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German Pages 648 Year 2017
Sebastian Kohlmann Frank-Walter Steinmeier
Edition Politik | Band 46
Sebastian Kohlmann, geb. 1982, ist Referent bei der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn. Zuvor war er mehrere Jahre als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung tätig. Er hat unter anderem zu Franz Müntefering, Gerhard Schröder und Richard von Weizsäcker publiziert.
Sebastian Kohlmann
Frank-Walter Steinmeier Eine politische Biographie
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Inhalt
I. E inleitung 1. Warum eine Steinmeier-Biographie? Einleitung und Fragestellung | 11
II. F rühe J ahre 2. Kindheit und Jugend | 27 2.1 Brakelsiek | 27 2.2 Generation 74 | 33 2.3 (Sozialdemokratische) Politisierung | 42 3. Lehrjahre in der Wissenschaft | 51 3.1 Der Student | 51 3.2 Der Wissenschaftler | 67 3.3 Bürger ohne Obdach | 79
4. Zwischenfazit Behütete Kindheit und wissenschaftlicher Querdenker | 89
III. P olitik im H intergrund 5. Aufstieg zum zweiten Mann | 97 5.1 Anfänge in Niedersachsen | 97 5.2 Politischer Kopf | 108 5.3 Staatskanzleichef | 119
6. Im Kanzleramt | 131 6.1 Kanzleramtschef | 131 6.2 Konsenspolitik | 166 6.3 Außenpolitische Lehrjahre | 191
7. Metamorphose | 217 7.1 Gestaltungsanspruch im Kanzleramt | 217 7.2 Agenda 2010 | 231 7.3 Schröders Abstieg, Steinmeiers Aufstieg | 282
8. Zwischenfazit Aus dem Schatten | 309
IV. P olitik im V ordergrund 9. Metamorphose II | 317 9.1 Außenminister | 317 9.2 Ochsentour rückwärts | 395 9.3 Kanzlerkandidatur | 431
10. Der Politiker | 479 10.1 Fraktionschef | 479 10.2 Über den richtigen Kurs | 493 10.3 Troika | 527 11. Zwischenfazit Erneut angekommen | 547
V. A usblick und F azit 12. Zurück im Auswärtigen Amt | 555 13. Einflussreicher Sozialdemokrat, inhaltsreicher Politiker? | 573
VI. L iteratur - und Q uellenverzeichnis Quellen | 587 Literatur | 633 Dank | 647
I. Einleitung
1. Warum eine Steinmeier-Biographie?
Einleitung und Fragestellung
Es war der Wendepunkt einer Karriere, die bisher im Hintergrund verlaufen war. 14 Jahre hatte Frank-Walter Steinmeier als enger Mitarbeiter an der Seite von Gerhard Schröder gearbeitet, zunächst in Niedersachsen, dann im Bund. Nach dem politischen Ende seines Ziehvaters trat er 2005 selbst in den Vordergrund: erst als Außenminister, dann als Kanzlerkandidat, danach als Oppositionsführer und noch einmal als Außenminister – und schließlich, nach Abschluss der Arbeiten an dieser Biographie, als 12. Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland. Zwischen diesen beiden Polen, der Politik im Hintergrund und der Politik im Vordergrund, ist Steinmeier nunmehr seit über 25 Jahren politisch aktiv – einen Großteil davon in der Exekutive und, mit Ausnahme der ersten zwei Jahre, im strategischen Zentrum seiner Partei.1 Mit seinem Wirken in den unterschiedlichen Positionen ist er damit, so die These dieses Buches, einer der einflussreichsten Sozialdemokraten der letzten zwei Jahrzehnte. Die vorliegende Biographie will den Werdegang dieses Politikers nachzeichnen und seinen Einfluss auf die Exekutive und damit auf die Gestaltung des Landes auf der einen Seite und auf der anderen Seite seinen Einfluss auf die deutsche Sozialdemokratie untersuchen. Wie konnte Steinmeier überhaupt so weit aufsteigen? Welche (bleibende) Wirkung hat Steinmeier in seinen jeweiligen Ämtern erzielt? Und: Wie groß ist Steinmeiers Rolle bei der Neupositionierung der SPD in den vergangenen zwei Jahrzehnten? Frank-Walter Steinmeier ist bei Beginn und Abschluss dieser Biographie noch im Amt, insofern gilt umso mehr: Es kann sich nur um eine Momentaufnahme handeln. Doch zeigt eben die Erfahrung, »daß sich in unserer unter dem Gesetz der Beschleunigung stehenden Epoche schon in zehn Jahren soviel verändert, daß sich aus dem entsprechenden Abstand das Profil und die
1 | Zur Bedeutung des strategischen Zentrums vgl. Raschke, Joachim; Tils, Ralf: Politische Strategie. Eine Grundlegung, Wiesbaden 20132.
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I. Einleitung
Leistung eines Staatsmanns deutlicher erkennen lassen.«2 Steinmeiers politischer Werdegang begann vor 25 Jahren, Steinmeiers Arbeit im Bund vor 18 Jahren, seine erste Amtszeit in der Politik im Vordergrund liegt bereits über zehn Jahre zurück – für einen wissenschaftlichen »Zwischenbericht« dürfte es also genügen.3 Dass es dabei nun gerade in Bezug auf die »Spitzenchargen« der Politik »naturgemäß« und auch zu Recht ein beachtliches Interesse gibt,4 ist nur richtig – und so ist eine wissenschaftliche Biographie beispielsweise über Gerhard Schröder, aber auch über Angela Merkel längst veröffentlicht.5 Dass es jedoch bisher über den einflussreichen Hintergrundmann der rot-grünen Jahre und wichtigen Politiker unter Bundeskanzlerin Merkel und schließlich der Oppositionsjahre der SPD keine vollumfängliche wissenschaftliche Untersuchung über seine Karriere, seinen Einfluss und seine Arbeit gibt, stellt allein ein Forschungsinteresse dar. Dass Steinmeier seit seiner Inthronisierung zum Außenminister 2005 in den Beliebtheitsskalen der Umfrageinstitute ein Abonnement auf einen der vorderen drei Plätze zu haben scheint, unterstreicht dies nur. Denn wenn es richtig ist, dass »[i]m deutschen Parteiensystem der Gegenwart […] ein besonderer Typus der politischen Elite« dominiere, nämlich »der Büroleiter«,6 und eben dieser vom Bürger so wohlwollend eingeschätzt wird, dann ist es nur konsequent, Steinmeier auch als Beispiel für diesen Typus zu biographieren, der wahlweise als visionslos und ideologiefrei,7 oder, wie es Medienvertreter taten, als »Mann ohne Geschichte«8 (Zeit) beschrieben wird, dem »jede politische Leidenschaft«9 (Spiegel) fehle. Ob diese Beschrei-
2 | Schwarz, Hans-Peter: Helmut Kohl – eine politische Biographie, München 2012, S. 941. 3 | Ebd., S. 940. 4 | Ebd., S. 291. 5 | Vgl. z.B. Schöllgen, Gregor: Gerhard Schröder. Die Biographie, München 2015; vgl. außerdem Langguth, Gerd: Machtmenschen. Kohl. Schröder. Merkel, München 2009; vgl. auch Langguth, Gerd: Angela Merkel. Biographie, München 2010 6. 6 | Walter, Franz: Charismatiker und Effizienzen. Porträts aus 60 Jahren Bundesrepublik, Frankfurt a.M., 2009, S. 14. 7 | Vgl. ebd. 8 | Dausend, Peter: Mann ohne Geschichte; in: Zeit, 19.06.2008, S. 3. 9 | Der Vorwurf treffe Steinmeier, hält der Spiegel fest. Es sei, so das Nachrichtenmagazin, ein Vorwurf, der »quasi stellvertretend für die ganze regierende Generation« an ihn gerichtet werde; Leinemann, Jürgen: »Ich bin nicht der Stellvertreter«; in: Spiegel, 19.04.2003, S. 46-48; hier: S. 46; vgl. auch Lorenz, Robert; Micus, Matthias: Von Beruf: Politiker, Freiburg i.Br., 2013, S. 30.
1. Warum eine Steinmeier-Biographie?
bungen zutreffen, bleibt abzuwarten. Jedenfalls: All das macht Steinmeier »biographiewürdig«.10 Spätestens seit den 1980er Jahren hat die Biographie als Forschungsdisziplin wieder an Akzeptanz gewonnen, auch die Strukturalisten, denen die Personen anders als die »Strukturen, Prozesse und gesellschaftliche[n] Entwicklungsimperative« lange Zeit »fast nichts« waren,11 haben ihr Dogma weitestgehend aufgegeben. Die »leidenschaftliche[n] Debatten in den Sozial- und Geisteswissenschaften« sind geführt.12 Deshalb müssen sie an dieser Stelle auch nicht noch einmal wiedergegeben werden. Wichtiger ist, wie dieser Widerspruch zwischen Strukturalisten und Intentionalisten aufgelöst worden ist. Denn statt dem »›Great Man‹ ein Forum zu bieten«, wird nunmehr tunlichst und zu Recht darauf geachtet, »das Individuum in soziale, kulturelle und politische Kontexte einzubetten«,13 eben: zu kontextualisieren. Und so erlebt die Biographie, dieser einstige »blind[e] Fleck«,14 denn auch, in Zeiten, in denen das Interesse an Personen immer mehr zunimmt,15 eine neue Blütephase. Ob über Klemens von Metternich,16 Helmut Kohl17 oder Karl Schiller;18 ob Abhandlungen, in denen die Geschichte der Bundesrepublik in Politiker-Porträts erzählt wird19 – zahlreiche wissenschaftliche Werke sind in jüngster Zeit erschienen, die anhand von Biographien Zeitgeschichte darstellen. Schließlich bestimmen Personen das politische Handeln.20 Sie sind dabei zwar nur ein Teil
10 | Vgl. Schweiger, Hannes: »Biographiewürdigkeit«; in: Klein, Christian (Hg.): Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien, Stuttgart 2009, S. 32-36. 11 | Lütjen, Torben: Karl Schiller (1911-1994). ›Superminister‹ Willy Brandts, Bonn 2007, S. 8. 12 | Richter, Saskia: Die Aktivistin. Das Leben der Petra Kelly, München 2010, S. 20. 13 | Ebd., S. 21. 14 | Zitiert nach Gallus, Alexander: Politikwissenschaft (und Zeitgeschichte); in: Klein, C (Hg.): Handbuch Biographie, 2009, S. 382-387; hier: S. 382. 15 | Vgl. Niclauß, Karlheinz: Kanzlerdemokratie, Paderborn 2004, S. 359. 16 | Vgl. Siemann, Wolfram: Metternich. Stratege und Visionär. Eine Biographie, München 2016. 17 | Vgl. Schwarz, H.-P.: Helmut Kohl, 2012. 18 | Vgl. Lütjen, T.: Karl Schiller, 2007. 19 | Vgl. Walter, F.: Charismatiker und Effizienzen, 2009; Ähnlich interessant ist die folgende Monographie, die sich mit den Politikern des 20. Jahrhunderts beschäftigt und hier chronologisch auf die Suche nach dem »Gesicht des 20. Jahrhunderts« geht: Schwarz, Hans-Peter: Das Gesicht des 20. Jahrhunderts. Monster, Retter, Mediokritäten, München 2010. 20 | Vgl. Schwarz, H.-P.: Helmut Kohl, 2012, S. 291.
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I. Einleitung
im politischen System, aber ein wesentlicher.21 Neben den Ereignissen selbst »prägen sie das Regierungshandeln«.22 Auch ein anderer als Steinmeier hätte so womöglich die Agenda 2010 entwickelt, weil einfach die Strukturen es verlangten, doch wie sie entwickelt worden ist, oblag Steinmeier. Biographien werden so mittlerweile als »Teil einer lebendigen kulturellen Praxis«23 angesehen – und damit auch als eine »Personalisierung von Zeitgeschichte«.24 So soll auch im vorliegenden Buch das Wirken und die persönliche Entwicklung des Politikers Frank-Walter Steinmeier analysiert und die Person dabei immer in den Kontext der sozialen, kulturellen und der politischen Geschichte eingebettet werden. Es ist die Geschichte eines Protagonisten der »Post-68erGeneration«25 und der Rückkehr der Sozialdemokraten in die Regierung, zuerst in den 1970er Jahren und schließlich in Niedersachsen und im Bund seit Anfang der 1990er Jahre. Es ist die Geschichte des erodierenden Sozialstaates seit den 1970er Jahren mit dem Ende des Wirtschaftswunders und der Vollbeschäftigung. Auch ist es die Geschichte des »rot-grünen Projekts«26 und der Erzählung von den größten Sozialreformen in der Bundesrepublik. Es ist aber auch die Geschichte eines großen Abstiegs einer der beiden Volksparteien und einer Regenerierung in der Opposition. Und schließlich: die einer globalisierten Welt mit neuen Herausforderungen in der Innen- und Außenpolitik. Die Fülle der Themen zeigt ein Problem bereits auf. Bei aller Kontextualisierung soll eben auch nicht überkontextualisiert werden. Hans-Peter Schwarz schreibt in Bezug auf seine biographierten Politiker Konrad Adenauer und Helmut Kohl, dass man sich »über die Doppelbödigkeit oder noch besser die Vieldeutigkeit der politischen Manöver dieser hohen Akteure im klaren« sei, 21 | Hans Peter Schwarz schreibt etwa, dass »Personen und Ereignisse das Regierungshandeln prägen. Aber neben anderen Einflussgrößen wie etwa den Rollenzwängen einer Koalition, unterliegt das Zentrum der Regierung nicht zuletzt der Spannungslage von Person und System […]«; Schwarz, Hans-Peter: Adenauer. Der Aufstieg: 1876-1952, Stuttgart 1986, S. 960. 22 | König, Klaus: Das Zentrum der Regierung; in: Bröchler, Stephan; Blumenthal, Julia von (Hg.): Regierungskanzleien im politischen Prozess, Wiesbaden 2011, S. 49-68; hier: S. 49. 23 | Werner, Lukas: Deutschsprachige Biographik; in: Klein, C (Hg.): Handbuch Biographie, 2009, S. 265-277; hier: S. 265. 24 | Erll, Astrid: Biographie und Gedächtnis; in: Klein, C (Hg.): Handbuch Biographie, 2009, S. 79-86, S. 84f. 25 | Bude, Heinz im Gespräch mit der Zeit; in: Dürr, Tobias: »Von Machern und Halbstarken«; in: Zeit, 20.05.1999; Onlineversion des Printartikels abrufbar unter: www.zeit. de/1999/21/199921.interview.bude_.xml (zuletzt eingesehen am 09.08.2016). 26 | Zur Geschichte und Rezeption dieses Begriffs vgl. Wolfrum, Edgar: Rot-Grün an der Macht, München 2013, S. 13.
1. Warum eine Steinmeier-Biographie?
»und man […] ständig mit der Versuchung« ringe, »alle die feinen und unfeinen Schachzüge des Gewerbes allzu detailliert zu schildern mit der Folge, daß die Biographie nie fertig wird oder zu einem elefantösen Achtbänder degeneriert«.27 Das möchte auch diese Biographie nicht. Sie will, vergleichbar mit einer Dokumentation oder einer Prosa, dort, wo es nötig ist, die Nahaufnahme anwenden, dort, wo es nicht nötig erscheint, die Totale benutzen oder eben die Erzählzeit und die erzählte Zeit je nach Sachverhalt variieren. Am Ende soll eine politische Biographie entstehen, die zudem das Private nur da, wo unbedingt nötig, mit einbezieht und das Politische in den Mittelpunkt rückt. Dabei wird bewusst die »Erzählform einer klassischen Biographie« gewählt28 und »traditionell-chronologisch verfahren«.29 Anders als in der darstellenden Geschichtsschreibung stehen, wie Schwarz das Wesen einer Biographie beschreibt, »Lebensweg und Lebensleistung« im Mittelpunkt.30 Sie möchte dabei »verstehend-kritisch[] sein.«31 Es soll also nachvollzogen werden, warum wann wie Steinmeier im Kontext der Geschichte gehandelt hat. So wird ein möglichst facettenreiches und genaues Bild von Steinmeiers Karriere und seinem Wirken gezeichnet, wie es mit Herausgriff beispielsweise eines einzelnen Ereignisses, bei dem dann wieder das Ereignis im Mittelpunkt gestanden hätte, nicht möglich wäre. Dies soll, das versteht sich von selbst, nicht apologetisch passieren, sondern es soll, wie in der Beschreibung des Ansatzes herauszulesen ist, gleichberechtigt verstanden, aber eben auch kritisch betrachtet werden. Gleiches gilt für die Jahre vor der Politik, jene Jahre in der Wissenschaft und Steinmeiers Jugend. Denn »bei aller gebotenen Vorsicht vor konstruierten Lebenskontinuitäten bleibt die offensichtliche Tatsache, dass die Handlungen der Menschen zu einem überwiegenden Teil aus den Erfahrungen erklärt werden müssen, die sie zuvor gemacht haben.«32 Dennoch wird auch in dieser Biographie nicht nach der großen Leitlinie, dem Fluchtpunkt gesucht. »Das wirkt auf den ersten Blick faszinierend«, urteilt etwa Schwarz, gleichzeitig könne aber ein großes Thema »schnell durchkonstruier[t]« werden, sodass »vieles Wichtige dabei unterbelichtet bliebe oder aber schief dargestellt werden müsse.«33 Und so wäre es bei Steinmeier in der Tat reichlich konstruiert, würde man der Annahme verfallen, dass er über fast fünfzig Jahre hinweg auf eine
27 | Schwarz, H.-P.: Helmut Kohl, 2012, S. 939. 28 | Lütjen, T.: Karl Schiller, 2007, S. 13. 29 | Ebd. 30 | Schwarz, H.-P.: Adenauer. Der Aufstieg, 1986, S. 960. 31 | Schwarz, H.-P.: Helmut Kohl, 2012, S. 972. 32 | Lütjen, T.: Karl Schiller, 2007, S. 13f. 33 | Schwarz, H.-P.: Adenauer. Der Aufstieg, 1986, S. 965.
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I. Einleitung
Rolle als Politiker im Vordergrund hingearbeitet habe. Und so bleibt der chronologische Blick auf diese facettenreiche Karriere. Eine wissenschaftliche Biographie, die Steinmeiers Werdegang hinsichtlich Karriere und Inhalt von der Jugend an vollumfänglich analysiert, gibt es bisher nicht. Erstmals wissenschaftlich genähert wurde sich Steinmeier im Zuge einer Studie über die Kanzleramtschefs in Deutschland.34 Eine erste Biographie ist 2009, im Jahr der Kanzlerkandidatur Steinmeiers, erschienen, die jedoch in nur »kurzer Zeit« entstanden ist,35 dennoch einen ersten klugen Überblick über Steinmeiers Wirken bietet. Der Vollständigkeit halber seien zwei weitere Analysen, eine vergleichende über die Kanzleramtschefs seit der Wiedervereinigung36 und ein Politikervergleich zwischen den Karrieren von Frank-Walter Steinmeier und Klaus Wowereit erwähnt.37 In einer weiteren Studie wird sich neben anderen aktuellen SPD-Größen auch Steinmeier genähert, sie geht jedoch über ein Gespräch mit dem Biographierten nur bedingt hinaus.38 Eine andere lesenswertere befasst sich fokussiert mit Steinmeiers Wirken als Außenminister in der Großen Koalition von 2005 bis 2009.39 Aufschlussreich sind auch Studien über andere Politiker, vornehmlich über Gerhard Schröder und Angela Merkel. Diese sind zwar der Form einer Biographie geschuldet fokussiert auf ihren Biographierten verfasst, streifen aber zumindest bisweilen die anderen Akteure, bei Schröder die Hintergrundakteure, bei Merkel den Außenminister und Vizekanzler und damit wichtige Säulen
34 | Vgl. Müller, Kay; Walter, Franz: Die Chefs des Kanzleramtes. Stille Elite in der Schaltzentrale des parlamentarischen Systems; in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 3/2002, S. 474-500. 35 | Lütjen, Torben: Frank-Walter Steinmeier – Die Biografie, Freiburg i.Br. 2009, S. 155. 36 | Vgl. Schönfeld, Ralf: Bundeskanzleramtschefs im vereinten Deutschland. Friedrich Bohl, Frank-Walter Steinmeier und Thomas de Maizière im Vergleich, Stuttgart 2011. 37 | Vgl. Kohlmann, Sebastian: Wege zur Macht – zwei Politiker-Biographien im Vergleich: Frank-Walter Steinmeier und Klaus Wowereit, München 2007; Erwähnenswert, weil eben auch dort Steinmeier gestreift wird, sind außerdem der Aufsatz über Steinmeier in Franz Walters »Charismatiker und Effizienzen« (Walter, F.: Charismatiker und Effizienzen, 2009, S. 290-292) und, ebenfalls von Franz Walter, hier zusammen mit Kay Müller, »Graue Eminenzen der Macht«, wo ebenfalls auch Steinmeier behandelt wird (Vgl. Müller, Kay, Walter, Franz: Graue Eminenzen der Macht, Wiesbaden 2004, S. 172ff). 38 | Vgl. Reinhardt, Max: Aufstieg und Krise der SPD. Flügel und Repräsentanten einer pluralistischen Volkspartei, Baden-Baden 2011. 39 | Vgl. Furtak, Robert K.: Frank-Walter Steinmeier; in: Kempf, Udo; Merz, Hans-Georg; Gloe, Markus (Hg.): Kanzler und Minister 2005-2013, Wiesbaden 2015, S. 228-236.
1. Warum eine Steinmeier-Biographie?
der Regierungsstabilität.40 Ähnlich verhält es sich bei Studien zur SPD, die jedoch ohnehin ein elementarer Bestandteil einer jeden Biographie sein dürften, die sich einem führenden Sozialdemokraten nähert, wenn auch in diesem Falle einem, der erst spät mit seiner Partei verbunden worden ist. »Die SPD. Biographie einer Partei« darf hier sicherlich als Standardwerk gelten, an dem wohl keine Biographie über einen aktuellen Sozialdemokraten vorbeikommt, weil es auch die jüngsten Entwicklungen bis 2009 mit einbezieht.41 Wichtig sind überdies zahlreiche weitere ältere und neuere Studien zur Sozialdemokratie, die insbesondere als Aufsätze erschienen. Aufschlussreich sind außerdem Studien zur politischen Strategieentwicklung, die in dieser Biographie – zum Beispiel mit Blick auf die Umsetzung der Agenda 2010 – immer wieder Eingang finden.42 Während für Niedersachsen und seine Ministerpräsidenten erst in jüngster Zeit erste Studien erschienen sind,43 die den Hintergrundmann Steinmeier jedoch erneut nur am Rande streifen, sind Aufsätze und Monographien der Zeitgeschichte und der Politikfeldforschung der jüngeren Politik im Bund, die für die Bewertung von Steinmeiers Tun von Interesse sind, zum Beispiel Edgar Wolfrums quellenreiches Werk »Rot-Grün an der Macht«,44 bereits zahlreich. Weil das so ist, kann in Bezug auf den Forschungsstand nur gelten, was der Autor einer Biographie über Karl Schiller bereits konstatierte: »Die Sekundärliteratur, die in dieser Arbeit verwendet wurde, ist […] in einem so breiten Radius gestreut, dass es aussichtslos wäre, sie an dieser Stelle einzugrenzen.«45 Wesentlich »für eine politische Biographie zumindest der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts«, in der dank des Telefons und mittlerweile der neuesten Medien »nicht mehr alle Vorgänge minutiös in Vermerken und Briefwechseln dokumentiert sind«,46 ist das umfangreiche Zeitungs- und Zeitschriftenmaterial. Natürlich handelt es sich hierbei um »journalistische Fremdeinschät-
40 | Vgl. z.B. Schöllgen, G.: Gerhard Schröder, 2015; vgl. außerdem Langguth, G.: Machtmenschen, 2009; vgl. auch Langguth, G.: Angela Merkel, 2010. 41 | Vgl. Walter, Franz: Die SPD. Biographie einer Partei, Hamburg 2009. 42 | Vorwiegend herangezogen wurde bei strategischen Bewertungen die folgende Abhandlung: Raschke, J.; Tils, R.: Politische Strategie, 2013. 43 | Vgl. Nentwig, Teresa; Schulz, Frauke; Walter, Franz; Werwath, Christian (Hg.): Die Ministerpräsidenten des Landes Niedersachsen, Hannover 2012; vgl. auch Nentwig, Teresa; Werwath, Christian (Hg.): Politik und Regieren in Niedersachsen, Wiesbaden 2016. 44 | Vgl. Wolfrum, E.: Rot-Grün an der Macht, 2013. 45 | Lütjen, T.: Karl Schiller, 2007, S. 14. 46 | Ebd., S. 15.
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I. Einleitung
zungen«,47 deren empirische Befunde bei alleiniger Nutzung durchaus anekdotischer Natur sein können.48 Und obwohl bei Zeitungsartikeln »[a]llerei Subjektivitäten und ›unzuverlässige‹ Informanten […] zu Verzerrungen oder auch […] schlicht zu Unwahrheiten führen« können, sind sie gleichzeitig »bisweilen die einzige Quelle, um bestimmte Vorgänge zu erhellen«.49 Das ist insbesondere dann der Fall, wenn jeweils mehrere Zeitungsquellen herangezogen werden, was zwar auch in dieser Biographie aufgrund der exklusiven (Fehl-) Informationen einzelner Artikel nicht immer gewährleistet werden kann, aber doch im Kern dieser Geist verfolgt wird. Eben weil Beobachtungen und Hintergrundinformationen bisweilen exklusiv sind, sie aber, egal woher sie stammen und vorausgesetzt, sie sind wahrheitsgemäß, mindestens neue Hinweise geben können, wurde auf eine definitive Eingrenzung der Zeitungsauswahl verzichtet. So werden neben dem Standardrepertoire der im biographischen und zeitgeschichtlichen wissenschaftlichen Kontext herangezogenen Printmedien, nämlich den großen überregionalen Zeitungen und Zeitschriften – Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung, taz, Frankfurter Rundschau, Berliner Zeitung, Tagesspiegel, Financial Times Deutschland (bis zu ihrer Einstellung), Welt, Focus, Spiegel und Stern – auch kleinere, aber mit bisweilen sehr erhellenden Artikeln (ihrer Berliner Korrespondenten) bestückte Zeitungen wie die Stuttgarter Nachrichten oder der Bonner General-Anzeiger in die Analyse einbezogen. Hinzu kommen für Steinmeiers Jahre in Niedersachsen insbesondere die Hannoversche Allgemeine Zeitung als gut informiertes Landeshauptstadtorgan sowie zur Einordnung von Steinmeiers Jugend die Lippische Landes-Zeitung. Die Spannbreite der überregionalen Presse bildet dabei das Meinungsspektrum von links (taz) bis konservativ (Welt) in ihren Abstufungen ab, womit in der Gesamtschau eine gewisse Objektivität bei aller Subjektivität gewahrt bleiben soll. Insgesamt repräsentieren sie dabei die Antifolie der wissenschaftlichen Literatur der Gegenwart. Da, wo der Wissenschaftler im Rückblick beurteilt, war der Journalist, im besten Falle, vor Ort. Die journalistischen Erzeugnisse zeigen so idealerweise zutreffende Momentaufnahmen, weil sie im Anblick der jeweiligen Ereignisse verfasst worden sind. Eine spätere Verklärung ist – anders als bisweilen natürlich eine unmittelbare – nicht möglich. Sie geben so mindestens »Stimmungsverhältnisse«50 wieder. Zahlreiche Porträts 47 | Fischer, Julia: Das Primat der Richtlinienkompetenz. Zur Bedeutung der Organisation des Bundeskanzleramts; in: Florack, Martin; Grunden, Timo (Hg.): Regierungszentralen. Organisation, Steuerung und Politikformulierung zwischen Formalität und Informalität, Wiesbaden 2011, S. 201-224; hier: S. 206. 48 | Vgl. ebd. 49 | Lütjen, T.: Karl Schiller, 2007, S. 15. 50 | Ebd.
1. Warum eine Steinmeier-Biographie?
über Steinmeier, dem sich spätestens seit dem 11. September 2001 von immer mehr Journalisten genähert worden ist, ergänzen die allgemeinen durch personenbezogene Artikel. Der wichtige Quellenbestand der Zeitungen und Zeitschriften wird ergänzt durch journalistische Biographien, die, bis 2002, etwa zahlreich erschienen sind über Gerhard Schröder,51 aber auch, später, zum Beispiel über Peer Steinbrück.52 Keine dieser Biographien kommt, wenn auch dies nicht immer in der Tiefe erfolgt, ohne Erwähnung der Person Steinmeier aus. Einige Monographien wie »Wohin geht die SPD?«53 sind zudem gar an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Journalismus angesiedelt. Als ergiebige Quelle erwiesen sich einige Autobiographien, die mittlerweile zumindest mit Blick auf die rot-grünen Jahre im Bund (1998 bis 2005) und die erste Amtszeit Angela Merkels (2005 bis 2009) von Gerhard Schröder54 über Joschka Fischer55 und Frank-Walter Steinmeier selbst56 bis hin zu Peter Struck57 und Peer Steinbrück58 erschienen sind. Unter Berücksichtigung dessen, dass eben der Autobiograph sich womöglich als »Great Man« darzustellen versucht, zumindest aber nicht objektiv über seine Rolle urteilen kann, geben sie doch immer wieder Hinweise zur Rolle Steinmeiers bei bestimmten Sachverhalten, die dann anhand der anderen Quellen überprüft werden können. Von enormem Gewinn ist der bisher weitgehend nicht behandelte Quellenbestand der Aufsätze, die Steinmeier über die Jahrzehnte verfasste. Gerade in Bezug auf den Wissenschaftler Steinmeier, als der er zahlreiche Essays an der Schnittstelle zwischen Jura und Politikwissenschaft veröffentlichte, lassen sie Rückschlüsse auf seine damaligen Einstellungen zu. Eingehend wurde zudem seine Dissertation gesichtet sowie die Zeitschrift Basis News, deren Redaktion er als Jura-Student angehörte. Dass Steinmeier auch nach seiner Wissenschaftskarriere und seinem Wechsel in die Politik im Hintergrund nicht vollkommen aufgehört hat zu publizieren, sondern sich, wenn auch nur jeweils im Abstand mehrerer Jahre, in Aufsätzen zu Wort meldete, macht diese Publikationen zu unverzichtbaren Primärquellen, geben sie doch das jeweilige 51 | Vgl. z.B. Krause-Burger, Sibylle: Wie Gerhard Schröder regiert. Beobachtungen im Zentrum der Macht, Stuttgart/München 2000; vgl. auch Hogrefe, Jürgen: Gerhard Schröder. Ein Porträt, Berlin 2002. 52 | Vgl. z.B. Sturm, Daniel-Friedrich: Peer Steinbrück. Biographie, München 2012. 53 | Sturm, Daniel-Friedrich: Wohin geht die SPD?, München 2009. 54 | Vgl. Schröder, Gerhard: Entscheidungen. Mein Leben in der Politik, Hamburg 2006. 55 | Vgl. Fischer, Joschka: »I am not convinced«: der Irak-Krieg und die rot-grünen Jahre, München 2011. 56 | Vgl. Steinmeier, Frank-Walter: Mein Deutschland, München 2009. 57 | Vgl. Struck, Peter: So läuft das. Politik mit Ecken und Kanten, Berlin 2010 2. 58 | Vgl. Steinbrück, Peer: Unterm Strich, Hamburg 2010 2.
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I. Einleitung
(öffentliche) Denken Steinmeiers preis: zuerst als Wissenschaftler mit Blick auf politische Zusammenhänge, dann auf seine Einstellungen in Bezug auf die Arbeit im Kanzleramt, fortan in Bezug auf sein Wirken als Außenminister und schlussendlich auf seine Arbeit als Oppositionsführer der SPD-Bundestagsfraktion. Ergänzt wird dieser Quellenbestand noch durch zahlreiche Reden, die er seit 2005 hielt. Von besonderem Wert, wenn auch aufgrund des nur eingeschränkten Zugangs nicht »das Rückgrat«59 dieser Biographie, ist das bereits zugängliche Archivmaterial, das für diese Untersuchung gesichtet werden konnte. Zwar unterliegen die Aktenbestände des Bundeskanzleramts und der Niedersächsischen Staatskanzlei nach wie vor der 30-jährigen Sperrfrist. Dies gilt jedoch nicht für die Aktenordner des Parteivorsitzendenbüros Schröder (1999 bis 2004) und des Parteivizes Steinmeier (2007 bis 2009). Der Einblick in diese Bestände ermöglicht unverfälschte Rückschlüsse, etwa wenn es um Sitzungsprotokolle, handschriftliche Notizzettel nach einer verlorenen Wahl oder handschriftliche Vermerke in Redemanuskripten geht. Dadurch, dass die Niedersächsische Staatskanzlei bereits eine erste Einsicht in Aktenbestände auch der Exekutive zuließ, konnte zumindest für jede der politischen Phasen in Steinmeiers Karriere auf wenigstens einige bisher unveröffentlichte Dokumente zurückgegriffen werden. Dass die Staatskanzlei wiederum lediglich zu einzelnen Themen eine Sammlung zusammenstellte und dabei eine Vorauswahl traf, sorgte natürlich dafür, dass es sich nur um eine selektive Auswahl handeln kann. Doch die Alternative wäre gewesen, dass keinerlei Akten aus Niedersachsen hätten hinzugezogen werden können. Unabhängig davon stellt sich allerdings zum Beispiel für Edgar Wolfrum ohnehin die Frage, ob sich »in diesen Akten tatsächlich noch die großen Geheimnisse wie einst vor hundert Jahren [finden]? Oder bewirkt nicht vielmehr eine demokratische Öffentlichkeit sowie die neuen Medien im digitalen Zeitalter […], dass vieles bereits vor dem Ablauf der Frist eruiert werden kann?«60 Diese Fragen sind zwar richtig, doch geben gerade die Akten der Parteipolitiker Steinmeier und Schröder zumindest einzelne Details frei, die – zumindest vernetzt mit den anderen Quellen – einen wichtigen Puzzlestein ergeben. Einen integralen Bestandteil dieser Biographie und keineswegs von ihrer Bedeutung her zuletzt genannt bilden die Zeitzeugeninterviews. Über 25 teils mehrstündige Gespräche, deren Aussagen immer wieder zur Veranschaulichung und zum Aufzeigen von Widersprüchen in diese Untersuchung einfließen, wurden daher mit Politikern und Weggefährten Steinmeiers aus den verschiedenen Phasen geführt. Mit dem Kumpel aus Jugendtagen Heinz Verbic, 59 | So bezeichnet Edgar Wolfrum die »unveröffentlichten Archivquellen« in seiner Abhandlung über Rot-Grün; Wolfrum, E.: Rot-Grün an der Macht, 2013, S. 716. 60 | Ebd., S. 716f.
1. Warum eine Steinmeier-Biographie?
mit den Freunden seit Studientagen Christoph Nix und Dirk Herkströter, mit Willi Waike, Karl-Heinz Funke, Heinrich Aller, Gerhard Glogowski und Rolf Wernstedt, allesamt Protagonisten aus den Tagen in Niedersachsen, mit Brigitte Zypries, die Steinmeier seit Studientagen kennt, schließlich mit Gerhard Schröder, mit Wolfgang Clement, Hans Eichel, Rezzo Schlauch, Walter Riester und Rudolf Scharping, die ohne Ausnahme Schlüsselakteure der rot-grünen Jahre darstellten, sowie mit den darüber hinaus in die Große Koalition und bis danach wirkenden politischen Akteuren Thomas Steg, Edelgard Bulmahn, Franz Müntefering, Ulla Schmidt, Monika Griefahn, Kurt Beck und Sigmar Gabriel.61 Absagt haben lediglich Herta Däubler-Gmelin, Michael Steiner, Doris Schröder-Köpf und Joschka Fischer. Möglich war es hingegen, Frank-Walter Steinmeier selbst für zwei Gespräche zu gewinnen, von denen eines noch in Oppositionstagen und das andere eine Stunde vor einem Telefonat des erneuten Außenministers Steinmeier mit dem russischen Außenminister Sergej Lawrow stattgefunden hat. Natürlich wären Gespräche mit ausländischen Akteuren wie Lawrow auch für diese Biographie interessant gewesen. Doch es musste hier eine Auswahl getroffen und auf Realisierbarkeit geachtet werden. So wurde versucht, für jede Phase von Steinmeiers Karriere mindestens zwei, meist sogar bis zu fünf Akteure mit unterschiedlichen Positionen zu gewinnen, was auch gelungen ist. Wichtig war dies allein schon deshalb, weil die Gefahr der rückblickenden Verklärung – wie bei den autobiographischen Schriften – vor allem bei Zeitzeugeninterviews vorhanden ist. Sie bergen die Gefahr, dass Erinnerungen sich im Zuge der Zeit verändern, bis sie für wahr gehalten werden, weil wir, wo wir die Wahrheit »zerstörerisch« finden, sie zu bekämpfen versuchen.62 Mehr noch speichert das Gedächtnis, wie es Harald Welzer formuliert, »nur im extremen Ausnahmefall […] das […], wie es wirklich war.«63 Wenn also Steinmeier rückblickend einen fließenden Übergang vom politischen Menschen im Hintergrund zum Politiker im Vordergrund sieht, dann stimmt das nicht mit seinen Äußerungen im Zuge dieser Wandlung und jenen in der Zeit davor überein, in denen er sich eben doch auch anders geäußert hat.
61 | Weitere Gespräche waren eher informeller Natur und werden daher hier nicht aufgeführt. 62 | Fetz, Bernhard: Biographisches Erzählen zwischen Wahrheit und Lüge, Inszenierung und Authentizität; in: Klein, C. (Hg.): Handbuch Biographie, 2009, S. 54-59; hier: S. 54f. 63 | Welzer, Harald: Das kommunikative Gedächtnis, München 2002, S. 21; vgl. auch Flick, Uwe; Kardorff, Ernst von; Steinke, Ines: Was ist qualitative Forschung? Einleitung und Überblick; in: dies. (Hg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Reinbek bei Hamburg, 2000, S. 13-29; hier: S. 23.
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I. Einleitung
Und so mag der »Umgang mit den Erinnerungen von Zeitzeugen […] zwar riskant« sein, »doch erscheinen diese Erinnerungen«, wie Edgar Wolfrum anmerkt, »eine viel zu wertvolle Quelle, um von Historikern ignoriert zu werden. Sie liefern vielgestaltige persönliche Eindrücke, die in anderen Quellengattungen nicht zu finden sind. Sie legen Zusammenhänge frei und führen auf Spuren, die in spröden Akten nicht mehr auftauchen.«64 Das war auch bei dieser Biographie nicht anders. Und so sind sie unerlässlich, um sich dem Protagonisten auch aus der »Lebenswelt[] de[s] handelnden Menschen selbst« zu nähern.65 Sie können »ein wesentlich plastischeres Bild davon deutlich« machen, wie etwa die »Prozesse in Institutionen«, bei Steinmeier also seine Arbeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter, Staatssekretär, Kanzleramtschef, Außenminister und Fraktionsvorsitzender, funktionierten und funktionieren.66 Die Gefahren hingegen müssen bei der Bewertung der Interviews immer wieder berücksichtigt werden, was sie allerdings schon dadurch werden, dass sie eben nur eine Quelle darstellen. Bei der Durchführung der Interviews wurde ein teil-standardisiertes Verfahren gewählt, das von Interview zu Interview immer wieder ergänzt und korrigiert wurde.67 Gleichzeitig wurden sie als Hintergrundgespräche geführt, damit die Interviewten zunächst vollkommen frei erzählen konnten. So war es möglich, detailreiche Aussagen und bisweilen auch nicht zur Veröffentlichung bestimmtes Zeitzeugenwissen zu generieren, das aber als Hinweisgeber fungieren kann. Aufgrund dessen liegen die Transkripte – rund 800 Seiten – dieser Biographie auch nicht in Gänze bei. Die Aussagen finden dennoch immer wieder in Auszügen Eingang. Dabei gilt: Alle Passagen wurden den Interviewten vorgelegt und sind autorisiert. Dort, wo eine Namensnennung nicht vertretbar erschien, wurden die Auszüge in Rücksprache mit den Akteuren zwar ebenfalls freigegeben, aber gleichzeitig anonymisiert. Die Interviews, die wissenschaftliche Literatur, die Medienberichte, die Autobiographien, die Aufsätze und Reden Steinmeiers und die Archivquellen werden schließlich ergänzt durch zahlreiche teilnehmende Beobachtungen, die für diese Biographie durchgeführt worden sind. Die Fülle an Material zeigt, dass das Problem der Zeitgeschichte »nicht die Quellenarmut, sondern vielmehr die Quellenfülle« und die damit einhergehende Selektierung ist.68 64 | Wolfrum, E.: Rot-Grün an der Macht, 2013, S. 716. 65 | Flick, U.; Kardorff, E. von; Steinke, I.: Was ist qualitative Forschung?; in: dies. (Hg.): Qualitative Forschung, 2000, S. 13-29; hier: S. 14. 66 | Ebd., S. 17. 67 | Schließlich bestimmt »die Auswertung jedes Interviews oder jedes Beobachtungsprotokolls […] die weitere Entwicklung der Datenerhebung«; Rosenthal, Gabriele: Interpretative Sozialforschung. Eine Einführung. Weinheim 20112, S. 84. 68 | Wolfrum, E.: Rot-Grün an der Macht, 2013, S. 717.
1. Warum eine Steinmeier-Biographie?
Dennoch wird gerade durch den Gegenschnitt dieser ganz unterschiedlichen Quellen überhaupt erst ein so elementares, bereits angedeutetes »Kreuzverhör der Quellen« möglich.69 Es soll also »bespiegelt [werden], was Zeitzeugen erinnern«,70 Akten verglichen, Steinmeiers Aufsätze bezüglich Haltungen ausgewertet, Hinweise aus Autobiographien mit journalistischen Quellen gegenübergestellt werden – und das, ergänzt durch die wissenschaftliche Literatur, in allen Kombinationen. Die Biographie ist dabei in drei große Analyse-Abschnitte eingeteilt. In den frühen Jahren (Kapitel II: Frühe Jahre) wird sich Steinmeiers Jugend genähert und seine Karriere als Wissenschaftler eingehend analysiert. Insbesondere seine Aufsätze aus dieser Zeit werden dabei hinsichtlich seiner Einstellungen untersucht. Es folgt der Wandel zum politischen Mitarbeiter im Hintergrund (Kapitel III: Politik im Hintergrund), wo sein Wirken bezüglich seines Einflusses auf den Ministerpräsidenten und das Land Niedersachsen sowie, ab 1998, auf den Bundeskanzler und die Bundesregierung analysiert wird. Dabei soll erneut herausgearbeitet werden, warum Steinmeier wie weiter aufsteigen konnte. Die Agenda 2010 und sein Einfluss darauf werden hierbei genauso diskutiert wie sein Einfluss auf die rot-grünen Jahre im Bund und auf die Karriere Gerhard Schröders. Gleiches gilt für die Grenzen seines Einflusses. Erneut finden auch Aufsätze Steinmeiers Erwähnung, die insbesondere in Bezug auf den Vorwurf der fehlenden Haltung interessant sein dürften. Im daran anschließenden Kapitel wird Steinmeiers Wandel zum Politiker im Vordergrund (Kapitel IV: Politik im Vordergrund) analysiert, wobei zunächst umfangreich auf sein Wirken als Außenminister in den Jahren von 2005 bis 2009 eingegangen wird, bevor seine parteipolitische Karriere, seine Ochsentour rückwärts mit seiner Arbeit als Parteivize, seiner Vizekanzlerschaft und seiner Kanzlerkandidatur 2009, untersucht wird. Dem schließen sich die Jahre in der Opposition an, in der Steinmeiers Rolle bei der Revitalisierung der SPD fernab der Regierung beleuchtet wird, mit dem dieser dritte große Analyseabschnitt endet. Diese drei Oberkapitel – II. Frühe Jahre, III. Politik im Hintergrund, IV. Politik im Vordergrund – werden jeweils mit einem Zwi69 | Ní Dhúill, Caitríona: Grundfragen biographischen Schreibens; in: Klein, C. (Hg.): Handbuch Biographie, 2009, S. 424-438; hier: S. 433. 70 | Wolfrum, E.: Rot-Grün an der Macht, 2013, S. 716; Uwe Flick und andere schreiben hierzu außerdem, dass die qualitative Forschung »das Fremde oder von der Norm Abweichende [nutzt] und das Unerwartete als Erkenntnisquelle und Spiegel, der in seiner Reflexion das Unbekannte im Bekannten und Bekanntes im Unbekannten als Differenz wahrnehmbar macht und damit erweiterte Möglichkeiten von (Selbst-)Erkenntnis eröffnet«; Flick, U.; Kardorff, E. von; Steinke, I.: Was ist qualitative Forschung?; in: dies. (Hg.): Qualitative Forschung, 2000, S. 13-29; hier: S. 14.
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I. Einleitung
schenfazit abgerundet. Schließlich folgt ein Ausblick, in dem auf Steinmeiers erneute Amtszeit als Außenminister eingegangen wird, der aufgrund der Aktualität aber eben nicht mehr als einen Ausblick und eine erste Einordnung leisten kann. Im finalen Fazit, das den Titel »Einflussreicher Sozialdemokrat, inhaltsreicher Politiker?« trägt, werden noch einmal zusammenfassend die Ausgangsfragen beantwortet und die These dieser Biographie auf ihre Richtigkeit überprüft. Schlussendlich bleiben zwei Aspekte zu erwähnen, die für jede Biographie gelten. »Die Biographie«, so schrieb Saskia Richter in ihrem Werk über Petra Kelly, »hinterfragt autobiographische Zeugnisse genauso wie die Berichte der Wegbegleiter und Beobachter. Gleichzeitig analysiert sie die Inszenierung des Lebens, die Selbst- und die Fremdbeschreibung, ohne zwischen Inszenierung und Authentizität unterscheiden zu können«.71 Ihr Resümee lautete folgerichtig: »Mit der Biographie ist keine absolute Wahrheit herauszufinden.«72 Noch einmal sei außerdem an den Dreiklang, der in dieser Biographie hergestellt werden soll, erinnert, eben »– und das ist denkbar banal – den Porträtierten in den sozialen, kulturellen und politischen Kontext« einzuordnen.73 Wenn Torben Lütjen nun festhält, dass, wenn das nicht gelingt, das »nicht an der Gattung der Biographie, sondern am Versagen des Biographen« liege,74 ist dem nichts hinzuzufügen.
71 | Richter, S.: Die Aktivistin, 2010, S. 20. 72 | Ebd. 73 | Lütjen, T.: Karl Schiller, 2007, S. 7. 74 | Ebd.
II. Frühe Jahre
2. Kindheit und Jugend 2.1 B r akelsiek An der Kneipe »Zum goldenen Käfer« hängt auch im Jahr 2013 noch ein Schaukasten des TuS 08, dem Brakelsieker Turn- und Sportverein.1 Die dunkelrote Farbe ist mittlerweile abgeblättert. Im Wahlkampf 2009 fand dieser Verein auf Steinmeiers Homepage natürlich Erwähnung. Geplant war der Text: »Ich war kein begnadeter Techniker, auch kein großer Torjäger, eher ein solider Teamspieler – bin ich heute noch.«2 Steinmeier korrigierte im Textentwurf für die Internetseite handschriftlich: »Nicht der begnadete Filigrantechniker, dafür großes Kämpferherz und langen Atem und ein solider Teamspieler – das bin ich heute noch.«3 So also möchte Steinmeier, dass man ihn sieht. Als den Teamspieler mit Herz, der er auch als Kind schon gewesen sein will. Zu jener Zeit wäre in dem beschaulichen 1000-Seelen-Dorf vermutlich niemand auf die Idee gekommen, dass dieser 1956 geborene, fußballspielende nette Junge von nebenan eines Tages einen Beruf ausüben würde, der ihn in kürzester Zeit zum Beispiel von Breslau über Kabul, New Delhi, Paris, New York und Prag führen würde.4 Selbst an eine politische Karriere war nicht zu denken. 1 | Der Autor war am 05. Januar 2014 in Brakelsiek vor Ort. 2 | Vgl. Aktenbestand Büro Parteivize Frank-Walter Steinmeier (im Archiv der sozialen Demokratie); hier: Büro Frank-Walter Steinmeier | 2009 | Ablage | Wahlkampf | Unterstützer | SPD-PV, Stv. F.W. Steinmeier (01/2013). 3 | Vgl. ebd. 4 | So zum Beispiel lautete die Chronologie der Auslandsreisen des Bundesaußenministers Frank-Walter Steinmeier im September 2014, die ihn am 02.09. nach Breslau (vgl. Steinmeier, Frank-Walter: Rede bei der Ordinationsfeier des Abraham-Geiger-Kollegs in Breslau, Breslau 02.09.2014; Redemanuskript abrufbar unter: www.auswaer tiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Reden/2014/140902-BM_Geiger_Kolleg.html [zuletzt eingesehen am 02.06.2016]), am 06.09. nach Kabul (vgl. Pressemittelung des Auswärtigen Amtes: Außenminister Steinmeier in Afghanistan, 06.09.2014; abrufbar unter: www.auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Meldungen/2014/140906-
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II. Frühe Jahre
Brakelsiek ist eines jener kleinen Dörfer, wie man sie im Lipperland häufig vorfindet: idyllisch, aber auch etwas aus der Zeit gerückt. Für Jugendliche sei das nichts mehr hier, erzählt die Wirtin eines der zwei Gasthäuser. Vom gelben Ortseingangs- bis zum durchgestrichenen Ortsausgangsschild sind es nur 750 Meter. Zur nächsten Autobahn fährt man 45 Minuten. Brakelsiek ist damit abgehängt von den Verbindungsstraßen in die großen Städte, von den Autobahnen, die in die Welt hinausführen. So sind es im Jahr 2014 vor allem die Alten, die noch da sind, die sich an der Idylle und der Ruhe erfreuen können. Das Elternhaus liegt auf Höhe des sogenannten grünen Bandes, jener grün-bewachsenen ansteigenden Fläche, die sich wie ein Gürtel um die Senke schließt, in der das Dorf beherbergt liegt. Enge Straßen, teilweise so schmal, dass sie für heutige Autos fast nicht mehr passierbar sind, schlängeln sich dort an den Fachwerkhäusern vorbei. Am Ende einer Straße prangt das Schild: »Anlieger frei«. Nur Fußgänger dürfen dort noch weitergehen entlang des beginnenden Feldweges. Einige Meter in diese Richtung steht rechter Hand das weiße Haus mit dem dunklen Spitzdach und dem Eingangsbereich mit Glassteinen an der Wand. Nur wenige Jahre nach Steinmeiers Geburt hat es der 2012 verstorbene Vater Walter um 1965 innerhalb von vier Jahren selbst gebaut.5 Steinmeiers Mutter Ursula wohnt bis heute dort, sein Jugendzimmer
BM_in_AFG.html [zuletzt eingesehen am 02.06.2016]), am 07.09. nach New Delhi (vgl. Pressemitteilung des Auswärtigen Amtes: Außenminister Steinmeier in New Delhi: Zusammenarbeit mit Indien vertiefen, 08.09.2014; abrufbar unter: www.auswaertigesamt.de/DE/Infoservice/Presse/Meldungen/2014/140908-BM-Statement_Modi.html [zuletzt eingesehen am 02.06.2016]), am 15.09.2014 nach Paris (vgl. Pressemitteilung des Auswärtigen Amtes: Außenminister Steinmeier zur Ermordung der britischen Geisel durch ISIS sowie zur Irak-Unterstützungskonferenz in Paris, 14.09.2016; abrufbar unter: www.auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Meldungen/2014/140914BM_ISIS+Paris.html [zuletzt eingesehen am 11.07.2016]), am 19.09.2014 nach New York (vgl. Pressemitteilung des Auswärtigen Amtes: Außenminister Steinmeier vor Sondersitzung des UN-Sicherheitsrats in New York, 19.09.2014; abrufbar unter: www. auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Meldungen/2014/140919-BM-Sonder sitzung.html [zuletzt eingesehen am 11.07.2016]) und schließlich am 29.09.2014 nach Prag (vgl. Pressemitteilung des Auswärtigen Amtes: Außenminister Steinmeier in Prag: 25-jähriges Jubiläum der Ausreise der Botschaftsflüchtlinge, 29.09.2014; abrufbar unter: www.auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Meldungen/2014/140929BOtschaftsfluechtlinge.html [zuletzt eingesehen am 11.07.2016]) führten. Teilweise war er mehrere Tage vor Ort, etwa anlässlich der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York. 5 | So erzählt es Frank-Walter Steinmeier gegenüber Max Reinhardt; vgl. Reinhardt, M.: Aufstieg und Krise der SPD, 2011, S. 479.
2. Kindheit und Jugend
von einst existiert noch.6 Vom Elternhaus blickt man direkt auf das Dorf und die umliegende Landschaft. Leise surren die zwei Windräder auf den Hügeln links und rechts des Hauses. Mehr ist nicht zu hören. Der Durchgangsverkehr rollt am Sonntag erst ab Mittag und auch dann nur leise. Die Umgebung lädt zum Wandern ein, wie es ein grauhaariger Mann zusammen mit seinem Schäferhund am Sonntagmorgen tut und angesprochen auf den prominenten Dorfbewohner umgehend eine Geschichte zu erzählen weiß. Es ist nur eine eher belanglose Geschichte von seiner Frau, die sich an den jungen Steinmeier erinnert, der sich einmal einen Lolli im Laden habe kaufen lassen wollen, aber die Mutter den Wunsch verneinte. Er nimmt diese vermeintliche Begebenheit als Beispiel für die Sparsamkeit, zu der die Eltern ihren Sohn erzogen hätten. Tatsächlich ist es schon eine der größeren Anekdoten über Steinmeier aus jener Zeit. Journalisten, die im Zuge des Wahlkampfes 2009 für zahlreiche Porträts auf die Suche gegangen sind, genauso wie einige Wissenschaftler, die Ähnliches unternahmen, haben nicht die eine große Geschichte aus seiner Kindheit gefunden. Dennoch, so wirkt es bei derlei Gesprächen, freuen sich die Dorfeinwohner über ihren mittlerweile so berühmten Bürger: Er bringt ohne Zweifel ein bisschen Glamour in dieses sonst so bodenständige Leben. Viel später, als Steinmeier schon Kanzlerkandidat ist, erinnerte er sich einmal an seine Lieblingskinderbücher. Astrid Lindgrens »Wir Kinder aus Bullerbü« habe er gerne gelesen, erzählte er auf einer Veranstaltung.7 Dabei fällt auf: Man könnte diesen Ort aus Lindgrens Roman auf Brakelsiek übertragen – klein, idyllisch, einfach. Auf der Brakelsieker Internetseite heißt es noch im Jahr 2014, dass es »eine[s] der schönsten, vielfältigsten und lebens- und liebenswertesten Dörfer im lippischen Südosten«8 sei. Das Fazit des Beitrags lautet: »In Brakelsiek im Lipperland ist die Welt noch in Ordnung«.9 Ein Außenstehender würde diesen Ort vermutlich strukturschwach nennen, wie es so viele Dörfer Deutschlands im 21. Jahrhundert sind. Steinmeier selbst huldigt seiner Heimat zwar, spricht von den »viele[n] gute[n] Erinnerungen«, davon, dass es »viel Zusammenhalt auch ohne große Worte« gegeben habe; »die Leute haben einen Draht zueinander, und ich fühlte mich eigentlich immer gut aufgeho6 | So erzählt es seine Mutter Ursula Steinmeier im Süddeutsche Zeitung Magazin; zitiert nach Basel, Nicole; Haberl, Tobias; Heidtmann, Jan: Steinmeier; in: Süddeutsche Zeitung Magazin, 07.11.2008, S. 12-20; hier: S. 19. 7 | Vgl. Steinmeier, Frank-Walter im Gespräch mit der Zeit: O.V. (Kinderzeit): Prickel, Rennie, Kasi & Co; in: Die Zeit, 24.09.2009, S. 51. 8 | So wird das Dorf Brakelsiek auf der offiziellen Homepage des Ortes beschrieben; Internetpräsenz des Ortes Brakelsiek; abrufbar unter: www.brakelsiek.de/index. php?id=6 (zuletzt eingesehen am 09.08.2016). 9 | Ebd.
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II. Frühe Jahre
ben.«10 Doch zurückkehren möchte auch er nicht.11 Man könnte Brakelsiek eben auch als klein, rückständig und etwas bieder ansehen – nicht das, was sich allgemeinhin der heutige, um die Welt reisende Bürger zumindest auf Dauer vorstellt. So scheint es auch zum Teil ein trotziger Stolz, den die Lipperländer immer schon in Bezug auf ihre grüne Idylle verbreiteten. 1970, noch zu Beginn eines in seiner Wirkung nicht absehbaren Strukturwandels,12 hieß es in einer Sonderbeilage der Lippische Landes-Zeitung mit dem Titel »Lippe – ein gesunder Wirtschaftsraum mit vielfältigen Ausbildungsmöglichkeiten«:13 »Dem Tüchtigen steht die Welt offen. Das ist eine uralte Erkenntnis, sie gilt aber in unseren Tagen in weit stärkerem Maße als noch vor wenigen Jahrzehnten, und das Sprichwort ›Bleibe im Lande und nähre dich redlich‹ ist nicht immer mehr zeitgemäß. Gleichwohl hat es noch seine Bedeutung, zumindest für junge Leute, die eine erste berufliche Ausbildung anstreben. Der lippische Wirtschaftsraum bietet eine bunte Fülle von Möglichkeiten, einen Beruf zu erlernen und hier später auszuüben. Moderne Ausbildungsbetriebe in der Industrie, im Handwerk, im Handel und im Dienstleistungsbereich bieten die Gewähr für eine solide Grundausbildung für die verschiedenartigsten Tätigkeiten mit mannigfachen Aufstiegsmöglichkeiten.«14
Diese Beschreibung ist ein Spiegelbild der Gesellschaft zu jener Zeit von Steinmeiers Jugend, als es noch eher ungewöhnlich war, wegen der Berufsausbildung die Heimat zu verlassen und Brakelsiek indirekt dafür warb, »im Lande« zu bleiben. Ein Bus verlässt Brakelsiek im Jahr 2014 nur etwa alle zwei Stunden, zehn Abfahrten gibt es an Schultagen, am Samstag sind es nur fünf Abfahrten, am Sonntag keine. Das war schon damals so. Der heute so weltläufige Politiker war im Dorf der einzige seines Jahrgangs,15 der von der Grundschule ans Gymnasium wechselte. Im Alter von zehn Jahren war das.16 Die Mutter war 10 | Steinmeier, F.-W.: Mein Deutschland, 2009, S. 12. 11 | Auf eben diese Frage der Bild antwortete Steinmeier: »Wir fühlen uns wohl in Berlin, da werden wir bleiben. Da bin ich mit meiner Frau einig; vgl. Beeg, Rena; Hellemann, Angelika: Zwei Brüder aus Brakelsiek; in: Bild am Sonntag, 13.09.2009; Onlineversion des Printartikels abrufbar unter: www.bild.de/politik/2009/kanzlerkandidat-frank-walterund-dirk-aus-brakelsiek-teil1-9726098.bild.html (zuletzt eingesehen am 09.08.2016). 12 | Vgl. auch Kapitel 2.2 in dieser Biographie. 13 | O.V.: Berufswahl bestimmt den Lebensweg; in: Lippische Landes-Zeitung, 14.11.1970 (Sonderbeilage), S. 35. 14 | Ebd. 15 | So berichtet sein Jugendfreund Gerd Reinecke im Süddeutsche Zeitung Magazin; vgl. Basel, N.; Haberl, T.; Heidtmann, J.: Steinmeier; in: Süddeutsche Zeitung Magazin, 07.11.2008, S. 14. 16 | Vgl. Lütjen, T.: Frank-Walter Steinmeier, 2009, S. 23.
2. Kindheit und Jugend
dafür, der Vater musste zunächst überlegen,17 seine Eltern wurden von Steinmeiers damaligem Lehrer ermutigt.18 Als die Entscheidung anstand, erinnert sich Steinmeier, »gab es für einen solchen Schritt kaum Vorbilder, in meiner Familie nicht und im Dorf genauso wenig.«19 Und tatsächlich: Sein jüngerer Bruder Dirk wählte eine klassische Lehre und arbeitete bald in einem holzverarbeitenden Betrieb, er blieb im Lande und wohnt auch 40 Jahre später noch im Nachbarort. Natürlich sind solche Entscheidungen, Weichenstellungen für das gesamte Leben, für den beruflichen Werdegang, die Karriere. Steinmeiers Entscheidung für das Gymnasium, auf dem er übrigens durchschnittliche Noten mit nach Hause brachte,20 war womöglich so eine. Fortan jedenfalls pendelte er mit dem Bus ins benachbarte Blomberg, wo seine Schule noch heute steht. Glaubt man Weggefährten aus jener Zeit, war Steinmeier ein eher ruhiger Typ und weniger ein Lautsprecher. Sein damaliger Lateinlehrer etwa erinnerte sich im Stern daran, dass »Frank-Walter […] noch nie einer [war], der rauspoltert«.21 Sein Jugendfreund Peter Hausstätter fügte hinzu, dass Frank-Walter »auch mal rumgealbert« habe, »aber im Grunde […] immer schon ein Ernster und Verschlossener« gewesen sei.22 Es wäre zu diskutieren, ob das »ernst« und »verschlossen« mit einem besonnenen Temperament gleichzusetzen wäre. Das Fazit dieses Artikels aus jener späteren Zeit, als Steinmeier Kanzlerkandidat war, lautete jedenfalls: »[W]en man auch fragt, Mitschüler und Mitspieler, Freunde und Neider – in einem sind sie sich alle einig: Der Frank war schon okay. Ein ruhiger Typ.«23 Er war allerdings auch einer, der voll in die Dorfgemeinschaft integriert war, der, wie beschrieben, im Fußballclub des Dorfes spielte und das zehn Jahre lang. Der Fußballplatz wurde von den Menschen im Dorf selbst angelegt. Auch Steinmeiers Vater war beteiligt, der, so schreibt Steinmeier retrospektiv, von »einem kleinen Bauernhof« stammte.24 Mit 16 Jahren sei der Vater in den Zweiten Weltkrieg gezogen, wo er aber schon »nach dem ersten Ausheben von Schützengräben in britische Kriegsgefangenschaft geraten [war], sodass da […] 17 | So erinnert sich Steinmeier in seiner Autobiographie, vgl. Steinmeier, F.-W.: Mein Deutschland, 2009, S. 24. 18 | Vgl. Rosenkranz, Jan: Auf der Suche nach Frank-Walter Steinmeier; in: Stern, 12.02.2009, S. 38-46. 19 | Steinmeier, F.-W.: Mein Deutschland, 2009, S. 24. 20 | Vgl. Lütjen, T.: Frank-Walter Steinmeier, 2009, S. 24. 21 | Machentanz, Dieter zitiert nach Rosenkranz, J.: Auf der Suche; in: Stern, 12.02.2009, S. 42. 22 | Hausstätter, Dieter zitiert nach ebd. 23 | Ebd. 24 | Zitiert nach Reinhardt, M.: Aufstieg und Krise der SPD, 2011, S. 480.
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II. Frühe Jahre
Gott sei Dank eben auch nichts war, an dem man sich mit so großer Schärfe reiben konnte, […] wie das in anderen Familien […] der Fall war.«25 Das Verhältnis zwischen den beiden blieb so uneingeschränkt eng, bis zu dessen Tod haben sie mindestens einmal wöchentlich telefoniert.26 Insbesondere handwerklich hatte der junge Steinmeier viel vom Vater, der nach dem Krieg den Beruf des Tischlers ergriff,27 gelernt. Ein späterer Studienfreund, Christoph Nix, erinnert sich etwa, dass »Frank« »das Bett für meine Tochter« gebaut habe.28 Nix, der seinen Vater früh verlor, klingt gerührt, wenn er von den Steinmeiers erzählt. »[S]einen Papa hat er sehr gerne gehabt. Und deshalb war er auch ein praktischer Mensch. [Die] [s]ind dann selber in die Schreinerei […]. Also diese beiden Seiten hat er auch gehabt, ganz praktisch zu sein«.29 Steinmeiers Mutter arbeitete vor dem Krieg ebenfalls »beim Bauern«, wie Steinmeier schreibt, und nach ihrer Flucht aus Schlesien im Zweiten Weltkrieg »später in der Textilfabrik im Nachbarort«.30 Glaubt man Steinmeier, hatte sie, »obwohl Vertriebene«, nach dem Krieg »keine revanchistischen Gedanken auf Heimkehr in das angestammte Schlesien«.31 Sie blieb vielmehr in Brakelsiek, wo der Steinmeier-Zweig und damit auch Walter, den Ursula 1955, fünf Monate vor Frank-Walters Geburt, heiratete, schon »seit Ewigkeiten« lebte.32 »[G]roßes Vertrauen« habe der Neugeborene von den Eltern mitbekommen, schreibt ein Steinmeier-Biograph.33 Ein »ordentliches Elternhaus« sei das gewesen, findet rückblickend Heinz Verbic, ein Freund aus dem Nachbarort.34 Dabei war vieles noch ungewöhnlich für jene Zeit. Die Mutter arbeitete genauso wie der Vater, Steinmeier war daher, erinnert er sich, viel bei seiner Oma »mütterlicherseits«,35 etwa um Hausaufgaben zu machen.36 Insofern bestand 25 | Zitiert nach ebd. 26 | Vgl. Steinmeier, Frank-Walter: Jede Mark zählte; in: Zeit, 23.07.2009, S. 61. 27 | Vgl. ebd. 28 | Nix, Christoph im Gespräch mit dem Autor am 18.12.2013. 29 | Ebd. 30 | Vgl. Steinmeier, F.-W.: Jede Mark zählte; in: Zeit, 23.07.2009, S. 61. 31 | Reinhardt, M.: Aufstieg und Krise der SPD, 2011, S. 480. 32 | Lütjen, T.: Frank-Walter Steinmeier, 2009, S. 21f. 33 | Lütjen, Torben im Gespräch mit der Welt; in: Sturm, Daniel-Friedrich: »Immer schon fleißig und ordentlich«; in: Welt, 28.03.2009, S. 4. 34 | Verbic, Heinz im Gespräch mit dem Autor am 02.04.2014. 35 | Lütjen, T.: Frank-Walter Steinmeier, 2009, S. 26. 36 | So fügt es Steinmeier im Entwurf seiner Homepage handschriftlich ein; vgl. Aktenbestand Büro Parteivize Frank-Walter Steinmeier (im Archiv der sozialen Demokratie); hier: Büro Frank-Walter Steinmeier | 2009 | Ablage | Wahlkampf | Unterstützer | SPDPV, Stv. F.W. Steinmeier (01/2013).
2. Kindheit und Jugend
nicht jenes klassische Rollenbild mit einer Mutter als Hausfrau und einem Vater als Alleinverdiener. Beide waren sie für Steinmeier gleichermaßen da, es existierte ein intaktes Familienleben, überhaupt sollen die Eltern sehr liberal gewesen sein.37 Steinmeier musste es so niemandem über Maßen beweisen, er hatte stets die volle Rückendeckung von zu Hause, musste nicht früh, etwa durch die Übernahme der Vaterrolle, besondere Verantwortung übernehmen. Wäre er ein 68er, hätte er mit seinen Eltern zudem nicht brechen können, weil sich die Frage nach persönlicher Kriegsschuld bei den Steinmeiers schlicht nicht aufdrängte und weil er sich nicht von klassischen Rollenmustern befreien musste. Die Heimat blieb so ohne größere Konfliktlinien und Distanzierung als Bezugspunkt stets bestehen. Auch die Beziehung zum jüngeren Bruder war und ist bis heute gut. In der Kindheit gab es keinen Kampf zwischen den beiden, keine Prügeleien oder dergleichen, erinnert sich Dirk.38 Steinmeier pflege, heißt es in einem Porträt, »ein ähnlich traditionelles Familienleben« wie seine Eltern, »anders als die 68er, die wenige Jahre zuvor ihren Weg gingen, sich, so ist es insbesondere bei Politikern der rot-grünen Jahre zu sehen, sich häufig scheideten oder gar nicht heirateten und Kindern aus verschiedenen Ehen mitbrachten«.39 Steinmeier hingegen ist nur einmal verheiratet und hat eine Tochter. Er gehört der nachfolgenden Generation an. Davon handelt das folgende Kapitel.
2.2 G ener ation 74 Als Steinmeier neun Jahre alt war, kam die SPD das erste Mal an die Regierung, als er zwölf Jahre alt war, gingen Studenten in ganz Westdeutschland auf die Straße und die 68er-Proteste nahmen ihren Lauf, als er 13 Jahre alt war, stellte die SPD das erste Mal den Bundeskanzler. Aus dem demokratischen Pflänzchen der Bundesrepublik war nach Spiegel-Affäre, Politikwechseln und Studentenprosten ein demokratischer Baum geworden. Erst später, um 1971 und 1972 im Alter zwischen 15 und 16 Jahren, begann Steinmeiers politische Sozialisation. An seinem 18. Geburtstag war Willy Brandt schon nicht mehr Kanzler. Dies also sind die Rahmendaten, die jedem Biographen bezüglich
37 | Vgl. auch Lütjen, T.: Frank-Walter Steinmeier, 2009, S. 26. 38 | Vgl. Willeke, Stefan: Ein Fremder wie du und ich; in: Zeit, 10.09.2009, S. 6. 39 | O.V.: Brakelsiek geschockt von Steinmeiers Niederlage; in: Neue Westfälische Online, 28.09.2009; abrufbar unter: www.nw.de/nachrichten/thema/3161250_Brakel siek-geschockt-von-Steinmeiers-Niederlage.html (zuletzt eingesehen am 14.09.2016).
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seines Protagonisten immer wieder im Rahmen der Generationenfrage begegnen.40 Wenige Jahre Altersunterschied sind dabei schon entscheidend, prägen doch Ereignisse ganz unterschiedlich. Während Steinmeier die Studentenproteste um 1968 mit den Worten, »das liegt alles ein bisschen vor meiner Zeit«, 41 als nicht prägend beschreibt, verbindet sein Studienfreund Christoph Nix, nur knapp zwei Jahre älter, noch mehr damit: »[I]ch hatte nochmal ’ne andere Prägung gehabt, über die Schülerbewegung. Also […] diese zwei Jahre haben viel ausgemacht. […] Ich bin […] in die 68er-Bewegung als Vierzehnjähriger gekommen.«42 Der Unterschied wird noch deutlicher beim Blick in die vorausgegangene Generation, die, rund eine Dekade älter, die Kriegsfolgen zumindest mittelbar erlebte. Gerhard Schröder, geboren 1944, etwa lernte seinen Vater nie kennen, weil dieser aus dem 2. Weltkrieg nicht zurückgekehrt ist, er wuchs außerdem in großer Armut auf.43 Als Peer Steinbrück 1947 geboren wurde, »präg[t]en die Verheerungen des Zweiten Weltkriegs noch über das Gesicht der Stadt [Hamburg]. Ganze Straßenzüge […] [bestanden] nur aus hohlen, verbrannten Fassa-
40 | Die hinter dieser Datensammlung stehende Grundannahme ist, »daß die Gleichaltrigen in gleichaltrigen Institutionen (Schule, […], Kirchen, Bundeswehr) aufwachsen und dadurch mehr oder weniger bewußt, absichtlich oder unabsichtlich gleichartige Einstellungen und Verhaltensweisen gewinnen« (Jaide, Walter: Generationen eines Jahrhunderts. Wechsel der Jugendgenerationen im Jahrhunderttrend. Zur Geschichte der Jugend in Deutschland 1871 bis 1985, Opladen 1988, S. 274.). So plausibel das klingt, muss dabei allerdings auch berücksichtigt werden, dass eine Jahrgangsgruppe nicht zu sehr zusammengezählt wird, da immer noch verschiedene Sozialisationsströme auf eine Gruppe einwirken und zum Beispiel Eltern eine große Rolle spielen (vgl. ebd., S. 274f). So bekam Sigmar Gabriel als Kind mitunter, so erinnert er sich an seine Jugend, Prügel von seinem Vater und litt unter Sorgerechtsstreitigkeiten (vgl. Ulrich, Bernd: Sein Leben als Sohn; in: Zeit, 10.01.2013, S. 3-4; hier: S. 1), während Steinmeier, wie gezeigt, vergleichsweise behütet aufwuchs. Beides kann prägend sein und kann – nicht muss – unterschiedliches Verhalten hervorrufen beziehungsweise unterschiedliches Verhalten zu begründen helfen. Behält man diese Einschränkungen jedoch im Blick, beachtet also, dass eben aus der Beschreibung einer Generation nicht unbedingt eins zu eins die Beschreibung der Einzelperson abgeleitet werden kann, lohnt der Blick eben darauf. 41 | Steinmeier, Frank-Walter im ersten Gespräch mit dem Autor am 01.07.2013. 42 | Nix, Christoph im Gespräch mit dem Autor am 18.12.2013. 43 | Vgl. Schöllgen, G.: Gerhard Schröder, 2015, S. 22ff. Nach eigener Aussage habe Schröder als Kind »jahrelang Fensterkitt« essen müssen; zitiert nach Zastrow, Volker: »Wir waren die Asozialen«; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.12.2004, S. 3.
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denresten, in denen die verkohlten, scheiblosen, ausgebrannten Häuser wirk[t] en.«44 Zukunftsängste wuchsen: »Die berühmte ›Stunde null‹ hat[te] für Millionen Menschen in der schmerzlichen Erkenntnis bestanden, ohne Wohnung, Arbeit und ausreichende Nahrung wieder ganz von vorne beginnen zu müssen, oft genug begleitet von der Trauer über den Verlust enger Angehöriger durch den Krieg.« 45
Bei Steinmeiers Geburt 1956, elf Jahre nach dem 2. Weltkrieg, waren die unmittelbaren Kriegsschäden längst beseitigt, es gab zwei Elternteile und Konrad Adenauer war bereits seit sieben Jahren Kanzler. Der »Phase des Wiederaufbau[s]«, verortet zwischen 1949 und 1959, in der die vorausgegangene Generation aufgewachsen war, schloss sich die »Phase der Normalisierung« 46 an, in der nun Steinmeier zunächst heranwuchs. »Die bis dahin erreichte wirtschaftliche Lage«, heißt es in einer Analyse über diese, zwischen 1960 und 1969 verortete Periode,47 »brachte den Wiederauf bau zu einem gewissen Abschluss. Breite Kreise der Bevölkerung sahen sich jetzt in der Lage, über die unmittelbare Lebenssicherung hinaus Konsumgewohnheiten zu entwickeln, die als Synonym für das ›Wirtschaftswunder‹ stehen«. 48 Und weiter: »[D]ies galt vor allem für den Eigenheimbau, die schnelle individuelle Motorisierung und Urlaubsreisen in das europäische Ausland.«49 Insbesondere das Eigenheim gehörte auch zu Steinmeiers Familie. Auch das Auto, ein BMW, fand Einzug. Und nicht zuletzt ein Fernseher, der bereits Ende der 1960er Jahre im Wohnzimmer der Eltern stand.50 Auch wenn auch diese Zeit nicht immer einfach gewesen sein soll, wie Steinmeier sich erinnert,51 stammte er doch aus der, wenn man so möchte, ersten (Politiker-)Generation, die wirklich in einer Demokratie aufgewachsen ist. Es war eine Generation, in der »an die Stelle einer Orientierung an den drängendsten Bedürfnissen, die sich aus der Not und den Zerstörungen ergaben, jetzt der Vergleich mit anderen Industriestaaten« getreten ist.52 Einen
44 | Goffart, D.: Steinbrück, 2012, S. 32. 45 | Ebd., S. 49. 46 | Vgl. Hesse, Joachim Jens; Ellwein, Thomas: Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland, Baden-Baden 201210, S. 45. 47 | Vgl. ebd. 48 | Ebd. 49 | Ebd. 50 | Vgl. Lütjen, T.: Frank-Walter Steinmeier, 2009, S. 20. 51 | Steinmeier, F.-W.: Jede Mark zählte; in: Zeit, 23.07.2009, S. 61. 52 | Hesse, J.; Ellwein, T.: Das Regierungssystem der Bundesrepublik, 2012, S. 45.
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Generationenkonflikt, wie es die vorrausgegangene Kohorte der 1968er noch erlebte, gab es nicht mehr in dieser Form. Denn: »Sie hatten nicht mehr unmittelbar mit der Kriegsgeneration zu tun […] – und insofern das Glück der Normalität. Sie waren die erste Generation, für die Konsum und Reisen zur Selbstverständlichkeit wurden. Aber sie brachten deshalb auch keine so kantigen Persönlichkeiten mehr hervor wie Joschka Fischer, Gerhard Schröder oder Otto Schily.« 53
Steinmeier selbst bezeichnet jene unkantige Generation, die in der Wissenschaft auch als eine »übersehene[] Generation[]«54 oder als »78er«55 beschrieben wird, im Rückblick als »74er«.56 Es war diese Zeit, die Ende der 1960er Jahre mit einer »Zeitenwende« begann.57 1969 kam es dabei »nicht nur zur Ablösung der CDU/CSU als Regierungspartei, sondern auch zu Veränderungen des Kräfteverhältnisses der Parteien, die langfristige Auswirkungen haben sollte.«58 Die SPD konnte erstmals über 40 Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinen, und die FDP hatte sich in der Opposition erneuert.59 Die Sozialdemokraten hatten Erfolg mit einer Kampagne, in deren Mittelpunkt die vier Aspekte »Stabilisierung der Wirtschaft und sichere Arbeitsplätze, Wissenschaft, Forschung und Ausbildung, Chancengleichheit und gutnachbarschaftliche Beziehungen nach Westen und nach Osten« standen.60 Sie manifestierte damit einen innerparteilichen Wandlungsprozess, der 1957 begann und damit parallel zu Steinmeiers Aufwachsen verlief. Steinmeier erinnert sich, dass eines seiner ersten politischen Schlüsselerlebnisse das Misstrauensvotum gegen Willy Brandt im Jahr 1972 gewesen sei, »wo wir in Blomberg, damals in meiner drittletzten Klasse am Gymnasium, […] morgens in der Aula zusammengeholt wurden, jedenfalls […] die Oberstufen53 | Vgl. Alemann, Ulrich von im Gespräch mit der Rheinischen Post; Bewerunge, Martin: »Wir wollen keine Altenrepublik«; in: Rheinische Post, 05.04.2014, S. 4. 54 | Den Begriff benutzt z.B. David Bebnowski zusammenfassend für mehrere der den 68ern nachfolgenden Generationen; Bebnowski, David: Generation und Geltung. Von den ›45ern‹ zur ›Generation Praktikum‹ – übersehene und etablierte Generationen im Vergleich, Bielefeld 2012, S. 11. 55 | Ebd., S. 123ff. 56 | Zitiert nach Rosenkranz, J.: Auf der Suche; in: Stern, 12.02.2009, S. 44. 57 | So sah es zumindest 1969 die Zeitschrift Zeit; zitiert nach Glaeßner, Gert-Joachim: Demokratie und Politik, Opladen 1999, S. 280. 58 | Ebd. 59 | Vgl. ebd.; vgl. auch Walter, F.: Die SPD, 2009, S. 172ff. 60 | Glaeßner, G.-J.: Demokratie und Politik, 1999, S. 280.
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klassen«.61 Er beschreibt die Umstände mit den Worten, dass »die technische Infrastruktur ja nicht so ausgereift wie heute« gewesen und »ein Fernseher, schwarz-weiß, in die Ecke gestellt« worden sei. Der sei dann »auf laut gedreht« worden »und dann haben wir […] mit einigen zig Schülern, vielleicht hundert, […] in dieser Aula gesessen und verfolgt, was dort stattfand«.62 Natürlich, auch da war Steinmeier erst sechzehn Jahre alt, was er selbst reflektiert mit den Worten, dass er von sich »rückblickend überhaupt nicht« behaupte, »dass ich im Detail mit fünfzehn, sechzehn gewusst habe, was dort stattfand oder das ich gar annähernd über die Komplexität der […] Auseinandersetzungen über die Ostpolitik informiert gewesen wäre. Das nicht. Aber […] man hat so ein wachsendes Gefühl dafür gehabt, wer auf der richtigen Seite steht. Und das spitzte sich in diesem Misstrauensvotum zu.« 63
Als einen spannungsgeladenen Moment erinnert er sich an dieses Votum. So führt er weiter aus, dass es »eine öffentliche Haltung in der Republik« gegeben habe, »dass dieser Willy Brandt dort nicht gestürzt werden darf.«64 Waren die 68er noch vor seiner Zeit, dürfte er, unabhängig davon, wie stark seine Erinnerungen im Rückblick verfärbt sind, die Zeit danach aktiver mitbekommen haben, wenn vielleicht auch zunächst nur am Rande aus Diskussionen in Schule und Familie, dann schließlich unmittelbar mit jenem Misstrauensvotum von 1972. Tatsächlich war der Ost-West-Konflikt mit der unter Willy Brandt verfolgten, von Egon Bahr konzipierten Doktrin »Wandel durch Annäherung«65 das bestimmende Thema jener Zeit. »Die Debatte verlief ebenso leidenschaftlich und kontrovers wie seinerzeit die Diskussion über die Westpolitik Adenauers.«66 Die Tragweite wird beim Blick auf die damaligen Mehrheitsverhältnisse im Bundestag offenbar, die sich deutlich verschoben hatten. So verlor die sozialliberale Regierung zwischen 1970 und 1972 insgesamt sieben Abgeordnete, vier aus der SPD und drei aus der FDP.67 Nachdem ein weiterer Ab61 | Steinmeier, Frank-Walter im ersten Gespräch mit dem Autor am 01.07.2013. 62 | Ebd. 63 | Ebd. 64 | Ebd. 65 | Vgl. Winkler, Heinrich-August: Worauf die SPD stolz sein kann; in: Spiegel Online, 22.05.2013; abrufbar unter: www.spiegel.de/politik/deutschland/150-jahre-spdhistoriker-winkler-gratuliert-den-sozialdemokraten-a-900579.html (zuletzt eingesehen am 01.05.2016). 66 | Glaeßner, G.-J.: Demokratie und Politik, 1999, S. 285. 67 | Vgl. ebd.
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geordneter der FDP aus der Fraktion ausgetreten war »und vertrauliche Zusagen mindestens eines weiteren FDP-Abgeordneten […] vorlagen, beschloss der Fraktionsvorstand der CDU/CSU« eben jenes »Misstrauensvotum.68 In der noch kurzen bundesrepublikanischen Geschichte war das ein Novum, was die Dramatik noch einmal unterstrich. Und so galt das Ergebnis der Abstimmung, bei der sich Christdemokrat Rainer Barzel als Gegenkandidat von Willy Brandt seiner Mehrheit sicher wähnte, auch als »politische Sensation: nur 247 Ja-Stimmen, anstatt der notwendigen 249 entfielen auf Rainer Barzel.«69 Von einem »Moment der Erleichterung bei Schülern und Lehrern« spricht Steinmeier im Rückblick, den er gespürt habe, »als das Ergebnis bekannt« gegeben wurde.70 »[A]uch diejenigen, die […] nicht viel von Politik wussten, und die hatten wir ja auch, […] haben gespürt: Das war ein Tag, an dem sich sozusagen Zukunft in diesem Land entschied, welche Richtung dieses Land einschlägt.«71 Willy Brandt blieb also Kanzler und die Schüler des Blomberger Gymnasiums konnten zum Unterricht zurückkehren, nicht ohne jene Bedeutung dieses Tages und dieser Zeit registriert zu haben. Die Lippische Landes-Zeitung titelte am Tag darauf, »Brandt bleibt Bundeskanzler – Barzel erhielt nur 247 Stimmen«.72 Außerdem war zu lesen: »CDU/CSU stimmte nicht geschlossen ab«.73 Dieses Votum verfestigte jene Phase des »[s]ozialliberale[n] Auf bruch[s]«,74 die sich der »Phase der Normalisierung« anschloss, die Steinmeier nur als jüngerer Schüler erlebte. Nun konnte er, wenn auch nicht in seinem ganzen Ausmaß, aber eben doch in Nuancen, politisch Komplexes zu begreifen anfangen und beginnen wahrzunehmen. Politik war in dieser Zeit allgegenwertig, was sich zum Beispiel auch in der Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 1972 widerspiegelte. Mit 91,2 Prozent war sie die höchste, die es je in der Geschichte der Bundesrepublik gegeben hat.75
68 | Ebd. 69 | Ebd., S. 285f. 70 | Steinmeier, Frank-Walter im ersten Gespräch mit dem Autor am 01.07.2013. 71 | Ebd. 72 | O.V.: Brandt bleibt Bundeskanzler – Barzel erhielt nur 247 Stimmen; in: Lippische Landes-Zeitung, 28.04.1972, S. 1. 73 | Ebd. 74 | Hesse, J.; Ellwein, T.: Das Regierungssystem der Bundesrepublik, 2012, S. 46. 75 | Vgl. Glaeßner, G.-J.: Demokratie und Politik, 1999, S. 286.
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Auch über die dezidierte Politik hinaus waren die 1970er Jahre eine Zeit der deutlichen »Politisierung«.76 Neben der Frauenbewegung lag hier auch die Gründung vieler Bürgerinitiativen, die Anti-Atomkraft-Bewegung und die Friedensbewegung.77 Es wird offenbar, dass das, was sich im Wahlergebnis der SPD von 1972, mit 45,2 Prozent das beste in ihrer Geschichte,78 schon ansatzweise widerspiegelte, sich spätestens 1980 mit der Gründung der Grünen manifestierte: Die Bundesrepublik öffnete sich nach links. Auch in anderer Hinsicht waren die 1970er Jahre eine Zeit des Wandels, wie sich ein Jahr vor Steinmeiers Abitur zeigen sollte. Als er 17 Jahre alt war, fand mit dem Ölpreisschock von 1973 eine Wende statt, die »mehr als eine bloß politische Richtungsänderung« war, »sondern vielmehr […] ein[] allgemeine[r] Kulturschock, in dessen Zusammenhang ein Begriff wie ›Grenzen des Wachstums‹ […] erst seine Signifikanz entfalten konnte«.79 Es war »eine grundsätzliche Wende gegen den Glauben an uneingeschränkte Machbarkeit, gegen technokratische Zukunftsplanung und auch gegen die unhinterfragte Orientierung an wirtschaftlichem Wachstum.«80 Das Jahr 1973 wird gemeinhin als das »Ende der Nachkriegszeit«81 beschrieben, mehr noch: »Der Westen erlebte seine tiefste Krise in der Nachkriegszeit, vielleicht sogar seit 1929.«82 Im Rückblick ist schwer zu beurteilen, wie stark Steinmeier persönlich davon betroffen gewesen sein mag. Es gibt sicherlich Gründe zu argumentieren, dass solche welt- und bundespolitischen Veränderungen von einem Jugendlichen gar nicht so bewusst wahrgenommen werden in diesem Alter, dass also das Leben im Kleinen seinen normalen Gang weitergeht. Das mag sein, doch: Die Bundesrepublik, in der Steinmeier fortan aufwuchs, war eine andere. Er selbst musste daher gar nicht ungemein viel davon mitbekommen haben, es vollzog sich ganz von selbst durch Teilhabe am politischen System. Hierbei muss man berücksichtigen, dass bis Anfang der 1970er Jahre Vollbeschäftigung in Deutschland erreicht war. Politiker und Wähler waren »bis in die Gene vom Erlebnis des ›Wirtschaftswunders‹ durchdrungen gewesen, das eine in ganz Westeuropa und darüber hinaus bewunderte industrielle Demo76 | Rödder, Andreas: Die Bundesrepublik Deutschland, 1969-1990, München 2004, S. 64ff. 77 | Vgl. ebd. 78 | Vgl. Glaeßner, G.-J.: Demokratie und Politik, 1999, S. 286. 79 | Rödder, A.: Die Bundesrepublik Deutschland, 2004, S. 50. 80 | Ebd. 81 | Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1949-1990, Bonn 2010, S. 60; vgl. auch Walter, Franz: Vorwärts oder abwärts? Zur Transformation der Sozialdemokratie, Berlin 2010, S. 8f. 82 | Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1949-1990, Bonn 2010, S. 61.
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kratie hatte auf blühen lassen«.83 Es war »einerseits eine Volkswirtschaft von beispielloser Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit, andererseits aber eine Industriegesellschaft von vorbildlicher Modernität« zu besichtigen.84 Doch auch in Deutschland trübte sich in den folgenden Jahren die wirtschaftliche Lage merklich ein. Das Ende des Nachkriegsbooms wird im Rückblick in das Zeitfenster von 1971 bis 1975 datiert,85 was auch an Zahlen festzumachen ist: »Bereits im Boom-Jahr 1970 waren die Einnahmen des Bundes um 2,3 Mrd. unter dem geschätzten Soll geblieben. Schätzungen von Wirtschaftsinstituten ergaben, daß die Einnahmen von Bund und Ländern mittelfristig erheblich unter den 1970 geschätzten Angaben liegen würden. Wenn man nicht den Kreditrahmen der öffentlichen Hand erheblich ausweiten und damit die ohnehin schon problematische Preisentwicklung weiter befördern wollte, blieb zumindest für neue Reformvorhaben kein Geld übrig. Verschärft wurden diese inneren Probleme durch die Krise des Weltwährungssystems von Bretton Woods. Diese, hier nur angedeuteten, Rahmenbedingungen führten Mitte der 70er Jahre zu einem massiven Konjunktureinbruch. Das Bruttosozialprodukt stieg 1973 noch um 5,1 %, stagnierte 1974 bei 0,4 % und fiel 1975 um 3,5 %. Die Industrieproduktion sank 1974 um 7,6 %, die Zahl der Arbeitslosen stieg von 273.000 im Jahre 1973 auf 582.000 ein Jahr später und 1975 erstmals auf über eine Million.« 86
Probleme, deren Lösungssuche erst mit der späteren Agenda 2010 begonnen wurde, hatten in dieser Zeit ihren Ursprung. Denn mit der Wirtschaftskrise geriet auch das Wohlfahrtssystem ins Wanken. Damals waren »weder die Wähler noch die gewählten Volksvertreter bereit, den über die Jahrzehnte von einfallsreichen Sozialpolitikern entwickelten Wohlfahrtsstaat den schrumpfenden Verteilungsspielräumen anzupassen.«87 Ob Rente, Kindergeld oder »Karenztage im Krankheitsfall« – nirgendwo wollte man sich an Änderungen wagen. »Erwies sich die Kassenlage als besonders kritisch, waren gewisse Anpassungen« jedoch »unumgänglich.«88 Dennoch: Die Politik schaffte es nicht, einen großen Wurf in Fragen einer Reform der Sozial- und Gesellschaftspolitik mit damit einhergehendem Abbau von Leistungen herbeizuführen.89 Und so war die Sozialpolitik eines der großen Problemfelder der 1970er Jahre, deren Auswirkungen lange nachwirkten. Denn die Sozialausgaben erfuhren auch nach Ende des Booms 83 | Schwarz, H.-P.: Helmut Kohl, 2012, S. 292. 84 | Ebd. 85 | Vgl. Glaeßner, G.-J.: Demokratie und Politik, 1999, S. 289. 86 | Ebd. 87 | Schwarz, H.-P.: Helmut Kohl, 2012, S. 296. 88 | Ebd. 89 | Vgl. ebd.
2. Kindheit und Jugend »noch immer eine fast naturwüchsige Vermehrung. Verschiebung bestimmter Zusagen, Abbremsen des Ausgabenaufwuchses, Querverschiebungen innerhalb der Sozialhaushalte, moderate Steuererhöhungen sollten aushelfen. Das meiste wurde über eine Erhöhung der Staatsschulden finanziert.« 90
Gleichzeitig erhöhten sich durch die zunehmende Arbeitslosigkeit, wenig überraschend, natürlich auch die Beiträge, »die die Arbeitnehmer in die Sozialversicherungen einzahlen mussten.«91 Überhaupt bedeutete die Wirtschaftskrise einen enormen Wandel hin sichtlich des Arbeitsmarktes. Denn es waren nicht mehr nur die unqualifizierten Arbeiter, die ihren Job verloren, sondern vielmehr auch jene hochqualifizierten Arbeiter in der Industrie.92 Das lag auch daran, dass viele Branchen im Zuge der einsetzenden Globalisierung und dem damit verbundenen »globalen Wettbewerb[]«, dem sie fortan ausgesetzt waren, »in Schieflage« gerieten.93 In den 1960ern betraf das nur den Kohleabbau, nun aber »kamen die Stahlindustrie, der Schiff bau und die Textilindustrie dazu.«94 In diesen Jahren wurde ein gesellschaftlicher Wandel eingeleitet, in der der »Dienstleistungssektor« deutlich zunahm und dieser die Gesellschaft bald »volkswirtschaftlich« dominieren sollte.95 Weltwirtschaftskrise und Ölkrise könnten auf den 17-jährigen Steinmeier aber noch aus ganz anderer Hinsicht prägend gewesen sein. So wirkte sich der Ölpreisschock auf ein weiteres großes Thema aus: die Energiepolitik. »[E]ine Kettenreaktion mit Fernwirkungen bis heute« wurde »in Gang« gesetzt,96 an deren Spitze der Ausbau der Atomenergie und die gleichzeitig aufkommende Gegenbewegung, aus der die späteren Grünen hervorgegangen sind, standen. Dieser aufflammende Konflikt zog sich, wie die Frage nach einer gerechten Sozialpolitik in Zeiten des wirtschaftlichen Wandels, mit Beginn von Steinmeiers politischer Sozialisation über seine ganze wissenschaftliche und politische Karriere hindurch.
90 | Ebd. 91 | Hassel, Anke; Schiller, Christof: Der Fall Hartz IV. Wie es zur Agenda 2010 kam und wie es weitergeht, Frankfurt a.M. 2010, S. 59. 92 | Vgl. ebd. 93 | Schwarz, H.-P.: Helmut Kohl, 2012, S. 293. 94 | Ebd.; vgl. auch Kopp, Julia: Vom Herzen der deutschen Industrialisierung zum Kulturartefakt. Das Zechensterben im Ruhrgebiet; in: Lorenz, Robert; Walter, Franz (Hg.): 1964 – Das Jahr, mit dem ›68‹ begann, Bielefeld 2014, S. 275-286; vgl. auch Walter, F.: Vorwärts oder abwärts?, 2010, S. 11. 95 | Schmidt, A.: Die Sozialgeschichte der Bundesrepublik, 2007, S. 56. 96 | Schwarz, H.-P.: Helmut Kohl, 2012, S. 297.
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Was bei alledem nicht vergessen werden darf, sind die zunehmenden bildungspolitischen Maßnahmen, die während der Zeit von Steinmeiers Heranwachsen von der Politik, vornehmlich angetrieben von der Sozialdemokratie,97 durchgeführt worden sind. So stieg etwa die Zahl der Lehrer von 1964 bis Anfang der 1980er Jahre von 300.000 auf über eine halbe Million, das Gymnasium stand immer mehr auch der einfacheren Bevölkerung zur Verfügung, wovon auch Steinmeier profitierte. Er legte sein Abitur im Jahr 1974 mit guten, aber nicht überdurchschnittlichen Noten ab.98 Hat die erste bundesrepublikanische Generation also »die NS-Zeit, ihr Ende und die Folgen erlebt [, wurde] die zweite Generation […] in die beiden ersten Dekaden der Bundesrepublik hineinsozialisiert«.99 Sie identifizierte sich zunehmend mit ihr. »Eine größere Distanz zur geschaffenen politischen Ordnung und ihren Wertpostulaten zeigt[e] die dritte Generation, die ihre prägenden Einflüsse während der Studentenrevolte […] erhalten hat.«100 Nun also kam die »vierte Generation«, die als »entideologisiert, postmateriell und auf ökologische Werte fixiert« beschrieben wird.101 Es war eine Zeit, in der, mit Ausnahme der sich zuspitzenden Gewalttaten der RAF, eine »pragmatische Demokratiezufriedenheit« einkehrte.102 Diese, Steinmeiers Generation, ist womöglich die erste Normal-Generation, eine Generation in einer Demokratie, die in der Demokratie geboren worden und in ihr aufgewachsen ist. Diese erste Hälfte der 1970er Jahre war es auch, die Steinmeier, wie im folgenden Kapitel zu sehen ist, zur SPD führen sollte.
2.3 (S ozialdemokr atische) P olitisierung Zwar will sich Jugendfreund Peter Hausstätter laut Stern daran erinnern, dass Vater Steinmeier und Sohn Frank-Walter stundenlang in der Küche gesessen und über verschiedenste Fragen geredet hätten. Er habe sich dabei häufig ge97 | Franz Walter hält hierzu etwa fest, dass die Sozialdemokraten in dieser Zeit »die Bildungspolitik im Bund und in den Ländern kräftig vorangetrieben« hatten, was neben der SPD auch »die Republik verändert« habe, hatte doch lange Zeit »das Bürgertum seine Bildungsprivilegien verbissen verteidigt[]«; Walter, F.: Die SPD, 2009, S. 171f. 98 | Vgl. Lütjen, T.: Frank-Walter Steinmeier, 2009, S. 24. 99 | Pfetsch, Frank R.: Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Von Adenauer zu Merkel, Schwalbach 2012 2, S. 206f. 100 | Ebd. 101 | Ebd. 102 | Korte, Karl-Rudolf; Weidenfeld, Werner: Die Deutschen. Profil einer Nation, Stuttgart 1991, S. 139; vgl. auch Korte, Karl-Rudolf; Fröhlich, Manuel: Politik und Regieren in Deutschland, Paderborn 2009 3, S. 111.
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fragt: »Mensch, wovon reden die?« Und wenn Frank ihn in eine politische Diskussion verwickeln wollte, habe der Freund nur entgegnet: »Nee, lass mal, Politik bringt nur Ärger.«103 Steinmeiers Vater hingegen wiegelte in der Süddeutschen Zeitung ab: »Wir waren nie der Haushalt, in dem große politische Debatten geführt wurden«.104 Ein grundsätzliches Interesse dürfte von Zuhause daher zwar mitgegeben worden sein, nicht jedoch dürften die Eltern eine maßgebliche Rolle bei Steinmeiers Politisierung gespielt haben – außer dass sie in einem sozialdemokratisch-geprägten Ort wohnten. Wichtig für Steinmeiers Politisierung war neben dem Misstrauensvotum Willy Brandts nach eigener Darstellung ein Jugendkreis,105 an deren Entstehung er maßgeblich beteiligt war. Die Bemühungen darum fügten sich im kleinen Brakelsiek in die Jugendzentrumsbewegung der 1970er Jahre.106 Im Ort habe es dabei ein Gebäude, die ehemalige Grundschule, gegeben, das, so Steinmeier, »schon ’ne Weile frei« gestanden habe. »Und wir haben dann […] angefangen, da mal mit ’nen paar Leuten da vor Ort uns zu organisieren und Briefe zu schreiben und Veranstaltungen zu machen: Wir brauchen ein unabhängiges Jugendzentrum«.107 Sein Bruder Dirk erinnert sich an die damalige Situation mit den Worten, dass es »damals zwei Gruppen im Dorf« gegeben habe, »die Jungs aus der Siedlung und die vom Unterdorf. Zu denen gehörten wir. Beide Gruppen trafen sich im Bushäuschen. Das gab regelmäßig Ärger, weil das oft verdreckt und voll mit Kippen war. Also haben beide Gruppen unabhängig voneinander versucht, einen Raum zu kriegen. Der Bürgermeister meinte, wir sollten uns erst mal einigen, zwei Jugendzentren seien nicht zu machen. Und da hat der Frank zum ersten Mal gezeigt, wie gut er vermitteln kann. Er hat die beiden Gruppen zusammengeholt und den Streit geschlichtet.«108
Auch Verbic bestätigt, dass Steinmeier »diesen Jugendkreis da so ’nen bisschen versucht [hatte] in Gang zu bringen.«109 103 | Rosenkranz, J.: Auf der Suche; in: Stern, 12.02.2009, S. 44. 104 | Zitiert nach Graalmann, Dirk: Sie nannten ihn Prickel; in: Süddeutsche Zeitung, 21.08.2008, S. 3. 105 | Vgl. Steinmeier, Frank-Walter im ersten Gespräch mit dem Autor am 01.07.2013. 106 | Vgl. z.B. Hering, Sabine; Münchmeier, Richard: Restauration und Reform – Die Soziale Arbeit nach 1945; in: Thole, Werner (Hg.): Grundriss Soziale Arbeit: Ein einführendes Handbuch, Wiesbaden 20124, S. 109-130; hier: S. 126. 107 | Steinmeier, Frank-Walter im ersten Gespräch mit dem Autor am 01.07.2013. 108 | Zitiert nach Basel, N.; Haberl, T.; Heidtmann, J.: Steinmeier; in: Süddeutsche Zeitung Magazin, 07.11.2008, S. 14f. 109 | Verbic, Heinz im Gespräch mit dem Autor am 02.04.2014.
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War Willy Brandts Misstrauensvotum Bundespolitik, waren es hier die örtlichen Strukturen, die bewegten. An diesen zwei Themen ist gut der Kontrast zu sehen zwischen der großen Politik und der Politik im kleinen, Politik, die für einen jungen Schüler greif barer gewesen sein könnte. Für ihn selbst, erinnert sich Steinmeier, sei es der Punkt gewesen, »wo ein Mensch politisch wird. Und am Ende haben wir uns durchgesetzt […] [D]as sind so Grunderfahrungen, die man als junger Mensch, glaube ich, braucht. Die Grunderfahrung: Du mischst dich ein und es verändert sich was.«110 Dass das allerdings die Voraussetzung gewesen sei, sich »irgendwann in den neunziger Jahren […] entschieden« zu haben, »aus meinem politischen Interesse ’nen Beruf zu machen«, so weit geht dann auch er nicht. Steinmeier sieht diese Begebenheit jedoch zumindest retrospektiv als eine »der Grunderfahrungen, warum ich durch […] mein Leben hindurch […] immer ein politischer Mensch geblieben bin.«111 In der Tat sollte das Bemühen der Jugendlichen ein kleiner Erfolg werden. Einige Jahre später wurde der Jugendkreis schließlich offiziell zu einem Verein. Frank Steinmeier, mittlerweile Jura-Student in Gießen, sei für das Vertragswerk der »geistige Vater« gewesen, habe es verfasst, erinnert sich ein weiterer Brakelsieker.112 In der »Satzung des Jugendkreises Brakelsiek e.V.«, die am 8. Januar 1980 vom Amtsgericht Blomberg beglaubigt wurde, taucht zwar nur der Name des jüngeren Dirks auf – als einer von 19.113 »Die konstituierende Sitzung des heutigen Jugendkreises«, erinnert sich aber eben dieser, habe »bei uns im Keller stattgefunden.«114 Diese Begebenheit zeigt, wie verwurzelt die Steinmeiers in den Dorfstrukturen gewesen sein müssen. Der Jugendkreis existiert noch immer und zählt rund 40 Jahre und eine digitale Revolution später, im Jahr 2014, 50 Mitglieder auf Facebook.115 In die Mitte jenes für Steinmeier politisierenden Jahrzehnts fiel sein Beitritt zur IG Metall, der, glaubt man Verbic, eher zufällig geschah. »[I]ch war 110 | Steinmeier, Frank-Walter im ersten Gespräch mit dem Autor am 01.07.2013. 111 | Ebd. 112 | So ein Interviewpartner, der nicht genannt werden möchte, im Gespräch mit dem Autor. (Um die Anonymität zu wahren, wird für alle anonymisierten Personen eine männliche Form verwendet.) (Nr. 41) 113 | Dokument mit dem Titel »Satzung des Jugendkreises Brakelsiek e.V.« und der Vereinsregisternummer VR 50209 (Das Dokument wurde vom Amtsgericht Lemgo zur Verfügung gestellt). 114 | Zitiert nach Basel, N.; Haberl, T.; Heidtmann, J.: Steinmeier; in: Süddeutsche Zeitung Magazin, 07.11.2008, S. 15. 115 | Vgl. Facebook-Seite des Brakelsieker Jugendkreises; abrufbar unter: https:// www.facebook.com/Jugendkreis-Brakelsiek-eV-871379406262670/?fref=ts (zuletzt eingesehen am 27.04.2016).
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Betriebsratsvorsitzender«, erinnert sich der Lipperländer: »Dann hab’ ich gesagt, Frank, wir müssen mal zur IG-Metall-Verwaltungsstelle nach Detmold. Und dann sind wir bald dahingefahren.«116 Dort seien sie dem dortigen Bevollmächtigten begegnet, der gefragt habe, »wer ist das denn?« »Das ist der Frank hier«, erinnert sich Verbic an seine Antwort, »der ist zurzeit noch auf dem Gymnasium.«117 Der Bevollmächtige habe sich daraufhin nach der Mitgliedschaft Steinmeiers in der IG Metall erkundigt und gesagt: »Dann nehmen wir ihn gleich auf«.118 Wie immer diese Erzählung zu bewerten ist, kann Verbic jedenfalls als Schlüsselfigur für diese Zeit eingeordnet werden, weil er gleich mehrmals eine wichtige politische Bezugsfigur für den jungen Frank-Walter war. Nicht unbemerkt geblieben sein dürfte diesen zwei jungen Menschen auch die Schließung eines großen metallverarbeitenden Betriebs im 50 Autominuten entfernten Kalldorf. Selbst der Spiegel widmete diesem Ereignis eine Geschichte. Der Betrieb wolle sein »Zweigwerk Kalldorf, Ortsteil von Kalletal, zum Jahresende dichtmachen, 588 Leute sind dort noch in Arbeit.«119 Nunmehr, so berichtete das Magazin, mache der Betriebsrat noch einmal mobil, »weil […] bis heute niemand weiß, was aus den Beschäftigten denn nun eigentlich werden soll, weil alle Streiks und Proteste daheim nichts geholfen haben und über das Lipperland hinaus auch kaum registriert worden« seien.120 Im Lipperland konnte so der schon erwähnte Strukturwandel, der in den 1960er, spätestens in den 1970er Jahren einsetzte, hautnah besichtigt werden. Steinmeier nahm zwar selbst nicht an Demonstrationen teil, die Proteste waren aber, glaubt man seinen Aussagen, in der Region in aller Munde. In seiner Autobiographie erinnerte er sich, ähnlich wie Verbic,121 daran,
116 | Verbic, Heinz im Gespräch mit dem Autor am 02.04.2014. 117 | Ebd. 118 | Ebd. 119 | O.V.: Drei Tage Hungerstreik; in: Spiegel, 16.06.1975, S. 61-64; hier: S. 61; vgl. auch IG Metall – Bezirksleitung Münster –: Wir kämpfen um unsere Arbeitsplätze. Dokumentation der Belegschaft DEMAG-Kunststofftechnik, Kalldorf (Lippe), 1966-1975; Juli 1975. 120 | Ebd. 121 | Verbic erzählt im Gespräch mit dem Autor von dieser Schließung und sagt: »[I]n Kalldorf [ist] [ei]n größerer Betrieb mit [ei]n paar hundert Beschäftigten, […] geschlossen worden. [D]a gab’s […] auch, organisiert durch die IG Metall, Widerstand […]. [D]as hat die Menschen auch hier bewegt hier. Und wir haben dann ’ne Demonstration gemacht in Kalldorf. […] [J]a, das war ja so ’ne Zeit, wo […] die IG Metall zum Streik aufgerufen hatte, den Betrieb zu besetzen.«; Verbic, Heinz im Gespräch mit dem Autor am 02.04.2014.
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II. Frühe Jahre »dass die mutwillige Schließung eines Maschinenbaubetriebs nicht weit von uns einer der ersten Fälle sichtbarer sozialer Ungerechtigkeit war, der mich stark berührt hat. Wie viele andere empfand ich Respekt und Bewunderung für die Arbeiter, die sich dem widersetzten, die Mut zeigten, in die Öffentlichkeit gingen und zeitweilig sogar ihren Betrieb besetzten.«122
In jener ersten Hälfte der 1970er Jahre soll die Tuchfühlung Steinmeiers mit den Jusos stattgefunden haben. Als Steinmeier noch Schüler war und im Jugendkreis Veranstaltungen organisierte und mit den anderen Jugendlichen diskutierte, wollte Verbic im Nachbarort eben eine solche Jugendorganisation gründen. Steinmeier stieß hier bald dazu, zumindest, wenn man Verbics Erinnerungen über 40 Jahre später Glauben schenken mag. Eines Tages, »Anfang, Mitte der 70er Jahre« habe Steinmeier mit einem alten Auto und einem »kleine[n] Hund, der der Freundin gehörte, hier bei mir vor der Tür« gestanden.123 Steinmeier habe gesagt: »Mensch, […] ich bin der Frank […] und vielleicht können wir da gemeinsam mal was machen.«124 Er trat schließlich den örtlichen Jusos bei, die jedoch selbst bei Veranstaltungen allerdings nicht viel mehr als zehn Anwesende zählten.125 Laut Verbic hatten sie in dieser Zeit auch erste kleine politische Ideen forciert und zumindest kleinere Dinge bewirkt: »Und das hat sich dann so entwickelt, dass wir hier versucht haben, […] auf politischem Wege was auszurichten, zunächst auf kommunalpolitischer Ebene […]. Wir haben mit den […] SPD-Ratsmitgliedern geredet und […] haben gesagt, wir möchten auch ganz gerne […] Mandate mit übernehmen. Aber das ist ja so festgefahren gewesen, dass die gesagt haben, ihr seid doch viel zu jung, ihr müsst erst mal Erfahrung sammeln. Und das könnt ihr alles nicht und das geht alles gar nicht. Klebt erst mal Plakate.«126
Steinmeier dürfte hier womöglich erstmals die Grenzen des Parteipolitischen, der klassischen Karrierewege also, die häufig Ochsentour genannt werden und die feste (und festgefahrene) Wege und Strukturen kannten, gesehen und zu spüren bekommen haben. Interessant und glaubhaft ist diese Begebenheit deshalb, weil Steinmeier selbst einmal viele Jahre später, wie noch zu zeigen sein wird, ähnliche Strukturen als Bundespolitiker aufzubrechen versucht hat. Zu diesem Zeitpunkt in den Siebzigern habe man dann zwar auch Plakate ge-
122 | Steinmeier, F.-W.: Mein Deutschland, 2009, S. 20. 123 | Verbic, Heinz im Gespräch mit dem Autor am 02.04.2014. 124 | Ebd. 125 | Vgl. ebd. 126 | Ebd.
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klebt, habe aber bald auch begonnen Anträge zu formulieren und versucht Einfluss zu gewinnen – als ein gut funktionierendes Tandem: »Frank, der ist ja immer auch damals schon so ’nen bisschen Diplomat gewesen […]. Und ich war immer jemand, der aus der praktischen Arbeit gesagt hat, das kann doch nicht so gehen, man muss doch irgendwie mal […] was verändern hier bei der festgefahrenen Struktur, alles alte Männer im Rat und eine Frau nur drin. Und dann müssen wir mal gucken, ob wir nicht auch ein Mandat bekommen. Ich kann‹ mich noch ganz genau erinnern, dass einige Ratsmitglieder ganz viele Posten gesammelt hatten. […] Und wir dann gesagt haben, wenn sich jemand anderes findet, muss das dazu führen, dass […] die Mandate, die die SPD […] hat, auf möglichst viele Mitglieder verteilt werden. […] [D]ieser Beschluss gilt bis heute noch.«127
In Bezug auf die politische Verortung, soweit diese denn in so kurzer Zeit entstehen konnte, glorifiziert Verbic diese Zeit zudem nicht, erinnert sich, dass sie »nicht unbedingt links« waren, jedoch »schon fortschrittlich«.128 Anders als bei Juso-Größen wie Schröder schienen dabei keine größeren partei- und machtpolitischen Bestrebungen vorhanden gewesen zu sein, der Fokus ihrer Arbeit lag auf der örtlichen Arbeit. Damalige Protagonisten aus den Nachbargemeinden jedenfalls konnten sich rückblickend nicht unbedingt an eine Juso-Tätigkeit Steinmeiers erinnern129 und auch Steinmeier selbst beließ es in der Rückschau bei wenigen Kommentaren.130 Ohnehin kann es sich nur um eine kurze Episode gehandelt haben, in der er sich dort engagierte, verließ er doch 1975 aufgrund des Wehrdienstes Brakelsiek und war zu dieser Zeit und auch danach als Student, wenn überhaupt, nur noch am Wochenende vor Ort. Auf das Wesentliche reduziert, gehörte Steinmeier also mehrmals zu den Mitgründern von Organisationen, erst dem Jugendkreis, später den Jusos im Ort. Er war vermutlich eher links, wenngleich nicht ins Extreme gehend. Wie es scheint, arbeitete er bereits damals eher an praktischen Problemen, diskutierte jedoch auch gern. Er schien sich für Politik im Allgemeinen – und weniger für Parteipolitik – zu interessieren. Dabei hatte es keiner Kämpfe bedurft. »Er klingelte an der Tür und stellte sich höflich vor«, schrieb ein anderer 127 | Ebd. 128 | Ebd. 129 | Vgl. Lütjen, T.: Frank-Walter Steinmeier, 2009, S. 25. 130 | Zum Beispiel spricht Steinmeier davon, dass er »ein, zwei Jahre bei den Jusos reingeschnuppert« habe; siehe: Steinmeier, Frank-Walter: Von Dackeln, Parteitagsbeschlüssen und Solidarität – meine ersten Jahre in der SPD; in: Nahles, Andrea; Hendricks, Babara: Für Fortschritt und Gerechtigkeit. Eine Chronik der SPD, Berlin 2013, S. 112-114; hier: S. 112.
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Steinmeier-Biograph einmal,131 was zumindest auf seine Mitgliedschaft bei der IG-Metall und den Jusos tatsächlich zutraf. Doch Steinmeier musste sich eben auch aktiv für diese Mitgliedschaften entscheiden. Eine solche Entscheidung war auch – bereits nach der Schließung des Kalldorfer Betriebes und inmitten des Wehrdienstes132 – sein Beitritt zur SPD im November 1975.133 Er war damit der Erste in seiner Familie, der ein sozialdemokratisches Parteibuch in den Händen hielt. Sein Vater war zwar im Ort als Sozialdemokrat bekannt,134 Mitglied aber wurde er erst viel später. Der junge Frank-Walter holte seinen Vater Walter nach. Gerade noch so, könnte man meinen, hatte die SPD zwei weitere Sozialdemokraten gewonnen. Denn politische Institutionen verloren in jenen Jahren schon wieder an »Bindungskraft«, was sich »auch am Beispiel der Parteien« bemerkbar machte.135 Diese erfuhren zwar »zu Beginn der 1970er Jahre, in einer Phase starker Politisierung, noch einmal einen beträchtlichen Zulauf«, verzeichneten »dann aber Mitgliederstagnation oder gar -schwund […], zumal viele politisch Engagierte sich in Bewegungen außerhalb 131 | Lütjen, T.: Frank-Walter Steinmeier, 2009, S. 28. 132 | Steinmeier erinnert sich heute an seine Entscheidung. Die Frage nach Zivildienst oder Bundeswehr sei »in meinem jugendlichen Alter – sechzehn, siebzehn – noch keine der wirklich heiß diskutiertesten Fragen« in seiner Jugend im Dorf gewesen. »Jedenfalls glaube ich, dass in meinem Abiturjahrgang fast alle Jungs bei der Bundeswehr waren.« Hinzu sei gekommen, dass er einfach »kein eigenes pazifistisches Grundverständnis hatte […]. Also im Sinne von: Ich fasse nie eine Waffe an und kann mir nicht vorstellen, dass es auf dieser Welt weiterhin auch militärische Auseinandersetzungen und eine Notwendigkeit der Verteidigung gibt.« Steinmeier spricht offen über dieses Thema, und räumt ein, dass er auch, wenn es eine Debatte um den Zivildienst bei ihm mehr gegeben hätte, nicht sicher gewesen wäre, dass er »auf der Seite der Kriegsdienstverweigerer gestanden hätte.« (Steinmeier, Frank-Walter im ersten Gespräch mit dem Autor am 01.07.2013) Dazu passt, dass er statt den vorgeschriebenen 18 Monate sogar noch drei weitere Monate anhängte, um sein Studium indirekt vorzufinanzieren. (Vgl. Lütjen, T.: Frank-Walter Steinmeier, 2009, S. 28) Allerdings war die Zahl der Zivildienstleistenden zu diesem Zeitpunkt mit 13.595 noch marginal. (Bundesamt für gesundheitliche Aufklärung: Einberufungen zum Zivildienst, ohne Datumsangabe; abrufbar unter: https://www.bafza.de/fileadmin/de.bafza/content.de/downloads/Abt2/201/Zahl_ der_Einberufungen_Stand_2012.pdf [zuletzt eingesehen am 02.06.2016].) Wie groß der Diskurs um den Zivildienst in den 1970er Jahren noch war, offenbart auch der Blick in damalige Medienberichte. Vgl. z.B. o.V.: »Die wollen dem Staat in die Fresse hauen«; in: Spiegel, 23.01.1978, S. 34-41. 133 | Vgl. o.V.: Gebürtiger Lipperländer; in: Rheinische Post, 10.09.2008, S. 5. 134 | Vgl. Verbic, Heinz im Gespräch mit dem Autor am 02.04.2014. 135 | Hesse, J.; Ellwein, T.: Das Regierungssystem der Bundesrepublik, 2012, S. 48.
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der Parteien zu organisieren suchten.«136 Steinmeier war zunächst auch außerhalb einer Partei aktiv und trat erst mit 19 Jahren in die SPD ein. Die Wirtschaftskrise hatte mittlerweile die Vollbeschäftigung in weite Ferne gerückt. »Als in der Tagesschau 1975 die erste Million Arbeitsloser gemeldet wurde,« schrieb Steinmeier rückblickend, »war das Land nicht mehr dasselbe«.137 Es war ein Thema, das auch in der Lippischen Landes-Zeitung rege diskutiert wurde. Im Mai 1974 titelte die Zeitung: »Erwartete Verbesserung bleibt aus: Keine Wende am Arbeitsmarkt. Noch über 500 000 Arbeitslose.«138 Ein Jahr später sah die Lage nur bedingt besser aus: »Nur langsame Belebung auf dem Arbeitsmarkt.«139 Ende 1975 ließ sich der Vorsitzende des Einzelhandelsverbandes Lippe mit den Worten zitieren: »Im letzten Jahr haben fast alle Branchen ohne Gewinn abgeschlossen. Es wäre schön, wenn wir 1976 wieder Rendite machen könnten.«140 Die Prognosen blieben aus damaliger Sicht düster: »Vollbeschäftigung auch 1977 nicht zu schaffen. Arbeitgeberpräsident fordert maßvolle Lohnpolitik«, hieß es in der gleichen Zeitung.141 Steinmeiers Wehrdienst neigte sich unterdessen dem Ende zu, und die Entscheidung über sein Studium stand, wie im folgenden Kapitel zu sehen ist, kurz bevor.
136 | Ebd. 137 | Steinmeier, F.-W.: Mein Deutschland, 2009, S. 70. 138 | O.V.: Erwartete Verbesserung bleibt aus; in: Lippische Landes-Zeitung, 08.05. 1974, S. 3. 139 | O.V.: Nur langsame Belebung auf dem Arbeitsmarkt; in: Lippische Landes-Zeitung, 07.05.1975 S. 1-2; hier: S. 1. 140 | Zitiert nach o.V.: 1,5 Mio. Arbeitslose unwahrscheinlich; in: Lippische LandesZeitung, 31.12.1975, S. 18. 141 | O.V.: Vollbeschäftigung auch 1977 nicht zu schaffen. Arbeitgeberpräsident fordert maßvolle Lohnpolitik; in: Lippische Landes-Zeitung, 30.12.1975, S. 1-2; hier: S. 1.
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3. Lehrjahre in der Wissenschaft 3.1 D er S tudent Steinmeier wollte nach dem Abitur studieren, das, so erinnern sich zumindest im Rückblick seine Freunde, stand für ihn früh fest.1 Und auch Steinmeiers retrospektive Äußerungen stellen nicht die Frage nach dem ob, sondern vielmehr die Frage nach dem was in den Mittelpunkt. Demnach hatte er verschiedene Studienrichtungen in die engere Auswahl genommen. Das Spektrum reichte von Architektur über Journalismus bis hin zum Jura-Studium, also vom künstlerisch-kreativen Zweig bis hin zu den pragmatischeren Rechtswissenschaften. Steinmeiers Gründe, sich letztendlich für ein Jura-Studium entschieden zu haben, klingen in der Rückschau denn auch recht pragmatisch. Er habe zunächst gedacht, dass vielleicht Journalismus das sei, auf das »es am Ende hinausläuft. […] [D]ann hab’ ich aber jemanden getroffen, der war ein bisschen älter als ich, war auf meiner Schule in Blomberg, […] hatte schon Abitur, hatte […] [sein] Studium angefangen. Und der sagte […]: Journalismus – das kannst […] [du] mit jedem Studienabschluss machen.« 2
Steinmeier erzählt außerdem von seinem »Faible für Architektur«, erinnert sich beinahe ein wenig wehmütig an die damalige Zeit und die Entscheidung gegen ein Architektur-Studium. Das sei »noch vor dem großen Bauboom der sozialliberalen Zeit« gewesen, »das war ’ne schwierige Zeit für Architekten. Das hab’ ich dann irgendwie nicht gewagt.«3 Das Elternhaus war für Steinmeiers Entscheidung, zumindest in seiner Erinnerung, zudem mitprägend. »[M]eine Mutter ist Flüchtling, mein Vater war Tischler […] [W]ir hatten gebaut und es ging nicht so üppig zu«. 4 Das könne »man kritisieren«, fügt er hinzu, »aber dann hab’ ich gedacht, machst Du eher 1 | Vgl. z.B. Verbic, Heinz im Gespräch mit dem Autor am 02.04.2014. 2 | Steinmeier, Frank-Walter im ersten Gespräch mit dem Autor am 01.07.2013. 3 | Ebd. 4 | Ebd.
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ein Brot-und-Butter-Studium und guckst mal, was draus wird.«5 Glaubt man seinen Ausführungen, war es also eine vor allem rein rationale Entscheidung, die ihn zu diesem Brot-und-Butter-Studium führte. Das klingt insofern plausibel, als dass Steinmeier an dieser Stelle auch eine Geschichte hätte erzählen können, wie sehr es doch immer sein Wunsch gewesen sei, Jura zu studieren. Das allerdings tat er in keiner Weise. Und so bleibt am Ende die Geschichte einer nüchternen Abwägung und des Wunsches nach einem Sicherheitsbedürfnis, das sich in Ansätzen auch durch einen Teil seiner späteren Karriere zieht. Dass Steinmeier überhaupt studieren konnte, lag auch an den sozialliberalen Bildungsreformen. 1971 wurde die Ausbildungsförderung BAföG eingeführt,6 zudem kam es zu milliardenschweren Investitionen ins Bildungswesen.7 In der Folge stiegen die Studierendenzahlen deutlich an.8 Bis heute beruft sich Steinmeier immer wieder auf eine dieser Errungenschaften, das BAföG, das ihm das Studium erst ermöglicht habe.9 Und so ging Steinmeier 1976 nach Gießen an die Justus-Liebig-Universität, wo bald sein politisches Interesse erneut sichtbar und ein politischer Standpunkt deutlicher als in den jungen Jahren zuvor Konturen annahm. Das wird spätestens beim Blick in die Fachschaftszeitschrift Basis News deutlich, deren Mitbegründer Steinmeier als Mitglied der Gießener Fachschaft Jura war. Erstmals ist die Zeitschrift rund anderthalb Jahre nach Steinmeiers Studienbeginn im April 1978 in einer Auflage von 600 Stück erschienen.10 Zeitweise wurde Steinmeier dabei als einer der Verantwortlichen im Sinne des Presserechts geführt.11 Mehr als jedes Interview gibt ein solches zeitgeschichtliches Dokument Einblick in das Denken der Studierenden jener Zeit und insbesondere der Kreise, in denen sich Steinmeier aufhielt. Der Blick in diese Zeitschrift lohnt deshalb ganz besonders, auch wenn die einzelnen Artikel zunächst keine Autorennennung beinhalteten. In der ersten Ausgabe entschuldigte sich das Autorenkollektiv etwa unter der Überschrift »Wie alles anfing« zunächst
5 | Ebd. 6 | Vgl. Frevel, Bernhard; Dietz, Berthold: Sozialpolitik kompakt, Wiesbaden 2004, S. 37. 7 | Vgl. Wehler, H.-U.: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 2010, S. 194ff. 8 | Vgl. ebd. S. 195. 9 | Vgl. z.B. Steinmeier, Frank-Walter: Rede beim Fundraising Dinner der Georg-AugustUniversität Göttingen, Göttingen, 31.10.2008; Redemanuskript abrufbar unter: www. auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Reden/2008/081031-BM-Goettingen. html (zuletzt eingesehen am 13.04.2016). 10 | Vgl. Basis News, 1/1978, S. 3 (Impressum). 11 | Vgl. Basis News, 4/1978, S. 14 (Impressum).
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dafür, dass es so lange gedauert habe, bis die Zeitschrift entstanden sei.12 Die Begründung: »Was so in den letzten Monaten läuft, an der Uni, in der BRD und auf dem ganzen Weltkügelchen macht einen einfach sprachlos: Da werden in Kanada friedliche Indianer mit Atom-Satelliten beworfen, da bringen sich im Rahmen der Trauer um einen Chefkapitalisten diejenigen um, die noch Jahre gut gewesen wären für die Salaminierung des Rechtsstaates herzuhalten und ihre Anwälte besitzen die Frechheit Fragen zu stellen, die nicht einmal ein parlamentarischer Untersuchungsausschuß klären kann, wofür sie dann auch prompt in den Genuß kommen, für sich selbst Anwälte suchen zu dürfen, da tobt schließlich in der BRD, ja an unserem eigenen kleinen Fachbereich die ›massivste Demonstration der Studenten in der Geschichte der BRD‹ (MSB), wir schlagen also die Studentenbewegung von vor 10 Jahren um Längen und merken nix davon!«13
Diese Einleitung gleicht einer zugespitzten Bestandsaufnahme jener Zeit, zumindest gibt sie Einblick in die alles beherrschenden Thema jener Studierenden rund um Steinmeier: die RAF-Attentate und ihre Folgen standen weit oben. Auch wurde Bezug genommen zu der Studentenrevolte der 68er Jahre. Die Aussage, »wir schlagen also die Studentenbewegung von vor 10 Jahren um Längen«, mag halb ironisch gemeint gewesen sein. Sie zeigt womöglich aber auch etwas anders: Man könnte das als Suche der »Generation Unauffällig«14 nach einem eigenen verbindenden Element interpretieren, dass es in dieser Form jedoch nicht mehr gab, zumindest »merken [wir] nix davon«.15 Der weitere Text gab noch genauer Aufschluss über die inhaltlichen Ansichten und die Gefühlswelt eben dieses Kreises der Zeitschriftenmacher. So hieß es: »Nun aber im Ernst: Es ist so wahnsinnig viel passiert in der letzten Zeit, vor allem so wahnsinnig viel, was Jura-Studenten einfach nicht kaltlassen dürfte […]. Wir wollten was sagen zu dem Kontaktsperregesetz, dem geplanten einheitlichen Polizeigesetz, dem geplanten Meldegesetz, zu den Prozessen gegen Grohnde-Demonstranten, gegen RAF-Anwälte, zu Stammheim, über ein paar neue saugute Bücher berichten, Knastzeitungen vorstellen, was Buback/Mescalero-Artikel sagen und zu den Verfahren, die wegen seiner Verbreitung sogar hier in Giessen toben, wir wollten Diskussionen anzetteln über den ›neuen Faschismus‹ in der BRD und über ›Gewalt‹, wir wollten vor allem auch den Streik mit allem drumrum mal so richtig aufarbeiten, und und …«16 12 | O.V.: Wie alles anfing; in: Basis News, 1/1978, S. 4. 13 | Ebd. 14 | Vgl. Kapitel 2.2 in dieser Biographie. 15 | O.V.: Wie alles anfing; in: Basis News, 1/1978, S. 4. 16 | Ebd.
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Dezidiert wurden hier die Themen jener Zeit angesprochen. In ihrer Selbstdefinition beschrieben sich die Autoren als welche, die »also beschlossen [haben], nicht durchzudrehen und weder Bomben zu legen noch Schafe zu züchten.«17 Dies kann als Anspielung auf die Radikalisierung der Linken auf der einen und auf die Hippie-Bewegung auf der anderen Seite interpretiert werden. Zu beiden gehörten sie nicht. Die Abgrenzung nach rechts fand jedoch zudem statt, wenn es im folgenden Satz hieß, dass man ja gewählt sei, »um die Interessen der Studenten am Fachbereich zu vertreten und daß da zwar ne Diskussion z.B. über ›Gewalt‹ dazugehört, daß darüber aber auch schon andere (wenn auch viel zu wenige) kluge Sachen schreiben, während über Sachen an unserem Fachbereich, wenn wir’s nicht tun, nur noch der RCDS was schreibt und wir wollen nun ja doch nicht, daß unsere rechten Kommilitonen sich da über Gebühr in Unkosten stürzen müssen.«18
Für die Untersuchung Steinmeiers wichtig erscheint allerdings die Einordnung des CDU-nahestehenden RCDS als »rechts« und die Kritik an den, vermutlich in Anspielung auf die Hippie-Bewegung, »Schafezüchtern«. Einer Standortbestimmung gleich kam zudem die permanente Nutzung der Abkürzung »BRD«:19 Just zu jener Zeit war diese Abkürzung in der Bundesrepublik, in den 1950er Jahren noch »in keiner Weise politisch anstößig«, abgelehnt und »unerwünscht«.20 1974 wurde beschlossen, sie im offiziellen Sprachgebrauch nicht mehr zu verwenden.21 Die Bezeichnung avancierte stattdessen immer mehr zum »Politikum« und wurde von der DDR offiziell als Bezeichnung für die Bundesrepublik Deutschland benutzt.22 So bleibt in summa nur eine mögliche Position in Bezug auf die Selbstverortung: Man hatte eine linke Tendenz, lehnte jedoch extreme Positionen ab. Gleichzeitig grenzte man sich deutlich von rechts ab, sodass die politische Position links der Mitte zu suchen war. Dabei wurde eine vergleichsweise pragmatische Sachlichkeit deutlich, wenngleich ein revolutionärer Hauch eben zum Beispiel in jenen Abkürzungen im Begrüßungstext zu finden war, so auch in den abschließenden Worten der Autoren: 17 | Ebd. 18 | Ebd. 19 | Zur Begriffsgeschichte vgl. Berschin, Helmut: Deutschland – ein Name im Wandel. Die deutsche Frage im Spiegel der Sprache, München 1979. 20 | Ebd., S. 74. 21 | Ebd., S. 78. 22 | In der Bundesrepublik Deutschland beschlossen Bund und Länder 1974 die Abkürzung nicht mehr zu verwenden, die damalige DDR benutzte die Abkürzung »[s]eit Anfang der siebziger Jahre« auch offiziell. Damit einher ging die »Verneinung der deutschen Nation«; vgl. ebd., S. 81f.
3. Lehrjahre in der Wissenschaf t »Kurzer Sinn einer wieder mal viel zu langen Rede: Wir wollen sowas, wie das vor Euch liegende Blättchen jetzt mal häufiger machen und ohne daß die großartige revolutionäre Perspektive (die wir aber natürlich haben!!!!) jeden Artikel versalzen muß, eine Prise tuts auch, und wollen in Kurzform mitteilen, wo bei uns am Fachbereich die Kacke am Dampfen ist. In diesem Sinne…« 23
Sprache grenzt ab. Hier scheint bewusst eine vulgäre Sprache (»die Kacke am Dampfen«) gewählt worden zu sein, die sich klar von jenen elitären Gruppen, auch und insbesondere in der Jura-Studentenschaft, abgrenzen dürfte. Die Metapher von der Prise Salz bestätigt das Bild einer gemäßigten Gruppierung. Da alle Artikel namentlich zunächst nicht gekennzeichnet waren, kann nur spekuliert werden, welche von Steinmeier stammten. Mit der Funktion des Verantwortlichen im Sinne des Presserechts, die er innehatte, war er jedoch führend mitverantwortlich für den Inhalt. Seine Mitgliedschaft in der Redaktion bestätigte sich zudem in einem Foto der Redaktion, dass in einer der ersten Ausgaben abgedruckt worden war. Bild 1: Die Redaktion der Basis News24 (Steinmeier ganz links)
23 | O.V.: Wie alles anfing; in: Basis News, 1/1978, S. 4. 24 | Abbildung aus Basis News, 4/1978, S. 2.
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Bild 2: Von Steinmeier gezeichnete Anzeige 25
25 | Basis News, 4/1978, S. 10 (Abbildung).
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Bild 3: Weitere Anzeige von Steinmeier 26
26 | Basis News, 7/1979, S. 3 (Abbildung).
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Neben jenen einleitenden Worten mitsamt ihrer politischen Bedeutung behandelte jedoch auch diese Zeitschrift ganz alltägliche Dinge, wie ein Blick zum Beispiel auf Seite 20 von Ausgabe 4 zeigt. Hier wurde in einer handgezeichneten Anzeige für ein Erstsemester-Wochenende geworben. Entworfen worden war die Anzeige von Steinmeier selbst. Auch für Feiern wurde in den Basis News geworben. Diese ebenfalls von Steinmeier verfassten Ankündigungen wirken gerade mit dem Blick auf die unter Schröder und Merkel häufig beschworene Alternativlosigkeit von Politik interessant: So wurde in einer Anzeige darauf verwiesen, dass die »›Fachschaft-Jura‹ alternativ zu den sonst so ›alternativlosen‹ Veranstaltungen eine ›heiße, fetzige, riesige, endlose‹ Fête« veranstalte.27 Es ist das Spannungsfeld zwischen dem alltäglichen Studentendasein mit all seinen »Fêten« auf der einen und der bundespolitischen Lage auf der anderen Seite, die Steinmeiers erste Studienjahre bestimmten. Denn in eben seine ersten drei Semester fielen die großen Anschläge der RAF, die im Deutschen Herbst 1977 mündeten. Es ist das, was in der Basis News bereits in Bezug zu 1968 gesetzt worden ist, wenn im Nachwort, wenn auch halbironisch, stand, dass man die Studentenbewegung »um Längen« schlagen würde.28 Es ist eines der wichtigen Themen jener Zeit, auch für einen Studenten, der vielleicht nicht unmittelbar davon betroffen ist. Das zumindest ist anzunehmen, wenn man einmal mehr einen Blick in die Zeitschrift wirft. In jeder Ausgabe beschäftigte sich mindestens ein Artikel mit dem RAF-Terror und der Frage, wie damit umzugehen ist. Steinmeier selbst erinnert sich im Rückblick daran, dass Helmut Schmidt sich »[n]ach der Entführung von Hanns Martin Schleyer und der LufthansaMaschine ›Landshut‹«29 – beide verübt von Mitgliedern der aus der 68er Bewegung hervorgegangen Roten Armee Fraktion – »hohen Respekt« in der Bevölkerung, aber auch unter den jungen Studenten eingebracht habe.30 Tatsächlich ist eben jene Entführung ein Bruch mit den Auswüchsen der 68er-Bewegung. Was als Studentenrevolte begonnen hatte, fand hier einen ungewollten Höhepunkt und zeigte auf, »welche bittere Konsequenzen die Logik aus Systemopposition und Gegengewalt […] nach sich ziehen« konnte.31 Dieser führte auch bei 68ern selbst zu einem Umdenken und bisweilen zu einer Distanzierung.32 27 | Brigitte Zypries erkennt in diesen Anzeigen die Schrift von Frank-Walter Steinmeier wieder. Vgl. Zypries, Brigitte im Gespräch mit dem Autor am 24.02.2014. 28 | O.V.: Wie alles anfing; in: Basis News, 1/1978, S. 4. 29 | Steinmeier, F.-W.: Mein Deutschland, 2009, S. 47. 30 | Ebd. 31 | Ebd., S. 132. 32 | So zum Beispiel werden diese Anschläge als ein Wendepunkt im Denken des ein Jahrzehnt älteren Joschka Fischers beschrieben; vgl. Krause-Burger, Sibylle: Joschka Fischer: Der Marsch durch die Illusionen, Stuttgart 1999, S. 111ff.
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Joschka Fischer etwa, ein Jahrzehnt älter als Steinmeier, blieb zwar politisch aktiv. Die RAF-Taten, zuletzt die Ermordung Hanns Martin Schleyers und die menschenverachtenden Bekennerschreiben,33 bedeuteten jedoch das Ende seiner Zeit als Frankfurter Sponti. Eben in jener Phase, in der linksextreme Auswüchse und nicht mehr von einer breiten Maße getragener Protest die Gesellschaft prägten, ist Steinmeier sozialisiert worden. Steinmeier beschreibt diese Zeit im Rückblick als eine, in der man auf der Suche war, wie die »Frühgeschichte der Bundesrepublik« ausgesehen habe. »Wir wollten genauer wissen, wo die Brüche, wo die Kontinuitäten liegen.«34 Tatsächlich war jene Zeit, die sich vom Beginn von Steinmeiers Studentenjahren über sein ganzes Studium hinzog, einschneidend. Waren die 68er geprägt von dem Antrieb, einen gesellschaftlichen Umbruch voranzutreiben, war die nachfolgende Generation zurückgekehrt zu einer friedlichen Auseinandersetzung. Kämpften die 68er noch gegen den konservativen Staat, wurde nun gegen eine linke Form des Terrorismus gekämpft. Die Ausgangslage für eine politische Sozialisation war somit eine vollkommen andere. War das prägende Erlebnis bei den 1968ern eben jene Studentenproteste um 1968 mit all ihren Auswüchsen, war es bei der Generation später auch der Deutsche Herbst, der sich im Herbst 1977, also fast zehn Jahre später, zutrug. Mit einem Mal schien es legitim, »bei der Bekämpfung des Terrorismus bis an die Grenze dessen zu gehen, was der Rechtsstaat erlaubte.«35 So hielten sich zum Beispiel Medien an die Nachrichtensperre, die die Bundesregierung verhängte. Und das »Kontaktsperregesetz«, »das jede Verbindung zwischen den Einsitzenden Terroristen untereinander und mit der Außenwelt unterbinden […]«36 sollte, wurde im Eilverfahren beschlossen – wohlgemerkt von einer sozialliberalen Regierung eingebracht. Dieser Herbst prägte Deutschland, auch medial: Sieben der neun Titelbilder des Nachrichtenmagazins Spiegel zwischen dem 12. September 1977 und dem 7. November 1977 thematisierten den Terrorismus dieser Zeit. Die Überschriften lauteten »Killer-Krieg gegen den Staat,37 »Der Staat geht in Stellung. Sondergesetze gegen Terroristen«,38 »Terrorismus in Deutschland. Die Sympathisanten«,39 Sympathisanten II. Terroristenanwälte«, 40 »Terror. Schleyer 33 | Vgl. ebd., S. 114. 34 | Steinmeier, F.-W.: Mein Deutschland, 2009, S. 37. 35 | Winkler, Heinrich-August: Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte vom ›Dritten Reich‹ bis zur Wiedervereinigung, München 20025, S. 345. 36 | Ebd. 37 | Vgl. Spiegel, 12.09.1977 (Titelbild). 38 | Vgl. Spiegel, 19.09.1977 (Titelbild). 39 | Vgl. Spiegel, 03.10.1977 (Titelbild). 40 | Vgl. Spiegel, 10.10.1977 (Titelbild).
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Flugzeug Atom«, 41 »Nach Mogadischu: Der bewunderte Deutsche« 42 und »Die Kripo rüstet um. Neue Zielfahndung gegen Terroristen«. 43 Wie sehr sich die Stimmung der Bundesbürger dabei verändert hatte, zeigen auch Umfragen aus jenen Jahren. Billigten 1975 noch 75 Prozent der Deutschen die Freilassung der sechs RAF-Häftlinge, um das Leben des entführten Spitzenkandidaten der Berliner CDU Peter Lorenz zu retten, sah es zwei Jahre später genau anders herum aus. 71 Prozent waren dagegen, auf die Forderung der Entführer einzugehen, um Hanns Martin Schleyer zu retten.44 Der Spiegel resümierte unter Einbezug der Frankfurter Rundschau: »Kein Zweifel: Zwei Jahre bundesdeutscher Terrorgeschichte – Stockholm-Anschlag und BubackAttentat, Ponto-Ermordung und Karlsruher ›Stalinorgel‹ – hatten im Bewußtsein der Westdeutschen tiefe Spuren hinterlassen, ›die politische Landschaft grundlegend verändert‹ (›Frankfurter Rundschau‹).«45 In der Tat besteht kein Zweifel daran, dass diese Jahre einen entscheidenden Bewusstseinswandel bei einem Großteil der deutschen Bevölkerung eingeleitet haben. Steinmeier erlebte somit diese Zeit womöglich als Rückkehr zur Besonnenheit. Fragen wie die nach dem Umgang mit den RAF-Terroristen fanden auch Eingang in das unmittelbare Jura-Studium und den sogenannten Arbeitskreis »Kritische Juristen«. 46 Steinmeiers Studienkommilitone Christoph Nix erinnert sich daran, dass »wir gemeinsam […] mehrere alternative Veranstaltungen gemacht [haben], auch […] zu den Haftbedingungen der RAF-Gefangenen. Ich bin stärker ins Strafrecht gegangen, und Frank Steinmeier war noch stärker orientiert an verfassungsrechtlichen und verwaltungsrechtlichen Fragen.« 47
Das Themenspektrum der außeruniversitären Veranstaltungen war jedoch deutlich breiter gefächert. So organisierte Steinmeier im Rahmen seiner Tätigkeit in der Fachschaft semesterbegleitende Veranstaltungen der dort »alternativen Rechtswissenschaft« genannten Reihe zu ganz verschiedenen Themen 41 | Vgl. Spiegel, 17.10.1977 (Titelbild). 42 | Vgl. Spiegel, 24.10.1977 (Titelbild). 43 | Vgl. Spiegel, 07.11.1977 (Titelbild). 44 | Vgl. o.V.: Eigentlich müsste jeder verdächtig sein; in: Spiegel, 12.09.1977, S. 2238; hier: S. 23. 45 | Ebd. 46 | So bezeichnen ihn retrospektiv und unisono Christoph Nix (vgl. Nix, Christoph im Gespräch mit dem Autor am 18.12.2013) sowie Steinmeier in seiner Autobiographie; vgl. Steinmeier, F.-W.: Mein Deutschland, 2009, S. 43. 47 | Nix, Christoph im Gespräch mit dem Autor am 18.12.2013.
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mit. In ihrer Selbstbeschreibung, nachzulesen in den Basis News, hieß es, dass in der Reihe jeweils ein »Rechtsgebiet« behandelt werden sollte, »in der wenigstens den interessierten Leuten mal klar wird, daß Rechtswissenschaft nicht nur Vermittlung von lebensfremden, dogmatischen Einheitsbrei bedeutet, sondern daß Recht und Rechtsprechung erst im politischen und sozialen Zusammenhang verständlich wird.«48 Der Anspruch scheint deutlich: Man wollte über den Tellerrand der eigenen Fachdisziplin hinausschauen. Das war damals keineswegs Konsens und führte 1979 zu einem Eklat. Es ging um eine Veranstaltungsreihe für das Wintersemester, in der »wir Gießener Gewerkschafter eingeladen [haben], die in regelmäßigen Abständen über ihre Erfahrungen im Bereich des Arbeitsrechts berichten werden«. 49 Die Basis News berichtete, dass sich die Universität daran störe, dass »ausschließlich Referenten des DGB, nicht jedoch der Arbeitgeberverbände eingeladen waren«.50 In dem Artikel wurde gemutmaßt, dass »hier das Klima, in dem Studentenschaft und Gewerkschaften – bei all den bekannten Schwierigkeiten und Enttäuschungen – sich genähert und versucht haben, den tiefen Graben zwischen Gewerkschaften und Hochschule ein wenig zuzuschütten, von neuem vergiftet werden.«51 Steinmeier war Mitorganisator dieser Veranstaltungsreihe, die eine sozialdemokratische Färbung enthielt. Denn: Die Gewerkschaften waren insbesondere noch zu dieser Zeit untrennbar mit der Sozialdemokratie verbunden und auch jener Studierendenkreis strebte nun eine Annäherung an. Bereits hier wurde Steinmeiers politische Gesinnung, die ohnehin schon durch Mitgliedschaft in der SPD und der IG Metall sichtbar war, einmal mehr auch offenkundig deutlich. Er war engagiert in einer Rechtswissenschaft, die den kritischen Diskurs suchte. »[W]as ich ganz schön finde, über ihn sagen zu können«, erinnert sich Nix, »dass er immer ungeheuer solidarisch war. Also wir haben uns vorgenommen als Juristen, dass wir nicht zum Repetitor gehen. Das machen ja die meisten«.52 Wie sehr der Repetitor dem damaligen Kreis um Steinmeier tatsächlich missfiel, wird in einer Beschreibung der Basis News deutlich, in der es zum Start des Wintersemesters 1978 in einer Erklärung für die neuen Erstsemester hieß: »Der Repetitor bzw. Fernrepetitor lebt von der Rückständigkeit des universitären Ausbildungssystems. Er trichtert – für viel Geld – borniert dogmatische Kenntnisse ein. In 48 | O.V.: Lehrveranstaltungen – oder wer veranstaltet was mit wem; in: Basis News, 4/1978, S. 8-10; hier: S. 10. 49 | Ebd., S. 10. 50 | O.V.: Was haben Gewerkschafter im Juridicum zu suchen?; in: Basis News, 7/1979, S. 1-2; hier: S. 1. 51 | Ebd., S. 2. 52 | Nix, Christoph im Gespräch mit dem Autor am 18.12.2013.
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II. Frühe Jahre relativ knapper Form bringen sie den zurzeit noch Examensrelvanten [sic!] Stoff, das heißt die wichtigsten jeweils herrschenden Meinungen und Entscheidungen, ohne daß auch nur der Ansatz von Kritik aufkommt«. 53
Steinmeier lernte stattdessen in kleinen Gruppen, was nicht bedeutete, dass er dadurch weniger diszipliniert war. So will es zumindest Nix nicht verstanden wissen. »Ich hab’ immer gedacht, wenn ich gelesen hab’, ich bin jetzt auf einem Niveau, aber die Jungs waren schon wieder drei Ecken weiter«.54 Vorausgesetzt, Steinmeier hat an den wöchentlichen Treffen teilgenommen, die in den Basis News beworben worden sind, war sein abendlicher Terminplan recht gefüllt. Dienstagabend müsste dann die jeweilige Teilnahme an Treffen des Fachschaftsvorstands angestanden haben, donnerstags um 20 Uhr tagte laut Basis News die Juso-Hochschulgruppe. Auch wenn Steinmeier bereits hier kein Student war, der sich auch in Fachschaft und Juso-Hochschulgruppe in den Vordergrund drängte,55 schien er doch ein Teil der Gruppe zu sein. »Sicher gehörte er nicht zum autonomen Spektrum. Aber er war eindeutig links«, erinnerte sich etwa sein Studienfreund Klaus Thommes im Stern.56 Und Winfried Möller, der damalige Asta- und Juso-Chef der Uni Gießen, fügte hinzu: »Wir waren eine richtig linke Gruppe, und der Frank stand nicht naserümpfend am Rand.‹«57 In der Tat blieb Steinmeier während seines Studiums politisch interessiert, was auch in der Wahl seines Zweitfaches deutlich wurde. 1980 wählte er die Politikwissenschaft hinzu.58 Der Blick in die Vorlesungskommentare der Justus-Liebig-Universität aus den 1970er und 1980er Jahren lässt auf ein klassisches politikwissenschaftliches Studium schließen, wie es auch im 21. Jahrhundert stattfinden könnte. Seminare wurden zum Beispiel zu Marx (»Marxistische Theorie I: (Frühschriften)« angeboten. Neben klassischen politikwissenschaftlichen Seminaren zum »politische[n] und gesellschaftliche[n] System in der Bundesrepublik Deutschland« gab es eine »Einführung in die Internationalen Beziehungen« genauso wie zur »Entwicklungspolitik unter besonderer Berücksichtigung des Sudans«59 oder »Interessenkonflikte[n] zwischen EG und Dritter Welt« und »Entwicklung in der Dritten Welt am Fall53 | O.V.: Der Repetitor; in: Basis News, 4/1978, S. 10. 54 | Nix, Christoph im Gespräch mit dem Autor am 18.12.2013. 55 | Vgl. Rosenkranz, J.: Auf der Suche; in: Stern, 12.02.2009, S. 44. 56 | Zitiert nach ebd. 57 | Zitiert nach ebd. 58 | Vgl. Internetpräsenz von Frank-Walter Steinmeier; abrufbar unter: www.frank-wal ter-steinmeier.de/zur-person/index.html (zuletzt eingesehen am 09.08.2016). 59 | Vgl. Justus-Liebig-Universität Giessen: Personal- und Vorlesungsverzeichnis, Wintersemester 1980/1981, Teil 1, S. 174f.
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beispiel Sri Lanka« oder »Nachrüstung und Entspannungspolitik«. Neben »Helmut Schleskys Gesellschaftsbetrachtungen« wurde sich auch mit Gewerkschaften (»Die Gewerkschaften in Westdeutschland 1945-1949«) und der Sozialdemokratie (»SPD und ADGB in der Weimarer Republik«) auseinandergesetzt.60 Das Spektrum also war breit. Sein Studienfreund Nix erinnert sich außerdem an Demonstrationen, zu denen er und Steinmeier während der Studienzeit gefahren seien: »Da war gerade die Startbahn-West. Und da haben wir alle gesagt, Examen Scheiß-egal, und sind zusammen mit dem Auto zur Startbahn-West gefahren und haben da mit demonstriert und Tränengas abgekriegt und so weiter.«61 Das seien »immer […] Momente« gewesen, »an die ich ganz gern denke, weil ich finde, dass wir da alle unsere Karriere […] eher hinten angestellt haben und gemeint haben, das war wichtig, dass wir dort waren.«62 Natürlich kann auch diese Aussage nur unter Berücksichtigung des großen Zeitsprungs Beachtung finden, der zwischen der damaligen Zeit und dem Zeitpunkt des Interviews liegen. Doch scheint Steinmeier, das kann zumindest gesagt werden, Demonstrationen keineswegs abgelehnt zu haben. Neben der Universität, der alternativen Rechtswissenschaft und der Arbeit bei Helmut Ridder, auf die später noch genauer eingegangen wird, war ein weiterer Ort, wo (welt-)politische und mitunter nun auch philosophische Fragen von Steinmeier diskutiert worden sind, seine Studenten-WG. Mit zwei, teils wechselnden Mitbewohnern wohnte er dort sein ganzes Studium bis hin zur Beendigung seiner Promotion Anfang der 1990er Jahre. Christoph Nix erinnert sich an Leseabende, die hier stattgefunden hätten. Während er meist nicht gut vorbereitet war, sei es bei Steinmeier das Gegenteil gewesen. Er wusste um die vorzubereitende Literatur Bescheid.63 Überhaupt nutzte Steinmeier die Jahre seines Studiums zum intensiven Lesen. Bei Mitbewohner Dietrich Härtel, der Steinmeier einmal als »über zeugenden und integren Menschen« beschrieb,64 hat sich das Bild des in der Badewanne lesenden Steinmeiers eingebrannt.65 Heinz Verbic, der JusoFreund aus Jugendtagen, erinnert sich an mehrere Besuche bei Steinmeier in 60 | Vgl. ebd. 61 | Nix, Christoph im Gespräch mit dem Autor am 18.12.2013. 62 | Ebd. 63 | Ein wichtiges Werk, erinnert sich Christoph Nix, sei für Steinmeier die Philosophie Antonio Gramscis gewesen, von dem Steinmeier, wie sich Nix erinnert, ein »Kenner« gewesen sei; vgl. ebd. 64 | So schrieb Dietrich Härtel in einem Leserbrief an den Stern im Jahr 2004, also in einer Zeit, als eine politische Karriere Steinmeiers im Vordergrund zumindest noch nicht offenkundig war; zitiert nach o.V.: Leserbriefe; in: Stern, 22.07.2004, S. 11. 65 | Vgl. Lütjen, T.: Frank-Walter Steinmeier, 2009, S. 30.
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dessen Studentenwohnung, bei denen »in jeder Ecke« überall Bücher auf dem Boden gelegen hätten und er als Gast dazwischen geschlafen habe.66 Wenn man sich traf, hörte man auf Steinmeiers Schallplattenspieler Arbeiterlieder, die Steinmeier Verbic einmal auf Kassette überspielt hatte.67 Dabei diskutierte man, wie schon zu Juso-Tagen, über Politik, was Steinmeiers damalige Freundin meist irgendwann zu viel geworden sei.68 Was neben dem RAF-Terror für einprägende Momente in diese Zeit fielen, zeigt eine Begebenheit, die an einem »Abend im November 1976« lag: »Eine größere Runde versammelte sich vor dem Fernseher; Wolf Biermann spielte auf Einladung der IG Metall in der Kölner Sporthalle, ein bewegender Auftritt«,69 erzählt Steinmeier und fügt hinzu, dass nur wenige Tage später Biermann ausgebürgert worden sei. Nix erinnert sich retrospektiv an Lese- und Liederabende, wo eben Wolf Biermann gelesen worden sei.70 Trotz all dieser neuen Erfahrungen mit ihren Horizonterweiterungen während des Studiums behielt Steinmeier einen innigen Kontakt ins heimische Brakelsiek, auch wenn er nun weniger dort war. In den Ferien arbeitete der Student bisweilen »bei Schieder-Möbel im Nachbarort« und setzte dort die Barfächer in die Schrankwände ein.71 Seine Eltern besuchte er regelmäßig.72 In diese Studienjahre fiel überdies ein für Steinmeier einschneidendes Erlebnis. »Ärzte hatten 1980 bei dem angehenden Juristen kurz vor dem Examen ein Geschwür auf der Hornhaut des linken Auges festgestellt.«73 Kurze Zeit war nicht klar, ob auch das andere Auge betroffen ist, sodass die Möglichkeit der Erblindung bestand.74 Letztendlich entschieden die Ärzte, eine Hornhauttransplantation durchzuführen.75 Verbic spricht das Thema ohne Nachfrage an: »[M]it einem Mal konnte er […] mit dem einen Auge nicht mehr so gut sehen.«76 Er habe da »ziemlich drunter gelitten.«77 Diese Zeit sei prägend gewesen, glaubt Nix: »[W]ir [sind] […] ja schon davon ausgegangen, dass wir ir66 | Verbic, Heinz im Gespräch mit dem Autor am 02.04.2014. 67 | Vgl. ebd.; Eine Kopie der handbeschriebenen Kassettenhülle liegt dem Autor vor. 68 | Vgl. Verbic, Heinz im Gespräch mit dem Autor am 02.04.2014. 69 | Steinmeier, F.-W.: Mein Deutschland, 2009, S. 41. 70 | Vgl. Nix, Christoph im Gespräch mit dem Autor am 18.12.2013. 71 | Rosenkranz, J.: Auf der Suche; in: Stern, 12.02.2009, S. 44. 72 | Vgl. Verbic, Heinz im Gespräch mit dem Autor am 02.04.2014. 73 | Sturm, Daniel-Friedrich; Schucht, Joachim: »Ich bin der Organspender«; in: Welt, 24.08.2010, S. 3. 74 | Vgl. Haselberger, Stephan; Monath, Hans: Ihr geteiltes Leid; in: Tagesspiegel, 24.08.2010, S. 3. 75 | Vgl. ebd. 76 | Verbic, Heinz im Gespräch mit dem Autor am 02.04.2014. 77 | Ebd.
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gendwie unser Leben meistern. Mit diesem Jurastudium. Dann plötzlich so verletzlich zu sein. Das prägt einen schon. Ja.«78 Es war jene Zeit, in der Steinmeier sich einen Organspendeausweis zulegte.79 Im Wahlkampf 2009 erzählte Steinmeier in einer Talkshow, dass die weißen Haare womöglich auf »Stressfaktoren« im Zuge der Augenoperation zurückzuführen seien, »die sich dann so auch auf die Haarpigmentierung auswirken.«80 Der Moderator fragte darauf: »Aber Sie sind zufrieden, so wie es ist? Es wird nicht gefärbt?« Eben das war nicht das Thema, das für Steinmeier wichtig schien, das wurde nunmehr deutlich. Er antwortete stattdessen: »Vor allem bin ich mit den Augen zufrieden.«81 Alltägliche Dinge waren mit einem Mal nicht mehr selbstverständlich, wurden fortan womöglich bewusster wahrgenommen. Möglicherweise sind es solche Erlebnisse, die den Blick für das Wesentliche schärfen. Steinmeier jedenfalls sollte noch längere Zeit mit diesem Augenproblem zu kämpfen haben, bevor er zwei Jahre später schließlich, 1982, sein erstes Staatsexamen ablegte. Nach diesem erfolgreich bestandenen Studium ging es zunächst zum Vorbereitungsdienst nach Frankfurt. Während dieser Ausbildungszeit im Rahmen der Erlangung des zweiten Staatsexamens war Steinmeier im Regierungspräsidium Gießen tätig und dort auch mit Berufsverbotsfällen betraut. Christoph Nix, der in derselben Abteilung sein Referendariat ableistete, erinnert sich: »Steinmeier und ich haben dann, natürlich alles im Rahmen der Gesetze und Rechtsvorschriften, diese Verfahren demokratisch gelöst.«82 Steinmeier und er haben keine Gesetze gebrochen, lediglich wurde, betont Nix, eine »demokratiefreundlichere Verwaltungspraxis« bei der Bewertung der Fälle angewandt.83 Auch für diese Zeit, Steinmeiers Studienjahre, scheint der Blick auf den historischen Kontext wichtig. Der Anstieg der Arbeitslosigkeit konnte auch in der zweiten Hälfte der sozialliberalen Koalition nicht gestoppt werden und auch die neugebildete christlich-liberale Regierung verfolgte das Ziel, die Arbeits78 | Nix, Christoph im Gespräch mit dem Autor am 18.12.2013. 79 | Vgl. Haselberger, Stephan; Monath, Hans: Ihr geteiltes Leid; in: Tagesspiegel, 24.08.2010, S. 3; vgl. Steinmeier, Frank-Walter: Wir haben uns gemeinsames Leben geschenkt; in: Sterzik, Sibylle (Hg.): Zweites Leben. Organe spenden – ja oder nein? Erfahrungen, Meinungen & Fakten, Berlin 2013, S. 26-33; hier: S. 27. 80 | So Frank-Walter Steinmeier in der Talksendung Johannes B. Kerner; zitiert nach Labuhn, Wolfgang: Der Kandidat; in: Deutschlandfunk.de, 04.09.2009; nachzulesen unter: www.deutschlandfunk.de/der-kandidat.724.de.html?dram:article_id=99579 (zuletzt eingesehen am 22.06.2015). 81 | Zitiert nach ebd. 82 | Nix, Christoph im Gespräch mit dem Autor am 18.12.2013. 83 | Ebd.
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losigkeit zu bekämpfen. Überhaupt erinnern die vier Schwerpunkte der ersten Kohl-Regierung, in deren Zeit Steinmeiers Vorbereitungsdienst zum Volljuristen fiel, an die Politik des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts. Neben dem »Abbau der Arbeitslosigkeit« stand so die »Wiedergewinnung eines angemessenen Wachstums, weitere Sanierung der öffentlichen Finanzen und die Sicherung der Renten« im Mittelpunkt.84 Steinmeier fremdelte schon mit politischen Entscheidungen von Kohls Vorgänger Helmut Schmidt. Zumindest stellt er es rückblickend so dar. Schmidt habe »es uns nicht leicht« gemacht, erinnert er sich in seiner Autobiographie.85 »Von ihm als Person ging schon diese norddeutsche Abgeklärtheit aus, die sich mit den Visionen linksdemokratischer Jungakademiker nicht vertrug«.86 Auch Freunde von Steinmeier erinnern sich an eine ähnlich ablehnende Haltung. So meint etwa Dirk Herkströter rückblickend, dass »[s]chon der Technokrat und Aufrüstungsfreund Helmut Schmidt […] inakzeptabel« gewesen sei.87 Sogleich spannt er den Bogen zu Helmut Kohl, den er als den »Schwadronierer aus der Pfalz mit seiner Hinwendung zur Deutschtümelei und seiner Öffnung für ›falsche‹ Liberalisierungen (Post und Telekommunikation, Bahn)« als inakzeptabel kritisiert.88 »Klar, dass man sich über diese Regierung täglich aufregen und ärgern musste«, schließt er, fügt allerdings hinzu, dass man »[m]anches […] da heute anders werten« würde.89 Ähnliches ist bei Steinmeier zu lesen, der zumindest über Schmidt schrieb, »dass wir [ihm] aus der Distanz auch unrecht taten«.90 Dennoch, die Regierung war abgewählt und auch unter Kohl stand das Oberthema, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, im Mittelpunkt.91 Diese Aufgabe zog sich als roter Pfaden durch Steinmeiers Sozialisation ab dem 18. Lebensjahr, jenem Jahr, als die Tagesschau eine halbe Million Arbeitslose vermeldete. Mittlerweile kristallisierte sich heraus, dass eine Rückkehr zu den Boom-Jahren Ende der 1960er Jahre, geschweige denn die Rückkehr zur Vollbeschäftigung, in weite Ferne gerückt war. Bald wurde zudem von einer »Zweidrittelgesellschaft« gesprochen, in der ein Drittel als »dauerhaft sozialausgegrenzt« eingeordnet wurde.92 Trotz der auch unter Kohl ausgebliebenen Erfolge im Erreichen der gesteckten Ziele, konnte sich die Bundes-SPD, der Steinmeier zu84 | Glaeßner, G.-J.: Demokratie und Politik, 1999, S. 300. 85 | Steinmeier, F.-W.: Mein Deutschland, 2009, S. 45. 86 | Ebd. 87 | Herkströter, Dirk im schriftlichen Interview mit dem Autor am 20.01.2014. 88 | Ebd. 89 | Ebd. 90 | Steinmeier, F.W.: Mein Deutschland, 2009, S. 45. 91 | vgl. Hesse, J.; Ellwein, T.: Das Regierungssystem der Bundesrepublik, 2012, S. 49. 92 | Glaeßner, G.-J.: Demokratie und Politik, 1999, S. 308.
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mindest formal ja angehörte, in der Opposition nur bedingt stabilisieren und drohte, in die »programmatische Beliebigkeit« abzurutschen, die »auch nicht durch einen erkennbaren politischen Gestaltungs- und Machtwillen kompensiert wurde«.93 Die Bundespolitik fand also für die SPD nur bedingt statt, vom »Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts« wurde bereits gesprochen.94 Anders sah es in der Landespolitik aus. »Im Saarland, das seit dem Kaiserreich katholisch-konservativ gewählt hatte, konnte mit Oskar Lafontaine ein Sozialdemokrat […] das Amt des Ministerpräsidenten übernehmen.«95 Schleswig-Holstein wurde nach einer Affäre auch sozialdemokratisch regiert, und »[i]n Hessen kam es 1984 zur Duldung einer Regierung durch die Grünen, die 1985 in eine Koalition mündete«.96 Zwar scheiterte diese Regierung nur zwei Jahre später, dennoch nahm Steinmeier, das darf angenommen werden, als ein politisch hochinteressierter, zeitungslesender Jungwissenschaftler diese Entwicklungen deutlich war – wohl auch im Arbeitskreis dürften diese Entwicklungen diskutiert worden sein. Dirk Herkströter betont in Bezug auf den damaligen Ministerpräsidenten Holger Börner, dass er und Steinmeier »in Gießen gelebt« hätten, »das in Hessen liegt. Das sagt doch wohl alles! Wenn das Bündnis mit Dachlatten-Django [gemeint war Holger Börner;97 Anm. S.K.] kein Thema gewesen sein soll, was dann?«98 Er verweist auf die Beiträge der Demokratie und Recht, die dieses Bild widerspiegeln würden. Tatsächlich tun sie das, wie im folgenden Kapitel über den Wissenschaftler Steinmeier zu sehen ist.
3.2 D er W issenschaf tler Der Wissenschaftler Steinmeier ist eng mit den Jura-Professoren Brun-Otto Bryde und, mehr noch, Helmut Ridder verbunden, seinen Arbeitgebern an der Universität. Über zehn Jahre, während seiner ganzen universitären Lauf bahn, hat er bei ihnen Seminare belegt, den Kontakt auch während des Vorbereitungsdienstes in Frankfurt gehalten und bald für deren Lehrstühle gearbeitet. 93 | Ebd., S. 350. 94 | Dahrendorf, Ralf: Die Chance der Krise. Über die Zukunft des Liberalismus, Stuttgart 1983, S. 16; vgl. auch Dahrendorf, Ralf: Das Elend der Sozialdemokratie; in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, 12/1987, S. 1021-1038; hier: S. 1022; vgl. auch Glaeßner, G.-J.: Demokratie und Politik, Opladen 1999, S. 350; vgl. außerdem Walter, F.: Vorwärts oder abwärts?, 2010, S. 43. 95 | Glaeßner, G.-J.: Demokratie und Politik, 1999, S. 304. 96 | Ebd. 97 | Vgl. o.V.: Django mit Latte; in: Spiegel, 13.09.1982, S. 38. 98 | Herkströter, Dirk im schriftlichen Interview mit dem Autor am 20.01.2014.
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»Beider Verständnis von Wissenschaft als engagiert kritischer Beobachtung der Praxis, gepaart mit dem Bemühen um die Suche nach ›besseren‹ Lösungen, haben meine Arbeit wesentlich geprägt«,99 schrieb Steinmeier im Vorwort seiner Dissertation. Er nannte diese Begegnung die »folgenreichste […] dieser Jahre«.100 Ridder hatte zwei universitäre Schwerpunkte und war im damaligen Vorlesungskommentar als Professor für »Öffentliches Recht und Wissenschaft der Politik« ausgewiesen.101 Er galt als eher links und wurde nach seinem Tod 2007 als »politischer Professor«102 beschrieben, der »in der Tradition der Göttinger Sieben und der Professoren des Paulskirchenparlaments« gestanden und sich für »die Sicherung und Fortentwicklung der demokratischen, freiheitlichen Republik und deren friedensorientierte Politik« eingesetzt habe.103 So habe Ridder früh gegen die »Notstandsgesetze, die sogenannten ›Berufsverbote‹ argumentiert, aber auch für die Volksbefragung zur Nachrüstung«.104 Auch gehörte er zu einem »Mitinitiator und Mitglied des Krefelder Forums ›Der Atomtod bedroht uns alle‹«.105 Er war zudem Unterzeichner des Krefelder Appells, eines Aufrufs der Friedensbewegung Anfang der 1980er Jahre, in der die Bundesregierung aufgefordert worden war, sich gegen den NATO-Doppelbeschluss zu stellen106 und setzte sich früh für »eine Versöhnung mit Polen als praktische Friedensarbeit ein«.107 In der Debatte um eine Einschränkung der politischen Äußerungsmöglichkeiten der Asten und Studentenparlamente bezog Ridder Ende der 1970er Jahre klar Stellung für die Studierenden und sprach in Bezug auf die sogenannte Wahrnehmung des politischen Mandats schlicht von »der Freiheit, sich zu äußern oder auch sich nicht zu äußern.«108 All das zeigt: Ridder war in einer eher konservativ-ausgerichteten Forschungsdisziplin ein unbequemer Geist. So hat er sich zweimal mit den He99 | Steinmeier, Frank-Walter: Bürger ohne Obdach. Zwischen Pflicht zur Unterkunft und Recht auf Wohnraum; in: Bielefeld 1992, S. IX. 100 | Ebd., S. IX. 101 | Vgl. z.B. Personal- und Vorlesungsverzeichnis der Justus-Liebig-Universität Gießen, Wintersemester 1977/1978, S. 35 102 | Steiger, Heinhard: Prof. Helmut Ridder; in: uniforum, 2/2007, S. 12. 103 | Ebd. 104 | Ebd. 105 | Fülberth, Georg: Ein großer Demokrat; in: Marxistische Blätter, 3/2007, S. 5-6; hier: S. 5. 106 | Lese hierzu zum Beispiel: Walter, Franz: Mit Wunderkerzen gegen Raketen; in: Spiegel Online, 15.11.2010, abrufbar unter: www.spiegel.de/einestages/30-jahre-kre felder-appell-a-946816.html (zuletzt eingesehen am 06.07.2015). 107 | Steiger, H.: Prof. Helmut Ridder; in: uniforum, 2/2007. 108 | Zitiert nach o.V.: Enge Grenzen; in: Spiegel, 30.01.1978, S. 58-62; hier S. 58.
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rausgebern zweier Fachzeitschriften überworfen und sein Amt niedergelegt. Sein »wissenschaftliche[s] Tun« soll stets »von einem sehr starken moralischen Engagement getragen« worden sein.109 An anderer Stelle ist im Rückblick von einem »Feuerkopf der Demokratie« die Rede: »ein Mann des präzisen, strengen und unbestechlichen Denkens, stets befeuert von der Leidenschaft für die öffentlichen Angelegenheiten.«110 Die Frankfurter Allgemeine Zeitung nannte ihn in einem Nachruf einen »der bedeutendsten Köpfe« der »deutsche[n] Linken«.111 Ähnlich positiv fällt das Urteil bei den damaligen Mitarbeitern aus. Steinmeier bezeichnete ihn in seiner Autobiographie als »ein[en] brillante[n] Kopf«, 112 »ein[en] große[n] Querkopf« und als »eine[n] der außergewöhnlichsten Figuren unter den Lehrern an deutschen Rechtsfakultäten«.113 Sein Kumpel Dirk Herkströter findet, dass »Ridder […] ein überragender Wissenschaftler mit ebenso überragenden verfassungsrechtlichen Kenntnissen« gewesen sei.114 »Wie kein zweiter« habe er »historische Entwicklungslinien mit aktuellen Ereignissen verknüpfen und vor diesem Hintergrund werten« können.115 Zudem seien Ridders Ansprüche »(unausgesprochen) hoch« gewesen.116 »Was andern Orts als [Dissertation] gereicht hätte, hätte er als Materialsammlung eingestuft.«117 Über das Arbeitsklima schreibt Herkströter retrospektiv: »Man durfte bei ihm […] tun und lassen, was man wollte, wenn die üblichen Dinge (Korrekturen, Vorbereitungen von Übungen und AGs) erledigt waren«.118 »Ständig« sei zudem diskutiert worden: über »die politische Lage, neue Aufsätze und Bücher. Es gab einen Lektürezirkel […]. Einfach ein tolles Klima.«119 In diesem Kreise also verbrachte Steinmeier einen Großteil der 1980er Jahre. Dabei bildeten sich Freundschaften, die bis heute blieben, zum Beispiel zu Christoph Nix, Winfried Möller, Cornelius Pawlita, Brigitte Zypries, Achim Bertuleit oder eben Dirk Herkströter. Es sind großenteils keine angehenden (Jung-)Politiker, die hier arbeiteten. Vielmehr wirkt es wie ein Kreis wissenschaftlicher Beobachter, 109 | Steiger, Heinhard: Gießener, die Geschichte schrieben – Juristen; in: Gießener Universitätsblätter, 46/2013, S. 77-93; hier: S. 91. 110 | Preuß, Ulrich K.: Feuerkopf der Demokratie; in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 7/2009, S. 24-27; hier: S. 24. 111 | O.V.: Utopisches Recht; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.04.2007, S. 37. 112 | Steinmeier, F.-W.: Mein Deutschland, 2009, S. 38. 113 | Ebd. 114 | Herkströter, Dirk im schriftlichen Interview mit dem Autor am 20.01.2014. 115 | Ebd. 116 | Ebd. 117 | Ebd. 118 | Ebd. 119 | Ebd.
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die die Tagespolitik – ganz wie ihr Vorbild Helmut Ridder – aus juristischer Perspektive einordneten und hinterfragten. Steinmeier tat das schon früh als Mitglied der Redaktion der von Ridder mitherausgegebenen juristischen Fachzeitschrift Demokratie und Recht. Zypries, Anfang der 1980er Jahre ebenfalls Mitglied der Redaktion, erinnert sich, dass Steinmeier sich als studentische Hilfskraft dort zwar nicht in den Vordergrund gedrängelt habe. »Aber er war immer einer, der sich zu Wort gemeldet hat, […] der seine Meinung vertreten hat und immer diskussions- und streitbereit war.«120 Zu Wort meldete sich Steinmeier nicht nur in der Redaktion, sondern auch in Aufsätzen, die gleichsam beobachtend und einordnend waren und die er seit Beginn der 1980er Jahre, häufig in einem Autorenteam bestehend aus einigen der genannten Personen, in der Demokratie und Recht veröffentlichte. Meist ist in ihnen ein unmittelbarer Bezug zur aktuellen Politik hergestellt. Ein Blick in diese Arbeiten lohnt, weil sie zeigen, welche Themen Steinmeier damals beschäftigen, sie geben Einblick in die Gedankenwelt des Jungwissenschaftlers Steinmeier. Arbeitete Steinmeier in einem Beitrag von 1980, den er zusammen mit seinem Freund Cornelius Pawlita verfasste, noch die Rechtsgeschichte und die Wiederbelebung eines Gesetzes zur Entnazifizierung121 auf, beschäftigte er sich 1984 mit der Frage nach der Rechtmäßigkeit des Rotationssystems der Grünen, die dieses erstmals im Bundestag praktizierten. Akribisch genau untersuchte Steinmeier diese Frage zusammen mit drei Co-Autoren. Argumentativ scharfsinnig schlugen sich diese gemeinsam immer mehr auf die Seite derer, die Mandatsrotation nicht als rechtliches Problem ansahen. Die Argumente der Kritiker nahmen sie mit deutlichen Worten wie »Verunklarung«,122 »vernebelndes Schlagwort« 123 oder »stillschweigend […] ummün z[en]«124 auseinander und verwiesen mit dem Argument der »Redlichkeit« 125 darauf, auch Auffassungen anzusprechen, die von »fast allen Autoren ungenannt bleiben« würden.126
120 | Zypries, Brigitte im Gespräch mit dem Autor am 24.02.2014. 121 | Vgl. Pawlita, Cornelius; Steinmeier, Frank: Bemerkungen zu Art. 139GG – Eine antifaschistische Grundsatznorm?; in: Demokratie und Recht, 4/1980, S. 393-416. 122 | Möller, Winfried; Pawlita, Cornelius; Rühl, Ulli F.H., Steinmeier, Frank: Von der redlichen Bindungslosigkeit und der politischen Verantwortlichkeit des Abgeordneten. Ein Beitrag zum Thema Mandatsrotation; in: Demokratie und Recht, 4/1984, S. 367392; hier: S. 385. 123 | Ebd., S. 384. 124 | Ebd. 125 | Vgl. ebd., S. 381. 126 | Vgl. ebd.
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Ein Beispiel der besonders deutlichen Kritik zeigte die folgende Aussage: »Dies hat der Verfassungsinterpret zur Kenntnis zu nehmen, aber nicht zu bewerten, auch nicht indem er die Normauslegung mit entsprechenden ›Vorverständnissen‹ programmiert«.127 Nachdrücklich unterstrichen die Verfasser um Steinmeier ihre Kritik in einer beigefügten Fußnote: »Das verdient Feststellung gegenüber allen, die sich als Gralshüter des ›juristischen Argumentationskanons‹ gerieren und meinen, gegen ›sachfremde Angriffe‹ zu Felde ziehen zu müssen«.128 Darüber hinaus attestierten sie einigen Autoren ein »Tor zu interpretatorischen Höhen«, das für eine »Behauptung« aufgestoßen werde.129 Die »vielzitierten« Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts seien außerdem »offenbar sehr selektiv gelesen« worden.130 Steinmeier und die anderen Verfasser kritisierten die Argumentationslinien der Rechtswissenschaftler umfangreich und unterstellten ihnen letztendlich eine politisch-motivierte Argumentation. So hieß es im Fazit: »Allein das zeigt, daß es hier nicht um ein Verfassungsrechtsproblem von Relevanz, sondern um den politischen Kampf gegen basisdemokratische Modelle mit rechtlichen Argumenten geht.«131 Die Autoren schlossen mit den Worten: »Dann sollte man es aber auch bei – durchaus plausiblen – politischen Zweckmäßigkeitsüberlegungen belassen und nicht den schwerwiegenden Vorwurf der Verfassungswidrigkeit der Mandatsrotation erheben.«132 Gewiss handelte es sich bei dem zitierten Aufsatz um eine Mehr-AutorenAnalyse, es ist daher nicht mehr festzustellen, wie viele Passagen tatsächlich von Steinmeier stammen. Wichtig ist jedoch, dass Steinmeier seinen Namen mit unter diese Analyse gesetzt hatte und er damit mit für den Inhalt geradestand. In dieses Bild fügt sich, dass auch er einer von jenen gewesen war, die mit der gesamten Redaktion der Demokratie und Recht 1984 zurückgetreten sind, wenngleich dies durch sein Verbandeln mit Helmut Ridder auch nicht ganz überraschend kam. Grund dafür war jedenfalls das Überwerfen hinsichtlich der politischen Ausrichtung. Einem Großteil der Herausgeber war die Zeitschrift zu links. Die zitierte Analyse spiegelt diese Einschätzung einer eher linksorientierten Ausrichtung zumindest an einem Beispiel wider. Tatsächlich wurde die Demokratie und Recht sogar vom Verfassungsschutz beob-
127 | Ebd., S. 385. 128 | Ebd. 129 | Ebd. 130 | Ebd., S. 386. 131 | Ebd., S. 392. 132 | Ebd.
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achtet, da in der Zeitschrift auch DKP-Mitglieder Einfluss hatten.133 Im Verfassungsschutzbericht von 1984 war laut Frankfurter Allgemeiner Zeitung zu lesen: »Gegen Ende des Jahres trat die Redaktion aus Protest gegen die ›Verengung‹ ihrer Arbeitsmöglichkeiten zurück: Mit ihrer Praxis, auch Beiträge mit Kritik an orthodoxkommunistischen Positionen zu akzeptieren, sei sie an ›unüberwindliche, durch die gegebene Verbindung von Verlag und aktiver Herausgebermehrheit bedingte immanente Grenzen‹ gestoßen.«134
Steinmeier, der die Zeit in der Redaktion auch in der Retrospektive noch als »spannend«135 beschreibt, grenzte sich während seiner Redaktionsmitarbeit von diesen DKP-Strömungen anscheinend großenteils ab. Günter Platzdasch, ein früherer Schulkamerad,136 dessen Nachfolger er nun im Vorbereitungsdienst in Frankfurt werden sollte,137 erinnert sich viele Jahre später etwa daran, wie erregt Steinmeier einmal über einen antisemitischen Israel-Beitrag eines der Demokratie-und-Recht-Gründer gewesen sein soll. »Den mussten wir rausschmeißen«, soll Steinmeier Platzdasch in der Erinnerung damals in einem Café erzählt haben.138 Auch Brigitte Zypries erzählt, dass es da schon »auch einige Leute« gegeben habe, »die der DKP sehr das Wort geredet haben«, sie fügt gleichzeitig hinzu: »Steinmeier und ich gehörten immer zu denen, die dagegen waren. Also […] diese Diskussion um den richtigen Weg in eine bessere Gesellschaft – sie hat die Diskussionen in der Redaktion geprägt.«139 Tatsächlich ging es um gesellschaftlich-relevante Fragen, auch um die Frage, wie die Gesellschaft besser aussehen könne. Zwanzig Jahre später beschreibt Zypries die damalige Debatte mit den Worten: »Uns ging’s darum, diese Gesellschaft besser zu machen. Und dann gab’s halt diejenigen, die gesagt haben, dann müssen wir hier ein DDR-System errichten. Und es gab diejenigen wie uns, die gesagt haben, […] das funktioniert auf alle Fälle nicht. Guckt Euch mal an, wie’s da drüben ist. So ein totalitäres Regime wollen wir nicht, sondern wir
133 | Vgl. Platzdasch, Günter: Was nicht zusammengehört; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.09.2008, S. 8. 134 | Zitiert nach ebd. 135 | Steinmeier, Frank-Walter im ersten Gespräch mit dem Autor dieser Arbeit am 01.07.2013. 136 | So betitelt dieser sich selbst; vgl. Platzdasch, G.: Was nicht zusammengehört; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.09.2008. 137 | So zumindest beschreibt Platzdasch das Verhältnis; vgl. ebd. 138 | Vgl. ebd. 139 | Zypries, Brigitte im Gespräch mit dem Autor am 24.02.2014.
3. Lehrjahre in der Wissenschaf t wollen eine demokratische Verfassung. Aber wir wollen trotzdem, dass es den Leuten besser geht.«140
Wie eingehend sich Steinmeier mit dieser Systemkonkurrenz zu beschäftigen schien (und die DDR dabei allerdings nicht nur negativ bewertete), zeigt ein späterer Aufsatz.141 Unabhängig davon scheint der Anspruch auf jeden Fall dagewesen zu sein, gesellschaftliche Probleme zu diskutieren und Lösungen zu finden. So erinnert sich auch Nix ähnlich, wenn er von dem Gefühl, das sie hatten, spricht, »sozusagen die demokratische Substanz […] sowohl als Juristen als auch als politische Menschen […] [zu] verteidigen.«142 Natürlich verwischen im Rückblick Erinnerungen, zeitgeschichtliche Dokumente jedoch bleiben gleich. Nimmt man beides zusammen, Zeitzeugenaussagen und die damaligen Dokumente, nämlich jene Aufsätze von Steinmeier, so bestätigt sich das Bild eines an den Fragen von Gesellschafts- und Demokratieentwicklung interessierten Wissenschaftlers. Die Aufsätze nahmen zumeist Bezug auf aktuelle politische Entwicklungen und gaben neue Impulse, Steinmeier schreckte dabei nicht davor zurück, auch Professoren und andere Gutachter zu kritisieren. Das geschah allerdings in einer teils verbal sehr hochgerüsteten, von den eigenen Thesen nachhaltig überzeugten Weise. Doch: Kann es in einem Aufsatz, der geschichts- und politikwissenschaftliche sowie juristische Aspekte behandelt, die eine Wahrheit geben? Natürlich wähnt man sich als Wissenschaftler am Ende seiner Ausarbeitung und des Abwägens in einer Position der Stärke, scheint überzeugt von seiner wie bei Steinmeier gut begründeten Analyse. Es stellt sich allerdings die Frage, wie mit diesem Wissen umgegangen werden sollte. Der Vorwurf der geringen Offenheit wird gegen Steinmeier in seiner Karriere noch häufiger erhoben. Anders herum erwidert Steinmeier auf derlei Vorwürfe angesprochen, dass er lediglich mit einem klaren Standpunkt in Diskussionen hineingehe und stets gegangen sei.143 Das geschah bereits, wie auch in Bezug auf die anderen bereits erwähnten Aufsätze gezeigt worden ist, während seiner universitären Arbeit.
140 | Ebd. 141 | Auf den Aufsatz wird auf den folgenden Seiten noch Bezug genommen: Bertuleit, Achim; Herkströter, Dirk; Steinmeier, Frank: Das ganze Deutschland soll es sein. Notwendige Ergänzungen zu einer selbstgenügsamen Diskussion um die Wege zur deutschen Einheit aus völkerrechtlicher und verfassungsrechtlicher Perspektive, Sonderdruck 371 der Blätter für deutsche und internationale Politik, Bonn 1990. 142 | Nix, Christoph im Gespräch mit dem Autor am 18.12.2013. 143 | Vgl. Steinmeier, Frank-Walter im ersten Gespräch mit dem Autor am 01.07.2013.
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Man war überzeugt von sich, so viel kann konstatiert werden. Es zeichnet sich das Bild eines erfolgreichen Jungwissenschaftlers, dem alle Möglichkeiten offenzustehen schienen, der um sein Wissen und seine analytischen Fähigkeiten auch wusste. Hierzu passen die einleitenden Worte eines weiteren Aufsatzes aus dem Jahr 1990, in dem er und seine Mitautoren Achim Bertuleit und Dirk Herkströter von »Denk- und Redeverbote[n]« sprachen, welches sich die bundesdeutschen Staatsrechtslehrer auferlegt hätten.144 Es ist der letzte Aufsatz, den Steinmeier vor seiner Promotion veröffentlichte. Einmal mehr wurde ein tagesaktuelles Thema behandelt, was bereits im Titel deutlich wurde: »Das ganze Deutschland soll es sein… Notwendige Nachträge zu einer selbstgenügsamen Diskussion um die Wege zur deutschen Einheit aus völkerrechtlicher und verfassungsrechtlicher Perspektive«
So überschrieben war das Sonderheft der Blätter für deutsche und internationale Politik.145 Für fünf D-Mark, »am Besten in Briefmarkenform«, konnte die Broschüre bei Frank Steinmeier bestellt werden.146 Die Postanschrift war einmal mehr die Hein-Heckroth-Straße 5, jener Ort, an dem Steinmeier seit nun fast zehn Jahren seine wissenschaftliche Karriere auf baute. Die ersten Kapitel des Aufsatzes beschäftigten sich mit der »Betrachtung der völkerrechtlichen Folgen der Vereinigung, in der wir die Bildung eines neuen Staates sehen«.147 Hier wurde ein Blick zurückgeworfen bis auf die Gesetzgebung nach dem Zweiten Weltkrieg, der Befugnisse der vier Mächte sowie der »endgültige[n] Festlegung […] der polnischen Westgrenze«.148 Der Aufsatz liest sich stellenweise wie ein erhobener Zeigefinger. Nach einem ersten Abschnitt, in dem vorwiegend juristisch analysiert und viele Paragraphen hinzugezogen worden sind, folgt ein zweiter, deutlich argumentativerer Teil. Die Autoren fragten dort: »Wenn also der ›Großvater‹ Adenauer den Beitritt einer demokratisch nicht legitimierten DDR selbst im Kalten Krieg nicht in Betracht zog, müßte sich für seinen ›Enkel‹ Kohl dann der bloße Beitritt eines demokratisch legitimierten Staates DDR zur BRD nicht umso mehr
144 | Bertuleit, A.; Herkströter, D.; Steinmeier, F.: Das ganze Deutschland soll es sein, 1990, S. 32. 145 | Ebd. 146 | So geht es aus einer Anzeige in der regulären Ausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik hervor. Vgl. Blätter für deutsche und internationale Politik, 7/1990, S. 818 (Anzeige). 147 | Bertuleit, A.; Herkströter, D.; Steinmeier, F.: Das ganze Deutschland soll es sein, 1990, S. 25. 148 | Ebd., S. 9.
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verbieten?«149 (Hervorhebung F.W.S. etc.) Steinmeier und die Mitautoren warnten vor einem Legitimationsdefizit und fürchteten die weiteren Konsequenzen aus der Nicht-Einbeziehung der Bevölkerung in die Frage der Einheit. Schließlich würde da, »wo nationale Einheit sich, wie unmerklich auch immer, vor die Tore der Freiheit schiebt, […] am Ende die Einheit die Freiheit […] und mit ihr die Demokratie« zerstören.150 Insbesondere zum Schluss ihres Aufsatzes warnten sie vor einer möglichen »deprimierenden Anerkenntnis, daß tatsächlich in den vergangenen 40 Jahren die Geschichte Deutschlands stellvertretend von der Bundesrepublik mitgeschrieben worden ist«, wenn die Bürger der DDR »nicht einmal die Chance« gehabt hätten, »ihre Geschichte, ihre Besonderheit, ihre Utopien, vielleicht ihre Identität in den Einigungsprozeß« mit einbringen zu können.151 Die Verfasser argumentierten keineswegs grundsätzlich gegen die Einigung, sie störten sich vielmehr daran, dass sie allein mit Artikel 23 des Grundgesetzes begründet werde.152 Sie warnten vor einem Zukunftsszenario, in dem »[m]it der Nichtbefassung des Souveräns […] die politischen Verantwortlichen der neuen Ordnung ein Legitimationsproblem« aufladen würden, »das sie mit einem time-lag von einigen Jahren ganz sicher einholen wird.«153 In Bezug auf die Bürger der DDR sahen sie zudem soziale Probleme aufkommen, die mit der Entwurzelung der Identität einhergehen würden und um das »unstillbare[] Verlangen auch demokratischer Selbstbestimmung«.154 Beim Lesen dieses Aufsatzes fällt auf, dass hier mit den Verfassern tatsächlich eine jener (westdeutschen) Generationen schrieb, bei der die zwei deutschen Staaten von Geburt an existierten und dies anscheinend auch ein Stück weit akzeptiert worden ist. Hier ist ein möglicher Unterschied zu erkennen zu den vorausgegangenen Generationen, zu Personen wie etwa Helmut Kohl, Willy Brandt und Helmut Schmidt, bei denen die Teilung immer noch ein Konstrukt war, das nicht von Geburt an bestand und deshalb auch nicht akzeptiert worden ist. Die Autoren hingegen sprachen stattdessen zum Beispiel vom »überwiegenden Empfinden der jeweiligen Bevölkerung auch dauerhaft getrennter Staaten«.155 Es ist ein solcher Kernsatz, der womöglich aufzeigt, wie diese junge Generation gedacht haben könnte. Steinmeier selbst schrieb zwan-
149 | Ebd., S. 29. 150 | Ebd., S. 36. 151 | Ebd. 152 | Vgl. ebd. 153 | Ebd., S. 38. 154 | Ebd., S. 40. 155 | Ebd., S. 4.
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zig Jahre später tatsächlich, dass er »nicht damit gerechnet« habe, »die Wiedervereinigung zu erleben«.156 Neben diesem Generationen-Blick auffallend ist die gewählte Form der Beschreibung der DDR, die damals noch existierte. So schrieben die Autoren von »offenkundigen Mängeln beider Systeme«.157 Es wurde differenziert zwischen »liberaler Demokratie im Westen« 158 sowie »Volksdemokratien im Osten«.159 Hiermit wird ein Staat, die DDR, als »Demokratie« eingeordnet, der eben eine solche nicht gewesen ist.160 Der Ansatz der Autoren, nämlich eine gemeinsame – neue – Verfassung für das neue Staatskonstrukt zu zimmern, mag zumindest diskussionswürdig gewesen sein, in der Argumentationslinie wurde dafür jedoch die DDR deutlich erhöht. Auch Aussagen wie diese, dass sich zwei »hochentwickelte Industriestaaten«161 vereinigen würden, sind gerade im Rückblick schlicht falsch. Hier muss den Autoren um Steinmeier jedoch zugutegehalten werden, dass sie einem allgemeinen Irrtum aufgesessen sind. Denn es bleibt, schreibt einmal eine Wissenschaftlerin richtig, das »große Geheimnis des Jahres 1989«, wie »die Führungsriege der DDR so viele Menschen über Jahre in dem Glauben lassen« konnte, »hinter der Mauer gebe es eine gesunde, starke Volkswirtschaft«.162 Auch Steinmeier scheint diesem Irrtum aufgesessen zu sein. In dieser Biographie soll nicht der Zeigefinger erhoben, sondern vielmehr sollen Einschätzungen und Entscheidungen nachvollzogen werden. Er selbst ordnet seine damaligen Ausführungen mit den Worten ein: »Damals, ohne jede politische Erfahrung und in Überschätzung der politischen Spielräume ist vieles rückblickend naiv, manches falsch. Eine Sorge war dennoch vielleicht nicht ganz unberechtigt: dass, wenn man das nicht von Anfang an […] auf ’ne gemein156 | Steinmeier, F.-W.: Mein Deutschland, 2009, S. 53. 157 | Bertuleit, A.; Herkströter, D.; Steinmeier, F.: Das ganze Deutschland soll es sein, 1990, S. 37. 158 | Ebd. 159 | Ebd. 160 | Vgl. Winkler, Heinrich-August im Gespräch mit Spiegel Online; Gathmann, Florian: »Die DDR war von Anfang bis Ende eine Diktatur«; in: Spiegel Online, 20.05.2009; abrufbar unter: www.spiegel.de/politik/deutschland/interview-mit-historiker-winklerdie-ddr-war-vom-anfang-bis-zum-ende-eine-diktatur-a-625785.html (zuletzt eingesehen am 08.08.2016). 161 | Bertuleit, A.; Herkströter, D.; Steinmeier, F.: Das ganze Deutschland soll es sein, 1990, S. 22. 162 | Sarotte, Mary-Elise: Die Pleite der DDR; in: FAZ.net, 08.11.2009; abrufbar unter: www.faz.net/aktuell/politik/20-jahre-mauerfall/die-pleite-der-ddr-von-der-idee-diemauer-zu-geld-zu-machen-1883645.html (zuletzt eingesehen am 29.07.2016).
3. Lehrjahre in der Wissenschaf t same Entscheidung, eine ergänzte Verfassung [bringt], wenn auch nicht komplett neu bestätigt durch eine Volksabstimmung, die ja damals keine Schwierigkeit gewesen wär‹, […] wenn man das nicht von Anfang [an] demokratisch aufsetzt und auch der ehemaligen DDR-Bevölkerung, die jetzt künftig die Bevölkerung des gemeinsamen Ganzen wird, nicht die Möglichkeit gibt, ›Ja‹ zu sagen zu diesem neuen Gemeinwesen, das sich da so eine Reservatio Mentalis bildet, die bei einigen ehemaligen DDR-Leuten dann den Eindruck hinterlässt, ›was hat das ganze eigentlich mit mir zu tun?‹«163
Selbstkritisch fügt er bezogen auf seine damalige Analyse hinzu: »Ich hatte damals schlicht keine Vorstellung davon, dass es nach der faktischen Grenzöffnung […] im Grund genommen keine […] planbare Zeit zur Gestaltung des politischen Prozesses gab.«164 Steinmeier gesteht also selbst eine gewisse Naivität, auch Unerfahrenheit in dieser Frage ein, eine Unerfahrenheit, die sich womöglich in der Verve eines Jungwissenschaftlers entladen hat. Interessanter für die damalige Einordnung ist jedoch auch hier, wie sehr Steinmeier über den Tellerrand des Juristen hinausblickte. Einmal mehr präsentierte sich ein geschichts- und politikwissenschaftlich hoch bewanderter Autor, sodass sich der Aufsatz teilweise wie ein Essay eben aus jenen Fachdisziplinen liest, in dem ein Bogen bis hin zur Französischen Revolution165 gespannt worden ist. Es bestätigt sich einmal mehr das Bild eines weltoffenen, kritischen Geistes. Jedenfalls: Steinmeier befand sich mit dieser eher kritischen Haltung zur Wiedervereinigung auch in sozialdemokratischer Gesellschaft. Nicht nur zwischen der alten und der neuen Führung der SPD, unter anderem zwischen Willy Brandt und Oskar Lafontaine,166 kam es zu gegensätzlichen Positionen.167 Auch Steinmeiers späterer Chef Gerhard Schröder beschäftigte sich mit dieser Frage. Die gerade konstituierte rot-grüne Landesregierung unter Schröder hielt nämlich nur wenige Minuten nach ihrer Vereidigung ihre erste Kabinettssitzung ab. »Es galt«, erinnern sich zwei damals Anwesende, »die Haltung zum 163 | Steinmeier, Frank-Walter im ersten Gespräch mit dem Autor am 01.07.2013. 164 | Ebd. 165 | Vgl. Bertuleit, A.; Herkströter, D.; Steinmeier, F.: Das ganze Deutschland soll es sein, 1990, S. 33. 166 | Vgl. z.B. Reuth, Ralf Georg: Wie Brandt Lafontaine auf Einigungskurs bringen wollte; in: Welt, 11.09.2005, S. 14. 167 | Vgl. z.B. Schlieben, Michael: Oskar Lafontaine. Ein Opfer der Einheit; in: Forkmann, Daniela; Richter, Saskia (Hg.): Gescheiterte Kanzlerkandidaten. Von Kurt Schumacher bis Edmund Stoiber, Wiesbaden 2007, S. 290-322; hier: S. 311; vgl. auch Lösche, Peter; Walter, Franz: Die SPD. Klassenpartei. Volkspartei. Quotenpartei, Darmstadt, 1992, S. 384.
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Staatsvertrag mit der DDR festzulegen, über den am gleichen Nachmittag im niedersächsischen Landtag diskutiert und am Tage darauf im Bundesrat entschieden wurde.«168 Dabei setzten »[d]ie SPD-geführten Bundesländer […] im Bundesrat eine Resolution durch, die einer vernichtenden Kritik des Staatsvertrages gleichkam.«169 Am Ende stimmten dennoch alle SPD-geführten Länder zu. Eine Ausnahme allerdings bildeten die Regierungen des Saarlands sowie Niedersachsens.170 Anders sah es beim »Vertrag über die Herstellung der Einheit zwischen der Bundesrepublik und der DDR« aus, bei der die Regierung zustimmte. Es war offenbar geworden, dass »die von […] Schröder ursprünglich favorisierte Lösung einer neu zu erarbeitenden gesamtdeutschen Verfassung inklusive Volksabstimmung nicht durchsetzbar war« – er vertrat als Politiker also eine ähnliche Position, wie Steinmeier sie als Wissenschaftler vertrat.171 Steinmeier war hier noch nicht in der Politik und kannte weder Schröder noch Lafontaine persönlich, dennoch zeigt die Begebenheit einmal mehr ein Denken, das dem der damals führenden Sozialdemokraten ähnlich war. Als Wissenschaftler nahm er zu diesem Zeitpunkt gleichwohl noch eine beobachtende Stellung ein. Die Mitautoren von »Das ganze Deutschland soll es sein…« waren Achim Bertuleit und Dirk Herkströter. Zusammen mit Brigitte Zypries und Winfried Möller waren sie, wie beschrieben, Freunde oder zumindest Bekannte von Steinmeier (geworden). Die gesamte Redaktion entsprach etwa dem späteren »rot-grünen Milieu«, wird Steinmeier später einmal sagen.172 Das zeigt sich neben den entsprechenden Aufsätzen und dem Blick auf Ridders Wirken auch in einem Teil von Steinmeiers Freundeskreis. Achim Bertuleit und Brigitte Zypries wählten den Weg als Beamte in die Politik im Hintergrund (unter sozialdemokratisch-geführten Regierungen). Der spätere Hannoveraner Jura-Professor Winfried Möller war einst Juso-Hochschulvorsitzender und Asta-Chef. Christoph Nix widmete sich – trotz einer Jura-Professur – seiner weiteren Leidenschaft und ging als Theaterintendant, als der er ein »politische[s] Theater« pflegte,173 in die Kunstbranche, in ein ohnehin eher linkes Feld. Alle haben sie gemein, dass sie den Kontakt zu Steinmeier behielten – über seine ganze späte-
168 | Thörmer, Heinz; Einemann, Edgar: Aufstieg und Krise der Generation Schröder. Einblicke aus vier Jahrzehnten, Marburg 2007, S. 44. 169 | Ebd. 170 | Vgl. ebd. 171 | Schöllgen, G.: Gerhard Schröder, 2015, S. 197. 172 | Steinmeier, F.-W.: Mein Deutschland, 2009, S. 43. 173 | O.V.: Christoph Nix; in: Süddeutsche.de, 06.08.2015; abrufbar unter: www.sued deutsche.de/politik/profil-christoph-nix-1.2597595 (zuletzt eingesehen am 04.08. 2016).
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re politische Karriere hinaus. Sein Freundeskreis war also schon damals mehr als sozialdemokratisch, er war links und auf langfristigen Kontakt bedacht.
3.3 B ürger ohne O bdach In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre begann Steinmeier die Recherchen für seine Dissertation. Auslöser für die Arbeit war, glaubt man dem Vorwort seiner 1991 veröffentlichten Schrift, ein ganz praktischer Bezug. So schrieb er, dass »[d]ie UNO […] das Jahr 1987 zum ›Internationalen Jahr der Hilfe für Menschen in Wohnungsnot‹ ausgerufen« habe.174 Weiter hieß es, dass »[e]ine bilanzierende Betrachtung der dazu stattfindenden bundesdeutschen Aktivitäten, die der Verfasser Ende 1988 für die ›Landesarbeitsgemeinschaft soziale Brennpunkte in Hessen e.V.‹ zusammengestellt hat, […] am Anfang der vorliegenden Arbeit« gestanden habe.175 Steinmeier war nun wieder in Gießen, nachdem er in Frankfurt sein 2. Staatsexamen abgelegt hatte. Neben seiner bereits beschriebenen Mitarbeit bei Helmut Ridder folgten von 1987 bis 1990 drei Jahre, aus denen die Dissertation mit der dazugehörigen 450-seitigen Publikation »Bürger ohne Obdach« hervorging, die ihn zum Dr. jur. machte. Der vollständige Titel der Arbeit lautete: »Bürger ohne Obdach. Zwischen Pflicht zur Unterkunft und Recht auf Wohnraum. Tradition und Perspektiven staatlicher Intervention zur Verhinderung und Beseitigung von Obdachlosigkeit.«
So speziell das Thema von einst wirkte, spiegelte es doch ein akutes Problem zu jener Zeit wider. Steinmeier selbst schrieb, dass »[e]rst der durch die OstWest-Entspannung begünstigte sprunghafte Anstieg der Zuwandererzahlen aus Osteuropa seit 1988/89 […] die Wohnungsversorgung geradezu explosionsartig ins Licht einer breiteren Öffentlichkeit« gerückt habe.176 »Die auf Jahre bestehende Aufgabe, zusätzlich – über den bis dato projektierten Wohnungsbau hinaus – jährlich über 300.000 Menschen mit Wohnraum zu versorgen«, habe »die gerade noch spürbare sozialpolitische Gelassenheit fast ohne Übergang in hektische Betriebsamkeit umschlagen« lassen.177 Bei einem Roman gilt der erste Satz, bisweilen auch der erste Abschnitt als der Wichtigste des ganzen Buches, weil er Aufschluss über den folgenden Inhalt gibt. Auch bei Steinmeiers Dissertation lässt sich aus diesem ersten Absatz 174 | Steinmeier, F.-W.: Bürger ohne Obdach, 1992, S. IX. 175 | Ebd., S. IX. 176 | Ebd., S. IX. 177 | Ebd., S. IX.
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einiges ablesen. So schrieb er gleich zu Beginn seiner Einleitung, dass sich die Diskussion um neuen Wohnraum in der »jüngeren Vergangenheit«178 zu sehr »auf die Wohnbedürfnisse gehobener Einkommensschichten«179 konzentriert habe. Steinmeier unterteilte hier bereits zwischen einer gehobeneren Schicht und einer Unterschicht, für die er, so wird beim Lesen der Arbeit deutlich, Partei ergriff. So hieß es weiter, dass »[d]ie Auseinandersetzungen in den achtziger Jahren über eine neue Stadtkultur oder eine neue Stadtästhetik […] zuweilen vergessen lassen [haben], daß Hunderttausende von Familien an der Verwirklichung von Wohnbedingungen mit fließend Wasser, eigenem Bad und eigener Toilette scheiterten.«180
Eine soziale Ungerechtigkeit wurde diagnostiziert, die er mit der Kritik untermauerte, dass sich die Antworten »[a]llzu oft […] auf die Frage nach dem ›Wohnraum morgen‹ auf den postmodernen Entwurf eines rückwärts orientierten Fassadenprogramms, auf die Wahl zwischen Erker oder Türmchen« beschränken würde.181 Steinmeier bezog deutlich Position und ordnete den Wohnungsbau – später konkretisiert er auf den Wohnungsbau der schwarz-gelben Regierung – als »rückwärts orientiert« 182 ein. Es war eine praktische Arbeit, die, grob nach Steinmeier, das Dunkelfeld der Obdachlosigkeit aus juristischer Perspektive bearbeiten und »damit gleichzeitig Anstoß geben [wollte] zu einer rechtspolitischen Neuorientierung in der Obdachlosenfürsorge.«183 Steinmeier bediente damit ein damals hochaktuelles, wenn auch für die Rechtswissenschaft vollkommen ungewöhnliches Thema.184 Der damalige langjährige wohnungsbaupolitische Sprecher der SPD, Franz Müntefering, warf seiner Partei und später der Union schon Anfang der 1980er Jahre vor, das Problem zu verschlafen.185 Später wiederum fand ein Aufsatz des wohnungsbaupolitischen Sprechers Eingang in das Programm »Fortschritt ’90« 178 | Ebd., S. 1. 179 | Ebd. 180 | Ebd., S. 1. 181 | Ebd. 182 | Ebd. 183 | Ebd., S. X. 184 | Süffisant hält etwa der Tagesspiegel richtig fest, dass Steinmeier »nicht nur eine Minderheit in den Mittelpunkt« stelle, »sondern in seiner Disziplin auch ein Minderheitenthema […]. Denn Juristen pflegen sich mit Obdachlosen gewöhnlich erst zu beschäftigen, wenn sie kriminell werden.«; Müller-Neuhof, Jost: Das Herz schlägt links; in: Tagesspiegel, 14.09.2008, S. 4. 185 | Vgl. Kohlmann, Sebastian: Franz Müntefering – eine politische Biographie, Stuttgart 2011, S. 27.
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der SPD im Jahr 1990.186 Überhaupt war die zunehmende soziale Kluft ein (wachsendes) Problem der 1980er Jahre. Von einer »80-90 %-Gesellschaft« war bereits die Rede.187 Für ihn war es nicht nur, wie er schrieb, eine »Störung der öffentlichen Sicherung und Ordnung«, was bei Juristen »regelmäßig kaum Aufregung« ausgelöst habe.188 Er argumentierte, dass sich gerade bei »sozialen Alltagskonflikten […] die Suche nach Problemlösungen nur selten an der universitären Arbeitsteilung nach Fachwissenschaften orientiert.«189 Diese Erkenntnis verlange geradezu, »die Diskussionen und den Forschungsstand aus den sozialwissenschaftlichen Nachbardisziplinen mit aufzugreifen.«190 Steinmeier blickte also, so sein dezidiertes Forschungsvorhaben, auch hier über den Tellerrand seines Fachgebiets hinaus. Er beschrieb kein Problem, dass nur für die Rechtswissenschaft interessant war, sondern eines, das den Zeitgeist aufgriff und für das soziale Leben insgesamt wichtig schien. Und: Das gewählte Thema, soviel kann auch rückblickend bilanziert werden, zeigte eine bestimmte Einstellung auf. Steinmeier beschäftigte sich mit den Vernachlässigten der Gesellschaft, den Vergessenen, die noch unterhalb des einfachen Bürgers angesiedelt waren. Die Unzufriedenheit über jene Missstände schien ausgeprägt gewesen zu sein. Bemerkenswert ist zum Beispiel Steinmeiers Kritik an der fehlenden Datendichte über Obdachlosigkeit in Deutschland. Hier stellte der Doktorand fest, dass die »[v]or der Grenzöffnung im November 1989 […] (geschätzten) Angaben zwischen 200.000 und ca. 1,1 Millionen Personen [schwankten], die als wohnungslos bezeichnet werden mußten.«191 Mit einem Ausrufezeichen versehen, folgte die Feststellung, dass »[d]ie zweite Zahl […] mehr als das Fünf186 | Vgl. Müntefering, Franz: Gut wohnen in attraktiven Städten und Dörfern; in: Dreßler, Rudolf; Matthäus-Maier, Inge; Roth, Wolfgang; Schäfer, Harald B.; Schmidt, Renate (Hg.): Fortschritt ’90. Fortschritt für Deutschland, München 1990, S. 239-249; vgl. auch Frenzel, Martin: Neue Wege der Sozialdemokratie. Dänemark und Deutschland im Vergleich (1982-2002), Wiesbaden 2002, S. 136. 187 | Vgl. Geißler, Reiner: Die Sozialstruktur Deutschlands: Zur gesellschaftlichen Entwicklung mit einer Bilanz zur Vereinigung, Opladen 1996 2, S. 201ff. Das »gängige[] Schlagwort in der deutschen und internationalen Diskussion unter Sozialwissenschaftlern und Sozialpolitikern« von der »Zwei-Drittel-Gesellschaft« hält Geißler hingegen für »dramatisiert«, betont aber gleichzeitig in Bezug auf die vermeintlich geringere Gruppe der sozial Ausgrenzten, dass dies »der sozialpolitischen Brisanz dieser Problematik keinen Abbruch« tue; ebd., S. 203. Vgl. auch Glaeßner, G.-J.: Demokratie und Politik, 1999, S. 306ff. 188 | Steinmeier, F.-W.: Bürger ohne Obdach, 1992, S. 7. 189 | Ebd., S. 8. 190 | Ebd. 191 | Ebd., S. 18.
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fache der ersten« betragen würde.192 Dem schloss sich eine Kette rhetorischer Fragen an: »Wie ist das möglich in einer Gesellschaft, in der jede Kommune mindestens genau weiß, wie viele Personen zu einem bestimmten Zeitpunkt ihre Notunterkünfte bewohnen und die Entrichtung von Nutzungsentgelt oder Mietzins verbuchen muß? Wie ist das möglich in einer Gesellschaft, die in statistischen Jahrbüchern der Städte, der Bundesländer und des Bundes, in den Zahlenwerken der Betriebe, Verbände und Dienstleistungseinrichtungen fast jede bedeutungslos erscheinende Aktivität vom behördlichen Bleistiftkauf bis zum milliardenschweren Auslandskredit kleinlich registriert?« 193
Auch wenn Steinmeier im Folgenden entkräftete, dass »zuzugestehen« sei, dass es »Problemfelder sozialer Arbeit« gebe,194 in denen Zahlen schwer zu ermitteln seien, sind doch allein die von ihm an dieser Stelle aufgeführten Fragen interessant. Sie sprechen, soviel kann ohne sprachwissenschaftliche Untersuchung festgestellt werden, eine Sprache der Empörung über die Beschäftigung mit Unwesentlichem in der deutschen Bürokratie. Interessant ist die vermeintliche Kritik am »behördlichen Bleistiftkauf« auch deshalb, weil sie einen Vorwurf aufnimmt, den Steinmeier selbst rund fünfzehn Jahre später über sich lesen darf, als er Außenminister wird. In der Dissertation folgte eine nüchterne, wenngleich scharfsinnige Abwägung der vielen Paragraphen. Dennoch tauchten punktuell aber regelmäßig Aussagen auf, die, wie im ersten Kapitel, Einblick geben in Steinmeiers damaliges Denken. So könne, führte er aus, der Vermieter dem Mieter auch fristlos kündigen, wenn dieser zwei Monate in Folge seine Miete nicht bezahlt habe. Eine »außerordentlich strenge Sanktion«, befand er, beziehe diese doch nicht mit ein, ob der Mieter »unverschuldet seinen Arbeitsplatz verliert oder eine größere Einkommensreduzierung hinnehmen muß.«195 Ohne dabei die Parteien auch nur einmal mit Namen anzusprechen, griff Steinmeier die Wohnungsbaupolitiker der schwarz-gelben Bundesregierung an – und befand sich damit, bewusst oder unbewusst, ganz auf SPD-Linie. Er kritisierte, dass »– als Folge subventionspolitischer Entscheidungen – mindestens seit 1984 das Neubauvolumen in wachsenden Abstand zur Entwicklung der Nachfragesituation« geraten sei.196 Mit der Einschränkung auf das Jahr 1984 wird deutlich, dass in diesem Jahr aus seiner Sicht ein Bruch stattgefunden hat, den die sich mittlerweile über ein Jahr im Amt befindliche schwarz192 | Ebd. 193 | Ebd., S. 18f. 194 | Ebd. 195 | Ebd., S. 65. 196 | Ebd., S. 47.
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gelbe Koalition unter Helmut Kohl zu verantworten habe. Ausführlich argumentierte er: »Lag die Zahl der jährlich fertiggestellten Wohnungen durch die 70er Jahre hinweg bis 1984 um etwa 400.000 […], so ist sie seitdem in nur vier Jahren bis 1988 bereits auf die Hälfte (208.000 Wohnungen) gesunken; bei isolierter Betrachtung des Mietwohnungsbaus bewegt sich die Abnahme sogar auf zwei Drittel zu. Der damit bereits bei Auswertung der Volkszählung im Jahre 1988 errechnete Fehlbestand von ca. 1 Million Wohnungen erlaubt allerdings keine Fortschreibung auf diesem Stand.«197
Später griff Steinmeier diesen Missstand noch einmal auf und ging auf die Liberalisierung des Wohnungsmarktes, ein Kernanliegen der schwarz-gelben Bundesregierung,198 ein. »Mit dem noch nicht abgeschlossenen Prozeß der Liberalisierung und Privatisierung auf dem Wohnungsmarkt wird jedoch die fehlende Problemgruppenorientierung des Kündigungsschutzes als Ausgewogenheitsdefizit zunehmend augenfällig. Im Zusammenwirken mit einer Wohnungsbaupolitik, die einer Ausweitung des preisgünstigen Mietwohnungsbestands nicht die notwendige Priorität einräumt, und allgemein unsicheren Einkommenserwartungen in den unteren sozialen Schichten verschärft das defizitäre mietrechtliche Schutzsystem die Gefährdungslage der von Wohnungslosigkeit bedrohten Mieterklientel.«199
Eine zugespitzte Kritik erfolgte nach einer über die ersten 250 Seiten ansonsten nüchternen, paragraphen-basierten Bestandsaufnahme rund um das Obdachlosenrecht und die Interventionsmöglichkeiten durch die Polizei im Zwischenfazit, in dem es hieß: »Auf der gleichen Linie liegt schließlich die schon angedeutete Auffälligkeit, daß ausschließlich für den Fall der sozialen Notlage ›Wohnungslosigkeit‹ an der Fiktion des Verstoßes gegen die öffentliche Sicherheit festgehalten wird – als ob der dafür vorausgesetzte Menschenwürdeverstoß nicht für alle anderen Fälle extremster Armut genauso zuträfe. Niemand ist aber bisher auf den Gedanken gekommen, den Einsatz des Poli197 | Ebd. 198 | Sibylle Münch etwa spricht sogar von einer »massive[n] Forcierung der wohnungsmarktpolitischen Liberalisierung«, die »[s]eit dem Regierungswechsel 1982« unter der »neue[n] Union/FDP-Regierung« angestrebt worden sei. Die »entscheidenden Weichenstellungen« seien dabei zwischen 1986 und 1988 erfolgt; Münch, Sibylle: Integration durch Wohnungspolitik?: Zum Umgang mit ethnischer Segregation im europäischen Vergleich, Wiesbaden 2010, S. 175. 199 | Steinmeier, F.-W.: Bürger ohne Obdach, 1992, S. 69.
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II. Frühe Jahre zeirechts auch dort zu fordern, wo – aus welchen Gründen auch immer – den Armen in den städtischen Elendsquartieren oder isoliert wohnenden alleinstehenden Alten die notwendigsten Voraussetzungen zur Führung eines menschenwürdigen Lebens nicht zur Verfügung stehen.« 200
Es ist einmal mehr eine Sprache der Empörung, die an dieser Stelle Eingang fand. Sie begann bei dem »als ob« und zeigte auf, dass es aus der Sicht des Autors unverständlich sei, dass hier niemand auch auf andere Armutsfälle geschaut habe. Gleichzeitig kritisierte Steinmeier, dass »niemand« auf die Idee gekommen sei, das zu ändern. Am Ende dieses Zwischenfazits fasste er zusammen, dass sich »die Aufgabe der Entwicklung und Bereitstellung effektiver öffentlicher Interventionsmöglichkeiten zugunsten der schutzlos marktverdrängten Opfer einer ganz offensichtlich sozialpolitisch unausgewogenen Wohnungspolitik dringender denn je« stelle.201 Das Soziale stand im Mittelpunkt, die schutzlose Minderheit, für die es einer neuen Politik bedürfe. Das muss nicht unbedingt sozialdemokratisch sein, ein Hinweis auf einen sozialen Schwerpunkt zeigt es aber allemal auf. Der zweite große Teil, weitere 150 Seiten, bot nun einen sozialwissenschaftlichen Abriss über die Entwicklung der deutschen Sozialpolitik seit dem »zu Ende gehenden Mittelalter« auf.202 Dieser Abschnitt mündete schließlich im letzten Kapitel, das ein Grundrecht auf Wohnraum formulierte und sich dabei hochpolitisch liest. So hieß es gleich in der Einleitung dieses Kapitels, dass die »voranstehenden Ausführungen« gezeigt hätten, dass es »Hoffnung auf eine Trendwende in der Entwicklung der Wohnungsversorgung und eine von ihr abhängige Statusverbesserung von Mietern und Wohnungssuchenden« geben könne. Allerdings verlange das »die politische Bereitschaft zur Entscheidung«.203 Steinmeier wog hier noch einmal die Aufgaben des Staates und der
200 | Ebd., S. 262. 201 | Ebd., S. 264. 202 | Ebd., S. 267; So liefert Steinmeier einen umfangreichen Abriss über die Entwicklung seit dieser Zeit, über »das Bevölkerungswachstum seit dem 11. Jahrhundert und die dadurch verursachte neue Mobilität, de[n] Aufschwung der Städte nach den großen Pestzügen um die Mitte des 14. Jahrhunderts, die Entfaltung des Fernhandels und der gewerblichen Produktion, all dies brachte neben neuartigem gesellschaftlichen Reichtum auch eine neue Armut hervor, die sich vor allem in den Städten ballte und vor allem dort als Problem empfunden wurde, obwohl sie in den ländlichen Gebieten kaum weniger grassierte.« (Ebd.) Weiter heißt es, dass »[d]ie neuen städtischen Unterschichten […] dadurch charakterisiert [waren], daß sie aus dem Gefüge ständischer Ordnung herausfielen« (ebd.). 203 | Ebd., S. 372.
