, Zweck und Geist ...", ebd., 12 (Anm.).

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Liebe verbunden sind. Jene Sorge, jener Eifer ist Dir zueigen, der sich immer freut, das, was wir scheinbar entbehren, zu erforschen und aufzusparen, und sich eilends bemüht, unseren Wünschen durch Ratschläge und Wohltaten zuvorzukommen. Du besitzest jene Weisheit, die, weil sie rechtzeitig eingreift, auch uns, die wir vorsichtig und vorausschauend auf geradem, sicherem Pfade durch die Engpässe und das Dornengestrüpp der menschlichen Gemeinschaft geführt wurden, an dem glücklichen Ausgang sich freuen läßt. Du besitzest jene Kenntnis und feine Beredsamkeit der Bildung, die dem Gedanken eine so große Uberzeugungskraft eingibt, daß der Wunsch, auf Deiner Seite zu stehen, umso leichter und bereitwilliger sich einstellt, als auch feste und tatsächliche Gründe dafür sprechen. Redlichkeit der Lebensführung und RechtschafFenheit des Denkens sind Dir zueigen. Ehrfurcht vor Gott und Fürsorge für Deine Familie, sowohl für die geliebte Gattin wie auch für die Kinder, die in Deine Fußstapfen treten. [...] Du lebst in einer Gemeinschaft, in einer selbstverständlichen freundschaftlichen Vertrautheit mit anderen, die, weil sie uns wünschen läßt, unser Leben nach dem Beispiel des Deinigen aufzubauen, uns unseres Amtes würdig macht, das uns von Gott übertragen ist, so lange nur unser Bemühen lebendig ist, Dein Leben nachzuahmen." 107 Diese Eloge wird anläßlich eines Ereignisses verfaßt, das für Friedrich August Ludwig Nietzsche von besonderer Bedeutung ist und einen Höhepunkt seiner geistlichen Laufbahn markiert: Im Jubeljahr der Reformation verleiht ihm die Königsberger Universität den Titel eines Ehrendoktors der Theologie, so daß er „am 14. November 1817 10 Uhr" dem „Hochedlen Rath der Stadt Eilenburg" sehr stolz und im Herzen bewegt mitteilen kann: „Ganz ohne alles mein Suchen und Erwarten hat sich die theologische Fakultät zu Königsberg, bey den am Reformationsjubelfeste daselbst veranstalteten Universitätsfeierlichkeiten, bewogen gefunden, mich zur Würde eines Doctors der Theologie zu erheben. Indem ich es für meine Schuldigkeit halte, die Nachricht hiervon, die mir diese Woche zugekommen ist, zuerst und vorzüglich Eur. Hochedlen Rath, als meinen verehrungswürdigen Herrn Kirchenpatronen, mitzutheilen, so lege ich zugleich einen Abdruck von dem erhaltenen Doctor-Diplom bey."108

107 „Über die notwendige Eintracht zwischen Lutheranern und Reformierten. Eine vermittelnde Untersuchung, mit der die Diener am Worte Gottes der Diözese Eilenburg durch den Pastor Georg Heinrich Friedrich Weigand, Pastor von Battaune und Wöllner dem hochzuverehrenden Friedrich August Ludwig Nietzsche Doctor der Theologie, Superintendent und Oberpfarrer in der Stadt Eilenburg im Herzogtum Sachsen ihre erfurchtigen Glückwünsche zur höchsten theologischen Auszeichnung darbringen." Leipzig, Druck von Carl Tauchnitz (GSA 100/45). 108 Stadtarchiv Eilenburg (337, 1817) - Daß es gerade die Königsberger Universität ist, die ihm diesen Titel verleiht, mag durchaus auf persönliche „Beziehungen" zurückgehen: Johann Friedrich Krause (1770—1820), der Bruder seiner Gattin Erdmuthe, ist zu jener Zeit (bis 1818) Theologieprofessor an der Universität in Königsberg.

