Weltliteratur aus Lateinamerika: Eine Debatte über Valeria Luiselli, Julián Herbert, Ariana Harwicz, Juan Gabriel Vásquez und Rita Indiana 9783110748758, 9783110748642

A transcontinental and transdisciplinary debate is currently taking place about the concept of world literature in which

197 100 1MB

German Pages 378 Year 2021

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Table of contents :
Dank
Inhaltsverzeichnis
1 Ouvertüre – Einleitung und Aufbau
2 Bühnenbild und Requisiten – Lateinamerika in der Weltliteratur-Debatte
3 Besetzung und Regie – Die Konstruktion von Weltautor*innen
4 Die Blätter, die die Welt bedeuten – Analyse
5 (Welt-)Bühne frei – Auswertung
6 Coda – Fazit und Ausblick
7 Bibliografie
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Weltliteratur aus Lateinamerika: Eine Debatte über Valeria Luiselli, Julián Herbert, Ariana Harwicz, Juan Gabriel Vásquez und Rita Indiana
 9783110748758, 9783110748642

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Silja Helber Weltliteratur aus Lateinamerika

Latin American Literatures in the World Literaturas Latinoamericanas en el Mundo

Edited by / Editado por Gesine Müller

Volume 11 / Volumen 11

Silja Helber

Weltliteratur aus Lateinamerika Eine Debatte über Valeria Luiselli, Julián Herbert, Ariana Harwicz, Juan Gabriel Vásquez und Rita Indiana

This project has received funding from the European Research Council (ERC) under the European Union’s Horizon 2020 Research and Innovation programme – Grant Agreement Number 646714.

ISBN 978-3-11-074864-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-074875-8 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-074884-0 ISSN 2513-0757 e-ISSN 2513-0765 Library of Congress Control Number: 2021940964 Bibliographic information published by the Deutsche Nationalbibliothek The Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data are available on the Internet at http://dnb.dnb.de. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Typesetting: Integra Software Services Pvt. Ltd. Printing and binding: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Dank Das vorliegende Buch basiert auf meiner Dissertationsschrift, die im Rahmen des ERC-Projekts „Reading Global. Constructions of World Literature and Latin America“ zwischen 2015 und 2020 an der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln entstand. Bei der Umsetzung meiner Dissertation erhielt ich vielfältige und stets motivierende Unterstützung von zahlreichen Menschen, die ich hier nicht alle aufzählen kann, denen ich aber dennoch sehr dankbar bin. Mein besonderer und herzlicher Dank gilt an erster Stelle meiner Doktormutter Prof. Dr. Gesine Müller, die meine Arbeit von der Entwurfsphase bis zur Druckreife intensiv begleitet, betreut und unterstützt hat und mir stets viel konstruktives und motivierendes Feedback gegeben hat. Für seine Bereitschaft, meine Doktorarbeit als Zweitgutachter zu betreuen, bedanke ich mich herzlich bei Prof. Dr. Hermann Herlinghaus. Auch das „Team Macondo“, meine zwei Kolleginnen Yehua Chen und Judith Illerhaus, soll an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben: Ihre Freundschaft, der gegenseitige Austausch über die Welt (und) Literatur und ihre Begleitung von der ersten Seite bis zur Verteidigung der Dissertation, haben sich in jeder Hinsicht unterstützend auf die Arbeit ausgewirkt. Für wichtige Impulse und inspirierende Diskussionen möchte ich mich außerdem bei Jorge Locane sowie bei Benjamin Loy bedanken. Ein besonderer Dank geht ferner an meinen Bruder Patrick für zahlreiche Anregungen und motivierende Worte und an meine Eltern Petra und Harald für ihre stete Unterstützung und ihre Ausdauer und Sorgfalt beim Korrekturlesen der Arbeit. … y por último, pero no por eso menos importante, quiero agradecer a Gerardo y a Lunas.

https://doi.org/10.1515/9783110748758-202

Inhaltsverzeichnis Dank

V

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Ouvertüre – Einleitung und Aufbau

2

Bühnenbild und Requisiten – Lateinamerika in der Weltliteratur-Debatte 9 Nationalliteratur, ‚postnationale‘ Literatur, ‚neue‘, ‚junge‘, ‚alte‘ Weltliteratur – Eine konzeptionelle Annäherung an die gegenwärtige Debatte 9 Weltliteratur – Begriffliche Ursprünge 9 Exkurs: Nationale vs. postnationale Literatur 10 Weltliteratur in der Gegenwart – Realität und Anspruch 18 Das Label ‚Welt-‘ als Marketingstrategie eines globalen (Buch-)Marktes? 22 Markt, Macht, Weltliteratur 22 Weltliteratur, -musik, -kino 29 Lateinamerikanische Literat*innen und die Weltliteratur-Debatte 36 Von Bestsellerautor*innen und Weltautor*innen 37 ‚Bewusste‘ Außenseiter*innen und vergessene Literat*innen 43

2.1

2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.2 2.2.1 2.2.2 2.3 2.3.1 2.3.2

3 3.1 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.2.5 3.3 3.3.1 3.3.2

1

Besetzung und Regie – Die Konstruktion von Weltautor*innen 47 Fragestellung 47 Korpus 49 Valeria Luiselli (Mexiko, 1983) – Papeles falsos (2010) 56 Julián Herbert (Mexiko, 1971) – Canción de tumba (2011) 57 Ariana Harwicz (Argentinien, 1977) – Matate, amor (2012) 57 Juan Gabriel Vásquez (Kolumbien, 1973) – Los informantes (2004) 57 Rita Indiana (Dominikanische Republik, 1977) – Papi (2011) 58 Kontextualisierung 58 (Lateinamerikanische) Autorschaft im Wandel 58 Die Rolle des Englischen im Kontext der Weltliteratur-Debatte 63

VIII

3.3.3 3.3.4 3.4 3.4.1 3.4.2 4 4.1 4.1.1 4.1.1.1 4.1.1.2 4.1.1.3 4.1.1.4 4.1.1.5 4.1.2 4.1.2.1 4.1.2.2 4.1.2.3 4.1.2.4 4.1.2.5 4.1.2.6 4.1.2.7 4.2 4.2.1 4.2.1.1 4.2.1.2 4.2.1.3 4.2.1.4 4.2.1.5 4.2.1.6 4.2.2 4.2.2.1 4.2.2.2 4.2.2.3 4.2.2.4

Inhaltsverzeichnis

Lesbarkeit, Übersetzbarkeit, Stil – Kriterien für Weltliteratur? 66 Thesen 73 Theorie 77 Autorbild und Autorfigur 77 Autofiktion 81 Die Blätter, die die Welt bedeuten – Analyse 85 Valeria Luiselli und Julián Herbert – „Writing yourself into the world“ 85 Extraliterarische Ebene 85 Biografischer Abriss und Einstieg in den Literaturbetrieb 85 Exkurs: Geschlechtsspezifische Differenzen in der Literaturwelt 91 Übersetzungen und internationale Rezeption 95 Positionierung im literarischen Feld und Literaturpreise 106 Zwischenfazit 118 Intratextuelle Ebene 120 Inhaltsanalyse Canción de tumba 120 Inhaltsanalyse Papeles falsos 124 Autofiktion in Canción de tumba und Papeles falsos 127 Herberts Autorfigur und -bild in Canción de tumba 129 Luisellis Autorfigur und -bild in Papeles falsos 136 Lesbarkeit, Übersetzbarkeit und Stil von Canción de tumba 141 Lesbarkeit, Übersetzbarkeit und Stil von Papeles falsos 144 Ariana Harwicz – Widerspenstiges Schreiben als ein No-Go im internationalen Buchmarkt? 148 Extraliterarische Analyse 148 Biografischer Abriss und Einstieg in den Literaturbetrieb 150 Schreibort und Sprachwahl 159 (Selbst-)Repräsentation in der Öffentlichkeit 162 Positionierung im literarischen Feld 170 Übersetzungen und Literaturpreise 171 Zwischenfazit 178 Intraliterarische Analyse 180 Inhaltsanalyse 180 Autofiktion in Matate, amor 184 Harwicz’ Autorfigur und -bild in Matate, amor 187 Lesbarkeit, Übersetzbarkeit und Stil von Matate, amor 193

Inhaltsverzeichnis

4.3 4.3.1 4.3.1.1 4.3.1.2 4.3.1.3 4.3.1.4 4.3.1.5 4.3.2 4.3.2.1 4.3.2.2 4.3.2.3 4.3.2.4 4.4 4.4.1 4.4.1.1 4.4.1.2 4.4.1.3 4.4.1.4 4.4.1.5 4.4.2 4.4.2.1 4.4.2.2 4.4.2.3

Juan Gabriel Vásquez – Aus dem Schatten Gabriel García Márquez’ ins weltliterarische Rampenlicht 205 Extraliterarische Analyse 205 Biografischer Abriss und die Konstruktion einer literarischen Karriere 208 Literaturpreise und Übersetzungen 215 Literarische Referenzen und Literaturkritik 222 Literarische Vor- und Gegenbilder 227 Zwischenfazit 230 Intraliterarische Analyse 234 Inhaltsanalyse 234 Autofiktion in Los informantes 243 Vásquez’ Autorfigur und -bild in Los informantes 246 Lesbarkeit, Übersetzbarkeit und Stil von Los informantes 251 Rita Indiana – Je marginaler desto zentraler 260 Extraliterarische Analyse 262 Biografischer Abriss 262 Einstieg in den Literaturbetrieb 266 Literaturpreise und Positionierung im literarischen Feld 270 Musikalische Karriere und gegenwärtige Entwicklungen 273 Zwischenfazit 275 Intraliterarische Analyse 276 Inhaltsanalyse 276 Autofiktion und Indianas Autorfigur und -bild in Papi 284 Lesbarkeit, Übersetzbarkeit und Stil von Papi 288

(Welt-)Bühne frei – Auswertung 303 Extraliterarische Faktoren 306 Transnationaler Werdegang 306 Ethnie 308 Geschlecht/Gender 308 (Aus-)Bildung 313 Präsenz in den (sozialen) Medien und in der Öffentlichkeit 315 5.1.6 Netzwerke und Referenzen 319 5.1.7 Klein- vs. Großverlage 320 5.1.8 Schreib- und Sprechort 322 5.1.9 Literaturpreise 324 5.1.10 Übersetzungen 327 5.2 Intraliterarische Faktoren 329 5 5.1 5.1.1 5.1.2 5.1.3 5.1.4 5.1.5

IX

X

5.2.1 5.2.2 5.2.3

Inhaltsverzeichnis

Sprache 329 Sujet 332 Autofiktion und Autorbild

6

Coda – Fazit und Ausblick

7

Bibliografie

341

333 337

1 Ouvertüre – Einleitung und Aufbau Versteht man unter Weltliteratur einen Kanon literarischer Werke, die für bedeutend und/ oder repräsentativ gehalten werden – ein Verständnis, das im akademischen Kontext inzwischen geradezu verpönt, außerhalb dessen jedoch häufig anzutreffen ist –, scheint Gegenwartsliteratur damit insofern unvereinbar, als sie allenfalls in einem noch laufenden Prozess der Kanonisierung begriffen ist. (Radaelli/Thurn 2017b: 9)

Weltliteratur und Weltautor*innen1 – damit assoziieren die meisten Leser*innen Literat*innen des vornehmlich weißen2, männlichen, europäischen oder nordamerikanischen literarischen Raumes: Johann Wolfgang von Goethe, William Shakespeare, Dante Alighieri, um einige der bekanntesten Stimmen zu nennen. Alle drei eint die Tatsache, dass ihre literarischen Werke über die Jahrhunderte Bestand hatten und sich auch noch heute großer Beliebtheit sowohl in der südlichen als auch nördlichen Hemisphäre erfreuen. Geht es um die Suche nach einer weltliterarischen Stimme des lateinamerikanischen3 Kontinents, so wird fast immer der kolumbianische Literaturnobelpreisträger Gabriel García Márquez genannt. Wieder handelt es sich um einen Autor, der seinen Ehrenplatz im literarischen Pantheon bereits eingenommen hat und dessen großes Meisterwerk Cien años de soledad (1967) (auf Deutsch erschienen unter dem Titel Hundert Jahre Einsamkeit) vor mehr als fünfzig Jahren veröffentlicht wurde. Wird der zeitliche Rahmen etwas enger gesteckt, also

1 Im Buch wird eine gendergerechte Sprache verwendet. Damit soll zum einen die hegemoniale binäre Geschlechterordnung kritisiert werden, zum anderen Menschen, die sich weder einer männlichen noch weiblichen Geschlechtsidentität zugeordnet fühlen, Raum für „vielfältige Möglichkeiten und Gestaltungsspielräume“ (AG Feministisch Sprachhandeln 2014/2015: 25) gegeben werden. Dabei fiel die Entscheidung auf den Gebrauch des Gendersternchens (*), „da das Sternchen viele unterschiedliche Strahlen hat und damit noch mal stärker symbolisch ganz Unterschiedliches meinen kann“ (AG Feministisch Sprachhandeln 2014/2015: 25). Die geschlechtsspezifische Form beziehungsweise Variante wird nur dann benutzt, wenn sich Äußerungen und Angaben ausschließlich auf Personen weiblichen und/oder männlichen Geschlechts beziehen. 2 Mit dem Begriff weiß beziehe ich mich im Buch nicht auf eine ‚Hautfarbe‘, sondern auf die sozial konstruierte, privilegierte Position, die Personen, die dieser Kategorie zugeordnet werden, in unserer Gesellschaft innehaben. 3 Im Folgenden gebrauche ich die Bezeichnung Lateinamerika, obwohl, aufgrund der Tatsache, dass sich die Arbeit auf den hispanophonen Sprachraum beschränkt und Brasilien sowie brasilianische Literaturen nicht Bestandteil der Analyse sind, die Bezeichnung Hispanoamerika angebrachter wäre. Der Grund hierfür ist, dass erstere Bezeichnung auch von den Schriftsteller*innen selbst gebraucht wird und verbreiteter ist als der Begriff Hispanoamerika. Der Begriff Hispanoamerika wird vor allem in Ländern mit hoher indigener Bevölkerung wegen der namentlich implizit fortbestehenden Beziehung zur ehemaligen Kolonialmacht Spanien abgelehnt (vgl. Arias 1995). https://doi.org/10.1515/9783110748758-001

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1 Ouvertüre – Einleitung und Aufbau

auf die letzten zwanzig Jahre begrenzt, so ist die Antwort häufig Roberto Bolaño – abermals ein Autor, der (zu) früh aus dem Leben schied und dessen literarisches Werk vor allem post mortem das Interesse einer weltweiten Leserschaft weckte. Doch wie passen die Konzepte Weltliteratur und Gegenwartsliteratur zusammen? Kann dem, was in der Aktualität – oder sagen wir einmal in den letzten zehn Jahren – in Lateinamerika geschrieben und gelesen wird beziehungsweise wurde, schon zum jetzigen Zeitpunkt weltliterarische Geltung zugesprochen werden? Oder ist hierfür zunächst die Ablegung einer ‚Reifeprüfung‘ erforderlich, wie dies bei den oben genannten Autoren und ihren literarischen Werken der Fall war? Auf den ersten Blick kann diese Frage durchaus bejaht werden: „Weltliteratur entsteht nicht nur in einem selektiven und wertenden Rückblick“ (Radaelli/ Thurn 2017b: 9), sondern vielmehr oder auch im Hier und Jetzt. Das wird deutlich bei einem Blick auf die sich in letzter Zeit häufenden Kommentare und Kritikerstimmen auf dem Schutzumschlag von Neuerscheinungen, bei der Lektüre von Rezensionen in der Online- und Printpresse sowie beim Schmökern von Verlagsvorschauen. Allesamt eint sie die Tendenz, Schriftsteller*innen, vor allem aus dem Globalen Süden – oder im vorliegenden Fall aus Lateinamerika, und ihre literarischen Werke mit dem Etikett Weltliteratur, weltliterarisch respektive Weltautor oder Weltautorin zu versehen. Das ist umso bemerkenswerter, als es sich hierbei mehrheitlich um Jungschriftsteller*innen, die zumeist in den 1970er- und 1980er-Jahren geboren wurden, handelt. Diese Schriftsteller*innen befinden sich noch am Anfang ihrer internationalen Karriere, deren Ausgangspunkt die erstmalige Übersetzung in eine andere Sprache markiert. Das legt nahe, dass sich jene Autor*innen in erster Linie darin versuchen, sich mit ihrem persönlichen ästhetischen Projekt (international) Gehör zu verschaffen, um auf diese Weise in der Zukunft einen der privilegierten, begehrten und heiß umkämpften Plätze des (welt)literarischen Feldes zu ergattern. Dabei experimentieren sie besonders im lateinamerikanischen Raum mit dem hybriden Genre der Autofiktion: Das gibt ihnen die Möglichkeit, ihr eigenes Autorbild zu entwerfen und ihre persönliche Autorfigur zu entwickeln, mittels derer sie sich ins literarische Feld einschreiben können (vgl. Sapiro 2014: 77 f.). Ganz wesentlich ist deshalb, dass es sich bei ihrem schriftstellerischen Projekt um ein work in progress handelt. Hieraus ergibt sich zwangsläufig, dass in der Gegenwart für Weltliteratur neue oder zumindest andere Maßstäbe und Kriterien formuliert werden (müssen), die ein*e Autor*in und sein*ihr literarisches Werk zu erfüllen haben. Des Weiteren fällt auf, dass trotz der hohen Frequenz mit der das Welt-Kompositum gegenwärtig – geradezu selbstverständlich – von Verlagen, Literaturkritik und Medien gebraucht wird, der Benennung als Weltliteratur oder ‚Ernennung‘ als Weltautor*in im Allgemeinen keine Erklärung oder gar Definition folgt. Unbeantwortet bleiben

1 Ouvertüre – Einleitung und Aufbau

3

sowohl die Beweggründe als auch die Frage, was sich hinter diesen ‚bedeutungsschweren‘ Konzepten verbirgt: Was ist Weltliteratur? Was ist ein*e Weltautor*in? Wie wird ein literarischer Text zur Weltliteratur respektive ein*e Schriftsteller*in zum*zur Weltautor*in? Über das Konzept Weltliteratur, speziell über seine Begriffs- und Rezeptionsgeschichte, über die materiellen Produktionsbedingungen sowie die textimmanenten Eigenschaften von Weltliteratur in der Vergangenheit und Gegenwart wurde und wird ausgiebig transkontinental und transdisziplinär debattiert (vgl. Ferrari 2012: 16 f.). Die Frage, was Autor*innen im frühen 21. Jahrhundert zu Weltautor*innen macht, stellt jedoch ein Desiderat in diesem Forschungsfeld dar. So spielen die Autor*innen in den akademischen Debatten bisher, obwohl sie die Urheber*innen der literarischen Texte sind, eher eine untergeordnete Rolle. Das überrascht angesichts der aktuell anwachsenden Präsenz, Inszenierung und Performance von Autor*innen in der Öffentlichkeit durch Interviews, Lesungen und Literaturfestivals sowie den (sozialen) Medien. Hieraus ergibt sich, dass der literarische Text als solcher bisweilen ins Hintertreffen gerät (vgl. Gallego Cuiñas 2018: 4). Allerdings kann dies durch die, die Literaturwissenschaften charakterisierende Priorisierung des literarischen Textes erklärt werden, mit der eine generelle Skepsis gegenüber einer Auseinandersetzung mit den ‚realen‘ Autor*innen einhergeht (vgl. Straumann 2013: 142). Die verschiedenen Etappen, die ein*e Autor*in notwendigerweise durchlaufen muss, um dem weltliterarischen ‚Titel‘ zumindest näherzukommen, werden zwar in vielen wissenschaftlichen Arbeiten indirekt thematisiert, so zum Beispiel bei Rebecca Braun (2015, 2016), Sarah Brouillette (2007, 2016), Pascale Casanova (2004), James F. English (2005), Fernando Escalante Gonzalbo (2007), Ana Gallego Cuiñas (2014, 2018), Stefan Helgesson/Pieter Vermeulen (2016), Adam Kirsch (2017a), Rafael Lemus (2012), Sigrid Löffler (2014), William Marling (2016), Rebecca L. Walkowitz (2015), Frank Wynne (2016) oder auch The editors (2013), jedoch liefert keiner der Texte eine umfassende Analyse. Stattdessen gilt es als Gemeinplatz, dass die Grundvoraussetzung für eine weltliterarische Autorschaft eine Übersetzung und damit verbundene Zirkulation und Rezeption außerhalb des Herkunfts- beziehungsweise Produktionslandes darstellt: „[I]t is essential for writers of World Literature to be discovered, translated, promoted, and reviewed“ (Marling 2016: 1). Was die aufgeführten Forschungsarbeiten eint, ist dagegen, dass sie vornehmlich einzelne Dimensionen näher beleuchten, so dass nur eine Untersuchung der intra- oder der extraliterarischen Faktoren vorgenommen wird. Dabei vergessen sie, dass es sich bei Autorschaft im Allgemeinen und weltliterarischer Autorschaft im Besonderen um ein „komplexes Zusammenspiel inner- und außerliterarischer Faktoren“ (Wegmann 2013: 259) handelt, dem ich in meinem Buch nachgehen möchte.

4

1 Ouvertüre – Einleitung und Aufbau

Mein Ausgangspunkt ist die Frage, wie lateinamerikanische Schriftsteller*innen der Gegenwart zu Weltautor*innen werden. Dabei beschäftige ich mich sowohl mit intra- als auch extraliterarischen Entstehungsbedingungen von Weltautor*innen, um auf diese Weise das für diese Position erforderliche spezifische Anforderungsprofil herauszuarbeiten. Als Grundlage für meine Überlegungen und Untersuchungen dienen mir die schriftstellerischen Laufbahnen von fünf zwischen 1970 und 1985 geborenen lateinamerikanischen Schriftsteller*innen sowie deren internationale, damit meine ich erstmals in andere Sprachen übersetzte, Debütromane. Besondere Bedeutung messe ich den jeweiligen intra- und extraliterarischen Autorbildern beziehungsweise -figuren zu, die die Autor*innen meines Korpus innerhalb ihres literarischen Textes, aber auch außerhalb dessen durch ihre Teilnahme an Interviews von sich konstruieren. Diese geben Auskunft darüber, weshalb Autor*innen letztlich das Prädikat Weltautor*in verliehen wird oder auch nicht. Mein Korpus setzt sich zusammen aus den mexikanischen Autor*innen Valeria Luiselli (geb. 1983) und Julián Herbert (geb. 1971) und ihren internationalen Debüts Papeles falsos (2010) und Canción de tumba (2011), der argentinischen Schriftstellerin Ariana Harwicz (geb. 1977) und ihrem Erstlingswerk Matate, amor (2012), dem kolumbianische Schriftsteller Juan Gabriel Vásquez (geb. 1973) und seinem Roman Los informantes (2004) sowie der dominikanischen Autorin Rita Indiana (geb. 1977) und ihrem Roman Papi (2011). Diese Auswahl an Schriftsteller*innen ist besonders spannend und untersuchungswürdig, da vor knapp sechzig Jahren schon einmal ihre lateinamerikanischen Herkunftsländer (Mexiko, Argentinien, Kolumbien – mit Ausnahme der Dominikanischen Republik), bedingt durch ihre international erfolgreichen literarischen Produktionen, ins Zentrum der globalen Aufmerksamkeit rückten: „Der plötzliche Durchbruch der lateinamerikanischen Literatur von lokaler zu internationaler Bedeutung ist ein bemerkenswertes Phänomen der 1960er-Jahre. Er fand in Mexiko und Argentinien, Kolumbien und Kuba nahezu gleichzeitig statt“ (Strausfeld 2019: 351). Im Buch werde ich zwar Bezüge zu den lateinamerikanischen Schriftsteller*innen jener Zeit herstellen, jedoch werde ich, entsprechend meines Fokus auf und Interesses an lateinamerikanischen Gegenwartsliteraturen, keinen systematischen Vergleich zwischen ‚damals‘ und ‚heute‘ vornehmen. Vielmehr sollen im Verlauf der Analyse Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den gegenwärtigen Autor*innen und ihren literarischen Debüts ermittelt werden, die Aufschluss über die Kriterien geben können, die lateinamerikanische Literaturen in der Gegenwart erfüllen müssen, um als Weltliteratur betrachtet zu werden.

1 Ouvertüre – Einleitung und Aufbau

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Das Buch gliedert sich in vier Teile. Der erste Teil und damit das Kapitel „Bühnenbild und Requisiten – Lateinamerika in der Weltliteratur-Debatte“ (Kapitel 2) widmet sich zunächst der begrifflichen Klärung. Es dient der Annäherung an den Forschungsgegenstand und führt in die gegenwärtige Debatte um das Konzept Weltliteratur ein. Das Kapitel spannt einen Bogen von den Ursprüngen des Konzeptes bis in die Gegenwart. Dabei fungieren Lateinamerika und lateinamerikanische Literaturen als Querschnittsthemen. In diesem Rahmen werden sowohl die Entwicklung, die zentralen Streitfragen als auch die Potenziale und die Operationalisierbarkeit des Konzeptes Weltliteratur aufgezeigt. Diskutiert werden ferner die eingangs bereits thematisierte Aneignung des Konzeptes durch den globalen Buchmarkt sowie die Benutzung des Welt-Kompositums in anderen künstlerischen Formaten wie Musik und Film. Das Kapitel schließt mit einem Überblick über die gegenwärtig äußerst diverse lateinamerikanische Literaturlandschaft und verortet diese in der Weltliteratur-Debatte. Zu Beginn des Kapitels „Besetzung und Regie – Die Konstruktion von Weltautor*innen“ (Kapitel 3) steht die Forschungsfrage, welche Bedingungen und Kriterien lateinamerikanische Weltautor*innen heutzutage erfüllen müssen und welche extra- und intraliterarischen Faktoren in diesem Fall zusammenwirken. Anschließend folgt eine Begründung des Korpus, eine kurze Vorstellung der einzelnen Autor*innen sowie eine Kontextualisierung und Einordung des Buchs vor dem Hintergrund des derzeitigen Forschungsstands sowohl in Bezug auf die Weltliteratur-Debatte als auch das Thema Autorschaft. Die Grundlage bilden Überlegungen zur veränderten Rolle von lateinamerikanischen Schriftsteller*innen in der Gegenwart, speziell vor dem Hintergrund der Eventisierung des öffentlichen Lebens und damit auch des Literaturbetriebs. Weiterhin soll die Stellung des Englischen auf dem globalen Buchmarkt umrissen und damit die Bedeutung einer englischen Übersetzung für die lateinamerikanischen Schriftsteller*innen und ihre Bücher erörtert werden. Im Anschluss werden die Kriterien Lesbarkeit, Übersetzbarkeit und Stil eingeführt, die bei der Analyse der literarischen Debüts zur Anwendung kommen sollen, und von denen ich ausgehe, dass sie Auswirkungen auf die Verleihung oder Verweigerung des weltliterarischen ‚Titels‘ haben. Darauf aufbauend formuliere ich die These, dass das Konzept Weltautor*in respektive Weltliteratur im frühen 21. Jahrhundert vornehmlich durch Verlage, (kommerzielle) Literaturkritik und Medien gebraucht wird, um transnational zirkulierende und rezipierte lateinamerikanische Schriftsteller*innen sowie ihre literarischen Werke (werbewirksam) auf dem globalen Buchmarkt zu platzieren. Deshalb liegt auch die Annahme nahe, dass die Bezeichnung Weltautor*in konsequenterweise denjenigen lateinamerikanischen Schriftsteller*innen vorbehal-

6

1 Ouvertüre – Einleitung und Aufbau

ten bleibt, die über transnationale Kompetenzen – erworben im Rahmen von Auslandsaufenthalten – verfügen, und die sowohl inner- als auch außerhalb ihrer literarischen Texte als Autor*innen eine Aura des*der ‚universal‘ gebildeten Kosmopolit*in kultivieren und zelebrieren. Das Kapitel endet mit der Erläuterung der theoretischen Ansätze, die zugleich die Basis für die nachfolgende Analyse darstellen. Hierzu zählt die Vorstellung der Konzepte Autorbild und Autorfigur sowie Schriftstellerbild und Schriftstellerfigur, die auf die Literaturwissenschaftlerinnen Ruth Amossy und María Teresa Gramuglio zurückgehen und die als zentrale Analysekategorien bei der Herausarbeitung der Autorinszenierungen der einzelnen lateinamerikanischen Schriftsteller*innen fungieren. Des Weiteren wird in diesem Zusammenhang kurz das hybride literarische Genre der Autofiktion vorgestellt, dem alle Bücher meines Korpus in gewisser Weise zuzuordnen sind. Der Hauptteil, das Kapitel „Die Blätter, die die Welt bedeuten – Analyse“ (Kapitel 4), untergliedert sich in vier Blöcke, wobei, mit Ausnahme der Autor*innen Luiselli und Herbert, die aufgrund ihrer gemeinsamen mexikanischen Herkunft in einem direkt vergleichenden Kapitel abgehandelt werden, jeweils jedem*jeder Autor*in des Korpus ein eigenes Unterkapitel zukommt. Die Analyse selbst wurde in allen Fällen nach extra- und intraliterarischen Dimensionen getrennt. Im Rahmen der extraliterarischen Analyse wird zunächst der schriftstellerische Werdegang der jeweiligen Autor*innen nachgezeichnet. Im Fokus stehen dabei die jeweilige Ausbildung der Schriftsteller*innen sowie ihr Einstieg in den Literaturbetrieb. Untersucht werden weiterhin, sofern vorhanden, die Nominierung sowie der Gewinn von Literaturpreisen und die Existenz und Anzahl von Übersetzungen in andere Sprachen. Von Interesse ist darüber hinaus die Frage, wie sich die Schriftsteller*innen in der Öffentlichkeit präsentieren und wo sie sich und ihre Literatur zum einen geografisch, zum anderen aber auch hinsichtlich ihrer literarischen Vorbilder und Referenzen verorten. Den Anfang der intraliterarischen Analyse bildet die inhaltliche Zusammenfassung des jeweiligen Debüts, der eine Diskussion der autofiktionalen Elemente desselbigen folgt. Das Hauptaugenmerk liegt auf den entworfenen Autorfiguren und -bildern, die es in einem nächsten Schritt herauszuarbeiten gilt, um sie anschließend auf ihr möglicherweise weltliterarisches Potenzial zu untersuchen. Den Abschluss bilden eine intensive Lektüre und Analyse einzelner Textpassagen der literarischen Werke, die sich an den Parametern Lesbarkeit, Übersetzbarkeit und Stil als mögliche Kriterien für Weltliteratur orientieren. Auf diese Weise soll Aufschluss über die Weltliterarizität der jeweiligen literarischen Texte gegeben werden.

1 Ouvertüre – Einleitung und Aufbau

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Eine Zusammenfassung der Forschungsergebnisse und Erkenntnisse der Arbeit, getrennt nach extra- und intraliterarischen Faktoren, beschließen das Buch im Kapitel „(Welt-)Bühne frei – Auswertung“ (Kapitel 5). Diesem folgt die Antwort auf die eingangs gestellte Frage nach dem Anforderungsprofil, das lateinamerikanische Autor*innen zu erfüllen haben, wenn sie auf der Bühne der Weltliteratur im Rampenlicht stehen wollen, welche das Kapitel „Coda – Fazit und Ausblick“ (Kapitel 6) liefert.

2 Bühnenbild und Requisiten – Lateinamerika in der Weltliteratur-Debatte 2.1 Nationalliteratur, ‚postnationale‘ Literatur, ‚neue‘, ‚junge‘, ‚alte‘ Weltliteratur – Eine konzeptionelle Annäherung an die gegenwärtige Debatte [T]he contemporary moment of world literature: a moment of purportedly global circulation that is really a moment of uneven distribution of the agency and ability to author and of uneven access to reading materials and to the means of publication. (Brouillette 2016: 104)

2.1.1 Weltliteratur – Begriffliche Ursprünge Bei dem Begriff Weltliteratur und dem damit verbundenen Konzept handelt es sich keineswegs um eine Neuschöpfung. Stattdessen geht dieser und seine Definition ursprünglich auf Johann Wolfgang von Goethe und seinen im Gespräch am 31. Januar 1827 mit Johann Peter Eckermann viel zitierten, nachfolgenden Satz zurück1: „Nationalliteratur will jetzt nicht viel sagen, die Epoche der Welt-Literatur ist an der Zeit, und jeder muß jetzt dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen“ (Eckermann et al. 1999). Selbst wenn Goethe zum damaligen Zeitpunkt noch keine explizite Konzeptualisierung vornahm, steht außer Zweifel, dass mit der Begrifflichkeit eine weltpolitische Zeitenwende, wenn nicht eingeleitet, so denn angekündigt wurde: „The term crystallized both a literary perspective and a new cultural awareness, a sense of an arising global modernity, whose epoch, as Goethe predicted, we now inhabit“ (Damrosch 2003: 1). Demnach vertrat Goethe die Ansicht, dass Literatur das Potenzial besäße, ideologische und identitäre Grenzen zwischen den Nationen zu überwinden und eine „Ära der globalen Gemeinschaft und universellen menschlichen Verbundenheit“ (Schoene 2013: 356) einleiten könne. Karl Marx und Friedrich Engels stellten knapp zwanzig Jahre später in ihrem Manifest der Kommunistischen Partei (1848) die wirtschaftliche Komponente des Konzeptes zur Diskussion. Indem sie Literatur als eine Ware begriffen, setzten sie

1 Auch wenn Goethe fast immer im Zusammenhang mit den Ursprüngen der WeltliteraturDebatte genannt wird, war es überraschenderweise nicht er selbst, der diesen Begriff erstmals gebrauchte, sondern bereits in den Vorlesungen über Kunst und Literatur (Schlegel 1884) aus den Jahren 1801 und 1802 von August Wilhelm Schlegel ist von Weltliteratur zu lesen. https://doi.org/10.1515/9783110748758-002

10

2 Bühnenbild und Requisiten – Lateinamerika in der Weltliteratur-Debatte

ihre Produktion und Zirkulation mit derjenigen anderer Güter auf dem Weltmarkt gleich (vgl. Thomsen 2008: 13). Mit Goethe verband sie in gewisser Weise der Glaube, Literatur könne einen gesellschaftlichen Wandel auslösen: „Die geistigen Erzeugnisse der einzelnen Nationen werden Gemeingut. Die nationale Einseitigkeit und Beschränktheit wird mehr und mehr unmöglich, und aus den vielen nationalen und lokalen Literaturen bildet sich eine Weltliteratur“ (Stedman Jones et al. 2012). Allerdings lagen Marx’ und Engels’ Konzept von Weltliteratur andere politische Absichten zugrunde: „[W]orld literature would […] work as an ideological instrument that would connect people and make them aware of their interdependence“ (Thomsen 2008: 13). Dass sich diese Zukunftserwartungen zunächst nicht erfüllen sollten, beweist die Tatsache, dass Nationalliteraturen, wenn auch nicht in dem Umfang von einst, bis dato fortbestehen. Sie existieren sowohl als Kategorie in der Wissenschaft, in Form von nach Sprachen getrennten Instituten, wie auch in der Buchbranche, zur Unterscheidung zwischen landeseigener und ‚internationaler‘ beziehungsweise ‚fremdsprachiger‘ oder der in Lateinamerika gebräuchlichen Bezeichnung ‚universaler Literatur‘ fort und wurden keineswegs obsolet. Als eine weitere Ursache für die fortwährende Beständigkeit und pragmatische Bedeutung der Nationalliteraturen gilt ihr implizites, mit der Sprache und dem Kontext vertrautes und verbundenes nationales Lesepublikum, das keinerlei ergänzender Erklärungen bedarf (vgl. Thomsen 2008: 11). Der Vorteil eines weltliterarischen Ansatzes liegt indes darin, dass dieser alle Literaturen der Welt als Teil eines einzigen globalen Literatursystems begreift. Der Schwerpunkt einer solchen Perspektive liegt also nicht wie bisher auf den nationalen (Sub-)Systemen, sondern auf den Schriftsteller*innen und ihren literarischen Werken unabhängig ihrer Herkunft (vgl. Thomsen 2008: 26). Auf diese Weise schafft das Paradigma Weltliteratur die Voraussetzung für eine umfassende und vollständige Beschreibung und Analyse der historischen und zukünftigen globalen Literaturproduktionen (vgl. Thomsen 2008: 5).

2.1.2 Exkurs: Nationale vs. postnationale Literatur Im 19. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Nationen, strebten auch die neu konsolidierten lateinamerikanischen Staaten in der Folge einer Abgrenzung von ihren Nachbarländern und insbesondere dem spanischen beziehungsweise portugiesischen Mutterland nach einer ihnen eigenen, die nationale Identität auszeichnenden Literatur (vgl. Ortiz Gambetta 2012: 11). Dies führte immer wieder zu heftigen Debatten zwischen den Anhänger*innen eines Regionalismus und

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den Vertreter*innen eines Kosmopolitismus, wie sie auch der brasilianische Literaturkritiker und Soziologe Antonio Candido in seinem viel zitierten Aufsatz „Literatura y subdesarrollo en América Latina“ aus dem Jahr 1972 problematisierte (vgl. Candido 2015). Dabei standen sich konservative, nationalistische Schriftsteller*innen auf der einen und kosmopolitische Schriftsteller*innen auf der anderen Seite gegenüber, die nach wie vor empfänglich für internationale literarische Strömungen und Bewegungen waren (vgl. Volpi 2010: 7 f.). Die Mobilität, die heutzutage lateinamerikanischen Schriftsteller*innen konstatiert wird, und bisweilen zu einer Infragestellung der tatsächlichen nationalen beziehungsweise ‚lateinamerikanischen‘ Herkunft führt, ist, selbst wenn dies oft behauptet wird, keinesfalls eine komplett neue Entwicklung (vgl. Quesada Gómez 2014: 12). Schon die Schriftsteller*innen des Booms2 besaßen wechselnde Wohnsitze und schrieben einen Teil ihrer Werke nicht von ihren Herkunftsländern, sondern von lateinamerikanischen Nachbarländern oder Europa, insbesondere von Frankreich oder Spanien, aus (vgl. Robbins/González 2014: 10). Wenngleich auch die Handlung ihrer Werke mehrheitlich in ihren Herkunftsländern situiert war.

2 „Etliche Schlagworte werden dem Begriff [Boom] zugeordnet: Phänomen, Kreativität, Mafia, Männerclub, Marktmechanismen, Werbekampagnen, Weltliteratur“ (Strausfeld 2019: 351 [Herv. i. O.]) – Eine einzige oder gar allgemeingültige Definition des Begriffs Boom, mit dem geheimhin der schlagartige Durchbruch, die transkontinentale Zirkulation und Rezeption sowie die damit verbundene erstaunliche „Breitenwirkung“ (Rössner 2007b: 326) lateinamerikanischer Literaturen in den 1960er-Jahren bezeichnet wird, existiert aufgrund der unterschiedlichen Lesarten dieser Sternstunde der lateinamerikanischen Literaturen nicht: „[E]l episodio es especialmente complejo, puesto que parece insuficiente cualquier explicación en términos exclusivamente ideológicos, estéticos o mercantiles“ (Sánchez López 2009: 19). In jedem Fall handelt es sich weder allein um ein rein kommerzielles Phänomen noch einte die damit in Verbindung gebrachte Schriftstellergruppe eine gemeinsame Ästhetik. Auch ist der Erfolg jener Literatur und Literat*innen nicht einzig auf die politischen Entwicklungen jener Zeit, allen voran die Kubanische Revolution, zurückzuführen (vgl. Sánchez López 2009: 19). Stattdessen handelt es sich vielmehr um ein multidimensionales Phänomen, das auch die daran beteiligten Akteur*innen und ihre Zeitgenossen auf ganz unterschiedlichste Weise erlebten: „[E]s un estadillo de buena literatura, un círculo cerrado de profundas amistades, un fenómeno internacional de multiplicación de lectores, una comunidad de intereses e ideales, un fecundo debate político y literario, salpicado de dramas personales y de destellos de alegría y felicidad“ (Ayén 2014: 11). Als einer der Auslöser gilt indes die Veröffentlichung des Romans Cien años de soledad des kolumbianischen Schriftstellers und späteren Literaturnobelpreisträgers Gabriel García Márquez im Jahr 1967 sowie seine Ankunft auf dem spanischen Buchmarkt zwei Jahre später (vgl. Strausfeld 2019: 353). Bereits die Hintergründe der Veröffentlichung des Romans können als Vorläufer, der mit dem Boom einsetzenden globalen Zirkulation spanischsprachiger Literaturen, betrachtet werden: „Que un colombiano residente en México publicara en Argentina era un indicio premonitorio del nuevo mercado global en español que iba a abrir el boom“ (Ayén 2014: 57).

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Gerade auf den Zeitraum des Booms, die 1960er-Jahre, werden auch die Anfänge der Internationalisierung der lateinamerikanischen Literaturen und damit ihre Sichtbarkeit, Übersetzung, Zirkulation und Rezeption über den Kontinent hinaus datiert (vgl. Bencomo 2009: 34)3. Die internationale Aufmerksamkeit auf Lateinamerika in der Folge des Booms führte nicht zu einer Erschließung der heterogenen Literaturlandschaften sowie der Herausbildung eines umfassenden Verständnisses über die verschiedenen (National-)Literaturen des Kontinents. Stattdessen ließ sie vor Ort zunächst den Eindruck entstehen, endlich über eine eigene, international anerkannte Literatur zu verfügen, die dem Kontinent jenseits der Nationalstaaten bei der Herausbildung eines kollektiven Identitätsbewusstsein unterstützen würde (vgl. Volpi 2010: 8). Gleichzeitig führte diese aber auch zur weltweiten Vermarktung eines dominanten, homogenen, stereotypen und exotisierenden Lateinamerikabildes, das des magischen Realismus4 – „América Latina = realismo mágico ©“ (Volpi 2010: 16) –, mit

3 Streng genommen ist die erste Phase der Internationalisierung bereits auf die literarische Bewegung des Modernismo und damit das Ende des 19. und den Beginn des 20. Jahrhunderts zurück zu datieren. Damals kam es erstmals, unter anderem begünstigt durch den Erfolg des literarischen Projektes des nicaraguanischen Autors Rubén Darío, zu einer Umkehrung der bisherigen Verhältnisse in der lateinamerikanischen Literaturproduktion, die sich darin manifestierte, dass sich nun spanische Literat*innen den Stil und die Schreibtechniken lateinamerikanischer Schriftsteller*innen aneigneten und nicht wie bisher umgekehrt (vgl. Candido 2015: 141). 4 Das, was heutzutage unter dem Begriff beziehungsweise Genre magischer Realismus vor allem in der Literaturpresse sowie im Verlagswesen kursiert, hat wenig gemein mit dessen kulturellen, politischen und historischen Ursprung sowie ursprünglich emanzipatorischer Bedeutung: „[E]l concepto de ‚realismo mágico‘ ha entretanto degenerado hasta convertirse en slogan, en una fórmula al alcance de la mano, en etiqueta de moda, cuyo uso denota con frecuencia, por parte del crítico, el deseo de responder a cierta expectativa en el lector europeo (y latinoamericano), quien espera encontrar en esta literatura, ante todo, lo exótico de un mundo aparentemente encantado por fuerzas míticas y mágicas“ (Gewecke 2013: 13 [Herv. i. O.]). Wie schon beim Konzept des Booms existiert auch hinsichtlich der Bedeutung und des Ursprungs des Begriffs magischer Realismus keine absolute Einstimmigkeit. In einem Punkt ähneln sich jedoch fast alle, der sich sonst widerstreitenden Positionen. Die dem literarischen Genre magischer Realismus zugeschriebenen Erzählformen versuchen, die der Begrifflichkeit inhärenten, einander widersprechenden Konzepte Magie und Realismus zu vereinen. Charakteristisch für diese literarische Form ist deshalb die ‚natürliche‘ Koexistenz von magischen und realen Elementen in der erzählten Welt, ohne dass weder das eine noch das andere als außergewöhnlich beziehungsweise besonders bemerkenswert hervorgehoben wird (vgl. Siskind 2014: 62). Der historische Ursprung der Begrifflichkeit geht, anders als erwartet werden mag, weder auf eine*n lateinamerikanische*n Kulturtheoretiker*in noch auf die Literatur im Allgemeinen zurück, sondern auf den deutschen Kunstkritiker Franz Roh (vgl. Siskind 2014: 63). Er war es, der den Begriff 1925 einführte, indem er ihn erstmals im Titel eines seiner Bücher über post-expressionistische Kunst gebrauchte. Dessen Bedeutung präzisierte er indes nicht weiter (vgl. Siskind 2014: 64). Lateinamerika erreichte die Begrifflich-

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dessen Auswirkungen Generationen von Schriftsteller*innen zum Teil noch bis heute zu kämpfen haben (vgl. Robbins/González 2014: 2).

keit durch den Austausch zwischen dem venezolanischen Schriftsteller Arturo Uslar Pietri, dem kubanisch-französischen Schriftsteller Alejo Carpentier sowie dem guatemaltekischen Schriftsteller Miguel Ángel Asturias. Alle drei lebten zu diesem Zeitpunkt in Paris, wo sie auch in Kontakt mit der französischen Kunstszene kamen. Sie waren es, die das Konzept auf die lateinamerikanischen Literaturen und ihr eigenes Schreiben übertrugen. Ihr Ziel war die Entwicklung einer dem lateinamerikanischen Kontinent eigener und zu dessen Kultur- und Gesellschaftsgeschichte passender ästhetischer Form: „In essays and novels from the late 1940s, they present magical realism as a way to achieve Latin America’s aesthetic emancipation, when the region first gives itself a literary identity of its own, markedly differentiated from those translated from Europe“ (Siskind 2014: 66). Wenn auch ausgehend von unterschiedlichen literarischen Ansätzen, vereinte die drei Literaten die Bemühung, eine neue Erzählform in der Region zu etablieren, die sich von der bisher dominanten, im Zuge des Kolonialismus etablierten „cultura criolla“ (Herv. i. O.) distanzierte und diese zu überwinden versuchte (vgl. Siskind 2014: 68): „[T]he concept became identified as an emancipatory cultural discourse capable of expressing the region’s historical particularity and desire to establish an aesthetic rhethoric independent of European modernism“ (Siskind 2014: 81). In diesem Kontext ist der (internationale) Erfolg des Romans Cien años de soledad des Kolumbianers Gabriel García Márquez zu verorten – mit seiner Familiensaga um das kolumbianische Dorf Macondo traf er gewissermaßen den Zeitgeist der Region: „Latin American history, the novel seems to say, inflicts wounds that hegemonic reason and realist forms of literary representation cannot suture“ (Siskind 2014: 88). Gleichzeitig weckte der nahezu globale Erfolg García Márquez’ aber auch die Hoffnung anderer (lateinamerikanischer) Literaturschaffender durch die Nachahmung der literarischen Form ebenso Teil dieses internationalen Erfolgsphänomens zu werden, so dass es in der Folge zu einer Kommerzialisierung und damit verbundenen ‚Sinnentleerung‘ des Genres kam: „These post-magical realist novels inscribed their poetics and circulated in a world literary field structured as a global market where magical realism had become a niche, a designated shelf in corporate bookstore chains“ (Siskind 2014: 96 [Herv. i. O.]). Die damit einhergehende und über Jahrzehnte fortbestehende Reduktion der lateinamerikanischen Literaturproduktion auf ebendiese magische Komponente durch ausländische Verleger*innen war es auch, die zum Widerstand anderer, vor allem auch jüngerer Schriftsteller*innen zwischen 1970 und 1990 führte. Allesamt bemühten sie sich, die tatsächliche literarische Diversität des Kontinents und damit ein Schreiben jenseits des magischen Realismus sichtbar zu machen: „[T]heir protest was not against historical magical realism and its founding fathers but against what had become of the genre after its globalization“ (Siskind 2014: 96 [Herv. i. O.]). Vor diesem Hintergrund ist es daher wichtig, dass, wenn ich im Folgenden den Begriff magischen Realismus gebrauche, ich mich primär auf den im Buchmarkt vorherrschenden inflationären Gebrauch des Terminus und die Kritik daran beziehe. Doch nicht überall verlor das Genre magischer Realismus durch die Globalisierung und die damit verbundene Entkoppelung des Genres von ihrem kulturhistorischen Kontext sein emanzipatorisches Potenzial. So fanden Literat*innen aus Ländern des Globalen Südens, speziell aus Indien – unter anderem bedingt durch ihre geteilten postkolonialen Erfahrungen, in dieser Form des Schreibens zahlreiche Anknüpfungspunkte zur Schaffung einer eigenen Ausdrucksform: „[E]l realismo mágico le ha otorgado al mundo descolonizado nuevas voces, nuevas maneras de enunciar sus preocupaciones y realidades […]“ (Maurya 2015: 252). Das Besondere an dieser transatlantischen Kulturgeschichte ist letztlich, vor allem im Kontext der gegenwärtig

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Wenngleich bereits durch die Manifeste und literarischen Projekte des McOndo und Crack, einer Gruppe von jungen lateinamerikanischen Literaten in Chile und Mexiko, die sich in den 1990er-Jahren herausbildete und die sich vehement gegen ein festgefahrenes Lateinamerikabild wehrte, mit jenen Erwartungshaltung gebrochen wurde5: „[D]er Erfolg dieser Autoren [dürfte] zu einer neuen Aufgeschlossenheit auch des europäischen Leserpublikums für Alternativen zum ‚Macondismo‘ und damit hoffentlich auch zu einer weniger kolonial-exotistischen Konsumhaltung führen“ (Rössner 2007a: 507). Dass dem nicht so ist, zeigt nicht zuletzt der Umstand, dass der Verweis auf den magischen Realismus noch immer für eine Großzahl an nicht lateinamerikanischen Verlagen als Marketingstrategie für die Literatur des Kontinents gebraucht wird, und sowohl die Existenz als auch Abwesenheit von Parallelen zu dieser literarischen Strömung in einer Vielzahl an Rezensionen weiterhin kommentiert wird. Das bemängelt auch der argentinische Schriftsteller Damián Tabarovsky: „‚Hay un grupo de editores extranjeros que siguen buscando una literatura very typical, ya sea retomando la herencia del Boom, los temas políticos o buscando cierto estilo de literatura internacional escrita en español‘“ (Scherer 2016 [Herv. i. O., Tabarovsky]). Aber auch im deutschen Verlagswesen wurden Autor*innen lateinamerikanischer Provenienz den Leser*innen über Jahrzehnte „als Mischung aus echtem Indio, tropischem Fabulierer, machistischem Latin lover und Guerillero“ (Rössner 2007c: VIII) präsentiert. Nichtsdestotrotz kann im Falle Lateinamerikas nicht nur von einer Überwindung der jeweils spezifischen nationalen Literaturen die Rede sein. Stattdessen ist ebenso eine Widerlegung beziehungsweise ein Bruch hinsichtlich festgefahrener Vorstellungen eines spezifisch ‚lateinamerikanischen Schreibens‘ vonseiten der Schriftsteller*innen ausmachbar: „[N]inguno siente la obligación de medirse con sus padres y abuelos latinoamericanos, o al menos no sólo con ellos; ninguno se asume ligado a una literatura nacional […], y ninguno cree que un escritor latinoamericano deba parecer, ay, latinoamericano“ (Volpi 2010: 3). Diese Diskussion ging sogar so weit, dass der mexikanische Schriftsteller Jorge Volpi die Existenz einer lateinamerikanischen Literatur per se infrage stellte, welche er als ein Konstrukt bezeichnete, das aufgrund der Unterschiedlichkeit der Li-

geführten Weltliteratur-Debatte, der Widerspruch zwischen lokal und global, den das Genre magischer Realismus mustergültig verkörpert. So steht es einerseits (noch immer) für eine besonders lokale ästhetische Form, andererseits, bedingt durch seine (All-)Präsenz in Anthologien und Lehrplänen weltweit, kann es aber auch als ein weltliterarisches und damit globales Genre per se betrachtet werden (vgl. Siskind 2014: 59). 5 Für weiterführende, überblicksartige Informationen zu McOndo und Crack siehe auch Rössner (2007a).

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teraturen der verschiedenen Länder, die nicht einmal die gleiche Sprache eine, an Glaubwürdigkeit verliere (vgl. Volpi 2010: 6). Der venezolanische Literaturwissenschaftler und Verleger der spanischsprachigen Programmreihe des französischen Verlagshauses Gallimard Gustavo Guerrero bestätigt die Tendenz einer bewussten Distanzierung gegenwärtiger Schriftsteller*innen in Bezug auf das Adjektiv lateinamerikanisch. Dieses sei verbunden mit einer Vielzahl – unvermeidlicher – Assoziationen hinsichtlich des Booms und den die globalen Vorstellungen von Lateinamerika prägenden Narrativen der Revolution und des magischen Realismus (vgl. Guerrero 2009: 27). Eine vollkommene Aufhebung der Bezeichnung sieht Guerrero dennoch längerfristig nicht gegeben, sondern nur einen neuen, kritischeren Umgang mit bisherigen Identitätskonzepten (vgl. Guerrero 2009: 28). Dementsprechend ist ein Denken im Plural erforderlich. Das Lateinamerikanische oder die lateinamerikanische Literatur im Singular als homogene Entität existiert nicht. Genauso wenig wie von einer europäischen oder afrikanischen Literatur gesprochen werden kann (vgl. Selasi 2013), zu heterogen sind die sie konstituierenden Länder, zu verschieden die literarischen Projekte. Im Gegensatz dazu koexistieren viele unterschiedliche, sich transformierende, zuweilen widersprüchliche Identitäten, die jede einzelne für sich die Diversität des lateinamerikanischen Kontinents ausmachen (vgl. Guerrero 2009: 28). Über die Jahrhunderte haben die Nationalliteraturen folglich ihre ursprünglich identitäts- und einheitsstiftende Funktion wie zu Zeiten der Nationenbildung eingebüßt. So ist das eigentliche Konzept von Nationalliteratur als die eines Landes genuine, sich klar von derjenigen anderer Länder differenzierte Literatur, längst überholt (vgl. Volpi 2010: 7). Ungeachtet dessen gelang eine vollkommene Transzendenz der Nationalliteraturen aber auch in der derzeitigen Weltliteratur-Debatte bislang nicht. Eine trennscharfe Unterscheidung zwischen den Literaturen der verschiedenen Länder kann allein schon deshalb nicht vorgenommen werden, weil die Historizität von globalem Austausch und Mobilität von Menschen und Gütern die Existenz einer ehemals homogen geglaubten nationalen Identität, Kultur und damit Literatur von Anfang an infrage stellt (vgl. Borsò 2003: 234, 246). Aus diesem Grund handelt es sich bei der Opposition von Nationalliteratur und Weltliteratur schlussendlich um einen historisch konstruierten Gegensatz, dessen ideologisches Fundament jüngst ins Wanken gekommen ist: „[V]ivimos una pérdida de los tradicionales referentes telúrico-biológicos de la identidad y el desmoronamiento del metaconcepto que la unificaba de las tradicionales nociones de territorio, pueblo, nación, país, comunidad, raíces“ (Aínsa 2012: 61).

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Müsste in der Gegenwart – im postmodernen Zeitalter – im Zuge einer Überwindung des methodologischen Nationalismus daher in adäquater Weise nicht eher von ‚postnationaler Literatur‘6 die Rede sein? Die Überwindung der Nationalstaaten und die Auflösung der ehemals organischen Verbindung von Kultur und Nation entband die lateinamerikanischen Schriftsteller*innen von der ihnen bis dato auferlegten Verpflichtung, andernorts als Kulturbotschafter*innen ihres Herkunftslandes zu fungieren und europäischen Leser*innen ein Bild ihrer Kultur zu vermitteln (vgl. Domínguez Michael 2005: 27 f.). Tatsächlich hat der Staat in Lateinamerika, mit wenigen Ausnahmen, beispielsweise in Mexiko, vielerorts seinen Stellenwert als Promotor des nationalen Kulturbetriebs und nationaler Kulturschaffender in Form von staatlichen Subventionen zu Lasten eines steigenden Einflusses des privaten Sektors eingebüßt. Infolgedessen ist ein Ausbau des Agierens und Wirkens transnationaler Konsortien, wie etwa der Mediengruppe Penguin Random House oder der Planeta-Gruppe im spanischsprachigen Raum bis hin zur Monopolisierung, auch in der Buchbranche, zu verzeichnen. In diesen Entwicklungen treten die Missstände eines in die Krise geratenen öffentlichen und institutionellen Kulturmodells zutage, die ihrerseits einen Wendepunkt im Kulturbereich ankündigen (vgl. Bencomo 2006: 18). Auch hinsichtlich der globalen Anerkennung von Schriftsteller*innen haben der Staat sowie die Positionierung von Schriftsteller*innen im nationalen literarischen Feld an Bedeutung verloren. Dies hat zur Folge, dass sich das lokale Renommee von Schriftsteller*innen durchaus auch auf globaler Ebene positiv niederschlagen kann, ohne dass Autor*innen zuvor von nationaler Seite gewürdigt werden. Der globale Erfolg spiegelt sich zurück auf die lokale Ebene, wo er zur Festigung der Position der Schriftsteller*innen beiträgt.