3. Lehrjahre in der Wissenschaf t
Politik ab. So definierte er mit Verweis auf zwei Artikel des Grundgesetzes,204 »die Ermächtigung für den demokratisch-legitimierten Gesetzgeber, planend, lenkend, eigentumserweiternd und -beschränkend in die Wirtschaftsgesellschaft einzugreifen, um den freiheitsschaffenden Zweck des Sozialstaatsgebots zur Geltung zu bringen.«205 Es wurde also eine Definition der Aufgaben der Politik beschrieben, wie sie später auch der Politiker Steinmeier einmal wahrnehmen wird, wenngleich zu diesem Zeitpunkt an eine solche Karriere noch nicht zu denken war, er sich noch vollkommen der Wissenschaft verschrieben hatte. »Sucht man in dem Buch den hinterm Paragrafendickicht verborgenen sozialromantischen Schwärmer, wird man […] enttäuscht«, schreibt die Frankfurter Allgemeine Zeitung viele Jahre später über die Dissertation.206 Dies gelte zumindest bis »kurz vor Schluss«. Dort war der Wissenschaftler noch einmal, wie gezeigt, offensiv angetreten. Es bleibt dahingestellt, ob es eine sozialromantische Schwärmerei war oder eben doch mehr. In jedem Falle sah Steinmeier »die Pflicht des Staates zum Bau und Erhalt preisgünstigen Wohnraums für breite Bevölkerungskreise«.207 Diese fasste er mit dem Vorschlag von drei verfassungsrechtlichen Artikeln zusammen, mit denen die Arbeit schloss. Der Autor dieser Biographie ist kein Jurist. Für ihn ist der Subtext interessant, jene Stellen, in denen mögliche, teils bereits aufgezeigte Einstellungen von Steinmeier deutlich werden. Die juristische Bewertung der Schrift muss anderen überlassen werden. Auch 20 Jahre nach der Veröffentlichung der Dissertation wird diese als aktuell und hoch interessant beschrieben. Plagiatsvorwürfe, die sich als haltlos erwiesen,208 haben zu einem neuerlichen, vermutlich ersten 204 | Steinmeier verweist auf Artikel 20 und 79 GG; vgl. ebd., S. 381. 205 | Steinmeier, F.-W.: Bürger ohne Obdach, 1992, S. 381. 206 | Leibfried, Stephan: Auf die Anklagebank gehört der Ankläger; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.10.2013, S. N5. 207 | Steinmeier, F.-W.: Bürger ohne Obdach, 1992, S. 394. 208 | Die Universität Gießen hat die Vorwürfe innerhalb von sechs Wochen geprüft und sie schließlich zurückgewiesen. In der dazugehörigen Pressemitteilung räumt sie zwar ein, dass es »zwar handwerkliche Schwächen […] im Hinblick auf die Zitationspraxis in einer Reihe von Textpassagen« gebe, gleichzeitig heißt es jedoch: »Es liege weder eine Täuschungsabsicht noch ein wissenschaftliches Fehlverhalten vor«. Vielmehr wird betont, dass der »Kommissionsvorsitzende […] in seinem Bericht den hohen wissenschaftlichen Wert der […] Arbeit« hervorgehoben habe, »der von Computerprogrammen nicht bewertet werden könne.«; Pressemitteilung der Justus-Liebig-Universität Gießen, Nr. 213: Überprüfung der Dissertation von Dr. Frank-Walter Steinmeier, 05.11.2013; abrufbar unter: https://www.uni-giessen.de/ueber-uns/pressestelle/pm/pm213-13 (zuletzt eingesehen am 03.06.2016).
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Leseansturm geführt. In diesem Zusammenhang haben sich renommierte Wissenschaftler mit sehr positiven Urteilen zu Wort gemeldet. Das bestätigt das Urteil von einst: Steinmeier legte eine mit summa cum laude herausragende Dissertation ab.209 Für diese Biographie ebenfalls interessant ist ein Blick auf den Auf bau der Dissertation. Steinmeiers Arbeiten folgten nämlich immer einem gleichen Schema. Erst analysierten sie nüchtern und tiefgreifend und arbeiteten präzise Widersprüche heraus. Dann erfolgten Lösungsansätze, die meist scharfsinnig in ihrem Urteil waren und neue Perspektiven aufzeigten. Dieser Auf bau war bei allen Arbeiten Steinmeiers zu beobachten und insofern wichtig, als dass er prägend sein dürfte. Denn diese Art der Arbeit wird auch der spätere Politiker Steinmeier praktizieren. So lapidar das klingen mag, soll doch erwähnt werden, dass eine Dissertation stets eine Herausforderung ist. Sie erfordert Disziplin und Durchhaltevermögen, Ehrgeiz und Interesse, die Akzeptanz von geringem Einkommen, während Freunde und Bekannte in das Berufsleben starten. Viele Dissertationen werden abgebrochen, sie scheitern an ihren Verfassern selbst, etwa an den nicht erfüllbaren Zielen oder dem Wunsch des baldigen Berufseinstiegs fernab der Wissenschaft. Steinmeier hielt an dem Ziel der Promotion fest und gab sie letztendlich auch ab. In der Endphase und danach gab es von seinen Mentoren durchaus Versuche, ihn in der Wissenschaft zu halten. »Seine Dissertation war brillant«,210 urteilte etwa Brun-Otto Bryde rückblickend und erinnerte sich, dass er es fast geschafft hätte, Steinmeier für eine Karriere in der Wissenschaft zu gewinnen. Das sei, bestätigt auch Steinmeier, »bis 1990 oder kurz vor 1990 […] tatsächlich so« gewesen.211 »Da hatte Bryde ja durchaus Recht. Da wollte ich in der Wissenschaft bleiben. Ich konnt’ mir […] überhaupt nichts anderes vorstellen.«212 Das Umdenken habe dann in den letzten Monaten der Dissertation eingesetzt. Lange Zeit habe er, erinnert sich Steinmeier, als Assistent »viel[e] Klausuren […] und […] Hausarbeiten korrigieren« müssen »und das ganze Zeug, was einen auf Trab hält.«213 Als er schließlich damit fertig gewesen sei, »hab’ ich [mich] mehr als ein halbes Jahr, fast dreiviertel Jahr […] eingeschlossen«.214 Er erinnert sich an »so ’nen kleines Haus«, das hinter dem Gebäude »der Professur in der Hein-Heckroth-Straße« gestanden habe, 209 | Vgl. ebd. 210 | Zitiert nach Hanusch, Frederic; Leggewie, Claus: Rufmord darf sich nicht lohnen; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.10.2013, S. N5. 211 | Steinmeier, Frank-Walter im ersten Gespräch mit dem Autor am 01.07.2013. 212 | Ebd. 213 | Ebd. 214 | Ebd.
3. Lehrjahre in der Wissenschaf t »das hieß Hexenhaus. Das war als Büro völlig ungeeignet, hatte einen […] kleinen Seminarraum und oben ein Dachgeschoss. Und ich hatte mich sozusagen […] als Einsiedler in diesem Dachgeschoss eingeschlossen, und hab’ dann praktisch das letzte halbe Jahr in Klausur […] Tag und Nacht da geschrieben.« 215
Diese Zeit der Einigelung bewirkte zumindest aus seiner Sicht das Umdenken. So erinnert er sich weiter: »Das Schlimme war: Das war genau die Zeit, in der die Mauer fiel. Und ich […] fand das so aberwitzig. Ich mein’, die Welt verändert sich, das alles, mit dem man politisch groß geworden ist […]: Ostpolitik. SPD. Und dann stürzt diese Mauer ein. […] Deutschland wird eins und ich sitz’ dort und mach’ meine Fußnoten. Das war […] so absurd und so skurril, dass ich dann danach gedacht habe: […] Du kannst dich jetzt nicht […] einfach […] nach der Promotion in das nächste Kämmerchen setzen«,
auch, wenn das nicht, so betont er, »der Abschied von der Wissenschaft« gewesen sei.216 Es sollte anders kommen, wie im folgenden Kapitel und nach dem Zwischenfazit zu sehen ist.
215 | Ebd. 216 | Ebd.
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4. Zwischenfazit
Behütete Kindheit und wissenschaftlicher Querdenker
Frank-Walter Steinmeier, geboren 1956, gehörte der ersten Generation an, in der die Kriegsschäden beseitigt und der Wiederauf bau weitestgehend abgeschlossen waren, in der anders als zum Beispiel bei Gerhard Schröder der Verlust von unmittelbaren Familienmitgliedern nicht betrauert werden musste. Steinmeier kam aus einfacheren, aber nicht armen Verhältnissen und wuchs in einem intakten Elternhaus auf. Seine Eltern waren tolerant und förderten ihn, drängten ihn jedoch nicht in eine bestimmte Richtung. Er musste sich nichts erkämpfen, musste sich auch nicht gegen seine Eltern, die den Krieg noch recht jung und nur kurz erlebt hatten, auflehnen. Eine Distanzierung vom Elternhaus, gar von der Heimat, fand bei ihm so, anders als bei der vorausgegangenen Generation, nicht statt. Die Kindheit verlief vergleichsweise behütet, er war, wie viele andere auch, ein netter Junge von nebenan – ohne besondere Auffälligkeiten und in die Dorfgemeinschaft integriert. Brakelsiek blieb als Bezugsort bestehen. Eine politische Karriere war nicht in Sicht. Steinmeier wuchs gleichzeitig auf in einer Zeit, in der er immer wieder von den sozialdemokratischen Bildungsreformen und Einstellungswechseln jener Zeit profitiert hat. Er war einer der wenigen aus seinem Jahrgang in Brakelsiek, die im Zuge dieser Reformen und einer sich herauskristallisierenden neuen Durchlässigkeit ans Gymnasium im Nachbarort wechselte. Das war Ende der sechziger Jahre. Seine politische Sozialisation begann dann in den 1970er Jahren, eingeprägt habe sich bei Steinmeier das Misstrauensvotum gegen Willy Brandt. Er selbst nennt seine Generation, in Anlehnung an sein Abiturjahr, 1974er. Er war damit in einer Zeit politisch sozialisiert worden, in der die Studentenproteste der 1968er keine unmittelbare Rolle mehr spielten. Der revolutionäre Geist von einst war einer nüchternen Bestandsaufnahme gewichen. Die Kämpfe waren gekämpft und in den Vordergrund rückten stattdessen die radikalen Auswüchse der einstigen linken Bewegung, die in den RAF-Attentaten mündeten. Auf der anderen Seite fanden die Wirtschaftswunderjahre, in denen auch Steinmeier seine Jugend – mit Hausbau der Eltern, Mobilisierung
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durch Autokauf und dem Einzug des Fernsehers ins elterliche Haus – verbrachte, ein jähes Ende. Das Industriezeitalter überschritt also seinen Zenit und von der Vollbeschäftigung wurde sich erstmals verabschiedet. Es war eine Zeit, in der Regierungen es gleichsam versäumten, umfangreiche Konzepte für den strukturellen Wandel zu entwickeln, geschweige denn einzuleiten und nicht nur die vermeintlich kurzzeitig ansteigenden Mengen von Arbeitslosen zu verwalten. Auch in anderer Hinsicht stellten die 1970er Jahre einen Wendepunkt dar. Die Mitgliederzahlen der Parteien, die bei der SPD Anfang des Jahrzehnts ihren Höhepunkt erreicht hatten, sanken erstmals wieder, man engagierte sich immer mehr auch in Organisationen fernab dieser. So auch Steinmeier, der mit einem Jugendkreis in seinem Ort, für den er und sein Bruder sich umfangreich und lange Zeit engagierten, erste Erfahrungen sammeln konnte. Dabei gab es durchaus Erfolge. Pragmatisch, aber auch mit Leidenschaft wurde für bestimmte Dinge, etwa ein Vereinshaus argumentiert. Schließlich wurde der Jugendkreis gar zu einem eigenen Verein, an dessen Gründungsurkunde, die unter anderem sein Bruder Dirk unterzeichnete, Steinmeier als Jura-Student maßgeblich mitgeschrieben haben soll. Erneut profitierte Steinmeier in dieser Zeit von Bildungsreformen jener Zeit. Als einer der ersten Jahrgänge konnte er die von der sozialliberalen Koalition eingeführte Ausbildungsförderung BAföG in Anspruch nehmen, die ihm laut eigener Aussage das Studium überhaupt erst ermöglichte. Vielleicht auch deshalb bildete sich bei Steinmeier in diesem Jahrzehnt tatsächlich eine klare sozialdemokratische Nähe heraus, wenngleich klassische Parteipolitik doch immer Nebensache blieb. Dennoch gab es Anzeichen dafür, dass er der Partei nahestand. Er trat etwa der Jugendorganisation, den Jusos, bei, wo er zumindest kurzzeitig erste parteipolitische Tuchfühlung hatte, allerdings auch eingefahrene, bereits verkrustete Strukturen besichtigen konnte, sich in jedem Falle dort nicht langfristig engagierte. Dennoch war es eine Zeit des Austarierens des eigenen politischen Standpunkts. So konnte er (zumindest gefühlte) soziale Ungerechtigkeit auch in seiner Heimat wahrnehmen, in der ein großer Betrieb innerhalb kurzer Zeit geschlossen worden war, was zu überregional beachteten Protesten geführt hatte. Mehr war dann aber auch nicht in dieser Zeit. Steinmeier lebte ein ganz gewöhnliches jugendliches Leben – ohne Anekdoten, Auffälligkeiten oder Besonderheiten. Sozialdemokratische Spuren allerdings prägten sich langsam, aber deutlich aus, was in der Parteimitgliedschaft kurz vor Beginn seines Studiums mündete. An der Universität setzte sich dieser Weg fort, wo er sich mit Schriften und Mitgliedschaften vom konservativen Kern der Rechtswissenschaft absetzte. Überhaupt brillierte Steinmeier schnell an der Justus-Liebig-Universität Gießen, wo er nach Brakelsiek und einer Zwischenstation als Wehrdienstleistender in Goslar einen Förderer im linken Staatsrechtler Helmut Ridder fand. An dessen
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Seite sollte er die kommenden zehn Jahre verbringen, publizieren und forschen – stets in einer Verknüpfung aus politischen und rechtlichen und in jedem Falle gesellschaftlich relevanten Fragen. Hier dürfte der Grundstein seiner späteren Arbeit, zunächst als politischer Akteur im Hintergrund, zu suchen sein. Noch theoretisch griff er Debatten wie die der Praxis der grünen Mandatsrotation auf und untersuchte, ob diese geltendem Recht entsprach. Steinmeier war dabei kein Mitläufer, er wählte häufig den unbequemeren Weg und schreckte nicht davor zurück, etablierte Wissenschaftler zu kritisieren und eigene Positionen darzulegen. Seine Aufsätze lesen sich auch retrospektiv wie die eines Querdenkers und mitunter auch wie die eines Vorausdenkenden. Dabei wurde offenbar ein Arbeitsstil verfestigt, in dem er erst nüchtern und tiefgreifend juristisch analysierte und dabei präzise Widersprüche benannte, denen sich Lösungsansätze anschlossen, die meist scharfsinnig in ihrem Urteil waren und neue Ansätze boten. Ähnlich sollte eines Tages auch der Politiker Steinmeier agieren. Wohl auch da etablierte sich eine sehr überzeugte Haltung nach der vermeintlich allumfassenden Analyse. Unabhängig davon zeichneten all seine Aufsätze, die er in jener Zeit mitunter auch mit einigen seiner Studienfreunde verfasste, so etwa mit Brigitte Zypries oder Achim Bertuleit, das Bild eines hochpolitischen Menschen mit ganz klaren Vorstellungen. Auffällig dabei ist in vielen Aufsätzen eine dezidiert linke Denkrichtung, die nah an der SPD, bisweilen auch nah an den Grünen war. Insbesondere in seiner Dissertation wird zudem deutlich, wie sehr er sich über soziale Missstände empörte. Zwar ist Steinmeier zu dieser Zeit kein über den Unikontext hinaus aktiver Sozialdemokrat, doch zeigt bereits die Wahl des Promotionsthemas die Nähe eben zu dieser Partei, der er nunmehr schon über zehn Jahre angehörte. Das konnte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich zwar eine klare politische Linie herausgebildet hatte, parteipolitisches Engagement jedoch auch in dieser Zeit nur ein unwesentlicher Bestandteil seines Studienlebens blieb. »Ich bin immer noch erstaunt über seine sozialdemokratische Karriere«, sagt auch viele Jahre später noch Christoph Nix.1 Dennoch: Hatte Heinz Verbic, der Freund und Juso-Kollege aus Jugendtagen noch erzählt, dass man »nicht unbedingt links«, aber »schon fortschrittlich« gewesen sei,2 berichtete Klaus Thommes, der Steinmeier im Studium kennengelernt hatte, bereits von einer »eindeutig link[en]« Haltung.3 Die Jahre in Gießen dürften Steinmeiers politischen Standpunkte so noch einmal geschärft und geprägt haben. In dieser Studienzeit muss wohl auch der Ursprung von Steinmeiers intellektuellen Habitus zu suchen sein. Er las ungemein viel, erinnern sich seine 1 | Nix, Christoph im Gespräch mit dem Autor am 18.12.2013. 2 | Verbic, Heinz im Gespräch mit dem Autor am 02.04.2014. 3 | Zitiert nach Rosenkranz, J.: Auf der Suche; in: Stern, 12.02.2009, S. 44.
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II. Frühe Jahre
Freunde, seine Aufsätze zeugen ebenfalls davon, Politiker nehmen es viele Jahre später ähnlich war. Steinmeiers Freundeskreis war dabei gleichfalls nicht parteipolitisch, jedoch hochpolitisch. So ist es nur bedingt überraschend, dass einige Freunde, wie er, politische Karrieren im Hintergrund absolvierten. Jedenfalls: Als Wissenschaftler hatte er in dieser Zeit reüssiert, sodass es die Gutachter seiner Doktorarbeit begrüßt hätten (und dies auch forcierten), ihn in der Wissenschaft zu halten. Dazu kam es jedoch nicht. In die Endphase von Steinmeiers Dissertation fiel neben dem Mauerfall, den er vom Schreibtisch aus während des Schreibprozesses erlebte, ein bundespolitisch weniger bedeutendes, wenngleich für Steinmeiers spätere Karriere wichtiges Ereignis: der für viele überraschende Wahlsieg von Rot-Grün in Niedersachsen. 4 Nach drei Wochen »war der 121-seitige Koalitionsvertrag ausgehandelt«.5 Die Basis beider Parteien winkte diesen schließlich durch und Schröder wurde am 21. Juni 1990 mit »alle[n] 79 Stimmen der Koalition« zum Ministerpräsidenten gewählt.6 Nach Hessen, wo Steinmeier erste rot-grüne Gehversuche aus seiner Gießener WG und von seinem universitären Arbeitsplatz heraus beobachten konnte, gab es nun erneut den Versuch einer rot-grünen Koalition auf Landesebene. Steinmeier war, wie gezeigt, zu diesem Zeitpunkt in der Endphase der Promotion. An aktive Politik (im Hintergrund) war (noch) nicht zu denken, was sich jedoch sehr bald ändern sollte. In der Autorenbeschreibung »Über den Autor« in der veröffentlichten Ausgabe von Steinmeiers Dissertation war so bereits zwei Jahr später, im Jahr 1992, zu lesen: »F.-W. Steinmeier, Jg. 1956, war bis 1991 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Wissenschaft von der Politik der Justus-Liebig-Universität Gießen; er arbeitet seit 1991 als Verwaltungsjurist in Hannover; Veröffentlichungen u.a. zur Freiheit des Abgeordnetenmandats, zur Wohnungsbaupolitik, zum Berufsrecht, zum Demonstrationsrecht sowie zu Verfassungsfragen der deutschen Einheit.« 7
Diese Zeilen erscheinen wie ein Rück- und Ausblick. Bei Veröffentlichung seiner mit summa cum laude bewerteter Dissertationsschrift war Steinmeiers wissenschaftliche Karriere bereits beendet. Er hat sich für einen Weg in die Politik im Hintergrund entschieden als Verwaltungsjurist in Niedersachsen. Das steht nun im Präsens geschrieben, ist nun die Zukunft. Seine über zehn Jahre andauernde Unikarriere steht im Präteritum und gehörte nun der Ver4 | Die CDU und FDP zum Beispiel »hatten sich völlig auf Sieg eingestellt«; Thörmer, H.; Einemann, E.: Aufstieg und Krise der Generation Schröder, 2007, S. 43. 5 | Ebd. 6 | Ebd. 7 | Steinmeier, F.-W.: Bürger ohne Obdach, 1992 (Umschlagrückseite).
4. Zwischenfazit
gangenheit an. Nach seinem Weggang aus Brakelsiek im Jahr 1976 und seiner Immatrikulation an der Universität in Gießen kam es so im Jahr 1991 und mit dem Umzug nach Hannover, wie im folgenden Kapitel gezeigt wird, zum nächsten großen Umbruch in Bezug auf Steinmeiers Werdegang.
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III. Politik im Hintergrund
5. Aufstieg zum zweiten Mann 5.1 A nfänge in N iedersachsen Steinmeier arbeitete nicht einmal vier Jahre unter Ministerpräsident Gerhard Schröder in der Niedersächsischen Staatskanzlei, da zitierte 1996 die Hannoversche Allgemeine Zeitung einen Mitarbeiter mit der Aussage: »Aus dem wird noch einmal was«.1 Steinmeier, bis 1991 in der Führung der Landes-SPD nicht bekannt gewesen, muss Eindruck durch seine Arbeit hinterlassen haben. Gar eine »Meisterleistung«2 wurde ihm von Protagonisten der Landesregierung in Hannover bescheinigt, weil ihm keine Reserviertheit mehr entgegengetreten sei, obwohl er erst spät ins Team hinzugestoßen ist. Seine Kontakte in die Ministerien und in die SPD-Fraktion wurden fünf Jahre nach seinem Antritt 1991 als hervorragend beschrieben. Seine Sachkompetenz und seinen freundlichen Umgangston nannte die Lokalzeitung als Gründe für diese Offenheit, mit der ihm begegnet wurde.3 Dabei war der Einstieg zumindest in die niedersächsische Politik eher zufällig gewählt. »Jetzt hab’ ich so lange studiert, jetzt muss ich erst mal ein bisschen Geld verdienen«, 4 habe Steinmeier seine damalige Entscheidung begründet, nicht in der Wissenschaft zu bleiben, erinnert sich Kumpel Verbic. Steinmeier hatte, wie gezeigt, lange Zeit mit einem Verbleib in der Wissenschaft geliebäugelt. Dass er alternativ der politischen Verwaltung, der Politik im Hintergrund, durchaus auch etwas abgewinnen konnte, begann sich schon früher herauszukristallisieren. Brigitte Zypries hatte er schließlich bereits Mitte der 1980er Jahre bei einer Kaffeepause in der Hein-Heckroth-Straße 5 dazu geraten, eine Stelle in der Hessischen Staatskanzlei, die sie zunächst ablehnen wollte, nicht auszuschlagen.5 Er selbst habe sich nun auf eine Stelle als Medienreferent in 1 | Zitiert nach Wallbaum, Klaus: Der Mann der leisen Töne in Schröders Machtzentrale; in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 31.10.1996, S. 7. 2 | Zitiert nach ebd. 3 | Vgl. ebd. 4 | Verbic, Heinz im Gespräch mit dem Autor am 02.04.2014. 5 | Vgl. Zypries, Brigitte im Gespräch mit dem Autor am 24.02.2014.
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III. Politik im Hintergrund
der nordrhein-westfälischen Staatskanzlei beworben, als er erneut Zypries traf, die sich an die damalige Begegnung mit den Worten erinnert: »Wir trafen uns in Gießen. […] Und ich frage Frank, was machst Du denn jetzt eigentlich so im Leben? […] Er entgegnete, er sei ja nun fertig mit seiner Dissertation und wolle in die Verwaltung, er hätte sich jetzt beworben in Nordrhein-Westfalen als Medienreferent.«6 Steinmeier berichtete in seiner Autobiographie ebenfalls von diesem Gespräch, wenngleich es in seiner Erinnerung ein Telefonat gewesen sei, in dem Zypries »von ihren ersten Erfahrungen im gerade begonnenen zweiten Projekt einer rot-grünen Regierungszusammenarbeit auf Landesebene«,7 nämlich in Niedersachsen, berichtet habe. Dort seien »[s]pannende Dinge […] im Gange, und Hilfe werde dringend gebraucht«.8 Zypries will Steinmeier in dieser Unterhaltung gefragt haben: »[W]as willst Du denn in Düsseldorf? Das ist doch keine tolle Stadt. […] Und da hab’ ich gesagt: Mensch, wenn Du so was willst, dann komm’ doch nach Hannover. Hannover ist ’ne klasse Stadt, die wird dir gefallen und mit dem Schröder wirst Du dich verstehen. Meines Wissens suchen sie dort auch einen Medienreferenten.« 9
Steinmeier habe, erinnert sich die frühere Kommilitonin, Hannover auch besser gefunden als Düsseldorf. Sie erinnert sich, dass sie gegenüber dem damaligen Abteilungsleiter erwähnt habe, dass es »da einen jungen Mann« gebe, »den […] Du für alles einsetzen« könntest.10 Bald darauf fand dann tatsächlich ein Gespräch in der Niedersächsischen Staatskanzlei statt, in dem dessen damaliger Chef Reinhard Scheibe nach dem Vorstellungsgespräch gesagt haben soll: »Lass uns mal gucken, ob der Schröder da ist«.11 Er war da. Ihm sei, erzählt Schröder retrospektiv über diese Begegnung, sogleich »aufgefallen, dass er anders als andere durchaus voller Selbstbewusstsein und […] angstfrei das erste Mal antrat. Und das hat mir gleich gefallen«.12 Das geflügelte »Du passt zu uns«, welches dann aus Schröders Mund gefolgt sein soll, ist denn auch hinlänglich überliefert.13
6 | Ebd. 7 | Steinmeier, F.-W.: Mein Deutschland, 2009, S. 58. 8 | Ebd. 9 | Zypries, Brigitte im Gespräch mit dem Autor am 24.02.2014. 10 | Ebd. 11 | Zitiert nach Rosenkranz, J.: Auf der Suche; in: Stern, 12.02.2009, S. 46. 12 | Schröder, Gerhard im Gespräch mit dem Autor am 09.12.2013. 13 | Vgl. z.B. Gaus, Bettina: Von innen nach außen; in: taz, 25.11.2005, S. 4.
5. Aufstieg zum zweiten Mann
Steinmeier erinnert sich, dass es mehr das rot-grüne Projekt gewesen sei, das ihn interessierte, als dass es ihm um Schröder ging.14 Das erscheint gerade im Kontext dessen glaubhaft, dass er sich bereits in seiner bisherigen wissenschaftlichen Karriere auch mit dem kleineren Koalitionspartner, den Grünen, in Bezug auf die Mandatsrotation beschäftigt hatte und Hessen während seines Studiums erstmals von einer rot-grünen Regierung regiert wurde, was sein Freundeskreis, wie beschrieben, mit großem Interesse verfolgte. Rückblickend meint er, dass »das Neue, die Gewissheit, dass das alles noch nicht eingespielt war«, es gewesen sei, was ihn gereizt habe;15 etwas also, wo er mitgestalten konnte, was er tatsächlich auch bald tat. Dennoch war es, das zeigen Zypries Aussagen, eher Zufall, dass er den Weg nach Niedersachsen einschlug. »Du passt zu uns« ist hierbei ein Satz, der symptomatisch für Steinmeiers zukünftige Karriere steht, die zunächst sehr vom Wohlwollen von Personen abhängig war. Jener Satz zeigt gleichzeitig das Schwierige an Biographien auf. Vieles ist eben nicht vorhersehbar und aus dem Lebenslauf ablesbar. Und vieles ist häufig auch von Zufällen und richtigen Momenten abhängig, wenngleich es immer zudem auch einen Selbstantrieb gibt. Während über Schröder aber schon von seiner frühen Karriere an kolportiert wurde, dass er gerne Bundeskanzler werden wolle, ist eben genau das nicht der Fall bei Steinmeier. Er suchte schlicht einen Job in der Exekutive, in der Schnittstelle zwischen Politik und Verwaltung. Dennoch kann dieser Dreiklang, erst das Werben Zypries’, dann die Entscheidung für ein Gespräch in Niedersachsen und schließlich die Sympathien, die Schröder Steinmeier beim ersten Treffen entgegenbrachte, als Schlüsselmoment für Steinmeiers ganze weitere Karriere angesehen werden, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht absehbar war, weil er sie selber noch keineswegs anstrebte. Steinmeier trat die neue Stelle als Medienreferent in der Niedersächsischen Staatskanzlei Anfang 1991 an. Damit stieß er von Beginn an in den »Innenhof der Macht«16 vor,17 in dem sich die Exekutive gewöhnlich aus »zwei personelle[n] Hauptgruppen« zusammensetzt: den »politische[n] Amtsträger[n] – Minister[n], Parlamentarische[n] Staatssekretäre[n] […] – und den öffentliche[n] Bediensteten – von beamteten Staatssekretär bis zum Mitarbeiter des einfachen Verwaltungsdienstes.«18 Steinmeier gehörte zur zweiten Gruppe. Zu einem engen Kreis innerhalb der Exekutive konnte er insofern hinzugezählt 14 | Vgl. Steinmeier, Frank-Walter im ersten Gespräch mit dem Autor am 01.07.2013. 15 | Ebd. 16 | König, Klaus: Verwaltete Regierung, Köln/Berlin/Bonn/München 2002, S. 225. 17 | Gerade in den Bundesländern werden, so König, die »Staatskanzleien unserer föderalistischen Prägung [als] Machtzentren« angesehen; vgl. ebd. 18 | Ebd.
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III. Politik im Hintergrund
werden, als dass er als Medienreferent von Anfang an mit dem Regierungschef in Berührung kam. So erzählt eine Person, die die Staatskanzlei und deren Abläufe von innen kennt, im Rückblick, dass man als Medienreferent immer auch mit dem Ministerpräsidenten zu tun gehabt habe. Es sei kaum möglich, dass man diesem nicht begegne.19 So wichtig die persönliche Nähe zum Ministerpräsidenten auch war, kann Steinmeiers Mitarbeit als Medienreferent dennoch nicht als zweitrangig angesehen werden, schließlich drohte auch hier bei der Offenbarung von Inkompetenz der Abstieg, bei Mittelmaß kein Weiterkommen. Und Steinmeier bekam mit der Neuverhandlung des niedersächsischen Rundfunkstaatsvertrages inhaltlich ein vergleichsweise wichtiges Thema anvertraut. Dieses war im Zuge der Wiedervereinigung und der Frage, ob und in welcher Form Mecklenburg-Vorpommern in die Dreiländeranstalt der Nordländer aufgenommen werden könnte und damit eine Vierländeranstalt entstünde, nötig geworden. Ein Jahr dauerten die Verhandlungen, die sich damit über Steinmeiers ganze Zeit als Medienreferent hinzogen. Mehrmals drohten sie zu scheitern, etwa, weil Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsident überlegte, doch eine eigene Rundfunkanstalt auf bauen zu wollen.20 Steinmeier verhandelte hierbei im Hintergrund, suchte Kompromisse und fasste die Abmachungen in einem Paragraphenwerk zusammen. Der damalige niedersächsische Innenminister Gerhard Glogowski, dessen Frau 1991 im Rundfunkrat gesessen hatte, erinnert an die »Fernsehleute«, die »gerade in diesem Bereich […] zu Tische sitzen: Das sind ja alles eigenständige Persönlichkeiten.«21 So sei es »nicht nur um Programminhalte [gegangen], sondern auch um Karrieren.«22 In Bezug auf Steinmeiers Rolle betont er, dass das »schon ein sehr umtriebiger Bereich« gewesen sei und Steinmeier »das sozusagen als Fremder relativ schnell« in den Griff bekommen habe.23 Mitte Dezember 1991 stand der NDR-Staatsvertrag schließlich und konnte am 1. März 1992 dann endgültig in Kraft treten.24 19 | So ein Interviewpartner, der nicht genannt werden möchte, im Gespräch mit dem Autor. (Um die Anonymität zu wahren, wird für alle anonymisierten Personen eine männliche Form verwendet.) (Nr. 39) 20 | Vgl. Lütjen, T.: Frank-Walter Steinmeier, 2009, S. 39. 21 | Glogowski, Gerhard im Gespräch mit dem Autor am 11.12.2013. 22 | Ebd. 23 | Ebd. 24 | Vgl. Timm, Katja: Der Kampf ums goldene Kalb – Die Abwicklung des DDR-Rundfunks in Mecklenburg-Vorpommern; in: Tichy, Roland; Dietl, Sylvia (Hg.): Deutschland einig Rundfunkland? Eine Dokumentation zur Wiedervereinigung des deutschen Rundfunks 1989-1991, München 2000, S. 211-224; hier: S. 220; vgl. auch NDR-Staatsvertrag vom 17./18. Dezember 1991, zuletzt geändert mit dem Staatsvertrag zur Änderung
5. Aufstieg zum zweiten Mann
Steinmeier bewies in diesem Themenfeld als junger Mann – er war gerade einmal 35 Jahre alt – also sein diplomatisches Verhandlungsgeschick. Selbstständig beackerte er dieses Tätigkeitsfeld. »Nun sieh mal zu, dass ihr das hinkriegt«, erinnert sich Steinmeier, habe Schröder damals zu ihm gesagt.25 Dies bedurfte Vertrauen in seine Mitarbeiter, das Schröder in jedem Falle hatte. Denn, so ein Biograph des späteren Bundeskanzlers, »Schröder vertraute seinen Mitarbeitern nicht nur, er traute ihnen auch einiges zu. Manche meinen, er mute ihnen mit dieser Verantwortung einiges zu.«26 Steinmeier jedenfalls hatte mit dieser Sache früh Verantwortung wahrgenommen und konnte neben seinem diplomatischen Geschick sein Verhandlungsgeschick und seine Fachkenntnis erstmals unter Beweis stellen. Interessant ist, dass Steinmeiers Aufgabe bereits hier darin bestand, Politik als pragmatisches Geschäft zu betreiben und als das Finden von Lösungen im Rahmen des Machbaren anzusehen. Er arbeitete so von Anbeginn seines Einstiegs in die administrative Politik fernab der Parteipolitik, der Fernsehkameras und der öffentlichen, teils plakativen und zugespitzten Diskussionen an Lösungen und nicht an rhetorischen Figuren, die das Ziel verfolgten, den Gegner auszustechen. Diese »Machtseite der Politik« wurde (und wird) in der Verwaltung vornehmlich ausgeblendet.27 Der Kompromiss also stand im Mittelpunkt, nicht die Abgrenzung zum politischen Gegner. Ähnlich erinnert sich auch Uwe-Carsten Heye. Der damalige Regierungssprecher erzählte dem Süddeutsche Zeitung Magazin in der Retrospektive von einer Begebenheit aus dieser Zeit, als Steinmeier als »frisch angestellter Medienreferent […] vor Schröder« berichtet habe.28 Der Ministerpräsident sei überrascht gewesen, »denn da war einer, der unglaublich auf den Punkt sprach und sehr pragmatisch Lösungen anbot.«29 Steinmeier war also mit seiner Arbeit bei Schröder aufgefallen. Schröder, das wird in dessen Karriere noch häufig deutlich, machte Personalentscheidungen bisweilen weniger von Qualifikationen, sondern vielmehr des Staatsvertrages über den Norddeutschen Rundfunk (NDR) vom 1./2. Mai 2005, in Kraft getreten am 1. August 2005, abrufbar unter: https://www.ndr.de/der_ndr/unter nehmen/staatsvertrag100.pdf (zuletzt eingesehen am 04.06.2016). 25 | Steinmeier, F.-W.: Mein Deutschland, 2009, S. 62. 26 | Hogrefe, J.: Gerhard Schröder, 2002, S. 44; vgl. auch Schöllgen, G.: Gerhard Schröder, 2015, S. 222; vgl. außerdem Lütjen, T.: Frank-Walter Steinmeier, 2009, S. 40. 27 | Florack, Martin; Grunden, Timo; Korte, Karl-Rudolf: Kein Governance ohne Government. Politikmanagement auf Landesebene; in: Bröchler, S.; Blumenthal, J. von (Hg.): Regierungskanzleien, 2011, S. 181-203; hier: S. 182. 28 | Zitiert nach Basel, N.; Haberl, T.; Heidtmann, J.: Steinmeier; in: Süddeutsche Zeitung Magazin, 07.11.2008, S. 15. 29 | Zitiert nach ebd.
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von Sympathien abhängig. In diesem Falle sollte beides stimmen. Und so wollte Schröder, erzählt Steinmeier rückblickend, ihn bereits 1992 als persönlichen Referenten gewinnen, als dem Ministerpräsidenten sein bisheriger Referent abhandengekommen war: »[D]ie kamen von ’ner Japanreise zurück und Schröder hatte sich irgendwie mit ihm gestritten und wollte jemand anders. Und dann kam die Anfrage an mich, ob ich nicht persönlicher Referent bei Schröder werden wollte.«30 Glaubt man Steinmeiers Erinnerung, verneinte er dieses Angebot: »Ich war einfach viel zu neu im Geschäft. Ich hab’ ›Nein‹ gesagt, würd‹ ich im Augenblick nicht wollen.«31 Schröder habe, das bestätigt der damalige Staatskanzleichef Scheibe, »sehr früh einen Narren« an Steinmeier »gefressen« gehabt.32 Rückblickend erinnert sich Schröder, dass Steinmeier »eine ziemlich gute Mischung aus administrativen Fähigkeiten und politischem Durchblick« besessen habe.33 Andere sprechen von einer »Ausnahmepersönlichkeit«.34 Steinmeier jedenfalls brachte diese Absage, wenn sie so stattgefunden hat, anscheinend keinen Nachteil ein. Schröder, der häufig schnell über Menschen urteilte, schien es mehr als Selbstbewusstsein zu interpretieren, was, so Steinmeier, »gar nicht so war«.35 Und so blieb Steinmeier in diesem Dunstkreis und sollte bald erneut eine Chance bekommen. Bereits hier ist zu erkennen, dass Steinmeier keineswegs den steilen Weg nach oben anstrebte, er bisweilen anscheinend sogar zögerte, den nächsten Karriereschritt tatsächlich zu wagen. Das zumindest kann mit Blick auf die späteren Jahre auch für diese frühen angenommen werden. Selbst die spätere Kanzlerkandidatur wollte er lange Zeit nicht, bis er sie schließlich, mehr aus Zwang, aber dann doch überzeugt, annahm. Auf jeden Fall, das darf bei aller Vorsicht vor Überinterpretation angenommen werden, war Steinmeier bereits hier einer, der Entscheidungen gründlich überlegte, bevor er sich dafür entschied, zumindest aber eher zögerte als sie spontan anzunehmen. Das Angebot, persönlicher Referent zu werden, kam aus dem Nichts, spontan von Schröder herangetragen. Steinmeier lehnte ab. Ein Jahr später machte er das nicht mehr, als erneut eine Stelle frei wurde, diesmal die des Büroleiters des Ministerpräsidenten, der Steinmeier dann auch wurde: »Das war die Zeit, in der gerade die Vorbereitungen für den Wahlkampf nach der ersten rot-grünen Phase, 1994, anstanden. Und insofern konnte ich dann aus der Position des Büroleiters natürlich ’ne Menge mitorganisieren für 30 | Steinmeier, Frank-Walter im ersten Gespräch mit dem Autor am 01.07.2013. 31 | Ebd. 32 | Zitiert nach Sturm, D.-F.: Wohin geht die SPD?, 2009, S. 250. 33 | Schröder, Gerhard im Gespräch mit dem Autor am 09.12.2013. 34 | Vgl. z.B. Funke, Karl- Heinz im Gespräch mit dem Autor am 08.07.2013. 35 | Steinmeier, Frank-Walter im ersten Gespräch mit dem Autor am 01.07.2013.
5. Aufstieg zum zweiten Mann
diesen Wahlkampf«.36 »Ich bin jetzt hier Büroleiter bei Gerhard Schröder«, habe er sich bei den Ministern vorgestellt,37 erinnert sich Monika Griefahn, zu jener Zeit niedersächsische Umweltministerin. Es war der erste wirklich wahrnehmbare Job in der Staatskanzlei, den er nun innehatte. Für Schröder war Steinmeier auf jeden Fall von großem Nutzen. In einem späteren Porträt über den damaligen Ministerpräsidenten im Stern hieß es wenig schmeichelhaft: »Sie kommen aus derselben Gegend. Sie können miteinander. Steinmeier ist fähig. Und Schröder braucht frische Leute, die er aussaugen kann. Es ist ein Fulltime-Job, zum Schröder-Kreis zu gehören. Und Fulltime heißt 24 Stunden. Heißt Ideen entwickeln. […] Heißt spät abends noch auf ein Pils zu Renate ins ›Üme Ecke‹. Steinmeier macht den ganzen Wahnsinn mit.« 38
Tatsächlich war es eine gesellige Runde, in die sich Steinmeier begab. Man saß abends zusammen, trank »›n Glas Rotwein und [quatschte] über das Leben und die Politik im Besonderen«.39 Man ging nicht nur in der Markthalle in Hannover zusammen essen,40 es kam auch schon mal vor, dass Schröder in der Staatskanzlei selbst den Hörer abnahm, wenn ein Bürger anrief.41 Diese flachen Hierarchien verankerten Steinmeier zusätzlich in jenem Kreis, der sich mehr und mehr herausbilden sollte und der noch beschrieben wird. Steinmeier kam hierbei, wie einigen anderen Protagonisten, sicherlich zugute, dass er ein Mann der exekutiven Verwaltung war, der keinen Anspruch hatte, in die politische Öffentlichkeit zu drängen; und ein Mann zudem, der fleißig war und ein Aktenstudium, das Schröder immer ein Graus gewesen sein soll, als notwendig, wenn nicht sogar als unabdingbar ansah. Er war damit das Gegenteil von Gerhard Schröder. Dessen Antipol. Tatsächlich vergeht insbesondere für Steinmeiers Zeit in Niedersachsen kein Gespräch, in dem nicht der damalige Ministerpräsident Gerhard Schröder als Vergleichs- und Antifolie herangezogen wird. Dieses so entstehende Bild liefert womöglich weitere Gründe für den schnellen Aufstieg Steinmeiers ebendort. So flach die Hierarchien auch gewesen sein mögen, mehrmals betont Schröder im rückblickenden Gespräch, dass er die Nummer eins gewesen
36 | Ebd. 37 | Griefahn, Monika im Gespräch mit dem Autor am 26.06.2013. 38 | Rosenkranz, J.: Auf der Suche; in: Stern, 12.02.2009, S. 46. 39 | Zypries, Brigitte im Gespräch mit dem Autor am 24.02.2014. 40 | Vgl. z.B. Wernstedt, Rolf im Gespräch mit dem Autor am 08.05.2013. 41 | Vgl. Zypries, Brigitte im Gespräch mit dem Autor am 24.02.2014.
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sei.42 Das passt zu dem, was die Hannoversche Allgemeine Zeitung bereits 1994 über Schröder geschrieben hat: »Fast jedem seiner Ressortchefs hat der Ministerpräsident in Konflikten schon zu verstehen gegeben, daß er die Nummer eins ist.«43 Schröder war ein Politiker, der stets die Nummer eins werden wollte, der dafür kämpfte und Zeit opferte, der diesen Platz an der Spitze auch als Bestätigung zu benötigen schien – für seinen Kampf von ganz unten nach ganz oben. Er kam aus ärmsten Verhältnissen und genoss, wie es ein Biograph zusammenfasste, »keine Erziehung«. 44 Er kannte »keine Grenzen«, 45 weil der Vater im Krieg gestorben war, der Stiefvater aufgrund von Krankheit ausfiel und die Mutter bis zu 16 Stunden täglich arbeitete.46 Zudem soll er die gesellschaftlichen Hierarchien, in denen er sich unten und nicht oben befand, klar gespürt haben.47 Die Bauerskinder sollen den »zu zart[en] und nachkriegsmager[en]« Gerhard beim Fußball lange Zeit nicht haben mitspielen lassen.48 In der Folge entwickelte Schröder anscheinend eine Art der Führung, die rau war und der es auch darum ging, etwas darzustellen, unter Beweis zu stellen.49 So habe er zwar, berichtet ein Weggefährte, »blitzschnell Sachverhalte einschätzen« können.50 Für jene, die da nicht mithielten, habe er jedoch »auch Verachtung« übrig gehabt.51 In Kabinettssitzungen, in denen Steinmeier und Schröder stets »präzise« vorbereitet gewesen seien, habe er so auch »sehr massiv werden« können.52 Ein anderes, damals hochrangiges Kabinettsmitglied berichtet davon, dass Schröder in Niedersachsen richtiggehend »herrschte«:
42 | Schröder, Gerhard im Gespräch mit dem Autor am 09.12.2013. 43 | Wallbaum, Klaus: Manch gutgemeinten Rat will Schröder nicht hören; in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 20.08.1994, S. 3. 44 | Schöllgen, G.: Gerhard Schröder, 2015, S. 27. 45 | Ebd., S. 32. 46 | Vgl. ebd., S. 27. 47 | Vgl. ebd., S. 31f. 48 | So erinnert sich Schröder in seiner Autobiographie (Schröder, G.: Entscheidungen, 2006, S. 21), so berichtete er aber schon in den 1990er Jahren Karl-Heinz Funke; vgl. Funke, Karl-Heinz im Gespräch mit dem Autor am 08.07.2013. 49 | Damit glich er einem bestimmten Typus seiner Generation, der Brandt-Enkel, denen unterstellt wird, dass ihnen »die Orientierung auf Einfluss, Erfolg und Machtgewinn« gemein war; Micus, Matthias: Die ›Enkel‹ Willy Brandts. Aufstieg und Politikstil einer SPDGeneration, Frankfurt a.M. 2005, S. 181. 50 | So ein Interviewpartner, der nicht genannt werden möchte, im Gespräch mit dem Autor. (Um die Anonymität zu wahren, wird für alle anonymisierten Personen eine männliche Form verwendet.) (Nr. 38) 51 | Ebd. 52 | Ebd.
5. Aufstieg zum zweiten Mann
»Leute, die er nicht abkonnte, hat er […] nicht gut behandelt«.53 Ein weiterer meint im Rückblick, dass Schröder »Spaß an der Demütigung anderer« gehabt habe.54 Schröder wird zudem, zumindest teilweise, als Choleriker beschrieben, der Tobsuchtsanfälle bekommen konnte. Das damalige Kabinettsmitglied Karl-Heinz Funke weißt das zwar zurück, bestätigt aber zumindest, dass Schröder schon mal »tobte«.55 Jedenfalls: Hatte sich jemand ungerecht behandelt gefühlt, war es häufig Steinmeiers Aufgabe, zu schlichten. Das berichten übereinstimmend viele Kabinettsmitglieder aus der damaligen Zeit in Niedersachsen. Steinmeier war auch hier der Gegenpol zu Schröder, derjenige, dem man vertraute, der Vertrauen wiederauf baute und Leute, die es Schröder heimzahlen wollten, wieder einband in das Regierungshandeln. »Das war selten notwendig. Wo es sein musste, ist es wohl überwiegend gelungen«,56 antwortet Steinmeier auf die Frage, ob er für Schröder die Scherben aufgelesen und die Betroffenen wieder friedlich gestimmt habe. Er verneint also nicht, dass es solche Vorkommnisse gab. Darüber hinaus brachte Steinmeier aber auch eine inhaltliche Komponente mit ein. So glich er, meinte ein früherer Akteur, der bezweifelt, dass »Schröder jemals viel Akten gelesen hat«,57 Schröders Defizit des fehlenden Aktenstudiums aus. Die Aussage steht prototypisch für die vieler anderer. Natürlich braucht man die Akten nicht alle gelesen zu haben, mitunter ist dafür als Ministerpräsident auch gar nicht die Zeit da. Doch es ist eine Binsenweisheit, dass der, der gelesen hat, mehr über den jeweiligen Sachverhalt sagen kann. Der Aktenkundige weiß, wenn er gute analytische Fähigkeiten besitzt, womöglich um die kleinen Fallstricke des Politischen, die vielleicht nicht weiter genutzt, aber eben doch im Gedächtnis abgespeichert worden sind. Hier wird dem Kurz- und dem Langzeitgedächtnis Rechnung getragen. Man kann etwas reaktivieren, was einst abgespeichert worden ist.58 Schröder hingegen konnte nur Steinmeiers (und andere) Zusammenfassungen reaktivieren, die ihm einst
53 | So ein Interviewpartner, der nicht genannt werden möchte, im Gespräch mit dem Autor. (Um die Anonymität zu wahren, wird für alle anonymisierten Personen eine männliche Form verwendet.) (Nr. 39) 54 | Wernstedt, Rolf im Gespräch mit dem Autor am 08.05.2013. 55 | Funke, Karl-Heinz im Gespräch mit dem Autor am 08.07.2013. 56 | Steinmeier, Frank-Walter im zweiten Gespräch mit dem Autor am 06.10.2014. 57 | So ein Interviewpartner, der nicht genannt werden möchte, im Gespräch mit dem Autor. (Um die Anonymität zu wahren, wird für alle anonymisierten Personen eine männliche Form verwendet.) (Nr. 39) 58 | Vgl. z.B. Imhof, Magarete: Psychologie für Lehramtsstudierende, Wiesbaden 20123, S. 51.
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gegeben worden waren. Darin allerdings war er ein Meister, nämlich schnell zu absorbieren, was man ihm sagte und daraus eigene Schlüsse zu ziehen. Es darf angenommen werden, dass auch aus dieser Eigenschaft heraus immer wieder dieselben Plattitüden, dieselben Floskeln entstanden, mit denen Schröder das Publikum für sich einzunehmen wusste. Das Inhaltliche, die große Politik, geriet dabei jedoch nicht selten in den Hintergrund. Zumindest für Niedersachsen entstand der Eindruck, dass die Elefantenrunde am Wahlabend 2005, also viele Jahre später, vielleicht den echten Schröder preisgab – launisch, angriffslustig, überheblich, polemisch, mit Freude an der Demütigung und dabei doch recht egozentrisch wirkend59 –, der er in Niedersachsen schon gewesen war, nämlich ein Herrscher, der nach ganz oben wollte. Hierbei nun spielte Steinmeier in den folgenden Jahren eine große Rolle als der ruhige, aktenlesende, ausgleichende Gegenpol zu Schröder, dem eben dieser vertraute. Ihm gegenüber schien Schröder so auch eine hohe Wertschätzung entgegengebracht zu haben – anders als jenen anderen, die, so Steinmeier retrospektiv, »sich […] über Schröder beschwert haben, weil er zu brüsk und zu unfreundlich oder zu laut war. Ich kenn’ ganz viele, die das getan haben.«60 Für sich habe er das »merkwürdigerweise […] nie feststellen« können.61 »Ich würde eher sagen: im Gegenteil. Ich hab’ in meinem ganzen beruflichen Leben nie jemanden kennengelernt, der so viel Vertrauen in einen gesetzt hat, […] für alle entscheidenden Fragen, an die ich mich erinnere«.62 Auch das gehörte also zu Schröder: diese herzliche, freundliche Seite gegenüber denen, denen er vertraute. Schröder hatte früh gemerkt, was er an Steinmeier hatte, auch wenn er in dieser ersten Legislaturperiode in Niedersachsen noch selbst mehr aktiv war und Steinmeier damit weniger Einfluss hatte.63 Dennoch hatte Steinmeier als Büroleiter zeigen können, dass er eben nicht nur der Administrator ist, sondern auch ein politisches Gespür besitzt. Willi Waike, bis 1994 parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Fraktion im niedersächsischen Landtag, erinnert sich zum Beispiel, dass »alles über Steinmeiers Tisch« gelaufen sei und er dann entschieden habe, »was dann an den Ministerpräsidenten herangetragen
59 | Vgl. Kohlmann, Sebastian: »Herr, äh, Bundesschröder…«; in: Spiegel Online, 10.07.2009; abrufbar unter: www.spiegel.de/einestages/elefantenrunde-2005-a-949832. html (zuletzt eingesehen am 04.05.2016). 60 | Steinmeier, Frank-Walter im ersten Gespräch mit dem Autor am 01.07.2013. 61 | Ebd. 62 | Ebd. 63 | So erinnert sich Bildungsminister Wernstedt, dass das »am Anfang […] alles noch unmittelbarer gewesen« sei, »da hatte Steinmeier auch gar nicht den Einfluss.«; Wernstedt, Rolf im Gespräch mit dem Autor am 08.05.2013.
5. Aufstieg zum zweiten Mann
wurde und was nicht.«64 Dabei habe es »durchaus Sachen« gegeben, die Steinmeier entschieden habe.65 Dessen damalige Aufgabe beschreibt Waike mit den Worten, »einzuschätzen, wie wichtig oder wie unwichtig […] eine Sache« war und »welche[] Brisanz« sie beinhaltete. »Und davon macht er abhängig, was dem Regierungschef vorgelegt wird.«66 Der frühere (stellvertretende) Fraktionschef Heinrich Aller gibt zwar zu bedenken, dass Steinmeier Schröder nicht gelenkt habe, »aber er hatte […] die Argumente so aufbereitet, dass Schröder häufig auch, wenn es gegen seine eigene Position ging, ohne Gesichtsverlust das hinkriegte, der proaktiv sozusagen einschätzen konnte, was geht, was geht nicht, wo müssen wir noch mal ’ne Ehrenrunde drehen, wo müssen wir die Grünen einbeziehen, wo können wir ihnen einen vor’m Kopf hauen und so.« 67
Neben diesen inhaltlichen Entscheidungskompetenzen hatte Steinmeier als Büroleiter nun zudem stets direkten Zugang zu Schröder und erlangte, auch dank der positiven Beziehung zum Ministerpräsidenten und des ihm entgegengebrachten Vertrauens, einen gewissen Einfluss. Das ist zunächst allerdings nicht ungewöhnlich, ein Büroleiter muss mit dem Ministerpräsidenten können. Kann er das nicht, wird er vermutlich gar nicht erst Büroleiter. Wenn eine Ebene der Zusammenarbeit gefunden worden ist, muss dies jedoch keineswegs einen zwangsläufigen weiteren Aufstieg bedeuten. Steinmeiers Nachfolgerin Sigrid Krampitz etwa wurde ebenfalls als sehr klug und politisch beschrieben, sie blieb aber über Schröders ganze weitere Karriere Büroleiterin, ohne dass sie weiter aufstieg. Diese ersten drei Jahre Steinmeiers im Dunstkreis von Schröder können somit lediglich als ein nicht bewusst herbeigeführtes, aber wichtiges Fundament für den späteren Aufstieg angesehen werden. Gleichsam kann Steinmeier dabei bereits als Überflieger betrachtet werden, zumindest bei Einbeziehung der bisherigen Geschwindigkeit seines Emporkommens. 1994 sollte sich dies weiter fortsetzen, als Steinmeier, wie im folgenden Kapitel zu sehen ist, nach der von Schröder mit absoluter Mehrheit gewonnenen Landtagswahl zum Abteilungsleiter und bald zum faktischen Staatskanzleichef aufstieg.
64 | Waike, Willi im Gespräch mit dem Autor am 18.04.2013. 65 | Ebd. 66 | Ebd. 67 | Aller, Heinrich im Gespräch mit dem Autor am 10.05.2013.
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III. Politik im Hintergrund
5.2 P olitischer K opf Nein, die Begeisterung stand den Sozialdemokraten nicht ins Gesicht geschrieben. Eine absolute Mehrheit unter Schröders Führung behagte ihnen nur bedingt. So kam es am Wahlabend zu der skurrilen Situation, dass viele SPD-Mitglieder »Rot-Grün, Rot-Grün« skandierten, als sich der neue alte Ministerpräsident in der Parteizentrale von ihnen feiern lassen wollte.68 Tatsächlich bedeutete die absolute Mehrheit eine künftige Politik, die weniger Kompromisse erforderte. Die Vorschläge von den Grünen, die von nicht wenigen Sozialdemokraten geteilt worden waren, würden, so die Befürchtung, kein Gehör mehr finden. Und so darf angenommen werden, dass mit der Wiederwahl Schröders zugleich auch seine Landtagsfraktion, soweit möglich, mit eingebunden werden sollte. Das fand auch Berücksichtigung in der Neubesetzung von Posten in der Staatskanzlei. Wolf Weber, zuletzt Staatskanzleichef, wurde Fraktionschef, während der bisherige parlamentarische Geschäftsführer Willi Waike Staatskanzleichef wurde.69 Nur eine Ebene darunter wurde Steinmeier Leiter der Abteilung I, womit er verantwortlich war für die Richtlinien der Politik, Ressortkoordinierung und -planung.70 Die Abteilung II, die für Recht, Verwaltung und Medien zuständig war, übernahm Brigitte Zypries.71 Nachfolger von Steinmeier als Büroleiter des Ministerpräsidenten wurde Sigrid Krampitz. Über diese drei schrieb die Hannoversche Allgemeine Zeitung bereits in jenem Jahr, dass sie im Ruf stehen würden, »sachliche, aufmerksame, loyale und durchaus widerspruchsfreudige Mitarbeiter ohne persönlichen politischen Ehrgeiz zu sein«.72 Diese Berichterstattung zu diesem frühen Zeitpunkt ist interessant, weil den drei Personen dieser positive Ruf quasi vorauseilte und die Aussage zeigt, wie früh sie an Einfluss gewonnen haben müssen. Es war ein Trio von großer Bedeutung für Schröder. Ebenfalls wichtig war Uwe-Carsten Heye, der schon in der ersten Legislaturperiode Regierungssprecher und in dieser Funktion, so die gleiche Zeitung, »zeitweise der wichtigste politische Stratege war«, der stets auch den Kontakt zu den Meinungsforschern gehalten habe.73 Auch nennen muss man 68 | Vgl. Hogrefe, Jürgen: Rot-Grün steuert in Niedersachsen auf eine Wiederauflage des Bündnisses zu; in: Spiegel Spezial 1/1994, S. 80-83; hier: S. 81. 69 | Vgl. Schöllgen, G.: Gerhard Schröder, 2015, S. 221. 70 | Vgl. Die Bundesrepublik Deutschland Staatshandbuch: Niedersachsen, Ausgabe 1995, München 1995, S. 12. 71 | Vgl. ebd. 72 | Wallbaum, K.: Manch gutgemeinten Rat; in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 20.08.1994. 73 | Ebd.
5. Aufstieg zum zweiten Mann
Alfred Tacke, der schon zum Ende der ersten Legislaturperiode Wirtschaftsstaatssekretär wurde und in der Funktion zeitweise, so erzählt es ein ehemaliges Kabinettsmitglied, der »heimliche Wirtschaftsminister« gewesen sei.74 Ein damaliger wissenschaftlicher Berater Schröders beschrieb das Team mit den Worten: »Das ist eben die Qualität der Leute, die Schröder in sein Team holt. Denen geht es um die Sache, nicht um ihren Status.«75 Sie waren somit für Schröders Fortkommen zuständig. Und Schröder war schlau genug, seinen Umkreis aus Personen mit anderen, teils spiegelbildlichen Charakterzügen als den eigenen zu bestücken. Steinmeier, Zypries, Krampitz, Tacke und Heye jedenfalls werden Schröder, der, so Steinmeier, »immer einen kleinen, sehr stabilen Kreis um sich«76 gebraucht habe, in unterschiedlichen Funktionen im Bund folgen. Anders sieht es bei Waike und Weber aus, die beide, obwohl Schröder auch ihnen vertraute, eher aus parteipolitischen Gründen die jeweiligen Ämter bekamen.77 Steinmeier hingegen hatte nun eine noch höhere Stellung inne – und war auf dem Weg zu einem der engsten Vertrauten des Ministerpräsidenten. Im Rückblick sieht er sich als einer von vier Personen, die Schröder am besten kannten. So schrieb er Jahre später, dass »[z]wei Personen außer seiner Frau […] Gerhard Schröder besser als ich [gekannt haben]: Doris Scheibe und Sigrid Krampitz. Doris Scheibe steuerte über Jahre, auch schon bevor Schröder Ministerpräsident wurde, mit Freundlichkeit und Bestimmtheit den Zugang zu ihm. Sie wusste um Launen und günstige Gelegenheiten. Mehr an Erfahrung hat nur noch Sigrid Krampitz.« 78 74 | So ein Interviewpartner, der nicht genannt werden möchte, im Gespräch mit dem Autor. (Um die Anonymität zu wahren, wird für alle anonymisierten Personen eine männliche Form verwendet.) (Nr. 38) 75 | Wallbaum, K.: Manch gutgemeinten Rat; in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 20.08.1994. 76 | Steinmeier, F.-W.: Mein Deutschland, 2009, S. 62. 77 | So stand Weber in der Fraktion in dem Ruf, »Schröders Mann« zu sein (vgl. Dietrich, Stefan: Nun ein Offizier; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.11.1996, S. 16). Waike wiederum war ein Gewächs der Fraktion, das nun an der Spitze der Staatskanzlei stand – möglicherweise auch, um die Fraktion zu besänftigen. Und schließlich gilt für »jeden Regierungschef […], dass er sich kontinuierlich der Unterstützung der Partei vergewissern muss, zumal die Partei über die Fraktion Einfluss auf das operative Alltagsgeschäft ausübt. Die Fraktion agiert gegenüber der Regierung als konsensualer Vetospieler. Sie stützt die Regierung, ohne die Parteiziele als Stimmen- und Politikmaximierung aus den Augen zu verlieren.« (Florack, M.; Grunden, T.; Korte, K.-R.: Kein Governance ohne Government; in: Bröchler, S.; Blumenthal, J. von (Hg.): Regierungskanzleien, 2011, S. 188.) 78 | Steinmeier, F.-W.: Mein Deutschland, 2009, S. 67.
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Diese Aussage zeigt, welche Verbundenheit zwischen Schröder und Steinmeier gewachsen sein muss. Die Anfänge hierzu finden sich in Niedersachsen. Das machte sich auch in der neuen Aufgabenverteilung bemerkbar. Waike galt, obwohl aus der Politik stammend, als Verwaltungsmann. Neben ihm, erinnern sich damalige Weggefährten, bildete sich nun das strategische Zentrum heraus, in dem Steinmeier eine übergeordnete Rolle innezuhaben schien. Neben Steinmeier gehörten dazu Krampitz und Zypries, »die schon lange […] zu den wichtigsten Leuten im Umfeld von Gerhard Schröder« gehörten: »[I]n kritischen Situationen« habe, berichtete damals die Hannoversche Allgemeine Zeitung, »der Ministerpräsident sie [hinzugezogen] – als Ratgeberin, Ausführende oder Mitgestaltende«.79 Über Steinmeier und Zypries schrieb die Zeitung zudem: »So kritisch das Urteil von SPD-Politikern zur starken Rolle ihres Spitzenmannes ausfällt, so freundlich ist es gegenüber einigen jungen Fachleuten in seinem Umfeld,« jenen »zwei gute Juristen.«80 Ein damaliges hochrangiges SPD-Mitglied erzählt, dass das »so ’ne Entwicklung neben der bodenständigen SPD« gewesen sei, »und trotzdem haben die was bewirkt, was möglicherweise, wenn’s [die] nicht gegeben hätte, auch für die SPD nicht gegeben hätte. Die haben ’ne Dynamik entwickelt, obwohl Waike Staatssekretär war.«81 Ihre Aufgabe beschreibt diese Person mit den Worten: »Jeder auf seinem Platz hat […]’ne Funktion erfüllt […] in der Frage, kommt der Schröder nun aus Niedersachsen heraus in die Bundesebene oder kommt er nicht raus.«82 Das sieht letztlich auch Waike so, der sich daran erinnert, dass Steinmeier eine »sehr herausgehobene Position« innegehabt habe, er »ein wichtiger Abteilungsleiter und, wie ich immer gefunden habe, ein guter Abteilungsleiter« gewesen sei, »von dem ich anfangs auch in der Staatskanzlei durchaus profitiert habe.«83 Häufig hätten sie »anderthalb, zwei Stunden zusammengesessen und jeder hat erzählt aus seinem Bereich«.84 Auch wenn Waike so nicht ganz wegzudenken war, entsteht aus den Aussagen der Interviewten der Eindruck, dass die neue Dynamik vor allem von den jüngeren Mitarbeitern Schröders ausging, nämlich von (den nicht aus der Parteipolitik kommenden) Zypries und Steinmeier, die anders als Waike, der neu hinzustieß, auch schon die Abläufe in der Staatskanzlei kannten. 79 | Wallbaum, K.: Manch gut gemeinten Rat; in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 24.08.1994. 80 | Ebd. 81 | So ein Interviewpartner, der nicht genannt werden möchte, im Gespräch mit dem Autor. (Um die Anonymität zu wahren, wird für alle anonymisierten Personen eine männliche Form verwendet.) (Nr. 40) 82 | Ebd. 83 | Waike, Willi im Gespräch mit dem Autor am 18.04.2013. 84 | Ebd.
5. Aufstieg zum zweiten Mann
Steinmeier nahm damit immer mehr eine Rolle ein, die ihn zum faktischen Staatskanzleichef werden ließen. So erinnert sich Waike, dass Schröder zwar »vor Ideen« gesprüht habe, fügt jedoch hinzu: »Man war vor Überraschungen auch nicht ganz sicher. Wenn er irgendwann, irgendwo ’ne zündende Idee hatte, über die noch kein Mensch geredet hatte, dann stand die plötzlich im Raum und sollte diskutiert werden.«85 In solchen Fällen habe dann Steinmeier »in seiner ruhigen und sachlichen Art« eine »sehr wichtige Rolle« gespielt, habe »zugehört und wenn er der Meinung war, doch, da ist was dran, das sollte man machen, dann hat er das gesagt.«86 Er habe »sich aber auch nicht gescheut […], niemals ausfallend zu sagen: Also, ich melde mal Bedenken an an der Stelle. Und hat versucht, seine Bedenken zu begründen, oder, wenn das auf Anhieb wegen der Kompliziertheit einer bestimmten Materie so nicht möglich war, hat [er] gesagt, wenn Du einverstanden bist, darüber möchte ich nachdenken […]. Lass uns morgen oder nächste Woche drüber reden. Und Schröder ist fast immer darauf eingegangen.« 87
Glaubt man dieser Erzählung,88 hatte Steinmeier einen enormen Einfluss auf Schröder. Der Ministerpräsident schien das Urteil des jungen Abteilungsleiters nach wie vor und nun noch mehr sehr zu schätzen. So schaffte es Steinmeier mit seiner besonnenen Art, erinnert sich Waike, dass Schröder niemals aufbrausend reagierte, was er sonst häufig tat: »Das war sachbezogen, das war ruhig in der Art, das war nicht arrogant, nach dem Motto, ich weiß das besser […], das war einfach ein Verhalten, also da hätte man schon drei schlechte Nächte hintereinander haben müssen, um da aufzubrausen.« 89
Ähnliches berichtet retrospektiv auch Rolf Wernstedt, seiner Zeit niedersächsischer Bildungsminister. Steinmeier habe »immer doppelt gedacht, einmal das, was gesagt werden muss, und hatte immer im Kopf die Schwierigkeiten, seien sie juristischer, verwaltungstechnischer oder anderer Art. Und wenn sie […] daraus dann einen Satz bilden, kann der nie ein scharfer Satz sein«.90 Die85 | Ebd. 86 | Ebd. 87 | Ebd. 88 | Dass diese Geschichte nicht allzu verklärt wiedergegeben worden ist, ist anzunehmen, weil der Posten des Staatskanzleichefs einer von Waikes letzten politischen Ämtern gewesen war. Die Eindrücke, die er damals von Steinmeier hatte, können insofern nicht von vielen anderen überlagert werden. 89 | Waike, Willi im Gespräch mit dem Autor am 18.04.2013. 90 | Wernstedt, Rolf im Gespräch mit dem Autor am 08.05.2013.
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se Aufgabe der Zuspitzung oblag Schröder selbst. Bereits hier zeichnete sich ab, dass Steinmeier immer mehr zum inhaltlichen Kopf wurde für Schröders Politik,91 dass er dem, wie es später wahlweise beschrieben worden ist, »situativ-spielerisch[en]«92 oder »situative[n] Regieren« Schröders93 zumindest einen machbaren Rahmen gab. Steinmeier war dabei nicht nur juristisch versiert, sondern offenbar auch ausgesprochen diszipliniert und ernsthaft daran interessiert, Sachverhalte bis ins kleinste Detail zu durchdringen. Kumpel Verbic erinnert sich etwa daran, dass er seinen Freund aus Jugendtagen einmal in der Staatskanzlei besucht habe, wo dieser »die ganzen Akten« auf den Schreibtisch liegen gehabt habe.94 Er habe gefragt, ob er das denn »alles […] allein machen« müsse, »da haust Du dir ja die ganze Nacht [um] die Ohren«.95 Steinmeier habe geantwortet: »Ja, das muss ich alles wissen, was hier in den Akten steht«.96 Er habe, schließt Verbic, immer »[g]anz intensiv« gearbeitet, mehr noch: »viel zu intensiv«.97 Man kann diese Erinnerung nicht einem bestimmten Zeitpunkt in Niedersachsen zuordnen. Das muss man allerdings auch nicht. Die Beschreibung steht prototypisch für die Wahrnehmung Steinmeiers auch durch die damaligen niedersächsischen Protagonisten. Heinrich Aller äußert sich rückblickend geradezu begeistert, und spricht davon, dass Steinmeier »ein breites Spektrum […] von politischen Themen« gehabt habe, »die er nicht nur verstanden […], sondern wo er richtig Ahnung hatte.«98 Das sei »unglaublich«, fügt er hinzu.99 Glogowski erinnert sich zudem, dass Steinmeier »außerordentlich fleißig und kenntnisreich« gewesen sei.100 Steinmeier war also ein wichtiges Glied innerhalb dieses kleinen Personenkreises. Das belegen auch bisher unveröffentlichte Dokumente aus jener 91 | Das berichten mehrere Interviewpartner im Gespräch mit dem Autor; vgl. z.B. Funke, Karl-Heinz im Gespräch mit dem Autor am 08.07.2013; bei weiteren Gesprächspartnern wurde eine entsprechende Annahme zwar nicht autorisiert, einen ähnlicher Schluss ließen aber die im Gespräch gefallenen Aussagen zu. 92 | Marx, Stefan: Die Legende vom Spin-Doktor: Regierungskommunikation unter Schröder und Blair, Wiesbaden 2008, S. 112. 93 | Raschke, J.; Tils, R.: Politische Strategie, 2013, S. 507. An anderer Stelle ist außerdem von einem »wendige[n] Situationist[en]« die Rede; Walter, F.: Die SPD, 2009, S. 257. 94 | Verbic, Heinz im Gespräch mit dem Autor am 02.04.2014. 95 | Ebd. 96 | Ebd. 97 | Ebd. 98 | Aller, Heinrich im Gespräch mit dem Autor am 10.05.2013. 99 | Ebd. 100 | Glogowski, Gerhard im Gespräch mit dem Autor am 11.12.2013.
5. Aufstieg zum zweiten Mann
Zeit. So gab Tacke in einem computerschriftlichen Vermerk vom 4. Juli 1995 zu bedenken, dass aufgrund von Verlusten der Daimler-Benz AG/Deutschen Aerospace Airbus »bei der endgültigen Festlegung der Personalmaßnahmen insbesondere die norddeutschen Standorte herangezogen werden« könnten.101 In dem Brief bat der Staatssekretär darum, »daß mit Herrn Schrempp das Thema Beschäftigungspakt Daimler-Benz Aerospace diskutiert wird.«102 Er sehe »darin die Möglichkeit, daß wir nicht in die Situation kommen, daß Daimler-Benz die Personalmaßnahmen verkündet und die Belegschaft sich an die Politik wendet und von uns Lösungen erwartet.«103 Hier trat nun Steinmeier als Abteilungsleiter auf den Plan. In einem handschriftlichen Vermerk fügte er hinzu: »Herr MP, ich sehe Entscheidungsbedarf hinsichtlich des letzten Absatzes des Tacke-Schreibens. Auch nach meiner Einschätzung könnte frühzeitige Kontaktaufnahme mit Schrempp hilfreich sein. FWS, 12/7«.104 Schröder habe das Dokument, so wurde es notiert, schließlich am 17. Juli 1995 gesehen, von wo aus es offensichtlich die hierarchische Kette nun wieder heruntergereicht wurde. Steinmeier notierte auf selbigen Dokument am 20. Juli 1995 ein »erl.«, was vermutlich für erledigt stehen dürfte. Der dazugehörige handschriftliche Kommentar lautete: »Sts. Dr. Tacke wird Gespräch mit Dasa führen.«105 Das Beispiel zeigt, wie sehr dieses Team als Einheit arbeitete, was für ein ähnliches Gespür für die Früherkennung von Problemen es hatte. Ihnen oblag die inhaltliche Ausstaffierung von Schröders Kurs. Unterdessen machte Schröder selbst immer weniger einen Hehl daraus, dass er wegwollte aus Niedersachsen hin in die Bundespolitik. Unisono erinnern sich die Interviewten, dass sich das Team um Schröder ganz auf Schröders Fortkommen konzentrieren sollte. Das überrascht nur bedingt. Denn »[z]ur politischen Rationalität von Individuellen oder auch kollektiven Akteuren gehört«, häufig jedenfalls, »nicht nur die Aufgabenerfüllung und Problemlösung, sondern immer auch Gewinn und Erhalt von politischer Macht.«106 Man kann über diese Definition sicherlich diskutieren, denn mittlerweile taucht auch immer mehr ein Politikertypus auf, dem es nicht mehr (nur) um den Gewinn von Macht, also einem Machtzuwachs, geht, sondern häufig mehr 101 | Dokument mit dem Titel: Stw MW, 04.07.1995: Personalplanung Daimler-Benz Aerospace; Dokument im Rahmen einer Dokumentensammlung zu diesem Themenkomplex von der niedersächsischen Staatskanzlei zur Verfügung gestellt. 102 | Ebd. 103 | Ebd. 104 | Ebd. 105 | Ebd. 106 | Korte, K.-R.: Kein Governance ohne Government; in: Bröchler, S.; Blumenthal, J. von (Hg.): Regierungskanzleien, 2011, S. 182.
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um die inhaltliche Ausstaffierung im jeweiligen Amt.107 Und richtig ist auch, dass das Inhaltliche bei Schröder vor allem auf das Machtstreben reduziert schien, ein Fakt, über dessen Richtigkeit sich ebenfalls diskutieren lässt. Die taz jedenfalls berichtete einmal von der vom Ministerpräsidenten schon früh ausgegebenen Devise, dass Landespolitik stattfinden dürfe, »aber sie darf meine bundespolitischen Pläne nicht behindern«.108 Die Aussage von Meinungsforscher Manfred Güllner, einem Bekannten von Schröder, in einer wissenschaftlichen Untersuchung zu politischer Strategie fügt sich in dieses Bild: »Wie […] Güllner erzählt, gab es vor 1998 für Schröder bei allem nur das eine Ziel, Kanzler zu werden: ›Alles andere war egal.‹ Deshalb habe er Lafontaine die Programmarbeit überlassen, habe kein Problem damit gehabt, dass er das Wahlprogramm schreibt« (Hervorhebung J.R. etc.).109 Eine positive Bewertung der Politik in Niedersachsen war dafür aber unabdingbar. Und an der Umsetzung eben einer Vielzahl von Vorhaben aus jener Zeit hat Steinmeier einen hohen Anteil. Diese müssen bisweilen in einer Linie über seine Positionen in der Staatskanzlei hinweg betrachtet werden. Lemwerder etwa kam bereits früher hinzu, die Verhandlungen zogen sich in dieser Zeit jedoch fort, die Energiekonsensgespräche, für die Schröder bereits 1995, als sie zunächst scheiterten, die »Leitung der sozialdemokratischen Unterhändlertruppe« anvertraut wurde,110 nahmen ebenfalls ihren Lauf. Eine große Rolle beim Ausbau des Ems-Sperrwerks wird Steinmeier zudem zugesprochen, ein Konflikt, mit dem er auch später als Staatskanzleichef betraut war. Die Themen wurden also stetig mehr, in die Steinmeier sich tief eingearbeitet hatte. Steinmeier bezeichnet diese Arbeiten retrospektiv als Teil des aus seiner Sicht »anspruchsvoll[en]« »Arbeitspensums«.111 Überhaupt waren es häufig Themen, die, unabhängig von seiner Mitwirkung, einer klassischen Industriepolitik entsprachen, beispielsweise das genehmigte Testzentrum für Mercedes112 oder Unterstützung von Volkswagen durch das Land Niedersachsen.113 Das ist insofern erwähnenswert, als dass 107 | So finden sich im Jahr 2016 kaum noch Ministerpräsidenten, die in die Bundespolitik streben oder gar öffentlich die Kanzlerkandidatur in Betracht ziehen. 108 | Voges, Jürgen: Schröders Landesbilanz lässt den Wähler kalt; in: taz, 19.01.1998, S. 6. 109 | Raschke, J.; Tils, R.: Politische Strategie, 2013, S. 508. 110 | Schöllgen, G.: Gerhard Schröder, 2015, S. 284. 111 | Steinmeier, F.-W.: Mein Deutschland, 2009, S. 64. 112 | Vgl. Kohlmann, Sebastian: Gerhard Schröder. Über Niedersachsen ins Kanzleramt; in: Nentwig, Teresa; Schulz, Frauke; Walter, Franz; Werwath, Christian (Hg.): Die Ministerpräsidenten des Landes Niedersachsen, Hannover 2012, S. 176-197; hier: S. 189ff. 113 | Vgl. Schöllgen, G.: Gerhard Schröder, 2015, S. 260ff.
5. Aufstieg zum zweiten Mann
Steinmeier im Verlauf seiner Karriere in seinen Argumentationsketten immer wieder eine tiefe Überzeugung durchblicken lassen wird, wie wichtig aus seiner Sicht eben der Erhalt des Sekundärsektors auch in einer globalisierten Welt, in der der Dienstleistungssektor immer größer wird, ist.114 »Anspruchsvoll« geriet allerdings auch der Sparkurs, der unter der neuen Alleinregierung Schröders eingeschlagen wurde. Zu Beginn der zweiten Legislaturperiode drohte nämlich, ein nicht verfassungsgemäßer Haushalt verabschiedet zu werden. Vor der Landtagswahl war davon jedoch keine Rede gewesen, wenngleich auch hier bereits wenig versprochen worden war. Nach der Wahl aber beschreibt ein Kabinettsmitglied die Lage mit den Worten: »Wir hatten verfassungswidrige Haushalte […]. Und Schröder hatte panische Angst davor, dass wir nicht so sehr politisch, aber per Gericht und dann […] in der Öffentlichkeit so zerfetzt werden, dass er gesagt hat, wir machen lieber jetzt ’ne harte Kur, damit wir anschließend wieder ein bisschen lockerlassen können, und wenn’s eiskalt ist. […] Er hat gesagt, ich setze jetzt ein Zeichen, dann regen sich alle auf, und dann mache ich mit dem bisschen, was wieder frei wird, […] wieder Politik.«115
Dieser damals hochrangige niedersächsische Politiker ordnet das mit den Worten ein: »[D]as war aus seiner Sicht richtig kalkuliert. Das war deshalb doppelt riskant, weil die Partei […] [ü]berhaupt nicht drauf vorbereitet« gewesen sei.116 Tatsächlich wusste sie mit der Situation zunächst nicht umzugehen. So berichtete die taz 1994 unter der Überschrift »Schröders Sparfieber verschlägt der SPD die Sprache«:117 »Allzu viel haben die Sozialdemokraten den Niedersachsen vor der jüngsten Landtagswahl nicht versprochen. Sie konzentrierten ihre Kräfte auf ihr Zugpferd Gerhard Schröder, den Regierungschef. Kaum im Amt, macht sich die neue SPD-Alleinregierung daran, auch das wenige Zugesagte zurückzunehmen. Keine neuen Lehrer, keine Wohnungsbauprogramme für zwei Jahre, keine höheren Zuschüsse für Kindergarten114 | So beispielsweise in den Ausarbeitungen zur Agenda 2010; vgl. Thesenpapier für die Planungsklausur am 05. Dezember 2002: »Auf dem Weg zu mehr Wachstum, Beschäftigung und Gerechtigkeit«; abrufbar unter www.portal-sozialpolitik.de/uploads/ sopo/pdf/2002/2002-12-20-Agenda-2010-Kanzleramtspapier.pdf (zuletzt eingesehen am 03.08.2016). 115 | So ein Interviewpartner, der nicht genannt werden möchte, im Gespräch mit dem Autor. (Um die Anonymität zu wahren, wird für alle anonymisierten Personen eine männliche Form verwendet.) (Nr. 40) 116 | Ebd. 117 | Möser, Andreas: Schröders Sparfieber verschlägt der SPD die Sprache; in: taz, 30.07.1994, S. 34.
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III. Politik im Hintergrund personal – diese und viele andere Beschlüsse und weitere Prüfaufträge der Regierung Schröder haben breite Proteste bei Opposition, Gewerkschaften und Verbänden ausgelöst. Und die Sozialdemokraten, die jetzt als ›Wahlbetrüger‹ dastehen, schweigen beharrlich, als habe das Sparfieber ihnen die Sprache verschlagen.«118
Es waren die einstigen Schlüsselthemen der Sozialdemokratie, nämlich Bildung und Soziales, bei denen gespart werden sollte.119 Schröder selbst verschärfte den Ton noch und sprach 1996 pragmatisch davon, dass, »[w]enn etwas nicht bezahlbar ist, […] abgebaut werden« müsse.120 Die brachiale Ankündigungspolitik erinnerte bei aller Unterschiedlichkeit an die spätere Agenda-Politik, bei der es ebenfalls an Kommunikationsstrategien mangelte. Die Ausgangslage (wenn auch nicht die Lösungsansätze) waren 1994 und 2002 ähnlich. Nach jeweils vier Jahren Regierungszeit drohten sowohl in Niedersachsen als auch später im Bund die Haushalte für das kommende Jahr gegen bestehende Gesetze zu verstoßen. Schon in Niedersachsen wurde die Basis der Partei mehr oder weniger vor vollendete Tatsachen gestellt, was zwar in erster Linie Schröder als Ministerpräsidenten anzulasten war, jedoch hätten Steinmeier und der beschriebene enge Kreis insgesamt, unter denen allerdings alle keine Parteikader waren, gegen eine solche Form der Kommunikation intervenieren können. So aber führte die Sparpolitik zu Unmut nicht nur in der Landes-SPD, sondern auch innerhalb der Koalition. Die Argumentationslinie, die bei den Verhandlungen mit den entsprechenden Ressorts gebraucht wurde, beschreibt Waike in der Rückschau mit den Worten: »Diese Wirklichkeit, diese gravierenden Einsparverpflichtungen – […] das war auch in gewissem Sinne Neuland. Und dann stand eben mehr im Vordergrund: Unangenehm ist das für jeden und bluten muss jeder und deshalb« habe Schröder gesagt: »Jammert hier nicht so rum, jeder von Euch muss bluten.«121 Diese Sparpolitik gehörte somit auch zu diesem zweiten Schröder-Kabinett. Steinmeier steht rückblickend zu diesen Reformen und betont seine Mitwirkung an diesen: »Damals war ich ja sozusagen […] nicht mehr zuarbeitender Hilfsreferent, sondern […] Leiter […] der Abteilung Richtlinien der Politik. Das gehörte ja zu meinen Aufgaben, sozusagen die Furchen zu ziehen, in denen sich die Landespolitik […] so vollziehen kann, 118 | Ebd. 119 | Vgl. Kohlmann, S.: Gerhard Schröder; in: Nentwig, T.; Schulz, F.; Walter, F.; Werwath, C. (Hg.): Die Ministerpräsidenten des Landes Niedersachsen, 2012, S. 193ff. 120 | Zitiert nach Voges, Jürgen: Schröder schunkelt mit der Autolobby; in: taz, 19.02.1996, S. 1. 121 | Waike, Willi im Gespräch mit dem Autor am 18.04.2013.
5. Aufstieg zum zweiten Mann dass es erstens dem Land guttut und zweitens der regierenden Partei nicht schadet. […] Und insofern gehörten diese Fragen auch damals mit zu meinem Job. Nein, das hab’ ich überhaupt nicht kritisch gesehen. Ist ja besser, man […] macht solche Weichenstellungen am Anfang einer Legislaturperiode.«122
Auch wenn Steinmeier an anderer Stelle in Bezug auf die Hochschulpolitik retrospektiv betonte, dass Entscheidungen »erzwungen« worden seien, »die niemand in der Politik gerne trifft«,123 ist es doch eine sehr pragmatische Sicht, die hier zum Ausdruck kommt und die bereits in jener niedersächsischen Zeit vorhanden schien. Waike etwa erinnert sich, dass »eine Sparrunde nach der anderen […] eingeleitet« worden sei.124 Neben dem Einstellungsstopp von Lehrern wurden so kein neues Kinderkartenpersonal genehmigt und Wohnungsbauprogramme heruntergefahren.125 Einmal mehr konnte Steinmeier in dieser Zeit die Folgen besichtigen, die eine zu laxe Sparpolitik mit sich brachte, nämlich eine umso umfangreichere zu einem späteren Zeitpunkt. Auffällig allerdings auch hier: Industriepolitik als Garant für Arbeitsplätze blieb bestehen. Steinmeier begleitete indes das Problem von Schulden und Arbeitslosigkeit, von der Verschleppung von Reformen, in seinen ersten politischen Jahren im Hintergrund, insbesondere nun in seiner zweiten Legislaturperiode als Mitarbeiter von Gerhard Schröder. Die Probleme waren dabei immens und wurden erst sehr spät bearbeitet. Der Blick in den Bund offenbarte ähnliche Krisenherde auf der nächsthöheren Ebene. Denn auch unter Helmut Kohl sah es nicht viel besser aus: »Es wuchsen die wirtschaftlichen und sozialen Probleme. Insbesondere die rasch steigende Arbeitslosigkeit, die im Jahr 1997 mit fünf Millionen ihren Höchststand erreichte und in einigen Regionen Ostdeutschlands fast die Hälfte der arbeitsfähigen Bevölkerung betraf, wurden zu einer wachsenden Belastung für die konservative-liberale Regierung.«126
So wenig ungewöhnlich die Lage also in Niedersachsen war und so richtig und notwendig die Politik des (zu späten) Sparens gewesen sein mag, sie war weder kommunikativ vorbereitet, noch entsprach sie einer kohärenten Strategie. Es war jene Zeit, in der in der Bevölkerung insgesamt, ein sich »schwindender
122 | Steinmeier, Frank-Walter im ersten Gespräch mit dem Autor am 01.07.2013. 123 | Zitiert nach Reinhardt, M.: Aufstieg und Krise der SPD, 2011, S. 483. 124 | Waike, Willi im Gespräch mit dem Autor am 18.04.2013. 125 | Vgl. Möser, A.: Schröders Sparfieber; in: taz, 30.07.1994. 126 | Glaeßner, G.-J.: Demokratie und Politik, 1999, S. 307.
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Glaube an die Bereitschaft und Fähigkeit der Politik, die Krise zu meistern«,127 verbreitete. Die 1970er Jahre waren bestimmt von zwei Wirtschaftskrisen, die 1980er von einem politischen Wandel, der keine Verbesserung brachte. Die Wiedervereinigung verhinderte erneut größere Strukturreformen, sodass das System weiter vor sich hinplätscherte und »eine Gefährdung des korporativverbindlichen Ordnungsmodells der Bundesrepublik« 128 bestand. So hieß es in einer gesellschaftspolitischen Analyse über die 1990er Jahre: »Bei allen Unterschieden in den politischen Auffassungen wurde in der zweiten Hälfte der 90er Jahre für alle erkennbar, daß ›systemimmanente‹ Korrekturen nicht mehr ausreichen, sondern daß eine Neustrukturierung der marktwirtschaftlichen Ordnung in der Bundesrepublik auf der Tagesordnung steht. Dies war keine neue Erkenntnis, aber sie wurde, zumal in den ersten Jahren nach der deutschen Einheit, erfolgreich in den Hintergrund gedrängt. Die Regierung tat vielmehr alles um keine Zweifel daran aufkommen zu lassen, daß das westdeutsche ›Modell‹, genauer, der westdeutsche Status quo, als Blaupause für den Vereinigungsprozeß zu dienen habe. Reformüberlegungen, die in vielen Bereichen der Gesellschaft und Politik der alten Bundesrepublik in der zweiten Hälfte der 80er Jahre entwickelt worden waren, wurden zurückgestellt, Forderungen, die deutsche Einheit als Chance für eine Strukturreform auch im Westen zu begreifen, wurden vehement zurückgewiesen.«129
Die Einsichten schienen in dieser Zeit gewachsen zu sein, dass es Reformen bedurfte. »Es geht nicht mehr um den Umbau des Sozialstaates, es sind tatsächlich tiefe Einschnitte nötig«,130 erläuterte etwa Ministerpräsident Schröder in einer Rede vor dem Landtag Mitte Februar 1996. Das wiederum interpretierte ein Schröder-Biograph rückblickend als Beginn der »Karriere des Reformpolitikers«,131 obwohl es bis zu diesem noch ein weiter Weg sein sollte. Jedenfalls: Eine »erstaunlich tiefgreifende, insgesamt nachdenklich gestimmte Diskussion« sei darauf auch im Bund gefolgt.132 Bei Steinmeier mit seiner Vita, die mit Blick auf Bund und Länder ohnehin nur das (Finanziell-)Abnehmende kannte, dürften sich diese Einsichten in dieser Zeit ebenfalls weiter verfestigt haben. Jene Jahre als Abteilungsleiter waren es, in denen Steinmeier erstmals, zum Beispiel von der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung, als »Frühwarnsystem« Schröders bezeichnet worden ist, der als Abteilungsleiter »Schwächen 127 | Ebd., S. 308. 128 | Ebd. 129 | Ebd., S. 308f. 130 | Zitiert nach Schöllgen, G.: Gerhard Schröder, 2015, S. 302. 131 | Ebd. 132 | Ebd.
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der Ministerien erkennen, drohende Fehlentwicklungen rechtzeitig stoppen und Schröder über Mängel unterrichten« musste.133 Funke formuliert es ganz ähnlich: Steinmeier sei ein guter Administrator und ein politischer Kopf »mit politischem Gespür« gewesen.134 Das gebe es »selten. […] Und davon hat Schröder enorm profitiert«.135 1996 war es so für Schröder keine Frage, dass Steinmeier Waike als Staatskanzleichef nachfolgen sollte, als es einmal mehr zu einer überraschenden Wende in der niedersächsischen Politik kam und erneut ein nicht einkalkuliertes Ereignis, der Zufall, Steinmeiers nächsten Karriereschritt sichern sollte.
5.3 S ta atsk anzleichef Es war im Oktober 1996, als gegen den damaligen Finanzminister Hinrich Swieter Ermittlungen wegen des – sich letztlich nicht bewahrheitenden – Verdachts der sexuellen Nötigung aufgenommen worden sind und er daraufhin zurücktrat.136 Nach Gesprächen, unter anderem mit dem Fraktionschef der Landes-SPD, mittlerweile Heinrich Aller, kristallisierte sich schnell heraus, dass Schröder seinen bisherigen Staatskanzleichef Waike als Nachfolger Swieters nominieren wollte.137 Genauso schnell erfolgte die Entscheidung, dass Steinmeier eben dessen Nachfolger als Staatskanzleichef werden sollte. Es war der Wunsch des Ministerpräsidenten und keine Entscheidung, die von Steinmeier ausging, der aufgrund der umfangreichen Verantwortung, die dieses Amt mit sich brachte, wohl kurz sogar zögerte.138 Das mag verständlich sein, schließlich war Steinmeier damals erst 40 Jahre alt und damit der bis dato jüngste niedersächsische Staatskanzleichef überhaupt.139 Dennoch hatte er sich in dieser kurzen Zeit eine solche Reputation erarbeitet, dass es für einen 133 | Wallbaum, K.: Der Mann der leisen Töne; in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 31.10.1996. 134 | Funke, Karl-Heinz im Gespräch mit dem Autor am 08.07.2013. 135 | Ebd. 136 | Vgl. Wallbaum, Klaus: Schröders engster Berater geht; in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 31.10.1996, S. 7. Nur einen Monat später wurden die Vorwürfe ad acta gelegt; vgl. o.V.: Staatsanwaltschaft stellt Ermittlungen gegen Swieter ein; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.11.1996, S. 4; vgl. auch o.V.: Ermittlungen gegen Swieter eingestellt; in: taz, 27.11.1996, S. 5. 137 | Vgl. Aller, Heinrich im Gespräch mit dem Autor am 10.05.2013. 138 | Vgl. Steinmeier, Frank-Walter im ersten Gespräch mit dem Autor am 01.07.2013. 139 | Das Durchschnittsalter der bisherigen 10 niedersächsischen Staatskanzleichefs bei ihrem jeweiligen Amtsantritt betrug 50,7 Jahre (eigene Recherchen und Berechnungen). Nur Ernst-Gottfried Mahrenholz, Staatskanzleichef unter Alfred Kubel, der bei sei-
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III. Politik im Hintergrund
Großteil der damaligen Beteiligten keine Überraschung gewesen war. »[A]lle, an denen er vorbeigeschossen ist«, erinnert sich Schröder rückblickend, hätten ihm das Gefühl gegeben: »Klar, er ist der Beste.«140 Wenn es Zweifel gab, sind diese nicht bis zu Schröder durchgedrungen. So erinnert sich Zypries, dass es da schon kurzzeitig ein Rumoren gegeben habe, das sich aber schnell gelegt habe.141 Ähnlich berichtete die Hannoversche Allgemeine Zeitung von Überraschung bei »im Lauf bahnrecht erfahrene[n] Beamte[n]«.142 In jedem Falle war es, wie es auch Schröder formuliert, eine »Blitzkarriere«.143 Steinmeier überholte in dieser Zeit etwa Zypries, die ausgesprochen kluge, aber eben auch streitbare Juristin.144 Beharrlich war zwar auch er und Konflikten ging auch er nicht aus dem Weg. Doch brachte er mehr diplomatisches Geschick mit, das selbst vom politischen Gegner gelobt wurde.145 Und dennoch waren es auch hier wieder die Sympathien Schröders auf der einen und auf der anderen Seite nicht kalkulierbare Umstände, ein kurzes (tragisches) Zeitfenster, das sich schnell wieder schloss, durch die Steinmeier aufstieg. Auch wenn der Zeitpunkt überraschend war, war die Konsequenz der Inthronisierung Steinmeiers nach Swieters Rücktritt und Waikes Wechsel ins Finanzministerium nur folgerichtig, hatte sich doch vorher schon ein strategisches Zentrum um Zypries und Steinmeier neben Waike herausgebildet. Er galt, wie beschrieben, bei einigen bereits als der faktische Staatskanzleichef. Das überrascht nur bedingt in diesen Kreisen des informellen Handels, bei dem »von Zeit zu Zeit Zuständigkeiten [angepasst], Verfahrenswege geordnet werden und Beamte formal jenen Rang einnehmen, den sie bisher als infor-
nem Amtsantritt 41 Jahre alt war, kam Steinmeiers Alter sehr nahe. Die anderen Staatskanzleichefs waren mindestens 46 Jahre alt bei ihrem Amtsantritt. 140 | Schröder, G.: Entscheidungen, 2006, S. 444. 141 | Vgl. Zypries, Brigitte im Gespräch mit dem Autor am 24.02.2014. 142 | Wallbaum, K.: Der Mann der leisen Töne; in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 31.10.1996. 143 | So bezeichnet sie auch Gerhard Schröder; vgl.: Schröder, G.: Entscheidungen, 2006, S. 444. 144 | So schrieb die Hannoversche Allgemeine Zeitung einmal über die Leiterin der Abteilung II, dass sie nicht nur Freunde in Niedersachsen habe: »Sie ist entscheidungsfreudig, geht Konflikten nicht aus dem Wege, kann aufbrausend und sehr beharrlich sein. Diplomatisches Geschick komme dabei zu kurz, beklagen Leute, die häufig mit ihr zu tun hatten.«; Wallbaum, Klaus: Kompetent, doch nicht immer diplomatisch; in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 19.12.1996, S. 4. 145 | Ebd.
5. Aufstieg zum zweiten Mann
mellen Status innehatten.«146 Steinmeiers frühe Karriere ist also neben der Sympathie, die er von Schröder entgegengebracht bekam, natürlich auch mit seiner Arbeit zu erklären, die, wie beschrieben, für Schröder herausragend, beinahe unverzichtbar gewesen sein muss. Mit seinem neuen Amt war er nun die Nummer zwei hinter dem Ministerpräsidenten und Leiter der wichtigsten Behörde im Lande. Ein ehemaliger Staatskanzleichef des benachbarten Nordrhein-Westfalens147 schrieb über die Funktion dieser Behörde einmal, dass diese »einfach beschrieben« sei: »Die Staatskanzlei ist die dienende Behörde des Ministerpräsidenten und Zentrale der Landesregierung. Schon in dieser Spannung zwischen Individual- und Kollektivaufgaben liegt eine Besonderheit, die kein Fachressort hat.«148 Diese Worte sind von Stolz geprägt, sie klingen bedeutungsschwer. Doch auch wenn all diese Schwere herausgenommen wird, bleibt die Staatskanzlei eben dennoch die wichtigste Behörde des Regierungsapparats in der Landesregierung. Ihre Aufgabe sei es, beschreibt der besagte Insider weiter, »nach Wahlen und der Bildung der Regierung Wahlprogramme oder Koalitionsverträge in ein handhabbares Arbeitsprogramm der Landesregierung [umzusetzen]. Sie überwacht die inhaltliche und termingerechte Erledigung des Arbeitsprogramms. Sie plant dazu die Arbeit der Regierung als Ganzes und koordiniert ein effektives, mindestens aber widerspruchsfreies, Verhalten der Fachressorts. Sie steuert, wann und welches Thema im Kollegialorgan der Landesregierung, dem Kabinett, beraten wird.«149
Anders als beim gewöhnlichen Procedere übernahm Steinmeier dieses Arbeitsprogramm in der Mitte der Legislaturperiode von seinem Vorgänger Waike, auch wenn er vorher schon einige dieser Aufgaben in seiner Funktion als Abteilungsleiter mitverantwortete. Er konnte somit nur zu Ende bringen, was andere begonnen hatten. Von den Kompetenzen, die er bereits in jener Rolle unter Beweis stellen konnte, konnte er dabei viele nun noch aktiver einbringen, wovon Schröder, wie schon bisher, sehr profitierte. Neben der Entscheidungsfindung, »die in verschiedenen, sich gegenseitig beeinflussenden
146 | König, K.: Das Zentrum der Regierung; in: Bröchler, S.; Blumenthal, J. von (Hg.): Regierungskanzleien, 2011, S. 62. 147 | Rüdiger Frohn arbeitete 14 Jahre in der nordrhein-westfälischen Staatskanzlei, unter anderem eben auch als Staatskanzleichef. Vgl. Frohn, Rüdiger: Staatskanzleien als Regierungszentralen. Erfahrungen und Erkenntnisse eines Akteurs; in: Bröchler, S.; Blumenthal, J. von (Hg.): Regierungskanzleien, 2011, S. 225-234. 148 | Ebd., S. 225. 149 | Ebd., S. 226f.
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Bereichen von verschiedenen Instanzen getroffen werden«,150 ist eben nicht nur Koordination unabdingbar,151 sondern auch die beschriebene Kommunikation. Ein wichtiger Faktor, denn »Regierung ist […] nicht nur Individuum und persönliche Motivation einerseits, Organisation und gesetzte Normation andererseits. Zwischengelagert ist ein Kommunikationsnetz nicht angeordneter, nicht geplanter, nicht festgeschriebener Handlungszusammenhänge, das mit der Organisation wie mit den persönlichen Erwartungen und Verhaltensmustern der Beteiligten verknüpft ist. Solche Informalität macht die Organisation flexibel und entlastet von der Überanstrengung personalisierter Handlungsbeziehungen.«152
Steinmeier schien mit seinen Kompetenzen somit prädestiniert für diese Aufgabe, die an der Schnittstelle von Verwaltung und Politik angesiedelt war. Er hatte dabei erneut und noch konzentrierterer die Rolle inne, jenen Aufstiegswillen Schröders abzusichern und in Niedersachsen dafür zu sorgen, dass die Arbeit dort ein Aushängeschild für Schröders Bewerbung für höhere Ämter sein würde. So beschreibt Schröder rückblickend selbst die Rolle Steinmeiers mit den Worten, dass dieser zwar kein Schattenministerpräsident gewesen sei (»Das ist ziemlicher Blödsinn«153), aber »[w]enn jemand wie er sagt, ich war eher zuständig für den inneren Bereich, dann trifft das exakt zu.«154 Steinmeier hatte genau das viele Jahre später einmal so erläutert, dass eben der eine, Schröder, mehr »mit Blickrichtung nach außen« und der andere, Steinmeier, mehr »mit Blickrichtung nach innen« tätig gewesen sei.155 Drastischer formuliert es ein anderes ehemaliges Kabinettsmitglied, das Schröder als Zirkuspferd und Steinmeier als dessen Dompteur beschreibt.156 So sehr dieser Vergleich bei damals Beteiligten auch Empörung hervorruft, enthält er bei Herausnahme des Drastischen womöglich doch einen wahren Kern. Was auf jeden Fall konstatiert werden kann, ist, dass Steinmeier eine ganz wesentliche Rolle als nun offizieller Staatskanzleichef innehatte. Steinmeiers offizielle Position war dabei interessant, strebte er doch mit der Ablehnung eines Ministerpostens erneut nicht in die Politik im Vordergrund, 150 | König, K.: Verwaltete Regierung, 2002, S. 281. 151 | Vgl. ebd. 152 | Ebd., S. 234. 153 | Schröder, Gerhard im Gespräch mit dem Autor am 09.12.2013. 154 | Ebd. 155 | Zitiert nach Gaus, B.: Von innen nach außen; in: taz, 25.11.2005. 156 | So ein Interviewpartner, der nicht genannt werden möchte, im Gespräch mit dem Autor. (Um die Anonymität zu wahren, wird für alle anonymisierten Personen eine männliche Form verwendet.) (Nr. 35)
5. Aufstieg zum zweiten Mann
was womöglich mit seiner Amtsauffassung zu tun gehabt haben dürfte. In seiner bisherigen Karriere war er durchweg mehr (politischer) Verwaltungsbeamter und nicht Politiker und wurde auch so, obwohl hochpolitisch, wahrgenommen. Bereits 2002 wird in einer Analyse indessen eine zunehmende Unschärfe der Unterscheidung von Politikern und Beamten festgestellt, weil Beamte immer mehr auch Politiker seien und Politiker immer mehr auch Beamte. Von einer »politisch-administrativen Zwittergestalt« ist die Rede.157 Der Begriff trifft auf diesen frühen Steinmeier womöglich zu. Er ist ein Mitgestalter und Organisator im Hintergrund von Schröders Politik, der als Staatssekretär aber Beamter ist und der nicht in die Öffentlichkeit strebt, eine Rolle als Politiker ablehnt.158 Steinmeiers Rolle wuchs allerdings zusätzlich, weil der Kreis um Schröder gleichzeitig kleiner wurde. So wechselte etwa Zypries 1996 ins Sozialministerium. Krampitz’ Aufgabe sowie die von Tacke und Heye dürfen hingegen nach wie vor nicht unterschätzt werden. Steinmeier hingegen fungierte weiterhin als jenes Frühwarnsystem, zu dem er als Abteilungsleiter geworden war. Er war der »[e]hrliche Makler zwischen den Ressortinteressen«.159 Im Rückblick schreibt ein Schröder-Biograph, dass Steinmeier den niedersächsischen Ministerpräsidenten eben an jenen Stellen abgesichert habe, »an denen er Stützpfeiler gut gebrauchen konnte.«160 Weiter heißt es: »Mit Akkuratesse verfolgt[e] er die Aktenlage, nüchtern kalkuliert[e] er die Kräfteverteilung in Konfliktlagen.«161 Heinrich Aller spitzt es noch mehr zu, wenn er betont, dass die »wirklich seriöse, verlässliche, kompetente Person in der Staatskanzlei, also sozusagen […] das Fundament, ab ’ner bestimmten Zeit […] eindeutig Steinmeier« gewesen sei.162 Woran aber war Steinmeier neben den bereits als Abteilungsleiter bearbeiteten Vorhaben und den Sparrunden nun aktiv beteiligt? Allgemein kann konstatiert werden, dass die Regierung Schröder unter der Devise arbeitete, Arbeitsplätze zu schaffen. Dieses Thema trieb den damaligen Ministerpräsidenten neben seinen bundespolitischen Ambitionen tatsächlich um. Zu nennen sind hier zum Beispiel die Verhandlungen rund um das schon erwähnte Emssperr-
157 | König, K.: Verwaltete Regierung, 2002, S. 121. 158 | Vgl. Hogrefe, J.: Gerhard Schröder, 2002, S. 24. 159 | So beschreibt Rüdiger Frohn die Rolle des Staatskanzleichefs; Frohn, R.: Staatskanzleien; in: Bröchler, S.; Blumenthal, J. von (Hg.): Regierungskanzleien, 2011, S. 234. 160 | Hogrefe, J.: Gerhard Schröder, 2002, S. 24. 161 | Ebd. 162 | Aller, Heinrich im Gespräch mit dem Autor am 10.05.2013.
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werk, eine »typische Konfliktlage«,163 über die Steinmeier bereits 1998 in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung nicht ohne Stolz berichtete. »Schaff mal den Rahmen«, soll der Ministerpräsident zu seinem ersten Mann gesagt haben.164 Schröder habe »in Gesprächen mit Bundesverkehrsminister Wissmann und anderen im Bund die Türen geöffnet und ich habe mit Kanzleramtsminister Bohl verhandelt, bis die Finanzierung stand«,165 erinnert er sich außerdem im August 1998, also noch vor der Bundestagswahl, bei der Rot-Grün erstmals den Regierungsauftrag bekam. Steinmeier unterstrich bereits hier seine Rolle für diese Verhandlungen, was durchaus auch typisch für ihn war: Er versteckte sich nicht mit dem, was er leistete, er unterstrich es allerdings auch nicht so, dass es eitel wirkte. In dieser Zeit kam Steinmeier bereits in Berührung mit der nächsthöheren Stufe, dem Chef des Bundeskanzleramts. Er arbeitete im Hintergrund und verhandelte »verbindlich und mit Charme«166 an jenen Projekten, die Schröder mit angestoßen hatte. So wirkte er auch mit, »als die Tiefkühlkost-Hersteller Langnese seinen Standort in Wunstorf (bei Hannover) aufgeben wollte.«167 300 von 500 Mitarbeitern konnten letztlich durch Neuansiedelung gerettet werden.168 Neben dem dominierenden (und in der Öffentlichkeit inszenierten) Thema des Erhalts und der Schaffung von Arbeitsplätzen standen auch andere Themen auf der Tagesordnung. So setzte sich Steinmeier in den letztlich gescheiterten Verhandlungen rund um die Ansiedlung eines Transplantationszentrums in Hannover sehr ein.169 Hier trat er immer wieder öffentlich auf und verbreitete Zuversicht,170 konnte die Konfliktparteien am Ende aber doch nicht an einen Tisch bringen.171 Womöglich wurde dieser Antrieb nochmal zusätz163 | Berger, Michael: Steinmeier sorgt fürs Regieren, wenn Schröder weg ist; in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 10.08.1998, S. 2. 164 | Ebd. 165 | Zitiert nach ebd. 166 | So berichtet sein Freund Dirk Herkströter im Gespräch mit dem Autor; Herkströter, Dirk im schriftlichen Interview mit dem Autor am 20.01.2014. 167 | Berger, M.: Steinmeier sorgt fürs Regieren; in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 10.08.1998. 168 | Ebd.; vgl. auch o.V.: Iglo-Werk geht an Nordfleisch-Gruppe; in: Lebensmittelzeitung, 07.08.1998, S. 20. 169 | Vgl. Rosenkranz, J.: Auf der Suche nach Frank-Walter Steinmeier; in Stern: 12.02.2009; vgl. auch Wallbaum, K.: Der Mann der leisen Töne; in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 31.10.1996. 170 | Vgl. o.V.: Kassen streiten mit Betreibern; in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 21.07.1997, S. 15. 171 | Vgl. o.V.: Krise an der MHH: Kein neues Zentrum für Transplantation; in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 10.07.1998, S. 1.
5. Aufstieg zum zweiten Mann
lich gestärkt, weil er selbst einst von einer Transplantation profitierte. Zweifelsfrei wird in jenen Kommentaren, die er in dieser Zeit abgab, deutlich, dass es ein für ihn zumindest wichtiges Thema darstellte. Die Bildungspolitik, zu deren Umkehr Steinmeier noch, wie gezeigt, Abteilungsleiter war, war indes keineswegs positiv zu bewerten. So wurde der »Zickzack-Kurs«172 aus fünfzig Jahren niedersächsischer Bildungspolitik fortgesetzt und noch vor Steinmeiers Zeit in Niedersachsen entwickelte Vorhaben wie beispielsweise die Lernmittelfreiheit nach ihrer Einführung Anfang der 1990er Jahre173 nun wieder »eingeschränkt«.174 Ebenfalls nach der Landtagswahl 1994, in der Schröder noch über tausend zusätzliche Lehrerstellen versprach, wurde auch diese Zahl nicht nur zurückgenommen, sondern umgekehrt. Die taz kommentierte 1997 folgerichtig: »Während die Sozialdemokraten in Bonn von Bildungsoffensive und Überstundenabbau reden, will der SPD-Kultusminister die Schulklassen vergrößern, die Lehrer zu weiterer Mehrarbeit verpflichten und nebenbei noch 1200 Lehrerstellen abbauen.«175 Auch Steinmeier, der als späterer Bundespolitiker die Bildungspolitik als eine der wichtigsten Herausforderungen in den Mittelpunkt stellt, baut hier – aufgrund der »begrenzten« »finanziellen Mittel«176 – mit ab. Eine ähnliche Sparpolitik wurde in der Hochschulpolitik angestrebt, deren Verhandlungen Steinmeier führte und die der konservative Focus 1997 mit den Worten kommentierte: »Ausgerechnet diese Partei spart nun bei der Bildung. Seit in Niedersachsen Gerhard Schröder allein regiert, ist der Ausbau der Hochschulen ins Stocken geraten. Immer mehr Stellen fallen dem Spardiktat zum Opfer.«177
172 | Morawietz, Holger: 50 Jahre Schulpolitik in Niedersachsen; in: Kuropka, Joachim; Laer, Hermann von: Woher kommt und was haben wir an Niedersachsen?, Cloppenburg 1996, S. 247-288; hier: S. 288. 173 | Ebd., S. 286. 174 | Frieder, Wolf: Die Schulpolitik. Kernbestand der Kulturhoheit; in: Hildebrandt, Achim; Wolf, Frieder (Hg.): Die Politik der Bundesländer. Staatstätigkeit im Vergleich, Wiesbaden 2008, S. 21-42; hier: S. 37. 175 | Voges, Jürgen: Weniger Lehrer – mehr Schüler; in: taz, 21.01.1997, S. 5; vgl. auch Voges, Jürgen: Schule 1994: Streichen, sparen und verzichten; in: taz, 06.09.1994, S. 3; Bildungsminister Wernstedt schreibt auf seiner Internetseite von »schmerzlichen Einschnitte bei den Lehrerstellen«, wodurch er als »angeschlagen« gegolten habe; Internetpräsenz von Rolf Wernstedt; abrufbar unter: in: www.wernstedt.de (zuletzt eingesehen am 05.06.2016). 176 | Overesch, Anne: Wie die Schulpolitik ihre Probleme (nicht) löst. Deutschland und Finnland im Vergleich, Münster 2007, S. 142. 177 | Berninger, Matthias: Taktische Spielchen statt eigener Entwürfe; in: Focus, 09.02.1998, S. 66.
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III. Politik im Hintergrund
Tatsächlich muss Steinmeier hier zugutegehalten werden, dass er erst dann kam, als nichts mehr zu verteilen war, weil auch in der ersten rot-grünen Legislaturperiode in Niedersachsen womöglich über die Verhältnisse gewirtschaftet worden und eben da nicht langfristig gedacht worden war. Es drohte, wie bereits im Kapitel über den Abteilungsleiter Steinmeier beschrieben, ein nicht mehr verfassungsgemäßer Haushalt. Steinmeier tat also womöglich das einzig Richtige für eine Neukonzeption einer langfristigen Politik. Er versuchte, den Auftrag des Ministerpräsidenten zu erfüllen und mit zu sparen, um ein solides Fundament aufzubauen, sparte dabei allerdings, soweit er das als Staatskanzleichef beeinflussen konnte, bei der Bildung zu viel. Im kulturellen Bereich war er hingegen am Anstoß einer Filmförderung178 sowie an der Abwendung einer Millionenklage gegen RTL maßgeblich beteiligt.179 Bei einigen Entscheidungen half unterdessen auch das Frühwarnsystem Steinmeier nicht mehr weiter. So war es etwa, als Schröder auf eigene Faust und auf Einladung von VW-Vorstand Ferdinand Piëch, der alle Kosten übernahm, zum Wiener Opernball flog.180 Strittig war zudem der Besuch des weißrussischen Präsidenten in Niedersachsen, wo Wirtschaftspolitik, so der Vorwurf, vor jede Moral gestellt worden ist.181 Steinmeier, der an der Entscheidungsfindung als Staatskanzleichef mitgewirkt haben dürfte, gibt unumwunden zu: »Das Unternehmen [ein Name wird nicht genannt; Anm. S.K.] war in schlechter Auftragslage, suchte dringend nach Aufträgen. Es ging um Arbeitsplätze in Niedersachsen und das bei damals ja noch viel höherer Arbeitslosigkeit. Weißrussland hat Aufträge von einem Empfang ihres Präsidenten durch den Ministerpräsidenten abhängig gemacht, deshalb hat Gerhard Schröder damals Lukaschenko empfangen.«182
Es war die Fortsetzung einer Politik, die auf klassische Industriepolitik und damit einhergehend auf industrielle Arbeitsplätze setzte – bisweilen dafür aber moralischen und umweltpolitischen Bedenken nur geringfügige Beachtung schenkte. Wirtschaft und Sozialdemokratie waren hierbei jedenfalls keine Gegenpole mehr, vielmehr setzte man sich für Belange der Wirtschaft ein und war »wesentlich wirtschaftsfixierter und viel weniger sozialstaatsorientiert als
178 | Vgl. o.V.: Niedersachsen ein Filmland?; in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 14.08.1999, S. 7. 179 | Vgl. Ott, Klaus: »Ein ganz normaler Vorgang«; in: Süddeutsche Zeitung, 06.10. 1997, S. 17. 180 | Vgl. Voges, J.: Schröder schunkelt mit der Autolobby; in: taz, 19.02.1996. 181 | Vgl. Schmitz, Stefan: Ärger zum Dessert; in: Focus, 27.04.1998, S. 44. 182 | Steinmeier, Frank-Walter im ersten Gespräch mit dem Autor am 01.07.2013.
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dies bis dato bei Sozialdemokraten der Fall war«.183 Es war ein Trend, der so nicht nur in Deutschland zu erkennen war, sondern auch etwa in den USA (mit Bill Clinton) und in Großbritannien (mit Tony Blair).184 So sagte Schröder schon zu Beginn seiner zweiten Amtszeit in Niedersachsen, dass nach der Ökologie nun wieder die Wirtschaft dran sei,185 womit er sich früh in diese Richtung der Sozialdemokratie einordnete. Steinmeier als Bürochef, dann Abteilungsleiter und schließlich Staatskanzleichef hatte diesen Kurs mitzutragen – und trug ihn offensichtlich auch mit. Er wurde so immer mehr in eine neue sogenannte »Marktsozialdemokratie« 186 hineinsozialisiert. Diese Richtung unterstützte Schröder bei seinem eigentlichen Ziel, dem Aufstieg in die Bundespolitik als SPD-Kanzlerkandidat und Bundeskanzler. In jener Zeit war er immer häufiger in der damaligen Hauptstadt Bonn zugegen und damit weniger in Niedersachsen.187 Ob Steinmeier damit der eigentliche Ministerpräsident war, darüber gehen die Einschätzungen indessen auseinander. Während die eine Seite eine solche Vermutung teils brüsk zurückweist (»Quatsch!«,188 »Die Beobachtung teile ich überhaupt nicht«189), lässt ein anderer Teil diese Aussage mit Einschränkungen zu. »Das ist richtig und das ist falsch«, meint etwa Waike, der es als ehemaliger Staatskanzleichef eigentlich wissen müsste.190 Er steht mit dieser Aussage nicht allein,191 insbesondere mit der Einschränkung, dass es nur dann richtig sei, wenn man davon ausgehe, dass Steinmeier einen »großen Einfluss« »auch auf den Ministerpräsidenten« gehabt habe.192 Nicht aber sei es richtig, wenn man davon ausgehe, dass Steinmeier es »darauf anlegte, diese Rolle spielen zu wollen.«193 Vielmehr 183 | Butzlaff, Felix: Verlust des Verlässlichen. Die SPD nach elf Jahren Regierungsverantwortung; in: Butzlaff, Felix; Harm, Stine; Walter, Franz (Hg.): Patt oder Gezeitenwechsel? Deutschland 2009, Wiesbaden 2009, S. 37-66; hier: S. 42. 184 | Vgl. ebd. 185 | Zitiert nach Köpf, Peter: Der Neue. Gerhard Schröder – Deutschlands Hoffnungsträger, München 1998, S. 52. 186 | Vgl. Nachtwey, Oliver: Marktsozialdemokratie. Die Transformation von SPD und Labour Party, Wiesbaden 2009. 187 | Vgl. Glogowski, Gerhard im Gespräch mit dem Autor am 11.12.2013. 188 | Zypries, Brigitte im Gespräch mit dem Autor am 24.02.2014. 189 | Funke, Karl-Heinz im Gespräch mit dem Autor am 08.07.2013. 190 | Waike, Willi im Gespräch mit dem Autor am 18.04.2013. 191 | So mehrere Interviewpartner, die nicht genannt werden möchten, im Gespräch mit dem Autor. (Um die Anonymität zu wahren, wird für alle anonymisierten Personen eine männliche Form verwendet.) (Nr. 39, Nr. 40) 192 | Waike, Willi im Gespräch mit dem Autor am 18.04.2013. 193 | Ebd.
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habe er, so Waike, »sich in der Außendarstellung nie nach vorne gedrängt. Sie waren einfach ein perfektes Team.«194 In Bezug auf Schröder fügt er hinzu: »Wer ihn [Schröder, Anm. S.K.] kennt, der wird […] zustimmen: Er ist nicht einer von der Sorte, der nach außen hin eine Rolle spielt, die er in Wahrheit gar nicht hat. Denn er war Ministerpräsident, er wollte das auch sein. Er hat das auch deutlich gemacht, er hat sich sehr wohl eingemischt. So ist das nicht. Und diese Sparorgien, das war ein typisches Beispiel dafür und das war auch keine Angelegenheit, die in einer Stunde erledigt war. Diese Sitzungen dauerten meistens zwei Tage. […] Und da war er Non-Stop […] dabei.«195
Aller gleichwohl spricht in Bezug auf Steinmeier von einer »Drehscheibe der Macht«.196 Doch auch Alltägliches oblag ihm, es zu regeln. So bereitete er Schröder »auf Bundesrats-Angelegenheiten vor« und hielt ihm, wie es in einer Schröder-Biographie heißt, »›die Kreisstraße 14‹ und anderes allzu Niedersächsische vom Hals«.197 Insgesamt fügt sich so ein Bild eines Hintergrundmannes zusammen, der sowohl das Klein-Klein regelte als auch bei den großen Themen Antworten suchte und den Chef briefte. Mit seiner zusätzlichen Funktion des Nadelöhrs, die nicht unbedingt ein Einzelfall für diese Stellung ist, war es beinahe nur folgerichtig, dass er als ausgesprochen bedeutender Staatssekretär insbesondere im Wahlkampfjahr 1998, in dem Schröder viel durch das Land reiste, bisweilen auch als eigentlicher Ministerpräsident beschrieben worden ist.198 Sein Einfluss wurde jedenfalls auch im Bund wahrgenommen. So war Steinmeier schon in diesen letzten Niedersachsen-Jahren, als die Kanzlerkandidatur noch nicht entschieden war, sich aber eine Entscheidung zwischen Schröder und Lafontaine abzeichnete, der Kontaktmann, mit dem etwa Bundesgeschäftsführer Franz Müntefering das Gespräch suchte. Sein Name sei ihm genannt worden, wenn es um Rücksprachen mit dem niedersächsischen Ministerpräsidenten ging. »Wir haben dann ein paar Mal telefoniert«, erinnert sich Müntefering retrospektiv: »Wir konnten gut miteinander reden, der war nüchtern, der war sachlich und wenn man mit ihm was besprach, dann gelingt das auch. Das heißt, ich hatte da ’ne sehr gute Mei-
194 | Ebd. 195 | Ebd. 196 | Aller, Heinrich im Gespräch mit dem Autor am 10.05.2013. 197 | Posche, Ulrike: Gerhard Schröder. Nahaufnahme, München 1998, S. 86. 198 | Vgl. Grüter, Michael: Mit Kuchen und Zigaretten baut Schröder Streß ab; in: Neue Presse, 05.09.1998, S. 3.
5. Aufstieg zum zweiten Mann nung von ihm. Er war der entscheidende Kontaktmann für mich in dieser […] Vorwahlkampfzeit und dann auch der Wahlkampfzeit in […] das Lager Schröder.« 199
Einmal mehr wird hier Steinmeiers vermittelnde Rolle deutlich, der anders als Schröder, der zu dieser Zeit noch ein ambivalentes Verhältnis zum Bundesgeschäftsführer pflegte, mit Müntefering sprechen konnte.200 Auch Edmund Stoiber, zu jener Zeit noch nicht CSU-Parteivorsitzender, aber bereits bayrischer Ministerpräsident, berichtete rückblickend vom »Nadelöhr Steinmeier«, durch das »alle Themen, die mit Schröder zu verhandeln waren«,201 gegangen seien, wenn es zu Verhandlungen zwischen Niedersachsen und Bayern gekommen sei. Neben dieser koordinierenden und vermittelnden Rolle, die ihm Kritiker wie Befürworter bis in die Gegenwart zusprechen, wurde über Steinmeier immer wieder aber auch von Medienvertretern geschrieben, dass er dabei eigentlich unpolitisch gewesen sei. Eine Parteitagsrede etwa hatte er nie gehalten. Und doch stellt sich die Frage, ob man Überparteilichkeit und die politische Gestaltung fernab der Parteipolitik gleichsetzen kann mit unpolitisch. Ein gänzlich anderes Bild wird nämlich beim Gespräch mit den damaligen Akteuren gezeichnet. Von einem hochpolitischen, intellektuellen Menschen ist insbesondere bei diesen damals in Niedersachen beteiligten Akteuren die Rede. Funke etwa erinnert sich an viele kluge Diskussionen mit Steinmeier, die immer eine Freude gewesen seien.202 »Sehr dialogorientiert«, beschreibt Griefahn Steinmeier.203 Aller lobt ihn geradezu euphorisch: »hochpolitisch, intellektuell sowieso, aber auch von der Einschätzung gesellschaftspolitischer Zusammenhänge: hochpolitisch«.204 Andere berichten Ähnliches. Beim Blick zurück auf Steinmeiers Universitätskarriere ist fürwahr kaum vorstellbar, dass aus diesem hochpolitischen Wissenschaftler ein unpolitischer Beamter geworden wäre. Dass ein analytischer, abwägender und perspektivisch denkender Staatssekretär dort arbeitete, ist somit anzunehmen. Steinmeier jedenfalls war in diesen Jahren im Hintergrund schnell zum tragenden Pfeiler im System Schröder geworden, wie zum Beispiel auch Funke mit Verweis auf die beschriebenen Eigenschaften betont: »Dieser Erfolg in Nie199 | Müntefering, Franz im Gespräch mit dem Autor am 22.10.2013. 200 | Müntefering erzählt, er habe sich 1993 bei der Abstimmung über den Parteivorsitzenden offen auf die Seite Scharpings gestellt, was bei Schröder zu misstrauen geführt habe; vgl. ebd. 201 | Stoiber, Edmund: Weil die Welt sich ändert. Politik aus Leidenschaft – Erfahrungen und Perspektiven, 2012, S. 221. 202 | Funke, Karl-Heinz im Gespräch mit dem Autor am 08.07.2013. 203 | Griefahn, Monika im Gespräch mit dem Autor am 26.06.2013. 204 | Aller, Heinrich im Gespräch mit dem Autor am 10.05.2013.
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dersachsen wäre ohne einen Steinmeier in der Staatskanzlei nicht möglich gewesen.«205 Er und die »Viererbande« (Welt),206 jener »kleine[], aber vorzügliche[] Apparat« (Schröder)207 aus Steinmeier, Tacke, Krampitz und Heye (und früher auch Zypries) sicherten Schröder ab und waren maßgeblich an dieser »moderne[n], ideologiefreie[n], pragmatische[n] Politik«208 beteiligt, sodass einige Arbeitsplätze gerettet, Sparmaßnahmen schlussendlich doch noch angegangen und auch unpopuläre, aber notwendige Entscheidungen getroffen werden konnten. All das wurde so erfolgreich verkauft, dass in der Wahlkampfzeit der Bürger überraschend schon wieder vergessen zu haben schien – und Schröder bei der Landtagswahl im Frühjahr 1998 mit absoluter Mehrheit wiederwählte. Vergessen wurde dabei immer wieder allerdings auch die Landes-SPD, die eher mitgeschleppt als mitgenommen worden ist. Hier hätte es möglicherweise besserer Beratung des Staatssekretärs Steinmeier, jenes Frühwarnsystems, bedurft. Dies hätte womöglich auch die »Viererbande« insgesamt sehen müssen, auch wenn sie für das Parteipolitische nur bedingt zuständig war. Doch war es auch ein stillschweigendes Abkommen zwischen den niedersächsischen Genossen und ihrem Spitzenmann. Sie wählten (und erduldeten) Schröder als Parteivorsitzenden und Ministerpräsidenten, weil er ihnen Glanz brachte. Im Verborgenen hingegen arbeiteten Steinmeier und das kleine Team an Schröders Erfolg. Pragmatisch und wenig in die Partei involviert hatten sie nicht den Sinn für parteipolitische Bedürfnisse. Diese Jahre waren es, die Steinmeiers Aufstieg besiegelten. Dass Schröder dabei große Sympathien für Steinmeier hatte, war für den jungen Aufsteiger und dessen Karriere unabdingbar. So konnte er schnell ins strategische Zentrum aufsteigen,209 in dem er in ganz unterschiedlichen Funktionen und unterschiedlichen Ebenen auch, wie im folgenden Kapitel zu sehen, in den sich anschließenden Jahre bleiben wird.
205 | Funke, Karl-Heinz im Gespräch mit dem Autor am 08.07.2013. 206 | Graw, Ansgar: Geräuschlose Zuverlässigkeit; in: Die Welt, 10.12.2005, S. 9. 207 | Zitiert nach Herres, Volker; Waller, Klaus: Der Weg nach oben, München 1998, S. 221. 208 | Walter, F.: Charismatiker und Effizienzen, 2009, S. 229. 209 | Vgl. Raschke, J.; Tils, R.: Politische Strategie, 2013.
6. Im Kanzleramt 6.1 K anzler amtschef »Wenn Steinmeier nicht gewesen wäre, wäre Rot-Grün nach zwei Jahren in sehr schweres Fahrwasser geraten«, glaubt Franz Müntefering, zu jener Zeit Bundesgeschäftsführer und bald Generalsekretär, retrospektiv.1 Jene Monate nach der gewonnenen Wahl, auf die sich Müntefering auch bezieht, sind ein Lehrstück über mangelnde Vorbereitung, gescheiterte Kommunikation und Ränkespiele zwischen dem Kanzlerkandidaten und Bundeskanzler Gerhard Schröder und dem Parteivorsitzenden Oskar Lafontaine, denen zunächst auch Steinmeier zum Opfer gefallen war. Steinmeier schrieb im Rückblick, dass »wir 1998 […] nicht allzu ausführlich besprochen« hatten, »wie das genau aussehen würde, wenn es nach der Bundestagswahl eine rot-grüne Mehrheit gäbe«.2 Es seien »höchstens Sätze gefallen wie ›Wenn es klappt, wärst Du bereit mit nach Bonn zu gehen?‹«.3 Selbstkritisch fügt er hinzu: »Wir hatten genügend Selbstbewusstsein, um die Regierung zu übernehmen, aber wir zögerten, uns für diesen Fall ein festes Personaltableau zu überlegen.«4 Bereits durch die Presse jener Zeit geisterten immer neue Namen – nicht nur für die einzelnen Kabinettsposten, sondern eben auch für den Chef des Bundeskanzleramts. Gerd Andres etwa, seiner Zeit Hannoveraner Bundestagsabgeordneter und Vorstandsmitglied der SPD-Bundestagsfraktion, bestätigte im August 1998 gegenüber der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung Steinmeiers Namen.5 Lafontaine schrieb nur wenige Monate nach der Wahl, dass er Schröder zunächst Müntefering vorgeschlagen und schließlich ein Okay für
1 | Müntefering, Franz im Gespräch mit dem Autor am 22.10.2013. 2 | Steinmeier, F.-W.: Mein Deutschland, 2009, S. 79. 3 | Ebd. 4 | Ebd. 5 | O.V.: Steinmeier und Andres sollen ins Kanzleramt; in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 10.08.1998, S. 1.
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Peter Struck als Kanzleramtschef bekommen habe:6 »Unglücklicherweise kam hinzu, daß Frank Steinmeier […] auch davon ausging, daß er Chef des Bundeskanzleramts würde«.7 Die Debatte schien sich also zu verselbstständigen, was allein an fehlender Kommunikation und diesbezüglich fehlender Entscheidungsfreudigkeit insbesondere des Kanzlerkandidaten lag. So war die Überraschung nach der gewonnenen Wahl und vor den »sehr schwierigen« (Steinmeier8) Koalitionsverhandlungen, in denen Steinmeier, wie die Süddeutsche Zeitung festhielt, immer wieder mit den verschiedenen Akteuren Kompromisse ausgelotet, Ressortzuteilungen besprochen9 und »administrativ«10 den Kanzler umfangreich unterstützt hat, denn auch groß, als Schröder Bodo Hombach als Kanzleramtschef nominierte. Noch am Wahlabend soll der Wahlsieger Lafontaine zur Seite genommen und ihm seine Entscheidung mitgeteilt haben.11 Schröder, der laut einer anderen Analyse »bis dato voll auf Frank-Walter Steinmeier gesetzt« habe, »der sich entsprechend darauf eingestellt hatte, das Kanzleramt zu führen«,12 entschied letztendlich einmal mehr intuitiv, im Alleingang und ohne Rücksprache und in diesem Falle gegen Steinmeier. Dieser soll denn auch »sehr enttäuscht«13 gewesen sein. Von »Missmut« war die Rede.14 Hombach sagte einmal, dass die »anstehende Auseinandersetzung« mit dem Parteivorsitzenden sein »stärkstes Motiv« gewesen sei, »Chef des Bundeskanzleramts zu werden«.15 Schröder selbst begründet seine Entscheidung im Rückblick mit den Worten: »Das hatte damit zu tun, dass Herr Hombach jemand war, der […] sehr stark konzeptionell […] arbeitete und der ein glänzen-
6 | Vgl. Lafontaine, Oskar: Das Herz schlägt links, München 1999, S. 127. 7 | Ebd., S. 127. 8 | Steinmeier, F.-W.: Mein Deutschland, 2009, S. 80. 9 | So zum Beispiel wird ihm zusammen mit dem neuen Wirtschaftsstaatssekretär Al fred Tacke eine Schlüsselrolle beim Zuschnitt des Finanz- und Wirtschaftsministeriums zugesprochen – und damit bei den Verhandlungen mit Lafontaine über erstgenanntes; vgl. o.V.: Europaabteilung geht ins Finanzministerium; in: Süddeutsche Zeitung, 23.10.1998, S. 21; vgl. auch Schwennicke, Christoph: Abschied eines Schattenmanns; in: Süddeutsche Zeitung, 23.10.1998, S. 3. 10 | Schwennicke, C.: Abschied eines Schattenmanns; in: Süddeutsche Zeitung, 23.10.1998. 11 | Vgl. Geyer, Matthias; Kurbjuweit, Dirk; Schnibben, Cordt: Operation Rot-Grün. Geschichte eines politischen Abenteuers, München 2005, S. 57. 12 | Sturm, D.-F.: Wohin geht die SPD?, 2009, S. 23. 13 | Langguth, G.: Machtmenschen, 2009, S. 223. 14 | Ebd. 15 | Sturm, D.-F.: Wohin geht die SPD?, 2009, S. 23.
6. Im Kanzleramt
der Formulierer war«.16 Er fügt hinzu, dass das »keine Entscheidung gegen Steinmeier« gewesen sei, sondern er »in der Situation […] jemanden brauchte, der […] auch nicht nur über administrative Fähigkeiten und politischen Durchblick« verfügte. »[D]ie waren bei Steinmeier da. Aber in besonderer Weise […] über kommunikative Fähigkeiten verfügte und […] da war Hombach für mein Dafürhalten am Anfang der richtige Mann.«17 Abgesprochen sei das auch mit Steinmeier gewesen, fügt Schröder hinzu. Steinmeiers Erinnerungen stehen im Widerspruch dazu: »Wir haben […] nie ’nen Handschlag draufgemacht: Du wirst Chef des Kanzleramtes. Aber natürlich, […] wenn man darüber nachgedacht hat, es könnte mehr werden als [eine] Große Koalition, sondern sogar ’nen Kanzler Schröder, dann wäre [das] […] für die Art der Zusammenarbeit, die wir über die letzten Jahre gehabt hatten vor ’98, […] nicht nur aus meiner Sicht schlüssig, sondern aus der Betrachtung vieler. Insofern […] waren ja viele überrascht, als dann Bodo Hombach in aller letzte Sekunde noch berufen wurde.«18
Steinmeier denkt lange nach, um dann hinzuzufügen: »Schröder hat mir das […] auf ’ner Fahrt von Hannover nach Bonn anvertraut, begleitet mit der Bitte, dass keine Enttäuschungen zurückbleiben.«19 Ferner habe dieser ihm erläutert, »dass Bodo Hombach […] eher die Außenvertretung des Kanzleramtes machen soll. […] Für die Organisation und für die politische Koordinierung brauche er mich ja unbedingt und deshalb habe er sich die […] neue Ordnung im Kanzleramt so vorgestellt, dass es einen eher nach außen wirkenden Chef des Kanzleramtes gibt und einen nach innen wirkenden Staatssekretär, der die politischen Prozesse organisiert.« 20
Süffisant kommentiert Steinmeier diese Entscheidung rückblickend mit den Worten: »Es war nett gemeint, aber organisationspolitisch funktioniert so was erfahrungsgemäß nicht«.21 Eine Schröder wohlwollend gegenüberstehende Person geht rückblickend sogar so weit zu behaupten, dass Schröder keine »besonders gute Menschenkenntnis« gehabte habe.22 »Wenn man zu Schröder kam und der fand einen nett und man hat dann gesagt, okay, ich bleib’ bei Dir, 16 | Schröder, Gerhard im Gespräch mit dem Autor am 09.12.2013. 17 | Ebd. 18 | Steinmeier, Frank-Walter im ersten Gespräch mit dem Autor am 01.07.2013. 19 | Ebd. 20 | Ebd. 21 | Ebd. 22 | So ein Interviewpartner, der nicht genannt werden möchte, im Gespräch mit dem Autor. (Um die Anonymität zu wahren, wird für alle anonymisierten Personen eine männliche Form verwendet.) (Nr. 33)
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[…] dann fand er das gut,« erinnert sich diese und bilanziert: »Also auf so Leute wie Hombach beispielsweise wär’ ich nicht reingefallen. Aber Schröder fällt darauf rein.«23 Es war eine einsame Entscheidung Schröders, einsam schon deswegen, weil seine engsten Vertrauten nur bedingt einbezogen worden waren. Es war aber auch eine Entscheidung, die genauso schnell vonstattenging wie einst jene, Steinmeier in die Staatskanzlei zu holen. Diesmal sollte sich Schröders Entscheidung allerdings als folgenschwerer Fehler erweisen. Ob es eine Absprache nun gab oder nicht und wie sehr Schröder sich von seiner Menschenkenntnis aufs Glatteis führen ließ – für diese biographische Untersuchung ist wichtig, was die Entscheidung Schröders eigentlich aussagte. Schröder hielt Steinmeier zu diesem Zeitpunkt zwar für einen hervorragenden Administrator, nicht aber für den inhaltlichen Ideengeber, als der er später agierte. Zumindest hielt er ihn nicht für jemanden, der es mit dem gewieften Lafontaine aufnehmen könnte. Was bei Steinmeier still im Hintergrund reifte, war bei Hombach lautstärker. Dieser galt zwar als ein politischer Kopf, als ein »Wirbelwind«24 »mit hohem politischen Anspruch«,25 aber gleichzeitig auch als ein »[g]anz schlechter Administrator.«26 Getäuscht von dem zur Schau gestellten Lautstarken und Glitzernden wirkte der ruhige Mann im Hintergrund für Schröder womöglich etwas grau. Die Süddeutsche Zeitung beschrieb kurz nach der Wahl Steinmeier »als intelligent, witzig und im zwischenmenschlichen Umgang angenehm.«27 Zudem verhalte er sich »[k]lar, aber leise« und widerlege damit »die These, daß es im politischen Geschäft nur Brüllaffen, Wichtigtuer und Verschlagene zu etwas bringen.«28 Zunächst aber hatten jene Brüllaffen, zumindest aber die Lauteren, einen Teil des Ruders übernommen, eben auch Hombach als Kanzleramtschef. Zwar folgte Schröder ein enger Kreis der sogenannten »Maschsee-Mafia«29 nach Berlin, insbesondere Sigrid Krampitz, Alfred Tacke, Thomas Steg, Reinhard Hesse und Uwe-Carsten Heye.30 Ein Teil von ihnen, unter anderem auch 23 | Ebd. 24 | Riester, Walter im Gespräch mit dem Autor am 16.05.2013. 25 | Funke, Karl-Heinz im Gespräch mit dem Autor am 08.07.2013. 26 | Ebd. 27 | Schwennicke, Christoph: Im Profil; in: Süddeutsche Zeitung, 06.10.1998, S. 4. 28 | Ebd. 29 | Sturm, D.-F.: Wohin geht die SPD?, 2009, S. 23; Bisweilen wurden sie von Medienvertretern auch als »Maschsee-Connection« bezeichnet; vgl. z.B. Höfer, Max; Horstkötter, Dirk; Hübner, Rainer; Mühlberger, Norbert: »Komm in die Gänge«; in: Capital, 02.10.2002, S. 18. 30 | Vgl. z.B. Leinemann, Jürgen: Das Duell; in: Spiegel, 26.08.2002, S. 48-68; hier: S. 64; vgl. auch Hachmeister, Lutz: Hannover. Ein deutsches Machtzentrum, München 2016, S. 110.
6. Im Kanzleramt
Schröder selbst und Steinmeier, wohnte die ersten Monate gemeinsam in einer in dieser Zeit häufig als »Regierungs-WG« beschriebenen Bleibe, dem Gästehaus des Auswärtigen Amtes in Bonn. »Ein bisschen studentisch, aber auf hohem Niveau«,31 beschrieb Steinmeier jenen Ort, an dem man gemeinsam frühstückte oder sich beim Warten vor dem Bad traf. Doch bestand das Kanzleramt aus viel mehr Personen, insbesondere an den Schlüsselstellen, den fünf politischen Abteilungen. Und so füllte Hombach »seinen Bereich im Kanzleramt mit Vertrauten aus Nordrhein-Westfalen auf – gegen Steinmeiers Niedersachsen-Bastion«.32 Dies ist insofern von Bedeutung, als dass Steinmeier nur dieses Personaltableau zur Verfügung stand, als Hombach einige Monate später ausschied. Die Weichen wurden also in dieser Frühphase gestellt, der Lokführer Hombach würde sie aber bald nicht mehr befahren, sondern Steinmeier, der sie mit hoher Wahrscheinlichkeit anders gestellt hätte. Der Konstruktionsfehler der Doppelbesetzung des Kanzleramts war somit viel tiefgreifender, als dass er nur zwei Personen betroffen hätte. Interessant bei alledem ist, dass die Zusammensetzung der neuen Bundesregierung mit Ausnahme des Bundeskanzlers selbst, der erstmals zu einer Generation gehörte, die den 2. Weltkrieg nicht mehr hautnah miterlebt hatte (und was allein natürlich schon bedeutend war),33 keineswegs eine Verjüngung darstellte. So konnte »[v]on einem Generationswechsel […] höchstens in Bezug auf die Person des Kanzlers gesprochen werden. Die meisten Fachminister und führenden Parlamentarier gehör[t]en derselben Altersgruppe an wie ihre Vorgänger.«34 Steinmeier war somit auch zu diesem Zeitpunkt noch ein Youngster, der mit nur 42 Jahren Staatssekretär im Kanzleramt wurde. Hombach war immerhin schon 46, Schröder 54 Jahre alt. Gleichzeitig aber gehörte Steinmeier einer neuen Kohorte von Sozialdemokraten an beziehungsweise wurde, trotz aller Unterschiede der Protagonisten, in diese Gruppe hineinsozialisiert. Es war eine Gruppe, in der links und rechts nicht mehr die Bedeutung von einst hatte und keine Grabenkämpfe auslöste. Hier wurde, »um ökonomische und publizistische Eliten von sich zu überzeugen, […] der seit den 1980er Jahren zum Mainstream gewordene Konsens über die segnungsreichen Wirkungskräfte des Marktes bemerkenswert selbstbewusst übernommen.«35 In Anlehnung an den britischen »dritten Weg«, verfasste Bodo Hombach pünktlich zum Wahlkampf 1998 ein Buch, das einen »im Vergleich zu Gid31 | Zitiert nach Berger, Michael: Schröders Mann mit der Lizenz zum Verhandeln; in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 05.02.1999, S. 3. 32 | Geyer, M.; Kurbjuweit, D.; Schnibben, C.: Operation Rot-Grün, 2005, S. 82. 33 | Vgl. Glaeßner, G.-J.: Demokratie und Politik, 1999, S. 315. 34 | Ebd. 35 | Butzlaff, F.: Verlust des Verlässlichen; in: Butzlaff, F.; Harm, S.; Walter, F. (Hg.): Patt oder Gezeitenwechsel?, 2009, S. 48.
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dens (dem Ideengeber des britischen dritten Wegs) doch deutlich weniger intellektuellen Programmentwurf für eine neue Sozialdemokratie« darstellte.36 In dieser Veröffentlichung ließ sich Schröder im Nachwort immerhin dazu hinreißen kundzutun: »Es gibt keine linke oder rechte Wirtschaftspolitik, sondere nur eine richtige oder falsche!«37 Bei Steinmeier klingt das einige Jahre später in einem Aufsatz ganz ähnlich: Es gehe darum, »ideologische Fronten aufzubrechen und einen Modernisierungskurs durchzusetzen«.38 Ein ähnliches Verhältnis zu althergebrachten Strukturen und »ideologischen Fronten«39 des Parteienstaats wird offenkundig. Jene »Marktsozialdemokratie« 40 bahnte sich ihren Weg. Die Personalentscheidungen jedenfalls waren getroffen und mit ihr »gab es erstmals in der Geschichte der Regierungszentrale einen Chef des Bundeskanzleramtes und einen Staatssekretär des Bundeskanzleramtes«. 41 Mit dieser neuen Konstellation fuhr die Regierung nun, bildlich umschrieben, mit voller Kraft in einen Sturm hinein. Müntefering erinnert sich, dass er sich, als Hombach Kanzleramtschef geworden war, gefragt habe, was Steinmeier denn »jetzt eigentlich da« mache?42 Er beschreibt hier ein Dilemma, das sowohl Medien damals so gesehen haben, als auch die Protagonisten so einordneten. Denn selbst wenn man der Argumentation folgt, dass Hombach ein größerer politischer Kopf sei und Steinmeier ein besserer Administrator – für die ersten sechs Monate im Kanzleramt galt: Es gab keine klaren Hierarchien, es gab zwei Chefs des Kanzleramts. Es konnte sich keine kohärente Strategie in der Politikgestaltung etablieren, unabhängig davon, ob dies gewollt war. Steinmeier und Hombach kamen überdies auch menschlich nur bedingt miteinander aus, sprachen laut Süddeutsche Zeitung bald »nicht mal mehr miteinander«43 und hatten keine klaren Aufgaben. Sie beharkten sich also gegenseitig in ihrem jeweiligen Anspruch an Gestaltung. 36 | Hassel, A.; Schiller, C.: Der Fall Hartz IV, 2010, S. 157. 37 | Zitiert nach ebd. 38 | Steinmeier, Frank-Walter: Konsens und Führung; in: Müntefering, Franz; Machnig, Matthias (Hg.): Sicherheit im Wandel. Neue Solidarität im 21. Jahrhundert, Berlin 2001, S. 263-272; hier: S. 269; vgl. Kapitel 6.2 in dieser Arbeit. 39 | Steinmeier, F.-W.: Konsens und Führung; in: Müntefering, F.; Machnig, M. (Hg.): Sicherheit im Wandel, 2001, S. 269. 40 | Vgl. Nachtwey, O.: Marktsozialdemokratie, 2009. 41 | Knoll, Thomas: Das Bonner Bundeskanzleramt. Organisation und Funktionen von 1949-1999, Wiesbaden 2004, S. 393. 42 | Müntefering, Franz im Gespräch mit dem Autor am 22.10.2013. 43 | Schwennicke, Christoph: Einer, der den Beißreflex kennt; in: Süddeutsche Zeitung, 05.02.1999, S. 3.
6. Im Kanzleramt
Doch auch außerhalb des Kanzleramts war von Auf bruch wenig zu spüren, er fand vielmehr lediglich in den Köpfen statt. Müntefering beschreibt das »Grundgefühl« retrospektiv mit den Worten, dass, »weil wir so schön sind, geht das alles, wird das alles jetzt gut. […] Ich kann mich an die Bilder mit den Sektgläsern noch gut erinnern. Und dann merkt man nach einem halben […], dreiviertel Jahr […], das haut nicht hin. Das ist alles ganz anders.«44 Rezzo Schlauch, zu jener Zeit Co-Fraktionsvorsitzender bei den Grünen im Bundestag, fügt hinzu, dass bei Betrachtung jenes Starts bedacht werden müsse, »dass die SPD 16 Jahre lang nicht mehr regiert hatte, und die Grünen noch nie regiert haben. […] [D]as heißt, da treffen zwei Partner aufeinander, die keinerlei Erfahrung hatten, also bei null angefangen haben.«45 Solche Anlaufschwierigkeiten sind bei sich konstituierenden Regierungen nicht ungewöhnlich. Hinzu kam jedoch, dass bei der SPD das strategische Zentrum des Wahlkampfes, bestehend aus Lafontaine, Schröder und Müntefering,46 mit Regierungsantritt schnell erodiert war und an ein »kommunikative[s] Dach […] zunächst nicht zu denken war – zu groß war der Gegensatz zwischen der sozialkeynesianistischen Politik des SPD-Vorsitzenden und neuen Finanzministers Lafontaine und der unternehmerfreundlichen Linie Schröders«.47 Bei all diesen Problemen wäre eine koordinierende Aufgabe des Kanzleramts zwar umso wichtiger gewesen, doch hatte sich Schröder gegen Steinmeier und dessen in Niedersachsen bewiesenes Koordinationstalent und für das Hombach’sche Bollwerk gegen Lafontaine entschieden. Für Strategieentwicklung blieb daher zunächst nur bedingt Raum, stattdessen drohte ein zunehmendes Chaotisieren. Die Mitarbeiter im Kanzleramt »verhielten« sich fortan, beobachtete damals die Süddeutsche Zeitung, zeitweise »wie Ameisen, in deren Haufen ein Wanderer mit dem Spazierstock gestochert hat«.48 All das hing einmal mehr mit der fehlenden hierarchischen Ordnung im Kanzleramt zusammen. Diese wurde erst nach und nach verbessert, wenngleich sie die Schwächen dieses Zweigespanns nur lindern, aber nicht beseitigen konnte. Steinmeier jedenfalls übernahm im Zuge dessen nur wenige Monate nach dem Regierungsstart die »montägliche Koordinierung der Staatssekretäre aus den Ministerien«, womit sein Einfluss stieg, und nahm zudem »auch an 44 | Müntefering, Franz im Gespräch mit dem Autor am 22.10.2013. 45 | Schlauch, Rezzo im Gespräch mit dem Autor am 06.06.2013. 46 | Vgl. Marx, S.: Die Legende vom Spin-Doktor, 2008, S. 110; vgl. auch Kohlmann, S.: Franz Müntefering, 2011, S. 61; vgl. außerdem Sturm, D.-F.: Wohin geht die SPD?, 2009, S. 19. 47 | Marx, S.: Die Legende vom Spin-Doktor, 2008, S. 108. 48 | Schwennicke, C.: Einer, der den Beißreflex kennt; in: Süddeutsche Zeitung, 05.02.1999.
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Absprachen der SPD-geführten Landesregierungen teil.«49 Hombachs nach außen gerichtete Aufgaben waren allerdings so ungenau definiert, dass sie von den damaligen Protagonisten auch in der Rückschau nur bedingt beschrieben werden können. Diverse Sonderaufgaben, zum Beispiel die Koordination der Gespräche über den Atomausstieg und das Bündnis für Arbeit, hätten ihm oblegen, stellte die Süddeutsche Zeitung fest.50 Damals von Journalisten befragte Akteure beschrieben die Aufgabenteilung so als »wirr«.51 »Beide«, mutmaßte nicht nur die Hannoversche Allgemeine Zeitung, »hätten sich für den jeweils klügeren Kopf gehalten«.52 Ein Einklang fand so nicht statt – überdies überschattete der Konflikt Lafontaine/Schröder die Regierungsarbeit. Dass Lafontaine Schröder »tief verachtete«, erzählt ein damaliges Kabinettsmitglied.53 Andere wiederum berichten, dass Schröder mit einigen engen Mitarbeitern einmal ausgelassen gefeiert habe, als Lafontaine eine Niederlage erlitten hatte.54 Es sind zwei Aussagen, die nicht alleine stehen und in einer Biographie über Lafontaine größere Erwähnung finden müssten. Für diese Arbeit reicht die Feststellung, dass es ein untragbarer Zustand war, der sich letztendlich immer mehr zuspitzte und schließlich eskalierte. Lafontaine trat am 11. März 1999 von all seinen Ämtern zurück, es ist ein Datum, das sich tief in das Gedächtnis der führenden Sozialdemokraten jener Zeit eingeprägt hat.55 Der nun ehemalige Parteichef und Finanzminister schrieb nur wenige Monate nach seiner Demission in seinem autobiographischen Buch »Das Herz schlägt links«:56 »Es wäre Bodo Hombach zu viel der Ehre angetan, wenn man ihn […] als den Hauptschuldigen für meinen Rücktritt sehen würde. Verantwortlich dafür, wenn die Regierungszen49 | Grüter, Michael: Rot-grüne Treffen gegen Pleiten, Pech und Pannen; in: Neue Presse, 04.12.1998, S. 3. 50 | Schwennicke, C.: Einer, der den Beißreflex kennt; in: Süddeutsche Zeitung, 05.02.1999. 51 | Vgl. ebd. 52 | Butenschön, Rainer: Vom besten Mann zur Niete; in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 25.06.1999. 53 | So ein Interviewpartner, der nicht genannt werden möchte, im Gespräch mit dem Autor. (Um die Anonymität zu wahren, wird für alle anonymisierten Personen eine männliche Form verwendet.) (Nr. 32) 54 | So ein Interviewpartner, der nicht genannt werden möchte, im Gespräch mit dem Autor. (Um die Anonymität zu wahren, wird für alle anonymisierten Personen eine männliche Form verwendet.) (Nr. 38) 55 | Dieses Datum wird in vielen Gesprächen ungefragt genannt; vgl. Kohlmann, S.: Franz Müntefering, 2011, S. 148. 56 | Lafontaine, O.: Das Herz schlägt links, 1999.
6. Im Kanzleramt trale nicht funktioniert, ist nicht der Chef des Bundeskanzleramts, sondern letztlich der Bundeskanzler. Wenn er sieht, daß der Amtschef seine Aufgabe nicht richtig erfüllt, muß er ihn auswechseln.« 57
Man könnte dies als die Aussage eines tief Gekränkten abtun, doch arrangierten sich auch die übrigen Kabinettsmitglieder zumindest in der Erinnerung nicht mit Hombachs Stil. Er habe schlicht nicht zwischen den Ressorts koordiniert, erinnert sich ein Kabinettsmitglied,58 dem Bündnis für Arbeit »verhalf er zwar«, urteilte die Hannoversche Allgemeine Zeitung, »zu einem aufgeblähten Apparat […] – effektiv passiert ist dort noch nichts.«59 So ist es Schröder, dem diese ersten Monate vor allem anzulasten sind. Einen womöglich besseren Mann für diese koordinative, auch hochpolitische Aufgabe hätte es schließlich von Beginn an gegeben: Frank-Walter Steinmeier. Es wäre spekulativ zu fragen, wie die Weichen dann gestellt worden wären, aber ein Rücktritt Lafontaines wäre, das kann gemutmaßt werden, womöglich nicht gekommen. Tatsächlich lobt auch Lafontaine Steinmeier in seinem Buch, nennt ihn einen »hervorragende[n] Mann« aufgrund seiner administrativen Fähigkeiten:60 »Wir schätzen seine Arbeit, insbesondere die geräuschlose Art, mit der er auch schwierige Probleme meisterte. Bei den Koalitionsverhandlungen war ich dankbar, daß er für den zukünftigen Bundeskanzler die administrative Seite übernahm. Er ist ein gründlicher Mensch und hatte stets den Überblick über die getroffenen Vereinbarungen.« 61
Im kleinen Kreis soll Lafontaine Steinmeier sogar die Kanzlerfähigkeit attestiert haben.62 Jedenfalls: Mit dem Ausscheiden Lafontaines hatte »der Prellbock [Hombach] seine Funktion schon erfüllt. Und so wurde […] [er], […] auch unverzüglich abgeschoben,«63 nachdem auch Steinmeiers Nimbus immer mehr drohte, Schaden zu nehmen. »Dass dann Hombach ging […] und nicht Steinmeier« sei klar gewesen, erinnert sich der damalige Landwirtschaftsminister Karl-Heinz
57 | Ebd., S. 129. 58 | Vgl. Bulmahn, Edelgard im Gespräch mit dem Autor am 20.01.2014. 59 | Butenschön, R.: Vom besten Mann zur Niete; in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 25.06.1999. 60 | Lafontaine, O.: Das Herz schlägt links, 1999, S. 128. 61 | Ebd. 62 | Vgl. z.B. o.V.: Nächtliche Korrekturen; in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 25.10.1999, S. 3. 63 | Walter, F.: Charismatiker und Effizienzen, 2009, S. 285.
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III. Politik im Hintergrund
Funke.64 Anfang Juli 1999, nur acht Monate nach dem Regierungsstart, sollte nun Steinmeier doch noch in jenes Amt berufen werden, über das viele, wohl auch er selbst, glaubten, dass er bereits zum Regierungsstart dafür prädestiniert gewesen wäre. Für die SPD bedeuteten diese ersten Regierungsmonate einen gravierenden Imageverlust und den Abgang ihres Parteivorsitzenden nebst einer sich chaotisch entwickelnden Situation im Regierungsapparat. Letztendlich ist hier der Ursprung eines tiefen Konflikts innerhalb der SPD in Bezug auf die inhaltliche Ausrichtung zu suchen, der sich über das folgende Jahrzehnt hinziehen wird. Der bewusst gegen Lafontaine installierte Hombach war zu einem Bumerang geworden. Für Steinmeier bedeutete dieser Bumerang jedoch einen weiteren Aufstieg und einen im Rückblick wichtigen Schritt für seine spätere Karriere. Organisatorisch und inhaltlich stand der designierte Kanzleramtschef zudem unmittelbar vor einer großen Herausforderung. Er war nun die uneingeschränkte Nummer zwei hinter dem Kanzler und damit unbedingter Teil der Spitze der Regierung geworden. Was für Niedersachsen bereits galt, galt fortan umso mehr: »Regieren an der Spitze ist eine im höchsten Maße gefahrgeneigte Tätigkeit. Das politische Risiko kennzeichnet nicht die Ausnahmesituation, sondern den Arbeitsalltag. Stolpersteine sind mehr zu fürchten als zu erklimmende Hänge. Angesichts von Erfolgszwang, unvollkommener Standards für Problemlösungen, Vertraulichkeit der Kommunikation, äußerstem Zeitdruck, Notwendigkeit der Vertretung usw. ist der Inhaber des Regierungsamtes darauf angewiesen, durch Vertrauen auf andere die Komplexität des Geschehens für sich bearbeitbar zu machen.« 65
In dieser Analyse über die Regierungssteuerung im Hintergrund heißt es weiter, dass der Regierungschef »zunächst durch Rückgriff auf ihm verbundene Personen versuchen« werde, »das Handlungspotential der politischen Leitung auszuweiten.«66 Einer der ihm wohl am engsten verbundenen Personen stellt dabei der Kanzleramtschef dar. Tatsächlich kann eine Regierung »sich drei oder vier schwache Minister leisten«.67 Ein Kanzleramtschef hingegen, »der seine Sache nicht versteht, wird die Regierung rasch in die Bredouille bringen.«68 Das war in diesen ersten Monaten unter Rot-Grün und Bodo Hombach 64 | Funke, Karl-Heinz im Gespräch mit dem Autor am 08.07.2013. 65 | König, K.: Verwaltete Regierung, 2002, S. 260f. 66 | Ebd. 67 | Müller, Kay; Walter, Franz: Die Chefs des Kanzleramtes. Stille Elite in der Schaltzentrale des parlamentarischen Systems; in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 3/2002, S. 474-500; hier: S. 474. 68 | Ebd.
6. Im Kanzleramt
zu sehen. Doch gab es auch im historischen Rückblick weitere Kanzleramtschefs, die ihre Sache nicht beherrschten und eben solche, die es taten. Die Süddeutsche Zeitung verglich Steinmeier, der selbst einmal Manfred Schüler als sein Vorbild bezeichnete,69 mit Friedrich Bohl, dem Kanzleramtschef von Helmut Kohl.70 Wissenschaftler zogen zudem die Tandems Globke/Adenauer und Schüler/Schmidt71 sowie Horst Ehmke/Willy Brandt und Wolfgang Schäuble/ Helmut Kohl heran.72 Die Aufgabenteilung zwischen Regierungs- und Kanzleramtschef wurde dabei in einer anderen Analyse treffend mit der Metapher eines »[k]lassische[n] Kapitän-Steuermann-Duos«73 beschrieben: »Auch im politischen Prozess besetzt ein ›Steuermann‹ die zentrale Steuerungsposition unterhalb des Regierungs-, Oppositions-, Parteichefs. Dies ist – im Regierungsbereich – der Stabschef des Weißen Hauses oder von No. 10 Downing Street, der Generalsekretär im Elysee-Palast oder der Chef des Bundeskanzleramtes in Berlin. Der Kapitän trägt die Gesamtverantwortung für die Fahrt des Schiffes, der Steuermann ist für dessen operativ-strategische Bewegung zuständig. Beide müssen eng zusammenwirken – zumal in der Politik ihre Wirkungsbereiche nicht so klar unterschieden sind wie auf See.« 74
Dem Kanzleramtschef lassen die Autoren in ihrem Vergleich eine ganz entscheidende Rolle zukommen: »Soweit die Kapitäne Erfolg hatten, verdankten sie es nicht zuletzt den hervorragenden strategisch-operativen Leistungen dieser Steuerleute. Fehlbesetzungen, wie Waldemar Schreckenberger unter Helmut Kohl, führten zum Schlingerkurs. Inadäquate Nachfolger, wie nach Horst Ehmke und Manfred Schüler, ließen auch gute Kapitäne schlecht aussehen.« 75
In all diesen Abhandlungen und Beispielen wird die enorme Bedeutung der Kanzleramtschefs deutlich. Ganz richtig heißt es dabei, dass Kanzleramtschefs »politische Alleswisser« sein müssten.76 Der Kanzleramtschef sei, so 69 | Vgl. Steinmeier, F.-W.: Mein Deutschland, 2009, S. 12. 70 | Vgl. Kister, Kurt: Auch Bodo Hombach hat verstanden; in: Süddeutsche Zeitung, 25.06.1999, S. 4. 71 | Vgl. Walter, F.: Charismatiker und Effizienzen, 2009, S. 286. 72 | Vgl. Raschke, J.; Tils, R.: Politische Strategie, 2013, S. 297. 73 | Ebd. 74 | Ebd. 75 | Ebd. 76 | Müller, K.; Walter, F.: Die Chefs des Kanzleramtes; in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 3/2002, S. 474.
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III. Politik im Hintergrund
auch SPD-Mann Thomas Steg, neben der Person des Kanzlers »wirklich der zweite Generalist in einer Bundesregierung, weil er zu allen Themenbereichen […], wirklich zu allen Themenbereichen« etwas zu sagen habe, weil ihm »alles, was in dieser Bundesregierung passiert, […] auch auf den Schreibtisch gelegt« werde.77 Er baut, wie auch der Kanzler, dabei nun zwangsläufig ein Netzwerk in verschiedenste Richtungen auf, »insbesondere […] innerhalb der Bundesregierung[,] im Verhältnis zu dem im Bundestag vertretenen Parteien und Fraktionen sowie vielen ihrer Mitglieder[,] zu den Bundesländern[,] zu bedeutsamen staatlichen Einrichtungen[,] zu gesellschaftlichen Gruppen und Einzelpersönlichkeiten«
und schließlich »zu Repräsentanten ausländischer Staaten.«78 Ganz allgemein über den Sprung an die exekutive Spitze der Bundespolitik und dabei auch die Bundesminister miteinschließend fügt Steg dieser Analyse hinzu: »Wer diesen Sprung schafft, der verfügt schon über außergewöhnliche Fähigkeiten.«79 Jedenfalls: Der Steuermann, eben der Kanzleramtschef, »muss sowohl politisch wie administrativ agieren können. Er muss sich in vielen Politikfeldern auskennen und in der Lage sein, Politikprozesse zu organisieren. Er soll taktisch, operativ und strategisch gleich gut sein.«80 Steinmeier hatte wie auch sein Nachfolger Thomas de Maizière einen enormen Vorteil etwa gegenüber dem holprig gestarteten Nach-Nachfolger Roland Pofalla. Denn Steinmeier hatte das Administrative und das Politische, wenngleich insbesondere letzteres in deutlich kleinerem Rahmen, bereits in Niedersachsen als Kanzleramtschef lernen können. Er war dort schon im Hintergrund mit Entscheidungsfülle und Verantwortung ausgestattet, wenngleich auf viel kleinerer Ebene. Nun bekam Steinmeier die Möglichkeit, darauf aufzubauen und »die Chance für einen politischen Spitzenmanager« zu nutzen, »zum zentralen Organisator strategischer Prozesse zu werden, ohne von der strategisch-praktischen Doppelrolle der Spitzenpolitiker erdrückt zu werden.«81 Das korrespondierte zwischen Steinmeier und Schröder. Denn Steinmeier wollte zu diesem Zeitpunkt noch kein Politiker sein, ihn erfüllte diese Rolle als Kanzleramtschef, die er bald als
77 | Steg, Thomas im Gespräch mit dem Autor am 16.12.2013. 78 | Busse, Volker: Bundeskanzleramt und Bundesregierung. Aufgaben. Organisation. Arbeitsweise, Heidelberg 2005 4, S. 119. 79 | Steg, Thomas im Gespräch mit dem Autor am 16.12.2013. 80 | Raschke, J.; Tils, R.: Politische Strategie, 2013, S. 298. 81 | Raschke, J.; Tils, R.: Politische Strategie, 2013, S. 298.
6. Im Kanzleramt
den »im Grenzbereich zwischen Politik und Verwaltung schönste[n] und anspruchsvollste[n] Job, den die Republik zu vergeben hat«, bezeichnete.82 Das Bundeskanzleramt selbst ist dabei mittlerweile wie ein eigenes Ministerium aufgebaut, rund 500 Personen sind dem Kanzleramtschef unterstellt. Ihr Einfluss ist auch durch die Fülle an Aufgaben, etwa die Vorbereitung von Kabinettssitzungen,83 die Mitverantwortung über den kleinen Beraterkreis des Kanzlers und mit ihrer Funktion als »letzter Filter«84 zum Kanzler groß. Sie entscheiden also, was und wer zu diesem durchgelassen wird. Das fordert Vertrauen des einen (des Kanzlers) gegenüber dem anderen (dem Kanzleramtschef), dem damit eine hohe Verantwortung zukommt. Mit seiner Machtfülle hat der Kanzleramtschef überdies neben dem Parteivorsitzenden und dem Regierungschef sowie einigen »zentrale[n] Steuerungsakteure[n] von Regierung […] und Partei«, zum Beispiel dem Generalsekretär und dem Fraktionsvorsitzenden, eine »[ü]berproportionale Chance[] am strategischen Zentrum beteiligt zu sein«.85 Hat ein solches Zentrum zunächst unter Rot-Grün nicht existiert beziehungsweise war nach der Bundestagswahl zerbrochen, wird es sich in den folgenden Jahren wieder herausbilden. Und hierbei bezieht sich die strategische Funktion des Kanzleramtschefs nicht nur auf die Regierungsarbeit selbst. Vielmehr obliegt es, soweit es der Kanzleramtschef wünscht und fördert, dem Kanzleramt, auch »jenseits der Parteien programmatische Politikkonzepte«86 zu entwickeln. Die Planungsabteilung trägt beziehungsweise kann diesem Umstand Rechnung tragen.87 Dieses An-der-Sache-Interessierte ist häufig gepaart mit der geringen Ambition einer eigenen politischen Karriere im Vordergrund, also einer parteipolitischen Karriere. Bei aller Unterschiedlichkeit hatten so schon die früheren Kanzleramtschefs Globke und Schüler gemein, dass sie beide eine solche nicht anstrebten.88 Ihre Macht war der Hintergrund, »diese Nicht-Öffentlichkeit, die um die Kanzleramtschefs die Aura der ›grauen Eminenzen‹, der Strippenzie82 | Zitiert nach Schwennicke, Christoph: Der Unersetzliche; in: Süddeutsche Zeitung, 19.07.2000, S. 3. 83 | Vgl. Korte, K.-R.; Fröhlich, M.: Politik und Regieren in Deutschland, Paderborn 2009, S. 87. 84 | Knoll, Thomas: Das Bundeskanzleramt – Funktionen und Organisation; in: Schrenk, Klemens H.; Soldner, Markus (Hg.): Analyse demokratischer Regierungssysteme, Wiesbaden 2010, S. 201-220; hier: S. 202. 85 | Raschke, J.; Tils, R.: Politische Strategie, 2013, S. 298. 86 | Rüb, Friedbert W.: Regieren, Regierungszentrale und Regierungsstile; in: Bröchler, S.; Blumenthal, J. von (Hg.): Regierungskanzleien, 2011, S. 69-102; hier: S. 89. 87 | Knoll, T.: Das Bundeskanzleramt; in: Schrenk, K.; Soldner, M. (Hg.): Analyse demokratischer Regierungssysteme, 2010, S. 203. 88 | Vgl. Niclauß, K.: Kanzlerdemokratie, 2004, S. 308.
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III. Politik im Hintergrund
her hinter den Kulissen entstehen« ließen.89 Es sind häufig Personen, denen es mehr um die Substanz geht, weniger um den kurzen Erfolg, nicht um die schnelle, bessere Pointe. Steinmeier verzichtete deshalb auch – wie seine Vorgänger Globke, der »Prototyp des Kanzleramtschef[s]«,90 und Schüler und anders als Hombach – auf einen Ministertitel. Müntefering spricht von einer »dramatisch[en]« Lage, in der Steinmeiers Aufstieg zum alleinigen Kanzleramtschef erfolgte. »Nach acht Monaten Rot-Grün schien das nahe Ende schon gekommen.«91 Er glaubt, dass ohne diese personelle Veränderung, die in der Tat zu einer vollkommenen Wandlung des Regierungsapparats führte, »wir in aller größter Gefahr gewesen« wären, »völlig zu chaotisieren. Weil er […] erst mal richtig Ordnung reingebracht [hat]; und Ruhe und Kompetenz und die Bereitschaft auch mit den Ministern zu sprechen. Sich vorzubereiten. Nicht alles von oben von der Kommandostelle aus da reinzugeben, sondern Gespräche zu organisieren.« 92
Steg erzählt fünfzehn Jahre später, dass Steinmeiers Aufstieg an die »Spitze des Kanzleramtes […] überhaupt wieder zu einer […] einigermaßen ruhigen Fahrt« geführt habe.93 Er schränkt allerdings ein, dass »natürlich […] der Bundeskanzler die alles überragende Figur in der deutschen Politik« sei, »aber auch ein Bundeskanzler ist darauf angewiesen, dass die Regierungsmaschinerie irgendwie funktioniert.«94 Das sei »ganz klar sein Verdienst gewesen«, betont er weiter, Steinmeier habe »die Regierungsarbeit, das Ineinandergreifen der verschiedenen Räder« kontrolliert und wieder hinbekommen. Von einem »Glücksfall für das Kanzleramt« spricht er.95 Diese Auflistung von Äußerungen ist beinahe beliebig verlängerbar, in vielen Gesprächen wird Ähnliches berichtet. Für Schröder war Steinmeier, das kann so bereits an dieser Stelle konstatiert werden, eine, wenn nicht die Schlüsselfigur im Funktionieren der Regierung, weil der neue Chef des Kanzleramts, wie in Niedersachsen bereits zu besichtigen war, eben das Gegenteil vom Bun-
89 | Müller, K.; Walter, F.: Die Chefs des Kanzleramtes; in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 3/2002, S. 475. 90 | Ebd. S. 480. 91 | Müntefering, Franz im Gespräch mit dem Autor am 22.10.2013. 92 | Ebd. 93 | Steg, Thomas im Gespräch mit dem Autor am 16.12.2013. 94 | Ebd. 95 | Ebd.
6. Im Kanzleramt
deskanzler war oder wie es Müntefering formuliert: »Steinmeier war einfach die unverzichtbare Entsprechung zu Gerhard Schröder und dessen Stil.«96 Auch in der Wissenschaft ist ein ähnlicher Tenor festzustellen. Schröders Aufgabe habe häufig mehr »auf dem Feld der politischen Durchsetzung als im Bereich der Politikformulierung« gelegen.97 An anderer Stelle wird analysiert, dass Steinmeier »für die kleinteilige Operationalisierung, für die bürokratischen Prozeduren der Kanzlereingebungen« zuständig gewesen sei.98 Während »Schröder meinte zu fühlen, wohin es politisch gehen sollte, […] gab [Steinmeier] dem Spontaneismus von Schröder Struktur, transferierte die Bauchentscheidungen des Kanzlers in rationale Verfahrenswege.«99 Zunächst allerdings vermochte es auch Steinmeier nicht, das Inhaltliche in eine in sich stimmige Erzählung zu gießen. So wurden die Verfahrenswege zwar deutlich verbessert, die einzelnen Reformen wurden jedoch zumindest in der ersten Legislaturperiode noch nicht als Gesamtwerk präsentiert. Ein Grund hierfür war womöglich, dass Steinmeier nicht von Beginn an ein grundlegendes Konzept erarbeiten konnte. Er übernahm schließlich erst rund acht Monate nach Regierungsstart das Amt. Vorher war er tatsächlich mehr der Administrator, während Hombach der inhaltliche Artikulierer sein sollte. Die personellen Weichen waren, wie gezeigt, nach diesen ersten Monaten gestellt und inhaltliche Aufträge an die Ministerien verteilt. Natürlich kann auch argumentiert werden, dass Steinmeier schlicht kein inhaltliches Gesamtkonzept verfolgte. Dagegen spricht allerdings, dass es in der zweiten rot-grünen Legislaturperiode zu Veränderungen genau in diesem Bereich kommen sollte und Steinmeier die Planungsabteilung direkt seinem Büro unterstellte. Ob dies einem Lernprozess Steinmeiers aus den ersten vier Regierungsjahren entsprach, kann nicht mehr beurteilt werden. Es zeigt zumindest aber den inhaltlichen Anspruch Steinmeiers, auch selbst (mit) zu gestalten. Dabei ist Schröders Rolle, der nicht »mit zu vielen Einzelheiten überfordert werden« durfte,100 als für die Politikdurchsetzung zuständige Person nicht zu unterschätzen. Als Bundeskanzler hielt er an der jeweiligen Marschrichtung fest, hatte er sie erst einmal für richtig befunden. Diese Rolle ist enorm wichtig, zeigt jedoch bereits, wie groß im Vorspiel die formulierende Aufgabe von Steinmeier war. Dies mag zu Beginn noch anders gewesen sein, wird aber immer deutlicher. Schnell zeichnete sich jedenfalls ab, dass Schröder und Steinmeier erneut ein optimales Duo darstellten, das bei aller Ähnlichkeit in Bezug auf 96 | Müntefering, Franz im Gespräch mit dem Autor am 22.10.2013. 97 | Helms, Ludger: Regierungsorganisation und politische Führung in Deutschland, Wiesbaden 2005, S. 129. 98 | Walter, F.: Charismatiker und Effizienzen, 2009, S. 287. 99 | Ebd. 100 | Kister, Kurt: Der Konsens-Kanzler; in: Süddeutsche Zeitung, 17.06.2000, S. 4.
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III. Politik im Hintergrund
ihren pragmatischen Regierungsstil sehr unterschiedlich war. Die Welt hielt einmal fest: »Die Kombination schien ideal: Der zwischen Hemdsärmeligkeit und staatsmännischem Pathos changierende Kanzler und der geräuschlos-zuverlässige Aktenmensch. Steinmeier war Schröders Mann für alle Fälle.«101 Das dürfte Steinmeier bereits damals bewusst gewesen sein. Auf die Frage eines Wissenschaftlers, ob er wie der Kanzler denke, sei er »fast erschrocken« gewesen.102 »Er müsse – so sinngemäß seine Antwort – komplementär, von der Problem- und Arbeitsebene her denken, also Lücken schließen, die ein stark intuitives, situationsgebundenes Denken des Regierungschefs lasse.«103 Hier wird der Unterschied zwischen Steinmeiers und Schröders damaligem Anspruch von Steinmeier selbst artikuliert. Schröder war ein Spieler, der nicht die großen Entwürfe hatte, schon in Niedersachsen nicht. Er war ein Politiker, unter anderem auch aus Freude am Politiker-Dasein, der, so ließ sich Steinmeier 2002 in einer Schröder-Biographie zitieren, »ein unglaubliches Gespür dafür« habe, »was geht und was nicht.«104 Danach, so erzählte er weiter, kam er ins Spiel, um »die weiteren Schritte« abzustimmen.105 Er sah seine Aufgabe in einem »anspruchsvollen Management, das ein paar unterschiedliche Arbeitsweisen erfordert«.106 Dieser unterschiedliche Anspruch wird einmal mehr auch in den unterschiedlichen Charakteren Steinmeiers und Schröders deutlich, auch wenn Schröder im Kanzleramt weitaus entspannter aufgetreten und »umgänglicher [und] gelassener«107 gewesen sein soll als noch in Niedersachsen.108 Schröder, der einst am Zaun des Kanzleramts gerüttelt hatte, war angekommen, er hatte es, salopp gesagt, allen, vor allem aber sich selbst gezeigt und bewiesen. Doch auch wenn Schröder im zwischenmenschlichen Umgang ruhiger geworden war, sich »problemlos nach Vermittlung durch das Vorzimmer […] Gesprächsmöglichkeiten ergaben – und zwar, wie betont wurde, ›jeder Zeit‹«,109 so halten 101 | Graw, Ansgar: Geräuschlose Zuverlässigkeit; in: Welt, 10.12.2005, S. 9. 102 | Raschke, J.; Tils, R.: Politische Strategie, 2013, S. 296. 103 | Ebd. 104 | Hogrefe, J.: Gerhard Schröder, 2002, S. 24. 105 | Ebd. 106 | Ebd. 107 | Ebd. 108 | So schreibt Biograph Jürgen Hogrefe 2002, dass Schröder »keine Dünkel [hatte], er trat nicht autoritär und herrisch auf. Mitarbeiter aus der Hannoveraner Zeit des Ministerpräsidenten Schröder erzählten noch anders, wussten über Launenhaftigkeiten und Unberechenbarkeiten Schröders zu berichten«; vgl. ebd. 109 | Merz, Hans-Georg: Rot-Grünes Regieren im parlamentarischen System; in: Kemp, Udo; Merz, Hans-Georg (Hg.): Kanzler und Minister 1998 – 2005. Biographisches Lexikon der deutschen Bundesregierungen, Wiesbaden 2008, S. 34-81; hier: S. 64.
6. Im Kanzleramt
sich auch andere Erzählungen über die bundespolitischen Jahre hinweg. In Kabinettssitzungen habe er Widerspruch »höchst ungnädig« entgegengenommen, heißt es in einer Analyse.110 »Schröder ist sicherlich jemand, der […] öfter emotionaler reagiert. Auch auf brausen kann. […] Und dann sicherlich auch verletzend sein kann«, erinnert sich ein damaliges Kabinettsmitglied.111 »Das ist bei Steinmeier nicht. Er ist […] in seinen Verhaltensäußerungen sehr zurückgenommen […] und immer […] erst mal sachlich und […] ist sicherlich auch jemand, der versucht, Wogen zu glätten.«112 Die Aufgabenteilung im Kanzleramt gestaltete sich wie die konsequente Fortsetzung der Arbeit in der Niedersächsischen Staatskanzlei. Schröder hatte sich schon zu seinen Juso-Zeiten wenig an Debatten beteiligt, sondern vielmehr zugehört. Umso erstaunlicher fanden es damalige Beobachter, dass er danach prägnant die für ihn wichtigen Thesen wortgewaltig verbreiten konnte.113 Nein, Schröder liebte keine Akten, liebte nicht die Detailarbeit. Steinmeier war das Gegenteil von ihm, die Aktenarbeit machte der Chef des Kanzleramts erneut mit großem Eifer, arbeitete sich in Dinge ein, kannte sich auch im Detailbereich aus. Dieser politische Beamte durchdrang die Themen und briefte Schröder. Steinmeier entschied, was und wer zum Kanzler kam. Schröder saugte die (wichtigsten) Informationen auf und konnte so in der Öffentlichkeit reüssieren. Dennoch verhielt es sich so wie zuvor in den Jahren in Niedersachsen: Der Kanzler wusste nur so viel, wie es Steinmeier zuließ, dass Schröder es wusste. Dieses Vertrauen konnte Schröder Steinmeier entgegenbringen, weil letzterer eben keine (partei-)politischen Ambitionen hegte. In seiner Rolle aber lebte Steinmeier, so äußert ein »naher und durchaus gewogener Beobachter« gegenüber der Süddeutsche Zeitung bereits im Jahr 2000, »schon in der Selbsteinschätzung einer gewissen Unentbehrlichkeit«.114 Die Zeitung überschrieb den Artikel mit »Der Unersetzliche« und fasste zusammen: »Auf viele könnte der Kanzler von heute auf morgen verzichten. Auf Steinmeier nicht ohne weiteres.«115 Auch einige rückblickende Beschreibungen der damaligen Protagonisten zielen in eine ähnliche Richtung. Schröder sei »ohne Steinmeier nicht denkbar« gewesen, erinnert sich etwa Ulla Schmidt und befindet, dass Stein110 | Ebd., S. 66. 111 | So ein Interviewpartner, der nicht genannt werden möchte, im Gespräch mit dem Autor. (Um die Anonymität zu wahren, wird für alle anonymisierten Personen eine männliche Form verwendet.) (Nr. 30) 112 | Ebd. 113 | Vgl. Micus, M.: Die ›Enkel‹ Willy Brandts. Aufstieg und Politikstil einer SPD-Generation, 2005, S. 133. 114 | Schwennicke, C.: Der Unersetzliche; in: Süddeutsche Zeitung, 19.07.2000. 115 | Ebd.
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meier »mit einer der Ideengeber« gewesen sei.116 Bulmahn schreibt Steinmeier eine »ganz wichtige Rolle« zu, »wenn es um ein ausgewogenes Urteil« gegangen sei.117 Er sei ein »Korrektiv« für Schröder gewesen.118 Schlauch spricht von »Duftmarken«, die Schröder gesetzt habe und zwar »instinktiv«, während im Folgenden »die Kärrnerarbeit oder die inhaltliche Arbeit« jemand anderes habe machen müssen.119 Auch hier wird Steinmeier indirekt eine beachtliche Rolle zugeschrieben, allerdings mehr in der Umsetzung, weniger als Ideengeber. Schröder selbst betonte allerdings schon zu jener Zeit immer wieder, »dass der Steinmeier Kanzler kann« 120 oder aber, dass es ein »Glück« sei, diesen »erstklassigen juristischen Mitarbeiter mit politischem Durchblick« zu haben.121 In einem Begleitwort für einen Sammelband über das Kanzleramt schrieb Schröder aber auch, dass das Amt die »Koordinierungsverantwortung für die Zusammenarbeit derer, die Politik gestalten«, trage.122 Er unterschied damit klar zwischen den Koordinatoren und jenen, »die Politik gestalten«, zu denen er sich selbst offenkundig zählte. Womöglich sind diese Worte der Pflicht geschuldet, in einem wissenschaftlichen Sammelband etwas Allgemeingültiges zu schreiben. Denn die Aussage steht im Widerspruch zu jener anderen Aussage, dass Steinmeier auch Kanzler könne, was deutlich mehr ist als nur eine Koordinationsaufgabe. Hierzu passt wiederum ein Zitat Schröders aus dem Jahr 1991, also noch bevor Steinmeier zu ihm gestoßen war, als der noch junge Ministerpräsident einmal gestand, dass seine »analytischen Fähigkeiten« begrenzt seien.123 Für eine nachhaltige Politik braucht es aber insbesondere auch jene analytischen Fähigkeiten und damit auch Analytiker, die die inhaltlichen Fragen anders betrachten als jene, die die politischen Stimmungen fühlen. Letzteres mag für den Wahlkampf, Wahlsiege und für punktuelle Politikgestaltung wichtig sein, für ein langfristiges Konzept, das 116 | Schmidt, Ulla im Gespräch mit dem Autor am 17.10.2013. 117 | Bulmahn, Edelgard im Gespräch mit dem Autor am 20.01.2014. 118 | Ebd. 119 | Schlauch, Rezzo im Gespräch mit dem Autor am 06.06.2013. 120 | So erinnert sich Schlauch, Rezzo im Gespräch mit dem Autor am 06.06.2013. Ähnliches bekundet Schröder in mehreren Hintergrundgesprächen mit Zeitungen. Wer seinen Job machen würde, wenn er über dem Amazonas abstürzen würde, wurde der damalige Bundeskanzler laut Stern etwa einmal von Journalisten gefragt. Er habe geantwortet: »Der Frank natürlich« und hinzugefügt, dass man es die ersten Wochen gar nicht merken würde; zitiert nach Posche, Ulrike: Der Edelweiße; in: Stern, 08.12.2006, S. 44. 121 | Zitiert nach Krause-Burger, S.: Wie Gerhard Schröder regiert, 2000, S. 109. 122 | Schröder, Gerhard: Vorwort von Bundeskanzler Gerhard Schröder; in: Busse, V.: Bundeskanzleramt und Bundesregierung, 2005, S. 5-10; hier: S. 5. 123 | Zitiert nach Niclauß, K.: Kanzlerdemokratie, 2004, S. 349.
6. Im Kanzleramt
über das Tagesgeschäft hinausgeht, sind die anderen Fähigkeiten allerdings unerlässlich. Und so ist im Rückblick nicht zu Unrecht von einem »situativen Regieren«124 die Rede, also einem Regieren, bei dem situationsabhängig relativ spontan agiert und angepasst wird. Steinmeier wurde in dieses Konzept hineingedrückt, er hat es dann zunächst nur bedingt durchbrochen, aber in übergeordnete Bahnen gelenkt. Die Weichen wurden zunächst, wie bereits erwähnt, beim Start der Regierung anders gestellt. Dieser Konstruktionsfehler ist jedoch Schröder und nicht Steinmeier anzulasten, der als Kanzleramtschef bereitgestanden hätte, aber zunächst lediglich für den administrativen Teil ausgewählt worden war. Nun, nach Steinmeiers Übernahme des Kanzleramts, von einem alleinigen Strippenzieher zu sprechen, als der er immer wieder beschrieben worden ist,125 wäre allerdings übertrieben. So sagt etwa Müntefering in Bezug auf einen Regisseur-Steinmeier/Darsteller-Schröder-Vergleich: »Schröder als Darsteller, das würd’ ich […] nicht akzeptieren. […] Schröder war mehr«.126 Schröder selbst beschreibt die Form der Zusammenarbeit als eine, »die sich auf einer freundschaftlichen Basis vollzog und schon auf einer Ebene der Gleichberechtigung insofern« beruht habe, als dass »zwar jeder wusste, wer die Nummer eins war, aber […] [das] wegen der freundschaftlichen Beziehung […] in der täglichen Arbeit überhaupt keine Rolle« gespielt habe.127 Zusammen mit den Kanzlerqualitäten, die Schröder Steinmeier immer wieder attestierte, deuten auch diese Äußerungen auf den enormen Einfluss Steinmeiers auf die rot-grünen Jahre und auf den Einfluss auf die Person Schröder hin. Eine neben Steinmeier mindestens ebenso wichtige Rolle, bezogen auf die neue Stabilität der Regierungskoalition, spielte das sich nach dem Weggang Lafontaines und Hombachs neu herauskristallisierende strategische Zentrum, das um den Bundeskanzler herum errichtet worden war und Schröder dies, kluger Weise, auch zuließ.128 Es ersetzte das nach der Bundestagswahl weggebrochene Zentrum aus Lafontaine, Schröder und Müntefering nach einer Vakuumphase von rund neun Monaten. Dadurch dass ein solches Zentrum in den ersten Monaten nach der Wahl nicht existierte, eine »strategische Grundkonzeption für den Regierungspro124 | Raschke, J.; Tils, R.: Politische Strategie, 2013, S. 507. 125 | Zum Beispiel spricht die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 2001 davon, dass Steinmeier »zu jenen ›Spin-Doctors‹« gehöre, »also Strippenziehern, die nicht sich selbst verkaufen, sondern ihren Chef.« Vgl. Inacker, Michael: Schröders System der Macht auf acht Etagen; in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 29.04.2001, S. 3. 126 | Müntefering, Franz im Gespräch mit dem Autor am 22.10.2013. 127 | Schröder, Gerhard im Gespräch mit dem Autor am 09.12.2013. 128 | Vgl. Kohlmann, S.: Franz Müntefering, 2011, S. 90f.
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zess«, überhaupt »deutliche strategische Ziele«,129 wie sie für eine erfolgreiche politische Strategie von Nöten sind, nicht vorhanden waren, ergaben sich große Herausforderungen. Die Dissonanzen im Kanzleramt führten zu geringer Koordination. Selbst wenn es Steinmeier gewollt hätte, war auch in der Folgezeit nicht an eine kohärente Strategie zu denken, geschweige denn war Zeit dafür, diese nachhaltig zu entwickeln. Nach dem Ausscheiden von Lafontaine und Hombach war es nun Steinmeiers Aufgabe, das lädierte Schiff überhaupt wieder flott zu machen, es zunächst zu stabilisieren und vor dem Untergang zu bewahren. Das war wichtiger als einen klaren Kurs einzuprogrammieren, der nur dann erfolgreich hätte sein können, wenn das Schiff fahrfähig gewesen wäre. »Manfred Schülers Stil schien mir für unsere Verhältnisse angemessen«, schreibt so Steinmeier im Rückblick: »Effizienz und Pragmatismus im Regierungsgeschäft waren die Eigenschaften, die uns anstanden nach den turbulenten ersten Monaten.«130 Pragmatisch sollte das Schiff in den Hafen gesteuert werden, in den Hafen der Wiederwahl. Erst in der zweiten Legislaturperiode kam es zu Möglichkeiten einer von Beginn an kohärenten politischen Strategieentwicklung, die Steinmeier dann auch ergriff. Bis dahin sollte es jedoch noch dauern. Für den ersten Schritt, die Stabilisierung und den neuen Pragmatismus, waren jedoch die folgenden drei Jahre rot-grüner Regierungsarbeit nötig. Neben Kanzleramtschef Steinmeier gehörte der neue SPD-Generalsekretär Franz Müntefering und immer mehr der Fraktionsvorsitzende Peter Struck,131 der vor Regierungsantritt noch von Schröder verspottet worden war,132 zu diesem neuen strategischen Zentrum. Jene drei einte, dass sie selbst keine weiter129 | Tils, Ralf: Strategisches Regieren: Möglichkeiten und Grenzen von Strategie im Regierungsprozess; in: Korte, Karl-Rudolf; Grunden, Timo (Hg.): Handbuch Regierungsforschung, Wiesbaden 2013, S. 229-239; hier: S. 233. 130 | Steinmeier, F.-W.: Mein Deutschland, 2009, S. 12. 131 | Inacker, M.: Schröders System; in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 29.04.2001. 132 | So sagte Schröder als niedersächsischer Ministerpräsident nach seiner Absetzung als wirtschaftspolitischer Sprecher über Struck: »Struck, der bei mir nicht Finanzminister werden durfte, repräsentiert das, was ich an meiner Partei kritisiere: Er organisiert ein Kartell der Mittelmäßigkeit«. (Schröder, Gerhard und Schröder, Hiltrud im Gespräch mit dem Stern; in: Gebhardt, Heiko; Hermann, Kai: »Mal was Provokantes«; in: Stern, 07.09.1995, S. 26-30; hier: S. 30). Dieser Aussage vom »Kartell des Mittelmaß« wurde zum geflügelten Wort über Schröders ganze Karriere hinweg (vgl. z.B. Casdorff, Stephan-Andreas: Stürmer und Dränger; in: Tagesspiegel, 06.04.2014, S. 8). In den Nachrufen über Peter Struck findet sie sich ebenfalls wider (vgl. z.B. Tretbar, Christian; Monath, Hans; Sirleschtov, Antje; Woratschka, Rainer: Ehrlich geradeaus; in Tagesspiegel, 20.12.2012, S. 3).
6. Im Kanzleramt
gehenden Ambitionen hegten, also nicht Bundeskanzler werden wollten oder im Verdacht standen, gegen Schröder rebellieren zu wollen. Sie waren Männer der zweiten Reihe, die ihrem Anführer dienten. Als »Dreieck der Machtsicherung« werden sie für Schröder beschrieben,133 »das ein wesentlicher Bestandteil für die Machtbasis Schröders sein wird.«134 Münteferings Rolle lief dabei auf die eines »geschäftsführenden Parteivorsitzenden« zu, wie ihn Schröder in dieser Zeit einmal bezeichnete.135 Er führte in der Partei »faktisch die Geschäfte«136 und »avancierte nicht zuletzt wegen seiner engen und reibungslosen Zusammenarbeit mit Schröder zum – informellen – geschäftsführenden Vorsitzenden der Partei.«137 Strucks »großartiges Verdienst« hingegen sei es gewesen, erinnert sich nicht nur der damalige Landwirtschaftsminister KarlHeinz Funke, »das, was Schröder und die Regierung wollten, in der Fraktion auch mehrheitsfähig zu machen. Und das konnte Struck auf brillante Art und Weise.«138 Jeder dieser drei sicherte somit den Machterhalt der SPD, der eine in die Fraktion, der andere in die die Partei und der dritte als Koordinator in die Regierung hinein. Struck und Steinmeier übernahmen hierbei immer häufiger auch Aufgaben, die eigentlich die Minister hätten übernehmen müssen, etwa wenn es um die Beilegung von Konflikten zwischen verschiedenen Ressorts ging.139 »Mit der Frage, wofür die Regierung eigentlich Minister habe, wurde Steinmeier«, so einmal die Frankfurter Allgemeine Zeitung, »in einer der vielen Koalitionsrunden […] vernommen, als sich zwei Fachminister wieder einmal nicht verständigen konnten.«140 Ähnlich erinnert sich in der Rückschau auch Steg. Er sieht allerdings ein ganz bewusstes Abladen von Konflikten auf Steinmeier. »Und wenn es ihn nicht gegeben hätte, hätten die Minister möglicherweise irgendwann ein anderes Verhalten an den Tag legen müssen. Weil sie […] ja die eigene Koalition nicht jeden Tag in Frage« hätten stellen können.141 »Aber, weil da dieser Stein133 | Vgl. Kohlmann, S.: Franz Müntefering, 2011, S. 90f. 134 | Ebd., S. 91. 135 | Zitiert nach Wuchold, Holger: Schröder zieht positive Bilanz; in: Hamburger Abendblatt, 13.07.2001; Onlineversion des Printartikels abrufbar unter: www.abendblatt.de/archiv/2001/article204903395/Schroeder-zieht-positive-Bilanz.html (zuletzt eingesehen am 14.09.2016). 136 | Hogrefe, J.: Gerhard Schröder, 2002, S. 41. 137 | Ebd. 138 | Funke, Karl-Heinz im Gespräch mit dem Autor am 08.07.2013. 139 | Vgl. Bannas, Günter: Politischer Beamter im Zentrum der Macht; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.12.2000, S. 4. 140 | Ebd. 141 | Steg, Thomas im Gespräch mit dem Autor am 16.12.2013.
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III. Politik im Hintergrund
meier war, mit seinen Fähigkeiten, konnten die Minister es auch immer bis zu einem sehr späten Zeitpunkt eskalieren lassen. Bis er sie dann ins Kanzleramt einbestellt hat.«142 Dort sei dann »meistens eine Nachtsitzung daraus« geworden und »am Ende gab es schon mal den Vorentwurf einer Einigung. Und dann wahrscheinlich zwei Tage später war es dann endlich so weit.«143 Sicherlich kann hier gefragt werden, ob Steinmeier das dann nicht hätte anders koordinieren sollen, damit nicht in einem solchem Maße Fragestellungen auf ihn zugelaufen wären. Auf eben diese Kritik wird an späterer Stelle denn auch noch eingegangen werden. Diese Runde war auch Teil jener althergebrachten, unter Schröder nur sporadisch,144 dann aber wieder regelmäßig tagenden Kanzlerlage. Besetzt mit jenen drei Akteuren des »Dreiecks der Machtsicherung« sowie einigen weiteren Akteuren, insbesondere aus der Presse- und den weiteren Abteilungen des Kanzleramts, avancierte sie schnell zum neuen »zentrale[n] Steuerelement« von Schröders Regierung.145 Der Nutzen wird retrospektiv allgemein als »beträchtlich« beschrieben.146 Sie dient »der Einordnung und Interpretation der politischen Tagessituation: Welches Thema liegt wie an? Wie brisant ist die Problematik, dass sich die Lage damit bereits beschäftigen muss? In diesem Kreis werden Entscheidungen […] vorgezeichnet.«147 Interessant bei dieser wieder festetablierten Runde: Erneut übernahm Steinmeier Führungsverantwortung, die Leitung wurde ihm von Schröder häufig überlassen.148 Und doch hatte die Lage nicht mehr die Bedeutung wie einst unter Schröders Vorgängern und unter seiner Nachfolgerin Angela Merkel.149 Sie fand nur noch dreimal wöchentlich statt, pflegte Schröder doch zumindest anfangs noch »einen
142 | Ebd. 143 | Ebd. 144 | Vgl. Langguth, G.: Machtmenschen, 2009, S. 272. 145 | Inacker, M.: Schröders System; in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 29.04.2001; vgl. auch Marx, S.: Die Legende vom Spin-Doctor, 2008, S. 110f. 146 | König, K.: Verwaltete Regierung, 2002, S. 210. 147 | Korte, Karl-Rudolf: Machtmakler im Bundeskanzleramt; in: Florack, M.; Grunden, T. (Hg.): Regierungszentralen, 2011, S. 123-143; hier: S. 131. 148 | Vgl. Langguth, G.: Machtmenschen, 2009, S. 272. 149 | Korte, K.-R.: Machtmakler; in: Florack, M.; Grunden, T. (Hg.): Regierungszentralen, 2011, S. 132; vgl. auch Walter, Franz: Zupackend, aber deutungsschwach: Der erste Kanzler in der Berliner Republik und sein Küchenkabinett; in: Berliner Republik, 2/2004, S. 88-92; Onlineversion des Printartikels abrufbar unter: www.b-republik. de/archiv/zupackend-aber-deutungsschwach-der-erste-kanzler-der-berliner-republikund-sein-kuechenkabinett (zuletzt eingesehen am 12.08.2016).
6. Im Kanzleramt
Arbeitsstil mit flachen Hierarchien und entspanntem Arbeiten auf Zuruf, was langfristige Planungen behinderte.«150 Über »das Tagestaktiken hinaus« habe es zunächst hingegen »[w]enig Strategie« gegeben,151 wird in einer Analyse Schröders »zentrale Schwäche« analysiert: »Sein Gespür half ihm, den politischen Augenblick zu meistern.«152 Hier nun war es erneut Steinmeiers Aufgabe, Struktur reinzubringen, soviel zumindest, wie es Schröder zuließ. So sei Schröder »nie nur jener inhaltsarme ›Zocker‹« gewesen, »als den ihn Gegner auf der Linken karikierten«,153 heißt es in einer Abhandlung. In der Vorarbeit eines Konzepts wird Steinmeier aber auch da eine große Rolle zugewiesen. So habe Schröder »seine politischen Grundlinien aus durchdachten machtpolitischen Analysen heraus« definiert, »für die sein Kanzleramtschef […] die zentrale Zuarbeit leistete.«154 Er arbeitete »sehr exakt«, erinnert sich etwa Kurt Beck, »auch die Themen durchdringend […], sie erst dann zu setzen«.155 In der Tat schien er die Themen so zu durchdringen, wie er es einst als Wissenschaftler gelernt hatte und bewahrte sich hier den Anspruch des Wissenschaftlers. Schröder dagegen arbeitete anders, erinnert sich Steg: »Steinmeier würde sagen, lass uns mal ein Gesamtkonzept entwickeln. Schröder aber hatte immer […] bei Plänen, Gesamtkonzepten eine gesunde Vorsicht, ob das […] überhaupt funktioniert, und ob’s nicht ’ne Nummer kleiner geht. Und erst mal probiert man was. Und so gab es dann ja in Schüben die Rentenreform […] und auch am Arbeitsmarkt wurde was gemacht. Erst dann kam so eine Situation, dass einfach […] noch mehr passieren musste.«156
»Ende ’99«, erinnert sich wiederum Müntefering, hatten die neuen Strukturen dann auch »richtig« begonnen, »Form und Qualität zu bekommen. Und da weise ich Steinmeier ein hohes Maß zu dabei«.157 Er fügt mit Blick auf das Zentrum hinzu: »[A]ber so ein bisschen, da bin ich auch eitel genug zu sagen, […] hab’ ich das in der Partei auch organisiert.«158 Steinmeiers hocheffiziente Arbeit im Verborgenen, ohne »den auf die Öffentlichkeit bedachten Politikern 150 | Marx, S.: Die Legende vom Spin-Doctor, 2008, S. 112. 151 | Meng, Richard: Gerhard Schröder. 1944; in: Sternburg, Wilhelm von (Hg.): Die deutschen Kanzler. Von Bismarck bis Merkel, Berlin 20072, S. 641-674; hier: S. 658. 152 | Ebd. 153 | Ebd. 154 | Ebd. 155 | Beck, Kurt im Gespräch mit dem Autor am 16.08.2013. 156 | Steg, Thomas im Gespräch mit dem Autor am 16.12.2013. 157 | Müntefering, Franz im Gespräch mit dem Autor am 22.10.2013. 158 | Ebd.
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III. Politik im Hintergrund
[…] die Schau«159 zu stehlen, war dabei Garant für seinen beträchtlichen Einfluss auf Schröder und die Regierung.160 Und so hieß es nur ein Jahr nach Steinmeiers Amtsantritt in der Funktion als alleinigem Chefs des Kanzleramts in der Süddeutschen Zeitung, dass sich Steinmeier nach »dem Intermezzo des publicity-süchtigen Hombach […] innerhalb eines Jahres« eine »Machtbasis ausgebaut und gesichert« habe.161 Er sei »die komplementäre Figur zum Medienkanzler, die das Konsensprinzip Schröders in Politik umsetzt«.162 Einiges wurde in den Regierungsabläufen geändert. Von der wiedereingeführten Kanzlerlage wurde bereits gesprochen. Noch in der Endphase von Hombachs Regentschaft wurden ferner feste Koalitionsrunden mit jeweils acht Beteiligten eingeführt.163 Zudem haben sich die höfischen Strukturen im Kanzleramt, die von Eifersüchteleien der Mitarbeiter geprägt gewesen sein sollen, durch die nun geklärte Machtfrage bezüglich des Kanzleramtschefs zunehmend aufgelöst.164 Auch von den flachen hierarchischen Ebenen, die es zu Beginn von Schröders Regentschaft noch gab, wurde sich unter Steinmeier nach und nach verabschiedet. »Im Gegensatz zu Hombach war Steinmeier in hohem Maße ein ›Chef-Verwalter‹, der eine deutlich geordnetere und hierarchische Organisationsstruktur durchsetzte«.165 Der Zugang zum Kanzler führte bald nur noch über ihn. In einem Strategiepapier forderte »die Leitung des Bundeskanzleramtes« bereits in einer ersten Optimierungsphase die »strikte[] Einhaltung bestehender formaler Regeln«.166 Auch in der Außendarstellung wurden Änderungen vorgenommen. »Die führenden Beamten des Kanzleramtes, etwa der Leiter der Abteilung für die Nachrichtendienste und auch der Präsident des Bundesnachrichtendienstes«,167 wurden mit wenigen Ausnahmen angewiesen, keine Interviews zu geben. Ein Mitarbeiter, der für ein Strategiepapier verantwortlich war, das an die Presse gelangte, wurde postwendend von Steinmeier entlassen.168 Auch das gehörte zu jener neuen Hierarchie, 159 | Bannas, Günter: Nicht überall; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.11.2000, S. 16. 160 | Vgl. Helms, L.: Regierungsorganisation, 2005, S. 94f. 161 | Schwennicke, C.: Der Unersetzliche; in: Süddeutsche Zeitung, 19.07.2000. 162 | Ebd. 163 | Knoll, T.: Das Bonner Bundeskanzleramt, 2004, S. 388. 164 | Vgl. Geyer, M.; Kurbjuweit, D.; Schnibben, C.: Operation Rot-Grün, 2005, S. 108. 165 | Helms, L.: Regierungsorganisation, 2005, S. 94f. 166 | Fleischer, Julia: Das Bundeskanzleramt als Protagonist einer Institutionenpolitik?; in: Bröchler, S.; Blumenthal, J. von (Hg.): Regierungskanzleien, 2011, S. 134-151; hier: S. 142. 167 | Kister, K.: Der Konsens-Kanzler; in: Süddeutsche Zeitung, 17.06.2000. 168 | Vgl. Deupmann, Ulrich; Neubacher, Alexander: »Da muss was kommen«; in: Spiegel, 23.07.2001, S. 72-75; hier: S. 75.
6. Im Kanzleramt
die menschlich anständig, aber auch als durchaus streng, eben hierarchisch, beschrieben worden ist. Zu diesen neuen Strukturen gehörte auch das im Fortgang eingeführte, sogenannte Frühwarnsystem, dessen Urheberschaft Steinmeier für sich beanspruchte.169 Neben dem Dreieck der Machtsicherung gehörten diesem Gremium der erste Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, Wilhelm Schmidt, an.170 Es war vor allem ein Koordinationsorgan, dessen Fäden im Kanzleramt zusammenliefen. Der Prozess der Reorganisation beanspruchte für das Kanzleramt einige Zeit. Nachdem die Absicht, ein solches Frühwarnsystem zu installieren, im September 1999 verkündet worden war, befasste sich eine ganze Abteilung mit der Etablierung dieses im Kanzleramt. In einem Briefentwurf für den Chef des Bundeskanzleramts an »die beamteten Staatssekretärinnen und Staatssekretäre der Ressorts – persönlich« hieß es, datiert auf den 23. Dezember 1999, schließlich unter der Überschrift: »Betr. Vorhabenplanung«:171 »Sehr geehrte Frau Kollegin, sehr geehrter Herr Kollege, anbei übersende ich die Anfang November d.J. im Ergebnis einer Ressortabfrage erstellte Übersicht politisch wichtiger Vorhaben für das Jahr 2000. Ich bitte um Präzisierung und ggf. Ergänzung der für eine Frühkoordinierung relevanten Vorhabendaten, insbesondere hinsichtlich der Problembeschreibung, entsprechend der dargestellten Erfassungsstruktur. Damit die Koordinierungsarbeiten möglichst kurzfristig aufgenommen werden können, wäre ich für eine Zusendung Ihres überarbeiteten Teils der Übersicht bis spätestens zum 10. Januar 2000 dankbar. Ihren Beitrag bitte ich, unmittelbar der zuständigen Abteilung 5 (Referat 504) im Kanzleramt zuzuleiten. Mit freundlichen Grüßen« (Hervorhebung im Brief).172
Der Entwurf, der im Aktenbestand des Büros des Parteivorsitzenden Schröder zu finden ist,173 war das Ergebnis eines längeren Prozesses. Dieser war einem Schreiben des Referats 504, über den Abteilungsleiter Wolfgang Nowak an den 169 | So spricht Steinmeier in seiner Autobiographie von »Frühwarnsystemen […], die ich entwickelt hatte« und die zu wirken begannen; Steinmeier, F.-W.: Mein Deutschland, 2009, S. 84; vgl. auch Korte, K., Fröhlich, M.: Politik und Regieren in Deutschland, 2009, S. 253. 170 | Vgl. Korte, K., Fröhlich, M.: Politik und Regieren in Deutschland, 2009 3, S. 253. 171 | Vgl. Aktenbestand Büro Parteivorsitzender Gerhard Schröder (im Archiv für soziale Demokratie): 2/PVEF000438. 172 | Vgl. ebd. 173 | Vgl. ebd.
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III. Politik im Hintergrund
Chef des Bundeskanzleramts, also Steinmeier, das am 22. Dezember 1999 versandt worden war, angehängt. In dem Brief wurde, neben weiteren Punkten, dezidiert auf dieses Frühwarnsystem eingegangen. So heißt es unter Punkt 1: • »Implementierung eines Früh-Koordinierungssystems zur Abstimmung politisch wichtiger Rechtssetzungsvorhaben und sonstiger Vorhaben von politischer Bedeutung mit den Ressorts unter Wahrung ihrer Ressortkompetenz (Ressortprinzip). • Aufbau eines solchen ›Frühwarnsystems‹ auf der Ebene der beamteten Staatssekretäre ausgehend von der von StM Bury initiierten ›Übersicht wichtiger Vorhaben für das Jahr 2000‹ (Stand: 8.11.1999) • Vorstellung des Frühwarnsystems in der nächsten St. Besprechung verbunden mit der Bitte, zum Einstieg in dieses Verfahren die Vorhabendaten in der Übersicht ggf. zu ergänzen und zu präzisieren. • Mit beiliegendem Entwurf eines Schreibens sollten die Staatssekretäre um Beiträge zur Aktualisierung der ›Übersicht wichtiger Vorhaben für das Jahr 2000‹ gebeten werden. Abteilung 5 wird die aktualisierten Ressortbeiträge nach Zugang mit den Fachabteilungen im Hause abstimmen.«174
Aus diesem Brief geht hervor, dass die ersten umfangreichen Koordinierungsarbeiten erst mit Beginn des Jahres 2000 – also fast zur Mitte der Legislaturperiode – aufgenommen werden konnten. Mit der Vorbereitung, die sich von Mitte bis Ende des Jahres 1999 erstreckte, waren offensichtlich die führenden Mitarbeiter des Kanzleramts befasst,175 was die Bedeutung unterstrich. Noch einmal wird ersichtlich, dass das Hauptaugenmerk des Kanzleramtschefs zu diesem verspäteten Zeitpunkt nur noch auf der Koordination der Einzelmaßnahmen liegen konnte und nicht, zwei Jahre vor der nächsten Bundestagswahl, auf der (Neu-)Entwicklung eines Gesamtkonzepts. Fortan galt mit diesem Frühwarnsystem, wie dem besagtem Papier zu entnehmen ist, »einen intensiveren Austausch zwischen Regierungszentrale und Fachministerien« zu pflegen.176 Mehrere damalige Minister berichteten in der Konsequenz, dass sie sich »mit ihren Vorlagen gegen Kabinettskollegen nicht durchzusetzen vermochten bzw. – durch die ›aktive Vorfeldkommunikation Steinmeiers‹ vermittelte – erheblich abgeänderte Entscheidungen hinnehmen mussten« (Hervorhebung M.H.).177 174 | Vgl. ebd. 175 | Neben Abteilungsleiter Wolfgang Nowak müssen hier Steinmeier als Auftraggeber und Staatsminister Hans-Martin Bury genannt werden. 176 | Aktenbestand Büro Parteivorsitzender Gerhard Schröder (im Archiv für soziale Demokratie): 2/PVEF000438. 177 | Merz, H.-G.: Rot-Grünes Regieren; in: Kemp, U.; Merz, H.-G. (Hg.): Kanzler und Minister 1998 – 2005, 2008, S. 64.
6. Im Kanzleramt
Das Lob für diese Arbeit ist im Rückblick allgegenwärtig. »[O]hne ihn wäre vieles konfliktbehafteter abgelaufen«, betont Schröder selbst.178 Riester spricht von einer dreiteiligen Kombination, die »für mich immer faszinierend« gewesen sei: Steinmeier habe »die Fähigkeit, dass er ein sehr sicheres Gespür […] dafür [hat], welche politischen Problemstellungen hochkommen.«179 Gleichzeitig habe er »den Intellekt und die Kreativität, Lösungen zu entwickeln. Wie man dem gerecht werden kann. Und das verbindet sich noch mit einer menschlichen Art des Auftretens, in Konflikten zu vermitteln und Menschen für Dinge zu bewegen«.180 Auch hier wieder werden dieses Menschliche und die hohe Politisierung Steinmeiers beschrieben. Für den späteren Politiker Steinmeier wichtig: Riester sieht mit diesen drei Fähigkeiten – schnelle Problemidentifikation, Intellekt und Kreativität, Lösungen zu entwickeln sowie eine menschlich-freundliche Art – bei Steinmeier einen »besondere[n] Typus von Politiker«, der selten sei.181 Mit diesen Eigenschaften wuchs »mit wachsender Dauer seiner Amtszeit« auch Steinmeiers Einfluss im Koalitionsmanagement.182 Denn nicht nur innerparteilich, sondern gerade auch mit den Grünen hatte es anfangs Abstimmungsschwierigkeiten gegeben. Steinmeier schreibt im Rückblick in Bezug auf das Frühwarnsystem und den kleinen Koalitionspartner: »Das setzt Vertrauen der handelnden Personen voraus. Vertrauen in die Fairness des Verhandlungsprozesses, die Gewissheit, dass es nicht gesetzt Sieger in den Verhandlungen gibt. Zentral ist aber in Koalitionsregierungen: Großherzigkeit gegenüber dem kleineren Partner zu zeigen, ihm die Chancen zu lassen, sich mit seinen Themen zu präsentieren.«183
Diese Sätze, elf Jahre nach dem Beginn der ersten rot-grünen Bundesregierung veröffentlicht, spiegeln keineswegs eine durch das eigene Selbst in der Erinnerung beschönigte Sichtweise wider, wie man vermuten könnte. Das positive Verhältnis von SPD und Grünen wurde bereits zum damaligen Zeitpunkt in Printerzeugnissen so beschrieben. Die grüne Fraktionsführung sei von Steinmeier, berichtete die Frankfurter Allgemeine Zeitung etwa einmal, »– in der Regel – mit Informationen auch personalpolitischer Art bevorzugt bedient« worden.184 So zeigte diese Aussage Steinmeiers Auffassung von Kon178 | Schröder, Gerhard im Gespräch mit dem Autor am 09.12.2013. 179 | Riester, Walter im Gespräch mit dem Autor am 16.05.2013. 180 | Ebd. 181 | Ebd. 182 | Helms, L.: Regierungsorganisation, 2005, S. 94f. 183 | Steinmeier, F.-W.: Mein Deutschland, 2009, S. 84. 184 | Bannas, G.: Politischer Beamter; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.12.2000.
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III. Politik im Hintergrund
fliktlösung. Hierzu gehörte das Schaffen von Vertrauen, das offene Verhandeln, wenngleich aus einer klaren Position heraus, bei dem der Verhandlungspartner, so würde Steinmeier als späterer Politiker sagen, die Nase im Gesicht behält.185 Das funktionierte unter Rot-Grün bald recht gut. Hierbei bildete sich schnell eine Achse zwischen Schröder und Steinmeier sowie Schlauch, weniger allerdings zum grünen Vizekanzler Joschka Fischer heraus.186 Schlauch selbst erinnert sich, dass dies schon allein auf rationalen Erwägungen beruhte. Man müsse sich das »eher [so] vorstellen, dass Fischer und Schröder […] ja nie gegeneinander laufen [durften], nie«, was sie »hinter den Kulissen [teilweise] sind, ja.«187 So sei Fischer »in der Innenpolitik […] nur eingeschaltet worden, wenn es […] absolut ins Stocken geraten ist.«188 Dieses Bild deckt sich mit den Berichten der damaligen Zeit. In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung stand zu lesen, dass »der Schwabe« Schlauch immer dann habe antreten müssen, »wenn sich das Verhältnis des Genußmenschen Schröder zum mehr und mehr als Asket auftretenden Fischer verkantet hat.«189 Von einer »schwierige[n] Chemie« der beiden Alphatiere berichteten damalige Koalitionäre.190 »Bei solchen Egomanen wie dem Schröder und dem Fischer«, beschreibt Schlauch die damalige Situation, »brauchen sie […] Zwischenglieder, da brauchen sie Übersetzer […], die das Vertrauen dieser […] jenigen haben.«191 Hier sei Steinmeier ins Spiel gekommen, der »in der Lage« gewesen sei, »durch sein Auftreten, auch durch seine jeweilige absolute Durchdringung der Inhalte, […] dieses Vertrauen der beiden Seiten zu gewinnen, zu halten und auszubauen.«192 Steinmeier wird dabei erneut als tief durchdringender, inhaltsreicher Charakter beschrieben, eben als jener ehrliche Makler, der er als Kanzleramtschef wie schon als Staatskanzleichef sein musste. Gegenüber Riester soll Fischer, der laut dem früheren Arbeitsminister »ein außerordentlich gutes Verhältnis zu Steinmeier gehabt« haben soll,193 »diese strategische
185 | Vgl. z.B. Neukirch, Ralf: Das Ende der Ostpolitik; in: Spiegel, 07.06.2014, S. 2324; hier: S. 23. 186 | Vgl. Inacker, M.: Schröders System; in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 29.04.2001. 187 | Schlauch, Rezzo im Gespräch mit dem Autor am 06.06.2013. 188 | Ebd. 189 | Inacker, M.: Schröders System; in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 29.04.2001. 190 | Zitiert nach ebd. 191 | Schlauch, Rezzo im Gespräch mit dem Autor am 06.06.2013. 192 | Ebd. 193 | Riester, Walter im Gespräch mit dem Autor am 16.05.2013.
6. Im Kanzleramt
Vermittlungsfunktion […] außerordentlich positiv erwähnt haben.«194 Riester selbst beschreibt sie als »sehr effektiv und sehr ruhig und von außen kaum sichtbar«.195 Und auch wenn Schröder rückblickend betont, dass »meine Politik […] meine Handschrift« getragen habe, hebt er gleichzeitig nicht nur die Rolle des »Teams« im Allgemeinen hervor, sondern auch die Steinmeiers im Besonderen, ohne den »insbesondere die Zusammenarbeit mit dem Koalitionspartner« »sicher […] weniger konfliktfrei gelaufen« wäre.196 »Dass das reibungslos funktionierte, war nicht zuletzt auch […] auf seine Arbeit zurückzuführen.«197 Schlauch kam im Zuge der Konfliktlagen zwischen den Protagonisten und seinem guten Verhältnis zu Steinmeier für die grüne Seite eine Sonderrolle zu, sodass er, wie Steinmeier 2001 formulierte, für den Erfolg der Koalition »eine große Rolle« gespielt habe.198 Er sieht in Steinmeiers Vermittlerfunktion zwischen grünen und roten Interessen insbesondere in der ersten Legislaturperiode einen wichtigen Stabilitätspfeiler: »Wenn Sie Steinmeier aus der Koalitionsarchitektur weggenommen hätten […], wäre die […], überspitzt ausgedrückt, zusammengebrochen.«199 Tatsächlich hatten die Grünen in der niedersächsischen Vergangenheit nicht nur gute Erfahrungen mit Schröder gemacht. Teilweise sind sie mehr oder weniger offen »vorgeführt« worden,200 Schröder betonte in dieser Zeit als Landesfürst einmal, dass er dem kleinen Partner zeigen wolle, »daß mit 5,5 Prozent der Wählerstimmen die Bäume nicht in den Himmel wachsen«.201 Der spätere Koch-Kellner-Vergleich Schröders wurde zudem bereits häufig erwähnt.202 Steinmeier schaffte es nun, auch den Grünen über Schlauch ein Gefühl der Wertschätzung zu geben. Ein »rot-grüner Wischiwaschi-Typ« sei Steinmeier deshalb aber nicht gewesen, erinnert sich Schlauch, sondern ein »knallharter Sozialdemokrat«.203 So seien Verhandlungen mit Steinmeier keineswegs »einfach« gewesen: »Da musste man sich dann schon auch die Zähne ausbeißen […]. Das war kein
194 | Ebd. 195 | Ebd. 196 | Schröder, Gerhard im Gespräch mit dem Autor am 09.12.2013. 197 | Ebd. 198 | Zitiert nach Inacker, M.: Schröders System; in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 29.04.2001. 199 | Schlauch, Rezzo im Gespräch mit dem Autor am 06.06.2013. 200 | Vgl. Kohlmann, S.: Gerhard Schröder; in: Nentwig, T.; Schulz, F.; Walter, F.; Werwath, C. (Hg.): Die Ministerpräsidenten, 2012, S. 187ff. 201 | Zitiert nach Herres, V.; Waller, K.: Der Weg nach oben, 1998, S. 94. 202 | Vgl. z.B. Beste, Ralf; Deupmann, Ulrich; Steingart, Gabor: Koch gegen Kellner; in: Spiegel, 25.03.2002, S. 26-28. 203 | Schlauch, Rezzo im Gespräch mit dem Autor am 06.06.2013.