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Wie stark er diese ihm verliehene hohe Auszeichnung auch als Bestätigung dafür auffassen mag, daß er seines geistlichen Amtes nach außen erfolgreich, souverän und sicher zu leben vermag, so ist doch Friedrich August Ludwig Nietzsche innerlich niemals ganz frei von all den Bedenklichkeiten, Zweifeln und Irritationen, die zu seiner Zeit fast jeden protestantischen Prediger bewegen und verstören, da die ursprünglich so klaren, eindeutigen lutherischen Lehren, ja überhaupt die Grundlage allen Christentums, der Glaube an Gott und seine Offenbarung in dem Sohne Jesus Christus, längst schon ins Wanken geraten sind und nun, in einer wirren Vielzahl theologisch-philosophischer Systeme und Gedankengebäude, der zuweilen recht verzweifelte Versuch unternommen wird, die in sich ganz unvernünftige, den Gesetzen der sichtbaren Welt und der Natur vollständig widersprechende christliche Botschaft zu rechtfertigen, zu retten oder zu versöhnen mit der großen, unaufhaltsam fortschreitenden Tendenz der Zeit, nämlich diesem neuen, rational sich gebärdenden Glauben an eine allseits wirkende Vernunft, die den Kosmos regiert und den Menschen gestattet, dessen Gesetze klar zu erkennen, ihnen letztlich aber auch die Einsicht in die Widervernünftigkeit der christlichen Offenbarung und der kirchlichen Dogmen verschafft und den Versuch heraufbeschwört, das Christentum im Namen der Vernunft endgültig zu zerstören. Es ist diese fundamentale Glaubensunsicherheit, die auch den Pfarrer Friedrich August Ludwig Nietzsche ängstigt und aufs stärkste bewegt, wenn er zu Beginn einer Predigt über Johannes 20, 19-31, klagend bemerkt: „[...] man weiß ja jetzt fast gar nicht mehr, was man in Religionssachen glauben soll, jeder hat eine andere Meynung und Vorstellung, und das oft selbst in solchen wichtigen und tröstlichen Lehren, worinnen wir doch zur Beförderung unserer eigenen Tugend und Gemüthsruhe alle auf das genaueste übereinstimmen sollten."109 Natürlich weiß er sehr genau, daß seinem protestantischen Glauben, den er sonntäglich verkünden muß, kein einheitliches Denk- und Dogmensystem allgemeingültig und absolut bindend zugrunde liegen kann, war doch schon bald, nachdem die ursprünglich so kraftvolle lutherische Lehre zur toten, lebens- und menschenfremden Orthodoxie erstarrt war, der zunächst allen Gottesgelehrten gemeinsame Impuls zur Erneuerung des protestantisches Geistes auf paradoxverhängnisvolle Weise zum Ausgangspunkt einer folgenschweren Feindschaft und Haß erzeugenden Trennung geworden: den einen konnte die renovatio des evangelischen Glaubens nur als ein Weg nach „innen" erscheinen, als Einstimmung auf einen gleichsam mystischen Akt der individuellen Bekehrung, als Abkehr von der gottesfernen Welt und ihrer sündendurchtränkten menschlichen Ordnung, vor der man sich im Konventikel der Erweckten schützen und bewahren wollte; die anderen jedoch hatten den Weg nach „außen" beschritten und gerade in der Hin-

