Walter Hasenclever: Eine Biographie der deutschen Moderne 9783110939828, 9783484350465


223 51 13MB

German Pages 420 Year 1994

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Einleitung
I Familiäre Herkunft
II 1890–1908 Kindheit und Jugend in
1. Milieu und Erziehung
2. 1899–1908 Gymnasiale Schulzeit
III 1908–1910 Frühe Studienzeit
1. Frühjahr – Sommer 1908 Oxford
a. Nirwana
2. Herbst 1908 – Frühjahr 1909 Lausanne
a. Das Reich
b. Nächtliche Flucht
3. Frühjahr 1909 – Herbst 1910 Leipzig Der 'neue Weg'
a. Städte, Nächte und Menschen
b. Um 75.000
c.Lyrik–Publikation im Aachener Almanach
IV 1910 Ungewollte Vaterschaft
V 1910–1914 Promotionsversuch in Leipzig
1. Entstehung und Werdegang der Dissertation
2. Inhalt und wissenschaftliche Bedeutung Brieipublikation Dichter und Verleger
VI 1911-1913 Leipzig
1. Kurt Wolff - Verleger des Expressionismus
2. Das Vorbild Max Reinhardt
3. Als Lektor des Emst Rowohlt-Verlages Frühe journalistische Arbeiten
4. Der Jüngling
5. Das unendliche Gespräch
6. Erste Filmarbeit Die Hochzeitsnacht
7. Im 'Kabarett Deutscher Dichter'
VII Der Sohn
1. Sommer–Dezember 1913 Entstehung
a. Erste Arbeiten
b. Vollendung und Publikation
2. Thematische Perspektiven
3. Aufführungsgeschichte bis 1918
VIII 1914 – Herbst 1917
1. Frühjahr 1914 und erste Kriegsmonate
2. Silvester 1914/15 Das Weimarer Konzil
3. 1915–1916 Aktivierung zum Heeresdienst Der Retter
a. Thematische Perspektiven
b. Publikationsversuch
4. Oktober 1916 – November 1917 Als Patient in einem Dresdner Sanatorium
a. Abschied vom Kriegsdienst
b. Antigone
c. Die Pest
d. Rückkehr ins Zivilleben
IX 1917-1924
1. Herbst 1917 In der Dresdner 'Felsenburg'
2. 1918
a. Die Menschen Suche nach einer neuen Ausdrucksform
b. Erneuter Publikationsversuch des Retter-Dramas
3. Herbst 1918 – Herbst 1919
a. Im revolutionären Deutschland
b. Die Entscheidung Zeugnis einer weltanschaulichen 'Umkehr'
4. Herbst 1919 – Herbst 1920 Jenseits
5. Herbst 1920 – Januar 1922
a. Mitherausgeber der Dresdner Zeitschrift Menschen
b. Gobseck Letzte Lyrikveröffentlichung Gedichte an Frauen
6. Winter 1921/22 – Herbst 1924
a. Swedenborg-Nachdichtung
b. Als Schauspieler in den Niederlanden Abschied von Deutschland
X 1924–1930 Als Journalist in Frankreich
1. Herbst 1924 'Reise nach Paris'
2. Mord – 'Dem Leben näher kommen'
3. Herbst 1924 – Frühjahr 1926
a. Eheliches Intermezzo
b. Journalistische Arbeiten
c. Frühjahr 1926 Berlin
4. Ein besserer Herr
a. Entstehung
b. Uraufführung
c. Verfilmung
5. Der Weg zur Komödie
6. 1926/27 Prosaversuche
7. 'Paneuropäischer Pazifismus'
a. Sechster Internationaler Friedenskongreß
b. Erster Internationaler Theaterkongreß
c. Antiamerikanismus und paneuropäisches
d. Deutsche Gegenwart
8. Kulissen
9. Ehen werden im Himmel geschlossen
a. Entstehung
b. Uraufführung
c. Öffentliche Proteste und gerichtliches
10. Bourgeois bleibt Bourgeois
11. Napoleon greift ein
a. Entstehung
b. Uraufführung
12. Komödie als Zeitkritik
13. 1930 Zurück nach Berlin
XI 1930 – Januar 1933
1. 1930 Als Drehbuchautor in Hollywood
2. 1929–1933 Weitere Filmarbeiten
3. Letzte literarische Arbeiten vor der Emigration
a. Kommt ein Vogel geflogen
b. Christoph Kolumbus oder die Entdeckung
c. Der Froschkönig
d. Sinnenglück und Seelenfrieden
4. 1931 – Januar 1933 Der Weg ins Exil
XII Januar 1933 – Juli 1936
1. Die Hitler–Herrschaft konsolidiert sich
2. Die Rechtslage der Emigranten im europäischen Ausland vor der Annexion Österreichs
3.Hasenclevers Vermögensverhältnisse zu Beginn seines Exils
4. Dichterische Umorientierung
a. Münchhausen
5. Herbst 1933 – Frühjahr 1935
6. Frühjahr – Herbst 1935
7. Suche nach neuen Verdienstmöglichkeiten
8. Herbst 1935 – Frühjahr 1936 London
a. Ehekomödie (What Should A Husband Do?)
b. Kurt Tucholskys Tod – Rückkehr zum Kontinent
XIII Sommer 1936 – September 1938
1. Juli 1936 – April 1938 Unbeschwerte Monate im italienischen Exil
a. 1936–1938 Letzte Filmarbeiten Abenteuer in Lucca
2. März – Juli 1938 Das Ende des italienischen Exils
3. Juli – September 1938 Letzter Aufenthalt in London
a. Conflict ln Assyria (Konflikt in Assyrien)
4. September 1938 Rückkehr nach Frankreich
XIV September 1938 – 21. Juni 1940
1. Das letzte Friedensjahr
a. September 1938 -–März 1939
b. März 1939 Abschluß des Romans Irrtum und Leidenschaft
c. März – August 1939 Vorbereitung auf den Krieg
2. September 1939 – 21. Juni 1940 Unter den 'Rechtlosen'
a. September 1939 – Mai 1940 Im 'centre de rassemblement' von Antibes Die Rechtlosen
b. 21. Mai – 21. Juni 1940 In Les Milles
Siglen
Quellen und Forschungsliteratur
Itinerarium
Personenregister
Recommend Papers

Walter Hasenclever: Eine Biographie der deutschen Moderne
 9783110939828, 9783484350465

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

STUDIEN UND TEXTE ZUR SOZIALGESCHICHTE DER LITERATUR

Herausgegeben von Wolfgang Frühwald, Georg Jäger, Dieter Langewiesche, Alberto Martino, Rainer Wohlfeil

Band 46

Bert Kasties

Walter Hasenclever Eine Biographie der deutschen Moderne

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1994

Redaktion des Bandes: Georg Jäger

D 82 Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Kasties, Bert: Walter Hasenclever: eine Biographie der deutschen Moderne / Bert Kasties. - Tübingen : Niemeyer, 1994 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur ; Bd. 46) NE: GT ISBN 3-484-35046-6

ISSN 0174-4410

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1994 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere fUr Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck und Buchbinder: Weihert-Druck, Darmstadt

Vorbemerkung

Die Quellengrundlage des vorliegenden Buches ergab sich zum großen Teil aus dem Nachlaß Walter Hasenclevers, den seine Ehefrau während der letzten Jahrzehnte bewahrt und ständig durch weitere Dokumente ergänzt hat. Aus Anlaß dieser biographischen Darstellung machte Frau Edith Hasenclever ihre umfangreiche Sammlung, die sich nun beinahe vollständig im Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar befindet, erstmals für eine uneingeschränkte Aufarbeitung zugänglich. Dem Verfasser war es auf diese Weise gestattet, auch bisher für die Literaturforschung gesperrte Teile des Walter Hasenclever-Archivs einzusehen und mit Hilfe der engagierten Mitarbeit Edith Hasenclevers sowie der Schwester des Dichters, Marita Hasenclever, systematisch aufzuarbeiten. Dank dieser Unterstützung war es zudem möglich, zahlreiche bisher unerschlossene Quellen aus Privatbeständen bzw. Forschungsinstitutionen und Archiven im In- und Ausland zu recherchieren und den Nachlaß auf diese Weise zu ergänzen. An dieser Stelle soll allen Privatpersonen und öffentlichen Einrichtungen für ihre unbürokratische Hilfe gedankt werden, durch die es erst möglich wurde, gravierende Lücken in der Biographie Hasenclevers zu schließen und etliche als verschollen gegoltene oder gänzlich unbekannte Dokumente der Forschung zugänglich zu machen. Der Schauspielerin Frau Doris Jüngt, dem Theologen Hans-Ludwig Slupina, Herrn Professor Dr. Hans Otto Horch, Herrn Professor Dr. Dieter Breuer sowie meiner Frau, Britta Slupina-Kasties, sei an dieser Stelle stellvertretend für jene gedankt, deren Interesse und kritische Unterstützung bei der Verwirklichung dieser Abhandlung eine unersetzliche Hilfe gewesen ist. Aachen, im April 1994

Inhalt

Einleitung

13

I

Familiäre Herkunft

27

n

1890-1908 Kindheit und Jugend in Aachen 1. Milieu und Erziehung 2. 1899-1908 Gymnasiale Schulzeit

30 30 38

m

1908-1910 Frühe Studienzeit 1. Frühjahr - Sommer 1908 Oxford a. Nirwana 2. Herbst 1908 - Frühjahr 1909 Lausanne a. Das Reich b. Nächtliche Flucht 3. Frühjahr 1909 - Herbst 1910 Leipzig Der 'neue Weg' a. Städte, Nächte und Menschen b. Um 75.000 c. Lyrik-Publikation im Aachener Abnanach

45 45 48 55 55 58

IV

1910 Ungewollte Vaterschaft

70

V

1910-1914 Promotionsversuch in Leipzig 1. Entstehung und Werdegang der Dissertation 2. Inhalt und wissenschaftliche Bedeutung Briefpublikation Dichter und Verleger

76 76

VI

1911-1913 Leipzig 1. Kurt Wolff - Verleger des Expressionismus 2. Das Vorbild Max Reinhardt 3. Als Lektor des Ernst Rowohlt-Verlages Frühe journalistische Arbeiten 4. Der Jüngling 5. Das unendliche Gespräch

59 62 65 67

84 88 88 91 92 97 106

6. Erste Filmaibeit Die Hochzeitsnacht 7. Im'Kabarett Deutscher Dichter"

108 110

VH Der Sohn 1. Sommer - Dezember 1913 Entstehung a. Erste Arbeiten I. Der Freund Kurt Hiller b. Vollendung und Publikation 2. Thematische Perspektiven 3. Aufführungsgeschichte bis 1918

112 112 112 114 116 120 126

Vm 1914 - Herbst 1917 1. Frühjahr 1914 und erste Kriegsmonate 2. Silvester 1914/15 Das Weimarer Konzil 3. 1915-1916 Aktivierung zum Heeresdienst Der Retter a. Thematische Perspektiven b. Publikationsversuch 4. Oktober 1916 - November 1917 Als Patient in einem Dresdner Sanatorium a. Abschied vom Kriegsdienst b. Antigone c. Die Pest d. Rückkehr ins Zivilleben

138 138 144

IX

175 175 178 178 186 189 189 194

8

1917-1924 1. Herbst 1917 In der Dresdner 'Felsenburg' 2. 1918 a. Die Menschen Suche nach einer neuen Ausdrucksform b. Erneuter Publikationsversuch des Retter-Dramas 3. Herbst 1918 - Herbst 1919 a. Im revolutionären Deutschland b. Die Entscheidung Zeugnis einer weltanschaulichen 'Umkehr'.. 4. Herbst 1919 - Herbst 1920 Jenseits 5. Herbst 1920 - Januar 1922 a. Mitherausgeber der Dresdner Zeitschrift Menschen b. Gobseck Letzte Lyrikveröffentlichung Gedichte an Frauen 6. Winter 1921/22 - Herbst 1924 a. Swedenborg-Nachdichtung b. Als Schauspieler in den Niederlanden Abschied von Deutschland

146 148 152 157 157 161 168 169

198 205 205 206 210 210 220

X

1924-1930 Als Journalist in Frankreich 1. Herbst 1924 'Reise nach Paris' 2. Mord - 'Dem Leben näher kommen' 3. Herbst 1924 - Frühjahr 1926 a. Eheliches Intermezzo b. Journalistische Arbeiten c. Frühjahr 1926 Berlin 4. Ein besserer Herr a. Entstehung b. Uraufführung c. Verfilmung 5. Der Weg zur Komödie 6. 1926/27 Prosaversuche 7. 'Paneuropäischer Pazifismus' a. Sechster Internationaler Friedenskongreß in Bierville b. Erster Internationaler Theaterkongreß in Paris c. Antiamerikanismus und paneuropäisches Ideal d. Deutsche Gegenwart 8. Kulissen 9. Ehen werden im Himmel geschlossen a. Entstehung b. Uraufführung c. Öffentliche Proteste und gerichtliches Nachspiel 10. Bourgeois bleibt Bourgeois 11. Napoleon greift ein a. Entstehung b. Uraufführung 12. Komödie als Zeitkritik 13. 1930 Zurück nach Berlin

222 224 226 229 229 231 232 233 233 235 237 238 243 245 245 246 247 249 250 251 251 252 253 259 261 261 263 264 275

XI

1930 - Januar 1933 1. 1930 Als Drehbuchautor in Hollywood 2. 1929-1933 Weitere Filmarbeiten 3. Letzte literarische Arbeiten vor der Emigration a. Kommt ein Vogel geflogen b. Christoph Kolumbus oder die Entdeckung Amerikas c. Der Froschkönig d. Sinnenglück und Seelenfrieden I. Entstehung n . Uraufführung 4. 1931 - Januar 1933 Der Weg ins Exil

278 278 282 285 285 286 290 290 290 292 293

9

XH Januar 1933 - Juli 1936 1. Die Hitler-Herrschaft konsolidiert sich 2. Die Rechtslage der Emigranten im europäischen Ausland vor der Annexion Österreichs 3. Hasenclevers Vermögensverhältnisse zu Beginn seines Exils 4. Dichterische Umorientierung a. Münchhausen 5. Herbst 1933 - Frühjahr 1935 6. Frühjahr - Herbst 1935 7. Suche nach neuen Verdienstmöglichkeiten 8. Herbst 1935 - Frühjahr 1936 London a. Ehekomödie (What Should A Husband Do?) b. Kurt Tucholskys Tod - Rückkehr zum Kontinent

298 298

X m Sommer 1936 - September 1938 1. Juli 1936 - April 1938 Unbeschwerte Monate im italienischen Exil a. 1936-1938 Letzte Filmarbeiten Abenteuer in Lucca 2. März - Juli 1938 Das Ende des italienischen Exils 3. Juli - September 1938 Letzter Aufenthalt in London a. Conflict In Assyria (Konflikt in Assyrien) I. Entstehung n . Uraufführung 4. September 1938 Rückkehr nach Frankreich

327

302 304 306 308 314 318 319 321 321 323

327 331 333 339 342 342 347 350

XIV September 1938 - 21. Juni 1940 1. Das letzte Friedensjahr a. September 1938 - März 1939 b. März 1939 Abschluß des Romans Irrtum und Leidenschaft c. März - August 1939 Vorbereitung auf den Krieg 2. September 1939 - 21. Juni 1940 Unter den 'Rechtlosen' a. September 1939 - Mai 1940 Im 'centre de rassemblement' von Antibes Die Rechtlosen b. 21. Mai - 21. Juni 1940 In Les Milles

378 388

Siglen Quellen und Forschungsliteratur Itinerarium Personenregister

396 397 409 412

10

353 353 353 359 371 378

Vom Widerschein der Kesselfeuer grell Umflattert fliegt mein Zug, nun schon im Dunkeln, Um Berge, Bäume rasselnd, welche hell Manchmal in diesem fahlen Glanz auffunkeln. Und Funken sprühen durch die Nacht, und schnell Geht so ein Dorf vorbei im Rauch, und immer Eisern der Takt der Schienen und matthell Bläuliche Sterne und ein Schneegeschimmer ... Und fliehend fahr ich nun und sehne mich Nach nichts. Wozu das ewige Fragen, Was morgen sein wird. Heute bin ich ich Und lasse mich vom Augenblicke tragen.

Walter Hasenclever: Nächtliche Flucht.

Einleitung

1 Am 21. August 1940 meldete das Deutsche Nachrichtenbüro, daß sich der seit 1938 ausgebürgerte Dramatiker Walter Hasenclever in dem französisch-spanischen Grenzort Port Bou erhängt habe.1 Während der folgenden Tage wurde diese Information von zahlreichen reichsdeutschen Zeitungen mit offensichtlicher Genugtuung kommentiert, da sich durch derartige Ereignisse der Erfolg des nationalsozialistischen 'Kulturkampfes' zu bestätigen schien. »Der Name Hasenclever« wecke »Erinnerungen an die schlimmsten Zeiten des literarischen Nachkriegsexpressionismus«, hieß es in einer jener Meldungen, in der besonders hervorgehoben wurde, daß »vor allem Hasenclever seinen Teil zu einer völligen Überfremdung des deutschen Theaters beigetragen« habe.2 Dieser Vorwurf schließt sich nahtlos den öffentlichen Kontroversen an, die das Werk des Dichters bereits seit dem Erscheinen seines revolutionären Dramas Der Sohn im Jahre 1914 begleiteten und 1931 einen Höhepunkt in einem Prozeß wegen angeblicher Gotteslästerung fanden. In Zeiten hineingeboren, in denen sich Aufstieg und Fall der deutschen Nation in rascher Folge abwechselten, erreichte der Autor mit dem Sohn schon früh einen Grad der Popularität, der ihm besonders bei der Jugend den Vergleich mit dem jungen Schiller eintrug. Wie kaum ein anderes Theaterstück seiner Epoche drückt dieses Drama die idealistische Aufbruchsstimmung einer Generation aus, die ihre geistigen Voraussetzungen in den Schriften Friedrich Nietzsches gefunden hatte und nach radikalen gesellschaftlichen Veränderungen verlangte. In konservativen Kreisen rief diese Dichtung jedoch nachhaltige Ressentiments hervor, die während der folgenden Jahre ständig neue Nahrung in den gesellschaftskritischen Äußerungen des Autors fanden. So markiert Der Sohn den frühen Erfolg einer kontinuierlich von Anfeindungen begleiteten Karriere, wäh1

2

Deutsches Nachrichtenbüro (DNB): Meldung des Todes von Walter Hasenclever. 21.8.1940, Nr. 234. - In: Akte Ausbürgerungsvorgang Walter Hasenclever. Diverse Dokumente aus dem Zeitraum März 1938 - Mai 1940. Standort: Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Bonn. Akt. II A/B, 1 58/2-56. Diese Meldung entspricht jedoch nicht völlig der Realität, da Hasenclever nicht in Port Bou - wo Walter Benjamin am 27.9.1940 den Freitod wählte -, sondern im Internierungslager von Les Milles Suizid durch die Überdosis eines Schlafmittels beging. Unbekannt: Selbstmord des Emigranten Hasenclever. - Meldung in einer reichsdeutschen Tageszeitung, o. A., August 1940. Standort: Zeitungsausschnittsammlung der Stadt- und Landesbibliothek Dortmund. Mappe 'Walter Hasenclever'.

rend der Hasenclever einen oft widersprüchlich anmutenden Bogen schlug. Dieser reicht von der expressiven Lyrik über das pazifistische Drama, von der die moderne Gesellschaft persiflierenden Komödie bis hin zur autobiographischen Prosa. Hinzu kommen eine jahrzehntelange journalistische Tätigkeit, diverse Arbeiten für den Film sowie eine Nachdichtung der wichtigsten philosophischen Gedanken des schwedischen Mystikers und Theosophen Emanuel Swedenborg. Gegen Ende der 20er Jahre erreichte Walter Hasenclever mit seinen Komödien den Höhepunkt seiner Popularität, als er zu einem der meistgespielten Dramatiker des deutschen Sprachraumes avancierte. Den Beginn dieses Erfolges leitete die Satire auf klassisch bürgerliche Leitbilder Ein besserer Herr (1926) ein, die allein in der Spielzeit 1927/28 von beinahe 100 Theatern gleichzeitig aufgeführt und 1928 verfilmt wurde. Die Religionssatire Ehen werden im Himmel geschlossen (1928) sowie die Persiflage Napoleon greift ein (1929) konnten diesen Erfolg weiterführen und wiesen ihren Autor überdies als entschiedenen Gegner faschistoiden Gedankengutes aus. 1933 zählte er gerade wegen seines in liberalen Kreisen begründeten Prestiges, das ihn zu einem der kulturellen Exponenten der Weimarer Republik werden ließ, zu den ersten Literaten, deren Werke in Deutschland verboten wurden. Sein Schicksal ist deshalb exemplarisch für das vieler vom Expressionismus geprägter Schriftsteller, deren künstlerischer Antrieb von einem starken Bewußtsein der Gemeinsamkeit und dem Willen zu revolutionierender Wirkung getragen wurde. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, gehörte das Gros dieser Autoren zu den im nationalsozialistischen Deutschland Geächteten, deren Verdrängung aus dem kulturellen Leben die NS-Kulturpolitik erfolgreich betrieb. Aufgrund ihrer politischen Ansichten auch in ihrer physischen Existenz gefährdet, blieb vielen nur noch die Flucht in die Emigration. Der Kriegsausbruch und die schnellen militärischen Erfolge der deutschen Wehrmacht entlarvten aber die im europäischen Ausland scheinbar gefundene Sicherheit als trügerisch, so daß sich 1940 die Nachrichten über Selbstmorde in Emigrantenkreisen häuften. Als mit Walter Hasenclever schließlich einer der Exponenten des kulturellen Lebens der untergegangenen Weimarer Republik aus dem Leben schied, konnte die reichsdeutsche Presse das vermeintliche Fazit ziehen, daß gerade dieser Autor mit »seinem Tod [...] nun selbst symbolisch einen Schlußstrich unter eine unwiderruflich vergangene Zeit gezogen« habe.3

2 Walter Hasenclever zählt heute zu den von der Öffentlichkeit weitgehend vergessenen Dichtern. Systematisch aus dem Gedächtnis des Publikums gedrängt, fanden nach dem Ende der NS-Herrschaft nur noch sporadisch einige wenige 3

14

Ebd.

seiner Dramen den Weg auf die Bühne, blieben zahlreiche Werke - darunter seine beiden Romane - Jahrzehnte unveröffentlicht und erzielten bei ihrer Publikation lange nach 194S keine dauerhafte Resonanz. So war es vor allem dem Engagement ehemaliger Weggefahrten vorbehalten, mittels vereinzelter Publikationen und dem Lancieren von Aufführungen die Erinnerung an den Autor wachzuhalten. Dies gilt besonders für seine langjährigen Freunde Heinz Hilpert und Robert Klein, die im September 1957 in Göttingen die deutsche Erstaufführung des Dramas Konflikt in Assyrien (1938) realisierten. Für die literarische Forschung erhielt diese Inszenierung durch das besonders aufwendig gestaltete Programmheft eine herausragende Bedeutung.4 Zahlreiche Zeitzeugen - wie z.B. Lion Feuchtwanger, Alfred Kantorowicz, Kurt Pinthus und Otto Zoff - stellten hierfür Beiträge zur Erhellung der Biographie Hasenclevers zur Verfügung. Noch wichtiger war jedoch, daß diesen Erinnerungen eine bis dahin in ihrer Komplexität unübertroffene Bibliographie seiner Werke angefügt wurde. Im direkten Zusammenhang mit der Premiere von Konflikt in Assyrien erschien überdies in der FAZ Hermann Kestens umfangreicher Aufsatz Seit damals kannte ich Hasenclever,5 der seine Funktion als interessante biographische Quelle bis heute nicht eingebüßt hat. Kestens einseitige Charakterisierung, der Freund sei »ein utopischer Sozialist, ein utopischer Pazifist, ein utopischer Menschheitsfreund und ein utopischer Spiritist« gewesen (»er ging von einem Irrtum und Aberglauben zum andern, von einer literarischen Mode zur andern«),6 stützte jedoch schon zu Hasenclevers Lebzeiten entstandene Fehleinschätzungen, die bis heute den Ruf des Dichters mitbestimmen. Gegen diese oberflächliche Bewertung meldete 1961 ein anderer Zeitzeuge Vorbehalte7 an. In einem erheblich differenzierteren Zeitungsartikel weist der ehemalige Mitbegründer der Dresdner Zeitschrift Menschen, Rudolf Adrian Dietrich, Kestens Einschätzung energisch zurück. Dabei hebt er besonders Hasenclevers unbestechliche »Treue« zur humanistischen »Gesinnung« hervor. Diese liege den Jugenddichtungen des Freundes ebenso zugrunde wie seiner späteren »Beschäftigung mit einem irrealen nordischen Propheten [gemeint ist Emanuel Swedenborg]« und habe auch nicht »in der Zeit, in der er [...] seine [...] Komödien schrieb« nachgelassen. Zu Kestens kritischem Verweis auf Hasenclevers häufigen Wechsel der Genres schreibt er: Wenn man bei anderen Dichtern - etwa bei Strindberg - Wandlungen und Widersprüche als Teile innerhalb des Ganzen sieht, so scheint es mir wenig tolerant, dies bei Hasenclever so zu simplifizieren, wie es Hermann Kesten [...] getan hat. [...] 4 5

6 7

Deutsches Theater in Göttingen (Hrsg.): Blätter des Deutschen Theaters. H. 115, 1957/58. Kesten, Hermann: Seit damals kannte ich Hasenclever. - In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. Nr. 216, 18.9.1957.

Ebd. Dietrich, Rudolf Adrian: 'Das Feld der Ehre hat mich ausgespien', Erinnerung an Walter Hasenclever. - In: Die andere Zeitung. Kultur in unserer Zeit. 2. Märzausgabe 1961.

15

Für mich hat nichts das Gesamtbild dieses Dichters verändern können: [...] Allenthalben erkennt man auch hinter [den] Komödien die Zeugnisse von Hasenclevers tiefer Verachtung der 'Infamie des Bestehenden'. Und sein Abscheu gegenüber dem legalisierten Massenmord wurde mit den Jahren nicht geringer [...]. 8

Der Schriftsteller Friedrich Sieburg, mit dem der Autor seit den frühen 20er Jahren bekannt war, veröffentlichte 1963 einen unversöhnlichen Beitrag9, den er aus Anlaß eines von Kurt Pinthus herausgegebenen Sammelbandes mit Werken Walter Hasenclevers10 verfaßte. Unumwunden läßt Sieburg seinen alten Ressentiments gegenüber Hasenclever freien Lauf und behauptet, die von Pinthus vorgelegten Dichtungen, die einer grundsätzlichen »moralischen und geistigen Heimatlosigkeit« entsprungen seien, böten in Wahrheit »wenig Handhaben zur Wiederbelebung«. Besonders den erstveröffentlichten Exil-Roman Die Rechtlosen (1939/40) interpretiert er als »farblos und ohne jede persönliche Kraft«. Die während der 20er Jahre teilweise in Paris verfaßten Komödien, deren glänzende Erfolge er lediglich als »erstaunlich« apostrophiert, seien allenfalls »manchmal auch recht heiter - aber geistvoll und echte Komödien waren sie nie«; ihr Autor habe augenscheinlich »an der ersehnten Berührung mit dem französischen 'esprit' Schaden« genommen.11 Wer sie aufs neue liest, erfährt, daß sie, was Hasenclevers literarische Möglichkeiten angeht, ein einziger Irrtum waren.12

Schließlich knüpft Sieburg an Kestens Behauptung von der angeblich ebenso widersprüchlichen wie oberflächlichen weltanschaulichen Entwicklung des Dichters an, wobei er vor allem Hasenclevers Neigung zum Mystizismus mit Unverständnis begegnet. Den »philosophischen und systematischen Grundlagen« der Mystik »nicht gewachsen«, habe der Autor lediglich einen dubiosen »Gefühlsbuddhismus« kultivieren können (»assoziativ, fast sentimental«), da sein »intellektuelles Vermögen« nur »gering« ausgeprägt gewesen sei.13 Die gegenteilige Meinung vertritt - ebenfalls 196314 - der schon vor dem Ersten Weltkrieg mit Walter Hasenclever bekannte Publizist Willy Haas, der sich mit einer Anekdote zu der Frage nach dem intellektuellen Vermögen des Freundes äußert: Einmal, als ihm eine [Freundin] mit einem Freund durchging [...], bedurfte es [eines] mindestens vierstündigen nächtlichen Gespräches über die eigentliche Grau8

Ebd. Sieburg, Friedrich: Der ewige Jüngling. - In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 3.8.1963. 10 Hasenclever, Walter: Gedichte, Dramen, Prosa. - Hrsg. v. Kurt Pinthus. Reinbek: Rowohlt 1963 [künftig abgekürzt als: GDP]. 11 Sieburg, Friedrich: Der ewige Jüngling. 12 Ebd. 13 Ebd. 14 Haas, Willy: Der Jüngling, der gegen den Vater aufstand. Werke, die man versteht, wenn man den Dichter kennt. - In: Die Welt. 29.3.1963. 9

16

samkeit der Hegeischen Dialektik, in der eine dialektische Spannung zwischen These und Antithese so ohne weiteres von einer anderen abgelöst wird, um ihn halbwegs wieder in Statur zu bringen. Denn diskutieren, das tat er ums Leben gern. 1 5

Auch seine Meinung über die schriftstellerische Arbeit Hasenclevers fallt erheblich positiver aus als bei seinem Kollegen Sieburg: Hasenclever war ein Proteus, Wandlung und Verwandlung war sein Element: darin liegt der besondere Reiz dieser dynamischen Erscheinung. 16

Das Erscheinen des 1963 von dem Literarhistoriker Kurt Pinthus herausgegebenen Sammelbandes, in dem ein repräsentativer Querschnitt aus dem Oeuvre des Dichters enthalten ist, löste - entgegen der Prognose Sieburgs - den Beginn einer bis in die 70er Jahre hineinreichenden, intensiveren Rezeptionsphase aus, die Hasenclevers Popularität noch einmal vorübergehend beleben konnte. Auch wenn sich das Buch zu keinem großen Verkaufserfolg entwickelte, fand es doch in interessierten Fachkreisen - vor allem beim Theater - überaus positive Beachtung. Das dieser Auswahl vorangestellte ausführliche Vorwort17 des Herausgebers und engen Freundes ist überdies bis heute eine der wesentlichen Grundlagen für die literarhistorische Auseinandersetzung mit dem Autor geblieben. Zeitlich fiel diese Publikation in das Umfeld eines ohnehin intensivierten Interesses am literarischen Expressionismus, das nicht zuletzt durch die bekannte, 1960 vom Deutschen Literaturarchiv in Marbach ausgerichtete Ausstellung Expressionismus. Literatur und Kunst 1910-1923 geweckt wurde. Als Folge dieser verstärkten Aufmerksamkeit übernahm kurz nach der Veröffentlichung des Sammelbandes der Rowohlt-Verlag auch den Bühnenvertrieb für einen Großteil der dramatischen Dichtungen Walter Hasenclevers. Dem persönlichen Engagement des damaligen Verlagsleiters Klaus Juncker, der sich ab Mitte der 60er Jahre besonders gezielt für Hasenclevers Dramen einsetzte, ist es zuzuschreiben, daß bis in die 70er Jahre hinein zumindest einige dieser Werke wieder öfter aufgeführt wurden und vor allem Der Sohn (1913) sowie die Paradekomödie Ein besserer Herr (1926) zum regelmäßigen Bestandteil der Spielpläne gehörten. An dieser Entwicklung konnten auch negative Äußerungen aus den Reihen der Literaturwissenschaft - u.a. der Beitrag Walther Huders, der Hasenclever 1966 vorwarf, das Theater allzu oft »mit der Litfaßsäule verwechselt« zu haben18 - wenig ändern. Die gerade durch aktuelle Bühnenerfolge neubegründete Publizität des Dichters verhalf schließlich 1969 seinem autobiographisch intendierten Roman Irrtum

15 16 17

18

Ebd. Ebd. Vgl. Pinthus, Kuit: Walter Hasenclever. Leben und Werk [künftig abgekürzt als: L&W]. In: Hasenclever, Walter: GDP. S. 6-62. Huder, Walther: Walter Hasenclever und der Expressionismus. - In: Welt und Wort. H. 8, August 1966, (S. 255-260), S. 260.

17

und Leidenschaft19 (1934-1939) zur Erstveröffentlichung. Die Forschungen über die deutschsprachige Exilliteratur ließen diesem Werk zusätzliche Beachtung zuteil werden, so daß es in beinahe allen bedeutenden deutschen Zeitungen rezensiert wurde. In einer Phase zunehmender Politisierung der Literatur publiziert, stieß der Roman bei der Leserschaft jedoch auf Ablehnung. Das Urteil der Kritik fiel ebenfalls überwiegend vernichtend aus. So bot die Veröffentlichung von Irrtum und Leidenschaft für Hans-Albert Walter gar den Anlaß zu der These, Hasenclevers Gesamtwerk komme lediglich noch eine »literarhistorische Bedeutung« zu, da es im ganzen »nicht Teil lebendiger Literaturüberlieferung« sei. Als faktisch »tot« erachtet der Rezensent das expressionistische Frühwerk; »verblaßt« sei der Glanz der Gesellschaftskomödien. Auch die beiden im Exil verfaßten Romane ließen selbst geringe »literarische Ansprüche« vollkommen unbefriedigt.20 Stellt man diese, für das Echo der Roman-Publikation repräsentative, negative Presse in einen Zusammenhang mit der zu Beginn der 70er Jahre wieder stetig sinkenden Zahl der Aufführungen seiner Dramen, so scheint die Publikation von Irrtum und Leidenschaft das öffentliche Interesse an Walter Hasenclever langfristig stark gemindert zu haben. Innerhalb der Literaturwissenschaft aber war die Veröffentlichung des autobiographischen Romans - stärker noch als die des Sammelbandes - der Anlaß für eine intensivere Beschäftigung mit Leben und Werk des Autors. Als deren Resultat entstanden in den Folgejahren einige Abhandlungen,21 die sich in ihrer Mehrzahl mit Hasenclevers expressionistischen Dichtungen befassen. Signifikant ist beim Aufbau sowie der inhaltlichen Ausrichtung der bisher erschienenen Arbeiten der dominierende Einfluß des Vorwortes von Kurt Pinthus, das 1963 dem Hasenclever-Sammelband vorangestellt wurde. Pinthus läßt dort Leben und Werk des Freundes betont subjektiv Revue passieren und nimmt hierbei zahlreiche biographische Ungenauigkeiten in Kauf. Die Biographie Walter Hasenclevers teilt er überdies schematisch in drei weltanschaulich streng voneinander zu trennende Schaffensperioden ein. So habe der Freund seine schriftstellerische Laufbahn als 'politischer Dichter' begonnen, später jedoch sein sozialpolitisches Engagement - das beispielsweise durch das Drama Der Sohn dokumentiert werde 19

20

21

18

W.H.: Irrtum und Leidenschaft. - Mit einem Nachwort v. Kurt Pinthus. Berlin: Universitas 1969 [künftig abgekürzt als: I&L]. Walter, Hans-Albert: Der Fall Walter Hasenclever. Eine Erklärung zu dem nachgelassenen Roman 'Irrtum und Leidenschaft'. - In: Frankfurter Rundschau. 4.10.1969. Diese sind z.B.: Zeltner, Emö: Die expressionistischen Dramen Walter Hasenclevers. Diss. Wien 1961. / Hoelzel, Alfred: Walter Hasenclever's Humanitarianism. Themes of protest in his works. - Diss. Boston 1964. / Raggam, Miriam: Walter Hasenclever. Leben und Werk. - Diss. Wien 1968. Hildesheim: H. A. Gerstenberg 1973. / Leitenberger, Lucia: II Teatro Espressionista di Walter Hasenclever. - Diss. Verona 1969. / Musmeci, Sebastiana: Walter Hasenclever und seine Hauptwerke als Stationen seines literarischen Schaffens. Diss. Venedig 1970. / Brugger, Edith: Lo sviluppo letterario nell-opera di Walter Hasenclever. - Diss. Milano 1974. / Knobloch, Hans-Jörg: Das Ende des Expressionismus. Von der Tragödie zur Komödie. - Diss. Frankfurt/M.: Peter Lang 1975.

zugunsten einer 'mystischen Periode' aufgegeben, um schließlich in den 20er Jahren den Weg zur leichten Gesellschaftskomödie zu finden.22 Dieses triassische Modell wurde bereits Jahre zuvor von Carl Udo Quandt in einem Aufsatz über Hasenclever entworfen.23 So diagnostiziert Quandt im »Leben und Schaffen« des Dichters eine Häufung »seltsamer«, im Grunde unmotivierter Brüche. Der »rebellierende Bürgersohn, der entschiedene Pazifist, der Umstürzler«, habe um 1918 schließlich der Politik abgeschworen, um »aus der Front der Kämpfenden« auszuscheren. Die kausalen Hintergründe weiß Quandt jedoch nicht zu erhellen; stattdessen verweist er vage auf die »bürgerliche Herkunft« des Autors, die vielleicht »eine konsequente Haltung verwehrte«. »Hasenclever wandte sich dem Mystizismus, dem Okkultismus zu«, jedoch sei auch diese »Epoche« nicht »von langer Dauer« gewesen. Er habe »wieder Boden unter den Füßen« spüren wollen - und schließlich »doch nur zur unverbindlichkonventionellen Unterhaltungsliteratur mit leicht gesellschaftskritischem Akzent« gefunden. Die Entwicklung »vom Kämpfer zum vorsichtig wägenden Aestheten« habe sich unwiderruflich vollzogen.24 So ungerechtfertigt diese Interpretation in ihrer Substanz auch ist, da sie die im Gesamtwerk immanenten, sich niemals grundsätzlich verändernden philosophischen Leitgedanken unberücksichtigt läßt, so beständig hat sie als Stereotyp die weitere literarhistorische Einordnung der einzelnen Dichtungen beeinflußt. Für die bisherigen Arbeiten zur Biographie Hasenclevers erwies sich Kurt Pinthus' Vorwort aus dem Sammelband als maßgebliche Quelle, dem bislang gegenüber einer kritischen Aufarbeitung des Nachlasses der Vorzug gegeben wurde. Horst Denklers 1970 erschienene Kurzbiographie25 macht hierin keine Ausnahme, da in ihr primär nur die durch Pinthus bekannten Fakten rekapituliert und mittels einiger Querverweise auf Sekundärquellen ergänzt werden, ohne daß neue bzw. weiterführende Ergebnisse erzielt würden. Auch die bislang umfangreichste Veröffentlichung über Leben und Werk Walter Hasenclevers von Miriam Raggam26 aus dem Jahre 1973 geht nicht über die von Pinthus gesetzten Maßstäbe hinaus. Dabei folgt die Verfasserin grundsätzlich der Prämisse einer angeblichen Werk-Trias und vermeidet jede kritische Diskussion dieser von Quandt und Pinthus vorgelegten Interpretation. Wegen ihres Verzichtes auf eine umfassendere Analyse der wichtigsten Dichtungen, deren Inhalte sie stattdessen lediglich referiert, macht sie von ihrem Wissen um die lebenslange Auseinandersetzung des Autors mit den gegensätzlichen Lebensmodellen Friedrich Nietzsches und Arthur Schopenhauers keinen Ge22 23

24 25

26

Vgl. Pinthus, Kurt: L&W. - In: Hasenclever, Walter: GDP. S. 6ff. Quandt, Carl Udo: Der Fluchtweg ist verstellt. Zwischen Politik und Poesie. Das Beispiel Walter Hasenclever. - In: Deutsche Woche. 7. Jg., Nr. 34, 21.8.1957. Ebd. Denkler, Horst: Walter Hasenclever. - In: Rheinische Lebensbilder. Hrsg. v. d. Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde. Bd. 4, Düsseldorf: Rheinland-Verlag 1970, S. 251-272. Raggam, Miriam: Walter Hasenclever. Leben und Werk. - Diss. Wien 1968. Hildesheim: H. A. Gerstenberg 1973.

19

brauch - dem, wie im Verlauf dieses Buches gezeigt werden soll, eigentlich zentralen Ansatzpunkt jeglicher Interpretation der literarischen Zeugnisse Hasenclevers. Sowohl hier als auch bei der unzureichenden Darstellung der Genese einzelner Werke sowie in ihren allgemeinen biographischen Ausführungen stößt Raggam an die engen Grenzen einer oberflächlichen Materialauswertung bzw. ungenügenden Recherche. Diese Lücken vermag die bisher erschienene Forschungsliteratur - meist in Gestalt verstreut edierter, kleinerer Aufsätze sowie Zeitungsartikel anläßlich 'runder' Geburtstage - nicht zu schließen. In den 70er und 80er Jahren ließ das Interesse an Werk und Person Walter Hasenclevers zunehmend nach. Die bis dahin sehr häufig gespielte Komödie Ein besserer Herr galt in der nun stärker politisierten Theaterlandschaft als wenig aktuell, das aktivistische Pathos des revolutionären Dramas Der Sohn wurde als unpassend empfunden. Auch innerhalb der literarhistorischen Forschung schien eine intensivere Beschäftigung mit Hasenclever nicht mehr lohnend. Man akzeptierte die bisher erzielten Arbeitsergebnisse als ausreichend. Die erfolglose - von der Kritik weitgehend unbeachtete - Neuauflage von Irrtum und Leidenschaft im Jahre 197727 vermochte diese Entwicklung ebensowenig aufzuhalten wie der gelegentliche Abdruck einzelner Dichtungen in Anthologien28 oder 1975 die Publikation der Farce Der Froschkönig (1931/32) in der Bearbeitung von Peter Hacks.29 Die Erstausgabe der Komödie Christoph Kolumbus oder die Entdekkung Amerikas (1931/32), die Peter Moses-Krause im Jahre 198530 vorlegte, sowie eine Bearbeitung der Komödie für das Fernsehen entsprangen mehr dem Interesse für den Mitautor Kurt Tucholsky und konnten keine Neubelebung des Interesses am Werk Walter Hasenclevers erzielen. Mit Blick auf den 100. Geburtstag und den 50. Todestag des Dichters im Jahre 1990 wurde Mitte der 80er Jahre in seiner Geburtsstadt Aachen eine Arbeitsstelle am Germanistischen Institut der RWTH zur Vorbereitung einer Hasenclever-Edition31 eingerichtet. Die mehrbändige Publikation beinhaltet neben den bereits bekannten Dichtungen auch zahlreiche Erstveröffentlichungen, so daß das gesamte Spektrum von Walter Hasenclevers schriftstellerischer Tätigkeit erfaßt und durch eine zweibändige, kommentierte Auswahl seiner Briefe32 zusätzlich ergänzt wird. 27 28

29

30

31

32

20

Walter Hasenclever: Irrtum und Leidenschaft. - München: Herbig-Verlag 1977. Erschienen ist z.B. Hasenclevers Drama 'Antigone', in: Schondorff, Joachim (Hrsg.): Antigone. - Bearbeitungen von acht verschiedenen Autoren. München/Wien: Langen-Müller 1974, S. 215-256. Hasenclever, Walter: Der Froschkönig. - Restauriert von Peter Hacks. Berlin: Berliner Handpresse 1975. Hasenclever, Walter & Tucholsky, Kurt: Christoph Kolumbus oder die Entdeckung Amerikas. - Hrsg. v. Peter Moses-Krause. Berlin: Das Arsenal 1985. W.H.: Sämtliche Werke. - Hrsg. v. Dieter Breuer und Bernd Witte. Mainz: v. Hase & Koehler 1990ff. Erschienen sindbis 1993: Bd. II.1-3, Stücke 1908-1938; Bd. IV., Romane. Kasties, Bert und Dieter Breuer (Hrsg.): Walter Hasenclever. Briefe 1907-1940. - 2 Bd., bearbeitet von Bert Kasties. Mainz: v. Hase & Koehler 1994.

Im Vorfeld dieses 100. Geburtstages kam es 1989 in Aachen zur Uraufführung der Komödie Kulissen (1927), die - unterstützt durch die Ankündigung der ersten Bände der Werkausgabe - das öffentliche Interesse am Autor forderte. Überdies richtete das Germanistische Institut Aachens gemeinsam mit dem städtischen Kulturamt eine Gedächtnisausstellung im Suermondt-Ludwig-Museum aus, die große Resonanz erfuhr, da sie eine Fülle von Original-Exponaten aus dem Nachlaß und aus Beständen diverser Archive präsentierte. Die ausführliche Dokumentation33 dieser Ausstellung, in der überwiegend bislang unveröffentlichte Primärquellen reproduziert und kommentiert werden, ermöglicht als vermutlich erste Publikation über den Dichter einen Eindruck von der Vielschichtigkeit seines Lebens und Werkes, die von der Forschung bislang unzureichend untersucht wurde.

3 Ungeachtet der Veröffentlichungen von Kurt Pinthus oder Miriam Raggam u.a. ist bis heute nur wenig Authentisches über das Leben und die Persönlichkeit des Autors bekannt. Stattdessen vermitteln die mit seinem Namen in der literarischen Forschung verbundenen Klischees als Stereotypen oft ein realitätsfernes und verzerrtes Charakterbild und bedürfen deshalb einer grundsätzlichen Revision. Dabei darf jedoch die Schwierigkeit nicht verkannt werden, eine Dichterpersönlichkeit wie die Hasenclevers deuten und ihren zahlreichen Facetten innerhalb einer Beschreibung gerecht werden zu wollen. Denn zu eindeutig zählt gerade dieser Autor zu jenen proteischen Geistern, deren mannigfaltige Begabungen und Interessen den Zugriff auf ihr Wesen erschweren. Der Dichter selbst hat es seiner Umwelt zudem nicht leicht gemacht, über die Betrachtung seines Werkes hinaus auch etwas über die Eigenarten seiner Person und deren Entwicklung zu erfahren. So gab er z.B. 1922 in einer autobiographischen Notiz für die Neuauflage der von Kurt Pinthus 1919 herausgegebenen Lyrik-Anthologie Menschheitsdämmerung34 deutlich zu verstehen, daß er das öffentliche Interesse, begründet durch seine - auch im Ausland große - Popularität, primär auf seine Dichtungen begrenzt sehen möchte: Nachdem Presse, Zunft und Professoren den nötigen Anstoß an meiner [satirischen] Biographie in der ersten Auflage dieses Buches genommen haben, die mehr als ein Witz und weniger als eine Absicht war und nur den Zweck hatte, den Leser irrezuführen, um den Autor vor seiner Neugierde zu schützen, begnüge ich mich, in der

33

34

Breuer, Dieter (Hrsg.) in Zusammenarbeit mit Bert Kasties u.a.: Walter Hasenclever 18901940. - Aachen: Alano-Verlag 1990. Pinthus, Kurt (Hrsg.): Menschheitsdämmerung. Ein Dokument des Expressionismus. - Berlin: Emst Rowohlt-Verlag 1920. Revidierte Ausgabe, Reinbek: Rowohlt-Verlag 1955.

21

neuen Auflage dieses Buches festzustellen, daß ich am 8. Juli 1890 in Aachen geboren bin. 3 5

Im Februar 1925 führte er seine grundsätzlichen Vorbehalte über das - seiner Ansicht nach illegitime - Interesse an der privaten Biographie eines Dichters weiter aus und wandte sich dabei besonders gegen die Arbeitsweise der seit seinen Studentenjahren von ihm geschmähten Literaturwissenschaft: In früheren Jahrhunderten sind viele Schriften bedeutender Menschen anonym erschienen; man wußte von ihrer Existenz, ohne ihr Privatleben zum Maßstab ihrer Werke zu machen. Erst uns, die wir soviel zu schreiben und so wenig zu tun haben, bleibt es vorbehalten, die geheimen Zusammenhänge zwischen Leben und Schaffen aufzudecken. [...] Ich habe diese Beschäftigung immer für eine überflüssige Wissenschaft gehalten, und das Geld, das der Staat für solche Lehrstühle ausgibt, würde besser für Mutterschutz und Wohnungsbauten verwandt; aber es scheint nun einmal ein dringendes Bedürfnis der Philologen zu sein, die chronologische Reihenfolge von Goethes Gedichten auf Grund seiner Abenteuer festzustellen. [...] Schlimm genug, daß Schreiben ein Beruf ist. Wenn alle Bücher anonym erschienen, gäbe es weniger Arbeitslose in der Literatur. Die germanistischen Lehrstühle würden verwaisen. Man würde sich mit der Dichtung und nicht mit den Dichtern beschäftigen. 36

Zumindest indirekt wird diese Ansicht im Verlauf des vorliegenden Buches berücksichtigt, da durch die vorrangige Verwendung von Primärquellen auf Kolportagen Dritter im wesentlichen verzichtet werden kann. In Form umfangreicher Zitate aus seinen nachgelassenen Briefen erhält der Dichter selbst das Wort, so daß auf diesem Weg seine persönliche Sichtweise aufgezeigt wird. Der Umstand, daß sich Walter Hasenclever 1934 der autobiographischen Prosa zuwandte und die Handlung seines Romans Irrtum und Leidenschaft an der eigenen Lebensgeschichte orientierte, widerspricht nur vordergründig seinem offensichtlichen Verlangen nach größtmöglichem Schutz der Intimsphäre. Obgleich sich die im Roman geschilderten Ereignisse durch den Spiegel seines persönlichen Erlebens reflektieren lassen, kann diese Sichtweise keinen Anspruch auf verbürgte Realität erheben, da die vom Autor zum Stilprinzip erhobene Subjektivität erheblichen Spielraum für gewollte oder unbeabsichtigte Manipulationen gelassen hat. Darüber hinaus wurde die autobiographische Erzählung besonders wegen ihres starken Adressatenbezuges in den Bereich der Epik ausgeweitet und verändert. Auch wenn daher eine rein inhaltsbezogene Untersuchung von Irrtum und Leidenschaft auszuschließen ist, verliert dieser Roman nicht seinen unbestreitbaren zeitdokumentarischen Charakter, zumal der sichere biographische Nachweis zahlreicher Erzählinhalte mittels vorhandener Quellen möglich ist. Der Autor, als Produkt seiner in diesem Werk geschilderten Sozialgeschichte, kann und will unter Verwendung dieses dichterischen Zeugnisses analysiert bzw. in einer von ihm lancierten Art und Weise verstanden werden. 35

36

22

W.H.: Autobiographische Notiz. - In: Menschheitsdämmerung. Hrsg. v. Kurt Pinthus. Zitiert nach Neu-Herausgabe v. Kurt Pinthus: Reinbek: Rowohlt 1955, S. 344f. W.H.: Begegnungen. - F-Nr. 27, 2.1925.

Auch ohne Kenntnis der Biographie Walter Hasenclevers, seiner umfangreichen Korrespondenz oder etwa Erinnerungen engster Freunde und Familienangehöriger kann aus Irrtum und Leidenschaft - wie auch aus seinen früheren Dichtungen - auf seine immanente Neigung zum Suizid geschlossen werden, der er im Juni 1940 nicht mehr standhalten konnte. Für seine literarischen Zeugnisse ist die Kontinuität des in ihnen thematisierten weltanschaulichen Konfliktes zwischen Lebensannahme und Lebensverweigerung charakteristisch, der immer über das Dichterische hinaus in eine für Hasenclever existentielle Dimension hineinreicht. Man mag diese bereits in seinen ersten Arbeiten geführte Kontroverse, die sich in den philosophischen Axiomen Friedrich Nietzsches und Arthur Schopenhauers polarisiert, als Koketterie mit dem Leid oder als plakative Form der Selbstdarstellung ansehen, jedoch legt der spätere Freitod des erst Neunundvierzigjährigen Zeugnis von der Ernsthaftigkeit dieser Auseinandersetzung ab. Edith Hasenclever, die Witwe des Dichters, bestätigt, daß die Beschäftigung mit dem Selbstmord »immer in Hasenclever gelebt« habe. 37 Sie erinnert sich in diesem Zusammenhang, daß Hasenclever sie bereits am ersten Tage ihres Kennenlernens ausführlich zu ihrer Einstellung zum Suizid befragt habe und anschließend seine eigenen Überlegungen mitteilte: Und dann erzählte er: 'Ich stelle es mir so vor, ich liebe nicht den Schnee, ich hasse den Schnee, und wenn ich eines Tages soweit bin, gehe ich immer weiter, in die Berge, in die Berge, in den Schnee, habe ein Schlafmittel bei mir, nehme es, und schlafe ein im Schnee, den ich hasse'. Das war im Jahre 1934. Und er hat immer, also auch späterhin, in den letzten zwei Jahren, als es ganz schlimm wurde, in unserem letzten Wohnsitz, davon gesprochen. Und in den letzten Monaten hat er mir mehrere Mal gesagt: 'Wenn du mich eines Morgens tot findest, bitte tue nichts, hole keinen Arzt, tue nichts, um mich wecken zu lassen.' 38

Für diese latente Todesbereitschaft macht sie in erster Linie negative Kindheitserlebnisse ihres Mannes verantwortlich, die eine - wie er ihr gegenüber oft zugab - positivere Einstellung zum Leben und zur menschlichen Gesellschaft verhindert hätten. Bereits als Jugendlicher geriet Hasenclever unter den Einfluß fernöstlicher Philosophie, war er von der Vergeblichkeit aufgeklärten, rationalen Handelns und von der unausweichlichen Determiniertheit des Lebens durch die irrationale Macht des Schicksals überzeugt. Beinahe zwangsläufig wandte er sich schließlich 1908 während eines kurzen Studienaufenthaltes in England der Astrologie zu, die wachsenden Einfluß auf die Gestaltung seines Lebens nahm.

37 38

Hasenclever, Edith an Bert Kasties; Tourrettes s. L. Juni 1991. - O/Verfasser. Hasenclever, Edith an Irene Ahlenfeldt; Tourrettes s. L. 1990, Tonbandaufzeichnung. O/I. Ahlenfeldt.

