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German Pages 128 [136] Year 2019
Weltliteratur und Film weiten: Lateinamerika Herausgegeben von Martin Dabrowski
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Weltliteratur und Filmwelten Lateinamerika Herausgegeben von Martin Dabrowski Akademie FRANZ HITZE HAUS, Münster
Vervuert Verlag • Frankfurt am Main 1996
•
Eine Veröffentlichung der Katholisch-Sozialen Akademie FRANZ HITZE HAUS
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Weltliteratur und Filmwelten : Lateinamerika / Martin Dabrowski (Hrsg.). - Frankfurt am Main : Vervuert, 1996 ISBN 3-89354-089-X NE: Dabrowski, Martin [Hrsg.]
© Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 1996 Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Michael Ackermann Printed in Germany
Inhaltsverzeichnis
Seite Inhaltsverzeichnis Vorwort A.
Von Mexiko bis Feuerland: Eine Reise durch die Geschichte der lateinamerikanischen Literatur
V VII 1
Cerstin Bauer-Funke
B.
Motive der Filmgeschichte Lateinamerikas
29
Hans Gerhold
C.
Die Großstädte Lateinamerikas im Spiegel der modernen Literatur
39
Juan Guillermo Gómez García
D.
Literatur im Land der drei Kulturen: Einblicke in die mexikanische Literatur
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Cerstin Bauer-Funke
E.
Der Arme Vetter Hollywoods - Filme in Mexiko
73
Hans Gerhold
F.
Literatur und Politik in Lateinamerika. Eine Einfuhrung anhand der Romane von Isabel Allende
91
Ruth Damwerth
G.
Zwischen Politik und Unterhaltung - Filme in Chile
115
Hans Gerhold
Autorenverzeichnis
125
Vorwort Die Beiträge dieses Buches sind Vorträge, die während verschiedener Tagungen im Rahmen der Reihe „Weltliteratur und Filmwelten: Lateinamerika" in der Akademie Franz Hitze Haus gehalten worden sind. Die ersten drei Kapitel dieses Buches geben die Vorträge der Tagung „Die offenen Adern Lateinamerikas" wieder, die jeweils einen Überblick über ausgewählte filmische und literarische Werke des gesamten Kontinents geben (Kapitel A - C). Ergänzend werden die Vorträge zweier anderer Tagungen dokumentiert, die den Blick speziell auf Film und Literatur in Mexiko (Kapitel D - E) bzw. Chile (Kapitel F - G) richten. Die Reihe „Weltliteratur und Filmwelten" ist der Versuch, in der Erwachsenenbildung neue Formen des Zugangs zur entwicklungspolitischen Thematik zu finden und größere Personenkreise für diese Thematik zu interessieren. Dadurch, daß viele schon einmal ein Buch von Gabriel Garcia Märquez, Mario Vargas Llosa oder Isabel Allende gelesen oder auch lateinamerikanische Filme gesehen haben, besteht ein erster Anreiz, an einer Tagung zu lateinamerikanischer Literatur und Film teilzunehmen, ohne daß ein im engeren Sinne entwicklungspolitisches Interesse an diesen Ländern besteht. Da aber die filmischen und literarischen Werke nicht von der gesellschaftlichen Situation der jeweiligen Länder zu trennen und auch ohne deren Kenntnisse nicht richtig zu verstehen sind, besteht ein Anknüpfungspunkt dafür, auch weitergehende Informationen über die jeweiligen lateinamerikanischen Länder zu vermitteln. Über die Beschäftigung mit der Kultur wird damit gleichzeitig auch das Interesse für Geschichte, Wirtschaft und Politik und die besonderen Probleme des jeweiligen (Entwicklungs-)Landes geweckt. Somit werden in allen Aufsätzen nicht nur film- oder literaturwissenschaftliche Kenntnisse vermittelt, sondern immer steht auch die Beschäftigung mit dem historischen und gesellschaftlichen Hintergrund der jeweiligen Werke im Vordergrund.
VIII
Vorwort
Mit diesem Buch soll und kann nicht der Anspruch erhoben werden, eine vollständige Film- und Literaturgeschichte Lateinamerikas zu präsentieren. Die Beiträge sollen vielmehr, wie es auch Intention der Tagungen war, nicht nur literarische und filmische Werke vorstellen, sondern auch ihr historisches, soziales, wirtschaftliches und politisches Umfeld beleuchten. Aus diesem Grund wird weniger Wert auf eine möglichst große Quantität der vorgestellten Werke gelegt, sondern es werden exemplarisch einzelne Filme und Bücher besprochen, die für die Vielfalt und Faszination lateinamerikanischer Film- und Literaturkunst stehen. Letztlich soll es dann dem Leser überlassen bleiben, an dem Punkt tiefer einzusteigen, der ihn besonders interessiert. Zu diesem Zweck wird von den einzelnen Autoren immer auf weiterfuhrende Literatur oder auf Romane lateinamerikanischer Autoren verwiesen, die auch in deutscher Sprache vorliegen.
Münster, im September 1996
Martin Dabrowski
Von Mexiko bis Feuerland: Eine Reise durch die Geschichte der lateinamerikanischen Literatur
Cerstin
1.
Bauer-Funke
Vorbemerkung
In dem folgenden Text 1 behandle ich ausgewählte Aspekte, Autoren und Werke der lateinamerikanischen Literatur in chronologischer Anordnung, um einen kleinen Einblick in die Vielfalt dieser Literatur zu vermitteln. Dafür greife ich in den einzelnen Kapiteln jeweils einige wenige Autoren und deren Werke heraus, um exemplarisch Aspekte der lateinamerikanischen Literatur sichtbar zu machen. Die Skizzierung markanter Eckdaten sowie geschichtlicher Entwicklungen soll die Einordnung der literarischen Werke in einen sozio-historischen Rahmen andeuten und zugleich auf die Interrelation von politischen, sozialen und ökonomischen Bedingungen einerseits und der Literaturproduktion andererseits hinweisen. Der hier gebotene 'Einstieg' möchte zu einer weiteren Beschäftigung mit der Literatur Lateinamerikas ermuntern. Um die Vielfalt der lateinamerikanischen Literatur andeuten zu können, setzt der nachstehende Einblick mit der präkolumbischen Literatur indianischer Hochkulturen in Mittel- und Südamerika (Maya, Azteken, Inka) ein. Mit der Eroberung des Kontinents durch die Spanier und Portugiesen beginnt die ca. 300 Jahre dauernde Kolonialzeit, deren Literaturproduktion von Europa geprägt ist. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts findet die Kolonialzeit schrittweise ihr Ende mit den Unabhängigkeitsbewegungen und -erklärungen der ehemaligen Kolonien, ein Prozeß, der auch in der Literatur einen Niederschlag findet. Abschließend werden sodann die literari1
Der vorliegende Text basiert auf einem Vortrag in der Akademie Franz Hitze Haus in Münster, den ich im Rahmen der Veranstaltung „Weltliteratur und Filmwelten: Die offenen Adern Lateinamerikas" im April 1996 gehalten habe. Ziel meines Überblicks war es, einige Schwerpunkte der lateinamerikanischen Literaturgeschichte vorzustellen, die dann anhand von Auszügen aus literarischen Werken und Filmen in Arbeitsgruppen diskutiert wurden.
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Cerstin Bauer-Funke
sehen Tendenzen des 19. und 20. Jahrhunderts kurz vorgestellt. Dabei kann ich selbstverständlich - eingedenk der enormen Vielfalt und Produktion - nur jeweils einen Bruchteil der Literatur der einzelnen Länder berücksichtigen. In das Bewußtsein breiter Kreise des europäischen, an Lateinamerika interessierten Lesepublikums ist die lateinamerikanische Literatur sicherlich durch den sogenannten j» 'Boom' der 60er Jahre und die Nobelpreisverleihung an Miguel Angel Asturias (1967), te^s»»», W® und
Gabriel
Garcia
rückt, da zu dieser Zeit erstmals viele Werke lateinamerikanischer Autoren überhaupt durch Übersetzungen ins Deutsche zugänglich wurden, nachdem die USA, Frankreich und Italien eine Vorreiterrolle gespielt hatten Nach wie vor ist es der Roman, der vorherrschend rezipiert wird und durch Übersetzungen ins Deutsche zu-
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gänglich ist. Dies gilt in
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fPS ^ ^ García Márquez (Archivbild 1981)
weitaus beschränkterem Maße für lyrische Werke - wenn man von bekannten Lyrikern wie etwa Pablo Neruda, Octavio Paz, Gabriela Mistral oder Ernesto Cardenal einmal absieht - , und es gilt nicht für das lateinamerikanische Theater, das so gut wie unbekannt ist.
Eine Reise durch die Geschichte der lateinamerikanischen Literatur
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Die Fokussierung auf die Erzählliteratur nach dem 'Boom' soll jedoch die reichhaltige Literatur Mittel- und Südamerikas bis zum 'Boom' nicht in Vergessenheit geraten lassen. Der Blickwinkel ist deshalb hier vornehmlich auf die Literatur von der Eroberung bis zum 'Boom' in den 60er Jahren gerichtet, auch wenn diese in weiten Teilen nicht in deutscher Übersetzung vorliegt. Der folgende Einblick in die literarische Produktion, in Strömungen und Bewegungen verdeutlicht zum einen die rege literarische Produktion in Lateinamerika und zum anderen den intensiven Kontakt zwischen Lateinamerikanern und Europäern, die seit der Eroberung durch Reisen, gegenseitige Besuche oder Tätigkeiten im diplomatischen Dienst in ständigem Austausch standen und stehen.
2.
Die Literatur bzw. literarische Zeugnisse der indianischen Hochkulturen vor Ankunft der Spanier
In den folgenden zwei Kapiteln werden aus den zahlreichen mittel- und südamerikanischen Kulturen die literarischen Zeugnisse der Maya und Azteken aus Mexiko sowie der Inka aus Peru vorgestellt, da diese als Hochkulturen zu bezeichnen sind. Die literarischen Werke der Maya und Azteken werden an dieser Stelle jedoch nur sehr knapp besprochen, da sie im vierten Kapitel des vorliegenden Sammelbandes (Literatur im Land der drei Kulturen: Einblicke in die mexikanische Literatur) behandelt werden. a)
Die Literatur der Maya und Azteken
Die Maya-Hochkultur, die ab dem 6. Jahrhundert v.Chr. entstanden ist, war - bis auf das Zentrum Tulum - bei der Ankunft der Spanier bereits abgeschlossen. Dennoch existierten damals noch zahlreiche literarische Zeugnisse in Form von Manuskripten, die aber im 16. Jahrhundert im Zuge der Missionierung der Indios bis auf wenige Ausnahmen von einem fanatischen Ordensbruder, Diego de Landa, zerstört wurden. So sind leider nur wenige Werke erhalten, die Zeugnis ablegen von den Mythen, Gesängen und Dichtungen der Maya, die von Ordensbrüdern nach der Conquista zusammengetragen und aufgezeichnet wurden. Ähnliches gilt für die Literatur der Azteken. Von Norden kommend, unterwarfen sie im 14. Jahrhundert die im zentralen Hochland Mexikos lebenden Stämme und 1325 im Texcoco-See ihre Hauptstadt Tenochtitlän
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Cerstin Bauer-Funke
gründeten, wo sich heute Mexiko-Stadt befindet. Die Werke der Azteken sind ebenfalls durch die Sammler- und Übersetzertätigkeit einzelner Ordensmänner schriftlich fixiert worden. b)
Die Literatur der Inka
Die andinen Kulturen erreichten einen Höhepunkt in den Zentralanden in Peru und Bolivien. Der Beginn der Inka-Kultur läßt sich etwa auf das Jahr 1200 n.Chr. datieren, als der mythische Herrscher Manco Capac im Hochtal von Cuzco (Peru) regierte. Ursprung des Inka-Reiches war eine Art Kleinstaat, der aus dem Zusammenschluß mehrerer Inkafamilien im Gebiet von Cuzco entstanden ist und der sich gegen die anderen Kleinstaaten durchsetzen konnte. Der Familienname wurde später auf die Einwohner des gesamten Reiches übertragen. Das verbindende Element des Reiches war die gemeinsame Sprache Quechua. Erst im 15. Jahrhundert errichteten die Inka der herrschenden Familien unter Pachacutec Yupanqui (1438-71) durch militärische Macht im gesamten Andenbereich das bekannte Imperium, das eine Fläche von etwa 900.000 km2 umfaßte. Eine Schrift kannten die Andenindianer vermutlich noch nicht. Auf Wandund Textilmalereien finden sich jedoch Darstellungen des Alltagslebens. Man nimmt an, daß die Malereien und Quipüs (Knotenschnüre, die sich nur zum Festhalten von Zahlen, z.B. Warenlisten, eigneten) als Schriftzeichen zu lesen waren. Die Dichter bildeten einen eigenen Stand in der Gesellschaft. Bei Hofe spielten sie ebenfalls als Verfasser von Heldenliedern eine Rolle. Bis heute hat sich das Quechua als Sprache gehalten. Es wird von 6 - 7 Millionen Menschen gesprochen. Da jedoch wie gesagt im Gegensatz zur Maya-Kultur eine Schrift fehlte, konnten die literarischen Zeugnisse nicht aufgezeichnet werden. Es soll jedoch Epensängern vergleichbare Künstler gegeben haben, welche die Chroniken mündlich vorgetragen und verbreitet haben. Die später erfolgte schriftliche Fixierung dieser Chroniken und Traditionen hat ergeben, daß die Inka-Kultur eine äußerst reichhaltige lyrische Traditionen aufwies: u.a. Hymnen und Gebetslieder, Heldengesänge, Liebesgedichte, Tanzlieder und Klagegedichte. Daneben muß das Theater eine besondere Stellung eingenommen haben. Das bekannteste Inka-Drama ist Ollantay, das vermutlich gegen Ende des 15. Jahrhunderts entstanden ist (im 18. Jhd. aufgezeichnet) und die Liebe zwischen Ollanta und der Prinzessin Kusi qoyllur schildert.
Eine Reise durch die Geschichte der lateinamerikanischen Literatur
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Insgesamt läßt sich zur vorspanischen Literatur bemerken, daß nie eindeutig zu klären sein wird, wie sehr die einzelnen Zeugnisse durch den Transkriptionsprozeß bereits verändert worden sind, zumal die Fixierung dieser Werke zum Zeitpunkt der Missionierung und damit während des Kampfes gegen den 'Aberglauben' der Indios stattfand. Dies gilt desgleichen für die Aufzeichnung indianischer Werke in Mexiko. Im 20. Jahrhundert erfolgt auch die Fixierung literarischer Zeugnisse wie z.B. Mythen der weniger bekannten Indio-Stämme, etwa die Guarani in Paraguay, in den verschiedenen Ländern Lateinamerikas.
3.
Die Entdeckung Amerikas und die Errichtung des Kolonialreiches durch die Europäer
Als Kolumbus am 12. Oktober 1492 auf der Suche nach dem Seeweg nach Indien - der Landweg war durch den Fall Konstantinopels 1453 unpassierbar geworden - auf der Karibikinsel Guanahani landet, beginnt die Eroberung des Kontinents durch die Spanier und Portugiesen. Im Vertrag von Tordesillas (1494) teilen Spanien und Portugal die 'Neue Welt' unter sich auf. Kolumbus entdeckt 1498 auf einer weiteren Entdeckungsfahrt den Orinoco; Amerigo Vespucci und Alonso de Hojeda gelangen 1499 zum Amazonasstrom. Nach der Eroberung und Inbesitznahme Mexikos durch Hernán Cortés von 1519 bis 1521, das als Vizekönigtum den Namen "NeuSpanien' erhält, ziehen die Spanier in mehreren Etappen weiter nach Süden und erobern das Inka-Reich, das sie 1542/43 zum Vizekönigtum TSeuKastilien' (Peru) machen. Die Inka leisten den Spaniern in zahlreichen Aufständen bis 1572 heftige Gegenwehr. 1535 bis 1537 erfolgt schließlich die Eroberung des La-Plata-Raumes durch Pedro de Mendoza. 1501 kommt Brasilien durch Pedro Alvares Cabral in portugiesischen Besitz. Die Kolonialisierung Brasiliens findet zunächst nicht mit der gleichen Zielstrebigkeit statt wie in Neu-Spanien und Neu-Kastilien, da die Portugiesen das Land nur als Rohstofflieferanten (Brasilholz) betrachten. Erst als die Gefahr droht, den Besitz an England oder Frankreich zu verlieren, sehen die Portugiesen die Notwendigkeit ab 1532 weitere Siedlungen
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Cerstin Bauer-Funke
wie das bereits 1521 gegründete Pernambuco in Brasilien zu errichten. Erstes literarisches Zeugnis über Brasilien ist die Carta, d.h. der Brief des Seefahrers Pero Vaz de Caminha, in dem er am 1. Mai 1500 dem portugiesischen König Manuel von dem entdeckten Land berichtet. a)
Die Berichterstattung über die Conquista
Die Ereignisse der Eroberung werden in Chroniken aufgeschrieben, die an den König in Spanien gerichtet sind. In diesen Berichten der spanischen Eroberer und Geistlichen, die zur Missionierung der Indios in die Kolonien reisen, prägen das Bild, das man sich in Europa von dem 'neuen' Kontinent macht. Das erste Werk dieser Gattung sind die Cartas de relación de la conquista de México (1519-26; dt. Die Eroberung von Mexico durch Hernán Cortés) von Hernán Cortés (1485-1547). Cortés adressiert seine Briefe an den spanischen König Karl V. und schildert diesem den Fortgang der Eroberung sowie seine Beobachtungen zu Land und Leuten in knappem, nüchternem Stil. Das erste Beispiel dieser Chroniken aus dem Vizekönigreich in Peru ist die Verdadera relación de la conquista del Perú (Sevilla 1534) von Francisco de Xerez (1497-1565?). Neben diesen Berichten für den König entstehen auch Augenzeugenberichte, so etwa derjenige des Soldaten Bemal Díaz del Castillo (1492-1580?), dessen Historia verdadera de la Conquista de la Neuva España (vor 1568 verfaßt, 1632 publiziert; dt. Wahrhafte Geschichte der Entdeckung und Eroberung von Mexico) die Conquista eindringlich dokumentiert und daher eine der besten Quellen für die Erforschung der Eroberung darstellt. Außerdem finden sich auch Darstellungen der Conquista aus der Sicht der Eroberten. Sie beschreiben, mit welcher Grausamkeit gegen sie vorgegangen wurde. Später werden diese meist mündlich überlieferten Geschichten und Erzählungen der Indios von den Nachfahren der Eroberten in den Schulen der verschiedenen religiösen Orden, die sich in Lateinamerika niederlassen, transkribiert und dazu verwendet, die Geschichte ihres Volkes niederzulegen, so etwa von dem Nachfahren des Dichterfürsten Nezahualcoyótl, Fernando de Alva Ixtlilxóchitl (1577-1648?), der zwischen 1615 und 1650 die Historia chichimeca, eine Geschichte seiner Vorfahren, verfaßt. Seine Ausfuhrungen basieren auf Bilderhandschriften und Legenden seines Volkes, in die er Gesänge und Gedichte integriert.
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Darstellungen der Kultur und der Christianisierung der Eroberten
Neben den Fanatikern, die jegliche kulturellen und religiösen Erscheinungen der Indiokulturen auszulöschen versuchen, bemühen sich andere Vertreter religiöser Orden um die Wahrung kultureller Zeugnisse und um bessere Lebensbedingungen für die Indios. Einer der unermüdlichen Verteidiger der Indios ist Fray Bartolomé de Las Casas (1474-1566), Bischof von Chiapas, der in seinen Schriften seine engagierte Parteinahme für die Indios zum Ausdruck bringt, deren Ausbeutung er in Briefen an Karl V. und den Papst anklagt. So fordert er die Einschränkung der Ausbeutung durch die „Neuen Gesetze" (Verbot der Indianersklaverei, Gleichstellung von Indios und Spaniern). Seine Werke Historias de las Indias und Brevísima relación de la destrucción de las Indias (1542; dt. Kurzgefaßter Bericht von der Verwüstung der Westindischen Länder) verdeutlichen seinen Versuch, sich den Indígenas zu nähern, ihr kulturelles Erbe zu ergründen und offen für ihre Probleme zu sein. Er charakterisiert sie als gütige Menschen, die der Zerstörungswut und der Grausamkeit der Spanier ausgeliefert sind. Er wird Verteidiger und Beschützer der Indios gegen Ungerechtigkeiten und die Verletzung der Menschenrechte. Auch Fray Bernardino de Sahagún (1499/1500-1590) verhehlt seine Bewunderung für die Kultur der Azteken nicht in seiner enzyklopädischen, besonders aus der Perspektive der Ethnologen überaus interessante Historia General de las cosas de Nueva España (1547-82; dt. Wahrsagerei, Himmelskunde und Kalender der alten Azteken). Auch für Sprach- und Religionswissenschaftler ist das Werk von großer Bedeutung. In Peru erscheinen ebenfalls Werke von Ordensbrüdern, welche die Riten und Mythen der Inka aufzeichnen, so etwa die Schrift Relación de las fabulas y ritos de los incas (ca. 1575) des quechuasprechenden Priesters Cristóbal de Molina (15297-85). Zugleich erscheinen aber auch Schriften wie die Historia de los incas (ca. 1580) von Pedro Sarmiento de Gamboa (1532-92), die vom Vizekönig von Neu-Kastilien, Francisco de Toledo, in Auftrag gegeben wird und den Herrschaftsanspruch der Spanier belegen soll. Dem entspricht der Autor, indem er die Herrschaft Manco Capaes und seiner Familie als eine dem Volk aufgezwungene darstellt, die durch das Erscheinen der Spanier ein Ende findet.
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Die weiter nach Süden vordringenden Spanier unterwarfen schließlich in Chile die Araukaner. Der Bericht dieser Conquista findet in dem berühmten Renaissance-Epos Araucana (1568/69, 1578 und 1589) von Alonso de Ercilla y Züfiiga (1533-94) seine literarische Umsetzung als NationalEpos.
4.
Die Merkmale der Literatur in der Kolonialzeit (16. bis Anfang 19. Jahrhundert)
Die Literatur in den Vizekönigreichen Neu-Spanien (Mexiko), NeuKastilien (Peru), Neu-Granada mit Sitz in Bogotá (errichtet 1739) und im Vizekönigreich Rio de la Plata (ab 1776) bis zur Unabhängigkeit der Länder ist - grob gesprochen - in enger Anlehnung an spanische und europäische Stilrichtungen und Literaturen verfaßt. Die Autoren stammen nahezu alle aus der spanischstämmigen Oberschicht und unternehmen Studienreisen nach Spanien, leben dort einige Jahre und verfassen dort auch ihrer Werke. Literatur entsteht einmal im Bereich des Vizekönigshofes und wird dort auch als solche - nämlich als höfische Dichtung - rezipiert. Zum anderen entsteht Literatur in den Ordensgemeinden, wobei der Jesuitenorden die bedeutendste Rolle spielt. Es bilden sich in diesen Zentren höfischer Kultur Dichterzirkel und literarische Akademien, wie etwa die Academia Antárctica in Lima. Gedichtet wird für kirchliche Feiern und für Feierlichkeiten für den Vizekönig und hochstehende Persönlichkeiten. Einen Großteil der in dieser Zeit entstehenden Literatur macht die Predigtliteratur aus. Auch das Theater nimmt einen wichtigen Platz in der Gesellschaft ein. In Brasilien entsteht erst recht spät eine städtische Kultur, da die Portugiesen zunächst nur das Brasilholz ausbeuten, ohne sich um die Gründung von Orten oder Städten zu bemühen. So gibt es auch keine umfassende Chronikliteratur nach der Eroberung. Erst als andere Kolonialmächte sich für Brasilien zu interessieren beginnen und damit für die portugiesischen Besitzungen eine Gefahr bedeuten, beginnen die Portugiesen ab 1548, in Brasilien ein Verwaltungssystem einzuführen und Städte zu gründen. Die Auswahl einiger Autoren soll einen Eindruck von der literarischen Tätigkeit in den Vizekönigreichen geben. Bernardo de Balbuena (1561/621627) wird als erster 'richtiger' amerikanischer Dichter bezeichnet. Sein
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Werk Grandeza mexicana (pub. 1604) ist ein beschreibendes Gedicht in Briefform, das von Mexikos Topographie, Institutionen, Flora, Gesellschaft, Sitten und Regierungsform berichtet. Als erster in Mexiko geborener Dichter gilt der Lyriker Francisco de Terrazas (15307-1605). In Peru (Lima) ragen zwei Dichter heraus, die mit ihrem Werk eine Art Kultursynthese verkörpern. Es handelt sich zum einen um Garcilaso de la Vega el Inca (1539-1616), den Sohn einer Inka-Prinzessin und eines spanischen Conquistadors. Nachdem er zunächst durch seine Familie mütterlicherseits Zugang zu den Mythen der Inka hatte, wird er ab 1560 auf Wunsch des Vaters in Spanien ausgebildet, wo er zunächst als Soldat, später als Geistlicher die Comentarios reales (ab 1609 erschienen) abfaßt. Dieses Werk „gilt als Inbegriff des kulturellen mestizaje (der geistigen Rassenmischung)"1, da Garcilaso sich als Inka bezeichnet und damit zugleich aus indianischer und spanischer Perspektive die Inka-Kultur, den Zusammenprall der zwei Kulturen darstellt. Der zweite zu nennende Dichter ist der zum Christentum bekehrte Indio Felipe Guarnan Poma (auch: Waman Puma) de Ayala (um 1535 bis nach 1615), der in seiner Nueva crónica y buen gobierno (1615) die Herrschaft der Inka und die Conquista behandelt, aber ebenso zahlreiche Anekdoten und Portraits zeitgenössischer Vizekönige, Inquisitoren, Priester und Verwaltungsbeamte einfließen läßt. Auch in Chile, das nach Peru ab ca. 1540 erobert wird, wird die Conquista in Chroniken und Epen wie der Crónica y relación copiosa y verdadera de los reinos de Chile (1558) von Gerónimo de Vivar (1524 bis nach 1560) behandelt. Wichtiger Bestandteil dieser Berichte ist der Aufstand der Araukaner (1557), die sich der Macht der Inka widersetzen. Die Tapferkeit der Araukaner, die Ercilla als Augenzeuge miterlebt, wird in dem spanischen Renaissance-Epos La Araucana (1. Teil: 1568/69; 2. Teil: 1578; 3. Teil: 1589) des bereits erwähnten Alonso de Ercilla (1533-94) verewigt und stellt eine große Aufwertung der Indios dar, da Ercilla den mutigen Araukanern Spanier gegenüberstellt, die er wegen ihrer Ruhmsucht tadelt. Berichte über die Erkundungen des La-Plata-Raums und des Amazonas schließen sich an. In Brasilien entstehen hauptsächlich Schriften über geographische Gegebenheiten, Sitten und Gebräuche der Ureinwohner und Taten der portugie1
Rössner (1995), S. 36.
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sischen Kolonisten. Eine Dichtergestalt, die mit lyrischen und dramatischen Texten herausragt, ist der aus Teneriffa stammende Jesuitenpater José de Anchieta (1534-97), der als der erste große brasilianische Autor bezeichnet werden kann. Während Anchieta seine Epen in lateinischer Sprache verfaßt, zählt die Prosopopéia (1601) von Bento Teixeira (15617-1600) als erstes brasilianisches Renaissance-Epos und als erstes literarisches Werk Brasiliens überhaupt. Auch im 17. Jahrhundert bleibt der europäische Einfluß prägend, wenn auch die europäischen Stilrichtungen mit einer kurzen zeitlichen Verzögerung in Lateinamerika eintreffen. So setzt man für die lateinamerikanische Literatur das Barock etwa für die Zeit von 1640 bis 1750 an, während dessen Beginn in Spanien um 1600 anzusiedeln ist. Erst zu Beginn des 17. Jahrhunderts entsteht in den Kolonien eine städtische Kultur, die in etwa mit der in Spanien vergleichbar ist und die nun literarische Werke nicht nur für Leser im Mutterland, sondern auch für den eigenen, kolonialen Leserkreis schafft. Die Übernahme spanischer Vorbilder ist auch damit zu erklären, daß die Autoren aus den Kolonien nach Spanien reisen und dort in Kontakt mit den europäischen Schriftstellern treten. So ist das Theater in den Vizekönigreichen vom spanischen Barocktheater eines Calderón de la Barca geprägt. Die bekanntesten Autoren des 17. Jahrhunderts seien im folgenden kurz vorgestellt: Der in Navarra geborene Bischof von Puebla in Mexiko, Juan de Palafox y Mendoza (1600-59), ist - wie schon Bartolomé de las Casas - ein großer Verteidiger und Beschützer der Indios, wie in seinem Werk De la naturaleza del indio (1671) erkennbar ist. Carlos de Sigüenza y Góngora (1645-1700), Verwandter des großen spanischen Dichters Luis de Góngora, verfaßt viele bedeutende Werke und den Triunfo Parténico (1683), eine Anthologie derjenigen Gedichte verschiedener Dichter, die bei den literarischen Wettbewerben eingereicht wurden. An diesen Wettbewerben nimmt auch die brillante Dichterin teil: Sor Juana Inés de La Cruz (eigentlich Juana de Asbaje y Ramírez de Santillana, 1651-95), auch die 'zehnte Muse' genannt. Sor Juana gewinnt zwei Preise in Wettbewerben des Triunfo Parténico. Wie oben beschrieben, erscheinen ihre Werke auch in Madrid. Die bekannteste Mystikerin Lateinamerikas ist Francisca Josefa Castillo y Guevara (1671-1742), Madre Castillo genannt. Sie kann als Gegenfigur zu Sor Juana gesehen werden, da sie als ungebildete Nonne ih-
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re Bildung ausschließlich aus der Bibel und anderer religiöser Literatur erworben hat. Die zwei von ihr erhaltenen Werke, in einfacher Sprache abgefaßt, sind der mystischen Literatur zuzurechnen: die Autobiographie Vida de la venerable Madre Josefa de la Concepción (um 1720) schildert ihren Lebensweg und die Sentimientos espirituales (veröff. 1843). Der schon erwähnte spanische Dichter Góngora gilt auch in Peru als Vorbild, wie die Anthologie Ramillete de varios flores poéticas recogidas y cultivadas en los primeros abriles de sus años (1676) belegt, in der Dichter aus dem Vizekönigreich Peru ihre Dichtungen zusammengestellt haben. In Brasilien entsteht erst in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein literarisches Leben, weil es zunächst an einem Publikum für literarische Texte mangelt und zudem von Portugal bis 1808 verboten wird, Universitäten zu öffnen oder Druckerpressen aufzustellen. Die wenige Literatur steht überdies unter dem Einfluß der spanischen und später der französischen Literatur. Einzigartig zu dieser Zeit ist allerdings die Predigtliteratur des brasilianischen Barock: Mit seinen Kanzelpredigten ist der Jesuitenpater Antonio de Vieira (1608-97) der bedeutendste Autor dieser Gattung. Seine Kanzelreden umfassen 15 Bände, die zwischen 1679 und 1748 erscheinen. Daneben ist er der Verfasser von über 500 Briefen und der Historia do Futuro (postum 1718). In seinen Kanzelreden handelt er Themen kontroversen und gar tabuisierten Inhalts ab (z.B. Kritik an Inquisition und Sklaverei; Verteidigung der Indios) und erregt so eine große Aufmerksamkeit auch weit über Bahia hinaus. 1641 geht er nach Portugal und wird auch in Lissabon der bekannteste Prediger, Ratgeber des Königs Johanns IV. und Diplomat. Wegen seiner Unterstützung der zum Christentum konvertierten Juden gerät er mit der Inquisition in Konflikt und wird 1665 verhaftet, 1667 entzieht man ihm gar die Erlaubnis zu predigen. Schließlich gelangt er nach Rom, wo er als Berater der schwedischen Königin Christine fungiert und die Aufhebung des gegen ihn verhängten Urteils erwirkt. 1681 kehrt er nach Bahia zurück und widmet sich der Überarbeitung seiner Werke. Von ihm sind ferner die oben genannten Briefe mit dem Titel Cartas überliefert, in denen er u.a. über seine Verfolgung durch die Inquisition oder über die Politik in Portugal und in den Kolonien berichtet. Darüber hinaus findet sich auch in den Briefen seine scharfe Kritik z.B. an der Ausbeutung der Kolonie.
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Der bedeutendste Barockdichter Brasiliens ist Gregörio de Matos (163595), wegen seiner satirischen Texte, in denen er gesellschaftliche Mißstände anprangert, und seiner scharfen Zunge 'Höllenmund' (boca do inferno) genannt. Dieser Spitzname ist auch der Titel des Romans Boca do Inferno (1989; dt. Höllenmaul) der zeitgenössischen brasilianischen Autorin Ana Miranda (*1951), die ihrem Landsmann damit ein literarisches Denkmal setzt. Seine Lyrik läßt sich als intellektuelles und intertextuelles Spiel mit spanischen Lyrikern beschreiben. Er nimmt beispielsweise Verse von Lope de Vega oder Quevedo auf und variiert diese, was für die zeitgenössischen Leser den Reiz und das ästhetische Vergnügen ausmacht. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstehen auch in Brasilien zahlreiche wissenschaftliche und literarische Akademien.
5.
Vom Ende der Kolonialzeit bis zum Beginn der Unabhängigkeitskriege (1750-1810)
Im 17. und 18. Jahrhundert wird Amerika in einer Reihe von Verträgen unter den Kolonialmächten aufgeteilt: Portugal, das sich 1640 endgültig von Spanien gelöst hatte, schließt 1750 mit Spanien einen Vertrag über die Grenzen zwischen Brasilien und Hispanoamerika; England und Frankreich können sich in der Karabik festsetzen. In den einzelnen Vizekönigreichen kommt es zunehmend zu Spannungen, da die Differenzen zwischen dem Mutterland und den Kolonien immer deutlicher spürbar werden (z.B. wegen hoher Steuerabgaben) und sich langsam ein eigenes Nationalgefuhl auf dem amerikanischen Kontinent entwickelt. Die Unabhängigkeit der Kolonien von Spanien und Portugal wird auch von den 1759 aus Portugal und Brasilien und 1767 aus Spanien und den spanischen Kolonien ausgewiesenen Jesuiten im Exil gefordert. In Mexiko beispielsweise verstärkt diese Ausweisung des Ordens den Groll, den die Kreolen und Mestizen bereits gegen die Spanier und deren Privilegien hegen. Erste Stellungnahmen tauchen auf, in denen man sich als Mexikaner von den Spaniern abzusetzen beginnt. Revolutionäres Gedankengut aus Frankreich und die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten wirken anstiftend. In der Literatur folgt man im großen und ganzen auch in diesem Jahrhundert den aus Europa kommenden literarischen Strömungen. Wissenschaftliche Akademien und das entstehende Pressewesen tragen zur Ver-
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breitung des aufklärerischen Gedankenguts bei. In diesem Zusammenhang muß Francisco Xavier Clavijero (1731 -87) erwähnt werden, der als bedeutendster neuspanischer Historiker des 18. Jahrhunderts gilt. In seiner Historia antigua de México (1780/81) würdigt er die Zivilisation und Geschichte der Indios bis zur Conquista. Clavijero formuliert als erster ein nationales Selbstbewußtsein der Kreolen, das in dem 'Mestizaje' die Aufhebung des Gegensatzes von Indios und Kreolen fordert. Die Historia von Clavijero und eine Predigt des Fray Servando Teresa de Mier, gehalten am 12. Dezember 1794, bereiten die Unabhängigkeitsbewegung entscheidend vor. In seiner Predigt verbindet Fray Servando nämlich christliche Legenden mit dem aztekischen Mythos der Virgen de Guadelupe, was eindeutig als Argument für die Selbständigkeit Mexikos zu interpretieren ist und mit der Einkerkerung Fray Servandos geahndet wird. Die herausragende Dichtergestalt im Geisteslebens Limas in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist der Universalgelehrte Pedro de Peralta Barnuevo (1663/64-1743). Sein Epos Lima fundada o conquista del Peru. Poema heroico en que se decanta toda la historia del descubrimiento y sujeción de sus provincias por don Francisco Pizarro (1732) steht auf der Schwelle von barocker Tradition zum neuen rationalistischen Denken. Der Autor berichtet von der Eroberung Perus und den Auseinandersetzungen mit den Inkas. Auch in Lima entsteht, wie schon zuvor in Mexiko die Gaceta de México, 1743 die erste Zeitschrift, die Gaceta de Lima, die über Feste, Naturkatastrophen und Kriegsereignisse berichtet. Während das Tageszeitungswesen in Mexiko erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts entsteht, erscheint von 1790 bis 1793 in Lima bereits der Diario Erudito, Económico y Comercial. Ebenso entwickelt sich Buenos Aires um 1800 zu einem Zentrum journalistischer Tätigkeit, nachdem es schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts, als Wirkungsort des bedeutenden Schriftstellers und Vorbereiters der Unabhängigkeitsbewegung, Juan Baltasar Maziel (1727-88), eine entscheidende Rolle im Aufklärungsprozeß in Argentinien gespielt hatte.