109 Friedrich August Nietzsche, „Beyträge zur Beförderung ...".

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Wendung zur Welt, in der Durchdringung der Gesellschaft mit christlichen Werten, also in einer Verchristlichung der großen und der kleinen Lebenspraxis eine Möglichkeit erblickt, den Glauben zu bewahren oder wieder lebendig werden zu lassen; auch wenn diese Theologen niemals den alten lutherischen Offenbarungsglauben aufgeben wollten, so war ihnen doch das daraus abgeleitete dogmatische System bei weitem nicht so wichtig wie die Entwicklung eines christlichen Tugendkatalogs, und indem sie durchaus auch bereit waren, eine kritisch-philologische Betrachtung des Dogmas zuzulassen oder sogar zu befördern, gerieten sie ganz ohne Zwang in die Nähe der bald so wirkungsmächtigen Philosophie der Aufklärung, die im Namen einer universellen Vernunft das als widervernünftig erklärte christliche Dogmengespinst grundsätzlich in Zweifel zu ziehen begann. Wie immer nun die Glaubensskrupel und Bedenken des Superintendenten Friedrich August Ludwig Nietzsche auch im einzelnen gestaltet sein mögen - seit seinem Studium in Leipzig befindet er sich auf dem zweiten Weg, wie seine Predigten und Schriften deutlich zeigen; er ist im Grunde seines Intellekts und seines Herzens davon überzeugt, daß die rechte evangelische Gottesverehrung sich nicht im starren Festhalten am Dogma erweist, sondern in der „Lebensverbesserung, in einer aufrichtigen, d. h. tätigen Liebe zu Gott, in der Bekämpfung der Unvernunft und des Lasters, in der fleißigen Übung der christlichen Pflichten und Tugenden" no , wie sie zum Beispiel sein berühmter Amtsbruder Johann Joachim Spalding, Prediger an St. Marien und St. Nicolai zu Berlin, in einer Art von Lehrgedicht aufs deutlichste benennt: Wer bin ich? Welche wichtige Frage! Gott, lehre sie mich recht verstehn. Gieb, daß ich mir die Wahrheit sage Und laß mich achtsam auf mich sehn. Wer sich nicht selbst recht kennen lernt, Bleibt von der Weisheit weit entfernt. Dein Wille ist's, o Gott! Ich soll mich selber lieben O laß mich diese Pflicht Nach deiner Vorschrift üben Und schränke selbst den Trieb, Froh und beglückt zu sein, Den du mir eingepflanzt In heil'ge Grenzen ein.

110 Karl Barth, Die Protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte, Zürich 1994 (6. Auflage), 74f.

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Des Leibes warten und ihn nähren, Das ist, o Schöpfer! meine Pflicht Mutwillig seinen Bau vermehren Verbietet mir dein Unterricht. O stehe mir mit Weisheit bei, Daß diese Pflicht mir heilig sei. Du hast uns, Herr, die Pflicht Zur Arbeit auferleget Und Fleiß in dem Beruf Uns ernstlich eingepräget. Der träge Müßiggang Ist Dir, o Gott, verhaßt Für uns der Laster Netz Und unserm Nächsten Last. Andern zu Gefallen lügen, Leeren Schwätzern gleich zu sein Heuchelnd Brüder zu betrügen, Herr! Das falle mir nie ein! Wahrheit leit' an allen Orten Mich in Werken und in Worten. Redlich sei des Herzens Grund, Redlich spreche auch mein Mund. 111 Demut, Pflege der Seele und des Leibes, Arbeitsamkeit, Nächstenliebe, Gerechtigkeit, Friedfertigkeit und Sanftmut, Dienstfertigkeit, Barmherzigkeit, Wahrheit und Aufrichtigkeit — die hier von Spalding programmatisch vorgeführten Tugenden werden auch von Friedrich August Ludwig Nietzsche immer wieder in seinen Predigten und Schriften als der christlichen Existenz gemäß benannt und dem gläubigen Gemüt nachdrücklich abgefordert, wobei er sich vielleicht nicht eingestehen mag, daß dieser Sittenkodex durchaus ganz ohne religiöse Grundierung wirksam werden könnte, da er doch, philosophisch gesprochen, im Grunde einer weltlichen Glückseligkeitslehre entspricht, deren Eudämonismus sich kaum noch mit dem alten protestantisch-biblischen Verdikt vom irdisch unglücklichen, im Jammertal der Welt gefangenen Menschen in Ubereinstimmung bringen läßt. Noch ferner mag ihm die Erkenntnis sein, daß diese schönen Lebensmaximen nicht etwa jenseits menschlicher Geschichte liegen, sondern, soziologisch gesprochen, als moralisch-ideologischer Ausdruck der im politischen Aufbruch sich