23

In seinem Nachlaß sind drei umfangreiche Horoskope für den Zeitraum 1920 bis 1939 erhalten.39 Hasenclever hatte diese Horoskope stets sorgsam aufbewahrt und mit kurzen Kommentaren versehen, in denen er die vorhergesagten Geschehnisse mit tatsächlichen Ereignissen in einen direkten Zusammenhang brachte. Aus dem Umfang dieser Kommentare kann man schließen, daß er jenen Horoskopen gerade während seines Exils besondere Bedeutung zumaß. Vor allem in dem im Oktober 1920 von einer Münchner Astrologin angefertigten Horoskop, 40 das Vorhersagen bis einschließlich dem 49. Lebensjahr Hasenclevers enthält, unterstreicht er durch ausführliche Kommentare die gerade diesem Horoskop zugemessene Bedeutung. Wie ein Menetekel wird ihm dort möglicherweise jene Aussage erschienen sein, die ihm eine angeblich ungewöhnlich stark ausgeprägte Disposition für einen frühen Tod attestiert. Diese Behauptung wird von einer präzisen Datierung schwerwiegender Gesundheitsprobleme auf das Ende der 30er Jahre ergänzt. Eingedenk der Tatsache, daß der Autor - so stellt Edith Hasenclever fest zeitlebens unter großen hypochondrischen Ängsten gelitten habe, die sich bereits durch weit geringere Anlässe als ein negatives Horoskop erheblich steigern konnten, mögen vor allem diese Prognosen 1940 seine Beurteilung der Ausweglosigkeit seiner Lebenssituation beeinflußt haben. Wörtlich heißt es zu Walter Hasenclevers vitalen Befindlichkeiten: Die Gesundheit ist keine allzufeste [...]. Ebenso achte man auf die Nerven. [...] Die Lebensdauer ist keine allzulange, da der Geborene sich zu rasch [...] verbraucht. Zwischen 48. und 49. Lebensjahr [...] geht Saturn über die Sonne in dieser Geburtsstellung, was ernste Erkrankung zeigt. 41

Die theoretische Bestätigung seines grundsätzlichen und durch derartige Aussagen noch verstärkten Lebenspessimismus fand er - außer in den Schriften Nietzsches, Schopenhauers und Swedenborgs - gerade geschichtsphilosophisch in Oswald Spenglers Werk Der Untergang des Abendlandes,42 das seit seiner Erstveröffentlichung im Jahre 1918 in zahlreichen Auflagen ein Millionenpublikum erreichte und auf das Geschichtsbild der deutschen Bevölkerung erheblichen Einfluß nahm. In Hasenclevers nachgelassener Bibliothek findet sich dieses mit manchen Anstreichungen versehene Buch, das - Edith Hasenclever zufolge - für den Dichter vor allem während der Emigrationszeit häufiger Anlaß teilweise sehr erregter Diskussionen war. Vor allem Spenglers Prognose eines kommenden Zeitalters des »Cäsarismus«, in dem zunehmend primitive politische Gesell39

40 41 42

24

Drei Horoskope für Walter Hasenclever: I. Verfaßt v. »Frl.« Weiser. 6 S., Zeitraum 1920»49. Lebensjahr«. München: Oktober 1920. - O/M. / II. Verfaßt v. A. Graelsch. 20 S., Zeitraum 1921-1923, München: Februar 1921. - O/M. / III. Verfaßt v. Amy Smith. 3 S., Zeitraum 1931-1939. Berlin: Mai 1931. - O/M. Vgl. Horoskop v. »Frl.« Welser. München: Oktober 1920. - O/M. Ebd., S. 5. Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes. München: C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung. Vom Autor überarbeitete Neu-Ausgabe 1923.

schaftsformen die Vorherrschaft übernehmen und der innere Zerfall der Nationen »in eine formlose Bevölkerung« schließlich den Sieg der Gewaltpolitik besiegele,43 prägte Hasenclevers Geschichtsbewußtsein. In seiner letzten literarischen Arbeit, dem Roman Die Rechtlosen,44 versuchte er im Winter 1939/40, sein pessimistisches Weltbild durch die Rezeption dieser These zu begründen, deren Richtigkeit er auch durch die buddhistische Ankündigung eines neuen Erdzeitalters bestätigt sah. Die im Roman artikulierte resignative Erkenntnis, daß jene kommende Epoche der Gewaltherrschaft einem - den humanistischen Traditionen verpflichteten - Individualisten wie ihm keinen Platz mehr biete,45 ist Folge einer zunehmend als ausweglos empfundenen Lebenssituation, in der ihm Schopenhauers Lebensdevise des demütigen Ertragens immer schwerer realisierbar erschien.

4 Wer aber war jener Walter Hasenclever, der schließlich am 21. Juni 1940 - wenige Tage nach dem Fall von Paris - in einem südfranzösischen Internierungslager den Tod durch die Überdosis eines Schlafmittels suchte? Verfolgt man seine unzähligen - nicht erst für die Jahre der Emigration typischen - Reisen und Wohnortwechsel, ist man versucht, ihn mit Ahasver zu vergleichen, und es drängt sich die Vermutung auf, daß er - ruhelos und entwurzelt - in der Dichtkunst die Möglichkeit suchte, eine bleibende Ich-Identität zu finden. Diese Heimatlosigkeit dominierte auch seine Beziehungen zu Frauen, die meist von persönlichen Katastrophen bestimmt waren. So wurde ihm das seit der Kindheit vertraute Gefühl fehlender innerer Stabilität zur prägenden Lebenserfahrung, das er ebensowenig durch wechselhafte soziale Bindungen, durch seine Beschäftigung mit Philosophie und Politik oder durch das vor allem in der Jugend stark ausgeprägte Verlangen nach materiellen Werten ausgleichen konnte. Die in seinen Dichtungen mehrmals gebrauchte Metapher des 'fahrenden Zuges' erhält deswegen eine besondere Bedeutung, da sie auch Ausdruck einer von innerer Unruhe bestimmten Lebensweise ist, die Hasenclevers Vitalität zunehmend erschöpfte. In den folgenden Kapiteln soll der Versuch unternommen werden, die wichtigsten Stationen von Walter Hasenclevers Lebensweg aufzuzeigen. Dabei gilt es, die von wohlmeinenden Freunden verbreiteten Legenden sowie die Klischees der Literaturgeschichten durch den Rückgriff auf die Quellen zu ersetzen. Über die bisher bekannten, aber nur zu einem Bruchteil ausgewerteten Materialien hinaus, 43 44 45

Ebd., m . Tafel »Gleichzeitiger« politischer Epochen. Nicht paginiert; vor Kapitel 1. W.H.: Die Rechtlosen. - In: GDP. S. 393-499. Vgl. ebd., S. 408. »Der persönliche Mensch und der Herdenmensch, in zwei kriegführenden Parteien potenziert, stehen sich zur Entscheidungsschlacht gegenüber. Vielleicht geht es nicht um den Sieg, sondern um die Synthese.«

25

die der Nachlaß im Besitz seiner Witwe und im Deutschen Literaturarchiv Marbach bereitstellt, wird zu diesem Zweck vor allem die äußerst ergiebige und umfangreiche Korrespondenz des Dichters herangezogen. Aus diesen in zahlreichen Bibliotheken, Archiven und Privatsammlungen zusammengetragenen Korrespondenzen lassen sich Entstehung, Intentionen und Wirkungen der Lyriksammlungen, der Dramen und der Prosaaibeiten bedeutend präziser als bisher realisiert rekonstruieren. Gleichzeitig werden aber auch die Lebensumstände, unter denen diese Arbeiten entstanden, nachvollziehbar und die für Hasenclever charakteristischen Entwicklungsschritte und kontinuierlich durchlaufenen Einstellungen deutlich, die typisch für den Lebenslauf eines Autoren der Moderne sind. Da in allen bisherigen literaturwissenschaftlichen Arbeiten nur ungenügend auf die philosophischen Voraussetzungen des Autors eingegangen wurde, erscheint eine schwerpunktmäßige Analyse einzelner Werke sinnvoll. So soll vor allem die Akzentuierung der Auseinandersetzung zwischen Lebensannahme und Lebensverweigerung evidente Einblicke in die weltanschaulichen Ansichten Hasenclevers ermöglichen. Polarisiert in den gegensätzlichen philosophischen Axiomen Nietzsches und Schopenhauers dokumentiert dieser - für den Dichter essentielle - Konflikt eine soziale Genese, in deren Verlauf der Autor zunehmend das seit seiner Jugend formulierte, auf gesellschaftliche Veränderungen orientierte Dichterideal relativierte und schließlich zugunsten einer hauptsächlich auf die Vollendung eigener Individualität abzielenden Intention verwarf. Hierbei erscheint es sinnvoll, die Abläufe der Zeitgeschichte in die Darstellung miteinzubeziehen, da dies eine kritische Perspektive auf die Verhaltensweisen des Autors ebenso ermöglicht wie den Vergleich von hehren Ansprüchen und tatsächlichem Verhalten. Die dadurch vermittelte präzise Kenntnis der Lebens- und Schaffensumstände wird - als Ergebnis einer genauen Recherche gängige Urteile und Mystifikationen korrigieren.

26

I

Familiäre Herkunft

Sein 1934 vollendetes Schauspiel Münchhausen hat Walter Hasenclever ursprünglich dem Andenken seines 'Urgroßonkels Johann Wolfgang von Goethe' widmen wollen.1 Diese ironisch klingende Behauptung einer verwandtschaftlichen Beziehung mit dem 'Dichterfürsten' entbehrt jedoch nicht einer gewissen Berechtigung, obwohl zwischen den ehemals miteinander befreundeten Familien Goethe und Hasenclever keine direkte blutsverwandtschaftliche Beziehung besteht. Der Großvater des Autors, Georg Bernhard Albert Hasenclever (1817-1904; ev.), in Aachen zum Geheimen Rat ernannt, stammt von dem Frankfurter Rat Johann Georg Schlosser ab. Dieser heiratet in erster Ehe Cornelia Goethe, die Schwester des Dichters, mit der er zwei Töchter bekommt: Louise (genannt 'Lulu', 1774-1811) und Julia (1777-1793). Nach dem Tode Cornelias (1777) ehelicht er Johanna Katharina Fahimer, Goethes vertraute Freundin, die dieser, der fünf Jahre Jüngere, in seinen Briefen sowie in Dichtung und Wahrheit als sein 'Tantchen' bezeichnet. Die aus der Verbindung Schlossers mit Katharina Fahimer entstammende Tochter, Henriette Cornelia Franziska (1781-1850), wird am 27. August 1808 die Ehefrau des im bergischen Ehringhausen ansässigen Kaufmannes David Hasenclever (1778-1857)2 und damit die Urgroßmutter Walter Hasenclevers. Außer dieser Beziehung zur Familie Goethes besteht eine blutsverwandtschaftliche Bindung zu der Familie des Künstlers Lucas Cranach, die Hermann Hasenclever in seiner zu Anfang der 20er Jahre dieses Jahrhunderts publizierten Familienchronik des Geschlechts Hasenclever3 ebenso nachweist wie die direkte Blutsverwandtschaft mit der Familie Krupp v. Bohlen-Halbach und der fürstlichen Linie des Geschlechts zu Lippe-Detmold.4 Anekdotisch stellt er fest, daß 1 Vgl. Pinthus, Kurt: L&W. - In: GDP. S. 9. 2 Vgl. Stammbaum der Familie Hasenclever. - Zusammengestellt von Janssen, Elisabeth. In: Rheinische Lebensbilder. Hrsg. v. d. Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, Bd. 4, Düsseldorf: Rheinland-Verlag 1970, S. 253. Vgl. zu dieser Thematik auch: Rees, Wilhelm: Die Hasenclever und ihre Beziehungen zu Goethe und seinem Freundeskreis. - Heimatkundliche Hefte des Stadtarchivs Remscheids, Nr. 5, 1959. 3 Hasenclever, Hermann (Hrsg.): Das Geschlecht Hasenclever im ehemaligen Herzogtum Berg in der Provinz Westfalen und zeitweilig in Schlesien. - 2 Bd.; Remscheid/Leipzig 1922/24; 2. Aufl. 4 Vgl. ebd., Bd. 2, S. 74.

Bartholomäus V. Welser (1484-1561), der Bruder von Johann Schlossers Ahnin Katharina Weiser (1487-1530), der direkte Vorfahre der Kronprinzessin Cecilie, Herzogin zu Mecklenburg gewesen sei, die 1905 Friedrich Wilhelm, den Kronprinzen des Deutschen Reiches und Preußens, heiratet, womit er eine - sehr entfernte - Verwandtschaft seiner Familie mit dem deutschen Kaiserhaus nachweist. Andere Linien seines Geschlechts macht er bis hin zum schwedischen Königshaus ausfindig.5 Der Name Hasenclever bzw. Hasenclev wird erstmals 1595 in Remscheid urkundlich erwähnt und bezieht sich auf ein Gehöft, das der Namens-Stammvater der Familie bei Remscheid erbaut hat. Im Lagerbuch der Gemeinde Remscheid vor 1681 ist verzeichnet, daß der Name dieses Gehöftes auf die dort wohnende Familie übertragen worden sei, wodurch sichergestellt ist, daß der älteste Namensträger der Familie - von dieser als Wilhelm I benannt - ursprünglich einen anderen Namen geführt hat. Der Familienchronist weist hierzu auf Kirchenbücher des 17. Jahrhunderts der Städte Lennep, Solingen und Schwelm hin, die wiederholt Eintragungen über eine Familie »Bertram alias Hasenclever« aufweisen. 6 Um seinen Familiennamen etymologisch zu klären, zitiert Hermann Hasenclever aus dem Remscheider Lagerbuch, worin der Begriff Clev als Bezeichnung für eine mit Klee bestandene Wiese oder für einen Acker genannt wird und der Terminus Clever demnach den Kleemäher bezeichne. »Hasenclev«, so wird im Lagerbuch gefolgert, »ist also ein Kleeacker oder eine Kleewiese, wo sich Hasen gern aufhalten«.7 Der Chronist bezieht sich auf eine Vielzahl anderer Quellen, wenn er darüber hinaus feststellt, daß die Begriffe Clef, Cleff, Clev usw. eine im Bergischen Land gebräuchliche Bezeichnung für Flur- oder Ortsnamen seien und auch soviel wie Hügel oder Abhang bedeuten. Damit weist er ihre ursprüngliche Funktion als Ortsbezeichnung nach, die sie lange vor ihrer Entlehnung als Familiennamen gehabt haben.8 Die Familie Hasenclever lebt seit dem 16. Jahrhundert weit verzweigt im Rheinisch-Bergischen und im Großraum Frankfurt am Main. David Hasenclever, der Schwiegersohn Johann Schlossers, stammt aus Ehringhausen bei Remscheid, wo außer Goethe auch Ernst Moritz Arndt zu seinen gern gesehenen Gästen gezählt hat. Entferntere Verwandte dieser von David Hasenclever abstammenden Linie sind der Biedermeier-Maler Johann Peter Hasenclever sowie Wilhelm Hasenclever, der erste Präsident der sozialistischen Arbeiterpartei und Mitbegründer des SPD-Organs Vorwärts. Gegenüber Kurt Hiller macht der Dichter Walter Hasenclever 1913 jedoch deutlich, daß ihm gerade die letztere verwandtschaftliche Beziehung nicht entfernt genug sein könne:

5 6 7 8

28

Vgl. ebd., Tafel 61. Vgl. ebd., Bd. 1, S. 3. Ebd., S. 4. Vgl. ebd., S. 3-5.

Sonst, wenn ich gefragt werde nach dem Soz. Dem. H. pflege ich (aus bühnentechnischen Gründen) zu sagen: ja. Ihnen aber sage ich, ich bin nicht verwandt mit ihm, und es schmerzt mich weiter nicht.9 Herausragendere Bedeutung für Walter Hasenclevers Sozialisation und die Entwicklung seines politischen Selbstverständnisses erhält dagegen die Familie mütterlicherseits. Der Großvater, der Aachener Kommerzienrat Alfred Reiss (1836-1905) - evangelisch getauft, aber jüdischer Herkunft - entstammt einer Frankfurter Kaufmannsfamilie. Seine Ehefrau, Helene Mathilde Reiss, geb. Mathde (1841-1917; ev.), ist ein Sproß der rheinischen Industriellenfamilie Hoesch.10 Alfred Reiss gelangt 1863 nach Aachen, wo er zum 1. Dezember 1863 - gemeinsam mit seinem Sozius Nikolaus Scheins - die Tuchfabrik Löhergraben 22-44 des Johann Arnold Bischoff kauft. An diese Fabrik angelehnt und nur durch einen parkähnlichen Garten abgetrennt, in dem Gewächshäuser für tropische Pflanzen erbaut sind, liegt das feudale Patrizierhaus des Kommerzienrates Reiss, dessen riesige und - nach Marita Hasenclever - mit Prunk überladene Räume dem Geschmack der Gründerzeit entsprechend ausgestattet werden und bürgerlichen Klassenstolz mit zeitgemäßem Fortschrittsoptimismus repräsentieren. In den folgenden Jahrzehnten vergrößert sich die Firma Scheins & Reiss ständig, und der Kommerzienrat kann weiteren Grundbesitz in Aachen erwerben. Als er schließlich am 2. Dezember 1905 stirbt, führt man die Firma zunächst unter ihrem alten Namen weiter. Ab 1929 heißt sie Goblet & Korreng, bis sie im Zweiten Weltkrieg fast vollständig zerstört wird. In seinem autobiographisch inspirierten Roman Irrtum und Leidenschaft erinnert sich Walter Hasenclever in den 30er Jahren seiner Kindheitserlebnisse im Hause der Großeltern Reiss und beschreibt seinen Großvater als einen typischen Unternehmer der Wilhelminischen Epoche.11 Im Familienkreis ein gütiger alter Herr, habe er im Kontor mit eiserner Strenge geherrscht und in seiner Umgebung keinen dem Sozialismus auch nur entfernt verwandten Gedanken toleriert: Jeder Aufrührer wurde fristlos entlassen, Sozialisten waren Verbrecher, die ins Zuchthaus gehörten. Ob und wovon ein Arbeiter leben konnte, stand außerhalb jeder Diskussion. Schon die Erörterung der Frage war Gotteslästerung.12 In dieser großbürgerlichen Atmosphäre, in der sich Standesbewußsein mit reaktionären sozialen Ressentiments vermischen, entwickeln sich die Grundzüge von Walter Hasenclevers politischen Bewußtsein, und er erkennt die herausragende soziale Stellung seiner Familie. Gleichzeitig entstehen aber auch erste Zweifel an der natürlichen Rechtmäßigkeit dieser Ordnung; Zweifel, die jedoch niemals ausreichen, sein elitäres Selbstverständnis und das enge Verhältnis zum eigenen Besitzstand grundsätzlich in Frage zu stellen. 9 10 11 12

W.H. an Kurt Hiller; Malcesine 18. Mai 1913. - O/M. Vgl. Stammbaum der Familie Hasenclever. - In: Rheinische Lebensbilder. Vgl. W.H.: I&L. S. 40. Ebd.

29

n

1890-1908 Kindheit und Jugend in Aachen

1

Milieu und Erziehung

Eine am 17. Juli 1890 in der Aachener Tageszeitung Echo der Gegenwart veröffentlichte Statistik liefert für die Geburtswoche Hasenclevers (6. Juli bis 12. Juli 1890) beziehungsreiche Daten, die über die damaligen, meist katastrophalen Lebensumstände der ärmeren Aachener Bevölkerung Aufschluß geben. So werden für diesen Zeitraum von insgesamt 42 Todesfällen im Aachener Stadtgebiet (das zu dieser Zeit ca. 105.000 Einwohner umfaßt) 21 Kinder im Alter von O - 1 Jahr genannt (bei 62 Lebendgeburten im gleichen Zeitabschnitt). Als Todesursachen (ohne Totgeburten), die als charakteristische Phänomene der Armut bezeichnet werden können, nennt man: Akute Darmkrankheiten einschließlich Brechdurchfall, 6 Fälle; Lungen- und Luftröhrenentzündungen, 5 Fälle; Lungenschwindsucht, 3 Fälle; Gehirnschlagfuß, 2 Fälle; Keuchhusten und andere Infektionskrankheiten, 3 Fälle; ohne nähere Angaben, 2 Fälle.1 In ein von diesen gesundheitlichen Gefährdungen weniger betroffenes Milieu wird Walter Georg Alfred Hasenclever am Dienstag, den 8. Juli 1890, gegen 15 Uhr 302 als erstes von drei Geschwistern hineingeboren. Seine Mutter, die Tochter des Kommerzienrates Reiss, Mathilde Anna (1969-1953; ev.), hat am 16. März des Vorjahres den ehrgeizigen Aachener Arzt und späteren Sanitätsrat Dr. Carl Georg Hasenclever (1855-1934; ev.) geheiratet. Die am 10. Juli im Echo der Gegenwart veröffentlichte Geburtsanzeige gibt - ebenso wie die am 9. Juli ausgestellte Geburtsurkunde - als Adresse der Familie und Geburtsort Walter Hasenclevers Löhergraben 44 an, das Haus des Fabrikanten Reiss.3 Die Taufe des Kindes findet erst ein halbes Jahr nach der Geburt am 17. Januar 1891 statt. Taufpaten werden die Großeltern: Die Ehepaare Alfred und Helene Mathilde Reiss sowie Georg und Friederike Hasenclever.4 Wohnen wird die junge Familie ab 1890 in einem Haus des Fabrikanten Reiss (Marienplatz 7), in dem sich der Mediziner auch seine Praxis einrichtet, die er 1

Vgl. Nachweis der Bevölkerungsvorgänge für Aachen. - In: Echo der Gegenwart (Aachen), 17.7.1890. 2 Vgl. Geburtsurkunde W.H.s. Ausgestellt am 9.7.1890. - Archiviert im Standesamt Aachen, Dokumentennummer 2085. 3 Vgl. Civilstand der Stadt Aachen. - In: Echo der Gegenwart (Aachen), 10.7.1890. 4 Vgl. Auszug aus dem Taufiregister der Ev. Kirchengemeinde Aachen. - Jahrgang 1891, S. 93, Nr. 10.

bis dahin im Hause Marschiersteinweg 2 geführt hat. 1901 gründet er gemeinsam mit drei Fachkollegen ein Krankenhaus im Aachener Stadtteil Forst. Dort steht er als leitender Arzt der Inneren Abteilung vor und gibt deshalb seine eigene Praxis auf. In der Nähe der Klinik läßt er etwa zum gleichen Zeitpunkt die Villa Haus Hochforst - seit 1905 Altstraße 10 - errichten. Der Mediziner Carl Georg Hasenclever, nach dem heute in unmittelbarer Nähe der Villa eine Straße benannt ist, stammt aus einer im Rheinisch-Westfälischen weit verbreiteten und angesehenen Familie, die den Aufstieg in der preußischen Beamtenhierarchie sowie die Anbindung an das großbürgerliche Unternehmertum vollzogen hat. Ihren Vater beschreibt Marita Hasenclever, die 1902 in der Villa Hochforst geborene Schwester des Dichters, als Sproß einer eher preußisch-spartanischen Familie, der geglaubt habe, seinen ältesten Sohn Walter mit besonderer Strenge erziehen zu müssen, damit dieser durch die von der Familie Reiss eingeführte großbürgerliche Lebensweise nicht verwöhnt werde. Mit dem 1897 geborenen zweiten Sohn Paul, mit dem ihn eine ausgeprägte Liebe zur klassischen Musik verbunden hat, sei er hingegen nachsichtiger verfahren.5 In Irrtum und Leidenschaft beschreibt Walter Hasenclever das Milieu, in das er hineingeboren wurde, rückblickend als zutiefst frauenfeindlich.6 Diese Feststellung ist besonders für die Beziehung seiner Eltern zueinander bedeutsam; eine Beziehung, die Edith Hasenclever, die Witwe des Autors, als eine »defekte Ehe« bezeichnet7 und die in ihren äußeren Auswirkungen besonders für den Erstgeborenen Walter negative Folgen hat. Dieser deutet mit seiner Äußerung über die Frauenfeindlichkeit seines Milieus negative Kindheitserfahrungen an, die Kurt Pinthus als »die Tragik seines Lebens« bezeichnet8 und die der Autor in seinem autobiographischen Roman jedoch verschweigt. Dort erinnert er sich hingegen: Mit fünf Jahren kam ich zu einem Privatlehrer, der mich aufs Gymnasium bereitete. Ich lernte alles, was mir Spaß machte, mit der größten Leichtigkeit. mich nicht interessierte, war nicht in mich hineinzuhämmern. Dazu gehörten thematik und die meisten exakten Kenntnisse. Ich habe von jeher gegen Zwangsläufige protestiert. 9

vorWas Madas

Ausführlicher äußert er sich über dieses 'Hineinhämmern' 1917 in einer autobiographischen Notiz für Dr. Heinrich Teuscher, den Leiter eines Sanatoriums bei Dresden. Dorthin läßt sich der Dichter im dritten Weltkriegsjahr einweisen, indem er eine psychische Erkrankung simuliert, um nach einem Fronturlaub nicht wieder zurück zum Heer zu müssen. Der Wahrheitsgehalt dieser Notiz wird von 5

6 7

8 9

Vgl. Hasenclever, Marita. Zitiert nach undatierter Gesprächsnotiz von Bert Kasties; Aachen. O/Verfasser. Vgl. W.H.: I&L. S. 28. Hasenclever, Edith. Zitiert nach undatierter Gesprächsnotiz von Bert Kasties; Tourrettes s. L. - O/Verfasser. Pinthus, Kurt: L&W. - In: GDP. S. 10. W.H.: I&L. S. 29.

31

Edith Hasenclever gerade für den folgenden Passus, der einem Zitat aus dem Drama Der Sohn gleicht, nachdrücklich bestätigt: Ich wurde von meinem Vater sehr oft geschlagen, meistens mit der Reitpeitsche, wenn ich meine Aufgaben nicht konnte, abends beim Schlafengehen vor meinem Spiegel. Später wurde ich morgens nach dem Frühstück überhört. Da mein Vater wußte, daß mein größter Ehrgeiz war, in der Schule nicht zu spät zu kommen, wurde ich gezwungen, so lange zu lernen, bis ich für den 30 Minuten langen Schulweg oft nur 10 Minuten Zeit hatte. Infolge des angestrengten Laufens erbrach ich fast täglich auf dem Weg mein Frühstück.10

Die Mutter ihrerseits, die - so bestätigt auch Marita Hasenclever - während ihrer ersten Schwangerschaft an einer Schwangerschaftspsychose erkrankt war und vorübergehend in eine Nervenheilanstalt bei Düren eingewiesen werden mußte, hat bereits nach der Geburt Walters weitestgehend das Interesse an ihrem Sohn verloren und seine Erziehung dem Vater und mehrmals wechselnden Gouvernanten überlassen. Im Taufregister der Evangelischen Kirche Aachen ist hierzu vermerkt, daß die Taufe Walter Hasenclevers »wegen schwerer Erkrankung der Mutter« bis zum 17. Januar 1891 hinausgeschoben werden mußte.11 Pinthus schreibt, daß er seinen Freund während ihrer 30-jährigen Freundschaft so gut wie nie über seine Mutter hat sprechen hören. Es scheint überhaupt keine Beziehung zwischen Mutter und Sohn bestanden zu haben, außer der negativen, die der Hausarzt der Familie, Dr. Baurmann, in einem Brief an den Sanatoriumsarzt Teuscher als »Mangel jeglicher Liebe« bezeichnet.12 Auch Edith Hasenclever teilt - ebenso wie ihre Schwägerin Marita - diese Meinung Baurmanns und stellt dazu fest, daß der Mediziner nach Aussagen ihres Mannes 1916 keine Kenntnis von dessen Sanatoriums-Komödie gehabt und deshalb im besten Glauben geurteilt habe. Weiterhin schreibt sie: Ich glaube nicht, dass die in Walters Autobiographie erwähnten Prügel und erotischen Szenen [gemeint sind Äußerungen, daß er von einer seiner Gouvernanten sexuell belästigt worden sei] übertrieben sind; er hat des öfteren mit mir darüber gesprochen. Der Bericht des Hausarztes, Dr. Baurmann ist, da er nicht eingeweiht war, echt ohne Befangenheit. Ich bin überzeugt, dass auch Dr. Teuscher nicht eingeweiht war. 13

Im erwähnten Brief Baurmanns an Teuscher heißt es 1917 über die schon vor der Geburt durch eine Psychose zerstörte Beziehung der Mutter zu ihrem Sohn:

10 11 12 13

32

W.H.: Autobiographische Notiz für Heinrich Teuscher. Dresden 11.10.1917. - O/W. Auszug aus dem Taufregister der Ev. Kirchengemeinde Aachen. Baurmann, Dr. med. an Dr. Heinrich Teuscher; Aachen 1917. - O/W. Hasenclever, Edith an Kurt Pinthus; Cagnes s. M. 28.12.1961. - O/M.

sie haßte seit der Zeit das Kind, wie sie mir oft versicherte, und hat den Haß in ihrem Leben nicht verloren. 14

Während Hasenclever die Erinnerung an seine Mutter zeitlebens zu verdrängen scheint, spricht und schreibt er um so mehr über den Vater, der - so Kurt Pinthus - »seine Patienten wie ein Engel, seine Kinder aber wie ein Wachtmeister« traktiert habe.15 In seinem Drama Der Sohn revanchiert sich der junge Dichter 1913 dafür und baut das - auch vom Hillerschen Aktivismus beeinflußte Schauspiel - auf autobiographischen Grundlagen auf: Der Sohn: Ich erinnere mich gut der Zeit, als du mich mit der Peitsche die griechische Grammatik gelehrt hast. Vor dem Schlaf im Nachthemd, da war mein Körper den Striemen näher! [...] Wie oft habe ich mein Frühstück erbrochen, wenn ich blutig den langen Weg gerannt bin! Selbst die Lehrer hatten Mitleid und bestraften mich nicht mehr. [...] Und jetzt nimmst du mir meine Bücher und meine Freunde, und in kein Theater darf ich gehen, zu keinem Menschen und in keine Stadt. Jetzt nimmst du mir von meinem Leben das Letzte und Ärmste, was ich noch habe. 1 6

Baurmann kommentiert in seinem Brief an Teuscher diese im Drama geschilderten Unterdrückungsmaßnahmen: Der Vater ist ein körperlich gesunder, kräftiger Mann mit krankhaftem Eigensinn und von einem fanatischen Haß gegen alles Moderne in Kunst und Wissenschaft erfüllt [...], dabei pedantisch streng und rücksichtslos; bewußte Unterdrückung der Entwicklung jeder Eigenart in dem Sohn, bewußte Demütigung des Sohnes bei jeder Gelegenheit. 17

Hasenclever selbst erwähnt erfolglose Bemühungen seines Schuldirektors, mäßigend auf den Vater einzuwirken. Der Pädagoge habe aber noch nicht einmal für seinen Schüler die Erlaubnis zum Besuch einer für die gesamte Klasse bestimmten Theatervorstellung zu erwirken vermocht.18 Der Jugendfreund Hans Laut erinnert sich 1960 an Äußerungen des Dichters, in denen dieser es im Zusammenhang derartiger Erlebnisse als ein Unglück bezeichnet habe, überhaupt Verwandte zu besitzen.19 Wegen des Desinteresses der Mutter an ihrem Ältesten steht Walter Hasenclever bis zu seinem Abiturientenexamen meist unter der Aufsicht verschiedener französischsprachiger Gouvernanten, die den autoritären Erziehungsstil des Vaters im wesentlichen mitexekutieren und deren teils brutale Verhaltensweisen er in seiner autobiographischen Notiz für Dr. Teuscher ausführlich beschreibt.20 14 15 16 17 18 19 20

Baurmann, Dr. med. an Dr. Heimich Teuscher; Aachen 1917. - O/W. Pinthus, Kurt: L&W. - In: GDP. S. 10. W.H.: Der Sohn. 2. Akt, 2. Szene. - In: GDP. S. 117. Baurmann, Dr. med. an Dr. Heinrich Teuscher; Aachen 1917. - O/W. Vgl. W.H.: Autobiographische Notiz für Dr. Heinrich Teuscher. Vgl. Laut, Hans an Edith Hasenclever; Köln 25.3.1960. - O/M. Vgl. W.H.: Autobiographische Notiz für Heinrich Teuscher.

33

Die Erlebnisse in seinem Elternhaus führen schließlich zu einer frühen und ernsthaften Auseinandersetzung mit dem Suizid. Dies wird auch durch eine frühe literarische Arbeit Hasenclevers, die Prosasammlung Selbstmörder21 dokumentiert, die bereits wesentliche Motive seines späteren Werkes aufzeigt. Dieses erst 1967 zufällig im Hermann Hesse-Nachlaß gefundene Manuskript umfaßt vier kurze Erzählungen und wurde vermutlich 1907 an Hesse gesandt, der etwa zu dieser Zeit mit der Herausgabe der Zeitschrift März begonnen hatte. In diesen etwa 1906 entstandenen Erzählungen, die Hasenclever auch seinem Deutschlehrer Dr. Löhe vorlegt, setzt sich der Autor intensiv mit dem Freitod auseinander, den er auch in späteren Dichtungen immer wieder thematisiert. Löhe, der den autobiographischen Hintergrund der Texte nicht erkannt haben will, erinnert sich: Hasenclever kam in einer Pause zu mir und bat mich um meine Meinung über den mit mir gleichaltrigen Dichter Hermann Hesse. Peter Camenzind war gerade erschienen. Ich konnte meine Bewunderung für den jungen Kerl nicht verhehlen und fragte, ob er selbst auch schon Verse geschrieben habe. Er meinte, er habe sich mal darin versucht, aber er habe auch kleine Geschichten geschrieben und würde sich freuen, wenn er mir die mal zeigen dürfte. Bald kam er mit fünf Erzählungen. Ich war wieder nicht wenig erstaunt, daß alle fünf Erzählungen Selbstmördergeschichten waren. [...] sie hatten wirklich Hand und Fuß und verrieten Erfindungsgabe und Gestaltungskraft.22

In der Selbstmörder-Erzählung Über dem Leben schreibt der vom Leben enttäuschte 16-jährige Schüler: Es gibt Momente, wo der Tod eine Wohltat wäre, wenn er käme, aber dann kommt er nicht. Es gibt Momente, in denen das Leben zur unnatürlichen Qual wird, dann geht es erst recht nicht fort. 23

Daran knüpft er unmittelbar seine grundsätzliche Frage nach der moralischen Rechtfertigung des Suizids, die er erst etwa drei Jahrzehnte später endgültig beantworten wird: wenn das stolze Bauwerk unsres Lebens vor unsren Augen zerfällt, oder die Angst vor dem Weiterleben alles in uns überbrandet - dürften wir uns dann nicht mit freier Hand selbst erlösen, wo uns keiner helfen kann, dürften wir ihn nicht nehmen den Tod, wo er uns nicht nehmen will? 24

Hasenclever will sich selbst - durch ein Lessing-Zitat - charakterisieren, wenn er in Wer hat die Schuld? schreibt, daß 'Er' - der Protagonist - eine jener Naturen darstelle, die in ihrer Jugend durch »angequälten konventionellen Zwang« ver21

22 23 24

34

W.H.: Selbstmörder. - 1 4 S. unpaginiert, 4 Erzählungen: 'Über dem Leben', 'Träume', 'Wer hat die Schuld?' und 'Stabat mater ... Leben ist Einsamkeit'. Etwa 1906; O/M, Hesse-Depositum. Löhe, Dr. phil. Schriftl. Notiz für Walter Jungt; Aachen 11.11.1960. - O/D. Jüngt. W.H.: Über dem Leben. - In: W.H., Selbstmörder. Ebd.

dorben worden sei - »wie eine volle, rotglühende Rose, die ein früher Sturm entblättert« habe - und nun eine »halb aus Größenwahn, halb aus Weltschmerz« zusammengesetzte Natur darstelle.25 In Über dem Leben läßt er seinen Protagonisten die sich aus diesem Bild ergebende Möglichkeit einer lebenswerten Existenz leugnen: Bei dem einen geht die Zerstörung des Organismus schnell, bei dem anderen langsam. Ich will aber früher fort, weil ich muß und nicht anders kann, weil mein Verstand mir zeigt, daß mein Leben ausgelebt und das, was noch kommt, ein lebendiges Totsein ist ,.. 2 6

Welche seelischen Qualen die an ihm exerzierte Erziehung und die Gefühlskälte der Mutter bedeutet haben müssen, zeigen jene Wunschprojektionen, denen er in Leben ist Einsamkeit - Stabat Mater ... nachhängt. Hier beschwört er das Traumbild einer romantischen Familientragödie, in deren Verlauf die Mutter aus Kummer über den frühen Tod ihres Lieblingssohnes den Freitod wählt. Während er die fiktive Gestalt der Mutter mit überaus positiven Attributen besetzt, flicht er zusätzlich eine Anzahl deutlich autobiographischer Fakten in seine Dichtung ein: So darf der als rücksichtslos und intellektuell begrenzt geschilderte Vater ebensowenig fehlen wie der Aufenthalt der Mutter in einer psychiatrischen Anstalt. Sein Verständnis von der eigenen Person scheint er in der Gestalt der Tochter zu vermitteln, die er als »ein blasses, verschüchtertes Wesen« darstellt, »das [...] Angst hatte vor der stolzen Mutter und nie den Weg zu ihrer Seele fand«. 27 Verständnis und Zuneigung hat der junge Dichter zum Zeitpunkt seiner Arbeit am Selbstmörder-Manuskript hingegen schon längst im Hause der Großmutter Reiss gefunden, das ihm während seiner Jugend oftmals Asyl vor der gewalttätigen Erziehung des Vaters bietet. Dort logiert er auch während seiner späteren Besuche in Aachen, da er das Elternhaus nach seinem endgültigen Auszug im Jahre 1908 nie mehr betritt und den Kontakt mit seinen Eltern weitestgehend einstellt. Die Erinnerungen an die ausgedehnten Aufenthalte im großelterlichen Hause, das über 32 Zimmer verfügt hat und in dem für ihn ein luxuriös eingerichteter Raum bereitstand, werden in Irrtum und Leidenschaft Jahrzehnte später ausführlich niedergeschrieben. Eindrücklich stellt der Autor dabei auch die Ambivalenz der ihn im Hause Reiss prägenden Eindrücke dar, die sich besonders in der Art der Beschreibung des Großvaters wiederspiegelt. Auf der einen Seite von zärtlicher Liebe und Bewunderung für all das erfüllt, was der Kommerzienrat für ihn repräsentiert, versucht Hasenclever mit Hilfe seines lyrischen Ichs andererseits eine eigene Identität in einer sozialpolitischen Gegenposition zu definieren. Aus dieser heraus feiert er sich in der Erinnerung als jugendlichen Revoluzzer und stilisiert sich dabei geradezu als kindlichen Befreier der durch den 25 26 27

W.H.: Wer hat die Schuld? - In: Ebd. W.H.: Über dem Leben. - In: Ebd. W.H.: Stabat mater ... Leben ist Einsamkeit. - In: Ebd.

35

Großvater unterdrückten Arbeiterschaft. Die Naivität, mit der er etwa an einem Weihnachtstag versucht, das Elend einer Arbeiterfamilie mit Hilfe eines Lebensmittelkorbes und seiner Spielzeugeisenbahn zu mildern - die er gegen den Wunsch seiner Großeltern verschenkt wird in der Retrospektive zum programmatischen Kindheitserlebnis verklärt, zur Keimzelle eines schon früh erkannten sozialreformerischen Bewußtseins und hymnisch als »Flügelschlag des Aufruhrs über dem Weihnachtsbaum« gefeiert. 28 Dieses Erlebnis, das der Autor rückblickend als Geburt seines sozialpolitischen Denkens interpretiert, und das biographisch von seiner Schwester belegt wird, hindert den jungen Walter Hasenclever jedoch nicht, auch weiterhin »einen fieberhaften Stolz« zu verspüren, wenn er in die Equipage seiner Großeltern steigt und aus den umliegenden Häusern dieselben »verhungerten Gesichter der Nachbarn« zusehen,29 denen seine Fürsorge noch am Weihnachtstage gegolten hat. Andere typische Kindheitserinnerungen zeigen noch deutlicher die Diskrepanz zwischen dem Wunsch, sich rückblickend eine besonders intensive Politisierung zu attestieren, und den wohl erheblich naiveren Motiven des Jugendlichen. Seinen Großvater z.B., den er in einer Passage seines autobiographischen Romans einem »Gott« gleichstellt, der aus dem »Blumenduft des Treibhauses [...] in die [...] Stickluft der Fabrik trat, [...] aus den Höhen des Olymp in die niedere Welt der Sterblichen«,30 trifft wenige Zeilen später tödliche Verachtung: Dieses nicht etwa wegen seiner Rolle als gewissenloser Kapitalist, sondern wegen harmloserer, allzu menschlicher Schwächen, die bewirken, daß er sich während eines Aachen-Besuches des Kaisers - anläßlich einer Denkmalseinweihung - hemmungslos betrinkt.31 Daß der Autor bei der Schilderung seiner Kindheitserlebnisse in Irrtum und Leidenschaft nicht streng historisch verfährt, sondern einzelne Geschehnisse deren Authentizität jedoch grundsätzlich von seiner Schwester bestätigt wird dichterisch verfremdet, zeigt sich u.a. an jener erwähnten Szene um den kaiserlichen Besuch in Aachen. Die Tatsache, daß es sich bei dem hohen Besuch in der Realität nicht um den Kaiser selbst, sondern um den Kronprinzen gehandelt hat, der im Oktober 1901 in Aachen ein Denkmal seines Großvaters einweiht, während der Kaiser im Mai 1902 Aachen besucht, um im Dom die von ihm gestiftete Marmorausstattung zu besichtigen, zeigt, daß Irrtum und Leidenschaft nur unter Vorbehalt und im Rückgriff auf andere Quellen zur Erschließung der Biographie Hasenclevers benutzt werden kann. Die Erfahrungen im großbürgerlichen Milieu der Familie Reiss vermögen wohl das Interesse des Jugendlichen an allgemeinen sozialen Fragen zu wecken, jedoch bilden sie kein politisches Bewußtsein heran, das an einem grundsätzlichen gesellschaftlichen Wandel interessiert sein könnte. Ebenso flüchtig wie die 28

W.H.: I&L. S. 43ff.

29

Ebd., S. 41. Ebd., S. 40. Vgl. ebd., S. 46f.

30 31

36

frühen, als sozialpolitisch intendiert stilisierten Aktivitäten des Autors wirkt auch dessen späteres - in Leben und Werk aufgezeigtes - gesellschaftspolitisches Engagement. Seine Einstellung sozialen Fragen gegenüber läßt sich auch in einer Äußerung in Irrtum und Leidenschaft nachlesen, die als Bekenntnis nicht nur charakteristisch für den gereiften Hasenclever gewertet werden kann, sondern Aufschluß über eine von ihm lebenslang vertretene Position gibt: Das Bewußtsein von Macht und Reichtum, der Hochmut, etwas Besseres zu sein als die anderen, die Verachtung gegen den Ärmeren, der deshalb, weil er schwächer ist, getreten werden darf - was war schuld an dieser Verwirrung? Milieu und Erziehung, werden die eingefleischten Theoretiker sagen. Nein. Ewig vorhandene Instinkte. Unausrottbar, weil unlösbar mit der Schöpfung verknüpft. 32

Diese Deutung auf der Basis seiner privat-religiösen Weltanschauung ist der Versuch, die gesellschaftlichen Mißstände in die Verantwortlichkeit einer übernatürlichen Instanz zu rücken, der der Mensch als determiniertes Wesen hilflos ausgeliefert sei. Obgleich der junge Hasenclever diese Ansicht mangels eines theoretischen Fundaments noch nicht konsequent vertritt, finden sich auch in den Se/temörder-Erzählungen zahlreiche Hinweise dafür, daß er sich schon sehr früh zu diesem Denkschema hingezogen fühlt und bereit ist, gesellschaftliche und individuelle Phänomene auf dieser philosophischen Basis zu deuten. Eine der in Walter Hasenclevers Kindheit seltenen Begegnungen mit geistiger Toleranz und Unabhängigkeit findet ab 1903 im Konfirmandenunterricht des Pfarrers Deutelmoser statt, der sich nicht dem seinerzeit in der Evangelischen Kirche herrschenden Dogmatismus unterordnen will und auch den Konflikt mit der weltlichen Obrigkeit nicht scheut; sein kompromißloses Beharren auf einer unangepaßten christlichen Lehre führt jedoch Jahre später zu seiner zwangsweisen Entfernung aus der Gemeindearbeit. Am 16. April 1905 konfirmiert er Hasenclever in der Dreifaltigkeitskirche in Aachen-Burtscheid. In der dem Konfirmanden aus diesem Anlaß am 25. April ausgehändigten Bibel trägt Deutelmoser als Konfirmationsspruch Johannes 7, Vers 16 ein: Meine Lehre ist nicht mein, sondern des, der mich gesandt hat. Wenn jemand will des Willen tun, der wird innewerden, ob diese Lehre von Gott sei, oder ob ich von mir selbst rede. 33

Gegen Ende der 20er Jahre, als sich der Autor gegen eine Anzeige wegen Gotteslästerung wehren muß, die sein Stück Ehen werden im Himmel geschlossen provoziert hat, erinnert er sich seiner kirchlich-christlichen Erziehung im Konfirmandenunterricht:

32 33

Ebd., S. 41. Deutelmoser (Ev. Pfarrer/Aachen): Konfirmationsspruch für W.H., Aachen im April 190S. In: Konfirmationsbibel W.H.s.; im Besitz von Edith Hasenclever.

37

Mein Pfarrer war ein kluger und freier Geist [...], an dem wir alle mit grosser Liebe hingen. Er war wegen seiner ketzerischen Ansichten beim Konsistorium wenig beliebt, hatte für jede Frage ein offenes Ohr und betrachtete die Kirche nicht als Kasernenhof, sondern als philosophisches Seminar. 34

In diese Phase geistiger Emanzipation, in der er die Grundlagen seines erst 1908 in Oxford niedergeschriebenen Dramas Nirwana konzipiert, fällt auch seine erste, zurückgewiesene Liebe. In einem Feuilleton erinnert er sich 1927 'seiner' Elfriede, der er in »der Geschichtsstunde« glühende Verse geschrieben habe: Zwischen mathematischen Formeln entwarf ich den ersten Roman. Ich wollte dich nach England entführen. Du hast einen fremden Herrn erhört, der in die väterliche Apotheke eingeheiratet hat. 3 5

2

1899-1908

Gymnasiale Schulzeit

Zu den ersten Schritten, die Hasenclever aus dem Bannkreis seines Elternhauses herausführen, zählt der Besuch des 1886 gegründeten 'Königlichen Kaiser-Wilhelms-Gymnasiums zu Aachen' (KWG). Diese im Gegensatz zum Aachener Kaiser-Karls-Gymnasium in ihrer Struktur bewußt protestantisch ausgerichtete Schule scheint durch ihre streng hierarchische Struktur einer patriarchalisch geführten Lehranstalt des ausgehenden 19. Jahrhunderts die Misere des Elternhauses kontinuierlich fortzuführen. Jedoch schon bald findet der dort 1899 Eingeschulte eine Reihe von Freunden, deren menschlicher und intellektueller Einfluß seine Entwicklung prägen. Die Besuche in den Elternhäusern dieser Freunde eröffnen ihm eine bisher unbekannte Welt der Kunst und Literatur der Moderne, die im Hause Hasenclever verpönt ist. Das Drimbomer Wäldchen, in dessen Nähe Haus Hochforst erbaut wurde, avanciert ab ca. 1905 zu einem geheimen Treffpunkt dieses Freundeskreises, zu dem vor allem der spätere Jurist Hans Laut, Manuel Grumbach und Franz Maria Esser gehören. Von diesen Freunden wird Grumbach Jahre später als Maler Aufmerksamkeit erregen, während sich Esser der Literatur zuwendet. Im Kreise dieser Freunde entstehen erste, nicht erhaltene Gedichte Hasenclevers und werden - so Hans Laut - die ersten ihn philosophisch prägenden Diskussionen über Schopenhauer, Kant und Hegel geführt. Im Feuilleton Das Haus, das die Dichtung erbaute läßt der Autor diese Erlebnisse zwei Jahrzehnte später Revue passieren: Als ich Schüler war, saßen wir in den Wäldern unserer Heimat, verschlangen gierig jede neue Zeitschrift und kannten fast alle modernen Gedichte auswendig. Die Schüler von heute wissen zwar genau, aus welcher Fabrik ein Auto stammt, aber die Verse von Stefan George sind ihnen böhmische Dörfer. 3 6

34

35 36

38

W.H.: Peinliche Begebenheit. - In: Deutscher Theaterdienst. Heft Nr. 10, Heidelberg 12/1928. W.H.: Verstaubte Liebe. - In: F-Nr. 160. W.H.: Das Haus, das die Dichtung erbaute. - In: F-Nr. 202.

Hans Laut, mit dem Hasenclever gemeinsam 1908 die Matura besteht, erinnert sich besonders eines Spottgedichtes auf Lehrer und Schule, das von ihm als die wohl erste Dichtung seines Freundes angesehen wird. 37 In einem Brief an Edith Hasenclever beschreibt Laut einige Wesensmerkmale des jungen Dichters. Er erwähnt vor allem das überschäumende Temperament, die ständige Nervosität und Unruhe seines Freundes sowie dessen überragende Rezitationsgabe, die es ihm in späteren Jahren erlaubt, an einem Abend mehrere seiner Bühnenwerke auswendig vorzutragen, wobei er die verschiedenen Personen der Stücke auch glänzend darzustellen weiß.38 Eine Festschrift des KWG aus dem Jahre 1911, 1961 in Auszügen erneut veröffentlicht, gibt die konfessionelle Zusammensetzung der Abiturklasse des Autors an, in der er der zweitjüngste von 24 Schülern ist. Von diesen sind 13 evangelisch getauft, 2 jüdischen Glaubens und 9 katholisch. Eine kurz vor den Abschlußprüfungen vorgenommene Befragung dieser Schüler habe ergeben, daß 7 von ihnen, darunter auch Hasenclever, den Wunsch eines späteren Jurastudiums äußerten.39 Hans Laut berichtet, daß sein Freund in der Schule vor allem durch seinen Freisinn »bei allen pedantischen und anders gearteten Lehrern immer wieder« negativ aufgefallen sei und gerade im Deutschunterricht größere fachbezogene Schwierigkeiten mit seinem Lehrer hatte, während er bereits an seinem ersten Drama Nirwana gearbeitet habe.40 1919 erinnert sich Hasenclever in einer Notiz zu einem Artikel der Zeitschrift Hochland, er habe Nirwana bereits mit 15 Jahren konzipiert und erst etwa zwei Jahre später während seines »ersten Semesters in Oxford [...] aus dem Gedächtnis« niederschreiben können, »da mir, solange ich auf der Schule war, jede literarische Betätigung von meinen Eltern verboten war«.41 Zu diesem Verbot schreibt Laut, daß sein Schulfreund, der selbst als Oberprimaner nicht den Faust habe lesen dürfen, mehrmals zu ihm »nach Hause für mehrere Wochen eingeladen« worden sei, »um ihm etwas Freiheit zu geben, [...] z.B. 3 Wochen Osterferien«.42 1907 wird der 1889 in Oberkrüchten bei Erkelenz geborene Schriftsteller Karl Otten Schüler des KWG, wo er schon bald »Freundschaft mit dem wildempörten Walter Hasenclever«43 schließt. Der 1956 von Otten verfaßte Essay Europa lag in Aachen44 erinnert an Hasenclevers spätere Schulzeit. In diesem Essay benennt 37 38 39

40 41

42 43

44

Vgl. Laut, Hans an Edith Hasenclever; Köln 25.3.1960. - O/M. Vgl. ebd. Vgl. Einhard-Gymnasium Aachen: 75 Jahre Einhard-Gymnasium [ehemaliges KWG]. Aachen 1886-1961. - Aachen: Basten 1961/62. Laut, Hans an Edith Hasenclever; Köln 25.3.1960. - O/M. W.H.: [Unbetitelte Erwiderung auf Joseph Sprenglers 'Über Ibsen zum Expressionismus' aus: Hochland. 1919/1920, 17. Jg., Bd. 2, S. 362-364.] - In: Hochland. 1919/1920, S. 766f. Laut, Hans an Edith Hasenclever; Köln 25.3.1960. - O/M. Otten, Karl: Werk und Leben. - Hrsg. v. Zeller, Bernhard und Otten, Ellen. Mainz: v. Hase und Koehler 1982, S. 14. Otten, Karl: Europa lag in Aachen. - In: Otten, Werk und Leben. S. 128-134.

39

Otten die wichtigsten geistigen Einflüsse, unter denen er und sein Aachener Freundeskreis gestanden habe. Zu diesem Kreis zählt er außer Walter Hasenclever den Dichter Ludwig Strauß, den Romancier und späteren Arzt Philipp Keller sowie den Schriftsteller Jules Talbot-Keller. Otten erinnert sich, daß der Aachener Kunstsammler und Mäzen Edwin Suermondt zum geistigen Mentor dieser Gruppe geworden sei. Zu dessen Füßen sitzend seien sie von ihm mit der für sie fremdartigen Bilderwelt des jungen Picasso, Matisse und Derain bekannt gemacht worden: Die Diskussionen, die in Pariser Ateliers begannen, wurden in unserem literarischen Klub fortgesetzt. Suermondt besaß die magische Gabe, Menschen zu bilden, von der Enge zu befreien, die Routine, Grenze, Tradition und Wohlstand hieß. Er war ein Rebell in jeder Hinsicht und machte uns Gymnasiasten gleichfalls aufsässig.45 Suermondt, der mit Rilke und Stefan George, mit Mombert und Dauthendey in regem Briefwechsel verkehrt, eröffnet dem Autor eine ihm bis dahin völlig unbekannte und weitläufige Welt, in der neben George auch Stendhal und Strindberg zu seinen literarischen Vorbildern werden. Im Lesesaal des Suermondt-Museums erschließen ihm Kunstzeitschriften wie Pan und Hyperion die Avantgarde, bringen ihn die Zeichnungen Ernst Barlachs und Rilkes Stundenbuch auf die Idee, die russische Literatur, insbesondere den von Nietzsche gepriesenen Dostojewski, zu erobern: Dostojewski erst gab unserer zunächst vorwiegend ästhetisch ausgerichteten Liebe für Europa eine ethische und soziale Bedeutung, die sich dann als Voraussetzung der neuen Kunst dem unbewußten Aufbegehren gegen Vater- und Staatsgewalt zuordnete.46 Unterstützt wird dieser geistige Emanzipationsprozeß durch die umfangreiche Büchersammlung moderner deutscher Literatur, über die Ludwig Strauß verfugt, der Hasenclever unter anderem auch auf die Schriften von Else Lasker-Schüler aufmerksam macht. In diesen Jahren entwickelt sich auch Hasenclevers Liebe zum Theater, die ihn als Primaner zu heimlichen Exkursionen nach Düsseldorf verleitet, wo er die so sehr verehrte Louise Dumont auf der Bühne des Schauspielhauses erlebt. Im völligen Gegensatz zu diesen freigeistigen Erfahrungen steht der konservative Schulalltag des Gymnasiums. Diesen schildert Otten 1957 in einem Beitrag für das Programmheft eines Göttinger Theaters, wobei er sich besonders Hasenclevers heftiger Gegenreaktionen erinnert: In der Pause [...] schäumte er dann über; seine Tiraden, Schmähungen und Bosheiten gegen alles, was diesen Hintersassen der Intelligenz heilig war, rasten nur so

45 46

40

Ebd., S. 128f. Ebd., S. 132.