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III. Politik im Hintergrund
Schmusetyp […] Er war auch ein knallharter Vertreter seines Kanzlers, klar, aber flexibel.«204 Die Frankfurter Allgemeine Zeitung fasste Steinmeiers Art der Verhandlung einmal mit den Worten zusammen: »Er konnte Härte zeigen, ohne verletzend zu wirken […]. Selbst in den von Argwohn und Häme geprägten Fluren der Politik wird nichts Schlechtes über ihn erzählt«.205 Einmal mehr wird sichtbar, wie unterschiedlich bei ähnlichen Vorstellungen mit seinem Gegenüber verhandelt werden kann. Steinmeier trat bereits zu diesem Zeitpunkt sehr diplomatisch auf, vertrat dabei allerdings klare politische Standpunkte, die er häufig auch nicht aufgab. So wurde, berichtete die Süddeutsche Zeitung, »[i]n Schröders engster Umgebung, nicht arm an Unterwürfigen, […] Steinmeier die größte innere Autonomie zugesprochen.«206 Bulmahn bekräftigt im Rückblick: »Er war ein wichtiger Berater Schröders, dessen Wort zählte.«207 Mit Steinmeier als Kanzleramtschef kam es – über die Grünen hinaus – zu einer vollkommen neuen Stimmung im gesamten Kabinett, erinnert sich Müntefering: »Steinmeiers Rolle war dann […] höchst hilfreich und höchst segensreich für die Ordnung«.208 Auch für die Partei habe das gegolten, wo man fortan wusste, »was da lief. […] Früher war man sich nicht klar, hat das eigentlich jemand im Griff? Das war dann ganz […] schnell offensichtlich.«209 Steinmeier habe »einfach Vertrauen gehabt […] – bei der Partei und bei all denen, die agieren mussten.«210 Und so geriet im weiteren Verlauf nicht nur das Kanzleramt, wie es in einer Analyse heißt, »in weniger turbulentes Fahrwasser«,211 sondern die Regierung insgesamt.212 Steinmeier präsentierte sich in dieser Zeit erneut als »stets gut vorbereitet«, (Frankfurter Allgemeine Zeitung213) als »gnadenloser Arbeiter« (Schlauch214) und steuerte »bis an den Rand der Erschöpfung« (Steg215) die Regierungsgeschäfte. Immer wieder habe er, so Steg,
204 | Ebd. 205 | Bannas, G.: Nicht überall; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.11.2000. 206 | Schwennicke, C.: Der Unersetzliche; in: Süddeutsche Zeitung, 19.07.2000. 207 | Bulmahn, Edelgard im Gespräch mit dem Autor am 20.01.2014. 208 | Müntefering, Franz im Gespräch mit dem Autor am 22.10.2013. 209 | Ebd. 210 | Ebd. 211 | Jesse, Eckhard: Hombach, Bodo; in: Kemp, U.; Merz, H.-G. (Hg.): Kanzler und Minister 1998-2005, 2008, S. 218-221; hier: S. 220. 212 | Vgl. ebd. 213 | Bannas, G.: Nicht überall; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.11.2000. 214 | So nicht nur Rezzo Schlauch im Gespräch mit dem Autor am 06.06.2013. 215 | Steg, Thomas im Gespräch mit dem Autor am 16.12.2013.
6. Im Kanzleramt
versucht, »zu verhandeln und unterschiedliche Akteure wieder zusammenzubringen.«216 Steg beschreibt hierbei auch die Kultur der Alphatiere, wenn er sagt, dass es »gerade zwischen ’98 und 2002 sehr, sehr gestandene Persönlichkeiten, auch begnadete Selbstdarsteller, […] auch eitel und erfahren genug«, gegeben habe, die sich »nicht einfach auf einen Kompromiss verständigen wollten.«217 Hier habe es »viel Vermittlungsleistungen und die Fähigkeit, Brücken zu bauen, gebraucht.«218 All das konnte Steinmeier, der von vielen Akteuren rückblickend als »Ausnahmepersönlichkeit« beschrieben worden ist.219 Sein Erfolgsrezept fasste die Financial Times Deutschland einmal detailreich mit den Worten zusammen: »Im Kanzleramt sieht er seine Rolle darin, anderen den Weg ins Rampenlicht zu ermöglichen. […] Er sei dafür da, die Infrastruktur zu gewährleisten, in der die Entscheidungen der Regierung gedeihen können. ›Dazu gehört auch, Fairness in die notwendigen und gewünschten Interessenkonflikte der Ministerien zu bringen.‹ Auf deutsch: Für Kompromisse sorgen, bevor der Ärger zu groß wird. Dafür hat er ein System entwickelt, das möglichst nichts dem Zufall überlässt. Steinmeier geht in Sitzungen des geschäftsführenden Vorstandes der SPD-Bundestagsfraktion, um Konflikte mit der Fraktion vorab zu klären und die Gesetzgebungsarbeit abzustimmen. Er sitzt nicht nur jeden Morgen beim Kanzler, sondern regelmäßig auch mit Fraktionschef Peter Struck und SPD-Generalsekretär Franz Müntefering zusammen.« 220
Die Regierung Schröder war nun ganz auf das Kanzleramt und ihren Chef zugeschnitten. Steinmeier war ein Bollwerk vor dem Kanzler geworden, was sowohl in einigen journalistischen als auch einigen wissenschaftlichen Abhandlungen zu Kritik führte. Von einem »Ausbau und Erhalt des Kanzleramts als Machtzentrale« ist so in einer Analyse die Rede, die »auch erste kritische Stimmen in Bezug auf die Anhäufung« von Steinmeiers Aufgaben laut werden ließen.221 Weiter heißt es, dass man die »Straffung der Arbeit des Kanzleramts
216 | Ebd. 217 | Ebd. 218 | Ebd. 219 | Vgl. z.B. ebd.; vgl. außerdem Riester, Walter im Gespräch mit dem Autor am 16.05.2013; vgl. auch Funke, Karl-Heinz im Gespräch mit dem Autor am 08.07.2013; vgl. ebenfalls: Schröder, Gerhard im Gespräch mit dem Autor am 09.12.2013. 220 | Ehrlich, Peter: Stiller Regisseur des Systems Schröder; in: Financial Times Deutschland, 05.06.2002, S. 10. 221 | Kaspari, Nicole: Gerhard Schröder – Political Leadership im Spannungsfeld zwischen Machtstreben und politischer Verantwortung, Frankfurt a.M. 2008, S. 263.
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III. Politik im Hintergrund
durch Schröder im Sinne einer Machtzentralisierung« sehen könne.222 Geäußert wird die Vermutung, dass man »gegebenenfalls auch persönlichen Ehrgeiz und Karrierestreben Steinmeiers« erkennen könne, »was ihn nach dem Regierungswechsel im Jahr 2005 bis in das Amt des Außenministers in der Großen Koalition [.] aufsteigen lässt.«223 Diese These muss allerdings aufgrund der hinlänglich skizzierten Arbeitsweise verneint werden. Steinmeier war nicht bereit, Politiker werden zu wollen, gleichwohl war er sich seiner Unentbehrlichkeit bewusst. Ehrgeizig mag er gewesen sein, aber eben kein Politiker. Dass der »Kanzleramtschef […] durch seine unauffällige Art und sein diplomatisches Geschick ein Machtimperium errichtet« hatte, »das nahezu ausschließlich auf die Person des Kanzlers und ihn selbst zugeschnitten war und für abweichende oder differenzierte Sichtweisen wenig Freiraum ließ«,224 stimmte jedoch zumindest für den ersten Teil der Aussage. Ja, das Kanzleramt war (wieder) ein Machtfaktor geworden. Das wurde es dadurch, dass hier die Konflikte zusammenliefen und Steinmeier es verstand, diese von dort aus zu lösen. Persönliche Ambitionen mag es gegeben haben, entscheidend war in diesem Falle aber allein Steinmeiers Arbeit, die – wie bereits als Wissenschaftler in Gießen und als Staatskanzleichef in Niedersachsen – herausragend war. Mehr noch: Jene (späte) Fokussierung auf das Kanzleramt war der Schlüssel für den (späten) Erfolg der ersten Schröder-Regierung. Den Eindruck, dass er »alles im Regierungsgeschäft an sich ziehen« wolle, vermittelte Steinmeier allerdings schon damals einem Autor der Frankfurter Allgemeinen Zeitung nicht. »Schon aus Selbstschutz möchte er das nicht.«225 Gerne, berichtet die Zeitung, »erinnert[e] er an die Geschäftsordnung der Bundesregierung, in der das zweiseitige Einvernehmen zwischen beteiligten Fachministern Vorrang habe.«226 Schließlich bleibt die Kritik an der Einengung der Person des Kanzlers auf zu wenige Berater. Hier heißt es in einer anderen Analyse: »Die Kapazität des Regierungschefs für persönliche Kontakte im Haus ist äußerst begrenzt. […] Zuwendungen nach Art persönlicher Beziehungen absorbieren Arbeitskraft. Sie können Befangenheit herbeiführen, und zwar beim Regierungschef, indem er zuviel auf bestimmte Personen hört, bei den Beratern, indem sie sich auf die Perzeption ihres Chefs in einer Weise festlegen, die für ihre Leitungsfunktion in einem Regierungsappa-
222 | Ebd. 223 | Ebd. 224 | Ebd. 225 | Bannas, G.: Politischer Beamter; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.12.2000. 226 | Ebd.
6. Im Kanzleramt rat dysfunktional sind. Sie können die Offenheit für weitere Informationen und Interessen, die vom Verwaltungsapparat vermittelt werden, verlieren« (Hervorhebung K.K.). 227
Dem kann nur entgegnet werden: Zwar war das Kanzleramt bald auf Steinmeier zugeschnitten, das war allerdings von Schröder so gewollt. Weiter heißt es allerdings: »Ein sich zu sehr in den Vordergrund spielender oder querdenkender Mitarbeitertypus« habe »keine lange Verweildauer im Umfeld des Kanzlers und seines Amtsleiters« gehabt.228 Untermauert wird diese These mit der Aufzählung verschiedener Personen, die aus dem Kanzleramt entlassen worden seien – nur werden die Gründe nicht beleuchtet. Das Verhältnis »zwischen mir und [Wolfgang] Nowak«, sagt Steinmeier etwa in der Retrospektive, sei »deshalb schwierig« gewesen, »weil Nowak sich immer als Hombach-Mann begriffen […] und […] auch wenig Wertschätzung gegenüber dem täglichen Handwerk in der Regierung hatte.«229 Über Michael Steiner sprachen bei all seinen Qualitäten Mitarbeiter des Kanzleramts gegenüber der Süddeutschen Zeitung von einer »wandelnde[n] Zeitbombe«, weil er Schröder zu schnell in Entscheidungen hinein gehetzt habe.230 Bei näherer Betrachtung der aufgeführten Beispiele fällt also auf, dass jene Personen zwar klug, aber schon damals umstritten waren und sie sich teils selbst, so war es bei Michael Steiner, ein Bein stellten,231 was der neuen Ruhe des Kanzleramts widersprach. Über eine spekulative Annahme geht die These also nicht hinaus. Was in Bezug auf diese Machtzentrierung allerdings kritisiert werden kann, ist, dass Steinmeier möglicherweise zu viel selbst machte, nicht immer die Gabe besaß zu delegieren. Walter Riester kann sich das gut bei Steinmeier vorstellen, weil er diesen Vorwurf auch selbst »zurecht massiv« bekommen habe: »Ich weiß ja, wie so was ist, der ist ja nicht egozentrisch oder von sich eingenommen, das glaub’ ich wirklich nicht. Aber er fühlt: Jetzt muss gehandelt werden. Und er hat den
227 | König, K.: Das Zentrum der Regierung; in: Bröchler, S.; Blumenthal, J. von (Hg.): Regierungskanzleien, 2011, S. 62. 228 | Kaspari, N.: Gerhard Schröder, 2008, S. 264. 229 | Steinmeier, Frank-Walter im zweiten Gespräch mit dem Autor am 06.10.2014. 230 | Zitiert nach Kornelius, Stefan: Der König des Dementis hält wieder Hof; in: Süddeutsche Zeitung, 15.04.2000, S. 5. 231 | Vgl. o.V.: Kanzlerberater Michael Steiner tritt zurück; in: Spiegel Online, 20.11.2001; abrufbar unter: www.spiegel.de/politik/deutschland/kaviar-affaere-kanz lerberater-michael-steiner-tritt-zurueck-a-168672.html (zuletzt eingesehen am 10.09. 2016).
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III. Politik im Hintergrund Eindruck, er hat keine bessere Lösung von anderen und erwartet die auch nicht und macht’s dann.« 232
So sehr Steinmeier also arbeiten und sich einarbeiten (und Politik mitgestalten) wollte, das Delegieren schien ihm bisweilen schwerzufallen. Hier hätte er womöglich mehr Zutrauen auch in das Arbeiten anderer haben müssen, zumindest auf bringen können. So mutmaßte zum Beispiel die Frankfurter Allgemeine Zeitung zur Mitte der ersten rot-grünen Legislaturperiode auf Bundesebene, dass »die Fülle der Aufgaben, die Steinmeier überlassen wurden, dazu geführt haben« könnten, »daß nicht mehr alles ›rund‹ läuft.«233 »[W]enn er einen Makel hat, dann den, daß er zu viele Dinge in die eigenen Hände nehmen will und nicht delegieren kann«, hielt die Süddeutsche Zeitung bereits 1998 fest.234 In der Tat: Bei Steinmeier lief alles zusammen, Ressortminister suchten teils bewusst keine Lösungen im Voraus. Steinmeier ließ das allerdings zu, sah sich als Lösungssuchenden, womöglich sogar ein Stück weit aus altruistischen Motiven, vielleicht auch aus Gründen des Ehrgeizes oder schlicht aus dem Gefühl und des Anspruchs der Pflichterfüllung, jedenfalls nicht aus Gründen der Politikerwerdung. Überdies stellt sich die Frage, ob man das kritisieren kann. Steinmeier mag einen beträchtlichen Teil seines Berufslebens der beruflichen Arbeit hingegeben haben und seine damals noch junge Tochter mag einmal festgestellt haben, dass ihr Papa im Büro wohne.235 Doch all das ist eben privat, eine private Entscheidung. Für diese Biographie ist insofern wichtig, dass Steinmeier auch dank dieses unermüdlichen Arbeitseinsatzes zum Garanten dieser Regierung wurde – und später zu einem daraus resultierend inhaltsreichen, sehr tiefgängigen, Themen durchdringenden Politiker. Dennoch wurde gerade auch in Bezug auf Steinmeiers Amtsantritt immer wieder kritisiert, dass nun die Stelle des »Chefideologen der ›Neuen Mitte‹«,236 also die des Ideengebers, vakant sei.237 Ein neuer Pragmatismus kehrte in den Regierungsalltag ein, der wiederum für einige Analysten die Frage aufwarf, 232 | Riester, Walter im Gespräch mit dem Autor am 16.05.2013. 233 | Bannas, G.: Nicht überall; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.11.2000. 234 | Schwennicke, C.: Im Profil; in: Süddeutsche Zeitung, 06.10.1998. 235 | Vgl. Schütz, Hans-Peter: Der Kanzler-Flüsterer; in: Stern, 08.07.2004, S. 50-54; hier: S. 54 236 | Grüter, Michael: SPD hofft und bangt – der Chef ist bald wieder im Ring; in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 17.08.1999, S. 3. 237 | Niclauß fragte sich zum Beispiel, ob »in der Nähe des Kanzlers die ›Ideengeber‹ ausreichend vertreten sind. Mit dem Ausscheiden Hombachs«, konstatierte er, »fiel nicht nur seine Stelle des Kanzleramtsministers, sondern auch seine programmatische Funktion weg.« (Niclauß, K.: Kanzlerdemokratie, 2004, S. 363.)
6. Im Kanzleramt
ob nicht beide, Steinmeier und Schröder, »zu sehr in dieser Grundhaltung« übereinstimmten.238 Während sie beide »exzellente Zuhörer« gewesen wären, hätten sie »mit Theoretikern […] wenig Geduld.«239 Weiter heißt es: »Menschen, die in langen Strecken dachten, gar das Reizwort ›Visionen‹ in den Mund nahmen, gingen ihnen auf die Nerven. Sie hielten das für unpolitisch, weltfremd, versponnen.«240 Zunächst festzustellen ist: Steinmeier selbst betont im Rückblick, dass zunächst ein solider Pragmatismus hermusste, um überhaupt wieder, wie in diesem Kapitel gezeigt, das Schiff zu stabilisieren, bevor es wieder Kurs aufnehmen konnte. Ansonsten aber muss konstatiert werden, dass insbesondere Steinmeier keine allgemeine Theoriefeindlichkeit nachgesagt werden kann. Gerade in seiner Studienzeit beschäftigte er sich eingehend mit politischen Theorien und Theoretikern. Nun aber galt es, nicht mehr theoretisch zu planen, sondern eine Regierung inmitten der Legislaturperiode auf Kurs zu bringen. So muss hier die Gegenfrage gestellt werden, ob Hombachs Rolle tatsächlich positiv war, oder ob nicht seine Ideen auch konzept- und planlos waren und lediglich der medialen Aufmerksamkeitsgewinnung dienten. Ein übergeordnetes Dach, eine Erzählung, die allerdings auch Hombach nicht lieferte, wäre vermutlich auch in dieser ersten Legislaturperiode besser gewesen, doch war es dafür bei Steinmeiers Amtsantritt zu spät. Der Kanzler und Hombach, nicht jedoch Steinmeier, hätten zu Beginn der Legislaturperiode die Weichen anders stellen können. Nunmehr galt es mit dem Vorhandenen bis zum Ende der Wahlperiode zu arbeiten. Die Arbeit im Hintergrund (und das bereits seit seiner Zeit in Niedersachsen) dürfte Steinmeier allerdings eine bestimmte Weise von Politik nahegebracht haben. Da, wo er arbeitete, galt es, machbare Lösungen zu finden. Es ist, wie bereits erwähnt, ein Irrglaube, jenen Pragmatismus mit unpolitisch zu verwechseln – es ist ein Ansatz, der auf das Machbare konzentriert ist. So war Steinmeier weder »ideologisch, noch linksdogmatisch«,241 wie Walter Riester betont. Vielmehr war er pragmatisch. Das dieser Pragmatismus allerdings frei von Ideen und Wünschen für die Zukunft war, das stimmt zumindest für Steinmeier nicht. Schröder mag einer gewesen sein, der intuitiv und bisweilen spielerisch seine Schlüsse zog. Steinmeier hingegen sah sich wie einst als Student sicherlich pragmatisch Akten an, machte daraus jedoch eine Analyse der Lage und zog dann seine Schlüsse.
238 | Walter, F.: Charismatiker und Effizienzen, 2009, S. 288. 239 | Ebd. 240 | Ebd. 241 | Riester, Walter im Gespräch mit dem Autor am 16.05.2013.
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III. Politik im Hintergrund
Wie sehr – das zeigt ein Aufsatz aus jener Zeit, wie im folgenden Kapitel zu sehen ist, in dem auch auf die inhaltlichen Akzente und Einflüsse Steinmeiers in dieser ersten rot-grünen Legislaturperiode eingegangen wird.
6.2 K onsenspolitik 2001 veröffentlichte Steinmeier im Rahmen eines Sammelbandes eine Beschreibung seines Führungsstils. Diese Zeilen zeugten von einer klaren politischen und auch parteipolitischen Haltung. Den Aufsatz mit dem Titel »Konsens und Führung«242 leitete er mit einer Abrechnung mit der Vorgängerregierung ein: »Die Regierung Kohl schien es darauf angelegt zu haben, die Zweifel an der Effizienz und Reformfähigkeit des deutschen politischen Systems zu bestätigen und zu verstärken. Deutschland wirkte, zumal in den Augen des Auslands, befallen von einer merkwürdigen Starre, die das Land unfähig machte, auf Prozesse jenseits des in Legislaturperioden gerasterten politischen Alltags – Globalisierung, demographische Entwicklung, Veränderungen der Arbeitswelt – eine tragfähige Antwort zu geben.« 243
Eine solche klare Kritik an der Kohl-Regierung und Abgrenzung zur CDU war nach seiner Universitätskarriere und seit seinem Amtsantritt bei Gerhard Schröder in Niedersachsen nicht mehr öffentlich von Steinmeier zu vernehmen gewesen. Eindeutig kritisierte der Kanzleramtschef, dass es jener Vorgängerregierung nicht gelungen sei, »eine tragfähige Antwort« auf die Fragen jener Zeit zu geben, nämlich der Globalisierung, dem demographischen Wandel und den Wandel in der Arbeitswelt.244 Er beschrieb das als »paradoxe Herausforderung« – entstanden durch »[d]ie rasante und technologische und gesellschaftliche Entwicklung«.245 So werde »von der Politik Beschleunigung und Entschleunigung zugleich« erwartet.246 Sie müsse »rasch auf veränderte Umstände reagieren – und gleichzeitig langfristig und nachhaltig angelegt sein.«247 Im Zuge dieser Aussage könnte die folgende auch als Kritik am bisherigen Regierungsstil verstanden werden. Für das Langfristige und eine »moderne[] 242 | Steinmeier, F.-W.: Konsens und Führung; in: Müntefering, F.; Machnig, M. (Hg.): Sicherheit im Wandel, 2001, S. 263-272. 243 | Ebd., S. 263. 244 | Ebd. 245 | Ebd., S. 264. 246 | Ebd. 247 | Ebd.
6. Im Kanzleramt
Politik« plädierend konstatierte er nämlich, dass »[j]ede Form eines kurzatmigen Aktivismus« die Bürger verunsichern und die Wirtschaft, die für ihre Investitionsentscheidungen auf klare Vorgaben und Planungssicherheit angewiesen« sei, verschrecken würde.248 Eine solche Kurzatmigkeit wurde der Regierung Schröder im Verlauf der ersten Legislaturperiode immer wieder vorgeworfen und das übergeordnete Dach vermochte schließlich, wie beschrieben, auch Steinmeier zunächst nicht zu entwickeln. In diesem Aufsatz aber zeigt sich, wie Steinmeier wirklich dachte, dass womöglich genau das sein Anliegen war, nämlich jene Langfristigkeit in die Politik, auch in die Regierung zu bringen, die er als Kanzleramtschef mitverantwortete. Auch der pragmatische Gedanke einer neuen, wirtschaftsnahen SPD wurde einmal mehr deutlich. Denn diese Sätze lesen sich auch als Plädoyer gegen eine wirtschaftsfeindliche Politik. Gleichzeitig appellierte Steinmeier an die Gestaltungskraft von Politik und Regierung. So müsse Politik »in der Lage sein, zwischen flüchtigen ›Hypes‹ und gesellschaftlichen Grundtendenzen zu unterscheiden. Das eine ruft nach politischer Gestaltung, das andere erfordert souveräne Gelassenheit.«249 In diesem Zusammenhang ging er auf die Schwierigkeiten der aktuellen Entscheidungsfindung ein und kritisierte den »ritualisierte[n] Weg über Expertenrunden, Enquete- und Programmkommissionen, Parteitagsbeschlüsse und langwierige Gesetzgebungsvorhaben«.250 Diese Wege könnten »sich schnell als zu lang erweisen, wenn es darum geht, Chancen zu ergreifen und sich im internationalen Wettbewerb aussichtsreich zu positionieren.«251 Als Herausforderung skizzierte er, »bei den großen Reformprojekten […] geeignete Wege« zu finden, »um öffentliche Unterstützung zu organisieren und die notwendigen gesetzgeberischen Schritte so vorzubereiten, dass aus Widerständen keine Blockaden werden.«252 Wie in Steinmeiers früheren wissenschaftlichen Aufsätzen folgte auf die Analyse ein Lösungsvorschlag, den er »innovativen Konsens« taufte.253 So hieß es: »Diskussionen in Partei und Gesellschaft, Gespräche mit betroffenen Unternehmen und Verbänden, Abstimmungen mit den europäischen Partnern und legislative Arbeit müssen dazu in neuer Weise miteinander verknüpft werden.«254 Steinmeier verwies unter anderem auf das Bündnis für Arbeit oder die Einwanderungskommission. Das seien »Beispiele für eine neue, ergebnis248 | Ebd., S. 269. 249 | Ebd. 250 | Ebd., S. 264f. 251 | Ebd. 252 | Ebd. 253 | Ebd., S. 265. 254 | Ebd.
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III. Politik im Hintergrund
orientierte Dialogkultur zwischen Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und kritischer Öffentlichkeit.«255 Die Idee dabei skizzierte er mit den Worten: »Sie sind reform- und ergebnisorientiert und zielen auf einen ›innovativen Konsens‹ jenseits der traditionellen ideologischen Gräben.«256 Es war ein unverblümtes Plädoyer für eine neue (Partei-)Politik fernab der ideologischen Gräben. In Steinmeiers Beschreibung war aber zudem die Skizze einer neuen Kohorte an Politikern zu sehen. Es schrieb einer der Post-68er, in der die konservativen Parteien zwar weiterhin politischer Gegner, aber nicht mehr universelles Feindbild waren. Nüchterner und pragmatischer erscheint die Herangehensweise. Angela Merkel agierte wenige Jahre später ähnlich. Dass diese Generation allerdings unpolitisch sei, wies Steinmeier zurück. Er verteidigte vielmehr die moderierende Rolle des Bundeskanzlers257 und betonte, dass auch »die Suche nach Konsens […] Visionen, Vorgaben und politische Führungsstärke« brauche.258 So unterstrich er, dass die Regierung immer »mit klaren Vorstellungen« in die Konsensrunden gegangen sei.259 Er plädierte für etwas, das ihn von SPD-Größen wie Helmut Schmidt und seinem Chef Schröder abgrenzte. Er forderte Visionen ein, einen Begriff, den die beiden stets reflexartig ablehnten. Die Skizze eines Dialogs als Form der Entscheidungsfindung war nur ein Teil jenes Essays. Der Kanzleramtschef ging deutlich weiter und stellte die Frage, ob »[i]n der modernen, hochkomplexen Gesellschaft […] Regierung und Parlament nicht mehr a priori über das notwendige Wissen, geschweige denn einen Wissensvorsprung [verfügen], um sachadäquate Entscheidungen zu treffen«.260 Er griff frontal die bisherigen Kompetenzen von Parlament und Regierung an, skizzierte einen Blick nach vorne hin zu einer Politik, die den veränderten Anforderungen einer globalisierten Welt gerecht werde, die eine »schwierige Neubestimmung des Verhältnisses von Politik und Gesellschaft« miteinbeziehe.261 Ohne diesen neuen Dialog, äußerte er sich »überzeugt«, hätte »sich unsere Reformpolitik […] schnell in den traditionellen Blockaden und Selbstblockaden deutscher Politik verfangen«.262 Erneut kritisierte er die parteipolitischen Scheuklappen. Das machte ihn für die traditionelle SPD zunächst schwer greif bar, dafür aber umso inhaltstärker und unabhängiger in seinem Ansatz, 255 | Ebd. 256 | Ebd. 257 | Vgl. ebd., S. 268. 258 | Ebd., S. 269. 259 | Ebd. 260 | Ebd., S. 267. 261 | Ebd. 262 | Ebd., S. 265.
6. Im Kanzleramt
Politik neu, mindestens aber pragmatischer und am Machbaren orientiert zu gestalten. Das Perspektivische wurde zum Ende jenes Aufsatzes deutlich unterstrichen mit den Worten: »Will man die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und das Wohlstandsniveau unseres Landes nicht gefährden, muss man schon heute mit einem wohlüberlegten Politik-Mix entgegensteuern«.263 Einige (vermeintliche) Belege aus seiner bisherigen Arbeit lieferte er sogleich mit: »In einigen Wochen wird die Zuwanderungskommission ihren Bericht vorlegen. Das Bündnis für Arbeit plant eine Qualifizierungsoffensive, die besonderes auch auf ältere Arbeitnehmer zielt. Mit verbesserten Teilzeitangeboten und erweiterten Betreuungsmöglichkeiten für Kinder entwickeln wir eine Familienpolitik, die Frauen nicht länger zumutet, sich zwischen Kinderwunsch und beruflicher Verwirklichung entscheiden zu müssen.« 264
Die Aussagen in diesem Essay bestätigen nicht nur das Bild eines hochpolitischen Menschen, der nicht nur verwaltet, sondern sich genau fragt, was sich politisch verändern sollte. Sie brechen mit althergebrachten, ritualisierten Gepflogenheiten der Parteipolitik, mit Traditionen, die das Parlament für sich beanspruchte, und damit mit der politischen Entscheidungsfindung insgesamt.265 Der Aufsatz dürfte daher von einigen Protagonisten als Bestätigung einer Kritik verstanden worden sein, die sich unter dem Stichwort »Deparlamentarisierung« zusammenfassen lässt.266 Steinmeier schien diese Debatte damals erwartet zu haben, wiegelte ab, dass es »nicht um die Schaffung von parallelen Entscheidungsstrukturen« gehe, »sondern um temporär wirksame Inst-
263 | Ebd., S. 271. 264 | Ebd. 265 | Wobei auch hierüber die Meinungen auseinandergehen. Bundestagspräsident Norbert Lammert meint zwar, »dass es […] schwerlich zu bestreiten [ist], dass die öffentliche Debatte über […] Entwicklungen in Wirtschaft und Gesellschaft weder ausschließlich noch zuerst im Deutschen Bundestag stattfindet.« Er regt allerdings zu der Nachfrage an, »ob dies zum einen notwendig und zum anderen je anders gewesen ist.«; Lammert, Norbert: Relevanz und Reputation des Parlaments: Der Bundestag; in: Schrenk, K.; Soldner, M. (Hg.): Analyse demokratischer Regierungssysteme, 2010, S. 257-262, hier: S. 258. 266 | Rudzio, Wolfgang: Informelles Regieren. Zum Koalitionsmanagement in deutschen und österreichischen Regierungen, Wiesbaden 2005, S. 262; vgl. auch Nachtwey, O.: Marktsozialdemokratie, 2009, S. 274.
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rumente, die die politische Willensbildung beschleunigen und auf eine möglichst breite gesellschaftliche Grundlage stellen sollen«.267 Insbesondere die Grünen,268 aber auch Sozialdemokraten269 kritisierten die neue Art der Konsenspolitik, dessen dazugehörige Konsensrunden Steinmeier mit den Worten verteidigte, dass sie »der Verständigung über den Sachverhalt, der Formulierung von Zielvorstellungen und der Einigung auf bestimmte Lösungskorridore« dienten.270 Rückblickend räumte er ein, dass es durchaus Probleme gegeben habe auch in seinem eigenen Apparat, wo es »weniger einfach« gewesen sei, »als ich annahm. Beharrung und Konkurrenzangst waren in der Ministerialverwaltung verbreiteter als erwartet«.271 Das Urteil über diese Runden fällt dabei auch im wissenschaftlichen Diskurs unterschiedlich aus. Die einen rechnen dem Bundeskanzleramt und damit Steinmeier an, dass dieser »versuchte […] die bestehenden institutionellen Grundlagen zur Beteiligung externer Akteure in exekutiven Entscheidungsprozessen zu verändern«.272 Andere wiederum bestätigen den Schluss, dass dies einer »Deparlamentarisierung«273 gleichkomme. »Die Aufgabe der Kommissionen« sei jedoch »mehr als Information und Entwicklung von Optionen: sie sollen vielmehr in hochbrisanten Fragen eine Lösung, eine politische Entscheidung vorlegen.«274 Die Folge davon sei, dass »[d]ie Steuerungsaufgabe von Regierung und Parlamentsmehrheit […] damit partiell verlagert, der Vorschlag aber mit der Weihe wissenschaftlichen Exper267 | Steinmeier, F.-W.: Konsens und Führung; in: Müntefering, F.; Machnig, M. (Hg.): Sicherheit im Wandel, 2001, S. 266. 268 | Antje Vollmer etwa, zum damaligen Zeitpunkt grüne Vizepräsidentin im Bundestag, monierte, dass das »Parlament deutlich schwächer geworden« sei und sprach von einem Weg hin zu einer »kleine[n] Philosophenrepublik«. Einer der beschriebenen personellen Stützpfeiler dieser ersten rot-grünen Legislaturperiode, Rezzo Schlauch, kritisierte zudem, dass die SPD bei vielen Themen nicht klar Stellung beziehe, »sondern […] sich ihre Position von Kommissionen erarbeiten« habe lassen »und sich dann herauspickt, was ihr gepasst hat.« (Jeweils zitiert nach Uwer, Helmut: Gerhard Schröder – Herr der »Räterepublik«; in: FAZ.net, 23.05.2001; abrufbar unter: www.faz.net/aktuell/poli tik/analyse-gerhard-schroeder-herr-der-raeterepublik-123266.html [zuletzt eingesehen am 29.07.2016]). 269 | Vgl. ebd. 270 | Steinmeier, F.-W.: Konsens und Führung; in: Müntefering, F.; Machnig, M. (Hg.): Sicherheit im Wandel, 2001, S. 266. 271 | Steinmeier, F.-W.: Mein Deutschland, 2009, S. 85f. 272 | Fleischer, J.: Das Bundeskanzleramt; in: Bröchler, S.; Blumenthal, J. von (Hg.): Regierungskanzleien, 2011, S. 143. 273 | Vgl. Rudzio, W.: Informelles Regieren, 2005, S. 262. 274 | Ebd.
6. Im Kanzleramt
tentums bzw. Konsenses (durch Berücksichtigung aller Interessen) versehen« werde.275 »[E]ine hohe politische und mediale Durchschlagskraft« werde damit erzeugt. Für das Parlament allerdings bedeute das, dass dieses »anscheinend nur noch ›abnicken‹« solle »und vor ›vollendete Tatsachen‹ gestellt« werde.276 Der Sinn wird in einer »Entlastung der Regierung« beschrieben, die »in Deckung bleiben, die Reaktionen auf Kommissionen abwarten könne«.277 Währenddessen würden »ihre Gegenspieler in der Opposition […] entwaffnet, ebenso Widerspenstige in den eigenen Reihen (Traditions-SPD).«278 Andererseits ist von einer logischen Konsequenz die Rede. So steige die »Reichweite der Entscheidungswirkungen« (zum Beispiel »Klimaänderungen«),279 zudem komme es zu einer »Zunahme und Beschleunigung der nationalen ›Folgen‹ von transatlantischen Dynamiken.«280 Damit einhergehend wird eine »Erosion der programmatischen und organisationellen Entscheidungsgrundlagen und Abnahme programmatischer Gewissheiten« beobachtet.281 Zudem wird eine zunehmende Komplexität – hinsichtlich der Sachebene, der sozialen Ebene sowie der zeitlichen Dimension282 – innerhalb der Entscheidungen festgestellt. All das führe zu einer »Entparlamentarisierung«, einer »Verexekutisierung«, »beschleunigende[r] politische[r] Praktiken« sowie einem damit einhergehenden möglichen »Wandel von Regierungsstilen«.283 Folgt man diesen Argumentationen, scheint dieser Prozess in Zeiten der Globalisierung und der damit einhergehenden Komplexitätssteigerung unumkehrbar. So könnte Steinmeier hier eine Entwicklung ganz rational, fernab von politischen und parlamentarischen Scheuklappen Rechnung getragen haben. Steinmeier selbst geht sieben Jahre später auf diese damalige Debatte ein. »Wenn man schon das schillernde Wort ›Konsens‹ zur Kennzeichnung des neuen Regierungsstils verwenden will«, schreibt er (und vergisst dabei, dass eben er selbst dieses Wort in seinem Aufsatz von 2001 geprägt hat), dann müsse es jedenfalls klar definiert werden: »Konsens, wie wir ihn auffassten, stand weder für die Vermeidung des politischen Meinungsstreits noch für den die Öffentlichkeit scheuenden ›Kungelkonsens‹, sondern für 275 | Ebd. 276 | Ebd. 277 | Ebd. 278 | Ebd. 279 | Rüb, F.: Regieren, Regierungszentrale und Regierungsstile; in: Bröchler, S.; Blumenthal, J. von (Hg.): Regierungskanzleien, 2011, S. 77. 280 | Ebd. 281 | Ebd. 282 | Vgl. ebd. 283 | Ebd.
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III. Politik im Hintergrund das Ergebnis einer offen und fair ausgetragenen Auseinandersetzung um Standpunkte und Interessen.« 284
Allein »um einen solchen ›innovativen Konsens‹« sei es gegangen, »besser: um De-Blockierung von Politik zur Wiedergewinnung von Gestaltungsräumen.«285 Zusammengefasst verteidigte Steinmeier diese damals vergleichsweise neue Form der Politik. Tatsächlich gibt es mittlerweile zwar nicht mehr die Form der Konsensrunden, was zeigt, dass Politik auch anders geht. Die Aussage des zweiten Teils des Aufsatzes, nämlich, dass die Regierung mehr Moderator sei, bestätigte sich jedoch insbesondere in Angela Merkels Regierungsstil.286 Eine Zwangsläufigkeit daraus abzuleiten, dass dies zukünftig immer so sei, wäre allerdings zu weitreichend. Denn gerade diese schnellen globalen Veränderungen, wie sie einst als Begründung für neue Ansätze von Politik herangezogen worden sind, erfordern immer wieder auch andere Herangehensweisen. Die Überlegungen trafen auch die klassische (sozialdemokratische) Parteiarbeit im Mark. Wenn Steinmeier rückblickend von seinem Ansinnen schrieb, »den Regierungsapparat zu öffnen für den Wissens- und Erfahrungsschatz der Gesellschaft«,287 galt dies auch für die Parteiarbeit. So formulierte er: »Bei Zukunftstechnologien mit Auswirkungen auf viele Lebensbereiche, wie Gentechnik oder Internet, sind die Zeitfenster für die Entwicklung von rechtlichen und institutionellen Rahmenbedingungen knapp bemessen, ist das notwendige Wissen in den politischen Apparaten kaum ausreichend vorhanden. Der ritualisierte Weg über Expertenrunden, Programmkommissionen, über Parteitagsbeschlüsse und langwierige Gesetzgebungsverfahren kann sich als zu lang erweisen.« 288
Indirekt kritisierte er damit auch Parteitagsbeschlüsse, wie sie bei einer Partei wie der SPD in ganz besonderer Weise, mehr etwa als bei der CDU, bis heute en vogue sind. Es wird nochmals offenbar: Steinmeier dachte aus einer exekutiven Sichtweise heraus, der sich auch die Parteiarbeit unterzuordnen habe. Und Schröder ließ dies zu. Generalsekretär Müntefering kommunizierte zwar in die Partei, setzte selbst aber keine allzu großen Akzente. Er war mehr Dolmetscher für die Ideen der Regierungszentrale und des Kanzlers. Das Gleiche galt für Fraktionschef Struck, der es dabei glänzend verstand, die Fraktion auf 284 | Steinmeier, F.-W.: Mein Deutschland, 2009, S. 86. 285 | Ebd. 286 | Vgl. z.B. Murswieck, Axel: Angela Merkel als Regierungschefin und Kanzlerkandidatin; in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 51/2009, S. 26-32; hier: S. 29. 287 | Steinmeier, F.-W.: Mein Deutschland, 2009, S. 85f. 288 | Ebd.
6. Im Kanzleramt
Regierungskurs zu halten. So kam es jedoch, dass die Regierungszentrale insbesondere unter Schröder »zur Steuerung der Regierungspartei eingesetzt […] und die programmatischen Positionen nicht mehr von der/den Regierungspartei/en formuliert […] und dann in Regierungspolitik umgesetzt« wurden.289 Es war vielmehr »umgekehrt«, die »von der Kernexekutive für erforderlich gehaltenen Notwendigkeiten« wurden »den Parteien aufgedrängt, ja zum Teil aufgezwängt«.290 Steinmeier nahm dabei nicht nur mittelbar (durch seinen exekutiv-gestalterischen Anspruch) Einfluss auf die Parteipolitik, sondern auch unmittelbar. Bei wichtigen Redemanuskripten des Kanzlers für Parteitage gehörte er »zu denen, die den Text [lasen], kommentier[t]en und Änderungen [vorschlugen]«.291 Ähnlich erinnern sich zwei ehemalige Protagonisten. »Da hat er schon [eine] Rolle gespielt«, sagt etwa Kurt Beck, der zum damaligen Zeitpunkt Parteivize war.292 Bei den Themen, die »im Präsidium oder […] im engsten Führungskreis besprochen worden« sind, sei »schon häufig gesagt worden, lass den Frank das mal vorab klären. […] Ob […] die Idee überhaupt geht […]. Lass das mal vorab klären, ob wir da nicht auf […] ’nem Holzweg sind.«293 Steinmeier sei »so gegenwärtig« gewesen, »ohne, dass er dabei war«.294 Rudolf Scharping, zu jener Zeit noch Verteidigungsminister, fügt retrospektiv außerdem hinzu, dass er als damaliger Parteivize und als Vorsitzender der Antragskommission »darauf achten« habe müssen, »den Bundeskanzler in seiner Rolle als Parteivorsitzender so gut wie möglich den Rücken frei[zu]halten«.295 Insofern sei dann »auch über Parteifragen mit Steinmeier zu reden«296 gewesen, insbesondere auch vor Parteitagen, »nach dem Motto: Jetzt nicht Beschlüsse, die die Politik der Bundesregierung und des Bundeskanzlers konterkarieren oder allzu sehr einengen oder so strikte Vorgaben machen, dass am Ende daraus weder in einer Koalition noch in internationalen Zusammenhängen oder entlang bestimmter strategischer Linien der Bundeskanzler gewisser Maßen zum Vollzugsautomaten von Parteitagsbeschlüssen degradiert wird.« 297 289 | Rüb, F.: Regieren, Regierungszentrale und Regierungsstile; in: Bröchler, S.; Blumenthal, J. von (Hg.): Regierungskanzleien, 2011, S. 89. 290 | Ebd. 291 | Ehrlich, P.: Stiller Regisseur des Systems Schröder; in: Financial Times Deutschland, 05.06.2002. 292 | Beck, Kurt im Gespräch mit dem Autor am 16.08.2013. 293 | Ebd. 294 | Ebd. 295 | Scharping, Rudolf im Gespräch mit dem Autor am 20.09.2013. 296 | Ebd. 297 | Ebd.
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III. Politik im Hintergrund
Beide, Beck und Scharping, sehen darin nichts Ungewöhnliches, sie kritisieren diese Entwicklung nicht. Eine Regierungspartei ordnet sich tatsächlich stets ein Stück weit der Regierung unter. Gleichwohl wurde eben, das wird deutlich, in dieser Regierung sehr exekutiv und in ihrem ganzen Anspruch zwar sozialdemokratisch, aber eben ein Stück weit entkoppelt von der Partei gedacht. Bei alledem zeigt sich, wie einflussreich Steinmeier aus dem (exekutiven) Hintergrund auf Schröder war. Wie in Niedersachsen achteten beide nur bedingt auf den (zumindest symbolischen) Einbezug der SPD-Basis. Wie in Niedersachsen war Steinmeier auch im Bund schnell zum Frühwarnsystem Schröders avanciert. Es stellt sich zumindest die Frage, ob er als solcher nicht, neben den anderen Akteuren des Dreiecks der Machtsicherung, die Parteiarbeit als langfristiges Element exekutiver Regierungsfähigkeit hätte fördern müssen. Im Rückblick muss also von einer gewissen Abkopplung der Regierung von der Partei schon in dieser ersten Legislaturperiode gesprochen werden – obwohl Steinmeier, wie er rückblickend betont, immer auf einen Wandlungsprozess in der SPD gehofft hatte: »Das Vertrauen in die innere Reformfähigkeit von Institutionen, auch der SPD, habe ich nie verloren. Allerdings auch nicht die Einsicht in die Notwendigkeit des Kompromisses«.298 Auf exekutiver Seite und mit jenen Konzepten konnten verschiedene solcher Kompromisse und Lösungen gefunden und inhaltliche Akzente gesetzt werden. Jene »schmalen Handlungskorridore zu finden«, heißt es in einer Analyse, »die wenigen Gelegenheitsfenster zu öffnen, die sich der Politik in komplexen Gesellschaften noch boten«299 – das sei es gewesen, was Steinmeier als seine Aufgabe ansah, was ihn herausforderte. Er »fädelt[e]«, heißt es an anderer Stelle, »ein, legt[e] die administrativen Hebel um und ebnet[e] zerklüftetes Gelände im Umfeld der Regierung«.300 Seinen großen Einfluss bestätigt Steinmeier selbst, wenn er schreibt, dass »sich nie die Frage« gestellt habe, »ob ich seine [Schröders, Anm. S.K.] Politik mittragen konnte.«301 Schließlich habe er »ja schon im Anlauf und beim Entwurf alle Hände voll damit zu tun« gehabt.302 Er unterstrich: »Je prägender dann die eigene Handschrift in dem gemeinsamen Politikentwurf« gewesen sei, »desto stärker das Gefühl: Das ist unsere Politik.«303
298 | Steinmeier, F.-W.: Mein Deutschland, 2009, S. 77. 299 | Walter, F.: Charismatiker und Effizienzen, 2009, S. 288. 300 | Hogrefe, J.: Gerhard Schröder, 2002, S. 25. 301 | Steinmeier, F.-W.: Mein Deutschland, 2009, S. 68. 302 | Ebd. 303 | Ebd.
6. Im Kanzleramt
Zwei Schwerpunkte, die sich mit entsprechenden Analysen decken,304 benennt er, »bei denen wir um die Modernisierung Deutschlands kämpfen mussten«, nämlich den »Atomausstieg und das Bündnis für Arbeit«.305 Politiker berichten in der Erinnerung Ähnliches. Schlauch betont etwa in Bezug auf die Energiewende, dass Steinmeier »immer ein sehr gutes Gefühl dafür« gehabt habe, »dass man sozusagen den anderen Partner, also uns, dann auch an bestimmten Punkten nicht überfordern darf, wobei aber anderseits auch […], also Stichwort Atomkonsens und […] viele andere Geschichten, er schon sehr dezidiert auch im Interesse der […] Sache und im Interesse der Einigung auch nicht gewankt ist«. 306
Zypries betont Steinmeiers inhaltlich wichtige Rolle in diesem Konflikt: »[D]er Atomausstieg, den hat Steinmeier im Wesentlichen verhandelt. Natürlich war Schröder der Chef, aber Steinmeier hat da schon ganz viel verhandelt.«307 Funke wirft allerdings ein, dass berücksichtigt werden müsse, dass der »Atomkonsens […] in den Koalitionsverhandlungen schon ’ne große Rolle« gespielt habe »und von daher […] die Vorgabe eigentlich eindeutig« gewesen sei.308 Weil dem nur zuzustimmen ist, würde es einer Glorifizierung gleichkommen, wenn man Steinmeier als den Erfinder des Atomausstiegs bezeichnen würde. Seine Rolle bestand vielmehr darin, die Energiewende möglichst reibungslos mit einzuleiten. In der Rekonstruktion schien das anfangs keineswegs einfach, die Verhandlungspartner präsentierten sich uneinig, zwei Anläufe zunächst unter Umweltminister Jürgen Trittin und dann unter Wirtschaftsminister Werner Müller scheiterten.309 Durch das Chaos im Kanzleramt konnte dieses hierbei zunächst ebenfalls nur bedingt lenkend eingreifen.310 Dennoch wurde schon damals geschrieben, dass Steinmeier bereits hier, als Schröder um die Jahreswende 1998/1999 im Urlaub war, als »eine Art Trouble-
304 | In Bezug auf die Energiepolitik vgl. z.B. Baring, Arnulf; Schöllgen, Gregor: Kanzler, Krisen, Koalitionen. Von Konrad Adenauer bis Angela Merkel, München 2006, S. 336; vgl. auch Schöllgen, G.: Gerhard Schröder, 2015, S. 399ff. 305 | Steinmeier, F.-W.: Mein Deutschland, 2009, S. 87. 306 | Schlauch, Rezzo im Gespräch mit dem Autor am 06.06.2013. 307 | Zypries, Brigitte im Gespräch mit dem Autor am 24.02.2014. 308 | Funke, Karl-Heinz im Gespräch mit dem Autor am 08.07.2013. 309 | vgl. Schöllgen, G.: Gerhard Schröder, 2015, S. 399ff; vgl. auch ebd., S. 511. 310 | Vgl. z.B. Knaup, Horand; Leinemann, Jürgen; Munsberg, Hendrik; Palmer, Hartmut; Schmidt-Klingenberg, Michael; Schumacher, Hajo; Spörl, Gerhard: Chaos mit Kanzler; in: Spiegel, 01.02.1999, S. 22-35.
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III. Politik im Hintergrund
shooter« eingesprungen sei, »damit die Gespräche nicht platzen, noch bevor sie begonnen hatten.«311 Im Fortgang blieben die Verhandlungen schwierig. Wahlweise kommentierte die Presse, dass »[d]ie Manager der Atomindustrie […] Grund zum Frohlocken«312 hätten oder aber dass sie »die Sommerpause gelassen abwarten« könnten.313 Die Konfliktlinie verlief bisweilen nämlich nicht zwischen Atomindustrie und Regierung, sondern zwischen den verschiedenen Lagern in der Regierung selbst. Unter anderem bestand Uneinigkeit in der Frage der Restlaufzeiten, in der auch bei einem geplanten Spitzengespräch mit Schröder, Müller, Steinmeier »sowie den Spitzen von SPD- und Grünen Fraktion […] keinerlei Ergebnisse« erwartet worden sind.314 Die Atomindustrie zeigte sich zudem zunächst erwartbar widerspenstig. An die Konfliktlinien erinnerte sich Steinmeier in seiner Autobiographie mit den Worten: »Umstritten war unter den Koalitionären nicht die Notwendigkeit des Ausstiegs, diese Haltung teilten wir. Der Weg dahin, seine Länge und die Bedingungen, unter denen er beschritten werden sollte – all das war jedoch offen, und die Positionen hierzu lagen oft genug im Streit miteinander. Auf der sozialdemokratischen Seite war klar, dass die Beachtung der Verfassung und Eigentumsrechten sowie die Vermeidung unverantwortlicher Entschädigungsrisiken Leitplanken des Wegs sein mussten. Andere waren bereit, größere Entschädigungsrisiken in Kauf zu nehmen.« 315
Schröder habe ihn nach den gescheiterten Anläufen Trittins und Müllers dann bald, betonte er seine Rolle, gebeten, »es mit Verhandlungen noch einmal zu versuchen.«316 Als Leiter der Arbeitsgruppe sieht Steinmeier rückblickend somit eine Schlüsselrolle bei sich selbst, wie die weiteren Ausführungen vermuten lassen. So sei die Atomindustrie durch eine juristische Feinheit zurück an den Verhandlungstisch geholt worden.317 311 | Berger, M.: Schröders Mann mit der Lizenz zum Verhandeln; in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 05.02.1999. 312 | Knaup, H.; Leinemann, J.; Munsberg, H.; Palmer, H.; Schmidt-Klingenberg, M.; Schumacher, H.; Spörl, G.: Chaos mit Kanzler; in: Spiegel, 01.02.1999, S. 23. 313 | Berger, Michael: Wirrwarr um den Atomausstieg; in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 06.07.1999, S. 3. 314 | Ebd. 315 | Steinmeier, F.-W.: Mein Deutschland, 2009, S. 92. 316 | Ebd. 317 | Die Kohl-Regierung und deren Umweltministerin Angela Merkel hätten, schreibt Steinmeier in seiner Autobiographie, »im Mai 1998, nachdem in Frankreich Kontaminationen an Transportbehältern festgestellt worden waren und die Regierung innerfranzö-
6. Im Kanzleramt
In der Endphase der Verhandlungen, im Jahr 2000, sei es dann zu »Tagund-Nacht«-Verhandlungen gekommen, wie die Hannoversche Allgemeine Zeitung unter Berufung auf Verhandlungskreise zu berichten wusste.318 Steinmeier selbst spricht im Rückblick davon, dass er in seinem bisherigen Leben keine »Verhandlungen von solcher Intensität und Ausdauer erlebt« habe, »wie jene im Frühjahr des Jahres«.319 Schröder erinnert sich schließlich an eine »dramatische[] Nachtsitzung« Mitte 2000, in der es schließlich zur Einigung gekommen sei.320 Den dann erzielten Atom-Konsens bezeichnete Steinmeier im Aufsatz zum innovativen Konsens als »Ergebnis von über einhundert Stunden direkter Verhandlungen, in denen sich die Gesprächspartner nichts geschenkt« hätten.321 Die Hannoversche Allgemeine Zeitung lobte das Kunststück der Arbeitsgruppe um Steinmeier: »Ob grüne Realos oder Reaktorbetreiber – den in dieser Woche unterschriebenen Vertrag zum Atomkonsens können alle Seiten mit jeweils eigenen Augen lesen und darin wunderschöne Dinge entdecken.«322 Steinmeier dürfte an dieser diplomatischen, konsens-orientierten Lösung zumindest einen wichtigen Anteil gehabt haben. Wie groß Steinmeier als vertrauensbildender Leiter dieser Konsensrunde wahrgenommen wurde, zeigt auch die Tatsache, dass er im Nachhinein Ansprechpartner für die Atomindustrie geblieben ist. Nachdem der Atomkonsens Mitte des Jahres 2000 erreicht worden war, gab es schon bald darauf neue Konflikte in diesem Bereich. Der Stromkonzern EON warf Umweltminister Jürgen Trittin vor, sich in seinem Neuentwurf des Atomgesetzes nicht an den vier Mo-
sische Atomtransporte untersagt hatte, einen Transportstopp ausgesprochen, der nicht wieder aufgehoben wurde. Nur für eine Übergangszeit war das Problem für die Energiewirtschaft beherrschbar.« Denn, so Steinmeier weiter: »Was vielen nicht bewusst war: Das geltende Atomrecht sah nur begrenzte Lagermengen an den Kraftwerkstandorten vor. Die für die Unternehmen unangenehme Folge war, dass die Überschreitung der höchstzulässigen Lagermengen den rechtlichen Fortbestand der Betriebserlaubnis berührte. Mit anderen Worten: Ohne Lösungen zum Abtransport des abgebrannten Brennstoffs hätte der Weiterbetrieb einzelner Anlagen bald infrage gestanden.«; Steinmeier, F.-W.: Mein Deutschland, 2009, S. 92. 318 | So zumindest beschreibt ein SPD-Politiker Steinmeiers Rolle; zitiert nach Kebel, Bernd: Querschüsse aus dem Kanzleramt – SPD-Politiker und Gewerkschafter sind empört; in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 15.04.2000, S. 1. 319 | Steinmeier, F.-W.: Mein Deutschland, 2009, S. 93. 320 | Schröder, G.: Entscheidungen, 2006, S. 280. 321 | Steinmeier, F.-W.: Konsens und Führung; in: Müntefering, F.; Machnig, M. (Hg.): Sicherheit im Wandel, 2001, S. 265. 322 | Koch, Matthias: Der Atomkonsens – rechtlich ein wackeliges Konstrukt; in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 17.06.2000, S. 2.
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nate alten Ausstiegsvertrag zu halten.323 Was für diese Biographie prinzipiell nicht von herausragendem Interesse scheint (und damit nicht Erwähnung hätte finden müssen), wird es jedoch durch den Adressaten der Beschwerde. »Pikant ist«, schrieb richtig die Süddeutsche Zeitung, »dass sich Hohlefelder nicht an den zuständigen Minister Trittin wendet, sondern an Kanzleramtschef FrankWalter Steinmeier«.324 Der Verhandlungsführer auf Seiten der Atomindustrie wird mit den Worten zitiert, dass »[i]ch […] Ihnen dankbar« wäre, »wenn Sie sich der Sache annehmen würden.«325 Abermals ist Steinmeier der Ansprechpartner, nicht etwa der zuständige Minister – oder aber: Gerhard Schröder. Steinmeier trat wie ein Minister auf, seine Position entsprach eben auch einer solchen, selbst wenn er offiziell nur Staatssekretär war. In Bezug auf die Arbeitsmarktpolitik spielte in dieser ersten Legislaturperiode das später gescheiterte Bündnis für Arbeit eine entscheidende Rolle. Dieses Bündnis, bestehend aus Spitzenvertretern von Regierung, Unternehmen und Gewerkschaften, hatte als Aufgabe, Maßnahmen zu suchen und zu verabreden, die zum Ziel hatten, »a) die Arbeitslosigkeit zu reduzieren und die Beschäftigung aufzubauen, b) mehr Arbeitsplätze zu schaffen und c) die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Unternehmen zu verbessern«.326 Steinmeier, der die Leitung nach dem Weggang Hombachs Mitte 1999 übernommen hatte, sprach 2001 von einem »Modernisierungsansatz«, »der dem Bündnis für Arbeit zugrunde« liege und weiter: »Sein Ziel ist gerade nicht die Besitzstandwahrung, sondern die Suche nach neuen Wegen in der Beschäftigungspolitik.«327 Auch hier wieder betonte Steinmeier den Ansatz der Suche nach etwas Neuem und sprach sich gegen die Bewahrung des Alten aus. In Teilen konnte schon gezeigt werden, dass es sich hierbei keineswegs nur um Worthülsen handelte, sondern Steinmeier tatsächlich nach diesem Prinzip zu arbeiten schien. Noch einmal muss hier der Vergleich mit Hombach gezogen werden. Denn im Rückblick wird betont, dass »die eigentliche Revitalisierung und Formalisierung […] erst nach dem Wechsel beim ChefBK im Juli 1999«328 stattgefunden habe, der dann zunächst eintretende Erfolg also auch Steinmeier zugeschrieben werden kann. Als Koordinator war er sowohl für die »bescheidenen Erfolge in den 323 | Vgl. Hagelüken, Alexander: Stromkonzern wirft Trittin Wortbruch vor; in: Süddeutsche Zeitung, 02.11.2000, S. 6. 324 | Ebd. 325 | Zitiert nach ebd. 326 | Schubert, Klaus; Martina Klein: Das Politiklexikon. Begriffe. Fakten. Zusammenhänge, Bonn 20115, S. 63. 327 | Steinmeier, F.-W.: Konsens und Führung; in: Müntefering, F.; Machnig, M. (Hg.): Sicherheit im Wandel, 2001, S. 267. 328 | Knoll, T.: Das Bonner Bundeskanzleramt, 2004, S. 408.
6. Im Kanzleramt
Bereichen von Ausbildung und Qualifizierung«329 mitverantwortlich, als eben auch für die Misserfolge: »das Problem der Arbeitslosigkeit [war 2002] nicht kleiner, sondern größer.«330 Das Bündnis verfolgte einen Ansatz aus traditionellen Arbeitsweisen auf der einen und diese auf brechenden auf der anderen Seite und stand damit ganz im Geiste jener beschriebenen Konsensrunden. So wurden »[z]um einen […] durch die Anbindung des Bündnisses traditionelle Regeln der interministeriellen Zusammenarbeit und Konsultation genutzt und die Fachministerien z.B. über Arbeitsgruppen eingebunden. Zum anderen wurde versucht, die Weltsicht der Fachministerien bezüglich der Rolle externer Akteure in der Politikformulierung umzuformulieren.« 331
Steinmeier betonte in seinem Aufsatz »Konsens und Führung«, dass die Bundesregierung stets mit klaren Vorstellungen in die Gespräche gegangen sei. Dieses Bild bestätigt sich beim Blick in die damalige Presse, mehr noch: Man sieht Steinmeiers herausgehobenes Engagement darin. So ließ er sich Ende 1999 mit den Worten zitieren, dass »[d]ie nächsten Vereinbarungen im Bündnis […] sich nicht mehr nur auf Nebenfelder beschränken« dürften.332 Er betonte, dass bei einem Ausbleiben von Fortschritten bis Jahresende weitere Zusammenkünfte keinen Sinne mehr hätten und »[d]ann […] die Bundesregierung eigenständig beschäftigungspolitische Maßnahmen in Angriff nehmen« würde.333 Steinmeier trat hier wie der Chef auf (der er als Leiter dieser Runde faktisch auch war), wirkte dabei bereits nach außen und sorgte für Druck nicht nur hinter verschlossenen Türen. Im Rückblick rechtfertigt Steinmeier dennoch die anfänglichen Erfolge, so habe man »Mitte 1999 Anfangserfolge verbuchen« können: »Zusagen für die Lohnrunde 2000 und Zusagen für eine Beschäftigungsinitiative für Geringqualifizierte und Langzeitarbeitslose.«334 Später führte Steinmeier weitere Beispiele wie die »Förderung des Arbeitsmarktzuganges für Geringqualifizierte und Langzeitarbeitslose« an.335 Dennoch: Das Scheitern stand während der Ge329 | Sturm, D.-F.: Wohin geht die SPD?, 2009, S. 43. 330 | Ebd. 331 | Fleischer, J.: Das Bundeskanzleramt; in: Bröchler, S.; Blumenthal, J. von (Hg.): Regierungskanzleien, 2011, S. 144. 332 | Zitiert nach o.V.: Kanzleramt: Schneller Durchbruch, sonst scheitert Bündnis für Arbeit; in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 09.10.1999, S. 1. 333 | Zitiert nach ebd. 334 | Steinmeier, F.-W.: Mein Deutschland, 2009, S. 95. 335 | Steinmeier, F.-W.: Konsens und Führung; in: Müntefering, F.; Machnig, M. (Hg.): Sicherheit im Wandel, 2001, S. 267.
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spräche immer wieder im Raum, es begleitete diese wie ein Damoklesschwert. Gleichzeitig wurde aber doch neue Hoffnung geweckt. So betonte der für gewöhnlich wenig euphorisch auftretende Kanzleramtschef Ende 1999 geradezu hoffnungsfroh, dass die Bündnispartner so nah beieinanderlägen, dass die »große historische Chance einer beschäftigungsorientierten Lohnpolitik jetzt nicht vergeben werden sollte«.336 Obwohl Steinmeier die Bündnis-Politik nicht nur mitgetragen hatte, sondern maßgeblich mitgestaltete, kritisierte er im Rückblick im Jahr 2009 in seiner Autobiographie seinen Chef, Bundeskanzler Gerhard Schröder, in Bezug auf das Bündnis. Dieser habe, so Steinmeier, »vielleicht etwas voreilig schon von einer ›Neuorientierung‹ der Wirtschafts- und Finanzpolitik« gesprochen.337 Tatsächlich setzte auch Steinmeier große Hoffnungen in das Bündnis, wie die Aussage um die »historische Chance«, aber auch viele weitere Begebenheiten rund um das Bündnis zeigen. Zum Beispiel schrieb er 2001, dass das Bündnis im Vergleich zu den anderen Konsensrunden »aus der Reihe« gefallen sei, weil es »zeitlich nicht befristet« sei.338 Das habe, führte er aus, einen »einfachen Grund: Solange es nicht gelungen ist, den Durchbruch im Kampf gegen die Massenarbeitslosigkeit zu erzielen, solange das Bündnis der Vertrauensbildung dient und zu konkreten Ergebnissen führt, wäre es politisch nicht verantwortbar, die gemeinsamen Anstrengungen von Politik, Wirtschaft und Gewerkschaft einzustellen.« 339
Der Abbau der Massenarbeitslosigkeit war das Ziel, dem sich die Regierung Schröder schon im Wahlkampf 1998 verschrieben hatte und dass auch Steinmeier umzutreiben schien. Dennoch schienen, zumindest aus Sicht der Regierung, mit dem Bündnis für Arbeit immer weniger Reformen umsetzbar. »Der Mann war ratlos«, kommentierte etwa ein Teilnehmer Steinmeier gegenüber dem Focus Anfang 2002.340 Die Meldungen jener Tage lasen sich wie ein verfrühter Nachruf auf dieses Bündnis, wieder war vom Scheitern die Rede: »Steinmeier ist beunruhigt. Das Bündnis-Treffen steuert auf ein Desaster zu. […] Gelingt es ihm nicht, Gewerkschaften und Arbeitgeber in den nächsten Tagen auf ein Konsens336 | Zitiert nach o.V.: Bündnis für Arbeit: Treffen geplatzt; in: Spiegel Online, 22.12.1999, abrufbar im Internet unter: www.spiegel.de/politik/deutschland/buend nis-fuer-arbeit-treffen-geplatzt-a-57499.html (zuletzt eingesehen am 16.12.2014). 337 | Steinmeier, F.-W.: Mein Deutschland, 2009, S. 95. 338 | Steinmeier, F.-W.: Konsens und Führung; in: Müntefering, F.; Machnig, M. (Hg.): Sicherheit im Wandel, 2001, S. 266. 339 | Ebd. 340 | Zitiert nach Moritz, Hans-Jürgen: Schröder vor dem Bündnis-Fall; in: Focus, 21.01.2002, S. 27.
6. Im Kanzleramt papier einzuschwören, droht dem vielleicht wichtigsten Prestige-Projekt von Bundeskanzler Gerhard Schröder ein unrühmliches Begräbnis. Denn eine neue Bündnis-Runde wird es vor der Wahl nicht geben.« 341
Es sollte noch ein Jahr, bis in den März 2003, bis zum Scheitern dauern. Ausgangspunkt für ein endgültiges Umdenken dürfte ein Skandal gewesen sein, der im Februar 2002 seinen Lauf nahm und aus dem die Hartz-Kommission hervorging. Anfang jenes Monats wurde bekannt, dass die damalige Bundesanstalt für Arbeit die offiziellen Zahlen über die Arbeitsvermittlung und damit der Wiedereingliederung der Arbeitssuchenden in den Arbeitsmarkt lange Zeit geschönt hatte. »Der am 5. Februar 2002 veröffentlichte Prüf bericht des Bundesrechnungshofes offenbarte eine rund sieben Prozent große Diskrepanz zwischen realen und verbuchten Vermittlungszahlen«.342 Damit bestätigte sich, »dass die Hauptarbeit der Bundesanstalt für Arbeit gerade nicht in der Vermittlung, sondern in der Verwaltung der Arbeitslosen lag«.343 Für den damals zuständigen Minister Walter Riester war das, so erinnert er sich in der Rückschau, eine »hoch-brisant[e]« Situation: eine »Katastrophe«, in der sich Steinmeier einmal mehr als guter Zuhörer und, mehr noch, besonnener Vordenker hervorgetan habe.344 »Dies konnte sich in dem Maß zumindest niemand vorstellen. […] Und ich hab’ dann sofort, als das bekannt wurde, zuerst mal Herrn Steinmeier informiert, das war so ’ne Anlaufstelle […] Nummer eins [bei mir] immer, wenn ich wusste, da ist was ernst zu nehmen.«345 Steinmeier sei so »von Anfang an einbezogen« gewesen, »ich hab’ ihm das auch in jeder Etappe geschildert, und ich nehm’ an, er hat das auch dem Schröder geschildert, bin ich ganz sicher, ja.«346 In seiner Autobiographie merkte Riester außerdem an, er habe mit seinen »engsten Beratern über die Strategie [diskutiert]. Sollten wir sofort den Hebel umlegen und auf Offensive schalten? Oder aber die Woche durchstehen und am Ende einen
341 | O.V.: Showdown im Berliner Kanzleramt; in: Financial Times Deutschland, 25.01.2002, S. 25. 342 | Hegelich, Simon; Knollmann, David; Kuhlmann, Johanna: Agenda 2010. Strategien – Entscheidungen – Konsequenzen, Wiesbaden 2011, S. 38. 343 | Nullmeier, Frank: Die Agenda 2010. Ein Reformpaket und sein kommunikatives Versagen; in: Fischer, Thomas; Kießling, Andreas; Novy, Leonard (Hg.): Politische Reformprozesse in der Analyse – Untersuchungssystematik und Fallbeispiele, Gütersloh 2008, S. 145-190, S. 151. 344 | Riester, Walter im Gespräch mit dem Autor am 16.05.2013. 345 | Ebd. 346 | Ebd.
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III. Politik im Hintergrund inhaltlichen Coup landen. Die Meinungen gingen auseinander. Frank-Walter Steinmeier riet zur zweiten Variante. Wie sich herausstellte, war das ein guter Ratschlag.« 347
Auch der Spiegel berichtete damals Ähnliches. Steinmeier habe Riester davon abgeraten, umfangreiche Reformen zu verkünden. »Mach’s nicht jetzt«, soll er gesagt haben.348 »Die absehbare Skandalberichterstattung über die bereits geplanten Auftritte des angeschlagenen Behördenchefs […] vor den zuständigen Bundestagsausschüssen hätte«, skizzierte das Nachrichtenmagazin »Steinmeiers Kalkül«, »die Reformbereitschaft überlagert.«349 Eine solche Empfehlung war prototypisch für Steinmeiers Arbeitsweise. Nicht der kurzfristige Coup, der vielleicht eine kurzzeitige Offensive mit sich bringt, sondern ein langfristigeres Denken, auch mit Blick auf die Medienlandschaft, schienen bei ihm im Vordergrund gestanden zu haben. Dieser langfristige Coup lässt sich im Rückblick unter der Chiffre Harz-Kommission zusammenfassen, die eben in diesen Tagen ihre Geburtsstunde haben sollte. Steinmeiers erster Vorschlag sei dabei gewesen, erinnert sich Riester, »einen Überraschungscoup [zu] bringen, der uns auch […] aus der Schusslinie rausnimmt, […] [der] wirklich mit dem ersten Treffer sitzt.«350 Der Kanzleramtschef habe vorgeschlagen, »wir übergeben McKinsey die Aufarbeitung des Konfliktes. […] Da war ich dagegen, nicht, weil ich die Überlegung nicht charmant fand, sondern weil ich wusste, dass die inneren Widerstände im Ministerium, aber auch in der Fraktion, in der SPD, so stark wären, dass das den intelligenten Ansatz […] wahrscheinlich wieder kaputt gemacht hätte.« 351
Erneut dachte Steinmeier nicht (nur) in den Kategorien sozialdemokratischer Befindlichkeiten, wählte einen unbequemeren Weg, auch wenn er sich letztendlich nicht durchsetzen sollte. Steinmeier sei einer gewesen, kommentiert Riester, »dem man nicht ’ne linksdogmatische Linie vorwerfen kann. […] Was uns beide nicht blockiert, weder Steinmeier noch mich, ist, dass wir den Vorwurf auf uns sitzen lassen müssten, wir wären dogmatisch oder ideologisch.«352 Dieses Beispiel bestätigt Steinmeiers pragmatische Arbeit ohne ideologische Schranken, denn, so Riester, McKinsey »war sozusagen für die Lin-
347 | Riester, Walter: Mut zur Wirklichkeit, Düsseldorf 2004, S. 222. 348 | Zitiert nach: Dettmer, Markus; Hammerstein, Konstantin von; Jung, Alexander: Reformer aus Not; in: Spiegel, 25.02.2002, S. 22-25; hier: S. 23. 349 | Ebd. 350 | Riester, Walter im Gespräch mit dem Autor am 16.05.2013. 351 | Ebd. 352 | Ebd.
6. Im Kanzleramt
ken der Teufel an sich«.353 Schließlich hätten sie sich dann zumindest »darauf verständigt, wir beide, und er dann in Rückkopplung mit Schröder, dass wir eine Kommission einsetzen«.354 Auf Peter Harz als Kommissionsleiter habe sich Riester selbst dann schnell mit Schröder verständigt,355 der nunmehr selbst als Akteur ins Spiel trat. So wurde am 22. Februar 2002 in den Medien verkündet, dass der bisherige VWPersonalvorstand eine Kommission leiten solle, die die Arbeitslosigkeit bekämpfe. »[D]as wusste ich, ehrlich gesagt, erst ein paar Minuten, bevor es die Öffentlichkeit in Deutschland erfuhr«, schrieb Hartz rückblickend.356 Er sei gerade auf dem Weg zu einer Aufsichtsratssitzung vom Autohersteller Audi gewesen, als der Bundeskanzler ihm über sein Wolfsburger Sekretariat durchgestellt worden sei. Das Gespräch beschrieb er mit den Worten: »Der Bundeskanzler war sofort zugeschaltet und sagte: ›Hör mal, ich gehe um elf Uhr zu einer Pressekonferenz und verkünde, dass wir jetzt am Arbeitsmarkt aktiv werden. Ich werde der Presse mitteilen, dass wir eine Kommission für Dienstleistungen am Arbeitsmarkt einsetzen und dich als Vorsitzenden verkünden.‹« 357
Weiter erinnerte er sich: »Ich habe ihn erst einmal um Bedenkzeit gebeten und gesagt, ich müsse zunächst mit meinem Vorstandsvorsitzenden und dem Aufsichtsratsvorsitzenden von Volkswagen reden. ›Ja‹, hat er dann nur noch gesagt, gelacht und noch hinzugesetzt: ›Das ist jetzt dein Problem‹«. 358
Einmal mehr wird hier das Überrumpelnde, Einnehmende deutlich, dass Schröder so erfolgreich machte. Die Vorarbeit leisteten aber auch in diesem Falle andere, nämlich Riester und Steinmeier, der auch aktiv in die Frage der Besetzung der Kommission einbezogen war. So erinnert sich Riester an die vorausgegangene Debatte: »Jetzt wieder Steinmeier, eigentlich Vorschlag McKinsey. Ich hab’ den Vorschlag gemacht: Kommission. […] [I]n die Kommission haben wir aufgenommen ein[en] Vertreter
353 | Ebd. 354 | Ebd. 355 | Vgl. ebd. 356 | Hartz, Peter: Macht und Ohnmacht, Hamburg 2007, S. 198. 357 | Ebd. 358 | Ebd., S. 199.
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III. Politik im Hintergrund von McKinsey, […] wahrscheinlich ist der von Steinmeier dann auch vorgeschlagen worden. […] Und wir haben einen von Roland Berger aufgenommen«. 359
Riester betont dabei noch einmal Steinmeiers große Rolle, »diesen Konflikt nicht nur zu koordinieren, das hat er auch gemacht vom Kanzleramt, das ist seine Aufgabe. Sondern ihn mit kreativen Überlegungen zu befruchten und hinter ihm zu stehen, [das] war seine Aufgabe.«360 Beim Lesen dieser Berichte entsteht der Eindruck, als habe Schröder im Voraus nur bedingt daran mitgewirkt. Tatsächlich, glaubt man der Berliner Zeitung, »schickte Gerhard Schröder, in Mexiko weilend, […] seinen Kanzleramtschef […] ins Arbeitsministerium und drängte auf Taten.«361 In diesem Bericht wird eine Arbeitsaufteilung zwischen Kanzler und Kanzleramtschef offenbar, wie sie auch bei weiteren Konflikten noch häufiger festzustellen ist. Schröder agierte oft auf dem außenpolitischen Parkett, während Steinmeier in der Innenpolitik tätig war. Neben dem Bündnis für Arbeit und dem Skandal um die Arbeitsmarktzahlen, die zur Gründung der Hartz-Kommission führten, war in dieser ersten Legislaturperiode vor allem die Rentenreform von größerer Bedeutung. Auch hier hatte Steinmeier neben dem zuständigen Minister Riester wieder einen großen Einfluss. »Auslöser waren«, wird die Situation in einer Analyse beschrieben, »die akut schlechte Finanzlage der GRV (gesetzliche Rentenversicherung; Anm. S.K.) aufgrund eines Rückgangs der Beitragszahlungen bei steigender Arbeitslosigkeit und geringeren Lohnabschlüssen, die prognostizierte demografische Entwicklung sowie die Absicht, in der internationalen Standortkonkurrenz durch steigende Lohnnebenkosten nicht ins Hintertreffen zu geraten.« 362
Nach anfänglichen Absprachen über Riesters Reformpläne bezüglich einer obligatorischen Zusatzrente zwischen dem Minister, Schröder, Eichel und Ulla Schmidt,363 die an die Öffentlichkeit gelangten, was dazu führte, dass kein von 359 | Riester, Walter im Gespräch mit dem Autor am 16.05.2013. 360 | Ebd. 361 | Zylka, Regine: Riester hat noch viel Arbeit; in: Berliner Zeitung, 22.02.2002; Onlineversion des Printartikels abrufbar unter: www.berliner-zeitung.de/bernhardjagoda-wird-von-seinem-amt-zuruecktreten---fuer-den-minister-ist-damit-laengstnicht-alles-geloest--aber-es-koennte-ein-schritt-nach-vorn-sein-riester-hat-nocharbeit-16395428 (zuletzt eingesehen am 14.09.2016). 362 | Hegelich, S.; Knollmann, D.; Kuhlmann, J.: Agenda 2010, 2011, S. 27f. 363 | Vgl. Riester, Walter im Gespräch mit dem Autor am 16.05.2013.
6. Im Kanzleramt
Riester geplantes Kommunikationskonzept griff, sondern sich der Begriff einer »Zwangsrente« verselbstständigte,364 spitzte sich die Situation Ende 2000 zu. Eine wichtige Anhörung zur Rentenreform fand statt, während Riester wegen der Unterzeichnung eines deutsch-australischen Sozialabkommens im Ausland weilte.365 Das stieß im Inland auf Kritik. »Während der Anhörung kochten die Emotionen hoch«, erinnert sich Riester in seiner Autobiographie.366 »Die Gewerkschaften verlangten, dass der vorgesehene Ausgleichsfaktor sofort entfalle, dies sei ihnen von Mitgliedern der Fraktionsspitze zugesagt worden. Der Druck auf meine Person war derart hoch«, führte er weiter aus, »dass ich die Reise abbrach und nach Berlin zurückflog. Gerd Andres hatte mich gebeten, so schnell wie möglich zu kommen.«367 Riester war nach eigenem Bekunden kurz davor hinzuwerfen.368 »Ausschlaggebend«, diesen Weg weiter zu gehen, betont er Steinmeiers vermittelnde Rolle, sei »letztlich ein Telefonat mit dem Kanzleramtsminister« gewesen: »Ich rief ihn an, um ihm meine Situation und meine Überlegungen zu schildern. Ich gab ihm zu verstehen, ich sei durchaus bereit, weiter zu machen. Aber wenn Gerhard Schröder ein Problem mit mir habe, dann könnte ich auch meinen Hut nehmen, ich wolle nicht zur Belastung für die Politik der Bundesregierung werden. Ich hätte es eingesehen […]. Aber Steinmeier versicherte mir, gerade der Kanzler wolle, dass wir die Reform gemeinsam durchziehen, zudem finde er es auch nicht akzeptabel, welches Spiel in Teilen der Fraktionsspitze gelaufen sei.« 369
Riester zitiert Steinmeier mit den Worten: »Ich hätte Verständnis dafür, wenn du niemandem mehr glaubst. Aber wenn du mir noch glaubst, dann nimm mir ab, der Kanzler ist wütend über das, was da passiert ist. Doch den Ausgleichsfaktor müssen wir aussetzen – mit dir.«370 Auch das Medienecho jener Tage sah eine große Rolle bei Steinmeier – und dem beschriebenen strategischen Zentrum. »Um Haaresbreite«, schrieb etwa die Hannoversche Allgemeine Zeitung, habe »Struck im Zusammenwirken mit Kanzleramtschef […] Steinmeier die Bildung einer ›kritischen Masse‹ verhindert, die Riester wohl das Amt gekostet hätte.«371 Wenn man den Streit um die 364 | Riester, W.: Mut zur Wirklichkeit, Düsseldorf 2004, S. 142. 365 | Vgl. ebd., S. 158. 366 | Ebd. 367 | Ebd. 368 | Vgl. ebd., S. 159. 369 | Ebd. 370 | Zitiert nach ebd. 371 | Knebel, Bernd: Die Gewerkschaften können feiern; in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 16.12.2000, S. 3.
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III. Politik im Hintergrund
Rente in Riesters Autobiographie liest, entsteht der Eindruck, dass Steinmeier anders als etwa beim Atomkonsens oder beim Bündnis für Arbeit vor allem für das administrative Geschäft zuständig war, auch wenn im Kanzleramt »alle die Rentenreform betreffenden zentralen Weichenstellungen besprochen« worden sind, hier also die Linien auch in diesem Falle zusammenliefen.372 Gleichzeitig war auch hier, wie bei den Reformen am Arbeitsmarkt, eine weitere Entfremdung zu den SPD-Mitgliedern zu beobachten, was allein schon in den großen Debatten und internen Protesten gegen die Rentenreform deutlich wird. Letztendlich hat die rot-grüne Bundesregierung die Rentenreform »sowohl wider die innerparteilichen Zweifler als auch wider den Widerstand der Opposition sowie der Gewerkschaften« organisiert.373 In der Debatte um den bei Gewerkschaften umstrittenen Ausgleichsfaktor kam es zudem zu dem »beinahe schon historischen Schröder-›Basta‹ als spontane Reaktion des Kanzlers auf die nicht enden wollenden vehementen Protestrufe gegen die geplante Maßnahme während eines Gewerkschaftskongresses«.374 Dieses rüpelige, undiplomatische Schrödereske forderte Widerspruch geradezu heraus. Riester erinnert sich noch Jahre später an die entsprechende Veranstaltung. »›Es ist notwendig und wir werden es machen, ›Basta.‹ Das sagte Gerhard Schröder auf dem ÖTV-Kongress am 5. November 2000 in Leipzig. ›Basta‹ wurde zum geflügelten Wort und es rief sofort den massiven Unmut der Gewerkschaften hervor.«375 Der damalige Arbeitsminister geht noch weiter: »Es markierte einen neuen Punkt im Verhältnis der Bundesregierung zu den Gewerkschaften in Sachen Rentenreform.«376 Zwar zeigt er inhaltlich Verständnis für den von ihm bis heute geschätzten Schröder, fügt aber in Bezug auf den Proteststurm der Gewerkschaften auch hinzu: »Mir war dieser Reflex vertraut, er beinhaltete einen Angriff auf ihr Selbstbewusstsein, den sie sich nicht gefallen lassen wollten. Nur nicht reinreden lassen, ist die Devise der Gewerkschaften. ›Basta‹. Das zarte Pflänzchen der Kooperation litt.«377 Dieses Beispiel zeigt Steinmeiers und Schröders unterschiedliche Herangehensweise bei der inhaltlichen Debattenausgestaltung bei gleicher Einstellung auf. Beim Atomkonsens brachte Steinmeier die Atomindustrie dazu, trotz des Auslaufens der Kernindustrie diese nicht in ihrer Ehre verletzt und gleichzeitig einen Großkonflikt auch parteipolitisch befriedet zu haben. Sowohl Grüne als auch Atomindustrie konnten mit dem Kompromiss leben und fühlten sich nicht düpiert. Dieser diplomatische Stil steht einem deutlich launigeren, 372 | Hegelich, S.; Knollmann, D.; Kuhlmann, J.: Agenda 2010, 2011, S. 27f. 373 | Ebd., S. 31 374 | Ebd., S. 32. 375 | Riester, W.: Mut zur Wirklichkeit, 2004, S. 222. 376 | Ebd. 377 | Ebd.
6. Im Kanzleramt
unberechenbareren von Schröder gegenüber, der zu Schröders »situative[m] Regieren«378 gehörte. Wie groß Steinmeiers Anteil an dem Zustandekommen der Reform war, machte er auf seine ganz eigene Weise deutlich: Nachdem die Riester-Rente Mitte 2001 auch den Bundesrat passiert hatte, soll Steinmeier im Kanzleramt beim gemeinsamen Blick in den Fernseher,379 wo die Abstimmung live übertragen worden ist, betont haben: »Von diesem Sommer bis Oktober 2002 gehe ich in Urlaub.«380 Die Riester-Rente sollte eines der großen Reformprojekte der ersten rot-grünen Legislaturperiode werden. Wie bereits von einigen Beteiligten erwähnt, sehen auch Wissenschaftler in der Riester-Reform und den späteren Hartz-Gesetzen, die noch vor der Agenda 2010 entwickelt worden sind, die »erste Phase sozialdemokratischer ›Agenda-Politik‹«.381 Beide Reformen seien einem »politischen Paradigmenwechsel« gleichgekommen.382 Die Rentenreform sei schon deshalb bemerkenswert, »weil sie ein Gegenbeispiel zur prominenten These eines Blockadebias im deutschen Wohlfahrtssystem darstellt«.383 Genau diese Selbstblockade hatte Steinmeier, wie gezeigt, immer wieder kritisiert. Wie bei den anderen Großreformen hatte er in diesem Zusammenhang erneut einen wichtigen Anteil daran, dass diese Selbstblockade durchbrochen worden ist. Steg beschreibt dabei die Rolle Steinmeiers mit den Worten, dass dieser nicht von nur einem Projekt angetrieben gewesen sei, sondern vielmehr allgemein bei innenpolitischen Themen, »bei der Energie- und Klimapolitik, bei der Staatsbürgerschaft, Arbeitsmarktpolitik, Sozialpolitik«384 eine wichtige Rolle gespielt habe. Er beschreibt Steinmeier als jemanden, der in größeren Projekten und nicht in Einzelschritten dachte oder, wie zuvor schon zitiert und im Gegensatz zu Schröder, in »Gesamtkonzepten«.385 So sei Steinmeiers »großes Projekt« gewesen, »den Reformbedarf in Deutschland […] nach achtzehn Kohl-Jahren« zu erkennen.386 Man könne, beschreibt Steg weiter, »nicht vom Mehltau sprechen und […] ihn dann nicht wegpusten. Und eigentlich war das nachher zusammengefasst in der Agenda, das war seine Vorstellung, dass das die Aufgabe, die Mission von Rot-Grün war, dieses Land zu modernisieren.«387 378 | Raschke, J.; Tils, R.: Politische Strategie, 2013, S. 507. 379 | Vgl. Geyer, M.; Kurbjuweit, D.; Schnibben, C.: Operation Rot-Grün, 2005, S. 143. 380 | Zitiert nach ebd., S. 143. 381 | Hegelich, S.; Knollmann, D.; Kuhlmann, J.: Agenda 2010, 2011, S. 26 382 | Ebd., S. 26f. 383 | Ebd., S. 27. 384 | Steg, Thomas im Gespräch mit dem Autor am 16.12.2013. 385 | Ebd. 386 | Ebd. 387 | Ebd.
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III. Politik im Hintergrund
Ganz ähnlich beschreibt Riester retrospektiv Steinmeiers damalige Rolle. Dieser habe »nicht nur ein Gefühl gehabt, sondern auch aus ’ner inneren Überzeugung heraus diese Linie, die sich dann letztendlich […] verdichtet« habe zur Agenda 2010, verfolgt.388 Die Agenda-Politik war zu diesem Zeitpunkt noch keineswegs geboren, die Einzelmaßnahmen jener Zeit deuteten aber in diese Richtung. Neben diesen drei für die rot-grüne Bundesregierung in der historischen Einordnung herausragenden Themenschwerpunkten war Steinmeier an der Debatte, Lösungssuche und Umsetzung vieler weiter Themen beteiligt – teils auch mit Misserfolgen. Ob in der Frage einer Neuberechnung der Pendlerpauschale, in der Steinmeier als vermittelnder Part vor allem mit den Grünen um eine Lösung gerungen hat.389 Ob die den Bundesrat zu passierende Steuerreform, in deren Vorbereitung Steinmeier zwar unermüdlich verhandelte, nach den, in diesem Falle, vergeblichen Bemühungen am Ende aber die Person des Kanzlers ins Feld geführt werden musste und dieser sich mit seinem Gewicht ein- und gegen Angela Merkel und Friedrich Merz durchsetze.390 Solche Momente waren es, in denen Schröder sich »immer auch […] ins Spiel […] [brachte], seinen Charme und alle Wendigkeit seiner Person.«391 Ob BSEKrise, in der nach andauerndem Kompetenzgerangel zwischen den zuständigen Fachministern sich Steinmeier im Auftrag Schröders der Sache ordnend annahm.392 Ob angeblich vernichtete Kohl-Akten, bei denen sich Steinmeier zumindest juristisch verrannt zu haben schien.393 Ob in der Frage des Einwanderungsgesetzes, in der er im Hintergrund an einem Deal mit den sich im Bundesrat querstellenden Bundesländern arbeitete.394 Ob in der Frage der Gesundheitsreform, wo »ausgerechnet der ›Traditionalist‹ Rudolf Dreßler […] in der Fraktionsklausur unter allgemeinem Beifall dem Staatssekretär für dessen 388 | Riester, Walter im Gespräch mit dem Autor am 16.05.2013. 389 | Vgl. z.B. Schumacher, Oliver: Mehrheit für neue Pendlerpauschale in Sicht; in: Süddeutsche Zeitung, 05.12.2000, S. 1; vgl. auch o.V.: Rot-Grün streitet weiter über Pendler; in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 05.12.2000, S. 2; vgl. auch Urschel, Reinhard: An der Spitze herrscht Eintracht; in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 12.10.2000; vgl. außerdem Lohse, Eckart: Die Grünen wollen aus dem Ärgernis Profit schlagen; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.09.2000, S. 3. 390 | Vgl. Krause-Burger, S.: Wie Gerhard Schröder regiert, 2000, S. 124. 391 | Ebd., S. 126. 392 | Wolber, Cornelia: BSE-Krise schwächt die Minister; in: Welt, 05.01.2001, S. 2. 393 | Die Welt hielt damals fest: »Von dem Vorwurf bleibt nichts übrig. Die Staatsanwälte können nicht einmal mehr einen Anfangsverdacht finden.«; Heinen, Guido: Die Mär von den »Bundeslöschtagen«; in: Welt, 04.10.2003, S. 2. 394 | Vgl. Geyer, M.; Kurbjuweit, D.; Schnibben, C.: Operation Rot-Grün, 2005, S. 143.
6. Im Kanzleramt
maßgebliche Koordination beim Gesetz« dankte.395 Bei der BAföG-Reform entschied Schröder in einer Nacht- und-Nebel-Aktion396 und düpierte damit die zuständige Ministerin. Steinmeier war in die Verhandlungen aktiv involviert,397 wenngleich er von Schröders Schwenk selbst überrascht worden sein dürfte, wie Teilnehmer rückblickend berichten.398 Es gibt viele weitere Beispiele für Erfolge und bisweilen auch Niederlagen und Debakel, die insgesamt betrachtet in dieser ersten rot-grünen Legislaturperiode aber zu einem »nicht unbeträchtliche[n] Maß an Wandel« geführt haben.399 Über die Beteiligung Steinmeiers kann teilweise nur noch die Öffnung der entsprechenden Akten Aufschluss geben. In der Summe aber, das sollte deutlich geworden sein, war Steinmeier in dieser ersten rot-grünen Bundesregierung stets an entscheidender Stelle präsent. Seine Aufgabe war es, den Weg zu bereiten, sodass Schröder im besten Falle diesen nur noch abschreiten musste. Das allerdings ist keineswegs etwas die Kompetenzen des Kanzleramtschefs übersteigendes, vielmehr ist genau das die Aufgabe eines solchen. Steinmeiers direkter Nachfolger Thomas de Maizière etwa beschrieb das einmal in Bezug auf seine Chefin mit den Worten: »Man bringt eine Kanzlerin nicht in eine Situation […], wo am Ende ein Scheitern steht. Entweder leitet die Kanzlerin eine Sitzung, die zum Erfolg führt, oder aber die Kanzlerin leitet gar keine Sitzung dieser Art. Sie darf erst dabei sein, wenn klar ist, dass es klappt.«400 Wie de Maizière arbeitete auch Steinmeier nach diesem Prinzip. Gleichwohl bekam Steinmeier, das wird in vielen Äußerungen offenbar, deutlich mehr gestalterische Freiräume eingeräumt, insbesondere bei seinen Bemühungen in der Innenpolitik.401 Das bedeutet nicht, dass Steinmeier Schröder nicht unterrichtete, es bedeutet aber, dass sein Einfluss ebendort immens war, auch schon in dieser ersten Legislaturperiode. Allerdings muss auch konstatiert werden: War Schröder zugegen, so berichten Interviewpartner und Bio395 | Knebel, Bernd: Offene Freude in der SPD; in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 25.06.1999, S. 3. 396 | Vgl. Bulmahn, Edelgard im Gespräch mit dem Autor am 20.01.2014. 397 | Hagelüken, Alexander: Bulmahn will mit Demut zum Ziel; in: Süddeutsche Zeitung, 18.01.2000, S. 1. 398 | Vgl. z.B. Bulmahn, Edelgard im Gespräch mit dem Autor am 20.01.2014. 399 | Helms, L.: Regierungsorganisation, 2005, S. 125. 400 | Maizière, Thomas de: Damit der Staat den Menschen dient: Über Macht und Regieren, München 2013, S. 302. 401 | Vgl. Schönfeld, R.: Bundeskanzleramtschefs im vereinten Deutschland, 2011, S. 128; So berichten mehrere Akteure, die anonym bleiben möchten, im Gespräch mit dem Autor. (Um die Anonymität zu wahren, wird für alle anonymisierten Personen eine männliche Form verwendet.) (Nr. 33, Nr. 34)
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III. Politik im Hintergrund
graphen Schröders, arbeitete er, der Bundeskanzler, »[m]it einer ›ungeheuren Präsenz‹ […] in […] Gesprächen, die, wenn es um die Wurst geht, immer VierAugen-Gespräche« gewesen seien.402 Auch habe er nicht gezögert, »Druck auszuüben und sehr deutlich zu werden, sofern er anders nicht zum Erfolg« gelangen konnte,403 er habe »sein ganzes Gewicht« hineingeworfen, »wenn er von irgendetwas überzeugt« gewesen war.404 Die Vorbereitung aber, das Klein-Klein, das war in vielen Fällen Steinmeiers Aufgabe. Gewiss kann gefragt werden, ob Schröder sich vielleicht innenpolitisch mehr engagiert hätte, hätte er diese Aufgaben aus seiner Sicht nicht bei Steinmeier in guten Händen gewähnt. Diese Frage allerdings ist hypothetischer Natur. Es gab Steinmeier – und Schröder vertraute ihm vollständig, die Aufgabenteilung war insofern optimal. Das war der entscheidende Grund für Steinmeiers Einfluss. Für Steinmeier bedeuteten diese Jahre überdies, dass er »als Moderator beim Atomkonsens[], beim Energiekompromiß, in der BSE-Krise […] vielfältige Erfahrungen sammeln« konnte.405 Wichtig ist zudem, dass Steinmeiers politische Karriere auch zu diesem Zeitpunkt nach wie vor eng verknüpft war mit der von Schröder – und umgekehrt. Steinmeier war unverändert nur bedingt in die Parteiniederungen vernetzt. Seine politische Karriere, gewiss nicht die in anderen Bereich, wäre womöglich zu Ende gewesen, hätte sich Schröder von ihm abgewandt. Das machte er aus genannten Gründen allerdings nicht. War Steinmeier zu Beginn vor allem als Administrator und als Stabilisator des Schiffes, dem Tanker SPD, aufgefallen, nahm dieses bald wieder Fahrt auf. Dabei brach er, insbesondere in Bezug auf innenpolitische Themen, mit althergebrachten Traditionen und festgefahrenen Strukturen, externe Experten bekamen in seiner »innovativen Konsens«-Suche eine viel größere Rolle zugedacht. Für die SPD bedeutete Schröders Vertrauen in Steinmeier und dessen vorhandener pragmatischer, am Machbaren orientierter Gestaltungsanspruch eine zunehmende Entfremdung zwischen Exekutive und Partei. Die Bundesregierung war quasi auf ein Schnellboot umgestiegen, dem der behäbige Tanker SPD zunächst nur bedingt folgen konnte. Niemand im Kanzleramt oder dem strategischen Dreieck – im Schnellboot – vermochte es, hier gegenzusteuern. Es wurde ein Erosionsprozess ausgelöst, der zunächst nicht offen zu Tage trat, aber sich spätestens, wie später gezeigt wird, bei der Agenda 2010 entladen sollte.
402 | Krause-Burger, S.: Wie Gerhard Schröder regiert, 2000, S. 126. 403 | Ebd. 404 | Schmidt, Ulla im Gespräch mit dem Autor am 17.10.2013. 405 | Baring, A.; Schöllgen, G.: Kanzler, Krisen, Koalitionen, 2006, S. 336.
6. Im Kanzleramt
Neben diesen innenpolitischen Aspekten war Steinmeier von Beginn an auch in außenpolitische Fragen involviert.406 Spätestens mit dem 11. September 2001 bekam er hier, wie im folgenden Kapitel zu sehen ist, eine tragende Rolle zugeschrieben. Doch auch die ersten Regierungsjahre waren bereits Lehrjahre in der Außenpolitik.
6.3 A ussenpolitische L ehrjahre Unmittelbar nach Amtsantritt von Helmut Kohls Nachfolger Gerhard Schröder und der Konsolidierung der rot-grünen Bundesregierung »zeichneten sich in der Außenpolitik zwei große Herausforderungen ab: Zum einen musste über die Beteiligung und die Art der Beteiligung an einem militärischen Einsatz im Kosovo entschieden werden, eine Aufgabe, die aus der Zeit der Vorgängerregierung übernommen werden musste; zum anderen stand die Erweiterung der Europäischen Union und, damit im Zusammenhang stehend, die Reform ihrer Strukturen an.« 407
Der Kosovo-Krieg überlagerte nicht nur schnell die Innenpolitik,408 sondern markierte vielmehr auch eine neue Wegmarke der deutschen Außenpolitik.409 So sind »[d]ie Aufgaben, die die rot-grüne Bundesregierung bei Regierungsantritt vorfand, […] in einem längeren historischen Prozess entstanden. Nach der Vereinigung im Jahr 1990 ist Deutschland geographisch wieder ins Zentrum Europas gerückt und hat an Potenzial hinzugewonnen: Hinsichtlich der Einwohnerzahl und der Wirtschaftsleistung ist Deutschland das größte Land der EU. […] [S]eit mehr als sechzig Jahren ist es die größte Demokratie im Herzen Europas, verankert in der westlichen Demokratiewelt.« 410
1990 war das Jahr, in dem Steinmeier gerade seine Dissertation abschloss. Es war unklar, wohin es ihn danach verschlagen würde, jedenfalls war es das Jahr, in dem er einen Beruf nach Abschluss seiner Promotion suchen musste. Er konnte fortan, zunächst von Niedersachsen aus, Deutschlands außenpoli406 | So hält etwa Gregor Schöllgen fest, dass Steinmeier eben dort das »außenpolitische Geschäft kennengelernt« haben dürfte; Schöllgen, Gregor: Deutsche Außenpolitik. Von 1945 bis zur Gegenwart, München 2013, S. 286. 407 | Pfetsch, F.: Die Außenpolitik der Bundesrepublik, 2012, S. 189. 408 | Vgl. Meng, R.: Gerhard Schröder; in: Sternburg, W. (Hg.): Die deutschen Kanzler, 2007, S. 657. 409 | Vgl. Pfetsch, F.: Die Außenpolitik der Bundesrepublik, 2012, S. 215. 410 | Ebd., S. 190.
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tischen Wandel miterleben, dessen Folgen sich nun bei der neuen Bundesregierung erstmals zeigten. Denn bisher gehörte die Scheckbuch-Diplomatie zu einem wesentlichen Bestandteil der deutschen Außenpolitik. »Dieser tief greifende Wandel deutscher Außen- und Sicherheitspolitik durch Einsatz der Bundeswehr – erstmals praktiziert im Kosovo 1999 – im Ausland auch jenseits des Territoriums der Bündnissysteme hat«, wird in einer Analyse konstatiert, »zu einer qualitativen Veränderung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik geführt.«411 Steinmeier, noch nicht geprägt durch die Mitarbeit in vorherigen Bundesregierungen, gehörte somit einer neuen Generation an, die sich mit Außenpolitik unter den Zeichen eines gewandelten Deutschlands und einer veränderten Weltlage konfrontiert sah. Im Rückblick erinnert er sich an die »unerträglich[e]« »Diskrepanz zwischen der Legalität und der Legitimität des Völkerrechts« in Bezug auf den Einsatz im Kosovo. Dort habe sich der Sicherheitsrat »[t]rotz offenkundig schwerster Verbrechen, die vom damaligen jugoslawischen Regime an der albanischen Bevölkerung im Kosovo begangen« worden seien, nicht auf »ein militärisches Eingreifen zum Schutz der bedrängten Menschen verständigen« können.412 Für Deutschland habe sich die Frage gestellt: »Gegen das Gewaltverbot verstoßen und zum Schutz der Menschen eingreifen oder sich dem bisherigen Völkerrecht unterwerfen und dem Morden im Kosovo tatenlos zusehen?« 413 Es war ein moralisches Dilemma, deren Lösung und die Nachwirkungen der Entscheidung, nämlich der Verweis auf diesen Einsatz im Kosovo durch (halb-)autoritäre Staaten bei eigenen Interventionen, auch über ein Jahrzehnt später anhalten.414 Aus Steinmeiers Sicht war die Beteiligung an einem NATOEinsatz »auch ohne ausdrückliches Mandat des Sicherheitsrates« »eine Entscheidung, die mit zu den schwersten zählte, die die rot-grüne Bundesregierung während ihrer Amtszeit zu treffen hatte.«415 Rückblickend, betont er, berühre und belaste ihn, dass der Einsatz »gleichzeitig zum Tod von serbi-
411 | Ebd., S. 215. 412 | Steinmeier, Frank-Walter: »There shall be no violence«. Hoffnung und Dilemma der »responsibility to protect«; in: Bäuerle, Michael; Dann, Philipp; Wallrabenstein, Astrid: Demokratie-Perspektiven. Festschrift für Brun-Otto Bryde zum 70. Geburtstag, Tübingen 2012, S. 729-740, S. 733. 413 | Ebd. 414 | Vgl. Staack, Michael: Deutsche Außenpolitik unter Stress, Opladen, Berlin, Toronto 2016, S. 18f; vgl. auch Kröter, Thomas: Noch einmal Kosovo; in: Frankfurter Rundschau, 15.05.2014, S. 5. 415 | Steinmeier, F.-W.: »There shall be no violence«; in: Bäuerle, M.; Dann, P.; Wallrabenstein, A.: Demokratie-Perspektiven, 2012, S. 733.
6. Im Kanzleramt
schen Zivilisten geführt hat, eine Tragik, die ich nicht ignorieren kann«. 416 War er in dieser Entscheidungsfindung, insbesondere auch an der (philosophischen und ethischen) Diskussion, beteiligt, wird bei anderen Beispielen der Einfluss Steinmeiers nochmals deutlicher. Als Kanzleramtschef war Steinmeier der Koordinator der deutschen Nachrichtendienste, eine Aufgabe, die bereits seit 1975 dem Chef des Bundeskanzleramts zufällt, der jeweils die »Zusammenarbeit untereinander und gegenüber anderen Ressorts und Behörden« intensivieren soll.417 Die Bedeutung dieser Position war durchaus groß. Natürlich, der BND arbeitet geheim, was auch für die Koordination »grundsätzliche Geheimhaltung« erfordert.418 »Gerade diese Geheimhaltung«, heißt es in einem Aufsatz über die Aufgaben des Bundeskanzleramts, »macht zugleich Koordinierung besonders wichtig, wenn Informationen nicht nur vereinzelt gesammelt, sondern im Interesse wirksamen rechtsstaatlichen Handelns und unter Wahrung des bestehenden Rechts zusammengeführt und gebündelt werden sollen.«419 Die Koordinationsaufgaben des Kanzleramtschefs werden in drei Punkte aufgeteilt, nämlich, »die Mitwirkung bei der parlamentarischen Behandlung der Haushaltsangelegenheiten der drei Dienste« sowie »die Koordinierung der Vorbereitung von Sitzungen des parlamentarischen Kontrollgremiums«. 420 Außerdem habe er den »Vorsitz des Staatssekretärsausschuss für geheime Nachrichtenwesen und die Sicherheit« inne.421 All das bedeutet: Wenn es um Entführungen oder ähnliche Vorfälle geht, ist der Kanzleramtschef involviert. Neben seiner Tätigkeit als Kontrolleur der Geheimdienste und mehr als bei der Kosovo-Frage involviert war Steinmeier in diesen ersten rot-grünen Regierungsjahren bis zum 11. September 2001 vor allem im Themenfeld Europa, das von der Wissenschaft, wie einleitend aufgeführt, auch als zweite große außenpolitische Herausforderung beschrieben worden ist, tätig. So versammelten sich unter Steinmeiers Ägide alsbald »viermal im Jahr die Staatssekretäre der wichtigsten Ressorts, um internationale Posten gezielt besetzen zu können.«422 Für den Spiegel deutete das darauf hin, dass »jetzt […] die Zeit der Bonner Republik mit ihrer außenpolitischen Zurückhaltung auch in Personalfragen vorbei«
416 | Ebd., S. 738. 417 | Knoll, T.: Das Bundeskanzleramt; in: Schrenk, K.; Soldner, M. (Hg.): Analyse demokratischer Regierungssysteme, 2010, S. 211. 418 | Busse, V.: Bundeskanzleramt und Bundesregierung, 2005, S. 132. 419 | Ebd. 420 | Ebd. 421 | Ebd., S. 132. 422 | Beste, Ralf; Niemann, Sonja: Deutsche Delle; in: Spiegel, 09.02.2002, S. 32-33; hier: S. 32.
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III. Politik im Hintergrund
sei.423 Die Runde habe zum Beispiel »mit aller Macht den Ex-Staatssekretär [und späteren Bundespräsidenten; Anm. S.K.] Horst Köhler bugsiert, nachdem ihr erster Kandidat […] durchgefallen war.«424 In Zukunft, so wurde zum Ende der Legislaturperiode die Devise beschrieben, »soll auch auf höherer Beamtenebene mehr Druck ausgeübt werden, um gute Jobs für Deutsche zu sichern. In Brüssel gebe es eben einen ›knallharten Wettbewerb‹ um die besten Posten, so ein Teilnehmer der Steinmeier-Runde.«425 Gezielt würde die Runde dabei analysieren, »für welche Posten – etwa bei Weltbank, Uno oder EU – deutsche Kandidaten notfalls auch gegen Konkurrenten protegiert werden sollen.«426 Bei aller Besonnenheit wird hier einmal mehr Machtpolitik offenbar, die natürlich vorhanden war, wenngleich diplomatisch verpackt. Überhaupt übte Steinmeier in seiner Funktion als Kanzleramtschef immer wieder Einfluss auf die EU aus. In Bezug auf einen drohenden blauen Brief aufgrund der Verletzung der Maastricht-Kriterien sollen sich »[s]till und ausdauernd […] Kanzleramtschef […] Steinmeier und Finanzstaatssekretär Caio Koch-Weser« darum bemüht haben, »ein Gegenvotum im EU-Finanzministerrat zu mobilisieren«.427 Schlicht in seiner Funktion als Kanzleramtschef oblag Steinmeier die »Oberaufsicht« bei außenpolitischen Themen, etwa wenn es um das Feilen einer Argumentationsstrategie für ein Gespräch mit dem damaligen Kommissionspräsidenten Romano Prodi ging, die »im Kanzleramt der Leiter der Europagruppe Reinhard Silberberg« ausgearbeitet hat.428 Wie groß der Einfluss war, zeigte, dass der Kanzler zu einem jener wichtigen Treffen mit Prodi »– das ist nicht üblich –«, so die Berliner Zeitung, »in Begleitung seiner Entourage aus der Regierungszentrale, voran Amtschef Frank Steinmeier, Chefökonom Bernd Pfaffenbach und Außenpolitiker Reinhard Silberberg« angereist war.429 Wichtiger als diese Begebenheit war noch, wie die Zeitung berichtete, die Tatsache, 423 | Ebd., S. 32. 424 | Ebd. 425 | Ebd. 426 | Ebd. 427 | Beste, Ralf; Didzoleit, Winfried; Reiermann, Christian; Schäfer, Ulrich: Die Maastricht-Falle; in: Spiegel, 09.02.2002, S. 22-25; hier: S. 25; vgl. auch o.V.: Schröder und Europa: Das Eigentliche lässt sich nicht befehlen; in: tagesspiegel.de, 20.03.2002; abrufbar unter: www.tagesspiegel.de/politik/schroeder-und-europa-das-eigentlichelaesst-sich-nicht-befehlen/299098.html (zuletzt eingesehen am 17.06.2016). 428 | Schwarz, Patrik; Weingärtner, Daniela: Erst Rabatz, dann Kompromiss; in: taz, 27.04.2002, S. 4. 429 | Wirtgen, Klaus: Gipfel mit Prodi; in: Berliner Zeitung, 29.04.2002; Onlineversion des Printartikels abrufbar unter: www.berliner-zeitung.de/wie-kanzler-gerhardschroeder-bei-einer-visite-in-bruessel-die-europaeische-wirtschaftspolitik-auf-ein-
6. Im Kanzleramt
dass eben dieses Vorgehen »den Fachkollegen aus dem Auswärtigen Amt, dem Wirtschafts- und Finanzressort überhaupt nicht« gefallen habe.430 Schröder wischte die Kritik beiseite und ließ sich mit den Worten zitieren: »Je stärker die Integration fortschreitet, desto mehr wird Europa-Politik zu europäischer Innenpolitik. Damit wird sie zur Querschnittspolitik und die gehört ins Kanzleramt«. 431 Der Blick in die Zukunft zeigt, dass dies keine Worthülse war. Vielmehr sollte Steinmeier in der zweiten Amtszeit eine eigene Europa-Abteilung im Kanzleramt etablieren. Bereits hier, darf also angenommen werden, war es ein Thema, das Steinmeier wie Schröder als eines der wichtigen Zukunftsaufgaben umfangreich beschäftigte und er sich tief in das Feld einarbeitete. So sehr er mit außenpolitischen Themen betraut war, nahm seine Rolle insbesondere in der Außenpolitik eher langsam zu. Auch Schröder betont das: »Dass Steinmeier einer der wichtigsten Leute in der Regierung war, ist ja völlig unbestritten, aber zum Beispiel in der Außenpolitik gab es eine ganz enge Abstimmung zwischen dem Außenminister und mir.«432 Ausdrücklich lobt der Altkanzler auch die Rolle Silberbergs als Abteilungsleiter.433 Dennoch waren es schon diese ersten Jahre, in denen Steinmeier, wie es in einer Analyse heißt, das »außenpolitische Geschäft« kennenlernen konnte.434 Stärker wurde seine Rolle mit den Anschlägen des 11. September 2001. Steinmeier, Wahlkampfstratege Mathias Machnig und einige andere waren gerade mit der Planung des kommenden Bundestagswahlkampfes 2002 beschäftigt, als ein Flugzeug und kurz darauf ein zweites in die Türme des World-TradeCenters flogen. Alles bisher Dagewesene war obsolet. Für Steinmeier bedeutete dieser Angriff zumindest teilweise einen (ungewollten) Wendepunkt in seiner bisherigen Karriere. Steinmeier erinnerte sich viele Jahre später im Spiegel daran, dass bei ihm und Schröder »die Tage nach dem Anschlag eine Zeit« gewesen sei, »die sich tief eingefräst« habe »ins Gedächtnis. Es war nicht nur tiefe Erschütterung über einen schrecklichen Anschlag mit fast 3000 Toten in den Vereinigten Staaten. Es war auch die damals berechtigte Angst, dass der nächste Anschlag Europa und womöglich Deutschland gelten würde.« 435 neues-fundament-stellen-will-gipfel-mit-prodi-16517228 (zuletzt eingesehen am 14.09. 2016). 430 | Ebd. 431 | Zitiert nach ebd. 432 | Schröder, Gerhard im Gespräch mit dem Autor am 09.12.2013. 433 | Vgl. ebd. 434 | Schöllgen, G.: Deutsche Außenpolitik, 2013, S. 286. 435 | Steinmeier, Frank-Walter im Gespräch mit dem Spiegel; in: Hickmann, Christoph; Schwennicke, Christoph: »Andere sind wendiger als ich«; in: Spiegel, 22.11.2010, S. 2426; hier: S. 25.
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Ähnliches berichten die damaligen Mitstreiter: Ulla Schmidt etwa beschreibt die Lage Steinmeiers retrospektiv mit den Worten: »Und er wurde ja auch in eine andere Situation gedrängt, zum Beispiel mit Personenschutz […]. Er war eigentlich der Oberste der Geheimhaltung.«436 Für Schmidt ist rückblickend klar, dass das geprägt habe, »wenn man […] weiß, man ist der Verantwortliche für die Sicherheit hier in Deutschland. Und muss immer verschiedene Informationen der Geheimdienste auswerten, und man darf eigentlich auch nicht drüber reden. Man ist ja der Geheimhaltung verpflichtet.«437 Was Schmidt hier beschreibt, ist keineswegs nur auf Steinmeier zutreffend. Es zeigt vielmehr die Kür der Politik, die große Verantwortung, die ihr in solchen Situationen zukommt, in denen die Abläufe funktionieren müssen, in denen eine Fehleinschätzung und womöglich falsche Entscheidungen weitreichendere Folgen haben können. Wie groß die Bandbreite der Entscheidungen war, wird in einer weiteren Beschreibung Schmidts deutlich. »Jeden Tag« sitze man dann »da unten in diesen abhörsicheren Räumen […] und man ist verantwortlich. Und dann sind natürlich Dinge wie die mit dem Kurnaz […]. Das ist natürlich aus der Situation heraus. Aber dass man sich da nachher immer Gedanken darübermacht, war das richtig oder war das nicht richtig […], sind die Entscheidungen, auch mit nach Afghanistan zu gehen, […] richtig oder nicht? Das glaub’ ich, prägt einen Menschen schon. Dass lässt einen nicht kalt.« 438
Mit Kurnaz, auf den im Kapitel über den Außenminister noch gesondert eingegangen wird, und Afghanistan spricht Schmidt Aspekte des 11. September an, mit denen sich Steinmeier noch lange Zeit beschäftigen muss. Schmidt beschreibt einen Zustand, der Politiker verändern lässt. Bevor Steinmeier 2013 das zweite Mal Außenminister wurde, bekannte er in einer Talkshow, dass die Zeit um den 11. September »die Zeit« gewesen sei, »in der das Tragen von Verantwortung die schwerste war«. 439 An anderer Stelle betonte er außerdem, dass er »in den schweren Wochen und Monaten nach dem 11. September 2001 Verantwortung für die Sicherheit Deutschlands getragen habe«. 440 Steinmeier unterstrich hier seine eigene Mitwirkung innerhalb der Krisenkoordination. Der Grüne Rezzo Schlauch meint zwar nicht, dass Steinmeier, wie es die Frankfurter Allgemeine Zeitung in dieser Zeit um den 11. Septem-
436 | Schmidt, Ulla im Gespräch mit dem Autor am 17.10.2013. 437 | Ebd. 438 | Ebd. 439 | Steinmeier, Frank-Walter in der Talkshow Markus Lanz am 20.09.2012. 440 | Ebd.
6. Im Kanzleramt
ber einmal schrieb, die »zentrale Figur« 441 der Regierung geworden sei, sieht aber dennoch eine Phase eingeleitet, »wo das Dreieck Steinmeier, Fischer und Schröder wichtiger geworden ist.«442 Auch wenn er verneint, dass Steinmeier »die tragende Rolle« innegehabt hätte, fügt er doch hinzu, dass er »mit Sicherheit insofern wichtig« gewesen sei, »weil er wahrscheinlich […] die erste Telefonadresse war.«443 Müntefering geht weiter und befindet rückblickend: »Wenn man sagt, er war die zentrale Figur dieser Regierung, die […] den Überblick behielt, dann ist das, glaube ich, richtig.«444 Steinmeier sei nicht der einzige gewesen, »aber er hat ja nicht nur permanent in [der] Partei und vor allem Ding zunächst mal in der Regierung und im Kanzleramt die Dinge organisiert, sondern er hat auch zu allen zentralen Stellen die Kontakte gehalten […]. [D]ie haben ja permanent getagt.«445 Müntefering betont die physische Belastung, die damit einhergehe: »Es war ja Stunden, nachdem das Ganze passiert war, […] klar: drei von den vieren haben lange in Deutschland gelebt […]. [V]or einem solchen Hintergrund ist ja die Frage: was passiert jetzt eigentlich hier? Und da war ja lauter Nervositäten da, an Bahnhöfen, […] in der Luft.« 446
Steinmeier habe hierbei »permanent Fäden geknüpft […] und versucht, zusammenzubinden.«447 Man könne sich »draußen überhaupt nicht vorstellen«, erinnert sich Schlauch, wie sehr »Schröder, Fischer und damit natürlich auch Steinmeier jeden Tag unter Feuer standen. Intern. Unter allerhöchsten Druck von Washington.«448 Steg sieht eben genau Steinmeiers Einfluss in der Sicherheitszusammenarbeit, wo dieser eine zentrale Rolle innegehabt habe: »Sagen wir mal eher im inneren Gefüge, wenn das […] heute Betrachter von außen schreiben, dann […] beziehen sie sich auf Abläufe und Vorgänge, die eher im Inneren, in der Statik einer Bundesregierung stattfinden. Aber nach dem 11. September ging es eben sehr stark um die Sicherheitszusammenarbeit mit den Amerikanern, die Zusammenarbeit der Dienste.« 449 441 | Bannas, Günter: Einfluss aus dem Hintergrund; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.09.2001, S. 6. 442 | Schlauch, Rezzo im Gespräch mit dem Autor am 06.06.2013. 443 | Ebd. 444 | Müntefering, Franz im Gespräch mit dem Autor am 22.10.2013. 445 | Ebd. 446 | Ebd. 447 | Ebd. 448 | Schlauch, Rezzo im Gespräch mit dem Autor am 06.06.2013. 449 | Steg, Thomas im Gespräch mit dem Autor am 16.12.2013.
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Wie Müntefering und Schlauch verweist Steg auf den Wohnort der Attentäter. »Und man darf das ja nicht vergessen […], die Schläfer in Hamburg um Mohamet Atta.«450 Das habe »schon […] zu ’ner dramatischen Belastung des deutsch-amerikanischen Verhältnisses geführt.451 Steinmeier habe sich »da […] intensiv gekümmert«, 452 betont er die Rolle des Kanzleramtschefs. »[D]as war eine ganz wichtige Aufgabe«. 453 Auch Müntefering resümiert: »Ich habe ihn da auch als ’nen ganz wichtigen Mann empfunden. […] Man [war] froh, wenn man den ansprechen konnte und nicht in die Ministerien oder irgendwo hineinhorchen musste.«454 Steinmeier habe, resümiert Steg, »daher auch sehr vieles dann wieder in der Zusammenarbeit geradebiegen können, Veränderungen in den Diensten vorgenommen«.455 Diese rückblickenden Beschreibungen decken sich mit den damaligen Zeitungsberichten. So habe Steinmeier, berichtete die Welt, die »tägliche Sicherheitslage im Kanzleramt, bei der auch die ›Dienste‹ am Tisch saßen«, geführt.456 Die Frankfurter Allgemeine Zeitung sah ihn tatsächlich, wie bereits erwähnt, »zur zentralen Figur der Regierung« aufrücken.457 Als Beleg führte die Zeitung die verschiedenen Funktionen an, die Steinmeier »[b]ei der Bewältigung der aktuellen Krise, in der Außenpolitisches mit Innenpolitischem zu vereinbaren ist«, 458 innegehabt habe. So nahm Steinmeier laut der Zeitung, natürlich, an den regelmäßigen Besprechungen von Schröder mit Fischer, Scharping und Schily teil, die sich mit den jeweils neuen Lagen beschäftigten. Er sei außerdem zuständig gewesen für die von ihm neu eingerichtete Runde »leitender Beamter der Bundesregierung, die als ›Sicherheitslage‹ mindestens einmal täglich berät. Dieser Runde gehörten ›ranghohe Vertreter‹, also Abteilungsleiter und Staatssekretäre des Auswärtigen Amtes, des Verteidigungs-, des Innen- und des Justizministeriums an«, außerdem das »Führungspersonal des Bundeskriminalamtes und der Nachrichtendienste.«459 Hinzu kamen aus Sicht der Zeitung die Gespräche mit den »Spitzen der Sicherheitsbehörden«, zudem oblag ihm die »Koordinierung der Arbeit des sozialdemokrati-
450 | Ebd. 451 | Ebd. 452 | Ebd. 453 | Ebd. 454 | Müntefering, Franz im Gespräch mit dem Autor am 22.10.2013. 455 | Steg, Thomas im Gespräch mit dem Autor am 16.12.2013. 456 | Bruns, Tissy: Truppe ohne Scharping; in: Welt, 19.10.2001, S. 3. 457 | Bannas, G.: Einfluss aus dem Hintergrund; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.09.2001. 458 | Ebd. 459 | Ebd.
6. Im Kanzleramt
schen Teils der rot-grünen Koalition«. 460 Auch die Spitzenrunde – das »Dreieck der Machtsicherung« 461 –, bestehend aus Steinmeier, Struck und Müntefering, wurde erwähnt sowie einige weitere Aspekte, wie etwa der gute Kontakt zur Grünen-Fraktion.462 All das war nicht unbedingt überraschend, vieles lag schlicht in der Natur seines Aufgabenbereichs. Lob gab es gleichwohl für diese Arbeit. So hielt der Bonner General-Anzeiger in Bezug auf Schröders positive Außenwirkung fest: »Schröder kann diese Außenwirkung nur erreichen, weil sein Apparat ihn nur mit wesentlichen Informationen belastet. Verantwortlich für die effiziente Arbeitsstruktur ist Kanzleramtschef Frank-Walter Steinmeier.«463 Steinmeier agierte also als gut vernetzter Hintergrundmann. Vieles von dem hatte er jedoch über die vergangenen Jahre hinweg aufgebaut, nun aber kam es, so darf angenommen werden, zum Tragen. Scharping gibt rückblickend denn auch zu bedenken: »Aber das jetzt […] der 11. September ein Wendepunkt oder gewissermaßen ein finaler Karrierepusch« gewesen sei, »das halte ich für eine Übertreibung.« 464 Er sieht eher das Gegenteil: »Das war schon da.«465 Tatsächlich war Steinmeier bereits zuvor fest verankert in den politischen Machtstrukturen Gerhard Schröders. Interessant an dieser Stelle war jedoch, dass »der beamtete Staatsekretär«, wie der General-Anzeiger feststellte, bisher »[ö]ffentlich […] kaum in Erscheinung« getreten sei.466 »Anders nach dem Attentat: 245 Stunden danach gab er knapp und präzise eine Zustandsbeschreibung und umriss die Konsequenzen.«467 Der 11. September 2001 markierte so für Steinmeier weniger einen Rollenwechsel in seiner inhaltlichen Arbeit, sondern vielmehr einen Wandlungsprozess hin zu einer größeren öffentlichen Beobachtung. Das – und nicht seine Arbeit – spiegelte den Wendepunkt in Steinmeiers Karriere wider. Denn auch, wenn die befragten Politiker nicht von einem Wendepunkt sprechen wollen, für die Öffentlichkeit war es genau ein solcher: »Erstmals spielt Steinmeier in dieser Situation auch eine Rolle auf der offenen Bühne«, stellte etwa auch
460 | Ebd. 461 | Vgl. S. 150f in dieser Biographie; vgl. auch Kohlmann, S.: Franz Müntefering, 2011, S. 90f. 462 | Bannas, G.: Einfluss aus dem Hintergrund; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.09.2001. 463 | Wittke, Thomas: Die Fünf, auf die es in diesen Tagen ankommt; in: General-Anzeiger, 19.09.2001, S. 3. 464 | Scharping, Rudolf im Gespräch mit dem Autor am 20.09.2013. 465 | Ebd. 466 | Wittke, T.: Die Fünf; in: General-Anzeiger, 19.09.2001. 467 | Ebd.
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die Welt fest.468 »Er war es, der offiziell für die Bundesregierung gesagt hat, dass vieles auf eine Tätigkeit des gesuchten Osama Bin Ladin hinweist.«469 Von einer »neuen Qualität des Terrors« sprach Steinmeier und gab anhand einiger Beispiele hierbei auch Einblick in die Arbeit der Geheimdienste.470 Schnell entstand in Bezug auf ihn das Bild eines Garanten für Glaubwürdigkeit, oder, wie es die Welt schrieb, des »Alleswisser[s] in Schröders Gefüge.«471 Neben Steinmeier – und natürlich insbesondere neben Fischer und Schröder – waren mit Blick auf die Wirkung in die Partei hinein erneut auch Müntefering und Struck wichtig. Ihnen oblag es, nach einem Ausweg bezüglich des drohenden Verfehlens einer eigenen Bundestagsmehrheit für einen Kampfeinsatz in Afghanistan mit fast 4000 Soldaten im Rahmen der Operation Enduring Freedom zu suchen.472 Es war eine Frage, die sich nach dem Hilfegesuch der USA zwei Monate nach dem 11. September auftat.473 Als absehbar wurde, dass die eigene Mehrheit keineswegs sicher war und bis zu 40 Abgeordnete der SPD darüber nachdachten, gegen den Einsatz zu stimmen,474 wurde Steinmeier laut Spiegel vom Kanzler damit beauftragt, »die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Vertrauensabstimmung nach Artikel 68 Grundgesetz [zu] klären«. 475 Vor allem sollte nach dieser Darstellung die Frage analysiert werden, »ob das erforderliche Quorum (›Kanzlermehrheit‹) sinkt, wenn Koalitionsabgeordnete ihr Mandat niederlegen«.476 Einmal mehr waren es die juristischen Finessen, die geprüft werden sollten. Diese Zeit war es, in der Schröders Aussage in Bezug auf eine drohende Niederlage gefallen sein soll: »Dann muss das ein anderer machen.«477 Bis zuletzt überlegten die Beteiligten, wie man die eigenen Abgeordneten noch zu einem Ja bewegen könnte. Struck und auch Müntefering hatten hier durch Einzelgespräche mit dafür gesorgt, dass die SPD-Fraktion letztendlich ge-
468 | Bruns, Tissy: Truppe ohne Scharping; in: Welt, 19.10.2001, S. 3. 469 | Ebd. 470 | Zitiert nach Weiland, Severin: Schily und Scharping demonstrieren Abwehrbereitschaft; in: taz, 13.11.2001, S. 13. 471 | Bruns, T.: Truppe ohne Scharping; in: Welt, 19.10.2001. 472 | Zur Entstehung und Entwicklung dieses Einsatzes vgl. auch Noetzel, Timo; Scheipers, Sibylle: Flüchten oder Standhalten; in: Internationale Politik, 9/2007, S. 120-125. 473 | Vgl. Schöllgen, G.: Gerhard Schröder, 2015, S. 573. 474 | Vgl. ebd., S. 575. 475 | O.V.: Jenseits der roten Linie; in: Spiegel, 19.11.2001, S. 28-34; hier: S. 28. 476 | Ebd. 477 | Zitiert nach ebd.; in anderer Formulierung, aber in der Botschaft ähnlich vgl. hierzu: Schöllgen, G.: Gerhard Schröder, 2015, S. 573.
6. Im Kanzleramt
schlossen hinter Schröder stand.478 »Peter«, soll sich der Bundeskanzler bei Struck hernach bedankt haben, »ich bin dir persönlich verbunden.«479 Das Dreieck der Machtsicherung hatte funktioniert. Der 11. September markierte einen Wandel nicht nur für die USA, sondern auch für Deutschland, Europa und die Welt insgesamt. »Die Reaktion der amerikanischen Politik auf die terroristischen Anschläge hat das westliche Lager gespalten«, heißt es in einer Analyse.480 »[S]owohl das transatlantische als auch das europäische Bündnis hat durch die [spätere, Anm. S.K.] mehr oder weniger unilaterale kriegerische Bekämpfung des Saddam-Regimes gelitten.«481 Dennoch sei der 11. September »kein mit den vier Wegmarken vergleichbar einschneidendes Ereignis in der deutschen Außenpolitik« gewesen.482 Gleichwohl bedurfte es auch in Deutschland einer schnellen, allumfassenden, gut koordinierten Krisendiplomatie. Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung zog in jener Zeit einmal einen Vergleich mit der Schleyer-Entführung und dem Deutschen Herbst 1977. Sie schrieb: »Heute sitzen in den Krisenstäben keine Wehrmachtsoffiziere mehr. Die heutigen Krisenmanager standen noch vor 20 Jahren bei der Nato-Nachrüstung oder vor zehn Jahren beim Golf-Krieg eher im Lager der Friedensbewegung. Doch sie haben gelernt, sie haben sich verändert. Die Sprache erinnert in Klarheit und Härte an Formulierungen der siebziger Jahre. Allerdings sei der Geist ›republikanischer‹, meint der Vorsitzende der Grünen-Fraktion, Schlauch. Damit meint er, daß die heutigen Akteure eine Atmosphäre
478 | Eine Abgeordnete, die weiterhin mit Nein stimmen wollte, trat zuvor aus der Fraktion aus (Vgl. Schöllgen, G.: Gerhard Schröder, 2015, S. 575); ansonsten tagte vor der Abstimmung über das Afghanistan-Mandat durch den Bundestag schließlich noch einmal »das Sicherheitskabinett: Fischer, Schily Scharping Steinmeier und Schröder einig[t]en sich auf eine Protokollerklärung, die den [verbliebenen] Grünen Abweichlern das Ja erleichtern soll.« (O.V.: Jenseits der roten Linie; in: Spiegel, 19.11.2001, S. 32) Am Ende stimmten »336 der 663 Abgeordneten […] für den Antrag des Kanzlers« (Schöllgen, G.: Gerhard Schröder, 2015, S. 575), nur vier Abgeordnete der Regierungskoalition, die aus den Reihen der Grünen kamen, stimmten dagegen, die Mehrheit stand, der Fortgang der Koalition war gesichert. 479 | Vgl. Schöllgen, G.: Gerhard Schröder, 2015, S. 575.; vgl. auch O.V.: Jenseits der roten Linie; in: Spiegel, 19.11.2001. 480 | Pfetsch, F.: Die Außenpolitik der Bundesrepublik, 2012, S. 249. 481 | Ebd. 482 | Ebd.; in Bezug auf die Wegmarken deutscher Außenpolitik vgl. auch Kapitel 9.1 in dieser Biographie.
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III. Politik im Hintergrund des Ausnahmezustands, der undifferenzierten Auseinandersetzung vermeiden wollten – wie sie 1977 manchmal spürbar gewesen sei.« 483
In dieser Biographie wurde bereits auf Steinmeiers Jugend geblickt. Gerade in jener Zeit der Schleyer-Entführung machte Steinmeier seine ersten Erfahrungen mit Politik. Nunmehr, 24 Jahre später, trug er als Kanzleramtschef selbst Verantwortung. In seiner Autobiographie zog er genau jenen Vergleich zu der damaligen Situation, schrieb mit Verweis auf die Schleyer-Entführung, dass er wisse, »unter welchem Druck die Politik damals« gestanden habe.484 Seine Generation hatte die Auseinandersetzung mit den Extremen von Beginn ihrer Jugend miterlebt. Sie wussten, dass es einen Tag danach geben würde, wussten aber auch, dass die Gefahr stets groß war, dass man pragmatisch und abgewogen reagieren müsse auf die Gefahren von äußeren Angriffen auf die Demokratie. Der 11. September 2001 markierte womöglich nun den Abschluss eines Lernprozesses über die Verantwortung des Amtes, der bei allen Beteiligten in dieser Situation nochmals deutlich geworden sein dürfte. Steinmeiers Rolle ging dabei auch über die dezidiert exekutive Politik hinaus. Noch vor dem 11. September 2001 wurde mit der Planung des Wahlkampfes begonnen, an der Steinmeier auf Seiten des Kanzleramts beteiligt war. Von einem »Gefühls- und Persönlichkeitswahlkampf, den es in dieser Form bislang noch nicht gegeben hat«, 485 war zum Beispiel in Bezug auf das Konzept in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung im Juni 2001 die Rede. Demnach gingen die Überlegungen von Schröders Beratern dahin, den Wahlkampf allein auf die Person des Kanzlers zuzuschneiden. »Plakate […] wären dann nicht mehr als SPD-Plakate zu erkennen« gewesen.486 Vielmehr war die Idee: »Wer Schröder will, muß SPD wählen«. 487 Losgelöst von der Partei solle der Wahlkampf verlaufen, berichtete die Zeitung: »Der Kanzler nicht als Parteimann, sondern als Pragmatiker der Macht, der die jeweils beste Lösung jenseits von der Partei anstrebt.«488 Das erinnert an Steinmeiers »innovativen Konsens«, der eine neue Form von Politik fernab der parteipolitischen Scheuklappen propagierte. So verwundert es nicht, dass Steinmeier und neben ihm der Abteilungsleiter für Grundsatzfragen und Planung im Kanzleramt, Wolfgang Nowak, »[t]reibende 483 | Ehrlich, P.: Stiller Regisseur des Systems Schröder; in: Financial Times Deutschland, 05.06.2002. 484 | Steinmeier, F.-W.: Mein Deutschland, 2009, S. 47. 485 | Inacker, Michael: Schröder als Meister der Netzwerke; in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 03.06.2001, S. 4. 486 | Ebd. 487 | Ebd. 488 | Ebd.
6. Im Kanzleramt
Kräfte hinter diesen Vorstellungen« gewesen sein sollen.489 »So viel ideologischer Minimalismus war nie«, konstatierte die Zeitung.490 Andere Medien berichteten ebenfalls über Steinmeiers Rolle. Auch von Streitigkeiten über die Ausrichtung war hierbei immer wieder die Rede. So soll Steinmeier im Zuge der Planung zunehmend mit Matthias Machnig, den er anfänglich noch schätzte,491 aneinandergeraten sein. Letzterer habe Steinmeier vorgeworfen, den »Wahlkampf allein mit Bilanzen bestreiten zu wollen, außerdem habe er wenig realistische Vorstellungen von der Partei.«492 Es ist ein Vorwurf, der die unterschiedlichen Blickpunkte untermauert, hier der an der Umsetzung interessierte Pragmatiker, dort derjenige, der auch die Befindlichkeiten der Partei mit im Blick hat. Tatsächlich argumentierte Steinmeier auch halböffentlich mit Zahlen. So habe er, berichtete die Berliner Zeitung, »[i]n ungewöhnlich scharfer Form […] auf negative Äußerungen des Hauptgeschäftsführers des Bundesverbandes der Deutschen Industrie […] zur rot-grünen Wirtschaftspolitik« reagiert.493 In dem Brief des BDI-Chefs an die Bundesregierung hieß es: »Unter dem Strich ist festzustellen, dass wir uns von der Spitze weg abwärts ins Mittelfeld der hoch entwickelten Länder bewegen. Die Attraktivität Deutschlands schwindet, statt zuzunehmen.494 Eine Fülle von Indikatoren« würde das »deutlich« belegen.495 Für diese Biographie interessant sind die von der Zeitung zitierten Passagen aus dem Antwortschreiben des Kanzleramtschefs deshalb, weil Steinmeier dem Wirtschaftsstandort Deutschland hier ein nachhaltig gutes Zeugnis ausstellte. Im Rückblick erscheint das mit dem Wissen, dass nur ein Jahr später die Agenda 2010 mit dem drohenden Verlust der internationalen Wettbewerbsfähigkeit begründet wird, zumindest überraschend.
489 | Ebd. 490 | Ebd. 491 | So ließ sich Steinmeier zum Beispiel einmal mit den Worten zitieren, dass »[a]us Ideen […] irgendwie Politik werden« müsse und »Macht […] die besondere Gabe [habe] zu wissen, wie das geht«; zitiert nach Schwennicke, Christoph: Der Maschinist der Macht; in: Süddeutsche Zeitung, 13.03.2002, S. 3. 492 | Sturm, D.-F.: Wohin geht die SPD?, 2009, S. 252. 493 | Wirtgen, Klaus: Kanzleramtschef attackiert BDI; in: Berliner Zeitung, 27.06.2002; Onlineversion des Printartikels abrufbar unter: www.berliner-zeitung.de/steinmeierwir f t-industrieverbands-manager-von-war tenberg-par teinahme-gegen-rot-gruenebundesregierung-vor-kanzleramtschef-attackiert-bdi-16292062 (zuletzt eingesehen am 22.08.2016). 494 | Ebd. 495 | Ebd.
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So antwortete Steinmeier: Man solle sich die Worte des Bundespräsidenten Johannes Rau zu Herzen nehmen, der in einer Rede beklagte, »mit welcher Lust und mit welcher Energie wir unser Land schlecht reden und unsere Zukunft schwarz malen«. 496 Er könne, berichtete die Zeitung, der Bewertung des BDI-Chefs »weder nach Lektüre des BDI-Berichtes noch in Kenntnis der Regierung vorliegende[n] Fakten« zustimmen.497 Empört klangen die folgenden Worte: »Ich muss mich schon fragen, was sie bezwecken«. 498 Der Kanzleramtschef bestückte seinen Brief mit vielen Zahlen, die als »deutliches Zeichen für die exzellente Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft« zu bewerten seien.499 »So sei der Offenheitsgrad der Wirtschaft, also die Summe aus Importen und Exporten in Prozenten des Bruttoinlandsproduktes (BIP), im Jahre 2002 auf einen Höchststand von 67,8 Prozent gestiegen – Rekord seit 1991«, zitierte die Zeitung weiter. »Der BDI verschweige in diesem Zusammenhang, dass sich die Summe der ausländischen Direktinvestitionen – ohne den Verkauf von Mannesmann an Vodafone – unter rot-grüner Regentschaft von 1998 bis 2001 auf rund 210 Milliarden Euro gegenüber der noch von Helmut Kohl verantworteten Spanne von 1994 bis 1997 versiebenfacht habe«, 500
hieß es außerdem. »Zu Wartenbergs pauschaler Standortschelte«, wurde der Inhalt zusammengefasst, »passten auch nicht die positiven Aussagen und Zahlen des BDI über den Zuwachs an IT-Ausbildungsplätzen und Internetzugängen. Bei den Ausgaben für Forschung und Entwicklung (F&E) bescheinige der BDI der Koalition zwar, mit einer Steigerung des Forschungsetats um über 15 Prozent im Haushalt 2002 gegenüber 1998 ›einen negativen Trend gestoppt‹ zu haben, auch wenn Deutschland mit seinen F&E-Aufwendungen – bezogen aufs BIP – in der EU nur Platz drei hinter Schweden und Finnland einnehme.« 501
Neben weiteren Zahlen habe Steinmeier hinzugefügt, dass der BDI »bei seiner Kritik am ›Hochsteuerland‹« vergesse, »dass Deutschland im Jahre 2005 mit 42 Prozent den ›historisch niedrigsten Spitzensteuersatz bei der Einkommen-
496 | Ebd. 497 | Ebd. 498 | Ebd. 499 | Ebd. 500 | Ebd. 501 | Ebd.
6. Im Kanzleramt
steuer‹ aufweisen werde«, es zudem »schlicht nicht« stimme, »wenn der BDI behaupte, die Lohnzusatzkosten seien unter Rot-Grün gestiegen«.502 Aus diesem Schreiben sprach Unverständnis. Die Regierung und mit ihr ihr Kanzleramtschef schienen sich der Lage zu dieser Zeit offensichtlich nicht bewusst zu sein oder aber beschönigten sie aufgrund des aufkommenden Bundestagswahlkampfes. Unter Einbeziehung des Zahlenstreits zwischen Machnig und Steinmeier scheint es durchaus möglich, dass Steinmeier an diese Zahlen glaubte, sie deswegen auch offensiv in den Wahlkampf einbringen wollte. Dieses Bild verdichtet sich beim Blick in die Akten des Parteivorsitzenden Schröder. Aus dem Protokoll der Sitzung des Parteirats am 15. April 2002, also einer internen Sitzung, bei der man auf Beschönigungen hätte verzichten können, geht hervor, dass Schröder voller Zuversicht war, dass sich die Lage verbessern würde. So hieß es dort: »Gerhard Schröder berichtet zur Lage. […] Es deute sich an, dass die finanzpolitischen und wirtschaftspolitischen Maßnahmen der Bundesregierung beginnen, ihre Wirkung zu entfalten.«503 Doch dieses öffentlich und intern dargestellte positive Bild Deutschlands durch Steinmeier und Schröder stand im Widerspruch nicht nur zur Wirtschaftskraft und den Arbeitslosenzahlen, sondern auch zur Wahrnehmung der SPD-Wahlkampf-Truppe. »Ausgerechnet im Bundestagswahlkampf fehlt dem roten Regenten eine starke Truppe«, kommentierte der Spiegel: »Loyale und zuverlässige Helfer für die Tagesarbeit reichten ihm bislang aus. Kanzleramtschef […] Steinmeier ist zwar ein erstklassiger Administrator und vor allem Schmied von Kompromissen, aber kein Wahlkampfstratege. Müntefering und Machnig verfügen über Intimkenntnisse der SPD, ticken aber häufig anders als ihr Parteivorsitzender. Gemeinsam entwickelte dieses Trio im Auftrag Schröders die Kampagnenkonzeption – und jetzt ärgert sich der Hauptmatador, dass er sich selbst zu wenig Zeit dafür nahm.« 504
Auch hier wurde wieder die Rolle seines Teams deutlich, denn Schröder war zu Beginn nur bedingt in die Wahlkampfplanung involviert. Der Konflikt eskalierte insofern, dass Machnig zunehmend von dieser entbunden wurde. Schröder hingegen nahm den Wahlkampf mehr und mehr selbst »in die Hand, flankiert von Steinmeier, Müntefering und dessen engstem Mitarbeiter Wasserhövel«.505 Dass Programm, an dem Steinmeier mitgearbeitet haben soll und das er nach Präsentation mit den Worten lobte, dass es »den Vergleich mit 502 | Ebd. 503 | Nachzulesen im Aktenbestand Büro Parteivorsitzender Gerhard Schröder (im Archiv der sozialen Demokratie); hier: 2/PVEF000023. 504 | Deupmann, Ulrich; Knaup, Horand; Steingart, Gabor: »Es gibt kein Kaninchen«; in: Spiegel, 13.05.2002, S. 25-28; hier: S. 28. 505 | Sturm, D.-F.: Wohin geht die SPD?, 2009, S. 80.
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dem der Union nicht zu scheuen« brauche,506 war »von brisanten Reformen gereinigt[]«.507 Doch all das verfing zunächst nicht, die Umfragen zeichneten ein desaströses Bild der SPD kurz vor Ende der Legislaturperiode und trugen zu einer zunehmenden, beinahe melancholischen Stimmung bei den Protagonisten bei. Auch die Verfassung ihres Anführers, des Bundeskanzlers und Parteivorsitzenden Schröder, dürfte zu einer zunächst fehlenden Mobilisierung beigetragen haben. So beklagte der grüne Vizekanzler Fischer, dass er nicht mehr an Schröder herankomme. »Wisst ihr, was mit dem los ist? Ich verstehe ihn nicht mehr«, soll er Vertraute des Kanzlers gefragt haben.508 Als der ehemalige Kanzleramtschef Hombach Schröder »bei einem Abendessen die ganze Palette der Pannen in der SPD-Kampagne auflistete, reagierte der Gesprächspartner erstaunlich matt: Das habe er nicht gewusst oder nicht gemerkt – oder sei nicht dabei gewesen.«509 Der Bundeskanzler fühlte, hieß es an anderer Stelle, sich »umgeben von Parteiidioten, die ihn allein lassen, von einer Kampa, die alles falsch macht, und von Journalisten, die ihn nicht mehr lieben«.510 Diese Zeit dürfte es sein, in der der einstige Medienkanzler sich von den Medien emanzipierte, sein Blick auf sie sich veränderte. Jedenfalls war es zunächst ein Wahlkampf, »in dem immer nur der Gegner die Punkte« gemacht hatte.511 Der Wahlkampf selbst schien Schröder, der einmal schreiben wird, dass der Wahlkampf »für mich […] die interessanteste Zeit im Politikerdasein« gewesen sei,512 so keinen Spaß mehr gemacht zu haben. Von einer »Phase der Leere« sprach er im Rückblick, die ihn gelähmt habe.513 Seltsam ratlos und müde wirkten die rot-grünen Protagonisten zum Ende jener ersten Legislaturperiode. Riester hielt die Wahl, so erzählt er zumindest rückblickend, bereits für verloren, »ging persönlich davon aus, dass 2002 […] nicht mehr zu einer Regierung führt, die die SPD anführt«.514 Und auch Fischer soll zunächst wenig bei der Sache gewesen sein, erinnert sich Schlauch: »der hat nicht mehr
506 | Ehrlich, P.: Stiller Regisseur des Systems Schröder; in: Financial Times Deutschland, 05.06.2002. 507 | O.V.: SPD plant »Weiter so«-Programm für Wahlkampf; in: AP, 13.04.2002. 508 | Geyer, M.; Kurbjuweit, D.; Schnibben, C.: Operation Rot-Grün, 2005, S. 207. 509 | Deupmann, U.; Knaup, H.; Steingart, G.: »Es gibt kein Kaninchen«; in: Spiegel, 13.05.2002, S. 28. 510 | Geyer, M.; Kurbjuweit, D.; Schnibben, C.: Operation Rot-Grün, 2005, S. 191. 511 | Ebd. 512 | Schröder, G.: Entscheidungen, 2006, S. 496. 513 | Zitiert nach Geyer, M.; Kurbjuweit, D.; Schnibben, C.: Operation Rot-Grün, 2005, S. 207. 514 | Riester, Walter im Gespräch mit dem Autor am 16.05.2013.
6. Im Kanzleramt
gekämpft«, erst später habe er das »wie der Löwe« wieder getan.515 Schröder hingegen sei »in der Leere« gewesen, »und die ganze SPD und übrigens […] Steinmeier auch.«516 Tatsächlich schien Steinmeier zu diesem Zeitpunkt inmitten des Wahlkampfes keine Zuversicht mehr verbreitet zu haben im Kanzleramt – zumindest bekannte er später, dass der Apparat schon wieder konservativ gedacht habe.517 All diese Einzelaussagen deuteten auf ein Bild hin: Die SPD war Mitte 2002 ratlos und ausgelaugt, wusste nicht mehr, wie sie das Ruder noch herumreißen sollte. Anders sah es weiterhin in der Außenpolitik aus, in der die Regierung nach knapp vier Jahren Regierungszeit eine vergleichsweise klare Linie gefunden hatte, die auch ohne Wahlkampf zu verfolgen war und die sie auch offensiv vertrat. Eine der wenigen Reden Steinmeiers – anlässlich der Veranstaltung »40 Jahre Stiftung Wissenschaft und Politik« – zeigte hierbei nicht nur den außenpolitischen Anspruch von Rot-Grün auf, sondern vielmehr auch Steinmeiers aktive Rolle dabei. Sie begann mit den Worten: »Der Bundeskanzler befindet sich noch auf dem Rückweg aus Japan und hat mich gebeten, heute an seiner Stelle die 40-jährige Tätigkeit der SWP zu würdigen. Dies tue ich umso lieber, als ich mich der Stiftung und Ihnen, sehr verehrter Herr Bertram, als vielfältiger Nutznießer Ihrer Expertise und natürlich auch als stellvertretender Vorsitzender des Stiftungsrates in besonderer Weise verbunden fühle.« 518
Der von Steinmeier Angesprochene, Christoph Bertram, begleitete die rot-grüne Bundesregierung als Chef der SWP, der er 1998 wurde und bis 2005 blieb, von Beginn an.519 Mit Außenpolitik hat er sich schon zuvor in verschiedenen Stationen beschäftigt.520 Steinmeier, das bestätigt sich einmal mehr, war be515 | Schlauch, Rezzo im Gespräch mit dem Autor am 06.06.2013. 516 | Ebd. 517 | Vgl. Schwennicke, Christoph: Ouvertüre in Moll; in: Süddeutsche Zeitung, 11.11.2002, S. 3. 518 | Steinmeier, Frank-Walter: Rede auf der Veranstaltung »40 Jahre Stiftung Wissenschaft und Politik«, Berlin 01.07.2002; Redemanuskript abrufbar unter: http://adrien. barbaresi.eu/corpora/speeches/BR/t/441.html (zuletzt eingesehen am 17.06.2016). 519 | Vgl. auch Stiftung Wissenschaft und Politik: Ausblick: Deutsche Außenpolitik nach Christoph Bertram, Berlin 2015; hier: S. 5; abrufbar unter: www.swp-berlin.org/fi leadmin/contents/products/studien/ausblicknachbertram_ks.pdf (zuletzt eingesehen am 04.08.2016). 520 | Vgl. auch Bertram, Christoph: Außenpolitik? Nein, danke; in: Tagesspiegel, 10.09.2009, S. 10.
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reits in dieser ersten Legislaturperiode natürlich auch mit Außenpolitik beschäftigt, holte er sich doch unter anderem bei Bertram stets dessen Rat. Seine Rede trug denn auch, trotz des nur vertretungsweisen Charakters, einige eigene Akzente, wie bereits an dieser Einleitung zu sehen war.521 Die skizzierten Positionen, das darf angenommen werden, spiegelten auch seine Auffassung wider: »Viel zu lange haben wir uns in Deutschland der trügerischen Hoffnung hingegeben, daß Konflikte in vermeintlich fernen Weltgegenden unseren Alltag nicht wirklich betreffen – oder daß andere, insbesondere die Vereinigten Staaten, für mehr Stabilität zuständig sind«,522 konstatierte er und unterstrich die neue Verantwortung Deutschlands: »Diese Haltung können wir uns – Sie alle wissen das – nicht länger gestatten. Wir können uns unserer gewachsenen Verantwortung nicht entziehen. Dabei werden wir uns auch an den Gedanken gewöhnen müssen, dass neben Krisenprävention und Krisenmanagement, wenn nötig, auch militärische Mittel zur Sicherung von Frieden und Stabilität eingesetzt werden müssen.« 523
Diese Hervorhebung der Verantwortung Deutschlands wird Steinmeier fortführen – auch später als Außenminister. Bereits hier unterstrich er, dass es keinen Konflikt gebe, der Deutschland nichts angehe, denn: »Das Zusammenwachsen der Welt, die revolutionären Veränderungen in der Informations- und Kommunikationstechnologie sowie im Transportsektor lassen die Welt zum ›globalen Dorf‹ schrumpfen, in dem uns potentiell alles angeht, weil uns potentiell alles betreffen kann.« 524
Außerdem betonte er in Bezug auf die Zusammenarbeit mit der Stiftung: »Ich erinnere mich gern an die zum Teil auch ganz – kurzfristig einberufenen Runden – wir haben gerade heute eine nächste zum Thema Irak vereinbart –, in denen ich mich mit Ex521 | Weiter heißt es zum Beispiel an einer Stelle: »Mit neuer Dringlichkeit stellt sich – neben vielen anderen – die Frage: Was erwartet die Bundesregierung, namentlich das Bundeskanzleramt, für das ich spreche, von einem Austausch mit einer wissenschaftlichen Forschungseinrichtung mit Schwerpunkt Außen- und Sicherheitspolitik?«; Steinmeier unterstreicht hier seine Rolle als Kanzleramtschef, sodass die Rede zumindest auf ihn angepasst worden sein dürfte; ebd. 522 | Ebd.; vgl. auch Inacker, Michael: Die SPD verläßt den Weg nach Westen; in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 11.08.2002, S. 4. 523 | Steinmeier, F.-W.: Rede auf der Veranstaltung »40 Jahre Stiftung Wissenschaft und Politik«, 01.07.2002. 524 | Ebd.
6. Im Kanzleramt perten der SWP, des Auswärtigen Amtes und des Bundesnachrichtendienstes zu Fragen wie Islamismus, Iran, biologische Kampfstoffe u.ä. beraten habe.« 525
Diese Rede, die die Beschäftigung Steinmeiers auch mit außenpolitischen Fragestellungen noch einmal bestätigt, war Teil einer größeren Linie. An anderer Stelle etwa äußerte sich Schröder mit den Worten: »Mir liegt daran, daß […] deutlich wird, wieweit wir mit den Traditionen der alten Bundesrepublik in der Außen- und Sicherheitspolitik gebrochen haben.«526 Er spielte damit auf die bisherige Doktrin der militärischen Enthaltsamkeit an527 und macht dies in der Aussage deutlich, dass »[d]ie Veränderungen in der Welt […] uns dazu gezwungen« hätten, »über diese Frage neu nachzudenken. Der Hinweis, als ein geteiltes Land nicht volle Verantwortung auch im internationalen Maßstab übernehmen zu können, stand uns nicht mehr zur Verfügung. Wir waren glücklich darüber. Als Folge dessen hatten wir Außen- und Sicherheitspolitik zu verändern; denn unsere Partner in Europa, aber auch überall in der Welt erwarteten Solidarität in einem nicht eingeschränkten Sinne und erwarteten – als Ultima Ratio gewiss, aber ohne Einschränkungen – auch Teilnahme an gemeinsamer militärischer Intervention.« 528
Was sowohl Steinmeier als auch Schröder hier beschrieben, entsprach auch dem, was im wissenschaftlichen Diskurs retrospektiv als Herausforderung diagnostiziert wurde: »Die Herausforderungen durch Terrorismus und Kriege zwingen die deutsche Außenpolitik zu Änderungen: die militärische Enthaltsamkeit wird zugunsten eines größeren Engagements out of area im Rahmen des Bündnissystems in Bosnien, Serbien, Mazedonien, im Kongo oder Libanon aufgegeben« (Hervorhebung F.P.).529 Der »Wechsel zur rot-grünen Bundesregierung 1998« bedeutete insofern eine »entscheidende Wegmarke« für den »Wandel der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik«.530 Steinmeier war hier von Beginn an an einer Bundesregierung beteiligt, die diesen Wandel gestaltete.
525 | Ebd. 526 | Zitiert nach Inacker, M.: Die SPD verläßt den Weg nach Westen; in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 11.08.2002. 527 | Vgl. ebd. 528 | Schröder, Gerhard: Rede beim Weltwirtschaftsforum 2002, New York, 01.02.2002; abrufbar unter: www.zeit.de/reden/wirtschaftspolitik/wefny_schroeder_200208 (zuletzt eingesehen am 17.06.2016). 529 | Pfetsch, F.: Die Außenpolitik der Bundesrepublik, 2012, S. 236. 530 | Ebd.
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Umso überraschender war, wie sehr nun – unabhängig von der inhaltlichen Bewertung der Frage – mit dem Thema Irakkrieg ab Sommer 2002 Bundestagswahlkampf gemacht und von Schröder von einem »deutschen Weg« gesprochen wurde, der prägend für die Auseinandersetzung mit den USA war und auch in Deutschland zu Kritik führte.531 Tatsächlich war die Frage eines Irakkriegs, natürlich, schon längere Zeit im Hintergrund behandelt worden. Steinmeier, Heye und Journalist Manfred Bissinger, an dem Schröder den »politischen Sachverstand« schätzte532 und der als Externer hinzugezogen wurde, haben hierzu unter anderem ein Strategiegespräch im Kanzleramt geführt.533 Übereinstimmend sollen sie sich für ein Nein zu diesem Krieg ausgesprochen haben. Dieses (prinzipiell richtige) Nein bedeutete, zunächst, ganz nüchtern bewertet, eine weitere folgenreiche Wende in der deutschen Außenpolitik. Denn mit dem Nein hat sich Deutschland »im Kontext des Irakkrieges 2003 offen gegen diese Strategie [Präventivkrieg gegen terroristische Bedrohungen, Anm. S.K.] und damit gegen die Vereinigten Staaten als Führungsmacht des Atlantischen Bündnisses gestellt und durch die enge Koordination der eigenen Politik mit Frankreich, Russland und China eine politische Gegenmachtbildung gegen die USA zwar nicht initiiert, sie zumindest aber billigend in Kauf genommen. Dies hatte nicht zuletzt negative Konsequenzen für die Handlungsfähigkeit der Allianz [NATO; Anm. S.K.].« 534
Von einer »deutsche[n] NATO-Politik« ist rückblickend die Rede, die »zunehmend bereit« sei, deutsche Interessen im Bündnis durchaus auch zum Preis des transatlantischen Dissenses durchzusetzen.«535 In einer weiteren Bestandsaufnahme wird dem Nein zum Irakkrieg gar eine »[p]otentiell strategische Bedeutung« für die »bilaterale deutsch-russische Partnerschaft« zugemessen.536 Deutschland habe »mit seiner Opposition gegen den Irakkrieg 531 | Vgl. Inacker, M.: Die SPD verläßt den Weg nach Westen; in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 11.08.2002. 532 | Ebd. 533 | Vgl. ebd. 534 | Kaim, Markus; Niedermeier, Pia: Das Ende des »Multilateralen Reflexes«? Deutsche NATO-Politik unter neuen nationalen und internationalen Rahmenbedingungen; in: Jäger, Thomas; Höse, Alexander; Oppermann, Kai (Hg.): Deutsche Außenpolitik, Wiesbaden 20112, S. 105-125; hier: S. 111. 535 | Ebd., S. 115. 536 | Spanger, Hans-Joachim: Die deutsche Russlandpolitik; in: Egle, Christoph; Zohlnhöfer, Reimut (Hg.): Die zweite große Koalition. Eine Bilanz der Regierung Merkel 2005 bis 2009, Wiesbaden 2010, S. 648-672; hier: S. 658.
6. Im Kanzleramt
2002/2003 den vertrauten Allianzrahmen« verlassen »und außenpolitischen Flankenschutz« benötigt, »den Moskau gemeinsam mit Paris schließlich gewährte. Russland wurde so zu einem unverzichtbaren Partner, ohne den der neu verkündete Kurs national bestimmter Außenpolitik jeglicher materieller Grundlage entbehrt hätte.«537 In jedem Falle kann von einer Emanzipation deutscher Außenpolitik gesprochen werden, die nunmehr nicht mehr nur eine aktive, aber auch vergleichsweise passive Partei war, sondern auch eine Partei, die selbstständiger als zuvor reagierte und sich bei Bedenken gegebenenfalls gegen ihren Bündnispartner wendete. All das mag nachvollziehbar sein und es kann nur als klug beurteilt werden, dass sich die Bundesregierung trotz, wie sich Steinmeier erinnert, »heftiger Diskussion […] in den Medien, aber auch innerhalb der Bundesregierung«, bei der manch »altgedienter Diplomat« gewarnt habe, »[d]as werdet ihr nicht durchhalten! Auf die Franzosen ist kein Verlass, am Ende wird Deutschland allein stehen«,538 gegen diesen Krieg ausgesprochen hat. Es bleibt jedoch die so brachiale, vor allem nach innen gerichtete Thematisierung der Ablehnung des Irakkriegs im Wahlkampf. Lesenswert erscheint diesbezüglich ein Beitrag des ehemaligen US-Außenministers Henry Kissinger: »Es ist wahrscheinlich, daß jeder Kanzler (auch) gezögert hätte, sich am Irak-Krieg zu beteiligen. Aber kein Bundeskanzler oder Außenminister, der nicht der 68er-Generation angehörte, hätte seine Politik auf offene Opposition zu den USA gestützt und hätte zwei Wahlkämpfe mit dem Thema profunden Mißtrauens gegenüber Amerikas Motiven geführt.« 539
Der damalige Außenminister der rot-grünen Bundesregierung, Joschka Fischer, argumentierte in seiner Autobiographie ganz ähnlich: »Unser Nein war in der Sache richtig und sehr gut begründet, bündnispolitisch kam es aber einem Ritt auf der Rasierklinge gleich, denn zum ersten Mal« habe sich »das wiedervereinigte Deutschland in aller Öffentlichkeit gegen eine außenpolitisch zentrale Entscheidung einer US-Regierung« gestellt.540 »Dieser Schritt«, führte der Alt-Grüne seine Kritik aus, 537 | Ebd. 538 | Zitiert nach Steinmeier, Frank-Walter: Zehn Jahre Irakkrieg: Unser standfestes Nein; in: Spiegel Online, 18.03.2013; abrufbar unter: www.spiegel.de/politik/deutsch land/frank-walter-steinmeier-ueber-das-deutsche-nein-zum-irak-krieg-a-888681. html (zuletzt eingesehen am 11.02.2016). 539 | Zitiert nach Schmitt, Uwe: Heikle Mission; in: Berliner Morgenpost, 29.11.2005, S. 5. 540 | Fischer, J.: »I am not convinced«, 2011, S. 149.
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III. Politik im Hintergrund »kam in der Geschichte unseres Landes nach 1945 einer kleinen außenpolitischen Revolution gleich und bedurfte nicht noch einer Sprache und symbolischer Gesten, die die Spannungen zwischen uns und unseren Bündnispartner unnötigerweise weiter verstärkten. Ich war daher der Meinung, dass wir uns im Gegenteil, angesichts der Unerhörtheit unseres Widerspruchs, in Sprache und Form eher um Ausgleich und Deeskalation bemühen sollten, zumal es auch den Vorwurf des Antiamerikanismus zu entkräften galt, der uns gegenüber erwartungsgemäß sofort seitens der Opposition und in den Medien erhoben wurde.« 541
Steinmeier wiederum erinnerte in einem späteren Gastbeitrag auf Spiegel Online an diese Begebenheit und führte in Bezug auf Schröders damalige Aussage, »Wir sind zu Solidarität bereit. Aber dieses Land wird unter meiner Führung für Abenteuer nicht zur Verfügung stehen«,542 aus: »In zwei kurzen Sätzen fasste Gerhard Schröder im Sommer 2002 seine Haltung zum Irak-Krieg zusammen. Und überschritt damit eine imaginäre rote Linie, die bis dahin für jede deutsche Nachkriegsregierung galt. Nie zuvor hatte ein Bundeskanzler so offen die amerikanische Führungsmacht kritisiert. Nie zuvor hatte ein Bundeskanzler für sich so deutlich eine eigene Beurteilungs- und Entscheidungskompetenz reklamiert. Entsprechend deutlich fielen die Reaktionen aus, im In- und im Ausland. Der damalige Verteidigungsminister der Bush-Regierung, Donald Rumsfeld, verweigerte seinem Amtskollegen Peter Struck den Handschlag.« 543
Zumindest in dieser Ausführung ist nicht erkenntlich, dass Steinmeier einer solchen extremem Form der Wahlkampfmobilisierung mithilfe des Irakkriegs ablehnend gegenüberstand, auch wenn das später einmal der Spiegel schrieb: »Die erratischen Ausschläge seines Ziehvaters Gerhard Schröder hat Steinmeier eher erduldet als bewundert. Die Heftigkeit der anti-amerikanischen Ausfälle wäre ihm so nie in den Sinn gekommen.«544 Vielmehr ist in einer rückblickenden Analyse von einem Disput zwischen Machnig, der sich in dieser Frage gegen eine Thematisierung der Kriegsfrage im Wahlkampf gewandt haben soll, und Steinmeier die Rede.545 Fischer schloss in seiner rückblicken541 | Ebd. 542 | Zitiert nach o.V.: Zitaten-Sammlung: Der Wandel der deutschen Irakpolitik; in: Spiegel Online, 18.02.2003; abrufbar unter: www.spiegel.de/politik/deutschland/zi taten-sammlung-der-wandel-in-der-deutschen-irakpolitik-a-236624.html (zuletzt eingesehen am 07.06.2016). 543 | Steinmeier, F.-W.: Zehn Jahre Irakkrieg; in: Spiegel Online, 18.03.2013. 544 | Knaup, Horand: Der Reservekandidat; in: Spiegel, 14.05.2007, S. 26-27; hier: S. 27. 545 | Vgl. Sturm, D.-F.: Wohin geht die SPD?, 2009, S. 79.
6. Im Kanzleramt
den Kritik die Regierungszentrale ebenfalls mit ein: Als er zum ersten Mal von der Formulierung des »deutschen Weges« gehört habe, »dachte ich, mich trifft ein Pferd. Waren die Sozis und das Kanzleramt denn jetzt endgültig von Sinnen?«546 Dem US-amerikanischen Botschafter Dan Coats, der kurz nach Schröders erstmaliger Verkündung eines »deutschen Weges« das Kanzleramt aufsuchte, soll Steinmeier laut einer journalistischen Chronik über die rot-grünen Jahre »über das Wesen der deutschen Sozialdemokratie belehr[t]« haben.547 So würden in der SPD »Fragen ›von Krieg und Frieden‹ eine stärkere Rolle als beispielsweise in der CDU« spielen.548 »Schröder sei auch Parteivorsitzender, er könne diese Diskussion ›nicht wegdrücken‹, schon gar nicht im Wahlkampf. Dass manche Botschaft ›etwas zugespitzt‹ rüberkomme, sei unvermeidbar, leider.«549 Im Spiegel hieß es außerdem, dass Steinmeier argumentiert haben soll, dass »Coats […] wohl nicht ganz« verstehe, »›wo die SPD bis in die höchsten Gremien in Fragen von Krieg und Frieden verankert ist‹«.550 Ein dreiviertelstündiger Vortrag sei gefolgt. Wenn diese Darstellung stimmt – beide Quellen stammen von den selben Autoren und Steinmeier bestätigte schon damals ein Gespräch mit dem Botschafter, in dem es »keine Beschwerden« gegeben habe, sondern »nur Fragen danach, wie die Äußerungen zu interpretieren« seien551 –, dann kann sie in zweierlei Form interpretiert werden. Zum einen könnte es schlicht die offizielle Regierungslinie gewesen sein, die mit Schröders Verkündung des »deutschen Weges« gesetzt wurde und somit auch von seinem engsten Vertrauten Steinmeier und insbesondere im diplomatischen Kontext zu vertreten war. Zum anderen könnte zudem aber auch Steinmeier selbst, von dem eine skeptische Haltung in Bezug auf die Frage des Irakkriegs als Wahlkampfthema in Medien zumindest nichts bekannt geworden war, genau diese Auffassung vertreten haben. So bleiben nur jene Indizien, die auf eine Zustimmung für diese Strategie hindeuten. Was zumindest konstatiert werden kann, ist, dass Steinmeier es nicht vermochte, Schröder von dieser Strategie abgehalten zu haben. Die Auswirkungen auf die bilateralen Beziehungen waren deutlich
546 | Fischer, J.: »I am not convinced«, 2011, S. 146. 547 | Geyer, M.; Kurbjuweit, D.; Schnibben, C.: Operation Rot-Grün, 2005, S. 204. 548 | Ebd. 549 | Ebd. 550 | Beste, Ralf: Der Nachlassverwalter; in: Spiegel, 17.10.2005, S. 26-27; hier: S. 26. 551 | Zitiert nach Sturm, Daniel-Friedrich: »Da lang, Mister Schröder«; in: Welt, 19.08.2002, S. 3.
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zu spüren, was Steinmeier, wie noch zu zeigen sein wird, bis in sein Amt als Bundesaußenminister verfolgen wird.552 Auf den Wahlkampf indes wirkte sich die Thematisierung des Irakkriegs positiv für die SPD aus, weil die CDU/CSU und FDP dem nichts hatten entgegenzusetzen. Auch wenn zumindest die Wahl der Mittel, die Instrumentalisierung dieses außenpolitischen Themas, rückblickend diskutiert werden kann, war die Ablehnung ein erster Puzzlestein zur Rückkehr des Wahlkämpfers Schröder. Die Bundestagswahl wurde nun, als Schröder wieder begonnen hatte zu kämpfen, zudem erfolgreich zu einer Entscheidung er oder ich hochstilisiert. Der Wähler hatte hierbei eine vergleichsweise eindeutige Aussage getroffen: Lag die SPD noch Wochen vor der Wahl abgeschlagen auf dem zweiten Platz, kam es dank Schröders (wiederentdeckten) Temperaments, gepaart mit dem Nein zum Irakkrieg und der Oderflut, bei der auf der einen Seite die Koalition ein sehr gutes Krisenmanagement bewies und unter Steinmeiers Führung im Auftrag des Kanzlers ein »große[s] nationale[s] Hilfsprogramm« aufgesetzt worden war,553 dem die Opposition nichts zu entgegnen hatte, sowie einem für Wahlkampfzeiten unbeholfenen Agieren des gegnerischen Spitzenkandidaten, nämlich Edmund Stoiber, zu einer enormen Aufholjagd in den Umfragen. Diese mündete schließlich in einem Wahlabend, bei dem Stoiber zunächst noch einen Sieg von Schwarz-Gelb erwartete, der sich jedoch im Laufe des Abends in einen für Rot-Grün verwandelte.554 Wäre es anders gekommen, hätte die deutsche Politik womöglich eine andere Wende genommen. In jedem Falle wäre Schröder dann nicht nur als Kanzler in die Geschichte eingegangen, der nach nur einer Wahlperiode wieder abgewählt worden wäre. Rot-Grün wäre zudem als (vorläufige) bundes552 | Es bleibt allerdings die Frage, ob die US-Administration bei einer deutlich leiseren Absage an einen Krieg im Irak verständnisvoller reagiert hätte. 553 | Bornhöft, Petra; Knaup, Horand; Löhe, Fabian; Rosenkranz, Gerd; Schult, Christoph; Steingart, Gabor; Szandar, Alexander: »Wie im Krieg«; in: Spiegel, 19.08.2002, S. 22-30; hier: S. 28. 554 | So präsentierte sich am Wahlabend in Berlin ein noch euphorisierter Edmund Stoiber, der davon sprach, dass man den Champagner noch nicht geöffnet habe. »Aber das wird noch geschehen.« (vgl. Mitschnitt vom Wahlabend 2002; abrufbar unter https:// www.youtube.com/watch?v=R6hGNujxxFc (zuletzt eingesehen am 02.05.2016). Geradezu gespenstisch wirkte das am Tag darauffolgende Eingeständnis seines Scheiterns. (vgl. Mitschnitt der Pressekonferenz von Edmund Stoiber am Tag nach der Bundestagswahl 2002; abrufbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=fE-m92aOY2w (zuletzt eingesehen am 02.05.2016); vgl. auch Fischer, Sebastian: Edmund Stoiber. Der gefühlte Sieger; in: Forkmann, Daniela; Richter, Saskia (Hg.): Gescheiterte Kanzlerkandidaten. Von Kurt Schumacher bis Edmund Stoiber, Wiesbaden 2007, S. 356-292; hier: S. 386.
6. Im Kanzleramt
politische Fußnote in die Geschichtsbücher eingegangen. Für Steinmeier, der Person dieser Biographie, hätte dies vermutlich ein abruptes Ende seines politischen Aufstiegs bedeutet. Denn seine Karriere war nach wie vor eng an die von Schröder gekoppelt. Ein dann parteipolitischer Aufstieg in der Opposition ohne entsprechende Mandate und entsprechende Vernetzung wäre höchst unwahrscheinlich gewesen. Das muss berücksichtigt werden bei der Betrachtung von Steinmeiers weiterer Wirkung. Ohne die Voraussetzung des Wahlsieges, erfolgt zuerst durch Schröders Zutun, hätte er mutmaßlich nicht zu dem werden können, der er dann, später, wurde. So aber schaffte es die ausgelaugte Regierung gerade noch, sich über die Zielgerade hinaus zu retten und das Mandat für weitere vier Regierungsjahre, von denen sie jedoch nur drei nutzte, zu gewinnen. Spätestens in diesen Jahren war, wie im folgenden Kapitel zu sehen ist, eine Metamorphose Steinmeiers vom hochpolitischen Mann im Hintergrund zum Politiker im Vordergrund zu beobachten.
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7. Metamorphose 7.1 G estaltungsanspruch im K anzler amt Die rot-grünen Koalitionäre stolperten geradezu in die zweite Legislaturperiode. Von einer perspektivischen Planung konnte keine Rede sein, das Vertrauen in die Regierung war auf einen Tiefpunkt gesunken.1 Die Gründe für diesen Fehlstart waren bei den Hauptakteuren selbst zu suchen. Noch am Abend der Bundestagswahl entschieden Schröder und Fischer, direkt mit den Koalitionsverhandlungen zu beginnen. Geradezu prototypisch für Schröder überrumpelte er dabei seine Parteifreunde und legte sich zudem fest, die Verhandlungen innerhalb von nur zwei Wochen abzuschließen.2 Auch Steinmeier wurde überrascht, er spricht im Rückblick von »Vorverabredungen«,3 die in eine andere Richtung gezeigt hätten und dem Eindruck, dass eine kurze Auszeit allen Beteiligten gutgetan hätte: »Nach den vielen Wochen Wahlkampf, der ja nun auch mit großer Härte geführt worden ist und den wir knapp für uns entschieden haben,« sei »eigentlich keiner der Seiten richtig vorbereitet« gewesen, »unmittelbar am nächsten Tag in […] Koalitionsverhandlungen zu gehen.«4 Von der Sorge spricht er, »durch übertriebene Hektik in Vereinbarungen hineinzustürzen, die sich möglicherweise später als nicht haltbar« erweisen
1 | Infratest Dimap stellte beispielsweise nur zwei Monate nach der Bundestagswahl einen »massive[n] Vertrauens- und Kompetenzverlust für die SPD« fest. Die Partei hat in Umfragen vier Prozentpunkte im Vergleich zur Bundestagswahl verloren. Nur 29 Prozent äußerten sich noch positiv über die Arbeit der Bundesregierung, ein Verlust von 13 Prozentpunkten im Vergleich zum September 2002, dem Monat der Bundestagswahl; Vgl.: ARD-Deutschlandtrend, November 2002; abrufbar unter: www.infratest-dimap.de/ umfragen-analysen/bundesweit/ard-deutschlandtrend/2002/november/#more3451 (zuletzt eingesehen am 23.06.2016). 2 | Vgl. z.B. o.V.: Mit schnellen Schritten zur Regierungsbildung; in: Agence France Presse, 01.10.2002. 3 | Steinmeier, Frank-Walter im zweiten Gespräch mit dem Autor am 06.10.2014. 4 | Ebd.
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III. Politik im Hintergrund
würden.5 Hans Eichel, damals als erneuter Finanzminister so gut wie gesetzt, erinnert sich ähnlich. Die Ansicht von ihm und dem Kanzleramtschef sei gewesen: »Die hätten jetzt mal alle vierzehn Tage in den Urlaub gehen sollen und in der Zwischenzeit hätten wir die Koalitionsverhandlungen vorbereitet.«6 »Die Euphorie des Wiedereinzugs in die Regierungsämter« habe, so Steinmeier, andere »Entscheidungen hervorgebracht. Und dann sollte es […] schnell gehen.«7 Dies habe zu »komischen, geradezu beklemmenden Situationen geführt.«8 Von einem »schweren Fehler« spricht Eichel. Es ist eine deutliche Kritik an Schröder, die sich aus diesen Aussagen herauslesen lässt und die Schröder im Rückblick auch annimmt.9 In den folgenden Koalitionsverhandlungen hatte Steinmeier dann auch, wie die gesamte Exekutive, zunächst nur eine eher untergeordnete Rolle inne.10 Vielmehr war es Müntefering, der aus dem Willy-Brandt-Haus heraus die Verhandlungen auf SPD-Seite quasi im Alleingang führte. So erinnert sich Rezzo Schlauch: »Da hat der Schröder nicht geführt […], da hat er’s laufen lassen, da hat er sich vom Müntefering auf der Nase rumtanzen lassen.«11 Dieser habe immer gesagt, »vergesst diese Stellen hinter’m Komma […] bei der Sozialversicherung und so weiter, […] es geht auch alles wieder runter. […] Müntefering [hat] dann ein Jahr später zähneknirschend selber gesagt, dass er das falsch gesehen hat«.12 In die Hände gespielt haben dürfte ihm dabei, dass die Spitzen von Grünen und SPD – insbesondere bei den Grünen waren es neue Gesichter – teilweise noch nicht eingespielt waren.13
5 | Ebd. 6 | Eichel, Hans im Gespräch mit dem Autor am 29.07.2013; vgl. auch ähnlich: Langguth, G.: Machtmenschen, 2009, S. 300. 7 | Steinmeier, Frank-Walter im zweiten Gespräch mit dem Autor am 06.10.2014. 8 | Ebd. 9 | So spricht Schröder in seiner Autobiographie davon, dass er »vielleicht […] auf die Mahnungen [hätte] hören sollen, nach einem ungewöhnlich harten Wahlkampfmarathon erst einmal auszuspannen und neue Kraft zu schöpfen«; Schröder, G.: Entscheidungen, 2006, S. 387. 10 | Vgl.: Langguth, G.: Machtmenschen, 2009, S. 300; Hans Eichel erinnert sich außerdem, dass Steinmeier »in den Koalitionsverhandlungen […] selber nicht sichtbar eine Rolle gespielt« habe, »wohl aber in den Vorbereitungen« (Eichel, Hans im Gespräch mit dem Autor am 29.07.2013). 11 | Schlauch, Rezzo im Gespräch mit dem Autor am 06.06.2013. 12 | Ebd. 13 | Vgl. Blome, N.: Frank-Walter Steinmeier ist die »Graue Effizienz«; in: Welt, 20.12.2002.
7. Metamorphose
Eben in dieser Nicht-Eingespieltheit sah das Kanzleramt im Rückblick die Gründe für diesen Fehlstart.14 So verloren sich die Akteure laut Welt darin, »[a]nstatt die großen Linien für die nächsten vier Jahre darzulegen, […] in kleinteiligen Etatberatungen«,15 die bei den damaligen Akteuren auch rückblickend in (schlechter) Erinnerung sind. »Ich erinnere mich an einen riesigen Katalog von Sparmaßnahmen«, erzählt etwa Müntefering,16 Clement schüttelt immer noch den Kopf, wenn er von der Diskussion über die Besteuerung von »Blumenerde oder […] Hundefutter, Katzenfutter und Ähnliches« berichtet.17 Steinmeier erwähnt ebenfalls das Katzenfutter, fügt aber noch die »Schnittblumen« hinzu.18 Entscheidender ist allerdings seine folgende Aussage. Wer nämlich, führt er aus, den Kontrast zwischen dem »Handlungsbedarf und der Substanz der Eichelchen Vorschläge gesehen« habe, »der wusste eigentlich: Wir waren am Ende unserer finanziellen Spielräume.«19 Dieses »Wir waren am Ende« ist ein überraschendes Eingeständnis, wenngleich diese Aussage über zehn Jahre später im Rückblick getroffen worden ist. Bereits im vorausgegangen Kapitel wurde analysiert, dass die Regierung, insbesondere Schröder und Steinmeier, tatsächlich an eine Erholung der Wirtschaft geglaubt hatten.20 Nun wurden sie erneut eines Besseren belehrt, »[n]eue Schulden, jüngst entdeckte Haushaltslöcher, absehbare Steuererhöhungen« waren die Wirklichkeit.21 Umso überraschender war, dass in den Koalitionsvereinbarungen nicht auf diese neue Situation reagiert wurde. Neben Steinmeiers rückblickendem Eingeständnis wird Eichel retrospektiv betonen, die Vereinbarungen im Koalitionsvertrag seien alle »nicht durchsetzbar, nicht umsetzbar« gewesen,22 Clement äußert außerdem, dass das »aus heutiger Sicht absurd gewesen« sei.23 Dennoch war es Müntefering (und nicht, wie häufig kolportiert, Schröder) möglich, Eichel in diesen Verhandlungen mit den Worten zu stoppen: »Nun lass mal gut sein.«24 Es bleibt fraglich, warum die damaligen Akteure, wenn sie, wie sie rückblickend erzählen, damals wussten, wie die wirtschaftliche Lage tatsächlich war, nicht dagegen interveniert hatten. Ein möglicher 14 | Vgl. ebd. 15 | Ebd. 16 | Müntefering, Franz im Gespräch mit dem Autor am 22.10.2013. 17 | Clement, Wolfgang im Gespräch mit dem Autor am 24.07.2013. 18 | Steinmeier, Frank-Walter im zweiten Gespräch mit dem Autor 06.10.2014. 19 | Ebd. 20 | Vgl. S. 204f in dieser Biographie. 21 | Sturm, D.-F.: Wohin geht die SPD?, 2009, S. 107. 22 | Eichel, Hans im Gespräch mit dem Autor am 29.07.2013. 23 | Clement, Wolfgang im Gespräch mit dem Autor am 24.07.2013. 24 | Vgl. Eichel, Hans im Gespräch mit dem Autor am 29.07.2013.
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III. Politik im Hintergrund
Grund hierfür könnte Schröders Sorge gewesen sein, bei der Wiederwahl zum Kanzler zu scheitern.25 Müntefering erinnert sich beispielsweise retrospektiv, dass diese Verhandlungen »eigentlich zweckmäßig« gewesen seien, »auch hilfreich, dass das Ganze sich konstituieren konnte. Dass der Kanzler gewählt wurde und alles, was passieren musste.«26 Schröder selbst zögerte die Ankündigung von möglicherweise größeren Einschnitten bis zu seiner Regierungserklärung daher weiter hinaus, lehnte Anregungen in diese Richtung ab. Eichel erinnert sich, dass er dem Bundeskanzler damals empfohlen haben, »jetzt eine richtige Blut-, Schweiß- und Tränenrede [zu] halten«.27 Als er Schröder später noch einmal darauf angesprochen habe, warum er diesen Ratschlag nicht beherzigte, habe dieser geantwortet, »›ich hätte nicht alle Stimmen bekommen.‹ Jedenfalls [sah er] die Gefahr«.28 So erscheint die Kritik an Münteferings Verhandlungsführung mitsamt seiner Zielsetzung in einem anderen Lichte, denn dieser dürfte auch im Auftrag Schröders gehandelt haben. Clement, Steinmeier, Schröder und Eichel aber handelten womöglich wider besseren Wissens, sie nahmen zugunsten der Wiederwahl eine Verschleierung der akuten Lage in Kauf – dies ist zumindest dann anzunehmen, wenn ihren retrospektiven Aussagen Glauben geschenkt wird. Heraus kam dabei ein nicht stimmiger Koalitionsvertrag, der als »uninspiriertes Sammelsurium empfunden« worden ist.29 Schröder erzählt im Rückblick, dass man »die Lage nach den Koalitionsverhandlungen schonungslos analysiert«30 habe, was vom Zeitablauf her die Schwierigkeiten bei den Koalitionsverhandlungen erklären, nicht jedoch rechtfertigen würde. Eine interne Übersicht, die für das Kanzleramt im Oktober 2002 erstellt wurde, zeichnete nämlich ein geradezu dramatisches Bild der wirtschaftlichen Situation. So hieß es dort: 25 | Fritz Kuhn erinnert sich etwa daran, dass Schröder alles »durchgewunken« habe aus »Furcht vor der geheimen Kanzlerwahl« (zitiert nach Wolfrum, E.: Rot-Grün an der Macht, 2013, S. 530). 26 | Müntefering, Franz im Gespräch mit dem Autor am 22.10.2013; Gleichzeitig betont Müntefering allerdings, dass er auch aus Überzeugung heraus gehandelt habe, »das, was wir jetzt im Wahlkampf versprochen hatten«, in das Regierungsprogramm zu schreiben. 27 | Eichel, Hans im Gespräch mit dem Autor am 29.07.2013. 28 | Ebd. 29 | Winkler, Heinrich-August: Geschichte des Westens. Die Zeit der Gegenwart, München 2015, S. 241; vgl. auch Korte, Karl-Rudolf: Der Pragmatiker des Augenblicks: Das Politikmanagement von Bundeskanzler Gerhard Schröder 2002-2005; in: Egle, Christoph; Zohlnhöfer, Reimut (Hg.): Ende des rot-grünen Projektes. Eine Bilanz der Regierung Schröder 2002-2005, Wiesbaden 2007, S. 168-196; hier: S. 175f. 30 | Schröder, G.: Entscheidungen, 2006, S. 390.
7. Metamorphose »In den letzten beiden Jahren haben alle Wirtschaftsexperten (Sachverständigenrat, Wirtschaftsforschungsinstitute, Banken, EU, IWF, OECD) die Wirtschaftsentwicklung zum Teil deutlich zu optimistisch eingeschätzt. Obwohl die Bundesregierung das Wirtschaftswachstum für 2001 und 2002 vorsichtig projektiert hat […], unterschritt die tatsächliche Entwicklung alle Erwartungen.« 31
Der »kranke Mann Europas«32 machte keineswegs Fortschritte bei der Genesung, wie Schröder und Steinmeier noch vor der Wahl erwartet (und intern propagiert) hatten. Vielmehr weiteten sich, stellte der Spiegel bald fest, Fehlbeträge in Renten und Sozialkassen aus, die Arbeitslosenzahlen drohten, auf über vier Millionen anzusteigen.33 2003 würde demnach zum »Jahr der Risiken« werden:34 »Werden sie auch im kommenden Jahr das Schlusslicht in Europa sein, wie viele Experten befürchten? […] Immerhin werden Großbritannien, Spanien oder Schweden mit zweieinhalb Prozent wachsen, Finnland mit drei Prozent und Irland gar mit sechs Prozent – nicht zuletzt, weil hier vielfach die nötige Modernisierung früher angepackt, der Sozialstaat entschlossener reformiert und der Staatshaushalt früher saniert wurde«, 35
analysierte das Nachrichtenmagazin die Situation. Ökonomen würden bereits »Vergleiche zu dem einstigen Wirtschaftswunderland Japan, das längst zum kranken Mann Asiens abgestiegen ist«, ziehen.36 Auch in der SPD gab es durchaus schon vorher Stimmen, die die wirtschaftlichen Gefahren aufgrund ausbleibender Reformen deutlich benannten. In einem Brief von Henning Voscherau an Gerhard Schröder erwähnte dieser bereits am 21. Oktober 2001, knapp ein Jahr vor der Bundestagswahl, dass Schröder ihm bei einem Besuch im Hamburger Rathaus einmal erzählt habe, 31 | Zitiert nach Wolfrum, E.: Rot-Grün an der Macht, 2013, S. 530f. 32 | Erstmals hatte der britische Economist diese Metapher erwähnt, die ins Deutsche übersetzt (und erweitert) fortan als »kranker Mann Europas« in Medien und Wissenschaft rezipiert worden ist; vgl. Winkler, H.-A.: Geschichte des Westens. Die Zeit der Gegenwart, 2015, S. 242; vgl. auch o.V.: The sick man of the euro; in: Economist, 03.06.1999; Onlineversion des Printartikels abrufbar unter: www.economist.com/ node/209559 (zuletzt eingesehen am 03.08.2016). 33 | Hammerstein, Konstantin von; Fleischhauer, Jan; Sauga, Michael; Schäfer, Ulrich: Das Jahr der Risiken; in: Spiegel, 30.12.2002, S. 26-32; hier: S. 29; vgl. auch Geyer, M.; Kurbjuweit, D.; Schnibben, C.: Operation Rot-Grün, 2005, S. 239. 34 | Hammerstein, K. von; Fleischhauer, J.; Sauga, M.; Schäfer, U.: Das Jahr der Risiken; in: Spiegel, 30.12.2002, S. 26. 35 | Ebd., S. 29f. 36 | Ebd., S. 30.
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III. Politik im Hintergrund
»Ich wollte da immer ›rein. Jetzt bin ich drin und jetzt will ich es auch gut machen.«37 Unter Bezugnahme auf diesen Satz appellierte Voscherau in diesem Schreiben an den Bundeskanzler: »Nach gewonnener Wahl wird sich dies in Deiner zweiten Wahlperiode an unserer Bereitschaft zu wirtschaftspolitisch wirkungsvollen Strukturreformen entscheiden.«38 Denn, so konstatierte der langjährige Erste Bürgermeister Hamburgs: »Im Hinblick auf Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung leidet Deutschland unverändert unter strukturellem Reformbedarf, der ebenfalls die Durchbrechung mancher Irrtümer erfordert und jedenfalls nach der Wahl angepackt werden« müsse.39 Die mit der Koalitionsvereinbarung abgesteckten Rahmenbedingungen suggerierten der Regierungsfraktion jedoch, sich auf etwas Anderes einzustellen als das, was dann kam. Für das, was dann kommen sollte, wurden hingegen bereits da – neben personellen Wechseln bei den Ministern mitsamt der Zusammenlegung des Arbeits- und des Wirtschaftsministeriums unter Wolfgang Clement – im Kanzleramt personelle Veränderungen vorgenommen. Diese fielen umfangreich aus und dürften neben den üblichen Wechseln zu Beginn einer Legislaturperiode auch auf diese neue Zielsetzung zurückzuführen gewesen sein. Klaus Gretschmann, der angeblich als »zu selbstständig« galt,40 Michael Steiner41 oder Wolfgang Nowak, der für Steinmeier »ein zu bunter Vogel« gewesen sei42 – allesamt räumten sie entweder bereits im Verlauf der ersten, spätestens aber zu Beginn der zweiten Legislaturperiode auch auf Betreiben Steinmeiers, dem Hausherrn im Kanzleramt, ihre Positionen. Die Wiederwahl bot nun die Chance für einen umfassenden Umbau des Kanzleramts. Das fand zumindest Steinmeier, der selbst auf »eine Verbesserung der Arbeitsstrukturen bestanden« haben soll.43 Das neue Kanzleramt bestand personell nun aus einem Kreis an Vertrauten.44 Steinmeiers bisheriger Pressereferent Stephan Steinlein wurde etwa neuer Büroleiter, der bisherige Büroleiter Ewold Seeba Leiter der Abteilung 1 (Zentralabteilung; Innen und
37 | Zitiert nach einem Brief von Henning Voscherau, datiert auf den 21.10.2001, einzusehen in den Akten des Büro Parteivorsitz Gerhard Schröder (im Archiv für soziale Demokratie); hier: 2/PVEF000242. 38 | Ebd. 39 | Ebd. 40 | Schütz, Hans-Peter: Der Kanzler-Flüsterer; in: Stern, 08.07.2004, S. 54. 41 | Vgl. S. 163 in dieser Biographie. 42 | Zitiert nach Kaspari, N.: Gerhard Schröder, 2008, S. 264. 43 | Vgl. Bannas, Günter: Neue Europa-Abteilung im Kanzleramt; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.10.2002, S. 1. 44 | Vgl. Langguth, G.: Machtmenschen, 2009, S. 256.
7. Metamorphose
Recht).45 Steinlein und Reinhard Silberberg, fortan Abteilungsleiter für Europapolitik, werden ihm später ins Auswärtige Amt folgen wird.46 Heiko Geue stieß neu als persönlicher Referent hinzu. Hombach-Leute waren nicht mehr anzufinden, die Ruhigeren, weniger an die Öffentlichkeit Strebenden hatten also vollständig übernommen. Im Rahmen dieser personellen Umbaumaßnahmen wurde auch die organisatorische Struktur des Kanzleramts verändert. So wurde die Planungsabteilung, der Nowak vorstand, aufgelöst, während eine neue Europaabteilung installiert wurde, die Silberberg leiten sollte. Steinmeier selbst habe sich dafür stark gemacht, erinnert sich Thomas Steg.47 Eigentlich war, so haben es Steinmeier und Schröder zunächst forciert und zum Ende der ersten Legislaturperiode immer wieder betont, sogar die vollständige Konzentration der Europapolitik im Kanzleramt geplant.48 Dies scheiterte jedoch »am Widerspruch von Außenminister Fischer«, 49 sodass das Außenministerium weiterhin mitgestaltende Kraft in der Europapolitik blieb und einen eigenen Staatsminister für Europapolitik für sich beanspruchen konnte.50 Dennoch war mit der Europaabteilung im Kanzleramt ein sofort erkennbarer thematischer Schwerpunkt im Kanzleramt etabliert, den Steinmeier auch bald auszufüllen wusste.51 Die Planungsabteilung musste schon allein aus organisatorischen Gründen wegfallen, weil auch Steinmeier nicht beliebig Abteilungen schaffen konnte und die Planstellen in der neuen Europaabteilung benötigt wurden.52 Dies war aber gewollt: Planung sollte nun unmittelbar unter Steinmeiers Ägide erfolgen und das verschlankte Team daher ihm direkt unterstellt werden. Stein45 | Vgl. auch Organisationsplan des Kanzleramts vom 19.11.2002 (dem Autor wurde dieser Plan vom Kanzleramt zur Verfügung gestellt); vgl. außerdem Organisationsplan des Kanzleramts vom 07.05.2002 (dem Autor wurde dieser Plan vom Kanzleramt zur Verfügung gestellt). 46 | Fras, Damir: Die Operation Vizekanzleramt läuft an; in: Berliner Zeitung, 14.12. 2007, S. 6. 47 | Vgl. Steg, Thomas im Gespräch mit dem Autor am 16.12.2013. 48 | Bannas, G.: Neue Europa-Abteilung; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.10. 2002. 49 | Ebd. 50 | Vgl. Marx, S.: Die Legende vom Spin-Doktor, 2008, S. 116. 51 | Vgl. z.B. Sturm, D.-F.: Wohin geht die SPD?, 2009, S. 252; vgl. außerdem S. 294f in dieser Biographie; Thomas Steg erinnert sich im Gespräch mit dem Autor, dass Steinmeier auch bisher schon in der Europapolitik aktiv mitgewirkt habe, wenn auch »nicht unbedingt nach außen so bekannt« (Steg, Thomas im Gespräch mit dem Autor am 16.12.2013); hierfür vgl. auch S. 194f in dieser Biographie. 52 | Vgl. Bannas, G.: Neue Europa-Abteilung; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.10.2002; vgl. auch Marx, S.: Die Legende vom Spin-Doktor, 2008, S. 116.
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III. Politik im Hintergrund
meier begründete dies mit den Worten, dass »reine Planung ohne Einbindung in operative Abläufe« nur bedingt eine Hilfe wäre.53 Ähnlich wird es auch von Teilen der wissenschaftlichen Politikbeobachter gesehen. Beinahe wortgleich heißt es an einer Stelle, dass »[p]olitische Planungsabteilungen […] so lange keine Lösung zu sein [scheinen], wie sie nicht an das operative Geschäft angeschlossen werden.«54 Bezogen auf die erste Legislaturperiode fällt das Urteil über diese Abteilung denn auch wenig schmeichelhaft aus, der Anteil an der »Entwicklung umfassender Problemlösungen« wurde als »zweifelhaft« bewertet.55 Dennoch wenden Kritiker auch ein, dass die Auflösung der Abschaffung eines »weiteren Instrument[s] längerfristige[r] Planung« gleichgekommen sei.56 Dabei wird allerdings übersehen, dass Steinmeier die Planungsabteilung nicht nur auflöste, sondern dessen Aufgaben direkt in seinen eigenen engen Kreis eingliederte, sie also selbst mit übernahm. Erstaunlich offen begründet Steinmeier im Rückblick seine getroffenen Maßnahmen: »Legislaturperiodenwechsel« seien »immer auch Möglichkeiten, solche Organisationseinheiten nochmal neu zu formieren, und Personalwechsel, die entweder anstanden oder die wir so entschieden haben«, durchzuführen.57 Diese hätten »für diese zweite Legislaturperiode […] das Kanzleramt schlicht und einfach schlagkräftiger gemacht, insbesondere was den gesamten Planungsprozess angeht.«58 Wie so häufig bei solchen Personalveränderungen liegt es im Blickwinkel der Betrachter, wie sie zu bewerten sind. Der Stern glaubte etwa zu wissen, dass es bei Steinmeier »zum Stigma« gereicht habe, war man noch wie Gretschmann zu Hombach-Zeiten ins Kanzleramt gekommen.59 Für Steinmeier jedenfalls ist klar: »Die ganze Vorbereitung zur Agenda, die hätten wir […] mit so ’nem Planungsstab, der weit entfernt von mir saß, und«, das erscheint besonders interessant, »wo ich mir der Loyalität nicht jeden Tag sicher sein konnte, […] nicht so machen können.«60 Explizit betont er im Rückblick: »Es war wichtig, dass wir wenigstens ein paar Wochen der Vorbereitung in vertraulicher Atmosphäre hatten, und das Für und Wider einzelner Elemente durchdenken und durch53 | Zitiert nach Leinemann, J.: »Ich bin nicht der Stellvertreter«; in: Spiegel, 19.04. 2003, S. 48. 54 | Raschke, J.; Tils, R.: Politische Strategie, 2013, S. 305f. 55 | Rudzio, W.: Informelles Regieren, 2005, S. 252. 56 | Niclauß, K.: Kanzlerdemokratie, 2004, S. 363f. 57 | Steinmeier, Frank-Walter im zweiten Gespräch mit dem Autor am 06.10.2014. 58 | Ebd. 59 | Schütz, H.-P.: Der Kanzler-Flüsterer; in: Stern, 08.07.2004, S. 54. 60 | Steinmeier, Frank-Walter im zweiten Gespräch mit dem Autor am 06.10.2014.
7. Metamorphose spielen konnten. Wir haben da alle […] auf dem Flur gesessen mit offenen Türen. Aber eben doch mit Loyalität und Vertraulichkeit diesen schwierigen Prozess innerhalb von vier Monaten vorbereitet, ohne dass davon, bis auf eine Meldung im Tagesspiegel, mal irgendwas durchgerutscht« 61
sei. Steinmeier sieht das als Erfolg dieser »organisatorischen Veränderung«.62 Hier wird bereits etwas vorweggenommen, was in den kommenden Monaten geschah, nämlich die Vorbereitung der Agenda 2010. Schon jetzt aber dürfte klargeworden sein, dass das Kanzleramt nun deutlich mehr auf Steinmeier zugeschnitten war und dass dies einem Macht- oder, besser, Gestaltungszuwachs gleichkam.63 Von einem »dramatischen Wandel« wird im Rückblick teilweise in Bezug auf die »Stellung und Bedeutung des Kanzleramtes« gesprochen.64 Schon damals stellte die Frankfurter Allgemeine Zeitung fest: »Immer dann, wenn Bundeskanzler Schröder eine Angelegenheit zur ›Chefsache‹ macht, kommen auf ihn [Steinmeier, Anm. S.K.] neue Aufgaben zu. Nicht zuletzt deshalb hat Steinmeier zu Beginn seiner zweiten Amtszeit die Zentralbehörde der Bundesregierung einer umfassenden personellen und strukturellen Neuorganisation unterzogen.« 65
Tatsächlich kamen die Veränderungen einem gestiegenen Gestaltungsanspruch Steinmeiers gleich, der zwar bisher schon da war, nun aber auch organisatorisch manifestiert wurde. »Das kann man so sagen«,66 antwortet denn auch Zypries auf eben diese Vermutung angesprochen. Ein wichtiger Aspekt hierbei dürfte auch die noch bessere Vernetzung gewesen sein. Von einem »Netz von Vertrauten in den Spitzen der wichtigsten Ministerien« war damals die Rede.67 Ein Blick auf einige Personalien bestätigt diesen Eindruck. Der grüne Fraktionschef Rezzo Schlauch wechselte etwa als Staatssekretär ins Wirtschaftsministerium, Hans Martin Bury, bisher Staats61 | Ebd. 62 | Ebd. 63 | Vgl. Marx, S.: Die Legende vom Spin-Doktor, 2008, S. 116f. 64 | Rüb, F.: Regieren, Regierungszentrale und Regierungsstile; in: Bröchler, S.; Blumenthal, J. von (Hg.): Regierungskanzleien, 2011, S. 93. 65 | Bannas, Günter; Lohse, Eckart; Carstens, Peter; Schäfers, Manfred; Schwenn, Kerstin; Feldmeyer, Karl; Germis, Carsten; Mihm, Andreas; Fickinger, Nico; Pergande, Frank; Peitsmeier, Henning; Löwenstein, Stephan: Einfluß im Stillen; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.10.2002, S. 5. 66 | Zypries, Brigitte im Gespräch mit dem Autor am 24.02.2014. 67 | Bannas, G.; Lohse, E.; Carstens, P.; Schäfers, M.; Schwenn, K.; Feldmeyer, K.; Germis, C.; Mihm, A.; Fickinger, N.; Pergande, F.; Peitsmeier, H.; Löwenstein, S.: Einfluß im Stillen; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.10.2002.
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III. Politik im Hintergrund
minister im Kanzleramt, wechselte in selber Position ins Auswärtige Amt.68 Brigitte Zypries, die bisher Staatssekretärin im Innenministerium war, wurde neue Justizministerin. Alfred Tacke war bereits Staatssekretär im Wirtschaftsministerium. Henry Cordes, der von Steinmeier im Jahr 2000 als stellvertretender Leiter der Planungsabteilung installiert worden war, wurde Chef der Planungsabteilung im Wirtschaftsministerium und hatte von dort eine übergeordnete Rolle im Kontakt zu Steinmeier und dem Kanzleramt.69 Auch diese Personalien sind ein weiteres Indiz für den Zuwachs an Macht- und Gestaltungsmöglichkeiten. Dass Steinmeier hierbei »auf eigenen Wunsch«, wie sich ein damaliges Kabinettsmitglied erinnert,70 Staatssekretär blieb und nicht Minister wurde, wie Schröder laut eigenem Bekunden es ihm angeboten hatte,71 unterstreicht diesen Anspruch, dass es hier keineswegs allein um ego-mäßige Befindlichkeiten gegangen wäre. Er habe die Offerte Schröders, ins Kabinett zu gehen, vielmehr, berichtete der Stern, »dankend abgelehnt«, weil er »ahnte, was auf ihn als Minister zukommen würde: Neben der ganzen Koordiniererei jede Menge öffentliche Auftritte – vor allem wochenends, wenn der Chef einen Vertreter sucht, weil er mal pausieren will.«72 Schon 2002 hatte er betont, »Ich bin nicht der geborene Politiker«.73 Dabei war auch das Steinmeier-Team nicht vor Fehlern gefeilt. Denn der Fehlstart der Regierung zog sich über die Koalitionsverhandlungen hinaus in die ersten drei Monate jener zweiten Legislaturperiode hin. Vielleicht ist ein Grund auch im Umbau des Kanzleramts zu suchen, das sich, wie die Mi68 | Vgl. Bannas, G.: Neue Europa-Abteilung; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.10.2002. 69 | Vgl. Korte, K.-R.; Fröhlich, M.: Politik und Regieren in Deutschland, 2009, S. 311. 70 | So ein Interviewpartner, der nicht genannt werden möchte, im Gespräch mit dem Autor. (Um die Anonymität zu wahren, wird für alle anonymisierten Personen eine männliche Form verwendet.) (Nr. 34) 71 | So sagte Schröder rückblickend: »Das ist Ausdruck dessen, dass er sich sozusagen als der erste Zuarbeiter verstanden hat. […] Ich habe ihm mehrfach angeboten, ins Kabinett zu gehen. […] Nicht in ein anderes Amt, weil ich ihn […] ja […] im Kanzleramt brauchte. Aber wenn er das gewollt hätte, wäre er auch Minister geworden. Denn, das war […] von mir oft vorgeschlagen worden. […] Das wollte er nicht. […] Und er war zufrieden, mit dem, was er macht. Er war ja die […] Schlüsselposition bei der Lösung von denkbaren Konflikten in der Regierung«; Schröder, Gerhard im Gespräch mit dem Autor am 09.12.2013. 72 | Hoidn-Borchers, Andreas: Reif für die Insel; in: Stern, 14.11.2002, S. 58-62; hier: S. 62. 73 | Zitiert nach Ehrlich, P.: Stiller Regisseur des Systems Schröder; in: Financial Times Deutschland, 05.06.2002.
7. Metamorphose
nisterien, nun erneut erst einspielen musste. In dieser Zeit stotterte der Regierungsmotor gewaltig – und in der medialen Öffentlichkeit stellte sich die Frage: Wo ist eigentlich Steinmeier? Die ersten Wochen war Steinmeier tatsächlich wenig sichtbar. Das Regierungsschiff SPD dümpelte vor sich hin und verlor weiter an Reputation. Schier unerwartet schien sie der offene Finanzbedarf getroffen zu haben. So »bot [die Regierungskoalition; Anm. S.K.] angesichts dieser Ausgangssituation zunächst ein Bild konzeptioneller Verunsicherung, in dem sich durch eine Vielzahl öffentlich eingebrachter und wieder verworfener Einzelmaßnahmen im Bereich der Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik die fehlende Profilschärfe des SPD-Wahlprogramms fortzusetzen schien.« (Hervorhebung H.J. etc.) 74
Auch Steinmeier hatte diesem häufig unkoordiniert wirkenden Treiben vom Kanzleramt, das doch in der ersten Legislaturperiode eigentlich ein bald funktionierendes Frühwarnsystem aufgebaut hatte, keinen Einhalt geboten. »Erfahrene Parlamentarier, wie Susanne Kastner«, seit der Wiederwahl Vizepräsidentin im Deutschen Bundestag und seit 1989 Bundestagsabgeordnete, sprachen »von einer problematischen ›Nichtorientierung‹, die sich unmittelbar nach den Koalitionsvereinbarungen und den ersten Nachbesserungen eingestellt« habe.75 Diese Konzeptionslosigkeit, das Nicht-Vorhandensein von kohärenten Konzepten, war bis ist in die Spitze, bis ins Kanzleramt zu beobachten. Ein Spitzensozialdemokrat betonte so sein Entsetzen, »dass die dort für die Zeit nach der Wahl gar nichts vorbereitet hatten.«76 Auf die Frage, warum das so war, zitiert die Süddeutsche Zeitung Steinmeier indirekt mit den Worten, dass »der Apparat […] in den Wochen vor der Wahl schon wieder konservativ getickt« habe »und […] nicht kooperativ gewesen« sei.77 Tatsächlich fügt sich das ins Bild der weiteren Entwicklung, dass Steinmeier nämlich das Kanzleramt umfangreich organisatorisch umbauen ließ, um es, aus seiner Sicht, handlungsfähiger zu machen. In die Betrachtung einbezogen werden muss vermutlich auch die emotionale Komponente, dass eine Planung für nach der Wahl nur schwerlich möglich erschien, wenn die Wahl vor der Wahl eigentlich als verloren galt. Dennoch ist auch das ein Grund für diesen Fehlstart. Hinzu kamen natürlich die sich
74 | Hesse, J.; Ellwein, T.: Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland, 2012, S. 63f. 75 | Schwennicke, C.: Ouvertüre in Moll; in: Süddeutsche Zeitung, 11.11.2002. 76 | Zitiert nach ebd. 77 | Ebd.
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III. Politik im Hintergrund
immer neu auftuenden Fehlbeträge im Haushalt und die sich nicht erholende Wirtschaft. In diesen ersten Monaten erschwerend war, dass sich über vier Jahre herausgebildete und etablierte Achsen in der rot-grünen Koalitionsarithmetik verschoben oder aufgelöst, sich aber mögliche nachfolgende noch nicht gebildet hatten. Dies galt beispielsweise für das Tandem Schlauch-Steinmeier, aber auch für das bisherige strategische Zentrum aus Struck, Müntefering und Steinmeier.78 Struck wurde Verteidigungsminister, Müntefering wechselte vom Amt des Generalsekretärs ins Amt des Fraktionsvorsitzenden, Olaf Scholz wurde zudem neuer Generalsekretär, was neben anfänglichen internen Koordinationsschwierigkeiten79 weitere Folgen hatte: »Das wichtigste Ergebnis dieser personellen Veränderung bildete das zunehmend gestörte Verhältnis zwischen der Regierungszentrale und der führenden Regierungspartei.«80 Während sich Müntefering aber zunehmend in seine Rolle einfand, blieb Scholz im Amt des Generalsekretärs der Partei fremd.81 Das bisherige strategische Zentrum jedenfalls gab es nicht mehr. Auch das Frühwarnsystem im Kanzleramt schien nicht mehr zu funktionieren, was womöglich auch an den dortigen personellen Umbaumaßnahmen gelegen haben könnte, denn Nowak war zu Beginn noch an der Erstellung dessen beteiligt. Natürlich, »oftmals wirkten Regierungen zu Beginn ihrer zweiten Amtszeit matt, ausgelaugt, ermüdet«82 – diese Regierung schien nach außen hin allerdings jeden Anspruch an Gestaltungswillen verloren zu haben. »[A]cht Wochen nach der Wahl«, befand so die Welt, »wirkten die Rot-Grünen völlig erschöpft.«83 Eine rückblickende Analyse fasst es mit den Worten zusammen: »Der öffentlich wahrgenommene Start der zweiten rot-grünen Regierung war sogar noch schlechter als der der ersten. Der Koalitionsvertrag erwies sich als Ansammlung von Einzelmaßnahmen ohne zentrale Botschaft. Versprechungen aus dem Wahlkampf wurden teilweise zurückgenommen, da sich Milliarden-Lücken im Haushalt auftaten. Für die Zeit nach der Wahl waren vorher keine Konzepte ausgearbeitet worden. Im Spätherbst 2002 stritten die Koalitionsparteien nach der mit hauchdünnen Vorsprung gewonnen Wahl 78 | Vgl. auch Bornhöft, Petra; Knaup, Horand; Kurbjuweit, Dirk; Nelles, Roland: Kanzler ohne Freunde; in: Spiegel, 09.12.2002, S. 22-26. 79 | Vgl. Helms, L.: Regierungsorganisation und politische Führung, 2005, S. 126. 80 | Ebd., S. 126; vgl. auch Bannas, Günter: Erwartungen an Schröder; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.11.2002, S. 3. 81 | Vgl. Kohlmann, S.: Franz Müntefering, 2011, S. 118f. 82 | Klecha, Stephan: Bundeskanzler in Deutschland, Grundlagen, Funktionen, Typen, Opladen 2012, S. 199. 83 | Blome, N.: Frank-Walter Steinmeier ist »Graue Effizienz«; in: Welt, 20.12.2002.
7. Metamorphose über wirtschaftspolitische Reformen und den außenpolitischen Kurs. Schröder forderte vergeblich ein Ende der Kakofonie. Im Dezember 2002 gab er plötzlich bekannt, er wolle eine Zinsabgeltungssteuer und einen Niedriglohnsektor einführen. Der sonst loyale SPD-Fraktionsvorsitzende Müntefering bemerkte daraufhin, Schröder neige zu spontanen, nicht abgestimmten Aktionen, die keiner berechenbaren Linie folgten.« 84
Diese Beschreibung bringt die Lage treffend auf den Punkt, in der sich die Koalitionäre damals befanden. Immer mehr kam dabei auch der Vorwurf auf, dass Steinmeier nicht in Erscheinung trete. So wird die Kritik in der Welt mit den Worten zusammengefasst: »Steinmeiers Nimbus als ›Macher‹ gut und schön, aber wenn es nicht laufe, dann läge es vor allem an ihm«.85 Die Süddeutsche Zeitung zitierte einen »SPD-Strippenzieher« mit der Aussage: »Wer über Schröders chaotische Politik seit dem Regierungsantritt lästert […], muss sich fragen: Wo eigentlich ist Steinmeier?«86 Erstmals waren also kritische Artikel über Steinmeier zu vernehmen. In dieser Situation, Mitte Dezember, suchte Steinmeier selbst die Öffentlichkeit, tauchte also wieder auf, denn zu überlegt handelte man im Kanzleramt, als das ein solcher Beitrag ohne Bedacht erschienen wäre, der den Zustand der Regierung so sehr widerspiegelte. »Drinnen im Zimmer ›Chef BK‹ lässt [Steinmeier] […] das vergangene Vierteljahr passieren«,87 hieß es in der Berliner Zeitung. »Wochenlang hat Steinmeier geschwiegen. Was hätte er auch sagen sollen? Stilles Leiden genügte – bei der täglichen Lektüre vernichtender Berichte und Kommentare.«88 Nunmehr, hieß es weiter, sehe Steinmeier Licht am Ende des Tunnels. Die Zeitung führte die »Lockerung der Ladenschlusszeiten« auf, außerdem Clements »Parforce-Ritt bei der Arbeitsmarktreform, die Verständigung auf eine Abgeltungssteuer, des Kanzlers selbstbewusste[n] Auftritt beim EU-Gipfel in Kopenhagen«.89 Sie zitierte Steinmeier mit den Worten: »Und das alles in einer Woche«, und der Aussage: »Vielleicht ist uns ja zur Jahreswende so etwas wie eine Trendwende gelungen.«90 84 | Marx, S.: Die Legende vom Spin-Doktor, 2008, S. 116. 85 | Blome, N.: Frank-Walter Steinmeier ist »Graue Effizienz«; in: Welt, 20.12.2002. 86 | Kister, Kurt: Abgeschottet in der Wagenburg; in: Süddeutsche Zeitung, 11.12.2002, S. 2. 87 | Wirtken, Klaus: »Die Kakophonie war nicht zufällig«; in: Berliner Zeitung, 21.12.2002; Onlineversion des Printartikels abrufbar unter: www.berliner-zeitung.de/ kanzleramtsminister-frank-walter-steinmeier-ueber-den-neustar t-der-rot-gruenenkoalition--die-kakophonie-war-nicht-zufaellig--16699650 (zuletzt eingesehen am 12.08.2016). 88 | Ebd. 89 | Ebd. 90 | Zitiert nach ebd.
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III. Politik im Hintergrund
Leicht hoffnungsvoll, aber keinesfalls positiv klang das, die wirtschaftliche Lage war mittlerweile zumindest intern bekannt und die innerparteipolitische Situation war nicht besser. Die SPD lag in Umfragen bei nur noch 30 Prozent, die CDU/CSU steuerte mit 48 Prozent auf die absolute Mehrheit zu.91 Die Zahlen waren eindeutig und Steinmeier umschiffte dieses Thema auch gegenüber den Redakteuren jener Zeitung nicht. So habe er sich nicht davor gedrückt, »selbstkritisch die Defizite zu benennen.«92 Die Bilanz fiel so gar nicht zurückgenommen aus, wie es gewöhnlich bei Steinmeier der Fall gewesen ist. Natürlich könne »auch er nicht bestreiten, dass sich Kanzler Schröder und sein grüner Vize Joschka Fischer unnötig unter Zeitdruck gesetzt haben, als sie sich nach der Wahl dazu verpflichteten, zwei Wochen später den Koalitionsvertrag unter Dach und Fach zu bringen – ohne Abgeordnete und Parteivolk ›mitzunehmen‹«.93 Es las sich wie eine Distanzierung Steinmeiers vom eigenen Chef. Auch die Aussage vom grünen »Reformmotor[]« kritisierte Steinmeier, übte dann allerdings auch Selbstkritik an der Exekutive, also indirekt am Kanzleramt: »Bei uns« habe »der zeitliche Planungsvorlauf« gefehlt.94 Er fügte hinzu: »Es ist immer schlecht, wenn die eigenen Leute nur auf Zuschreibungen durch Presse und Opposition reagieren.«95 Eine weitere indirekte Kritik, auch an seinem Chef, wurde im folgenden Satz deutlich, der auf Schröders Beschwerde über die zu große Kakophonie in der Regierungspartei anspielte: »Die Kakophonie war nicht zufällig.«96 Die Berliner Zeitung kommentierte eben diese Aussage mit den Worten: »Schröder und Steinmeier sind zu eng miteinander verbunden, als dass der Kanzler die selbstkritischen Anmerkungen ignorieren könnte.«97 Diese Zeit war es, in der ein neuer Anlauf für ein umfangreiches Reformpaket, wie im folgenden Kapitel zu sehen ist, bereits im Hintergrund eingeleitet worden war.
91 | Vgl. z.B. ARD-Deutschlandtrend, Dezember 2002; abrufbar unter: www.infratestdimap.de/umfragen-analysen/bundesweit/ard-deutschlandtrend/2002/dezember/ (zuletzt eingesehen am 12.08.2016). 92 | Wirtken, K.: »Die Kakophonie war nicht zufällig«; in: Berliner Zeitung, 21.12.2002. 93 | Ebd. 94 | Zitiert nach ebd. 95 | Zitiert nach ebd. 96 | Zitiert nach ebd. 97 | Ebd.
7. Metamorphose
7.2 A genda 2010 Mit den wirtschaftlichen Zahlen im Blick schien Schröder zumindest in der Retrospektive »klar, dass wir die Legislaturperiode nicht würden überstehen können. Wir waren uns einig: Die Zeit war reif für ein offensives Reformprogramm, das weit über den Koalitionsvertrag hinausreichte.«98 Ähnliches berichteten auch Medienvertreter, die mit ihm in dieser Zeit in Kontakt standen.99 Und so erteilte der Bundeskanzler, in der Erinnerung zumindest, kurz nach der Wiederwahl im Parlament den Auftrag: »Ich bat Steinmeier, Elemente eines solchen Programms zu entwerfen«.100 Steinmeier beschreibt diese damalige Situation und den Ausgangspunkt der Sammlung der Vorschläge für die später Agenda 2010 genannten Reformen mit den Worten: »Man musste ein Setting finden, bei dem einem klar war: Das ist ’ne substanzielle Veränderung. Und auf einem Niveau, bei dem es die SPD – nach einigen Debatten – noch mitmachen würde[].«101 Das sei »die Aufgabe« gewesen, »die wir uns selbst gestellt haben. Und das war nicht fertig. Die Diskussion hat im Grunde genommen ernsthaft begonnen nach den Koalitionsgesprächen, nach der Regierungserklärung von Schröder«.102 Bereits hier wird ein gravierender Widerspruch deutlich. Aufgrund dieser zeitlichen Abfolge – Koalitionsverhandlungen, dann Regierungserklärung, dann Ausarbeitung eines Konzeptes – standen die späteren Reformansätze im Gegensatz zu den Vereinbarungen im Koalitionsvertrag. Ein erster folgenreicher Fehler war gemacht, hatte die Regierungsfraktion Schröder doch für ein anderes Konzept erneut zum Bundeskanzler gewählt. Tatsächlich taten sich auch die Regierenden im Kanzleramt lange Zeit schwer, sich auf geeignete Reformen zu verständigen. Das zeigt etwa ein Bericht der Berliner Zeitung. Laut diesem habe Steinmeier bereits Mitte 2001 »die Experten seines Hauses beauftragt, sämtliche Rezepte, die Wirtschaft und Wissenschaft unter der Zauberformel ›Deregulierung und Flexibilisierung‹ gegen die Arbeitslosigkeit feilboten, auf Wirksamkeit und politische Durch-
98 | Schröder, G.: Entscheidungen, 2006, S. 390. 99 | So sprach die Zeitschrift Capital von einem Kanzler, der »in internen Gesprächen« um die Wahl herum den Eindruck vermittelte, er erkenne jetzt die Schwächen seines Regierungsstils und wolle ein langfristiges inhaltliches Konzept entwickeln«; Höfer, M.; Horstkötter, D. Hübner, R.; Mühlberger, N.: »Komm in die Gänge«; in: Capital, 02.10.2002. 100 | Schröder, G.: Entscheidungen, 2006, S. 391. 101 | Steinmeier, Frank-Walter im zweiten Gespräch mit dem Autor am 06.10.2014. 102 | Ebd.