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Der Beginn der Unabhängigkeitskriege und die Entstehung von Nationalstaaten
Ab 1810 entstehen in fast allen lateinamerikanischen Gebieten Unabhängigkeitsbewegungen, die zu einem Auseinanderbrechen des riesigen spanischen Kolonialreichs fuhren. Bis auf Mexiko werden alle kolonialen Gebiete in den Jahren bis 1824 von zahlreichen Aufständen und kriegerischen Unternehmungen gebeutelt. Argentinien erklärt als erstes am 25. Mai 1810 seine Unabhängigkeit. In Mexiko folgt auf die niedergeschlagenen Bauernaufstände unter den Priestern Hidalgo und Morelos, die 1810 losbrachen, ein Putsch des Generals Iturbide, der sich 1822 zum Kaiser krönen läßt. Ein Jahr später folgt aber schon wieder sein Sturz. 1824 wird Mexiko eine bundesstaatliche Republik, deren Unabhängigkeit von Spanien erst 1836 anerkannt wird. Ebenfalls 1824 wird das Gebiet Neu-Spaniens geteilt: Die zunächst als 'Vereinigte Provinzen Mittelamerikas' abgespaltenen Gebiete werden kurz darauf unabhängig und bilden die heutigen mittelamerikanischen Staaten Guatemala, Nicaragua, El Salvador, Honduras und Costa Rica. 1830 trennen sich sodann Neu-Granada (ab 1860 Kolumbien genannt), Ecuador und Venezuela (Panama spaltet sich erst 1903 von Kolumbien ab). Einer der bekanntesten Freiheitskämpfer ist Simón Bolívar (1783-1831), der in Kolumbien, Ecuador und Venezuela siegreich ist. Mit dem argentinischen General José de San Martin (1778-1850) zieht er nach Lima. Dort müssen sich 1824 schließlich die spanischen Truppen geschlagen geben, was bedeutet, daß Peru unabhängig wird. In Brasilien verläuft der Übergang in die Unabhängigkeit weniger blutig. Nach Aufständen in Bahia, die von der französischen Revolution beeinflußt waren, macht Portugal Brasilien wichtige Zugeständnisse (direkter Handel mit anderen Staaten, Eröffnung von Universitäten und Druckereien). Prinz Dom Pedro erklärt 1822 die Unabhängigkeit Brasiliens. 1828 wird Uruguay als Pufferstaat zwischen Argentinien und Brasilien gegründet. Ohne auf die einzelnen Konflikte näher einzugehen (exemplarisch seien genannt: Konflikte zwischen den Andenstaaten Peru, Bolivien, Chile im sog. Salpeterkrieg 1879-83; kriegerische Auseinandersetzungen im LaPlata-Raum; Ausrottung der Pampaindianer in Argentinien; Bürgerkriege in Kolumbien und Venezuela), läßt sich doch eine ähnliche Tendenz der Entwicklungen im Verlauf des 19. Jahrhunderts in den einzelnen Staaten
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finden: Man kann die Neigung zu autoritären Regimen erkennen, die jedoch versuchen, sich den Anschein demokratischer Regierungen zu geben (Beispiele sind die diktatorisch regierenden Porfirio Diaz in Mexiko (ab 1877) und Julio Argentino Roca in Argentinien (ab 1880). Die Förderung ausländischer Investitionen fuhrt zu wirtschaftlichem Aufschwung und Fortschritt. Ein weiterer Aspekt dieser Hinwendung zum Ausland und dem Versuch, Anschluß an Europa zu finden, ist die zunehmende Marginalisierung der Indios und die Ausrottung ihrer Kultur.
7.
Die Literatur der lateinamerikanischen Länder bis zum Modernismus
Die Literatur des 19. Jahrhunderts steht ebenfalls im Zeichen europäischer Stilrichtungen (Romantik, Realismus, Naturalismus). Dennoch sollen einige herausragende Dichterpersönlichkeiten vorgestellt werden, die im Umfeld der Unabhängigkeitsbewegung schreiben. In Mexiko ist dies vor allem José Joaquín Fernández de Lizardi (17761827). Er arbeitet als Journalist - man kann ihn als einen Pionier des mexikanischen Journalismus bezeichnen - , Theaterautor, Lyriker, Romanschriftsteller und Übersetzer. Mit seinem Werk El Periquillo Sarniento (1816, letzter Band postum 1830) begründet er den lateinamerikanischen Roman. El Periquillo Sarniento steht in der Tradition des spanischen Schelmenromans. Allerdings ist Periquillo kein gewitzter Schelm, sondern schwach, sittenlos und leichtsinnig. Die realistischen Schilderungen der mexikanischen Gesellschaft bieten Fernández de Lizardi ausreichend Gelegenheit für Kritik und moralische Unterweisungen. Im Geiste des Liberalismus präsentiert Domingo Faustino Sarmiento (1811-88) in Civilización y barbarie: Vida de Juan Facundo Quiroga (1845) die Biographie des Gauchofiihrers Facundo, die in ihrer intendierten Wirkung als Kampf gegen den Diktator Juan Manuel Rosas zu lesen ist. Der Autor stellt Facundo und Rosas als Vertreter der Pampa und der Barbarei die Zivilisation der Stadt gegenüber. Ferner thematisiert Sarmiento in seinem Werk die Frage nationaler Identität.
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Ein im Unabhängigkeitsstreben der Karibik berühmt gewordener Dichter ist der kubanische Freiheitskämpfer José Martí (1853-95). Seine gesammelten Reden, Aufsätze, Vorträge und Studien, darunter auch sein Essay Nuestra América (1891) sind postum 1909/10 unter dem Titel des genannten Essays erschienen und belegen das Engagement Mortis für ein hispanoamerikanisches Amerika, das sich vereinen und gegen die USA stellen solle. Während des ganzen Jahrhunderts haben sich Journalisten und Literaten in den Zeitschriften wie El Habanero und in literarischen Salons für die Unabhängigkeit engagiert. Kuba und Puerto Rico sind die letzten lateinamerikanischen Staaten, die zur Unabhängigkeit gelangen. Nach dem Eingreifen der USA in den kubanischen Unabhängigkeitskrieg und dem daraus entstehenden Krieg zwischen Spanien und den USA geraten Kuba und Puerto Rico 1898 unter nordamerikanische Herrschaft. Während Kuba 1901 schließlich selbständig wird, bleibt Puerto Rico an die USA angeschlossen. In der Karibik wird eine besondere Thematik in die Werke romantischer oder realistischer Tradition eingeflochten: Es handelt sich dabei um die Sklaventhematik, die in dem sogenannten Sklaverei-Abschaffungs-Roman ('novela abolicionista') verarbeitet wird. Diesem Problem, das erst 1880 gelöst wird, nimmt sich in Kuba die „Salonlöwin und politischintellektuelle Größe ihrer Zeit" 1 , Gertrudis Gómez de Avellaneda (181473) an. Die von Kuba nach Spanien übersiedelte Avellaneda veröffentlicht dort 1841 ihren Roman Sab, der 1844 in Kuba vom obersten Zensor verboten wird, „weil er »subversive Gedanken über das System der Sklaverei auf dieser Insel« enthalte und »der Moral und den guten Sitten« entgegenstünde." Inhalt des Romans ist die Liebe des Mulatten Sab zur Tochter seines Herren, den er durch einen Lotterieschein vor dem Ruin rettet. Dennoch heiratet die Tochter einen englischen Kaufmann, dem sie nach Europa folgt. Sab bringt sich durch ein langsam wirkendes Gift um. Durch dieses Werk wird die Avellaneda zur „Symbolfigur eines neuen Denkens und Fühlens". Eine weitere Besonderheit der südamerikanischen Literatur im 19. Jahrhundert soll noch erwähnt werden. Es handelt sich dabei um die 'gaucheske Literatur', die in Argentinien und Uruguay beheimatet ist und auch noch 1
Dies und die folgenden beiden Zitate stammen von Rössner (1995), S. 158.
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im 20. Jahrhundert von Benito Lynch und Ricardo Güiraldes gepflegt wird. „Der Gaucho ist die autochthone Mythenfigur der La-PlataLänder." 1 Ursprünglich als Langfinger oder Tagedieb angesehen, gelangt er zu einer kulturellen und politischen Dimension, indem er in der Volksdichtung von berittenen Wandersängern besungen wird und durch die Teilnahme an den Unabhängigkeitskämpfen patriotische Taten vollbringt. Durch gebildete Dichter, die Leben und Sprache der Gauchos kennen, erscheinen die Gauchos als Protagonisten in literarischen Werken. Höhepunkt der gauchesken Literatur ist das Epos Martín Fierro (2 Teile, 1872/1879) von José Hernández (1834-86). Es schildert das Leben und die Taten des Gaucho Martín Fierro, in denen sich politische Ereignisse wie etwa der Kampf gegen die Pampa-Indianer widerspiegeln.
8.
Aspekte der lateinamerikanischen Literatur im 20. Jahrhundert
Wie schon in der Kolonialzeit, entsteht Literatur meist in den Metropolen, wo es nun neben Verlagen und Buchgeschäften, in denen die großen Neuerer der Weltliteratur (Faidkner, Joyce, Dos Passos, Hemingway, Pound) zu finden sind, auch einen Kreis von Lesern, nämlich eine gebildete und finanzstarke Schicht gibt. Produktion und Rezeption von Literatur bleiben also einem kleinen elitären Kreis vorbehalten. Eine Ausnahme stellt das Kuba nach der Revolution von 1959 dar, da dort durch breit angelegte Alphabetisierungskampagnen und Gründungen von Verlagshäusern auch ein großes Lesepublikum in der kubanischen Gesellschaft geschaffen wurde. Besonders nach dem Ende des spanischen Bürgerkriegs (1939) kommt es durch den Zustrom spanischer Künstler und Schriftsteller ins lateinamerikanische Exil zu einer engen Beziehung zwischen lateinamerikanischen und europäischen Intellektuellen und Literaten. Die Richtung des Stroms der Exilanten geht in späteren Jahrzehnten immer wieder zurück in die Alte Welt, da zahlreiche lateinamerikanische Autoren ihre Heimat auf der Flucht vor Verfolgung, Folter, Terror und Zensur verlassen. Beispiele sind Julio Cortázar, der Argentinien 1951 nach der Machtergreifung Peróns verläßt, oder Isabel Allende, die nach dem Sturz Präsident Allendes 1973
1
Rössner{ 1995), S. 183.
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ebenfalls ins Exil gehen muß, oder auch die Uruguayerin Cristina Peri Rossi, die aus politischen Gründen 1972 in Spanien ansässig wird. a)
Der Modernismo
In engem Zusammenhang mit der um 1880 einsetzenden Modernisierungsphase der Wirtschaft und einem Wandel der gesellschaftlichen Strukturen entsteht die Literatur der Modernität oder auch Modernismo genannt, welche die erste eigenständige literarische Bewegung Lateinamerikas darstellt und in der französischen Décadence, dem Parnasse und dem Symbolismus ihre Vorbilder sieht. Der Beginn dieser Strömung ist ebenfalls um 1880 anzusetzen und wird maßgeblich von der 1888 erscheinenden Gedichteund Prosasammlung Azul des aus Nicaragua stammenden Rubén Darío (1867-1916) angezeigt. Die Charakteristika dieser Bewegung lassen sich mit folgenden Stichworten umreißen: Erneuerung und Selbstfindung der lateinamerikanischen Literatur und insbesondere der Lyrik; die Verbindung aller bis dahin entstandenen Strömungen (s.o.); das Streben nach Harmonie und Musikalität der Sprache. Die Hauptvertreter des Modernismo sind der erwähnte Nicaraguaner Rubén Darío, die Kubaner José Martí (s.o.) und Julián del Casal (1863-93), die Mexikaner Amado Nervo (1870-1919) und Manuel Gutiérrez Nájera (1859-95), der als erster moderner Dichter Mexikos gilt, ferner Leopoldo Lugones (1874-1938) aus Argentinien, der Uruguayer Jtdio Herrera y Reissig (1875-1910), der Brasilianer Manuel Bandeira (1886-1968) und der Kolumbianer José Asunción Silva (1865-96). Auf dem Gebiet literarischer Neuerungen in Richtung der literarischen Moderne sind zahlreiche Frauen zu finden, die in ihren Werken neue Wege einschlagen und damit zu Wegbereiterinnen der Moderne werden, wie etwa die bolivianische Lyrikerin Adela Zamudio (1854-1928) oder Juana de Ibarbourou (1895-1979) und Delmira Agustini (1886-1914) aus Uruguay. Alfonsmia Storni (1892-1938) steht in der Tradition der erotischen Liebeslyrik aus der Perspektive der Frau, die schon bei Delmira Agustini angeklungen ist. Gegen den Modernismus wendet sich die chilenische Lyrikerin und erste Literatur-Nobelpreisträgerin Lateinamerikas (1945), Gabriela Mistral (1889-1957), die sich in ihren Gedichten u.a. mit dem Tod und der unerfüllten Mutterschaft auseinandersetzt. In ihrer Gedichtsammlung Desolación (1922) gewährt sie Einblicke in ihre Religiosität, ihr Leben als Volksschullehrerin und ihre tragische Liebesgeschichte. Sie hat sich stets abseits von Strömungen wie
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dem Modernismo und den Avantgardebewegungen gehalten, da diese Literaturauffassungen nicht mit ihren einfachen, persönlichen, spontanen Empfindungen und ihrer Dichtung in Einklang stehen. Nachdem zunächst die spanische Literaturtradition auf Ablehnung der Modernisten gestoßen war, kommt es nach dem Sieg der USA über Spanien ( 1898) und wegen der Expansionspolitik der USA - die sich gerade in der neuen Abhängigkeit Kubas von den USA manifestiert - zu einer Rückbesinnung auf spanische Wurzeln. Das bekannteste Beispiel für die Distanzierung von den USA findet sich in der Schrift Ariel (1900) des Uruguayers José Enrique Rodó (1871-1917). Rodos Schrift führt zu einem neuen lateinamerikanischen Selbstverständnis, das als 'Arielismo' bezeichnet wird. b)
Die lateinamerikanischen Avantgardebewegungen
Von Europa kommend, erleben die Avantgardebewegungen in Lateinamerika in den 20er Jahren ihren Höhepunkt: der Futurismus Marinettis, der Surrealismus und der von Spanien ausgehende Ultraísmo. Die genannten Bewegungen werden in Lateinamerika aufgenommen - die von Ortega y Gasset 1923 gegründete Zeitschrift Revista de Occidente spielt die Vermittlerrolle - und in eigenen Werken fortgeführt. Mitte der 20er Jahre kommen russische Futuristen (Majakowski, Eisenstein) nach Mexiko, ab Mitte der 30er Jahre auch spanische und französische Künstler (Aub, Buftuel, Breton, Artaud, Eluard, Perei). Hinzu kommt, daß gerade in Mexiko die zahlreichen avantgardistischen spanischen Künstler Zuflucht finden, die Spanien aus politischen Günden verlassen. Ziel aller Avantgardebewegungen ist es, mit der traditionellen Ästhetik und Kunst zu brechen. Es werden zahlreiche Manifeste verfaßt, Zeitschriften gegründet, die oft aber nach nur wenigen Nummern eingestellt werden (z.B. in Argentinien die nach dem Gaucho-Roman benannte etwas längerlebige Zeitschrift Martin Fierro 1924-27), Wandzeitungen entworfen und Kunstausstellungen organisiert. Die erste eigenständige Avantgardebewegung Lateinamerikas ist der Creacionismo des Chilenen Vicente Huidobro (1893-1948). Ansonsten unterscheiden sich die Bewegungen nur gering vom europäischen Vorbild. Eine Ausnahme stellen die Literaten Nicaraguas dar, die eigene Wege gehen, indem der Protest gegen die Interventionspolitik der USA und Unterstützung der Befreiungsbewegung Sandinos Eingang in die
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Werke finden und so die nationale Identität auch in der Literatur propagieren. Auch in Brasilien werden der französische Parnasse und europäische Avantgardebewegungen in Dichter-Gruppen um Oswald de Andrade (1890-1954), Manuel Bandeira (1886-1968) und Mario de Andrade (1893-1945) rezipiert. Von Argentinien geht um 1920 eine Universitätsreformbewegung aus, die sich über den ganzen Kontinent ausbreitet. Viele Politiker und Literaten gehen aus dieser studentischen Bewegung hervor, die von den europäischen Avantgardebewegungen wichtige Impulse erhält. Mit der Weltwirtschaftskrise findet die entstandene Aufbruchstimmung ein abruptes Ende. Nicht nur kulturell, sondern auch wirtschaftlich wird Lateinamerika empfindlich getroffen und in eine neue Krise gestürzt. Insgesamt lassen sich die Errungenschaften der Avantgarde-Bewegungen dahingehend fruchtbar machen, daß sie die „Befreiung vom Diktat der instrumentellen Vernunft und eine Öffnung gegenüber magisch-mythischen Denkformen"1 initiieren, die, „explizit oder implizit dazu verwendet, indigene, extra-okzidentale, afroamerikanische Perspektiven nicht mehr nur als dargestellte Objekte, sondern als Elemente der Darstellung einbeziehen". Diese „frühere Peripherie im Selbstbewußtsein der Autoren des Magischen Realismus [wurde] zu einem privilegierten Ort des Erlebens und Schreibens". Diese Schreibweise ist diejenige, die Mythisches, Phantastisches und Realistisches zu einer Synthese verbindet und die ab den 50er Jahren und insbesondere mit der Literatur des 'Booms' in den 60er Jahren in Europa einen bahnbrechenden Erfolg feiert. Insofern läßt sich der 'Boom' als ,,geistige[n] Wiedereroberung' Europas durch die Kraft seiner [Lateinamerikas] synkretischen Phantasie"2 interpretieren.
Es ist schier unmöglich, in der hier gebotenen Kürze auch nur die gröbsten Linien der geschichtlichen Entwicklungen eines jeden lateinamerikanischen Staates im 20. Jahrhundert anzuführen und darüber hinaus ein nur annähernd aussagekräftiges Bild der Autoren und ihrer Werke zu entwerfen. Es sei daher an dieser Stelle nochmals auf die in der Bibliographie angeführ1 2
Dies und die folgenden Zitate stammen von Rössner ( 1995), S. 263. Ebd., S. 446 f.
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ten Studien verwiesen. Um die Vielfalt der lateinamerikanischen Literaturen wenigstens aufscheinen zu lassen, werde ich im folgenden in stark schematisierender Form den Versuch unternehmen, einige Aspekte und Tendenzen der lateinamerikanischen Literaturen des 20. Jahrhunderts zu skizzieren, um zu einer weitergehenden Beschäftigung auf der Grundlage der im Literaturverzeichnis angegebenen Studien anzuregen. Durch ihre Lektüre lassen sich auch all jene Autoren, Werke und literaturgeschichtlichen Zusammenhänge erschließen, die hier aus Platzgründen keine Erwähnung finden. c)
Poesía negrista
Aus den avantgardistischen Bewegungen geht in der Karibik u.a. die 'poesía negrista' hervor, die eine Integration der Kunst und Kultur ehemaliger Sklaven aus Schwarzafrika darstellt. Die kulturrelle Andersheit der Afroamerikaner sowie Elemente der afrikanischen Kultur - z.B. Lautmalereien, Rhythmus, Sprachklang, Ausdrucksformen und Idiomatik der Schwarzen - finden in der Literatur der afroamerikanischen Dichter ihren Niederschlag. Bedeutendster Vertreter ist der Kubaner Nicolás Guillén (1902-89). Guillen gilt neben José Martí als ein „zweiter nationaler Volksheld"1. In seinen Werken verbindet er „afrokubanische Folklore mit politischem Engagement". Seine Hauptwerke sind die Gedichtbände Motivos de son (1930) und Sóngoro cosongo (1931), in denen afrokubanische Volkstänze, Dialekte der farbigen Kubaner und lautmalerisch die Rhythmen und Klangfarben der Musik der Afrokubaner evoziert werden. Auch Alejo Carpentier (1904-80) zählt zu einem der wichtigsten Vertreter der 'poesía negrista'; in seinem Roman ¡Ecue-Yamba-o! (1933) thematisiert er das Afrokubanische. Zugleich ist er es, der nach einem Aufenthalt in Haiti im Vorwort zu seinem Roman El reino de este mundo ( 1949; dt. Das Reich von dieser Welt) den Begriff des 'real maravilloso' (das wunderbare Wirkliche) in Abgrenzung vom europäischen Surrealismus definiert und damit eine Definition dessen liefert, was unter dem Begriff 'Magischer Realismus' als Charakteristikum der lateinamerikanischen Andersheit gilt und das auf die Romane von García Márquez, Vargas Llosa und Fuentes vorausdeutet.
1
Dies und das folgende Zitat stammen von Rössner (1995), S. 298.
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In Brasilien gehören schwarze oder mulattische Autoren schon seit den Anfangen zu den wichtigsten Schriftstellern, so daß eine Integration afroamerikanischer Kultur nicht erst mit den Avantgardebewegungen erfolgt. Im Zusammenhang mit den Avantgardebewegungen sind z.B. der schon erwähnte Oswald de Andrade und Raul Bopp (* 1898) zu erwähnen. Letzterer ist der namhafteste Dichter des brasilianischen "Negrismo1. d)
Die indianistische und die indigenistische Literatur
Die indianistische bzw. später indigenistische Literatur 1 sind Strömungen, die auf die Aufwertung des Authochtonen und Mestizischen abzielen. Entgegen der „Conquistaideologie [, welche] die moralische, soziale und zivilisatorische Unterlegenheit des Indio noch bis ins 19. Jh. verbreitet hatte" 2 , entsteht durch die Rezeption aufklärerischer und romantischer Werke französischer Schriftsteller wie Marmontel und Chateaubriand eine Distanzierung vom „europäischen Hierarchiedenken", in dem der Indio nun als Verkörperung einer edlen Gesinnung und die Spanier dagegen als verrohte, grausame Eindringlinge auftreten. In Kolumbien findet die Lektüre romantischer Werke der französischen Literatur Niederschlag in José Fernández Madrids (1789-1830) funfaktiger Tragödie Guatimoc (1827). Das erste Werk dieser Richtung in Mexiko ist die Erzählung Netzula (1837) von José María Lacunza (1809-69), der den Kampf der Azteken gegen die Spanier verarbeitet. Die indianischen Helden werden nicht mehr christianisiert, sondern zeichenen sich bereits in ihrem „Naturzustand" durch ein „hohes moralisches und soziales Verantwortungsbewußtsein,, aus. In der Profecía de Guatimoc (1839) von Ignacio Rodríguez Galván (1816-42) erscheint Cuauthémoc als der eigentliche Sieger, weil er Cortés an Edelmut bei weitem übertrifft. Der indianistische Roman wird auch von Frauen vertreten. Die schon erwähnte kubanische Schriftstellerin Gertrudis Gómez de Avellaneda, die mit dem Roman Sab einen Sklaverei1
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Zur Unterscheidung der beiden Begriffe: Indianistische Literatur kennzeichnet eine Strömung, die im 19. Jahrhundert entstanden ist und in der Tradition der europäischen Aufklärer und Romantiker den Indio folkloristisch-verklärend und romantischsentimental als 'edlen Wilden' präsentiert. Der Indigenismus bzw. die indigenistische Literatur ist eine literarische Bewegung und entstand in der 20er Jahren des 20. Jahrhunderts. Er bedeutet die Aufwertung der indigenen Kultur und des Indio als handelndem Subjekt, das mit der Kritik an den schlechten Lebensbedingungen in den Mittelpunkt der Werke rückt und mit einer Parteinahme für unterdrückte Indigenas, verbunden mit sozialkritischem Protest, einhergeht. Dieses und die folgenden Zitate stammen von Rössner (1995), S. 144.
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Abschaffungsroman verfaßt hatte (s.o.), thematisiert in Guatimozín, último emperador de México (1846) wie schon der oben genannte Fernández Madrid das Ende des Azteken, der Cortés schließlich unterliegt und getötet wird. In Ecuador nimmt sich eine Frau dem Schicksal der Indios an: die Lyrikerin Dolores Veintimilla de Galindo (1830-57) verteidigt mit ihrer Schrift Necrología (1857) einen zum Tode verurteilten Indio, was ihr den Zorn einiger Aufklärer einbringt. Man begründet ihren Selbstmord mit den Angriffen ihres Gegners Fray Vicente Solano. Zur selben Zeit erscheint in Brasilien der Feuilletonroman O Guarany. Romance brasileiro (1857; dt. Der Guarany. Brasilianischer Roman) von José de Alencar (1829-77). In Peru stellt Clorinda Matto de Turner (1852-1909) in ihren Werken Tradiciones cusqueñas (1884-86) und Aves sin nido (1889), einem IndioRoman, die bemitleidenswerte Situation der Indios dar und kritisiert die katholische Kirche, die sie für die elenden Lebensumstände der Indios verantwortlich macht. Clorinda Matto de Turner weicht schließlich dem Druck ihrer Gegner, indem sie ihr Heimatland verläßt und nach Buenos Aires ins Exil geht. Die Rezeption des Surrealismus bereitet die Aufwertung der Indígenas vor - was allerdings nicht vollkommen positiv zu bewerten war - . Insbesondere nach der mexikanischen Revolution (1910-17), die in Mexiko die Gattung des Revolutionsromans entstehen läßt, wird in Mexiko, und von da ausstrahlend auch in anderen lateinamerikanischen Ländern, der 'Mestizaje', die Vermischung indianischer und abendländlischer Kultur und Rasse, zu einer „Metapher für die Identität Mexikos nach der Revolution". 1 Die so formulierte Kultursynthese findet auch in der Literatur ihren Niederschlag, und zwar in dem nun als indigenistisch bezeichneten Roman, in dem die Welt der Indios in den Vordergrund rückt. Nach Alcides Arguedas (1879-1946) Roman Raza de bronce (1919) verfaßt der Mexikaner Gregorio López y Fuentes (1897-1966) den ersten indigenistischen Roman in Mexiko nach der Revolution: In El indio (1935) werden die Indios, die schweigend die Demütigung und Ausbeutung durch die Weißen ertragen, zu „Objekten ethnologischer Beobachtung" 2 gemacht. Ab den 30er Jahren und nachdem der Indigenismo durch die An1 Rössner (1995), S. 264. 2
Ebd., S. 273.
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thropologie und die Erforschung der Sprache und Literatur der Indios (Angel María Garibay, Miguel León-Portilla) einen neuen Aufschwung erlebte, wird dieses Thema intensiver in der Literatur behandelt, so etwa von Ciro Alegría (1909-67) und José Maria Arguedas (1911-69) aus Peru, Miguel Angel Asturias (1899-1974) aus Guatemala, Rosario Castellanos (1925-74) aus Mexiko und Jorge Icaza (1906-78) aus Ecuador.
Weitere literarische Orientierungen, die Ausdruck des Selbstbewußtseins der lateinamerikanischen Literaten sind, finden sich in der Phantastischen Literatur, die in den 40er und 50er Jahren um Jorge Luis Borges entsteht, und in den Werken der 'nueva novela', in denen seit den 50er Jahren der Magische Realismus zum Ausdruck kommt. e)
Die Phantastische Literatur in Argentinien
Ab den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts entsteht mit der Phantastischen Literatur eine eigenständige Literaturströmung im La-Plata-Raum. Mittelpunkt dieser Strömung ist der Argentinier Jorge Luis Borges (1899-1986); ihr Beginn läßt sich mit dem Erscheinen einer Sammlung phantastischer Erzählungen ( 1940) datieren, die von Borges, seinem Freund Adolfo Bioy Casares (* 1914) und dessen Frau Silvina Ocampo (1903-93) herausgegeben wird. Mit dieser Gruppe eng verbunden ist die 1931 von Silvina Ocampos Schwester Victoria (1890-1979) gegründete Zeitschrift Sur, die vierzig Jahre lang die wichtigste Kulturzeitschrift des La-Plata-Raumes bleibt und intensiv den Kulturaustausch zwischen Amerika und Europa fördert. Aus dem Umfeld dieser Gruppe stammt Julio Cortázar (1914-84), der nicht nur zu den wichtigsten Vertretern der phantastischen Kurzgeschichte ab 1946, dem Jahr der Veröffentlichung seines Erstlingswerks in Sur: La casa tomada (1946; dt. Das besetzte Haus) zählt. Mit seinem experimentellen Roman Rayuela (1963; dt. Rayuela. Himmel und Hölle) leitet er auch den 'Boom' ein. f)
Die 'nueva novela' und der Magische Realismus
Ab den 50er Jahren setzt sich in ganz Lateinamerika die bereits erwähnte „Sprache des Magischen Realismus" 1 durch. Neben der oben angespro1
Rö.isner (\995), S. 278.
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chenen Definition Carpentiers haben sich auch andere Autoren wie Miguel Angel Asturias über den Begriff Gedanken gemacht, nachdem er von Deutschland, wo er 1925 geprägt wurde, über Spanien schließlich 1948 nach Lateinamerika gelangt und - in Anlehung an Kaflcas anitrealistisches Werk - auf die lateinamerikanische Literatur übertragen worden ist. Zugleich wird in Anlehnung an den europäischen Experimentairoman ('nouveau roman') die 'nueva novela' entwickelt. Wegbereiter und Mitbegründer sind der schon erwähnte Jorge Luis Borges, Juan Carlos Onetti (1909-94; Uruguay) sowie die Mexikaner Agustín Yáñez (1904-80) und Juan Rulfo (1918-86), die durch die nachfolgenden Autoren des 'Booms' zu Unrecht ins Abseits geraten sind. Autoren des 'Booms' sind der erwähnte Julio Cortázar (1914-84) und Ernesto Sàbato (*1911) aus Argentinien, Augusto Roa Bastos (* 1917) aus Paraguay, Mario Vargas Llosa (* 1936) aus Peru, Gabriel García Márquez (*1928) aus Kolumbien, Carlos Fuentes (* 1928) aus Mexiko, Miguel Angel Asturias (1899-1974) aus Guatemala sowie José Lezama Lima (1910-76) und Guillermo Cabrera Infante (*1929) aus Kuba. Die brasilianische Literatur bleibt von diesem 'Boom' ausgenommen. Einzig Jorge Amado (*1912), der zu den erfolgreichsten Romanciers Lateinamerikas zählt, erfahrt mit seinen zahlreichen Romanen einen gewissen Anschluß an den 'Boom'. Bei diesen Autoren handelt es sich um Schriftsteller, die vom deutschen Buchmarkt nicht mehr wegzudenken sind und dem Lesepublikum ohne Spanischkenntnisse gut zugänglich sind.
9. Schlußbetrachtung Die seit dem 'Boom' zu einem festen Bestandteil der Weltliteratur avancierte lateinamerikanische Literatur wird weiterhin von den in den 60er Jahren bekannt gewordenen Autoren vertreten. In den letzten Jahren haben sich darüber hinaus auch Schriftstellerinnen wie etwa die Chilenin Isabel Allende (*1942), die Mexikanerinnen Angeles Mastretta (*1949) und Carmen Boullosa (*1954), die aus Nicaragua stammende Gioconda Belli (* 1948) oder die Uruguayerin Cristina Peri Rossi (* 1941) verstärkt zu Wort gemeldet. Die in den vorangegangenen Ausfuhrungen thematisierten Aspekte der lateinamerikanischen Literatur, wie beispielsweise die Beschäftigung mit der Frage der nationalen Identität oder mit Problemen der Indígenas, werden ergänzt durch die Thematisierung von nationalen Tra-
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gödien, Diktaturen, Terror und Folter sowie Problemen der Landflucht und der Großstadt. Durch die zahlreichen Diktaturen in Lateinamerika erfolgte, wie eingangs kurz angedeutet, in den 70er und 80er Jahren eine Abwanderung lateinamerikanischer Autoren ins europäische Exil, vorzugsweise nach Spanien und Frankreich. Die im Exil entstandene Literatur dieser Zeit wird mit dem Begriff 'Post-Boom' belegt. In der zeitgenössischen Literatur spiegelt sich die Auseinandersetzung mit dem kulturellen Erbe sowie die Verarbeitung politischer und sozialer Konflikte wider. Stellvertretend seien einige Länder herausgegriffen. So werden etwa nationale Traumata, Folter und Gewalt literarisch verarbeitet wie in Mexiko, wo nach dem Massaker auf dem Platz der drei Kulturen vor Beginn der Olympiade 1968 eine Form der Chronik entsteht, die maßgeblich von einer Schriftstellerin, nämlich von Elena Poniatowska (*1933), getragen wird. In ihrem Buch La noche de Tlatelolco (1971) veröffentlicht sie Berichte von den Tagen vor und nach der Katastrophe und analysiert die Geschehnisse aus der Sicht von Augenzeugen. In ihren nachfolgenden Werken verschafft Poniatowska stets den Schwachen und Marginalisierten eine Stimme, um deren verzweifelte Lage zu schildern. In Argentinien wird das Schicksal der 'desaparecidos', der spurlos verschwundenen Intellektuellen, Autoren und Journalisten, unter der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 thematisiert. Autoren wie Manuel Puig (1932-90) greifen so die 'guerra sucia' (schmutziger Krieg) in ihrem Werk auf. In diesem Zusammenhang sind auch die Situation in Chile während der Militärdiktatur von 1973 bis 1989 und auch die Erfahrung des Exils zu erwähnen, die von Schriftstellern wie Isabel Allende, José Donoso (*1925) und Jorge Edwards (* 1931) reflektiert wird. Als nationales Trauma Kolumbiens kann die Ermordung des linksliberalen Präsidentschaftkandidaten Jorge Eliécer Gaitän 1948 gelten, da das Attentat ein Welle von Gewalt und Terror auslöst. Hierin wurzelt die 'violencia', der staatliche und individuelle Terror, der sich noch heutzutage in der 'nueva violencia' sowie den Guerillas und Terroraktionen der Drogenkartelle fortsetzt und als Bindeglied zwischen der sozialen Wirklichkeit und der Literatur fungiert. Es entsteht gar eine besondere Gattung des Romans der 'violencia'. Es geht dabei um die „Fiktionalisierung der Gewalt"1, die auch in den Werken Garcia Märquez' zu spüren ist, so z.B. in der Darstellung der 1
Rössner (1995), S. 322 f.
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Erschießung von 3.000 Bananenpflückern in Cien años de soledad (1967; dt. Hundert Jahre Einsamkeit). Auch der Lyriker Ernesto Cardenal (* 1925) und die bereits erwähnte Gioconda Belli aus Nicaragua, die in ihrem Roman La mujer habitada (1988; dt. Die bewohnte Frau) die Beteiligung der weiblichen Hauptfigur an den Kämpfen einer Widerstandsbewegung gegen die Diktatur ihres Landes thematisiert, nehmen in ihren Werken Stellung zu den Konflikten in ihrer Heimat. Eines der aktuellen Beispiele für das Fortbestehen des Magischen Realismus, der Darstellung von Terrorismus einerseits und der mythischen Welt der Indios andererseits, ist der Roman Lituma en los Andes (1993; dt. Tod in den Anden) von Mario Vargas Llosa, der im Frühjahr 1996 die Bestsellerlisten erobert.