6 Der Begriff postnationale Literatur fällt nicht nur im Zusammenhang mit dem Wegfall der geografischen Komponente von Literatur, das heißt einer deterritorialen beziehungsweise transterritorialen Literatur ohne explizite nationale Bezüge wie im Fall der literarischen Gruppierung Crack. Darüber hinaus umfasst dieser ebenso die epistemologische Ebene. Das bedeutet, dass hierzu auch Literaturen zählen, die den Konstruktionscharakter des vermeintlich homogenen Nationalen offenlegen (vgl. Quesada Gómez 2014: 8). Somit handelt es sich um eine hybride Literatur, die gezielt nationale Vorgaben sowie literarische Traditionen transzendiert, auf Lokalkolorit und Folklore verzichtet und sich stattdessen den kulturellen Austausch zum Ziel setzt (vgl. González 2012: 52). Als Pendant dazu kann die ‚lokale Literatur‘, wie sie Ana Gallego Cuiñas bezeichnet, genannt werden. Diese ist aber nicht fälschlicherweise als eine nationalistische oder gar patriotische Literatur zu verstehen. Zwar ist diese Teil des lokalen und damit ‚nationalen‘ literarischen Feldes, widersetzt sich diesem und seinen Dynamiken aber gleichzeitig (vgl. Jurt 2015: 227).

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Genauso erfolgreich sind Autor*innen, die transnational auf extranationaler Ebene agieren. Dadurch sind sie unabhängig von staatlichen Subventionen in Form von Stipendien sowie Literaturpreisen und frei von den Zwängen und Traditionen einer konkreten Nationalliteratur (vgl. English 2005: 312). Während der Ausbau kapitalistischer Wirtschaftsstrukturen einerseits zu einem Rückgang der staatlichen Kontrolle auf dem Buchmarkt führte sowie dessen Einfluss eindämmte, bewirkte dieser andererseits einen Machtzuwachs des Marktes und Kapitals (vgl. Sapiro 2016a: 87). Diese Prozesse sind allerdings nicht mit einer vollkommenen Deterritorialisierung oder etwa einem postnationalen Zeitalter zu verwechseln. Obgleich die literarische Produktion wie auch die schriftstellerische Arbeit an sich nicht mehr an einen nationalen Rahmen gebunden sind, stellen Nationalstaaten, ihre Wirtschaftspolitik, Grenzen und Handelsabkommen weiterhin nicht zu vernachlässigende Kräfte auf dem globalen Buchmarkt dar (vgl. Esteban/Montoya Juárez 2011: 9). Die literarische Produktion in Lateinamerika kann deshalb nicht unabhängig des politischen und wirtschaftlichen Systems der Nationalstaaten konzipiert werden, sondern ist als heteronomes Feld innerhalb dieses Gefüges zu begreifen (vgl. Cheah 2014: 311). Die Beharrlichkeit, mit der der Terminus Nationalliteratur indes weiterhin gebraucht wird, ist darauf zurückzuführen, dass Schriftsteller*innen trotz alledem nicht komplett ohne einen nationalen Bezug innerhalb der literarischen Welt gedacht werden können, mögen diese noch so international, zum Beispiel in ihrer Biografie, ihrem Schreiben oder ihren literarischen Referenzen, ausgerichtet sein (vgl. Thomsen 2008: 23). Somit existieren, auch wenn der gegenwärtige Grundsatz lautet, dieses überholte Konzept nicht mehr zu gebrauchen, viele Stimmen, die dies weiterhin tun. Nichtsdestotrotz drängt sich in diesem Zusammenhang die Frage auf, inwiefern Schriftsteller*innen, die in einem anderen als ihrem Herkunftsland und in einer anderen als ihrer Muttersprache schreiben sowie sich literarische Traditionen anderer Regionen aneignen, lediglich einer einzigen Nation beziehungsweise Nationalität und damit Nationalliteratur zugeordnet werden können: Inwieweit sind Jorge Luis Borges, der die gesamten europäischen Traditionen zur Aufführung brachte, oder Julio Cortázar, der in Paris lebte und starb, argentinische Schriftsteller? Wenn man die Sprache als Kriterium für die Nationalität annimmt, ist dann Samuel Beckett ein irischer, englischer oder ein französischer Schriftsteller? (Borsò 2003: 234)

Diese Beispiele veranschaulichen, dass die eindeutige nationale Zuordnung von Schriftsteller*innen nicht (mehr länger) funktioniert. Stattdessen haben Autor*innen in vielen Fällen mehrere mögliche ‚literarische Staatsangehörigkeiten‘ zur Auswahl, wenn es darum geht, ihr eigenes literarisches Projekt sowie ihre schrift-

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stellerische Identität zu konstruieren: „[L]o nacional puede no ser ya subjetivamente un objeto de imperiosa lealtad sino una alternativa entre las varias de las que dispone un autor a la hora de construirse una identidad y de vincular su obra a un contexto determinado“ (Guerrero 2012: 80 f.). Der Wegfall der Notwendigkeit einer eindeutigen Zuschreibung zu einer einzigen Nation ist es des Weiteren, der bewirkt, dass sich Schriftsteller*innen nicht mehr dazu verpflichtet fühlen, einen konkreten Beitrag für die jeweilige(n) Nationalliteratur(en) zu leisten (vgl. Aínsa 2012: 116)7. Streng genommen verliert ein Werk jedoch durch seine internationale Kanonisierung und Denomination als Weltliteratur nicht notwendigerweise seine ursprüngliche Herkunft. Erst durch die weltweite Zirkulation sowie Rezeption an den unterschiedlichsten Orten der Welt, erweist sich die nationale Herkunftsbezeichnung im Laufe der Zeit als gegenstandslos (vgl. Damrosch 2003: 283).

2.1.3 Weltliteratur in der Gegenwart – Realität und Anspruch Trotz der Tatsache, dass Goethes Prophezeiungen hinsichtlich des Konzeptes Weltliteratur vorerst nicht eintrafen, fand die Debatte nicht etwa ein frühes Ende. Gerade aufgrund einer fehlenden anfänglichen eindeutigen Begriffsbestimmung hat sie im Laufe der Zeit an Brisanz zugenommen und unterschiedliche Richtungen eingeschlagen. Bei dem sich seit Mitte der 1990er-Jahre und der Jahrtausendwende bemerkbarmachenden Boom um die Begrifflichkeit handelt es sich deshalb weder um die Auferstehung eines in Vergessenheit geratenen Terminus noch um eine reine Modeerscheinung im Kontext einer sich zunehmend verflechtenden und vernetzten Welt. Um das Konzept operationalisierbar zu machen, muss allerdings zuerst überprüft werden, worauf sich Welt- im Konzept Weltliteratur tatsächlich bezieht, beziehungsweise was sich hinter dieser Bezeichnung verbirgt. In aller Regel basiert unsere Vorstellung von der Kategorie Welt auf einer räumlichen Konzeption, die den Planeten Erde als einen abgeschlossenen Behälter begreift und mit Begriffen wie Welt oder weltweit auf die größte mögliche Ausdehnung oder Verbreitung von Objekten und Menschen Bezug nimmt (vgl. Cheah 2014: 303). Wenn dagegen von Literatur im Zusammenhang mit Welt gesprochen wird, wird Literatur für gewöhnlich als eine Ware wie jede andere verstanden, die

7 Mehr zu lateinamerikanischen Schriftsteller*innen und der Weltliteratur-Debatte unter Kapitel 2.3.

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auf dem Weltmarkt zirkuliert: „[Literature] as an object of circulation in a global market of print commodities or as the product of a global system of production, either literally or by analogy“ (Cheah 2014: 305). Werden diese beiden Formeln zusammengesetzt, ergeben sie als Ganzes ein Konzept von Weltliteratur, bei dem die räumliche, in diesem Fall die globale Reichweite von Literatur, maßgeblich ist: „It refers to the extensive scope and scale of the production, circulation, consumption, and evaluation of literature“ (Cheah 2014: 306 f.). Auf einer Konzeption von Welt und Weltliteratur, die den Fokus auf die (weltweite) Zirkulation, Reichweite und Rezeption literarischer Werke legt, basieren vor allem die Überlegungen des US-amerikanischen Literaturwissenschaftlers David Damrosch (vgl. Damrosch 2006: 48). Dieser bildet neben dem italienischen Literaturwissenschaftler Franco Moretti und der französischen Literaturwissenschaftlerin Pascale Casanova und ihren viel diskutierten Publikationen „Conjectures on World Literature“ (Moretti 2000) und The World Republic of Letters (Casanova 2004) die klassische Triade der gegenwärtigen Weltliteratur-Debatte. Für Damrosch bringen die Zirkulation und die im Allgemeinen damit verbundene Übersetzung eines Werks einen Wertzugewinn mit sich (vgl. Damrosch 2003: 289). Bei dieser Art von ‚Reise‘ eines literarischen Textes über die Grenzen seines Produktionslandes hinweg durchläuft das literarische Werk eine Transformation, im Laufe welcher es zur Weltliteratur wird: A literary work is therefore like a traveler, even a protagonist of a bildungsroman. It enters into a horizon wider than its immediate home. It evolves and grows as it makes its way across the world just as the protagonist gains enlightenment in a developmental process of maturation. […] Hence, the circulated work does not only enter into the larger space of world literature. It becomes world literature. (Cheah 2014: 309 [Herv. i. O.])

Beim Prozess der Übersetzung verliert das literarische Werk jedoch keineswegs seine ehemalige Verbindung zum Herkunfts- und Produktionsland, sondern Weltliteratur entsteht erst als solche im Kontext jener fortdauernden Wechselbeziehung (vgl. Damrosch 2003: 283). Dennoch darf diese Wechselbeziehung nicht als eine Gleichsetzung der beiden literarischen Räume, will heißen des nationalen sowie des transnationalen Raumes, missverstanden werden, sondern es handelt sich hierbei um zwei Systeme mit ihren jeweils eigenen Funktionsweisen: „Book markets are nationally specific with rules and regulations, history, and systems as well as specific literatures and authors. But beyond that there is an extending global book market where other rules and systems apply“ (Steiner 2018: 130). Weltliteratur ist jedoch nicht etwa, wie fälschlicherweise angenommen werden könnte, die Summe aus den jeweils ‚besten‘ Literaturen der verschiedenen Weltregionen: „A work can hold a prominent place within its own culture but

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read poorly elsewhere, either because its language doesn’t translate well or because its cultural assumptions don’t travel“ (Damrosch 2003: 289). Zugleich hat eine solche Konzeptualisierung von Weltliteratur aber auch zur Folge, dass nur zur Weltliteratur werden beziehungsweise zählen kann, was außerhalb seiner Herkunft zirkuliert und wahrgenommen wird. Das Problematische an Damroschs Verständnis von Weltliteratur ist indes, dass er die Zirkulation von Büchern als etwas Selbstverständliches voraussetzt und keinesfalls die Bedingungen, unter welchen diese stattfindet, kritisch analysiert. Ferner berücksichtigt er auch nicht die Tatsache, dass, obwohl ein Buch international zirkulieren mag, dies nicht automatisch bedeutet, dass es tatsächlich von einer breiten Öffentlichkeit rezipiert wird. Selbst wenn er hervorhebt, dass keineswegs jedes literarische Werk den weltliterarischen Status erreichen kann, hinterfragt er die Ursachen hierfür nicht weiter. Stattdessen führt er dies auf die Unübersetzbarkeit oder zu starke kulturelle Verwurzelung bestimmter literarischer Werke zurück: „[S]ome works are not translatable without substantial loss, and so they remain largely within their local or national context, never achieving an effective life as world literature“ (Damrosch 2003: 289 [Herv. i. O.]). Die Akteur*innen, die an diesem Entscheidungs- und Wertungsprozess beteiligt sind und diese bedingen, hat er nicht im Blick. Durch seine Theorie einer ‚unsichtbaren Hand‘ ist seine Konzeption von Weltliteratur blind für das tatsächliche Machtungleichgewicht. Dementsprechend blendet er die Hierarchien und Barrieren, die zwischen den verschiedenen Regionen und Sprachen auf dem globalen (Buch-)Markt existieren und direkte Auswirkungen auf die Selektion beziehungsweise Exklusion literarischer Werke haben, ebenfalls aus. Trotz der Schwachstellen von Damroschs Weltliteratur-Konzept hat dieses in der Gegenwart keinesfalls ausgedient, obgleich emanzipatorische und transformative Bestrebungen zunehmen, die darauf abzielen, alternative, inklusive Konzepte, wie etwa das den Pluralismus fördernde Konzept Literaturen der Welt (Ette 2015), zu etablieren. Anstoß hierzu ist nicht zuletzt der Vorwurf des Eurozentrismus, der als eine Konstante in der historischen Genese der Begrifflichkeit zu betrachten ist (vgl. Domínguez 2012: 6). Welche Konsequenzen dieser auf die Auswahl der Texte hat, ist bis in die Gegenwart zu spüren: „For most of its history, the field of world literature has been associated with an established canon of primarily Western European classics and masterpieces“ (Thornber 2016: 107). Allerdings ist der Eurozentrismus definitiv nicht nur auf die geografische Herkunft des Konzeptes zurückzuführen. Vielmehr liegt er in der hegemonialen Deutungs- und Definitionsmacht des ‚Westens‘, dessen Imaginationen hinsichtlich anderer Weltregionen sowie dessen Literaturverständnis begründet (vgl. Damrosch 2003: 4 f.; Moraña 2006: 319): „Sie [die Zentren des Westens] scheinen die Welt zu öffnen,

2.1 Nationalliteratur, ‚postnationale‘ Literatur, ‚neue‘, ‚junge‘, ‚alte‘ Weltliteratur

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repräsentieren aber in Wirklichkeit nur die Weltanschauung jener Nationen, deren Muttersprache auch als lingua franca der Welt fungiert“ (Schoene 2013: 357 [Herv. i. O.]). Dadurch besitzt das Konzept einen Hang zur provinziellen, europaund nordamerikakonzentrierten „Nabelschau“ (Kuznetsova/Jürgensen 2016). In diesem Kontext muss ein weiterer, mit dem Eurozentrismus in direkter Verbindung stehender Kritikpunkt angeführt werden: die Situiertheit und Verortung der Entscheidungsträger*innen sowie die damit in Verbindung stehende ungleiche Machtverteilung während des Wertungs- beziehungsweise Wertzuschreibungsprozesses von Literatur: „El problema, como siempre, radica o está en desde dónde y desde quién se establece la valoración o la universalidad de un texto o de una obra artística“ (Achugar 2006: 201). Denn auch an der eigentlichen Debatte ist keinesfalls die ‚ganze Welt‘ beteiligt, sondern die „Macht über das Sortieren und Klassifizieren von Weltliteratur“ (Schoene 2013: 357) hat der ‚Westen‘ in der Hand. Lateinamerika beispielsweise stellt keinen legitimen Sprechort dar, sondern bleibt weiterhin mehr Labor für die Anwendung und weniger für die Er- und Ausarbeitung eigener Theorien und Konzepte (vgl. Sánchez Prado 2006: 9). Deshalb nimmt Lateinamerika auch in der Weltliteratur-Debatte weniger eine aktive, denn eine passive Rolle ein. Das heißt, die Beteiligung der Region an den Auswahlprozessen ist mehrheitlich im Sinne eines auserwählten Objektes anstatt eines entscheidenden Subjektes zu begreifen. Bei diesem Auswahlprozess täuscht somit erneut die vermeintlich inklusive und allumfassende Begrifflichkeit Welt- über das tatsächliche Ungleichgewicht bei der sozialen und geografischen Herkunft der beteiligten Kanonisierungsakteur*innen hinweg: „[L]a ‚literatura mundial‘ es producto […] del momento histórico que vive la clase media académica en partes de Occidente y algunas de sus periferias“ (Achugar 2006: 209). Die Sichtbarkeit von Schriftsteller*innen auf globaler Ebene sowie eine etwaige Verleihung des Weltliteratur-Status werden zudem durch das politische Gewicht sowie die geografische Größe des Herkunftslandes und durch die Literaturgeschichte der Region beeinflusst (vgl. Thomsen 2008: 14). Das wiederum erklärt die Tatsache, weshalb Regionen wie Zentralamerika, ihre Schriftsteller*innen und ihre Literaturen auf globaler Ebene kaum wahrgenommen werden. Als eine Ausnahmeerscheinung kann sicherlich der guatemaltekische Literaturnobelpreisträger des Jahres 1967 Miguel Ángel Asturias betrachtet werden, dem es aber längerfristig auch nicht gelang, eine gesteigerte, fortdauernde Aufmerksamkeit auf die Region zu lenken. Der weltliterarische Raum ist demnach, in gewisser Weise entsprechend der geopolitischen Lage, als ein durch ungleiche Macht- und Herrschaftsverhältnisse geprägter Raum zu verstehen (vgl. Casanova 2005: 82 f.).

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2 Bühnenbild und Requisiten – Lateinamerika in der Weltliteratur-Debatte

Jene heterogenen Ausgangsbedingungen sowie die global existierenden Hierarchien müssen bei einer Auseinandersetzung mit dem Konzept Weltliteratur stets mitgedacht und kritisch reflektiert werden (vgl. Mufti 2010: 465). Auffallend sind des Weiteren die vermeintlichen Aktualisierungen, die das Konzept in Publikationen wie Global playing in der Literatur: Ein Versuch über die Neue Weltliteratur (Sturm-Trigonakis 2007) oder Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler (Löffler 2014) erfuhr. Dabei handelt es sich weniger um konkrete inhaltliche beziehungsweise epistemologische Weiterentwicklungen des Konzeptes, sondern um den Wandel hinsichtlich der Auswahl der Werke. So verweist das Attribut neu auf die durch die Globalisierung veränderten Bedingungen der Literaturproduktion, die bei einer Operationalisierung des Konzeptes heutzutage mitgedacht werden müssen (vgl. Sturm-Trigonakis et al. 2013: 11). Laut der Literaturwissenschaftlerin Elke Sturm-Trigonakis manifestieren sich die Unterschiede sowohl auf stilistischer und linguistischer wie auch auf der inhaltlichen Ebene. Ihrer Ansicht nach sind die Mehrsprachigkeit der literarischen Werke sowie die Beschäftigung mit den Auswirkungen der Globalisierung die Merkmale der ‚neuen Weltliteratur‘ (vgl. Sturm-Trigonakis et al. 2013: 13). Ähnliches konstatiert die Literaturkritikerin Sigrid Löffler, deren Konzept von ‚neuer Weltliteratur‘ eine sogenannte „Migrationsliteratur“ (vgl. Löffler 2014: 9), eine „Literatur der Nicht-Muttersprachlichkeit“ (Löffler 2014: 15) sowie eine „Literatur mit Akzent“ (Löffler 2014: 15) umfasst. Zugleich stellt sich an dieser Stelle die Frage, weshalb das Konzept, trotz der angesprochenen Problematiken und seiner Unzulänglichkeit, weiterhin im Gebrauch ist. Fakt ist, dass, wenngleich es eine Weltliteratur in Form eines einzigen, fixen, universal gültigen Kanons an herausragenden Schriftsteller*innen und ihren literarischen Werken nicht gibt (vgl. Damrosch 2003: 6), sehr wohl ein gegenwärtiger medialer Diskurs über Weltliteratur existiert. Deshalb kann dessen Analyse auch nicht ohne einen Gebrauch des Begriffs funktionieren.

2.2 Das Label ‚Welt-‘ als Marketingstrategie eines globalen (Buch-)Marktes? 2.2.1 Markt, Macht, Weltliteratur In jüngster Zeit erfährt der Begriff Weltliteratur einen geradezu inflationären Gebrauch: Auf der einen Seite zählen hierzu akademische und daher mehrheitlich theoretische Debatten (Konferenzen, Symposien und Workshops), die im Rahmen von Forschungsprojekten primär an Universitäten des Globalen Nordens geführt werden. Allen voran ist hier das US-amerikanische Institute for World

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Literature der Harvard University zu nennen, das jährlich an unterschiedlichen Orten der Welt eine vierwöchige Sommerschule mit internationalen Expert*innen sowie Nachwuchswissenschaftler*innen zu unterschiedlichen Aspekten der Debatte abhält. Diese Debatten finden wiederum Ausdruck in einer Zunahme an akademischen Journalen und Publikationen, die sich mit dem Begriff, seiner Konzeptualisierung und möglicher Operationalisierung auseinandersetzen. Während sich die Diskussion in der Vergangenheit vor allem auf den anglophonen Sprachraum konzentrierte und damit vorrangig auf wissenschaftliche Veröffentlichungen in englischer Sprache beschränkte, sind aktuell auch erste interdisziplinäre Sammelbände auf Deutsch zu verzeichnen. Hierzu zählt zum einen die im Juni 2019 erschienene Aufsatzsammlung Gegenwartsliteratur – Weltliteratur. Historische und theoretische Perspektiven (Radaelli/Thurn 2017a), zum anderen das für 2022 angekündigte 600 Seiten umfassende Nachschlage- und Übersichtswerk Grundthemen der Literaturwissenschaft: Weltliteratur von Vittoria Borsò und Schamma Schahadat. Außerdem muss in diesem Zusammenhang die mittlerweile 17 Bände umfassende Schriftenreihe WeltLiteraturen/World Literature der Friedrich Schlegel Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien, erschienen beim Wissenschaftsverlag De Gruyter, sowie der Aufsatzband Verlag Macht Weltliteratur. Lateinamerikanisch-deutsche Kulturtransfers zwischen internationalem Literaturbetrieb und Übersetzungspolitik (Müller 2014) sowie die Monographie Wie wird Weltliteratur gemacht? Globale Zirkulationen lateinamerikanischer Literaturen (Müller 2020) erwähnt werden, die sich, wie die Titel bereits besagen, speziell mit der Debatte im lateinamerikanischen Kulturraum auseinandersetzen. Auf der anderen Seite hat auch die Kulturindustrie das Potenzial des Konzeptes für sich entdeckt. In diesem Kontext lädt sie in Kooperation mit Kultusund Bildungsministerien, Universitäten, Botschaften und Stiftungen zu einer Vielzahl an Literaturfestivals zum Thema ein. Hierzu zählen beispielsweise das in Köln stattfindende Festival der Weltliteratur Poetica, die Literaturtage von Litprom, der Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika e.V., das Internationale Literaturfestival Berlin (ilb), das in New York stattfindende PEN World Voices Festival oder aber auch das Hay Festival mit seinen weltweit wechselnden Austragungsorten und seinem Motto „Imagine the world“8.

8 Abgesehen vom Hay Festival und seinen Austragungsorten Querétaro (Mexiko), Cartagena de Indias (Kolumbien) und Arequipa (Peru) existiert in Lateinamerika kein anderes Festival in diesem Stile, das sich die Diffusion und Promotion lokaler sowie internationaler Literatur zur Aufgabe macht. Das wiederum unterstreicht, dass es sich bei der Debatte um Weltliteratur um eine Diskussion handelt, die primär im Globalen Norden ausgetragen wird. Nichtsdestotrotz nimmt auch das Interesse seitens der lateinamerikanischen Literaturkritik seit der Jahrtausendwende, wenn auch zögerlich, zu (vgl. Bolte/Klengel 2013: 7). Einzig die internationalen

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2 Bühnenbild und Requisiten – Lateinamerika in der Weltliteratur-Debatte

Dort sind es weniger internationale Wissenschaftler*innen, sondern Expert*innen aus der Presse, der Verlags- und Kulturbranche sowie die Schriftsteller*innen selbst, die über Literatur im Allgemeinen und speziell das Schreiben und Verlegen im Zeitalter der Globalisierung vor beziehungsweise mit einem Publikum debattieren. Jene Festivals schreiben sich nicht selten den Begriff Weltliteratur auf die Fahnen, welches Konzept von Welt beziehungsweise Literatur sie damit verbinden, bleibt allerdings in den meisten Fällen ungeklärt und geht nicht über diffuse, keineswegs eindeutige Definitionen hinaus. Das liegt zweifelsfrei in der Problematik des Konzeptes an sich und dessen bis dato begrifflicher Unschärfe begründet: „The concept of world literature is notoriously difficult to define. It obviously refers to a way of approaching literature that may exclude works by Martians and other extraterrestrials, but which, in principle, is open to all kinds of literature“ (Thomsen 2008: 2). Gerade diese begriffliche Unschärfe und Offenheit für scheinbar jeden Typus von Literatur sowie die miteinander konkurrierenden und sich in Teilen überschneidenden wie auch widersprechenden Definitionen begünstigen wiederum die vielfältige Aneignung und – je nach Kontext und Absicht – eigene Auslegung des Konzeptes. Während die Wissenschaft weiterhin versucht, die Begriffsproblematik annähernd zu lösen und dabei auch alternative Begrifflichkeiten prüft, hat die Buchbranche und Kulturindustrie sich das Konzept bereits zu eigen gemacht und es zum Aushängeschild eines globalen beziehungsweise globalisierten Buchmarktes erklärt. Das spiegelt sich in der ausufernden Tendenz wider, literarische Werke

Buchmessen mit ihrem wechselnden Kultur- und Gastlandprogramm, allen voran die Feria Internacional del Libro (FIL) in Guadalajara (Mexiko), die größte Buchmesse Lateinamerikas, erachtet dies als einen elementaren Bestandteil ihres Selbstverständnisses: „[L]as ferias internacionales del libro contribuyen a responder la pregunta: ¿Cómo se da en y por América Latina la literatura mundial?“ (Ferrari 2012: 27). Dennoch wächst auch im spanischsprachigen Raum die Zahl an Literaturfestivals in letzter Zeit konstant, was die argentinische Schriftstellerin Leila Guerriero in ihrem Artikel „El escritor ambulante“ in der Tageszeitung El País durch eine scheinbar nicht endende Liste an Veranstaltungen, die jährlich auf der Agenda von lateinamerikanischen Schriftsteller*innen stehen, zum Ausdruck bringt: „El Hay festival de España, Colombia, México y Perú; el festival Puerto de Ideas en Valparaíso; las ferias de Oaxaca, Guadalajara, Bogotá, Lima, Buenos Aires, Madrid, Santiago de Chile; las fiestas del libro de Medellín y Quito; el festival literario de Paraty en Brasil; el FILBA en Buenos Aires y Montevideo; el Festival Gabo en Medellín; la Bienal de Novela Mario Vargas Llosa en Lima; Centroamérica cuenta, en Nicaragua; los Encuentros Literarios de Formentor; el Festival de la Palabra en Puerto Rico; el Festival Ñ de Madrid; el Getafe negro; la Semana Negra de Gijón: mes a mes, uno o varios eventos de mayor y menor antigüedad reúnen, tan sólo en el mundo de habla hispana, a cientos de autores ante miles de personas“ (Guerriero 2017).

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jedweder Art, ohne klare Vorgehensweise oder gar spezifische, distinktive Kriterien mit dem Label Weltliteratur oder dem Attribut weltliterarisch zu versehen. Feststeht, der Begriff Weltliteratur hat gegenwärtig Konjunktur und dient vor diesem Hintergrund keinesfalls ausschließlich dazu, literarische Einzigartigkeit oder Erstklassigkeit auszuzeichnen, sondern vor allem, um ein literarisches Werk möglichst weltweit zu vermarkten. In seiner Funktion als Label ähnelt der Begriff in gewisser Weise demjenigen des Weltmeistertitels. Dabei verfolgt die Kulturindustrie keineswegs eine klare Strategie. Vielmehr wird in letzter Zeit fast durchweg ‚alles‘ als Weltliteratur klassifiziert, was an literarischen Werken außerhalb der Herkunftsregion der Schriftsteller*innen wahrgenommen wird beziehungsweise außerhalb des Produktionslandes (in Übersetzung) zirkuliert. Zudem werden literarische Werke mit dem Etikett Weltliteratur versehen, wenn ihre Handlung beziehungsweise ihr Inhalt als paradigmatisch für ein Gros der Menschheit gelesen werden kann: „La literatura mundial produce temas, modos reiterados de abordarlos, contenidos universales“ (Palou 2006: 314). Dies betrifft Bücher, die eine vermeintlich ‚universelle‘ Gültigkeit besitzen und sich mit Fragen und Themen beschäftigen, mit denen sich Leser*innen (derzeit) an den unterschiedlichsten Orten der Welt identifizieren können oder auseinandersetzen. Beispiele hierfür finden sich zum einen in Rezensionen sowohl im Kulturteil von Online- als auch Printmedien, wo Neuerscheinungen als „Meisterwerke der Weltliteratur“ angepriesen werden. Zum anderen aber auch in den Werbematerialien und Buchvorschauen der Verlage, die literarische Werke schon vor oder kurz nach ihrer Veröffentlichung als „Weltklassiker“ bezeichnen. Nicht zuletzt wird dieses Label auch direkt auf den Klappentext der Bücher selbst gedruckt. Auf diese Weise wird den Leser*innen unmissverständlich vermittelt, dass es sich bei dem vorliegenden Titel um „die neueste Weltliteratur“ oder „einen Meilenstein junger Weltliteratur“ handelt, dessen Autor*in zum erlesenen Kreis der „Weltautor*innen“ zählt oder in naher Zukunft die „Bühne“ oder wahlweise das „Parkett der Weltliteratur“ betreten wird. So zu finden beispielsweise bei dem 2017 auf Deutsch erschienenen Kurzgeschichtenband Ferngespräch (im Original Mis Documentos (2013)) des chilenischen Autors Alejandro Zambra. Auf dessen Schutzumschlag titelt der Verlag: „ALEJANDRO ZAMBRA schreibt die neueste Weltliteratur und FERNGESPRÄCH ist ein schillerndes Meisterwerk“ (Zambra 2017 [Herv. i. O.]). Etikettiert werden damit je nach Perspektive sowohl literarische Werke aus eher entlegenen (peripheren) Weltregionen, um den Leser*innen des Zentrums einen Einblick in die ‚Literaturen der Welt‘ zu gewähren, wie auch generell literarische Werke von vermeintlicher ‚universaler‘ und damit Weltbedeutung.

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2 Bühnenbild und Requisiten – Lateinamerika in der Weltliteratur-Debatte

Ein aktuelles Beispiel hierfür liefert der jüngst auf Deutsch erschienene Roman Brüste und Eier (2020) der japanischen Schriftstellerin Mieko Kawakami. In Rezensionen der Süddeutschen Zeitung und des Deutschlandradios Kultur wird er trotz oder gerade wegen seiner regionalen Spezifika als Weltliteratur bezeichnet, da es der Autorin gelingt, mit ihrem Roman (dennoch) ein globales Lesepublikum zu faszinieren (vgl. Liebert 2020): […] Kawakamis „Brüste und Eier“ [zählt] zu jener neuen Weltliteratur, deren kulturell spezifische Motive in jedem Land verstehbar sind. Mögen Teezeremonien auch typisch japanisch sein – der Optimierungsdruck, der auf Frauen und ihren Körpern lastet, ist es sicherlich nicht. Mieko Kawakamis meisterliche Erzählung von Weiblichkeit in der Postmoderne erweist sich als universeller Frauenroman. (März 2020)

Im Falle (erstmals) übersetzter Autor*innen und ihren literarischen Texten dient die Bezeichnung als Weltliteratur somit zunächst der Legitimation der Übersetzung. Das heißt, den potenziellen Leser*innen wird vermittelt, dass es sich bei dem vorliegenden Buch um ein unbedingt lesenswertes Buch handelt, da Leser*innen jedweder Herkunft sowohl ihnen unbekannte aber auch vertraute Elemente vorfinden können. Entsprechend verhilft eine derartige Etikettierung einem Buch vor allem zu mehr (medialer) Aufmerksamkeit. Wobei zumeist nicht hervorgeht, ob für das Erlangen jenes weltliterarischen Status der Inhalt, die Form oder die Herkunft beziehungsweise der Werdegang der Autorperson oder möglicherweise eine Kombination aller drei Faktoren entscheidend ist: „[T]he term itself does not state whether it encompasses all the literature of the world9, or only a certain kind of literature that stands out due to its formal qualities, thematic universality or some combination thereof“ (Thomsen 2008: 2). Nicht zu übersehen ist in diesem Kontext, dass mit besagtem Label, verbunden mit den Attributen ‚neu‘ oder ‚jung‘, vorrangig die literarischen Werke von Schriftsteller*innen aus dem Globalen Süden, die in der Aktualität größtenteils ihren Wohn-, Schreib- und Sprechort in den Globalen Norden verlegt haben, versehen und vermarktet werden: „Die[se] neue Weltliteratur ist eine dynamische, rasant wachsende, postethnische und transnationale Literatur, eine Literatur ohne festen Wohnsitz, geschrieben von Migranten, Pendlern zwischen den Kulturen, Transitreisenden in einer Welt in Bewegung“ (Löffler 2014: 17).

9 Damrosch zufolge nimmt das Konzept Weltliteratur keinesfalls Bezug auf die Gesamtheit aller Literaturen der Welt, für welche bereits die indefinite und nicht weiter wertende Bezeichnung Literatur existiere (vgl. Damrosch 2003: 4). Für andere dagegen ist Weltliteratur eine Komposition aus den Literaturen der einzelnen Sprachräume, welche ihrerseits in verschiedene Nationalliteraturen und ihre jeweiligen nationalen literarischen Felder untergliedert werden können (vgl. Jurt 2015: 227).

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Als exemplarisch für die unter dem Label Weltliteratur in der deutschsprachigen Presselandschaft kommerzialisierten und etikettierten Autor*innen können die Nigerianerin Chimamanda Ngozi Adichie, die singapurische Schriftstellerin Amanda Lee Koe, die Türkin Elif Shafak, die Japanerin Mieko Kawakami, der argentinisch-spanische Schriftsteller Andrés Neuman, die britische Schriftstellerin Taiye Selasi, der nigerianisch-US-amerikanische Schriftsteller Teju Cole, der Chilene Alejandro Zambra, die Mexikanerin Valeria Luiselli, der Kolumbianer Juan Gabriel Vásquez oder aber auch der US-amerikanisch-dominikanische Schriftsteller Junot Díaz genannt werden. Ein Teil jener Autor*innen findet sich auch in der Anthologie der deutschen Literaturkritikerin und Publizistin Sigrid Löffler mit dem irreführenden Titel Die neue Weltliteratur (2014) wieder. Darin schärft sie nicht etwa den Blick für die Literaturen der Welt außerhalb des Zentrums, sondern kartographiert lediglich diejenigen des ehemaligen britischen Commonwealth, was sicherlich auch an ihren begrenzten Sprachkenntnissen liegen mag. Die Bezeichnung Weltliteratur ohne vorangestelltes Attribut bleibt dagegen den sogenannten – europäischen und nordamerikanischen – ‚Klassikern‘ der Literaturgeschichte vorbehalten. Allein schon die Sektion Weltliteratur, die bis zu seinem Umbau im Jahr 2017 im Berliner Kulturkaufhaus Dussmann zu finden war, spricht Bände, da diese keine zeitgenössischen Schriftsteller*innen beinhaltete (vgl. Kuznetsova/Jürgensen 2016). Stattdessen stießen Leser*innen dort auf Johann Wolfgang von Goethe, William Shakespeare, Dante Alighieri und Ernest Hemingway – allesamt Herren, die bereits ihren festen Sitz im literarischen Pantheon eingenommen haben: „Europäische Altmeister, die weltweit Unterrichtsmaterialien, Bibliotheken und Bestenlisten dominieren. Sie stehen sinnbildlich für literarische Exzellenz“ (Kuznetsova/Jürgensen 2016). Weltliteratur wird in der Gegenwart demzufolge immer mehr zu einer reinen Verkaufs- und Marketingkategorie: „[W]orld literature is a consumable commodity constrained by market demand“ (Brouillette 2016: 93). Zeugnis hierfür sind nicht zuletzt auch die zahlreichen Weltliteratur-Anthologien oder ‚Klassiker der Weltliteratur‘-Buchreihen, die in Buchhandlungen vornehmlich in der Vorweihnachtszeit erhältlich sind, sowie die allgemeine Zunahme an Weltmusik-Plattenund -CD-Sammlungen (vgl. English 2005: 306). Im günstigsten Falle eignet sich das jeweilige literarische Werk zudem für eine multidimensionale, in anderen Worten, mehrgleisige Kommodifizierung: „It [the writing] wants to be read across borders, it wants to be included in lucrative international translation rights deals, it wants to be understood by people all around the world […] and it wants to be adapted for film“ (Brouillette 2016: 96). In das Bild von Weltliteratur als Marktprodukt fügt sich ebenfalls die Tatsache ein, dass es sich trotz der Bestrebungen, die Perspektive auch auf nicht europäi-

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sche Literatur auszuweiten, weiterhin um ein weitestgehend eurozentrisches Konzept handelt, das nur vermeintlich die ‚Literaturen der Welt‘ abbildet: „[A] modest and economically opportunistic expansion, along multiculturalist lines, of this still relatively stable, still essentially Western, literary canon“ (English 2005: 306). Vor diesem Hintergrund übt die Redaktion des US-amerikanischen Literaturmagazins n + 1 in ihrem Leitartikel „World Lite: What is Global Literature?“ (The editors 2013) vernichtende Kritik an den jüngsten Entwicklungen in der Weltliteratur-Debatte sowie besonders am gegenwärtigen Status quo der World Republic of Letters10, die nur noch ‚seichte‘ und schöngeistige, aber keinesfalls mehr kritische, politisch engagierte Literatur hervorbringe: It has its own economy, consisting of international publishing networks, scouts, and book fairs. It has its prizes: the Nobel, of course […]. Its political arm is PEN. And it has a social calendar full of literary festivals, which bring global elites into contact with the glittering stars of World Lit. (The editors 2013)

Dass die gegenwärtige Weltliteratur-Debatte das dem Konzept zugrundeliegende politische Potenzial nicht effektiv und damit transformativ zu nutzen wisse, wird unlängst von unterschiedlichen Stimmen immer wieder bemängelt (vgl. Schoene

10 Der Begriff World Republic of Letters geht auf Pascale Casanova zurück, die diesen in ihrem erstmals 1999 auf Französisch veröffentlichten und viel diskutierten Buch La République mondiale des lettres einführte. Die World Republic of Letters, so Casanova, besitze eine eigenständige Funktionsweise mit eigener Wirtschaft und Geschichte. Sie zeichne sich durch den Gegensatz zwischen einem Zentrum und den Peripherien aus, welche sich durch den Gebrauch verschiedener Ästhetiken unterscheiden. Ferner verfüge sie über ihre eigenen Autoritäten, die auf der Basis eines internationalen Literaturgesetzes über Fragen der literarischen Anerkennung entscheiden. Die sie ausmachende literarische Produktion sei keinesfalls in einem harmonischen oder machtfreien Vakuum zu verorten. Stattdessen sei sie durch einen Wettstreit rivalisierender und konkurrierender literarischer Stimmen geprägt (vgl. Casanova 2004: 11 f.): „This field is structured by unequal power relations between cultures according to their literary capital, which can be quantified through the number of works that entered the world literary canon“ (Sapiro/Ungureanu 2020: 161). Entscheidend für die Positionierung einer Region ist demnach ihr literarisches Prestige gemessen anhand ihres literarischen Kapitals. Deshalb verortete Casanova die literarische Hauptstadt dieser World Republic of Letters in Frankreich, genauer gesagt in Paris: „[…] Paris became the capital of the literary world, the city endowed with the greatest literary prestige on earth“ (Casanova 2004: 23 f.). Nicht nur deshalb, sondern auch wegen ihres generellen Schwerpunkts auf frankophone Literaturen innerhalb der Monografie, wurde Casanova eine frankozentrische und somit reduzierte Analyseperspektive unterstellt, so dass ihre Ausführungen auf globaler Ebene nur eine eingeschränkte Gültigkeit besitzen (siehe dazu unter anderem die Kritik von Sánchez Prado (2006)). Dieses kritische Urteil führte wiederum dazu, dass Casanova 2005 einen weiteren Aufsatz veröffentlichte, in welchem sie auf die Kritik einging und ihre Ausführungen näher differenzierte (vgl. Casanova 2005).

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2013: 360). Allerdings muss an der Stelle auch erörtert werden, ob hier von Weltliteratur nicht zu viel erwartet wird. So stellt sich doch zunächst die Frage, inwiefern (Welt-)Literatur überhaupt nach einer solchen Transformation strebt, anders ausgedrückt einen soziopolitischen sowie epistemischen Wandel zu evozieren beabsichtigt, wie ihn der Literaturwissenschaftler und Komparatist Djelal Kadir konstatiert: „[W]orld literature today is a critical discourse and an epistemological project“ (Kadir 2013: 294). Dieser Vision kann insofern ein Dämpfer versetzt werden, da die Wahl eines Textes zur Weltliteratur durch dessen politische Zweifellosigkeit und ideologische Unbefangenheit bedingt wird (vgl. Schoene 2013: 360). Des Weiteren besetzt und dominiert das Establishment mit seinem kapitalistisches Grundprinzip weiterhin die entscheidenden Positionen: „In an age of moribund and ravenous capital, whose predatory drones and zombie minions view all cultures as opportune targets, cultural production such as literature is also considered in terms of its translocal viability and circulatory market potential“ (Kadir 2013: 295). In einem kapitalistischen System, in dem Literatur mittels ihrer marktwirtschaftlichen Rentabilität sowie ihres weltweiten Verkaufspotenzials kategorisiert und bewertet wird, kann sich die Weltliteratur-Debatte gar nicht erheblich anders politisch als der Mainstream positionieren oder etwa den Spielregeln des globalen Marktes widersetzen.

2.2.2 Weltliteratur, -musik, -kino Die Kommerzialisierung und weltweite Vermarktung von Weltliteratur, die nichtsdestotrotz an eine ‚Sinnentwertung‘ oder zumindest ‚-umwertung‘ grenzen, weisen deutliche Parallelen zu früheren, wenngleich noch andauernden Debatten um die Konzepte Weltmusik und Weltkino auf. Deshalb überschneiden sich auch die Begriffsdiskussionen hinsichtlich der geäußerten Kritikpunkte (vgl. English 2005: 306). Nicht ohne Grund wird Weltliteratur in diesem Zusammenhang als „literarischer Evergreen“ (Sturm-Trigonakis et al. 2013: 14 [Ü. d. V.]) bezeichnet. Auch was unter Weltmusik oder Weltkino zu verstehen ist, definieren längst nicht mehr nur Musik-, Film- und Kulturwissenschaftler*innen oder etwa die Musiker*innen und Filmemacher*innen selbst. Auf diesem Terrain gibt ebenso wie im Buchmarkt die globale Kulturindustrie im wahrsten Sinne des Wortes den Ton an (vgl. Feld 2000: 151). Allerdings hat sich das Konzept Weltliteratur, anders als die Kategorien Weltmusik und Weltkino, nicht erst im Zuge der Globalisierung gegen Ende des 20. Jahrhunderts herausgebildet, sondern kann auf eine, bereits thematisierte, nahezu zweihundertjährige Begriffs- und Rezeptionsgeschichte zurückblicken (vgl. English 2005: 306).

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Weltliteratur wie auch Weltmusik und -kino sind nicht nur als bloße Rubriken in der Buchhandlung oder dem Plattenladen beziehungsweise Musikfachgeschäft zu verstehen, unter die sich weniger kommerzialisierbare, nicht nationale oder autochthonen Minderheiten zugehörige kulturelle Güter subsummieren lassen (vgl. English 2005: 307). Obwohl die Sektion in manch einer Buchhandlung oder einem Plattenladen existieren mag, handelt es sich bei kulturellen Produkten mit dem Welt-Kompositum vorrangig um ein speziell auf westliche Konsument*innen zugeschnittenes Export- oder je nach Blickwinkel Importprodukt (vgl. English 2005: 307): „[W]orld literature is widely understood […] as a niche commercial category serving relatively elite consumers’ desires to be exposed to exotic or simply unusual experiences or even just to have their own biases confirmed“ (Brouillette 2016: 95 f.). Diese Beobachtung legt die Schlussfolgerung nahe, dass diejenigen Literaturen, die unter dem Begriff Weltliteratur beworben werden, sich nicht an ein globales Lesepublikum richten, sondern sich vielmehr an der Nachfrage und den Bedürfnissen einer begrenzten Leserschaft orientieren. Vor diesem Hintergrund ist es erwartungsgemäß der Markt, der, indem er Angebot und Nachfrage steuert, auch darüber entscheidet, was als Weltliteratur gilt und was nicht. In der Folge gilt es, Weltliteratur in der Gegenwart als einen Effekt des Marktes zu begreifen (vgl. Palou 2006: 313). Daraus ergibt sich aber auch, dass es sich hierbei nicht um eine, dem literarischen Werk inhärente Eigenschaft, sondern vielmehr um eine extraliterarische, das heißt von äußeren Faktoren abhängige, Kategorie handelt. Mit dem Label Welt- wird somit all das versehen, was den Nachfragen und Trends eines kaufkräftigen, bildungs- und weltbürgerlichen sowie vermeintlich kosmopolitischen Sektors entspricht. Dazu gehören einerseits kulturelle Produkte, die den Leser*innen ferne und exotische Welten präsentieren, wodurch die Lektüre zur Reiseerfahrung in das Unbekannte wird. Andererseits zählen hierzu aber auch Produkte, die die existierenden – stereotypen – (Welt-)Ansichten jener Leser*innen bestätigen und ihre Komfortzone keinesfalls infrage stellen: „Wie zuvor schon die ‚multikulturellen‘ und ‚postkolonialen‘ Studien, so erlaubt auch die Konzeption einer entsprechend verstandenen World Literature den Studenten zu probieren wie das Andere ‚schmeckt‘, ohne es dann auch ‚verdauen‘ zu müssen“ (Figueira 2014: 122 [Herv. i. O.]). In dieser Hinsicht steht der Gebrauch des Weltliteratur-Begriffs durch die Kulturindustrie demjenigen von Weltmusik und seiner weltweiten Vermarktung von „tanzbarer Ethnizität und exotischer Alterität“ (Feld 2000: 151) auf Festivals wie dem WOMEX (World Music Expo) oder dem WOMAD (World of Music, Arts and Dance) in nichts nach. Exemplarisch hierfür ist eine Pressestimme des WDR zum Roman Diese Dinge geschehen nicht einfach so (2013), im englischen Original Ghana Must Go, der briti-

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schen Schriftstellerin Taiye Selasi zu verstehen. Besprochen wird das Buch als Weltliteratur und „lesenswerte Geschichte mit Ethno-Touch“ (Noller 2013). Ferner manifestiert sich das Überlegenheitsgefühl westlicher Literaturkritiker*innen aber auch in Sigrid Löfflers äußerst vermessenem Kommentar über die ‚neue Weltliteratur‘ in einem Interview im Deutschlandradio, deren Ursprung sie in „Weltgegenden [verortet], von denen wir [sic!] bisher gar nicht gedacht haben, dass dort Literatur entstehen könnte, also aus dem indischen Subkontinent, aus Afrika, aus der Karibik“ (Pokatzky 2013). Wer unter dem Stichwort Weltliteratur nach noch lebenden weißen deutschen Schriftsteller*innen sucht, wird nicht fündig. Auch die Suche nach weißen deutschen Bands in der Sparte Global Pop, wie der Terminus Weltmusik nun in aktualisierter, hipper Version gemeinhin genannt wird, führt kaum zu einem zufriedenstellenden Ergebnis. Ein kurioser Sonderfall ist sicherlich die bayerische Blasmusikgruppe LaBrassBanda, die bayerische Folklore mit Rhythmen, Beats und Einflüssen anderer Musikrichtungen kombiniert und deren Musik in der Presse folgendermaßen charakterisiert wird: „BrassBanda machen kunterbunte Weltmusik, aber eben mit weiß-blauen Rauten“ (Jakat 2011). Das erweckt den Anschein, als wohne dem Welt-Kompositum eine alterisierende, ethnisierende Tendenz inne. Impliziert das Etikett Welt-, vielmehr seine anglophone Aktualisierung Global, also allseits Bekanntes und Bewährtes mit einer Prise wohldosiertem Exotismus? Ausgezeichnet werden damit auf jeden Fall primär Schriftsteller*innen, Musikproduzent*innen und Filmemacher*innen mit transnationaler oder postmigrantischer Biografie und keinesfalls weiße Kunstschaffende, die ihr komplettes Leben im Globalen Norden verbracht haben: „Diese hybride Weltliteratur ist keine Nische, nichts Marginales, sondern der Hauptstrom der gegenwärtigen Kulturproduktion“ (Mangold 2014). Sind unter der Fokussierung dieser Weltliteratur-Dimension Weltliteratur und -musik am Ende demgemäß nur Substitute für vormals geläufige, aber aufgrund ihrer Hierarchie kritisierte, überholte Bezeichnungen wie ‚Dritte Welt‘-Literatur oder -Musik? Vermittelt das Konzept Weltliteratur somit eine alte Botschaft in neuer Verpackung? Ist die Offenheit und Aufnahmebereitschaft gegenüber Literaturen jedweden Typus und jedweder Region am Ende nur ein Trugschluss und ein Vorwand einer „alten Weltliteratur gewürzt mit exotischen und außergewöhnlichen Repräsentant*innen vom ‚Rest des Westens‘“ (Shih 2004: 29 [Ü. d. V.])? Jene Position über den ‚alten Wein in neuen Schläuchen‘, die die ideologische Nähe zu nicht mehr zeitgemäßen Begrifflichkeiten kaschiert, vertritt auch Dorothy Figueira angesichts des World Literature Studies Boom an US-amerikanischen Universitäten:

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2 Bühnenbild und Requisiten – Lateinamerika in der Weltliteratur-Debatte

Im Bereich der amerikanischen Universitäten wurden diese Völker und ihre Kulturen zuerst unter der Rubrik „Multikulturalismus“, später dann unter dem Begriff „postkoloniale Literatur“ verhandelt und nun wird der konstruierte Forschungsgegenstand als World Literature etikettiert und vermarktet. (Figueira 2014: 120 [Herv. i. O.])

Daneben stellt sich die Frage, ob die Denomination Weltliteratur oder auch -musik und -kino nicht auch mit dem Sprechort verbunden ist, von dem aus kulturelle Produkte klassifiziert werden: „[Es] muss stets gefragt werden, von welchem Standpunkt, von welchem Ort aus man auf die Welt schaut; ob dieser Ort mit dem der eigenen […] Tradition zusammenfällt und ob man nicht andere Orte an dieses Zentrum schlichtweg assimiliert“ (Borsò 2003: 235). Damit ist gemeint, ob – umgekehrt – in einem mexikanischen Musikgeschäft nicht auch ein bayerischer Schuhplattler-Soundtrack oder eine tschechische Polka-Schallplatte in der Sektion Weltmusik zu finden wären und ein Werk eines französischen Autors oder einer Schweizerin, das in Paraguay vertrieben wird, auch aufgrund der Distanz, die es zurückgelegt hat, vor Ort als Weltliteratur bezeichnet werden würde. Diese Vermutung liegt insofern nahe, da es die eine Weltliteratur als solche oder den einen weltliterarischen Kanon nicht gibt, sondern je nach (Lese-, Seh- und Hör-)Perspektive hierzu andere Werke gezählt oder außen vorgelassen werden (vgl. Damrosch 2003: 5). Weltliteratur sollte daher nicht als eine feststehende, starre Einheit, sondern immer im Plural gedacht werden. Fungieren die Kategorien Weltliteratur, -musik oder -kino letztlich doch als Sammelbegriffe für kulturelle Produkte, die nicht in bestehende lokale, vermeintlich ‚universale‘ Klassifizierungsregister passen oder, in anderen Worten, keinen gängigen und ‚allgemeingültigen‘ Genres entsprechen? Ist die Kategorie Weltliteratur demnach stellvertretend für nicht ohne weiteres kategorisierbare literarische Texte zu verstehen? Eine solche Vermutung entspräche in etwa Thomsens Erwägung, inwieweit Weltliteratur, ähnlich wie Weltmusik, als ein Amalgam zu begreifen sei, in dem unterschiedliche lokale Einflüsse zu einem neuen hybriden Produkt verschmelzen, dessen ursprünglicher nationaler Ursprung nicht mehr eindeutig feststellbar ist (vgl. Thomsen 2008: 2). Schließlich würde dies sich ebenso erschwerend auf die Kategorisierung auswirken. Und müssten die literarischen Texte, die derzeit unter dem Label Weltliteratur im Umlauf sind, nicht eher als ‚globale Literatur‘11 oder noch treffender, auf11 Als ‚globale Literatur‘ werden Anadeli Bencomo zufolge literarische Texte, allen voran Romane, bezeichnet, die – vermeintlich – ‚ungehindert‘ weltweit zirkulieren. Diese zeichnen sich durch eine voraussagbare, vorgefertigte, um nicht zu sagen ‚platte‘ Handlung und durch eine neutrale bis hin einfache und leicht zu übersetzende Sprache aus. Weiterhin handelt es sich bei jenen Büchern sowie den Verfasser*innen um Autor*innen, die keine stilistischen Experi-

2.2 Das Label ‚Welt-‘ als Marketingstrategie eines globalen (Buch-)Marktes?

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grund ihrer globalen Sichtbarkeit, Zirkulation und Distribution, als ‚globalisierte Literatur‘ bezeichnet werden? – Etwa so, wie es bereits in der Musikindustrie mit der Bezeichnung Global Pop oder je nach Genre auch Global Bass zu beobachten ist? So spricht einiges für die Annahme, dass der derzeitige Hype um den Begriff Weltliteratur in der Kulturindustrie nicht mehr viel mit der unter anderem auf Goethe zurückgehenden Begrifflichkeit und dessen Konzept von Weltliteratur gemein hat. Selbst wenn sich durch den Gebrauch eines Anglizismus am Sinngehalt des Konzeptes zunächst einmal nichts ändern würde, würde ein Wegfall des WeltKompositums die umstrittene inhärente, wertende Komponente, die die Rezeptionsgeschichte von Weltliteratur beeinflusst, in den Hintergrund rücken. Gleichwohl führt eine Streichung der Bezeichnung nicht zwingend zu einem faireren und demokratischeren globalen Buchmarkt. Es würde sicherlich nicht lange dauern, bis an seiner statt ein anderer Begriff diese evaluierende und distinguierende Funktion einnehmen würde. Eine Alternativbezeichnung wie ‚global(e)/isierte Literatur‘ für die bisher als ‚neue Weltliteratur‘ titulierte Literatur wäre aber insofern funktional, da auf diese Weise der jene Literatur charakterisierende Bezug zu Themen globaler gesellschaftlicher Relevanz, im Speziellen den Herausforderungen der Globalisierung, in den Vordergrund gestellt werden würde. Damit wäre von Anfang an klar, dass sich all jene literarischen Texte vorrangig an ein internationales und nicht ‚nationales‘ Lesepublikum richten und wenn nicht von Weltbedeutung, so denn – unabhängig ihrer ‚literarischen Qualität‘ – von globaler Bedeutung und Reichweite sind. Gerade letzter Punkt ist von entscheidender Relevanz: Die Auszeichnung von Literatur als Weltliteratur erfolgt im Moment in der Mehrheit nicht aufgrund von literarischer Einzigartigkeit, stilistischer Innovation oder aber wegen eines zeitlosen Inhalts, der das literarische Werk noch in Jahrzehnten zeitge-

mente riskieren, sondern sich mehr an der Nachfrage eines globalen (Buch-)Marktes orientieren und sich folglich nach den Parametern der Bestsellerliteratur richten (vgl. Bencomo 2009: 44). Entsprechend wird nicht nur die Wahl der Sprache vom Markt diktiert, sondern die Globalisierung und die Herausbildung eines globalen Buchmarktes bewirkten ebenso die Schaffung eines neuen literarischen Genres, des globalen Romans, der frei von Regionalismen, lokalen Markierungen oder ortsspezifischen Themen ein globales Lesepublikum anspricht (vgl. Gallego Cuiñas 2014: 3). Gemäß Gallego Cuiñas erfordert die Zuordnung zu jenem Genre eine gewisse Neutralisierung im Schreibprozess, im Zuge derer lokale Markierungen und Spezifikationen, die eine spätere Zirkulation oder ungehinderte Rezeption einschränken könnten, eingeebnet werden: „‚[L]o global‘ supone un término ‚neutralizador‘ que asimila el objeto literario a un modelo dominante más ‚legible (vendible)“ (Gallego Cuiñas 2014: 3).