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III. Politik im Hintergrund
setzbarkeit zu überprüfen.«103 Hierbei seien »sehr umfangreiche Papiere« entstanden, die jedoch nicht weiterverfolgt worden seien. »Was Pfaffenbachs Ökonomen durchwinkten, stoppten Tiemanns Experten«, bilanzierte die Zeitung in Bezug auf die beiden Abteilungsleiter, die damit betraut waren.104 Denn die Vorschläge seien »politisch […] heikel oder zumindest kurzfristig kaum durchsetzbar« gewesen.105 Mögliche Schwierigkeiten bei der Durchsetzbarkeit zeigten auch Ergebnisse von Fokusgruppen, »die im Sommer 2002 noch für das alte Arbeits- und Sozialministerium« durchgeführt wurden und die in Bezug auf die Umsetzung der Hartz-Reformen »das ganze Ausmaß der Ablehnung« gezeigt haben.106 So versandeten jene Vorschläge zunächst wieder. Der Wahlkampf nahm seinen Lauf und die Hoffnung auf eine Besserung starb endgültig erst nach der Bundestagswahl. Erst da kam es schließlich zum beschriebenen personellen und organisatorischen Umbau im Kanzleramt, wodurch bald die Arbeiten zu einer Konzeptentwicklung forciert worden sind. Heiko Geue, mittlerweile Steinmeiers persönlicher Referent und eben dort »Referatsleiter für politische Planung im Kanzleramt«, wurde (nach Schröders Auftragserteilung) von Steinmeier gebeten, »wirtschaftspolitische Bestandteile einer Gesamtstrategie auszuarbeiten.«107 Steinmeier erinnert sich an diese Frühphase der Entwicklung retrospektiv: »Da haben wir dann die ersten Zusammenkünfte gehabt […]. Nicht, indem wir uns hingesetzt haben, wir machen jetzt ’ne Agenda, sondern indem ich ’nen paar Leute zusammengerufen […] und […] gesagt habe: Wir haben eine […] Wahl überstanden. Schröder bleibt Bundeskanzler. Die Regierungserklärung war gut. Aber wir sind in einer verzweifelten Lage.«108
Dies sei der »Ausgangsprozess eigentlich für die […] Agenda« gewesen.109 Steinmeier betont, dass es damals zwar kein »geschlossenes Konzept« gege103 | Wirtgen, Klaus: Stoff für den Superminister; in: Berliner Zeitung, 14.10.2002; Onlineversion des Printartikels abrufbar unter: www.berliner-zeitung.de/in-schub laden-des-kanzleramt s-liegen-fix-und-fer tige-vor schlaege--die-weit-ueber-dashar t z-konzept-hinausgehen--aber-wer-holt-sie-her vor--stof f-fuer-den-superminis ter-16547008 (zuletzt eingesehen am 14.09.2016). 104 | Ebd.; vgl. auch Hegelich, S.; Knollmann, D.; Kuhlmann, J.: Agenda 2010, 2011, S. 82. 105 | Wirtgen, K.: Stoff für den Superminister; in: Berliner Zeitung, 14.10.2002. 106 | Raschke, J.; Tils, R.: Politische Strategie, 2013, S. 520. 107 | Hassel, A.; Schiller, C.: Der Fall Hartz IV, 2010, S. 251. 108 | Steinmeier, Frank-Walter im ersten Gespräch mit dem Autor am 01.07.2013. 109 | Ebd.
7. Metamorphose
ben habe.110 Aber es seien damals »ja […] ganze Bibliotheken erschienen«.111 Steinmeier sah, so schien es, hier die Expertise nicht unbedingt im Parlament, wie er bereits 2001 geschrieben hat. Er sah vielmehr Experten als wesentliche Akteure an, die nun befragt werden müssten, um daraus die spätere Agenda zu zimmern. Dazu passte auch eine weitere Veränderung im Kanzleramt. Mit der neuen Legislaturperiode wurde ein Referat mit dem Titel »Dialog mit der Wissenschaft« direkt Steinmeier unterstellt.112 Er arbeitete sich also recht wissenschaftlich an das Thema heran. Er wählte einen anderen Weg als jenen der festgetretenen Pfade der parteipolitischen Bühne. Ähnlich wird er später auch den Deutschlandplan im Wahlkampf 2009 entwerfen.113 Die Diskussion war jedenfalls in Gang gesetzt – ohne dass die weiteren politischen Akteure fernab des Bundeskanzleramts davon zunächst Kenntnis nahmen. So kam es in dieser Zeit zu entsprechenden Forderungen hinsichtlich eines Umdenkens der Regierung. Während einer SPD-Präsidiumssitzung Mitte November 2002 soll zum Beispiel Heide Simonis geklagt haben, dass die bisherigen Beschlüsse, die sie nicht kritisieren wolle, »nicht genügend in einem geschlossenen Konzept vorgetragen worden« seien.114 Die »Erwartungen an Schröder«, wie der dazugehörige Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung überschrieben war, waren also groß. Und Schröder wiederum schien zumindest da noch zögerlich zu sein. Glaubt man den damaligen Medienberichten, mauerte er sich im Kanzleramt ein, war nicht mehr zugänglich.115 Dort aber war die Planung in vollem Gange und nur wenige Wochen später, am 5. Dezember 2002, wurde auf einer internen Tagung ein erstes Papier präsentiert,116 das später Grundlage für den Diskussionsprozess wurde. 110 | Ebd. 111 | Ebd. 112 | Vgl. Organisationsplan des Bundeskanzleramtes vom 19.11.2002 (dem Autor wurde dieser Plan vom Kanzleramt zur Verfügung gestellt). 113 | Vgl. S. 467 in dieser Biographie. 114 | Zitiert nach Bannas, G.: Erwartungen an Schröder; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.11.2002; ähnlich argumentierte auch Eichel mit seiner Forderung nach einer »Blut-, Schweiß- und Tränen-Rede«; vgl. S. 220 in dieser Biographie. 115 | Der Stern etwa hielt im November 2002 fest: »Gerhard Schröder hat gleichsam die Vorhänge des Kanzleramtes zugezogen. Nur noch genervt nimmt er zur Kenntnis, was die zahlreichen Kritiker an seine Adresse richten: dass unsere Sozialsysteme vor die Wand fahren, die Wirtschaft dauerhaft lahmt, die depressive Stimmung sich festfrisst.«; Petzold, Andreas: Das Gemeinwesen umgraben; in: Stern, 21.11.2002, S. 3. 116 | So übereinstimmend mehrere Medienberichte der damaligen Zeit; vgl. z.B. Inacker, Michael: Reformpapier entzweit die SPD; in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 22.12.2002, S. 1; vgl. auch Hammerstein, K. von; Fleischhauer, J.; Sauga, M.; Schäfer, U.: Das Jahr der Risiken; in: Spiegel, 30.12.2002.
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III. Politik im Hintergrund
An jenem Tag kam die kleine Planungsgruppe – bestehend unter anderem aus Steinmeier, Krampitz, Steinlein, Geue, Clements Planungschef Cordes117 und wohl Hesse und Steg118 – im Konferenzsaal der Deutschen Bahn im Berliner Sony Center zusammen. Dort wurde das von Geue im Auftrag von Steinmeier zusammengestellte Papier diskutiert, aus dem das Folgepapier mit dem Obertitel »Thesenpapier für die Planungsklausur am 05. Dezember 2002 hier: Fortschreibung für die Januarklausur« und dem Untertitel »Auf dem Weg zu mehr Wachstum, Beschäftigung und Gerechtigkeit«119 hervorging. Das Papier war in vier Unterkapitel gegliedert. In Kapitel I wurde die Ausgangslage in drei Punkten beschrieben. Unter anderem wurde von einer »Vertrauens- und Wachstumskrise« gesprochen, die es zu bekämpfen gelte, was die »vordringliche Aufgabe der Wirtschaftspolitik« sei.120 Außerdem wurde die »internationale Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes« gelobt und das Problem bei »Binnennachfrage und Investitionen« verortet, wo man »es selbst in der Hand« habe, den Wohlstand auch in Zeiten der Globalisierung zu sichern. Und schließlich, drittens, müssten »[d]ie an sich hervorragenden Systeme der sozialen Sicherung in Deutschland […] grundlegend reformiert werden.«121 Unter diesem Punkt war unter anderem die Rede von den Kosten der Wiedervereinigung und den »sich in den vergangenen Jahrzehnten [herausgebildeten] Verkrustungen und Vermachtungen […], die zu hohen Effizienzverlusten führen.«122 Es wurde konstatiert: »Wir müssen immer mehr Ressourcen aufbringen, um unser Ziel der sozialen Sicherheit zu erreichen.«123 Wohlgemerkt waren die Reformen der Sozialsysteme nur einer von drei Teilen des Papiers. Interessant ist, dass im folgenden Kapitel mit dem Titel »Die Aufgabe: Vertrauen schaffen« die Hoffnung geäußert wurde, dass mit den »umfassende[n] Reformen« »das Vertrauen in die Problemlösungsfähigkeit der Politik« zurückgewonnen werden könne.124 Geradezu Optimismus wurde hier verbreitet. 117 | Vgl. o.V.: Streit um radikale Sozialreform; in: Hamburger Abendblatt, 23.12.2002; Onlineversion des Printartikels abrufbar unter: www.abendblatt.de/politik/deutsch land/article106780087/Streit-um-radikale-Sozialreform.html (zuletzt eingesehen am 14.09.2016). 118 | Vgl. Inacker, Michael: Reformpapier entzweit die SPD; in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 22.12.2002, S. 1. 119 | Vgl. Thesenpapier für die Planungsklausur am 05. Dezember 2002: »Auf dem Weg zu mehr Wachstum, Beschäftigung und Gerechtigkeit«. 120 | Ebd., S. 2 (Der besseren Übersichtlichkeit in Bezug auf die Zitate wird im Folgenden auf die Hervorhebungen [dick, kursiv] aus dem Original verzichtet). 121 | Ebd. 122 | Ebd. 123 | Ebd. 124 | Ebd., S. 3.
7. Metamorphose
So hieß es an einer Stelle in Bezug auf die Steigerung der »Effizienz der sozialen Sicherungssysteme durch umfassende Reformen«, dass es »offensichtlich« sei, »dass die Menschen die Bundesregierung hierbei unterstützen wollen. Sie spüren, dass sich das Zeitfenster zunehmend schließt. Ohne grundlegende Reformen drohen Leistungskürzungen und/oder Beitragsanhebungen.«125 Von einer »gewaltige[n] Herausforderung« war die Rede, »gleichzeitig Abgaben- und Steuersenkungen mit Haushaltskonsolidierung und mehr Investitionen in Zukunftsbereiche – Bildung, Forschung, Familien und Infrastruktur – zu verbinden.«126 Von der »Entfesselung der Wachstumskräfte«127 und dass durch Bürokratieabbau »die Systeme erhalten, die Belastung von Bürgern und Unternehmen mit Sozialabgaben verringert und eine neue Dynamik in Wirtschaft und Gesellschaft entfesselt werden« könnten, war die Rede.128 Es wurde ein Dreiklang beschrieben, der mit der Stärkung der Wirtschaft durch jene Entfesselung und »Kostenentlastungsreformen« für Bürger und Unternehmen einhergehe.129 Unabhängig des Befundes dürfte allein das Wort »Entfesseln« viele Sozialdemokraten und Bürger eher an die CDU (und FDP) als an die SPD erinnert haben. Keineswegs zwar wurde es so dezidiert genannt, doch waren, so entsteht der Eindruck, den Verfassern die Probleme, die mit den skizzierten Reformen entstehen könnten, durchaus bewusst. So hieß es am Ende des Aufgaben-Kapitels: »Eine Lösung der wirtschaftspolitischen Herausforderungen griffe zu kurz, ginge sie an den gesellschaftspolitischen vorbei. Die Akzeptanz einer erfolgreichen Reformpolitik wird maßgeblich auch davon abhängen, ob die Menschen die Politik der Bundesregierung als gerecht bewerten.«130
Von einer »Politik des notwendigen Sparens« war die Rede, die dann unterstützt werden würde, wenn dieses Gerechtigkeitsempfinden hergestellt würde.131 So hieß es, dass weitere Kosten, etwa höhere Sozialausgaben oder eigenverantwortliches Sparen für die Rente oder die Kindererziehung und die Einheit »[a]ls offensichtlich ungerecht« empfunden werden, wenn gleichzei-
125 | Ebd. 126 | Ebd. 127 | Ebd. 128 | Ebd., S. 4. 129 | Ebd. 130 | Ebd. 131 | Ebd.
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III. Politik im Hintergrund
tig »der arbeitenden Bevölkerung die Steuern und Sozialbeiträge angehoben werden.«132 Daraus folgte für die Autoren ein Vierklang an Maßnahmen, der unter der Überschrift »Auf dem Weg zu mehr Wachstum, Beschäftigung und Gerechtigkeit« beschrieben wurde: Erstens »[m]ehr Investitionen«, zweitens »Sparen bei konsumtiven Staatsausgaben und Subventionen«, drittens »Steuersenkungen und Senkung der Lohnnebenkosten infolge konsequenter Strukturreformen der sozialen Sicherungssysteme (große Arbeitsmarktreform durch Umsetzung des Hartz-Konzepts, Gesundheitsreform, Rente)«, viertens: »Bürokratieabbau für mehr unternehmerische Dynamik.«133 Auf den folgenden Seiten wurden diese Punkte näher ausgeführt und, teilweise, begründet. So sei eine »Haushaltskonsolidierung […] notwendig«, um neben einer besseren Finanzpolitik »nachfolgende Generationen nicht noch stärker mit Zins- und Tilgungslasten zu belasten.«134 Wirtschaftsfreundlich war der Punkt zu »Steuersenkungen«. Dies sei der »Königsweg für mehr Vertrauen und Beschäftigung«.135 Dadurch würden sowohl Konsum angeregt als auch Lohnsteigerungen vermieden oder moderater durchgeführt, so die geäußerte Hoffnung. Dabei entwickele sich eine »dreifach positive Wirkung auf die Investitionen: Unternehmer erwarten, dass die Menschen mehr konsumieren; niedrige Steuern verbessern die Möglichkeit der Gewinnerzielung; niedrigere Abgaben verbilligen die mit einem Beschäftigungsaufbau verbundenen Investitionen.«136
Explizit wurde außerdem, auch das in einer deutlichen Sprache, auf mögliche »Drückeberger« eingegangen, für die es »[d]urch die Umkehr der Beweislast und die flexibleren Möglichkeiten der Leistungskürzung […] in Zukunft deutlich schwerer« würde, »die Arbeitslosenversicherung auszunützen«.137 Daneben wurden eine »Liberalisierung der Leih- und Zeitarbeit« sowie eine »[v]öllige Neuregelung des Niedriglohnsektors« angeregt.138 Auf den weiteren Seiten folgten Ausführungen unter anderem zum Bürokratieabbau und zu den Aktienmärkten. Insbesondere bei den Aussagen zu den Aktienmärkten wird eine sozialdemokratische Handschrift deutlich, wenn es hieß, dass »Manager persönlich für falsche Adhoc-Mitteilungen und 132 | Ebd., S. 5. 133 | Ebd., S. 6. 134 | Ebd., S. 9. 135 | Ebd., S. 12. 136 | Ebd. 137 | Ebd., S. 16. 138 | Ebd.
7. Metamorphose
andere Kapitalmarkt-Informationen haften« sollten.139 Dieses Beispiel zeigt, wie vielfältig das Papier war und es eben nicht nur um Reformen im Sozialbereich ging. Dennoch wurde ein starker Wirtschaftsschwerpunkt – Stichwort »Entfesselung« – deutlich. So war im Fazit zu lesen, dass die »Bundesregierung […] mit ihrem makroökonomischen konsistenten Wirtschaftspolitik-Mix die Wachstumskräfte in Deutschland wieder entfesseln« werde.140 Es wurde dabei ein Bogen zur ersten rot-grünen Legislaturperiode gespannt, wenn es hieß: »Sie knüpft dabei an ihre erfolgreiche Politik der Zeit nach Lafontaine an, die durch die exogenen Schocks im Jahr 2001 und den harten Wahlkampf unterbrochen wurde.«141 Gerade letzte Aussage erscheint interessant, weil nicht nur im Wahlkampf eine andere Politik versprochen, sondern später auch im Koalitionsvertrag festgeschrieben worden war. Sie kam so einer Distanzierung vom eigenen Wahlkampf gleich. Worauf die Bundesregierung ihren Schwerpunkt legen sollte, damit wurde in dem Papier kein Geheimnis gemacht. »Die Bundesregierung wird den Menschen das Vertrauen in die Wirtschaftspolitik wieder zurück geben«, hieß es und weiter: »Dies wird mit einem klaren wirtschaftspolitischen Reformkurs gelingen.«142 Neben diesem starken Wirtschaftsschwerpunkt wurde gleichzeitig das Soziale betont. Eine »doppelte Herausforderung« wurde diagnostiziert:143 »Einerseits eine Reformrendite in Form von Abgaben- und Steuersenkungen zu realisieren und diese mit Haushaltskonsolidierung und mehr Investitionen in die Zukunftsbereiche – Bildung, Forschung, Familien und Infrastruktur – zu verbinden und andererseits das wirtschaftspolitisch Notwendige so durchzusetzen, dass seine Ergebnisse von der überwiegenden Mehrheit der Menschen in unserem Land auch als gerecht anerkannt werden.«144
Obwohl das Papier eigentlich einem internen Diskussionsprozess diente und dieses speziell als Grundlage für die nächste Diskussionsrunde im Januar 2003 herhalten sollte, gelangte es bereits vorher an die Öffentlichkeit. Am 20. Dezember 2002 berichtete der Tagesspiegel unter dem Titel »Kanzleramt plant radikale Reformen« über das Thesenpapier.145 139 | Ebd., S. 20. 140 | Ebd., S. 23. 141 | Ebd. 142 | Ebd. 143 | Ebd. 144 | Ebd. 145 | Haverkamp, Lutz: Kanzleramt plant radikale Reformen; in: Tagesspiegel, 20.12.2002, S. 1.
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III. Politik im Hintergrund
Darüber, wie das Papier an die Öffentlichkeit gelangen konnte, gibt es unterschiedliche Darstellungen. An einer Stelle heißt es, dass Steinmeier das Papier selbst zu den Medienvertretern gegeben habe und Schröder über die »plötzliche Veröffentlichung« erst kurz vorher informiert haben soll.146 An anderer Stelle wiederum ist zumindest von »[g]ezielte[n] Indiskretionen« die Rede.147 Der Spiegel schrieb im Rückblick, dass Steinmeiers enge Mitarbeiter erzählen würden, dass »das Papier […] nicht zufällig in die Zeitung gefallen« sei, sondern »man [es] selbst dort abgegeben« habe.148 »Steinmeier habe Fakten schaffen, eine öffentliche Erwartungshaltung erzeugen wollen, hinter die sich schwer zurückgehen ließe«, zitierte das Nachrichtenmagazin die Aussagen der Mitarbeiter indirekt.149 »Er habe seinen Kanzler festlegen, ihn unter Zugzwang setzen wollen. Schröder wusste von der Arbeit der Gruppe, aber er kannte das Papier noch nicht.«150 Steinmeier selbst sagt retrospektiv, wie gezeigt, dass das Netzwerk der Loyalität bis auf eine Ausnahme,151 eben diese, gehalten habe, distanziert sich also indirekt von der unerwarteten Veröffentlichung. Schröder wiederum tut eine Veröffentlichung, um ihn unter Zugzwang zu setzen, als »dummes Zeug« ab.152 Für die Einordnung des Papiers erscheint der Blick auf die damaligen Akteure, die davon betroffen waren, nämlich Wolfgang Clement und Ulla Schmidt, sinnvoll. Der damalige Wirtschafts- und Arbeitsminister erinnert sich, dass Steinmeier »die Veröffentlichung natürlich nicht für besonders hilfreich« gehalten habe.153 Er sieht retrospektiv mit dem Papier jedoch ein Signal an die Wirtschaft, um diese »überhaupt noch halbwegs bei Stimmung zu halten«.154 Überrascht scheint er, zumindest rückblickend, nicht von den Ausarbeitungen gewesen zu sein. Anders war das bei Ulla Schmidt, die, so das Hamburger Abendblatt damals, »nach eigenen Angaben nichts von dem Papier« gewusst habe.155 Überhaupt habe es, so stellte die Welt fest, »unabgestimmt in Widerspruch zum offiziellen Kurs etwa von Gesundheitsministerin
146 | Sturm, D.-F.: Wohin geht die SPD?, 2009, S. 115. 147 | Langguth, G.: Machtmenschen, 2009, S. 303. 148 | Feldenkirchen, Markus: »Draußen ist’s heller«; in: Spiegel, 21.09.2009, S. 4658; hier: S. 52. 149 | Ebd. 150 | Ebd. 151 | Steinmeier, Frank-Walter im zweiten Gespräch mit dem Autor am 06.10.2014; vgl. S. 224f in dieser Biographie. 152 | Schröder, Gerhard im Gespräch mit dem Autor am 09.12.2013. 153 | Clement, Wolfgang im Gespräch mit dem Autor am 24.07.2013. 154 | Ebd. 155 | O.V.: Streit um radikale Sozialreform; in: Hamburger Abendblatt, 23.12.2002.
7. Metamorphose
[…] Schmidt« gestanden.156 Im Rückblick erinnert sich Schmidt daran, dass in dem Papier »auch Punkte […] in der Gesundheitspolitik« drin gewesen seien, »die ich so nicht gemacht hätte«, was später dann aber auch nicht gemacht worden sei.157 Hier wird einmal mehr die sich anbahnende Zentralisierung im Kanzleramt in der zweiten Legislaturperiode von Rot-Grün deutlich. Reformen wurden im Kanzleramt teils ohne Abstimmung mit den Fachministerien entworfen. Für Eichel ist dies mit Blick auf die fortgeschrittene Regierungszeit zwar nicht verwunderlich, gleichwohl hält er es auch zehn Jahre später für einen »schweren Fehler«.158 Damals jedenfalls kommentierte die Regierung, dass das Papier »nichts Offizielles« und »keine Vorfestlegung« sei.159 Doch selbst wenn es das nicht war, war es doch ein erster Ausblick, geradezu ein solcher Testballon, um zu schauen, wie die Reaktionen auf einen solchen möglichen Schwenk der Sozialdemokraten ausfallen würden. Das war es selbst dann, wenn die Veröffentlichung vom Kanzleramt nicht geplant war. Die Reaktionen der parteipolitischen Akteure fielen überraschend gemäßigt aus. Vielleicht mag niemand recht geglaubt haben, dass diese Regierung, die in die zweite Amtszeit so schwach gestartet war, wirklich bereit wäre, das alles umzusetzen. Kritik gab es eher am Procedere an sich. So betonte der SPD-Linke Michael Müller, dass es »legitim« sei, dass im Kanzleramt Papiere erarbeitet würden.160 Wichtige Ämterträger im DGB wiederum warnten die Regierung lediglich »vor ›Schnellschüssen‹«, fügten jedoch hinzu: »›Unangenehme Anpassungen‹ in der Sozialversicherung seien zwar nicht mehr vermeidbar. Dabei müsse aber auf ›Gerechtigkeit‹ geachtet werden.«161 Die rückblickende Aussage eines SPDParlamentariers erklärt diese gemäßigten Reaktionen vielleicht: »Das wurde […] nicht so sonderlich ernst genommen, weil es vielen von uns als abstrus erschien und als so stark im Widerspruch zum sozialdemokratischen Gedankengut befindlich, dass wir gesagt haben, da sind ein paar Irre am Werk, das ist möglicherweise auch, ohne es gewollt zu haben, öffentlich geworden.« 162 156 | Blome, Nikolaus: Steinmeier bekommt mehr Einfluss; in: Welt, 28.12.2002, S. 2. 157 | Schmidt, Ulla im Gespräch mit dem Autor am 17.10.2013. 158 | Eichel, Hans im Gespräch mit dem Autor am 29.07.2013. 159 | Zitiert nach Eubel, Cordula: Noch ist es Papier; in: Tagesspiegel, 21.12.2002, S. 2. 160 | Zitiert nach Bauer, Georg; Beutler, Annette; Kowalski, Matthias; Moritz, HansJürgen; Jach, Michael; Wiegold, Thomas: Feuerwerk vom Kanzleramt; in: Focus, 30.12.2002, S. 18-21; hier: S. 20. 161 | Inacker, Michael: Reformpapier entzweit die SPD; in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 22.12.2002, S. 1. 162 | Zitiert nach Hassel, A.; Schiller, C.: Der Fall Hartz IV, 2010, S. 251.
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III. Politik im Hintergrund
Deutlichere Reaktionen rief das Papier hingegen in den verschiedenen Presseorganen hervor. In einem begleitenden Kommentar hielt der Tagesspiegel fest, dass »[i]n einigen Punkten […] die Regierung ihrer bisherigen Politik« widerspreche.163 »Der Opposition kommt vieles bekannt vor – aus ihrem eigenen Programm.«164 Weiter hieß es in Bezug auf den damaligen Unions-Fraktionsvize Horst Seehofer, dass dieser sich »verwundert […] die Augen« gerieben habe, »als er Details aus einem Strategiepapier des Kanzleramts zu lesen bekam. Von ›Wahltarifen‹ in der Krankenversicherung und von ›Beitragsrückerstattungen‹ war da unter anderem die Rede. Schlagworte, mit denen der Unions-Sozialexperte in diesem Sommer in den Wahlkampf gezogen ist. ›Das ist doch unser Regierungsprogramm‹, stellt er überrascht fest. Noch kurz vor den Wahlen sei er für diese Ideen von der SPD als ›Kahlschläger des Sozialstaates‹ gescholten worden.«165
Für die politischen Beobachter war das Papier ein »Gegenpapier zu der jüngst verabschiedeten Koalitionsvereinbarung.«166 Der Spiegel kommentierte das mit den Worten: »Auf den Gedanken, dass man ausgerechnet Schröders bisher so müder Truppe einmal überbordenden Reformeifer vorwerfen könnte, wäre noch Anfang Dezember wohl niemand gekommen«.167 Schröder selbst redete das Papier »als vorläufige Gedankenskizze« klein168 und betonte: »Ich halte es für sinnvoll und ganz selbstverständlich, dass im Kanzleramt über den Tag hinaus gedacht wird. Entscheidungen werde am Ende ich treffen.«169 Der Weg zu dieser Entscheidung bis hin zu Schröders späterer Aussage, »Das ist mein Papier«,170 wurde allerdings erst begonnen zu begehen. Erst im Februar 2003 sollte die endgültige Entscheidung fallen. Zu diesem Zeitpunkt Ende des Jahres sollen sich der »Kanzleramtschef und seine Leute« jedoch zumindest einig gewesen sein, »dass ›muddling through‹, ein Durchwursteln, im gemeinsamen Untergang enden würde. Der Ärger über die missratene, erst wenige Wochen alte Koalitionsvereinbarung« soll, wie be-
163 | Eubel, C.: Noch ist es Papier; in: Tagesspiegel, 21.12.2002. 164 | Ebd. 165 | Sturm, D.-F.: Wohin geht die SPD?, 2009, S. 112. 166 | Ebd. 167 | Hammerstein, K. von; Fleischhauer, J.; Sauga, M.; Schäfer, U.: Das Jahr der Risiken; in: Spiegel, 30.12.2002, S. 26. 168 | Zitiert nach Sturm, D.-F.: Wohin geht die SPD?, 2009, S. 115. 169 | Bauer, G.; Beutler, A.; Kowalski, M.; Moritz, H.-J.; Jach, M.; Wiegold, T.: Feuerwerk vom Kanzleramt; in: Focus, 30.12.2002, S. 20f. 170 | Zitiert nach Sturm, D.-F.: Wohin geht die SPD?, 2009, S. 115.
7. Metamorphose
reits aufgezeigt, groß gewesen sein.171 In dieser Lage hätten sich Schröder und Steinmeier auf einen »zweiten Aufschlag« verständigt, berichtet ein Parteibiograph rückblickend.172 Ähnlich erinnert sich Thomas Steg. Schröder und Steinmeier hätten »jeden Tag intensiv miteinander gesprochen. Da war ’ne absolute Nähe, intellektuelle Übereinstimmung und ’ne klare Arbeitsteilung. […] Und am Ende war dann einfach bei beiden die Einsicht deutlich ausgeprägt, […] am Ende des Jahres 2002 […]: Wir müssen uns jetzt nochmal neu erfinden.«173
Da habe dann, so Steg, Schröder zu Steinmeier gesagt: »Kümmer’ dich drum.«174 Zwar sollte die endgültige Entscheidung über den neuen Kurs erst einige Wochen später fallen. Eine geradezu bahnsprechende Wende war allerdings zu diesem Zeitpunkt schon bestätigt, die Steinmeier und seine Leute seit der Bundestagswahl 2002 im September und spätestens nach den Koalitionsverhandlungen und der Wiederwahl Schröders zum Bundeskanzler Mitte Oktober 2002 nun forcierten und einen tiefgreifenden Wandel angestoßen hatten. Letztendlich ging es um ein »Sozialdemokratische[s] Dilemma[]«, 175 das hiermit begonnen worden ist, aufgelöst zu werden und die Partei den veränderten Rahmenbedingungen anzupassen und neu auszurichten. Der Ausgangspunkt dieses lange Zeit verzögerten Prozesses ist in der Zeit von Steinmeiers frühen Jahren zu finden. »Seit Beginn der siebziger Jahre, als die Ölkrise das Ende des goldenen Zeitalters der Nachkriegsjahre einleitete, stellte sich für alle Parteien links der Mitte das zentrale Problem, wie in ökonomisch schwierigen Zeiten die erreichten Leistungen des Wohlfahrtsstaates verteidigt werden können«,176
heißt es in einer Analyse über die Sozialreformen, in der die Frage aufgeworfen wird, ob »sozialdemokratische Parteien den Wohlfahrtsstaat reformieren« sollten, »um ihn zu erhalten«177 oder »bereits die Notwendigkeit einer solchen Reform ein Zugeständnis an den neoliberalen Zeitgeist« sei?178 Die Kampagne »Innovation und Gerechtigkeit« aus dem Bundestagswahlkampf 1998 habe 171 | Sturm, D.-F.: Wohin geht die SPD?, 2009, S. 112. 172 | Ebd. 173 | Steg, Thomas im Gespräch mit dem Autor am 16.12.2013. 174 | Ebd. 175 | Hassel, A.; Schiller, C.: Der Fall Hartz IV, 2010, S. 143. 176 | Ebd. 177 | Ebd. 178 | Ebd.
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III. Politik im Hintergrund
hierbei den Wandel aufgezeigt, dieses Spannungsfeld, über dessen Ausweg sich noch nicht entschieden worden ist.179 So habe sich »[d]er Anteil der Industriearbeitsplätze […] in den letzten drei Jahrzehnten halbiert und liegt in Deutschland heute bei unter 20 Prozent.«180 Die neuen Arbeitsplätze hingegen würden »fast ausschließlich in den Dienstleistungssektoren« entstehen.181 Für »[s]ozialdemokratische Parteien, deren erklärtes Ziel der letzten 100 Jahre es war, die ökonomischen Interessen der arbeitenden Bevölkerung zu vertreten und soziale Schutzmechanismen aufzubauen und zu verteidigen,« bedeutete das, dass sie sich »zunehmend der Frage ausgesetzt« gesehen haben, »wie sie dieses Ziel im 21. Jahrhundert noch verfolgen konnten.«182 Eine Lösung sei dabei nicht leicht zu finden. Denn: »Die anhaltende Krise auf dem Arbeitsmarkt drohte zunehmend die sozialen Sicherungssysteme zu unterminieren. Solange nicht mehr Menschen in den sozialen Sicherungssystemen einzahlten, war ihre Zukunft ungewiss.«183 Hier also setzte das Papier an, wenngleich es der traditionellen Industriepolitik auch weiterhin eine große Rolle zusprach und forderte, dass man »sich von der allzu einseitigen Fokussierung auf die Dienstleistungsmärkte lösen sollte«.184 Die Industriepolitik nämlich sei eine ihrer »Trumpfkarten«.185 Keinesfalls wurden also einfach nur Analysen übernommen, sondern vielmehr neue Konzepte erarbeitet. Von Beginn an wurde dabei auch öffentlich deutlich gemacht, dass die konzeptionellen Arbeiten im Kanzleramt gebündelt werden, dort auch ihren Ursprung hatten, was ungewöhnlich war. Denn eigentlich kann das Bundeskanzleramt »mit Aufmerksamkeit der veröffentlichten Meinung […] nur im Falle von Pannen, Kabalen, Fehlern rechnen. Dass eine Regierungszentrale funktioniert, ist […] keine Nachricht.«186 Dies sei der Grund, heißt es in einer Analyse, dass der »Kanzler und Amtschef danach« trachten würden, »ihr Haus wenig sichtbar zu machen und von Aufmerksamkeiten, die von außen kommen, abzuschotten«.187 Als Mittler zwischen den Interessen, wie Steinmeier in der ersten Legislaturperiode seine Rolle auch wahrgenommen hat, kam dem
179 | Ebd. 180 | Ebd. 181 | Ebd. 182 | Ebd. 183 | Ebd. 184 | Thesenpapier für die Planungsklausur am 05. Dezember 2002: »Auf dem Weg zu mehr Wachstum, Beschäftigung und Gerechtigkeit«, S. 22. 185 | Ebd. 186 | König, K.: Das Zentrum der Regierung; in: Bröchler, S.; Blumenthal, J. von (Hg.): Regierungskanzleien, 2011, S. 66. 187 | Ebd.
7. Metamorphose
Kanzleramt bisher »nur in Ausnahmefällen eine eigenständige politikinitiierende Rolle« zu.188 Eine solche schien ihm nun zuzukommen.189 Das Kanzleramt war enorm bedeutend, verhielt sich wie der letzte Fels in der Brandung zwischen mehreren, nicht immer funktionierenden Ministerien und einer wenig beweglichen Partei. Steinmeier galt hierbei als Architekt und das nicht nur bei Medienvertretern, sondern auch bei den damaligen Akteuren bis hin zum Bundeskanzler. Der erinnert sich im Rückblick, dass das Konzept von Steinmeier »und seinen Leuten geschrieben worden ist.«190 Außerdem erläutert er: »Was wir mit der Agenda 2010 machen wollten, das ist schon in eben diesem Diskussionskreis entworfen worden. Das heißt, dass man zum Beispiel […] den Arbeitsmarkt liberalisieren würde, dass man in der Rentenpolitik andere Positionen einnehmen würde als bisher. […] Und das ist in dem Diskussionskreis entworfen, […] diskutiert […] und dann aufgeschrieben [worden]. Natürlich […] von ihm, unter seiner Leitung, und den […] Leuten, die dafür zuständig waren.«191
Die zwei großen Reformen von Rot-Grün, nämlich die Neugestaltung der Arbeitsmarktpolitik und die Rentenpolitik, verbindet Schröder eng mit der Person Steinmeier. Es ist das, was auch andere Akteure bestätigen.192 Es war ein solches Gesamtkonzept, wie es Steinmeier immer, wie Steg schon früher zitiert worden ist, machen wollte.193 Nachdem die erste Legislaturperiode noch von solchen kleineren, punktuellen Konzepten geprägt war, schien jetzt ein 188 | Fleischer, J.: Das Bundeskanzleramt; in: Bröchler, S.; Blumenthal, J. von (Hg.): Regierungskanzleien, 2011, S. 137. 189 | Vgl. z.B. Tils, Ralf: Strategisches Zentrum und Regierungszentrale im Kontext von Party-Government. Strategische Regierungssteuerung am Beispiel der Agenda 2010; in: Bröchler, S.; Blumenthal, J. von (Hg.): Regierungskanzleien, 2011, S. 103-132; hier: S. 119; vgl. auch Rüb, F.: Regieren, Regierungszentrale und Regierungsstile; in: Bröchler, S.; Blumenthal, J. von (Hg.): Regierungskanzleien, 2011, S. 94; vgl. außerdem Langguth, G.: Machtmenschen, 2009, S. 303. 190 | Schröder, Gerhard im Gespräch mit dem Autor am 09.12.2013. 191 | Ebd. 192 | Vgl. z.B. Clement, Wolfgang im Gespräch mit dem Autor am 24.07.2013; vgl. auch Riester, Walter im Gespräch mit dem Berliner Kurier; in: Brinkmann, Peter: Mein Name ist Riester, ich gehe in Rente; in: Berliner Kurier, 06.08.2009, S. 2; vgl. außerdem Zypries, Brigitte im Gespräch mit dem Autor am 24.02.2014; vgl. zudem Bulmahn, Edelgard im Gespräch mit dem Autor am 20.01.2014; vgl. ebenfalls: Steg, Thomas im Gespräch mit dem Autor am 16.12.2013). 193 | Vgl. Steg, Thomas im Gespräch mit dem Autor am 16.12.2013 und S. 153 in dieser Biographie.
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III. Politik im Hintergrund
solches in greif bare Nähe gerückt zu sein, zu dem auch Schröder sein Okay zu geben schien. Die Vorschläge jedenfalls stießen bei ihm, so heißt es in einer Analyse, »auf Zustimmung«.194 Für die Sozialdemokraten bedeutete dieser angestoßene Wandlungsprozess eine umfangreiche Veränderung. So bestanden die Bemühungen zu Beginn des Jahres 2003 darin, die Positionen, die in der SPD vorherrschten, weiter auszuloten. Schröder soll dabei die stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden schriftlich um eine Einschätzung zu eben jenem Papier gebeten haben.195 In der Antwort, die das Kanzleramt Anfang Januar 2003 erreichte, befand sich zwar die Mahnung, »sozialdemokratische Reformpolitik dürfte sich nicht an neoliberalen Überzeugungen orientieren, zugleich nahmen die Autoren jedoch für sich in Anspruch, nicht grundsätzlich gegen das Memorandum aus dem Kanzleramt zu sein.«196 So hieß es in dem Brief: »Wir verweisen darauf, dass alle großen Reformschübe im letzten Jahrhundert am Prinzip der sozialen Gerechtigkeit festgemacht waren, wenn auch in immer wieder neuen Formen und veränderten Strategien – seien es nun die New-Deal-Demokraten in den USA von Roosevelt bis Clinton oder in Deutschland Erhards soziale Marktwirtschaft bzw. Brandts Politik innerer Reformen.«197
Wichtig ist insbesondere die dann folgende Aussage: »Kurz: Weil Reformen im Sozialsystem notwendig sind, können sie nur mit einer längerfristigen ökonomischen Perspektive, die sich am Gleichgewicht orientiert, verwirklicht werden.«198 All das liest sich kooperativ, keineswegs ablehnend, auch einsichtig. Es wurde bereits aufgezeigt, wie gering der Glauben an eine wirkliche Durchsetzung der beschriebenen Reformen zunächst war199 – womöglich spiegelte sich auch das darin wieder. Vielleicht aber war es tatsächlich so, dass man schlicht, 194 | Wolfrum, E.: Rot-Grün an der Macht, 2013, S. 533. 195 | Vgl. ebd. 196 | Ebd. 197 | Zitiert nach ebd. 198 | Zitiert nach ebd. 199 | Wissenschaftlern ging es nicht anders. In einer noch im Dezember 2002 abgeschlossenen und 2003 veröffentlichten Publikation über die ersten vier Jahre rot-grüner Bundespolitik ist im Ausblick zu lesen, dass Schröders Politikstil, der immer wieder auf die Befindlichkeiten der Wähler eingehe, verhindere, dass sich ein »kohärentes wirtschaftspolitisches Konzept entwickelt und die – von den meisten Wissenschaftlern für nötig befundenen, aber bei den Wähler äußerst unpopulären – Reformen in der Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik umgesetzt werden können.«; Zohlnhöfer, Reimut: Rot-grüne Regierungspolitik in Deutschland – Versuch einer Zwischenbilanz; in:
7. Metamorphose
wie ein Analyst mutmaßt, davon ausging, »dass die Zeit zur offensiven Diskussion noch kommen werde.«200 Für Steinmeier und Schröder jedenfalls konnte, das darf angenommen werden, darin keine grundsätzliche Ablehnung gegen das Papier herausgelesen werden. Dennoch wurde das Papier zunächst öffentlich nicht weiter forciert. Intern allerdings fanden weitere Arbeiten daran statt, der Kreis wurde insgesamt vergrößert. Die Planung des »Reformpakets« wurde auf Beamtenebene ausgedehnt, einbezogen waren nun auch das Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit sowie erste Experten, Wissenschaftler und Politikerberater.201 Dabei hatte weiterhin der kleine Kreis um Steinmeier, intern mittlerweile »Strategie 2010«202 genannt, eine besondere Rolle inne. Sechswöchig sollte sich dieses »neue Machtzentrum«203 fortan treffen, um über die weiteren Schritte und, so fasste es die Welt zusammen, »die Bestimmung entscheidender Wegmarken für die Zeit bis 2006«204 zu diskutieren.205 Gemeint waren damit die künftige Arbeitsmarkt-, Renten- und Gesundheitspolitik sowie die Reform der Sozialsysteme, also jene Punkte, die bereits im entsprechenden Kanzleramtspapier angesprochen worden sind.206 Neben der bisherigen Runde der Staatssekretäre, die »im Kanzleramt zur Abstimmung von konkreten Gesetzesvorhaben« zusammentraf,207 unterstrich Steinmeier mit dieser Runde nun noch einmal offensiv seinen Anspruch an strategische Planung, die ihm seit der Bundestagswahl und dem Umbau des Kanzleramts mehr als zuvor oblag. Die Arbeiten schritten also voran. Eine Präsentation noch vor der kommenden Landtagswahl in Niedersachsen am 3. Februar 2003 war, selbst wenn sie angedacht worden wäre, jedoch nicht möglich, erinnert sich Müntefering retrospektiv. So hätten sie »gewartet […] und gesagt […], dass kriegen wir auch vorher nicht mehr richtig gebacken.«208 Die Landtagswahl war so eine entscheidende Wegmarke, auch eine Standortbestimmung, wo Rot-Grün rund fünf Monate nach der Wiederwahl stehen würde. Das Ergebnis war schließlich Egle, Christoph; Ostheim, Tobias; Zohlnhöfer, Reimut (Hg.): Das rot-grüne Projekt. Eine Bilanz der Regierung Schröder 1998-2002, Wiesbaden 2003, S. 399-419; hier: S. 418. 200 | So zumindest mutmaßt Edgar Wolfram; Wolfrum, E.: Rot-Grün an der Macht, 2013, S. 533. 201 | So zum Beispiel der Politikwissenschaftler Herfried Münkler sowie der Politikberater Volker Riegger; vgl. Marx, S.: Die Legende vom Spin-Doktor, 2008, S. 118. 202 | O.V.: Streit um radikale Sozialreform; in: Hamburger Abendblatt, 23.12.2002. 203 | O.V.: Kanzler schafft sich neues Machtzentrum; in: Welt, 28.12.2002, S. 1. 204 | Blome, N.: Steinmeier bekommt mehr Einfluss; in: Welt, 28.12.2002. 205 | Vgl. o.V.: Kanzler schafft sich neues Machtzentrum; in: Welt, 28.12.2002. 206 | Vgl. ebd. 207 | Ebd. 208 | Müntefering, Franz im Gespräch mit dem Autor am 22.10.2013.
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III. Politik im Hintergrund
eindeutig und vernichtend. Die SPD verlor nicht nur die absolute Mehrheit, sondern insgesamt fast ein Drittel ihrer Stimmen. Von 47,9 Prozent sank ihr Wähleranteil auf nur noch 33,4 Prozent.209 Aufschluss darüber, was das für Schröder selbst, der einst mit absoluter Mehrheit in Niedersachsen regierte und dessen Landesverband nun wahltechnisch implodiert dastand, bedeutete, kann möglicherweise eine handschriftliche Notiz des Bundeskanzlers geben. Für die einen Tag nach der Landtagswahl stattfindende Präsidiumssitzung der Bundes-SPD nämlich hatte dieser auf einem Zettel notiert: »Bitterste Niederlage meines Lebens«.210 Außerdem: »S.G. + G.B. haben in […] hochanständiger Weise ihre Verantwortung übernommen.«211 Mit einem Ausrufezeichen gekennzeichnet folgt der Satz: »Verantwortung des Bundes und damit meine zentral.«212 Schröder definierte hier also eine klare Verantwortung der Bundespolitik, die zu dieser vernichtenden Niederlage mit beigetragen habe. Dieser Notizzettel, der in den Akten des damaligen Parteivorsitzenden zu finden ist, gibt einen umfangreichen Einblick in die Denkweise jener Tage und bestätigt den Eindruck, dass zu diesem Zeitpunkt ein tiefes Umdenken stattgefunden haben dürfte. So hat Schröder auf dem Zettel stichwortartig festgehalten: »Reformprozess muss fortgesetzt aber erklärt werden«.213 Das »erklärt« ist umrandet, also betont. Es wurde die Devise formuliert: »Reform nicht als Ziel, sondern Instrument Ziel ist«.214 Auf einer weiteren handschriftlichen Notiz vom selben Tag steht: »Ziel – Ziel ist Effizienz + Gerechtigkeit«.215 Weitere Stichwörter stehen für sich: »Traditionswähler – ökon. Komp.«, außerdem: »Kakophonie«.216 In dieser Zeit war es, in der die Idee einer umfangreichen Regierungserklärung geboren worden ist. »Wir müssen uns jetzt noch einmal neu erfinden, wir müssen sozusagen nochmal eine zweite Regierungserklärung abgeben«,217 erinnert sich Steg, war die Einschätzung im Kanzleramt sowie zwischen
209 | Vgl. o.V.: CDU und FDP streben in Niedersachsen zügige Regierungsbildung an; in: Agence France Presse, 03.02.2003. 210 | So in einer Notiz im Aktenbestand Büro Parteivorsitzender Gerhard Schröder (im Archiv der sozialen Demokratie); hier: 2/PVEF000015. 211 | Ebd. 212 | Ebd. 213 | Ebd. 214 | Ebd. 215 | Ebd. 216 | Ebd. 217 | Steg, Thomas im Gespräch mit dem Autor am 16.12.2013.
7. Metamorphose
Schröder und Steinmeier. Eben danach sei es, so Müntefering, zum »eigentliche[n] Festklopfen« gekommen, »dann wurd’ das konkreter«.218 In einer Rekonstruktion des Spiegel wurde die Entscheidung datiert auf den 13. Februar 2003, als den Bundeskanzler ein Brief des FDP-Fraktionsvorsitzenden im Bundestag, Wolfgang Gerhardt, mit der Bitte um eine »Erklärung der Bundesregierung zur wirtschaftlichen Lage«219 erreichte. In Folge dessen habe sich die Führung endgültig zu einer solchen Rede entschieden, um, so die Überzeugung, die prekäre Lage aufzulösen.220 Wann genau diese Entscheidung gefallen ist, ist letztendlich für diese Biographie zweitrangig. Wichtig ist, dass die niedersächsische Landtagswahl die Manifestierung des bereits eingeleiteten Kurswechsels bedeutete. Dass jenes Thesenpapier vom Dezember 2002 nämlich noch immer Bestand hätte, daran glaubten einige Medien schon wieder nicht mehr. Die Zeit beklagte etwa Anfang Februar, dass das Papier »viel zu schnell in Vergessenheit« geraten sei.221 Auffällig bei den Vorbereitungen der Rede war erneut, dass sie vornehmlich bei Steinmeier, dem Ideengeber einer solchen Regierungserklärung, zusammenliefen. So wurden die Ministerien, insbesondere das Finanz-, das Gesundheits- und das Wirtschaftsministerium, lediglich gebeten, Zahlen zu liefern und nicht wie gemeinhin üblich ausformulierte Texte.222 Eichel unterstreicht im Rückblick die zentrale Rolle Steinmeiers dabei: »Wir haben alle zugeliefert, wir haben auch über einzelne Fragen ordentlich gestritten, aber der, der das am Schluss zusammengefügt hat, war Steinmeier.«223 So habe Steinmeier »nicht nur […] die Vorschläge der Ressorts gesammelt, er hat den Entwurf für die […] Schröder-Rede gemacht.«224 Ähnliches berichteten bereits damals Medienvertreter. Der Ablauf im Kanzleramt sei so gewesen, dass Steinmeier alle Vorlagen vorgelegt bekommen und diese gelesen und redigiert ha-
218 | Müntefering, Franz im Gespräch mit dem Autor am 22.10.2013. 219 | Beste, Ralf; Feldenkirchen, Markus; Kullmann, Kerstin; Nelles, Roland; Schwennicke, Christoph: Das Wagnis; in: Spiegel, 08.09.2008, S. 18-24; hier: S. 19. 220 | Vgl. Sturm, D.-F.: Wohin geht die SPD?, 2009, S. 127. 221 | Perger, Werner A.: Ernstfall Schröder; in: Zeit, 06.02.2003; Onlineversion des Printartikels abrufbar unter: www.zeit.de/2003/07/1_Erster_Leiter (zuletzt eingesehen am 12.08.2016). 222 | Vgl. Sturm, D.-F.: Wohin geht die SPD?, 2009, S. 127; vgl. auch Hegelich, S.; Knollmann, D.; Kuhlmann, J.: Agenda 2010, 2011, S. 83f; vgl. außerdem Inacker, Michael; Schmiese, Wulf: Wird der Kanzler scharf schießen?; in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 09.03.2003, S. 4. 223 | Eichel, Hans im Gespräch mit dem Autor am 29.07.2013. 224 | Ebd.
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III. Politik im Hintergrund
be.225 Bei Krampitz seien diese dann gebündelt worden, bevor sie von Hesse und Steg überarbeitet worden seien.226 Vielleicht mag die Beschreibung der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung zu zugespitzt formuliert sein, nämlich dass Steinmeier der »bevorzugte Redenschreiber« des Kanzlers geworden sei.227 Festgehalten werden kann jedoch: Den inhaltlichen Ton gab Steinmeier mehr denn je vor. Das Lob fiel dabei groß aus: »Nur Steinmeier habe die Macht, so meint jemand aus dem Vorbereitungskreis, der Rede ›jene konkrete Form zu geben, damit auch verwertbare Vorschläge für Wege aus der Krise auf den Tisch kommen.‹«228 Das »strategische Machtzentrum der Agenda 2010 kann«, wird in einer Analyse herausgearbeitet, »somit ganz maßgeblich im Bundeskanzleramt verortet werden«.229 Müntefering, als damaliger Fraktionsvorsitzender selbst eigentlich Teil des strategischen Zentrums, bestätigt rückblickend dieses Bild. »Diese Aufgabe, das zusammenzuhalten und daraus eine schlüssige Sache zu machen, die lag dominant beim Kanzleramt.«230 Eine »zentrale Rolle« habe der Kanzleramtschef »mit der ganzen Agenda-Sache« bekommen.231 Das Ressortprinzip, dass noch in der ersten Legislaturperiode selbst bei der Etablierung des Frühwarnsystems hochgehalten worden war,232 erfuhr dabei eine Relativierung.233 Ganz klar lag die Urheberschaft im Kanzleramt, wo neben Steinmeier die Redenschreiber und Abteilungsleiter, so Bernd Pfaffenbach (Wirtschaft) und Günther Horzetzky (Soziales), mit einbezogen waren in die Planung.234 Beteiligt waren weitere Personen, so etwa der frühere SternJournalist Heiko Gebhardt,235 zu dem Steinmeier auch über diese Jahre hinaus zumindest sporadisch Kontakt unterhält und in einem Brief »die Abende auf 225 | Kummer, Joachim: Die Kanzlerflüsterer; in: Welt am Sonntag, 02.03.2003; Onlineversion des Printartikels abrufbar unter: www.welt.de/print-wams/article123285/ Die-Kanzlerfluesterer.html (zuletzt eingesehen am 09.08.2016).; vgl. auch O.V.: Schröder in Not: Wer dem Kanzler was flüstern darf; in: Berliner Kurier, 09.03.2003, S. 20 226 | Vgl. Hegelich, S.; Knollmann, D.; Kuhlmann, J.: Agenda 2010, 2011, S. 83f. 227 | Inacker, M.; Schmiese, W.: Wird der Kanzler scharf schießen?; in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 09.03.2003. 228 | Ebd. 229 | Hegelich, S.; Knollmann, D.; Kuhlmann, J.: Agenda 2010, 2011, S. 83f. 230 | Müntefering, Franz im Gespräch mit dem Autor am 22.10.2013. 231 | Ebd. 232 | Vgl. Aktenbestand Büro Parteivorsitzender Gerhard Schröder (im Archiv der sozialen Demokratie); hier: 2/PVEF000438; vgl. auch S. 155 in dieser Biographie. 233 | Vgl. Hegelich, S.; Knollmann, D.; Kuhlmann, J.: Agenda 2010, 2011, S. 83f. 234 | Vgl. Jacobi, Robert: Ruck-Rede mit Rücksicht; in: Süddeutsche Zeitung, 06.03.2003, S. 5. 235 | Ebd.
7. Metamorphose
der Terrasse an der Willy-Brandt-Straße 1« als gute Erinnerung hervorhebt.236 Außerdem der ehemalige Chefredakteur der Woche, Manfred Bissinger, sowie der stellvertretende Kanzlerbüroleiter Albrecht Funk und Doris SchröderKöpf.237 Der Kreis war insgesamt eher klein, Vorschläge von außen, so etwa von der Parlamentarischen Linken und dem Netzwerk Berlin, fanden indes keinen Eingang in die Rede, auch der grüne Koalitionspartner war nur punktuell in die Planung involviert.238 Erst Ende Februar diskutierte »der Kanzler die Redebzw. Reforminhalte mit den Spitzen des Seeheimer Kreises und der Parlamentarischen Linken«,239 bevor im Kanzleramt Steinmeier, Krampitz, Albrecht Funk und Schröder-Köpf die Endredaktion übernahmen.240 Frühzeitig hatte sich herauskristallisiert, dass es gerade in der Frage der Vermittlung der arbeits- und sozialpolitischen Maßnahmen Probleme geben könnte. So soll Steinmeier bereits im Februar besorgt über mögliche Gegenreformen gewesen sein.241 Abteilungsleiter Horzetzky wurde von Journalisten zudem ein in Bezug auf die Rede besonders heikler Part zugeschrieben. Die Süddeutsche Zeitung führte »die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe« auf, die als »problematisch« gelte, »weil die Gewerkschaften gegen die geplanten Einschnitte protestieren werden.«242 Eben an dieser Frage wird die SPD alsbald eine umfangreiche Zerreißprobe erleben. Jedenfalls nahmen im Verlauf der Planung bereits die Sorgen zu, zumindest aber kristallisierten sich die Konfliktfelder schon da heraus. Nachdem die Fraktion um Weihnachten herum noch nicht glauben konnte, was in dem Papier stand, trieb sie nun die Sorge um, dass sie zu wenig wahrgenommen werden könnte. »Natürlich gab es damals in der Fraktion schon Bedenken, weil die Fraktion […] ja nicht homogen, sondern […] ja sehr heterogen« sei, erinnert sich Riester, der zu diesem Zeitpunkt nur noch einfaches Mitglied
236 | Aktenbestand Büro Parteivize Frank-Walter Steinmeier (im Archiv der sozialen Demokratie); hier: Büro Frank-Walter Steinmeier | Tageskopien | ab 1. April 2009 bis 30. Juni 2009 | SPD-PV, Stv. F.W. Steinmeier (01/2013). 237 | Vgl. Hegelich, S.; Knollmann, D.; Kuhlmann, J.: Agenda 2010, 2011, S. 83. 238 | Vgl. ebd.; vgl. auch Korte, K.-R.: Der Pragmatiker des Augenblicks; in: Zohlnhöfer, R.; Egle, C. (Hg.): Ende des rot-grünen Projektes, 2007, S. 177; vgl. Nullmeier, F.: Die Agenda 2010; in: Fischer, T.; Kießling, A.; Novy, L. (Hg.): Politische Reformprozesse, 2008, S. 156. 239 | Hegelich, S.; Knollmann, D.; Kuhlmann, J.: Agenda 2010, 2011, S. 83. 240 | Vgl. Marx, S.: Die Legende vom Spin-Doctor, 2008, S. 118. 241 | Vgl. Inacker, Michael: Der Hausmeier; in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 02.02.2003, S. 8. 242 | Jacobi, R.: Ruck-Rede; in: Süddeutsche Zeitung, 06.03.2003.
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III. Politik im Hintergrund
im Bundestag war, rückblickend.243 »Was wird jetzt kommen?«, sei die Frage gewesen.244 Man habe von der Hartz-Kommission gewusst und Schröder »als sehr wirtschaftsnah und als eher dem rechten Flügel« nahe eingeschätzt.245 Bei Steinmeier jedoch sei das ähnlich gewesen. Vor ihm habe man in der Fraktion, so Riesters Eindruck, der auch im Rückblick ein sehr positives Bild von Steinmeier hat, »im Zweifelsfall Achtung gehabt, aber ihn […] natürlich genauso auch […] beim Schröder [verortet]. Und dann hat man schon Schlimmes geahnt […]. Und aus den Gewerkschaften kamen schon die ersten Meldungen raus, also da hat sich schon was verdichtet.«246 In dieser Situation seien, berichtete die Süddeutsche Zeitung, erste Abgeordnete auch aktiv geworden und hätten den Kanzler in Gesprächen »vorsorglich« gewarnt, »die ›sozialdemokratische Handschrift‹ nicht zu vergessen.247 »Es dürfe nicht nur um Einschnitte im Sozialstaat gehen, sondern auch darum, leistungsschwächere Bürger stärker zu fördern und in das Arbeitsleben einzubinden.«248 Die unterschiedlichen Sichtweisen zwischen Traditionalisten und Reformern wurden offenbar, die bereits in der ersten Legislaturperiode nur mühsam überdeckt werden konnten.249 Die Sorge der Traditionalisten war dabei keineswegs unbegründet. Denn Steinmeier dachte nicht nur wie Schröder, er dachte weiter. Für ihn war aufgrund der wissenschaftlichen Befunde und der pragmatischeren Herangehensweise ohne parteipolitische Verankerung und Verpflichtung eine andere als die gewählte Lösung nicht akzeptabel. Diese Interpretation legt zumindest Steinmeiers rückblickende Aussage nahe, in der er feststellt, dass »wir uns ja auch im Verlaufe der letzten Jahre […] gegen herrschende Meinungen durchgesetzt« hätten,250 »[w]as […] jetzt sozusagen die Reformen des letzten Jahrzehnts waren«.251 Er fragt dabei, ob »das Ignorieren der Realität schon […] politische Haltung« sei.252 Steinmeier scheint dafür wenig Verständnis zu haben. So fragt er weiter, ob man »nicht, wenn die Dinge sich soweit verändern, dass man nur mit Bekenntnissen zur Geschichte der SPD einfach nicht mehr weiterkommt
243 | Riester, Walter im Gespräch mit dem Autor am 16.05.2013. 244 | Ebd. 245 | Ebd. 246 | Ebd. 247 | Jacobi, R.: Ruck-Rede; in: Süddeutsche Zeitung, 06.03.2003. 248 | Ebd. 249 | Vgl. Kapitel 6.2 in dieser Biographie; vgl. auch Inacker, M.: Gute Zeiten; in: Welt, 06.12.2000. 250 | Steinmeier, Frank-Walter im zweiten Gespräch mit dem Autor am 06.10.2014. 251 | Ebd. 252 | Ebd.
7. Metamorphose
[…], dann auch gegen die herrschende Meinung selbst innerhalb der eigenen Partei versuchen [muss] anzutreten?«253 Diese Aussage steht im diametralen Widerspruch zu den Traditionalisten in der SPD. Sie mag aus pragmatischer Sicht richtig sein, doch so eindeutig die Position ist, so sehr hätte sie schon an dieser Stelle vermittelt werden müssen. Dies wiederum wäre weniger Steinmeiers Aufgabe, sondern vielmehr Schröders Aufgabe gewesen. Schröder jedenfalls, der zu Beginn der Legislaturperiode, wie beschrieben, bisweilen zurückgezogen, rat- und lustlos wirkte, gewann in dieser Phase wieder deutlich an Fahrt. Das wurde allein schon in der Erarbeitung dieser neuen Regierungserklärung deutlich. So erinnert sich Steg, dass Schröder »damals jeden Tag und besonders intensiv an Wochenenden am Text gearbeitet« habe.254 Das fügt sich in ein Bild, in dem Schröder versuchte, Kontrolle und Gestaltungskraft zurückzugewinnen. Der 5. März 2003 markierte hierbei eine entscheidende Wegmarke, wurde an diesem Tag doch das Bündnis für Arbeit mit den Worten aufgekündigt, dass es »[b]edauerlicherweise […] bei den Verbänden nicht mehr die Bereitschaft« gegeben habe, »aufeinander zuzugehen«.255 Am Abend wurde der Bruch manifestiert, indem zugleich »Reformen ohne Konsens« angekündigt worden waren.256 Just an jenem Tag verschickte Schröders Leiter des Büros des Parteivorsitzenden einen »Vermerk an den Bundesgeschäftsführer«, in dem er mitteilte, dass der »Parteivorsitzende […] zukünftig bei der Auswahl der Werbeagenturen von Anfang an mitentscheiden« möchte.257 Im weiteren Verlauf gibt es hierzu mehrere Briefwechsel. Letztendlich stellte sich zwar heraus, dass sich dieses Vorhaben aufgrund der Terminfülle des Bundeskanzlers äußerst schwierig gestalten sollte. Doch alleine die Anweisung zeigt, dass Schröder nicht mehr nur Beobachter sein wollte, sondern wieder aktiver Teilnehmer an der Gestaltung seiner Regierung. Schröder hatte das Zepter wieder selbst in die Hand genommen. Er hatte wieder einen Kompass. Auch wenn er die Agenda nicht entwickelt hatte, war er nun überzeugt von der Richtigkeit und schien dafür kämpfen zu wollen. Das betont rückblickend nicht nur Zypries, die sagt, dass sie natürlich wisse, dass Steinmeier »bei der Agenda 2010 ’ne Menge gemacht« habe.258 »Aber 253 | Ebd. 254 | So berichtet Thomas Steg am 09.03.2015 in der Antwort einer schriftlichen Anfrage des Autors vom 05.03.2015. 255 | Schröder, Gerhard zitiert nach Germis, Carsten; Hank, Rainer: Schröder kann auch anders; in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 09.03.2003, S. 31. 256 | Vgl. Marx, S.: Die Legende vom Spin-Doktor, 2008, S. 118. 257 | Der Brief befindet sich im Aktenbestand Büro Parteivorsitzender Gerhard Schröder (im Archiv für soziale Demokratie): 2PVEF000115. 258 | Zypries, Brigitte im Gespräch mit dem Autor am 24.02.2014.
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III. Politik im Hintergrund
trotzdem: Wenn Schröder das nicht ins Kreuz genommen hätte, dann wär’s ja nicht gegangen. […] Schröder war derjenige, der dafür geradestehen musste. Und nicht Steinmeier.«259 Das stimmte tatsächlich und das war Schröders Verdienst in jener zweiten Legislaturperiode. Steinmeiers Verdienst war bereits hier, die Agenda entwickelt und Schröder von der Richtigkeit dieser überzeugt zu haben. Für Steinmeier bedeutete dieser Bruch zunächst das Ende der noch ein Jahr zuvor von ihm gerühmten Politik des »innovativen Konsenses«.260 Auf seine damaligen Thesen angesprochen, antwortet er: »Man merkt diesem Text […] an, […] er atmet natürlich noch nicht die Enttäuschung über das Bündnis für Arbeit.«261 Diese Enttäuschung über das Scheitern scheint groß gewesen zu sein. Steinmeier kritisiert auch neun Jahre später die »sehr zurückhaltend[e]« Bereitschaft, »auch durch eigene Beiträge von Seiten der Arbeitgeber oder der Arbeitnehmer« mitzuwirken.262 In seiner Autobiographie aus dem Jahr 2009 wurde er noch deutlicher: So habe sich »die Frage nach der Verpflichtungskraft eines möglichen Kompromisses« gestellt, führte er aus, »wenn die Verbände offensichtlich Schwierigkeiten hatten, ihre Mitglieder vom Sinn eines Bündnisses zu überzeugen und für Absprachen zu gewinnen«.263 So hätten die Gewerkschaften Mitglieder verloren, Unternehmer gingen ihrerseits auf die Barrikaden und »weigerten« sich, so Steinmeiers Erinnerung, »die Abschlüsse umzusetzen«.264 Nein, in diesem Falle hat der Konsens aus gesellschaftlichen Gruppen nicht funktioniert. Da es bei Steinmeier genug Beispiele gibt, insbesondere mit Blick auf die Lösung der Frage des Atomausstiegs, wo diese Konsenspolitik funktioniert hat, kann von einem fahrlässigen oder leichtfertigen Agieren nicht ausgegangen werden. Vor allem im Rückblick und mit der Reaktion der Gewerkschaften auf die Agenda 2010 scheint erklärbar, wodurch bereits zu diesem Zeitpunkt die Gespräche behindert worden sind: Auf beiden Seiten konnte es schlicht keinen Kompromiss geben, zumindest nicht mit den entsprechenden Protagonisten und den Vorstellungen, die auch die Bundesregierung hatte. Die finanzielle Notlage machte ein Handeln jedoch mehr denn je notwendig. Steinmeier und Schröder entschieden sich hier für einen anderen Weg, als den, den womöglich Gewerkschaften und auch Unternehmer gewählt hätten. Jener Bruch markierte eine weitere Stufe in der Entfremdung zwischen der (exekutiven) Sozialdemokratie und den Gewerkschaften, der in Kauf ge259 | Ebd. 260 | Vgl. Kapitel 6.2 in dieser Biographie. 261 | Steinmeier, Frank-Walter im zweiten Gespräch mit dem Autor am 06.10.2014. 262 | Ebd. 263 | Steinmeier, F.-W.: Mein Deutschland, 2009, S. 96. 264 | Ebd.
7. Metamorphose
nommen worden ist. Denn wenn stimmt, was Steinmeier schreibt über sein Wissen, dass die Gewerkschaften, da sie schon Mitglieder verloren hatten, nur noch bedingt gewillt waren, den Kurs des Bündnisses für Arbeit mitzugehen, dann war letztendlich offenkundig, dass sie keineswegs eine nochmals zugespitzte Reformpolitik, an deren Entwicklung sie aber nicht beteiligt waren, mittragen würden. Dieser Bruch mag also richtig gewesen sein, Schröders und Steinmeiers Inkaufnahme der absehbaren Konfrontationen auch mit den Gewerkschaften muss aber dennoch erwähnt werden. Jedenfalls: Für Steinmeier bedeutete der Wegfall der Konsenspolitik zumindest für den Moment einen Wegfall seiner Vermittlerrolle. Eben in jenem Moment begann er selbst die öffentliche Bühne mehr denn je zu bespielen. »Steinmeier, der sonst immer in Deckung bleibt, ist zur Zeit auf vielen Fernsehkanälen präsent«, stellte etwa die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung fest.265 Das wurde auch in den Tagen vor der Regierungserklärung deutlich, in denen der Kanzleramtschef immer mehr in der Öffentlichkeit große Erwartungen schürte.266 Er sprach von einem »Gesamtkonzept mit Überraschungen«, einem Konzept, das »unangenehme Reformen enthält«.267 Die Welt stellte in dieser Phase zu Recht fest: »Eine Rede macht Berlin verrückt«.268 Wohl dosiert wurde die Presselandschaft mit Informationen zum Neustart des Kanzlers und seiner engsten Vertrauten gefüttert, die schließlich in der Aussage eines Mitarbeiters gipfelte, der schwärmte: »Keine Wolkenschieberei, eine sehr, sehr realistische Rede«.269 Das war am Abend vor der Rede. Die Regierungserklärung und mit ihr das Gesamtkonzept waren fertig – und auch der Titel der Reformen war, von Schröders Frau Doris Schröder-Köpf, gefunden: »Agenda 2010« sollte er lauten. Am 14. März 2003 war die Rede schließlich gehalten. Sie umfasste, wie zu erwarten war, »ein sehr anspruchsvolles und komplexes wirtschafts-, finanz- und sozialpolitisches Maßnahmenbündel. Es bestand aus steuerlichen Entlastungen, der Reform der Gemeindefinanzen, neuen Investitionsprogrammen, neuen arbeitsmarktpoliti265 | Germis, C.; Hank, R.: Schröder kann auch anders; in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 09.03.2003. 266 | Vgl. Klecha, S.: Bundeskanzler in Deutschland, 2012, S. 200. 267 | Zitiert nach Schiltz, Christoph; Sturm, Daniel-Friedrich: Schröder sammelt Stoff für seine Reform-Rede; in: Welt, 07.03.2003, S. 2. 268 | Ebd. 269 | Zitiert nach Bornhöft, Petra; Dettmer, Markus; Kurbjuweit, Dirk; Nelles, Roland; Palmer, Hartmut; Reiermann, Christian: Die Ruckel-Rede; in: Spiegel, 17.03.2003, S. 20-26; hier: S. 24.
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III. Politik im Hintergrund schen Instrumenten, Veränderungen im Arbeits- und Sozialrecht und der Reform des Gesundheitswesens.« 270
Die Rede markierte den Endpunkt eines Entwicklungsprozesses, den Schröder nach der Bundestagswahl im Gespräch mit Steinmeier angestoßen hatte und den Steinmeier im Folgenden steuerte. Die Reaktion auf die Regierungserklärung fiel diesbezüglich geteilt aus. Von einem »mutlose[n] Kanzler« war im Spiegel die Rede. »Statt die Sozialversicherungen grundlegend umzubauen, probiert es Schröder mit massiven Leistungskürzungen.«271 In Bezug auf »Kündigungsschutz, Krankengeld, Arbeitslosengeld, Sozialhilfe« sprach das Magazin zudem von »heilige[n] Kühe[n]«, die geopfert worden seien.272 Nicht alle haben das sofort gemerkt. Die Frankfurter Rundschau etwa urteilte: »Gerhard Schröder hat sich an diesem Freitag nicht neu erfunden. Da, wo der Kanzler steht und seine drögen Regierungserklärungen hält, stand nicht auf einmal ein Churchill, der mit den Mitteln der Sprache seine Schäfchen mit einem neuen Geist von Ernst und Entschlossenheit erfüllt. Da stand Schröder und hielt eine dröge Regierungserklärung. Sie war nicht das Ergebnis eines bis dato verschütteten, nun endlich zu sich selbst und den eigenen Grundüberzeugungen findenden politischen Vorstellungsvermögens und Gestaltungswillens, sondern einer langwierigen Sondierungs- und Abstimmungsprozedur mit Gremien und Interessenvertretern.« 273
Was der Bundeskanzler wirklich wolle, kritisierte die Frankfurter Allgemeine Zeitung, habe er »weiter im Ungefähren gelassen, doch dürfte es sich wenig von dem Hü und Hott unterscheiden, das die Koalition unter seiner Führung bisher geboten hat.«274 Die Zeitung sah sogar ein Einknicken vor den eigenen Leuten: »Als einziger roter Faden zieht sich durch Schröders Rede die Rücksichtnahme auf die Sozialpolitiker der Fraktion und auf die Gewerkschaften. Sie haben ihm offenbar den Schneid abgekauft. Des Kanzlers Agenda enthält denn auch nur viel zu zaghaft dosierte und teils auch noch widersprüchliche Korrekturen in der Sozial- und Arbeitsmarktpoli-
270 | Hassel, A.; Schiller, C.: Der Fall Hartz IV, 2010, S. 251; vgl. auch Walter, F.: Die SPD, 2009, S. 253. 271 | Bornhöft, P.; Dettmer, M.; Kurbjuweit, D.; Nelles, R.; Palmer, H.; Reiermann, C.: Die Ruckel-Rede; in: Spiegel, 17.03.2003, S. 20. 272 | Leinemann, J.: »Ich bin nicht der Stellvertreter; in: Spiegel, 19.04.2003, S. 47. 273 | Pries, Knut; Vornbäumen, Axel: Blut? Schweiß? Spiegelstrich!; in: Frankfurter Rundschau, 15.03.2003, S. 3. 274 | Göbel, Heiko: Fehlanzeige; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.03.2003, S. 11.
7. Metamorphose tik. Sie bleiben weit hinter den Veränderungen zurück, die Ökonomen für erforderlich halten, um Markt und Wettbewerb zu stärken«. 275
Diese Bewertung überrascht gerade im Rückblick und mit dem Wissen des nachfolgenden Selbstzerlegungsprozesses der SPD und der sozialen Unruhen in ganz Deutschland, aus denen eine neue Partei, die Partei Die Linke als Bündnis aus WASG und PDS, hervorging.276 Denn die Reformen werden bei allen Fehlern im Detail retrospektiv als sehr positiv bewertet. Zwar habe Schröder, hieß es später im Spiegel, »[a]ll seine Forderungen […] gegen die Partei durchgedrückt: den Umbau der Bundesanstalt für Arbeit, die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, eine neue Minijob-Regelung, eine vorgezogene Steuerreform, einen Gesundheitskompromiss, der die Krankenkassen um 15 Milliarden Euro entlasten sollte, und schließlich als letzter Kraftakt ein Rentenreformgesetz, um den Anstieg der Beiträge zur Rentenversicherung wenigstens zu dämpfen«. 277
Aber: »Am Ende hat er den bundesdeutschen Wohlfahrtsstaat umfassender reformiert als jeder seiner Vorgänger«.278 Ähnlich wie das Nachrichtenmagazin sieht es im Rückblick auch ein Gros der Wissenschaftler. Von einer »tiefe[n] Zäsur in der Geschichte des deutschen Sozialstaates« ist mindestens die Rede.279 Einige gehen sogar noch weiter und sehen die Reformen schon deshalb als Erfolg an, weil sie auch bisher nicht Gemeldete nun zurück in die gemeldete Arbeitslosigkeit geführt hätten, wo ihnen Sozialleistungen zustehen würden. »Bei Lichte besehen« würden die Reformen, heißt es in einer Analyse, so »einen armutspolitischen Erfolg« darstellen.280 Jedenfalls, das ist mittlerweile 275 | Ebd. 276 | Vgl.: Walter, F.: Die SPD, 2009, S. 259; vgl. auch Hesse, J.; Ellwein, T.: Das Regierungssystem der Bundesrepublik, 2012, S. 317. 277 | Deggerich, Markus; Fleischhauer, Jan; Fröhlingsdorf, Michael; Knaup, Horand; Nelles, Roland; Salmen, Ingo; Sauga, Michael; Steingart, Gabor: Kanzler ohne Fortune; in: Spiegel, 07.03.2005, S. 20-34; hier: S. 28. 278 | Ebd. 279 | Winkler, H.-A.: Geschichte des Westens. Die Zeit der Gegenwart, 2015, S. 244. 280 | Promberger, Markus: Hartz IV im sechsten Jahr; in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 48/2010, S. 10-17; hier: S. 10. Promberger schreibt in seiner Analyse, dass »[n]ach der Systemumstellung am 1. Januar 2005 [es] für viele Beobachter zunächst überraschend« gewesen sei, »wie hoch in den ersten drei Monaten der Zuwachs an Hilfebeziehern ausfiel. Selbst nach der Saldierung der Übergänge aus den alten Systemen der Arbeitslosen- und Sozialhilfe und den erwarteten saisonalen Zugängen mit den Abgängen aus dem Hilfebezug durch Fluktuation, durch die Haushaltsveranlagung und die
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III. Politik im Hintergrund
Konsens: Ohne die Reformen der Agenda 2010 wäre Deutschland womöglich immer noch der »kranke Mann Europas« und nicht jene »international höchst wettbewerbsfähige[] Volkswirtschaft mit einem beneidenswert robusten Arbeitsmarkt«, in die sie verwandelt worden ist.281 Tatsächlich konnte rund ein halbes Jahrzehnt später festgehalten werden: »Zwischen 2004 und 2008 stieg die Beschäftigungsquote um 4 Prozentpunkte. Damit hat Deutschland zu den skandinavischen und angelsächsischen Ländern aufgeschlossen. Gleichzeitig liegt die Arbeitslosenquote (hauptsächlich dank des Kurzarbeitergeldes) unter dem Durchschnitt der OECD.«282 Gerade in Bezug auf die Arbeitslosenzahlen muss jedoch angemerkt werden, dass es für die Bewertung zwar verlockend ist, diese auf die rot-grünen Hartz-Gesetze zurückzuführen, »es empirisch« jedoch »äußerst schwer ist, eine entsprechende Kausalität eindeutig festzustellen«.283 Ein positiver Einfluss kann jedoch mindestens angenommen werden. All das soll nicht über die handwerklichen Fehler und allgemeine Kritik hinwegtäuschen, die es zu Recht auch gab. So mag zwar die Nichteinführung eines Mindestlohnes der schwarz-gelben Mehrheit im Bundesrat geschuldet sein, kann aber nicht verdecken, dass der gewollte Ausbau des Niedriglohnsektors dazu führte, dass die dortigen Löhne nicht an die ALG-II-Sätze heranreichten, »sodass sie aus Mitteln der Bundesagentur für Arbeit aufgestockt werden mußten«.284 Ein großer Fehler sei das gewesen, bekennt im Rückblick ein damals führender Sozialdemokrat, der jedoch nicht genannt werden möchte.285 Er verweist allerdings auf eben jene Bundesratsmehrheit der oppositionellen Parteien. Gleichzeitig gab es, das muss in diesem Zusammenhang auch erwähnt werden, bei den Gewerkschaften »starke Bedenken: Eine solche Neuerung erschien großen Teilen der organisierten Arbeitnehmerschaft als Gefahr für die Tarifautonomie«.286 Dennoch wäre mit der Einführung eines Mindestlohnes schon zum damaligen Zeitpunkt jene Gerechtigkeitslücke, geänderten Freibetragsregelungen blieb ein Zuwachs von rund einer Million neuen Hilfebedürftigen.« Für Promberger ist die »einzige plausible Erklärung hierfür […] eine verstärkte Mobilisierung von Bedürftigen, die bislang ihnen zustehende Sozialleistungen nicht genutzt hatten«. Ein »armutspolitische[r] Erfolg« sei das; ebd. 281 | Möller, Joachim; Walwei, Ulrich: Die Agenda 2010 war ein unerwarteter Erfolg; in: Zeit Online, 14.03.2013; abrufbar unter: http:/www.zeit.de/wirtschaft/2013-03/agen da2010-reformen-erfolg/seite-1 (zuletzt eingesehen am 10.07.2013). 282 | Hassel, A.; Schiller, C.: Der Fall Hartz IV, 2010, S. 305. 283 | Hegelich, S.; Knollmann, D.; Kuhlmann, J.: Agenda 2010, 2011, S. 35. 284 | Winkler, H.-A.: Geschichte des Westens. Die Zeit der Gegenwart, 2015, S. 245. 285 | So ein Interviewpartner, der nicht genannt werden möchte, im Gespräch mit dem Autor. (Um die Anonymität zu wahren, wird für alle anonymisierten Personen eine männliche Form verwendet.) (Nr. 42) 286 | Winkler, H.-A.: Geschichte des Westens. Die Zeit der Gegenwart, 2015, S. 245.
7. Metamorphose
die zweifelsohne zumindest gefühlt bestand,287 ein Stück weit gefüllt worden. Ähnliches gilt für die Fragen nach »sozialen Gegengewichten zu den Härten«, etwa einer »wie immer geartete[n] Vermögensbelastung oder eine[r] höhere[n] Erbschaftssteuer«.288 In Bezug auf prekäre Beschäftigungsverhältnisse ist das Urteil nicht eindeutig. Während die einen analysieren, dass diese »stark zugenommen« hätten, weil jene ALG-II-Empfänger »zum Leistungsbezug oder im Anschluss daran einer prekären Arbeit«289 nachgehen würden, wird an anderer Stelle dagegengehalten: »Analysiert man die Daten nüchtern, relativiert sich diese pauschale Kritik jedoch. Zum einen zeigt sich, dass die Arbeitslosigkeit nach den Reformen massiv zurückgegangen ist. Es gibt heute erheblich mehr sozialversicherungspflichtig Beschäftigte als noch vor zehn Jahren.«290 In Bezug auf die Geringqualifizierten heißt es dezidiert, dass diese »zudem nicht erst seit den Agenda-Reformen Reallohnverluste« erleiden würden, »sondern bereits seit den Neunziger Jahren.«291 Zudem habe auch »der Trend zu einer größeren Spaltung in Arm und Reich […] nicht im Jahr 2005, sondern weit früher« begonnen.292 »Ähnlich sieht es bei der Zunahme von atypischen Beschäftigungsformen aus. Richtig ist allerdings auch,« wird in dieser Analyse hinzugefügt und die Kritik damit teilweise bestätigt, »dass die Reformen diese Trends nicht gestoppt, sondern teilweise verstärkt haben.«293 Kritisiert werden kann zudem der Anspruch des Förderns, der ja neben dem Fordern weiterhin Bestand hatte, jedoch im Widerspruch zum »generelle[n] Abbau der Maßnahmen der Arbeitsbeschaffung in Form sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung seit Mitte der 1990er Jahre« stand.294 Die ungenaue, sogar »[w]illkürlich[e]«295 Berechnung der Hartz-IV-Sätze, »so mechanisch und anfechtbar, daß sie eine wahre Prozeßflut auslöste«,296 ist zudem nicht nur zu kritisieren, sondern hätte so nicht passieren dürfen. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist hier zumindest in der Frage der Berech287 | Vgl. z.B. ebd., S. 244. 288 | Ebd., S. 245. 289 | Dingeldey, Irene: Agenda 2010. Dualisierung der Arbeitsmarktpolitik; in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 48/2010, S. 18-25; hier: S. 22; vgl. auch Möller, J.; Walwei, U.: Die Agenda 2010; in: Zeit Online, 14.03.2013. 290 | Möller, J.; Walwei, U.: Die Agenda 2010; in: Zeit Online, 14.03.2013. 291 | Ebd. 292 | Ebd. 293 | Ebd. 294 | Dingeldey, I.: Agenda 2010; in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 48/2010, S. 22; vgl. auch Möller, J.; Walwei, U.: Die Agenda 2010; in: Zeit Online, 14.03.2013. 295 | Hassel, A.; Schiller, C.: Der Fall Hartz IV, 2010, S. 234. 296 | Winkler, H.-A.: Geschichte des Westens. Die Zeit der Gegenwart, 2015, S. 245.
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nung eindeutig, wenngleich sie lediglich diese, nicht aber den Hartz IV-Satz an sich kritisiert.297 Letztendlich zeigt das Urteil hier aber auch ein weiteres 297 | Das Bundesverfassungsgericht geht in seinem Urteil vom 09. Februar 2010 zu Hartz IV hart ins Gericht mit der Bundesregierung. Es wird die fehlende nachvollziehbare Berechnungsgrundlage der Regelsätze als Argument für das Urteil angeführt, in dem es heißt, »dass die Vorschriften des SGB II [Sozialgesetzbuch II, Anm. S.K.], die die Regelleistung für Erwachsene und Kinder betreffen, nicht den verfassungsrechtlichen Anspruch auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums […] erfüllen.« Das BvG weist darauf hin, dass der Gesetzgeber, also die Bundesregierung, »alle existenznotwendigen Aufwendungen folgerichtig in einem transparenten und sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen Bedarf, also realitätsgerecht, zu bemessen« habe. Weiter heißt es, dass es, »[u]m eine der Bedeutung des Grundrechts angemessene Nachvollziehbarkeit des Umfangs der gesetzlichen Hilfeleistungen sowie deren gerichtliche Kontrolle gewährleisten, […] die Festsetzungen der Leistungen auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren tragfähig zu rechtfertigen sein« müssten. Gleich darauf wird im Urteilstext betont, dass das »[d]ie in den Ausgangsverfahren geltenden Regelleistungen von 345, 311 und 207 Euro […] zur Sicherstellung eines menschenunwürdigen Existenzminimums nicht als evident unzureichend angesehen werden.« Umgangssprachlich bedeutet das, dass die Regelleistungen zwar nicht klar als unzureichend angesehen werden. Auch »[d]ie Auswahl der untersten 20 % der nach ihrem Nettoeinkommen geschichteten Einpersonenhaushalte nach Herausnahme der Empfänger von Sozialhilfe als Referenzgruppe für die Ermittlung der Regelleistung für einen Alleinstehenden«, betont das Gericht, sei »verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.« Was kritisiert wird, ist die »wertende Entscheidung, welche Ausgaben zum Existenzminimum zählen«, die der Gesetzgeber »sachgerecht und vertretbar« treffen müsse. Und ebendort setzt die umfangreiche Kritik des Gerichts an: »Der Gesetzgeber darf Ausgaben, welche die Referenzgruppe tätigt, nur dann als nicht relevant einstufen, wenn feststeht, dass sie anderweitig gedeckt werden oder zur Sicherung des Existenzminimums nicht notwendig sind. Hinsichtlich der Höhe der Kürzungen ist auch eine Schätzung auf fundierter empirischer Grundlage nicht ausgeschlossen; Schätzungen ›ins Blaue hinein‹ stellen jedoch keine realitätsgerechte Ermittlung dar.« So heißt es weiter: »Die Regelleistung von 345 Euro ist nicht in verfassungsgemäßer Weise ermittelt worden, weil von den Strukturprinzipien des Statistikmodells ohne sachliche Rechtfertigung abgewichen worden ist.« Das Gericht führt an, dass »bei einzelnen Ausgabepositionen […] prozentuale Abschläge für nicht regelleistungsrelevante Güter und Dienstleistungen (zum Beispiel Pelze, Maßkleidung und Segelflugzeuge) vorgenommen« worden seien, »ohne dass feststand, ob die Vergleichsgruppe (unterstes Quintil) überhaupt solche Ausgaben getätigt hat.« Außerdem, so heißt es weiter, »stellt die Hochrechnung der für 1998 ermittelten Beträge auf das Jahr 2005 anhand der Entwicklung des aktuellen Rentenwerts einen sachwidrigen Maßstabswechsel dar«, da »[d]iese Faktoren […] keinen Bezug zum Existenzminimum« aufweisen würden. Es folgt
7. Metamorphose
Problem auf: »Eine ›objektive Ermittlung der Grundbedürfnisse kann es nicht geben, da Leben in Würde mit gesellschaftlich akzeptierten und als angemessen erachteten Formen von Lebenspraxis zusammenhängt«.298 Neben allem Für und Wider der Agenda 2010 ist die nachstehende Analyse also folgerichtig: »Es sollten noch mehrere Jahre vergehen, bis in Deutschland die Einsicht reifte, daß die Reformen von 2003 Deutschland wirtschaftlich gestärkt und seinen Sozialstaat gefestigt hatten. Deutschland war aus Traditionen ausgebrochen, die sich als Fesseln erwiesen hatten. So reformbedürftig das Reformwerk in mancher Hinsicht auch war, in der Summe legte es den Grund dafür, daß Deutschland die Erschütterungen im Zeichen der Weltfinanzkrise von 2008 besser überstand als die meisten anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union.« 299
So richtig die Reformen in der Rückschau inhaltlich allerdings auch waren, so sehr berührten sie gleichzeitig den Kern der SPD. Mehr noch: »Mit dem Abbau staatlicher Leistungen und der Stärkung des Prinzips der Eigenverantwortung forderte die Regierung Schröder große Teile des eigenen politischen Lagers heraus.«300 Es war ein »Pfadwechsel [.,] der, lange bevor er als materielles Politikergebnis beim Einzelnen ankommt, dessen Vorstellungen aufwühlt und verstört.«301 Das wiederum »galt für sozialdemokratische Wähler noch mehr als für andere, weil der Sozialstaat – wie man ihn kennt – vor allem einen Ga-
eine weitere Begründung des Urteils, in der betont wird, dass aus diesen Gründen die Ermittlung der Regelleistungen »nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen« genüge; Bundesverfassungsgericht: Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09; abrufbar unter w w w.bundesver fassungsgericht.de/SharedDocs/Ent scheidungen/DE/2010/02/ ls20100209_1bvl000109.html (zuletzt eingesehen am 24.06.2016); vgl. auch Pressemitteilung Nr. 5/2010 des Bundesverfassungsgerichts vom 09.02.2010 zum Urteil 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09 zum Thema »Regelleistungen nach SGB II (»Hartz-Gesetze«) nicht verfassungsgemäß«; abrufbar unter www.bundesverfassungsgericht.de/ pressemitteilungen/bvg10-005.html (zuletzt eingesehen am 24.06.2016). 298 | Promberger, M.: Harz IV im sechsten Jahr; in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 48/2010, S. 17. 299 | Winkler, H.-A.: Geschichte des Westens. Die Zeit der Gegenwart, 2015, S. 248f; vgl. auch Hesse, J.; Ellwein, T.: Das Regierungssystem der Bundesrepublik, 2012, S. 65. 300 | Ebd., S. 248f; vgl. auch Schöllgen, G.: Gerhard Schröder, 2015, S. 549: vgl. außerdem Schwarz, H.-P.: Das Gesicht des 20. Jahrhunderts, 2010, S. 798. 301 | Raschke, J.; Tils, R.: Politische Strategie, 2013, S. 518f.
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ranten hatte: die Sozialdemokratie – wie man sie kannte.«302 Zunächst durfte diese Neuausrichtung als gescheitert angesehen werden.303 Grund dafür dürfte vor allem eine fehlende oder verfehlte Strategieentwicklung gewesen sein. Nur die Problempolitiksteuerung, eine der vier Steuerungselemente der Strategieentwicklung, die die Analyse und Erfassung von Problemen vorsieht und nach »problemadäquaten Zielen, geeigneten Instrumenten und erfolgsversprechenden Umsetzungsmaßnahmen« sucht, kann hierbei als gelungen angesehen werden.304 Mit der Steinmeier zugeordneten Aufgabe der politischen Planung, deren Abteilung ihm direkt unterstellt war, und dem daraus resultierenden Produkt, die Agenda 2010, ist nämlich genau das geschehen: die Entwicklung eines umfangreichen Konzepts zur Reform des Sozialstaates, das gerade im Rückblick, bei aller Kritik in Bezug auf die Umsetzung, sehr positiv bewertet wird. Noch einmal sei an die Situation in den 1970er Jahren erinnert: Das Exportvolumen der deutschen Wirtschaft stieg zwar auch in den siebziger Jahren noch stark,305 »die durchschnittlichen gesamtwirtschaftlichen Wachstumsraten«306 gingen jedoch bereits da kontinuierlich zurück, was zu höheren Arbeitslosenzahlen und auch einer höheren Verschuldung führte. Es setzte eine Welle der »industriellen Umstrukturierung« ein – der Blick in die sechziger Jahre und das beginnende Zechensterben nehmen hier die Entwicklung voraus307 –, die »ein zusätzliches Heer von Langzeitarbeitslosen mit sich« brachte.308 Das wiederum führte schon zu diesem Zeitpunkt zu unmittelbar höheren Sozialleistungen, was »sich in Form von Lohnnebenkosten auf die Bruttolöhne der
302 | Ebd. 303 | So wird in einer Studie zusammengefasst: »Die Agenda 2010 war ein Versuch, über ein großes Reformvorhaben das innerparteiliche Koordinatensystem zu verrücken. Einmal politisch umgesetzt und mit positiven Ergebnissen, so war die Hoffnung, würde sich die Partei mit der neuen Programmatik abfinden. Das Kalkül war, dass sich die Strategie langfristig durch erheblich gestiegene Chancen für Regierungsbeteiligungen auszahlen würde. Dieser Versuch muss heute [2010, Anm. S.K.] als gescheitert betrachtet werden.«; Hassel, A.; Schiller, C.: Der Fall Hartz IV, 2010, S. 161. 304 | Tils spricht hier von der »Policy-Dimension von Politik«; Tils, R.: Strategisches Zentrum; in: Bröchler, S.; Blumenthal, J. von (Hg.): Regierungskanzleien, 2011, S. 114f. 305 | Vgl. Wehler, H.-U.: Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1949-1990, 2010, S. 62. 306 | Hassel, A.; Schiller, C.: Der Fall Hartz IV, 2010, S. 59. 307 | Vgl. z.B. Kopp, J.: Vom Herz der deutschen Industrialisierung; in: Lorenz, R.; Walter, F. (Hg.): 1964, 2014. 308 | Hassel, A.; Schiller, C.: Der Fall Hartz IV, 2010, S. 59; vgl. auch Walter, F.: Vorwärts oder abwärts?, 2010, S. 11.
7. Metamorphose
Beschäftigten« niederschlug309 und »die Beschäftigungsmöglichkeiten insbesondere der Niedrigqualifizierten weiter« verschlechterte.310 Die finanziellen Möglichkeiten der Politik wurden hiermit zudem eingeschränkt, stiegen doch die Zinszahlungen der öffentlichen Haushalte. So hatte sich schnell ein »Teufelskreislauf […] etabliert, in dem ein geringeres Beschäftigungsniveau weiter bremsend auf den Arbeitsmarkt und auf die Finanzpolitik wirkte.«311 Statt Vollbeschäftigung, die es Anfang der siebziger Jahre noch gab, kam es zu einem in Steinmeiers Generation begonnenen312 steten Anstieg der Arbeitslosigkeit, die mit jeder Rezession noch einmal weiter anstieg. Anfang der 1980er Jahre verdreifachte sich so die Arbeitslosigkeit innerhalb von nur drei Jahren »von 3,8 Prozent auf 9,1 Prozent (1983) und blieb auch in den folgenden Jahren auf hohem Niveau«.313 Die Massenarbeitslosigkeit wurde von der Politik zunehmend als »Bestandteil moderner Industriegesellschaften« akzeptiert.314 Dies führte zu der Situation, dass bereits in den siebziger Jahren für die »von Arbeitslosigkeit bedrohten Arbeitnehmer[] Wege zum Ausstieg aus dem Arbeitsmarkt«315 gesucht worden sind. Von einer »Stilllegungspolitik«316 war die Rede, einer Politik, die sich erneut verselbstständigte. Denn »diese Instrumente, die für kleine Gruppen von Arbeitern in der Schwerindustrie gedacht waren, weiteten sich im Laufe der Zeit auf alle Beschäftigten aus und wurden immer kostspieliger. Auch die Wiedervereinigung bedeutete vorerst kein Ende dieser Praxis. Im Gegenteil: In den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung suchte man ständig nach neuen Wegen, wie selbst unter größtem finanziellem Druck die Stilllegungspolitik aufrecht erhalten werden konnte.« 317
Arbeitslose also wurden immer mehr verwaltet, als dass sie wieder in Arbeit gebracht worden sind. Das, was letztendlich mit dem Skandal um die geschönten Zahlen rund um die Bundesagentur für Arbeit im Jahr 2002 noch einmal offenbar wurde, war bereits in den achtziger Jahren ein Trend. So wurde die Dauer der Zahlung des Arbeitslosengeldes zwischen 1984 und 1987 gleich mehrmals erhöht: von zwölf (1984) auf 24 (1986) und schließlich 32 Mona-
309 | Hassel, A.; Schiller, C.: Der Fall Hartz IV, 2010, S. 59. 310 | Ebd. 311 | Ebd. 312 | Vgl. Kapitel 2.2 in dieser Biographie. 313 | Hassel, A.; Schiller, C.: Der Fall Hartz IV, 2010, S. 59. 314 | Ebd. 315 | Ebd., S. 83. 316 | Ebd., S. 59. 317 | Ebd., S. 83.
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III. Politik im Hintergrund
te (1987).318 Das kam im Umkehrschluss letztendlich einem Eingeständnis gleich, dass für Arbeitslose nicht mehr genug Arbeit vorhanden war – und man sich mit dieser Situation zufriedengab. Da nun setzten die Reformen der Agenda 2010 und die dazugehörige Rede an. In dieser argumentierte Schröder »vor dem Hintergrund einer stetig steigenden Sockelarbeitslosigkeit seit den siebziger Jahren: Mit jedem Abschwung hatte die Zahl der Langzeitarbeitslosen zugenommen. Würde sich diese Entwicklung fortsetzen, sei der Sozialstaat in Gefahr, weil er zu teuer werde, warnte der Kanzler. Er verwies auf die Lohnnebenkosten, die von 1982 bis 1998 von 34 auf fast 42 Prozent gestiegen seien. Der Umbau des Sozialstaates sei ›unabweisbar‹.« 319
All das brachte jedoch – insbesondere in die SPD hinein – keine Bereitschaft zur Veränderung. Der Spiegel analysierte ganz richtig, dass »die Einsicht in die Notwendigkeit radikaler Reformen, die Bereitschaft von den Ritualen des Industriezeitalters der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts […] in der SPD keineswegs tief ins Bewusstsein gedrungen« seien.320 Und Steinmeier beklagte laut dem Nachrichtenmagazin, dass es »eine große Bereitschaft« gebe, »auf die vermeintlich einfachen Lösungen zurückzugreifen«.321 Steinmeier hingegen, für den die Maßnahmen möglicherweise, auch mit Blick auf seine biographische Argumentationslinie322 und seine geringere parteipolitische Bindung, ohne Alternative schienen, schien zunächst keinen Bedarf an Erklärung zu sehen, akzeptierte, so entstand der Eindruck, eben jene Situation im Jahr 2003 als einen Ist-Zustand. Er und die eigentliche Führung der SPD, insbesondere Schröder, aber auch Clement und mittlerweile auch Müntefering, standen damit im Widerspruch zur alternden Parteibasis, die von Beginn an die Reformen als neoliberal ablehnte. Tatsächlich wurden gerade die Stammwähler der SPD am härtesten von den Reformplänen getroffen: »die abhängig Beschäftigten mit mittleren Einkommen und überwiegend ›traditioneller‹ Erwerbsbiographie«.323 Von einem »stark neoliberal geprägten wirtschafts- und sozialpolitischen Reformprozess« wird in einer Analyse ge318 | Vgl. ebd., S. 63f. 319 | Möller, J.; Walwei, U.: Die Agenda 2010; in: Zeit Online, 14.03.2013. 320 | Leinemann, J.: »Ich bin nicht der Stellvertreter; in: Spiegel, 19.04.2003, S. 48. 321 | Zitiert nach ebd. 322 | In dieser Biographie wurde bereits im Kapitel zu den frühen Jahren darauf verwiesen, dass eben in Steinmeiers Jugend und politscher Sozialisation sich ein Bogen begonnen hat zu spinnen, der nun seinen Abschluss fand; vgl. Kapitel 2.2 in dieser Biographie. 323 | Hegelich, S.; Knollmann, D.; Kuhlmann, J.: Agenda 2010, 2011, S. 235.
7. Metamorphose
sprochen, durch den »die Kluft zwischen den Wählern und ihrem Gewählten, zwischen den Wahlversprechen und der tatsächlich praktizierten Politik immer größer« geworden sei.324 An anderer Stelle wird kritisiert, dass es zwar das »entscheidendste Reformpaket in der Geschichte der Sozialdemokratie war«, ihm jedoch »jede Dimension der Zuversicht, im Übrigen selbst der Kohärenz« gefehlt habe.325 Eben hier hätte nun das strategische Instrument der Organisationssteuerung greifen müssen, also die »Selbststeuerung des eigenen Kollektivs«, was die »Steuerung der Regierung im engeren Sinne« – also Kabinett, Regierungszentrale, Ministerialverwaltung »sowie im Falle von Mehrparteienregierungen das Koalitionsmanagement« – mit einbezieht.326 Außerdem wird hier die »außerparlamentarische[] Parteiorganisation in ihren Bezügen zur Regierung« gesehen, »das heißt die ›Mitnahme‹ des Segments der aktiven Partei […], auf das es für die innerparteiliche Meinungs- und Willensbildung sowie Entscheidungsdurchsetzung auf nationaler Ebene ankommt.«327 Das war jedoch nur bedingt geschehen. Schon im Voraus gab es nur eine geringe Kommunikation, die Agenda 2010 wurde im Kanzleramt unter Ausschluss der Öffentlichkeit und auch unter Ausschluss der Partei vorbereitet. Es war ein »unerwartete[r] Politikwechsel«, der, so mutmaßen einige Analysten, mit dazu geführt habe, »dass die Agenda in den für die Regierung relevanten organisatorischen Teilbereichen, insbesondere in der Parteiorganisation und der Parlamentsfraktion auf erheblichen Gegendruck stieß«,328 war er doch zumindest programmatisch nicht vorbereitet worden.329 Der Kardinalfehler der Vorlage eines Koalitionsvertrags und eines Wahlprogramms, die anderes versprachen, bestätigte sich hier. Die Probleme zogen sich allerdings fort, weil auch die Regierungserklärung selbst wiederum nicht erklärend wirkte und keinen Überbau enthielt, obwohl genau das für die Parteiorganisation von großer Bedeutung gewesen wäre. Es war nicht so, dass dies schlicht übersehen worden ist. Steg erinnert sich so beispielsweise an eine solche Textfassung, »die auch ein wenig mehr Prosa enthalten« habe.330 »Zur Einordnung, zur Begründung. Die nicht gewissermaßen stakkatohaft, im Modus der Aufzählung, die einzelnen Maßnahmen und Instrumente beschrieben
324 | Kaspari, N.: Gerhard Schröder, 2008, S. 286. 325 | Walter, F.: Charismatiker und Effizienzen, 2009, S. 288. 326 | Tils, R.: Strategisches Zentrum; in: Bröchler, S.; Blumenthal, J. von (Hg.): Regierungskanzleien, 2011, S. 114f. 327 | Ebd. 328 | Ebd., S. 118. 329 | Ebd. 330 | Steg, Thomas im Gespräch mit dem Autor am 16.12.2013.
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III. Politik im Hintergrund
hat, sondern versucht hat, einen Sinnzusammenhang zu entwickeln.«331 Diese wurde jedoch nicht verwendet. Dass diese rund 40 Seiten herausgestrichen wurden, begründet er mit den Worten, dass die Rede »mit neunzig Minuten im Vortrag« »schon faktisch« »sehr lang« gewesen sei. »Noch dreißig erklärende Seiten dazu […] – Das wäre dann sozusagen die erste Form des Filibusterns gewesen.«332 Steinmeier schien an der Kürzung der Rede wenig beteiligt gewesen zu sein. Eichel erinnert sich, dass »wir uns dann sehr gewundert«333 haben und erzählt von einem späteren Gespräch mit dem Kanzleramtschef, indem er ihn gefragt habe: »Hör’ mal, was ist denn da passiert«?334 Denn »wenn man so einen Kursschwenk macht«, müsse man den »anders begründen […], muss sagen, zu welchem Zweck, was soll das Ende sein?«335 Da habe »ein Fehler« gelegen.336 Jedenfalls habe sich Schröder, mutmaßt Eichel, »wohl unter dem Eindruck vieler öffentlicher Kritik entschieden: Ich gebe jetzt den Macher.«337 Er habe Steinmeier genau das gefragt, »wieso war da kein Überbau?«338 Als Antwort habe der Kanzleramtschef betont, dass »alles drin« gewesen sei, »hab’ ich ihm alles reingeschrieben. Hat er alles rausgestrichen.«339 War es so, wäre es Schröders Fehleinschätzung geschuldet. Schröder hält derlei Fragen rückblickend für wenig zielführend.340 Eben darum geht es aber, wie diese Rede zustande kommen konnte. Es zeigt die verschiedenen Ideen der Vermittlung auf. So gab es unterschiedliche Versionen, die sich schlussendlich zu einer gekürzten, wenig erklärenden Rede verdichteten. Wie immer es war, blieb Schröder mit der gewählten Variante »die gesellschaftspolitische Begründung der Agenda schuldig«.341 Seine damalige Entgegnung auf derlei Vorwürfe, dass »Lyrik« seine Sache nicht sei,342 steht dabei symptomatisch für den weiteren Fortgang im Dialogprozess mit der Partei. In dieses Bild fügen sich die retrospektiven Äußerungen Clements, der für die Beschreibung des vermeintlichen Dialogs eine sehr martialische Sprache benutzt. Von »offenen
331 | Ebd. 332 | Ebd. 333 | Eichel, Hans im Gespräch mit dem Autor am 29.07.2013. 334 | Ebd. 335 | Ebd. 336 | Ebd. 337 | Ebd. 338 | Ebd. 339 | Ebd. 340 | Vgl. Schröder, Gerhard im Gespräch mit dem Autor am 09.12.2013. 341 | Sturm, D.-F.: Wohin geht die SPD?, 2009, S. 137. 342 | Vgl. ebd., S. 148.
7. Metamorphose
Feldschlachten« spricht er etwa oder von einer »Schlachtordnung«.343 Von vornherein sei zudem klar gewesen, dass das ein »Himmelfahrtskommando« sein würde.344 Die Rede selbst markierte indes einen Wendepunkt weg von der lange anhaltenden »programmatischen[n] Orientierungslosigkeit der Partei«,345 zumindest definierte die SPD-Spitze, mehr noch die Regierungsspitze um Schröder und Steinmeier eine neue Ausrichtung der Partei, eine »Abkehr von der traditionellen Politik der Sozialstaatlichkeit«.346 Allerdings muss hinzugefügt werden, dass »[d]ie programmatische Erneuerung […] bereits Mitte der neunziger Jahre eingeleitet, von den Unterorganisationen der Partei aber durchgängig abgelehnt« wurde.347 Mindestens war es aber die Manifestierung eines Kurses, der bereits in den Sozialreformen der ersten rot-grünen Legislaturperiode begonnen wurde.348 Denn »[n]ach dem Regierungswechsel 1998 ließen bereits die personalpolitischen Weichenstellungen in der Arbeitsmarktpolitik deutliche innerparteiliche Konflikte erkennen, die jedoch wegen der günstigen konjunkturellen Entwicklung vertagt werden konnten.«349 So waren »[n]icht etwa die sozialpolitisch prägenden Persönlichkeiten der SPD aus Oppositionszeiten wie Rudolf Dreßler oder Ottmar Schreiner […] mit Regierungsverantwortung bedacht worden, sondern reformorientierte und weniger prominente Persönlichkeiten wie Walter Riester oder Gerd Andres«.350 Dennoch blieb es in dieser Zeit bei einem Kurs von punktuellen Reformen – ohne besagtes übergeordnetes Konzept.351 Gerade jene Kurzfristigkeit ist es, die nicht von einer langen Strategie zeugte. Vielleicht brauchte es aber genau eine so schwierige wirtschaftliche Lage wie die rund um das Jahr 2002, um als Sozialdemokrat überhaupt einen solchen Kurs durchsetzen zu können; einen Kurs, der der beschriebenen Auflösung »[s]ozialdemokratische[r] Dilemmata« gleichkam, nämlich sich den
343 | Clement, Wolfgang im Gespräch mit dem Autor am 24.07.2013. 344 | Ebd. 345 | Vgl. Langguth, G.: Machtmenschen, 2009, S. 256. 346 | Alemann, Ulrich von; Spier, Tim: Erholung in der Opposition? Die SPD nach der Bundestagswahl 2009; in: Niedermayer, Oskar (Hg.): Die Parteien nach der Bundestagswahl 2009, Wiesbaden 2011, S. 57-77; hier: S. 71. 347 | Hassel, A.; Schiller, C.: Der Fall Hartz IV, 2010, S. 148. 348 | Vgl. Hegelich, S.; Knollmann, D.; Kuhlmann, J.: Agenda 2010, 2011, S. 114. 349 | Hassel, A.; Schiller, C.: Der Fall Hartz IV, 2010, S. 148. 350 | Ebd. 351 | Tatsächlich wird der Kanzleramtschef anders der Bundeskanzler, »dessen Engagement in der Frage eher undeutlich blieb«, als einer der »tragenden Akteure« in dieser Linie gesehen. (Hassel, A.; Schiller, C.: Der Fall Hartz IV, 2010, S. 297f)
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III. Politik im Hintergrund
veränderten Rahmenbedingungen zu stellen.352 Wie bereits in der ersten Legislaturperiode versteiften sich große Teile der Sozialdemokratie jedoch (womöglich zu lange) auf die Hoffnung auf eine Besserung der Lage. So war es bis Mitte 2002 auch bei Steinmeier und Schröder der Fall. Zudem wurde zumindest nach 1998 und nach dem Wegfall des »Innovation und Gerechtigkeit«-Duos Schröder/Lafontaine keine umfangreiche Diskussion über die Zukunft des Sozialstaates angestoßen, die, wenn überhaupt, von der Spitze der Partei – hier Schröder – und nicht von der Spitze des Regierungsapparats – hier Steinmeier – hätte angestoßen werden müssen. Denn ein Beharren auf dem Bekannten bedeutete keineswegs die Lösung, hätte doch »auch ein Stillstand in der Sozialpolitik durchaus Rückschritte in der Absicherung großer Teile der Bevölkerung bedeuten« können.353 Schließlich drohte, die »anhaltende Krise auf dem Arbeitsmarkt […] zunehmend die sozialen Sicherungssysteme zu unterminieren. Solange nicht mehr Menschen in die sozialen Sicherungssysteme einzahlten, war ihre Zukunft ungewiss.«354 Gerade ein Aspekt in der Regierungserklärung wurde im Voraus zudem nicht, auch nicht im Kanzleramtspapier, erwähnt, nämlich die neue Ausgestaltung des Arbeitslosengeldes, bei der vorgesehen war, so Schröder in seiner Rede, dieses bei »unter 55-Jährigen auf zwölf und für die über 55-Jährigen auf 18 Monate [zu] begrenzen«.355 Jener Punkt ist deshalb erwähnenswert, weil eben an ihm der Konflikt noch viele Jahre weitergehen und er später den endgültigen Bruch zwischen dem späteren Parteivorsitzenden Kurt Beck und dem Vizekanzler Franz Müntefering markieren sollte. Schon zu diesem Zeitpunkt hatte diese Festlegung Gewerkschaften und zumindest Teile der SPDFraktion »kalt erwischt«.356 Die Arbeitnehmervertreter sahen darin gar eine »Kriegserklärung«.357 Ein Affront gegen die Gewerkschaften bedeutete dabei auch einen Affront gegen die eigene Partei, denn fast jedes zweite Mitglied war auch in den Gewerkschaften organisiert.358 Der Bruch war damit – unabhängig davon, ob notwendiger oder nicht notwendigerweise – vollzogen, was fortan bedeutete: »Wo immer Bundeskanzler Schröder und andere prominente
352 | Hassel, A.; Schiller, C.: Der Fall Hartz IV, 2010, S. 143. 353 | Ebd., S. 143f. 354 | Ebd. 355 | Zitiert nach ebd., S. 251. 356 | Ebd., S. 251; vgl. auch ebd., S. 264ff. 357 | Ebd., S. 251; vgl. auch ebd., S. 264ff. 358 | So waren selbst 2009 noch 42 Prozent der SPD-Mitglieder auch Gewerkschaftsmitglieder und ihr Anteil damit »dreimal so hoch wie in der Gesamtbevölkerung«; Niedermayer, Oscar: Parteimitgliedschaften; in: ders. (Hg.): Handbuch Parteienforschung, Wiesbaden 2013, S. 147-178; hier: S. 168.
7. Metamorphose
Sozialdemokraten auf Gewerkschaftskundgebungen die Reformgesetze verteidigten, wurden sie ausgebuht und niedergeschrien.«359 Schnell drohte die (nicht vorhandene) Debatte aus dem Ruder zu laufen. Ein Mitgliederbegehren wurde von sieben Mitgliedern ins Spiel gebracht, was nur knapp mit der Einberufung eines Sonderparteitags verhindert werden konnte und von der Parteispitze zunächst als »dreckiges Dutzend« beschimpft worden sein soll.360 Bereits im April 2003 legte sich der Kanzler mit der Aussage fest, dass man über Details reden könne, die Grundlinie aber unveränderbar sei. »Jeder, der aus der eigenen Partei dagegen opponiert, muss wissen, dass er mit dem Feuer spielt, weil er mit der Regierungsfähigkeit der SPD spielt«, warnte Schröder und drohte indirekt mit Rücktritt: »[E]r müsste in einem solchen Fall auch die volle Verantwortung dafür übernehmen.«361 Hier rächte sich, dass in der SPD-Führung niemand mehr da war, der die Partei wirklich verstand. Olaf Scholz galt als »Verdoppelung« Schröders,362 Müntefering war mittlerweile auf Regierungskurs umgeschwenkt und Steinmeier war letztendlich Exekutivpolitiker, das Gegenteil von unpolitisch, aber fernab der Partei. Im Rückblick spricht Scharping von einer »Vergewaltigung«363 der Partei und begründet diese Anschuldigung mit den Worten: »Ich kann nicht einer großen Volkspartei wie der SPD sagen, wir haben einen Wahlkampf mit bestimmten Inhalten geführt, wir stehen vor neuen Notwendigkeiten, die werden jetzt so und so beantwortet. Kompanie stillgestanden.«364 Steg allerdings
359 | Winkler, H.-A.: Geschichte des Westens. Die Zeit der Gegenwart, 2015, S. 244; Clement berichtet im Rückblick etwa von »turbulenten Sitzungen« im Gewerkschaftsrat, »wie ich das nie für möglich gehalten hätte.«; Clement, Wolfgang im Gespräch mit dem Autor am 24.07.2013. 360 | Hassel, A.; Schiller, C.: Der Fall Hartz IV, 2010, S. 251; vgl. auch ebd., S. 264ff; vgl. außerdem Walter, F.: Die SPD, 2009, S. 254f. 361 | Zitiert nach o.V.: Krisensitzung: Schröder warnt vor »Spiel mit dem Feuer«; in: Spiegel Online, 24.04.2003; abrufbar unter: www.spiegel.de/politik/deutschland/ krisensitzung-schroeder-warnt-vor-spiel-mit-dem-feuer-a-246032.html (zuletzt eingesehen am 12.08.2016); vgl. auch Sievers, Markus; Pries, Knut: Die Genossen werden nervös; in: Frankfurter Rundschau, 25.04.2003, S. 4. 362 | Raschke, J.; Tils, R.: Politische Strategie, 2013, S. 509. 363 | Scharping schrieb in einem Bild-Beitrag von einer »Überrumpelung – um nicht zu sagen Vergewaltigung, mit der sie 2003 durch die Partei gepeitscht wurde, hat die SPD bis heute nicht aufgearbeitet.«; zitiert nach o.V.: SPD in gefährlicher Situation; in: Focus Online, 07.08.2008; abrufbar unter: www.focus.de/politik/diverses/scharping-spd-ingefaehrlicher-situation_aid_322981.html (zuletzt eingesehen am 27.03.2015). 364 | Scharping, Rudolf im Gespräch mit dem Autor am 20.09.2013.
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III. Politik im Hintergrund
betont, dass all diese Versäumnisse nicht Steinmeier angelastet werden können, sondern nur jenen Akteuren, die in die Partei hineingewirkt hätten: »Natürlich ist man im Nachhinein schlauer. Man kann es Steinmeier nicht anlasten, wenn […] die Partei im März, April 2003 versäumt hat, in die Offensive zu gehen. Plötzlich gibt es den Wunsch nach einem Sonderparteitag, vier Landesverbände fordern das. Und dann muss die Parteispitze sagen, okay, dann müssen wir das eben machen.« 365
Explizit weist der damalige stellvertretende Regierungssprecher noch einmal daraufhin: »Hätte Gerhard Schröder oder hätte die Parteispitze das von sich aus beschlossen, dann wäre wahrscheinlich die ganze Diskussion von Anfang an anders gelaufen […]. Das konnte man Steinmeier nicht anlasten.«366 Was ihm allerdings womöglich angelastet werden könnte, ist, dass er als Frühwarnsystem nicht frühzeitig auf die Beseitigung der Fallstricke hingewirkt hatte. Stattdessen äußerte sich auch Steinmeier immer wieder verständnislos über den Kurs der Abgeordneten – und das gleich zu Beginn der Debatte: »Die gerade klandestine Aktion der Abgeordneten, ein Mitgliederbegehren gegen die eigene Regierung in Gang zu bringen«, ließ er sich im Spiegel zitieren, »ist ein sehr ungewöhnliches Verfahren, mit seinem Fraktionsvorsitzenden und seinem Parteivorsitzenden umzugehen.«367 Steinmeiers exekutiv-geprägte Sichtweise wurde hier offenbar.368 Was auf der einen Seite gerade nützlich war für seine Aufgabe als politischer Akteur im Hintergrund, war auf der anderen Seite schwierig für seine Arbeit als Parteimann. Denn dort ging es den einfachen Genossen eben nicht nur um die Umsetzung, um die Macht der Pragmatik, sondern vielmehr häufig auch um Ideologie. All dieses Träumerische war unter Gerhard Schröders rot-grüner Regierung – zumindest gefühlt – verschwunden. Sein wichtigster Mann für die Ausstaffierung dieser Regierung war Steinmeier. Er setzte um, was pragmatisch ging, auch wenn er weiterdachte und durchaus mit Visionen aufwartete. Dennoch: Die SPD verlernte in dieser Zeit so auf der einen Seite (zu Recht) das Träumen, konnte auf der anderen Seite jedoch nur noch eine pragmatische Politik verfolgen. Wie wenig Sinn für die Befindlichkeiten der Parteibasis im Kanzleramt und bei den Regierenden allerdings herrschte, zeigte eine weitere Aussage 365 | Steg, Thomas im Gespräch mit dem Autor am 16.12.2013. 366 | Ebd. 367 | Zitiert nach Leinemann, J.: »Ich bin nicht der Stellvertreter«; in: Spiegel, 19.04.2003, S. 46. 368 | Vgl. König, K.: Verwaltete Regierung, 2002, S. 124f; vgl. auch Nullmeier, F.: Die Agenda 2010; in: Fischer, T.; Kießling, A.; Novy, L. (Hg.): Politische Reformprozesse, 2008, S. 156.
7. Metamorphose
Steinmeiers exemplarisch. In Bezug auf die nun vereinbarten Regionalkonferenzen, den Sonderparteitag sowie die Debatte um ein Mitgliederbegehren sprach der Kanzleramtschef im Spiegel von einer »skurrile[n] Situation« und soll befunden haben, dass man es mit dem »Mehr-Demokratie-wagen« auch übertreiben könne.369 Diese Aussage überraschte, insbesondere zu Beginn eines Diskussionsprozesses, der wiederum überhaupt nur auf Druck der Abgeordneten und Parteimitglieder zustande gekommen ist. Und so waren einige jener Veranstaltungen letztendlich auch nur dem Schein nach parteipartizipatorisch angelegt. Gerade die Regionalkonferenzen waren durchkomponierte Veranstaltungen, in denen Schröder vorgefertigte Reden verlas, in die nur die jeweiligen Namen der Kritiker der jeweiligen Veranstaltungen einzusetzen waren.370 Tatsächlich etwa kritisiert Rudolf Scharping denn auch die Art dieser Veranstaltungen: »Da hätte Schröder und natürlich auch Steinmeier, da hätten aber auch andere innerhalb der Partei darauf achten müssen, dass da nicht vier regionale, mehr den Medien und dem Fernsehen gewidmete, sogenannte Diskussionsveranstaltungen stattfinden, sondern dass man da einen breitangelegten und sorgfältigen Vermittlungsprozess braucht, der auch […] eingeht auf Kritik, soweit man das kann, ohne die […] Linie und die Ziele zu verwässern.« 371
Es ist eine Kritik, die in dieser Deutlichkeit vielleicht nicht fair ist, aber doch einen wahren Kern enthält. Denn zumindest Teile der Parteibasis dürften sich durch dieses Verfahren auch weiterhin nicht mitgenommen gefühlt haben. Den Regionalkonferenzen schloss sich schließlich ein Sonderparteitag an, der jedoch, wie es in einer Analyse heißt, erneut einer »›Zuckerbrot und Peitsche‹Strategie« folgte.372 Erneut wurde die Abstimmung mit einer Vertrauensfrage verbunden, sodass die Zustimmung letztendlich bei 90 Prozent lag.373 Noch am Abend jenes Parteitags sprach Schröder mehr lakonisch als begeistert in die Kamera eines ARD-Teams: »Im Ergebnis wird es so sein, dass all diejenigen, die diese Diskussion in besonderer Weise gewünscht haben, sich jetzt auch damit abfinden müssen, dass die Partei mir mit 90 Prozent zuge-
369 | Zitiert nach Leinemann, J.: »Ich bin nicht der Stellvertreter; in: Spiegel, 19.04.2003, S. 48. 370 | Aktenbestand Büro Parteivorsitzender Gerhard Schröder (im Archiv der sozialen Demokratie); hier: 2/PVEF000388. 371 | Scharping, Rudolf im Gespräch mit dem Autor am 20.09.2013. 372 | Hegelich, S.; Knollmann, D.; Kuhlmann, J.: Agenda 2010, 2011, S. 91f. 373 | Vgl. Hassel, A.; Schiller, C.: Der Fall Hartz IV, 2010, S. 273.
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stimmt hat und nicht denjenigen, die die Agenda 2010 kritisiert haben.«374 Das »mir« betonte er dabei ausdrücklich. Doch auch wenn die Partei hier erneut, wenn auch unter Druck, Schröder eine Rückmeldung gab, mit seinem Kurs fortzufahren, verfestigte sich das Kommunikationsproblem und die Diskrepanz zwischen Parteiführung und Parteibasis in den kommenden Monaten. Dies war das Paradoxon bei der SPD. Sie liebte ihren Vorsitzenden nicht, hatte ihn nie geliebt. Letztendlich fand sie lange Zeit das Linkssein Lafontaines sympathischer als die Wirtschaftsnähe Schröders. Und doch konnte sich der Bundeskanzler immer wieder der Treue im entscheidenden Moment sicher sein.375 Auch im weiteren Verlauf kam es nur bedingt zu einer verbesserten Organisationssteuerung. Diskussionen fanden bei der weiteren Umsetzung weniger mit den Abgeordneten, die letztendlich als händelbar galten, sondern vielmehr mit den Bundesländern statt, weil diese über den Bundesrat eine entscheidende Rolle bei der Absegnung der Reformen innehatten.376 Im Spätsommer 2003 wurden die ersten Gesetze schließlich in den Bundestag eingebracht. Müntefering schaffte es, wie der Spiegel festhielt, die Fraktion »[m]it Charme, Druck, Beschimpfungen und Zugeständnissen […] auf Linie zu bringen«,377 sodass sie letztendlich für die Gesetze der Agenda 2010 stimmte. Erst im Oktober 2003, also am Ende des Debattenprozesses und nur kurz vor den Abstimmungen, forderte Müntefering die Abgeordneten auf, Änderungsvorschläge insbesondere zur Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zu unterbreiten.378 Doch blieben Wünsche dennoch weitestgehend unberücksichtigt und »Veränderungen […] marginal«.379 Das Wirtschafts- und Arbeitsministerium, das für die Umsetzung zuständig war, konnte sich »in allen wichtigen konzeptionellen Fragen durchsetzen«.380 Die Drohung Schröders, notfalls zurückzutreten, schwebte bei der Abstimmung im Bundestag 374 | Schröder, Gerhard im Gespräch mit der Nachtausgabe der Tagesschau am 02.06.2003; abrufbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=4qq1Ncl8BIM (zuletzt eingesehen am 27.03.2015). 375 | »Seine Verbündeten«, heißt es in einer Abhandlung richtig, »waren die Loyalität der Partei, der er sich im Notfall sicher wähnte, und die Medienöffentlichkeit, die einen handlungsfähigen und entschlossenen Kanzler unterstützte, auch gleichsam einforderte«; Klecha, S.: Bundeskanzler in Deutschland, 2012, S. 200. 376 | Vgl. Hassel, A.; Schiller, C.: Der Fall Hartz IV, 2010, S. 263. 377 | Kurbjuweit, Dirk; Neukirch, Ralf; Schult, Christoph: Der Kampf der Giftmischer; in: Spiegel, 20.10.2003, S. 32-33; hier: S. 32. 378 | Vgl. Hassel, A.; Schiller, C.: Der Fall Hartz IV, 2010, S. 273. 379 | Rüb, F.: Regieren, Regierungszentrale und Regierungsstile; in: Bröchler, S.; Blumenthal, J. von (Hg.): Regierungskanzleien, 2011, S. 92. 380 | Hassel, A.; Schiller, C.: Der Fall Hartz IV, 2010, S. 263.
7. Metamorphose
zudem erneut mit im Raum. Schröder würde, so hatte er zumindest angekündigt, sich bei einer Ablehnung der Reformen die Entlassungsurkunde beim Bundespräsidenten abholen.381 Alternativlos sei die Politik des Bundeskanzlers und für den Bundeskanzler. Das war die Botschaft, die auch Steinmeier weiterhin verbreitete. Zwar versuchte auch der Kanzleramtschef in Veranstaltungen, die verschiedenen Parteiebenen von der Reform zu überzeugen. Und es ist überliefert, dass er bald zusammen mit Doris Schröder-Köpf und Sigrid Krampitz den Bundeskanzler davor gewarnt haben soll, immer wieder die Vertrauensfrage zu stellen, weil dies nicht mehr glaubhaft sei.382 Doch legte auch er sich vor dem folgenden November-Parteitag erneut fest, sprach von der Unumkehrbarkeit des Reformprozesses.383 Diskussion und, ab sofort, Erklärung: ja, aber keine Veränderung. Das schien die Botschaft der Akteure und zumindest in dieser absoluten Form erneut ein verheerendes Signal. Die Abstrafung für dieses halbe Jahr des organisationspolitischen Versagens entlud sich neben den massenweisen Austritten von Parteimitgliedern aus der SPD384 schließlich auf jenem Parteitag Ende des Jahres 2003. Generalsekretär Olaf Scholz erhielt bei seiner Wiederwahl mit 52,6 Prozent eine massive Abstrafung.385 Mit knapp drei Prozentpunkten weniger wäre er nicht wiedergewählt worden, was einer Regierungskrise gleichgekommen wäre. Doch auch so kam hinzu, dass es fortan »faktisch keinen Generalsekretär mehr« gab.386 So wenig also rückblickend vermittelt worden ist und die Partei dies mit jenem Ergebnis quittierte, haben die damals beteiligten exekutiven Akteure in Bezug auf die Organisationssteuerung eine ganz andere Wahrnehmung als die Mitglieder. Mehrere betonen so den langanhaltenden, stehenden Applaus bei der Agenda-Rede,387 der allerdings abgesprochen gewesen war und auf Vi381 | Vgl. Kurbjuweit, D.; Neukirch, R.; Schult, C.: Der Kampf der Giftmischer; in: Spiegel, 20.10.2003, S. 32. 382 | Vgl. Sturm, D.-F.: Wohin geht die SPD?, 2009, S. 148. 383 | »Der Reformprozess«, zitierte der Spiegel Steinmeier, »ist unumkehrbar«; zitiert nach Hammerstein, Konstantin von; Palmer, Hartmut; Reiermann, Christian; Steingart, Gabor: Kanzler am Scheideweg; in: Spiegel, 17.11.2003, S. 24-29; hier: S. 25. 384 | Uwe Jun spricht von einem »wahre[n] Mitgliederfiasko und eine[r] Austrittswelle, die ihres gleichen sucht«; Jun, Uwe: Die SPD in der Großen Koalition; in: Bukow, Sebastian; Seemann, Wenke (Hg.): Die Große Koalition. Regierung – Politik – Parteien 2005 – 2009, Wiesbaden 2010, S. 299-317; hier: S. 305. 385 | Vgl. Geyer, M.; Kurbjuweit, D.; Schnibben, C.: Operation Rot-Grün, 2005, S. 280. 386 | Geyer, M.; Kurbjuweit, D.; Schnibben, C.: Operation Rot-Grün, 2005, S. 280. 387 | So Walter Riester und Franz Müntefering; vgl. Müntefering, Franz im Gespräch mit dem Autor am 22.10.2013; vgl. außerdem Riester, Walter im Gespräch mit dem Autor am 16.05.2013.
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deoaufnehmen keineswegs leidenschaftlich wirkte. Die Frankfurter Rundschau kommentierte ihn mit den Worten: »Pflichtgemäß, aber weder geschüttelt noch gerührt«.388 Müntefering verweist retrospektiv auf die hohen Abstimmungsergebnisse, die jedoch nur mit Rücktrittsdrohungen Schröders erreicht worden sind. Und Clement hält die Kommunikation gar für mustergültig: »Mehr als wir diskutiert haben, könnte es keine Partei diskutieren.«389 Dem standen Äußerungen wie jene der »Vergewaltigung«390 der Partei gegenüber. Was hier deutlich wird: Wenn eines mustergültig war in diesem Reformprozess, dann war es das großangelegte, gegenseitige Missverständnis aufgrund unterschiedlicher Deutungen von Äußerungen, Wahlen und Kommunikationsstrategien. Es war ein Missverständnis, an dem alle Akteure und damit auch Steinmeier ihren Anteil hatten und das die SPD noch lange beschäftigen sollte. Die Problem- und die Organisationspolitiksteuerung gingen dabei einher mit einer fehlenden Kommunikationssteuerung, dem »Versuch politischer Akteure, öffentliche Kommunikationsprozesse inhaltlich und prozedural so zu beeinflussen, dass sie das Erreichen der eigenen Ziele unterstützten.«391 Natürlich ersetzt »[p]olitische Kommunikation […] keine ›schlüssige‹ Politik, aber ohne erfolgreiche Öffentlichkeitsarbeit kann Politik bei den Adressaten unter den Bedingungen einer medialisierten Gesellschaft nicht mehr ›richtig‹ ankommen.«392 Hier muss zunächst anerkennend betont werden, dass die Erwartungshaltung, an deren Erzeugung Steinmeier einen großen Anteil hatte, vor der Agenda-2010-Rede tatsächlich geweckt worden war. Allerdings wurde sie ins Unermessliche gehoben, sodass dieser nur schwerlich entsprochen werden konnte. Schon die Regierungserklärung selbst entsprach keiner schlüssigen Kommunikationsstrategie mehr, denn Erklärung, ja eine »kontextsetzende Orientierung«393 fand nicht statt. Durch die fehlende öffentlichkeitswirksame Kommunikation konnten schließlich die Gegner der Agenda 2010 schnell die Deutungshoheit in der Debatte gewinnen. Die Akteure wirkten ratlos und wurden von der (absehbaren und auch im Kanzleramt gesehenen394) (Gegen-) Dynamik überrascht. In der Öffentlichkeit entstand das Bild einer zerrissenen 388 | Pries, K.; Vornbäumen, A.: Blut? Schweiß? Spiegelstrich!; in: Frankfurter Rundschau, 15.03.2003. 389 | Clement, Wolfgang im Gespräch mit dem Autor am 24.07.2013. 390 | Vgl. Kapitel 7, Fußnote 363. 391 | Tils, R.: Strategisches Zentrum; in: Bröchler, S.; Blumenthal, J. von (Hg.): Regierungskanzleien, 2011, S. 115. 392 | Ebd. 393 | Hassel, A.; Schiller, C.: Der Fall Hartz IV, 2010, S. 297. 394 | Vgl. S. 231 in dieser Biographie.
7. Metamorphose
Partei, die mit den Reformen fremdelte, die allerdings von einem größeren Teil der Bürger als notwendig erachtet worden waren. »Es gab«, wird in einer Analyse nämlich konstatiert, »für viele einzelne Punkte der Agenda 2010 und der Hartz IV-Konzepte durchaus stattliche Zustimmung, auch die Zusammenlegung von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe war schon zuvor im Grunde genommen Konsens selbst unter Sozialdemokraten gewesen«.395 Bereits im März 2003 »waren 65 Prozent der Bundesbürger der Meinung, dass die […] Reformen nicht mutig genug seien.«396 Diese Einschätzung blieb bestehen, so etwa auch in einer anderthalb Jahre später erfolgten Umfrage aus dem November 2004, in der »68 Prozent der Bundesbürger die Meinung« vertraten, »dass die beschlossenen Reformmaßnahmen auf dem Arbeitsmarkt noch nicht ausreichten.«397 Unverständnis wurde hingegen am Erscheinungsbild der SPD geäußert: »Weniger die Reformen der Agenda 2010, sondern vielmehr die innerparteiliche Kritik daran und das damit verbundene Bild der Zerstrittenheit, das die SPD dadurch vermittelte, waren für eine Mehrheit der Bundesbürger kritikwürdig. So waren im Zuge der Debatte um die Agenda-Maßnahmen 70 Prozent der Bundesbürger der Auffassung, dass der SPD mehr Schaden entstehe durch die Kritik der Reformgegner, während lediglich 23 Prozent die Meinung vertraten, dass es Schröder sei, der mit seinen Reformplänen der Partei schade.« 398
Während die SPD am Thema »Gerechtigkeit« innerparteilich fast zerbrochen wäre, musste sie in der Bevölkerung gerade in diesem Kompetenzfeld »zwischen 2002 und 2005 […] keinerlei Kompetenzverluste hinnehmen«.399 Die Regierungsführung hätte so bei einem anderen Dialogprozess womöglich sogar Kapital aus der Agenda schlagen, zumindest aber die Folgen abschwächen können.400 Die Folge war, dass in der öffentlichen Wahrnehmung die Kritik und die Zahl der Kritiker immer größer zu werden schienen und zu einem Mobilisierungspotential in der Bevölkerung, auch dank der »Anti-AgendaKampagne« 401 der Bild-Zeitung, beigetragen haben. Medial war die Agenda 395 | Butzlaff, F.: Verlust des Verlässlichen; in: Butzlaff, F.; Harm, S.; Walter, F. (Hg.): Patt oder Gezeitenwechsel?, S. 55f 396 | Matuschek, Peter; Güllner, Manfred: Volksparteien ohne Volk: Der Niedergang der Union und SPD auf dem Wählermarkt; in: Niedermayer, O. (Hg.): Die Parteien nach der Bundestagswahl 2009, 2011, S. 224-235; hier: S. 229f. 397 | Ebd. 398 | Ebd. 399 | Ebd. 400 | Vgl. Marx, S.: Die Legende vom Spin-Doktor, 2008, S. 118. 401 | Winkler, H.-A.: Geschichte des Westens. Die Zeit der Gegenwart, 2015, S. 245.
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2010 so schon vor dem Start einer verspäteten »offiziellen Regierungskommunikation« 402 verloren, die erst im August 2003 mit einer Kampagne entgegenzusteuern versuchte, die Wahrnehmung aber nicht mehr verändern konnte.403 All jene Aspekte streifen bereits die Konkurrenzpolitiksteuerung, mit der der Auf bau eines unterscheidbaren Kerns »gegenüber Dritten – vor allem auf Grundlage von Themen« – gemeint ist.404 Hier hätte die SPD punkten können, hatte sie doch ein Reformkonzept vorgelegt, dass von der CDU als nicht weit genug kritisiert wurde.405 Deren Parteivorsitzende, Angela Merkel, wurde um den Leipziger Parteitag der CDU im Jahr 2003 in Anspielung auf die britische Radikal-Reformerin Magaret Thatcher vom Stern bereits als »[d]ie neue Maggie« betitelt.406 Demgegenüber hätte sich die SPD als gemäßigte Reformpartei präsentieren können, was sie allerdings nicht tat. Vielmehr waren die internen Kämpfe, die von der Führung nicht eingedämmt, sondern teilweise noch befördert und provoziert worden sind, für die Außendarstellung verheerend. Doch selbst, wenn es diese internen Konfliktlinien nicht gegeben hätte, wären an anderer Stelle Fehler zu vermeiden gewesen. Die Überschreitung der Grenze der Arbeitslosenzahlen von fünf Millionen und damit der Anstieg auf die höchsten Zahlen seit dem 2. Weltkrieg407 Anfang des Jahres 2005 bedeutete für die SPD den Supergau, galt es doch als vermeintliches »Symbol des Misserfolgs der Regierung in der Arbeitsmarktpolitik«. 408 Diese Gefahr wurde von Steinmeier auch gesehen.409 In diesem Zusammenhang muss erwähnt werden, dass, wie in einer Analyse kritisiert wird, »die Wähler und Bürger« nicht darauf vorbereitet worden sind, »dass die Erfolge der Agenda-Politik nicht ›über Nacht‹ eintreten würden und von anderen günstigen Rahmenbedingungen (Weltkonjunktur) ab-
402 | Tils, R.: Strategisches Zentrum; in: Bröchler, S.; Blumenthal, J. von (Hg.): Regierungskanzleien, 2011, S. 123; vgl. auch Winkler, H.-A.: Geschichte des Westens. Die Zeit der Gegenwart, 2015, S. 245. 403 | Tils, R.: Strategisches Zentrum; in: Bröchler, S.; Blumenthal, J. von (Hg.): Regierungskanzleien, 2011, S. 132. 404 | Tils verortet hier die »Politics-Dimension von Politik«; Tils, R.: Strategisches Zentrum; in: Bröchler, S.; Blumenthal, J. von (Hg.): Regierungskanzleien, 2011, S. 115. 405 | Vgl. Schütz, Hans-Peter.: Die neue Maggie; in: Stern, 30.10.2003, S. 48-52. 406 | Vgl. ebd., S. 48. 407 | Vgl. Winkler, H.-A.: Geschichte des Westens. Die Zeit der Gegenwart, 2015, S. 245. 408 | Tils, R.: Strategisches Zentrum; in: Bröchler, S.; Blumenthal, J. von (Hg.): Regierungskanzleien, 2011, S. 121. 409 | Vgl. S. 299f in dieser Biographie.
7. Metamorphose
hingen.«410 Das Gegenteil war der Fall. Vor der Agenda-Rede schürte auch Steinmeier die Erwartungen. Danach war es »insbesondere […] Clement, der sich durch das weitere Hochschrauben der Erfolgserwartungen hervortat«.411 Hinzu kam, wie bereits ausgeführt, der nicht mal unternommene, wenn auch aussichtslose Versuch der Einführung eines Mindestlohnes. Hier mögen zwar auch Gewerkschaften dagegen gewesen sein und Steg hat sicherlich Recht, wenn er betont, dass die SPD unter einem größeren Zwang zu einer Kompromisslösung stand als die Union, um die eigene Handlungsfähigkeit zu unterstreichen.412 Doch hätte allein die Erwähnung des eigenen Wunsches nach Einführung nebst Ablehnung der anderen die eigene Anhängerschaft womöglich ein Stück befrieden können. Die um Steinmeier herum entwickelte Agenda 2010 war strategisch also verloren. Im wissenschaftlichen Diskurs wird allerdings darüber diskutiert, ob es überhaupt ein kommunikatives Konzept hätte geben können, mit dem man die eigenen Parteimitglieder gewinnen, die »politischen Erschütterungen« 413 zumindest hätte abschwächen und »ein Reformprojekt wie die Agenda 2010 über eine diskursive und integrative Strategie« durchsetzen hätte können.414 Doch von der Partei- und Regierungsführung wurde dies, wie gezeigt, anfangs nicht in Erwägung gezogen. »Sie hatte in ihrem Drang nach dem exekutiven Vollzug des Notwendigen die Mitglieder- und Wählerkommunikation gleichermaßen vernachlässigt.«415 Es schien ihnen bisweilen das Verständnis dafür gefehlt zu haben, dass der von ihnen erkannte neue Ist-Zustand nicht jedem Normalbürger sofort einleuchtete. Zumindest der Versuch, den fehlenden Überbau, der in Bezug auf die Kommunikations- als auch auf die Organisationspolitiksteuerung kritisiert wurde, nachzuliefern, wurde 2004 mit der Publikation »Made in Germany ’21« unternommen416 – viel zu spät zwar, doch gerade in Bezug auf Steinmeiers Karriere interessant. Steinmeier fungierte nämlich neben Matthias Machnig als einer der Herausgeber, was seine stetig gestiegene Rolle im Kanzleramt unterstrich, die nun auch ein für die Öffentlichkeit bestimmtes Buch vorsah. Die fehlenden erklärenden Seiten aus der Agenda-2010-Rede wurden hier nun auf über 500 410 | Tils, R.: Strategisches Zentrum; in: Bröchler, S.; Blumenthal, J. von (Hg.): Regierungskanzleien, 2011, S. 121. 411 | Ebd. 412 | Vgl. Steg, Thomas im Gespräch mit dem Autor am 16.12.2013. 413 | Marx, S.: Die Legende vom Spin-Doktor, 2008, S. 118. 414 | Hegelich, S.: Knollmann, D.; Kuhlmann, J.: Agenda 2010, 2011, S. 228. 415 | Ebd.; vgl. auch Nachtwey, O.: Marktsozialdemokratie, 2009, S. 274. 416 | Steinmeier, Frank-Walter; Machnig, Matthias: Made in Germany ’21, Hamburg 2004.
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Seiten von 40 Autoren dargelegt. Gleich der erste Aufsatz stammte von Steinmeier. Nach den in dieser Biographie bereits zitierten Aufsätzen ist dies ein weiteres Zeugnis über Steinmeiers Denken zur jeweiligen Zeit. Steinmeier spannte einen Bogen in die 1970er Jahre, dem Beginn der folgenden »zwei Jahrzehnte steigender Arbeitslosenzahlen« über die Wiedervereinigung, bei der es nahe gelegen habe, nicht nur »die historische Sondersituation […] dazu zu nutzen, die wirtschaftlichen, rechtlichen und sozialen Verhältnisse anzupassen«, sondern eben auch »manche[] westdeutsche[] Standards« zu überprüfen.417 Er resümierte, dass »[d]ie Chance einer gesamtdeutschen Selbstvergewisserung über Ansprüche und ihre Grenzen, aber auch über neue sich eröffnende Möglichkeiten« verpasst worden sei und konstatierte recht deutlich: »Keine der maßgeblichen politischen Kräfte war daran wirklich interessiert.«418 Es folgten eine umfangreiche, mit Daten gefütterte Ausführung zu gestiegenen Arbeitslosenzahlen, einer angestiegenen Beitragsgrenze zur Sozialversicherung und schließlich der Verweis auf das Außenpolitische. Denn, so Steinmeier, »[n]icht weniger nachdrücklich als auf dem Feld der Wirtschaftsund Sozialpolitik entwickelte sich zum Ende der 90er-Jahre der Veränderungsdruck in der Außenpolitik.«419 Ein Bogen von der Globalisierung, die »unumkehrbar geworden« sei, bis hin zum 11. September wurde gespannt. Das Resümee: Deutschland sei viel stärker als in der Vergangenheit gefordert, »Stellung zu beziehen zu Ereignissen, die sich außerhalb unserer Grenzen und somit außerhalb der Reichweite unserer unmittelbaren Gestaltungsmacht abspielen, kurz: Verantwortung zu übernehmen«.420 Es sind Aspekte, die für Steinmeiers spätere politische Karriere im Vordergrund von Bedeutung sein werden, die sich offenkundig bereits hier bei seinen Einstellungen manifestiert zu haben scheinen, nämlich die gestiegene Verantwortung Deutschlands in der Welt. Dem schloss sich der Hinweis an, dass all das mit »zum Teil erheblichen finanziellen, aber auch politischen Kosten verbunden sein kann.«421 Wie schon Schröder in seiner Agenda-Rede, so stellte auch Steinmeier einen Zusammenhang zur Innenpolitik her, wenn er schrieb, dass das, »[w]as für die Außenpolitik nicht zuletzt auch eine notwendige Konsequenz aus so grundstürzenden Veränderungen wie der Erosion und Auflösung der Militärblöcke war, […] nach
417 | Steinmeier, Frank-Walter: Aufbruch in Deutschland; in: Steinmeier, F.-W.; Machnig, M.: Made in Germany, 2004, S. 15-26; hier: S. 17. 418 | Ebd., S. 17. 419 | Ebd., S. 18. 420 | Ebd. 421 | Ebd.
7. Metamorphose
1998 auch für die Innenpolitik handlungsleitend werden« musste.422 Das formulierte Ziel sei der »Wiedergewinn von Beweglichkeit in einer unbeweglich gewordenen Republik, Deblockierung der von mächtigen Interessengruppen kanonisierten Verhandlungsrituale und damit Erweiterung des Gestaltungsspielraums für Politik.«423 All das stand im Widerspruch zum »innovativen Konsens«, den Steinmeier in seinem Aufsatz zwei Jahre zuvor noch beschworen hatte. Tatsächlich ging er darauf ein und scheute vor einer kritischen Beurteilung der bisherigen Regierungsarbeit nicht zurück. Er beschrieb, dass das Bündnis für Arbeit zwar »unbestreitbare Erfolge« vorzuweisen gehabt habe, aber »die Grenzen dieses Ansatzes bald deutlich geworden« seien.424 So sei »die Reformaufgabe spätestens nach drei Jahren Stagnation« noch größer »als ursprünglich definiert« gewesen.425 Ein Scheitern also seines bisherigen Ansatzes? Steinmeier hielt dagegen. So seien in den ersten vier Regierungsjahren »dennoch« Fortschritte erzielt worden – er verweist etwa auf den Atomausstieg oder »die rechtliche Besserstellung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften, die Verbesserung des Stiftungsrechtes«. 426 So zutreffend sie sind, haben sie doch nur wenig mit der Agenda 2010 zu tun. Auf diese ging er im zweiten Kapitel wieder ein. Dort skizzierte er die Agenda 2010 selbst und ihre Ziele, nämlich dass das »Fördern und Fordern« und die »Entlastung der Bürgerinnen und Bürger durch die 2004 und 2005 wirksam werdenden Steuersenkungen« zusammen mit einigen anderen Aspekten ein Ziel verfolgten:427 »Den wirtschaftlichen Aufschwung nach drei Jahren der Krise zu befördern, um die Arbeitslosigkeit zu reduzieren« (Hervorhebung F.W.S.).428 Es war das große Ziel jener Regierung und auch Steinmeiers, der im Jahr 2009 sogar eine neue Vollbeschäftigung in Aussicht stellte.429 Jedenfalls wurde die Agenda in jenem Kapitel als unabdingbar dargestellt, als eine »politische Zäsur«, da die »deutsche Politik« mit dem erfolgreichen Passieren der Reformen im Vermittlungsausschuss Mitte Dezember 2003 »Handlungsfähigkeit bewiesen« habe.430 Steinmeier erwähnte dabei auch die Konflikte in der SPD, wenn er schrieb: »Innerhalb der SPD 422 | Ebd. 423 | Ebd. 424 | Ebd. 425 | Ebd., S. 19. 426 | Ebd., S. 18. 427 | Ebd., S. 20. 428 | Ebd. 429 | Vgl. Kapitel 9.3 in dieser Biographie. 430 | Steinmeier, F.-W.: Aufbruch; in: Steinmeier, F.-W.; Machnig, M. (Hg.): Made in Germany, 2004, S. 19.
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wurden und werden stellvertretend für die Gesellschaft viele Konflikte um einzelne Reformmaßnahmen ausgetragen, mit Leidenschaft und schmerzlichem Verlust.«431 Fast resignierend, auch flehend, wirkten die direkt anschließenden Sätze, »[d]ass den Sozialstaat nur erhalten kann, wer zu seiner Reform bereit ist«, das jedoch »nur in mühsamer Überzeugungsarbeit vermittelt« werden könne.432 Überraschend wirkt der folgende Abschnitt, in dem der Kanzleramtschef feststellte, dass »[e]s scheint, als würde eine Debatte über Deutschland und ›deutsch-sein‹ nachgeholt, die nach 1989 nicht geführt« worden sei.433 Es folgte der Verweis auf den viel gesehenen Film Good Bye, Lenin! und Das Wunder von Bern sowie auf die TV-Serie Unsere Besten, in der unter anderem Willy Brandt zu »den größten Deutschen« gewählt worden sei.434 (Dass Konrad Adenauer hier den ersten Platz belegte, ließ Steinmeier beflissentlich weg – so viel Parteipolitiker ist er dann doch auch da schon geworden.435) Steinmeier äußerte die feste Überzeugung, dass in dieser Beschäftigung mit der eigenen Rolle und mit der Erneuerung des Begriffs Made in Germany der Wunsch stecke, »die den öffentlichen Diskurs dominierende Abwärtsspirale aus negativer Selbstwahrnehmung und daraus resultierender Lähmung zu überwinden und Offenheit für das Neue zu verbinden mit positiver Anknüpfung an die Vergangenheit.«436 Er beschwor hier etwas herauf, was zumindest zu diesem Zeitpunkt und auch über die kommenden Jahre in seiner Partei nicht vorhanden war. Diesen innerparteilichen Konflikt sprach Steinmeier indirekt an, wenn er ausführte, dass 2003 »zugegebener Maßen von solcher Auf bruchsstimmung noch wenig zu spüren« gewesen sei.437 Er ging allerdings noch einen Schritt weiter und beschrieb die Agenda 2010 nur als ersten Schritt auf dem Weg zu einem neuen Gesellschaftsentwurf. »Neugier und Offenheit müssen Elemente einer gestaltenden Politik werden, wenn Menschen für ihre Bereitschaft, Veränderung mitzutragen, gewonnen werden sollen.«438 Dem schloss sich das Eingeständnis an, dass das »die Agenda des vergangenen Jahres noch nicht«
431 | Ebd. 432 | Ebd. 433 | Ebd., S. 21. 434 | Ebd. 435 | Vgl. Merz, H.-G.: Rot-Grünes Regieren; in: Kemp, U.; Merz, H.-G. (Hg.): Kanzler und Minister 1998-2005, 2008, S. 66. 436 | Steinmeier, F.-W.: Aufbruch; in: Steinmeier, F.-W.; Machnig, M. (Hg.): Made in Germany, 2004, S. 21. 437 | Ebd., S. 20. 438 | Ebd., S. 21.
7. Metamorphose
geleistet habe.439 So sei nun die »richtige Konsequenz«, die Agenda 2010 »zu einer umfassenden, technologische und gesellschaftliche Aspekte umgreifende[n] Modernisierungsstrategie« weiterzuentwickeln.440 Diese Aussage war ein deutlicher Abgesang vom Wunsch des Beharrens, es war das Aufzeigen einer Perspektive, die für die Sozialdemokratie eine Manifestierung und den Ausbau des eingeschlagenen Weges bedeuten würde. Zwei Ziele formulierte Steinmeier damit einhergehend zum Schluss seines Essays, sprach von der »Rückgewinnung der Gestaltungsfähigkeit« durch verschiedene Maßnahmen, die wohl, blendet man die Euphemismen aus, mit Sparen zu tun hatten. Außerdem nannte er die »selbstbewusste Zuversicht von Menschen, diesen Weg der Erneuerung nicht nur als individuelle Last, als Enttäuschung und Abschied zu begreifen, sondern als Voraussetzung für eine chancenreiche Zukunft für alle«. 441 Steinmeier beschrieb hier einen Gesellschaftsentwurf, der einen Bruch darstellte mit der traditionellen Sozialdemokratie. Der Kanzleramtschef blickte tatsächlich zurück bis auf »das deutsche Innovationssystem«, dass »[v]or 100 Jahren […] weltweit Vorbild« gewesen sei.442 Wieder wurde sich großer Namen bedient, Werner von Siemens etwa oder Robert Bosch, deren Firmen alle für Made in Germany, jenes »Markenzeichen, das für Präzision, Qualität und Dauerhaftigkeit stand«, 443 gestanden hätten. Wenn man so möchte, war es der dritte Versuch innerhalb eines Aufsatzes zu erklären, warum die Agenda 2010 denn nun so wichtig sei. Bemüht metaphorisch sprach Steinmeier davon, dass »die Marke ›Made in Germany‹ heute weniger hell« strahle als früher, dies aber weniger an Deutschland als an den vielen anderen Ländern liege, die »besser geworden« seien.444 Diese Erkenntnis war nicht neu. So darf angenommen werden, dass sie vor allem der innerparteilichen Argumentation diente. Schließlich wurde im Unterkapitel »›Agenda 2010‹ – die Fortsetzung« auf ein »Anstoßen von Reformen in der Bildungskette« sowie der »Verantwortung [des Staates] für die Innovationspolitik« eingegangen.445 Das Thema Bildung kristallisierte sich an dieser Stelle heraus, das bei Steinmeier in den kommenden Jahren eine immer wichtigere Rolle spielen sollte. In Bezug auf die gewandelte Rolle des Staates formulierte der Kanzleramtschef die Aufgabe, dass dieser nun Anreize dafür schaffen müsse, »die zu einer schnelleren Diffusion 439 | Ebd. 440 | Ebd. 441 | Ebd., S. 22. 442 | Ebd. 443 | Ebd. 444 | Ebd. 445 | Ebd., S. 23.
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neuer Technologien führen«, um in den »Zukunftsmärkten von morgen […] die Standards zu setzen«. 446 Im folgenden, nur 13-zeiligen Fazit mit dem Titel »Ausblick 2010« verband Steinmeier noch einmal die Agenda 2010 mit einem Auf bruchsgedanken, da sie »kein Selbstzweck« sei.447 »Die Strukturreformen der ›Agenda 2010‹«, schrieb er, seien »notwendig für den Aufschwung, aber sie zielen auf einen Aufbruch«. 448 Hierbei ging er auf die »endlich gesamtdeutsche […] Bereitschaft« ein, diesen zu gestalten, und resümierte in Anspielung auf die Wiedervereinigung: »Wir brauchen kein neues ›Wunder von Berlin‹ – wir brauchen viele kleine Wunder im ganzen Land«. 449 Wichtiger als diese Aussage erscheinen die folgenden abschließenden Sätze: »Vielleicht wird man im Rückblick des Jahres 2010 sagen: Das erste Jahrzehnt des neuen Jahrtausends war mehr als nur die Überwindung einer temporären Wachstumsschwäche. Es war für Deutschland – für Ost und West – eine Zeit manch schmerzlicher Abschiede, vor allem aber eines großen gemeinsamen Aufbruchs.« 450
Zweifellos wird Steinmeier mit seiner Vorausschau auf das Jahr 2010 im Rückblick ein Stück weit recht behalten, denn mittlerweile werden die AgendaReformen von vielen Analysten aus Wissenschaft und Medien als ein Grund dafür gesehen, dass Deutschland vergleichsweise glimpflich durch die Europäische Krise gekommen ist. Der »gemeinsame Auf bruch«, da hat Steinmeier geirrt, fand allerdings zunächst unter Ausschluss der SPD statt. Für sie bedeutete die Agenda 2010 einen teils selbstverschuldeten enormen Abstieg. Dass in dem Buch 40 Personen aus dem gesellschaftlichen Leben zu Wort kamen, zeigte unterdessen einmal mehr die Schwierigkeiten auf, die mit der Agenda 2010 einhergingen: Es gab nicht die eine Erzählung, sondern, wenn man so möchte, 40 Interpretationen. Für den damaligen Kanzleramtschef indes galt: Es schrieb erneut ein Steinmeier, der weit über die Organisation des Kanzleramts hinaus ausholte, einer, der nicht wie ein Technokrat wirkte, sondern vielmehr wie ein Mann, der den theoretischen Überbau für die Agenda 2010 lieferte, welcher so lange offenblieb, obwohl er eigentlich schon in der Rede Schröders hätte gesetzt werden sollen. Doch Steinmeiers Erklärung kam viel zu spät und in einem viel zu kleinen Rahmen. Sie war ein Projekt für Eingeweihte, nicht für die breite Masse; ein Projekt auch, dass nur mit einem kleinen Vorwort Schröders auskommen 446 | Ebd. 447 | Ebd., S. 25. 448 | Ebd. 449 | Ebd., S. 29. 450 | Ebd.
7. Metamorphose
musste, obwohl eben dieser in der Öffentlichkeit den Vordenker hätte geben müssen. So blieb das Buch ein Versuch der zweiten Reihe hinter Schröder, der Agenda 2010 einen Überbau zu vermitteln, mehr konnte es jedoch nicht sein – ohne die Handschrift des Kanzlers. Weniger Einfluss hatte die Führung hingegen auf andere Entwicklungen. So wäre auch bei einer besseren Strategie-Planung nicht vorhersehbar gewesen, dass sich eine neue Partei, die WASG gründen, diese mit der PDS zusammengehen und Lafontaine sich an die Spitze jener Bewegung stellen würde. Hier hätte es schon einer Zauberkugel bedurft, um das vorherzusagen. Auch für die Umsetzung der Agenda 2010 selbst kann Steinmeier nicht (oder nur bedingt) zur Verantwortung gezogen werden. Fallstricke hatte er frühzeitig gesehen und den zuständigen Minister, Wolfgang Clement, auch darauf hingewiesen. Doch galt am Ende in einer Regierung immer noch das Ressortprinzip. Clement selbst betont retrospektiv, dass Steinmeier und Schröder ihn haben lassen machen. »Die Verantwortung für die Arbeitsmarktreformen«, erinnert er sich, habe »komplett bei mir« gelegen. Schröder habe ihm das öffentlich »ausdrücklich gesagt«. 451 Ein größerer Einfluss Steinmeiers hierbei würde also, anders als bei dem Entwurf der Agenda und der Rede, einer Überhöhung gleichkommen. In der Frage der Gesetzgebung kam Steinmeier wiederum eine wichtige Rolle zu, organisierte er doch zusammen mit Müntefering die Arbeit im Vermittlungsausschuss.452 Einmal mehr konnte man hier Steinmeiers Einstellung in Bezug auf die Agenda wahrnehmen, wenn er von einem »Reich des Notwendigen« sprach, das nicht mehr zurückgedreht werden könne.453 Nicht nur da trat er mittlerweile immer mehr aus der hinteren Bühne der Politik in den Vordergrund. In Bayern etwa machte Steinmeier Wahlkampf in Sachen Agenda 2010. Neben Betriebsbesuchen betonte der Kanzleramtschef dort, dass man sich von der bayrischen SPD nicht von den Reformvorhaben abbringen lassen werde, auch wenn man die Sorgen ernst nehme. Von einem engen »Zeitfenster« sprach er, an die dortigen Parteimitglieder und ihren Spitzenkandidaten gerichtet, »[d]as sollte der Franz [Maget] manchmal etwas differenzierter sehen.«454 Für Steinmeiers eigenen Aufstieg war die Agenda 2010 451 | Clement, Wolfgang im Gespräch mit dem Autor am 24.07.2013. 452 | Vgl. Bornhöft, Petra; Hammerstein, Konstantin von; Nelles, Roland: Hohn und Schweigen; in: Spiegel, 08.09.2003, S. 28-30; hier: S. 30. 453 | Zitiert nach Kurbjuweit, D.; Neukirch, R.; Schult, C.: Der Kampf der Giftmischer; in: Spiegel, 20.10.2003, S. 33. 454 | Zitiert nach Issig, Peter: Der künftige Präsident Glück übt schon; in: Welt am Sonntag, 14.09.2003: Onlineversion des Printartikels abrufbar unter: www.welt.de/ print-wams/article100285/Der-kuenftige-Praesident-Glueck-uebt-schon.html (zuletzt eingesehen am 09.08.2016).
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III. Politik im Hintergrund
insofern, ungewollt, von immenser Bedeutung, trat Steinmeier mit ihr doch nochmals deutlich mehr aus dem Schatten des regierenden Schröders. Eine Metamorphose war zu besichtigen. Steinmeier selbst beschreibt das im Rückblick mit den Worten, dass er als Staatssekretär eine Rolle einnahm, in der »das Angebot mitformuliert ist, für Konfliktvermittlung zur Verfügung zu stehen«, bei der aber gleichzeitig »ausgeschaltet ist, […] auf derselben Öffentlichkeitsebene mit den Ressortministern« 455 zu konkurrieren. In Bezug auf die Agenda war Steinmeier jedoch nicht mehr nur der vermittelnde Pol, vielmehr war er forcierender Vorantreiber, der immer wieder auch mit wenig vermittelnden, diplomatischen, sondern bisweilen auch mit deutlichen, immer aber mit in der politischen Haltung klaren Aussagen auffiel. Jene Jahre waren es nun, in denen Schröder, zumindest betont der Altkanzler das retrospektiv, über einen Nachfolger Steinmeier ernsthaft nachgedacht haben will. 456 War es tatsächlich so, ließ er das Steinmeier nicht spüren. Der sprach im Jahr 2003 nämlich noch davon, dass er für Schröder »bis heute irgendwie ein Mann des Apparates« geblieben sei.457 Dennoch bedeutete dieses Jahr einen Wandel. Es war einerseits der Beginn von Schröders Abstieg und der Zeit, in der die SPD und die Regierung in ihrem sechsten und siebten Regierungsjahr, wie im folgenden Kapitel zu sehen ist, zu implodieren drohte. Andererseits war es der Beginn von Steinmeiers Metamorphose zum Politiker im Vordergrund.
7.3 S chröders A bstieg , S teinmeiers A ufstieg Noch im Dezember 2003 bestätigte das Büro des Parteivorsitzenden Schröder in Rücksprache mit seiner Chefsekretärin im Kanzleramt, Marianne Duden, vier Termine für die vom Generalsekretär Olaf Scholz geplante innerparteiliche »Dialogoffensive«. 458 Der erste Termin sollte am 6. Februar 2004 stattfinden, wie aus dem Aktenbestand des Büros hervorgeht.459 Was zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar war: Es sollte der Tag von Schröders Rücktritt als Parteivorsitzender sein. Dieser markierte den Höhepunkt eines innerpartei455 | Steinmeier, Frank-Walter im zweiten Gespräch mit dem Autor am 06.10.2014. 456 | So erinnert sich Schröder, dass er »schon 2003 in einem Hintergrundkreis gesagt« habe, »dass er einer der denkbaren Kandidaten wäre.« (Schröder, Gerhard im Gespräch mit dem Autor am 09.12.2013.) 457 | Zitiert nach Leinemann, J.: »Ich bin nicht der Stellvertreter; in: Spiegel, 19.04.2003, S. 48. 458 | Vgl. Aktenbestand Büro Parteivorsitzender Gerhard Schröder (im Archiv der sozialen Demokratie); hier: 2/PVEF000326. 459 | Vgl. ebd.
7. Metamorphose
lichen Konflikts, der mit einem großen Schwund an Mitgliedern einherging und die Partei immer wieder an den Rand der Regierungsfähigkeit führte. Müntefering als designierter Nachfolger im Amt des Parteivorsitzenden sollte den Kontakt zur Basis wieder verbessern, während Schröder und Steinmeier fortan nur noch für das Regieren zuständig waren. Zwar erschien die neue Arbeitsaufteilung, diese vermeintliche Wiederherstellung des Programmdualismus, wie er einst unter Lafontaine (Gerechtigkeit) und Schröder (Innovation) existierte,460 im ersten Moment schlüssig. Doch konnten die kurzfristigen positiven Effekte nicht darüber hinwegtäuschen, dass neue Probleme hervorgerufen wurden, deren Lösung nun auch für Steinmeier immer schwieriger wurde. Zuvorderst muss hier eine Verschiebung der Machtarithmetik erwähnt werden. Zwei der strategischen Zentren fielen Müntefering zu, das dritte lag weiterhin bei Steinmeier. War Müntefering bereits bisher für die Mehrheitssicherung im Bundestag zuständig und damit ein enorm wichtiger Verbündeter Schröders gewesen, vielleicht, wie die Welt mutmaßte, in jener Zeit der Umsetzung der Agenda-Reformen sogar noch wichtiger als Steinmeier,461 verschob sich diese Achse nun noch deutlicher Richtung Müntefering. Verfahrenswege in Bezug auf exekutive Fragen wurden fortan bisweilen bewusst gebrochen und Gespräche selbst der Minister nicht mehr zuerst mit dem Chef des Kanzleramts, sondern häufiger mit dem Parteivorsitzenden gesucht. So erinnert sich Bulmahn über die Umsetzung einer ihrer Ideen: »Den Parteivorsitzenden habe ich als ersten angesprochen, weil ich genau wusste, dass Gerd Schröder nicht begeistert sein würde, wenn ich ihm die Summe nenne. Er sagte, »geht uns gar nichts an, ist Landespolitik«. 462 Bei Steinmeier wäre sie, glaubt sie, ebenfalls sogleich bei Schröder gelandet. Deshalb habe sie das »anders gemacht. Erst Franz Müntefering, dann Kurt Beck und dann sind wir auf Gerd zugegangen. […] Und wenn da der Parteivorsitzende steht und dann auch noch […] ›ein wichtiger Ministerpräsident, […] dann hat das ein anderes Gewicht, als wenn ich alleine als zuständige Fachministerin diesen Vorschlag präsentiert hätte. Ist doch völlig klar.« 463
Müntefering hat eine ganz ähnliche Erinnerung an diese Zeit. So hätte sich seine Sorge bestätigt »dass immer mehr Leute innerhalb der Partei und von außen mich ansprachen, dass ich als Parteivorsitzender versuchen sollte, 460 | Vgl. Hegelich, S.; Knollmann, D.; Kuhlmann, J.: Agenda 2010, 2011, S. 139. 461 | Vgl. Blome, Nikolaus: Die Woche des Zuchtmeisters; in: Welt, 13.10.2003, S. 3. 462 | Bulmahn, Edelgard im Gespräch mit dem Autor am 20.01.2014. 463 | Ebd.
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müsste, könnte, die Politik von Schröder zu ändern, was ich nicht wollte.«464 »Die Abstimmungsprozesse« seien, wurde gegenüber dem Stern auch in Steinmeiers Umgebung eingeräumt, »noch komplizierter« geworden.465 Doch gab es innerhalb des Führungs-Trios mitsamt der verschobenen Machtarithmetik zunächst keine überbordenden Konflikte, weil Müntefering ähnlich wie Schröder und Steinmeier dachte und unbedingt loyal war – und daher jene Ansinnen der Parlamentarier abzufedern versuchte, was weiterer Anstrengungen bedurfte. Erschwerend kam hinzu, dass Clement die Entscheidung Schröders, Müntefering als Nachfolger zu bestimmen, von der er zuerst aus dem Radio gehört hatte,466 obwohl er am Abend vorher noch mit Schröder zu Abend gegessen hat,467 für nachhaltig falsch hielt – und sich persönlich brüskiert sah.468 Fortan stellte er sich in Bezug auf die Zusammenarbeit mit dem Kanzleramt immer häufiger quer, überraschte mit unabgesprochenen Aktivitäten und nahm bisweilen mit Steinmeier ausgehandelte Kompromisse wieder zurück. So verhielt es sich bei einer zwischen Trittin und Clement unter Vermittlung von Steinmeier erzielten Vereinbarung in der Frage um den Handel mit Emissionsrechten. Von einer öffentlichen Demütigung Steinmeiers war in der Stuttgarter Zeitung die Rede,469 in der Süddeutschen Zeitung von einer Koalitionskrise.470 Das Verhältnis von Clement und Steinmeier soll daraufhin »tief gestört« gewesen
464 | Müntefering, Franz im Gespräch mit dem Autor am 22.10.2013. 465 | Schütz, H.-P.: Der Kanzler-Flüsterer; in: Stern, 08.07.2004, S. 54. 466 | Vgl. Clement, Wolfgang im Gespräch mit dem Autor am 24.07.2013. 467 | Vgl. Langguth, G.: Machtmenschen, 2009, S. 307. 468 | Clement, der zu Beginn der zweiten rot-grünen Legislaturperiode bisweilen noch zu nächtlicher Stunde zum Wein bei Schröder im Kanzleramt eingekehrt war, war, so erinnert er sich selbst, »tief deprimiert« von dieser Entscheidung. Ähnliches erzählt Rezzo Schlauch im Rückblick, der als Staatssekretär im Wirtschaftsministerium mittlerweile ein enger Mitarbeiter von Clement war. »Clement war zutiefst […] enttäuscht«, erinnert er sich. Clement und Müntefering seien »völlig inkompatibel« und Clement habe Müntefering »als Einflüsterer des Kanzlers wahrgenommen, und damit war die Geschichte beendet«; Clement, Wolfgang im Gespräch mit dem Autor am 24.07.2013 und Schlauch, Rezzo im Gespräch mit dem Autor am 06.06.2013. 469 | Vgl. Wallbaum, Klaus: Schröders Geheimwaffe; in: Stuttgarter Zeitung, 20.04.2004, S. 2. 470 | Vgl. o.V.: Koalition streitet um den Emissionshandel; in: Süddeutsche Zeitung, 18.03.2004, S. 17.
7. Metamorphose
sein.471 Clement galt im Kanzleramt, so wurde ein Mitarbeiter in der Welt zitiert, in der Konsequenz als »unberechenbar«. 472 Erschwerend kam hinzu, dass nicht nur der Wirtschaftsminister mehr denn je und aller Vermittlungsversuche Steinmeiers zum Trotz seine eigene Politik verfolgte, sondern auch, dass Hans Eichel immer mehr einen Risikofaktor für die Stabilität der Regierung darstellte. Seit Mitte 2003 keimte immer wieder das Gerücht auf, dass der Finanzminister, der, wie es aus Parteikreisen hieß, resigniert wirke, zurücktreten wolle.473 Mehrmals habe es laut der Welt Gespräche bedurft, ihn von solchen Gedanken abzubringen.474 In dieser Zeit habe, erinnert sich Eichel retrospektiv, »Schröder […] mich als Fiskalist wahrgenommen, was ein schlimmes Schimpfwort bei ihm war.«475 Auch Clement bestätigt das schwierige Verhältnis von Finanzminister und Bundeskanzler, wenn er sagt, dass es »zwischen Regierungschef und Finanzminister […] immer hundertprozentige Übereinstimmung geben« müsse.476 Dass sei »eine der wichtigsten Voraussetzungen für […] eine Funktionsfähigkeit einer Regierung. Die war nicht gegeben.«477 Eichel habe »sehr oft nachgegeben. […] [D]as war ein schweres Handicap. […] Eichel war ja mit etlichen Schritten nicht einverstanden«.478 So gab es zumindest laut Eichels Erinnerung gerade in der zweiten Legislaturperiode viel weniger direkte Gespräche mit Schröder.479 Steinmeier sei vielmehr sein Ansprechpartner geworden, zu einem Nadelöhr, das Steinmeier ohnehin für viele andere schon lange Zeit war. Die Regierung wurde also nicht nur von der Basis bedrängt, sondern auch aus der Koalition selbst. Spätestens in dieser Zeit haben die Zerfallserscheinungen ihren Ursprung, die das sechste Jahr jener rot-grünen Bundesregierung mit sich brachte und die sich zuspitzten im siebten Jahr. Eichel spricht 471 | Schiltz, Christoph: Schröders größtes Rätsel: Wolfgang Clement; in: Welt, 06.05.2004, S. 9. 472 | Zitiert nach ebd. 473 | Vgl. z.B. Herz, Wilfried: Hans, jetzt ist mal gut; in: Zeit, 12.06.2003; Onlineversion des Printartikels abrufbar unter: www.zeit.de/2003/25/Eichel (zuletzt eingesehen am 09.08.2016); vgl. auch o.V.: Kanzler lässt Hans Eichel nicht gehen; in: Berliner Morgenpost Online, 21.10.2003; abrufbar unter: www.morgenpost.de/printarchiv/politik/ar ticle102171065/Kanzler-laesst-Finanzminister-Hans-Eichel-nicht-gehen.html (zuletzt eingesehen am 29.07.2016). 474 | Vgl. o.V.: Kanzler lässt Hans Eichel nicht gehen; in: Berliner Morgenpost Online, 21.10.2003. 475 | Eichel, Hans im Gespräch mit dem Autor am 29.07.2013. 476 | Clement, Wolfgang im Gespräch mit dem Autor am 24.07.2013. 477 | Ebd. 478 | Ebd. 479 | Vgl. Eichel, Hans im Gespräch mit dem Autor am 29.07.2013.
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von einem »nicht […] völlige[n] Verfall des Teamgeistes, aber er war längst nicht mehr so ausgeprägt […] wie […] in der ersten Legislaturperiode«.480 Wenn er dabei von einem »Normalfall der Regierungstätigkeit« 481 spricht, irrt er nicht. In einer Biographie über Helmut Kohl heißt es zu Recht, dass es »überhaupt kein Wunder« sei, dass nach sieben Jahren Regierungszeit vom Kabinett keine Strahlkraft mehr ausgehe.482 »Selbst Kabinette mit politischen Schwergewichten, wie seinerzeit das Kabinett Brandt zwischen 1969 und 1974 hatten schon nach zwei bis drei Jahren starke Verschleißerscheinungen gezeigt. Helmut Schmidt erging es ähnlich.«483 Auch der Blick auf das zweite Kabinett Merkel bestätigt diesen Eindruck. Schon nach wenigen Monaten hatte die schwarz-gelbe Koalition (2009-2013) an Strahlkraft verloren, mit immer neuen Koalitionspartnerwechseln gelang es Merkel aber stets, diese wieder zurückzuerlangen. Um noch einmal den Steuermann-Vergleich zu bemühen: Die zweite Garde hörte immer weniger auf Kapitän und Steuermann, sodass es für Steinmeier und Schröder schwieriger wurde, das Schiff, deren Matrosen im Rumpf bereits zu meutern begannen, auf Kurs zu halten. Verstärkt wurde diese Entwicklung durch eine weiterhin verheerende Wirtschaftslage, damit einhergehende wegbrechende Einnahmen484 und Agenda-Reformen, die noch nicht wirkten. All das führte zu immer neuen, teils auch absurden Vorschlägen, wie die später im Jahr erfolgte Debatte um die Abschaffung des Tags der deutschen Einheit oder aber zumindest die Idee der Verlegung dieses Feiertags auf einen Sonntag zeigte.485 Die Lage Anfang Mai 2004 beschrieb die Süddeutsche Zeitung bereits mit den Worten:
480 | Ebd. 481 | Ebd. 482 | Schwarz, H.-P.: Helmut Kohl, 2012, S. 496. 483 | Ebd. 484 | Vgl. Sievers, Markus: Ohne Alternative; in: Frankfurter Rundschau, 04.05.2004, S. 3. 485 | Zur Debatte vgl. o.V.: 3. Oktober bleibt Feiertag – Schröder: »Verlogene Debatte«; in: FAZ.net, 05.11.2004; abrufbar unter: www.faz.net/aktuell/politik/inland/tag-derdeutschen-einheit-3-oktober-bleibt-feiertag-schroeder-verlogene-debatte-1195037. html (zuletzt eingesehen am 24.06.2016); vgl. auch Winkler, Heinrich-August im Gespräch mit Spiegel Online; in: Weiland, Severin: »Der 3. Oktober wird notorisch unterschätzt«; in: Spiegel Online, 04.11.2004; abrufbar unter: www.spiegel.de/politik/ deutschland/historiker-winkler-zur-feier tagsdebatte-der-3-oktober-wird-notorischunterschaetzt-a-326468.html (zuletzt eingesehen am 24.06.2016); vgl. außerdem Weizsäcker, Beatrice von: Die Unvollendete. Deutschland zwischen Einheit und Zweiheit, Köln 2010, S. 39.
7. Metamorphose »Er habe die herzliche Bitte, so Schröder […] im Kreise seiner Minister, dass man die ohnehin schwierige Lage der Regierung in den Medien nicht durch weitere Debattenbeiträge anreichern möge. […] Alle saßen sie dabei und vernahmen die Worte ihres Chefs: Joschka Fischer, der in einem Interview das dauernde Sparen verdammt hatte; Finanzminister Hans Eichel, der dem Vizekanzler daraufhin öffentlich den Mund zu diesem Thema verbieten wollte; Innenminister Otto Schily, der in einer Pressekonferenz ob der Unbotmäßigkeit der Grünen bei der Zuwanderung explodiert war. Und Wirtschaftsminister Wolfgang Clement, der einen ganzen Tag lang an der Idee festgehalten hatte, den Sparern im Lande ihren Freibetrag zu streichen – womit er eine wütende Schlagzeile der Bild-Zeitung«
provoziert hatte.486 Jene Zeit war es, in der zumindest vereinzelt auch Kritik an Steinmeier aufkam. »Weshalb koordiniert er nur die Pannen, anstatt für eine herzeigbare Performance zu sorgen?«, fasste der Stern die Kritik einiger Sozialdemokraten zusammen, ohne Namen zu nennen.487 Tatsächlich waren durch den zusehends abnehmenden Willen der Protagonisten zusammenzuspielen auch Steinmeiers Koordinationsaufgaben weiter gestiegen. Von einem »Standby Steinmeier« war die Rede, einem »[s]tändig [E]insatzbereiten«. 488 »Ameisenfließ[ig]« sei er, hieß es.489 »Immer diszipliniert, immer auf der Höhe der Sache, […] eine exzellente Kenntnis alles dessen, was ich tat«, lobt Clement rückblickend Steinmeiers Fähigkeiten. Und für das Inhaltliche, die »Sache«, sollte wiederum mehr Zeit sein nach dem Rücktritt Schröders vom Parteivorsitz. Das hatten sich, konstatierte damals die Welt, der Bundeskanzler und die »Seinen vom Wechsel an der Parteispitze versprochen. Doch nur die Außenpolitiker im Kanzleramt« haben »eine erhöhte Bereitschaft Schröders« wahrgenommen »›sich Sachen vortragen zu lassen, für die er früher keine Zeit hatte‹«.490 Ansonsten sei »so vieles und scheinen so viele wie immer an Kanzleramtschef […] Steinmeier […], der ›Übermenschliches leistet‹, wie ein Kabinettsmitglied sagt«, hängengeblieben.491 Hierbei sei er allerdings bisweilen zwangsläufig »überfordert« gewesen, denn: »[M]it fünf Abteilungen und rund 500 Mann für das Tagesgeschäft 486 | Fried, Nico; Kister, Kurt; Klüver, Reymer: Die Früchte des Misstrauens; in: Süddeutsche Zeitung, 06.05.2004, S. 3. 487 | Schütz, H.-P.: Der Kanzler-Flüsterer; in: Stern, 08.07.2004, S. 52. 488 | Zitiert nach Wittke, Thomas: Vom Cheflenker zum Chefdiplomaten; in: GeneralAnzeiger, 21.11.2005, S. 3. 489 | Schütz, H.-P.: Der Kanzler-Flüsterer; in: Stern, 08.07.2004, S. 54. 490 | Blome, Nikolaus: In der Wagenburg; in: Welt, 19.03.2004, S. 3. 491 | Ebd.
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lässt sich nicht allein regieren – und flächendeckende Kontrolle aller heiklen Vorgänge nicht gewährleisten.«492 Die Kehrseite der zu Beginn der zweiten Legislaturperiode gewollten »Konzentration auf die Regierungszentrale bzw. die Kernexekutive« wurde hier deutlich.493 Clement beschreibt die Lösungsfindung rückblickend mit den Worten: »Wenn es einen Konflikt gab, holt man die Leute zusammen, bringt die bei Steinmeier an den Tisch. Und Steinmeier versucht dort eine Lösung zu finden.«494 Das sei der »normale Weg« gewesen.495 Das Unnormale wurde dabei immer mehr zum Normalen. Steinmeier ließ dies allerdings, wie bereits in der ersten Legislaturperiode, zu: Die Protagonisten waren nicht auf eine eigene Lösung angewiesen, sondern verließen sich darauf, dass es letztendlich von Steinmeier gelöst werden würde. Laut Clement habe Steinmeier »verhindert […], dass da Konflikte innerhalb der Regierung ausbrachen, oder weiter ausgetragen worden«. 496 Er sei derjenige gewesen, der dafür gesorgt habe, »dass wir dann eben […] doch erheblich beschlussfähiger waren als manche Regierungen vorher oder nachher«.497 Erst, wenn es nicht mehr anders ging, seien die Konflikte zu Schröder gelangt, der zu Beginn des Prozesses jeweils »klar gesagt« habe, »was er will« und Steinmeier dann »maßgeblich dazu beigetragen« habe, »dass es so ging«.498 Dann stellte sich Schröder, wie bereits in den Kapiteln zur ersten Legislaturperiode berichtet, an die »Spitze« der Bewegung, drohte »mit Rücktritt und Basta und all dem, was so […] teilweise Klischees und teilweise […] so gelaufen ist«.499 Die alltägliche Lösungssuche habe jedoch bei Steinmeier gelegen.500 Was bei der ersten Legislaturperiode noch funktioniert hatte, drohte nun bezüglich der Aufgaben und Konflikte ins Unermessliche anzusteigen. »Unermüdlich« habe so Steinmeier laut Clement Gespräche geführt, versucht, »den Laden zusammenzuhalten, das Kanzleramt am Laufen zu halten, vom Kanzleramt aus die Ministerien am Laufen zu halten, das war schon […] eine gigantische Leistung«.501 Es war eine Leistung, die jedenfalls Zeit kostete, vielleicht auch: zu viel Zeit. So sieht Eichel eine Kausalkette zwischen zeitli492 | Ebd. 493 | Rüb, F.: Regieren, Regierungszentrale und Regierungsstile; in: Bröchler, S.; Blumenthal, J. von (Hg.): Regierungskanzleien, 2011, S. 94; Vgl. auch Kapitel 7.1 in dieser Biographie. 494 | Clement, Wolfgang im Gespräch mit dem Autor am 24.07.2013. 495 | Ebd. 496 | Ebd. 497 | Ebd. 498 | Ebd. 499 | Ebd. 500 | Ebd. 501 | Ebd.
7. Metamorphose
chen und inhaltlichen Problemen, wenn er sagt: »Wenn mehr auf ihn zuläuft, bedeutet das auch, dass er für den Einzelfall nicht mehr so viel Zeit hat.«502 Schlauch hat einen ähnlichen Blick auf die damalige Situation: »Inhaltlich war er nicht überfordert. Aber zeitlich« sei er es »womöglich« gewesen.503 »[W]eil bei ihm alles abgeladen wurde, alles. […] [D]er war ja auch sozusagen Telefonseelsorger für den normalen Abgeordneten.«504 Weiter glaubt er in Bezug auf die zweite Legislaturperiode, dass »durch die Materie Agenda […] alles ungefiltert auf den Steinmeier getroffen« sei, »und dann« sei »er ersoffen.«505 Ein Problem des Delegierens also, wie die Süddeutsche Zeitung bereits 1998506 angemerkt hatte und wie es sich Walter Riester507 vorstellen kann? Womöglich. Dieser mögliche Makel konnte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Steinmeier insgesamt eine nach wie vor herausstechende Rolle innehatte, sodass er von Medien und Parteimitgliedern immer wieder auch als Minister ins Gespräch gebracht wurde. Jeder Job »mit Ausnahme des Kanzlerpostens«, erinnert sich Riester, sei ihm zugetraut worden.508 Beamte des Finanzministeriums brachten Steinmeier bereits bei Eichels ersten Rücktrittsanwandlungen 2003 als Nachfolger ins Gespräch, ein Gerücht, das sich über das Jahr hinweg hielt.509 Genauso war bald die Rede von einem neu zu schaffenden Innovationsministerium für Steinmeier im Zuge einer Kabinettsumbildung.510 Ob es solche detaillierten personellen Überlegungen gab, kann zwar nicht belegt werden, jedoch, dass zumindest allgemeine Planspiele für eine große Kabinettsumbildung kursierten. Während Müntefering für eine Umbildung später im Jahr 2004 gewesen sei, soll Steinmeier sich frühzeitig für eine Umbildung vor der Europawahl im Juni stark gemacht haben.511 Dass diese Pläne nicht nur eine reine journalistische Geschichte waren, zeigte der Kommentar eines Regierungssprechers, der bereits Anfang April betonte, dass eine Kabinettsumbildung zum »normalen Prozeß eines demokratischen Staates« gehöre.512 Steinmeier, der anders als diejenigen, die sich ihn als Minister wünsch502 | Eichel, Hans im Gespräch mit dem Autor am 29.07.2013. 503 | Schlauch, Rezzo im Gespräch mit dem Autor am 06.06.2013. 504 | Ebd. 505 | Ebd. 506 | Vgl. Schwennicke, C.: Im Profil; in: Süddeutsche Zeitung, 06.10.1998; vgl. außerdem S. 164 in dieser Biographie. 507 | Vgl. S. 164 in dieser Biographie. 508 | Höll, Susanne: Ein Mann, vier Jobs; in: Süddeutsche Zeitung, 02.08.2004, S. 1. 509 | Vgl. o.V.: Stunde der Verlierer; in: Focus, 17.11.2003, S. 26-28. 510 | Vgl. o.V.: Vier Minister gefährdet?; in: Stuttgarter Zeitung, 02.08.2004, S. 2. 511 | Vgl. Lohse, Eckart: Die Dementier-Methode; in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 08.08.2004, S. 4. 512 | Zitiert nach ebd.
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ten, für sich selbst wohl keinen Wert auf einen Wechsel legte,513 konnte sich mit seinem Vorschlag jedoch nicht durchsetzen. Er gehörte zu einer Minderheit, der Schröder allerdings nicht angehörte. Der Bundeskanzler zögerte eine Umbildung immer wieder hinaus.514 Es war diese Zeit, in der erstmals auch Spekulationen um Schröders politische Zukunft selbst aufkamen. »Wer düstere Töne einfangen will«, stellte etwa der Spiegel im April 2004 fest, müsse »in diesen Tagen nicht erst die Opposition besuchen. Es reicht das Gespräch mit den engsten Mitarbeitern des Regierungschefs, um einen Blick in den Abgrund zu erhaschen.«515 Das Thema eines »vorzeitige[n] Ende[s] seiner Kanzlerschaft« sei »keins für uns«, wurde ein Minister in dem Nachrichtenmagazin zitiert, jedoch: »Niemand redet darüber, aber alle denken daran.«516 So fasste auch die Welt zusammen: »Der Kanzler habe keine Lust mehr, raunt es aus der SPD-Bundestagsfraktion. Er sei auch physisch erschöpft, am liebsten würde er hinschmeißen, wollen andere wissen.«517 Damalige Akteure bestätigen dieses Bild auf Nachfrage.518 Tatsächlich muss der Rücktritt vom Parteivorsitz auch als Kapitulation vor den Kritikern verstanden werden. Riester erinnert sich retrospektiv zudem an ein »permanentes Sperrfeuer von einigen« in der Fraktion, »das eigentlich unerträglich war«.519 So habe man »in jeder Fraktionssitzung erlebt«, dass einige »sofort während der […] Sitzungen aufgestanden« seien und »direkt […] draußen vor den Journalisten Interna, die gerade diskutiert wurden sowie ihre persönlichen Positionen dazu« kundgetan hätten.520 »Teilweise konnte man über SMS hören und nachvollziehen, was dort ablief. Eigentlich ’ne Katastrophe.«521 Müntefering erinnert sich in Bezug auf die schwierigen Mehrheitsverhältnisse in der SPD-Fraktion: »[E]inige Male, freitags, bin ich zu Hause losge513 | Er wolle bleiben, »was er ist«, zitierte ihn einmal die Süddeutsche Zeitung; zitiert nach Höll, S.: Ein Mann; in: Süddeutsche Zeitung, 02.08.2004. 514 | Vgl. o.V.: Kanzler wechselt vier Minister aus; in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 01.08.2004, S. 1; vgl. auch Höll, S.: Ein Mann; in: Süddeutsche Zeitung, 02.08.2004. 515 | Hammerstein, Konstantin von; Nelles, Roland; Röbel, Sven; Sauga, Michael; Steingart, Gabor: Ruhe auf der Reformbaustelle; in: Spiegel, 26.04.2004, S. 24-28; hier: S. 28. 516 | Zitiert nach ebd. 517 | Blome, N.: In der Wagenburg; in: Welt, 19.03.2004. 518 | So ein Interviewpartner, der nicht genannt werden möchte, im Gespräch mit dem Autor. (Um die Anonymität zu wahren, wird für alle anonymisierten Personen eine männliche Form verwendet.) (Nr. 30) 519 | Riester, Walter im Gespräch mit dem Autor am 16.05.2013. 520 | Ebd. 521 | Ebd.
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gangen, hab’ gesagt, ich weiß nicht, als was ich wiederkomme heute Abend.«522 Die Folgen der verfehlten Agenda-Kommunikation, vielleicht aber auch, wie gezeigt, schlicht der Agenda-Reformen, die auch in bester Vermittlungsweise zu Protesten in den eigenen Reihen geführt hätten, waren deutlich zu erkennen: Das Tischtuch zwischen den Protagonisten schien zerrissen. Die innerparteilich kritische Lage spitzte sich zunehmend zu und wurde begleitet von einer hohen Austrittswelle von Mitgliedern. Nach den Wahlniederlagen bei der Europawahl und der Wahl in Thüringen, die beide Mitte Juni 2004 stattfanden, klagte Schröders Ehefrau laut einer Chronik über die rotgrünen Jahre: »Der Gerd ist zwar bei mir, aber er ist gar nicht da.«523 Am Ende des Jahres ließ sich Schröder im Stern auf die Frage, wer sein »gefährlichste[r] Gegner« im Jahr 2004 gewesen sei, mit den Worten zitieren: »Es ist schon so, dass es gelegentlich problematisch ist, mit der einen oder anderen Entscheidung fertigzuwerden.«524 Jenes Jahr, in dem Schröders Gedanken eines Abschieds aus der Politik wohl aufkeimten, war es, in der Steinmeiers öffentliche Präsenz weiter zunahm. Das wurde auch deutlich durch mehr öffentliche Beiträge mit Gedanken über den Tag hinaus. Im Bonner General-Anzeiger beklagte Steinmeier eine »zunehmende Inkongruenz« zwischen der »Entscheidungstiefe von Politik und […] [der] Schlaggeschwindigkeit von Medien«.525 Im Stern war außerdem zu lesen: »Steinmeier […] kann beredt Klage darüber führen, welche Folgen die ›Transparenz‹ hat, der heutzutage die politische Arbeit unterworfen ist. Weil fast überall Journalisten auf Nachrichten gieren, lassen sich schwierige Fragen praktisch gar nicht mehr in Ruhe angehen und mal zwanglos in größeren Runden diskutieren.« 526
Alles würde umgehend verbreitet, beklagte er. Jenes Thema konnte Steinmeier lange Zeit aus der Underdog-Position des Staatssekretärs analysieren, wo er nur bedingt und nur, wenn gewollt, in der Medienöffentlichkeit stand. Es war eine Lernphase im Hintergrund, die nun zunehmend zu Ende ging, weil er mehr denn je in den Vordergrund rückte. Innenpolitisch machte Steinmeier so durch die Initiative zu einer zweiten Regierungsklausurtagung auf Schloss 522 | Zitiert nach Kohlmann, S.: Franz Müntefering, 2011, S. 292. 523 | Zitiert nach Geyer, M.; Kurbjuweit, D.; Schnibben, C.: Operation Rot-Grün, 2005, S. 300. 524 | Schröder, Gerhard im Gespräch mit dem Stern; in: Kempf, Claudia: »Mir war zum Heulen zumute«; in: Stern, 29.12.2004, S. 88-94; hier: S. 90. 525 | Wittke, Thomas: Der kleine Kanzler; in: General-Anzeiger, 04.05.2005, S. 3. 526 | Hoidn-Borchers, Andreas; Schütz, Hans-Peter: Wenn die Angst regiert; in: Stern, 03.07.2003, S. 22-30; hier: S. 30.
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III. Politik im Hintergrund
Neuhardenberg auf sich aufmerksam.527 Erneute firmierte er als Verteidiger und Werber der Agenda 2010, etwa in einem Gastbeitrag für die Berliner Republik.528 In Bezug auf eine zunächst jedoch gescheiterte Föderalismusreform positionierte er sich zudem, zum Beispiel im General-Anzeiger, klar: »In einer Zeit des raschen Wandels, der fortschreitenden europäischen Integration und der Globalisierung brauchen die verschiedenen Handlungsebenen des Staates, brauchen der Bund und die Länder Handlungs- und Entscheidungsfreiheit.«529 An anderer Stelle wiederum scheute Steinmeier nicht davor zurück, auch Fehler einzugestehen, wenngleich dies nicht seine eigenen Fehler waren. So sei »der Spruch von Schröders ›ruhiger Hand‹ ein dummer Einfall« gewesen, zitierte die taz indirekt Steinmeier.530 Der Kanzleramtschef analysierte auch hier als Hintergrundmann und nach wie vor wie ein Wissenschaftler. Er lernte im Hintergrund die Mechanismen der Politik, die Fallstricke, die Hürden, ohne als Staatssekretär über eine jener stolpern oder gar stürzen zu können. Unterdessen verfestigte sich in der Außenpolitik jene Entwicklung, die, wie gezeigt, spätestens mit den Terroranschlägen vom 11. September begann: Steinmeiers Einfluss im Bereich der außenpolitischen Themen stieg und blieb seitdem konstant auf einem recht hohem Niveau.531 Dies lag, wie die allgemeine Einflusssteigerung, auch an einer Veränderung des Personals. Der bisherige außenpolitische Berater Michael Steiner war zum Ende der ersten Legislaturperiode aus dem Amt geschieden.532 Die »Achse Steinmeier-Fischer« sei, erinnert sich Schlauch, in der zweiten Legislaturperiode »mit Sicherheit sehr viel intensiver gewesen […] als in der ersten«.533 Auch Bildungsministerin Bulmahn hebt Steinmeiers Rolle rückblickend hervor. So habe er sich in der auswärtigen Kulturpolitik, einem Themenfeld, das er als späterer Außenminister stark for527 | Vgl. Schütz, H.-P.: Der Kanzler-Flüsterer; in: Stern, 08.07.2004, S. 52. 528 | Steinmeier, Frank-Walter: Die Berliner Republik – eine politische Ortsveränderung; in: Berliner Republik, 6/2004; abrufbar im Internet unter: www.b-republik.de/ archiv/ausgabe/42 (zuletzt eingesehen am 15.04.2015). 529 | Wittke, Thomas: Nach den Reformen ist vor den Reformen; in: General-Anzeiger, 22.12.2003, S. 4. 530 | Schwarz, Patrik: Gouvernante, Engel und Spion; in: taz, 08.11.2004; Onlineversion des Printartikels abrufbar unter: www.taz.de/1/archiv/print-archiv/printressorts/ digi-artikel/?ressort=sw&dig=2004%2F11%2F08%2Fa0159&cHash=dd1f7fa2e93f0a b42a8f1adbc719fb1a (zuletzt eingesehen am 12.08.2016). 531 | Vgl. o.V.: Einer der letzten Kohlianer geht; in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 17.08.2003, S. 6. 532 | Ebd. 533 | Schlauch, Rezzo im Gespräch mit dem Autor am 06.06.2013.
7. Metamorphose
cieren wird, bereits als Kanzleramtschef gegen Fischer und die von ihm betriebene Schließung von »fast 23 Goethe-Instituten« mit Erfolg eingesetzt.534 Gerade der Bereich Kultur ist einer, der Steinmeier immer schon nahegelegen hat. Christoph Nix antwortete einmal mit einem Leserbrief auf einen kritischen Stern-Bericht über den vermeintlichen Bürokraten Steinmeier mit den Worten: »Es ist demagogisch, Herrn Steinmeier als aktenfressenden Machtmenschen zu bezeichnen, der keine Zeit für Kino oder Theater habe. Ich kenne keinen Politiker, der so kino- und theaterbesessen, so umfassend in Literatur gebildet ist wie er. Prof. Christoph Nix, Staatstheater Intendant Kassel.« 535
Auch an anderen Stellen wurde Steinmeiers Einfluss deutlich. So war er natürlich in die Planungen involviert, wie das Programm des US-Präsidenten in Deutschland aussehen und worüber Kanzler und Präsident reden würden. »Bei solch wichtigen Besuchen spreche ich im Vorfeld mehrfach mit dem Bundeskanzler, der dann natürlich seine eigenen Akzente setzt«,536 betonte Steinmeier in der Frankfurter Rundschau. Gerade in Bezug auf die USA konnte der Kanzleramtschef, wie die Zeit berichtete, eine frappierende Konfliktsituation erleben, in der der »Draht […] zerrissen« war und sich die Frage stellte, ob der Kanzler, griffe er denn zum Hörer, »zum Präsidenten durchgestellt würde«.537 Steinmeier konnte hautnah miterleben, wie durch zugespitzte Äußerungen und fehlende Kommunikation eine eigentlich richtige Sache, das Nein zum Irak-Krieg, zu einem Politikum wurde, das es so, wie bereits aufgezeigt, in der bisherigen deutsch-amerikanischen Nachkriegsgeschichte noch nicht gegeben hatte. Auf diese gestörte Kommunikation zwischen amerikanischem Präsidenten und deutschem Bundeskanzler wird er später in Reden immer wieder Bezug nehmen. Ging es um Hilfsleistungen zur »Bewältigung der Folgen des Hurrikan Katrina« im Jahr 2005, traf sich auch Steinmeier mit dem US-Botschafter.538 Anschaulich beschreibt es ein SPD-Biograph: »Er reiste im Auftrag Schröders 534 | Bulmahn, Edelgard im Gespräch mit dem Autor am 20.01.2014. 535 | O.V.: Leserbriefe; in: Stern, 22.07.2004; Tatsächlich hat Steinmeier dieses Image allerdings teilweise selbst gepflegt. So sagte er etwa gegenüber dem Bonner Generalanzeiger einmal: »Die 20-Uhr-Vorstellungen sind nichts für mich«; Wittke, T.: Der kleine Kanzler; in: General-Anzeiger, 04.05.2005. 536 | Zitiert nach Gehrmann, Alva: Der Mann hinter dem Kanzler; in: Frankfurter Rundschau, 09.03.2005, S. 28. 537 | Hofmann, Gunter: Kein Anschluss unter dieser Nummer; in: Zeit, 22.05.2003; Onlineversion des Printartikels abrufbar unter: www.zeit.de/2003/22/Au_a7enpolitik (zuletzt eingesehen am 09.08.2016). 538 | O.V.: EU und Nato bringen Hilfe; in: Frankfurter Rundschau, 06.09.2005, S. 2.
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III. Politik im Hintergrund
nach Moskau, verhandelte diskret mit Israel und regelte mit Libyen die Entschädigung der Opfer des Terroranschlags auf die Berliner Diskothek La Belle.«539 Besonders auffällig waren Steinmeiers Beiträge in Bezug auf die neue Rolle Deutschlands in der Welt, dessen Debatte er auch als Außenminister fortführen wird. Es war jene Zeit, die die deutsche Außenpolitik durch die »Herausforderungen durch Terrorismus und Kriege […] zu Änderungen [zwang]: die militärische Enthaltsamkeit […] [wurde] zugunsten eines größeren Engagements out of area im Rahmen der Bündnissysteme in Bosnien, Serbien, Mazedonien, im Kongo oder Libanon aufgegeben« (Hervorhebung F.P.).540 Steinmeier erlebte diese Wandlung, jenen Normalisierungsprozess, von Beginn an und konnte sie so aktiv mitdiskutieren, ausgestalten und vertreten, sie annehmen und später fortführen. 2004 betonte er in der Berliner Republik, dass »spätestens« mit dem Einsatz der Bundeswehr im Kosovo klar gewesen sei, »dass Deutschland nicht länger abseits stehen kann, sondern weltweit neue Verantwortung übernehmen muss.«541 Dieses Ziel verfolgte Steinmeier über seine weitere Karriere hinweg, was schließlich, über zehn Jahre später, in der Aussage mündete: »Deutschland ist ein bisschen zu groß und wirtschaftlich zu stark, um Außenpolitik nur von der Seitenlinie zu kommentieren. Wir müssen mehr außenpolitische Verantwortung wagen.«542 In Bezug auf die Europapolitik, deren gestiegene Zentralisierung im Kanzleramt bereits dargelegt wurde,543 war dies bereits der Fall. In diesem Zusammenhang wird rückblickend bisweilen der Vorwurf geäußert, dass Steinmeier mitverantwortlich für eine Aufweichung des Stabilitätspaktes,544 sprich der Maastricht-Kriterien war, die zumindest die Eindämmung der europäischen Schuldenkrise im Zuge der Finanzkrise 2008/2009 nicht befördert haben. Bereits beschrieben wurde, dass Steinmeier in Schröders Auftrag schon in der ersten Legislaturperiode Bemühungen unternommen hatte, einen blauen Brief aus Brüssel abzuwenden.545 539 | Sturm, D.-F.: Wohin geht die SPD?, 2009, S. 252. 540 | Pfetsch, F.: Die Außenpolitik der Bundesrepublik, 2012, S. 236. 541 | Steinmeier, F.-W.: Die Berliner Republik; in: Berliner Republik, 6/2004. 542 | Steinmeier, Frank-Walter: Vorwort von Außenminister Frank-Walter Steinmeier; in: Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik, 8/2015, S. 1-3; S. 2f. 543 | Vgl. S. 223 in dieser Biographie. 544 | Zur Geschichte des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts empfiehlt sich die Monographie von Kai Hentschelmann: Hentschelmann, Kai: Der Stabilitätsund Wachstumspakt, unter besonderer Berücksichtigung der norminterpretatorischen Leitfunktion der Paktbestimmungen für das Vertragsrecht, Baden-Baden 2009. 545 | Vgl. S. 194f in dieser Biographie; vgl. auch Beste, R.; Didzoleit, W.; Reiermann, C.; Schäfer, U.: Die Maastricht-Falle; in: Spiegel, 09.02.2002.
7. Metamorphose
Das war zunächst nichts Ehrenrühriges, jedoch ein Versuch, die Kriterien des Maastrichtvertrages zu seinen, Deutschlands Gunsten zu verändern. Hieraus resultierten die Reformbemühungen, die zu Beginn der zweiten Legislaturperiode auf einem deutsch-französischen Gipfel »die griffige Formel von der Notwendigkeit einer ›flexiblen‹ Auslegung des Pakts« hervorbrachten.546 Richtig heißt es in einer Analyse, dass »[d]ie Paktregelungen […] weder unantastbar noch so ausgereift« gewesen seien, »dass keine Verbesserungen möglich wären«.547 Gleichzeitig wird allerdings darauf hingewiesen, dass es schon »bemerkenswert« sei, »dass es gerade die Mitgliedstaaten Frankreich und Deutschland waren, die als notorische ›Defizitsünder‹ mit besonderer Hartnäckigkeit für eine zügige ›Reform‹ des Paktes eingetreten sind«,548 »die dem ›Wachstumsaspekt‹ des Pakts stärkere Bedeutung beimessen« wollten.549 Nach dem Willen Frankreichs und Deutschlands, die seit 2002 in enger Abstimmung Defizitverfahren gegenüber Ländern, »die die Dreiprozentmarke« in Bezug auf die Neuverschuldungsquote überschritten hatten,550 verhindert hatten, sollte den Mitgliedsstaaten »mehr Raum für Investitionen in Forschung und Entwicklung eingeräumt werden, um für ein stärkeres Wirtschaftswachstum zu sorgen«.551 In einer Vorlage für das Kanzleramt war denn auch laut Spiegel zu lesen, dass aus »Rücksicht auf die Konjunktur […] also kein Land sparen müssen« sollte, »es sei denn, es wollte unbedingt«.552 Diese Argumentation besitzt eine gewisse Plausibilität, geht man denn davon aus, dass es Reformbemühungen hin zu einem schlanken Staat gibt und davon, dass kein Land damit fälschlicherweise auch einen Übertritt der Drei-Prozent-Hürde ohne Reformen rechtfertigen würde. Genau jene Gefahr sahen jedoch einzelne Minister der Regierung, jedenfalls sprach sich Eichel zunächst und konsequent gegen eine Veränderung der Maastricht-Kriterien aus.553 Erst viel später wird Eichel, dem Schröder laut Süd546 | Hentschelmann, K.: Der Stabilitäts- und Wachstumspakt, 2009, S. 1687. 547 | Ebd., S. 1687f. 548 | Ebd. 549 | Ebd., S. 1690. 550 | Winkler, H.-A.: Geschichte des Westens. Die Zeit der Gegenwart, 2015, S. 246. 551 | Hentschelmann, K.: Der Stabilitäts- und Wachstumspakt, 2009, S. 1690; vgl. auch Reiermann, Christian; Wiegrefe, Klaus: Herr und Helfer; in: Spiegel, 16.07.2012, S. 32-34. 552 | Reiermann, C.; Wiegrefe, K.: Herr und Helfer; in: Spiegel, 16.07.2012, S. 33. 553 | Dies wird in Äußerungen aus jener Zeit immer wieder deutlich. Gab Schröder Mitte 2003 die Stoßrichtung vor, den Maastricht-Vertrag »soweit wie möglich« (zitiert nach o.V.: Schröder stellt Sparziel in Frage; in: Frankfurter Rundschau, 05.06.2003, S. 1) einhalten zu wollen, erklärte Eichel einige Wochen später, dass es »absolut zwingend« sei (zitiert nach ebd.), dass Deutschland nach dem Übertreten der Drei-Prozent-Schwelle
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III. Politik im Hintergrund
deutscher Zeitung bereits 2002 seine Sicht der Dinge klarzumachen versuchte, nämlich »sich nicht wie ein Schuljunge vom blauen Brief aus Brüssel in die Defensive bringen [zu] lassen und die Ermahnung offensiver von sich« zu weisen,554 seine Haltung korrigieren. Mitte 2005 kam es schließlich, nachdem auch Eichel nun »energisch« für die Regierungslinie warb,555 zu den Reformen. »Wir haben den Stabilitätsanker des Paktes verstärkt«, freuten sich laut Spiegel damals Schröders Beamte.556 »[I]n guten Zeiten wird mehr gespart, und die Nachhaltigkeit und Qualität der öffentlichen Finanzen wird stärker in den Vordergrund gerückt.«557 Es wäre zu kurz gegriffen, diese Reformen, wie in einer Analyse geurteilt wird, als »größte europapolitische Sünde« zu bezeichnen.558 Denn die Ziele waren durchaus einleuchtend, »wenn es um akute Haushaltsdefizite ging, mehr Elastizität walten zu lassen«.559 Auch gehörte es, wie es in einer Analyse heißt, zu den besonderen Absurditäten des Wachstumspaktes, dass die »ökonomisch konterproduktive[] Regel[]« dazu führte, dass ausgerechnet der Staat bestraft werden sollte, »der am meisten zur Stabilität des Euro beitrug.«560 Doch war die vorgenommene Reform viel zu sehr auf Deutschland ausgerichtet, das tatsächlich Reformbemühungen unternommen hatte. Ansonsten aber konnte »[v]on einer Disziplinierung der Staaten, die die Vorgaben von Maastricht beharrlich mißachteten, […] 2005 keine Rede sein.«561 Der Stabilitätspakt bezog sich nun einmal nicht nur auf Deutschland, sondern auf Gesamteuropa, wo viele Länder insbesondere mit Blick auf die langfristige in den Jahren 2002 und 2003 wieder innerhalb dieser Grenzen bleibe. Schröder betonte laut Hamburger Abendblatt nun, dass die Regierung zwar am Sparkurs festhalte. »Jedoch müsse die Politik in einer konjunkturellen Schwächephase für Wachstumsimpulse sorgen und dürfe ›nicht prozyklisch‹ handeln. Das sei der Grund, warum das Defizitkriterium nicht unter allen Umständen erreicht werden müsse.« (Ebd.) Dass Eichel diese Haltung teile, wies eben dieser laut jener Zeitung als »Quatsch« zurück. (Ebd.) 554 | Schwennicke, Christoph: Der Sonnenkanzler streckt im Schatten seine Fühler aus; in: Süddeutsche Zeitung, 07.02.2002, S. 3. 555 | Zitiert nach Reiermann, C.; Wiegrefe, K.: Herr und Helfer; in: Spiegel, 16.07.2012, S. 34. 556 | Zitiert nach ebd. 557 | Zitiert nach ebd. 558 | Müller-Brandeck-Bocquet, Gisela: Deutschlands bilaterale Beziehungen im Rahmen der EU; in: Jäger, T.; Höse, A.; Oppermann, K. (Hg.): Deutsche Außenpolitik, 2011, S. 604-629; hier: S. 612. 559 | Winkler, H.-A.: Geschichte des Westens. Die Zeit der Gegenwart, 2015, S. 292. 560 | Scharpf, Fritz M.: Die Eurokrise: Ursachen und Folgerungen; in: Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften, 2011, S. 324-337; hier: S. 328. 561 | Winkler, H.-A.: Geschichte des Westens. Die Zeit der Gegenwart, 2015, S. 292.
7. Metamorphose
Staatsverschuldung »überaus großzügig waren«,562 bei denen nun jedoch weit schwieriger auf die kurzfristige Einhaltung der Stabilitätskriterien gepocht werden konnte.563 Die damit einsetzenden Fliehkräfte wurden also unterschätzt, oder, das wäre schlimmer, schlicht nicht berücksichtigt. Die Reform des Stabilitätspaktes eröffnete also Interpretationsspielräume, die andere Länder nutzten, weil die Kausalkette – umfangreiche Reformen und erst dann das Erlauben eines längeren Überschreitens der Maastricht-Kriterien – nicht festgeschrieben wurde. Auch wenn ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen diesen Reformen und der Eurokrise nie festgestellt werden konnte,564 »einigten sich die Euro-Staaten« denn auch nach der Finanzkrise »auf den Fiskalpakt, der die Aufweichungen von 2005 zurücknimmt und die Vorgaben noch schärfer fasst als früher«.565 Treibende Kraft hinter dieser Reform, die den »Geist einer Zeit, in der starke politische Kräfte in der Gemeinschaft für eine stärkere Wachstumsorientierung [eintraten], der sich das haushaltspolitische Regelwerk ihrer Ansicht nach unterzuordnen« hätte, atmete,566 waren auf deutscher Seite der Bundeskanzler, flankiert von Steinmeier und, mehr noch, Reinhard Silberberg, »dem damaligen Europa-Abteilungsleiter«.567 Dies deckt sich mit Äußerungen der ehemaligen Protagonisten. »Das war mehr Schröder und dahinter Silberberg«, 562 | Ebd. 563 | Vgl. Hentschelmann, K.: Der Stabilitäts- und Wachstumspakt, 2009, S. 1831. 564 | Zwar »wäre Griechenland am Beginn der internationalen Finanzmarktkrise im Jahr 2008 nicht so extrem verwundbar gewesen«, wenn »die Regeln des Stabilitätspaktes – auf Grundlage valider Daten – von der Kommission strikt angewandt und die Verstöße vom Rat sanktioniert worden wären« (Scharpf, F.: Die Eurokrise; in: Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften, 2011, S. 325). Die Eurokrise hätte aber auch nach dieser Analyse nicht vermieden werden können, denn auch Spanien und Irland zählten bald »zu den bedrohten Schuldnerländern der Eurozone. Und das, obwohl sie sich bis zum Beginn der internationalen Krise im Sinne des Stabilitätspaktes absolut vorbildlich verhalten hatten.« (Ebd.) Frankreich hingegen wurde durch die Eurokrise in Mitleidenschaft gezogen, teils selbstverschuldet insofern, dass auch hier Reformen verschleppt worden sind. Zwar versteht Steinmeier die Häme gegenüber Frankreich im Jahr 2014 nicht, doch fügt er in Bezug auf die Situation in jenem Jahr auch hinzu: »Und deshalb bin ich heute […] [n]icht weniger kritisch gegenüber […] den Franzosen, was ihre ausbleibenden Reformen angeht. Aber die, die das lauthals den Franzosen vorwerfen, haben keine Strukturreformen gemacht und haben sich nie mit den Bedingungen in unseren Nachbarländern auseinandergesetzt.« (Steinmeier, Frank-Walter im zweiten Gespräch mit dem Autor am 06.10.2014). 565 | Reiermann, C.; Wiegrefe, K.: Herr und Helfer; in: Spiegel, 16.07.2012, S. 34. 566 | Hentschelmann, K.: Der Stabilitäts- und Wachstumspakt, 2009, S. 1833. 567 | Reiermann, C.; Wiegrefe, K.: Herr und Helfer; in: Spiegel, 16.07.2012, S. 32.
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erinnert sich Eichel: Schröder sei der entscheidende Akteur gewesen, der »sich da reingehängt« habe bei der »ganze[n] Geschichte […] beim Stabilitätspakt«.568 Clement erinnert sich ähnlich: »Ich hab’ Steinmeier da nicht so erlebt, […] aber Schröder […] war da natürlich knallhart und [hat] das mit Chirac ja auch […] gemanagt.«569 Anders als Clement, der retrospektiv zumindest Verständnis für die Gegenposition zeigt (»Es war ein Grenzfall«570), verteidigt Steinmeier die Reformen im Rückblick, womit er sich mit ihnen gemein macht, hätte er doch sonst erwähnen können, dass er im Kanzleramt dagegen interveniert hätte. Er aber sagt: »Die, die das vorwerfen, ruhen sich heute auf den Ergebnissen einer Reform politisch aus, die sie nie durchgerungen haben. Ohne die befristete Erleichterung, die Deutschland und Frankreich 2004 vom Stabilitätspakt erreicht haben und die uns Investitionsmöglichkeiten belassen hat, hätte es nie eine Agenda 2010 gegeben.« 571
Steinmeier betont diesbezüglich rückblickend noch einmal die entscheidende Rolle der Franzosen, die »mindestens damals stillgehalten« hätten, »als sie sahen, die Deutschen brechen den Stabilitätspakt.«572 »Auch ganz froh« gewesen seien sie »natürlich […], weil sie selbst keinen blauen Brief kriegten auf diese Weise. Oder nur den blauen Brief ohne dramatische sonstige Folgen.«573 Offen gesteht er ein: »Wenn wir die Franzosen damals auf der Gegenseite gehabt hätten, dann hätten wir diesen ganzen Kurs nicht durchgestanden«.574 Steinmeier trug die Entscheidungen mit, argumentierte im Hintergrund nicht dagegen. Das mag richtig gewesen sein unter einer bestimmten Annahme: Sagte er im Jahr 2005, dass er in den vergangenen Jahren vor allem darüber überrascht gewesen sei, »wie sehr die Menschen die Sozialsysteme auszuplündern versuchen«,575 müsste er im Rückblick hinzufügen, dass das gleiche für die europäischen Regierungen gilt, zumindest für einige. Für Schröder, Steinmeier und Clement stand, so kann konstatiert werden, neben einem sehr positivistischen Europabild vor allem die Reformkraft Deutschlands im Mittelpunkt. Vielleicht waren die Reformbemühungen, die Mitte 2005 ihren
568 | Eichel, Hans im Gespräch mit dem Autor am 29.07.2013. 569 | Clement, Wolfgang im Gespräch mit dem Autor am 24.07.2013. 570 | Ebd. 571 | Steinmeier, Frank-Walter im zweiten Gespräch mit dem Autor am 06.10.2014. 572 | Ebd. 573 | Ebd. 574 | Ebd. 575 | Indirekt zitiert nach Graw, Ansgar: Kandidat wider Willen; in: Welt, 19.06.2008, S. 9.
7. Metamorphose
Abschluss fanden, jedoch auch schlicht dem Druck geschuldet, unter dem die Regierenden Anfang 2005 mittlerweile gestanden hatten. Das siebte Jahr der Bundesregierung nämlich begann katastrophal, oder, wie ein Kabinettsmitglied sich sinngemäß erinnert, fast selbstzerstörerisch.576 Jene Befürchtungen, die einige führende Sozialdemokraten hegten, dass die Arbeitslosenzahlen auf über fünf Millionen ansteigen würden, bewahrheiteten sich. Steinmeier persönlich hatte noch Mitte 2004 aus Sorge vor dieser »psychologische[n] Zahl« in einem Brief an das Wirtschaftsministerium darüber »ausdrücklich« eine Erklärung »verlangt«, erinnert sich Steg, dass sie eben nicht so sehr steigen würde.577 Auch Generalsekretär Klaus-Uwe Benneter hatte bei Clement interveniert.578 Doch Clement wiegelte ab. Ohnehin sah sich der Wirtschaftsminister mit seinem Vorhaben nicht allein, konnte er sich doch eines wichtigen Fürsprechers sicher sein, nämlich des Finanzministers Eichel.579 Dennoch war es kein Kalkül, mit dem Clement die gesamte Regierung in dieses Fiasko schlittern ließ. Er glaubte, so entsteht in rückblickenden Gesprächen mit ihm der Eindruck, wirklich an jene Zahlen. Immer wieder kommt der Politrentner auf diese Fünf-Millionen-Marke zu sprechen: »Noch zwei Wochen vorher, […] fast Tage vorher wurde mir gesagt, wir kommen nicht rüber.«580 Er habe sich darauf verlassen. Das Wirtschaftsministerium, bestätigt auch Steg, habe »im Januar noch gesagt, wir werden die fünf Millionen nicht überschreiten«.581 Tatsächlich wurde dieses Szenario frühzeitig von Steinmeier durchgespielt. Eine übergeordnete Rolle habe er, der »ja ansonsten in diesen Fragen nicht die entscheidende Rolle« gespielt habe, hier innegehabt, betont selbst Clement.582 Müntefering erinnert sich zumindest, dass man »natürlich darüber gesprochen« und gefragt habe, »wie erklären wir das jetzt eigentlich?«583 Aber auch er fügt mit Blick auf die Zahlen hinzu: »Dass das solch[] dramatische Zahlen
576 | So ein Interviewpartner im Gespräch mit dem Autor. (Um die Anonymität zu wahren, wird für alle anonymisierten Personen eine männliche Form verwendet.) (Nr. 30) 577 | Steg, Thomas im Gespräch mit dem Autor am 16.12.2013. 578 | Vgl. Sturm, D.-F.: Wohin geht die SPD?, 2009, S. 192. 579 | So erinnert sich Thomas Steg: »Das war auch der Wunsch des Finanzministers, mit diesem Schritt am 1. Januar zu beginnen. […] Zwischen Finanz- und Wirtschaftsminister gab es eine Verständigung. Wir machen das so.« (Steg, Thomas im Gespräch mit dem Autor am 16.12.2013.) 580 | Clement, Wolfgang im Gespräch mit dem Autor am 24.07.2013. 581 | Steg, Thomas im Gespräch mit dem Autor am 16.12.2013. 582 | Clement, Wolfgang im Gespräch mit dem Autor am 24.07.2013. 583 | Müntefering, Franz im Gespräch mit dem Autor am 22.10.2013.
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III. Politik im Hintergrund
werden würden, das war nicht so ganz klar.«584 Die Überlegung sei gewesen, »ob man […] das ganze vielleicht nochmal so ein halbes Jahr oder mehr verschieben müsste«.585 Ähnliches berichtet im Rückblick Steg, der von einem Fehler spricht und damit eine zumindest ein Jahrzehnt später konsensuale Stimmung beschreibt: »2005, vor der wichtigen Wahl in Schleswig-Holstein und vor der wichtigen Wahl in Nordrhein-Westfalen treten die Hartz-Gesetze in Kraft. Und zwar mit […] dem Überflüssigsten überhaupt, nämlich mit der sogenannten Zählweise. Das Fördern war noch gar nicht vorbereitet. Hätte man das anstatt am 1.1. am 1.7. gemacht«,
wäre dieser Anstieg auf fünf Millionen nicht gekommen.586 Steinmeier und in diesem Falle das Kanzleramt sowie die weiteren Akteure, die die Befürchtungen teilten, setzten sich mit ihrer Position jedoch nicht durch oder verließen sich letztendlich auf die Zahlen des Wirtschaftsministeriums. Es zeigt, dass auch das Kanzleramt wie die gesamte Koalition mittlerweile geschwächt waren, auch wenn Steg Steinmeier verteidigt und retrospektiv zu bedenken gibt, dass dieser »ja auch […] nicht einfach« habe sagen können, »so, das müssen wir jetzt so machen«.587 Er nimmt an, dass bei anderen Zahlen Heide Simonis in Schleswig-Holstein »wahrscheinlich […] nochmal gewonnen« hätte »und vielleicht wär’ auch Nordrhein-Westfalen nicht verloren gegangen«.588 All das bleibt zwar Spekulation, zeigt aber die Dramatik auf, die auch Steinmeier nicht verhindern konnte. Die Arbeitslosenzahlen stiegen vielmehr auch im Februar und März 2005 weiter an. Und unter Ausblendung des Wissens, dass allein eine andere Zählweise zu den hohen Zahlen geführt hatte, verglich etwa der Spiegel jenen Anstieg mit dem Ende der Weimarer Republik: »Unaufhaltsam, so scheint es, nähert sich das Land wieder jener magischen Sechs-Millionen-Marke, die in der Weimarer Republik die Verhältnisse ins Wanken brachte. Unter dem Eindruck der Massenarbeitslosigkeit organisierten die Nationalsozialisten Adolf Hitlers damals ihren Aufstieg.« 589
584 | Ebd. 585 | Ebd. 586 | Steg, Thomas im Gespräch mit dem Autor am 16.12.2013. 587 | Ebd. 588 | Ebd. 589 | Deggerich, M.; Fleischhauer, J.; Fröhlingsdorf, M.; Knaup, H.; Nelles, R.; Salmen, I.; Sauga, M.; Steingart, G.: Kanzler ohne Fortune; in: Spiegel, 07.03.2005, S. 23.