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Bibliographie
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Cerstin Bauer-Funke
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B.
Motive der Filmgeschichte Lateinamerikas
Hans Gerhold 1.
Einleitung
Die Filmkultur eines ganzen Kontinents zu erfassen, ist fast ein Ding der Unmöglichkeit. Zu verschieden sind die Formen, Stile, Themen und Motive der lateinamerikanischen Filmkunst von Mexiko bis Argentinien. Zu verschieden ist die Entwicklung der nationalen Kinematographien, sind die Bewegungen, Künstler, politischen Eingriffe, Produktionsbedingungen und Außeneinflüsse aus Europa oder den USA. Eine gemeinsame Sprache, wie sie die Literatur oder das Theater für Südamerika gefunden haben, sieht etwa der argentinische Regisseur Fernando
Bild aus dem Film „El viaje" („Die Reise") von Fernando E. Solanas
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Hans Gerhold
E. Solanas („El viaje" - „Die Reise") noch nicht. Dazu fehle es an Geld und Produktionsmöglichkeiten. Mit einer staatlichen Filmförderung können politisch unliebsame Regisseure wie er ohnehin nicht rechnen. Dennoch hat gerade Solanas mit „El viaje" eine sehr persönliche Entdeckungsfahrt quer durch den Kontinent unternommen: Von Feuerland im Winter über Brasilien und Peru bis nach Mexiko im Sommer führt der Fahrradtrip des jungen Martin, der seinen Vater sucht. Martins Geschichte ist als Metapher für die Geschichte des Kontinents verstanden worden: deshalb ihre Mischung aus Phantastik ä la Luis Bunuel, magischem Realismus, Satire, politischer Anklage, Entwicklungsroman und Road Movie. Elemente naturalistischer Beschreibung fehlen ebensowenig wie allegorische Verweise oder melodramatische Momente. Solanas dazu: „Insgesamt ist ja die lateinamerikanische Kultur sehr barock." Was sich in den hier angesprochenen Stilen und formalen Strategien abzeichnet, findet sich in der Fülle der Motive lateinamerikanischer Filmkunst wieder. Im folgenden sollen sechs Themenbereiche und Motivkomplexe, die teils miteinander verbunden sind, beleuchtet werden: die Ureinwohner, die Arbeitsbedingungen, die Jugend in den Metropolen, der magische Realismus, die politische Unterdrückung, die Situation der Exilanten.
2.
Ureinwohner und Eroberung
Bis in die 70er Jahre hinein waren die Indianer, Indios, Indigenas und indianischen Stämme im lateinamerikanischen Kino nicht präsent. Die seit 1492 einsetzende Eroberung und die Wellen kultureller Besetzung führten dazu, daß sich die indianische Bevölkerung nicht äußern konnte oder zum Schweigen gebracht wurde. Solanas hat das als eine der „Monstrositäten der Geschichte" seines Kontinents bezeichnet, die ihre Schatten bis in die heutige Zeit werfen. Einer der ersten Filme, die sich der Indios als einer verachteten, unterdrückten und verelendeten Minderheiten annahmen, war Gustav Dahls „Uira, der Indianer" (Brasilien 1973), der den Konflikt des Zusammentreffens der indianischen Kultur und der Zivilisation beschreibt: in einer skiz-
Motive der Filmgeschichte Lateinamerikas
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zenhaften Beschreibung, deren Perspektive darauf hinausläuft, daß es für die Indios kein Überleben geben wird. Einige Jahre vorher war 1966 in Bolivien der Film „Ukumau" (Regie: Jorge Sanjinés) entstanden. Ein armer Indio-Bauer am Ufer des Titicaca-Sees will sich von seinem Zwischenhändler, einem Mestizen, lösen und seine Waren in der Stadt selbst verkaufen. Während seiner Abwesenheit kommt der Mestize zu Besuch, versucht die Frau des Indios zu vergewaltigen und verletzt sie tödlich. Der Indio kann von seiner sterbenden Frau den Namen des Täters erfahren und tötet ihn ein Jahr später auf dem Altiplano, dem Hochland. Er hat sich damit auch für die jahrhundertelange Unterdrückung seiner Rasse gerächt. In den letzten Jahren hat es vermehrt Versuche gegeben, den Indios und ihrer Lebensweise filmische Würdigung zukommen zu lassen. In Mexiko entstand 1992 mit „Cabeza de Vaca" (Regie: Nicolás Echevarría) eine Produktion über den titelgebenden Conquistador, der 1536 nach acht Jahren Leben in einem Indianerlager seine Eroberersoldatenfreunde wiederfindet. Der Film konzentriert sich auf jene acht Jahre, in denen der Spanier die indianische Magie kennenlernte. In dem Film „Die Dämonen des Dschungels" (Ruy Guerra, Brasilien 1989) dringt 1954 eine Expedition in das Xingu-Indianerterritorium vor, um eine verschwundene weiße Frau und gleichzeitig den geographischen Mittelpunkt Brasiliens zu finden. Die Weißen lernen verschiedene Indianerstämme und ihre Riten und Verhaltensweisen kennen.
3.
Arbeit und moderne Sklaverei
Solanas hat in seinen Ausfuhrungen 1 zu „El viaje" bemerkt: „Der südamerikanische Mensch ... ist aktiv, hellsichtig, demokratisch und schöpferisch. Jedoch erstickt er unter den Arbeitsbedingungen und der Ausbeutung." In „El viaje" steht dafür der „Menschenmarkt", eine Allegorie auf den Kauf von Arbeitskraft, und die Goldmine in der Sierra Pelada in Bra-
1
Das Interview mit Fernando E. Solanas wurde im Mai 1992 von Horacio Gonzales geführt. - Literatur zum Thema findet sich in den Fußnoten der Aufsätze über Film und Kino in Chile und Mexiko.
Hans Gerhold
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silien, wo 70.000 Menschen wie Sklaven oder Leibeigene im Mittelalter unter unmenschlichen Bedingungen arbeiten. Der Blick, den lateinamerikanische Filmemacher auf die Arbeit werfen, ist der eines kritischen Realismus. Nelson Pereira dos Santos hat 1962/63 in einem der Meisterwerke des Kontinents, in „Vidas secas" („Nach Eden ist es weit"; Brasilien), die Landschaft des Sertäo für die Geschichte des Landarbeiters Fabiano genutzt, der mit seiner Familie und einem Hund auf der Suche nach Arbeit durch die unwirtliche Hochebene zieht. Für eine Saison findet er Zuflucht und Arbeit auf einer „fazenda", aber er verliert seinen Verdienst in der Kneipe beim Kartenspiel. Höhepunkt des Films ist der Tod des Hundes: Fabiano muß das Tier, das nicht mehr weiter kann, töten. Der brasilianische Regisseur Glauber Rocha hat über die Darstellung des Elends in den Großstädten und im Sertäo in seinem Aufsatz „Ästhetik des Hungers" formuliert: „Der Hunger des Lateinamerikaners ist nicht nur ein alarmierendes Symptom der sozialen Armut, sondern das Wesen unserer Gesellschaft." In seinen Filmen, z.B. in „Barravento" (1962, über die Fischer von Bahia und ihre Ausbeutung), beschreibt er die Arbeitsbedingungen nicht nur, sondern schlägt als revolutionäre Lösung vor, sich der Produktionsmittel zu bemächtigen. Auch im Genre-Kino hat die Arbeit einen überraschend realistischen Stellenwert. In dem mexikanischen Film „Schwarzer Sturm" („Viento negro", 1965, Regie: Servando Gonzales) wird eine Eisenbahnlinie quer durch die Wüste gebaut. Der Film fängt die Strapazen der Arbeit in dieser harten und rauhen Landschaft ungeschönt ein, einschließlich eines Unfalls, in dem die Lokomotive eines Güterzuges entgleist.
4.
Jugend in den Metropolen
Den archetypischen Film über die Jugend in den Großstädten Lateinamerikas, ihre Verwahrlosung und ihren Hang zu Gewalt und aus Not geborener Kriminalität, schuf 1950 der Spanier Luis Bunuel in Mexiko mit „Los Olvidados - die Vergessenen". Ein von seinem Vater im Menschengewühl bewußt vergessener Junge wird in Mexiko Stadt von einem blinden Stra-
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ßenmusikanten aufgenommen, erlebt in den Slums am Rande der Stadt mit den größeren Halbwüchsigen die Spannungen und Nöte des Viertels, wird erschlagen und im Schlußbild nachts auf eine Müllkippe geworfen. Jugendliche spielen in fast allen Filmen eine Rolle, in denen Armut, Not, soziale Ungerechtigkeiten und Spannungen thematisiert werden. Das ist vor allem dann von äußerster Brisanz, wenn Eltern und Erwachsene scheitern. Die ausweglose Situation der Armen und ihrer Kinder wird z.B. in dem Film des chilenischen Kinderarztes Aldo Francia, in „Die Kinder von Valparaiso" (1969), zum Zentrum eines dokumentarisch wirkenden Geschehens. Ein Witwer und Vater von vier Kindern lebt mit einer Waschfrau zusammen, die, nachdem der Mann und zwei seiner Jungen wegen der Tötung eines Rindes im Gefängnis gelandet sind, versucht, die Restfamilie zusammenzuhalten. Durch Gelegenheitsarbeiten der Kinder kommt wenig Geld herein. Als der kleinste Junge sich erkältet, stirbt er, weil alle Betten im Krankenhaus belegt sind. Das vierzehnjährige Mädchen läßt sich zur Prostitution verführen. Ein anderer Junge freundet sich mit einem Ganoven an. Eine etwas andere Perspektive nimmt der mexikanische Film „Lola" (1989, von Maria Novaro) ein. Die junge Straßenhändlerin Lola schlägt sich in Mexiko-City mit der Hilfe einiger Freunde durch, sorgt liebevoll für ihre kleine Tochter und muß doch miterleben, daß ihr Freund, ein Rocksänger, in den USA lebt und arbeitet. Sie verelendet, wird sexuelles Opfer eines Kaufhausdetektivs, verfallt in Depressionen und sieht erst in der Schlußszene am Strand des Meeres angesichts einer armen, aber fröhlichen Familie wieder Hoffnung für sich und ihre Tochter.
5.
Magischer Realismus
Wesensbestimmend für den magischen Realismus, wie er in der lateinamerikanischen Literatur und im Film eine beherrschende Rolle spielt, ist jener geheimnisvolle Sinnzusammenhang, der sich ergibt, wenn Erscheinungen des Übersinnlichen und Außersinnlichen konkret handlungs- und subjektbestimmend auftauchen und als Symbole, Metapern mit offener Bedeutungsebene und Zeichen wesensenthüllender Charakterzüge, aber
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Hans Gerhold
auch bildkräftiger Situationen die Handlung einer Erzählung als Wendeoder Höhepunkte begleiten. Einbrüche des Überwirklichen hatte bereits Luis Bunuel genutzt, der „Los Olvidados" mit den Träumen des kleinen Jungen von einem ihn jagenden Hund durchsetzt. Der bedeutendste Regisseur Brasiliens, Glauber Rocha, spielt in seinen Filmen mit den surrealistischen Elementen und verquickt Mystik und Legende, läßt z.B. in „Antonio das Mortes" (1969), den Söldner Antonio für die Unterdrückten streiten und in einem Mysterienspiel den Drachen der Bosheit erschlagen. Anhänger des realistischen und politisch engagierten Films haben den Filmen dieser Art den Begriff „Tropikalismus" zugesprochen und sie als Metaphern-Kino abgetan. Doch die zuweilen üppige Bilderflut der Filme besitzt eine expressive Bildhaftigkeit und visionäre Momente von großer Schönheit, poetischer Kraft und reizvoller Ästhetik. In „Macunaima" (Brasilien 1969, Regie: Joaquim Pedro de Andrade) wird der Titelheld schon als erwachsener schwarzer Mann geboren, bereichert sich, als ihm eine magische Quelle eine weiße Haut beschert, an einer bombenlegenden Revolutionärin und findet bei einem reichen Riesen, der in seiner Villa kannibalistische Orgien feiert, den magischen Stein der Macht. Zurück im Dschungel, wird Macunaima von einer schönen Amazone verschlungen. Der Kubaner Fernando Birri stellt in „Ein sehr alter Herr mit gewaltigen Flügeln" (Kuba, Italien, Spanien 1988), der nach einer Vorlage von Gabriel García Márquez entstand, einen bärtigen alten Herrn (Birri selbst) vor, der während eines Wirbelsturms an die Küste gespült wird und enorme Flügel an den Armen trägt. Pelayo und Elisenda sperren ihn in ihren Hühnerhof und erleben bald, daß die übrigen Dorfbewohner den Mann für einen Wunderbringer halten. Die Kunde seiner Ankunft verbreitet sich rasch in der Karibik, die Menschen strömen in Scharen, um ihn zu sehen, und sie zahlen an Pelayo und Elisenda Geld. Bald entsteht eine Art Luna Park, ein magischer Rummelplatz. Ein Priester versucht vergeblich den Exorzismus. Pelayo und Elisenda können bald mit den Einnahmen aus ihrer verfallenden Hütte ein neues Haus errichten. Doch bald wendet sich das Glück. Das Interesse der Menschen richtet sich auf ein anderes „Wunderwesen". Der alte Mann fliegt davon.
Motive der Filmgeschichte Lateinamerikas
6.
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Politische Unterdrückung und Terrorherrschaft
Die Nationen Lateinamerikas haben in ihrer Geschichte viele Arten der Unterdrückung erfahren. Streiks von Arbeitern wurden blutig zerschlagen, Revolutionen erschütterten Mexiko, der Begriff der „nationalen Sicherheit" diente Militärs als willkommenes Vehikel für Putsche in Chile, Argentinien oder Brasilien. Speziell in den siebziger Jahren prägten Militärputsche Lateinamerika, Diktaturen wie die von General Pinochet in Chile, der den Sozialreformer Salvador Allende 1973 stürzte, entstanden; die Politik des Pentagon und Wirtschaftspläne, die mit den großen Banken der Länder des Nordens ausgehandelt worden waren, bestimmten diese Flut des Totalitarismus. Der Diktator Dr. Rana (Dr. Frosch) in „El viaje" von Solanas ist eine allegorische Figur, in der alle Diktatoren Lateinamerikas zusammengefaßt sind. Ihre Gewaltpolitik, das systematische Pogromprogramm, das die „Desaparecidas", die während der Militärdiktaturen Verschwundenen, zum Begriff machte, der in aller Welt bekannt ist, schlägt sich verschlüsselt, in Anspielungen oder offen in vielen Spielfilmen nieder. In Luis Puenzos Film „La historia oficial" („Die offizielle Geschichte", Argentinien 1984) beginnt eine Adoptivmutter aus der gehobenen Gesellschaft zu ahnen, daß ihr Kind das Kind einer „Desaparecida" sein könnte und sie macht sich auf die Suche nach der Wahrheit, die ihr ganzes bisheriges Leben in Frage stellt. Der Film, der die „Madres de La Plaza Mayor" einbezieht, ist eine Trauerarbeit über den argentinischen „Holocaust" und wirkt umso eindringlicher, als die Adoptivmutter Geschichtslehrerin ist, die an der Schule die „staatsoffizielle Geschichte" lehren muß. Der peruanisch-spanische Spielfilm „Die Schlucht der Wölfe" (1988) behandelt den Kampf des Staates gegen die sogenannte Subversion. Nach einem Anschlag der linksgerichteten Untergrundorganisation „Leuchtender Pfad" besetzt eine peruanische Armee-Einheit ein Indio-Dorf in den Anden. Nachdem die Rebellen einen Oberleutnant getötet haben, geht der Kommandeur mit brutaler Härte gegen die Dorfbewohner vor, die er für Sympathisanten der Terroristen hält. Als er zur Abschreckung ein Massaker anrichten will, lehnt sich ein junger Soldat gegen ihn auf: vergeblich. Regisseur Francisco J. Lombardi, der auf einen authentischen Fall von 1983 zurückgreift, zeigt die Spirale der Gewalt aus der Sicht der einfachen
Hans Gerhold
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Soldaten und läßt die Fronten zwischen Gut und Böse sich allmählich auflösen. Mit den Formen der Unterdrückung indirekter Art befaßt sich „Die Zeit der Rückkehr" (Chile 1987, Regie: Leonardo Kocking). Während der Militärdiktatur in Chile reist eine junge Frau mit dem Bus zu einem entlegenen Lager im Norden, wo ihr Mann in der Verbannung lebt. Auf der langen Fahrt erinnert sie sich an seine Verhaftung und die Folgen für den Alltag. In diese Rückblenden eingeschlossen ist auch ihre Freundin, die wie sie ohne Mann leben muß und einen Selbstmordversuch unternimmt. Als die Frau nach 2000 km ankommt, ist ihr Mann entlassen worden. Sie hat jedoch neuen Mut für ihr Leben gewonnen. Der Film entstand zur Zeit der Pinochet-Militärdiktatur und thematisiert erstmals explizit im chilenischen Kino die politische Unterdrückung. Deutlich wird die Atmosphäre einer permanenten Bedrohung.
7.
Die Situation der Exilanten
Die Flut der Diktatoren löste in den 70er Jahren eine große Auswanderungswelle aus. Tausende von Menschen gingen ins Exil und kamen in dieser Situation mit anderen Kulturen in Berührung. Eine Art Welthauptstadt lateinamerikanischer Exilanten wurde Paris. Dazu Solanas: „Es entstand dadurch ein Kommunikationsnetz mit einem interessanten kulturellen Gleichgewicht... Zahlreiche Männer und Frauen kamen in den 70er Jahren benachbarten Kulturen näher und brachen mit der lateinamerikanischen Tradition des kulturellen Austauschs, der früher ausschließlich zwischen den in Europa lebenden Lateinamerikanern stattfand." Viele lateinamerikanische Filmemacher konnten im Ausland eigene Werke realisieren. So drehten z.B. chilenische Regisseure zwischen 1974 und 1982 im Exil 37 lange Spiel- und Dokumentarfilme. Von ausländischen Regisseuren wurden auf der anderen Seite 54 Filme über Chile realisiert. In Deutschland entstanden z.B. nach Erzählungen und Drehbüchern von Antonio Skarmeta die Filme „Es herrschte Ruhe im Land" (1975, Regie: Peter Lilienthal) und „Aus der Ferne sehe ich dieses Land" (1978, Regie: Christian Ziewer). In beiden Filmen spielten chilenische Exilanten die
Motive der Filmgeschichte Lateinamerikas
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Hauptrollen. Thematisiert wurde allerdings vor allem die Konfrontation der Flüchtlinge mit der deutschen Wohlstands- und Konsumgesellschaft. Der bedeutendste und ästhetisch eindrucksvollste Film über die Exilanten entstand 1985 unter der Regie von Fernando E. Solanas: „Tangos - El exilio de Gardel" („Tangos") erzählt die Geschichte einer argentinischen Tanztruppe, die seit Beginn der Militärdiktatur im Pariser Exil lebt. Die Schauspielerin Mariana und der Musiker Juan DOS arbeiten an der Vollendung der Musikshow „Das Exil Gardeis", deren Texte von Juan UNO in Buenos Aires geschrieben werden. Das bruchstückhafte Eintreffen der Texte fuhrt zu Konflikten mit dem französischen Regisseur. Aber das ist nicht das einzige Problem der Argentinos: Die Sorge um die in der Heimat verschleppten Angehörigen läßt ihnen keine Ruhe. Solanas ist es in „Tangos" gelungen, die Geschichte der Musik und der Kreativität mit der Geschichte der Exilierten zu verbinden. In der Erschaffung der Tanguedia, einer Mischung aus Tango, Komödie und Tragödie, verarbeiten die Künstler die Erfahrungen aus der Heimat, die sie ins Exil trieben, und ihre Sehnsucht nach Rückkehr. Die Realität und die künstliche Welt des Tanzes und der Musik gehen ineinander über. Solanas reflektiert die unlösbare Verbundenheit der Exilanten mit der Kultur des argentinischen Volkes, deren Symbol der Tango ist. Der 1985 in Venedig ausgezeichnete Film ist meisterhaft inszeniert, fotografiert und choreografiert. Die mitreißende Tangomusik stammt von Astor Piazzolla (1921-92).
C.
Die Großstädte Lateinamerikas im Spiegel der modernen Literatur
Juan Guillermo Gómez
1.
García
Einleitung
Das schnelle Wachstum der Großstädte im Lateinamerika des XX. Jahrhunderts ist mehr Ergebnis der Auflösung des traditionellen „Hacienda"Systems als die natürliche Folge der industriellen Entwicklung. In Wirklichkeit ist die Auflösung des traditionellen „Hacienda"-Systems mit verschiedenen Faktoren der Entwicklung verknüpft (z.B. der Bau einer Straße oder Eisenbahn). Der Bau einer Straße durch ein rückständiges und isoliertes Gebiet, das mehr oder weniger vom traditionellen „Hacienda"-System beherrscht ist, hat viele Folgen. Siervo Joya, der bescheidene Bauer des Romans Siervo sin tierra (1960) von Eduardo Caballero Calderön , hebt diese neue Realität hervor. Die arme Tränsito, die alle drei Monate einen kurzen Bestich in Santa Rosa machte (wo Siervo seit mehr als zwei Jahren im Gefängnis saß), erzählte Siervo: „ Die Söhne von Don Rubiano, dem Bürgermeister des Dorfes, machen eine Ausbildung als Chauffeur. " „ Das ist Fortschritt!"' Und tatsächlich war das ein Fortschritt. Zum ersten Mal hatten tausende von Bauern einen Kontakt mit dem Zentrum der Zivilisation, das heißt mit den Städten. Es ist kein Zufall, daß in verschiedenen Gebieten Kolumbiens die Busse „flotas" genannt werden. Der außergewöhnliche Name für einen Autobus ist schon eine Andeutung dieses komplexen Prozesses. Auf jeden Fall hat dieser Prozeß der Modernisierung die Einwanderung in die Städte vorangetrieben. 1
Vgl. Cabellero Calderón, Eduardo (1964): Siervo sin Tierra, Medellín.
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Juan Guillermo Gómez García
Die ersten Folgen sind bemerkenswert. In den 30er und 40er Jahren haben die Großstädte unter den chaotischen Wirkungen solcher Einwanderungen gelitten. Der Erscheinung des „Populismus" ist dieser Prozeß nicht fremd. Die chaotische Verstädterung, die eine ungeheuere Zahl von Bauern mittrug, steht unter einem Erlösungssympol, wie der Soziologe José Medina Echavarria in Consideraciones sociológicas sobre el desarrollo zu verstehen gibt. 1 Die soziale Erlösung für diese Bauern und sogar für das Lumpenproletariat war das Lieblingsmotiv der Politiker: Perón in Argentinien, Jorge E. Gaitán in Kolumbien, Pedro Aguirre Cerda in Chile sind nur die repräsentativsten Politiker, aber nicht die einzigen, die die neue soziale Situation politisch ausgenutzt haben. Ihre Sprache war von religiösen Symbolen geprägt. Da die Bauern kaum eine andere Sprache als die der Sprache der Religion kannten, gehörte dies aber auch automatisch zur Natur der Sache. Autoritätsglaube, Sentimentalität, väterliche Herrschaft waren die Wesenszüge dieser neuen politischen Aktion. Nicht anders äußert sich der Maurer Román Neura im Roman El compadre (der Gevatter) von Carlos Droguett - ein Nachfolger von Manuel Rojas - aus Chile. Für ihn verkörpert nur ein Führer die Hoffnung auf sozial-psychologische Erlösung: Der Alte war für uns wie ein Gott, ein lächelnder und zorniger Gott. Ich mußte ihm ins Gesicht schauen, um zu sehen, ob er die Gesten machte, die ich erwartete. Diese Geste des Paten, des Bevollmächtigten, des Komplizen, die Dich über jeden Verlust hinweg tröstet.2 Der Politiker galt als Pate, als Bevollmächtigter, als Komplize. Der in einen populären Führer verwandelte Großgrundbesitzer wurde von den Massen als Beschützer geweiht.
1 2
Vgl. Medina Echavarria, José (1964): Consideraciones sociológicas sobre el desarrollo. Vgl. Droguett, Carlos (1967): El Compadre, México, S. 109.
Die Großstädte Lateinamerikas im Spiegel der modernen Literatur
41
Er hatte das Bedürfnis zu jammern und dann dachte er sofort, daß er vielleicht in ein paar Wochen verheiratet wäre und seinen Sohn Pedro taufen würde. In diesem Ausdruck bestätigt der Maurer Ramön seinen bedingungslosen Glauben an den Gevatter, d.h. an den Führer.
2.
Soziale Krise und Ressentiment
Die Krise bzw. das Krisengefühl war das Zeichen dieser Jahrzehnte. Die schnelle, sogar schwindelerregende Verstädterung bildete eine neue Gesellschaft: unsere gegenwärtige Massengesellschaft. Die in der Kolonialzeit gebildete Gestalt der früheren Städte verwandelte sich in eine ungewöhnliche Realität: „Die Stadt ist so verändert - sagt der Mexikaner Arturo Azuela - , daß es keinen Ort gibt, an dem man die Erinnerungen stützen kann". Von allen Verwandlungen war vielleicht die Bildung der marginalen Viertel (Slums) die deutlichste, städtische Erscheinung. Aus dieser Randgruppe bildete sich ein unausweichliches Gefühl heraus: Das Gefühl des sozialen Hasses. Der Haß und der Rachedurst waren eine Wesenskomponente dieses Prozesses. Über diese marginalen Viertel (Slums, tugurios, villamiserias oder favelas) erschienen erste literarische Werk, die von diesem Massenprozeß und seinen vielschichtigen Folgen handelten. Der soziale Haß ist der Kern der Romane von Roberto Arlt aus Argentinien. Seine Werke, besonders seine Romane wie El jugete rabioso (1929), Los siete locos (1930) und Los lanzallamas (1931) wurden vom sozialen Unbehagen der 20er Jahre in Buenos Aires bestimmt. Das Werk von Roberto Arlt ist teilweise autobiographisch. 1900 in Buenos Aires als Sohn eines armen österreichischen Einwanderers geboren, wuchs Arlt in der unteren Mittelschicht auf. Arlt war ein Autodidakt, was sich in seiner markanten Grammatik zeigt. Seine grammatischen Fehler hatten provokativen Charakter. Man kann behaupten, daß ihm die Kriminalität nich fremd war. Als Journalist gehörte er einer niedrigen Gesell-
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Juan Guillermo Gómez García
schaftsschicht an. Er selbst bezeichnete sich als „proletario de las letras". Er glaubte, der Schreibvorgang sei jeder anderen Tätigkeit gleichbedeutend. Der Intellektuelle ist nichts mehr als ein gewöhnlicher Arbeiter in der modernen Gesellschaft. Er muß schaffen, untersuchen und produzieren wie die anderen Arbeiter. Arlt bewilligte dem Schriftsteller nur ein einziges und eigenes Recht: das Recht des Risikos einer autonomen Schöpfung. Die Literatur war Mittelpunkt der sozialen Kritik der modernen Gesellschaft. Die Literatur muß die Welt „entmystifizieren", um den Kern des Hasses zu entdecken. Keine Schleier mehr! Dem folkloristischen „gaucho" stellte Arlt das moderne Proletariat als Symbol des gegenwärtigen Argentiniens entgegen. Aber er arbeitete nicht mit typischen Proletariern, sondern mit Menschen, die den Haß, eigentlich die Unglückseligkeit, kennen. Die Hauptperson der Romane Los siete locos und Los lanzallamas heißt Erdosain. Die ihn begleitenden Helden, der Astrolog, Barsut, der Anwalt, der Goldsucher, Hipólita und Haffher sind nichts anderes als ein auserwählter Club von Terroristen. Ihr zufalliger Bund ist durch die Hoffnungslosigkeit geprägt. Der Astrolog äußert gegenüber Hipólita diese unbeschreibbare Gewißheit: In Wirklichkeit sind alle, ich, Du, er, jenseits des Lebens. Diebe, Verrückte, Mörder, Prostituierte. Alle sind wir gleich. Ich. Erdosain, der Goldsucher, der Melancholische Verbrecher, Barsut. alle sind wir gleich. Wir kennen die gleichen Wahrheiten; das ist eine Regel: Die, die leiden, lernen die gleichen Wahrheiten kennen. Sie können sie sogar fast mit den gleichen Wörtern ausdrücken, sowie die, welche die gleiche Krankheit haben, diese mit den gleichen Wörtern beschreiben können, wie sie in einen bestimmten Grad auftritt. Egal, ob sie lesen und schreiben können oder nicht.1 Auch der kolumbianische Romanschriftsteller J. A. Osorio Lizarazo hat der offiziellen Oligarchie die Maske vom Gesicht gerissen. Der Schmerz und die Ratlosigkeit der marginalen Gruppen von Bogotá in diesen Jahrzehnten spielten in seinem Werk eine zentrale Rolle. In der trüben Welt der 1
Arlt, Roberto (1991): Los Lanzallamas. in: Obras Completas. Band 1. Biblioteca Sur. Buenos Aires, S. 320.
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„gamines" (Straßenkinder, die nicht nur Kinder sind), fand dieser merkwürdige, aber unbekannte Schriftsteller den Stoff, um seine literarische Untersuchung zu entwickeln. Besonders in seinem Roman El dia del odio (1952) steht das Thema des Hasses als Hauptmotiv. Der rachsüchtige Haß wird von einem antiaristokratischen Gefühl bestimmt. Das war radikal und nicht beschönigend. Am 9. April 1948, dem Tag, an dem Jorge E. Gaitán auf einer Straße im Centrum von Bogotá erschossen wurde, bietet sich ihm Gewalt die Gelegenheit an, um die Ursache der undämmbaren aufzudecken. Der Pöbel (la chusma) äußerte an diesem Tag seine verdeckten Wünsche. Nur die Gewalt könnte am besten in diesem Umfang auftreten. Eine Gewalt, die „einstimmige und blinde Rache entflammt hat, die in den Herzen der Unterdrückten und Gedemütigten versteckt war; von denen, die seit dem Tage seines schmerzhaften Erscheinens auf der Welt verfolgt wurden; von denen, die im Dunkeln lebten; von denen, die sich danach sehnten, ihre durch die unbestreitbare Herrschaft des Geldes geraubte Würde wiederzuerlangen.1 „Die unbestreitbare Herrschaft des Geldes", d.h. des Kapitalismus, wird auch im literarischen Werk von José Revueltas thematisiert. Besonders in seinem Roman Los días terrenales (1949) beschäftigte er sich mit diesem Thema. Aber dieses Mal schreibt Revueltas von einem sozialistischen Standpunkt her. Gleichzeitig übte Eduardo Mallea im Roman Bahia de silencio ( 1941 ) eine Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft aus einer konservativen Perspektive heraus. Aus einem existentialistischen Standpunkt heraus kritisiert Ernesto Sàbato das bürgerliche Buenos Aires in seinem Roman El túnel (1948). Allen diesen Schriftstellern gemeinsam ist das Ansprechen der Elemente der Krise der Massengesellschaft: Einsamkeit, Gewalt, Egoismus, Entfremdung und Ratlosigkeit.
1
Vgl. Osario Lizarazo, J. A. (1976): El dia del odio, Bogotá, S. 225.
Juan Guillermo G ó m e z García
44
3.
Apokalyptische Erlösung
Wenn die Massengesellschaft so brutal ist; wenn die Großstädte der Ort der persönlichen und gesellschaftlichen Enttäuschung sind, so wird der Menschengeist herausgefordert, eine wirksame und ausgeglichene Lösung anzubieten. Resignation bedeutet schon eine Lösung bei Seite zu lassen. Gott ist nicht die einzige und schon gar nicht die erste Hoffnung. In den Großstädten verliert Gott früher oder später für die Massen seine traditionelle Bedeutung. Dennoch bleiben die Massen nicht schutzlos. Der Führer übernimmt die neuen Funktionen der Hoffnung. In Wirklichkeit hatten die Lösungen kein anderes Merkmal als das der Improvisation und des Extremradikalismus. Das Gefühl der sozialen Apokalypse scheint keine andere Grenze als die eines messianischen Ausgangs zu kennen. Das fieberhafte Gehirn des Astrologen der Romane von Arlt gründet eine terroristische Organisation, die eine einfach schreckliche Welt schaffen würde: Mein Ziel ist die Gründung einer geheimen Organisation, die nicht nur meine Gedanken verbreiten, sondern auch eine Sehlde für zukünftige Könige der Menschheit sein soll. (...) Unsere Organisation wird auf einem solideren und moderneren Prinzip aufgebaut: Der Industrialismus, d.h. die Loggia wird eine sozusagen phantastische Komponente und eine positive Komponente aufweisen: Die Industrie, die das Gold als Folge mit sich bringen wird. (...) Das Geld wird die Naht und den Ballast darstellen, die den Gedanken Gewicht und Gewalt geben wird, um die Menschen zu verführen. "l Diese Stelle ist nicht schwer mit den Gedanken Mussolinis oder Hitlers, ja Lenins zu verbinden. Das Bedürfnis der Zerstörung der bürgerlichen Gesellschaft erscheint auch bei Mallea, Osorio Lizarazo, Revueltas. Die zwei letzten boten Lösungen an, um die gegenwärtige Gesellschaft zu revolutionieren, sie auf den Kopf zu stellen, die Unterdrücker auszuschalten, alle Scheinheiligkeiten, alle Diskriminierung und Ungleichheit zu vernichten. Hingegen boten sie eine ganz neue Gesellschaft an, in der die Geschichte neu geschrieben werden sollte. Zerstörung und Wiederaufbau wa1
Arlt, Roberto (1973): Los siete locos, Buenos Aires, S. 123 f.
Die Großstädte Lateinamerikas im Spiegel der modernen Literatur
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ren nur zwei Seiten desselben Prozesses. Sie glaubten, diese entscheidende Zeit erleben zu können!
4.
Die Laster der Großstädte
Der vor-bürgerlichen Auffassung nach sind die Städte der Lieblingsort der Laster. Diese Auffassung ist nicht neu. Sie geht auf das 19. Jahrhundert zurück, aber ist vor allem in den 30er und 50er Jahren anzutreffen, als das soziale Unbehagen seine Höhe zu erreichen scheint. Kriminalität, Prostitution, Gottlosigkeit, Spiel um Geld, Drogenhandel, Selbstmord, Verrücktheit sind nur einige der auffälligsten sozialen Erscheinungen des Lebens einer großen Stadt. In einer Großstadt konzentrieren sich sowohl die Leidenschaften als auch die Möglichkeiten, sie auszuleben. In diesen Jahrzehnten erlebt die lateinamerikanische Gesellschaft den Übergang von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft. Die entsprechende soziale Beweglichkeit ist gewachsen oder wenigstens das Gefühl und der Reiz der Beweglichkeit sind größer geworden als auf dem Lande. Die Großstadt ist da, um sie zu „erobern". Die Eroberung einer großen Stadt ist ein literarisches Motiv verschiedener Romane Lateinamerikas. Die Enttäuschung ist auch eine entsprechende Folge dieses Eroberungsdranges, sein Beleg selbst. Romane wie Santa (1903) von Federico Gamboa, Nacha Regules von Manuel Galves (1925), Las impuras von Miguel del Carrion (1919) handeln von der Welt der Prostitution. Politische Korruption findet man in La sombra del caudillo (1929) von Martín Luis Guzmán und wirtschaftliche Korruption in La bolsa von Julián Martel. Verrücktheit und Selbstmord beherrschen das Werk von Arlt. Kriminalität durchdringt die Romane von Osorio Lizarazo. Alkoholismus ist das zentrale Thema im Werk Coronación von José Donoso (1957) oder La mala vida von Salvador Garmendia (1968). Sexuelles Unbehagen taucht in Romane wie Los días terrenales von Revueltas oder Die Stadt und die Hunde von Vargas Llosa auf. Diese Auswahl von literarischen Werken genügt, um die Aufmerksamkeit der Autoren für soziales Unbehagen zu beweisen. Sie sind in Wirklichkeit
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Juan Guillermo Gómez García
echte und ursprüngliche Quelle, will man untersuchen, wie diese Erscheinungen in der Gesellschaft auftreten. Für solche Probleme sind die Romane häufig die besten Quellen, aus denen wir Kenntnisse über die Entwicklung der Großstädte in Lateinamerika entnehmen können, wie der argentinische Historiker José Luis Romero in Latinoamérica: las ciudades y las ideas (1975) bewies. Im Roman El jugete rabioso kann man den Übergang zu einer komplexen Gesellschaft betrachten. Die Kriminalität ist jetzt nicht nur eine isolierte Kriminalität. Die Erscheinung ist jetzt nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ unterschiedlich. Die Kriminalität ist technisch organisiert. Die Epoche der Banditen mit romantischen und ideellen Gesinnungen ist vorbei. Mit Humor beschreibt Arlt den 'Club de los Caballeros de la Media Noche', eine solche Kriminalorganisation, im Protokoll einer konspirativen Versammlung: Silvios Vorschlag um Nitroglycerin in ein Gefängnis einzuschmuggeln: Man nehme ein Ei, leere es und fülle es wieder auf mittels einer Spritze mit dem Explosiv. Falls die aggressiven Säuren die Schale zu zerstören drohen, nehme man explosive Watte und webe daraus ein T-Shirt. Niemand wird merken, daß das harmlos aussehende Kleidungsstück in Wirklichkeit eine explosive Ladung ist. Enriques Vorschlag: Der Club soll über eine Bibliothek wissenschaftlicher Werke verfügen, damit die ausführenden Mitglieder perfekte Morde und Einbrüche nach neuesten Techniken und wissenschaftlichen und industriellen Erkenntnissen durchführen können. Darüber hinaus, nach dreimonatiger Mitgliedscha ft soll jedes Mitglied verpflichtet werden, eine Handfeuerwaffe Marke Browning, Gummihandschuhe und 100 Gramm Chloroform ständig bei sich zu tragen. Offizieller Chemiker des Clubs soll das Mitglied Silvio werden.1
1
Arlt, Roberto (1973): El juguete rabioso, Buenos Aires, S. 20 f.