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2 Bühnenbild und Requisiten – Lateinamerika in der Weltliteratur-Debatte

mäß wirken lässt, sondern ganz im Gegenteil, weil diese Literatur den Zeitgeist reflektiert und an gegenwärtig geführte, hochaktuelle Debatten anknüpft. Inwiefern diese Titel das Potenzial haben, das Klassikern attestiert wird, das heißt, ob sie die Gegenwart überdauern werden, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht absehen: „Today’s literature scene is a much more complex and uncertain field in which everybody knows that even those who have been saluted for a couple of decades may not be visible to future generations“ (Thomsen 2008: 28). In diesem Zusammenhang muss noch dazu erwähnt werden, dass es nicht selten zu einer Vermischung beziehungsweise Gleichsetzung der Termini (internationaler) Bestseller und Weltliteratur kommt. So wird, was in mehr als einem Land auf positive Kritiken und die Begeisterung der Leserschaft stößt, (vor) schnell von der Presse zur Weltliteratur deklariert. Zu sehen war dies beispielsweise bei der international gefeierten und weltweit verkauften Neapolitanischen Sage der unter dem Pseudonym Elena Ferrante schreibenden italienischen Autorin, was anhand eines Artikels bei SPIEGEL ONLINE mit dem Titel „Die große Unbekannte der Weltliteratur. Bestsellerautorin Ferrante“ (SPIEGEL ONLINE 2016) veranschaulicht werden kann. Eine Bezeichnung als ‚global(e)/isierte Literatur‘ entspräche auch John Pizers Feststellung hinsichtlich einer zunehmenden Globalität von Literatur, sowohl auf thematischer als auch stilistischer Ebene: „[L]iterature is becoming immanently global, that is, that individual works are increasingly informed and constituted by social, political, and even linguistic trends that are not limited to a single nation or region“ (Pizer 2000: 213 [Herv. i. O.]). Eine Gleichsetzung von Weltliteratur und globaler Literatur birgt jedoch die Gefahr, dass ‚globales Schreiben‘ – eine (von Anfang an) an ein globales Lesepublikum gerichtete Schreibweise – missverstanden und als eine Bedingung für das Erreichen des weltliterarischen Status von Schriftsteller*innen vorausgesetzt wird. Wobei in diesem Kontext sicherlich erörtert werden müsste, ob das in der Gegenwart nicht bereits der Fall ist. Das heißt, inwiefern von Schriftsteller*innen ein solcher ‚universeller‘ Schreibstil gefordert wird, wenn sie sich auf dem globalen Buchmarkt einen Namen machen möchten: Um in den westlichen Kanon aufgenommen zu werden, sind Schriftsteller gezwungen, sich aktiv um die Aufmerksamkeit und Zustimmung der Kanonexperten zu bemühen –, weshalb nur noch wenige Autoren der Peripherie ein subversives Writing Back praktizieren; man schreibt jetzt nicht mehr gegen sondern für den Westen. (Schoene 2013: 357 [Herv. i. O.])

,Globale Literatur‘ lässt sich wiederum in verschiedene Sparten untergliedern, die gegenwärtige Trends widerspiegeln, diese aber auch ankurbeln und die Funktion haben, Schriftsteller*innen zu kategorisieren. Hierzu zählen nach Emily Apter Sub-

2.2 Das Label ‚Welt-‘ als Marketingstrategie eines globalen (Buch-)Marktes?

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kategorien wie „international“, als welche sie die Autoren Julio Cortázar oder Octavio Paz klassifiziert, „postcolonial“, ein Etikett, das Schriftsteller*innen wie Patrick Chamoiseau vorbehalten wäre, „multiculti“, „native“ oder „minority“ für Autor*innen wie Toni Morrison oder Gloria Anzaldúa. Diese Form der Etikettierung erweist sich allerdings als eine höchst zweischneidige Maßnahme: Auf der einen Seite kann sie sich positiv auf die Platzierung von Schriftsteller*innen auf dem Markt auswirken. Indem sie sie ins Rampenlicht rückt, beendet sie ihr Schattendasein, das sie sonst als Schwarze und People of Color12 Schriftsteller*innen des Globalen Südens zumeist in der Anthropologie-Abteilung von Buchhandlungen fristen. Auf der anderen Seite aber läuft dieses ‚Schubladendenken‘ die Gefahr, dass den Schriftsteller*innen, einmal etikettiert, ein Stempel anhaftet, der ihre Rezeption bedingt und ihnen eine fixe Identität zuschreibt (vgl. Apter 2001: 2). Wie bereits angedeutet, werden die Entscheidungen über Selektion und Auszeichnung kultureller Produkte mit dem Zusatz Welt- nicht (allein) auf der Grundlage eines etwaigen ästhetischen Wertes getroffen. Vielmehr ist bei der Verleihung des Weltklassestatus neben einer möglichen weltweiten Kommerzialisierbarkeit auch der soziale und politische Wert des literarischen Werks von zentraler Relevanz. So werden in letzter Zeit viele Titel ausgewählt und zur Weltliteratur deklariert, die thematisch wie auch inhaltlich an gegenwärtige soziopolitische Entwicklungen und Geschehnisse anknüpfen. Etwa wie Sigrid Löffler es in ihrer äußerst problematischen und voyeuristischen Aussage über die ‚neue Weltliteratur‘ im Deutschlandradio zum Ausdruck brachte: „Je kaputter das Land, desto besser und üppiger die Literatur“ (Pokatzky 2013 [Löffler]). Darüber hinaus ist nicht selten die Selektion von Autor*innen aus Krisenregionen und ihre Ernennung zum*zur Weltautor*in politisch motiviert oder erfolgt in der Absicht, ein politisches Statement zum Ausdruck zu bringen. Intendiert wird hiermit nicht zuletzt eine, wie es James F. English ausdrückt, „demokratischere oder sozialistischere oder egalitärere Welt durch einen multikulturelleren Kanon“ (English 2005: 308 [Ü. d. V.]). Dahinter verbirgt sich die längerfristige Idee von der Herausbildung einer egalitären ‚Weltkultur‘, in der die Nationalstaaten als solche an Bedeutung verlieren und an deren statt das Lokale auf globaler Ebene eine neue Relevanz erhält (vgl. English 2005: 291).

12 Mit der Großschreibung des Begriffs Schwarz möchte ich klarstellen, dass ich mich hiermit nicht auf eine ‚Hautfarbe‘ beziehe, sondern auf die positive Selbstbezeichnung Schwarzer Menschen (vgl. Sow 2009: 19). Bei dem Begriff People of Color handelt es sich ebenfalls um eine Selbstbezeichnung von nicht weißen Menschen. Er impliziert, dass jene Menschen „einen gemeinsamen Erfahrungshorizont in einer mehrheitlich weißen Gesellschaft“ (Sow 2009: 20) besitzen.

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2 Bühnenbild und Requisiten – Lateinamerika in der Weltliteratur-Debatte

In diesem Sinne kann Weltliteratur wie auch Weltmusik und Weltkino als kulturelle Kategorie verstanden werden, die, dem Zeitgeist der Globalisierung entsprechend, danach strebt, eine gemeinsame egalitäre Weltkultur zu schaffen, wobei diese nicht mit einer Homogenisierung zu verwechseln ist. Zugleich und im Endeffekt bildet das Konzept aber, trotz seines – trügerischen – weltumfassenden Anspruchs, nur einen kleinen, partiellen Ausschnitt der weltweiten Literaturproduktion ab, an dem keineswegs ‚alle‘ mitwirken (vgl. English 2005: 311). Die Idee einer auf Gleichheit bedachten Weltkultur, die Differenzen akzeptiert und nicht bewertet, bleibt letztlich eine unerreichbare Utopie. Schon bei den Definierenden herrscht ein Missverhältnis hinsichtlich der Repräsentation der verschiedenen Weltregionen vor, das sich auch auf die Auswahl der literarischen Werke, die Definierten, niederschlägt. Damit probt das Konzept Weltliteratur schlussendlich einen schwierigen und ständigen Spagat zwischen seinen idealistischen Ambitionen von grenzenlosem Austausch und den realen Verhältnissen eines globalen (Buch-)Marktes: „[T]he idealism of a world of unlimited cultural exchange and diversity with respect for differences, and the harsh realism of what is actually being translated, sold, read and taught around the world“ (Thomsen 2008: 10 f.). Das Ideal, zugleich optimistisches Zukunftsbild und Fernziel, wäre ein Konzept von Weltliteratur(en), das sich seines eigenen Konstruktionscharakters bewusst ist und einem Streben nach universeller Gültigkeit von Anfang an eine klare Absage erteilt (vgl. Shih 2004: 29). In der Folge stütze ich mich, trotz seiner Problematik, auf Damroschs Weltliteratur-Konzept, das den Fokus auf die Bewegung von literarischen Texten und ihre Rezeption jenseits der Produktionsländer legt, erweitere es aber um die bisher fehlende Machtkomponente, womit ich der Tatsache Rechnung trage, dass Bücher weder in einem machtfreien Raum geschrieben werden noch in einem solchen zirkulieren.

2.3 Lateinamerikanische Literat*innen und die WeltliteraturDebatte Los procesos de tasación del valor – canonización – de lo „latinoamericano“ en el sistema literario mundial, tanto en el ámbito de la crítica como en el ficcional, siguen asentándose en la lógica hegemónica de la tradición occidental, desde la que se lee, se piensa y se interpreta la cultura latinoamericana. (Gallego Cuiñas 2018: 4)

Wissenschaftliche Abhandlungen über das Konzept Weltliteratur, dessen Rezeption und Operationalisierung sowie die an diesem Konstruktionsprozess beteilig-

2.3 Lateinamerikanische Literat*innen und die Weltliteratur-Debatte

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ten Institutionen nehmen stets zu. Die Rolle der Schriftsteller*innen und ihre Funktion in den Arbeiten der den Diskurs über Weltliteratur prägenden akademischen Stimmen nehmen dagegen nur eine untergeordnete Stellung ein: „[T]heir studies consider how literary texts and the ideas within them travel across cultures in accordance with variously conditioned hierarchies of cultural value and language use“ (Braun 2015: 82). Das führt dazu, dass die Personen, die sich hinter einem literarischen Text verbergen, genauer gesagt die zu dessen Entstehung führen, nämlich die Autor*innen selbst, erst einmal aus dem Blickfeld geraten: „[I]t runs the risk of seeing in ‚texts‘ only the words and linguistic structures, and not the people using them in order to create these texts in the first place“ (Braun 2015: 83). Stattdessen gilt das Augenmerk den Schriftsteller*innen selbst erst nach Entstehung, Veröffentlichung, Rezeption und Zirkulation des literarischen Textes (vgl. Braun 2015: 83). Die Absicht meines Buchs ist es dagegen, die (lateinamerikanischen) Autor*innen bereits während ihres Schaffensprozesses von (Welt-)Literatur und damit das Erschaffen von Weltautor*innen ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken.

2.3.1 Von Bestsellerautor*innen und Weltautor*innen Zu Anfang möchte ich auf die Parallelen zwischen der Verleihung des Weltliteratur-Status beziehungsweise Weltautor*in-,Titels‘ und der Wahl der Miss beziehungsweise des Mister Universum verweisen. Bei beiden wird ein Land nur durch ein*e einzige*n Autor*in respektive Model international vertreten und konsequentermaßen auf diese*n reduziert: „Jorge Luis Borges and Julio Cortázar divide the honors for Mr. Argentina“ (Damrosch 2006: 48). Doch welche Kriterien müssen lateinamerikanische Schriftsteller*innen erfüllen, um zur Miss beziehungsweise zum Mister Weltliteratur gekürt zu werden? Allgemein gesprochen, hängt der ‚Sprung‘ von einem nationalen auf den internationalen Buchmarkt – die Ernennung zum*zur Repräsentant*in für eine Region – immer mehr von einer weltweiten Kommerzialisierbarkeit und Konsumierbarkeit der literarischen Werke der Schriftsteller*innen ab. Ein in ähnlicher Weise funktionierendes, Erfolg versprechendes Konzept der Verlage ist es, lateinamerikanische Schriftsteller*innen als kulturelle Aushängeschilder ihres Herkunftslandes zu instrumentalisieren, wobei es sich um eine kulturalistische Vorgehensweise handelt (vgl. Shih 2004: 23). Auf diese Weise wird bei den Leser*innen ein Effekt erzeugt, der sie glauben lässt, in den Schriftsteller*innen den – angeblich – spezifischen Charakter der Kultur eines

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2 Bühnenbild und Requisiten – Lateinamerika in der Weltliteratur-Debatte

Landes wiederzuerkennen. Frida Kahlo beispielsweise, mittlerweile sowohl eine mexikanische als auch globale Popkultur-Ikone, verkörperte als Frau und Malerin an sich nichts spezifisch ‚Mexikanisches‘ (vgl. Escalante Gonzalbo 2007: 281), gilt aber heutzutage als das Sinnbild mexikanischer Kunst und Kultur weltweit. Dies führt, wie Fernando Escalante Gonzalbo demonstriert, dazu, dass, abgesehen von den allseits bekannten literarischen Größen wie dem Kolumbianer Gabriel García Márquez, dem Chilenen José Donoso oder dem Mexikaner Carlos Fuentes, andere Schriftsteller*innen der jeweiligen Länder für ein europäisches Lesepublikum in der Mehrheit vollkommen unsichtbar und damit unbekannt bleiben: „[V]isto desde España o de cualquier otro país del continente, Perú es Mario Vargas Llosa; para los mas curiosos también es Alfredo Bryce Echenique […], pero es verdaderamente difícil ir más allá, y a la inmensa mayoría de quienes escriben en Perú se les encuentra sólo en Perú“ (Escalante Gonzalbo 2007: 281 f.). In dem Zusammenhang lässt sich feststellen, dass es der globale (Buch-) Markt ist, der darüber bestimmt, was heutzutage als lateinamerikanische Literatur anerkannt wird und was nicht (vgl. Bencomo 2009: 39): „Dabei wird bereits existierenden globalen Vorstellungen gewisser fremder Kulturen häufig auf Kosten ihrer tatsächlichen nicht-westlichen Authentizität und Alterität nachgegeben“ (Schoene 2013: 357). Da sich in der Aktualität Weltliteratur primär an ein weißes, westliches und bildungsbürgerliches Lesepublikum richtet, begünstigen ein für jenes Publikum vertrauter thematischer Stoff, vermischt mit einer Portion Exotik und Folklore eine Ernennung als Weltautor*in (vgl. Escalante Gonzalbo 2007: 280). Wie positionieren sich nun aber in der Gegenwart die jüngeren, in den 1970erund 1980er-Jahren geborenen, lateinamerikanischen Schriftsteller*innen in der äußerst kontroversen Weltliteratur-Debatte? Beziehen Schriftsteller*innen überhaupt selbst Position oder werden sie durch Verlage und Kulturredaktionen im weltliterarischen Raum positioniert? Stehen ihnen Möglichkeiten offen, ihre eigene Selektion sowie die ihrer literarischen Texte zu bedingen oder verkommen sie zum Spielball der Machtpolitik und den Interessen der Verlagsindustrie? Zunächst entsteht der Eindruck, dass diejenigen lateinamerikanischen Schriftsteller*innen, die nach globaler Anerkennung streben oder diese bereits erreicht haben, gezwungen sind, sich dem Diktat des globalen (Buch-)Marktes zu unterwerfen, selbst wenn dies zu Lasten ihrer eigenen individuellen literarischen Projekte geschieht (vgl. Schoene 2013: 357). Sind sie einmal international bekannt und anerkannt, wirkt sich das über kurz oder lang ebenso positiv auf ihre Rezeption in ihrem Herkunftsland aus (vgl. Escalante Gonzalbo 2007: 280). Das hat wiederum zur Folge, dass bestimmte lateinamerikanische Schriftsteller*innen schon während des Schreibprozesses ein internationales Publikum anvisieren und auch ihren Schreibstil danach ausrichten (vgl. Damrosch 2003: 18). Dadurch wird zu stark re-

2.3 Lateinamerikanische Literat*innen und die Weltliteratur-Debatte

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gional oder national verorteten Handlungen sowie die Beschäftigung mit zu spezifischen, lokalen Themen von Anfang an eine Absage erteilt (vgl. Bencomo 2009: 42). ‚Globale Literatur‘ scheint der Schlüssel des (internationalen) Erfolges zu sein. Indes wirkt die globale Verlagsindustrie nicht nur hinsichtlich des Inhalts und der Form der literarischen Werke auf die lateinamerikanischen Schriftsteller*innen ein, sondern auch in Bezug auf die Wahl der literarischen Gattung. Die Suche nach Verlagen, die internationale Lyriker*innen, Kurzgeschichtenerzähler*innen oder Essayist*innen übersetzen und verlegen, ist meist mühsam und langwierig. Als logische Konsequenz haben lateinamerikanische Schriftsteller*innen, die international rezipiert werden möchten, oft keine andere Wahl, als sich dem globalen Trend des Romanschreibens zu unterwerfen (vgl. Bencomo 2009: 44) Welche Erwartungen zudem an lateinamerikanische Autor*innen gestellt werden und welche Vorstellungen von ihrem Schreiben international kursieren, veranschaulicht exemplarisch ein Ausschnitt aus der Kolumne Mirador der mexikanischen Schriftstellerin Valeria Luiselli, die zwischen 2016 und 2017 wöchentlich in der spanischen Tageszeitung El País erschien: Todos los latinoamericanos […] vamos por el mundo cargando a cuestas el fardo de pertenecer a países increíblemente jodidos que, de modo igualmente increíble, no han desaparecido, aún. Así que es normal que los demás se pregunten cómo es que en nuestros países convive la pequeña ‚alta‘ cultura con el enorme desastre político y social. Es natural, pues, que, si eres un escritor noruego, la gente quiera saber qué cereal desayunas y si te cepillas los dientes con la mano derecha o con la izquierda; y que, si eres latinoamericano, quiera saber cómo es que tu país, además de producir cocaína, favelas, El Chapo, corrupción, zika, telenovelas y Rajoy, logra producir literatura. (Luiselli 2016a)

Luisellis sarkastische Beschreibungen der gegensätzlichen Erwartungen, mit denen ein internationales – die aufmerksamen Betrachter*innen sind geneigt zu sagen, ‚westliches‘ – Lesepublikum an ein Buch eines norwegischen Autors herangeht im Vergleich zu dem Bild, das es von einem lateinamerikanischen Autor hat, entsprechen den Tatsachen. Ungeachtet dessen ist Luisellis Opposition zwischen dem Autor eines Landes, in diesem Fall Norwegen, und dem eines gesamten, äußerst diversen Kontinents – Lateinamerika – nicht unbedenklich. Ich halte es für wahrscheinlich, dass es ihre Intention war, damit die Homogenisierung und undifferenzierte Behandlung, die Schriftsteller*innen lateinamerikanischer Herkunft außerhalb Lateinamerikas des Öfteren erfahren, sowie die Unkenntnis der Leserschaft bewusst zum Ausdruck zu bringen. Belege für die Imaginationen und stereotypen Fremdbilder von lateinamerikanischen Schriftsteller*innen, ihrem Leben inmitten und Arbeiten trotz des – vermeintlichen – sozialen Kollaps, der politischen Krisen, Naturkatastrophen und alltäglichen Gewalt in ihren Herkunftsländern finden sich unter anderem in Rezensionen, Interviews, Le-

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2 Bühnenbild und Requisiten – Lateinamerika in der Weltliteratur-Debatte

sungen oder Festivals wieder. Häufig bauen Verlage auf diese Stereotype, indem sie Autor*innen vor diesem Rahmen effektvoll und medienwirksam, zum Beispiel in einem Buchtrailer, in Szene setzen, um so ihre literarischen Werke spektakulär zu bewerben13. Der Unterschied bei den Fragen, die an den norwegischen und den lateinamerikanischen Autor gerichtet werden, verstärkt die Differenz zwischen den beiden zusätzlich. Es wird sichtbar, wie ‚der Norweger‘ als Vertrauter des Publikums empfunden wird, was sich in der trivialen, fast schon intimen Frage nach dem Cornflakes-Hersteller widerspiegelt, während ‚der Lateinamerikaner‘ als der ‚Andere‘ wahrgenommen wird, der in einer Realität lebt, die die Leser*innen nicht teilen, die ihnen aufgrund der Amnesie des Kolonialismus und einer damit gemeinsamen Geschichte gänzlich fremd erscheint. Überdies wird ‚der Norweger‘ in der Darstellung Luisellis als Schriftsteller, als Mensch, erfahren, der sich nicht zu rechtfertigen braucht, warum er schreibt. Von ‚dem Lateinamerikaner‘ dagegen wird erwartet, dass er nicht nur schreiben kann, sondern des Weiteren als repräsentativer Kulturbotschafter und kompetenter Berichterstatter seiner Region fungiert und diese noch dazu einem ‚westlichen‘ Publikum erklärt. Durch das Fehlen eines „metarrelato de lo latinoamericano“ (Sánchez Prado 2015: 30), eines gemeinsamen identitätsschaffenden Narratives, dessen Funktion der magische Realismus zu Zeiten des Booms einnahm, kann die Literatur, besser gesagt können die Literaturen, des lateinamerikanischen Kontinents als äußerst vielfältig und divers beschrieben werden: „Insgesamt wurde in den Post-BoomPhasen ein inhaltlicher und stilistischer Heterogenisierungsprozess lateinamerikanischen Schreibens angestoßen“ (Bolte/Klengel 2013: 9 f.). Entsprechend gibt es derzeit verschiedene Möglichkeiten und (Karriere-)Wege, die lateinamerikanische Schriftsteller*innen einschlagen, um eine globale Sichtbarkeit und Anerkennung zu erreichen. Wenngleich eine Vielzahl von Themen, ästhetischen Projekten und unterschiedlichen Interessen innerhalb der lateinamerikanischen Literaturen existiert, sind vor dem Hintergrund der Weltliteratur-Debatte drei Varianten von

13 So richtete der Suhrkamp Verlag im Vorfeld der Veröffentlichung des Romans Gebete für die Vermissten (Clement 2015) der US-amerikanischen, in Mexiko lebenden Schriftstellerin Jennifer Clement eigens eine aufwändig gestaltete Autorenseite auf der Verlagshomepage ein (vgl. Suhrkamp Verlag AG 2015). Auf dieser werden einerseits der Roman und die Autorin vorgestellt, andererseits sind hier weiterführende Informationen über den sogenannten ‚mexikanischen Drogenkrieg‘ und die in diesem Kontext gängige Praxis des gezielten Verschwindenlassens von Menschen zu finden, die auch zum Download zur Verfügung stehen.

2.3 Lateinamerikanische Literat*innen und die Weltliteratur-Debatte

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Schriftsteller*innen und literarischen Projekten von besonderer Relevanz, da sie als ‚Sprungbrett‘ auf den internationalen Literaturmarkt fungieren14. Der erste, zugleich ‚einfachste‘ und direkteste Weg ist es, als Schriftsteller*in gängige Klischees zu reproduzieren und Stereotype, die unter den globalen Leser*innen über Lateinamerika kursieren, zu bedienen. Das vollzieht sich in der Gegenwart vor allem mittels des Genres der narconovela15, dem sich besonders mexikanische und kolumbianische Schriftsteller*innen angenommen haben: „[S]i antes la región estuvo caracterizada por su lógica fantástica – o su falta de lógica –, con sus simiescos dictadores y sus briosos guerrilleros, ahora se halla infectada por esta epidemia de capos y asesinos a sueldo idónea para el consumo global“ (Volpi 2010: 16). Wobei diesbezüglich zurecht hinterfragt werden muss, inwieweit es sich bei manchen literarischen Texten, die der ‚Narco-Literatur‘ zuzuordnen sind, nicht um ‚bloße‘ Unterhaltungs- beziehungsweise Trivialliteratur ohne ‚literarischen Anspruch‘ handelt, die, wenn auch von internationalem Erfolg, nicht als Weltliteratur gehandhabt werden kann. Die zweite Option, die ebenso häufig praktiziert wird, ist die komplette Loslösung vom lateinamerikanischen Kontext, sowohl thematisch als auch in Bezug auf den Schauplatz der Handlung: „No sólo Europa o la lejana China, sino también Estados Unidos, centran una narrativa que parece haber perdido sus referentes territoriales y propiciado mestizajes múltiples“ (Aínsa 2012: 100). Vorreiter dieser literarischen Tendenz waren die Anhänger*innen der beiden literarischen Gruppierungen Crack und McOndo, die in den 1990er-Jahren „den Beginn einer neuen lateinamerikanischen Literatur [verkündeten], die sich an der Weltliteratur orientierte und nicht länger auf mexikanische bzw. kontinentale Schauplätze festgelegt sei“ (Bolte/Klengel 2013: 10). Inhaltlich beschäftigen sich diese Romane hauptsächlich mit den Persönlichkeitskrisen oder der Identitätssuche ihrer Protagonist*innen (vgl. Bencomo 2009: 44). Allerdings ist nicht nur ihr Handlungsort nicht mehr länger in Lateinamerika verortet, sondern ebenso der Schreibort: Geschrieben wird diese ‚globale Literatur‘ besonders in den lateinamerikanischen (literarischen) Communitys in den „multikulturellen urbanen Peripherien der Metropolen der ehemaligen Zentren“ (Aínsa 2012: 62 [Ü. d. V.]). Hierzu zählen US-amerikanische Megastädte wie Los Angeles oder New York, genauso wie auch die europäischen Metropolen

14 Es steht außer Zweifel, dass das Erklimmen wie auch der Auftritt auf der ‚weltliterarischen Bühne‘ keineswegs die primäre Absicht oder das ersehnte Ziel aller lateinamerikanischer Autor*innen darstellt. Siehe dazu auch Kapitel 2.3.2. 15 Für mehr Informationen zum Genre narconovela, dessen Entstehung, regionalen Ausprägungen und Vertreter*innen wie auch der narcocultura im Allgemeinen siehe Herlinghaus (2009, 2013) sowie den Sammelband von Lara et al. (2018).

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2 Bühnenbild und Requisiten – Lateinamerika in der Weltliteratur-Debatte

London, Paris, Barcelona, Madrid oder Berlin16. Für sie charakteristisch ist, dass nicht nur die Protagonist*innen der literarischen Werke, sondern auch ihre Schöpfer*innen, die Autor*innen selbst, einen nomadischen, kosmopolitischen Lebensstil führen und diesen mittels Schlagworten wie „‚no-pertenencia‘“, „vida errante“ oder „nomadismo asumido como destino“ (Aínsa 2012: 69) zelebrieren. Eine dritte Möglichkeit, die klare Überschneidungen zur letztgenannten aufweist, ist diejenige Literatur, deren Protagonist*innen häufig lateinamerikanischer Herkunft sind und deren Handlungen in Teilen in einem lateinamerikanischen Umfeld verankert sind. Anders als die erstgenannte auf Lateinamerika fokussierte Literatur wird dies jedoch nicht explizit thematisiert, sondern bildet nur die Koordinaten und keineswegs den Kern des schriftstellerischen Projekts. Ihr Ziel ist eine direkte Einschreibung in den weltliterarischen und falls dies nicht gelingt, zumindest in den nordamerikanischen oder europäischen literarischen Raum. Hierfür eignen sich die Literat*innen nordamerikanische und europäische Ideen- und Geistesgeschichte an und schreiben in gewisser Weise unter Berufung auf literarische Traditionen des Globalen Nordens (vgl. Thomsen 2008: 7). Obwohl es sich hierbei um eine durchaus legitime Aneignung handelt, gibt es doch zu denken, dass, wer Weltautor*in werden möchte, sich den Regeln des Spiels und in diesem Fall des Spielleiters, den ‚westlichen‘ Auswahl- und Wertungsinstanzen, wenn nicht zu unterwerfen, so denn anzupassen hat. Dieses Prozedere erinnert indes an Homi Bhabas Konzept der Mimikry, mit welchem er sich auf die wechselseitige Abhängigkeitsbeziehung zwischen Kolonisator*innen und Kolonisierten bezieht: „So fordert die Kolonialmacht die Assimilation der kolonialen Subjekte ein, die diese allerdings nie vollständig realisieren, so dass sich die Dominierenden einem karikierten Bild, einer Parodie ihrer selbst, gegenüberstehen“ (Neumann 2008: 502). Übertragen auf die Schriftsteller*innen des Globalen Südens, handelt es sich also nur um eine vermeintliche Nachahmung, bei der auch eine Subversion oder Umschreibung stattfindet. Das ist darauf zurückzuführen, dass jene Autor*innen eine andere soziale Position als die Europäer*innen oder Nordameri-

16 Manche Kritiker*innen oder auch Leser*innen mögen sich an dieser Stelle dazu verleitet fühlen, infrage zu stellen, inwiefern bei diesen polyglotten Literat*innen überhaupt noch von ‚lateinamerikanischer Literatur‘ gesprochen werden kann. Fakt ist, dass diese Autor*innen genauso oder genauso wenig ‚lateinamerikanisch‘ sind, wie ihre Schriftstellerkolleg*innen in irgendeinem Dorf oder einer Stadt in Lateinamerika. Identitätskonzepte stehen nicht mehr länger in einer festen Kausalbeziehung zu den Herkunftsländern der Individuen, sondern die eigene Zugehörigkeit wird zu einem stetigen Aushandlungsprozess: „[L]os componentes identitarios están ahora más relacionados con el ‚tiempo propio‘, individual, y el tiempo compartido con seres afines que con el ‚espacio local‘, de vecindario, barrio o aldea de origen“ (Aínsa 2012: 79).

2.3 Lateinamerikanische Literat*innen und die Weltliteratur-Debatte

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kaner*innen besitzen und letztlich, trotz aller Anstrengungen und Bemühungen, nie wirklich zu ‚europäischen‘ beziehungsweise ‚nordamerikanischen‘ Schriftsteller*innen werden können. Eine weitere gängige Praxis jener Autor*innen stellt das Namedropping dar. Auf dieses stoßen Leser*innen nicht nur in den literarischen Werken selbst. Das Aufzählen literarischer Vorbilder und Referenzen dient den Schriftsteller*innen ferner dazu, sich als auf dem ‚weltliterarischen Parkett‘ versiert zu inszenieren und sich überdies selbst in eine Reihe mit den großen Literat*innen zu stellen. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass das Schreiben lateinamerikanischer Schriftsteller*innen schon immer auch von literarischen Tendenzen und Einflüssen anderer Regionen geprägt war. Gerade jüngere Autor*innen kehren vermehrt den nationalen Leitfiguren den Rücken zu, wie dies Fernando Aínsa für die gegenwärtigen mexikanischen Schriftsteller*innen festhält: „Se sienten mucho más cerca del terror de Stephen King, el humor de los hermanos Cohen, y la tenebrosidad de Frank Miller que de Juan Rulfo, Octavio Paz o Carlos Fuentes“ (Aínsa 2012: 19). Jedenfalls ist ein exzessiver Verweis auf literarische Größen nicht lateinamerikanischer Herkunft als ein strategischer Akt zu verstehen, um sich als Schriftsteller*in in einem anderen als dem eigenen – möglicherweise globalen – literarischen Feld zu platzieren: „[C]ontemporary writers are successfully marketed through their inscription in a lengthy cosmopolitan tradition, and, […] this constructed tradition, in supporting the image of an inevitably networked globalized world, is inseparable from the power of global capital“ (Brouillette 2016: 94). Jene Schriftsteller*innen bestätigen die ‚westlichen‘ literarischen Traditionen, indem sie sich und ihre literarischen Texte als in diesen verwurzelt repräsentieren. Gleichzeitig stellen sie aber deren Authentizität infrage, indem sie in ihren Schreibprojekten und als Autor*innen direkte Verbindungen zwischen dem Lokalen und dem Globalen eingehen und diese vermeintlich getrennten Ebenen vermischen (vgl. Thomsen 2008: 7). Aufgrund der Reproduktion und Unterwanderung ‚westlicher‘ literarischer Wertmaßstäbe können diese lateinamerikanischen Schriftsteller*innen letzten Endes als zugleich subversiv und affirmativ hinsichtlich der Dynamiken des globalen (Buch-)Marktes betrachtet werden.

2.3.2 ‚Bewusste‘ Außenseiter*innen und vergessene Literat*innen Durch die zunehmende Übersättigung des lateinamerikanischen Buchmarktes haben es Literat*innen, die Meinungen und Werte abseits des Mainstreams und dessen Standards vertreten, schwer, im literarischen Feld Fuß zu fassen (vgl. Guerrero 2009: 25).

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2 Bühnenbild und Requisiten – Lateinamerika in der Weltliteratur-Debatte

Als Reaktion auf die Präsenz der multinationalen Verlagskonsortien hat sich in den letzten Jahrzehnten in Lateinamerika eine vielfältige, unabhängige (Klein-)Verlagslandschaft etabliert. Sie macht es sich zur Aufgabe, primär ‚lokale Literatur‘ zu verlegen und so die „bibliodiversidad“ (dt. Bibliodiversität) der einzelnen Länder und der Region insgesamt zu fördern (Gallego Cuiñas 2014: 3). Zur ‚lokalen Literatur‘ zählen literarische Texte mit regionalen sprachlichen Eigenheiten, mündlicher Sprache, die an regionale literarische Traditionen anknüpfen und nicht ohne weiteres für alle Leser*innen zugänglich und erschließbar sind (vgl. Gallego Cuiñas 2014: 3). Durch die bewusste Entscheidung für eine nicht standardisierte Sprache verweigern sich diese Autor*innen einer für gewöhnlich von Verleger*innen und Übersetzer*innen vorgenommenen ‚Reinigung‘ sprachlicher Unebenheiten und Zensur des eigen literarischen Textes und wirken damit einer Homogenisierung der literarischen Produktion entgegen (vgl. Walkowitz 2015: 32). Ihre literarischen Texte zirkulieren abseits der großen transnationalen Verlagsbetriebe in unabhängigen Verlagen oder auch durch den direkten Austausch zwischen den Leser*innen und Autor*innen (vgl. Gallego Cuiñas 2014: 3) beispielsweise in digitaler Form über das Internet (vgl. Robbins/González 2014: 8 f.). Die lateinamerikanischen Schriftsteller*innen, die diese Bibliodiversität ausmachen, vertreten ihre eigenen literarischen Projekte jenseits der Trends und Anforderungen eines globalen Buchmarktes. Als exemplarisch hierfür kann die kritische Bestandsaufnahme, die der argentinische Schriftsteller, Verleger und Kolumnist Damián Tabarovsky über den Zustand der gegenwärtigen unabhängigen argentinischen Literaturproduktion liefert, gelten: [N]o son triviales novelas de intriga ambientadas en Oxford, no retoman los lugares comunes de las novelas sobre dictadura y desaparecidos, no son textos pasteurizados y very typical listos para integrarse a la „literatura internacional“, no son esas novelas mainstream ganapremios, ni recurren al golpe bajo y al miserabilismo sobre la pobreza, la violencia y la dura vida argentina. (Tabarovsky 2014 [Herv. i. O.])

Das Zielpublikum jener Literat*innen ist demgemäß weniger ein internationales, denn ein nationales, weshalb ihre literarischen Werke auch hauptsächlich innerhalb ihres Produktionslandes konsumiert werden. Auch als Autor*innen sind sie in erster Linie auf lokaler oder nationaler Ebene aktiv (vgl. Gallego Cuiñas 2014: 3). Wenn dieser Typ Autor*in wider Erwarten plötzlich doch zur Weltautor*in erklärt wird oder zumindest international verlegt wird, ist das nicht auf das unbedingte Bestreben der Literat*innen zurückzuführen, sondern schlichtweg dem Zufall geschuldet. Normalerweise ist ihr besonderer Verdienst gerade die Unübersetzbarkeit ihrer literarischen Werke

2.3 Lateinamerikanische Literat*innen und die Weltliteratur-Debatte

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und ihr schriftstellerisches Engagement für die lokale Literaturproduktion, wofür sie innerhalb ihres Herkunftslandes Anerkennung erfahren (vgl. Walkowitz 2015: 31). Die Weigerung jener Schriftsteller*innen, sich in die Dynamiken eines globalen Buchmarktes einzufügen, kann daher in gewisser Weise als eine „poética de la resistencia“ (Gallego Cuiñas 2014: 3) bezeichnet werden. Dabei handelt es sich um eine literarische Widerstandspraxis gegen eine globale Literaturproduktion, die den kommerziellen Erfolg auf Kosten der eigenen künstlerischen Selbstaufgabe und der literarischen Diversität der Region in Kauf nimmt (Gallego Cuiñas 2014: 3). Wer aber weiterhin – auch auf nationaler Ebene – kaum bis gar nicht wahrgenommen und repräsentiert wird, sind Autor*innen, die in indigenen Sprachen schreiben. Die Zahl der Verlage, die sich auf ‚indigene Literaturen‘ spezialisiert oder diese zumindest in ihrer Übersetzung ins Spanische oder etwa in bilingualer Version veröffentlicht, bildet eine Minderheit. Hinzu kommt, dass ihre literarische Produktion sich vor allem auf Lyrik konzentriert, die generell keinen einfachen Stand auf dem nationalen sowie globalen Buchmarkt hat. Zusätzlich wird die Arbeit dieser Schriftsteller*innen dadurch erschwert, dass sie sich, wenn sie sich außerhalb ihrer Sprachgemeinschaft im literarischen Feld etablieren möchten, zunächst auf Spanisch bewähren und legitimieren müssen. Das bedeutet eine doppelte Schreib- sowie Übersetzungsarbeit für die Schriftsteller*innen (vgl. Alfred et al. 2016). Dabei sollte nicht vergessen werden, dass indigene Autor*innen, um überhaupt als Literat*innen anerkannt zu werden, sich ‚westlichen‘ literarischen Standards hinsichtlich der Produktion und Form von Literatur anpassen und unterwerfen müssen (vgl. Aguilar Gil 2015). Andernfalls werden ihre Schreibprojekte als Folklore abgetan und sie bleiben für die Mehrheit der Leser*innen unsichtbar: „Solo valoramos (vemos/leemos) los objetos que entran en nuestro horizonte hegemónico, ideológico y estético, obviando ‚otros‘ con un valor alternativo“ (Gallego Cuiñas 2014: 2). Ihre literarischen Werke werden deswegen oftmals nur dann akzeptiert, wenn sie innerhalb des Erwartungsrahmens nicht indigener Leser*innen gegenüber ‚dem Indigenen‘ oder einer ‚indigenen Literatur‘ liegen. Konkret gesprochen wird von den indigenen Schriftsteller*innen vorausgesetzt, dass ihre literarischen Werke ethnografische Kuriositäten enthalten. Auf diese Weise werden die Autor*innen zu Sprecher*innen und Informant*innen ihrer Gemeinschaft deklariert. Das erklärt auch, weshalb die Werke indigener Autor*innen im Regelfall in der Anthropologie-Sektion der Buchhandlung und nicht etwa in alphabetischer Sortierung in der Belletristik-Abteilung zu finden sind.

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2 Bühnenbild und Requisiten – Lateinamerika in der Weltliteratur-Debatte

Eine fehlende Anerkennung ihrer Literaturen ist letzten Endes ebenso darauf zurückzuführen, dass indigene Sprachen in der Mehrheit der lateinamerikanischen Länder kein großes Ansehen genießen. Jene Herabwürdigung hat ihren Ursprung im Kolonialismus und der epistemischen Gewalt vonseiten der europäischen Konquistador*innen gegenüber den autochthonen Gemeinschaften und ihrer Kontinuität durch die weißen und mestizischen Eliten bis zum heutigen Tage (vgl. Moraña 2006: 320). Diese Umstände waren es auch, die die Aufnahme indigener Autor*innen in den Korpus des Buchs erschwerten und letztendlich unmöglich machten. Zu welcher der anderen, exemplarisch ausgewählten und kurz umrissenen gegenwärtigen literarischen Tendenzen des lateinamerikanischen Kontinents die Autor*innen meines Korpus im Einzelnen zuzuordnen sind, soll im Rahmen der Analyse ermittelt werden. Von besonderem Interesse wird dabei sein, ob die jeweiligen Schriftsteller*innen mit ihren literarischen Projekten einen Kurs einschlagen, der ihnen einen möglichst sofortigen Zutritt zur besagten Welt(literatur)bühne verschafft, oder aber, ob sie von bewährten literarischen Schemata abweichen und damit in Kauf nehmen, kein Teil des erlesenen Ensembles von Weltautor*innen zu sein.

3 Besetzung und Regie – Die Konstruktion von Weltautor*innen 3.1 Fragestellung „[W]orld literature is made, not found“ (Helgesson/Vermeulen 2016: 1). An diesem weltliterarischen Konstruktionsprozess sind eine Vielzahl an Akteur*innen und Institutionen beteiligt: Verleger*innen, Übersetzer*innen, Literaturagent*innen, Literaturkritiker*innen, Literaturwissenschaftler*innen, um nur ein paar wenige zu nennen. Die hierbei zentralsten Akteur*innen sind jedoch die Autor*innen selbst: „Without writers no world literature“ (Helgesson/Vermeulen 2016: 14). Ohne Schriftsteller*innen gäbe es nicht nur keine Weltliteratur, sondern, so banal es klingen mag, überhaupt keine Literatur. Überspitzt formuliert, gäbe es umgekehrt ohne Texte auch keine Autor*innen1, macht doch ein Text eine*n Autor*in erst zu dem, was er*sie ist: „El autor, paradójicamente, es a la vez el origen del texto y su producto; es un origen que sólo se define a posteriori“ (Premat 2006: 314 [Herv. i. O.]). Ein Text wird zum Werk, indem ein*e Autor*in unter seinem*ihrem Namen eine sonst lose Textsammlung bündelt (vgl. Premat 2006: 315). Es handelt sich hierbei also um einen wechselseitigen Konstruktionsprozess. Oft ist es daher bei Romanen auch der Name des*der Autor*in, der zum Kauf eines Buchs anregt und nicht der Titel des Werks selbst. Bei erfolgreichen Schriftsteller*innen gilt somit nomen est omen, „wenn etwa der Autorname als Label fungiert“ (Wegmann 2013: 258). Dies kommt wiederum auf Buchcovern zur Geltung, bei denen der Name des*der Autor*in und nicht der Titel des literarischen Werks hervorgehoben wird. Gleiches trifft auf den Vertrieb eines Buchs zu, auch dieser läuft mehrheitlich über den Namen des*der Autor*in ab. So werden Bücher in Buchhandlungen und Bibliotheken im Allgemeinen nicht nach Themen, sondern nach Autornamen sortiert und katalogisiert. Zum einen ist dies darauf zurückzuführen, dass der Name der Autor*innen als Qualitätssiegel, aber auch Wiedererkennungsmerkmal einer bestimmten Art von Literatur sowie des Schreibens fungiert. Zum anderen wird auf diese Weise auch eine vermeint-

1 Zwei Stimmen, die in jeder literaturwissenschaftlichen Diskussion um den Begriff Autor*in konsequenterweise zu nennen sind und die diese Begrifflichkeit maßgeblich geprägt haben, sind die beiden französischen Theoretiker Roland Barthes und Michel Foucault mit ihren jeweiligen Aufsätzen „Der Tod des Autors“ (erschienen 1967) sowie „Was ist ein Autor?“ (veröffentlicht 1969). Da meine Überlegungen im Folgenden nicht auf ihren konzeptuellen Ansätzen basieren, seien diese beiden nur der Vollständigkeit halber an dieser Stelle erwähnt. https://doi.org/10.1515/9783110748758-003

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3 Besetzung und Regie – Die Konstruktion von Weltautor*innen

liche Beziehung zwischen den Leser*innen und den Autor*innen hergestellt, das heißt der*die Autor*in als Beziehungsperson inszeniert. Was macht nun aber eine*n Autor*in, genauer gesagt eine*n „Welt-Autor [*in]“ (Löffler 2014: 16), aus? Unter welchen Voraussetzungen, sowohl extra- als auch intraliterarisch, wird ein*e Autor*in als Schriftsteller*in im weltliterarischen Literaturbetrieb anerkannt? Inwiefern unterscheiden sich die Fremd- und Selbstinszenierungen der Weltautor*innen von anderen Autor*innen, die diesen ‚Status‘ nicht erreichen beziehungsweise die nicht mit diesem ‚Label‘ versehen werden? Ab wann zählt ein*e Autor*in zum ‚weltliterarischen Quartett‘, ein Kartenspiel, wie es etwa 2015 von der Edition Büchergilde herausgebracht wurde? Woran wird weltliterarische Autorschaft festgemacht, etwa auf der Grundlage von Absatzzahlen, Distributions- und Übersetzungsindexen? Oder sind es die Präsenz in Anthologien, die Teilnahme an (internationalen) Literaturfestivals, die Verleihung von (internationalen) Literaturpreisen, die positive Erwähnung vonseiten der (internationalen) Literaturkritik, Auftritte in den Medien, Referenzen von namhaften Schriftstellerkolleg*innen und rege Debatten in der Wissenschaft, die letzten Endes über diese Anerkennung entscheiden? Welche Rolle spielen dabei die Autor*innen und ihre Biografien beziehungsweise ihr (literarischer) Werdegang? Bereits an dieser Stelle wird deutlich, dass an diesem weltliterarischen Auswahl- und Denominationsprozess verschiedene Faktoren entscheidend und Akteur*innen beteiligt sind. Diese bedingen einander wechselseitig und können die Exklusion beziehungsweise Inklusion von Autor*innen begünstigen oder auch negativ beeinflussen: „[F]or ‚world authors‘, the gatekeepers to celebrity are ‚opinion formers‘, including editors, foreign rights managers, agents, reviewers and, most significantly, the juries of those literary prizes that cause editors, agents and reviewers in other countries to take notice“ (Wynne 2016: 592). Feststeht daher, dass ‚literarisches Talent‘ eines*einer Autor*in und künstlerischer, kultureller oder politischer Wert eines literarischen Werks in diesem Zusammenhang gewiss nicht die (allein) ausschlaggebenden Kriterien sind: „La fama, al menos la literaria, tiene mucho que ver con los agentes y con la mitificación de la figura del escritor, cada vez menos con la obra“ (Palou 2016). Allerdings lässt sich eine trennscharfe Unterscheidung zwischen ‚literarischem Talent‘ und Strukturbedingungen des literarischen Feldes nicht immer ohne weiteres vornehmen (vgl. Thomsen 2008: 27), sondern erfordert eine gründlichere Analyse am Einzelfall. Eine*n Weltautor*in per se gibt es folglich nicht, sondern Autor*innen werden im Verlauf ihrer schriftstellerischen Laufbahn erst zu diesen gemacht: „En nuestras sociedades de consumo el mercado editorial no puede esperar a que un autor se imponga por sí solo y traspase poco a poco sus fronteras locales; debe mundializar escritores cuanto antes“ (Lemus 2012: 32 [Herv. i. O.]). Es handelt sich also hierbei

3.2 Korpus

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um einen komplexen kollektiven und fortlaufenden Konstruktionsprozess, an dem Leserschaft, Schriftstellerkolleg*innen wie auch Verleger*innen beteiligt sind (vgl. Meizoz 2007), und der sich darüber hinaus über den gesamten Werdegang eine*r Autor*in erstreckt. Die Selbstrepräsentationen von Autor*innen innerhalb als auch außerhalb ihres literarischen Werks sowie die (Fremd-)Repräsentationen, wie sie die Medien und Vermittler*innen von ein und derselben Person entwerfen, schaffen zusammen das, was als Autorbild bezeichnet werden kann (vgl. Gutiérrez-Mouat 2015: 65): „Aussehen, Vortrag, Stimme, Gestik, mit einem Wort die Performance der Autorfigur ist mindestens so wichtig wie sein Text, wenn nicht oft sogar wichtiger“ (Scholl 2016 [Herv. i. O.]). Dieser Feststellung trägt das Buch Rechnung, indem es neben den literarischen Werken auch ihre Urheber*innen, die Schriftsteller*innen, sowie speziell ihre Autorbilder und -figuren ins Zentrum der Analyse stellt. Wie diese Konstruktionsprozesse und Inszenierungspraktiken im Kontext von weltliterarischen Denominationspraktiken gegenwärtiger lateinamerikanischer Literaturen im Einzelnen ablaufen, möchte ich nachfolgend zunächst mittels einer Kontextualisierung und Historisierung der Autorschaftsdebatte in Lateinamerika und im Anschluss exemplarisch am Werdegang der Schriftsteller*innen Valeria Luiselli, Julián Herbert, Ariana Harwicz, Juan Gabriel Vásquez und Rita Indiana sowie anhand ihrer (internationalen) literarischen Debüts aufzeichnen und analysieren.

3.2 Korpus Es claro que hablar de primeras novelas con tan escasa perspectiva temporal se aviene a la especulación. […] No se trata pues de consensuar un ‚posible‘ canon, de llegar a conclusiones cerradas, sino de formular interrogantes, detectar puntos en común, localizar nexos estéticos con la literatura anterior y posiciones de lectura. (Gallego Cuiñas 2015: 5)

Indem ich mich auf literarische Erzeugnisse von Autor*innen, die in den 1970erund 1980er-Jahren geboren wurden, fokussiere, schließe ich mich Anadeli Bencomos Kritik an literaturwissenschaftlichen Arbeiten an, die sich lediglich mit kanonisierten2 Werken auseinandersetzen und dabei gegenwärtige Autor*innen und

2 Den Begriff Kanonisierung gebrauche ich im Sinne von Matthias Beilein, der dieses Bewertungsverfahren folgendermaßen beschreibt: „Allgemein gesprochen ist Kanonisierung das Resultat eines Wertungsprozesses, in dessen Verlauf einem literarischen Werk das Prädikat ‚mustergültig‘ und ‚von überzeitlicher Relevanz’ zugeschrieben wird. Dabei handelt es sich um einen diachronen, kollektiven Wertungsprozess, an der eine Vielzahl von Akteuren und Insti-

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3 Besetzung und Regie – Die Konstruktion von Weltautor*innen

Entwicklungen im literarischen Feld aus dem Blick verlieren: „[L]a apuesta al canon […] constriñe al especialista académico al estudio de un corpus de textos (un panteón literario) publicados a una prudente distancia histórica de su estudio crítico“ (Bencomo 2006: 25). Den Stellenwert der Gegenwartsliteratur hebt auch Mads Rosendahl Thomsen hervor, wenn er betont, dass es vornehmlich diese sei, die von Leser*innen heutzutage gekauft und gelesen werde (vgl. Thomsen 2008: 28). Umso interessanter ist eine Analyse gegenwärtiger Literatur deshalb vor dem Hintergrund der aktuell geführten Debatte um das Konzept Weltliteratur. Nun stellt sich natürlich die Frage, inwiefern sich diese miteinander vereinbaren lassen, bezieht sich doch das Konzept Weltliteratur primär auf literarische Werke, die überdauern, das heißt, die über einen längeren Zeitraum hinweg von Interesse und von Bedeutung für ein großes, möglichst internationales Lesepublikum sind (vgl. Schoene 2013: 357). Wie passt das nun damit zusammen, dass gerade im Fall von gegenwärtiger Literatur eine Vorhersage über die Zeitlosigkeit eines literarischen Werks praktisch unmöglich ist. Eine Schwierigkeit bei der Arbeit mit gegenwärtigen (lateinamerikanischen) Literaturen ist sicherlich, dass es zum derzeitigen Zeitpunkt kaum absehbar ist, bei was es sich um einen gegenwärtigen Trend handelt und was wiederum überdauern und auch noch in einigen Jahren oder sogar Jahrzehnten rezipiert werden wird (vgl. Thomsen 2008: 31). Als ein möglicher Maßstab beziehungsweise als Indiz für eine weltweite und möglicherweise fortdauernde Relevanz können dennoch Übersetzungs- und Distributionsindexe dienen (vgl. Thomsen 2008: 31 f.). Hinzu kommt, dass es angesichts der großen Zahl an jährlichen Neuerscheinungen3 für Schriftsteller*innen äußerst schwierig ist, ohne kontinuierliche Literaturproduktion, den Fokus der Literaturkritik und Presse über einen längeren Zeitraum auf sich zu richten: „There is only a select group of authors whose work is followed closely and continuously by the critics. For a much larger group, critical attention tends, after an initial period of intensity, to diminish and shift to a new consignment of writers“ (Janssen 1998: 267). Trotzdem gibt es Schriftsteller*innen, denen es in relativ kurzer Zeit gelingt, die weltweite publizistische oder aber akademische Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und noch dazu den ‚Titel‘ Weltautor*in zu erlangen.

tutionen mit einer Vielzahl von intentionaler oder nichtintentionaler Handlungen beteiligt sind“ (Beilein 2013: 124 f.). 3 So wurden beispielsweise laut dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels 2018 allein in Deutschland 79.916 Bücher (neu) veröffentlicht, von denen 71.548 Titel erstmals aufgelegt wurden (vgl. Börsenverein des Deutschen Buchhandels 2019).

3.2 Korpus

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Dies zeigt wiederum, dass nicht allein die Überzeitlichkeit eines literarischen Werks oder aber die Meinung und Wertung der Literaturkritik ausschlaggebend sind, sondern dass in der Gegenwart verschiedene Gesichtspunkte (zusätzlich) eine Rolle spielen, wenn es darum geht, eine*n Autor*in und sein*ihr literarisches Werk mit dem Label Weltliteratur zu versehen. Auch wenn die Veränderungen auf dem Buchmarkt und die Dominanz großer Verlagskonsortien und ihre weltweiten Vermarktungsstrategien von Neuerscheinungen eine Rolle spielen, ist dies sicherlich nicht der einzige ausschlaggebende Faktor: Los juicios estéticos de la vieja república de las letras […] se han topado de este modo, como de sopetón, con una desprejuiciada vindicación del gusto de la mayoría y no han tardado en ser arrollados por la velocidad misma de un mercado que, a través de los niveles de venta, engendra formas de reconocimiento instantáneo y da pie a numerosas canonizaciones sin más fundamento que la popularidad y el consumo. (Guerrero 2009: 25)

Welches die anderen Faktoren sind, kann erst mittels einer Analyse der gegenwärtigen (lateinamerikanischen) Literaturproduktion ermittelt werden. Feststeht in jedem Falle, dass die Ergebnisse, bedingt durch die Arbeit mit Gegenwartsliteratur, als eine Momentaufnahme des sich stets in Bewegung, will heißen in Veränderung, befindenden (welt)literarischen Feldes zu verstehen sind: „[C]ualquier interpretación y reflexión crítica será siempre provisoria en la delimitación de un orden literario contingente“ (Gallego Cuiñas 2018: 2). Durch dieses Bewusstsein unterstreicht das Buch aber auch die Tatsache, dass es sich sowohl bei Kanones im Allgemeinen als auch bei Weltliteratur(en) im Speziellen keinesfalls um feststehende, starre Begrifflichkeiten beziehungsweise Gebilde handelt, sondern vielmehr um äußerst dynamische und sich stets im Wandel befindende Korpora an literarischen Texten: „Apart from the very few successful titles that will be reprinted, most books have a short lifespan“ (Steiner 2018: 128). Das betont wiederum die ‚Kurzlebigkeit‘ manch eines literarischen Werks, das zwar in der Gegenwart ein begeistertes publizistisches Echo hervorruft, das im Nachhinein jedoch recht schnell wieder verhallt. Selbiges trifft daher auch auf die Schriftsteller*innen selbst zu, über die nicht sicher vorausgesagt werden kann, ob und wer von ihnen längerfristig einen zentralen oder doch eher marginalen Platz im (welt)literarischen Feld einnehmen und vor allen Dingen beibehalten wird (vgl. Gallego Cuiñas 2015: 14). Eine weitere Besonderheit ist der Fokus auf Erstlingswerke lateinamerikanischer Schriftsteller*innen. Allerdings muss an dieser Stelle eingewandt werden, dass die Bezeichnung ‚literarisches Debüt‘ nicht vollkommen korrekt ist, da die Mehrheit der Autor*innen bereits im Vorfeld ihrer Veröffentlichung in einem Ver-

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3 Besetzung und Regie – Die Konstruktion von Weltautor*innen

lag, wenngleich auch nicht in der klassischen und noch immer am meisten Anerkennung erfahrenden Form, dem Roman, aktiv in der Literaturszene war. Eine Arbeit mit den besagten literarischen Debüts kann dennoch Aufschluss über die erstmalige Positionierung von Schriftsteller*innen innerhalb des literarischen Feldes ihres Herkunftslandes und damit auch hinsichtlich der Literaturtraditionen ihres Landes geben (vgl. Gallego Cuiñas 2015: 4). Jedoch beschäftigt sich die Arbeit nur indirekt mit ‚diesen‘ tatsächlichen Erstlingswerken. Vor dem Hintergrund der Weltliteratur-Debatte interessieren mich stattdessen diejenigen Werke, die den Schriftsteller*innen zu internationaler Sichtbarkeit verhalfen, das heißt diejenigen, mit denen sie erstmals über ihre nationalen literarischen Felder transzendierten und dadurch Teil eines transnationalen literarischen Feldes, will heißen Bestandteil transnationaler Debatten wurden. Deshalb beabsichtige ich im Zuge der Analyse jene – wie ich sie bezeichne – internationalen literarischen Debüts einer sorgfältigen und kritischen Lektüre zu unterziehen. Dabei richte ich ein besonderes Augenmerk auf die verschiedenen literarischen Projekte, die jeweiligen Schreibstile sowie die Autorbilder und -figuren, die die Schriftsteller*innen meines Korpus innerhalb und außerhalb ihres literarischen Textes von sich erzeugen. In diesem Zusammenhang möchte ich die intra- und extraliterarischen Faktoren herausarbeiten, die eine transnationale Zirkulation von Autor*innen und ihrem literarischen Werk fördern, diese obstruieren oder möglicherweise sogar komplett verhindern können. Mit dem der Arbeit zugrundeliegenden Korpus soll nicht etwa ein ‚neuer‘ Kanon lateinamerikanischer Weltliteratur beziehungsweise lateinamerikanischer Weltautor*innen definiert oder festgeschrieben werden. Dennoch muss bedacht werden, dass schon allein durch die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung den ausgewählten Schriftsteller*innen und ihren literarischen Werken zu einer größeren Sichtbarkeit und Bekanntheit, in diesem Fall im deutschsprachigen Raum beziehungsweise auf dem deutschen Buchmarkt, verholfen wird: „Das Gütesiegel einer wissenschaftlichen Behandlung auf Kongressveranstaltungen, in Monographien und Literaturgeschichten fördert dann wiederum bei den Verlegern die Bereitschaft, einen Autor in das Verlagsprogramm aufzunehmen“ (Dörner/Vogt 2013: 154). Damit leistet bereits die Literaturwissenschaft im Allgemeinen und damit auch ich mit wissenschaftlichen Aufsätzen und Präsentationen im Rahmen der Promotion einen Beitrag zu einer gegebenenfalls damit einhergehenden Kanonisierung der Autor*innen. Darüber hinaus ist es mir wichtig, zu betonen, dass ich mit meiner Auswahl an lateinamerikanischen Autor*innen und meiner Arbeit mit lateinamerikanischen Literaturen nicht eine Definition eines*einer lateinamerikanischen Autor*in beziehungsweise lateinamerikanischer Literatur per se liefern möchte.