7. Metamorphose
Diese Parallele hinkte nicht nur, sie stimmte schlicht nicht. Dennoch steht diese Beschreibung exemplarisch für die Berichterstattung vieler Medien jener Zeit. Die Situation für die Regierungskoalition und insbesondere für die SPD spitzte sich weiter zu. Am 17. März sorgte der »Heide-Mörder« – ein Abgeordneter verweigerte Heide Simonis die entscheidende Stimme bei der Wahl zur schleswig-holsteinischen Ministerpräsidentin – für einen weiteren Stimmungsabfall. Von einem in jenen Tagen »sehr unleidlich[en]«590 Steinmeier war die Rede. Für Bulmahn bildet dieses Ereignis rückblickend den »Anfang vom Ende. […] [D]as hat die Stimmung […] in der SPD wahnsinnig negativ beeinflusst«.591 Über »Inhalte und Ziele« sei nicht mehr diskutiert worden.592 Und die folgenden montäglichen Präsidiumssitzungen seien »immer […] ziemlich schwierig« gewesen, weil dies nicht nur sie »natürlich belastet« habe.593 Sie habe in jenen Monaten »immer wieder überlegt, [ob] […] es nicht besser« sei, »wenn wir tatsächlich Neuwahlen machen, weil ich […] das Gefühl hatte, nur so sei eine argumentative Auseinandersetzung um die richtigen Schritte wieder möglich«.594 Im siebten Jahr von Rot-Grün war jene Regierung also am Ende angelangt. Zwar hatte sie die Gesellschaft nachhaltig verändert und wichtige Reformen wurden angestoßen, doch gelang es ihr nicht, all das in eine positive Performance umzuwandeln. Im Kanzleramt hoffte man zwar nach wie vor auf einen wirtschaftlichen Aufschwung, doch, so schien es, hatten für den Moment die »Kommunikationsexperten der Regierung«, wie es der Spiegel festhielt, »das Ringen um die Deutungshoheit offenbar verloren gegeben«595 – und das obwohl die getroffenen Entscheidungen weiterhin für richtig gehalten wurden. In diesen Monaten nahmen Auffassungsunterschiede über die politische Lage also zu. Auf der einen Seite befanden sich diejenigen, die weiter auf Besserung hofften und das Begonnene im Rahmen der Legislaturperiode zu Ende bringen wollten, auf der anderen argumentierten diejenigen, die einen vorzeitigen Ausstieg aus der Regierung suchten; ein Paradoxon, das die Zeit mit den Worten umschrieb: »Rot-Grün regiert nicht mehr«.596 Der Bruch zog sich dabei zwischen Personen entlang, die sonst nach ausführlicher Debatte meist auf derselben Seite standen, nämlich zwischen Steinmeier, der weitermachen 590 | Wittke, T.: Der kleine Kanzler; in: General-Anzeiger, 04.05.2005. 591 | Bulmahn, Edelgard im Gespräch mit dem Autor am 20.01.2014. 592 | Ebd. 593 | Ebd. 594 | Ebd. 595 | Deggerich, M.; Fleischhauer, J.; Fröhlingsdorf, M.; Knaup, H.; Nelles, R.; Salmen, I.; Sauga, M.; Steingart, G.: Kanzler ohne Fortune; in: Spiegel, 07.03.2005, S. 23. 596 | Ulrich, Bernd: Rot-Grün regiert nicht mehr; in: Zeit, 03.03.2005, S. 1.
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III. Politik im Hintergrund
wollte, und Schröder, der aufzugeben drohte. Es war keineswegs ein Bruch menschlicher Natur, sondern vielmehr einer über die Frage des weiteren Vorgehens. Schröder soll in jener Phase »öfter mal derangiert« gewirkt haben, zitierte der Spiegel einen Protagonisten, der den Bundeskanzler »lange aus nächster Nähe« habe beobachten können.597 Laut dieser Person hatte Schröder »Phasen großer Unlust und Lethargie. Frank war de facto der Regierungschef«.598 Dass er das war, will der Gehuldigte, Steinmeier selbst, auch über neun Jahre später nicht so verstanden wissen: »Das würde ich nicht annähernd und auch nicht hinten herum und mit anderen Worten bejahen wollen«, betont er, bevor er noch einmal auf sein Verständnis von der Rolle des Kanzleramtschefs eingeht, »die ich eben ganz anders angelegt gesehen habe, als das, was ein Kanzler zu tun hat«.599 Aus seiner Sicht sollte der Kanzleramtschef »ganz down-to-earth, sehr kooperativ, möglichst tief in den Dingen steckend, Lösungen für die alltäglichen Konflikte in einem Kabinett vorbereiten und sich daneben die Zeit aufrechterhalten […], um an […] Perspektiven zu arbeiten, von denen dann vielleicht auch einige Eingang finden in […] die Regierungspolitik oder die Politik des Kanzlers.« 600
Es sei »was gänzlich anderes«, fügt er hinzu, »und wenn man sagt, es ist was anderes, würde ich ja rückblickend nicht sagen, es war unwichtig. Sondern […] das eine geht vielleicht nicht ohne das andere, aber beide müssen sozusagen in ihren jeweiligen Rollen arbeiten.«601 Wie in bestimmten Phasen das Rollenverhältnis war, ob Steinmeier nun teilweise wie der eigentliche Kanzler agierte, kann abschließend nur mit Blick in die noch nicht geöffneten Akten des Kanzleramts festgestellt werden. Was aber bereits an dieser Stelle, auch mit Blick auf Steinmeiers Aussage der verschiedenen Rollen, die einander bedingen, festgehalten werden kann, ist: Anders als Steinmeier, der Regierungsadministrator, suchte der Kanzler den Ausstieg und wollte, so schien es, nicht mehr warten. Nach dem Rücktritt vom Parteivorsitz, der nur kurzfristig die Partei befriedete, siechte er selbst und Teile der Regierung nur noch dahin. Schröder war nicht mehr Treibender, sondern Teil des Problems der Regierung Schröder geworden. Im April soll bei ihm schließlich die Idee einer vorgezogenen Neuwahl gereift sein. Beim Begräbnis des Papstes habe er, heißt es in einer Chronik, 597 | Zitiert nach Feldenkirchen, M.: »Draußen ist’s heller«; in: Spiegel, 21.09.2009, S. 54. 598 | Zitiert nach ebd. 599 | Steinmeier, Frank-Walter im zweiten Gespräch mit dem Autor am 06.10.2014. 600 | Ebd. 601 | Ebd.
7. Metamorphose
Außenminister Fischer zur Seite genommen und ihm von den Planspielen berichtet.602 Das deckt sich mit einer rückblickenden Erzählung Eichels, der Schröder in jenen Monaten (»März, April«) »ein Konzept mit vier Punkten Mehrwertsteuererhöhung auf den Tisch gelegt« habe.603 »Zwei für die sozialen Sicherungssysteme, zwei Punkte für die Sanierung […] des öffentlichen Haushaltes.«604 An ein kurz darauffolgendes Gespräch mit Steinmeier erinnert sich der ehemalige Finanzminister mit den Worten: »Da hat mir später Steinmeier gesagt: Du, das war [das] erst[e] Mal, dass Schröder wirklich erkannt hat, wie die Lage ist.«605 Die Mehrwertsteuer erhöhen, »[d]as wollte er nicht machen«, glaubt Eichel auch in der Rückschau noch.606 Ein anderer, lange Zeit führender Sozialdemokrat berichtet zudem einem Interviewpartner, dass er nach einem Gespräch mit dem Kanzler in dieser Zeit den Eindruck gewonnen habe, »der wollte nicht mehr«.607 Tatsächlich sind viele Bemühungen überliefert, wer wann wie Schröder davon überzeugen wollte, diese »Riesenscheiße« (Fischer)608 bleiben zu lassen. »Zusammen mit Steinmeier« soll der Außenminister »auf den amtsmüden Schröder« eingeredet haben.609 Schlauch, der von »dieser scheiß vorgezogenen Wahl« spricht, erinnert sich, dass »Fischer […] Schröder auf Knien angerutscht und […] gesagt« habe: »Du machst den größten Fehler deines Lebens.«610 Steinmeier wiederum soll im April, als er von Schröder gefragt worden sei, wie er die Idee einschätzt, geantwortet haben, dass er das für Wahnsinn halte.611 Die-
602 | Vgl. Gerwien, Tilmann: »Ich bin ein altes Kampfschwein«; in: Stern, 25.08.2005, S. 34-40; hier: S. 37. 603 | Eichel, Hans im Gespräch mit dem Autor am 29.07.2013. 604 | Ebd. 605 | Ebd. 606 | Ebd. 607 | So gegenüber einem Interviewpartner, der anonym bleiben möchte, im Gespräch mit dem Autor. (Um die Anonymität zu wahren, wird für alle anonymisierten Personen eine männliche Form verwendet.) (Nr. 31); Die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtete außerdem von mindestens einer Person, die über Schröder geurteilt habe: »Er konnte nicht mehr«; Bannas, Günter: Schröders Neuwahl-Coup; in: FAZ.net, 20.05.2015; abrufbar unter: www.faz.net/aktuell/politik/die-gegenwart/guenter-bannas-rekonstruiertdas-ende-von-rot-gruen-13597093.html (zuletzt eingesehen am 05.08.2016). 608 | Zitiert nach Gerwien, T.: »Ich bin ein altes Kampfschwein«; in: Stern, 25.08.2005, S. 37. 609 | Ebd. 610 | Schlauch, Rezzo im Gespräch mit dem Autor am 06.06.2013. 611 | Vgl. König, Jens; Rosenkranz, Jan: Ja ich will; in: Stern, 11.09.2008, S. 34-44.
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III. Politik im Hintergrund
se ablehnende Haltung bestätigte im Rückblick auch Peter Struck in seiner Autobiographie.612 Fischers und Steinmeiers Überredungskünste schienen zunächst gefruchtet zu haben, glaubte zumindest letzterer. Noch am Mittag des Wahltages, dem 22. Mai 2005, beruhigte Steinmeier Fischer und sagte laut Stern, »Der Kanzler steht, keine Anzeichen von Panik.«613 Entweder wusste es Steinmeier da selbst noch nicht oder er konnte es Fischer nicht mitteilen, weil es sonst womöglich in die Öffentlichkeit gelangt wäre. Beides scheint möglich. Vieles deutet aber darauf hin, dass Steinmeier tatsächlich glaubte, es gehe weiter. Denn auch andere Beobachter berichteten Ähnliches: »Wir machen weiter«, war des Kanzlerchefs Eindruck nach »Gesprächen mit Schröder«, die am Mittag stattgefunden hätten, heißt es in einer Analyse.614 »Dann trafen erste, für die SPD besonders schlechte Prognosen von Forsa ein«,615 die schlechter waren als das spätere Ergebnis. Daraufhin soll Schröder seine Entscheidung getroffen haben, die am Ende eine einsame war: »[D]ie drei anderen starken Akteure des inneren Kreises folgten ihm nicht (Joschka Fischer und Frank-Walter Steinmeier) oder nur widerstrebend (Franz Müntefering). Sie hatten andere Lage-, Entwicklungsund Optionseinschätzungen.«616 Doch Schröder war nicht mehr zu halten,617 auch von Steinmeier nicht. Letztendlich fand auch der Kanzleramtschef sich mit dieser Entscheidung ab, nicht ohne dass die Presse erfuhr, dass er sie für falsch hielt. Was folgte, war Schröders Ausstieg aus der Politik und Steinmeiers unverhoffter Aufstieg zum endgültigen Politiker im Vordergrund. Der Weg dorthin kam erneut überraschend, zumindest war dieser keineswegs vorbestimmt. Zunächst hieß es, die letzten Monate von Rot-Grün bis zur Bundestagswahl, die nur geringste Aussicht auf eine Wiederwahl versprach, zu organisieren. Dabei war es zunächst Steinmeiers Aufgabe, die Begründung der Neuwahlentscheidung für den Bundestag und den Bundespräsidenten mit vorzubereiten. Hierfür traf er sich unter anderem mit dem ehemaligen Verfassungsrichter und Sozialdemokraten Ernst Gottfried Mahrenholz und »disku612 | Vgl. Struck, P.: So läuft das, 2010, S. 157. 613 | Gerwien, T.: »Ich bin ein altes Kampfschwein«; in: Stern, 25.08.2005, S. 37. 614 | Zitiert nach Raschke, J.; Tils, R.: Politische Strategie, 2013, S. 523. 615 | Ebd. 616 | Raschke, J.; Tils, R.: Politische Strategie, 2013, S. 525; vgl. auch Gerwien, Tilmann; Grill, Markus; Hoidn-Borchers, Andreas; Kowitz, Dorit; Schütz, Hans-Peter; Tillack, Hans-Martin; Wintzenburg, Jan-Boris; Wolf-Doettinchem, Lorenz: Er oder…sie; in: Stern, 25.05.2005, S. 24-36. 617 | Ausführlich diskutieren Joachim Raschke und Ralf Tils die Gründe für Schröders Neuwahlentscheidung, sie zeichnen dabei ein interessantes Bild von Schröder; vgl. Raschke, J.; Tils, R.: Politische Strategie, 2013, S. 507, S. 511 und S. 525.
7. Metamorphose
tierte[] den Weg einer Auflösung des Bundestages nach Artikel 68 GG«.618 Er dürfte hier, erinnert sei an den Wissenschaftler Steinmeier, in seinem Element gewesen sein. Erneut ging es darum, die kleinen Verfahrensspielräume auszuloten, die dieser (fingierten) Entscheidung zugrunde lagen. »Am Ende sprach Mahrenholz das ersehnte Urteil: Ja, er halte die Auflösung des Bundestags für verfassungsrechtlich in Ordnung«.619 Das angestrebte Verfahren, das letztendlich auch erfolgreich war, konnte begonnen werden, geplant zu werden. Das Dahinsiechen bis zu jenem Punkt der Absegnung durch den Bundespräsidenten knapp zwei Monate nach der Verkündung der Neuwahlentscheidung hingegen fand noch kein Ende. Schröder schien mehr denn je bereits abgeschlossen zu haben mit seiner Kanzlerschaft. »Es hat mich überrascht, wie tief die Enttäuschung bei ihm war«, ließ sich Steinmeier in der Welt zitieren.620 Steinmeier organisierte so die Amtsgeschäfte bis zum Tag der Absegnung der Neuwahlentscheidung durch Bundestag und Bundespräsidenten. Schröders Reaktion darauf gab einmal mehr Einblick in den Charakter des Bundeskanzlers. Denn ein überraschend fulminanter Wahlkampf setzte ein, in dem er wieder selbst die Führung übernahm. Steinmeier, der Schröder eigentlich gut kannte, zeigte sich gegenüber der Welt erneut verblüfft: »Jetzt überrascht es mich, wie er es plötzlich schafft, sich derartig selbst zu motivieren.«621 Es schien sich die Endphase der ersten Legislaturperiode zu wiederholen: Schröder war wieder in seinem Element. Der vor der Neuwahlentscheidung für die Fortführung der Regierung zum Problem gewordene Kanzler, der nicht mehr »aktive[r], selbstbewusste[r] Akteur[] der schwierigen Lage« gewesen war,622 war nunmehr überraschend zurückgekehrt. Vielleicht mag auch da der politische Wille zum Weitermachen nicht mehr zurückgekehrt sein, wohl aber der Wille zu einer beispiellosen politischen Aufholjagd, zu einer krimiesken Wahlauseinandersetzung. So machte auch der Spiegel damals einen Stimmungswandel im Kanzleramt aus, der lange nicht mehr für möglich gehalten worden war: »Wer in diesen Tagen das Kanzleramt durchstreift, trifft auf Menschen mit gelassener, fast heiterer Gemütsverfassung. Auf die höfliche Frage, wie es ihr gehe, antwortet Gerhard Schröders Büroleitern Sigrid Krampitz wahrheitsgemäß: ›Besser‹. Kanzleramts618 | Sturm, D.-F.: Wohin geht die SPD?, 2009, S. 209. 619 | Feldenkirchen, Markus; Fleischhauer, Jan; Hammerstein, Konstantin von; Knaup, Horand; Kraske, Marion; Nelles, Roland; Neukirch, Ralf; Pfister, René; Ramspeck, Sebastian; Reuter, Wolfgang; Steingart, Gabor: Schröders Endspiel; in: Spiegel, 30.05.2005, S. 22-41; hier: S. 32; vgl. auch Sturm, D.-F.: Wohin geht die SPD?, 2009, S. 209. 620 | Zitiert nach Schumacher, Hajo: Der Profi; in: Welt, 06.08.2005, S. 12. 621 | Zitiert nach Ebd. 622 | Raschke, J.; Tils, R.: Politische Strategie, 2013, S. 525.
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III. Politik im Hintergrund chef Frank-Walter Steinmeier fühlt ebenfalls so etwas wie Entspannung in sich aufsteigen, was auch daran liegt, dass er im Chefzimmer Erstaunliches beobachtet hat: Der beginnende Wahlkampf lasse Schröder ›regelrecht aufblühen‹, die dichte Abfolge von TV-Auftritten und Kundgebungen wirke auf ihn ›wie ein Aphrodisiakum‹.« 623
Neben den Regierungsgeschäften, die Steinmeier während dieser Zeit am Laufen hielt, brachte sich der Kanzleramtschef auch in die Gestaltung des Wahlprogramms ein, was einmal mehr zeigt, dass es sich bei ihm keineswegs nur um einen unemotionalen Administrator handelte. Gerade die Fragen im Detail, um die es ging, untermauerten das. Der Absatz zum Elterngeld im »Wahlmanifest« der SPD wurde etwa vor allem auf Steinmeiers Initiative »gewissermaßen in letzter Minute« durchgesetzt – gegen »starken Widerstand von Müntefering und Wasserhövel«.624 Tatsächlich trat das Gesetz zum Elterngeld, von dem Steinmeier ein »überzeugter Anhänger«625 gewesen sein soll, zwei Jahre später, im Januar 2007 in Kraft.626 Trotz jener neuen Stimmung im Kanzleramt schien eines dennoch klar: Für einen SPD-Kanzler würde es nicht mehr reichen und damit auch nicht mehr für einen Kanzleramtschef Steinmeier. Für Letzteren stellte sich mit dem absehbaren Ende von Rot-Grün somit die Frage, wie es weitergehen würde. Viel ist in diesem Kapitel geschrieben worden, für wie hochministrabel Steinmeier gehalten worden ist. Doch für einige seiner Kabinettskollegen stellte sich laut Spiegel die Frage, ob er »denn selbst Ambitionen hätte und nicht in Richtung Privatwirtschaft entschwindet«.627 Dass es sich hierbei nicht nur um eine zugespitzte Geschichte eines Nachrichtenmagazins handelte, zeigt Steinmeiers Aussage im Rückblick: »Ich hab’ mich zu dieser Zeit schon mit der Frage beschäftigt: Was kommt für mich nach der Politik? Weil ich nicht damit gerechnet hatte, dass selbst unter den Voraussetzungen einer großen Koalition irgendjemand auf die Idee käme zu sagen, dass derjenige, der nicht mal Minister war in der rot-grünen Koalition, dann in eine Ministerfunktion und dann auch noch in eine solche Ministerfunktion geht. Das hab’ ich weder erwartet, noch […] davon geträumt. Das hätte ich, wenn Sie mich damals gefragt hätten, selbst nach 623 | Neukirch, Ralf; Palmer, Hartmut; Pfister, René; Schult, Christoph; Steingart, Gabor; Winter, Steffen: »Härter, emotionaler«; in: Spiegel, 15.08.2005, S. 22-26; hier: S. 22. 624 | Sturm, D.-F.: Wohin geht die SPD?, 2009, S. 229. 625 | Ebd. 626 | Vgl. ebd., S. 309. 627 | Berg, Stefan; Feldenkirchen, Markus; Knaup, Horand; Nelles, Roland; Palmer, Hartmut; Schmitz, Christoph; Schult, Christoph; Wassermann, Andreas: Duell im Schatten; in: Spiegel, 25.07.2005, S. 18-28; hier: S. 26.
7. Metamorphose der Wahl, als noch völlig unrealistisch empfunden. Nein, ich war zwar nicht aktiv dabei, jetzt mich um irgendwelche Stellen zu kümmern. Ich hatte ja jetzt irgendwie noch keine Not an Brot und einen Rotwein zu kommen. Aber das […] hätt’ ich wirklich damals für ausgeschlossen gehalten.« 628
Steinmeier war bereits jetzt weit aufgestiegen, weiter wohl, als er jemals gedacht hätte. Diese Aussage gibt, wenn die Erinnerung nicht trügt, Aufschluss über Steinmeiers Charakter, der zwar von seiner Arbeit überzeugt war, aber eben auch keineswegs in jener Form überzeugt, als dass er sich für unersetzlich gehalten hatte. Im Zweifel begab er sich eher in Deckung, blieb im Hintergrund, suchte nicht die große Bühne. Er arbeitete vorsichtig, bedacht und kalkulierte ein Scheitern mit ein. Indem er das persönliche Fortkommen aber nicht als absolute Bedingung ansah, konnte er auch nicht enttäuscht werden. Es ist das, was ihn von Schröder unterschied. Er griff nicht nach den Ämtern, er musste geholt werden. Wurde er aber ausgewählt, brachte er in die Ämter einen akribischen Fleiß mit ein, um das Beste – das Beste! – aus der jeweiligen Position zu machen. Bei allen Planspielen schien eine Karriere als Bundespolitiker insofern auch für die folgende Legislaturperiode ausgeschlossen, als dass er für den neu zu wählenden Bundestag weder über einen Wahlkreis direkt kandierte noch einen Platz auf einer Landesliste innehatte. Er blieb auch im Wahlkampf ein Mann der exekutiven Politik, der tatsächlich wartete, was danach passieren würde, also nicht nach dem nächsten Job Ausschau hielt, sondern den bisherigen versuchte, bis zuletzt perfektionistisch gut zu machen. Bei der Bundestagswahl war Rot-Grün trotz des Erfolgs der SPD schließlich weit von einer eigenen Mehrheit entfernt. Für die Regierung Schröder bewahrheiteten sich im Jahr 2005 somit zwei Befürchtungen, die Anfang der 1980er Jahre (und auch schon vorher) vorherrschten: »In der Notlage des Jahres 1981 und unter dem Druck der FDP mußte Schmidt schließlich fühlbare Eingriffe vornehmen. Doch solange er den Sozialstaat ziemlich ungeschoren ließ, brauchte er von der CDU keine feurige Kritik zu befürchten. Die Opposition hatte keine Lust, durch Ankündigung grausamer Einschnitte in die Sozialhaushalte Millionen von Wählern zu vergraulen, und die Regierung hatte ihrerseits keine Lust, durch grausame Einschnitte die Opposition an die Macht zu bringen.« 629
Im Jahr 2005 stand die SPD nun am Ende eines Prozesses umfassender Einschnitte, die CDU wiederum hatte diese mit ihrem beschlossenen Programm auf dem Leipziger Parteitag noch überboten. Beide Prophezeiungen von einst sollten sich nun bewahrheiten. Die CDU stürzte, noch gar nicht an der Macht, 628 | Steinmeier, Frank-Walter im ersten Gespräch mit dem Autor am 01.07.2013. 629 | Schwarz, H.-P.: Helmut Kohl, 2012, S. 296.
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in der Wählergunst enorm ab, während die SPD ebenfalls vom Wähler abgestraft worden ist. Ein gefühlter Sieg war es dennoch: Schröder, Steinmeier, Steinbrück und Müntefering saßen am Wahlnachmittag gemeinsam im Kanzleramt, als Steinmeiers Planungschef Heiko Geue hineinkam und die ersten noch nicht offiziellen Hochrechnungen bekannt gab. Vollkommen überrascht soll die illustre Runde gewesen sein.630 Steinbrück, so heißt es in einer Abhandlung über die SPD, habe Geue zugerufen: »Gehen Sie bitte wieder raus und kommen Sie mit noch besseren Zahlen wieder rein.«631 Dieser Mittag, der bis zum Abend bezüglich der Nachwahlbefragungen und ersten Prognosen noch besser für die Sozialdemokraten aussehen sollte, darf als entscheidender Punkt hin zu Steinmeiers Karriere als Politiker im Vordergrund angesehen werden, auch wenn dieser zu diesem Zeitpunkt vielleicht noch gar nichts davon wusste, dass seine Karriere in jene Richtung weitergehen würde. Doch in diesen Stunden entschied sich letztendlich, dass Schröder nicht mehr Kanzler sein würde – und Steinmeier damit nicht mehr Kanzleramtschef. Es entschied sich aber auch, dass es weder für Schwarz-Gelb noch für Rot-Grün reichen und damit eine Große Koalition unausweichlich werden würde. Dass Steinmeier jener Elefantenhochzeit einmal als Außenminister angehören würde, verdankte er auch jenem, dessen Ausstieg aus der Politik an diesem Tag besiegelt wurde: Gerhard Schröder, der sich, wie im folgenden Kapitel zu sehen ist, noch einmal für seinen »verlässlichste[n] Freund« einsetzte.632
630 | Vgl. Sturm, D.-F.: Wohin geht die SPD?, 2009, S. 184. 631 | Ebd. 632 | Auf die Frage, wer im Jahr 2004 sein verlässlichster Freund gewesen sei, antwortete Schröder gegenüber dem Stern: »Meine Frau ist immens wichtig für mich und im Kanzleramt meine Büroleiterin Sigrid Krampitz und Kanzleramtsminister Frank-Walter Steinmeier«; Schröder, G. im Gespräch mit dem Stern; in: Kempf, C.: »Mir war zum Heulen zumute«; in: Stern, 29.12.2004, S. 90.
8. Zwischenfazit
Aus dem Schatten
»Je weniger man über Steinmeiers Handeln wusste, desto gewaltiger erschien er«, hielt der Spiegel zum Ende jener Jahre einmal fest. »Im Dunkeln gedeihen Mythen besonders gut.«1 Doch auch bei Lichte betrachtet war Steinmeier zwischen 1990 und 2005 ein unersetzlicher Hintergrundmann für Gerhard Schröder – und übte enormen Einfluss auf das Regierungshandeln und das Funktionieren der Regierungen aus. Nachdem er sich in Niedersachsen schnell als gewissenhaft arbeitender, tief durchdringender Mitarbeiter etabliert hatte, wurde er von Ministerpräsident Schröder an seine unmittelbare Seite geholt, wurde Büroleiter und 1994 Abteilungsleiter in der Staatskanzlei. Spätestens in dieser Zeit bildete sich mit ihm eine Vierergruppe von Mitarbeitern heraus, die im Hintergrund die Regierungsgeschäfte des Ministerpräsidenten organisierten. In Niedersachsen avancierte er so schnell zum politischen Kopf und zweiten Mann hinter und engen Vertrauten von Schröder. Als 1996 die Stelle des Staatskanzleichefs vakant wurde, war es beinahe nur eine Formalie, dass Steinmeier diese Rolle angetragen bekam, hatte er sie doch bisher schon inoffiziell inne. Steinmeier beherrschte die Gabe der Administration genauso wie das Interesse an inhaltlichen Lösungen. Er überzeugte durch seinen Fleiß und dem Interesse, Themen zu durchdringen ebenso wie durch seine Art der sich selbst zurücknehmenden, kommunikativen, nie herabsetzenden und doch in klaren Hierarchien erfolgten und als sehr fair wahrgenommenen Führung. Er war damit die Entsprechung von Schröder und seinem Stil, der insbesondere in Niedersachsen noch als bisweilen cholerisch beschrieben worden ist, der auch Lust am Denunzieren gehabt haben soll. Steinmeier holte die Geschassten wieder ins Team. Bei alledem haftete ihm vielleicht gerade wegen seiner vermittelnden Rolle das Wesen eines Unpolitischen an – zunächst auch bei Schröder, der sich, als er Bundeskanzler wurde, für viele und auch für Steinmeier selbst überraschend gegen ihn und für Bodo Hombach als Kanzleramtschef 1 | Feldenkirchen, Markus: Der aus dem Dunkeln kam; in: Spiegel, 19.12.2005, S. 2930; hier: S. 30.
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entschied. Dieser Karriereknick wehrte jedoch nur kurz, entpuppte sich Hombach doch als administratorisch wenig versierter Mitarbeiter, der spätestens nach dem Abgang Lafontaines, gegen den ihn Schröder vor allen Ding installiert hatte, obsolet geworden war. So wurde Steinmeier, in den ersten Monaten Staatssekretär im Kanzleramt, doch noch alleiniger Kanzleramtschef. Er übernahm das Amt ein halbes Jahr nach Start der ersten rot-grünen Koalition im Bund, als der kurzzeitige Zauber, überhaupt der Glanz dieses vermeintlichen Projektes in seiner Außendarstellung bereits nachhaltig verblasst war. Steinmeier stabilisierte nun das Regierungsschiff und brachte es zunächst administrativ und kommunikativ wieder auf Kurs. Gleichzeitig etablierte er ein Frühwarnsystem, das Konflikte frühzeitig erkennen sollte. Atomausstieg oder Rentenreform – bei den großen Projekten von Rot-Grün hatte Steinmeier neben den zuständigen Ministern fortan stets eine nachhaltige Rolle in der Vermittlung zwischen Ressort- und Partei- sowie Wirtschaftsinteressen inne. Er war ein Garant dafür, dass die ohnehin nicht einfachen Charaktere der Regierung zumindest einigermaßen harmonisch miteinander zusammenspielten. Das war die Aufteilung im Kanzleramt: Steinmeier war der Mann im Hintergrund. Schröder hingegen war der Kämpfer im Vordergrund. Dass die Beziehung zwischen den beiden so funktionierte, lag vor allem auch daran, dass Steinmeier in keinerlei Weise Ambitionen hegte, Schröder seine Rolle als Anführer streitig zu machen. Glaubhaft blieb er im Hintergrund, das Angebot eines Ministerpostens schlug er mehrmals aus. Beide brauchten einander für ihre Vorstellungen von Politik, wobei Steinmeier immer mehr die langfristigere Komponente einnahm. Er selbst sprach einmal in Bezug auf seine Zeit im Kanzleramt von den »wenig glitzernden Seiten der Macht«.2 Die Aussage ist insbesondere deshalb interessant, weil sie eben auch beinhaltet, dass die Macht groß war, wenngleich sie fernab der Öffentlichkeit ausgeübt wurde. Schröder hingegen brauchte das Glitzern des Scheinwerferlichts, es war, auch, sein politisches Lebenselixier. Steinmeier jedenfalls gab Schröder bald jenen Überbau, den Schröder nicht hatte. Schröder las die Vermerke, die Steinmeier ihm formulierte. Steinmeier wusste somit auch das, was nicht in den Vermerken stand. Nachdem inmitten der ersten Legislaturperiode, als Steinmeier die Leitung des Kanzleramts übernahm, nur noch wenig Zeit blieb, einen neuen inhaltlichen Wurf anzustoßen und ohnehin genug mit dem Zusammenhalt der Regierung zu tun war, nahm Steinmeier insbesondere in der zweiten Legislaturperiode eine deutlich gestaltendere Rolle ein. Dafür baute er das Kanzleramt nach seinen Vorstellungen um und unterstellte die Planungsabteilung 2 | Zitiert nach Raus, Uli; Schröm, Oliver: Die Syrien-Connection; in: Stern, 13.03.2008, S. 66-72, hier: S. 67.
8. Zwischenfazit
unmittelbar seinem Büro. Jene Legislaturperiode kann denn auch als Beginn der Metamorphose Steinmeiers zum Politiker im Vordergrund angesehen werden – und das sowohl inhaltlich wie auch im öffentlichen Auftritt. War Steinmeier vorher öffentlich nur bedingt präsent und hatte die Fernsehkameras gescheut, trat er spätestens mit dem 11. September 2001 in die Öffentlichkeit. Ein mediales Rad wurde ins Rollen gebracht, das nicht mehr zurückzudrehen war. Fortan häuften sich Porträts über ihn, den man wahlweise als »Maschinisten«3 oder »zentrale[] Figur der Regierung« 4 betitelte. Die Agenda 2010 war nun in dieser zweiten Legislaturperiode Steinmeiers Werk, der sie im Auftrag von Schröder entwickelt hatte. Es war der Moment, in dem sich Steinmeier durchsetzte mit einem Weg einer umfassenden Reform anstatt punktueller Reformen, wie sie Schröder eher favorisierte.5 So blieben die Vorläufer der Agenda 2010, die Rentenreform etwa, ohne ein zusammenhängendes Narrativ. Erst in dieser zweiten Amtszeit wurde ein solches durch Steinmeier mit der Agenda 2010 vorangetrieben. Steinmeier wurde so immer mehr das Korrektiv zum »situativen Regieren«6 Schröders. Auf die SPD, deren Mitglied Steinmeier ja schon seit Studientagen war, hatte er dabei stets indirekt, über Schröder, Einfluss. Dabei kam es zu einer zunehmenden Entkoppelung zwischen Partei und Regierung, die allerdings Steinmeier nur bedingt zu verantworten hatte. Er war nur ein Teil des strategischen Zentrums um Regierungschef Schröder, dem zunächst auch Franz Müntefering und Peter Struck angehörten und ersterer später zusätzlich die wichtige Position des Fraktionsvorsitzenden von Struck und die des Parteivorsitzenden von Schröder übernahm. In der ersten Legislaturperiode forcierte dieses Zentrum bereits abgekoppelt und wenig erklärt Reformen neben der Partei und fuhr, so wurde es in diesem Kapitel beschrieben, mit dem Schnellboot dem Regierungstanker SPD hinweg. Bei der Agenda 2010 hatten das Kanzleramt und damit auch Steinmeier als deren Chef kein Gespür bewiesen, wie diese in der Partei aufgenommen werden würde. Eine Erklärung blieb so zunächst weitgehend aus – auch wenn die Vermittlung in die Partei hinein erneut zunächst in den Händen von Schröder, Müntefering und Scholz (anstatt Struck, der mittlerweile ins Verteidigungsministerium gewechselt war) hätte liegen müssen. Gerade im parteipolitischen Kontext provozierten die Regieren-
3 | Schwennicke, C.: Der Maschinist; in: Süddeutsche Zeitung, 13.03.2002. 4 | Bannas, G.: Einfluss aus dem Hintergrund; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.09.2001. 5 | Bei Schröder wurde diesbezüglich von »Führung ohne Richtung gesprochen«, er habe sich gegen eine »nachvollziehbare Richtungsbestimmung« gesträubt; Raschke, J.; Tils, R.: Politische Strategie, 2013, S. 513ff. 6 | Raschke, J.; Tils, R.: Politische Strategie, 2013, S. 507.
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III. Politik im Hintergrund
den jedoch geradezu Widerspruch. Dabei goss auch Steinmeier sprichwörtlich immer wieder Öl ins Feuer und sprach von der Unveränderlichkeit der Agenda. Alternativlosigkeit in der Politik gibt es jedoch nicht. Eine deutlich radikalere Agenda wäre beispielsweise, wie die Ideen der Christdemokraten rund um den Leipziger Parteitag 2003 zeigten, ebenso wie das Vermeiden von Reformen, deren Konsequenzen allerdings verheerend gewesen wären, durchaus möglich gewesen. Doch auch das wurde keineswegs kommuniziert, dass man mit der Agenda 2010 quasi die soziale Variante der radikalen Möglichkeiten darstellte, wenngleich Reformen dennoch notwendig seien. Stattdessen echauffierte sich auch Steinmeier gleich zu Beginn der Debatte, dass man es mit dem »Mehr-Demokratie-Wagen« auch übertreiben könne.7 Indes: Hätte die Führung um Schröder und das Frühwarnsystem um Steinmeier die SPD-Basis für diese Sozialreformen gewonnen, hätten diese auch für die Partei positiv genutzt werden können. Denn die fehlende Kommunikation wirkte nicht nur zuvorderst negativ in die Partei hinein, sondern bald auch in die Gesellschaft, wo Massendemonstrationen organisiert und eine neue Partei gegründet wurden. Die SPD wurde währenddessen als extrem zerstritten wahrgenommen (was sie letztendlich auch war) und präsentierte sich als nicht attraktiv auch bei jenen Wählern fernab derer, die gegen die Sozialreformen auf die Straße gingen. Dort hatten diese nämlich durchaus stattliche Zustimmungswerte erzielt, die über den Verlauf der Debatte sogar noch anstiegen. Und so ist Steinmeiers Einfluss auf diesen Wandlungsprozess zumindest auf inhaltlicher Ebene auch für die SPD nicht zu unterschätzen. Selbst wenn sich die SPD, wie gezeigt auch selbstverschuldet, nach wie vor nicht vollständig von den innerparteilichen Kämpfen erholt hat und die Protagonisten daran eine Mitschuld tragen, bleibt es das Verdienst Schröders (in der Umsetzung) und Steinmeiers (in der Entwicklung), nicht nur den Staat (wenn auch sehr spät), sondern auch die SPD zukunftsfähig gemacht zu haben, nicht für den Moment, aber doch in der langfristigen Perspektive. In der Retrospektive wird die Agenda 2010 von Journalisten wie Wissenschaftlern bereits als wichtiges Projekt für den Sozialstaat und den Wirtschaftsstandort Deutschland gepriesen. Die SPD beginnt langsam, dies als Erbe von sieben Regierungsjahren Rot-Grün zu akzeptieren. In Bezug auf Steinmeier kann denn auch konstatiert werden: Er war ein stets hochpolitischer Mitarbeiter Schröders, der eine klare Haltung vertrat und einen klaren Wertekanon und Kompass besaß, wie in den wenigen, dann aber tiefgreifenden Publikationen aus seiner Feder zu sehen ist. Eine biographische Argumentationslinie wird dabei immer wieder sichtbar, wenn er, wie er es immer wieder tat, auf die 1970er-Jahre verwies, in denen die Vollbeschäftigung 7 | Zitiert nach Leinemann, J.: »Ich bin nicht der Stellvertreter; in: Spiegel, 19.04.2003, S. 48.
8. Zwischenfazit
ihr Ende fand und die Arbeitslosigkeit dahingehend verändert wurde, dass die Arbeitslosen mehr und mehr nur noch verwaltet worden sind, Sozialreformen hingegen ausblieben. Während Steinmeiers Schwäche die fehlende Erkenntnis war, dass nicht alle in dieser Linie dachten und diese Einsicht bereits verinnerlicht hatten, kam ihm zugute, dass er pragmatisch und unideologisch fernab der Parteipolitik wirkte und sich dadurch den jeweiligen Ist-Zuständen schnell anpassen konnte. Von diesen jeweils neuen Standpunkten aus suchte er neue Wege aus Konflikten und entwickelte dahingehend längerfristige Ansätze. Hier glich er dem Wissenschaftler Steinmeier, der analysierte, was ist und daraus Lösungsvorschläge ableitete. Mit Blick auf seine Karriere blieb er in seinen Jahren im Hintergrund unterdessen ein Mann der günstigen Gelegenheit. Er füllte die Ämter, die er innehatte, voll aus, strebte neue jedoch nicht an, er bekam sie angetragen: Beim Wechsel zum Büroleiter von Schröder in Niedersachsen war das schon so, beim Wechsel zum Staatskanzleichef ebenso und schließlich auch bei seiner Inthronisierung zum alleinigen Kanzleramtschef. Er überzeugte durch sein Tun. Dabei war es für Steinmeiers spätere politische Karriere im Vordergrund von enormen Vorteil, dass er in jenen Jahren, von 1991 bis 2005, im Hintergrund die Fallstricke der Politik aus einer Beobachterposition studieren konnte.8 Wie ein Wissenschaftler konnte er daraus seine Folgerungen ableiten, ohne jedoch selbst auch nur einmal, wie er später zu sagen pflegte, über ein Stöckchen, das man ihm hinhält, zu springen.9 So lernte er im »Maschinenraum der Macht«10 die Mechanismen der Politik im Vordergrund kennen, ohne sie selbst zu erleben. Hierzu gehörten auch die Fallstricke in der Außenpolitik, die – bei inhaltlich richtiger Argumentation – leidlich in dem leichtsinnig zerrütteten Verhältnis zu den USA zu besichtigen waren. So unabdingbar Steinmeier indessen für das Gelingen der Regierung Schröder war, so wichtig war Schröder für den Aufstieg Steinmeiers eben zu einem Politiker im Vordergrund. Letzterer war nur Parteimitglied im Kopf, in der Partei verankert war er bis zum Ende von Rot-Grün nicht. Es war ein Aufstieg neben der Partei im administrativen Bereich der Politik, in der Politik im Hintergrund. Es waren Lehrjahre, deren Erlerntes er nun, wie im folgenden Kapitel zu sehen ist, anwenden konnte in der Politik im Vordergrund. 8 | Vgl.: Baring, A.; Schöllgen, G.: Kanzler, Krisen, Koalitionen, 2006, S. 336; vgl. auch Gaus, B.: Von innen nach außen; in: taz, 25.11.2005. 9 | Steinmeier, Frank-Walter im Gespräch mit dem Spiegel; in: Hujer, Markus; Hoffmann, Christiane: »Die Strahlkraft des Westens ist groß«; in: Spiegel, 25.04.2015, S. 28-30; hier: S. 30. 10 | Diese Umschreibung wird sowohl von Journalisten als auch von Wissenschaftlern immer wieder gebraucht; vgl. z.B. Beste, R.: Der Nachlassverwalter; in: Spiegel, 17.10.2005, S. 26; vgl. auch Wolfrum, E.: Rot-Grün an der Macht, 2013, S. 717.
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IV. Politik im Vordergrund
9. Metamorphose II 9.1 A ussenminister Das Kanzleramt war mittlerweile für die besenreine Übergabe vorbereitet.1 Und die Sondierungsgespräche, in denen Schröder zunächst noch offiziell einen eher zweifelhaften, aber wirksamen Machtanspruch deklarierte, nahmen einen unerwartet harmonischen Verlauf. Bilder, auf denen Merkel, Schröder und Müntefering gemeinsam lachend nebeneinander hergingen, machten die Runde. In den Medien wurde derweil bereits über das Personaltableau der sich anbahnenden Großen Koalition unter Angela Merkels Führung spekuliert. Thomas Steg erinnert sich, dass Steinmeier »eigentlich in jeder Berichterstattung, bei jeder Spekulation und auf jedem Tableau zu finden gewesen« sei, »aber nicht als Außenminister. Sondern als Innenminister, als Wirtschaftsminister, als Forschungsminister, [als] Zukunftsminister.«2 Die Nominierung Steinmeiers zum Außenminister war denn auch die laut Spiegel »größte Überraschung der Regierungsbildung«.3 Von einer »quälenden Suche«, die der Nominierung vorausgegangen sei, berichtete etwa das Nachrichtenmagazin:4 »Kabinettsveteran Peter Struck sagte mit Hinweis auf seine angeschlagene Gesundheit ab. EU-Kommissar Günter Verheugen verweigerte sich, weil ihm der Posten in Brüssel deutlich attraktiver erschien. Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck wiederum, auf dem zum Schluss die Hoffnungen ruhten, ließ sich durch kein Argument von seiner Entscheidung abbringen, in der Provinz zu bleiben.« 5
1 | Vgl. Möller, Johann Michael: Das Kanzleramt soll besenrein übergeben werden; in: Welt, 07.10.2005, S. 2. 2 | Steg, Thomas im Gespräch mit dem Autor am 16.12.2013. 3 | Dettmer, Markus; Neukirch, Ralf; Neumann, Conny; Pfister, René: Vorbild Strauß; in: Spiegel, 24.10.2005, S. 48-49; hier: S. 49. 4 | Beste, R.: Der Nachlassverwalter; in: Spiegel, 17.10.2005, S. 26. 5 | Ebd.
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IV. Politik im Vordergrund
Auch der Stern bilanzierte, dass Steinmeier »alles andere als erste Wahl […], nicht mal die zweite« gewesen sei.6 Zumindest Strucks, mehr noch aber Platzecks Name tauchten in den auch rückblickenden Berichten um die Suche nach dem Außenministerkandidaten immer wieder auf.7 Erst als sich schließlich herauskristallisierte, dass eben jene, Münteferings Favoriten, nicht gewillt waren, das Amt zu übernehmen, lief die Suche in einem kleinen Kreis immer mehr auf Steinmeier zu. Zwar warb auch Noch-Außenminister Joschka Fischer bei Müntefering mit den Worten, dass Steinmeier »[a]us dem Kreis der Infragekommenden […] der Beste«8 sei. Seine Nominierung entsprang mutmaßlich jedoch aus der Einigung der zwei führenden Sozialdemokraten, nämlich Müntefering und, insbesondere, Schröder. Der Noch-Kanzler soll, schrieb zum Beispiel die taz, die treibende Kraft gewesen sein, den eher zögernden Müntefering und die Fraktion zu überzeugen.9 Der Einfluss, den Schröder noch innerparteilich besaß, wurde hier deutlich. Das deckt sich mit den rückblickenden Aussagen Münteferings. Dieser erzählt, dass, »als 2005 klar [war], dass wir die Große Koalition machen würden und welche Ministerien« die SPD bekommen würde, er als »Parteivorsitzender […] Vorschläge gemacht« habe, die er »aber immer mit Schröder abgesprochen«10 habe. Den weiteren Verlauf der Überlegungen beschreibt Müntefering mit den Worten, »dass Schröder und ich darüber gesprochen haben, ob das was für Platzeck sein könnte.«11 Er selbst habe nicht mit Platzeck gesprochen, wohl aber Schröder. »Das ist dann, ich weiß nicht aus welchen Gründen, nicht zustande gekommen.«12 Hier habe Schröder nun Steinmeier vorgeschlagen, wozu Müntefering seine Zustimmung signalisiert habe.13 Schröder selbst tritt bezüglich seiner Rolle retrospektiv ungewohnt bescheiden auf. Er sieht eine größere Rolle bei Müntefering und Struck, für die »rasch klar« gewesen sei, »dass Steinmeier […] Außenminister werden wür-
6 | Posche, U.: Der Edelweiße; in: Stern, 08.12.2005. 7 | Vgl. z.B. Jach, Michael; Pörtner, Rainer; Wiegold, Thomas: »Akten sind keine Fakten«; in: Focus, 29.01.2007, S. 19-21. 8 | Zitiert nach Stadelmann, Bernd: Vom Kanzlerflüsterer zum Chefdiplomaten; in: Stuttgarter Nachrichten, 26.11.2005, S. 3. 9 | Vgl. Gaus, Bettina: Der Einzige von Gewicht; in: taz, 18.10.2005, S. 3; vgl. auch Kempf, Udo: Die Regierungsmitglieder der Bundesregierungen von 2005 bis 2013: Sozialstruktur und Karriereläufe; in: Kempf, U.; Merz, H.-G.; Gloe, M. (Hg.): Kanzler und Minister 2005-2013, 2015, S. 9-30; hier: S. 16. 10 | Müntefering, Franz im Gespräch mit dem Autor am 22.10.2013. 11 | Ebd. 12 | Ebd. 13 | Vgl. ebd.
9. Metamorphose II
de«.14 Als er gefragt worden sei, »was ich davon hielt« sei das »natürlich« auch »mein Rat« gewesen. »Das war völlig klar«.15 In der Erinnerung scheinen auch hier einzelne Aspekte, wie so häufig, zu verwischen, die Grundtendenz gleicht sich jedoch. Auch Steinmeier erinnert sich an die Kombination aus Müntefering und Schröder, die seine Nominierung besprochen hätten. So habe es »dann […] relativ früh in den Koalitionsverhandlungen offenbar ein Gespräch zwischen Müntefering und Schröder« gegeben: »Ich weiß nicht, wer wem was vorgeschlagen hat. Jedenfalls [ist] in diesem Gespräch […] die Idee entstanden, wenn wir Große Koalition machen, dann gehen wir nicht ohne das Außenministerium. Und bei der Frage, wer das machen könnte, sind die beiden in ihrem Zwiegespräch dann offenbar auf mich gekommen, was ich rückblickend nur mit Dankbarkeit an beide kommentieren kann.«16
Der Stern berichtete aus einem Gespräch mit Steinmeier, in dem dieser erzählt habe, dass Schröder einige Zeit gebraucht habe, um ihn, Steinmeier, »von dieser Überraschung zu befreien«.17 Diese »Dankbarkeit«, die Steinmeier auch rückblickend äußert, brachte er bereits 2005 erstmals zu Papier. Im Vorwärts zog er unter der Überschrift »15 gemeinsame Jahre« Bilanz und schloss dort mit den Worten: »Gerhard Schröder hat die Verhandlungen zum Koalitionsvertrag der großen Koalition mitgeprägt. Ich bin mir sicher, dass er ihre Arbeit auch weiterhin begleiten wird. Und ich freue mich, dass ich weiter auf ihn zählen kann, als Ratgeber und als Freund.«18 Der Schlusssatz lautete: »Ich verdanke ihm viel.«19 »Ein Freund« sei er, schreibt auch Schröder ein Jahr später in seiner Autobiographie, auf dessen »Loyalität« er sich immer habe verlassen können, »in der Regierungsarbeit und darüber hinaus«.20 Schröder, das wird hier noch einmal deutlich, war Steinmeiers uneingeschränkter Förderer, er holte Steinmeier nach Niedersachsen und band ihn dort bald eng an sich. Steinmeier folgte im Hintergrund Schröders Karriereschritten im Vordergrund. Nun trat Schröder ab, für seinen gewonnenen Freund Steinmeier ebnete er mit den politischen Weg – zusammen mit Müntefering, der fortan ein weiterer maßgeblicher Förderer Steinmeiers werden sollte. 14 | Schröder, Gerhard im Gespräch mit dem Autor am 09.12.2013. 15 | Ebd. 16 | Steinmeier, Frank-Walter im ersten Gespräch mit dem Autor am 01.07.2013. 17 | Posche, U.: Der Edelweiße; in: Stern, 08.12.2005. 18 | Steinmeier, Frank-Walter: Fünfzehn gemeinsame Jahre; in: Vorwärts, 12/2005, S. 18-19; Onlineversion des Printartikels abrufbar unter: www.vorwaerts.de/artikel/ fuenfzehn-gemeinsame-jahre (zuletzt eingesehen am 02.07.2015). 19 | Ebd. 20 | Schröder, G.: Entscheidungen, 2006, S. 432.
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IV. Politik im Vordergrund
Jene Nominierung zum Außenminister, mehr noch aber überhaupt die Nominierung zum Minister sollte die Metamorphose vom politischen Mann im Hintergrund zum Politiker im Vordergrund endgültig festtreten und einen Weg hin zu einem auch in der Öffentlichkeit führenden Politiker, der auch ebendort als Sozialdemokrat wahrgenommen wird, aufzeigen. Anderenfalls, ohne Ministerposten, wäre er für die Sozialdemokratie vermutlich verloren gewesen. So sagt Ulla Schmidt zwar retrospektiv, dass »keiner […] den einfach so in die Reihe […] als normale[n] Abgeordnete[n]« hätte schicken können.21 Bei der Einschätzung bleibt allerdings unberücksichtigt, dass Steinmeier dort auch gar nicht hätte ankommen können, denn er hatte zu diesem Zeitpunkt weder ein Bundestagsmandat noch überhaupt einen Wahlkreis inne und besaß auch keine Hausmacht. Wäre er also nicht ins Kabinett geholt worden, was neben Schmidt auch für Müntefering »ganz logisch« gewesen sei, weil er eine »Fundgrube von Wissen und Erfahrung aus den vergangenen Jahren« mitgebracht habe,22 wäre die Alternative eine andere gewesen. So erinnert sich der Sauerländer: »Und den jetzt außerhalb der Exekutive zu lassen und nur beratend abends mit dem ’nen Bier zu trinken […], wär’ leichtfertig gewesen.«23 Genau das wäre aber eingetreten, wäre Steinmeier nicht in die Exekutive integriert worden. Er selbst hingegen hätte mit seinem profunden Wissen sicherlich auch eine führende Position in der Wirtschaft einnehmen können, wie beispielsweise einige der ihm nachfolgenden Kanzleramtschefs beweisen. So wurde Steinmeier mit dem Amt des Außenministers nun in die Öffentlichkeit und bald auch in die Parteipolitik gestoßen. Ein Wandlungsprozess in Selbstwahrnehmung und öffentlicher Darstellung setzte ein. Für den Moment jedoch blieb Steinmeier, wie bereits an früherer Stelle geschrieben, ein Mann der günstigen Gelegenheit. Die Rahmenbedingungen liefen auf Steinmeier zu, ohne dass er sich darum maßgeblich bemühen musste. Mindestens eine Person schlug das Amt des Außenministers aus. Hinzu kam eine ausgelaugte SPD, die nur noch ein geringes hochqualifiziertes (parteipolitisches) Personal auf bieten konnte, was es einem Hintergrundakteur fernab der bisher typischen Parteikarriere einfacher machte, ein Amt zu erklimmen. Zu seinen Gunsten dürfte sich zudem ausgewirkt haben, dass er sich in den vergangenen Jahren ein enormes Renommee über die Parteigrenzen hinweg aufgebaut hatte, er also erneut durch seine Sachkenntnis und durch seine Persönlichkeit überzeugte. So war die Überraschung über seine Nominierung auch nur von kurzer Natur. Der Tagesspiegel etwa hielt fest:
21 | Schmidt, Ulla im Gespräch mit dem Autor am 17.10.2013. 22 | Müntefering, Franz im Gespräch mit dem Autor am 22.10.2013. 23 | Ebd.
9. Metamorphose II »Dass Steinmeier Außenminister wird, überraschte das politische Berlin, weil der Mann als politischer Beamter, nicht als Politiker galt. Dass er die Aufgabe meistern wird, daran zweifelt indessen niemand. Diplomatisches Geschick hatte er schon im Kanzleramt bewiesen, und mit dem außenpolitischen Parkett ist er zweifellos besser vertraut als die neue Kanzlerin.« 24
Schnell also hatte sich die Überraschung gelegt: »Warum eigentlich nicht?«, resümierte die Berliner Morgenpost, hätten die meisten schon am Tag darauf gefragt.25 Tatsächlich war das der baldige Grundtenor in der SPD. Müntefering erinnert sich im Rückblick, dass man den 11. September »im Blick behalten« und sich habe fragen müssen: »Wer wusste eigentlich besser Bescheid nach draußen als Steinmeier, wer kannte eigentlich Europa besser, wer kannte eigentlich die Welt besser?«26 So sei die Entscheidung für Steinmeier, auch, »wenn es […] schon welche gab, die das auch gerne gemacht hätten, […] absolut logisch« gewesen.27 Beck erinnert sich ähnlich an seine damalige Reaktion: »Aber nach einem kurzem ›Ja? Außenminister?‹ […] hab’ ich gesagt: Wer so viel diplomatisches Geschick hat und so akkurat arbeitet, ist dort am richtigen Platz.«28 Mehr noch als diese rückblickenden Zeitzeugeninterviews, insbesondere wenn sie mit Sozialdemokraten geführt worden sind, zeigen die Aussagen der damaligen Protagonisten, die sich in Zeitungen bereits 2005 zitieren ließen, wie sehr Steinmeier geschätzt worden war – auch von den Parteien des (bisher) gegnerischen Lagers. Die CDU konnte er spätestens in den sich an die Sondierungsphase und der sich nach der Nominierung zum Minister anschließenden Koalitionsverhandlungen durch seine »Sachkunde«29 überzeugen, wie mehrere Zeitungen berichteten. So habe Steinmeier »plötzlich unvorbereitet einen Überblick über die öffentlichen Finanzen« geben müssen.30 »Für den Blick in die Akten blieb keine Zeit. Steinmeier dozierte aus dem Stegreif: Zahlen, Zusammenhänge, Risiken. ›Brillant‹ urteilt[e] die Runde hinterher«.31 Ähnlich sachkundig referierte er an anderer Stelle über die »Europaaktivitäten der Bun-
24 | O.V.: Frank-Walter Steinmeier, 49; in: Tages-Anzeiger, 23.11.2005, S. 2. 25 | Blome, Nikolaus: Kanzlers graue Eminenz; in: Berliner Morgenpost, 14.10.2005, S. 3. 26 | Müntefering, Franz im Gespräch mit dem Autor am 22.10.2013. 27 | Ebd. 28 | Beck, Kurt im Gespräch mit dem Autor am 16.08.2013. 29 | Dettmer, M.; Neukirch, R.; Neumann, C.; Pfister, R.: Vorbild Strauß; in: Spiegel, 24.10.2005, S. 49. 30 | Stadelmann, B.: Vom Kanzlerflüsterer; in: Stuttgarter Nachrichten, 26.11.2005. 31 | Ebd.
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IV. Politik im Vordergrund
desregierung«,32 was jedoch mehr in Steinmeiers Metier fiel, leitete er doch die Europaabteilung im Kanzleramt. Die Vorschusslorbeeren, die er bekam, waren jedenfalls groß. »Als unideologisch, sachbezogen und sensibel lobt[e] CDUMann Friedbert Pflüger« etwa Steinmeier laut Frankfurter Rundschau im Zuge der Nominierung.33 Und Alt-Außenminister Hans-Dietrich Genscher betonte in einem Gastbeitrag für die Berliner B.Z., dass Steinmeier »ein fähiger Mann, mit großer Erfahrung« sei und die Nominierung selbst eine »sehr positive Entscheidung«.34 Er »begrüße seine Berufung ausdrücklich«.35 Nur vereinzelt war mediale Kritik an der Entscheidung zu vernehmen. Der Spiegel zum Beispiel kritisierte in einem Artikel, dass Steinmeier nicht »[a]ls Mann des Wortes, in der Außenpolitik so wichtig, gilt«, führte aber auch an, dass er »für sich in Anspruch nehmen« könne, »sieben Jahre deutsche Außenpolitik in Nahaufnahme erlebt zu haben«.36 Auch werden seine vermeintlich »mittelmäßig[en]« Englischkenntnisse kritisiert.37 Die Stuttgarter Nachrichten machten als weiteren möglichen »Nachteil« aus, »dass er an den Koalitionsverhandlungen nicht in der ersten Reihe teilnehmen wird. Ob er die nötige Durchsetzungsfähigkeit mitbringt, bezweifeln manche. Steinmeier steht auch für Pannen und Koordinationsprobleme.«38 Ähnlich argumentierte die Welt am Sonntag.39 Der Grundtenor war dennoch insgesamt positiv und selbst die aufgeführten Artikel waren keineswegs vernichtend. Nicht nur mit Steinmeiers Nominierung, sondern insgesamt mit der Bundestagswahl 2005 und der sich anschließend konsolidierenden Großen Koalition fand ein Generationswandel statt. Gehörten der Kohl-Regierung 1998 und der Schröder-Regierung 2002 noch jeweils eine Person der »1. Generation: NS bis 1945/50« an, waren es bei der Merkel-Regierung 2009 null. Von der »2. 32 | Dettmer, M.; Neukirch, R.; Neumann, C.; Pfister, R.: Vorbild Strauß; in: Spiegel, 24.10.2005, S. 49. 33 | Meng, Richard: Herausforderungen für die große Koalition; in: Frankfurter Rundschau, 29.10.2005, S. 5. 34 | Genscher, Hans-Dietrich: Steinmeier ist ein Mann mit großer Erfahrung; in: B.Z., 14.10.2005; Onlineversion des Printartikels abrufbar unter: www.bz-berlin.de/artikelarchiv/steinmeier-ist-ein-faehiger-mann-mit-groer-erfahrung (zuletzt eingesehen am 11.08.2016). 35 | Ebd. 36 | Beste, R.: Der Nachlassverwalter; in: Spiegel, 17.10.2005, S. 27. 37 | Ebd., S. 26. 38 | Pichler, Roland: Auf Schröders Empfehlung ins Außenamt; in: Stuttgarter Zeitung, 14.10.2005, S. 2. 39 | Vgl. Müller, Peter: Unter den Alten die Neuen; in: Welt am Sonntag, 16.10.2005, S. 6.
9. Metamorphose II
Generation: Bundesrepublikanisch, Adenauer, Erhard« gehörten bei Kohl der Großteil, nämlich zwölf, bei Schröder fünf und bei Merkel zwei an. Bei der »3. Generation: 68er, Anfang der 70er, Brandt, Schmidt« waren es bei Kohl wiederum lediglich drei, bei Schröder neun und bei Merkel drei.40 Die »4. Generation ›Kohl-Wende‹« war bei Kohl 1998 mit einer Person vertreten, bei Schröder überhaupt nicht und bei Merkel mit einer großen Mehrheit von elf Personen.41 Während die dritte Generation »ihre prägenden Einflüsse während der Studentenrevolte, vor und nach 1968, erhalten hat«, gilt die vierte Generation »als entideologisiert, postmateriell und auf ökologische Werte fixiert«.42 Im Generationenkapitel wurde auch Steinmeier nicht mehr zu jener dritten Generation hinzugezählt und eher dieser 4. Generation zugeordnet, die nun offenkundig und in großer Zahl führende Regierungsämter übernehmen sollte. Die Regierungsübernahme Merkels stellte so auch einen personellen Bruch in der Sozialdemokratie dar. Zwar blieben insbesondere Müntefering und Steinmeier und einige weitere Protagonisten als Brückenschlag zur rot-grünen Bundesregierung politisch bestehen, doch markierte die Bundestagswahl 2005 auch »das Ende von knapp zwei Jahrzehnten, in denen die Geschicke der SPD insbesondere auch von […] drei Politikern in ihrem Mit- und Gegeneinander geprägt worden waren.«43 Rudolf Scharping verzichtete auf eine erneute Kandidatur für den Bundestag und »Oskar Lafontaine trat aus der SPD aus«.44 Schröder unterdessen zog sich aus der Politik zurück. Doch obwohl Steinmeiers Generation nun am Zuge war, gehörte er unter dieser noch einmal zu einer kleineren Gruppe. Zwischen 1949 bis 2000 waren 81,8 Prozent der Kabinettsmitglieder bei ihrer Ernennung auch Bundestagsabgeordnete.45 Das hatte sich auch in der neuen Regierung Merkel nicht wesentlich geändert. Auffällig war aber doch, dass zwei wichtige Minister, nämlich der Außen- und der Finanzminister, Steinmeier und Steinbrück, kein Bundestagsmandat innehatten. So war Steinmeier denn auch, wie beschrieben, nachhaltig überrascht, dass er dieses Amt angetragen bekam. In seiner Antrittsrede schließlich betonte er an Amtsvorgänger Joschka Fischer gewandt denn auch: »[W]ohl keiner von uns beiden, lieber Joschka, hätte am Tag der Neuwahlentscheidung, am 22. Mai, erwartet, dass wir, fast auf den Tag genau ein halbes
40 | Pfetsch, F.: Die Außenpolitik der Bundesrepublik, 2012, S. 206. 41 | Ebd. 42 | Ebd. 43 | Bredow, Wilfried von: Scharping, Rudolf (Albert); in: Kemp, U.; Merz, H.-G. (Hg.): Kanzler und Minister 1998-2005, 2008, S. 260-269; hier: S. 261. 44 | Ebd. 45 | Der Vollständigkeit halber: 96,5 Prozent waren bei ihrer Ernennung Parteimitglieder; vgl. Rudzio, W.: Informelles Regieren, 2005, S. 260.
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IV. Politik im Vordergrund
Jahr später, diese Amtsübergabe vornehmen würden.«46 Von dem »Ferrari unter den Ministerien« sprach er, das er nun führen würde.47 Er trat die Nachfolge des letzten und bisher einzigen sozialdemokratischen Außenministers in der Bundesrepublik an, dem Über-Sozialdemokraten Willy Brandt. Steinmeier unterstanden damit rund 2150 Diplomaten im Auswärtigen Amt selbst sowie weitere 4400 in den 226 Auslandsvertretungen.48 Hinzu kamen »5100 Ortskräfte und 120 Mitarbeiter von anderen Institutionen. Mit ihnen muss er Berichte und Analysen aus allen Staaten auswerten, in Konzepte für die Regierungspolitik gießen und die Arbeit anderer Ministerien und der Bundesländer Richtung Ausland koordinieren.«49 Er war Chef einer Behörde, bei deren Mitarbeitern der Krankenstand so gering war wie in keinem anderen Ministerium.50 Mit seinen elf Abteilungen51 wirkte es weniger wie ein kleines, sondern eher wie ein großes Kanzleramt. Steinmeier übernahm das Amt dabei in einer Zeit der »Beschleunigung der Politik«;52 einer Zeit, die bis in die Gegenwart anhält, in der das Regieren »komplexer« wurde »und […] zugleich verantwortungsbewusster, weil man sich Fehlentscheidungen nicht leisten« konnte, da »mit diesen hohe Folgekosten verbunden« waren.53 Eine Beschleunigung der Politik im Zuge der zunehmenden Globalisierung, deren Folgen und Herausforderungen bereits die rot-grüne Bundesregierung heimsuchten, war nicht zu übersehen. Das Nationale wurde immer mehr international und umgekehrt. Neue Gefahren wie der internationale Terrorismus haben eine neue Stufe erreicht. Das Auswärtige Amt stand vor der Aufgabe, sich in diesen veränderten Kräfteverhältnissen neu zu definieren. Denn: »Dieses Ministerium ist der klassische Repräsentant des Nationalstaats in allen grenzüberschreitenden Angelegenheiten. Aber wenn gleichsam alles ›international‹ wird, lässt sich ein Vertretungsmonopol nicht mehr aufrechterhalten. […] Es geht also darum, die Kernfunktionen von Auswärtigen Ämtern neu zu justieren. Insofern muss berück46 | Steinmeier, Frank-Walter: Rede anlässlich der Amtsübernahme als Bundesaußenminister, Berlin, 23.11.2005 (das Manuskript wurde vom Auswärtigen Amt zur Verfügung gestellt). 47 | Ebd. 48 | Vgl. o.V.: Steinmeiers Job; in: Rheinische Post, 25.01.2006, S. 2. 49 | Ebd. 50 | Buck, Christian: Ein Tag im Auswärtigen Amt. Von der Morgenpresse bis zum Nachtdienst; in: Brandt, Enrico; Buck, Christian (Hg.): Auswärtiges Amt. Diplomatie als Beruf, Wiesbaden 2005 4, S. 11-28; hier: S. 14. 51 | So zumindest zu Steinmeiers Amtsantritt; vgl. ebd., S. 14. 52 | Rüb, F.: Regieren, Regierungszentrale und Regierungsstile; in: Bröchler, S.; Blumenthal, J. von (Hg.): Regierungskanzleien, 2011, S. 76. 53 | Ebd., S. 73f.
9. Metamorphose II sichtigt werden, welche internationalen Aufgaben der Regierungschef selbst in die Hand nimmt. Daneben haben Finanzminister an internationaler Mitsprache gewonnen.« 54
Mehr Akteure sind also in außenpolitische Fragen involviert. Überflüssig ist das Ministerium dabei jedoch keineswegs geworden. »Man braucht Konsulardienste, diplomatische Erfahrungen, Kenntnisse des internationalen Rechts, Öffentlichkeitsbeziehungen im Ausland usw. Es gibt einen Bereich traditionaler außenpolitischer Verhandlungen, zu denen insbesondere auch Sicherheitsfragen gehören.«55 Joschka Fischer jedenfalls hatte diesem Wandlungsprozess bereits Rechnung getragen, Steinmeier führte diese vierte Wegmarke der deutschen Außenpolitik, die in den letzten Jahren der Kohl-Regierung betreten und schließlich unter Schröder ausgebaut wurde, fort. Sie zeichnete sich dadurch aus, »dass Deutschland […] an zahlreichen internationalen, auch militärischen Einsätzen beteiligt« war,56 die immer mehr nicht mehr nur »friedenskonsolidierenden Charakter« hatten, sondern, wie in Afghanistan, den »Druck auf die Bundesregierung« wachsen ließen, »sich auch an risikoreicheren militärischen Operationen […] zu beteiligen«.57 Diese vierte folgte drei vorausgegangen Wegmarken oder auch »grundlegende[n] Basisentscheidungen oder Wendemarken«, nämlich der »Westintegration der Bundesrepublik und die Ostintegration der DDR«, der »Öffnung mit der neuen deutschen Ostpolitik« und schließlich den »revolutionären Veränderungen in den Oststaaten des europäischen Kontinents, die die deutsche Einheit ermöglichten« (Hervorhebung F.P.).58
54 | König, K.: Verwaltete Regierung, 2002, S. 6f; vgl. auch Langguth, G.: Angela Merkel, 2010, S. 367. 55 | König, K.: Verwaltete Regierung, 2002, S. 7. 56 | Im Rückblick auf Kohls letzte beide Legislaturperioden, Schröders volle Amtszeit und Merkels erste Legislaturperiode werden hier Einsätze »im Libanon zur Überwachung des Waffenstillstands« angeführt, außerdem »in Afghanistan zur Stabilisierung des Regimes, am Horn von Afrika zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus«. Im Kosovo, das wurde in dieser Biographie bereits beschrieben, »haben erstmals deutsche Soldaten an Kampfeinsätzen ohne UNO-Mandat teilgenommen zur Verhinderung ethnischer Konflikte, in Bosnien-Herzegowina zur militärischen Überwachung des Friedensvertrags von Dayton. Früher wurden friedenssichernde Einsätze im Kongo, in Mazedonien, in Kuwait, im früheren Jugoslawien, im Irak, in Somalia und in Ruanda durchgeführt, an denen sich die Bundesrepublik im Rahmen von UNO bzw. EU beteiligte.«; Pfetsch, F.: Die Außenpolitik der Bundesrepublik, 2012, S. 222. 57 | Ebd. 58 | Ebd., S. 42; vgl. auch Jessen, Ralph: Bewältigte Vergangenheit – blockierte Zukunft? Ein prospektiver Blick auf die bundesrepublikanische Gesellschaft am Ende der
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IV. Politik im Vordergrund
Steinmeier übernahm gleichzeitig ein Amt, das dem Konsens verschrieben war, zumindest gibt es mit Ausnahme der Partei Die Linke einen »breite[n] parteipolitische[n] Konsens […] in den Grundüberzeugungen der europäischen Integration, der transatlantischen Beziehungen und des zurückhaltenden multilateral eingebetteten Einsatzes militärischer Gewalt«.59 Gleichwohl gibt es durchaus deutliche Unterschiede in der Gestaltung, auch: dem Gestaltungsanspruch von Außenpolitik, wie insbesondere die zweite rot-grüne Legislaturperiode gezeigt hat.60 Und tatsächlich sollte auch Steinmeier, das wird zu zeigen sein, nicht die Bewahrung des Status quo forcieren, sondern ihn durchaus antasten, versuchen, das Auswärtige Amt schlagkräftiger zu machen. Steinmeier kam allerdings aus dem Kanzleramt und war keineswegs vordergründig Außenpolitiker, zu dem er nun innerhalb nur weniger Wochen geadelt wurde. Das wurde auch in dieser ersten Rede im neuen Amt deutlich, die 2005 im Vergleich zu der von 201361 deutlich kürzer und weniger genau ausfiel. Dennoch zeigte sie auch vereinzelt Positionen und Ansprüche und damit erste Nuancen einer Agenda auf. Unmittelbar nach dem Dank an Joschka Fischer und der Betonung der »Kontinuität in der Außenpolitik«, die auch im Koalitionsvertrag festgeschrieben sei (was sie auch war62), kam Steinmeier auf ein Feld zu sprechen, dem er sich in den folgenden Jahren mit großem Engagement widmen wird, der Auswärtigen Kulturpolitik: »In einer Welt, in der kulturelle Identität und kulturelle Differenz eine immer stärkere Rolle spielen, ist sie ein unverzichtbarer Pfeiler unserer Außenpolitik. Und das muss sich auch in Haushaltsaufstellung und -vollzug widerspiegeln.«63 Erst dann sprach er von der »gewissen Ahnung, welche Aufgaben in den nächsten Monaten auf uns zukommen werden.«64 Er nannte die Iran-Problematik, die Herausforderungen in Europa hinsichtlich der Finanzpolitik und Nachkriegszeit; in: Jarausch, Konrad H. (Hg.): Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008, S. 177-195; hier: S. 182. 59 | Harnisch, Sebastian: Die Große Koalition in der Außen- und Sicherheitspolitik; in: Egle, C.; Zohlnhöfer, R. (Hg.): Die zweite große Koalition, 2010, S. 503-529; hier: S. 504. 60 | Vgl. Gareis, Sven-Bernhard: Die Außen- und Sicherheitspolitik der Großen Koalition; in: Bukow, S.; Seemann, W. (Hg.): Die Große Koalition, 2010, S. 228-243; hier: S. 228. 61 | Vgl. Kapitel 12 in dieser Biographie. 62 | So hieß es im Koalitionsvertrag: »In der Kontinuität deutscher Außenpolitik lassen wir uns von den Interessen und Werten unseres Landes leiten.«; Zitiert nach Pfetsch, F.: Die Außenpolitik der Bundesrepublik, 2012, S. 215. 63 | Steinmeier, F.-W.: Rede anlässlich der Amtsübernahme als Bundesaußenminister, Berlin, 23.11.2005. 64 | Ebd.
9. Metamorphose II
der deutschen Ratspräsidentschaft und schließlich betonte er die transatlantischen Beziehungen: »Wir setzen auf ein starkes und selbstbewusstes Europa, das für unsere amerikanischen Freunde ein verlässlicher Partner ist.«65 Tatsächlich standen die Beziehungen zu den USA unter der Herausforderung, sie wieder zu kitten, sie überhaupt wieder zu beleben. Das wurde auch deutlich in seiner folgenden Aussage: »Wir haben nicht nur eine gemeinsame Geschichte, die uns verbindet. Wir haben auch – angefangen vom Kampf gegen den internationalen Terrorismus, über den Wiederaufbau Afghanistans bis hin zur Stabilisierung des Nahen und Mittleren Ostens – eine Vielzahl gemeinsamer Interessen. Und wir sind in der Lage, mit den Differenzen, die es in der Vergangenheit gab, rational und zukunftsorientiert umzugehen, – so, wie es unter Freunden üblich ist.« 66
Anders als bei der Kulturpolitik glich dieser Anspruch jedoch beinahe einer Selbstverständlichkeit im Zuge des Regierungswechsels. Auffällig war, dass Steinmeier in seiner Antrittsrede Russland unerwähnt ließ, was den vermeintlichen Schwerpunkt der Reparatur der transatlantischen Beziehungen nochmals unterstrich, wenngleich Steinmeier jene Beziehungen zu Russland in seiner Amtszeit versuchte, auf eine neue Ebene zu heben. An inhaltlichen Ausführungen war es das indes schon. Es folgte eine Betonung der vierten Wegmarke. So seien »die Spielräume deutscher Außenpolitik […] unter dem scheidenden Außenminister mit Mut und Augenmaß neu vermessen worden. […] Unser Land hat weltweit an Ansehen gewonnen. Und wir sind nach innen gelassener geworden, selbstbewusster und offener.«67 Dies wolle er fortsetzen. »Ich rechne dabei auf Ihre Unterstützung«, richtete er seine Worte an die Mitarbeiter im Auswärtigen Amt. Dieser zweite Teil seiner Rede war tatsächlich nach innen gerichtet. So huldigte Steinmeier den »Ferrari der Bundesregierung« als »nicht nur ungewöhnlich leistungsfähiges, sondern auch loyales Haus«.68 Erste Weichen, um diese Loyalität zu erhalten, hatte er bereits im Voraus gestellt. Im Zuge der Haushaltssanierung soll der designierte Finanzminister Peer Steinbrück vorgeschlagen haben, auch »die Steuerbefreiung für Auslandszuschläge«, also für zwei Drittel der über 6000 Mitarbeiter, zu streichen.69 Steinmeier habe, so berichtete der Spiegel, sich in den Verhandlungen an Steinbrück gewandt
65 | Ebd. 66 | Ebd. 67 | Ebd. 68 | Ebd. 69 | Beste, Ralf: Vor der Schlacht; in: Spiegel, 21.11.2005, S. 36.
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IV. Politik im Vordergrund
und gefragt, »[o]b der ihm ›die Beine wegziehen‹ wolle«.70 Steinmeier konnte sich, wie bereits sein Amtsvorgänger in der gleichen Frage, durchsetzen und verkündete dies nun in seiner Antrittsrede mit den Worten: »Die Lebens- und Arbeitsbedingungen an vielen Dienstorten sind schwieriger und gefährlicher als im Inland. Es freut mich, dass wir in diesen Tagen andere erfolgreich daran erinnern konnten.«71 Diese Aussagen lesen sich wie Balsam für die Seele der Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes. Steinmeiers besonnene und vorsichtige Herangehensweise sollte auch hier nicht mit Beliebigkeit verwechselt werden. Denn für seine Arbeit, für die Organisation des Amtes, brachte er klare Vorstellungen mit, die er in seiner bisherigen Zeit im Hintergrund entwickeln konnte. Diese formulierte er deutlich mit einem Hauch von Kritik. Sie gaben Einblick in Steinmeiers Art der Führung. Zum einen sei hier die unbedingte Loyalität bei einer vorherigen Dialogbereitschaft zu nennen, die er mit den Worten artikulierte: »Wer mich kennt, der weiß, dass ich ein dialogbereiter Mensch bin, jemand, der Widerrede und Gegenargumente schätzt und honoriert. Aber ich bin auch jemand, der erwartet, dass das, was intern diskutiert und entschieden wurde, auch loyal nach außen vertreten wird.«72 Im Kanzleramt wurde die Vielstimmigkeit unter Steinmeier schnell abgeschafft, mindestens aber, etwa bei Michael Steiner, missbilligt.73 Einer solchen erteilte er nun erneut eine Absage. Er müsse »alle enttäuschen, die, wie es vor einigen Tagen in einer Boulevardzeitung zu lesen war, darauf hoffen, dass es in Zukunft Interviews von 6000 Mitarbeitern ohne Kenntnis und Billigung der Pressestelle geben wird«.74 Explizit ging er in diesem Zusammenhang auf seinen Arbeitsstil, »der im Kanzleramt doch eine nachhaltige Prägung erfahren hat«, ein.75 Die von ihm praktizierte klare Führungsstruktur, an die er sich selbst auch hielt, forderte der Außenminister nun erneut von seinen neuen Mitarbeitern ein: »Ich habe dort mit dem Haus sehr offen und sehr vertrauensvoll zusammengearbeitet. Mit den Abteilungsleitern, den Gruppen- und Referatsleitern und oft auch den Referenten, Ebenen übergreifend, wo notwendig, aber mit behutsamer Wahrung einer intakten Führungsstruktur.« 76 70 | Ebd. 71 | Steinmeier, F.-W.: Rede anlässlich der Amtsübernahme als Bundesaußenminister, Berlin, 23.11.2005. 72 | Ebd. 73 | Vgl. S. 222 in dieser Biographie. 74 | Steinmeier, F.-W.: Rede anlässlich der Amtsübernahme als Bundesaußenminister, Berlin, 23.11.2005. 75 | Ebd. 76 | Ebd.
9. Metamorphose II
Verbunden war diese Beschreibung der organisatorischen Struktur mit der Erwartung nach »außenpolitische[m] Gestaltungswillen, gute[n] Ideen und Mut im Meinungsstreit.«77 Es folgte eine nicht zu überhörende Kritik: »Manchmal habe ich – wenn ich das von draußen kommend sagen darf – in der Vergangenheit den Eindruck gehabt, dass sich dieses Haus mit seiner jedenfalls für den unvoreingenommenen Beobachter etwas sympathisch barocken Struktur zu sehr mit sich selbst beschäftigt.«78 Einmal mehr wählte Steinmeier hier nicht den einfachen, sondern den steinigeren Weg. Die Bewahrung des Status quo war schon im Kanzleramt seine Sache nicht. Wie wichtig ihm dieser organisatorische Aspekt schien, wird jedoch erst in der zweiten Amtszeit als Außenminister besonders deutlich, als er von Beginn an eine Reform der Strukturen anstrebte. Jedenfalls, das betonte er bereits 2005, wolle er ein »schlagkräftiges und ideenreiches Auswärtiges Amt«.79 Das ganze letzte Drittel seiner Rede räumte Steinmeier dem Plädoyer und dessen Begründung ein, dass Außen- und Innenpolitik in der heutigen Zeit zusammengehörten, »keine scharf getrennten Sphären mehr«80 seien. Es ist ein Ansatz, der hier offenbar wird, den er aus dem Kanzleramt, wo er diesen Anspruch in die Begründung der Agenda 2010 mit einbaute, ins Auswärtige Amt übertrug. »Unser außenpolitischer Wert«, definierte er, »bestimmt sich nicht mehr aus unserer Rolle als vorgeschobener Posten der westlichen Welt. Wir müssen selbst sehen, wie wir die Ereignisse außerhalb unserer Grenzen in unserem Sinne gemäß unserer Interessen beeinflussen können. Und wir werden diesen Einfluss nur haben, wenn wir ernst genommen werden.« 81
Ernst genommen werde man international nur dann, führte er aus, »wenn wir unsere Hausaufgaben machen, d.h. Antworten finden auf Fragen wie Demographie, Arbeitsmarkt, die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme und die Sicherung des Stellenwertes von Bildung und Forschung«.82 Umgekehrt wiederum würde das auch gelten: »Etwa im Bereich der Außenwirtschaftspolitik und der Außenhandelspolitik können wir alle einen sehr direkten Beitrag zur Sicherung von Wohlstand und Arbeitsplätzen leisten.«83
77 | Ebd. 78 | Ebd. 79 | Ebd. 80 | Ebd. 81 | Ebd. 82 | Ebd. 83 | Ebd.
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IV. Politik im Vordergrund
Ähnlich und ausführlicher argumentierte er bereits wenige Tage zuvor im SPD-Organ Vorwärts.84 Es scheint, dass es ihm tatsächlich ein wichtiges Anliegen gewesen war, dass er aus dem Kanzleramt nun ins Auswärtige Amt übertragen konnte, dass er diese Verschiebung tatsächlich inhalierte. Im neuen Amt fand sich Steinmeier dabei schnell ein. Spiegel,85 Welt 86 und Stern87 waren nach den ersten Wochen nach Amtsantritt voll des Lobes. Ein Diplomat aus dem Auswärtigen Amt ließ sich mit den Worten zitieren: »Er ist eine Woche im Amt und wirkt so, als ob er seit Jahren nichts anderes getan hat.«88 Tatsächlich absolvierte Steinmeier seine ersten Auftritte »beeindruckend«89 souverän, zum Beispiel in den USA beim Zusammentreffen mit Condoleezza Rice90 oder beim Antrittsbesuch in Frankreich zusammen mit Angela Merkel.91 In den unterschiedlichsten Themenbereichen wie Iran-Atomstreit, Briten-Rabatt oder Agrarsubventionen soll er von Beginn an mit Detailkenntnis beeindruckt haben.92 Steinmeier konnte von seinem profunden Wissen über Außenpolitik zehren, das er sich als Kanzleramtschef angeeignet hatte – er unterschied sich damit von seinem Nachfolger Guido Westerwelle, der sich im Voraus nur unwesentlich mit der Materie beschäftigte und sich überrascht von den Aufgaben zeigte: »Man kann sich von außen nicht vorstellen, wie fordernd dieses Amt ist.«93 Steinmeiers Vorgänger Fischer wiederum konnte zwar nicht von den Vorerfahrungen profitieren, hatte aber über mehrere Jahre vor dem Amtsantritt 1998 begonnen, sich mit dem Thema der Außenpolitik zu beschäftigen.94
84 | Vgl. Steinmeier, F.-W.: Fünfzehn gemeinsame Jahre; in: Vorwärts, 12/2005. 85 | Vgl. z.B. Beste, Ralf; Dahlkamp, Jürgen; Neumann, Conny; Stark, Holger; Windfuhr, Volkhard; Zand, Bernhard: Hilfe vom Scheich; in: Spiegel, 23.12.2005, S. 23-25. 86 | Vgl. z.B. Graw, A.: Geräuschlose Zuverlässigkeit; in: Welt, 10.12.2005. 87 | Vgl. z.B. Posche, U.: Der Edelweiße; in: Stern, 08.12.2005. 88 | Zitiert nach Wittke, Thomas: Außenminister auf Genschers Spuren; in: General-Anzeiger, 30.11.2005, S. 3. 89 | Graw, A.: Geräuschlose Zuverlässigkeit; in: Welt, 10.12.2005. 90 | Vgl. Posche, U.: Der Edelweiße; in: Stern, 08.12.2005. 91 | Vgl. Stadelmann, B.: Vom Kanzlerflüsterer; in: Stuttgarter Nachrichten, 26.11. 2005. 92 | Vgl. Wittke, T.: Außenminister auf Genschers Spuren; in: General-Anzeiger, 30.11. 2005. 93 | Westerwelle, Guido im Gespräch mit dem Spiegel; in: Neukirch, Ralf; Feldenkirchen, Markus; Theile, Merlind: »Ich kann auch anders«; in: Spiegel, 08.02.2010, S. 2628; hier: S. 28. 94 | Vgl. z.B. Krause-Burger, S.: Joschka Fischer, 1999, S. 235.
9. Metamorphose II
Dennoch: So umfangreich Steinmeiers Sachkenntnis auch gewesen sein mag, so groß schien gleichzeitig die Umstellung zu sein, die mit dem neuen Amt einherging. »In der ersten Zeit als Außenminister ist man mehr in der Luft als am Boden und hofft, dass man kein Porzellan zerschlägt«,95 erinnerte sich Steinmeier in einem rückblickenden Interview im Focus, in dem er Verständnis für Westerwelles spätere erste Gehversuche im Amt äußerte. Es ist eine Aussage, die zeigt, wie schwer es auch Steinmeier trotz all des Lobes zu Beginn gefallen sein muss. Steinmeier agierte nämlich gerade zu Beginn seiner Amtszeit ausgesprochen vorsichtig, stets bemüht, eben kein Porzellan zu zerschlagen. Auf seine Politikerwerdung, seine »Ochsentour rückwärts« wird später noch eingegangen. Schon jetzt taugt dieses vorsichtige Agieren jedoch als Erklärungsmuster für Kritik, die ihm im Verlauf seiner ersten Amtszeit zumindest in einzelnen Kommentaren auch entgegenschlug. Fernab der öffentlichen Präsentation hingegen absolvierte Steinmeier den Wandel hin zum exekutiven Politiker im Vordergrund, nicht dem zum Parteipolitiker, ohne Probleme. So suchte er vom ersten Moment an ein gutes Verhältnis zu Merkel, war also professionell genug, nicht in Nostalgie zu verfallen, falls er sich denn die alte Zeit unter Schröder zurückwünschte. Er erkannte – wie schon unter Schröder – die Hierarchien klar an. Bereits bei der Koalitionsvereinbarung betonte Steinmeier, dass ihn kein Blatt des Koalitionspapiers, »das ich mit verhandelt habe«, von Angela Merkel trennen würde.96 »Professionalität« attestierte er ihr nach der ersten gemeinsamen Reise nach Frankreich anerkennend.97 Bereits im früher zitierten Beitrag im Vorwärts warb er gleichzeitig für die Große Koalition. Er sprach von einer »Koalition der Vernunft und Verlässlichkeit«, die »pragmatisch, problem- und sachorientiert« sein müsse.98 Pragmatisch, problem- und sachorientiert – es ist jener Stil, den Steinmeier als Gestalter im Hintergrund stets forcierte und den er nun begann, in seine Politik im Vordergrund zu transformieren. In Bezug auf die Agenda 2010 äußerte er die Erwartung, dass die Koalition »den Kurs der Erneuerung fortsetzen« werde.99 Tatsächlich war Merkel »aufgrund ihres enttäuschenden Abschneidens [bei der Bundestagswahl] von ihrem neoliberalen Programm« abgerückt und forcierte von Beginn an »eine Politik der kleinen Schritte, die
95 | Steinmeier, Frank-Walter im Gespräch mit dem Focus; in: Pörtner, Rainer; Wiegold, Thomas: »Den Menschen werden die Augen aufgehen«; in: Focus, 23.11.2009, S. 3031; hier: S. 31. 96 | Zitiert nach O.V.: Außenminister; in: Focus, 05.12.2005, S. 30. 97 | Zitiert nach Stadelmann, B.: Vom Kanzlerflüsterer; in: Stuttgarter Nachrichten, 26.11.2005. 98 | Steinmeier, F.-W.: Fünfzehn gemeinsame Jahre; in: Vorwärts, 12/2005. 99 | Ebd.
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IV. Politik im Vordergrund
im Wesentlichen den Agendakurs der SPD fortführte«.100 Das kam dem Verhältnis Merkel-Steinmeier auch in ihrer außenpolitischen Zusammenarbeit zugute, war es doch das bisherige Projekt, das Steinmeier mit Leidenschaft vorangetrieben hatte. In einer Analyse ist von einer »kollegiale[en] und respektvoll[en]« Rollenverteilung zwischen den beiden die Rede. So war für Merkel die Außenpolitik zwar von Beginn an Chefsache,101 sie ließ Steinmeier jedoch dennoch Luft zum außenpolitischen Atmen. So konnte der neue Außenminister trotz seiner vorsichtigen Art, einiger bald in Kraft tretender Untersuchungsausschüsse und neben den Basics der Außenpolitik, etwa diverser Entführungsfälle, auch einige Akzente setzen. Insbesondere die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik muss hier genannt werden. Bereits in der ersten Fraktionssitzung nach der Verlautbarung, dass Steinmeier Außenminister werden würde, habe er sich an die langjährige Kulturpolitikerin im Bundestag, Monika Griefahn, gewandt. »Wir werden jetzt die Auswärtige Kulturpolitik gemeinsam voranbringen«, habe er gesagt, erinnert sich Griefahn an die damalige Begegnung.102 »Da war das Interesse vom ersten Moment an da. Und er kam unaufgefordert zu mir. Er hatte – anders als Fischer – früh verstanden, dass es preiswerter ist, unterhalb der politischen Ebene in Kontakt zu bleiben, und damit Kriege verhindern kann.«103 Tatsächlich hatte Amtsvorgänger Fischer sich für die Auswärtigen Kulturpolitik »nicht die Bohne« (taz)104 interessiert und sie »wohl nie als Instrument globaler Kontaktaufnahme« (Frankfurter Rundschau) ernstgenommen.105 Unter Führung des grünen Außenministers wurden Mittel – wie bereits unter seinem Vorgänger – gekürzt,106 obwohl unter ihm eine Neukonzeption der einstigen Leitlinien vorgelegt worden war, die nun unter Steinmeier »maßgeblich 100 | Jarausch, Konrad H.: Anfänge der Berliner Republik (1990-2012); in: Dirlmeier, Ulf; Gestrich, Andreas; Herrmann, Ulrich; Hinrichs, Ernst; Jarausch, Konrad H.; Kleßmann, Christoph; Reulecke, Jürgen: Deutsche Geschichte, Stuttgart 2013, S. 477-510; hier: S. 508. 101 | Vgl. Gareis, S.-B.: Die Außen- und Sicherheitspolitik; in: Bukow, S.; Seemann, W. (Hg.): Die Große Koalition, 2010, S. 231. 102 | Griefahn, Monika im Gespräch mit dem Autor am 26.06.2013. 103 | Ebd. 104 | Knipphals, Dirk: Der Kampf um Goethe; in: taz, 11.09.2008, S. 16. 105 | Dietrich, Johannes: Die deutsche Charmeoffensive; in: Frankfurter Rundschau, 04.09.2008, S. 35. 106 | Vgl. z.B. Wieland, Freund: Die Exportschlager deutscher Kultur; in: Welt, 22.05.2002, S. 26; In der Zeitschrift Internationale Politik wurde 2006 konstatiert, dass »das Außenministerium seine Zuweisungen in den letzten zwölf Jahren kontinuierlich gesenkt« habe, »und zwar unabhängig vom Parteibuch des zuständigen Ministers«;
9. Metamorphose II
vorangetrieben« worden ist.107 Fischer habe »das schleifen lassen«, erinnert sich im Rückblick auch Ulla Schmidt, zu jener Zeit Gesundheitsministerin.108 Und selbst Bernd Neumann, Kulturstaatssekretär im Kanzleramt und damit der erste CDU-Mann in dem unter Schröder eingeführten Amt, begrüßte, »dass die Kulturpolitik kein Schattendasein mehr« führe.109 »Im Gegensatz zu Joschka Fischer, der sich um die Auswärtige Kulturpolitik nicht gekümmert hat, nimmt Steinmeier seine Aufgabe wahr.«110 Mit Steinmeier wurde hier also eine Wende eingeleitet. Auch war es eine Rückbesinnung zur sozialliberalen Koalition in den 1970er Jahren, in denen die Kulturpolitik erstmals in einem systematischen Ansatz festgeschrieben wurde.111 Willy Brandt hatte sie damals als »dritte Säule« der Außenpolitik bezeichnet,112 wenngleich ihre Ursprünge noch viel älter waren und bis in die 1870er Jahre zurückreichten.113 Mit der Auswärtigen Kulturpolitik war zunehmend ein Politikfeld entstanden, »das zunächst in den europäischen, dann aber auch in anderen Staaten mehr und mehr Aufmerksamkeit der Regierungen und der Gesellschaften auf sich gezogen hat«.114 Sie galt mitunter als »Seismograf und Teil eines Frühwarnsystems zur Verhinderung, zumindest aber Eindämmung kriegerischer Konflikte«.115 Auch ein wirtschaftliches Interesse ist nicht von der Hand zu weisen.116 Fünf allgemeine Instrumente werden gemeinhin in Bezug auf die Wefing, Heinrich: Anmerkungen zu den jüngsten Debatten über das Goethe-Institut; in: Internationale Politik, 8/2006, S. 106-111; hier: S. 107. 107 | Kettner, Peter: Menschen bewegen – Das Auswärtige Amt in der Außenkulturpolitik; in: Maaß, Kurt-Jürgen (Hg.): Kultur und Außenpolitik. Handbuch für Studium und Praxis, Baden-Baden 2009 2, S. 239-247; hier: S. 239. 108 | Schmidt, Ulla im Gespräch mit dem Autor am 17.10.2013. 109 | Neumann, Bernd im Gespräch mit der Welt am Sonntag; in: Poschardt, Ulf; Wulff, Matthias: »Die Linken sind häufig intoleranter«; in: Welt am Sonntag, 17.05.2009, S. 72. 110 | Ebd. 111 | Vgl. Maaß, Kurt-Jürgen: Überblick: Ziele und Instrumente der Auswärtigen Kulturpolitik; in: Maaß, K.-J. (Hg.): Kultur und Außenpolitik, 2009, S. 25-32; hier: S. 26. 112 | Zitiert nach ebd., S. 26. 113 | Die Auswärtige Kulturpolitik war da zwar keineswegs festgeschrieben, mit 96 Auslandschulen, die bis zur Jahrtausendwende auf eine Zahl von 438 anstiegen »und bis 1913 […] nochmals 262 hinzu[kamen]« wurde sie jedoch bereits da praktisch eingesetzt; Düwell, Kurt: Zwischen Propaganda und Friedensarbeit – 100 Jahre Geschichte der deutschen Kulturpolitik; in: Maaß, K.-J. (Hg.): Kultur und Außenpolitik, 2009, S. 61112; hier: S. 66. 114 | Ebd., S. 111. 115 | Ebd. 116 | So wurde insbesondere unter Außenminister Klaus Kinkel »eine Verbindung zur Außenwirtschaftspolitik« hergestellt, weil sie »die Akzeptanz für deutsche Produkte, In-
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IV. Politik im Vordergrund
Auswärtige Kulturpolitik genannt: die »festen Vertretungen und Strukturen im jeweiligen Partnerland«, »die Mobilität und Begegnung von Personen«, »das Angebot von Informationen«, »materielle Hilfen« und »die Sprachvermittlung«.117 Diese Instrumente der auswärtigen Kulturpolitik wurden herangezogen »im Dienste der freiheitlichen Demokratie, der Konfliktverhütung, der Friedenssicherung und des Schutzes der Menschenrechte.«118 Immer wieder war dieses Politikfeld jedoch auch von Kürzungen bedroht. International können hier die USA als Beispiel angeführt werden, die nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation Anfang der 1990er Jahre begannen, »die Außenkulturpolitikstrukturen im Ausland abzubauen und die Programmarbeit einzustellen«.119 Auch als Folge dessen, heißt es in einer Analyse, seien die USA, »von der Welle des Hasses und der Ablehnung aus der islamisch geprägten Welt, insbesondere als Folge des Irakkrieges, komplett überrascht« worden.120 Steinmeier hatte hier also ein Feld vorgefunden, in dem es, wollte man es ausbauen, einiges zu tun gab. Nachdem er in seiner Antrittsrede dieses Thema ganz an den Anfang stellte, sprach er in diesem Zusammenhang 2007 von einem »Dreiklang« aus Goethe-Instituten, Auslandsschulen und Wissenschaftspolitik.121 Schon 2006 warb er in einer Rede zu den Haushaltsverhandlungen im Bundestag für die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik. Hier forderte er ganz offen eine insgesamt deutlich gesteigerte Präsenz der deutschen Außenpolitik und Deutschlands und sprach in Bezug auf das wiederentdeckte Themenfeld von einer »Trendwende«, deren Ursprung er für sich reklamierte: »Deshalb bitte ich Sie, diesen Haushalt zu unterstützen, einen Haushalt, der aus meiner Sicht durchaus erste Ansätze für eine Verbesserung der Situation enthält und insbesondere bei der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik Zeichen setzt. Für diesen Politik-
vestitionen und Dienstleistungen zu erhöhen, und indem die kulturelle, ordnungspolitische, demokratisch-wertorientierte Ausstrahlung Deutschlands im günstigsten Fall auch die Wettbewerbsfähigkeit« verbessere; siehe: Maaß, K.-J.: Überblick; in: Maaß, K.-J. (Hg.): Kultur und Außenpolitik, 2009, S. 25-32; hier: S. 26. 117 | Ebd., S. 29. 118 | Düwell, K.: Zwischen Propaganda und Friedensarbeit; in: Maaß, K.-J. (Hg.): Kultur und Außenpolitik, 2009, S. 61-112; hier: S. 111. 119 | Maaß, Kurt-Jürgen: Aktuelle Herausforderungen der Auswärtigen Kulturpolitik; in: Jäger, T.; Höse, A.; Oppermann, K. (Hg.): Deutsche Außenpolitik, 2011, S. 584-602; hier: S. 596. 120 | Ebd. 121 | Zitiert nach o.V.: Steinmeier für stärkeren »Dialog der Kulturen«; in: Welt, 31.12.2007, S. 27.
9. Metamorphose II bereich habe ich mich auch hier im Parlament im letzten Jahr mehrere Male eingesetzt, um auf diesem Gebiet so etwas wie eine kleine Trendwende einzuleiten.«122
Selbstkritisch, wohl mehr allerdings an die ablehnenden Kräfte gerichtet, betonte er außerdem: »Vielleicht mussten wir erst alle lernen, wie wichtig die auswärtige Kultur- und Bildungspolitik ist. Vielleicht haben wir das auch zu spät gelernt. Ich jedenfalls bin der Meinung, dass wir diese dritte Säule der deutschen Außenpolitik in der Vergangenheit nicht genug geschätzt haben. Entweder haben wir ihren Wert nicht erkannt oder wir sind davon ausgegangen, dass es sich dabei um eine Art Luxusannex der deutschen Außenpolitik handelt.«123
Steinmeier nahm hier eine klare Haltung ein und betitelte die Auswärtige Kulturpolitik wieder als »dritte Säule der Außenpolitik«. Die Kritik, dass dies in der Vergangenheit nicht immer der Fall gewesen sei, muss auch als Kritik an seinem Vorgänger verstanden werden. Steinmeier zeigte sich überzeugt von der Wichtigkeit dieser Säule, wenn er außerdem hinzufügte: »Gerade in diesem Jahr, einem Jahr, in dem es zu großen Irritationen, vielen Missverständnissen und sogar zu handfesten Konflikten zwischen Europa bzw. der westlichen Welt und Teilen der arabisch-islamischen Welt gekommen ist, ist eines klar geworden […]: Wenn wir in Zukunft nicht noch häufiger über das Verhältnis von zivilen und militärischen Engagements im Rahmen der Missionen, an denen wir uns beteiligen, reden wollen, und wenn wir nicht noch häufiger über die Höhe des Haushaltsansatzes für zivile Wiederaufbauleistungen […] streiten wollen, dann müssen wir die Elemente ziviler und präventiver Sicherheit ausbauen.«124
Und weiter: »Das bedeutet aber: Wir müssen uns auch in den Regionen, in denen es uns schwer fällt, verständlich machen; wir müssen erklären, worauf es uns ankommt, und wir müssen alle Beteiligten davon überzeugen, dass es am besten ist, Lösungen möglichst gemeinsam anzugehen. Das verlangt mehr als nur eine Botschaft und einen Botschafter. Das bedarf 122 | Steinmeier, Frank-Walter: Rede vor dem Deutschen Bundestag anlässlich der Haushaltsdebatte zu den außenpolitischen Herausforderungen 2007, Berlin, 22.11.2006; Redemanuskript abrufbar unter: www.auswaertiges-amt.de/DE/Infoser vice/Presse/Reden/2006/061122-Haushaltsdebatte.html (zuletzt eingesehen am 28.06.2016). 123 | Ebd. 124 | Ebd.
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IV. Politik im Vordergrund der Ebene menschlicher Begegnungen und der Schaffung eines dichten Netzwerkes kultureller Beziehungen. Darüber hinaus sollten wir, was unsere Auslandsschulen und den wissenschaftlichen Austausch betrifft, ehrgeiziger sein.«125
Eine umfangreiche Agenda hatte Steinmeier in jener Rede skizziert. Es zeigte eine tiefe Überzeugung des Außenministers auf, nämlich das mit jener Politik mehr erreicht werden könne als mit den traditionellen Säulen der Außenpolitik, mehr noch aber: dass Kultur, so lapidar es klingen mag, ein wesentlicher Mittler zwischen den Kulturen sein könne. Dass konnte Steinmeier im Kanzleramt sehen, zumindest betonte und lobte er, dass die damalige Einrichtung eines Kulturministers »etwas kreativen Wind in dieses Haus geweht« habe.126 In vielen seiner Reden als Außenminister tauchte fortan die Kulturpolitik an prädestinierter Stelle auf. Etwas später, 2008, konnte er bereits auf erste Maßnahmen zurückblicken und einmal mehr für diese Säule werben: »[W]ir müssen stärker als jemals zuvor uns anstrengen, unsere Haltungen, Einstellungen und Sichtweisen verständlich und anschlussfähig zu machen, wenn wir von unseren Partnern in der Welt gehört und verstanden werden wollen. Dazu werden klassische Instrumente der Außenpolitik, diplomatische Kunstfertigkeit nicht ausreichen, kaum taugen, jedenfalls nicht ausreichen!« 127
Die Konsequenz, die Steinmeier daraus zog, lautete: »Und das geht nun einmal am besten und am natürlichsten durch Bildung und Kultur. Wir haben deswegen vor drei Jahren begonnen, diesen Bereich zu modernisieren und den veränderten Aufgaben anzupassen. Die Reform und der Neuaufbau des Goethe-Institutes, die Erweiterung deutscher Sprachangebote und unserer Partnerschulen im Ausland waren bislang die Schwerpunkte.«128
Er verkündete, »diese Anstrengungen in den Bereich von Wissenschaft und Forschung verlängern« zu wollen, »sozusagen vom Wurzelwerk der Spracharbeit zu den feinen Ästen der Wissenschaft«129 zu gelangen. Tatsächlich sind viele Bemühungen Steinmeiers nachweisbar. Der Etat für die Auswärtige Kulturpolitik wurde – Steinmeier argumentierte, wie gezeigt, in den Haushaltsverhandlungen im Bundestag bereits früh dafür – während seiner Amtszeit 125 | Ebd. 126 | Zitiert nach Gaus, B.: Von innen nach außen; in: taz, 25.11.2005. 127 | Steinmeier, F.W.: Rede beim Fundraising-Dinner der Universität Göttingen, Göttingen, 31.10.2008. 128 | Ebd. 129 | Ebd.
9. Metamorphose II
»nach Jahren der Auszehrung« deutlich erhöht.130 Wurden im Jahr 2004 unter Fischer noch 543 Millionen für die Auswärtige Kulturpolitik zur Verfügung gestellt, waren es im Jahr 2009 726 Millionen Euro.131 Davon profitierten insbesondere auch die Goethe-Institute. »Die Medien berichte[te]n neuerdings wieder von der Eröffnung neuer Goethe-Institute statt von der zuvor schon notorisch gewordenen Schrumpfung und Schließung«, heißt es treffend in einer Analyse.132 So wurden die Goethe-Institute organisatorisch reformiert, die Außenstellen konnten infolgedessen erhalten werden, in den vier Jahren unter Steinmeier wurden zudem zehn Niederlassungen neu eröffnet.133 Insbesondere wurden bei den Goethe-Instituten auch die Standorte in Afrika gestärkt und ausgebaut,134 womit, das wird insbesondere noch bei der Frage des richtigen Kurses (und der richtigen Antworten) in der Außenpolitik zu diskutieren sein, den veränderten Anforderungen einer globalisierten Welt Rechnung getragen worden ist. Während Steinmeiers Amtszeit stieg die Zahl der deutschen Auslandsschulen signifikant an.135 2008 wurde mit dem Programm »Schulen: Partner der Zukunft« zudem »eine Partnerschulinitiative gestartet, die Schulen im Ausland unterstützt, welche Deutsch als erste Fremdsprache anbieten.«136 Die Initiative, wird in einer Analyse geurteilt, »hatte einen überraschend großen Erfolg: bis zum Frühjahr 2009 konnten bereits 1200 ausländische Schulen in das Programm aufgenommen und damit 150.000 junge Menschen erreicht werden.«137 Immer neue Initiativen zum kulturellen Austausch wurden unter Steinmeier ins Leben gerufen: so etwa die »Ernst-Reuter-Initiative«, in deren Rahmen eine deutsch-türkische Universität in Istanbul eröffnet wurde oder ein Schriftsteller-Austausch zwischen Israel und Deutschland, die der damalige israelische Botschafter Ben Zeev noch 2011, also nach Steinmeiers Ausscheiden, in einem Interview hervorhob und Steinmeiers Urheberschaft be130 | Ammon, Ulrich: Umkämpftes Privileg – Die deutsche Sprache; in: Maaß, K.-J. (Hg.): Kultur und Außenpolitik, 2009, S. 113-126; hier: S. 113. 131 | Vgl. Kettner, P.: Menschen bewegen; in: Maaß, K.-J. (Hg.): Kultur und Außenpolitik, 2009, S. 240. 132 | Ammon, U.: Umkämpftes Privileg; in: Maaß, K.-J. (Hg.): Kultur und Außenpolitik, 2009, S. 113. 133 | Weikard, André: Steine sammeln; in: Tagesspiegel, 25.04.2009, S. 22. 134 | Dietrich, J.: Die deutsche Charmeoffensive; in: Frankfurter Rundschau, 04.09.2008. 135 | Die Zahl stieg von 117 auf 140 Auslandsschulen; vgl. Link, Christoph: Deutsche Schulen bangen um die Zukunft; in: Stuttgarter Zeitung, 13.12.2010, S. 4. 136 | Maaß, K.-J.: Aktuelle Herausforderungen; in: Jäger, T.; Höse, A.; Oppermann, K. (Hg.): Deutsche Außenpolitik, 2011, S. 596. 137 | Ebd.
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tonte.138 Hinzu kamen unter anderem mehrere Konferenzen zur Auswärtigen Kulturpolitik, mit denen die Kulturpolitik vor allem ins Innere, also mit Blickrichtung Deutschland, bekannter gemacht werden sollte.139 In summa war eine hohe Zahl an Veranstaltungen vorhanden, die unter Steinmeier unter dem Siegel dieser Kulturpolitik stattfanden. Einmal mehr formte Steinmeier das von ihm geführte Amt dabei nach seinen Ansprüchen um. Anderthalb Jahre nach seinem Start als Außenminister wurde die Abteilung Auswärtige Kulturpolitik mit der Kommunikationsabteilung zusammengelegt. Aus Sicht von Experten war das ein richtiger Schritt: »Der Kommunikationsaspekt hat in den letzten Jahren […] stark an Bedeutung gewonnen. Die Erkenntnis, dass es nicht reicht, Gutes zu tun, sondern dass auch darüber gesprochen werden muss, hat sich in weiten Teilen durchgesetzt.«140 Hier also setzte Steinmeier ganz bewusst auf eine neue Außendarstellung. Für die Kultur bedeutete diese neue Organisation »personell ihre stärkste Besetzung seit ihrem Bestehen im Auswärtigen Amt«,141 was einmal mehr den neuen Stellenwert widerspiegelte. Nicht nur für die taz wurde so im Verlauf dieser Jahre deutlich, dass »Kulturaustausch inzwischen nicht mehr unter Multikulti und Tralala« läuft.142 Auch in der Wissenschaft wird zu Recht von einer »nachhaltige[n] Darstellung im Ausland« gesprochen.143 Inhaltlich sei »das Feld der Partner deutlich ausgeweitet« worden.144 Dabei seien neue Themen besetzt worden, »wodurch die Auswärtige Kulturpolitik insgesamt deutlich an Schärfe und Bedeutung im außenpolitischen Gefüge gewonnen hat.«145 Die Leiterin des Instituts für Auslandsbeziehungen, Ursula Seiler-Albring, freute sich in Bezug auf die erste Konferenz zur Auswärtigen Kulturpolitik zudem darüber, dass diese zeige, dass Steinmeiers »Wertschätzung für die Kulturpolitik kein Lippenbekenntnis« sei, »sondern dass er davon wirklich durchdrungen ist.«146 Sie ging noch 138 | Zeev, Ben im Gespräch mit der Welt; in: Wergin, Clemens: »Die Wurzeln unserer Beziehungen sind stark«; in: Welt, 26.11.2011, S. 6. 139 | Vgl. Kettner, P.: Menschen bewegen; in: Maaß, K.-J. (Hg.): Kultur und Außenpolitik, 2009, S. 243. 140 | Maaß, K.-J.: Aktuelle Herausforderungen; in: Jäger, T.; Höse, A.; Oppermann, K. (Hg.): Deutsche Außenpolitik, 2011, S. 586. 141 | Ebd. 142 | Knipphals, D.: Der Kampf um Goethe; in: taz, 11.09.2008. 143 | Kettner, P.: Menschen bewegen; in: Maaß, K.-J. (Hg.): Kultur und Außenpolitik, 2009, S. 243f. 144 | Ebd.; S. 240. 145 | Ebd. 146 | Seiler-Albring, Ursula im Gespräch mit der Stuttgarter Zeitung; in: Schleider, Tim: »Keine Konkurrenz zu den Goethe-Instituten«; in: Stuttgarter Zeitung, 17.01.2007, S. 3.
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einen Schritt weiter und betonte, dass Kultur für den Außenminister »kein ›nice to have‹ […], sondern eine seiner Prioritäten« sei.147 Der Spiegel sprach zwar von einem »aufopferungsvoll[en]« Kümmern »um die Modernisierung der Auswärtigen Kulturpolitik«, setzte aber den Hinweis vorne weg, dass dies doch eine »kleinere Nische[]« sei, »in die selbst Merkel nicht mehr folgen mag«.148 Diese Aussage ist jedoch insofern falsch, als dass Merkel deutliche Signale zur Akzeptanz der Kulturpolitik setzte. Zum anderen wird in dieser Argumentation der frühere Blickwinkel auf die Auswärtige Kulturpolitik sichtbar, wurde sie doch als etwas beinahe Unnötiges beschrieben, als ein Gimmick. Folgt man der Argumentation von einer gleichberechtigten dritten Säule, mit der Kriege zumindest eingedämmt und das Verständnis zwischen den Kulturen gefördert werden kann, muss die Beschreibung des Spiegel negiert werden. Mit der Auswärtigen Kulturpolitik einher gingen bei Steinmeier Überlegungen um eine Neujustierung der Außenpolitik. Hier, das wird in seinen Reden deutlich, hat sich erst nach und nach eine klare Idee zukünftiger Außenpolitik abgezeichnet, wenngleich Steinmeier mit seiner Akzentuierung bereits zu Beginn ein deutliches Signal aufgezeigt hatte, in welche Richtung er dachte. Die Debatte forcierte er jedenfalls, teils fernab der Öffentlichkeit, von Beginn an. Nachdem seine Antrittsrede noch vergleichsweise dünn ausfiel, waren bereits rund ein Jahr später deutliche Ansätze sichtbar, die über das Tagesaktuelle hinausgingen. In einer Rede Ende 2006 beschrieb Steinmeier eindringlich, wie er mit den verschiedenen Staaten dieser Welt umzugehen gedenke. So plädierte er dafür, dass man »zu einer Kultur des Dialogs zurückkehren«149 müsse. Die Aufgabe der deutschen Außenpolitik definierte er mit den Worten, »nach Wegen zu suchen, die selbst in heftigen Konflikten auf einen gemeinsamen Boden zurückführen. Diesen gemeinsamen Boden bilden zunächst einmal die wechselseitigen Abhängigkeiten in einer globalisierten, aber gefährdeten Welt. Sie können gestört, aber nicht auf Dauer negiert werden. Außenpolitik muss den Dialog auf dem Boden der Tatsachen suchen.«150
147 | Ebd. 148 | Beste, Ralf: Ein stiller Präventivkrieg; in: Spiegel, 27.08.2007, S. 40-42; hier: S. 42. 149 | Steinmeier, Frank-Walter: »Der Dialog der Kulturen: eine Herausforderung für die deutsche Außenpolitik« – Rede auf Einladung der EKD, Berlin, 21.11.2006; Manuskript abrufbar unter: www.auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Reden/2006/0611 21-Bischhofsdinner.html (zuletzt eingesehen am 28.06.2016). 150 | Ebd.
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Was Steinmeier da beschrieb, bedeutete nichts weniger, als gegenseitige Abhängigkeiten unabhängig von den politischen Situationen zu suchen, sich also nicht einem Wunsch nach einem bestimmten Staatssystem hinzugeben, sondern zunächst einmal die Tatsachen zu akzeptieren. Er veranschaulichte seine These mit den Worten, dass für einen Waffenstillstand im Libanonkrieg 2006, der in jenem Jahr viele Opfer brachte, »keine letzten Wahrheiten zwischen unterschiedlichen Kulturen und Religionen geklärt werden« könnten, »sondern die bisherigen und weiter drohenden Zerstörungen und Verluste mit den Chancen abgewogen werden« müssten, »die ein Waffenstillstand bietet.«151 Er betonte, dass er es nicht ablehne, über »kulturelle[] und religiöse[] Auffassungen« zu sprechen, doch bereits zuvor müsse man sich bei »praktischen Entscheidungen […] verständigen«.152 Was er damit meint, formulierte er noch einmal nachdrücklich: »So vernünftig also die Absicht ist, im Dialog Verständigung zu suchen, läuft der Dialog der Kulturen als politisches Konzept immer Gefahr, in Beschwörungsritualen zu enden, die mit dem Alltag unserer Konflikte wenig zu tun haben!«153 Schon lange bevor zwischen Merkel und Steinmeier sowie zwischen SPD und CDU eine kurze Debatte um Merkels vermeintliche »Schaufensterpolitik« tobte, die Steinmeier insbesondere in Bezug auf ein Treffen Merkels mit dem Dalai Lama anprangerte, diskutierte er also diese Facette der Außenpolitik. Hierbei schien sich bei Steinmeier immer mehr eine Haltung durchzusetzen, die, wie es die Berliner Zeitung beschrieb, einen »Mittelweg […] zwischen Schröders Kumpanei und Merkels verbissenem Distanzierungskurs« suchte.154 »Wie verhält man sich gegenüber einer wirtschaftlich starken Diktatur?«, war die vom Spiegel zusammengefasste Frage, die damit einherging.155 Steinmeier setzte sich in der Tat von Beginn an von Schröders Linie ab, traf sich etwa auch in Russland mit Oppositionellen. Dennoch war er der Überzeugung, dass nur ein diskretes Auftreten zu Veränderungen bei autoritären Staaten führen könne,156 womit er sich deutlich von der Bundeskanzlerin unterschied. Selbst solchen Herrschern wolle er, zitierte der Spiegel den Außenminister, »die Nase
151 | Ebd. 152 | Ebd. 153 | Ebd. 154 | Fras, Damir: Recht und Geschäft in der Außenpolitik, 27.11.2007, S. 4. 155 | Beste, Ralf; Kurbjuweit, Dirk; Lorenz, Andreas; Neukirch, Ralf: Außenpolitik, süßsauer; in: Spiegel, 26.11.2007, S. 22-26; hier: S. 22. 156 | Vgl. ebd.; und: Fras, D.: Recht und Geschäft, 27.11.2007; vgl. auch Beste, Ralf; Neukirch, Ralf; Schepp, Matthias: Die teuren Menschenrechte; in: Spiegel, 22.01.2007, S. 44-46.
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im Gesicht lassen«.157 Der Maßstab müsse sein, »was den Menschen und den Menschenrechten hilft«,158 skizzierte Steinmeier, angesprochen auf seine Kritik der »Schaufensterpolitik«. Er kritisierte dabei, dass »schon der mühsame Dialog an sich mit autoritären Staaten als Leisetreterei oder als der Verzicht auf Kritik gebrandmarkt« werde.159 Merkels gegensätzlichen Weg beschrieb der Spiegel mit den Worten: »Wer die Stärken des eigenen Systems gegenüber der Konkurrenz betonen will, muss laut werden, muss ins Schaufenster treten – und handelt sich Ärger ein, weil die eigenen Stärken meist die Schwächen des anderen sind.«160 Für die Position Steinmeiers sprach die Reaktion der chinesischen Führung nach dem offiziellen Empfang des Dalai Lama, wodurch die Beziehungen zu eben jenem Land vorläufig eingedämmt und damit der direkte Draht und damit die Möglichkeit der Einflussnahme auf die chinesische Führung beschnitten worden waren. In Bezug auf Russland und Putin hatte Merkel im Vergleich zu Schröder eine sichtbar »sachorientierte[re] Einstellung« gezeigt161 und vor allem auch lautere, plakativere Kritik geübt. Demgegenüber agierte Steinmeier deutlich leiser. Es ist vermutlich richtig, wenn der Spiegel darauf verweist, dass es keinen »Königsweg« gebe.162 Es ist, wie so häufig, das Zusammenspiel aus unterschiedlichen Ansätzen, die auch dem jeweiligen Land angepasst werden müssen. Wohl aber kann aufgezeigt werden, wie Steinmeier in diesem Zusammenhang dachte. Von einem »Dialog der Kulturen« sprach er fortan häufig, machte damit sogleich klar, dass man keineswegs erwarten könne, dass sich die europäischen Werte wie von selbst in der Welt durchsetzen würden.163 So sagte er: 157 | Zitiert nach Beste, R.; Neukirch, R.; Schepp, M.: Die teuren Menschenrechte; in: Spiegel, 22.01.2007, S. 46. 158 | Steinmeier, Frank-Walter im Gespräch mit dem Spiegel; in: Beste, Ralf; Nelles, Roland; Mascolo, Georg: »Ich bin kein Krawallmacher«; in: Spiegel, 26.11.2007, S. 2631; hier: S. 27. 159 | Ebd. 160 | Beste, R.; Kurbjuweit, D.; Lorenz, A.; Neukirch, R.: Außenpolitik, süßsauer; in: Spiegel, 26.11.2007, S. 24. 161 | Hacke, Christian: Deutsche Außenpolitik unter Bundeskanzlerin Angela Merkel; in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 43/2006, S. 30-37; hier: S. 34. 162 | Beste, R.; Kurbjuweit, D.; Lorenz, A.; Neukirch, R.: Außenpolitik, süßsauer; in: Spiegel, 26.11.2007, S. 24. 163 | Vgl. Steinmeier, Frank-Walter: »China – Partner für eine vorausschauende Außenpolitik« – Rede anlässlich einer Festveranstaltung des Hasso-Plattner-Instituts, Potsdam, 19.09.2007; Redemanuskript abrufbar unter: www.auswaertiges-amt.de/DE/In foservice/Presse/Reden/2007/070918-SteinmeierHassoPlattnerInstitut.html (zuletzt eingesehen am 29.06.2016).
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IV. Politik im Vordergrund »In der Welt von morgen, in der sich neue Mächte wie Indien, China und auch noch andere nach vorne schieben, können wir nicht mehr mit derselben Selbstverständlichkeit davon ausgehen, dass die westlich-europäische Kultur selbstverständlich als allgemeingültige Richtschnur akzeptiert wird. Das ist nun alles andere als ein Grund zu Angst oder Panik – jedenfalls wenn man bereit ist zu lernen und zu überzeugen. Es unterstreicht vielmehr die Notwendigkeit, uns im wahrsten Sinne des Wortes wieder verständlich zu machen.«164
In diesem Zusammenhang, dass die »europäische Kultur [nicht wie] selbstverständlich als allgemeingültige Richtschnur« akzeptiert werde, betonte er die wichtige Rolle der bereits beschriebenen Auswärtigen Kulturpolitik: »Deshalb kommt der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik in Zukunft eine ganz neue Bedeutung zu. Sie ist ganz im Sinne einer vorausschauenden Außenpolitik eine Investition in eine gemeinsame Zukunft und ich glaube, wir sind hier auch im Blick auf China auf einem guten Weg.«165
Tatsächlich hatte Steinmeier zunehmend einen eigenen Anspruch für seine Außenpolitik definiert, die auch vorsah, »in einigen aus dem Blick oder in die Kritik geratenen schwierigen Ländern neue Gesprächsfäden zu knüpfen.«166 Mit der Kulturpolitik einher ging die Definition eines neuen deutschen außenpolitischen Anspruchs in der Welt. Immer wieder betonte er, gerade in Bezug auf die Kultur, die Vergleichsfolien Großbritannien und Frankreich, mit denen man sich messen müsse. Doch auch insgesamt, forderte er, müsse Deutschland wieder präsenter werden. So formulierte er bereits 2006: »Ich darf es einmal so sagen: Bescheidenheit ist sicherlich eine Zier kluger Diplomatie. Aber ich halte es rückblickend – das muss ich ganz offen sagen – für einen Fehler, dass wir heute gegenüber dem Stand von 1993 26 Länder mehr betreuen bei insgesamt 10 Prozent weniger Personal. Ich frage rückblickend, ob der Schritt hin zu einigen Laptopbotschaften eher ein kreativer Umgang mit dem Mangel war als eine kluge und effektive Idee, sich in diesen Regionen zu halten. Mit selbstbewusster Präsenz hat das jedenfalls aus meiner Sicht nichts zu tun. Wir müssen uns immer ein bisschen mit denen vergleichen, mit denen wir uns auch vergleichen können. Ich weise deshalb auf Folgendes hin: Der diplomatische Dienst der Franzosen hat 10 000 Personen mehr, der der 164 | Ebd. 165 | Ebd. 166 | Steinmeier, Frank-Walter: Nationalkultur im 21. Jahrhundert. Rede anlässlich des internationalen Symposiums »Wiedervorlage: Nationalkultur, Berlin, 24.04.2008; Redemanuskript abrufbar unter: www.auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/ Reden/2008/080424-BM-Nationalkultur.html (zuletzt eingesehen am 29.06.2016).
9. Metamorphose II Briten 6 000 mehr. Ich rede dabei gar nicht von der massiven kulturellen Präsenz dieser beiden Nachbarstaaten, denen wir auf Schritt und Tritt immer wieder in den Regionen begegnen«.167
Diesen Anspruch einer »selbstbewussteren Präsenz« Deutschlands im Ausland, die er auch in der zweiten Amtszeit unterstrich, untermauerte er in selbiger Rede: »Die Welt scheint kleiner geworden, aber nicht die Probleme. Das, was in ferneren Regionen passiert, betrifft uns in Deutschland mittlerweile ganz unmittelbar. Wir haben im zurückliegenden Jahr über die Bürgerkriege in Afrika gesprochen, die Migration auslösen, deren Folgen uns berühren. Wir haben über Terrorismus gesprochen und über Klimawandel, der letztlich […] die natürlichen Lebensgrundlagen bei uns verändern und unsicher macht. Wir können jedenfalls von einem ganz sicher ausgehen: Anforderungen an unsere Außenpolitik, an unser außenpolitisches Engagement werden in den nächsten Jahren eher zunehmen als abnehmen. Das wird uns viel abverlangen: Arbeit, Beharrlichkeit, Kreativität, Mut und vor allem eines, von dem ich zugebe, dass es mir erst in diesem laufenden Jahr richtig klar geworden ist, nämlich Präsenz.«168
Insbesondere die Definition von der »Arbeit, Beharrlichkeit, Kreativität, Mut« mag zunächst wie eine Plattitüde klingen, spiegelte jedoch den Gestaltungswillen mit der Verneinung des Status quo auch in der Außenpolitik wider. Ein Jahr später folgten so Thesen, die er bei einer Veranstaltung der FriedrichEbert-Stiftung vortrug und mit denen er seinen neuen Anspruch untermauerte, bei dem er die »deutsche und europäische Außenpolitik […] in einer besonderen Verantwortung« sah.169 Unter dem ersten Punkt sprach Steinmeier vom »Beitrag zur Beilegung von regionalen Krisen- und Konfliktsituationen« 170 – und zwar auch jenen weit von Deutschland und Europa entfernt. »Wenn es stimmt, dass es heutzutage keine fernen Weltregionen mehr gibt, […] [d]ann haben auch weit entfernt liegende Krisenherde negative Auswirkungen auf die internationale – und damit unsere eigene – Sicherheit.«171 Und wenn jene Konflikte sogar noch zunehmen würden, »müssen [wir] uns noch stärker engagie167 | Steinmeier, F.-W.: Rede vor dem Deutschen Bundestag anlässlich der Haushaltsdebatte, 22.11.2006. 168 | Ebd. 169 | Steinmeier, Frank-Walter: Rede beim Kolloquium der Friedrich-Ebert-Stiftung, Hamburg, 25.10.2007; Redemanuskript abrufbar unter: www.auswaertiges-amt.de/ DE/Infoservice/Presse/Reden/2007/071025-steinmeier-fes-hamburg.html (zuletzt eingesehen am 29.06.2016). 170 | Ebd. 171 | Ebd.
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ren«.172 In der Tradition der deutschen Außenpolitik betonte er, dass »[w]ir […] dabei unseren eigenen Ansatz entwickelt«173 hätten. »Eine Herangehensweise, die entschieden auf zivile Mittel setzt: auf Dialog, auf kluge Diplomatie, auf die Stärkung gemäßigter Kräfte, auf Wiederauf bau. Auf militärische Mittel greifen wir nur dort zurück, wo sie zur Unterstützung des zivilen Engagements zwingend erforderlich sind.«174 Zusammen damit, so Steinmeiers zweite These, müsse eine Stärkung der »Stimme und [des] Gewicht[s] Europas in der Welt«175 einhergehen. Hierbei setzte er insbesondere Hoffnungen in die »Einigung von Lissabon«,176 der Überwindung der Verfassungskrise.177 Spätestens in der zweiten Amtszeit als Außenminister wird Steinmeier auch gemeinsame Reisen mit Außenministerkollegen durchführen – und diesem neuen Anspruch damit offenkundig ein Stück weit gerecht. Trotz dieses gestärkten Europas plädierte er mit Verweis auf die Wirtschaftsbeziehungen, die »alle vergleichbaren Wirtschaftsbeziehungen bei weitem«178 übertreffen würden, aber auch, weil die »gegenseitige Nähe auf beiden Seiten längst nicht mehr als so selbstverständlich empfunden wird, […] für eine neue transatlantische Agenda«.179 Die Ideen wirkten dabei aber noch recht dünn: »Die großen Zukunftsfragen wie Energiesicherheit, Klimaschutz und Abrüstung, aber auch die bessere Kontrolle der internationalen Finanzmärkte – das sollten die Elemente unserer neuen gemeinsamen Agenda sein.«180 Als viertes Thema benannte er die »Energieversorgungssicherheit und [d]en Klimaschutz«,181 ein Thema also, was gerade in jener Zeit allgegenwärtig war. Zur Ikone ist längst ein Bild Angela Merkels und Sigmar Gabriels, zu jener Zeit Umweltminister, aus dieser Legislaturperiode geworden, in dem sie mit roten Jacken beim Besuch eines Gletschers in Grönland zu sehen sind.182
172 | Ebd. 173 | Ebd. 174 | Ebd. 175 | Ebd. 176 | Ebd. 177 | Vgl. S. 369f in dieser Biographie. 178 | Steinmeier, F.-W.: Rede beim Kolloquium der Friedrich-Ebert-Stiftung, 25.10. 2007. 179 | Ebd. 180 | Ebd. 181 | Ebd. 182 | Vgl. o.V.: Deutschlands kühle Mutter; in: Zeit Online, 22.11.2015; abrufbar unter: www.zeit.de/politik/deutschland/2015-11/fs-merkel-jubilaeum (zuletzt eingesehen am 13.07.2016).
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Als fünftes Thema nannte Steinmeier die Abrüstungspolitik.183 Hier ist vor allem die Betonung von Russlands Rolle wichtig, an der »es doch gar keinen Zweifel« gebe – insbesondere in Bezug auf den Iran. Dort tue, so Steinmeier, man »alles – im europäischen Verbund, gemeinsam mit Amerikanern, Russen und Chinesen –« um dieses Land »von nuklearen Abenteuern abzuhalten. Mit Diplomatie, mit Entschiedenheit, aber – und dafür werbe ich ganz eindringlich: ohne Säbelrasseln.«184 Eben jenes unterbliebene Säbelrasseln soll sich durch Steinmeiers ganze Amtszeit, auch durch seine zweite hindurchziehen. Einmal mehr betonte er abschließend und als diesmal letzten Punkt die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik als »dritte Säule der Außenpolitik«, die man »heute dringender denn je« brauche.185 Steinmeiers Gründe dafür wurden bereits hinlänglich dargestellt. Jene Thesen lasen sich wie eine Erweiterung seiner Antrittsrede. Steinmeier definierte die Außenpolitik für sich Schritt für Schritt durchdringender. Der einstige Wissenschaftler diagnostizierte den Ist-Zustand und begab sich nun – zur Mitte der Legislaturperiode – in den Analyse-Teil, wo es aufzuzeigen galt, was man verändern möchte. Die zeitlichen Ressourcen waren dann jedoch nur noch knapp, denn die Legislaturperiode sollte 2009 enden. Die wohl größten Auffassungsunterschiede zwischen der Bundeskanzlerin und ihrem Außenminister wurden in der Frage des richtigen Umgangs mit Russland und den USA sichtbar, wo neben der Auswärtigen Kulturpolitik der größte Wandel in jener Episode deutscher Außenpolitik zu beobachten war.186 Insbesondere im Kanzleramt und damit unter Merkel schlug das Panel der bisher tendenziös russlandfreundlichen Politik in eine tendenziös amerikafreundliche Politik mitsamt einer programmatischen »Aufwertung der nordatlantischen Allianz«187 um. Von einer »Wiederentdeckung« wurde unter anderem im wissenschaftlichen Diskurs gesprochen.188 Grundsätzlich stimmten Sozialdemokraten und Christdemokraten respektive Steinmeier und Merkel dabei darin überein, dass die transatlantische Achse wiederbelebt
183 | Steinmeier, F.-W.: Rede beim Kolloquium der Friedrich-Ebert-Stiftung, 25.10. 2007. 184 | Ebd. 185 | Ebd. 186 | Vgl. Langguth, G.: Angela Merkel, 2010, S. 367; vgl. auch Sturm, D.-F.: Wohin geht die SPD?, 2009, S. 229; vgl. außerdem Harnisch, S.: Die Große Koalition; in: Egle, C.; Zohlnhöfer, R. (Hg.): Die zweite große Koalition, 2010, S. 520. 187 | Kaim, M.; Niedermeier, P.: Das Ende des »Multilateralen Reflexes«?; in: Jäger, T.; Höse, A.; Oppermann, K. (Hg.): Deutsche Außenpolitik, 2011, S. 111. 188 | Ebd., S. 112.
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werden müsse.189 Auch Steinmeier bemühte sich von Beginn an um ein deutlich besseres Verhältnis zu den USA, so etwa bei seinem Antrittsbesuch nur wenige Wochen nach seiner Vereidigung als Außenminister. Der Stern hielt damals fest: »Und wie er da im Amtszimmer der amerikanischen Außenministerin Condoleezza Rice beim Shakehands steht, da ist es beinahe so, als habe dieser ›Mister Minister‹ schon immer mit ›Madame Secretary‹ herzlich die Hände geschüttelt. Dabei hatte er bis vor kurzem noch der bösen, US-feindlichen Schröder-Riege angehört! Hatte zu denen gehört, die besser mit Putin können als mit Bush! Frau Rice scheint das vergessen zu wollen. Sie hat alles auf Anfang gestellt.« 190
Es galt fortan die Beziehungen zu den USA neu auszutarieren, insbesondere nach dem im Rückblick auch als emanzipatorisch betrachteten Jahren unter Schröder. In dieser Zeit machte Steinmeier beruflich seine ersten Schritte. Er hielt, so der Spiegel, die Arbeitsteilung für überholt, »[d]ass die Europäer wie in Zeiten des Kalten Krieges den übermächtigen Amerikanern klaglos folgten«,191 und sprach damit eine zunehmend konsensuale Stimmung innerhalb der EU an.192 Dennoch habe »im US-Regierungsapparat« gegen ihn auch in den ersten Merkelschen Regierungsjahren »[n]och immer […] Misstrauen wegen […] [seiner] Herkunft aus nächster Nähe des SPD-Kanzlers« genistet.193 Die Neujustierung gestaltete sich somit keineswegs einfach. So sehr unter den Koalitionären also Einigkeit darin bestand, die Beziehungen zum transatlantischen Partner zu verbessern, so unterschiedlich bewertete man die Fortsetzung der Beziehungen zu Russland. Die CDU betrachtete die »Kumpeleien mit Wladimir Putin, von Schröder zum ›lupenreinen Demokraten‹ geadelt«, stets »als Affront gegenüber den osteuropäischen 189 | Vgl. auch Bierling, Stephan; Steiler, Ilona: Die deutsche Amerikapolitik; in: Jäger, T.; Höse, A.; Oppermann, K. (Hg.): Deutsche Außenpolitik, 2011, S. 630-647; hier: S. 636. 190 | Posche, U.: Der Edelweiße; in: Stern, 08.12.2005. 191 | Beste, Ralf; Mascolo, Georg; Neukirch, Ralf: Kalter Frieden; in: Spiegel, 28.11.2005, S. 22-25; hier: S. 25. 192 | Von einer »Aufwertung der EU« und einem »europäischen Selbstbewusstsein« im Zuge dessen ist in einer Analyse aus dieser Zeit etwa die Rede; Riecke, Henning: Transatlantische Trippelschritte; in: Internationale Politik, S. 68-69; hier: S. 68; vgl. auch Böhmer, Christian: EU ist selbstbewusst; in: n-tv.de, 13.11.2008; abrufbar unter: www.n-tv.de/archiv/EU-ist-selbstbewusst-article34882.html (zuletzt eingesehen am 02.08.2016). 193 | Jach, Michael; Pörtner, Rainer: Prekäre Partnerschaft; in: Focus, 26.03.2007, S. 34-36, S. 34.
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Nachbarn«.194 An guten Beziehungen waren gleichwohl auch hier beide Seiten der Koalition interessiert, wohl aber abgemildert. Dem trug Steinmeier bei allen Unterschieden zu Merkel in der Bewertung Russlands, auch von Beginn an Rechnung. Zwar erwähnte er die Beziehungen zum großen Partner im Osten in seiner Antrittsrede nicht, betonte aber in jenen Wochen doch, dass »die strategische Partnerschaft zu Russland […] nicht nur bestehen« bleibe, sondern »ihre[r] Entwicklung […] ein hoher Rang eingeräumt« werde.195 Dabei »entfaltete der Kremlchef für den neuen Bundesaußenminister […] das ganze Repertoire politischer Freundschaftsgesten«.196 Wie (wohl) auch Schröder sprach Steinmeier laut Diplomaten Kritisches weiter »hinter verschlossener Tür« an.197 In einem Interview rechtfertigte er diesen Kurs und skizzierte einen »partnerschaftliche[n] Rahmen«, der es »uns« ermögliche, »auch kritische Fragen offen zu diskutieren und gemeinsam über Wege zu reden, wie wir Russland bei seiner rechtsstaatlichen Entwicklung unterstützen können«.198 Doch bereits jene Worte, die die »rechtsstaatliche[] Entwicklung« Russlands unterstrichen, zeigen, dass auch Steinmeier von der allzu freundlichen Politik Schröders abgekehrt war, er in diesem Zusammenhang zum Beispiel auch betonte, dass Russland »keine lupenreine Demokratie« sei.199 Zudem traf er sich mit Oppositionellen wie dem Schachweltmeister und Regimekritiker Garri Kasparow.200 Steinmeier nahm sich der Gestaltung der Russlandpolitik bald offensiv an, was womöglich auch schlicht an der Situation lag, dass er sich jene Themen vornehmen musste und konnte, die nicht die Bundeskanzlerin bearbeitete. So wurde von Beginn an sichtbar, dass Russlandpolitik »in der spezifischen Konstellation der Großen Koalition nicht länger ›Chefsache‹« war.201 Vielmehr machte sie die Beziehung zu den USA eben zu einer solchen, während Steinmeier jenes Vakuum besetzte und neben Merkel, die dieses Land ja keines194 | Beste, R.; Mascolo, G.; Neukirch, R.: Kalter Frieden; in: Spiegel, 28.11.2005, S. 23. 195 | O.V.: Steinmeier in Moskau; in: General-Anzeiger, 05.12.2005, S. 2. 196 | Kohler, Friedermann: Von Merkel hat Putin nichts zu befürchten; in: Stuttgarter Nachrichten, 05.12.2005, S. 4. 197 | Ebd. 198 | Steinmeier, Frank-Walter im Gespräch mit der Welt am Sonntag; in: Huber, Wolfgang: »Gibt es Frieden, Minister Steinmeier?«; in: Welt am Sonntag, 24.12.2006, S. 4. 199 | Zitiert nach Beste, Ralf; Hammerstein, Konstantin von; Neukirch, Ralf; Schepp, Mathias: Die neue Eiszeit; in: Spiegel, 21.05.2007, S. 24-26; hier: S. 25. 200 | Vgl. o.V.: Kritik Steinmeiers an Menschenrechtslage; in: General-Anzeiger, 22.12.2006, S. 1. 201 | Spanger, H.-J.: Die deutsche Russlandpolitik; in: Egle, C.; Zohlnhöfer, R. (Hg.): Die zweite große Koalition, 2010, S. 654.
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wegs ausklammerte, aktiv die Pflege der Beziehungen zu Russland übernahm. Allerdings entwickelte sich das Verhältnis zu dem östlichen Partner anders, als Steinmeier lange Zeit erhoffte und worauf er hinarbeitete. Denn im Rückblick wurde bereits Anfang 2006, also kurz nach dem Regierungsantritt, eine »Eskalationsspirale« diagnostiziert,202 die die Beziehungen zwischen den USA und Russland verschlechtern ließ und die die Legislaturperiode der als Mittler auftretenden deutschen Bundesregierung bestimmen lassen sollte. Spätestens 2006 offenbarte sich in der Frage nach einer NATO-Osterweiterung nach Georgien und in die Ukraine ein umfangreicher Konflikt, der 2005 seinen Ursprung hatte203 und in dem Russland und die USA sich konfrontativ gegenüberstanden, während die Europäische Union eine moderatere Rolle einnahm. Hinzu kam die Debatte um den Bau eines US-Raketenabwehrsystems, dass in Tschechien und Polen errichtet werden sollte. Bei letzterer Frage waren auch Unterschiede in der Bewertung zwischen Merkel und Steinmeier erkennbar. Während »die Kanzlerin eine positivere Haltung gegenüber dem US-Raketenschild einnahm, aber auf Konsultationen in der NATO drang, warnte […] Steinmeier seine amerikanische Amtskollegin ausdrücklich vor einer ›neuen Aufrüstungsspirale‹«.204 In Fragen der NATO-Osterweiterung waren sich Kanzlerin und Außenminister deutlich einiger und zogen mit ihrer abwartenden Haltung den »Unmut der USA auf sich«, nachdem Merkel einen schnellen NATO-Beitritt Georgiens »in Abstimmung mit Steinmeier […] verhindert« hat – zunächst zumindest.205 Dennoch folgte die Bundeskanzlerin andererseits mehr der »Interpretation der US-Administration und vieler ost-europäischer Mitglieder der Nato«, die beinhaltete, dass Russland »eine hegemoniale Einflusspolitik im Kaukasus« verfolge und »weder zentrale Werte und Handlungsprinzipien der Nato noch den territorialen Status quo« akzeptiere.206 Die Folge daraus: »Kooperation mit Russland sei deshalb nur eingeschränkt möglich«.207 Zwar wurde Deutschland in Analysen nach wie vor als Mittler beschrieben, der eher zusammen mit Frankreich und Italien die Gegenposition vertrat, »gemeinsame Interessen der beiden Seiten in den Vordergrund zu rücken«.208 Merkel hatte beispielsweise 202 | Ebd., S. 660. 203 | Kamp, Karl-Heinz: Die Nato muss sich zurückhalten; in: Frankfurter Rundschau, 28.11.2006, S. 7. 204 | Harnisch, S.: Die Große Koalition; in: Egle, C.; Zohlnhöfer, R. (Hg.): Die zweite große Koalition, 2010, S. 521. 205 | Langguth, G.: Machtmenschen, 2009, S. 435. 206 | Kaim, M.; Niedermeier, P.: Das Ende des »Multilateralen Reflexes«?; in: Jäger, T.; Höse, A.; Oppermann, K. (Hg.): Deutsche Außenpolitik, 2011, S. 113. 207 | Ebd. 208 | Ebd.
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»für Rücksichtnahme im Hinblick auf russische Interessen plädiert und eine enge Anbindung des Landes an die NATO befürwortet«.209 Dennoch war die Abkehr vom bisherigen Kurs unübersehbar. Deutschland befand sich dabei insgesamt in einer nachhaltig schwierigen Situation, wirkten doch die Konterparts USA und Russland in dieser Zeit keineswegs deeskalierend, sodass »in der Sicherheitspolitik […] die deutsche Politik spätestens seit 2006 überwiegend mit der Begrenzung des Schadens beschäftigt [war], den US-Präsident George W. Bush mit seinen Alliierten im ›neuen Europa‹ auf der einen und Putin auf der anderen Seite« angerichtet hatten.210 Jener Eskalationsspirale setzte Steinmeier in der zweiten Hälfte des Jahres 2006 ein neues Konzept für die Beziehungen zu Russland entgegen, das sich in Anlehnung an Willy Brandts einstige »Wandlung durch Annäherung« zunächst »Annäherung durch Verflechtung« nannte. In dem Papier, das laut Medienberichten erstmals auf einem informellen Außenministertreffen im Rahmen der finnischen Ratspräsidentschaft Anfang September 2006 von der Steinmeier-Delegation präsentiert worden war,211 wurde in Bezug auf Russland ein Procedere empfohlen, das »die EU und Russland ›irreversibel‹ miteinander verbinden soll – bis hin zu gemeinsamen Militäreinsätzen und einer Freihandelszone«.212 Es glich einem umfangreichen Konzept der wirtschaftlichen und kulturellen Einbindung Russlands als Teil einer europäischen Ostpolitik.213 Deutschland wolle, zitierte zum Beispiel die Frankfurter Allgemeine Zeitung aus dem Papier, auch »›das Kapitel seiner engen bilateralen Beziehungen […] in die europäisch-russische Partnerschaft einbringen«.214 In den Planungen spielte die deutsche EU-Ratspräsidentschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2007 eine
209 | Ebd. 210 | Harnisch, S.: Die Große Koalition; in: Egle, C.; Zohlnhöfer, R. (Hg.): Die zweite große Koalition, 2010, S. 521. 211 | Das Auswärtige Amt weist diesen Sachverhalt auf Nachfrage des Autors zurück: »Das von ihnen erwähnte Dokument war ein informelles Papier, das von der Hausleitung nicht gebilligt wurde und beim EU-Außenministertreffen in Lappeenranta auch nicht verteilt wurde. Mehr kann ich Ihnen dazu leider nicht sagen.«; vgl. E-Mail von Michael Nowak vom Planungsstab des Auswärtigen Amtes vom 14.08.2015 mit dem Betreff: Ihre Anfrage zu einem Papier aus dem Jahr 2006. 212 | Beste, R.; Hammerstein, K. von; Neukirch, R.; Schepp, M.: Die neue Eiszeit; in: Spiegel, 21.05.2007, S. 26. 213 | Vgl. o.V.: Berlin schlägt in der EU-Rußlandpolitik »Annäherung durch Verflechtung« vor; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.09.2006, S. 5. 214 | Vgl. ebd.
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große Rolle, in der das Konzept, wenn nicht umgesetzt, zumindest aber angestoßen werden sollte.215 Es sollte anders kommen.216 In dem Papier jedenfalls könnte einmal mehr Steinmeiers Sozialisation in der Generation der 1970er eine Rolle gespielt haben. Eben in jener Zeit trug »[d]ie ›Politik der kleinen Schritte‹ (Brandt) des ›Wandels durch Annäherung‹ (Bahr) […] Früchte und […] [schlug] sich in den Moskauer, Warschauer und Prager sowie den deutsch-deutschen Verträgen nieder.«217 Auch für die deutschdeutschen Beziehungen hatte dies damals unmittelbare Auswirkungen. Zwar dürfte Steinmeier all das nur am Rande verfolgt haben, wenn man seine eigentliche politische Sozialisation um das Jahr 1974 datiert. Dennoch konnte er die Früchte dieser Politik unmittelbar besichtigen, in der allerdings die »Lösung der Vereinigungsfrage […] gegenüber transnationalen Fragen […] in den Hintergrund« geriet.218 Später schließlich erlebte er am Ende der Promotion erneut die Folgen, besser die Früchte jener Politik, nämlich die Wiedervereinigung. Als Kanzleramtschef musste Steinmeier schließlich beobachten, wie teils ohne Not die Beziehungen zu den USA insbesondere im Wahlkampf 2002 auf einen Tiefpunkt sanken. Nunmehr wollte er, so entstand der Eindruck, ähnliches in Bezug auf Russland verhindern und gleichzeitig einen Bogen spannen zur einstigen Politik Willy Brandts. Gerade diese semantische Nähe im Namen des Konzepts machte es dem Kanzleramt jedoch schwer, das Konzept, das das Auswärtige Amt neun Jahre später herunterspielt, betonend, dass es ein »inoffizielles Papier« gewesen sei, »das von der Hausleitung nicht gebilligt wurde und beim EU-Außenministertreffen in Lappeenranta auch nicht verteilt wurde«,219 offen zu begrüßen. Das Kanzleramt jedenfalls reagierte schon damals »mit einiger Zurückhaltung«.220 Bis zur Ratspräsidentschaft allerdings wurde dieser »vorhersehbare«221 Konflikt ausgeräumt,222 der ursprüngliche Titel weitgehend nicht mehr genutzt. Steinmeier also verzichtete somit zugunsten einer möglichen Umsetzung auf eine allzu große Herstellung von historischer Nähe zur einstigen SPD-Poli215 | Harnisch, S.: Die Große Koalition; in: Egle, C.; Zohlnhöfer, R. (Hg.): Die zweite große Koalition, 2010, S. 520f. 216 | Vgl. S. 284f in dieser Biographie. 217 | Pfetsch, F.: Die Außenpolitik der Bundesrepublik, 2012, S. 233. 218 | Ebd., S. 234. 219 | Vgl. E-Mail von Michael Nowak vom Planungsstab des Auswärtigen Amtes vom 14.08.2015 mit dem Betreff: Ihre Anfrage zu einem Papier aus dem Jahr 2006. 220 | Spanger, H.-J.: Die deutsche Russlandpolitik; in: Egle, C.; Zohlnhöfer, R. (Hg.): Die zweite große Koalition, 2010, S. 654. 221 | Harnisch, S.: Die Große Koalition; in: Egle, C.; Zohlnhöfer, R. (Hg.): Die zweite große Koalition, 2010, S. 520. 222 | Vgl. ebd., S. 520f.
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tik. Dennoch war dieses Konzept mit der kurzzeitigen Nennung des Titels »Annäherung durch Verflechtung« eng mit ihm verbunden, auch über die Legislaturperiode hinaus.223 Ihm gelang es also, ob bewusst oder unbewusst, »offenkundig für sich die Zuständigkeit für die deutsche Russlandpolitik« zu reklamieren.224 Dabei ging Steinmeier von der Annahme aus, dass die Annäherung zum einen ohne Alternative sei, weil nur so Sicherheit und Herstellung europäischer Werte gewährt werden könnten. So sah er »niemanden, der bestreitet, dass wir diese Gelegenheit dazu nutzen sollten, die Beziehungen der EU zu Russland vernünftig fortzuentwickeln, und zwar zu beiderseitigem Nutzen. Das bedeutet nicht, dass man die Verhältnisse in Russland rosarot zeichnet oder Defizite nicht klar benennt und auf deren Beseitigung dringt. Ich habe allerdings dabei die Erfahrung gemacht, dass dies im Dialog besser gelingt als in der Konfrontation. Deswegen sollten wir an dem Weg festhalten, Russland unumkehrbar an Europa zu binden, und die Entwicklung dieses großen Landes auf der Basis europäischer Werte unterstützen.« 225
Zum anderen äußerte er seine Hoffnung, dass »Russland […] doch selbst ein ureigenes Interesse daran« habe, »Fortschritte im Bereich der Demokratie, der Menschenrechte sowie der Stärkung rechtsstaatlicher Strukturen zu machen«.226 Jene Sicht fußte nicht nur auf der von Steinmeier so oft propagierten alternativlosen Notwendigkeit, sie war auch hoffnungsfroh hinsichtlich des Russlandbildes und der Einschätzung der Entwicklung in jenem Land. Zumindest für letztere muss im Rückblick – trotz der richtig analysierten Notwendigkeit – von einer Fehleinschätzung gesprochen werden. Für den Moment jedenfalls hielt Steinmeier an seiner Strategie fest, seine Politikansätze wurden jedoch von Beginn an von der weiteren Eskalationsspirale konterkariert. Dies wurde 223 | Vgl. Schneider-Deters, Winfried: Die Ukraine; in: Schneider-Deters, Winfried; Schulze, Peter W.; Timmermann, Heinz (Hg.): Die Europäische Union, Russland und Eurasien. Die Rückkehr der Geopolitik, Berlin 2008, S. 239-406; hier: S. 398; vgl. auch Sattar, Majid: Ohne Eifersüchteleien; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.04.2014, S. 8. 224 | Hacke, C.: Deutsche Außenpolitik; in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 43/2006, S. 35. 225 | Steinmeier, Frank-Walter im Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung; in: Bannas, Günter; Leithäuser, Johannes: Eine Eskalation im Türkei-Streit vermeiden; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.11.2006, S. 5. 226 | Steinmeier, F.-W. im Gespräch mit der Welt am Sonntag; in: Huber, W.: »Gibt es Frieden, Minister Steinmeier?«; in: Welt am Sonntag, 24.12.2006.
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spätestens auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 erneut deutlich, als Putin in seiner Rede die USA scharf angriff. Er warf der aus seiner Sicht gegnerischen Weltmacht vor, seine »Grenzen in fast allen Bereichen überschritten« zu haben.227 »›Übermäßige Militäranwendung‹ und die Missachtung des Völkerrechts förderten das Bestreben einiger Länder nach Massenvernichtungswaffen. Das Verhalten der USA zeige, dass es an der Kraft mangele, ›komplexe Lösungen‹ herbeizuführen«, fasste die Berliner Morgenpost Auszüge der Rede zusammen.228 Von einem »Motor für Wettrüsten, globale Spannungen und menschliche Tragödien« sprach Putin außerdem in Bezug auf die USA.229 Tatsächlich waren die USA unter der zweiten Amtszeit George W. Bushs an einem Punkt angelangt, an dem die militärischen Interventionen seit dem 11. September und die Methoden des »War on Terror« in den Fokus immer zunehmender Kritik gerieten230 und sich als wenig zielführend erwiesen hatten.231 Doch die Rhetorik der anderen Seite, Russlands, wirkte nicht minder deeskalierend. Das Medienecho spiegelte denn auch die Situation wider, in die die eine verbliebene und die andere einstige Weltmacht wieder zu schlittern drohten. Von einem »Hauch von kalte[m] Krieg« sprachen etwa die Stuttgarter Nachrichten,232 die taz titelte »Kalte Krieger melden sich zurück«233 und die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung überschrieb: »Putin feuert auf Amerika«.234 Jene Sicherheitskonferenz wird auch Jahre später als Indikator für einen erneuten, negativen Wandel Russlands gesehen. Auch Steinmeier ging in dieser Phase, auf eine für ihn typische verklausulierte Art, auf Distanz zum russischen Präsidenten: »Ich bin als Kanzleramtschef und später als Außenminister nie Amtskollege von Wladimir Putin gewesen«, entgegnete er auf seine vermeintlich fehlende Wärme zu Putin angesprochen.235 Unterdessen war mit jener Sicherheitskonferenz 2007 ein »in227 | Zitiert nach o.V.: USA: »Ein Kalter Krieg war genug«; in: Berliner Morgenpost, 12.02.2007, S. 3. 228 | Ebd. 229 | Zitiert nach Beste, Ralf: Nähe ohne Anbiederung; in: Spiegel, 17.02.2007, S. 2628; hier: S. 26. 230 | Zitiert nach Sautter, Udo: Geschichte der vereinigten Staaten von Amerika, Stuttgart 2013 8, S. 605; vgl. auch Heideking, Jürgen; Mauch, Christof: Geschichte der USA, Tübingen 2008 6, S. 458. 231 | Vgl. Sautter, U.: Geschichten der vereinigten Staaten, 2013, S. 607. 232 | Lepping, Claudia: Ein Hauch von Kaltem Krieg; in: Stuttgarter Nachrichten,12.02.2007, S. 3. 233 | Gaus, Bettina: Kalte Krieger melden sich zurück; in: taz, 12.02.2007, S. 5. 234 | O.V.: Putin feuert auf Amerika; in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 11.02.2007, S. 1. 235 | Zitiert nach Beste, R.: Nähe ohne Anbiederung; in: Spiegel, 17.02.2007, S. 26.
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nerkoalitionäres Streitthema praktisch ausgeschaltet« worden.236 Gleichwohl waren Konservative und Sozialdemokraten weiterhin an guten Beziehungen zu Russland interessiert. So betonte Merkels Russland-Beauftragter Andreas Schockenhoff denn auch: »Russland ist aufgrund seiner Lage und Größe, seines politischen und militärischen Gewichts, seines Energiereichtums und seines wirtschaftlichen Potentials für die EU von strategischer Bedeutung.«237 In diese Richtung argumentierte auch Steinmeier in einem Aufsatz in der Zeitschrift Internationale Politik über eben diese 2006 noch »Annäherung durch Verflechtung« genannte Strategie. Der Begriff fand sich jedoch nicht mehr im Text. Das Konzept »für eine neue Phase der Ostpolitik der EU« hieß nun »Verflechtung und Integration«.238 Die Botschaft war dabei eindeutig. Zunächst wurde nämlich die Europäische Nachbarschaftspolitik betont, die intensiviert werden müsse. »Unseren östlichen Partnern – der Ukraine, Moldau, Georgien, Armenien, Aserbaidschan und auch Weißrussland, wenn es die Voraussetzungen erfüllt – bietet die ENP […] eine ausgestreckte Hand für die Teilhabe an einem Europa des Friedens und des Wohlstands.«239 Erst in einem zweiten großen Kapitel wurde auf Russlands Rolle eingegangen und dabei eine klare Botschaft postuliert: »Was für die Länder der Europäischen Nachbarschaftspolitik gilt, trifft auch für das Verhältnis der EU zu Russland zu: Im Zeitalter der Globalisierung ist nicht Abgrenzung, sondern die Verflechtung und Vernetzung von Wirtschaft und Gesellschaft ein Erfolgsmodell. Dabei ist klar, dass Zusammenarbeit und Verflechtung keine Einbahnstraße sind, sondern auf Gegenseitigkeit beruhen müssen.« 240
Steinmeier stellte hier also durchaus klare Bedingungen, nämlich das eine Vernetzung keine Einbahnstraße sein dürfte, und formulierte seine Wahrnehmung, dass sich Russland eng an die EU binden wolle und jene irrten, die Russland kritisch betrachteten. So schrieb er: »Vielfach werden in der europäischen Öffentlichkeit kritische Fragen nach der künftigen Entwicklung Russlands gestellt. Manche Beobachter befürchten, dass ein wieder erstarktes, selbstbewusstes Russland seinen Weg in Abgrenzung zur EU gehen könnte. Mein Eindruck ist, dass gerade in der Generation, die jetzt, 15 Jahre nach dem Zerfall
236 | Ebd, S. 28. 237 | Zitiert nach ebd. 238 | Steinmeier, Frank-Walter: Verflechtung und Integration; in: Internationale Politik, 3/2007, S. 6-11; hier: S. 6. 239 | Ebd., S. 7. 240 | Ebd., S. 8.
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IV. Politik im Vordergrund der Sowjetunion, Verantwortung in Russland trägt, viele – nicht nur Präsident Putin – Russland eng an Europa binden wollen.« 241
Steinmeier gestand zwar ein, dass man erlebe, »wie steinig dieser Weg« sei, letztendlich aber »in der russischen Elite die richtige Einschätzung zu dominieren« scheine, »dass nur eine enge Partnerschaft mit der EU Russland in die Lage versetzt, die Vorteile, die die Globalisierung bietet, zu nutzen«.242 Gerade im Gegenschnitt zu Putins Aussagen auf der Sicherheitskonferenz wirkte diese Einschätzung, wie bereits 2006, sehr positiv. Es war eine Lageanalyse, die jedoch die andersartige Entwicklung nur bedingt mit einbezog, sie teils sogar ausblendete. Dies galt nicht für die formulierten Ziele. So müsse das Ziel europäischer Politik »sein, Russland weiter zur Kooperation zu ermutigen, auf der Grundlage einer nüchternen und realistischen Betrachtung übereinstimmender und divergierender Interessen«.243 Denn »[e]ine gesamteuropäische Friedensordnung und die dauerhafte Lösung wichtiger sicherheitspolitischer Probleme, vom Balkan bis nach Nahost, lassen sich nur mit und nicht ohne oder gar gegen Russland erreichen.«244 Natürlich wurde auch die »gegenseitige Abhängigkeit« in Bezug auf die Energieversorgung erwähnt, bevor Steinmeier das Ziel formulierte, welches Russland »wir« gerne haben wollen würden: »Wir wollen ein Russland, das prosperiert und das – orientiert an den Werten, denen Europa verpflichtet ist, und unter Berücksichtigung seiner eigenen Traditionen – den Wandel zu einer stabilen, rechtsstaatlich verfassten Demokratie erfolgreich bewältigt. Das verlangt eine partnerschaftliche Zusammenarbeit, die weit über Öl und Gas hinausgeht, die unsere Zivilgesellschaften einschließt und die offen ist für den Dialog auch über Fragen, in denen wir nicht immer einer Meinung sind. Deshalb besteht auch zwischen unserem Interesse an einem Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen und der Einhaltung rechtsstaatlicher und menschenrechtlicher Standards kein Widerspruch. Gerade wegen unseres Interesses an einem möglichst engen Austausch mit Russland werden wir auf ein offenes Wort unter Partnern nicht verzichten. So wird nach unserer Überzeugung eine Politik der Modernisierung Russlands nur erfolgreich sein können, wenn dabei demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien gestärkt werden. Rechtsstaatlichkeit, eine kritische Öffentlichkeit und eine lebendige Zivilgesellschaft erleichtern erfolgreiches Regieren, wie wir aus eigener Erfahrung wissen.« 245
241 | Ebd. 242 | Ebd., S. 8f. 243 | Ebd., S. 9. 244 | Ebd. 245 | Ebd., S. 10.
9. Metamorphose II
Was dort beschrieben wurde, war jedoch längst nicht mehr der Weg, den Russland beschritt. Es war der Wunsch nach einem Russland, das sich mitsamt der Zivilgesellschaft entsprechend der westlichen Werte entwickelt. Es ist eine Art Vision, die Steinmeier dort skizzierte, die jedoch zunehmend in weite Ferne rückte. Dennoch: An Richtigkeit hat sie auch im Jahr 2016 nicht verloren, wobei zu fragen ist, wie schnell und ob dieses Ziel aufgrund der unterschiedlichen Traditionen erreicht werden kann. In jener Zeit jedenfalls wirkten neben Russland insbesondere die USA weiterhin eskalierend auf die angespannte Situation ein, betonten etwa, dass selbst wenn es keine Verständigung mit Russland gebe, man das Raketenabwehrschild zu bauen gedenke.246 Überhaupt war das Raketenschild für Russland neben möglicher zumindest aus dem russischen Denken heraus begründeter tatsächlicher Ängste Vorwand für eine aggressive Rhetorik und eine neue aggressivere Außenpolitik. Deutschland blieb hier nur die Rolle des Mittlers. So warb Steinmeier für einen »behutsame[n] Dialog ohne vordergründige antiamerikanische oder antirussische Reflexe«,247 womit er auch den USA-Kritikern aus den eigenen Reihen Einhalt gebot.248 Merkel betonte zudem, dass Gespräche »lieber einmal mehr als zu wenig erfolgen« sollten.249 Steinmeiers erklärtes Ziel in diesem Zusammenhang war immer wieder, eine neue Rüs-
246 | Fleig, Wiebke: Umstrittene Raketenabwehr; in: Zeit Online, 04.04.2007; abrufbar im Internet unter: www.zeit.de/online/2007/15/USA_Russland_Raketen (zuletzt eingesehen am 29.07.2015). 247 | Herzinger, Richard; Krauel, Torsten: Krieg der Sterne gegen Moskau?; in: Welt am Sonntag, 25.02.2007, S. 9. 248 | In Bezug auf die deutsche Debatte lehnte Steinmeier eine parteipolitische Profilierung ab. In einer Rede betonte er: »Wir Deutsche haben ein strategisches Interesse daran, dass der Streit um die Raketenabwehr nicht eskaliert, sondern zum Ausgangspunkt für neues Vertrauen und einen neuen Geist von Verständigung wird. Lassen Sie uns also nicht um kleine innenpolitische Landgewinne streiten, sondern eine Diskussion führen, die die langfristige Sicherheit für die Menschen in Deutschland und Europa stärkt.« (Steinmeier, Frank-Walter: Rede vor dem Deutschen Bundestag zur Raketenstationierung in den Ländern Osteuropas, Berlin, 21.03.2007; Redemanuskript abrufbar unter: www.auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Reden/2007/070321Abruestung-Btg.html [zuletzt eingesehen am 04.07.2016].) Statt die Debatte auf das parteipolitische Parkett zu lenken, kritisierte er die öffentliche Debatte vielmehr als »problematisch«. (Zitiert nach: Müller, Peter: Staatsminister Erler hat Verständnis für Putins Drohungen gegen den Westen; in: Welt am Sonntag, 29.04.2007, S. 3) 249 | Herzinger, R.; Krauel, T.: Krieg der Sterne gegen Moskau?; in: Welt am Sonntag, 25.02.2007.
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IV. Politik im Vordergrund
tungsspirale zu verhindern.250 Die Sorge schien ihn umzutreiben, wie in zahlreichen seiner öffentlichen Äußerungen deutlich wurde. Im Bundestag sprach der Außenminister davon, dass aus dem »Streit um die Raketenabwehr sogar eine Chance werden« könne, »[w]enn wir dieses Thema nicht isoliert betrachten, sondern einbetten in einen transatlantisch-russischen Dialog«.251 Steinmeier, das wird auch bei anderen Themen immer wieder deutlich, warb stets für einen umfassenden Dialog auch zwischen Gegnern. Mit dieser Politik wurde er häufig belächelt, weil sie für Kritiker naiv wirkte, häufig sollte sie jedoch erfolgsversprechender sein als jene andere Politik der Verkündigungen ohne Dialog. Diplomatisch, aber deutlich warb er für ein gemeinsames System, dass gerade mit Blick auf die Möglichkeiten der militärischen Abrüstung besser wäre: »Eine mögliche Antwort – und ich betone hier: mögliche Antwort – könnte ja sein, dass wir: erstens darüber nachdenken, ob ein gemeinsames System oder mindestens gemeinsame Anstrengungen der Raketenabwehr möglich und wünschbar sind, dass wir zweitens gemeinsam und vor allem mit präventiver Diplomatie Proliferationsgefahren begegnen […], und uns drittens der Erkenntnis nicht verschließen, dass die Kernwaffenbesitzer eine Bringschuld haben, wenn die Zahl der Kernwaffenstaaten nicht unkontrolliert ausufern soll. Der Nichtweiterverbreitungsvertrag verpflichtet alle Kernwaffenbesitzer auf den Weg der Abrüstung und jeder, der sich nicht daran hält, gefährdet ihn in seiner Substanz. Lassen Sie mich schließlich einen vierten Punkt erwähnen, der mir nicht hinreichend wahrgenommen zu werden scheint: Die europäische Abrüstungsarchitektur, an der wir gemeinsam über Jahrzehnte gearbeitet haben, ist ein wegweisendes Modell auch für andere Konfliktregionen. Wir dürfen dieses Erfolgsmodell nicht gefährden! Auch deshalb ist bei allen Stationierungsentscheidungen besondere Sorgfalt am Platz!« 252
Von »dringend neuem Schwung für eine neue Abrüstungspolitik« sprach Steinmeier in diesem Zusammenhang. Von »Brückenschlägen zwischen Washington und Moskau«, nach denen der deutsche Außenminister suche, war danach im Focus die Rede.253 Wie eingeschränkt die Möglichkeiten allerdings wirklich waren, zeigte seine Aussage, »Wir haben das zu respektieren«, nach einem erneuten, ernüchternden Gespräch mit US-Außenministerin Rice, in
250 | Vgl. z.B. Steinmeier, Frank-Walter im Gespräch mit der Welt; in: Graw, Ansgar; Müller, Peter: »Der kalte Krieg ist vorbei«; in: Welt, 24.02.2007, S. 2. 251 | Steinmeier, F.-W.: Rede vor dem Deutschen Bundestag zur Raketenstationierung, 21.03.2007. 252 | Ebd. 253 | Jach, M.; Pörtner, R.: Prekäre Partnerschaft; in: Focus, 26.03.2007, S. 36.
9. Metamorphose II
dem er aber zumindest weitere Gespräche empfahl, um »Missverständnisse mit unerwünschten Konsequenzen zu vermeiden«.254 Nach weiteren verbalen Schlagabtauschen und Drohungen zeigte sich schließlich auch Russland zumindest verbal bemüht um Entspannung. »Es gibt unterschiedliche Ansichten, wie Probleme auszuräumen sind, aber beide Seiten sind um eine Lösung bemüht«, betonte Putin etwa am Rande eines Gespräches mit Steinmeier über den Konflikt zwischen EU und USA auf der einen und Russland auf der anderen Seite.255 Am Ende bleibt die Frage, welche Rolle Deutschland bei der Vermittlung gespielt hat. Ohne die Akten des Auswärtigen Amtes und anderer Außenministerien kann dies nur eingeschränkt beurteilt werden. Es kann aber zumindest festgehalten werden, dass Deutschland verbal eine wichtige Mittlerrolle eingenommen hatte, jene Eskalationsspirale zumindest vorläufig einzudämmen und zum Dialog zurückzukehren, überhaupt, wie es die Berliner Zeitung formulierte, »[d]ie Sprachlosigkeit zwischen Moskau und Washington zu überwinden«.256 Der Befund mag richtig sein, dass deutsche Außenpolitik immer mehr auch vom Kanzleramt gemacht wurde. Diese war aber dennoch nach wie vor nur in engem Zusammenspiel mit dem Außenministerium und dessen Minister sowie auf europäischer Ebene möglich. Steinmeier trug hier durch seine besonnene und verbindliche Art mit einem klaren Ziel im Blick einen wichtigen Anteil. Dennoch musste er zur Mitte des Jahres 2007 eingestehen, dass sein Konzept der »Annäherung durch Verflechtung« vorläufig zumindest immer weniger aufzugehen schien. »Die Dinge haben sich verkantet«, zeigte sich Steinmeier in Bezug auf die Verhandlungen über ein neues Partnerschaftsabkommen zwischen der EU und Russland, einem Ziel der deutschen EU-Ratspräsidentschaft, in das er viel Mühe investierte, resigniert.257 Eine Erneuerung jenes Abkommens sollte es vorerst nicht geben.258 Steinmeier trieb hierbei einmal mehr die Sorge vor einer neuen Sprachlosigkeit um, eine Sorge, deren Abwendung bei ihm zum Leitmotiv seiner Arbeit als Außenminister geworden zu 254 | O.V.: Raketenabwehr treibt Keil in Koalition; in: Stuttgarter Nachrichten, 21.03.2007, S. 2. 255 | Zitiert nach O.V.: Putin sagt Mäßigung zu; in: Frankfurter Rundschau, 16.05.2007, S. 1. 256 | Schmale, Holger: Merkels selbstbewusste Außenpolitik; in: Berliner Zeitung, 02.05.2007, S. 4. 257 | Vgl. Beste, R.; Hammerstein, K. von; Neukirch, R.; Schepp, M.: Die neue Eiszeit; in: Spiegel, 21.05.2007. 258 | Quiring, Manfred: Heikle Entspannungsmission in Russland; in: Welt, 16.05.2007, S. 5; vgl. auch Schiltz, Christoph: Die Tops und Flops der deutschen Minister; in: Welt, 30.06.2007, S. 5.
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IV. Politik im Vordergrund
sein schien. Er selbst beschrieb diesen Stil in einer Rede als »vorausschauende Außenpolitik«, die »für mich gleichzusetzen mit dem Begriff einer aktiven Friedenspolitik« sei.259 »Die Instrumente dafür sind Dialog, Verständigung und die Definition gemeinsamer Interessen, was in der außenpolitischen Kultur der letzten Jahre verlorengegangen scheint.«260 Diese Dialogbereitschaft war bei den großen Protagonisten, den USA auf der einen und Russland auf der anderen Seite, aus ganz unterschiedlichen Gründe nicht mehr in Gänze vorhanden. So stand die deutsche Außenpolitik Mitte 2007 vor neuen Herausforderungen: Die angekündigten Bemühungen um Verbesserungen der Beziehungen zu den USA waren nur bedingt vorangekommen, die Beziehungen zu Russland haben sich, trotz Steinmeiers Bemühungen, deutlich verschlechtert. Die Hoffnungen auf Verbesserungen beruhten nun, nicht nur bei Steinmeier, auf den baldigen Präsidentschaftswahlen in den USA und Russland und den damit einhergehenden Machtwechseln. In einer Rede bekundete er: »Ich erhoffe mir – und ich möchte gemeinsam mit anderen Außenpolitikern in Europa alles dafür tun, dass in der schwierigen Phase in Vorbereitung der Präsidentschaftswahlen in Russland und den USA auf beiden Seiten ein noch stärkerer Geist von Kooperation einzieht. Wir müssen die Denkmuster des Kalten Krieges und die langen Schatten, die sie bis heute werfen, überwinden. Es wäre ein großer Fehler, wenn wir zuließen, dass Russland sich in die Isolation zurückzieht.« 261
Russland hingegen schien einen anderen Weg eingeschlagen zu haben, was erneut zunächst bei den Parlamentswahlen sichtbar wurde, die im Dezember 2007 stattfanden. Im Voraus kam es zu Festnahmen von Politikern wie dem Regimekritiker Kasparow.262 Auch die Auflösung von »nicht genehmigte[n] Oppositionskundgebungen« stieß auf Kritik, auch aufgrund des Vorgehens der Sicherheitskräfte.263 So kam auch Steinmeier um Kritik nicht herum und stellte die »Verhältnismäßigkeit der Mittel«, die nicht eingehalten worden
259 | Steinmeier, Frank-Walter: Rede zum Thema »Aktuelle Fragen der deutschen Außenpolitik« bei der DGAP in Berlin, 11.09.2007; Redemanuskript abrufbar unter: www.auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Reden/2007/070912BMbeiDGAP. html (zuletzt eingesehen am 04.07.2016). 260 | Ebd. 261 | Ebd. 262 | Vgl. Schmale, Holger: Berlin fordert sofortige Freilassung; in: Berliner Zeitung, 27.11.2007, S. 5. 263 | Ebd.
9. Metamorphose II
sei, in Frage.264 Er bestehe darauf, betonte er, »dass die Freiheit der Berichterstattung und Meinungsfreiheit in Russland gewährleistet« werde.265 Der Opposition ging die Kritik nicht weit genug. FDP-Fraktions- und Parteichef Westerwelle forderte Steinmeier etwa laut Berliner Zeitung auf, »unverzüglich mit dem russischen Außenminister Sergej Lawrow Kontakt aufzunehmen«.266 Der Unions-Obmann im Auswärtigen Ausschuss, Karl-Theodor zu Guttenberg, ließ sich mit der Missbilligung zitieren, dass Steinmeier »immer noch keine deutlicheren Worte für die skandalösen Vorgänge in Russland« gefunden habe.267 »Durch die jahrelange Unterstützung«, fasste eine Zeitung das Statement, dass als Anspielung auf die rot-grüne Außenpolitik zu lesen war, zusammen, »sei nicht Russland, sondern lediglich die politische und ökonomische Herrschaft des Systems Putin stabilisiert worden.«268 Nach der erfolgten Parlamentswahl fand Steinmeier erneut nur »zurückhaltende« Worte.269 »Erst einmal nehmen wir den Wahlausgang zur Kenntnis, wie er ist«, sagte er und betonte in Bezug auf die Probleme der Erteilung von Visa für OSZE-Beobachter, dass dadurch klar gewesen sei, »dass es Zweifel an den Umständen geben würde«.270 Hier erwarte er, »dass Russland all diesen Vorwürfen nachgeht, und dass Russland Aufklärung verschafft.«271 Andere Politiker wurden deutlicher, zu Guttenberg etwa sprach von einer »unwürdige[n] Farce«.272 Vize-Regierungssprecher Steg indessen kommentierte die Wahl mit den Worten: »Russland war keine Demokratie, und Russland ist keine Demokratie«.273 Einmal mehr wurden hier die verschiedenen Möglichkeiten von Außenpolitik deutlich, mit denen Außenpolitik betrieben werden kann – es ging um die Frage, ob das klare Wort mehr Erfolg hat im Vergleich zu den Worten im Hintergrund. Erneut wurde die Form deutlich, mit der Steinmeier Außenpoli264 | Zitiert nach o.V.: Bundesregierung fordert Freilassung Kasparows; in: Welt Online, 27.11.2007; abrufbar im Internet unter: www.welt.de/welt_print/article1403804/ Bundesregierung-fordert-Freilassung-Kasparows.html (zuletzt eingesehen am 31.07. 2015). 265 | Zitiert nach Schmale, H.: Berlin fordert sofortige Freilassung; in: Berliner Zeitung, 27.11.2007. 266 | Ebd. 267 | Zitiert nach ebd. 268 | Ebd. 269 | Wallet, Norbert: »Das war keine freie Wahl«; in: Stuttgarter Nachrichten, 04.12. 2007, S. 4. 270 | Zitiert nach ebd. 271 | Zitiert nach ebd. 272 | Zitiert nach ebd. 273 | Zitiert nach ebd.
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IV. Politik im Vordergrund
tik betreiben wollte, nämlich diplomatisch bis hin zur Selbstaufgabe an einer Lösung zu arbeiten. Steinmeier und der Westen insgesamt mussten zusehen, wie Russland schnellen Schrittes den in die gleiche Richtung zeigenden Pfad verließ und stattdessen in eine andere Richtung abdriftete. Steinmeier versuchte dennoch immer wieder, neue Kontakte aufzubauen, Gesprächsfäden nicht einreißen zu lassen. In diesem Zusammenhang hoffte er im weiteren Verlauf auf eine Erneuerung der Beziehungen im Zuge der Präsidentschaftswahlen in Russland im März 2008. Als einer der ersten deutschen Politiker reiste er nach der Nominierung Dimitri Medwedews zum Präsidentschaftskandidaten, den er aus seiner Zeit als Kanzleramtschef bereits kannte, nach Russland.274 Einbindend sprach er von einem »alten Freund«.275 Nach der erwarteten erfolgreichen Wahl im März 2008, nach der Steinmeier unmittelbar eine »neue Brise in der russischen Politik« vernommen haben mochte,276 fuhr er erneut im Mai 2008 nach Russland – und äußerte kurz vor seiner Reise den Wunsch nach einem »Neuanfang in den Beziehungen zu Russland«.277 An der Universität in Jekaterinburg hielt er eine viel beachtete Rede zu den Studierenden, die er als »die Zukunft Russlands« bezeichnete.278 Nach einem geschichtlichen Abriss griff er diesen Begriff der Zukunft wieder auf, sprach davon, dass »[d]ie Zukunft […] den Ländern und Gesellschaften« gehöre, »die sich kraftvoll modernisieren und die den Strukturwandel mutig angehen.«279 Deutlicher wurde er mit der von ihm geäußerten »festen Überzeugung, dass »offene Gesellschaften dazu am besten in der Lage« seien.280 So seien »[w]ir […] deshalb gut beraten, Offenheit und Pluralität unserer Gesellschaften nicht als Gefahr zu begreifen, sondern als Chance und Notwendigkeit für Frieden und für einen wachsenden Wohlstand.«281 Von einem »verlässlichen Rechtsstaat« 274 | Vgl. Spanger, H.-J.: Die deutsche Russlandpolitik; in: Egle, C.; Zohlnhöfer, R. (Hg.): Die zweite große Koalition, 2010, S. 654. 275 | Zitiert nach o.V.: Steinmeier besucht »alten Freund« Medwedjew; in: Welt, 19.12.2007, S. 6. 276 | Zitiert nach Funk, Viktor: Merkel will Medwedew kennenlernen; in: Frankfurter Rundschau, 06.03.2008, S. 7. 277 | Zitiert nach Wiegmann, Jens: Treffen mit Putin geplatzt; in: Welt, 16.05.2008, S. 6. 278 | Steinmeier, Frank-Walter: Rede am Institut für internationale Beziehungen der Ural-Universität in Jekaterinburg, Jekaterinburg, 13.05.2008; Redemanuskript abrufbar unter: www.auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Reden/2008/080513BM-Russland.html (zuletzt eingesehen am 04.07.2016). 279 | Ebd. 280 | Ebd. 281 | Ebd.
9. Metamorphose II
sprach Steinmeier, der »der Modernisierung ihres Landes nicht schaden« werde, bevor er auf den Begriff der »Demokratie« einging.282 Er wisse, »dass der Begriff ›Demokratie‹ nach den Erfahrungen der 90er Jahre in Russland vielfach auf Skepsis und Ablehnung« stoße.283 Daher »möchte ich präzisieren, was ich damit meine. Demokratie – das ist eben nicht Unordnung, Durcheinander und Instabilität. Demokratie ist vielmehr das Zusammenleben auf der Grundlage verbindlicher Regeln, die ausdrücklich für alle gelten. Rechtsstaatlichkeit basiert auf einer Ordnung, in der eben nicht das Recht des Stärkeren gilt, sondern die Stärke des Rechts, dem alle gleichermaßen unterworfen sind! Und als Sozialdemokrat füge ich hinzu: Ich stehe auch für eine Ordnung, in der die Starken in einem Land mehr Lasten tragen und zum Gemeinwohl beitragen als die Schwachen. Das sind die zentralen politischen Prinzipien, für die ich werbe. Weil sie nach meiner Überzeugung das friedliche Zusammenleben und das Wohlergehen aller Menschen auf die bestmögliche Weise fördern!« 284
Jenes Plädoyer für demokratische Verhältnisse ging zwar an die Studierenden, es war vor allem aber auch eine Botschaft an die russische Staatsführung, die in Form vom russischen Außenminister Sergej Lawrow zugegen war.285 An jene richtete sich auch mit die Botschaft, dass im 21. Jahrhundert »das politische Gewicht und die wirtschaftlichen Chancen eines Landes nicht mehr in erster Linie von seiner Landmasse« abhänge.286 Und, so fügte er, vermutlich mit Blick auf die wiederbelebte russischen Militärparade am Jahrestag des Kriegsendes am 9. Mai,287 hinzu: »Und auch nicht von der Zahl seiner Panzer und Raketen.«288 Steinmeier, der Mann, dem immer wieder vorgeworfen worden ist, dass er zu wenig kritisiere, kritisierte in dieser Rede, wenn auch verklausuliert, sehr deutlich. Er machte aber noch mehr: Er zeigte eine Perspektive auf. Die Rede las sich wie ein flammendes Plädoyer. Es waren Worte, mit denen er überzeugen wollte. Selbst der konservative Focus war nach der Russland-Reise voll des Lobes und bilanzierte in Bezug auf »Steinmeiers Stil und Methode im Umgang mit dem sperrigen Russland«:289 282 | Ebd. 283 | Ebd. 284 | Ebd. 285 | Jach, Michael: Skeptischer Gast; in: Focus, 19.05.2008, S. 32. 286 | Ebd. 287 | Vgl. ebd. 288 | Steinmeier, F.-W.: Rede am Institut für internationale Beziehungen der Ural-Universität in Jekaterinenburg, 13.05.2008. 289 | Jach, M.: Skeptischer Gast; in: Focus, 19.05.2008.
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IV. Politik im Vordergrund »Die CDU/CSU-Koalitionspartner daheim argwöhnen, der Schröder-Zögling setze bloß die Verbrüderungspolitik fort, die sein Ex-Kanzler mit Putin pflegte und dabei Erdgas für Deutschland einhandelte. Doch wo Schröder über Fragen nach Russlands innerem Zustand und außenpolitischer Vertrauenswürdigkeit schon mal dröhnend lachte, stellt Steinmeier sie sachkundig und unbeirrt. Allerdings möglichst so, dass kein ehrenempfindlicher Russe sich weltöffentlich blamiert fühlt und schroff auskeilt, statt auf guten Raten zu hören.« 290
Jene Zeit war es, in der die Idee einer »Modernisierungspartnerschaft« geboren worden ist, der Russland zunächst nicht abgeneigt gegenüberstand.291 Auch die Äußerungen waren nun deutlich milder. So sprach etwa Lawrow von »große[n] gemeinsame[n] Projekten«.292 Steinmeier wiederum reiste noch vor der Bundeskanzlerin zu einem ersten offiziellen Besuch beim frisch-vereidigten Präsidenten Medwedew weiter,293 was einmal mehr seinen Gestaltungsanspruch der Beziehungen zu Russland unterstrich. Eingehend sei dort über das »Präsidentenprogramm ›Rechtsstaatlichkeit‹« gesprochen worden,294 später folgte noch ein (erneutes) Gespräch mit Oppositionspolitiker Kasparow. Tatsächlich gab es aus dem Kreml Signale der Entspannung. Kurz vor Medwedews Antrittsbesuch bei Merkel stoppte dieser zum Beispiel »die noch von Putin initiierte Verschärfung des Mediengesetzes«.295 Und real gestaltete sich, so die Beobachtung von Experten, auch Merkels »Beziehung zu […] Medwedjew von Anbeginn sehr viel zugewandter« als noch unter Putin.296 Fälschlicherweise wurde allerdings immer wieder davon gesprochen, dass Medwedew in einer Rede kurz nach Amtsantritt gesagt habe, Russland sei »aus der Kälte zurückgekehrt« – und dies auf die Regierungszeit seines Vor-
290 | Ebd. 291 | Vgl. Kalinin, Ilja: Gesinnung oder Verantwortung in der Russlandpolitik? Deutsche Außenpolitik angesichts der politischen Kultur Russlands, Wiesbaden 2016 2, S. 151f. 292 | Jach, M.: Skeptischer Gast; in: Focus, 19.05.2008. 293 | Merkel traf Medwedew allerdings kurz nach seiner Wahl zum Präsidenten im Rahmen eines Staatsbesuchs bei Noch-Präsident Wladimir Putin am 08. März 2008; vgl. Schepp, Matthias: Kanzlerin in Moskau: Putin warnt Merkel vor zuviel Freude auf Medwedew; in: Spiegel Online, 08.03.2008; abrufbar unter: www.spiegel.de/politik/ausland/ kanzlerin-in-moskau-putin-warnt-merkel-vor-zuviel-freude-auf-medwedew-a-540307. html (zuletzt eingesehen am 03.08.2016). 294 | Jach, M.: Skeptischer Gast; in: Focus, 19.05.2008. 295 | Käfer, Amin: Medwedew möchte die Angst vor Russland zerstreuen; in: Stuttgarter Zeitung, 05.06.2008, S. 4. 296 | Spanger, H.-J.: Die deutsche Russlandpolitik; in: Egle, C.; Zohlnhöfer, R. (Hg.): Die zweite große Koalition, 2010, S. 654.
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gängers bezogen.297 Dieses Zitat bezog sich jedoch keineswegs allein auf Putins Amtszeit, sondern vielmehr auf das gesamte vergangene Jahrhundert. So sagte Medwedew eigentlich: »Wenn man sich der bildhaften Sprache von John le Carré bedient, könnte man sagen, dass Russland heute ›aus der Kälte zurückgekehrt ist‹ – nach fast einem Jahrhundert Isolation und Selbstisolation. Und gegenwärtig kehrt Russland in die globale Politik und Wirtschaft zurück, mit allen seinen natürlichen, finanziellen und intellektuellen Ressourcen und Potentialen.« 298
Dennoch ließ Medwedews Rede durchaus Raum für begründete Hoffnung auf eine Verbesserung der Beziehungen. So betonte er auch: »Ich bin überzeugt, dass die Probleme Europas so lange nicht gelöst werden können, wie es nicht gelingt, die Identität Europas, die organische Einheit aller ihrer integralen Bestandteile einschließlich der Russischen Föderation zu erreichen. Denn mit der Überwindung des sowjetischen Systems und dem Verzicht auf seine Restauration in einem gewissen historischen Zeitraum hat Russland die Grundlagen für den Aufbau eines Staates geschaffen, der mit dem anderen Teil Europas – besser gesagt, mit dem Besten, was das gemeinsame Erbe der europäischen Zivilisation ausmacht, voll und ganz kompatibel ist.« 299
Jene Superlative klangen alles andere als kritisch, es las sich wie eine Huldigung eines gemeinsamen Weges, der gegangen werden könne. Nur: All diese ersten Bemühungen, diese ersten Interpretationen lösten sich erneut in Luft auf, als nur wenige Monate später, nicht mal hundert Tage nach Medwedews Amtsantritt, ein kurzer Krieg zwischen Georgien und Russland entbrannte.300 Steinmeier hatte, berichtete Zeit Online, in Abstimmung mit den USA301 noch »kurz vor Ausbruch des Krieges« versucht, »bei einer eilig angesetzten 297 | Vgl. z.B. o.V.: »Russland ist aus der Kälte zurückgekommen«; in: Tagesspiegel.de, 05.06.2008; abrufbar unter: www.tagesspiegel.de/politik/international/medwedewbesuch-russland-ist-aus-der-kaelte-zurueckgekommen/1249492.html (zuletzt eingesehen am 04.07.2016). 298 | Medwedew, Dmitri Antoljewitsch: Vortrag des Russischen Präsidenten am 5. Juni 2008 in Berlin; Redemanuskript abrufbar unter: www.petersburger-dialog.de/files/ Rede%20Medwedew%20deutsch.pdf (zuletzt eingesehen am 04.07.2016). 299 | Ebd. 300 | Vgl. auch Kalinin, I.: Gesinnung oder Verantwortung in der Russlandpolitik?, Wiesbaden 2016 2, S. 151. 301 | Stöber, Silvia: Nur ein kleiner Krieg am Rande Europas?; in: Tagesspiegel.de, 08.08.2013; abrufbar im Internet unter: www.tagesspiegel.de/politik/krieg-zwischen-
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Reise durch die Region zwischen den Konfliktparteien zu vermitteln und sie von einer friedlichen Beilegung des Streits zu überzeugen – ohne Erfolg«.302 Deutschlands politische Initiative wurde auch in einem späteren unabhängigen Untersuchungsbericht hervorgehoben.303 Einen Monat nach dem Konflikt beschrieb Steinmeier die brisante Situation kurz vor der Eskalation in einer Rede mit den Worten: »Vor gerade einmal zwei Monaten – nur drei Wochen vor Beginn des aktuellen Konflikts – habe ich den Kaukasus besucht. In einer Phase, in der die Bezeichnung als ›frozen conflict‹ schon nicht mehr stimmte und die Region bereits – wie unsere britischen Freunde sagen: ›out of the fridge‹ war, vielleicht sogar schon überhitzt. Mit allen Parteien haben wir uns intensiv um Möglichkeiten zur Überwindung bestehender Gräben und Konflikte bemüht.« 304
Tatsächlich soll Steinmeier damals, wie sich fünf Jahre später ein damaliges georgisches Regierungsmitglied erinnert, genau vor einem solchen Eskalationsszenario gewarnt haben, das dann auch eintrat.305 Was zunächst wie ein russischer Einmarsch aussah, wurde nach längerer Untersuchung immer mehr zu einem georgischen Einmarsch, der allerdings aufgrund längerer russischer Provokationen passiert sein soll. »Russland hat provoziert, Georgien geschossen«,306 überschrieb Zeit Online den Artikel über den Untersuchungsbericht der EU-Kommission. Beiden Seiten wurden schwe-
georgien-und-russland-nur-ein-kleiner-krieg-am-rande-europas/8611668.html (zuletzt eingesehen am 01.08.2015). 302 | O.V.: Russland hat provoziert, Georgien geschossen; in: Zeit Online, 30.09.2009; abrufbar unter: www.zeit.de/politik/ausland/2009-09/kaukasus-bericht-georgien (zuletzt eingesehen am 01.08.2015). 303 | In dem Bericht ist von »Germany and other countries« die Rede, die »political initiatives shortly before the outbreak oft he armed conflict in August 2008« ins Leben gerufen hätten; Independent International Fact-Finding Mission on the Conflict in Georgia, Volume 1, September 2009, S. 33; abrufbar unter: http://echr.coe.int/Documents/HUDOC_38263_08_Annexes_ENG.pdf (zuletzt eingesehen am 01.08.2015). 304 | Steinmeier, Frank-Walter: Rede anlässlich der Eröffnung der Botschafterkonferenz 2008, Berlin, 08.09.2008; Redemanuskript abrufbar unter: www.auswaertigesamt.de/DE/Infoser vice/Presse/Reden/2008/080908-Rede-BM-Boko-Eroeffnung. html (zuletzt eingesehen am 01.08.2015). 305 | Vgl. Stöber, S.: Nur ein kleiner Krieg am Rande Europas?; in: Tagesspiegel.de, 08.08.2013. 306 | O.V.: Russland hat provoziert, Georgien geschossen; in: Zeit Online, 30.09.2009.
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re Fehler bescheinigt.307 Insbesondere der folgende Punkt des Reports ist für die fortwährenden Beurteilungen über die Folgen für und die Bemühungen von Steinmeier in diesem Zusammenhang wichtig: »When considering the legality of Russian military force against Georgia, the answer needs to be differentiated. The Russian reaction to the Georgian attack can be divided into two phases: first, the immediate reaction in order to defend Russian peacekeepers, and second, the invasion of Georgia by Russian armed forces reaching far beyond the administrative boundary of South Ossetia. In the first instance, there seems to be little doubt that if the Russian peacekeepers were attacked, Russia had the right to defend them using military means proportionate to the attack. Hence the Russian use of force for defensive purposes during the first phase of the conflict would be legal. On the second item, it must be ascertained whether the subsequent Russian military campaign deeper into Georgia was necessary and proportionate in terms of defensive action against the initial Georgian attack. Although it should be admitted that it is not easy to decide where the line must be drawn, it seems, however, that much of the Russian military action went far beyond the reasonable limits of defense. This holds true for all kinds of massive and extended military action ranging from the bombing of the upper Kodori Valley to the deployment of armoured units to reach extensive parts of Georgia, to the setting up of military positions in and nearby major Georgian towns as well as to control major highways, and to the deployment of navy units on the Black Sea. All this cannot be regarded as even remotely commensurate with the threat to Russian peacekeepers in South Ossetia. Furthermore, continued destruction which came after the ceasefire agreement was not justifiable by any means. It follows from this that insofar as such extended Russian military action reaching out into Georgia was conducted in violation of international law, Georgian military forces were acting in legitimate self-defence under Article 51 of the UN Charter. In a matter of a very few days, the pattern of legitimate and illegitimate military action had thus turned around between the two main actors Georgia and Russia.« 308
Wichtig hierbei ist, dass zwar der anfängliche verteidigende Einmarsch Russlands voraussichtlich rechtmäßig war, der erweiterte Militäreinsatz (»extended […] military action«309) aber nicht mit dem Völkerrecht vereinbar war, er also einen Völkerrechtsbruch darstellte. Insofern stimmte denn auch die Bewer307 | Vgl. auch o.V.: Russland wertet EU-Bericht als Freispruch; in: Spiegel Online, 30.09.2009, abrufbar im Internet unter: www.spiegel.de/politik/ausland/kaukasuskrieg-russland-wertet-eu-bericht-als-freispruch-a-652326.html (zuletzt eingesehen am 01.08.2015). 308 | Independent International Fact-Finding Mission on the Conflict in Georgia, Volume 1, September 2009, S. 23f. 309 | Ebd., S. 23.
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tung des stellvertretenden Regierungssprechers Steg, der von einer »Zäsur« im Verhältnis zu Russland sprach und betonte, dass »man in der Zukunft sehr genau gucken« werde, »wie die Zusammenarbeit aussehen« solle.310 In Bezug auf die europäischen Werte hob er denn auch hervor: »Die Anwendung militärischer Gewalt und der Einmarsch in souveräne Staaten gehören sicherlich nicht zu diesem Wertefundament.«311 Auch wenn sich im weiteren Verlauf herausstellen sollte, dass Georgien nicht unschuldig an der Situation war, war es eben doch Russland, das weit über dieses Konfliktgebiet militärisch intervenierte und damit, wie es im Untersuchungsbericht heißt, aus einer legitimen Militäraktion eine illegitime machte.312 Unabhängig von der Bewertung zeigte jener Konflikt einmal mehr, wie Steinmeier dachte. Nach einer kurzen Phase der Verurteilung der militärischen Intervention kehrte er nämlich zur Betrachtung des Ist-Zustandes zurück. So beschrieb er die verschiedenen Phasen des Konfliktes mit den Worten: »Ich habe in der ersten Phase nach der militärischen Eskalation gesagt: es kann jetzt nicht darauf ankommen, dass wir uns als Richter der Situation darstellen, sondern es ist unsere Hilfe und Hilfsbereitschaft gefragt – unabhängig davon, wer verantwortlich ist für diese Situation.« 313
Steinmeier ging auf die vielen Opfer dieses Krieges und die vielen Hilfsbedürftigen infolge der militärischen Auseinandersetzung ein, um die es zuallererst gehe: »In dieser Stunde nach Schuld und Verantwortung zu fragen war nicht zu verantworten und deshalb haben wir gesagt: Hilfe leisten wir unabhängig davon!«314 Nach dieser Phase der Hilfeleistung habe man sich in einer zweiten Phase befunden: »In einer Phase, in der wir unsere mittel- und langfristigen Beziehungen zu den Konfliktpartnern, Georgien auf der einen Seite und Russland auf der anderen Seite, definieren und Entscheidungen treffen müssen, die für sehr lange Zeit das Verhältnis zwischen Europäischer Union und Georgien, zwischen Europäischer Union und Russland bestim-
310 | Zitiert nach o.V.: Georgien-Krieg ist »Zäsur«; in: n-tv.de, 18.08.2008; abrufbar im Internet unter: www.n-tv.de/politik/Georgien-Krieg-ist-Zaesur-article16739.html (zuletzt eingesehen am 01.08.2015). 311 | Zitiert nach ebd. 312 | Vgl. Independent International Fact-Finding Mission on the Conflict in Georgia, 2009, S. 24. 313 | Steinmeier, F.-W.: Rede anlässlich der Eröffnung der Botschafterkonferenz 2008, Berlin, 08.09.2008. 314 | Ebd.
9. Metamorphose II men. Und deshalb müssen wir schon ein bisschen genauer wissen, wer mit welchen Anteilen an Verantwortung bei der militärischen Eskalation beteiligt war.« 315
Von Beginn an vermied er es dabei, einem Konfliktpartner die alleinige Schuld zuzuweisen. Auf der 63. UN-Generalversammlung der Vereinten Nationen Ende September 2008 wurde er deutlicher, wenn er davon sprach, dass »die Vernunft auf allen Seiten« versagt habe316 und er damit Russland und Georgien in die Pflicht nahm. Er erwartete diesbezüglich Aufklärung, wenn auch perspektivisch: »Die Vereinten Nationen, die OSZE und die Europäische Union sind sich einig: Die Waffen müssen dauerhaft schweigen! Ohne Zögern muss der notleidenden Bevölkerung geholfen werden! Nur der Klarheit wegen sei hinzugefügt: zu beidem beizutragen, heißt nicht den status quo, die Infragestellung der territorialen Integrität Georgiens, zu akzeptieren. Dennoch: Gemeinsam müssen wir für Wiederaufbau, Rückkehr der Flüchtlinge und dauerhafte Sicherheit in Georgien und in der Gesamtregion sorgen. Die Europäische Union leistet dazu mit der Entsendung einer Beobachtermission einen wesentlichen Beitrag, mein Land hat die Leitung dieser Mission übernommen und sie wird jetzt gemeinsam mit den Vereinten Nationen und der OSZE im Oktober in Genf einen umfassenden Ansatz vorstellen: Es wird darum gehen, über Stabilisierung und Vertrauensbildung den Weg zu einer dauerhaften Lösung dieses Konflikts zu ebnen.« 317
Steinmeier also hatte die Schuldfrage ans Ende vertagt, empörte sich nur kurzzeitig über die Intervention. Deutschland hatte so neben Frankreich, das die EU-Ratspräsidentschaft innehatte und einen Mehr-Punkte-Plan in Bezug auf den Konflikt vorlegte, erneut eine Mittlerfunktion inne. Für die deutsche Sozialdemokratie indes bedeute all das, »dass die pro-russische Traditionslinie […], wie sie sich bspw. in dem Plädoyer des SPD-Fraktionsvorsitzenden Struck für eine ›Äquidistanzpolitik Deutschlands zwischen Moskau und Washington‹ wiederfindet, durch den russischen Angriff auf Georgien massiv unter Rechtfertigungsdruck geraten ist.«318 Das galt selbstredend auch für den Außenminister, dessen Konzept »Verflechtung und Integra315 | Ebd. 316 | Steinmeier, Frank-Walter: Rede vor der 63. Generalversammlung der Vereinten Nationen, New York, 27.09.2008; Redemanuskript abrufbar unter: www.auswaertigesamt.de/DE/Infoservice/Presse/Reden/2008/080926-BM-GV.html (zuletzt eingesehen am 04.07.2016). 317 | Ebd. 318 | Harnisch, S.: Die Große Koalition; in: Egle, C.; Zohlnhöfer, R. (Hg.): Die zweite große Koalition, 2010, S. 521.
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tion« zumindest vorläufig in weite Ferne rückte – und auch in die Kritik geriet. Die Welt hielt ihm vor, dass »Verflechtungseuphorie […] anders« aussehe, Putin und »wohl auch Medwedjew […] nicht in den Kategorien von Verflechtung und Interdependenz, sondern in geopolitischen Einflusssphären und klassischer alteuropäischer Machtpolitik« denken würden.319 »Mit anderen Worten«, schlussfolgerte die Zeitung, »Russland will sich gar nicht verflechten; die einseitige Liebeserklärung Steinmeiers bleibt diesbezüglich unerhört.«320 So wies der Autor die Verteidigung eines Mitarbeiters Steinmeiers, dass das »reine Realpolitik« sei,321 zurück. Doch eben das ist die Frage: Kann man Steinmeier für seine Bemühungen, Russland in eine europäische Friedensordnung nachhaltig einzubinden, verurteilen? Muss dies als naiv bewertet werden? Mitnichten, muss dem entgegengehalten werden. Denn all jene, die das kritisieren, können keine Alternative aufzeigen zu einem Miteinander in Europa – so schwer sich dieses auch gestalten sollte. Naiv wäre auch das falsche Wort für eine womöglich falsche Lageeinschätzung des Gegenübers, wohl aber war sie keineswegs in der Form richtig, wie Steinmeier lange Zeit in Reden aufzuzeigen versuchte. Dennoch: Das änderte nichts an der Richtigkeit des Konzeptes, Russland zumindest einen gemeinsamen Weg aufgezeigt zu haben. Zur neuen Realpolitik gehörte auch, Georgien zumindest eine NATO-Perspektive zu eröffnen, ein Wandel, der im Einvernehmen zwischen Merkel und Steinmeier vollzogen worden ist.322 Hierbei widersetzte man sich erneut den drängenden Forderungen der scheidenden US-Regierung. Rice habe Steinmeier, so berichtete der Spiegel, überraschend einen »drastischen Strategiewechsel« vorgeschlagen.323 »Beim Nato-Gipfel im Frühjahr hatte die Allianz vereinbart, dass Georgien und die Ukraine neue Mitglieder werden dürften, vorher aber einen sogenannten Membership Action Plan (MAP) durchlaufen müssten.«324 Berlin hatte seinerzeit verhindert, dass das Programm unmittelbar anlaufen würde. »Jetzt schlug Rice vor«, berichtete das Magazin, »darauf ganz zu verzichten. Die Vorbereitungen für die Aufnahme sollten direkt beginnen«, habe sie verlangt, was Steinmeier abgelehnt habe: »Wir können MAP nicht einfach vergessen.«325 Das Resümee lautete, dass der »Filter eines mühsamen Aufnahmeverfahrens […] den Deutschen wichtig« sei: »[D]ort würde jahrelang über die demokratische Reife des Landes und die Stellung seines Mi-
319 | Rühle, Hans: Irrwege nach Moskau; in: Welt, 29.08.2008, S. 9. 320 | Ebd. 321 | Zitiert nach ebd. 322 | Vgl. Langguth, G.: Machtmenschen, 2009, S. 435. 323 | Beste, Ralf: Letztes Gefecht; in: Spiegel, 01.12.2008, S. 142. 324 | Ebd. 325 | Zitiert nach ebd.
9. Metamorphose II
litärs verhandelt. Berlin möchte den Tag des Beitritts hinauszögern, die USA wollen ihn am liebsten schon morgen.«326 Ein letztes Mal gab es hier also ein weiteres Vorgehen der USA unter Bush, das für Aufsehen sorgte. Der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn etwa soll Rice davor gewarnt haben, eine »Spaltung der Nato zu provozieren«.327 Es waren jene Abschiedswochen der Bush-Administration, in die Deutschland und insbesondere Steinmeier große Hoffnungen setzten.328 Kurzfristigere und doch überraschende Erfolge konnte Steinmeier im Duo mit der Bundeskanzlerin hingegen in der Europapolitik erzielen. So wurden unter der deutschen EU-Ratspräsidentschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2007 erfolgreiche Anstrengungen zur Überwindung der europäischen Verfassungskrise unternommen, die nach gescheiterten Referenden in Frankreich und den Niederlanden 2005, in denen der damalige Verfassungsvertrag abgelehnt wurde,329 entstanden war. Mit der Berliner Erklärung im Juni 2007 und dem dann am 13. Dezember 2007 unterzeichneten »Vertrag von Lissabon« wurde jene Rückkehr zur Einigung manifestiert, wenngleich der Vertrag »keinen Verfassungscharakter mehr hatte«.330 Das Urteil der Experten war dennoch einhellig positiv: »Dass es der Bundesregierung gelang, ein fast gescheitertes Projekt gegen viele Widerstände doch noch zu realisieren und Europa aus seiner verfahrenen Situation zu befreien, macht ihre EU-Ratspräsident im ersten Halbjahr 2007 zu einem bemerkenswerten Erfolg, vielleicht sogar zum außenpolitischen Höhepunkt der Großen Koalition.« 331
Beide Hauptakteure dämpften zu Beginn der Ratspräsidentschaft zwar zunächst die Erwartungen. Merkel stellte eine abschließende Lösung der Verfassungskrise erst für den Herbst 2008 in Aussicht,332 was im Umkehrschluss bedeutete, dass man während der deutschen Ratspräsidentschaft nur erste 326 | Ebd. 327 | Zitiert nach ebd. 328 | Vgl. z.B. o.V.: Steinmeier kritisiert Merkel-Veto zu Obama am Brandenburger Tor; in: Reuters, 23.07.2008; abrufbar unter: http://de.reuters.com/article/deutsch land-usa-obama-steinmeier-idDEHAG34111420080723 (zuletzt eingesehen am 04.07. 2016). 329 | Vgl. o.V.: Merkels doppelte Rolle 2007; in: Hamburger Abendblatt, 02.01.2007, S. 2. 330 | Gareis, S.-B.: Die Außen- und Sicherheitspolitik; in: Bukow, S.; Seemann, W. (Hg.): Die Große Koalition, 2010, S. 233. 331 | Ebd.; vgl. auch Staack, M.: Deutsche Außenpolitik unter Stress, 2016, S. 31. 332 | Vgl. o.V.: »Menetekel für die EU«; in: General-Anzeiger, 20.12.2006, S. 1.
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Schritte einleiten könnte. Steinmeier, der in Bezug auf die Verfassungskrise von einem »Menetekel für die Lähmung Europas« sprach,333 formulierte ebenfalls zwar früh das Ziel, »einen Fahrplan und die inhaltlichen Konturen eines Verfassungstextes vorzuschlagen«,334 schränkte jedoch ein: »Wir werden in diesen sechs Monaten keine Wunder vollbringen können«.335 Mit ihrer Fokussierung auf die »Rettung der Inhalte der EU-Verfassung« (und den Klimaschutz), heißt es in einer Analyse, habe Deutschland dann aber doch »sehr, sehr viel geleistet«.336 Die Verhandlungen rund um die Verfassungskrise gestalteten sich dabei insbesondere deswegen schwierig, weil in jener Zeit Polen unter der Regentschaft der Kaczynski-Brüder vieles in Frage stellte, sodass die polnische Haltung bei den Gipfel-Verhandlungen im Juni 2007 laut Jean-Claude Juncker, dem luxemburgischen Premierminister, »nahe an der Zumutbarkeitsgrenze« gewesen sei.337 Genau hieran entfaltete sich die Rollenverteilung Steinmeiers und Merkels während der Verhandlungen. Merkel hatte mit der Ausgrenzung Polens gedroht. Das war mit Steinmeier abgesprochen, dessen Auswärtiges Amt laut Frankfurter Rundschau die europarechtliche Situation geprüft habe, »ob und wie das geht: ein 26:1-Beschluss, mit dem gegen Polens Stimmen das Mandat für die Regierungskonferenz zum neuen Grundlagenvertag beschlossen worden wäre«.338 Nachdem Merkel diese Drohung ultimativ machte und betonte, dass danach keine Verhandlungen unter ihrer Führung mehr möglich wären (»Ich kann das dann nicht mehr«339), übernahmen Frankreich und Großbritannien einen erneuten Anlauf, was Teil des Verhandlungsplanes gewesen sein soll.340 War also Merkel für die Überzeugung des Hauptkritikers zuständig, hatte Steinmeier »eine zweite Hauptrolle« inne, nämlich »die Einbindung der Europafreundlichen«.341 Von einer »wesentlich[en]« Rolle Steinmeiers »im Hinter-
333 | Zitiert nach o.V.: Merkels doppelte Rolle 2007; in: Hamburger Abendblatt, 02.01.2007, S. 2. 334 | Zitiert nach o.V.: »Menetekel für die EU«; in: General-Anzeiger, 20.12.2006. 335 | Zitiert nach ebd. 336 | Perthes, Volker im Gespräch mit dem Tagesspiegel; in: Ciesinger, Ruth: »Im Atomstreit hatten wir recht«; in: Tagesspiegel, 27.12.2007, S. 2. 337 | Zitiert nach o.V.: Steinmeier weist Polens Kritik zurück; in: Hamburger Abendblatt, 28.06.2007, S. 4. 338 | Meng, Richard: Angela Merkels zweites Gesicht; in: Frankfurter Rundschau, 25.06.2007, S. 4. 339 | Zitiert nach ebd. 340 | Vgl. ebd. 341 | Ebd.
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grund« war etwa in der Welt die Rede.342 Österreichs Kanzler Alfred Gusenbauer lobte Steinmeier laut Frankfurter Rundschau gar mit den Worten, dass er »derzeit der beste europäische Außenminister« sei.343 So hat jenes Tandem die Rückkehr zu jenem Verfassungsprozess am Ende doch noch erreicht – trotz jener »giftige[n] Atmosphäre bei den Gipfelverhandlungen«344 und trotz des »Lavieren[s] der polnischen Kaczynski-Zwillinge«, was »Spuren hinterlassen« habe.345 Die Stuttgarter Zeitung hielt damals fest: »So recht weiß zwar keiner, wie der Riss zu kitten sein wird. Aber Steinmeier stellte klar, dass trotz alledem der Gesprächsfaden zu Polen nicht abreißen darf.«346 Wie schwierig die Verhandlungen tatsächlich waren, zeigt auch eine weitere Äußerung Steinmeiers aus jener Zeit: »Es ging schon sehr ruppig zu, das kann sich die europäische Politik auf Dauer nicht erlauben«.347 Natürlich, auch das sei hier noch einmal betont, bedeutet eine Biographie immer auch Verengung. So hatte etwa Reinhard Silberberg, Staatssekretär im Auswärtigen Amt, der von der Financial Times Deutschland einmal als »graue Eminenz der deutschen EU-Politik« bezeichnet worden ist,348 eine maßgebliche Rolle bei der Vorbereitung jenes wichtigen EU-Gipfels inne.349 Und die Beschreibung von Steinmeiers Rolle soll Merkels Rolle wiederum keineswegs schmälern. Das wäre schlicht falsch. Steinmeier jedenfalls blickte in der Frankfurter Rundschau durchaus mit Stolz auf jene EU-Ratspräsidentschaft zurück. Die Europäische Union sei aus einer »Phase der Stagnation und Depression« wieder herausgekommen.350 Er äußerte dabei die Befürchtung, dass ohne jenen Grundlagenvertrag die europäische Integration »um eine Generation zurückgefallen« wäre.351 Ausdrücklich betonte er außerdem in Bezug auf Mer-
342 | Schlitz, C.: Die Tops und Flops; in: Welt, 30.06.2007. 343 | Meng, R.: Angela Merkels zweites Gesicht; in: Frankfurter Rundschau, 25.06. 2007. 344 | Maron, Thomas: Merkels Schlussappell für ein einiges Europa; in: Stuttgarter Nachrichten, 28.06.2007, S. 4. 345 | Ebd. 346 | Ebd. 347 | Zitiert nach ebd. 348 | Proissl, Wolfgang: Graue Eminenz der deutschen EU-Politik; in: Financial Times Deutschland, 12.12.2003, S. 2. 349 | Vgl. Büchner, Gerold; Fras, Damir: Der verbeamtete Zocker; in: Berliner Zeitung, 19.06.2007, S. 3. 350 | Zitiert nach Reckmann, Jörg; Meng, Richard: Zum Abschied eine Warnung; in: Frankfurter Rundschau, 28.06.2007, S. 5. 351 | Zitiert nach ebd.
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kels Rolle: »Die Kanzlerin verdient Lob«,352 hob aber auch die Rolle vom französischen Präsidenten Nicolas Sarkozys hervor, der »einen hohen Anteil« am Erreichten habe.353 Neben diesen Akzenten gab es viele weitere Themen, in die Steinmeier in diesen vier Jahren als Außenminister involviert war, in denen er Akzente auch gegen Widerstände setzen wollte, häufig im Schulterschluss mit der Bundeskanzlerin. Zusammen mit Merkel nahm er so von Beginn der Verhandlungen zum iranischen Atomprogramm eine liberalere Rolle als die USA ein: »Niemand will dem Iran das Recht auf die friedliche Nutzung der Kernenergie verweigern.«354 Mit der Aussage, »dass wir ausschließlich den diplomatischen Kurs von Außenministerin Rice unterstützen«,355 erteilte er zur Mitte der Legislaturperiode einem Militäreinsatz der USA eine klare Absage. Bereits kurz nach seinem Amtsantritt hatte er vor einer »Militarisierung des Denken« in diesem Konflikt gewarnt.356 Im Schulterschluss mit Merkel, deren Rolle bei der »Verhinderung eines amerikanischen Feldzuges gegen den Iran« ebenfalls groß gewesen sein soll,357 und europäischen Partnern hatte Steinmeier für direkte Gespräche zwischen Washington und Teheran über dessen Atomprogramm geworben.358 Erneut positionierte sich Deutschland also als Mittler, das Aktionen des Irans (»Falsches Signal«359) verurteilte,360 aber auch vorsichtige Kritik an den USA äußerte, etwa, weil es Indien faktisch als Atommacht anerkannte, was die Gespräche mit dem Iran erschweren würde.361 Immer wieder brachte sich Steinmeier in
352 | Zitiert nach o.V.: Merkel gegen eine EU der zwei Geschwindigkeiten; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.06.2007, S. 1. 353 | Zitiert nach ebd. 354 | Steinmeier, Frank-Walter: Rede vor der 61. Generalversammlung der UN, New York, 22.09.2006; Redemanuskript abrufbar unter: www.auswaertiges-amt.de/DE/ Infoservice/Presse/Reden/2006/060922-NY-VN-GV-d.html (zuletzt eingesehen am 04.07.2016). 355 | Beste, Ralf; Hammerstein, Konstantin von; Neukirch, Ralf; Reuter, Wolfgang: Königin des Hinterzimmers; in: Spiegel, 05.11.2007, S. 26-32; hier: S. 27. 356 | Zitiert nach o.V.: Teheran lobt Steinmeier; in: Berliner Morgenpost, 24.01.2006, S. 4. 357 | Jörges, Hans-Ulrich: Die Kosten der Moral; in: Stern, 15.11.2007, S. 72. 358 | Vgl. O.V.: Berlin drängt Washington zu Gespräch mit Teheran; in: Berliner Morgenpost, 05.04.2006, S. 3. 359 | Zitiert nach o.V.: »Falsches Signal«; in: Frankfurter Rundschau, 13.04.2006, S. 2. 360 | Vgl. ebd.; vgl. auch O.V.: Steinmeier droht Iran mit dem Sicherheitsrat; in: Stuttgarter Zeitung, 05.09.2006, S. 4. 361 | Vgl. o.V.: Kritik am Telefon; in: Spiegel, 27.03.2006, S. 17.
9. Metamorphose II
den Konflikt mit Initiativen ein362 und setzte, wie Merkel, mit diesem diplomatischen Pfad und dem Verzicht auf Gewaltandrohung auf einen Kurs, der bisweilen bis zur Selbstaufgabe noch die kleinsten Bewegungen des Irans als positive Signale des Fortschritts einordnete.363 Steinmeier war hier, so vermitteln zumindest seine Reden, von einem Abrüstungsgedanken getrieben. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 betonte er, dass man am »Scheideweg« stehe und warnte: »Entweder gelingt es uns in den nächsten Jahren, den Iran und andere Staaten vom Spiel mit nuklearen Optionen fernzuhalten. Oder aber wir erleben eine neue Runde nuklearen Wettrüstens mit unabsehbaren Konsequenzen für unsere Sicherheit.«364 Einen Monat später konkretisierte er noch einmal im Bundestag: »Die Zahl von Staaten mit Atomwaffen ist seit dem Kalten Krieg gestiegen. Immer mehr Staaten sind in der Lage, Atomwaffen zu bauen, und auch terroristische Organisationen versuchen möglicherweise, sich Material zum Bau sogenannter schmutziger Bomben zu beschaffen. Zudem arbeiten manche Länder an der Entwicklung von Trägersystemen, die auch europäische Hauptstädte erreichen können.« 365
Von einem »entscheidende[n] Unterschied zum Zeitalter des Kalten Krieges« sprach er, denn damals hätten sich »praktisch nur die USA und die Sowjetunion mit solchen Waffen« bedroht, was »vergleichsweise überschaubar« gewesen sei.366 Einmal mehr sprach er von »tiefer Sorge« und warb für eine »neue Abrüstungspolitik«: »Vielleicht schon bald werden aber viel mehr Staaten sich eine ähnliche Machtposition verschaffen können. Darin liegt die Gefahr einer neuen Rüstungsspirale, und die Aussicht, dass dann irgendjemand eines Tages auf den roten Knopf drückt, wäre ungleich
362 | Vgl. o.V.: Neue Pläne Steinmeiers im Atomstreit mit dem Iran; in: Berliner Zeitung, 02.05.2007, S. 8; vgl. auch O.V.: Strenge Aufsicht; in: General-Anzeiger, 18.09.2006, S. 4. 363 | Vgl. z.B. Bednarz, Dieter; Beste, Ralf; Hammerstein, Konstantin von; Rosenbach, Marcel: Verlorene Illusionen; in: Spiegel, 16.04.2007, S. 28-29. 364 | Steinmeier, Frank-Walter: Rede anlässlich der 42. Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik, München, 11.02.2007; Redemanuskript abrufbar unter: www.auswa ertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Reden/2015/150208_BM_M%C3%BCSiKo. html (zuletzt eingesehen am 04.07.2016). 365 | Steinmeier, F.-W.: Rede vor dem Deutschen Bundestag zur Raketenstationierung, 21.03.2007. 366 | Ebd.