über seine zuckenden Lippen. Seine schwarzen Augen erstachen uns mit düster lodernden Blicken.47 Auch von einem frühen Bekenntnis zu Friedrich Nietzsche weiß Otten zu berichten, das dem Freund eine grobe Maßreglung durch den Schulleiter einträgt: Hasenclever, Sie haben gewagt, in Ihrem Aufsatz Friedrich Nietzsche zu zitieren. Wie kommen Sie dazu?' 'Ich halte ihn für den bedeutendsten Denker unserer Zeit!' antwortete der Primaner mit heller Stimme. 'Und ich sage Ihnen, er ist einer der schlimmsten Attentäter gegen alles, was uns Deutschen heilig ist! Ein Schüler, der die Frechheit besitzt, Nietzsche zu lesen, wird unter der Guillotine enden!" Da geschah etwas Unerwartetes. Hasenclever beugte sich weit vor und fragte blitzschnell: 'Unter einer französischen oder einer deutschen, Herr Direktor?'48 Einen weiteren Beleg für das schon früh entwickelte Interesse am Werk Friedrich Nietzsches, dessen Schriften zu einer der wichtigsten geistigen Voraussetzungen der Künstlergeneration von 1890 werden und auf Walter Hasenclevers dichterische Entwicklung einen bedeutenden Einfluß nehmen, finden sich in Wer hat die Schuld? im Selbstmörder-Manuskript. Der Autor berichtet hier vom äußeren Anlaß seines Nietzsche-Interesses und erteilt dem bürgerlichen Verständnis der christlichen Botschaft auf der Basis dieses philosophischen Fundaments eine deutliche Absage: Als er eines Tages harmlos den Namen 'Nietzsche' nannte, fiel seine Mutter beinahe in Ohnmacht vor Schrecken, dadurch kam er erst auf den Gedanken, dies 'wilde Tier' einmal näher kennen zu lernen, fand Interesse an seinen gefährlichen Sprüngen und kannte es bald so gut, daß er nachdrücklich, wie eben möglich, nur Nietzsche dachte und schrieb, was für Beteiligte äußerst störend und unangenehm wirkte und ihm selber ernstliche Folgen zuzog. [...] Er haßte jene Menschen, die stumpfsinnig dem Zug in die Kirchen folgen und auch die, die nicht anders können, wenn sie auch nicht wollen und müssen. Er hatte keine Lust, sich das in den Mund legen zu lassen, was Menschen vor ihm erfunden hatten, er wollte sich selbst erfüllen, ohne die Hilfe von anderen, nur mit sich selbst sein, ohne Gott und Welt. Er konnte den Gedanken nicht fassen, daß es einen Gott gebe; [...] es war ihm unerträglich, daß jemand über ihm stand, und daß er durch ewige Naturgesetze gehindert sein sollte, ihm gleich, über ihn hinaus zu werden.49 Schon der formale Aufbau der Erzählung ist an der Lehre Nietzsches orientiert. Der Schüler Hasenclever schildert den Emanzipationsprozeß eines jungen Mannes, dessen Loslösung von der elterlichen Autorität schnell gelingt und vom Autor durch eine Reise zum amerikanischen Kontinent dargestellt wird. Den von Nietzsche im Zarathustraso als zweite Stufe des dreistufigen Individuationsprozesses beschriebenen Entwicklungsschritt (das Losreißen von den alten Autoritä47

48 49

Otten, Karl: In Memoriam Walter Hasenclever. Der Mitschüler. - In: Blätter des Deutschen Theaters in Göttingen. Nr. 115, 1957/58, S. 15f. Otten, Karl: Europa lag in Aachen. - In: Otten, Weik und Leben. S. 131. W.H.: Wer hat die Schuld? - In: W.H., Selbstmörder. Vgl. Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. - In: Werke in sechs Bänden. Bd. 3, Hrsg. v. Schlechte, Karl. München-Wien: Hanser 1980, S. 293.

41

ten) kann der Protagonist aber nur mit Mühe vollziehen. Indem er das Leben für wertlos erklärt, unternimmt er einen Suizidversuch, der jedoch fehlschlägt. Als ihm im Krankenhaus schließlich bewußt wird, von der eigenen, noch aus der alten Heimat mit nach Amerika gekommenen Frau bis auf den Tod gehaßt zu werden, faßt er den für seine Ärzte übermenschlich erscheinenden Entschluß, allen medizinischen Prognosen und dieser Frau zum Trotz wieder gesund zu werden. Nach Nietzsche kommt dies dem Erreichen der dritten und letzten Stufe (der Hinwendung zu den eigenen Werten und endgültigen Zielen) auf dem Weg zu der im Zarathustra definierten positiven Freiheit gleich. Damit scheint der Prozeß der Individuation zur Zufriedenheit abgeschlossen zu sein. Hasenclever äussert jedoch an dieser Stelle auch Vorbehalte gegenüber Nietzsches Theorie, indem er feststellt, daß sein Held das Krankenbett zwar äußerlich geheilt und genesen verlasse, seelisch jedoch »tot und starr«51 geblieben sei. Interessant ist wiederum die biographische Parallele zum Dichter, da sich dessen Mutter als Vorbild für die Frauengestalt in Wer hat die Schuld? förmlich aufdrängt. Besonders hier wird deutlich, daß dem Dichter die Beschäftigung mit dem Werk Nietzsches zwar die Möglichkeit einer äußeren Distanzierung von seinem familiären Umfeld und darüber hinaus von der patriarchalisch strukturierten Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts gibt, daß sie ihm jedoch - eingedenk der von ihm formulierten Vorbehalte - keine restlos überzeugende Alternative zu seinen persönlichen Lebensbedingungen und den von ihm abgelehnten Gesellschaftsstrukturen zu bieten vermag. Etwa zum gleichen Zeitpunkt wie die Sammlung Selbstmörder entsteht eine Reihe von Gedichten, die der Autor im Januar 1907 erfolglos dem Stuttgarter Cotta-Verlag zur Veröffentlichung anbietet (»Soeben stehe ich vor Beendigung einer Sammlung meiner Gedichte, die ich nunmehr als Erstlingswerk veröffentlichen möchte.«).52 Um seine Bemühungen vor den Eltern zu verschleiern, gibt er als Absender die Adresse eines Frl. C. Dehez im Aachener Stadtteil Haaren an. In einem Brief an Edith Hasenclever schreibt der Bruder des Dichters - Paul Hasenclever - am 10. März 1964, daß Frl. Dehez höchstwahrscheinlich eine Bekannte von Hans Laut gewesen sei oder aber eine Verwandte einer Hausangestellten der Großeltern Reiss. Weiterhin vermutet er, daß zumindest ein Teil dieser Gedichte 1910 in dem Gedichtband Städte, Nächte und Menschen erschienen sei. 53 Im Winter 1907/08 zeichnet sich für den jungen Walter Hasenclever jedoch ab, daß er nicht mehr lange auf derartige Versteckspiele angewiesen sein wird, da die Vorbereitungen auf die Abiturprüfungen auch den Tag seines endgültigen Auszuges aus dem Elternhaus in greifbare Nähe rücken lassen. Am 12. Dezember 1907 sucht er - gemeinsam mit seinen 23 Mitschülern - beim Königlichen Provinzialkollegium in Koblenz um die Zulassung zur Reifeprüfung nach. 51 52 53

42

W.H.: Wer hat die Schuld?-In: W.H., Selbstmörder. W.H. an J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger / Stuttgart; Haaren 3.1.1907. - O/M. Vgl. Hasenclever, Paul an Edith Hasenclever; Westerland 10.3.1962. - O/M.

Die Aachener Prüfungskommision, bestehend aus dem Direktor des KWG und sechs Gymnasiallehrern, reicht die Meldungen der 24 Aspiranten zusammen mit Gutachten ein, in denen darüber befunden wird, ob die Schüler aufgrund ihrer Leistungen in der Prima sowie in ihrer »sittlichen Haltung« den allgemeinen Zulassungsbedingungen entsprächen. Über Walter Hasenclever heißt es, daß er sich bei guter Begabung im allgemeinen befriedigende Kenntnisse erworben habe, jedoch noch Mängel gerade in lateinischer Grammatik und in den Fächern Geschichte und Erdkunde aufweise, weshalb seine Prüfungsreife als zweifelhaft erscheine. Sein Betragen werde dagegen als gut bewertet und sein Fleiß für befriedigend befunden. 54 Die schriftlichen Prüfungen beginnen am 13. Januar 1908 mit dem Fach Griechisch. Am folgenden Tag erfolgt eine Arbeit im Fach Deutsch über Goethes Italienische Reise, die Hasenclever als erster der Prüflinge und mit durchschnittlichem Resultat beendet. Einen Tag später folgt die schriftliche Prüfung im Fach Mathematik. Nach Beendigung der schriftlichen Arbeiten haben 19 Schüler die Abschlußprüfung aufgrund ihrer positiven Resultate bereits bestanden. Für die übrigen fünf - einschließlich Walter Hasenclever - findet am 17. Februar zusätzlich eine mündliche Prüfung statt. Den Vorsitz der 'Königlichen Kommission', die die Prüfungen abnimmt, führt dabei der Provinzial-Schulrat Prof. Dr. Nelson. Im Fach Religion wird dem Dichter reines Katechismuswissen abverlangt. Eine Frage, die Anlaß zu einer religionsphilosophischen Auseinandersetzung hätte bieten können, ist in den erhaltenen Prüfungsunterlagen nicht verzeichnet. Obgleich die hier erbrachte Leistung des Kandidaten nicht überzeugt, überwindet er - wie auch seine Mitschüler - diese letzte Hürde, da seine Ergebnisse in Geschichte (über Napoleon Bonaparte), im Lateinischen, in der Mathematik und im Fach Französisch den Anforderungen gerade noch genügen.55 Hasenclevers Reifezeugnis, das auf den 17. Februar datiert ist, vermerkt, daß dem Prüfling nur »mit Rücksicht auf frühere« Leistungen das Fach Religion noch mit der Note Genügend anerkannt worden sei. Im Deutschen habe er sich »in der Form nicht immer gewandt« gezeigt, aber »der Inhalt der Aufsätze [sei] besser« gewesen; für Literatur habe er großes Interesse und »gutes Verständnis« gezeigt. In der Mathematik habe er zwar in der schriftlichen Prüfung nicht die verlangte »Genauigkeit im Lösen mathematischer Aufgaben bewiesen, dagegen ließ er bei der mündlichen Prüfung eine hinreichende Vertrautheit mit den Grundbegriffen der elementaren Mathematik erkennen, so daß ihm ebenfalls mit Rücksicht auf die befriedigenden Prüfleistungen«56 noch ein genügendes Resultat zuerkannt worden sei. In der Schlußbemerkung des Reifezeugnisses, in dem lediglich das 54

55

56

Vgl. KWG Aachen: Akte der Abiturprüfungen des Winters 1907/08. 13 Blatt. - O/im Besitz des Einhard-Gymnasiums Aachen. Vgl. Bericht und Benotungen der mündlichen Abituiprüfungen im KWG Aachen, 17.2.1908. - In: KWG Aachen: Akte der Abiturprüfungen des Wintere 1907/08. KWG Aachen: Reifezeugnis W.H.s, 17.2.1908. - O/M.

43

Fach Sport mit der Note Gut vermerkt ist, heißt es, daß der Prüfling das Gymnasium mit dem Wunsch beende, Rechtswissenschaft zu studieren, wozu ihn die Kommission mit den »besten Wünschen und Hoffnungen« entlasse.57 Auf seinen negativen Erfahrungen mit dem Wilhelminischen Erziehungswesen baut Walter Hasenclever seinen 1918 entstehenden Essay Krieg und Schule auf, 58 den er anläßlich der Friedensverhandlungen der Mittelmächte mit SowjetRußland in Brest-Litowsk verfaßt. Seine Abrechnung mit der erduldeten Schulzeit gerät zu einem Manifest der expressionistischen Generation. So fordert er gravierende Reformen für das deutsche Bildungssystem, da seiner Ansicht nach vor allem der in der Schule gepflegte restriktive Erziehungsstil die Verantwortung für den aus nationalistischer Hybris geführten Weltkrieg trage. Als Voraussetzung jeglicher Völkerverständigung verlangt er deshalb nach »moralischen Reformen« in den einzelnen Nationalstaaten, bei denen an erster Stelle eine grundsätzliche Erneuerung »der Erziehung und des öffentlichen Unterrichts« stehen müsse, denn: Wie kann ein Strom klar fließen, wenn seine Quellen vergiftet sind! Die Autokratie der Schule ist das Abbild des Staates. Auf den Machtanspruch des Vaters folgt die Diktatur des Lehrers; oder int dum metuant! [...] Jedes Fach des Unterrichts hat seine besondere Autorität. Jeder Lehrer seinen privaten Absolutismus. Die Unterwürfigkeit des Schülers wird gestärkt durch den Schulaufsatz, der Chauvinismus durch den Geschichtsunterricht. Anstelle der Liebe setzt die Religionsstunde den Haß gegen Andersgläubige; altdeutsche Kriegslyrik beschließt die Kultur, bis endlich nach 12 Jahren Selbstmord, das Examen, diese lächerliche Verkettung von Zufällen über Sein oder nicht Sein in der Klasse der Auserwählten entscheidet.5®

57 58

59

44

Ebd. W.H.: Krieg und Schule. - Unveröffentlichtes Feuilleton. Entstanden anläßlich der Waffenstillstandsverhandlungen der Mittelmächte mit Sowjet-Rußland in Brest-Litowsk. 1918. O/W. Ebd.

m

1908-1910

Frühe Studienzeit

1

Frühjahr - Sommer 1908 Oxford

Im Frühjahr 1908 reist Walter Hasenclever nach England, um sich durch ein Studium des englischen Rechts an der Universität von Oxford auf die von seinem Vater für ihn gewünschte Diplomatenlaufbahn vorzubereiten und seine Kenntnisse der englischen Sprache zu vervollkommnen. »Ich war damals 17 Jahre alt und stotterte ein Primanerenglisch, das den Oberklassen des humanistischen Gymnasiums angemessen war«,1 erinnert sich der Autor und beklagt, daß er wegen seiner »ausschließlich grammatikalischen« Sprachkenntnisse nicht einmal seinen Koffer bei der englischen Bahn hätte aufgeben können.2 Ich sehe noch, wie ich mit Herzklopfen in Flissingen den Dampfer bestieg, unkundig englischer Table d'höte-Gebräuche und etwas benommen vor dem ersten Ausflug ins Unbekannte. Ich fuhr am nächsten Morgen durch London und es gelang mir, mit Hilfe eines Wörterbuches, den richtigen Zug zu erreichen.3

Edith Hasenclever berichtet von Erzählungen ihres Mannes, nach denen dieser vor seiner Abreise vom Vater in dessen Arbeitszimmer gerufen worden sei, wo ihm der Mediziner »zur Warnung« vor der plötzlichen 'Freiheit' eine Reihe drastischer Darstellungen der verschiedenen Symptome von Geschlechtskrankheiten präsentiert habe, die ihre schockierende Wirkung auf Hasenclever nicht verfehlt und »geradezu hysterische Ängste« verursacht hätten.4 Der Vater sorgt jedoch nicht nur allein durch derartige 'pädagogische' Maßnahmen, sondern auch durch die Art der Unterbringung seines Sohnes in der englischen Universitätsstadt dafür, daß dieser sich seinen moralischen Ansprüchen gemäß verhält. So wird Hasenclever bereits auf dem Bahnhof in Oxford von seinem Tutor in Empfang genommen, bei dem er während der nächsten Monate wohnen wird, anstatt ein Zimmer in seinem College zu beziehen. Hierzu erläutert der Autor Jahre später:

1 2 3 4

W.H.: Erinnerungen an Oxford. - F-Nr. 158. Ebd. Ebd. Hasenclever, Edith. Zitiert nach undatierter Gesprächsnotiz von Bert Kasties. Tourrettes s. L. - O/Verfasser.

Jeder Student muß entweder in einem College wohnen, das er sich nach der Größe seines Geldbeutels aussuchen darf, oder bei einem Tutor, einer akademischen Persönlichkeit, die der Universität für die moralische Führung des Zöglings haftet.5 Sein Tutor ist der Humanist und Pazifist Arthur Hamilton Pilkington, ein Professor für alte Sprachen und 'Fellow of Balliol College', in dessen Haus in der Bardwell Road 21 auch eine Reihe anderer ausländischer Studiengäste wohnen und dort in der englischen Sprache und Geschichte sowie über die Landeskunde unterrichtet werden. Der Aachener Jurist Dr. Claus Springsfeld, der 1910 ebenfalls für einige Monate bei »Mr. Pilk« logiert, erinnert sich, daß dieser, obgleich aus Irland stammend, ein betont gläubiger anglikanischer Christ gewesen sei. Gemeinsam mit seiner deutschstämmigen Frau Minnie habe er zwei Töchter im Alter von 12 und 9 Jahren gehabt. Professor Pilkington - der um 1916 stirbt, als das Schiff torpediert wird, mit dem er im Rahmen einer Rot-Kreuz-Tätigkeit von England zum Kontinent übersetzt - habe ihm öfters von Hasenclever als hochbegabten, wenn auch nicht leicht erziehbaren Schüler berichtet, der mit den einengenden Bestimmungen der Universität schlecht zurechtgekommen sei. Jeder Student, ob im College oder privat wohnend, hatte bis spätestens 21 Uhr wieder zu Hause zu sein, worüber Pilkington in den Semesterberichten über seine Studiengäste dem Vizekanzler der Hochschule Rechenschaft ablegen mußte. 6 Gerade diese Einengung der persönlichen Freiheit wird für Hasenclever ein besonders schwerwiegendes Problem, nicht zuletzt wegen seiner in Oxford beginnenden Freundschaft mit der späteren Schauspielerin Greta Schröder, die in den 20er Jahren den Regisseur und Schauspieler Paul Wegener heiratet, und der er auch sein in Oxford niedergeschriebenes Drama Nirwana widmet. Ein Wermuthtropfen in diesem heiteren, unbekümmerten Leben war die Rigorosität der englischen Moral. Damenbekanntschaften, ausgenommein im gesellschaftlichen Rahmen, waren streng verpönt. Hier verstand die Universität keinen Spaß. Wer mit einem Mädchen ertappt wurde, wurde unweigerlich relegiert.7 1917 bekennt Walter Hasenclever aber, daß Oxford »die beste Zeit meines Lebens« gewesen sei, »da der dortige Erzieher mir nichts in den Weg legte, was mein Dichten betraf«. 8 An anderer Stelle führt er dazu weiter aus: Es waren schöne, sorglose Zeiten. Die warmen Frühlingstage in der zauberhaften Stadt; die alten Klostergänge der ehrwürdigen Colleges, Gärten und Villen, Feste und Regatten. Es gab Einladungen von Negerfürsten, Picknicks an der Themse [...]. Tagsüber in Hemd und Tennishose auf den Wiesen, umweht von dem buntseidenen 5 6 7 8

46

W.H.: Erinnerungen an Oxford. Vgl. Springsfeld, Dr. jur. Claus: Schriftliche Notiz für Walter Jüngt. 1961. - O/D. Jüngt. W.H.: Erinnerungen an Oxford. W.H., zitiert nach Denkler, Horst: Walter Hasenclever. - In: Rheinische Lebensbilder. Hrsg. v. d. Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde. Bd. 4, Düsseldorf: Rheinland-Verlag 1970, (S. 251-272), S. 257.

College-Tuch; abends im Frack auf den Straßen. Dieser Frack, ich besitze ihn heute noch, vermittelte meine Bekanntschaft mit englischen Schneidern. Und er ist heute noch, nach 19 Jahren, noch herrlich wie am ersten Tag! 9

1910 gedenkt er in seiner ersten publizierten Gedichtsammlung Städte, Nächte und Menschen der Oxforder Sommerabende »unter alten, dunklen Bäumen«, wobei er die gewonnene Freiheit vom Elternhaus mit einer Reise »fast wie ein Träumen [in die] Unendlichkeit« gleichsetzt.10 Den ihm von Pilkington gewährten Freiraum nutzt er, um sich statt mit der Jurisprudenz mit deutscher, englischer und französischer Literatur zu beschäftigen. Greta Schröder-Wegener erinnert sich Jahrzehnte später in einem Gespräch mit dem Theaterintendanten Walter Jüngt, daß Hasenclever während seines Aufenthaltes in Oxford besonders den Werken Hugo von Hofmannsthals und Maurice Maeterlincks große Aufmerksamkeit geschenkt habe. Darüber hinaus habe er sich auch mit den Dichtungen Oskar Wildes beschäftigt (der zu dieser Zeit in England höchst verpönt war), jedoch mehr »aus Rebellentum als seiner literarischen Qualitäten wegen«. Weiterhin hält sie fest, daß Hasenclever, den sie in Oxford der Astrologie zuführt, sich bereits dort für die buddhistische Lehre interessierte und ihr in ein geschenktes Buch als Widmung ein Zitat aus den Reden Buddhas geschrieben habe: »Geh an der Welt vorüber, sie ist nichts«. Seine intensive Auseinandersetzung mit dem Buddhismus sei jedoch erst zu Beginn der 20er Jahre durch die Freundschaft mit dem Schauspieler Paul Wegener erfolgt. 11 Eingehender als mit fernöstlicher Philosophie beschäftigt sich der junge Autor in England jedoch mit seinen eigenen Dichtungen, für die er nun auch Publikationsmöglichkeiten findet. In einer Notiz für die im Rowohlt-Verlag von Willy Haas herausgegebene Zeitschrift Die literarische Welt schreibt er 1928, daß sein erstes gedrucktes Gedicht Die Auswanderer während seines Aufenthaltes in Oxford entstanden sei; nach seiner Erstveröffentlichung wird es noch mehrfach, z.B. 1910 im Aachener Almanach und in Städte, Nächte und Menschen publiziert: Ich war damals Student [...] und schrieb, anstatt römisches Recht zu hören, im Kolleg ein Stück 'Nirwana', das ganz im Ibsenstil gehalten war und für dessen Drucklegung ich mir das Geld im Poker gewann. Wir fuhren einen Tag nach Liverpool, und dort sah ich zum erstenmal einen transatlantischen Dampfer. Die dumpfe Masse der Auswanderer machte einen tiefen Eindruck auf mich. So entstand das Gedicht 'Die Auswanderer', das Wilhelm Schäfer in der Zeitschrift 'Die Rheinlande' druckte; ihm verdanke ich meine Einfuhrung in die Literatur.12

9 10 11

12

W.H.: Erinnerungen an Oxford. W.H.: Oxford. - In: W.H.: Städte, Nächte und Mensch». München: Bonseis 1910, S. 8. Schröder-Wegener, Greta. Zitiert nach Gesprächsnotiz von Walter Jüngt. Berlin etwa 1960. O/D. Jüngt. W.H.: Mein erstes Gedicht. - In: Die Literarische Welt. Hrsg. v. Haas, Willy. Nr. 16, Berlin 20.4.1928, S. 4.

47

a.

Nirwana

In die Monate des Oxford-Aufenthaltes fällt auch die Niederschrift seines ersten Dramas Nirwana, das sich im Aufbau seiner vier Akte beinahe schulmäßig an die damals gängigen Dramentheorien hält und die tragische Lebensgeschichte eines gegen die Verlogenheit gesellschaftlicher Konventionen aufbegehrenden Mannes erzählt. Formal und inhaltlich lehnt der erst Achtzehnjährige diese Bühnendichtung an Motive und technische Mittel Henrik Ibsens an, der zeitlebens eines seiner großen dichterischen Vorbilder bleibt. Zugleich spielt Hasenclever mit Nirwana auf die Emanzipationsphilosophie Friedrich Nietzsches an, ohne sich dabei jedoch eine ironische Auseinandersetzung mit dem Übermenschen-Axiom zu ersparen, indem er seinen Dramenhelden Sternau den scheiternden Versuch unternehmen läßt, dichterisch eine Existenz zu führen, die der Zarathustras ähneln soll. Bereits der Untertitel (»Eine Kritik des Lebens in Dramaform«) weist auf diese Distanz zu Nietzsche hin und betont die geistige Nähe des Autors zu den lebensphilosophischen Überlegungen Arthur Schopenhauers. Hasenclever, der seit seinen Jugendjahren mit dessen Werk vertraut ist, da die Bibliothek seines Vaters Schopenhauers Schriften enthält, wird die Grundzüge dieser Denkschule im Laufe der Jahre immer stärker - in buddhistischer Ausformung - zum zentralen Inhalt seiner Weltauffassung machen. Für das Verständnis der Dichtungen Hasenclevers eröffnet die intensivere Auseinandersetzung mit Nirwana deshalb wichtige Voraussetzungen,13 weil der Dichter auch später die in jenem Jugenddrama artikulierten Positionen grundsätzlich wiederaufgreift und neu reflektiert. Am 23. September 1908 schließt er mit dem Leipziger Curt Wigand-Verlag einen Vertrag über den Druck des Dramas, der - bei einem vorgesehenen Ladenpreis von 3 Mark und einer Auflage von 1000 Exemplaren - als Summe der Druckkosten 700 Mark nennt.14 Diese Auflage, die schließlich 1909 im Selbstverlag erscheint, wird jedoch vom Autor bereits kurz nach ihrer Publikation wieder aus dem Buchhandel zurückgezogen, da sie sich als unverkäuflich erweist. 15 1927 erinnert sich Hasenclever in einem Feuilleton ausführlich der näheren Umstände, die die Veröffentlichung des Dramas betreffen: Pokerspiel [...] Es wurde hoch gespielt. Ich besaß zehn Pfund und hatte zwischen Tennisspiel und Kollegstunden mein erstes Drama 'Nirwana' geschrieben, für dessen Drucklegung Curt Wigand [...] 900 Mark verlangte. Mit 17 Jahren ein Stück bei S. Fischer anzubringen, ist nicht einmal Schiller geglückt. Ich spielte und gewann. Curt Wigand druckte. Ich darf mit Stolz sagen, daß mein erstes Buch auf Kosten jener faulen Herren erschienen ist, die keine Ahnung hatten, welche Schlange sie am 13

14

48

Vgl. hierzu auch Breuer, Dieter: Rückkehr zu Schopenhauer. - In: Literatur und Theater im Wilhelminischen Zeitalter. Hrsg. v. H. P. Bayerdörfer u.a., Tübingen 1978, S. 238-257. Vgl. Autorenvertrag zwischen Hasenclever, Walter und Curt Wigand-Verlagsbüro. Oxford/Berlin 23.9.1908. - O/M. Vgl. W.H.: [Unbetitelte Erwiderung auf Joseph Sprenglers 'Über Ibsen zum Expressionismus']. - In: Hochland. 17. Jg., S. 766f.

Busen nährten. - Ich habe die 900 Mark nie bereut. Sie waren mein erster Tribut an die Literatur. Ich war wenigstens offen und ehrlich hereingelegt. Meine späteren Verleger, die mir Vorschüsse zahlten, machten es auf andere Weise... [...] Als ich eines Abends nach vorhergegangener Musterung durch meinen 'Tutor' die schloßartigen Gemächer von All Souls betrat, war eine illustre Herrengesellschaft versammelt. [...] Ich hatte als deutscher Gast den Ehrenplatz neben dem Hausherren und kam mir mit meinen englischen Sprachkenntnissen in diesem hohen Kreise recht kläglich vor. Aber ich hatte einen Triumph in der Tasche: das Manuskript meines ersten Stückes, [...] das gab mir das Gleichgewicht wieder. Und als Gaudy sich nach dem Dessert erhoben und das traditionelle Gebet gesprochen hatte, erklärte ich mit lauter Stimme, ich wolle die Juristerei an den Nagel hängen und Dramatiker werden. Hätte ich nur geahnt, daß von meinem ersten Drama nur zehn Exemplare verkauft würden, ich wäre vielleicht etwas vorsichtiger gewesen [...]. 1 6

Für die Einordnung von Nirwana in das Gesamtwerk ist beachtenswert, daß Hasenclever in seinen späteren Dichtungen die bereits in diesem Jugenddrama diskutierten Positionen grundsätzlich beibehält und aus ihnen lediglich unterschiedliche Verhaltensmuster weiterentwickelt,17 die auch eine kurzzeitige Politisierung während des Ersten Weltkrieges miteinschließen. Durch sein im Alter von etwa 15 Jahren entworfenes Bühnenwerk dokumentiert er die bereits in der Schulzeit erfolgte literarische Prägung durch das Werk Henrik Ibsens. Nicht zufällig gilt seine Sympathie dem kompromißlosen norwegischen Dramatiker, erkennt er doch in dessen Dichtungen seine eigene rebellische Kritik an der Verlogenheit und unerbittlichen Intoleranz der Gesellschaft und besonders der Institution Familie wieder, der sich zu beugen er bis zu seiner Volljährigkeit im Jahre 1911 im besonderen Maße gezwungen ist. Mit diesem erst in Oxford vollendeten Bühnenwerk sucht er bewußt die dichterische Nähe zu Ibsens Drama Gespenster, dem er in Dialogführung und dargestellten Handlungselementen folgt. Der Autor gibt sich aber nicht mit einer reinen Gesellschaftskritik im Stile seines Dichtervorbildes zufrieden, sondern beabsichtigt, eine grundsätzliche Diskussion über die gegensätzlichen lebensphilosophischen Modelle Nietzsches und Schopenhauers zu führen. Seine schon frühe Verbundenheit mit der Gedankenwelt Nietzsches drückt er bereits 1906 mit seinen Selbstmörder-Essays aus. Die Zweifel, die er in diesen Essays an der Richtigkeit eines rein sich auf Nietzsche begründeten Weltbildes äußert, formuliert er in seinem ersten Drama konkreter aus und relativiert in diesem Kontext auch seine frühere, an Nietzsche angelehnte Glorifizierung des in einigen der Essays mit beinahe messianischen Attributen bedachten Freitodes. In Nirwana differenziert er das ihn zeitlebens beschäftigende Spannungsverhältnis zwischen Lebensannahme und Lebensverweigerung und polarisiert den daraus entstehenden Konflikt erstmals konsequent in den Axiomen Nietzsches und denen des 'Wahrsagers' (Nietzsche über seinen philosophischen Lehrmeister) Arthur Schopenhauer. Zur effektvollen Wiedergabe dieser Gegensätze be16

W.H.: Erinnerungen an Oxford. " Vgl. hierzu Breuer, Dieter: Rückkehr zu Schopenhauer.

49

dient sich der Autor ungeniert des Reichtums dramatischer Mittel in Ibsens Drama Gespenster, wobei er bereits durch die Auswahl seiner handelnden Personen diese dichterische Adaption ankündigt. So übernimmt er von Ibsen nicht nur die genaue Anzahl, das Milieu und die gesellschaftliche Stellung der in Gespenster agierenden Akteure, sondern auch deren wesentliche Charaktereigenschaften und Interaktionen. Jedoch fallt in Nirwana besonders die stereotype - in dieser Form auch in späteren Werken beibehaltene und für den Expressionismus typische - Zeichnung der Frau weit hinter die von Ibsen genutzten Darstellungsmöglichkeiten zurück. Die Rahmenhandlung beider Dramen ergibt sich aus dem karitativen Ehrgeiz der jeweiligen gesellschaftlichen Repräsentanten, der bei Ibsen der Errichtung eines - schließlich durch ein Feuer zerstörten - Armenasyls gilt und bei Hasenclever den Wiederaufbau einer - Jahre zuvor vom Protagonisten - niedergebrannten Kirche anstrebt. Im Mittelpunkt von Nirwana steht das Schicksal Sternaus, der während eines langjährigen Entwicklungsprozesses zum Protagonisten zweier gegensätzlicher Lebensanschauungen wird und dessen fiktive Lebensgeschichte der Autor zur Reflexion seiner eigenen geistigen Entwicklung nutzt. Ebenso wie sein dichterisches Gegenüber, die Figur des Oswald aus Gespenster, ist auch Sternau ein »Künstler, von dem man so viel erwartet« habe und der nach langer Abwesenheit »müde und krank«18 in die Heimatstadt zurückkehrt. Während Oswald seiner von der Gesellschaft verachteten Berufung als Maler in dem als unsittlich berüchtigten Paris nachgegangen ist, hat sich Sternau in der Jugend dem Werk des öffentlich geächteten Friedrich Nietzsche zugewandt und sich von den Bühnenstücken des ebenfalls skandalträchtigen Henrik Ibsen beeinflussen lassen.19 Mit dem Rüstzeug dieser beiden gesellschaftlichen Außenseiter hat der junge Sternau ein Buch zu schreiben beabsichtigt, ein Werk, das den Menschen etwas Neues, noch nie Gesagtes offenbaren mußte. Es sollte sie herausheben aus dem Staube der Alltäglichkeit, hoch in ein weites, sonniges Land. Ich wollte sie wandeln, alle - alle, die unter dem Kampf des Lebens müde und friedlos waren. [...] Und im Drang hinter den Wert und die Aufgabe des Lebens zu kommen, griff ich zurück, tief in den alten Glauben der Inder, dort, wo sie das Ende der menschlichen Entwicklung in einer Vereinigung mit dem Höchsten erwarten. [...] Jenen Höhepunkt des Seins nun richtete ich hier in unserem Leben auf. Ich begriff, daß es einen Augenblick geben müsse, wo wir unsere Hoffnungen erreicht und unser Wesen als vollendet empfinden. Und das Wort, das uns seine Bedeutung gab, nahm ich und wollte mein Werk nach ihm benennen. [...] Nirwana [...]. 2 0

Sternau bezieht sich hier nicht völlig auf Nietzsches antimetaphysisches Übermenschen-Axiom, sondern deutet vielmehr den Versuch einer Synthese Nietzsches mit asiatischen, der mitteleuropäischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts vor allem durch Schopenhauer vermittelten Erlösungsvorstellungen an, indem er 18 19 20

50

W.H.: Nirwana. Berlin/Leipzig: Curt Wigand-Verlagsbüro 1909. Vgl. ebd., S. 48. Ebd., S. 52.

den Typus des Idealmenschen dessen Schicksalsbedingtheit überwinden und damit eine - im Gegensatz zu Schopenhauers Definition - positiv interpretierte Nirwana-Vorstellung realisieren läßt. Diesem von Sternau jedoch niemals ausgeführten Plan, über die Vereinigung zweier, sich in ihrer negativen Einstellung zum Leben einander ähnlichen philosophischen Systeme zu einem positiven Neuem zu gelangen, hat ein einst in der Jugend empfundenes, von Optimismus und Vitalität beflügeltes Lebensgefühl zugrunde gelegen: damals war ich gleichsam wie ein Sturm ... Ich hatte Kraft in mir, ich hatte einen Willen, der fegte mich durchs Leben. Und das Leben war Meer. War weites Meer, über das ich flog.21 Mit Nietzsche verbindet ihn in jenen Jahren des radikalen Strebens nach Individualität die antidemokratische Verachtung der menschlichen Gesellschaft als einer bloßen 'Masse', in der nach seiner Meinung die Unabhängigkeit des Individuums zugunsten eines Herdentierideals geopfert werde: Ich hatte einen Wunsch, so heiß und unbändig, noch von frühen Tagen her: Den Wunsch, einmal etwas Bedeutendes zu leisten. Groß und berühmt zu sein. Ich wollte nicht immer mittrotten im Gewohnheitstrab dieser Herde, ich wollte mir nicht immer denselben Unsinn in den Mund schmieren lassen, heraus mußte ich, nach draußen, und frei werden .. . 22 In diese Lebensphase, die durch den Willen zur Tat bestimmt wird, tritt Ellen und damit eine emotionale Komponente in sein Leben. Mit ihr verbindet ihn fortan eine »andere Welt«, eine »Welt des Rausches«,23 die ihn aus seiner bislang rein intellektuell geführten Auseinandersetzung mit der Gesellschaft reißt und zur aktionistischen Verwirklichung seiner Lebensziele verleitet. Um sein Ideal einer »Welt von großen, neuen Dingen«24 zu verwirklichen und das seinen Drang nach Erneuerung Hemmende zu zerstören, animiert ihn Ellen dazu, Feuer an die heimatliche Kirche zu legen, da gerade dieses Bauwerk »des Rückschrittes [und] der Nutzlosigkeit« die in sich erstarrte Gesellschaftsordnung symbolisiere.25 Dieser Zerstörungsakt, durch den Sternau seine Emanzipation von der gesellschaftlich akzeptierten 'Sklavenmoral' dokumentiert, greift die auch von Ibsen verachteten Ordnungsprinzipien der Gesellschaft an, deren Lebensfeindlichkeit die weibliche Protagonistin in Gespenster erkennt: die Ordnung und das Gesetz! Manchmal glaube ich beinahe, daß diese beiden alles Unglück hier auf Erden stiften [...].26 21 22 23 24 25 26

Ebd., S. 44. Ebd., S. 53f. Ebd., S. 54. Ebd. Ebd., S. 99. Ibsen, Henrik: Gespenster. - In: Ibsen, Henrik: Gesammelte Weike. 4 Bd., Leipzig: Ph. Reclamjr. (1916), 2. Bd, S. 39.

51

Als unbedingte Voraussetzung des von Sternau bekämpften gesellschaftlichen Ordnungssystems erkennt dieser die menschliche Bereitschaft zur »Lüge«.27 In Anlehnung an das Dramenvorbild Gespenster verurteilt Hasenclever diese Prämisse sozialen Miteinanders besonders durch die Darstellung der Person des Pastors Call, die aus vor allem wirtschaftlichen Gründen ihre Erkenntnis über die in Kirche und Gesellschaft herrschende Unaufrichügkeit hinter der Fassade scheinbarer Anpassung verbirgt. Im privaten Kreis hingegen gibt sich der Geistliche als 'Wissender' zu erkennen und gesteht seine Ablehnung der von der Kirche vermittelten pseudochristlichen Moral. Dabei gibt er vor, im Grunde eine höhere, nur wenigen zugängliche Ethik anzustreben, »die wir uns aus eigener Kraft und aus eigenem Willen errichten, um unsere Taten damit zu messen«.28 Sein geheimer Wunsch nach Wahrhaftigkeit, nach Brechung der Lüge, scheitert jedoch an seiner durch materielle Gewohnheiten begründeten Korrumpiertheit. Durch diese Figurierung verweist Hasenclever auch auf Kierkegaards Forderung nach unbedingter Redlichkeit im christlichen Glauben. Um dieses wirkliche Christ-Sein zu realisieren, müsse - nach Kierkegaard - die verlogene, äußerliche Christenheit erschüttert und entlarvt werden. Calls Entlarvung, von Ellens Ehemann Berger kurz erwogen, unterbleibt jedoch aus Opportunismus und Bergers eigener Erpreßbarkeit, die sich Call zunutze macht. Sternaus Anspruch, die reinigende Kraft des Feuers gleich einem Fanal an den Beginn eines Feldzuges gegen die durch das Kirchengebäude symbolisierte Verkehrung aller von ihm als natürlich erkannten Werte zu errichten, erweist sich als ebenso illusorisch wie Kierkegaards Postulat. Anstatt, daß der Einzelne Sternaus Begehren nach äußerer und innerer Befreiung aufgreift und sich dessen Kampf um Emanzipation anschließt, wird Sternau inhaftiert und zu einer langen Haftstrafe verurteilt. Eine Textstelle in Gespenster, in der die Figur des oppurtunistischen Pastors Manders die auf Individualität abzielenden Emanzipationsbestrebungen des weiblichen Protagonisten verurteilt, könnte an dieser Stelle der Spielhandlung ohne weiteres in Nirwana aufgenommen werden und unterstreicht damit die enge thematische Verbundenheit beider Dramen: Ein unheilschwangerer Geist des Eigenwillens hat Sie während Ihres ganzen Lebens geleitet. Ihr ganzes Sinnen und Trachten ist dem Zwanglosen, dem Ungesetzlichen zugewendet gewesen. [...] Alles, was Sie im Leben beengt und bedrückt hat, haben Sie gewissenlos und rücksichtslos wie eine Bürde abgeworfen, über die Sie selbst Gewalt hatten. [...] Kehren Sie um [...]. 2 9

Getreu Nietzsches antifeministischen Theorien läßt Hasenclever die Figur der Ellen sich schließlich gegen den nun inhaftierten Sternau wenden. In dem Maße, in dem Sternau an Männlichkeit - d.h. Freiheit - verliert, gibt Ellen die ihrem 27 28 29

52

W.H.: Nirwana. S. 102. Ebd., S. 26. Ibsen, Henrik: Gespenster. S. 30.

Geschlecht von Nietzsche unterstellten weiblichen Instikte preis und verrät aus Opportunismus die früher gemeinsam vertretenen Ideale. Auch vor dem Hintergrund dieser desillusionierenden Erfahrung muß Sternau den utopischen Gehalt seines Anspruchs erkennen, Gedankenwelt und reales Leben in eins setzen zu wollen: Weder aus mir noch aus meiner Idee ist irgend etwas geworden. Wir haben uns gegenseitig aufgegeben. [...] Ich habe den Glauben an mich verloren. Den Glauben, daß ich einer von denen bin, die ihre Lebenskraft einzusetzen haben für das Wohl und die Erziehung der anderen. 30 ich und das Leben [...], wir haben die Rollen gewechselt. Nun bin ich Meer und liege still. Und oben jagt der Sturm. - Ich höre ihn heulen. Ich fühle, wie es mich packt und wirft, aber nur an der Oberfläche. Es macht mir nichts mehr. Ich bleibe liegen, wo ich bin. 31

Nichts anderes als den kontemplativen Standpunkt Schopenhauers hat Sternau nun eingenommen und damit dessen lebenspessimistische Erkenntnis für sich akzeptiert, in der er den Schmerz als einzige Realität anerkennt und Linderung im Nirwana, im Erlöschen jeglicher irdischen Ziele und Wünsche erlangen will. Er gesteht, »die Herrschaft über das Leben verloren« zu haben und nun »willenlos«32 umherzutreiben. Ebenso wie Nietzsche erkennt er die »ewige Wiederkehr des Gleichen«, 33 jedoch vermag er im Sinne Schopenhauers nicht mehr an den »optimistischen Aspekt der Steigerung und Vollendung des Lebens in der ewigen Wiederkehr«34 zu glauben: Ich kann nicht mehr jung genug werden, um noch einmal den kindlichen Glauben, das dankbare Vertrauen zu empfangen [ . . . ] . 3 5

Ellens Versuch, nach seiner Haftentlassung an die früher gemeinsam verfolgten Ziele erneut anzuknüpfen (»wir könnten die Vergangenheit vergessen«)36 muß mißlingen, da sich die sie beide einholenden »Schatten«37 der Vergangenheit als zu mächtig erweisen. Hasenclever greift an dieser Stelle nicht zum letztenmal auf dieses Motiv Ibsens zurück, bei dem die 'Gespenster', das Totgeglaubte, das Leben bestimmen (»es steckt in uns und wir können es nicht los werden«). 38 Sternaus 'Schatten' taucht in Gestalt eines mit einer anderen gezeugten Kindes auf, für das er endlich Verantwortung übernehmen soll. Mit diesem Produkt einstiger Triebhaftigkeit konfrontiert, wird ihm endgültig die Sinnlosigkeit eines W.H.: Nirwana. S. 51. Ebd., S. 44f. 3 2 Ebd., S. 62. 3 3 Ebd., S. 63. 3 4 Breuer, Dieter: Rückkehr zu Schopenhauer. S. 247. 3 5 W.H.: Nirwana. S. 62. 3 6 Ebd., S. 66. 37 Ebd. 30 31

38

Ibsen, Henrik: Gespenster. S. 42.

53

Strebens nach dauerhaftem Glück deutlich. Getreu Schopenhauers Diktum muß auch er erkennen, daß der befriedigten Begierde neues Übel und Schmerz automatisch folgen. »Die Schuld geht weiter«, 39 klagt ihn die Kindesmutter an, »mein Leben hast du mir zerstört«: 40 Wenn du nicht [...] in mein Leben gekommen wärst, dann stände ich jetzt nicht hier [,] und keine Leidenschaft jagte mich. [...] Du hast das Böse in mir geweckt.41 Signifikant knüpft der Autor hier an Schopenhauers 'Metaphysik der Geschlechtsliebe' an, indem er Sternaus frühere Liebe zur Kindesmutter als (Selbst -) Betrug entlarvt, da diese Liebe lediglich den Wunsch der Trieberfüllung zur Grundlage gehabt habe. Daß Liebe, nach Schopenhauer, grundsätzlich auf einem Wahn beruhe und lediglich einer Zweckerfüllung diene, macht der Autor auch durch Ellen deutlich, die an ihre frühere Beziehung zu Sternau hauptsächlich aus dem Verlangen nach einer vitalisierenden 'Verwandlung' ihrer als bedrückend empfundenen Lebensumstände anknüpfen will. Was Sternau bleibt, ist die Erkenntnis, sein Kreuz im Sinne Schopenhauerscher Weltverneinung auf sich nehmen zu müssen und seine Schuld durch vollkommene Entsagung zu sühnen. Konsequent gibt er hierbei vor allem seinen Plan einer künftigen Dichterexistenz auf (»Damit ist es vorbei. Ein für allemal«). 42 Um endlich den Schmerz, der von den Begierden ausgelöst wird, zu besiegen und damit vom Irdischen, vom 'Durst', frei zu werden, will er die Askese auf sich nehmen und Ellen entsagen. Nur illusionsloses Weiterleben und der Verzicht auf rationales Wissen scheinen ihm die Aussicht auf Nirwana und damit die Befreiung aus dem ewigen Kreislauf des Wiedergeboren-Werdens zu bieten: Wir sind am Ende unserer Erkenntnis. [...] Die große Ruhe fällt auf uns. Die Stille des Verstehens. Für uns ist alles aus. [...] Und erst wenn Furcht und Neugier überwunden ist, dann sind wir reif zum Tode. [...] Sieh, was du dann erlebst, das ist mehr wert als tausend Bücher, die vor dir stehn, und tausend Kenntnisse, die du dir angequält hast. 43 Ellen will das von Sternau akzeptierte Schicksal nicht teilen (»Für mich gibt es nur einen Weg noch«)44 und nimmt, indem sie Zarathustras Suizid-Diktum akzeptiert, den Gegenpol zur demütigen Haltung des Freundes ein. »In meinem Leben ist etwas Überflüssiges, das muß weg«, 45 proklamiert sie und bekennt sich zu Nietzsches Selbsttötungs-Ideal (»Ein letztes bleibt uns noch [...] Richter zu sein - über uns selbst«. 46 »Zur rechten Zeit Schluß machen, ist auch eine 39 40 41 42 43 44 45 46

54

W.H: Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd. Ebd.,

Nirwana. S. 119. S. 120. S. 122. S. 129. S. 130f. S. 133. S. 136.

Kunst«).47 Vor dem Hintergrund des Gedankens, daß alles ewig wiederkehre, ist dies - nach Nietzsche - die stärkste Form der Lebensbejahung, die denkbar ist. »War das - das Leben?«, fragt Zarathustra, »Wohlan! Noch einmal!«48 Während Hasenclever in der Gestalt der Ellen scheinbar eindeutig den Standpunkt Nietzsches artikuliert, zeigt gerade Sternaus Monolog am Schluß des Dramas, daß der Dichter seinen Protagonisten in einer Art Mischform aus Schopenhauers und Nietzsches Positionen beläßt. Es ist Sternau selbst, der die vorher annoncierte Möglichkeit seiner Erlösung wieder in Frage stellt, indem er die Existenz eines - im Sinne Schopenhauers - erreichbaren metaphysischen Raumes negiert (»Auch das gehört zur Lüge. Nichts mehr drüben«).49 In diesem Zusammenhang lehnt sich der Autor in einem weiteren Punkt an Nietzsche an, wenn er Sternau, angesichts der diesen einholenden Schuld, Ellens Kraft zum Suizid herbeisehnen läßt: Ich bin allein [...] - keiner hilft mir - und wenn die Schatten nun kommen? [...] Wohl dem, der auch Macht über die Schatten hat! 50

Dieser Aktschluß weist aber auch noch eine weitere symbolträchtige Parallele zu Ibsens Drama Gespenster auf, mit der der Autor gleichzeitig seine grundsätzliche Nietzsche-Kritik weiterhin aufrecht erhält: In Gespenster vermag in der Schlußszene der dem Irrsinn verfallende Oswald den lange ersehnten Anblick der aufgehenden Sonne nicht mehr wahrzunehmen. Auch Hasenclevers Protagonist hat ein ähnlich verhindertes 'Damaskus'-Erlebnis, das die Absage des Autors an wesentliche Teile der Gedankenwelt Nietzsches verdeutlicht. So erkennt Sternau im Schein der untergehenden Sonne anstelle der reinen, kraftvoll-vitalen Feuersglut lediglich jene roten Korrekturstriche wieder, die seine Lehrer einst in seine Nietzsche verherrlichenden Schulaufsätze (respektive Hasenclevers SelbstmörderEssays) gezogen haben.

2

Herbst 1908 - Frühjahr 1909 Lausanne

a.

Das Reich

Dem Vater können die studienfernen Aktivitäten Walter Hasenclevers nicht lange verborgen bleiben. Um mehr Kontrolle über den Studienverlauf seines Sohnes ausüben zu können, läßt er ihn zum Wintersemester 1908/09 im schweizerischen Lausanne an der juristischen Fakultät einschreiben und quartiert ihn bei einem Fachkollegen namens Meylan zur Untermiete ein. Hans Laut, der zur gleichen Zeit in Genf Rechtswissenschaften studiert, erinnert sich, daß sein Freund bei 47 48

49 50

Ebd., S. 134. Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. - In: Nietzsche, Friedrich: Werke. Hrsg. v. August Messer. Leipzig 1930, Bd. 1, S. 571. W.H.: Nirwana. S. 137. Ebd., S. 135ff.

55

Meylans nicht einmal einen eigenen Hausschlüssel besessen und mehr oder weniger das Leben eines Gefangenen geführt habe. 51 In dieser Atmosphäre versucht sich Hasenclever an einem Drama über Konradin und den Untergang der Hohenstaufen, von dem jedoch nichts erhalten ist. 52 Ebenfalls in Lausanne entsteht seine »Tragödie einer Menschenidee« - so der Untertitel -, benannt: Das Reich; eine in fünffüßigen Jamben gehaltene Dichtung über die Geschichte von Kleopatra und Antonius. In diesem - ebenso wie Nirwana nie von einem Theater aufgeführten - Drama versucht Kleopatra ein von der Macht Roms befreites Ideal-Reich aufzubauen, jedoch verfällt sie schließlich dem Rausch der Macht und richtet sich und Antonius zugrunde. Pinthus kommentiert, daß schon aus den Untertiteln der ersten beiden Bühnenwerke des Freundes die kritische Darstellung hoher Ideale als thematisches Leitmotiv des Autors deutlich werde. Hasenclever wolle bewußt die Zerstörung sämtlicher nach hohen Idealen strebenden Personen demonstrieren, was Pinthus als eine »Art nihilistische Revolte des zwangsweise vom Leben entfernt Gehaltenen« bezeichnet.53 Mit dem im Anschluß an Nirwana 1908/09 in der Schweiz verfaßten Drama Das Reich legt Hasenclever nach seiner, so die jeweiligen Untertitel, »Kritik des Lebens« nun die »Tragödie einer Menschenidee« vor. In einem kurzen Vorwort stellt er fest, sich in dieser Dichtung eng an historische Überlieferungen angelehnt zu haben: In meinen Ausführungen, die von neuen Gesichtspunkten bestimmt wurden, habe ich mich, soweit sie die Geschichte berühren, ganz fest und bis ins Geringste an deren tatsächliche Wahrheiten angeschlossen [...].* 4

Auch in dieser Dichtung läßt er seine Hauptperson, Kleopatra, bei dem Versuch scheitern, ein geistiges Ideal in gesellschaftliche Realität umzusetzen, und erneut steht die Auseinandersetzung zwischen den bereits in Nirwana aufgezeigten philosophischen Positionen im Vordergrund des dramatischen Geschehens. Dieser Diskurs findet besonders zum Schluß des Dramas statt, als deutlich wird, daß Kleopatras Lebenswerk schließlich zum Scheitern verurteilt ist. Obgleich als Folge ihrer eigenen Hybris zum Untergang verurteilt, kann und will sich die Protagonistin - im Gegensatz zu Sternau in Nirwana - nicht von ihren Idealen lösen. So riskiert sie eher ihre physische Auslöschung, als mit Obskurus, einem 'Wissenden', 55 zu fliehen und damit allem Bisherigen - im Sinne Schopenhauers - zu entsagen: Obskurus: Komm' wie du bist; lass deine Schätze hier! [...] auch deinen Ehrgeiz, der nun ausgespielt ist, 51

Vgl. Laut, Hans an Edith Hasenclever; Köln 25.3.1960. - O/M. Vgl. Pinthus, Kurt: L&W. - In: GDP. S. 11. » Ebd. 54 W.H.: Das Reich. - Originalmanuskript. Lausanne 1909. O/M, siehe Vorwort. 55 Vgl. ebd., Personenverzeichnis, S. 188. 52

56

und deine Herrscherlust und jedes Niedre — Dort, wo ich hin will ist, Verstehen und Schweigen, und alle Leidenschaften stehen still, [...]. ¡Cleopatra: [...] Nein - nein! Ich kann nicht mit dir gehn. Ich kann nicht! Ich möchte wohl - allein ich kann's nicht, denn noch hält mich jenes Reich, an das ich festgeklammert bin mit meinem Leben, mit allen Hoffnungen, mit allen Sinnen - [...]. 5 6

Wie bereits in Nirwana hat Hasenclever der weiblichen Hauptperson die Rolle des unablässlich gegen das Schicksal aufbegehrenden und den Lebensgenüssen zugewandten Individuums zugedacht, während er den Vertreter seines eigenen Geschlechts im Zustand asketischer Kontemplation versinken läßt. Dieses schon früh formulierte Klischee vom archaisch-vitalen Weib, dem er den zwischen Kantschem Rationalismus und asiatischer Maya-Lehre umhertreibenden Intellekt des Mannes gegenüberstellt, wird auch künftig vom Autor beibehalten und gerade sein Spätwerk wesentlich bestimmen. Hatte sich der Dichter in seinem ersten Drama noch mit einer 'Lebenskritik' zufriedengegeben und die Unmöglichkeit eines Aufbegehrens gegen das Schicksal demonstrieren wollen, proklamiert er nun durch die Akzentuierung der weiblichen Protagonistin die Notwendigkeit eines ungebrochenen Willens zur Selbstbehauptung. Sein früheres Bekenntnis zum Fatalismus macht dadurch einer emanzipierteren Haltung Platz, auch wenn diese - wie im Drama gezeigt werden soll - fast zwangsläufig zu einer Tragödie führt. Während in Nirwana die Nebenfigur Ellen noch verhalten und erfolglos Sternau dazu aufruft, ihrer beider Schicksal selbst zu gestalten, gipfelt das Reich in einem kämpferischen Manifest des nun weiblichen Hauptakteurs, der sich den durch die Person Julius Cäsars repräsentierten Gefahren mutig entgegenstellt: Wenn mich die Welt auch unter sich begräbt, und wenn mich auch der Tod zerreisst und knechtet, und wenn ich selbst zum Wesenlosen würde: Ich bin nicht tot, ich bin nicht wesenlos. Ich kehre wieder. Alles kehrt wieder. Das ist die Ewigkeit, die ich mir forme [...]. Mag sein, dass ich's doch einst gestalten kann [...]. Mein Reich!57

Dies widerruft Hasenclevers früheres Bekenntnis zugunsten einer demütigen Heilssuche in einem Zustand der Weltentsagung und fordert die Beibehaltung einer kämpferischen, auf Emanzipation abzielende Geisteshaltung. Auch im realen Leben vollzieht er diese dichterisch proklamierte Wende zur Selbständigkeit und verläßt - gegen den Willen des Vaters - nach der Vollendung des Dramas seinen Schweizer Studienort. Bestehende Unsicherheiten Hasenclevers in diesem Entscheidungsprozeß zugunsten einer betont kämpferische Lebensweise werden in seiner Dichtung dadurch deutlich, indem er in einer später wieder gestrichenen Schlußpassage Kleopatra den Freitod als letzte Alternative 56 57

Ebd., S. 186. Ebd., S. 185ff.

57

nicht gänzlich ausschließen läßt. Angesichts ihres ungewissen Schicksals erwägt sie diese Möglichkeit, ohne dabei jedoch an die vitale Suizid-Entschlossenheit der Ellen in Nirwana anzuknüpfen. So deutet sie die Konsequenzen lediglich unsicher an, die eine Enttäuschung ihrer Hoffnungen auf eine bessere Zukunft nach sich zögen (»Und wenn auch dieses Hoffen fällt - ja - dann -«). 58 b.