3.2 Korpus

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Hierbei handelt es sich aufgrund der Größe und Heterogenität des Kontinents sowie seiner Vielzahl an literarischen Stimmen und Projekten um ein unmögliches Unterfangen: „La polifonía [de las literaturas latinoamericanas] de este periodo es tal que se define por el predominio […] de temas y problemas heterogéneos, hasta el punto de que a cada autor u obra le corresponden corrientes y tendencias diversas“ (Gallego Cuiñas 2018: 2). Festzuhalten wäre deshalb lediglich, dass ein*e jede*r der Schriftsteller*innen ‚lateinamerikanisch‘ auf ihre*seine Weise ist, wobei bereits eine Reduktion auf allein diese geografische Herkunftskategorie den jeweils sehr pluralen Schriftstelleridentitäten nicht gerecht wird: „El gran reto está más bien en comprender cómo cada una de ellas es latinoamericana a su manera, es decir, como impugna, reelabora, tacha, modifica o desconoce el hipertexto identitario y, al hacerlo, desplaza o transforma la definición del campo entero“ (Guerrero 2009: 28 [Herv. i. O.]). Schlussendlich muss an dieser Stelle prinzipiell die Frage gestellt werden, welchen Zweck eine Kategorisierung in ‚lateinamerikanische Literatur‘ erfüllt? Letztlich dient die Gruppierung nach Weltregionen, wie sie speziell in Bibliotheken, Buchhandlungen, bei Literaturfestivals oder aber auf Buchmessen zu finden ist, vorrangig der Orientierung. Andererseits werden an diese Form der Kategorisierung aber auch gewisse Erwartungshaltungen der Leser*innen und Literaturkritiker*innen hinsichtlich eines bestimmten Schreibstils beziehungsweise der Behandlung bestimmter (landesspezifischer) Themen geknüpft: Los escritores latinoamericanos serán entonces latinoamericanos, o al menos serán vistos de ese modo, obtendrán aquel pasaporte, menos por ellos mismos que por una mirada o catalogación exterior. Y a partir de esa atribución, se propondrá una agenda, una lista de ‚temas‘ que serán esperables para la composición de ficciones en cada país. (Scott 2016)

Deutlich wird hierbei, dass es sich keineswegs primär um Autodenominationen der Schriftsteller*innen handelt, für welche im Vordergrund das persönliche literarische Werk und nicht die geografische Herkunft steht, sondern vielmehr um Fremdzuschreibungen, die andere Akteur*innen, wie beispielsweise Verleger*innen, Marketingexpert*innen oder Literaturkritiker*innen, vornehmen (vgl. Gallego Cuiñas 2015: 7). In diesem Zusammenhang ist es mir wichtig hervorzuheben, dass die Auswahl und Arbeit mit den einzelnen Autor*innen meines Korpus nicht zu dem essenzialisierenden Fehlschluss verleiten sollte, dass es sich hierbei um für das jeweilige lateinamerikanische Land und seine Literatur repräsentative Schriftsteller*innen handelt und es abgesehen von diesen keine weiteren analysewürdigen literarische Projekte gibt: „En otras palabras, escapar de la solución que consiste en confundir la parte con el todo; o bien, a una autora, un autor o un puñado de autoras o autores con la literatura de un país o una región“ (Terrones/Segas 2019: 14).

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3 Besetzung und Regie – Die Konstruktion von Weltautor*innen

Lesarten und Interpretationen von literarischen Texten können sich abhängig von der persönlichen Situierung, dem kulturellen Gepäck sowie dem zeithistorischen Kontext, aus dem sie heraus analysiert werden, unterscheiden. Nichtsdestotrotz bleiben Inhalt, Form und Stil des jeweiligen literarischen Textes in der Regel unverändert. Abschließend und vor dem Hintergrund, dass es sich bei meinem Analysegegenstand – den aktuell aufstrebenden Werken und Autorfiguren zeitgenössischer lateinamerikanischer Schriftsteller*innen – um ein ‚lebendiges‘ und sich damit stets im Wandel befindendes und keinesfalls abgeschlossenes Untersuchungsobjekt handelt, wie dies beispielsweise bei verstorbenen Autor*innen oder aber auch bereits kanonisierten literarischen Texten der Fall ist, sollen meine Lesarten und kritischen Reflexionen eher als Anstoß für weiterführende Debatten, denn als abgeschlossene Analyse betrachtet werden. So zeigt schon allein die Entwicklung, die manch eine*r der Autor*innen und sein*ihr literarisches Werk seit dem Beginn der Forschungsarbeit im Oktober 2015 durchlaufen haben, dass es nicht zu schaffen ist, eine definitive und einzig gültige Aussage über diese zu treffen. Stattdessen möchte ich mit meiner Arbeit, die Dynamiken des (welt)literarischen Feldes sowie die in ihm agierenden lateinamerikanischen Schriftsteller*innen wie auch ihre Autorbilder in Form einer Momentaufnahme festhalten und diesbezüglich einige Thesen formulieren. Diese Momentaufnahme soll die im Verlauf ihrer Schriftstellerlaufbahn vollzogene Entwicklung rekonstruieren und auf diese Weise Auskunft über ihre aktuelle Position, angestrebte Bewegung und damit zukünftige Ausrichtung im (welt)literarischen Feld geben. Eine Analyse allein der jeweiligen Werdegänge der Autor*innen würde nur unzureichende Ergebnisse liefern, weshalb ich bei meinen Untersuchungen sowohl intra- als auch extraliterarische Faktoren berücksichtigen werde: „[E]l análisis biográfico más minucioso no es suficiente para explicar la forma en la que un escritor concibe y practica la literatura“ (Boschetti 2014: 82). Die Konstruktion von Autorfiguren findet nicht nur außerhalb des literarischen Textes durch Dritte statt (extraliterarische Ebene). Auch der literarische Text (intraliterarische Ebene) leistet einen Beitrag dazu, welches Bild von einem*einer Autor*in unter den Leser*innen, Kritiker*innen und Wissenschaftler*innen kursiert (vgl. Zapata Olivella 2014: 18 f.): „Famous authors are not only constructed as celebrities in public texts that circulate beyond their control. They also knowingly construct themselves in their own texts“ (Braun/Spiers 2016: 450). Allerdings trifft das nicht nur auf berühmte Schriftsteller*innen zu, sondern auf Literat*innen im Allgemeinen. Schließlich bedarf ein*e jede*r Autor*in einer ihm*ihr eigenen unverwechselbaren Identität und einer ihn*sie auszeichnenden ‚Handschrift‘: „Über die Textproduktion liefert der Autor seinen Beitrag zu dem öffentlichen Autorenbild, das im

3.2 Korpus

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Feld kursiert und als Image mit einem bestimmten ‚corporate design‘ auch bewusst gepflegt werden kann“ (Dörner/Vogt 2013: 151). Die Auswahl der Schriftsteller*innen erfolgt unter Zuhilfenahme verschiedener Kriterien, wobei, abgesehen von einem Kriterium, keine*r der Schriftsteller*innen alle Kriterien gleichermaßen erfüllt, sondern stets eine Ausnahme vertreten ist. Elementare Voraussetzung ist, dass es sich bei den Schriftsteller*innen um Jungautor*innen handelt, das heißt, dass sie in den 1970er-Jahren geboren sein sollen (Ausnahme: Valeria Luiselli). Allerdings ist dies nicht damit gleichzusetzen, dass sie ein und derselben Schriftsteller- beziehungsweise literarischen Generation angehören. Damit in Verbindung steht auch die zweite Bedingung: Bei den analysierten literarischen Texten soll es sich um das jeweilige (internationale) literarische Debüt der Autor*innen handeln. Um der Absicht gerecht zu werden, aktuell aufstrebende Literat*innen und ihr literarisches Werk zu analysieren, soll dieses erstmals in den Zehnerjahren des 21. Jahrhunderts erschienen sein (Ausnahme: Juan Gabriel Vásquez). Außerdem soll es sich bei den besagten literarischen Debüts um Romane, dem Weltliteratur-Genre schlechthin (vgl. Bencomo 2009: 44), handeln (Ausnahme: Valeria Luiselli). Ausschlaggebend ist in diesem Zusammenhang und insbesondere vor dem Hintergrund der Weltliteratur-Debatte weiterhin, dass diese Romane bereits in mehrere Sprachen – vorrangig ins Englische – übersetzt worden sind: „([I]nglés […] opera como requisito para la inclusión en la literatura mundial […])“ (Logie 2020: 208). Darüber hinaus sollen die Autor*innen einen Teil ihrer schriftstellerischen Laufbahn im Ausland verbracht haben beziehungsweise noch dort leben (Ausnahme: Julián Herbert). Die Schriftsteller*innen sollen noch dazu aus lateinamerikanischen Ländern stammen, die als literarische Zentren bezeichnet werden können (Ausnahme: Rita Indiana). Da im Zentrum des Interesses die Autorbilder und -figuren stehen, die die jeweiligen Schriftsteller*innen von sich selbst innerhalb des literarischen Textes entwerfen, soll es sich bei den literarischen Werken ferner um autofiktionale Romane oder zumindest um literarische Texte mit autofiktionaler Tendenz handeln, die überdies den Akt des Schreibens beziehungsweise das Schriftstellerdasein zum Thema machen (Ausnahme: Rita Indiana). Die Begrenzung des Korpus auf fünf Autor*innen und ihr literarisches Debüt ermöglicht eine ausführliche und kritische Analyse der schriftstellerischen Werdegänge sowie ihrer Erstlingswerke. Dabei ist die Überzahl an Schriftstellerinnen

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3 Besetzung und Regie – Die Konstruktion von Weltautor*innen

bewusst gewählt, um der noch immer, zumindest in der deutschen Literaturbranche, vorherrschenden männlichen Dominanz auf dem Buchmarkt etwas entgegenzusetzen4. Auch die Wahl zweier mexikanischer Schriftsteller*innen und deren direkte Gegenüberstellung sind gewollt. So soll damit einerseits gezeigt werden, dass zwei Autor*innen mit (scheinbar) gleicher geografischer Herkunft ganz unterschiedliche literarische Wege einschlagen können. Andererseits soll auf diese Weise einem Denken entgegengewirkt werden, das die mexikanische Literaturproduktion nach außen hin lediglich auf eine*n repräsentative*n Autor*in und eine einzige Form des Schreibens reduziert. Die Schriftsteller*innen befinden sich, wie bereits erwähnt, in einem ständigen Konstruktionsprozess, das heißt, sowohl ihre Selbstrepräsentation als auch die Wahrnehmung durch andere unterliegt, bedingt durch weitere Veröffentlichungen, Preisverleihungen, Übersetzungen, außerliterarische Aktivitäten etc., einem konstanten Wandel. Damit möchte ich hervorheben, dass sich auch ihre Autorbilder und -figuren ständig wandeln und weiterentwickeln können, was eine Fixierung derselbigen über einen längeren Zeitraum hinweg unmöglich macht. Deshalb konzentriert sich der Analysezeitraum auf einen begrenzten Zeitabschnitt, die Jahre 2015– 2020. Den Schwerpunkt bilden die Jahre 2015–2018. Nachfolgende (Weiter-)Entwicklungen der Autor*innen und ihrer literarischen Projekte bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Buchs werden so weit wie möglich berücksichtigt, aber nicht (immer) vertiefend behandelt.

3.2.1 Valeria Luiselli (Mexiko, 1983) – Papeles falsos (2010) Valeria Luiselli wurde 1983 in Mexiko-Stadt geboren. Ihr literarisches Werk wurde in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt und erhielt zahlreiche internationale Preise. Sie schreibt und veröffentlicht regelmäßig Artikel und Kolumnen in der spanischen Tageszeitung El País, der New York Times, The Guardian sowie in Literaturund Kulturmagazinen wie Letras Libres, Granta, The New Yorker und Harper’s. Aktuell lebt sie in New York City, wo sie unter anderem als Dozentin tätig ist. Ihr De-

4 Eine 2018 durch die Medienwissenschaftlerin Elizabeth Prommer durchgeführte Studie mit dem Titel „Zur Sichtbarkeit von Frauen in Medien und im Literaturbetrieb“, die den literarischen Feuilleton als Analysegegenstand zur Grundlage hatte, ergab, dass die Mehrheit der rezensierten Bücher von Autoren geschrieben wurden und diese wiederum von Männern rezensiert werden, was zu einer größeren Präsenz von Schriftstellern in der Öffentlichkeit führt (vgl. Prommer/Biesler 2020).

3.2 Korpus

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bütroman Papeles falsos, auf Deutsch erschienen beim Verlag Antje Kunstmann unter dem Titel Falsche Papiere (2014), wurde 2010 erstmals beim mexikanischen unabhängigen Verlagshaus Sexto Piso verlegt und ist inzwischen in Übersetzungen sowohl in Großbritannien, den USA, China, dem Iran, Kroatien, Deutschland, Italien und den Niederlanden verfügbar.

3.2.2 Julián Herbert (Mexiko, 1971) – Canción de tumba (2011) Julián Herbert wurde 1971 in Acapulco im Süden Mexikos geboren. Zwischenzeitlich lebt er in Saltillo im mexikanischen Bundesstaat Coahuila. Canción de tumba erschien 2011 bei der transnationalen Verlagsgruppe Penguin Random House. Es existieren Übersetzungen des Romans ins Italienische, Französische, brasilianische Portugiesisch und in der Zwischenzeit auch ins Englische. Auf Deutsch existiert nur der bilinguale Gedichtband Jesus liebt dich nicht. Jesús no te ama, der eine Auswahl Herberts Gedichte zeigt, erschienen 2014 im Verlagshaus Berlin.

3.2.3 Ariana Harwicz (Argentinien, 1977) – Matate, amor (2012) Ariana Harwicz wurde 1977 in Buenos Aires, Argentinien geboren. Seit 2007 lebt sie in Frankreich. Dennoch war ihr Sprech- und Schreibort immer die argentinische Literatur. Matate, amor wurde in Spanien, Argentinien, Peru, Costa Rica, Chile und Mexiko in verschiedenen Kleinverlagen veröffentlicht und zunächst nur ins Hebräische übersetzt. Der Übersetzung ins Englische 2017 folgten Übersetzungen ins Italienische, Französische, Türkische, Rumänische, Kroatische, Georgische, brasilianische Portugiesisch, Polnische, Arabische, Deutsche und andere Sprachen. In Deutschland erschien der Roman unter dem Titel Stirb doch, Liebling 2019 beim C.H.Beck Verlag.

3.2.4 Juan Gabriel Vásquez (Kolumbien, 1973) – Los informantes (2004) Juan Gabriel Vásquez wurde 1973 in der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá geboren. 1996 verließ er Kolumbien mit dem Ziel Frankreich. Nach einer kurzen Station in Belgien ließ er sich in Barcelona nieder, wo er bis zu seiner Rückkehr nach Bogotá, Kolumbien im Jahr 2012 lebte. Sein Roman Los informantes wurde 2004 im spanischen Verlag Alfaguara veröffentlicht und in sechzehn Sprachen übersetzt. Die deutsche Übersetzung wurde 2010 beim Schöffling Verlag mit dem Titel Die Informanten publiziert.

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3 Besetzung und Regie – Die Konstruktion von Weltautor*innen

3.2.5 Rita Indiana (Dominikanische Republik, 1977) – Papi (2011) Rita Indiana wurde 1977 in Santo Domingo, der Hauptstadt der Dominikanischen Republik, geboren. Nach einem Aufenthalt in den USA lebt sie aktuell in San Juan, Puerto Rico. Während ihre ersten literarischen Texte noch als Fotokopien verbreitet wurden, erschien ihr zweiter Roman Papi erstmals 2005 in dem puerto-ricanischen Kleinverlag Vertigo, bevor er 2010 in der dominikanischen Version neu aufgelegt wurde. Ein Jahr danach erschien der Roman auch auf der anderen Seite des Ozeans im spanischen Verlag Periférica. Es folgten Übersetzungen ins Englische, Italienische und Norwegische. Während Indianas fünfter Roman (La Mucama de Omicunlé) unter dem Titel Tentakel 2018 beim Verlag Klaus Wagenbach erschien, existiert bisher keine deutsche Übersetzung ihres Romans Papi.

3.3 Kontextualisierung 3.3.1 (Lateinamerikanische) Autorschaft im Wandel [T]he author’s general biography, and the meaning of his texts, is something that rarely goes unchallenged within literary studies. (Brouillette 2007: 11)

Während wissenschaftlichen Arbeiten in den Literaturwissenschaften, die sich mit dem Konzept Autor(schaft) auseinandersetzten, nach Roland Barthes’ „Tod des Autors“ (1968) und Michel Foucaults „Was ist ein Autor?“ (1969) über lange Zeit hinweg die Legitimität abgesprochen und diese geradezu verpönt wurden, ist neuerdings eine ‚Rückkehr‘ oder auch ‚Wiedergeburt‘ des*der Autor*in zu verzeichnen (vgl. Wegmann 2013: 258). Diese spiegelt sich in einer Vielzahl an wissenschaftlichen Abhandlungen, aber auch an einer größeren öffentlichen Präsenz der Autor*innen selbst, wider: „No hay duda de que el autor está de vuelta y que ha vuelto a ocupar el espacio público“ (Gutiérrez-Mouat 2015: 64). Es ist anzunehmen, dass diese Entwicklung auch auf den allgemeinen Trend gegenwärtiger Gesellschaften zur Individualisierung zurückzuführen ist, der mit einer zunehmenden Selbstpräsentation und Selbstinszenierung in den sozialen Medien einhergeht. Nachfolgend möchte ich kurz skizzieren, welche Entwicklung die Konzepte Autor*in und Autorschaft im Kontext lateinamerikanischer Literaturen im 20. und 21. Jahrhundert durchlaufen haben, und wie sich die Rolle und Funktion der Autor*innen im Laufe der Zeit verändert haben.

3.3 Kontextualisierung

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Als einen Meilenstein in der Entwicklung des Konzeptes Autor*in in Lateinamerika, insbesondere im Zusammenhang mit der Internationalisierung und Globalisierung lateinamerikanischer Literatur, können sicherlich die Boom-Autoren5 und ihre öffentliche und mediale Präsenz in den 1960er-Jahren gesehen werden. Jene Blütezeit des*der Autor*in fiel interessanterweise mit Barthes ‚Verkündung‘ des „Tod[es] des Autors“ im Jahr 1967 zusammen. Zwar rückten die Autorfiguren in den Romanen der Boom-Autoren in den Hintergrund, zugleich traten jene Schriftsteller aber auch aus dem ‚Schatten‘ des literarischen Feldes und ihrer Werke (vgl. Gutiérrez-Mouat 2015: 64 f.). Erstmals agierten sie auch außerhalb literarischer, intellektueller Zirkel, um einen Platz zwischen „Intellektuellem und Filmstar“ (González 2014: 274 [Ü. d. V.]) in der Öffentlichkeit und in einem weiteren Schritt im „Showbusiness“ (Palou 2006: 308 [Ü. d. V.]) einzunehmen. Zuweilen ging dieser Kult sogar so weit, dass die Boom-Autoren zu „Helden der lateinamerikanischen Kultur“ stilisiert wurden und ihnen schon zu Lebzeiten ein Platz im „Pantheon“ der Literatur eingeräumt wurde (González 2014: 274 [Ü. d. V.]). Tiefere Einblicke in das Schaffen wie auch in das Privatleben der Boom-Autoren ermöglichten das sich im Zeitalter der kommerziellen Massenkultur etablierte Autoreninterview: „[E]l escritor mostraba su intimidad y su rostro bien podía figurar en la portada del siguiente número de la edición en español de Life o Vanidades“ (Palou 2006: 308 [Herv. i. O.]). Keineswegs ging der Impuls hierfür nur von den Medien aus, sondern ebenso die Schriftsteller selbst stellten fest, dass sich ihre öffentliche Präsenz positiv auf den Verkauf ihrer literarischen Werke in breiteren Gesellschaftsschichten und nicht nur den gesellschaftlichen Eliten auswirkte (vgl. Rama 2005: 204 f.). Das

5 Hier wird bewusst auf die maskuline Form zurückgegriffen, da in der öffentlichen Wahrnehmung der Boom-Autoren bis heute nur Männer zählen: „[E]l Boom fue siempre un club donde no se admitían mujeres. En realidad, sí, se permitían, pero como esposas, agentes literarias, lectoras, estudiosas, gruppies o secretarias. Pero como escritoras, jamás“ (Thays 2012 [Herv. i. O.]). Die Bezeichnung Boom sowie die damit in Verbindung gebrachten Autoren sind bis heute umstritten und beziehen sich auf keine feste Gruppe an Autoren. Zu den am häufigsten in diesem Zusammenhang genannten Schriftstellern zählen Mario Vargas Llosa (Peru), Gabriel García Márquez (Kolumbien), Carlos Fuentes (Mexiko) und Julio Cortázar (Argentinien). Ángel Rama charakterisiert die Boom-Autoren, wenn auch mit humoristischem Unterton, als elitären Schriftstellerzusammenschluss, dem vier ständige, unangefochtene ‚Mitglieder‘ angehören, während der fünfte Platz zur freien Disposition für verschiedene Zeitgenossen steht und zumeist José Donoso (Chile) zugewiesen wird (vgl. Rama 2005: 187).

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3 Besetzung und Regie – Die Konstruktion von Weltautor*innen

kann als generelle Tendenz hin zu einer öffentlichen Zurschaustellung des eigenen Privatlebens unter dem Slogan „‚Presenta tu vida‘ o ‚Publica tu vida‘“ (Rama 2005: 204) betrachtet werden, wie sie noch heutzutage existiert. Interviewbände wie Los nuestros (1966) des US-amerikanischen Chronisten Luis Harss, der Essay La nueva novela hispanoamerica (1969) des mexikanischen Schriftstellers Carlos Fuentes, das autobiografische Werk Historia personal del „Boom“ (1972) des chilenischen Autors José Donoso wie auch das Porträt Aquellos años del boom (2014) des katalanischen Journalisten Xavi Ayén trugen und tragen dazu bei, ein spezifisches Bild der Boom-Autoren zu erschaffen und in Umlauf zu setzen: „Era una imagen que combinaba rasgos que a primera vista parecían incompatibles: juventud y experiencia, nacionalismo y cosmopolitismo, elitismo y populismo, seriedad y espíritu lúdico“ (González 2014: 274). Auf diesen Zeitraum und die Werke der Boom-Autoren ist auch das international zirkulierende und speziell von europäischen und nordamerikanischen Verlagen sowie der Literaturkritik fortwährend bestätigte sowie alimentierte Stereotyp vom Schreiben und Leben lateinamerikanischer Autor*innen an einem tropischen, exotischen und magischen Ort zurückzuführen: ¿A quién no le hubiera gustado ser un escritor chileno o colombiano, mexicano o peruano, cubano o guatemalteco, para poder practicar el realismo mágico con un poco de legitimidad? Sería de veras chévere, relindo y macanudo levantarse uno así como a las doce y media del día, salir en bermudas estampadas al jardín de los cocoteros, decirle a la secretaria que atienda a los editores alemanes y holandeses, tomarse un jugo de pomelo y guayaba con dos o tres gotas de ron, agarrar al vuelo a una musa telúrica por la cola y escribir […]. (Benítez Reyes 2013)

Untermauert wurde die vermeintliche Einheitlichkeit der Boom-Autoren überdies durch ihr häufiges gemeinsames öffentliches Auftreten (vgl. González 2014: 274). Anhand der Boom-Autoren lässt sich die eingangs hervorgehobene Wechselwirkung zwischen literarischem Werk und Autor*in illustrieren. Der Erfolg der literarischen Werke wurde auf ihre Autoren projiziert und gleichzeitig wurden die Autoren wegen ihres Erfolges zu Güte- und Qualitätssiegeln ihrer Werke (vgl. González 2014: 275) und damit schlussendlich zu globalen Aushängeschildern einer ganzen Generation von lateinamerikanischen Schriftsteller*innen sowie in einem nächsten Schritt zu Repräsentanten der Literatur eines ganzen Kontinents. Ihr Prestige verschaffte jenen Autoren zusätzliche Präsenz in den Medien, in denen ihrer Sichtweise zu gesellschaftspolitischen Themen und Zeitfragen aufgrund ihres Status als Intellektuelle besondere Relevanz beigemessen wurde (Rama 2005: 205). Bei so viel medialer Präsenz ließen jedoch auch Skandale nicht lange auf sich warten, die zwar auf der einen Seite zu einer noch größeren Aufmerksamkeit des (Lese-)Publikums führten, auf der anderen Seite aber auch zur Folge

3.3 Kontextualisierung

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hatten, dass die Boom-Autoren mithin ihr gesellschaftliches Ansehen und letztlich auch ihren Heldenstatus als lateinamerikanische Autoren einbüßten (vgl. González 2014: 276). Nicht nur deshalb sind bei der nachfolgenden Generation an lateinamerikanischen Schriftsteller*innen ein Rückzug aus dem öffentlichen Leben und stattdessen eine Rückkehr der Autorfigur auf intratextueller Ebene zu verzeichnen. Letztere ging mit einer Absage an den ehemaligen Heldenstatus sowie der Autorität der Boom-Autoren einher, an deren Stelle eine Autorfigur trat, die sich als den Leser*innen und deren gesellschaftlichen Status ebenbürtig betrachtete (vgl. González 2014: 281). In diesem Kontext gewann auch das hybride Genre der Autofiktion6, das zwischen Roman (Fiktion) und Autobiografie (Autoreferenzialität) einzuordnen ist, und bei dem nicht selten die Erzählerfiguren beziehungsweise Protagonist*innen deutliche Parallelen mit den Schriftsteller*innen selbst aufweisen, an neuer Bedeutung (vgl. González 2014: 277). Allerdings stand hierbei nicht die erneute Selbstinszenierung der Schriftsteller*innen im Vordergrund, sondern anstatt dessen übten viele Schriftsteller*innen auf diese Weise und mithilfe von Metareflexionen offen Selbstkritik (vgl. González 2014: 277). Bei der Autofiktion handelt es sich keineswegs um ein neues Genre, sondern in den lateinamerikanischen Literaturen kann die Beschäftigung mit der persönlichen schriftstellerischen Arbeit sowie deren Inszenierung als beliebter literarischer Stoff betrachtet werden (vgl. Negrete Sandoval 2015: 234). Dieser Trend währt bis in die gegenwärtigen lateinamerikanischen Literaturen fort und erfährt seine deutlichste Ausprägung speziell in den seit der Jahrtausendwende veröffentlichten Werken von in den 1970er- und 1980er-Jahren geborenen Schriftsteller*innen (vgl. González 2014: 278). Die autofiktionale Tendenz in den jüngsten lateinamerikanischen Literaturen findet besonders im Massenmedienzeitalter und dessen allgemein gesteigerten Interesses am Privatleben von Berühmtheiten sowie Realityshows breiten Anklang7: „Porque lo que atrae a los lectores es la ilusión de ‚verdad‘, de crudeza y de inmediatez que ofrecen las obras biográficas o autoficcionales“ (Gallego Cuiñas 2014: 4). Nicht zu vergessen sind darüber hinaus die sozialen Medien. Sie erlauben

6 Siehe Kapitel 3.4.2 für eine begriffliche Klärung und Definition des Genres Autofiktion im Kontext des Buchs. 7 Belege hierfür sind zum Beispiel das in der mexikanischen Männerzeitschrift SoHo México abgedruckte Gespräch mit Valeria Luiselli unter dem Titel „Lo que nadie sabe de Valeria Luiselli“, in dem die Autorin bisher nicht bekannte Eigenheiten über ihre Person enthüllt (vgl. Santibáñez 2014), oder aber auch das Gespräch, das die Zeitschrift Vogue mit Luiselli und ihrem Ex-Mann, dem mexikanischen Schriftsteller Álvaro Enrigue, führte (vgl. Felsenthal 2016).

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3 Besetzung und Regie – Die Konstruktion von Weltautor*innen

es den Leser*innen, mittels Facebook, Twitter sowie anderer digitaler Kanäle und Plattformen einen ‚direkten‘ Kontakt zu den Autor*innen aufzubauen. Die Autor*innen benutzen sie wiederum als Kommunikationsmittel, zur Verbreitung und zum Marketing ihrer literarischen Werke und nicht zuletzt um sich auf diese Weise selbst zu inszenieren. An diese Entwicklungen knüpfen auch (kommerzielle) Literaturkritik und Verlage an, wenn in Buchankündigungen, Rezensionen und Autoreninterviews Parallelen zwischen literarischem Werk und Autor*in gesucht, diese hervorgehoben und mithin literarische Werke allein auf diesen (biografischen) Aspekt reduziert werden: „La vida del autor se convierte en el artículo de consumo más preciado – y casi desplaza la obra –, razón por la cual se propicia además el codicioso interés por su material biográfico“ (Gallego Cuiñas 2014: 4). Hinter der öffentlichen Zurschaustellung und Feier der Autor*innen verbirgt sich nicht zuletzt eine Marketingstrategie. Bücher verkaufen sich längst nicht mehr nur allein auf Grundlage ihres literarischen oder etwa Unterhaltungswerts, weshalb die öffentliche Aufmerksamkeit sowie das Leseinteresse auf andere Weise generiert werden müssen (vgl. Gardiner 2000: 263). Die Tendenz zur Kommerzialisierung und Vermarktung der lateinamerikanischen Schriftsteller*innen kritisiert auch der argentinische Autor Martín Kohan im Gespräch mit der argentinischen Journalistin Leila Guerriero: [M]e doy cuenta de que en esos sitios [los festivales de literatura] hay un consumo de figuras de escritor. Ver cómo son, que cuenten qué comen. Si todo eso estimula el acercamiento de la gente a los libros, está bien. Pero mi impresión es que, a veces, lo reemplaza y ocupa el lugar de la literatura. (Guerriero 2017 [Kohan])

Demgemäß kann für die jüngsten lateinamerikanischen Literaturen und ihre Autor*innen parallel zu einer Präsenz auf intratextueller Ebene, das heißt innerhalb des literarischen Textes, eine Rückkehr auf der extratextuellen Ebene und somit eine Präsenz im Rampenlicht der Öffentlichkeit konstatiert werden (vgl. Gallego Cuiñas 2014: 4). Die ‚neue‘ Öffentlichkeit und infolgedessen „‚Eventisierung‘ von Literatur“ (Kampmann 2013: 136) manifestieren sich nicht nur in einer stärkeren öffentlichen Präsenz der Autor*innen, sondern ebenso in der Selbst(re)präsentation und Selbstinszenierung der Autor*innen im Internet. Welche Konsequenzen diese Entwicklungen auf die Konstruktion von Autorschaft gegenwärtiger lateinamerikanischer Autor*innen haben und inwiefern sich diese auf die Anerkennung der Autor*innen auf einem globalen Buchmarkt auswirken, möchte ich im Folgenden näher untersuchen.

3.3 Kontextualisierung

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3.3.2 Die Rolle des Englischen im Kontext der Weltliteratur-Debatte English now assumes the mantle of exclusive medium of cosmopolitan exchange. (Mufti 2010: 489)

Der US-amerikanische Literaturwissenschaftler, Komparatist und Gründer des Institute for World Literature (IWL) David Damrosch führt in seinem international viel diskutierten sowie kritisierten Werk What is world literature? (2003) drei verschiedene, aber miteinander verflochtene Definitionen von Weltliteratur an. Für die nachfolgende Analyse sind vor allem seine Überlegungen zu Übersetzung und globaler Zirkulation von Literatur relevant. Ich stütze mich zunächst auf den Teil seines Konzeptes, der als Weltliteratur alle literarischen Werke begreift, die in Übersetzung oder im Original außerhalb ihrer Entstehungsregion zirkulieren und rezipiert werden: „[A] work only has an effective life as world literature whenever, and wherever, it is actively present within a literary system beyond that of its original culture“ (Damrosch 2003: 4 [Herv. i. O.]). Die Sichtbarkeit und damit auch die Lesbarkeit eines literarischen Werkes für ein globales Publikum und in einem weiteren Schritt seine etwaige Aufnahme in den weltliterarischen Korpus sind von der Übersetzung abhängig. Analog dazu wird der Zirkulationsgrad von literarischen Texten und ihren Autor*innen zum wesentlichen Wertmaßstabgeber: „[D]esde ahí se tasa el valor – literario y económico – de una obra. Cuanto más se traduce, más vale un texto en – lo que podíamos llamar – las reglas de la literatura mundial“ (Gallego Cuiñas 2019b [Herv. i. O.]). Die Übersetzung, allen voran ins Englische, gilt als zentrale Voraussetzung dafür, um als nicht Englischmuttersprachler*in oder nicht auf Englisch schreibende*r Autor*in auf globaler Ebene wahrgenommen und rezipiert zu werden: „Many publishers are comfortable in the English language – it is easy to read and evaluate, and this is a competence that they often lack in other languages“ (Steiner 2014: 322). Ziel vieler Autor*innen ist daher nicht mehr die Bekanntheit auf nationaler Ebene, sondern wer etwas auf sich halten möchte, strebt nach einer internationalen Leserschaft, was eine Übersetzung in eine andere Sprache, besonders ins Englische, erst möglich macht (vgl. Parks 2016). Nur auf diese Weise können die Schriftsteller*innen Teil weltweiter und meist in Englisch geführter Debatten werden (vgl. Kirsch 2017a). Pedro Á. Palou sieht die Übersetzung, speziell im Falle spanischsprachiger Schriftsteller*innen, als Conditio sine qua non von Weltliteratur als ein Diktat des Marktes, das nicht mehr mit dem ursprünglichen goetheschen Gedanken

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3 Besetzung und Regie – Die Konstruktion von Weltautor*innen

von Weltliteratur übereinstimme, sondern einzig den Interessen der Verlage diene (vgl. Palou 2006: 307). Während Palou sich nur auf die Rolle des Marktes bezieht und die Hegemonie des Englischen auf dem globalen Buchmarkt und damit dessen Deutungshoheit im Kontext der Weltliteratur-Debatte noch nicht explizit zur Sprache bringt, geht Mads Rosendahl Thomsen noch einen Schritt weiter, wenn er in Mapping world literature. International canonization and transnational literatures (2008) die Verbindung zwischen globalem Erfolg und der Publikation in englischer Sprache in den USA oder Großbritannien aufzeigt (vgl. Thomsen 2008: 29). Folglich ist unverkennbar, dass es nicht irrelevant ist, in welche Sprache ein literarisches Werk übersetzt wird. Eine Übersetzung eines Romans aus dem Chinesischen ins Russische macht diesen nicht zwangsläufig zur Weltliteratur. Nicht allen Sprachen und Regionen, insbesondere nicht denjenigen außerhalb Westeuropas und den USA, wird im globalen Buchmarkt der gleiche Stellenwert beigemessen (vgl. Wang 2012: 571). Zum Beispiel ist eine englische Übersetzung und darauffolgende Buchveröffentlichung im anglophonen Buchmarkt mit einem größeren Zugewinn an symbolischem Kapital für Autor*innen und ihr literarisches Werk verbunden als in eine andere Sprache (vgl. Sapiro 2015: 325). Letztlich kann die unterschiedliche Wertigkeit von Sprachen und ihren jeweiligen ‚Nationalliteraturen‘ im globalen Buchmarkt auf die Anzahl an Übersetzungen zurückgeführt werden. Dabei übernimmt die Übersetzung ins und aus dem Englische(n) zahlenmäßig klar die Vorreiterrolle (vgl. Sapiro 2015: 325): „The English language occupies a hyper-central position: about half of the translated books in the world in the 1980s were originally written in English“ (Sapiro 2010: 420). Im Kontext der Globalisierung muss somit von einer Hegemonialstellung des Englischen auf dem globalen Buchmarkt gesprochen werden: „Globalization bears on all writers working in English today. […] Some works of fiction are sure to be translated. Others hope to achieve it“ (Walkowitz 2015: 4). Infolgedessen entwickelt sich das Englische zunehmend zu einer „globalen Vernakularsprache der Belletristik“ (Brouillette 2007: 59 [Ü. d. V.]), trotz der Tatsache, dass es sich beim Englischen nicht um die Sprache mit den meisten Sprecher*innen weltweit handelt. Der Übersetzung ins Englische kommt dementsprechend im Kanonisierungsprozesses eines literarischen Werks sowie dessen*deren Autor*in im transnationalen literarischen Feld eine zentrale Bedeutung zu (vgl. Sapiro 2016b: 8). Diese Entwicklung verleitet jedoch zwangsläufig zu dem Fehlschluss, „dass alle Werke von angeblich globaler Relevanz bereits in (englischer) Übersetzung vorzufinden sind oder aber gegenwärtig übersetzt werden – alle anderen Werke können getrost ignoriert werden“ (Schoene 2013: 357).

3.3 Kontextualisierung

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Im Zuge dessen übernahm das Englische den Platz hinsichtlich der Wertigkeit der Sprachen im Buchmarkt, den früher das Französische innehatte (vgl. Sapiro 2016b: 8). Eine Übersetzung ins Englische vergrößert nicht nur die Wahrscheinlichkeit, in weitere Sprachen übersetzt zu werden, sondern ist nicht selten sogar (Voraus-)Bedingung für die Entscheidung anderer Verlage, eine*n Autor*in ins Programm aufzunehmen und zu übersetzen (vgl. Sapiro 2015: 325). Weltliterarische Denominationspraktiken gehen vornehmlich von (West-) Europa und den USA aus, was sich in einem eurozentrischen und Englisch geprägten Weltliteratur-Konzept widerspiegelt. Weltliteratur und die ihr inhärenten Weltkonzepte laufen, bedingt durch die beschriebene Hegemonie des Englischen sowie die Überrepräsentanz englischer Stimmen, die Gefahr, zu einer anglophonen Literatur zu werden, deren Weltbild sich auf einen monolingualen Sprachund Kulturraum reduziert (vgl. Buescu 2013: 20). Die Tendenz zu einer „transnationalen [leicht] übersetzbaren Monokultur“ (Apter 2001: 3) bemängelt ebenso Emily Apter. Sie sieht die Ursache hierfür in der Vormachtstellung des Englischen, das nicht nur auf dem internationalen Buchmarkt, sondern ebenfalls in der Weltwirtschaft dominiert. Als Konsequenz befürchtet sie, dass der Kampf um Marktanteile immer mehr in den Vordergrund tritt, während der literarische Wert von Büchern an Bedeutung verliert. Kan Wang bezeichnet dieses sprachliche und zugleich regionale Ungleichgewicht im Kontext der Weltliteratur-Debatte als ein Erbe des Kolonialismus, das bis heute Bestand habe: „[C]olonialism has also mandated that literature written in certain languages and representing certain geographical localities (including writers such as Shakespeare, Dante or Goethe) is considered ‚world literature‘“ (Wang 2012: 571). Problematisch ist in diesem Kontext vor allem, dass häufig vergessen wird, dass insgesamt nur sehr wenige fremdsprachige Titel ins Englische übersetzt beziehungsweise in den USA veröffentlicht werden. Diese Anzahl ist noch dazu rückläufig, wie Auswertungen von Publishers Weekly aus dem Jahr 2019 zeigen: „[G]iven the general growth in the number of translations offered on the market over the past 11 years – from 369 titles in 2008 to 609 in 2018, with a peak of 666 titles in 2016 – the recent decline is worth noting“ (Post 2019). Zwar machen die Übersetzungen aus dem Spanischen im Vergleich zu anderen Sprachen einen Großteil der Gesamtmenge an Übersetzungen aus, dennoch ist die Zahl in Anbetracht der jährlichen Neuerscheinungen in den USA äußerst niedrig. Das verleiht einer Übersetzung ins Englische zudem einen äußerst exklusiven Charakter. Angesichts des Umstands, dass das epistemologische Zentrum der Weltliteratur-Debatte in den USA zu verorten ist, wo primär mit englischen Übersetzungen gearbeitet wird, gilt es, sich bewusst zu machen, dass die mit dem Etikett

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Weltliteratur versehenen literarischen Texte nur die Spitze des Eisberges der in der Realität existierenden Literaturen repräsentieren: „[M]ucho de lo que se enseña y se teoriza en las universidades de los Estados Unidos bajo la etiqueta de ‚literatura mundial‘, solo tiene en cuenta el corpus de las obras traducidas al inglés, es decir, uno de los más restringidos y menguantes del planeta“ (Guerrero 2019: 35). Weltliterarische Denominationspraktiken bedingen den Erfolg und die Rezeption lateinamerikanischer Autor*innen sowohl in ihren Herkunftsländern als auch in Übersee. In der Folge sind diejenigen Autor*innen, die zum weltliterarischen Kanon gehören, in der Mehrheit weiß, männlich und ‚westlicher‘ Herkunft. Ein soziales Ungleichgewicht, das sich erst in jüngster Zeit zugunsten ‚anderer‘ Autor*innen verschiebt (vgl. Sapiro 2016a: 90). Während Schriftsteller*innen, die in beispielsweise England geboren wurden, durch ihre geografische Verortung automatisch zum ‚westlichen‘ Kanon zählen, müssen lateinamerikanische Autor*innen sich diesen Platz erst ‚erarbeiten‘ (vgl. Liano 2013): „[T]he writer stands in a particular relation to world literary space by virtue of the place occupied in it by the national space into which he has been born“ (Casanova 2004: 41). Alternativ muss beziehungsweise kann ihnen dieser Platz von anderer Instanz, zum Beispiel durch die Presse oder durch eine Preisjury, zugewiesen werden. Trotz der globalen Reichweite des Englischen und der damit verbundenen nahezu weltweiten Lesbarkeit, sind es nicht der Gebrauch des Englischen sowie die Übersetzung in die englische Sprache allein, die Literat*innen zu Weltautor*innen machen. Vielmehr spielen noch weitere Faktoren, die es nachfolgend zu ermitteln gilt, eine wichtige Rolle.

3.3.3 Lesbarkeit, Übersetzbarkeit, Stil – Kriterien für Weltliteratur? [W]orld literature is not an immense body of material that must somehow, impossibly, be mastered; it is a mode of reading […]. (Damrosch 2003: 299)

Wenn es sich bei Weltliteratur, wie David Damrosch sagt, letztlich ebenso um einen „Lesemodus“ (Ü. d. V.), in anderen Worten um eine Art und Weise des Lesens handelt, stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, welche Kriterien ein literarischer Text in der Gegenwart aufweisen muss, um als Weltliteratur gelesen zu werden. Eine ähnliche Ansicht vertritt auch der mexikanische Schriftsteller Pedro Ángel Palou, wenn er hervorhebt, dass es sich bei Weltliteratur um eine Leseper-

3.3 Kontextualisierung

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spektive Dritter handelt und weniger um eine bestimmten literarischen Texten inhärente Eigenschaft (vgl. Palou 2006: 313). Vor diesem Hintergrund wirft dies die Frage auf, was die Lesbarkeit eines Textes ausmacht: Wie muss ein literarischer Text konkret beschaffen zu sein, um als (weltweit) lesbar und in einem nächsten Schritt als Weltliteratur gelesen beziehungsweise kategorisiert zu werden? Generell lässt sich sagen, dass ein ausgewogenes Zusammenspiel von Inhalt, Form und Sprache über die Lesbarkeit eines literarischen Werks entscheiden. Das Kriterium Lesbarkeit steht indes in direkter Verbindung mit der Verkaufswahrscheinlichkeit eines Titels auf dem Buchmarkt: „El primer parámetro de valoración lo establece el editor, que estima lo que es publicable y lo que no“ (Gallego Cuiñas 2014: 2). Publiziert wird das, was als lesenswert oder oftmals noch wichtiger, als verkäuflich gilt. Die Frage und Suche nach einem zum literarischen Text passenden Lesepublikum sind immer Teil der Kosten-Nutzen-Rechnung eines Verlages im Vorfeld des Kaufes und der Veröffentlichung eines Buchs. Vor der Kaufentscheidung gilt es, von Verlagsseite eine Balance zwischen dem errechneten symbolischen und dem ökonomischem Kapital eines Buchs beziehungsweise demjenigen eines*einer Autor*in zu ermitteln. Das bedeutet, dass nicht nur der etwaige literarische Wert eines Buchs entscheidend ist, sondern auch dessen Kommerzialisierung (vgl. Lillge 2013: 128 f.). Analog dazu werden die Verlagsentscheidungen keineswegs allein auf der Grundlage eines etwaigen ästhetischen, kulturellen, politischen, sondern vor allen Dingen ökonomischen Wertes eines literarischen Textes für das Verlagsprogramm und die Verlagskalkulation getroffen (vgl. Beilein 2013: 124). Der Verkaufserfolg eines Buchs ist schlussendlich dem Zufall geschuldet (vgl. Steiner 2018: 121 f.), auch wenn er durch gezieltes Marketing erheblich beeinflusst werden kann. Dennoch fokussieren sich insbesondere die multinationalen Verlagskonsortien schon im Voraus primär auf Autor*innen, deren literarische Werke ein breites Publikum ansprechen und damit möglichst hohe Absatzzahlen garantieren: „[E]l propósito de la gran industria sigue siendo vender el mayor número posible de ejemplares de cada título, y eso implica buscar aquéllos que por sus características podrían llegar a un público masivo […]“ (Escalante Gonzalbo 2007: 258). Im Kontext der Weltliteratur-Debatte bezieht sich die Kaufentscheidung nicht primär auf das Originalmanuskript, sondern aufgrund der internationalen Zirkulation auf dessen Übersetzungsrechte. Der Wertungsprozess, der dieser Kaufentscheidung vorausgeht, orientiert sich an ähnlichen Maßstäben und speziell an der Frage, „welche Texte es ‚wert‘ sind, übersetzt zu werden“ (Lillge 2013: 132). Schließlich ist der Kauf von Übersetzungsrechten für Verlage nicht nur teuer, sondern ebenfalls mit Risiken verbunden, da zunächst nicht absehbar ist, ob ein

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andernorts erfolgreicher Titel sich in der Übersetzung genauso gut vermarkten und verkaufen lässt wie im Original (vgl. Marling 2016: 6). Die verschiedenen Instanzen des Literaturbetriebs fungieren dabei als richtungsweisende ‚Türsteher‘, die über das ‚Schicksal‘ von Autor*innen und deren literarisches Werk zum Teil schon vor der erstmaligen Veröffentlichung bestimmen: „The gatekeepers and promoters are people, companies, institutions, and agencies that in a constant process will select and push for some titles while others will be ignored“ (Steiner 2018: 127)8. Hieraus lässt sich ersehen, dass diese Instanzen darüber entscheiden, wer Zugang zum weltliterarischen Parkett erhält und für wen an der Türschwelle zu diesem bereits Schluss ist. Damit ist gemeint, wessen literarische Texte (zunächst) einem nationalen Publikum vorbehalten bleiben: „Hay autores que con independencia de su calidad se consideran ‚universales‘ – y tienen distribución internacional – y los hay que se clasifican como provincianos, de interés local nada más“ (Escalante Gonzalbo 2007: 282). Um sich auf der Bühne der Weltliteratur, in anderen Worten im weltliterarischen Feld behaupten zu können, bedarf es folglich einer Vielzahl an Förder*innen und Vermittler*innen. Sie ermöglichen einerseits die Sichtbarkeit und Vermarktung von Autor*innen in den verschiedensten Regionen, andererseits üben sie aber auch einen direkten Einfluss auf deren Repräsentation, Wahrnehmung und die Lesart des literarischen Werks vor Ort aus: „[A]n author requires multiple mediators if he or she is to move from one cultural context to another – and even more if he or she is to co-exist in both. These mediators are likely to change the image of the author and/or his or her writing quite significantly“ (Braun 2016: 472)9. Für die gegenwärtig den Markt dominierenden transnationalen Verlagsgruppen werden dabei immer mehr der Verkaufserfolg von Autor*innen und deren li-

8 Im Falle der lateinamerikanischen Literaturen sind dies bezeichnenderweise primär außerhalb Lateinamerikas agierende und ansässige Akteur*innen, wie beispielsweise internationale Buchmessen und -festivals, Literaturagent*innen, Übersetzer*innen, Kulturstiftungen und Preisjurys: „Todos son constructores de ‚literatura mundial‘, cuyos lugares de enunciación son ajenos al mundo latinoamericano: EE. UU., Inglaterra, Alemania, España“ (vgl. Gallego Cuiñas 2018: 3). 9 Rebecca Braun illustriert diesen Prozess in ihrem Aufsatz „The world author in us all: Conceptualising fame and agency in the global literary market“ (2016) anhand der literarischen Karriere des deutsch-österreichischen Schriftstellers Daniel Kehlmann. Kehlmanns größere internationale Sichtbarkeit bedingt durch die Verleihung internationaler Literaturpreise ging, so Braun, zunächst mit der Vergrößerung seines individuellen Aktionsradius einher, das heißt, er erhielt Zugang zu ihm zuvor verschlossenen Kreisen. Gleichzeitig verringerten sich aber für Kehlmann die direkten Einflussmöglichkeiten auf das von ihm zirkulierende Autorbild sowie die Interpretation seines literarischen Werks auf internationaler Ebene (vgl. Braun 2016: 462).

3.3 Kontextualisierung

69

terarischen Werken zum Gütesiegel und Qualitätsmerkmal von Literatur (vgl. Escalante Gonzalbo 2007: 10). Zugleich gerät der literarische Wert eines Textes immer mehr ins Hintertreffen: „Economic considerations are thus involved in the production and circulation of books and in many cases prevail over other considerations“ (Sapiro 2016a: 87). Die multinationalen Konzerne sind es auch, die durch ihr finanzielles Kapital und ihre damit verbundene Dominanz darüber entscheiden, welche Bücher übersetzt und dadurch Teil des globalen Buchmarktes werden (vgl. Steiner 2014: 317)10. Laut dem argentinischen Schriftsteller, Verleger und Kolumnisten Damián Tabarovsky sind die beschriebenen veränderten Prioritäten der Buchmarktinstanzen und deren Auswirkungen auf die Literaturproduktion ebenfalls im hispanophonen Raum zu spüren: „‚Muchos agentes literarios y las grandes instituciones del mercado literario hispanohablante (los grandes premios, las multinacionales, etcétera) suelen priorizar también estos productos editoriales, que presuponen que pueden llegar a ser traducidos para un público mainstream‘“ (Scherer 2016 [Tabarovsky]). In Lateinamerika sowie Spanien und damit dem hispanophonen Raum handelt es sich hierbei primär um die Verlagsriesen Planeta und Bertelsmann, die ein marktbeherrschendes Oligopol bilden (vgl. Gallego Cuiñas 2018: 3). In diesem Kontext kann die im 20. Jahrhundert noch bestehende Trennung von kommerzieller11 Literatur für ein Massenpublikum und Hochliteratur12 für eine selektive Leserschaft als weitestgehend aufgelöst erklärt werden (vgl. Bencomo 2009: 44). Selbiges gilt für das literarische Feld im Allgemeinen, wo längst nicht mehr von einer (Teil-)Autonomie die Rede sein kann. Stattdessen dominieren wirtschaftliche Interessen zunehmend die Literatur- sowie Buchbranche und einflussreiche Wirtschaftswissenschaftler*innen geben den Ton an. Entsprechend sind bereits die Ausgangslage und generell die Bedingungen, unter denen

10 Ungeachtet der Vormachtstellung der multinationalen Konzerne, ist die lateinamerikanische Literaturproduktion auf lokaler Ebene äußerst divers, was sich in einer Vielzahl an (unabhängigen) Kleinverlagen manifestiert, deren Autor*innen nicht (primär) für den Mainstream und damit auch nicht für ein internationales Lesepublikum schreiben. Inwiefern auch diese Autor*innen (trotzdem) Gegenstand der aktuell geführten Weltliteratur-Debatte sein können, wird sich im Analyseteil zeigen. 11 Der Begriff kommerzielle Literatur bezieht sich auf Bücher, die auf den Geschmack der breiten Masse zugeschnitten sind und entsprechend in großem Maßstab produziert und verkauft werden. Hierzu zählen Bestseller und Unterhaltungsliteratur, aber auch Reiseführer oder Selbsthilferatgeber (vgl. Sapiro 2010: 425). 12 Zur Hochliteratur gehören dagegen anspruchsvolle Texte, die sich an ein bestimmtes spezialisiertes Lesepublikum richten und deren Auflagen niedriger sind. Das können wissenschaftliche Arbeiten sein, aber auch Romane, Lyrik, Dramen und Kurzgeschichten (vgl. Sapiro 2010: 425).

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3 Besetzung und Regie – Die Konstruktion von Weltautor*innen

das Konzept Weltliteratur zur Anwendung kommt, eine komplett andere als zu Zeiten Goethes (vgl. Steiner 2014: 316): „La expansión del mercado global ha aumentado la pérdida de autonomía (siempre relativa) y la subordinación de la literatura a la economía“ (Gallego Cuiñas 2014: 4). Gesucht, gefördert, publiziert und übersetzt werden in diesem Zusammenhang vorrangig literarische Formen, die einen direkten (Verkaufs-)Erfolg versprechen: „La forma estética está fuera de la discusión“ (Palou 2006: 314). Dabei befinden sich Romanschriftsteller*innen in einem klaren Vorteil, denn bei Romanen handelt es sich noch immer um das international am besten zirkulierende literarische Genre (vgl. Walkowitz 2015: 2). Das Ergebnis hiervon ist, dass alternative und weniger kommerzielle Textformate wie Lyrik und Theater vernachlässigt werden (vgl. Sánchez Prado 2016a: 371). Unter diesen Entwicklungen leiden Autor*innen außerhalb des Mainstreams, Autor*innen, die sich nicht dem Diktat des Marktes unterwerfen sowie Autor*innen, deren Werke langsamer zirkulieren und die sich daher unter Umständen negativ auf die Verlagskalkulationen auswirken können (vgl. Escalante Gonzalbo 2007: 258). Insofern haben Bücher und Schriftsteller*innen, die sich den Homogenisierungstendenzen des globalen Buchmarktes zu widersetzen versuchen, einen schweren Stand: „[E]n la América Latina actual, como en otros lugares del planeta, […] luzca más y más difícil defender valores alternativos a los que secreta el mercado de masas […]“ (Guerrero 2009: 25). Das führt längerfristig dazu, dass Schriftsteller*innen ihr Schreiben im Voraus ‚zensieren‘, also sich um des Verkaufes Willen für ein marktkonformes Schreiben und gegen eine ästhetisch anspruchsvollere, weniger kommerzialisierbare Form entscheiden (vgl. Kirsch 2017a): „[E]l mercado editorial predica la uniformidad y castiga, más que nunca antes en la historia moderna del libro, la dificultad intelectual y el riesgo formal“ (Domínguez Michael 2005: 29). Diese Form der ‚Anpassung‘ und ‚Zensur‘ trifft auch auf die von Rebecca L. Walkowitz in ihrem 2015 erschienenen Werk Born translated. The Contemporary Novel in an Age of World Literature analysierte und als „born translated“ bezeichnete Literatur zu. Damit bezieht sich Walkowitz auf literarische Texte, die im wörtlichen Sinne ‚übersetzt geboren werden‘, das heißt, auf literarische Texte, bei denen Schriftsteller*innen bereits im Entstehungs- und Schreibprozess eine spätere Übersetzung mitdenken und dementsprechend in ihrer Art zu Schreiben antizipieren (vgl. Walkowitz 2015: 5). In anderen Worten bedeutet dies, dass Autor*innen schon während des Schaffensprozesses des literarischen Textes sich in den Kopf von Übersetzer*innen oder die Rolle anderssprachiger Leser*innen hineinversetzen (vgl. Walkowitz 2015: 4).