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IV. Politik im Vordergrund größer. Die Entwicklung erfüllt mich mit großer Sorge. Und meine Antwort lautet: Wir brauchen dringend neuen Schwung für eine neue Abrüstungspolitik.« 367
Das sei der Grund, warum er sich seit seinem »ersten Tag im Auswärtigen Amt so intensiv um den Iran-Konflikt kümmere«,368 unterstrich er seine aktive Rolle in den Verhandlungen und warb für ein gemeinsames Vorgehen: »Wenn der Iran eines Tages Atomwaffen besäße, bedeutete das nicht nur Gefahren aus dem Iran. Nein! Es brächte weitere Staaten – nicht nur in der Region – in unmittelbaren Zugzwang. Und das hätte unabsehbare Folgen auch für die Sicherheit in Europa und Deutschland. Diese Büchse der Pandora darf sich nicht öffnen! Am Beispiel Iran erkennen wir jedoch auch, dass wir die größten Herausforderungen, die schwierigsten Probleme unserer Zeit, nur gemeinsam lösen können. Nicht nur beim Klimaschutz sitzen die Menschen von Alaska bis Auckland, von Spitzbergen bis Südafrika, in einem Boot!« 369
In seiner vermittelnden Rolle hatte Deutschland sich so durchweg darum bemüht, die unterschiedlichen Protagonisten – die USA, Russland, China, Großbritannien, Frankreich und Deutschland – im Auftreten gegenüber Iran geschlossen zu halten.370 Die Beilegung jenes Konflikts allerdings sollte noch viel länger dauern – bis zur Mitte von Steinmeiers zweiter Außenministerperiode ab 2013.371 Eine weitere »weltpolitische[] Großbaustelle[]«372 stellte (auch in dieser Regierungszeit wieder) der Nahostkonflikt dar. Eben hier konnten Deutschland und insbesondere Steinmeier gegen eine US-Administration, unter der keine »nennenswerte Bewegung […] zu erwarten« war, einige Akzente setzen373 – neben 367 | Ebd. 368 | Ebd. 369 | Ebd. 370 | Vgl. Graw, Ansgar: Die Tricks des Herrn Außenministers; in: Welt, 24.01.2008, S. 2. 371 | Vgl. Rinke, Andreas: Verhandlungs-Weltmeister; in: Internationale Politik (Online Exklusiv), 31.07.2015; abrufbar unter: https://zeitschrift-ip.dgap.org/de/article/ verhandlungs-weltmeister (zuletzt eingesehen am 01.08.2016).; vgl. auch Javedanfar, Meir; Tertrais, Bruno; Thränert, Oliver: Eine Roadmap. Bestenfalls; in: Internationale Politik, 5-6/2015, S. 60-68. 372 | Meng, Richard: Das Bündnis der Artgleichen: Eine kritische Zwischenbilanz der Großen Koalition aus journalistischer Sicht; in: Tenscher, Jens; Batt, Helge (Hg.): 100 Tage Schonfrist: Bundespolitik und Landtagswahlen im Schatten der Großen Koalition, Wiesbaden 2008, S. 283-297; hier: S. 288. 373 | Ebd., S. 288.
9. Metamorphose II
Angela Merkel, die der Israel-Politik in der Tradition der deutschen Außenpolitik große Aufmerksamkeit einräumte.374 So hatte, heißt es in einer Analyse, Steinmeier »[b]ei der Beendigung des israelischen Libanonkrieges [2006] eine kluge Vermittlerrolle gespielt, mit der er international an Statur gewann«.375 Er war, wie das Hamburger Abendblatt feststellte, »der erste westliche Politiker von Gewicht […], der versucht« habe, »zu vermitteln und einen Flächenbrand zu vermeiden«,376 führte damit »Joschka Fischers leise Diplomatie« fort,377 setzte aber auch deutliche eigene Akzente. Insbesondere seine Anstrengungen, Syrien, ein Gegner Israels, zu einer kooperativeren Rolle zu bewegen, stießen zunächst auf große Skepsis, bestätigten letztendlich aber nur, dass Steinmeier auch Lösungswege fernab der eingetretenen Pfade suchte. Deutlich stellte er sich in dieser Frage gegen die USA, wenn er zu bedenken gab, dass »Gesprächsverbote nicht […] zur Standardmethode im Umgang mit schwierigen Partnern« werden könnten.378 Er hatte vielmehr »wiederholt die Auffassung vertreten, dass Syrien für eine umfassende Nahost-Lösung unverzichtbar sei«,379 weil das Land, so seine Hoffnung, mäßigend auf die Hisbollah einwirken könnte.380 Seine anfänglichen Bemühungen waren zunächst gescheitert, nachdem eine Rede des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad »bekannt wurde, die mit Attacken auf Israel und Lob für die Hisbollah gespickt waren«.381 Im Flugzeug sitzend wies Steinmeier den Piloten »bei bereits laufenden Triebwerken« an, den Kurs zu ändern.382 Die US-Administration und insbesondere US-Außenministerin Rice dürften sich in diesem Moment bestätigt gefühlt haben, ist
374 | Asseburg, Muriel; Busse, Jan: Deutschlands Politik gegenüber Israel; in: Jäger, T.; Höse, A.; Oppermann, K. (Hg.): Deutsche Außenpolitik, 2011, S. 693-716; hier: S. 702; vgl. auch ebd., S. 693. 375 | Meng, R.: Das Bündnis der Artgleichen; in: Tenscher, J.; Batt, H. (Hg.): 100 Tage Schonfrist, 2008, S. 288. 376 | Ilse, Frank: Berlins historische Verantwortung; in: Hamburger Abendblatt, 24.07.2006, S. 2. 377 | Ebd. 378 | Zitiert nach Harnisch, S.: Die Große Koalition; in: Egle, C.; Zohlnhöfer, R. (Hg.): Die zweite große Koalition, 2010, S. 514. 379 | O.V.: Steinmeier startet neuen Versuch mit Syrien; in: Berliner Morgenpost, 04.12.2006, S. 4. 380 | Vgl. o.V.: Steinmeier sieht »zarte Zeichen der Hoffnung«; in: General-Anzeiger, 05.12.2006, S. 1. 381 | Graw, Ansgar: Sarkozy stiehlt Steinmeier die Schau; in: Welt, 15.07.2008, S. 4. 382 | Ebd.; vgl. auch O.V.: Steinmeier sagt Syrien-Reise ab; in: General-Anzeiger, 16.08.2006, S. 1.
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doch von ihr der Satz an Steinmeier überliefert: »Ich warne dich zu fahren.«383 Auch Merkel war zunächst skeptisch,384 verteidigte jedoch bald »den Gestaltungswillen ihres Außenministers auch gegen Kritik aus den eigenen Reihen«.385 Zwar kam es im Dezember 2006 tatsächlich zu einem Besuch Steinmeiers in Syrien und im Januar 2007 zu einem Gegenbesuch seines syrischen Amtskollegen Walid al’Muallim,386 Rice hingegen war auch im weiteren Verlauf zunächst nicht von Steinmeiers Initiative zu überzeugen.387 Dieser aber ließ während der gesamten Zeit den Gesprächsfaden zu Syrien nicht abreißen.388 Ende des Jahres 2007 gaben schließlich auch »die Amerikaner die Isolation Syriens« auf,389 sodass »das Jahr 2008 […] Bewegung in die europäisch-syrischen Beziehungen« brachte.390 Unter anderem Steinmeiers Werben für eine Einbindung Syriens in die »unter US-Federführung initiierte[] Nahost-Friedenskonferenz von Annapolis 2008« hatte gefruchtet.391 Sie unterstützte die Einbindung nun, »was in der Teilnahme einer ranghohen syrischen Delegation an der Konferenz zum Ausdruck kam«.392 Steinmeier lobte daraufhin indirekt seine Initiative: »Jetzt kommen sogar Staaten an einen Tisch, die nicht einmal diplomatische Beziehungen unterhalten.«393 Der Spiegel fasste das Ergebnis der Konferenz mit den Worten zusammen: »Die Konferenz von Annapolis hat einen Prozess in Gang gesetzt, der die Region verändern könnte. Noch nie wurden Friedensbemühungen von einer solch breiten internationalen Front getragen. Eine Schlüs383 | Zitiert nach Beste, Ralf; Schult, Christoph; Zand, Bernhard: Aus dem Koma erwacht; in: Spiegel, 03.12.2007, S. 164-167; hier: S. 167. 384 | Vgl. Beste, R.; Schult, C.; Zand, B.: Aus dem Koma erwacht; in: Spiegel, 03.12.2007; vgl. auch Graw, A.: Sarkozy; in: Welt, 15.07.2008; vgl. außerdem Hebestreit, Steffen: Auf Millimeter-Mission; in: Frankfurter Rundschau, 08.07.2009, S. 5. 385 | Harnisch, S.: Die Große Koalition; in: Egle, C.; Zohlnhöfer, R. (Hg.): Die zweite große Koalition, 2010, S. 514. 386 | Vgl. Graw, A.: Sarkozy; in: Welt, 15.07.2008. 387 | Vgl. Maron, Thomas: Steinmeier ist vor Blair an der Reihe; in: Stuttgarter Zeitung, 18.01.2007, S. 2. 388 | Vgl. ebd. 389 | Beste, R.; Schult, C.; Zand, B.: Aus dem Koma erwacht; in: Spiegel, 03.12.2007, S. 167. 390 | Islam, Rana Deep: Herausforderung Nahost. Die Außenpolitik der EU und der Türkei im Vergleich, Wiesbaden 2013, S. 192. 391 | Ebd. 392 | Ebd. 393 | Beste, R.; Schult, C.; Zand, B.: Aus dem Koma erwacht; in: Spiegel, 03.12.2007, S. 167.
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selrolle spielt Syrien.«394 Das war auch ein Erfolg Steinmeiers. Und so gehörte Deutschland »[b]is zum Ausbruch der Unruhen und ihrer gewaltsamen Niederschlagung 2011 […] parteiübergreifend zu den Befürwortern einer solchen Politik der Einbindung gegenüber Damaskus«.395 Im Rückblick muss zwar konstatiert werden, dass den Frieden natürlich auch nicht die »Vermittlungsreisen, welche die Außenminister Fischer, Steinmeier und Westerwelle nach der Jahrhundertwende, mitunter im Namen der Europäischen Union, in den Nahen Osten führten« wiederherstellen konnten.396 Dass allerdings wäre womöglich auch eine Aufgabe zu viel gewesen, wie Steinmeier immer wieder selbst betonte: »Internationale Politik lebt selten von Durchbrüchen, sondern eher von langwierigen schwierigen Prozessen.«397 Das darf insbesondere für den Nahost-Konflikt gelten, über den die Frankfurter Rundschau einmal formulierte, dass es ein Konflikt sei, »von dem Generationen von Diplomaten erfahren haben, dass selbst geringe Fortschritte Jahre, wenn nicht Jahrzehnte brauchen«.398 So waren denn auch Steinmeiers Bemühungen, wie es in einer Analyse richtig heißt, zumindest unter den damaligen Rahmenbedingungen399 »wegweisend«. 400 Und auch wenn Steinmeier »bei seinen bemerkenswerten Bemühungen, Syrien aus der Verbindung mit dem Iran zu lösen, ohne diesen weiter zu isolieren, am Ende […] an seine Grenzen« stieß, standen doch auch seine Bemühungen in der Tradition der deutschen Außenpolitik, die auch durch solche Initiativen Respekt »bei praktisch allen Konfliktparteien der Region genoss. Die Bundesrepublik galt als verlässlicher 394 | Ebd., S. 164. 395 | Islam, R.: Herausforderung Nahost, 2013, S. 192; vgl. auch Sturm, D.-F.: Wohin geht die SPD?, 2009, S. 319. 396 | Zitiert nach Fischer, Marlies: Steinmeier will den Dialog in Nahost stärken; in: Hamburger Abendblatt, 10.05.2007, S. 4. 397 | Zitiert nach ebd. 398 | Hebestreit, S.: Auf Millimeter-Mission; in: Frankfurter Rundschau, 08.07.2009. 399 | Der zukünftige Kurs von Syriens Präsidenten Baschar al-Assad war zu diesem Zeitpunkt noch nicht absehbar. Die europäische und US-amerikanische Haltung werden in Abhandlungen, beispielsweise aus dem Jahr 2015, mittlerweile dahingehend zusammengefasst, dass von einem »Diktator Assad« gesprochen wird, der »Massenmord an Zivilisten« begeht und »Monat für Monat mehr als sieben Mal so viele Zivilisten tötet wie der IS«; Helberg, Kristin: Syrien: Strategie der gleichzeitigen Schritte; in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 11/2015, S. 9-14; Onlineversion des Printartikels abrufbar unter: https://www.blaetter.de/archiv/jahrgaenge/2015/november/syrienstrategie-der-gleichzeitigen-schritte (zuletzt eingesehen am 03.08.2016). 400 | Sturm, D.-F.: Wohin geht die SPD?, 2009, S. 319; vgl. auch Asseburg, M.; Busse, J.: Deutschlands Politik gegenüber Israel; in: Jäger, T.; Höse, A.; Oppermann, K. (Hg.): Deutsche Außenpolitik, 2011, hier: S. 708.
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IV. Politik im Vordergrund
und vor allem als allseits ansprechbarer Partner.«401 Steinmeier blieb hierbei – neben Merkel – »mit einem eigenständigen Profil« verbunden.402 Darüber hinaus gab es während dieser ersten Amtszeit Steinmeiers einige weitere Akzente und Impulse, teils auch nur erste Ideen, deren ausführliche Betrachtung jedoch den Rahmen dieser Biographie sprengen würden, sie jedoch dennoch genannt werden sollen. So wirkten Merkel und Steinmeier auf eine Wiederbelebung des Nahost-Quartetts, bestehend aus den USA, Russland, der Europäischen Union und den Vereinten Nationen, hin.403 Akzentverschiebungen gab es bei Steinmeier in der Asienpolitik mit einem Weg, der neben China die dortigen Demokratien Japan und Südkorea mehr als zuvor mit einbezog.404 Forciert worden ist unter Steinmeier die Frage der Energiepolitik als neuer Kategorie der Außenpolitik.405 Bereits Anfang 2006 sprach er davon, dass »Energiesicherung […] auch Friedenspolitik« sei.406 Er »bereiste […] gezielt die Länder am Persischen Golf, in Zentralasien und in Nordafrika – alles Regionen, mit denen Deutschland mehr Energie-Geschäfte als bisher machen und zugleich die Abhängigkeit von russischen Öl und Gas verringern könnte.«407 Klar formulierte Steinmeier am Ende der EU-Ratspräsidentschaft das Ziel: »Viel zu lange waren die zentralasiatischen Staaten Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan für uns Europäer ein weißer Fleck auf der Landkarte.«408 Er reagierte damit auf jene neuen, unter Fischer noch weniger beachteten409 Herausforderungen »[i]m Wettstreit um
401 | Schöllgen, G.: Deutsche Außenpolitik, 2013, S. 314. 402 | Ebd., S. 287. 403 | Vgl. Johannsen, Margret: Der Nahost-Konflikt, Wiesbaden 20113, S. 148. 404 | Vgl. z.B. Müller, Peter: Chef-Diplomat im Einsatz; in: Welt am Sonntag, 26.02. 2006, S. 7. 405 | Vgl. Hoffmann, Nils: Renaissance der Geopolitik? Die deutsche Sicherheitspolitik nach dem Kalten Krieg, Wiesbaden 2012, S. 238; vgl. auch Fras, D.: Die Operation Vizekanzleramt; in: Berliner Zeitung, 14.12.2007. 406 | Zitiert nach o.V.: Merkel plädiert für stärkere Nato; in: Frankfurter Rundschau, 06.02.2006, S. 1. 407 | Fras, Damir: Diplomatie und Energie; in: Berliner Zeitung, 09.01.2007, S. 2; vgl. auch Wetzel, Birgit: Gas aus Turkmenistan – Erfolgsaussichten und Probleme; in: Zentralasien-Analysen Nr. 5, 30.05.2008, S. 2-10; hier: S. 2; abrufbar im Internet unter: www.laender-analysen.de/zentralasien/pdf/ZentralasienAnalysen05.pdf (zuletzt eingesehen am 07.08.2015). 408 | Zitiert nach ebd., S. 2. 409 | Vgl. Fras, D.: Diplomatie und Energie; in: Berliner Zeitung, 09.01.2007.
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immer knapper werdende Energieressourcen« 410 und verfolgte dabei, aus seiner Sicht, einen pragmatischen Kurs der Notwendigkeit. Steinmeiers Besuch im Irak war schließlich nicht nur ein Zeichen an die neu-gewählte US-Administration Ende 2008, sondern auch ein Zeichen an den Irak: Es war der erste Besuch eines deutschen Außenministers seit 22 Jahren.411 Nicht aufgrund seiner Außenpolitik, wohl aber an anderer Stelle geriet Steinmeier in die Kritik. Es waren Vorwürfe über vermeintliches Fehlverhalten in seiner Vergangenheit als Kanzleramtschef. Bereits in den ersten Wochen nach Amtsantritt wurden Vorwürfe laut, dass die deutschen Sicherheitsbehörden und das Kanzleramt in Bezug auf den Deutschen Khaled al-Masri, der von der CIA infolge der (vermeintlichen) Terrorismusbekämpfung nach dem 11. September im Jahr 2003 verschleppt worden war, zu spät interveniert hätten. In einer Rede vor dem Bundestag Ende 2005 erläuterte Steinmeier die Geschehnisse in einer solchen detailreichen Form, dass damit bei Medien und Opposition die Vorwürfe ausgeräumt werden konnten. Steinmeier bezog sich zunächst auf den deutschen Herbst 1977, der bereits, wie gezeigt, in seinen frühen Jahren eine Rolle spielte: »Ich hatte jedenfalls keine Entscheidung zu treffen, in der Leben gegen Leben stand oder der Schutz von Leben und Gesundheit deutscher Staatsbürger uns in die äußersten Grenzbereiche unserer Rechtsordnung oder gar darüber hinaus geführt hätte.«412 Wichtig ist dieser Satz, weil Steinmeier von diesem aus den Bogen spannte zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen. So heißt es im Redemanuskript weiter: »Dies sage ich auch mit Blick auf all diejenigen verantwortungslosen Spekulationen und Verdächtigungen, die rund um den so genannten Fall el-Masri gegen mich oder andere Verantwortliche der früheren Bundesregierung erhoben werden. In aller Deutlichkeit«, 413 fügte er in Bezug auf die Vorwürfe hinzu: »Die Bundesregierung, der BND, das BKA und das BfV haben keine Beihilfe zur Verschleppung des deutschen Staatsbürgers el-Masri geleistet. Ebenso deutlich sei wiederholt: Von der Tatsache der Verschleppung haben der frühere Innenminister und 410 | Wetzel, B.: Gas aus Turkmenistan; in: Zentralasien-Analysen Nr 5, 30.05.2008, S. 2. 411 | Vgl. Schwarzkopf, Andreas: Besuch nach 22 Jahren; in: Frankfurter Rundschau, 18.02.2009, S. 5. 412 | Steinmeier, Frank-Walter: Rede vor dem Deutschen Bundestag (Aktuelle Stunde des Bundestages), Berlin, 14.12.2005; Redemanuskript abrufbar unter: www.auswaer tiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Reden/Archiv/2005/051214-SteinmeierImBun destag.html (zuletzt eingesehen am 12.08.2015). 413 | Ebd.
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IV. Politik im Vordergrund der frühere Außenminister ebenso wie ich erst nach der Freilassung des Betroffenen erfahren.« 414
Steinmeier gab sich verständnislos über die Medienberichterstattung, die der Debatte vorausgegangen war, was in Teilen – wohlgemerkt: in Teilen – sicher berechtigt sein mag, jedoch bei jeder medialen Debatte ähnlich verläuft, die immer teilweise auf subjektiven Empfindungen und nicht immer genauester Recherche beruht und ein darauf basierendes Eigenleben entwickelt. Dennoch kritisierte er: »Wenn es schon notwendig ist, das zu versichern, dann lassen Sie mich aber auch hinzufügen, dass mich manche Veröffentlichungen der letzten Tage – sehr vorsichtig gesagt – schon sehr befremdet haben. Es waren Veröffentlichungen, die mehr oder weniger offen suggerieren: Wenn wir, die Deutschen, verdächtige Islamisten schon nicht selbst foltern dürfen, dann geben wir den anderen die passenden Informationen mit dem Ziel, dass diese den Mann abgreifen und die erwünschte Wahrheit aus ihm herausprügeln.« 415
Tatsächlich hielt Steinmeier jener häufig so schnellen Medien-Hysterie, die durch das Internet nochmal an Beschleunigung gewann, einen Spiegel vor. Ohnehin war die Wechselwirkung von Medien und Politik ein Thema, das Steinmeier schon längere Zeit umtrieb und auch in Zukunft umtreiben wird.416 Unabhängig davon kann in die folgenden Sätze, in denen er die Bundestagsabgeordneten direkt ansprach, eine enorme Empörung Steinmeiers hineininterpretiert werden: »Ich frage Sie: Wie infam und wie maßlos muss man eigentlich sein, um solche Vorwürfe gegen diejenigen zu erheben, die dieses Land – ich finde – auch in schwierigen Zeiten auf einem Kurs von Zivilität und Rechtsstaatlichkeit gehalten haben?« 417 Im Folgenden ging Steinmeier detailliert auf den Sachverhalt an sich ein, in dem er die zurückhaltende Zusammenarbeit mit den Medien begründete:418 »Bundeskanzleramt und Auswärtiges Amt wurden erstmals durch den Brief des Rechtsanwaltes von Herrn el-Masri vom 8. Juni 2004 informiert. In diesem Schreiben betont der Anwalt – einen Auszug daraus möchte ich zitieren –: Bevor die Medien eingeschal-
414 | Ebd. 415 | Ebd. 416 | Vgl. auch Kapitel 10.2 in dieser Biographie. 417 | Steinmeier, F.-W.: Rede vor dem Deutschen Bundestag, Berlin, 14.12.2005. 418 | Anders als in dieser Biographie wird in dem Redemanuskript der Name el-Masri geschrieben und nicht »al-Masri«.
9. Metamorphose II tet werden, sollte der Vortrag meines Mandanten geprüft und dessen Erkenntnisse und Wahrnehmungen so gesichert werden, dass sie verwertet werden können.« 419
Steinmeier führte weiter aus: »Genau das hat die Bundesregierung getan. Sie hat zur Prüfung der Angaben von Herrn el-Masri und zur Sicherung gerichtsfester Erkenntnisse sofort und ohne Zögern die Ermittlungsbehörden eingeschaltet und diese in ihrer Arbeit unterstützt, ohne – auch das sei gesagt – ihre Arbeit ersetzen zu können. Denn Ermittlungen zu führen ist Aufgabe von Polizei und Staatsanwaltschaft.« 420
Genau schienen der Außenminister beziehungsweise sein Team sich die damaligen Abläufe noch einmal angeschaut zu haben. So hantierte er fortan mit einzelnen Datumsangaben: »Dank dieses Vorgehens hat das Bundeskriminalamt bereits am 10. Juni, also zwei Tage danach – nur damit Sie wissen, wie schnell das ging –, die örtlich zuständige Polizeidienststelle unterrichtet. Der Generalbundesanwalt wurde am 14. Juni informiert und es wurde umgehend ein Ermittlungsverfahren eröffnet, in dem Herr el-Masri bereits am 17. und 18. Juni als Zeuge ausgesagt hat. Seit Juli 2004 hat die Staatsanwaltschaft München dieses Verfahren übernommen und geleitet. Mitarbeiter von mir im Bundeskanzleramt haben am 30. Juni 2004 zunächst mündlich direkten Kontakt mit dem Anwalt aufgenommen, um ihm einen ersten schriftlichen Bescheid anzukündigen.« 421
Schließlich legte Steinmeier Zahlen vor, die das Bemühen der deutschen Behörden unterstreichen sollten: »Um Ihnen etwas holzschnittartig einen Überblick über die Bemühungen auf Bundesebene zu geben: Es gab in den ersten vier Monaten weit über 30 einzelne Bemühungen von einem halben Dutzend Bundesbehörden, um den ermittelnden Landesbehörden bei deren Aufgabe soweit wie möglich zu helfen. Diese Bemühungen – das sei hinzugefügt – haben in der Zwischenzeit nicht nachgelassen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Allein das Bundeskriminalamt hat von September 2004 bis Januar 2005 rund ein halbes Dutzend Mal bei den zuständigen Stellen in den USA nachgefragt, auf Antwort gedrängt und gemahnt. Das Thema war mehrfach Gegenstand in der ND-Lage und nach der Berichterstattung in den USA im Januar auch mehrfach Gegenstand im zuständigen Parlamentarischen Kontrollgremium. Die Bundesregierung hat Rechtshilfeersuchen gegenüber Mazedonien, Albanien und den USA gestellt, hat schriftlich und mündlich bei den Be419 | Steinmeier, F.-W.: Rede vor dem Deutschen Bundestag, Berlin, 14.12.2005. 420 | Ebd. 421 | Ebd.
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IV. Politik im Vordergrund hörden der betroffenen Länder nachgefragt und sich auch diplomatisch bemüht. Ich schildere dies in Auszügen, weil es ein Ausweis dessen ist, was ein Rechtsstaat leisten kann und – seien Sie dessen versichert – aus meiner Sicht auch leisten soll, wenn Anhaltspunkte vorliegen, dass einer seiner Bürger einer Straftat zum Opfer gefallen ist.« 422
Klar also sprach Steinmeier von einer »Straftat« in Zusammenhang mit elMasri – und räumte abschließend ein, dass man in einzelnen Fragen womöglich hätte anders entscheiden können, betonte jedoch die Überzeugung, dass er richtig gehandelt habe: »Meine Damen und Herren, man kann bei der einen oder anderen Abwägungsfrage zu anderen Wertungen kommen, als ich es getan habe. Das mag sein. Ich stehe jedoch zu den Entscheidungen, die ich in meinem Verantwortungsbereich als Chef des Bundeskanzleramtes und auch als Beauftragter für die Nachrichtendienste zu treffen hatte. Ich stehe zu den Entscheidungen, getroffen aus der Achtung von Recht und Gesetz und für die Sicherheit der Menschen in unserem Land.« 423
Mit dieser allumfänglichen Erklärung fand die kurze Phase der Empörung ein jähes Ende. Nach der Rede, stellte der Spiegel fest, glaubten auch die »Experten der Opposition«, 424 aus deren Reihen etwa der FDP-Politiker Dirk Niebel allzu früh bereits Steinmeiers Rücktritt gefordert hatte,425 »nicht mehr, dass sich Steinmeier […] persönlich schuldig gemacht« habe.426 Von »solider Datenlage und »bestechender Aktenkenntnis« war laut dem Nachrichtenmagazin die Rede.427 Der damals noch weitgehend unbekannte CSU-Außenpolitiker KarlTheodor zu Guttenberg lobte die Rede als »konstruktiven Beitrag zur Klärung der Vorgänge«. 428 Obgleich der Tenor also eher positiv429 und die Rede fundiert war, benannte der Spiegel ein Problem, dass Steinmeier in jener Zeit noch häufiger begegnen sollte und auf das auch in dieser Biographie noch eingegangen wird. So sei »das Gefühl von Kühle« zurückgeblieben.430 Das Nachrichtenmagazin lieferte 422 | Ebd. 423 | Ebd. 424 | Feldenkirchen, M.: Der aus dem Dunkeln kam; in: Spiegel, 19.12.2005, S. 30. 425 | Vgl. Graw, A.: Geräuschlose Zuverlässigkeit; in: Welt, 10.12.2005. 426 | Feldenkirchen, M.: Der aus dem Dunkeln kam; in: Spiegel, 19.12.2005, S. 30. 427 | Vgl. ebd. 428 | Zitiert nach Graw, Ansgar: Koalition verteidigt Auslandsverhöre; in: Berliner Morgenpost, 16.12.2006, S. 4. 429 | Vgl. auch Graw, Ansgar; Fiedler, Carsten: Verwirrende Details; in: Welt, 15.12.2005, S. 3. 430 | Feldenkirchen, M.: Der aus dem Dunkeln kam; in: Spiegel, 19.12.2005, S. 30.
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dafür ein Beispiel, wenn es schrieb: »Er spricht ohne Höhen oder Tiefen, er verlegt einen monotonen Klangteppich. Eines der wichtigsten Ziele der Terroristen sei es, die ›Rechtsstaatlichkeit und Zivilität der offenen Gesellschaft zu zerstören‹«, zitierte es den Außenminister, was »ihnen nicht gelingen« dürfe.431 Die Zeitschrift kommentierte: »Es ist ein guter Satz, vielleicht der Schlüsselsatz zur Krise. Aber er trägt ihn so teilnahmslos vor, als hätte er gerade in der Kantine eine Terrine bestellt.«432 Das allerdings waren dann jedoch keine Rechtsfragen mehr, zu denen das EU-Parlament in ihrem Abschlussbericht des CIA-Ausschusses feststellte, dass deutsche Sicherheitsbehörden nicht in die Entführung involviert waren,433 sondern Stilfragen. Medial kam die Erklärung Steinmeiers zudem viel zu spät, weil sich die Debatte in der Zeit dazwischen verselbstständigen konnte und verselbstständigt hatte. Dazu trug auch Steinmeier bei, wenn er zunächst lediglich betonte, dass er den Fall kenne, weil die Medien ja darüber berichtet hätten.434 Über mehrere Tage hinweg kamen so immer wieder neue Details, Halbwahrheiten und Spekulationen ans Licht, Rechtfertigungen folgten.435 Für den Focus wirkte »Steinmeiers Spiel« »[u]ndurchsichtig«, weil er bei seinem Antrittsbesuch in Washington das Thema zumindest öffentlich nicht ansprach.436 Er blieb noch ein Mann, der im Hintergrund verhandelte, nicht den Vordergrund suchte, der diplomatisch agierte und das Thema womöglich auch deshalb nicht angesprochen hat. Al-Masri war mittlerweile frei und die entsprechenden Verfahren eingeleitet, es gab also, anders als bei einem weiteren Skandal um CIA-Flüge über Deutschland, den er ansprach,437 nichts Aktuelles zu debattieren. Dennoch: Jetzt war Steinmeier Politiker, jetzt stand er im Rampenlicht, es wurde beobachtet, was er sagte und was er nicht sagte, auch wenn es nur der Symbolik galt. Als Politiker sollte er sich zwei Jahre später für einen internationalen Haftbefehl gegen »zehn mutmaßliche CIA-Agenten«, 438 denen im Falle al-Masri eine Mittäterschaft unterstellt wurde, aussprechen: »Die Bundesre-
431 | Zitiert nach ebd., S. 30. 432 | Ebd. 433 | Vgl. Gack, Thomas: Straßburg nimmt Vorwurf gegen Steinmeier zurück; in: Stuttgarter Zeitung, 15.12.2007, S. 4. 434 | Vgl. Graw, A.: Geräuschlose Zuverlässigkeit; in: Welt, 10.12.2005. 435 | Vgl. Meng, Richard: Steinmeiers Material; in: Frankfurter Rundschau, 15.12.2006, S. 3. 436 | Hofmann, Axel; Jach, Michael; Pörtner, Rainer: Merkels amerikanische Feuertaufe; in: Focus, 12.12.2005, S. 22-25; hier: S. 25. 437 | Vgl. ebd. 438 | O.V.: Krisenrunde im Kanzleramt; in: Spiegel, 09.07.2007, S. 15.
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gierung wird […] natürlich diesem Begehren Rechnung tragen.«439 Er plädierte überdies dafür, wenn auch in einer abgeschwächten Form, das »Festnahmeersuchen der Münchner Staatsanwaltschaft nach Washington« weiterzuleiten.440 Neben den USA, die laut Spiegel »massiv gegen den juristischen Vorgang in Deutschland protestiert« hatten, sprachen sich mehrere führende Unionspolitiker wie Wolfgang Schäuble zunächst gegen eine Überstellung aus, weil, so das Nachrichtenmagazin, der damalige Innenminister »schweren Schaden für das transatlantische Verhältnis und die Zusammenarbeit der deutschen Geheimdienste mit der CIA« fürchtete.441 Steinmeier hatte nach dem anfänglichen Zurückhalten nun also eine klarere, öffentlichkeitswirksame Position gefunden und diese früh postuliert. Ähnlich medial ungeschickt wie zu Beginn dieser Debatte agierte Steinmeier auch in der vermeintlichen Affäre um zwei BND-Mitarbeiter im Irak, die unter anderem »Zieldaten für einen Raketenangriff in Bagdad geliefert« haben sollen.442 Laut protestierte der Außenminister und sprach von »bösartig[en]«, »skandalös[en]« und »unverschämt[en]« Vorwürfen gegen ihn.443 Dies wirkte wenig souverän, auch und gerade wenn sich die Vorwürfe, wie »das parlamentarische Kontrollgremium nach langer Sitzung einstimmig« feststellte, nicht bewahrheiteten.444 Dennoch fiel die interne Krisenkommunikation nach Bekanntwerden der Vorwürfe bereits besser aus als im Fall al-Masri. Extra für die Parlamentssitzung verkürzte Steinmeier eine mehrtägig ausgelegte Auslandsreise, die ihn unter anderem nach Israel und Palästina führen sollte, auf nur noch 24 Stunden,445 um bei der »aktuellen Stunde« im Bundestag teilzunehmen.446 Man kann dies kritisieren, aber es ist Teil des politischen Betriebs. Und es ist gut, dass es eine mediale und parlamentarische Kontrolle gibt, auch wenn sich die Vorwürfe letztendlich als haltlos erwiesen. Politisch richtig war die Entscheidung daher, eine wichtige Auslandsreise zu verkürzen. Steinmeier selbst hatte als Kanzleramtschef einmal, wie früher bereits beschrieben, ver-
439 | O.V.: Freundschaft trotz CIA-Haftbefehlen; in: taz, 05.02.2007, S. 5. 440 | O.V.: Krisenrunde im Kanzleramt; in: Spiegel, 09.07.2007. 441 | Ebd. 442 | Braun, Stefan: Berlin und der Irak sind auch in Kairo nah; in: Stuttgarter Zeitung, 20.01.2006, S. 3. 443 | Zitiert nach ebd. 444 | Ebd. 445 | Vgl. Jach, Michael; Krumrey, Henning; Pörtner, Rainer: Rot-Grüne Grauzonen; in: Focus, 23.01.2006, S. 26-29. 446 | Vgl. Baumann, Birgit: Steinmeier geht in die Offensive; in: Tages-Anzeiger, 21.01.2006, S. 6.
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hindert, dass Walter Riester in Abwesenheit beinahe der Ministerstuhl abgesägt worden wäre.447 Im weiteren Verlauf schwang jedoch erneut eine kommunikativ-öffentlichkeitswirksame schwierige Haltung mit. So betonte Steinmeier, dass er es »nicht für klug« halte, »in einem Untersuchungsausschuss Angelegenheiten öffentlich zu machen, die etwa unsere Sicherheitsdienste mit englischen oder französischen Partnern gemeinsam zu bearbeiten haben«. 448 Formal mag dieser Einwand richtig sein. Dennoch war es eine an der Exekutive orientierte Argumentation; eine Sichtweise, die jedoch nicht unbedingt die natürlich auch parteipolitisch motivierten Bedürfnisse der oppositionellen parlamentarischen Kontrolle mit einbezog. Jedenfalls konnte diese Aussage so ausgelegt werden, als ob das Geheime keiner Kontrolle bedürfe, weil es geheim sei. Auch die Argumentation, dass damit Antiamerikanismus »hoffähig« gemacht werden könne,449 kann nicht gelten. Ein Untersuchungsausschuss mag, wie es Steinmeiers Vorgänger Fischer in diesem Zusammenhang einmal einschätzte, »erstens ein Kampfinstrument, zweitens ein Kampfinstrument und drittens ein Kampfinstrument« sein,450 dennoch ist eben jene parlamentarische Kontrolle ungemein wichtig. Den Untersuchungsausschuss konnte Steinmeier letztlich auch nicht verhindern – ihn aber wohl für sich entscheiden. Seine Prophezeiung an die Opposition blieb also wahr: »Der Bahnhof, auf dem Sie ankommen werden, wird ein anderer sein als der, an den Sie denken«. 451 Und tatsächlich hielt nicht nur die Berliner Zeitung abschließend fest, dass »selbst die notorisch kritischen Grünen und PDS-Leute« nun glauben würden, »dass deutsche BND-Agenten, die während des Irak-Krieges in Bagdad blieben, den Amerikanern keine kriegswichtigen Informationen zukommen ließen«.452 Anders lag der Fall Murat Kurnaz. Dieser war Anfang Oktober 2001 von Frankfurt nach Karatschi in Pakistan geflogen und soll sich Anfang Dezember desselben Jahres wieder auf dem Weg zum Flughafen befunden haben, um
447 | Vgl. S. 185f in dieser Biographie. 448 | Zitiert nach o.V.: Steinmeier: BND-Ausschuss gefährdet Zusammenarbeit; in: Rheinische Post, 13.03.2006, S. 4. 449 | Zitiert nach Baumann, B.: Steinmeier geht in die Offensive; in: Tages-Anzeiger, 21.01.2006. 450 | Zitiert nach Maron, Thomas: Union zu Gesprächen über BND bereit; in: Frankfurter Rundschau, 21.01.2006, S. 1. 451 | Zitiert nach Baumann, B.: Steinmeier geht in die Offensive; in: Tages-Anzeiger, 21.01.2006. 452 | Fras, Damir: Ein Macher macht weiter; in: Berliner Zeitung, 31.01.2007, S. 3.
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nach Deutschland zurückzukehren,453 wo er dann von US-Streitkräften »nach Kandahar in Afghanistan« verschleppt wurde.454 Das dortige Lager wurde auch von deutschen Soldaten bewacht, Kurnaz identifizierte später eine Person. Im Februar 2002 schließlich wurde Kurnaz vom US-Militär ins US-Gefangenenlager Guantanamo geflogen. Wenige Monate später wurde er von Mitarbeitern des BND verhört, die notierten, dass Kurnaz »bereits in naher Zukunft« 455 freikommen könnte. Dazu kam es jedoch nicht. Vielmehr wurde, so die Welt am Sonntag, in der Präsidentenrunde im Kanzleramt unter Steinmeiers Leitung beraten, »ob Kurnaz nach Deutschland kommen oder in die Türkei abgeschoben werden sollte. Die Runde […] [entschied] sich für die Einreisesperre.«456 Diese Haltung behielten die deutschen Behörden bei, auch 2005 hieß es laut der Zeitung in einem Vermerk des Auswärtigen Amtes noch, dass Kurnaz die Einreise verweigert werden sollte. Schließlich sprach Merkel im Oktober 2006 den Fall bei Bush an, kurz darauf wurde Kurnaz freigelassen.457 Tatsächlich kam die rot-grüne Bundesregierung zunächst zu einem anderen Schluss als später die Regierung unter Bundeskanzlerin Merkel. Zwar, so argumentierte Steinmeier nun im Untersuchungsausschuss, ließe »[n]iemanden […] ein Schicksal kalt, wie Herr Kurnaz es ertragen musste«, doch könne er, zitierte die Berliner Zeitung den Außenminister, »›keine unvertretbare Härte‹ in der Entscheidung erkennen, eine Entlassung des Türken nach Deutschland abgelehnt zu haben.«458 Auch ist es wichtig, jene Entscheidung im Kontext der Terroranschläge zu sehen. Die Terroristen, die die Flugzeuge steuerten, kamen überwiegend aus Deutschland.459 Die Angst vor weiteren Verwicklungen war insofern groß. Die staatsbürgerrechtliche Argumentation konnte in diesem Zusammenhang also durchaus ein Mittel gewesen sein, einer Person, bei der man sich nicht sicher war, die Einreise zu verweigern. Dennoch war es falsch zu argumentieren, dass dies keine »unvertretbare Härte« gewesen sei. Denn es war bereits bald nach den Terroranschlägen vom 11. September offenkundig, dass in Guantana453 | Vgl. Müller, Peter: Murat Kurnaz’ Leben seit 2001; in: Welt am Sonntag, 22.04.2007, S. 6. 454 | Ebd. 455 | Ebd. 456 | Ebd. 457 | Ebd. 458 | Förster, Andreas: »Wir wollten das Land vor Anschlägen bewahren«; in: Berliner Zeitung, 30.03.2007, S. 5. 459 | Bronst, Sebastian: Der lange Schatten der »Terror-WG«; in: FR-Online.de, 29.08.2011; abrufbar unter: www.fr-online.de/11--september-2001/hamburg-derlange-schatten-der--terror-wg-,1477440,10065226.html (zuletzt eingesehen am 04.07.2016).
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mo bei Verhören und in Bezug auf Gefangenenrechte keine rechtsstaatlichen Prinzipien verfolgt worden sind. Die New York Times hielt bereits Mitte 2003 fest: »Seit eineinhalb Jahren halten die USA Hunderte Menschen […] gefangen und verwehren ihnen den Kontakt zu ihren Familien und Rechtsanwälten und überhaupt jeglichen Hauch eines Rechtsstaats […]. Dieser Zustand verrät einige unserer höchsten Ideale und läuft unserem nationalen Interesse zuwider. Die außergewöhnlichen Anschläge vom 11. September 2001 erforderten ganz klar außergewöhnliche Maßnahmen […] Aber Amerika hatte nach dem 11. September geschworen, sich nicht auf das Niveau der Terroristen hinunterzubegeben. Unterdessen jedoch hält das Verteidigungsministerium mehr als 600 Männer – einige davon bis zu 13 Jahre jung – […] in einem Konzentrationslager gefangen. Kein Zweifel: Manche unter ihnen sind Mitglieder oder sogar Anführer [des Terror-Netzwerks] Al Qaida. Manche könnten Taliban gewesen sein; manche haben vielleicht schreckliche Verbrechen begangen […] Wer auch immer sie sind, ihre Behandlung sollte eine Demonstration rechtsstaatlicher Verpflichtung sein und nicht dieser Schandfleck auf der Ehre der USA.« 460
Dass die Auffassung und die Berufung auf Kurnaz’ türkische Staatsbürgerschaft, aufgrund der man nicht handeln müsse, im Ermessensspielraum des Betrachters, also der Behörden, lag, zeigte schließlich, dass Merkel zu einer anderen Einschätzung kam. Doch selbst wenn man also, wie Steinmeier betont, damals zu einer anderen Einschätzung gekommen und die Entscheidung, die Einreise zu verhindern, »nicht nur vertretbar« sondern sogar »geboten« gewesen sei, Kurnaz also aus der Sicht der Behörden ein Sicherheitsrisiko darstellte, hätte dies im Umkehrschluss nicht bedeuten können, die Prinzipien des Rechtsstaates auszuhebeln.461 Das heißt, selbst wenn Kurnaz von den Sicherheitsbehörden als »Gefährder« eingestuft worden wäre, wie es der Fall war,462 wäre ein rechtsstaatliches Verfahren erstrebenswert gewesen. Zumindest auf ein solches in der Türkei hätte Deutschland drängen können – unabhängig von der Bewertung der Person Kurnaz. Insbesondere der Westen, der seine Werte wie den der Rechtsstaatlichkeit zu Recht als wesentliches Fundament hochhält, muss fähig sein zur Selbstkorrektur von Fehlentwicklungen.463 Der Christdemokrat Thomas de Maizière, 460 | Zitiert nach o.V.: Verrat amerikanischer Ideale; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.05.2003, S. 2. 461 | Zitiert nach Förster, A.: »Wir wollten das Land vor Anschlägen bewahren«; in: Berliner Zeitung, 30.03.2007. 462 | Vgl. ebd. 463 | Vgl. auch Winkler, Heinrich August im Gespräch mit dem Spiegel; in: Hoffmann, Christine; Wiegrefe, Klaus: Ein neuer Sonderweg; in: Spiegel, 29.12.2014, S. 26-29.
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zwischen 2005 und 2009 Kanzleramtschef, betonte im Zuge der Verhandlung des Falles, dass er sich »eine Kritik an der früheren Regierung nicht« anmaße, sondern vielmehr froh sei, nicht selbst zum damaligen Zeitpunkt die Entscheidung habe treffen müssen.464 Er betonte gleichzeitig, dass aufgrund humanitärer Aspekte auf die Freilassung Kurnaz hingearbeitet worden sei, und das obwohl »[d]ie Sicherheitsbedenken […] bei mir nicht gänzlich ausgeräumt« gewesen seien.465 Der CDU-Fraktionsvorsitzende Volker Kauder erhob ebenfalls keine Vorwürfe gegen Steinmeier, sondern gab zu bedenken, dass »[i]ch […] von mir nicht sagen [kann], dass ich damals anders gehandelt hätte. Steinmeier musste aus der Situation heraus entscheiden«. 466 Auf die Frage des Redakteurs der Welt, was aus diesem Fall gelernt werden könne, antwortete er: »Man muss in solchen Fällen sensibler reagieren und darf nicht einfach sagen, wenn einer durch das Raster fällt, dann hat er halt Pech gehabt.«467 Und so eine Erläuterung, welche Lehren aus diesem Fall zu ziehen sein könnten, ließ etwa Steinmeier öffentlich vermissen. Stattdessen antwortete er auf die Frage, ob man sich bei »Kurnaz für dessen Leiden in Guantanamo« entschuldigen sollte:468 »Entschuldigen kann man sich nur für ein Fehlverhalten«. 469 Und weiter: »Ein solches Fehlverhalten kann ich nicht sehen. Bedauern ist daher wohl der richtige Ausdruck.«470 Besonders an jener Debatte war, wie unter den ungeschriebenen Mediengesetzen nicht unüblich, dass sie sich vor allem auf Steinmeier fokussierte, obwohl die Entscheidungsträger der damaligen Bundesregierung eigentlich deutlich breiter gestreut waren. Doch waren »[s]eine damaligen Mitstreiter«, wie die Welt am Sonntag festhielt, »Innenminister Otto Schily und Gerhard Schröder, […] Geschichte. Frank-Walter Steinmeier ist der letzte Mann auf dem Platz.«471 Als solcher drohte er vielleicht nicht über die Affäre zu fallen, zumindest aber zu stolpern. Tatsächlich setzte sich Merkel in ihren Reihen und insbesondere bei ihrem Fraktionsvorsitzenden Volker Kauder dafür ein, dass die Attacken auf ihren Außenminister nicht allzu groß werden würden, weil 464 | Peter, Joachim: Merkel setzt sich trotz Bedenken für Kurnaz ein; in: Welt, 11.05.2007, S. 4. 465 | Zitiert nach ebd. 466 | Kauder, Volker im Gespräch mit der Welt; in: Peter, Joachim: »Es bleibt ein beklemmendes Gefühl«; in: Welt, 17.04.2007, S. 4. 467 | Ebd. 468 | König, Jens: Eine Frage von Schuld und Sühne; in: taz, 31.03.2007, S. 5. 469 | Zitiert nach ebd. 470 | Zitiert nach ebd. 471 | Müller, Peter: Genervt und ein wenig gelassen; in: Welt am Sonntag, 04.02.2007, S. 6.
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ihr das »aus Gründen des Koalitionsfriedens keinesfalls recht sein konnte[]«. 472 Auch in der SPD rumorte es. Laut einem nicht genannten SPD-Präsidiumsmitglied sei bereits die Ablöse Steinmeiers durch Beck zumindest durchgespielt worden.473 Beck hatte dies umgehend dementiert, das sei »frei erfunden«. 474 Auch retrospektiv weist er solche Planspiele als »quatsch« zurück.475 Das seien ein paar Leute gewesen, kritisiert er jene, die dieses Gerücht gestreut haben, »die ihm genauso schaden [wollten] wie mir […]. [D]a sind ein paar Leute, die leben parasitär«. 476 Auch übermäßig einsetzen habe er sich nicht für Steinmeier müssen, betont er auf Nachfrage: »Das gab’s nicht in dieser Situation.«477 Zwar konnten die Vorwürfe ausgeräumt werden und am Ende des Untersuchungsausschusses musste auch Petra Pau von der Linksfraktion eingestehen, dass es ein Angebot der USA, Kurnaz ausreisen zu lassen, das Steinmeier hätte ablehnen können, nicht gab.478 Max Stadler von der FDP fügte hinzu: »Das Thema ist vom Tisch.«479 Dennoch blieb ein Paradoxon zwischen Steinmeiers öffentlichem Auftreten und jenem, das seine damaligen Weggefährten schildern, bestehen. Noch einmal sei an Steinmeiers Aussage erinnert, dass er sich nicht entschuldigen könne, weil kein Fehlverhalten vorliege. Jener medial als kalt wahrgenommenen Sicht folgten die damaligen Akteure nicht, sie haben im Rückblick einen anderen Steinmeier mit Gefühlen und Betroffenheit in Erinnerung. So erinnert sich etwa Ulla Schmidt daran, dass »[d]as […] schon etwas« gewesen sei, »was ihn sehr belastet hat. […] Weil er natürlich zu niemanden gehört, der irgendjemanden in Guantanamo sitzen lässt. Aber […] wenn Sie das Gefühl haben, die Sicherheit ist bedroht […], sind [das] ja andere Situationen, in denen man entscheidet. Das hat ihn schon persönlich […] sehr getroffen […] dieser Vorwurf.« 480 472 | Langguth, G.: Angela Merkel, 2010, S. 370f; vgl. auch König, J.: Eine Frage von Schuld; in: taz, 31.03.2007; vgl. auch Fleischhauer, Jan; Neukirch, Ralf; Pfister, René: Eine Frage der Macht; in: Spiegel, 12.03.2007, S. 20-24; vgl. außerdem Neukirch, Ralf: »Phase zwei«; in: Spiegel, 17.02.2007, S. 28-29. 473 | Vgl. o.V.: Beck ins Kabinett?; in: Spiegel, 17.02.2007, S. 17. 474 | Beck, Kurt zitiert nach o.V.: Beck will noch nicht an den Kabinettstisch; in: Stuttgarter Nachrichten, 17.02.2007, S. 4. 475 | Beck, Kurt im Gespräch mit dem Autor am 16.08.2013. 476 | Ebd. 477 | Ebd. 478 | »Es stimmt, es lag offenbar kein Angebot vor, über das man hätte verhandeln können«, bekundete sie; zitiert nach Käfer, Armin: Steinmeier entlastet; in: Stuttgarter Zeitung, 24.02.2007, S. 2. 479 | Zitiert nach ebd. 480 | Schmidt, Ulla im Gespräch mit dem Autor am 17.10.2013.
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Ein anderer damaliger Akteur, der ungenannt bleiben möchte, fügt hinzu, dass Steinmeier, so sein Eindruck, zwar »[m]it seinem Gewissen auch im Reinen war«, aber »dass die öffentliche Kritik ihn persönlich angekratzt hat, weil […] mit Unterstellungen und auch Behauptungen gearbeitet wurde, die ehrverletztend waren.«481 Das sei »schon etwas« gewesen, »was ihn da nicht kalt« gelassen habe.482 Auch Kurt Beck spricht davon, dass bei Steinmeier zwar »nicht Dünnhäutigkeit« zu besichtigen gewesen sei, »[a]ber durchaus Betroffenheit«, die »man ihm angemerkt« habe »in solchen Phasen«. 483 Auch an anderer Stelle blieb die Medienarbeit hinter ihren Möglichkeiten zurück. Zwischen dem, was Steinmeier tat und dem, was Steinmeier in der Öffentlichkeit darstellte, klaffte bisweilen eine signifikante Lücke. Steinmeier hatte im Kanzleramt sieben Jahre lang im Hintergrund gearbeitet – und die Deklarierung der Urheberschaft der von ihm ausgehandelten Kompromisse und Konzepte anderen überlassen. Bisweilen entstand der Eindruck, Steinmeier blieb dieser Linie zunächst treu – nur war er jetzt der Mann, auf den eigentlich alles zulief in der Außenpolitik. Die Kunst der Selbstinszenierung, zumindest aber die Formulierung des Anspruches auf eigene Lösungsansätze schien Steinmeier zu diesem Zeitpunkt nicht unbedingt wichtig. So ärgerten sich Sozialdemokraten nur intern, dass nach den Gipfelverhandlungen am Ende der EU-Ratspräsidentschaft Merkel Steinmeiers Rolle nicht so sehr hervorgehoben hat, wie diese, wie auch hier gezeigt, tatsächlich war.484 Als Nikolas Sarkozy in Bezug auf fünf bulgarische Krankenschwestern und einen palästinensischen Arzt, die allesamt in Libyen inhaftiert waren und deren Freilassung Steinmeier maßgeblich verhandelte, für sich deklarierte, konnte das Auswärtige Amt nur noch »verschnupft« 485 reagieren. Die Welt hingegen titelte: »Wie die Eheleute Sarkozy den Erfolg Steinmeiers stehlen«. 486 Steinmeier war nun da, wo er lange Zeit nicht hinwollte: im Blitzlichtgewitter der Medien, im Telezoom der medialen Öffentlichkeit, in der es nicht mehr nur darum ging, das Richtige im Hintergrund zu tun, sondern er es mit Gegenspielern zu tun hatte, die mindestens genauso offen suggerieren woll481 | So ein Interviewpartner, der nicht genannt werden möchte, im Gespräch mit dem Autor. (Um die Anonymität zu wahren, wird für alle anonymisierten Personen eine männliche Form verwendet.) (Nr. 37) 482 | Ebd. 483 | Beck, Kurt im Gespräch mit dem Autor am 16.08.2013. 484 | Vgl. Meng, R.: Angela Merkels zweites Gesicht; in: Frankfurter Rundschau, 25.06.2007. 485 | Graw, Ansgar: Wie die Eheleute Sarkozy den Erfolg Steinmeiers stehlen; in: Welt, 25.07.2007, S. 5. 486 | Ebd.
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ten, das Richtige getan zu haben, zumindest aber das Getane auch medial vermarkteten. Das war bisher nicht Steinmeiers Stil – und er sollte auch noch, wie zu zeigen sein wird, als Parteipolitiker damit fremdeln. In einem Teil der Medien entstand so – anders als in der Bevölkerung, in der er sich beinahe durchweg großer Beliebtheitswerte erfreuen konnte487 – ein recht verzerrtes Bild des Außenministers. So schrieb der Stern, dass »Gerhard Schröders einstiger Kanzleramtschef Politik nicht als Streit um Überzeugung, nicht als Kampf um den richtigen Weg« betreibe.488 Vielmehr wäge er »Güter ab. Ein Politiker des Machbaren. Kühl. Besonnen. Besessen korrekt. Bis zur Unkenntlichkeit.«489 In Zusammenfassungen wie diesen schwang die Sehnsucht nach der großen medialen Story mit, der Wunsch nach dem Unkorrekten, dem Frivolen, über das man berichten könne. Dem jedoch muss die Frage entgegengehalten werden, was guten Journalismus ausmacht. Denn: Inhaltlich gab es genug zu berichten. Dennoch lag das Problem der Wahrnehmung eben auch im Auswärtigen Amt selbst. Jene klaren Positionen, die es gab, wurden nicht genügend in die Öffentlichkeit getragen und sind dort nicht fest genug verankert worden. Den Spiegel erinnerte »[d]as Schicksal Steinmeiers […] eher an […] Klaus Kinkel von der FDP. Kinkel war auch Kind der Verwaltung, er war immer der zweite Mann, bis er selbst Außenminister wurde. In der FDP verfiel man nun der Illusion, Kinkel sei ein echter Politiker, man hoffte auf ihn.«490 Schon jetzt darf suggestiv gefragt sein, was denn einen echten Politiker ausmache und wer das bestimmt? Medienwirksam von einer »Mission« zu sprechen, »wenn er auf Reisen geht«, 491 wäre seine Sache (noch) nicht gewesen. Tatsächlich blieben so Berichte bisweilen unscharf und waren allzu voreilig in ihrem Urteil. Der Tagesspiegel etwa schrieb, dass Steinmeier »ein eigenes internationales Profil nicht gefunden« habe.492 »Problembewusst und präsent 487 | Reich, Franziska: Korrekt bis zur Unkenntlichkeit; in: Stern, 18.10.2007, S. 44. 488 | Ebd. 489 | Ebd. 490 | Feldenkirchen, Markus: Mit glühender Sachlichkeit; in: Spiegel, 26.02.2007, S. 28-32; hier: S. 32. 491 | Maron, Thomas: Nüchterner Krisenmanager ohne Allüren; in: Stuttgarter Zeitung, 23.08.2006, S. 3. 492 | Bertram, C.: Außenpolitik? Nein, danke; in: Tagesspiegel, 10.09.2009; Die Frankfurter Rundschau, die in ihrem Artikel zwar auch über den »freundlichen« Diplomaten und »netten Chef« polemisierte, kam indes immerhin zu dem Schluss, dass Steinmeier eben doch Akzente – die Zeitung sprach von »Akzentchen« – gesetzt habe: »in der äußeren Energie- und der Kulturpolitik, schon lange ging es den Goethe-Instituten draußen in der Welt nicht mehr so gut wie jetzt. Vor allem aber gab er der größten Behörde der Republik wieder das Gefühl gebraucht zu werden.«; Fras, Damir: Das Schweigen des Chef-Diplomaten; in: Frankfurter Rundschau, 01.09.2010, S. 11.
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war er immer, gewiss […]. Dennoch hat er keinen Bereich zu seinem eigenen gemacht.«493 Diese Einschätzung, die auch von einigen Wissenschaftlern geteilt wurde,494 war jedoch nicht zutreffend. Tatsächlich waren es die kleinen Bemühungen insbesondere in Bezug auf Russland und die USA, den Atomkonflikt mit dem Iran und bei Steinmeier speziell die Auswärtige Kulturpolitik, die diese Regierungszeit auch perspektivisch, also fernab der Tagespolitik mit Herausforderungen, zum Beispiel rund um den Nahen Osten, dominierten. Es waren Bemühungen, die allesamt auf eine Bewahrung des Friedens ausgerichtet waren. Deutschland nahm hier unter Steinmeier stets eine enorm wichtige, auch kluge Vermittlerrolle ein. Doch Steinmeier suchte zunächst nicht immer die Öffentlichkeit, er blieb häufig in seinem Kreis, wo er allerdings »für fachkundigen Rat zugänglich« war,495 wo die »Tür zu seinem Büro in der zweiten Etage des Auswärtigen Amtes offen« stand,496 wo er gegenüber Journalisten anders auftrat als Amtsvorgänger Fischer und Fragen pflegte, »auch, wenn sie wiederholt gestellt worden sind, sorgfältig zu beantworten«, 497 wo Fischer, wie ein Diplomat sich erinnert, »schon lange Grimassen geschnitten« hätte.498 Kurz nach seiner Amtseinführung lud Steinmeier die über hundert ausländischen Botschafter Deutschlands zu einem Empfang ein und sprach, »wenn auch nur kurz, mit jedem«.499 Er gab ihnen, fasste selbst die Bunte zusammen, »das Gefühl wichtig genommen zu werden. Für Joschka Fischer dagegen waren Botschafter nur bessere Briefträger mit Orden und Zylinder.«500 Steinmeier suchte den Austausch mit
493 | Bertram, C.: Außenpolitik?; in: Tagesspiegel, 10.09.2009. 494 | So wurde die Außenpolitik in einer Analyse als »klug, pragmatisch und harmonisch, aber auch – vielleicht mi Ausnahme der erfolgreichen EU-Ratspräsidentschaft – als ohne große Glanzlichter« beschrieben. (Gareis, S.-B.: Die Außen- und Sicherheitspolitik; in: Bukow, S.; Seemann, W. (Hg.): Die Große Koalition, 2010, S. 241). An anderer Stelle war zumindest von Nuancen die Rede, die das Kanzleramt und damit Steinmeier im Rahmen der Kontinuität der deutschen Außenpolitik setzte. (Vgl. Korte, K.-R.; Fröhlich, M.: Politik und Regieren, 2009, S. 85.) 495 | Zitiert nach Nayhauß, Mainhardt Graf von: Die nette graue Eminenz; in: Bunte, 24.08.2006, S. 48. 496 | Bröcker, Michael: Steinmeier bringt sich in Stellung; in: RP-Online, 05.07.2008; abrufbar unter: www.rp-online.de/politik/deutschland/steinmeier-bringt-sich-in-stellung -aid-1.2306091 (zuletzt eingesehen am 29.07.2016). 497 | Wittke, T.: Außenminister auf Genschers Spuren; in: General-Anzeiger, 30.11. 2005. 498 | Zitiert nach ebd. 499 | Nayhauß, M. Graf von: Die nette graue Eminenz; in: Bunte, 24.08.2006. 500 | Ebd.
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der Fachwelt, wie er es auch als Kanzleramtschef getan hatte. Erst in der zweiten Amtszeit wird er auch den Dialog mit den Bürgern nachhaltig forcieren. Schließlich kam ein weiterer Aspekt hinzu, der Steinmeier in jener Amtszeit verfolgte und der zu der vermeintlichen (medialen) Profillosigkeit beitrug: Er hieß Gerhard Schröder. Immer wieder meldete sich der Altkanzler in jenen Jahren aus dem Off zu Wort, gerne mit provozierenden Aussagen, etwa der, dass Staaten wie Katar keine zuverlässigeren Energielieferanten als Russland seien.501 Während der Georgien-Krise betonte Schröder, dass Russlands Antwort möglicherweise »überzogen« gewesen sein mag, aber es »schon darauf« ankomme, »festzuhalten, wer das denn begonnen hat«.502 Bald kritisierte er, dass nicht genug Gesprächsmöglichkeiten mit Russland genutzt würden. Steinmeier distanzierte sich im Folgenden indirekt von Aussagen seines langjährigen Wegbegleiters.503 Zudem ließ das Auswärtigen Amt verlauten, »dem Altkanzler stehe es zwar frei, zu denken und zu sagen, was er will […], das aber werde den Außenminister nicht davon abhalten, eine eigenständige Politik zu betreiben.«504 Immer wieder wurde der Vergleich Steinmeiers mit Schröder in Berichten aufgegriffen. So fragte beispielsweise die Frankfurter Allgemeine Zeitung 2007: »Führt Schröder Steinmeier an der Hand?«505 Und die Welt fasste nach der Kritik Schröders an Merkel, dass ihre Außenpolitik (in Bezug auf den Dalai Lama) emotional sei, zusammen: »Für den Außenminister sind die Interventionen seines früheren Chefs vermutlich mehr Fluch als Segen, selbst wenn er in der Sache zustimmt. ›Er kann sich nicht von Schröder distanzieren, aber auch nicht von der Kanzlerin. Was immer er tut – es wirkt, als sei er noch immer ›his master’s voice‹, heißt es aus dem Außenministerium.« 506
501 | Vgl. Meng, Richard: Russland; in: Frankfurter Rundschau, 17.04.2007, S. 3. 502 | Zitiert nach Maron, Thomas: »Schröders Rat hat Steinmeier nicht nötig«; in: Stuttgarter Zeitung, 03.09.2008, S. 2. 503 | Vgl. o.V.: Kaukasus-Konflikt: Steinmeier widerspricht Schröders Vorwürfen; in: Spiegel Online, 16.08.2008, abrufbar unter: www.spiegel.de/politik/ausland/kauka sus-konflikt-steinmeier-widerspricht-schroeders-vorwuerfen-a-572546.html (zuletzt eingesehen am 14.08.2015); vgl. auch o.V.: Steinmeier distanziert sich von Schröder; in: Zeit Online, 16.08.2015; abrufbar unter: www.zeit.de/online/2008/34/georgienrussland-konflikt-steinmeier-samstag (zuletzt eingesehen am 14.08.2015). 504 | Maron, T.: »Schröders Rat hat Steinmeier nicht nötig«; in: Stuttgarter Zeitung, 03.09.2008. 505 | Bannas, Günter: Führt Schröder Steinmeier an der Hand?; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.03.2007, S. 2. 506 | Lau, Mariam: Merkel und Steinmeier bemühen sich um Schadensbegrenzung; in: Welt, 23.11.2007, S. 2.
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Außenpolitische Fragen wurden so immer wieder von Fragen über das Verhältnis Schröders zu Steinmeier und umgekehrt überschattet – und der Frage, ob Steinmeier sich nun öffentlich von dieser oder jener Aussage Schröders distanzieren werde. So bekam Steinmeier von vielen Medienvertretern schnell das Attribut zugeschrieben, Schröders Nachlassverwalter zu sein, was er aber mit seiner eigenständigen Außenpolitik letztendlich nicht war. Doch hatte Steinmeier diesem Treiben überhaupt erst Auftrieb gegeben. Als er vom Spiegel, der bereits kurz nach Steinmeiers Nominierung zum Außenminister einen Bericht über diesen mit »Der Nachlassverwalter« überschrieb,507 Anfang 2006 gefragt worden ist, ob er »sich als Nachlassverwalter der außenpolitischen Vorstellungen Schröders« sehe,508 antwortete er: »Vieles von dem, was wir in den sieben Jahren gemeinsam verantwortet haben, war richtig und zukunftweisend. Deutschlands Ansehen in der Welt wurde gemehrt, unsere Friedenspolitik anerkannt. Diesen Nachlass pflege ich gern, mit Verwalten allein wird es allerdings nicht getan sein.« 509
Hier war Steinmeier schlecht beraten. Denn diese Verengung auf den Schröder-Steinmeier-Vergleich war letztendlich erwartbar, insofern hätte bereits früh dagegengewirkt werden müssen. Allerdings muss auch erwähnt werden, dass nicht absehbar war, ob und in welcher Form sich Schröder weiterhin politisch einmischen würde. In dieser Form hätte es wohl zunächst niemand erwartet. Jene ersten vier Jahre, in denen die vermeintliche Unkenntlichkeit womöglich auch mit seiner vorsichtigen Herangehensweise zusammenhing, in der er stets bemüht war, kein Porzellan zu zerschlagen, waren für Steinmeier jedenfalls auch Lehrjahre – auch in inhaltlicher Hinsicht. In seiner Abschiedsrede nach der Bundestagswahl im Jahr 2009 bekannte er, dass »[d]iese vier Jahre […] nicht mein Weltbild über den Haufen geworfen« hätten.510 »Das wäre zuviel […]. Aber diese vier Jahre haben meinen Blick auf die Welt nochmal verändert; auch nachhaltig verändert.«511 So habe er 507 | Beste, R.: Der Nachlassverwalter; in: Spiegel, 17.10.2005, S. 26. 508 | Steinmeier, Frank-Walter im Gespräch mit dem Spiegel; in: Aust, Stefan; Beste, Ralf; Steingart, Gabor: »Brisant und gefährlich«; in: Spiegel, 30.01.2006, S. 26-29; hier: S. 29. 509 | Ebd. 510 | Steinmeier, Frank-Walter: Rede des Bundesaußenministers a.D. anlässlich der Amtsübergabe an Bundesaußenminister Guido Westerwelle, Berlin, 29.10.2009; Redemanuskript abrufbar unter: www.auswaertiges-amt.de/sid_0B4D1D517ABBCCC3AC8 6019FAE9AC362/DE/Infoservice/Presse/Reden/2009/091029-BMaD-Amtsueberg abe.html (zuletzt eingesehen am 05.07.2016). 511 | Ebd.
9. Metamorphose II »gelernt in diesen vier Jahren, dass der Zustand der Welt, den wir landläufig als schlecht bezeichnen, dass selbst dieser Zustand noch viel zerbrechlicher ist als die meisten hier bei uns annehmen. Ich habe gelernt, wie wenig selbstverständlich das Maß an Stabilität ist, über das wir uns hier in Deutschland und in ganz Europa freuen dürfen. Und ich habe bei alldem gelernt, wie kostbar Frieden ist, um den wir uns, auch in unserer Funktion als Außenminister, in der Vergangenheit immer wieder bemüht haben und in Zukunft weiter bemühen werden.« 512
Die SPD-Urheberschaft seiner Außenpolitik unterstrich er dabei zunächst nur bedingt. Vielmehr machte er, soweit möglich, Außenpolitik fernab von Parteipolitik – und stellte sich auch gegen populäre Forderungen der Partei. Ihm schien es tatsächlich um Außenpolitik fernab vom parteipolitischen Gezänk zu gehen, das ihm zunächst fremd zu bleiben schien. Insofern war das Amt des Außenministers optimal für seine vorsichtige Metamorphose vom politischen Menschen im Hintergrund zum Politiker im Vordergrund. In dieser Zeit wurde er schnell überparteilich beliebt, was ihm eine gestiegene Bedeutung in der SPD einbrachte. Er selbst muss sich letztendlich dafür entschieden haben, sich dem zu öffnen. Es begann ein Weg, der rückwärts ging von dem Punkt, wo andere aufhören, abwärts zur parteipolitischen Basis. Vom Auswärtigen Amt zum Ortsverein. Vom Außenminister zum Parteipolitiker. Davon handelt das folgende Kapitel.
9.2 O chsentour rück wärts »Fischer hatte sich vom Taxifahrer zum Außenminister hochgearbeitet. Es war ein langer Aufstieg von ganz unten hinauf zur Macht, ein höchst demokratischer Aufstieg, den die Deutschen im Fernsehen und in den Zeitungen verfolgen konnten. Steinmeier hat den Hintereingang genommen. Er musste sich nie zu etwas wählen lassen, er wurde immer berufen. Er hatte wirkliche Macht im Kanzleramt, eine versteckte, aber umfassende Autorität. Er war der im Dunkeln, den man nicht sah. Nun ist es, als stiege er von der Macht zu seinem Volk hinab ins öffentliche Amt, als liefe der Fischer-Film diesmal rückwärts.« 513
So beschrieb der Spiegel bereits 2005 Steinmeiers Weg in den Vordergrund, jenen Wandel weg von der von Steinmeier einmal selbst bezeichneten »wenig glitzernden Seite der Macht«, die sich »[j]enseits von Medienevents und Talkshows« befand.514 Steinmeier war gewillt, diesen Weg zu gehen, noch 512 | Ebd. 513 | Feldenkirchen, M.: Der aus dem Dunkeln kam; in: Spiegel, 19.12.2005, S. 29f. 514 | Zitiert nach ebd., S. 30.
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einmal zu lernen, auch im öffentlichen Auftritt. Wie schwer ihm das fiel, davon zeugen seine damaligen Aussagen zwei Jahre nach seinem Amtsantritt: »Man merkt hoffentlich, dass mir dieses Amt gefällt«, bekundete er im Spiegel zunächst.515 Und dann: »An die Mikrofone und Kameras habe ich mich gewöhnt.«516 Dass Steinmeier das Amt gefiel, überraschte nicht, war es doch inhaltlich höchst fordernd und, wie Steinmeier formulierte und es immer gewollt hatte, nach »vorne denken[d]«.517 Dass er sich an die Kameras und die Öffentlichkeit jedoch erst gewöhnen musste, offenbarte, dass es auch für ihn persönlich eine deutliche Umstellung von seiner bisherigen Arbeit im Hintergrund zu seiner jetzigen im Vordergrund gewesen sein muss. Seine Reden, deren Inhalt im Außenminister-Kapitel bereits positiv dargestellt worden sind, hätten die »typische Rhetorik eines Lagevortrags im Kabinett« gehabt, ließ sich ein Mitarbeiter gegenüber dem General-Anzeiger zitieren,518 der zugleich resümierte: »Ihm fehlt das Gespür dafür, dass andere die Geschichten aus der Schattenwelt unheimlich finden, dass sie Fragen haben zu Dingen, die ihm völlig klar erscheinen.«519 Das war bereits bei der Konzeption der Agenda 2010 der Fall, als dem Kanzleramt (zu Recht) vieles plausibel erschien, was es für die Bevölkerung (noch) nicht war. Dennoch war Steinmeier nach zwei Jahren im Amt auch öffentlich einer der wichtigsten Sozialdemokraten in der Bundespolitik geworden, der von Beginn seiner Karriere im Vordergrund an immer wieder auch als Ersatz-Kanzlerkandidat genannt worden war.520 Er war einer, über den der Stern schrieb, dass er »zu anständig […] für die Politik« sei,521 was weniger etwas über Steinmeier verriet, sondern vielmehr eine bestimmte politische Kultur aufzeigte, die mit der Frage beschrieben werden kann, was das für eine (mediale) Gesellschaft sein soll, in der jemand zu »anständig […] für die Politik« sein kann? Jedenfalls: Sein vom Spiegel beschriebener Abstieg zum Volk sollte ihn spätestens 2007 endgültig auch in die Arbeit der Parteipolitiker eintauchen lassen. Im Mai jenes Jahres bestätigte Steinmeier, dass er sich in Brandenburg um ein Bundestagsmandat bewerbe. Bei der Suche nach einem Wahlkreis soll der damalige Ministerpräsident Brandenburgs, Matthias Platzeck, mit dem er seit 515 | Steinmeier, F.-W. im Gespräch mit dem Spiegel; in: Beste, R.; Nelles, R.; Mascolo, G.: »Ich bin kein Krawallmacher«; in: Spiegel, 26.11.2007, S. 28. 516 | Ebd. 517 | Ebd. 518 | Zitiert nach Wittke, Thomas: Der Mann mit dem Drei-Fünftel-Scheitel; in: General-Anzeiger, 14.07.2007, S. 4. 519 | Feldenkirchen, M.: Der aus dem Dunkeln kam; in: Spiegel, 19.12.2005, S. 29. 520 | Vgl. z.B. Maron, T.: Nüchterner Krisenmanager; in: Stuttgarter Zeitung, 23.08.2006. 521 | Reich, F.: Korrekt bis zur Unkenntlichkeit; in: Stern, 18.10.2007.
9. Metamorphose II
vielen Jahren »politisch und persönlich« befreundet war,522 sofort behilflich gewesen sein,523 auf dessen »beharrlichen Werben[s]« hin er einen Wahlkreis in Brandenburg übernahm.524 Und so wurde Steinmeier das 19. Mitglied des SPD-Ortsvereins Kirchmöser, einem »4000-Seelen-Vorort der unionsregierten Stadt Brandenburg/Havel«.525 Für die Medien bot die Nominierung Stoff für neue Geschichten. Der Tagesspiegel suggerierte mit seiner Aussage, dass »[o]hne Bundestagsmandat […] bisher in Deutschland noch niemand Kanzler geworden« sei, zum Beispiel, dass Steinmeier die Kanzlerkandidatur anstrebe.526 Davon konnte zu diesem Zeitpunkt jedoch noch keine Rede sein. Offensichtlich war allerdings, dass sich für Steinmeier nun ein Weg manifestierte, in dem neben der Exekutive im Auswärtigen Amt nun auch die parteipolitische Kärrnerarbeit auf die Tagungsordnung trat: Ortsräte, Lokalpatriotismus, Ortsumgehungen und dergleichen. Eine Ochsentour rückwärts also – nur ohne Plakate kleben. Es war eine aktive Entscheidung für einen Wandel zum (exekutiven) Parteipolitiker, überhaupt einer längerfristigen Karriere als Politiker im Vordergrund, die nicht nur auf seiner Kompetenz als Außenminister beruhte. Mit seinem Streben nach einem Abgeordnetenmandat band er nämlich seine »politische und berufliche Karriere […] unauflösbar an die Institution, welche die Chance für ein Mandat verteilt: die Partei, und die Wahlkreisorganisation der Partei, die den Kandidaten für ein Parlamentsmandat nominiert«.527 Nachdem Steinmeier als bisheriger Politiker zunächst in der Exekutive im Hintergrund und schließlich in exekutiver Verantwortung im Vordergrund von einem kleinen Kreis von Personen abhängig war, begann er mit dem eingeschlagenen Weg nun, sich eine Basis aufzubauen, die ihn unabhängig(er) von den anderen Akteuren machte und abhängiger vom Wähler. Mit Verve engagierte er sich von Beginn an in seinem neuen Wahlkreis, den er unter dem Motto der Entdeckung der Langsamkeit528 bald mit Entou522 | Vgl. Metzner, Thorsten: »Ich bin doch erst den ersten Tag hier«; in: Tagesspiegel, 23.08.2007, S. 3. 523 | Vgl. Sturm, D.-F.: Wohin geht die SPD?, 2009, S. 322. 524 | Zitiert nach Metzner, T.: »Ich bin doch erst den ersten Tag hier«; in: Tagesspiegel, 23.08.2007. 525 | Metzner, Thorsten: Expedition in den eigenen Wahlkreis; in: Tagesspiegel, 22.08.2007, S. 13. 526 | Metzner, T.: »Ich bin doch erst den ersten Tag hier«; in: Tagesspiegel, 23.08.2007. 527 | Glaeßner, G.-J.: Demokratie und Politik, 1999, S. 214. 528 | »Entdeckung der Langsamkeit« haben Steinmeiers Berater, vermutlich in Anspielung auf den Roman Sten Nadolnys, das Programm genannt, mit dem sich Steinmeier auf seine erste Tour durch seine neue Wahlkreisgegend machte; vgl. Höher, Sabine: Kopfnote: Frank-Walter Steinmeier; in: Welt, 31.08.2007, S. 8.
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rage und Journalisten per Fahrrad bereisen würde. Die Ortsgrößen lud er in den Garten seines Privathauses in Berlin-Zehlendorf zum Grillen ein.529 Seinen Zweitwohnsitz legte er nach Brandenburg/Havel.530 Im Ort wurde er gut empfangen – der Außenminister Steinmeier überschattete den AgendaPolitiker Steinmeier. Die Mitglieder freuten sich über ein Aushängeschild, so wie überhaupt die brandenburgische SPD, die insgesamt nur 6700 Mitglieder zählte.531 Was damals wie eine gutgemeinte Floskel seiner Mitarbeiter klang, bewahrheitete sich: »Wenn er etwas anpackt, dann tut er es gründlich.«532 Von einem 900-Seiten-Buch über Preußen, das er zur Vorbereitung gelesen habe, wurde berichtet.533 Und der Focus hielt fest, dass Steinmeier »[m]it derselben Umsicht, mit der [er] die Regierungsmaschine in Gang hielt, […] sich nun eine politische Basis in der SPD« auf baue.534 Das stimmte. Dennoch musste Steinmeier zunächst lernen, mit der einfachen Bevölkerung ins Gespräch zu kommen. Der Smalltalk eines Parteipolitikers lag ihm nicht. Er fachsimpelte eher mit den Unternehmern in den Betrieben. Wohlgemerkt zeigte er sich dabei ernsthaft interessiert, zeigte Neugier.535 Es waren eben solche Gespräche, die er suchte. Er war jedoch nicht »Nah bei die Leut«, wie es Kurt Becks Motto war, und er war auch nicht der joviale Schulterklopfer,536 der »Kumpeltyp«,537 als der sich Schröder so gern inszenierte. Für die Betriebe vor Ort engagierte er sich jedenfalls: Der Ortsvereinsvorsitzende Frank Gerstmann berichtete zumindest laut der Welt, dass Steinmeier »beispielsweise mit einem örtlichen Manager über Gewerbeansiedlungen gesprochen« habe, »die zu dem traditionellen Bahn-Technik-Standort Kirchmöser passen. Und den Chef des Sonnenenergie-Unternehmens Johanna Solar im 529 | Vgl. Pörtner, Rainer: Die Potsdam-Connection; in: Focus, 27.08.2007, S. 26-27; hier: S. 26. 530 | O.V.: Steinmeier mietet Wohnung in Brandenburg; in: Berliner Zeitung, 17.07. 2008, S. 26. 531 | Mallwitz, Gudrun: SPD feiert das Duo Platzeck-Steinmeier; in: Welt, 07.07.2007, S. 35. 532 | Zitiert nach Beyerlein, Andrea: Angst vor der Afghanistan-Debatte; in: Berliner Zeitung, 18.06.2007, S. 22. 533 | Vgl. Klesmann, Martin: »Hier lang, Frank-Walter!«; in: Berliner Zeitung, 27.08. 2007, S. 22. 534 | Pörtner, R.: Die Potsdam-Connection; in: Focus, 27.08.2007, S. 27. 535 | Ebd. 536 | Vgl. Walter, Franz: Die SPD nach Beck; in: Welt, 07.09.2007, S. 9. 537 | Vgl. z.B. Rinke, Andreas: Schröders Männer und Merkels Girlscamp; in: Handelsblatt.de, 31.08.2005; abrufbar unter: www.handelsblatt.com/politik/deutsch land/die-getreuen-von-kanzler-und-kandidatin-schroeders-maenner-und-merkelsgirlscamp/2545596.html (zuletzt eingesehen am 05.07.2016).
9. Metamorphose II
Brandenburger Stadtteil Hohenstücken« habe er, so schrieb die Zeitung unter Berufung auf den Vorsitzenden, »auf eine USA-Reise« mitgenommen.538 Sein Engagement sollte von der Parteibasis goutiert werden. Bei seiner späteren Nominierung zum Spitzenkandidaten der brandenburgischen Landesliste für die Bundestagswahl im Jahr 2009 wurde er mit einem Ergebnis von 98,3 Prozent gewählt.539 Mit dem Ortsverein allein und der Wahlkreis-Nominierung war Steinmeiers rückwärtsgehende Ochsentour jedoch keineswegs beendet. Zeitgleich verkündete der Bundesparteivorsitzende Kurt Beck, dass er eben diesen – neben Andrea Nahles und Peer Steinbrück – zu seinem Stellvertreter machen wolle. Jene Neuformierung wurde von dem Gros der Medien positiv aufgenommen und als »Kurts Gesellenstück« bezeichnet.540 Die Berliner Zeitung kommentierte die Entscheidung des in der medialen Erscheinung bereits zu diesem Zeitpunkt als schwach wahrgenommenen Vorsitzenden mit den Worten: »Sie sind mit das Beste, was die SPD derzeit an Führungspersonal zu bieten hat. Man kann es zudem als Zeichen der Stärke verstehen, wenn ein Mann wie Beck, dessen Schwächen im öffentlichen Auftritt unübersehbar sind, drei Genossen an seine Seite holt, die ihn in dieser Disziplin leicht ausstechen.« 541
Von einem »Coup« war die Rede.542 In der Tat konnte dies als Symbol der Stärke bewertet werden, denn Beck durchbrach mit seiner Entscheidung weitestgehend die Praxis von »Regionalproporz und Flügelansprüche[n]«543 und entmachtete vier seiner bisherigen fünf Vizes. Nicht beachtet wurde auch der als links geltende ewige Hoffnungsträger Klaus Wowereit, obwohl dieser noch im Jahr zuvor davon gesprochen hatte, zukünftig auch eine Rolle als Parteivize anzustreben.544 Für Steinmeier selbst war jene Nominierung nach eigener Darstellung »keine Selbstverständlichkeit«, er sprach von einer »mutige[n] Entscheidung« 538 | O.V.: Aufbruchstimmung bei SPD durch Steinmeiers Kandidatur; in: Welt, 22.10.2007, S. 35. 539 | Vgl. o.V.: SPD wählt Spitzenkandidaten Steinmeier; in: Welt, 11.05.2009, S. 29. 540 | Nelles, Roland; Neubacher, Alexander: Kurts Gesellstück; in: Spiegel, 23.04. 2007, S. 42. 541 | Schmale, Holger: Kurt Becks Zeichen der Stärke; in: Berliner Zeitung, 22.05.2007, S. 4. 542 | Schmale, Holger; Zylka, Regine: SPD-Chef schreibt den Osten ab; in: Berliner Zeitung, 12.05.2007, S. 1. 543 | O.V.: Lockruf der reinen Lehre; in: Stuttgarter Zeitung, 22.05.2007, S. 1. 544 | Vgl. z.B. Buchbinder, Sascha: Der Regierende ist Everybody’s Wowi; in: Tages-Anzeiger, 16.09.2006, S. 8; vgl. auch Kohlmann, S.: Wege zur Macht, 2007.
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Becks.545 Ohne Zweifel war eine solche Karriere vor allem für die SPD alles andere als gewöhnlich. Seine zur Schau gestellte Demut schien insofern nur bedingt verwunderlich. Dennoch warfen einige Medien erneut die Frage nach einem »mögliche[n] Ersatz-Kanzlerkandidat[en]« Steinmeier auf.546 Andere Medienvertreter hielten die drei designierten Vizes »trotz ihrer in Aussicht gestellten Position nicht übermäßig«547 gefährlich für den Parteivorsitzenden, weil sie innerparteilich nur bedingt verankert seien oder zu extreme Positionen vertreten würden.548 Nur »Beck als Parteimensch« sei »die starke Figur«, analysierte etwa die Frankfurter Rundschau, nur er könne »die Integration nach innen leisten«.549 Doch auch jene Zeitung musste eingestehen, dass Beck »inzwischen dünnhäutig und verunsichert« gewirkt und bezüglich der (medialen) Rückmeldung »sich fremd in der Welt des Berliner Macht- und Medienspiels« gefühlt habe.550 Den Richtungskampf, der auch aufgrund von Becks Schwäche seit Beginn des Jahres 2007 tobte,551 in dem »die Parteirechten« sich »zur Verteidigung des Reformkurses entschlossen« zeigten, während »die Linken […] eine Rückkehr zur Umverteilungspolitik« forderten und dabei teilweise auch »auf ein Bündnis mit der Linkspartei« setzten,552 konnte der Parteivorsitzende mit seiner Personalentscheidung denn auch nur kurzfristig klären. Das lag auch an der Auswahl seiner Parteivizes, allesamt stark in ihren inhaltlichen Ansichten und gewillt, diese öffentlich zu verteidigen. Bei Steinmeier wurde das, wie auch bei Steinbrück,553 von Beginn seiner Nominierung an deutlich. Klar betonte der Außenminister etwa im Interview mit der Frankfurter Rundschau, auf was er in seiner bisherigen Karriere besonders stolz sei: »Besonders die Jahre 2003 und 2004 habe ich nicht vergessen, in denen es galt, neue Ansätze in der Beschäftigung-, Wirtschafts-, Gesundheits- und Sozialpolitik durchzu545 | Zitiert nach König, Jens: Kurt Beck zieht nach Berlin; in: taz, 22.05.2007, S. 3. 546 | Schellenberger, Rouven: SPD-Spitze nach Becks Willen; in: Frankfurter Rundschau, 22.05.2007, S. 1. 547 | Maron, Thomas: Kurt Beck sieht sich als Dirigent, der Solisten spielen lässt; in: Stuttgarter Zeitung, 22.05.2007, S. 2. 548 | Ebd. 549 | Meng, Richard: Der Edel-Reservist; in: Frankfurter Rundschau, 26.07.2007, S. 4. 550 | Ebd. 551 | Vgl. Deggerich, Markus; Knaup, Horand; Nelles, Roland; Sauga, Michael: Aroma der Niederlage; in: Spiegel, 07.05.2007, S. 22-26. 552 | Deggerich, M.; Knaup, H.; Nelles, R.; Sauga, M.: Aroma der Niederlage; in: Spiegel, 07.05.2007, S. 22. 553 | Vgl. Maron, T.: Kurt Beck sieht sich als Dirigent; in: Stuttgarter Zeitung, 22.05.2007.
9. Metamorphose II setzen – gegen breiten gesellschaftlichen Widerstand und auch nicht ohne Konflikt in der eigenen Partei. Aber wir haben Deutschland neu aufgestellt. Das zahlt sich jetzt aus, und die SPD kann stolz darauf sein. Hunderttausend Arbeitslose weniger sind jedes Mal wieder hunderttausend Argumente für diese Politik«. 554
Für die Agenda-Kritiker musste das in dieser Deutlichkeit wie Hohn klingen. Fortan jedenfalls mischte sich Steinmeier auch an anderen Stellen in die Innenpolitik ein, forderte etwa die Union in Bezug auf den Mindestlohn auf, sich von »verbohrte[r] Ideologie« zu lösen und die »Realität im Land« anzuschauen.555 Bald machte er sich zudem für eine Ampel-Koalition stark, äußerte zumindest, dass es »höchst vernünftig« sei, eine solche zu prüfen. Gleichzeitig betonte er, obgleich ein teilweise roteingefärbtes Tuch bei vielen Sozialdemokraten, die Vorteile einer Großen Koalition: »Die gegenwärtigen Umfrageergebnisse zeigen, dass eine Wiederholung der Großen Koalition arithmetisch wahrscheinlicher ist als jede andere Koalition.«556 Das große Konfliktfeld jener Zeit blieb jedoch der Umgang mit der Agenda 2010. Insbesondere vor dem Parteitag machte Steinmeier sich auch in weiteren Interviews für einen positiven Umgang mit diesen Sozialreformen stark. Er sprach etwa von einem »dritte[n] deutsche[n] Wirtschaftswunder«, das man der Agenda zu verdanken habe. Der Begriff Aufschwung sei »für das, was wir gerade erleben« »unzureichend«, bekundete er im Gespräch mit dem Spiegel.557 Die Welt kommentierte Aussagen wie diese mit den Worten, dass man Steinmeier dafür loben müsse, dass er in einer Zeit, »da die Agenda 2010 zum Teufelszeug« mutiere, »zu dem sich keiner aus der SPD öffentlich bekennen« wolle, sage, »er sei aufgrund seiner persönlichen Biographie mit dem Reformprogramm ›verbunden‹«.558 Dass ein solches Lob von der Welt kam, zeigte, wo Steinmeier zu diesem Zeitpunkt (und bis heute) innerparteilich stand. Der designierte Parteivize versuchte fortan auch die Zweifelnden in der SPD diesbezüglich zu überzeugen. »Genau dafür werbe ich ja. Wir hatten 554 | Steinmeier, Frank-Walter im Gespräch mit der Frankfurter Rundschau; in: Hebestreit, Steffen; Meng, Richard: »Wir sind auf alles vorbereitet«; in: Frankfurter Rundschau, 16.06.2007, S. 4. 555 | Zitiert nach Schmale, Holger: Ein bisschen Mindestlohn; in: Berliner Zeitung, 18.06.2007, S. 1. 556 | Zitiert nach o.V.: Steinmeier: Nachdenken über »Ampel«; in: Hamburger Abendblatt, 26.07.2007, S. 4. 557 | Steinmeier, Frank-Walter im Gespräch mit dem Spiegel; in: Mascolo, Georg; Knaup, Horand; Beste, Ralf: »Die SPD kann stolz sein«; in: Spiegel, 09.07.2007, S. 3840; hier: S. 39. 558 | Seibel, Andrea: Frank-Walter Steinmeier und das Salz in den Wunden der SPD; in: Welt, 09.10.2007, S. 8.
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den Mut und die Kraft, eine Politik durchzusetzen, die nicht auf den nächsten Wahltag ausgerichtet war.«559 Darauf könne, fügte er im Gespräch mit dem Spiegel hinzu, »die SPD bis heute stolz sein«.560 Gleichzeitig räumte er mittlerweile zumindest ein, dass es Fehler bei der Umsetzung gegeben habe: »Ich gebe zu, dass vieles als Reform von oben begriffen wurde. Die Agenda ist nicht organisch von unten gewachsen«.561 Einschränkend fügte er allerdings hinzu: »Sicherlich wäre es günstiger gewesen, wir hätten uns mehr Zeit für einen geduldigen gesellschaftlichen Überzeugungsprozess genommen. Aber wir hatten diese Zeit nicht, wir mussten handeln. Die heutigen Ergebnisse zeigen, dass der Weg richtig war.«562 Der Weg, das sei mit Verweis auf das Agenda-Kapitel dieser Biographie noch einmal festgestellt, war tatsächlich richtig, die Fehler lagen jedoch an anderer Stelle, weil nämlich die kurzfristige Argumentationslinie der Führenden nicht schlüssig war, es nicht mal versucht worden ist, wirklich zu kommunizieren und schließlich viel zu lang mit der Umsetzung einer solchen Agenda gewartet worden ist. Jedenfalls: In jenem Konflikt der parteiinternen Geschichtsschreibung bezog Steinmeier nun also, vier Jahre nach der Agenda 2010, als frischgekürter Parteifunktionär klar Position und warb für einen stolzen Rückblick auf die Reformen. Es ging um die Deutungshoheit und den zukünftigen Kurs der SPD, eine Debatte, in die sich Steinmeier also aktiv einbrachte, er einen hohen Anteil an ihr hatte. Das wurde einmal mehr mit einem Buch unterstrichen, das Steinmeier zusammen mit Matthias Platzeck und Peer Steinbrück im September des gleichen Jahres herausgegeben hatte. Ein weiteres Ausrufezeichen unter die Agenda 2010 wurde mit diesem gesetzt, mehr noch allerdings der innerparteiliche Konflikt angefeuert. Schon der Titel »Auf der Höhe der Zeit«563 wurde von vornehmlich linken Sozialdemokraten als Provokation aufgefasst. Die Welt hielt damals fest: »Ein Buch […], aus dem, Seite für Seite, etwas spricht, was Müntefering einfordert und Beck nicht verspürt: Stolz auf die Agenda 2010.«564 Allein das einleitende Kapitel, für das die drei Herausgeber die gemeinsame Autorenschaft für sich deklarierten, gab Aufschluss über den Sinn des Buches – und 559 | Steinmeier, F.-W. im Gespräch mit dem Spiegel; in: Mascolo, G.; Knaup, H.; Beste, R.: »Die SPD kann stolz sein«; in: Spiegel, 09.07.2007, S. 39. 560 | Ebd. 561 | Ebd. 562 | Ebd. 563 | Platzeck, Matthias; Steinmeier, Frank-Walter; Steinbrück, Peer (Hg.): Auf der Höhe der Zeit. Sozialdemokratie und Fortschritt im 21. Jahrhundert«, Berlin 2007. 564 | Dausend, Peter: Keller-Kurt und die letzten Schröderianer; in: Welt, 11.09.2007, S. 2.
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einmal mehr Einblick in Steinmeiers Denken. Einführend wurden zunächst die Folgen der Globalisierung betont, durch die »das 21. Jahrhundert das erste Jahrhundert der ›einen‹ Welt« sei, »und in diesem Sinne […] die Welt in der Tat ›flacher‹« geworden sei.565 So sei »[j]eder Erdteil […] heute mit jedem anderen Erdteil in Echtzeit miteinander verbunden. Auf die Wucht der Veränderungen reagieren viele Menschen verunsichert. Wir leben in einer Zeit voller Widersprüche und mit offenem Ausgang. Die Zukunft verheißt ungeheure Chancen – und birgt zugleich beträchtliche Gefahren.« 566
Die Autoren sahen das als Herausforderung für die SPD, »in der sie aufs Neue beweisen müssen, dass sie über einen gut geeichten Kompass und geeignete Instrumente verfügen, um ihren bleibenden Werten der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Solidarität Geltung zu verschaffen.«567 Unter dem Begriff »Soziale Demokratie«, der »einzige[n] wirklich überzeugende[n] Antwort auf diese Herausforderung«,568 wurde der Dreiklang aus Marktwirtschaft, Demokratie und sozialem Zusammenhalt über viermal allein in diesem Kapitel, wenn auch in immer wieder leicht abgewandelter Form, erwähnt – als Garant für die »westeuropäische[] Nachkriegsordnung« etwa oder aber auch als Argument für »die Ausstrahlung des westeuropäischen Wirtschafts- und Sozialmodells auf die Menschen hinter dem Eisernen Vorhang«.569 Es folgte ein Bogen in die Vergangenheit, in der »[ü]ber weite Strecken der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts […] die Sozialdemokratie als gestaltende Kraft auf der Höhe der Zeit«570 gewesen sei. Diese Aussage ruft geradezu die These hervor, dass sie das danach nicht mehr war. In Bezug auf den Dreiklang folgte eine wenig verklausulierte Kritik an jenen, die dieses Modell nicht mehr haben wollten, die »die einst bahnbrechende sozialdemokratische Synthese aus dynamischen Märkten, stabiler Demokratie und sozialem Zusammenhalt entweder gedankenlos für selbstverständlich halten oder als unmaßgeblich abtun«.571 Einmal mehr wurden hier also die Gegner angegriffen, zumindest müssen diese das so aufgefasst haben. Die Folge: Ab diesem Moment konnten sie, wenn überhaupt, nur noch extrinsisch 565 | Platzeck, Matthias; Steinmeier, Frank-Walter; Steinbrück, Peer: Auf der Höhe der Zeit. Im 21. Jahrhundert muss sich die Sozialdemokratie auf ihre ursprünglichen Ideen und Ziele besinnen; in: dies. (Hg.): Auf der Höhe der Zeit, 2007, S. 17-27; hier: S. 17. 566 | Ebd. 567 | Ebd., S. 18. 568 | Ebd., S. 19. 569 | Ebd., S. 20. 570 | Ebd. 571 | Ebd., S. 20f.
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und nicht mehr intrinsisch überzeugt werden. Die fatale Kommunikationskette, die bereits bei der Agenda 2010 angewandt worden war, setzte sich also auch hier – bei aller Richtigkeit der Ansätze – fort. So dürfte der folgende Appell verhallt sein, wenn die Autoren schrieben, dass es »[d]ringend nötig« sei, »dass sich eine selbstbewusste Sozialdemokratie darauf besinnt, wie immens bedeutsam und wegweisend ihre ursprünglich in der Auseinandersetzung mit marxistischer Orthodoxie und liberalem Laissez-faire entwickelte Erfolgsidee für die Welt des 21. Jahrhunderts noch immer ist. Denn an dem grundlegenden inneren Spannungsverhältnis zwischen Märkten, Demokratie und Gesellschaft hat sich in Zeiten der Globalisierung nichts geändert.« 572
Unmissverständlich machten Steinmeier, Platzeck und Steinbrück deutlich, dass Wohlstand und Märkte aus ihrer Sicht unabdingbar miteinander verbunden seien. Gleichzeitig sprachen sie jedoch auch die Sorgen »vor den sozialen und politischen Folgen einer regellosen Marktwirtschaft« an.573 »Heute wie damals« böten, zeigten sie ihre Lösung auf, »die Prinzipien der Sozialen Demokratie in dieser schwierigen Gemengelage das mit weitem Abstand beste und verlässlichste Navigationssystem.«574 Erneut gingen sie im Folgenden ins Gericht mit ihren Mitgliedern, wenn sie in Bezug auf die Behauptung, dass »Sozialdemokratie nach dem Ende des ›sozialdemokratischen Jahrhunderts‹ als mehr oder weniger verbrauchte Kraft‹« gelte, schrieben: »Wo Sozialdemokraten ungeachtet veränderter Umstände allzu defensiv an bestimmten Instrumenten und institutionellen Arrangements der Vergangenheit festhalten, statt offensiv neue Lösungen für die Verhältnisse des 21. Jahrhunderts zu propagieren, bestätigen sie diesen Eindruck.« 575
Diese Aussage bedeutete nichts weniger, als eben jenen Teil der Mitglieder mit einer anderen Auffassung als ewiggestrig zu brandmarken. Ähnlich verhielt es sich mit der folgenden Aussage: »Dasselbe gilt, wo Sozialdemokraten wortreich über die vermeintliche Hegemonie lamentieren, die ein angeblicher ›neoliberaler Mainstream‹ heute ausübe.«576 Der Standortbestimmung einiger Sozialdemokraten hielten sie zudem entgegen: »Die SPD habe ›weniger links als die PDS‹ zu sein, heißt es […] vage, aber auch wieder ›nicht so rechts wie die CDU‹. Doch mit solchen Kategorien der Gesäßgeografie sind noch keine positi572 | Ebd., S. 21. 573 | Ebd. 574 | Ebd. 575 | Ebd. 576 | Ebd., S. 21f.
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ven eigenen Orientierungen verbunden.«577 Das stimmt zwar in Gänze, jedoch wurde die Gegenseite an dieser Stelle erneut nicht mit Argumenten für eine zukünftige Ausrichtung überzeugt, sondern vielmehr mit negativ besetzten Begriffen wie dem der »Gesäßgeographie« bloßgestellt. Viele Textpassagen wirkten zudem von oben herab aufklärend, wenn zum Beispiel geschrieben wurde, dass es diesen Mainstream nicht gebe, »genauso wenig wie eine gesellschaftliche Mehrheit gegen die zeitgemäße Erneuerung unseres Wirtschafts- und Sozialmodells«.578 Noch einmal wurde mit dem Begriff »zeitgemäß« postuliert, dass eigentlich nicht mehr diskutiert werden brauche, weil die richtigen Schlüsse bereits gezogen worden seien. Da die Partei jedoch nur aus den Mitgliedern besteht, die sie hat, wäre es umso wichtiger gewesen, im Sinne einer positiven Kommunikationsstrategie die richtigen Feststellungen der Autoren ohne Angriffe vorzutragen und tatsächlich versuchen zu überzeugen. Argumente gab es schließlich in größerem Umfang. Fernab der Angriffe las sich diese Einleitung denn auch wie der Versuch einer Standortbestimmung über die Sozialdemokratie des 21. Jahrhunderts. Steinmeier und seine Co-Autoren analysierten die richtigen Probleme, wenn sie beklagten, dass es keine klare Haltung in der Sozialdemokratie mehr gebe, sondern diese allein in Abgrenzung gesucht werde, ohne eine eigene zu entwerfen. Und tatsächlich trugen sie dieser Kritik mit ihrem Aufsatz Rechnung und definierten ihre Sicht der Aufgaben der Sozialdemokratie mit den Worten: »Gefragt ist deshalb eine Sozialdemokratische Partei, die den Wunsch der breiten gesellschaftlichen Mitte nach einer erneuerten Verbindung von marktwirtschaftlicher Dynamik, Demokratie und Zusammenhalt für unsere Zeit erkennt und aktiv verarbeitet, statt die siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts als gute alte Zeit zu verklären. Der ›Zeitgeist‹, den viele Sozialdemokraten allzu oft noch beklagen, ist in Wirklichkeit auf unserer Seite. Nicht die neoliberale und konservative Weltsicht hat sich gesellschaftsweit durchgesetzt, sondern – im Gegenteil – eine latent sozialdemokratische und kulturelle offene Haltung, die auch die sozialen und kulturellen Voraussetzungen ökonomischen Erfolgs mitdenkt. Es wird Zeit, dass wir das merken und entsprechend agieren – die breite Mitte unserer Gesellschaft erwartet nichts anderes von uns.« 579
Erneut wurden Mitglieder als rückwärtsgewandt dargestellt, die die »gute alte Zeit […] verklären«.580 Dass die Autoren daran anknüpfend an den Gestaltungswillen der SPD appellierten, war hingegen auch eine Aussage über die Autoren selbst. Eben jener Gestaltungswille wurde gerade Steinmeier immer wieder 577 | Ebd., S. 22. 578 | Ebd. 579 | Ebd. 580 | Ebd.
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abgesprochen, obwohl er stets vorhanden war: pragmatische Gestaltung fernab des rein Parteipolitischen. So liest sich eben auch dieser Aufsatz. Eine solche Politik war Steinmeiers Überzeugung, wie im anschließenden Plädoyer, das sich auf die Agenda 2010 und die Jahre unter Schröder bezog, einmal mehr deutlich wurde: »Die sozialdemokratische Grundhaltung muss daher auch heute durchgängig aktives Drängen auf Fortschritt und positive Gestaltung sein. Die eigenen Werte und Ziele ernst zu nehmen heißt, wo immer möglich, Verantwortung zu übernehmen. Genau diesen Weg hat die SPD in den vergangenen Jahren beschritten. Es war die sozialdemokratisch geführte Bundesregierung unter Gerhard Schröder, die mit den Arbeitsmarkt- und Sozialreformen der Agenda 2010 die entscheidende Grundlage dafür gelegt hat, dass inzwischen Hunderttausende von Menschen neue Arbeitsplätze gefunden haben. Und es war auch die Regierung Schröder, die in Deutschland den überfälligen Paradigmenwechsel zu einer nachhaltigen Familienpolitik eingeleitet hat, die mehr Menschen als zuvor die Chance gibt, sich ihre Kinderwünsche zu erfüllen. Kräftiges Wirtschaftswachstum, gestiegene Wettbewerbsfähigkeit, deutlicher Rückgang der Erwerbslosigkeit, Stabilisierung der öffentlichen Haushalte, bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, größere Internationalität und kulturelle Offenheit – keiner dieser unbestreitbaren […] Erfolge unseres Landes wäre ohne entschiedene sozialdemokratische Regierungspolitik möglich gewesen.« 581
Im Kapitel über Rot-Grün wurde bereits analysiert, wie wichtig diese Maßnahmen tatsächlich waren. Doch im folgenden Satz hieß es sogleich wieder: »Der konsequente Erneuerungskurs der Regierung Schröder war ein guter Anfang. Er hat uns Sozialdemokraten wieder auf Augenhöhe mit der Wirklichkeit gebracht«.582 Auch das scheint richtig, konnte an dieser Stelle jedoch vom einfachen Sozialdemokraten erneut als Angriff verstanden werden, und das an einer Stelle, wo der kritische (sozialdemokratische) Leser womöglich gerade inhaltlich etwas begriffen haben könnte. Der sich anschließende Appell verhallte insofern möglicherweise ungelesen, zumindest wenig aufgenommen: »Diesen Weg müssen wir deshalb entschlossen weitergehen, wenn wir die positive Wechselwirkung zwischen dynamischer Wirtschaft, stabiler Demokratie und sozialer Sicherheit weiter stabilisieren und verstetigen wollen.«583 Steinmeier, Platzeck und Steinbrück schlossen ihren Aufsatz, der auch in der Süddeutschen Zeitung abgedruckt wurde und damit öffentlichkeitswirk-
581 | Ebd., S. 23. 582 | Ebd. 583 | Ebd.
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same Verbreitung fand,584 mit einer Aussage, die vor allem auf das künftige Parteiprogramm hingezielt haben dürfte. Soziale Gerechtigkeit mitsamt der »soziale[n] Durchlässigkeit unserer Gesellschaft« wurde zwar als Kernforderung benannt.585 Damit einher gehe aber auch, dass ein Sozialstaat nicht »ausschließlich vorsorgend« sein könne.586 Ziel müsse es sein, »wo immer nur möglich gute und gleiche Lebenschancen für alle Menschen« zu schaffen.587 Dabei, so skizzierten die drei Autoren zuletzt, habe die Sozialdemokratie die Aufgabe, »nicht allein als Partei der sozialen Gerechtigkeit wahrgenommen zu werden, sondern zugleich auch als Partei einer dynamischen ›Ökonomie für den Menschen‹ (Amartya Sen). Sozialdemokraten müssen auch im 21. Jahrhundert Gerechtigkeitspartei und Wirtschaftspartei zugleich sein, damit das Versprechen des Fortschritts mit neuem Leben erfüllt werden kann.« 588
All das war auch noch einmal ein Plädoyer für den Begriff der »soziale[n] Demokratie« und des »vorsorgenden Sozialstaates«.589 Jenes einleitende Kapitel insgesamt las sich stellenweise tiefverletzt. Unmut war auf beiden Seiten entstanden, anders scheinen die zunächst erfolgten Angriffe nicht zu erklären. In einer späteren Biographie über Schröder heißt es, Schröder habe die Einladung zu einem SPD-Parteitag lange nach seiner Amtszeit abgelehnt, weil die »Verletzungen […] noch nicht genügend überwunden« seien.590 Steinmeier allerdings war und ist noch in parteipolitischen Ämtern aktiv. So waren bei einer gealterten Partei die Mittel, mit denen die Argumentation untermauert werden sollte, mitnichten die Richtigen. Insbesondere Kurt Beck soll über die Art der Vermittlung erzürnt gewesen sein. Der Parteivorsitzende selbst hatte keinen Beitrag für den Sammelband, in dem neben dem Erfinder des britischen »dritten Weges«, Anthony Giddens, gleich fünf Bundesminister schrieben, verfasst. Dabei, fand die Frankfurter Allgemeine Zeitung, hätten sich »[d]ie drei Herausgeber […] nicht unbedingt in584 | Platzeck, Matthias; Steinbrück, Peer; Steinmeier, Frank-Walter: »Die Mehrheit will soziale Demokratie«; in: Süddeutsche Zeitung, 27.08.2016; Onlineversion des Printartikels abrufbar unter: www.sueddeutsche.de/politik/zukuenftige-rolle-der-spddie-mehrheit-will-soziale-demokratie-1.880250 (zuletzt eingesehen am 06.08.2016). 585 | Platzeck, M.; Steinmeier, F.-W.; Steinbrück, P.: Auf der Höhe der Zeit; in: dies. (Hg.): Auf der Höhe der Zeit, 2007, S. 24. 586 | Ebd. 587 | Ebd. 588 | Ebd., S. 25. 589 | Ebd. 590 | Schöllgen, G.: Gerhard Schröder, 2015, S. 934.
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haltlich von« Beck abgesetzt, »aber sie dokumentier[t]en eine Fraktionierung, in der Beck nicht vorkommen soll«.591 So urteilte die Zeitung: »Bezeichnender als ein fehlendes Vorwort des Parteivorsitzenden ist eigentlich, dass er als Bezugsperson praktisch nicht vorkommt. Auf der ersten Seite wird er artig mit einem Zitat erwähnt – danach ist nicht mehr viel von ihm die Rede, umso mehr von Gerhard Schröder, hier und da von Carlo Schmid und Erhard Eppler aus der sozialdemokratischen Geschichte. Allgegenwärtig aber ist der heilige Willy.« 592
Beck als Parteichef war bei der Präsentation nicht zugegen, hingegen neben den drei Herausgebern sein Widersacher Müntefering.593 Dass der Parteivorsitzende keinen Beitrag für das Buch geschrieben hatte, war für diesen selbst allerdings wohl gar nicht das Hauptproblem. Er soll sich vielmehr daran gestört haben, dass es sich »gegen diejenigen wandte, die so taten, als wäre alles besser ohne die Agenda 2010«.594 Denn das Konzept des »vorsorgenden Sozialstaats« sah Beck ähnlich wie die drei Autoren eigentlich als richtig an, fand jedoch, wie die taz festhielt, die »forsche, aggressive Tonlage« kontraproduktiv.595 Die Welt schrieb, dass Beck dadurch »seine Konsolidierungsarbeit der vergangenen Monate gefährdet« gesehen habe und »keine neue Scheidelinie zwischen guten und schlechten Sozialdemokraten entstehen lassen« wollte.596 Für den Parteivorsitzenden, der zu dieser Zeit selbst einen programmatischen Sammelband veröffentlichte, indem allerdings alle Seiten, Steinmeier und Steinbrück genauso wie Andrea Nahles, zu Wort kamen, musste dies, so eine wissenschaftliche Interpretation, als »ein Symbol des Scheiterns seines innerparteilichen Integrationskurses« wahrgenommen werden und »zugleich [als] ein Zeichen von Autoritätsverlust«.597 Die Legende von den Medien, die Beck vernichten wollten, wurde bereits hier begonnen zu spinnen. Die Entfremdung zwischen Beck, Steinmeier und Steinbrück dürfte womöglich auch bereits hier begonnen haben, in einer Analyse wurde von einem »inneren Bruch« gesprochen.598 591 | Löwenstein, Stephan: Was würde Willy sagen?; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.09.2007, S. 10. 592 | Ebd. 593 | König, Jens: Partei der Kameradenschweine; in: taz, 05.09.2007, S. 4. 594 | Sturm, D.-F.: Wohin geht die SPD?, 2009, S. 329. 595 | König, J.: Partei der Kameradenschweine; in: taz, 05.09.2007. 596 | Lutz, Martin: Pflichtapplaus für den SPD-Vorsitzenden; in: Welt, 05.09.2007, S. 2. 597 | Raschke, Joachim: Zerfallsphase des Schröder-Zyklus. Die SPD 2005-2009; in: Egle, C.; Zohlnhöfer, R. (Hg.): Die zweite große Koalition, 2010, S. 69-98; hier: S. 79. 598 | Ebd.
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Jedenfalls: Die Flügelkämpfe in der Partei, die ohnehin stets glühten, flammten erneut großflächig auf. In einer Analyse wird jenes Buch als der Punkt dargestellt, an dem die drei Akteure es »ihre[m] elitären Gestus der Avantgarde gegenüber einer in ihren Augen sonst noch überwiegend traditionstümmelnden SPD samt ihre[s] provinziellen Vorsitzenden« übertrieben hätten.599 Tatsächlich brachte das »Reformtrio«, wie der Tagesspiegel schrieb, »den linken Flügel zur Weißglut«.600 Und zu Recht konstatierte der Spiegel, dass »[d]ie Genossen […] es wieder mal nicht [schafften], sich ihrer Regierungsbeteiligung zu erfreuen und die Erfolge der eigenen Minister zu würdigen. Sie verlieren sich stattdessen in Selbstzerfleischung von unten bis ganz oben«.601 Steinmeier trug hieran seinen Anteil mit jenem wenig diplomatischen Einstieg in ein allein vom Titel her – nicht vom Inhalt – wenig diplomatischem Buch. Nahles warnte im Zuge der Präsentation vor einer ideologischen Spaltung der Partei. Es sei falsch, die Kritiker der Agenda 2010 als rückwärtsgewandt zu bezeichnen. »Ich bin keine Sozialstaatskonservative.«602 An anderer Stelle wurde sie zitiert mit den Worten »verdammte Kacke«, was exemplarisch widerspiegelte, wie sehr sich die nach wie vor große Linke in der SPD angegriffen sah.603 Wie wenig Steinmeier und Steinbrück in der Kommunikation seit der Debatte um die Agenda 2010 gelernt hatten, zeigte die Reaktion Steinbrücks exemplarisch, der versicherte, dass »keine strategische Absicht« hinter dem Buch gesteckt habe.604 Das glaubt man gerne, eine gute Strategie hätte nicht nur eine richtige Problemanalyse vorgelegt, sondern auch die Kommunikation mit einbezogen. So wie das Werk präsentiert worden war, mitsamt dem Titel und ohne Beck als Autor, rief es (erneut) geradezu Widerspruch hervor. »Sie revitalisierten«, heißt es in einer weiteren Analyse, »mit dieser Pose unbeabsichtigt die altsozialdemokratischen Truppen, die sich nun vehement in die Debatte einschalteten.«605 Der Sammelband entwickelte sich denn auch mehr und mehr zu einem Bumerang für die Akteure, wie sich in der Programmdebatte zeigte, die nun, einen Monat vor dem Parteitag, einen schon vergessen geglaubten Weg ein599 | Walter, F.: Die SPD, 2009, S. 267. 600 | Haselberger, Stephan: Erblich vorbelastet; in: Tagesspiegel, 14.09.2007, S. 2. 601 | Knaup, Horand; Reiermann, Christian: Hang zum Hadern; in: Spiegel, 17.09.2007, S. 30-32; hier: S. 30. 602 | Zylka, Regine: »So’n Scheiß lass ich mir nicht bieten«; in: Berliner Zeitung, 04.09.2007, S. 1. 603 | Zitiert nach Posche, Ulrike: Der letzte Mann der SPD; in: Stern, 13.09.2007, S. 46-52; hier: S. 48. 604 | Zitiert nach König, Jens: Die drei von Schröders Tankstelle; in: taz, 30.08.2007, S. 6. 605 | Walter, F.: Die SPD, 2009, S. 267.
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schlug. Das neue Grundsatzprogramm, an dem seit 1999 rund acht Jahre lang gewerkelt worden war,606 »fiel […] eher klassisch aus, war etatistischer ausgerichtet, als es die ›Modernisierer‹ ursprünglich beabsichtigt hatten«.607 So wurde die Formel des demokratischen Sozialismus, die »man schon beerdigt hielt«608 und der, wie es auch die drei Auf-der-Höhe-der-Zeit-Autoren wünschten, durch den Begriff der sozialen Demokratie ersetzt werden sollte, wiederbelebt und »tauchte jetzt mehrmals im Text als Zielperspektive auf. Selbst die ›marxistische Gesellschaftsanalyse‹«, heißt es in einer Analyse, »wurde als Quelle sozialdemokratischer Aktivitäten nicht mehr verschwiegen, sondern in die Aufreihung der parteieigenen Wurzeln – historisch gewiss korrekt – hineingenommen. Der ›vorsorgende Sozialstaat‹ firmierte dagegen nicht mehr – wie noch in früheren Entwürfen – als konstitutives ›Leitbild und zentraler Fluchtpunkt‹ der ›neuen‹ SPD.« 609
Dennoch, so ist sich zumindest ein anderer Analyst sicher, sei mit dem Begriff des vorsorgenden Sozialstaats an sich überhaupt erstmals ein »positive[r] Begriff für das Herzstück der programmatischen Reformanstrengungen« vorgelegt worden.610 Insgesamt aber konnte auch das nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Richtungsfrage, die bei der SPD seit den 1990er Jahren schwoll, erneut nicht nachhaltig beantwortet werden konnte.611 Mit dem vorsorgenden Sozialstaat auf der einen Seite und dem demokratische Sozialismus auf der anderen wurden letztendlich beiden Flügeln Zugeständnisse gemacht, sodass klare Konturen, eine klare Strategie weiterhin fehlten.612 Das wurde auch auf 606 | Vgl. Butzlaff, F.: Verlust des Verlässlichen; in: Butzlaff, F.; Harm, S.; Walter, F. (Hg.): Patt oder Gezeitenwechsel?, S. 59f; vgl. auch Hegelich, S.; Knollmann, D.; Kuhlmann, J.: Agenda 2010, 2011, S. 180. 607 | Walter, F.: Die SPD, 2009, S. 267. 608 | Ebd. 609 | Ebd. 610 | Nachtwey, O.: Marktsozialdemokratie, 2009, S. 227; vgl. auch Hegelich, S.; Knollmann, D.; Kuhlmann, J.: Agenda 2010, 2011, S. 151f. 611 | Vgl. Hegelich, S.; Knollmann, D.; Kuhlmann, J.: Agenda 2010, 2011, S. 180. 612 | Zur Widersprüchlichkeit dieser Begriffe lohnt: Walter, F.: Die SPD, 2009, S. 267f. Dort wird das Problem analysiert, dass Wunsch und Wirklichkeit nicht zusammenpassten. »Denn man konnte nicht stolz das Schild vom ›demokratischen Sozialismus‹ hochhalten, zugleich aber die Hartz-IV-Reformen loben. Man konnte nicht im programmatischen Dokument die wachsende soziale Ungleichheit beklagen, wenn man als Regierungspartei für eben diesen Prozess seit Jahren Mitverantwortung trug. Man konnte nicht glaubwürdig über die Schrankenlosigkeit des Finanzkapitalismus lamentieren, da man die Finanzmärkte zuvor gezielt liberalisiert hatte«. Resümierend heißt es außerdem: »Man begegnete hier wieder einmal dem klassischen Zwiespalt der Sozialdemo-
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dem Parteitag selbst deutlich, auf dem man, so ein Beobachter, »kaum den Eindruck« gehabt habe, »einer Veranstaltung beizuwohnen, in der die Sozialdemokratie sich wieder ihrer selbst und eines die Partei einigenden Themas gewahr wurde.«613 Und so entstand einmal mehr der Eindruck: Die Sozialdemokratie beschäftigte sich überwiegend mit sich selbst – und ihre Flügel bekämpften sich dabei gegenseitig. Steinmeier trug einen Anteil dazu bei. Allerdings, das muss auch Erwähnung finden, war dieser keineswegs nur negativ. Denn richtig ist auch, dass er zusammen mit Platzeck und Steinbrück ein klares zukünftiges Konzept einer Sozialdemokratie des 21. Jahrhunderts vorlegte, er sich also parteipolitisch nachhaltig engagierte. Doch die SPD war immer schon eine Partei, die auch träumen und fernab der Realitäten eine zukünftige Utopie erstellen wollte. Hierin lag womöglich auch ein Grund, dass Steinmeier im Rückblick insbesondere von seinen parteipolitischen Weggefährten ein bisweilen wenig gutes Zeugnis für seine Arbeit ausgestellt bekommen hat.614 Dabei bediente er genau das, was Kurt Beck vom ihm wollte: den pragmatischen, regierungsfähigen Aspekt in der Parteiarbeit. Am Grundsatzprogramm habe Steinmeier denn auch, betont Beck, »an wichtigen Passagen mitgearbeitet« und »Impulse gegeben«.615 Allgemein erinnert er sich an die »heftig diskutiert[e]« Frage nach der »Erweiterung unserer Grundwerte«, »Stichwort: nimmt man Nachhaltigkeit mit rein oder bleibt man bei den Grundorientierungen, wie wir sie […] traditionell [haben]. […] Da ist die Frage, wie gehen wir mit dem Begriff des demokratischen Sozialismus um.«616 Das sei »auch eine Frage […] der Geschichtstreue, [ob man] alle Wurzeln gelkratie, die stets nicht recht wusste, ob sie die obwaltenden Verhältnisse mögen durfte, weil sie sie selbst mitgeformt hatte, oder bekämpfen sollte, weil das Produkt ihres politischen Handelns weit vom ursprünglichen Ideal entfernt lag.« Vgl. auch Hegelich, S.; Knollmann, D.; Kuhlmann, J.: Agenda 2010, 2011, S. 151f.; vgl. außerdem Walter, Franz: Im Herbst der Volksparteien. Eine kleine Geschichte vom Aufstieg und Rückgang politischer Massenintegration, Bielefeld 2009, S. 97. 613 | Butzlaff, F.: Verlust des Verlässlichen; in: Butzlaff, F.; Harm, S.; Walter, F. (Hg.): Patt oder Gezeitenwechsel?, S. 59f; Die Bewertung des Grundsatzprogramms und der Debatte darum würde den Umfang dieser Analyse übersteigen und ist nicht zielführend für eine Biographie über den Politiker Steinmeier. Hierfür wichtig ist, dass auch durch die wiederentflammte Programmdiskussion mit dem allein schon durch die Tonalität provozierenden Buch möglicherweise die vermeintlich Rückwärtsgewandten, gegen die Steinmeier und die Mitautoren argumentierten, überhaupt erst wieder hoffähig gemacht worden sind und neuerlichen Rückenwind bekamen. 614 | Vgl. S. 420f in dieser Biographie. 615 | Beck, Kurt im Gespräch mit dem Autor am 16.08.2013. 616 | Ebd.
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ten« lasse.617 Steinmeier sei »in diesen Debatten intensiv beteiligt« gewesen.618 Und seine Sichtweise fand dabei neben der dargestellten Kritik durchaus auch Zuspruch.619 Dennoch markierte jener Konflikt im Voraus eine erste Entfremdung zwischen den Autoren Steinmeier und Steinbrück (Platzeck insofern weniger, als dass er keine bundespolitischen Ambitionen mehr hegte) auf der einen Seite und Kurt Beck auf der anderen. Dies war womöglich nicht beabsichtigt, wurde jedoch in Kauf genommen. Mehr noch wog allerdings der Konflikt zwischen Beck und Müntefering in Bezug auf die Frage einer Verlängerung des Arbeitslosengeldes I vor dem Parteitag. Hier waren einmal mehr auch die Fehler Becks zu sehen, der sowohl Steinmeier als auch Steinbrück und Müntefering als Arbeitsminister nur flüchtig über seine Pläne informiert haben soll.620 Es war eine populäre Forderung, hinter der, so eine interne Schätzung, 90 Prozent des Parteitags stehen würden.621 Tatsächlich wurde die Agenda 2010 nach wie vor von rund 84 Prozent der SPD-Anhänger als ungerecht empfunden622 – insofern war es ein Versuch Becks, dem vermeintlichen Gros der Mitglieder entgegenzukommen. Müntefering sah, so ließ er den Parteivorsitzenden laut General-Anzeiger schon damals wissen, das Vorhaben, einzelne Reformen teilweise zurückzudrehen, als »inhaltliche[n] und strategische[n] Fehler« an.623 Dafür hatte Müntefering durchaus Gründe, zumindest klingen diese im Rückblick einleuchtend. So erinnert er sich in der Rückschau genau daran, wie schwierig die Diskussion wurde, nachdem die Union Ähnliches beschlossen habe. Er erzählt, er habe Angela Merkel damals gesagt: »Wenn Sie jetzt anfangen damit, wie soll ich auf unserem Parteitag erklären, dass wir das alles machen müssen? Und dann hat sie mir gesagt, keine Sorge, das halten wir. Sie hat nichts aufgehalten, nichts. Und das kam alles Schritt für Schritt und so hat sich das gegenseitig beflügelt. Rüttgers in Nordrhein-Westfalen ganz besonders vorne und die Unternehmer haben auch nicht so geholfen, wie man sich das gewünscht hätte.« 624 617 | Ebd. 618 | Ebd. 619 | So wurde Steinmeier mit einem sehr guten Ergebnis zum Parteivize gewählt; vgl. S. 418 in dieser Biographie. 620 | Vgl. Wittke, Thomas: Im Angesicht der Niederlage; in: General-Anzeiger, 09.10.2007, S. 3. 621 | Vgl. ebd. 622 | Vgl. Reich, F.: Korrekt bis zur Unkenntlichkeit; in: Stern, 18.10.2007. 623 | Zitiert nach Wittke, T.: Im Angesicht der Niederlage; in: General-Anzeiger, 09.10.2007. 624 | Müntefering, Franz im Gespräch mit dem Autor am 22.10.2013.
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Seine damalige Sorge begründet er retrospektiv mit den Worten: »Und so waren ganz viele unterwegs, die Dinge in Frage stellten. Und man hat dann versucht« – mit dem »man« muss vermutlich Beck gemeint sein – »an einigen Punkten leichte Korrekturen zu machen, die nicht so dramatisch waren. Meine Sorge war immer, dass man das Ganze wieder voll einrollt und das wär’ aus meiner Sicht unverantwortbar gewesen.«625 Becks Ansatz, so erinnert sich Hubertus Heil, zu jener Zeit Generalsekretär, im Rückblick, sei jedoch vielmehr gewesen, »nicht die Agenda zurück zu kurbeln, sondern einer arbeitenden Mitte, die eher Angst vor sozialem Abstieg hatte, durch […] diesen Schritt […] ein Stück mehr Sicherheit zu vermitteln.«626 Beck gibt retrospektiv zu bedenken, »dass die Grundstrukturen […] ja nicht in Frage gestellt« worden seien, aber man »bei so ’ner großen Reform« nicht »[a]lles von Anfang an […] durchdenken« könne.627 Zwei Perspektiven standen sich also gegenüber: eine exekutiv-geprägte und eine parteipolitisch-emotional-geprägte. Sie wären womöglich miteinander vereinbar gewesen, wenn die Protagonisten an einer Einigung interessiert gewesen wären. Stattdessen entwickelte sich ein Machtkampf zwischen Beck und Müntefering, aus dem nicht nur das Verhältnis der beiden Konterparts deutlich wurde, sondern der auch Aufschluss gab über Steinmeiers Arbeitsverständnis. Der designierte Parteivize mied zunächst nämlich eine öffentliche Festlegung628 – intern machte er hingegen seine Position deutlich. Davon ist zumindest auszugehen, wenn Heil im Rückblick von »heftige[n] Auffassungsunterschiede[n]« zwischen dem Parteivorsitzenden und dem zukünftigen Vize spricht, die allerdings nicht zu »massiven Vertrauensstörungen zwischen Beck und Steinmeier« geführt haben sollen.629 Auch Müntefering erinnert sich daran, »dass Steinmeier im Rahmen dessen, was möglich war, in der Argumentation sich auch klar geäußert hat dazu«.630 Und dennoch agierte Steinmeier, der die Verlängerung der Auszahlung des Arbeitslosengeldes I wie auch Müntefering offensichtlich für falsch hielt, fortan nicht als Konterpart, sondern vielmehr als Vermittler zwischen den zwei streitenden Protagonisten. Schon damals begründete er das mit den Worten, »das Aufeinanderrasen zweier Züge« verhindern zu wollen.631 »Am Ende habe 625 | Ebd. 626 | Heil, Hubertus im Gespräch mit dem Autor am 05.02.2014. 627 | Beck, Kurt im Gespräch mit dem Autor am 16.08.2013. 628 | Vgl. Reinhardt, Charima: Ein Mann für alle Fälle; in: Frankfurter Rundschau, 06.11.2007, S. 11. 629 | Heil, Hubertus im Gespräch mit dem Autor am 05.02.2014. 630 | Müntefering, Franz im Gespräch mit dem Autor am 22.10.2013. 631 | Zitiert nach Wittke, T.: Im Angesicht der Niederlage; in: General-Anzeiger, 09.10.2007.
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er nur die Wahl gehabt«, zitierte ihn der Stern indirekt, sich gegen Beck zu stellen, in den Abgrund zu springen und die SPD mitzureißen oder an die Kompromissbereitschaft der Kampfhähne zu appellieren.«632 Es wird deutlich, wie wenig Steinmeier von Becks Ansicht hielt, jedoch dafür keinen neuerlichen Konflikt, den übertragenen Klippensprung, riskieren wollte. Wörtlich wurde er stattdessen zitiert mit den Worten: »Es gibt keine Alternative zum Kompromiss. Den müssen die beiden bis zum Parteitag hinkriegen. Aber ich stehe gerne zur Verfügung, wenn man bei der Überwindung von Sprachschwierigkeiten helfen kann.«633 Tatsächlich sind mehrere Schlichtungsversuche Steinmeiers überliefert. So schrieb der Spiegel, dass erst Beck, dann Müntefering ihre jeweilige Sicht dargestellt hätten und schließlich Steinmeier das Wort ergriffen habe: »Steinmeier versucht eine Brücke zu bauen. ›Leute, wir brauchen eine Lösung, die beiden Seiten hilft, das Gesicht zu wahren‹. Beck soll einen Kompromiss vorschlagen und Müntefering die konkrete Ausgestaltung übernehmen. Doch Beck will keinen Kompromiss, Müntefering auch nicht. […] So trennt man sich verstimmt, betreten. Auch ein Schlichtungsversuch am vergangenen Mittwoch in Schwerin, zu dem Steinmeier die beiden gedrängt hatte, blieb ohne Erfolg. Müntefering und Beck redeten wolkig daher, das Ungesagte wog schwerer als das Gesagte.« 634
Heil erinnert sich, dass zwischen den beiden, aus welchen Gründen auch immer, »nicht zu vermitteln war […], beide auch ein Stück weit stur« gewesen seien.635 Beck selbst spricht im Rückblick davon, dass man, »wenn so ’ne ganz unterschiedliche Auffassung zu solchen Fragen da ist […], man halt gucken« müsse.636 »Entweder man findet dann einen Kompromiss oder man muss sich durchsetzen. Oder unterliegen.«637 Diese Aussage gibt einen Beck preis, der alles andere als schlichtend und einend wirkt. Der damalige Parteivorsitzende benutzt das klassische Vokabular einer Hierarchie, mehr noch eines Machtkampfes, in dem es um Gewinnen und Verlieren geht.
632 | Reich, F.: Korrekt bis zur Unkenntlichkeit; in: Stern, 18.10.2007. 633 | Zitiert nach ebd. 634 | Deggerich, Markus; Knaup, Horand; Neukirch, Ralf; Sauga, Michael; Schwennicke, Christoph: Von Hasen und Hasenfüßen; in: Spiegel, 08.10.2007, S. 22-26; hier: S. 23. 635 | Heil, Hubertus im Gespräch mit dem Autor am 05.02.2014. 636 | Beck, Kurt im Gespräch mit dem Autor am 16.08.2013. 637 | Ebd.
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Auch im weiteren Verlauf blieb Steinmeier bei seinem öffentlich leisen Vorgehen, wofür er von Medienvertretern kritisiert worden ist.638 Dennoch war seinen Aussagen immer wieder anzumerken, wo er sich eigentlich verortete. So betonte er im Interview mit der Bild-Zeitung, dass er mit Becks Plänen »[i]n den richtigen Zusammenhang gesetzt […] mitgehen« könne, lobte aber zugleich Müntefering als »de[n] erfolgreichste[n] Arbeitsminister seit Jahrzehnten«.639 Es war eine deutliche Positionierung Steinmeiers, wie er sie bereits mit seinem Klippensprung-Vergleich getan an. Doch er wurde noch deutlicher. Als er nach der Verabschiedung von Becks Vorschlag vom Spiegel gefragt wurde, warum er »nicht gegen die Verlängerung des Arbeitslosengeldes I gekämpft« habe, antwortete er: »Weil ich nicht glaube, dass wir verpflichtet sind, unseren eigenen Laden zu ruinieren. Nachdem der Parteivorsitzende sich in dieser Frage festgelegt hatte, hätte ein Konflikt unkalkulierbare Konsequenzen nach sich gezogen. Mit der jetzigen Lösung kann ich leben.«640 Wenig unverblümt kritisierte Steinmeier also den Parteivorsitzenden. Seine Argumentation, dass aufgrund der Festlegung Becks es sich nicht lohne, dem zu widersprechen, zeigte, dass er inhaltlich damit nicht übereinstimmte. Steinmeier stand also lediglich hinter dem Vorschlag, weil er vom Parteivorsitzenden kam und er keinen Großkonflikt riskieren mochte. Auch das gehörte zu Steinmeiers Führung. Die Hierarchien, in denen Steinmeier nicht die Nummer eins war, wurden, wie bereits unter ihm im Kanzleramt, klar eingehalten. So erinnert sich auch Heil, der von »Loyalität und Überzeugung« bei Steinmeier spricht, die in dieser Zeit für ihn gleichermaßen eine »wichtige Rolle« gespielt habe.641 Das Medienecho auf Becks Vorstoß auf dem Parteitag war unterdessen vernichtend für Müntefering. Der Spiegel etwa hielt in Bezug auf diesen fest: »Er hat seine Ehre verloren. Augenhöhe, hat er immer gesagt, Augenhöhe ist wichtig. Nicht Herr und Knecht sein. Das hier ist nicht Augenhöhe zwischen
638 | Vgl. z.B. Deggerich, M.; Knaup, H.; Neukirch, R.; Sauga, M.; Schwennicke, C.: Von Hasen und Hasenfüßen; in: Spiegel, 08.10.2007. 639 | Zitiert nach Lutz, Martin: »Wir wollen dich, wir brauchen dich«; in: Welt, 10.10.2007, S. 2. 640 | Steinmeier, F.-W. im Gespräch mit dem Spiegel; in: Beste, R.; Nelles, R.; Mascolo, G.: »Ich bin kein Krawallmacher«; in: Spiegel, 26.11.2007, S. 28; Steinmeier führte in diesem Gespräch aus, »dass »die Verlängerung des Arbeitslosengeldes I für ältere Erwerbstätige […] mit einer Absenkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung kombiniert« werde. Er glaubt, dass »[d]iese Absenkung […] die Wirtschaft um 7,1 Milliarden Euro entlassen« werde. »Davon profitieren auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.« 641 | Heil, Hubertus im Gespräch mit dem Autor am 05.02.2014.
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Parteichef und Vizekanzler. Das hier ist Herr und Knecht.«642 Beck wiederum galt fortan gefestigter denn je und als derjenige, der die Machtfrage und die Kanzlerkandidatur, so die Frankfurter Rundschau, für sich entschieden habe.643 Bei Beck und Müntefering, so entstand nach all dem der Eindruck, ging es eben um deutlich mehr – neben der inhaltlichen Überzeugung vor allem um einen persönlichen Erfolg, vielleicht sogar um einen Sieg gegenüber dem Konterpart, dem man in gegenseitiger Antipathie verbunden war. Insbesondere für den Parteivorsitzenden, der in dieser Frage sich laut eigener Aussage von Altkanzler Schröder beraten lies (»Vor allen Dingen Schröder war offen [für Veränderungen]«644), war ein solches Verhalten indes in dieser kompromisslosen Form alles andere als professionell und ist, wenn überhaupt, nur unter menschlichen Gesichtspunkten, weil persönlich tief verletzt, zu erklären. So kann bei diesem in dieser Form unnötigen Bruch mit den AgendaPolitikern nur von einem Pyrrhussieg für Beck gesprochen werden. Nicht nur distanzierte sich unmittelbar danach seine enge Parteiführung von ihm, was den Konflikt offenbar machte und letztendlich auch ein Stück verfestigte. Vielmehr stellte er sich gegen zwei seiner drei Vizes. So gut wie danach in der neuen Führung zumindest kurzzeitig auch wieder zusammengearbeitet worden ist, blieb, das darf angenommen werden, diese Erfahrung bei Steinmeier und Steinbrück zurück. Der damalige Fraktionsvorsitzende Peter Struck sah retrospektiv in dieser Begebenheit denn auch den Anfang vom Ende des Parteivorsitzenden Kurt Beck: »In dieser Phase deutete sich an, dass Beck nicht nur unangefochtener Vorsitzender war, sondern auch die Kanzlerkandidatur für sich beanspruchen könnte. Dieses Selbstbewusstsein potenzierte sich in seinem Umfeld und trug dazu bei, dass er sich allzu sicher wähnte, dass die Expertise aus Parteivorstand und Fraktion nicht genügend in Anspruch genommen wurde und dass stattdessen mehr und mehr die Mainzer Staatskanzlei zum Stichwort- und Ideengeber wurde.« 645
Zum Verständnis des späteren, zumindest temporären Bruchs zwischen Beck und Steinmeier, war dieses frühe Auseinandertriften bereits wichtig. Für den Moment jedoch hielt Steinmeier seine erste große Parteitagsrede als zukünftiger Parteivize. Sie glich einer Bewerbungsrede, in der er betonte, dass er immer
642 | Schwennicke, Christoph: Endlich Chef; in: Spiegel, 29.10.2007, S. 28-31; hier: S. 29. 643 | Vgl. Reinhardt, C.: Ein Mann für alle Fälle; in: Frankfurter Rundschau, 06.11.2007. 644 | Beck, Kurt im Gespräch mit dem Autor am 16.08.2013. 645 | Struck, P.: So läuft das, 2010, S. 228f.
9. Metamorphose II
schon Sozialdemokrat gewesen sei.646 Dieses Werben und Pochen auf eine sozialdemokratische Tradition zeigte eines der größten Probleme Steinmeiers bei seiner parteipolitischen Karriere auf: Die Partei sah ihn noch nicht als einen von ihnen an, als einen, der eine sozialdemokratische Ochsentour vorzuweisen hatte. Noch einmal sei in diesem Zusammenhang an den Joschka-Fischer-Vergleich erinnert, der zu Beginn dieses Kapitels gebraucht worden ist. Steinmeier selbst nutzte ihn damals, um seinen Werdegang zu beschreiben. Fischer sei »gleichsam als Politiker geboren«, soll er laut Tagesspiegel einmal erklärt haben, er selbst »habe Politik im Laufe meiner Karriere gelernt«.647 Nun kam also ein neues Lernfeld hinzu: nämlich die parteipolitische Politik als Wahlkämpfer im Wahlkreis und, mehr noch, als Parteivize in der SPD – neben der Politik im Hintergrund und der exekutiven Politik im Vordergrund, die sich vor allem in der öffentlichkeitswirksameren Rolle unterschieden. Ein solcher Karriereweg, wie Steinmeier ihn nun ging, war in der Partei, in der der klassische Weg nach oben so wichtig war und in der einst ein Rudolf Scharping gewählt worden ist, um Oskar Lafontaine und/oder Gerhard Schröder zu verhindern,648 nach wie vor keineswegs angesehen. Wie eigen die SPD-Funktionäre dachten, zeigen rückblickende Aussagen ehemaliger Führungsmitglieder. Ein früherer Bundesminister aus der rot-grünen Bundesregierung etwa befindet: »Es ist schon sehr merkwürdig, dass das erste Amt, das einer hat, stellvertretender Bundesvorsitzender ist.«649 Dieser Politiker, der unter der Großen Koalition nur noch einfacher Abgeordneter war, betont seine Auffassung, dass es eine »Ochsentour von oben nach unten […] nicht« gebe.650 Dennoch: Der Focus sprach bereits von einer »Mutation zum Partei-Mann«,651 was allerdings insofern nicht richtig war, als dass Steinmeier ein Mann der Exekutive blieb. Ohnehin gingen Beobachter davon aus, dass Steinmeier, obwohl er in seiner Parteitagsrede postulierte, dass er »in die Verantwortung« gehe, »weil ich die SPD gestalten will«,652 dieses Amt mehr aus Pflichtgefühl heraus angenommen haben könnte. Anders als das Wahlkreisamt, das Steinmeier ak-
646 | Vgl. Schellenberger, Rouven: Die Mutmacher; in: Frankfurter Rundschau, 22.05.2007, S. 4. 647 | Zitiert nach Monath, Hans: Der Mann, der aus der Kühle kam; in: Tagesspiegel, 21.11.2007, S. 3. 648 | Vgl. Walter, F.: Charismatiker und Effizienzen, 2009, S. 226ff. 649 | So ein Interviewpartner, der nicht genannt werden möchte, im Gespräch mit dem Autor. (Um die Anonymität zu wahren, wird für alle anonymisierten Personen eine männliche Form verwendet.) (Nr. 31) 650 | Ebd. 651 | Pörtner, R.: Die Potsdam-Connection; in: Focus, 27.08.2007, S. 26. 652 | Schellenberger, R.: Die Mutmacher; in: Frankfurter Rundschau, 22.05.2007.
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IV. Politik im Vordergrund
tiv anstrebte, wurde er hier, zumindest nach eigener Darstellung, einmal mehr gefragt, nämlich von seinem Parteivorsitzenden: »Kurt Beck hat sein Amt als SPD-Vorsitzender mit der richtigen Absicht angetreten, der Partei neue Strukturen zu geben. Das war verbunden mit der Bitte an mich, wenn er sich für sein Team für 2009 personelle Gedanken macht, zur Verfügung zu stehen. Ich bin dem gerne nachgekommen.« 653
Steinmeiers Ochsentour ging also weiter und er nahm seine Rolle zunehmend an, wenngleich er dabei nicht, wie gezeigt, von seinen Haltungen abwich, also seine inhaltlichen Auffassungen behielt und nicht der Parteiarbeit unterordnete. Trotz der turbulenten inhaltlichen Diskussionen im Voraus wurde er auf dem Parteitag mit einem 85,5-Prozent-Ergebnis gewählt und lag damit deutlich vor den anderen zwei Vizes, Andrea Nahles und Peer Steinbrück, die beide rund 75 Prozent der Stimmen erhielten.654 Das war nicht nur viel für einen, der nicht jenen Stallgeruch versprühte, auf den die SPD so sehr Wert legte. Es war ein beachtliches Ergebnis. Im Amt des Parteivizes allerdings musste sich Steinmeier dann doch erst einmal zurechtfinden. Zunächst jedoch übernahm er in seiner neuen Funktion neben der »Außen- und Sicherheitspolitik« auch »die Zuständigkeit für den gesamten Kulturbereich«,655 was einmal mehr seine Affinität zur Kultur – nicht nur der Auswärtigen Kulturpolitik – aufzeigte.656 Daneben zeigte der Parteivize auch fortan seine pragmatische Prägung, warb etwa erneut für eine positive Sicht auf die Große Koalition: »Viele in meiner Partei würden vielleicht sagen, es wäre besser ohne diese Zwangsehe. Ob das auch für das Land gilt? Da bin ich mir nicht so sicher. Nicht jede Alternative zur Großen Koalition wäre auch besser für das Land.«657 Es waren deutliche Worte an eine tief verunsicherte Partei, in der sich zumindest Teile eine Oppositionsrolle, zumindest aber eine Rolle fernab einer Großen Koalition wünschten. 653 | Steinmeier, F.-W. im Gespräch mit der Frankfurter Rundschau; in: Hebestreit, S.; Meng, R.: »Wir sind auf alles vorbereitet«; in: Frankfurter Rundschau, 16.06.2007. 654 | Vgl. Meng, Richard: Das Wahlbarometer; in: Frankfurter Rundschau, 27.10.2007, S. 3. 655 | O.V.: Steinmeier übernimmt Kultur in der SPD-Spitze; in: Berliner Zeitung, 20.11.2007, S. 5. 656 | Die Berliner Zeitung stellte zu Recht fest, dass »Steinmeier […] schon seit seinem Amtsantritt als Außenminister vor zwei Jahren einen engen Kontakt zu Schriftstellern und Intellektuellen aufgebaut« habe; ebd. 657 | Steinmeier, F.-W. im Gespräch mit dem Spiegel; in: Beste, R.; Nelles, R.; Mascolo, G.: »Ich bin kein Krawallmacher«; in: Spiegel, 26.11.2007, S. 31.
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Zu Rechtfertigungen fühlte sich Steinmeier gezwungen, wenn er betonte, dass »[j]eder« wisse, »dass ich kein Krawallmacher bin. Wie wäre es stattdessen mit der Vermutung: Da ist jemand bereit Verantwortung zu übernehmen, der gewisse Erfahrungen mitbringt und ein klares Bild davon hat, wohin dieses Land gehen soll. Nicht nur in der Außenpolitik.«658 Wie sehr Steinmeier seine neue Rolle allerdings noch suchte, zeigte, dass es trotz seiner Bekundungen eine kurze Phase des Populismus geben sollte. Wie so häufig drohte auch bei Steinmeier, dass sein Markenkern, die Seriosität, durch ihn selbst, Berater und Redenschreiber, Schaden zu nehmen drohte. So sprach er im Vorfeld des hessischen Landtagswahlkampfes im Frühjahr 2008 von Führungskräften, die sich »ohne Rücksicht die Taschen voll stopfen«.659 Er sprach von »Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeiternehmer[n]«, die erlebt hätten, »wie ihre Vorstände vor allem den kurzfristigen Gewinn im Blick haben, während sie die Beschäftigten wie Kostenstellen mit zwei Ohren behandeln«.660 Steinmeier wirkte geradezu verwandelt. Zu sehen war nicht mehr der Besonnene, in facettenreichen Farben denkende, sondern ein schwarz-weiß Malender. Nicht mehr der Gemäßigte, sondern ein Angreifender, ein populistischer Parteipolitiker alten Schlages, was so vollkommen unauthentisch bei Steinmeier wirkte. Kluge Aussagen, etwa tiefgreifendere Analysen zum Mindestlohn,661 gingen in diesem Gewitter beinahe unter. Der Spiegel zeigte sich über den »bisher differenziert argumentierende[n] Feingeist« genauso überrascht662 wie die Stuttgarter Nachrichten, die süffisant von einem »neue[n] Innenexperte[n]« schrieben, der »sich zu Wort« melde und dabei »krachend auf die Pauke« haue.663 Der Spiegel sprach von »ein[em] parteipolitische[n] Haudrauf«, von einem »Kammermusiker als Punk«.664 Das Magazin vermutete »hinter dem neuen Sound Ulrich Deupmann, früherer Parlamentskorrespondent […], jetzt bei Steinmeier offiziell […] Redenschreiber«.665 Doch das Korsett passte nicht zu Steinmeier, was auch das Auswärtige Amt registrierte, wenn es laut der Welt versicherte, »dass im März [2008; Anm. S.K.], nach den Wahlen in Hessen, Niedersachsen und Hamburg, Steinmeier wieder ganz auf Sach658 | Ebd., S. 27. 659 | Zitiert nach König, Jens: Steinmeier greift gierige Manager an; in: taz, 31.12.2007, S. 7. 660 | Zitiert nach ebd. 661 | Vgl. Bruns, Tissy: Mindestlohn ist kein Thema mehr; in: Tagesspiegel, 30.12.2007, S. 1; vgl. auch Schwennicke, Christoph: Der Kammermusiker als Punk; in: Spiegel, 07.01.2008, S. 52-53. 662 | Schwennicke, C.: Der Kammermusiker als Punk; in: Spiegel, 07.01.2008, S. 52. 663 | Stadelmann, Bernd: Steinmeier; in: Stuttgarter Nachrichten, 31.12.2007, S. 1. 664 | Schwennicke, C.: Der Kammermusiker als Punk; in: Spiegel, 07.01.2008, S. 52. 665 | Ebd., S. 53.
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politik setze«.666 Gerade mit jener Aussage im Blick wurde noch durchsichtiger, wie populistisch eben jene kurze Phase des Angriffs war. Es war ein Versuch innerhalb seiner Ochsentour, der letztendlich zum Scheitern verurteilt war, wollte er nicht seinen Markenkern gefährden und sein Wesen nachhaltig verleugnen. So ging er diesen Weg auch nur kurz und kehrte nach diesem Intermezzo wieder, auch als späterer Kanzlerkandidat, zur Sachpolitik zurück. Seine Rolle also hatte Steinmeier als Parteivize zunächst nur bedingt gefunden – auch ins Innere der SPD wirkend. Im Rückblick heißt es in einer Analyse, dass der Vizevorsitzende »während des innerparteilichen Gezerres […] oft merkwürdig unentschlossen im Off« gestanden habe.667 In einer anderen wird ein Insider aus den Parteigremien zitiert, der kritisierte, dass Steinmeier nicht in der Lage gewesen sei, »Linien für die A-Länder in der Regierung darzulegen«.668 An Letzterem dürften jedoch wohl eher die ungeklärte Frage des strategischen Zentrums in Bezug auf Parteizentrale und Vizekanzlerschaft, die Steinmeier bald innehaben sollte, sowie die Schwäche Becks eine Rolle gespielt haben. Das innerparteiliche Gezerre hingegen blieb Steinmeier tatsächlich fremd, wie damalige Akteure im Rückblick berichten. Kurt Beck begründet in diesem Zusammenhang nochmals seine Entscheidung, warum er Steinmeier als Vize ausgewählt hatte. Dieser habe »schon sehr auf Machbarkeit« geachtet, »auch auf den zweiten […] und dritten Schritt immer wieder hingewiesen, und [gefragt], was bedeutet das? […] [D]as war eigentlich auch der Grund, warum ich ihn gebeten hatte, zu kandidieren.«669 Steinmeier war also, das klingt glaubhaft, für die pragmatische, machbare Sicht zuständig, dafür, so Beck, »die Ideen mit der Realität zusammenzufügen«.670 Ein Fremdeln habe er da bei Steinmeier nicht sehen können, nicht den Eindruck gehabt, »da kommt einer jetzt in ’ne andere Welt«.671 Aber Steinmeier sei keiner gewesen, mit dem man einfach so mal etwas habe bereden können. Der Außenminister habe stets auch die Konsequenzen in den Blick nehmen wollen.672 So habe man, erinnert sich Beck, gemerkt, »dass er schon überlegt hatte, holt einen das da oder dort wieder ein. Wie kriegt man’s jetzt in Zeiten der Großen Koalition […] dann auch umgesetzt, sodass man nicht wie ein Blender […] daherkommt, der viele Dinge verspricht«.673 666 | Graw, Ansgar: Gemeinsam gegeneinander; in: Welt, 10.01.2008, S. 3. 667 | Walter, F.: Charismatiker und Effizienzen, 2009, S. 290. 668 | Raschke, J.: Zerfallsphase; in: Egle, C.; Zohlnhöfer, R. (Hg.): Die zweite große Koalition, 2010, S. 79. 669 | Beck, Kurt im Gespräch mit dem Autor am 16.08.2013. 670 | Ebd. 671 | Ebd. 672 | Vgl. ebd. 673 | Ebd.
9. Metamorphose II
Vielleicht war es genau das, was Sozialdemokraten, die sich bisweilen auch in abwegigen Debatten verloren, wie ein Im-Off-Stehen vorkam. So zumindest erinnert sich im Rückblick auch Beck, der die Aussage, dass Steinmeier sich nicht in Debatten eingemischt habe, negiert: »Ich hat[te] eher den Eindruck, dass manche eher mal lieber noch ein bisschen losgelöst […] debattiert hätten und nicht so früh« von ihm oder dem Finanzminister haben gesagt bekommen wollen: »Bedenke das Ende.«674 Ähnlich argumentiert Hubertus Heil, der ebenfalls kein grundsätzliches Fremdeln bei Steinmeier in Erinnerung hat, sondern findet, dass er das Amt »sehr ernst genommen« habe, »auch was seine Präsenz betrifft, trotz des Regierungsamtes«.675 Er glaubt auch nicht, dass es für Steinmeier irritierend war, »in Ortsvereinen oder Unterbezirken aufzutreten. Aber«, fügt er hinzu, »in bestimmten Formen […] von parteiinternem Intrigenspiel hat er […] zu Recht gefremdelt.« 676 Anschaulich beschreibt Heil, ähnlich wie Beck, was Steinmeier an der Parteipolitik ablehnte, nämlich »dass in Parteivorstandssitzungen Leute Fensterreden halten«, Reden, die »entweder unterkomplex oder eben nicht strategisch[er] sondern taktisch[er]« Natur waren.677 Hier habe man eine »gewisse Ungeduld« bei ihm bemerkt.678 Eher nüchtern äußert sich hingegen Franz Müntefering rückblickend. Zwar sei »Fremdeln« das falsche Wort, aber Steinmeier »war halt lange in der Verwaltung«.679 Dennoch sieht er durchaus eine Rolle für Steinmeier: »Das ist auch gut, wenn da welche drin sind, die da ein bisschen anders ticken, weil die […] doch nochmal vortragen« könnten, »wie man bestimmte Sachen zu beurteilen hat. […] Das find’ ich schon in Ordnung.«680 Steinmeier blieb also ein Mann der Exekutive, der auch in der Parteipolitik am Machbaren interessiert war. Die Parteipolitiker konnten sich so nur bedingt mit Steinmeier als Parteivize arrangieren. Ein Parteipolitiker alten Schlages will sich gleich gar nicht daran erinnern, dass Steinmeier je Parteivize gewesen sei.681 Eine dem linken Flügel zuzuordnende Person befindet rückblickend: »Unter uns gesagt,
674 | Ebd. 675 | Heil, Hubertus im Gespräch mit dem Autor am 05.02.2014. 676 | Ebd. 677 | Ebd. 678 | Ebd. 679 | Müntefering, Franz im Gespräch mit dem Autor am 22.10.2013. 680 | Ebd. 681 | So ein Interviewpartner, der nicht genannt werden möchte, im Gespräch mit dem Autor. (Um die Anonymität zu wahren, wird für alle anonymisierten Personen eine männliche Form verwendet.) (Nr. 44)
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[er] hat auch 2008 keine große Rolle gespielt«.682 Er sei »eigentlich nie wirklich Parteivize« gewesen.683 Vielmehr sei er »immer ein Mann der Exekutive« geblieben.684 Abermals wird ein Konflikt offenbar, der nicht wirklich zu lösen ist, der bereits in dem Aufsatz »Auf der Höhe der Zeit« zu Tage trat und sich in der Frage zusammenfassen lässt: Wie viel Utopie kann sich eine (Regierungs-)Partei leisten, wie sehr muss sie in die Exekutive eingebunden sein? Nicht nur das Machbare sehen, sondern auch den Wunsch aufzeigen – das wollten Teile des (erweiterten) Parteivorstands (wie auch ein Gros der Partei). Für sie mussten nicht nur Steinmeier, sondern auch Steinbrück und Beck ein Gräuel sein, nicht jedoch Andrea Nahles, die eben genau diese vermeintlich visionäre Sicht bediente (und auch deshalb von Beck für das innerparteiliche Gefühl ausgewählt worden war). Das Gegenteil von einem Parteipolitiker, jenen exekutiven Part, konnte Steinmeier kurz nach dem Parteitag neben seiner Funktion als Außenpolitiker überraschend in verstärkter Form einnehmen – als nämlich Müntefering aufgrund der gesundheitlichen Situation seiner Frau von seinem Regierungsamt zurücktrat, womit auch der Posten des Vizekanzlers vakant wurde. »In einem Vieraugengespräch mit Fraktionschef Peter Struck«, berichtete der Tagesspiegel, »war Beck zu der Überzeugung gelangt, dass es für ihn wesentlich schwerer werde, als SPD-Kanzlerkandidat in den Wahlkampf zu ziehen, wenn er in die Kabinettsdisziplin eingebunden sei.«685 Heil erinnert sich, dass es dann »fast naturnotwendig« gewesen sei, dass Steinmeier Vizekanzler werden würde.686 Er habe in der Großen Koalition schon bis dato eine »besondere Rolle« gespielt, »weil er als früherer Kanzleramtschef alle Ressorts und alle Themen kannte und zwar rauf und runter«.687 Schon bisher hätten sich »viele, die damals auch als Ministerinnen und Minister neu waren oder neu in dieser Konstellation, sich sehr stark an ihm orientiert.«688 Gabriel, damals selbst Minister, erinnert sich ähnlich, wenn er sagt, dass Steinmeier einen »irren Fundus an Wissen« gehabt habe, »auch darüber, 682 | So ein Interviewpartner, der nicht genannt werden möchte, im Gespräch mit dem Autor. (Um die Anonymität zu wahren, wird für alle anonymisierten Personen eine männliche Form verwendet.) (Nr. 30) 683 | Ebd. 684 | Ebd. 685 | Haselberger, Stephan; Monath, Hans; Vornbäumen, Axel: Jetzt führt die Partei Regie; in: Tagesspiegel, 15.11.2007, S. 4. 686 | Heil, Hubertus im Gespräch mit dem Autor am 05.02.2014. 687 | Ebd. 688 | Ebd.
9. Metamorphose II
was man falsch machen kann«.689 So habe der Außenminister »in den Runden […] der politischen Absprachen innerhalb der SPD eine enorm wichtige Rolle gespielt«,690 wobei das auch in der ersten Hälfte der Legislaturperiode der Fall gewesen sei.691 Der damalige stellvertretende Regierungssprecher Steg sieht die Nominierung Steinmeiers zum Vizekanzler retrospektiv denn auch ebenfalls als »logische Entscheidung« an.692 Steinmeier nahm jene Aufgabe an, übernahm also jenes Amt, das »nicht einmal im Grundgesetz beschrieben« ist; ein Amt, nach dem sich, wie der Tagesspiegel einmal festhielt, »[k]ein Mensch […] in seiner Jugend« sehne, das aber einen gehörigen Einfluss garantiere.693 Das passte zu Steinmeier. Für ihn war es erneut ein Karriereschritt, den er nicht anstrebte, ein Amt, das die Umstände, Münteferings Rücktritt und Becks Desinteresse an einer Einbindung in den Regierungsapparat, mit sich brachte, das aber gestalterischen Einfluss versprach und das er dann auch vollumfänglich annahm. Becks Absage hingegen nahm das Gros der Presse keineswegs positiv auf. Die Frankfurter Rundschau kritisierte die Begründung seiner Entscheidung, die er »vor allem mit dem Wohlergehen seiner Partei und möglicherweise auch seiner eigenen Person« begründet habe.694 Das sei, fand nicht nur diese Zeitung,695 »ein überaus merkwürdiges, vielleicht allzu provinzielles, in jedem Fall aber kümmerliches Verständnis der Berliner Republik«.696 Ihr Resümee: »Die SPD scheint über keinen Begriff von Regierungspolitik zu verfügen.«697 Die Zeitung rechnete Steinmeier nur geringe Chancen aus. »Und zwar so lange nicht, wie Kurt Beck sich vorbehält, ›seine Spielräume‹ zu verteidigen und entsprechend zu nutzen.«698 689 | Gabriel, Sigmar im Gespräch mit dem Autor am 10.02.2014. 690 | Ebd. 691 | Ebd. 692 | Steg, Thomas im Gespräch mit dem Autor am 16.12.2013. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass es zumindest einen Bericht gibt, der besagt, dass Beck zunächst Heidemarie Wieczorek-Zeul als Vizekanzlerin nominieren wollte, da sie »keine Ambitionen auf weitere, höhere Ämter hegte« (Sturm, D.-F.: Wohin geht die SPD?, 2009, S. 345). Dafür fanden sich aber keinerlei Belege. Beck weist das zudem entscheiden zurück (vgl. Beck, Kurt im Gespräch mit dem Autor am 16.08.2013). 693 | Monath, H.: Der Mann, der aus der Kühle kam; in: Tagesspiegel, 21.11.2007. 694 | Schlüter, Christian: Grenzen des Politischen; in: Frankfurter Rundschau, 15.11.2007, S. 33. 695 | Vgl. z.B. auch Beste, Ralf; Fleischhauer, Jan; Knaup, Horand; Kurbjuweit, Dirk; Neukirch, Ralf; Sauga, Michael: Das endlose Ende; in: Spiegel, 19.11.2007, S. 26-40. 696 | Schlüter, C.: Grenzen des Politischen; in: Frankfurter Rundschau, 15.11.2007. 697 | Ebd. 698 | Ebd.
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Mit dem Wegfall Münteferings und dem neugeformten Tandem aus Beck und Steinmeier war einmal mehr das strategische Zentrum der Partei nicht mehr klar definiert. Der Spiegel sah bereits eine neue Machtaufteilung: »[D]er Vizekanzler Müntefering, dem Regierungshandeln immer wichtiger war als Parteistrategie, würde ab sofort keinen Ärger mehr machen«.699 Wie bei Steinmeier offenbarte sich hier die Ansicht, dass nur eine überzeugte Regierungspartei später auch Wahlen gewinnen könne. Beck indes wollte nicht ins Kabinett, stattdessen unterstrich sein Generalsekretär Heil mit Verweis auf die fehlende Parteivorsitzenden-Erfahrung Steinmeiers: »Das strategische Zentrum der SPD ist im Willy Brandt-Haus.«700 Während der neue Vizekanzler die Arbeit mit Merkel koordinieren würde, würden die Richtlinien indessen von der Parteispitze ausgearbeitet werden, beschrieb er die neue Arbeitsteilung.701 In Fraktion und Regierung soll man auf diese Verschiebung des Zentrums mit Verdruss reagiert haben.702 Mitnichten war dieses Konzept klug. Nähme sich Beck die vermeintlichen Freiräume, wäre die Folge, dass fortan stets zwischen einer Regierungs- und einer Oppositions-SPD unterschieden werden müsste – ein wenig erfolgsversprechendes Unterfangen und ein Geburtenfehler dieser zweiten Hälfte der Legislaturperiode. Wollte Beck tatsächlich der starke Mann sein, war es umso überraschender, dass er Steinmeier den Platz des starken Mannes kraft Amtes überließ und nicht selbst als Vizekanzler ins Kabinett wechselte. Und das wurde gleich zu Beginn deutlich. Der Regierungspolitiker Steinmeier sah die Aufgabenteilung nämlich ein Stück weit anders als die Hierarchie, die dem WillyBrandt-Haus offensichtlich vorschwebte. Er betonte, dass es »kein Oben und kein Unten« zwischen Parteichef und Vizekanzler gebe.703 Die Rollen schienen fortan somit nicht mehr klar aufgeteilt gewesen zu sein. Wie bereits bei Müntefering war erneut von einem »Vizekanzleramt«704 oder »Neben-Kanzleramt«705
699 | Beste, R.; Fleischhauer, J.; Knaup, H.; Kurbjuweit, D.; Neukirch, R.; Sauga, M.: Das endlose Ende; in: Spiegel, 19.11.2007, S. 34. 700 | Zitiert nach ebd., S. 34f. 701 | Vgl. Haselberger, S.; Monath, H.; Vornbäumen, A.: Jetzt führt die Partei Regie; in: Tagesspiegel, 15.11.2007. 702 | Vgl. Beste, R.; Fleischhauer, J.; Knaup, H.; Kurbjuweit, D.; Neukirch, R.; Sauga, M.: Das endlose Ende; in: Spiegel, 19.11.2007. 703 | Zitiert nach Monath, H.: Der Mann, der aus der Kühle kam; in: Tagesspiegel, 21.11.2007; vgl. auch Wallet, Norbert: Minister stocken ihr Personal kräftig auf; in: Stuttgarter Nachrichten, 20.11.2007, S. 4. 704 | Fras, D.: Die Operation Vizekanzleramt; in: Berliner Zeitung, 14.12.2007. 705 | Wittke, Thomas: Im Angesicht der Niederlage; in: General-Anzeiger, 09.10.2007, S. 3.
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die Rede, dass nun aber nicht mehr im Arbeitsministerium, sondern im Auswärtigen Amt angesiedelt war. Steinmeiers Aufgabengebiet wuchs damit in jedem Falle. Unter anderem leitete er »die Runde der SPD-Minister, die sich mittwochs vor den Kabinettssitzungen traf«.706 Zypries, zu jener Zeit nach wie vor Justizministerin, beschreibt im Rückblick die Aufgabe mit den Worten: »Also Vizekanzler heißt ja dann auch, die A-Länder-Koordinierung machen. Das bedeutet, die Positionen der verschiedenen SPD-regierten Länder zu dem jeweiligen Thema abzustimmen und das Vorgehen festzulegen.«707 Auch wenn im Auswärtigen Amt betont wurde, dass man »nicht Vizekanzleramt« spielen wolle, machten die Umstände es eben nötig, ein solches zu betreiben. Steinmeier dürften einige der Abläufe und Aufgaben noch bekannt gewesen sein aus seiner eigenen Zeit als Kanzleramtschef. Und so regierte er schnell und, wie die Stuttgarter Nachrichten befanden, »zielstrebig«.708 Merkel stimmte dem Umbau »ohne Zögern« zu, weil »sie ein Interesse an einem reibungslosen Abstimmungsprozess mit der SPD« hatte,709 auch wenn, wie in einer Analyse festgestellt wird, »die Gewährung eines dritten Staatssekretärs« schon im Arbeitsministerium »höchst ungewöhnlich« war.710 Es zeigt, dass Steinmeier sich der Aufgabe voll annahm und ein negativer Beigeschmack eines solchen »Aufrüstens« sich letztendlich nur für (einige) Medien auftat, was es mitnichten war. Denn wie soll ein Vizekanzler, dessen Staatssekretär »die Koordinierung der Arbeit der SPD-Ministerien (Staatssekretärsrunde), Verhandlungen mit dem Bundeskanzleramt (Ansprechpartner für den Kanzleramtsminister) sowie mit dem Bundesrat, hier vor allem mit den von der SPD regierten Ländern« obliegt,711 sonst die Koordination reibungslos übernehmen – wenn nicht so? Die Genehmigung unterstrich gleichzeitig den Einfluss des Vizekanzlers, auch wenn dieses Amt personell deutlich geringer besetzt war als das Bundeskanzleramt und lediglich eine »überschaubare[] Zahl von Stabsstellen« vorzuweisen hatte, nämlich »circa zehn Mitarbeiter«.712 Für den Posten als dritten (Vizekanzler-)Staatssekretär fragte Steinmeier zunächst 706 | Glaab, Manuela: Political Leadership in der Großen Koalition; in: Egle, C.; Zohlnhöfer, R. (Hg.): Die zweite große Koalition, 2010, S. 123-155; hier: S. 137; vgl. auch Sturm, D.-F.: Peer Steinbrück, 2012, S. 199. 707 | Zypries, Brigitte im Gespräch mit dem Autor am 24.02.2014. 708 | Wallet, N.: Minister stocken ihr Personal kräftig auf; in: Stuttgarter Nachrichten, 20.11.2007. 709 | Ebd. 710 | Glaab, M.: Political Leadership; in: Egle, C.; Zohlnhöfer, R. (Hg.): Die zweite große Koalition, 2010, S. 137. 711 | Ebd. 712 | Vgl. Sturm, D.-F.: Peer Steinbrück, 2012, S. 199.
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bei Münteferings Vertrautem Kajo Wasserhövel an, der diesen Job bis dato innegehabt und für seine Arbeit in der SPD viel Lob erhalten hatte.713 Aufgrund eigener wahlpolitischer Bestrebungen lehnte dieser jedoch ab.714 Schließlich sollte die Wahl auf Heinrich Tiemann fallen. Beide kannten sich aus ihrer Zeit im Bundeskanzleramt bereits aus nächster Nähe.715 Retrospektiv bewerten die damaligen Protagonisten Steinmeiers Arbeit als positiv und sehen sie in einer Linie mit Münteferings vorheriger Arbeit als Vizekanzler. Das sei »eher ’ne Frage der Persönlichkeit, des Charakters, des Habitus, des Temperaments, des politischen Stils«, findet etwa Steg rückblickend.716 Die SPD habe sich nach Steinmeiers Berufung »nicht gravierend anders verhalten als zuvor«, betont er die Kontinuität.717 So sei der Koalitionsvertrag sowohl in der ersten als auch der zweiten Hälfte der Legislaturperiode »sauber abgearbeitet worden […] und das, was noch nicht erledigt war, wurde in Angriff genommen«.718 Steinmeier habe da wie sein Vorgänger »genauso darauf geachtet«.719 Stegs Resümee lautet denn auch: »[D]ie Zusammenarbeit der acht SPD-Ministerien in dieser Großen Koalition war […] genauso effektiv, der Einfluss der SPD genauso groß wie vorher auch.«720 Jenen Aspekt der charakterlichen Unterschiede führt auch Heil an, wenngleich er in Bezug auf Stilfragen von einem »erheblichen Unterschied« spricht.721 »Der eine war klare […] Nummer eins in der Regierung. Und [daraus] hat sich sozusagen immer ’ne Rivalität mit dem Parteivorsitzenden ergeben. […] Und der andere war eher Primus inter Pares, also sowas wie der ältere Bruder […] der sehr eigenwilligen Minister.«722 Steinmeier sei hier derjenige gewesen, der »in Vorbesprechungen […] die Dinge dann zusammengeführt hat, aber nicht jedes Mal seine Autorität da nach außen kehren musste«.723 Ähnlich sehen es auch Ulla Schmidt und Brigitte Zypries. Sieht Erstgenannte beim Vizekanzler Müntefering die vielleicht »beste Zeit seines Lebens«,724 meint 713 | Vgl. Beste, R.; Fleischhauer, J.; Knaup, H.; Kurbjuweit, D.; Neukirch, R.; Sauga, M.: Das endlose Ende; in: Spiegel, 19.11.2007, S. 39. 714 | Vgl. ebd.; vgl. auch Dausend, Peter: Vizekanzler Steinmeier rüstet sein Amt auf; in: Welt, 17.11.2007, S. 2. 715 | Vgl. Fras, D.: Die Operation Vizekanzleramt; in: Berliner Zeitung, 14.12.2007. 716 | Steg, Thomas im Gespräch mit dem Autor am 16.12.2013. 717 | Ebd. 718 | Ebd. 719 | Ebd. 720 | Ebd. 721 | Heil, Hubertus im Gespräch mit dem Autor am 05.02.2014. 722 | Ebd. 723 | Ebd. 724 | Schmidt, Ulla im Gespräch mit dem Autor am 17.10.2013.
9. Metamorphose II
Letztere, dass Steinmeier das zwar »professionell gemacht« habe, aber es nicht sein »Herzensanliegen« gewesen sei,725 welches sie bei ihm nach wie vor in der Außenpolitik verortete. Gewissenhaft erfüllte Steinmeier diesen Job jedoch. Dass er dabei, wie es in einer Analyse heißt, »immer ein Staatssekretär-Bewusstsein« behalten habe, stimmt nur dann, wenn man eben das »ausschließlich an vermeintlichen Sachgesichtspunkten [O]rientiert[e], ›Verantwortung‹ [Ü]bernehmen[de], im Interesse Deutschlands [H]andeln[de] – dies und nichts anderes«,726 als Staatssekretärsbewusstsein und nicht als seriöses, vielleicht auch neues Politikertum ansieht. Steinmeiers nüchternere Haltung spiegelt womöglich schlicht eine Politikergeneration wider, die nicht mehr allein an Parteipolitik interessiert ist, stattdessen sich vielmehr selbst zurücknimmt und tatsächlich, soweit es möglich ist, wenn man kein allein altruistischer Denker ist, im Interesse Deutschlands handelt. Mit Tiemann hatte Steinmeier dabei einen Mann in sein Team geholt, der ähnlich dachte wie er, aber die Partei aus dem Inneren kannte. So findet sich etwa zum Reformkonzept »SPD 2000«, das Anfang der 1990er Jahre konzipiert worden war, ein kritischer interner Vermerk Tiemanns in einem Papier des Parteivorstands, in dem dieser schrieb: »Der Kommissionsbericht nimmt die interne Differenziertheit der Partei nicht oder nur selektiv zur Kenntnis. Anstatt eine Mehrebenen-Analyse zu wagen, herrschen Kollektivsingulare wie ›die Partei‹, ›die Wähler‹ vor, obwohl diese auch in der Perspektive der Kommission in der gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit so nicht mehr existierten.« 727
Tiemann fasste damals zusammen: »Die sozialdemokratische Partei ähnelt heute eher einer verschachtelten Holding, denn einem straff geführten Konzern […]. Die Partei ist heute ein Netzwerk von unterschiedlichen sozio-ökonomischen und kulturellen und regionalen und gesellschaftlichen Interessen.«728 Steinmeier argumentierte rund zehn Jahre später ähnlich, wie im Kapitel zum innovativen Konsens aufgezeigt worden ist. Die Partei gab es nach Tiemanns und Steinmeiers Argumentationen nicht und ihre Bedeutung würde zudem geringer. Beide verfolgten wie mittlerweile viele Parteifunktionäre einen »ad725 | Zypries, Brigitte im Gespräch mit dem Autor am 24.02.2014. 726 | Raschke, J.: Zerfallsphase; in: Egle, C.; Zohlnhöfer, R. (Hg.): Die zweite große Koalition, 2010, S. 79. 727 | So ist es in einem internen Papier des SPD-Parteivorstands vom 26.04.1993 zu lesen; zitiert nach Leif, Thomas: Angepasst und ausgebrannt. Die Partei in der Nachwuchsfalle. Warum Deutschland der Stillstand droht; München 2009, S. 226. 728 | Zitiert nach ebd.
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ministrativen Politikansatz«,729 was den (gealterten) Herz-liebenden Sozialdemokraten zwangsläufig das Herz nicht erwärmen konnte. Trotz eines kurzen, bereits beschriebenen Ausfluges in den Populismus, blieb Steinmeier denn auch bei seiner zu Beginn seiner Vizekanzlerschaft ausgegebenen Doktrin: »Wir müssen uns bewusst machen, dass zwei Jahre zu lang sind, um sie im täglichen Clinch zu verbringen. Natürlich müssen wir unsere Konturen als SPD schärfen, wir müssen aber auch in dem Bewusstsein handeln, dass dies unsere Regierung ist.«730 Anders als es in einer anderen Analyse heißt, in der in der Umbesetzung des Vizekanzlers ein Machtzuwachs konstatiert worden ist731 und unabhängig davon, ob dieses vermeintliche Staatssekretärsbewusstsein nicht doch eher dem eines Exekutivpolitikers gleichkam, schien die Bundeskanzlerin ihre Macht keineswegs gefestigter als zuvor anzusehen. Jedenfalls soll sich, erinnert sich ein damaliger Minister, das Verhältnis zum Vizekanzler »schlagartig« verändert haben.732 »Merkel ging sofort auf Distanz und wusste auch, da wächst […] mein Gegner. Bei Müntefering« habe »sie sich […] relativ sicher sein« können, »dass er nicht kandidieren würden. Und bei Steinmeier war es sofort anders.«733 Zu diesem Verhältnis, dass, wie es auch an anderer Stelle heißt, »über professionelle gegenseitige Achtung nicht hinausgekommen«734 zu sein schien, dürften auch unterschiedliche Auffassungen bei zentralen Politikfeldern beigetragen haben. Die Frage um den Empfang des Dalai-Lama oder die Frage nach dem Umgang mit Russland waren gerade in dieser Zeit präsent.735 Auch wenn die Außenpolitik in diesen Jahren zu seinem Herzensanliegen geworden sein mag, blieb Steinmeier doch auch überzeugter Innenpolitiker und konnte seine Vorstellungen und Ideen nun auch dort wieder mit einbringen. Von Beginn der Übernahme seiner neuen Ämter an zeigte er einen klaren 729 | Vgl. Casdorff, Stephan-Andreas: Ein leiser Tritt; in: Tagesspiegel, 19.05.2008, S. 1. 730 | Zitiert nach Beste, R.; Fleischhauer, J.; Knaup, H.; Kurbjuweit, D.; Neukirch, R.; Sauga, M.: Das endlose Ende; in: Spiegel, 19.11.2007, S. 31. 731 | Vgl. Raschke, J.: Zerfallsphase; in: Egle, C.; Zohlnhöfer, R. (Hg.): Die zweite große Koalition, 2010, S. 79. 732 | So ein Interviewpartner, der nicht genannt werden möchte, im Gespräch mit dem Autor. (Um die Anonymität zu wahren, wird für alle anonymisierten Personen eine männliche Form verwendet.) (Nr. 44) 733 | Ebd. 734 | Heckel, Margaret: So regiert die Kanzlerin. Eine Reportage, München 2011, S. 82; vgl. auch Graw, A.: Gemeinsam; in: Welt, 10.01.2008, S. 3; vgl. außerdem Sturm, D.-F.: Peer Steinbrück, 2012, S. 198. 735 | Vgl. Kapitel 9.1 in dieser Biographie.
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Kompass auf, der in einer Linie zu den Reformen der Agenda 2010 zu stehen schien. In einem Interview äußerte er sich zum Beispiel über die Reformvorhaben, die er noch auf den Weg bringen wolle. So müsse man sich »vor allem mit den Themen Bildung, Weiterbildung und Qualifikation beschäftigen. Ohne neue Anstrengungen holen wir viele Jugendliche, die am Rand stehen, nicht in den Arbeitsmarkt und damit in diese Gesellschaft zurück. Auch den einsetzenden Facharbeitermangel sollten wir nicht einfach kurzfristig durch eine europäische Blue Card, sondern durch mehr Investitionen in Ausbildung langfristig angehen.« 736
Nachdrücklich betonte er, dass sich eben »die Zukunft dieser Gesellschaft nicht an den Spiegelstrichen der Agendareform entscheidet, sondern daran, ob sie sozialen Zusammenhalt, Bildungs- und Aufstiegschancen gewährleisten kann«.737 Der Themenkomplex Bildung avancierte zunehmend zu einem Schlüsselthema Steinmeiers, er zog und zieht sich fortan wie ein roter Faden durch seine zukünftige Karriere. In seinem für den Wahlkampf entwickelten Deutschlandplan 2009 nahm er eine große Rolle ein,738 genauso bekam er viel Raum in einem Zukunftskonzept, das Steinmeier bis 2013 als Oppositionspolitiker erarbeitete.739 Mit diesen Forderungen einher ging aber ein übergeordnetes Ziel, nämlich das der Vollbeschäftigung, das sich ebenfalls gleichsam wie ein roter Faden bereits seit der Agenda 2010 durch Steinmeiers Karriere zog und das sowohl in dem, was er tat, als, mehr noch, in dem, was er äußerte. Anlässlich des fünfjährigen Jahrestages der Agenda 2010 im März 2008 betonte der nunmehrige Parteivize, Vizekanzler und Außenminister so in einem Gastbeitrag im Tagesspiegel unter der deutlich positionierten Überschrift »Die Agenda 2010 Warum sie morgen noch gelten muss« noch einmal die Richtigkeit der Agenda 2010.740 Er skizzierte ein Modell, in dem Vollbeschäftigung möglich sei – »vorausgesetzt, die Politik spielt mit. Durch Linie halten. Durch die Erschließung neuer 736 | Steinmeier, F.-W. im Gespräch mit dem Spiegel; in: Beste, R.; Nelles, R.; Mascolo, G.: »Ich bin kein Krawallmacher«; in: Spiegel, 26.11.2007, S. 28. 737 | Ebd. 738 | Vgl. Steinmeier, Frank-Walter: Die Arbeit von Morgen. Politik für das nächste Jahrzehnt, ohne Ort, 2009; abrufbar unter: www.nachdenkseiten.de/upload/pdf/090803_ Deutschlandplan.pdf (zuletzt eingesehen am 06.07.2016). 739 | Vgl. SPD-Bundestagsfraktion (Hg.): Deutschland 2020. So wollen wir morgen Leben. Bausteine eines Modernisierungsprogramms, ohne Ort, 2012; abrufbar unter: www.spdfraktion.de/system/files/documents/spd_d20_web.pdf (zuletzt eingesehen am 06.07.2016); vgl. auch S. 507f in dieser Biographie. 740 | Steinmeier, Frank-Walter: Die Agenda 2010 – Warum sie morgen noch gelten muss; in: Tagesspiegel, 14.03.2008, S. 8.
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Leitmärkte. Und«, da war wieder das Bildungsthema im Fokus, »durch eine kluge Bildungs- und Integrationspolitik«.741 Einmal mehr war es ein Aufsatz, der eine Momentaufnahme des Denkens Steinmeiers jener Zeit offenlegte. Er schrieb von Produkten »Made in Germany« und forderte: »Wir können mit dafür sorgen, dass ökologisch moderne Produkte – vom Großkraftwerk über saubere Autos bis zu rohstoffsparenden Maschinen – die Konsequenzen für Umwelt und Klima beherrschbar halten.«742 Das werde, führte er aus, »zur entscheidenden Überlebensfrage für alle Menschen. Und es sichert und schafft zugleich Arbeitsplätze bei uns.«743 Steinmeier baute hier also einen Zweiklang aus Umwelt auf der einen und Arbeit auf der anderen Seite aus. Das Festhalten am Sekundärsektor, mit dem eine klassische Industriepolitik einhergehen müsse, war seine Überzeugung, wie bereits in der Vergangenheit zu sehen war und insbesondere in der Wirtschaftskrise 2008/2009 erneut zu sehen sein wird. Schon jetzt betonte er, dass es gut sei, sich in Deutschland nicht von der Industrie verabschiedet zu haben. »Vieles spricht dafür, dass die deutsche Volkswirtschaft diese Turbulenzen besser überstehen wird als viele andere. Deshalb müssen wir in Europa weiter für die Erhaltung der industriellen Kapazitäten streiten.«744 Er skizzierte dabei auch die zukünftigen Leitmärkte, nämlich »Energieerzeugung und Klimaschutz, Finanzdienstleistungen, Verkehr und Logistik, optische Industrie, Gesundheitsmarkt und Seniorenwirtschaft.«745 Um all das zu erreichen, spannte er erneut den Bogen zur Bildungspolitik, die der Schlüssel zu all dem sei: »Damit in den Wachstumsbranchen aber neue Arbeitsplätze entstehen, brauchen wir ein leistungsfähiges Bildungs- und Ausbildungssystem.«746 In diesem Zusammenhang betonte er, dass das »besonders für Kinder von Zuwanderern« gelte – ein Thema, das erst viel später im großen Umfang auf der Tagesordnung stehen wird. Schon 2008 postulierte er: »Das Aufstiegsversprechen, das mich und viele meiner Generation zu höherer Bildung und Universitätsabschluss geführt hat, müssen wir für die Benachteiligten von heute erneuern.«747 Den Gastbeitrag schloss Steinmeier mit dem Verweis auf die Agenda 2010 und auf Willy Brandt ab: »Vor fünf Jahren ging es um den Mut zur Veränderung. Den Mut, auch Unpopuläres zu tun, um das Land wieder
741 | Ebd. 742 | Ebd. 743 | Ebd. 744 | Ebd. 745 | Ebd. 746 | Ebd. 747 | Ebd.
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auf einen langfristigen Wachstumspfad zu führen. Heute geht es um einen anderen Mut, den Mut zur Beharrlichkeit.«748 Steinmeier, das wird auch in diesem Aufsatz deutlich, dachte erst in zweiter Linie in parteipolitischen Strukturen. Seine Skizze war aber dennoch sozialdemokratisch gefärbt, etwa wenn es um das »Aufstiegsversprechen« ging, gleichzeitig aber auch auf das Land fokussiert. Der Aufsatz trug erneut jene Handschrift, die Steinmeier schon benutzt hatte, als er sich als Wissenschaftler etwa zur grünen Mandatsrotation äußerte. Diesen wissenschaftlichen, analytischen Zugang, diese Durchdringung eines Themas hatte sich Steinmeier auch als Parteipolitiker im Vordergrund und Vizekanzler, als der er mit einem Mal auch wieder für die Innenpolitik zuständig war, bewahrt. Trotz einiger handwerklicher Pannen in anderen Bereichen, etwa zu einer innerkoalitionären Einigung über die Gesetzgebung zum Einsatz der Bundeswehr im Inneren, die von Steinmeier nach Ansicht verschiedener SPD-Politiker »[a]mateurhaft und dilettantisch« umgesetzt749 und deshalb von den zuständigen Fachpolitikern »[m]it 13 zu null Stimmen« abgelehnt worden sei,750 war eben jenes Thema des Fortgangs der Agenda mit dem langfristigen Ziel der besseren Bildung und der Vollbeschäftigung eines der zentralen Anliegen Steinmeiers. Er ist gewiss nicht der Einzige, der so dachte. Aber es ist zu sehen: Steinmeier hatte, wie viele andere kluge Politiker, einen klaren Kompass, ja eine klare Vorstellung von den zukünftigen Problemfeldern und Lösungsmöglichkeiten für die Herausforderungen und Gefahren in einer globalisierten Welt. Das wird bei ihm, wie im folgenden Kapitel zu sehen ist, auch als Kanzlerkandidat der SPD deutlich.
9.3 K anzlerk andidatur »So einen Scheiß lasse ich mir nicht mehr bieten«, schimpfte Kurt Beck laut Tagesspiegel im Parteirat, nur wenige Stunden bevor Steinmeier, Steinbrück und Platzeck ihr Buch »Auf der Höhe der Zeit« vorstellten.751 Er klagte über »einige Leute in der dritten und vierten Reihe, die hinter Büschen sitzen und mehr oder weniger Intelligentes erzählen – auf jeden Fall Unverantwortli-
748 | Ebd. 749 | Zitiert nach Zylka, Regine: Raus aus der Ecke; in: Berliner Zeitung, 20.10.2008, S. 4. 750 | Ebd. 751 | Zitiert nach Monath, Hans: Es gilt das gesprochene Wort; in: Tagesspiegel, 05.09.2007, S. 2.
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ches«.752 Beck fühlte sich verunglimpft und falsch dargestellt – und nun noch dieses Buch. Das war fast genau ein Jahr vor der Chiffre Schwielowsee im September 2008. Die dortige Nominierung Steinmeiers zum Kanzlerkandidaten markierte das Ende der Entfremdung des Parteivorsitzenden Beck und des bundespolitischen SPD-Betriebs in Berlin. Es war ein Prozess, der in dieser Zeit der Buchpräsentation begonnen hatte und der bald nicht mehr aufzuhalten war; ein Prozess, in dem Steinmeier ungewollt als Antifolie zu Beck agierte: der seriöse, weltgewandte Politiker gegenüber dem »tapsigen, provinziellen Dicken«.753 Es war das Bild, dass sich über den Parteichef in der Öffentlichkeit festgesetzt hatte.754 Der im vorausgegangenen Kapitel beschriebene Pyrrhussieg über Müntefering auf dem Parteitag brachte Beck denn auch nur kurzzeitig wieder in ruhiges Fahrwasser. Auch wenn es tatsächlich innerparteiliche Angriffe auf Beck gab und das Bild in der medialen Öffentlichkeit bald recht einseitig gewesen sein mag, war Becks Problem doch hausgemacht. Den Bruch mit seinem Vorgänger hätte er auf dem Parteitag nicht in dieser Form suchen müssen, der wiederum seine Vizes in eine schwierige Situation versetzte. Den Posten des Vizekanzlers hätte Beck zudem anstreben und so seinen Machtanspruch und seinen Regierungswillen unterstreichen können, dafür aber seine sichere Bastion Rheinland-Pfalz, wo er mehr als König denn als Ministerpräsident angesehen worden war,755 aufgeben müssen. Mehr noch fehlte es Beck aber auch in den Monaten nach dem Parteitag und der vermeintlichen Stabilisierung an einem kohärenten Konzept. Von einem »Weltmeister der Luftballon-Politik« war im Hamburger Abendblatt die Rede.756 »Mal entdeckt er die Leistungsträger (›Leistung muss sich lohnen‹), mal die Unterschichten und beim nächsten Mal das Ende der Zumutbarkeit bei den Reformen. Konkrete politische Folgen«757 habe es nie gehabt. Seine Ideen bewegten lediglich »[e]in paar Tage […] die Medien, dann hörte man nichts mehr von Beck – bis zum nächsten Luftballon«.758 Dennoch galt der Parteivorsitzende nach wie vor als der Mann mit dem ersten Zugriff, auch weil Steinmeier eine Kandidatur in keiner Weise anstrebte 752 | Zitiert nach ebd. 753 | Walter, F.: Die SPD nach Beck; in: Welt, 07.09.2007. 754 | Vgl. ebd. 755 | Vgl. z.B. Gothe, Heiko: Die rheinland-pfälzische Landtagswahl vom 26. März 2006: »König Kurt« erringt die absolute Mehrheit; in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 1/2007, S. 34-51. 756 | Spreng, Michael: Die SPD und die Luftballon-Politik von Kurt Beck; in: Hamburger Abendblatt, 05.02.2007, S. 2. 757 | Ebd. 758 | Ebd.
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und damit kein anderer Kandidat vorhanden war. Der endgültige Wendepunkt für Becks bundespolitische Ambitionen kam schließlich nach der Hessen- und kurz vor der Hamburg-Wahl im Frühjahr 2008, die für die SPD nach einer Reihe von Wahlniederlagen eigentlich mit einem beachtlichen Erfolg einen »Wendepunkt« zum Positiven darstellte,759 am Ende aber in einem »spielfilmreife[n] Desaster« mündete.760 In diesen Sog hatte sich Beck hineingebracht, indem er ohne Rücksprache in einem Hintergrundgespräch mit Journalisten im Hamburger Ratskeller761 zuerst einen Kursschwenk für Hessen und schließlich eine Öffnung zur Linkspartei auch in den westlichen Landtagen verkündete, was »von einer gleichbleibend großen Mehrheit der Bundesbürger – und auch der SPD-Anhänger – eindeutig abgelehnt« worden war.762 Die Kritik an Beck ist in drei Punkten zusammengefasst: Der Kursschwenk erfolgte erstens ohne Einbeziehung der Parteivizes und ohne vorherigen Anstoß einer innerparteilichen Debatte, zweitens war der Zeitpunkt schlecht gewählt und drittens wurde der »Glaubwürdigkeitsverlust der SPD« nicht berücksichtigt.763 Neben jenen strategischen Defiziten kamen inhaltliche Bedenken beim Seeheimer Kreis und den Netzwerkern hinzu. Lediglich die Parlamentarische Linke sympathisierte zumindest tendenziell mit einem Linksbündnis,764 dessen Anstreben letztendlich zu einer »massiv[en]« Verunsicherung der »eigenen Anhänger und mögliche[r] potenzielle[r] Wähler« führte.765 Erneut wurden Becks Parteivizes Steinmeier und Steinbrück dabei vor vollendete Tatsachen gestellt, ihr Entsetzen über den solistischen Kursschwenk soll groß gewesen sein.766 Intern habe sich Steinmeier in einer Fraktionssitzung nach den entsprechenden Wahlen so auch noch einmal gegen ein Linksbündnis in Hessen stark gemacht. Die Berliner Zeitung fasste zusammen: »Selbstverständlich könne das jeder Landesverband für sich selbst entscheiden […]. Dann aber sagte er deutlich, was er damit meint: Freiheit bedeute eben nicht automatisch die Hinwendung zur Linken. Freiheit bedeute Verantwortung – für die Glaubwürdig759 | Alemann, U. von; Spier, T.: Erholung in der Opposition?; in: Niedermayer, O. (Hg.): Die Parteien nach der Bundestagswahl 2009, 2011, S. 62. 760 | Leif, T.: Angepasst und ausgebrannt, 2009, S. 234. 761 | Leicht, Robert: Beck auf Widerruf; in: Zeit Online, 27.03.2008; abrufbar unter: www.zeit.de/online/2008/14/spd-beck-leicht (zuletzt eingesehen am 02.08.2016). 762 | Matuschek, P.; Güllner, M.: Volksparteien ohne Volk; in: Niedermayer, O. (Hg.): Die Parteien nach der Bundestagswahl 2009, 2011, S. 234. 763 | Vgl. Hegelich, S.; Knollmann, D.; Kuhlmann, J.: Agenda 2010, 2011, S. 190. 764 | Vgl. ebd. 765 | Matuschek, P.; Güllner, M.: Volksparteien ohne Volk; in: Niedermayer, O. (Hg.): Die Parteien nach der Bundestagswahl 2009, 2011, S. 234. 766 | Vgl. Sturm, D.-F.: Wohin geht die SPD?, 2009, S. 360.
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IV. Politik im Vordergrund keit der SPD, für die langfristige Regierungsfähigkeit und für die Auswirkungen auf die gesamte Partei.« 767
Auch bei Ypsilanti persönlich soll der Außenminister, Parteivize und Vizekanzler in Personalunion zusammen mit Fraktionschef Struck interveniert haben. Beide warben bei ihr laut Spiegel für eine Koalition mit der FDP.768 Von einem »schweren Fehler« sprach zudem Steinbrück öffentlich.769 Er äußerte damit laut, was Steinmeier wohl auch leise dachte: Es gehe nicht, »eine Partei abrupt in eine neue Situation zu bringen. Das muss kommunikativ vorbereitet werden.«770 Steinmeier selbst hatte einen solchen Fehler bei der Agenda mitzuverantworten, nun war es Beck, der in einer weiteren Frage ungeschickt agierte und einen neuen tiefen Graben in der SPD aufreißen lies. Einmal mehr ging es um die zukünftige Ausrichtung der SPD als Ganzes. Dabei mussten sich beide Vizes, Steinmeier und Steinbrück, letztendlich hinter den Kurs des Parteichefs stellen, wollten sie den ohnehin geschwächten Vorsitzenden nicht weiter schwächen. Das kann noch nicht einmal kritisiert werden, zeigte es doch die weitgehende Disziplin der Beteiligten auf und auch die Anerkennung der Hierarchie – und der Diplomatie im Hintergrund. Und doch war das Medienecho auf diese »zelebriert[e] Loyalität wider besseren Wissens«771 verheerend. Die Berliner Zeitung fragte suggestiv: »Wie stark sind eigentlich die beiden Stellvertreter, wenn sie ihren Parteichef nicht davon abhalten können, den Fehler zu begehen?«772 Und etwas später warb die CDU mit einem Plakat mit einem Steinmeier Zitat: »Glaubwürdigkeit ist ein Kriterium, an dem sich die SPD messen lassen muss«, stand darauf und als Botschaft darunter: »Wort halten!«773 Die Sogwirkung von Becks Vorgehen hatte vor Steinmeier also keinen Halt gemacht. Steinmeier drohte in jener Zeit
767 | Fras, Damir; Szent-Ivanyi, Timot: Die Stellvertreter; in: Berliner Zeitung, 06.03.2008, S. 3. 768 | Vgl. Bartsch, Matthias; Berg, Stefan; Beste, Ralf; Deggerich, Markus; Feldenkirchen, Markus; Kurbjuweit, Dirk; Nelles, Roland; Schwennicke, Christoph; Sontheimer, Michael: Schmerzhaftes Vorspiel; in: Spiegel, 03.03.2008, S. 22-38; Vgl. auch Sturm, D.-F.: Wohin geht die SPD?, 2009, S. 366. 769 | Zitiert nach Sturm, D.-F.: Wohin geht die SPD?, 2009, S. 363. 770 | Zitiert nach Ackeren, Margarete van; Krumrey, Henning; Moritz, Hans-Jürgen; Opitz, Olaf; Pörtner, Rainer; Wiegold, Thomas: Horrortripp durchs Kabinett; in: Focus, 17.03.2008, S. 28-33; hier: S. 28. 771 | Schumacher, Hajo: Sommer des Misstrauens; in: Welt, 08.07.2008, S. 3. 772 | Fras, D.; Szent-Ivanyi, T.: Die Stellvertreter; in: Berliner Zeitung, 06.03.2008. 773 | Vgl. Birnbaum, Robert: Pofalla zielt auf Steinmeier – und trifft Beck; in: Tagesspiegel, 13.08.2008, S. 4.
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zumindest temporär in seiner wichtigsten Eigenschaft beschädigt zu werden: seiner Glaubwürdigkeit, die er in der Bevölkerung besaß. Im Rückblick erinnert sich Beck, dass er sich in dieser Zeit entschieden habe, nicht als Kanzlerkandidat anzutreten. »Im Frühjahr, in der Zeit um die Hamburg-Wahl«, sei das gewesen.774 »Wegen der unglückseligen Art und Weise, wie ein mögliches Bündnis mit der Linken in Hessen diskutiert wurde, war für mich klar, dass es vorbei ist – selbst wenn ich es gewollt hätte.«775 Diese Entscheidung allerdings behielt er, wie er selbst bekundete, »lange für mich«.776 Die Ungewissheit über die zukünftigen Absichten Becks, die dieser selbst also forcierte, bedeutete eine Lähmung der Führung, die sich gerade aufgrund der intern geäußerten Kritik der Parteivizes auch in der Zusammenarbeit widerspiegelte. Beck erinnert sich an jene für ihn »besonders bedrückende Geschichte«, nach der es im Führungstrio »nicht mehr so unverkrampft wie vorher« zugegangen sei, auch wenn man weiter »nüchtern und vernünftig und nicht unfreundlich« zusammengearbeitet habe.777 Das Misstrauen, das Beck nun, ob zu Recht oder nicht, hegte, dürfte zudem durch einen Kommentar aus dem Off weiterbefördert worden sein. »Der Fehler ist gemacht«,778 war ein Fax überschrieben, das Müntefering an einem März-Morgen an die Parteiführung schickte. Spekulationen von einem »Interimsvorsitzende[n]« Müntefering machten daraufhin die Runde.779 Und dennoch: Der damalige Fraktionschef Struck beharrte in seiner Autobiographie darauf, dass Steinmeier, Steinbrück und er selbst versucht hätten, Beck »seine Sicherheit zurückzugeben« und ihm »unsere Unterstützung« zugesagt hätten.780 Doch hab es »in Berlin kaum noch jemanden« gegeben, »dem er absolutes Vertrauen schenkte«.781 Becks Misstrauen war also nicht mehr einzufangen. Auch in den nachfolgenden Monaten fasste der Parteivorsitzende keinen Fuß mehr. Er forderte – ohne Absprache – etwa eine Afghanistankonferenz unter Beteiligung der Taliban. Das Urteil darauf war vernichtend: »Kurt Beck will in der Weltpoli774 | Beck, Kurt im Gespräch mit dem Stern; in: Hoidn-Borchers, Andreas; Jörges, Hans-Ulrich: »Böse Hunde gehören an die Kette«; in: Stern, 25.09.2008, S. 48-52; hier: S. 52. 775 | Ebd. 776 | Ebd. 777 | Beck, Kurt im Gespräch mit dem Autor am 16.08.2013. 778 | Kröter, Thomas: Kandidatensuche auf sozialdemokratisch; in: Frankfurter Rundschau, 17.03.2008, S. 4. 779 | Pörtner, Rainer: Treten oder vertreten; in: Focus, 10.03.2008, S. 30-32; hier: S. 32; vgl. auch Haselberger, Stephan: Patt in der Chefsache; in: Tagesspiegel, 13.06.2008, S. 4. 780 | Struck, P.: So läuft das, 2010, S. 237. 781 | Ebd.
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tik mitmischen. Er punktet nicht gegen Merkel«, fasste die Stuttgarter Zeitung zusammen, »[s]tattdessen brüskiert der SPD-Chef Außenminister […] Steinmeier«.782 Im Auswärtigen Amt reagiere »man irritiert. Es gab keine Absprachen, keine gemeinsame Strategie, zunächst nur Agenturberichte. Beck habe sich wohl spontan und möglicherweise etwas unglücklich geäußert. Aber, bitte, nichts Genaues wisse man nicht.«783 Bereits die Debatte um einen eigenen Kandidaten für die Präsidentschaftswahl 2009 auch für den Fall, dass Noch-Präsident Horst Köhler noch einmal antritt, ließ Beck bereits 2007 schleifen. Nun wurde er, wie die gesamte SPDFührung, überrannt, als Parteivize Andrea Nahles in die noch leisen »GesineSchwan-Gesänge einstimmte«784 und diese letztendlich mit als (aussichtslose) Präsidentschaftskandidatin der SPD durchsetzte. Bei dem sich im August 2008 anbahnenden Parteiausschluss Clements, immerhin ehemaliger Bundesminister und Ministerpräsident, wurde der Parteichef erneut überrascht. Nachdem Beck zunächst gar nicht reagieren wollte, war er einmal mehr Getriebener, der erst reagierte, nachdem sich »Steinmeier und Steinbrück mehr oder minder offen hinter Clement gestellt hatten«.785 Steinmeier war hier sogar der Erste, der sich aus der Führungsspitze für Clement einsetzte, dessen kritische Bemerkungen über die SPD im Hessen-Wahlkampf zwar als »alles andere als hilfreich« bezeichnete, aber sich doch froh darüber zeigte, »dass es in der Volkspartei SPD viele Meinungen gibt – von Wolfgang Clement bis Erhard Eppler«.786 Wieder einmal war in der SPD die Frage um den zukünftigen Kurs entbrannt, denn Clement war, wie auch in dieser Biographie gezeigt, einer der Frontmänner der Agenda-Politik und im linken Teil der SPD negative Projektionsfläche für deren Umsetzung. Beck also ließ Debatten immer häufiger schleifen und die Partei und die Führungsspitze drohten zu implodieren. Kaum beherrschbare Vielstimmigkeit war überall festzustellen. »Selbst alte Haudegen wie Fraktionschef Peter Struck«, fasste der Spiegel zusammen, »können sich nicht daran erinnern, dass es [der SPD] je schlechter ging«.787
782 | Maron, Thomas: Der Mann, der keinen Fuß auf den Boden kriegt; in: Stuttgarter Zeitung, 05.04.2007, S. 3. 783 | Ebd. 784 | Ackeren, Margarete van; Elflein, Christoph; Krumrey, Henning; Pörtner, Rainer: Schwan-Gesänge; in: Focus, 19.05.2008, S. 28-29; hier: S. 29. 785 | Heckel, Margaret; Lutz, Martin: Wolfgang Clement wird konsequenter, die SPD nervöser; in: Welt am Sonntag, 03.08.2008, S. 6. 786 | Zitiert nach Pörtner, Rainer: Wie auf der »Titanic«; in: Focus, 04.08.2008, S. 2425; hier: S. 24. 787 | Nelles, Roland: Angst vorm Sommer; in: Spiegel, 16.06.2008, S. 28.
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Müntefering äußerte sich als einfacher Abgeordneter laut Focus mit nur einem Wort zur Lage der Partei: »Schlimm!«788 Nichts deutete mehr darauf hin, dass Beck noch Kanzlerkandidat, geschweige denn Bundeskanzler werde könnte. Doch auch diese Debatte ließ der Parteivorsitzende laufen. Er selbst begründet sein Agieren in der Rückschau mit den Worten, dass er seine Entscheidung »sehr lange für mich behalten« habe, weil er es »für meine Pflicht« gehalten habe, »über den Sommer zu kommen und ihn nicht allein auf die Lichtung zu stellen«.789 Das passt zu jener Erzählung, dass er bereits Ende 2007 gegenüber Steinmeier geäußert haben soll: »Ich weiß, was ich in der K-Frage will.«790 Auf Steinmeiers Frage »Was denn?« habe er laut Stern schließlich erwidert: »Das sage ich nicht einmal dir.«791 Kurt Beck wollte Herr der Lage bleiben, wollte selbst entscheiden und ist dabei zum Getriebenen geworden, der fernab jeder Realität am Zeitplan, seinem Zeitplan, festhalten wollte. Dabei war er mittlerweile, so entstand der Eindruck, nachhaltig gekrängt und enttäuscht: von den Medien, aber auch von seiner Partei. Auch davon, dass man Steinmeier zutraute, die Bundestagswahl zu gewinnen, und ihm, demjenigen, der mit absoluter Mehrheit in RheinlandPfalz regierte, nicht. Einmal etwa ließ Beck verlauten, er halte Steinmeier »für einen sehr erfahrenen Mann« und sei sich »ganz sicher«, dass der Außenminister »auch Wahlen gewinnen« könne.792 Er fügte hinzu: »Die Tatsache, dass man es noch nicht gemacht hat, ist ja nicht gleichzusetzen damit, dass man es nicht kann.«793 In einer SPD-Biographie wurden diese Worte dahingehend interpretiert, dass der »beißende Spott des Mannes, der drei Landtagswahlen gewonnen hatte und gar mit einer absoluten Mehrheit regierte, […] nicht zu überhören« gewesen sei.794 Vielleicht war auch das wieder eine Fehlinterpretation eines politischen Beobachters, vielleicht aber war es wirklich so. Das war mittlerweile jedoch nebensächlich. Die Debatte war nicht mehr aufzuhalten, ging dabei trotz der vielen gemachten kommunikativen und strategischen Fehler, die es gab, an die Grenzen dessen, was ein Mensch aushalten kann. So beschrieb die Welt das unglei788 | Zitiert nach Ackeren, M. van; Krumrey, H.; Moritz, H.-J.; Opitz, O.; Pörtner, R.; Wiegold, T.: Horrortripp durchs Kabinett; in: Focus, 17.03.2008, S. 30. 789 | Beck, K. im Gespräch mit dem Stern; in: Hoidn-Borchers, A.; Jörges, H.-U.: »Böse Hunde gehören an die Kette«; in: Stern, 25.09.2008, S. 52. 790 | Zitiert nach König, J.; Rosenkranz, J.: Ja ich will; in: Stern, 11.09.2008, S. 33-44; S. 40. 791 | Zitiert nach ebd. 792 | Zitiert nach Sturm, D.-F.: Wohin geht die SPD?, 2009, S. 375. 793 | Zitiert nach ebd. 794 | Ebd.
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che Spitzenduo einmal mit den Worten: »Der provinzielle Herr Tapsig trifft auf den souveränen Dr. Perfekt«.795 In der Frankfurter Rundschau hieß es: »Je kleiner Beck wird, desto länger Steinmeiers Schatten in der SPD.«796 Und die taz schrieb vom »Gehypte[n] und de[m] Gemobbte[n]«.797 Beck jedenfalls soll in jenen Tagen »einen lustlosen, fast desinteressierten Eindruck hinterlassen« haben.798 »Kein Wunder«, fand die Frankfurter Rundschau, »bei den Prügeln, die er seit Monaten von allen Seiten bezieht.«799 Becks Traum von der Kanzlerkandidatur, und wenn es kein Traum war, doch der Ehrgeiz, war obsolet. Er hatte verspielt, was er lange Zeit aufgebaut hatte, denn innerparteilich hatte Beck, wie die Welt anerkennend zusammenfasste, durchaus einiges vorzuweisen gehabt: »Mit seinem Vorstoß zu einem deutschen Engagement vor der Küste des Libanon, mit der Prekariats-Debatte, seinen Worten zur Leistung und dem Kraftakt zum Umbau der Parteispitze.«800 Er habe »danach der Parteilinken Zugeständnisse« gemacht »und sicherte sich im Gegenzug deren Unterstützung«.801 Für die SPD wichtig: »Seit dem 1. Januar [2008] wird das Arbeitslosengeld I wieder länger gezahlt.«802 Wie auch Schröder, der am Ende seiner Kanzlerschaft einen Ausstieg aus seiner Kanzlerschaft suchte, was ihm mit der vorgezogenen Neuwahl gelang, war es nun Beck, der einen Ausstieg aus seinen Kandidatenbestrebungen suchte, aber keinen guten fand. Auf dem Landesparteitag der niedersächsischen SPD im Juni 2008 wurde Steinmeier vom Landesvize Hauke Jagau bereits als nächster Bundeskanzler der SPD angekündigt.803 Das war kein Einzelfall mehr804 – und Steinmeier noch keineswegs Kanzlerkandidat. Beck war mehr und mehr zu einem Zuschauer degradiert. Eine souveräne Entscheidung über die K-Frage schien immer schwieriger zu werden. In dieser Zeit allerdings muss bei Steinmeier die Einsicht gereift sein, im Zweifelsfall für das Unvermeidliche bereitzustehen: die Kanzlerkandidatur, 795 | Graw, A.: Kandidat wider Willen; in: Welt, 19.06.2008. 796 | Schindler, Jörg: Beck bäumt sich auf; in: Frankfurter Rundschau, 23.06.2008, S. 1. 797 | Heiser, Sebastian; Schöneberg, Kai: Coming-out in der K-Frage; in: taz, 23.06. 2008, S. 5. 798 | Hebestreit, Steffen: Der Schweiger; in: Frankfurter Rundschau, 17.06.2008, S. 4. 799 | Ebd. 800 | Sturm, Daniel-Friedrich: Aus dem Tritt geraten; in: Welt, 03.03.2008, S. 3. 801 | Ebd. 802 | Ebd. 803 | Vgl. Schindler, J.: Beck bäumt sich auf; in: Frankfurter Rundschau, 23.06.2008; vgl. auch Heiser, S.; Schöneberg, K.: Coming-out in der K-Frage; in: taz, 23.06.2008. 804 | Vgl. Jach, Michael; Wiegold, Thomas: Mit gebremstem Schaum; in: Focus, 23.06. 2008, S. 32-33; hier: S. 32.
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die nun auf denjenigen zulief, der stets hoffte, dass es Platzeck, später dann Beck machen würde und der sie zumindest zu diesem frühen Zeitpunkt seiner parteipolitischen Karriere keineswegs anstrebte. »Die wollte er überhaupt nicht«, erinnert sich eine vertraute Person im Rückblick, »ich glaube nicht, dass er sie jemals wollte.«805 Gründe dafür seien einmal mehr nicht inhaltlicher Natur gewesen: »Meiner Kenntnis nach war das auch so, dass er das eigentlich nicht wollte, weil er […] eben auch weiß, dass er nicht so der Marktplatzredner ist wie Schröder. Und dass er diese Gabe von Schröder, […] Säle innerhalb von […] fünf Minuten […] zu drehen, […] einfach nicht« gehabt habe.806 Steinmeier selbst wies diese Idee mit Worten, die jenen Ausführungen ähnelten, lange Zeit von sich: »Ich weiß, was ich kann. […] Und ich weiß, was ich nicht kann.«807 So will Müntefering zwar eine Bereitschaft bei Steinmeier gesehen haben anzutreten, »aber nicht auf Teufel komm raus. […] Für mich hat das alles eher den Eindruck [gehabt]: wenn das die Meinung ist, dann würde ich das machen, aber wenn nicht, dann geht die Welt auch so weiter.«808 Heil differenziert ein wenig mehr, wenn er sagt: »Er hat nicht, das ist ihm ja oft vorgeworfen wurden, so diese kriminelle Energie oder diesen Ich-will-hier-rein-Habitus von sich gegeben. […] Sondern er hat sich da eher sozusagen in einer Situation, die ja nicht besonders glorios war, auch in die Verantwortung nehmen lassen.« 809
Nur, Steinmeier wusste nach wie vor nicht, was Beck wollte. Der potentielle Kandidat konnte also nicht agieren, wurde selbst zum Getriebenen. So ließ er ein Eckpunktepapier erarbeiten, das, wie der Focus spekulierte, einmal Inputgeber für ein mögliches Regierungsprogramm sein könnte.810 Dies war unter dem Aspekt eines möglichen guten Starts einer Kanzlerkandidatur richtig, musste so aber (unbeabsichtigt) als Illoyalität gegenüber Kurt Beck verstanden werden. So reagierte Steinmeier denn auch auf Fragen zur Kanzlerkandidatur nach wie vor übellaunig,811 während Beck seinen Zeitplan beibehielt. Im Proto-
805 | So ein Interviewpartner, der nicht genannt werden möchte, im Gespräch mit dem Autor. (Um die Anonymität zu wahren, wird für alle anonymisierten Personen eine männliche Form verwendet.) (Nr. 33) 806 | Ebd. 807 | Zitiert nach Lutz, Martin: Rückkehr der Schröderianer; in: Welt, 12.09.2008, S. 2. 808 | Müntefering, Franz im Gespräch mit dem Autor am 22.10.2013. 809 | Heil, Hubertus im Gespräch mit dem Autor am 05.02.2014. 810 | Vgl. Jach, Michael; Pörtner, Rainer; Wiegold, Thomas: Der »Mach-mal« muss ran; in: Focus, 02.06.2008, S. 26-29; hier: S. 29. 811 | Graw, A.: Kandidat wider Willen; in: Welt, 19.06.2008.
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koll der SPD-Parteivorstandssitzung am 23. Juni 2008 unter Tagesordnungspunkt eins, »Bericht zur Lage«,812 hieß es etwa: »Er [Beck, Anm. S.K.] kündigt für den 7.9.2008 eine gemeinsame Klausurtagung des Präsidiums mit den sozialdemokratischen Bundesministern, Ministerpräsidenten und dem geschäftsführenden Fraktionsvorstand an. Bei dieser Klausurtagung sollten erste Überlegungen zum Wahl- und Regierungsprogramm diskutiert werden.« 813
Weiter war zu lesen: »In der sogenannten K-Frage müsse es bei dem beschlossenen Zeitplan bleiben. Auf keinen Fall dürfe man sich in dieser Frage treiben lassen. Ein Abweichen vom vereinbarten Zeitplan wäre ein großer Fehler.«814 Es gab keinen Widerspruch. Das Protokoll hielt stattdessen fest: »Der Lagebericht wird mit großem Applaus entgegengenommen.«815 Zu einem weiteren, anschließenden Bericht Steinmeiers wurde zudem festgehalten: »Auf die innerparteiliche Diskussion eingehend, betont Frank-Walter Steinmeier, dass er einen Beitrag für die Geschlossenheit der Partei leisten wolle.«816 Auch er schien nicht an einer frühen Kandidatur interessiert, zumindest artikulierte er das nicht öffentlich. Laut Spiegel war genau das sein interner Appell, die Kanzlerkandidatur nicht zu früh auszurufen.817 Wie Beck war er damit mit verantwortlich für das unaufhörliche Implodieren der Partei in jener Zeit – aufgrund der Fehleinschätzung bezüglich der Lage eben dieser. Im August schließlich versuchte sich der Parteivorsitzende Beck noch einmal freizuschwimmen. Nach der Sommerpause werde man »an einem Strang zu ziehen« haben,818 verkündete Generalsekretär Heil über die Verabredung der engeren SPD-Führung. Damit einhergehend erläuterte Heil, dass Beck und Steinmeier am kommenden Wahlprogramm arbeiten würden. Für die Welt war das ein Hinweis auf eine kommende Kandidatur des Außenministers. Jedenfalls habe Beck, so der Generalsekretär, deutlich gemacht, »dass die Zeiten, ›wo alle durcheinanderquasseln‹, nun vorbei sein müssten«.819 Das wa812 | Vgl. Aktenbestand Büro Parteivize Frank-Walter Steinmeier (im Archiv der sozialen Demokratie): SPD-PV, Stv. F.W Steinmeier (01/2013) | 2008 FWS Präsidium/Parteirat Landes- u. Bezirksvorsitzende. 813 | Vgl. ebd. 814 | Vgl. ebd. 815 | Vgl. ebd. 816 | Vgl. ebd. 817 | Beste, Ralf; Kaiser, Simone; Nelles, Roland: Absoluter Alptraum; in: Spiegel, 18.08.2008, S. 21. 818 | Zitiert nach o.V.: SPD-Spitze drohte Abweichlerin mit harten Konsequenzen; in: Welt, 24.06.2008, S. 2. 819 | Ebd.
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ren sie jedoch nicht, längst war die Frage um die Kanzlerkandidatur, der ein auslaugendes halbes Jahr vorausgegangen war, nur noch eine vermeintliche Entscheidung. Die Parteibasis und die Medien schienen sie schon gefällt zu haben. Auch in der Partei war es nicht anders. So erinnert sich Struck in seiner Autobiographie, dass irgendwann »viele, ja die meisten in der Partei […] der Meinung« gewesen seien, »dass Frank-Walter Steinmeier die besseren Chancen habe«.820 Beck konnte bereits zu diesem Zeitpunkt die Entscheidung nicht mehr souverän verkünden. Genau das war aber mittlerweile das Ziel selbst der internen Kritiker, denen nicht verborgen geblieben war, dass »[n]ur ein Parteivorsitzender mit halbwegs respektabler Reputation […] in einem souveränen Schritt Steinmeier die Kanzlerkandidatur« antragen könne.821 In jenem Monat wurde es schließlich wirklich etwas ruhiger. Und am 24. August 2008 hatte Beck, glaubt man den Aussagen der Protagonisten, endgültig losgelassen. Der Parteivorsitzende trug Steinmeier in einem internen Gespräch offiziell die Kanzlerkandidatur an und wollte dies bereits am darauffolgenden Tag verkünden.822 Steinmeier stimmte zwar zu, wollte aber, so Beck in seiner Autobiographie, »bis zur Veröffentlichung eine Woche Vorbereitungszeit für sich in Anspruch nehmen«.823 Mit Blick auf den Außenminister mag diese Bitte verständlich gewesen sein. In Bezug auf Beck bedeutete diese Zeitspanne aber erneut, dass er noch einmal zu einem Fremdgesteuerten wurde. Derjenige, der eine eigene Kandidatur lange Zeit zumindest nicht für abwegig gehalten und nun dieses Ziel endgültig beerdigt hatte, durfte, obwohl er sich nun entschieden hatte, noch nicht loslassen. Er war Gefangener seiner selbst und nun endgültig abhängig von einem Zweiten. Das Dahinsiechen für ihn ging also weiter. Und es verlängerte sich noch einmal, weil, so schrieb Beck rückblickend, »[d]urch die Zuspitzung der Lage in Georgien, mit der sich unser Außenminister zu befassen hatte, sowie den Sondergipfel der EU zu diesem Konflikt am 1. September 2008 […] die Bekanntgabe um eine weitere Woche verschoben« werden musste.824 Für Steinmeier indes war die ihm nun offiziell angetragene, aber noch nicht verkündete Kandidatur kein Grund zur Freude, dafür waren die Probleme der SPD wohl auch zu groß und zu lange hatte er die Kandidatur nicht gewollt. Beck erinnert sich retrospektiv daran, dass es bei Steinmeier »eher ein […] bewusstes und recht nüchternes Annehmen dieser Aufgabe« gewesen
820 | Struck, P.: So läuft das, 2010, S. 253. 821 | Sturm, D.-F.: Wohin geht die SPD?, 2009, S. 403. 822 | Vgl. ebd. 823 | Beck, Kurt: Ein Sozialdemokrat, München 2008, S. 165. 824 | Ebd., S. 13f.