111 Zit. nach Karl Barth, ebd., 75.

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befindenden bürgerlichen Klasse einer ganz bestimmten historischen Entwicklung entsprechen, keineswegs also ewig und allgemeingültig sind. Er muß zugleich die große Widersprüchlichkeit vergessen, die immer dann zutage tritt, wenn diese christlich-aufklärerische Tugendlehre in der Glaubens- und Lebenserziehung praktisch zur Wirklichkeit gelangt - denn wenn man auch mit einem hohen, aufklärerisch gesteigerten pädagogischen Impuls ganz selbstverständlich davon überzeugt ist, daß jedes Kind zu einem christlich-tugendhaften Menschen erzogen werden kann, so geschieht dies aber keineswegs in Friedfertigkeit, Demut und Nächstenliebe, sondern mit Zwang und mittels Unterdrückung all jener angeblich tugendwidrigen, bösen Triebe, die der Entwicklung zum guten Individuum scheinbar entgegenstellen. Die kindliche Revolte, der Eigensinn, der Freiheitsdrang — das alles muß im pädagogischen Prozeß mit harter Hand beseitigt werden, so daß sich am Ende die Einübung in Glaube und Tugend als ein Prozeß der Repression erweist, in dem der unbedingte Gehorsam des Kindes den obersten Rang einnimmt und somit Aufklärung und Gewalt sich unheilvoll und widersinnig miteinander verbinden. Es ist kaum anzunehmen, daß dem Pfarrer Friedrich August Ludwig Nietzsche dieses grundsätzliche Dilemma der aufklärerischen christlichen Pädagogik, die er ja selbst in seiner Familie und an seinen Kindern exekutiert, in seiner ganzen Schärfe ins Bewußtsein kommt — wie er wohl nur eine dunkle Ahnung davon haben mag, daß jene Theologie, die diese erzieherische Theorie und Praxis legitimiert, einen Weg vorzeichnen könnte, an dessen Ende sich das Christentum auflöst in eine allgemeine, ganz beliebige, von jeder Transzendenz getrennte „bürgerliche" Sittenlehre. Er selbst ist allerdings noch nicht bereit, den der Vernunft zuwiderlaufenden Glauben an die Offenbarung vollständig aufzugeben, sondern nur die als sekundär, unwesentlich begriffenen dogmatischen Lehrsätze auf den Bestand dessen zusammenzustreichen, was man im Sinne einer Religion der Vernunft (oder vernünftigen Religion) als notwendig erachtet, „nämlich auf die Ideen von Gott, von der Freiheit oder Moral und von der Unsterblichkeit". 112 Dieser theologische Reduktionismus kommt sehr klar zum Ausdruck in jener Predigt, die Friedrich August Ludwig Nietzsche fur den ersten Sonntag nach Ostern (Quasimodogeniti) entwirft, und in welcher er seiner Gemeinde erklären will: „Was wir alle zu thun haben, wenn wir unter den jetzt lebenden Menschen eine so auffallende Verschiedenheit in ihren Religionsmeynungen bemerken." 113 Man muß vor allem „das Wichtige vom Unwichtigen, das Notwendige vom Entbehrlichen unterscheiden lernen. [...] Daß z.B. ein Gott über uns lebt, daß

112 Karl Barth, ebd., 143. 113 Friedrich August Ludwig Nietzsche, „Beyträge zur Beförderung ...", Sechste Predigt, ebd., 125-148.