3.3 Kontextualisierung

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Die Auswirkungen sind nicht nur auf der inhaltlichen oder strukturellen Ebene der literarischen Texte feststellbar, sondern ebenso auf der stilistischen: „These works are written for translation, in the hope of being translated, but they are also often written as translations, pretending to take place in a language other than the one in which they have, in fact, been composed“ (Walkowitz 2015: 5 [Herv. i. O.]). Angesichts der beschriebenen Entwicklungen gilt es zu klären, welche literarischen Texte es heutzutage sind, die als übersetzenswert angesehen werden: „The system of gatekeepers and promoters will only allow for a small number of books to spread internationally“ (Steiner 2018: 128). Wie bereits angedeutet, handelt es sich nicht um literarische Texte, die ihren Schwerpunkt mehr auf die Form als auf den Inhalt des Textes selbst legen: „[S]tyle is predicated on a strict relation to a specific readership and the more that readership is diluted or extended, particularly if it includes foreign-language readers, the more difficult it is for a text of any stylistic density to be successful“ (Parks 2013). Selbst wenn ein unverwechselbarer, sich von anderen unterscheidender Schreibstil erst die ‚Handschrift‘ eines*einer Autor*in ausmacht, kann es passieren, dass dieser Stil letztlich so eigenwillig und extravagant ist, dass er den Zugang und das Durchdringen des literarischen Textes nur eingeweihten Leser*innen gewährt. Auf der einen Seite läuft ein solcher literarischer Text die Gefahr, durch eine Übersetzung seine eigentliche Essenz zu verlieren, das heißt, in der Lektüre einer anderen als der Originalsprache nicht mehr zu ‚funktionieren‘. Auf der anderen Seite kann es sogar passieren, dass dieser Text gar nicht erst übersetzt wird. Die Tendenz geht deswegen dahin, dass, wer international rezipiert werden möchte, sich zukünftig für einen den Zielgruppen anpassbaren Stil, um nicht zu sagen nicht zielgruppenspezifischen, sondern ‚international‘ verständlichen Schreibstil entscheidet (vgl. Parks 2013). Das kommt den Verlagen insofern gelegen, da ein ‚weniger‘ anspruchsvoller Schreibstil sich generell besser international kommerzialisieren und folglich auch konsumieren lässt (vgl. Escalante Gonzalbo 2007: 318): „Complexities of style and language are deemphasized; the writing is flat; plot dominates“ (Brouillette 2016: 96). Eine weitere Auswirkung hiervon ist die Abkehr von lokalen sprachlichen Varietäten und stattdessen die Entscheidung für eine ‚neutrale‘, nicht regional markierte Sprache, wodurch etwaige Hindernisse, die einen späteren Übersetzungsprozess beeinträchtigen oder diesen obstruieren könnten, bereits im Voraus proaktiv umgangen werden (vgl. Watroba 2018: 8). In dem Zusammenhang stellt sich die Frage, die sich bereits der US-amerikanische Literaturkritiker Adam Kirsch stellte: „Can there be a global novel that

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3 Besetzung und Regie – Die Konstruktion von Weltautor*innen

is at once richly textured and widely legible, or is there always a trade-off between these values?“ (Kirsch 2017b) – Erfolgt eine weltweite Zirkulation etwa stets zulasten eines andernfalls experimentelleren Schreibstils, der nur noch in literarischen Texten zu finden ist, die bei (unabhängigen) Kleinverlagen veröffentlicht werden und nicht danach ‚streben‘, überall auf dem Globus gelesen beziehungsweise verstanden zu werden? Obwohl es sich hierbei primär um Punkte handelt, die aus der Debatte um das Genre globale Literatur bekannt sind, so können diese durch die zunehmende Überlagerung und Vermischung der Konzepte globale Literatur und Weltliteratur seitens der Verlage als eine allgemeine Entwicklung im literarischen Feld betrachtet werden. Die Priorisierung von literarischen Texten mit weltweiter Reichweite und globalem Absatz führt auf lange Sicht dazu, dass die Bezeichnungen Weltliteratur und globalisierte Literatur nahezu synonym gebraucht werden. Maßgeblich an diesem Prozess beteiligt sind die (multinationalen) Verlagskonsortien, die ihre ökonomische Macht nutzen, um auf diese Weise ihr eigenes Konzept und Verständnis von Weltliteratur zu propagieren. „[They] define world literature as a product that can be translated, repackaged, and sold to different markets“ (Steiner 2014: 319). Sie werden so zu den zentralen Entscheidungsträgern im Selektions- und Denominationsprozess von Weltliteratur. Jedoch heißt das nicht, dass prinzipiell jeder literarische Titel, der international zirkuliert, oder im Zuge einer Marketingkampagne als Weltliteratur bezeichnet wird, zum (weltweiten) Bestseller wird: „The factors that determine which these titles will be anything from the text itself, its marketing, timing, author, or publisher, to pure serendipity“ (Steiner 2018: 127). Generell ist eine Gleichsetzung von Bestsellern und Weltliteratur problematisch, da sie die gegenwärtig als Weltliteratur bezeichneten literarischen Texte mit überwiegend kommerzieller Literatur auf eine Stufe stellt. Außerdem muss in ebendiesem Zusammenhang der Fehlschluss beseitigt werden, dass weltliterarische Anerkennung (allein) auf hohe Absatzzahlen der literarischen Werke von Autor*innen zurückgeführt werden kann: „[A] writer can be endowed with much literary recognition, the sales of his or her books notwithstanding, and, conversely, an author of bestsellers can be considered as low-brow by authorities in the literary field“ (Sapiro 2015: 323). Darüber hinaus ist die Übersetzung eines Buchs in unzählige Sprachen nicht zwingend mit einer hohen Leserschaft verbunden. Die Zahl an Übersetzungssprachen bedeutet zwar, dass ein Buch international sehr gut zirkuliert, vermag aber keine tatsächliche Auskunft über dessen tatsächliche Lektüre und Rezeption zu geben. Andernfalls müsste konsequenterweise auch Werken wie der TwilightSaga der US-amerikanischen Autorin Stephenie Meyer, den Harry Potter-Büchern

3.3 Kontextualisierung

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der britischen Schriftstellerin Joanne K. Rowling, der Krimitrilogie des schwedischen Autors Stieg Larsson oder Romanen des brasilianischen Schriftstellers Paulo Coelho aufgrund ihrer hohen Verkaufszahlen sowie nahezu weltweiten Distribution jener ‚Status‘ zugesprochen werden13. Interessanterweise werden letztgenannte nicht einmal seitens der Medien mit diesem Konzept assoziiert. Ein Bestsellerstatus allein ist somit noch nicht ausreichend, um Zugang zum weltliterarischen Parkett zu erhalten. Konsequenterweise steht literarische Anerkennung, konkret gesprochen die Etablierung von Schriftsteller*innen im weltliterarischen Feld, in keiner ausschließlich kausalen Abhängigkeitsbeziehung zu den Absatzzahlen der jeweiligen literarischen Werke: „While reviews and prizes may stimulate sales at home, a mass-market author can be poorly reviewed and win no prizes yet still achieve international celebrity if enough ‚product‘ is sold“ (Wynne 2016: 592). Deutlich wird jedoch auch, dass die Lesbarkeit eines literarischen Textes durch ein weltweites Publikum nicht das einzige ausschlaggebende Kriterium für eine solche Denominationspraxis sein kann. Ist es also doch ein bestimmte literarische Texte einendes Charakteristikum, das auf intratextueller Ebene zu finden ist? Oder handelt es sich um einen bestimmten, bestenfalls international bekannten, hochgelobten und preisgekrönten Typ Schriftsteller*in, dem dieser Status verliehen wird?

3.3.4 Thesen Aufgrund der bisher dargestellten Aspekte gehe ich von drei Annahmen aus, die ich nachfolgend näher ausführen werde und auf deren Grundlage ich meine Arbeitshypothesen formulieren werde: 1. Der inflationäre Gebrauch der Begrifflichkeiten Weltliteratur beziehungsweise Weltautor*in führt zu deren Aufweichung. 2. Der blitzartige Erfolg ersetzt den Faktor Überzeitlichkeit als ‚neuen‘ literarischen Wertmaßstab. 3. Verlage, Literaturkritik und Medien bedingen die Positionierungen von Schriftsteller*innen im (welt)literarischen Feld. Erstens: Die aufgezeigten Entwicklungen in der globalen Buchbranche sowie die Tatsache, dass in der Gegenwart die Bezeichnung Weltliteratur geradezu inflationär

13 Stattdessen werden die genannten Bücher wegen ihrer nahezu weltweiten Verfügbarkeit – insbesondere in Buchhandlungen in Flughafenterminals – gemeinhin als ‚Flughafenliteratur‘ bezeichnet (vgl. D’haen 2015: 58).

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3 Besetzung und Regie – Die Konstruktion von Weltautor*innen

vonseiten der Verlage und der kommerziellen Literaturkritik gebraucht wird und in den Verlagsvorschauen und Feuilletons Weltautor*innen ‚wie Pilze aus dem Boden schießen‘, lässt vermuten, dass jene Begrifflichkeiten mit steigender Tendenz zu einem ‚inhaltsleeren‘, primär werbewirksamen und verkaufsfördernden Marketinginstrument werden. Konsequenterweise handelt es sich hierbei nicht mehr (länger) um ein Prädikat, mit dem besonders wertvolle oder einzigartige Formen von Literatur ausgezeichnet werden. Deshalb gehe ich davon aus, dass sich derzeit die Bezeichnung Weltliteratur respektive Weltautor*in in den im Verlags(marketing)- und Literaturpresse-Jargon üblichen, inflationären Gebrauch von Superlativen einreiht, wonach in fast jedem neu erschienenen Buch und dessen Urheber*in das Potenzial eines*einer zukünftigen Weltautor*in steckt: „Romane etwa werden als ‚Jahrhundertroman‘, ‚Der beste … seit …‘, ‚Klassiker der … -literatur‘ oder als Literatur, ‚die man gelesen haben muss‘ etikettiert“ (Kampmann 2013: 136). Zweitens: Diese Entwicklungen stehen nicht zuletzt auch in einem Zusammenhang mit der generellen Beschleunigung der literarischen Produktion im Zeitalter der Globalisierung. Wichtig ist bei neu veröffentlichten literarischen Texten nicht mehr der Faktor Überzeitlichkeit, sondern vor allem das Hier und Jetzt und damit der geradezu blitzartige Erfolg, der oftmals genauso schnell kommt, wie er auch wieder verschwindet: „Hay un desplazamiento en la sociedad global que va de la celebridad de la obra, que se asocia al futuro (i. e., la legibilidad del texto, el ingreso en el canon, la posteridad) a la fama del escritor, que se relaciona con el presente (i. e., la visibilidad, la imagen pública, el espectáculo)“ (Gallego Cuiñas 2019a: 48 [Herv. i. O.]). Diesen kurzen Erfolgsmoment gilt es, angesichts der hohen Zahl an jährlichen Neuerscheinungen, zu nutzen, weshalb Verlage mit allen Mitteln versuchen, die Aufmerksamkeit der Leser*innen und Kritiker*innen zu gewinnen. Neben den Verlagen selbst spielt in diesem Prozess auch die Literaturkritik eine zentrale Rolle (vgl. Marling 2016: 6): „Reviews […] both indicate and mold how readers link fiction with its authors and are, therefore, crucial for understanding this connection“ (Hadar 2018: 289). Die Literaturkritik, wie auch die anderen Bereiche des Literaturbetriebs, werden zunehmend von ökonomischen Interessen beeinflusst: „[L]a crítica de libros, el espacio más intelectual en el campo de la prensa periódica, el que representa la autonomía del campo literario, aparece mezclado con intereses económicos“ (Escalante Gonzalbo 2007: 34). Ihr Handeln ist keineswegs als uneigennützig zu sehen, denn die von ihnen erzeugte Aufmerksamkeit für bestimmte Autor*innen und deren aufgebautes positives Image

3.3 Kontextualisierung

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trägt im Gegenzug zum Ansehen der Verlage, Zeitungen und (Literatur-)Zeitschriften bei, in denen die Schriftsteller*innen publizieren und veröffentlicht werden (vgl. Escalante Gonzalbo 2007: 53). Drittens: Übertragen auf die Weltliteratur-Debatte bedeuten diese Umstände, dass jungen und im literarischen Feld noch unerprobten Autor*innen nicht mehr die Zeit gegeben wird, sich zu versuchen und sich längerfristig zu bewähren. Stattdessen werden sie mit dem vonseiten der Verlage gewählten Label etikettiert und direkt auf den (Welt-)Markt ‚geworfen‘: In the past, a work of literature would establish a reputation in its culture of origin, first among critics who were presumably equipped to appreciate it, then among the larger public; only later, sometimes many years later, would it perhaps be translated by those cosmopolitan literati who wished to make it known in another country. Now, on the contrary, everything is immediate; the work of a major established author is pronounced a masterpiece the day it is published. (Parks 2013)

Weltautor*in wird ein*e Literat*in in der Aktualität folglich nicht im Verlauf seiner*ihrer literarischen Karriere durch (längerfristige) hervorragende schriftstellerische Leistung und renommierte Auszeichnungen, sondern durch die Etikettierung und geschickte Platzierung auf dem (globalen) Buchmarkt14. Deshalb gilt das von Rafael Lemus aufgestellte Prinzip hinsichtlich der Existenz beziehungsweise Produktion von Weltautor*innen: „Al final del día no existe ningún escritor mundial. […] Los escritores mundiales, por tanto, deben ser producidos – y rápidamente –“ (Lemus 2012: 32 [Herv. i. O.]). Vor diesem Hintergrund komme ich zu dem Schluss, dass im beginnenden 21. Jahrhundert im Kontext eines zunehmend globalisierten Buchmarktes das Konzept Weltliteratur, zumeist verbunden mit den Attributen ‚neu‘ beziehungsweise ‚jung‘, immer mehr zu einem rein kommerziellen Label für transnational zirkulierende und rezipierte Schriftsteller*innen sowie deren literarische Werke wird15. Da es sich um einen Aushandlungs- und Selektionsprozess handelt, der

14 In Anbetracht dieser Tatsachen ist der eingangs als problematisch bezeichnete Vergleich von Weltliteratur mit Bestsellern doch nicht mehr ganz so abseitig, wie zunächst angenommen. So geht die Tendenz weg vom Longseller. Im Vordergrund steht nicht mehr die Beständig- oder Zeitlosigkeit literarischer Werke, sondern der Shortseller und damit der zwar kurze, aber dafür weltumspannende Vertrieb und Erfolg von Büchern und ihren Autor*innen. 15 Nichtsdestotrotz sind die Autor*innen keineswegs bloßer Spielball, sondern können bis zu einem gewissen Grad aktiv Einfluss auf ihre Position und damit auch auf ihren Ruf im literarischen Feld ausüben (vgl. Janssen 1998: 266): „[T]he condition of survival for an author is to ‚achieve a name‘“ (Sapiro 2003: 453). Das erfordert indes ein Höchstmaß an Einsatzbereitschaft sowie den Willen, neben der eigentlichen schriftstellerischen Arbeit, auf unterschiedlichsten Kanälen in der Öffentlichkeit Präsenz zu zeigen: „[E]l autor se convierte en personaje mediá-

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3 Besetzung und Regie – Die Konstruktion von Weltautor*innen

primär im Globalen Norden stattfindet, kann nur Teil dieser Debatte werden, wer im Globalen Norden zirkuliert und rezipiert wird – bestenfalls in englischer Übersetzung. Die Bezeichnung Weltautor*in wird in diesem Zusammenhang lediglich jenen Literat*innen zugestanden, die über transnationales Kapital verfügen, und/oder die sich innerhalb als auch außerhalb ihrer literarischen Werke als kosmopolitisch und ‚universal‘ gebildet inszenieren. Das Konzept transnationales Kapital, auch bekannt als transnationales Humankapital, stammt aus der Soziologie und erhielt seine Bezeichnung und Bedeutung in Anlehnung an Pierre Bourdieus Kapitaltheorie (1983). Im Folgenden gebrauche ich den Begriff im Sinne Gerhards et al. (2014), wonach es sich hierbei um eine Kapitalsorte handelt, die im Kontext der Globalisierung und dem damit verbundenen grenzüberschreitenden Dialog und Austausch an Bedeutung zugewonnen hat (vgl. Gerhards et al. 2014: 7). Ähnlich wie beim kulturellen Kapital ist dieses durch den*die Einzelne vornehmlich in Bildungseinrichtungen, aber auch innerhalb der Familie zu erwerben (vgl. Gerhards et al. 2014: 8). Konkret zählen hierzu Kompetenzen, Kenntnisse und Fähigkeiten, die es Menschen erlauben, sich auf transnationaler Ebene zu behaupten, das heißt, sowohl inner- als auch außerhalb ihres Herkunftslandes aktiv zu sein. Das können Fremdsprachenkenntnisse oder auch interkulturelle Kompetenzen sein, die auf einen längeren Auslandsaufenthalt zurückgehen oder im Rahmen eines Auslandsstudiums erworben wurden (vgl. Gerhards et al. 2014: 10 f.). Transnationales Kapital kann einerseits im Alltag direkt angewandt und in andere Kapitalsorten umgewandelt werden. Andererseits wirkt sich die Akkumulation von transnationalem Kapital auf das persönliche Ansehen aus: „[T]ransnationales Humankapital [kann] auch einen symbolischen Nutzen haben und z. B. die soziale Anerkennung verbessern und die Inszenierung als Teil einer transnationalen Elite ermöglichen“ (Gerhards et al. 2014: 16). Letzterer Punkt ist im Buch von zentralem Interesse. So möchte ich analysieren, inwiefern es einen Zusammenhang zwischen der Anerkennung als Weltautor*in und längeren Auslandsaufenthalten während der ‚Ausbildung‘ der Schriftsteller*innen oder im Verlaufe ihrer Karriere oder einer etwaigen Mehrsprachenkompetenz gibt.

tico que ‚se vende‘ en salas de conferencias, talleres y medios de comunicación, lo que redunda en el diseño de estrategias de autorepresentación por parte del escritor […]“ (Gallego Cuiñas 2014: 4). Bei alledem fällt die Teilnahme an Autoreninterviews besonders ins Gewicht. Diese geben den Schriftsteller*innen – einmal abgesehen von ihren literarischen Texten – die Möglichkeit, sich aktiv zu Wort zu melden und auf das von ihnen in den Medien kursierende Bild zu reagieren: „They [the interviews] also provide the opportunity for authors to express their aesthetic views on literature and to clarify where they stand as a writer“ (Janssen 1998: 268).

3.4 Theorie

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3.4 Theorie [W]hat happens when we take seriously the idea that not just texts but also people and their authorial image or brand circulate outside the home territory. (Braun 2016: 458)

Um Rebecca Brauns Frage beantworten zu können und um die Figur des*der Autor*in herausarbeiten und analysieren zu können, wie sie im Fokus der Massenmedien steht und als welche sie das Interesse des Lesepublikums weckt, bedarf es zunächst einer kurzen Einführung in die der Studie zugrundeliegenden theoretischen Konzepte und Überlegungen.

3.4.1 Autorbild und Autorfigur [L]a construcción del autor no se remite únicamente a unos procedimientos que se ejercen externamente a la obra […], sino que esta remite también a los procedimientos que, desde la génesis misma de la obra, contribuyen a la construcción social de la identidad autorial. (Zapata Olivella 2014: 18 f.)

Bei der Analyse von Autorfiguren und Autorbildern muss stets bedacht werden, dass jeder Selbstbeschreibung, zum Beispiel auch der in einem Autoreninterview, eine bewusste Selektion, Anordnung und Hervorhebung von bestimmten Lebensereignissen seitens der Schriftsteller*innen vorausgeht. Diese können je nach Kontext oder abhängig vom Bild, das sie von sich abgegeben möchten, variieren. Deshalb sind die gemachten Angaben keineswegs als wahrheitsgemäß zu verstehen. Dieser Umstand ist wichtig, um etwaige Fehlschlüsse über die (tatsächliche) extraliterarische Identität der Schriftsteller*innen zu vermeiden. Nichtsdestotrotz sind die Selbstrepräsentationen der Autor*innen innerhalb und im Kontext ihrer literarischen Werke ein für die Untersuchung der Herausbildung einer Autorfigur sowie eines Autorbildes wertvolles und daher unerlässliches Analysematerial für die Arbeit. Im Folgenden stütze ich mich primär auf die Theorien zum Autorbild („imagen de autor“) und zur Autorfigur („figura de autor“) der israelischen Literaturwissenschaftlerin Ruth Amossy sowie die Konzepte der Schriftstellerfigur („figura de escritor“) und des Schriftstellerbildes („imagen de escritor“), die auf die argentinische Literaturwissenschaftlerin María Teresa Gramuglio zurückgehen. Während Amossys Konzepte sich vornehmlich für eine Analyse der extraliterarischen Ebene, in anderen Worten die Autorkonstruktionen außerhalb des literarischen Werks, anbieten, sollen Gramuglios Konzepte auf intraliterarischer Ebene, also im literarischen Werk selbst, Anwendung finden.

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3 Besetzung und Regie – Die Konstruktion von Weltautor*innen

Eine theoretische Auseinandersetzung und Arbeit mit den Konzepten Autorbild und Autorfigur erfordert nach Amossy, getreu des Titels ihres Aufsatzes „La doble naturaleza de la imagen de autor“ (2014), von Beginn an eine klare Trennung zwischen den realen, außerliterarischen Autor*innen, also den Schriftsteller*innen selbst, deren Namen auf dem Buchumschlag zu lesen sind, und deren imaginärer Autorfigur. Letztere, auf die es den Fokus zu richten gilt, bezieht sich auf das diskursive Bild von Autor*innen, das mittels ihres literarischen Werks und den es begleitenden Metadiskursen, wie zum Beispiel Werbe-, Pressematerialien oder aber auch Literaturkritiken, erzeugt wird (vgl. Amossy 2014: 67). Resultierend daraus, besteht das diskursive Bild aus zwei Komponenten. Während das Bild, das Autor*innen in ihrem literarischen Text von sich selbst generieren, aus ihrer ‚eigenen Feder‘ stammt, das heißt, sie es selbst formen können, gehen die anderen Bilder, die von ihnen kursieren, auf externe Urheber*innen zurück (vgl. Amossy 2014: 67). Entsprechend speist sich das imaginäre Autorbild beziehungsweise die imaginäre Autorfigur aus verschiedenen Quellen: „[S]e elaboren y circulen discursos que esbozan una figura imaginaria, un ser compuesto de palabras al que se le atribuye una personalidad, unos comportamientos, un relato de vida y, por supuesto, una corporalidad auxiliada por fotografías y por sus apariciones en la televisión“ (Amossy 2014: 68). Dennoch stehen die diskursiven Bilder zueinander in gegenseitiger Abhängigkeit und können nicht voneinander getrennt gedacht werden. Die aus dem Zusammenwirken der beiden Seiten resultierenden diskursiven Bilder haben gemäß Amossys These ihrerseits Auswirkungen auf die Beziehung der Leserschaft zum literarischen Text sowie auf die Position der Autor*innen im literarischen Feld (vgl. Amossy 2014: 67 f.). Insgesamt handelt es sich bei dem Bild, das dabei von den Autor*innen entworfen wird, mehr um ein Bild im Sinne einer Figur, daher auch der Begriff Autorfigur, und weniger um ein Bild im direkt wörtlichen Sinne. Diese Figur ist das Ergebnis zweier Prozesse: Einerseits die Konstruktion des*der Autor*in im Diskurs und mittels des Diskurses, also seiner*ihrer imaginären (Selbst-)Repräsentation im literarischen Text und nicht der realen Personifikation als Autor*in außerhalb des Textes. Andererseits die Konstruktion und (Fremd-)Repräsentation des*der Autor*in durch Dritte, an der die Autor*innen zunächst selbst nicht aktiv beteiligt sind (vgl. Amossy 2014: 68 f.). Die Beteiligten können sowohl Verleger*innen, Angehörige der Kultur- und Medienbranche, Literaturkritiker*innen oder je nach Fall ebenfalls Wissenschaftler*innen oder Biograf*innen sein (vgl. Amossy 2014: 69). Um das Bild, das ein*e Autor*in von sich projiziert und das in den gesellschaftlichen und medialen Diskurs Einzug hält, zu erfassen und fassbar zu machen, genügt es deshalb nicht allein, das literarische Werk eines*einer Autor*in

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auf etwaige (Autor-)Konstruktionen zu untersuchen, sondern eine umfassende Analyse muss ebenso paratextuelle Elemente miteinbeziehen. Hinter der Erzeugung eines Autorbildes im kritischen und medialen Diskurs können sich verschiedene Absichten und Gründe verbergen. Das erzeugte und in Umlauf gebrachte Autorbild erfüllt jeweils eine bestimmte Funktion und wirkt sich auf die Positionierung des*der Autor*in im literarischen Feld aus. Von Verlagsseite her ist es möglich, einen neuen Buchtitel mittels des Autorbildes besser zu bewerben und zu vermarkten. Daneben machen sich auch die Medien das Autorbild zunutze, indem sie das Interesse ihrer Leserschaft an Klatschgeschichten und weniger am literarischen Werk selbst wecken und deren Neugier hinsichtlich des Lebens von (Star-)Autor*innen stillen. Auf diese Weise erhöhen beispielsweise Printmedien ihren Absatz und Internetseiten mit Boulevardnachrichten ihre Klickzahlen. Des Weiteren können Autor*innen durch ein bestimmtes Autorbild Teil von exklusiven kulturellen Kreisen und deren Gesprächen werden. Nicht zu vernachlässigen ist ferner die Möglichkeit, anhand bestimmter Autorbilder das kulturelle Erbe, in anderen Worten das literarische Pantheon, zu pflegen und die Erinnerung an dieses wachzuhalten beziehungsweise aufzufrischen. Mindestens genauso wichtig ist das Autorbild für die Beziehung zwischen Leser*innen und Schriftsteller*innen sowie entscheidend im Moment der erstmaligen Annäherung von Leser*innen an ein literarisches Werk und dessen*deren Autor*in (vgl. Amossy 2014: 69). Ist ein bestimmtes Autorbild erst einmal im Umlauf, kostet es entsprechende Mühen es zu korrigieren. Dafür bleibt Schriftsteller*innen nur das Autoreninterview respektive -gespräch, beispielsweise im Rahmen von Lesungen, um dieses im Umgang mit Dritten – den Interviewenden – neu zu verhandeln, und es auf diese Weise in eine bestimmte Richtung zu beeinflussen oder zu modifizieren (vgl. Amossy 2014: 70). Jene öffentlichen Plattformen können Schriftsteller*innen ebenso für den umgekehrten Fall nutzen, das heißt, um ein bereits kursierendes Bild ihrerseits zu untermauern oder zu verstärken (vgl. Amossy 2014: 72). Eine Partizipation und gegebenenfalls Modifikation vonseiten der Autor*innen ist deshalb erforderlich, da das Autorbild, wie zuvor erwähnt, Auswirkungen auf die Position im literarischen Feld haben kann, in anderen Worten eine bestimmte Positionierung begünstigen beziehungsweise einschränken kann: „De esta forma, puede modificar su imagen en la dirección deseada, según el movimiento al que desea adherirse […] o la posición que aspira ocupar […]“ (Amossy 2014: 70). Folglich kann eine klare Korrelation zwischen Autorbild und Positionierung im literarischen Feld ausgemacht werden, was wiederum bedeutet, dass hinter einem bestimmten Autorbild stets strategische Überlegungen des*der Autor*innen verborgen sind (vgl. Amossy 2014: 71). Zugleich verdeutlicht diese Praxis auch, dass es sich bei einem Autorbild keineswegs um eine unabänderliche

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3 Besetzung und Regie – Die Konstruktion von Weltautor*innen

Konstante handelt, sondern es stets transformierbar ist und sich ebenfalls im Laufe der Zeit, zum Beispiel durch die Veröffentlichung neuer literarischer Werke, verändern kann. Das in diesem wechselseitigen Prozess zwischen Autor*in und weiteren Akteur*innen des literarischen Feldes geschaffene diskursive imaginäre Bild des*der Autor*in steht darüber hinaus in Verbindung mit dem textimmanenten Autorbild, das heißt der Repräsentation des*der Autor*in in seinem*ihrem jeweiligen literarischen Werk. Die beiden Bilder können sich in einem Wechselspiel überschneiden, ergänzen, verstärken oder aber auch voneinander abgrenzen. Zusammen betrachtet geben sie Auskunft über die Lesart des literarischen Textes und erlauben Rückschlüsse auf die von Schriftsteller*innen im literarischen Feld besetzte Position (vgl. Amossy 2014: 83). Ein anderer Ansatz ist derjenige Gramuglios, den sie in dem Aufsatz „La construcción de la imagen“ (1988) beschreibt. Darin vertritt sie den Standpunkt, dass Schriftsteller*innen von sich selbst Schriftstellerfiguren entwerfen, die sich aus verschiedenen Bildern zusammensetzen. Diese können entweder vollkommene Spiegelungen des schriftstellerischen Ichs oder aber negative Gegenbilder der eigenen Person sein (vgl. Gramuglio 1988: 3). Gramuglio nimmt weiterhin an, dass die Analyse jener imaginären Schriftstellerkonstruktionen Auskunft über eine Reihe von Fragen hinsichtlich der jeweiligen Konzeption des Schriftstellerdaseins und dessen literarischer Inszenierung gebe: [P]ermiten leer un conjunto variado y variable de cuestiones: cómo el escritor representa, en la dimensión imaginaria, la constitución de su subjetividad en tanto escritor, y también, más allá de lo estrictamente subjetivo, cuál es el lugar que piensa para sí en la literatura y en la sociedad. (Gramuglio 1988: 3 f.)

Das betrifft neben der Beziehung zu anderen Akteur*innen des literarischen Feldes, wie Schriftstellerkolleg*innen, Verlagen und Kulturinstituten, ebenfalls das Verhältnis des*der Schriftsteller*in zum Buchmarkt insgesamt. In derselben Weise liefert eine bestimmte Schriftstellerkonstruktion Hinweise bezüglich der Einstellung von Schriftsteller*innen gegenüber literarischen Traditionen, ihre Einordnung in diese, ihre etwaige Abneigung diesen gegenüber oder ihren Versuchen, diese umzuschreiben. Nicht zuletzt beinhaltet sie Informationen im Hinblick auf literarische Referenzen, die die schriftstellerische Arbeit einer bestimmten Person inspiriert haben oder wegweisend für einen bestimmten Schreibstil sind (vgl. Gramuglio 1988: 4). Gleichzeitig kann anhand der Schriftstellerkonstruktion die Position des*der Schriftsteller*in in der Gesellschaft, speziell in nicht vorrangig literarischen, wenn auch mit diesen in Verbindung stehenden Gesellschaftsbereichen festgemacht werden: „[L]as luchas culturales, la vinculación con los sectores sociales dominantes o

3.4 Theorie

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dominados, con los mecanismos del reconocimiento social, con las instituciones políticas y con los dispositivos del poder“ (Gramuglio 1988: 4). Eine Betrachtung beider Seiten ermöglicht die Offenlegung der komplexen Schriftstellerfigur, deren Analyse sowohl Aufschluss über das jeweils den Schriftsteller*innen eigene Schriftstellerkonzept bringt wie auch über ihr Verständnis von Literatur, will heißen ihren literarischen Stil: „[L]a construcción de la imagen conjuga una ideología literaria y una ética de la escritura, ética que compromete la estética del escritor y que llega a convertirse […] en una moral del estilo, una moral de la forma“ (Gramuglio 1988: 4). Die Operationalisierung von Gramuglios Konzept sieht entsprechend die Analyse der literarischen Werke von Schriftsteller*innen und die Herausarbeitung der ihnen inhärenten Schriftstellerbilder vor (vgl. Gramuglio 1988: 6). Damit stellt sie ein für den Gegenstand der Arbeit geeignetes Analyseinstrument zur Verfügung. Ausgehend von der Erkenntnis, dass sich die Konstruktion des Autorbildes sowie der -figur folglich sowohl auf inner- als auch außerliterarischer Ebene vollzieht, dienen mir als Analysegegenstand zunächst die Rezensionen, Presseartikel und Verlagstexte, welche ich auf die ihnen inhärenten Autorbilder und -figuren untersuchen möchte. In einem nächsten Schritt möchte ich den Fokus auf die Autor*innen als extraliterarische Personen richten und somit ihren biografischen beziehungsweise literarischen Werdegang sowie ihre Selbstdarstellung in Interviews, sozialen Medien und Literaturfestivals ebenfalls im Hinblick auf ihre Autorenkonstruktionen analysieren. Abschließend möchte ich die international erfolgreichen Debüts der Schriftsteller*innen sowie die in ihnen entworfenen Autorbilder und -figuren herausarbeiten und untersuchen.

3.4.2 Autofiktion Der Begriff Autofiktion geht auf den französischen Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Serge Doubrovsky zurück, der ihn zum ersten Mal auf dem Klappentext seines Romans Fils (1977) gebrauchte (vgl. Zipfel 2009: 298). Damals schrieb Doubrovsky, dass der vorliegende Text keine Autobiografie sei, da die Anfertigung dieser bedeutenden Persönlichkeiten vorbehalten sei, die an ihrem Lebensabend von ihren großartigen Leistungen und Errungenschaften berichteten. Stattdessen bezeichnete er sein Buch als Autofiktion, was sich durch „die Fiktion von streng realen Ereignissen und Tatsachen“ (Doubrovsky 1977 [Ü. d. V.]) auszeichne. Doubrovskys fehlende abschließende Begriffsbestimmung sowie die Widersprüchlichkeit, die seine Definition enthält, waren es, die dazu führten, dass das Konzept selbst bis in die Gegenwart Gegenstand literaturwissenschaftlicher Debatten ist und unterschiedlichste Deutungen und Auslegungen erfuhr: „So

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3 Besetzung und Regie – Die Konstruktion von Weltautor*innen

gut wie alle großen Namen der Autobiographie-Forschung (z. B. Philippe Lejeune, Jacques Lecarme) und der Gattungs- und Fiktionstheorie (z. B. Gérard Genette, Jean-Marie Schaeffer) haben sich […] zur Frage der Autofiktion geäußert“ (Zipfel 2009: 286 [Herv. i. O.]). Trotz unterschiedlicher Standpunkte, blieb die Hybridität oder aber der Widerspruch der beiden Genre, den die Autofiktion auch mehr als vierzig Jahre nach ihrem Entstehen weiterhin vereint, als eines der zentralen Wesensmerkmal erhalten: „[D]as der Autobiographie bzw. des autobiographischen Erzählens und das der Fiktion bzw. des fiktionalen Erzählens“ (Zipfel 2009: 286). Mit ersterem Genre teilt die Autofiktion die gemeinsame Eigenschaft, dass die Autor*innen selbst als Figuren und Erzähler*innen Teil der Handlung sind und Abschnitte ihres Lebens beziehungsweise ihrer Vergangenheit thematisieren (vgl. Pron 2012: 50). Das äußert sich zumeist in einer Namensidentität beziehungsweise Homonymie von Autor*in, Erzähler*in und Protagonist*in. Zugleich unterscheidet sich die Autofiktion jedoch insofern von der literarischen Gattung der Autobiografie, da sie die Grenzen zwischen Fiktion und Realität sowie faktualem und fiktionalem Erzählen verwischt (vgl. Pron 2012: 50). Dabei lässt sie die Leser*innen letztlich im Unklaren darüber, ob sich das Erzählte tatsächlich ereignet hat (vgl. Abenstein 2019). Im Kontext des Buchs spielt das Genre insofern eine zentrale Rolle, da es Autor*innen die Möglichkeit bietet, sich als Schriftsteller*innen im literarischen Feld mittels einer eigenen Ästhetik zu positionieren (vgl. Gómez 2015: 159). Das wiederum ist Voraussetzung für ihre Anerkennung als Schriftsteller*innen wie auch für die Abgrenzung gegenüber anderen Schriftsteller*innen und bestehenden Tendenzen im literarischen Feld: „[E]l creador necesita posicionarse de modo personal e individual en el mundo artístico“ (Gómez 2015: 159 f.). Für die Analyse ist das Konzept Autofiktion insofern förderlich und nutzenbringend, da es nicht nur auf die direkten literarischen Erzeugnisse, also die Bücher der Autor*innen meines Korpus bezogen werden kann, sondern auch auf andere Textsorten oder Medienformate, in denen die Autor*innen in Erscheinung treten: Das Konzept der Autofiktion kann beschreiben, wie sich die Autor/innen nicht nur in ihren eigenen Texten herstellten, sondern auch wie ihre Webseiten, Blogs und Social-Media-Profile, ihre Zeitungsinterviews und Fernsehauftritte daran beteiligt sind, sie als öffentliche Figuren zwischen Literatur und Alltagswirklichkeit zu formen. (Kreknin 2016: 202)

Entsprechend sind außer- und intraliterarische Konstruktionen der Autor*innen, das heißt die Inszenierungspraktiken sowie die Wahl einer Erzählform, als komplementär zu verstehen und werden bewusst von den Autor*innen einge-

3.4 Theorie

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setzt: „[L]a autoficción viene a crear y promover un posicionamiento deliberado por parte del autor“ (Gómez 2015: 160). Bei der Fiktionalisierung des Selbst geht es nicht nur um die Begründung einer eigenen Ästhetik, sondern vor allen Dingen um die Schaffung eines tatsächlichen Autorbildes: „[C]ontribuye a imponer una imagen del autor real dentro de una coyuntura literaria precisa“ (Gómez 2015: 165). Der schweizerische Literaturwissenschaftler Jêrome Meizoz beschreibt diesen Akt der Konstruktion der literarischen Identität von Autor*innen, ihres Autorbildes und der damit verbundenen Positionierung im literarischen Feld mit dem von Pierre Bourdieu entlehnten Begriff der posture (vgl. Meizoz 2007: 18). Von den Autor*innen selbst konstruiert, wird die posture von den Medien rezipiert und an ein breiteres Publikum, die Leser*innen, weitervermittelt (vgl. Meizoz 2007: 18). Den Leser*innen obliegt es, mittels dieses Bildes sowie der literarischen Erzeugnisse die Position und Haltung der Autor*innen sowohl im literarischen Feld als auch in anderen gesellschaftspolitischen Kontexten zu bestimmen (vgl. Gómez 2015: 165). Demgemäß wird das literarische Werk zu einer Figuration der Schriftsteller*innen, anhand dessen diese ihre eigenen, sie kenn- und auszeichnende „literarischen Marken“ erschaffen (Gómez 2015: 165 [Ü. d. V.]). Die Selbstkonstruktion des Autorbildes ist speziell im gegenwärtigen Medienzeitalter von zentraler Relevanz. In dessen Kontext wird das Privat- und Arbeitsleben der Autor*innen zunehmend mediatisiert, inszeniert und durch Verlage und Presse kommerzialisiert (vgl. Gómez 2015: 166); eine These, wie sie ebenfalls Sabine Scholl vertritt: „Die Ineinssetzung von Biographie und Körperlichkeit mit dem vorgelegten Text und seinen Figuren ist paradigmatisch für die Betrachtung von Literatur im Zeitalter des Castings“ (Scholl 2016). Eine wachsende Internetpräsenz der Schriftsteller*innen durch eigene, verlagsunabhängige Twitter-, Instagram- und Facebook-Accounts sowie Blogs, gleichzeitig aber auch ein Anstieg von Lesereisen und der Teilnahme an Konferenzen der Schriftsteller*innen sind die direkten Folgen hiervon (vgl. Gómez 2015: 166). Im Mittelpunkt jener Prozedere steht konsequenterweise immer mehr die Inszenierung der eigenen Autorpersönlichkeit, während andere Aspekte wie Inhalt, Form und Stil der literarischen Werke in den Hintergrund gedrängt werden: „Para convertirse en escritor, hay que inventarse, poner en escena una identidad atractiva, enigmática y ficticia“ (Musitano 2010: 4). Während manche Schriftsteller*innen zu Unternehmer*innen und Selbstvermarkter*innen werden, ständig in den Medien präsent sind und geschickt mit ihrem Ansehen umzugehen wissen, beispielsweise in der Politik, gibt es an-

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dere, die kein Interesse an diesem ‚Medienzirkus‘ sowie der damit verbundenen Celebrity Culture16 haben (vgl. Escalante Gonzalbo 2007: 314). Wo genau die Autor*innen meines Korpus zu verorten sind, welches Bild sie von sich in ihren literarischen Texten erzeugen und inwiefern diese als autofiktional zu betrachten sind, wird die nachfolgende Analyse zeigen.

16 Fernando Escalante Gonzalbo konstatiert für den Zeitraum um die Jahrhundertwende, im Zuge der Monopolisierung und Konzentration des Buchmarktes auf einige wenige multinationale Konsortien, einen Umbruch im Verlagswesen. Die damit einhergehende Umstrukturierung und Anerkennung des Buchhandels als lukratives Geschäft resultiere in einer Verschiebung der Buchbranche in den Unterhaltungssektor und das Showbusiness. Infolgedessen dominiere der Unterhaltungswert zunehmend die verschiedenen Bereiche der Literaturwelt (vgl. Escalante Gonzalbo 2007: 9). In diesem Zusammenhang sei auch das Aufkommen und Erstarken der Celebrity Culture feststellbar. Hiermit ist gemeint, dass die traditionelle Figur des*der Intellektuellen, im Sinne des*der gebildeten Gelehrten und des*der engagierten Literat*in, als gesellschaftliches Leitbild und Vorbild ausgedient hat. An deren Stelle treten nun preisgekrönte Stars und Sternchen, bisweilen ohne konkrete intellektuelle Leistung. Einzig ihr Ruhm ist es, der sie dazu berechtigt und – scheinbar – befähigt, als öffentliche Repräsentant*innen in soziopolitischen Debatten präsent zu sein. Die letzte Konsequenz dieser Entwicklungen sei, so Escalante Gonzalbo, die Ablösung der Figur des*der Intellektuellen durch diejenige der Berühmtheit (vgl. Escalante Gonzalbo 2007: 24). Letztere, „Medienintellektuelle“ (Ü. d. V.), wie sie Escalante Gonzalbo bezeichnet, sind speziell für das Verlagswesen von Interesse, weil sie sowohl ökonomischen als auch symbolischen Wert generieren. Konkret bedeutet das, dass oftmals schon ihre alleinige Präsenz in Zeitschriften und Zeitungen den Absatz dieser steigert. In ähnlicher Weise verhilft ihr Ansehen zum vermehrten Kauf ihrer eigenen Bücher und fördert die Vermarktung anderer Autor*innen, die sie namentlich erwähnen oder auf deren Buchvorstellungen sie zugegen sind. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem symbolischen Wert. Das wird deutlich, wenn Medien- und Verlagshäuser, die sie verlegen und ihre Stimmen veröffentlichen, dadurch das Prestige ihres Hauses aufbessern können. Die Tragweite und das Ausmaß des Einflusses jener Medienintellektuellen werden noch erheblicher, wenn plötzlich ihre persönlichen Ansichten auf die politische und öffentliche Meinungsbildung und Entscheidungsfindung einwirken (vgl. Escalante Gonzalbo 2007: 313).

4 Die Blätter, die die Welt bedeuten – Analyse 4.1 Valeria Luiselli und Julián Herbert – „Writing yourself into the world“ […] [Luiselli] è considerata uno dei nomi di punta della letteratura mondiale […]. (Menniti-Ippolito 2015) [Herbert] Un escritor en los márgenes.

(Camponovo 2014)

4.1.1 Extraliterarische Ebene 4.1.1.1 Biografischer Abriss und Einstieg in den Literaturbetrieb Valeria Luiselli (Mexiko-Stadt, 1983) und Julián Herbert (Acapulco, 1971), beide aus Mexiko stammend, zählen zur Generation lateinamerikanischer Schriftsteller*innen, die nach 1970 geboren wurden und die sich nicht aufgrund ihrer geografischen Herkunft einer bestimmten Region und deren literarischen Tradition zugeordnet beziehungsweise verpflichtet fühlen.1 Das bringt Luiselli zum Ausdruck, indem sie betont, dass ihre mexikanische Nationalität keine Auswirkungen auf ihr Schreiben habe: „Por supuesto que soy mexicana, por supuesto que soy escritora y mexicana lo cual me hace una escritora mexicana sin duda. Pero no, no creo que escriba desde ahí, ni con una sensación de tener que pertencer o aportar una tradición“ (BBC Mundo 2015 [Luiselli]). Diesen Standpunkt vertritt ebenso Herbert, indem er sich, basierend auf seiner Muttersprache, dem Spanischen, nicht etwa Mexiko, sondern Lateinamerika zugehörig sieht: „Más que ser mexicano, me interesa el hecho de ser latinoamericano, particularmente por la lengua […]“ (Camponovo 2014 [Herbert]). Die Beziehung zu Lateinamerika ist in Luisellis Fall primär eine sprachliche, sie schreibt und veröffentlicht bisher vornehmlich auf Spanisch, verbrachte aber den Großteil ihres Lebens außerhalb Mexikos und auch Lateinamerikas: „Mi relación con lo latinoamericano es francamente cursi. Crecí en Corea del sur, en Sudáfrica y en la India, y ahora vivo en Nueva York. Pero de algún modo siempre he estado rodeada de latinoamericanos – expatriados, exiliados o perdidos“ (Sánchez Mariño 2016 [Luiselli]). In dieser Aussage inszeniert sich Luiselli auf zweierlei Weise: zum einen als keiner spezifischen Nation beziehungsweise Region zugehö-

1 Das Zitat aus der Kapitelüberschrift stammt aus einem Interview mit der mexikanischen Autorin Valeria Luiselli, das die Literaturzeitschrift World Literature Today abdruckte (vgl. Reber 2016). https://doi.org/10.1515/9783110748758-004

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4 Die Blätter, die die Welt bedeuten – Analyse

rig, sondern als Kosmopolitin, die sich überall auf der Welt zuhause fühlt; zum anderen bringt sie durch den Gebrauch des problematischen Begriffs Expatriate ihr, kritische Leser*innen sind geneigt, zu sagen, elitäres Klassenbewusstsein zum Ausdruck. So bezieht sich die Bezeichnung Expatriate in der Regel auf weiße Mittelbeziehungsweise Oberklasse-Migrant*innen, die dem rassistischen, staatlich geförderten Idealbild eine*r ‚erwünschten‘ Migrant*in entsprechen. Sowohl Luiselli als auch Herbert gehören einer Generation von Schriftsteller*innen an, die sich dem von Literaturkritik und -betrieb unternommenen Versuch widersetzen, sich selbst und ihre literarischen Werke einer spezifischen nationalen oder auch lateinamerikanischen literarischen Strömung oder Tradition zuzuordnen: „[S]i bien no tienen nada en común, tendrán al menos la toma de distancia respecto de la tradición“ (Sánchez Mariño 2016). Luiselli stellt außerdem, aufgrund der verschiedenen Einflüsse, die sie in ihrem Werk verarbeitet, die Existenz einer lateinamerikanischen Literatur infrage: „Tampoco creo que haya tal cosa como una ‚poética latinoamericana‘: todos leemos de manera transatlántica y transpacífica, por decirlo de un modo“ (Sánchez Mariño 2016 [Luiselli]). Das Fehlen einer gemeinsamen ‚lateinamerikanischen‘ Identität, wie es Luiselli hervorhebt, ist der entscheidende Berührungspunkt jener Generation Schriftsteller*innen, die generell der Vorstellung von fixen, homogenen und nicht dynamischen Identitäten eine Absage erteilt: [L]a cuestión de la identidad colectiva dejará de tener el peso que tuvo entre los escritores de generaciones anteriores, puesto que la identidad se va a forjar, más bien, en función de las trayectorias personales, para ser, no ya algo inmutable y dado, sino algo variable, cambiante y coyuntural […]. (Quesada Gómez 2014: 5 f.)

Das Bewusstsein über die Hybridität der eigenen Identität hat ihre Ursache zum einen in einer zunehmend globalisierten Welt. Zum anderen kann es an der persönlichen Biografie der Autor*innen, an ihrer Situation als „escritores migrantes o nómadas“ (Quesada Gómez 2014: 6), festgemacht werden: „Tanto su biografía, como los lenguajes que emplean o las temáticas de sus obras están en consonancia con una lógica transnacional que determina el mercado global de la literatura en español […]“ (Esteban/Montoya Juárez 2011: 8). Im Kontrast zu diesen Entwicklungen steht indes, dass zwar seitens der Schriftsteller*innen zunächst nationale Grenzen aufgelöst oder vielmehr transzendiert und homogene Identitäten abgelegt werden, gleichzeitig aber im Zuge einer Veröffentlichung im Globalen Norden eine Art ‚Re-Ethnisierung‘ durch Verlage, Marketing sowie teils auch durch die Autor*innen selbst stattfindet. In diesem Kontext ist ein Anstieg an lateinamerikanischen Schriftsteller*innen, die außerhalb Lateinamerikas schreiben und verlegen, zu bemerken. Sie schreiben

4.1 Valeria Luiselli und Julián Herbert – „Writing yourself into the world“

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nicht selten sogar in einer anderen Sprache als dem Spanischen (vgl. Ortiz Gambetta 2012: 10). Das trifft beispielsweise auf den in den USA lebenden Peruaner Daniel Alarcón oder aber auch den US-amerikanisch-dominikanischen Schriftsteller Junot Díaz zu. Beide schreiben und veröffentlichen auf Englisch. Auch Luiselli als in den USA lebende Schriftstellerin mit mexikanischer und italienischer Staatsbürgerschaft, englischer Schulbildung und einer transnationalen Biografie vereint diese Eigenschaften. Dennoch können beide, Luiselli und Herbert, bedingt durch ihre geografische Mobilität, bis zu einem gewissen Maße als migrantische oder nomadische Schriftsteller*innen betrachtet werden, obwohl die Umstände hierfür nicht konträrer sein könnten. Vor diesem Hintergrund sowie den eingangs erwähnten Zitaten aus Presseartikeln über Luiselli und Herbert gilt es zu ermitteln, welche Kriterien es sind, die Luiselli und ihr literarisches Werk in der medialen Öffentlichkeit zu einer Weltautorin machen. So weist ihr beispielsweise auch die deutschsprachige Literaturkritik jenen Ehrenplatz auf der literarischen Tribüne zu, der sonst zumeist nur preisgekrönten literarischen ‚Veteran*innen‘ vorbehalten ist: „Mit Valeria Luiselli hat eine neue, großartige Erzählerin aus Lateinamerika die Bühne der Weltliteratur betreten“ (Regling 2013: 47). Deswegen interessiert mich im Folgenden die Frage, ob es sich bei der Zuschreibung dieses,(Ehren-)Titels‘ vorrangig um eine Fremdzuschreibung vonseiten der internationalen Literaturpresse und den sie publizierenden Verlagen handelt oder ob Luiselli durch ihr literarisches Werk eine derartige Autorfigur von sich selbst entwirft. Parallel dazu gilt es zu ermitteln, ob es sich in Herberts Fall um eine bewusste Entscheidung gegen eine derartige Etikettierung handelt und ob er sich deshalb durch sein Schreiben sowie die ihm eigene Autorfigur willentlich am Rande der gegenwärtig geführten Weltliteratur-Debatte als ‚Zaungast‘ positioniert. Dieser erste Eindruck mag zumindest nach der Lektüre von mit ihm geführten Autoreninterviews entstehen, in welchen er sich als Randfigur stilisiert: „Soy provinciano, hablo desde la marginalidad del lumpen, de ser hijo de una prostituta, de haber crecido en pueblos perdidos en medio del desierto“ (Camponovo 2014 [Herbert]). Entsprechend gilt es nachfolgend ebenso zu untersuchen, weshalb Herbert im Unterschied zu Luiselli in der Öffentlichkeit nicht als Weltautor, sondern als escritor de los márgenes, als peripherer Schriftsteller, wahrgenommen und repräsentiert wird. Speziell auf Luiselli trifft das von Ottmar Ette begründete Konzept des „ZwischenWeltenSchreibens“ beziehungsweise der „Literaturen ohne festen Wohnsitz“ (Ette 2005) zu, eine Form des ‚modernen Nomadentums‘, das von Sigrid Löffler als die herausragende Charakteristika der Autor*innen einer ‚neuen‘ Weltliteratur hervorgehoben wird (vgl. Löffler 2014). So sagt Luiselli über sich selbst: „Mi estancia en el extranjero ha sido toda mi vida“ (Jiménez Buerón 2016 [Luiselli]).

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4 Die Blätter, die die Welt bedeuten – Analyse

Ginge es allein um ihre Biografie, so reiste Luiselli durch ihre vielmals wechselnden Wohnsitze in fast allen Regionen der Welt noch vor ihren Büchern und deren internationaler Erfolg um den Globus: „Su biografía casi la predestinaba a una carrera ‚global‘“ (Logie 2020: 210). 1983 in Mexiko-Stadt geboren, verließ Luiselli im Alter von zwei Jahren erstmals Mexiko und lebte mit ihrer Familie – ihr Vater war Diplomat2 – für einige Monate in den USA. Nach einem Aufenthalt in Costa Rica verbrachte sie ihre Kindheit in Südkorea und Südafrika, wo ihr Vater Cassio Luiselli Fernández mexikanischer Botschafter während der Regierungszeit Nelson Mandelas war. Nach einer kurzen Rückkehr nach Mexiko-Stadt verließ sie mit 16 Jahren erneut das Land und schloss ihre High-School in Indien ab. Danach kehrte sie mit der Intention, an der Universidad Nacional Autónoma de México in Mexiko-Stadt Philosophie und Literaturwissenschaft zu studieren, nach Mexiko zurück. Während des Studiums verbrachte sie ein Jahr in Europa, genauer gesagt in Spanien und Frankreich, dort war es auch, wo sie beschloss, Schriftstellerin zu werden. Noch vor der Veröffentlichung ihres ersten Buchs, des Essaybandes Papeles falsos (2010), zog sie nach New York, wo sie ein Praktikum bei den Vereinten Nationen absolvierte. Im Anschluss promovierte sie in Komparatistik an der University of Columbia. Parallel zu ihrer schriftstellerischen Arbeit lehrt sie an verschiedenen New Yorker Hochschulen und Universitäten im Bereich Sprachen und Literatur und leitet gemeinsam mit ihrer Nichte Creative Writing-Kurse für inhaftierte jugendliche Migrant*innen in einem Einwanderungszentrum. Nach ihrer Trennung vom mexikanischen Schriftsteller Álvaro Enrigue lebt sie zwischenzeitlich mit ihrer Tochter, ihrer Nichte und zeitweise auch mit ihrer Mutter in der Bronx. Auch Herbert wechselte während seiner Kindheit und Jugend familienbedingt mehrfach, jedoch stets innerhalb Mexikos, den Wohnsitz: „Nació en el sur de México, en Acapulco, y desde el comienzo tuvo una vida errante, inestable, que lo hizo sentir ‚como un migrante‘ dentro de su propio país“ (Camponovo 2014). Nach Aufenthalten in Monterrey, Monclova und Torreón, wohnt er seit längerer Zeit in Saltillo im Bundestaat Coahuila im Nordosten Mexikos. Auffällig ist, dass er trotz der Tatsache, nie längere Zeit im Ausland gelebt zu haben, von der Presse als ein „escritor trotamundos“ (Zócalo Saltillo 2015), auf Deutsch in etwa Weltenbummler-Schriftsteller, bezeichnet wird, wobei hiermit auf sein nicht ortsgebundenes, unstetes Leben an sich Bezug genommen

2 In dieser Hinsicht ähnelt Luisellis Kindheit interessanterweise derjenigen des mexikanischen Schriftstellers Carlos Fuentes, auch dessen Vater war Diplomat und als Kind und Jugendlicher begleitete er seinen Vater in die verschiedensten Länder, wo auch er ein mit Privilegien versehenes Leben genoss (vgl. Demeyer 2019: 86).