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sei.825 Es war das Pflichtgefühl, das Steinmeier entsprechend seinem Naturell dazu verleitete, sich darauf einzulassen und sie bald vollumfänglich auszufüllen. Entgegen Steinmeiers Naturell stand jedoch die Tatsache, dass er sich damit an die Spitze einer beinahe aussichtslosen Sache, dem Wahlkampf, stellte. Struck war denn auch in seiner Autobiographie allein deswegen voll des Lobes über Steinmeier: »Er hatte sich um die Partei größte Verdienste erworben, als er in schwierigen Zeiten die Kanzlerkandidatur nicht einfach ausgeschlagen hatte.«826 Für den Moment jedoch galt es, dem kommenden Wahlkampf von Beginn an zumindest ein solides Fundament zu geben. Und in jener Zeit muss irgendwann die Entscheidung bei Steinmeier gereift sein, Müntefering, der wegen seiner kranken Frau zurückgetreten war, die inzwischen verstorben war, zurückzuholen. Das erste Treffen des Altvorsitzenden, des aktuellen Vorsitzenden und dem potentiellen Kanzlerkandidaten fand dabei erst nach dem ersten Ausrufungstermin statt, den Steinmeier aufgrund der Georgienkrise verstreichen lassen musste. Es hätte also, wäre alles nach Plan gelaufen, anders kommen können. Für die Idee der Rückkehr Münteferings verantwortlich gewesen sein dürften vor allem zwei Gründe. Zum einen schien mit Blick auf die bisherige Selbst- (und in Teilen Fremd-) Demontage Becks eine Einschätzung aus dem Steinmeier-Lage, von der die Frankfurter Rundschau berichtete, durchaus glaubhaft: »Beck war politisch, konzeptionell und nervlich am Ende.«827 Einfügen tut sich hier eine rückblickende Einschätzung eines damaligen Ministers: »Steinmeier hat einfach beobachtet, dass der Beck sich total ins Abseits stellt und mit diesem ganzen Berliner Politikbetrieb überhaupt nicht zu Rande kommt. Und dass […] da ’ne Crashsituation entsteht.«828 Zum anderen hatte der Außenminister selbst noch keinen Wahlkampf geführt, ihn nur mehrmals hautnah aus dem Kanzleramt und zuvor aus der Niedersächsischen Staatskanzlei miterlebt. All das dürfte ihn darin bestärkt haben, sich Müntefering an seine Seite zu holen. Eben dieser war es, der Steinmeier bereits in Niedersachsen kontaktierte,829 als es um die Planung von Schröders ersten Bundestagswahlkampf im Jahr 1998 ging und der danach zwei weitere Schröder-Wahlkämpfe erfolgreich geleitet hatte. 825 | Beck, Kurt im Gespräch mit dem Autor am 16.08.2013. 826 | Struck, P.: So läuft das, 2010, S. 283. 827 | Zitiert nach Doemens, Karl: Operation Aufstieg; in: Frankfurter Rundschau, 13.09.2008, S. 4. 828 | So ein Interviewpartner, der nicht genannt werden möchte, im Gespräch mit dem Autor. (Um die Anonymität zu wahren, wird für alle anonymisierten Personen eine männliche Form verwendet.) (Nr. 33) 829 | Vgl. Müntefering, Franz im Gespräch mit dem Autor am 22.10.2013; vgl. auch S. 128f in dieser Biographie.
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Rational war diese Entscheidung der Rückholung Münteferings aus Steinmeiers Sicht also richtig. Und auch Beck stellte sich in den Dienst des baldigen Kandidaten, indem er als Parteivorsitzender dem Ansinnen zustimmte. Doch mit Blick auf die Vorgeschichte, dem Kampf um das Arbeitslosengeld I auf dem Parteitag, bei dem beide Seiten auch aus persönlichen Gründen an keiner Lösung interessiert waren, die Off-Kommentare Münteferings in Becks späterer, für ihn größten persönlichen Krise, schien dieses Gerüst nur bedingt stabil. Steinmeier nahm die Kanzlerkandidatur also intern an und forderte gleichzeitig einen Gestaltungsanspruch ein, den er von Beck, der mittlerweile eine bundespolitische »lahme Ente«830 war, auch bekam. Steinmeier musste, wollte er nur eine Aussicht auf einen Achtungserfolg haben, sich freischwimmen von der Lethargie in der Parteispitze. Und Beck war nunmehr zu schwach um sich zu wehren, war letztendlich schon zuvor am Ende seiner bundespolitischen Karriere angelangt. Es war – wohlgemerkt für beide – eine Lage, die beinahe ausweglos schien. Es hätte am Ende allerdings auch als Größe interpretiert werden können, dass Beck, der sich von Müntefering »bis aufs Blut gereizt« sah, seinen sauerländischen Konterpart einband, »als ihn frei schweben zu lassen«.831 Also versuchten sie es. Am Donnerstag vor dem Schwielowsee verabredeten sich Beck, Müntefering und Steinmeier zu einem Treffen, auf dem sie die Ausrufung für den Sonntag am Schwielowsee und ein »Kanzler-Team« vereinbarten, ohne Münteferings Rolle klar zu definieren.832 Beck legte im Rückblick Wert darauf, dass das, »[w]as dort besprochen wurde, […] nicht meine Entmachtung« bedeutet habe.833 »Aber möglicherweise blieb das Entscheidende unausgesprochen. Ich weiß nicht, ob mein Rücktritt beabsichtigt war oder nur in Kauf genommen wurde.«834 Die Geschichte des Rücktritts schließlich ist bekannt. Der Spiegel berichtete am Samstag nach dem Treffen, einen Tag vor der geplanten Ausrufung, vorab und stellte Steinmeier als jenen dar, der Beck die Kanzlerkandidatur habe abringen müssen.835 Für Beck war das der Grund zum Rücktritt vom Parteivorsitz. Letztendlich bestätigte dieser Vorgang jedoch, wie instabil der Vorsitzen830 | Doemens, Karl: Die Troika ohne Vertrauen; in: Frankfurter Rundschau, 09.09.2008, S. 3. 831 | Dausend, Peter; Ulrich, Bernd: Mord ohne Mörder; in: Zeit, 23.12.2008, S. 6-7; hier: S. 6. 832 | Vgl. ebd. 833 | Beck, K. im Gespräch mit dem Stern; in: Hoidn-Borchers, A.; Jörges, H.-U.: »Böse Hunde gehören an die Kette«; in: Stern, 25.09.2008, S. 51. 834 | Ebd. 835 | Vgl. Beste, R.; Feldenkirchen, M.; Kullmann, K.; Nelles, R.; Schwennicke, C.: Das Wagnis; in: Spiegel, 08.09.2008.
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de mittlerweile wirklich war. Sein Rücktritt bestätigte sogar ein Stück weit den Wunsch Steinmeiers, sich eine weitere starke Person an seine Seite zu stellen, die er in Beck nicht mehr sah. Denn ohne Zweifel war die Spiegel-Geschichte nicht schön für Beck, doch waren das nun einmal die Mechanismen des medialen Spiels, in dem stets eine Geschichte erzählt werden sollte. Ein Putsch war es indessen nicht.836 Natürlich, heißt es in einer Analyse, liegt »die Versuchung allzu nahe, alles, was man in den Blick bekommt, als strategisch absichtsvoll zu hypostasieren«.837 Macht man dies, »erscheint der Politiker dem argwöhnischen Betrachter schnell als begnadeter Mime und gewitzter Regisseur, als geheimnisvoller Drahtzieher und ränkereicher Fadenspinner, als ausgebuffter Taktiker und kaltblütiger Machiavellist«.838 Die Geschichte vom Schwielowsee zeigte mehrere Aspekte dieser beschriebenen Annahme. Denn unabhängig davon, was wirklich war, schienen mehrere Akteure im politischen Feld versucht zu haben, Steinmeier einige dieser beschriebenen Attribute zuzuschreiben. Vielleicht waren es tatsächlich Parteileute der »zweiten und dritten Reihe«,839 wie Beck selbst vermutete, vielleicht waren es die Medien selbst, die dieses Bild des Politikers so sehr verinnerlicht hatten, vielleicht waren es die Wahlkampfstrategen, die damit ein starkes Bild Steinmeiers zeichnen wollten. Vielleicht aber war es nichts dergleichen. Unabhängig davon, wie sich diese Tage und Stunden zugespielt hatten, stellt sich die Frage, ob diese Kaltblütigkeit ein Politiker tatsächlich braucht? Dieses Taktieren und das geheimnisvolle Drahtziehen im Hintergrund? Kann Politik nicht auch offener funktionieren? Braucht sie die Aura einer großen, heldenhaften Geschichte? Wer auch immer diese Geschichte streute, sie war letztendlich kein Grund zum Rücktritt für sich genommen, sie war der sprich836 | Dass Steinmeier wirklich geputscht hat, glauben die damaligen Akteure im Rückblick nicht: »[D]iese Story, dass Steinmeier da der Königsmörder war, […] glaub’ [ich] […] nicht so ganz. Weil ich Steinmeier gar nicht so einschätze«, betont ein damaliger Akteur. Ein weiterer früherer führender Politiker fügt hinzu: »Wenn er’s gewesen wäre, hätte er ein beachtliches Maß an […] Politik an den Tag gelegt, die ich ihm so nicht zugetraut hätte.« So zwei Interviewpartner, die nicht genannt werden möchten, im Gespräch mit dem Autor. (Um die Anonymität zu wahren, wird für alle anonymisierten Personen eine männliche Form verwendet.) (Nr. 33 und Nr. 31) 837 | Hitzler, Ronald: Die banale Seite der Macht. Politik als Beruf heute – und morgen; in: Berking, Helmuth; Hitzler, Ronald; Neckel, Sighard (Hg.): Politikertypen in Europa, Frankfurt a.M. 1994, S. 280-295; hier: S. 282. 838 | Ebd. 839 | Zitiert nach Esslinger, Detlef: Was er sagt und was er glaubt; in: Süddeutsche. de, 17.10.2010; abrufbar unter: www.sueddeutsche.de/politik/kurt-beck-was-er-sagtund-was-er-glaubt-1.694030 (zuletzt eingesehen am 06.07.2016).
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wörtliche letzte Tropfen, der aus Becks Sicht das Fass zum Überlaufen gebracht hatte, der nun doch noch seinen Ausstieg fand aus der Berliner Politik. Er bemühte sich dabei nun selbst um eine heroische Geschichte, nämlich die Desvom-Feld-Gejagten. Diese zeigte, dass Beck die Mechanik der Inszenierung also durchaus auch beherrschte. Im Sinne der Gedächtnisforschung wählte er eine Geschichte, mit der er rückblickend leben konnte und in Rheinland-Pfalz mit offenen Armen empfangen wurde. Dennoch betonte der Geschasste selbst wenige Wochen später: »Putsch ist Quatsch.«840 Auch im Rückblick zeigt sich Beck denn auch versöhnlich, sagt, dass er es verstehen könne, dass sich Steinmeier über den Vorwurf des Putsches aus seiner Feder ärgere.841 Steinmeier, der bereits am Tag eins nach dem Schwielowsee betonte, dass man sicher sein könne, »dass ich nichts, aber auch gar nichts dazu beigetragen habe, dass die Entscheidungen fielen, wie sie gefallen sind«,842 soll, wie sich Zypries erinnert, in der Sitzung am Tag zuvor »genauso kreidebleich wie Beck« gewesen sein.843 Kurzzeitig, schrieb Struck später in seiner Autobiographie, haben »[w]ir alle – Steinmeier, Steinbrück, Nahles, Heil und ich – versucht«, Beck umzustimmen844 – ohne Erfolg. Ein halbstündiger Spaziergang Becks mit Steinmeier brachte zwar eine Aussprache, aber keine Veränderung seiner Entscheidung.845 In jener Sitzung am Schwielowsee bekam Steinmeier dann kurzzeitig den Parteivorsitz von Beck angetragen,846 wobei für Struck nach eigenem Bekunden offenkundig war, »dass er die Dreifachbelastung – Außenminister, Kanzlerkandidat und Parteivorsitzender – nicht auf sich nehmen würde«.847 Steinmeier lehnte denn auch ab. Nachdem ein weiterer Personalvorschlag Becks, Olaf Scholz als Parteivorsitzenden zu installieren, von den versammelten Akteuren abgelehnt wurde, wie übereinstimmend verschiedene Medien berichteten,848 soll Steinmeier Müntefering als Nachfolger ins Spiel gebracht
840 | Kirschstein, Gisela: Becks brachiale Abrechnung; in: Welt, 10.09.2008, S. 3. 841 | Vgl. Beck, Kurt im Gespräch mit dem Autor am 16.08.2013. 842 | Zitiert nach Doemens, K: Die Troika ohne Vertrauen; in: Frankfurter Rundschau, 09.09.2008. 843 | Zypries, Brigitte im Gespräch mit dem Autor am 24.02.2014. 844 | Struck, P.: So läuft das, 2010, S. 256. 845 | Vgl. Sturm, D.-F.: Wohin geht die SPD?, 2009, S. 406; vgl. auch Beck, Kurt im Gespräch mit dem Autor am 16.08.2013. 846 | Vgl. Beck, K.: Ein Sozialdemokrat, 2008, S. 17. 847 | Struck, P.: So läuft das, 2010, S. 256. 848 | Vgl. O.V.: »Königsmord« am Schwielowsee; in: Hamburger Abendblatt, 09.09.2008, S. 3; vgl. auch Bartsch, Matthias; Beste, Ralf; Boy, Ann-Dorit; Brzoska, Ina; Kullmann, Kerstin; Kurbjuweit, Dirk; Nelles, Roland; Neukirch, Ralf: Seltsamer
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haben. Beck selbst erinnert sich an »eine bittere Stunde für mich«.849 Auch unter den Teilnehmern, die auf Steinmeier hofften, soll es ein Raunen gegeben haben, skizzierte Struck die Lage.850 Er schrieb, dass zudem mittlerweile die Sorge umging, dass Steinmeier nicht mehr zur Verfügung stehen würde, wenn die Unterbrechung und Diskussion zu lange dauern würde.851 Das Hamburger Abendblatt berichtete gar von einem Ultimatum Steinmeiers: »Entweder wird Müntefering SPD-Chef, oder ich mache nicht den Kanzlerkandidaten.«852 Diese Drohung unterstreicht, wie sehr Steinmeier in entscheidenden Momenten durchaus auf seine Meinung pochen konnte, durchaus also machtbewusst war. Es zeigt aber auch einen geradlinigen Politiker, der nicht um jeden Preis die Kanzlerkandidatur anstrebte, also nicht machtbesessen war. Auch in Bezug auf Steinmeiers innerparteiliche Karriere ist diese kurzzeitig für möglich gehaltene Wendung, dass er auch den Parteivorsitz bekommen könnte, bemerkenswert. Denn der einstige Hintergrundarbeiter war in kürzester Zeit zur neuen Hoffnung der SPD geworden. Als Vizekanzler, Kanzlerkandidat und Parteivorsitzender wäre Steinmeier neben dem Fraktionsvorsitzenden Struck, von dem bekannt war, dass er nach Ende der Legislaturperiode aufhören würde, etwas wie ein Alleinherrscher der SPD gewesen. Interessant ist dabei die Frage, ob Steinmeier allein durch seine zweifellos vorhandenen Qualitäten überzeugte oder auch vom desolaten Zustand der SPD profitiert hat. Denn es gab nur noch ein kleines Tableau an vorzeigbarem Spitzenpersonal – ein Symptom jener Zeit des Abstiegs der Volksparteien. Seine Kanzlerkandidatur erschien ohnehin mehr wie ein Versehen. Steinmeier selbst stellte sich zweimal zunächst in den Dienst der potentiellen Kandidaten: »Ich rechne fest damit, dass Matthias Platzeck der nächste sozialdemokratische Kanzlerkandidat wird«, betonte er Ende 2005. »Ich wünsche mir, dass Kurt Beck es macht«, hoffte er noch Ende 2007.853 Es waren außergewöhnliche Umstände, die dafür sorgten, dass Steinmeier schon jetzt als einst dritte Wahl zur ersten wurde. Nun allerdings drohte auch diese verlorenzugehen.
Kreislauf; in: Spiegel, 15.09.2008, S. 20-27; vgl. auch Beck, K.: Ein Sozialdemokrat, 2008, S. 17. 849 | Beck, K.: Ein Sozialdemokrat, 2008, S. 17. 850 | Vgl. Struck, P.: So läuft das, 2010, S. 256. 851 | Vgl. ebd.; Auch der anwesende Platzeck soll laut Struck bei Steinmeier die Gefahr eines Rücktritts von der noch nicht ausgerufenen Kanzlerkandidatur gesehen und mit der Argumentation für einen Vorsitzenden Müntefering geworben haben, dass dieser ja nur für zwölf Monate und nicht für zehn Jahre gewählt werden würde. 852 | O.V.: »Königsmord« am Schwielowsee; in: Hamburger Abendblatt, 09.09.2008. 853 | Zitiert nach Monath, H.: Der Mann, der aus der Kühle kam; in: Tagesspiegel, 21.11.2007.
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Struck beschrieb im Rückblick nüchtern: »Da niemandem eine andere Lösung einfiel, rief ihn der Vizekanzler zu Hause in Bonn an.«854 Müntefering nahm nach kurzer Überlegung an. Wie sehr das Beck traf, zeigte, dass er selbst nicht mehr die Kandidatur Steinmeiers verkündete, sondern durch eine Hintertür mit seiner Entourage verschwand. Ein sichtlich gezeichneter Steinmeier trat schließlich viele Stunden nach dem eigentlichen Termin zusammen mit Generalsekretär Heil vor die Presse. Nach seiner eigenen Verkündung verabschiedete er sich mit den Worten: »Demnächst mehr.«855 Diese Worte markierten das Ende des verstolperten Beginns einer mittlerweile mehr denn je beinahe aussichtslosen Kanzlerkandidatur. Mit der Ausrufung Steinmeiers wurde auch der Richtungsstreit innerhalb der SPD zumindest vorläufig entschieden. Abermals übernahm ein Mann der Agenda-Reformen, der für eine exekutive Politik stand, in der es eine »starke Ablehnung utopistischer Vorstellungen und die deutliche Betonung eines sachlich-nüchternen Pragmatismus« gab.856 Und doch war der Konflikt um »interne[] Programm-, Richtungs- und Führungsdebatten« nur oberflächlich gelöst.857 Nach wie vor gab es zwei Richtungen. Die eine »steht für die Agenda 2010. Sie will den Sozialstaat erhalten, zukunftsfähig machen, indem man die Kosten dämpft. Die zweite Richtung, die der Linken, will zurück zum Sozialstaat der 70er-Jahre. Beide Richtungen sind letztlich unvereinbar. Was die einen als einzigen Ausweg ansehen, halten die anderen für eine Missgeburt des Neoliberalismus.« 858
Diesen Konflikt sahen auch die neuen Führenden, jedenfalls suggerierten sie, auf die jeweils andere Seite zuzugehen, sie ernst zu nehmen. »Hamburg gilt!«, beruhigte etwa Steinmeier in Bezug auf die Querelen um das Arbeitslosengeld I auf dem Hamburger Parteitag ein Jahr zuvor, gleiches gelte für das dort beschlossene Hamburger Programm. Der designierte Parteichef Müntefering assistierte: »Da muss keiner Angst haben.«859 Und doch machte Steinmeier deutlich, dass er zwar »[f]ühren und [z]usammenführen« wolle, aber 854 | Struck, P.: So läuft das, 2010, S. 256. 855 | Zitiert nach Sturm, D.-F.: Wohin geht die SPD?, 2009, S. 409. 856 | Butzlaff, F.: Verlust des Verlässlichen; in: Butzlaff, F.; Harm, S.; Walter, F. (Hg.): Patt oder Gezeitenwechsel?, S. 53. 857 | Hesse, J.; Ellwein, T.: Das Regierungssystem der Bundesrepublik, 2012, S. 66. 858 | Baring, Arnulf im Interview mit der Welt; in: Seibel, Andrea: »Es war keine Intrige und kein Putsch«; in: Welt, 15.09.2008, S. 3. 859 | Zitiert nach Ackeren, Margarete van; Jach, Michael; Krumrey, Henning; Pörtner, Rainer; Weber, Herbert; Wiegold, Thomas: Muss Merkel zittern?; in: Focus, 15.09.2008, S. 18-28; hier: S. 27.
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eben doch den Kurs der vergangenen Jahre für richtig hielt.860 »Für einige mag das Duo Müntefering/Steinmeier nicht das Traumpaar sein. Gerade deswegen müssen wir das Gespräch führen – auch über unsere Wachstums- und Beschäftigungspolitik der letzten Jahre, die wir selbst zu Unrecht auf Hartz IV verengt haben«, gab er gegenüber dem Focus zu verstehen und betonte: »Dabei ist bei vielen in Vergessenheit geraten, dass es auch um Veränderungen in der Familienpolitik, um Investitionen in Kinderbetreuung und Ganztagsschulen, in Bildung und Wissenschaft ging.«861 Das Wort »Agenda 2010« gebrauchte Steinmeier in dieser Antwort, die als Botschaft an seine Partei zu verstehen war, nicht. Damit lag er auf der Linie des Papiers, dass eigentlich am Schwielowsee besprochen werden sollte, das Heinrich Tiemann und Thomas Oppermann erarbeitet hatten862 und das, wie Steinmeier bekundete, »auch meinen Namen« trage.863 Dieses Papier rückte für den Moment in den Hintergrund. Vielmehr galt es, im SPD-Vorstand die Unterstützung für Steinmeier und den designierten Parteivorsitzenden zu sichern. Steinmeier wurde einen Tag nach dem Schwielowsee einstimmig, mit 44 Stimmen, vom Vorstand als Kanzlerkandidat bestätigt.864 Müntefering wurde mit fünf Enthaltungen und einer Gegenstimme zum neuen Vorsitzenden vorgeschlagen.865 Unangefochten war die neue Führung bei aller Zustimmung also nicht mehr. Und doch hatten diese turbulenten Tage etwas bewirkt, das die Berliner Zeitung nach dem Parteitag, der einen Monat später stattfand, mit den Worten zusammenfasste: »Vor sechs Wochen explodierte in der SPD ein lange schwelender Machtkampf, dann herrschte Stille. Es gab keine Flügelkämpfe mehr, kein gegenseitiges Beschimpfen, kein Gezischel im Hintergrund, nichts, was zu dieser therapiebedürftigen Partei passte. […] Schockstarre, Entsetzen, Erschöpfung, Misstrauen, Hilflosigkeit, Abwarten, Erleichterung – kein noch so guter Analytiker konnte beschreiben, was die Explosion vom Schwielowsee bewirkt hat.« 866
860 | Steinmeier, Frank-Walter im Gespräch mit dem Focus; in: Jach, Michael; Krumrey, Henning; Wiegold, Thomas: »Meine prägende Handschrift«; in: Focus, 22.09.2008, S. 20-24; hier: S. 22. 861 | Ebd. 862 | Vgl. Graw, Ansgar: Vom Zauderer zum Kämpfer; in: Welt, 09.09.2008, S. 3. 863 | Zitiert nach ebd. 864 | Vgl. Doemens, Karl; Bergius, Michael: Neue SPD-Spitze will Gegner das Fürchten lehren; in: Frankfurter Rundschau, 09.09.2008, S. 3. 865 | Vgl. ebd. 866 | Zylka, R.: Raus aus der Ecke; in: Berliner Zeitung, 20.10.2008.
9. Metamorphose II
Steinmeier jedenfalls hielt auf dem Parteitag, zu dem auch Helmut Schmidt und Gerhard Schröder angereist waren,867 aus Sicht der Medienvertreter »keine exzellente, aber eine ordentliche Rede«.868 Einmal mehr skizzierte er das Jahr 2020 als Zielpunkt.869 Überhaupt ist es dieses Datum, das ihn in jenen Jahren umzutreiben schien: in der Außenpolitik, in der Innenpolitik, im späteren Deutschlandplan und schließlich in einem später erarbeiteten Konzept als Fraktionsvorsitzender. Nach seiner Rede wurde er mit 95,13 Prozent der Delegierten zum Kanzlerkandidaten gewählt.870 Ein Indiz dafür, dass die SPD dennoch nur oberflächlich vereint war, zeigte, wie schon bei der Nominierung durch den Vorstand, das Ergebnis von Franz Müntefering. Der einstige SPDLiebling bekam zwar 84,84 Prozent der Stimmen,871 für den früheren 90-Prozent-plus-X-Mann war das jedoch ein schwaches Resultat. Steinmeiers Ergebnis manifestierte hingegen seinen rückwärtsgehenden Weg in die Partei hinein. Dabei verkörperte er auch einen mittlerweile häufiger auftretenden Karriereweg. Hieß es in einer Analyse von 1999 noch: »Die Rekrutierung für Führungspositionen in Regierungsfunktionen erfolgt im Wesentlichen auf dem Wege über eine Parteikarriere und das Parlament«,872 war das bei Steinmeier nicht mehr der Fall. Es wurde einer zum Kanzlerkandidaten, der das parteipolitische Procedere zur Führungsperson nicht durchlaufen hatte, der das ursozialdemokratische Arbeiterlied »Wann wir schreiten Seit’ an Seit’« zumindest stellenweise auf dem Parteitag noch vom Blatt ablesen musste.873 Weitere Beispiele solcher Führungsfiguren sollten bald folgen. Während die Kanzlerkandidatur ihren Lauf nahm und die Parteitagsdelegierten Steinmeiers Nominierung bestätigten, hatte die Wirtschaftskrise längst die Titelschlagzeilen übernommen und die Kandidatur in den Hintergrund der Berichterstattung rücken lassen. Wie schnell dieser Wandel vonstattenging, offenbarte ein Blick auf die Spiegel-Titelbilder jener Zeit. Gab es am 8. September 2008 zumindest einen Titelbanner zum Thema: »Der Kandidat – Was kann Frank-Walter Steinmeier?«,874 titelte das Magazin eine Woche später
867 | Vgl. Vattes, Daniela: »Die SPD ist keine Holding«; in: Berliner Zeitung, 20.10.2008, S. 5. 868 | Ebd.; vgl. auch Posche, Ulrike: Was wirklich zählt; in: Stern, 26.08.2010, S. 34-44. 869 | Vgl. Vattes, D.: »Die SPD ist keine Holding«; in: Berliner Zeitung, 20.10.2008. 870 | Vgl. ebd. 871 | Vgl. ebd. 872 | Glaeßner, G.-J.: Demokratie und Politik, 1999, S. 214. 873 | Vgl. Vattes, D.: »Die SPD ist keine Holding«; in: Berliner Zeitung, 20.10.2008. 874 | Spiegel, 08.09.2008 (Titelbild).
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bereits: »Schröders Comeback. Vorwärts in die Vergangenheit.«875 Zu sehen waren Steinmeier und Müntefering vor Schröders Schatten. Es ist das, wovon Journalismus in normalen Zeiten auch lebt – von aufregenden Geschichten. Innenpolitisch interessant, weltpolitisch jedoch mitunter nur eine Fußnote. Ähnlich verhielt es sich mit dem folgenden Titel zu einem wie immer beim Spiegel in blau gehaltenen naturwissenschaftlichen Thema: Nackte Frau, nackter Mann. Der Titel: »Die Biologie des Erfolgs. Warum Frauen nach Glück streben – und Männer nach Geld.«876 Lehman Brothers war zu diesem Zeitpunkt bereits eine Woche pleite und die (mediale) Welle traf mit einigen Tagen Verzögerung auch beim Spiegel ein. Denn der kommende Titel lautete: »Der Preis der Überheblichkeit. Eine Weltwirtschaftskrise verändert die Welt«.877 Am 6. Oktober, wieder eine Woche später, hieß es: »Die Angst vor der Angst. Die gefährliche Psychologie der Finanzkrise«.878 Und eine Woche darauf: »Not! Halt! Wer stoppt den freien Fall des Marktes?«879 Am 20. Oktober, am Montag, nachdem Steinmeier seine Bewerbungsrede auf dem Parteitag gehalten hatte, wurde die Wirtschaftskrise noch einmal aus einer sehr deutschen Sichtweise beleuchtet: »Das Ende der Gemütlichkeit. Was auf die Deutschen (noch) zukommt«.880 All diese Titel zeigen: Strategisch musste in der SPD neu gedacht werden. Denn längst war der innerparteilich weniger beliebte Peer Steinbrück im Zuge der Finanzkrise (zwangsläufig) in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt: »Seit Wochen« könne dieser »nun wirklich an keinem Mikrofon mehr wortlos vorbeigehen«, kommentierte die Welt.881 Steinbrück sei »schwer in Form. Vielleicht ist er in der Form seines Lebens. Er ist der amtierende Torschützenkönig der Talkshow-Liga. Jeder Satz ein Treffer. Vor allem aber ist er das, was er eigentlich gar nicht sein sollte: der unbestrittene Star der SPD.«882 Die Finanzpolitik bestimmte das Geschehen. Und Steinmeier, so die Welt, »spüre durchaus die wachsenden Erwartungen aus der Partei, es dem Finanzminister gleichzutun. Aber«, so konstatierte die Zeitung, »das ist leichter gesagt als getan. Denn Steinmeier spielt gleich drei Rollen. Er ist Kanzlerkan-
875 | Spiegel, 15.09.2008 (Titelbild). 876 | Spiegel, 22.09.2008 (Titelbild). 877 | Spiegel, 29.09.2008 (Titelbild). 878 | Spiegel, 06.10.2008 (Titelbild). 879 | Spiegel, 13.10.2008 (Titelbild). 880 | Spiegel, 20.10.2008 (Titelbild). 881 | Lachmann, Günther: Zwei Krisenverlierer und ein heimlicher Star; in: Welt, 19.11.2008, S. 2. 882 | Ebd.
9. Metamorphose II
didat, Außenminister und Vizekanzler. Und alle drei Rollen lassen sich nur schwer unter einen Hut bringen.«883 Steinmeier ließ vor allem die Rolle des Kanzlerkandidaten zunächst außen vor und entschied sich anscheinend für einen Kurs des pragmatischen Regierungspolitikers, wenngleich er zunächst, wie Merkel, kein Generalrezept für das Abfedern der Krise in Deutschland hatte. Dafür wurden die Bundeskanzlerin und er als Vizekanzler immer wieder kritisiert. Weder die Kanzlerin noch der Außenminister seien »auf diese Zeiten kompliziertester wirtschaftspolitischer Fragen im Inland wirklich vorbereitet«, beklagte zum Beispiel der Tagesspiegel.884 Doch wäre es beinahe abwegig, für jene Ausnahmesituation ein fertiges Konzept vorliegen zu haben. Vielmehr bemühten sich die Führenden der Koalition zunächst in Schadensbegrenzung, fuhren im sprichwörtlichen Sinne auf Sicht und regierten gerade im Rückblick sehr besonnen und klug. Nur kurzzeitig verloren sie sich, insbesondere die SPD-Seite mit Steinmeier an der Spitze, in »kleingeistigen«885 Streitigkeiten, die dem Wahlkampf geschuldet waren. Womöglich war Steinmeier hier zunächst schlecht beraten, doch blieb es bei kurzen Momenten, wie einem nicht abgesprochenen Autogipfel im Auswärtigen Amt.886 Fernab des alltäglichen Politikbetriebes und des Wahlkampfes sind solche Krisen häufig Testimonials, in denen zu sehen ist, wer weit mehr als das Tagesgeschäft von seiner Materie versteht, wer Themen zu durchdringen sucht – ob zum Beispiel nach dem 11. September 2001 oder nun in der Wirtschaftskrise. Steinbrück, kurz darauf Steinmeier und schließlich Merkel reüssierten hier, während etwa der eigentliche Wirtschaftsminister Michael Glos schlicht überfordert und »weitgehend ahnungs- und motivationslos« gewirkt hatte.887 Von Beginn an kristallisierte sich so eine Vierer-Runde heraus, die über Deutschlands Zukunft entschied. Zu dieser gehörten neben Bundeskanzlerin Merkel ihr Kanzleramtschef Thomas de Maizière, Finanzminister Steinbrück und Außenminister respektive Vizekanzler Steinmeier.888 Dieses Quartett bestätigt im Rückblick auch Thomas Steg, der als stellvertretender Regierungssprecher Einsicht in die Arbeit der Kanzlerin, des Kanzleramtschefs, des Außenministers und des Finanzministers hatte: »Steinbrück war im Wesentlichen für das 883 | Ebd. 884 | O.V.: Koalition in der Krise; in: Tagesspiegel, 20.11.2008, S. 1. 885 | Hebestreit, Steffen: Mächtige Kleingeister; in: Frankfurter Rundschau, 21.11. 2008, S. 13. 886 | Vgl. Lachmann, G.: Zwei Krisenverlierer; in: Welt, 19.11.2008; vgl. auch Hebe- streit, Steffen: Steinmeier gibt die Rampensau; in: Frankfurter Rundschaum, 15.11. 2008, S. 8; vgl. auch o.V.: Koalition in der Krise; in: Tagesspiegel, 20.11.2008. 887 | Sturm, D.-F.: Wohin geht die SPD?, 2009, S. 420. 888 | Vgl. Heckel, M.: So regiert die Kanzlerin, 2011, S. 30.
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Thema Euro/Banken zuständig […]. Aber sozusagen für die Konzeption der Regierungspolitik waren im Wesentlichen Steinmeier und Merkel, Schrägstrich de Maizière zuständig.«889 Ausdrücklich lobt er retrospektiv das »Zusammenspiel« zwischen diesen Protagonisten.890 Nachdem Steinmeier insbesondere zu Beginn der Finanzkrise im Hintergrund geblieben war und Steinbrück die Person war, auf die in jenen Tagen die Blicke zuliefen, fiel der Außenminister doch bald mit klaren Vorstellungen und Gedanken auf. In seiner Rede auf der UN-Vollversammlung Ende September 2008 hatte Steinmeier das Thema noch nur am Rande behandelt, fand jedoch auch da schon vergleichsweise deutliche Worte. Von »Leichtsinn, Gier und Unvernunft bei den Akteuren« sprach er und auch davon, dass »die langfristigen Folgen […] noch nicht« abzusehen seien.891 Er zeigte sich allerdings sicher, dass das »schmerzhafte Beben auf den Welt-Finanzmärkten […] die Multipolarisierung des internationalen Finanzsystems beschleunigen« würde.892 Dabei skizzierte er eine Schlüsselrolle zum einen für Europa: »Kein Land wird mehr so agieren können, als sei es gegen Fehlentwicklungen immun. Europa mit seiner erprobten Politik der Moderation und des Interessensausgleichs kann dabei eine Schlüsselrolle zuwachsen!«893 Zum anderen formulierte er einen klaren Anspruch in Bezug auf Deutschlands Rolle. So unterstütze er »den Reformprozess der Vereinten Nationen und ihrer Organe« und betonte (wohl auch in Bezug auf einen möglichen ständigen Sitz Deutschlands): »Deutschland ist bereit, hier größere Verantwortung zu übernehmen.«894 Im Spiegel stellte Steinmeier die Krise von ihrer Bedeutung, dem politischen Einschnitt her, in eine Reihe mit dem Fall der Berliner Mauer,895 gab den Menschen in Deutschland so ein Narrativ. Dennoch schien jene Vierer-Gruppe, die Deutschland durch die Krise lenkte, zunächst eher wie eine Getriebene. Steinmeier beschrieb im selben Gespräch die Lage einen Monat nach dem Ausbruch mit den Worten: »Kein Tag, keine Nacht vergeht, ohne dass wir als Regierung mit neuen schlechten Nachrichten von den internationalen Finanzmärkten umzugehen haben.«896 Als schließlich jedoch das erste Beben vorüber 889 | Steg, Thomas im Gespräch mit dem Autor am 16.12.2013. 890 | Ebd. 891 | Steinmeier, F.-W.: Rede vor der 63. Generalversammlung der Vereinten Nationen, 27.09.2008. 892 | Ebd. 893 | Ebd. 894 | Ebd. 895 | Vgl. Steinmeier, Frank-Walter im Gespräch mit dem Spiegel; in: Beste, Ralf; Müller von Blumencron, Mathias; Nelles, Roland: »Das wirkt wie ein Tsunami«; in: Spiegel, 13.10.2008, S. 48-50; hier: S. 48. 896 | Ebd.
9. Metamorphose II
war und erste Initiativen zur Stabilisierung insbesondere des deutschen Marktes getroffen worden sind, trugen viele Initiativen auch seine Handschrift. Er setzte dabei Projekte auch gegen den Widerstand von Finanzminister Steinbrück durch und Steinmeier und Merkel ließen sich von jenen Kritikern, die die Maßnahmen aus ordnungspolitischer Sicht mitunter kritisch beäugten,897 nicht beirren. So führten sie mit dem Konjunkturpaket II in Höhe von 50 Milliarden »das größte Konjunkturprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik« ein.898 Es beinhaltete unter anderem die Abwrackprämie sowie einen Ausbau der Kurzarbeiterregeln und war die Reaktion auf eine alles andere als positive wirtschaftliche Aussicht auf das Jahr 2009. »Die Wirtschaft könnte nach den schlimmsten Szenarien der Forschungsinstitute um 2,7 Prozent schrumpfen, die Zahl der Arbeitslosen um eine Dreiviertelmillion steigen«, fasste der Spiegel Ende 2008 die Situation zusammen.899 Der Tagesspiegel schrieb: »Rettungsschirme, Opel-Bürgschaften, Steuersubventionen: Das beschäftigt uns in diesem Augenblick. Steigende Arbeitslosigkeit und Schulden: Das liegt vor uns.«900 Steinmeier erhob den Anspruch auf Urheberschaft für dieses zweite Konjunkturpaket. Über die Weihnachtsfeiertage hatte er einen Plan ausarbeiten lassen, dessen Forderungen tatsächlich großenteils Einzug hielten in jenes Pa-
897 | Der damalige Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt sprach etwa neben einigem Lob davon, dass »[o]rdnungspolitisch […] die Grenze des Vertretbaren« erreicht sei; Hundt, Dieter und Sommer, Michael im Gespräch mit Tagesschau.de; in: Aretz, Eckart: »Rechtzeitig und genug« – zu spät und zu wenig«; in: tagesschau.de, 13.02.2009; abrufbar unter: https://www.tagesschau.de/wirtschaft/konjunkturpaket268.html (zuletzt eingesehen am 16.06.2016); Der Wissenschaftler Falk Illing spricht rückblickend beispielsweise zumindest in Bezug auf die Abwrackprämie davon, dass »es ordnungspolitisch fragwürdig« sei, »eine einzelne Branche zu unterstützen«; Illing, Falk: Deutschland in der Finanzkrise. Chronologie der deutschen Wirtschaftspolitik 2007-2012, Wiesbaden 2013, S. 59. 898 | O.V.: Konjunkturpaket II; in: bpb.de, 13.09.2009, abrufbar unter: www.bpb.de/ politik/hintergrund-aktuell/69493/konjunkturpaket-ii-13-01-2009 (zuletzt eingesehen am 03.11.2015). 899 | Höges, Clemens; Jung, Alexander; Kullmann, Kerstin; Kurbjuweit, Dirk; Nelles, Roland; Reiermann, Christian; Sauga, Michael: Jahr der Bewährung; in: Spiegel, 29.12.2008, S. 16-22; hier: S. 17; Tatsächlich gab es einen Konjunktureinbruch von fünf Prozent; vgl. Enderlein, Henrik: Finanzkrise und große Koalition: Eine Bewertung des Krisenmanagements der Bundesregierung; in: Egle, C.; Zohlnhöfer, R. (Hg.): Die zweite große Koalition, 2010, S. 234-253; hier: S. 234. 900 | O.V.: Koalition in der Krise; in: Tagesspiegel, 20.11.2008.
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ket und das in der SPD zum »Steinmeier-Plan«901 wurde. »Beim ersten Treffen des Koalitionsausschusses« im neuen Jahr, wusste der Spiegel zu berichten, »herrschte diebische Freude bei den Teilnehmern der SPD, dass die Union nichts Vergleichbares hatte. Seitdem fühlt sich Steinmeier als Vater des Konjunkturpaktes, auch wenn längst nicht alles von ihm und der SPD stammt.«902 Tatsächlich gab es erste Planungen schon vor Weihnachten, wenngleich diese noch nicht konkret waren.903 Die in der Krise bisher eher vorsichtige Haltung wurde in der Tat erst um die Weihnachtsfeiertage aufgrund der düsteren wirtschaftlichen Aussichten »recht zügig« verändert.904 Viele Maßnahmen waren dabei eng mit den Gewerkschaften abgestimmt, die Abwrackprämie ging etwa auf eine Initiative der IG Metall zurück.905 Und gerade diese lobten nun Steinmeier. Bernd Osterloh, der Gesamtbetriebsratschef von Volkswagen, betonte etwa bald darauf, dass Steinmeier die »treibende Kraft für die Umweltprämie«906 gewesen und ihm deshalb »ganz herzlich zu danken«907 sei, er mit seinem »schnellen und umsichtigen Handeln«908 VW vor einem Ausbau der Kurzarbeit bewahrt habe. Gleiches galt selbstredend, gerade was die Situation bei dem direkten (kriselnden) Konkurrenten aus Rüsselsheim anging, auch für Opel. Steinbrück, der noch einen Monat zuvor betonte, dass er, »[s]eit ich mit Konjunkturprogrammen zu tun« gehabt habe, »also seit dem Ende der siebziger Jahre, […] sie nie den erhofften realen Effekt gehabt« hätten und »[a]m Ende […] der Staat nur noch höher verschuldet als vorher« gewesen sei,909 war nur schwer von dieser und den anderen Maßnahmen des Konjunkturpaketes zu überzeugen. »Immer wieder« habe Steinmeier, berichtete die Frankfurter Rundschau aus SPD-Kreisen, »seinen Parteifreund über die Weihnachtstage 901 | Dettmer, Markus; Kurbjuweit, Dirk; Nelles, Roland; Neukirch, Ralf; Reiermann, Christian: Diebische Freude; in: Spiegel, 12.01.2009, S. 20-22; hier: S. 22. 902 | Ebd. 903 | Vgl. Sievers, Markus: Stummer Protest; in: Frankfurter Rundschau, 10.01.2009, S. 4; vgl. auch Illing, F.: Deutschland in der Finanzkrise, 2013, S. 59. 904 | Enderlein, H.: Finanzkrise; in: Egle, C.; Zohlnhöfer, R. (Hg.): Die zweite große Koalition, S. 240. 905 | Vgl. Nelles, Roland: Alte Liebe; in: Spiegel, 16.02.2009, S. 39. 906 | Osterloh, Bernd im Gespräch mit dem Stern; in: Peters, Rolf-Herbert; Wüllenweber, Walter: Interview mit Betriebsratschef Bernd Osterloh, der bald Europas mächtigster Arbeitnehmer ist; in: Stern, 13.08.2009, S. 54-59; hier: S. 58. 907 | Zitiert nach Haselberger, Stephan: Der Autokanzlerkandidat; in: Tagesspiegel, 25.03.2009, S. 4. 908 | Zitiert nach ebd. 909 | Zitiert nach Dettmer, M.; Kurbjuweit, D.; Nelles, R.; Neukirch, R.; Reiermann, C.: Diebische Freude; in: Spiegel, 12.01.2009, S. 21.
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bearbeitet, ihm gut zugeredet, keinen Widerstand gegen das Unvermeidliche zu leisten«.910 Die Zeitung bewertete das als »Zeichen für das diplomatische Geschick des Außenministers […], dass es ihm gelungen ist, den Widerspenstigen einzubinden«.911 Fortan gab es zwei Interpretationen dieser Gespräche, wie der Spiegel berichtete: »Steinmeier habe Steinbrück einiges eingeredet. Steinbrück habe Steinmeier einiges ausgeredet.«912 Schlussendlich jedenfalls »konnte Steinmeier ein Konjunkturprogramm vorstellen, das vielleicht etwas kleiner war, als er sich erhofft hatte, und das größer war, als Steinbrück eigentlich ertragen konnte«.913 Von Beginn an pflegte Steinbrück bei aller Loyalität diesen Mythos des klugen Korrektivs, etwa wenn der Spiegel ihn indirekt zitierte mit den Worten, dass er, Steinbrück, dafür gesorgt habe, dass es nicht einen Umfang von 75 oder 100 Milliarden bekommen würde.914 An den Konflikt können sich die damaligen Protagonisten rückblickend noch gut erinnern, sie bestätigen weitestgehend die Medienberichte aus jener Zeit. So erzählt Sigmar Gabriel, dass Steinbrück »am Anfang […] Konjunkturprogrammen […] sehr, sehr reserviert« gegenübergestanden habe.915 »Steinmeier und ich [haben dann] über Weihnachten […] darüber geredet […], dass nach Weihnachten im Januar was passieren muss. Und da war Steinmeier das treibende Element.«916 Noch einmal mit Nachdruck betont er: »Die konzeptionelle Vorarbeit für das Konjunkturprogramm, für die Notwendigkeit und so weiter – das war schon Steinmeier.«917 Steinbrück wiederum habe seine »Rolle akzeptiert«.918 Auch Hubertus Heil bestätigt, dass Steinbrück »fiskalisch zurückhaltend« gewesen sei bis zum Schluss.919 So seien »die wesentlichen Arbeiten, übrigens auch Überzeugungsarbeiten gegenüber […] Steinbrück und dann auch gegenüber Merkel, die keine Überzeugung hatte, bei den Maßnahmen zur wirtschaftlichen Stabilisierung, von Abwrackprämie über Kurzarbeit, […] über […] das Vizekanzleramt gelaufen«. 920
910 | Sievers, M.: Stummer Protest; in: Frankfurter Rundschau, 10.01.2009. 911 | Ebd. 912 | Kurbjuweit, Dirk: »Leg drauf«; in: Spiegel, 29.06.2009, S. 32-33; hier: S. 33. 913 | Ebd. 914 | Vgl. Dettmer, M.; Kurbjuweit, D.; Nelles, R.; Neukirch, R.; Reiermann, C.: Diebische Freude; in: Spiegel, 12.01.2009. 915 | Gabriel, Sigmar im Gespräch mit dem Autor am 10.02.2014. 916 | Ebd. 917 | Ebd. 918 | Ebd. 919 | Heil, Hubertus im Gespräch mit dem Autor am 05.02.2014. 920 | Ebd.
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Beinahe wortgleich betont Steg im Rückblick, dass Steinmeier »die treibende Kraft« gewesen sei, »durch wirtschaftspolitische Maßnahmen in der Krise gegenzusteuern und zu verhindern, dass es in Deutschland zu Entlassungen, zu wachsender Arbeitslosigkeit kommt.«921 Er ergänzt: »Ohne Frank-Walter Steinmeier hätte es keine Konjunkturprogramme« und keine angepassten »Regelungen zum Kurzarbeitergeld« gegeben.922 Die entscheidenden Akteure Merkel, Steinmeier, Steinbrück sowie de Maizière reagierten in dieser Krise trotz vereinzelter Querelen in erster Linie besonnen, stellten sich tatsächlich in den sprichwörtlichen Dienst des Landes, was insbesondere für die Sozialdemokraten vermeintlich zu Ungunsten eines (ohnehin schwierigen) Wahlerfolgs sein sollte. In einer Analyse heißt es im Rückblick denn auch, dass Steinmeier und Steinbrück in der Finanzkrise »trotz des Wahlkampfes mehr Staatsmänner als Wahlkämpfer geblieben« seien:923 »Steinmeier, der sich als Außenminister gerne mit den großen Fragen der Welt befasste und Steinbrück, der sich durch wichtige Entscheidungen im Zusammenhang mit der Finanzkrise zwar staatsmännisch klug verhalten hatte, damit aber den Ruhm Merkels als Krisenmanagerin mehrte.«924 Ähnlich war der Eindruck vieler Medien. Als das Konjunkturpaket II im Bundestag debattiert wurde, sprach die Frankfurter Rundschau von den »Steinmeierkels« und kommentierte: »Von Zwistigkeiten oder gar Gemeinheiten keine Spur. Zwischen Merkel und Steinmeier passt kein Blatt Papier.«925 Gerade im Rückblick müsste das positiv ausgelegt werden, ließen sich die Regierenden doch trotz des anstehenden Wahlkampfes nicht auseinanderdividieren. Es ist das Verdienst von Merkel und Steinmeier, dass sie sich über die jeweiligen ideologischen Vorstellungen ihrer Partei gestellt und pragmatisch durch die Krise geführt haben. Nach dem von der Fachwelt als zu zögerlich kritisierten ersten Konjunkturpaket rückte Deutschland mit dem Konjunkturpaket II tatsächlich »bei den finanzpolitischen Maßnahmen an die Spitze der europäischen Länder«.926 Insbesondere die Regeln zum Kurzarbeitergeld, das sich in früheren Krisen bewehrt hatte,927 galten neben der Abwrackprämie als voller Erfolg. So ist die »Anzahl der Kurzarbeiter […] von 43.000 im Juli 2008 auf knapp 1,3 Mio. im März 2009« gestiegen, »wodurch sich betriebsbedingte Kündigungen ver921 | Steg, Thomas im Gespräch mit dem Autor am 16.12.2013. 922 | Ebd. 923 | Langguth, G.: Angela Merkel, 2010, S. 392. 924 | Ebd. 925 | Doemens, Karl: Die Steinmeierkels; in: Frankfurter Rundschau, 15.01.2009, S. 4. 926 | Enderlein, H.: Finanzkrise; in: Egle, C.; Zohlnhöfer, R. (Hg.): Die zweite große Koalition, S. 242. 927 | So insbesondere Anfang der 1980er Jahre; vgl. ebd., S. 252.
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meiden ließen.«928 Im Rückblick ist dennoch von einer »konservativen Art mit der Krise umzugehen« die Rede – trotz jener »Konjunkturpakete in keynesianischer Art«.929 Eine andere Sichtweise lautet: »Mit zwei Konjunkturpaketen, zwei umfassenden Bankenrettungspaketen, den Regelungen zur Kurzarbeit sowie der Beteiligung an globalen und europäischen Initiativen reagierte die Bundesregierung sehr aktiv auf die Krise.«930 Doch auch hier werden »klaren Schwächen« ausgemacht,931 insbesondere weil sie zu spät kamen. Steinmeiers Bemühen dürfte dabei auf einer klaren Überzeugung, die in einer immer wiederkehrenden Linie zu beobachten war, gefußt haben, nämlich die des unbedingten Erhalts des industriellen Sektors. Er betrieb (wie auch Merkel932) klassische Industriepolitik. In Bezug auf Steinmeier spannte sich dabei ein Bogen von seiner eigenen Jugend und dem Beginn seines Studiums, jenen Jahren, als die deutsche Wirtschaftskraft das erste Mal nachhaltig im Rückgang begriffen war und die Auswirkungen auch in seiner Heimat Brakelsiek zu sehen waren. Nur: »Die Rezession fällt alleine in diesem Jahr fünfmal so stark aus wie beim bisher größten Einbruch der deutschen Wirtschaft 1975 nach der Ölkrise. Damals hatte die Rezession ein Ausmaß von minus 0,9 Prozent.«933 2009 waren es letztendlich 4,7 Prozent – und Steinmeier führendes Regierungsmitglied. Wie klassische Industriepolitik aussehen konnte, war bereits bei Schröder und Steinmeier in den 1990er Jahren in Niedersachsen zu besichtigen. Auf diese politische Phase verwies Steinmeier auch in einem Gespräch mit der Zeit, das die Wochenzeitung mit den Worten zusammenfasste: »Steinmeier beugt sich an diesem Montagnachmittag aus dem tiefen Ledersessel seines Büros nach vorne, schaut konzentriert in seine Kaffeetasse und spricht. Von denen in Lemwerder. Davon, wie damals der Schrempp dort in Niedersachsen die Flugzeugwerft zumachen wollte, trotz all der Ingenieure und der 600 Arbeitsplätze. Wie die Landesregierung, in der er, Steinmeier, arbeitete, das verhinderte. Dass dort heute noch hoch qualifizierte Leute arbeiten. Heute noch! Steinmeier malt nichts aus, er dramatisiert nicht, und plötzlich wird ganz offensichtlich, dass sich dieser Mann gar nicht um 928 | Illing, F.: Deutschland in der Finanzkrise, 2013, S. 58. 929 | Ebd., S. 61. 930 | Enderlein, H.: Finanzkrise; in: Egle, C.; Zohlnhöfer, R. (Hg.): Die zweite große Koalition, S. 234. 931 | Ebd., S. 235. 932 | Vgl. Illing, F.: Deutschland in der Finanzkrise, 2013, S. 59. 933 | Welk, Marian: Deutsche Konjunkturpolitik in der Finanzkrise – Entwicklungen von Effizienzkriterien zur Beurteilung und Analyse der Wirksamkeit; in: Deutsches Institut für Bankenwirtschaft. Schriftenreihe. 6/2011, S. 42; abrufbar unter: www.deutschesinstitut-bankwir tschaft.de/Welk%20Deutsche%20Konjunkturpolitik%20Effizienzkri terien.pdf (zuletzt eingesehen am 04.11.2015).
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IV. Politik im Vordergrund Geschichten mit Pointen bemüht: Hier sitzt einer, der aus Erlebnissen lieber Schlüsse zieht. Der Lehren sucht. Die aus Lemwerder passt für ihn gut zur Krise: »Die Politik kann etwas tun. Auch in dieser Krise muss sie etwas tun. Denn was jetzt wegbricht, wird hier nicht mehr eingerichtet werden!« 934
In Niedersachsen konnte Steinmeier erstmals selbst im Hintergrund praktisch gegensteuern. Denn: »Schröder achtete nicht auf althergebrachte Traditionen, er regierte rein pragmatisch – und (zunächst) immer mit dem Ziel, Arbeitsplätze zu schaffen.«935 Bei Steinmeier allerdings war es mehr: Bei seinem Handeln schwang die Annahme mit, dass die Industriepolitik ein wichtiges Standbein für Deutschland sei. So kamen die forcierten Maßnahmen, glaubt Heil, bei Steinmeier auch aus einer tiefen Überzeugung: »Erstens die Wirtschaftsstruktur dieses Landes, von der Steinmeier immer überzeugt war, weil die Geschichte des industriellen Rückgrats und der Wertschöpfungsketten eine ist, die bei ihm immer auftaucht […] in seiner ökonomischen Erzählung. Zweitens, die Strukturreformen, die er, unter Schmerzen der SPD, durchgesetzt hat«. 936
Als dritten Punkt führt Heil die Maßnahmen selbst an. Diese Überzeugung Steinmeiers fußte womöglich auch auf den Erfahrungen, die er mit dem Blick auf andere Länder hatte. Die Zeit zitierte Steinmeier etwa einmal mit den Worten, dass »man in Großbritannien die Wirkung von unterlassener Industriepolitik angucken« könne.937 Ähnlich drastisch blicken auch die deutschen Unternehmensführer auf Großbritannien.938 Und so war auch Steinmeiers Handeln in der Opel-Krise, das genau in dieser Industriepolitik einzuordnen ist, letztendlich, wie bei den anderen Beteiligten, nur konsequent. Neben diesem Erhaltungsaspekt eines Unternehmens der Schlüsselindustrie – Steinmeier betonte einmal ähnlich wie Merkel, dass »Deutschland […] so etwas wie das Silicon Valley der Autoindustrie« sei939 – zog die Zeit ganz richtig auch die psychologische Wirkung in die Betrachtung mit ein: »Wer mag noch seinen Arbeitsplatz für sicher halten, wenn die Politik 934 | Pinzler, Petra: Einmischen erwünscht; in: Zeit, 18.06.2009, S. 23. 935 | Kohlmann, S.: Gerhard Schröder; in: Nentwig, T.; Schulz, F.; Walter, F.; Werwath, C. (Hg.): Die Ministerpräsidenten des Landes Niedersachsen, 2012, S. 197. 936 | Heil, Hubertus im Gespräch mit dem Autor am 05.02.2014. 937 | Zitiert nach Pinzler, Petra: Einmischen erwünscht; in: Die Zeit, 18.06.2009, S. 23. 938 | Vgl. Kohlmann, Sebastian: »Es gibt kein besseres System als die Soziale Marktwirtschaft«; in: Marg, Stine; Walter, Franz (Hg.): Sprachlose Elite. Wie Unternehmer Politik und Gesellschaft sehen, Reinbek bei Hamburg 2015, S. 197-217. 939 | Zitiert nach Haselberg, Stephan: Der Autokanzlerkandidat; in: Tagesspiegel, 25.03.2009, S. 4.
9. Metamorphose II
ein Traditionsunternehmen der deutschen Schlüsselindustrie untergehen lässt?«940 Es folgte ein Übernahmekrimi, an dem Russland, die USA und Deutschland beteiligt waren. Auf deutscher Seite forcierten gleich mehrere »Schwergewichte« die Rettung: neben der Kanzlerin und ihrem Vizekanzler die vier Ministerpräsidenten, in denen Produktionsstandorte der Automarke lagen. Hinzu kam ein Wirtschaftsminister, Karl Theodor zu Guttenberg, der vorgab, nur entgegen seiner Überzeugungen einer Rettung Opels zustimmen zu können. Perfekt machte den Krimi, dass die Übernahme fortan immer wieder verzögert wurde. Ähnlich wie Deutschland betrieb nämlich auch die amerikanische Regierung, die nach der Insolvenz General Motors großen Einfluss auf den Konzern hatte, klassische Industriepolitik. Anders als Deutschland und Steinmeier, der ein österreichisch-russisches Käufer-Konsortium (Magma, Sberbank) befürwortete, wollte die US-Regierung, so der Spiegel, »keine russischen Investoren bei dem Autobauer akzeptieren«.941 In summa, allerdings erst Ende des Jahres 2009 und nach dem Wahlkampf, war es allerdings eine wirtschaftliche Entscheidung der Spitze von General-Motors, Opel doch nicht zu verkaufen. Für Steinmeiers Wahlkampf blieb die Rettung letztendlich eine Fußnote. Nach Becks Kursschwenk im Frühjahr 2008, der Chiffre Schwielowsee, mit der einher der dritte Wechsel des Parteivorsitzenden innerhalb von nur drei Jahren ging und zumindest bei zwei dieser drei Wechsel sich in der Öffentlichkeit das Bild eines Putsches festgesetzt hatte, dem Rauswurf Clements und nicht zuletzt dem Ypsilanti-Debakel im Herbst 2008, dem sich im Frühjahr 2009 eine herbe Niederlage für die SPD bei der erneuten Landtagswahl in Hessen anschloss, dazu eine Partei, die ausgelaugt und unzufrieden ob des eingeschlagenen Kurses wirkte, waren die Voraussetzungen alles andere als gut. Wäre die SPD ein Autohersteller, wäre die Situation mit der von Opel vergleichbar gewesen. Zu lange wurde sich nicht auf den Markenauf bau konzentriert, die Konturen vielmehr verwischt, ohne den Kursschwenk nachhaltig zu begründen und so zu zeigen, wofür die Partei stand. Die SPD habe Steinmeier, beurteilt Heil die Lage rückblickend, »mit diesem Vorlauf zwischen Hessen und Schwielowsee natürlich eine Ausgangsposition gegeben, die man heute nur noch als Mission Impossible bezeichnen kann«.942 Jene Mission Impossible musste Steinmeier nun versuchen zu lösen – mit einer 940 | Dausend, Peter: Es kann nur einen retten; in: Zeit, 02.04.2009, S. 4. 941 | Becker, Sven; Dettmer, Markus; Hawranek, Dietmar; Reiermann, Christian; Sauga, Michael; Steingart, Gabor; Tietz, Janko: In der Opel-Falle; in: Spiegel, 31.08.2009, S. 20-24; hier: S. 24. 942 | Heil, Hubertus im Gespräch mit dem Autor am 05.02.2014.
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IV. Politik im Vordergrund
Partei, die zu diesem Zeitpunkt weder Seriosität, Solidarität noch Kontinuität ausstrahlte und damit von Beginn an auch nur bedingt ein Gegenmodell zu Angela Merkels disziplinierterer CDU darstellte. Müntefering erinnert sich im Rückblick, dass er, als Steinmeier »mich angerufen hat«, gewusst habe, »dass das ganz schwer werden würde«.943 Thomas Oppermann machte schon in den Tagen um den Schwielowsee herum keinen Hehl aus der Situation, sagte, dass die Bundeskanzlerin Deutschland »nicht schlecht regiert« habe.944 Auch wenn er hinzufügte, dass Steinmeier »für das höchste Regierungsamt noch besser geeignet als Frau Merkel«945 sei, offenbarte eben dieses »noch«, wie schwierig dieser Wahlkampf auch hinsichtlich der aufgezeigten personellen Alternative werden würde – obwohl mit der Wirtschaftskrise, die eher neoliberale Auswüchse offenlegte, die Zeit eigentlich eher sozialdemokratisch hätte ticken können. Stattdessen konnte »in Bezug auf Personen an der Spitze, Politik und Partei keine überzeugende Imagelinie« aufgebaut werden.946 Auch Steinmeier und Müntefering konnten diese Unschärfe in dieser kurzen Zeit, die sie zur Vorbereitung hatten, nicht korrigieren, was jedoch nicht verwunderlich war.947 Es ging überhaupt erst darum, die Partei, die sich im freien Fall befand, zu stabilisieren, zumindest ein Stück zu befrieden. »Da waren alle möglichen ungeklärte Dinge in der Partei«, erinnert sich die damalige Gesundheitsministerin Ulla Schmidt.948 Während sich die SPD mit ihrem eigenen Profil schwertat, war die Union in diesen vier Regierungsjahren deutlich zur Mitte gerückt, von einer »Sozialdemokratisierung« ist die Rede.949 Nur wurden zum Beispiel der eingeführte Mindestlohn oder die Verlängerung des Arbeitslosengeldes bei der Union 943 | Müntefering, Franz im Gespräch mit Sebastian Kohlmann; in: Kohlmann, S.: Franz Müntefering, 2011, S. 290. 944 | Oppermann, Thomas im Gespräch mit der Welt; in: Sturm, Daniel-Friedrich: »Konfrontation zwischen Steinmeier und Merkel natürlich«; in: Welt, 17.09.2008, S. 4. 945 | Ebd. 946 | Alemann, U. von; Spier, T.: Erholung in der Opposition?; in: Niedermayer, O. (Hg.): Die Parteien nach der Bundestagswahl 2009, 2011, S. 63f. 947 | Vgl. auch Raschke, J.: Zerfallsphase; in: Egle, C.; Zohlnhöfer, R. (Hg.): Die zweite große Koalition, 2010, S. 83 und S. 93. 948 | Schmidt, Ulla im Gespräch mit dem Autor am 17.10.2013. 949 | Alemann, U. von; Spier, T.: Erholung in der Opposition?; in: Niedermayer, O. (Hg.): Die Parteien nach der Bundestagswahl 2009, 2011, S. 63f; vgl. auch Harnisch, Klaudia; Kohlmann, Sebastian: Die CDU. Eine Partei nach dem Ende ihrer selbst?; in: Butzlaff, F.; Harm, S.; Walter, F. (Hg.): Patt oder Gezeitenwechsel?, 2009, S. 11-35; Zunehmend wurde dieser Wandel auch in Merkels Sprache deutlich. Eine Analyse von Merkels Reden seit Steinmeiers Nominierung zum Kanzlerkandidaten legte etwa offen, dass bei der Kanzlerin »die Häufigkeit der Vokabel ›sozial‹ in ihren Ansprachen sprunghaft« angestie-
9. Metamorphose II
nicht mit einer heftigen Debatte goutiert, was es der SPD schwer machte, sich auf dem Gebiet der sozialen Gerechtigkeit zu profilieren.950 Richtig erinnert sich ein damals führendes SPD-Mitglied, das befindet, dass sich die Partei »elendlich schlecht verkauft« habe.951 So sei die SPD nicht »von Merkel an die Wand regiert« worden, wie die Partei sich »manchmal eingeredet« habe, sondern die SPD habe »sich selbst kleingemacht […] Das waren Nachwirkungen der Auseinandersetzung um die Agenda 2010, das waren dann ganz besonders die Auseinandersetzungen um die Wahl in Hessen.«952 Die SPD-Basis hatte ihre Rolle in einem ausdifferenzierten Parteiensystem nicht gefunden. Steinmeier und jene Anhänger der »Marktsozialdemokratie«953 konnten ihren Kurs zudem nicht gegen eine rumorende Parteibasis vollumfänglich durchsetzen, sodass die SPD sich immer mehr blasse Kompromisse auf bürdete, auch wenn nun erstmals wieder leichte Konturen sichtbar wurden. Die damit einhergehende Unschärfe führte jedenfalls dazu, dass die Partei drohte, zwischen den Lagern aufgerieben zu werden. So prognostizierten mehrere Meinungsforschungsinstitute bereits im Wahlkampf, dass die SPD in gleichem Maße an die CDU und FDP auf der einen Seite wie an die Linkspartei auf der anderen Seite verlieren würde.954 Dass die Führenden zudem als Koalitionsperspektive eine Partei aussuchten, die sie im Wahlkampf zum Hauptfeind hochstilisierten, gehörte zu den Absurditäten des sozialdemokratischen Wahlkampfes. So sprach Müntefering in Bezug auf die zitierten Umfragen, die auch einen Weggang der Anhänger zur FDP prognostizierten, davon, dass »[e]in paar Marktradikale […] im Moment zu Westerwelle fliehen« würden.955 Geradezu grotesk wirkte diese Haltung, wollte man doch mit den Liberalen regieren. So rühmte Steinmeier bei einer Präsentation von Westerwelles Autobiogen sei. »Sie überflügelte darin bisweilen sogar die SPD-Konkurrenz«; Willeke, Stefan: Ein Fremder wie du und ich; in: Zeit, 10.09.2009, S. 6. 950 | Vgl. Alemann, U. von; Spier, T.: Erholung in der Opposition?; in: Niedermayer, O. (Hg.): Die Parteien nach der Bundestagswahl 2009, 2011, S. 63f. 951 | So ein Interviewpartner, der nicht genannt werden möchte, im Gespräch mit dem Autor. (Um die Anonymität zu wahren, wird für alle anonymisierten Personen eine männliche Form verwendet.) (Nr. 37) 952 | Ebd. 953 | Nachtwey, O.: Marktsozialdemokratie, 2009. 954 | So zitierte die Zeit aus einer Emnid-Analyse, in der es hieß, dass von denen, die 2005 für die SPD gestimmt hätten, »nur noch 62 Prozent für die Sozialdemokraten votieren. 15 Prozent haben sich der Linkspartei zugewandt, 7 Prozent der CDU und 6 Prozent der FDP.« Forsa kam zu einem ähnlichen Ergebnis; Wagner, Joachim: Gelbe Genossen; in: Zeit, 28.05.2009, S. 13. 955 | Zitiert nach ebd.
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graphie in Anwesenheit des FDP-Parteivorsitzenden die Gemeinsamkeiten,956 um anschließend im Europawahlkampf eine klare Negative-CampaigningStrategie957 zu realisieren (»Finanzhaie würden FDP wählen«958) und gleichzeitig erneut um die FDP zu werben. Der Widerspruch war in jedem Interview erkennbar. In der Welt am Sonntag geißelte Steinmeier etwa zunächst den »Kasino-Kapitalismus«, forderte einen Weg »hin zu einer verantwortlich und langfristig denkenden Wirtschaft und Gesellschaft« und schimpfte über die Union, dass diese die »gegenwärtige Krise für einen Betriebsunfall« halte, »[f]rei nach dem Motto: Wenn dieser Spuk vorbei ist, funktioniert alles wieder wie früher«, was ein »fataler Irrtum« sei.959 Die FDP erwähnte er hier nicht, doch sind die Positionen ähnlich, wenn nicht sogar deutlicher in diese Richtung ausgeprägt gewesen. Zugleich betonte Steinmeier, dass er sich eine Koalition mit der FDP, wenn es mit den Grünen nicht reiche, »gut vorstellen« könne.960 Bis zum Ende des Wahlkampfes löste sich dieser Widerspruch nicht auf, stattdessen wurde die Skepsis auch in der eigenen Partei forciert. Steinbrück erinnert sich in seiner Autobiographie, dass ihm »schleierhaft« geblieben sei, »wie wir Wähler und Mitgliedern einen potentiellen Koalitionspartner schmackhaft machen wollten, mit dem die SPD weniger politische Gemeinsamkeiten hat als mit der CDU/CSU«.961 Außerdem schrieb er: »In zwei Strategiesitzungen der engeren Parteiführung Ende Mai und Anfang Juli 2009 brachte ich meine Bauchschmerzen zum Ausdruck.«962 Struck habe diese Skepsis »nach meinem Eindruck« geteilt.963 Der von Steinbrück Genannte hielt in seiner Autobiographie tatsächlich fest, dass ihn »viele […] zu einer Stellungnahme, die für die Fortführung der Großen Koalition spräche«, gedrängt hätten.964 Anders als Steinbrück behielt er seine Sorgen jedoch für sich: Steinmeier »durch öffentliche Ratschläge das Leben zu erschweren, wäre mir nicht 956 | Vgl. Feldenkirchen, Markus: Die Ampelmännchen; in: Spiegel, 16.02.2009, S. 42. 957 | Vgl. Jun, U.: Die SPD; in: Bukow, S.; Seemann, W. (Hg.): Die Große Koalition, 2010, S. 315. 958 | Schulz, Stefan: Forsche SPD-Plakate brüskieren FDP und Linke; in: Spiegel Online, 25.04.2009; abrufbar unter: www.spiegel.de/politik/deutschland/wahlkampfat tacke-forsche-spd-plakate-brueskieren-fdp-und-linke-a-620977.html (zuletzt eingesehen am 06.07.2016). 959 | Steinmeier, Frank-Walter im Gespräch mit der Welt am Sonntag; in: Poschardt, Ulf: Warum wäre die FDP ein guter Koalitionspartner, Herr Steinmeier?; in: Welt am Sonntag, 17.05.2009, S. 2. 960 | Ebd. 961 | Steinbrück, P.: Unterm Strich, 2010, S. 428. 962 | Ebd., S. 429. 963 | Ebd. 964 | Struck, P.: So läuft das, 2010, S. 283.
9. Metamorphose II
in den Sinn gekommen«.965 Eine kohärente Strategie ließ die Partei jedenfalls auch an dieser Stelle vermissen. Unabhängig von den innerparteilichen Unstimmigkeiten hätte man nämlich, anstatt die FDP anzugreifen, für das Beste aus zwei Welten werben müssen – zumindest dann, wenn man nach einer Wahl mit ihr koalieren wollte.966 Neben dieser fehlenden oder ins Absurde driftenden Koalitionsoption kam als Problem für den Wahlkampf ein bereits beschriebener Verzicht Steinmeiers auf eine frühe Profilierung als Wahlkämpfer hinzu. Stattdessen behielt er die Koalitionsdisziplin bei, schlicht um seinen Teil dafür zu tun, die Regierung in der Wirtschaftskrise regierungsfähig zu halten. Kleine Einflussfaktoren für den Wahlkampf blieben da die Schröder-Vergleiche, denen der Kanzlerkandidat immer wieder ausgesetzt war. Steinmeier verwahrte sich zunehmend erstaunlich offen gegen den Vergleich mit seinem einstigen Chef, reduzierte ihn auf die »westfälische Sprachfärbung« und unterstrich »für alle anstehenden Diskussionen und Entscheidungen«, dass diese »bei der jetzigen Parteiführung« lägen.967 Der Vergleich Schröder/Steinmeier hinkte ohnehin: Kein Kanzler vor Schröder »hatte sich in seinem Aufstieg an die politische Spitze so sehr der Medien bedient wie Schröder, vorbei an den hegemonialen Strukturen der institutionellen Politik«.968 Das Gegenteil davon war (und ist) Steinmeier. Dennoch machte der stete Vergleich eine eigene Profilschärfung zumindest schwieriger. Auch Sozialdemokraten sahen diesen Widerspruch nicht immer. Ein zusätzliches Problem war, dass von den Wahlkampfverantwortlichen um Müntefering eher ein Wahlkampf Schröderscher Prägung konzipiert worden war, also auch die Parteiführung auf den vermeintlichen Schröder-Steinmeier-Vergleich hereinfiel oder es nach drei Schröder-Wahlkämpfen schlicht nicht anders konnte. Ein damals führender Sozialdemokrat erinnert sich: »Diejenigen, die den Wahlkampf konzipierten, [brachten] diese […] Einheit von Person, Programm und Performance einfach überhaupt nicht in eine Balance. Steinmeier hatte wegen Regierungsgeschäften und -krise aus meiner Wahrnehmung den Wahlkampf […] an Müntefering delegiert, dem das auch überlassen. […] Die haben einen Wahlkampf
965 | Ebd. 966 | Vgl. Kohlmann, Sebastian: Rot-Gelb – Unideologischer Mittepragmatismus; in: Freitag, 27.12.2013, S. 5. 967 | Steinmeier, F.-W. im Gespräch mit dem Focus; in: Jach, M.; Krumrey, H.; Wiegold, T.: »Meine prägende Handschrift«; in: Focus, 22.09.2008, S. 23. 968 | Marx, S.: Die Legende vom Spin-Doktor, 2008, S. 107.
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IV. Politik im Vordergrund organisiert, der aber kein Steinmeier-Wahlkampf war, sondern vom Habitus bis hin in die Sprache des Wahlprogramms ein eher Müntefering-geprägter Wahlkampf.« 969
Auch wenn der Wahlkampf nicht so chaotisch gewesen sei wie der vier Jahre später, 2013, habe das »irgendwie nicht so richtig gepasst«.970 Wie schwierig es für die SPD werden würde, war den Beteiligten dabei von Beginn an bewusst. In einem internen Papier mit dem Titel »Leitfaden zum Wahlkampf«, datiert auf den 2. Februar 2009, hieß es unter dem Punkt »Ausgangslage«: »Die SPD liegt in den Umfragen gegenwärtig bei 25-26 Prozent. CDU/CSU liegen bei 35-37 Prozent (ARD Deutschland Trend, Januar 2009). Zugegeben: Dies ist keine einfache Ausgangslage. Wenn wir uns aber genau erinnern: Sie war auch schon schwieriger. Knapp drei Monate vor der Bundestagswahl 2005 wurden von den Instituten noch Abstände zwischen Union und SPD von bis zu 20 Prozent gemessen. Eine Aufholjagd wie 2005 ist auch dieses Jahr wieder möglich. Die SPD besitzt das größte Wählerpotential von allen Parteien. 60 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung können sich prinzipiell vorstellen, die SPD zu wählen (ARD DeutschlandTrend, Januar 2009). Zudem ist unser Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier einer der beliebtesten Politiker in Deutschland.« 971
Mit der Bezugnahme auf Schröder wurde erneut eine hinkende Parallele gezogen, die zunächst vermutlich vor allem der Motivation diente, letztendlich jedoch erneut falsche Rückschlüsse für den folgenden Wahlkampf Steinmeiers forciert hatte. Die schwierige Lage war indessen nicht vollkommen verschwiegen worden. Erste Protagonisten hatten derweil die Wahl bereits aufgegeben und ließen das Steinmeier auch wissen. So übersandte Sigmar Gabriel, zu jener Zeit Umweltminister, einen Brief an Steinmeier, der auf den 3. Februar 2009 datiert war. Neben der Bitte um einen Besuch Steinmeiers in Gabriels Wahlkreis lag eine Analyse von Matthias Machnig im Anhang bei, den Gabriel, so schrieb er, »[n]ach wie vor […] für einen der klügsten strategischen Köpfe« halte.972 Dieser
969 | So ein Interviewpartner, der nicht genannt werden möchte, im Gespräch mit dem Autor. (Um die Anonymität zu wahren, wird für alle anonymisierten Personen eine männliche Form verwendet.) (Nr. 37) 970 | Ebd. 971 | Aktenbestand Büro Parteivize Frank-Walter Steinmeier (im Archiv der sozialen Demokratie): »Büro Frank-Walter Steinmeier | 2009 | Ablage | Wahlkampf | Unterstützer | SPD-PV, Stv. F.W. Steinmeier (01/2013)«. 972 | Ebd.
9. Metamorphose II
aus Gabriels Sicht also kluge strategische Kopf analysierte im letzten Absatz seines Papiers: »Wenn die Bundestagswahl tatsächlich so ›langweilig‹ ausgeht, wie die Voraussagen Anfang des Jahres vermuten lassen, also nur Schwarz-Gelb oder Große Koalition bleiben, dann wird die Zeit nach der Wahl aufregender als die davor. Dann ist für längere Zeit Lagerpolitik das Thema, direkt über Schwarz-Gelb oder vermittelt über den Zwischenschritt einer erneuten Großen Koalition.« 973
Frühzeitig dachte Gabriel demnach über die Zeit nach der Wahl nach und gab die anstehende insofern verloren, als dass er sich nachdrücklich gemeinmachte mit den Aussagen dieser Analyse. Für eine anfängliche Motivation eines Wahlkampfes schien dies eher kontraproduktiv, womöglich konnte man es sogar als unfreundlichen Akt interpretieren. Das Verhältnis zwischen Gabriel und Steinmeier war bereits zu diesem Zeitpunkt nicht gut, Steinmeier richtete dem Umweltminister an anderer Stelle zum Beispiel aus, dass er ihn für einen »Querulanten« halte.974 Die Vielstimmigkeit war also bereits intern zu sehen – nicht nur im Verhältnis Gabriel/Steinmeier. Ein Akteur erinnert sich in Bezug auf die Wahlkampfplanung: Im Willy-Brandt-Haus »gab’s Wasserhövel, dann gab’s ’nen Generalsekretär Heil und dann gab’s Steinmeier im Auswärtigen Amt. Das war schon multipolar. Und so war es dann ja auch.«975 Müntefering schien dieses Problem bewusst gewesen zu sein, jedenfalls schrieb er im März an Steinmeier. »Lieber Frank-Walter, wir stehen vor 14 Wahlen im Bund, Ländern, Kommunen und in Europa. In den vergangenen Wochen haben wir gesehen: Eine gute Abstimmung zwischen den Ebenen bedeutet Stärke und Durchschlagskraft. Die Sozialdemokratie hat das Ganze im Blick. Das gilt auch für die kommenden Wahlkämpfe. Wir müssen die gleiche Botschaft haben, die gleiche Sprache sprechen – in Bund, Land, Kommune und Europa.« 976
Es folgte die Bitte um die Absprache bestimmter Themenfelder. All diese Bemühungen fruchteten zwar zum Teil, konnten aber eine verheerende Wahlniederlage bei der Europawahl nicht verhindern. Dort habe man gemerkt, so
973 | Ebd. 974 | Vgl. Schwägerl, Christian: Heiße Luft; in: Spiegel, 08.06.2009, S. 39. 975 | Gabriel, Sigmar im Gespräch mit dem Autor am 10.02.2014. 976 | Aktenbestand Büro Parteivize Frank-Walter Steinmeier (im Archiv der sozialen Demokratie): »SPD-PV, Stv. F.W. Steinmeier (01/2013)«.
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ein damals führendes SPD-Mitglied, »dass die Strategie furchtbar floppte«.977 Müntefering und Wasserhövel waren am Ende ihres Lateins. Doch sie kämpften weiter, auch gegen nicht auf hörende interne Querschüsse aus den eigenen Reihen. »Es gab genügend Leute, die ihm [Steinmeier, Anm. S.K.] rieten, er müsse kämpferischer auftreten, dann wieder warnten, er dürfe nicht den Schröder machen.«978 Ein Beispiel dafür war ein Brief von Erhard Eppler an Steinmeier, datiert auf den 22. Juli 2009, in dem es hieß: »Lieber Frank-Walter, gestern Abend habe ich Dein Interview mit Peter Frey gesehen. Du warst entspannt, freundlich, konzentriert, und Du hast nichts Falsches gesagt. Und doch war ich am Schluss überzeugt, dass, was als Botschaft rüberkam, uns nicht über die 30 %-Hürde bringen wird.« 979
Der Brief, auf den Steinmeier persönlich antwortete, war zwei Seiten lang und enthielt, so schrieb Eppler, den »Versuch der Unterstützung, als Anregung zum weiteren Nachdenken«.980 Ein anderes führendes SPD-Mitglied, das sich öffentlich ohne Namen zitieren ließ, stellte im Focus fest, dass Steinmeier »zu verkopft« sei.981 »Davon muss er runter«, weil man im Wahlkampf einen »populistischen Überschuss« brauche.982 Steinmeier ließ sich von der Kritik nicht in seinem Kurs beirren. Struck schrieb im Rückblick, dass er Steinmeier »in dieser Phase dafür bewundert« habe, »dass er sich nicht aus der Ruhe bringen ließ und ungebrochen Zuversicht ausstrahlte. Es bedurfte einer unglaublichen Konzentration und Disziplin, das durchzuhalten.«983 Tatsächlich ist Steinmeier nach jenen frühen Intermezzi während der Landtagswahlkämpfe auch dem immer wieder geforderten Populismus nicht verfallen, sondern behielt einen klaren, seriösen Kurs bei. Der Deutschlandplan, ein umfangreiches Strategiepapier, das Anfang August einen Tag vor der Präsentation im Spiegel unter dem Titel »Genosse Sisyphos« 977 | So ein Interviewpartner, der nicht genannt werden möchte, im Gespräch mit dem Autor. (Um die Anonymität zu wahren, wird für alle anonymisierten Personen eine männliche Form verwendet.) (Nr. 37) 978 | Struck, P.: So läuft das, 2010, S. 283. 979 | Aktenbestand Büro Parteivize Frank-Walter Steinmeier (im Archiv der sozialen Demokratie): »Büro Frank-Walter Steinmeier 2009 | Ablage Briefe FWS A-K | SPD-PV, Stv. F.W. Steinmeier (01/2013)«. 980 | Ebd. 981 | Zitiert nach Pörtner, Rainer; Wiegold, Thomas: Dünne Luft für den Gipfelstürmer; in: Focus, 20.04.2009, S. 20-24; hier: S. 24. 982 | Zitiert nach ebd. 983 | Struck, P.: So läuft das, 2010, S. 283.
9. Metamorphose II
besprochen worden ist, bildete dabei den Höhepunkt in Steinmeiers Fokussierung auf Inhalte.984 Dieser Plan wurde von Steinmeiers Team so erarbeitet, wie er einst als Wissenschaftler arbeitete. »So einen Deutschlandplan schreibt man ja nicht über Nacht«, erinnert sich Steg, »sondern […] da haben viele kluge Leute mit hohem Engagement seit Wochen dran gearbeitet. Haben […] mit Fachleuten gesprochen, haben das in den verschiedenen Entwurfsstadien gegenprüfen lassen, hatten […] gewissermaßen […] ja unterschiedliche Bereiche […] abgedeckt: Kreativwirtschaft, Gesundheits- oder Lebenswissenschaften und Wirtschaft.« 985
Vier Monate hätten die Recherchen angedauert, erzählte der Kandidat bei der Präsentation.986 Und auch der Spiegel sprach von einem »wissenschaftlichen Ansatz«, mit dem er den Plan erarbeiten ließ, dem »einzige[n] Konzept in diesem konzeptarmen Wahlkampf«.987 Das Resümee: »Heraus kam ein 67 Seiten schweres Papier, aus dem der Fleiß triefte, das penibel auflistet, in welchen Branchen künftig wie viele neue Jobs entstehen könnten. Am Ende« erinnerte das Nachrichtenmagazin die Schrift »mehr an eine Abschlussarbeit als an ein Wahlkampfpapier«.988 Es war in der Tat ein umfangreiches und kluges Papier mit einem klaren Anspruch. Steinmeiers Grundsatzreferat, in dem der Plan präsentiert wurde, den seine Berater Deutschland-Plan tauften, während er laut Spiegel den längeren Titel »Die Arbeit von morgen – Politik für das nächste Jahrzehnt« befürwortete,989 leitete er mit einer Verneinung des Schmidt-Zitats »Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen« ein.990 Dem hielt er entgegen: »Wer den Weg aus der Krise finden will, braucht das Ziel, das er anpeilt und den Kompass, der dahinführt. In diesem Sinne sind heute ehrgeizige Fernziele und visionäre Politik gefragt«.991 Steinmeier nannte sein Papier nicht weniger als ein »Kurs-
984 | Vgl. auch Feldenkirchen, Markus; Kullmann, Kerstin: Genosse Sisyphos; in: Spiegel, 03.08.2009, S. 20-23. 985 | Steg, Thomas im Gespräch mit dem Autor am 16.12.2013. 986 | Vgl. Doemens, Karl: Steinmeiers Agenda; in: Frankfurter Rundschau, 04.08.2009, S. 5. 987 | Feldenkirchen, M.: »Draußen ist’s heller«; in: Spiegel, 21.09.2009, S. 54. 988 | Ebd. 989 | Vgl. Feldenkirchen, M.: »Draußen ist’s heller«; in: Spiegel, 21.09.2009. 990 | Zitiert nach Doemens, K.: Steinmeiers Agenda; in: Frankfurter Rundschau, 04.08.2009. 991 | Zitiert nach ebd.
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IV. Politik im Vordergrund
buch für den Neustart der sozialen Marktwirtschaft«,992 für Müntefering ist es rückblickend »die Verlängerung der Idee aus der Agenda, mit anderem Namen eine nachhaltige Politik zu machen.«993 Auch Steinbrück sprach im Rückblick von Vorschlägen, denen »kein parteipolitischer Mief« angehaftet habe,994 was im Umkehrschluss bedeutete, dass Steinmeier nach wie vor seinen Kurs beibehielt und keineswegs zu einem reinen Parteipolitiker geworden war. Diejenigen Journalisten, die das Papier tatsächlich durchdrangen, kamen dabei zu ausgewogenen Urteilen. Die Welt etwa »begrüßte« das Konzept: »Endlich, darf man sagen, endlich! Denn in nicht mal acht Wochen wird ein neuer Bundestag gewählt. Und bis jetzt hatte es, abgesehen von der Diskussion über die Atomkraft vor einigen Wochen, den Anschein, als forderten die Kontrahenten von den Wählern ein Votum allenfalls für die besten Durchhalteparolen«. 995
Bisher seien, klagte die Zeitung, »[d]ie langen Linien […] oft im Klein-Klein der Tagespolitik« untergegangen.996 Die Frankfurter Rundschau befand, dass »Steinmeiers Agenda […] weit über den Wahlkampf« hinausreiche, »wenn man sie ernst nimmt«.997 Einmal mehr wird hier eine pragmatische, unideologische, aber auch perspektivisch weit nach vorne schauende Sicht deutlich, die sich nicht mit Parteibefindlichkeiten aufhielt, sondern auf das Urteil von Experten vertraute. Doch es gab auch Kritik an dem Papier. Der Tagesspiegel etwa befand: »Aber er selbst ist gefangen im Dickicht althergebrachter Strukturen und Verpflichtungen in Regierungs- und Parteiapparat. Und er ist keiner jener charismatischen Politiker, die ihr Land mit ambitionierten Zielen (wie es die Vollbeschäftigung ist) aufrütteln und die Bevölkerung auf schwierige Wege mitnehmen können. Eine krachende Diskussion über den Bildungsföderalismus wäre so etwas. Das legte Eitelkeiten offen, deckte Fehler auf, nähme Menschen mit. Und könnte Raum für eine Bildungsreform schaffen, die ihren Namen wert ist.« 998
992 | Zitiert nach ebd. 993 | Müntefering, Franz im Gespräch mit dem Autor am 22.10.2013. 994 | Steinbrück, P.: Unterm Strich, 2010, S. 168. 995 | Sturm, Daniel-Friedrich: Der Staatstragende; in: Welt, 04.08.2009, S. 6. 996 | Ebd. 997 | Doemens, Karl: Vorschnell verurteilt; in: Frankfurter Rundschau, 04.08.2009, S. 11. 998 | O.V.: Steinmeiers Plan; in: Tagesspiegel, 04.08.2009, S. 1.
9. Metamorphose II
Der Spiegel wiederum schimpfte in einem seiner Artikel, dass das Papier »[i]m Kampf um Aufmerksamkeit […] keine Chance« gehabt habe.999 »In einer Zeit, da sich politische Debatten der Länge von Fernseh- und Twitter-Nachrichten annähern, sind 67 Seiten Papier eine Zumutung für alle Beteiligten. Für Bürger, Journalisten, Politiker.«1000 Doch war es das wirklich, eine Zumutung? Zunächst einmal war es ein Statement, dass schwierige Antworten keiner einfachen Lösungen bedürfen. Es war der Ausdruck dessen, was Steinmeier als (exekutive) Regierungsarbeit, -stil und -kommunikation ansah. Mit dem Ziel der Vollbeschäftigung unterstrich Steinmeier einen Anspruch, der bereits mit der Agenda 2010 forciert wurde: die Arbeitslosigkeit nicht mehr nur, wie auch er es seit den 1980er Jahren erlebt hatte, zu verwalten, sondern die Menschen wieder in Arbeit zu führen. Womöglich wären die Reaktionen der vom Spiegel beschriebenen, vermeintlich überforderten Bürger, Journalisten und Politiker allerdings ganz anders ausgefallen, wäre die Ausgangslage eine andere gewesen. Denn letztendlich war der Plan schon im Moment der Präsentation gescheitert. Thomas Steg erinnert sich, dass das Konzept aus einer Position der Stärke heraus präsentiert werden sollte. Und so würde er »sagen, nicht die […] Seiten und nicht die einzelne Forderung [sind] das Problem, auch nicht die Frage, hätte […] man verhindern müssen, dass der Spiegel das vorab bekommt und dann das Interesse der anderen Medien schon geringer ist.«1001 Das Problem sei der Zeitpunkt gewesen, zu dem es »nicht mehr um Inhalte« gegangen sei.1002 Steinmeier sei fortan unterstellt worden, »dass er das nur instrumentell macht, taktisch, um irgendwie mit […] einem Deutschlandplan mit wohlklingenden Begriffen wieder in die Offensive zu kommen. Also: das Dilemma war schon zu groß, um noch erfolgreich mit dem Deutschlandplan arbeiten zu können.«1003 Zu einem ähnlichen Schluss kommt Franz Müntefering, sieht allerdings einen weiteren Grund, der den Plan »ziemlich habe[] verpuffen lassen«.1004 So habe sich, kritisiert er die SPD, die Partei mehr gefragt, »wie können wir die riesen Fehler, die wir gemacht haben, […] vergessen […] und rückgängig machen«.1005 Steinmeier ließ sich bei alledem allerdings auch schlecht beraten beziehungsweise hielt an den falschen Stellen nicht dagegen. Die Zahl von vier Millionen Arbeitsplätzen sollte letztendlich zuerst nicht erwähnt werden, »ihm wäre ohne die Zahl wohler gewesen«, berichtete der Spiegel aus dem Kreis des 999 | Feldenkirchen, Markus: Mehr Papier wagen; in: Spiegel, 10.08.2009, S. 29. 1000 | Ebd. 1001 | Steg, Thomas im Gespräch mit dem Autor am 16.12.2013. 1002 | Ebd. 1003 | Ebd. 1004 | Müntefering, Franz im Gespräch mit dem Autor am 22.10.2013. 1005 | Ebd.
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IV. Politik im Vordergrund
Kanzlerkandidaten.1006 Steinmeier stimmte dieser Fokussierung aber zu, die fortan wie ein Bumerang wirkte und ihn mit einem Mal als Populisten erscheinen ließ, der er nicht war. Vor allem Merkel hatte der Kandidat dadurch eine Angriffsfläche geboten: »Immer wenn Zahlen versprochen wurden, ist das Gegenteil eingetreten«, äußerte die Bundeskanzlerin sich skeptisch über Steinmeiers Zahlen-Versprechen der Vollbeschäftigung.1007 Gleichzeitig löste dieses Ziel aber kurzzeitig eine über den Wahlkampf hinaus wichtige, möglicherweise nicht beabsichtigte Debatte aus. Der Tagesspiegel hielt in Bezug auf diese damals fest: »Schämen sollten sich all jene, die sich über Steinmeiers Anspruch, die Arbeitslosigkeit in den nächsten zehn Jahren als Massenphänomen abzuschaffen, lustig machen. Was, bitte schön«, fragte die Zeitung, »wäre ein Bundeskanzler wert, der sich diesem Ziel nicht verpflichtet fühlte.«1008 Genau darauf wurde das Konzept, wie gezeigt, eben immer mehr reduziert und das nicht nur vom politischen Gegner, was bei diesem aus wahlstrategischer Sicht sinnvoll erschien, sondern auch im medialen Diskurs. Steinmeier, der diese Zahl selbst ins Spiel brachte, ärgerte sich bald darüber, dass immer wieder der Eindruck entstand, »als ging es um unseriöse Versprechen«.1009 Doch hätte er genau das einkalkulieren müssen, dass die ungeschriebenen Mediengesetze so waren wie sie waren und nach dem Vorabdruck im Spiegel genau diese Zahl im Fokus der Aufmerksamkeit stehen würde. Und so fragte die Frankfurter Rundschau: »War das nötig? Musste die plakative Zahl an den Anfang der Ideenskizze?« 1010 Ähnlich sah es die Welt, die die »ins Feld geführte Zahl« als »gefährlich« ansah.1011 »Ganz zu schweigen von dem Wort von der ›Vollbeschäftigung‹. Hier weckt die SPD allzu große Erwartungen. Glaubwürdig wirken diese Ab- und Aussichten nach fast elfjähriger sozialdemokratischer Regierungsbeteiligung kaum.«1012 Zu häufig gab es zudem solche Versprechen – ob Kohls »blühende Landschaften« oder Schröders Botschaft von 1998, die Arbeitslosigkeit spürbar zu senken –, als dass sie nicht reflexartig
1006 | Feldenkirchen, M.: »Draußen ist’s heller; in: Spiegel, 21.09.2009, S. 54f. 1007 | Zitiert nach Sturm, Daniel-Friedrich: Müntefering: »Deutschlandplan« ist schon jetzt ein Erfolg; in: Welt, 05.08.2009, S. 2. 1008 | O.V.: Steinmeiers Plan; in: Tagesspiegel, 04.08.2009. 1009 | Zitiert nach Möhle, Holger: Ein Plan für Deutschland; in: General-Anzeiger, 04.08.2009, S. 4. 1010 | O.V.: Steinmeiers Plan; in: Tagesspiegel, 04.08.2009. 1011 | Sturm, D.-F.: Der Staatstragende; in: Welt, 04.08.2009. 1012 | Ebd.
9. Metamorphose II
auch in der Bevölkerung kritisch beäugt würden.1013 87 Prozent der Bundesbürger hielten den Plan so laut Umfragen nicht für realistisch.1014 Steinmeiers eigenes Frühwarnsystem, der Blick vom Ende her, schien in diesem Moment in der Hoffnungslosigkeit des Wahlkampfes nicht mehr funktioniert zu haben. Dabei gab es etwas zu diskutieren. Noch nie vor einer Bundestagswahl habe es ein »derart ausgefeiltes Programm« eines Kandidaten gegeben, bescheinigte ihm im Rückblick die Zeit.1015 Der damalige Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Klaus Zimmermann, sah ebenfalls durchaus gute Ansätze, betonte aber auch, dass er selbst »auf keinen Fall Zahlen genannt« hätte, die den Kandidaten nun durchgehend verfolgen würden.1016 Letztendlich war es vermessen zu glauben, das Mediensystem über Nacht ändern zu können, auch wenn Steinbrücks rückblickende Kritik, dass es »einen merkwürdigen Kontrast zum (angeblichen) Bedarf an politischer Programmatik und Perspektive« gebe, durchaus einen wahren Kern enthielt.1017 Denn hier offenbarte sich in der Tat ein Ungleichgewicht in der Gewichtung politischer Berichterstattung. Die Medienbegleitung der sogenannten Dienstwagenaffäre um einen im Ausland gestohlenen Dienstwagen Ulla Schmidts, den sie womöglich privat genutzt hat, zeigte eine erschreckende Antifolie auf. Die Affäre ist schnell auf den Punkt gebracht: »Hatte die Gesundheitsministerin den Wagen nun rechtmäßig benutzt oder nicht? Hat sie für die Privatnutzung entsprechend bezahlt oder nicht?«1018 Der Wagen wurde »nach wenigen Tagen bereits wieder gefunden. Samt Schlüssel entdeckten ihn Ermittler nur 25 Kilometer von ihrem Urlaubsort entfernt. Den Dieben war ihre Beute, ein Mercedes der S-Klasse, nach der tagelangen Berichterstattung in den Medien wohl deutlich zu heiß geworden.«1019
1013 | Vgl. Raschke, J.: Zerfallsphase; in: Egle, C.; Zohlnhöfer, R. (Hg.): Die zweite große Koalition, 2010, S. 88. 1014 | Vgl. Sturm, Daniel-Friedrich: Steinmeier: Als Bürger hielte ich meinen Plan für »unrealistisch«; in: Welt, 17.08.2009, S. 2. 1015 | Naumann, Michael: Ein Jahrzehnt. Oder zwei; in: Zeit, 08.10.2009, S. 3. 1016 | Vgl. Moritz, Hans-Jürgen; Pörtner, Rainer; Randenborgh, Katrin van: »Feuchten Finger in den Wind halten«; in: Focus, 10.08.2009, S. 16-19; hier: S. 18. 1017 | Steinbrück, P.: Unterm Strich, 2010, S. 167. 1018 | Dams, Jan: Ulla Schmidts berüchtigte Spanien-Reise; in: Welt, 29.12.2009, S. 3. 1019 | Ebd.
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IV. Politik im Vordergrund
Es gehörte zu den Kuriositäten dieses Wahlkampfes, dass mehrere Tage, sogar einige Wochen, dieses das bestimmende Thema war. Natürlich, es bedurfte auch hier einer Berichterstattung, doch die Auseinandersetzung mit inhaltlichen Themen fiel dabei, zum Beispiel beim Deutschlandplan, deutlich geringer aus und stellte damit ein Missverhältnis dar, das immer häufiger festzustellen war.1020 Ganz richtig kritisierte der Tagesspiegel eine TV-Kritik von Spiegel Online über eine TV-Fragerunde mit Steinmeier als Gast. Die Kritik lässt sich übertragen auf viele mediale Beiträge dieser Zeit und zeigte gleichzeitig Steinmeiers Schwäche auf, die eigentlich seine Stärke war. »Allen Ernstes«, schimpfte die Zeitung, habe der Autor der Spiegel-Online-Kritik Steinmeier vorgeworfen, »er würde nicht genug polarisieren – als ob es das ist, was es braucht, um einen Wahlkampf zu führen. Als ob es das ist, was die Wähler hören wollen. Lob bekommt Steinmeier […] dann tatsächlich dafür, dass er zwei Witze macht […]. Noch einmal: Ein Politiker wird gelobt, weil er zwei Witze macht – und er wird kritisiert, weil er nicht polarisiert. Frank-Walter Steinmeier beantwortete Fragen, der Bürger will etwas wissen vom Außenminister und Kanzlerkandidaten der SPD. Das ist eben keine Comedyveranstaltung, das ist nicht lustig, da müssen nicht die Fetzen fliegen.«1021
Über das Onlinemagazin schrieb der Tagesspiegel-Autor, dass es »sich mal Gedanken über sein Bild von Politikvermittlung machen« sollte.1022 »Vielleicht liegt es genau an diesen Vorstellungen, dass sich die Menschen abwenden, nicht zur Wahl gehen.«1023 Natürlich, es gibt auch bei Spiegel Online für gewöhnlich seriöse Berichterstattung. Doch ist dem Kritiker zumindest für diese Replik vollumfänglich zuzustimmen. Steinmeier lieferte nicht mehr jene Show, mit der einst Schröder und Fischer brillierten und die Medien für sich zu begeistern wussten. Ikonenhaft wirken Bilder aus dem Bundestag noch Jahre später, in denen die rot-grünen Chef-Protagonisten sich über die Beiträge
1020 | So belegte die Berichterstattung um die sog. Dienstwagenaffäre etwa im August 2009 in den Nachrichtensendungen Tagesschau (20 Uhr), heute (19 Uhr), RTL Aktuell und Sat.1 Nachrichten laut einer Studie des Instituts für empirische Medienforschung in Köln Platz 7 in den Top 10 (gemessen in Minuten). Der Deutschlandplan taucht hier überhaupt nicht auf. Vgl. Infomonitor August 2009: Landtagswahlen an der Spitze der Nachrichtenthemen; abrufbar unter: http://politik-digital.de/news/infomonitor-au gust-2009-landtagswahlen-an-der-spitze-der-nachrichtenthemen-4547/ (zuletzt eingesehen am 02.08.2016). 1021 | Kalle, Matthias: Nicht zackig genug?; in: Tagesspiegel, 18.08.2009, S. 5. 1022 | Ebd. 1023 | Ebd.
9. Metamorphose II
der Bundestagsredner belustigen. Das waren, so schien es, auch viele Medienvertreter noch gewöhnt. Doch Steinmeier stammte aus einer neuen, ernsteren, vor allem jedoch nüchterneren Politikergeneration mit einer neuen Sachlichkeit, er leistete hier, noch wenig erfolgreich, einen Beitrag zu einer anderen Debattenkultur. Eben jene Debattenkultur beziehungsweise diejenigen, die eine solche forcierten, sollten immer mehr Einzug erhalten in die Politik. Insofern war auch die Bestandsaufnahme des Spiegel, dass man, wenn man sich wie Steinmeier dem Tempo der »kurzatmigen Welt der Politik« entziehe, »schnell zum Sonderling« werde,1024 nicht richtig. Das Gleiche gilt für die Kritik, dass Steinmeier die Eigenschaften vieler Spitzenpolitiker nicht beherrsche, nämlich »manchmal bis an die Grenze der Wahrheit und oft genug auch darüber hinaus« zu gehen.1025 Eben das ist eine Form von Politik, die dafür sorgt, dass Politik immer häufiger als negativ wahrgenommen wird. Steinmeier vertrat hier vielmehr eine Haltung und begab sich nicht in den Wettbewerb über den besten populistischen Haudrauf. So lernte er das öffentliche Reden, ohne der Ernsthaftigkeit abzusprechen (»bisher gut verborgenes Rhetoriktalent« 1026). Er lernte das Posieren vor Kameras, ohne das Inhaltliche aus dem Blick zu verlieren. Er lernte die Zuspitzung, ohne ins Unfaire, Diffamierende abzudriften. Steinmeier definierte den Beruf des Politikers sicherlich nicht neu, aber präsentierte ihn in einem Antlitz, wie er in jener Zeit immer häufiger zu sehen war: von Angela Merkel über Thomas de Maizière und Ursula von der Leyen bis hin zu Torsten Albig und Hannelore Kraft. Nicht er wirkte bald entrückt, sondern Politiker wie Sigmar Gabriel oder Ralf Stegner, die vor allem bei den (älteren) Parteikadern und (jüngeren) Parteisoldaten Zustimmung erhielten.1027 In Analysen ist bereits von einem »postcharismatische[n] Politikstil« die Rede, der »beim Wahlvolk – pointiert formuliert – zu einer (eher) zufriedenen Resignation« führe:1028 »Die Arbeit der Regierung wurde fast über die gesamte Legislaturperiode hinweg mehrheitlich als gut gewürdigt, löste aber keine Begeisterung aus und zeitigte eine historisch niedrige Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2009.«1029 Das kann zwar nicht gutgeheißen werden, ob der Populismus hier die bessere Alternative gewesen wäre, kann jedoch bezweifelt werden. 1024 | Feldenkirchen, M.: »Draußen ist’s heller«; in: Spiegel, 21.09.2009, S. 51. 1025 | Haselberger, Stephan: Genosse Gelassen; in: Tagesspiegel, 19.09.2009, S. 3. 1026 | Hinrichs, Per: Steinmeiers neue Eloquenz begeistert die schwächelnden ElbGenossen; in: Welt, 16.06.2009, S. 30. 1027 | Bukow, Sebastian; Seemann, Wenke: Großen Koalitionen in Deutschland; in: dies. (Hg.): Die Große Koalition, 2010, 2010, S. 9-42; hier: S. 37. 1028 | Ebd. 1029 | Ebd.
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IV. Politik im Vordergrund
Steinmeiers Ochsentour rückwärts jedenfalls mündete in diesem Wahlkampf, der immer, so Gabriel, ein »Härtetest für die Psyche« sei.1030 Während Steinmeier den Wahlkampf verloren hatte, hat er letzteren, den Härtetest, bestanden. Sein späterer Konterpart Gabriel sieht denn auch andere Faktoren, als den Kandidaten für die Wahlniederlage verantwortlich zu machen und lobt Steinmeier im Rückblick, dass dieser unter ungewöhnlichen Bedingungen »dieses schwierige Amt eines Kandidaten« geschultert habe.1031 Ähnlich äußert sich Beck (»fleißig und intensiv und kämpferisch« 1032), Struck schrieb im Rückblick zudem: »Seine Kampfkraft und sein Einsatz waren beeindruckend und wurden unisono in der Fraktion gewürdigt.«1033 All das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Steinmeier, weder an der Medienlandschaft (trotz der Kritik an ihr) noch an der Gesellschaft gescheitert war, sondern es vor allem die aufgezeigten parteiinternen Probleme waren, die zu dieser desolaten Ausgangslage führten, die durch einen wenig stimmigen Wahlkampf noch verstärkt worden sind. Zumindest an Letzterem hatte Steinmeier einen Anteil. So war das aus 16 Personen bestehende Kompetenzteam viel zu groß, sodass es Kompetenz bis zur Unschärfe ausstrahlte. Ein damals führender Sozialdemokrat, der Teil dieses Teams war, spottet in der Rückschau, dass es aus »tausend Personen« bestanden habe.1034 Die Präsidentschaftskandidatin Gesine Schwan wurde, wie erwartet, nicht gewählt, sorgte jedoch im Voraus mit ihrer Warnung vor sozialen Unruhen aufgrund der Wirtschaftskrise für einen Aufschrei in der Politik, der Steinmeier zu einer Distanzierung nötigte, indem er empfahl, Unruhen »nicht herbeizureden«.1035 Der am Abend der verlorengegangenen Europawahl »unprofessionelle[], weil verbitterte[] Auftritt« Steinmeiers bei Anne Will,1036 Prominente, bei denen der Vorwärts vorgab, dass sie für die SPD werben würden, davon aber selbst nichts wussten und sich distanzierten1037 und die permanenten Schröder-Vergleiche blieben hierbei Fußnoten des missglückten, uneinigen Wahlkampfes. Merkel bot der
1030 | Gabriel, Sigmar im Gespräch mit dem Autor am 10.02.2014. 1031 | Ebd. 1032 | Beck, Kurt im Gespräch mit dem Autor am 16.08.2013. 1033 | Struck, P.: So läuft das, 2010, S. 283. 1034 | Heil, Hubertus im Gespräch mit dem Autor am 05.02.2014. 1035 | Doemens, Karl: Schwan sorgt für Unruhe in der SPD; in: Frankfurter Rundschau, 25.04.2009, S. 6. 1036 | Wittke, Thomas: Der Kandidat, allein zu Haus; in: General-Anzeiger, 15.07.2009, S. 3. 1037 | Vgl. o.V.: Gewerkschafter wollen nicht Steinmeiers Wahlhelfer sein; in: Tagesspiegel, 17.09.2009, S. 4.
9. Metamorphose II
SPD nicht nur keine »Angriffslinie« wie 2005,1038 es war vielmehr umgekehrt, sodass die SPD mit den genannten Aktionen selbst eine negative Angriffslinie aufzeigte, es dem Gegner also recht einfach machte. All das wäre mit einem anderen Kandidaten allerdings vermutlich nur bedingt anders gewesen. Und so blieb Steinmeier letztendlich nichts anderes übrig, als in einen Tunnelblick zu verfallen. »Die SPD ist zurück«, rief er nach vermeintlichen Siegen in Thüringen und im Saarland Ende August 2009, die jedoch nur aufzeigten, dass es für Schwarz-Gelb in diesen Ländern nicht reichte, die SPD selbst aber kaum hinzugewann.1039 Schon aber verkündete der Kandidat, dass er bei seinen bisherigen Auftritten »Neugier bei den Menschen auf die Antworten der SPD« festgestellt habe1040 und versteifte sich damit auf die Hoffnung auf eine vermeintlich andere Stimmung als die, die in den Medien beschrieben worden ist. Ein Irrtum, dem immer wieder Politiker erliegen (müssen), wollen sie nicht vorzeitig aufgeben.1041 »[D]ieser Tunnelblick« sei, befindet Steg, »überlebenswichtig, um jeden Tag diese Belastung im Wahlkampf überhaupt bewältigen zu können.«1042 Unermüdlich kämpfte Steinmeier also und bemühte sich etwa vor dem TV-Duell noch um positive Resonanzen. An eine Schauspielerin, die er so gut kannte, dass er sie duzte, schrieb er einen beinahe verzweifelt klingenden Brief, in dem er »kaum […] wage […] zu fragen, ob Du mich am 13. Sept. beim Fernsehduell im Adlershof unterstützen kannst. Du weißt: weniger das Duell ist entscheidend, sondern was Dritte nach dem Duell über die Kandidaten sagen. Vor 4 Jahren war die Stunde nach dem Duell die entscheidende. Da wurden von den Medien Bewertungen durchgedrückt, die die öffentliche Wahrnehmung geprägt haben. Die andere Seite geht sicher mit Unterstützung von Springer und Wirtschaftspresse ins Duell. Mir täte deshalb Unterstützung von Menschen, die bereit sind, ein gutes Wort über den Kandidaten zu sagen, gut. Ich weiß
1038 | Vgl. Alemann, U. von; Spier, T.: Erholung in der Opposition?; in: Niedermayer, O. (Hg.): Die Parteien nach der Bundestagswahl 2009, 2011, S. 65. 1039 | Vgl. Forschungsgruppe Wahlen: Landtagswahlen im Saarland, in Sachsen und in Thüringen, 30.08.2009; abrufbar unter: www.forschungsgruppe.de/Wahlen/Wahl analysen/Newsl_SaarThueSach09_2.pdf (zuletzt eingesehen am 07.07.2016). 1040 | Zitiert nach Wittke, Thomas: Steinmeiers Stolz; in: General-Anzeiger, 31.08. 2009, S. 3. 1041 | Vgl. Kohlmann, Sebastian: »Da ist noch viel Bewegung drin«; in: Spiegel Online, 21.09.2009; abrufbar unter: www.spiegel.de/einestages/missglueckte-wahlprog nosen-a-948496.html (zuletzt eingesehen am 07.11.2015). 1042 | Steg, Thomas im Gespräch mit dem Autor am 16.12.2013.
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IV. Politik im Vordergrund nicht, ob Du Zeit und erst recht Lust hast, aber ich will Dich wenigstens fragen. Das Duell ist am Sonntagabend (13.9.) im Adlershof. Ich würde mich freuen, Dich zu sehen.«1043
Er schloss mit den menschlichen Worten: »Wenn’s am 13. nicht geht, bleiben uns ja immer noch die Spaghetti. Herzliche Grüße Frank-Walter Steinmeier.«1044 Bei einer der letzten Wahlkampf-Kundgebungen in Hannover wiederum, bei der Doris Schröder-Köpf Steinmeier herzlich umarmte und Schröder ihn mit Schulterschlag begrüßte,1045 betonte er noch einmal den großen Einfluss der SPD in der Wirtschaftskrise,1046 was, wie gezeigt, stimmte. Doch all das verfing nicht mehr. So bleibt: Steinmeier wäre womöglich, wie auch Medienvertreter und Wegbegleiter urteilten,1047 ein guter Kanzler gewesen. »Ich will nicht Kanzler werden, um einfach Kanzler zu sein«,1048 rief er einmal. Das grenzte ihn von Schröder ab, der zunächst Kanzler werden wollte, um eben Kanzler zu sein. Und doch reichte es bei der Bundestagswahl 2009, die schließlich im September folgte, für gerade einmal 23 Prozent, dem schlechtesten Ergebnis in der Nachkriegsgeschichte der SPD. Die Partei war am Ende eines »unter großen Anstrengungen und auch Schmerzen« vollzogenen Wandlungsprozesses angekommen, in der sich die Partei »in vielen Bereichen gehäutet«1049 und
1043 | Aktenbestand Büro Parteivize Frank-Walter Steinmeier (im Archiv der sozialen Demokratie): »Büro Frank-Walter Steinmeier | 2009 | Ablage | Briefe FWS | A-K | SPDPV, Stv. F.W. Steinmeier (01/2013)«. 1044 | Ebd. 1045 | Der Autor war bei der Wahlkampfauftaktveranstaltung in Hannover am 25.08.2009 vor Ort. 1046 | Vgl. Hebestreit, Steffen: Steinmeier geht zum Angriff über; in: Frankfurter Rundschau, 01.09.2009, S. 2. 1047 | Steinmeier »mag dröge und langweilig wirken. Sein wahres Problem aber ist seine Partei, und die fehlende Machtperspektive. Dabei wäre er vermutlich kein schlechter Kanzler«, stellte der Spiegel fest. »Wohl noch nie hat sich ein Mann um dieses Amt beworben, der schon vorher so viel vom Kanzlersein verstand wie er. Man müsste ihn nicht einarbeiten.« (Feldenkirchen, M.: »Draußen ist’s heller«; in: Spiegel, 21.09.2009, S. 49) Brigitte Zypries ist noch heute überzeugt, dass Steinmeier, auch wenn er zwar »kein optimaler Kandidat« gewesen sei, »natürlich ein guter Kanzler« gewesen wäre. »Der wäre sogar ein sehr guter Kanzler.« (Zypries, Brigitte im Gespräch mit dem Autor am 24.02.2014.) 1048 | Zitiert nach König, Jens: Mission Impossible; in: Stern, 10.09.2009, S. 40-49; hier: S. 48. 1049 | Butzlaff, F.: Verlust des Verlässlichen; in: Butzlaff, F.; Harm, S.; Walter, F. (Hg.): Patt oder Gezeitenwechsel?, S. 37.
9. Metamorphose II
die Hälfte ihrer Wähler von 1998 verloren hatte.1050 »Nicht wenige Standbeine der Parteiidentität, die über viele Jahrzehnte flügelübergreifend Konsens und Selbstverständlichkeit gewesen waren, sind dabei verloren gegangen oder als vermeintlich überflüssiger und hemmender Ballast beiseite geschafft worden.«1051 Steinmeier hatte die Partei mit entstaubt und regierungsfähig gehalten und verkörperte dabei deutlich diese neue SPD, von deren Basis viele noch zurückblickten zu alten Zeiten.1052 Doch längst waren die Kritiker abgewandert und keineswegs nur zur Linkspartei,1053 was sich auch im Wahlergebnis widerspiegelte: »Selbst wenn man einmal davon ausginge, dass sämtliche 2,6 Millionen Wählerstimmen, die die PDS bzw. die Linkspartei seit 1998 hinzugewinnen konnte, von früheren SPD-Wählern gekommen wären (was nicht der Fall ist), blieben noch 7,6 Millionen Stimmen, die von der SPD in andere Richtungen verloren wurden.«1054
Dennoch: In der SPD-Basis bestand in dieser Zeit eine Mischung aus Lustlosigkeit, Oppositionslust und Desillusionierung nach elf Regierungsjahren, in denen das Machbare gemacht und das Utopische gelassen worden ist. Sie schleppte sich nur noch hinter ihren aktuellen Vordenkern her, von denen, wie im folgenden Kapitel gezeigt wird, zumindest einer, nämlich Steinmeier, zu den neuen starken Kräften der SPD nach der Wahl gehören sollte. Für den Mo1050 | Vgl. Grunden, Timo: Die SPD; Zyklen der Organisationsgeschichte und Strukturmerkmale innerparteilicher Entscheidungsprozesse; in: Korte, Karl-Rudolf; Treibel, Jan (Hg.): Wie entscheiden Parteien?, Baden-Baden 2012, S. 93-120; hier: S. 95f. 1051 | Butzlaff, F.: Verlust des Verlässlichen; in: Butzlaff, F.; Harm, S.; Walter, F. (Hg.): Patt oder Gezeitenwechsel?, S. 38. 1052 | Den »typische[n] Sozialdemokraten« beschreibt der ehemalige Kulturstaatssekretär im Kanzleramt Michael Naumann in der Zeit mit den Worten: »[D]as ist der ältere Herr am Infostand, mit dem in den vergangenen Wochen kein Passant mehr sprechen mochte; das ist der namenlose Juso und Asta-Vorsitzende, der von fünf Prozent der Studenten gewählt worden ist und immer noch kein Berufsziel hat (außer ›Politiker‹); das ist der sympathische, wenn auch allzu zurückhaltende Bundestagsabgeordnete, dem es nach vierjähriger Wühlerei im Verkehrsministerium gelungen ist, eine Lärmschutzmauer neben dem Bahngleis in seinem Bezirk durchzusetzen – und der dennoch nicht wiedergewählt wurde. Der typische Sozialdemokrat ist womöglich gar keiner mehr, sondern gehört zu der halben Million Parteimitgliedern, die der SPD seit 1976 abhanden kam.« (Naumann, M.: Ein Jahrzehnt. Oder zwei; in: Zeit, 08.10.2009) 1053 | Vgl. Butzlaff, F.: Verlust des Verlässlichen; in: Butzlaff, F.; Harm, S.; Walter, F. (Hg.): Patt oder Gezeitenwechsel?, S. 38. 1054 | Matuschek, P.; Güllner, M.: Volksparteien ohne Volk; in: Niedermayer, O. (Hg.): Die Parteien nach der Bundestagswahl 2009, S. 226.
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ment aber dürften zunächst viele Sozialdemokraten, auch Steinmeier, ähnlich wie der scheidende Fraktionschef Struck gedacht haben, der sich im Rückblick an den Wahlsonntag erinnerte: »Todtraurig habe ich den Rest des Abends vor dem Fernseher verbracht und zappend verfolgt, wie viele Kolleginnen und Kollegen dieses katastrophale Ergebnis bei der Bundestagswahl am 27. September das Mandat kostete. Es waren bittere Stunden.«1055
1055 | Struck, P.: So läuft das, 2010, S. 286.
10. Der Politiker 10.1 F r ak tionschef »Wenn man nach dieser bitteren Niederlage 2009 aus der Politik ausgeschieden wäre, ohne das jetzt noch irgendwas kommt – das wäre wahrscheinlich doch eine Wunde gewesen, […] die nur schwer […] geheilt wäre«, erinnert sich Steinmeier.1 Die Wunde muss groß gewesen sein, die das Bundestagswahlergebnis bei Steinmeier hinterlassen hatte. So groß wie diese war am Wahlabend allerdings auch der Jubel der Delegierten. Die Sozialdemokraten im Willy-Brandt-Haus beklatschten ihren Kanzlerkandidaten. Sie beklatschten ihn so, als habe er gewonnen. Haushoch gewonnen. Müntefering sollte an diesem Abend ein letztes Mal par ordre du Mufti handeln und Steinmeier zum Fraktionsvorsitzenden ausrufen.2 Vorausgegangen war diesem Intermezzo eine kurze Phase sozialdemokratischer Ränkespiele. Noch vor Schließung der Wahllokale war in der Welt am Sonntag zu lesen, dass sich »eine Kandidatur von […] Steinmeier für den Fraktionsvorsitz im Bundestag« abzeichne – »unabhängig davon, ob seine Partei in der Opposition landet oder weiter regieren kann.«3 Der Tagesspiegel meldete einen Tag vor der Wahl unter Bezug auf Parteikreise, dass Steinmeier »eine Kandidatur für das Amt des SPD-Fraktionsvorsitzenden in Erwägung« ziehe.4 Im »internen SPD-Zirkel«, hieß es rückblickend, soll er das »mehrfach deutlich erkennen lassen« haben.5 Anders als Steinmeier, der sein Interesse vor allem intern bekundete, betonten andere das auch öffentlich. So war von Struck
1 | Steinmeier, Frank-Walter im zweiten Gespräch mit dem Autor am 06.10.2014. 2 | Vgl. Kohlmann, S.: Franz Müntefering, 2011, S. 172. 3 | Sturm, Daniel-Friedrich: Steinmeier könnte Müntefering und Struck beerben; in: Welt am Sonntag, 27.09.2009, S. 4. 4 | Hebestreit, Steffen: Als Verlierer trotzdem der neue starke Mann?; in: Frankfurter Rundschau, 26.09.2009, S. 29. 5 | Goffart, D.: Steinbrück, 2012, S. 212f.
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in der Frankfurter Rundschau zu vernehmen: »Frank-Walter Steinmeier muss weiterhin eine zentrale Rolle spielen.«6 Das war die eine Seite. Auf der anderen stand intern vernehmbar insbesondere Gabriel, der erneut frühzeitig intervenierte und auch in den Tagen nach der Wahl eine Schlüsselrolle innehatte. Am Wahlsonntag, noch vor der internen Bekanntgabe der ersten Wahltagsbefragungen gegen 14 Uhr, soll er, so war in mehreren Medienberichten zu lesen, Steinmeier angerufen und »recht unverfroren durchblicken« lassen haben, dass er, Gabriel, im Falle »einer Niederlage der SPD den Fraktionsvorsitz im Bundestag übernehmen möchte. Dafür könne Steinmeier, so die Andeutungen, ja den Parteivorsitz übernehmen.«7 Nach Steinmeiers internen Interessebekundungen musste das für ihn wie eine »Kampfansage«8 wirken. Ein damals und auch später noch führender Sozialdemokrat erinnert sich, dass »andere sich vorher getroffen hatten, und sich Gedanken über die SPD gemacht haben. Allerdings ohne ihn«.9 Die möglichen Fliehkräfte im Zuge einer Wahlniederlage wurden also schon im Voraus deutlich. Und so waren sich Müntefering, Steinmeier, Steinbrück und Nahles – also die enge Parteiführung um ihren Parteivorsitzenden und dessen Vizes, zu denen Gabriel nicht gehörte – sowie Fraktionschef Struck einig, dass die Personalie des Fraktionsvorsitzes nun »das Wichtigste« sei, »was jetzt geklärt werden muss« (Struck).10 Steinmeier habe in einer ersten Lagebeurteilung kurz nach 18 Uhr »die Anwesenden« angeschaut und gefragt, »ob jemand etwas dagegen habe, wenn er gleich vor der Presse ankündigen würde, für den Fraktionsvorsitz zu kandidieren. Müntefering, Struck und Steinbrück verneinten, Andrea Nahles schwieg.«11 Am Ende war es Müntefering, der die Absichten Steinmeiers verkündete – und den Zorn der Genossen so (un-)bewusst umlenkte auf sich selbst. Müntefering bestätigt im Rückblick, dass er Steinmeier als Fraktionsvorsitzenden 6 | Zitiert nach Hebestreit, S.: Als Verlierer trotzdem der neue starke Mann?; in: Frankfurter Rundschau, 26.09.2009, S. 29. 7 | Goffart, D.: Steinbrück, 2012, S. 212f; vgl. auch Deggerich, Markus; Dettmer, Markus; Feldenkirchen, Markus; Hickmann, Christoph; Kullmann, Kerstin; Nelles, Roland; Schwägerl, Christian; Schwennicke, Christoph; Winter, Steffen: Aufstand der Urenkel; in: Spiegel, 05.10.2009, S. 22-31; hier: S. 26. 8 | Goffart, D.: Steinbrück, 2012, S. 212f. 9 | So ein Interviewpartner, der nicht genannt werden möchte, im Gespräch mit dem Autor. (Um die Anonymität zu wahren, wird für alle anonymisierten Personen eine männliche Form verwendet.) (Nr. 37) 10 | Zitiert nach Goffart, D.: Steinbrück, 2012, S. 215. 11 | Goffart, D.: Steinbrück, 2012, S. 216f; vgl. auch Deggerich, M.; Dettmer, M.; Feldenkirchen, M.; Hickmann, C.; Kullmann, K.; Nelles, R.; Schwägerl, C.; Schwennicke, C.; Winter, S.: Aufstand der Urenkel; in: Spiegel, 05.10.2009, S. 26.
10. Der Politiker
vorgeschlagen habe, weil er »weiß, wie wichtig [der] Fraktionsvorsitzende ist«.12 Für ihn selbst sei es der »wichtigste Job« gewesen, »den ich gehabt habe«, ein »besonderer Job«.13 An jene Diskussion an jenem Wahlabend erinnert er sich mit den Worten: »Ich wusste natürlich […] an dem Tag, dass […] ich nicht Vorsitzender bleiben konnte. Aber wusste auch, dass ’ne Nacht sehr lang ist und dass man das klären muss. […] Auf der Stelle. Deswegen habe ich ihn auch sehr unterstützt dabei.«14 Es bleibt dahingestellt, wie sehr Müntefering nicht zunächst für sich selbst doch noch einmal den Parteivorsitz anstrebte. Jedenfalls rettete Müntefering mit der forcierten Verkündung nicht nur Steinmeiers Karriere, sondern setzte vielmehr auch ein Ausrufezeichen im anzunehmenden Tauziehen über den richtigen parteipolitischen Kurs nach der Bundestagswahl. Ein Linksruck würde mit Steinmeier nicht zu befürchten sein. Diese Ausrufung im Handstreich war so ein letzter Verdienst Münteferings – zumindest für diejenigen, die den Agenda-Kurs nach wie vor für richtig hielten. Hubertus Heil erinnert sich, dass er froh gewesen sei, dass Steinmeier »sich das [Amt] gegriffen hat«.15 Und doch war die Inthronisierung noch nicht gewonnen, sondern nur der erste Schritt getan. Am Tag nach der Wahl tagten die Mitglieder von Parteipräsidium und -vorstand, deren Aussprache, so verschiedene Medien, an eine mehrstündige »schonungslose Bilanz« der elf Regierungsjahren erinnerte.16 »Alles ist zur Sprache gekommen«, berichtete ein Teilnehmer der Runde der Frankfurter Rundschau, »es war ein einziger Rundumschlag, aber kein Scherbengericht«.17 Kurzfristig zog Steinmeier hierbei wohl auch in Betracht, seine Kandidatur doch noch zurückzuziehen und nicht für den Fraktionsvorsitz zu kandidieren. »Ihr seid gegen die Agenda 2010, die Rente mit 67, Hartz IV, gegen den Afghanistan-Einsatz. Das ist, wofür ich elf Jahre Politik gemacht habe«, soll er in einer dieser vertraulichen Sitzungen gesagt haben.18 Bei einem Zurückdrehen könne er, wurde er laut Focus deutlicher, der Partei nicht hel12 | Müntefering, Franz im Gespräch mit dem Autor am 22.10.2013. 13 | Ebd. 14 | Ebd. 15 | Heil, Hubertus im Gespräch mit dem Autor am 05.02.2014. 16 | Haselberger, Stephan; Monath, Hans: Im Fall der Not; in: Tagesspiegel, 30.09.2009, S. 2; vgl. auch Doemens, Karl; Hebestreit, Steffen: Retten, was zu retten ist; in: Frankfurter Rundschau, 30.09.2009, S. 2; vgl. außerdem Hebestreit, Stephan: Münteferings Rückzug; in: Frankfurter Rundschau, 29.09.2009, S. 2. 17 | Zitiert nach Hebestreit, S.: Münteferings Rückzug; in: Frankfurter Rundschau, 29.09.2009. 18 | Zitiert nach Pörtner, Rainer; Randenborgh, Katrin van; Steinkühler, Karl-Heinz; Weber, Herbert; Wiegold, Thomas; Zorn, Thomas: Der Pakt der roten Rivalen; in: Focus, 05.10.2009, S. 34-38; hier: S. 35.
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fen.19 Mehrere führende Sozialdemokraten sollen im Folgenden interveniert und für Steinmeier als Fraktionschef geworben haben. Namentlich wurden zum Beispiel Kurt Beck und Matthias Platzeck genannt, was insofern nicht verwunderlich erscheint, als dass sie einen ähnlichen Kurs in der politischen Ausrichtung präferierten wie Steinmeier.20 Am Tag zuvor hatten Steinmeier und Müntefering diesen Kurs bereits indirekt skizziert. Der Stern beschrieb die Botschaft der beiden am Wahlsonntag mit den (süffisanten) Worten: »Agenda 2010 war richtig, Hartz IV war richtig, Rente mit 67 war richtig, Große Koalition war richtig, der Wahlkampf war gut und der Kanzlerkandidat auch. Über den Rest müsse man reden«.21 Zu diesem Rest gehörte bald auch der Parteivorsitz, den Steinmeier zumindest kurzzeitig auch anstrebte, es zumindest kolportiert worden ist.22 Steinmeier hätte die Partei in Personalunion so formen können, wie er es für richtig hielt – soweit er in der Partei erfolgreich für seinen Kurs geworben hätte. Es wäre der bisherige Höhepunkt seiner parteipolitischen Karriere – trotz der vorausgegangenen Wahlniederlage. Die Befürchtung, dass er das anstreben könnte, hatte erneut auch Gabriel. So soll sich der Noch-Umweltminister nach seinem Mittagsanruf am Abend der Wahl erneut bei Steinmeier gemeldet haben. »Mach nicht beides«, soll er dem scheidenden Kanzlerkandidaten zugeraunt haben.23 Nach der »Kampfansage«24 vom Mittag kam der Spiegel nun zu dem Schluss, dass das »kein Ratschlag« sei, sondern »eine Drohung«.25 Das dürfte Steinmeier am Montag durch den Kopf gegangen sein, als er »schweigend, in sich gekehrt« die weitere Diskussion des Präsidiums verfolgte26 – und damit die Erkenntnis gereift sein muss, dass er die Personalunion nicht wird anstreben können, der Widerspruch zu groß sein würde. So erinnert sich Steg im Rückblick, dass man es »bei 23 [Prozent] […] zwar mal diskutieren« könne, »aber ich hatte die Stimmung an dem Wahlsonntag so eingeschätzt, dass man mit 23 [Prozent], jedenfalls nicht als Spitzenkandidat, 19 | Vgl. ebd., S. 36. 20 | Vgl. ebd.; vgl. auch Hebestreit, S.: Münteferings Rückzug; in: Frankfurter Rundschau, 29.09.2009; vgl. auch Sturm, Daniel-Friedrich: Kraft, Scholz, Schwesig und Wowereit als Stellvertreter Gabriels; in: Welt, 02.10.2009, S. 2; vgl. außerdem König, Jens; Rosenkranz, Jan: Der Untergang; in: Stern, 01.10.2009, S. 42-48. 21 | König, J.; Rosenkranz, J.: Der Untergang; in: Stern, 01.10.2009, S. 46. 22 | Vgl. Kullmann, Kerstin: Immer in Bodennähe; in: Spiegel, 07.12.2009, S. 36-38; hier: S. 38. 23 | Zitiert nach ebd., S. 38. 24 | Goffart, D.: Steinbrück, 2012, S. 212f. 25 | Kullmann, K.: Immer in Bodennähe; in: Spiegel, 07.12.2009, S. 38. 26 | Pörtner, R.; Randenborgh, K. van; Steinkühler, K.-H.; Weber, H.; Wiegold, T.; Zorn, T.: Der Pakt der roten Rivalen; in: Focus, 05.10.2009, S. 36.
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dann ernsthaft […] Partei- und Fraktionsvorsitzender würde«.27 Die Ämtertrennung sei so eine »logische Konsequenz« gewesen.28 Auch Müntefering äußert sich Jahre später ähnlich wie Steg, räumt ein, dass Steinmeier nicht hätte beides machen können. »Das wär’ ja sozusagen die Botschaft gewesen, soll alles bleiben, […] wie es ist.«29 Vielmehr habe eine Situation herbeigeleitet werden müssen, »die das Alte nicht völlig vergisst«.30 Und so wurde Steinmeier mit der Inthronisierung zum Fraktionsvorsitzenden als Garant für diese elf Regierungsjahre und den dazugehörigen Kurs gesetzt, dem Anspruch folgend, diesen nunmehr in die Zukunft zu adaptieren. Wie komplex die Ausgangslage nach der Wahl tatsächlich war, zeigten auch die übereinstimmenden Berichte mehrerer Medien über eine Zusammenkunft von Gabriel, Nahles, Scholz und Wowereit an jenem Montagnachmittag.31 Einige Zeitungen berichteten zusätzlich von Hannelore Kraft.32 Aus dieser Sitzung ist jedenfalls, als sie nacheinander durchgingen, wer den Parteivorsitz machen könne, Gabriels Aussage überliefert: »Also, ich würd’s machen.«33 All das könnte als Spekulation abgetan werden, weil es keinerlei Mitschriften oder Protokolle gibt und sich dieser Ablauf allein auf Medienberichte stützt, deren Quellen nicht offenliegen. Doch Gabriel selbst erinnert sich an ein Gespräch dieser vier, auch wenn er lediglich davon spricht, dass sie Steinmeier abgeraten hätten zu kandidieren. Nach der Parteivorstandsitzung haben, so Gabriel, »Olaf Scholz und ich […] uns ja unterhalten mit Klaus Wowereit und Andrea Nahles. Und dann sind Olaf Scholz und ich zu ihm gegangen, in sein Büro […]. Und haben ihm gesagt, Frank, also, wenn Du das willst, werden wir dich unterstützen, keiner von uns wird gegen dich antreten. Aber wir können Dir das nicht raten. Und er hat darum gebeten, dass er Zeit kriegt: zwei Tage oder drei.« 34
27 | Steg, Thomas im Gespräch mit dem Autor am 16.12.2013. 28 | Ebd. 29 | Müntefering, Franz im Gespräch mit dem Autor am 22.10.2013. 30 | Ebd. 31 | Vgl. Pörtner, R.; Randenborgh, K. van; Steinkühler, K.-H.; Weber, H.; Wiegold, T.; Zorn, T.: Der Pakt der roten Rivalen; in: Focus, 05.10.2009, S. 36; vgl. auch Deggerich, M.; Dettmer, M.; Feldenkirchen, M.; Hickmann, C.; Kullmann, K.; Nelles, R.; Schwägerl, C.; Schwennicke, C.; Winter, S.: Aufstand der Urenkel; in: Spiegel, 05.10.2009, S. 23. 32 | Vgl. Hebestreit, S.: Münteferings Rückzug; in: Frankfurter Rundschau, 29.09.2009. 33 | Zitiert nach Deggerich, M.; Dettmer, M.; Feldenkirchen, M.; Hickmann, C.; Kullmann, K.; Nelles, R.; Schwägerl, C.; Schwennicke, C.; Winter, S.: Aufstand der Urenkel; in: Spiegel, 05.10.2009, S. 23. 34 | Gabriel, Sigmar im Gespräch mit dem Autor am 10.02.2014.
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Seine Einschätzung, führt Gabriel weiter aus, sei gewesen, »der hätte den Parteitag gar nicht erreicht als Kandidat. Insofern war die Entscheidung am Dienstag, für die Fraktion zu kandidieren, die richtige«.35 Es war letztendlich eine geringe Unterstützung, die hier offenbar wurde, gepaart mit der deutlichen Ansage, dass eine andere Variante präferiert werde. Wohlgemerkt: Allein von Gabriels Einschätzung her hätte nicht unbedingt von einem unfreundlichen Akt gesprochen werden können. Diese allein zeigte womöglich mehr noch, dass Gabriel die innerparteiliche Stimmung nach wie vor schlicht besser einschätzen konnte als Steinmeier, der mit dem oppositionellen Fraktionsvorsitz einen weiteren Schritt in seiner rückwärtigen Ochsentour ging. Zu kritisieren ist damit nicht unbedingt die Einschätzung Gabriels, sondern vielmehr, dass Steinmeier – immerhin ehemaliger Kanzlerkandidat und, obendrein, nach wie vor Parteivize – in diesen Entscheidungsfindungsprozess nicht mit einbezogen wurde. Das konnte nicht freundlich ausgelegt werden, sondern säte vielmehr Misstrauen. So stellte diese Begebenheit zusammengenommen mit den recht unverblümten Drohungen vom Wahlabend eine weitere Wegmarke innerhalb des sich auseinanderdriftenden Verhältnisses zwischen den zukünftigen zwei Spitzenpolitikern der SPD dar. Mittlerweile drohte allerdings zudem, unabhängig von Gabriels Intervention, dass Steinmeiers Wahl zum Fraktionsvorsitzenden zur Disposition gestellt werden würde. Das dürfte ebenfalls ein Grund dafür gewesen sein, dass nur wenige Stunden nach Gabriels interner Ansage aus dem Umfeld des ehemaligen Kanzlerkandidaten gestreut wurde, dass er nicht mehr Parteivorsitzender werden wolle36 – und dies schließlich in der entscheidenden Sitzung in der Fraktion auch selbst verkündete.37 Die Stimmung in jener konstituierenden Fraktionsvorsitzung sei »aufgewühlt und melancholisch«38 gewesen, hielt der Tagesspiegel fest. Dabei habe Wolfgang Thierse, »der seinen eigenen Wahlkreis an die Linkspartei verloren hat […], vor einem Scherbengericht und vor Schuldzuweisungen an Steinmeier« gewarnt:39 »Wir sind keine Wendehälse, die heute Hosianna rufen und 35 | Ebd. 36 | Vgl. Pörtner, R.; Randenborgh, K. van; Steinkühler, K.-H.; Weber, H.; Wiegold, T.; Zorn, T.: Der Pakt der roten Rivalen; in: Focus, 05.10.2009, S. 36. 37 | Vgl. Haselberger, Stephan; Monath, Hans: Wendungsbewusstsein; in: Tagesspiegel, 01.10.2009, S. 3. 38 | Ebd.; von einer rat- und orientierungslose[n] Partei« sprechen in einer rückblickenden Analyse außerdem Tim Spier und Ulrich von Alemann; Alemann, Ulrich von; Spier, Tim: In ruhigem Fahrwasser, aber ohne Land in Sicht? Die SPD nach der Bundestagswahl 2013; in: Niedermayer, Oskar (Hg.): Die Parteien nach der Bundestagswahl 2013, Wiesbaden 2015, S. 51-69; hier: S. 51. 39 | Haselberger, S.; Monath, H.: Wendungsbewusstsein; in: Tagesspiegel, 01.10.2009.
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morgen kreuzigt ihn.«40 Gegen einzelne Bestrebungen, die Wahl zum Fraktionsvorsitz zu verschieben und so ein Vakuum entstehen zu lassen (dessen Ziel letztendlich Steinmeiers Entmachtung bedeutet hätte), lief zudem Struck Sturm. »Ja, wo lebst du denn?« soll er der Abgeordneten zugerufen haben, die das vorgeschlagen hat. »Wir wählen jetzt.«41 Mit 88 Prozent der Fraktionsmitglieder, die ihn wählten, bekam Steinmeier ein gutes Ergebnis,42 was zeigte, dass an einer offenkundigen Abrechnung der Mehrheit bei aller Enttäuschung nicht gelegen war. Das Zugeständnis, nicht für den Parteivorsitz zu kandidieren, dürfte auf dieses positive Ergebnis eingewirkt haben, ließ es doch auch Kritiker verstummen. Gleichfalls dürfte, wie der Spiegel mutmaßte, bei dieser Wahl geholfen haben, dass zwar die »Parteimitglieder den Agenda-Kurs mehrheitlich immer abgelehnt« haben, »aber in der Fraktion […] die Vertreter der ›neuen Mitte‹, wie sich die Agenda-Anhänger nennen, immerhin ein gutes Drittel« stellen.43 Und doch zeigte die lange Liste der Unterstützer, die sich laut und leise äußerten – etwa Struck, Müntefering, Thierse, Platzeck, Steinbrück44 und Beck –, wie umstritten Steinmeier kurz nach der verloren gegangenen Bundestagswahl kurzzeitig war. Sprichwörtlich hing die politische Karriere Steinmeiers, zumindest eine mit führender Rolle, tatsächlich am seidenen Faden. Mit der Wahl zum Fraktionsvorsitzenden war diese nun wieder ein Stück gefestigter. Gleich in dieser ersten Sitzung untermauerte Steinmeier seinen Führungsanspruch, wenn er betonte, dass er die Fraktion zum Kraftzentrum der SPD machen wolle.45 Es war ein erstes Indiz dafür, wie er sich die zukünftige Zusammenarbeit mit dem sich herauskristallisierenden Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel vorstellte, die, so muss aus dieser Aussage geschlossen werden, mindestens auf Augenhöhe stattfinden sollte. Zu den neuen Parteivizes gehörte Steinmeier nicht mehr. Er gab sein Amt also auf beziehungsweise wurde nicht erneut berufen, was allein insofern 40 | Zitiert nach ebd. 41 | Zitiert nach Deggerich, M.; Dettmer, M.; Feldenkirchen, M.; Hickmann, C.; Kullmann, K.; Nelles, R.; Schwägerl, C.; Schwennicke, C.; Winter, S.: Aufstand der Urenkel; in: Spiegel, 05.10.2009, S. 27. 42 | Vgl. Pörtner, R.; Randenborgh, K. van; Steinkühler, K.-H.; Weber, H.; Wiegold, T.; Zorn, T.: Der Pakt der roten Rivalen; in: Focus, 05.10.2009, S. 36. 43 | Kullmann, K.: Immer in Bodennähe; in: Spiegel, 07.12.2009, S. 38. 44 | »Wenn der Steinmeier angegriffen wird – dann rede ich! Den Steinmeier, den verteidige ich.« So in etwa betonte Peer Steinbrück am Presseabend vor dem SPD-Parteitag am 12.11.2009; der Autor war hier vor Ort; vgl. auch Kohlmann, S.: Franz Müntefering, 2011, S. 173. 45 | Vgl. Haselberger, S.; Monath, H.: Wendungsbewusstsein; in: Tagesspiegel, 01.10.2009.
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nicht überraschte, dass er als Fraktionsvorsitzender ohnehin einen Sitz und eine Stimme in der SPD-Spitze hatte46 – und gleichzeitig die Zahl der zu vergebenden Ämter deutlich geschrumpft war. Unter Gabriel wurde fortan die »Stellvertreter-Quadriga mit Klaus Wowereit, Olaf Scholz, Hannelore Kraft und der allzu jugendlichen Manuela Schwesig gebildet.«47 Dazu kam Andrea Nahles als Generalsekretärin. Die Spitze war neu aufgeteilt. Und auch wenn die Verhinderung Steinmeiers als Parteivorsitzenden womöglich kein freundlicher Akt war, stimmte doch, dass es, wie der Focus schrieb, »keinen Putsch, nicht einmal großes Gerangel« gab.48 »Keiner hatte die Kraft sich im Kampf durchzufechten. Es ist ein Arrangement aus Verzweiflung – mit einem an der Spitze, den vorher nur wenige Genossen für geeignet hielten.« 49 Erstaunlich leise hatte sich die Partei also innerhalb weniger Tage neu sortiert. Die Erschütterung war schlicht zu groß. Eine damalige Akteurin erinnert sich: »Dieses Wahlergebnis hat die SPD […] wirklich […] in ihren Grundfesten erschüttert. […] Wir wussten, das wird kein gutes Wahlergebnis, aber auch ich habe nicht mit […] einem derartig schlechten gerechnet.«50 Auch wenn Steinmeier nur, wie im vorausgegangen Kapitel gezeigt, bedingt etwas für dieses Ergebnis, das so viele Gründe hatte, konnte, traf es ihn als Spitzenkandidat ganz besonders. An die Unterstützer des Wahlkampfes aus Kultur und Gesellschaft schrieb er nur wenige Wochen später neben dem Eingeständnis der »bittere[n] Niederlage«: »Eines ist mir wichtig: Die Anstrengungen in diesem Wahlkampf waren nicht umsonst. Die Stimmen für die SPD sind keine verlorenen Stimmen. Wir nehmen die Rolle als stärkste Oppositionspartei an und werden mit aller Kraft dafür kämpfen, die Spaltung unserer Gesellschaft zu verhindern. Die SPD wird gebraucht. Unsere Aufgabe ist es nun, die Sozialdemokratie zu neuer Stärke zu führen. Das ist harte Arbeit. Ich bin bereit, meinen Teil beizutragen. Und ich baue dabei auf ihre Unterstützung.« 51
46 | Vgl. Krauel, Torsten: In der SPD ein Hauch von Revolte; in: Welt am Sonntag, 04.10.2009, S. 1. 47 | Naumann, M.: Ein Jahrzehnt. Oder zwei; in: Zeit, 08.10.2009. 48 | Pörtner, R.; Randenborgh, K. van; Steinkühler, K.-H.; Weber, H.; Wiegold, T.; Zorn, T.: Der Pakt der roten Rivalen; in: Focus, 05.10.2009, S. 37. 49 | Ebd. 50 | Bulmahn, Edelgard im Gespräch mit dem Autor am 20.01.2014. 51 | Aktenbestand Büro Parteivize Frank-Walter Steinmeier (im Archiv der sozialen Demokratie): »Büro Frank-Walter Steinmeier 2009 | Ablage Briefe FWS A-K | SPD-PV, Stv. F.W. Steinmeier (01/2013)«.
10. Der Politiker
Diese Zeilen lesen sich im Rückblick auch wie ein eigenes Sich-Mut-Machen. Sie sind geschrieben in einer Zeit, in der die Anspannungen des Wahlkampfes, jener Tunnelblick langsam abgefallen beziehungsweise gelichtet worden waren und Steinmeier sich nach der Machtsicherung unter dem Eindruck der Realisierung der Geschehnisse in einer müden, ja bisweilen lethargischen Stimmung wiederzufinden schien. So sprach der Focus rückblickend von einem »tiefe[n] emotionale[n] Loch«52 und zitierte einen Vertrauten Steinmeiers mit den Worten: »Wir haben zwei Monate Blues geschoben.«53 Der Spiegel stellte fest, dass der »gescheiterte Kanzlerkandidat […] lustlos in seiner neuen Rolle« wirke.54 Von einer »fast depressive[en]« Stimmung bei ihm war in der Welt am Sonntag die Rede.55 »Er fremdelt mit seinem Amt«, zitierte die Zeitung eine SPD-Abgeordnete.56 Damit einhergehend schienen sich auch viele Medienvertreter mit der Idee eines Fraktionsvorsitzenden Steinmeier zunächst nur bedingt anfreunden zu können, zumindest erschienen in jener Zeit viele negativ konnotierte Berichte. Der Spiegel beispielsweise schrieb: »Viele Genossen fragen sich nun, mehr mitleidig als vorwurfsvoll, warum er sich das noch antut, den Fraktionsvorsitz, obwohl ihm jede Perspektive in der neuaufgestellten SPD-Spitze verbaut ist. Obwohl er keine Truppen in der Partei hat, weder bei den Linken noch bei den konservativen Seeheimern. Obwohl ihm jede Aussicht auf eine zweite Kanzlerkandidatur fehlt«. 57
Über einen Kampf um die nächste Spitzenkandidatur zwischen Wowereit und Gabriel wurde spekuliert.58 Doch auch ins Persönliche gingen einige Berichte. So hieß es in einem anderen Spiegel-Artikel: »Er hat sich an der SPD festgehalten wie ein Kind an seiner Mutter. Warum eigentlich? Was glaubt er, in der Partei noch erreichen zu können? Ist es vernünftig, wenn einer, der so krachend verloren hat, gleich nach dem nächsten Amt greift? Ohne ein Wort der 52 | Pörtner, Rainer: Gabriel lässt die SPD alt aussehen; in: Focus, 16.08.2010, S. 4245; hier: S. 42. 53 | Zitiert nach ebd. 54 | Hickmann, Christoph: Bessere Figur; in: Spiegel, 10.05.2010, S. 26. 55 | Sturm, Daniel-Friedrich: Grauer Mann, was nun?; in: Welt am Sonntag, 17.01.2010, S. 5. 56 | Zitiert nach ebd. 57 | Deggerich, M.; Dettmer, M.; Feldenkirchen, M.; Hickmann, C.; Kullmann, K.; Nelles, R.; Schwägerl, C.; Schwennicke, C.; Winter, S.: Aufstand der Urenkel; in: Spiegel, 05.10.2009, S. 27. 58 | Vgl. ebd.
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IV. Politik im Vordergrund Kritik, ohne auch nur kurz innezuhalten? Selten zuvor hat sich ein Politiker aus einer so schwachen Position heraus in ein Amt gehievt, das ihm so viel Stärke abverlangt. Viele fragen sich, wie ein Mann, den die Wähler nicht einmal mehr in die Nähe des Kanzleramts lassen wollten, jetzt zum härtesten Widersacher Angela Merkel werden soll.« 59
Ungläubig fügte die Welt am Sonntag hinzu: Früher habe Steinmeier mit Hillary Clinton diskutiert, nun müsse er sich »mit Elvira Drobinski-Weiß treffen und die Arbeitsgruppe Tourismus konsultieren«.60 Die taz prognostizierte bereits, dass Steinmeier ein »Mann des Übergangs« bleiben und Gabriel die alleinige Spitze anstatt einer Doppelspitze einnehmen werde.61 Zumindest für die Oppositionsjahre sollte nicht nur diese Zeitung mit ihren Mutmaßungen irren. Es waren teils sehr verengte Sichtweisen von Politik, die in diesen Berichten offenbar wurden. Doch sie verfehlten ihre Wirkung nicht. Retrospektiv erinnert sich Steinmeier daran, dass »viel Blödsinn und Falsches geschrieben worden ist, und […] man dann mit Geduld und Spucke versucht hat, die Kritiker davon zu überzeugen, dass die ersten Kritiken jedenfalls nicht die letzten bleiben […] und nicht für alle Zeiten gültig sein müssen«.62 Zunächst allerdings musste Steinmeier selbst wieder zu alter Verfassung zurückkehren, den Ausweg aus der vermeintlichen politischen Sackgasse finden – und sich einfinden in sein neues Amt. Das allerdings fiel ihm zu Beginn, glaubt man den damaligen Protagonisten, vergleichsweise schwer. Noch nie hatte Steinmeier ein parlamentarisches Mandat innegehabt. Er hat außerdem seine gesamte Karriere, also 18 Jahre lang und damit »länger, als Helmut Kohl Kanzler war«,63 auf Regierungsseite gearbeitet, kannte Oppositionspolitik nur aus der Beobachtung der Gegenseite. Hinzu kam das Klein-Klein eines jeden Abgeordneten. So erinnert sich ein Abgeordneter, dass Steinmeier erst habe lernen müssen, dass sich jeder Abgeordnete als König fühle und es daher 146 Könige nebst ihren Wahlkreisen gebe. »Und die muss man mitnehmen. Das ist anders als ein Ministerium zu leiten. […] Ich mein, das ist kein Beamtenapparat, sondern das sind […] Könige.«64 Man müsse »anders drauf eingehen«, es gebe ein »Eigenleben«, in dem man nicht einfach das, »was rational ist«, entscheiden könne.65 Selbst »teilwei59 | Kullmann, K.: Immer in Bodennähe; in: Spiegel, 07.12.2009, S. 37. 60 | Sturm, D.-F.: Grauer Mann, was nun?; in: Welt am Sonntag, 17.01.2010. 61 | Reinecke, Stefan: Siggi Top; in: taz, 16.11.2009, S. 3. 62 | Steinmeier, Frank-Walter im zweiten Gespräch mit dem Autor am 06.10.2014. 63 | Sturm, D.-F.: Grauer Mann, was nun?; in: Welt am Sonntag, 17.01.2010. 64 | So ein Interviewpartner, der nicht genannt werden möchte, im Gespräch mit dem Autor. (Um die Anonymität zu wahren, wird für alle anonymisierten Personen eine männliche Form verwendet.) (Nr. 34) 65 | Ebd.
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se völlig absurde Sorgen« müsse man noch ernst nehmen, erzählt eine andere Person. Und so sei er manchmal auch aufgrund der Diskussionen »abgenervt« gewesen.66 Ein anderes Fraktionsmitglied geht über das Beispiel der Könige noch hinaus und erinnert an die Entscheidungsprozesse in einer Verwaltung, wo es möglicherweise eine Anordnung gebe, in der Fraktion hingegen »entscheidet nicht der Fraktionsvorsitzende, sondern die Fraktion«.67 Die neue Herausforderung für den Mann aus der exekutiven Politik, jenem Handwerk, das er nachhaltig beherrschte, wird deutlich. Die (oppositionelle) Fraktionsarbeit war das Gegenteil seiner bisherigen Tätigkeiten. Ein Mitglied mit ähnlicher Karriere erzählt: »Wir sind ja beide in der Exekutive groß geworden, haben beide eine Ministerial-Beamtenkarriere hinter uns. […] Wir [sind] beide eher exekutiv-strukturierte Typen.«68 So sei es »ungleich schwieriger, eine Fraktion zu führen als ein Ministerium«.69 Als Grund werden erneut »die Befindlichkeiten der einzelnen Abgeordneten in der Fraktion« angeführt, »teilweise sehr schwierig« sei das.70 Hubertus Heil erinnert sich an die Skepsis, die es ebendort zu Beginn gab: »Der hat sicherlich am Anfang mit der Rolle gefremdelt und viele haben prognostiziert, dass das nichts würde, exekutiver Typ und jetzt frisch gewählter Parlamentarier. Aber er hat in dieser Fraktion relativ schnell […] ein ungeahntes Maß an Autorität und Anerkennung flügel- und regionsübergreifend erlangt, und er hat, wie ein guter älterer Bruder […] die SPD auch durch schwierige Entscheidungsprozesse geführt.« 71
Auch Ulla Schmidt kommt zu einem ähnlichen Schluss, betont die Lernfähigkeit Steinmeiers: »Ich finde, er hat es dann gut gemacht. Das ist aber […] nicht von Anfang reibungslos gelaufen.«72 Bulmahn fügt hinzu, dass es »ein Lernprozess« gewesen sei, »der für diejenigen, die ihn etwas kannten, […] auch
66 | So ein Interviewpartner, der nicht genannt werden möchte, im Gespräch mit dem Autor. (Um die Anonymität zu wahren, wird für alle anonymisierten Personen eine männliche Form verwendet.) (Nr. 33) 67 | So ein Interviewpartner, der nicht genannt werden möchte, im Gespräch mit dem Autor. (Um die Anonymität zu wahren, wird für alle anonymisierten Personen eine männliche Form verwendet.) (Nr. 30) 68 | So ein Interviewpartner, der nicht genannt werden möchte, im Gespräch mit dem Autor. (Um die Anonymität zu wahren, wird für alle anonymisierten Personen eine männliche Form verwendet.) (Nr. 33) 69 | Ebd. 70 | Ebd. 71 | Heil, Hubertus im Gespräch mit dem Autor am 05.02.2014. 72 | Schmidt, Ulla im Gespräch mit dem Autor am 17.10.2013.
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sichtbar wurde«, der bereits im Wahlkampf begonnen und ihn auch »gestählt« habe.73 Gabriel meint, dass es Parteipolitiker »in dem Sinne« gebe, als dass sie »auf die Partei fixiert« seien.74 Das sei Steinmeier »nicht. Und das ist auch gut so.«75 Aber dennoch, eben jener Teil musste auch mit einbezogen werden. Bisweilen war es also ein erneuter Drahtseilakt, der Steinmeier nun gelingen musste. Und hier die Seile straff zu ziehen, sah er zunächst als seine erste Aufgabe an. »Der Laden muss sich insgesamt stabilisieren«, definierte Steinmeier in der Welt mit Blick auf die schlechten Umfragen sein vorläufiges Ziel.76 Erst danach könne die SPD »nach außen wieder überzeugen.«77 Den Parteitag hielt er denn auch für »eine Station« hin zu »inhaltlichen Klärungsprozessen«.78 Einer erinnert sich an die »seelische Disposition der massiv zusammengeschrumpften Restfraktion […]. Also die Fraktion musste Mitarbeiter rausschmeißen. […] Da waren welche, die waren mal was Tolles. Und waren jetzt gar nichts mehr. Und waren persönlich wahnsinnig frustriert. […] Ich war mir nicht sicher, ob die SPD insgesamt überhaupt noch ’ne Chance hatte, mal wieder zu kommen.« 79
Die Ausgangslage, in der Steinmeier sein Amt übernahm und in der er seine Ochsentour rückwärts fortsetzte, war also keineswegs positiv. Er war der Chef einer deutlich geschrumpften Oppositionsfraktion und sollte nun genannt werden in einer Ahnenreihe mit Persönlichkeiten wie Herbert Wehner, Hans-Jochen Vogel, Peter Struck oder Franz Müntefering. In der Opposition konkurrierte er nun mit den Fraktionsführern Oskar Lafontaine und Gregor Gysi sowie Jürgen Trittin und Renate Künast. Für Müntefering ist es das im Vergleich zum Parteivorsitzenden ungleich mächtigere Amt.80
73 | Bulmahn, Edelgard im Gespräch mit dem Autor am 20.01.2014. 74 | Gabriel, Sigmar im Gespräch mit dem Autor am 10.02.2014. 75 | Ebd. 76 | Zitiert nach Sturm, Daniel-Friedrich: Die Sozialdemokraten nähern sich dem »Projekt 18«; in: Welt, 26.11.2009, S. 2. 77 | Zitiert nach ebd. 78 | Zitiert nach ebd. 79 | So ein Interviewpartner, der nicht genannt werden möchte, im Gespräch mit dem Autor. (Um die Anonymität zu wahren, wird für alle anonymisierten Personen eine männliche Form verwendet.) (Nr. 37) 80 | So zumindest erläuterte Franz Müntefering am 18.05.2012 auf einer Veranstaltung in Göttingen. Auf Nachfrage eines Anwesenden, ob der Fraktionsvorsitzende Steinmeier dann nicht mächtiger sei als der Parteivorsitzende Gabriel, schwieg Müntefering.
10. Der Politiker
Dabei erfolgte die Übernahme in einer Zeit, in der die Voraussetzungen für die Volkspartei SPD auch unter Nichtberücksichtigung des Wahlergebnisses keineswegs positiv waren. Neben der Frage der inhaltlichen Ausrichtung konstatieren Forscher ein Unterspülen der »gesellschaftliche[n] Verankerung der Parteien« durch »[v]eränderte Partizipationsbedürfnisse, Verfall und Ausdifferenzierung der ehemaligen Großmilieus sowie […] Steuerungsverluste wohlfahrtsstaatlicher Politik, die mit entsprechenden Enttäuschungen der Wähler einhergehe«.81 Die Mitgliederbasis der Parteien »schrumpft« zudem und gilt als »überaltert«.82 Gleichzeitig übernahm Steinmeier das Amt in einer Zeit, in der die zunehmende Komplexität der Entscheidungsfindung zugenommen hatte und die »Gesetzgebung […] so umfangreich und kompliziert« war, »dass das Plenum wohl zu beschließen, aber kaum mehr zu beraten vermag; die hierfür unabdingbaren Aussprachen verlagern sich in Fraktionen und Ausschüsse, deren Sitzungen meist nicht öffentlich sind. Auch die Stellung des Abgeordneten hat sich mit seiner starken Bindung an Partei und Fraktion grundlegend verändert. Er kann sich nicht mehr während einer erschöpfenden Diskussion eine eigene Meinung bilden, sondern nimmt an einem vielfach verzweigten Gruppenprozess teil und gilt zunächst als Mitglied und Vertreter seiner Fraktion.« (Hervorhebung H.J. etc.) 83
Steinmeier hatte sich in seiner Funktion als Kanzleramtschef frühzeitig, lange auch, bevor überhaupt nur ansatzweise absehbar war, dass er jemals ein parlamentarisches Mandat übernehmen würde, mit diesen neuen Herausforderungen beschäftigt.84 Und so baute er von Beginn an ein eigenes Machtzentrum auf. Er behielt Thomas Oppermann, der in der Fraktion sehr gut vernetzt war und der sich insbesondere in der sogenannten Kurnaz-Affäre und dem dazugehörigen Untersuchungsausschuss als »kompromisslose[r] Verteidiger[]« des damaligen Außenministers herauskristallisiert85 hatte, als Ersten Parlamentarischen Geschäftsführer.86 Zudem ließ Steinmeier Befürchtungen ins Lee81 | Grunden, T.: Die SPD; in: Korte, K.-R.; Treibel, J. (Hg.): Wie entscheiden Parteien?, 2012, S. 107. 82 | Ebd. 83 | Hesse, J.; Ellwein, T.: Das Regierungssystem der Bundesrepublik, 2012, S. 394; vgl. auch Grunden, T.: Die SPD; in: Korte, K.-R.; Treibel, J. (Hg.): Wie entscheiden Parteien?, 2012, S. 108. 84 | Vgl. Kapitel 6.2 in dieser Biographie. 85 | Käfer, Armin: Strucks rechte Hand; in: Stuttgarter Zeitung, 27.11.2007, S. 2. 86 | Ohne Parlamentarische Geschäftsführer, heißt es in einer Analyse, laufe auf dem »Dickschiff Parlament« nichts. »Parlamentarische Geschäftsführer müssen die Klaviatur der gesamtparlamentarischen Partitur beherrschen. Kaum ein anderer Funktionsträger in der Bundesrepublik – vielleicht mit Ausnahme des Chefs des Bundeskanzleramtes
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re laufen, dass er »die Führung der Abgeordneten vor allem ausscheidenden Bundesministern« überlassen würde.87 Stattdessen besetzte er die Posten der Fraktionsvizes mit einer Bandbreite sozialdemokratischen Personals. So waren Hubertus Heil und Florian Pronold gerade erst 36 Jahre alt. Neue Vizes waren auch Gernot Erler, Staatsminister unter Steinmeier im Auswärtigen Amt, und Olaf Scholz, zuvor Arbeitsminister in der Großen Koalition. Es folgte ihm, erneut als Büroleiter, Stephan Steinlein. Auf der einen Seite waren so grundsätzliche Voraussetzungen für ein strategisches Zentrum zumindest innerhalb der Bundestagsfraktion gegeben. Denn »[e]in strategisches Zentrum kann umso effektiver sein, je konzentrierter, verflochtener und zentrierter es ist. Wesentlich ist seine Effektivität allerdings von der Besetzung der zweiten und dritten Ebene abhängig, ohne die jedes Zentrum häufig wild herumrudern würde«.88 Bei Steinmeier schien diese Gefahr nicht zu bestehen, da er »viele Getreue um sich geschart«89 hatte, die durchaus unterschiedliche Positionen vertraten, dabei aber alle einer Regierungs-SPD nahestanden, sodass gute Voraussetzungen dafür gegeben waren, zumindest mittelfristig die Fraktion auf einen bestimmten Kurs einzuschwören. Andererseits hatte Steinmeier ferner enge Mitarbeiter aus der Verwaltung mitgebracht, was seine Tuchfühlung mit der Fraktion sicherlich zunächst nicht begünstigte. Ein Fraktionsmitglied erinnert sich: »Das waren alles aus der Verwaltung erfahrene Leute, aber nicht aus dem, was die Seele einer Partei und eines Fraktionsvorsitzenden ausmacht.«90 Wohl aber hatte Steinmeier, wie skizziert, mit Oppermann und vier weiteren Fraktionsvizes, die ihre Posten behielten,91 gleichzeitig auf parlamentarische Kontinuität gesetzt. Mit diesem – hat ein so breit gefächertes Aufgabenfeld wie der Erste Parlamentarische Geschäftsführer einer großen Bundestagsfraktion« Zudem bereitet er die Sitzungen der Gremien seiner Fraktion vor, sorgt für die notwendige Koordination, ist häufig ihr Personal- und Finanzchef. Im Plenum ist er für Präsenz und Geschlossenheit seiner Fraktion zuständig«; Petersen, Sönke: Parlamentarische Geschäftsführer im Deutschen Bundestag; in: Schrenk, K.; Soldner, M. (Hg.): Analyse demokratischer Regierungssysteme, 2010, S. 287-301; hier: S. 287ff. 87 | Sturm, Daniel-Friedrich: Steinmeier holt das »Mittelalter« an die SPD-Fraktionsspitze; in: Welt, 16.10.2009, S. 2. 88 | Raschke, J.; Tils, R.: Politische Strategie, 2013, S. 296. 89 | Alexander, Robin: Steinmeier sammelt Getreue in der Fraktionsspitze; in: Welt Online, 22.10.2009; abrufbar unter: www.welt.de/politik/deutschland/article4939141/Stein meier-sammelt-Getreue-in-der-Fraktionsspitze.html (zuletzt eingesehen am 29.07. 2016). 90 | Schmidt, Ulla im Gespräch mit dem Autor am 17.10.2013. 91 | Vgl. Alexander, R.: Steinmeier sammelt Getreue in der Fraktionsspitze; in: Welt Online, 22.10.2009.
10. Der Politiker
Personaltableau jedenfalls sollte Steinmeier nach seinem Einfinden in das Amt spätestens ab Frühjahr 2010, symbolisch begleitet durch seine neue, schwarzumrandete Brille, die Arbeit in der Fraktion gestalten und, wie im folgenden Kapitel zu sehen ist, inhaltlich in eine bestimmte Richtung lenken.
10.2 Ü ber den richtigen K urs Der Zwist schien vorprogrammiert. Bereits kurz nach der Bundestagswahl hatte Steinmeier seinen Oppositionskurs in einem Gastbeitrag in der Welt am Sonntag skizziert. Klar machte er darin seinen Anspruch von Fraktionsführung und der inhaltlichen Ausrichtung der SPD, die »vor der Frage« stehe, ob »wir ab heute nur noch die Interessen eines Teils der Gesellschaft« vertreten.92 »Das wäre der leichte Weg. Aber dann sinken wir ab zur Klientelpartei. Oder versuchen wir, die Teile der Gesellschaft wieder zusammenzuführen? Meine Antwort ist klar: Die SPD muss Volkspartei bleiben.«93 Daraus leite sich, führte er aus, »unsere Strategie in der Opposition ab. Dieser Weg mag beschwerlich und anspruchsvoll sein – aber er ist der richtige. Die Abgeordneten« seien, unterstrich er die Bedeutung dieser und damit auch seine eigene als Chef der Fraktion, »als Volksvertreter die Speerspitze in diesem Kampf der SPD als Volkspartei«.94 Zugleich verwies er ausführlich auf die Erfolge der eigenen Regierungszeit unter Rot-Grün und Schwarz-Rot, deren »Bilanz […] sich sehen lassen« könne.95 Schließlich beschrieb er vier Herausforderungen, die nun vor der SPD stehen würden. Die Spaltung der Gesellschaft »um unserer Demokratie willen« aufhalten, hieß es als Punkt eins. Punkt zwei beinhaltete die Botschaft, die Fraktion überhaupt wieder aufzubauen, sie zum »Kraftzentrum« der SPD zu machen.96 Unter Punkt drei ging Steinmeier bereits weiter und skizzierte seine Idee von Oppositionspolitik, bei der es darum gehe, sich als »bessere Alternative« zu präsentieren.97 »Starke Trefferwirkung werden wir dann entfalten, wenn wir uns nicht auf Protest beschränken, sondern den anspruchsvollen Weg gehen: kein Wettlauf um die populistischste Forderung, sondern Verantwortung
92 | Steinmeier, Frank-Walter: Die SPD vertritt nicht nur einen Teil der Gesellschaft; in: Welt am Sonntag, 04.10.2009, S. 2. 93 | Ebd. 94 | Ebd. 95 | Ebd. 96 | Ebd. 97 | Ebd.
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für Deutschland.«98 Punkt vier zeigte bereits seine Richtung auf, nämlich nach vorne zu schauen und Schwarz-Gelb zu kontrollieren: »Wir haben keine Zeit zu verlieren. Schwarz-Gelb formiert sich. Bald gibt es Klarheit über den Kurs von Frau Merkel und Herrn Westerwelle. Und schon zeigt sich, wohin die Wünsche gehen: Billiglöhne, aufgestockt vom Steuerzahler. Mehr Zuzahlung und weniger Leistungen für Kassenpatienten. Eingriffe in Kündigungsschutz und Mitbestimmung. Verlängerung der Laufzeiten von Atomkraftwerken auf Kosten erneuerbarer Energien. Und die Versprechen auf mehr Geld für Bildung werden leeres Gerede bleiben. Darum müssen wir jetzt«,
folgerte er, »schnell Schlagkraft gewinnen und vom ersten Tag der neuen Regierung an gegenhalten. Damit das Soziale in Deutschland nicht unter die Räder« komme.99 Gleichzeitig skizzierte er, dass »[v]on einer modernen Politik […] nicht nur Schnelligkeit und Effizienz, sondern auch Langfristigkeit« erwartet werde und die Politik »in der Lage sein« müsse, »zwischen flüchtigen ›Hypes‹ und gesellschaftlichen Grundtendenzen zu unterscheiden«100 Steinmeier hatte diesen Kurs der »Langfristigkeit« stets zumindest in Teilen praktiziert. Fiel es in der großen Koalition von 2005 etwa einem Gros von Parteipolitikern »von Anfang an schwer, unter den jahrelang erfahrenen Bedingungen der Parteienkonkurrenz zwischen den politischen Lagern die andere Seite nicht mehr als Gegner sondern als Partner zu betrachten«,101 war es nun umgekehrt. Steinmeier hatte es als Kanzleramtschef gelernt, den Konsens zu suchen und immer wieder parteipolitisch-motivierte Verweigerung erlebt. Und so kristallisierte sich zu Beginn der Legislaturperiode die Frage über den richtigen Oppositionskurs für die SPD heraus. Der Konflikt war bis in die Spitze zu beobachten. Hatten Gabriel, der auf dem Parteitag mit 94,2 Prozent der Stimmen gewählt wurde,102 und Nahles in ihren Funktionen als Parteichef beziehungsweise Generalsekretärin eine traditionell »linker« tickende Partei im Blick, so hatte Steinmeier eine traditionell eher konservativer und exekutiver tickende Fraktion, in der der Anteil der Seeheimer und der Netz-
98 | Ebd. 99 | Ebd. 100 | Ebd., S. 269. 101 | Pilz, Frank; Ortwein, Heike: Das politische System Deutschlands. Systemintegrierende Einführung in das Regierungs-, Wirtschafts- und Sozialsystem, München 2008 4, S. 138. 102 | Vgl. Reinecke, S.: Siggi Top; in: taz, 16.11.2009.
10. Der Politiker
werker vergleichsweise groß war,103 zu managen, in der bei Teilen aber auch die Hoffnung nach Änderungen in Bezug auf Hartz IV, Rente mit 67 und dem Bundeswehreinsatz in Afghanistan vorherrschte.104 Der scheidende Fraktionschef Struck glaubte, dass Steinmeiers primäre Aufgabe es sein werde, »gegen Disziplinlosigkeiten« anzukämpfen und »illusionäre Forderungen« aufzuhalten.105 Ein enger Vertrauter erinnert sich, dass Steinmeiers Kurs zunächst mit einer »riesen Skepsis« begegnet worden sei, zumindest »bei denen, die wollten, dass man gleich zuspitzt und zuschlägt«.106 Parteichef Gabriel wollte dem mehr Rechnung tragen, betonte: »Ich will nie wieder hören: erst das Land, dann die Partei.«107 Er suggerierte damit, mit jener Doktrin, mit der Schröder, Steinmeier und Müntefering vorgaben, das Land zu regieren, zu brechen. An dieser Frage entlang entbrannte der Konflikt, ob die Reihenfolge zukünftig Erst das Land, dann die Partei oder Erst die Partei, dann das Land lauten sollte. Dass die Trennlinie damit zwischen Partei- und Fraktionsvorsitzendem verlief, war sicherlich nicht förderlich für diesen Prozess der Neuaufstellung. Von Beginn an war so ein Dissens zwischen Gabriel und Steinmeier erkennbar, dessen Ursprung, wie gezeigt, letztendlich schon im Wahlkampf 2009 lag, nun in einer Doppelspitze aber zumindest im Untergrund, teilweise aber auch öffentlich, weiter sprießen konnte. So distanzierte sich Steinmeier öffentlich vom frisch gewählten Parteivorsitzenden und betonte in Bezug auf eine Forderung des Parteivorsitzenden, dass er »[d]em Fanclub für die Wiedereinführung der Vermögenssteuer, dem Sigmar Gabriel vorsteht, […] nicht beigetreten« sei.108 Der Spiegel kommentierte nicht zu Unrecht: »Für seine Verhältnisse eine dramatische Distanzierung.«109 Überhaupt waren diese ersten Monate nach der Wahl eine Zeit, in der die parteipolitische Hierarchie nicht klar geklärt war, Steinmeier zumindest 103 | Vgl. Grunden, T.: Die SPD; in: Korte, K.-R.; Treibel, J. (Hg.): Wie entscheiden Parteien?, 2012, S. 113. 104 | Vgl. Naumann, M.: Ein Jahrzehnt. Oder zwei; in: Zeit, 08.10.2009. 105 | Struck, P.: So läuft das, 2010, S. 287; Außerdem hebt Struck die Aufgabe hervor, »Arbeitsfelder ohne die unterstützende Hilfe aus den Ministerien« neu zu organisieren; ebd. 106 | So ein Interviewpartner, der nicht genannt werden möchte, im Gespräch mit dem Autor. (Um die Anonymität zu wahren, wird für alle anonymisierten Personen eine männliche Form verwendet.) (Nr. 37) 107 | Zitiert nach Pörtner, R.: Gabriel lässt die SPD alt aussehen; in: Focus, 16.08.2010, S. 45; vgl. auch Alemann, U. von; Spier, T.: In ruhigem Fahrwasser; in: Niedermayer, O. (Hg.): Die Parteien nach der Bundestagswahl 2013, 2015, S. 53. 108 | Steinmeier, F.-W. im Gespräch mit dem Focus; in: Pörtner, R.; Wiegold, T.: »Den Menschen werden die Augen aufgehen«; in: Focus, 23.11.2009, S. 31. 109 | Kullmann, K.: Immer in Bodennähe; in: Spiegel, 07.12.2009, S. 38.
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deutlich machte, dass er nicht unter, sondern auf Augenhöhe mit dem Parteivorsitzenden Gabriel gedachte zu arbeiten. »Wir werden das so miteinander hinkriegen, dass der Gesamtladen davon profitiert«, betonte er in der Welt.110 Im Focus, darauf angesprochen, ob Gabriel nach dem Parteitag die Nummer eins sei, antwortete er ausweichend: »Wir haben unterschiedliche Rollen: Er ist Parteichef. Ich bin Vorsitzender der größten Oppositionsfraktion.«111 Ebenfalls ausweichend war seine Antwort in der Welt am Sonntag, wo er auf die Frage, ob er und Gabriel sich auf »Augenhöhe« begegnen würden, entgegnete: »Ja, wir sind ungefähr gleich groß. Aber im Ernst: Ich führe die Fraktion, Sigmar Gabriel die Partei. Wir kennen uns ganz schön lange ganz schön gut – und kommen gut miteinander hin. Ich finde, wir beide füllen unsere Aufgaben wirklich ordentlich aus.«112 Wenig schmeichelhaft bezeichnete Steinmeier Gabriel dabei indirekt als »hervorragende[n] Solisten«, von denen man in der SPD auch welche brauche, aber fügte zugleich hinzu: »[W]ir wissen alle, dass wir nur gemeinsam im Team erfolgreich sein werden.«113 Und wieder in der Sonntagsausgabe der Welt sagte er: »Der Parteitag war der Beginn einer Neuaufstellung. Wir beide werden diesen Prozess gemeinsam mit den anderen Mitgliedern der Fraktions- und Parteiführung gestalten.«114 Seinen Anspruch auf Gestaltungshoheit formulierte Steinmeier somit deutlich und steckte dabei sein Gebiet ab. Dies könnte als eine Nicht-Anerkennung der Hierarchien angesehen werden, was zu kritisieren wäre. Dieses Verhalten war womöglich auch auf begründetes und von der anderen Seite gesätes Misstrauen zurückzuführen, hatte doch Steinmeier noch am Wahlabend wenig verklausulierte Hinweise Gabriels erhalten, dass dieser selbst den Fraktionsvorsitz anstrebe. Jedenfalls war das Verhältnis der beiden keineswegs klar definiert worden und begann so mit einem Neben- anstatt mit einem Miteinander in der Führung der SPD.
110 | Zitiert nach Sturm, D.-F.: Die Sozialdemokraten nähern sich dem »Projekt 18«; in: Welt, 26.11.2009, S. 2. 111 | Steinmeier, F.-W. im Gespräch mit dem Focus; in: Pörtner, R.; Wiegold, T.: »Den Menschen werden die Augen aufgehen«; in: Focus, 23.11.2009, S. 31. 112 | Steinmeier, Frank-Walter im Gespräch mit der Welt am Sonntag; in: Sturm, Daniel-Friedrich: »Dieser Regierung ist noch nichts geglückt«; in: Welt am Sonntag, 06.12.2009; Onlineversion des Printartikels abrufbar unter: www.welt.de/politik/ article5438428/Dieser-Regierung-ist-noch-nichts-geglueckt.html (zuletzt eingesehen am 09.08.2016). 113 | Steinmeier, F.-W. im Gespräch mit dem Focus; in: Pörtner, R.; Wiegold, T.: »Den Menschen werden die Augen aufgehen«; in: Focus, 23.11.2009, S. 31. 114 | Steinmeier, F.-W. im Gespräch mit der Welt am Sonntag; in: Sturm, D.-F.: »Dieser Regierung ist noch nichts geglückt«; in: Welt am Sonntag, 06.12.2009.
10. Der Politiker
Dabei schien das Tandem zunächst eine durchaus plausible Lösung darzustellen. Auf der einen Seite hatte die Partei einen sachlichen, inhaltsstarken Politiker vorzuweisen, auf der anderen einen Politiker mit einem besseren Sensorium für innerparteiliche Stimmungen. Allerdings gehörte zu Gabriels »prägendste[m] Merkmal« jedoch, wie der Spiegel einmal schrieb, auch die Spontanität, »aus der große Momente entstehen können, aber allzu oft auch menschliche wie politische Kollateralschäden«.115 So entsprang neben inhaltlichen Fragen vor allem ein Konflikt in Stilfragen, bei denen die Unterschiede immens waren. Das betont selbst Gabriel, wenn er sich an »Unterschiede [im] Herangehen an die politischen Fragen« erinnert und selbstkritisch betont: »Zu viel Gabriel wäre genauso schädlich gewesen wie zu viel Steinmeier.«116 Wie wenig zugewandt das Verhältnis gewesen sein muss, wird in einer anderen Aussage eines damaligen Protagonisten deutlich. So äußere sich Steinmeier, wenn man mit ihm rede, »nicht zu Gabriel. Und wenn man sich nicht äußert, heißt das ja auch etwas.«117 Tatsächlich kam diese Einschätzung in vielen Interviews zum Tragen, während anders herum Gabriel nachgesagt wurde, dass er vor Steinmeier »einen riesen Respekt«118 habe, was auch im Gespräch mit ihm deutlich wurde.119 Steinmeier wiederum wisse auch, »was er nicht kann, und was Gabriel kann«, fügt eine Person hinzu.120 Ein anderer hingegen betont, dass sie sich »schätzen und respektieren« und die Stärken des anderen kennen würden.121 Sogleich schränkt dieser Protagonist jedoch ein: »Sigmar ist wie eine Biene, fliegt von Blüte zu Blüte, versucht Honig draus zu saugen. So ’ne Figur dann mit Steinmeier zusammen, das geht nicht gut. Weil, wenn Sigmar sich 115 | Hickmann, Christoph: Ganz der Alte; in: Spiegel, 19.12.2009, S. 24-25; hier: S. 24. 116 | Gabriel, Sigmar im Gespräch mit dem Autor am 10.02.2014. 117 | So ein Interviewpartner, der nicht genannt werden möchte, im Gespräch mit dem Autor. (Um die Anonymität zu wahren, wird für alle anonymisierten Personen eine männliche Form verwendet.) (Nr. 35) 118 | So ein Interviewpartner, der nicht genannt werden möchte, im Gespräch mit dem Autor. (Um die Anonymität zu wahren, wird für alle anonymisierten Personen eine männliche Form verwendet.) (Nr. 37) 119 | Vgl. Gabriel, Sigmar im Gespräch mit dem Autor am 10.02.2014. 120 | So ein Interviewpartner, der nicht genannt werden möchte, im Gespräch mit dem Autor. (Um die Anonymität zu wahren, wird für alle anonymisierten Personen eine männliche Form verwendet.) (Nr. 37) 121 | So ein Interviewpartner, der nicht genannt werden möchte, im Gespräch mit dem Autor. (Um die Anonymität zu wahren, wird für alle anonymisierten Personen eine männliche Form verwendet.) (Nr. 36)
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IV. Politik im Vordergrund abends äußert, Steinmeier nur sagt, das hätt’ er sich ja auch noch mal überlegen können, ist ja Unsinn. Sigmar überlegt zu wenig. Das ist völlig klar, dass das nicht gut geht. Also im Sinne menschlichen Verstehens.«122
Ein anderer Vergleich besagt, dass ein Wagen nicht von zwei so charakterlich sehr unterschiedlichen Pferden gezogen werden könne, ohne dass es zu Problemen komme: »Links läuft das bedächtige Pferd, das langsam anzieht, […] aber den Wagen konstant zieht. Und wenn’s schwierig wird, auch nicht aufgibt. Und rechts haben Sie ein sehr nervöses Pferd. Springt los. Das andere, das Bedächtige, kommt erst gar nicht mit.«123 So habe es, erinnert sich ein weiterer damaliger Akteur, »oft Auseinandersetzungen und Meinungsunterschiede« gegeben.124 Es spreche »für beide, dass die das nie haben öffentlich eskalieren lassen«.125 Gerade in der Frühphase der Legislaturperiode waren diese Meinungsunterschiede aber doch bisweilen offenkundig. Das Beispiel über den Fanclub der Vermögenssteuer mag da noch nebensächlich gewesen sein. Wirkliche Auffassungsunterschiede etwa hatte es in Bezug auf die zeitliche Begrenzung des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr gegeben. Gabriel wollte hier als Zugeständnis an die SPD-Basis zunächst ein konkretes und vor allem nahes Abzugsdatum fordern, während Steinmeier zuerst gänzlich gegen eine Nennung eines Datums war,126 insbesondere aber die Formulierung einer konkreten Zahl, das Jahr 2013, für unseriös hielt.127 Gabriel, der in der Debatte »kurzzeitig durchaus versucht« gewesen sein soll, »auf Spektakel zu setzen«,128 wurde hier nach Ansicht der Welt schnell von Steinmeier eingefangen.129 Übereinstimmend berichteten Medienvertreter aus den entsprechenden Sitzungen. 122 | Ebd. 123 | So ein Interviewpartner, der nicht genannt werden möchte, im Gespräch mit dem Autor. (Um die Anonymität zu wahren, wird für alle anonymisierten Personen eine männliche Form verwendet.) (Nr. 38) 124 | So ein Interviewpartner, der nicht genannt werden möchte, im Gespräch mit dem Autor. (Um die Anonymität zu wahren, wird für alle anonymisierten Personen eine männliche Form verwendet.) (Nr. 37) 125 | Ebd. 126 | Vgl. Feldenkirchen, Markus; Hickmann, Christoph: Opposition hoch zwei; in: Spiegel, 01.02.2010, S. 24-25; hier: S. 24. 127 | Hickmann, Christoph: Testfall Hindukusch; in: Spiegel, 22.02.2010, S. 42. 128 | Sturm, Daniel-Friedrich: Die Verantwortungsethik der erneuerten SPD; in: Welt, 09.06.2010, S. 6. 129 | Vgl. ebd.; vgl. auch Haselberger, Stephan: Das Wort führen; in: Tagesspiegel, 20.02.2010, S. 2; vgl. außerdem Hickmann, C.: Testfall Hindukusch; in: Spiegel,
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Gabriel habe Steinmeier »als inhaltlichen Widerpart« akzeptiert und letztendlich haben beide eine gemeinsame Position gefunden: »keine neuen deutschen Kampftruppen; Beginn des Abzugs 2011, Ende in einem Korridor zwischen 2013 und 2015«.130 An diesem Beispiel sind beide Rollen gut erkennbar. Gabriel wirkte insbesondere in die Partei, wo er mit dem gemeinsam formulierten 13-seitigen Papier131 einen Dialog-Prozess über das Mandat anstieß und damit dem nach der Wahl 2009 deutlich gestiegenen Partizipationsbedürfnis der Basis Rechnung trug, dem Steinmeier eher mit Skepsis begegnete.132 Steinmeier wollte einem kurzfristigen Populismus geschuldet nicht von der Seriosität in dieser außenpolitischen Frage abweichen. Mit der Verhinderung der Nennung eines konkreten Datums hat er mit dafür gesorgt, dass die SPD 2013 nicht in Erklärungsnöte geraten ist. Seine Sorge, überhaupt ein Datum zu nennen, war insofern zudem berechtigt, wie das Jahr 2015 zeigte, das den Endpunkt des (vermeintlichen) Korridors aufzeigen sollte und in dem der endgültige Abzug noch einmal verschoben werden musste.133 Dennoch waren die Resonanzen auf den von Gabriel und Steinmeier angestoßenen Debattenprozess für die SPD zunächst doppelt positiv. Die Welt etwa stellte fest, dass es »[i]n der Debatte um die künftige Afghanistan-Politik […] zuweilen so« geschienen habe, »dass die Regierung der SPD hinterhertrabte«.134 Schon bis dato legten die jeweiligen Regierungen auf ein möglichst breites Bündnis im Deutschen Bundestag wert, sodass Merkel viele SPD-Positionen aufnahm und die Sozialdemokraten das Mandat am Ende »ganz selbstverständlich« mittrugen und den Versuchungen einer populistischen Opposition widerstanden.135 Die Zeit hielt in Bezug auf diese neue innerparteiliche Debatte fest: »Dass die deutschen Sozialdemokraten dem neuen Afghanistanmandat an diesem Freitag im Bundestag mit großer Mehrheit zustimmen werden, überrascht gleich doppelt. Zum einen, weil die niederländischen Genossen soeben eine Regierung platzen ließen, um das Kämpfen und Sterben am Hindukusch nicht weiter mitverantworten zu müssen; 22.02.2010; vgl. auch Feldenkirchen, M.; Hickmann, C.: Opposition hoch zwei; in: Spiegel, 01.02.2010, S. 24. 130 | Sturm, D.-F.: Die Verantwortungsethik der erneuerten SPD; in: Welt, 09.06.2010. 131 | Vgl. Hebestreit, Steffen: Mehr Ausbilder, weniger Soldaten; in: Frankfurter Rundschau, 22.01.2010, S. 4. 132 | Vgl. Hickmann, C.: Testfall Hindukusch; in: Spiegel, 22.02.2010. 133 | Vgl. o.V.: »Gemeinsam rein, gemeinsam raus«; in: taz.de, 16.10.2015; abrufbar unter: www.taz.de/!5243862/ (zuletzt eingesehen am 07.07.2016). 134 | Sturm, Daniel-Friedrich: Die Methode Gabriel; in: Welt, 20.02.2010, S. 3. 135 | Dausend, Peter: Was für eine Partei; in: Zeit, 25.02.2010, S. 12.
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IV. Politik im Vordergrund das Nein der deutschen Sozialdemokraten wäre gar ohne Machtverlust zu haben. Und zum anderen, weil Gabriel noch unlängst erklärt hat, das Schicksal seiner Partei sei ihm jetzt wichtiger als das Schicksal des Landes.« 136
Für diese am Ende positive Haltung der SPD sah die Zeitschrift als Ursache, dass die SPD in der Opposition »erstmals frei über Afghanistan debattiert« habe.137 Dies muss als Erfolg Gabriels gewertet werden. Festgetreten wurde damit aber gleichzeitig ein insbesondere von Steinmeier forcierter seriöser Oppositionskurs. Der Spiegel hielt etwa bezüglich der Debatten um GriechenlandHilfen in jener Zeit fest: »In der öffentlichen Diskussion um die GriechenlandHilfen« habe sich wieder gezeigt, dass Gabriels »politischer Instinkt und seine ständige Bereitschaft zur gekonnten Attacke auch ihre Kehrseite haben: die altbekannte Sprunghaftigkeit«, von »durchdachter Strategie« sah das Nachrichtenmagazin »keine Spur«.138 Jene Aspekte setzte die Zeitschrift in Kontrast zu Steinmeier. Auch der habe sich »revidiert […], indem er das Eilverfahren im Bundestag zunächst strikt ablehnte, um dann doch zuzustimmen; doch insgesamt machte er die bessere Figur. Gerade in Krisenzeiten gereicht ihm jene Seriosität zum Vorteil, die ihm sonst eher als mangelnde politische Rauflust ausgelegt wird.« 139
So habe er »besonnene Interviews« gegeben und »dennoch die Hülle des Staatsmanns« abgeschliffen und auch angegriffen.140 Von einer »scharfen Gegenrede« auf Angela Merkel im Bundestag war etwa in der Welt die Rede.141 Auch bei anderen Themenfeldern wurde auf eine »Prinzip-Opposition« verzichtet,142 stattdessen »mehrfach mit der schwarz-gelben Bundesregierung zusammengearbeitet«,143 da, wo sich die Regierungskoalition allerdings nicht kompromissbereit zeigte, in der Abstimmung enthalten.144 Durchsetzen konnte sich Gabriel neben seinen erfolgreichen Versuchen, die Partei mehr zu beteiligen, schließlich in der Frage rund um eine Veränderung der Rente mit 67, die allerdings – wie auch einige der anderen Beschlüsse – keine unmittelbaren Auswirkungen hatte, da sie letztendlich ein Oppositions136 | Ebd. 137 | Ebd. 138 | Hickmann, C.: Bessere Figur; in: Spiegel, 10.05.2010. 139 | Ebd. 140 | Ebd. 141 | Alexander, Robin: Harte Zeiten, harte Debatten; in: Welt, 06.05.2010, S. 3. 142 | Sturm, Daniel-Friedrich: Die ganz große Tarif-Koalition; in: Welt, 16.07.2010, S. 2. 143 | Ebd. 144 | Alexander, Robin: Kanzlerin verlangt neuen Kraftakt; in: Welt, 28.10.2010, S. 2.
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papier darstellte. Die Debatte machte einmal mehr den Blick frei darauf, wie unterschiedlich die zwei Akteure die Interessen der Partei zu berücksichtigen gedachten. Auf der einen Seite stand der Parteichef, der die Befindlichkeiten der Parteimitglieder nicht nur sah, sondern auch auf sie eingehen wollte. Der Spiegel beschrieb in Bezug auf die Rente mit 67 einmal treffend, dass »[k]eine Reform […] an der Parteibasis verhasster« sei, »in der Zahl 67 kulminiert für die übergroße Mehrheit der Mitglieder symbolisch alles Übel der sozialdemokratischen Regierungsjahre«.145 Das Thema berühre »den Kern sozialdemokratischen Selbstverständnisses«.146 Als es einst umgesetzt wurde, wurde die Parteibasis nur bedingt einbezogen.147 Diese Basis hatte Gabriel nun im Blick. Steinmeier kannte vermutlich auch die Befindlichkeiten der Mitglieder, gedachte jedoch aufgrund seiner Überzeugung, dass die Rente mit 67 unabdingbar sei, zunächst nicht, diesen entgegenzukommen. So antwortete er auf die Frage, zu welchen »Zugeständnissen an der Basis« er bereit sei: »Die SPD wird sich nicht an der Realität vorbeilügen.«148 Auch wenn er sachkundig aufführte und betonte, dass »[w]ir […] in den fünfziger Jahren auf einen Rentner sechs Beitragszahler« gehabt hätten, »zurzeit sind es drei, 2030 werden es zwei« sein und die »gute Nachricht« sei, »dass wir heute nach dem Renteneintritt noch 17 Jahre leben. Vor 40 Jahren waren es nur 11 Jahre«.149 Er erreichte damit nicht die Parteibasis, die er mit seinem ersten Satz bereits des Selbstbetrugs bezichtigte – und damit die Öffnung für seine (plausiblen) Argumente bei den Kritikern der Reform einmal mehr auf ein Minimum reduzierte. Schon zu Beginn der Legislaturperiode wies er Klaus Wowereit, der sich in seiner Forderung nach einer Rücknahme der Rente mit 67 ähnlich kompromisslos zeigte, zurecht und sprach von »Mathematik und […] schlichte[r] Wahrheit«.150 Nachdem Gabriel sich nun festgelegt hatte und die Rente mit 67 aussetzen wollte, war für den Focus klar, dass der Parteichef dem Fraktionschef, der sich »in der Rentenfrage intern äußerst hartleibig gegeben« habe,151 weil sie »in 145 | Beste, Ralf; Hickmann, Christoph: Ende eines Sommermärchens; in: Spiegel, 19.07.2010, S. 18-22; hier: S. 19. 146 | Ebd. 147 | Vgl. Kohlmann, S.: Franz Müntefering, 2011, S. 162f. 148 | Steinmeier, Frank-Walter im Gespräch mit dem Spiegel; in: Feldenkirchen, Markus; Hickmann, Christoph: »Geblieben, um zu streiten«; in: Spiegel, 22.03.2010, S. 3435; hier: S. 35. 149 | Ebd. 150 | Zitiert nach Doemens, Karl; Hebestreit, Karl: Steinmeier warnt vor Linksruck; in: Frankfurter Rundschau, 16.10.2009, S. 1. 151 | Hickmann, Christoph: Gefangen im Gestern; in: Spiegel, 16.08.2010, S. 26-27; hier: S. 27; vgl. auch Beste, R.; Hickmann, C.: Ende eines Sommermärchens; in: Spiegel, 19.07.2010, S. 19.
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seinen Augen für eine moderne, vorausschauende, regierungstaugliche SPD« stehe,152 in den Rücken gefallen sei.153 »Die Parteilinke jubelt, die Reformer leiden.«154 Bald musste der Fraktionschef erkennen, dass er in dieser Frage auf einem aussichtslosen Platz saß und bat die ähnlich-denkenden, von denen es natürlich auch einige gab,155 laut Focus, »öffentlich still zu bleiben«.156 Steinmeier verzichtete auf einen aussichtslosen Kampf, wie ihn einst Müntefering führte und diesen letztendlich gegen Beck verlor und signalisierte alsbald Kompromissbereitschaft.157 Ein Kompromiss konnte dann tatsächlich gefunden werden, der für alle Beteiligten tragbar war und die Basis stärkte,158 ein nachhaltiger Linksruck blieb dabei einmal mehr aus. Und so bestätigte sich erneut, was selbst die Welt bereits drei Monate nach der Bundestagswahl festgestellt hatte, nämlich, dass der SPD »die Gratwanderung zwischen Verantwortungsbewusstsein und Oppositionslust« sehr gut gelungen sei.159 »Diese Leistung hat gewiss mit Gabriel und Steinmeier zu tun«, konstatierte die Zeitung, »mancher Sozialdemokrat hatte nach dem Ende von elf Regierungsjahren Schlimmeres erwartet.«160 Tatsächlich hatte die Partei sich schneller erholt, als viele Beobachter prognostiziert hatten. In die Hände spielte ihr dabei vor allem eine planlos-wirkende Regierungskoalition, deren kleinere Partner, die CSU und die FDP, sich gegenseitig wahlweise als »Gurkentruppe« oder »Wildsau« verspotteten161 und der Begriff der »spätrömischen Dekadenz« wie ein Bumerang die Runde machte.162 Auch insgesamt ergaben sich »Diskrepanzen zwischen den Koalitionspartnern […] insbesondere im Be152 | Pörtner, R.: Gabriel lässt die SPD alt aussehen; in: Focus, 16.08.2010, S. 42. 153 | Vgl. ebd. 154 | Ebd. 155 | Vgl. Hickmann, C.: Gefangen im Gestern; in: Spiegel, 16.08.2010. 156 | Pörtner, R.: Gabriel lässt die SPD alt aussehen; in: Focus, 16.08.2010, S. 45. 157 | Vgl. Steinmeier, Frank-Walter im Gespräch mit dem Tagesspiegel; in: Haselberger, Stephan; Sirleschtov, Antje: »Die Zweifel sind verschwunden«; in: Tagesspiegel, 15.08.2010, S. 7. 158 | Vgl. Fras, Damir: SPD-Linke gibt Ruhe; in: Frankfurter Rundschau, 23.08.2010, S. 6. 159 | Sturm, D.-F.: Die Methode Gabriel; in: Welt, 20.02.2010. 160 | Ebd. 161 | O.V.: Nach »Wildsau«-Vorwurf: CSU-Generalsekretär nennt FDP »Gurkentruppe«; in: Spiegel Online, 07.06.2010; abrufbar unter: www.spiegel.de/politik/deutschland/ nach-wildsau-vorwurf-csu-generalsekretaer-nennt-fdp-gurkentruppe-a-699198.html (zuletzt eingesehen am 08.12.2015). 162 | Vensky, Hellmuth: Die wahren Gründe des Untergang Roms; in: Zeit Online, 16.02.2010; abrufbar unter: www.zeit.de/wissen/geschichte/2010-02/Rom-antikedekadenz (zuletzt eingesehen am 08.12.2015).
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reich der Finanzpolitik«.163 Überhaupt verzichtete die schwarz-gelbe Koalition »in ihrem ersten Amtshalbjahr nahezu vollständig auf eine gestaltende, ihr Programm umsetzende Politik«.164 Zusammen mit dem auch in dieser Folge für die Sozialdemokratie positiven Wahlergebnis in Nordrhein-Westfalen Mitte 2010, aus dem Hannelore Kraft als Ministerpräsidentin hervorging, hatte sich die Partei zumindest oberflächlich stabilisiert.165 Eine »tiefe Depression, Selbstzerfleischungen und ein sektenhaftes Gehabe«166 sowie ein »Showdown der Parteiflügel«167 blieben, wie es der Tagesspiegel beschrieb, jedenfalls aus, was insbesondere bei letzterem Punkt auch auf Parteichef Gabriel zurückzuführen war, der von Beginn an »ein erneutes Auf brechen der parteiinternen Konflikte«, wie gezeigt, zu vermeiden wusste.168 Tatsächlich dominierte Gabriel, stellte die Welt fest, »(bei aller Popularität […] Steinmeiers), die SPD wie selten ein Vorsitzender in den vergangenen Jahren«.169 Wenn der Spiegel allerdings hinzufügte, dass neben dem Parteivorsitzenden »allenfalls noch Platz für« den Fraktionschef sei,170 zeigte dies gleichzeitig die gestiegene Rolle Steinmeiers, die Gabriel alsbald auch anerkannte. So betonte er einmal, dass er immer wieder von »angeblichen Unterschieden« zwischen ihm und Steinmeier lese. »Dabei gibt es zwischen uns tatsächliche Unterschiede. Und das ist auch gut so. Wir brauchen einander in dieser Unterschiedlichkeit.«171 So könne Steinmeier »viele Dinge, die ich nicht kann. Ich kann einige Dinge, die er vielleicht nicht kann«.172 Bald betonte er zudem: »Wir haben mit […] Steinmeier einen hervorragenden Fraktionsvorsitzenden.«173
163 | Hesse, J.; Ellwein, T.: Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland, 2012, S. 67. 164 | Staack, M.: Deutsche Außenpolitik unter Stress, 2016, S. 32. 165 | Vgl. Alemann, U. von; Spier, T.: Erholung in der Opposition?; in: Niedermayer, O. (Hg.): Die Parteien nach der Bundestagswahl 2009, 2011, S. 69. 166 | Sturm, Daniel-Friedrich: Gabriels Poltern reicht nicht; in: Welt am Sonntag, 31.01.2010, S. 11. 167 | Haselberger, S.: Das Wort führen; in: Tagesspiegel, 20.02.2010. 168 | Alemann, U. von; Spier, T.: Erholung in der Opposition?; in: Niedermayer, O. (Hg.): Die Parteien nach der Bundestagswahl 2009, 2011, S. 69. 169 | Sturm, Daniel-Friedrich: Zwei Stunden lang die eigene Stärken beschworen; in: Welt, 27.09.2010, S. 2. 170 | Hickmann, Christoph: Partei ohne Gesichter; in: Spiegel, 06.09.2010, S. 39. 171 | Zitiert nach Sturm, D.-F.: Die Methode Gabriel; in: Welt, 20.02.2010. 172 | Zitiert nach ebd. 173 | Gabriel, Sigmar im Gespräch mit dem Stern; in: Hoidn-Borchers, Andreas; WolfDoettinchem, Lorenz: Sigmar Gabriel; in: Stern, 12.05.2010, S. 34-38; hier: S. 38.
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Steinmeier, »der vor Kurzem noch als Problemfall galt«, fungierte fortan, befand die Welt richtig, »als funktionierender Antipode« zum Parteichef.174 Nur: Man war nach wie vor zu keinem Tandem geworden, sondern hatte sich lediglich miteinander arrangiert. Zumindest entstand der Eindruck, als gebe es auf der einen Seite die Fraktion, auf der anderen Seite die Partei. Immer mehr drifteten die beiden führenden sozialdemokratischen Akteure in ein Nebeneinander ab, in dem eine Verzahnung nur bedingt stattfand. Steinmeiers Einfluss war dabei allerdings so groß, dass er als Garant dafür angesehen werden kann, dass die SPD nicht wieder nach links abdriftete und dort ihr Heil suchte. Sicher ist, dass das Erbe der Agenda fortan deutlich besser angenommen wurde, es also langsam und insbesondere dank Gabriel eine nachgeholte Akzeptanz in der Partei für die Reformen entstand.175 Wie etabliert Steinmeier neben Gabriel in seiner Position als Fraktionsvorsitzender war, zeigte, dass es keinerlei Diskussionen über eine Ablöse Steinmeiers gegeben hatte, als er sich im Spätsommer 2010 für die Nierenspende an seine Frau für drei Monate aus der Politik zurückzog. Vielmehr wurden all jene Lügen gestraft, die Steinmeier unter Verkennung seiner Arbeit als allzu nüchternen Bürokraten beschrieben hatten. Nun schrieb der Spiegel von einer »bewegende[n] Geschichte«.176 Die Welt am Sonntag titelte seifenoperartig: »Die Pflicht des Herzens«177 und schrieb, dass das »eigene Herz so sehr aufgeht« und »[e]rgreifende Liebe […] spürbar« werde.178 Der Stern überschrieb seinen Beitrag mit den Worten »Was wirklich zählt« und sprach von einem »ultimativ[en] Liebesbeweis«179 und der Tagesspiegel titelte: »Ihr geteiltes Leid«.180 Der Focus schwärmte, »[a]us Liebe zu seiner Frau […] gab er ein Organ, unter
174 | Sturm, D.-F.: Die Verantwortungsethik der erneuerten SPD; in: Welt, 09.06.2010. 175 | Andere Analysen kommen zu einem anderen Schluss, sprechen von einer »strategischen Sackgasse«, in der die Agenda 2010 für die SPD geendet sei. (vgl. Hegelich, S.; Knollmann, D.; Kuhlmann, J.: Agenda 2010, 2011, S. 211). Das muss jedoch gerade einige Jahre nach Erscheinen der Analyse im Jahr 2011 zurückgewiesen werden, wird sie doch zunehmend nicht mehr als Problem wahrgenommen – dank behutsamer Veränderungen und etwa der Einführung eines Mindestlohnes. 176 | Feldenkirchen, Markus; Kullmann, Kerstin: Das Leben des anderen; in: Spiegel, 30.08.2010, S. 36-37; hier: S. 36. 177 | Kamann, Matthias: Die Pflicht des Herzens; in: Welt am Sonntag, 29.08.2010, S. 3. 178 | Ebd. 179 | Posche, U.: Was wirklich zählt; in: Stern, 26.08.2010, S. 35. 180 | Haselberger, S.; Monath, H.: Ihr geteiltes Leid; in: Tagesspiegel, 24.08.2010.
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Gefahr für den eigenen Leib, das eigene Leben«.181 Er habe »ein Bespiel« gesetzt – »als Liebender, als Mensch, als Politiker«.182 Nüchterner analysierte die Frankfurter Rundschau, dass Steinmeiers Entscheidung »uns« ergreife, »weil sie zeigt, dass er – so sehr er aus dem politischen Apparat kommt – kein Apparatschik ist, sondern einer, der fähig ist, das alles hinzuwerfen, einfach nur, um das in diesem Augenblick Richtige, das Selbstverständlich-Richtige zu tun.«183 Die Zeitschriften und Zeitungen überschlugen sich mit derartigen Formulierungen, die Steinmeier vermutlich befremdlich gefunden haben dürfte, machte er doch zunächst kein großes Aufsehen um diese private Entscheidung. So sprach er später nur noch von der »Sache«, ohne näher darauf einzugehen.184 Der Focus mutmaßte schon damals: »Wäre es nach ihm gegangen, hätte wohl eine 5-Zeilen-Meldung in der Zeitung genügt für das, was er in den Tagen danach tat.«185 Diese fünf Zeilen hätten es theoretisch auch an dieser Stelle getan. Denn das Persönliche sollte nur da, wo unbedingt nötig, Einzug halten in diese Biographie über das Politische. Natürlich, das Private ist in Teilen unabdingbar, um dem Menschen näherzukommen. Es gibt jedoch Grenzen, die nicht überschritten werden sollten beziehungsweise müssen. Die Niere, die Steinmeier seiner Frau gespendet hat, ist so eine Geschichte, die für den täglichen Medienbetrieb interessant sein mag, an sich aber noch nicht den Eingang in die Biographie rechtfertigt. Erwähnenswert wird sie dadurch, dass Steinmeier fortan anders wahrgenommen worden ist, sie also einen Wendepunkt in seiner Karriere und damit seiner Ochsentour rückwärts darstellte. Das wurde in dieser zweimonatigen Abstinenz noch einmal deutlich: in Umfragen, im Rückhalt der SPD, der sich in keinerlei Gedanken über Nachfolgerfragen äußerte, aber auch in der Politikwahrnehmung der SPD. Denn die Lücke, die Steinmeier hinterließ, offenbarte, was fehlen würde, würde Steinmeier der Doppelspitze nicht mehr angehören: jener seriöse Konterpart zu Gabriel, der »eher auf dem Feld der Attacke zu Hause« war.186 Für »enorm wichtig« für die Partei, »die kaum noch über aktive Prominente verfügt«, hielt die Frankfurter Rundschau denn nun auch Steinmeier.187 Was die Nierenspende an sich zudem interessant macht, ist die nochmalige Steigerung der inhaltlichen Fokussierung bei Steinmeier selbst, die im Fort181 | Ackeren, Magarete van: »Ich bin wieder da!«; in: Focus, 30.08.2010, S. 36-41; hier: S. 37. 182 | Ebd. 183 | Widmann, Arno: Mensch Politiker; in: Frankfurter Rundschau, 24.08.2010, S. 11. 184 | Steinmeier, F.-W. in der Talkshow »Markus Lanz« am 20.09.2012. 185 | Ackeren, M. van: »Ich bin wieder da!«; in: Focus, 30.08.2010, S. 37. 186 | Doemens, Karl: Vorwärts, Kameraden!; in: Frankfurter Rundschau, 27.10.2010, S. 7. 187 | Ebd.
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gang von Beteiligten registriert wurde. Kurt Beck spricht im positiven Sinne von einem »noch stärkere[n] Zug von Ernsthaftigkeit«.188 Ein anderer damaliger Akteur glaubt, dass es bei Steinmeier »den Blick […] zu ein paar Themen« schon geweitet habe.189 Ulla Schmidt sieht eine insgesamt »gelassener[e]« Haltung bei Steinmeier gekommen.190 Tatsächlich wirkte Steinmeier fortan weniger wie ein Getriebener, sondern noch mehr wie ein ruhender Fels in der Brandung, der um seine Qualitäten, auch um sein innerparteiliches Standing wusste und klare Ziele verfolgte. Von einer »neue[n] Tiefenschärfe beim Blick auf die Lage« sprach er selbst in der Welt am Sonntag.191 Und im Spiegel-Gespräch wenig später betonte er, dass er sich vorgenommen habe, »mich in meinem politischen Leben noch stärker auf die wirklichen Zukunftsfragen dieser Gesellschaft zu konzentrieren. Die Frage, wie dieses Land auch am Ende des nächsten Jahrzehnts eine Arbeitsgesellschaft bleibt, ist doch noch nicht beantwortet. Sie lässt sich ohne Sozialdemokratie nicht beantworten.«192
Die Folge war ein noch deutlicheres klares Reklamieren eines Führungsanspruchs neben Gabriel, wenn er bald betonte: »Wir haben einen tatkräftigen Parteivorsitzenden, mit dem ich gemeinsam die Partei zu neuem Selbstbewusstsein führen will.«193 »Ich«, »gemeinsam«, mit dem Parteivorsitzenden – es klang nach Doppelspitze, die Steinmeier hier beschrieb. Inhaltlich äußerte sich dieser Anspruch schon bald. So forcierte der Fraktionsvorsitzende nur wenige Monate nach seiner Rückkehr in die aktive Politik einen umfangreichen innerfraktionären Dialog-Prozess unter dem Titel »Deutschland 2020 – Fortschritt, Vollbeschäftigung, Lebensqualität«,194 der in sieben »Querschnittsthemen« Fragen wie »Projekt Ganztagsschule«, »Projekt 188 | Beck, Kurt im Gespräch mit dem Autor am 16.08.2013. 189 | So ein Interviewpartner, der nicht genannt werden möchte, im Gespräch mit dem Autor. (Um die Anonymität zu wahren, wird für alle anonymisierten Personen eine männliche Form verwendet.) (Nr. 37) 190 | Schmidt, Ulla im Gespräch mit dem Autor am 17.10.2013. 191 | Steinmeier, Frank-Walter im Gespräch mit der Welt am Sonntag; in: Malzahn, Claus-Christian; Neumann, Philipp; Sturm, Daniel-Friedrich: Zurück im alten Job – aber mit neuem Blick; in: Welt am Sonntag, 14.11.2010, S. 8. 192 | Steinmeier, F.-W. im Gespräch mit dem Spiegel; in: Hickmann, C.; Schwennicke, C.: »Andere sind wendiger als ich«; in: Spiegel, 22.11.2010, S. 26. 193 | Ebd., S. 24. 194 | Vgl. Brief an die Fraktion mit dem Titel »Regierungsverantwortung vorbereiten – Deutschland 2020«, datiert auf den 11.04.2011; abrufbar im Internet unter: www. spdfraktion.de/sites/default/files/regierungsverantwortung_vorbereiten_projekt_zu kunft.pdf (zuletzt eingesehen am 09.12.2015).
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Integration« oder »Infrastrukturkonsens« behandelte. Dieser Prozess startete zu einer Zeit, in der in Medien bereits Kritik aufkam, dass zum Beispiel die »Finanz- und auch die Gesundheitspolitik […] Felder« seien, »auf denen die Sozialdemokraten mit etwas mehr Profil auf sich aufmerksam machen« könnten.195 Noch 2010 war zumindest in der Welt von einem »prioritätenfrei[en]« Herumwursteln die Rede, sie beklagte, dass bei Sozialdemokraten auf den Deutschlandplan aus dem vergangenen Wahlkampf verwiesen worden war.196 Die SPD dümpele »in Umfragen unter der 30-Prozent-Marke« und werde »öffentlich kaum wahrgenommen«, resümierte die Frankfurter Rundschau.197 So kam dieses Zukunftsprojekt zur rechten Zeit, wenngleich es letztendlich einer schlüssigen Chronologie folgte. Das später als »Deutschland 2020. So wollen wir morgen Leben« veröffentlichte knapp 120-Seiten umfassende Papier198 war letztendlich die Fortführung des Deutschlandplans 2009, weswegen auch der anfängliche Verweis eben darauf keineswegs abwegig erschien. Es folgte aber auch der Richtschnur Steinmeiers, der einmal betonte, dass es zunächst darum gehen würde, die Fraktion überhaupt erst einmal zu stabilisieren. Nunmehr konnten neue Rezepte entwickelt werden. Diese neuen Arbeitsgruppen widerstanden dabei der Versuchung, kurzfristig nach Lösungen zu suchen, sondern waren eher mittelfristig auf über ein Jahr angelegt, um Konzepte zu erarbeiten. Angeleitet worden war dieser Prozess von vergleichsweise jungen Abgeordneten, was in Medien teilweise spöttische Begleitmusik hervorrief, von Steinmeier aber, zumindest in seiner rückblickenden Darstellung, bewusst so initiiert war: »[I]ch hab’ ja dann in der Fraktion auch so ’nen Perspektiven-Prozess angeschoben, der ja zwei Gründe hatte. Zum ersten wollte ich dieses […] Prinzip etwas durchbrechen, [bei dem] ja manchmal vermeintlich immer noch junge Leute fünfzehn und zwanzig Jahre brauchen, um dann mal Sprecher für einen Fachbereich zu werden. Insofern war dieser […] Prozess des Perspektivenentwurfs für die Fraktion […] ’ne Möglichkeit, neue Leute nach vorne zu holen.«199
Steinmeier selbst hatte nicht die klassische Ochsentour absolviert, ist nicht den Weg der klassischen Parteikarriere gegangen und hatte immer wieder die teils fragwürdigen Traditionen des Parteienbetriebs kritisiert. Er riss hier alther195 | Sturm, Daniel-Friedrich: Zwischen Bewunderung und Irritation; in: Welt, 13.11.2010, S. 3. 196 | Sturm, Daniel-Friedrich: SPD ohne Machtzentrum; in: Welt, 27.12.2010, S. 3. 197 | Doemens, Karl: Konkurrenz für die Schlachtrösser der SPD; in: Frankfurter Rundschau, 14.04.2011, S. 6. 198 | SPD-Bundestagsfraktion (Hg.): Deutschland 2020, 2012. 199 | Steinmeier, Frank-Walter im zweiten Gespräch mit dem Autor am 06.10.2014.
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gebrachte Traditionen der Fraktion ein, womit er bei einigen Fraktionskollegen provozierte (»Das ist eine Schnapsidee«200), jedoch eine neue, junge Generation von Politikern förderte. Dieser Prozess sei, meint er im Rückblick, »für das Finden von neuen aktiven leistungsfähigen Personen wichtig« gewesen.201 Gleichzeitig betont er, sei das »eben nochmal die Möglichkeit« gewesen »für ein paar gesellschaftliche Bereiche für die SPD-Fraktion auch jenseits von Außenpolitik […] zu belastbaren Vorschlägen zu kommen.«202 So sei es, führt er in diesem Zusammenhang noch einmal seine Doktrin von Oppositionspolitik aus, »häufig so, dass man in der Opposition schnell dahin gerät, immer nur das Gegenteil von dem zu sagen, was die Regierung tut und dann fühlt man sich schon […] irgendwie […] ganz gut dabei. Und ich hab’ immer gesagt: Das darf uns nicht reichen. Wenn ich das Wort von Hans-Jochen Vogel im Ohr habe, Opposition ist Regierung im Wartestand, dann dürfen wir nicht nur das ablehnen, was die Regierung tut […], sondern wir müssen mit besseren Vorschlägen auf dem Markt sein.« 203
Dieses Papier, dessen Kernforderungen unter anderem »ein höherer Spitzensteuersatz für hohe Einkommen, die Vermögensteuer und eine Finanztransaktionssteuer, ein flächendeckender Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde, ein bedarfsgerechtes Ganztagsschulangebot noch in diesem Jahrzehnt, die volle Gleichberechtigung von Frauen und Männern im Arbeitsleben, ein modernes Urheberrecht, die Umsetzung der Energiewende sowie ein rascher Ausbau der Verkehrswege«
waren,204 kann so zumindest als Versuch innerhalb einer solchen Antwortsuche auf Zukunftsfragen gesehen werden; ein Prozess, der in einem zweitätigen Zukunftskongress der SPD mündete, auf dem die drei möglichen Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier, Peer Steinbrück und Sigmar Gabriel jeweils eine Rede hielten.205 Inhaltlich war die Initiative also ein wichtiger Beitrag für die SPD, Zukunftsfragen zu definieren. Steinmeier hatte daran als Organisator einen wich200 | So ein namentlich nicht genannter Fraktionssprecher in der Frankfurter Rundschau; zitiert nach Doemens, K.: Konkurrenz für die Schlachtrösser der SPD; in: Frankfurter Rundschau, 14.04.2011. 201 | Steinmeier, Frank-Walter im zweiten Gespräch mit dem Autor am 06.10.2014. 202 | Ebd. 203 | Ebd. 204 | O.V.: Die SPD startet ins Wahljahr; in: taz, 14.09.2012, S. 2. 205 | Jacobsen, Lenz: Drei Kandidaten und die Zukunft der SPD; in: Zeit Online, 15.09.2012; abrufbar unter: www.zeit.de/politik/deutschland/2012-09/spd-kongresssteinmeier-steinbrueck-gabriel (zuletzt eingesehen am 09.12.2015).
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tigen Anteil. Im Rückblick wurde der Prozess von vielen Akteuren denn auch gelobt. »Da steckt ’ne Menge an […] politischer Weitsicht drin«, findet nicht nur Franz Müntefering,206 der neben den Jüngeren selbst an einem Punkt des Papiers mitgearbeitet hat.207 Er sieht darin die Bestätigung, dass die Fraktion nach vorne diskutiert habe, während der Blick der Partei sehr nach hinten gerichtet gewesen sei.208 Das stimmt zwar womöglich, hätte aber bei einer klugen Arbeitsteilung doch beide Bedürfnisse der Partei befriedigt: den Wunsch nach Aufarbeitung, der vor allem durch Gabriel vorangetrieben wurde und den nach inhaltlicher Perspektive, der unter Steinmeier voranschritt. So hebt Hubertus Heil es denn auch als »Steinmeiers Verdienst« hervor, dass »die SPD sich vier Jahre nicht […] in der Oppositionsecke verkrochen hat, sondern auch konzeptionell gerade in der Fraktion gearbeitet hat«.209 Für Steinmeier selbst war es zumindest nach eigener Darstellung jedoch noch mehr, nämlich »ein Nachdenkprozess«, der »nicht nur für die Fraktion und die Abgeordneten, sondern auch für mich ganz wichtig« gewesen sei.210 Aus einem solchen Nachdenkprozess heraus entstanden sein dürften auch gleich mehrere Aufsätze zur Außenpolitik, die sich nahtlos an die Ideen und Anstöße von Steinmeiers erster Amtszeit als Außenminister anschlossen. So legte er Mitte 2012 unter dem Titel »Realismus und Prinzipientreue – Außenpolitik im Zeichen neuer globaler Chancen«211 ein umfangreiches Plädoyer für eine Außenpolitik vor, die sich vor dem Dialog mit Diktatoren nicht scheue, die Auswärtige Kulturpolitik hierfür weiter ausbaue, die in einer deutsch-französisch-polnischen Achse das europäische Projekt vorantreibe, die die transatlantischen Beziehungen überhaupt wiederbelebe, um schließlich die großen Konflikte lösen zu können. Steinmeier bettete diesen Aufsatz ein in die auf der Aufklärung basierenden »Werte des Westens«, begründete so auch deutlich 206 | So neben Müntefering ein Interviewpartner, der nicht genannt werden möchte, im Gespräch mit dem Autor. (Um die Anonymität zu wahren, wird für alle anonymisierten Personen eine männliche Form verwendet.) (Nr. 44) 207 | Müntefering, Franz im Gespräch mit dem Autor am 22.10.2013. 208 | Wörtlich beschreibt Müntefering den Prozess, dass in der Partei »zum erheblichen Teil Reparaturen an der Vergangenheit« vorgenommen worden seien. Steinmeier habe in der Fraktion hingegen »nach vorne diskutieren lassen«; Müntefering, Franz im Gespräch mit dem Autor am 22.10.2013. 209 | Heil, Hubertus im Gespräch mit dem Autor am 05.02.2014. 210 | Steinmeier, Frank-Walter im zweiten Gespräch mit dem Autor am 06.10.2014. 211 | Steinmeier, Frank-Walter: Realismus und Prinzipientreue – Außenpolitik im Zeichen neuer globaler Chancen; in: Hennerkes, Brun-Hagen; Augustin, Georg (Hg.): Wertewandel mitgestalten. Gut handeln in Gesellschaft und Wirtschaft; Frankfurt im Breisgau 2012, S. 82-99.