Nächtliche Flucht

Als dem Dichter nach einer Weile in Lausanne etwas mehr Bewegungsfreiheit zugestanden wird, nutzt er mit Hilfe seines Freundes Hans Laut die Gelegenheit zur Ausführung eines längst vorbereiteten Fluchtplanes, für den er eine nicht geringe Geldsumme zusammengespart hat. Hans Laut erinnert sich: Etwa um den 10.3.1909 durfte er selbständig, aber ohne Hausschlüssel, an einer Tanzveranstaltung der Studenten teilnehmen. Ein Kinderfräulein des Dr. Meylan packte gegen 22 Uhr die Koffer und ich schaffte sie von Chailly-Lausanne, Villa Flores, von Laterne zu Laterne je einen Koffer tragend zum Bahnhof. Es war schauerlich, so schwer waren die Koffer! Die Qual ist mir unvergeßlich. Gegen 24 Uhr erschien H. im Smoking am Bahnhof Lausanne.59 Über Zürich führt der Weg die Freunde nach Innsbruck, wo sie einige Tage bleiben, um dann zu gemeinsamen Bekannten nach Wien und von dort zu Freunden Lauts nach Reichenberg in Böhmen weiterzureisen. Über die Reaktion, die diese Flucht im Hause Hasenclever auslöst, führt Hans Laut aus: Inzwischen war mein Vater von Rechtsanwalt Jörissen in Aachen aufgefordert worden, die Adresse anzugeben. Mein Vater konnte mit ruhigem Gewissen sagen, daß er diese nicht kenne.60 Von Reichenberg geht die Reise direkt nach Berlin. Dort besuchten wir eifrigst Schauspiel und auch Oper. H. fuhr dann nach Leipzig und ich nach München ins Semester. [...] Zwischenzeitlich hatte er seine Adresse zu Hause angegeben. Sein Vater verlangte strikt von ihm unter Geldentziehungsandrohung, er solle Jura studieren. H. belegte zwar Jura, hörte aber Philosophie und Germanistik. Mehrere Jahre bezahlte sein Vater den Lebensunterhalt, setzte ihm aber später eine Frist, bis zu deren Ablauf H. das Referendarexamen gemacht haben müßte. H. lehnte ab.61 Etwa im April 1909 trifft Walter Hasenclever schließlich alleine in Leipzig ein. Hier hält sich gerade eine seiner Tanten besuchsweise auf, von der er sich seine reduzierten Geldmittel ergänzen läßt. Er mietet sich in der Mittelstraße 22 bei einer Frau Knöll zur Untermiete ein, bei der er bis etwa Mitte 1912 logieren

58 59 60 61

58

Ebd., S. 186. Laut, Hans an Edith Hasenclever; Köln 25.3.1960. - O/M. EM. Ebd.

wird. In Irrtum und Leidenschaft erinnert er sich seiner ersten Eindrücke von der Universitätsstadt: Wir sind in Leipzig. In Berlin beginnen die ersten Versuche junger Dichter, an denen du leidenschaftlich Anteil nimmst. Sie scheinen in der festgefügten Welt bürgerlicher Vorurteile ein neues Lebensgefühl zu entzünden. [...] Ich werde nie den Geruch von Leipzig vergessen. Dies Gemisch von chemischen Produkten, Schornsteinen und feuchter Luft. [...] [Leipzig] war eine trübe, spießbürgerliche Stadt mit finsteren Bierlokalen, wo Skat gespielt und an Stammtischen debattiert wurde. [...] Und doch - es war immer noch die Stadt des jungen Goethe. 62

3

Frühjahr 1909 - Herbst 1910 Der 'neue Weg'

Leipzig

Leipzig ist in jenen Jahren schon lange die Metropole des deutschen Buchhandels und zu einem Sammelbecken der deutschen Avantgarde geworden. Anstatt juristische Seminare zu besuchen, sitzt Hasenclever in den Kollegs der Literaturwissenschaftler Albert Koester und Georg Witkowski, der Philosophen Wilhelm Wundt und Johannes Volkelt sowie beim Kulturgeschichtler Karl Lamprecht, der ihn später - so Hasenclever - zu einer Dissertation über Wilhelm Friedrich, einen der bedeutendsten Verleger der Naturalisten, animiert. In Irrtum und Leidenschaft gedenkt er später voll Verachtung seiner Leipziger Professorenschaft: Du sitzt zu Füßen des alten Wundt, der mit hohler Grabesstimme psychologische Weisheiten verkündet. Dies Zettelkasten-Gehirn flößt dir einen tiefen Widerwillen ein. [...] Der gelbe Totenschädel auf dem Katheder kaut mit dumpfer Monotonie Gelehrsamkeit wieder, die Paragraphen hängen ihm im Bart. Sieht so der Nachfolger der Philosophen aus? Und diese bebrillten, kritzelnden Gespenster sind seine Jünger! Die ganze Universität riecht nach Leichen. 63

Im Juli 1909 stellt ihm ein Kommilitone nach einer Vorlesung des Literaturprofessors Albert Koester den Mitstudenten Kurt Pinthus vor, der sich nach Studien in Freiburg/Breisgau, Berlin und Genf im Wintersemester 1906/07 in Leipzig immatrikuliert hat, dort 1908 seine erste literarische Arbeit veröffentlicht und im Dezember 1910 über Levin Schücking und die Geschichte und Technik des deutschen Romans promoviert. Der Literarhistoriker Pinthus - der seine eigenen dichterischen Ambitionen schon früh aufgibt - wird 1912 einer der ersten Theaterkritiker, die das künstlerische Potential des noch neuen Mediums Film entdekken und dieses zum Thema von Rezensionen machen. Von 1920 bis 1921 Dramaturg an den Berliner Reinhardt-Bühnen, wird er zwischen 1922 und 1933 Redakteur für das vom Berliner Nationalzeitung-Verlag publizierte 8-Uhr-Abendblatt. Während er noch nebenberuflich als Hochschuldozent beschäftigt ist, werden seine publizistischen Tätigkeiten 1933 von den Nationalsozialisten verboten; 62 63

W.H.: I&L. S. 57ff. Ebd., S. 57f.

59

1937 entschließt er sich dann endlich - auch aufgrund von Hasenclevers vehementen Drängens - zur Emigration in die USA. Ungeachtet ihrer so unterschiedlichen Wesenszüge und Begabungen entwickelt sich aus dieser Bekanntschaft eine lebenslange Freundschaft, die den Dichter gerade auf literarischem Gebiet nachhaltig prägt, obgleich zwischen den Freunden zeitlebens die Vereinbarung gilt, die Arbeiten des anderen niemals ernsthaft zu kritisieren. Pinthus erinnert sich besonders an ihre erste Begegnung, bei der ihn sein Gegenüber als ein lebhafter, schlanker, sehr beweglicher »Jüngling mit glühenden Augen im mageren, dunkelhäutigen Gesicht«64 beeindruckt habe, dessen ausgeprägt negroide Erscheinung besonders hervorgestochen sei: Sogleich fiel mir ein ungewöhnlicher Charme in seinen Gesten und seiner sprühenden, manchmal sprudelnden, leicht rheinisch getönten Redeweise auf, aber auch ein häufiges, rasches Zucken seiner Schultern und Gesichtsmuskeln - das sich niemals verlor. 65

Zusammen mit Pinthus besucht Walter Hasenclever die mit besonderem Interesse verfolgte Vorlesung des jungen Professors Raoul Richter über den erst kurz zuvor freigegebenen Ecce homo Friedrich Nietzsches, die eines der wichtigsten Ereignisse jenes Studiensemesters darstellt und Hasenclevers emanzipatorische Entwicklung fördert. Hierzu Kurt Pinthus: Die Leipziger Jahre bedeuteten für Hasenclever die Zeit der Befreiung von Zwang und Einengung seiner Jugend, bewirkt durch das Austoben eines bisher zurückgedrängten und deshalb außerordentlich gesteigerten Erlebnistriebes und - vielleicht noch mehr - durch geistigen Austausch mit vielen ähnlich gearteten jungen Menschen seiner Generation. So fand er allmählich mit der eigenen Freiheit auch die Freiheit seiner Dichtung. 66

Bei dieser Bewertung verschweigt Pinthus freilich seinen eigenen Einfluß auf die Entwicklung des Freundes, für den er während jener Jahre eine Art Vaterfigur darstellt. Diesen Umstand bestätigt der Dichter später ironisch: Eingeführt von ihm in die Bezirke der Liebe und Wissenschaft, überflügelte ich bald den Meister. Ich reiste mit ihm nach Italien und frequentierte die Ärzte. 67

Gerade die Selbstbefreiung von sexuellen Zwängen wird für den erlebnishungrigen Walter Hasenclever zum vordringlichen Ziel; sie führt jedoch unweigerlich auch zu deprimierenden Erfahrungen, woran sich Pinthus gut zu erinnern weiß:

64 65 66 67

60

Pinthus, Kurt: L&W. - In: GDP. S. 6. Ebd. Ebd., S. 12. W.H.: Autobiographische Notiz. - In: Pinthus, Kurt (Hrsg.): Menschheitsdämmerung. Reinbeck: Rowohlt 1988, S. 344.

Er nahm diese Abenteuer meist so ernst, daß er sich als tragisch Liebender ebenso glücklich fühlte wie als glücklich Liebender, besonders nachdem er entdeckt zu haben glaubte, daß ein Mädchen oder eine Frau zwei Männer (oder gar mehrere) gleichzeitig zu lieben vermag, jeden andersartig, aber mit der gleichen Intensität.68

Gegenüber Walter Jüngt führt Kurt Pinthus weiter aus, daß Frauen seinen Freund über das allgemein übliche Maß hinaus »emotional« werden ließen, wobei er feststellt, daß ohne das Wissen um das jeweilige Liebesverhältnis Hasenclevers dessen Werk überhaupt nicht zu erfassen sei. 69 Diese amourösen Verwicklungen, mit denen anfangs große Ängste vor Geschlechtskrankheiten verbunden sind, werden vom Autor im Laufe seines Werkes immer überschwenglicher als mystische Ereignisse interpretiert, deren Schilderung Jahrzehnte später in Irrtum und Leidenschaft kulminiert. Gegen Ende des Jahres 1909 wählt man die Freunde in den Vorstand der literarischen Abteilung der Freien Studentenschaft Leipzigs. Ihr Büro schlagen sie in Hasenclevers Studentenbude auf, von wo aus sie sich bemühen, das kulturelle Leben der Hochschule zu bereichern. Als überlieferte Erfolge sind eine erfolgreiche Einladung an den Schriftsteller Ernst Hardt bekannt, dem sie für eine Lesung aus seinen Werken 90% des Reinerlöses der Veranstaltung als Gage anbieten70 sowie eine weitere Einladung an den Schriftsteller Herbert Eulenberg. Ebenfalls im Jahre 1909 macht Hasenclever die Bekanntschaft mit dem drei Jahre älteren Kurt Wolff. Dieser ist im September 1908 zusammen mit seiner ersten Frau Elisabeth von München nach Leipzig gezogen, hat dort ein Volontariat beim Insel-Verlag begonnen und besucht nebenbei Seminare und Vorlesungen an der Hochschule. Durch Wolff lernt der Dichter auch Ernst Rowohlt kennen, der bereits 1908 seinen gleichnamigen Verlag in Leipzig gegründet hat und in Wolff im Winter 1908/09 einen finanzkräftigen Teilhaber findet. Erst im Jahre 1910 wird der Rowohlt-Verlag ins Handelsregister eingetragen und nimmt das Verlagsgeschäft im größeren Umfang auf, wobei das Verlegergespann tatkräftige Unterstützung von Walter Hasenclever und Kurt Pinthus erhält. Beiden eröffnet sich hierdurch die Möglichkeit, zu einem späteren Zeitpunkt als Lektoren für diesen Verlag tätig zu werden. Um die Verleger Rowohlt und Wolff sammelt sich schon bald eine Generation junger Schriftsteller, denen die etablierten Verlagshäuser keine Publikationsmöglichkeiten einräumen und die den noch kleinen Verlag zu einem Sammelbecken der Avantgarde werden lassen. Zu einem weiteren angesehenen Zentrum künstlerischer Geselligkeit zählt der Salon der Schriftstellerin Elsa Asenijeff (1868-1941), die 1896 nach Leipzig kommt und dort für 15 Jahre Modell und Lebensgefährtin des Bildhauers und 68 69 70

Pinthus, Kurt: L&W. - In: GDP. S. 16. Pinthus, Kurt. Zitiert nach Gesprächsnotiz von Walter Jüngt. Etwa 1960. - O/D. Jüngt. Vgl. Pinthus, Kurt und W.H. an Ernst Hardt; 3 Briefe: 22.10.1909, 5.11.1909, 12.11.1909. -O/M.

61

Malers Max Klinger wird. Elsa Asenijeff stammt aus einer großbürgerlichen Wiener Offiziersfamilie und provoziert und fasziniert gleichermaßen durch demonstrative Extravaganz. Selbst literarisch tätig, verfaßt sie eine Reihe von Erzählungen, die durch das Werk Nietzsches stark beeinflußt sind. Der Leipziger Avantgarde, die sich von der traditionellen Literaturkritik und -Wissenschaft unterdrückt fühlt, stellt sie mit Klingers Atelier einen Ort des ungehinderten geistigen Austausches zur Verfügung, an dem man - wie Pinthus schreibt - dem Bildhauer in »schierer Verzückung« bei der Arbeit zusehen darf. 71 Hasenclever, der schon bald nach seiner Ankunft in Leipzig Zugang zu diesem Kreis findet, widmet Max Klinger in seinem 1910 erscheinenden Städte-LyriVbznd ein Gedicht, das unter dem Eindruck dieser übermächtigen Künstlerautorität steht. a.

Städte, Nächte und Menschen

In seinem ersten Lyrikband, der 1910 erscheint, verarbeitet der Dichter seine Erfahrungen mit der endlich vom Elternhaus erkämpften Freiheit. Er versieht seine Publikation mit dem Untertitel »Erlebnisse« und weist damit auf den betont autobiographischen Hintergrund seiner Verse hin. Pinthus erkennt in diesen Gedichten das 'Ahnen' des Freundes wieder, einer neuen, revoltierenden Generation anzugehören, die bereit sei, den endgültigen Bruch mit dem Althergebrachten zu vollziehen.72 Formal folgen sie aber eher konventionellen und vorwiegend apolitischen Vorbildern wie George, Hofmannsthal und Rilke. Inhaltlich knüpfen sie an das Paradigma jenes Lebenskultes an, das die Dichtungen der Jahrhundertwende in seinen Bann gezogen hat, wobei besonders die 1902 veröffentlichte Gedichtsammlung Styx der von Hasenclever verehrten Else Lasker-Schüler einen nicht unerheblichen Einfluß auf den jungen Autor ausgeübt haben wird. Der Begriff 'Leben' wird zum Kernthema dieser frühen Lyrikveröffentlichung und macht den noch dominierenden Einfluß impressionistischer 'Stilkunst' auf den nach Orientierung suchenden Autor deutlich. Anders als in seinen frühen Dramen zielt er in seiner Lyrik nicht auf die kritische Darstellung von nach großen Idealen strebenden und dabei sich selbst zerstörenden Charakteren ab. Anstatt weltanschaulich begründeten Pessimismus zu verbreiten, gilt seine Aufmerksamkeit der Darstellung vitaler Daseinsfreude, die Vorrang vor der Proklamation einer philosophisch-politischen Gesinnung erhält. Den Weltschmerz und die Zukunftseuphorie der Fin-de-si&cle-Generation verbindet er mit eigenem Erleben und artikuliert seine Sehnsucht, eine bleibende Ich-Identität zu erhalten. Stärker als drei Jahre später im Lyrikband Der Jüngling geben hierbei noch Selbstzweifel den Tenor seiner Gedichte an und stehen einer, allerdings auch später nicht uneingeschränkt realisierten, enthusiastischen Verherrlichung des Lebens entgegen. Deutlich wird dies durch die ambivalente Anwendung einer

71 72

62

Pinthus, Kurt: L&W. - In: GDP. S. 14. Vgl. Pinthus, Kurt: L&W. - In: GDP. S. 13.

variationsreichen Licht- und Naturmetaphorik, die der Autor auch zur Darstellung der Erotik nutzt. Ein Gedicht führt als Prolog in das Thema der Sammlung ein und bildet zusammen mit einem Schlußvers einen vor allem programmatischen Rahmen. Schon in diesem ersten Gedicht entwickelt Hasenclever sein Verständnis des Begriffs 'Leben' mit Hilfe einer Lichtmetaphorik, in der das Spektrum der sinnlich wahrnehmbaren Farben zum Vermittler von Werturteilen wird. Er bemerkt, daß »alles Farbe ist in dieser Welt« und führt aus, daß »Menschen und selbst Dinge, die uns starben, Duft haben und noch grün« seien.73 Diese Assoziation des Frühlings, mit der er seine vitalistische Aufbruchsstimmung dokumentiert, verstärkt er anschließend durch eine düstere Rückbesinnung auf Vergangenes. So erinnert er sich in dem Gedicht Oxford früherer Orientierungslosigkeit: Unter alten, dunklen Bäumen Geht die Fahrt. Wer sagt wohin? [...] Kein Mensch, kein Licht so weit - [ . . . ] Nun ich langsam vorübergleite, Was rauscht nur, was rauscht zu mir? 74

Eine ganz andere Atmosphäre vermittelt das auf Oxford folgende Gedicht Leipzig, das mit Hilfe einer ähnlichen Metaphorik ein weit optimistischeres Lebensgefühl ausdrückt: Die Wiesen sind schon lange grün. Im Park, wo all die Bäume sind, Ist Sommer - und die Bäume blühn. Vorüber wandelt Paar auf Paar [...]. 7 5

Bereits hier wird deutlich, daß der Autor zunehmend sinnliche Wahrnehmung anstelle der intellektuellen Erkenntnisfahigkeit bevorzugt. Konsequent steigert er sich nun in einen exaltierten Erotismus, »eine jähe Lüsternheit«, der ihm ein »Stückchen Welt und Erdenzeit« verheiße.76 Das weibliche Geschlecht beschreibt er in diesem Zusammenhang mit dem Bild der Hure, womit er jedoch nicht auf bürgerliche Moralvorstellungen rekurrieren will. Vielmehr assoziiert er mit dieser Beschreibung eine Anschauung, die ihn die Frau als eine 'Wissende', als ein dem Mann Lebens-, d.h. Sinneserfahrungen vermittelndes Individuum darstellen läßt. Die Metapher der Stadt kehrt jetzt ebenfalls als wichtiges Requisit in Hasenclevers Dichtungen ein. In den Gedichten Oxford und Lausanne bedeutet sie ihm noch ein gerade erst überwundenes Dunkel, eine Erinnerung »fast wie ein Träumen«.77 Positiver hingegen fällt ihre Darstellung in den dann folgenden Ge73 74 75 76 77

W.H.: Städte, Nächte und Menschen. München: Bonseis & Co. 1910. Darin 'Städte', S. 4. Ebd., 'Oxford', S. 8. Ebd., 'Leipzig', S. 10. Ebd., 'Knocke s. M.', S. 12. Ebd., 'Oxford', S. 8.

63

dichten aus, in denen sie als Pseudonym für einen Ort pulsierenden Lebens gebraucht wird und der Darstellung von Zukunftsoptimismus und erotischen Erfahrungen dient, wobei er letztere mit einer positiven Vorstellung der nun »wünschevollen«78 Nacht verbindet. Diesem Erotismus huldigt er im Gedicht Brüssel, in dem er mit der Darstellung sexueller Ekstase (»junges, wildes Blut/ [...] Für 20 Francs die Stunde/ Ein Bett und elektrisches Licht«)79 thematisch an den radikalen Antirationalismus und Antimoralismus Nietzsches anknüpft. Das von Nietzsche auf das Individuum begrenzte Ideal des Übermenschen greift Hasenclever in diesen Gedichten jedoch bedeutend weniger elitär auf als in seinen frühen Dramen. Seine Lyrik propagiert nicht das gesellschaftlich isolierte und nach Vollendung strebende Individuum, sondern ein mit 'Wir' pathetisch beschworenes Gemeinschaftsgefühl, das der Dichter - noch - uneingeschränkt auf seine Spezies bezieht (»wir Menschen sind größer, als wir ahnen«).80 Seiner eigenen Emanzipation hin zu diesem 'Wir'-Bewußtsein setzt der Autor dichterisch die bewußte Tötung seines früheren, nun negativ besetzten 'Ichs' voraus. »Ich weiß, ich schlug mich tot - schon lange her«, triumphiert er jetzt und schildert den von dieser Tat ausgehenden Entwicklungsprozeß mit einer Metapher, die motivisch an die durch die Flugtechnik revolutionierten Möglichkeiten scheinbar grenzenloser Motorik anknüpft: Und plötzlich fiel ich [...] Das war kein Fallen mehr, es war ein Fliegen, [...] So bin ich hergekommen - nicht?81

Die durch das »nicht« artikulierten Zweifel an der Beständigkeit dieses neuen, positiv definierten Lebensgefühls werden auch in der Metapher der als »Wildnis« beschriebenen Umwelt deutlich, in der er sich »grenzenlos allein« fühle. 82 Furcht vor einer etwaigen Entlarvung seiner 'neuen', freiheitlichen Existenz als bloßer Illusion verrät sein Rekurrieren auf Schopenhauersches Gedankengut: Man glaubt es ist sein Leben, Und ist doch nur ein Traum. 83

Grundsätzliche Ängste und bürgerliche Ressentiments vor diesem 'Neuen' artikuliert er besonders in jenen Metaphern, in denen er sich als toter »Stein« definiert, als nicht mehr grenzenlos, sondern als »eine Stunde«, als ein »Gewächs im Sumpf und nichts anderes im Grunde/ Als ein totes, fortgegebenes Ding«.84 Diese Unsicherheit drückt er auch dadurch aus, daß er die auf das Publikum ab78 79 80 81 82 83 84

64

Ebd., Ebd. Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

'Brüssel', S. 11. 'Die Abenteurer', S. 29. 'Agonie', S. 31. 'Agonie', S. 32. 'Frauen VII', S. 42. 'Agonie', S. 32.

zielende Wirkung seiner Gedichte einschränkt, indem er das lyrische Ich - ähnlich dem Sternau in Nirwana - dessen pathetische Selbstüberhöhung mit der Berufung zum Dichter entschuldigen läßt: Sie müssen nicht böse sein, Ich stelle mich vor: ein Dichter. [...] Ja, sehn Sie, und unsereins hat gleich Das berühmte Dichterweh! 85

Ungeachtet dieser Selbstzweifel knüpft die am Schluß der Gedichtsammlung formulierte Aussicht auf Das nächste Geschlecht an die philosophische Position der Kleopatra im Drama Das Reich an und weist auf die Orientierung zum Aktivismus hin, dessen Vordenker Kurt Hiller sich explizit auf das Werk Friedrich Nietzsches beruft. Hasenclever beschwört hier ein ewig wiederkehrendes Zeitalter, eine kommende Generation, »hell und jung, mit hartgestählten/ Gliedern und Leibern und mit heißer Kraft, [die] einer großen Herde/ Von Tieren« gleich, die »kranken« Leidenschaften furchtlos überwinde - an denen er selbst, wie er durch sein lyrisches Ich in diesem Kontext gesteht, noch leide -, um endlich, »zum Anfang« zurückkehrend, wieder zu »Menschen« zu werden.86 In dem als Epilog gedachten Vers, der den Gedichtband auch programmatisch abschließt, bilanziert er in diesem Sinne: Nur wer seine eigene Welt sich zimmert, Dem bleibt sie ewig jung. Immer weiter, unbekümmert: Leben heißt Eroberung!87

b.

Um 75.000

Ebenfalls in das Jahr 1909 fallt Hasenclevers Arbeit an einem der Forschung bislang unbekannten Bühnenwerk mit dem Titel Um 75.000, das der Autor am 8. Oktober 1909 dem Düsseldorfer Schauspielhaus zur Aufführung anbietet. Hasenclever bemüht sich in dieser Dichtung, die lebenslustige Atmosphäre der Leipziger Bohfeme widerzuspiegeln. Er entwickelt eine turbulente Geschichte, für deren Protagonisten Max Klinger und Elsa Asenijeff neben seiner eigenen Person Pate gestanden zu haben scheinen. Das Verwicklungsspiel einer Dreierbeziehung, dem - lediglich im Drama - schließlich alle Beteiligten zum Opfer fallen, die Idee des Sühneopfers sowie die Darstellung eines Frauentypus, dessen Protagonistin unaufhaltsam ins Milieu der Prostitution abgleitet, sind Motive, die den Autor auch in späteren Werken - wie z.B. im Drama Sinnenglück und Seelenfrieden - beschäftigen. In seinem ersten Filmdrehbuch Die Hochzeitsnacht greift der Autor 1913 die Fabel von Um 75.000 in etwas anderer Form wieder auf und entwickelt sie zu 85 86 87

Ebd., 'Frauen I', S. 35. Ebd., 'Das nächste Geschlecht', S. 50f. Ebd., 'Vers', S. 52.

65

einem diesmal komödiantischen Ende weiter. Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß der Regisseur Urban Gach ebenfalls 1913 einen Film mit Asta Nielsen dreht, der erstaunliche inhaltliche Parallelen zu Hasenclevers Stoff aufweist, ohne daß gegenwärtig eine Zusammenarbeit des Autors mit Gach nachgewiesen werden kann. In diesem Film mit dem Titel Die Sünden der Väter verkörpert Asta Nielsen Modell und Geliebte eines bekannten Malers, der sie nach getaner Arbeit zurück ins Elend der Armut stößt, woraufhin sie sein Meisterwerk - ihr Porträt - zerstört. Bei dem im folgenden zitierten Brief Hasenclevers an das Düsseldorfer Schauspielhaus, der den Inhalt von Um 75.000 wiedergibt, handelt es sich um den einzigen ausführlichen Hinweis auf diese Dichtung: Mein Salonstück 'Um 73.000' gestatte ich mir Ihnen einzureichen mit der Bitte um geneigte Berücksichtigung. Die Handlung rollt eine bunte Geschichte von Künstlern und Künstlertypen auf mit ihren Launen und ihrem Milieu. Tanz, Musik, ernste und heitere Sachen, Malerei und Poesie - selbst Dekorationsentwürfe, alles dabei. Der erste Akt spielt in dem Chambre separé eines grosstädtischen Cabarets und beleuchtet den eigentlichen Stoff der Handlung. Bohémiens, Aristokraten, Lebemänner, Cabaretkünstler und wirkliche Künstler gruppieren sich um eine noch lose aneinandergefügte Handlung - und es ist alles getan um das Milieu zu einem jener bunten, sprühenden Salons zu machen, die dennoch ihren intimen durchaus vornehmen Charakter bewahren. Als Mittelpunkt in allem die schöne exotische Tänzerin Lona Spiero, der das pikante Histörchen vorausgeht, sie sei unberührt und - für 75.000 zu haben. 88 Als weitere Hauptperson führt Hasenclever im zweiten Akt einen ehemals berühmten Maler ein. Dessen Modell Lona zerstört aus enttäuschter Liebe sein berühmtestes Gemälde - ihr Porträt. Der Akt endet mit dem unfreiwilligen Tod eines jungen Dichters, der das Zimmer verriegelt hat und in seiner durch das Ungewohnte gesteigerten Liebeswollust gefährlich wird. Der Tanz hat ihn getötet, aber Lona Spiero ist erlöst: 'Es ist ein Mensch aus Liebe für sie gestorben!' Der dritte Akt sagt mit ein paar Worten die moralischen Konsequenzen des zweiten: Der Maler hat eingesehen, was er in seiner Schaffenskraft an ihrer Jugend verbrochen hat, und wenn er es auch nicht einsieht, so empfindet er es ... kurz: er besteht darauf für sie ins Zuchthaus zu gehen, um zu sühnen, wie er sich einbildet. Keiner weiß etwas von der Sache ausser Dreien, und der Dritte wird zum Schweigen gebracht. Aber um doch am Ende das grössere Opfer zu bringen, akzeptiert Lona Spiero sein Anerbieten und zugleich das eines anderen, der ihr für ihre erste Liebesnacht mit ihm die geforderten 75.000 garantiert. [...] Sie selbst dampft noch an demselben Abend nach Petersburg ab, wenn auch ohne zu ahnen, dass die garantierten 75.000 eine Falle sind, in die sie ein gräflicher Zuhälter und eine Halbweltdame locken, um mit ihr ein grosses russisches Freudenhaus in Schwung zu bringen. 89 D a der Autor nach einigen Wochen weder eine positive noch eine ablehnende Antwort aus Düsseldorf erhält, wendet er sich am 22. November 1909 brieflich 88 89

66

W.H. an Dramaturgie des Düsseldorfer Schauspielhauses; Berlin 8.10.1909. - O/D. Ebd.

an Louise Dumont, der Gründerin des Schauspielhauses, und bittet sie - erfolglos - um Intervention.90 c.

Lyrik-Publikation im Aachener Almanach

Gegen Ende des Jahres 1909 reist Hasenclever nach Aachen, wo er bei seinen Großeltern logiert. Von dem Aachener Gymnasiasten Philipp Keller schriftlich darum gebeten, stellt er die Gedichte Dir, Die Abenteurer und die Max Klinger gewidmeten Agonie und Vers für eine von Keller vorbereitete Publikation zur Verfügung. Das Gedicht Dir versieht der Autor mit einer Widmung an Hans Neidhardt, der ebenso einige Gedichte von ihm musikalisch bearbeitet hat wie sein Bruder Paul und der Freund Kuno Fleischer. Die Veröffentlichung erscheint als Privatdruck - so erinnert sich Keller - am 16. Februar 1910 unter dem Titel Aachener Almanach.91 Weitere Mitarbeiter dieser Anthologie werden: Franz Maria Esser, Josef Kreitz, Karl Otten sowie Ludwig Strauß, dem späteren Schwiegersohn Martin Bubers, der unter dem Pseudonym Franz Quentin einen Beitrag verfaßt. Der ehemalige Direktor des Aachener Stadtarchivs, Dr. Bernhard Poll, führt 1968 ein Gespräch mit Philipp Keller über den Almanach. Aus seinen Gesprächsnotizen können folgende Informationen entnommen werden:92 Der erste Anstoß für diese kleine Sammlung 'Aachener Avantgarde' (zu der Philipp Keller einen kurzen Prosatext beiträgt) sei von Ludwig Strauß und Josef Kreitz ausgegangen. Während Hasenclever und Franz Maria Esser gemeinsam 1908 ihren Abschluß am KWG machten, haben Keller und Otten - der mehrmals eine Klasse wiederholte - erst 1910 das Gymnasium beendet, wobei die mündliche Prüfung Kellers auf denselben Tag gefallen sei wie das Erscheinen der Anthologie. Strauß und Kreitz seien Schüler am Aachener Realgymnasium gewesen, an dem sie 1913 ihre Reifeprüfung ablegten. Die Tatsache, noch Schüler zu sein, habe Strauß dazu bewogen, für seinen Beitrag ein Pseudonym zu wählen. Keller selbst habe Hasenclever erst am 25. Oktober 1911 während des Wintersemesters 1911/12 in Leipzig persönlich kennengelernt, als er als neuimmatrikulierter Student Walter Hasenclever auf dessen Studentenbude aufgesucht habe. Weiterhin erklärt Keller, daß der Dichter erst durch den Almanach mit Strauß, Kreitz und Otten bekannt geworden sei. Diese Feststellung kollidiert mit Erinnerungen Ottens, der den Beginn seiner Bekanntschaft mit Hasenclever auf etwa 1907 datiert und in seinem Essay Europa lag in Aachen93 seinerseits Kellers ersten Kontakt mit dem Dichter auf das Jahr 1908 festlegt. Finanziert werden sollte der Alma90 91 92

93

Vgl. W.H. an Louise Dumont; Leipzig 22.[11.]1909. - O/D. Keller, Philipp (Hrsg.): Aachener Almanach. - Düsseldorf: Februar 1910. Vgl. Keller, Philipp. Zitiert nach Gesprächsnotiz von Dr. B. Poll. Aachen 17.12.1968. O/Stadtarchiv Aachen, Hasenclever-Depositum. Vgl. Otten, Karl: Europa lag in Aachen. - In: Otten, Werk und Leben. S. 129. In seinem Essay merkt Otten an, gemeinsam mit Hasenclever 1909 den zur Kur in Aachen weilenden Carl Stemheim kennengelernt zu haben.

67

nach - so Keller - durch Josef Kreitz, der sich erboten habe, die dafür benötigten Mittel als Pianist in Cafés zu verdienen. Jedoch habe Kreitz den gesamten Erlös vertrunken, so daß Keller sich veranlaßt sah, die Herausgabe mit Hilfe einer Geldsammlung im Bekanntenkreis zu ermöglichen. Weiter führt er an, Hasenclever 1913 während dessen Arbeit am Drama Der Sohn im belgischen Heyst sur Mer besucht und mit dem Autor Anfang 1914 in Kurt Hillers Berliner Kabarett 'Das Gnu' eine Lesung gehalten zu haben, bei der der Sohn erstmals öffentlich vorgetragen worden sei. 94 Kellers Angabe über seine aktive Teilnahme an dieser Lesung im Februar 1914 konnte nicht verifiziert werden, jedoch ist eine gemeinsame Veranstaltung zu einem anderen Termin in Hillers 'Gnu' - angesichts der überaus zahlreichen Lesungen und Vorträge des Dichters - durchaus möglich. In diesem Zusammenhang sei vermerkt, daß sich der Autor in seinem Verlangen, vor Publikum zu agieren, nicht nur auf geschlossene Vortragsräume angewiesen sah. Pinthus berichtet, daß sie z.B. beide einmal im Jahre 1910 - dem Jahr, in dem sich erneut der Halleysche Komet der Erde nähert - mitten auf dem Leipziger Augustusplatz Morgensterns Galgenlieder zum Entsetzen der anwesenden Bürger laut deklamiert hätten.95 Ungeachtet der Ankündigung dieses planetarischen Ereignisses, das - verstärkt durch hysterische Zeitungsartikel - in der Bevölkerung größte abergläubische Furcht und Weltuntergangsstimmung verursacht, halten die Freunde am 1. November 1910 eine Lesung eigener Dichtungen vor über 300 Hörern und geladener Presse im Rahmen einer gesellschaftlichen Veranstaltung im großen Saal des Leipziger Künstlerhauses. »Eine brillante Sängerin, soll, wie ich aus Leipzig höre, singen und zwar vornehmlich Kompositionen unserer Gedichte«,96 schreibt Hasenclever am 26. September 1910 aus Aachen an seinen Jugendfreund Kuno Fleischer, einen Sohn des königlichen Musikdirektors Reinhold Fleischer aus Berlin, und bittet dringend um die Zusendung seiner von Fleischer vertonten Gedichte. Wie ein im Nachlaß befindliches Programmheft dokumentiert, baut das Programm dieses Vortragsabends vorwiegend auf Werken von Kurt Pinthus auf, während Walter Hasenclever einige Gedichte aus seinem Sf&fre-Lyrikband liest. Die Konzertsängerin Hanna Petzold trägt schließlich Vertonungen von Pinthus-Gedichten und das von Hans Neidhardt musikalisch bearbeitete Hasenclever-Gedicht Dir vor. Als letzter Programmpunkt findet eine Lesung zweier Akte aus einem nicht überlieferten 'Hohenstaufen-Drama' des Autors statt, das Pinthus auf das Jahr 1909 datiert.

94 95 96

68

Vgl. Keller, Philipp. Zitiert nach Gesprächsnotiz von Dr. B. Poll. Vgl. Pinthus, Kurt: L&W. - In: GDP. S. 7. W.H. an Kuno Fleischer; Aachen 26.9.1910. - Aus: Haak, Wolfgang: Walter Hasenclever an einen Jugendfreund. Briefe und Karten aus dem Nachlafi des Pasewalker Kirchenmusikers Kuno Fleischer. - Veröffentlicht in: Neohelicon. IX 2, J. Benjamins B. V. 1982, (S. 163178), S. 170.

Der Abend wird für den jungen Walter Hasenclever zu einem furiosen Erfolg, der ihm in Leipzig gesellschaftliche Anerkennung einträgt und seiner beruflichen Zukunftsplanung - vor dem Hintergrund seiner jüngst realisierten Lyrikpublikationen - eine eindeutige Richtung weist. Am folgenden Tag berichtet er Kuno Fleischer enthusiastisch: Es war gestern ein großer Jubel unter den Leuten. Nicht enden wollend. Ein neuer Weg [...] ich fühle, es ist da! Und wer nicht mit will, der kann - der läßt es eben bleiben. Wie sehr das Leben Höhe und Tiefe ist. 97

97

W.H. an Kuno Fleischer; Leipzig 2.11.1910. - In: Haak, Walter Hasenclever. S. 171.

69

IV

1910 Ungewollte Vaterschaft

In das Jahr seiner ersten größeren dichterischen Erfolge fällt Hasenclevers Beziehung mit der in München lebenden Friseuse Josefine Klotz, die er dort wahrscheinlich während der Faschingszeit kennenlernt. Nach einem Besuch schreibt er ihr am 13. April überschwenglich aus Aachen: Meine Josette - meine Frau! Ich hab Dich wieder sehr gern und könnte Dich küssen, Du Äff! Hast Du mich noch lieb? Gestern hatte ich schreckliche Sehnsucht nach Dir, heute auch, im Zug. Nun bin ich hier und muss allein und keusch sein.1 Aus den folgenden Wochen ist eine rege Korrespondenz erhalten, aus der jedoch deutlich wird, daß dem jungen Dichter die zahlreichen Briefsendungen seiner Freundin zunehmend lästig werden und er ihrer beider Beziehung lieber als oberflächliches Liebesverhältnis verstanden haben möchte. So heißt es am 19. April schon etwas ungeduldig: Aber dass Du auch jetzt noch immer von 'verstoßen' und 'vergessen' redest, ist doch dumm. Bist Du denn ein Leutenant? Geh, blick wieder froh in die Welt hinein und mach nicht so 'nen Stank! Gell, jetzt lachst Du schon wieder. Komm, gib mir noch 'nen Kuss. So - Du Äff! [...] Ich wollte, ich könnte wieder nach München und zu Dir. Ich tät es zu gern. Aber deswegen kann doch nichts bestimmt werden, im Voraus. Wir Dichter sind eben geplagte Leute.2 Seine nun folgenden Briefe werden vom Umfang her zunehmend knapper und bemühen sich um größere Distanz. Der Autor betont nun stets, durch Arbeit sehr beansprucht zu sein, und versucht, seine Freundin durch kleine Geldsendungen z.B. für Kleidung - bei guter Laune und auf Distanz zu halten, da seine Verwandten von ihrer Existenz, wie er am 12. Mai freimütig erklärt, »nichts ahnen dürfen. [...] Schreibe keine offenen Karten«.3 Mitte Juni teilt ihm Josefine Klotz mit, daß sie möglicherweise schwanger sei. Die Antwort des werdenden Vaters vom 24. des Monats fällt schroff und ablehnend aus: Liebes Kind. Ich habe viel zu tun. Meine Zeit ist kurz. Unnötiges Briefschreiben kürzt sie unnötig. Und du weisst, wie ich schreibe, wenn ich jemandem gezwungen 1 2 3

W.H. an Josefine Klotz; Aachen 13.4.1910. - O/M. W.H. an Josefine Klotz; Aachen 19.4.1910. - O/M. W.H. an Josefine Klotz; Leipzig 12.5.1910. - O/M.

schreibe. Du hast mich weder gekränkt noch sonst was - hör deshalb um Gottes Willen mit der Sentimentalität nun auf! So etwas erreicht genau das Gegenteil von dem, was Du Dir denkst. Ich fände es am richtigsten Du liessest Dich sofort von dem Kassenarzt in Deiner Heimat untersuchen, damit Du weisst, woran Du bist, nicht wahr? Ich weiss bis jetzt immer noch nicht was Dir eigentlich fehlt mit Deinem Bein. Das wäre viel wichtiger.4 In einem Brief vom 12. Juli 1910, als sicher feststeht, daß Josefine Klotz ein Kind erwartet, versucht sich Hasenclever durch Ausflüchte und finanzielle Angebote seiner menschlichen Verantwortung zu entziehen und droht mit schweren Konsequenzen, falls seine Verwandten über diese Angelegenheit informiert würden. Zu diesem Zeitpunkt steht er wegen eigener Unterhaltsforderungen in ständiger Konfrontation mit seinem Vater, der dem gegen seinen Willen in Leipzig studierenden Sohn mit dem Entzug jeglicher finanziellen Unterstützung droht. Ich bin durch die letzten Schreibereien und auch durch andere Sachen so nervös und überreizt geworden, dass ich mich dringend schonen muss. Tue ich das nicht, so muss ich in ein Sanatorium, wie mir mein Arzt noch neulich erklärte. Ich muss Dich also ebenso dringend und entschieden bitten, Deine Briefe an mich vollkommen einzuschränken, was ja auch schon von selber notwendig wird, da ich in den nächsten Wochen nach Hause fahre, wohin ein Schreiben deinerseits viel zu sehr auffallen würde. Und - das wiederhole ich noch einmal - meine Verwandten dürfen nichts von der ganzen Sache erfahren, es würde etwas Furchtbares geschehen. Im übrigen tu was Du willst - ich kann Dir keinen Rat geben, ich bin auch viel zu sehr nervös herunter, um überhaupt noch viel nachdenken oder überlegen zu können. Wenn Du Geld brauchst, so schreibe mir wieviel - ich werde es Dir noch schicken. [...] Richte Dich also genau nach dem, was ich Dir jetzt sage: Schreibe mir in Deinem nächsten Brief möglichst umgehend wieviel Geld Du noch brauchst, und zwar die Summe und weiter nichts. Ich werde sie beschaffen. Sonst muss ich aber jetzt Ruhe von allem haben, besonders in der Sache, weil es meine Gesundheit schwer beschädigt und ich sonst in einem Sanatorium ende für unabsehbare Zeit. Das fühle ich, und das musst Du einsehen. - Also: Du schreibst was Du haben willst und musst, ich schicke es Dir eingeschrieben und sonst einstweilen nichts mehr} Die Briefe, die der junge Dichter in der folgenden Zeit mit offensichtlichem Widerwillen verfaßt, verdeutlichen seinen festen Vorsatz, die ihm immer bedrohlicher erscheinenden Folgen seiner Affäre vollkommen zu verdrängen. Hasenclevers Sprache der Freundin gegenüber ist nun von absoluter Verständnislosigkeit, hilflosem Selbstmitleid und Drohungen bestimmt. So heißt es am 25. Juli: Beim öffnen Deines Briefes sah ich, dass Du trotz meines Wunsches mir nur mitzuteilen, wieviel Geld Du brauchst, und zwar nur die Summe, nicht mehr, dass Du trotzdem 2 Seiten geschrieben hast. Da ich Dir in meinem vorigen Brief, den ich Dich bitte aufzubewahren, geschrieben habe, dass unsere Korrespondenz vorläufig wegen meiner Nerven eingestellt werden muss, so bedaure ich Dir Deinen Brief vollständig ungelesen wieder zurückschicken zu müssen, da mein im vorigen Brief an Dich ausgesprochener Wunsch zum Prinzip geworden ist. Ich habe Rücksicht auf mich zu nehmen und darf jetzt nicht krank werden. [...] Jedenfalls wünsche ich jetzt 4 5

W.H. an Josefine Klotz; o.O. 24.6.1910. - O/M. W.H. an Josefine Klotz; o.O. 12.7.1910. - O/M.

71

nichts mehr zu hören, weil ich 2 oder 3 Monate vollständig Ruhe haben muss. Richte Dich bitte danach und stelle Deine Correspondenz mit mir ein. Ich bitte Dich also jetzt zum letzten Mal: Schreibe auf einen Zettel die Summe, die Du brauchst und wohin ich sie schicken soll. [...] Zu diesem Zettel, auf dem sonst nichts weiter zu stehen hat [...] Geschieht es nicht genau so, wie ich Dir hiermit geschrieben habe, so mfisste ich die Annahme Deiner Briefe verweigern, so leid mir das auch täte.6 Ende Juli verkündet er nachdrücklich: Ich erwarte vorläufig keinen Brief mehr von Dir. Ich hoffe, Du wirst meinen gestrigen Brief nun heute erhalten und wissen, was ich will, und dass ich es durchfllhreJ Ich habe mir fest vorgenommen, Deine Briefe einstweilen nicht mehr zu lesen, aus Gründen, die Du nun hinreichend kennst, und schicke Dir also auch diesen zurück.8 In einem ausführlicheren Schreiben vom 7. August bekennt er sich schließlich zumindest zu seiner materiellen Verantwortung, jedoch nicht, ohne eine - angesichts der Situation, in der er seine ehemalige Geliebte im Stich läßt - groteske Warnung auszustoßen: Auf Deinen Brief habe ich Dir folgendes zu sagen: Selbstverständlich werde ich für das Kind sorgen, wenn es am Leben ist und bleibt. Alles geschieht; aber es geschieht nur gegen eine völlige Verschwiegenheit Deinerseits und das Versprechen vielmehr die Bedingung, dass Du überhaupt nicht mehr sonst mit Briefen und Forderungen an mich herantreten wirst! Dass ich also für das Kind sorgen werde, habe ich Dir hiermit schriftlich gegeben, und auch, unter welchen Bedingungen ich es tue. Und zwar verlange ich von Dir, dass Du niemals meinen Namen angibst, bei der Polizei nicht und auch sonst nicht. Sage, wenn Du gefragt wirst, Du wüsstest nicht, wer der Vater ist, und Du wolltest für das Kind sorgen. Denn - kommt das Geringste meinem Vater oder irgend einem meiner Familie oder sonst zu Ohren, was mir mein Leben und meine Zukunft verderben würde, so erschiesse ich mich sofort und unwiderruflich. Ich hänge nicht am Leben. Ich muss mich erschiessen. Und dass ich es auch tue, das steht ebenso sicher fest. Wenn Du also nicht zur Mörderin werden willst, dann handle nach Deinem damaligen Versprechen und auch im eigenen Interesse - denn ich bin noch nicht mündig. [...] tue was Du willst, aber lass mich bitte in Ruhe, denn ich habe diese Ruhe dringend nötig. Ich muss eine Kur durchmachen und meine Nerven schonen; [...] Es dürfte nach dieser schriftlichen Versicherung auch sonst zwischen uns alles im klaren sein, und ich wüsste nicht, was es sonst noch zu sagen gäbe.9 Am 16. Februar 1911 wird sein Sohn Marquard Klotz in Neuburg a. d. Donau geboren und wenig später katholisch getauft. 10 6 7 8 9 10

72

W.H. an Josefine Klotz; Leipzig 25.7.1910. - O/M. W.H. an Josefine Klotz; o.O. 26.7.1910. - O/M. W.H. an Josefine Klotz, o.O. etwa Ende Juli 1910. - O/M. W.H. an Josefine Klotz; Aachen 7.8.1910. - O/M. Vgl. Amtsgericht München an W.H. [wg. W.H.s Anerkennung seiner Vaterschaft und der an ihn gestellten Unterhaltsforderungen]; München 11.1.1923. Hierin als Daten u.a.: 1. Geburtsdatum von Marquard Siegfried Klotz: 16.2.1911 (Neubg./Donau). 2. Techniker Walter Zwanziger hat nach Heirat mit J. Klotz deren Sohn mit Wirkung vom 4.9.1914 adoptiert.

In einer im gleichen Jahr verfaßten Rezension über Eulenbergs Tragödie Das keimende Leben - ein Drama, das von einer gesetzwidrig vorgenommene Abtreibung handelt - beklagt der junge Vater die »schreiende Ungerechtigkeit« der Paragraphen, die den Schwangerschaftsabbruch bei Androhung der Todesstrafe strikt untersagt. Vor diesem juristischen Hintergrund wähnt er die »Liebe zur Prostitution und die Ehe zum Zuchthaus geschändet«. Er reflektiert nur vordergründig Eulenbergs Dichtung, wenn er dann schreibt: Wir werden die tiefste Tragik durchstoßen, was es heißt, wenn ein Mensch gezwungen wird, etwas gegen seinen Willen entstehen zu lassen und leben zu machen, was er vielleicht mit Ekel und Entsetzen empfangen hat. 11

Am 12. April 1913 sendet der Leipziger Jurist Dr. Theodor Eichler die Mitteilung an Josefine Klotz, daß sein Mandant Walter Hasenclever »mittlerweile zu notariellem Protokoll sich zur Vaterschaft Ihres Kindes bekannt« habe und zu einem Vergleichsvorschlag über die Zahlung der Alimente bereit sei. 12 Knapp zwei Wochen später beklagt sich der Autor bei seinem Freund Kurt Wolff darüber, daß »die verschollene Mutter meines Sohnes Siegfried Marquardt« revoltiere und ihm mit »Eipressung an [meinen] Alten drohe, (der ja noch nichts weiß und mich entmündigen und Verstössen wird)«.13 Völlig unbefangen kann er jedoch schon wenige Zeilen später von seiner aktuellen Liaison mit der Frau eines Münchner Malers schwärmen, die er in Italien zu treffen gedenke, und deren sechsjährige Tochter er besonders gern habe: ich glaube, das sind die schönsten und tiefsten Erregungen, die uns mit solchen Frauen und ihren Töchtern verbinden: gleichsam Zustand einer doppelten Welt; der der Mutter und der des Kindes! 14

Etwa zum gleichen Zeitpunkt versucht Hans Laut von Leipzig aus - und wohl auf Betreiben Hasenclevers -, Josefine Klotz teils mit Überzeugungsarbeit, aber auch mit Hilfe versteckter Drohungen von ihren ständigen Versuchen einer Kontaktaufnahme mit dem Vater ihres Sohnes abzuhalten. Hierzu stellt er ihr auch eine - niemals realisierte - Aufnahme des Kindes in das Testament seines Freundes unter der Voraussetzung in Aussicht, daß bei der Erziehung des Jungen auf Gewalt verzichtet werde.15 In seinem Drama Der Sohn behandelt der Dichter nur wenige Monate später Themen, die zwar auch eine romantische Sehnsucht nach einer heilen familiären

11

12 13 14

15

3. »Student Walter Hasenclever wohnhaft in Leipzig hat bei Notar Eichler, Leipzig, am 11.4.1913 seine Vaterschaft erklärt«. - O/M. W.H.: Das keimende Leben [Rezension zu Herbert Eulenbergs gleichnamiger Dichtung]. - In: Die Neue Rundschau. Bd. 2, 1911, S. 1493f. Eichler, Dr. jur. Theodor an Josefine Klotz; Leipzig 12.4.1913. - O/M. W.H. an Kurt Wolff; Leipzig 23.4.1913. - O/Y. Ebd. - Vgl. hierzu ein ähnliches Motiv in Hasenclevers Komödie 'Kommt ein Vogel geflogen' (1931). Vgl. Laut, Hans an Josefine Klotz; Leipzig etwa Frühjahr 1913. - O/M.

73

Umwelt auszudrücken scheinen, jedoch eingedenk seines feindseligen Verhaltens gegenüber dem eigenen Kind zynisch anmuten. So läßt der nur in der Theorie einsichtige Autor und Vater im 5. Akt den 'Sohn' gegenüber dem verhaßten 'Vater' proklamieren: Habe ich je einen Sohn, so will ich gutmachen an ihm, was mir Übles geschehen. O wunderbar großes Licht, könnt ich es erleben, eines süßen Kindes Behüter zu sein!16 Wenige Szenen zuvor legt der 'Kommissar' ein den 'Vater' belehrendes Bekenntnis ab: Unsere Söhne verlangen, daß wir ihnen helfen. Herr Geheimrat: Das müssen wir tun. [...] Und wenn er mir tausendfach unrecht tut - ich bin doch sein Vater! Soll er andere mehr lieben als mich? Wir Väter müssen erst unsre Söhne erringen, ehe wir wissen, was wir sind. [...] Ich verstehe darunter [unter einem Sohn] ein Wesen, das mir geschenkt ist, dem ich dienen muß.17 In der Realität werden die Vorbehalte des Autors gegenüber eigenen Kindern allerdings weiterhin überwiegen; Vorbehalte, die Hasenclever zeit seines Lebens davon abhalten werden, väterliche Verantwortung zu übernehmen, wobei sich nach Aussagen Edith Hasenclevers - diese negative Einstellung gegen Ende der 30er Jahre langsam geändert haben soll. Der dann vom Dichter geäußerte Kinderwunsch habe jedoch der historischen Ereignisse wegen nicht mehr realisiert werden können. In seinem So/in-Drama drückt er 1913 hingegen noch durch seine persönlichen Kindheitserfahrungen begründete Ängste aus, wenn er seinen jugendlichen Protagonisten davor warnen läßt, daß aus der Generation der Söhne einmal der von ihm gleichermaßen verachtete und gefürchtete Typus des Vaters erwachse: Wenn Sie selber einmal Vater sind, werden Sie genauso wie er. Der Vater - ist das Schicksal für den Sohn. [...] im Elternhaus beginnt die erste Liebe und der erste Haß. [...] wenn Sie jemals einen Sohn haben, setzen Sie ihn aus oder sterben Sie vor ihm. Denn der Tag kommt, wo Sie Feinde sind, Sie und Ihr Sohn. Dann Gnade Gott dem, der unterliegt.18 Das im Drama als Alternative aufgezeigte idealistische Vaterbild (»Wieviel Ekel und Unglück könnte verhütet werden, wenn ein Vater moralisch wäre! Er ist der nächste dazu [...].«) 19 wird vom Dichter jedoch nicht von der Poesie in die Realität umgesetzt. Walter Hasenclever lernt seinen Sohn niemals persönlich kennen und kommt seinen Verpflichtungen ihm gegenüber nur auf rein materiellem Gebiet widerwillig nach.

16 17 18 19

74

W.H.: W.H.: W.H.: W.H.:

Der Der Der Der

Sohn. Sohn. Sohn. Sohn.

5. 5. 1. 4.

Akt, Akt, Akt, Akt,

2. 1. 1. 1.

Szene. Szene. Szene. Szene.

- In: - In: - In: - In:

GDP. GDP. GDP. GDP.

S. S. S. S.

154. 150f. 104. 139.

Josefine Klotz heiratet 1914 den Techniker Walter Zwanziger, der Marquard schließlich im September des gleichen Jahres adoptiert. Im Jahre 1927 unternimmt der erst Sechszehnjährige mehrere Selbstmordversuche. Der hierüber informierte Vater bittet daraufhin seinen Freund Kurt Wolff, den Wahrheitsgehalt dieser Nachrichten in München zu überprüfen. Dieser bestätigt sie nach einem Besuch beim Hausarzt der Familie Zwanziger und schreibt an Hasenclever, daß die Suizidversuche wahrscheinlich auf den brutalen Erziehungsstil des Pflegevaters zurückzuführen seien.20 Aber auch diese Informationen bewegen den Dichter nicht dazu, Kontakt mit seinem Sohn aufzunehmen. Marquard Zwanziger bricht im gleichen Jahr eine Lehre als Tuchhändler ab und versucht sich - jedoch ohne den erwünschten Erfolg - als Schauspieler. Während der Herrschaft der Nationalsozialisten emigriert die Familie Zwanziger von Deutschland nach Brasilien. Hier baut sich Marquard in späteren Jahren eine Existenz als Kaufmann auf und stirbt schließlich als Vater dreier Töchter zu Beginn der 70er Jahre.

20

Vgl. W.H. an Kurt Wolff; Clamart 11.7.1927. Vgl. ebenso Wolff, Kurt an W.H.; o.O. 15.7.1927. - O/Y.