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dieser Gott ewig, unveränderlich, allgegenwärtig, allwissend, allmächtig, weise, heilig, gerecht, gütig, barmherzig und wahrhaftig ist; daß er die Welt erschaffen hat und noch erhält — daß er uns alle als unser Vater liebt und als Vater für uns sorgt; daß er sich um alle unsere Angelegenheiten und Schicksale bekümmert, alle unsere Schicksale zum Besten leitet und uns alle in Zeit und Ewigkeit glücklich zu machen sucht, das ist in der Lehre von Gott das Wichtigste, und das müßt ihr alle wissen und alle glauben. [...] Wie aber dieser Gott über uns lebt; was er für eine Natur und für ein Wesen hat; wie er ewig, allgegenwärtig und allwissend ist; wenn, in welchem Zeitraum und auf was für eine Art und Weise er die Welt schuf; wie er für uns sorgt und wie er alle unsere Schicksale zum Besten leitet; ob er dieses nach einem ewigen festgesetzten und unabänderlichen Plane thut, oder ob er alle Augenblicke in die Räder der Weltmaschine eingreift [...], das ist in der Lehre von Gott das weniger Wichtige, und das kann euch allen unbekannt bleiben, ohne daß sich dadurch eure Gesinnungen gegen Gott nur im Geringsten umändern dürften. Ebenso verhält es sich auch mit der Lehre von Christo. Daß Jesus Christus in der Welt war, daß er von Gott [...] kam, daß der den edelsten und menschenfreundlichsten Charakter hatte; daß er die vortrefflichste Religion verkündete; daß er zur Vergebung der Sünden am Kreuze starb; daß er am dritten Tage nach seiner eigenen Vorhersagung von den Todten auferstand [...], das ist in der Lehre von Christo das Wichtige. Und das müßt ihr ebenfalls alle wissen und alle glauben. [...] Wie aber dieser Jesus von Gott kam, wie er Mensch und doch zugleich der Sohn Gottes und Gott selbst war; wie sein Tod Vergebung der Sünden bewirkt; wie er wieder von den Todten auferstand, und wo nun eigentlich der Ort ist, in welchen er wieder zurückkehrte [...], das alles ist in der Lehre von Christo das weniger Wichtige, und das braucht ihr ebenfalls wieder nicht zu wissen, ohne daß dadurch eure Achtung gegen Jesum und euer Glaube an die Wahrheit des Christenthums nur das Geringste verlieren sollten. - Dieses Wichtige und weniger Wichtige in der Religion, dieses Nothwendige und Entbehrliche müßt ihr den nun überall gehörig unterscheiden lernen. Bey jeder Lehre müßt ihr die Frage aufwerfen: was ist hier das Wesentliche, was ist für meinen Glauben das Nothwendigste und Brauchbarste, was hat auf meine Tugend, auf meinen Gehorsam gegen Gott, auf meine Liebe zu Jesu, auf das Bestreben immer weiser und besser zu werden, und auf meine Beruhigung und Hoffnung den allermeisten Einfluß? Muß ich denn durchaus wissen, wer der heilige Geist ist, wie er vom Vater und Sohne ausgeht und wie er mir Kräfte zum Guten giebt? Ist es nicht genug, wenn ich nur das zu meinem Tröste weiß, daß mich Gott durch seinen Geist zu allem Guten leiten, und mir auf dem Pfade der Weisheit und Tugend immer weiter vorwärts helfen will?"114