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besser als noch in seiner ersten Amtszeit als Außenminister eine Modernisierungspartnerschaft mit Russland, auch wenn dies ein mühsamer Weg sei. Eben zu dem großen östlichen Nachbarn, das ist aus Steinmeiers Aufsatz herauszulesen, ist die Einschätzung deutlich nüchterner, weniger hoffnungsfroh geworden als noch in seiner ersten Amtszeit. Der Aufsatz las sich dabei wie eine Blaupause für eine neue sozialdemokratische Außenpolitik (unter Steinmeiers Führung). Unter der Zwischenüberschrift »I. Wandel durch Anbiederung?«212 bezog sich Steinmeier auf die Außenpolitik Willy Brandts, die – und das ist mittlerweile in der Tat Konsens – »die Brücken über ideologische Gräben schlägt, Dialog auch in kritischen Phasen ermöglicht und den Boden für Konfliktlösungen auf diplomatischem Weg bereitet« habe.213 Sie sei, so Steinmeier, »ein Synonym für eine kluge Außenpolitik«.214 Der Antipode dazu wäre zwangsläufig eine unkluge Außenpolitik. Die Botschaft ist daher deutlich: Auch und insbesondere zu nichtdemokratischen Regimen, die eben nicht dem westlichen Wertekanon folgen, müssten Kontakte gepflegt werden. So warb er unter Punkt II für einen »›Aufgeklärte[n]‹ Realismus«,215 wehrte sich gegen eine »wertgebundene Außenpolitik«,216 die im Kontrast zu einer andersartigen stehe. Dabei beschrieb Steinmeier nach einem Ausflug zu Immanuel Kants »Spätschrift: ›Zum ewigen Frieden‹« das »Ziel einer an den Prinzipien der Aufklärung orientierten Außenpolitik«:217 »Frieden und Sicherheit […] erhalten, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Austausch über Grenzen zu organisieren und Konflikte auf Grundlage internationalen Rechts bei[…]legen. Für die Durchsetzung der allgemeinen Menschen- und Bürgerrechte und die fortschreitende Verrechtlichung der internationalen Beziehungen einzutreten und die Stärkung der Vereinten Nationen voranzutreiben.« 218
Das allerdings sei »dauernde Aufgabe«.219 Immer wieder hatte Steinmeier für seinen Kurs in der Außenpolitik Kritik einstecken müssen, insofern ist dies auch als Replik zu lesen an diejenigen, die mit dem Begriff der »Wertgebundenheit« jenen, die vermeintlich leise mit Diktatoren sprechen, wie es Steinmeier immer wieder betonte, diese »Wertgebundenheit« absprechen. Noch 212 | Ebd., S. 83. 213 | Ebd. 214 | Ebd. 215 | Ebd., S. 84. 216 | Ebd. 217 | Ebd., S. 85. 218 | Ebd., S. 86. 219 | Ebd.
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einmal definierte er in diesem Zusammenhang die Werte des Westens, für die nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation kurzzeitig der Durchbruch prognostiziert worden sei. Hierauf eingehend wies er unter der Zwischenüberschrift »III. Konkurrenz der großen Erzählungen«220 diese Annahme des Durchbruchs, wie allgemein geschehen, zurück. Längst war nicht mehr vom Ende der Geschichte die Rede.221 Steinmeier skizzierte stattdessen, auch das nicht neu, neue Konflikte, etwa die Bedrohung durch den Terrorismus, und sprach vom »Aufstieg neuer Mächte wie China, Indien, Brasilien, die die Geschicke der Welt aus ihrer schieren Größe und wachsenden wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit heraus unweigerlich mitbestimmen«.222 Der Einfluss der USA und Europas und damit der westlichen Welt habe seinen Zenit überschritten. »Das große Versprechen der Aufklärung, die Verbindung von individueller Freiheit, Demokratie und wirtschaftlichem Erfolg erhält wachsende Konkurrenz.«223 Die neuen Mächte würden sich stattdessen »mit zunehmender eigener Stärke auf eigene Traditionen und historische Wurzeln« besinnen.224 Steinmeier forderte sogleich auf, für das eigene Konzept zu werben, zumindest dann, wenn »es unsere tiefe Überzeugung ist, dass das auf den Prinzipien der Aufklärung basierende Gesellschaftsmodell dasjenige ist, das ein Höchstmaß an individueller Freiheit und Gerechtigkeit«225 garantiere »und zugleich die besten Voraussetzungen für wirtschaftlichen Erfolg und gesellschaftlichen Wohlstand« schaffe.226 Er sprach von einer »Herausforderung«227 zu lernen, sich »der Welt neu zu öffnen, mehr zu investieren, ›uns‹ zu erklären«.228 Was damit gemeint war, hatte Steinmeier bereits in seiner ersten Amtszeit nachhaltig forciert. So sprach er in diesem Plädoyer nun von der »auswärti-
220 | Ebd. 221 | Den Begriff vom »Ende der Geschichte« prägte Anfang der 1990er Jahre der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama; vgl. Fukuyama, Francis: Das Ende der Geschichte: wo stehen wir?, München 1992; zur Debatte vgl. auch Joffe, Josef: Ende der Geschichte; in: Zeit, 12.06.2014; Onlineversion des Printartikels abrufbar unter: www.zeit.de/2014/25/josef-joffe-zeitgeist-25-2014 (zuletzt eingesehen am 13.10.2016). 222 | Steinmeier, F.-W.: Realismus und Prinzipientreue; in: Hennerkes, B.-H.; Augustin, G. (Hg.): Wertewandel mitgestalten, 2012, S. 87. 223 | Ebd. 224 | Ebd. 225 | Ebd. 226 | Ebd. 227 | Ebd., S. 88. 228 | Ebd.
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ge[n] Kulturpolitik im weitesten Sinne«,229 die »in einer multipolaren Welt eine immer weiter wachsende Bedeutung haben« müsse.230 Dafür wichtig sei es vor allem, leitete er zu Punkt »IV. Ein neuer Geist europäischer Gemeinsamkeit«231 über, »uns der gemeinsamen Wurzeln zu vergewissern und den Zusammenhalt der westlichen Demokratien zu stärken.«232 Steinmeier beklagte die Lage der Europäischen Union, die »so ernst« sei, »wie vermutlich noch nie in den vergangenen 60 Jahren«233 und sprach offen von einem »Versagen in der Wirtschafts- und Finanzkrise« durch die EU, die »in eine politische Krise der europäischen Integration geführt« habe.234 Neben der »zu große[n] Zögerlichkeit bei der Lösung der Krise« sowie »Fehleinschätzungen«235 – eine Kritik auch an der schwarz-gelben Bundesregierung –, beklagte er vor allem aber, »dass kaum ein Mitgliedsland, kaum ein Politiker sich heute noch die europäische Sache wirklich und persönlich zu eigen macht«.236 Es ist ein Thema, dass Steinmeier, das wird hier noch einmal bestätigt, umtrieb und das er nun düster beschrieb, rechtspopulistische Tendenzen beklagte, denen keine »entschiedene[] Gegenreaktion der überzeugten Europäer« gegenüberstehe.237 Er warb für ein vereintes Europa auch mit Verweis darauf, dass Europa »Mitte dieses Jahrhunderts […] nur noch rund sechs Prozent der Weltbevölkerung stellen« und der »Anteil am Weltsozialprodukt […] sich deutlich reduzieren« werde.238 So könne Europa in der Welt die »Interessen seiner Bürger« nur dann »wirksam vertreten«, wenn man »vereint« auftrete.239 Jenes Thema, die europäische Einigung, behandelte Steinmeier besonders genau, forderte unter anderem als »vordringlichste und wichtigste Aufgabe […] Führung zu zeigen und einen neuen ›Geist der Gemeinsamkeit‹ zu stiften«.240 Gesucht seien »Persönlichkeiten, die Verantwortung übernehmen und Farbe bekennen«.241 Gerade diese Forderung ist insofern interessant, als dass Steinmeier stets die Persönlichkeit hinter die Sache in den Hintergrund gestellt hatte, auch wenn seine Reden häufig von einordnenden Elementen geprägt 229 | Ebd. 230 | Ebd. 231 | Ebd. 232 | Ebd. 233 | Ebd., S. 89. 234 | Ebd. 235 | Ebd. 236 | Ebd. 237 | Ebd. 238 | Ebd., S. 90. 239 | Ebd. 240 | Ebd., S. 91. 241 | Ebd.
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waren. Eine europäische Führung wurde von Steinmeier nun mit Personen verbunden. Jedenfalls: Eine wichtige Rolle sah er dabei in einer »polnisch-französisch-deutsche Partnerschaft, die als Muskel und Impulsgeber wirkt, die Europa zusammen- und in Bewegung hält«, 242 womit er auf das sogenannte Weimarer Dreieck anspielte.243 Es gehe »nicht um das Modell eines Kerneuropas, das andere ausschließt und auf der Strecke lässt. Wohl aber um einen Kern Europas, der Anziehungskraft auf andere ausübt.«244 Eben das sollte Steinmeier, darauf wird später noch eingegangen, in seiner zweiten Amtszeit als Außenminister forcieren, in der gemeinsame Besuche des polnischen, deutschen und französischen Außenministers zumindest zu Beginn wie selbstverständlich – obwohl eben alles andere als selbstverständlich – durchgeführt worden sind. Steinmeier sah allerdings nicht nur die EU auf einem falschen, zumindest nicht auf einem richtigen Wege, sondern auch die transatlantischen Beziehungen, die er im Unterkapitel »V. Transatlantische und transpazifische Perspektiven«245 thematisierte. »[S]eltsam still« sei es »in den vergangenen Monaten und Jahren« um diese geworden, beklagte er.246 So falle es »schwer, auch nur ein gemeinsames Projekt zu benennen, das für eine engagierte, kreative, kraftvolle und aktive Zusammenarbeit zwischen Deutschland, Europa und den USA stünde.«247 Zu sehr seien beide Teile, Europa und die USA, auf die eigenen Probleme konzentriert. Und mit Blick auf die aufstrebenden Mächte sehe er, führte er aus, in den USA eine »Tendenz, sich auf sich selbst zurückzuziehen und die eigene globale Rolle zu überprüfen und neu zu denken«.248 Die Hoffnungen auf Obama, die Steinmeier 2008 noch hegte, schienen verflogen. Steinmeier jedenfalls schlussfolgerte, dass es um mehr ginge als um »eine vorübergehende atmosphärische Abkühlung in den transatlantischen Beziehungen. Zur Disposition« stünden vielmehr, konstatierte er, »die überkommenen Loyalitäten und Bündniskonstellationen, deren Wurzeln in den Kalten Krieg zurückreichen und deren Bestand im Zeichen neuer globaler Balan-
242 | Ebd. 243 | Vgl. Winkler, H.-A.: Geschichte des Westens. Die Zeit der Gegenwart, 2015, S. 244. 244 | Steinmeier, F.-W.: Realismus und Prinzipientreue; in: Hennerkes, B.-H.; Augustin, G. (Hg.): Wertewandel mitgestalten, 2012, S. 91. 245 | Ebd. 246 | Ebd. 247 | Ebd. 248 | Ebd., S. 92.
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cen nicht naturgegeben ist«.249 Namentlich nannte er die NATO, bei der die »Neigung des US-Kongresses und der politischen Klasse der USA insgesamt schwinden, immer weiter steigende Mittel für Partner aufzuwenden, die offensichtlich nicht willig und in der Lage« seien, »ihrerseits die notwendigen Mittel für die Gewährleistung gemeinsamer Sicherheit aufzuwenden«.250 Gerade jener Satz muss als deutliches Plädoyer dafür gelesen werden, als Europa insgesamt mehr finanzielle Mittel für das Sicherheitsbündnis zu erbringen. Die USA würden stattdessen neue sicherheitspolitische Zusammenarbeiten in der »transpazifische[n] Perspektive« suchen. Einmal mehr beklagte Steinmeier hier Europas abnehmende Rolle, das »aus dem Fokus zu geraten« scheine.251 Hausaufgaben sah er dabei vor allem auf der hiesigen Seite des Atlantiks: »So wichtig eine angemessene Lastenverteilung zwischen den Partnern, eine Stärkung der verteidigungspolitischen Ressourcen, mehr Effizienz und mehr transnationale Kooperation, kurz gesagt: die innere Festung der NATO, auch ist,« gehe es »um weitaus mehr, nämlich um die Frage, ob Deutschland und Europa in der Lage sind, sich dem nach wie vor und auf lange Sicht wichtigsten Verbündeten als unverzichtbarer und interessanter Partner zu präsentieren.«252 Diese Aussage wird sich später widerspiegeln in einer Außenpolitik Steinmeiers, die er mit den Worten skizzierte, dass Deutschland ein bisschen zu klein sei, um am Rande zu stehen.253 Der Ukraine-Konflikt in seiner zweiten Amtszeit wird hier ein erster Härtetest sein. Schon zu diesem Zeitpunkt betonte er, dass es genug »Anknüpfungspunkte« gebe, zuallererst allerdings die Einsicht da sein müsse, dass man »einander mehr denn je« brauche.254 Für die »[g]emeinsame[n] Antworten des Westens […] auf die großen globalen Herausforderungen – vom Klimawandel über Energie- und Rohstofffragen bis hin zur Ernährungssicherung für eine immer weiter wachsende Weltbevölkerung« brauche man »weit mehr als die gegenwärtig zu beobachtende diplomatische und politische Routine in den transatlantischen Beziehungen«.255 Es ist ein klares Plädoyer für einen Neustart der Beziehungen, auf den Steinmeier bereits 2008 mit der Wahl Obamas gesetzt hatte.256
249 | Ebd. 250 | Ebd., S. 93. 251 | Ebd. 252 | Ebd. 253 | Vgl. Kapitel 12 in dieser Biographie. 254 | Steinmeier, F.-W.: Realismus und Prinzipientreue; in: Hennerkes, B.-H.; Augustin, G. (Hg.): Wertewandel mitgestalten, 2012, S. 94. 255 | Ebd. 256 | Vgl. Kapitel 9.1 in dieser Biographie.
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Als Beispiel »[e]ines der großen neuen Aktionsfelder für gemeinsames transatlantisches Handeln« beschrieb er im Teilkapitel »VI. Ein neuer Blick auf die islamische Welt«257 den »arabische[n] Frühling, der »eine große Chance für den Westen« sein könne, »aber auch eine große Gefahr, wenn wir diese Chance verpassen«.258 Einen Erfolg sah er verbunden mit »einer Lösung des Nahostkonflikts«, bei dem er eine »proaktivere Rolle Deutschlands und Europas«, die sich »viele […] mit einigem Recht […] wünschen würden«, neben dem »wirtschaftliche[n], politische[n] und am Ende auch [dem] militärische[n] Gewicht der USA«.259 Zum anderen müsse eine »politische und wirtschaftliche Perspektive an der Seite Europas« für die arabischen Staaten aufgezeigt werden, »die mehr verheißt als die schon im Ansatz gescheiterte Mittelmeerunion«.260 Zudem sei eine »massive Unterstützung bei der wirtschaftlichen Ertüchtigung der arabischen Staaten« von Nöten, von einem »Marshallplan für die arabische Welt« sprach Steinmeier.261 Für die »transatlantische Partnerschaft« sah er hierin »eines der bedeutendsten außenpolitischen Handlungsfelder der kommenden Jahre«.262 Diesen sechs Unterkapiteln waren zwei weitere angereiht, in denen Steinmeier auf die Konsequenzen seiner Einschätzungen einging und zunächst unter dem Titel »VII. Dialog und Belehrung« betonte, dass man weiterhin »mit beiden Füßen im Westen« stehen werde, es aber »reichlich zu tun« gebe in der EU und den transatlantischen Beziehungen, um den Begriff der »westlichen Wertegemeinschaft« »von jenem Mehltau« aus den vergangenen Jahren zu befreien.263 Er nahm damit jenen Kritikern den Wind aus den Segeln, die seine weiteren Ausführungen, wie teils zwischen 2005 und 2009 geschehen, als Abkehr von diesen Werten hätten sehen können. Man müsse, fügte Steinmeier nämlich hinzu, auch die veränderte Welt mit den neuen »aufstrebenden Mächten im Osten« anerkennen, denen man »nicht einmal mit Desinteresse begegnen« dürfe.264 Ein Stück Verbitterung mag man hier herauslesen, wenn Steinmeier über die (deutsche) Debatte schrieb:
257 | Steinmeier, F.-W.: Realismus und Prinzipientreue; in: Hennerkes, B.-H.; Augustin, G. (Hg.): Wertewandel mitgestalten, 2012, S. 94. 258 | Ebd. 259 | Ebd., S. 95. 260 | Ebd. 261 | Hierbei verwies er selber darauf, dass man »den Vergleich für schief« oder »für historisch belastet halten« könne; ebd. 262 | Ebd. 263 | Ebd. 264 | Ebd., S. 96.
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IV. Politik im Vordergrund »Kaum ein anderer Bereich der internationalen Beziehungen steht unter so sorgfältiger und argwöhnischer Beobachtung wie die Politik gegenüber China und Russland. Und in kaum einem anderen Feld steigern sich die Diskussionen über den richtigen Umgang mit diesen Mächten hierzulande so entschieden ins Grundsätzliche, nirgends sonst gerät Außenpolitik so oft in den Verdacht der Wertevergessenheit und des Opportunismus.« 265
Wertevergessenheit und Opportunismus waren Begriffe, mit denen sich auch Steinmeier aus der eigenen Partei, aber auch vom politischen Gegner sowie von der medialen Kritik in seiner ersten Amtszeit als Außenminister zumindest teilweise konfrontiert sah. Dieser Kritik folgte eine deutlich nüchternere Lagebeschreibung des östlichen Nachbarn, der nun in einem Atemzug mit China genannt wurde, wenn es etwa um die Rechte, die es in einer Demokratie geben sollte, ging. Eine Abkehr von einem allzu hoffnungsfrohen Kurs war hier deutlich zu vernehmen. »Niemand, der es mit diesen beiden Ländern zu tun hat,« führte er aus, werde »die Augen verschließen können vor den politischen Defiziten, dem Mangel an Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und politischer Teilhabe, auch den Einschränkungen von Pressefreiheit und richterlicher Unabhängigkeit. Sowohl China als auch Russland« würden, machte er deutlich, »zwischen wirtschaftlicher und – mit erkennbar weniger Enthusiasmus – politischer Modernisierung auf der einen und fortgesetzter Repression auf der anderen Seite«266 changieren. Eine deutliche Aussage zum politischen Zustand jener Länder war das für einen, der in seiner ersten Amtszeit noch ein deutlich positiveres Bild Russlands zeichnete, das sich nun anscheinend in seinem neuen Nachdenkprozess veränderte. So hieß es weiter: »Beide Staaten sind auf je eigene Weise auf der Suche nach ihrem Platz und ihrer Rolle in einem sich verändernden globalen Kraftfeld. Welchen Weg sie am Ende strategisch und im Inneren nehmen werden, ist offen.«267 Gerade in Bezug auf Russland war auch diese Einschätzung neu, wurde doch lange Zeit von einer Öffnung Richtung Westen ausgegangen. Auch Steinmeier tat das (zu Recht) noch in seiner ersten Amtszeit. So ist es die nüchterne Analyse eines ehemaligen Außenministers, der sah, wie sich die Dinge gedreht haben. Aus dieser Warte heraus stellte Steinmeier denn auch »nüchtern« fest, dass man »[s]chon heute […] beide Mächte zur Lösung praktisch aller globalen Konflikte und Probleme« benötige.268 Eine langfristige »europäische Sicherheitsstruktur« sei »ohne Russland kaum vorstellbar«.269 Ob Energiepolitik, Afghanistan oder das iranische Atomprogramm 265 | Ebd. 266 | Ebd. 267 | Ebd. 268 | Ebd. 269 | Ebd.
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– auch bei der Lösung dieser Konflikte werde Russland gebraucht. Über Chinas Rolle bei den großen Themen, unter anderem dem Klimawandel, brauche »man nicht mehr viel zu sagen«.270 Und hierbei kam Steinmeier auf die von ihm formulierte »Gretchenfrage« zu sprechen, nämlich, wie »sich der Zwang zur Kooperation verbinden« lasse »mit dem Interesse und dem ethischen Postulat, eine den Prinzipien der Aufklärung verpflichtete Politik auch international zu betreiben und offensiv für Demokratie, Marktwirtschaft, Geltung des Völkerrechts sowie die Anerkennung und Durchsetzung universeller Menschenrechte einzutreten«. 271
Aus seiner Sicht gab es am Ende nur eine Möglichkeit: »den schmalen Grat zu beschreiten, der zwischen Anklage und Dialogverweigerung und prinzipienloser Anbiederung verläuft«.272 Und eben diesem Prinzip folge, legte Steinmeier nach, das Angebot einer Modernisierungspartnerschaft mit Russland. Nüchtern führte er mit Verweis auf die Geduld, die eine solche Strategie erfordere, aus: »Dass aus Sicht Russlands der wirtschaftliche Aspekt im Vordergrund steht, aus deutscher und europäischer Sicht dies von der politischen Dimension der Modernisierung nicht zu trennen ist«, gebe »immer wieder Anlass zu Debatten.«273 Auch der »Verdacht, dass die Bereitschaft zum politischen Dialog am Ende nur taktischer Natur« sei, lasse sich »kaum völlig ausräumen lassen«.274 Er erteilte zugleich jenen eine Absage, die daher »alle Versuche in diese Richtung« unterlassen wollen würden, da sie dann »wenig Vertrauen in die eigene Überzeugung, in die universelle Wirkkraft der Ideen von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie« hätten.275 Jene müssten die Frage beantworten, »wie sonst den Prinzipien der Aufklärung zum Durchbruch verholfen werden soll.«276 Von einer Politik, die den Dialog nicht führe, das machte Steinmeier deutlich, hielt er jedenfalls nichts, von einer, in der man sich empöre, ebenso wenig. So schrieb er weiter: »Empörung allein jedenfalls bleibt allzu häufig folgenlos, in manchen Fällen kann sie sogar bösen Schaden anrichten. Es kann und darf nicht darum gehen, die eigenen Über-
270 | Ebd., S. 97. 271 | Ebd. 272 | Ebd. 273 | Ebd. 274 | Ebd. 275 | Ebd. 276 | Ebd.
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IV. Politik im Vordergrund zeugungen zu verleugnen. Aber die praktische Erfahrung lehrt, dass der Teufelskreis aus Belehrung und Isolation des Gegenübers allzu häufig nicht weiterführt.« 277
Hier spricht einer, der für seinen Dialog trotz schwieriger Umstände, damals nicht nur mit Russland, sondern zum Beispiel mit seinen Bemühungen, Syrien in einen Nahost-Friedensprozess einzubeziehen,278 immer wieder Kritik einstecken musste. Und so schwang schon im Untertitel des letzten Abschnitts »VIII. Politische Moralisten und moralische Politiker« Kritik an jenen aus seiner Sicht »politische[n] Moralisten« mit.279 Sehr überzeugt erhöhte er seine Ansicht hin zu einer »Wahrheit[]«, bei der sich derjenige, der sie ausspricht, dem »Widerspruch« »von engagierten Aktivisten wie von kritischen Journalisten« gewiss sein dürfe.280 Wohl möchte Steinmeier seine Kritik, nachdem er sie geäußert hatte, so nicht verstanden wissen und betonte in seinem Aufsatz sogleich: »Zwischen politischen Moralisten, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, als Beobachter und Aktivisten über die Einhaltung zivilisatorischer Standards weltweit zu wachen und kritische Öffentlichkeit herzustellen« sowie »moralischen Politikern, die sich den Prinzipien der Aufklärung in ihrem praktischen Handeln verpflichtet fühlen«,281 verlaufe »kein unüberbrückbarer Graben«, da sich beide auf die gleichen Werte beziehen, lediglich eine unterschiedliche Perspektive einnehmen würden. Sogleich kam Steinmeier nun wieder auf seine Rolle zu sprechen, die des, so würde er es sagen, moralischen (Außen-)Politikers. »Wer praktische Fortschritte erreichen will, dem kann der Blick auf die Gesinnung seines Gegenübers alleine nicht genügen.«282 So habe die »moralische Empörung über Menschenrechtsverletzungen, Kriegsverbrechen, ungerechte Verteilung von Gütern und Lebenschancen […] ihr eigenes Recht« und sei »nicht die exklusive Domäne von Menschenrechtsaktivisten und Pazifisten.«283 Auch das ist eine (richtige) Absage an jene, die für sich beanspruchen, alleingültig die richtige Sicht zu vertreten. Mit seiner Formulierung der »Wahrheit« machte Steinmeier zu Beginn dieses Teilkapitels jedoch (einmal mehr) das gleiche, beanspruchte, erst mal zu einer Überzeugung gelangt, die »Wahrheit« für sich. Zumindest aber stellte er sich auf eine höhere Ebene, was zwar richtig sein mag, für die Argumentation und Überzeugung 277 | Ebd. 278 | Vgl. Kapitel 9.1 in dieser Biographie. 279 | Steinmeier, F.-W.: Realismus und Prinzipientreue; in: Hennerkes, B.-H.; Augustin, G. (Hg.): Wertewandel mitgestalten, 2012, S. 98. 280 | Ebd. 281 | Ebd. 282 | Ebd. 283 | Ebd.
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der Kritiker jedoch schwierig sein dürfte. In diesem Zusammenhang wirkt eine keineswegs allein positiv gemeinte Aussage eines führenden SPD-Politiker, der lange mit Steinmeier zusammengearbeitet hat, nachvollziehbarer: »Er ist in seinen außenpolitischen Vorstellungen absolut überzeugt.«284 Schränkt man diese Argumentation, wie Steinmeier es tat, auf das Politische ein, darf dann aber doch der Satz gelten: So tun Aktivisten und andere »das ihre, um auf Ungerechtigkeit, Gewalt und Unterdrückung hinzuweisen«.285 Er ließ dabei keinen Zweifel daran, darauf hinzuweisen, dass zwischen jenem Tun und der praktischen Politik jedoch ein Unterschied bestehe: »Als Leitlinie für praktisches politisches Handeln aber wird ein moralischer Rigorismus in den seltensten Fällen die Durchsetzung der eigenen Werte und Interessen fördern.«286 Steinmeier definierte in diesem Aufsatz seine Grundauffassungen von Außenpolitik. Diese waren sowohl ein Bekenntnis zu den westlichen Werten, ein Plädoyer für ein starkes Europa als auch für eine Wiederbelebung der transatlantischen Beziehungen. Sie waren dabei auch eine düstere Bestandsaufnahme über die NATO und den Unwillen einiger Mitgliedsstaaten. Sie waren das Plädoyer für eine engagierte, starke Außenpolitik, auch von Deutschlands Seite aus – und insbesondere waren sie der Versuch einer neuen Rechtfertigung seiner einst verfolgten Außenpolitik, in der intensiv auch der Kontakt mit nicht-demokratischen Regimen gesucht worden ist, um diese mit zu verändern. Die Begründung war nun jedoch deutlich stärker auf dem westlichen Wertekanon aufgebaut, der es gebiete, eben von dieser Vorstellung aus, auch auf andere Länder zu schauen. Steinmeiers Vorstellungen von Außenpolitik wurden auch in einem weiteren Aufsatz sichtbar, in dem er sich – einer aktuellen außenpolitischen Debatte folgend287 – vollumfänglich mit dem »Konzept der Schutzverantwortung« beschäftigte, also der Intervention in einem fremden Staat. Hier zog Steinmeier nach einigen einführenden Ausführungen zum Kalten Krieg und der Zeit nach dem Wegfall der Blockkonfrontation eine negative Bilanz dieser Jahre
284 | So ein Interviewpartner, der nicht genannt werden möchte, im Gespräch mit dem Autor. (Um die Anonymität zu wahren, wird für alle anonymisierten Personen eine männliche Form verwendet.) (Nr. 44) 285 | Steinmeier, F.-W.: Realismus und Prinzipientreue; in: Hennerkes, B.-H.; Augustin, G. (Hg.): Wertewandel mitgestalten, 2012, S. 98. 286 | Ebd. 287 | Vgl. z.B. Benner, Thorsten: Responsibility to Protect; in: Internationale Politik, 3-4/2012, S. 62-67.
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des »Gleichgewichts des Schreckens«,288 »jene[r] perverse[n] Stabilität in der zweigeteilten Welt bis 1990«.289 Denn: »Auch die ruchlosesten unter den Diktaturen konnten gelassen kalkulieren, dass Blockkonfrontation und die Sorge um den fragilen Weltfrieden jeden Gedanken an eine humanitäre militärische Intervention undenkbar machten.«290 Erst danach sei es, auch unter dem Eindruck der »humanitären Katastrophen in Ruanda und Bosnien«, zu einem »Paradigmenwechsel« gekommen, sodass »Bürgerkriege, humanitäre Krisen und schwerwiegende Verletzungen des humanitären Völkerrechts immer wieder als Friedensbedrohung im Sinne von Artikel 39 der VN-Charta« eingestuft worden seien.291 Die Konsequenz aus diesen Katastrophen, die »keinen verantwortungsbewussten Staatsmann unberührt gelassen« hätten, sei gewesen: »Niemals wieder darf die Weltgemeinschaft durch ihre Tatenlosigkeit solch schwerste Massenverbrechen und humanitäre Katastrophen zulassen.«292 Es folgte ein Verweis auf die deutsche Beteiligung im Kosovokrieg. Damit war Steinmeier in der Gegenwart angelangt, spannte den Bogen zum Libyen-Einsatz 2011, der »auch ein Test für das neue Konzept der Weltgemeinschaft für humanitäre militärische Interventionen, für das Konzept der responsibility to protect […], der Schutzverantwortung« (Hervorhebung F.W.S.) gewesen sei, wobei er offenließ, ob »dieser Test geglückt« sei.293 »So sehr Deutschland und die Staatengemeinschaft mithelfen müssen, schwerste Menschenrechtsverletzungen und humanitäre Katastrophen zu verhindern«, äußerte er zugleich seine Sorge »vor einem neuen militärischen Aktionismus in Form von humanitären Interventionen. Was gut gemeint« beginne, könne »für viele Menschen mit mehr Gewalt und weniger Sicherheit enden.«294 Einmal mehr folgt ein geschichtlicher Abriss, in dem auch das moralische Dilemma, über das bereits früher in dieser Biographie gesprochen worden ist, thematisiert wird. Steinmeier ging es offenkundig darum, die Frage zu erörtern, wie sehr die mit Schutzverantwortung einhergehende Aufweichung der völkerrechtlichen Regeln richtig sein kann, aus der nun, »wenn der Staat seiner Verantwortung nicht gerecht wird, […] subsidiär auch die internationale Gemeinschaft in der Pflicht« sei »und […] in Wahrnehmung ihrer eigenen Verantwortung auch gegen den Willen der jeweiligen Regierung gewaltsam
288 | Steinmeier, F.-W.: »There shall be no violence«; in: Bäuerle, M.; Dann, P.; Wallrabenstein, A.: Demokratie-Perspektiven, 2012, S. 729f. 289 | Ebd., S. 730f. 290 | Ebd., S. 731. 291 | Ebd. 292 | Ebd. 293 | Ebd., S. 732. 294 | Ebd.
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intervenieren« könne.295 Er fragte weiter, ob »die Libyen-Intervention nun den Siegeszug der Schutzverantwortung« markiere: »Ist jetzt neues Völkerrecht entstanden, weil zur gemeinsamen Rechtsüberzeugung auch die notwendige Staatspraxis gekommen ist? Ist das Vorgehen im Fall Libyens eine Erfolgsgeschichte und wird es zum Modell für andere Fälle?«296 Seine »große[n] Zweifel« äußerte er »mit Blick auf Anlass, Durchführung und Ergebnis der LibyenIntervention«.297 Natürlich weine, führte Steinmeier aus, »dem Diktator Gaddafi niemand eine Träne nach,« und er teile »die Haltung derjenigen, die gegen den Tyrannen Partei ergriffen haben.«298 Entschieden fügte er jedoch hinzu: »Aber eine verantwortungsvolle Politik muss über den Einzelfall hinausdenken, und deshalb ist es riskant, das völkerrechtliche Gewalt- und Interventionsverbot aufzuweichen, ohne eindeutige und allseits akzeptierte Regeln an dessen Stelle setzen zu können.«299 Am Beispiel Libyen stellte Steinmeier so Fragen, die die Gefahren der Schutzverantwortung offenbarten: »Waren die Kriterien [der Schutzverantwortung; Anm. S.K.] im Fall Libyen erfüllt? Wo verlaufen die Grenzen zwischen Verbrechen in der Qualität des Völkermords und opferreichen Grausamkeiten bei bewaffneten Aufständen und Bürgerkrieg? […] War im konkreten Fall Libyen die Intervention von lauteren Motiven bestimmt oder waren nicht nur in Frankreich deutliche innenpolitische – dort vor einer Präsidentschaftswahl – von Belang? Stand der Schutz der Zivilbevölkerung im Vordergrund oder nicht doch der Regimewechsel?« 300
Um die Brisanz dieser Fragen offenbar wissend, fügte er zugleich hinzu: »Wer auf Akzeptanz einer sich neu entwickelnden Völkerrechtsfigur setzt, darf diese Fragen nicht als zynisch empfinden.«301 Und er äußerte die Sorge: »Übergroße Vagheit bei den Voraussetzungen prägt die Konflikte im Anwendungsfall der Responsibility to Protect für die Zukunft vor.«302 Das möge man »im Fall Libyen dahinstehen lassen, weil der Sicherheitsrat mit seiner Resolution die Intervention ausdrücklich legalisiert hat. Bedenklich«, fand es Steinmeier allerdings dann,
295 | Ebd., S. 734. 296 | Ebd. 297 | Ebd. 298 | Ebd. 299 | Ebd. 300 | Ebd., S. 735. 301 | Ebd. 302 | Ebd.
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IV. Politik im Vordergrund »wenn man mit Blick auf den Dauerkonflikt der fünf Ständigen Mitglieder im Sicherheitsrat die Schutzverantwortung nun zu einer gewohnheitsrechtlichen Ausnahme des Gewaltverbots ausbauen und künftig unabhängig von den Entscheidungen des Sicherheitsrats humanitäre Interventionen erlauben wollte.« 303
Von einer »Büchse der Pandora« sprach er, die, wenn man sie öffne, »eine neue Epoche vermeintlich ›gerechter‹ Kriege« beginnen lassen könnte.304 Steinmeier definierte dabei klare Ansichten: »Jede gewaltsame Intervention, selbst die humanitär gerechtfertigte, berührt mit der Souveränität eines Staates auch das Selbstbestimmungsrecht seines Volkes, über das eigene politische Schicksal ohne Einmischung durch Dritte zu entscheiden. Aus diesem Grund« verbiete »das Völkerrecht den Staaten, bei Bürgerkriegen gewaltsam einzugreifen. Um sich nicht zu einer verbotenen Parteinahme verleiten zu lassen«, empfahl er, »deshalb Vorwürfe von Bürgerkriegsparteien, der Gegner begehe schwere Menschenrechtsverletzungen, sehr sorgfältig zu prüfen«.305 Für Steinmeier war es »fraglich«, ob »diese Grundsätze bei der LibyenIntervention immer respektiert worden sind«.306 Er verwies dabei auf den früheren australischen Außenminister Gareth Evans, der im März 2011 gesagt habe, dass der Einsatz nur dem »Schutz der Bevölkerung« dienen könne, nicht aber, zitiert er ihn direkt, »die Demokratie herbeizubomben oder den Kopf von Oberst Gaddafi zu fordern«.307 »Die Herbeiführung eines Regimewechsels sei die Sache der Menschen in Libyen«, zitierte Steinmeier Evans indirekt weiter und machte sich letztendlich diese Argumentation zu eigen. So führte er aus, dass »[m]ilitärische Interventionen aus humanitären Gründen […] ultima ratio bleiben« müssten.308 Er verwies auf Entscheidungen, die auch die SPD-Bundestagsfraktion getroffen habe und im Zuge derer es zu umfangreichen Diskussionen gekommen sei: »Von den inneren Verhältnissen und den politischen Zielen der Opposition hatten wir 2011 in Libyen ein ebenso unscharfes Bild wie dies im Sommer 2012 bei Syrien der Fall ist. Mitunter liegen die Wurzeln der Konflikte weit tiefer und sind die Folgen einer Intervention sehr viel weitreichender als dies auf den ersten Blick erkennbar ist. So strahlt etwa die Lage in Libyen auf die gesamte Sahara-Region aus, und auch die aktuelle Instabilität Malis steht damit in engem Zusammenhang. In Syrien dagegen scheint der Konflikt vordergründig zwischen einer tyrannischen Regierung einerseits und Freiheits303 | Ebd. 304 | Ebd., S. 736. 305 | Ebd. 306 | Ebd. 307 | Ebd. 308 | Ebd., S. 737.
10. Der Politiker kämpfern andererseits zu verlaufen. Aber wir dürfen auch die religiöse Komponente nicht außer Acht lassen und müssen fragen, inwieweit dort ein Stellvertreterkrieg zwischen Sunniten und Schiiten ausgetragen wird und welche Weiterungen ein mögliches Eingreifen auf die gesamte Region haben könnte.« 309
Ganz offen sprach er an: »Die Hoffnung, etwa durch eine humanitäre Intervention kurzerhand Freiheit und Demokratie etablieren zu können«, stoße »nicht nur an die Grenzen des Konzepts der Schutzverantwortung, sondern oft auch an jene der politischen Realität. Auch wenn sie mit lauteren Absichten« kommen würden, seien »ausländische Truppen nur selten willkommen. Manche Parteien« hätten, warnte er, »auch an der Fortführung eines Konflikts ein größeres Interesse als an dessen friedlicher Beilegung.«310 Als Negativ-Beispiel führte Steinmeier die USA an. Das ist interessant, weil er bereits halb verklausulierte Kritik an Frankreich wagte und nun auch an die Irak-Misere erinnerte. Er sprach außerdem ein Dilemma an: »Wer die Durchsetzung humanitärer Ziele mit Hilfe militärischer Gewalt« propagiere, müsse »deshalb bereit sein, auch eigene Tote in Kauf zu nehmen, und dies gegenüber einer Öffentlichkeit zu verteidigen, die – wie in Deutschland – vor dem Hintergrund ihrer Geschichte nur eine geringe Bereitschaft zur Hinnahme solcher Opfer« habe.311 Jedoch gehe es »keineswegs nur um die eigenen Opfer«.312 So dürfe niemand vergessen, »dass ein Krieg auch für jene, zu dessen Hilfe und Schutz er geführt wird, Tod und Schrecken bedeuten« könne.313 »Auch die humanitäre Intervention in Libyen« habe »zahlreiche Menschenleben gefordert, hat Zivilisten getötet, Familien zerstört und Leid geschaffen.«314 Diese Opfer rückte er in den Mittelpunkt, wenn er schrieb: »Wer im Namen der Humanität eine verantwortungsvolle Politik anstrebt, darf über kein einziges Opfer leichtfertig hinweggehen und es quasi als Kollateralschaden größerer Ideale und eines gerechten Krieges abtun.«315 Eine abschließende Lösung für dieses Dilemma lieferte Steinmeier nicht. Vielmehr geben dieser themenspezifische Aufsatz sowie jener (zuvor besprochene) grundsätzlichere zur Außenpolitik Einblick, wie sich Steinmeier nach wie vor auch mit jenen weitreichenden außenpolitischen Fragen beschäftigte. Weniger
309 | Ebd. 310 | Ebd. 311 | Ebd., S. 738. 312 | Ebd. 313 | Ebd. 314 | Ebd. 315 | Ebd.
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an die Kanzlerin, wie später von Medienvertretern interpretiert,316 richtete sich dabei insbesondere der Essay »Realismus und Prinzipientreue« auch an die SPD selbst, die oft eher vermeintlich wertgebunden handelte, wie bereits die Debatten etwa um den Dalai Lama in der ersten Legislaturperiode zeigten. Der Aufsatz zur Schutzverantwortung hingegen wendete sich auch an jene, die meinten, aus Steinmeiers Sicht zu leichtfertig durch militärische Interventionen Frieden oder gar Demokratie zu schaffen. Er war so womöglich vielmehr als Warnung zu lesen vor neuerlichen Kriegseinsätzen. Zusammen mit dem Konzept »Deutschland 2020« zeigten jene drei Essays, dass Steinmeier großen Einfluss auf die inhaltlichen Neubestimmungen zumindest auf den fraktionären Teil seiner Partei nach der Bundestagswahl 2009 hatte. Doch, so wichtig die Auseinandersetzung war, folgte insbesondere in außenpolitischen Fragen, zu denen Steinmeier zweimal seine klaren Überzeugungen vorlegte, die Fraktion nicht immer. Bei der Abstimmung über die Ausweitung des Atalanta-Mandats – der Piratenbekämpfung vor der Küste Somalias – verweigerte ihm die Fraktion die Gefolgschaft. Hatte die Fraktionsspitze um Steinmeier sowie Parteichef Gabriel in der Fraktion noch bei der Probeabstimmung zumindest für eine Enthaltung geworben und diese empfohlen, mussten sie feststellen, dass die Fraktionsmitglieder mehrheitlich nicht ihrer Position folgten, sondern das Mandat ablehnen wollten.317 Das war insbesondere für Steinmeier eine empfindliche Niederlage, auch wenn diese sogleich, zum Beispiel von Oppermann mit dem Verweis auf »eine absolut untergeordnete Nebenfrage«,318 kleingeredet worden war. Doch hatte Steinmeier einst als Außenminister das Mandat mit angestoßen.319 Er soll »beleidigt und angefasst« gewirkt haben, zitierte Welt Online aus Teilnehmerkreisen.320 Auch im Rückblick erinnert sich ein Fraktionsmitglied daran, dass er »sehr überrascht« gewesen sei, »was mich […] verwundert hat: wenn man ein biss316 | Vgl. z.B. Lau, Jörg: Warum er nicht ins Auswärtige Amt sollte; in: Zeit Online, 02.10.2013; Onlineversion des Printartikels abrufbar unter: www.zeit.de/2013/41/ steinmeier-spd-aussenminister (zuletzt eingesehen am 08.07.2016). 317 | Vgl. Jungholt, Thorsten; Sturm, Daniel-Friedrich: SPD lehnt Anti-Piraten-Mission vor Somalia ab; in: Welt Online, 09.05.2012; abrufbar unter: www.welt.de/poli tik/deutschland/article106280398/SPD-lehnt-Anti-Piraten-Mission-vor-Somalia-ab. html (zuletzt eingesehen am 08.07.2016); vgl. auch Horeld, Markus: Die SPD setzt auf Populismus; in: Zeit Online, 10.05.2012; abrufbar unter: www.zeit.de/politik/ deutschland/2012-05/atalanta-piraterie-bundeswehr-spd (zuletzt eingesehen am 08.07.2016). 318 | Zitiert nach Jungholt, T.; Sturm, D.-F.: SPD lehnt Anti-Piraten-Mission vor Somalia ab; in: Welt Online, 09.05.2012. 319 | Vgl. ebd. 320 | Zitiert nach ebd.
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chen in die Fraktion hineinhorchte, merkte man, dass wir da ziemlich heftige Debatten hatten«.321 Für diesen Akteur war hierin der Unterschied zwischen »Verwaltung und politischer Arena« zu sehen.322 »Wenn ich [mich] in der politischen Arena befinde, kann ich […] nicht erwarten, dass das, was ich vorschlage, einfach per se von der Mehrheit [….] akzeptiert wird, sondern ich muss überzeugen.«323 Das müsse man zwar auch in der Verwaltung, »aber wenn mir das nicht gelingt, kann ich anordnen […], dass es gemacht wird. Das geht in der Fraktion nicht.«324 Eine andere, Steinmeier weniger kritisch gegenüberstehende Person erinnert sich an das »Brodeln«, das es im Vorfeld gegeben habe, jedoch auch vom Ersten Parlamentarischen Geschäftsführer Oppermann nicht erkannt worden sei.325 Eine Ansage habe gefehlt, etwa zu sagen, »da sind zwei verschiedene Positionen da, darüber müssen wir reden und abstimmen«.326 Sie geht davon aus, dass bei einer anderen Herangehensweise der Verlauf ein anderer gewesen wäre.327 In diesem Falle schienen also Steinmeiers Frühwarnsysteme, als welches er einst selbst agierte, nicht funktioniert zu haben. In anderen Fragen musste Steinmeier ebenfalls empfindliche Niederlagen einstecken. Nachdem Olaf Scholz 2012 als Bürgermeister in Hamburg gewählt worden war und damit seinen Fraktionsvizeposten aufgeben musste, favorisierte der Fraktionsvorstand mehrheitlich nicht Steinmeiers Favoritin und langjährige Weggefährtin Brigitte Zypries, sondern Christine Lambrecht, die zum »Ypsilanti-Lager« gehörte und »sich 2009 gegen Steinmeiers Wahl zum Fraktionschef ausgesprochen« hatte.328 Trotz dieser Rückschläge, aus denen er, wie sich Beobachter einig sind, durchaus gelernt habe, war Steinmeier seinen Weg als Politiker auch in der Opposition weitergegangen und mehr und mehr erneut angekommen. Dafür sprechen, trotz dieser Negativ-Voten, die Rückmeldungen, die er als Fraktionsvorsitzender bekommen hatte, zumindest dann, wenn man als Indikator neben 321 | So ein Interviewpartner, der nicht genannt werden möchte, im Gespräch mit dem Autor. (Um die Anonymität zu wahren, wird für alle anonymisierten Personen eine männliche Form verwendet.) (Nr. 30) 322 | Ebd. 323 | Ebd. 324 | Ebd. 325 | So ein Interviewpartner, der nicht genannt werden möchte, im Gespräch mit dem Autor. (Um die Anonymität zu wahren, wird für alle anonymisierten Personen eine männliche Form verwendet.) (Nr. 34) 326 | Ebd. 327 | Ebd. 328 | Doemens, K.: Konkurrenz für die Schlachtrösser der SPD; in: Frankfurter Rundschau, 14.11.2011; vgl. auch Kamann, Matthias; Sturm, Daniel-Friedrich: Eine Stärke, eine Schwäche, zwei K-Fragen; in: Welt, 07.04.2011, S. 5.
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den auch positiven Interviewaussagen das Ergebnis der Wahl zum Fraktionsvorsitzenden heranzieht. So konnte Steinmeier sein Ergebnis von 2009, als er kurz nach der Bundestagswahl und trotz der überstürzten Ausrufung bereits 88,7 Prozent der Stimmen bekommen hatte, um über fünf Prozentpunkte auf 94 Prozent steigern.329 Der Rückhalt war also groß, auch wenn es vereinzelt, wie beispielsweise bei der Somalia-Abstimmung und auch zu Beginn der Legislaturperiode, Kritik an seinem Führungsstil gab. In der inhaltlichen Themenbestimmung und -erarbeitung konnte sich Steinmeier also vor allem der Unterstützung eines Großteils der Fraktion vergleichsweise sicher sein, während Gabriel auf der anderen Seite – neben seiner starken öffentlichen Rolle, die jedoch nicht immer von Kohärenz geprägt war – vor allem in die Partei hineinwirkte, wo seine Verdienste zu suchen sind. Nur: Sowohl Steinmeier als auch Gabriel schafften es lange Zeit nicht, sich in einer solchen Form zu verzahnen, dass eine in sich stringente Linie entstand. Am schwersten wog dabei, dass beide weiterhin kein gemeinsames strategisches Zentrum bildeten, obwohl Gabriel auf Steinmeiers Richtschnur von Oppositionspolitik eingeschwenkt war, unter der sich die SPD »zu einer staatstragenden Rolle bekannt und bei den entscheidenden Abstimmungen stets zugestimmt« hat.330 Andererseits muss beiden zugutegehalten werden, dass das Führungsvakuum zwar vorläufig nicht geklärt wurde, damit aber auch die Partei nicht in eine neue Phase des Unfriedens eintreten konnte. Beide widerstanden Versuchungen, das Vakuum aufzulösen, wie es in der Geschichte der Bundesrepublik in allen Parteien immer wieder der Fall gewesen war, in der sich »Spitzenleute im Kampf gegen Konkurrenten« erst durchgesetzt und »anschließend ein strategisches Zentrum« aufgebaut haben:331 »Konrad Adenauer gegen Jakob Kaiser, Helmut Kohl gegen Rainer Barzel, Gerhard Schröder gegen Oskar Lafontaine. Vorstände, Fraktionen, Parteitage, Mitgliederabstimmungen und Ergebnisse von Parlamentswahlen – alles ist schon bemüht worden, wenn die interne Einigung unter den Führungsleuten nicht möglich war oder nicht ausreichte.« 332
329 | O.V.: Steinmeier bleibt Fraktionschef; in: Handelblatt.com, 20.09.2011; abrufbar unter: www.handelsblatt.com/politik/deutschland/bundestag-steinmeier-bleibt-spdfraktionschef/4628480.html (zuletzt eingesehen am 14.12.2015). 330 | Goffart, D.: Steinbrück, 2012, S. 12f. 331 | Raschke, J.; Tils, R.: Politische Strategie, 2013, S. 297. 332 | Ebd.
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Noch einmal sei an jene Worte eines Protagonisten jener Zeit erinnert, der beide lobte, »dass die das nie haben öffentlich eskalieren lassen«.333 Und in der Tat stimmt es, dass nach den »ziemliche[n] Reibereihen« in der Anfangsphase die Zusammenarbeit zur Mitte der Legislaturperiode deutlich besser geworden ist.334 Ein Abgeordneter erinnert sich, dass sie »irgendwann […] erkannt,« hätten, »dass es besser ist, sich gegenseitig miteinander abstimmen«.335 Doch selbst bei sich verbessernder Zusammenarbeit gab es in dieser Führungsspitze keine nachhaltig gemeinsame Richtung in Inhalt und Form, die jedoch für erfolgreiche Strategiefähigkeit bei einer Doppelspitze noch mehr von Nöten gewesen wäre.336 So blieb das Misstrauen und auch der Unmut – Steinmeier soll die Zusammenarbeit mit Gabriel, der immer neue Überschriften lieferte, die ihm missfielen, als Zumutung empfunden haben337 –, wie im folgenden Kapitel zu sehen ist, in Grundzügen bestehen.
10.3 Troik a Die SPD stabilisierte sich also schnell, wenn auch auf niedrigem Niveau. Steinmeier verfestigte sich im Fraktionsvorsitz und Gabriel leistete als Parteivorsitzender trotz seiner teilweise an den Tag gelegten Sprunghaftigkeit, aber eben auch mit seiner gleichzeitig behutsamen Art, auf die gebeutelte Partei zuzugehen, einen entscheidenden Beitrag zum Zusammenhalt der Sozialdemokraten. Dass die Gegenseite, Schwarz-Gelb, einen miserablen Start in ihre vier Regierungsjahre hinlegte und nach »nur wenigen Wochen […] restlos entzaubert« war,338 kam der SPD dabei zugute. Und so wirkte es nur kurzzeitig
333 | So ein Interviewpartner, der nicht genannt werden möchte, im Gespräch mit dem Autor. (Um die Anonymität zu wahren, wird für alle anonymisierten Personen eine männliche Form verwendet.) (Nr. 37) 334 | Ebd. 335 | So ein Interviewpartner, der nicht genannt werden möchte, im Gespräch mit dem Autor. (Um die Anonymität zu wahren, wird für alle anonymisierten Personen eine männliche Form verwendet.) (Nr. 33) 336 | Vgl. Raschke, J.; Tils, R.: Politische Strategie, 2013, S. 281. 337 | Vgl. Sturm, Daniel-Friedrich: Wie Peer Steinbrück SPD-Kanzlerkandidat wurde; in: Welt am Sonntag, 30.09.2012; Onlineversion des Printartikels abrufbar unter: www. welt.de/politik/deutschland/article109544903/Wie-Peer-Steinbrueck-SPD-Kanzlerkandidat-wurde.html (zuletzt eingesehen am 09.08.2016). 338 | Schulz, Frauke; Kallinich, Daniela: Vorwort; in: ders. (Hg.): Halbzeitbilanz. Parteien, Politik und Zeitgeist ind er Schwarz-Gelben Koalition 2009-2011, Stuttgart 2011, S. 7-8; hier: S. 7.
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grotesk, dass medial bald schon wieder die Frage diskutiert wurde, wer nächster Kanzlerkandidat der SPD werden könne. Bereits früh ließ Gabriel den Namen des »selbst ernannten Politpensionär[s]«339 Steinbrück fallen, womit der theoretische Kandidatenkreis sich auf drei erweitert hatte. Denn auch Steinmeiers Popularität war erneut stetig gestiegen,340 sodass er schnell wieder gehandelt wurde. Dabei hatte er noch Anfang des Jahres 2010 in einem Gespräch betont, »dass Wahlergebnisse Entscheidungen vorstrukturieren« und er »[v]on daher glaube«, dass »andere Lösungen wahrscheinlicher« seien.341 Ende 2010 wünschte sich hingegen schon wieder »[f]ast jeder Zweite […], dass der bedächtige Exaußenminister Spitzenkandidat wird«.342 Gabriel hielten demnach »nur ein Viertel der SPD-Wähler für kanzlertauglich«.343 Das war noch eine Momentaufnahme, bei der sicherlich auch die Nierenspende ihren Einfluss geltend machte, und die Troika war noch inoffiziell, auch wenn Steinbrück auf dem Parteikonvent im Spätsommer 2010 bereits »die zentrale Rede zur Wirtschafts- und Finanzpolitik« gehalten hat.344 Mitte 2011 schließlich wurde aus dieser sich konstituierten inoffiziellen Troika die offizielle »Troika«,345 die erstmals gemeinsam zum Thema Europa vor die Presse trat. Mit dem Begriff Troika war dabei ein Name gewählt, der nicht nur positive Assoziationen wachrief, blickte man auf die Geschichte der sozialdemokratischen Troikas zurück;346 ein Begriff zudem, der mittlerweile inflationär gebraucht wurde. Dennoch war die Idee, ein solches Trio aus drei Schwergewichten zu formen, grundsätzlich nicht verkehrt. Gabriel tat überdies gut daran, einen weiteren Kanzlerkandidaten aufzubauen, machte Steinmeier doch zumindest recht deutlich, dass er eine Kanzlerkandidatur nicht um jeden Preis anstrebte, wenn er sie sich denn überhaupt 339 | Goffart, D.: Steinbrück, 2012, S. 238. 340 | Sturm, D.-F.: Peer Steinbrück, 2012, S. 258. 341 | Zitiert nach Kohlmann, S.: Franz Müntefering, 2011, S. 240. 342 | O.V.: Steinmeier schlägt Gabriel; in: Stern, 28.10.2010, S. 26. 343 | Ebd. 344 | Goffart, D.: Steinbrück, 2012, S. 238; vgl. auch Kammholz, Karsten: Steinbrück rüttelt am Linksruck; in: Hamburger Abendblatt, 27.09.2010, S. 4. 345 | Vgl. Roßler-Kreuzer, Herbert: Schaulaufen der Genossen; in: Focus, 28.11.2011, S. 40-42. 346 | Vgl. Walter, Franz: Kollegiale Führung. Die Troika als Lehrstück; in: Berliner Republik, 2/2000; abrufbar unter: www.b-republik.de/archiv/kollegiale-fhrung?aut=30 (zuletzt eingesehen am 08.07.2016); vgl. auch Walter, Franz: Vom Betriebsrat der Nation zum Kanzlerwahlverein? Die SPD; in: Pickel, Gert; Walz, Dieter; Brunner, Wolfram (Hg.): Deutschland nach den Wahlen – Befunde zur Bundestagswahl 1998 und zur Zukunft des deutschen Parteiensystems, Opladen 2000, S. 227-252; hier: S. 227f.
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noch einmal vorstellen konnte.347 Sowohl Gabriel als auch Steinmeier forcierten jedenfalls Steinbrücks Rückkehr, dessen Karriere bisher als beendet und der Sitz im Bundestag als Zugabe galt. Seine Rückkehr war neben der Kandidatenfrage dabei womöglich schlicht und einfach der Einsicht geschuldet, dass dort ein guter Finanzexperte zur Verfügung stand, den man einbeziehen müsse. Nachdem Gabriel Steinbrück wieder ins Gespräch gebracht hatte, war es für den Spiegel Steinmeier, der »Steinbrück eine Bühne« gab,348 indem er den früheren Finanzminister mit der Ausarbeitung eines »Konzept[s] zur Regulierung des Finanzmarkts« beauftragt habe.349 Steinmeier habe dabei Steinbrück »einen eigenen Mitarbeiter bewilligt« und »Finanzexperten der Fraktion hatten ihm für sein Finanzkonzept zugearbeitet«.350 Das Magazin folgerte: »So viel Selbstlosigkeit ist unüblich in der Politik. Und sie ist ganz und gar unüblich für einen, der selbst an die Spitze will.«351 Der Spiegel ging also einmal mehr allein von Machtpolitik aus. Dabei war daneben auch die Sachpolitik elementar, die Steinmeier – und in Einschränkungen auch Gabriel – dazu bewogen hatten, Steinbrück zurückzuholen. Das Nachrichtenmagazin folgte hier einem veralteten Ideal von Politik, in der das erste Ziel der eigene Machtgewinn war. Das war selbst bei Gabriel – für viele überraschend – nicht immer unbedingt der Fall. Zwar trafen auf ihn wie auch auf Steinbrück Attribute aus der vorausgegangenen Politikergeneration zu. Über letzteren schrieb die Welt am Sonntag einmal, dass er »auf kraftmeierndes Polarisierungsspiel« setze, »das in den 90er-Jahren populär war bei Politikertypen wie Koch, Clement, Stoiber und Merz, die oft erst nach dem Ende ihrer aktiven Zeit mystifiziert werden, wenn nostalgisches Fühlen die Realität von damals überwuchert hat.«352 Der dritte, Steinmeier, wiederum versuche, so die Zeitung weiter, »die leise Tour, deren Resonanz sich kaum in TV-Quoten messen lässt, dafür aber zunehmend in politischem Erfolg, bei Ministerpräsidenten wie Hannelore Kraft und Winfried
347 | So erinnert sich auch Gabriel. Steinmeier habe »in den Jahren […] immer deutlich gemacht, dass wir nicht davon ausgehen sollten, dass er unbedingt Kanzlerkandidat werden will.« (Gabriel, Sigmar im Gespräch mit dem Autor am 10.02.2014.) 348 | Hammerstein, Konstantin von; Knaup, Horand; Repinski, Gordon: Die Farce; in: Spiegel, 24.09.2012, S. 20-22; hier: S. 22. 349 | Ebd. 350 | Ebd. 351 | Ebd. 352 | Schumacher, Hajo: Steinmeier contra Kraftmeier; in: Welt am Sonntag, 30.10.2011, S. 6.
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IV. Politik im Vordergrund Kretschmann, Erwin Sellering und Olaf Scholz, demnächst womöglich auch bei Christian Ude in Bayern – allesamt Volksvertreter ohne Glam und Gloria.« 353
Wohl aber gab es insbesondere zwischen den beiden freundschaftlich verbundenen »Stones«354 auch große Gemeinsamkeiten. Sie kannten sich »seit einer gemeinsamen Kabinettssitzung der Landesregierungen von Schleswig-Holstein und Niedersachsen, vermutlich seit dem Jahr 1997. Beide Länder befassten sich mit der europäischen Schiffbauförderung und der Lage ihrer Häfen. Steinbrücks ›herausragende Bedeutung‹ innerhalb des Kieler Kabinetts sei«
Steinmeier aufgefallen, erzählte dieser einem Steinbrück-Biographen.355 Einen ähnlichen Karriereweg legte auch der von Steinmeier geschätzte konservative Thomas de Maizière hin:356 »Beide wurden Mitte der 50er Jahre geboren; beide Juristen sind ausgeglichenen Temperaments; beide vermieden das frühe Engagement in der Parteipolitik; beide fanden über die Verwaltung den Weg in die höheren Sphären der Politik, zunächst im Land, dann im Bund. Beide gehören dem Bundestag erst seit 2009 an, sind mithin Parlamentsneulinge«. 357
Mit Blick auf solche Lebenswege und Verhaltensweisen wird in einer Analyse gefolgert, dass »die Zeit der Alphatiere« vielleicht »generell vorbei« sei.358 Denn »politische Führung in modernen Organisationen heißt mehr und mehr zuallererst Kommunikation. Man muss die verschiedenen innerparteilichen Bereiche und Bereichsführer, die diversen Machtzentren durch Kommunikation verknüpfen, gewissermaßen politisch synchronisieren und dadurch Geschlossenheit produzieren.« 359
Es sind Eigenschaften, die man Steinmeier zutraut, die jedenfalls keine Kraftmeierei mehr benötigen. Die Kämpfe, die die 68er-Generation noch geführt hat, gehören dabei der Vergangenheit an. Als Christian Wulff als Bundesprä353 | Ebd. 354 | Hammerstein, K. von; Knaup, H.; Repinski, G.: Die Farce; in: Spiegel, 24.09.2012, S. 22. 355 | Sturm, D.-F.: Peer Steinbrück, 2012, S. 259. 356 | Vgl. Sturm, Daniel-Friedrich: Pofalla tut sich schwer als diskreter Makler der Macht; in: Welt, 04.10.2011, S. 4. 357 | Ebd. 358 | Walter, F.: Die SPD, 2009, S. 286. 359 | Ebd.
10. Der Politiker
sident 2012 stolperte, nannte die Bevölkerung nach Gauck Steinmeier und de Maizière als Wunschkandidaten für die Nachfolge.360 Die Gesellschaft hatte sich gewandelt, politische Alpha-Tiere von einst sucht man in der Politik mehr und mehr vergebens. Ein Manko? Wohl eher der Zeitgeist. Natürlich, Gabriel polterte gelegentlich etwas zu lautstark, doch auch er strebte die Kanzlerkandidatur nicht um jeden Preis an, auch er forcierte die Troika. Eine neue Sachlichkeit schien nach den Jahren der selbsternannten »Live-Rock’n‘Roller«, wie Joschka Fischer sich selbst prototypisch für seine Generation einmal nannte,361 in die Politik eingekehrt zu sein. Eine »Playback-Generation« also, wie der ehemalige Außenminister sie nennt? Mitnichten. Es mag langweiliger geworden sein,362 gleichzeitig sind die Inhalte nochmals komplexer geworden – und überhaupt sind sie mehr in den Mittelpunkt gerückt, während die Parteien sich immer enger an diese binden und dahinter stellen. Gabriel, konstatierte der Spiegel so, gehöre aufgrund seines Gehabes »zu einem fast ausgestorbenen Politikertypus, dem Konfliktpolitiker. Wo er ist, rumpelt es. Das ist gut, denn es macht die Dinge interessant. Es ist aber auch schlecht, denn die meisten Wähler wollen nicht das Gefühl haben, dass es dauernd rumpelt. Sie wollen sich geborgen fühlen und mögen Politiker, die verlässlich erscheinen.« 363
Steinmeier verkörperte das genaue Gegenteil von Gabriel und in der Außenwirkung auch von Steinbrück. Da, wo er war, rumpelte es meist nicht. Nach der Rückkehr in die Politik nach der Nierenspende vertrat Steinmeier diesen Standpunkt offensiver denn je, warb in der Welt am Sonntag für eine neue Sachlichkeit und das Nachdenken darüber, wie man »mehr Transparenz über Gründe und Hintergründe von staatlichen Entscheidungen« herbeiführen könne.364 So sei ihm während seiner Auszeit aufgefallen, dass »die Leute uns Politiker sehr viel differenzierter betrachten, als ich annahm«.365 Er folgerte:
360 | Vgl. o.V.: Mehrheit der Deutschen will Gauck als Bundespräsident; in: Zeit Online, 19.02.2012; abrufbar unter: www.zeit.de/politik/deutschland/2012-02/umfragemehrheit-gauck (zuletzt eingesehen am 15.12.2015). 361 | Fischer, Joschka im Interview mit der taz; in: König, Jens; Wallraff, Lukas; Winkelmann, Ulrike: »Ich war einer der letzten Rock’n‘Roller der deutschen Politik«; in: taz, 23.09.2005; Onlineversion des Printartikels abrufbar unter: www.taz.de/1/archiv/ ?dig=2005/09/23/a0142 (zuletzt eingesehen am 09.08.2016). 362 | Vgl. auch Lorenz, R.; Micus, M.: Von Beruf: Politiker, 2013, S. 18. 363 | Repinski, Gordon: Der Lostreter; in: Spiegel, 16.09.2013, S. 38-39; hier: S. 38f. 364 | Steinmeier, F.-W. im Gespräch mit der Welt am Sonntag; in: Malzahn, C.-C.; Neumann, P.; Sturm, D.-F.: Zurück im alten Job; in: Welt am Sonntag, 14.11.2010, S. 8. 365 | Ebd.
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So gebe es zwar »unterschiedliche Typen« auch in seiner Partei, sagte er dem Spiegel, wobei er wenig Zweifel daran ließ, dass er einen, nämlich seinen eigenen Typus, für den besseren halte: »Sicher gibt es auch welche, die vielleicht wendiger sind als ich […]. Ich gehöre zu denjenigen, die eher in langen Linien denken. Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Tun und der eigenen Vergangenheit ist für mich Teil einer politischen Haltung. Es ist der Versuch, im politischen Leben authentisch zu bleiben.« 367
Authentizität ist der Markenkern, den Steinmeier nun noch mehr für sich reklamierte und die sich immer wieder auch in einer klaren Haltung widerspiegelte. Letztendlich waren jene Aussagen gegen all jene gerichtet, die Politik allein als Spiel ansehen und ihre Fahne darin bereit sind, nach Bedarf schnell neu auszurichten. Man konnte sie damit auch als eine klare Abgrenzung zu Gabriel lesen. Doch auch hier galt wieder, eine multipolare Führung, hier also aus einer Troika bestehend, könnte verschiedene Aspekte der Außendarstellung durchaus miteinander verbinden. Steinbrück jedenfalls wurde in diesem Mannschaftsspiel nun von anderer Seite immer mehr gehypt. Spätestens mit einem gemeinsamen Auftritt zusammen mit dem sozialdemokratischen Altvorderen Helmut Schmidt in der Talkshow Günther Jauch und dem am Tag darauffolgenden Spiegel-Titel mit dem Schmidt-über-Steinbrück-Zitat »Er kann es«368 wurden Steinbrücks Ambitionen bewusst öffentlich gemacht.369 Steinmeier und Gabriel waren, auch das entsprach nicht einem alten Machttypus, der eher allein arbeitete und gegen seine Mitanwärter opportunierte und sie überraschte, laut Zeit eingeweiht in das »Buchprojekt, dem Jauch-Auftritt, dem Spiegel-Titel, der ZEIT-Veröffentlichung.«370 366 | Ebd. 367 | Steinmeier, F.-W. im Gespräch mit dem Spiegel; in: Hickmann, C.; Schwennicke, C.: »Andere sind wendiger als ich«; in: Spiegel, 22.11.2010, S. 25. 368 | Spiegel, 24.10.2011 (Titelbild). 369 | Vgl. Dausend, Peter: Kanzler und Krise; in: Zeit, 27.10.2011, S. 5; vgl. auch Goffart, D.: Steinbrück, 2012, S. 254. 370 | Dausend, P.: Kanzler und Krise; in: Zeit, 27.10.2011.
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Nach einigen weiteren gemeinsamen Auftritten und einem Parteitag, auf dem jeder der drei eine Rede hielt, Gabriel sich als »Übervater« präsentierte,371 Fraktionschef Steinmeier als Außen- und Steinbrück als Finanzpolitiker,372 wurde es jedoch schnell erneut seltsam still um die Troika. Es wurde versäumt, sie am Leben zu halten, was Gabriel anzulasten ist, der die Troika initiierte. Und so wurde aus der Troika-Story um drei Spitzenkandidaten, aus denen einer zum Kanzlerkandidaten ausgewählt werden sollte, in der medialen Berichterstattung bald wahlweise eine »Lüge«373 oder eine »Farce«.374 Eine Woche, bevor die Troika dann schließlich im September 2012 in sich zusammenfiel, hielt der Spiegel fest: »Im Troika-Spektakel schreckt die SPD-Führung inzwischen auch vor einem offenen Täuschungsmanöver nicht zurück. Dabei gibt es drei Verlierer: die Wahrheit, die Partei und den Kanzlerkandidaten.«375 In Wahrheit nämlich hatte sich Steinmeier, der, wenn gewollt, die Kanzlerkandidatur auch bekommen hätte, längst entschieden. Steinbrück erinnerte sich am Tag der Verkündung daran, dass »zwischen uns dreien, auch in einem bilateralen Gespräch zwischen mir und Frank-Walter Steinmeier […] in der jüngsten Zeit klargeworden« sei, dass »Steinmeier nicht kandidieren möchte. Und daraufhin sind wir uns untereinander ziemlich einig geworden, dass ich dann auch in diesem konkreten Zeitfenster – mit Blick auf die Themen, die anliegen – vielleicht der Geeignete sein könnte, um für die SPD das Maximum an Stimmen herauszuholen.« 376
Beide, erinnert sich Gabriel retrospektiv, hätten Steinmeier favorisiert, ihn gebeten, »das zu machen«.377 Schließlich sei die Entscheidung »Anfang August gefallen, als Steinmeier uns beiden, nachdem er versprochen hatte, es während des Sommerurlaubs nochmal genau durchzudenken, endgültig abgesagt« habe.378 371 | Poschardt, Ulf: Die Macht der Farben; in: Welt, 08.12.2011, S. 23. 372 | Vgl. Haselberger, Stephan; Sirleschtov, Antje: Herz gegen Hirn; in: Tagesspiegel, 07.12.2011, S. 3. 373 | Kister, Kurt: Gefährliche Beziehung; in: Süddeutsche Zeitung, 01.10.2012, S. 4. 374 | Hammerstein, K. von; Knaup, H.; Repinski, G.: Die Farce; in: Spiegel, 24.09.2012, S. 21. 375 | Ebd. 376 | Pressekonferenz von Sigmar Gabriel, Peer Steinbrück und Frank-Walter Steinmeier anlässlich der Ausrufung des Kanzlerkandidaten Steinbrück, Berlin, 28.09.2012; abrufbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=fitJRcxTZGM (zuletzt eingesehen am 08.07.2016). 377 | Gabriel, Sigmar im Gespräch mit dem Autor am 10.02.2014. 378 | Ebd.
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Die Führungsfrage also war geklärt, ohne geklärt zu werden. Sie blieb unter Verschluss. Und in jener Woche vor der Verkündung merkte man Steinmeier an, dass er nachhaltig genervt von diesem Versteckspiel schien. Als der Fraktionsvorsitzende zu Gast in der TV-Talkshow Markus Lanz war, antwortete er auf die Frage, wie sehr ihn die Frage nach der Kandidatur nerve: »Grenzenlos«.379 Lanz fragte jedoch penetrant weiter nach, bis Steinmeier, der dieser ersten Antwort noch ein Lachen hinterhergeschoben hatte, unwirsch reagierte: »Herr Lanz, Sie können ja wahrscheinlich verstehen, dass ist die Frage, über die die meisten versuchen, […] an die K-Frage bei der SPD heranzukommen.«380 Lanz wollte an dieser Stelle unterbrechen, doch Steinmeier schien tatsächlich in Rage und redete weiter: »Ich muss im Augenblick Ihnen nicht nachweisen, der Öffentlichkeit nicht nachweisen, dass man ein paar Spitzenfunktionen in der deutschen Politik erfüllt hat, ich hab’ 2009 kandidiert, natürlich nicht, weil ich Zweifel an mir selbst gehabt hätte und wie wir das jetzt mit Blick auf das Jahr entscheiden, das werden wir Ihnen dann in ein paar Monaten, Ihnen und der Öffentlichkeit mitteilen.« 381
Steinmeier lachte nun nicht mehr. Und Lanz ebenso wenig. Dreimal hatte Steinmeier angedeutet, dass es dazu nichts Neues zu sagen gäbe (was nicht stimmte), Lanz hatte es immer wieder versucht. Fortan ließ er den Moderator auflaufen. Nach einem weiteren Konstrukt entgegnete Steinmeier nur: »Was ist jetzt Ihre Frage?« Diese Sendung war ein Zeugnis, wie sehr Steinmeier unter der Verabredung, die Entscheidung geheim zu halten, zu leiden schien. Über den Parteivorsitzenden sagte er dabei: »Solange er sich nicht aus dem Rennen nimmt als Parteivorsitzender, ist er im Rennen.«382 Genau das sollte jedoch geschehen. Nur wenige Tage später stand eben in jenem Spiegel, in dem von der »Farce« die Rede war: »Gabriel hat sich schon seit längerem aus der Troika verabschiedet.«383 Im »vertrauten Kreis« plaudere der Parteivorsitzende, »er stehe für eine Kandidatur nicht mehr zur Verfügung. Es war nicht das erste Mal, dass er sich so äußerte.«384 Nach dieser offenkundigen, lautleise geäußerten Herausnahme Gabriels stand Steinmeier, der längst entschieden hatte, nicht anzutreten, als Zauderer da. Als ein solcher wurde er im selben Artikel beschrieben: 379 | Steinmeier, F.-W. in der Talkshow »Markus Lanz« am 20.09.2012. 380 | Ebd. 381 | Ebd. 382 | Ebd. 383 | Hammerstein, K. von; Knaup, H.; Repinski, G.: Die Farce; in: Spiegel, 24.09.2012, S. 22. 384 | Ebd.
10. Der Politiker »Wenn der Fraktionschef wollte, könnte er wohl auch. Aber will er denn? Steinmeier wird von vielen Landesvorsitzenden favorisiert und hätte eine Mehrheit innerhalb der Partei hinter sich […]. Aber seine Frau ist gegen eine Kandidatur, und er selbst zaudert – sehr zum Leidwesen seiner Unterstützer. ›Jetzt müssen die Leute, die wollen, es auch einmal zeigen‹, fordert ihn ein Genosse aus der Parteispitze auf.« 385
Es ist rückblickend kaum feststellbar, ob es dieser Artikel war, der Steinmeier letztendlich zu seiner überstürzten öffentlichen Absage bewogen hatte. Jedenfalls sprach einiges dafür. Als er am Donnerstag vor der Verkündung in einem Hintergrundgespräch erneut auf seine Absichten angesprochen wurde, antwortete er mit der Gegenfrage, wer denn sage, dass er sich noch nicht entschieden habe.386 Einen Tag später war Steinbrück in einem »Holterdiepolter-Prozess«,387 so Steinbrück im Rückblick selbst, zum Kanzlerkandidaten ausgerufen worden, Steinmeier indessen wirkte entspannt. Gabriel sprach davon, »dass auch Frank-Walter Steinmeier dem wachsenden öffentlichen Druck auf eine Erklärung von ihm nur noch mühsam standhalten« habe können.388 Die Süddeutsche Zeitung glaubte nicht an eine versehentliche Äußerung Steinmeiers am Tag zuvor.389 Auch Franz Müntefering kann sich das im Rückblick nicht vorstellen, »sondern ich glaube schon, dass er das jetzt irgendwie auf den Punkt bringen wollte dabei. Weil er ist normalerweise nicht einer, der sich bei so was verplappert, das war […] zu wichtig.«390 Für Steinmeier war es womöglich eine der letzten Chancen, sich nach Gabriels Herausnahme selbst ebenfalls freizuschwimmen, ohne als Zauderer dazustehen. Gabriel hatte das als Vertrauensbruch empfunden,391 womit es, unabhängig davon, wie es wirk-
385 | Ebd. 386 | O.V.: Wie Steinmeier den SPD-Kanzlerkandidaten Steinbrück ins Rollen brachte; in: Focus.de, 28.09.2012; abrufbar unter: www.focus.de/politik/deutschland/einfolgenreicher-plausch-am-dinnerbuffet-wie-steinmeier-den-spd-kanzlerkandidatensteinbrueck-ins-rollen-brachte_aid_829399.html (zuletzt eingesehen am 15.12. 2015). 387 | Steinbrück, Peer im Gespräch mit dem Spiegel; in: Hammerstein, Konstantin von; Repinski, Gordon: »Die Luft ist eisenhaltig«; in: Spiegel, 08.04.2013, S. 24-27; hier: S. 27. 388 | Pressekonferenz von S. Gabriel, P. Steinbrück und F.-W. Steinmeier anlässlich der Ausrufung des Kanzlerkandidaten Steinbrück, 28.09.2012. 389 | Kister, K.: Gefährliche Beziehung; in: Süddeutsche Zeitung, 01.10.2012. 390 | Müntefering, Franz im Gespräch mit dem Autor am 22.10.2013. 391 | So ein Interviewpartner, der nicht genannt werden möchte, im Gespräch mit dem Autor. (Um die Anonymität zu wahren, wird für alle anonymisierten Personen eine männliche Form verwendet.) (Nr. 45)
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lich war, eine weitere Wegmarke im ambivalenten Verhältnis zwischen Steinmeier und Gabriel darstellte. Die eigentlichen Beweggründe gegen eine erneute Kandidatur dürften facettenreich gewesen sein. Sein knapper Verweis auf »persönliche Gründe« auf der gemeinsamen Pressekonferenz lud Pressevertreter indessen geradezu zu Spekulationen ein. Zwei Wochen nach der Verkündung suchte Steinmeier wohl auch deshalb den Weg in die Öffentlichkeit und gab der Bild am Sonntag ein umfangreiches Interview, in dem er gleich zu Beginn unterstrich, dass nur »[w]enige Dinge schwieriger« seien, »als Nein zu sagen, wenn man selbst nicht ohne Ehrgeiz und die Aufgabe groß ist«.392 Auf Nachfrage erläuterte er seine Gründe noch einmal genauer. So hätten »die letzten zwei Jahre seit der Transplantation […] gezeigt: auch wenn es überwiegend gut geht – es gibt ein paar Tage mehr im Jahr, an denen ich an der Familienfront gefordert bin. Diese Freiheit«393 habe er sich »bewahren« wollen, »deshalb war der Verzicht auf die Kandidatur die notwendige Konsequenz«.394 Tatsächlich hatte seine Ehefrau bereits im Wahlkampf 2009 betont, dass sie ihren Mann zwar unterstütze, aber diese exponierte Zeit insgesamt als »anstrengend« empfinde, sie »lieber privat« sei.395 In einem Stern-Interview erzählte sie, dass sie immer die »Schröders« gesehen und gesagt habe: »[U]m Gottes willen, so will ich das nie haben. Immerzu Fotographen, ob man essen geht oder in den Zoo.«396 Man habe »kein Privatleben mehr, wenn man gemeinsam rausgeht«.397 Nun kam also noch die gesundheitliche Situation hinzu. Doch selbst wenn diese persönliche Geschichte nicht gewesen wäre, dürfte es für Steinmeier nur wenig Argumente gegeben haben, eine erneute Kandidatur sich und insbesondere seiner Frau noch einmal zuzumuten. Von etwa »drei Gründen«, die er ihm anvertraut habe, spricht ein befreundeter Politiker,
392 | Steinmeier, Frank-Walter im Interview mit der Bild am Sonntag; in: Hellemann, Angelika: Verzicht aus Liebe; in: Bild am Sonntag, 14.10.2012; Onlineversion des Printartikels abrufbar unter: www.bild.de/politik/inland/dr-frank-walter-steinmeier/meinefrau-und-ich-sind-durch-einen-langen-tunnel-gegangen-26694420.bild.html (zuletzt eingesehen am 23.08.2016). 393 | Ebd. 394 | Ebd. 395 | Zitiert nach Posche, U.: Was wirklich zählt; in: Stern, 26.08.2010, S. 41; vgl. auch o.V.: Juristin ohne Drang zu öffentlichen Auftritten; in: Agence France Presse, 11.06.2009. 396 | Büdenbender, Elke im Interview mit dem Stern; in: Lutterbeck, Claus; Rosenkranz, Jan: »Es nimmt einem schon den Atem«; in: Stern, 10.09.2009, S. 50. 397 | Ebd.
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ohne diese zu benennen.398 »Er wäre es ja nicht geworden«, meint ein ihm nahestehendes Fraktionsmitglied, will dies jedoch nicht als Pragmatismus, es dann auch nicht zu machen, verstanden wissen. »Das würd’ ich nicht sagen, sondern ich glaube, dass diese […] Wahlkampferfahrung 2009, […] dieser […] Absturz der SPD […] ihn echt traumatisiert« habe.399 In diesem Zusammenhang muss man womöglich auch die Aussage in der Bild einbeziehen: »Aber ich hatte nach der Wahlniederlage die großartige Chance, aus dem Fraktionsvorsitz heraus mich wieder nach oben zu kämpfen, wieder Anerkennung zu erarbeiten und viel für die Neuaufstellung der SPD zu tun.«400 Dankbarkeit konnte man aus diesen Worten herauslesen. Nach wie vor bestand zudem das schwierige Verhältnis zum Parteichef fort, dass neben Aussagen der Interviewten auch bei Steinmeier selbst erkennbar war. In besagter Markus-Lanz-Sendung grenzte er sich beispielsweise klar von Gabriel ab, als er ausführte: »Herr Gabriel hat ’ne andere Einschätzung, wie man auf Öffentlichkeit wirkt. Herr Gabriel liebt und pflegt diesen direkten Kontakt über die neuen sozialen Medien. Ich mache das sehr zurückhaltend.«401 Überhaupt war es aber auch eine Entscheidung, in der die »Vor- und Nachteile« abgewogen worden sind.402 In jener Zeit war die Finanzkrise eines der Großthemen und zugleich das Thema, mit dem Steinbrück verbunden war. Die Außenpolitik hatte noch keine neue Hochphase erreicht. Auch hier stimmten also die Ausgangsvoraussetzungen nicht vollumfänglich. Schließlich war Steinmeier zudem eine Verlegenheitslösung, so zumindest wurde das Werben um ihn in seinem Umfeld aufgenommen. So habe er, glaubte der Spiegel, die schnelle Abkehr vieler links-eingeordneter Sozialdemokraten nach der Bundestagswahl 2009 diesen »nie verziehen«. 403 Steinbrück
398 | So ein Interviewpartner, der nicht genannt werden möchte, im Gespräch mit dem Autor. (Um die Anonymität zu wahren, wird für alle anonymisierten Personen eine männliche Form verwendet.) (Nr. 32) 399 | So ein Interviewpartner, der nicht genannt werden möchte, im Gespräch mit dem Autor. (Um die Anonymität zu wahren, wird für alle anonymisierten Personen eine männliche Form verwendet.) (Nr. 33) 400 | Steinmeier, F.-W. im Interview mit der Bild am Sonntag; in: Hellemann, A.: Verzicht aus Liebe; in: Bild am Sonntag, 15.12.2012. 401 | Steinmeier, F.-W. in der Talkshow »Markus Lanz« am 20.09.2012. 402 | So sagte Steinmeier bei »Markus Lanz«: »Jetzt im Augenblick reden wir über Vorund Nachteile, aber die Entscheidung werde ich alleine treffen.«; vgl. Steinmeier, F.-W. in der Talkshow »Markus Lanz« am 20.09.2012. 403 | Hammerstein, K. von; Knaup, H.; Repinski, G.: Die Farce; in: Spiegel, 24.09.2012, S. 22.
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echauffierte sich unmittelbar nach der Wahl bereits halböffentlich darüber.404 Und eine mit Steinmeier vertraute Person resümiert im Rückblick: »Ich war nicht überrascht, dass er gehandelt worden ist. Aber ich hab’ […] ähnlich wie er gesehen, dass er von einem Teil instrumentalisiert worden ist. […] So nach dem Motto: Der Gabriel hat offensichtlich zu wenig Zustimmung und [ist] zu wenig tragfähig zur gegenwärtigen Zeit, […] der Peer muss verhindert werden und wen kann man da noch nehmen? Und dann reden wir dem Steinmeier ein: Du […]. Und […] da kannst auch nicht sagen, ich mach’s nicht. Ja, warum? Wenn’s der Fraktionsvorsitzende schon ablehnt […]. Jeder drückt sich. […] Da kommt so ’ne Dynamik. Und ich glaube, dass Frank-Walter in diese Dynamik reinkam. Aber klug genug natürlich ist, das zu erkennen.« 405
Die Situation, in der sich Steinmeier also befand, wird womöglich treffend in einer Parabel des Schriftstellers Franz Kafka beschrieben, die lautete: »›Ach‹, sagte die Maus, ›die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, daß ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, daß ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, daß ich schon im letzten Zimmer bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe.‹ – ›Du mußt nur die Laufrichtung ändern‹, sagte die Katze und fraß sie.‹« 406
404 | So sagte Steinbrück in seiner Abschiedsrede im Parteivorstand nach der Bundestagswahl laut Spiegel Online: »Und dann ist da ein Landesverband Berlin, der bei dieser Bundestagswahl 300 000 Stimmen gegenüber 2005 verloren hat. Nur noch jeder fünfte Wähler wählt in Berlin die SPD. Dieser Landesverband und seine Spitzenvertreter haben noch am Freitag, den 25. September 2009, in der Abschlussveranstaltung vor dem Brandenburger Tor Frank-Walter Steinmeier zugejubelt. Drei Tage später, am Montag, 28. September 2009, war es dieser Landesverband, der als erster das Revolutionstribunal einrichtete – über die drei Namen, die nun zur Verantwortung zu ziehen seien. Nämlich Franz Müntefering, der kürzlich noch bejubelte Frank-Walter Steinmeier und Peer Steinbrück. Das ist alles andere als stilsicher, eigentlich beschämend«; o.V.: Brandrede im SPD-Vorstand: Wie Peer Steinbrück mit seiner Partei abrechnete (Dokumentation); in: Spiegel Online, 12.10.2009; abrufbar unter: www.spiegel.de/politik/ deutschland/brandrede-im-spd-vorstand-wie-peer-steinbrueck-mit-seiner-partei-ab rechnete-a-654535.html (zuletzt eingesehen am 02.08.2016). 405 | So ein Interviewpartner, der nicht genannt werden möchte, im Gespräch mit dem Autor. (Um die Anonymität zu wahren, wird für alle anonymisierten Personen eine männliche Form verwendet.) (Nr. 32) Gleich mehrere Interviewpartner sahen eine solche Motivation bei Teilen der Partei. (Nr. 37) 406 | Kafka, Franz: Kleine Fabel; abrufbar unter: http://gutenberg.spiegel.de/buch/ kleine-fabel-171/1 (zuletzt eingesehen am 08.07.2016).
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Bleibt man bei dieser Kafka-Parabel, war Steinmeier die Maus und die Katze die vermeintliche Kanzlerkandidatur-Offerte, die nun drohte, ihn als Zauderer dastehen zu lassen. Anders als die Maus in der Parabel änderte Steinmeier allerdings die Laufrichtung frühzeitig – und war mit seiner Entscheidung nun ganz bei sich. Da der sich anschließende Bundestagswahlkampf in erster Linie ein Wahlkampf Steinbrücks war, soll dieser an dieser Stelle nur am Rande behandelt werden. Einige Dinge, die mit Steinmeier zusammenhingen, erscheinen jedoch erwähnenswert. Dass Steinmeier mittlerweile zum Beispiel auch um die innerparteipolitischen Mechanismen der Macht wusste, zeigte, dass er frühzeitig, mehrmals und jeweils laut – und nicht wie 2009 leise – den Fraktionsvorsitz für die nächste Legislaturperiode für sich reklamierte. Zuerst geschehen war das in der Rheinischen Post im Februar 2013. Auf die Frage, ob mit dem »Vizekanzler, Außenminister und […] seit dreieinhalb Jahren Fraktionschef« sein »Bedarf an politischen Ämtern gestillt« sei, antwortete er: »Wollen Sie mich loswerden? Wenn ja, muss ich sie enttäuschen! Ich werde weiter kräftig mitmischen und ich will mit der SPD Wahlen gewinnen. Erst danach stellen sich Fragen nach Ämtern und Funktionen. Aber vielleicht ist das auch nicht notwendig!« 407 Es war ein erstes deutliches, sehr frühes Signal, im Bedarfsfall Fraktionsvorsitzender bleiben zu wollen. Unmittelbar vor dem Kandidatenparteitag im April 2013 betonte Steinmeier dann in der Welt am Sonntag: »Das schönste [Amt] neben Papst, würde Franz Müntefering vielleicht sagen. Aber ehrlich gesagt hätte ich vor vier Jahren nicht erwartet, dass die Aufgabe gleichzeitig so herausfordernd und befriedigend ist, wie ich das heute empfinde. Damals war viel Neuland und unbekanntes Gelände. Es war nicht selbstverständlich, wie die Fraktion auf einen Vorsitzenden reagiert, der elf Jahre in unterschiedlichen Funktionen Teil der Exekutive war. Aber mein Eindruck ist: Der Umstieg hat ganz gut funktioniert, die Fraktion ist geschlossen und selbstbewusst in der Opposition. Und, was wichtig ist: Sie will dort nicht bleiben. Ich bin gerne Fraktionsvorsitzender. Aber wie es weitergeht, wird nach der Bundestagswahl entschieden.« 408
407 | Steinmeier, Frank-Walter im Gespräch mit der Rheinischen Post; in: Bröcker, Michael: »Die CDU ist eine erschöpfte Partei«; in: RP-Online, 21.02.2013, S. 4. 408 | Steinmeier, Frank-Walter im Gespräch mit der Welt am Sonntag; in: Sturm, Daniel-Friedrich; Gaugele, Jochen: »Der Slogan ist gut«; in: Welt am Sonntag, 14.04.2013; Onlineversion des Printartikels abrufbar unter: www.welt.de/print/wams/politik/artic le115266665/Der-Slogan-ist-gut.html (zuletzt eingesehen am 09.08.2016).
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Auch wenn Steinmeier nicht explizit betont, dass er das Amt erneut anstrebe, fand sich auch hier das Signal wieder, wie gern er das Amt ausübe. Eine Woche vor der Bundestagswahl 2013 antwortete er schließlich auf die Frage, ob es nach der Wahl »das Machtdreieck Steinbrück, Gabriel, Steinmeier noch geben« werde: »Klar, Kanzleramt, Parteivorsitz, Fraktionsvorsitz«. 409 Auf nochmalige Nachfrage betonte er: »Und was mich persönlich angeht, so bin ich nicht auf Jobsuche. Ich bin Fraktionsvorsitzender und bin es gerne.«410 Dass all das wirklich eine wohlkalkulierte Botschaft war, davon zeugt auch die Aussage eines weiteren früheren Spitzenpolitikers kurz nach der Wahl, der sich »sehr froh darüber« äußerte, dass Steinmeier »jetzt wieder die Hand da draufgelegt hat […], was immer dann auch irgendwann kommt«. 411 Steinmeier hätte früher womöglich geäußert, dass Personalfragen sich aktuell nicht stellen würden, es um den Sieg bei der Wahl gehe und Sachfragen im Vordergrund stünden. Der Parteipolitiker, der einst im Hintergrund seinen Anspruch reklamierte und damit beinahe scheiterte, behandelte nun auch offensiv Personalfragen, sein eigenes Fortkommen. Das ist nicht verwerflich, für Steinmeier allerdings ist diese Offenheit neu, auch das ein Indiz für sein Ankommen als Politiker im Vordergrund. Von einem »ausgefuchsten Machtpolitiker« spricht ein damaliges Mitglied der Parteispitze rückblickend.412 Es blieb eine Fußnote des Wahlkampfes, dass Steinbrück das widerfährt, was schon Steinmeier (und die gesamte Partei) fürchtete: nämlich Gabriels Alleingänge. Die öffentliche Bühne des Spiegel nutzte Kanzlerkandidat Steinbrück, um in einem Interview den Satz unterzubringen, der offenkundig als Drohung interpretiert werden durfte: »[I]ch erwarte […], dass sich alle – auch der Parteivorsitzende – in den nächsten hundert Tagen konstruktiv und loyal hinter den Spitzenkandidaten und die Kampagne stellen.«413 Der Tagesspiegel konstatierte daraufhin: »Von ständig neuen Ideen, Eigenmächtigkeiten und unabgestimmten Vorstößen des Parteichefs, der wichtige Besprechungstermine zum Wahlkampf zuletzt häufig schwänzte, ist Steinmeier nicht weniger
409 | Steinmeier, F.-W. im Gespräch mit der Rheinischen Post; in: Mayntz, G.; Quadbeck, E.: »Bei uns ist noch Luft nach oben«; in: Rheinische Post, 14.09.2009. 410 | Ebd. 411 | So ein Interviewpartner, der nicht genannt werden möchte, im Gespräch mit dem Autor. (Um die Anonymität zu wahren, wird für alle anonymisierten Personen eine männliche Form verwendet.) (Nr. 42) 412 | So ein Interviewpartner, der nicht genannt werden möchte, im Gespräch mit dem Autor. (Um die Anonymität zu wahren, wird für alle anonymisierten Personen eine männliche Form verwendet.) (Nr. 44) 413 | Knaup, Horand; Medick, Veit; Repinski, Gordon: Tropfendes Gift; in: Spiegel, 17.06.2013, S. 26-29; hier. S. 27.
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genervt als Steinbrück.«414 Als Gabriel überraschend ein Tempolimit forderte (»Der Rest der Welt macht es ja auch so« 415), wiesen das Steinbrück (»nicht sinnvoll« 416) und auch Steinmeier (»Es ist nicht die Zeit, diese Debatte neu zu befeuern« 417) umgehend deutlich zurück und stellten sich damit in Opposition zu ihrem Parteichef. Als der Fraktionschef kurz vor der Wahl von der Rheinischen Post gefragt worden ist, ob er in der letzten Woche des Wahlkampfes einen weiteren »kreativen Vorstoß« seines Parteichefs erwarte, lachte er laut Abdruck nur und betonte, dass er nicht wisse, was die Zeitung meine.418 Das Verhältnis blieb also zerrüttet. Für diese Biographie interessant ist dieser Wahlkampf vor allem in Bezug auf Steinmeiers rückwärtige Ochsentour. Nach acht Jahren in der Politik im Vordergrund war Steinmeier nämlich auch von der Darstellung her ein Politiker geworden, der aufgrund der innerparteilichen Machtkonstellationen nicht nur Machtansprüche formulierte, sondern auch seinen Wahlkampfstil deutlich verbessert hatte. Ein Blick in den Wahlkampf lohnt dafür: Am Mittwoch vor der Wahl war Steinmeier in Hessen unterwegs – ein Frühstück in Offenbach, eine Betriebsbesichtigung in Bad Vilbel mit anschließendem Eiscafé-Besuch und »Bürgerdialog«. Schließlich ging es nach Hanau zu einem Wahlkampfauftritt und von dort aus weiter nach Wiesbaden. Donnerstag dann der eigene Wahlkreis und die Abschlusskundgebung in Berlin. Am Freitag Hannover und Göttingen. Die Veranstaltungen waren gut besucht. In Göttingen bildete sich eine Traube um die kleine Bühne, nicht die große, auf der der Kanzlerkandidat Steinmeier 2009 manchmal etwas verloren wirkte. Der Steinmeier von 2013 war nicht mehr der von 2009. Steinmeiers Abstieg in die Partei, das Sammeln von Erfahrungen als Politiker, hat eine neue Stufe erreicht, deutliche Konturen wurden sichtbar. Vorbei die teils unbeholfenen Reden des ehemaligen Kanzlerkandidaten, der 2009 seine Rolle als Außenminister längst gefunden, die des Wahlkämpfers aber erst noch lernen musste.
414 | Monath, Hans: Peer Steinbrück hat die eigene Partei verstört; in: Tagesspiegel. de, 17.06.2013; abrufbar unter: www.tagesspiegel.de/politik/nach-spd-fuehrungsstreit-peer-steinbrueck-hat-die-eigene-partei-verstoert/8365246.html (zuletzt eingesehen am 17.12.2015). 415 | Zitiert nach Schwenn, Kerstin: Steinbrück kritisiert Gabriels Tempolimit-Vorschlag; in: faz.net, 08.05.2013; abrufbar unter: www.faz.net/aktuell/politik/bundestagswahl/ 120-km-h-auf-autobahnen-steinbrueck-kritisier t-gabriels-tempolimit-vor schlag -12176690.html (zuletzt eingesehen am 17.12.2015). 416 | Zitiert nach ebd. 417 | Zitiert nach ebd. 418 | Steinmeier, F.-W. im Gespräch mit der Rheinischen Post; in: Mayntz, G.; Quadbeck, E.: »Bei uns ist noch Luft nach oben«; in: Rheinische Post, 14.09.2009.
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Vier (Opposition-)Jahre haben Steinmeier zu einem soliden, wenn auch nicht überragenden Redner gemacht, der, teilweise mit Witz, das Publikum zu überzeugen versuchte, teilweise sogar begeistern konnte. »Ganz anders«, urteilte in Göttingen eine Passantin nach der Veranstaltung.419 Ein Vertrauter findet retrospektiv, dass er unverkrampfter als bei seiner eigenen Kandidatur wirkte. »Wenn man da einmal oben steht, ganz oben steht, dann verkrampft man auch, das hat man ja auch bei Peer Steinbrück erlebt, wahrscheinlich bei allen. Das ist die Todeszone der Politik, hat Joschka Fischer mal geschrieben. Diesmal war [Steinmeier] gelöster.«420 Steinmeier hielt dabei nicht ein und dieselbe Rede, sondern nahm Bezug auf die jeweiligen Städte. In Hanau sprach er von den Gebrüdern Grimm, in Göttingen rief er ins Publikum, dass er ja schon im Januar hier gewesen und eine Woche später Stephan Weil Ministerpräsident von Niedersachsen geworden sei. Seitdem heiße es in Berlin, setzte er zur Pointe an: »von Niedersachsen lernen, heißt siegen lernen«. 421 Steinmeier sprach nun frei weiter, schaute nur ab und zu auf seinen Din-A5-großen Sprechzettel. Er spannte einen Bogen um die großen sozialdemokratischen Themen. Auffällig dabei: Er wirkte wie jemand, der für die Sache brennt. Das tat er vermutlich auch früher, aber man merkte es nicht immer. Nun aber nahm man ihm den Satz ab, dass ihm der Wahlkampf »Spaß« mache, er »froh« sei, »dass wir raus sind aus der Berliner Käseglocke und jetzt endlich unter Leuten«. 422 Besonders leidenschaftlich wurde der Fraktionsvorsitzende neben dem Thema Bildung, die er, wie er mehrmals betonte und wie es sich als roter Faden durch seine innenpolitischen Aufsätze zog, als »Kern einer neuen Agenda« ansah,423 vor allem beim Themenfeld der Außenpolitik. Sichtlich war zu spüren, da sprach einer, der eben dort Politik gestalten will, dem die schwarzgelbe Außenpolitik zum Beispiel in der Syrienfrage ein Kraus zu sein schien. Schlussendlich nahm er wieder Bezug auf den Wahlkreiskandidaten, der ihn eingeladen hatte: »Wir brauchen solche Leute an der Spitze, Thomas. Es reicht nicht aus, dass es einen Fraktionsvorsitzenden gibt, der ihn unterstützt.«424 Persönlich wurde er dabei: »Lieber Thomas, wenn man sich so lange kennt«, wolle man keine Lobrede halten, sagte Steinmeier und tat es dann doch: »Ein Kom-
419 | Der Autor war bei der Kundgebung in Göttingen am 20.09.2013 vor Ort. 420 | So ein Interviewpartner, der nicht genannt werden möchte, im Gespräch mit dem Autor. (Um die Anonymität zu wahren, wird für alle anonymisierten Personen eine männliche Form verwendet.) (Nr. 37) 421 | Der Autor war bei der Kundgebung in Göttingen am 20.09.2013 vor Ort. 422 | Der Autor war bei der Kundgebung in Hanau am 18.09.2013 vor Ort. 423 | Der Autor war bei der Kundgebung in Göttingen am 20.09.2013 vor Ort. 424 | Ebd.
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petenz-Team ohne Thomas Oppermann wäre gar kein Kompetenzteam.«425 So sei in den vergangenen vier Jahren »an der Fraktionsspitze« kein Tag vergangen, »an dem ich mich nicht auf dich verlassen konnte«. 426 Er schloss mit den Worten: »Schickt ihn uns wieder nach Berlin!« 427 Die Veranstaltung war damit vorbei und Steinmeier nahm sich die Zeit, Autogramme zu geben. Er versuchte nun mehr denn je volksnah zu sein – auch wenn ihm der Smalltalk, anders als das inhaltsreiche Gespräch zum Beispiel mit einer aus Afghanistan stammenden Bürgerin am Rande einer Wahlkampfveranstaltung,428 nach wie vor schwerfiel. Den Ordnungsbeamten fragte er einmal, »alles ordnungsgemäß verlaufen?«, und lachte dabei laut, aber freundlich. Bei der Passantin, mit der er sich fotografieren ließ, merkte er an: »Ey, das blitzt ja«. 429 Und einen lokalen Sozialdemokraten fragte er: »Wie viele Jahre hast Du?« 430 Auf seine Antwort »69« entgegnete er: »Dann hast Du 12 Jahre mehr als ich.«431 Wieder dieses Steinmeiersche Lachen, von dem zu Beginn seiner Politiker-im-VordergrundWerdung nur Journalisten berichteten, die mit ihm länger unterwegs waren und enger zu tun hatten. Steinmeier hat seinen Weg gefunden als Wahlkämpfer – und auch als Wahlkreisabgeordneter, dessen Arbeit bei Parteifreunden aufgefallen zu sein schien. Bei und von Politikern wird gern (und zu Recht) von der Erdung gesprochen, die diese Arbeit auch für andere Aufgaben mit sich bringe.432 Bei Steinmeier kam diese Erdung erst Jahre nach seinem exekutivpolitischen Engagement dazu. Gabriel betonte nach der Wahl anerkennend, man »habe gemerkt, es macht ihm Spaß. Und er ist gerne Brandenburger geworden.« 433 Zypries verweist als Beispiel »auf den Kulturkreis«, den Steinmeier gegründet habe. »Und da sieht man übrigens auch, wie gut sein Netzwerk ist, dass viele berühmte Künstlerinnen und Künstler hinkommen.«434 Sichtbar wurde das auch am letzten und einzigen Wahlkampfauftritt Helmut Schmidts, der nicht 425 | Ebd. 426 | Ebd. 427 | Ebd. 428 | Der Autor war beim »Straßenwahlkampf« in Bad Vilbel am 18.09.2013 vor Ort. 429 | Der Autor war bei der Kundgebung in Hanau am 18.09.2013 vor Ort. 430 | Ebd. 431 | Ebd. 432 | Vgl. z.B. Dausend, Peter: Der Diplomat ganz bürgernah; in: Die Welt, 23.08.2007, S. 4; vgl. auch Kaschuba, Wolfgang: Berlin ist die Sammelstelle der Stämme; in: Tagesspiegel.de, 15.12.2013; abrufbar unter: www.tagesspiegel.de/meinung/deutsch lands-hauptstadt-berlin-ist-die-sammelstelle-der-staemme/9219238.hmtl?utm_re ferrer= (zuletzt eingesehen am 02.08.2016). 433 | Gabriel, Sigmar im Gespräch mit dem Autor am 10.02.2014. 434 | Zypries, Brigitte im Gespräch mit dem Autor am 24.02.2014.
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IV. Politik im Vordergrund
bei Kanzlerkandidat Steinbrück stattfand, sondern in Steinmeiers Wahlkreis in Brandenburg.435 Spätestens mit der Bundestagswahl wurde offenbar, dass seine Arbeit ebendort durchaus registriert wurde. Steinmeier konnte seinen Prozentanteil nicht nur steigern, sondern erlangte auch das einzige Direktmandat der SPD in Ostdeutschland.436 Dies dürfte jedoch im ersten Moment der einzige Wermutstropfen am Ende eines Wahlkampfes gewesen sein, den Steinmeier »katastrophal« gefunden haben soll.437 Denn das Wahlergebnis der SPD war mit rund 25 Prozent nicht nur mager, die CDU drohte kurzzeitig auch die absolute Mehrheit zu erlangen. Steinmeier absolvierte an jenem Abend im Willy-Brandt-Haus sichtlich betroffen, aber routiniert sein Programm, ging von Fernsehsender zu Fernsehsender, gab seine Interviews.438 Nur wenige Tage später wurde er mit 91 Prozent im Amt des Fraktionsvorsitzenden bestätigt.439 In den folgenden Koalitionsverhandlungen lieferte Parteichef Gabriel schließlich sein Gesellenstück ab, in dem er ein Mitgliedervotum über den Koalitionsvertrag initiierte, dem Steinmeier skeptisch gegenüberstand, das aber aus parteipolitischer Sicht ein enormer Erfolg wurde – ein Zeichen für Gabriels enorme parteipolitische Sensibilität.440 Steinmeiers inhaltliche Arbeit hatte wiederum dazu geführt, dass es nicht zu umfänglichen Schwierigkeiten kam beim »Brückenschlag zwischen Vorwahl, Wahlkampf, Wahl, Regierungsbildung und anschließendem Regieren«, bei dem, wie es in einer Analyse heißt, »meist keine umfangreich ausgearbeiteten Strategie- und Steuerkonzepte« existieren.441 Vielmehr trug der Koali-
435 | Vgl. Ismar, Georg: »Merkel appelliert an den Egoismus der Deutschen«; in: Welt Online, 06.09.2013; abrufbar unter: www.welt.de/politik/deutschland/artic le119787963/Merkel-appelliert-an-den-Egoismus-der-Deutschen.html (zuletzt eingesehen am 08.07.2016). 436 | Rougk, Benno: Zum Sieg gezittert; in: maz-online.de, 22.09.2013; abrufbar unter: www.maz-online.de/Lokales/Brandenburg-Havel/Zum-Sieg-gezittert (zuletzt eingesehen am 08.07.2016). 437 | So ein Interviewpartner, der nicht genannt werden möchte, im Gespräch mit dem Autor. (Um die Anonymität zu wahren, wird für alle anonymisierten Personen eine männliche Form verwendet.) (Nr. 32) 438 | Der Autor war am Wahlabend am 22.09.2013 im Willy-Brandt-Haus vor Ort. 439 | Vgl. o.V.: Steinmeier bleibt Fraktionschef; in: FR-Online, 24.09.2013; abrufbar unter: www.fr-online.de/bundestagswahl---hintergrund/spd--steinmeier-bleibt-frak tionschef-,23998104,24426368.html (zuletzt eingesehen am 17.12.2015). 440 | Raschke, J.; Tils, R.: Politische Strategie, 2013, S. 283. 441 | Tils, R.: Strategisches Regieren; in: Korte, K.-R.; Grunden, T. (Hg.): Handbuch Regierungsforschung, 2013; S. 234.
10. Der Politiker
tionsvertrag »eine deutliche sozialdemokratische Handschrift«. 442 Steinmeier kehrte, wie im Anschluss an das folgende Zwischenfazit über den Politiker im Vordergrund zu sehen ist, im Zuge der erfolgreichen Aushandlung als Außenminister zurück in die Regierung.
442 | Alemann, U. von; Spier, T.: In ruhigem Fahrwasser; in: Niedermayer, O. (Hg.): Die Parteien nach der Bundestagswahl 2013, 2015, S. 23.
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11. Zwischenfazit
Erneut angekommen
»Frank-Walter Steinmeier ist einer der besten Politiker Deutschlands«, befand die Zeit kurz nach der Bundestagswahl 2013, als Steinmeier gerade erneut als Minister gehandelt wurde.1 Jene Tage markierten das vorläufige Ende seines Abstiegs in die Parteiniederungen, während dem er seinen vermeintlichen Mantel der Verwaltungstätigkeit auch bei den medialen Beobachtern nachhaltig abgeschliffen hatte und vollständig zum Politiker gereift war. Er war angekommen als Politiker im Vordergrund. Steinmeiers Weg dorthin begann 2005, als er zum ersten Mal Außenminister wurde. Es war ein fließender Übergang, hatte er doch in der zweiten rot-grünen Legislaturperiode von 2002 bis 2005 immer häufiger die Öffentlichkeit gesucht. Nun übernahm er die Führung eines Ministeriums, in dem wie in keinem anderen auch fernab von Parteipolitik nach Lösungen gesucht wird. Sein Übergang gestaltete sich dabei weitestgehend abgekoppelt von der SPD, die ihn zunächst weder für das Amt bestätigen musste, noch Steinmeier mit einem Bundestagsmandat an sich band, er also nicht um Zustimmung in der Partei werben musste. Müntefering und Schröder entschieden vielmehr im Zwiegespräch über Steinmeiers Zukunft. Obwohl Steinmeier bereits über Jahre hinweg als Kanzleramtschef an einer einem Ministerium ähnlichen Stelle gewirkt hatte, war die ihm anvertraute Herausforderung dennoch groß, wie er im Rückblick bekundete. Zur Vorbereitung blieb damals wenig Zeit, hatte er doch selbst nicht damit gerechnet, jenes Ministerium angetragen zu bekommen. Dennoch ist die inhaltliche Bilanz durchaus positiv. Insbesondere der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik verschaffte er eine neue und nachhaltige Bedeutung als dritter Säule der Außenpolitik. Jene Stärkung war verbunden mit dem Bemühen um friedliche Konf liktlösungen, teils auch bis hin zur Selbstaufgabe, etwa in Bezug auf den Iran und die Frage der atomaren Anreicherung oder dem 1 | Lau, J.: Frank-Walter Steinmeier. Warum er nicht ins Auswärtige Amt sollte; in: Zeit, 02.10.2013.
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IV. Politik im Vordergrund
Versuch, Syrien als Verhandlungspartner auf die internationale Bühne zurückzuholen. Gleiches galt für Russland, zu deren Führung Steinmeier versuchte, Gesprächsfäden nicht nur nicht abreißen zu lassen, sondern auch neue Brücken zu bauen – jedoch ohne Erfolg. Russland entwickelte sich zunehmend in eine andere Richtung. Steinmeier reagierte darauf jedoch nicht mit Enttäuschung, sondern mit erneuten Bemühungen. Der Ist-Zustand war das, was zählte für seine Einschätzungen, für das, was ihn antrieb. Unermüdlich warb er so für den Dialog auch mit autoritäreren Regimen. Sein Glaube, dass eine nachhaltige europäische Friedensordnung nur mit Russland als Partner möglich sei, leitete ihn dabei. Gleichzeitig akzeptierte er jenen Status-quo nicht, sondern versuchte, ihn an verschiedenen Stellen perspektivisch zu verändern, zumindest Veränderungen anzustoßen – wie zum Beispiel in der Auswärtigen Kulturpolitik oder mit dem Entwurf einer Modernisierungspartnerschaft mit Russland. Klare Linien zeichneten sich also durchaus ab, allerdings wurde es zunächst versäumt, für diese Politik, zum Beispiel auch bezüglich des Dalai Lama, nachhaltig zu werben. So stellte den weitaus größeren Umbruch in Steinmeiers Karriere auch nicht das Amt an sich dar, sondern vielmehr die öffentliche Wahrnehmung, die mit diesem einherging. War er bisher nur bedingt im Vordergrund tätig, konnte im Hintergrund an Konzepten arbeiten, die dann andere öffentlich vertraten – wenngleich er bei der Agenda 2010 auch schon in die Öffentlichkeit trat, dort jedoch nur dann, wenn er selbst es wollte –, hatte er als Außenminister quasi ein vierjähriges Abonnement auf einen Platz in den Abendnachrichten und den vorderen Seiten des Politikmantels der großen Zeitungen gebucht. Es war eine Aufgabe, die er zunächst nur widerwillig annahm, sie zumindest nicht als elementar ansah. Das sollte sich jedoch, wie noch zu zeigen sein wird, spätestens in seiner zweiten Amtszeit als Außenminister ändern. Geholfen haben dürfte dabei auch sein parteipolitischer Abstieg, jene Ochsentour rückwärts, die ihn in die parteipolitischen Niederungen führen sollte. Sie begann 2007, zwei Jahre, nachdem er als Außenminister offiziell in den Vordergrund gerückt war. Es muss eine bewusste Entscheidung gewesen sein, diesen parteipolitischen Weg einzuschlagen. Steinmeier hat sich dieser Aufgabe schließlich vollumfänglich gestellt: Er nahm einen eigenen Wahlkreis an, zugleich wurde er Parteivize unter Kurt Beck. Er begab sich also in die Abhängigkeit von Wählern, Parteimitgliedern, die ihn aufstellen mussten, und damit der Partei. Beck hatte dabei mit seiner Neuformierung der Parteispitze keineswegs bequeme Geister für die Parteibasis gewählt. Was für Nahles und Steinbrück galt, galt genauso für Steinmeier. Sie vertraten jeweils klare Linien. Und so wurde in dieser Zeit noch einmal offenkundig, dass Steinmeier keineswegs ein Verwalter war, sondern dass sich klare Überzeugungen, überhaupt eine deutliche Haltung
11. Zwischenfazit
abzeichneten. Es war eine Linie, die teils bis in seine Jugendjahre zurückreichte, bisweilen auf Niedersachsen aufbaute, spätestens aber zu Beginn von Steinmeiers bundespolitischer Karriere einsetzte. Insbesondere bei der Agenda 2010 und bei der Weiterentwicklung offenbarte sich das. Es war Steinmeiers tiefe Überzeugung, dass nur die Reform des Sozialstaats diesen retten könne. Jene Haltung präsentierte er auch fortan bisweilen jedoch als einzige Wahrheit, womit er in der innerparteilichen Kommunikation hinter ihren Möglichkeiten zurückblieb und, übrigens ähnlich wie Müntefering und Schröder, geradezu Widerspruch provozierte. So konnte der Konflikt zwischen links und rechts in der Sozialdemokratie auch in diesen Jahren nicht gelöst werden – obwohl nach dem Rücktritt Becks mit Steinmeier und Müntefering zunächst wieder die Agenda-Linie die Oberhand gewann. Becks Rücktritt im September 2008 war dabei alles andere als ein Putsch. Es war die Dolchstoßlegende, die in Becks rheinland-pfälzischer Heimat funktionierte. Die Probleme und der Auslöser, die letztendlich dazu führten, waren jedoch hausgemacht oder nicht eines Rücktritts würdig, wäre nicht die Person vorher schon angeschlagen gewesen. Und so wurde Steinmeier 2008 Kanzlerkandidat, weil kein anderer mehr da war. Er selbst hatte lange Zeit auf solch einen anderen gehofft, nahm die Aufgabe dann jedoch voll an. Die Ausrufung bestätigte dabei einen Wandel der SPD hin zu einer Partei, in der immer mehr ein kleiner professioneller Kreis die Partei(-arbeit) steuert und in der das einzelne Mitglied immer weniger eine übergeordnete Rolle spielt2 – schlicht und einfach, weil ihre Mitgliederbasis längst, übrigens auch unabhängig von der Agenda, die den Prozess lediglich beschleunigt hat, erodiert war. Steinmeier jedenfalls übernahm das Amt des Kanzlerkandidaten in einem geradezu ausweglosen Kampf – zusätzlich setzte in jenen Wochen die Weltwirtschaftskrise ein, sodass das Parteipolitische und der Wahlkampf in den Hintergrund traten und Steinmeier als Vizekanzler nun maßgeblich Lösungen mitentwickeln musste. Er setzte sich dabei auch gegen seinen sozialdemokratischen Finanzminister Peer Steinbrück durch und arbeitete mit der Kanzlerin vertrauensvoll zusammen. Entscheidende Initiativen gingen in dieser Zeit auf ihn zurück. Auch hier wurde wieder eine klare Haltung deutlich: der Glaube 2 | Wissenschaftler bezeichnen diesen Typus mitunter als »Medienkommunikationspartei« oder »professionalisierte Wählerpartei« (vgl. Walter, F.: Die SPD, 2009, S. 270; vgl. auch Alemann, Ulrich von; Strünck, Christoph; Wehrhöfer, Ulrich: Die alten Parteien in der neuen Gesellschaft; in: Berliner Republik, 6/2001; Onlineversion des Printartikels abrufbar unter: www.b-republik.de/archiv/die-alten-parteien-in-der-neuen-ge sellschaft [zuletzt eingesehen am 23.08.2016].) Unabhängig von der begrifflichen Bestimmung scheint unstrittig, so heißt es in einer weiteren Analyse, dass für Politiker wie Steinmeier die SPD »nicht mehr in erster Linie eine Mitglieder- und Funktionärspartei« ist. (Reinhardt, M.: Aufstieg und Krise der SPD, 2011, S. 558)
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IV. Politik im Vordergrund
an den industriellen Sektor als einen entscheidenden Faktor im wirtschaftlichen Mix aus Primär-, Sekundär- und Tertiärsektor prägte seine Bemühungen um ein Abfedern der Auswirkungen dieser Krise. Die positive Bewertung seiner Außenministerzeit und des Krisenmanagements in der Wirtschaftskrise durch die Bevölkerung konnte er jedoch nicht auf die Partei übertragen. Die Fehler des Wahlkampfes waren zudem umfangreich und nicht an einer Person festmachtbar, das Erscheinungsbild der SPD desolat. So ist ihm auch nur bedingt eine Schuld an der folgenden Wahlniederlage im September 2009 anzulasten. Eben das wollten interessierte Kreise nach der Wahl so darstellen. Und so schien kurzzeitig eine Situation zu entstehen, in der Steinmeiers politische und dabei insbesondere seine parteipolitische Karriere jäh hätte enden können. Dass Steinmeier dann doch für den Tag nach der Wahl gesetzt war, verdankte er auch dem (Noch-)Parteivorsitzenden Müntefering. Dieser setzte sich ein letztes Mal von oben herab für Steinmeier ein und Steinmeier als Fraktionsvorsitzenden noch am Wahlabend durch. Kurzzeitig sah es gar so aus, als strebte Steinmeier auch den Parteivorsitz an, womit zumindest innerparteilich einmal mehr eine klare Richtungsentscheidung gefallen wäre und es einer Person oblegen hätte, ein kohärentes Konzept für die Zukunft der SPD zu erarbeiten. Dazu kam es jedoch nicht, vielmehr verhinderte unter anderen Sigmar Gabriel eine allzu große Rolle Steinmeiers und wurde selbst Parteichef. Die SPD sollte damit fortan von einem Spitzenduo geführt werden, das nur bedingt harmonierte und auch in jenen vier Oppositionsjahren nur bedingt zueinanderfand. Dabei war das Tandem nicht von vornherein abzulehnen, hätte doch der eine, Gabriel, mit seinem guten Sensorium für die Stimmungen der Parteimitglieder nach innen wirken und der andere, Steinmeier, mit seinem intellektuellen Inhaltsreichtum den seriösen Konterpart geben können. Doch waren die Widersprüche offenkundig. »Erst die Partei, dann das Land«, gab Gabriel von Beginn an die Losung aus, während Steinmeier in Anlehnung an Hans-Jochen Vogel von einer »Regierung im Wartestand« sprach und vor allem auf Machbarkeiten auch in der Oppositionspolitik achtete. So entwickelte die Fraktion neben der Partei nach einer Phase der erfolgreichen Stabilisierung – der Frust über das niederschmetternde Wahlergebnis war erstaunlich schnell verflogen – in der Tat umfangreiche Konzepte, infolge derer die SPD überraschend leise in die nächste Regierung vier Jahre später starten sollte. »Deutschland 2020« war dabei das Konzept, das sich nahtlos an die Agenda 2010 und den Deutschlandplan von 2009 anschloss. Einmal mehr durchbrach der Fraktionschef hier die klassischen, alteingesessenen Strukturen der Parteiarbeit und beauftragte mit der Erarbeitung vor allem junge Abgeordnete. Eine biographische Linie wurde damit erneut offenbar, hatte er doch selbst als Jugendlicher in der Partei zu spüren bekommen, wie wenig Interesse an der Meinung der Jüngeren bestand. Selbst als Außenminister wurde er von
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klassischen Parteikadern noch kritisch beäugt, dass dort sich nun einer aufmachen würde, in die Partei vorzudringen, was insofern auf Gegenseitigkeit beruhte, als dass Steinmeier bis zum Ende seiner Parteivize-Zeit mit Streitigkeiten, Intrigen und Belanglosigkeiten einer Parteipolitik, wie sie in der SPD praktiziert wurde und wie er sie als Parteivize erleben konnte, fremdelte. Dass er kurzzeitig dann aber den Parteivorsitz anstreben wollte, zeigte, dass er nicht grundsätzlich mit Parteiarbeit fremdelte, sondern durchaus gewillt war, auch dort inhaltlich zu agieren und womöglich etwas zu verändern. Das tat er tatsächlich in seinem Wahlkreis, wo er ebenfalls fernab der klassischen Parteipolitik etwa einen anerkannten Kulturkreis organisierte – und die Parteiarbeit damit öffnete, sie herausholte aus den verrauchten Hinterzimmern der Eckkneipen. Schließlich waren diese Jahre in der Opposition auch für Steinmeier Lehrjahre, Vergewisserungen in seiner Kursbestimmung. Neben dem beschriebenen innenpolitischen Konzept setzte sich Steinmeier in der Außenpolitik in zwei Aufsätzen noch einmal deutlich mit den Herausforderungen in eben diesem Feld auseinander, holte argumentativ die Erklärung seiner Russlandpolitik nach, warb für eine in seiner Konsequenz stets friedliche Lösung mit der Kraft der Worte und der Diplomatie, da Waffengewalt meist das Gegenteil einer nachhaltigen Lösung bewirke. Mit seiner klaren Linie, seinen Inhalten und seiner Haltung, schließlich auch durch seine Nierenspende an seine Frau, die nur deshalb an dieser Stelle erwähnt wird, weil sie einen Wendepunkt in Bezug auf die öffentliche Wahrnehmung Steinmeiers darstellte, stieg er bald wieder auf zu einem der beliebtesten Politiker Deutschlands und erneut zum vermeintlichen Hoffnungsträger der SPD. Neben Gabriel war er die zweite führende Figur. Hätte er gewollt, wäre ihm die Kanzlerkandidatur 2013 vermutlich sicher gewesen. Sowohl er als auch Gabriel forcierten allerdings die Rückkehr des Finanzexperten Peer Steinbrück. Insbesondere Gabriel setzte dabei auf eben diesen als Kanzlerkandidaten. Erneut unglücklich lief schließlich Steinbrücks Ausrufung zum Spitzenkandidaten. Der Grund dafür war zu suchen im schwierigen Verhältnis zwischen Gabriel und Steinmeier. Der nachfolgende Wahlkampf war schließlich von Dissonanzen im Zusammenspiel von Personen und Partei sowie einer fehlenden kohärenten Strategie durchdrungen. Steinmeier war hingegen in der Parteipolitik angekommen. Als Wahlkämpfer konnte er durchaus überzeugen, präsentierte sich weniger hölzern als noch 2009. Gleichzeitig reklamierte er seine Machtansprüche nun auch öffentlich. So postulierte er den Posten des Fraktionschefs auch für die Zeit nach der Wahl für sich, womit er mögliche Ambitionen, etwa Gabriels, früh im Keime erstickte. Die Bundestagswahl brachte schließlich nicht den erhofften Erfolg. Dabei wäre alles andere selbst bei einem erfolgreichen Wahlkampf abwegig gewesen.
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IV. Politik im Vordergrund
Denn die Probleme der SPD lagen tiefer – ähnlich so, wie es in der Industrie schnell gelingt, ein Unternehmen in eine Abwärtsspirale zu führen, aber nur langsam, es wieder aus dem Tal herauszubekommen. Und so trugen vier Jahre Oppositionspolitik tatsächlich ihre Früchte. Das Jahr 2009 war dabei wie 1982 eine Zäsur für die deutsche Sozialdemokratie. Abermals stand die SPD vor der Frage, in welche Richtung in Zukunft das Ruder gelenkt werden sollte. Mit der von der Basis favorisierten Doppelspitze, die in den folgenden vier Oppositionsjahren zwischen 2009 und 2013 jedoch nur bedingt gut zusammenarbeitete, wurde es jedoch versäumt, im Sinne der Strategiefähigkeit einen langfristigen Markenkern der SPD wieder zu etablieren. Ein neuer Linksruck indes blieb aus; ob er gut gewesen wäre, kann bezweifelt werden. Schließlich hatte schon 2009 die SPD nur noch einen Teil ihrer Wähler ins linke Lager verloren, das sich längst neu sortiert hatte.3 Der SPD blieb – und bleibt – hier die Rolle der gemäßigten Linken, die Wirtschaftspolitik nicht ablehnt, und in der dank des Wahlprogramms kein Bruch mehr beim Übergang von Oppositionszu Regierungspolitik entstehen muss. Steinmeier muss hierbei als entscheidender Garant dafür gesehen werden, dass die SPD sich von elf Regierungsjahren nicht vollständig lossagte und sie verleugnete. Gabriel wiederum muss gesehen werden als jener, der die Parteimitglieder mit Zugeständnissen überzeugte, diesem Kurs zu folgen. Dennoch rieb die Partei sich weiter zwischen den Interessen auf – und blieb so, trotz der richtigen Ansätze in der Fraktion, vergleichsweise unsichtbar im politischen Parteienspektrum. Schließlich führte die Bundestagswahl 2013 zu einem Ergebnis, mit dem sich die innerparteiliche Führungsfrage durch das sich anschließende Mitgliedervotum über eine neuerliche Große Koalition zumindest vorläufig für Gabriel, der dieses forcierte, entscheiden sollte, während es für Steinmeier die Rückkehr in das Amt des Außenministers bedeutete. Anders als noch 2009 kam das diesmal nicht überraschend, was allein, wie im folgenden Ausblick zu sehen ist, in Steinmeiers Antrittsrede deutlich wurde und sich in seiner Außenpolitik widerspiegelte.
3 | Vgl. auch Walter, F.: Im Herbst der Volksparteien, 2009, S. 94f; vgl. auch ebd., S. 96.
V. Ausblick und Fazit
12. Zurück im Auswärtigen Amt
Steinmeier wurde nach der Bundestagswahl 2013 erneut Außenminister. Nunmehr konnte er all das anwenden, was er in den vergangenen 25 Jahren in der Politik gelernt hatte – im Hintergrund und im Vordergrund. Insbesondere vier Jahre Außenminister und nochmals vier Jahre Oppositionspolitik haben dabei ihre Prägung hinterlassen. Steinmeiers Antrittsrede war doppelt so lang und deutlich inhaltsreicher als noch seine erste von 2005.1 Von Beginn an machte Steinmeier außerdem klar, dass Deutschland »zu groß« sei, um »Weltpolitik nur von der Außenlinie zu kommentieren«.2 Darüber bestand nach vier Jahren FDP-Außenpolitik, die überraschend farblos und »monothematisch[]« verengt auf »das Management der Eurokrise«3 blieb, ein Grundkonsens mit Bundespräsident Joachim Gauck und Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen.4 Seinem in der Antrittsrede postulierten Anspruch, wie Willy Brandt den »Mut« aufzubringen und »jenseits ausgetretener Pfade zu denken«,5 wird Steinmeier ebenfalls von Beginn an gerecht. In der Ukraine-Krise, die im Ausklang des Jahres 2013 ihren Anfang fand und 2014 lange geglaubte Grundkon1 | Vgl. Steinmeier, F.-W.: Rede anlässlich der Amtsübernahme als Bundesaußenminister, 23.11.2005. 2 | Steinmeier, Frank-Walter: Rede anlässlich der 50. Münchner Sicherheitskonferenz, München, 01.02.2014; Redemanuskript abrufbar unter: www.auswaertiges-amt.de/ DE/Infoservice/Presse/Reden/2014/140201-BM_M%C3%BCSiKo.html (zuletzt eingesehen am 08.07.2016); vgl. auch Steinmeier, Frank-Walter im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung; in: Braun, Stefan; Kornelius, Stefan: Frank-Walter Steinmeier über Deutschland und die Welt; in: Süddeutsche Zeitung, 30.01.2014, S. 14. 3 | Staack, M.: Deutsche Außenpolitik unter Stress, 2016, S. 7. 4 | Vgl. Rinke, Andreas: Raus ins Rampenlicht. Die Genese der »neuen deutschen Außenpolitik«; in: Internationale Politik, 7-8/2014, S. 8-13; hier: S. 8. 5 | Steinmeier, Frank-Walter: Rede bei der Amtseinführung bei der Amtsübergabe im Auswärtigen Amt, Berlin 17.12.2013; Redemanuskript abrufbar unter: www.auswaerti ges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Reden/2013/131217-BM_Antrittsrede.html (zuletzt eingesehen am 08.07.2016).
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V. Ausblick und Fazit
sense in Frage stellte, forcierte er das Normandie-Format und das Auftreten des als »Weimarer Dreiecks« bezeichneten Vermittler-Trios des deutschen, polnischen und französischen Außenministers.6 Überhaupt war es, wie es in einer Analyse rückblickend heißt, »richtig, dass die Außenminister der drei EU-Staaten Deutschland, Frankreich und Polen« infolge der Eskalation auf dem Majdan mit über 100 Toten in die Ukraine reisten und dort schließlich die Protokollarien der Außenpolitik meidend zu Fuß Richtung Präsidentenpalast aufbrachen.7 Es kam zu mehrtägigen Verhandlungen mit dem ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch, an dessen Ende dieser ein Abkommen unterzeichnete.8 Die unmittelbare Gewalteinwirkung der Regierung konnte damit zwar gestoppt werden, das Abkommen hielt jedoch nur 24 Stunden.9 Der Protest schlug nun vielmehr »in eine Mischung aus Revolution und Putsch um«.10 Jene Krise war es, die aufzeigte, wie unterschiedlich die Voraussetzungen 2005 bei Steinmeiers erstem und 2013 bei seinem erneuten Amtsantritt waren. Übernahm er das Amt 2005 in außenpolitischer Kontinuität nicht nur zur Vorgängerregierung, sondern auch in einer sich insgesamt austarierenden internationalen Politik, traten gleich mit Steinmeiers neuen Antritt 2013 wegweisende Wochen auf den Plan, die die Frage nach einer Neubestimmung nicht nur der deutschen, sondern der internationalen Koordinaten zumindest aufwarfen, wenn nicht diese schon nachhaltig einleiteten. Die schwache Außenpolitik seines Vorgängers, Guido Westerwelle, verstärkte diese Tendenz noch. Jedenfalls: In Bezug auf die Ukraine-Krise ist rückblickend von einer »der größten Herausforderungen für die gesamteuropäische Sicherheit nach 1989« (Hervorhebung M.S.) die Rede.11 »Diese Krise«, heißt es in dieser Analyse, verfüge »über das Potenzial, sehr viel oder sogar alles zu zerstören, was im zurückliegenden Vierteljahrhundert an Strukturen kooperativer Sicherheit in Europa aufgebaut worden war.«12 So drohe »eine erneute Spaltung des Kontinents, ge-
6 | Vgl. Winkler, H.-A.: Geschichte des Westens. Die Zeit der Gegenwart, 2015, S. 244. 7 | Vgl. Gebauer, Matthias: Krisendiplomatie in der Kampfzone; in: Spiegel Online, 20.02.2014; abrufbar unter: www.spiegel.de/politik/ausland/steinmeier-in-kiewkrisen-diplomatie-am-rande-der-kampfzone-a-954739.html (zuletzt eingesehen am 22.03.2016). 8 | Vgl. ebd.; vgl. auch Ehrenstein, Claudia; Lehnartz, Sascha; Kellermann, Florian: Der diplomatische Coup des Frank-Walter Steinmeier; in: Welt Online, 22.02.2014; abrufbar unter: www.welt.de/politik/ausland/article125094196/Der-diplomatische-Coup-desFrank-Walter-Steinmeier.html (zuletzt eingesehen am 22.03.2016). 9 | Vgl. Staack, M.: Deutsche Außenpolitik unter Stress, 2016, S. 17. 10 | Winkler, H.-A.: Geschichte des Westens. Die Zeit der Gegenwart, 2015, S. 503. 11 | Staack, M.: Deutsche Außenpolitik unter Stress, 2016, S. 15. 12 | Ebd.
12. Zurück im Auswär tigen Amt
kennzeichnet durch eine dauerhafte Konfrontation zwischen der EU und der NATO auf der einen Seite und Russland auf der anderen Seite«.13 Diese Herausforderung sah auch Steinmeier, wich dabei jedoch nicht von seinem bereits in seiner ersten Amtszeit forcierten Anspruch ab, ein möglichst friedliches Miteinander, zumindest aber Nebeneinander mit Russland zu gewährleisten. In seiner Antrittsrede betonte er: »Ich habe mit Blick auf Russland vor fünf Jahren eine ›Modernisierungspartnerschaft‹ vorgeschlagen, deren Entwicklung ich nüchtern und ohne Verklärung verfolge. Das ist ein Konzept, das Investitionen von beiden Seiten verlangt, dafür fehlt es bisher an ausreichend Mut, Kreativität und Bereitschaft. Die brauchen wir aber, wenn das Gepflanzte bessere Ernte tragen soll. Mir ist der Name des Konzepts egal, weil entscheidend ist, ob wir Formen der Kooperation entwickeln, die uns nicht zurückfallen lassen in unselige Zeiten der Sprachlosigkeit, sondern eine Zukunft bauen, in der Russland und der Westen nicht nur ökonomisch, sondern auch durch gemeinsame Grundüberzeugungen verbunden sind. Auch das ist ein langer Weg, aber wir werden ihn gehen müssen, selbst wenn Hindernisse und Fallgruben zahlreich bleiben.« 14
Die Bemühungen waren also erneut und insbesondere zu Beginn seiner zweiten Amtszeit groß15 – genauso wie die baldige Enttäuschung, dass bisherige russische Verlässlichkeiten nachhaltig implodierten. So wurde »[s]pätestens mit der völkerrechtswidrigen Einverleibung der Krim-Republik durch Russland« im März 2014 »aus dem innenpolitischen ein außen- bzw. geopolitischer Konflikt mit internationalen Auswirkungen« (Hervorhebung M.S.).16 Dies bedeutete, dass »[z]um ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg […] sich ein europäischer Staat das Territorium eines anderen europäischen Staates einverleibt und mittels Gewaltandrohung die Grenzen verschoben« hatte.17 »Auf diese schwerwiegende Verletzung internationaler Ordnungsprinzipien antwortete 13 | Ebd.; vgl. auch Rinke, Andreas: Vermitteln, verhandeln, verzweifeln. Wie der Ukraine-Konflikt zur westlich-russischen Dauerkrise wurde; in: Internationale Politik, 1-2/2015, S. 8-21; hier: S. 8; vgl. außerdem Buras, Piotr: Die Kosten der Koexistenz. Europa braucht ein neues Verhältnis zu Russland – aber nicht um jeden Preis; in: Internationale Beziehungen, 5-6/2015, S. 78-82; hier: S. 78. 14 | Steinmeier, F.-W.: Rede bei der Amtseinführung bei der Amtsübergabe im Auswärtigen Amt, 17.12.2013. 15 | Vgl. Niclauß, Karlheinz: Kanzlerdemokratie: Regierungsführung von Konrad Adenauer bis Angela Merkel, Wiesbaden 2015 3, S. 411. 16 | Staack, M.: Deutsche Außenpolitik unter Stress, 2016, S. 16; vgl. auch Rinke, A.: Vermitteln, verhandeln, verzweifeln; in: Internationale Politik, 1-2/2015, S. 8f. 17 | Staack, M.: Deutsche Außenpolitik unter Stress, 2016, S. 19; vgl. Winkler, H.-A.: Geschichte des Westens. Die Zeit der Gegenwart, 2015, S. 508.
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V. Ausblick und Fazit
der Westen mit der Ankündigung von Sanktionen« (Hervorhebung M.S.).18 Für Steinmeier indes war es ein ganz persönlicher Bruch in Bezug auf den russischen Partner. Am Tag der offenen Tür im Auswärtigen Amt im August jenes Jahres bekannte er auf eine Frage aus dem Publikum in Bezug auf den russischen Amtskollegen Lawrow: »Das, was wir gestern besprochen haben, gilt heute nicht mehr. Das macht Verhandlungen schwierig.«19 Und 2015 wurde er umso deutlicher nach weiteren erfolglosen Gesprächen zwischen der Ukraine und Russland: »Manchmal habe ich auch den Eindruck, dass in Moskau und Kiew bei all dem außer acht bleibt, wie ernst die Lage ist, unter welch großem Druck wir stehen, Minsk schneller umzusetzen, weil wir ansonsten Gefahr laufen, Legitimität und Glaubwürdigkeit unserer Anstrengungen zu verlieren. Letztlich müssen die Konfliktparteien, müssen auch Kiew und Moskau entscheiden, was sie wollen – entweder den Konflikt weiter schwelen und vor sich hin schwären lassen, mit ständiger Eskalationsgefahr oder endlich die mutigen Entscheidungen treffen und Kompromisse eingehen, die erforderlich sind, um Minsk zum Erfolg zu führen. Trippelschritte reichen sicher nicht mehr aus, um die Lage nachhaltig zu beruhigen, ja den Konflikt zu überwinden.« 20
So sehr also das Bemühen um Russland vorhanden war, wurde Russland, das »fest entschlossen« schien, »nicht als Verlierer des internationalen Ringens um die Ukraine in die Geschichte einzugehen«,21 immer mehr »als eine bedingt berechenbare, grundlegende Regeln der internationalen Ordnung nicht mehr respektierende Macht, die nur noch eingeschränkt als Kooperationspartner zu betrachten ist«, angesehen.22 Überhaupt unterstrich die Ukraine-Krise das neue Handeln der europäischen Mächte und Deutschlands Anspruch insgesamt. Denn auch die Bundeskanzlerin war spätestens nach der Ausweitung der Ukrainekrise zu einem »Ost-West-
18 | Staack, M.: Deutsche Außenpolitik unter Stress, 2016, S. 19. 19 | So Frank-Walter Steinmeier am Tag der offenen Tür der Bundesregierung im Auswärtigen Amt am 31.08.2014, bei dem der Autor vor Ort war. 20 | Zitiert nach Pressemitteilung vom Auswärtigen Amt: Außenminister Steinmeier nach dem 11. Normandietreffen in Paris, 04.03.2016; abrufbar unter: www.auswaer tiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Meldungen/2016/160303_Stakeout_Norman die_Treffen_Paris.html (zuletzt eingesehen am 08.07.2016). 21 | Winkler, H.-A.: Geschichte des Westens. Die Zeit der Gegenwart, 2015, S. 503. 22 | Staack, M.: Deutsche Außenpolitik unter Stress, 2016, S. 22f.
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Konflikt«23 maßgeblich in die Friedensbemühungen involviert.24 »Im Bündnis mit dem französischen Staatspräsidenten demonstrierte sie ihren Willen, ein europäisches Problem europäisch zu lösen und nicht den Interessen der alten Weltmächte zu überlassen.« (Hervorhebung M.S.).25 Insbesondere die USA erkannten diese Rolle mehr und mehr an. Die Verantwortung, die Deutschland für sich weltweit reklamierte, war dabei keineswegs militärischer Natur, zumindest nicht primär. »Dem Bundespräsidenten, dem Außenminister und der Verteidigungsministerin kam es«, wie es in einer Analyse heißt, vielmehr »darauf an, für eine Politik zu werben, die zukünftig wieder viel stärker eigene Konzepte, Lösungsinitiativen und direkte Beiträge in allen als außenpolitisch relevant erachteten Politikbereichen und Weltregionen verfolgen sollte.«26 Deutschland beschritt hiermit keineswegs mehr einen »deutsche[n] Sonderweg« (Hervorhebung M.S.).27 Vielmehr war ein solcher Kurs »prägend für die mehrheitliche Einstellung in fast allen westlichen Staaten«, spätestens nach der in Afghanistan, Irak und Libyen – in unterschiedlicher Beteiligung – »eingetretene[n] Ernüchterung über die begrenzte Wirksamkeit des militärischen Instruments«.28 Es war eine Ernüchterung übrigens, die Steinmeier auch selbst, wie beschrieben, in seinen vorausgegangenen vier Oppositionsjahren formulierte.29 Nunmehr wurde die Außenpolitik der westlichen Mächte und damit auch Steinmeiers vor eine große Herausforderung gestellt, wenn eben beispielsweise Russland in erster Linie einen Kurs der (interessengeleiteten) militärischen Intervention verfolgte – und damit diplomatische Bemühungen konterkarierte. Es war eine Herausforderung, der es sich zu stellen galt. So gingen mit Steinmeiers Bemühen um friedliche Lösungen auch für nicht mehr nötig erachtete Vorgänge einher, etwa die Wiederbelebung einer di-
23 | Niclauß, K.: Kanzlerdemokratie: Regierungsführung von Konrad Adenauer bis Angela Merkel, 2015, S. 411. 24 | Überhaupt hatte Deutschland in der Lösung dieses Konflikts eine »zentrale Rolle in Europa« inne, allein schon deshalb, »weil die EU-Institutionen wegen der Europawahl und dem nahenden Ende der Amtszeit der EU-Kommission fast keine eigenständige Rolle mehr hatten«; Rinke, A.: Vermitteln, verhandeln, verzweifeln; in: Internationale Politik, 1-2/2015, S. 9. 25 | Staack, M.: Deutsche Außenpolitik unter Stress, 2016, S. 26; vgl. auch Winkler, H.-A.: Geschichte des Westens. Die Zeit der Gegenwart, 2015, S. 505. 26 | Staack, M.: Deutsche Außenpolitik unter Stress, 2016, S. 10. 27 | Ebd., S. 12. 28 | Ebd. 29 | Vgl. Kapitel 10.2 in dieser Biographie.
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rekten Kommunikationsverbindung zwischen Russland und der NATO,30 die laut Medienberichten auf seine Initiative zurückzuführen war.31 Schließlich hatte Steinmeier mit der gestiegenen Verantwortung Deutschlands auch eine Aufwertung internationaler Organisationen forciert und gleichzeitig das eigene und auch das europäische Gewicht durch gemeinschaftliche Reisen, die Wiederbelebung von Achsen belebt. So setzte insbesondere Steinmeier »auf eine (Wieder-)Aufwertung der OSZE als zentralem Forum für gesamteuropäische Sicherheitskooperation und Vertrauensbildung« (Hervorhebung M.S.).32 Damit unterstrich er seinen Anspruch einmal mehr, Verantwortung zu übernehmen, dafür aber auch eigene Macht abzugeben. Die Stärkung der transnationalen Einrichtung deutete in diese Richtung ebenso wie die gemeinsamen Reisen der Außenminister, die einhergingen mit der beschriebenen Wiederbelebung des Weimarer Dreiecks und des NormandieFormats.33 All diese Bemühungen korrelierten mit einer Positionsbestimmung der deutschen Außenpolitik, die Steinmeier bereits in seiner Antrittsrede ankündigte: »Deshalb will ich an den Beginn meiner zweite[n] Amtszeit eine solche Selbstverständigung über die Perspektiven deutscher Außenpolitik setzen. Und ich will das ganz bewusst nicht als klassischen innerministeriellen Prozess anlegen, sondern als Dialog des Auswärtigen Amtes mit den wichtigsten außen- und sicherheitspolitischen Stakeholdern unter Einschluss der Zivilgesellschaft.« 34
Journalisten und Medien rätselten damals noch, was damit gemeint gewesen sei, ob sich Steinmeier etwas Tiefergehendes dahinter gedacht habe.35 Wenige 30 | Vgl. Staack, M.: Deutsche Außenpolitik unter Stress, 2016, S. 26. 31 | Vgl. o.V.: Das Rote Telefon für den Ernstfall ist wieder da; in: Stern.de, 03.05.2015; abrufbar unter: www.stern.de/politik/ausland/direkter-draht-nach-moskau-der-rotetelefon-fuer-den-ernstfall-ist-wieder-da-2191338.html (zuletzt eingesehen am 08.07. 2016). 32 | Staack, M.: Deutsche Außenpolitik unter Stress, 2016, S. 27. 33 | Vgl. ebd., S. 25. 34 | Steinmeier, F.-W.: Rede bei der Amtseinführung bei der Amtsübergabe im Auswärtigen Amt, 17.12.2013. 35 | Die stellvertretende Spiegel-Hauptstadtchefin Christiane Hoffmann bekannte etwa im Rahmen des Eröffnungs-Panels im Zuge des Review-2014-Prozesses am 20.05.2014, dass sie Steinmeiers Worte zunächst für »Gerede« gehalten habe; Review 2014: Eröffnungskonferenz am 20.05.2014; abrufbar unter: www.aussenpolitik-weiter -denken.de/de/mediathek/show/article/konferenz-review-2014-panel-eins-in-vollerlaenge.html (zuletzt eingesehen am 08.07.2016).
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Monate später war klar: Er hat sich etwas dabei gedacht. Im April 2014 ging die Internetseite aussenpolitik-weiter-denken.de im Rahmen des »Review 2014« genannten Projekts online,36 die am Anfang eines Debatten-Prozesses stand, an dem auch die Öffentlichkeit beteiligt wurde und in der neben Panel-Diskussionen, Bürger-Dialogen und weiteren Veranstaltungen Aufsätze etwa von Heinrich-August Winkler37 veröffentlicht wurden. Mit dieser Neubestimmung einher ging einmal mehr die Nicht-Bewahrung des Status quo auch in anderen Bereichen. Neben Review 2014 forcierte Steinmeier so von Beginn an eine Organisationsreform des Auswärtigen Amtes38 und forderte – im Zuge der postulierten größeren Verantwortung deutscher Außenpolitik – mehr Eigenverantwortung der Botschafter.39 Nunmehr, in seiner zweiten Amtszeit, schien er genau zu wissen, was er wollte, er definierte die Außenpolitik um und trug damit einem Wandlungsprozess Rechnung, der bereits unter Rot-Grün einsetzte. So hieß es bereits in einer früheren Analyse: »Dieses Ministerium ist der klassische Repräsentant des Nationalstaats in allen grenzüberschreitenden Angelegenheiten. Aber wenn gleichsam alles ›international‹ wird, lässt sich ein Vertretungsmonopol nicht mehr aufrechterhalten. Das wird offenkundig 36 | Vgl. Internetpräsenz des Projekts »Review 2014 – Außenpolitik weiter denken«; abrufbar unter: www.aussenpolitik-weiter-denken.de (zuletzt eingesehen am 30.10.2016). 37 | Vgl. Winkler, Heinrich-August: Lehren aus dem Jahrhundert der Extreme: Was bedeutet internationale Verantwortung Deutschlands?; in: Onlineplattform Review 2014, 21.08.2014; abrufbar unter: www.aussenpolitik-weiter-denken.de/de/aussensicht/ show/article/lehren-aus-dem-jahrhundert-der-extreme.html (zuletzt eingesehen am 22.03.2016). 38 | Vgl. Monath, Hans: Im Gefolge des Ministers; in: Tagesspiegel.de, 19.12.2013; abrufbar unter: www.tagesspiegel.de/politik/im-gefolge-des-ministers/9238786.html (zuletzt eingesehen am 22.03.2016); vgl. außerdem o.V.: Steinmeier baut das Auswärtige Amt um; in: Spiegel Online, 25.02.2015; abrufbar unter: www.spiegel.de/politik/ deutschland/krisenabteilung-steinmeier-baut-auswaertiges-amt-um-a-1020511.html (zuletzt eingesehen am 22.03.2016). 39 | So appellierte Steinmeier in seiner Rede auf der Botschafterkonferenz 2014 unter anderem: »›Mehr Verantwortung‹ ist weder der Ruf nach militärischen Abenteuern noch eine Phrase für Sonntagsreden…- sondern Verantwortung ist immer konkret! Das ist der tägliche Aufruf an mich selbst, aber diesen Aufruf richte ich auch an Sie, die Leiterinnen und Leiter! Seien Sie gewiss: Ich freue mich über jeden Drahtbericht, der klug ein Problem analysiert. Aber noch viel mehr freue ich mich über einen Drahtbericht, der einen Vorschlag, der Handlungsoptionen mitliefert«; Steinmeier, Frank-Walter: Eröffnungsrede zur Botschafterkonferenz 2014, Berlin 2014; Redemanuskript abrufbar unter: www. auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Reden/2014/140825-BM_BoKo.html (zuletzt eingesehen am 08.07.2016).
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V. Ausblick und Fazit in den Organisationseinheiten der Fachministerien, die ihre eigenen internationalen Querverbindungen im Ressort selbst verwalten. Es geht also darum, die Kernfunktionen von Auswärtigen Ämtern neu zu justieren. Insofern muss berücksichtig werden, welche internationalen Aufgaben der Regierungschef selbst in die Hand nimmt. Daneben haben insbesondere Finanzminister an internationaler Mitsprache gewonnen. Das Außenministerium ist freilich nicht überflüssig geworden. Man braucht Konsulardienste, diplomatische Erfahrungen, Kenntnisse des internationalen Rechts, Öffentlichkeitsbeziehungen im Ausland usw. Es gibt einen Bereich traditionaler außenpolitischer Verhandlungen, zu denen insbesondere auch Sicherheitsfragen gehören.« 40
Zu diesem Wandel gehört die Globalisierung und eben auch die von Steinmeier bereits in der ersten Amtszeit forcierte Auswärtige Kulturpolitik. In einem Buchbeitrag betonte er: »Deutschland muss international Verantwortung übernehmen – früher, entschiedener, substantieller. Wir müssen auf das vermeidlich Unwahrscheinliche vorbereitet sein: die Emanzipation der Menschen in der Ukraine, in China, in Russland und anderswo. Friedliche Transformationen bedürfen der aktiven politischen Begleitung; hierfür stehen uns die Mittlerorganisationen unserer Außenkulturpolitik und die Stiftungen hilfreich zur Seite.« 41
Zugleich ging er auf die »Krisenprävention« ein, die »in der fragilen Welt wichtiger denn je« sei.42 Sie müsse »langfristig und unter Einbeziehung möglichst vieler Akteure geplant werden. Zugleich sollten wir mehr anstreben, als nur Krisen zu lindern oder einzudämmen. Mit einer aktiven Diplomatie, mit intensivem politischem Dialog, mit der Identifizierung gemeinsamer Stabilitätsinteressen, mit verstärkter Rechtsstaatszusammenarbeit und Angeboten eines überzeugenden nachhaltigen Wirtschaftsmodells, können wir dazu beitragen, dass sich der Wandel evolutionär und friedlich vollzieht und nicht in gewalttätigen Ausbrüchen und Staatszerfall das gesamte internationale System in Mitleidenschaft zieht.« 43
Dabei unterstrich Steinmeier, der häufig als Realpolitiker beschrieben worden ist, auch, dass »bei aller notwendigen Realpolitik die eigenen Prinzipien mit 40 | König, K.: Verwaltete Regierung, 2002, S. 6. 41 | Steinmeier, Frank-Walter: Vorwort von Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier; in: Braml, Josef; Merkel, Wolfgang; Sandschneider, Eberhard: Außenpolitik mit Autokratien, Berlin/München/Boston 2014, S. 1-7; hier: S. 6. 42 | Ebd. 43 | Ebd.
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Festigkeit vertreten« werden müssten.44 »Deutschland und Europa müssen ihre politische Glaubwürdigkeit wahren; Völkerrecht und humanitäre Standards dürfen nicht um wirtschaftlicher oder anderer Zwecke willen geopfert werden.«45 Auch hier definierte er klarer als noch in der ersten Legislaturperiode als Außenminister seine eigenen Prinzipien, stellte neben der Realpolitik die westlichen Werte als fundamental dar – so wie er es in Aufsätzen als Fraktionsvorsitzender bereits getan hatte. Schließlich hatte Steinmeier zudem die Kunst der Inszenierung deutlich besser als noch in seiner ersten Amtszeit beherrscht und als wichtigen Garanten für seinen Erfolg erkannt. Bilder im Abendrot vor der Regierungsmaschine waren keine Seltenheit genauso wie Interviews vor ebendieser. Groß prangte der Schriftzug »Bundesrepublik Deutschland« im Hintergrund. In diesem Zusammenhang bemerkenswert ist, wie sehr Steinmeier gelernt hat, mit dem Medienbetrieb umzugehen. Er fungierte mehr denn je auch als Verkäufer seiner Politik. In einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung betonte er gleich mehrmals, dass er einer der ersten gewesen sei, die ins Baltikum gereist seien und in der Ukraine von Beginn an vermittelt hätten.46 Gleichzeitig stellte er die Lage zu Russland unverblümt dar. Es herrsche »weitgehend Funkstille« zwischen den verschiedenen Institutionen Nato, EU und Russland.47 Das »Bemühen von wenigen«, so sagte er, hätte dafür gesorgt, diese zu bekämpfen anstatt immer neue Drohungen aufzubauen.48 Er ließ kaum Zweifel daran, dass er sich zu den wenigen zählte. Tatsächlich stimmte all das und es ist sein Recht, das auch herauszustreichen. Die Vermarktung allerdings war nicht immer Steinmeiers Stärke. Insofern zeigte sie jetzt, dass Steinmeier das Spiel mit der öffentlichen Inszenierung und damit einhergehender Überzeugung ebendieser nun deutlich stärker für sich zu nutzen wusste. Ein anderes Beispiel waren die nach über einem Jahrzehnt erfolgreich abgeschlossenen Verhandlungen mit dem Iran über die Frage der Uran-Anreicherung. Per Pressemitteilung ließ Steinmeier verkünden:
44 | Ebd., S. 5. 45 | Ebd. 46 | Vgl. Steinmeier, Frank-Walter im Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung; in: Nonnenmacher, Günther; Sattar, Majid: »Moskau muss das Einsickern von Kämpfern und Waffen unterbinden« in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.05.2014, S. 2. 47 | Ebd. 48 | Ebd.
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V. Ausblick und Fazit »Heute ist ein guter, ja vielleicht ein historischer Tag für alle, die sich eine friedliche Konfliktbeilegung wünschen, und auch für mich persönlich ein großartiger Moment. Historisch, weil wir den Beweis erbracht haben, dass auch große, weltpolitische Konflikte mit Dialog und Beharrlichkeit gelöst werden können. Und das selbst da, wo Misstrauen und sogar Feindschaft anfangs unüberwindlich scheinen. Wir haben uns heute mit Teheran auf eine umfassende Vereinbarung über die Begrenzung des iranischen Atomprogramms verständigt. Nach über einem Jahrzehnt können wir einen Konflikt beilegen, der die Welt zwischenzeitlich sogar an den Rand einer militärischen Auseinandersetzung gebracht hat.« 49
Voller Überzeugung konnte er also auf das verweisen, was die Bundesregierung mit ihm als Außenminister bereits in den Jahren 2005 bis 2009 forciert hatte: eine Verhandlungslösung über die Macht der Sprache anstatt einer allzu schnellen militärischen Intervention. »Das nachdrückliche, über mehr als ein Jahrzehnt gegen große Widerstände durchgehaltene Eintreten Deutschlands für eine Verhandlungslösung im Konflikt über das iranische Nuklearprogramm«, wird in einer Analyse konstatiert, stelle denn auch »ein gutes Beispiel für diese Stärken der deutschen Diplomatie in der globalen Ordnungspolitik dar.«50 Beim Trauerakt für Richard von Weizsäcker betonte Steinmeier: »Nicht Armeen, nicht Krieg, nicht Zwang – sondern das Wort kann den Lauf der Dinge prägen.«51 In diese Richtung argumentierte auch die vorherige schwarz-gelbe Bundesregierung in Bezug auf einen Militäreinsatz in Syrien und hatte sich dabei, heißt es in einer Analyse, »[m]it guten Argumenten […], hierin unterstützt von der gesamten Opposition, gegen eine militärische Intervention und für eine politische Konfliktlösung ausgesprochen«.52 Sie habe es aber unterlassen, »eigene Vorstellungen für eine solche Lösung zu entwickeln und in diplomatischer Abstimmung mit gleichgesinnten Mächten international zu vertreten«.53 Stattdessen war die Bundesregierung auch nicht bereit, nachdem Assad 2013 49 | Pressemitteilung des Auswärtigen Amtes: Außenminister Steinmeier bei der Abschluss-Pressekonferenz der E3+33-Nuklearverhandlungen mit Iran, 14.07.2015; abrufbar unter: www.auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Meldungen/2015/15 0714_BM_Iran.html?nn=337666 (zuletzt eingesehen am 08.07.2016). 50 | Staack, M.: Deutsche Außenpolitik unter Stress, 2016, S. 51. 51 | Steinmeier, Frank-Walter: Rede beim Staatsakt zum Gedenken an den früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, Berlin, 11.02.2015; Redemanuskript abrufbar unter: www.auswaertiges-amt.de/nn_582140/sid_4BC5488C64101B27E49D F8C0DE425937/DE/Infoservice/Presse/Reden/2015/150211-BM_Trauerfeier_Weiz saecker.html (zuletzt eingesehen am 08.07.2016). 52 | Staack, M.: Deutsche Außenpolitik unter Stress, 2016, S. 10. 53 | Ebd.
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überzeugt werden konnte, die Chemiewaffen aufzugeben, diese zu vernichten. Über diese indifferente Haltung, die ähnlich übrigens auch in den USA vorherrschte,54 hatte Steinmeier zumindest bezüglich seines Amtsvorgängers auch in kleineren Gesprächen im Wahlkampf 2013 seinen Unmut geäußert.55 Auch deshalb hatte er, so begründete er bisweilen rückblickend, immer die Euphorie um den arabischen Frühling kritisiert, weil zu häufig keine politischen Konzepte für die Zeit nach den Umstürzen vorherrschten – die zu entwickeln vor allem Ausdauer bräuchte. So betonte er einmal: »Aber auch, wenn die Kameras auf dem Tahrir-Platz abgebaut sind: Wir müssen und wir wollen all jene mutigen Frauen und Männer unterstützen, die sich auf den langen und beschwerlichen Weg zu Menschenwürde, Demokratie und Rechtsstaat gemacht haben. Der Weg wird länger sein, als wir und sie es uns gewünscht haben. Voller Widersprüche dazu. Aber gerade weil er lang und schwierig ist, müssen wir die Richtung unterstützen, nicht nur mit Worten und klugen Ratschlägen.« 56
Interessant war, wie fernab der diplomatischen Sprache Steinmeier nun häufiger agierte, zum Beispiel in der Vermittlung im Ukraine-Konflikt klar Versäumnisse des Westens ansprach und an anderer Stelle Kritik übte – zumindest bei Partnern, bei denen die Diplomatie nicht zu wirken schien. Deutlich wurde das an den gezeigten Beispielen im Ukrainekonflikt, wo er Russland und die Ukraine in die Pflicht nahm.57 »Die Tonlage hat sich deutlich verändert«, stellte die Frankfurter Allgemeine Zeitung denn auch zwei Jahre nach der Eskalation des Konflikts 2014 fest: »Auch in den vergangenen zwei Jahren gab es immer wieder Phasen, in denen die Normandie-Partner unzufrieden waren mit dem Reformtempo in Kiew und intern auch feststellten, dass der Waffenstillstand in der Ostukraine ebenso von ukrainischer wie russischer Seite gebrochen werde. In den öffentlichen Statements achteten Steinmeier und Laurent Fabius, Ayraults Vorgänger, aber stets darauf, sich gegenüber Kiew solidarisch zu zeigen. Was waren die Probleme mit der ukrainischen Regierung schon im Vergleich zur russischen Aggression?« 58
54 | Vgl. Winkler, H.-A.: Geschichte des Westens. Die Zeit der Gegenwart, 2015, S. 492. 55 | So etwa bei einem Frühstück mit Bürgern in Offenbach am 18.09.2013, bei dem der Autor vor Ort war. 56 | Steinmeier, F.-W.: Rede bei der Amtseinführung bei der Amtsübergabe im Auswärtigen Amt, 17.12.2013. 57 | Vgl. S. 558 in dieser Biographie. 58 | Sattar, Majid: Der Geist der Revolution; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.02.2016, S. 4.
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Auch in anderen Konflikten formulierte Steinmeier prägnanter, von »ungewohnt deutliche[n] Worten«59 sprach die Frankfurter Allgemeine Zeitung etwa nach einem Besuch Steinmeiers im Gaza-Streifen: »Steinmeier war schon früher im Gazastreifen. Aber was er dieses Mal dort hört und sieht, veranlasst ihn zu undiplomatisch deutlichen Worten. ›Das Leben in Gaza war nie einfach. Nach dem letzten Krieg ist es unerträglich geworden. Der Status quo ist nicht haltbar‹, sagt der deutsche Außenminister im Fischerhafen, der während des jüngsten Krieges bombardiert worden war.« 60
Die Macht der Sprache blieb also die stärkste Waffe Deutschlands, die nun auch wieder mit inhaltlichen Konzepten gefüllt worden ist. Steinmeier beschrieb die Kunst der dialogischen Vermittlung in jener Amtszeit einmal in einem Interview mit den Worten: »Doch gerade wenn die Krisen heftig und die Konflikte festgefahren sind, brauchen wir in der Diplomatie Beharrlichkeit und die tiefe Überzeugung, dass wir gemeinsam am Verhandlungstisch die Dinge zumindest langsam und schrittweise in Richtung Frieden bewegen können. […] Wie soll ich andere von meiner Position überzeugen, wenn ich selbst daran zweifele? Das funktioniert doch nicht! Gleichzeitig kann das aber nicht bedeuten, dass man auf seinen Standpunkt beharrt und nicht fähig ist zum Kompromiss. Mir jedenfalls geht es immer darum, Lösungen zu finden, die uns weiterbringen. Seien es die Gespräche mit Russland um eine Beilegung des Ukrainekonflikts oder die Verhandlungen mit dem Iran zur Lösung des Atomstreits: Wie oft wurden wir dafür kritisiert, dass wir mit Putin verhandeln oder den Iranern die Hand geben. Hätten wir das nicht getan, hätten wir vielleicht Krieg in der Ukraine oder Iran wäre Atommacht.« 61
Und doch war in der Anwendung der Sprache eine Wandlung zwischen der ersten und der zweiten Amtsperiode als Außenminister zu konstatieren. Jean Asselborn, ein Freund Steinmeiers,62 sprach im Deutschlandfunk einmal von einem »[m]anchmal hölzernen Diplomatieslang, der uns Außenministern 59 | Rößler, Hans-Christian: In den Trümmern der Diplomatie; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.06.2015, S. 2. 60 | Ebd. 61 | Steinmeier, Frank-Walter im Gespräch mit der Super Illu; in: Kayser, Marc: »Nie so viele Krisen erlebt«; in: Super Illu, 07.01.2016; Onlineversion des Printartikels abrufbar unter: https://www.auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Inter views/2016/160107_BM_SuperIllu.html (zuletzt eingesehen am 23.08.2016). 62 | In der Talkshow »Markus Lanz«, bei der sowohl Steinmeier als auch Asselborn zu Gast waren, sprach er etwa von einer gemeinsamen Kanufahrt, die sie geplant hätten; Steinmeier, F.-W. in der Talkshow »Markus Lanz« am 20.09.2012.
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aufgezwungen wird«, um sogleich davon abzukehren.63 Auch Steinmeier, mittlerweile ein alteingesessener Diplomat, scheute keine klaren Worte mehr, äußerte vernehmbarere Kritik, nicht mehr immer verklausuliert in drei Nebensätzen verpackt. Zu diesen sprachlichen Akzenten gehörte auch jene Aussage, dass die Welt aus den Fugen geraten sei, eine Einschätzung, die sowohl von Medien wie auch Politik übernommen und rezipiert worden ist. Selbst die Kanzlerin bediente sich dieser Aussage – und verwies dabei unumwunden auf ihren Minister: »Meine Damen und Herren, in diesem ›Seuchen-, Kriegs- und Terrorjahr‹ – so nannte es kürzlich eine deutsche Tageszeitung – scheint die Welt, wie es unser Außenminister Frank-Walter Steinmeier formuliert hat, ›aus den Fugen geraten‹ zu sein.«64 Auch, wenn jene Aussage schon zwei Jahre vorher auf einem Buch von Peter Scholl-Latour prangte,65 war es doch Steinmeier, der sie prägte. Bemerkenswert war, dass Merkel ihren sozialdemokratischen Minister damit dennoch hervorhob – und damit ihre Wertschätzung kundtat. So offensiv Steinmeier um Diplomatie bemüht war und seine Außenpolitik in der Bevölkerung begründete, wartete er für jene erklärenden Aspekte nun auch mit Charme und Anekdoten auf und verbreitete diese im Land. Eine war die vom Affen und dem Fisch, die er in Afrika aufgegriffen habe und die zeige, dass man den anderen versuchen müsse, zunächst zu verstehen: »Ein Affe, so lautet die Fabel, ging einmal an einem Fluss entlang und sah darin einen Fisch. Der Affe sagte: ›Der Arme ist unter Wasser, er wird ertrinken, ich muss ihn retten.‹ Der Affe schnappte den Fisch aus dem Wasser, und der Fisch begann zwischen seinen Fingern zu zappeln. Da sagte der Affe: ›Sieh an, wie fröhlich er jetzt ist.‹ Doch natürlich starb der Fisch an der freien Luft. Da sagte der Affe: ›Oh wie traurig – wär ich nur ein wenig früher gekommen, ich hätte ihn retten können.‹« 66 63 | Asselborn, Jean im Gespräch mit dem Deutschlandfunk; in: Heinemann, Christoph: »Nicht mit Barbaren an einen Verhandlungstisch setzen«; in: Deutschlandfunk, 05.02.2016, abrufbar unter: www.deutschlandfunk.de/syrien-geberkonferenz-nichtmit-barbaren-an-einen.694.de.html?dram:article_id=344665 (zuletzt eingesehen am 18.03.2016). 64 | Merkel, Angela: Rede zum Festakt zum Tag der Deutschen Einheit, Hannover, 03.10.2014; Redemanuskript abrufbar unter: https://www.bundesregierung.de/ Content/DE/Rede/2014/10/2014-10-03-merkel-tdde.html (zuletzt eingesehen am 08.07.2016). 65 | Scholl-Latour, Peter: Die Welt aus den Fugen, Berlin 2012. 66 | Steinmeier, Frank-Walter: Rede anlässlich der Eröffnung der Konferenz »Review 2014 – Außenpolitik Weiter Denken«, Berlin, 20.05.2014; Redemanuskript abrufbar unter: www.auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Reden/2014/140520-BM_ Review2014.html (zuletzt eingesehen am 08.07.2016).
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Und schließlich gab es jene Geschichte von den rivalisierenden libyschen Gruppierungen, die Steinmeiers Team in ein Boot auf der Spree gesetzt habe, wo sie miteinander haben reden müssen.67 Wenn er solche Geschichten erzählt, tut er dies in Universitäten oder bei Veranstaltungen zum Beispiel im Auswärtigen Amt. Er spricht dann frei, mit Spirit und überzeugend. Bei alledem war ihm die Anspannung in diesem »Epochenjahr«68 2014, in dem man am »Ende aller Sicherheiten«69 angekommen zu sein schien, anzumerken, etwa bei einem Wahlkampfauftritt, bei dem er, für ihn äußerst untypisch, geradezu aus der Haut zu fahren schien, als er aus dem Publikum als »Kriegstreiber« beschimpft worden ist.70 So sehr sich Steinmeier international also engagierte und der deutschen Außenpolitik an Format zurückgab, verlor er gleichzeitig seine innerparteiliche Machtbasis, zumindest jene Kraft seines vorherigen Amtes als Fraktionsvorsitzender. Spätestens mit dem erfolgreichen innerparteilichen Mitgliedervotum über den Koalitionsvertrag war zudem klar, dass Gabriel fortan »die unangefochtene Führungsperson der SPD« werden würde.71 Indes: Gabriels Reputation hatte nach einem vergleichsweise ruhigen Start in die Koalition bald gelitten. Von den Lorbeeren, die er mit der Mitgliederbefragung eingeholt hatte, war nicht mehr viel übriggeblieben. Stattdessen wurde – trotz Regierungsverantwortung, in der Gabriel als Wirtschaftsminister durchaus positiv agierte – wieder jener unstete Charakter des Parteivorsitzenden sichtbar. Es finden sich so auch für diese neue Regierungszeit zahlreiche Artikel über die ständig schwankenden Haltungen – also fehlenden Haltungen – des Sigmar Gabriel. Die Frankfurter Rundschau zum Beispiel schrieb einmal, dass Gabriel der womöglich »größte Stimmungspolitiker« sei, das aber »weder der SPD […] noch dem Land, das er gern regieren würde«, guttue: 67 | Steinmeier, Frank-Walter: Rede beim Zeit-Wirtschaftsforum, Hamburg, 06.11.2015; Redemanuskript abrufbar unter: https://www.auswaertiges-amt.de/DE/ Infoservice/Presse/Reden/2015/151106_Rede_ZEIT_Wirtschaftsforum.html (zuletzt eingesehen am 08.07.2016); ähnlich argumentierte er auf einer Veranstaltung an der Universität Kassel am 12.02.2016, bei der der Autor vor Ort war. 68 | Winkler, Heinrich-August: Was nicht zerbricht; in: Zeit, 01.10.2014, S. 8. 69 | So nennt Heinrich-August Winkler das Schlusskapitel seiner Monographie über die Geschichte des Westens; Winkler, H.-A.: Geschichte des Westens. Die Zeit der Gegenwart, 2015, S. 357ff. 70 | Steinmeier, Frank-Walter: Rede auf dem Alexanderplatz in Berlin am 20.05.2014 (Auszug); abrufbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=AX5m5swD-QU (zuletzt eingesehen am 08.07.2016). 71 | Alemann, U. von; Spier, T.: In ruhigem Fahrwasser; in: Niedermayer, O. (Hg.): Die Parteien nach der Bundestagswahl 2013, 2015, S. 64.
12. Zurück im Auswär tigen Amt »Fast überall, wo man hinschaut, läuft ein schwankender SPD-Chef durchs Bild, und die Partei läuft ebenso schwankend mit. Die Gegner des Freihandelsabkommens T TIP waren mal ›hysterisch‹, mal hatten sie irgendwie Recht und es musste nachgebessert werden. Die Gefolgsleute von Pegida waren mal besorgte Bürger, denen man zuhören musste, mal einfach nur Rechtsextremisten.« 72
Auch außenpolitisch äußerte sich Gabriel bisweilen, was immer wieder zu Dissonanzen mit Steinmeier führte, der ansonsten relativ autark von Gabriel arbeitete. So etwa ließ Steinmeier kurz nach Gabriels Aussage, dass man aufgrund der Wichtigkeit Russlands als Partner für eine Lösung in der SyrienKrise auch über eine Lockerung der im Zuge der Ukraine-Krise verhängten Sanktionen gegenüber Russland nachdenken müsse,73 widersprechen und betonte, dass beides nichts miteinander zu tun habe.74 Ebenfalls in Bezug auf Syrien wandte er sich gegen die demokratietheoretisch fragwürdige Aussage Gabriels, dass über den möglichen Einsatz von Bodentruppen zuerst die Parteimitglieder abstimmen sollten. Nicht bedacht hatte Gabriel, dass eben eine solche Handhabung die Parlamentarier ihrer freien Entscheidung berauben würde. Steinmeier lavierte sich, darauf angesprochen, heraus, betonte, dass ein »solcher Einsatz weder realistisch sei, noch sind wir darum gebeten worden«.75 Tatsächlich war Steinmeier bei alledem keineswegs abgeneigt, den Parteivorsitzenden, der nun einmal die unangefochtene innerparteiliche Nummer eins war, zu unterstützen. So verfasste er mit Gabriel zusammen einen Gastbeitrag zur Flüchtlingskrise und dem Umgang mit der Türkei dabei.76 Als Gabriel wirtschaftspolitische Reformthesen vorlegte, war es Steinmeier, der ihm
72 | Hebel, Stephan: Sigmar Gabriel ist ein Teil des Problems; in: Frankfurter Rundschau, 03.11.2015, S. 11. 73 | Vgl. z.B. o.V.: Gabriel schlägt Ende der Sanktionen gegen Russland vor; in: Zeit Online, 25.09.2015; abrufbar unter: www.zeit.de/politik/ausland/2015-09/sigmar-gabri el-russland-sanktionen-syrien (zuletzt eingesehen am 08.07.2016). 74 | Vgl. z.B. o.V.: Sanktionsabbau nur gegen Frieden in der Ukraine; in: Tagesschau. de; abrufbar unter: https://www.tagesschau.de/ausland/steinmeier-329.html (zuletzt eingesehen am 08.07.2016). 75 | Steinmeier, Frank-Walter im Gespräch mit dem Spiegel; in: Hoffmann, Christiane; Schult, Christoph: »Der Schaden trifft die SPD«; in: Spiegel, 19.12.2015, S. 22-23; hier: S. 22. 76 | Vgl. Gabriel, Sigmar; Steinmeier, Frank-Walter: Flüchtlingspolitik: Wir müssen mehr ordnen und steuern; in: Spiegel Online, 20.11.2015; abrufbar unter: www.spie gel.de/politik/deutschland/fluechtlinge-sigmar-gabriel-und-steinmeier-fordern-neus tart-a-1063855.html (zuletzt eingesehen am 08.07.2016).
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sofort beipflichtete.77 Zwar waren jene Thesen – wie so häufig bei Gabriel – nur wenige Tage später vergessen. Aber es zeigt, wie überzeugt Steinmeier nach wie vor von dieser Idee von Sozialdemokratie war. Es war eines der wenigen Male, in denen sich Steinmeier in dieser ersten Hälfte der Legislaturperiode innenpolitisch äußerte. Dass er eine kohärente Haltung verfolgt, scheint mittlerweile auch in der Bevölkerung wahrgenommen zu werden. Und so reiht sich Gabriel in der Beliebtheitsskala der Umfrageinstitute regelmäßig weit hinter Steinmeier ein. Das wiederum führte zu allerlei Gedankenspielen, welche Rollen Steinmeier zukünftig einnehmen könnte.78 Insbesondere in der zweiten Hälfte seiner Amtszeit ist neben dem konsequenten Fokus auf die Außenpolitik 79 auffällig, dass er sich zunehmend wieder zu innenpolitischen Debatten äußert, unter anderem etwa zur AfD, aber auch zu Fragen wie der nach einem Einsatz der Bundeswehr im Inneren.80 Bei alledem hat er seine bedächtige, einordnende, auch präsidiale Art beibehalten – sowohl in Bezug auf die Innen- als auch auf die Außenpolitik. Eben diese beiden Pole rücken aktuell weiter zusammen. Das (deutsche) Parteiensystem bleibt dabei im Wandel und die Krisenherde in der Welt werden eher mehr als weniger. Wie sich das in den kommenden Jahren entwickeln wird, welche inhaltlichen Konflikte auftauchen und was für Personalentscheidungen anstehen werden, könnte nur der Blick in die Glaskugel zeigen. So bleibt nach drei Jahren schwarz-roter Regierungsarbeit in Bezug auf Steinmeier der Verweis auf eine Analyse, die da lautet, dass die »Bundesregierung 77 | Vgl. o.V.: Steinmeier stützt Gabriels SPD-Reformthesen; in: Spiegel Online, 04.07.2015; abrufbar unter: www.spiegel.de/politik/deutschland/frank-walter-stein meier-stuetzt-sigmar-gabriels-reformthesen-a-1042048.html (zuletzt eingesehen am 08.07.2016). 78 | Während Steinmeier eine erneute Bundeskanzlerkandidatur ausschloss, tat er selbiges nicht in Bezug auf das Amt des Bundespräsidenten; vgl. o.V.: Steinmeier schließt nichts aus; in: Spiegel Online, 08.07.2016; abrufbar unter: www.spiegel.de/politik/ deutschland/frank-walter-steinmeier-schliesst-nachfolge-von-joachim-gauck-nichtaus-a-1096178.html (zuletzt eingesehen am 08.07.2016). 79 | So legt er nach zwei Jahren im Amt 2016 einen Aufsatz im Fachmagazin Foreign Affairs vor, in dem er Deutschlands außenpolitische Rolle in der Welt definiert; Steinmeier, Frank-Walter: Germany’s New Global Role; in: Foreign Affairs, 07-08/2016, S. 106-113. 80 | Steinmeier spricht sich hierbei gegen den Einsatz der Bundeswehr im Inneren aus, spricht von einer »sehr aufgesetzten Debatte«; Steinmeier, Frank-Walter im Gespräch mit RP-Online.de; Bröcker, Michael: »Die Türkei stand in der Putsch-Nacht kurz vor dem Abgrund«; in: RP-Online.de, 02.08.2016; abrufbar unter: www.rp-online.de/politik/ deutschland/frank-walter-steinmeier-zur-visafreiheit-tuerkei-hat-noch-viel-arbeit-vorsich-aid-1.6157018 (zuletzt eingesehen am 03.08.2016).
12. Zurück im Auswär tigen Amt
der Großen Koalition«, an der Steinmeier als Außenminister einen wesentlichen Anteil hat, »die gewachsene internationale Verantwortung Deutschlands angenommen« und »internationale Politik – über Europa hinaus – aktiver« mitgestaltet hat »als die Vorgängerregierung«.81 Für Steinmeier selbst scheint das Amt des Außenministers dabei, wenn nicht die Rolle seines Lebens, dann doch eine wichtige Aufgabe zu sein, in der er hinsichtlich der Außenpolitik etwas vollenden kann, was er in seiner ersten Amtszeit begonnen hat. Genauso aber dürften diese Jahre – nach vier Jahren Opposition – die Wunde, die ihm die Wahlniederlage von 2009 psychisch zugeführt hatte, endgültig haben heilen lassen. Eine Aussage, wie jene, die er auf der Bremer Schaffermahlzeit 2016 kundtat, wäre in den Jahren unmittelbar nach der Bundestagswahl 2009 so wohl nur bedingt denkbar gewesen: »Nicht nur als Diplomat kommt mir dieses Fest mit seinem altmodischen und ehrwürdigen Zeremoniell irgendwie vertraut vor […]. Sondern es gibt noch einen anderen biographischen Zusammenhang, der mir in den Sinn gekommen ist: Ehrengast zu sein bei der Bremer Schaffermahlzeit – das ist fast wie meine Kanzlerkandidatur für die SPD. Man muss viel reden, hinterher wacht man mit Kater auf und man macht es garantiert nur einmal im Leben!« 82
Wie sehr ihn indessen weiterhin insbesondere außenpolitische Themen umtreiben, daran ließ er keinen Zweifel. Unter anderem mehrere Aufsätze,83 gleich zwei Bücher – in dem einen werden die Kritik an der alternativlosen Darstellung von Themen selbstkritisch aufgenommen84 und (keineswegs verheißungsvolle) Alternativen zur Europäischen Union aufgezeigt;85 das andere,
81 | Staack, M.: Deutsche Außenpolitik unter Stress, 2016, S. 51. 82 | Steinmeier, Frank-Walter: Rede anlässlich der 472. Bremer Schaffermahlzeit, Bremen, 12.02.2016; Redemanuskript abrufbar unter: www.auswaertiges-amt.de/DE/ Infoservice/Presse/Reden/2016/160212_Schaffermahlzeit.html (zuletzt eingesehen am 08.07.2016). 83 | Vgl. z.B.: Steinmeier, F.-W.: Germany’s New Global Role; in: Foreign Affairs, 0708/2016, S. 106-113. 84 | »Statt sich mit den Fragen und Zweifeln der Kritiker argumentativ, werbend, überzeugend auseinanderzusetzen«, schreibt Steinmeier, »bekamen diese oft genug ein Alternativlos entgegengeblafft.« (Hervorhebung F.W.S.) Selbstkritisch fügt er hinzu: »Ich trage seit vielen Tagen in der Politik Verantwortung und nehme mich von dieser Kritik nicht aus«; Steinmeier, Frank-Walter: Europa ist die Lösung. Churchills Vermächtnis, Wals bei Salzburg 2016, S. 14. 85 | Vgl. ebd., S. 14ff.
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umfangreichere gewährt einen Blick hinter die Kulissen der Außenpolitik86 – sowie die von ihm forcierten, zuletzt angelaufenen Bürgerdialoge unter der Fragestellung »Welches Europa wollen wir?«87 zeugten in der zweiten Jahreshälfte 2016, dem Schlusspunkt dieser Biographie, davon.
86 | Vgl. Steinmeier, Frank-Walter: Flugschreiber: Notizen aus der Außenpolitik in Krisenzeiten, Berlin 2016. 87 | Vgl. Braun, Stefan: Steinmeier warnt vor dem Ende der EU; in: Süddeutsche.de, 28.10.2016; abrufbar unter: www.sueddeutsche.de/politik/aussenminister-steinmeier -warnt-vor-dem-ende-der-eu-1.3218295 (zuletzt eingesehen am 28.10.2016).
13. Einflussreicher Sozialdemokrat, inhaltsreicher Politiker?
»Mein Leben ist das, was ich nie geplant habe«, sagte Steinmeier einmal.1 Mit dieser Aussage lässt sich seine Karriere tatsächlich, insbesondere bis zum Jahr 2007, treffend beschreiben. Steinmeier, geboren 1956, wuchs auf als ein netter Junge von nebenan, im kleinen Dörfchen Brakelsiek, mit einem intakten Elternhaus. Er war kein 1968er mehr, sondern ein Junge der 1970er. Kurz nach der Hochphase hinsichtlich der Politisierung der Gesellschaft – der Zenit in Bezug auf Mitgliederzahlen der Parteien und der Wahlbeteiligung war bereits überschritten, Willy Brandt war bei Steinmeiers erster Bundestagswahl schon nicht mehr Kanzler – begann seine eigene politische Sozialisation. Steinmeier war damit ein Mitglied jener ersten Generation, deren Eltern häufig nur noch bedingt mit Kriegsschuld belastet sein konnten, weil sie selbst schlicht zu jung waren und von deren Elternteilen auch keines mehr im Krieg gefallen sein konnte. Eine »pragmatische Demokratiezufriedenheit«2 begann einzusetzen. Steinmeier hatte in diesen Jahren profitiert von der sozialdemokratischen Bildungsoffensive. Er ging – noch als einer von wenigen aus seinem Jahrgang – ans Gymnasium, später, auch dank der Ausbildungsförderung BAföG, an die Universität. Seit seiner Jugend finden sich Spuren für ein soziales, dann auch sozialdemokratisches Engagement. Als Schüler war er maßgeblich an der Entstehung eines Vereinshauses für den Jugendkreis beteiligt, bald trat er den Jusos bei. Als solcher konnte er erstmals feststellen, wie undurchlässig die Strukturen der örtlichen SPD bereits zu diesem Zeitpunkt waren. Jene Zeit war es im Übrigen, in der sich Deutschland vom Wirtschaftswunder verabschiedet hatte und dieses nicht wiederkehren sollte, stattdessen erstmals über eine Million Arbeitslose in der abendlichen Tagesschau verkündet wurden. Auch die Ungewissheit, die damit einherging, ließ Steinmeier nach eigener
1 | Steinmeier, Frank-Walter im ersten Gespräch mit dem Autor am 01.07.2013. 2 | Korte, K.-R.; Weidenfeld, W.: Die Deutschen, 1991, S. 139.
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Darstellung für den sichereren Weg des Jurastudiums entscheiden – und damit gegen einen künstlerischen Zweig. Die kommenden 14 Jahre ab 1976 sollte er, mit kurzen Unterbrechungen, in Gießen verbringen. Seine Förderer dort wurden die Universitätsprofessoren Brun-Otto Bryde und Helmut Ridder, die selbst dem (kleinen) linken Spektrum der Juristen angehörten. Zehn Jahre arbeitete er an ihrer Seite als wissenschaftlicher Mitarbeiter. Dabei entwickelte sich Steinmeier als querdenkender, hochpolitischer Geist, der auch gegen althergebrachte Konventionen argumentierte und gegen vorherrschende Meinungen anschrieb. Neben seinen Aufsätzen, etwa über die Mandatsrotation bei den Grünen, zeigte insbesondere seine Dissertationsschrift seine eigene linke Denkrichtung auf. Der sachlichen Argumentation folgten mitunter kritische Töne gegen die christliberale Koalition im Bund und immer wieder Phasen der Empörung über den Umgang der deutschen Bürokratie und Justiz mit Obdachlosigkeit. Gleichzeitig – auch das in der Tradition eines Teils der deutschen Sozialdemokratie, überhaupt der deutschen Linken – sprach er als Co-Autor in einem insgesamt lesenswerten, weil weitsichtigen Essay über die Wiedervereinigung von »offenkundigen Mängeln beider Systeme«3 und hob im Zuge dessen auch die DDR auf die Ebene eines »hochentwickelte[n] Industriestaat[s]«;4 ein Trugschluss, dem damals allerdings viele Menschen aufgesessen sind. Diese Jahre an der Universität formten einen sehr wissenschaftlich-denkenden Menschen, der zunächst umfangreich abwägt und analysiert, bevor er dann fundiert, zugespitzt und bisweilen sehr überzeugt seine Schlüsse zog. Sein Freundeskreis war dabei ebenfalls hochpolitisch und, wie Steinmeier, nur bedingt parteipolitisch. Ein Teil von ihnen ging denn auch in die Politik im Hintergrund, ein kleinerer blieb in der Wissenschaft, mindestens einen verschlug es in die Wirtschaft, einen zog es in den Kunstbereich. Brigitte Zypries, der Steinmeier einst empfohlen hatte, eine Stelle in der Hessischen Staatskanzlei anzunehmen, war es nun, die Steinmeier auf eine Stelle in der Niedersächsischen Staatskanzlei unter Gerhard Schröder hinwies, wo es schließlich zum Gespräch und zur Einstellung kam. Mit seiner engagierten Arbeit als Medienreferent fiel Steinmeier dem Ministerpräsidenten bald auf und stieg – ungewöhnlich im Niedersachsen unter Schröder – schnell auf in jenen engen Kreis an Mitarbeitern, unter denen Steinmeier noch einmal herausstach. Schröder brachte ihm fortan enormes Vertrauen entgegen, was über die gesamte Karriere des späteren Bundeskanzlers bestehen blieb. Er war es, der Steinmeier erst zum Büroleiter, dann Abteilungsleiter und schließlich Staatskanzleichef machte und so zum maß3 | Vgl. Bertuleit, A.; Herkströter, D.; Steinmeier, F.: Das ganze Deutschland soll es sein, 1990, S. 37. 4 | Ebd., S. 22.
13. Einflussreicher Sozialdemokrat, inhaltsreicher Politiker?
geblichen Förderer Steinmeiers wurde. Und so wäre ohne Gerhard Schröder Frank-Walter Steinmeiers politischer Aufstieg wohl kaum möglich gewesen. Das galt jedoch auch anders herum. Steinmeier war die Entsprechung zu Schröder und seinem Stil, die Antifolie des bisweilen launigen, auf brausenden Ministerpräsidenten und späteren Bundeskanzlers, der inhaltliche Gegenpol zum intuitiven Politiker. Administrativ wie inhaltlich hatte Steinmeier einen hohen Anspruch. An einer öffentlichen Rolle wiederum hatte er keinerlei Interesse, ein parteipolitisches Mandat hat er während der gesamten Karriere seines politischen Ziehvaters nicht angestrebt. Dennoch oder gerade deswegen war es Schröder, der ihm den politischen Kampf mit Oskar Lafontaine – unabhängig von der Bewertung eines solchen in einer gemeinsamen Regierung – offenbar nicht zutraute und Steinmeier nach gewonnener Bundestagswahl nur als zweiten Mann neben Bodo Hombach, der den Wahlkampf mitorganisiert hatte, mit nach Berlin nahm. Diese Entscheidung des frisch-gewählten Bundeskanzlers, von der auch Steinmeier überrascht wurde, sollte sich als großer Fehler erweisen. Als Steinmeier dann doch noch Chef des Bundeskanzleramts wurde, war er es, der den Regierungstanker, wenn nicht vor dem Untergang bewahrte, dann diesen zumindest nachhaltig stabilisierte. Er wurde so der Garant für Rot-Grün und erlangte in dieser Rolle eine gewisse Unersetzlichkeit für den Bundeskanzler. Dabei war die Bewahrung des Status quo seine Sache nicht. Als er konnte, nämlich zu Beginn der zweiten Legislaturperiode, baute er das Kanzleramt nach seinen Vorstellungen um – und gab der Planungsabteilung, die nun direkt seinem Büro unterstellt war, eine neue Bedeutung. Fortan war er maßgeblich für die Wandlung weg von punktuellen Reformen, wie Schröder sie wollte, hin zu einem übergeordneten Konzept, wie er es wollte, in diesem Falle: der Agenda 2010, verantwortlich. Er zeichnete damit entscheidend für die nachgeholten, über Jahrzehnte verschleppten, auch unter Rot-Grün zunächst nur zögerlich angegangenen größten Sozialreformen nicht nur der sozialdemokratischen, sondern auch der bundesrepublikanischen Geschichte – und damit für eine nachhaltige Genesung des einstigen »kranken Mannes Europas«.5 Tatsächlich gelten die Reformen im Rückblick, insbesondere mit Blick auf den Erhalt eines stabilen Staates, als unumgänglich, zumal auch eine Bewahrung des Status quo sehr wahrscheinlich mit massiven Einschnitten verbunden gewesen wäre – bei einer gleichzeitigen und erneuten Verschleppung der strukturellen Probleme. Doch erscheint die Agenda 2010 außer in Bezug auf die richtige Problempolitiksteuerung strategisch schlecht vorbereitet. Denn dass die Reformen fortan (und bis heute) in Teilen der Bevölkerung und vor allem in der SPD als neoliberal gebrandmarkt wurden, war nicht nur dem 5 | Vgl. Kapitel 7, Fußnote 32.
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Reformunwillen der eigenen Parteimitglieder, sondern vor allem auch der Sprachlosigkeit der Regierungsführung geschuldet. Es gelang der rot-grünen Koalition nicht zu kommunizieren, dass die Reformen im Vergleich zu den Vorstellungen insbesondere der CDU eine deutlich sozialdemokratischere Handschrift trugen. Die Fliehkräfte der Reformen bezogen auf die eigene Anhängerschaft wurden, trotz entsprechender Warnungen in internen Papieren, unterschätzt. Als diese Proteste sich dann Bahn brachen, reagierte auch Steinmeier zunächst mit wenig Verständnis und dann – wie die Führungsspitze insgesamt – mit dem Angebot zu diskutieren, aber nur unter der Voraussetzung, dass nichts geändert werde. Eine andere Kommunikation (und eventuell auch eine punktuell andere Ausgestaltung) der Reformen hätte den andauernden Abstieg der SPD auf unter 30 Prozent auf Bundesebene womöglich abmildern können, ein Abstieg, der auch Frank-Walter Steinmeier als einem der wesentlichen Akteure, der sich schnell als Frühwarnsystem des Bundeskanzlers etabliert hatte, anzulasten ist. Gleichzeitig hätte es bei einem größeren Verständnis für die Partei, die eben die Führung in ihren jeweiligen Funktionen vermissen ließ, durchaus die Möglichkeit gegeben, die Agenda 2010 auch wahltaktisch in einen Erfolg zu verwandeln. Denn in der Bevölkerung gab es – trotz der Proteste – laut unterschiedlicher Umfragen stattliche Zustimmung für die Reformpolitik. Kritik hingegen gab es häufig am Erscheinungsbild der SPD, deren Mitglieder sich mit dieser neuen Form von Sozialdemokratie, die für sie nicht mehr sozialdemokratisch war, nur bedingt arrangieren wollten. Überhaupt erfolgte mit der Agenda 2010 der Abschluss einer langen biographischen Argumentationslinie, die Steinmeier immer wieder gebrauchte. Sie hatte in seinen Jugendjahren in den 1970er Jahren mit dem Anstieg der Massenarbeitslosigkeit ihren Ursprung, der sich die baldige Verwaltung der Arbeitslosen und damit die Akzeptanz dieser anschloss und die in der ersten Legislaturperiode von Rot-Grün noch punktuell, etwa mit der Rentenreform, angegangen worden ist. Vielleicht auch deshalb und aufgrund seiner geringen parteipolitischen Verankerung war es für ihn einfacher, den Ist-Zustand schneller zu akzeptieren, als es den (vielfach älteren) Parteimitgliedern gefallen ist. Tatsächlich zeichnete sich die schnelle Akzeptanz neu entstandener Ist-Zustände bei Steinmeier als klare Linie ab, der von diesen jeweils neuen Ausgangspunkten nach Lösungen sucht. Steinmeier wurde in diese neue »Marktsozialdemokratie«,6 wie sie ein Wissenschaftler einmal bezeichnete, von Anbeginn seiner Karriere in Niedersachsen hineinsozialisiert und hatte sie fortan maßgeblich forciert. Auch wenn es kurzfristig nicht gelang, die Partei hinter diesem Kurs zu versammeln, dürfte Steinmeier mit der konsequenten Durchsetzung dieses Weges langfristig 6 | Nachtwey, O.: Marktsozialdemokratie, 2009.
13. Einflussreicher Sozialdemokrat, inhaltsreicher Politiker?
mit dafür gesorgt haben, die Sozialdemokratie zukunftsfähig für die Herausforderungen in einer globalisierten Welt gemacht zu haben. Denn es ist ein Trugschluss, dass es ohne die Agenda 2010 der SPD heute zwangsläufig besser ergehen würde. Sie wäre dann Mittäter für die weitere Verschleppung der Reformen geworden – und heute, wie der Blick in andere europäische Länder zeigt, womöglich auch so wahrgenommen worden. Bei alledem: Steinmeier ist nicht nur ein klarer Verfechter jener »Marktsozialdemokratie«,7 sondern auch Vertreter einer Generation, in der Parteimitgliedschaft nicht mehr alles ist und in der die Basis immer weniger Bedeutung zu haben scheint. Spätestens in der zweiten Legislaturperiode der rot-grünen Bundesregierung wurde so die Metamorphose des Hintergrundmanns Steinmeier zum Politiker im Vordergrund eingeleitet, an der die Partei nur einen bedingten Anteil hatte. Denn erneut wurde am Ende dieser sieben Jahre in einem kleinen Kreis entschieden, von Schröder und Müntefering, dass Steinmeier als Außenminister in die Große Koalition von 2005 geschickt werden würde. Hier offenbarte sich im weiteren Verlauf ein fortan auch in der Öffentlichkeit stehender Politiker mit einem – anders als in vielen Medien beschrieben – klaren Wertekanon. Steinmeier setzte den Dialog auch mit schwierigen Partnern an die oberste Stelle – bis hin zur Selbstaufgabe. Die Akzeptanz des Ist-Zustandes und die noch immer nur bedingte Eingebundenheit in die Partei halfen ihm erneut dabei, schnell lösungsorientiert zu handeln. Im Kaukasus-Konflikt 2008 und später in Bezug auf die Ukraine und Russland im Jahr 2014 beispielsweise suchte er sogleich nach Auswegen aus den sich jeweils zuspitzenden Situationen, ohne im Vorhinein die Schuldfrage abschließend zu klären. Bezogen auf Russland treibt ihn hierbei auch zu allererst die feste Überzeugung an, dass eine nachhaltige europäische Friedensordnung nur mit diesem großen osteuropäischen Nachbarn möglich sei. So betonte er denn auch immer wieder, dass Enttäuschungen keine Kategorien von einer klugen Außenpolitik sein dürften. Der unnachgiebige Glaube an eine friedliche Lösung und damit das unermüdliche Bemühen um einen konstruktiven Dialog schienen zudem noch einmal stärker geworden zu sein, vielleicht auch durch die Erfahrungen aus der Vergangenheit, die, wie er schreibt, gezeigt hätten, dass selbst bei »lauteren Absichten« »ausländische Truppen nur selten willkommen« geheißen werden.8 Und so hatte er mit der Absage an ein militärisches Engagement, was den Iran angeht, im Schulterschluss mit Angela Merkel beispielsweise 7 | Ebd. 8 | Steinmeier, F.-W.: »There shall be no violence«; in: Bäuerle, M.; Dann, P.; Wallrabenstein, A.: Demokratie-Perspektiven, 2012, S. 737.
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einen entscheidenden Anteil an dem später zustande gekommenen – friedlichen – Atomabkommen mit diesem schwierigen Partner. Grenzen seines Tuns waren, obwohl richtig in ihren Bemühungen, am Beispiel von Syriens Einbindung in eine Friedensordnung im Nahen Osten zu konstatieren. Überhaupt trieb ihn mit dem Dialog auch an, sein Gegenüber, auch den schwierigen Partner, erst zu verstehen, bevor man ihn mit Argumenten überzeugen könnte. Insbesondere der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik hat er dabei federführend eine neue und nachhaltige Bedeutung verschafft, sie als gleichberechtigte dritte Säule der Außenpolitik wiedererstarken lassen. Eine klare Vorstellung brachte er nach seiner Arbeit als Kanzleramtschef und als Außenminister auch als Vizekanzler mit, der er 2007 wurde. Als solcher war er maßgeblich an der Krisenreaktion während der Weltwirtschaftskrise 2008/2009 beteiligt. Und hier bestätigte sich, dass Steinmeier von der Zukunft des Sekundärsektors als tragender Säule des deutschen Wirtschaftssystems und des Wohlstandes nachhaltig überzeugt war. Eine Linie wird hier offenbar, die sich seit seiner Mitarbeit in Niedersachsen bei Schröder und dessen Team durchgesetzt hatte. In diesem Kontext muss das Krisenmanagement betrachtet werden, aus dem heraus etwa – von Steinmeier forciert, von Merkel mitgetragen und gegen einzelne Widerstände auch in der eigenen Partei durchgesetzt – ein rückblickend positiv bewertetes Konjunkturpaket keynesischer Art herausgekommen ist. Dieses war wesentlich dafür verantwortlich, dass Deutschland im Jahr 2009 vergleichsweise behütet durch die Krise gekommen ist, Massenarbeitslosigkeit ausblieb und Unternehmen nicht schließen mussten. War Steinmeier als Außenminister zunächst noch fernab von Parteipolitik tätig, entschied er sich im Jahr 2007 nun bewusst für einen Weg zum Politiker im Vordergrund, den er mit der Übernahme eines eigenen Wahlkreises, der das Anstreben eines Bundestagsmandats bedeutete, einleitete. In dieser Biographie wurde von einer rückwärtigen Ochsentour gesprochen. Hiermit machte er sich nun unabhängiger von den jeweils Führenden in der Partei und gleichzeitig abhängiger vom Wähler und den Mitgliedern. Steinmeier entschied sich damit für einen Weg, den er lange Zeit nicht gehen wollte. Er begann einmal mit den ihm zugeschriebenen Attributen, unter anderem dass er Fernsehkameras hasse, ging über die Ablehnung eines Kanzleramtschefs im Sinne eines Ministers (und nicht eines Staatssekretärs) bis hin zum Außenminister, der bekundete, dass er sich an die Fernsehkameras gewöhnt habe. Als Parteivize fremdelte er mehr mit dem Intrigenspiel, als dass er sich daran beteiligte. Steinmeiers folgende Kanzlerkandidatur 2009 indessen war – von der Ausrufung, die kein Putsch war, über die Durchführung des Wahlkampfes bis hin zum Ergebnis – ein Spiegelbild des Zustandes der SPD und seiner Karriere.
13. Einflussreicher Sozialdemokrat, inhaltsreicher Politiker?
Nach der verlorenen Wahl schließlich wollte er Parteivorsitzender werden, womit er die Partei nach seinen Vorstellungen hätte umbauen können. Die Mitglieder, zumindest aber ein kleiner Kreis innerhalb der Führung, wollten das nicht. Und so blieb die zukünftige Ausrichtung der SPD weiterhin ungeklärt. Steinmeier als Fraktionsvorsitzender und Sigmar Gabriel als Parteivorsitzender vermochten es in der Opposition zwischen 2009 und 2013 nicht, als Duett zusammenzuspielen und im Sinne der Strategiebildung eine kohärente Linie für die Sozialdemokratie aufzubauen. Fraktion und Partei liefen vielmehr nebeneinander her. So muss zwar Steinmeier in Bezug auf die Entwicklung neuer Inhalte zumindest im innerfraktionären Prozess hervorgehoben werden, während Gabriel in Bezug auf die (vorläufige) Befriedung der Partei eine wichtige Rolle gespielt hatte. Dass die SPD allerdings auch im Jahr 2016 so wenig geeint dasteht und inhaltlich konturlos erscheint, ist auch die Konsequenz aus diesem Fehlen einer kohärenten Strategieentwicklung, die lediglich für die Bundestagsfraktion, nicht jedoch für die Gesamtpartei vorgenommen worden ist. Das allerdings ist heute zurecht ein Problem des Parteivorsitzenden, der es versäumt hat, sich einem solch langfristigen strategischen Konzept zu öffnen und dieses – auch in erneuter Regierungsverantwortung – nachhaltig zu forcieren. In dieser gesamten Zeit behielt Steinmeier trotz der neuen parteipolitischen Verankerung seine Grundüberzeugungen insbesondere zur Agenda 2010 nicht nur bei, sondern propagierte sie ferner in die Partei hinein. War Steinmeier dabei für inhaltsreiche Argumente immer und bis heute zugänglich, hatte er es lange Zeit nur bedingt verstanden, sich auf teils ideologisch aufgeladene Debatten innerhalb der SPD einzulassen, auf Gefühle einzugehen. So machte er in seinen Aufsätzen auch als Außenminister keinen Hehl daraus, was er von solchen Debatten hielt, nämlich nichts. Das drückte sich nicht nur in Argumenten, sondern auch in Sprache aus – und taugte so nach wie vor nicht für eine (nachgeholte) Gewinnung der Mitglieder für die AgendaReformen. Überhaupt offenbart sich hier sein vielleicht größtes Manko: Wenn er erst mal zu einer Überzeugung gelangt ist, vertritt er die – übrigens auch in der Außenpolitik und dort insbesondere in seiner zweiten Amtszeit – energisch und konsequent und vermittelt zumindest mitunter den Eindruck, als sei er für andere Ansichten nur noch bedingt zugänglich. Für Steinmeier selbst indessen waren die Jahre in der Opposition noch einmal Jahre der inhaltlichen Selbstvergewisserung in Bezug auf anstehende Problemstellungen in der Innen- und Außenpolitik – mehrere Aufsätze, die in dieser Zeit erschienen sind, lassen diesen Schluss zu. Auch brach er erneut mit den traditionellen Strukturen der SPD, befasste junge anstatt altgediente Abgeordnete mit einem Nachfolgekonzept zur Agenda 2010, was ihm zunächst Kritik einbrachte, sich zu Beginn der erneuten Großen Koalition aber positiv bemerkbar machte. Zudem waren es Lehrjahre bezogen auf seine parteipoliti-
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sche Politikerrolle, was mit Blick auf das deutliche Reklamieren von innerparteilichen Machtansprüchen kurz vor der Bundestagswahl 2013 festzustellen war. Steinmeier war also erneut angekommen – als Politiker im Vordergrund, ohne jedoch seinen inhaltlichen Schwerpunkt verloren zu haben. Seinen Wandel unterstrich schließlich die Zeit mit der Feststellung im Jahr 2013, dass Steinmeier einer unserer »besten« Politiker sei.9 Er selbst freute sich nun, aus der »Käseglocke Berlin«10 raus in den Wahlkampf zu kommen und wusste sich schließlich in der zweiten Amtszeit als Außenminister durchaus auch vor den Fernsehkameras zu inszenieren. Dabei behielt er seinen inhaltlichen Schwerpunkt allerdings bei. Das wird auch daran deutlich, dass, obwohl er wieder Außenminister war und er als solcher enorme Beliebtheitswerte erzielte, er auch im Jahr 2016 einem, wenn auch kleinen Teil der Bürger konsequent unbekannt zu bleiben scheint.11 Auch gehört dazu, dass selbst im Jahr 2016 der in der Einleitung zitierte Mythos eines »Mann[es] ohne Geschichte«12 bezogen auf Steinmeier und seine Generation bei einzelnen Medienvertretern bestehen blieb,13 obwohl lediglich die Inhalte – bei keineswegs fehlender Haltung – in den Vordergrund gerückt sind. Mit einem klaren Kompass startete Steinmeier nämlich in die zweite Amtszeit als Außenminister. Dort reüssierte er schnell, gab der deutschen Außenpolitik an Bedeutung zurück, formte sie um. In der Ukraine-Krise reaktivierte er das Weimarer Dreieck und das Normandie-Format, warb nachhaltig für einen Kurs ohne Waffen (ohne diese auszuschließen), eine »Kultur des Dialogs«14 und forcierte mit Review 2014 und den daraus entstandenen Plattformen für Bürgerdialoge einen umfangreichen Dialogprozess mit der Zivilgesellschaft über Deutschlands Rolle in der Welt. Erneut und nachhaltig baute er insbesondere die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik als Brücke für den Dialog mit schwierigen Partnern und als wichtige Säule der deutschen Außenpolitik aus. Russland gegenüber ist er zwar deutlich kritischer geworden. Der Ist-Zustand leitet ihn allerdings auch hier in seinen Bemühungen, das einstige 9 | Lau, J.: Frank-Walter Steinmeier. Warum er nicht ins Auswärtige Amt sollte; in: Zeit, 02.10.2013. 10 | Vgl. Kapitel 10, Fußnote 422. 11 | So war Steinmeier zwar Ende Juni 2016 laut der im Auftrag des Spiegel von TNS Forschung ermittelten Politikertreppe der beliebteste Politiker in Deutschland. Anders als Wolfgang Schäuble, Joachim Gauck und Angela Merkel, die ihm auf den Plätzen folgten, gaben fünf Prozent der Befragten allerdings an: »Dieser Politiker ist mir unbekannt«; Vgl. o.V.: Merkel im Aufwind; in: Spiegel, 02.07.2016, S. 24. 12 | Dausend, P.: Mann ohne Geschichte; in: Zeit, 19.06.2008. 13 | Vgl. z.B. Schult, Christoph: Der Unkenntliche; in: Spiegel, 25.06.2016, S. 36. 14 | Vgl. z.B. Steinmeier, F.-W.: »Der Dialog der Kulturen: eine Herausforderung für die deutsche Außenpolitik« – Rede auf Einladung der EKD, Berlin, 21.11.2006.
13. Einflussreicher Sozialdemokrat, inhaltsreicher Politiker?
Zarenreich wieder in eine gesamteuropäische Friedensordnung und als Partner für internationale Konfliktlösungen zu integrieren. Mit Blick auf die innerdeutsche Debattenkultur markierte wiederum das Jahr 2016 insofern einen Wendepunkt, als dass Steinmeier mittlerweile selbstkritisch eingesteht, dass Politik allgemein und auch er selbst in der Vergangenheit zu häufig von der Alternativlosigkeit von Themen gesprochen habe. Dies könnte ein wichtiger und richtiger Schritt sein, um gerade in einer insgesamt aufgeheizten Stimmung innerhalb von Teilen der Gesellschaft argumentativ wieder stärker als bisher zu jenen Bürgern, die sich von der Politik nicht mehr verstanden oder vertreten fühlen, durchzudringen. In summa bleibt der Blick auf die Leitfragen dieser Biographie, nämlich wie Steinmeier überhaupt so weit aufsteigen konnte, welche (bleibende) Wirkung er in seinen jeweiligen Ämtern erzielt hat und wie groß seine Rolle bei der Neupositionierung der SPD war. Auffällig ist, dass Steinmeier nie jener unpolitische Beamte war, als der er immer wieder beschrieben worden ist. Schon in Studientagen kristallisierten sich klare Haltungen, meist links der Mitte, heraus. Darüber hinaus hatte er, das wird in all seinen Aufsätzen deutlich, immer den Anspruch zu gestalten und keineswegs nur zu verwalten, nicht den Status quo zu bewahren, sondern zu verändern. Sein Wissen über Politiksteuerung und Politikinhalte, das er sich über die Jahre unter Schröder in Niedersachsen und im Bund angeeignet hat, machten ihn auch über den Abgang seines politischen Ziehvaters hinaus zu einem Akteur, den man, wie es Franz Müntefering einmal beschrieb, nicht am Rande stehen lassen konnte.15 Die zunehmende parteipolitische Elitenvakanz dürfte dazu beigetragen gehaben, dass auch die parteipolitisch geringe Verankerung kein Hinderungsgrund für seine Karriere darstellen sollte. Für die Bundesrepublik ist sein Einfluss – als Staatskanzleichef, als Kanzleramtschef genauso wie als Außenminister und Oppositionsführer – sehr positiv zu bewerten. Für die SPD waren diese Jahre insofern gut, als dass Steinmeier die Partei zukunftsfähig gemacht und sie vor einer Rückkehr in alte Traditionen bewahrt hat. Die Kluft indessen zwischen Traditionalisten und Reformern vermochte auch er nicht zu lösen. Zunächst war er dafür nur bedingt zuständig, später sollte er dezidiert für die Reformer sprechen. Dazu kam, dass Steinmeier zwar im Horizont des Visionärs dachte, er aber im Rahmen des Machbaren arbeitete. Die SPD wollte bisweilen jedoch gerne im Träumerischen verharren, was es schwermachte, eine ideale Symbiose herbeizuführen, die SPD als Einheit zu präsentieren. Beiden Seiten fehlte es hier zudem an Willen, Verständnis und kommunikativem Gespür.
15 | Müntefering, Franz im Gespräch mit dem Autor am 22.10.2013.
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V. Ausblick und Fazit
Wäre das gelungen und hätte man die Partei für die Reformen gewonnen, hätte die SPD als moderne Sozialdemokratie erscheinen können, die ihren Platz links von der CDU, rechts von der Linkspartei und gleichauf mit den Grünen hätte einnehmen können. Außerdem hätte sie mit Stolz auf ihre Regierungsjahre, die einen beträchtlichen gesellschaftspolitischen Wandel gebracht hatten, blicken können. Sie würde dann heute vielleicht nicht besser in Umfragen dastehen – denn auch dieser Prozess des Wiedererstarkens ist, wenn überhaupt möglich in einer Zeit der abnehmenden Wählerverankerung und des Abschieds von den Volksparteien, nicht von kurzer Natur, sondern es braucht einen langen Atem, der nicht im Abstand von einer Legislaturperiode zu bemessen ist –, aber doch mit deutlich besseren Möglichkeiten für kommende Wahlen bestückt sein. Steinmeier hätte hieran als Vorsitzender mitwirken können, wollte das sogar, doch es wurde ein anderer gewählt. Ob die (gealterten) Parteimitglieder ihm, der die SPD zwar als Heimat, aber nicht als Lebenselixier ansieht und der mit den Meinungen der Mitglieder häufig fremdelte, jedoch gefolgt wären, bleibt dahingestellt. Tatsächlich aber gibt es unabhängig vom zweifelslos stattfindenden Wandel der Partei(en) aktuell noch eben nur diese Parteimitglieder. Umso wichtiger wäre es – unabhängig vom Vorsitz – gewesen, jene verbal mitzunehmen. Mit Blick auf die Ausgangsthese dieser Biographie muss Steinmeier indessen aufgrund seiner zahlreichen führenden Positionen in der SPD und der Art und Weise, wie er diese ausfüllte, als einer der einflussreichsten, wenn nicht sogar als der einflussreichste Sozialdemokrat der letzten zwei Jahrzehnte angesehen werden. Er hat die Geschicke der Sozialdemokratie maßgeblich mitgesteuert und mitentwickelt und sie zumindest inhaltlich stark vorangebracht. Argumentativ hätte jedoch auch er mitunter eventuell mehr auf die Befindlichkeiten vieler Mitglieder eingehen (wenn sie auch nicht teilen) müssen – und so den innerparteilichen Streit, der die SPD in den vergangenen Jahren zeichnete, womöglich abmildern können. Mit seiner Rückkehr in das Amt des Bundesaußenministers und seinem dortigen Wirken hat er sich dennoch prädestiniert für alle denkbaren Spitzenämter. Dass er eine erneute Kanzler-, nicht aber eine Präsidentschaftskandidatur ausschloss, hatte dabei – neben seiner für ihn einschneidenden Erfahrung als Spitzenkandidat im Jahr 2009 – keineswegs nur etwas mit dem Ist-Zustand zu tun, dass eine sozialdemokratische Kanzlerschaft gegenwärtig lediglich als bedingt realistisch erscheint, auch nicht nur mit dem Konflikt mit Sigmar Gabriel, sondern erneut auch damit, dass zwischen Parteimitgliedern und Steinmeier nach wie vor eine Kluft besteht. Als Außenminister machte er – so wie er es immer getan hat – zuerst Politik für das Land und nicht für die Partei respektive entlang vermeintlicher Mehrheitsmeinungen.
13. Einflussreicher Sozialdemokrat, inhaltsreicher Politiker?
Weil das so ist, wird er nach jetzigem Stand im Rückblick auch weniger mit Parteipolitik verbunden bleiben, sondern vielmehr als Politiker, der fernab von Parteipolitik und eingetretenen Pfaden sowohl innen- als auch außenpolitisch nach Lösungen sucht und damit insbesondere mit den positiven Nachwirkungen der Agenda 2010 und – mit Blick auf seine mittlerweile zweitlängste Tätigkeit eines Außenministers in der Bundesrepublik – mit einer klugen, weitsichtigen und besonnenen Außenpolitik. Gepaart mit seinem Antrieb und seinem Ideenreichtum ist hinsichtlich auf die nach Abschluss der Arbeiten an dieser Biographie erfolgte Nominierung und Wahl Steinmeiers zum 12. Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschlands anzunehmen, dass er diese Linie auch fortan konsequent fortsetzen und so zu einem hochpolitischen Staatsoberhaupt werden wird. Für eine Bewertung dieses neuen Höhepunkts in der Karriere von Frank-Walter Steinmeier indes wäre es unmittelbar nach seiner Wahl in der Bundesversammlung am 12. Februar 2017 noch zu früh.
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VI. Literatur- und Quellenverzeichnis
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VI. Literatur- und Quellenverzeichnis
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Literatur
ruf bar unter: www.deutsches-institut-bankwirtschaft.de/Welk%20Deut sche%20Konjunkturpolitik%20Effizienzkriterien.pdf (zuletzt eingesehen am 04.11.2015). Werner, Lukas: Deutschsprachige Biographik; in: Klein, C (Hg.): Handbuch Biographie, 2009, S. 265-277. Wetzel, Birgit: Gas aus Turkmenistan – Erfolgsaussichten und Probleme; in: Zentralasien-Analysen Nr. 5, 30.05.2008, S. 2-10; hier: S. 2; abruf bar im Internet unter: www.laender-analysen.de/zentralasien/pdf/Zentralasien Analysen05.pdf (zuletzt eingesehen am 07.08.2015). Winkler, Heinrich-August: Lehren aus dem Jahrhundert der Extreme: Was bedeutet internationale Verantwortung Deutschlands?; in: Onlineplattform Review 2014, 21.08.2014; abruf bar unter: www.aussenpolitik-weiter-den ken.de/de/aussensicht/show/article/lehren-aus-dem-jahrhundert-der-ext reme.html (zuletzt eingesehen am 22.03.2016). Zohlnhöfer, Reimut: Rot-grüne Regierungspolitik in Deutschland – Versuch einer Zwischenbilanz; in: Egle, C.; Ostheim, T.; Zohlnhöfer, R. (Hg.): Das rot-grüne Projekt, Wiesbaden 2003, S. 399-419.
W eitere L iter atur Kafka, Franz: Kleine Fabel; abruf bar unter: http://gutenberg.spiegel.de/buch/ kleine-fabel-171/1 (zuletzt eingesehen am 08.07.2016).
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Dank
Zunächst möchte ich meiner Mutter Ulrike Kohlmann danken, ohne die zuerst mein Studium nicht möglich gewesen wäre, aus dem sich überhaupt die Möglichkeit der Dissertation ergab, bei der sie mich erneut und vor allem auch in den finalen Monaten sehr stark unterstützte. Dafür bin ich ihr sehr dankbar. Gleiches gilt für meine langjährige Freundin Julia Frese, die mir in den vergangenen acht Jahren und den vier Jahren der Dissertation immer zur Seite stand und den Entstehungsprozess von Beginn durch den permanenten gegenseitigen Austausch begleitete. Sehr unterstützend waren auch meine Geschwister Alexander Kohlmann und Katharina Kohlmann, die entweder den Überblick über den größeren Kontext der Arbeit behielten oder in anderer Weise die Dissertation förderten. Namentlich möchte ich auch meinen im Frühjahr 2016 geborenen Neffen Julius erwähnen, der insbesondere die letzten Monate der Dissertation versüßt hat. Danken möchte ich außerdem meiner Verwandtschaft, bei der ich unter anderem immer wieder, in Berlin und in Leipzig, willkommen geheißen wurde, wenn ich für Interviews oder Recherchen in diesen Städten unterwegs war. Dass sich 24 namentlich genannte Akteure sowie weitere »Anonyme« jener Jahre bemerkenswert unkompliziert bereit erklärten, dieses Projekt durch teils mehrstündige Gespräche zu unterstützten, verdient meinen ausgesprochenen Dank. In inhaltlicher Sicht wäre diese Arbeit nämlich ohne sie – zumindest in der vorliegenden Form – nicht umsetzbar gewesen. Natürlich danke ich – sicherlich nicht zuletzt – meinem Doktorvater Prof. Dr. Franz Walter, der mir während meiner Dissertation stets eine Arbeitsstelle am Göttinger Institut für Demokratieforschung angedachte, in der ich ungemein viel lernen und an zahlreichen interessanten Projekten mitarbeiten konnte, aber er mir auch viel Freiraum für die Erarbeitung der Dissertation einräumte. Mein Dank gilt außerdem meinem Zweitgutachter Prof. Dr. HeinzGeorg Marten, der mir bereits als Student empfahl, den Weg als Doktorand zu gehen und der sich trotz Emeritierung bereit erklärte, als Gutachter zur Verfügung zu stehen.
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Frank-Walther Steinmeier
Dank gilt auch meinem Drittgutachter Dr. Robert Lorenz sowie den Archivmitarbeitern des Archivs der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung, der diversen Zeitungs- sowie Zeitschriftenarchive und der des Archivs der Staatskanzlei Niedersachsen. Dass zahlreiche Anfragen, unter anderem an das Bundeskanzleramt, das Auswärtige Amt und erneut die Niedersächsische Staatskanzlei, immer wieder schnell und präzise beantwortet worden sind, war mir ebenfalls eine große Unterstützung.