75

V

1910-1914

Promotionsversuch in Leipzig

1

Entstehung und Werdegang der Dissertation

Während seiner Leipziger Studentenjahre liegt Walter Hasenclever in ständigem Streit mit seinem Vater, der sich nicht mit den literarischen Interessen des ältesten Sohnes abfinden will und darum wiederholt dessen finanzielle Abhängigkeit als Druckmittel einsetzt. In immer größerem Maße ist Hasenclever deshalb auf die moralische und auch wirtschaftliche Hilfe der Großmutter mütterlicherseits angewiesen. Um gerade ihr gegenüber sein geisteswissenschaftliches Studium zu rechtfertigen, beginnt er im Sommer des Jahres 1910 mit den Vorbereitungen für eine literaturwissenschaftliche Arbeit, mit der er den akademischen Grad des Dr. phil. zu erwerben hofft. Am 27. November schreibt er hierzu seinem Freund Kuno Fleischer: Du weißt, ich muß hier meinen Doktor machen. Zwar ist dies ein Privatsport in Deutschland, und Du kannst ebensogut Tennis spielen - aber ich muß es schließlich. 1

Etwa zu dieser Zeit erwirbt ein Verwandter von Kurt Pinthus auf dessen Rat das umfangreiche Briefarchiv des Verlegers Wilhelm Friedrich und schenkt es zu Beginn des Jahres 1911 dem von Karl Lamprecht gegründeten Leipziger Institut für Kultur- und Universalgeschichte.2 Pinthus erinnert sich an die Schwierigkeiten, die sich dann jedoch einer literaturwissenschaftlichen Erschließung des Friedrich-Archivs entgegengestellt haben: Aber die noch lebenden Autoren oder deren Rechtsnachfolger bewirkten bei der damals königlich sächsischen Regierung, daß keinerlei Publikation oder auch nur der Gebrauch jener Briefe erlaubt würde; schließlich wurde das ganze Archiv versiegelt. 3

Gegen Ende des Jahres 1910, also kurz bevor das Verlags-Archiv seinem Institut als Geschenk anvertraut worden ist, hat Lamprecht Hasenclever dazu ermuntert, bei ihm eine Dissertation4 über die Entwicklung der Zeitschrift Die Gesellschaft 1 2 3 4

W.H. an Kuno Fleischer; Leipzig 27.11.1910. - In: Haak, Walter Hasenclever. S. 171f. Vgl. Pinthus, Kurt: L&W. - In: GDP. S. 15. Pinthus, Kurt: L&W. - In: GDP. S. 15. W.H.: Die Entwicklung der Zeitschrift 'Die Gesellschaft' in den achtziger Jahren. Ein Beitrag zum physiologischen Impressionismus. - Schriftliche Abhandlung. 1. Fassung vollendet 1912, ca. 150 Schreibmaschinenseiten. Verschollen.

zu verfassen, die Michael Georg Conrad in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in Friedrichs Verlag herausgab und die als wohl bedeutendstes Periodikum des Naturalismus gilt. Ungeachtet des anscheinend großen Interesses von Karl Lamprecht am Friedrich-Archiv und dessen wissenschaftlicher Aufarbeitung, lastet der Dichter die Versiegelung des Dokumentenbestandes Jahre später seinem damaligen Doktorvater an. Diesem wirft er vor, daß er sich durch die zahlreich vorgetragenen Befürchtungen von ehemaligen, um ihre Persönlichkeitsrechte bangenden Verlagsautoren habe einschüchtern lassen und impliziert, daß Lamprecht niemals wirklich an einer Aufarbeitung der Dokumente interessiert gewesen sei.5 Gestützt wird diese Behauptung durch die Tatsache, daß der Professor Mitglied jener Historischen Kommission des Börsenvereins gewesen ist, die den Ankauf des von Friedrich zuerst ihr angebotenen Archivs - wohl wegen der zu erwartenden Proteste seitens ehemaliger Friedrich-Autoren - abgelehnt hat. Durch die Vermittlung seines Freundes Pinthus erhält der Dichter schließlich Kontakt mit dem berühmten Verleger, und beide besuchen ihn mehrmals in seinem italienischem Domizil am Gardasee. Hier erhält Hasenclever Einsicht in die Kopierbücher der Korrespondenzen Friedrichs (»nach der alten Abklatschmethode hergestellt«), die er auch für seine wissenschaftlichen Forschungen benutzen kann. 6 Der Verleger Wilhelm Friedrich publizierte und förderte in Leipzig - ebenso wie sein Verlegerkonkurrent Samuel Fischer - die Dichter der naturalistischen Bewegung und hat für diese bis 1890 somit die gleiche verlegerische und geistige Bedeutung gehabt wie 20 Jahre später die jungen Verleger Kurt Wolff und Ernst Rowohlt für die Vertreter der expressionistisch genannten Literatur. Diese junge Schriftstellergeneration nimmt - so Kurt Pinthus - zu Beginn des zweiten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts auf den gleichen Bänken und Stühlen des bekannten Leipziger Café Bauer Platz, auf denen schon ihre literarischen Vorgänger und Vorbilder Liliencon, Conradi und Wedekind gesessen und diskutiert hätten. In Irrtum und Leidenschaft erläutert der Dichter Mitte der 30er Jahre die Motive, warum er gerade die naturalistische Bewegung zum Thema seiner Dissertation gemacht habe. In diesem Zusammenhang betont er die geistige Verwandtschaft seiner Generation der Expressionisten mit der der Naturalisten: Der alte Wilhelm Friedrich. [...] alle Mitarbeiter der kampflustigen Zeitschrift 'Die Gesellschaft' [...] verkehrten in seinem Leipziger Hause, wo bei endlosen Saufereien der Schlachtplan gegen die Ideale des deutschen Spießers festgelegt wurde. [...] Die Bewegung interessierte mich aus zwei Gründen. Erstens war ich auf der Suche nach einer Doktorarbeit, die als Beitrag zu den kulturgeschichtlichen Studien Lamprechts gedacht war; zweitens hatte das literarische Treiben um 1890 eine frappante Ähnlichkeit mit dem, was sich zwanzig Jahre später in andern Formen vor meinen Augen abspielte. In beiden Fällen brach eine sogenannte junge Generation auf, proklamierte 5 6

Vgl. W.H.: I&L. S. 63. Pinthus, Kurt: L&W. - In: GDP. S. 15f.

77

neue Gesetze des künstlerischen Schauens, zerstörte Vorurteile, belud sich mit sozialer Verantwortung, predigte Aufruhr und Anarchie, wurde verboten und gelangte nach dem Chaos widerstrebender Tendenzen zu persönlichen Leistungen. [...] Das Dynamit war der Gedanke: daß man die Welt um jeden Preis verändern müsse. 7

Die große Bedeutung des Wilhelm Friedrich-Verlages für die Literatur des zu Ende gehenden 19. Jahrhunderts kann nur annähernd mit Hilfe einiger summarischer Fakten dargestellt werden. Allein für die Jahre 1880-1895 gibt Hasenclever bereits »über tausend Werke« an, die der Verlag Friedrichs publiziert habe.8 Die Gesamtzahl der Veröffentlichungen dürfte aber bis einschließlich 1901 - als der Verlag an Michael Altmann verkauft wird - um einiges höher liegen. Manfred Hellge weist in seiner Abhandlung über Friedrich9 auf über 1100 Einzeltitel und neun Schriftenreihen mit weit über 500 Autoren, Herausgebern und Übersetzern hin, wobei der mit dem Buchverlag eng verbundene Zeitschriftenverlag Friedrichs acht Periodika publiziert hat, von denen allein Die Gesellschaft Beiträge von mehr als 800 Autoren veröffentlicht.10 Im literarischen Verlag, der seinen Publikationsschwerpunkt im Frühnaturalismus findet, erscheinen Schriften z.B. von Avenarius, Conradi, Dauthendey, Dostojewski, Hardt, Hauptmann, Liliencron, Wedekind, Zola und Nietzsche. Nachdem Friedrich zwischen 1906 und 1910 mehrmals erfolglos sein gesamtes Verlagsarchiv dem 'Börsenverein der Deutschen Buchhändler' zum Kauf anbietet, erwirbt 1911 der Leipziger Kaufmann und Pinthus-Verwandte Eugen Platky das Archiv und schenkt es dem Institut Lamprechts. Es ist anzunehmen, daß Pinthus als einer von wenigen zu diesem Archiv auch nach dessen Schließung noch ungehinderten Zugang gehabt hat, einer Sammlung, die etwa 60.000 Originalbriefe umfaßt haben soll.11 Hierüber veröffentlicht Kurt Pinthus auch sein erstes Feuilleton, das unter dem Titel Die Briefe der Moderne am 17. Mai 1911 im Berliner Tageblatt erscheint.12 In diesem Artikel berichtet er über die umfangreiche Korrespondenz, die der Verleger zwischen 1878 und 1900 mit etwa 3000 verschiedenen Zeitgenossen geführt hat und weist dabei auf allein 650 Briefe Liliencrons hin. Er resümiert zu Recht, daß diese in sich geschlossene Sammlung wohl die umfassendste Dokumentation einer neuen literarischen Bewegung überhaupt darstelle.13 Aus den bereits erwähnten Gründen bleibt das Ar7 8 9

10 11

12

13

78

W.H.: I&L. S. 62f. W.H.: Dichterund Verleger. - München/Berlin: Georg Müller 1914, S. 24. Hellge, Manfred: Der Verleger Wilhelm Friedrich und das 'Magazin für die Literatur des Inund Auslandes'. Ein Beitrag zur Literatur- und Verlagsgeschichte des frühen Naturalismus in Deutschland. - Frankfurt am Main: Buchhändler-Vereinigung GmbH 1977. Vgl. ebd., S. 825. Vgl. Salzmann, Karl H.: Michael Georg Conrad, Wilhelm Friedrich und die 'Gesellschaft'. Ein Bericht. - In: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel. Leipzig 1949, 116. Jg., (Nr. 29-31) Nr. 29, S. 242. Pinthus, Kurt: Die Briefe der Modernen. - In: Berliner Tageblatt. Abendausgabe, 40. Jg., Nr. 250, 17.5.1911. Vgl. ebd.

chiv bis zum 4. Dezember 1943 geschlossen, jenem Tag, an dem ein alliierter Luftangriff das Institut und mit ihm seinen unermeßlichen Quellenschatz vollständig vernichtet. Der Nachlaß des 1921 verstorbenen Verlegers Friedrich gilt als verschollen. Der Verbleib seiner umfangreichen und von Kennern gerühmten Bibliothek sowie der Kopierbücher der gesamten von ihm geführten Korrespondenz ist trotz vielfältiger Bemühungen ungeklärt. Eingedenk dieser Tatsachen wäre Hasenclevers Dissertation, deren Verbleib ebenfalls nicht geklärt ist, heute von besonders hohem literaturwissenschaftlichem Wert, da sie das vermutlich einzige umfangreichere Dokument darstellt, das über den Inhalt des unwiederbringlich verlorenen Archivs Aufschluß geben könnte. Besonders während seines ersten von drei ausgedehnten Besuchen bei Friedrich am italienischen Gardasee (im April 1912, im Mai 1913 und im April 1914) wird der Dichter die Materialbasis seiner Abhandlung um bedeutende Quellen ergänzt haben. Über die Geschichte seines Promotionsversuches gibt vor allem der Briefwechsel Hasenclevers mit Kurt Wolff aus den Jahren 1912 bis 1914 Aufschluß. Am 8. April 1912 schreibt der Dichter während seines ersten Gardasee-Aufenthaltes, bei dem ihn Kurt Pinthus begleitet, an den Freund: Friedrich ist bei uns zu Gast. Meine Arbeit ist fast bis zur Hälfte schon! Dabei werde ich epochemachendes Material mitteilen!! Wir haben gestern den Plan gefasst, daß ich nach meinem Doktor ein Jahr nach Amerika und evtl. noch nach Japan studieren gehen soll. 14

Etwa am 20. April reist er für einige Zeit nach Venedig und meldet drei Wochen später euphorisch die Vollendung seiner Abhandlung: Lieber Kurt A. Wolff! [...] Denken Sie, ich habe heute meine Doktorarbeit fertig gekriegt -! Ich habe gearbeitet wie 20 Ameisen. Ich bin so voll von Venedig, daß ich kaum schlafen kann. Ich habe Dinge gesehen!!! 15

Über Mailand und Zürich führt ihn sein Weg Anfang Mai wieder nach Aachen, wo er von seiner Arbeit ein Typoskript anfertigen läßt und sich in einem Brief vom 11. Mai bereits am Ziel aller akademischen Träume wähnt: Ich sitze hier wie ein Büffel aus Nordamerika und diktiere meine Arbeit. Mein Lieber, der Doktor ist doch leicht. 16

In diesem Zusammenhang gibt er den voraussichtlichen Umfang der Abhandlung mit 150 Schreibmaschinenseiten an und erklärt, die mündliche Prüfung während des Sommers im belgischen Nordseebad Knocke vorbereiten zu wollen. Noch im Mai reist er jedoch für einen kurzen Aufenthalt nach Leipzig zurück, wo er Professor Volkelt als Korreferenten seiner Dissertation gewinnt. 14 15 16

W.H. an Kurt Wolff; Malcesine 8.4.1912. - O/Y. W.H. an Kurt Wolff; Italien Anfang Mai 1912. - O/Y. W.H. an Kurt Wolff; Aachen 11.5.1912. - O/Y.

79

Mit Volkelt ging es genau und vorzüglich: Friedrich Theodor Fischer (oder mit 'V'?) Lipps, Dessoir und Herr Geheimrath. Und, dieser reizende Greis strahlte. Oh Gott! Natürlich prüft er auch Geschichte der Philos. Und nimmt die Arbeit (bat ich) weil doch Köster und Lamprecht (lächelte ich) 'Antipoden' in der Methode seien. Jedenfalls ist er eingeseift! [...] Unser Doktor wird schon schief gehen!17 Vom Juni 1912 ist eine kurze Korrespondenz zwischen Hasenclever und Lamprecht erhalten, die der cand. phil. anläßlich eines von ihm verfaßten beifälligen Zeitungsartikels18 über eine Rede seines Doktorvaters führt. Am 28. Juni schreibt er u.a. aus Berlin an Lamprecht: Da Herr Geheimrat Volkelt prinzipiell von einer Vordurchsicht der Dissertation absah, im übrigen aber nichts gegen die Einreichung hatte, so will ich die Arbeit in diesen Tagen dem Prokanzellar bringen. Ich will heute noch nach Leipzig zurück und werde mir erlauben, Herrn Geheimrat vor den Ferien in Examensangelegenheiten noch einmal in der Sprechstunde aufzusuchen.19 Am 9. Juli 1912 reicht Hasenclever seine Abhandlung unter dem Titel Die Entwicklung der Zeitschrift 'Die Gesellschaft' in den 80er Jahren. Ein Beitrag zum physiologischen Impressionismus an der Leipziger Universität ein. 20 Als Fächer seiner mündlichen Prüfung benennt er Geschichte, Philosophie und Pädagogik. 21 Während er sich für das Fach Pädagogik das Werk Rousseaus als Spezialgebiet aussucht, 22 bereitet er für Philosophie die Schriften des Aristoteles vor. 23 Als weiteren Prüfungsteil wählt er für das Gebiet Geschichte der Philosophie das Thema 'Leben und Werk des Philosophen Leibniz', zu dem er im August 1912 im Berliner Tageblatt ein Feuilleton veröffentlicht. 24 Nachdem er seine Abhandlung eingereicht hat, reist er - anstatt nach Knocke - gemeinsam mit dem Freund Kurt Pinthus auf die Insel Vilm und danach ins belgische Heyst sur Mer. Wieder in Aachen, schreibt er am 16. September an Wolff: Gestern kam ich von der Nordsee zurück, wo ich mich beinahe verlobt hätte. [...] Mein Lieber! Der Doktor geht mir auf die Nerven! Ich bin viel lieber an der Nordsee, tanze Twostep und werfe mit Konfetti.25 In den folgenden Monaten bereitet der Dichter dann auch weniger seine mündliche Prüfung vor, als vielmehr seinen dichterischen Neigungen nachzugeben. Er

17 18

19 20

21 22 23 24 25

80

W.H. an Kurt Wolff; Leipzig 25.5.1912. - O/Y. Vgl. W.H.: Die Universität der Zukunft. - In: Berliner Tageblatt. Morgenausgabe, 25.6.1912. W.H. an Karl Lamprecht; Berlin 28.6.1912. - O/B. Vgl. Dokument betr. W.H.s Anmeldung zum Promotionsverfahren. Akt.-Nr. 181, Leipzig 9.7.1912. - In: Promotionsunterlagen W.H.s., 16 Blatt, Leipzig 1912/13. O/L. Vgl. ebd. - In: Promotionsunterlagen W.H.s. Vgl. W.H. an Kurt Wolff; Aachen 16.9.1912. - O/Y. Vgl. W.H. an Kurt Wolff; Leipzig 17.10.1912. - O/Y. Vgl. W.H. an Johannes Volkelt; Aachen 18.8.1912. - O/M. W.H. an Kurt Wolff; Aachen 16.9.1912. - O/Y.

verfaßt - außer Lyrik - drei Fliegemovellen,26 deren Veröffentlichung nicht nachgewiesen ist, und ist darüber hinaus mit großem Engagement als Lektor für den Ernst Rowohlt-Verlag tätig, der sich im Herbst zum Kurt Wolff-Verlag wandelt (u.a. lektoriert er Philipp Kellers Roman Gemischte Gefühle). Im Oktober 1912 zieht er von seiner Wohnung Mittelstraße 22 in den Leipziger Vorort Gautzsch um. Hier kann er sich jedoch nicht eingewöhnen, was einen erneuten Umzug in die Sidonienstraße 68 nach sich zieht, in der bereits Pinthus seit Monaten wohnt. Mittlerweile hat Lamprecht am 16. Oktober sein Gutachten über Hasenclevers Abhandlung fertiggestellt. Es fällt vernichtend aus: Die Arbeit des Herrn Hasenclever habe ich seit längerer Zeit, freilich mit gemischten Gefühlen verfolgt und auch schon im vorigen Sommersemester gelesen, sie ist auch einer Umarbeitung unterzogen worden. Der Verfasser ist gewiss ein sehr lebendiger und geschmeidiger Mann, aber mit der Logik der deutschen Sprache steht er auch in dieser neuesten Rezension seiner Arbeit an nicht wenigen Stellen auf gespanntem Fusse; [...] Massgebend dafür, das Thema überhaupt anzugreifen, war nicht so sehr eine Anregung meinerseits, wie Herr Hasenclever in seiner Vita angibt, wie vielmehr die Tatsache, dass er sich durch seine Beziehungen zu Michael G. Conrad und Karl Bleibtreu wie vor allem dem ehemaligen Verleger Wilhelm Friedrich in der Möglichkeit glaubte, ein besonders reiches, bisher unbekanntes Material heranziehen zu können. Nun wird man aber auch in dieser Hinsicht von einer gewissen Enttäuschung nicht frei. Was beigebracht wird, ist im wesentlichen doch nur der Stoff, der der Zeitschrift 'Die Gesellschaft' ohne weiteres entnommen werden kann. Fasse ich zusammen, so glaube ich wohl, dass bei nochmaliger Umarbeitung aus der Arbeit etwas Brauchbares werden kann; so, wie sie jetzt vorliegt, möchte ich sie für eine Zensur als reif noch nicht erachten.27

Der Korreferent Johannes Volkelt stimmt Lamprechts Urteil zu und moniert seinerseits die »vor allem einen philosophischen Charakter tragende 'Einleitung'« der Arbeit, die voll von »gestaltlosen, schief, ja absurd gebildeten Sätzen« sei, »hinter denen sich Unklarheit der Gedanken« verberge. Hasenclever »schwelge [...] in einem Wust [...] bildlicher Vorstellungen«. Er, Volkelt, gestehe dem Prüfling zwar ein gewisses »Talent« zu, müsse jedoch Lamprechts »Antrag auf Rückgabe zur Überarbeitung« grundsätzlich zustimmen.28 Am 13. November erhält der Autor die offizielle Mitteilung, daß seine Arbeit in der vorliegenden Form nicht angenommen werden könne.29 Zu ihrer Überarbeitung läßt er sich von seiner Großmutter für den Januar 1913 nach Schliersee bei München in Klausur schicken. Dort nimmt er auch letzte Korrekturen an seinem Lyrikband Der Jüngling vor, von dem er noch im Januar ein Typoskript an26 27

28

29

Vgl. W.H. an Kurt Wolff; Aachen 21.9.1912. - O/Y. Lamprecht, Karl: 1. Gutachten über W.H.s Dissertation. Leipzig 16.10.1912. - In: Promotionsunterlagen W.H.s. Volkelt, Johannes: 1. Gutachten über W.H.s Dissertation. Leipzig 27.10.1912. - In: Promotionsunterlagen W.H.s. Vgl. Der Prokanzellar der Universität Leipzig an W.H.; Leipzig 13.11.1912. - In: Promotionsunterlagen W.H.s. 81

fertigen läßt. Darüber hinaus verfaßt er verschiedene Buchrezensionen und beginnt mit der Vorbereitung seiner schon länger geplanten Veröffentlichung von Briefen Wilhelm Friedrichs an Detlev von Liliencron. Diese Publikation erscheint 1914 im Münchner Georg Müller-Verlag unter dem vielversprechenden Titel Dichter und Verleger30 und enthält eine umfangreiche Einleitung, in der der Autor Grundsätzliches über dieses, bereits durch den Titel thematisierte produktive Spannungsverhältnis ausführt. Noch bevor er nach Süddeutschland abreist, versichert er Wolff, seine Dissertation in den folgenden Wochen ernsthaft überarbeiten zu wollen: Bis dann [gemeint ist der Münchner Fasching] will ich die Doktorarbeit auf ihr Maß bringen und das Buch zu Ende bringen. 31

Während des Januars bemüht sich Hasenclever denn auch, seine nicht nur literaturwissenschaftlichen Vorhaben zu realisieren: Ich lebe hier regelmäßig und solide wie ein Tintenfisch. 8 Uhr Lever, bis 12 Uhr Doktorarbeit (oh greisenhafte Müh!) dann Dinner, und bis zur Dunkelheit steige ich auf irgendeinen grossen Berg. Den Rest des Tages dichte ich. Ich bin ganz ekstatisch über meinem Buch [d.i. Der Jüngling] und ich arbeite sogar nachts im Halbschlaf daran. Ich glaube fest daran, wie ein Obersekundaner an seine erste Geliebte. 32

Am 28. Januar erklärt er die Überarbeitung seiner Dissertation für endgültig abgeschlossen: Mehr tun kann ich auf keinen Fall daran, eher werde ich Austrager in Ihrem Verlag. 33

Im Februar macht er sich wieder auf den Rückweg nach Leipzig, wo er seine Arbeit am 6. März 1913 erneut einreicht. Ohne mit dem Prüfling noch einmal ein Gespräch zu suchen, entscheidet sich Lamprecht, den ihm abermals vorgelegten Text nicht zu akzeptieren. Auch Volkelt, auf dessen Urteil der Autor große Hoffnungen gesetzt hat, sieht sich nicht zu einem positiven Urteil in der Lage. Hasenclever scheint diese für ihn negative Entwicklung intuitiv zu erfassen und äußert sich am 23. April, als er über das abschließende Gutachten Lamprechts noch nicht informiert ist, pessimistisch über seinen künftigen Werdegang als Doktorand: Von meiner Dissertation hörte ich noch nichts, und ich bin glücklich darüber. Gleich wollen wir mit Rowohlt's Lissi zum Schwof gehen; (Oh ekler Greis Volkelt)! 34

30 31 32 33 34

82

W.H.: Dichter und Verleger. W.H. an Kurt Wolff; Aachen 31.12.1912. - O/Y. W.H. an Kurt Wolff; Schliersee Januar 1913. - O/Y. W.H. an Kurt Wolff; Schliersee 28.1.1913. - O/Y. W.H. an Kurt Wolff; Leipzig 23.4.1913. - O/Y.

Erneut in Norditalien, wo er gemeinsam mit Friedrich letzte Änderungen an seiner Briefpublikation vornimmt, informiert er Kurt Wolff am 17. Mai über seine - schließlich ergebnislose - Absicht, noch in letzter Sekunde den Doktorvater zu wechseln: Meine Doktorarbeit geht an Köster. Lamprecht machte allerhand Ausflüchte, darauf schrieb ich ihm einen sehr deutlichen Brief und der wirkte. 3 5

Knapp zwei Wochen zuvor, am 30. April, formuliert Lamprecht sein Abschlußgutachten, in dem er als vorrangige Bewertungsgrundlage im wesentlichen seine schon einmal vorgetragene Kritik am Stil der Abhandlung wiederholt: Leider enttäuscht nun die neue Bearbeitung, die der Verfasser jetzt eingereicht hat. [...] Allein, ganz abgesehen von dem Inhalte, verbietet es schon die Form der Arbeit, sie zur Dissertation anzunehmen, denn diese Form ist in der jetzigen Bearbeitung womöglich noch abstruser und im übelsten Sinne des Wortes aphoristischer als früher. Der Verfasser hat zum Beispiel kein Verständnis für die Logik der Koordination, er wirft abstrakte und konkrete Darstellung im selben Gegenstande willkürlich durcheinander, seine Redeweise strotzt von abenteuerlichen Formen, in denen die Bilder zweier deutscher Redensarten durcheinandergeworfen sind u.s.w. Ich habe in dieser Hinsicht die Arbeit mit dem Verfasser durchgenommen [...]. Allein, diese persönlichen Unterhaltungen haben mir zugleich die Überzeugung beigebracht, dass es überaus schwer halten wird, diesen in eine gänzlich unlogische Sprache verirrten Kopf auf dem Wege weiterer Erziehung zu einer Darstellung kommen zu lassen, wie sie von Dissertationen verlangt werden muss. Ich sehe also keinen anderen Ausweg als Ablehnung. 36

In einer kurzen Stellungnahme vom 7. Mai 1913 stimmt Volkelt dem Urteil seines Kollegen zu und schreibt: Der Verfasser ist nicht im Stande, einfach sinngemäß zu schreiben. Vor lauter Überreizung hat er das Gefühl für das einfach Richtige verloren. Aber auch inhaltlich hat man es in der vorliegenden Arbeit mehr mit einem leicht hingeworfenen Essay als mit einer wissenschaftlichen Untersuchung zu tun. 3 7

Der offizielle Hochschulbescheid über die endgültige Ablehnung der Abhandlung ist mit dem 2. Juni 1913 auf einen Zeitpunkt datiert, zu dem sich Hasenclever immer noch in Norditalien als Gast des Verlegers Wilhelm Friedrich aufhält,38 weshalb er auch erst nach seiner Rückkehr darüber informiert wird. Nach einer Phase tiefer Depression schöpft der Dichter im Sommer angesichts der bevorstehenden Publikation von Dichter und Verleger neue Hoffnungen, seine Promotion doch noch zu einem guten Ende zu führen. Im August 1913 spekuliert er bereits 35 36

37

38

W.H. an Kurt Wolff; Malcesine 17.5.1913. - O/Y. Lamprecht, Karl: 2. Gutachten über W.H.s überarbeitete Dissertation. Leipzig 30.4.1913. In: Promotionsunterlagen W.H.s. Volkelt, Johannes: 2. Gutachten über W.H.s überarbeitete Dissertation. Leipzig 7.5.1913. In: Promotionsunterlagen W.H.s. Vgl. Der Prokanzellar der Universität Leipzig an W.H.; Leipzig 2.6.1913. - In: Promotionsunterlagen W.H.s.

83

darauf, mit Hilfe dieser Veröffentlichung an einer anderen Hochschule zu promovieren, wobei er speziell an die Bonner Universität denkt. Dieses Vorhaben geht wahrscheinlich auf den Einfluß von Kurt Wolff zurück, der mit dem Bonner Literaturwissenschaftler Lietzmann durch dessen 'Literaturhistorische Gesellschaft' bekannt ist, vor der Wolff 1912 einen Vortrag über Herbert Eulenberg gehalten hat. Da Hasenclever aber u.a. bereits mit der Arbeit an dem Drama Der Sohn beschäftigt ist, stellt er die Realisierung dieser Idee bis zum Januar 1914 zurück. Inzwischen haben die ohnehin permanent vorhandenen Spannungen mit dem Vater derart zugenommen, daß ein öffentlicher Skandal durch eine vom Autor betriebene juristischen Auseinandersetzung wegen ausbleibender Unterhaltszahlungen nicht mehr ausgeschlossen scheint. Nach der letztlich gütlichen Beilegung des Konfliktes schreibt der Dichter am 12. Dezember aus dem belgischen Heyst an Kurt Wolff: Ich war 5 Tage in Aachen und stand mit meinem Alten (der mich zu einer neuen (!) Doktorarbeit bei Lamprecht (!) und dies durch Sperrung des Geldes zwingen wollte) vor dem Prozeß. Doch die Intervention Dritter und meiner Großmama vereitelten diesen hündischen Plan, und er ist blamierter denn je. 39 Am 31. Januar 1914 hält sich Hasenclever in Bonn auf, wo er auf Einladung der dortigen Studentenschaft aus seiner Lyrik sowie Teile des gerade fertiggestellten Dramas Der Sohn vorträgt. Bei dieser Gelegenheit kommt es zu einem Kontakt mit Lietzmann, bei dem er nun wegen seiner Promotion vorstellig wird. Das Gespräch verläuft positiv und führt schließlich dazu, daß sich der Dichter zum Wintersemester 1914/15 an der Bonner Universität immatrikuliert. In den Strudel des einsetzenden Weltkrieges gezogen, kann er jedoch auch in Bonn seinen akademischen Abschluß nicht erwerben, den er nach Kriegsende auch nicht mehr anstrebt. 2

Inhalt und wissenschaftliche Bedeutung Briefpublikation Dichter und Verleger

Wie Karl-Heinz Salzmann berichtet, taucht das Manuskript von Hasenclevers Dissertation zuletzt 1941 in der Bibliothek des Berliner Bibliophilen Carl Schönberg auf, der wenig später als Jude von der Gestapo verhaftet wird und schließlich in einem Konzentrationslager umkommt. Die bei ihm beschlagnahmte Bibliothek wird höchstwahrscheinlich später durch Kriegseinwirkung vernichtet worden sein.40 Salzmann hat das etwa 180 Seiten umfassende Typoskript während der Materialrecherche für die eigene Dissertation aufspüren können und es einige Tage 39 40

84

W.H. an Kurt Wolff; Heyst s. M. 12.12.1913. - O/Y. Vgl. Salzmann, Karl H.: Michael Georg Conrad [...]. S. 242.

zur Einsicht entliehen. In den dabei entstanden Aufzeichnungen, die 1949 im Börsenblatt veröffentlicht werden, weist er mit Nachdruck auf die Bedeutung dieser Arbeit für die Literaturwissenschaft hin. Obgleich er das Manuskript zwar »nicht in allen Teilen [für] stichhaltig« halte, sei es dennoch »ein Haupt-Beitrag zur Literatur-, Verlags- und Zeitschriftengeschichte des Naturalismus gewesen«.41 Die zu vermutende Zerstörung des Manuskriptes ist ein weiteres Glied in einer merkwürdigen Kette von Überlieferungsverlusten, die eine realistische Würdigung der verlegerischen Verdienste Wilhelm Friedrichs fast unmöglich machen, eines Verlegers, dessen Bedeutung für die Moderne Adalbert von Hanstein mit der Cottas für die Klassiker gleichsetzt42 und von dem außer Hasenclevers Brief-Publikation Dichter und Verleger nur noch spärliche Primärquellen zugänglich sind. Zwischen Oktober 1913 und Juni 1914 weist der Autor in mindestens fünf Fällen durch Vorabdrucke von Auszügen aus Briefen Friedrichs an Liliencron in verschiedenen überregionalen Tageszeitungen auf die bevorstehende Veröffentlichung von Dichter und Verleger hin. 43 Durch diese Brief-Publikation und das ihr beigefügte Vorwort versucht Hasenclever, eine ganze literarische Epoche unter dem Blickwinkel eines nicht nur rein geschäftlich, sondern gerade auch geistig interessierten Verlegers zu vergegenwärtigen,44 wobei er von der Einsicht geleitet wird, daß die enge Beziehung zwischen Autor und Verleger eine der wesentlichen Voraussetzungen für die Produktivität des Dichters darstellt. Den Erfolg dieses Bemühens bestätigt ihm eine Rezension des Börsenblatt, in der es 1914 anerkennend heißt: zum ersten Mal [komme] die Regisseurarbeit eines Verlegers autoritativ an die Öffentlichkeit [...], der zur Revolutionszeit unserer Literatur in den achtziger Jahren die Fäden der wichtigsten Strömungen in der Hand hielt [...]. 4 5

Die Darstellung Wilhelm Friedrichs als eines »geschickten und klarschauenden Regisseurs] hinter den Kulissen«46 dient dem Autor zur Untermauerung seines Anspruchs, anhand der von ihm veröffentlichten Korrespondenz nachzuweisen, 41 42

43

44 45

46

Ebd., S. 241. Vgl. Hanstein, Adalbert v.: Das jüngste Deutschland. Zwei Jahrzehnte miterlebter Literaturgeschichte. - Leipzig 1901. Vgl. W.H.: I. Neues von Liliencron. - In: Hamburger Nachrichten. Nr. 41, 12.10.1913. / II. Dichter und Verleger. Der Brieiwechsel zwischen Detlev v. Liliencron und Wilhelm Friedrich. - In: Frankfurter Zeitung. Nr. 311, 9.11.1913. / III. Liliencron und sein Verleger. - In: Berliner Tageblatt. Nr. 45, 10.11.1913. / IV. Liliencron und Wilhelm Friedrich. Zur Geschichte des Naturalismus und seines Verlegers. - In: Kölnische Zeitung. 6.3.1914. / V. Liliencron im Lichte seines Verlegers. - In: Dresdener Anzeiger. 16.6.1914. Vgl. hierzu auch Hellge, Manfred: Der Verleger Wilhelm Friedrich [...]. S. 899f. Unbekannt: Rezension von W.H.s 'Dichter und Verleger'. - In: Börsenblatt. Nr. 153, 3.7.1914, S. 1087. W.H.: Dichterund Verleger. S. 22.

85

daß in ihrer ganzen Erscheinung die Persönlichkeit eines Verlegers oft von größerer Wirkung gewesen ist als ein Dichter, den man im Rahmen der Entwicklung zu umgehen nicht gewagt hätte [...]. 4 7

Manfred Hellge sieht im Mittelpunkt dieser Perspektive das partnerschaftliche Verhältnis von Autor und Verleger »in seiner subtilen Form intellektueller Übereinstimmung und Kooperation«.48 Obendrein geht es Hasenclever um den Nachweis, »daß Dichter und Verleger zusammen in einer geistigen Gemeinschaft wirken müssen, wenn Neues und Großes entsteht«, wobei er ergänzend dazu feststellt, daß »eine heutige Dichtergeneration, die vielleicht stärker noch den Anschluß an ihren Verleger sucht und bereits vollzogen hat, [...] nur etwas Selbstverständliches« in dieser Entwicklung zu erkennen vermöge.49 Auch der Umstand, daß er schließlich seinen eigenen Ansatz überstrapaziert, wenn er feststellt, daß der Naturalismus auch in geistiger Hinsicht an das materielle Überleben seines wichtigsten Verlages gebunden gewesen sei und daß »mit dem Zusammenbruch des Verlegers [...] auch ein gutes Stück neuer Literatur zu Grabe getragen« wurde, 50 vermag nicht, die grundsätzliche Bedeutung der von ihm postulierten Einsicht über den gewichtigen Einfluß der Verlegerpersönlichkeit auf den Autor zu schmälern. Wenn er erklärt, daß man erkennen werde, daß nicht nur immer die Dichter es sind, die einer werdenden Bewegung ihren Namen geben, sondern daß oft und zu gewissen Zeiten in der Entwicklung der Verleger eine über die geschäftliche Organisation weit hinausgehende Rolle spielt [,] 5 1

so gilt diese Feststellung nicht nur für Friedrich, sondern in besonderer Weise für die beiden Verleger Kurt Wolff und Ernst Rowohlt, unter deren verlegerischer Ägide sich die expressionistischen Literaten sammeln und besonders Hasenclevers Dichtkunst wichtige Entwicklungsimpulse erhält. Im Gegensatz zu Kurt Wolff hat Wilhelm Friedrich bei der Umsetzung seiner publizistischen Ideen allerdings kein familiäres Vermögen als finanzielle Grundlage zur Verfügung gehabt, welches den sich langsam für seinen Verlag abzeichnenden kommerziellen Ruin hätte auffangen können, da sich selbst Autoren wie Conradi und Liliencron sowie die Zeitschrift Die Gesellschaft zu einem andauernden wirtschaftlichen Mißerfolg entwickeln. Angesichts des von Hasenclever in Dichter und Verleger erkannten geistesund verlagsgeschichtlichen Zusammenhanges zwischen Naturalismus und Expressionismus, den der Autor auch in späteren Jahren wiederholt betont, 52 ist es kein Zufall, daß mit ihm ein Mitglied der expressionistischen Bewegung die 47 48 49 50

51 52

86

Ebd., S. 19. Hellge, Manfred: Der Verleger Wilhelm Friedrich [...]. S. 890. W.H.: Dichterund Verleger. S. 36. W.H.: Liliencron und Wilhelm Friedrich. Zur Geschichte des Naturalismus und seines Verlegers. - In: Kölnische Zeitung. 6.3.1914. W.H.: Dichterund Verleger. S. 12. Vgl. W.H.: I&L. S. 62f.

wohl erste literaturwissenschaftliche Studie über das produktive Verhältnis zwischen Dichter und Verleger abgefaßt hat. Selbst einem äußerst lebendigen Künstlerkreis um die Verleger Wolff und Rowohlt angehörend, ist seine Erkenntnis von den - nicht zuletzt in geistiger Radikalität und exzessiver Lebensart - signifikanten Parallelen seiner eigenen Schriftstellergeneration mit der um Wilhelm Friedrich geradezu zwangsläufig. Kurt Wolff hat besonders während dieser Jahre vor dem Ersten Weltkrieg eine herausragende Vorbildfunktion für den nach Orientierung verlangenden jungen Hasenclever. Dessen Verehrung für den nur drei Jahre Älteren, jedoch an Lebenserfahrung und Weltgewandtheit ihm Überlegenen ist ebenso groß wie der Stolz darüber, sich zu Wolffs Freundeskreis zählen zu dürfen. Diese Freundschaft wird sogar die 1917 von Hasenclever vollzogene geschäftliche Lösung vom Kurt Wolff-Verlag überstehen. Der Verleger bleibt auch nach diesem Wechsel einer der geistigen Mentoren Hasenclevers, dessen Dichtungen er weiterhin als einer der ersten im Manuskript zur kritischen Beurteilung vorgelegt bekommt. Ein Brief des Autors aus dem Jahre 1911 macht diese emotionale wie intellektuelle Bindung an Wolff besonders deutlich, die auch im Verlauf der folgenden Jahrzehnte nicht gravierend nachlassen wird; eine Bindung, deren von gegenseitiger Bewunderung geprägte Distanz es verhindert, daß Dichter und Verleger jemals zum freundschaftlichen 'Du' finden: Und überhaupt wollte ich Ihnen schnell noch danken, Kurt Wolff, daß Sie so herzlich zu mir sind. Sie wissen schon. Ich meine so oft, ich kann Ihnen gar nichts dafür geben meinerseits als das bischen Unruhe und Begeisterung, in dem mein ganzes Fühlen und Gestaltenwollen manchmal ertrinkt. Ich fühle mich aber mit Ihnen so verwandt. In der Ahnung für all das, was unsere Zeit in der Tiefe bewegt und in der Freude am Schönen und Wunderbaren dieser Erde und ihrer Bewohner.* 3

53

W.H. an Kurt Wolff; o.O. 20.2.1911. - O/Y.

87

VI

1911-1913

Leipzig

1

Kurt Wolff - Verleger des Expressionismus

Als Kurt Wolff seine verlegerische Tätigkeit in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg aufnimmt, ist es ein kaufmännisches Wagnis, sich gegen die seit langem etablierten Verlagshäuser Fischer, Insel oder Piper behaupten zu wollen, deren Einfluß und belletristisches Angebot das literarische Leben in ganz Deutschland zu bestimmen scheinen. So fällt es dem neugegründeten Verlag des Gespanns Rowohlt/Wolff denn auch anfanglich schwer, sich als Forum der herandrängenden Dichtergeneration des Jahrgangs 1890 zu etablieren, die verständlicherweise zuerst den Zugang zu den großen, finanziell potenteren Verlagen sucht. Die Programmatik dieser aufbrechenden Generation, deren zwischen etwa 1910 und 1920 entstehenden Werke unter dem Begriff Expressionismus zusammengefaßt werden, wird anfangs mit Hilfe neugegründeter Zeitschriften verbreitet. Schon Jahre, bevor gerade Kurt Wolff einem größeren Teil dieser Literaturbewegung mit seinem Verlag eine geistige Heimstatt bietet, entwickeln sich kleine, der Moderne verpflichtete Blätter zur verlegerischen und geistigen Quelle der Avantgarde, zu deren wichtigsten theoretischen Wegbereitern die Schriften Friedrich Nietzsches zählen. Diese Publikationen repräsentieren bereits um 1910 ein Generationsbewußtsein, das - vorgetragen in revolutionärem Pathos - Anspruch auf radikalste gesellschaftliche Veränderungen erhebt und einer unruhig die neue Zeit erwartenden Jugend das Zeichen zum Aufbruch vorgibt. So bildet sich eine Anzahl junger Künstler zu einer Gruppe heran, die sich - trotz vieler innerer Widersprüche - durch ein vehement beschworenes Zusammengehörigkeitsgefühl auszeichnet. Wichtige theoretische Impulse erhält diese 'Dichter-Sezession' (Kurt Hiller) 1909 durch Stefan Zweigs Aufsatz Das neue Pathos und 1911 durch Heinrich Manns Essay Geist und Tat, in dem Mann einen radikalen Funktionswandel der gesellschaftlich angepaßten Literatur fordert. Im gleichen Jahr wird die deutsche Moderne auch durch eine Ausstellung von Picasso, Braque und eine Gruppe antiimpressionistischer französischer Maler in der 22. Berliner Sezession inspiriert, die eine überragende Resonanz hervorruft. Vor allem aber ist es der italienische Futurismus, dessen wachsender Einfluß dieser Forderung nach gesellschaftlicher und künstlerischer Erneuerung mit explosiver Aufbruchsstimmung Nachdruck verleiht. In der Nachfolge Nietzsches entspringt der Futurismus einem radikalisierten Lebenskult und hat die Zerstörung der traditionellen Ästhetik zum Ziel.

Sein Wunsch nach Erneuerung gipfelt in der Forderung, die Bewahrer der tradierten Kunst - Museen und Bibliotheken - zu zerstören. Als Mittel der Befreiung vom Bestehenden wird der Krieg ebenso verherrlicht wie die diesen perfektionierende Technik. Auto, Eisenbahn und Flugzeug sind die neuen Sujets, die wegen der durch sie erst möglich werdenden, schier schrankenlosen Mobilität und der von ihnen erzeugten Geräusche - als Ausdruck dieser Motorik - gepriesen werden. Einige Jahre zuvor legt Kurt Wolff den Grundstein für einen der wichtigsten Verlage der sich konstituierenden antiimpressionistischen Literaturbewegung. Im Winter 1908/09 tritt er in den kurz zuvor gegründeten, aber erst am 30. Juli 1910 ins Handelsregister eingetragenen Verlag von Ernst Rowohlt als Teilhaber und Mitleiter ein, den er schließlich am 2. November 1912 nach Differenzen mit Rowohlt gänzlich übernimmt. Zu der Zeit seiner Teilhaberschaft besucht Wolff noch gemeinsam mit Hasenclever und Pinthus literaturwissenschaftliche und philosophische Seminare an der Leipziger Universität. Nebenbei arbeitet er eher sporadisch - als Volontär in Anton Kippenbergs Insel-Verlag. Hier ist auch Rowohlt für kurze Zeit beschäftigt, bevor er in anderen Leipziger Verlagen das Rüstzeug für seine eigene Verlegertätigkeit erlernt. Beraten von Kippenberg, quartiert sich der Jungverleger Ernst Rowohlt 1908 im Vorderhaus der berühmten Druckerei Offizin W. Drugulin ein, für die er als gelernter Schriftsetzer - die Zeitschrift für Büchelfreunde betreut. Er installiert sich in drei kleinen Zimmern des Gebäudes, von denen er zwei als Geschäftsräume seines eigenen Verlages nutzt. Hier - in Leipzigs Königstraße 10 entwickelt sich rasch, besonders nach Wolffs finanziellem Einstieg, ein in die Breite wachsender Verlag, der vor allem den unbekannten, jungen Autoren die Möglichkeit zur Publikation gibt. Buchkünstler und Illustratoren werden an der Gestaltung dieser Veröffentlichungen beteiligt, die sich als Vertreter der bildenden Kunst schon bald einen Namen machen. Hugo Steiner-Prag, Emil Preetorius, Karl Walser und Wilhelm Wagner - mit dem Hasenclever für lange Jahre Freundschaft schließt - sind nur einige Namen aus jenem Künstlerzirkel, zu dem bald auch Oskar Kokoschka, George Grosz und Paul Klee als Illustratoren u.a. der Werke Stemheims, Kafkas oder Werfeis hinzustoßen. Mögen sich die Literaten - und bildenden Künstler - um Kurt Wolff in ihrem Wunsch, etwas gänzlich Neues zu schaffen, auch verbunden gefühlt haben, so wehrt sich deren Mentor Jahre später gegen das in der Literaturwissenschaft für sie gebräuchliche Schlagwort des Expressionismus. In seinen Erinnerungen1 legt er besonderen Wert auf die Tatsache, daß er nie nur einer literarischen Richtung gedient habe:

1

Wolff, Kurt: Autoren. Bücher. Abenteuer. Betrachtungen und Erinnerungen eines Verlegers. - Berlin: Wagenbach 1983.

89

Es wurde mein verfluchter, verhaßter Ruhm, Verleger des Expressionismus gewesen zu sein.2 Wolff wehrt sich besonders gegen den Pauschalisierungsversuch, jenen zwischen 1910 und 1925 publizierenden Autoren den Stempel einer Gemeinsamkeit aufzudrücken, die sie seiner Überzeugung nach nie gehabt haben, da sie ihre schöpferischen Leistungen individuell und ohne das Bewußtsein erbracht hätten, irgendeinem programmatisch einseitig orientierten Kollektiv anzugehören. Die starke Verbundenheit seiner Autoren mit traditionellen Vorbildern von Hölderlin bis zu Walt Whitman, die Wolff als Beleg für seine Argumentation anführt, 3 trifft besonders für Hasenclever zu, der den Vorbildcharakter dieser Autoren nie verleugnet und sich an den dichterischen Maßstäben z.B. der Werke Baudelaires und Goethes bewußt orientiert hat. Ebenso wie Kurt Wolff kritisiert auch Walter Hasenclever den seiner Generation zugedachten Sammelbegriff des Expressionismus und stellt hierzu 1924 fest: Ich habe nie recht gewußt, was Expressionismus bedeutet; nachdem mich aber ein Dutzend Interviewer [...] darüber aufgeklärt haben, beginne ich zu ahnen, daß die Sache ein großer Schwindel ist [...].4 Wolff, dessen außerberufliches literarisches Interesse besonders dem Werk Goethes gilt, verfügt in seinem Leipziger Haus über eine erlesene Sammlung von Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts sowie seltene Zeitschriftenserien. Für seine Freunde sind diese bibliophilen Schätze frei zugänglich, und besonders Hasenclever profitiert hiervon. Von Wolff beraten, beginnt schließlich auch er damit, sich aus bibliophilen Kostbarkeiten eine ansehnliche Bibliothek zusammenzustellen. Zu eher prosaischen - für die Leipziger Avantgarde aber dewegen nicht weniger bedeutenden - Orten der Begegnung werden die künstlerischen Salons und Bars der Stadt, in denen man diskutierend und tanzend die Nacht verbringt. Außer den Cafés Bauer und Merkur wird das Hinterzimmer von Wilhelms Weinstuben zu einem der beständigsten Treffpunkte, an dem sich zwischen 1910 und 1914 täglich Studenten und Schriftsteller zum Mittagstisch einfinden. Pinthus berichtet von den vielen, die selbst einen weiten Weg nicht gescheut haben, um an diesem Treffpunkt den Austausch mit den Vertretern der Moderne zu suchen.5 Auch Ernst Rowohlt, Kurt Wolff und ihre Lektoren finden sich dort regelmäßig ein und erarbeiten zwischen Suppe und Dessert ihre neuen Verlagsprogramme. So entsteht auch das Konzept der Buchreihe Der jüngste Tag, die ab 1913 in dem dann in Kurt Wolffs Besitz übergegangenen Verlag mit dem Untertitel 'Neue

2 3 4 5

90

Ebd., S. 23. Vgl. ebd., S. 24. W.H.: Empfindsame Reise nach Ungarn. - In: 8-Uhr-Abendblatt. 10.8.1924. Vgl. Pinthus, Kurt: L&W. - In: GDP. S. 13.

Dichtungen' erscheint und der avantgardistischen Literatur zu großer Verbreitung verhilft.

2

Das Vorbild Max Reinhardt

Nicht nur die Literatur ist in diesen Jahren großen künstlerischen Umwälzungen unterworfen. Auch im Theater werden Entwicklungen deutlich, die aber nicht immer der Moderne verpflichtet sein müssen, um revolutionär zu wirken. Gegen Ende des Jahres 1910 bringt Max Reinhardt seine in der Münchner Musikfesthalle uraufgeführte Großrauminszenierung des König ödipus von Sophokles - in der Bearbeitung Hugo von Hofmannsthals - nach Berlin. Die Aufführungen finden im Gebäude des sich auf Tournee befindenden Zirkus Schumann statt. Angelockt vom überragenden Presseecho reiht sich Hasenclever - gemeinsam mit der an einer Berliner Bühne engagierten Freundin Greta Schröder - in die Masse der diesem Spektakel beiwohnenden Zuschauer ein. Nichts Geringeres als die Wiedergeburt des antiken Theaters beabsichtigt Reinhardt, dessen Name durch diese Neuinszenierung des griechischen Arena-Theaters in ganz Europa bekannt wird. Hasenclever, der durch die Vermittlung des Freundes Josef Wörz Anfang 1911 Einlaß zu einer der stets ausverkauften Vorstellungen erhält,6 ist fasziniert von den in Berlin präsentierten künstlerischen Möglichkeiten, die den Rahmen der sonst üblichen Regieführung sprengen und von Reinhardt virtuos genutzt werden. Der junge Dichter erlebt dazu eine ihm als vollendet erscheinende schauspielerische Leistung von Künstlern, die er wenige Jahre später zu seinen Freunden zählt: Paul Wegener, der den Ödipus spielt, Tilla Durieux als Jokaste, Eduard von Winterstein in der Rolle des Kreon und Alexander Moissi als Teiresias. Die Idee des Arena-Theaters wird den Dichter fortan beschäftigen und 1916/17 durch sein Drama Antigone künstlerisch umgesetzt. Für das Großraumtheater geschaffen, bleibt es den Berliner Reinhardt-Bühnen vorbehalten, dieses Werk im April 1920 in einer einzigen Vorstellung nach dem bühnentechnischen Vorbild der antiken Tragödie zu inszenieren. Noch im Jahre 1911 startet das Reinhardt-Ensemble mit dem ödipus eine internationale Tournee, die über Leipzig ins Ausland führt. In der Universitätsstadt werden die Aufführungen in der Alberthalle gegeben. Auch hier brechen die Zuschauer in wahre Begeisterungsstürme aus und zeigen sich von der noch nie zuvor auf einer deutschen Bühne gesehenen Entfesselung von Menschenmassen beeindruckt. Um diese Massenwirkung zu erzielen, braucht Reinhardt eine große Anzahl von Komparsen, die sich ihm an jedem seiner Spielorte auch bereitwillig zur Verfügung stellt. Die Freunde Hasenclever und Pinthus gehören in Leipzig ebenfalls zu dieser Komparserie und erleben auf diese Weise - wahrscheinlich zum ersten Mal - professionelles Theater von der Bühne aus. Als pestkranke

6

Vgl. Schröder-Wegener, Greta an Edith Hasenclever; Berlin 22.4.1960. - O/M. 91

Thebaner statieren sie in der zirkusartig gestalteten Alberthalle, in der - so Tilla Durieux - Reinhardt die Inszenierung wie ein Orchester dirigiert.