4.1 Valeria Luiselli und Julián Herbert – „Writing yourself into the world“

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wird. So kann trotamundos ebenso als ‚Vagabund‘ ins Deutsche übersetzt werden, was Herberts nicht sesshaftem Lebensstil eher gerecht wird. Im Gegensatz zu Luiselli, bei der die wechselnden Wohnorte vorrangig auf die Diplomatentätigkeit ihres Vaters sowie ihre Zugehörigkeit zur mexikanischen Oberschicht zurückzuführen sind und damit als ein Privileg gelten können, stand Herberts Umzug stets in Verbindung mit dem rastlosen Leben seiner Mutter als Sexarbeiterin und deren Streben nach einer besseren Zukunft für ihre fünf Kinder: „[S]e trasladó por distintas ciudades de México, de norte a sur, junto a su madre, y conoció cientos de prostíbulos“ (Zúñiga Agosto 2012). Die geografische Mobilität in Herberts Fall resultiert daher eher aus einer Notwendigkeit und nicht aus der ‚Lust am Reisen‘. Während Herbert weiterhin in Mexiko lebt und schreibt, genauer gesagt in Saltillo, Coahuila, hat Luiselli ihren derzeitigen permanenten Wohnsitz in die USA in die Bronx, New York City verlegt. Luiselli hat damit ihren Sprech- und Schreibort in den Globalen Norden verlagert, Herbert schreibt dagegen weiterhin aus der Perspektive des Globalen Südens. Das ist insofern von Bedeutung, da sich das kulturelle und damit auch literarische Zentrum Mexikos weiterhin primär in Mexiko-Stadt befindet, wo auch der Großteil an mexikanischen Verlagen angesiedelt ist. Herberts Wohnsitz im Nordosten Mexikos, in Grenznähe, ist nicht zuletzt ein Grund dafür, weshalb er als peripherer Autor bezeichnet wird und er sich selbst auch als solchen sieht: „[S]oy mestizo y vivo en la frontera, en la frontera de las fronteras, a dos horas de Estados Unidos“ (Camponovo 2014 [Herbert]). Ganz im Gegenteil zu Luiselli, die mit ihrem Wohnsitz in New York City praktisch in der gegenwärtigen Hauptstadt einer neuen World Republic of Letters, wie Pascale Casanova ehemals Paris bezeichnete, verortet ist. Dadurch hat sie nicht nur direkten Zugang zu US-amerikanischen Kulturinstituten, sondern auch die Vertretungen lateinamerikanischer Kultur- und Literaturinstitutionen sowie spanischsprachige Verlage sind dort zugegen. Zu den sozialen Kreisen, in denen sich die beiden jeweils bewegen, ist bei Herbert nichts bekannt. Luiselli betont dagegen zumeist unter lateinamerikanischen Migrant*innen und Schriftstellerkolleg*innen zu verkehren (vgl. Sánchez Mariño 2016). Inwiefern Luiselli strategisch die sozialen Kreise auswählt, in denen sie sich bewegt, kann hier nur gemutmaßt werden. Aussagekräftig ist in diesem Kontext aber ihre Aussage über Schriftsteller*innen als soziale Aufsteiger*innen: „A writer is always a social climber […]“ (Hodgkinson 2015 [Luiselli]). Die englische Bezeichnung social climber ist abwertend und bezieht sich auf Personen, die aufstiegsorientiert handeln (vgl. Oxford University Press 2016).

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Luisellis Heirat mit dem mexikanischen Schriftsteller und Premio Herralde de Novela von 2013 Preisträgers Álvaro Enrigue kann als vorteilhaft für ihr soziales Kapital und nicht zuletzt ihr symbolisches Kapital gesehen werden. Wenngleich Grenzen und Nationalstaaten im literarischen Werdegang von Luiselli und Herbert an Relevanz verlieren, ist dies nicht damit gleichzusetzen, dass die Literaturproduktion heutzutage komplett unabhängig nationalstaatlicher Einflüsse erfolgt (vgl. Esteban/Montoya Juárez 2011: 9). Von einem ‚postnationalen‘ Zeitalter kann insofern nicht die Rede sein, da die geografische Herkunft der Schriftsteller*innen Auswirkungen auf verschiedene Prozesse des literarischen Feldes hat. Das betrifft beispielsweise Schriftstellerstipendien oder Literaturpreise, die ausgehend von der nationalen Herkunft beziehungsweise dem Publikationsort von Büchern verliehen werden (vgl. Ducournau 2016: 161). Ihre geografische, will heißen mexikanische Herkunft war es auch, die dazu führte, dass Luiselli 2015 in die im Rahmen des britisch-mexikanischen Austauschjahrs sowie Mexikos Präsenz als Gastland auf der Londoner Buchmesse veröffentlichte zweisprachige Anthologie México20 (Pushkin Press) beziehungsweise Palabras mayores. Nueva narrativa mexicana (Malpaso editores) aufgenommen wurde. Die Anthologie enthält Texte zwanzig repräsentativer mexikanischen Schriftsteller*innen unter 40 Jahren. Herbert ist kein Teil der Anthologie. Was zunächst verwundert, lässt sich bei genauerem Hinsehen in der Altersgrenze der Autor*innen der Anthologie begründen, die Herbert zum Zeitpunkt der Publikation bereits überschritten hatte. Gerade Veröffentlichungen in Anthologien, in diesem Fall einer zweisprachigen, sind es, die eine internationale Sichtbarkeit und mögliche Übersetzung des Gesamtwerks oder einzelner Titel insbesondere auf dem englischsprachigen Buchmarkt begünstigen: „[L]a inclusión promete acceso a ese santo grial del escritor latinoamericano que es la difícilmente accesible traducción al inglés […]“ (Sánchez Prado 2016b). Luiselli gelang bereits im Jahr 2012 mit der englischen Übersetzung ihres Romans Los ingrávidos (Faces in the Crowd, erschienen bei Granta Books) und ohne vorherige Veröffentlichung in einer Anthologie ein „Trampolinsprung“ (Sánchez Prado 2016b [Ü. d. V.]) auf den internationalen, genauer gesagt englischen Buchmarkt. Bei Herbert erfolgte dieser erst 2018, sieben Jahre nach der Veröffentlichung von Canción de tumba. Die verhältnismäßig schnelle Übersetzung von Luisellis literarischem Werk ins Englische hängt sicherlich auch damit zusammen, dass sie zur richtigen Zeit am richtigen Ort war. Hinsichtlich der Übersetzungsrate in den USA gilt grundsätzlich,

4.1 Valeria Luiselli und Julián Herbert – „Writing yourself into the world“

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dass diese äußerst niedrig ist3. Einerseits erlebte die mexikanische Literatur, insbesondere diejenige jüngerer und erstmals ins Englische übersetzter Autor*innen, zu jener Zeit einen gewissen Boom in den USA (vgl. Bady 2015), andererseits befand Luiselli sich durch ihren Wohnsitz in New York am zentralen Dreh- und Angelpunkt der gegenwärtigen Weltliteratur-Debatte: „[T]oday’s World Literature process runs through London and New York“ (Marling 2016: 154). 4.1.1.2 Exkurs: Geschlechtsspezifische Differenzen in der Literaturwelt In der Tat stellt der Aspekt der Übersetzung sowie die Stellung der Übersetzungssprache auf dem Weltmarkt nicht die einzige Barriere dar, die literarische Werke und ihre Autor*innen überwinden müssen, sondern die Hindernisse sind komplexerer und teils auch sozialer Art (vgl. Sapiro 2016a: 81). Beispielsweise sind Schriftstellerinnen auf dem globalen Buchmarkt bis heute unterrepräsentiert. Ihre literarischen Werke werden zu einem weitaus geringeren Anteil übersetzt als die ihrer männlichen Kollegen (vgl. Sapiro 2016a: 92). Die Literaturwissenschaftlerin Michi Strausfeld, die jahrelang als Scout für das Lateinamerikaprogramm der deutschen Verlage Suhrkamp und S. Fischer tätig war, vertritt dagegen hinsichtlich der gegenwärtigen lateinamerikanischen Literaturproduktion die Ansicht, dass Schriftsteller und Schriftstellerinnen gleichgestellt seien und die Kategorie Gender keinerlei Auswirkungen auf die Verlagsentscheidungen mehr habe (vgl. Strausfeld 2013: 31). Aufgrund einer größeren weiblichen Leserschaft sei es zwischenzeitlich, begünstigt durch den Erfolg der Romane der Chilenin Isabel Allende, sogar zu einer Umkehrung der Verhältnisse gekommen, so Strausfeld: „Denn Frauen kaufen Romane, Frauen lesen Romane, Frauen lesen Frauen. Daher beklagen sich inzwischen bereits manche Autoren über ‚mangelnde Anerkennung und fehlende Chancengleichheit‘“ (Strausfeld 2013: 31).

3 Dies gab den Anlass für die University of Rochester, das Projekt Three Percent zu initiieren, mit dem sie auf die im Jahr 2007 bei gerade einmal drei Prozent liegende Übersetzungsrate in der US-amerikanischen Verlagsindustrie aufmerksam machen wollte, von denen nur rund 0,7 Prozent Belletristik ausmacht (vgl. University of Rochester 2016). Der mexikanische Schriftsteller Pedro Ángel Palou setzt die Zahl an Übersetzungen sogar noch niedriger an und zählt Luiselli als eine der wenigen ‚Glücklichen‘, die Zutritt zum englischsprachigen Buchmarkt erhält: „[S]ólo 1 por ciento de los libros editados aquí son traducciones, quiere decir que se editaron diariamente 99 novelas escritas originalmente en inglés y una en otra lengua (mala suerte, en este año, si no fuiste Valeria Luiselli, la única escritora hispanohablante que adquirió cierta notoriedad y reseñas en el New York Times y las revistas más importantes por su tercera novela, escrita originalmente en inglés“ (Palou 2019).

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Dafür dass dieser Sachverhalt auch auf Luiselli zutrifft, sprechen nicht zuletzt die zahlreichen Übersetzungen ihrer Bücher, die wiederum die von Gisèle Sapiro jüngst konstatierte „Feminisierung des weltliterarischen Kanons“ (Sapiro 2016a: 92 [Ü. d. V.]) untermauern. In diesem Kontext ist es wichtig hervorzuheben, dass gegenwärtig nicht etwa mehr Schriftstellerinnen als früher schreiben und veröffentlichen. Vielmehr haben sich die Chancen für Schriftstellerinnen verbessert, ihre literarischen Werke in einem Verlag zu publizieren, was wiederum zu ihrer größeren Sichtbarkeit führt: „[P]or eso hablamos de mayor presencia pública y no de auge creativo por parte del ‚género olvidado‘ por el canon literario internacional“ (Demeyer 2019: 85). Eine zentrale Rolle in Bezug auf die größere Präsenz von Schriftstellerinnen im literarischen Feld haben sicherlich diejenigen Verlage gespielt, die ausschließlich ‚Frauenliteratur‘ mit anderen Worten literarische Werke weiblicher Autorschaft veröffentlichten. Auch wenn diese essenzialisierende Unterscheidung zwischenzeitlich mehrheitlich obsolet wurde (vgl. Aínsa 2012: 56) und nur noch von Verlagen zu Marketingzwecken und dabei zur direkten Ansprache eines weiblichen Zielpublikums verwendet wird. De facto versuchte die Literaturkritik Luisellis Roman Los ingrávidos (2011) wegen seiner vermeintlichen autobiografischen Einblicke in das Seelenleben der jungen Autorin in die Kategorie Frauenliteratur einzuordnen: „[U]na novela inteligente y poética […] escrita por una mujer: femenina. […] [U]na novela que podría empezar a incluirse en las conferencias sobre ‚Literatura y perspectiva de género‘, situarse en las librerías al lado de Woolf, Yourcenar y Lispector“ (Orero 2014 [Herv. i. O.]). Dass hier Bezug auf Luisellis Äußeres („escrita por una mujer: femenina“), genauer gesagt auf ihre Weiblichkeit genommen wird, überrascht kaum. Stattdessen handelt es sich hierbei um eine übliche Praxis bei der Besprechung und Präsentation von Schriftstellerinnen und ihren Büchern. So wird von Schriftstellerinnen nicht nur erwartet ‚gut‘ zu schreiben, sondern von ihnen wird auch ein fotogenes beziehungsweise ‚präsentables‘ öffentliches Auftreten als Frau eingefordert. Vergleichbare Tendenzen finden sich ebenso auf ‚hübsch inszenierten‘ Autorinnenfotos auf Buchumschlägen, in ganzseitigen Fotostrecken von Schriftstellerinnen oder Presseartikeln, wie „Las escritoras más guapas del mundo“ (Estandarte 2015) der Online-Literaturzeitschrift Estandarte, unter denen auch Valeria Luiselli zu finden war. Gerade bei Luiselli sind die ständige Präsenz auf Literaturfestivals, die regelmäßige Zurschaustellung ihrer Person sowie die Inszenierung ihres Privat- und Schriftstellerinnenlebens, wie es ein zentraler Bestandteil der Celebrity Culture und des Starkults der gegenwärtigen Mediengesellschaft bei der Herausbildung

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eines Autorbildes ist, in der Presse mehr als nur auffallend4. 2016 war sie auf der Titelseite der Juni-Ausgabe (Nr. 172, 2016) der mexikanischen Kulturzeitschrift Gatopardo zu sehen, die neben einem Gespräch mit Luiselli zahlreiche SchwarzWeiß-Aufnahmen der Autorin abdruckte. Auch im The New York Times Style Magazine lichtete der Fotograf Daniel Shea im Artikel „The Writer’s Room“ die posierende mexikanische Autorin in ihrem ehemaligen Studio in Harlem, New York City, ab. Selbst der chilenische Autor Alberto Fuguet greift in seinem 2016 erschienenen Roman Sudor in einem Dialog über die Teilnahme von lateinamerikanischen Schriftsteller*innen an der Buchmesse von Santiago de Chile Luisellis Aussehen und öffentliches Auftreten auf: „Lástima que no invitaron a la FILSA a Valeria Luiselli. Ella sí que es fina, guapa, habla inglés …“ (Fuguet 2016: 97). Gleichermaßen wurde Luiselli bei der chinesischen Internet-Ankündigung eines Gesprächs mit dem spanischen Schriftsteller Javier Cercas in Peking im März 2016 vom chinesischen Verlag Editorial de literatura del pueblo nicht mit ihrem Namen, sondern mit den Worten „gut aussehende mexikanische Autorin“ angekündigt5. All das verdeutlicht, dass das Aussehen und die Performance von Schriftstellerinnen im Gegensatz zu denen ihrer männlichen Kollegen weitaus mehr Gegenstand von Debatten ist und einer weitaus kritischeren Prüfung unterzogen wird (vgl. Holmes 2016: 502). Kommentare, die sich mehr auf das Äußere der Schriftstellerinnen als auf den eigentlichen literarischen Text konzentrieren, werten letztendlich das Geschriebene ab. So geben ihnen diese durch die Blume zu verstehen, dass ihr Erfolg weniger auf der literarischen Qualität ihrer Texte basiere, sondern auf ihre körperliche Attraktivität zurückzuführen sei: „Da wird einer Autorin gesagt, die Besprechung ihres neuesten Werks sei nur deshalb so gut ausgefallen, weil sich

4 Während Herbert sowohl im Besitz eines eigenen Facebook- als auch Twitter-Accounts ist und diese auch intensiv nutzt, widmete Luiselli im August 2016 ihre damalige wöchentliche Kolumne in El País der anhaltenden Debatte um Facebook. Damals sprach sie sich kategorisch, wie der Titel „¡Muerte a Facebook!“ bereits impliziert, gegen ein Benutzerkonto in diesem sozialen Netzwerk aus (vgl. Luiselli 2016b). Interessanterweise waren es jedoch gerade ihre wöchentlichen Kolumnen in den Jahren 2016 und 2017 in El País, in denen die Autorin zuweilen über banale bis triviale Alltagsbeobachtungen und Persönliches schrieb, wie sie sonst die Nutzer*innen auf ihren Pinnwänden in Facebook teilen. Über einen Twitter-Account, der weniger privaten, sondern kommerziellen sowie politischen Interessen dient, verfügt auch Luiselli. Mittlerweile ist sie sogar im Besitz ihrer eigenen Domain (www.valerialuiselli.com), mittels der sie US-amerikanische und internationale Termine bewirbt, Buchungen entgegennimmt und die Kontaktadressen ihrer Agent*innen zur Verfügung stellt. 5 Vielen Dank an Yehua Chen für den Hinweis sowie die Übersetzung der chinesischen Ankündigung.

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der Rezensent in das Foto der Autorin auf dem Buchrücken verliebt habe – anders sei die gute Kritik nicht zu erklären“ (Dückers 2018). Beispiele wie die genannten oder auch der Glaube, es gäbe eine spezifisch ‚weibliche‘ Schreibweise, legen den noch immer existenten Sexismus im Verlags- und Pressewesen – dem Kulturbereich – offen. Obwohl mit Artikeln wie zum Beispiel „Escritoras de América Latina, al fin visibles“ (Manrique Sabogal 2015) oder „Por una política de ubicación: canon femenino latinoamericano“ (Velasco Vargas 2014) eine neue Sichtbarkeit und Sensibilität bezüglich lateinamerikanischer Schriftstellerinnen und ihrer Gleichwertigkeit gegenüber ihren männlichen Kollegen erzeugt wird, bestehen die Geschlechterstereotype und -ungleichheiten sublim und latent weiterhin fort. Besonders deutlich wird die fehlende Gleichstellung bei der Verleihung von Literaturpreisen. Häufig werden Texte weiblicher Autorschaft immer noch als minderwertig betrachtet. 2019 erschien ein offener Brief, unterzeichnet von einer langen Liste lateinamerikanischer Schriftsteller*innen (unter ihnen auch Luiselli) in der argentinischen Tageszeitung Clarín mit dem Titel „Manifiesto por la igualdad“. Ausgehend von der erneuten Überzahl an Schriftstellern unter den Nominierten für den Literaturpreis der Bienal de Novela Mario Vargas Llosa im Mai 2019 kritisierten die Unterzeichner*innen die fortdauernde fehlende Gleichstellung von Schriftstellern und Schriftstellerinnen und die systemische Benachteiligung letzterer (vgl. Clarín 2019). Nicht nur das Geschlecht der Autor*innen ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung, sondern auch das der Protagonist*innen. Selbst hier gilt, Romane mit männlichen Protagonisten wird mit höherer Wahrscheinlichkeit ein Literaturpreis verliehen als umgekehrt (vgl. Flood 2015). Gleiches kann für den deutschen Buchmarkt konstatiert werden. Obwohl hierzu bisher keine offiziellen Daten existieren, konstatiert die Literaturkritikerin Sabine Scholl, die 2016 Mitglied der Jury des Internationalen Literaturpreises des Haus der Kulturen der Welt war, „die Vorherrschaft männlicher Netzwerke unter Autorenkollegen wie Kritikern, sowie […] eine Höherbewertung von männlicher Thematik und Weltsicht auch unter weiblichen Juroren“ (Scholl 2016). Doch schon einen Schritt vor der Verleihung eines Literaturpreises manifestiert sich dieses Ungleichgewicht, wie von der Vereinigung VIDA: Women in Literary Arts alljährlich anhand einer Analyse von Literaturzeitschriften und -beilagen für den US-amerikanischen und britischen Literaturbetrieb ermittelt, in einer geringeren Sichtbarkeit und Besprechung von Schriftstellerinnen und ihren literarischen Werken sowie einer insgesamt größeren Präsenz männlicher Literaturkritiker (vgl. Ellis-Petersen 2015). Das Centro Regional para el Fomento del Libro en América Latina y el Caribe erhob für den lateinamerikanischen Buchmarkt bisher hierzu keine Daten.

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In Mexiko jedoch wurde 2016 die Twitter-Kampagne #RopaSucia ins Leben gerufen, die den im Kulturbereich dominanten Machismo publik machen und an den Pranger stellen sollte (vgl. Suárez Gómez/Cano 2016). Summa summarum manifestieren sich in all diesen Beispielen die Auswirkungen, die die Kategorie Gender auf die Wahrnehmung, Lesart und damit letztlich auch auf die (Be-)Wertung von literarischen Texten und ihren Autor*innen hat (vgl. Rippl/Straub 2013: 112). Deshalb muss diese Kategorie auch im Kontext der Weltliteratur-Debatte und den damit verbundenen Selektions- und Auswahlprozessen von Schriftsteller*innen berücksichtigt werden. 4.1.1.3 Übersetzungen und internationale Rezeption Auch wenn auf den ersten Blick nationale und internationale Kanonisierungsprozesse von literarischen Texten gleich verlaufen zu scheinen, handelt es sich hierbei tatsächlich um voneinander getrennte Prozesse und Mechanismen, die nach anderen Regeln und Maßstäben erfolgen. Hiermit ist gemeint, dass, wer als Schriftsteller*in auf nationaler Ebene rezipiert und zirkuliert, nicht zwingend auf einer weltliterarischen Ebene den gleichen Erfolg vorweisen kann: „World literature is consequently not a reflection of national literatures“ (vgl. Thomsen 2008: 3). Veranschaulichen lässt sich das an Luisellis Beispiel, deren Bücher innerhalb Mexikosweitaus weniger Anerkennung erfahren als auf dem globalen Buchmarkt6, was sich wiederum in positiven Kritiken zum Beispiel in der deutschen, italienischen und US-amerikanischen Presse widerspiegelt (vgl. Domínguez 2014: 68; Menniti-Ippolito 2015; Reber 2016; Regling 2013: 47). Herberts literarische Werke (seine Poesie, Essays und Prosa) werden dagegen in Mexiko vielfach lobend erwähnt. Er selbst wird als „kompletter Autor“ (Gallo 2012; Parra 2012: 97 [Ü. d. V.]) beschrieben, der in den verschiedensten 6 Während beispielsweise ihr preisgekrönter Roman La historia de mis dientes (2014) in den USA in den höchsten Tönen gelobt wurde, stieß er in Mexiko nicht selten auf negative bis hin zu harscher Kritik: „¿Nada hay en verdad que esperar de una novela escrita por quien ha sido saludada como la nueva revelación de las letras hispanoamericanas, como – según la opinión de Francisco Goldman –,la precoz dueña de una maestría deslumbrante‘; nada de quien ha sido ungida por Granta y El País? No, nada, con todo y la alharaca mercadotécnica que desde la publicación de Papeles falsos (2010) se levanta cada vez que aparece impreso el nombre de Valeria Luiselli“ (Pliego 2014). Die negative Grundhaltung gegenüber Luiselli vonseiten der mexikanischen Literaturkritik weicht erst gegenwärtig nach Erscheinen ihres fünften Buchs dem anerkennender Worte: „Un talento que generó incomodidad en un medio todavía reticente frente a la recepción favorable (nacional) y el éxito rotundo (internacional) de una escritora mexicana que no fuera sor Juana. El malestar se tradujo en críticas enfocadas en la persona, más que en su obra“ (Le Calvez 2020).

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literarischen Genres sein Können bewies und prämiert wurde: „Su producción literaria no sólo se desarrolla en distintos géneros, también los cuestiona y desestabiliza por medio de la experimentación con diversos recursos a través de los cuales amplía y fractura las fronteras genéricas“ (Quijano Velasco 2019: 9). Zuletzt wurde Herbert sogar ein akademischer Sammelband gewidmet, der die Ergebnisse eines Seminars zu gegenwärtiger mexikanischer Literatur, das 2015 bis 2017 an der Universidad Nacional Autónoma de México in Mexiko-Stadt stattfand, sowie eine umfassende Bibliografie und ein Interview mit Herbert enthält. Dennoch transzendiert Herberts literarisches Werk im Vergleich zu Luiselli nicht – oder vergleichsweise nur kaum – den nationalen Rahmen. Sowohl bei Herbert als auch bei Luiselli waren es nicht ihre Gedichte und Erzählungen respektive Essays, die ihnen den internationalen Erfolg brachten, sondern die im gleichen Jahr erschienenen Romane: Herberts Canción de tumba (2011) und Luisellis Los ingrávidos (2011). Entsprechend sind es hauptsächlich ihre Romane, die international zirkulieren, was zur Folge hat, dass sowohl Luiselli als auch Herbert international vorrangig als Romanautor*innen angesehen werden7. Letzteres spricht wiederum für die viel konstatierte These, dass die Gattung Roman als das Genre per se von Weltliteratur gelten kann8: Wer auf globaler Ebene als Schriftsteller*in wahrgenommen werden möchte, muss einen Roman schreiben, selbst wenn er*sie eigentlich viel bessere Gedichte oder Essays schreiben würde. Während Luisellis Romane wie auch ihre Essaysammlung Papeles falsos (2010) bei dem unabhängigen mexikanischen Verlag Sexto Piso erschienen, der überdies im Besitz der Spanischweltrechte an ihrem Werk ist, erwarb die transnationale Verlagsgruppe Penguin Random House Grupo Editorial die weltweiten Rechte für den spanischsprachigen Raum für Herberts Roman Canción de tumba. Überraschend vor diesem Hintergrund ist, dass eine Publikation Herberts in der transnationalen Verlagsgruppe nicht etwa automatisch zu dessen internationaler Distribution führte. Das hängt damit zusammen, dass jene multinationalen Verlagskonzerne, trotz ihrer zahlreichen Niederlassungen in verschiedenen Ländern, nicht zwingend die von ihnen veröffentlichten Autor*innen auf internationaler Ebene fördern, das heißt ihre Bücher in ihren Tochterunternehmen publizieren (vgl. Sánchez Prado 2016a: 371).

7 Das zeigt sich auch daran, dass Luisellis Roman Los ingrávidos (2011) früher in Übersetzung erschien als der Essayband Papeles falsos (2010) und noch dazu eine größere Zahl an Übersetzungen vorweisen kann. 8 Siehe dazu unter anderem das Kapitel „The Globalization of the Novel and the Novelization of the Global“ in Siskind (2014).

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Luisellis literarisches Werk wurde dagegen trotz einer angenommenen geringeren Reichweite von unabhängigen nationalen Verlagen mittlerweile in rund 20 Sprachen übersetzt. Es ist davon auszugehen, dass in diesem Fall das hohe kulturelle Kapital mit ausschlaggebend war, über das Sexto Piso innerhalb Mexikos verfügt, obwohl es sich bei dem besagtem Verlagshaus um einen Kleinverlag handelt (vgl. Sánchez Prado 2016b). Des Weiteren wird Luiselli auch in den USA in einem renommierten und zudem gemeinnützigen Independent-Verlag mit ähnlicher Struktur verlegt. Nämlich bei Coffee House Press mit Sitz in Minneapolis, ein Verlagshaus über das sie selbst sagt: „[U]na editorial con un perfil parecido al de Sexto Piso, con un catálogo interesante …“ (El informador/JMMO 2016 [Luiselli]). Mittlerweile arbeitet sie als Mitherausgeberin in dem erwähnten Verlag. Ihre Aufgabe als ‚anerkannte Expertin‘ lateinamerikanischer Literatur ist es, Übersetzungsvorschläge einzubringen (vgl. Coffee House Press 2019). Luisellis Buchveröffentlichungen in (unabhängigen) Kleinverlagen kann in diesem Sinne auch als bewusste Entscheidung ihrerseits gewertet werden: Einerseits kann sie sich dadurch auf die mehrheitlich in Kleinverlagen publizierte ‚gebildete‘ Literatur berufen und ihre eigenen Bücher in diese ‚Hochliteratur‘ einreihen, andererseits macht sie sich auf diesem Weg das symbolisches Kapital jener Kleinverlage zunutze. Interessanterweise wird Luiselli, bedingt durch die Veröffentlichung ihres englischsprachigen Romans Lost Children Archive, seit 2019 bei dem US-amerikanischen prestigeträchtigen Verlag Alfred A. Knopf, Inc. verlegt, der zahlreiche Nobelpreisträger*innen in seinem Verlagsprogramm aufweist und der Teil der transnationalen Random House Verlagsgruppe ist. Die Herausgabe der Übersetzungen ihrer spanischsprachigen Buchveröffentlichungen erfolgt dagegen weiterhin beim Verlag Coffee House Press. Herbert, dessen Roman Canción de tumba im Frühsommer 2018 in englischer Übersetzung erschien, wird dagegen im unabhängigen gemeinnützigen Verlag Graywolf Press ebenfalls mit Sitz in Minneapolis verlegt. Wenn es um die Zahl der Übersetzungen geht, liegt Luiselli, trotz Herberts zwischenzeitlicher Übersetzung ins Englische, mit ihrem mittlerweile in zwanzig Sprachen zirkulierendem literarischen Werk weit vorne. Eine Übersetzung ihrer Bücher ins Englische schon ab 2012 bei Granta Books in Großbritannien und ein Jahr später bei Coffee House Press in den USA verschaffte ihr schon früh einen ‚Vorsprung‘ gegenüber Herbert hinsichtlich ihres symbolischen Kapitals:

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The dominant position of the American publishing industry on the world market of translation confers to American firms a high consecrating power in the transnational literary field, meaning that if a book is translated in the United States, its chances of being translated into other languages increase. Thus being translated into English in the United States provides a higher amount of symbolic capital than being translated into another language and/or country. (Sapiro 2015: 325)

In Anbetracht dieser Tatsache kann vermutet werden, dass sich der Verkauf der US-amerikanischen und britischen Rechte von Canción de tumba an den Verlag Graywolf Press sowie die Veröffentlichung der englischen Übersetzung unter dem Titel Tomb Song im Jahr 2018 entsprechend positiv auf Herberts symbolisches Kapital auswirkten. Viele Verleger*innen lesen noch immer bevorzugt literarische Texte zuerst auf Englisch (vgl. Steiner 2014: 322), auch wenn es sich bereits um eine Übersetzung des Originals handelt. Englische Übersetzungen eines literarischen Textes sind häufig der ‚Katalysator‘ für Übersetzungen in weitere Sprachen (vgl. Escalante Gonzalbo 2007: 278). Folglich ist damit zu rechnen, dass auf die englische Übersetzung von Herberts Büchern weitere in andere Sprachen folgen werden. Erstaunlicherweise bestätigte sich diese Annahme bis dato nicht. Während in Frankreich und Brasilien nach Canción de tumba keine weiteren Bücher Herberts mehr verlegt wurden, entschied sich zumindest Herberts italienischer Verlag dafür, Herberts literarisches Werk weiterhin zu übersetzen. So erschien 2018 La casa del dolore altrui. Derweil wurde Herberts Roman La casa del dolor ajeno (2016) bei Graywolf Press in englischer Übersetzung unter dem Titel The house of the pain of others (2019) veröffentlicht. Eine Veröffentlichung seines 2017 erschienenen Kurzgeschichtenbandes Tráiganme la cabeza de Quentin Tarantino ist für Herbst 2020 geplant. Inwiefern Graywolf Press oder auch die anderen ausländischen Verlage eine Übersetzung von Herberts jüngster Veröffentlichung, dem Erzählungsband Ahora imagino cosas (2019), planen, kann zum jetzigen Zeitpunkt nicht abschließend geklärt werden. Aufschluss gibt indes Herberts Eingeständnis, dass die englische Übersetzung letztlich sozialen Beziehungen zu verdanken sei: „[P]ersonalmente, no creo que mis libros hubieran logrado ser traducidos al inglés sin la buena voluntad de escritores mexicanos amigos que viven en Nueva York o Canadá“ (Velázquez Soto 2019: 129 [Herbert]). Dies verdeutlicht, welche zentrale Rolle sozialen Netzwerken und damit dem Besitz von umfangreichem sozialen Kapital in Schriftstellerlaufbahnen zukommt: „The more writers are able to engage other and more influential colleagues, the

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more successful they will be in realizing various ambitions, including generating wide attention for their work“ (Janssen 1998: 269). In jedem Fall lässt es sich nicht abstreiten, dass die Übersetzung ins Englische für Herbert mit einem Zugewinn an symbolischem Kapital verbunden ist. So stieß die englische Version von Canción de tumba auf ein enthusiastisches Echo in der englischsprachigen Literaturwelt, das sich in lobenden Rezensionen unter anderem in der Los Angeles Times, dem Bomb Magazine, dem Los Angeles Review of Books, dem Washington Independent Review of Books, Kirkus Reviews, Publishers Weekly sowie The Paris Review niederschlug. Inwiefern dadurch tatsächlich das Interesse anderer ausländischer Verlage an Herbert geweckt wurde oder ob etwa bereits weitere Übersetzungen seiner Bücher in andere Sprachen geplant sind, kann mangels entsprechender öffentlich verfügbarer Informationen nicht definitiv beantwortet werden. Für Luisellis weltliterarische Autorschaft ausgehend von der Zahl an Übersetzungen und der Wertigkeit der Übersetzungssprachen spricht, dass die Übersetzungsrechte ihrer Bücher mittlerweile ebenfalls nach China – an Horizon Media Co. – verkauft und ihre Bücher dort seit 2018 verlegt werden. Erwähnt sollte in diesem Zusammenhang werden, dass es sich bei Horizon Books um einen prestigeträchtigen chinesischen Verlag handelt, in dessen spanischsprachiger Programmreihe Luiselli neben Roberto Bolaño, Enrique Vila-Matas und Augusto Monterroso erscheint (vgl. López Parra 2016). Damit zählt sie neben der Argentinierin Samanta Schweblin (Buenos Aires, 1978) und dem Chilenen Alejandro Zambra (Santiago de Chile, 1975) zu den wenigen unter 50-jährigen lateinamerikanischen Schriftsteller*innen, von deren Werk Übersetzungen ins Chinesische existieren. Außergewöhnlich ist ferner, dass der Übersetzungsvertrag in einem Zug für Luisellis Gesamtwerk abgeschlossen wurde, obwohl es sich bei ihrem Besuch in Peking im März 2016 um ihren ersten Aufenthalt in China handelte und sie im Gegensatz zu Schweblin nicht an einem Schriftstellerresidenzprogramm in Shanghai, China teilnahm. Durch die Übersetzungen ihrer Bücher in mehr als 20 Sprachen (Papeles falsos existiert in 8 Sprachen), darunter auch Hebräisch, Polnisch, Iranisch, Koreanisch, Türkisch, Japanisch, Norwegisch, Litauisch und Slowenisch, deckt Luiselli damit so gut wie alle Weltregionen ab. So werden die britischen Übersetzungen ihrer Werke von Granta Books – unterdessen hat sie zum Verlag 4th Estate gewechselt – etwa auch in Australien und Neuseeland durch den unabhängigen australischen Verlag Allen & Unwin vertrieben. Herberts geringe Verbreitung kann unter anderem auf die Verlagspolitik der in Lateinamerika immer mehr den Markt dominierenden, ursprünglich spanischen, transnationalen Verlagsgruppen zurückgeführt werden. Diese besitzen zwar in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern Niederlassungen, orien-

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tieren sich aber bei der Produktion an lokalen Interessen und beschränken sich entsprechend beim Vertrieb vorrangig auf den nationalen Raum. Dabei handelt es sich um eine Vorgehensweise, die vehement seitens der lateinamerikanischen Literaturkritik bemängelt wird, nicht zuletzt deshalb, da der Kauf von ‚Weltrechten‘ in einer Sprache zunächst suggerieren mag, dass ein literarisches Werk auch auf diesem Niveau Verbreitung findet. Das das nicht zutrifft, manifestiert Herberts Fall bestens: [A] los autores se les compran derechos „universales en lengua española“ para sus libros y éstos nunca se distribuyen más allá de sus mercados locales. […] [S]e trata de un sistema colonial novedosísimo que consiste en editar para hacer desaparecer, no para hacer público a un autor (ni universal ni conocido en las fronteras lingüísticas de su idioma) y que está controlado por muy pocas firmas que determinan los temas, el gusto y el consumo. (Palou 2006: 307)

Zwar scheint Pedro Á. Palous Erklärung plausibel, dennoch ist es gleichzeitig eine zu vereinfachende Darstellung der tatsächlichen Verhältnisse. Barrieren hinsichtlich der transnationalen Zirkulation werden längst nicht nur von den transnationalen Verlagsgruppen errichtet, sondern es spielen auch staatliche Politik und Gesetzgebung eine zentrale Rolle (vgl. Guerrero 2009: 26). Eine weitere, nicht zu unterschätzende Ursache hierfür ist das fehlende Interesse an der Kultur- und Literaturproduktion der Nachbarländer, wie es Gustavo Guerrero konstatiert: „[A]unque resulte paradójico, siempre se consigue más información sobre América Latina en Europa o en Estados Unidos que en la propia América Latina“ (Guerrero 2009: 26)9. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass sich der Sitz einer der größten Bibliotheken und Sammlungen von Literatur über und aus Lateinamerika, das Ibero-Amerikanische Institut, in Deutschland, genauer gesagt in Berlin, befindet. In Teilen kann das fehlende Interesse auch in der kolonialen Vergangenheit Lateinamerikas und einem gezielt von den Kolonialmächten propagierten Gefühl von kultureller Minderwertigkeit lateinamerikanischer Länder im Vergleich zum Globalen Norden begründet liegen. Dafür sprächen beispielsweise auch

9 Ein passendes Beispiel hierfür ist das 2011 ins Leben gerufene Projekt der mexikanischen Buchmesse Feria Internacional del Libro (FIL) in Guadalajara „Los 25 secretos mejor guardados de América Latina“, dessen Intention es ist, die literarische Produktion speziell von bisher wenig bekannten Autor*innen der lateinamerikanischen Nachbarländer ins Rampenlicht zu rücken. Eine gelungene Aktion. Doch wer im Anschluss an die Autorengespräche und Buchvorstellungen einen der Titel erwerben wollte, konnte das nicht vor Ort tun, sondern musste stattdessen einen Verlagsstand nach dem anderen auf der Suche nach den einzelnen Büchern ablaufen (vgl. Ferrari 2012: 27).

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Mexikos Streben nach einer Zugehörigkeit zum Globalen Norden und seine bewusste Abgrenzung von seinen zentralamerikanischen Nachbarn. Herbert schreibt und veröffentlicht bisher nur auf Spanisch. Luiselli wechselte zwischenzeitlich dagegen ihre Sprache. Während sie bis 2019 ihre Bücher auf Spanisch schrieb, ihre englischen Kolumnen und Artikel in US-amerikanischen Tageszeitungen und Zeitschriften außenvorgelassen, verfasste sie bereits 2016 einen ersten englischsprachigen Essay für das US-amerikanische Magazin Freeman’s über ihre Erfahrungen als ehrenamtliche Übersetzerin für unbegleitete minderjährige Geflüchtete an einem New Yorker Gerichtshof. Anschließend wurde er von ihr inhaltlich erweitert sowie ins Spanische übersetzt und bei Sexto Piso unter dem Titel Los niños perdidos. Un ensayo en cuarenta preguntas (2016) veröffentlicht. Im Jahr darauf erschien die englische Version als Buch mit dem Titel Tell me how it ends. An essay in forty questions (2017), in welchem die neu hinzugefügten Kapitel durch Lizzie Davis übersetzt wurden. Obwohl Luiselli wegen ihrer englischsprachigen Ausbildung und bedingt durch ihr Leben in den USA Spanisch und Englisch etwa gleich gut beherrscht, bevorzugte sie zunächst das Spanische in ihren literarischen Texten (vgl. Neyra 2015). Lange Zeit hielt sie sich an die Absprache mit ihrem mexikanischen Verlag, englischsprachige Texte selbstständig ins Spanische zurück zu übersetzen beziehungsweise neu zu schreiben: „‚I will rewrite it in Spanish, because it would be pretty absurd, having published three books in Spanish, to have the next one be translated‘“ (Smith 2014 [Luiselli]). Dieses ‚Abkommen‘ kündigte Luiselli 2019 auf, als sie Lost Children Archive, ihren ersten komplett in englischer Sprache verfassten Roman, veröffentlichte, der nicht von ihr selbst, sondern von dem mexikanischen Schriftsteller Daniel Saldaña París, wenn auch in Rücksprache mit ihr, ins Spanische übersetzt wurde. Luisellis Sprache, zumindest in ihren Essays und ihrem Debütroman, ist frei von mexikanischen Regionalismen und weist nur wenige lokale Spezifika auf. Ihre Sprache ähnelt einem ‚neutralen‘, bereits ‚vorübersetzten‘ Spanisch, einer Art Standardspanisch oder „Panspanisch10“, dessen Herkunft nicht mehr ersichtlich ist (vgl. Lemus 2012: 32). Die fehlende (sprachliche) Verbundenheit beziehungsweise Verbindung zu Mexiko kann als Grund dafür gesehen werden, dass Luiselli in der mexikani-

10 Als Panspanisch oder „panespañol“ bezeichnet Vicente Luis Mora den Trend zu einem lateinamerikaweit einheitlichen Spanisch innerhalb der Literatur, welches auf jegliche Form von Regionalismen und lokale Besonderheiten verzichtet: „Este dialecto literario consistiría en una especie de castellano estándar mediante el que los escritores van moderando los modismos, eliminando las expresiones localistas, para ser más y mejor entendidos, cualquiera que sea el lugar de Hispanoamérica donde sean leídos“ (Mora 2014: 337).

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schen Literaturszene ein weniger hohes Ansehen als auf internationaler Ebene genießt: „[A]l ser despojados de su fuerte acento nacional de origen, [los autores] flotan en un espacio de apreciación necesariamente distorsionado“ (Catelli 2010: 41). Entsprechend wie es Lemus im Kontext der Weltliteratur-Debatte konstatiert, handelt es sich bei Luisellis ‚neutralem‘ Sprachgebrauch höchstwahrscheinlich um eine bewusste Strategie, um im gesamten spanischen Sprachraum verstanden zu werden und um spätere Sprachbarrieren im Übersetzungsprozess vorwegzunehmen (vgl. Lemus 2012: 32). Deswegen besteht Grund zu der Annahme, dass Luiselli von Anfang an ihr literarisches Werk für einen internationalen Buchmarkt ausrichtete und konzipierte, was sich nicht nur in ihrer Sprache, sondern auch im Inhalt ihrer Bücher widerspiegelt (vgl. Parks 2016). Allerdings muss in ihrem Fall berücksichtigt werden, wie bereits weiter oben erwähnt, dass Luiselli nur einen Bruchteil ihres Lebens tatsächlich in Mexiko verbrachte. Das begründet wiederum das Fehlen von Mexikanismen: „‚[N]unca tuve las inflexiones de la gente de mi edad. Mi lengua no se renovó con la jerga ni el habla callejera‘“ (León 2019a [Luiselli]). Schlussendlich war deshalb ihre ursprüngliche Absicht auch, sich mit dem Schreiben von Papeles falsos der spanischen Sprache zu ermächtigen: „I decided to write Sidewalks in order to appropriate a language and a space that was not entirely my own. It was an aspirational gesture on my part: I wanted to become a writer, a Mexican writer […]“ (Reber 2016: 12 [Luiselli]). Vor diesem Hintergrund stellt sich desgleichen die Frage, ob Luisellis Entscheidung, ihren Roman Lost Children Archive in englischer Sprache zu verfassen, dahingehend interpretiert werden muss, dass sie danach strebt einen festen Platz als ‚lokale‘ Schriftstellerin im anglophonen oder besser gesagt im US-amerikanischen literarischen Feld einzunehmen, deren Les- und Sichtbarkeit nicht mehr länger von Übersetzungen abhängig ist. Interessant ist in diesem Kontext Luisellis Nominierung mit Lost Children Archive für die Longlist des Booker Prize 2019, ein Preis, der dem besten englischsprachigen Roman, der im Vereinigten Königreich, Irland oder dem Commonwealth geschrieben wurde, verliehen wird. Damit ist sie die erste Mexikanerin, die hierfür nominiert wurde. Zu diesem prestigeträchtigen Preis, der noch dazu als eine der wichtigsten Auszeichnungen der englischsprachigen Welt gilt und der entsprechend weltweite Sichtbarkeit garantiert, hätte Luiselli als spanischschreibende Autorin keinen Zugang erhalten. Das war ihr erst durch den Sprachwechsel, das heißt die Erstveröffentlichung ihres Romans in englischer Sprache möglich. 2020 war Luiselli noch dazu Mitglied der preisgebenden Jury des International Booker Prize. Dennoch versteht Luiselli sich weiterhin als auf Englisch schreibende ‚mexikanische‘ Schriftstellerin, wodurch der Eindruck entsteht, als wolle sie sich

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weder der einen noch der anderen Seite zu sehr assimilieren, sondern stattdessen bewusst ein hybrides Dazwischen repräsentieren. Auf diese Weise hebt sie sich im US-amerikanischen Buchmarkt hervor, jedoch nicht als mexikanische Schriftstellerin, die die von Mexiko in der Literatur kursierenden Stereotype bedient, sondern als Schriftstellerin, die sich der literarischen Erben und Einflüsse verschiedener Regionen bedient, und Literatur verfasst, die keiner spezifischen Region zuzuordnen ist. In der Hinsicht ähnelt Luiselli dem argentinischen Schriftsteller Rodrigo Fresán, über den Emilse B. Hidalgo Folgendes festhält: It is this contradictory adaption to international market demands that puts Fresán’s writing in an in-between, schizophrenic position in which he needs to be different enough from American and European writers to be listed as a Latin American master, while at the same times, not too Latin American to pass for yet another regionalist, magic realist, or the Boom writer. (Hidalgo 2014: 110)

Des Weiteren sollte bedacht werden, dass sich Luiselli durch ihre Entscheidung, (direkt) auf Englisch zu schreiben, Zugang zu hoch dotierten internationalen Literaturpreisen verschafft: „Those who publish in major languages also have better access to lucrative international prize.“ (Walkowitz 2015: 11). Dafür spricht überdies ihr Kommentar zu ihrer Positionierung auf dem US-amerikanischen Buchmarkt: „[D]e alguna manera juego de local, ya que escribo en inglés en la prensa estadounidense, pero al mismo tiempo mis libros salen en traducción. No dependo de un traductor pero mis libros tampoco entran en el circuito de los libros locales“ (Neyra 2015 [Luiselli]). In gewisser Weise hat Luiselli auf dieses Ziel jahrelang strategisch hingearbeitet. Nicht nur die Wahl ihres Wohnorts New York kann als entscheidend betrachtet werden, sondern vor allem auch ihre Sichtbarkeit in den US-amerikanischen Medien durch zahlreiche Veröffentlichungen in bedeutenden Zeitungen und Zeitschriften. Damit gelang es ihr, sich in den USA einen Namen zu machen: „Más allá de su talento indiscutible, dicho éxito se puede explicar en parte por el hecho de que ella lleva años residiendo en Nueva York y que colabora con revistas del país“ (Demeyer 2019: 90). Veröffentlichungen dieser Art sind nicht nur als zusätzliche Einkommensquelle für Schriftsteller*innen bedeutend, sondern bewirken noch dazu, dass ihre Namen einen gewissen Wiedererkennungswert erlangen (vgl. Demeyer 2019: 87). Somit haben diese letztlich einen positiven Effekt auf die jeweilige schriftstellerische Karriere. Von Interesse im Rahmen der Untersuchung ist ferner, dass Luiselli selbst am Übersetzungsprozess, zumindest bei den Sprachen, die sie selbst beherrscht, aktiv beteiligt ist: „[…] I rewrite a lot, and work on it with the translator. I often bring those modifications back into the original. So the ghost of translation always haunts the original“ (Kabat 2014: 106 [Luiselli]). Das entspricht wiederum

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Damroschs Konzept von Weltliteratur, einer Literatur die (inhaltlich) durch den Übersetzungsprozess gewinnt und nicht an Bedeutung verliert: „World literature is writing that gains in translation“ (Damrosch 2003: 281 [Herv. i. O.]). So kommt es bei den Übersetzungen von Luisellis Romanen nicht selten vor, dass diese inhaltliche Unterschiede zum ‚Original‘ oder besser gesagt dem Ursprungstext aufweisen, welche sie ihrerseits übernimmt und in letzteren bei einer Neuauflage integriert. Dieser Umstand erinnert und bestätigt zugleich die von Rebecca Braun gemachte Feststellung darüber, dass ein*e Autor*in, um international Bestand zu haben, verschiedenster Vermittler*innen bedarf, die im Bedarfsfall auch Einfluss auf den geschriebenen Text als solches nehmen (vgl. Braun 2016: 472). In Luisellis Fall sind dies neben den Lektor*innen auch die Übersetzer*innen, wobei sie auch selbst an diesen Veränderungen beteiligt bleibt. Herberts literarische Texte sind dagegen das vollkommene Gegenteil: Mexikanische Kolloquialismen sowie Bezüge zur Gegenwart und Historie Mexikos bilden das Gerüst seiner Bücher. Aber nicht nur Mexikanismen machen seine Sprache aus, sondern geradezu ein sprachliches ‚Mosaik‘ ist in seinen literarischen Werken zu finden: Lo hago por la misma razón por la que uso no un anglicismo sino muchos (y también construcciones tomadas de otros fraseos latinoamericanos, e incluso chistes franceses o traducciones de letreros en alemán). […] Me parece que la primera obligación – y quizá el mayor placer – de un escritor es inventar un dialecto unipersonal. (Campos 2012 [Herbert])

Dieses sprachliche Potpourri erschwert in gewisser Hinsicht eine Übersetzung und internationale Zirkulation von Herberts Büchern11. Gleichzeitig widerspricht Herberts Umgang mit der Sprache und die ‚unverfälschte‘ Publikation seiner Texte wiederum der speziell den transnationalen Verlagshäusern spanischer Provenienz unterstellten Tendenz, literarische Texte vorab von Regionalismen zu ‚reinigen‘, um sie für den gesamten spanischsprachigen Raum zugänglich zu machen und letzten Endes besser verkaufen zu können (vgl. Trujillo et al. 2016: 18). Dass hierbei die Entscheidung mehrheitlich zugunsten der kastilischen Varietät ausgeht, ist eine andere Debatte, kann aber in Anbetracht der Tatsache, dass manch lateinamerikanisches Land und dessen Varietät des Spanischen eine höhere Bevölkerungs- und damit Sprecherzahl aufweist, zum einen als ein ethnozentrisches Überbleibsel des spanischen Kolonialismus, zum anderen als Folge einer größeren aktiven Leserschaft in Spanien gesehen werden.

11 Allerdings sollte an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, dass Herberts Romane interessanterweise in den USA zwischenzeitlich von der gleichen renommierten Übersetzerin (Christina MacSweeny) wie die Bücher Luisellis übersetzt werden.

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In Verbindung mit Luisellis transnationalem Werdegang stellt sich überdies die Frage, ob, wie im Falle des chilenischen Schriftstellers Roberto Bolaño, das Fehlen einer fixen nationalen Identität ihr die Zirkulation auf einem globalen Buchmarkt erleichterte: „[E]sta aparente carencia de identidad nacional, o fluidez identitaria del autor, ha facilitado la circulación de Bolaño por el mercado global de la edición“ (Gutiérrez-Mouat 2015: 68). Dafür sprechen die wiederkehrenden Vergleiche in der Presse und Literaturkritik zwischen Luiselli und Bolaño (vgl. Bady 2015; Palou 2016). Diese fanden im Januar 2016 bei der Bekanntgabe der Nominierung Luisellis mit der englischen Übersetzung ihres Romans The story of my teeth (2015), im mexikanischen Original La historia de mis dientes (2013), für den National Book Critics Circle Award 2015, dem höchsten US-amerikanischen Kritikerpreis, ihren Höhepunkt. Einen Literaturpreis, der einst auch Bolaño verliehen wurde. Der um Bolaño entfachte Boom in den USA, bedingt durch die Mythisierung des Schriftstellers nicht zuletzt aufgrund seines Lebensstils und frühen Todes, sowie des Erfolges der englischen Übersetzungen seiner literarischen Werke sind als begünstigende Faktoren für die gegenwärtige vermehrte Sichtbarkeit der mexikanischen Literatur wie auch für Luisellis Erfolg in den USA zu bewerten (vgl. Bady 2015). Ein Vergleich mit Bolaño kommt Luiselli auch hinsichtlich des Verkaufs ihrer Bücher zugute und kann somit schlussendlich als Marketingstrategie beziehungsweise Verkaufsgarant betrachtet werden (vgl. Bady 2015): „Diesen Effekt machen sich Verlage zunutze, die z. B. für den Text eines vergleichsweise unbekannten Schriftstellers statt der Pressestimme auf dem Buchumschlag die anerkennenden Worte eines bereits etablierten Kollegen auswählen“ (Kampmann 2013: 136)12. Auch wenn in Bezug auf den exzessiven Lebensstil Herbert der Person Bolaño nahekommt, sind derartige Bezugnahmen in der Literaturkritik und Presse nicht vorhanden. Luiselli war 2016 die erste Mexikanerin in der Geschichte des US-amerikanischen Kritikerpreises (The National Book Critics Circle Award), die als Finalistin nominiert wurde (vgl. Notimex 2016). Obwohl die mexikanische Literaturkritik bezüglich ihres Romans La historia de mis dientes eher verhalten ausfiel, während sich die US-amerikanische Kritik vor Begeisterung regelrecht überschlug (vgl. Téllez 2016), beanspruchte Mexiko sie doch oder gerade deshalb im Kontext der Nominierung als mexikanische Schriftstellerin.

12 Diese Absicht bezweckt wohl auch das ursprünglich nur der niederländischen Ausgabe beigefügte Nachwort von Papeles falsos, das von dem preisgekrönten niederländischen Schriftsteller Cees Nooteboom verfasst wurde.