Die Großstädte Lateinamerikas im Spiegel der modernen Literatur
5.
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Drei repräsentative Romane
Drei repräsentative Romane sind besonders wichtig für die literarische Verarbeitung des Themas „Großstadt" in der modernen lateinamerikanischen Literatur: Die Stadt und die Hunde von Mario Vargas Llosa, Landschaft in klarem Licht von Carlos Fuentes und Drei traurige Tiger von Guillermo Cabrera Infante. Der erste von ihnen erzählt die Geschichte von einer Kadettenschule, „Colegio Militär Leoncio Prado" in Lima. Der Wetteifer und der Haß zwischen den Kadetten fuhrt zum Mord an einem Militärschüler, „El Esclavo" genannt, einen schwächlichen Jungen. Die Atmosphäre der Kadettenschule ist wie üblich verdorben und gewalttätig. Die Bemühungen besonders von dem „Dichter" um die Besserung der Schulfreundschaft sind vergebens. Die Gewalt siegt und die Ungerechtigkeit wird als ein fortdauernder Zustand der Resignation erlebt. Der Kampf des „Dichters" gegen den „Jaguar", der vermutlich den „Esclavo" ermordet hat, ist also erfolglos: die Macht der Tyrannei ist in allen Belangen stärker als die besten Absichten der „Guten". Am Ende des Romanes resigniert der „Dichter". Die Gewalt beherrscht alle Bereiche des Lebens in der Kadettenschule, auch den Bereich der Sexualität. Der „Machismus" taucht in diesem Zusammenhang nur als Maske der Homosexualität der Kadetten auf. Ihre abscheuliche Erscheinung soll hier explizt hervorgehoben werden: Die latente Homosexualität drückt sich in brutalen sexuellen Praktiken aus. Die Kadetten wetteifern bei einer gemeinschaftlichen Masturbation darum, wessen Samen am weitesten spritzt. Diese so charakterisierte kollektive Selbstbefriedigung fungiert als Symbol für das Unbehagen über die Schule und das Wertesystem, das diese ermöglicht. Andererseits beschreibt Carlos Fuentes in Landschaft in klarem Licht die Folge des Phänomens der „Mexikanischen Revolution" (1911-17) seit den 20er Jahren bis zum Ende der 50er Jahre. Die soziale Entwicklung bzw. die komplexe Mobilität der mexikanischen Gesellschaft aufgrund der „Revolution" bildet die entscheidenden Züge seines Bildes von Mexiko City. Mexiko City ist ein Mosaikgemälde, dessen Geheimnis im Grunde der kollektiven Seele noch erreichbar liegt.
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Juan Guillermo Gómez García
Diese Stadt ist bei Fuentes die Großstadt der Gewinner und Versager, der neuen Reichen und der neuen Armen, die aus den Aschen der Revolution entstanden sind. Revolution ist ein zweideutiges Wort, dessen plurale Bedeutung so schnell wechselt, daß der Leser den festen Eindruck hat, daß jeder Held des Romans seinen Begriff der Revolution durchsetzen will. Ehrgeiz und Ambitionen, Ängste und Furcht, Versuche und Versuchungen, Erfolge und Scheitern sind die zentralen Elemente des großen Dramas. Ehrgeiz und Verrat sind wie Zwillinge Mexikos: Der Verrat der Revolution bleibt als Hauptthema bei Fuentes. Die Lüge des gegenwärtigen Mexikos hat die Herausforderungen der Revolution getötet: ihre Opfer sind unzählbar. Mit Drei traurige Tiger bietet der seit Jahrzehnten in London im Asyl lebende Kubaner Cabrera Infante ein mythisch-nostalgisches Bild des nächtlichen Lebens Havannas in den letzten Monaten der Batista-Diktatur. Die Darstellung der Stadt ist hier mit grenzenlosen Sprachspielen verbunden. Wie im oben erwähnten Roman Fuentes wird auch bei Cabrera Infante die Großstadt als eine Collage dargestellt, in der sich die verschiedenen Geschichten (nach den Vorbildern von Joyce und Dos Passos) durchkreuzen. Der Ton ist leicht, anmutig, erfrischend; die traditionelle Grenze der Kunstromane Lateinamerikas, die von dem Indigenismus oder Regionalismus geprägt wurden, werden überschritten, und bei Cabrera Infante erlaubt eine gewisse Rhetorik der Leichtigkeit einen literarischen Ausdruck, der fast schon an der Schwelle reiner Schwärmerei steht. Im Zentrum der Stadt fungiert der Künstler als neuer Priester der Moderne bzw. des Zeitalters des Bürgertums. Cödac (der Photograph) bei Cabrera Infante ist wie Manuel Zamacona (der Essayist) bei Fuentes ein Held des neuen Epos, des Romans. Diese Entwicklung, die von Herbert Marcuse für Deutschland in Der deutsche Künstlerroman (1922) beschrieben wurde, hat sich zum Teil in Lateinamerika wiederholt: alle erwähnten Romane sind klassische Beispiele dafür. Das Streben nach der literarischen Vollkommenheit dieser Romanschriftsteller bestimmt eine solide Tradition, die noch heute vorherrscht.
Die Großstädte Lateinamerikas im Spiegel der modernen Literatur
6.
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Fazit
Aufgrund der vorgestellten Romane können wir darauf schließen, daß der Prozeß der Verstädterung Lateinamerikas sehr vielfältig ist. Die Romane dokumentieren diesen komplexen Prozeß, so daß sie eine der wichtigsten Quellen für die Untersuchung der hiermit verbundenen sozialen und persönlichen Konflikte darstellen. Die 30er bis 60er Jahre können als Epoche des Wachstums der Massengesellschaft definiert werden, die aber noch nicht abgeschlossen ist. In diesem Zeitraum konzentrieren sich die bedeutendsten Probleme, die für Lateinamerika auch heute noch eine zentrale Rolle spielen. In der Tat ist die literarische Entwicklung Lateinamerikas noch nicht ausgeschöpft. Eine Reihe neuer Romane wie Palinuro de México (1977) von Fernando del Paso, El desfile de amor (1984) von Sergio Pitol, Respiración artificial (1980) von Ricardo Piglia oder Los felinos de Canciller (1987) von Rafael Humberto Moreno-Durán, um nur einige Beispiele zu nennen, sind ein Zeichen dieser Weiterentwicklung. Gleichzeitig sind sie ein Vorbild für die kritische Auseinandersetzung mit den Autoren des sogenannten literarischen Booms.
D.
Literatur im Land der drei Kulturen: Einblicke in die mexikanische Literatur
Cerstin Bauer-Funke
1.
Einleitung
Diese Einblicke in die Literatur Mexikos möchten den Einstieg in die Beschäftigung mit der Literatur dieses Landes erleichtern und zu einer weiteren Entdeckung der literarischen Vielfalt Mexikos anregen. Der Aufbau dieses Überblicks spiegelt vier literarhistorische Phasen wider, die jeweils in enger Beziehung zur Geschichte des Landes stehen: Die vorspanische Literatur, die Literatur der Conquista, die Literatur des Kolonialreiches Nueva España (Neu-Spanien) und die Literatur des unabhängigen Mexiko. Dabei sind die einzelnen Kapitel wiederum nach politischen und literarischen Gesichtspunkten untergliedert. Um einen Eindruck von der literarischen Produktion in Mexiko zu vermitteln, werden jeweils einige wichtige Autoren und ihre Hauptwerke vorgestellt. Leider liegen bislang nur wenige Texte in deutscher Übersetzung vor. Diejenigen Werke, die in deutscher Übersetzung zugänglich sind, werden durch den deutschen Titel in Klammern hinter dem Originaltitel angezeigt.1
2.
Die vorspanische Literatur in Mexiko
a)
Geschichtlicher Hintergrund
Bis zur Ankunft der Spanier im Jahre 1517 gab es auf dem Gebiet des heutigen Mexikos zahlreiche Hochkulturen, deren Bauwerke und Kunstschätze zu einem Teil noch heute zu besichtigen sind: Die Anlage in Teoti1
Die folgenden Ausführungen basieren im wesentlichen auf den Werken, die in der Bibliographie am Ende des Beitrags „Von Mexiko bis Feuerland: Eine Reise durch die Geschichte der lateinamerikanischen Literatur" angegeben sind (Vgl. S. 27 f. in diesem Buch).
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Cerstin Bauer-Funke
huacän, die der Maya in Tikal, Palenque, Chichen-Itza und Tulum, die der Azteken in Tenochtitlän und Tlatelolco und auch die der Zapoteken und Mixteken in Monte Alban und Mitla - um nur einige zu nennen - zeugen von den präkolumbianischen Hochkulturen, die in verschiedenen Phasen und an den genannten Orten in Mexiko entstanden. Während die Tempelanlagen und Bauwerke noch recht gut erhalten sind oder rekonstruiert wurden, gibt es allerdings kaum erhaltene literarische Zeugnisse. b)
Die Literatur der Azteken und Maya
Der Zusammenprall der zwei Kulturen und die Zerstörung der vorspanischen Kultur durch die Eroberer sind nur zwei der Gründe für die äußerst geringe Überlieferung vorspanischer literarischer Zeugnisse. Ein weiterer wesentlicher Grund dafür ist auch darin zu sehen, daß die literarischen Schöpfungen mündlich überliefert und deshalb zum größten Teil nicht schriftlich festgehalten wurden. Im folgenden beschränkt sich die Darstellung literarischer Zeugnisse auf die Literatur der Azteken und der Maya, die aber zugleich schon den Einfluß der spanischen Präsenz zeigen, da viele Texte erst nach der Eroberung von Missionaren oder Spanisch sprechenden Indios schriftlich festgehalten wurden. Zudem ist unbekannt, wie diese Übertragung der mündlichen Überlieferung in schriftliche Fixierung durchgeführt wurde. (1)
Die Literatur der Azteken
Die verschiedenen Indiogruppen, die das zentrale Hochland bewohnten, schufen dort u.a. die Orte Teotihuacän, die kulturelle 'Hauptstadt' Mittelamerikas, die etwa im 8. Jahrhundert unterging, und die Zentren in Tula, Cholula und Xochimilco. 1325 schließlich gründeten die Azteken nach einer langen Wanderung das religiöse, administrative und kulturelle Zentrum Tenochtitlän auf einer Insel im Texcoco-See, also dort, wo sich heute Mexiko-Stadt befindet. Eine schriftliche Überlieferung literarischer Texte erfolgte mit der Fixierung in sogenannten Codices (indianische Bilderhandschriften aus der Zeit vor und nach der Conquista) in Form von Bildern, die als Gedankenstütze dienten, um die mündlich vorgetragenen Geschichten zu erhalten. Es ergaben sich jedoch Probleme bei der Suche nach diesen Bilderhandschriften, denn zum einen konnten viele Texte nicht überliefert werden, weil die Schriftrollen zerstört wurden. Zum anderen fand die schriftliche Fixierung der Erzählungen erst zur Zeit der Conquista statt
Literatur im Land der drei Kulturen: Einblicke in die mexikanische Literatur
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und bestand darin, das Erzählte in Spanisch niederzuschreiben (so die Arbeit der gebildeten Ordensbrüder wie Sahagún, Motolinia, Olmos). Erhalten ist ein reicher Schatz an lyrischen Werken, die in Sammlungen wie z.B. Cantares mexicanos oder Manuscrito de los Señores de la Nueva España überliefert sind. Die Vortragsweise dieser Texte muß man sich in Verbindung mit Gesang und Tanz und damit als Werke kollektiven Ausdrucks vorstellen. Die Inhalte sind folgende: • Loblieder auf die Größe der Götter, so beispielsweise Lieder zu Ehren des himmlischen Gottes Huitzilopochtli oder Coatlicue, der Göttin über Leben und Tod, • Loblieder auf die Heldentaten des Volkes, so z.B. das Poema de Quetzalcoátl, • Werke, die aufgrund ihres subjektiven Charakters in die Nähe unserer Lyrik rücken, so etwa die Gedichte des Dichterkönigs Nezahualcóyotl, der die Flüchtigkeit der Zeit und die Vergänglichkeit irdischer Dinge besingt. Nezahualcóyotls (1402-72) Ruhm beruht aber nicht nur auf seinen Dichtungen, sondern auch auf seiner Regierung als König von Texcoco. 1 Er wurde zum Inbegriff eines aufgeklärten Herrschers, da er einen neuen Gesetzeskodex entwarf, nach Geboten der Menschlichkeit und Gerechtigkeit handelte und zudem ein Gelehrter und ein guter Architekt war, der sein Können durch den Bau eines Deiches und einer Trinkwasserleitung unter Beweis stellte. Überliefert sind ferner Werke, in denen die Indígenas die Geschichte ihres Volkes und auch die ihrer Eroberung durch die Spanier zum Ausdruck bringen. Es handelt sich dabei um traurige Gesänge über den Fall und die Zerstörung Tenochtitláns. Diese Berichte sind in Miguel Léon-Portillas Buch La visión de los vencidos (1959) zusammengestellt. (2)
Die Literatur der Maya
Geographisch läßt sich der Lebensraum der Maya anhand folgender Gebiete umreißen: Die Halbinsel Yucatán und Chiapas in Mexiko, Guatema1
Biographische Hinweise zu Nezahualcóyotl finden sich bei Westphal, Wilfried (1992): Die Azteken. Ihre Geschichte von den Anfangen bis heute, Bergisch Gladbach, S. 210-221.
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Cerstin Bauer-Funke
la, teils auch Honduras, Beiice und El Salvador. Zeitlich ist die Kultur der Maya zwischen ca. 600 v.Chr. bis etwa zum 11. Jahrhundert anzusetzen, wobei die Blütezeit von Tulum etwas später beginnt. Diese reicht von ca. 1200 bis zur Ankunft der Spanier. Bis auf drei Manuskripte, die astronomischen und wahrsagerischen Inhalts sind, fielen alle Texte der Maya dem fanatischen Fray Diego de Landa zum Opfer, der sämtliche Manuskripte verbrennen ließ, die er finden konnte. Die vier nachstehend vorgestellten Werke sind erst nach der Eroberung schriftlich festgehalten worden. Sie geben einen tiefen Einblick in die Religion, die Kultur und den Schöpfungsmythos der Maya. Die Handschriften sind in einer bis heute nicht vollständig entschlüsselten Hieroglyphenschrift abgefaßt, die vom 4. bis 10. Jahrhundert ihren Höhepunkt erlebte. Das Libro del Consejo (dt. Das Buch des Rates), auch Popol Vuh1 genannt, beschreibt den Schöpfungsmythos und die Wanderung der Quiche-Maya. Dieses Werk ist nicht unter dem Einfluß des Christentums verfaßt wie etwa die Bücher des Chilam Balam. Das Popol Vuh wurde mündlich überliefert und zwischen 1544 und 1555 von einem Quiche-Indio in seiner Sprache niedergeschrieben. Es wurde zu Beginn des 18. Jahrhunderts entdeckt und von Fray Francisco Ximenez (1664-1730?) ins Spanische übersetzt, der von der im Werk enthaltenen Schöpfungsgeschichte begeistert war. Das Werk enthält wertvolle historische Daten, mythologische Traditionen sowie Erzählungen von den Wanderungen und der Entwicklung des Maya-Zivilisation. Es berichtet von der Entstehung der Welt und der Erschaffung des Menschen aus Mais und Wasser sowie von den Taten der Brüder Hunahpü und Ixbalanque. Das zweite erhaltene Werk sind die Libros de Chilam Balam, die nach der Eroberung geschrieben wurden und in verschiedenen Varianten je nach Herkunftsort überliefert sind. Der Titel wird auf den Jaguarpriester Chilam Balam zurückgeführt, der kurz vor der Ankunft der Spanier eine neue Religion vorhergesagt hatte. Es finden sich Texte religiösen, geschichtlichen, medizinischen, astrologischen, rituellen und literarischen Inhalts. Ein weiteres Schriftstück heißt Los anales de los Xahil, das Berichte über die Stammesgemeinschaft und juristisches Material bezüglich eines Prozesses über Eigentumsfragen beinhaltet. Und schließlich ist ein Theaterstück mit dem Titel Rabinal Acht (dt. Der Mann 1
Eine deutsche Fassung wurde übertragen von Cordcm, Wolfgang (1962): Das Buch des Rates. Popol Vuh, Schöpfungsmythos und Wanderung der Quiche-Maya, Düsseldorf; Köln.
Literatur im Land der drei Kulturen: Einblicke in die mexikanische Literatur
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von Rabinal oder Der Tod des Gefangenen) erhalten. Es wurde mündlich überliefert und erst 1850 von dem Indio Bartolo Zis in Quiche niedergeschrieben. Behandelt wird der Kampf zweier Männer vom Dorf der Quiche-Indios und von der Gemeinschaft der Rabinal, bis der Quiche unterliegt.
3.
Die Zeit der Conquista (1519 bis 1521) und die Etablierung der Kolonialherrschaft in Nueva España bis zum Beginn der Unabhängigkeitsbewegung 1810
a)
Geschichtlicher Überblick über die Conquista und die Etablierung der spanischen Herrschaft
Am 10. Februar 1519 bricht ein spanischer Eroberungszug unter der Führung von Hernán Cortés nach Mexiko auf, wo die Soldaten am 21. April ankommen und den Ort (Villa Rica de la) Vera Cruz gründen. Gesandte Moctezumas II. bringen Cortés Geschenke aus der Schatzkammer des Königs. Der Aufbruch in Richtung der Hauptstadt Tenochtitlán erfolgt am 16. August. Kurz nachdem Cortés dort angekommen ist, läßt er am 14. November Moctezuma II. gefangennehmen, der am 27. Juni 1520 an den Folgen seiner Verletzungen stirbt. In der „traurigen Nacht" (Noche Triste) des 30. Juni müssen die Spanier aus Tenochtitlán fliehen: Die Hälfte von ihnen fallt oder ertrinkt im See von Texcoco. Doch Cortés gibt nicht auf: Am 26. Mai 1521 beginnt er die Belagerung der Stadt. Hunger, Krankheiten und Durst zwingen die Azteken zur Aufgabe, nachdem der Nachfolger Moctezumas, Cuauhtémoc, gefangen ist. Die Eroberung Tenochtitláns folgt nach einer Belagerung von 75 Tagen. Die Stadt ist zu diesem Zeitpunkt nur noch ein Trümmerhaufen. Cuauthémoc wird gefoltert, damit er das Versteck des Goldschatzes preisgibt, was er aber nicht tut. Im selben Jahr wird Cuauthémoc hingerichtet, weil er angeblich eine Verschwörung anzetteln wollte. Ab 1521 werden auch die Gebiete in südlicher Richtung bis nach Honduras unterworfen. Die Etablierung der spanischen Herrschaft in Nueva España, wie das Vizekönigtum nun heißt, vollzieht sich auf gesellschaftlicher, politischer und kultureller Ebene. Die Unterdrückung und Ausbeutung der Indios für die folgenden drei Jahrhunderte basiert auf dem System der 'encomiendas' (Zuteilung von Indios an Kolonisten zum Zwecke der Tribut- und Dienst-
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Cerstin Bauer-Funke
leistungen sowie - als Gegenleistung - der religiösen Unterweisung). Die Einführung des spanischen Verwaltungs- und Bildungssystems ist ein weiterer Schritt der Inbesitznahme des Landes. Dabei fungiert die spanische Sprache als einheitsstiftende Verbindung. Sie dient auch dazu, den Indigenes den christlichen Glauben aufzudrängen, was wiederum einhergeht mit der Zerstörung der indianischen Kultur. Erst 1539 erhält die Kolonie eine Druckerpresse auf Bitten des Bischofs. Allerdings ist es seit 1531 verboten, „historias y cosas profanas" (gemeint sind Romane) nach Mexiko einzuführen. Trotz des Verbots gelangt die europäische Literatur durch Schmuggel nach Mexiko. Die Leser gehören natürlich der privilegierten Schicht an. Zudem gibt es eine Zensurbehörde, den „Consejo de Indias", der jedes neue Werk vorgelegt werden muß. Das Bildungswesen entsteht in Form von religiösen Schulen, die von den verschiedenen Orden geleitet werden. So gründet der erste Bischof von Mexiko, Juan de Zumárraga, 1536 eine Schule für höhere Bildung, das Colegio de Santa Cruz de Tlatelolco, das Bernadino de Sahagún (s.u.) leitet und das auch der später zu erwähnende A Iva Ixtlilxóchitl besucht. Auch eine Schule für indianische und mestizische Mädchen entsteht, um ihnen Kochen und Nähen beizubringen. 1583 erfolgt die Gründung des berühmten Colegio de San Ildefonso. Das Erziehungswesen ist aber bald durch die Einteilung nach den sozialen Klassen gekennzeichnet (Indios, Mestizen, Kreolen und Spanier). 1551 ordnet König Philipp II. an, eine Universität in NeuSpanien zu errichten. Diese wird 1553 eröffnet und bietet folgende Fächer: Theologie, Studien der Heiligen Schrift, Studium der Gesetze, Künste, Rhethorik und Grammatik; 1582 kommt Medizin hinzu, 1622 Chirurgie und schließlich die Sprachen Náhuatl und Otomi. Wie bereits angedeutet, entsteht ein Kastensystem: die Oberschicht besteht aus den criollos (Kreolen), den in Mexiko geborenen Spaniern, und Spaniern aus dem Mutterland, auch peninsulares oder verächtlich gachupines genannt, welche die weiße Oberschicht bilden. In ihren Händen liegt die gesamte politische Macht, mit der sie von der spanischen Krone ausgestattet sind. Zur Mittelschicht gehören die Mestizen, die aus Verbindungen der Spanier mit Indiofrauen hervorgegangen sind, wegen diskriminierender Gesetze aber keinen Zugang zur weißen Oberschicht haben. Die Unterschicht bilden schließlich die Indios. Die Rolle der Frau ist in der patriarchalischen Gesellschaft vom Ausschluß der Frauen von Politik, Bildung und allen öffentlichen Ämtern geprägt. Nur im Kloster ist Frauen der Zu-
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gang zur Wissenschaft und Literatur möglich, wie es das Beispiel der berühmten Nonne Sor Juana Inés de la Cruz belegt. b) (1)
Die Literatur der Conquista und des Vizekönigtums Die Berichterstattung über die Conquista
Die Chroniken der Conquista sowie die Berichte der spanischen Eroberer und der Geistlichen prägen das Bild, das man sich in Europa von dem neuen Kontinent macht. Das erste Werk dieser Gattung sind die Cartas de relación de la conquista de México (1519-26; dt. Die Eroberung von Mexico durch Hernán Cortés) von Hernán Cortés (1485-1547). In fünf umfangreichen Briefen an den spanischen König Karl V. beschreibt Cortés die Schönheit und die Naturschätze des Landes sowie die Fremdheit der Sitten und Gebräuche der Azteken. Er schildert außerdem seine Siege und Kriegszüge gegen die Indígenas, seine Versuche, seine Taten zu rechtfertigen, seine grausamen Reaktionen auf das Verhalten der Azteken und schließlich die Etablierung der Kolonie. Eine weitere Gruppe von Texten umfaßt Augenzeugenberichte, wie den von Bemal Díaz del Castillo (1496-1584), der Soldat unter Cortés war, an den Feldzügen teilnahm und sich später in Guatemala niederließ. Seine Historia verdadera de la conquista de la Neuva España (vor 1568 verfaßt, 1632 publiziert; dt. Wahrhafte Geschichte der Entdeckung und Eroberung von Mexico) ist ein herausragendes Dokument der Conquista. Eine dritte Gruppe von literarischen Zeugnissen enthält die Berichte der Eroberten. Überliefert sind der Códice Aubín und das Manuscrito de Tlatelolco, die aus der Perspektive der Eroberten die Greueltaten beschreiben, welche die Indígenas erleiden mußten. Später werden diese Texte von den Nachfahren der Eroberten verwendet, um die Geschichte ihres Volkes niederzulegen, so etwa von dem Nachfahren des Nezahualcoyótl, Fernando de Alva Ixtlilxóchitl, der zwischen 1615 und 1650 die Historia chichi meca verfaßt. (2)
Berichte über Kultur und Christianisierung der Indígenas
Bei diesen Werken handelt es sich um Schriften mit teils apologetischem, teils wissenschaftlichem Anspruch. Im Falle von Fray Bartolomé de Las
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Casas (14847-1566), dem Bischof von Chiapas, erweist sich der Bericht zugleich als eine engagierte Parteinahme für die Indios, deren Ausbeutung er in Briefen an Karl V. und den Papst anklagt und deren Einschränkung er durch die „Neuen Gesetze" (Verbot der Indianersklaverei, Gleichstellung von Indios und Spaniern) fordert. In seiner Historias de las Indias und Brevísima relación de la destrucción de las Indias versucht er, sich den Indígenas zu nähern, ihr kulturelles Erbe zu ergründen und offen für ihre Probleme zu sein. Er charakterisiert sie als gütige Menschen, die der Zerstörungswut und der Grausamkeit der Spanier ausgeliefert sind. Er wird Verteidiger und Beschützer der Indios gegen Ungerechtigkeiten und die Verletzung der Menschenrechte. Mit enzyklopädischem Anspruch verfaßt Fray Bernardino de Sahagún (1499/1500-1590) seine Historia General de las cosas de Nueva España (1547-82; dt. Wahrsagerei, Himmelskunde und Kalender der alten Azteken), in der er das vorhandene historische Material zu einer Art Enzyklopädie über die Kultur der Azteken verarbeitet. (3)
Die Merkmale der Literatur im 16., 17. und 18. Jahrhundert
Insgesamt kann - pauschalierend - gesagt werden, daß die mexikanische Literatur bis zur Unabhängigkeit des Landes stark an die spanische Literatur und die europäischen Stilrichtungen angelehnt ist. Die Autoren kommen nahezu alle aus der spanischstämmigen Oberschicht und unternehmen Studienreisen nach Spanien, leben dort einige Jahre und verfassen dort auch ihrer Werke. Die Auswahl einiger wichtiger Autoren soll einen Eindruck von der literarischen Tätigkeit in der Kolonie Neu-Spanien geben. Bernardo de Balbuena (1561/62-1627) wird als erster 'richtiger' amerikanischer Dichter bezeichnet. In Spanien geboren, kommt er als Zweijähriger nach Neuspanien, studiert Theologie in Guadalajara und der Hauptstadt und empfängt schließlich die Priesterweihe. In dieser Zeit schreibt er sein Epos Grandeza mexicana (pub. 1604), reist danach wieder nach Spanien, wo er den Doktor der Philosophie erhält. Schließlich wird er 1619 Bischof von Puerto Rico. 1627 überfallen holländische Korsaren San Juan de Puerto Rico und zerstören u.a. die kostbare Bibliothek Balbuenas. Von diesem Ereignis schwer getroffen, stirbt er noch im selben Jahr. Sein Buch Grandeza mexicana ist ein beschreibendes Gedicht in Briefform, das von Mexikos To-
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pographie, Institutionen, Flora, Gesellschaft, Sitten und Regierungsform berichtet. Der Sohn eines Conquistador, der Lyriker Francisco de Terrazas (15307-1605) gilt als erster in Mexiko geborener Dichter. Er schreibt zahlreiche Sonette und ist in Spanien zu seiner Zeit überaus bekannt. Arias de Villalobos (1568-ca.l625), als Kind nach Mexiko gelangt, fuhrt dort den Gongorismus1 ein. Eine besondere Stellung nimmt das Theater im kolonialen Mexiko ein. Das Gefallen, das die Indígenas an Theateraufführungen finden, nutzen viele Missionare, um ihnen die christliche Lehre in Form von Theaterstücken näherzubringen, wie in dem Stück Representación del fin del mundo (1533). Des weiteren finden Aufführungen des Jesuitentheaters in Latein oder Spanisch statt. Und schließlich werden auf den kolonialen Bühnen spanische Importe aufgeführt, da der Erfolg des spanischen Theaters des Siglo de Oro (Goldenes Zeitalter) so durchschlagend ist. Der größte mexikanische Theaterautor ist Juan Ruiz de Alarcón y Mendoza (1581 in Mexiko geboren, 1639 in Spanien gestorben), der jedoch nach seinem Studium nach Spanien geht und dort neben Lope de Vega und Tirso de Molina zu den größten Autoren des Siglo de Oro zählt und daher eher im Rahmen spanischer Literaturgeschichten behandelt wird. Auch im 17. Jahrhundert bleibt der europäische Einfluß prägend. Gedichtet wird für kirchliche Feiern und für Feierlichkeiten für den Vizekönig und hochstehende Persönlichkeiten. Einen Großteil der in dieser Zeit entstehenden Literatur macht die Predigtliteratur aus. Die bekanntesten Autoren des 17. Jahrhunderts seien im folgenden kurz vorgestellt: Der in Navarra geborene Bischof von Puebla, Juan de Palafox y Mendoza (1600-59), ist - wie schon Bartolomé de las Casas - ein großer Verteidiger und Beschützer der Indios, wie in seinem Bericht De la naturaleza del indio (1671) ersichtlich ist. Er schreibt ferner historische, soziologische und poetische Werke. Carlos de Sigüenza y Góngora (1645-1700), Verwandter des großen spanischen Dichters Luis de Góngora, verfaßt bedeutende mathematische und historische Werke und den Triunfo Parténico (1683), eine Zusammenstellung derjenigen Werke verschiedener Dichter, die bei literarischen Wettbewerben eingereicht wurden. 1
Bezeichnung für den spanischen Stil des Barock; nach dem Dichter Luis de Göngora benannt.
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Die leuchtendste Dichterpersönlichkeit des 17. Jahrhunderts ist Sor Juana Inés de La Cruz (eigentlich Juana de Asbaje y Ramírez de Santillana, 1651-95), auch die 'zehnte Muse1 genannt. Sie ist unehelicher Geburt, worunter sie zeitlebens leidet. Schon sehr früh fällt ihre außerordentliche Begabung auf: Im Alter von drei Jahren kann sie lesen und schreiben, später lernt sie in zwanzig Stunden Latein. Statt mit Gleichaltrigen zu spielen, liest sie lieber in der Bibliothek. Bald gilt sie am Hofe als Wunderkind. 1669 tritt sie in das Kloster San Jerónimo ein. Dies bedeutet für sie, endlich genügend Zeit für ihr Studium zu haben und zugleich eine Ehe zu umgehen, denn sie befürchtet, die Erfüllung ihrer ehelichen Pflichten würde das Studium zu kurz kommen lassen. Sor Juana gewinnt zwei Preise in Wettbewerben des Triunfo Parténico (s.o.). Sogar in Madrid erscheinen bald ihre Werke. Mit ihrer Schrift Crisis de un sermón, auch Carta Athenagórica (1690) genannt, einer kritischen Auseinandersetzung mit einer Predigt des Jesuitenpaters Antonio de Vieira, beginnt ihre langanhaltende Auseinandersetzung mit dem Bischof von Puebla. Dieser bringt unter dem Pseudonym Sor Filotea seine Mißbilligung des Wissensdurstes von Sor Juana und insbesondere ihre kritische Auseinandersetzung mit der genannten Predigt zum Ausdruck. 1691 verfaßt sie ihre Respuesta a Sor Filotea als Antwort auf die Schrift des Bischofs von Puebla. Dieser Text ist das erste Dokument Lateinamerikas, in dem eine Frau mutig das Recht der Frauen auf Beteiligung an Lehre und Forschung einfordert. Darüber hinaus schreibt Sor Juana Theaterstücke (drei Autos sacramentales, d.h. kurze, religiös-moralische Schauspiele, und zwei Komödien), viele Sonette, den bekannten Primero Sueño (ersch. 1692, dt. Die Welt im Traum) und über 250 'villancicos' (volkstümliche Kirchenlieder). Wegen ihrer Auseinandersetzungen mit dem Bischof wird sie 1694 zur Aufgabe ihrer schriftstellerischen und wissenschaftlichen Tätigkeiten gezwungen. Von diesem Schlag schwer getroffen, stirbt sie ein Jahr später an der Pest. Octavio Paz, der berühmte mexikanische Lyriker des 20. Jahrhunderts, widmet der außergewöhnlichen Nonne das Buch Sor Juana Inés de la Cruz o Las trampas de la fe (1982; dt. Sor Juana Inés de la Cruz oder Die Fallstricke des Glaubens). Seit der Herrschaft der Bourbonen in Spanien wird die starke Stellung der Jesuiten auch in Mexiko heftig angegriffen. Die Auseinandersetzungen führen 1767 schließlich zur Ausweisung der Jesuiten, die nach Italien emigrieren. Dies verstärkt den Groll, den die Kreolen und Mestizen bereits ge-
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gen die Spanier und deren Privilegien hegen: Erste Stellungnahmen tauchen auf, in denen man sich als Mexikaner von den Spaniern abzusetzen beginnt. Die nach Italien vertriebenen Jesuiten verfassen Werke - die man durchaus als Exilliteratur bezeichnen kann - , in denen sie sich mit der Geschichte Mexikos und der Geschichte der Jesuiten in Mexiko befassen. In der mexikanischen Literatur folgt man auch in diesem Jahrhundert den aus Europa kommenden Stilrichtungen. Autoren, die im Geiste der Aufklärung schreiben, sind u.a. Francisco Xavier Clavijero (1731-87), der bedeutendste Neu-Spanische Geschichtsschreiber des 18. Jahrhunderts, und José Antonio de Alzate (1737-99), ein Wissenschaftler mit enzyklopädischem Anspruch, der sich mit Geschichtsschreibung, Meteorologie, Astronomie, Botanik, Saatgutindustrie und Bergbau befaßt. Er veröffentlicht seine wissenschaftlichen Arbeiten in der ersten Monatszeitung Mexikos, der Gaceta de México. Diese erscheint ab 1722, wechselt 1734 den Titel und heißt von da an Mercurio de México. Ferner publiziert Alzate seine Schriften in dem von ihm 1768 gegründeten Diario Literario de México.
4.