3

Als Lektor des Ernst Rowohlt-Verlages Frühe journalistische Arbeiten

Weniger Erfreulicheres als dieses Bühnenerlebnis unter Max Reinhardt erlebt Hasenclever dagegen im Mai 1911, als er im Leipziger Diakonissenhaus eine von einer mit Kurt Pinthus unternommenen Italienreise heimgebrachte Magenerkrankung auskurieren muß. Nun für einige Zeit an das Krankenbett gefesselt, erhält er von Kurt Wolff die Möglichkeit, Manuskripte des Verlages als Lektor zu bearbeiten. Am 25. Mai kann der Autor bereits stolz seine ersten Arbeitsergebnisse berichten und bekennt: Ich kam mir furchtbar stolz und wichtig vor mit dem Manuskript, als verantwortungsvoller Lektor eines grossen Verlages. 7

Das hier erwähnte Manuskript, dessen Verfasser nicht genannt wird, findet Hasenclevers großes Lob, obwohl es seinem ästhetischen Empfinden noch nicht entspricht. Vom Gelesenen leicht irritiert, zeigt er sich von der gewollten inneren Widersprüchlichkeit des Textes jedoch beeindruckt: Ein merkwürdiges Ding, das Sie unbedingt sich vornehmen müssen. Auf der Bühne unmöglich weil - wenigstens in den ersten Akten - mit kaum merklicher Spannung dialogisierend; geistvoll - manchmal etwas zu geistvoll - paradox. 8

Es ist besonders die ihm ungewohnte Ausdruckskraft der Sprache, die ihn überrascht: Merkwürdig originell und dekadent bis zur - offenen - Perversität. Manches ist ekelhaft [...] Der Mann hat eine Sicherheit des Dialoges, die staunenerregend ist und zeichnet Menschen, die, wenn sie auch zum Teil Homunkulusse sind, doch manchmal verdammt gut und lebendig sind. [...] Verrückt, man weiss nicht, was man dazu sagen soll. 9

Wenige Tage später - er steht gerade vor seiner Entlassung aus dem Spital, nach der er sich zur Rekonvaleszenz auf die Ostseeinsel Vilm begibt - sendet er Wolff sechs weitere Besprechungen, die alle ablehnend ausfallen.10 Trotz Hasenclevers 7 8 9 10

92

W.H. an Kurt Wolff; Leipzig 25.5.1911. - O/Y. Ebd. Ebd. Vgl. W.H. an Kurt Wolff; Leipzig 30.5.1911. - O/Y. Folgende Manuskripte erwähnt der Autor: I. Autor ungenannt: Es fiel ein Schatten ... / II. Grumbkow, Waldemar v.: Träumerwege (Gedichte). / III. Ders.: Der Einsiedler. / IV. Schäffer, Albrecht: Der Teppich der Penelopeia. / V. Autor und Titel ungenannt: (Sammlung von Novellen und Humoresken, evtl. Arnold Zweigs Roman 'Die Novellen um Claudia', erschienen 1912 im Rowohlt-Verlag). / VI. Winterstein, Alfred Frhr. v.: Gedichte.

etwas zu emotional begründeter Kritik beweisen diese Arbeitsergebnisse ein fundiertes Fachwissen, wenn dem Dichter beispielsweise der Nachweis auf jeweilige literarische Vorbilder der Autoren gelingt und er einzelne Manuskripte als schlichte Adaptionen oder gar Plagiate entlarven kann. An Kurt Wolff schreibt er von seinen Leistungen entsprechend positiv gestimmt: Danke, viele Male! Es macht mir einen Mordsspass und ich bin ganz gehoben und verantwortungsvoll in meinem Amte. [...] Es macht mir grosse Freude und wenn's Ihnen zugleich ein Gefallen ist, doppelt! Ich liebe Sie trotz 6 Manuskripten sehr, obwohl ich mich manchmal schäme, selbst ein Dichter zu sein. 11

Sein ungeteiltes Lob gilt hingegen - außer den Werken Georg Heyms - den Dichtungen von Herbert Eulenberg, die zu den ersten Veröffentlichungen des Ernst Rowohlt-Verlages zählen und deren Autor besonders von Kurt Wolff geschätzt wird. Hasenclevers Verehrung für diesen Schriftsteller wird besonders in einem Brief deutlich, den er anläßlich der Premiere von Eulenbergs Komödie Alles um Liebe im Februar 1911 an Wolff sendet: Es wird wunderbar, dieses Fahren morgen mit der Freude und dem Herzklopfen wie vor etwas ganz Grossem und Schönem im Leben. 12

Seine innere Verbundenheit mit den Werken dieses Schriftstellers, denen er lehrbuchähnliche Qualitäten zumißt, stellt er im gleichen Jahr mit einem Feuilleton über Eulenbergs Dichtung Das keimende Leben unter Beweis. Hier gibt er jede Distanz zum behandelten Thema auf und entwickelt die Rezension - die er auch unter dem Eindruck seiner eigenen Vaterschaft schreibt - zu einer grundsätzlichen Kritik an den herrschenden machtpolitischen Verhältnissen weiter. So klagt er vom Staat sein Recht auf eine individuelle Gestaltung des Lebens ein und vergleicht die Aufgabe des Dichters mit der eines »Menschenhelfers, eines Befreiers« von jenen juristischen Fesseln, die den Emanzipationsprozeß des Individuums behinderten. Um dieses »Menschenrecht« einzuklagen, habe die Dichtkunst konsequent agitatorisch zu sein:13 Und gerade uns Nervösen, immer mehr Degenerierenden und von allen möglichen Kulturen und Einflüssen Überschwemmten, wird der harte Ruf wohl tun [...]. 1 4

Damit verbindet er die Hoffnung auf den Sturz der »schreienden Ungerechtigkeit« und verlangt für diesen Kampf des Dichters nach der uneingeschränkten Unterstützung des Lesers. Der enthusiastische Rezensent persifliert jedoch ungewollt sein frühes politisches Manifest, indem er für sein Dichterideal ausgerechnet die doppeldeutige Metapher des zwar wehrhaftem, aber dennoch käuflichen Landsknechtes wählt und überschwenglich pathetisiert: 11 12 13 14

W.H. an Killt Wolff; Leipzig 27.6.1911. - O/Y. W.H. an Kurt Wolff; o.O. 20.2.1911. - O/Y. Vgl. W.H.: Das keimende Leben. Ebd.

93

Wahrlich, wollen wir in der Schlacht der Meinungen und Paragraphen mit ihm für die seine [Sache] streiten, denn sie ist die einfache, menschliche und gerechtere.15 Anders, als es dieses politisierende Feuilleton vermuten läßt, konzentriert sich Hasenclevers Aufmerksamkeit zu dieser Zeit aber vorwiegend noch auf sprachästhetische Phänomene. Geradezu in Euphorie versetzt ihn z.B. Carl Einsteins Dichtung Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders, die in Auszügen 1912 in der Berliner Wochenzeitschrift Die Aktion veröffentlicht wird. Im Sommer 1913 schreibt der junge Lektor über das ihm vollständig vorliegende Manuskript: Einstein - Sofort mit tiefitem Interesse gelesen und finde es (trotzdem) fabelhaft\ Ich kenne den Mann nicht und habe auch mit W. und mit P. nicht nach Ihrem Wunsch über das Mskpt. geredet [...] Ich muss sagen: es waltet in dieser Prosa ein so starker orgiastischer Furor inne wie etwa in Heyms Versen - in seinen besten Versen! [...] ich finde die Sache so ungeheuer wichtig und monumental [...] Sie wissen, ich habe alle Ihre mir zum Lektorat anvertrauten Manuskripte (zumal für den J.T.) immer glatt abgelehnt: jetzt möchte ich ganz laut schreien: 'wähle diesen'! [...] Aus Instinkt, aber auch aus Überlegung fühle ich, daß dieser Mann bedeutend ist. [...] Es ist unerhört, wie in dieser Novelle der Wahnsinn in der Welt gezeichnet ist. Unerhört auch die Genialität der Verbestialisierung - man denkt an Kokoschka's Bilder. [...] Ehrenstein ist steril dagegen.16 Gerade in jenen Zeilen wird deutlich, in welch starkem Maße die Literatur der Moderne den Autor in diesen Jahren prägt. Seine eigene dichterische Entwicklung versucht er an derartigen Vorbildern auszurichten, wobei er nicht nur von literarischer Seite Hilfestellungen erfährt. Unter dem Einfluß des Aktivisten Kurt Hiller erreicht seine dichterische Entwicklung schließlich mit einer vorübergehenden Politisierung ihren vorläufigen Höhepunkt. In die Jahre seiner Lektorentätigkeit fällt auch sein Interesse an den Schriften Gabriele d'Annunzios, zu denen er sich im April 1912 begeistert bekennt. 17 Seine impulsive Orientierung an der Literatur der Avantgarde führt auch zu harscher Kritik an plötzlich als unmodern erkannten Autoren. Kraß dokumentiert er dieses z.B. mit seinen Stellungnahmen zum Werk Dauthendeys. So drückt er Kurt Wolff gegenüber noch im Dezember 1912 seine große Verehrung für das Werk Dauthendeys aus und läßt sich dessen Reliquien aus Leipzig zuschicken.18 Zu Beginn des folgenden Jahres verspottet er jedoch in einem Brief an seinen Verleger denselben Autor im Zusammenhang mit einer polemischen Hesse-Kritik, die er ungeachtet des Umstandes formuliert, daß er gerade ein Feuilleton in der von Hesse mitgegründeten Zeitschrift März veröffentlicht hat:

15 16 17 18

94

Ebd. W.H. an Kurt Wolff; Leipzig 21.8.1913. - O/Y. Vgl. W.H. an Kurt Wolff; Malcesine 16.4.1912. - O/Y. Vgl. W.H. an Kurt Wolff; Aachen 30.12.1912. - O/Y.

Ich habe mich übrigens (trotz März) nicht geniert und behauptet, Hermann Hesse sei zum Kotzen und Dauthendey gebäre Lyrik wie der Münchner Fasching Kinder.19

Zusätzlich zu seinen dichterischen Aktivitäten und seiner Beschäftigung als Lektor beginnt Hasenclever schon früh, Artikel für eine Vielzahl lokaler und überregionaler Tageszeitungen zu schreiben, in denen er sich meist mit Literatur und Theater befaßt. Von der Qualität der ihn publizierenden Zeitungen nicht immer überzeugt, gesteht er Kurt Wolff im August 1911: ich schreibe in allerhand Zeitungen und werde Mitarbeiter der - Jugend. Deshalb dürfen Sie mir aber nicht Ihr Haus verbieten, obwohl ich mich selbst schäme.20

Obgleich er bemüht ist, möglichst viel zu veröffentlichen (»Wissen Sie sonst noch eine Zeitung, dann mal los!«),21 macht er aus seiner grundsätzlichen Verachtung des Journalismus keinen Hehl: Ich hab ein Feuilleton am Meer geschmiert zwischen Essen und Verdauung, das die Rheinisch-Westfälische angenommen hat. Ein Onkel meines besten Freundes ist Direktor an der Vossischen geworden - da möchte ich nun auch noch gern mal hinein. Ich würde also Pinthus in den Schatten stellen. Wenn die Zeitungsleute nur nicht solche Schweine wären ... 22

Zu einem seiner journalistischen Höhepunkte wird 1912 der Auftrag einer Tageszeitung, in der letzten Februarwoche - gemeinsam mit dem Piloten Eugen Wiencziers - einen Flug vom Leipziger Flughafen Lindenthal aus zu unternehmen. Der Mutter seines Freundes Kuno Fleischer berichtet er nach geglückter Landung: ich habe nämlich hier im Auftrag der Leip.V.S., der größten Zeitung Sachsens, einen Passagierflug über Leipzig gemacht und damit einen neuen Flugrekord.23

Seine Endrücke veröffentlicht er in den Leipziger Neuesten Nachrichten vom 2. März in dem Beitrag Im Aeroplan über Leipzig, in dem er die Luft als 'das neue Element' preist und die gewonnenen Erfahrungen einer Offenbarung gleichsetzt, die es dichterisch umzusetzen gelte. In seinen journalistischen Arbeiten greift der junge Autor nun auch häufiger weltanschauliche Fragen auf, die er - immer stärker unter dem EinfluB der revolutionären Schriften Kurt Hillers - mit politischen Forderungen an Staat und Gesellschaft verknüpft. Am 25. Juni 1912 erscheint in der Morgenausgabe des Berliner Tageblatt ein programmatischer Artikel Hasenclevers, in dem er - als Hommage auf eine Rede seines Doktorvaters Karl Lamprecht - das Idealbild ei19 20 21 22 23

W.H. an Kurt Wolff; München 30.1.1913. - O/Y. W.H. an Kurt Wolff; Aachen 4.8.1911. - O/Y. W.H. an Kurt Wolff; Knocke 13.9.1911. - O/Y. W.H. an Kurt Wolff; Aachen 11.1.1912. - O/Y. W.H. an Frau Fleischer [Mutter von Kuno Fleischer]; Leipzig 10.3.1912. - In: Haak, Walter Hasenclever. S. 173f.

95

ner zukünftigen Universität aufzeigt.24 Lamprechts zentrale Forderung geht von einer 'universellen' Hochschule aus, die - außerhalb der Stadt gelegen - technisch und vor allem in geistiger Hinsicht völlig von der Außenwelt unabhängig existieren müsse. Das somit auch für Deutschland verbindliche englische Vorbild einer Campus-Universität nimmt der Doktorand beifällig auf: Wir, die wir zu Ihren Vorlesungen ins überfüllte 'Collegium Maximum' der Leipziger Universität unsere zerquetschten Leiber drängten und im Sommer die Hitze der Dächer, im Winter die Kälte der Höfe erbärmlich fühlten, haben vielleicht am ehesten die Begeisterung für Ihr Werk. In der großen, von Fabriken und Automobilen beschwerten Stadt, vor ungelüfteten Betten, schreienden Kindern und keifenden Wirtinnen haben wir uns daran gewöhnen müssen, Dissertationen zu verbessern und Examina zu machen. 25

Vor allem aber in ihrem Lehrplan solle sich diese Ideal-Universität von der traditionellen deutschen Hochschule unterscheiden. Der Student solle nicht mehr eine Auswahl aus fachlich strikt voneinander getrennten Sachgebieten treffen, sondern müsse eine umfassende Vermittlung der wichtigsten - in der Hauptsache philosophischen - Disziplinen erfahren. Durch dieses Prinzip werde die Universität nicht mehr eine »Pflanzschule für höhere praktische Berufe« sein, sondern eine »Pflegestätte reiner Wissenschaft«.26 Auf dieser Grundlage könne man den einzelnen Studenten zu einem geisteswissenschaftlich geprägten Individuum erziehen, anstatt ihn zum Teil einer geistig uniformen Masse zu degradieren, die einzig dem Funktionalitätsprinzip diene. Daß es dem Autor mit seinem Artikel aber nicht primär um die Unterstützung eines humanistisch-elitären Ideals geht, zeigt seine zu dieser Zeit geführte Korrespondenz mit Lamprecht. In dieser erkundigt sich der cand. phil. geradezu peinlich direkt, ob sein Beitrag, den er dem Dozenten brieflich zusendet, auch dessen 'gnädiges Wohlwollen' finde. 27 Eine Reaktion Lamprechts ist nicht erhalten, jedoch können auch diese Bemühungen Hasenclevers die negative Bewertung seiner Dissertation nicht verhindern. Erfolgreicher als in den Geisteswissenschaften ist der Dichter als Feuilletonist, da immer mehr Berliner Zeitungen und auch überregionale Blätter seine Artikel publizieren. Geschäftstüchtig versucht er nun, seine dichterischen Aktivitäten mit seinen journalistischen zu verbinden und will z.B. Anfang Mai 1912 Kurt Wolff die Gründung einer gemeinsamen Zeitschrift schmackhaft machen. Aus Italien, wo er sich von April bis Mai 1912 in erster Linie der Fertigstellung seiner Dissertation widmet, wirbt er - erfolglos:

24 25 26 27

96

W.H.: Die Universität der Zukunft. Ebd. Ebd. Vgl. W.H. an Karl Lamprecht; I. o.O. 15.6.1912. / II. Berlin 28.6.1912. - O/B.

Ich bekam Auftrag von der B.Z. (Berlin) ein 'Garda' Feuilleton zu schmieren. Wollen wir nicht eine Zeitung in Leipzig gründen? 28

Im September 1913 erhält er schließlich vom renommierten Börsencourier das Angebot, regelmäßig Rezensionen zu veröffentlichen (»Börsencourier schreibt mir [...] Ich kann dort jetzt alles besprechen, was ich will.«).29 4

Der Jüngling

Bereits im März und April des Jahres 1911 unternimmt Walter Hasenclever eine Norditalienreise, auf der ihn ebenfalls Kurt Pinthus begleitet. Aus Florenz schreibt der von amourösen Erlebnissen beschwingte Dichter am 16. März an Kurt Wolff: Was sagen Sie, daß ich in Florenz mit der Eva Martersteig zusammenlebe, so herrlich, so bunt und so fröhlich! [...] Ich glaube, ich könnte wachsen wie eine Zypresse. 30

Pinthus erinnert sich detaillierter ihrer gemeinsamen Erlebnisse: wir durchstreunten die Straßen und Parks vieler Städte, [...] durchpilgerten Italien, erstiegen Assisis heiligen Hügel mit den aus Perugia entführten Mädchen, die sich gleich ihren Vater mitgebracht hatten, und süß glänzte uns das Leben, als wir in Venedig, glaubend, an einer Austern-Vergiftung sterben zu müssen, nach langer Bewußtlosigkeit, die nur tiefer Schlaf war, von der Mittagssonne geweckt wurden. 31

Im April berichtet der Autor seinem Verleger schließlich: Eva Martersteig ist nun fort [...]. Triefend von Regen ziehen wir durch das Land, sitzen teils beim Wein, teils in Spelunken und bei alten Bildern und erleben merkwürdige Dinge. 3 2

Ein unbetiteltes Gedicht, das von den Erlebnissen jener Italienreise im Jahre 1911 angeregt wird und die Kopfzeile »Schmiedet mich an die Speichen an, [...]« trägt, stellt wahrscheinlich den Ursprung des Lyrikbandes Der Jüngling dar, der 1913 im Druck erscheint. Walter Hasenclever sendet es am 23. April 1911 an seinen Verleger und erläutert dazu: Ich schicke Ihnen diese Verse. Ein Gedicht ohne Anfang und Ende, das ich so weiterdichten werde, die Fahrt nach Italien, mit allem Erlebten, Erschauten, Eroberten und den neuen Weg, den ich fühle. 3 3

28 29 30 31 32 33

W.H. an Kurt Wolff; Malcesine etwa Mai 1912. - O/Y. W.H. an Kurt Wolff; Aachrai 9.1913. - O/Y. W.H. an Kurt Wolff; Florenz 16.3.1911. - O/Y. Pinthus, Kurt: L&W. - In: GDP. S. 15. W.H. an Kurt Wolff; Gubbio 3.4.1911. - O/Y. W.H. an Kurt Wolff; o.O. 23.4.1911. - O/Y.

97

Im Juni 1911 ist das geistige Konzept des Jüngling bereits entworfen und der Anspruch, der damit verwirklicht werden soll, definiert: Erschrecken Sie nicht! Es ist mir Bedürfnis Ihnen noch von der Art der Verse zu schicken, über die Sie mir damals herzlich schrieben. Ich mache da weiter und fühle auf Rügen eine starke Kraft. So entstand das da in ein paar Tagen. Ich will nämlich einen Roman in Versen schreiben. Alle grossen Erschütterungen und Menschen meines Lebens und die andrer, fahrend durch die Luft - dem Element unsrer Zeit - und im Rhythmus und in der Form des Geschehens - erscheinen lassen. Und so weiter. Abgesehen aber davon habe ich das wirkliche Bedürfnis, meinen Freunden von Zeit zu Zeiten mal zu zeigen, daß ich noch zu etwas Mut habe.34 Im Januar 1912 erhält Wolff eine erste, bereits überarbeitete Fassung des Lyrikbandes übersandt. Dazu schreibt der Dichter: Ich habe im Vorherigen natürlich viel geändert, wo ich mich jetzt mal wieder mit der Sache beschäftige. Nehmen Sie auch dies hier ganz roh und unfertig, wie es seinerzeit erlebt wurde. Denn so ist es fast wörtlich wiedergegeben und so wurde manches, was damals Symbol war hier Ereignis - und auch umgekehrt. Aber ich glaube auch, für allerlei da eine Formel gefunden zu haben. Zum Beispiel für die Eva. Im übrigen trenne ich mich nun von ihr, und da beginnt der eigentliche Roman. Aber Sie sehn, Kurt Wolff, daß das alles in dem Rhythmus erzeugt und gleichzeitig geboren wird, von dem wir damals in Venedig sprachen. Und das ist mir das Wesentliche: man muss für neue Elemente, Fahrten und Zeiten auch neue Ausdrucksmittel und Fantasien haben. Oder wie die Eva wohl empfinden würde: Ekstasen. Lesen Sie's als solche! Sonst weiss ich nicht viel.35 Es ist das Jahr der großen Deutschlandtournee italienischer Futuristen. Unter dem Eindruck der nun in der Öffentlichkeit erneut stark diskutierten futuristischen Manifeste von 1909 und 1910 veröffentlicht Hasenclever Ende 1912 im Leipziger Parnass36 ein Gedicht mit dem Titel Erster Flug-1911, zu dem ihm sein Rundflug über Leipzig inspiriert hat. Der Parnass, eine kleine Gedichtsammlung, wird anläßlich des Jahresessens Leipziger Bibliophilen am 16. November 1912 veröffentlicht und enthält auch Beiträge von Elsa Asenijeff, Kurt Pinthus und Ulrich Steindorff. Hasenclever nutzt diese Gelegenheit, um u.a. auch seinen Gedichtzyklus Unsentimentale Liebesgedichte. Eine Anweisung zum Lieben filr Jünglinge zu publizieren, den er ein Jahr später in seiner Lyriksammlung Der Jüngling erneut veröffentlicht. Außer durch die allgemeine Rezeption des Futurismus in Deutschland und besonders in Frankreich ermöglichen dem Autor vor allem seine häufigen Italienreisen den Zugang zu dieser von Norditalien ausgehenden (Anti-) Kunstrichtung. Formal vermag der Dichter die ungeheure 'Dynamik' der futuristischen Ästhetik noch nicht umzusetzen und hält deswegen bei der äußeren Gestaltung seines 34 35 36

98

W.H. an Kurt Wolff; Leipzig 6.1911. - O/Y. W.H. an Kurt Wolff; Aachen 11.1.1912. - O/Y. Asenijeff, Elsa; W.H.; Pinthus, Kurt; Steindorff, Ulrich: Neuer Leipziger Parnass. - Dem Leipziger Bibliophilenabend zum Jahresessen am 16. November 1912.

dreistrophigen Gedichtes Erster Flug die traditionelle Reimfolge strikt ein. Inhaltlich realisiert er jedoch seine Absicht, die wesentlichen thematischen Elemente dieser künstlerischen Revolte aufzugreifen, die die europäische Moderne wie ein Sturm erfaßt. Der italienische Futurismus bindet im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts Dichter und bildenden Künstler in ein für beide konzipiertes ästhetisches Konzept ein und drängt mit revolutionärem Pathos in die hiervon irritierte Öffentlichkeit. Elementare Lebenskraft, Wille zur Macht und vorbehaltlose Idealisierung der Technik sind sein Programm. Das als in seinem Geist erstarrt definierte Publikum soll aus dem Zustand bloßer Betrachtung herausgerissen werden und die »dynamische Durchdringung der Welt«37 erfahren. Sein Platz müsse nun nicht mehr vor dem Kunstwerk, sondern in diesem sein. Mit dieser Forderung strebt der Futurismus die Realisierung einer völlig neuen Wirklichkeitserfahrung an. Realität bedeutet der italienischen Avantgarde nun nicht mehr eine dem Subjekt gegenübergestellte Wirklichkeit von Objekten, sondern Realität setzt sich aus vielfältigsten, 'nebeneinander'38 erfahrbaren dynamischen Zuständen zusammen, die den Betrachter zur mobilen Partikel des Ganzen werden lassen. Das Ziel des futuristischen Programms ist - neben der Auslöschung aller bisherigen Kunstrichtungen -, die »dynamische Empfindung«39 einer Sache anzustreben. Darstellung dürfe deshalb nicht mehr als photorealistische Wiedergabe scheinbarer Realität, als bloße Reflexion des Leblosen40 verstanden werden, sondern als eine Ausdrucksform der dem Kunstwerk innewohnenden »Emotion«.41 Die Gewißheit, daß selbst unbelebte Objekte einen »besonderen Rhythmus«, eine »Bewegungstendenz, oder noch besser [...] innere Kraft«42 haben, leiten die Futuristen von der immanenten 'Erregungsenergie'43 eines Gegenstandes ab, denn: Jeder Gegenstand gibt durch seine Linien zu erkennen, wie er sich zerlegen würde, wenn er den Tendenzen seiner inneren Kräfte folgen würde. 44

Einer »Malerei der Seelenzustände« müsse das Kunstwerk gleichen, für deren Zustandekommen die Empfindungen des Künstlers nicht mehr »geflüstert«, sondern »triumphierenden Fanfaren« gleich dem Publikum entgegengeschmettert

37

38 39

40 41

42 43 44

Hess, Walter: Futurismus. - In: Hess, Walter: Dokumente zum Verständnis der modernen Malerei. Reinbek: Rowohlt 1956, S. 71. Vgl. ebd. Marinetti, F. T.: Erstes Manifest des Futurismus 1909. - Zitiert nach Hess, Walter: Futurismus. S. 72. Vgl. Hess, Walter: Futurismus. S. 71. Boccioni, Umberto u.a.: Vorwort der ersten Ausstellung futuristischer Maler in Paris 1912. Zitiert nach Hess, Walter: Futurismus. S. 73. Ebd. - Zitiert nach Hess, Walter: Futurismus. S. 72. Vgl. ebd. - Zitiert nach Hess, Walter: Futurismus. S. 73. Ebd. - Zitiert nach Hess, Walter: Futurismus. S. 72f.

99

werden sollten.45 »Wir wollen den Schock [...], die schrägen Linien, die auf die Sinne des Betrachters fallen wie Pfeile, [...] den wirbelnden Kreis, [...] die Form einer Explosion«,46 schreibt 1913 Carlo Carra, einer der Theoretiker des Futurismus. Dieses Konzept versucht Walter Hasenclever in seinem Gedicht umzusetzen und steigert sein lyrisches Ich in den Rausch des Fluges, der es der Banalität des Irdischen entrückt. Vom »brausenden Spiel« erfüllt, verachtet es das überwundene »Gedärm der Erde«, steigt auf »ohne Grenzen und Ziel« und erkennt: »Die krüppligen Menschen sind dein nicht mehr«. Eine neue Schönheit trägt es aus »Jahrhunderte langer Enge« empor, ein »schlankes, schwarzes Tier«, das die Grenzen des Mensch-Seins für Augenblicke vergessen läßt. 47 Dieses Motiv ungebändigter Motorik, mit dem die Ablehnung des gegen die vitalen Urkräfte wirkenden Verstandes implizit verbunden ist, verarbeitet der Dichter bereits 1910 in seinem Sf&fte-Gedichtband in der Metapher des in die 'Freiheit' eilenden Zuges. Es klingt jedoch noch vergleichsweise statisch, wenn es dort heißt: Vom Widerschein der Kesselfeuer grell Umflattert fliegt mein Zug, [...] Und fliehend fahr ich nun und sehne mich Nach nichts. [...]. 4 8

Unendlich explosiver wirkt hingegen die im Flug entworfene Darstellung von Dynamik und aktivistischem Lebenswillen: Hinter dir schreit der Motor. Laß ihn morden. Mensch aus Fleisch - Du bist zu Stahl geworden! [...] vollende die Welt! 49

Daß er aber die Dynamik seines sich hier ausdrückenden Lebensstils zunehmend auch als Belastung empfindet, gesteht er im März 1912 der Mutter Kuno Fleischers, der er über seine aktuellen dichterischen Arbeiten, dem Gedicht Erster Flug sowie der im Entstehen begriffene Lyriksammlung Der Jüngling, berichtet: Dieses und ein neuer Roman in Versen, der den Rhythmus der Luft, des neuen Elements und alle diese großen Offenbarungen in Form giesst, dazu eine Menge gesellschaftlicher Verpflichtungen und die Gründung einer neuen akademischen Vereinigung, die ich ein Semester leitete mit Vorträgen auswärtiger Künstler, ließ mich in

45

46

47 48 49

Boccioni, Umberto u.a.: Manifest der futuristischen Maler von 1910. - Zitiert nach Hess, Walter: Futurismus. S. 73. Carra, Carlo: Manifest der Töne, Geräusche und Gerüche 1913. - Zitiert nach Hess, Walter: Futurismus. S. 74. W.H.: Erster Flug-1911. -In: AsenijefF, Elsa; W.H. u.a.: Neuer Leipziger Parnass. S. 15. W.H.: Nächtliche Flucht. - In: Städte, Nächte und Menschen. S. 7. W.H.: Erster Flug-1911.

100

starken Ekstasen verharren, so dass ich mich nach Ruhe und nach Ländern ohne Menschen sehne. 50

Im Dezember 1912 vollendet er schließlich seine Gedichtsammlung, die er im Januar 1913 in Schliersee bei München noch einmal überarbeitet. Erst zu diesem Zeitpunkt legt er sich auf ihren endgültigen Titel fest, die er bis dahin lediglich als 'Roman' oder 'Buch' bezeichnet hat (»ich will mein Buch nennen 'Der Jüngling'«).51 Seine persönliche Interpretation dieses Lyrikbandes sendet er im Dezember 1912 an Kurt Wolff und dokumentiert darin eine nicht unkritische Anlehnung an das zu seiner Zeit empfundene und glorifizierte Lebensideal: Sie müssen also 1 bis 10 für sich betrachten und dann 10 bis 20. Wenn das erste von den Amouren (als dem primitivsten) spricht, so setzt das zweite diesen Anfang fort in ein Lebensgefühl hinein. Ich denke mir das sehr schön und möchte viel mit Ihnen darüber reden! Ich glaube ausserdem wirklich, Dinge, die mir sehr tief und inhaltlich stark waren, konzentrisch in dem zweiten Zyklus versammelt zu haben: einen Ausdruck der Welt als eines Symbols, einer Erscheinung, die nicht mehr uns und unseresgleichen schafft und ernährt, sondern die wir gezeugt haben, damit wir uns in ihr auflösen - um dann wieder, zurückgespielt aus diesen tausendfachen Beziehungen, uns selber als ein Bild zu begreifen: eine Form für alles, eine entschwebende Fata Morgana: 'beruhigt und gestillt'. So habe ich in diesem zweiten Zyklus manches transzendentale Gefühl der ersten Verse über die Liebe erst eigentlich begriffen: nämlich das der Treue (14) und das der unkörperlichen Liebe: 'Gesicht des eigenen Blutes fremd und scheu'. Vor allem aber die Notwendigkeit des Lebens als Stärkstes was es gibt: daß man, solange man da war, in sich gut und fröhlich hineingetrunken hat, und das müssen Sie zu Ende denken! 52

Im Jüngling, der zwischen Frühjahr 1911 und Winter 1912/13 entsteht, greift der Dichter wenig von der im Gedicht Erster Flug verarbeiteten futuristischen Radikalität und vorbehaltslosen Lebensbegeisterung auf und knüpft stattdessen an die bereits für den Si&fte-Gedichtband relevanten literarischen Traditionen an. Einen wesentlichen Unterschied zu dieser ersten Lyriksammlung macht aber nun Hasenclevers Zurücknahme des einstmals vehement beschworenen, weltumfassenden Wir-Gefühls aus, dem sich der Autor jetzt mit eher entlarvender Ironie widmet. Die noch 1910 hymnisch proklamierte Größe des gesamten Menschengeschlechts wird im Jüngling wieder zugunsten eines elitär-individuellen Standpunktes zurückgenommen und macht einer grundsätzlichen Verachtung der 'Masse' Mensch und deren Unbelehrbarkeit Platz. Lediglich in einem der 51 in dieser Sammlung veröffentlichten Gedichte wird das proklamatorische 'Wir' noch als dominierendes Motiv aufgegriffen - um es in grotesker Überakzentuierung zu ironisieren:

50

51 52

W.H. an Frau Fleischer [Mutter von Kuno Fleischer]; Leipzig 10.3.1912. - In: Haak, Walter Hasenclever. S. 173f. W.H. an Kurt Wolff; Schliersee 30.1.1913. - O/Y. W.H. an Kurt Wolff; o.O. 12.1912. - O/Y. 101

Wir pendeln am Strick vor dem Staatsanwalt. Wir leben, um uns zu betrügen. Wir tanzen alle Tänze mit dem Knie. Wir umarmen brüllend den und die.53 Im Zusammenspiel mit der Nietzsche-Metapher vom verhaßten 'Bildungsphilister' werden aber bereits die Ansätze einer Neudefinition des 'Wir' im elitären, expressionistisch-aktivistischen Sinne deutlich: Wir heben die Fackeln zur Henkersnacht. Wir haben alle Philister ans Kreuz gebracht. Wir werden alle Idioten zu Tode quälen.54 Im Drama Der Sohn greift Hasenclever 1913 das Pronomen 'Wir' erneut auf, um es als Ausdruck größtmöglicher Abgrenzung gegenüber der wilhelminischen Gesellschaftsordnung zu instrumentalisieren. Das von Sternau in Nirwana noch anfänglich vertretene Menschheitsideal, das von der grundsätzlich möglichen Besserung der als lediglich ungebildet erkannten Gesellschaft durch Aufklärung ausgeht, macht dessen 'Wir' zu einem jeden Menschen miteinschließenden Begriff. Im Sohn dagegen bezeichnet dieses 'Wir' schließlich nur noch einige wenige aktivistisch Gleichgesinnte und ist mit einer Kriegserklärung an die als innerlich tot empfundene, lebens- und zukunftsfeindliche Umwelt verbunden. Für das Verständnis des Jüngling ist der Hinweis auf Hasenclevers ausführliche Beschäftigung mit einem der wichtigsten literarischen Organe des Naturalismus, der Zeitschrift Die Gesellschaft, notwendig, die zwischen 1911 und 1913 anläßlich seines Promotionsversuches stattfindet. Das ausführliche Studium dieser Zeitschrift vermittelt ihm die grundlegenden Postulate jener Epoche und deren dichterische Umsetzung in einer Intensität, deren Auswirkung auf sein dichterisches Werk nicht unterschätzt werden darf. Es ist wohl gerade diesem Einfluß zuzuschreiben, daß seine Lyrik niemals die Sprachgewalt etwa eines August Stramm erreicht und gerade in formaler Hinsicht konventionell bleibt. Der unter diesem Einfluß entstehende Jüngling wird jedoch als 'Anweisung zum Lieben' - so der Titel des ersten darin enthaltenen Gedichtzyklus - oftmals durch eine Interpretation im vitalistischen Sinne mißverstanden, wofür sicherlich auch eine Vielzahl inhaltlicher Widersprüche verantwortlich ist, deren Ursache in der mehijährigen Entstehungszeit begründet sein mag. Einer derartigen Interpretation steht aber besonders die augenfällige Stringenz der Mond-Metapher entgegen. Als völliger Gegensatz zu diesem melancholischen Leitmotiv sei hier auf die frühere Dominanz der vitalistischen SonneMetapher im SWfrfie-Gedichtband hingewiesen, die der Autor im Gedicht Erster Flug zum Bild eines 'aufbrechenden Brandgeschwürs'55 steigert. Weit entfernt von dieser radikalen Lebensvergötterung prägt hingegen im Jüngling Artemis, 53 54 55

W.H.: Der Jüngling. - Leipzig: Kurt Wolff-Verlag 1913, 'Der Abenteurer", S. 21. Ebd. Vgl. W.H.: Erster Flug.

102

die von den Dichtern besungene Göttin des Mondes und des Todes, den Tenor der Gedichte, in denen der Autor zwar sein Verlangen nach vitalisierender Leidenschaft ausdrückt, jedoch gleichzeitig die Leere dieser Lust beklagt. Die gleichermaßen sehnsüchtige wie ängstliche Frage des 'Jünglings': »Mond, bist du noch Bruder?«56 verdeutlicht dessen ambivalente Beziehung zu dem mit »hohler Flüssigkeit«57 bedeckten Trabanten. Entgegen den Mond-Allegorien von Hasenclevers Dichterfreund Georg Heym, der mit ihnen den verachteten Typus des Bürgers karikiert und dessen Zerstörung fordert, nutzt Walter Hasenclever seine Mond-Metapher zur Darstellung eines philosophischen Entwicklungsprozesses, an dessen Ende die erneute Zurückweisung des Übermenschen-Axioms steht. »Erlebe den Mond und die Stadt!/ Ich liebe den Tag, der kein Ende hat«,58 zitiert das lyrische Ich, ein ehemaliger Jünger Nietzsches, frühere Bekenntnisse. In seiner Gegenwart weichen aber die ehemals positiv besetzten Motive der Nacht, des Mondes und der Leidenschaft verheißenden Stadt einer bedrohlichen Untergangsvision, mit der der Dichter die von Georg Heym artikulierte Dämonisierung der großstädtisch-technischen Landschaft aufgreift: Stadt wächst, und Mond hinzu von allen Seiten [...] Die großen Plätze in der Stadt erstrahlen Leer und beklommen wie vor einer Pest. 59

Zu Beginn seiner Gedichtsammlung bezieht sich der Autor noch auf seine im Vitalismus begründete Definition des Lebens, die das subjektive Erleben von Leidenschaft, die Intensivierung des Gefühls, als Gradmesser erfahrener Lebensqualität benennt und mit der gefürchteten, in Konventionen erstarrten Avitalität des Bürgers kontrastiert. »Wer liebt, der rennt im Trab«, formuliert er, schränkt dann jedoch den positiven Gehalt dieser Metapher ein, indem er sie als eine 'Fluchtmetapher' entlarvt, da die »Peitsche der Angst, die Wiege und das Grab«60 der ausgeübten Sinnesfreude auf dem Fuße folgen. Damit benennt er jene Faktoren, die er als Folgen zügellos realisierter Vitalität fürchtet: Ungewollte Vaterschaft und damit verbundene bürgerliche Verpflichtungen sowie noch unheilbare Geschlechtskrankheiten. In der Erkenntnis von der Sinnlosigkeit eines Lebens, das primär aus dem Wunsch nach Lusterfüllung geführt werde und keinen anderen Inhalt besitze als sich selbst, kein über das Vitale hinausreichendes Ideal, keine andere Moral, als die der Triebe, formuliert er: Wir lieben ohne Sinn für Zärtlichkeiten, Nur daß wir lieben ist uns schon Gewinn [...]. 6 1

56 57 58 59 60 61

W.H.: Der Jüngling. - Darin 'Flucht und Erscheinung', S. 34. Ebd., 'Das glückliche Ende', S. 64. Ebd., 'Das glückliche Ende', S. 61. Ebd., 'Das glückliche Ende', S. 60. Ebd., 'Anweisung zum Lieben', S. 9. Ebd., 'Anweisung zum Lieben', S. 15.

103

Die Schlußfolgerung, daß nach dem erotischen Exzeß keine weitere sensitive Steigerung des Lebens mehr folgen könne, fuhrt den 'Jüngling' zur Desillusionierung, zumal dessen egozentrischer Liebe von Beginn an auch jegliche seelische Erfüllung verwehrt bleibt. Diese hält der Autor allenfalls durch das weibliche Geschlecht für möglich. Getreu antifeministischer Überlegungen stehen ihr aber die negativen Eigenschaften des weiblichen Charakters entgegen: Die Frauen, die man liebt, gehören Vielen - [ . . . ] Sie haben einen Raum für tausend Seelen, [...] So steig ich, ohne das Gefühl von Sternen, In ihren Schoß: wissend und unverliebt. 62

Vom »Rausch der Bilder«,63 dem Selbstbetrug, befreit, erkennt sein lyrisches Ich, daß die Welt nur Vorstellung, »Traum in seinem Innern«64 sei. Vom Ideal des 'Abenteurers', dem einst nachgeeiferten Urbild des Übermenschen, sagt sich der 'Jüngling' los. So bleibt es lediglich Erinnerung, wenn er sein inzwischen überlebtes Lebensgesetz zum letzten Mal zitiert: »Und forme sie alle, Mensch oder Tier,/ Nach dem starken Gesetze des Lebens in mir.«65 Nur ein »veijährtes Bild«66 spricht hier, das »Lust und [...] Untergang«67 zugleich bedeutet hat, und das neben der in der Gegenwart gewonnenen Aussicht auf ein »im Osten« gelegenes, »unbetretnes Land«68 nicht mehr bestehen kann. Die letzten Gedichte des Jüngling vertiefen diese transzendente Vision und greifen erneut den in Nirwana unternommenen Versuch einer Versöhnung des späten Nietzsche mit Schopenhauer in einer positiven Nirwana-Vorstellung auf. Den Tod vor Augen, begrüßt das 'Ich' der Dichtung, dem Zarathustra ähnlich, freudig das sich erneut drehende Rad des Lebens (»Auf, Karawane,/ Mit erster Röte in den ewigen Raum!«).69 Hiermit verbunden ist die visionäre Hoffnung auf ein metaphysisches Reich, das, femab von irdischen Verwirrungen, Aussicht auf endgültige Erlösung bietet. Mit der Vision von diesem geistigen Ideal schließt der letzte Zyklus, betitelt Das glückliche Ende (»Erdabwärts sinkt dein Haus, Gesicht und Fahne -/ Auf schwebst du, übermannt von deinem Traum!«).70 Im Zusammenhang mit dem Gedichtband Der Jüngling ist es notwendig, auf die Rezeption der philosophischen Schriften Henri Bergsons zu Beginn des 20. Jahrhunderts hinzuweisen, dessen wichtigste Werke zwischen 1908 und dem Beginn des Ersten Weltkrieges ins Deutsche übersetzt werden. Hasenclever be62 63 64 65 66 67 68 69 70

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.

104

'Anweisung zum Lieben', S. 13. 'Flucht und Erscheinung', S. 35. 'Flucht und Erscheinung', S. 40. 'Das glückliche Ende', S. 61. 'Das glückliche Ende', S. 60. 'Das glückliche Ende', S. 64. 'Das glückliche Ende', S. 63. 'Das glückliche Ende', S. 66.

schäftigt sich während der Entstehung des Jüngling besonders intensiv mit Bergson, von dessen Werk er bereits als Primaner eine Auswahl - wahrscheinlich im französischen Original - kennengelernt hat. In Bergson trifft er auf einen Nietzsches Zeit- und Kulturkritik zwar nahestehenden Philosophen, dessen aus diesen Prämissen gezogene Schlußfolgerungen jedoch auf die von Hasenclever stets kritisch hinterfragte Radikalität Nietzsches verzichten. Gerade Bergsons Kritik an der hemmungslosen Fortschrittsgläubigkeit der nur noch auf die Naturwissenschaften und die Technik vertrauenden modernen Gesellschaft korrespondiert mit den Intentionen des Dichters, dem es zunehmend fem liegt, lediglich das verstandesmäßig Erfaßte als Lebensrealität anzuerkennen. Die Tatsache 'Leben' sieht Bergson - getreu vitalistischer Erkenntnis - vor allem durch den Zustand der Bewegung verwirklicht. Diese bezeichnet er als schöpferisch, obgleich sie nicht zielgebunden sei und keinem ihr zugrundeliegenden Plan folge. Als den einzigen Zweck des Lebens erkennt er, diese kreative Kraft zu realisieren, als deren Quelle er den dem Individuum eingeborenen 'élan vital' bezeichnet. Dieser treibe den Menschen zu seiner persönlichen Entfaltung an, zu einem niemals endenden Vorgang steter Wandlung und Fortentwicklung, womit er Nietzsches Begriff vom sich selber schaffenden Individuum aufgreift. Es ist aber gerade Bergsons Weiterentwicklung dieses Gedankens, die den Dichter faszinieren muß. Da der 'élan' - so Bergson - nicht nur auf das menschliche Individuum begrenzt sei, sondern die Grundkraft des kosmischen Geschehens überhaupt darstelle, könne der Mensch, wenn er sich seiner selbst bewußt werde, Kenntnis von den Grundzügen des ganzen Seins erlangen. Dieses sei aber nur durch einen intuitiv ablaufenden Erkenntnisakt möglich, der schließlich zur Wahrnehmung der eigentlichen, der metaphysischen Realität führe. Vor allem die Rezeption dieses Gedankenganges ist eine jener Grundlagen, auf denen Hasenclevers spätere, von der buddhistischen Lehre beeinflußte Auseinandersetzung mit der Philosophie Emanuel Swedenborgs fußt. So spiegelt der Jüngling gerade unter dem Einfluß des französischen Philosophen Henri Bergson Hasenclevers alte, von grundsätzlichem Mißtrauen geprägte Auseinandersetzung mit dem Phänomen 'Leben' wider, die ihn vitalistischen Idealen kontemplativen Pessimismus gegenüberstellen läßt. Noch haben die politische und die gesellschaftliche Wirklichkeit Deutschlands keine wesentliche Bedeutung für den Inhalt seiner Dichtungen. Was zählt, ist weiterhin sein Konflikt mit der 'Tatsache Leben', der den Dichter in eine mystisch-metaphysische Denkrichtung treibt und ihn nach neuen Erfahrungen, nach Intensivierung des Lebensgefühls in der Hoffnung streben läßt, dadurch Kenntnis einer tieferen, quasi-religiösen Realität zu erhalten.

105

5

Das unendliche Gespräch

Kurt Pinthus bezeichnet den Gedichtband Der Jüngling als »Frucht und Abbild der abenteuernden Jahre« seines Freundes. Dieser habe besonders jene Gedichte bis zu seinem Tode geliebt, da er gewußt habe, daß sie seine Jugend darstellten und programmatisch für sein ganzes Dasein gewesen seien: Von vielen wurde er für immer als der glühende Jüngling empfunden, [...] als der er sich hier, ekstatisch daherbrausend, erlebnishungrig, erkenntnissuchend darstellt. Diese Gedichte [...] sind oft mißverstanden worden als Lobpreisung sinnlicher Rauschsucht und rücksichtslosen Daseinsgenusses.71 In seinen Briefen schildert der Autor allerdings die Vehemenz, mit er sich - 1911 endlich volljährig geworden - während dieser Jahre in sinnliche Abenteuer stürzt. So heißt es z.B. an den Freund Kuno Fleischer: Ich werke im Tanzsaal. Und so bin ich und so ist mein Leben auch wie dieser Tanzsaal: verworren, nicht ganz sauber und viel zu voll. Ja, so ist's!72 Daß ihm sein Lebenswandel im Familienkreis keinen Beifall einbringt, bedenkt der Dichter mit der humorvollen Beschreibung einer wohl typischen Szene, die sich abspielt, als er wieder einmal Heiratsabsichten äußert: der Großmama teilte ich die Hochzeit mit als es mir noch ernst damit war; sie (die Großmama) ging wankend aus dem Zimmer. Sie hat nun Schwindel und sagt, es käme daher.73 Zum gleichen Thema schreibt er an anderer Stelle vorübergehend abgeklärter und unverlobt: Die Frauen, die man wirklich lieb hat, soll man am allerwenigsten heiraten. Für uns ist dies Work überhaupt ein va banque Spiel.74 Sein exzessiver Lebensstil trägt ihm schließlich in der zweiten Hälfte des Jahres 1912 eine Geschlechtskrankheit ein, und Hasenclever verbringt Wochen der sich schließlich als unbegründet erweisenden Angst vor der Syphilis, gegen die es bis zur Entdeckung des Penicillins 1928 kein wirkungsvolles Heilmittel gegeben hat. Im März 1913 stellt er als eine Art Fortsetzung des Jüngling eine »nächtliche Szene« mit dem Titel Das unendliche Gespräch fertig. Die Mitwirkenden sind der Autor selber, seine Freundin Ottilie Bennewitz (auch unter dem Künstlernamen Otty Frenella bekannt), Franz Werfel und mehrere 'Chöre' von Damen, Kaufleuten und Unsichtbaren. Kurt Wolff erhält Anfang April den Text zugesandt: 71 72 73 74

Pinthus, Kurt: L&W. - In: GDP. S. 17. W.H. an Kuno Fleischer; Leipzig 11.12.1911. - In: Haak, Walter Hasenclever. S. 172f. W.H. an Kurt Wolff; Aachen 21.9.1912. - O/Y. W.H. an Kuno Fleischer; Aachen 2.5.1911. - In: Haak, Walter Hasenclever. S. 172.

106

Lieber Verleger! Hier schicke ich Ihnen die Szene. Ich las sie Werfel vor; er fand sie sehr gut und will sie gleich hinter der 'Versuchung' haben, die ja das Programm des jüngsten Tages ist. 75

Wolff findet Gefallen an dieser Dichtung, die schließlich Mitte 1913 als zweites Buch - nach Werfeis Versuchung - in der Buchreihe Der jüngste Tag erscheint. Auf das positive Echo seines Verlegers erwidert der Dichter mit dem Geständnis, daß diese 'Szene' auch das Produkt seiner im Vorjahr erfahrenen Todesangst sei: Daß das Unendliche Gespräch Ihnen gefallen hat, ist wirklich sehr schön. Ich hänge an dieser Szene und glaube, daß sie durch die Stärke des Gefühls und der (so merkwürdig) erlebten Krankheit etwas Einmaliges ist, das ich in dem Maße nicht wieder schreiben werde. 7 6

Obgleich sowohl der Kurt Wolff-Verlag als auch der Dichter mit großem Engagement und Geschäftssinn den Vertrieb der Lyrik-Publikationen Hasenclevers betreiben und der Autor die Buchhändler seiner Heimatstadt Aachen sogar persönlich wegen der Präsentation seiner Dichtungen anspricht, lassen die Ergebnisse dieser Bemühungen noch zu wünschen übrig. Anfang Oktober 1913 erstellt Kurt Wolff eine Statistik, die für den Zeitraum März-September 1913 lediglich 107 verkaufte Exemplare des Jüngling und 143 für Das unendliche Gespräch verzeichnet.77 Gegenüber Paul Zech beklagt Hasenclever in der ersten Aprilwoche desselben Jahres die geringe Resonanz, die seine Dichtungen vor allem in seiner Heimat hervorriefen - zu der er ein durchaus gespaltenes Verhältnis hege: Ich bin selbst Rheinländer (aus Aachen, dieser blöden Stadt, die ich mal im Berliner Tageblatt ironisiert habe, worauf man mich beinahe expropriiert hätte) und habe so ein natürliches Verwandtschaftsgefühl zu guten rheinischen Dichtern. Man sollte sich überhaupt, da in dieser westlichen Provinz die Verstocktheit in literarischen Dingen größer ist als im Norden, zu Trutz- und Schutzbündnissen zusammenschließen, denn es gibt dort unten arge fanatische Idioten, die an mittelalterliche Vehemenz erinnern. Haben Sie eigentlich von der Presse dort unten irgend eine Beachtung gefunden? Die Lasker-Schüler, glaube ich, kennt man nicht einmal dem Namen nach. Ich habe mal in der Rheinisch-Westfälischen Zeitung geschrieben, aber jetzt wollen die Leute nicht mehr. 7 8

In der vom Rheinland nicht nur räumlich weit entfernten Metropole Berlin findet sich aber bereits früh ein Kreis künstlerisch Interessierter, der Hasenclevers lyrische Qualitäten erkennt und fördert. Auch Kurt Hiller wird auf die Veröffentlichungen und Lesungen des jungen Dichters aufmerksam und lädt diesen und Franz Werfel im Mai dazu ein, gemeinsam mit Else Lasker-Schüler in seinem Berliner Kabarett 'Das Gnu' das Unendliche Gespräch vorzutragen. Obgleich Franz Werfel aus Termingründen nicht zu den Vortragenden zählt, nimmt Ha75 76 77 78

W.H. an Kurt Wolff; Leipzig 31.3.1913. - O/Y. W.H. an Kurt Wolff; Leipzig 23.4.1913. - O/Y. Vgl. Wolff, Kurt an W.H.; Leipzig 9.10.1913. - O/Y. W.H. an Paul Zech; Leipzig 3.4.1913. - O/D.

107

senclever das Angebot erfreut an und festigt so den noch losen Kontakt mit dem Aktivisten, dessen politische Schriften ihm längst vertraut sind.79 Etwa zeitgleich mit der Vollendung der Szene Das unendliche Gespräch besucht Frank Wedekind Leipzig und kommt bei dieser Gelegenheit auch mit der dortigen Avantgarde in Kontakt. Diese begreift sich selber - nach Hasenclevers Interpretation - als geistige Erben und Fortentwickler der 'naturalistischen Revolution', weshalb der Autor dieses Zusammentreffen denn auch als eine »Sensation«80 empfindet. Jahre später erinnert sich Pinthus jedoch weitaus nüchterner dieser denkwürdigen Zusammenkunft: Hasenclever, Werfet und ich führten dorthin [ins Leipziger Café Bauer] eines Nachts den gereiften Frank Wedekind nach einem seiner Gastspiele im Leipziger Stadttheater [...] und hofften, Erinnerungen aus der vorhergehenden Literaturrevolution zu hören, aber der von uns höchst verehrte Dramatiker riet nur immer wieder, wir sollten dafür sorgen, daß dem jungverstorbenen genialen Conradi in Leipzig ein Denkmal gesetzt würde. 81

Etwa in den Zeitraum dieses Besuches fällt die erste schriftstellerische Arbeit des Dichters in einem Genre, das wegen seiner Modernität auf keine vergleichbaren Vorbilder zurückgreifen kann und das vom traditionellen, an Vorbildern wie Wedekind orientierten 'Literaturbetrieb' als ästhetisch minderwertig abqualifiziert wird. 6

Erste Filmarbeit Die

Hochzeitsnacht

Im Frühjahr 1913 entschließt sich der Dichter zur Mitarbeit an einer von Kurt Pinthus projektierten Anthologie, in der Schriftsteller der Avantgarde ihre Vorstellungen von Drehbuchentwürfen für das noch junge Medium Film veröffentlichen sollen. Hasenclever, dessen Plan einer Übersetzung von Erzählungen des Franzosen Pierre Loti (d.i. Julien Viaud)82 bei Kurt Wolff nicht das erhoffte positive Echo ausgelöst hat, beschäftigt sich nun stattdessen intensiv mit den ästhetischen Möglichkeiten des Films. Hierbei leitet ihn vor allem Kurt Pinthus an, dem schon frühzeitig das ungeheure künstlerische Potential des Films bewußt geworden ist und der in zahlreichen Rezensionen sowohl Publikum als auch Kunstschaffende damit vertraut macht. Gegen Ende des Jahres 1913 erscheint schließlich, von der Öffentlichkeit kaum beachtet, mit Pinthus' Anthologie Das Kinobuch83 der erste ernsthafte Versuch, den Film literarisch aufzuwerten und damit ein für Schriftsteller interessantes Genre zu schaffen. Den äußeren Anstoß 79 80 81 82 83

Vgl. W.H. an Kurt Hiller; Malcesine 26.5.1913. - O/M. W.H. an Kurt Wolff; Leipzig 23.4.1913. - O/Y. Pinthus, Kurt: L&W. - In: GDP. S. 15. Vgl. W.H. an Kurt Wolff; Leipzig 23.4.1913. - O/Y. Pinthus, Kurt: Das Kinobuch. - Leipzig: Kurt Wolff-Verlag 1914. Neuveröffentlicht Zürich: Arche-Verlag 1963. Mit einem Vorwort von Kurt Pinthus zur Neu-Herausgabe.

108

zum Entstehen dieser Sammlung gibt eine Diskussion im Freundeskreis des Herausgebers über den falschen Ehrgeiz des [...] jungen Stummfilms, das ans Wort und die statische Bühne gebundene Theaterdrama oder den mit dem Wort schildernden Roman nachahmen zu wollen, statt die neuen, unendlichen Möglichkeiten der nur dem Film eigenen Technik sich bewegender Bilder zu nützen [ . . . ] . 8 4

Pinthus erinnert sich, daß er während dieses Gespräches die Frage aufgeworfen habe, was wohl jeder der Anwesenden als wegweisende Alternative produzieren würde.85 Walter Hasenclever, Elsa Asenijeff, Albert Ehrenstein, Else LaskerSchüler, Franz Werfel und Paul Zech sind nur einige derjenigen, die während der folgenden Monate hierauf in Gestalt von insgesamt 16 vollkommen unterschiedlichen Beiträgen eine Antwort liefern. Mit diesen versuchen sie der jungen Autorengeneration literarische Anregungen zu geben, aber zugleich auch eine »positive Antwort [...] auf die dünkelhafte Gegnerschaft«86 des konservativen Kulturbetriebes. Hasenclever greift mit seinem Drehbuchentwurf Die Hochzeitsnachfi1 thematisch auf sein Drama Um 75.000 zurück. In drei Akten entwirft er eine komödiantische Spielhandlung, die Dreiecksbeziehung zwischen einer Frau und zwei Männern, während der sich die weibliche Protagonistin für 5.000 Mark an einen orientalischen Fürsten verkauft, um ihrem Geliebten den lebensrettenden Aufenthalt in einem Sanatorium zu ermöglichen. Dieser, ein Künstler, rettet sie nach seiner Gesundung schließlich wieder aus dem Harem des Fürsten, indem er sie in einer Kiste versteckt nach Deutschland zurückschmuggelt. Dem glücklichen Ausgang der Geschichte steht somit eigentlich nichts anders im Wege als - evtl. der Geschmack eines an diesem Stoff interessierten Filmproduzenten. Für diesen Fall fügt der Autor seinem Text folgende Bemerkung an: Damit ist die Geschichte zu Ende; wem aber dieser einfache Schluß nicht gefällt, dem soll es unbenommen sein, einen anderen zu wählen [...]. Ich bin dafür, man bleibt bei der Kiste, weil es das Einfachste und auch das Beste ist. 8 8

Dieser in Prosa verfaßte Drehbuchentwurf stellt für den Dichter den Beginn einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Medium Film dar und zeigt durch seine formale Nähe zum Genre des Romans die theoretischen Schwierigkeiten eines Schriftstellers mit dieser neuartigen Kunstform auf. Obgleich Hasenclever schon früh den Gedanken der vollständigen Unabhängigkeit des Films von der Dramaturgie des Theaters aufgreift, kann er zu diesem Zeitpunkt noch keine eigenständige 'Filmsprache' entwickeln, für die Kurt Pinthus bereits sein Konzept 84 85 86 87 88

Pinthus, Kurt: Das Kinobuch. - Zürich: Arche-Verlag 1963, S. 9f. Vgl. ebd., S. 10. Ebd., S. 12. W.H.: Die Hochzeitsnacht. - In: Pinthus, Das Kinobuch. S. 35-44. Ebd., S. 44.