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Wenngleich Luiselli den Preis 2016 nicht gewann, zählte sie 2018 mit Tell me how it ends erneut zu den Finalist*innen. Ebenso 2019 war sie, dieses Mal mit Lost Children Archive, wieder eine den Finalist*innen des Preises. In dem Kontext fällt auf, dass die mexikanischen Medien jede einzelne der Nominierungen und Prämierungen Luisellis im Ausland, genauer gesagt in der englischsprachigen Welt, kommentieren („Valeria Luiselli, la primera autora mexicana en ganar el American Book Award“ (Animal Político 2018), „Valeria Luiselli, primera mexicana finalista al Premio Booker“ (Marines 2019) und „Valeria Luiselli, la primera mexicana en ganar beca para ‚genios‘“ (Saldaña 2019)). Eine Auszeichnung Luisellis in ihrem Herkunftsland Mexiko oder in der spanischsprachigen Welt allgemein steht bis dato noch aus. Unklar bleibt, ob es sich hierbei primär um ein strukturelles Problem des mexikanischen Buchmarktes handelt, in dem es keinen Platz für junge Schriftstellerinnen gibt, wie es Luiselli selbst hervorhebt: „‚[El ecosistema literario en México sigue estando dominado por un montón de viejitos y chavorucos que piensan que cada que se muere un tótem llega otro totemsito a ocupar un lugar. Y por supuesto, nunca hay lugar para una totemsita […]‘“ (Chavarría Tenorio 2017 [Luiselli]). 4.1.1.4 Positionierung im literarischen Feld und Literaturpreise Während Luiselli ihre Wohnsitzwechsel bei der Akkumulation von sozialem, kulturellem und transnationalem Kapital in Form einer internationalen Ausbildung, Auslandserfahrungen und Mehrsprachigkeit dienlich waren, kann Herbert Gleiches nicht vorweisen. Luisellis Lebenslauf ist weitaus geradliniger und vor allen Dingen geplanter als Herberts. Auf der Basis ihrer sozialen Positionierung und Sozialisierung standen Luiselli von Anfang an mehr Türen offen. Als nahezu reibungslos wird ihre berufliche Laufbahn beschrieben: „She bears her status as an arriviste with an enviable élan, as if the world was nothing but opportunities“ (Zuckermann 2014). Interessant ist an diesem Kommentar die leicht sarkastisch anmutende Bezugnahme auf die Welt als Ort der Möglichkeiten für Luiselli sowie ihre negativ konnotierte Beschreibung als ehrgeiziger Emporkömmling, die an Luisellis eigene Aussage zu Schriftsteller*innen als soziale Aufsteiger*innen erinnert. Allerdings wird an dieser Stelle weniger auf einen Klassenaufstieg als auf die Tatsache, dass sich Luiselli in den USA als Schriftstellerin einen Namen gemacht hat, Bezug genommen. Dagegen kommt Herberts Werdegang einem Hürdenlauf gleich: „Hermanastros, hijos bastardos, padres perdidos, prostíbulos, noches sin dormir o viajes contantes [sic] […]“ (EFE 2011 [Herbert]). Mit 17 Jahren zog er von Zuhause aus und lebte fortan von Gelegenheitsarbeiten: „[T]rabajó en un montón de cosas: abriendo zanjas para drenajes, como ayudante de albañil, en la burocra-

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cia estatal, organizando conciertos masivos, como corrector de estilo en una revista y después como editor periodístico“ (Camponovo 2014). Es folgten Drogenund Alkoholexzesse, zu denen der Autor offen steht: „‚Mis años con la cocaína fueron largos y majestuosos‘“ (Llano 2014 [Herbert]). In deren Kontext entstand auch Herberts in Spanien veröffentlichter Erzählungsband Cocaína (Manual de usuario) (2009). Vorübergehend versuchte Herbert sein Glück in der Musik als Sänger und Mitglied der Rockbands Los Tigres de Borges und Madrastras sowie im Verlagswesen als Lektor für mexikanische Autoren wie Daniel Sada und Salvador Elizondo (vgl. Zúñiga Agosto 2012). Umso erstaunlicher ist aus der Sicht der Presse deshalb sein sozialer Aufstieg, den Soledad Camponovo einer lateinamerikanischen Telenovela gleich schildert: „Hijo de una prostituta, pasó su niñez entre prostíbulos y clientes y su historia pudo ser una más entre las infinitas historias anónimas de la miseria latinoamericana, pero gracias a su talento para escribirla se convirtió en un reconocido escritor“ (Camponovo 2014). Konsequenterweise besteht ein unübersehbarer Klassenunterschied zwischen den beiden Schriftsteller*innen, der Luiselli von Anfang an mit einem besseren ‚Startkapital‘ als Herbert ausstattete. Hierbei müssen zweierlei Punkte berücksichtigt werden: Zum einen ist die soziale Klasse eine der zentralen Dimensionen im kapitalistisch dominierten und sozial ungleichen Literaturbetrieb, zu dem keinesfalls alle uneingeschränkt Zugang haben: „[I]t is capitalism itself, and the realities of combined and uneven development, that make it the case that only a select group of people read and write what will sell as literature“ (Brouillette 2016: 98). Deshalb ist die Klassenzugehörigkeit als eine „entscheidende Zugangsbeschränkung“ (Brouillette 2016: 102 [Ü. d. V.]) zur literarischen Welt zu betrachten. Das kann darauf zurückgeführt werden, dass die Lese- und Buchkultur vorrangig in Verbindung mit dem gebildeten Bürgertum gebracht wird. Nicht selten handelt es sich bei den Akteur*innen im literarischen Feld um die gesellschaftlichen Eliten, weshalb die Zugehörigkeit zum Literaturbetrieb für einen Großteil der Menschen als ein für sie unerreichbares Privileg gilt (vgl. Brouillette 2016: 98). Zum anderen birgt die Auseinandersetzung mit der Kategorie Klasse die Gefahr einer Essenzialisierung der Position der Schriftsteller*innen und ihres Schreibens im literarischen Feld sowie eines sozialen Determinismus verbunden mit ihrer sozialen Herkunft. Auf diese potenzielle Gefahr wies bereits der französische Soziologe Pierre Bourdieu in seinen Überlegungen zur Genese und Struktur des literarischen Feldes sowie den Positionen der Schriftsteller*innen in seinem viel besprochenen Werk Les règles de l’art (1992) (dt. Die Regeln des Spiels) nachdrücklich hin: „Die

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soziale Herkunft ist nicht, wie manchmal geglaubt wird, Ausgangspunkt einer linearen Serie mechanischer Determinierungen, wobei der Beruf des Vaters die eingenommene Position bestimmte, die ihrerseits die Positionierungen festlegte“ (Bourdieu 2001: 406 f.). Stattdessen sind es zu jeder Zeit auch die Feldeffekte, die abhängig von der Struktur des Feldes insgesamt sowie der Position anderer Schriftsteller*innen, auf die jeweiligen Positionen von Schriftsteller*innen und deren Handlungsmöglichkeiten verbunden mit ihrem Kapitalvermögen einwirken (vgl. Bourdieu 2001: 407). Wenn also bedacht wird, dass Luiselli und Herbert mit unterschiedlichen Dispositionen und Ausstattungen von kulturellem, sozialem wie auch ökonomischem Kapital ihre schriftstellerische Tätigkeit starteten, kann daraus gefolgert werden, dass zu Beginn der Faktor Klasse sowie ihre soziale Herkunft Auswirkungen auf ihre Positionen und Positionierungen im literarischen Feld hatten: „Generell sind es die mit ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital am besten Ausgestatteten, die sich als erste neuen Positionen zuwenden […]“ (Bourdieu 2001: 414). Gleichzeitig war dieses Startkapital keineswegs für die weitere Laufbahn13 Herberts und Luisellis, oder in den Worten Bourdieus, ihre derzeitige Position im literarischen Feld, allein ausschlaggebend. Stattdessen wirkten hierbei auch andere Feldeffekte, die ebenso zu analysieren sind. Denn letztlich werden das Kapitalvermögen der Schriftsteller*innen und die damit für sie verbundenen Möglichkeiten, will heißen Positionierungen, durch die jeweilige Konstitution des literarischen Feldes bedingt und können so zu jedem Zeitpunkt zu ganz unterschiedlichen Resultaten führen (vgl. Bourdieu 2001: 419). Herbert ist sich seines keineswegs gewöhnlichen sozialen Aufstiegs durchaus bewusst, dessen Ursache er in seiner Gewitztheit und nicht etwa dem hartem Arbeiten begründet sieht: „A mí me tocó – porque tuve alguna fortuna y soy un tipo listo – poder deslizarme por la puerta de servicio hacia la clase media“ (Camponovo 2014 [Herbert]). Es entsteht überdies der Eindruck, als habe sich Herbert 13 In Anlehnung an Bourdieu und um die Gefahr eines Biografismus sowie damit verbundenen sozialen Determinismus zu vermeiden, arbeite ich im Folgenden mit dem Bourdieuschen Begriff der „(gesellschaftlichen) Laufbahn“ (Bourdieu 2001: 409 [Herv. i. O.]) anstelle des Konzeptes der Biografie. Dieser ist von Vorteil, da er die unterschiedlichen Positionen, die ein Individuum in verschiedenen sozialen Räumen im Verlauf seines Lebens besetzt, berücksichtigt und diese stets in Relation zur Feldstruktur und deren Einfluss auf die jeweilige Platzierung des Individuums betrachtet. Auf diese Weise wird er der Dynamik einer Positionierung im literarischen Feld, in anderen Worten der schriftstellerischen Laufbahn, gerecht, die nicht allein durch das Kapitalvermögen des Individuums bestimmt ist, sondern vor allem auch durch die jeweils gegebenen und sich stets verändernden Strukturen, Positionen anderer Individuen und Kräfteverhältnisse im Feld insgesamt (vgl. Bourdieu: 409 f.).

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‚heimlich Zugang‘ verschafft, was dadurch verstärkt wird, dass er sich weiterhin mehr mit der Unterschicht als mit der Mittelschicht identifiziert fühlt: „Digamos que arribé a la clase media, pero también tengo esa raíz en mi otra relación con lo pop, con los bajos fondos y la vida entre lo rural y lo urbano que es mi origen y me es muy natural“ (Rojas N. 2012 [Herbert]). Diese Aussage Herberts muss jedoch erneut kritisch in Anlehnung an Bourdieu gelesen werden. Selbst wenn Herbert sich der Unterschicht ideologisch näher als der Mittelschicht fühlt, muss es nicht bedeuten, dass seine Bücher nur an ein ‚Unterschichtenpublikum‘ gerichtet sind beziehungsweise nur von diesem rezipiert werden. Seine soziale Herkunft macht ihn nicht automatisch zu einem ‚Schriftsteller der Unterschicht‘. Gleichzeitig sind es auch in Luisellis Fall nicht ihre Zugehörigkeit zur Oberbeziehungsweise Mittelschicht sowie die sozialen Kreise die sie frequentiert, die sich direkt auf ihr Schreiben und in einem weiteren Schritt auf ihr Lesepublikum auswirken. Folglich existiert keine notwendige Verbundenheit oder Abhängigkeit zwischen den Schriftsteller*innen und ihrer sozialen Klasse: „[D]ie Logik des Feldes […] [lässt es zu], daß man sich der von einer Gruppe oder Institution gelieferten Ressourcen zur Produktion von Erzeugnissen bedienen kann, die den Interessen oder Werten dieser Gruppe mehr oder weniger fernstehen“ (Bourdieu 2001: 408). Unbestreitbar steht allerdings fest, dass Herbert ohne diesen sozialen Aufstieg eine Schriftstellertätigkeit in Mexiko verwehrt geblieben wäre, wo die Zugehörigkeit zur Mittelklasse laut Herbert eine grundlegende Voraussetzung darstellt, um im literarischen Feld wahrgenommen zu werden beziehungsweise überhaupt etwas zu gelten (vgl. Rojas N. 2012). Die Notwendigkeit des Mittelklassestatus ist nicht nur darauf zurückzuführen, dass es, um Schriftsteller*in, nicht nur in Mexiko, sondern generell, sein zu können, ausreichend finanzieller Mittel bedarf. Abgesehen von einigen wenigen Bestsellerautor*innen kann kaum eine*r sich allein durch das Schreiben finanzieren: „Hoy día, en el ámbito latinoamericano, pocos son los que viven en exclusiva de sus obras, y los que lo hacen son los que ingresan en el mainstream de las editoriales (Random House/Planeta) o de los agentes literarios“ (Gallego Cuiñas 2019a: 47 [Herv. i. O.])14.

14 Hier ist es wichtig zu erwähnen, dass, auch wenn Herberts Bücher in Mexiko durch die transnationale Verlagsgruppe Penguin Random House Grupo Editorial, ehemals Random House Mondadori, verlegt werden, er selbst und seine Literatur keinesfalls dem literarischen Mainstream zuzuordnen sind. Stattdessen zeichnet sich das mexikanische Tochterunternehmen dadurch aus, dass es, anders als Niederlassungen andernorts, mexikanischen Jungauto-

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Gleichermaßen erhöht, so Bourdieu, neben symbolischem Kapital eine ökonomische Sicherheit die Risikofreudigkeit, anders formuliert die Experimentierfreudigkeit der Schriftsteller*innen, selbst wenn sie durch ihr experimentelles Schreiben zuerst eine größere wirtschaftliche Ungewissheit riskieren (vgl. Bourdieu 2001: 413). Inwiefern diese These Bourdieus auch auf Luiselli und Herbert zutrifft, kann erst nach einer inhaltlichen und stilistischen Analyse ihrer Werke überprüft werden. Ebenso die Deutungsmacht über das, was als Literatur gilt oder nicht, geht von der Mittelschicht und deren ethnozentrischen Literaturkonzept sowie Vorstellungen aus (vgl. Gallego Cuiñas 2014: 2). Diese Hegemonie hat ihrerseits zur Folge, dass beispielsweise (mündliche) Erzählungen indigener Autor*innen oder auch Geschichtenerzähler*innen gemeinhin nicht als Literatur angesehen werden und damit nicht in das von einem kapitalistischen Buchmarkt diktierte Schema von literarischen Werken passen. Das hat letztlich Auswirkungen auf deren Wahrnehmung sowie auf die Möglichkeiten von Zirkulation und Rezeption außerhalb ihrer Gemeinschaften beziehungsweise ihrer Region. Herberts sozialer Aufstieg in die Mittelschicht ist nicht damit gleichzusetzen, dass er seither allein von seiner schriftstellerischen Tätigkeit leben kann, stattdessen sind es schlussendlich Literaturpreise sowie die finanzielle Unterstützung durch Schriftstellerstipendien, die der mexikanische Staat vergibt und die es ihm möglich machten, sich in der Vergangenheit immer wieder für einen längeren Zeitraum nur der Literatur zu widmen (vgl. Camponovo 2014). Dem Aspekt der sozialen Herkunft kann insofern große Relevanz in Herberts Werdegang beigemessen werden. Fast durchgehend in allen analysierten Autoreninterviews wird darauf Bezug genommen und viele der Gespräche haben fast nur sein „hartes Leben“ (Llano 2014 [Ü. d. V.]) beziehungsweise seine schwere Kindheit (vgl. Gallo 2012) zum Gegenstand. Herberts Lebensgeschichte sowie seine vertikale soziale Mobilität erinnern in gewisser Hinsicht an eine ‚mexikanische Variante‘ des in den USA gängigen Paradigmas ‚from rags to riches‘ (in etwa vom Tellerwäscher zum Millionär), das im Zusammenhang mit dem American Dream die Utopie des sozialen Aufstiegs verkörpert und vermarktet. Hierbei handelt es sich um ein verkaufsförderndes Image Herberts, das des Weiteren durch seine autofiktionale Schreibweise in seinem internationalen Debütroman Canción de tumba gefördert wird. Durch sein Image als Draufgänger („Bebe el tequila a golpes secos y cortos“ (Llano 2014)) mag er nicht die gängigen Klischees eines intellektuellen Mittel-

r*innen mit ihren persönlichen Schriftstellerprojekten einen Platz in ihrem Verlagsprogramm einräumt (vgl. Sánchez Prado 2015: 22).

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schicht-Schriftstellers erfüllen, wie in einem chilenischen Interview anhand der Beschreibung seines Äußeren deutlich wird: „Julián Herbert aparece vestido de jeans, una mochila y cabeza rapada, sencillo entre los escritores que pasean por la Estación Mapocho de traje y anteojos de carey“ (Rojas N. 2012). Jedoch sind es gerade all die anderen Aspekte seines Werdegangs, die das Interesse der Medien wecken und ihn und sein literarisches Werk nahezu auf den Faktor der sozialen Herkunft reduzieren, während sie ihn selbst als marginalen Autor, als Randständigen beziehungsweise Außenseiter entwerfen. Allerdings kann diese Art des Auftretens Herberts in der Öffentlichkeit und die Hervorhebung gerade dieser Aspekte seiner schriftstellerischen Laufbahn ebenso im Sinne Bourdieus als eine bewusste Vorgehensweise Herberts betrachtet werden. Dazu passt auch, dass Herbert in gewisser Weise wenig stört, was andere über ihn oder seine Literatur denken: „Me parece una chinga que tengas que escribir cosas que no te importan para que el mundo piense que eres una buena persona. A mí no me importa que el mundo piense que soy una buena persona“ (Ortuño 2020 [Herbert]). Seine Selbstrepräsentation kann als eine Umgehungsstrategie verstanden werden, da es ihm zunächst nicht möglich war, (andernfalls) einen Platz auf dem umkämpften literarischen Feld zu ergattern (vgl. Bourdieu 2001: 417). So birgt Herberts ungewöhnlicher Werdegang auch ein gewisses Vermarktungspotenzial, was nicht nur die Medien entdeckt haben, sondern sicherlich auch Herbert bewusst ist, der sich mit diesem Autorbild von anderen (mexikanischen) Schriftsteller*innen im literarischen Feld abhebt. Bezeichnenderweise lässt auch Luiselli nicht unkommentiert, welche Stellung die soziale Herkunft hinsichtlich ihrer Laufbahn als Schriftstellerin einnahm. Obwohl sie, im Gegensatz zu Herbert, bereits durch ihre Familie der mexikanischen Mittelklasse, wenn nicht sogar der Oberschicht, angehörte, was ihre Arbeit als Schriftstellerin von Anfang an begünstigte, ist auch für sie ein Leben allein von der Literatur nicht denkbar: „Soy de clase media y nadie vive de escribir libros. Cuando entendí eso decidí hacer un doctorado, me gusta dar clases […]“ (Maristain 2016 [Luiselli]). Dessen ungeachtet vermehren ihre Arbeit als Universitätsdozentin, als Kolumnistin in The New Yorker, der New York Times und El País sowie das Verfassen von Libretti für das New York City Ballett und Kooperationen mit Kunstgalerien ihr kulturelles Kapital und langfristig auch ihr symbolisches Kapital. Obwohl Herberts Nebentätigkeit als Kulturmanager sowie sein Engagement für soziale Projekte in Mexiko auch sein kulturelles Kapital und, nicht zu vernachlässigen, sein ökonomisches Kapital steigern, kann er dieses nicht wie Luiselli in transnationales Kapital transformieren, was ihm international eine größere Sichtbarkeit ermöglichen würde. Der Zuwachs an symbolischem Kapital anders gesagt sein

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Prestige transzendiert in seinem Fall nicht oder erst langsam – nach der Veröffentlichung der englischen Übersetzung im Jahr 2018 – den nationalen mexikanischen und damit hispanophonen Raum. In Luisellis Entscheidung, eine Promotion im Fach Komparatistik an der Columbia University anzustreben, überschneiden sich ihre soziale, geografische sowie ethnische Herkunft und letztlich das Streben nach sozialer Anerkennung sowohl in Mexiko als auch in den USA: „I indeed felt compelled to study for a PhD. […] I think the decision boiled down to a deep and troubled self-consciousness of my social class and nationality. […] My family is neither rich nor prominent in intellectual or artistic circles in Mexico“ (Reber 2016: 14 [Herv. i. O., Luiselli]). Einerseits wurde eine akademische Karriere von ihr in Mexiko seitens ihrer Familie erwartet, da ihre Schriftstellertätigkeit nicht als ‚richtige‘ Arbeit anerkannt wurde: I don’t think my late grandparents would care much for any of my accomplishments as a writer. „She writes these strange little experimental books that she then has to overexplain,“ they probably say to each other, full of irony, wherever they are. But they would all proudly think of me as someone who finally went to a good school. (Reber 2016: 15 [Luiselli])

Andererseits bildete die Promotion in den USA die Bedingung dafür, um den durch die Migration infrage gestellten Mittelklassestatus sowie ihr dadurch entwertetes kulturelles Kapital zu wahren und aufzuwerten. Darüber hinaus hat sich gerade in jüngster Zeit eine Debatte in den USA darüber entfacht, inwiefern eine Promotion und die darauffolgende Lehrtätigkeit an einer Universität als eine Vorbedingung dafür gelten kann, um als Weltautor*in anerkannt zu werden (vgl. The editors 2013)15. Dies ist vor allen Dingen dann zutreffend, wenn berücksichtigt wird, dass neben Luiselli noch eine ganze Reihe anderer international bekannter latein-

15 In diesem Kontext passt auch die von María Teresa Gramuglio angebrachte Kritik, dass es sich bei der Debatte um Weltliteratur primär um eine Diskussion handelt, die an den Universitäten geführt wird und von einem akademischen Umfeld ausgeht (vgl. Gramuglio 2013b: 392 f.). César Domínguez erweitert diese Kritik noch, wenn er anbringt, dass den Sprechort der Debatte vorrangig US-amerikanische Universitäten bilden (vgl. Domínguez 2012: 3). Wenn spanische oder lateinamerikanische Theoretiker*innen zu Wort kommen, so sind auch diese in den USA verortet. Ebendieser Kritik am Sprechort schließt sich auch Ignacio Sánchez Prado in der Einleitung zu seinem Sammelband América Latina en la „literatura mundial“ (2006) an. Allerdings muss angeführt werden, dass sowohl Sánchez Prado als auch die in seinem Sammelband versammelten Wissenschaftler*innen alle, zumindest zeitweise, an US-amerikanischen Universitäten gelehrt haben oder ausgebildet wurden.

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amerikanischer Autor*innen an US-amerikanischen Universitäten, speziell im Fach Creative Writing oder im Rahmen von M.F.A.-Programmen (Master of Fine Arts), lehren oder selbst dort studiert haben: „The university even more quickly became basic to the careers of younger writers“ (The editors 2013). Genannt seien hier nur exemplarisch der bereits erwähnte US-amerikanisch-dominikanische Autor Junot Díaz, der guatemaltekische Schriftsteller Eduardo Halfón sowie die chilenische Schriftstellerin Lina Meruane. Luiselli vertritt eine sehr positive Einstellung gegenüber den in den USA verbreiteten Creative Writing-Studienprogrammen, die laut ihr zu einem gewissen literarischen Standard und einer Professionalisierung der Schriftsteller*innen beitragen, welche sie selbst in der mexikanischen Literatur vermisst: [E]l nivel medio es más bajo que el nivel medio en Estados Unidos, porque un libro malón que se escribe allá pasó por un MFA [Master of Fine Arts] donde lo leyeron siete maestros, 50 alumnos, se corrigió, se volvió a corregir. Entonces, sí hay algo bueno en las escuelas de escritura que producen un estándar medio alto. (Jiménez Buerón 2016 [Luiselli])

Zu den Creative Writing Schools in den USA ist zu sagen, dass diese durch die gezielte Lehre des Schreibens und des ‚systematischen‘ Gebrauchs von literarischen Stilmitteln zwar kurzfristig das Niveau der Texte steigern (können). Längerfristig laufen sie aber die Gefahr, zu einer Homogenisierung und Standardisierung literarischer Texte beizutragen, in denen kein Platz für Innovationen bleibt oder in denen stilistische, formale und inhaltliche Brüche nicht toleriert werden. Vor diesem Hintergrund ist anzunehmen, dass eine Professionalisierung der Autorenausbildung, wie sie speziell im Rahmen eines Studiums in Kreativem Schreiben stattfindet, an der Produktion einer zunehmend vermarktungskonformen Literatur beteiligt ist. Dem ist hinzuzufügen, dass die Studiengebühren für die Programme horrend sind und keineswegs jede*r die Möglichkeit besitzt, ein solches Studium aufzunehmen. Das birgt wiederum das Risiko, dass die zukünftigen Weltautor*innen einer globalen Elite von Schriftsteller*innen angehören. Da es sich hierbei, wie von Luiselli genannt, bisher primär um ein in den USA existierendes Phänomen handelt16, ist hierzu keine Stellungnahme Herberts verfügbar. Dennoch absolvierte auch Herbert ein Universitätsstudium im 16 Indes zeichnet sich diesbezüglich auch in Mexiko eine Trendwende ab. So wurde im Jahr 2015 auf der Frankfurter Buchmesse die mexikanische Schriftstellerin Laia Jufresa und ihr Romandebüt Umami, das bei Literatura Random House erschien, als mexikanische Newcomerin gefeiert. Innerhalb kurzer Zeit wurden Übersetzungsrechte nach Frankreich, Großbritannien, die Türkei, die Niederlande und Italien verkauft. Das Besondere an Jufresa ist, dass sie eine Absolventin der Schriftstellerschule Escuela Dinámica de Escritores von Mario Bellatín in Mexiko-Stadt ist.

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Fach Literaturwissenschaft. Allerdings an der mexikanischen Universidad Autónoma de Coahuila, die über weitaus weniger kulturelles Kapital verfügt als USamerikanische Universitäten. Zudem kann er nicht wie Luiselli eine Promotion vorweisen. Luiselli und Herbert vertreten beide eine ähnliche Einstellung in puncto ihrer Arbeit als Schriftsteller*innen sowie der gegenwärtigen Entwicklungen auf dem globalen Buchmarkt. Luiselli betont, dass sie sich nicht dem Druck und der Geschwindigkeit des Marktes beugen und neue literarische Werke im jährlichen Zyklus produzieren werde (vgl. Maristain 2016 [Luiselli]). Weiterhin sieht sie ihre schriftstellerische Tätigkeit nicht als Karriere, sondern als Lebensstil: „I’ve never really perceived writing as a ‚career,‘ though. In Spanish the word for ‚career‘ is ‚carrera‘, which also means ‚race‘ – as in a sports competition, where people win and people lose. […] It’s a profession and a way of life“ (Caldwell 2014 [Luiselli]). Selbst wenn Luiselli den spanischen Begriff der carrera ablehnt, so ist dessen inhärenter Wettbewerbscharakter auf jeden Fall auf das literarische Feld und die in ihm agierenden Akteur*innen zutreffend. Auch Herbert nimmt Stellung zur Position und Konstruktion des Schriftstellers im literarischen Feld, dabei hebt er die relative Gültigkeit von literarischen Auszeichnungen hervor: „Tengo una visión pragmática de la literatura y creo que los premios, las becas, son parte de tu construcción como escritor. Tampoco creo que sean definitorios. Hay escritores que nunca ganaron nada y eso no les quita un ápice a su obra“ (Camponovo 2014 [Herbert]). Wichtig ist für ihn sein Originalitätsanspruch, das heißt, dass er trotz der Tatsache, mittlerweile ein angesehener mexikanischer Autor zu sein, dieses Renommee nicht als Freibrief versteht, sondern stattdessen der Ansicht ist, dass sich ein Schriftsteller stets neu erfinden muss: „Para Herbert es más importante escribir con el impulso de un novel que con el de un escritor consagrado. ‚De ahí viene la verdadera fuerza: si no puedes ser un principiante frente a la hoja en blanco, la experiencia estética se pierde‘“ (Baena Crespo 2019 [Herbert]). Was die von Herbert angesprochene Konstruktion des*der Autor*in, an dem auch Literaturpreise nicht unbeteiligt sind, betrifft, ist anzufügen, dass die der Verleihung vorausgehenden Auswahlprozesse im Allgemeinen auf Basis der literarischen Werke ablaufen17. Anders bei der Preisverleihung selbst, bei der nicht

17 Immer wieder gibt es Kritik an der bei literarischen Auszeichnungen vorherrschenden Disparität hinsichtlich der Preisträger*innen. Selbst wenn gemeinhin beteuert wird, dass die Auswahl und Wertung der literarischen Texte allein auf der Grundlage von literarischen Kriterien erfolgt, ist diese Ungleichheit auffällig. Bekanntestes Beispiel ist das Gender-Ungleichgewicht beim renommiertesten Literaturpreis des literarischen Feldes schlechthin, dem Literaturnobel-

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mehr der literarische Text, sondern der*die Autor*in im Mittelpunkt steht (vgl. Dücker 2013: 217): „Tal estado actual de la promoción literaria convierte a los premios literarios en dispositivos particularmente idóneos para explotar las dimensiones ambivalentes del prestigio literario“ (Bencomo 2006: 21). Eine Nominierung, mit der bestenfalls die Verleihung eines Literaturpreises einhergeht, verschafft nicht nur dem Text, sondern den Autor*innen, wie zuvor bei den Boom-Autoren erwähnt, Aufmerksamkeit und Anerkennung, anders ausgedrückt symbolisches Kapital: „Seine Geltung [die des Autors] ist mitbedingt durch seine Literaturpreise, die […] ihn selbst in unterschiedliche Institutionen integrieren und die dazu beitragen, ihn tendenziell zu einer öffentlichen Orientierungsinstanz zu machen“ (Dücker 2013: 218). Außerdem spielen Literaturpreise neben Schriftsteller- und Künstlerstipendien als finanzielle Unterstützung und Fördermittel eine wesentliche Rolle bei der Finanzierung des Schreibprozesses nicht weniger Schriftsteller*innen, wie schon an Herberts Beispiel veranschaulicht. Sowohl Herberts als auch Luisellis literarisches Werk wurden mit verschiedenen Literaturpreisen ausgezeichnet. Herbert erhielt zunächst für seine Gedichte und Erzählungen zahlreiche Preise18. 2011 wurde ihm für sein Romandebüt Canción de tumba noch vor der Erstveröffentlichung in Spanien der Premio Jaén de Novela Inédita verliehen. Ein Jahr später folgte die Ehrung seines Romans in Mexiko mit dem renommierten Premio de Novela Elena Poniatowska, bei dem ihn die gleichnamige mexikanische Schriftstellerin in den höchsten Tönen lobte (vgl. Gallo 2012). Auch Luisellis literarisches Werk blieb von der Literaturkritik nicht unbemerkt. Im Unterschied zu Herbert wurden bisher allerdings nur ihre in Übersetzung erschienenen Romane ausgezeichnet, das mexikanische beziehungsweise spanische Original blieb dabei unberücksichtigt, was wiederum für den bereits aufgezeigten Unterschied zwischen internationaler und nationaler Kanonisierung spricht. Dieser Umstand erinnert an die von David Damrosch beobachtete Tendenz, dass heutzutage immer mehr Bücher vorrangig für eine ‚ausländische‘ Leserschaft geschrieben werden. Jene Bücher verzeichnen international einen großen Erfolg, wenngleich ihnen in ihrem Herkunftsland deutlich weniger Beachtung

preis, bei dem bis 2016 von 114 Nobelpreisträger*innen gerade einmal 12 Frauen waren (vgl. Sapiro 2016a: 92). Ferner stellen bei anderen literarischen Preisverleihungen geringeren Grades Schriftsteller*innen of Color und Schwarze Schriftsteller*innen eine Minderheit dar. 18 Hierzu zählen unter anderem der Premio Nacional de Literatura Gilberto Owen 2003, der Presea Manuel Acuña 2004, der Premio Nacional de Cuento Juan José Arreola 2006 sowie der Premio Nacional de Cuento Agustín Yáñez 2008.

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geschenkt wird: „[A]uthors of highly successful works can hope to have them translated into twenty or thirty languages within a few years of publication, and foreign countries may even provide the primary readership for writers who have small audiences at home […]“ (Damrosch 2003: 18). Interessant ist in diesem Kontext zudem, dass in Luisellis Fall nicht, wie häufig üblich, zunächst die Verleihung eines nationalen Preises erforderlich war, um die Aufmerksamkeit internationaler Verlage auf sie zu richten: „[N]ational prizes exert a powerful influence on gaining international celebrity, winning one is merely the first step for a would-be world author towards an international readership“ (Wynne 2016: 592). 2013 stand sie mit der deutschen Übersetzung von Die Schwerelosen, im Original Los ingrávidos, auf der Shortlist des Internationalen Literaturpreises des Haus der Kulturen der Welt in Berlin. 2014 erhielt sie für den gleichen Roman in englischer Übersetzung, Faces in the crowd, den Los Angeles Times Book Prize. Im gleichen Jahr wurde ihr zudem der 5 Under 35 Award der US-amerikanischen National Book Foundation verliehen. Diesem folgte eine lange Liste bedeutender und weniger bedeutender englischsprachiger Literaturpreise19. In jedem Falle kann konstatiert werden, dass diese Preisgewinne Luiselli zu noch größerer internationaler Sichtbarkeit verhalfen. Das manifestiert sich in der wachsenden Zahl an Übersetzungen ihrer literarischen Werke.

19 Luiselli gewann ein weiteres Mal den Los Angeles Times Book Prize (2015) sowie darüber hinaus den kanadischen Premio Metropolis Azul (2016), den American Book Award (2018), den Vilcek Prize for Creative Promise (2020), den Genius Grant – ein einjähriges Stipendium der MacArthur Foundation (2019) sowie jüngst das Guggenheim-Stipendium (2020), ein Stipendium der Borchard Foundation und den Rosenthal Family Foundation Award for Literature (2020). Ferner war sie Teil der preisverleihenden Jury des Pen America Literary Award (2019) sowie des Neustadt International Prize for Literature (2016). Mit ihrem aktuellen Roman Lost Children Archive gewann sie die Andrew Carnegie Medal for Excellence in Fiction (2020), den Preis der American Academy of Arts & Letters (2020) sowie als erste Schriftstellerin den Folio Prize (2020). Darüber hinaus wurde der Roman für den National Book Critics Circle Award (2019), den Women’s Prize for Fiction (2019), den Kirkus Prize for Fiction (2019), den Aspen Words Literary Prize (2020), den Booker Prize (2019), den John Dos Passos Prize (2020) und den LiBeraturpreis (2020) nominiert. Zuletzt gewann sie mit der italienischen Übersetzung von Lost Children Archive den italienischen Premio Fernanda Pivano (2020), dessen Intention es ist, US-amerikanische Autor*innen und deren Literatur in Italien zu fördern. 2020 wurde der Preis außerdem erstmals an Schriftsteller*innen verliehen, die in den USA ohne US-amerikanische Staatsbürgerschaft leben.

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Ähnlich wie mit den Literaturpreisverleihungen verhält es sich mit dem sich im letzten Jahrzehnt abzeichnenden Trend der internationalen Literaturfestivals20, bei denen Schriftsteller*innen und andere kulturelle Akteur*innen aus der ganzen Welt zugegen sind und neben der Präsentation ihrer literarischen Werke vor allem Stellung zu gegenwärtigen soziopolitischen Entwicklungen, kulturellen oder historischen Themen ihrer Herkunftsländer oder dem Weltgeschehen im Gesamten nehmen. Abgesehen davon sind diese Festivals von zentraler Bedeutung für die öffentliche Präsentation des persönlichen Schriftstellerprojekts sowie die Vorstellung neuer literarischer Projekte: „[F]or debut authors festivals play a role in the recognition and legitimation of their work, whereas they help strengthen the reputation and symbolic capital of established authors“ (Sapiro 2016b: 9). Darüber hinaus dienen sie dem Knüpfen von Kontakten und damit der Anhäufung von sozialem Kapital, sei dies mit Literaturagent*innen oder Verleger*innen: „[T]hrough performances at festivals writers can also draw the attention of critics and other people working in the field“ (Janssen 1998: 268). Sowohl Herbert als auch Luiselli zählten in der Vergangenheit immer wieder zu den Gästen jener Festivals. Zwar betont die (kommerzielle) Literaturkritik immer wieder aufs Neue, dass die beiden nicht zu den mexikanischen Schriftsteller*innen zählen, die in ihren Büchern gegenwärtige gesellschaftliche oder politische Geschehnisse zum Thema machen. Gleichzeitig wird aber von ihnen eingefordert, Position hinsichtlich der aktuellen soziopolitischen Situation in Mexiko, der alltäglichen Gewalt im Zusammenhang mit dem sogenannten ‚Drogenkrieg‘ sowie der Migrations- und Mexiko-Politik des US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump zu beziehen. Hierbei fällt auf, dass ihnen im Zuge dessen wie zu Zeiten des Booms der Status des*der Intellektuellen zugewiesen wird. Dabei wird ihrer Meinung und Haltung auch zu Themen, die nicht im Kontext ihrer literarischen Werke stehen, eine öffentliche Relevanz beigemessen. In Luisellis Fall haben sich diese Umstände seit der Veröffentlichung von Los niños perdidos im Jahr 2016 verändert – einem Essay, in dem sie explizit die USamerikanische und mexikanische Migrationspolitik beschreibt und kritisiert. Seither versteht sie sich selbst als engagierte Schriftstellerin, die sich ihrer Position und damit auch ihrer Einfluss- und Handlungsmöglichkeiten bewusst ist:

20 Mit zu den Bekanntesten zählen das mehrmals jährlich, auch in Lateinamerika, stattfindende Hay Festival of Literature & Arts, dessen Austragungsort stets wechselt, das PEN World Voices Festival in New York City sowie das Internationale Literaturfestival Berlin.

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Como miembro de la comunidad hispana, pero en unas circunstancias radicalmente distintas a las de la mayoría, siento que tengo la responsabilidad de usar los espacios que mi trabajo me ha ido abriendo – espacios de publicación, de debate público, espacios de opinión – para abrir y dar más cancha a mi comunidad. (Pacheco 2019 [Luiselli])

Ganz anders verhält sich hier Herbert. Er ist sich seines aktuellen Ansehens in der mexikanischen Literatur- und Kulturbranche bewusst, distanziert sich aber explizit von denjenigen mexikanischen Schriftsteller*innen, die glauben, wegen ihres Status Expert*innen auf jedwedem Gebiet zu sein: „[M]e convertí en eso que el campo literario llama ‚un autor reconocido‘ […], y eso me da miedo: convertirme en uno más de los tira-netas de la literatura mexicana de los que vengo huyendo“ (Velázquez Soto 2019: 116 [Herbert]). In diesem Zusammenhang bringt Herbert auch zum Ausdruck, dass er nichts davon halte, nur weil es aktuell zum gesellschaftlichen Konsens beispielsweise in den USA gehöre und darüber hinaus erfolgsversprechend sei, sich von nun an ‚politisch korrekt‘ auszudrücken. Die soziale Realität, in der er lebe, sei eine andere, und allein durch Political Correctness ändere sich nichts an den sozialen Missständen, die in Mexiko vorherrschen (vgl. Ortuño 2020 [Herbert]). Anstelle den Zeitgeist zu huldigen, vertritt Herbert somit seinen eigenen, wenn auch radikalen ‚Authentizitätsanspruch‘ im Umgang mit seinem literarischen Material: „A mí no me tocó París y no me tocó tampoco Uganda. […] [Y]o soy un pinche bárbaro, yo soy un pinche bárbaro latinoamericano, mestizo, injertado de apache y lo que me interesa más de la cultura occidental es cómo la puedo barbarizar“ (Ortuño 2020 [Herbert]). 4.1.1.5 Zwischenfazit Ausgehend von der These, dass das literarische Werk von Schriftsteller*innen oft in den Hintergrund rückt, während sich stattdessen Literaturkritik, Presse und Leser*innen mehr und mehr auf den*die Autor*in als Person sowie dessen*deren Leben fokussieren und interessieren, beschäftigte sich der erste Teil meiner Analyse primär mit den extraliterarischen Bedingungen, die die Rezeption und Zirkulation der beiden mexikanischen Schriftsteller*innen Valeria Luiselli und Julián Herbert bedingen. Dieser Annahme entsprechend, nimmt bei Luiselli wie auch bei Herbert die persönliche Biografie sowie der literarische Werdegang in den untersuchten Autoreninterviews sowie Rezensionen ihrer Werke in der nationalen und internationalen Presse eine zentrale Rolle ein. So war kein Presseartikel aufzufinden, in dem nicht mindestens ansatzweise auf Luisellis transnationaler Werdegang oder ihre wechselnden Wohnsitze während ihrer Kindheit verwiesen wurden. Gleiches traf auch auf Herbert zu: Gesprächsstoff lieferte entweder die Tatsache,

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dass er der Sohn einer Sexarbeiterin ist, seine langjährige Drogen- und Alkoholabhängigkeit oder aber sein damit in Verbindung stehender ungewöhnlicher sozialer Aufstieg. Speziell in Luisellis Fall konnte festgestellt werden, dass sie von Anfang an ihre Schriftstellerkarriere, auch wenn sie sie selbst nicht als solche bezeichnet, international ausrichtete. Belege hierfür liefern ihre schulische und universitäre Laufbahn, das Schreiben in einem möglichst ‚neutralen‘ Spanisch, die Affinität zum Englischen, ihre Präsenz in repräsentativen Medien, ihr derzeitiger Wohnsitz in New York City oder aber ihre Zugehörigkeit zu intellektuellen lateinamerikanischen Schriftstellerkreisen in den USA. Auf diese Weise schrieb sie sich, wie im Titel des Kapitels erwähnt, strategisch in den weltliterarischen Raum ein und entspricht letztlich ihrem Konzept von einer Schriftstellerin als proaktiv und programmatisch agierende soziale oder genauer gesagt literarische Aufsteigerin. Zugute kam ihr ferner ihr Werdegang sowie ihr ‚nomadischer‘ Lebensstil, die einem derzeitigen Trend in der Weltliteratur-Debatte an nicht verwurzelten, kosmopolitischen Autor*innen entsprechen. Nicht zuletzt sind es ebenso die wiederkehrenden Referenzen zu literarischen Größen, in diesem Fall zu Bolaño, sowie eine gegenwärtige Feminisierung des weltliterarischen Korpus, die sich als vorteilhaft für eine Anerkennung Luisellis als Weltautorin auswirkten. Ganz anders verhält es sich mit Herbert. In den untersuchten Materialien ist an keiner Stelle ein Bezug zur gegenwärtigen Weltliteratur-Debatte ausmachbar, weder vonseiten der Literaturkritik oder der Medien noch durch ihn selbst. Vielmehr überwiegen die Darstellungen Herberts als sozialer Außenseiter beziehungsweise als Sonderfall eines sozialen Aufsteigers, als welchen er sich auch selbst sieht. Sein literarisches Ansehen scheint eher zufällig in sein Leben getreten zu sein, wofür sein beruflicher Werdegang wie auch sein Zugang zur mexikanischen Mittelklasse über die ‚Hintertür‘ sprechen. Die Analyse von Herberts Aussagen lässt des Weiteren darauf schließen, dass Herbert mit seiner Position als peripherer Schriftsteller, der vom Rand beziehungsweise vom Globalen Süden aus das literarische Geschehen kommentiert, ‚zufrieden‘ ist und im Gegensatz zu Luiselli nicht danach strebt, Teil des weltliterarischen Zentrums zu sein. Ein zusätzlicher Beleg hierfür ist seine von mexikanischen Regionalismen geprägte Sprache, die nicht uneingeschränkt jedem*jeder Leser*in zugänglich ist. Die im Rahmen des Unterkapitels analysierten Interviews illustrierten zudem deutlich die eingangs benannte Ko-Konstruktion (weltliterarischer) Autorschaft, zu der neben Akteur*innen des literarischen Feldes wie der Literaturkritik, der Presse, dem Verlagsmarketing vor allen Dingen auch die Autor*innen selbst durch ihre Inszenierungen in der (medialen) Öffentlichkeit beitragen. Welche Rolle die innerlite-

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rarischen Autorfiguren Luisellis und Herberts in ihren literarischen Werken bei diesem Konstruktionsprozess spielen und inwiefern diese zum Bild des*der Weltautor*in passen, soll die nachfolgende Untersuchung der beiden internationalen Debüts Papeles falsos und Canción de tumba ermitteln.

4.1.2 Intratextuelle Ebene Der Fokus der Analyse der literarischen Debüts Papeles falsos (2010) und Canción de tumba21 (2011) liegt auf ihrem Inhalt, Stil, ihrer Sprache und Form sowie den ihnen inhärenten Autorfiguren. Letztere sollen im Zuge dessen in einen Dialog zu ihren faktischen Schöpfer*innen auf extraliterarischer Ebene, den Schriftstellerpersonen selbst, und in Beziehung zu der aktuell geführten Weltliteratur-Debatte gestellt werden. Auf diese Weise soll ermittelt werden, inwiefern Luisellis literarisches Werk etwas genuin ‚Weltliterarisches‘ beinhaltet, das die Literaturpresse dazu veranlasst, sie als Weltautorin zu bezeichnen, während Herberts Schreiben ebensolche Charakteristiken nicht aufweist. 4.1.2.1 Inhaltsanalyse Canción de tumba Der Roman Canción de tumba hat seinen Ausgangspunkt in dem sich über Monate erstreckenden Abwarten und Ausharren Herberts am Sterbebett seiner im Endstadium an Leukämie erkrankten Mutter in einem Krankenhaus von Saltillo, Coahuila, Mexiko. Diesem folgt eine Reflexion über sein bisheriges Privat- und Schriftstellerleben sowie der problematischen Beziehung zu seiner Mutter („Hospital Universitario de Saltillo, octubre de 2008/Lamadrid, Coah., marzo de 2011“ (Herbert 2011: 206 [Herv. i. O.])). Der äußerst knappe inhaltliche Abriss erweckt den Anschein, Canción de tumba zeichne sich weniger durch eine aktive Handlung, denn durch die Rückwärtsgewandtheit oder Retrospektion der Erzählerfigur aus. Das dem nicht so ist, verdeutlicht der Verlauf des Romans, durch ein Auf und Ab, anders ausgedrückt durch das bewegte und zuweilen ausschweifende Leben der Erzählerfi-

21 Streng genommen lieferte Herbert sein Romandebüt bereits 2004 mit Un mundo infiel. Allerdings erhielt der Roman, den Herbert erstmals bei einem kommerziellen Verlag veröffentlichte, zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung, wegen der noch jungen Schriftstellerkarriere, international keine Beachtung. Erst 2016 wurde Un mundo infiel durch die Neuauflage des spanischen Verlages Malpaso Ediciones einem Lesepublikum außerhalb Mexikos zugänglich. Darüber hinaus erfuhr der Roman im Gegensatz zu Canción de tumba wenig positive Kritik (vgl. Hernández Acosta 2019: 41) Deswegen fiel meine Wahl in Herberts Fall nicht auf seinen tatsächlich zuerst erschienenen Roman, sondern auf Canción de tumba.

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gur sowie durch die Auswirkungen der Krankheit der Mutter auf deren derzeitige und zukünftige Lebensführung und Schriftstellerarbeit. Canción de tumba kann in drei große Teile gegliedert werden: „I don’t fukin’ care about spirituality“ (1), „Hotel Mandala“ (2) und „La vida en la Tierra“ (3), die sich ihrerseits in verschiedene Unterkapitel gliedern lassen. Im ersten Teil schildert die Erzählerfigur in Analepsen ihre Familiengeschichte. Der autodiegetische Erzähler berichtet aus seiner Kindheit sowie dem Leben und der Arbeit seiner Mutter. Der zweite Teil der Handlung ist in Berlin und Havanna verortet. Wohingegen die Erzählerfigur die erste Reise aufgrund einer Einladung zu einem Poesiefestival unternimmt, gleicht letztere, wenn auch ursprünglich angetreten aus gleichen Motiven, einem rauschhaften ekstatischen Trip. Auf diesem verliert sich die Erzählerfigur stellenweise in einem geradezu fieberhaften bis fantastischen Delirium. Der abschließende Teil ist dagegen erneut in Mexiko angesiedelt. Nach dem Tod der Mutter und der Geburt des dritten Sohnes zieht die Erzählerfigur einen dicken Strich unter ihre Vergangenheit und startet in ein neues (Familien-)Leben. Den Dreh- und Angelpunkt des Romans bildet der drohende Tod der Mutter, der zugleich aber auch als Fundament dient, auf dem Herbert den Roman aufbaut. Das spiegelt sich in den immer wiederkehrenden und absurd bis zu grotesk anmutenden, auf der Metaebene zu verortenden, Reflexionen Herberts über die Entwicklung und Zukunft des Romans wider, sollte seine Mutter, wider Erwarten und der Prognose der Ärzte und Ärztinnen entgegen, nicht versterben (vgl. Herbert 2011: 38, 40, 42): „¿Y si mamá no muere? ¿Valdrá la pena haber dedicado tantas horas de desvelo junto a su cama, un estricto ejercicio de memoria, no poca imaginación, cierto decoro gramatical; valdrá la pena este archivo de Word si mi madre sobrevive a la leucemia … ?“ (Herbert 2011: 39). Die Krux bei der ganzen Sache ist, dass durch den Verlust des Fundaments in gewisser Weise der eigentliche Sinn des Textes verloren gehen würde, wodurch Herberts Romangerüst beziehungsweise -projekt in sich zusammenstürzen würde: „Por eso este libro (si es que esto llega a ser un libro, si es que mi madre sobrevive o muere en algún pliegue sintáctico que restaure el sentido de mis divagaciones) se encontrará eventualmente en las librerías archivado de canto en el más empolvado estante de ‚novela‘“ (Herbert 2011: 86). Durch diese narrative Strategie erzeugt Herbert Spannung bei den Leser*innen: „Esto que escribo es una pieza de suspenso. No por su técnica: en su poética. No para ti sino para mí. ¿Qué será de estas páginas si mi madre no muere?“ (Herbert 2011: 38). Dafür, dass Herberts Mutmaßungen über ein mögliches Scheitern seines Buchprojektes nicht zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung wurden, spricht die außerliterarische, faktische und materielle Existenz des literarischen Textes,

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wie ihn die Leser*innen als ein Stück Gewissheit im Buchformat in ihren Händen halten und er die Basis für die der Arbeit zugrundeliegende Analyse bildete. Herberts Hypothese, sein zukünftiges Buch werde unbemerkt bleiben und in der Kategorie Roman in den Buchhandlungen verstauben, bleibt dadurch eine Gedankenspielerei, die sich ebenso nicht bewahrheitete, was nicht allein die zahlreichen Rezensionen in Literaturzeitschriften, die Übersetzungen ins Französische, Italienische, Portugiesische und Englische sowie die Auszeichnung des Romans mit Literaturpreisen unterstreichen. Als die zentrale Eigenschaft des Romans kann dessen Unmittelbarkeit der Entstehung gelten. Diese wird dadurch evoziert, dass der Schreibprozess des Romans (scheinbar) parallel zur Handlung verläuft und die Erzählzeit sowie die erzählte Zeit simultan zu verlaufen scheinen (vgl. Parra 2012: 97): „Cada vez que uno redacta en presente […] está generando una ficción, una voluntaria suspensión de la incredulidad gramatical“ (Herbert 2011: 86). Der Schaffensprozess wird durch immer wiederkehrende metareflexive Passagen des Erzählers und Autors deutlich sowie durch dessen Zweifel an seinem eigenen Schaffen: „Julián Herbert es origen y efecto del discurso narrativo de Canción de tumba“ (Sánchez Becerril 2013: 113). Durch die Reflexion über seine Schreibpraxis und die angewandten Erzähltechniken macht Herbert den Konstruktionsprozess des Romans (im Roman) transparent und bringt zugleich seine Besorgnis über eine mögliche Lesart seines literarischen Textes zum Ausdruck (vgl. Saavedra Galindo 2019: 99 f.). Das Gefühl von Simultaneität von Kreation und Lektüre wird überdies durch die direkte Ansprache der Erzählerfigur an implizite Leser*innen erzeugt: Tengo una visión material de lo que esto es: un texto. Una estructura. Una estructura, debo añadir, a la que le he insuflado cierto aire trágico. ¿Y si mamá no muere? ¿Seré justo contigo, lector (así llamaban los ególatras del siglo XIX a este filón a través de una redacción que carece de obelisco: un discurso plasma … ? (Herbert 2011: 42 [Herv. i. O.])

All das erinnert wiederum an die Überlegungen Julio Premats über die Verbindung von literarischem Werk und Autor*in (vgl. Premat 2006: 314). Das Werk, der Roman Canción de tumba, ist das Ergebnis von Herberts Schaffen, zugleich macht das Werk ihn aber auch erst zu dem, was er ist, einem Schriftsteller, wozu ihm einst auch einer der Liebhaber seiner Mutter riet: „Un día me dijo: –Tienes que mandar todo a la chingada y largarte de México. Porque tú vas a ser escritor. Y un escritor en este país no sirve de nada, es peso muerto“ (Herbert 2011: 22). Ferner kann diese Feststellung dahingehend interpretiert werden, dass, indem Herbert sein Leben, genauer gesagt die Agonie seiner leukämiekranken Mutter, zum Gegenstand und Ausgangspunkt seines Romans machte, ihn letztlich seine

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persönlichen Erfahrungen, vor allem die Geschichte seiner Mutter, dazu motivierten, zu schreiben: Estoy en la habitación 101 del Hospital Universitario de Saltillo escribiendo casi a oscuras. Escribiendo con los dedos en la puerta. Mi personaje yace yonkeado a causa de la Leucemia Mielítica Aguda (LMA, la llaman los doctores) mientras yo recopilo sus variaciones más ridículas. (Herbert 2011: 21)

Aufgrund des dem Roman inhärenten Schaffensprozesses sowie der Reifung des Protagonisten und Erzählers kann Canción de tumba als ein Coming-of-Agebeziehungsweise Bildungsroman bezeichnet werden. Diese Kategorisierung ist auch deshalb zutreffend, weil Herbert sich durch den Roman im mexikanischen literarischen Feld – wie auch international – als Schriftsteller etablierte. Ivonne Sánchez Becerril bezeichnet Canción de tumba wegen seiner zahlreichen intertextuellen, ironischen und parodischen Passagen auch als literarische Biografie und ordnet Herbert in eine Reihe literarischer internationaler und mexikanischer Größen ein: „[S]e sitúa dentro de una tradición tanto a través de las influencias que registra – Mann, Wilde, Ibargüengoitia, Cabrera Infante, etc. – como al formar parte de una comunidad de escritores – con Heriberto Yépez, Juan Carlos Bautista, Mario Bellatín, etc. –“ (Sánchez Becerril 2013: 118 f.). Des Weiteren verwebt die Erzählerfigur immer wieder geschickt die Handlung des Romans und damit ihre eigene Familiengeschichte mit Ereignissen aus der mexikanischen Geschichte des 20. und frühen 21. Jahrhunderts, wie der Bewegung der Eisenbahner oder der Entstehungsgeschichte des Universitätsklinikums von Saltillo, in dem ihre Mutter liegt: El autor consigue que los problemas familiares trasciendan el ámbito privado y sirvan de telón de fondo para la representación de la compleja vida mexicana actuala. La violencia, las migraciones laborales o sociales de toda índole, la prostitución, la exclusión, la necesidad de la aceptación, la familia, el machismo, se reproducen con virtuosismo convincente en este texto. (Saavedra Galindo 2019: 111)

In diesem Kontext verweist die Erzählerfigur auf aktuelle Entwicklungen im Norden Mexikos im Kontext des ‚Drogenkriegs‘. Dabei thematisiert sie den Zusammenbruch der gesellschaftlichen Netzwerke, die Macht der Drogenkartelle, die ausufernde und die staatlichen Behörden sowie den Alltag durchdringende Korruption und den Anstieg der Gewalt im öffentlichen Leben: En esta Suave Patria donde mi madre agoniza no queda un solo pliego de papel picado. Ni un buche de tequila que el perfume del marketing no haya corrompido. Ni siquiera una tristeza o una decencia o una bullanga que no traigan impreso, como hierro de ganado, el fantasma de un AK-47. (Herbert 2011: 27)

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In Anbetracht der gegenwärtigen Abkehr lateinamerikanischer Schriftsteller*innen von einer spezifischen Nationalkultur respektive -literatur, kann in diesem Fall auch Herberts ‚Pflichtgefühl‘ beziehungsweise ‚-bewusstsein‘ zu einer Stellungnahme zu soziopolitischen Themen seines ‚lieben Vaterlandes‘ mehr persönlich geprägt, denn als patriotisch motiviert, verstanden werden. Das Engagement jüngerer Schriftstellergenerationen, die sich einzig ihrem Schreiben gegenüber verpflichtet fühlen (vgl. Aínsa 2012: 13 f.), gilt deswegen primär der Literatur – so Herbert: „Tengo que admitir al mecanismo de la literatura pese a que muchos de mis espectadores lo consideran una lengua muerta: de otro modo, la intervención sería solamente una mancha tibia“ (Herbert 2011: 172). Zwar kann in Canción de tumba eine sublime und zwischen den Zeilen lesbare Kritik an der soziopolitischen Realität Mexikos zum Zeitpunkt des Entstehens des Romans gelesen werden, doch bildet diese nicht den Kern der Handlung. Sie ist, wenn auch notwendiger Bestandteil zur Kontextualisierung der Geschehnisse, nur zweitrangig. Deshalb handelt es sich bei Canción de tumba keineswegs um einen politisch engagierten Roman beziehungsweise bei Herbert um einen politisch engagierten Schriftsteller. 4.1.2.2 Inhaltsanalyse Papeles falsos Luiselli widmet sich in ihrem Essayband Papeles falsos dem klassischen Topos der literarischen Spaziergänge sowie der Figur der Flaneurin, wenn auch in ihrer Variante der Fahrradfahrerin. Genauso wie Herbert thematisiert auch Luiselli in den Eingangspassagen ihres Buchs den Tod, obschon aus Motiven, wie sie nicht unterschiedlicher sein könnten. Den Auftakt des Bandes markieren eine Reise der Schriftstellerin nach Venedig sowie die Suche nach dem Grab des US-amerikanisch-russischen Dichters und Nobelpreisträgers Joseph Brodsky. Die Reise führt sie auf die Friedhofsinsel San Michele, einem Friedhof, der laut Luiselli nicht zu den klassischen „intellektuellen Friedhofstourismuszielen“ (Luiselli 2010: 15 [Ü. d. V.]) zählt: Imaginé que encontraría por lo menos un puñado de groupies afanados en dejar un amuleto o un beso sobre la tumba de Brodsky. Pero quizás Brodsky sea menos célebre que Julio Cortázar o que Jim Morrison, y yo simplemente guardaba el mal sabor de boca que me habían dejado tiempo atrás los cementerios franceses. (Luiselli 2010: 17 f. [Herv. i. O.])