Vom Beginn der Unabhänigkeitskriege bis zum Ende der Republik 1876
a)
Politische Entwicklungen und historische Daten
Das Gedankengut der europäischen Aufklärung war zweifellos Wegbereiter der politischen Unabhängigkeitsbewegung in Mexiko. Hinzu kommt die Unzufriedenheit der criollos (in Mexiko geborene Spanier) mit den hohen Steuerabgaben und der Verwaltungspraxis des Mutterlandes Spanien. Die Konzentration des Landbesitzes und der Privilegien in Händen der Spanier und Kreolen wiederum schürt den Unmut der benachteiligten Masse. Die von Spanien anerkannte Unabhängigkeit der USA von England wirkt ebenfalls anstiftend. Sozialrevolutionäres und liberales Ideengut beeinflußten zwar auch die criollos, jedoch wollen sie ihre Macht zugunsten der Indios nicht abgeben. In dieser Situation entstehen Verschwörerzirkel in den Städten. Am 16. September 1810 - der 16. September ist zum Gedenken an Hidalgo ein Nationalfeiertag in Mexiko - hält der sich für die unterdrückten Bauern einsetzende Gemeindepfarrer von Dolores, Miguel Hidalgo, eine aufrührerische Predigt, die mit einem Aufruf zur Revolte gegen die ungerechte und korrupte Regierung und die gachupines (eingewanderte
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Spanier) schließt. Eine aufständische Bauernarmee unter Hidalgo zieht daraufhin durchs Land, bis Hidalgo 1811 ermordet und die Armee zerschlagen wird. 1815 wird der Nachfolger Hidalgos, Morelos, ebenfalls mit seiner Schar der Aufständischen besiegt und getötet. Um liberale Fortschrittsgedanken, die in der neuen spanischen Verfassung formuliert waren, in Mexiko zu verhindern, streben die criollos nun erst recht die Unabhängigkeit an. Agustín Iturbide, der zehn Jahre lang auf der spanischen Seite gegen die Aufständischen gekämpft hatte, marschiert in MexikoStadt ein. Im sogenannten Plan von Iguala (1821) wird die neue Verfassung des Staates Mexiko verabschiedet, in der die folgenden Eckpunkte verankert sind: die Gleichberechtigung aller weißen Mexikaner, die Staatskirche ist weiterhin die römisch-katholische Kirche, Mexiko ist von da an eine konstitutionelle Monarchie. Erst 1824, nach der Abdankung des 1822 zum Kaiser gekrönten Iturbide, wird Mexiko eine bundesstaatliche Republik, deren Unabhängigkeit von Spanien aber erst 1836 anerkannt wird. Das nun unabhängige Mexiko verliert 1848 Texas, Kalifornien, NeuMexico, Arizona, Nevada und Utah nach einem verlorenen Krieg an die USA. 1858-61 kommt es zum Bürgerkrieg zwischen den Konservativen/Klerikalen und den Liberalen/Föderalisten, den die Liberalen unter Führung des zapotekischen Indio Benito Juárez gewinnen. Nachdem sich dieser 1861 geweigert hatte, die Tilgungszahlungen der Auslandsschulden an England und Frankreich zu leisten, landen französische Truppen in Veracruz. Juárez wird daraufhin 1863 vertrieben. Der Bruder des österreichischen Kaisers Franz Joseph, der Habsburger Maximilian, wird als Marionettenkaiser von Napoleon III. nach Mexiko entsandt und regiert in dem unter französischem Einfluß stehenden Mexiko. Maximilian fuhrt die Liberalisierungen seiner Vorgänger fort. Bei Aufständen wird er aber 1867 gefangengenommen und erschossen. Juárez kehrt nach Mexiko-Stadt zurück, so daß Mexiko wieder eine Republik wird, bis der Militärputsch von Porfirio Díaz 1876 erneut deren Ende bedeutet. b)
Die Literatur im 19. Jahrhundert
Die Strömung der Romantik entspricht ganz der politischen Umbruchphase. Neben der politischen wird auch die literarische Unabhängigkeit gefordert. Als bedeutendster Schriftsteller gilt José Joaquín Fernández de Li-
Literatur im Land der drei Kulturen: Einblicke in die mexikanische Literatur
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zardi (1776-1827). Er arbeitet als Journalist, Theaterautor, Lyriker, Romanschriftsteller und Übersetzer. Mit seinem Werk El Periquillo Sarniento (1816, letzter Band posthum 1830) begründet er den lateinamerikanischen Roman. Dieser steht in der Tradition des spanischen Schelmenromans und zeigt den Lebensweg Periquillos, der wegen seines schwachen Charakters stets schlechtem Einfluß leicht erliegt: Nach einem erfolglosen Studium an der Universität verpraßt er die Erbschaft seines Vaters, landet wegen seines liederlichen Lebenswandels im Gefängnis und wird nur durch seine zwei Ehefrauen, die er im Laufe seines Lebens trifft, zu einem gesitteten Lebensstil gefuhrt. Intention des Romans ist die Kritik an den herrschenden Sitten und das Lächerlichmachen des rohen Lasters. Daher finden sich lehrhafte Passagen über Moral, Hygiene, Erziehung und Bildung sowie die Verbesserung des Loses der Negersklaven in Mexiko. Der Roman bietet eine realistische Beschreibung der mexikanischen Gesellschaftsschichten. Weitere Werke des Autors sind die Romane Noches tristes y día alegre (1818), La Quijotita y su prima (1819), Vida y hechos del famoso caballero don Catrín de la Fachenda (1832). Zu erwähnen sind ebenfalls der Aufständische, Journalist und Staatsmann Andrés de Quintana Roo (1787-1851) und Ignacio Manuel Altamirano (1834-93), der ein Stipendium für Indio-Kinder erhält und an den Reformkriegen teilnimmt und gegen die französische Invasion eintritt. Altamirano publiziert verschiedene Zeitungen, darunter El correo de México (1867) und El Renaciminento (1869). 1870 wird er Leiter des 1851-52 gegründeten Liceo Hidalgo, einer Art Dichterzirkel, in dem Diskussionen über literarische Themen gefuhrt und Bemühungen um eine nationale Literatur angestrengt werden. Der romantische Roman präsentiert sich in verschiedenen Ausprägungen. Als Vertreter eines volkstümlichen Romans ist der Journalist, Erzähler und Romancier Manuel Payno (1810-94) zu nennen, dessen Los bandidos de Río Frío (verfaßt 1888-91) als Hauptwerk des romantischen Romans gilt. Inhalt des Buches ist die Beschreibung der verschiedenen sozialen Schichten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Eine weitere Schattierung ist der historische Roman (in Anlehnung an Sue und Dumas) unter anderem von Justo Sierra O'Reilly (1814-61) und Juan Díaz Covarrubias (183759), dessen El diablo en México (1858) einen Protest gegen die Aristokra-
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tie formuliert. Der soziale Roman schließlich wird von dem oben genannten Ignacio M. Altamirano vertreten. Von großer Bedeutung ist in diesem Jahrhundert auch die Entstehung der Presse. Die erste Tageszeitung Mexikos ist der Diario de México (1 SOSIT), der eine Mittelstellung zwischen kolonialem und unabhängigem Journalismus darstellt. Diese von Jacobo de Villaurrntia und Carlos Maria Bustamente gegründete Zeitung bietet Informationen über Religion, Verwaltung, Regierung, Dekrete der Regierung sowie Artikel über Kunst und Wissenschaft, Literatur und ökonomische Hinweise. Erst in der Verfassung von Cádiz vom 30.9.1812 wird jedoch die Pressefreiheit festgelegt. Sofort entsteht eine wahre Flut von Zeitungen unterschiedlicher politischer Gesinnungen. Als Beispiel seien die Presseorgane der Revolutionäre genannt: El Despertador Americano, in Guadalajara von Francisco Severo Maldonado geleitet; El Ilustrador Nacional in Zacatecas von José María Cos, El Semanario Patriótico und El Ilustrador Americano von Andrés Quintana Roo (alle um 1812 gegründet). Die Seite der Revolutionäre findet zudem Unterstützung bei Fray Servando Teresa de Mier (1763-1827), der die erste Geschichte des Aufstandes, die Historia de la revolución de Nueva España, antiguamente Anáhuac, verfaßt. Eine besondere Erwähnung muß auch der bereits als Begründer des lateinamerikanischen Romans angesprochene José Joaquín Fernández de Lizardi finden, der ebenfalls unverzüglich auf die Pressefreiheit reagiert und die Wochenzeitung El Pensador Mexicano (1812-14) gründet. Der Autor benennt und attackiert die Unzulänglichkeiten der Gesellschaft, da sein Ziel die politische und soziale Reform ist: Autoritätsmißbrauch, Privilegierung aufgrund sozialer Klassenzugehörigkeit, schlechte Verteilung des Reichtums sowie unzulängliche Schulbildung sind seine Hauptkritikpunkte. Als Nachfolgepublikationen erscheinen weitere, allerdings kurzlebige Zeitschriften von Lizardi: Las sombras de Heráclito y Democrito (1815), Alacena de Frioleras (1815-16), Caxoncito de la Alacena (1815-16), El Conductor Eléctrico (1820) und schließlich El correo semanario (1826-27). In der Reformperiode ist die wichtigste Zeitung El Siglo XIX, dessen Redakteur ab 1849 Francisco Zarco ist, der 1856 Mitglied des Unions-Kongresses und später Außenminister wird.
Literatur im Land der drei Kulturen: Einblicke in die mexikanische Literatur
5.
Der Porfirismus von 1876 bis 1910
a)
Historische Daten
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Die rund drei Jahrzehnte dauernde Präsidialdiktatur von Porfirio Diaz, der 1876 durch einen Militärputsch an die Macht kam, ist äußerlich eine Periode scheinbarer Ruhe, denn Revoltierende und Streikende werden vom Militär kurzerhand niedergeschossen. Landreformen werden zuungunsten der Indios durchgeführt: Der Landbesitz ist zu über 90% in den Händen von nur rund 300 Familien. Die von Diaz geschaffene Landpolizei, die rurales, geht schonungslos gegen die Indios vor. Sich zur Wehr setzende Indios gründen eine zapatistische Bauernbewegung im Bundesstaat Morelos; Berg- und Textilarbeiter beginnen, sich gegen die Ausbeutung aufzulehnen. Um 1880 setzt ein Umbruch in ganz Lateinamerika ein: Beginn der Industrialisierung Mexikos und ein starkes Wirtschaftswachstum, zum großen Teil mit ausländischen Investoren (einhergehend mit der Ausbeutung der Industriearbeiter), Ausbau bzw. Modernisierung der Infrastruktur, sprunghaftes Anwachsen der Bevölkerung, Modernisierung der Städte nach französischem Vorbild und vor allem ein Wandel der sozialen Strukturen. Am 20. November 1910 ruft der Gegenkandidat für die bevorstehenden Präsidentenwahlen, Francisco Madero, zur Revolution auf. Volksmassen folgen diesem Aufruf und setzen sich in Bewegung. Díaz flüchtet nach Paris, und Madero wird zum Präsidenten gewählt. b)
Literatur: Strömungen des Realismus und des Naturalismus sowie der Umbruch um 1880
Nach der romantischen Epoche, die mit der Regierung Juárez' zuende geht, setzen nun die Literaturströmungen des Realismus und des Naturalismus nach französischem Vorbild ein. Die wichtigsten Vertreter sind Ignacio Manuel Altamirano, Emilio Rabasa, José López Portillo y Rojas, Heriberte Frías und Federico Gamboa. In engem Zusammenhang mit der um 1880 einsetzenden Modernisierungsphase der Wirtschaft entsteht die Literatur der Modernität oder auch Modernismo genannt, welche die erste eigenständige literarische Bewegung Lateinamerikas darstellt und in etwa mit der französischen Décadence, dem Parnasse und dem Symbolismus verglichen werden kann. Der Beginn dieser Strömung ist mit dem 1888 erscheinenden Buch Azul des aus Nica-
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ragua stammenden Rubén Darío festzusetzen. Die Hauptvertreter des Modernismo sind Justo Sierra, Manuel Gutiérrez Nájera, der als erster moderner Dichter Mexikos gilt, Salvador Díaz Mirón, Manuel José Othon, Luis G. Urbina (Theaterchronist), Amado Nervo, Enrique González Martínez, José Juan Tablada. Zeitschriften der Bewegung des Modernismo sind die Revista Azul, die von Gutiérrez Nájera 1894 gegründet wird, und die 1903 von Bernardo Couto Castillo gegründete Revista Moderna. Ziel dieser Literatur ist es, dem sozialen und wirtschaftlichen Modernisierungsprozeß auch auf dem Gebiet der Literatur Rechnung zu tragen. Der Modernismo, dessen Ausläufer bis in die 30er Jahre gehen, wird von den Avantgardebewegungen der 20er und 30er Jahre abgelöst, die wiederum von Europa nach Mexiko gelangten.
6.
Das 20. Jahrhundert: Von der Revolution (1910-17) bis heute
a)
Historische Daten
Die mexikanische Revolution von 1910 bis 1917 ist eine Protestbewegung gegen die Diktatur Porfirio Díaz' und die Privilegien der Landbesitzer, des Klerus und der Industriellen. Unter der Führung des ehemaligen Zureiters Emiliano Zapata fordern die Bauern mit ihrem Schlachtruf „Tierra y Libertad" im Bundesstaat Morelos eine Neuverteilung des Landes. In den Jahren vom Ausbruch der Revolution bis zur Erstellung einer Verfassung 1917 kommt es zu einer Reihe von Putschen und Attentaten. Einem solchen fallt Zapata, welcher der Verfassung mißtraut und der seine Landverteilungen nicht rückgängig machen will, 1919 zum Opfer: Er wird in einen Hinterhalt gelockt und erschossen. Das gleiche Schicksal ereilt 1923 Pancho Villa, dem Aufständischen aus dem Norden. Die während der Revolutionsjahre entmachtete katholische Kirche versucht zwischen 1926 und 1929, sich gegen die antiklerikale Politik des Präsidenten Obregón und seines Nachfolgers Calles aufzulehnen. Dieser Cristero-Aufstand wird erbarmungslos niedergemetzelt. In der Regierungszeit des Präsidenten Lázaro Cárdenas von 1934 bis 1940 werden die Forderungen der Revolutionäre nach einer Landreform endlich eingelöst. Ferner verstaatlicht Präsident Lázaro Cárdenas die ausländischen Ölgesellschaften, so daß Mexiko die volle Souveränität über seine Rohstoffe erlangt. Die 40er und 50er Jahre stehen im Zeichen einer Öff-
Literatur im Land der drei Kulturen: Einblicke in die mexikanische Literatur
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nung und Internationalisierung Mexikos, das versucht, den Anschluß an die Industrieländer zu finden. Innenpolitische Spannungen gipfeln Ende der 60er Jahre in der Studentenund Jugendrevolte. Das wiederholte Eingreifen der Polizei zur Unterdrückung der Bewegung hat zum Ziel, Unruhen vor den bevorstehenden Olympischen Spielen zu verhindern. Dennoch kommt es am 2. Oktober 1968 zur „Nacht von Tlatelolco" (Noche de Tlatelolco): Eine Versammlung von ca. 10.000 Menschen auf dem „Platz der drei Kulturen" (Plaza de las Tres Culturas), zwischen den Ruinen der aztekischen Hauptstadt, in deren Verlauf viele Teilnehmer vom Militär niedergeschossen werden. Ab Ende der 70er Jahre entwickelt Mexiko sich zum viertgrößten Erdölproduzenten der Welt. Beim Fall der Erdölpreise Anfang der 80er Jahre zeigen sich aber gravierende ökonomische Probleme: Eine zunehmende Auslandsverschuldung, eine anwachsende Inflationsrate und eine steigende Arbeitslosenzahl fuhren im Jahre 1982 zur schweren Wirtschaftskrise. Unter dem von 1988 bis 1994 regierenden Präsidenten Carlos Sahnas de Gortari werden einige Liberalisierungsversuche unternommen: • Vorschlag, die 'ejidos' (Gemeindeländerein bzw. Landstücke, die den Bauern zur Bewirtschaftung vergeben werden) zu privatisieren, • Verbesserung der Rechtsprechung, • Versuche, eine freie Marktwirtschaft einzuführen. Dennoch brechen am 1. Januar 1994 Unruhen im Chiapas-Gebiet aus. Die innenpolitische Krise Mexikos verschärft sich in den folgenden Monaten durch die Ermordungen des Präsidentschaftskandidaten Colosio in Tijuana und des Generalsekretärs des herrschenden PRI (Partei der Institutionalisierten Revolution) in Mexiko-Stadt. Auch in wirtschaftlicher Hinsicht bleibt Mexiko stark gebeutelt: Der Kurssturz des Peso im Dezember 1994 war nur der Anfang volkswirtschaftlicher Turbulenzen, die Mexiko seitdem erschüttern. Hinzu kommen die nicht gelösten sozialen Spannungen, die noch immer von Chiapas ausgehen.
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b) (1)
Literarische Bewegungen Die Avantgardebewegungen
Die Avantgardebewegungen in Mexiko, die zeitlich in den 20er und 30er Jahren anzusiedeln sind, stellen eine Vielfalt literarischer und künstlerischer Ausdrucksformen dar, die auch wieder ihren Ursprung in Europa hatten und kurz mit den Begriffen Futurismus und Surrealismus umrissen werden können. Es müssen vor allem die Autoren José Vasconcelos (1882-1959), Antonio Caso (1883-1946), Alfonso Reyes (1889-1959) und Pedro Henríquez Ureña (1884-1946) erwähnt werden, welche die Hauptvertreter des Dichterzirkels Ateneo de la Juventud (Athenäum der Jugend) von 1909 bis 1914 sind. Ihr Ziel ist es, eine kosmopolitische Sicht in Literatur und Kultur durchzusetzen. Damit haben sie zugleich die Grundlage geschaffen für die Kosmopolitisierung der Literatur, die in den 50er Jahren beispielweise von dem Erzähler Juan José Arreóla (s.u.) weitergeführt wird. (2)
Der mexikanische Revolutionsroman und der indigenistische Roman
Die für lange Jahre vorherrschende Gattung der mexikanischen Literatur ist der Revolutionsroman, der zwar nicht revolutionär in Form oder Erzähltechnik ist, dafür aber die Versuche der Autoren darstellt, die Ereignisse der Revolution festzuhalten. Berühmte Autoren von Revolutionsromanen sind Mariano Azuela (1873-1952) mit seinem Roman Los de abajo (1915, dt. Die Rechtlosen) und Martin Luis Guzmán (18871976) mit seinen Romanen El águila y la serpiente ( 1926; dt. Adler und Schlange), La sombra del caudillo (1929) und Memorias de Pancho Villa (1938-40). In den 40er Jahren wandeln sich die Revolutionsromane insofern, als nun die Revolution an sich entmythisiert wird, so etwa in El luto humano (1943) von José Revueltas (1914-76) und Al filo del agua (1947) von Agustín Yáñez (1904-80). Die Entstehung einer 'novela indigenista' (indigenistischer Roman) ist auf die Aufwertung der Indígenas und ihrer Kunst und Folklore zurückzufuhren. Die Frage nach der kulturellen Identität, mit den Begriffen 'Mestizaje' und 'Mexicanidad' gefaßt, wird in vielen Schriften diskutiert, so etwa in El laberinto de la soledad (1950; dt. Das Labyrinth der Einsamkeit) von
Literatur im Land der drei Kulturen: Einblicke in die mexikanische Literatur
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Octavio Paz (* 1914). Gleichzeitig kann man von der Entstehung einer indigenistischen Strömung sprechen, die auch auf dem Gebiet der Soziologie, Anthropologie und Psychologie zu spüren ist. Es entwickelt sich eine 'novela indigenista' (erstes Beispiel ist der anonyme Roman Jicoténactl von 1826). Gregorio López y Fuentes (1897-1966) zeigt in El Indio (1935; dt. Der Indio), dem ersten indigenistischen Roman nach der Revolution, recht pessimistisch und desillusionierend, wie der Indio schulisch, in der Kirche und im Berufsleben stets am Rande bzw. auf der Strecke bleibt. Mauricio Magdaleno (1906-86) thematisiert in El resplandor (1937) die Ausbeutung der Indios in einem Dorf in Mezquital. (3)
Die Literatur bis 1968
Neben der indigenistischen Literatur, zu der vor allem auch Rosario Castellanos (1925-74) mit ihren Werken Balún-Canán (1957, dt. Die neun Wächter), Oficio de tinieblas (1962) und ihrer Erzählungensammlung Ciudad Real (1960) zu zählen ist, setzt sich in den 50er Jahren auch die Tradition kosmopolitischer, internationaler Literatur zum Beispiel mit Juan José Arreóla (*1918) und seinen kurzen Erzählungen fort (Confabulario 1952; dt. Confabularium). In diesem Zusammenhang ist auch Juan Rulfo (1918-86), Verfasser des berühmten Romans Pedro Páramo (1955; dt. Pedro Páramo) und der Erzählungensammlung El llanto en llamas (1953; dt. Der Llano in Flammen), zu nennen, da Rulfo die nationalistische Tendenz mit der kosmopolitischen vereint und damit daran beteiligt ist, die Grundlage für den in den 60er Jahren einsetzenden Boom des lateinamerikanischen Romans zu schaffen. Der namhafteste Lyriker dieser kosmopolitischen Ausrichtung der Literatur ist Octavio Paz (* 1914), der sich auch in Essays u.a. mit politischen Themen und der Frage nach der nationalen Identität beschäftigt (s.o.).1 Dieser Perspektive folgt auch Carlos Fuentes (* 1928) in seinen bekannten Romanen La región más transparente (1958; dt. Landschaft in klarem Licht), La muerte de Artemio Cruz (1962; dt. Der Tod des Artemio Cruz), Cambio de piel (1967; dt. Hautwechsel).
1
In deutscher Fassung liegen u.a. folgende Gedichtsammlungen von Octavio Paz vor: Suche nach einer Mitte (1980), Gedichte (1984), In mir der Baum (1990), jeweils erschienen in Frankfurt am Main.
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Die Literatur nach 1968
Die Studentenrevolte und deren Niederschlagung im Oktober 1968 durch das Militär auf dem Platz der Drei Kulturen wird als das Trauma von Tlatelolco bezeichnet, das auch in der Literatur einen radikalen Bruch mit den Schreibweisen und dem Revolutionsmythos vor 1968 nach sich zieht. Literarisch festgehalten ist die Katastrophe von Tlatelolco von Elena Poniatowska (* 1933) in ihrer auf Augenzeugenberichten beruhenden Chronik La noche de Tlatelolco (1971). Elena Poniatowska verarbeitet in ihren Interviews und Berichten die aktuelle Situation der benachteiligten Bevölkerungsschichten wie in Fuerte es el silencio (1980; dt. Stark ist das Schweigen). Im Zusammenhang mit dem Massaker von Tlatelolco ist auch noch einmal José Revueltas zu nennen, der wegen seines politischen Engagements - so auch im Zusammenhang mit der Studentenbewegung - mehrfach verhaftet wurde. Die Entstehung einer von der nordamerikanischen Hippikultur beeinflußten Literatur der jungen Generation bedeutet einen Umbruch und eine Neuorientierung hin zur Wirklichkeit des mexikanischen Alltags. Namhafte Autoren dieser Literatur der 'Contracultura', auch 'Onda' (Welle) genannt, sind José Agustín (* 1944) und Gustavo Sainz (*1940). Vertreter der Literatur nach 1968 sind ferner Carlos Monsiváis (*1938), José Emilio Pacheco (*1939; Morirás lejos 1967; dt. Der ferne Tod), Fernando del Paso (*1935; Palinurio de México 1977; dt. Palinurus von Mexiko) und Sergio Pitol (*1933), um nur einige der prominenten Literaten zu nennen. Die in den 70er Jahren beginnenden Etablierung des Feminismus auch in der mexikanischen Gesellschaft wirkt sich ebenfalls auf die literarische Produktion von Schriftstellerinnen aus. In der Nachfolge von Rosario Castellanos und Elena Poniatowska beschäftigen sich u.a. Elena Garro (*1920), Margo Glantz (*1930), Angeles Mas fretta (*1949; Arráncame la vida 1985; dt. Mexikanischer Tango; Mujeres de ojos grandes 1990, dt. Frauen mit großen Augen) und Carmen Boullosa (*1954; Son vacas somos puercos 1991, dt. Sie sind Kühe, wir sind Schweine) mit Fragen der Identität der Frau.
Literatur im Land der drei Kulturen: Einblicke in die mexikanische Literatur
7.
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Schlußbemerkung
Dieser sicherlich knappe Überblick über die mexikanische Geschichte und Literatur - von der Literatur der Maya und Azteken bis zur zeitgenössischen - konnte die Vielfalt der literarischen Erscheinungen nur andeuten. Ziel des Überblicks ist es daher, dem Leser auf der Grundlage des hier Gebotenen die Beschäftigung mit der mexikanischen Literatur 'schmackhaft' gemacht zu haben und eine weitere, intensivere Auseinandersetzung mit den literarischen Zeugnissen des Landes angeregt zu haben.
E.
Der Arme Vetter Hollywoods - Filme in Mexiko
Hans Gerhold
1.
Einleitung
Bereits acht Monate nach den ersten öffentlichen Film-Vorführungen im Grand Café auf dem Boulevard des Capucines in Paris gelangte der Kinematograph nach Mexiko. Am 14. August 1896 führte Gabriel Veyre, ein von den Brüdern Lumière geschickter Kameramann-Vorführer, in Mexiko Stadt erste Filmbilder vor: zunächst für den Präsidenten Porfiro Díaz und seine Familie, später für Presse und Wissenschaftler, dann für die Öffentlichkeit. Da sowohl der Diktator als auch die mexikanische Gesellschaft jener Zeit außerordentlich an technologischen Neuerungen interessiert waren, und da Paris als die Hauptstadt der Welt galt, bekam Veyre die Erlaubnis, mehr als zwei Dutzend weitere Filme zu drehen, als ersten „Der Präsident reitet zu Pferd durch den Wald von Chapultepec" („El general paseando por el Bosque de Chapultepec"). In den folgenden Jahren kamen mexikanische Kameramänner zu den französischen und amerikanischen Kollegen hinzu. Sie drehten Militärparaden, Kirchen-Einweihungen, Kino-Eröffnungen und andere Attraktionen des Alltags. Die Produktionen beschränkten sich darauf, das soziale und politisch offizielle Leben des Landes wiederzugeben, im Mittelpunkt immer Porfirio Diaz. Jeder Bezug auf Streiks und aufkeimende Arbeitskonflikte wurde unterschlagen. Das Geschäft florierte: Um 1900 existierten in Mexiko Stadt zwanzig Filmtheater, deren Besitzer oft selbst ihre Filme herstellten. Enrique Rosas war der erste, der einen längeren Film drehte: „Die Reise von Porfirio Diaz nach Yucatan" („El viaje de Porfirio Díaz a Yucatán") entstand 1906 und dokumentiert des Diktators Reise in die Provinz. Vom 20. November 1910 an wurde Mexiko von revolutionären Erhebungen und landesweiten Kämpfen, die einen wechselvollen Verlauf nahmen,
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Hans Gerhold
geschüttelt. Mit dem Exil von Díaz und der Machtübernahme durch Francisco I. Madero wurde die Revolution zum fundamentalen Thema und Mittelpunkt der Aufmerksamkeit aller Kameramänner, die im Dienste der verschiedenen Fraktionen wertvolle Zeugnisse über die Ereignisse hinterließen. Das Kino diente jetzt in erster Linie als wichtige Informationsquelle. Hunderte von Kurzfilmen, gedreht von verschiedenen Kameraleuten, dokumentieren etwa den triumphalen Einmarsch Maderos in Mexiko Stadt und den begeisterten Empfang, den das Volk den Revolutionären Emiliano Zapata und Francisco „Pancho" Villa bereitete. Viel von diesem Material, das zwischen 1915 und 1917 entstand, ist verloren, bestehende Anthologien setzen sich aus Fragmenten zusammen: „Erinnerungen eines Mexikaners" („Memorias de un mexicano", 1950) basiert auf mehr als 50.000 Metern Film, die damals Salvador Toscana Barragán über den gesamten Verlauf aufgenommen hatte. Seine Tochter Carmen de Toscano de Moreno hat diese Heldengeschichte der Revolution und die Revolution anhand ihrer Präsidenten fertig montiert.
2.
Das Wachstum einer Industrie
Der erste mexikanische Spielfilm erblickte das Licht der Leinwände, als die Revolution fast vollständig als Kino-Thema aus den Filmtheatern verschwunden war. Um den Rang des ersten streiten sich „1810 oder Die Befreier" (1916) und „Das Licht" („La luz", 1917), letztgenannter eine offensichtliche Imitation des italienischen Films „Die Lichtquelle" mit Pina Menichelli. Die Erklärung liegt beim Publikum, das nach den französischen Filmen die italienischen Produktionen zu bevorzugen begann, dort speziell das „Kino der Diven", jene Art Melodram, mit dem in der Filmgeschichte der Starkult begann. Das Kino nahm sich nach den Kämpfen weltlicher und sentimentaler Probleme an, die von den Schönheiten der Naturlandschaften Mexikos eingerahmt wurden. Zwischen 1917 und 1922 befand sich der mexikanische Film in einer Phase des Wachstums mit durchschnittlich zehn Filmen pro Jahr. Dennoch wurde die Entwicklung einer florierenden nationalen Filmindustrie durch die Vorherrschaft der Import-Waren verhindert. Nach Frankreich und Italien waren es jetzt die USA, deren Filme den Markt beherrschten. Die heimische Produktion versiegte bis zum Ende des Jahrzehnts fast ganz.
Der Arme Vetter Hollywoods - Filme in Mexiko
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Hollywood hatte sich etabliert und 1923 eigene Verleihfirmen im Lande gegründet, deren aggressiver Geschäftspolitik die Mexikaner hilflos ausgeliefert waren. Der größte Teil der mexikanischen Filme ist heute nur aus Berichten bekannt, es scheint sich vor allem um Melodramen gehandelt zu haben. Aus der Durchschnittsproduktion sollen fünf Filme historisch wichtig gewesen sein. Zum einen die 15 Episoden der Abenteuer-Serie „Das graue Auto" („El automóvil gris", 1919), die authentische Geschichte einer Verbrecherbande, die mit dem titelgebenden Auto und in Polizeiuniform ihre Raubzüge begeht. Spekulationen zufolge sollen höchste Regierungsbeamte in ihre Geschäfte verwickelt gewesen sein. Der Film wurde an Originalschauplätzen gedreht und enthielt im Schlußteil als Dokumentarmaterial die Erschießung der Gangster. Zum anderen der Film „Santa caridad" (1918), der das Thema der Prostitution einführte. Die weiteren drei Filme stammen von Miguel Contreras Torres, der mit „El caporal" (1919) Sozialstudien entwarf, mit „El hombre sin patria" (1922) auf die in den USA arbeitenden Mexikaner verwies und mit „Oro, Seda, sangre y sol" (1925) das Stierkampfthema salonfähig machte. Der Tonfilm sah endlich die Möglichkeit der Entwicklung eines nationalen Kinos. Zwar überschwemmten die Amerikaner mit eigens produzierten spanischen Versionen die Länder Lateinamerikas, für die die Einfuhrung des kostspieligen Tonsystems gewaltige finanzielle Probleme brachte, aber die ungenügend synchronisierten Filme stießen auf Ablehnung. Dieses „cinema hispano" mit Schauspielern aus Spanien und Lateinamerika führte zum Weggang renommierter Darsteller wie Ramón Novarro, Dolores del Río oder Lupe Velez nach Hollywood. Von 40 Filmen 1930 sank die Produktion dieser Filme auf einen im Jahre 1940. Da die ersten mexikanischen Tonfilme 1929 noch in Kalifornien entstanden, gilt Antonio Morenos „Santa" (1931) als der erste eigentliche mexikanische Tonfilm: Mit der Verfilmung eines Romans von Federico Gamboa entdeckte das mexikanische Kino nationale Themen und Formen und beherrschte bald den heimischen Markt. Einem einzigen Film 1931 folgten 1933 bereits 21 und 1937 schon 38 Produktionen. Die Konkurenz aus Spanien und Argentinien wurde vom Markt verdrängt, was eine Folge des
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Spanischen Bürgerkriegs war, als man dort wesentlich weniger produzieren konnte. In diesen Jahren und während der Präsidentschaft von General Lázaro Cárdenas (1934-40) etablierten sich die teils bis heute erfolgreichen filmischen Gattungen: das Melodram und die Westernkomödie. Zum Melodram (melodrama lagrimógeno, also: Tränen-Kino) zählten Mutterdramen („Madre querida") und ihr Gegenstück, das Prostituiertendrama („La mujer del puerto"). Die „comedia ranchera" wurde 1936 mit „Allá en el Rancho Grande" (mit dem bekannten Mariachi-Schlager) von Fernando de Fuentes begründet. Mit seinem folkloristischen Touch - meist handelte es sich um turbulente Eifersuchtsgeschichten mit musikalischen Elementen - erobert das Genre schnell den lateinamerikanischen Markt. Gabriel Figueroa, der berühmteste Kameramann Mexikos, erhielt 1937 auf dem Filmfestival von Venedig für „Allá en el Rancho Grande" den Preis für die beste Fotographie: Start einer Weltkarriere. Die dreißiger Jahre waren die Geburtsjahre der Filmkritik, des ersten Filmclubs, der ersten Kinemathek und der ersten Filmgewerkschaft: Die 1934 gegründete UTECM (Unión de los Trabajadores Estudios Cinematográficos Mexicanos - Verband der Arbeiter der mexikanischen Filmstudios) entwickelte sich zu einem Syndikat, das Filmhistoriker für die spätere Erstarrung des mexikanischen Films mitverantwortlich machen.1 Zur beherrschenden Gestalt der dreißiger Jahre wurde Fernando de Fuentes, der außer als Begründer der „Rancho"-Komödien den ersten großen Spielfilm über die mexikanische Revolution („El compadre Mendoza", 1933) drehte und die erste 'Superproduktion' des Landes mit „Vamonos con Pancho Villa" (1935), beides Filme, deren differenzierte Behandlung des Stoffes, seiner sozialen Hintergründe und der vielen Machtwechsel einzigartig bleibt, wo andere Filme das Ereignis bis hin zur Kostümklamotte verfälschten. Bemerkenswert für jene Jahre sind auch Arbeiten, die Ausländer in Mexiko realisierten. Sergej M. Eisenstein drehte 1931 sein nie vollendetes Werk „¡Qué Viva México!". Sein Aufenthalt im Lande hinterläßt Spuren. Fred Zinnemann und Emilio Gómez Muriel schufen 1
Vgl. Schumann, Peter B. (Hrsg /1982): Handbuch des lateinamerikanischen Films, Frankfurt am Main, S. 83 ff.
Der Arme Vetter Hollywoods - Filme in Mexiko
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den Klassiker „Redes" („Netze"), dessen leidenschaftliches Engagement für das Schicksal armer Fischer samt der lyrischen Fotographie des Kameramannes Paul Strand großen Einfluß auf mexikanische Filmemacher ausübte. Der Markt war jedoch durch die Melodramen und Komödien bald gesättigt. Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges gab der entstehenden mexikanischen Filmindustrie einen unerwarteten Impuls. Das „Goldene Zeitalter" brach an. Die vierziger Jahre waren eine Epoche des ökonomischen Überflusses, der Eroberung der Märkte in Zentral- und Lateinamerika, dazu eine Phase der künstlerischen Anerkennung und Auszeichnungen auch in Europa.
3.