114 Friedrich August Ludwig Nietzsche, „Beyträge zur Beförderung ...", ebd., 135fF.

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Wenn Friedrich August Ludwig Nietzsche hier also einerseits am Kernbestand der christlichen Botschaft, nämlich der Lehre von der Trinität, mit allem Nachdruck festhalten will und seiner Gemeinde hinsichtlich dieser zentralen Aussage einen absoluten, hingebungsvollen Glauben, also doch immer noch das altprotestantische „credo quia absurdum" abfordert, so ist er andererseits ganz ohne Skrupel bereit, die dogmatischen Ausformungen des Christentums als beiläufigakzidentiell und für den einzelnen Gläubigen nicht wichtig abzutun - um auf diese Weise alle theologischen Konstrukte (allen „Aberglauben") zu beseitigen, die den als „natürlich" angenommenen Hang des menschlichen Geistes zu Religion und Gottesverehrung behindern und aufhalten könnten. In diesem Sinne ist für ihn „Aufklärung" kein Feind des Christentums, sondern eine willkommene Hilfe, wie er denn in einer Predigt zum Dritten Sonntag nach Trinitatis (über Lukas 10, 23-37) unter dem Titel „Wie sehr das Christenthum der Aufklärung geneigt und günstig ist"115 programmatisch und mit großer Beredsamkeit verkündet: „Durch Nachdenken über den Menschen, durch Nachdenken über seine Natur, über seine Anlagen und Kräfte und über seine Bestimmung, hatte man es nemlich einsehen lernen [!], daß der Mensch, als ein vernünftiges Geschöpf, nicht etwa die ganze Zeit seiner Dauer hindurch auf ein und derselben Stufe von Erkenntnis stehen bleiben, sondern vielmehr seine Kenntnisse vermehren, seine Einsichten erweitern, seine Irrthümer ablegen, seinen Aberglauben aufgeben, seine Vorurtheile besiegen, seine Begriffe, zumal in Religionssachen, läutern und berichtigen, oder mit einem Worte seinen Verstand von Zeit zu Zeit immer mehr aufklären müsse. Weil man nun aber glaubte, daß das Christenthum diesem allen entgegen sey und entgegen arbeitete, so haßte man es, setzte es auf alle Weise herab, fing sogar an, die Wahrheit und Göttlichkeit desselben zu bezweifeln und hätte es, zumal in unseren Tagen, gerne gesehen, wenn man es mit einer ganz anderen Religion und namentlich mit der sogenannten Venunftreligion hätte vertauschen können: So wie man aber das Christenthum von jeher immer ganz ohne Grund getadelt. [...] Es gab nemlich ehemals [...] solche Männer, welche die Aufklärung in jeder Art und besonders in Religionssachen auf alle Weise zu verhindern suchten. Theils hatten diese Männer von dem Christenthume noch höchst unvollkommene und oft falsche Begriffe und Vorstellungen; theils aber standen sie auch in dem thörichten Wahne, als wenn ein gar zu großes Licht in der Religion die Menschen nur blenden, sie nur leichtsinnig und gedankenlos machen, sie nur in ihrem bisherigen warmen Eifer für Gott und Tugend ungemein erkälten [...] und ihnen sonach weit mehr schaden thun als Nützen verschaffen würden. Daher setzten sie sich denn nun der Aufklärung auf alle Weise entgegen; suchten die Menschen immer in einem gewissen Grade von Unwissenheit und Dummheit zu erhalten. [...] Nein,

115 Ebd., Dritte Predigt.

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das Christenthum ist so wenig ein Feind der Aufklärung, daß es vielmehr derselben in mehr als einer Rücksicht überaus geneigt und günstig ist, daß, wenn die Menschen nur immer ihre Würde fühlten, nur vernünftig handelten [...], gewiß alle die Unwissenheit und der Irrthum und der Aberglaube, der bisher noch so viele Christen erniedrigt und geschändet hat, gar bald von dem Erdboden vollends würde vertilgt werden." 116 Zwar ist der Pfarrer Friedrich August Nietzsche, im Gegensatz zu einigen seiner „fortschrittlichen" Amtsbrüder, keineswegs bereit, an die Stelle des Christentums eine Religion der Vernunft zu setzen (also die Vernunft zu vergöttlichen und den christlichen, geoffenbarten Gott auf dem Altar einer vermeintlich siegreichen ratio zu opfern) — dennoch ist er davon ganz überzeugt, daß der rechte Gebrauch der dem Menschen immer schon gegebenen Vernunft den Glauben nicht beseitigt, sondern, im Gegenteil, eher ergänzt, reinigt und erst recht eigentlich zum Strahlen bringt, da sie hilft, die Irrtümer und den Aberglauben vergangener dunkler Zeiten zu beseitigen und den wahren, klaren, substantiellen Kern des Christentums erhellt und endlich sichtbar macht. Allerdings kann für ihn diese Aufklärung nie End- oder Selbstzweck, sondern stets nur das philosophische Mittel sein, mit dessen Hilfe das letztendlich Entscheidende, die „vernünftige" Hinwendung zu Gott, in der gläubigen Seele gefördert und befestigt wird. Im Angesicht des Todes und der „letzten Dinge" bleibt aber alle Philosophie, alle kluge Reflexion des Intellekts, alle „Aufklärung" weit zurück hinter dem allein trostreichen, von der Vernunft ganz ungebrochenen Glauben an Gott und Christi Verheißung ewiger Glückseligkeit. So gibt denn Friedrich August Ludwig Nietzsche in seiner Schrift über „Vorzüge, Beschwerden und Trost im Alter", die seinem greisen Vater gewidmet ist, die letzten Gedanken eines seiner „edelsten Freunde" wieder: „Sterbend sprach er zu einem seiner Freunde, der eben gekommen war, um ihn sterben zu sehen: geben Sie allen meinen Freunden und Bekannten die Lehre, die Philosophie beständig zu studiren, denn sie macht geistvolle und denkende Menschen. Aber die christliche Religion muß die Hauptsache des Menschen bleiben. Der Mensch ist so oft ein Kind, er hat unmittelbaren Befehl nöthig, und den giebt ihm die Religion. Ich selbst würde mich jetzt in Ansehung der Hoffnung meiner Unsterblichkeit in der größten Verlegenheit befinden, woferne mir nicht die Religion die zuverlässigste Befriedigung darüber ertheilte. Denn einen philosophischen Beweis dafür wäre ich jetzt nicht mehr imstande zu durchdenken" — Und dieser philosophische Beweis für die Unsterblichkeit der Seele würde auch gewiß ohne Beyhülfe des Christenthums [...] nicht sonderlich überzeugend ausfallen können. Denn eben durch das, was uns Christus von Gott und von den Menschen gelehrt hat, erhalten erst alle philosophischen Beweise für die