109

von den drei Ausdrucksmitteln des Kinos entwickelt hat. Als diese benennt er: 1. unbegrenzte Freiheit in der Wahl des Spielortes, 2. Akzentuierung der Bewegung als Ausdrucksmittel und 3. Verwendung der durch die Filmtechnik ermöglichten optischen Tricks. 89 Erst 1917 wird der Autor die dramatischen und epischen Möglichkeiten des Stummfilms mit seiner zweiten Filmarbeit Die Pest ausschöpfen und unter dem Einfluß des Spät-Expressionismus die »wunderbare Magie« der »Phantasie [...] in die Wirklichkeit« übertragen. Für dieses Ziel spricht er der Darstellung des Phänomens der Bewegung eine besondere Bedeutung zu, da dieses eben jenes »Koordinatensystem« darstelle, »das nach Ansicht der modernen Physik« aller »Materie« und damit dem Leben selbst zugrunde liege. Dabei mache gerade die Möglichkeit, diese Gesetzmäßigkeit dem Menschen optisch zu vergegenwärtigen (»der Film ist die einzige Darstellungskunst, die das [...] veranschaulicht«), den herausragenden Wert der Filmkunst aus. 90

7

Im 'Kabarett Deutscher Dichter'

Von Mai bis Juni 1913 unternimmt Hasenclever eine neuerliche Italienreise mit Kurt Pinthus, auf der sie von weiteren Freunden begleitet werden. Unter diesen befindet sich auch Franz Werfel, der bereits seit dem Vorjahr als Lektor im Ernst Rowohlt-Verlag beschäftigt ist. Werfel wird nach dem Erscheinen seines Erstlingswerkes Der Weltfreund (1912) - das Hasenclever ebenso schätzt wie dessen spätere Lyrik - von Kurt Wolff aus Hamburg, wo er eine kaufmännische Lehre in einem Exporthandelshaus absolvieren sollte, nach Leipzig abgeworben. Pinthus, Werfel und Hasenclever bilden schon bald ein unternehmungslustiges Dreigespann, das seinem Arbeitgeber am 23. April 1913 fröhlich über ihren bevorstehenden Aufenthalt in Malcesine informiert. 91 Wer im einzelnen zu dieser Feriengesellschaft gehört und welche Pläne auf dieser Reise realisiert werden sollen, beschreibt Hasenclever: Lürmann [...] mit einer Dame, Pinthus allein mit seinem Ruhm, Werfel mit einer Zigarre. Ich - nur so. Wir beabsichtigen im Grand Hotel in Gardone (!), Riva, Maderno e.c.t. als Kabaret aufzutreten (tatsächlich!) und morgen wird hingeschrieben. Wir treten auf als: 'Kabaret deutscher Dichter' und haben folgendes Programm: Conferencier: Dr. Kurt Pinthus [...] Musikalische Leitung: 'Komponist' Ludwig Lürmann. Franz Werfel: Tragische und komische Rezitationen. Mimische Szenen. Arien. Walter Hasenclever und Loni Doré (Lürmanns Braut; etwas stilisiert!): Ekzentrische Tänze. Kurt Pinthus: Eigene (meist) humoristische Dichtungen. Ludwig Lürmann (am Klavier) Burleske aus seiner Oper 'Münchhausen' (Text von Herbert

Eulenberg) Franz Werfel, Loni Doré, Walter Hasenclever. Improvisation einer kinematographischen Szene (nach Ideen aus dem Publikum). Dies letzte, lieber König, ist

89 90 91

Vgl. Pinthus, Kurt: Das Kinobuch. S. 26f. W.H.: Wie ich Filmschauspieler wurde. - In: Bohemia. 96. Jg., Prag 1.2.1923. Vgl. W.H. an Kurt Wolff; Leipzig 23.4.1913. - O/Y.

110

der 'Clou' von's ganze! Der grösste Witz aber ist, dass Kurt Hiller auch dort unten ist und mit uns zusammen sein wird!92 Da das Grand Hotel in Gardone schließlich auf die ihm angebotenen künstlerischen Dienstleistungen verzichtet, konzentrieren sich die Freunde auf ihre individuelle Kreativität. Die intellektuellen Auseinandersetzungen, die die nun entstehenden - vornehmlich lyrischen - Produkte während der folgenden Wochen im Freundeskreis auslösen, fordern die anti-aufklärerische Geisteshaltung des Autors. Aus Italien schreibt er hierzu: Ich [...] fühle, wie ich ganz anders werde - christusfeindlich. Rachsüchtig, vor allem gegen mich. [...] Sicher ist das auch etwas, das kommen mußte: gegen unsere Zeit, gegen unser Blut. [...] Das Dunkel-Gottgewollte (wenn man dichtet) ist die Hauptsache. Dann erst kommt das Denken, während Form, Musik und Art längst apriorisch sind und kaum mehr beim Dichten als vorhanden empfunden werden.93 So wird besonders in diesen Wochen der theoretische Boden für eine neue dramatische Dichtung, das Drama Der Sohn, bereitet, durch die Hasenclever als typischer Repräsentant der deutschen Moderne in den folgenden Jahren auch im Ausland größte Aufmerksamkeit erregt.

92 93

Ebd. W.H. an Kurt Wolff; Malcesine 17.5.1913. - O/Y.

111

YD

Der Sohn

1

Sommer - Dezember 1913

a.

Erste Arbeiten

Entstehung

Im Frühsommer 1913 beginnt Walter Hasenclever in Leipzig mit den ersten Entwürfen für sein Drama Der Sohn und erhält gerade in dieser Arbeitsphase tatkräftige Unterstützung durch Kurt Wolff. Obgleich die Dichtung noch in ihren Anfängen steckt, diskutieren Autor und Verleger schon kontrovers den Verlauf des Schlußaktes, wobei es offensichtlich zu heftigen Meinungsverschiedenheiten kommt. Aus der Korrespondenz beider geht hervor, daß Hasenclevers ursprüngliche Konzeption für den Schlußakt die vom Sohn aktiv vollzogene Tötung des Vaters vorsieht, wogegen Kurt Wolff jedoch erhebliche Vorbehalte geäußert haben muß. Um Ausgleich bemüht und augenscheinlich durch die Argumente Wolfis nachdenklich geworden, teilt der Autor seinem Verleger schließlich im August 1913 einen Kompromißvorschlag mit: Nehmen Sie es nicht so [...], Kurt August, was geht uns vorläufig der 5. Akt an, wo wir kaum am 2. sind! Ich mache Ihnen aber gern Konzessionen, und der Papa soll am Herzschlag sterben. Sterben muß er. 1

Die ersten Akte entwickelt der Autor hingegen auf der Grundlage autobiographischer Erlebnisse und ist sich der Bedeutung dieser seelischen Aufarbeitung durchaus bewußt: Für das Stück müssen Sie sich einsetzen, Kurt Wolff, ich glaube, es wird der Mühe wert sein. Wir müssen es aufführen lassen. Ich bin ganz voll davon und gehe wahrscheinlich für einige Zeit von Leipzig fort, um es ganz bestimmt und nach letztem Können zu Rande zu bringen. Vielleicht bin ich September, Okt., Nov. und Dez. mit kurzen Unterbrechungen am Meer oder in Brügge, um in trauriger Einsamkeit und gewollter Verbannung jene Zeit meines Elternhauses um mich zu versammeln, die mir viele Qual, aber auch viel Kraft und Willen gegeben hat. 2

Am 27. August 3 verläßt er Leipzig in Richtung Aachen, wo er - nach einem kurzen Aufenthalt bei seiner Großmutter an deren Ferienort Bad Godesberg - letzte Vorbereitungen für den geplanten Arbeitsaufenthalt in Belgien trifft. Aus Bad 1 2 3

W.H. an Kurt Wolff; Leipzig 13.8.1913. - O/Y. W.H. an Kurt Wolff; Leipzig 17.8.1913. - O/Y. Vgl. W.H. an Kurt Wolff; Leipzig 25.8.1913. - O/Y.

Godesberg meldet er am 30. August, den 1. Akt seines Dramas überarbeitet und damit vollendet zu haben, 4 den er sogleich seinem Verleger nach Leipzig schickt. In Godesberg gelingt es ihm auch, die finanzielle Absicherung seines Belgien-Aufenthaltes zu organisieren: Die Großmama ist sehr nett zu mir und wird verschiedene (!!) Rechnungen bezahlen.5 J e näher der Tag der Abreise rückt, desto größer wird sein Anspruch, mit seinem Drama in die Literatur- und Theatergeschichte einzugehen: Ich bin sehr froh, daß Ihnen das (kurze-zusammenhanglose) Bruchstück gefällt. Das andere ist in Prosa, nur die (notwendig!) agierenden Monologe sind in Versen. Ich sehe mit tiefer Freude, daß alles ganz zielstark und gut wird! Ich hoffe, es soll wieder einmal eine Tragödie großen Stils (Don Carlos - Sophokles) hervorkommen.6 Am 15. September bricht er in der Absicht nach Belgien auf, sich für die nächsten Monate in Brügge eine Wohnung zu mieten. 7 Sein Weg führt jedoch zuerst ins Hotel du Phar nach Heyst sur Mer, das ihm schon von früheren Reisen her bekannt ist. Im Gegensatz zu dem von ihm geliebten Seebad Knocke - wo einer seiner Onkel eine Ferienvilla besitzt - kommt das weniger mondäne Heyst seinen finanziellen Möglichkeiten eher entgegen. Statt sich dann aber nach Brügge hin zu orientieren, nutzt er eine sich bietende Gelegenheit und mietet für sich und seine ihm mittlerweile nachgereiste Freundin Ottilie Bennewitz Ende September eine Villa an der Strandpromenade des Ortes, worüber er an Kurt Wolff schreibt: Ich habe die beste Frechheit meines Lebens gemacht; (Zufall, Glück): nämlich umstehend blau bezeichnete Villa zum Spottpreis von 60,- Frs (!) pro Monatl ganz gemietet: eine der schönsten Villen auf der Promenade, gegenüber dem Meer, vier Fremdenzimmer, Luxus, Küche, ganze Einrichtung, Salon, Prachtmöbel [...] Sie müssen mich besuchen kommen.8 Kurt Hiller, der den Dichter zu diesem Zeitpunkt bereits zu einer weiteren Lesung in sein Kabarett 'Das Gnu" eingeladen hat, erhält ebenfalls Nachricht aus Heyst, in der ihm ein von seinem Geschäftssinn mit Stolz erfüllter Hasenclever mitteilt, daß sein Domizil normalerweise das Zehnfache des tatsächlich entrichteten Betrages koste. Angesichts der nun in der Villa St. Hubert realisierten großbürgerlichen Lebensweise pathetisiert er ironisch den ihm unter solchen Bedingungen willkommenen gesellschaftspolitischen Umsturz und lädt seinen Freundeskreis in überschwenglichen Briefen zu sich ein:

4 5 6 7 8

Vgl. W.H. an Kurt Wolff; Bad Godesberg 30.8.1913. - O/Y. W.H. an Kurt Wolff; Aachen 5.9.1913. - O/Y. Ebd. Vgl. W.H. an Kurt Wolff; Aachen 9.1913. - O/Y. W.H. an Kurt Wolff; Heyst s. M. [Ende] 9.1913. - O/Y. 113

Vive la république - Hier kann man sie beginnen!9 Wir sind in unsrer Villa. Sie ist doux comme soixante-neuf. Veranda - Meer! Sogar Bidet! [...] Am 15. kommen Hiller und Philipp Keller [...] Ich bin über alle Maßen glücklich. Hausbesitzer für 60 Frs! Maître de plaisir und das chez moi! Keine Wirtin noch Großmama. Kein fremder Morgenkaffee. [...] Ich rechne, daß Sie mich bestimmt [...] besuchen kommen. Ich glaube, mein Drama wird außerordentlich. [...] Lieber Kurt Wolff - ich bin ein Bürger!! Ich bin ein Bürger! Ein Bürger!!! [...] Hier ist es heimatlich gut und friedlich wie in einer vornehmen Villa zur Saisonzeit [...] genau wie bei der Großmama. [...] Wo ist Werfel, wo die Eva? Sie sollen alle kommen. Ich, nein, wir sind ja jetzt reich. Werfel soll Crevetten fressen und Salat anmachen - jeden Tag. Im November will Pinthus kommen.10 Der Aachener Schriftsteller Philipp Keller wird der erste seiner zahlreichen Gäste und teilt für einige Wochen das Dichteridyll, in dem sich Hasenclever mit den philosophischen Schriften Henri Bergsons,11 der Lyrik Franz Werfeis und besonders mit den Werken Heinrich Manns auseinandersetzt.12 Vor all diesen müssen jedoch die theoretischen Schriften des Aktivisten Kurt Hiller genannt werden, denen sich der Autor mit besonderer Intensivität widmet. Hiller selbst kommt Anfang November ebenfalls für etwa 14 Tage nach Heyst und nimmt dort großen Einfluß auf die weitere Gestaltung des Dramas. Kurz vor seiner Ankunft schreibt ihm Hasenclever erwartungsvoll: Also, daß ich mich sehr freue, wissen Sie [...] Wir [...] lesen bewegt Ihren Prolog. Ich muß mit Ihnen reden. Auch habe ich Ihnen manches zu erzählen und 2 Akte meines Stückes müssen Sie über sich ergehen lassen.13 I.

Der Freund Kurt Hiller

Kurt Hiller wird am 17. August 1885 in Berlin geboren und ist dort - seit seiner Promotion in den Rechtswissenschaften im Jahre 1907 - als Publizist tätig. 1911 gründet er gemeinsam mit Franz Pfemfert die Zeitschrift Die Aktion und gibt ein Jahr später unter dem Titel Der Kondor die wohl erste bedeutende Anthologie des Expressionismus heraus. Mit dieser Publikation, die als Manifest für eine radikale Politisierung der Kunst eintritt und damit weit über jedes lediglich literarische Interesse hinauszielt, wendet sich Hiller vor allem gegen die »unaktive, reaktive, nichts-als-ästhetische Gefühlsart«14 der Dichtkunst. Nicht zuletzt mit Hilfe dieser Anthologie wird Hiller zum Begründer und zur treibenden Kraft des politisch-literarischen Aktivismus, dessen Organ die zwischen 1916 und 1919 erscheinenden Ziel-Jahrbücher werden, die - ebenso wie seine weiteren Schriften 9 10 11 12 13 14

W.H. an Kurt Hiller; Heyst s. M. o.D. - O/M. W.H. an Kurt Wolff; Heyst s. M. 3.10.1913. - O/Y. Vgl. auch W.H. an Kurt Hiller; Malcesine 18.5.1913. - O/M. Vgl. W.H. an Kurt Hiller; Heyst s. M. 3.10.1913. - O/M. W.H. an Kurt Hiller; Heyst s. M. 22.10.1913. - O/M. Hiller, Kurt. Zitiert nach Kaes, Anton: Vom Expressionismus zum Exil. - In: Bahr, Ehihard (Hrsg.): Geschichte der deutschen Literatur. Bd. 3, S. 242.

114

einen starken programmatischen Einfluß auf die literarischen Vertreter des Expressionismus ausüben. Das gesellschaftliche Ideal, das der Aktivist dabei zu realisieren hofft, wird im Jahrbuch von 1916 definiert als: die tätige Gemeinschaft geistig gerichteter Menschen, denen Geist kein Spiel der Erkenntnis oder des schönen Formens, sondern sittliche Aktivität bedeutet: eine Kraft, zutiefst nicht auf sich selber aus, vielmehr auf Umgestaltung des Gegebenen, auf Änderung der Welt [...]. 1 5

Als Möglichkeit für die politische Realisierung dieses Ideals entwirft er das Modell eines mit gesetzgebender Gewalt ausgestatteten 'Herrenhauses', in dem die maßgebenden Intellektuellen einer Nation als Vertreter des Volkes die wahre Geistesherrschaft errichten sollen. Um ein größeres Publikum für diese Idee zu sensibilisieren, beschränkt sich Hiller schon früh nicht nur darauf, sein politisches Programm der Öffentlichkeit in gedruckter Form zu präsentieren. Im März 1909 wird er Gründungsmitglied eines von Berliner Studenten initiierten 'Neuen Clubs', der nach dem Vorbild Nietzsches und Wedekinds für eine 'Steigerung der Lebensintensität' eintritt. Die Treffen dieses Kreises finden wöchentlich - mittwochs um 22 Uhr - in der Gastwirtschaft 'Nollendorfkasino' in der Kleiststraße statt. Kurt Hiller wird schnell zum Mittelpunkt dieses Kreises, da er »unter den Allzujungen Besitzer eines Doktortitels und einer Glatze ist«,16 wie sich Heinrich Eduard Jacob 1922 ironisch erinnert. Im Unterschied zur inneren Struktur des Stefan George-Kreis sind sich die Mitglieder des Clubs lediglich in ihrer Ablehnung der bestehenden gesellschaftlichen Zustände einig, ohne deswegen jedoch ganz der Programmatik Hillers folgen zu wollen. An die Öffentlichkeit wendet man sich im Stil eines 'neuen Pathos' ab 1910 mit einer Reihe 'Neopathetischer Cabarets', die Hiller am 1. Juni des Jahres mit einem Vortrag über »Das Cabaret und die Gehirne« im Hinterzimmer des 'Nollendorfkasinos' eröffnet. An diesem Ort wird auch das Clubmitglied Georg Heym am 6. Juli 1910 erstmals öffentlich auftreten. Else Lasker-Schüler ironisiert 1911 in der expressionistischen Zeitschrift Der Sturm den typischen Ablauf einer solchen Veranstaltung: Es betritt jemand den Oelberg des Saals und predigt über Kunst. Der Vortrag ist geistvoll, wenn man sich auch durch Mimik und Brille in die Schule zurückversetzt glaubt. 17

Die unterschiedlichen Ziele innerhalb dieser Gruppe lassen zwischen Kurt Hiller und Erwin Loewenson Konflikte entstehen, die schließlich im Frühjahr 1911 zur Spaltung führen. Hierdurch werden die zwei grundsätzlichen Entwicklungsmög15

16 17

Hiller, Kurt: Das Ziel. Aufrufe zu tätigem Geist. - Berlin: Georg Müller-Verlag 1916, S. 218. Jacob, Heinrich Eduard: Der Feuerreiter. - Jg. 1, 1922, S. 58. Lasker-Schüler, Else: Der Neue Club. - In: Der Sturm. Hrsg. v. Herwarth Waiden, 1/1911, S. 304. 115

lichkeiten der expressionistischen Vitalismusrezeption deutlich. Loewenson repräsentiert die sich eher zu einer mystisch-metaphysischen Geisteshaltung weiterentwickelnde Literaturrichtung, für die gesellschaftspolitische Fragen von eher sekundärer Bedeutung sind und die ihre Aufmerksamkeit primär dem Phänomen 'Leben' widmet. Dem gegenüber entwickelt Hiller den politisch orientierten Aktivismus, der die Literatur als Organ und Triebfeder tiefgreifender gesellschaftlicher Reformen begreift. In einem Brief an Walter Jüngt berichtet der Aktivist 1959 über den 1911 erfolgten Bruch und erinnert sich dabei auch an Walter Hasenclevers kurzes politisch-aktives Gastspiel: Der 'Neue Club', gegründet 1909, spaltete sich 1911. Die Minderheit, die sich trennte, bestand aus Ernst Blass, dem Schauspieler Arnim Wassermann (Jakob Ws. jüngerem Bruder, später im Weltkrieg I gefallen) und mir. Wir drei gründeten dann das literarische Cabaret 'Gnu'. Es bestand von 1911 bis 1914. An einem der letzten Abende (möglicherweise dem letzten, im Juni oder Juli) las Walter Hasenclever aus dem Manuscript sein eben vollendetes Drama 'Der Sohn' vor. Die Presse schwieg das Ereignis, soweit ich mich erinnere, mehr oder minder tot [...] Hasenclever war 1914 nicht Mitglied, sondern Gast unseres Kreises. Die Einladung und deren Annahme erklären sich aus der engen Freundschaft zwischen ihm und mir. Wir hatten uns, irre ich nicht, 1912 in Dresden kennen gelernt durch Werfet, als ich dort eine Vorlesung hielt (frühestens kann es 1911 gewesen sein [...]). Unsere Intimität reichte bis in den Krieg hinein. Später versickerte unsere Freundschaft, als sich Hasenclever an meiner und meiner Freunde politischer Aktivität desinteressierte und sich dem Typus feuilletonicus Ullstein stark anpaßte. Auch seine Swedenborgphase fand meinen Beifall nicht; wie unter Freunden, selbst sehr nahen, das bisweilen vorkommt: wir hatten uns 'auseinanderentwickelt'. Hätte er die Gesindeherrschaft überlebt, dann würden unsere Linien vielleicht wieder konvergiert haben. 18 b.

Vollendung und Publikation

Während der Dichter in Heyst weiterhin Buchrezensionen für verschiedene Zeitungen verfaßt und das Leben unbeschwert genießt, macht - vor allem nach dem Besuch Kurt Hillers - auch die Entwicklung seines Dramas Der Sohn rasche Fortschritte. Gegenüber dem mittlerweile nach Berlin zurückgekehrten Aktivisten bilanziert der sichtlich zufriedene Autor dieses Mitte November und läßt keinen Zweifel daran, auf wessen Einfluß dieser günstige Arbeitsverlauf zurückführbar ist: Ich habe mein Drama fast ganz vor mir und glaube, es wird ungeheuer. Sie werden es sicher lieben! Sie kommen (geistig) ganz drin vor! 19 Auf einer Postkarte aus dem gleichen Monat heißt dann geradezu euphorisch:

18 19

Hiller, Kurt: Schriftliche Notiz für Walter Jüngt. Hamburg 5.5.1959. - O/D. Jüngt. W.H. an Kurt Hiller; Heyst s. M. 18.11.1913. - O/M.

116

Ich halte das Drama durch. Von der Gestalt des Freundes werden Sie begeistert sein [-].20 Wie bedeutend Kurt Hiller zu dieser Zeit für die geistige Entwicklung des Dichters ist, wird auch durch den kuriosen Werdegang einer im November 1913 geschriebenen Rezension Hasenclevers über Hillers Weisheit der Langeweile deutlich. Diese Kritik wird von einer Zeitschrift mit der Begründung nicht veröffentlicht, daß es sich angeblich um keine ernsthafte Auseinandersetzung mit den von Kurt Hiller aufgeführten Theorien handele, sondern um einen »Begeisterungstaumel« des Verfassers. 21 Mitte Dezember informiert der von Hillers Besuch derart elektrisierte Autor seinen Freund Kurt Wolff, daß er bereits an der letzten Szene des 5. Akts schreibe. Seine Rückreise nach Aachen legt er nun für den 1. Januar 1914 fest Anfang Dezember hält er sich noch für zwei Wochen in Brügge auf 2 2 - und verspricht, mitsamt dem fertigen und vollständig überarbeiteten Drama Anfang Februar in Leipzig einzutreffen. 23 Den baldigen Abschluß seiner Arbeit vor Augen, zieht er eine Bilanz der letzten Monate und berichtet am 18. Dezember, er arbeite bereits an einem neuen Gedichtzyklus. Diesen veröffentlicht er schließlich 1917 - zusammen mit anderen Gedichten - unter dem im Juli 1914 für einen einzelnen Zyklus entworfenen Titel 24 Tod und Auferstehung: Ich war in diesen 3 Monaten ungeheuer produktiv und mit gleichem Furor steht mein Drama vor mir, bald nun vollendet in der letzten Szene. Es ist sehr revolutionär, aber ich weiss, dass gerade Sie Ihre Freude daran haben werden! [...] Ich habe einen neuen Gedichtzyklus begonnen, der sehr neu und merkwürdig ist und mich einstweilen mehr beängstigt als befriedigt; heisst: 'Der Gefangene in der Stadt' l...]. 25 In einem weiteren Brief äußert sich Hasenclever vier Tage später über die seelischen Anstrengungen, die ihm die Arbeit am Sohn abverlangt habe. Dabei macht er deutlich, daß er wegen des radikalen Inhalts dieser Dichtung über die zu erwartende Publikumsresonanz keinerlei Illusionen hege: Ich habe es gestern vollendet. [...] Ich habe (in der letzten Woche die grosse Vergeltungsszene des 5. Aktes schreibend) auf dem Papier so gezittert, dass ich mehrmals buchstäblich nicht schreiben konnte. Dazu kam ein beinahiger Prozess mit meinem Alten, der nur durch meine Grossmutter und 5 Familien aus Angst vor dem grässlichen Skandal in A. vermieden worden ist. [...] Mein Stück ist ganz revolutionär (wenn's aufgeführt wird, ist, da es dramatisch ungeheuerlich wirkend und spannend - nebenbei - ist, mit tollen Lärmereien des Publikums - auch der Zensur! zu rechnen). Ich habe einzelne Akte zwei- dreimal umgeschrieben, z.B. den dritten, der

20 21 22 23 24 25

W.H. an Kurt Hiller; Heyst s. M. etwa Mitte 11.1913. - O/M. W.H. an Kurt Hiller; Heyst s. M. 25.11.1913. - O/M. Vgl. W.H. an Kurt Hiller; Heyst s. M. 18.11.1913. - O/M. Vgl. W.H. an Kurt Wolff; Heyst s. M. 12.12.1913. - O/Y. Vgl. W.H. an Kurt Wolff; Heimburg 20.7.1914. - O/Y. W.H. an Kurt Wolff; Heyst s. M. 18.12.1913. - O/Y.

117

wie ich die dramatische Literatur kenne, ganz [...] und hypnotisch. Ich arbeite es jetzt in 4 Wochen einsam ins Reine.26 Da er nicht an den wirtschaftlichen Erfolg seines zu diesem Zeitpunkt beinahe vollendeten Bühnenwerkes glaubt, versucht er, sich bei Kurt Wolff zusätzliche Verdienstmöglichkeiten zu sichern. Neue berufliche Perspektiven scheinen sich für ihn im Dezember 1913 anzukündigen, als Kurt Wolff gemeinsam mit dem Verleger der Weissen Blätter, Erik-Ernst Schwabach, das Leipziger Schauspielhaus erwirbt. Durch den Besitz dieses Theaters, das Wolff 1920 wieder verkaufen wird, gewinnt der Verleger für einige Jahre großen Einfluß auf das kulturelle Leben der Stadt, weswegen sein Autor Walter Hasenclever schließlich um eine Anstellung als Dramaturg nachsucht: Um es kurz zu machen und ehe mir andere (vielleicht minder Talentierte doch im Fach Routiniertere, in Leipzig zuvorkommen): wäre eine Möglichkeit, in dem neuen Theaterbetrieb ab Herbst 14 für mich eine dramatisch-dramaturgische Stellung einzunehmen, die eine kleine finanzielle Basis hat? Ich will mich Ihnen nicht als 'Dramaturg' aufspielen, aber schliesslich als ein immerhin beruflich arbeitender Intellektueller, der in Ihrem Sinne in litteris tätig wäre. Ich selber möchte für die Zukunft mir eine kleine Möglichkeit einer Anstellung beruflicher Art suchen. Gerade beim Theater will ich lernen. Den Weg dazu hoffe ich durch mein erstes Stück zu finden. Deshalb hat ja auch die Entscheidung Zeit. 27 Nachdem er kurz zuvor beinahe gegen seinen Vater wegen strittiger Unterhaltszahlungen prozessiert hat, will Hasenclever nun seiner wirtschaftlichen Unabhängigkeit aus eigener Kraft, jedoch nicht ohne die Protektion Dritter, näherkommen: Meine finanzielle Lage ist so, dass ich immer werde leben können; augenblicklich zahlt mein Vater meine Wechsel (summa zirka 300 M mit der Großmama) und, wenn er nicht mehr zahlt, steht mir ein testamentarisch von der Großmama festgelegtes Vermögen zu, dessen Zinsen pro Monat diese Summe erreichen, dessen Kapital ich aber nicht vor meinem 37. Lebensjahr angreifen darf. Mein Vater wird aller Voraussicht nach noch bis Herbst für mich zahlen, vielleicht ein Jahr weiter noch eines Tages werde ich dann so oder so von meinem Gelde leben. Ehe ich das Erbteil meiner Eltern zu erwarten habe, vergeht unabsehbare Zeit - ich kann (nach meinem Stück) auf Enterbung rechnen (auch nach jetzt beinahe angestrengtem Prozess!) und will vor meinen Verwandten (aber auch selber) wenigstens einen Beruf dokumentieren.28 Als sein vorrangiges Ziel benennt er einen wirtschaftlich vom Elternhaus unabhängigen Lebensstandard und wirbt mit seinem während der letzten Monate bewiesenen Arbeitseifer: Ich will ab Herbst 1914 versuchen, ein festes Minimum von wenigstens 100 M. mir, wo es auch sei, zu erarbeiten [...] Ich spreche ganz offen zu Ihnen und lege meine 26 27 28

W.H. an Kurt Wolff; Heyst s. M. 22.12.1913. - O/Y. W.H. an Kurt Wolff; Heyst s. M. 26.12.1913. - O/Y. Ebd.

118

Verhältnisse dar: das Studentisch-Budenhafte muss aufhören. Man wird älter und anspruchsvoller. Dies hier war eine Probezeit; ich sah, was ich leisten kann, wenn ich Ruhe, Zeit und Bequemlichkeit mir suche; als kleiner Beweis geht mit gleicher Post ein Zyklus nebenbei geschriebener Gedichte [...] an Sie ab [...]. Nebenbei schrieb ich die 3 1/2 Akte meines Stückes (1 1/2 hatte ich schon) und von diesen 3 1/2 Akten einige Akte neu; schrieb Buchkritiken, wissenschaftliche Aufsätze für Zeitungen (aus meinem bei Müller erscheinenden Buche) [d.i. die Briefpublikation Dichter und Verleger] und die Einleitung zu diesem Buch. Ich habe den festen Plan, das jetzt auch in Deutschland mir zu sichern: die Basis, auf der ich arbeiten kann; man wird so rasch immer älter und viel Zeit ist tatenlos vergangen: jetzt gilt es! [...] Wer käme in L. ernstlich für ernste Dramaturgie in Betracht? [...] Ehe Sie nun jemand von auswärts kommen lassen oder eine Wahl treffen, wollen Sie nicht bis Anfang Febr. auf mich warten?29 Hasenclevers Wünsche können jedoch - wohl wegen des Kriegsbeginns - nicht realisiert werden, ebensowenig wie sein Plan einer von ihm im Kurt Wolff-Verlag herauszugebenden Theaterzeitschrift nach dem Vorbild der Maiden-Blätter des Düsseldorfer Schauspielhauses. Am 14. Januar 1914 trifft er mit seinem nun vollendeten Drama wieder in Aachen ein. Nach ca. zwei Wochen bricht er von dort nach Leipzig auf und macht am 31. Januar in Bonn Station, wo er auf Einladung der Studentenschaft aus seiner Lyrik vorliest und »etliche Szenen«30 aus dem Sohn zum ersten Mal der Öffentlichkeit vorstellt. Das vollständige Drama hat wenige Wochen später in Form einer Lesung in Berlin Premiere. Am 21. Januar schreibt er hierzu an Kurt Wolff: Am 26. Febr. lese ich (abgemacht) dann in Hillers 'Gnu' das ganze Stück als Einziger an diesem Abend vor [...]. 31 Eine weitere öffentliche Lesung kündigt er schließlich im April gegenüber Hiller für den 8. Mai im Leipziger Friedrichssaal an. 32 Der Erstabdruck des Sohn wird durch die Leipziger Weissen Blätter realisiert, in denen das Drama zwischen April und Juni 1914 in den Heftnummern 8-10 erscheint. Diese Monatszeitschrift, die schon durch die Wahl ihres Namens auf ihre Programmatik hinweist, einem 'voraussetzungslosen' Neubeginn der Literatur dienen zu wollen, wird Anfang 1913 von Erik-Ernst Schwabach gegründet. Bereits im März desselben Jahres erwirbt sie der Kurt Wolff-Verlag, der ab 1914 auch alle übrigen verlegerischen Arbeiten Schwabachs übernimmt. 33 Durch Schwabach lernt Hasenclever noch 1914 den Schriftsteller René Schickele kennen, der im Januar 1915 die Redaktion und Herausgabe der Weissen Blätter übertragen bekommt. Während im März 1914 im Kurt Wolff-Verlag die letzten 29 30 31 32

33

Ebd. W.H. an Kurt Wolff; Aachen 21.1.14. - O/Y. Ebd. Vgl. W.H. an Kurt Hiller; Malcesine [14.4.1914. Datum nach Poststempel, da W.H. irrtümlich auf Mai datiert]. - O/M. Vgl. Wolff, Kurt: Autoren. Bücher. Abenteuer. S. 105.

119

Vorbereitungen für die Zeitschriftenpublikation des Sohn laufen, wird es Hasenclever durch einen Tantiemenvorschuß von 500 Mark möglich, gemeinsam mit der Freundin Ottilie Bennewitz und Kurt Pinthus zu einer zweimonatigen Italienreise aufzubrechen. Die ihm nachgesandten Satzfahnen korrigiert er zwischen 'Mittagstisch und Eisenbahnabteil', wobei ihm die zu erwartende Drucklänge des Dramas Kopfzerbrechen bereitet: Mit tiefem Schrecken sah ich heute, dass es doch bloß 5 Bogen werden!! Ich bin ganz verzweifelt! Das sind 800 Mark und ich armes Schwein hatte auf 1000 gerechnet [pro Seite waren 10 Mark als Honorar vereinbart]. Ich muß meine Reise abbrechen und zu Fuss nach Deutschland zurückkehren, um dort Orgelspieler auf der Gasse zu werden. (Oder ein Bordell eröffnen!)34 Von Norditalien aus unternimmt das Trio - unter des Dichters geschäftstüchtiger Leitung - Anfang April einen kurzen Abstecher nach München, um dort den Sohn - für dessen Uraufführung sich zu diesem Zeitpunkt die Berliner ReinhardtBühnen interessieren - verschiedenen Theatern zur Aufführung anzubieten. Ein von Pinthus zur Publikation in der Zeitschrift Die Schaubühne - der späteren Weltbühne - vorgesehenes Feuilleton35 über das Drama dient dabei Reklamezwecken. Seinem Verleger muß der Autor jedoch schließlich den mangelnden Erfolg dieser Bemühungen gestehen: da aber diese Leute nur auf Uraufführungen reflektieren, und auch sonst sehr blöde sind, so ist mir mein Stück zu schade dazu. Bliebe also Ball mit den Kammerspielen. [Hugo Ball, damaliger Dramaturg der Münchner Kammerspiele] Und im übrigen vertraue ich Ihrer bewährten Regie: wir werden das Stück schon unterkriegen.36

2

Thematische Perspektiven

Mit diesem Drama dokumentiert Walter Hasenclever 1913 seine vorübergehende Hinwendung zu gesellschaftspolitischen Fragestellungen und bewahrt damit bis heute seinen Ruf als ein 'politischer' Dichter, der er in dieser klischeebesetzten Interpretation jedoch niemals gewesen ist. Der Sohn erhält eine weitaus differenziertere Lesart, wenn man den thematischen Bruch nach dem zweiten Akt deutlicher herausstellt als bisher in der Forschung geschehen. Die ersten beiden Akte, in denen der Autor ausgiebig autobiographische Erlebnisse zitiert, sind noch vollkommen von dem im Vitalismus begründeten Konflikt zwischen bürgerlicher Avitalität und gegen diese Erstarrung aufbegehrender Jugend geprägt. Diese Auseinandersetzung beschränkt der Dichter aber auf das rein Familiäre und läßt noch keine Annäherung an gesellschaftspolitische Forderungen erkennen. 34 35

36

W.H. an Kurt Wolff; Bozen 3.1914. - O/Y. Pinthus, Kurt: Versuch eines zukünftigen Dramas. - In: Die Schaubühne. Jg. 10, 1914, Nr. 14, S. 391-394. W.H. an Kurt Wolff; Malcesine 3.4.1914. - O/Y.

120

Stattdessen proklamiert sein Protagonist die schon in früheren Dichtungen des Autors beschworene Sensualität als absolutes Lebensziel; so bekennt er etwa angesichts seines schulischen Versagens, daß man ohnehin nur »in der Ekstase«37 lebe. Durch seine grundsätzliche Kritik an den Naturwissenschaften, die er als natürliche Feinde des Gefühls versteht (»Sie werden begreifen, daß man in dieser Süßigkeit [der Empfindung] allein schon die Mathematik vernichtet«),38 erteilt er darüber hinaus jeglichen auf Rationalität begründeten Fragestellungen eine klare Absage. Da er diese Haltung aber noch nicht emanzipatorisch vor seiner Umwelt vertreten kann, ist er aus Angst vor dem vorhersehbaren Zorn des Vaters zum Suizid bereit. Erwachendes Selbstbewußsein läßt ihn diesen aber schließlich nicht realisieren und sich stattdessen für die Vision einer künftigen, nur noch auf das Ausleben seiner Emotionen orientierten Lebensweise entscheiden; der Autor verbindet dies mit einer wieder positiv besetzten Stadt-Metapher: »Konzert und Stadt - ich werde euch erreichen«.39 In dieser Situation wird die Figur des Freundes in die Spielhandlung eingeführt, die in jener Phase des Dramas noch keinerlei politische Ambitionen aufzeigt. Vielmehr animiert sie den Sohn erfolgreich zur sexuellen Entdeckung der bis dahin in dieser Hinsicht unbeachteten Gouvernante und verheißt mit der Lusterfüllung verbundene philosophische Erkenntnisse: Sie wird deine Augen sehend machen - du Narr am verschlossenen Tor. Durch sie sind die Riegel gesprengt, und du wirst etwas erkennen von dem Schauspiel der Welt. 40

Ebenso wie der Freund bis zum dritten Akt lediglich dem Vitalismus verbundenes Gedankengut verkörpert, trägt der dargestellte Vater-Sohn-Konflikt noch keine Merkmale, die eine über das Private hinausgehende Interpretation zuließen. »Dein Geld ist mein Geld«41 leitet der Sohn zu dem ihm eigentlich dringlichen Problem über, nämlich dem der Finanzierung seiner zukünftigen Lebensweise. Die dadurch provozierte Auseinandersetzung entscheidet der Vater mit den ihm zur Verfügung stehenden Machtmitteln für sich - wobei ihn der Autor sogar noch relativ versöhnlich schildert. Der Sohn, in seinem Zimmer eingeschlossen, wird schließlich - am Schluß des zweiten Aktes - vom Freund befreit und in einer 'nächtlichen Flucht' (vgl. das gleichnamige Gedicht in Städte, Nächte und Menschen) mit einem Zug »zu einem Feste [...] Zum Leben«42 gefahren. An dieser Stelle der Spielhandlung erfolgt eine signifikante Änderung des vordergründigen Konzeptes. Biographisch fallt Hasenclevers Arbeitsbeginn am 37 38 39 40 41 42

W.H.: Der Sohn. - In: GDP. S. 103. Ebd., S. 102. EM., S. 106. Ebd., S. 109. Ebd., S. 119. Ebd., S. 124.

121

dritten Akt mit dem Aufenthalt Kurt Hillers in Heyst sur Mer zusammen. Nur Tage vor Hillers Besuch berichtet der Autor, ihm die ersten zwei Akte, die er schon in Leipzig konzipiert habe, vorlegen zu können.43 Eine Postkarte, die Hasenclever dann kurz nach Hillers Abreise aus Heyst diesem nachsendet, bestätigt, daß es hauptsächlich Kurt Hillers mehrwöchiger Anwesenheit in Heyst zuzuschreiben ist, daß das Drama nach dem zweiten Akt eine gravierende inhaltliche Wandlung nimmt. »Sie werden es sicher lieben«, schreibt der Dichter über sein Drama am 18. November, als er bereits am vierten Akt arbeitet (»Sie kommen (geistig) ganz drin vor! Eine ganz neue Idee [...] mit unermeßlicher Spannung.«).44 Die Erkenntnis, daß die menschliche Gesellschaft 'innerlich erstarrt' und dem Leben gegenüber grundsätzlich feindlich eingestellt sei, verführt den Protagonisten des Sohn ab dem dritten Akt nicht weiter zu einer individuellen Flucht in einen Zustand exaltierter Triebhaftigkeit, mit der noch der zweite Akt schließt. Vielmehr drängt er jetzt zur aktiven Konfrontation mit der die Vitalität aller unterdrückenden bürgerlichen Umwelt, der er ein revolutionäres politisches Programm entgegenhält. Der Autor formuliert diese Kritik an den zeitgenössischen Gesellschaftsstrukturen vornehmlich unter dem Einfluß der aktivistischen Programmatik Kurt Hillers, auch wenn sie sich aus den zeitkritischen Perspektiven des von Friedrich Nietzsche und Frank Wedekind verherrlichten Lebenskultes ableiten läßt. Im dritten Akt beginnt jedoch seine kritische Auseinandersetzung mit dem tradierten Vitalismus, dem er Hillers Konzept des politischen Aktivismus gegenüberstellt. Als Protagonisten vitalistischer Lebensführung entwirft er die Gestalt des jungen Cherubim, die einer der Initiatoren des 'Klubs zur Erhaltung der Freude' ist - einer Ironisierung des von Kurt Hiller 1911 verlassenen Berliner 'Neuen Clubs' und die, indem sie dem Vorbild Zarathustras folgen will, die Errichtung einer neuen Religion anstrebt. Diese Religion solle auf dem »Mut [...] zur Brutalisierung« des Ich basieren und den »Gott der Schwachen und Verlassenen von seinem Throne stürzen«. »Wir leben für uns«,45 lautet das Diktum dieses Kampfes »gegen die Welt«,46 der von einer ungezügelter Sucht nach materieller Bereicherung begleitet wird. Als Rivale des Cherubim um die zukünftige Führung des Klubs tritt der einstige Mitgründer und nun dem Aktivismus verpflichtete Freund auf. Dieser »liebt die lauten Feste nicht« mehr47 und bevorzugt die rationale statt der sensuellen Erkenntnissuche. In seinem Bestreben nach 'Wahrheit' erklärt er dem Cherubim den Kampf und fordert grundsätzlich Gerechtigkeit im Namen der Recht- und Besitzlosen. Dem Sohn rät er vom weiteren Ausleben seiner Triebhaftigkeit ab 43 44 45 46 47

Vgl. W.H. an Kurt Hiller; Heyst s. M. 22.10.1913. - O/M. W.H. an Kurt Hiller; Heyst s. M. 18.11.1913. - O/M. W.H.: Der Sohn. - In: GDP. S. 129. Ebd., S. 128. Ebd., S. 127.

122

(»du hast Besseres vor«)48 und macht ihn zum Propheten seiner Philosophie der 'Tat'. Mit dieser entlarvt er die Propagierung der Lebenssteigerung als Täuschung und »subalternes Gefühl«;49 durch sie will er die Befreiung der jungen Generation von den Zwängen und der Willkür der herrschenden Gesellschaft der Väter erreichen und - wie Nietzsche - den »Götzendienst«50 des vierten Gebotes brechen. Hasenclever beläßt diese radikale Position jedoch nicht unwidersprochen: Der Freund erkennt schließlich seine Unfähigkeit, sein Programm aus eigener Kraft zu realisieren, weshalb er einer unzerstörten, unverbrauchten Kraft bedarf, die sich ihm in Gestalt des jugendlichen Sohnes und dessen »Glut des Hasses«51 anbietet. Selbstkritisch beurteilt der Aktivist insgeheim die von ihm initiierte Revolution als illusionär und kann aus seinem eigenen Konzept keine Lebenskraft mehr schöpfen, so daß er Erlösung im Gifttod sucht, den er sich durch Champagner und eine Hure versüßt. Damit folgt er aber nicht wirklich Zarathustras Diktum des frei gewählten Todes, sondern teilt eher die Erkenntnisse von Nietzsches philosophischem Lehrmeister Schopenhauer, dessen Lebenspessimismus er - wenn auch widerwillig - zustimmt: Die Bejahung des Lebens ist nur einem Spitzbuben erlaubt, der im voraus weiß, wie er endet. 52

Seinem Medium und Schüler, dem noch kraftvollen Sohn, scheint dagegen das Übermenschliche zu gelingen. Unter dem Einfluß des Freundes kann der ehemals dem Vater Unterlegene die von diesem repräsentierte Ordnung symbolisch überwinden, indem er den familiären Vater-Sohn-Konflikt für sich entscheidet. Zuvor zwingt er auch den Klub mit 'geistigen Waffen' in eine neue Form und ruft - nach dem Vorbild der französischen Revolution - vor diesem »Bund der Jungen gegen die Welt«53 zum Freiheitskampf gegen die überlebte Ordnung der Väter auf, dessen Auftakt die Ermordung des eigenen Vaters bilden soll. Die Spielhandlung, die der Autor für diese Szene entwirft - deren dramatische Gestaltung im wesentlichen bereits vor der Abreise nach Heyst sur Mer, also zur Zeit der Entstehung der ersten beiden Akte feststeht und unwiderrufen bleibt -, macht Hasenclevers grundsätzlichen - und auch durch Hillers direkten Einfluß nicht langfristig ausgeräumten - Zweifel an der aktivistischen Argumentation deutlich. Wie auch Dieter Breuer erläutert,54 kann ausgerechnet der unnachgiebige Vater, eingedenk des ihm in seiner Vaterrolle als vorbildlich gegenübergestellten 48 49 50 51 52 53 54

Ebd., S. 141. Ebd., S. 134. Ebd., S. 143. Ebd. Ebd., S. 148. Ebd., S. 137. Vgl. Breuer, Dieter: Rückkehr zu Schopenhauer.

123

Polizeikommissars, nicht als typischer Repräsentant des Wilhelminischen Staates gelten.55 Entpolitisiert wird der existenzielle Vater-Sohn-Konflikt ebenfalls durch den letzten Dialog der Kontrahenten, in dem der Vater zwar als Synonym der Tyrannei dargestellt wird, der Sohn dessen Vergehen gegen die Menschlichkeit jedoch dadurch relativiert, daß er als größtes Verbrechen nicht die Willkür des Vaters, sondern dessen Mißachtung des schöpferischen Geistes erklärt. In diesem Kontext definiert er die 'Tat' lediglich als ein letztes Machtmittel gegenüber dem verachteten Typus des Bildungsphilisters: Tyrannen, ihr Väter, ihr Verächter alles Großen [...] Dein Intellekt reicht nicht aus zum Gedanken, so beuge dich vor der Tat! 5 6

Die Tatbereitschaft des Sohnes, nicht die Tat selber tötet schließlich den Vater und relativiert damit zusätzlich den aktivistischen Gehalt des Dramas. Ähnlich wie bereits im Frühwerk Nirwana endet die Spielhandlung mit der durch die Geschehnisse erzwungenen Askese des Protagonisten. Diese symbolträchtige Anlehnung an Schopenhauers Erlösungsgedanken wird durch den vom Sohn als Monolog gesprochenen Epilog unterstützt, in dem der Protagonist seine Entscheidung gegen eine zukünftig aktivistische Lebensführung trifft. Dieser in Versform gestaltete Schluß knüpft an die bereits im Jüngling artikulierte Melancholie an. So beklagt der Sohn das der Tat folgende Leid als unausweichliche Konsequenz und konstatiert die dadurch in seinem Herzen entstandene Leere. Den Leichnam des Vaters vor Augen, erkennt er eine nun unüberwindbare Distanz zu seinem bisherigen - aktivistischen - Dasein, die ihn in einen metaphysischen, nicht mehr rational zu erfassenden Raum emporzwingt: Die Erde ließ mich los. [...] Ins schmerzlich Ungeliebte, in die Schwere des tief Erkannten treibt mein Körper hin. 5 7

In diesem Zustand »ist nun die große Leidenschaft« vorbei, die jede Form irdischer Verbundenheit ausmacht. Durch den »Rausch« vermag er nicht mehr zu »entschweben«; ein neuer »Stern« ist stattdessen sein Ziel.5®* Diese Vision stellt der Autor mit einem Wortspiel dar, das an Schopenhauers Deutung der Welt als einer bloßen Vorstellung anknüpft und den Sohn sein Traumbild »in letzter Klarheit Schein«59 erkennen läßt. Im Zusammenhang mit diesem Dramenschluß verliert der geschilderte Konflikt zwischen Vater und Sohn jegliche politisch-aktivistische Bedeutung. Für den Sohn, der zwischen Furcht und Flucht, Unterwerfung und Revolte hin- und hergerissen wird, dämonisiert sich die Gewalt des Vaters zum grundsätzlich Existentiellen, wobei der Dichter die Person des Vaters 55 56 57 58 59

Vgl. ebd., S. 252. W.H.: Der Sohn. - In: GDP. S. 153. Ebd., S. 156. Ebd., S. 155. Ebd., S. 156.

124

zum Sinnbild der vollkommenen Abhängigkeit des Menschen von rational nicht zu ergründenden Mächten stilisiert. Kurt Pinthus veröffentlicht 1914 eine vom Autor geradezu gefeierte Rezension des Sohn.60 Explizit wird in diesem Versuch eines zukünftigen Dramas benannten Artikel auf den »metaphysischen« Gehalt der Dichtung hingewiesen und auf deren Ziel, ein hinter der Realität verborgenes »Urgefühl« darzustellen, denn: »der Inhalt dieses Stückes ist nicht das Handeln, sondern das Fühlen des Sohnes«. Damit schließt Pinthus jegliche im Drama beabsichtigte Objektivität aus und impliziert die Zweitrangigkeit jeder Form gesellschaftspolitischer Zielsetzungen. Er unterstreicht dies dadurch, daß er als Hauptanliegen des Dramas die Propagierung eines neuen ästhetischen Ideals benennt, in dem durch eine exaltiert Gefühle pathetisierende Sprache »die Irdischkeit« aufgelöst und eine »neue überirdische Wirklichkeit (in der der Geist leben kann)« zur Kunst geformt werde. 61 Beinahe zeitgleich mit diesem Aufsatz erscheinen zwei kürzere Beiträge Hasenclevers, in denen er seine auf dem Irrationalen basierende, in ihrem Wesen anti-politische Weltanschauung verdeutlicht. So bekennt er sich in einer Rezension über Philipp Kellers Roman Gemischte Gefühle zu der seiner Meinung nach vollkommenen Schicksalsbestimmtheit des Menschen, die er auch als das »in Beziehung zur Weltlichkeit«-Stehen bezeichnet.62 In der Szene Der Bankier und der Dichter macht er im Februar 1914 deutlich, daß er politischen Problemstellungen grundsätzlich eine nur untergeordnete Bedeutung zumißt.63 Zu diesem Zweck entwirft er einen humoristisch selbstironischen Disput, ein »Gespräch über Dichtung«, den er zwischen zwei scheinbar unüberwindbaren Extrempositionen konstruiert, die aber trotzdem zu einem einvernehmlichen Miteinander finden, indem jeder der Kontrahenten sein Gegenüber an den eigenen Vorzügen partizipieren läßt. Den Inhalt des Disputs bestimmen zwei Themenschwerpunkte von recht unterschiedlicher Qualität. Zum einen die Proklamierung des mystisch verklärten, kontemplativen 'Geist' als unabdingbaren Sujet der Dichtkunst; zum anderen der für den Künstler - ungeachtet aller ideellen Ziele - unverzichtbare materielle Ertrag seiner kreativen Arbeit. Während die Gestalt des Dichters anfänglich die Rückbesinnung der Kunst auf den »Mythos« absoluter Besitzlosigkeit fordert, »wo der Dichter Gottes ärmstes, aber auch liebstes Kind ist«, läßt Hasenclever den Bankier diese Forderung als romantische Utopie entlarven und auf die in jedem Falle bestehende Abhängigkeit des Künstlers in seiner »Seele [...] von den finanziellen Operationen, mit denen [er, der Bankier] über [des Dichters] Dasein wache«, hinweisen.64 Dieser 60 61 62 63

64

Pinthus, Kurt: Versuch eines zukünftigen Dramas. Ebd. W.H.: Gemischte Gefühle. - In: März. 8. Jg., 2. Bd., 1914 (S. 536-538), S. 537. W.H.: Der Bankier und der Dichter. - In: Braunschweiger GNC Monatsschrift. 2. Jg., Februar 1914, S. 73ff. Ebd., S. 74. In seinem Roman 'Irrtum und Leidenschaft' bedient sich W.H. erneut dieses Motivs.

125

Argumentation kann sich der derart Überzeugte nicht entziehen und hält seinem Gesprächspartner nun seinerseits dessen in Wahrheit ungenügende finanzielle Solidarität vor: Wie kommt es, daß Sie lieber Ihrer Leihbibliothek 30 Pfennig zu verdienen geben und den Autor des Buches verhungern lassen? 65

Der Dichter betont in diesem Zusammenhang jedoch, daß die von ihm akzeptierte materielle Abhängigkeit nicht zur Verfertigung bloßer Auftragskunst führen dürfe. Auch »basiere sein Geist [...] nicht auf den Voraussetzungen des Lebens«, was seine Korrumpierung ausschließe und ihn ein ästhetisches Konzept »fern [der] Grenzen des Verstandes und jenseits von gut und böse« konsequent weiterverfolgen lasse.66 Damit bestätigt er implizit die Struktur der bestehenden Gesellschaftsordnung, die er schon deswegen nicht in Frage stellen kann, da er von den Repräsentanten dieser Ordnung nachdrücklich sein finanzielles Auskommen fordert. So strebt er mit seiner Kunst keinen sozialen Wandel an, sondern vielmehr die »Steigerung seiner selbst in der Welt« mit der Absicht, »die unbekannte Größe« der Gefühle aller durch das Pathos zu vermitteln. »Seien Sie überzeugt, daß Ihre Freuden und Schmerzen auch die unsrigen sind«,67 beschwört die Gestalt des Dichters eine ideale Gemeinschaft der Menschen, die sich mit Hilfe der Kunst über alle gesellschaftliche Schranken hinwegsetzen könnte - womit Hasenclever sein im Sohn propagiertes Elitebewußtsein zumindest teilweise relativiert. Mit großer Ironie endet schließlich der Dialog, als der Bankier weniger von den anti-rationalen Erkenntnissen des Dichters intellektuell »überzeugt«, als vielmehr emotional »entzündet« wird. 68 Spontan erklärt er, die finanziellen Forderungen seines Gesprächspartners erfüllen zu wollen, und verkündet - außer eine Einladung zum Essen - den sofortigen Kauf der Werke des Dichters, um diese an alle seine Angestellten verteilen zu lassen.69

3

Aufführungsgeschichte bis 1918

Obgleich die Veröffentlichung des Sohn bei der Literaturkritik ein großes Echo hervorruft, erweist es sich trotz reichlich versandter Bühnenexemplare als schwierig, mit einem Theater wegen der Bühnenübernahme handelseinig zu werden. So erhält der Kurt Wolff-Verlag z.B. am 9. Juni 1914 auch eine Absage des Düsseldorfer Schauspielhauses, dem der Sohn erst wenige Tage zuvor angeboten worden ist. Die Düsseldorfer Dramaturgie bescheinigt dem Autor in ihrem Brief zwar »zweifellos« vorhandenes Talent, erklärt dieses aber »immerhin nicht für ausgereift«, und meldet dann vor allem inhaltliche Vorbehalte an: 65 66 67 68 69

Ebd., S. 75. Ebd. Ebd. Ebd., S. 76. Vgl. ebd.