Das „Goldene Zeitalter"
Das Kino wurde aus mehreren Gründen zu einem der Hauptindustriezweige des Landes: Mexiko war durch den Krieg begünstigt, denn es war der einzige spanischsprachige Produzent, der, weil er mit den USA liiert war, Nachlaß beim Kauf von Geräten und Maschinen, Unterstützung bei der Produktion und technische Beratung durch Fachkräfte erhielt. Mexikanische Produzenten waren nicht von der Rohmaterialknappheit betroffen. Da gleichzeitig eine ausländische Konkurrenz (aus Europa) praktisch nicht vorhanden war, gelang es dem mexikanischen Film, den gesamten Markt des spanisch-sprachigen Amerika zu beherrschen. Die USA sahen in Mexiko einen natürlichen Verbündeten gegen Hitler-Deutschland und sie investierten in die Produktion, um die argentinischen Tango-Filme zurückzudrängen, die ein ernsthafter Gegner auf dem Markt geworden waren. Die mexikanische Ware erschien als Waffe gegen die Tango-Expansion, der man auch durch Rohstoff-Boykott gegen die anderen südamerikanischen Länder Einhalt gebot. Der große wirtschaftliche Erfolg des mexikanischen Kinos dieser Jahre führte zu Produktionszahlen von seit 1943 durchschnittlich 70 Filmen pro Jahr, ab 1949 sogar über 100 Filmen jährlich. Auf der anderen Seite wurde Mexiko technisch und ökonomisch von den USA abhängig, man imitierte amerikanische Erfolgsmodelle und konnte eine Nivellierung der Produktion nicht verhindern. Zunächst jedoch konnten kostspieligere Filme ge-
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dreht werden (mit längerer Drehzeit), Regisseuren, Darstellern und Technikern wurden höhere Gagen gezahlt, es bildete sich ein spezifisch mexikanisches Star-System heraus. Zu den Stars gehörten Dolores del Río, Maria Félix, Pedro Armendáriz, Mario Moreno, genannt Cantinflas (eine Art mexikanischer Chaplin) und die Schauspieler-Sänger Jorge Negrete und Pedro Infante, der nach seinem plötzlichen Tod bei einem Flugzeugunglück ein Mythos wurde. Unter den neuen Regisseuren dieser Epoche ragte der Regisseur und Autor Emilio Fernández, ein mexikanischer Indianer heraus, der mit dem ständigen Stab von Kameramann Gabriel Figueroa, Drehbuchautor Mauricio Magdaleno und den Schauspielern Dolores del Río, Maria Félix und Pedro Armendáriz arbeitete. „El Indio", wie er genannt wurde, gewann 1946 mit dem Film „Maria Candelaria" auf dem Filmfestival in Cannes die „Goldene Palme", zog seitdem mit seinen Filmen die internationale Aufmerksamkeit auf sich und gewann eine Reihe weiterer Preise. „Maria Candelaria" schilderte die Armut der Bauern und die Doppelmoral von Dorfbewohnern, läßt aber keinen Zweifel daran, daß „El Indio" das wahre Mexiko auf dem Lande sah und die Indianer als die echten Mexikaner. Von 1943 bis 1953 drehte Fernández zwanzig Filme, darunter „Enamorada" („Die Geliebte"), „Rio Escondido", „Salón México" („Bezahlte Nächte") und den auch in Deutschland bekannten Film „La perla" („Die Perle", 1947), der nach einer Novelle des Nobelpreisträgers John Steinbeck entstand, der selbst das Drehbuch fur den mit zweieinhalb Millionen Dollar Produktionskosten und unbegrenzter Drehzeit ungewöhnlich teueren Film schrieb. „La Perla", 1947 in Venedig ausgezeichnet, erzählt teils von der Unterdrückung der Indios, teils von den Veränderungen, die der Fund einer Perle in einem Dorf auslöst und ist mit seiner an der Malerei orientierten Fotographie (Figueroa) ein ästhetisches Meisterwerk. Während den späteren Filmen Fernández' Formalismus vorgeworfen wurde („Wenn der Regisseur stirbt, wird er zum Fotographen"), und noch während er als der ungekrönte König der mexikanischen Kinematographie galt, erschien 1946 ein Konkurrent, der einen Anspruch an der Spitze geltend machte. Der spanische Surrealist und Avantgardist Luis Buftuel (1900-83), der seit 1932 keinen eigenen Film mehr realisiert hatte, sondern
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sich in Paris und New York mit Produktions- und Synchronisationsaufgaben über Wasser gehalten hatte, ließ sich im Juni in Mexiko Stadt nieder.
4.
Exkurs: Luis Bufiuel
Luis Bufiuel, einer der bedeutendsten Filmautoren der Geschichte, dessen erste Filme „Un chien andalou" und „L'âge d'or" 1928 und 1930 als gezielte Provokationen gedacht und an ein intellektuelles Elite-Publikum gerichtet waren, hatte zwar 1932 den Dokumentarfilm „Las Hurdes/Terre sans pain" gedreht, aber noch keine Möglichkeit gehabt, ein breiteres Publikum zu erreichen. Trotz der Einschränkungen, die ihm das kommerzorientierte mexikanische Produktionssystem mit seinen Kompromißforderungen hinsichtlich kulturellem Niveau, Stars und Drehzeiten auferlegte, gelangen ihm zwischen 1947 und 1962 einundzwanzig Spielfilme, von denen einige bis heute Klassiker von Tabuzertrümmerung, bitterer Sozialkritik und beißenden Schwarzhumors geworden sind. Bufiuel, „das Auge des Jahrhunderts", begann mit zwei Melodramen und errang mit dem 1950 entstanden „Los Olvidados" („Die Vergessenen") einen weltweiten Triumph (u. a. „Goldene Palme" in Cannes 1951) und die wiedererlangte künstlerische Anerkennung. „Los Olvidados" zeigte in bislang nie gesehener Naturalistik das Elend in den Slums von Mexiko Stadt, die Gier, Kriminalität und gleichzeitig die Träume, Hoffhungen und Lebensfreuden der Jugendlichen im täglichen Überlebenskampf, schnitt zwischen die tragische Geschichte surrealistische Einsprengsel und schloß mit einer vieldeutigen Traumsequenz. In späteren Filmen wie „Der Weg, der zum Himmel fuhrt" (1951) begleitete er humorvoll einen Bus auf einer Fahrt durch den Dschungel, inszenierte in „El Bruto - Der Starke" (1952, mit Pedro Armendâriz) ein Melodrama im Arbeitermilieu, porträtierte in „El" (1953) eine paranoiden Puritaner, beleuchtete in „El rio y la muerte" (1954) eine Familienfehde zwischen zwei Dörfern, mokierte sich in „Ensayo de un crimen" („Das verbrecherische Leben des Archibaldo de la Cruz", 1955) über Mordwahnvorstellungen und die sexuelle Pervertierung des Bürgertums, hinterfragte die christliche Idee der Caritas in „Nazarin" (1958), der Geschichte eines Armenpriesters und seiner Odyssee und, in seinem vorletzten mexikanischen
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Film, „El ángel exterminador" („Der Würgeengel", 1962), stellte er am Beispiel einer in einer Villa eingeschlossenen vornehmen Gesellschaft anhand einer Parabel auf die Situation des modernen Menschen, speziell des Großbürgertums, die Gesetze der Logik in Frage. Beinahe alle Filme Buñuels, eines der einflußreichsten Regisseure des Jahrhunderts, sind Meisterwerke der Filmkunst, eingeschlossen die Filme seiner letzten Jahre bis 1977, die in Frankreich und Spanien entstanden. Buñuel formulierte 1953 in einem Vortrag vor Studenten der Universität UNAM in Mexiko Stadt sein Credo. Er sprach von zwei Arten, das Filmmaterial zu behandeln, die einander bereichern. Einerseits sei der Film ein nächtlicher Ausflug in die Gefilde des Unbewußten, bedeute er die Öffnung eines wunderbaren Fensters, um dem Menschen die Welt der Poesie zu erschließen. Hier herrsche das Geheimnis, ein unerläßliches Element eines jeden Kunstwerks. Doch da André Breton zufolge das Phantastische nicht als etwas Gesondertes existiere, sei das Phantastische das Reale. Der Film habe dem Zuschauer eine integrale Vision der Realität zu vermitteln. Tue er dies, müsse er das Gefühl von Ruhe und Selbstzufriedenheit stören. Hier liege der zweite Zugang zur Materie des Films: Der Blick auf die uns umgebende Welt und das Bild der gesellschaftlichen Verhältnisse müsse sich der konventionellen Interpretation der Wirklichkeit entgegenstellen. Ziel des Regisseurs müsse es sein, den Optimismus der Bourgeoisie zu zerstören und den Zweifel der Zuschauer in die Ewigkeit der bestehenden Ordnung zu aktivieren. 1
5.
Hinter geschlossenen Türen
Nach dem Krieg eroberten Hollywood und Europa die lateinamerikanischen Märkte zurück. Zwar waren 1944 die Gewerkschaft der Arbeitnehmer der Filmindustrie (STIC) und 1945 die Gewerkschaft der Arbeitnehmer der Filmproduktion (STPC) entstanden. Doch die Standesorganisationen, die eng mit der Industrie und der Regierung verfilzt waren, praktizierten eine Politik hinter verschlossenen Türen. Ohne die Mitgliedschaft in einer der beiden Verbände konnte niemand als Regisseur oder Dienstbote der
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Vgl. Toeplitz, Jerzy (1991): Geschichte des Films. Band 5: 1945-1953. Berlin, S. 487.
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Studios arbeiten. Zwischen 1945 und 1958 wurden nur 14 Regisseure neu zugelassen. Das mexikanische Kino erlebte eine paradoxe Situation: Zwar entstanden von 1951 bis 1960 insgesamt 1.052 Filme, doch diese quantitative Expansion mit einer riesigen Produktion sah nur wenige herausragende Filme. Die Massierung wurde möglich durch das System der Fließbandproduktion: der Herstellungsprozeß wurde standardisiert, die Drehzeit auf zwei bis drei Wochen verkürzt, die Kosten auf durchschnittlich 50.000 Dollar pro Film reduziert. Das mexikanische Kino, unfähig gegen die den Verleih kontrollierenden ausländischen Investoren zu konkurrieren, verlor Zuschauer der mittleren und höheren Schichten und behielt das Publikum mit dem niedrigsten kulturellen Niveau: einen „gefesselten Zuschauer", der nicht gegen die Qualitätsmängel protestierte. Die mageren Jahre begannen. Ende 1953 wurde Adolfo Ruiz Cortines Präsident, unterstützte die Großkapitalisten und zeigte sich reserviert gegenüber Filmproduzenten mit volkstümlichem Anstrich. Bereits 1951 war die Filmbank, eine Art Filmfbrderungsanstalt gegründet worden, 1954 drei staatliche Verleihzentralen. Der Staat kontrollierte damit große Teile der Produktion und den gesamten Verleih mexikanischer Filme. 1960 schließlich wurden die beiden größten Kinoketten des Landes verstaatlicht und hemmten so, verbunden mit der strengen moralischen und politischen Zensur, die Entstehung unabhängiger Filme. Trotz eines Gesetzes von 1952, das der heimatlichen Produktion 50 Prozent Vorfuhrzeit in den Kinos garantierte, sorgten das Fließbandsystem und die Kredite der Filmbank, die das persönliche Risiko sozusagen vergesellschafteten, dafür, daß am Markt vorbei produziert wurde. Sieht man von Buñuel und Fernández ab, sind nur wenige Werke jener Jahre bemerkenswert. Zu ihnen zählen „Raíces" (1953, von Benito Alazraki) über die Indio-Problematik, „Espaidas mojadas" (1955, von Alejandro Galindo), über die mexikanischen Arbeiter in den USA, und „Torero" (1956, von Carlos Veloso), über den Stierkampf. Zwei dieser Filme entstanden außerhalb der Industrie. Die Krise spitzte sich durch das Aufkommen des Fernsehens (seit Mitte 1950) zu. Man versuchte es mit der Einfuhrung von Farbe, Breitwandtechnik, Cinemascope, Relieftechnik, 3-D, doch all diese Versuche hatten, wie in anderen Ländern, keinen Erfolg. Die Gewerkschaftspolitik der verschlossenen Türen, die einen Neuaufbau des techni-
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sehen Stabes verhinderte, erschwerte zusätzlich, die Krise mit jungen Leuten und neuen Ideen anzugehen.
6.
Versuche der Erneuerung
Seit den 60er Jahren arbeitete eine neue Generation von Filmautoren, die an ihrem Beruf als Ausdrucksform und Realitätszeugnis interessiert waren. Diese Cinéasten waren von der französischen Nouvelle Vague und anderen Bewegungen in Europa beeinflußt, ein Prozeß, der in Mexiko zur Gründung einer Kritikergruppe führte, die sich um die Zeitschrift „Nuevo Cine" scharte. Im Jahre 1963 begann das „Centro Universitario de Estudios Cinematográficos", die Filmhochschule der „Universidad Nacional", Filme von Studenten und Dozenten zu produzieren. Zwischen 1965 und 1967 fanden zwei Wettbewerbe des experimentellen Films statt. Die Filmgewerkschaft STPC hatte angesichts des desolaten Zustands und ihrer hoffnungslosen Überalterung ihre hermetisch abgeriegelte Zunft geöffnet. 18 Regisseure erhielten ihre erste Chance. Der mexikanische Regisseur Manuel Michel, der an dem Wettbewerb teilgenommen hatte, bezeichnete diese Entwicklung als „Kreuzzug für die Erneuerung des mexikanischen Kinos". Einige neue, private Produzenten, die das neue Kino unterstützten, erhielten staatliche Hilfe. Die neuen Filme wurden zum Signal für ein Etappe, in deren Verlauf die erstarrten Gewerkschaftsregeln durchbrochen wurden. So konnten innerhalb von sieben Jahren mehr als 40 Regisseure debütieren, von den sich allerdings die meisten in die Filmindustrie einordneten und innerhalb des Systems Karrieren versuchten.1 In diesen Jahren entstanden unter anderem die Filme „La fórmula secreta" („Die Geheimformel", von Rubén Gómez), der sich mit dem Identitätsverlust der Mexikaner beschäftigte, Filme über die Probleme Heranwachsender in Mexiko Stadt und zwei Filme nach Vorlagen des Autors Gabriel García Márquez: „En este pueblo no hay ladrones" („In diesem Dorf gibt es keine Diebe", von Alberto Isaac, 1964) und „Tiempo de morir" („Zeit
1
Vgl. Schumann (Hrsg./1982), S. 87.
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zu sterben", von Arturo Ripstein, 1965), in der Form eines ungewöhnlichen Western. Arturo Ripstein, Sohn eines der bekanntesten mexikanischen Filmproduzenten, Alfredo Ripstein, hatte das Glück, dieses Spielfilmdebüt mit 21 Jahren zu realisieren und zu einem Zeitpunkt, als auch García Márquez noch lange nicht weltberühmt war. Ripstein produzierte, schrieb und drehte bis heute rund zwanzig Spielfilme und einige Kurzfilme. Ihm war 1989 auf dem Filmfest in München eine Werkschau gewidmet. Ripsteins Themen kreisen um die Wiederholung des Schicksals, die Unmöglichkeit, dem zu entkommen, des Umgangs mit Göttern oder dämonischen Mächten, abgeschlossenen Welten, der Liebe, des Spiels, des Glücks und vor allem des Doppelgängers. Die Filme Ripsteins, formal teils als Melodramen, teils als Sozialstudien angelegt, spiegeln, da er relativ kontinuierlich arbeiten konnte, knapp dreißig Jahre mexikanische Filmgeschichte. Von „El castillo de la pureza" („Die Festung der Reinheit", 1972, über einen Mann, der seine Familie gefangen hält, und das fast zwanzig Jahre) über „El santo oficio" („Die Heilige Inquisition", 1973, über die Verfolgung der Juden durch die Inquisition im Mexiko des 16. Jahrhunderts) bis zu „El imperio de la fortuna" („Das Reich des Glücks", 1986, eine multiperspektivische Erzählung über dramatische Ereignisse in einem Dorf) und „Mentiras piadosas" („Fromme Lügen", 1989, über Schicksale in der Altstadt von Mexiko Stadt) hat Ripstein stilistisch verschiedene Filmformen ausprobiert und sich ständig mit formalen Fragen auseinandergesetzt, wobei politische, soziale und kulturelle Anliegen eher eine verborgene zweite Ebene der Werke bilden.1 Das Jahr 1968 bedeutete einen tiefen Einschnitt in die politische Entwicklung Mexikos. Nach der gewaltsamen Unterdrückung der Studentenrevolten - kurz vor den Olympischen Spielen hatte die Regierung hunderte von demonstrierenden Studenten auf dem Platz der Vier Kulturen in der Hauptstadt zusammenschießen lassen - wurden die Filmfestivals wieder verboten. Das Massaker hinterließ im Bewußtsein der Mexikaner einen tie-
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Vgl. Internatiortale Münchner Filmwochen (Hrsg./1989): Arturo Ripstein - Filmemacher aus Mexico, München, S. 7 ff.
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fen Schock. Zwei Filme („El grito" und „Aquí México"), die das Ereignis behandelten, waren jahrelang verboten. In den siebziger Jahren begann mit der Präsidentschaft von Luis Echeverría, der sein Amt am 1. Dezember 1970 antrat, eine neue Phase der Filmpolitik. Der mexikanische Staat griff direkt in die Filmproduktion ein und förderte in großem Ausmaß. Rodolfo Echeverría, Bruder des Präsidenten und ehemaliger Schauspieler, übernahm die Leitung der Nationalen Filmbank und verstärkte den staatlichen Einfluß auf Produktion, Verleih und Kinos. 1971 begann man in staatlichen Studios zwar noch mit nur fünf Prozent der produzierten Filme, doch 1975 betrug der Anteil schon 53 Prozent. Eine Folge dieser Politik: Spekulanten wurden vom Markt vertrieben. Eine neue Regisseurgeneration betrat die Bühne: Neben den genannten Ripstein und Isaac etwa Jaime Humberto Hermosillo, Felipe Cazals, Jorge Forts, José Estrada oder Paul Leduc. Leduc, der vorher unabhängig gearbeitet hatte, drehte zwei der wichtigsten Filme der 70er Jahre. 1972 entstand „Reed: México insurgente" („Reed: Mexiko in Aufruhr"). Leduc läßt die mexikanische Revolution aus der Sicht des amerikanischen Journalisten John Reed (der auch die Oktoberrevolution in Rußland dokumentiert hatte) in einem kurzen Abschnitt erklären und konzentriert sich auf das Verhältnis von Politikern und Militärs sowie die Bewußtseinsbildung Reeds, der zum Mitkämpfer wird. Unterschwellig kommentierte Leduc damit das Mexiko seiner Zeit. Mit „Etnocidio" (1976) griff Leduc die Zerstörung der Identität, Kultur und des Lebens der Indios vom Stamme der Otomi auf: ein Fall von Völkermord.
Filmplakat: „Reed: México insurgente" von Paul Leduc
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m mm mmwi * * * *
PREMIO "GEORGES SADOUL", FRANCIA PREMIO DEL PUBLICO, PESARO, ITALIA. ARIEL DE ORO A LA MEJOR PELICULA, MEXICO ARIEL DE PLATA, MEJOR DIRECCION, MEXICO
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Rückschritte
Der Regierungswechsel 1976 zu José Lopez Portillo bedeutete einen starken Rückschritt. Der neue Präsident leitete die Reprivatisierung der staatlichen Studios ein und entzog der Filmbank die Fördermittel. Seine Schwester übernahm das „Sekretariat für Radio, Fernsehen und Kinematographie" und verkündete ihr Programm eines „sauberen" Kinos ohne Erotik, Gewalt und soziale Kritik. Regisseure und Studioleiter der staatlichen Studios wurden verhaftet, weil man ihnen Veruntreuung von Geldern vorwarf, aber alle mußten wieder freigelassen werden, weil man niemandem etwas nachweisen konnte. Die Filmproduktion stieg von 38 Filmen 1976 auf 81 im Jahre 1981, aber bis auf wenige Ausnahmen („Naufragio", 1978, von Jaime Humberto Hermosillo\ „La bandere rota", 1979, von Gabriel Retes; „Anadrusa", 1978, von Ariel Zunigä) entstanden keine bemerkenswerten Filme. Die alten Produzenten übernahmen wieder die Geschäfte. Das mexikanische Filmschaffen wurde wieder von Korruption und Spekulation beherrscht. Dazu tritt ein Faktor, der in der veränderten Medienlandschaft der beginnenden 80er Jahre eine wichtigen Einschnitt darstellte: Der Fernsehgigant Televisa, für den zeitweise auch Arturo Ripstein arbeitete, beherrschte als Medienkonzern mit den Telenovelas den Markt und produzierte mehr als die Hälfte der Jahresproduktion von Kinospielfilmen. Am 24. März 1982 zerstörte ein Brand die Cineteca Nacional, die größte Lateinamerikas, und vernichtete die umfassendste Filmsammlung des Landes. Mit dieser Katastrophe wurde in den Ruinen der Kinemathek die katastrophale Filmpolitik des Landes symbolisch. In den letzten Jahren lag der Schwerpunkt der jährlich etwa zwischen 80 und 110 Filmen schwankenden Produktion bei anspruchslosen Genrefilmen und Sexfilmen. Die seit 1983 tätige Administration schuf das Mexikanische Filminstitut (Incine), das sich in bescheidenem Maße als Ko-Produzent betätigte und gründete eine Fonds zur Förderung des Qualitätsfilms. Die neue Regierung unter Präsident Carlos Sahnas de Gortari (seit 1. Dezember 1988) behielt diese Entscheidungen bei, scheint aber entschlossen zu ein, sich noch stärker aus dem Filmgeschäft zurückzuziehen. Immerhin haben die staatlichen
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Fördermaßnahmen der letzten Jahre einige bemerkenswerte Filme hervorgebracht.1 Jaime Humberto Hermosillo, wie Ripstein 1942 geboren, eine Art „enfant terrible" des mexikanischen Films, drehte 1989 mit „Intimidades en un cuarto de baño" („Intimitäten in einem Badezimmer") ein Experiment: In einer einzigen Einstellung aus der starren Perspektive eines Badezimmerspiegels beschreibt er den Tagesablauf einer Familie und spiegelt mit diesem Gruppenporträt aus der Bourgeoisie den Mittelstand des Landes. Der Zuschauer als Voyeur wird gleichzeitig zum distanzierten Zeugen und muß viele Zusammenhänge in seiner Phantasie erfassen. „Pueblo de Madera" („Das Dorf in der Sierra", 1990) von Juan Antonio de la Riva beschreibt die Bedingungen von Arbeit und Leben der Bewohner im waldreichen Gebiet um Durango, eine abgelegene Region, die von einem großen Sägewerk abhängig ist. Die liebevolle Annäherung an die einfachen Menschen und die ruhigen Bilder von schöner Klarheit machen daraus fast einen Heimatfilm. „Lola" („Eine Frau namens Lola", 1989, von Maria Novaro) erhielt auf der Berlinale 1991 den OCIC-Preis. Der Debütfilm beobachtet das Schicksal der Staßenhändlerinnen in Mexiko Stadt. Lola muß als eine von ihnen mit ihrer kleinen Tochter einen Weg finden, da sie von ihrem Freund, der in den Norden in die Fremde gegangen ist, verlassen worden ist. Das teils schwungvolle Porträt der jungen Frau ist keine düstere Sozialstudie, auch wenn es vor dem Hintergrund der vom Erdbeben erschütterten Millionenstadt Mexiko von Unsicherheit und Angst handelt. Im Rahmen der 500-Jahrfeiem der Entdeckung Amerikas entstand 1992 die teuerste Produktion des Landes, gefördert vom Instituto Mexicano de Cinematografía und fünfzehn anderen Produktionsfirmen, einschließlich zweier ausländischer Geldgeber: „Cabeza de Vaca" von Nicolás Echevarría. Der auf der Berlinale 1993 gezeigte Film erzählt die Geschichte des Conquistadors Alvar Nuñez Cabeza de Vaca, dessen Schiff auf dem Weg nach Florida von den anderen getrennt wird. Er erleidet mit seinen Soldaten Schiffbruch und wird von Indianern gefangengenommen. In ih1
Vgl. ARD (Hrsg./1992): Spielfilm ARD 1992, Frankfurt am Main, S. 35.
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rem Dorf wird er einer Reihe von bizarren Begegnungen erleben, die ihn in Berührung mit Magie und jener einheimischen Religionsausübung bringen, die er und die Spanier ausgezogen waren zu erobern. Nach der Durchquerung einer Wüste stößt er wieder auf die anderen Spanier und setzt seinen Weg zur Kolonisierung von Culiacän in Mexiko fort. Er hat nichts gelernt.
Bild aus „Cabeza de Vaca" von Nicolás Echevarría Unabhängig von seinem Inhalt, den Aussagen über das Quinto Centenario und den teils atemberaubenden Aufnahmen von Landschaften und magischen Kulturen ist „Cabeza de Vaca" bemerkenswert, weil der Film zum ersten Mal in der Geschichte Mexikos alle Teile der Filmindustrie, von Gewerkschaftsangehörigen, nicht gewerkschaftlich organisierten Technikern,
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Schauspielern, der Regierung, privaten Investoren und einer Mannschaft aus alt und jung zusammenbrachte, um einen Qualitätsfilm zu produzieren, der sich auch auf dem Weltmarkt behaupten konnte. Hollywoods armer Vetter, wie Mexiko einmal genannt wurde, kann offensichtlich mehr Kräfte als geahnt mobilisieren.
F.
Literatur und Politik in Lateinamerika. Eine Einführung anhand der Romane von lsabel Allende
Ruth
1.
Damwerth
Die Romane Isabel Allendes und ihr (literatur-)geschichtlicher Kontext
1978 werden in einem Massengrab bei Lonquen in der Provinz Santiago in Chile die Leichen von 15 chilenischen Bauern gefunden, die am 7.10.1973 von der uniformierten Polizei verhaftet wurden und seitdem „verschwunden" waren. Das ist nicht das erstemal, daß Menschenrechtsverletzungen der chilenischen Regierung bekannt werden, aber bestimmte Umstände (die die Besprechung des Buches verdeutlichen wird) fuhren dazu, daß die chilenische Regierung erstmals gezwungen ist, die Existenz von zumindest diesem einen Massengrab öffentlich zuzugeben. Dieses Ereignis, das den damaligen Alltag ihres Landes widerspiegelt, ist fiir die chilenische Schriftstellerin Isabel Allende Anlaß, einen detailgetreuen Roman über das Schicksal der aufgefundenen „desaparecidos" zu schreiben. In Deutschland wird der Roman begeistert aufgenommen. Es sei die "schönste Liebesgeschichte unseres Jahrhunderts", geschrieben mit einer „kraftvollen Sprache" und basierend auf „phantastischer Erzählkunst" lautet die Bewertung der Literaturkritiker und nahezu die einhellige Meinung des Lesespublikums. (Die neueste Aufmachung des suhrkamp-TaschenbuchVerlages, die eine erotische Szene der Buchverfilmung auf dem Cover zeigt, unterstreicht das eindrucksvoll!) Dieses Auseinanderklaffen von Inhalt und Wahrnehmung ist paradigmatisch nahezu für die gesamte deutsche Rezeption lateinamerikanischer Romane. Das Interesse der Leser beschränkt sich fast ausschließlich auf den als typisch lateinamerikanisch empfundenen neuartigen Formenreichtum und stilistische Innovationen, das nicht minder typisch Lateinamerikanische des Inhalts wird hingegen kaum beachtet. Dabei hat gerade die lateinamerikanische Romanliteratur aus zwei Gründen eine wesentliche Funktion als politischer Information-
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sträger und Sprachrohr engagierter, meist oppositioneller Kräfte. Diese Ebene kommt ihr in der deutschen Rezeption oft völlig abhanden. Gerade dieser sonst oft vernachlässigte Zusammenhang von Literatur und Politik soll hier genauer unter die Lupe genommen werden. Wie gesagt sind es in erster Linie zwei Gründe, die dazu fuhren, daß die lateinamerikanische Romanliteratur sehr stark politisch motiviert ist. Eine logische Folge der autoritären Regierungsweisen in Lateinamerika ist die Zensur. In den achtziger Jahren gibt es dort neben Ländern ohne zensurale Beschränkung weiterhin - wie vorher fast überall üblich - Länder mit direkter Zensur. Zusätzlich hat sich aber in vielen Staaten eine indirekte Zensur herausgeblidet, die äußerst schwierig zu überblicken ist. Diese indirekte Zensur kontrolliert nicht einzelne Werke, um sie dann zum Druck freizugeben oder aus dem Verkehr zu ziehen, sondern ergreift viel subtilere Maßnahmen, um willkommene Publikationen zu fördern und oppositionelle Erscheinungen zu verhindern: Einigen Verlagen werden plötzlich Papierzuteilungen gestrichen, verspätet ausgeliefert, Räume gekündigt o.ä.; andere bleiben von diesen Schikanen verschont, erhalten sogar staatliche Subventionen oder werden zu teilweise staatlichen Betrieben umgewandelt. Es läßt sich jedoch als allgemeine Tendenz der siebziger und frühen achtziger Jahre festhalten, das sich mit fortschreitenden Demokratisierungsbestrebungen der staatliche Einfluß auf Publikationsorgane und Verlage verringert. Den umgekehrten Weg geht in dieser Zeit aber Chile. Durch ökonomische und politische Krisen ausgelöst wird die demokratische Verfassung und die damit verbundene Publikationsfreiheit außer Kraft gesetzt. In den achtziger Jahren gehört Chile zu den wenigen Nationen, die die Zensur offen, d.h."legal" ausüben. Zensur fuhrt aber nicht nur dazu, daß Romane verschlüsselter werden o.ä., sondern unter Umständen fuhrt Zensur überhaupt erst zur Entstehung von Romanen, da die staatliche Zensur sich stärker auf Massenmedien konzentriert und Zensurbestimmungen in Romanen leichter umgangen werden können. Wenn sich der erste Grund, warum lateinamerikanische Romanliteratur stärker politische motiviert ist als andere, noch recht schnell darstellen läßt, muß umso weiter für den zweiten Grund ausgeholt werden: Er liegt nämlich in der Geschichte der lateinamerikanischen Romane begründet.
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Diese Entwicklung, aus der auch Isabel Allendes Romane hervorgehen, soll daher hier skizziert werden. a)
Kurze Einführung in die Geschichte des spanischsprachigen lateinamerikanischen Romans
Die Gattung Roman faßt in Lateinamerika erst sehr spät Fuß. Ein Grund dafür ist in einem königlichen Dekret aus dem Jahre 1531 zu sehen, das auf Druck der Kirche erlassen wurde. Dieses Dekret besagte, daß keine Romane oder sonstige Bücher über eitle und profane/weltliche Dinge in die Neue Welt eingeführt werden durften. Man befürchtete, die indigenen Völker könnten nach dem Kontakt mit dieser fiktionalen Literatur auch die Bibel für fiktional halten. So gab es keine Vorbilder und damit auch keine Nachahmer. In Lateinamerika neu erfunden werden „konnte" der Roman zu diesem Zeitpunkt auch nicht, weil es für das Zustandekommen von Romanen eine kulturelle und nationale Identität braucht, (Roman = Selbstreflexion eines Individuums und Reflexion über die Umwelt) die dem „eroberten" und unter kolonialistischem Druck stehenden Lateinamerika bis weit ins 19. Jh. hinein fehlen. Irgendwann läßt sich natürlich das Einführverbot für Romane nicht mehr aufrechterhalten und so schleppt sich das Leben des Romans auf lateinamerikanischen Boden dahin mit Adaptationen und Übersetzungen europäischer Romane, Reisebeschreibungen mit romanhaften Zügen und ähnlichem - bis 1816. In diesem Jahr wird der mexikanische Journalist José Fernandéz de Lizardi, der die Zeitschrift „El pensador mexicano", also „Der mexikanische Denker" gegründet hat, wegen der darin geäußerten liberalen und die Unabhängigkeit Mexikos befürwortenden Ansichten ins Gefängnis gesteckt. Seine Zeitschrift wird fortan zensiert. Um seinen politischen Ideen trotzdem Verbreitung zu verschaffen, wählt Fernandéz de Lizardi den Roman als Sprachrohr. 1816 erscheint El Periquillo Sarmento. Der erste allgemein anerkannte lateinamerikanische Roman entsteht also als Reaktion auf die politischen Bedürfnisse des Augenblicks. Weiter vorangetrieben wird er durch die politische Situation Argentiniens. Hier war die Unabhängigkeitserklärung 1810 in einen langen Bürgerkrieg und anschließend in die Diktatur Juan Manuel Rosas ausgeartet. Unter dieser Diktatur entstehen von der europäischen Romantik beeinflußte Werke, die eine kulturelle und politische Entwicklung im Geiste Frankreichs voran-
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treiben wollen, dabei aber die lateinamerikanische Wirklichkeit miteinbeziehen. Wieder ist es ein politisches Ereignis, das die nächste Epoche einleitet: der Sturz des Diktators Rosas 1852. Das politische Engagement, das sein Ziel erreicht hat, verschwindet weitgehend aus der Romanliteratur, die romantischen Züge werden bestimmend. Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts fordern jedoch die idealisierenden Darstellungen dieser romantischen Epoche realistischere Darstellungen geradezu heraus. Ein extremes Beispiel der neuen Romane ist der mexikanische sincerismo (sincero = ehrlich), der durch die kritische Darstellung der realen sozialen und politischen Verhältnisse den Weg zur mexikanischen Revolution ebnet. Diese engagierten, realistischen Schilderungen rufen nicht nur eine Ablehnung der so beschrieben Welt, sondern auch eine Ablehnung Europas hervor, da man meint, die unbefriedigende äußere gesellschaftlichen Wirklichkeit der europäischen Tradition zu verdanken. Erst jetzt, also um die Jahrhundertwende, kommt es zu einer starken Beschäftigung der lateinamerikanischen Intellektuellen mit dem Eigenleben des südamerikanischen Kontinents. Das heißt, die Werte der indigenen Bevölkerung - seien es indios, gaucohos oder mestizen - werden entdeckt und man besinnt sich auf das magische Formulieren und Denken der Indios. Ab den zwanziger Jahren schlägt sich diese Wende auch im Roman nieder, der die „mundo americano", also zunächst einmal die geographischen und mentalitätsmäßigen Gegebenheiten in den verschiedenen Gegenden darstellt. Erneut wird der spanischamerikanischen Romane durch ein Ereignis in der politischen Welt in eine neue Richtung gelenkt. Die Weltwirtschaftskrise 1929-33 vervollständigt die schon durch die Mexikanische Revolution und den Ersten Weltkrieg eingeleitete Loslösung von Europa und vom europäischen Denken und stürzt Lateinamerika literarisch gesehen in einen Zustand der Orientierungslosigkeit, in dem es sich über seine eigenen Ausrichtung und Identität klar werden muß. Diese Suche bringt naturgemäß die verschiedensten Romanformen hervor. Drei Hauptströmungen kennzeichnen diese Zeit: •
Da ist zunächst der schon in der Entdeckung des mundo americano eingeleitete Rückgriff auf indigene Werte, Mythen, mythische Denk- und Ausdrucksformen (Miguel Angel Asturias (1930): Leyendas de Guatemela). Nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich schlagen sich die mythischen Denk- und Sprachweisen nieder! Hintergrund ist außerdem der Glaube, daß die Besinnung auf die eigenen ursprünglichen Werte
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sowohl das Individuum als auch die Gesellschaft positiv beeinflussen und maßgeblich verändern können. • Die zweite Strömung kommt von Autoren, die durch die Weltwirtschaftskrise und die Werke lateinamerikanischer Theoretiker wie José Carlos Mariàtegui die Bedeutung der ökonomischen Basis begriffen habe und die Situation der indigenen Bevölkerung von dieser Warte aus beschreiben (Alejo Carpentier (1933): Ecué-Yamba-O; Jorge Icaza (1934): Huasipungo). Diese Werke sind in aller Regel sehr konkret und von hoher politischer Brisanz. Diese beiden literarischen Strömungen entstehen in erster Linie in den Ländern mit hohem indigenen Bevölkerungsanteil. • Aus den südlichen, europäisierteren Ländern, kommt eine existentialistische Bewegung hinzu (Emesto Sabato (1948): Der Tunnel); wichtig ist hierbei, daß der literarische Existentialismus nicht zuletzt durch eine starke formale Offenheit gekennzeichnet ist. Ab Mitte dieses Jahrhunderts verbinden sich diese drei Strömungen, also der Rückanschluß an mythisches Denken, die politische Dimension und der Existentialismus und bringen die sogenannte Nueva Novela, den Neuen Roman Lateinamerikas hervor. Letztlich entsteht erst durch diese Synthese der wirklich genuin lateinamerikanische Roman, der in entscheidendem Maße weniger als sein Vorgänger von europäischen Vorbildern geprägt ist. Mit dieser Entwicklung zu Eigenständigkeit gewinnt der lateinamerikanische Roman nicht nur an Bedeutung; er tritt zum Siegeszug um die ganze Welt an. Diesen Erfolg verdankt die Nueva Novela der Verbindung der mythischen Dimension mit sozialkritischer, politischer Realistik und der vom Existentialismus übernommenen formalen Offenheit, dessen geglückte Synthese den mythischen Realismus1 charakterisiert. Dessen Bedeutung für die Romane Lateinamerikas ist bis heute ungebrochen. Die politische Dimension, die eine der drei Hauptströmungen zur Zeit der Identitätssuche kennzeichnete, wird durch die Einbindung dieser Strömung in den mythischen Realismus zu einem festen Bestandteil der neueren spanischamerikanischen Romanliteratur. Die Liste der Autoren, die sich zu ihrem politi1
Ich wähle den Begriff „mythischer Realismus" statt des wesentlich gängigeren „magischer Realismus", um so die konstitutive Bedeutung indianischer Mythen und Denkweisen für den mythischen Realismus zu betonen. Im übrigen ist Magie ursprünglich ein aus der Religionswissenschaft stammender Begriff, während für Literaturkritik und Poetik der Begriff Mythos gilt.