116 Ebd., 61 ff.

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Unsterblichkeit unserer Seele ihre volle Kraft und Stärke und Gültigkeit. Wer Philosophie und Christenthum gnau kennt, und beyde mit einander vergleicht, der wird mir Recht geben." 117

117 Friedrich August Ludwig Nietzsche, „ Ü b e r Vorzüge, Beschwerden u n d Trost . . . " , ebd., 3 3 (Anm.) - Innerhalb der protestantischen Theologie-Geschichte könnte m a n Friedrich August Ludwig Nietzsche, wie die meisten seiner Leipziger Freunde u n d Lehrer (insbesondere Zollikofer), der „Neologie" zuordnen. Die Neologen, die vor allem zwischen 1740 u n d 1790 wirksam sind, halten grundsätzlich an der Wirklichkeit u n d Notwendigkeit einer außerordentlichen göttlichen O f f e n b a r u n g fest, allerdings ist es ihnen als Zeitgenossen der Aufklärung d a r u m zu tun, die U b e r p r ü f u n g u n d R e c h t fertigung der einzelnen D o g m e n vor der Vernunft u n d d e m „moralischen Bewußtsein" einzuleiten - mit weitreichenden Folgen: „Glaube u n d Religion w u r d e n von der T h e o l o g i e geschieden, zwischen Bibel u n d D o g m a wird eine klare Abgrenzung gezogen, n u r noch die Lehre der Schrift soll gelten. [...] Aus diesem biblizistischen P r i n zip [...] u n d der kritischen Arbeit am Bibeltext [...] folgern die Neologen, daß die Bibel unmöglich in ihrer Gesamtheit für das C h r i s t e n t u m bindend sein könne. Indem n u r das gelten soll, was zur .geistlichen Aufbesserung' dient, wird der altprot. Begriff des Wortes Gottes u n d des Kanons aufgelöst. [...] Moralisch sind das Verständnis der Kirche u n d des Predigtamtes. An der Kirche werden ihre Sichtbarkeit u n d ihr menschlich-gesellschaftlicher Charakter betont; jedes hierarchisch-sakramentale Kirchenverständnis liegt dieser Generation fern. D a r u m steht das Predigtamt unter d e m Zeichen seiner allgemeinen Nützlichkeit. Da das Menschlich-Natürliche eigentlich d e m Christlichen gleichzusetzen ist, wird die natürliche Religion i m m e r da am besten erkannt, w o das Licht des Evangeliums die Geister aufgeklärt hat [...] In diesem Sinne b e m ü h t e n sich daher die N e o l o g e n u m den Kern der biblischen Lehre, bes. u m die Gestalt Jesu, indem sie die einzelnen dogmatischen Aussagen auf ihre Brauchbarkeit fur das zeitliche u n d ewige Glück der Menschen hin überprüften. Dabei w u r d e n eine ganze R e i h e von Lehrsätzen wie der von der Erbsünde, der Ewigkeit der Höllenstrafen, der Verdammnis der Heiden oder d e m dreifachen A m t Christi beiseite geschoben u n d praktisch aufgegeben." (Die Religion in Geschichte u n d Gegenwart, 5. Band, Tübingen 1961, 794f.) - Die Neologie geht z.T. in ihre Radikalisierung, den theologischen „Rationalismus " über, der den Offenbarungsglauben des Christentums vollständig aufgeben will. D e r Offenbarungsgehalt der Bibel beschränkt sich auf die Person des Menschen Jesus, der als die reinste Verkörperung der menschlichen Vernunft d e m Menschen ein allgemeingültiges Vorbild sein kann. Diese Vernunftreligion entsteht immer dann, w e n n der Mensch auf freie, vernünftige Weise den Geist Jesu in sich a u f n i m m t , wobei alle anderen D o g m e n u n d Traditionen gänzlich verworfen werden. - G e g e n beide D e n k schulen richtet sich der „Supranaturalismus": Teilweise in Adaption der kantischen Vernunftkritik vertritt er die These, daß die Bibel gerade dadurch „ w a h r " ist, daß sie der natürlichen Vernunft entgegengesetzt ist. Diese ihre Wahrheit kann allein v o m Glauben erfahren werden; in einem Akt der „ B e k e h r u n g " m u ß der Mensch allen Vernunftstolz ablegen u n d die O f f e n b a r u n g in einer Art von (irrationaler) Willensanstreng u n g anerkennen. D e r Supranaturalismus kehrt also zur „pietistischen" Glaubenshaltung zurück u n d schlägt gleichzeitig die Brücke zur „Erweckungsbewegung" des 19.Jahrhunderts. - Z u r Theologie Friedrich August Ludwig Nietzsches vgl. auch;