126

Die in der Schule zurückgebliebenen Jünglinge, die mit zwanzig Jahren ihre nicht gleichermassen zurückgebliebene Sexualität zum Kampf gegen die Erzieher aufschäumen lassen, sind unseres Erachtens ein zwar literarisch in der Luft liegendes Thema, jedoch ein höchst fatales.70 Diese Ansicht wird in Düsseldorf erst 1916 vorsichtig relativiert, als man sich nun dem Zeitgeist folgend - wieder für Hasenclevers Drama zu interessieren beginnt, ohne daß hieraus jedoch eine Bühnenannahme resultiert. Auch von anderer, nicht der Theaterwelt zugehöriger Seite wird der Sohn, ebenso wie Hasenclevers übrige Dichtungen, scharf angegriffen, was auf die seinerzeit typische Verunglimpfung der Avantgarde durch das bürgerliche Publikum hinweist. So richtet beispielsweise auch die Zeitschrift Imago, die der Psychoanalytiker Sigmund Freud gegründet hat, mehrmals ihre Aufmerksamkeit auf das Werk des jungen Dichters. 1914 wird die lyrische Szene Das unendliche Gespräch Anlaß einer 'psychologischen' Analyse Walter Hasenclevers, als deren Resultat man dem Autor eine ausgeprägte Paranoia attestiert.71 Drei Jahre später erscheint an gleicher Stelle ein Artikel des Dr. Hanns Sachs, in dem das frühere Ergebnis durch das rein autobiographisch interpretierte 'Familiendrama' Der Sohn bestätigt wird. Hierbei verweist Sachs besonders auf die fehlende Darstellung der Mutter, die er als das »Verschweigen der anderen Hälfte des Problems« bezeichnet.72 Da die Theaterwelt nicht gemäß den Erwartungen Hasenclevers positiv mit zahlreichen Bühnenannahmen auf die Veröffentlichung des Dramas reagiert, schwindet sein Glaube an eine kurzfristige Aufführung. So setzt er im Frühsommer seine ganzen Hoffnungen weniger auf die Qualität des Stückes, als auf das kaufmännische Geschick seines Verlegers (»Lieber K.W., ich habe mehr Hoffnung auf Sie als auf mein Stück.«).73 Schon zwei Wochen später scheinen dessen Bemühungen den Erfolg zu bringen, als der Mitbegründer und Dramaturg der Wiener Volksbühne, Berthold Viertel, - ebenso wie zunehmend andere Bühnen - wachsendes Interesse am Sohn signalisiert. Der Autor kann schließlich auch über einen Brief aus Prag berichten, der den Beginn einer produktiven Verbindung mit dem dortigen Deutschen Landestheater einleitet, deren erster Höhepunkt die schließlich 1916 dort stattfindende Uraufführung des Sohn darstellt: eben schreibt mir mein Freund Ernst Deutsch, Prag, [...]: er wünsche sehnlichst, den 'Sohn' zu spielen und hat ein großes Engagement nach Prag. Er will unter allen Umständen den 'Sohn' in Prag spielen und das solle man dem Direktor Teweles schreiben! [...] Es wäre doch famos, wenn man auch Prag und Wien bekäme!74

70 71 72 73 74

Schauspielhaus Düsseldorf an KWV; Düsseldorf 9.6.1914. - O/D. Vgl. Pinthus, Kurt: L&W. - In: GDP. S. 18. Sachs, Hanns: Walter Hasenclever. Der Sohn. - In: Imago. Bd. 5, 1917-19, (S. 43-48) S. 44. W.H. an Kurt Wolff; Heimburg 17.6.1914. - O/Y. W.H. an Kurt Wolff; Heimburg 1.7.1914, II. Brief. - O/Y. 127

Der Beginn der langjährigen Freundschaft zwischen Dichter und Schauspieler so erinnert sich Ernst Deutsch in einem Gespräch mit Walter Jüngt75 - datiert auf den Frühsommer 1913, als Hasenclever gemeinsam mit Franz Werfel, einem Schulfreund Deutschs, für einige Wochen Prag besucht. Parallel zu den Verhandlungen mit Berthold Viertel und anderen Bühnenvertretern versucht Wolff im Sommer 1914 Max Reinhardt für die Uraufführung zu gewinnen. Hasenclever entwirft hierfür ungebeten eine Verhandlungsstrategie, die dem von Kurt Wolff erstandenem Leipziger Schauspielhaus einen besonderen Part zugedenkt: darauf müssen Sie jetzt Reinhardt die Uraufführung mit Moissi auf ein bestimmtes Datum (möglichst in der frühen Saison: Oktober) erpressen. Motto: die Intendanz in Leipzig wünscht die Uraufführung: hier steht es schwarz auf weiß!! Legt sich Reinhardt nicht fest (mit tausend Konventionalstrafen im Vertrag!) so ist zu überlegen, ob man nicht doch mit Max M. anknüpft. [Max Martersteig, Direktor des Leipziger Schauspielhauses.] Max M. ist böse, weil er ungefragt blieb - hätten wir ihn (ohne Reinhardt-Annahme) gefragt, dann hätte er sicher abgelehnt. [...] Lieber K.W., machen Sie einen geschickten Coup. Wenn Reinhardt auf die Uraufführung verzichtet, kann ja schließlich die Annahme bestehen bleiben. Und wenn er auf der Uraufführung besteht und Max M. will nicht, gut, dann kündigen wir mal in der Pressenotiz das Leipz. Schauspielhaus an. [...] Jetzt gilt es, in geschickter Weise die Theateridioten gegeneinander zu hetzen - und das müssen Sie tun. 76 Durch die Veröffentlichung in den Weissen Blättern findet das Drama starke Beachtung in den Feuilletonspalten der Presse. Obgleich der Dichter in vielen Fällen mit dem Inhalt dieser Rezensionen nicht einverstanden ist, weiß er gerade die kritischen Artikel geschickt für Reklamezwecke auszuwerten: Der Zweck des gestrigen Telefons war eine tolle Verbreitung eines Berl. Büro's der 'Berliner Redaktion', unter einem Werk von Gerhart Hauptmann folgende Notiz über mein Stück zu lancieren [...]. Der sensationelle Titel heißt wörtlich: 'Das erste deutsche futuristische Drama' [...]. Mein Ausschnittbüro übermittelte mir diese Notiz am Sonnabend, bis zum Sonntag hatten sie bereits 'Nationalzeitung' und 'Dresdner Anzeiger' abgedruckt: da entschloß ich mich, im B.T. zu dementieren [...]. Alles in allem - unter uns! - konnte nichts besseres passieren; eine famose Reklame, die zieht! Ferner: schon ist im Turmhahn, Juli-Heft, eine 3 (!) Seiten lange pöbelhafte Schweinerei gegen mich und Pinthus-Aufsatz der Schaubühne erschienen. [...] der Reklame-Antrieb ist herrlich; ein Stück, noch lange nicht aufgeführt, kaum erschienen, als Buch noch gar nicht ausgegeben - und schon wird gepöbelt, Enten in die Presse gesetzt, Skandal gemacht, Reinhardt 'kommentiert' - mein Lieber, wir sind auf dem besten Wege, ein gutes Geschäft zu machen und meine 'Erklärung' im B.T. läßt nichts zu wünschen übrig - je mehr Krawall, desto besser! Nun müßten wir beide keine Rheinländer sein, um diesen Karneval nicht ordentlich auszunützen.77

7

® Deutsch, Ernst. Zitiert nach Gesprächsnotiz von Walter Jüngt. Düsseldorf 8.10.1959. O/D.Jüngt. 76 W.H. an Kurt Wolff; Heimburg 1.7.1914, III. Brief. - O/Y. 77 W.H. an Kurt Wolff; Heimburg 13.7.1914. - O/Y. 128

Während das Königlich-Deutsche-Landestheater-Prag unter der Leitung von Heinrich Teweles im Sommer größtes Interesse am Sohn anmeldet, entwickelt Hasenclever den Gedanken, bei einer eventuellen Leipziger Uraufführung unter der Regie Kurt Stielers selbst die Titelrolle zu spielen.78 Als relativ sicherer Aufführungsort scheint bis Mitte Juli jedoch nur das Stuttgarter Schauspielhaus festzustehen,79 was aber als ein Zeichen für die wachsende Publizität des Dichters interpretiert werden kann, da nun auch eher konservative Bühnen Interesse an seiner Dichtung zeigen. Über das große Presseecho, das diese Entwicklung fördert, zeigt sich der Autor denn auch begeistert: Ich sage Ihnen, der Teufel ist los. Jeden Tag kriege ich zahllose Ausschnitte von Zittau, Nürnberg bis Ostrau, aber auch große Zeitungen [...]; teils wird mein Dementi aus dem B.T. nachgedruckt, teils auch die alte 'futuristische' Meldung und gerade eben hat dasselbe Büro (die Kulturbeiträge) nun eine Entgegnung herausgegeben: 'der Futurist, der es nicht sein will' - zitiert Pinthus' Aufsatz aus der Schaubühne, aus 'zukünftigen' (!) Dramas (daher der Futurist), macht einen langen Senf, der jetzt wieder durch die Presse geht - kein Absehen, und eine Reklame wie kaum für Hauptmann, Wedekind oder Eulenberg. [...] Wie sehr diese Meldung gewirkt hat, ersehen Sie daraus: heute eben erhalte ich [...] Karte an mich [...]: Frankf. Vereinigte Stadttheater erbitten 'Sohn'. Das kann nun, insofern man nicht bald den Verlag weiss, katastrophal werden, deshalb mein ich, muss jetzt mit der Versendung an alle Bahnen und Reklamation der alten begonnen werden, wo doch jetzt durch das Pressegeschrei die Reklame ins Groteske wächst und noch wachsen wird - denn jetzt gehts los [...]. Wenn, dann ist jetzt die Gelegenheit, für das alte Geld Ruhm und Annahmen zu erwirken - durch geschickte Ausnützung dieses Coups [...]. 8 0

Ende Juli scheint es möglich, daß die Uraufführung parallel bei Reinhardt in Berlin und im Schauspielhaus Leipzig stattfindet, wobei man für die Leipziger Inszenierung Emst Deutsch in der Titelrolle favorisiert.81 Als Willy Haas, der seit dem Voijahr durch die Vermittlung Franz Werfeis seine Lektorentätigkeit im Kurt Wolff-Verlag aufgenommen hat, Hasenclever auch die Vertragsunterzeichnung für die Annahme durch das Prager Landestheater mitteilt, rechnet man im Verlag mit dem baldigen Bühnentriumph des Sohn.92 Ein Brief Kurt Wolfis an Hasenclever vom 29. Juli 1914 klärt über die vom Prager Landestheater für die Uraufführungsrechte vorgeschlagenen Modalitäten auf. So habe sich Teweles für einen Aufführungstermin zwischen dem 1. und dem 15. Januar 1915 bereit erklärt, vorausgesetzt, daß es Max Reinhardt nicht gelinge, seine So/m-Inszenierung bis zum 1. Januar 1915 herauszubringen.83 Aus einem Briefentwurf Hasenclevers an Max Reinhardt vom Sommer 1915 ist zu entnehmen, daß Reinhardt die alleinigen und unbeschränkten Uraufführungsrechte bereits längere Zeit zuvor erworben und dadurch eine frühzeitigere Prager Inszenierung blockiert hat, 78 79 80 81 82 83

Vgl. ebd. Vgl. W.H. an Kurt Wolff; o.O. 14.7.1914. - O/Y. W.H. an Kurt Wolff; Heimburg 18.7.1914. - O/Y. Vgl. W.H. an Kurt Wolff: I. Heimburg 23.7.1914 / II. 25.7.1914. - O/Y. Vgl. W.H. an Kurt Wolff; Heimburg 25.7.1914. - O/Y. Vgl. Wolff, Kurt an W.H.; o.O. 29.7.1914. - O/M.

129

obgleich es ihm, wohl wegen anhaltender Widerstände seitens der Zensurbehörden, unmöglich war, einen endgültigen Uraufführungstermin zu benennen.84 Trotz des weitreichenden Echos, das der Sohn in der Presse hervorruft, läßt sich das im Herbst 1914 als Buch veröffentlichte Drama während der ersten Kriegsjahre sehr schlecht verkaufen. Eine von Wolff erstellte Absatzstatistik für den Zeitraum vom 1. Juli 1915 bis zum 30. Juni 1916 gibt lediglich 32 verkaufte Exemplare des Sohn und 24 verkaufte Exemplare des Gedichtbandes Der Jüngling an. 85 Auch findet sich bis zum Jahr 1916 keine Möglichkeit einer Bühnenannahme, da die durch die Publikation in der Zeitschrift Die Weissen Blätter aufmerksam gewordenen örtlichen Zensurbehörden die öffentliche Aufführung untersagen bzw. durch halbamtliche Verlautbarungen - z.B. in Form von Kritiken in als wohlinformiert geltenden Zeitungen und durch inoffizielle Gespräche mit an diesem Drama interessierten Intendanten - ein eventuelles Ersuchen um eine Aufführungsgenehmigung schon frühzeitig unterbinden. Im Mai 1916 versucht der Kurt Wolff-Verlag noch einmal, das Düsseldorfer Schauspielhaus für den Sohn zu gewinnen, als die dortige Direktion um einen Beitrag Hasenclevers für ihre Theaterzeitschrift nachsucht. Nachdem der Verlag in seinem Schreiben die voraussichtlichen Annahmen des Dramas in München, Berlin, Stuttgart, Prag und Hamburg annonciert, heißt es werbend: Wir sind der Meinung, dass ein Stück von der leidenschaftlichen Bewegtheit des 'Sohn' gerade im Rheinland wohl starken Anklang finden könnte, und von allen rheinischen Bühnen dürfte doch keine für diese literarische Tat ernsthafter in Frage kommen als gerade das Düsseldorfer Schauspielhaus.86 Die Antwort läßt nicht lange auf sich warten, und am 16. Mai schreibt Hans Franck im Namen der Direktion an Hasenclever persönlich, daß dessen Vermutung, das Drama 'Der Sohn' wäre uns entgangen, nicht zutreffe. Ich habe das Stück Frau Dumont sehr warm zur Auffuhrung empfohlen. Frau Dumont ist ausserordentlich stark von dem Stück gepackt worden. Wenn wir uns trotzdem zu einer Annahme nicht entschlossen haben und dies wohl auch in absehbarer Zeit nicht zustande kommen dürfte, so sprechen da Widerstände äusserer und innerer Art mit, die zu ändern nicht in unserer Macht liegt, so ausserordentlich gern wir es auch täten [...].87 Auch der am Berliner Lessing-Theater wirkende Regisseur Victor Barnowsky wird kurze Zeit für eine mögliche Uraufführung gehandelt. Zu den mit diesem Vorhaben verbundenen Bedingungen schreibt Hasenclever am 22. Mai 1916:

84 85 86 87

Vgl. W.H. an Max Reinhardt; [Briefentwurf] etwa Juli/August 1915. - O/Y. Vgl. Wolff, Kurt an W.H.; Leipzig 12.1.1917. - O/M. KWV an Schauspielhaus Düsseldorf; Leipzig 6.5.1916. - O/D. Schauspielhaus Düsseldorf an KWV; Düsseldorf 16.5.1916. - K/D.

130

Darauf kam Dr. Eloesser zu mir, erklärte, sie seien nun entschlossen, das Stück zu bringen auch ohne daß Barnowsky es gelesen hätte, wenn ich ihnen - auch vor meinem Verleger - die Garantieflrmein nächstes Stück geben könntet Nachdem sich auch diese Perspektive wieder zerschlägt, beginnen schließlich im August die Vorbereitungen für Aufführungen in Prag und Dresden. Im Mai 1917 erinnert sich der Dichter, daß er die Dresdner Aufführung bei den Verhandlungen mit Barnowsky wider besseren Wissen als bereits sicher genannt habe: Schließlich war ja die Dresdner Premiere lediglich eine Erfindung von Deutsch und mir - und bis zum September 1916 glaubte im K.W.V. ernstlich kein Mensch daran, daß das Stück jemals aufgeführt werden könnte; stets hieß es: 'Nach dem Kriege!' Sie erinnern sich, daß ich damals selber in Berlin verhandelte, als ich im Mai 16 bei meinem Urlaub zum ersten Mal Gelegenheit hatte, mich wieder persönlich um mein Stück und seinen Bühnenvertrieb zu kümmern. Ich befand mich in einer Zwangslage und mußte mit Barnowsky abschließen.89 Als der Spielort Dresden jedoch realisiert wird, geht der Autor noch am 17. September davon aus, daß es sich bei diesem Termin auch um den Zeitpunkt der öffentlichen Uraufführung handele: Zum 30. vormittags 12 Uhr lade ich den ganzen Verlag [...] ins Albert-Theater ein. Ich bitte Sie herzlich, den Druck 'Des Retters' womöglich bis zu diesem Termin fertig zur Versendung zu bringen unter Abänderung der Notiz unter der Rubrik 'Sohn'; zu setzen: 'Uraufführung am Albert-Theater Dresden am 30. September 1916'.90 Am 25. September schreibt der Kurt Wolff-Verlag jedoch dem Düsseldorfer Schauspielhaus: Nachdem das Drama 'Der Sohn' von Walter Hasenclever in Dresden von der Censur verboten wurde, hat sich Herr Direktor Licho entschlossen, das Werk am 10. Oktober [...] in einer Mittagsaufführung vor geladenem Publikum herauszubringen.91 Nur einen Tag, nachdem dieses Schreiben versandt wird, erfolgt eine abermalige Verlegung des Aufführungsdatums auf den 8. Oktober.92 Eine Woche vor diesem dann endlich realisierten Termin findet die Uraufführung des Sohn anläßlich der Eröffnung der neugegründeten Kammerspiele des Prager Landestheaters statt und wird von Publikum und Presse positiv aufgenommen. Heinrich Teweles schickt dieser Vorstellung in den Blättern der Prager Kammerspiele einige programmatische Anmerkungen voraus, in denen er sich zur Experimentierfreude der Avantgarde bekennt und Hasenclevers Bühnendichtung mit Schillers Don

88 89 90 91 92

W.H. an Kurt Wolff; Berlin 22.5.1916. - O/Y. W.H. an Kurt Wolff; Dresden 17.51917. - O/Y. W.H. an Georg Heinrich Meyer [KWV]; Dresden 17.9.1916. - O/Y. KWV an Schauspielhaus Düsseldorf; Leipzig 25.9.1916. - O/D. Vgl. W.H. an Kurt Wolff; Dresden 26.9.1916. - O/Y. 131

Carlos vergleicht. Bemerkenswert ist hierbei Teweles Interpretation, die dem Sohn jegliche politische bzw. aktivistische Intention abspricht: Mit Hasenclevers 'Sohn' glauben wir, die Kammerspiele kennzeichnend einzuleiten. Es ist das Werk eines Jünglings und es behandelt den Entwicklungskampf eines Jünglings. Was einst zwischen Carlos und Philipp durchgekämpft wurde, spricht sich hier aus. Nur daß Carlos nach der Freiheit der Tat strebte, der 'Sohn' aber die Freiheit des Genießens fordert, das er für Tat hält. Der 'Sohn' lebt eben hundertdreißig Jahre später, als Schillers 'Don Carlos'. 93 Die Inszenierung gestaltet Hans Demetz, dem Hasenclever auf dessen Wunsch hin bereits im August von der Mazedonischen Front detaillierte Hinweise zur Regieführung sendet. Der Autor nutzt diese Gelegenheit, um noch einmal auf einige ihm wichtige Tendenzen des Dramas hinzuweisen und betont in diesem Kontext die durch das 1915 vollendete Drama Der Retter erfolgte programmatische Fortsetzung der im Sohn aufgezeigten Thematik: Darf ich schon heute die Anregung verzeichnen, daß ich mir das Aussehen des Sohnes mehr dunkel und bartlos, braunes, scheitelloses Haar: Typ der intellektuellen Jugend - das des Fräuleins blond und deutsch, mit allen Kontrasten des Sentiments zum Geistigen ihres Partners vorstellen muß. Den Vater sehe ich nicht als weißbärtigen Patriarchen, sondern kultivierten Anhänger der Bourgeoisie, der ohne lächerlich oder gar verächtlich zu erscheinen, Repräsentant seiner Partei sein muß. Ich sehe ihn in der Tat 'graumeliert', etwa mit dem dichten weißen Schnurrbart des Abgeordneten Bassermann der deutschen national-liberalen Partei; gescheitelt, dauerhaft, doch nicht modisch gekleidet, bei Zu-Hand-Nahme eines Kneifers und zumeist in Sprechzimmer-Pose. Den Freund denk ich mir äußerlich gesondert in Kleidung und Gesicht. Er stellt die negative Kurve der Handlung dar mit dem sarkastischen Temperamente. Er könnte eine Glatze haben und im besten Sinne des Geistes Jude sein. Die Adrienne ist jedenfalls eine Dame, deren Wohnsitz nicht auf Städte beschränkt ist; sie darf im Jargon aller Länder: nur nicht berlinerisch oder weanerisch gespielt werden. [...] Nur noch eins: ich bitte, den Fürsten nicht als einen snobistischen Idioten ansehen zu wollen. Seine Ära (die in meinem nächsten Drama erschöpfend zu größerer Bedeutung wiederkehren wird) ist von der Beschaffenheit eines noch unwirklichen, neuen Europa. Vielleicht, wenn er als regierender Monarch diesen Krieg erlebt hätte, wäre er von seinem Thron gestiegen, ohne Selbstmord zu begehn, und hätte gelebt nicht mehr der Presse wegen. Aber soweit sind wir noch nicht. Darf ich am Ende noch bitten, keinerlei Schritte bei meiner vorgesetzten Behörde zu unternehmen: sie würden mir in keinem einzigen Falle von Nutzen - nur von Schaden sein. Ich werde versuchen, was ich kann, einen Urlaub zu erlangen. Nach einer Rücksprache mit dem Adjutanten erfahre ich, daß zu einer Beurlaubung ins verbündete Ausland ein Gesuch der Heeresgruppe an den Generalquartiermeister nötig ist und das ist unwahrscheinlicher als der Friede. 94 Auch wenn der Dichter für die Uraufführung in Prag keinen Sonderurlaub erhält, gestattet man ihm wenigstens die Reise nach Dresden, wo er am Sonntag, den 8. Oktober, vormittags um 11 Uhr 15, im Albert-Theater der deutschen 93 94

Teweles, Heinrich: o.T. [Aufsatz zur Uraufführung des W.H.-Dramas 'Der Sohn']. - In: Blätter der Prager Kammerspiele, 30.9.1916. W.H. an Hans Demetz; Mazedonien 5.8.1916. - O/M.

132

Erstaufführung inmitten eines Kreises geladener Gäste beiwohnt. Der Direktor der Bühne, Adolf Edgar Licho, führt selber Regie und spielt die Rolle des Vaters, während der Sohn mit Ernst Deutsch besetzt ist, der kurz zuvor für Wedekinds Frühlings Erwachen nach Dresden engagiert worden ist. Die Dauer seines Fronturlaubes ermöglicht Hasenclever auch die Teilnahme an den Endproben. Ernst Deutsch erinnert sich 1959 in einem Gespräch mit Walter Jüngt an die während dieser Proben stattfindenden Auseinandersetzungen zwischen Autor und Regisseur, in denen der Dichter vor allem gegen Lichos naturalistisches Regiekonzept aufbegehrt habe. Jüngt notiert: Deutsch erinnert sich noch wortwörtlich an eine Diskussion über die IV. Scene des II. Aktes (S.54), wo laut Regieanweisung H. einige Takte aus dem letzten Satz der d-moll Symphonie von Beethoven fordert. Hier kam es, sehr bezeichnend, zu folgendem Wortwechsel: Licho: 'Da ist Musik unmöglich' H.: 'Ich halte es für sehr wichtig' Licho: 'Ja, wo soll sie denn herkommen - vom Himmel vielleicht?' H.: (begeistert) 'Ja, ja, ja!' 95 Die zur Premiere geladenen Gäste rekrutieren sich größtenteils aus Vertretern der Presse, die sich von der Aufführung überwiegend begeistert zeigen. Der angesehene Feuilletonist Camill Hoffmann moniert jedoch - ebenso wie der Dichter selbst - die noch in der konservativen Brahm-Schule wurzelnde Regieführung, die das Werk zu einem Familiendrama,96 zu einer kleinbürgerlichen Tragödie97 verkommen lasse und nicht das revolutionäre Potential des Textes umzusetzen verstehe. Aus den nächsten Wochen und Monaten sind Vorstellungen an der Wiener Volksbühne (Januar 1917) und am Züricher Pfauentheater (Juni 1917) nachweisbar. Hasenclever nimmt aus der Ferne großen Anteil an diesen Inszenierungen und übt über seinen in der Schweiz lebenden Freund Albert Ehrenstein besonders auf die Züricher Regieführung Einfluß aus. So sendet er am 14. Juni 1917 ausführliche Regieanweisungen an Ehrenstein, die durch wenige Textstriche eine weitere Akzentuierung des Sohnes und des Fürsten Scheitel zum Ziel haben. Weiter regt er an, den dritten Akt entsprechend der ihm insgesamt aber zu naturalistischen Dresdner Inszenierung zu gestalten. In seinem Brief gibt er auch genaue inhaltliche Vorgaben für eine Rezension über die Aufführung, um deren Verfertigung er Ehrenstein bittet, und erwähnt schließlich das starke Inter-

95

96

97

Jüngt, Walter. Gespriichsnotiz über eine Unterhaltung mit Ernst Deutsch. Düsseldorf 8.10.1959. - O/D. Jüngt. Vgl. Hoffmann, Camill: Theater in Dresden. - In: Das junge Deutschland. 1. Jg., VI, S. 204f. Vgl. Hoffmann, Camill: Theater in Dresden. - In: Dresdener Neueste Nachrichten. 9.10.1916. 133

esse, das Max Reinhardt und der Graf Seebach an seinem bereits im Druck befindlichen Drama Anägone zeigten.98 Ungeachtet der im deutschsprachigen Ausland erzielten Erfolge, sehen sich die reichsdeutschen Bühnen immer noch außerstande, den Sohn auf ihre Spielpläne zu setzen. So bedauert z.B. im Januar 1917 abermals das Düsseldorfer Schauspielhaus, dass wir Hasenclever's 'Sohn' nach den Erfahrungen, die wir erst kürzlich wieder mit der Zensur gemacht haben, keinesfalls frei bekommen, also von unserer Absicht, das Stück zu bringen, leider absehen müssen [...]."

Mutiger verhält sich hingegen die Wiener Volksbühne, deren SoAn-Inszenierung im gleichen Monat großen Anklang findet. Von Stefan Zweig erhält der Autor noch im Januar einen wohlwollenden Brief, in dem es heißt: ich freu mich, Ihnen schreiben zu können, daß Ihr Stück einen vollen schönen Erfolg gehabt hat, der, soviel ich sehe, auch heute von der Presse voll gewürdigt wird. Die Aufführung war sehr anständig [...]. Der dritte Akt war darstellerisch der matteste ich finde ihn dichterisch auch den gewolltesten. [...] Im Theater gute Leute, Peter Altenberg und die junge Literatur, soweit sie nicht im Felde ist. [...] Ich glaube nicht, daß Ihr Stück ein Zugstück wird. Dafür ist unser lebendiger Kreis in Wien zu klein. Aber der Erfolg ist da - und Sie, wenn Sie einmal zu einer Vorlesung kommen, kein Fremder mehr. 100

Theatergeschichte schreibt hingegen am 18. Januar 1918 Richard Weicherts Inszenierung am Mannheimer Hoftheater, die, wie Weichen äußert, durch die Großzügigkeit des Mannheimer Zensors gegenüber dem Intendanten des Theaters, Carl Hagemann, ermöglicht wird.101 Der Mannheimer Theaterkritiker Ernst Stahl führt dies weiter aus, indem er feststellt, daß in seiner Heimatstadt während der Kriegsjahre die Gepflogenheit geherrscht habe, die Prüfung von der Zensur vorgelegten Stücken nicht der eigentlichen Behörde zu überlassen, sondern hierfür einen Vertrauensmann der Bürgerschaft - einem Mitglied der Theaterkommission - als alleine Verantwortlichen zu beauftragen.102 Gemeinsam mit dem Bühnenbildner Ludwig Sievert gelingt es Weichen, die von Hasenclever intendierte übernatürliche Atmosphäre des Dramas erstmals herauszuarbeiten. Durch ein effektvolles Spiel mit Licht und Schatten wird die Überwindung des naturalistischen Bühnendogmas vollkommen realisiert und die visionäre Kraft der Phantasie zum dominierenden Rezeptionsinstrument erhoben. Der bei der Premiere anwesende Dichter äußert noch Jahre später, daß sein gan98

Vgl. W.H. an Albert Ehrenstein; Dresden 14.6.1917. - O/I. Schauspielhaus Düsseldorf an KWV; Düsseldorf 30.1.1917. - K/D. 100 Zweig, Stefan an W.H.; Wien 26.1.1917. - O/Y. 101 ygi Weichert, Richard: Hasenclevers Sohn als expressionistisches Regieproblem. - In: Die Szene. Heft S/6, Sommer 1918, S. 65. 102 Vgl. Stahl, Ernst L.: Das Mannheimer Nationaltheater. Ein Jahrhundert Deutscher Theaterkultur im Reich. - Mannheim: J. Bensheimer 1929, S. 340f. 99

134

zes späteres Schaffen durch dieses ihn überwältigende Erlebnis eine neue Wendung erfahren habe. 103 Noch zwei Tage nach der Premiere sind seine Gefühle derart vom Gesehenen aufgewühlt, daß er seinem Verleger ein euphorisches Telegramm nach Leipzig schickt: erlebte freitag erste oeffentliche sohn-auffuehrung ausverkauftes brechend volles haus voellig neue unerhoerte kuehne regie richard weicherts mein staerkstes theatererlebnis Vorhang ende achtzehnmal publikum und presse ekstatisch sendet buecher mannheim [.] 104 Ebenso wie der Dichter empfinden auch andere der in Mannheim anwesenden Zuschauer die Inszenierung als Geburt einer neuen Ausdrucksform des Theaters, einer Form, nach der Bühnenautoren wie Hasenclever lange verlangt haben, ohne dieses Verlangen aber selbst in eine konkrete Gestalt umsetzen zu können. 1927 schildert der Autor in einem Aufsatz, auf welche Weise sich ihm in Mannheim diese 'Wiedergeburt' des Theaters dargeboten habe, die besonders auf sein anschließend entstandenes Drama Die Menschen wesentlichen Einfluß genommen hat: Ich erinnere mich noch genau dieses Abends. [...] Knapp vor Beginn der Vorstellung kam mein Zug an. Ich eilte ins Theater und hatte gerade noch Zeit, Hut und Mantel abzulegen, als der Vorhang aufging. [...] Gerüchte waren zu mir gedrungen, man habe in Mannheim eine szenische Lösung versucht, die an Kühnheit sämtliche bisherigen Darstellungen auf dem Theater in den Schatten stelle. Ein neuer Theaterstil sei gefunden. Damals herrschte an den Bühnen noch die gute alte Tradition. Außer Reinhardt, der aus seiner Antipathie gegen lebende Dramatiker nie einen Hehl machte und sie schädigte, wo er nur konnte, gab es kaum Regisseure in Deutschland. [...] Ich saß in der Loge des Mannheimer Hoftheaters und sah mit Herzklopfen auf die Bühne. Von Szene zu Szene steigerte sich mein Erstaunen, meine Bewunderung, meine Dankbarkeit. Ein Regisseur des Wortes, ein Nachschöpfer dichterischer Visionen, hatte auf den phantasielosen Brettern, die mir bis dahin die Welt bedeuteten, eine neue Wirkung erzielt. Verschwunden war die Armeleute-Dekoration trübsinniger Sonntagvormittage. Die Idee, der geistige Inhalt des Stückes, trat zutage. Was uns damals leidenschaftlich bewegte, war auf der Bühne Gestalt geworden. Unser Kampf und unsere Jugend rollten in atemloser Spannung vorüber. Ein modernes Pathos, ein neuer Wille beseelte die Schauspieler und teilte sich sämtlichen Hörern mit. Es war mir, als säße ich zum erstenmal im Theater. Zum erstenmal fühlte ich mich unmittelbar von der Bühne her bereichert. Hier waren Gedanken und Einfälle, die zur Verarbeitung drängten. Ich spürte: es gab ein absolutes Theater, für das es sich lohnte, Partituren zu schreiben. Die restlose Übertragung des Wortes auf die Bühne war kein leerer Wahn ... 10S Außer einer Münchner Inszenierung, die im Juni 1918 einen Skandal auslöst (vgl. Kap. IX, 2.a), findet während der Wilhelminischen Ära lediglich noch eine erwähnenswerte Aufführung des Sohn in Deutschland statt. Es sind die Berliner 103 104 105

Vgl. Pinthus, Kurt: L&W. - In: GDP. S. 20. W.H. an Kurt Wolff; Mannheim 20.1.1918, Telegramm. - O/Y. W.H.: Mein Weg zur Komödie. - Erstveröffentlichung im Programmheft der Uraufführung des W.H.-Dramas 'Ein besserer Herr'. Frankfurter Schauspielhaus, 18.1.1927.

135

Reinhardt-Bühnen, die sich endlich ebenfalls dazu entschließen, den Sohn im März 1918 in einer einmaligen, nicht-öffentlichen Vorstellung auf der Versuchsbühne des Deutschen Theaters zu spielen. Unter dem Motto 'Das Junge Deutschland' dient diese Bühne während dreier Spielzeiten - von 1917 bis 1920 der Absicht, gerade jungen, avantgardistischen Autoren den Weg zum Publikum zu ebnen. Der Sohn wird als drittes von insgesamt zwölf Dramen nach Sorges Bettler und Goerings Seeschlacht gegeben. Trotz einer hochkarätigen Besetzung mit Paul Wegener als Vater und Ernst Deutsch als Sohn - führt Reinhardt nicht selbst Regie, sondern überläßt diese Felix Holländer, der schon der Dresdner So/wi-Inszenierung als Zuschauer beigewohnt hat. Diese Wahl erweist sich für die Aufführung als verhängnisvoll, da das Publikum und die noch unter dem Eindruck der in Mannheim gesetzten Maßstäbe stehende Kritik Holländers naturalistische Interpretation nicht mehr tolerieren können. Siegfried Jacobsohn notiert denn auch in seiner Rezension: Das anspruchsvolle Deutsche Theater speist eine geschlossene Gesellschaft, die zwar dichte Rudel von Kriegslieferanten, aber zugleich alle Kenner Berlins umfaßt, mit dem hergebrachten naturalistischen Schauspiel ab. Genauso wurden vor 25 Jahren die 'Mütter' dieses 'Sohnes' gespielt, als ob er nicht einen Vater aus ganz anderen Bezirken hätte.106 Auch der Dichter zeigt sich über diese Inszenierung entrüstet und schildert Kurt Wolff, wie er sein Drama fortan auf der Bühne interpretiert sehen möchte: Ich fuhr zwar nach Berlin, weil ich das Stück nicht verraten und verkaufen wollte, betrat aber als Protest gegen die schlechte und unfähige Regie, die aus dem Drama einen kleine Familientragödie mit willkürlichem Ausgang machte und die Schauspieler einfach laufen ließ, wie sie liefen, die Bühne des Deutschen Theaters nicht, obwohl das Publikum ziemlich brüllte. Das hat aber den Theaterleuten jedenfalls imponiert, und am nächsten Tag hatte ich mit Reinhardt eine anderthalbstündige Unterhaltung in seinen Privatgemächem, in der ich ihm ohne Arroganz, jedoch mit Feuer allerhand gesagt habe, was ihm sonst Autoren nicht zu sagen pflegen. [...] Deutsch bat mich, Sie noch einmal ans Leipziger Schauspielhaus zu erinnern, wo er doch gern den Sohn spielen möchte; da, wie man mir schreibt, große Hoffnung besteht, daß er in Berlin frei kommt, so könnte man es vielleicht, mit dem Hinweis auf Mannheim, in Leipzig versuchen ... Hoffentlich aber nicht mit einer realistischen Regie psychologischer Mimik (Sohn A. gegen Vater B.) sondern als Geburt und Kampf des Menschen gegen die Welt!107 Erst nach der Aufhebung aller Zensurbeschränkungen am 9. November 1918 kann Der Sohn ungehindert seinen Triumphzug auf den Bühnen des von der Revolution erfaßten Deutschen Reiches antreten. Gleichzeitig entwickelt sich dieses Drama, das als theatralischer Ausdruck dessen interpretiert wird, was die im Herbst 1918 entfesselte junge Generation empfindet, im Buchdruck zu einem

106 107

Jacobsohn, Siegfried: Der Sohn. - In: Das Jahr der Bühne. 7. Bd., Berlin 1917/18, S. 154. W.H. an Kurt Wolff; Oberbärendorf 1.4.1918. - O/Y.

136

Bestseller und erreicht bis Ende 1919 eine Gesamtauflage von insgesamt 20.000 Exemplaren. Der große Bühnenerfolg der Dichtung ist aber sicherlich auch durch die Vorbild bleibende, avantgardistische Art der Mannheimer Inszenierung Richard Weicherts begründet. Ein Artikel Gerd F. Frickes vom April 1918 analysiert den plötzlichen Erfolg des Dramas in diesem Sinne, schränkt dabei jedoch das tatsächliche Echo früherer Aufführungen zu sehr ein: Die Ursache des geringen, flüchtigen Erfolges des Sohn-Dramas scheint mir darin zu liegen, daß die Regie nirgends versuchte, neue Wege zu gehen. Ich glaube an die Möglichkeiten für eine 'expressionistische' Regiekunst, die durch Spiel, Licht und Maske versucht, dem Zuschauer die Einstellung auf eine Gestalt, einen Mikrokosmos zu geben und so zu bauen am 'expressionistischen' Theater! 108

108

Fricke, Gerd F.: Expressionistisches Theater. - In: Die Szene. Heft 4, April 1918, S. 45f.

137

vm

1914 - Herbst 1917

1

Frühjahr 1914 und erste Kriegsmonate

Die politischen Spannungen, denen Europa in den Monaten vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges ausgesetzt ist, können den jungen Dichter nicht von einer längeren Italienreise abhalten, die er im Frühjahr des Jahres gemeinsam mit seiner Freundin Ottilie Bennewitz unternimmt. In den - noch erhaltenen - Briefen, die Hasenclever während dieser Wochen verfaßt, thematisiert er die zum Krieg führenden Vorgänge nicht. Die Korrespondenz, die er während jener bewegten Vorkriegswochen z.B. mit Kurt Wolff führt, befaßt sich überwiegend mit geschäftlichen Themen oder behandelt alltägliche, private Ereignisse. Am 1. Juli 1914, nur drei Tage nach der Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand in Sarajewo, schickt Hasenclever drei ausführliche Briefe an seinen Verlegerfreund Wolff, in denen er nicht mit einer Silbe auf dieses Attentat eingeht, das Europa erschüttert. Vielmehr dreht sich sein ganzes Denken um den Vertrieb seines Dramas Der Sohn sowie um seine damit verbundenen finanziellen Erwartungen. 1 Die Naivität, mit der er die dramatischen Entwicklungen der Weltpolitik während der letzten Friedensmonate ignoriert, wird besonders in jenen Briefen deutlich, die er während seiner Italienreise verfaßt. Die sich in Europas Machtzentren ausbreitende Konfliktbereitschaft verkennt er an dieser Stelle als bloßes Schattenboxen und hält sie keines ausführlichen Kommentars für würdig. Obwohl die europäische Tagespolitik den Frieden immer mehr gefährdet, vermag sie seine Aufmerksamkeit nicht wirklich auf sich zu ziehen. Dementsprechend oberflächlich und ironisch kommentiert er sie: Ich wünsche Ihnen weiße und rote Ostereier [...], dem Blei jedoch die Schwindsucht. Ich bin ganz beruhigt wieder, was mir nach einigen Morphiumspritzen gelang. Bülow - alle Achtung! Aber Gournay ist blöd. An welche Riviera ist Schwabach gefahren? [...] Nun zum Ernste der Sache: ich bin ab nächste Woche Venezia: ferma die posta, als (Korrespondent Ullsteins für die dortige Kunstausstellung.2 Sein Interesse konzentriert sich auch dort ausschließlich auf seinen persönlichen Erfahrungsraum, und dementsprechend unbeschwert beschäftigt er sich mit der größtmöglichen Steigerung seines Lebensgenusses:

1 2

Vgl. W.H. an Kurt Wolff; Heimburg 1.7.1914 [3 Briefe]. - O/Y. W.H. an Schwab; Malcesine 12.4.14. - O/Y.

Da es gut bezahlt wird, verjuble ich viel (in der Nacht vor allem). Gestern gabs eine grandiose Schlägerei. Ich bin allein hier und geniesse alles im Furor des südlichen Temperaments. Bedenken Sie, es gibt noch ungeheure Dinge zu sehn: zum Beispiel Ägypten!!!3 Über die Schweiz, wo er seine Großmutter bei Verwandten in Vevey besucht, reist er Anfang Mai nach Leipzig zurück. Dort bleibt er jedoch nur einen knappen Monat, da es ihn für einen längeren Arbeitsaufenthalt in das Harzstädtchen Heimburg bei Blankenburg zieht, wo er in der letzten Juniwoche Besuch von Kurt Hiller erhält. Hier verfaßt Hasenclever zunächst Gedichte, die er 1917 in dem Lyrikband Tod und Auferstehung veröffentlicht, und schreibt außerdem eine Anzahl von Feuilletons für regionale und überregionale Tageszeitungen. Querelen mit der Familie stören seine konzentrierte Arbeit schließlich, und Mitte Juni informiert er Kurt Wolff über neue Konfrontationen mit seinem Vater: Es drängt mich, Ihnen mal einen Einblick in väterliche Gemeinheiten zu gewähren. Bitte lesen Sie beifolgenden Brief meines Alten zuerst und dann meine Antwort. [...] Sie sollten doch mal sehn, was es fiir Hunde auf der Welt gibt! Aber dieser Fall ist, bewahre, nicht vereinzelt! Das Konsequente in meinem Drama, Thema Feindschaft, verstärkt sich.4 Nur wenige Tage später wird er durch ein Schreiben Stefan Zweigs von seinen privaten Auseinandersetzungen abgelenkt. Zweig bittet seinen jungen Kollegen, für eine von ihm geplante Gesamtausgabe der Werke Paul Verlaines einige Gedichte des Franzosen ins Deutsche zu übertragen. Ebenso wie auch andere von Zweig angesprochene Schriftsteller erklärt sich der Autor gern hierzu bereit und übersetzt in den folgenden Wochen eine unbekannte Anzahl Gedichte, von denen acht5 in der von Zweig erst 1922 herausgegebenen Publikation erscheinen. 6 Diese Übertragungen stellen für Hasenclever keine besonders schwierige Herausforderung dar, da er schon früher ähnliche Übertragungen z.B. für den Kurt Wolff-Verlag vorgenommen hat. Es ist jedoch nicht in jedem Fall überliefert, ob diese auch veröffentlicht wurden. 1913 arbeitet er beispielsweise für einige Zeit an einer Übersetzung von Schriften des französischen Erzählers Pierre Loti, deren Publikation jedoch nicht erfolgt und deren Verbleib ungeklärt ist. 7 Noch vor Beendigung seiner Übersetzungsarbeit für Stefan Zweig konkretisiert Hasenclever - ungeachtet der europäischen Kriegsvorbereitungen - zukünftige Reisepläne. Ein längerer Aufenthalt an der belgischen Nordseeküste wird dabei in Erinnerung an die Entstehung des ioAn-Dramas in einem Brief besonders hervorgehoben: 3 4 5

6

7

W.H. an Kurt Wolff; Venedig 18.4.1914. - O/Y. W.H. an Kurt Wolff; Heimburg 15.6.1914. - O/Y. Diese sind: 'Birds in the night', 'Kaleidoskop', 'Die Last zu leben', 'Credo', 'Himmelfahrt', 'Veni Sancte', 'Ländliche Vesper' und 'Frühlingsgefühl'. Verlaine, Paul: Gesammelte Werke. - Hrsg. v. Zweig, Stefan; 2 Bd., Leipzig: Insel-Verlag 1922. Vgl. W.H. an Kurt Wolff; Leipzig 23.4.1913. - O/Y.

139

Zweig schickt mir Mengen Verlaine; diesen Monat mach' ich es noch, denn es ist wirklich sehr schön und Zweig scheint begeistert. Im Herbst, am Meer, aber fange ich was Neues an; ich hoffe, eine lange Zeit dort in der Villa meines Onkels in Knocke zu sein, und hoffentlich kommen Sie auch mal seereisend hin. 8 Eine Woche vor Kriegsausbruch, als die ersten Mobilmachungen schon die europäischen Kasernen und Exerzierplätze füllen, glaubt der Dichter immer noch nicht daran, daß die aktuellen weltpolitischen Vorgänge Einfluß auf den Verlauf seines Privatlebens haben könnten, und lädt daher Wolff zu einer gemeinsamen Reise ins Ausland ein: Ich bin Anfang August in Leipzig und fest entschlossen, im Winter nach Bonn zu Litzmann zu gehn: dieser gab mir Rat und Aufforderung, es zu tun. Ich will die Doktorarbeit ausnutzen, eh sie im Wesenlosen verfällt. [...] Mitte Aug. nehme ich mir ein 5 Tage Billet 2. Klasse nach Belgien (das gleiche müssen Sie auch tun: fabelhaft billig, 20 Frs.) und wir fahren in Belgien herum [...]. Ich will dann Ende Aug., Anf. Sept. zu meinen Verwandten nach Knocke, dort Plan eines neuen Dramas [...]. Ich beginne mich zu 'debrouiller' und sehe schon einen fabelhaften Schauplatz.9 Wegen des Kriegsbeginns kann diese vergnügliche Landpartie ebensowenig wie seine übrigen Pläne realisiert werden. Kurt Wolff wird am vierten Kriegstag im Rang eines Leutnants zum Dienst an der Front eingezogen und ernennt für die Zeit seiner Mobilisierung (bis September 1916) Georg Heinrich Meyer zum verantwortlichen Verlagsleiter. Ungeachtet des drohenden Krieges wird im Juli die alljährliche Leipziger Buchmesse eröffnet, bei der auch der Kurt Wolff-Verlag präsent ist. Hasenclever lernt hier am letzten Vorkriegstag die Repräsentantin des dänischen DiederichsVerlags kennen, mit der er wegen einer gerade erscheinenden Publikation des französischen Philosophen Henri Bergson ins Gespräch kommt. Ihr Name ist Gerda von Mendelssohn. Sie ist die Witwe des Schriftstellers Erich von Mendelssohn und wird 1920 Reinhold Schairer heiraten, den späteren Leiter der Wirtschaftshilfe der deutschen Studenten - weswegen sie der Einfachheit halber im weiteren Verlauf nur mit dem Nachnamen ihres zweiten Mannes benannt wird. Mit Hasenclever verbindet sie eine herzliche Freundschaft, über die sie in ihren unveröffentlichten Erinnerungen an Walter Hasenclever berichtet. Dort beschreibt sie die spontane Reaktion ihres Freundes auf den Kriegsausbruch: Über den Platz kam ein junger Mann ohne Hut auf mich zu. Ich erkannte ihn sofort wieder. Es war der Schriftsteller, mit dem ich mich lange in der Eugen Diederichs Abteilung am Tage vorher unterhalten hatte. Je näher er kam, desto schneller ging er, er rannte beinahe und gestikulierte eifrig mit den Armen in der Luft. Ein frohes Lächeln spielte um seinen Mund und seine kleinen braunen Augen. 'Ist es nicht herrlich? Der Krieg ist da!! Endlich dürfen wir kämpfen.' rief er, noch ehe er mich erreicht hatte. Als er vor mir stand, bemerkte ich nervöse Zuckungen in seinem Ge8 9

W.H. an Kurt Wolff; Heimburg 13.7.1914. - O/Y. W.H. an Kurt Wolff; Heimburg 20.7.1914. - O/Y.

140

sieht. [...] 'Die verfluchten Russen haben uns angegriffen. Es haben schon Kämpfe an der Grenze stattgefunden. [...] Ich werde mich sofort freiwillig melden.' [...] Wir streiften durch die Strassen von Leipzig und erlebten die erhitzte, fast hysterische Stimmung dieser ersten Kriegstage. Er Hess sich mehr und mehr mitreissen.10 Ungeachtet der Weitläufigkeit, die man beim Autor auch eingedenk seiner zahlreichen Auslandsaufenthalte eigentlich vermuten möchte, weist seine - zumindest kurzzeitige - Kriegseuphorie ausgeprägt nationalistische Züge auf. Über dieses Gefühl hinaus teilt er aber auch die Hoffnungen eines Großteils seiner Generation, der den beginnenden Krieg als die lang ersehnte Gelegenheit für eine völlige gesellschaftliche Umgestaltung interpretiert. Plötzlich scheint die Realisierung des Traumes einer grundlegenden Reform überalterter sozialer, aber auch künstlerischer Strukturen durch die Anwendung absoluter Gewalt in greifbare Nähe gerückt. Nietzsches Forderung nach 'natürlichem Leben', das den Bruch mit der als dekadent erkannten Gesellschaft voraussetzt und die Zerstörung der in sich erstarrten Kultur, Religion und Moral miteinschließt, soll nun eingelöst werden. Seine Vision der Errichtung eines imaginären 'Neuen Reiches' als Paradies neuer Menschen in einer neuen Zeit scheint realisierbar - und lockt die kritische Intelligenz als Freiwillige in die Rekrutierungsbüros. Walter Hasenclevers nationalistische Kampfbereitschaft nimmt jedoch schnell wieder ab. Dies wird auch durch den Umstand deutlich, daß er schließlich doch nicht zu jenen Freiwilligen der ersten Kriegstage zählt und stattdessen seine reguläre Mobilisierung abwartet. Da seine Musterung im August 1913 für ein Jahr zurückgestellt worden ist, 11 gehört er auch nicht zu den ersten Jahrgängen, die am Tag nach der Kriegserklärung des Deutschen Reiches an Rußland - dem 1. August 1914 - einberufen werden. Seine Korrespondenz belegt zudem, wie rapide seine Kriegsbegeisterung im Spätsommer 1914 nachläßt. Jedoch weiß er den blutigen Ereignissen nun einen gewissen Unterhaltungswert abzugewinnen, so daß er im Frühherbst unternehmungslustig den Verleger Schwabach zu sich nach Aachen einlädt: hätten Sie nicht auch Lust, dem Kriege näher zu kommen? Es ginge doch sehr einfach, wenn Sie sich entschließen könnten, mit Ihrem Auto, vollgepackt mit Liebesgaben, hier nach Aachen zu kommen, und dann könnten wir leicht an die Front! Es fahren hunderte von solchen Automobilen jeden Tag ab [...] wir fahren los bis an die kämpfenden Reihen, soweit wir kommen. Freilich kann es uns schlecht gehen, aber ich bin seit Belgien trainiert (wo Granaten dicht über unserem Zug explodierten) und furchte den Teufel nicht mehr.12

10

11 12

Schairer, Gerda: Der Dichter Walter Hasenclever. Erinnerungen aus seinem Leben. - Unveröffentlichtes Manuskript, 137 S., [Mit inhaltlichen Mängeln wie z.B. biographischen Ungenauigkeiten und einer größeren Anzahl nachweislich falscher Fakten. Die aus diesem Manuskript zitierten Angaben wurden auf ihren biographischen Wert soweit als möglich verifiziert. Bei ersichtlichen Unstimmigkeiten wurden sie nicht berücksichtigt.] O/M, S. 4f. Vgl. W.H. an Kurt Wolff; Leipzig 13.8.1913. - O/Y. W.H. an Erik-Emst Schwabach; Aachen 1.10.1914. - O/B.

141

Die geplante Exkursion soll auch einem Besuch bei Kurt Wolff dienen, der für seinen Einsatz an der Westfront bereits für das Eiserne Kreuz vorgeschlagen ist, was Hasenclever »famos« findet. 13 Schon mehrmals zuvor hat der Dichter Reisen in das besetzte Belgien unternommen; einmal für 10 Tage gemeinsam mit dem Schriftsteller Heinrich Eduard Jacob, um dort für verschiedene Zeitungen »Kriegsfahrtenberichte«14 zu verfassen, deren tatsächliche Veröffentlichung jedoch nicht nachgewiesen ist. Auf jener gemeinsam mit Jacob unternommenen Fahrt besucht er auch die von den deutschen Truppen am 25./26. August zerstörte Stadt Löwen. Die durch den Eindruck der Ruinenlandschaft - die noch kurz zuvor mit der weltberühmten Universitätsbibliothek einen unermeßlichen Kulturschatz besaß - hervorgerufene innere Erschütterung verarbeitet er 1916 an der Mazedonischen Front in dem Gedicht Gottes Hand in Löwen,15 das er 1917 in der etwa Anfang November 1916 in Dresden vollendeten16 Lyriksammlung Tod und Auferstehung veröffentlicht. Die Erlebnisse und Beobachtungen als Kriegskorrespondent verändern seine Einstellung zum Krieg und der ihn glorifizierenden Kriegsliteratur grundlegend. Mit Vehemenz spricht er sich ab Ende 1914 in seiner Korrespondenz gegen jene Lyrik und Prosa aus, die ihre Aufgabe in der Verklärung von Bomben und Maschinengewehren sieht. Seine Kritik richtet sich aber auch immer stärker gegen jene Literaten, deren Werke sich der Verherrlichung der modernen Technik verschreiben und glauben, auf das modernistische Begriffsrepertoire von »Dampfmaschine« und »Beton« nicht verzichten zu können. Von Autoren wie Richard Dehmel - der im Januar 1915 vom Kaiser mit einem hohen Orden ausgezeichnet wird - und Carl Hauptmann, die ihren »Kriegskitsch« in Blättern wie Die Aktion oder Die neue Rundschau publizieren, fühlt er sich immer mehr abgestoßen. Ihnen wirft er »die krampfhafte Pathetisierung des Krieges und allein des Krieges in dichterischer Form« vor und resümiert: Vielleicht sind wir doch eine bessere Generation.17 Gegenüber Erik-Ernst Schwabach definiert er seine persönlichen Vorstellungen über die zukünftige Aufgabe der Dichtkunst und empfiehlt dem Verleger dringend Kurt Hiller als zukünftigen Mitarbeiter der Weissen Blätter. Ich glaube, daß eine strenge Zeit des Zerfalls und der Auferstehung für den Poeten gekommen ist, den Tod zu begreifen, die Wüsten und die Engel im Paradiese mit dem Schwert - Ich glaube, vor allem auch sozialpolitisch, ohne Hurra immer noch republikanisch im Grunde, müßte ein Beitrag zur Geschichte geschrieben werden. Ich habe darüber mit Dr. Hiller in Berlin korrespondiert: die Synthese aus Rationalismus und Nationalismus zu finden, die (ende dieser Krieg, wie er wolle): Grund13 14 15 16 17

Ebd. W.H. an Ren