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sehen Engagement bekannt haben, ist fast identisch mit der Liste jener, die heute als Vertreter Lateinamerikas zur Weltliteratur gehören. Hinzu kommt, daß im Laufe der 50/60er Jahre die mythische Komponente schwächer wird, da an deren Kraft, die Gesellschaft oder das Individuum zu verändern nicht mehr so recht geglaubt wird. Die Bedeutung der politischen Dimension wird dadurch noch verstärkt. Insgesamt läßt sich die Romanliteratur seit Mitte des Jahrhunderts bis heute in fünf große thematische Gruppen einteilen:1 (1)
Der indigenistische Roman
Der indigenistische Roman ist konstitutives Element des mythischen Realismus. Zu ihm gehören sowohl Werke, die ausschließlich auf die Erneuerung der indigenistischen Mythen und Traditionen bedacht sind, als auch solche, welche die indigenistischen Denk- und Lebensweisen in Abgrenzung zur kapitalistisch orientierten Welt und die Zerstörung dieser Lebensweise durch den Zusammenprall beider Welten darstellen wollen. Nur in diesen zuletzt angesprochenen Werken werden die Mythen in Bezug zur aktuellen politischen und sozialen Lage gesetzt und mit realpolitischem Engagement verknüpft. • Miguel Angel Asturias (1949): Hombres de Maíz (Maismenschen) • Alejo Carpentier (1953): Los pasos perdidos (Die verlorenen Spuren) • José Miguel Arguedas (1958): Los ríos profundos (Die tiefen Flüsse) • Augusto Roa Bastos (1959): El hijo del hombre (Menschensohn) • Mario Vargas Llosa (1989): El hablador (Der Erzähler) (2)
Historisch-politische Romane
Ebenfalls dem mythischen Realismus zuzurechnen sind die historischpolitischen Romane, die durch eine kritische Darstellung der historischen Entwicklung des jeweiligen spanischamerikanischen Landes das Zustandekommen der aktuellen katastrophalen politischen und sozialen Situation erklären wollen, um damit den Grundstein für eine andersartige Entwicklung, die aus der Vergangenheit gelernt hat, zu legen.
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Die Literaturauswahl berücksichtigt nur Werke, die auch auf deutsch erschienen sind.
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Gabriel Garcia Márquez (1967): Cien años de soledad (Hundert Jahre Einsamkeit) Alejo Carpender (1978): La consagración de la primavera Antonia Skármeta (1982): La insurección (Der Aufstand) Isabel Allende (1984): La casa de los espíritus (Das Geisterhaus) Sozialanalytische Romane
Die sozialanalytischen Romane basieren auf demselben Prinzip wie die historischen Romane; ihr didaktisches Ziel erreichen sie allerdings nicht durch die Ausleuchtung des historischen Hintergrundes sondern der Bevölkerungsstruktur und der mentalitätsmäßigen Gegebenheiten Hispanoamerikas. Dazu bedienen sie sich außer in seltenen Einzelfallen nicht mehr der Mittel des mythischen Realismus. • Mario Vargas Llosa (1962): La ciudad y los perros (Die Stadt und die Hunde) • Carlos Fuentes (1978): La cabeza de la hidra (Der Kopf der Hydra) • Carlos Fuentes (1987): Cristóbal Nonato (Christoph Ungeborn) (4)
Diktatorenromane
Diese Strömung versucht, Platz für neue politische Strukturen durch die Zerstörung des Mythos 'Diktator' zu schaffen. Wie auch schon die sozialanalytischen Romane geht dieser Themenkomplex nicht mehr mit einheitlichen stilistischen Mitteln Hand in Hand. Die Vielschichtigkeit der Problematik scheint eine bunte Vielfalt an stilistischen Methoden geradezu herauszufordern. • Alejo Carpentier (1974): El recurso del método (Staatsräson) • Augusto Roa Bastos (1974): Yo, el supremo (Ich, der Höchste) • Gabriel García Márquez (1975): El otoño del patriarca (Der Herbst der Patriarchen) (5)
Novela testimonio
In dieser oftmals die Grenzen der Fiktion überschreitenden Gruppe, deren Werke mit realen Daten, Namen und Zahlen Zeugen ihrer Epoche sein wollen und sich gegen die Schaffung literarischer Ersatzwelten wehren, ist die realpolitische Dimension und das politische Engagement zur Kernaus-
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sage geworden, die für sich selber spricht und nur noch mit einem knappen fiktionalen Rahmen versehen wird. Diese Entwicklung spiegelt sich auch im Stil, der häufig journalistisch trocken und nüchtern ist. • Miguel Barnet (1966): El cimarrón (Der Cimarrón) • Manlio Argueta (1980): Un día en la vida (Tage des Alptraums) • Isabel Allende (1984): De amor y de sombra (Von Liebe und Schatten) Zu diesen fünf Gruppen kommmt Ende der achtziger Jahre eine weiter, deren politische Bedeutung nicht zu unterschätzen ist: feministische Romane • Gioconda Belli (1988): La mujer habitada (Die bewohnte Frau) • Angeles Mastretta (1986): Arráncame la vida (Mexikanischer Tango)
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Leben und Gesellschaft in Chile im Spiegel der Romane Isabel Allendes
a)
Das Geisterhaus
Die Inhaltsangabe zu diesem 1982 erschienen Roman der Chilenin Isabel Allende1 gibt keine Kurzfassung der Ereignisse wieder (nichts kann eine komplette und lustvolle Lektüre ersetzen!), sondern möchte mit Hinweisen auf die realen politischen und historischen Hintergründe, die im Buch angesprochen werden, eine Hilfestellung für europäische Leser sein.2 Das Buch beschreibt eine Familiengeschichte in Chile, die etwa den Zeitraum von 1900 bis 1975 umfaßt. Wichtig ist immer die Geschichte der
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2
Geboren am 2. August 1942; „Nichte" von Salvador Allende (ihr Vater war ein Cousin von ihm); enge Beziehung zu dem berühmten Onkel. Als Journalistin tätig, schrieb Kolumnen u.ä., zeitweise beim Frauenmagazin Paula angestellt. Nach Militärputsch noch 15 Monate in Chile geblieben, in Kirchenprogrammen geholfen bei Armenspeisung und bei der Unterstützung von Familien Inhaftierter oder „Verschwundener". Von Zeit zu Zeit Verfolgte versteckt und mit einem blumenbemalten Auto zu einer Botschaft gebracht, wo sie über die Mauer klettern konnten (vgl. Albas Tätigkeit nach dem Putsch!). Vom Magazin Paula entlassen, trotzdem als Journalistin weitergearbeitet und die persönlichen Geschichten von Inhaftierten und Gefolterten dokumentiert, bis der Dnick zu groß wurde und sie nach Venezuela exilierte. Die Seitenzahlen in Klammen beziehen sich auf die Ausgabe des suhrkampTaschenbuchVerlages von 1989.
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Personen und die Geschichte des Landes, wobei beide im Laufe des Buches sehr stark miteinander verschmelzen, bis sie am Ende eins sind. Die Kapitel 1-4 umfassen etwa den Zeitraum von 1900-29. Es ist die Zeit der konservativen und liberalen Regierungen, die Anlaß zu ersten Unruhen zwischen beiden Lagern geben. Die Geschichte Chiles spiegelt sich insbesondere in den politischen Ambitionen von del Valle (11), dem Kampf sei-
Bild aus dem Film „Das Geisterhaus", Regie: Bille August
ner Frau um das Frauenwahlrecht (11/82), in den ersten politischen Attentaten (34-42) und im erstmaligen Wahlsieg eines Liberalen, Arturo Alessandri (Präsident von 1920-25), sowie der darauffolgenden Verschwörung der Konservativen, um das Präsidentschaftsamt zurückzuholen (85). Die Sozialgeschichte wird aufgegriffen in der Gegenüberstellung der Bauern von Las Tres Marias und ihres Herrn Esteban Trueba, der sie wie Leibeigene hält. Selbst Ereignisse wie die große Typhusepidemie Ende der 20er
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Jahre (158) oder der erste Weltkrieg (82) finden - nie ausdrücklich sondern immer nur in einem Nebensatz - Aufnahme. Kapitel 5 spielt in den dreißiger Jahren. Langsam sickert (vorangetrieben von Pedro Tercero Garcia mit seinem Lieblingslied von den Hennen, die den Fuchs verjagen) das Bewußtsein der sozialen Ungerechtigkeit in Las Tres Marias ein (181). Der gleiche Prozeß vollzieht sich auch in Teilen der Kirche (180). Salvador Allende taucht auf (198). Das große Erdbeben von 1939 wird aus allen nur denkbaren Perspektiven beschrieben (184 - 190). Kapitel 6-8 decken den Zeitraum von Anfang der vierziger Jahre bis in das folgende Jahrzehnt hinein ab. Die Wahlkämpfe von 1946 (211) und 1952 (223), in dem das erste Mal auch Salvador Allende kandidiert (224), werden beschrieben. Es gibt Verweise auf den Zweiten Weltkrieg (208) und auf das Erscheinen großer Werke von Pablo Neruda (Canto General, 1950;227, Cien Sonetos de Amor, 1958;273). Ein Teil der Rahmenhandlung wird vom neu aufkommenden Existentialismus getragen (251). Bis in die Mitte der sechziger Jahre hinein reichen Kapitel 9 und 10. Kapitel neun ist dabei sicherlich der am wenigsten politisch geprägte Abschnitt des ganzen Werkes. Es beschreibt in erster Linie das Heranwachsen Albas und bildet eine Zäsur, bevor die Familiengeschichte immer stärker von der politischen Geschichte überlagert wird. Diese Entwicklung nimmt in Kapitel 10 ihren Ausgang. Ab S. 355 wird das Anwachsen des sozialistischen Gedankengutes im Spiegelbild der Gespräche und Taten Esteban Truebas dargestellt, gleichzeitig verkörpert seine Person die völlige Erstarrung im konservativen Lager. Mit dem ihm in den Mund gelegten Ausdruck „marxistisches Krebsgeschwür" (356) wird wenige Jahre später der Militärputsch gegen Allende von einem Mitglied der Militärjunta begründet werden. Ab Kapitel 11 überwiegt die Schilderung der politischen Ereignisse, die mythisch-realistische Erzählweise wird von einer außerordentlich realistischen und teilweise fast schon dokumentarisch genauen Schilderung der kommenden Jahre abgelöst. Je realistischer und genauer die Schilderungen werden, desto kürzer werden die Zeiträume, die in einem Kapitel behandelt werden. Das elfte Kapitel umfaßt nur noch die Zeit von 1968 - August 1970. Studentenunruhen kulminieren in der Besetzung der Universität
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(373-379); auch die Arbeiter streiken (373). Die Guerillabewegung nimmt in dieser Zeit ihren gedanklichen Anfang (386); Salvador Allendes ablehnendes Verhältnis zur Idee einer Guerilla wird angesprochen (387 ff.). Kapitel 12 beginnt am 4.9.1970 und endet im September 1973. Der Tag des Wahlsieges Allendes wird in immer weiteren Kreisen durch die Reaktionen des Volkes und der Oligarchie beschrieben (395-399). Auch der folgende Tag, der 5.9.1970, erfahrt eine genauso ausführliche Beschreibung. Angefangen beim Bankensturm und den Hamsterkäufen der aufgeschreckten Oberschicht bis hin zu den Treffen der Konservativen, wird nichts ausgelassen (397-399). In der Folgezeit versucht das Volk sich zu organisieren, mit der neuen Macht umzugehen (403-404); die Konservativen unterminieren die Wirtschaft (404), daraus resultieren Unterversorgung (404-405) und Schwarzmarkt (405); es gibt erste Gedanken der Konservativen an einen Militärputsch (406), die durch die Agrarreform noch angeheizt werden (413-420): vor dem Leser entwickelt sich in „spielerischer", eben romanhafter Form ein sehr treffendes Panorama der chilenischen Gesellschaft nach dem Wahlsieg der sozialistischen Partei. Die Geschichtsschreibung stört dabei zu keiner Zeit den Verlauf der fiktiven Geschichte. So wie der Tag des Wahlsieges Allendes das 12. Kapitel einleitet, beginnt das 13. Kapitel mit dem Tag des Militärputsches, dem 11.9.1973, und reicht bis ca. 1975/6. Der Militärputsch wird minutiös und aus allen Perspektiven dargestellt, nun sogar mit genauer (und historisch richtiger) Angabe der Uhrzeit (426, 428). Ein Teil der letzten Radioansprache des Präsidenten Allende wird in den Roman aufgenommen und unverändert wiedergegeben (427), ein weiteres historische Dokument findet sich mit der Bekanntmachung der Militärjunta auf S. 451. Ausgangsverbot (432), die Bildung der Guerilla (431), die Repressionen (433-435), der wirtschaftliche Aufschwung, keins der historischen Ereignisse wird in diesem Roman ausgelassen. Die Geschichte der Personen ist jetzt die Geschichte des Landes, kennt man ihre Biographien, erübrigt sich die Anschaffung eines Geschichtsbuches. Kapitel 14 umfaßt nur einige Wochen. Einziger Gegenstand ist Terror, Folter, Vergewaltigung und chilenisches KZ, all das muß Alba selber er-
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leiden. Der Leser, der sich im Lauf des Romans längst mit der jungen Frau identifiziert hat, erfahrt dadurch Geschichte noch unmittelbarer. Der Epilog enthält „die Moral von der Geschieht", formuliert von Alba: Haß verlischt, wenn man begreift, wie die Geschichte verlaufen ist (ihr Vergewaltiger war die Frucht einer Vergewaltigung seiner Mutter durch Albas Großvater, Esteban Trueba), die eigene Rache würde die Spirale nur weiterdrehen. Der Epilog wirkt durch die Abruptheit dieser Erkenntnis, nur unwesentlich später als die Vergewaltigung, kitschig, unglaubwürdig und deplaziert. Die Botschaft des Romans aber wird deutlich: Geschichte bewegt sich in Spiralen, in denen bestimmte Versatzstücke immer wiederkehren,bei Isabel Allende sind das z.B. die Vergewaltigung, Namen (Clara, Bianca, Alba bedeutet hell, weiß und klar), auch der erste und letzte Satz des Romans sind identisch. Diese Spirale muß durchbrochen werden. So hat die Autorin in einem Interview einmal gesagt: Wenn meine Bücher als politisch eingestuft werden, hoffe ich, daß die Leser herausfinden werden, daß sie nicht nur aus ideologischen Gründen politisch sind, sondern auch wegen anderer, subtilerer Betrachtungen. Sie sind politisch genau deshalb, weil Alba Trueba aus dem Geisterhaus, die vergewaltigt, gefoltert und verstümmelt wird, in der Lage ist, sich selbst mit dem Leben zu versöhnen. 1 Der erste Roman Allendes verbindet typisch lateinamerikanische Merkmale und Inhalte mit solchen von Massenliteratur. „Typisch" lateinamerikanisch ist, daß der Roman die Realität in einem magischen Spiegel, der nicht eine, sondern mehrere Realitäten zurückwirft, bzw. die Realität prismenhaft bricht, betrachtet. Dadurch wirkt der Roman (zumindest bis Kapitel 11) sehr fiktional. Um diesen Eindruck zu erreichen werden verschiedene Erzählmethoden verwandt; die wichtigsten seien hier beispielhaft dargestellt:
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Allende, Isabel (1989): Writing as an Act of Hope, in: Zinsser, William (1989): Paths of Resistence. The Art and Craft of the political Novel, Boston.
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Die Erwähnung von Barrabas leitet das Buch ein: „Barrabas kam auf dem Seeweg in unsere Familie." Erst auf Seite 27 erfahrt man, daß er ein Hund ist, in der Zwischenzeit schlägt die Phantasie Purzelbäume. Barrabas ist ein ganz normaler Hund, an dem sich der Umgang der Menschen mit der Realität erweist, denn ihm werden (besonders nachdem er tot ist) mythische Dimensionen zugeschrieben. Wiederholt tauchen Figuren wie „El Gran Poeta" auf, Bezeichnung und Schreibweise umhüllen ihn magisch; dahinter verbirgt sich der Dichter Pablo Neruda. Würde der Name einfach so im Text stehen, ginge viel von der magischen Wirkung verloren. Rosa hat grüne Haare, die sehr phantasievoll beschrieben werden. Die nüchterne, in einem kleinen Satz versteckte Erklärung für dieses Phänomen, ihre Mutter hätte ihr die Haare statt mit Petersilie lieber mit Bayrum waschen sollen, verblaßt davor völlig. Der Umgang mit der Zeit (ständige Hin- und Herverweise) schafft eine geheimnisumwobene Atmosphäre.
Gemeinsam mit der Fabulierkunst Allendes verbinden sich all diese Merkmale zum mythischen Realismus. Zu den Merkmalen von Massenliteratur und ihrer lateinamerikanischen Ausprägung, der tele- oder radionovela (d.h. Seifenopern), gehören z.B. die vielen Damen und Galane aus höheren Schichten oder Menschen, die sich in jemanden verlieben, der nicht „erlaubt" ist. Aufgrund der typisch lateinamerikanischen Merkmale ist Isabel Allende immer wieder Plagiat und Nachahmung von Gabriel García Márquez' Hundert Jahre Einsamkeit vorgeworfen worden. Gepaart mit der Anlehnung an Trivialliteratur hat das zu dem Vorwurf, das Buch sei ein billiger Márquez-Verschnitt, gefuhrt. Tatsächlich sind die Zusammenhänge zwischen den beiden Romanen sehr interessant. b)
Exkurs zu Hundert Jahre
Einsamkeit:
Der historisch-politische Roman entsteht in Hispanoamerika 1967 mit Cien años de soledad von Gabriel García Márquez, der seinen Weltruhm vor allem der Gestaltung dieses Themas mit den Mitteln des mythischen Realismus verdankt. In der Familiengeschichte der Buendia und in dem
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Schicksal des Dorfes Macondo, das der Erste der Sippe, José Arcadio Buendia, mit seiner Frau und einigen Anhängern nach der Flucht aus einem kolonialistisch geprägten Dorf gründet, zeichnet García Márquez zunächst in groben Zügen die Entstehung des abendländischen Menschen und des sich daraus entwickelnden Südamerikaners nach. Im Verlauf der Geschichte grenzt er seine Darstellung immer enger ein, zunächst auf die Geschichte Kolumbiens und schließlich auf die der subversiven Elemente dieses Landes. In den ersten zwei Kapiteln des Buches versinnbildlicht José Arcadio Buendia mit seinen Suchen, Irrwegen und alchimistischen Studien das Werden der abendländischen Menschheit. So kommt er z.B. auch auf die Idee eines Solarkrieges, den schon der Grieche Archimedes der Sage nach 214 v.Chr. ausprobiert hat, entdeckt, daß die Erde „redondo como una naranja" (rund wie eine Orange) ist, und lange Zeit treibt ihn die unermüdliche Suche nach der Formel, um Gold herzustellen, die auch die Menschen des Mittelalters und der Renaissance beseelt hat. Da sich dieser Prozeß in einer typisch hispanoamerikanischen Gegend abspielt und auch die Protagonisten alle Kreolen sind, wird deutlich, daß damit die Wurzeln des amerikanischen Menschen gezeigt werden sollen. Das Erbe der prähispanistischen, indigenen Welt wird dabei zunächst nur auf indirektem Weg, nämlich durch den Stil, die metaphorische und blumenreiche Sprache, aufgenommen. Später erfahren wir aber von der „enfermedad del olvido" (Krankheit des Vergessens), die das gesamte Dorf befallt und bezeichnenderweise von den beiden einzigen Indios des Dorfes ausgeht. Diese Krankheit, die nicht nur Schlaflosigkeit verursacht, sondern vor allem nach und nach „ la identidad de las personas y aun la conciencia del propio ser" (die Identität der Personen und sogar das Bewußtsein des eigenen Seins) auslöscht, ist für die Indios eine „dolencia letal [que] había de perseguirla de todos modos hasta el último rincón de la tierra." (ein tödliches Gebrechen, das sie unter allen Umständen bis in den letzten Winkel der Erde verfolgen sollte) Damit wird klar, daß die „enfermedad del olvido" den Verlust der indigenen Kultur, Sprache und Identität durch die unreflektierte Übernahme der europäischen Zivilisation bedeutet. Gleichzeitig erfahren wir, was dieser Verlust für die Indios für Folgen hat: Obwohl königlicher Abstammung, sind sie in Macondo als Diener tätig.
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Mit dem Vorübergehen der Krankheit des Vergessens, also als der Prozeß der Loslösung von den indigenistischen Wurzeln abgeschlossen ist, beginnt logischerweise in Macondo das Zeitalter der zweiten Kolonialisierung bzw. 'Zivilisierung', nachdem sich die Einwohner von der ersten losgerissen hatten. Zunächst erscheinen nacheinander verschiedene, vom Staat gesandte „corregidores", welche die Art des Regierungssystems verdeutlichen, das Macondo aufgezwängt werden soll; im Dorf beginnt die Bildung politischer Parteien. An dieser Stelle, also im Jahr 1848, als sich die schon vorher bestehenden Bewegungen, Fraktionen und Gruppierungen in zwei große Parteien, Konservative und Liberale, zusammenschließen, setzt auch die Erzählzeit des Romanes ein, alles Vorhergegangene ist als Rückblick gestaltet. Wesentlich ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, daß die Befreiungskriege überhaupt nicht erwähnt werden, Kolonie und Republik gehen ohne erkennbare Grenze ineinander über. Diese bezeichnende Kontinuität wird auch von Fernanda symbolisiert, die als angebliche Nachfahrin einer spanischen Königin monarchistisch und konservativ, mehr oder weniger mittelalterlich erzogen ist, und unwissentlich mithilft, das konservative republikanische Regierungssystem mit Waffengewalt in Macondo zu errichten. Auch regiert sie die Familie der Buendias mit den gleichen Mitteln von Unterdrückung und Zucht wie die Regierung die Bevölkerung. Eine dritte Kolonisationswelle schlägt mit der Bananenkompanie, einer nordamerikanischen Niederlassung, über dem Dorf zusammen. Garcia Márquez beschreibt im weiteren die zwei Formen des Widerstandes, zu denen das Dorf findet und die es gegen die ständige Unterdrückung, sei es durch politische oder durch wirtschaftliche Kräfte, einsetzt. Diese lassen sich in Bezug auf die politische Unterdrückung zusammenfassen in den Kämpfen der Liberalen, die unter Aureliano Buendia zweiunddreißig bewaffnete Aufstände anzetteln, aber am Ende endgültig resignieren müssen, besiegt nicht nur von der kriegerischen Übermacht der Gegner, sondern auch von dem Desinteresse der Bevölkerung und der langsamen Unterwanderung der Liberalen durch Konservative. Diese Aufstände stehen für die historischen guerras civiles von 1848-1902. In Bezug auf die wirtschaftliche Unterdrückung kommt es zu einer Art Klassenkampf, der sich besonders im Streik der Bananenarbeiter manife-
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stiert. Dieser Vorfall lehnt sich an den historischen Streik dieser Arbeiter aus dem Jahr 1928 an. Da sich die politische Kraft mit ihren militärischen Mitteln jedoch mit der ausländischen Wirtschaftsmacht gegen die eigene Bevölkerung verbündet, scheitert auch dieser Widerstand, glimmt jedoch weiter, bis die letzten oppositionellen Elemente endgültig zerstört werden symbolisiert durch den letzten Sohn Aureliano Buendias. Dieses fiktive Ereignis fallt in die realhistorische Periode der 'violencia' (um 1948), der stärksten repressiven Bewegung in der Geschichte Kolumbiens, die interessanterweise auch nur metaphorisch dargestellt wird. Das geschieht durch verschiedene Andeutungen wie die Vernichtung der Nachkommenschaft von Aureliano Buendia, die repressive Atmosphäre, die Fernanda verbreitet, und letztlich durch den erbarmungslosen Regen, der Macondo auslöscht. García Márquez beschränkt sich aber bei der Darstellung von Geschichte nicht nur auf die tatsächlichen Ereignisse, sondern zeichnet auch die Gründe nach, die zu dieser historischen Entwicklung gefuhrt haben. Er findet sie in verschiedenen menschlichen Gegebenheiten. Diese Gründe entsprechen den Aspekten, die von vielen Interpretatoren als die eigentlichen zentralen Themen des Romans gesehen werden: Einsamkeit, Inzest, Unterdrückung. Der Inzest, also die Konzentration auf sich selber, die Einsamkeit als Unfähigkeit zur Liebe und die Unterdrückung, welche die eigenen Wurzeln, seien es die indigenen Völker oder das paradiesische UrMacondo, vernichtet, fuhren zu diesem selbstzerstörerischen Zeitenlauf. Dieser pessimistischen Version von Geschichte stellt García Márquez aber die Figur des Melquíades gegenüber, der sein historisches Wissen schriftlich niederlegt. Die Lektüre seiner Pergamente fuhrt zur Wiedererlangung der verlorenen Identität und mit der Erkenntnis der eigenen Geschichte auch zur Kenntnis der Fehler, die eine Erneuerung der individuellen und sozialen Existenz ermöglicht. Das zeigt sich darin, daß die Sippe der Buendia in dem Moment, wo ihr letzter Sproß diese Pergamente bis zum Ende entziffert hat, ausstirbt, weil - und das ist der Schlußsatz des Romans - „las estirpes condenadas a cien años de soledad no tenían segunda oportunidad sobre la tierra." (die Sippen, die zu hundert Jahren Einsamkeit verurteilt waren, erhielten keine zweite Chance auf der Erde.) Der Melquíades Kolumbiens und ganz Lateinamerikas ist Gabriel Garcia Márquez. Er fuhrt seinen Landsleuten ihre Fehler so deutlich vor Augen, daß
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sie die darin enthaltene Aufforderung und Aufmunterung, die individuelle und kollektive Zukunft anders zu gestalten, also auf Lieblosigkeit, Egozentrik und Unterdrückung im Umgang miteinander und mit den Bewegungen der Linken zu verzichten, nicht überhören können. Diese Aufforderung zu befolgen hieße, sich auf die eigenen Wurzeln zu besinnen und ein Abstreifen des ununterbrochen herrschenden Kolonialismus zu wagen. Dadurch, daß die realpolitische Dimension von Cien años de soledad, obwohl grundlegender Aspekt des Buches, erst durch Interpretation herausgearbeitet werden muß, (das ist vorsichtig formuliert, Horden von Literaturwissenschaftlern haben jahrelang über dem Buch gebrütet...) wird ihre Wirkung allerdings stark geschwächt. c) Bezug zum Geisterhaus Der 1982 erschienene Roman Das Geisterhaus von Isabel Allende wirkt auf den ersten Blick tatsächlich fast wie eine Fortsetzung von Cien años de soledad, da er zunächst auch dieselben stilistischen Mittel verwendet. Diese Feststellung läßt sich schon an den Anfangssätzen beider Bücher belegen: Barrabás llegó a la familia por vía marítima, anotó la niña Clara con su delicada caligrafía. Ya entonces tenía el hábito de escribir las cosas importantes y más tarde, cuando se quedó muda, escribía también las trivialidades, sin sospechar que cincuenta años después, sus cuadernos me servirían para rescatar la memoria del pasado y para sobrevivir a mi propio espanto. Muchos años después, frente al pelotón de fusilamiento, el coronel Aureliano Buendía había de recordar aquella tarde remota en que su padre lo llevó a conocer el hielo. Macondo era entonces una aldea de veinte casas de barro y cañabrava construidas a la orilla de un rio de aguas diáfanas que se precipitaban por un lecho de piedras pulidas, blancas y enormes como huevos prehistóricos. („ Barrabas kam auf dem Seeweg in die Familie ", trug die kleine Clara in ihrer zarten Schönschrift ein. Sie hatte schon damals die Gewohnheit, alles Wichtige aufzuschreiben, und später, als sie
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stumm wurde, notierte sie auch die Belanglosigkeiten, nicht ahnend, daß fünfzig Jahre später diese Hefte mir dazu dienen würden, das Gedächtnis der Vergangenheit wiederzufinden und mein eigenes Entsetzen zu überleben. Viele Jahre später, vor sich das Erschießungskommando, sollte der Coronel Aureliano Buendia sich an jenen längst vergangenen Nachmittag erinnern, an dem ihn sein Vater mitnahm, um das Eis kennenzulernen. Macondo war damals ein Dorf von zwanzig Häusern aus Lehm und Bambusrohr, errichtet am Rand eines Flusses mit durchscheinenden Wassern, die durch ein Bett sauberer, weißer und gewaltiger Steine, wie prähistorische Eier, hinwegeilten.) Die Übereinstimmung zwischen den Werken geht aber noch weiter. Isabel Allende bedient sich ebenfalls einer Familiengeschichte, um die Geschichte eines lateinamerikanischen Landes, Chile, von etwa 1900 bis 1975 zu illustrieren. In beiden Werken dienen Manuskripte (das Tagebuch der Clara bzw. die in Sanskrit beschriebenen Pergamente des Melquíades) als Grundlage. Wie falsch die Behauptung, Isabel Allende sei eine unselbständige und plagiatäre Schriftstellerin, dennoch ist, und welches Unrecht damit der Autorin und ihrem Werk geschieht, soll im folgenden gezeigt werden. Isabel Allende beschreibt die Geschichte aus der Sicht der Frauen und füllt so gerade die Lücken die García Márquez „en el recuento masculino de los hechos históricos - vale decir: en el recuento oficial, esto es, desde la perspectiva dominante de la burguesía falocéntrica" (in der männlichen Geschichtsschreibung, d.h, der ofiziellen, aus der dominierenden Perspektive des phalluszentrierten Bürgertums) offenläßt. Sie macht die Rolle der Frau in der Geschichte deutlich, die sie in einem Interview so beschrieben hat: en Latinoamérica en situaciones de extremo peligro generalmente quienes asumen los riesgos son las mujeres. Ellas son capaces de total desprendimiento, de enorme coraje. Cuando llega el momento de hacer la revolución, allí están las mujeres, a la vanguardia.
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Pero luego, por supuesto, al instante de repartir el poder, tablemente son desplazadas.1
inevi-
(in Lateinamerika, in Zeiten größter Gefahr, sind es in aller Regel die Frauen, die Risiken auf sich nehmen. Sie sind fähig zur völligen Selbstlosigkeit, zu gewaltigem Mut. Wenn der Moment kommt, eine Revolution zu machen, da sind die Frauen, an der Spitze. Aber später, natürlich, im Moment der Machtverteilung, werden sie unweigerlich hinweggedrängt.) Dementsprechend läuft der Stammbaum ihrer fiktiven Familie nicht über die Männer, sondern über die Frauen. Es verändert sich aber nicht nur der Blickwinkel, aus dem Geschichte nachgezeichnet wird. Je aktueller die Ereignisse werden, umso mehr weicht die allegorische und mystifizierende Darstellungsweise einer realistischen Berichterstattung, so daß man im zweiten Teil des Romans schon von einem realistischen Roman, einige Autoren verwenden sogar den Begriff 'novela testimonial' (zeugnishafter Roman), sprechen kann. Historische und politische Ereignisse werden mit Daten und Namen und sehr umfassend wiedergegeben, wenn auch immer wieder mit Fiktion verwoben. So erfahrt der Leser die wichtigsten Daten sowohl der politischen als auch der Sozial- und Kulturgeschichte Chiles in den ersten 75 Jahren dieses Jahrhunderts, ohne den Roman erst einer eingehenden Interpretation unterziehen zu müssen. Diese wesentlich leserfreundlichere Schreibweise thematisiert Allende auch in direkter Abgrenzung zu García Márquez in ihrem Buch: Su madre quería llamarla Clara, pero su abuela no era partidaria de repertir nombres en familia, porque eso siembra confusión en los cuadernos de anotar la vida. (Ihre Mutter wollte sie Clara nennen, aber ihre Großmutter war nicht dafür, Namen innerhalb der Familie zu wiederholen, denn das stifte immer Verwirrung in den Lebensnotizheften)
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Zitiert nach Coddon, Marcelo (1989): La casa de los espíritus y la historia, in: Literatura Chilena. Creación y Critica. 1989, S. 89 - 100.