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Eilenburg

7. Der Anblick des Todes Wenn wir dem Zeugnis seines Amtsbruders Vörckel vertrauen wollen, so dürfen wir vermuten, daß Friedrich August Ludwig Nietzsche getreu seiner theologischen Erkenntnis mit den Tröstungen des Glaubens, der wider alle Vernunft und Philosophie zum christlichen Sterben verhilft, sein irdisches Leben beschließt. Ganz unbekannt ist uns jedoch, mit welchen Ängsten und Verwirrungen der zwölfjährige Sohn Carl Ludwig das Verdämmern des Vaters begleitet — wir wissen nicht, ob er das Gebets-Gestammel wahrnimmt und die Fieberphantasien hört, in denen Friedrich August Ludwig Nietzsche kaum noch verständliche „Anreden religiösen Inhalts"118 stockend artikuliert und einer imaginären Konfirmandenschar noch einmal einen geisterhaften Unterricht erteilt, dann immer wieder versucht, die Auferstehungsgeschichte nach dem Evangelisten Lukas zu rezitieren oder die letzten Verse seines Lieblingschorais „Herzlich lieb hab ich dich, o Herr" zu singen: Ach Herr, laß dein lieb Engelein an meinem End die Seele mein in Abrahams Schoß tragen. Der Leib in seim Schlakämmerlein gar sanft ohn einge Qual und Pein ruh bis zum Jüngsten Tage. Alsdann vom Tod erwecke mich, daß meine Augen sehen dich in aller Freud, o Gottes Sohn, mein Heiland und mein Gnadenthron. Herr Jesu Christ, erhöre mich, erhöre mich. Ich will dich preisen ewiglich.119 Es ist uns gleichfalls nicht bekannt, ob Carl Ludwig Nietzsche in der Todesstunde des Vaters, „16. März 1826 gegen 11 Uhr" 12