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So wird deutlich, daß Isabel Allende zwar die als typisch lateinamerikanisch empfundene Schreibweise García Márquez' fortfuhren will, gleichzeitig aber mehr Wert als dieser darauf legt, daß ihr Buch von einer breiten Masse gelesen und verstanden wird. Nur so ist der Übergang von einer mythisch-realistischen zu einer immer stärker ausschließlich realistischen Schreibweise innerhalb des Buches zu erklären. Die realpolitische Dimension, obwohl auch bei García Márquez vorhanden, wird hier explizit, und die verschiedenen Befreiungstaten, die die Autorin für die Loslösung von der so dargestellten Geschichte suggeriert, seien es die Studentenunruhen, die Hilfestellung Albas um Flüchtigen über Botschaftsmauern zu helfen, passiver Widerstand, Guerilla-Bewegungen u.a., zeigen auch, daß die Autorin den Schwerpunkt der Aussage ihres Buches hier legt und nicht wie ihr stilistisches Vorbild - auf den historischen Abriß. Das, was auf den ersten Blick wie abgeschrieben aussieht, ist von der Autorin also ganz bewußt eingesetzt, um dann durch die Abweichungen davon ihre Haltung besonders deutlich zu machen: Familienstammbaum ja - aber über die weibliche Linie, die männliche wird sogar ausdrücklich abgeschnitten: „Das war einmal ein gewaltiger Baum", sagte sie, „ich ließ ihn abhauen, ehe mein ältester Sohn geboren wurde. (...) Jeder Mann in unserer Familie mußte den Baum hinauf, sobald er lange Hosen trug, um seinen Mut zu beweisen, es war wie ein Initiationsritual. Der Stamm war voll von Markierungen, ich habe es selbst gesehen, als die den Baum fällten. " Auch die Manuskripte - Claras Tagebücher - sind bei ihr klar und verständlich, während diese bei García Márquez doppelt dechiffriert werden müssen: aus dem Sanskrit des Melquíades und dann noch einmal inhaltlich vom Leser (der zumindest ein Regal mit Lateinamerikanistika neben sich braucht). Selbst die wichtigste Parallele, die mythisch-realistische Schreibweise, wird von Allende aufgegriffen, um dann, ab dem 11. Kapitel, immer stärker in eine ausgesprochen realistische überzugehen. Am Ende bleibt nichts mehr von García Márquez in ihrem Roman über - das hat vielleicht ihren Weltruhm besiegelt. Immerhin: der Lesererfolg bestätigt Isabel Allende. Innerhalb eines Jahres avancierte sie zur erfolgreichsten Schriftstellerin Lateinamerikas. La casa de los espíritus verlangt eine Ausgabe nach der anderen obwohl das Werk in Chile umgerechnet fast einen Monatslohn kostet, wie die Verfasserin selber feststellt. Ebenso erfolgreich
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sind die übersetzten Auflagen, so daß Allende die Lage Lateinamerikas auch den nicht direkt Betroffenen vor Augen fuhren und so vielleicht zu Betroffenen machen kann. Überaus interessant ist die Feststellung, daß der Übergang vom mythischen Realismus zur realistischen Schreibweise, den die chilenische Autorin in ihrem Werk vollzieht, sich gleichzeitig in der gesamten lateinamerikanischen Romanproduktion nachweisen läßt. Der Großteil der historisch-politischen Romane der achtziger Jahre wird immer eindeutiger und direkter, sowohl in ihrer historischen als auch in ihrer politischen Aussage. d) Von Liebe und Schatten Diesen nur zwei Jahre nach dem Erfolgsroman Das Geisterhaus erschienenen Roman kann man in gewisser Weise als Fortsetzung jenes Buches bezeichnen. Schildert La casa de los esptritus die Entwicklung Chiles in diesem Jahrhundert auf das Jahr des Militärputsches gegen Salvador Allende, 1973, hin, beschreibt De amor y de sombra Situation und Entwicklung das Landes nach diesem Ereignis. Dabei sind die Geschichten, die in den beiden Büchern erzählt werden, völlig unabhängig voneinander und ganz eigenständig. Im November 1978 werden in zwei verlassenen Minen nahe bei Lonquen, etwa 50 Kilometer von Santiago entfernt, fünfzehn Leichen gefunden. Am 30.11. des Jahres sendet der durch einen Priester darauf aufmerksam gemachte Erzbischof von Santiago drei hohe kirchliche Würdenträger, zwei Journalisten und zwei Rechtsanwälte zur Untersuchung in die Minen und nimmt deren Bericht zum Anlaß, das Regime öffentlich anzuklagen. Die verantwortlichen Militärs werden von staatlicher Seite vor Gericht gestellt, aber nach kurzer Zeit, durch ein besonderes Amnestie-Dekret begünstigt, freigelassen. Die Minen werden auf Veranlassung des Regimes gesprengt. Einer der Rechtsanwälte, Sr. Mäximo Pacheco Gömez, veröffentlicht 1980 die wichtigsten Dokumente und Papiere zur Entdeckung der Minen und zum Gerichtsverfahren in einem Buch, das den einfachen Titel Lonquen trägt. In De amor y de sombra erzählt uns Isabel Allende die Geschichte einer jungen couragierten Journalistin, Irene, die durch das Verschwinden eines jungen Mädchens, das sie interviewen wollte, zu Nachforschungen über deren Schicksal angeregt wird. Gemeinsam mit Francisco, ihrem Photographen und Freund, macht sie sich auf die gefahrliche Suche, deren
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Erfahrungen von Panik, Gewalt und Angst ihre Leben für immer verändern werden. Ihre Nachforschungen fuhren sie in eine verlassene, zugemauerte Mine, in der sie neben Evangelinas vierzehn weitere Leichen finden. Sie teilen diese Entdeckung Franciscos Bruder, einem Priester, mit, der daraufhin den Kardinal einschaltet. Dieser beauftragt eine Abordnung von kirchlichen Würdenträgern, Journalisten und Rechtsanwälten, die Mine offiziell zu öffnen und nimmt deren Entdeckungen zum Anlaß, das Militärregime öffentlich anzuklagen und Ermittlungen zu fordern. Die verantwortlichen Militärs werden vor Gericht gestellt, jedoch nach kurzer Zeit, durch ein Amnestie-Dekret begünstigt, freigelassen. Die Minen werden auf Veranlassung des Regimes gesprengt. Die Übereinstimmungen zwischen jenem Geschehen und diesem Roman sind keineswegs zufallig. Isabel Allende stellt fest: Esa era la primera vez que se publicaba abiertamente sobre los crímenes de la dictadura, porque la intervención de la iglesia impidió que se ocultaran, como siempre se había hecho. El libro de Sr. Máximo Pacheco Gómez llegó a mis manos y me fue de gran utilidad. En De amor y de sombra hay algunas partes tomadas casi textualmente de las declaraciones de los militares y testigos, por ejemplo, la confesión del Teniente Ramírez. En la vida real no se llamaba asi, pero sus palabras están en mi libro. Llamé Los Riscos a la localidad de Lonquén y cambié algunos detalles, pero todo lo demás es casi exacto.1 (Dieses war das erste Mal, daß man offen über die Verbrechen der Diktatur publizierte, denn das Eingreifen der Kirche verhinderte, daß sie, wie so oft zuvor geschehen, verborgen werden konnten. Das Buch von Herrn Máximo Pacheco Gómez gelangte in meine Hände und war für mich von großem Nutzen. In Von Liebe und Schatten gibt es einige Stellen, die fast wörtlich den Erklärungen der Soldaten und Zeugen entnommen sind, z.B. die Beichte des Teniente Ramírez. Im wirklichen Leben hieß er nicht so, aber seine Worte sind in meinem Buch. Ich nannte die Ortschaft Lonquén Los 1
Zitiert nach Moody, Michael (1986): Isabel Allende and the Testimonial Novel, in: Confluencia. Revista Hispánica de Cultura y Literatura. 1986, S. 39 - 43.
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Riscos und änderte einige Einzelheiten, aber alles andere ist beinahe exakt.) Tatsächlich stimmen nicht nur einige Textpassagen der Vernehmungsprotokolle mit Teilen des Romans überein, auch die Beschreibung der menschlichen Überreste, die Francisco und Irene in der Mine finden, orientieren sich an den Protokollen der „Originalfunde" und an den dort gemachten Fotos. Hier wie dort gibt es eine junge Frau, die ihre Angehörigen in einer grausamen Zeremonie anhand von Kleidungsresten identifizieren muß, ihre Aussagen und die Aussagen von Evangelina Flores sind sehr ähnlich. Die zeugnishafte Wiedergabe der realen Ereignisse, das testimonio, verknüpft die chilenische Schriftstellerin allerdings viel stärker als zur reinen Literarisierung der Dokumentation nötig wäre, und in weitaus stärkerem Maße als andere lateinamerikanische Autoren dokumentarischer Romane, wie etwa Manlio Argueta oder Miguel Barnet, mit fiktiven Elementen. Hauptgegenstand des romanhaften Teils ihrer novela-testimonio ist die Liebesgeschichte zwischen Irene und Francisco. Dieser Mut zu mehr Fiktion bei der Beurkundung einer realen historisch-politischen Begebenheit resultiert sicher auch aus der Tatsache, daß Isabel Allende im Gegensatz zu Miguel Barnet nicht dem Historischen Materialismus anhängt. Vor allem anderen hat diese Fiktionalisierung aber inhaltliche bzw. intentionsbedingte Gründe. In kontrastiver Weise werden die grausigen Entdeckungen von Lonquén und die Entwicklung der Liebesbeziehung gegenübergestellt. Die zarten Gefühle zwischen Irene und Francisco und die Achtung, die sie füreinander empfinden, beleuchten umso eindrucksvoller die Grausamkeit und Menschenverachtung der chilenischen Militärdiktatur. Besonders klar umrissen werden diese verschiedenen Welten durch die Beschreibung der ersten sexuellen Vereinigung der Liebenden, die in krassestem Gegensatz zu der vorangegangenen Auffindung der Leiche Evangelinas steht, die von einem Militär vergewaltigt und ermordet wurde. Ein Attentat auf Irenes Leben und die anschließende Flucht der beiden ins Exil beweisen, daß für ihre Lebenswelt, die durch Gewaltlosigkeit, Liebe, aufrichtige Gefühle und Mitleid geprägt ist, im Chile der Militärdiktatur kein Platz ist. Durch die Beschreibung ihrer erstrebenswerten Lebensart in Abgrenzung zu realen Situation Chiles wird klar, daß Isabel Allende in
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erster Linie für ein politisches System kämpft, das diese Lebensweise zuläßt: Vivimos una inmensa tragedia comunitaria. Mi libro es la historia de la violencia, del horror y, parallelamente, del amor y la esperanza que están siempre presentes en nuestras vidas.1 (Wir durchleben eine ungeheure gemeinschaftliche Tragödie. Mein Buch ist die Geschichte der Gewalt, des Schreckens und, parallel dazu, der Liebe und der Hoffnung, die immer in unserem Leben gegenwärtig sind.) Ähnlich wie schon in La casa de los espíritus, gelingt hier die Verbreitung von Informationen und Sensibilisierung für die politischen Bedürfnisse des Moments mit Hilfe eines Romans, der aufgrund seiner literarischen Qualität ungeahnte Breitenwirkung in In- und Ausland erzielt hat. Es ist gerade die Vermischung von novela und testimonio, die durch den brisanten Inhalt und die unterhaltsame Lektüre politische Effizienz beweist. Politische Indoktrination oder Bewußtseinsbildung kann hier durch freiwillige, angenehme Lektüre vermittelt werden. Für die politische Kraft der novela-testimonio ist De amor y de sombra ein eindrucksvolles Zeugnis. Es beweist, daß mit der novela-testimonio der Gipfel der Funktionalität lateinamerikanischer Literatur in Bezug auf Ethik und Politik erreicht ist, ohne das die Literatur notwendigerweise darunter leidet.
1
Zitiert nach Moody, Michael (1986), S. 40.
G.
Zwischen Politik und Unterhaltung - Filme in Chile
Hans Gerhold
1.
Einleitung
Die Anfange des chilenischen Films sind nicht vollständig dokumentiert. Es läßt sich aber eine erste öffentliche Vorführung in Valparaiso nachweisen: Dort lief am 26. Mai 1902 ein Film über eine Feuerwehrübung, ein Sujet, das in den Pionierjahren der Kinematographie weltweit in verschiedenen Ländern gezeigt wurde, in Lateinamerika etwa zeitgleich in Cuba, Brasilien und Chile. Der Mangel an technischen Geräten und Geldmitteln verhinderte das Aufkommen einer funktionierenden Filmindustrie. Auf diese erste Phase folgte in den zwanziger Jahren ein Boom. Vermögende Chilenen wollten den Markt nicht länger der US-Importware überlassen und stürzten sich ins Filmgeschäft. Zwischen 1924 und 1926 wurden allein 44 Filme gedreht. Zum Vergleich: Im gesamten Zeitraum von 1917 bis 1929 entstanden insgesamt 78 Filme. Dem Boom folgte schnell ein neues Tief: 1928 kamen nur zwei Filme auf den Markt. Filmgeschichten zufolge sollen sich die Filme dieser Jahre an US-Vorbildern orientiert haben und vor allem als Slapstick-Komödien Imitationen großer Unterhaltungsfilme gewesen sein. Ein einziger Beitrag fiel aus dieser Konfektionsware heraus: „El hüsar de la muerte" (1925, von Pedro Sienna) schildert die Geschichte des Freiheitskämpfers Manuel Rodriguez. Die Weltwirtschaftskrise der 30er verhinderte kontinuierliche Produktionen. 1933 entstand der erste chilenische Tonfilm („Norte y sur"), dann folgten bis 1940 nur noch fünf weitere Filme. Viele Regisseure wanderten nach Paris, Hollywood, Mexiko und Buenos Aires aus. Der Wahlsieg der ersten Volksfront-Regierung, der Frente Populär im Jahre 1938, führte zu einem ersten kulturellen Aufschwung. Als Entwicklungsprojekt zur Industrialisierung des Landes wurden 1941 die Studios
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„Chile Films" gebaut: als Basis für eine konkurrenzfähige Filmwirtschaft. Da man hauptsächlich ausländische Regisseure und Techniker anstellte, glitt man wieder in unverbindliche universale Themen ab und trug angesichts der Fülle von Melodramen und Lustspielen nichts zur eigenständigen Entwicklung bei. Die außerhalb von Santiago liegenden „Chile Films"Studios wurden 1949, nach 49 Filmen und der ersten regelmäßig erscheinenden Kino-Wochenschau, eingestellt. In den fünfziger Jahren wurde in Chile ein Spielfilm pro Jahr gedreht, meist von argentinischen Regisseuren. Die „Überfremdung" setzte sich fort. Nach 60 Jahren mit etwa 120 Filmen, darunter nur einer von bleibender Bedeutung („El hüsar de la muerte"), eine bescheidene Zwischenbilanz.
2.
Aufbruch und Erneuerung
Die Unzufriedenheit mit der als Pseudokultur abqualifizierten Kinolandschaft führte Mitte der 50er Jahre unter den Studenten der Hochschulen von Santiago de Chile zu einer Gegenbewegung und zum Wendepunkt in der Filmgeschichte Chiles. Voraussetzung waren die seit 1955 entstehenden Filmclubs, in denen erstmals Filmklassiker aus anderen Ländern zu sehen waren. Eine Folge dieser Entwicklung: 1956 eröffnete die „Universidad Católica" ihr „Instituto Filmico" und 1957 gründeten die staatlichen Universitäten im Rahmen ihrer audiovisuellen Abteilung die „Cineteca Universitario" und „Cine Experimantal". Alle drei Institutionen füngierten als Ausbildungsstätten für junge Filmemacher. Produziert wurden Kurzfilme und Wochenschauen. Die Spielfilmproduktion lag zwischen 1961 und 1966 brach. Doch als Reaktion der Regierung des seit 1964 amtierenden christdemokratischen Präsidenten Eduardo Frei wurden 1965 die „Chile Films" reaktiviert. Das Studio produzierte zahlreiche Dokumentarfilme und die Wochenschau „Chile en marcha", die das reformistische Regierungsprogramm mit dem Slogan „Revolution in Freiheit" unterstützte. Am Ende eines Jahrzehnts der Reformbewegungen, zu denen auch das Amateurfilmfestival in Viña del Mar, nahe der Universität von Valparaiso
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gehörte, traten Ende der sechziger Jahre die ersten Vertreter der neuen Generation chilenischer Filmautoren mit ihren Werken auf. Sie waren stark politisch engagiert, hatten sich unter dem Banner von Salvador Allendes „Frente Revolucionario de Alianza Popular" 1964 für den späteren Präsidenten im Wahlkampf eingesetzt und waren beeinflußt von den politischen und filmischen Entwicklungen speziell in Cuba und Brasilien, die ihnen entscheidende Impulse für die eigene Arbeit gegeben hatten. Vier Filme vor allem wurden wegweisend: „Tres tristes tigres" („Drei traurige Tiger", 1968, von Raúl Ruiz) beschäftigte sich mit dem Kleinbürgertum und seiner Alltagswirklichkeit; „Caliche sangriento" („Der Salpeterkrieg", 1969, von Helvio Soto) griff den Krieg von 1879 gegen Peru und Bolivien in Form eines Western auf; „Valparaiso mi amor" („Die Kinder von Valparaiso", 1969, von Aldo Francia) schilderte einen Fall von Klassenjustiz, in dem die Kinder eines verurteilten Arbeitslosen, der ein Rind getötet hatte, durch die Not kriminell werden; „El chacal de Nahueltoro" („Der Schakal von Nahueltoro", 1969, von Miguel Littin) kritisierte das Justizwesen anhand der Geschichte eines Bauern, der durch seine ausweglose Armut brutalisiert wurde und einen Massenmord begeht. Im Gefängnis wird er soweit „zivilisiert", daß er sein Todesurteil lesen und unterschreiben kann. Alle diese Filme waren insofern neu, als sie die wirklichen sozialen Verhältnisse Chiles darstellten, sich nicht mehr an Kino-Kommerz orientierten und als engagierte Filmkunst versuchten, Bewußtsein für die Veränderung von Gesellschaft zu erzeugen. Formal wandten sie sich von der Filmsprache Hollywoods ab und suchten sozusagen vom Nullpunkt aus authentische Bilder. Die Dokumentarfilmer jener Jahre griffen Vorbilder aus Brasilien und Cuba auf und unternahmen ein beispielhaftes Projekt. Das „Cine Experimantal" wollte Arbeiter für de Filmarbeit interessieren. Also gingen die Filmemacher mit 16-mm-Projektoren in die Randbezirke der Städte, die „Poblaciones", und führten dort ihre Arbeiten vor: als Mittel für politische Debatten. In gewisser Weise ersetzten diese Filme das Fernsehen als Instrument kritischer Information.
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3.
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Die Zeit der Unidad Populär (1970 - 1973)
Kurz nachdem Salvador Allende 1970 zum Präsidenten gewählt worden war, wurde die chilenische Filmindustrie nationalisiert. Die neue „Chile Films" produzierte Dokumentarfilme und Wochenschauen und verlieh ihr Studio und dessen technische Ausrüstungen an unabhängige Spielfilmproduktionen. Die chilenischen Filmemacher hatten sich fast alle in Parteien und Gewerkschaften der Linken organisiert. Ihre Ziele sind in einem inzwischen berühmten historischen Manifest formuliert:1 „Chilenische Filmemacher, der Augenblick ist gekommen, zusammen mit unserem Volk die große Aufgabe der nationalen Befreiung und den Aufbar des Sozialismus zu beginnen. Es ist der Augenblick, für unsere Werte die kulturelle und politische Identität zurückzugewinnen. .. Vor unserm Engagement als Filmemacher steht das politische uns soziale Engagement für unser Volk, für seine große Aufgabe: den Aufbau des Sozialismus. Film ist Kunst. Der chilenische Film sollte - als geschichtlicher Auftrag - revolutionäre Kunst sein. Revolutionäre Kunst entsteht nur in der Zusammenarbeit zwischen Künstler und Volk, auf der Basis des gemeinsamen Ziels: der Befreiung. Auf der einen Seite steht das Volk als Träger der Handlung, ihr eigentlicher Urheber, auf der anderen Seite der Filmemacher als Mittel der Kommunikation... " In den drei Jahren der Unidad Populär, zwischen 1970 und 1973, entstanden in einem Boom, der sich in der Geschichte der lateinamerikanischen Filmländer bis heute nicht wiederholen sollte, 18 lange Spielfilme und Dokumentarfilme, 73 kurze und mittellange Dokumentarfilme und 44 Wochenschauen. Es existierten sechs staatliche und zwei gewerkschaftliche Filmzentren und 21 Filmgruppen oder -kollektive. Das kommerzielle Kino verschwand; zumindest auf nationaler Basis. Es existierte allerdings, da der Import ausländischer Filme nicht eingeschränkt wurde und von den zwölf Filmverleihern nur einer eine chilenischer war, weiterhin: In den 1
Vgl. Schumann, Peter B. (Hrsg /1976): Kino und Kampf in Lateinamerika. Zur Theorie und Praxis des politischen Kinos, München; Wien, S. 39 f.
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Städten konnte das Publikum amerikanische, italienische und französische Filme sehen. Der chilenische Verleih fusionierte mit den staatlichen Verleih „Distribuidora Nacional", der zu „Chile Films" gehörte, und versuchte, mit den Filmen aus lateinamerikanischen und sozialistischen Ländern ein Alternativprogramm aufzubauen. Das Angebot scheiterte, weil das Publikum den radikalen Wechsel zum Polit-Kino nicht mitmachte. Außerdem sperrten US-Konzerne ihre neuen Filme in zunehmendem Maße für Chile. Die Filme aus Europa füllten diese „Lücke" ebenfalls nicht aus. 1 Was den jungen chilenischen Film betrifft, so schien er mit seinen Produktionen in jenen Jahren ein ungewöhnliches Gleichgewicht von Politik und Unterhaltung zu versprechen. Speziell die Dokumentarfilme von Miguel Littin werden als entspannte und ansprechende Werke fern des PamphletTons vieler Dokumentär- oder Agitprop-Filme in den Filmgeschichten verzeichnet. Littin war der erste Leiter von „Chile Films", als es ein nationales Filminstitut werden sollte. Die Wucherungen des Verwaltungsapparates und die Richtungskämpfe innerhalb der Partei erstickten jedoch das Projekt und Littin zog sich 1972 wieder zurück. Das komplizierte System der Finanzierung von Filmen erschwerte, die Lage, da die Kredite des Staates gering waren. Zu den wichtigen Filmen der Unidad Popular gehören folgende Arbeiten: „La tierra prometida" („Das gelobte Land", 1973, von Miguel Littin) beschreibt in Form einer Allegorie den Versuch, im Jahre 1932 in Chile eine erste sozialistische Republik aufzubauen. Die Revolutionäre werden vom Militär vernichtet. Heute kann man den Film beinahe als Allegorie auf die Allende-Zeit lesen. Littin, der 1971 einen Dokumentarfilm über das Gespräch von Staatspräsident Allende mit dem revolutionären Theoretiker Régis Debray („El compañero Presidente") gedreht hatte, arbeitet in „La tierra prometida" mit einer Filmsprache, die in Anlehnung an den von dem cubanischen Schriftsteller Alejo Capentier geprägten Begriff als „magischer Realismus" bezeichnet wird.
1
Vgl. Schumann, Peter B. (Hrsg./1982): Handbuch des lateinamerikanischen Films, Frankfurt am Main, S. 55 f.
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Neben diesem Hauptwerk entstanden Filme von Helvio Soto („Voto más fusil" / „Stimmzettel und Gewehr", 1971), Raúl Ruiz („La expropriación" / „Die Enteignung", 1971), Aldo Francia („Ya no basta con rezar" / „Der Steinwurf', 1972) und zahlreiche Dokumentarfilme, die als Medium des politischen Kampfes eingesetzt wurden. Doch diesen Beispielen militanten Kinos fehlte ebenso wie den Spielfilmen die materielle Voraussetzung für eine massenhafte Verbreitung. Der Verleih war nicht national durchorganisiert, es fehlten ein funktionierendes Vertriebsnetz, Projektoren und genügend Kopien, abgesehen von Leuten, die politisch geschult waren, um die Fragen nach den Vorführungen vor den Arbeiter-Zuschauern beantworten zu können. Als man 1973 die ersten Erfolge in Hinblick auf eine Konsolidierung geschaffen hatte (Produktionszentrale „Chile Films", Intensivierung des Vertriebs von Filmen in ländliche Regionen), eine neue Kino-Kultur im Dienst des Volkes langsam im Entstehen war, unterbrach der Militärputsch diese Entwicklung.
4.
Diktatur und Exil
Am 11. September 1973 putschte das Militär unter General Pinochet und brachte die Faschisten an die Macht. In einer Politik der Tabula rasa wurden wie in den „Reichskristallnächten" der Nazi-Zeit Filmkopien auf Scheiterhaufen verbrannt. Die Verfolgungen, Erschießungen, „Säuberungen" und Vernichtungen führten in kaum zu überbietendem Maße zur Zerstörung aller Elemente, die zur Volkskultur gezählt wurden. Das Studio „Chile Films" wurde militärisch verwaltet und später reprivatisiert, indem es an einen Produzenten für Werbefilme verkauft wurde. Die Kinemathek wurde geschlossen, das Filmarchiv „entpolitisiert", indem mißliebige Filme entfernt und ihre Kopien zerstört wurden. Die Kontingentierung der Filmeinfuhr wurde rückgängig gemacht, Kleinverleiher dadurch in den Konkurs getrieben. Mehr als die Hälfte der Uraufführungskinos in Santiago mußten schließen, da die Zensur wert auf „saubere Filme" legte.
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In den ersten drei Jahren der Militärdiktatur entstand nur ein einziger Spielfilm: „A la sombra del sol" („Im Schatten der Sonne", 1974, von Silvio Caiozzi und Pablo Perelman, der daraufhin emigrieren mußte. Die Politik der radikalen Barbarei trieb fast alle namhaften Intellektuellen, Künstler und Filmemacher außer Landes. Einige der gebliebenen Autoren drehten Werbespots, z. B. für das seit 1978 eingeführte Farbfernsehen. Aldo Francia nahm nach seiner Haftzeit den Beruf als Kinderarzt wieder auf. Das chilenische Kino ging quasi ins Exil, bis Ende der 70er Jahre einige Emigranten wieder zurückkehrten. Eine der großen Paradoxien der Filmgeschichte führte dazu, daß das chilenische Filmschaffen im Ausland überlebte, wo die Autoren und Regisseure versuchten, die Vitalität der Jahre von 1968 bis 1973 zu erhalten oder wiederzubeleben, soweit das unter den Bedingungen des Exils möglich war. Zwischen 1974 und 1982 haben Chilenen in 17 verschiedenen Ländern (darunter die Bundesrepublik Deutschland) 37 lange Spiel- und Dokumentarfilme, 23 mittellange Filme und 51 Kurzfilme produziert. Im Exil entstanden unter anderem: „Actas de Marusia" („Aufzeichnungen von Marusia", 1976, von Miguel Littin, der nach dem Putsch nach Mexiko emigriert war und dort mit Gian Maria Volonte in der Hauptrolle diese für lateinamerikanische Verhältnisse Superproduktion drehte), ein historischer Spielfilm über ein Massaker an chilenischen Salpeterarbeitern. „Llueve sobre Santiago" („Es regnet über Santiago", 1975, von Helvio Soto) rekonstruiert den Putsch von 1973. „La batalla de Chile" („Die Schlacht um Chile"), den Patricio Guzmán in vierjähriger Arbeit im a l banischen Exil fertigstellte und der in drei Teilen als filmische Chronik die Allende-Jahre nachzeichnet, wurde noch in Chile begonnen und nach Guzmáns Freilassung aus dem Stadion von Chile 1974-79 in Cuba fortgesetzt. „La viuda de Montiel" („Die Witwe Montiel", 1979, wieder von Miguel Littin) entstand nach einer Vorlage von Gabriel García Márquez. Parallel zu den chilenischen Filmen, die im Exil entstanden, haben sich ausländische Filmemacher zwischen 1974 und 1982 in 54 Filmen mit Chile befaßt. In der DDR drehte das Dokumentarfilmstudio H&S (Heynowski und Scheumann) allein vier Dokumentationen: „Ich war, ich bin, ich werde sein" (1974), „Der Krieg der Mumien" (1974), „Der weiße
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Putsch" (1975) und „Die Toten schweigen nicht" (1979). Der Berliner Regisseur Peter Lilienthal, der 1973 in Chile „La Victoria" gedreht hatte, die Geschichte einer Lehrerin, die in der Aufbruchstimmung der AllendeJahre anfangt, in den Vorstädten zu arbeiten, kehrte mehrfach zu diesen Themen zurück. „Es herrscht Ruhe im Land" (1975) befaßt sich mit Chilenen in Deutschland; „Das Autogramm" (1983), nach einem Roman von Osvaldo Sorriano, schildert in Form einer Parabel die Machtverhältnisse in einem fiktiven lateinamerikanischen Staat, die Parallelen zu Chile drängen sich geradezu auf. Mit der US-amerikanischen Produktion „Missing", die der durch seine Polit-Thriller („Z", „Der unsichtbare Aufstand") berühmt gewordene Exilgrieche Constantin Costa-Gavras 1981 drehte, entstand der vielleicht bekannteste Spielfilm über Chile. Mehrfach ausgezeichnet, schildert der Film die Odyssee eines amerikanischen mittelständischen Geschäftsmannes (Jack Lemmon), der seinen Sohn in Santiago sucht und den von den Militärs umgebrachten jungen Mann nur im Sarg mit nach Hause nehmen kann. Im Rahmen seiner Recherchen gelangt er zu der Erkenntnis, welche Helferrolle die amerikanischen Militärberater bei dem Putsch 1973 spielten.
5.
Erinnerungen und Trauerarbeit
Im Jahre 1984 kehrt Miguel Littin inkognito nach Chile zurück. Mit der falschen Identität eines spanischen TV-Journalisten ausgestattet, hält er sich sechs Wochen im Land auf, trifft heimlich alte Freunde und dreht einen später vierstündigen Film über die Lebensbedingungen unter der Diktatur. Er gelangt sogar bis in den Präsidentenpalast, die Moneda. 1987 wird der fertige Film als „Acta General de Chile" uraufgeführt. Littins abenteuerliche Reise ist von Nobelpreisträger Gabriel García Márquez 1986 als Reportage in Ich-Form unter dem Titel Das Abenteuer des Miguel Littin. Illegal in Chile in Buchform veröffentlicht worden. 1 Am 14.12.1989 finden nach 19 Jahren das erste Mal wieder Wahlen in Chile statt. Sieger wird der Kandidat des Mitte-Links-Bündnisses, der 1
Deutsch 1987 vorabgedruckt im Magazin „Der Spiegel", als Buch im Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln.
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Christdemokrat Patricio Alwyn, der am 11.03.1990 sein Amt antritt. General Pinochet bleibt Oberbefehlshaber des Heeres, Mitglied des Senats und des Nationalen Sicherheitsrates. Chile nimmt wieder diplomatische Beziehungen zu einigen osteuropäischen Ländern und Mexiko auf. Nach mehreren Funden von Massengräbern aus der Zeit des Militärputsches von 1973 beruft Präsident Alwyn im Mai 1990 eine Untersuchungskommission, die die Menschenrechtsverletzungen unter der Diktatur untersuchen und das Schicksal von circa 630 Verschwundenen aufklären soll. Das chilenische Filmschaffen beginnt sich im Zuge dieser beginnenden Demokratisierung wieder neu zu beleben. Bis dahin waren, auch von den nach Chile zurückgekehrten Filmemachern, vielfach Filme gedreht worden, die sich verschlüsselt mit der Situation im Lande auseinandersetzten. Dazu gehören: „Historias de lagartos" („Geschichten von Eidechsen", 1988, von Juan Carlos Bustamente), in dem metaphorisch erzählte Geschichten aus dem Landleben und der Natur Bezüge zur aktuellen Situation herstellen.1 Patricio Guzmän drehte 1988 in Chile und Spanien mit „En nombre de Dios" („Im Namen Gottes") einen Film über die Geschichte der Kirche und der Pinochet-Diktatur. Valeria Sarmiento setzte sich 1984 mit „Notre mariage" und 1990 mit „Amelia Lopes O'Neill" mit der Situation von Ehe, Familie, Bürgertum und Machismo auseinander. Zu den Filmen, die als internationale Coproduktionen einen kommerziellen Appeal tragen, gehören die beiden Verfilmungen von Romanen der Salvador-Allende-Nichte Isabel Allende, die sich mit „Das Geisterhaus" und „Von Liebe und Schatten" in einer Mischung aus magischem Realismus, Familiengeschichte und Melodram intensiv mit der „inneren Geschichte" ihres Landes auseinandergesetzt hatte. „Das Geisterhaus" (1993, von Bille August) setzt als Literaturverfilmung ganz auf den epischen Charakter einer Geschichte von Aufstieg und Falle, Liebe und Gewalt und erreicht in seinem letzten Drittel, in der Schilderung des Pinochet-Putsches, eindrucksvolle filmische Qualitäten, die in der mit Stars gespickten Familiensaga sonst nur selten erreicht werden.
1
Vgl. Jugendfilmclub Köln (Hrsg /1992): Medien Concret-Magazin fllr die pädagogische Praxis. Ausgabe 2/1992 (Sonderheft Filme aus Asien, Afrika und Lateinamerika), Köln, S. 51.
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„Von Liebe und Schatten" (1993, von Betty Kaplan), gedreht in Spanien und Argentinien, thematisiert die Suche nach den Opfern der Folterungen und stellt eine Journalistin und ihren Bewußtseinswandel in den Mittelpunkt. Der difiise Erzählstil und die Mischung als Polit-Thriller und LoveStory (mit Spaniens Hollywood-Star Antonio Banderas) lassen in ihrer Fernsehspielästhetik jedoch die Unentschiedenheit der Stoffbearbeitung siegen. Die chilenischen Filme der letzten Jahre leben in einer spannungsvollen Dramaturgie von Erinnerung, Trauerarbeit und Suche nach individueller Wahrheit, von der Rückbesinnung auf Traditionen und einem vorsichtigen Blick in die Zukunft, der falschen Optimismus ebenso vermeidet wie radikalen Pamphletismus. Ihre produktive Ambiguität lebt auch von dem Gedanken an Rache, die als Mittel der Auseinandersetzung verworfen wird. Drei Filme stehen für diese Tendenz: „La estación del regresso" („Die Zeit der Rückkehr", 1987, von Leonardo Kocking) beschreibt den Weg einer Frau, die in den Norden Chiles reist, um ihren Mann, der in ein Verbannungslager verschleppt wurde, heimzuholen. Während der Reise erinnert sie sich an die Zeit der Tyrannei. „La Frontera" („Am Ende der Welt", 1991, von Riccardo Larrain) schildert, wie ein Mathematiklehrer in den letzten Tagen der Pinochet-Diktatur in die Verbannung in ein Grenzgebiet im Süden des Landes geschickt wird. Dort, am Meer und in der Abgeschiedenheit, trifft er auf andere Schiffbrüchige der Geschichte, die sich in eigene Traumwelten geflüchtet haben. Eine Springflut verändert aller Situation auf radikale Weise. „Amnesia" („Gedächtnisschwund", 1994, von Gonzalo Justiniano, der seit 1985 vier Spielfilme realisieren konnte) erzählt von einem Mann, der auf der Straße den Sergeanten wiedersieht, der ihn einst im Konzentrationslager in der Wüste schikanierte. Mit einem anderen Überlebenden verfolgt er den Mann und kann ihn stellen. Justiniano thematisiert das selektive Gedächtnis des Menschen, die Gefangenenrolle von Henker und Opfer und die moralische Bewertung des Vergessens als einer möglichen Form von Verarbeitung historischen Geschehens durch den Menschen.
Autorenverzeichnis
Cerstin Bauer-Funke, Dr. phil., Jg. 1966, Studium der Romanischen, Deutschen und Englischen Philologie sowie der Theaterwissenschaft in Erlangen, Paris und Münster. Promotion über Triumph der Tugend. Das Theater des Marquis de Sade (1994). Veröffentlichungen zur französischen Literatur des 18. Jahrhunderts sowie zur mexikanischen Literatur. Sie arbeitet als Wissenschaftliche Assistentin am Romanischen Seminar der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster
Martin Dabrowski, Dr. rer. pol., Jg. 1965, Studium der Wirtschaftswissenschaften in Münster. Promotion über Wirtschaftssystem und Wirtschaftspolitik Chiles nach der Redemokratisierung. Eine Analyse aus wirtschaftsethischer Sicht (1995). Verschiedene Publikationen, u.a. Wirtschaftsunternehmen und Menschenrechte (1995), Mittelamerika und Deutschland. Das Potential einer guten Partnerschaft (1996). Er arbeitet als Dozent in der Akademie Franz Hitze Haus und betreut dort den Fachbereich Wirtschaft und Soziales, insbesondere Entwicklungspolitik
Ruth Damwerth, Jg. 1967, Studium der Romanistik, Germanistik und Geschichte in Münster, Regensburg und Granada, Spanien. Ihre Magisterarbeit beschäftigte sich mit dem Zusammenhang von Politik und Literatur im aktuellen lateinamerikanischen Roman. Sie arbeitet als freiberufliche Autorin im Bereich Literatur / Geschichte; 1994 erschien ihr Buch Arnold Munter - Jahrhundertzeuge.
Hans Gerhold, Dr. phil., M.A., Jg. 1948, Studium der Publizistik und Kommunikationswissenschaft, Romanistik und Anglistik/Amerikanistik in Münster; Filmhistoriker; Zahlreiche Veröffentlichungen in Fachzeitschriften, Anthologien u.a.; Autor mehrerer Bücher, so Kino der Blicke. Der französische Kriminalfilm (1989), Woodys Welten. Die Filme von Woody
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Autorenverzeichnis
Allen (1991), Jean-Pierre Melville (1982) und Medientransfer. Kurzgeschichten in Kurzfilmen (1983). Er lebt als freier Journalist in Münster.
Juan Guillermo Gómez García, Dr. jur., Jg. 1959, Studium der Rechtswissenschaften und Philosophie in Bogotá, Kolumbien und der Hispanistik in Bonn und Bielefeld; Zahlreiche Veröffentlichungen in Fachzeitschriften; Autor mehrerer Bücher, so u.a. Obra crítica de Juan Maria Gutierrez (1996) und Antología del ensayo en el Siglo XIX. (1996). Er arbeitet z.Zt. als Dozent an der Universität Bielefeld und der Fachhochschule Münster und übernimmt ab Anfang 1997 eine Professur für Literaturwissenschaft an der Universidad Antioquia in Medellin, Kolumbien.