Ihre Bewunderung europäischer und US-amerikanischer Intellektueller sowie die Verfolgung ihrer Spur und ‚Huldigung‘ ihrer letzten Ruhestätte lässt sie zu einer jenen ‚Friedhofstourist*innen‘ oder Groupies werden, wie sie sie selbst nennt. Trotz des Umstands, dass Papeles falsos als Essayband klassifiziert wird, wofür die Veröffentlichung in der Programmreihe Ensayos Sexto Piso spricht, greift diese

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Genrezuordnung, bedingt durch die autofiktionale Prägung der Essays sowie die mehr einer literarischen Reisereportage oder crónica gleichkommenden narrativen Alltagsskizzen der Autorin, zu kurz. Nicht ohne Grund bezeichnet Luiselli den Band als Bildungsessay oder Coming-of-Age-Text. Einerseits gab sie mit Papeles falsos ihr literarisches Debüt, mit dem sie sich zunächst in Mexiko und in einem weiteren Schritt international einen Namen machte. Andererseits ist der Band ein Einschreibungsversuch hinsichtlich der Materie – Mexiko-Stadt sowie der mexikanischen Literaturtradition – und eine Aneignungsstrategie der spanischen Sprache (vgl. Neyra 2015 [Luiselli]). Luisellis Rückkehr in ihre Geburtsstadt Mexiko-Stadt, die zunächst, ihren Angaben in Interviews entsprechend, tatsächlich angedacht war, wurde durch ihren Umzug in die USA noch vor Fertigstellung der Essaysammlung zu einer rein literarischen Rückkehr: „[M]uchos escritores que viven fuera de su patria de origen, regresan ‚literariamente‘ a ella“ (Aínsa 2012: 154). Luiselli zählt damit zu den lateinamerikanischen Schriftsteller*innen, die außerhalb ihres Herkunftslandes wohnen und schreiben. Papeles falsos wird außerdem oft als der nicht fiktionale Vorläufer von Luisellis einem Jahr später erschienenen Roman Los ingrávidos (2011) bezeichnet, der dem Essayband nicht nur inhaltlich ähnelt, sondern dessen Erzählerin ebenso Parallelen zur Stimme der jungen Erzählerfigur in Papeles falsos wie auch zu Luiselli selbst aufweist (vgl. Neyra 2015 [Luiselli]). Papeles falsos besitzt keinen linearen Handlungsstrang. Generell sind die Episoden weniger durch Aktionen als durch Reflexionen der Erzählerfigur geprägt. Die insgesamt zehn Essays sind in sich abgeschlossen und getrennt voneinander lesbar. Jedoch stehen sie in thematischer Beziehung zueinander. Keinesfalls ist der Band als ‚bloße‘ Sammlung von losen Essays zu verstehen oder etwa, wie der mexikanische Schriftsteller David Miklos ausgehend vom Titel zunächst fälschlicherweise vermutete, eine Reihe wissenschaftlicher Schriftstücke der Autorin, in Anlehnung an das aus dem Englischen entlehnte Wort papers (vgl. Miklos 2011). Die kurzen, teils fragmentarischen Essays sind episodischen Charakters und beschreiben Stationen auf Luisellis Streifzügen durch die Stadtlandschaft von Venedig, New York, Mérida (Yucatán, Mexiko) und Mexiko-Stadt. Dabei handelt es sich um Orte, die ihr als Ausgangspunkte ihrer Reflexionen und Gedankenspiele dienen. Sie eint das Motiv des Flanierens, des Reisens und der Fortbewegung durch die städtische Architektur im urbanen Raum – sei dies zu Fuß, mit dem Fahrrad oder dem Flugzeug – mit Zwischenhalten in Buchhandlungen, Museen und Friedhöfen. Dabei sucht sie keineswegs bekannte oder besonders belebte Plätze auf, sondern ihre Faszination für Landkarten und Stadtpläne, die sich in den Zwischenüberschriften widerspiegelt, führt sie an abgelegene Orte und vergessene Plätze der genannten Städte, allen voran Mexiko-Stadt. Die Zwischen-

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halte und Leerstellen füllt sie mit (kunst)historischen und stadtgeschichtlichen Informationen sowie Überlegungen über die eigene Identität, die Sprache, das Schreiben, das Schriftstellerdasein und die Bibliophilie. Nicht selten verliert sie sich dabei in philosophischen Reisen und Reiseberichten, die weniger als geografisch, denn als gedanklich zu verstehen sind. Den Anfangs- und Endpunkt – den einführenden sowie den Band abschließenden Essay – bildet der schon thematisierte Besuch Luisellis an Brodskys Grab auf der Friedhofsinsel San Michele in Venedig („La habitación y media de Joseph Brodsky“, „Papeles falsos: la enfermedad de la ciudadanía“). In fast allen Essays bildet Brodsky eine wiederkehrende Referenz, was als Beleg für dessen Einfluss auf Luisellis Schreiben interpretiert werden kann. Die letzte Episode kulminiert darin, dass Luiselli sich bei ihren Spaziergängen durch Venedig eine Blasenentzündung zuzieht und befürchtet, in einem Grab neben Brodsky, wenn auch auf dem, dem ‚normalen‘ Bürgertum vorbehaltenen Teil des Friedhofs, zu enden. Durch diesen literarischen Schachzug reiht sich Luiselli geschickt in eine Linie mit den auf diesem Friedhof bestatteten Intellektuellen ein (vgl. Luiselli 2010: 107). Ferner bedient sie sich mit dem Topos des (möglichen) Todes in Venedig einem klassischen literarischen Motiv. So hätte sie beinahe in Venedig, der Stadt des Moribunden, das gleiche Schicksal erlitten wie der Protagonist von Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig (1910) – Ein Literat, der überraschenderweise nicht Teil ihres Fundus an literarischen Erfahrungen ist: „De seguro, lo mío era incurable y mi destino era morir en esa isla. Sería una especie de triunfal y súbita muerte en Venecia“ (Luiselli 2010: 103). Um dem Tod entgegenzuwirken, geht sie, auf das Anraten eines italienischen Freundes, der sie an ihre italienische Staatsbürgerschaft erinnert, mit ihm kurzerhand über Nacht eine eheähnliche Lebensgemeinschaft ein, um mittels ihres neu erworbenen venezianischen Aufenthaltssitzes die Vorteile des lokalen Gesundheitssystems zu nutzen (vgl. Luiselli 2010: 103–106). Zwei direkt mit dem Topos des Reisens in Verbindung stehendende klassische literarische und in den gegenwärtigen lateinamerikanischen Literaturen wiederkehrende Motive sind zudem das der Suche nach sich selbst sowie das der Nostalgie (vgl. Aínsa 2012: 144, 167). Mit beiden setzt sich Luiselli in Papeles falsos ausgiebig auseinander. Auf erstere verweist bereits der Titel Papeles falsos. Dementsprechend ist die Suche nach der eigenen Identität, die Ich-Einschreibung in den Text, wie ein roter Faden in allen zehn Essays präsent (vgl. González Arce 2016: 4). Dem Motiv der Nostalgie in seiner portugiesischen Entsprechung saudade, einem nicht ohne weiteres übersetzbaren Begriff, auf den sie in einer Buchhandlung stößt, widmet Luiselli einen kompletten Essay („Dos calles y una

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banqueta“). Ihre bildhaften Übersetzungsversuche und die damit verbundenen Wort- und Klangspiele ins Englische, Deutsche, Finnische, Isländische, Polnische, Tschechische und Galizische beziehungsweise Spanische, von denen keine die eigentliche, intrinsische Bedeutung des portugiesischen Wortes vollkommen richtig treffen mag, haben fast schon poetischen Charakter: La saudade no es homesickness ni es heimweh. El kaihomielisyss finlandés, aunque recuerde a home y a miel, expresa solo su dimensión más invernal. El sökundur islandés es seco, el tesknota polaco apenas la toca; al lack inglés le falta algo, el stesk checo se encoje; y en el ihaldus estonio la ‚h‘ es helada. La morriña rueda hacia ella como una piedra de trayectoria asintótica. Los brazos largos del longing no la alcanzan. En Sehnsucht se demora demasiado una ‚e‘. La saudade no es nostalgia y no es melancolía: quizá la saudade tampoco sea saudade. (Luiselli 2010: 46 [Herv. i. O.])

Die Reflexionen über die Nostalgie und Melancholie können wiederum in einen größeren extraliterarischen Zusammenhang mit Luisellis persönlicher Wurzellosigkeit und dem ebenso in Papeles falsos thematisierten ‚Odysseus-Syndrom‘ der Migrant*innen, zu denen auch Luiselli als in den USA lebende Schriftstellerin zählt, gestellt werden (vgl. Luiselli 2010: 49). Auf ebendiese Nostalgie als Grundgefühl und Konstante der Schriftsteller*innen ohne festen Wohnsitz und ihren Versuch, in ihrem Schreiben diesem sprachlich Ausdruck zu verleihen, verweist Fernando Aínsa in seinen Überlegungen zum Stand der gegenwärtigen lateinamerikanischen Literaturen: „[S]e exaltan y revalorizan formas de la nostalgia, esas figuras de la morriña, la saudade, la homesickness, la Heimweh, la rodina que acumulan en cada idioma […] un matiz diferente de desagarrada intimidad“ (Aínsa 2012: 144 [Herv. i. O.]). Mit Papeles falsos trifft Luiselli dementsprechend den Nerv der Zeit. 4.1.2.3 Autofiktion in Canción de tumba und Papeles falsos Obwohl es sich auf den ersten Blick bei Canción de tumba und Papeles falsos um zwei verschiedene literarische Textsorten handelt, können beide in gewisser Weise als Prosatexte bezeichnet werden. Des Weiteren ähneln sich die Bücher in der Hinsicht, dass beide Züge des hybriden und bisher noch nicht vollkommen konsolidierten Genres Autofiktion aufweisen (vgl. Negrete Sandoval 2015: 230). Zum Ausdruck kommt die autofiktionale Tendenz der literarischen Debüts in unterschiedlicher Form und Ausmaß. Allerdings kann in beiden Fällen eine Homonymie von Autor*in, Figur und Erzähler*in ausgemacht werden. Dementsprechend treten beide Schriftsteller*innen namentlich auf intraliterarischer Ebene in Form eines*einer autodiegetischen Erzähler*in in Erscheinung: „El nombre propio representa la entrada triunfal del autor, es el primer indicador de la identidad

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autor-narrador-protagonista (para los relatos en primera persona) […], así como de la tensión adentro-afuera, realidad-ficción“ (Negrete Sandoval 2015: 232). Im Roman Canción de tumba bekommen die Leser*innen bereits in der ersten Hälfte des Romans die Vermutung über die Namensidentität von Erzähler, Figur (Protagonist) und Autor bestätigt. Entscheidend ist hierfür die Szene, in der der Erzähler und Protagonist seine Ausweisdokumente erneuern lässt („De niño me llamaba Favio Julián Herbert Chávez“ (Herbert 2011: 78)). In Papeles falsos erfolgt diese Gewissheit erst auf den letzten Seiten, als die Essayistin bei ihren Spaziergängen durch Venedig an einer Blasenentzündung erkrankt („Eres hipocondríaca, Luiselli […]“ (Luiselli 2010: 105) und befürchtet, an den Folgen dieser zu sterben. Das wird durch einen Grabstein mit der Inschrift ihres Namens und Geburtsjahres verdeutlicht („Valeria Luiselli (1983-)“ (Luiselli 2010: 106)). Bei Canción de tumba, das sich durch ein Wechselspiel von Autobiografie und Roman und damit einer Vermischung von Realität und Fiktion auszeichnet, ist es nicht nur der Name, den der Protagonist und Erzähler mit dem Autor teilt. Darüber hinaus sind die biografischen Eckdaten deckungsgleich mit Herberts Angaben in den im vorausgehenden Kapitel analysierten Autoreninterviews. Hierzu zählen sein Alter („Yo estoy cerca de los treinta y ocho“ (Herbert 2011: 28)), der Geburtsort („Nací el 20 de enero de 1971 en la ciudad y puerto de Acapulco de Juárez, Guerrero“ (Herbert 2011: 78)), seine zeitweilige Drogenabhängigkeit (vgl. Herbert 2011: 79)) oder seine Familiensituation („Tuve siete mujeres – Aída, Sonia, Patricia, Ana Sol, Anabel, Lauréline y Mónica – y muy escasas amantes ocasionales. He tenido dos hijos: Jorge, que ahora tiene diecisiete, y Arturo, de quince“ (Herbert 2011: 79); „Conocí a Mónica. Tuvimos un hijo. Murió mi madre“ (Herbert 2011: 197)). In Papeles falsos sind die Angaben zu Luisellis Person eher sublim und weniger genau, was sicherlich auch daran liegt, dass es sich eher um einen Essayband als um einen Roman handelt22. Dennoch erfahren die Leser*innen von Luisellis geografischer Mobilität in der Kindheit („Vivíamos en Centroamérica y si alguien había llegado hasta China, yo podría llegar a México“ (Luiselli 2010: 51)), ihrem Philosophie-Studium („¿No estudiaste tú filosofía?“ (Luiselli 2010: 95)), ihrer italienischen Staatsbürgerschaft („al día siguiente haríamos buen uso de mi pasaporte italiano“ (Luiselli 2010: 105)) sowie der Tatsache, dass sie Raucherin ist (vgl. Luiselli 2010: 16, 84, 94). 22 Luiselli schreibt sich durch die Wahl des Genres literarischer Essay für ihr literarisches Debüt Papeles falsos (bewusst) in eine in Mexiko vorhandene und tief verwurzelte literarische Tradition ein, zu deren bekanntesten Vertreter literarische Größen wie Carlos Fuentes oder Carlos Monsiváis zählen (vgl. Echazarreta 2013).

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Wenngleich nicht auf den ersten Blick sichtbar, spielt auch der Aspekt Körperlichkeit und damit das Körperliche der Erzählerin beziehungsweise des Erzählers eine wesentliche Rolle. In diesem Zusammenhang ist speziell die Verknüpfung von Körper und Geschlecht bedeutsam. Interessanterweise leiden sowohl die Erzählerin von Papeles falsos als auch der autodiegetische Erzähler von Canción de tumba unter ‚etwas‘: In Canción de tumba ist es der Konsum von Drogen und Alkohol, unter dem der Protagonist leidet, obschon er diese aktiv und damit bewusst, wenn auch mit selbstzerstörerischer Tendenz, konsumiert. In Papeles falsos ist es dagegen die besagte Blasenentzündung, die sich die Protagonistin zuzieht und die ihre Pläne durchkreuzt. Der Rausch, wie ihn der maßlose Konsum von Drogen und Alkohol hervorruft, und die damit einhergehende größere Risikobereitschaft sowie die Sehnsucht nach Grenzerfahrungen werden gemeinhin als ‚männlich‘ konnotiert. So kann durch diese auch Macht (über den eigenen Körper) ausgeübt und Stärke demonstriert werden. Die Blasenentzündung ist dagegen ein Leiden, das vorrangig Personen weiblichen Geschlechts widerfährt und das noch dazu eine Gefahr für die ‚weibliche Reinheit‘ darstellt. Was sagen diese Angaben nun über die jeweiligen Autorfiguren aus? Gibt es etwas in Luisellis Schreiben, ihrer Essaysammlung, das sie als Schriftstellerin für eine Ernennung und Etablierung als Weltautorin prädestiniert? Inwiefern unterscheidet sich Herberts Schreibweise von der Luisellis oder wodurch ‚verwehren‘ er und sein literarisches Werk sich gegebenenfalls einer weltliterarischen Rezeption? 4.1.2.4 Herberts Autorfigur und -bild in Canción de tumba Der autodiegetische Erzähler von Canción de tumba weist, wie bereits erwähnt, etliche übereinstimmende Merkmale mit seinem Schöpfer, dem Autor Julián Herbert, auf. Auch in der Handlung des Romans können etliche Parallelen zu Herberts extraliterarischem, persönlichem Werdegang als Schriftsteller ausgemacht werden: „Desde la primera página el escritor involucra al lector en un juego de identidades calculadas para confundir o incluso fundir a la persona (narrador) con el personaje (autor); es decir, una fusión del yo narrativo y del yo autorial“ (Saavedra Galindo 2019: 91 [Herv. i. O.]). Anhand der Selbstbeschreibungen der Erzählerfigur kann das Autorbild Herberts rekonstruiert werden, wie es den Leser*innen in Canción de tumba vermittelt wird. Die Autorfigur, die Herbert von sich in Canción de tumba konstruiert, ist nahezu die vollkommene – obschon fiktionale – Verkörperung seiner selbst, sowohl körperlich als auch sprachlich. Dennoch sind die Angaben und Charakteristika

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im Text weder 1:1 auf den extraliterarischen Herbert übertragbar noch erschafft Herbert im Roman ein reales Abbild seiner Selbst. So darf nicht vergessen werden, dass es sich hierbei um einen (auto)fiktionalen Text handelt, für den eine Vermischung von fiktionalen und autobiografischen Elementen charakteristisch ist, wie es die Erzählerfigur selbst im Roman konstatiert: „Así, desde la fiebre o la psicosis, es relativamente válido escribir una novela autobiográfica donde campea la fantasía. Lo importante no es que los hechos sean verdaderos: lo importante es que la enfermedad o la locura lo sean“ (Herbert 2011: 171). Bei der Lektüre ist demgemäß nicht mehr klar ersichtlich, was tatsächlich geschehen ist und wo es sich um Fiktion handelt. Das gleiche Wechselspiel vollzieht sich auf der Ebene des Erzählers, der Figuren sowie des Autors. Auch hier kann keine trennscharfe Unterscheidung mehr getroffen werden: „La propuesta y la práctica autoficcional confunden de manera más o menos consciente persona y personaje, insinuando paradójicamente que este es y no es el autor“ (Musitano 2010: 5). Die Selbstbeschreibungen der Erzählerfigur in der ersten Hälfte des Romans können am Schnittpunkt der sozialen Klasse sowie der Ethnie verortet werden. Fast alle beziehen sich auf ihre Herkunft sowie ihren Werdegang, was wiederum als typisch für einen Bildungsroman gesehen werden kann. Impulsgeber für die Selbstreflexionen des autodiegetischen Erzählers ist, wie schon genannt, die Leukämiediagnose der Mutter, von der er sich zuletzt distanziert hatte und nun mittels der retrospektiven Betrachtungen sowie dem Schreiben erneut annähert: „Escribo para transformar lo perceptible. Escribo para entonar el sufrimiento. Pero también escribo para hacer menos incómodo y grosero este sillón del hospital. Para ser un hombre habitable (aunque sea por fantasmas) y, por ende, transitable: alguien útil a mamá“ (Herbert 2011: 39). Auch wenn das Schreiben keine Genesung der Mutter möglich macht, wohnt dem Schreibprozess dennoch etwas Selbstheilendes wie auch Versöhnendes hinsichtlich der Vergangenheit und der schwierigen Beziehung zur Mutter der Erzählerfigur inne: „Quiero aprender a mirarla morir. No aquí: en un reflejo de tinta negra“ (Herbert 2011: 39). Durch das Schreiben gibt die Erzählerfigur dem Ausharren am Krankenbett der Mutter Sinn. Gleichzeitig dient das Schreiben der retrospektiven Sinnbildung hinsichtlich der eigenen Vergangenheit: „Mientras pueda teclear podré darle forma a lo que desconozco y, así, ser más hombre. Porque escribo para volver al cuerpo de ella: escribo para volver a un idioma en que nací“ (Herbert 2011: 39). Um diesen Aussöhnungsprozess mit sich selbst und ihrer Vergangenheit abschließen zu können, muss die Erzählerfigur daher ganz von vorne, konkret

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gesprochen in der Kindheit beginnen. Ihr Tonfall changiert dabei zwischen Geringschätzung, Fatalismus und Selbstironie. Die Arbeit seiner alleinerziehenden Mutter als Sexarbeiterin, die damit in Verbindung stehende ökonomische Unsicherheit und die ständigen Wohnsitzwechsel beschreibt Herbert in der Gestalt als Erzählerfigur als prägende Kindheitserlebnisse: „Pasé mi infancia viajando de ciudad en ciudad, de putero en putero, siguiendo las condiciones nómadas que le imponía a nuestra familia la profesión de mamá. Viajé desde el sur profundo, año con año, armado de una ardiente paciencia, hacia las espléndidas ciudades del norte“ (Herbert 2011: 78). Diese Erfahrungen ließen ihn rückblickend zu einer stets reisenden, nie ruhenden „Bestie“ werden: „Soy una bestia que viaja, hinchada de vértigo, de sur a norte. Mi tránsito ha sido un regreso desde las ruinas de la antigua civilización hacia la conquista de un Segundo Advenimiento de los Bárbaros: bon voyage; Mercado Libre; USA; la muerte de tu puta madre“ (Herbert 2011: 79). An dieser Stelle zwingt sich ein Vergleich zu dem Mexiko von Süden nach Norden durchquerenden Güterzug auf, der im informellen Sprachgebrauch auch den Beinamen „la bestia“ trägt, und auf dessen Rücken unzählige Migrant*innen die rund 3.000 Kilometer lange Strecke in die USA zurücklegen. Das Verhältnis der Erzählerfigur zu ihrer Mutter weist Züge einer Hassliebe auf. Umso ambivalenter sind die Wechsel zwischen Reue („¿Y si mamá no muere? […] La pregunta sola me convierte en una puta de lo peor.“ (Herbert 2011: 39)) und Aversion ihr gegenüber: „Que una voz repetía en mi cabeza: por su culpa eres white trash. Que otra voz se burlaba: pero si no eres blanco eres un indio patarrajada un prieto con apellido extranjero una burla, biológica un vil mestizo pero sí: pero sí: una basura“ (Herbert 2011: 44). Die in ihrem Kopf wettstreitenden und ihre Mutter anklagenden Stimmen sowie die daraus resultierende gegenseitige Verachtung der jeweiligen anderen Seite repräsentieren die intersektionale Überschneidung von sozialer und ethnischer Herkunft in der Person der Erzählerfigur als „mestizo“ mit durch den Vater bedingten ausländischem Nachnamen. Auf der einen Seite steht die in den USA gebräuchliche abwertende Bezeichnung „white trash“ für weiße Angehörige der Unterschicht, auf der anderen Seite befindet sich die diskriminierende mexikanische Bezeichnung „indio patarrajda“ für Indigene. Das ‚Endprodukt‘ ist für die Erzählerfigur nichts als Müll. In einer Traditionslinie zu ihrer Mutter stehend und deren Spuren folgend, sieht sich auch die Erzählerfigur im übertragenen Sinne als „puta“, wenn auch des Establishments beziehungsweise des mexikanischen Staates: „No hay que olvidar que soy una puta: tengo una beca, el gobierno mexicano me paga mes con mes por escribir un libro“ (Herbert 2011: 42).

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Als Stipendiat des FONCA (Fondo Nacional para la Cultura y las Artes), einem Förderprogramm des mexikanischen Kultusministeriums zur Unterstützung junger Schriftsteller*innen, ist Herbert und somit auch sein Schreiben abhängig von deren Zahlungen23. Im Argen liegt nicht nur die Beziehung zu seiner Mutter, sondern ebenso der Staat – Mexiko – und dessen soziales Gefüge stehen vor dem Zusammenbruch. Dieser vollzieht sich schlussendlich mit dem Tod der Mutter am Ende des Romans und dem Ausbruch der Gewalt in der mexikanischen Stadt Saltillo, Coahuila, dem Wohnort des autodiegetischen Erzählers: „Yo no sé si el país decidió irse por el drenaje de manera definitiva tras la muerte de mi madre o si, sencillamente, la profecía de Juan Carlos Bautista era más literal y poderosa de lo que tolera mi luto: ‚Lloverán cabezas sobre México‘“ (Herbert 2011: 188). Die Zerrüttung des Landes („la nación de los apaches“), das nun einer Nation Krimineller gleicht, steht dementsprechend in akzidenteller Analogie zum Zerfall der Familie der Erzählerfigur, was Herbert durch die Bezugnahme auf das ehemalige mexikanische Drogenkartell La Familia (Michoacana) verdeutlicht, die die einzige noch ‚funktionierende Familie‘, wenn auch nicht nach klassischem Muster, in Mexiko zu sein scheint: [B]ienvenido a la nación de los apaches. Cómete a tus hijos si no quieres que el cara pálida, that white trash, los corrompa. La única Familia bien avenida del país radica en Michoacán, es un clan del narcotráfico y sus miembros se dedican a cercenar cabezas. […] La Gran Familia Mexicana se desmoronó como si fuera un montón de piedras […] no queda más que puta y verijuda nada. (Herbert 2011: 26 f.)

In kausalem Zusammenhang mit der schwierigen Beziehung zur Mutter steht des Weiteren der Werdegang der Erzählerfigur. Die untragbaren Zustände in der Familie führten dazu, dass sich der autodiegetische Erzähler bereits in jungen Jahren von seiner Mutter distanzierte und von Zuhause fortging. Um auf eigenen Beinen zu stehen, war er gezwungen, jegliche Tätigkeiten, die ihm angeboten wurden, auszuüben (vgl. Herbert 2011: 82): „He trabajado – lo digo sin ofensa, parafraseando a un ilustre estadista que es ejemplo de la sublime idio-

23 Einem Tweet Luisellis zufolge, war es (auch) ihr nur dank der Unterstützung des FONCA möglich, ihre ersten beiden Bücher, darunter Papeles falsos, zu schreiben und abzuschließen: „Fue gracias al @FONCAMX que pude terminar Papeles falsos y escribir Los ingrávidos“ (Luiselli 2020). In einem Interview vom Juli 2020 betont Herbert erneut die Rolle des FONCA für mexikanische Schriftsteller*innen seiner Generation. Entscheidend für sie war nicht nur die finanzielle Unterstützung der Stipendiat*innen, sondern der damit verbundene Zugang zu einem bestehenden und stets wachsenden Netzwerk aus (Jung-)Schriftsteller*innen und der Kontakt zu Mentor*innen beziehungsweise bereits etablierten Autor*innen (vgl. Ortuño 2020 [Herbert]).

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sincrasia nacional – haciendo cosas que ni los negros [sic!] están dispuestos a hacer“ (Herbert 2011: 78 f. [Herv. i. O.]). Nicht allein sein beruflicher Werdegang war von unstetem Charakter, sondern ebenso sein Privatleben. Genauso waren auch seine intimen und familiären Beziehungen von Höhen und Tiefen geprägt: „Volví a Saltillo. Dejé la cocaína. Me casé con Ana Sol. Nos divorciamos. Volví a la cocaína. Viví con Anabel. Después con Lauréline. Traté de suicidarme. Dejé la cocaína. Conocí a Mónica. Tuvimos un hijo“ (Herbert 2011: 197). Seine von verrückten Zwischenfällen, Drogen- und Alkoholexzessen geprägte Kurzvita trägt der Erzähler, trotz ihrer absolut unkonventionellen biografischen Stationen, geradezu sachlich-nüchtern, fast schon stoisch vor. Beim Lesen mutet sie deswegen, nicht zuletzt wegen Herberts trockenen Humors in Gestalt der Erzählerfigur, beinahe gewöhnlich an: He sido adicto a la cocaína durante algunos de los lapsos más felices y atroces de mi vida. Una vez ayudé a recoger un cadáver de la carretera. Fumé cristal de un foco. Hice una gira triunfal de quince días como vocalista de una banda de rock. Fui a la universidad y estudié literatura. Perdí el concurso de aprovechamiento escolar cuyo premio era saludar de mano al presidente de la República. Soy zurdo. (Herbert 2011: 79)

Umso drastischer und niederschmetternder fällt dagegen das fatalistische Fazit aus, das der autodiegetische Erzähler mit Anfang zwanzig über sein erstes Lebensviertel zieht: „Noté con tristeza que había fracasado en mi intento de huir de casa; resulté un espécimen digno del diario de un estudiante de sociología que evalúa a los jóvenes descendientes de prostitutas“ (Herbert 2011: 84). Wenn Herbert auch nicht, wie im zitierten Abschnitt von ihm vermutet, zum Studienobjekt von Soziologiestudierenden wurde, so hat er mit seinem literarischen Werk sowie seinem ungewöhnlichen Lebenslauf für einen Schriftsteller dennoch die Aufmerksamkeit der (Literatur-)Wissenschaft für sich geweckt. Hierzu wäre es allerdings, laut der Erzählerfigur, fast nicht gekommen. Eine Depression veranlasste sie dazu, nach dem Gewinn eines mit 100.000 mexikanischen Pesos dotierten Literaturpreises, das gesamte Preisgeld für Rum und Kokain auszugeben, um sich umzubringen: „Quería aspirar hasta desfallecer. Mi plan se basaba en una mezcla de frivolidad y derrota – me pregunto si estas palabras no serán sinónimas – porque tras diez minutos de fama logré atisbar el límite de mi escritura“ (Herbert 2011: 88 f.). Nicht nur bezüglich des ersten literarischen Höhepunkts und gleichzeitig des persönlichen Tiefpunkts sind die Worte der Erzählerfigur von entwaffnender Ehrlichkeit, sondern auch in Bezug auf gescheiterte Romanprojekte (vgl. Herbert 2011: 112) oder die äußerst ‚pragmatische‘, frivole Entscheidung für einen Anthologie-Beitrag:

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Acepté enseguida escribir la historia de Román. No por dinero. Tampoco (aunque me gustaría decir que así fue) por pasión literaria o fidelidad a mis orígenes biológicos y políticos. Lo hice por lujuria: era un buen pretexto para incrementar mis visitas a Monterrey y fornicar con el ano de Renata. (Herbert 2011: 150)

Besagte Anfrage für einen Beitrag Herberts in einer Anthologie des FONCA über Gewalt in Mexiko mit dem Titel El libro rojo kann als Anspielung auf die reißerische Sektion nota roja der mexikanischen Tageszeitungen interpretiert werden, die tagtäglich über Morde und andere Gewalttaten bildreich und ausführlich berichtet (vgl. Herbert 2011: 148). Darüber hinaus kann sie als eine Kritik Herberts an einem derzeit dominanten, von Gewalt geprägten Mexikobild in der Literatur gesehen werden. Jene Literatur, deren Autor*innen außerordentlich produktiv sind, wird zumeist unter dem Konzept literatura norteña oder literatura fronteriza zusammengefasst (vgl. Marco González 2011: 104). Der Begriff literatura norteña ist als äußerst diffus zu begreifen. Vorrangig zählen hierzu die literarischen Werke all jener Autor*innen, die in Nordmexiko geboren wurden oder von dort aus schreiben. Eine weitere Definition fasst unter dem Konzept literatura norteña all jene literarischen Werke zusammen, in deren Handlung die US-amerikanische-mexikanische Grenze eine Rolle spielt, unabhängig der geografischen Herkunft der Autor*innen. Weniger thematisch als konzeptuell zu sehen, ist eine dritte Definition, die unter literatura fronteriza literarische Werke fasst, die die gattungstechnischen Grenzen überschneiden (vgl. Marco González 2011: 112 f.). Herbert wird, obwohl er sich gegenwärtig selbst nicht dieser literarischen Strömung zugehörig fühlt24, einerseits aufgrund seines Wohn- und Schreiborts, andererseits aber auch weil die Handlung von Canción de tumba in Nordmexiko situiert ist, häufig mit diesem Konzept in Verbindung gebracht. Stellvertretend für jene Etikettierung steht auch das Telefongespräch mit dem Verleger der Anthologie im Roman: „–Queremos invitarte – prosiguió el desconocido – a escribir uno de los pasajes. Tenemos confirmados ya a las grandes plumas: Monsiváis, Sergio García Rodríguez, Aguilar Camín … Pero queremos abrirnos a los jóvenes. Tú vives en Monterrey, ¿no? –En Saltillo“ (Herbert 2011: 148). Die Verwechslung von Herberts Wohnsitz, Monterrey anstelle von Saltillo, ist als Kritik Herberts an der Uninformiertheit des mexikanischen Literaturbe-

24 Herbert kommentiert, dass er sich als „escritor norteño“ betrachtete, bevor dieser Bezeichnung eine übertriebene Bedeutung beigemessen wurde beziehungsweise bevor sich die literatura norteña zu einer Modeerscheinung entwickelte. Aktuell sei seine Beziehung zum Norden Mexikos lediglich darauf beschränkt, dass er in diesem geografischen Kontext lebe, dies habe aber keine konkreten Auswirkungen auf sein Schreiben (vgl. Ortuño 2020 [Herbert]).

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triebs sowie dessen gemeinhin homogenisierendes Verständnis von literatura norteña zu sehen: Hablar de literatura norteña es igual de impreciso que hablar de literatura latinoamericana, pues entre Saltillo y Tijuana hay más de dos mil kilómetros. No obstante, sí existe un imaginario común cuyos principales detonadores son el paisaje, la presencia de grupos de delincuencia organizada y la frontera con Estados Unidos. (Pavón 2016)

Die Aufzählung mexikanischer literarischer Koryphäen, die als Kandidaten für die Anthologie gehandelt werden, machen den schweren Stand junger, noch unbekannter Schriftsteller*innen in Mexiko deutlich, die sich ‚abmühen müssen‘, um neben solchen intellektuellen Größen zur Geltung zu kommen. Selbst wenn die Veröffentlichung Herberts in einer Anthologie mit Intellektuellen wie Carlos Monsiváis als – bewusst von ihm platzierte – Würdigung seiner ‚literarischen Qualität‘ gelesen werden kann, scheint dieser – zumindest in Canción de tumba – ganz andere Pläne im Sinn zu haben. Weder Vertreter der literatura norteña noch nach Anerkennung strebender Jungschriftsteller, sieht sich Herbert in Gestalt der Erzählerfigur von Canción de tumba als Anhänger seiner mit einer Figur aus dem gescheiterten Romanprojekt entworfenen Philosophie des „hartista“: „‚Hartista‘ es un concepto que Bobo Lafragua y yo acuñamos para darle dignidad al oficio creativo más congruente de nuestro siglo: el hartazgo. Somos los opiatos testaferros de una vulgaridad que hace mil años era considerada sublime“ (Herbert 2011: 173). Auf der Philosophie des Anti-Künstlers und dessen ausschweifenden Lebensstils, wie hartista in etwa übersetzt werden kann, basiert Herberts Romanprojekt Canción de tumba, in dem er eine Entweihung des Konzeptes des Künstlers und in engerem Sinne des Schriftstellers unternimmt: „Tengo que escribir para que lo que pienso se vuelva más absurdo y real. Tengo que mentir para que lo que hago no sea falso. No pretendo chantajear a nadie con este proyecto: lo emprendí porque soy un hartista“ (Herbert 2011: 172 f.). Dieser Philosophie entsprechend, sind auch die abgeklärten, pragmatischen Worte der Erzählerfigur gegen Ende des Romans zu lesen, als diese vom Tod des Vaters erfährt. Eine Tatsache, die sie zum Vollwaisen macht: „Una voz embozada (la voz del hartista hijo de puta cínico y abusivo que soy) dijo entre mí: ‚Ahí tienes buen material para el cierre de tu novela. Maldije a Paul Auster y su poético sentimiento de azar‘“ (Herbert 2011: 198). Es ist die „aura de malditismo“ (Pavón 2016), die ‚Aura des Nonkonformisten‘, wie Laura Pavón sie bezeichnet, die mit der Lebensphilosophie des hartista zusammenhängt und Herberts Autorbild in Canción de tumba auszeichnet. Die Autorfigur, die Herbert in diesem Zusammenhang im Roman von sich entwirft, ist die des Exzentrikers und Außenseiters. Das macht ihn schlussend-

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lich für einen Literaturbetrieb außerhalb des literarischen Mainstreams und damit auch des Produktionszentrums in Mexiko-Stadt attraktiv (vgl. Pavón 2016). Zugleich führt dieses Grenzgängertum in seinem literarischen Werk aber wiederum dazu, dass er gemeinhin und fälschlicherweise unter das Konzept der literatura norteña subsumiert wird. Diese Zuordnung zu einem regionalspezifischen Genre wird allerdings weder der Handlung, den Themen noch dem Potenzial des Romans gerecht. 4.1.2.5 Luisellis Autorfigur und -bild in Papeles falsos Da es sich bei Papeles falsos um einen Essayband handelt, kann wegen seines gattungstypischen berichtenden Charakters, zweifelsfrei davon ausgegangen werden, dass es sich bei der in den Einzelessays präsenten autodiegetischen Erzählerin um Luiselli selbst handelt (vgl. González Arce 2016: 13). Inwieweit die Angaben zu ihrer Person den Tatsachen entsprechen und die beschriebenen Ereignisse, beispielsweise der Transatlantikflug, die Gespräche mit dem Portier des Studierendenwohnheims (vgl. Luiselli 2010: 94), die Lektüre auf einem Friedhof in Mexiko-Stadt (vgl. Luiselli 2010: 99) oder die Passepisode (vgl. Luiselli 2010: 105) sich faktisch zugetragen haben, bleibt hingegen durch die autofiktionale Tendenz der Essays ungeklärt. Dass es sich entgegen der Autoreferenzialität des Textes, wie sie Autobiografien eigen ist, nicht um ebensolche handelt, wird spätestens dann ersichtlich, wenn die biografischen Eckdaten über die Autorin auch bei fortschreitender Lektüre noch lückenhaft bleiben. Wie die Essays selbst sind die Angaben über die Erzählerin von Papeles falsos eher fragmentarisch, denn als vollständig zu begreifen. Trotz der Ich-Perspektive gibt die Erzählerin wenig über das dahinter verborgene Ich preis. Es sind die einzelnen Puzzleteile, die sich am Ende des Bandes mit der namentlichen Nennung der Autorin zu einem Ganzen, dem Autorbild Luisellis, zusammenfügen. Luisellis Autorfigur in Papeles falsos geht nicht nur wegen ihrer fast bis zum Ende des Buchs währenden Namenlosigkeit, sondern auch durch ihre sprachliche ‚Reinheit‘, das heißt die Entscheidung für eine ‚neutrale‘ Sprache ohne Mexikanismen, als Individuum verloren. Auffälligerweise sind in den einzelnen Essays kaum direkte Charakterisierungen vorhanden. Stattdessen wird ein Autorbild Luiselli mittels Vergleichen zu intellektuellen Persönlichkeiten – vornehmlich europäischen intellektuellen Männern – geschaffen: Escribir sobre la ciudad de México es una empresa destinada al fracaso. Ignorante de esto, durante mucho tiempo pensé que para escribir sobre el DF debía imitar la tradición: convertirme, a lo Walter Benjamin, en una connaisseuse de las banquetas, botánica de la

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flora urbana, arqueóloga amateur de las fachadas del centro y los anuncios espectaculares del Periférico. He intentado caminar como una petite Baudelaire por Copilco. (Luiselli 2010: 30 [Herv. i. O.])

Trotz ihrer Spazierfahrt mit dem Fahrrad durch die mexikanische Hauptstadt, bewegt sich Luiselli primär in der europäischen Kulturgeschichte auf den Wegen europäischer Flaneure, wie Walter Benjamin oder Charles Baudelaire, in dessen Traditionslinie sie sich auch selbst einreiht, wenngleich in mobilisierter Form. Weniger geht es ihr dabei um die Stadtbeschreibungen an sich, sondern mehr um den Akt des Flanierens. Diesen beschreibt sie in der Form, wie ihn Jean-Jaques Rousseau, Robert Walser, Charles Baudelaire, Siegfried Kracauer und Walter Benjamin ehemals begingen (vgl. Luiselli 2010: 33), als ein Ding des Unmöglichen in Mexiko-Stadt: „Pero lo cierto, es que ahora, en la poco caminable y apenas literaria ciudad de México, el peatón no puede salir a la calle con el mismo buen ánimo que declaraba Robert Walser al inicio de su paseo“ (Luiselli 2010: 39). Gut denkbar ist daher, dass in der, von Luiselli konstatierten, fehlenden Literarizität Mexiko-Stadts auch die Ursache begründet liegt, weshalb sie sich bei ihren Überlegungen kaum auf mexikanische Intellektuelle bezieht. Ihre Spaziergänge durch die Stadtlandschaft sind dabei keinesfalls ausschließlich als geografisch zu verstehen. Vielmehr unternimmt sie immer wieder Exkurse in die Literatur-, Stadt- und Architekturgeschichte: „No soy experta en la historia de la arquitectura, pero puedo afirmar con algún grado de confianza que el relingo es una derivación chilanga de otra idea: los terraines vagues del arquitecto catalán Ignasi de Solà-Morales“ (Luiselli 2010: 74 [Herv. i. O.]). Durch den Verweis auf Titel, die in ihrem Bücherregal stehen oder auf die sie in Buchhandlungen stößt, stellt Luiselli sich als äußerst belesen und bestens vertraut mit den weltliterarischen Klassikern dar (vgl. Luiselli 2010: 45, 66, 78, 83 f.): „Lo que me falta es un criterio: ¿Borges va después de Arlt, Poe, Stevenson o las Las mil y unas noches? ¿Pertenecen Shakespeare y Dante a la misma estantería?“ (Luiselli 2010: 85 [Herv. i. O.]). Interessanterweise bekennt sie sich zudem als (kritische) Zeitungsleserin, jedoch nicht etwa einer mexikanischen, sondern der spanischen Tageszeitung El País, für die sie zeitweise selbst wöchentliche Kolumnen schrieb: Un café, un periódico sobre la mesa: salto entre noticias de anteayer. Prendo un cigarro y paso a la selección de cultura. Entre un artículo escueto sobre aforismos de Lichtenberg y una pésima entrevista a Umberto Eco – infinita época de crisis de Babelia –, encuentro el último retrato de Marguerite Duras. (Luiselli 2010: 84 [Herv. i. O.])

Daneben tauchen im Text immer wieder, obschon nur bruchstückhaft, beispielsweise in Form einer wiedergefundenen Zugfahrkarte, Angaben zur Biografie und der geografischen Mobilität der Erzählerin beziehungsweise Luisellis

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auf: „[E]ncuentro entre su páginas un boleto de tren de mi adolescencia: Train No. 6346. Trivandrum Central to Victoria Central Station. One six zero Rupees only, no refunds please. Happy Journey“ (Luiselli 2010: 86 [Herv. i. O.]). Hierzu zählen sowohl ihr vorübergehender Aufenthalt in jungen Jahren in Zentralamerika mit ihrer Familie (vgl. Luiselli 2010: 51) wie auch ihr Studienaufenthalt in Indien: „Los recuerdos que tengo de Mumbai son fragmentarios, […] me visualizo en tercera persona, vestida siempre igual – vestido largo color amarillo perico, el pelo recogido en una mascada –, caminando por una misma calle […]“ (Luiselli 2010: 87). Auch Luisellis Italienischkenntnisse, verbunden mit der Tatsache, dass ihre Großeltern italienischer Herkunft waren, bleiben nicht unerwähnt: „Le pregunté, tímida y balbettando en mi italiano fracturado, si había conocido a Joseph Brodsky, y si lo había venido a visitar. ‚No, no – me dijo –, sono venuta per visitare il mio marito, Antonio‘“ (Luiselli 2010: 20 [Herv. i. O.]). Im Zusammenhang mit den Ausführungen über ihre Familie („[C]recer en una familia atea, liberal, comprometida pero nunca militante, tiene, en la gran mayoría de las personas, consecuencias devastadoras“ (Luiselli 2010: 101)), ihren Wohnsitzwechseln und den damit verbundenen Komplikationen bringt Luiselli die Frage nach der eigenen Identität zur Sprache. Luisellis Blick in den Spiegel offenbart nicht etwa ihr Äußeres, ihre Gesichtszüge oder ihre Mimik, sondern stattdessen zeigt sich dort ein lückenhaftes Gesicht im Auflösungsprozess: „Despierto con el rostro incompleto. […] Me estudio en el espejo del baño mientras me cepillo los dientes y trato de conectar la nariz con el entrecejo, el ojo derecho con su ojera irremediable, siempre más oscura que la del lado izquierdo: tengo un rostro lleno de huecos“ (Luiselli 2010: 84). In ihrem Gesicht haben sich palimpsestartig die Spuren und charakteristischen Züge ihrer noch lebenden und bereits verstorbenen Familienmitglieder eingeschrieben und ergeben, überlagert als Ganzes, das Gesicht Luisellis, das sich in einem fortdauernden Wandlungsprozess befindet: Veo los muchos rostros que me han hecho. El árbol genealógico de las facciones, las historias de la historia familiar en cada gesto. Hay una línea trazada por la alegría de mi madre, unas ojeras profundas como el cansancio de mi padre, un entrecejo atento que me imprimieron los dos. Hay una curvatura del labio: el desliz de alguna abuela; una mirada que recuerda a la soledad ultramarina de un abuelo; un gesto que es la demencia temprana de mi tía. Pero esta cara, como todas, no es sólo una colección de huellas; es también el bosquejo de un rostro futuro. (Luiselli 2010: 87 f.)

Obwohl es sich bei den vorausgehenden beiden Zitaten um Textstellen handelt, bei denen Luiselli klar die Grenzen zwischen Fiktion und Realität überschreitet, enthüllt Luisellis Blick in den Spiegel den Konstruktionscharakter ihrer eigenen Identität. Zusätzlich dazu verdeutlicht sie damit die Prozesshaftigkeit ihres Ichs, das keineswegs ein abgeschlossenes Sein verkörpert, sondern einen steten Pro-

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zess des Werdens und der Veränderung. Offensichtlich ist genau das der Grund dafür, weshalb die Angaben zu ihrer Person während der Lektüre ein keineswegs eindeutiges (Ab-)Bild von ihr ergeben: „Escribir ensayo, parece decir Valeria Luiselli, es, después de todo, una de tantas formas de inventarse a sí misma“ (González Arce 2016: 13). Ein weiterer wichtiger Punkt hinsichtlich der Konstruktion von Luisellis Identität in Papeles falsos ist die ‚mexikanische‘ Identität der Autorin, zu der sie sich im Text trotz ihrer transnationalen Biografie äußert: Aunque casi nunca tuvimos residencia fija en México y, gracias a un nonno lombardo, mi familia y yo tenemos la nacionalidad italiana, siempre supe que México era mi país – y no por un acto de fe auténtico, sino por una especie de pereza espiritual. […] Desde niña. acepté pasivamente el paquete completo de la mexicanidad, como muchos aceptan el cristianismo, el islam o la papilla. (Luiselli 2010: 101 f. [Herv. i. O.])

An ihrem ironischen Unterton und ihren vorgenommenen Vergleichen der ‚mexikanischen‘ Identität mit der unhinterfragten Zugehörigkeit zu einer Konfession oder der stillschweigenden Akzeptanz des Grießbreis, bringt sie unmissverständlich zum Ausdruck, dass es sich hierbei für sie eher um ein Banalität ohne große Bedeutung, denn um ein wirkliches Ausleben der ‚mexikanischen‘ Identität handelt. Die fehlende emotionale Bindung zu Mexiko wird außerdem durch eine Episode aus Luisellis Kindheit unterstrichen, in der ihr Vater für seine drei Töchter auf einem Grünstreifen in einem Randbezirk von Mexiko-Stadt drei Palmen pflanzen ließ. Als er sie seinen Töchtern später zeigen wollte, war die Palme, die er für Luiselli angedacht hatte, nicht mehr existent: „Si mi palmera no había arraigado, tampoco yo llegaría a ser nunca una heroica ciudadana a la sombra del segundo piso. Nunca echaría raíces en la ciudad de México, ese gran relingo de asfalto que le sobró, o le faltó, al país“ (Luiselli 2010: 102 f.). Die verschwundene, entwurzelte Palme in ihrer Kindheit steht dabei sinnbildlich und zukunftsweisend für Luisellis Wurzellosigkeit und fehlende Sesshaftigkeit in Mexiko. Diese erreicht ihren Höhepunkt in der besagten Passepisode am Ende des Essaybandes, in der sich Luiselli eine, in Teilen fiktive, neue ‚italienische‘ Identität verschafft: Me reconforta pensar que si muero malograda […] nadie me andará mandando a mi ‚verdadera patria‘, porque, sin un dejo de crisis identitaria y todavía pasivamente atea, habré asumida una falsa residencia permanente en la Serenísima República de Venecia, y estaré enterrada en algún relingo, no muy lejos de Joseph Brodsky, en la sección popular del cementerio San Michele. (Luiselli 2010: 107)

Durch diesen Akt verliert Luiselli nicht etwa ihre mexikanische Staatsbürgerschaft, sondern sowohl die ‚italienische‘ als auch ‚mexikanische‘ Identität machen ihre Person aus, auch wenn sie sich in keinem der beiden Länder wirklich zuhause

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fühlt. Auf diese Weise manifestiert Luiselli abschließend erneut die Komplexität ihrer eigenen, keinesfalls endgültig definierbaren beziehungsweise fixierbaren Identität. Selbstverständlich gehören zu den Bestandteilen, die Luisellis Autorfigur in Papeles falsos ausmachen, auch ihre Überlegungen über das Schreiben und die Schriftstellertätigkeit. Wie bei den Angaben zu ihrer Person geht es weniger um eine direkte Beschreibung ihrer eigenen Schriftstellertätigkeit. Vielmehr schafft Luiselli das Bild der ‚idealen‘ Schriftstellerin anhand von Querverweisen zu literarischen Größen. Dabei setzt sie ihre Messlatte in ihrem literarischen Werdegang von Anfang an hoch. Als eine ihrer Referenzen dient ihr der britische Schriftsteller G. K. Chesterton, in dessen Relation sie sich selbst als unbedeutend, unpoetisch und ‚untalentiert‘ darstellt: „Yo, que ni soy artista ni soy Chesterton […] Nunca he sido como esa clase de personas – a las que envidio profundamente – […]. Soy, desafortunadamente, demasiado impaciente para encontrar poesía en los ritmos suaves de la naturaleza.“ (Luiselli 2010: 16). Indem sie sich nicht als befähigte Künstlerin, sondern als ‚Normalsterbliche‘ bezeichnet, entsakralisiert sie in gewisser Weise die Schriftstellerarbeit. Zugleich kontrastiert sie die Dichtkunst und die Beobachtungsgabe der Dichter von der Arbeit der Prosaautoren, die sie als etwas Handwerkliches versteht, ähnlich der Arbeit eines Maurers: Pero las palabras no son plantas y, en todo caso, los jardines son para los poetas de corazón: los de corazón ajardinado. La prosa es para los que tienen espíritu de albañil. Escribir: taladrar paredes, romper ventanas, dinamitar edificios. Excavaciones profundas para encontrar – ¿encontrar qué? –, no encontrar nada. Escritor es el que distribuye silencios y vacíos. Escribir: hacerle hueco a la lectura. Escribir: hacer relingos. (Luiselli 2010: 79)

Bei der Literatur geht es ihr weniger um den Sinn für Konstruktion – den Abschluss eines Gebäudes, will heißen Buchs – als denn um die Dekonstruktion, die Schaffung von Freiraum im Text. Exemplarisch hierfür steht ihr eigenes fragmentarisches Schreiben in Anlehnung an den lückenhaften Architekturstil Mexiko-Stadts, den sie auf ihrer Fahrradtour durch die mexikanische Metropole ausmacht. Den Sprachwechsel der ihren Schreibstil, bedingt durch ihre Mehrsprachigkeit, kennzeichnet, beschreibt Luiselli als schwierigen, aber nicht unmöglichen Balanceakt des Schriftstellers: „El escritor, cuando no se siente en casa en su lengua, convierte las escamas en escaleras. Suba hasta la cumbre de su lenguaje, lo perfora desde dentro, camino como un equilibrista por el techo“ (Luiselli 2010: 68). Eine fast seitenfüllende Aufzählung von literarischen Klassikern sowie den literarischen Welten, die diese mit ihren Werken geschaffen haben, schließt den Essayband ab: „Existen escritores que inventan ciudades y se adueñan de épocas enteras con la empuñadura de la pluma y el filo de genio: el Londres de Chesteron y Johnson, el París de Rousseau o Baudelaire, el Dublín de Joyce […]“

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(Luiselli 2010: 106). Luisellis Faszination für die besagten Autoren sowie die Tatsache, dass sie sich selbst in einem Atemzug mit diesen, wenn auch an letzter Stelle, nennt, erwecken den Anschein, als wolle auch sie sich in jene Tradition einschreiben und das ‚Luisellische‘ Venedig beziehungsweise Mexiko-Stadt entwerfen. Die abschließende Reflexion Luisellis ist hingegen fast schon resignierend, wenn sie gesteht, dass sie keineswegs aufgrund ihres schriftstellerischen Talents zur (Ehren-)Bürgerin der Stadt Venedig wurde, sondern wegen einer banalen Blasenentzündung: Yo, que he ensayado sin el menor fruto algunas de estas cosas, tengo la dicha de ser residente en una de las ciudades más literarias y librescas, y no por la bendición de una pluma agraciada ni tampoco por fidelidad de las musas. Lo que es peor, ni siquiera por el sudor de la frente y del puño, sino a causa de una terrible – aunque muy frecuente, y por ende, muy vulgar – enfermedad de la vejiga: la innoble cistitis bacteriana. (Luiselli 2010: 106)

Trotz Luisellis wiederkehrender Skepsis und Vorbehalte gegenüber ihrem eigenen Schreiben, schafft sie von sich in Papeles falsos schlussendlich die Autorfigur der vielbelesenen, welterfahrenen Kosmopolitin, die sowohl in der Gegenwartsliteratur als auch auf dem weltliterarischen Parkett bewandert ist. Auf diese Weise entwirft sie ein Autorbild ihrerseits, das besonders für eine internationale – nicht vornehmlich mexikanische – Leserschaft viele Anknüpfungspunkte und Identifikationsmöglichkeiten bietet. 4.1.2.6 Lesbarkeit, Übersetzbarkeit und Stil von Canción de tumba Die vielen Wechsel der Zeitebenen sowie die metafiktionalen Passagen machen Canción de tumba zu einem komplexen, nicht immer leicht zu lesenden, wenngleich gut konstruierten Roman. Besonders der zweite Teil („Hotel Mandala“), im Speziellen die ekstatische, rauschhafte Reise der Erzählerfigur nach Havanna, stellt die Leser*innen vor eine Herausforderung und lässt sie stellenweise benebelt zurück. Wer nicht dem Schwindel verfällt, sondern sich auf Herberts formal interessanten und bisweilen experimentellen Schreibstil einlässt, erwartet eine anregende und spannende Lektüre. Die vielschichtige Lebensgeschichte seiner Mutter, die sich nachhaltig auf Herberts Werdegang auswirkte, schildert er jenseits von Klischees. Der Tod ist durch die Leukämiediagnose der Mutter omnipräsent im Roman. Bereits der Titel des Romans und dessen wohldurchdachtes Wort- und Klangspiel canción de tumba (dt. Grabeslied) – eigentlich canción de cuna (dt. Wiegenlied) – entwerfen ein Klangbild, das auf die enge Verbindung zwischen Sohn und Mutter und den kausalen Kreislauf von Wiege und Sterbebett verweist.

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Die zahlreichen inneren Monologe und retrospektiven Reflexionen schaffen eine melancholische Grundstimmung. Nichtsdestotrotz ist Herberts Umgang mit dem Tod im Roman gefasst und frei von Kitsch, Ressentiments oder Sentimentalität. An keiner Stelle versinkt er in verklärender Nostalgie oder Selbstmitleid. Stattdessen enthält sein Text viele sarkastische und provokative Elemente, die den stellenweise bissigen Humor Herberts zum Ausdruck bringen. Herbert bedient sich einer bildhaften Sprache. Seiner Prosa haftet etwas Musikalisch-Poetisches an. Deutlich ist erkennbar, dass in den Schreibprozess von Canción de tumba Ideen und Erkenntnisse aus der Musik, der Lyrik und der Populärkultur einflossen. Das ist nicht zuletzt auf die Tatsache zurückzuführen, dass Herbert über die Musik zur Literatur fand. Bis zur Veröffentlichung von Canción de tumba war er vorrangig als Lyriker und weniger als Prosaautor tätig, als welcher er sich auch selbst versteht: „‚Yo me veo como un güey que hace poemas“ (Llano 2014 [Herbert]). In einem direkten Zusammenhang damit stehen die intertextuellen Bezüge, sowohl in Form von Direktzitaten, Verweisen auf Referenzautoren als auch Liedzeilen (vgl. Herbert 2011: 40, 145, 148, 188). Diese zeugen von Herberts Belesenheit und seiner umfassenden literarischen Kompetenz. Sie können auch als Beleg für seine analytische Fachkenntnis hinsichtlich der Funktionsweise des mexikanischen literarischen Feldes und des Literaturbetriebs im Allgemeinen gesehen werden. Die Sprache des Romans ist entwaffnend direkt und keinesfalls wohlklingend. Als Erzähler und Protagonist von Canción de tumba nimmt Herbert ‚kein Blatt vor den Mund‘ und verhält sich alles andere als manierlich. Er beschönigt nicht. Dafür nennt er, ohne Umschweife oder Ausschmückungen, die Dinge beim Namen. Durch den Gebrauch einer vulgären, obszönen Sprache sowie durch die Zelebration eines exzessiven Lebensstils, der am ehesten mit dem Slogan sex, drugs and rock’n’roll umschrieben werden kann, fördert Herberts Autorfigur in Canción de tumba das gesellschaftlich dominante Konzept von Männlichkeit. Herberts Schreibstil zeichnet sich durch eine große Bandbreite an Sprachregistern aus: „[E]s una novela que toma prestado, que expropia, vampiriza, explota y roba directamente hablas de todos los registros verbales imaginables, pasados y presentes, para contar la historia humana que traza el recorrido de la vida desde la cuna a la sepultura“ (Saavedra Galindo 2019: 101). Slang, Vulgärsprache und umgangssprachliche Begriffe integriert er ebenso in seinen Text wie Mexikanismen: „En mi familia está permitido decir cualquier clase de maldiciones (pinche, cabrón, chingar, pendejo) pero están prohibidas las obscenidades (verga, culo, pedo, putero)“ (Herbert 2011: 130).

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Daneben zählt auch eine Reihe von Anglizismen zu Herberts sprachlichem Repertoire, die er ohne weitere Erklärungen in den Satzbau integriert. Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass dieser unvermittelte Sprachwechsel wie auch der Gebrauch von Anglizismen Teil des alltäglichen Sprachgebrauchs Nordmexikos wegen dessen geografischer Nähe zu den USA ist. Die (nord)mexikanische Varietät der spanischen Sprache sowie die vielen doppeldeutigen Wortspiele schränken zweifelsohne die Übersetzung, Zugänglichkeit und Lesbarkeit des Romans für ein nicht mexikanisches Lesepublikum ein. Hinzu kommt, dass die Handlung von Canción de tumba primär im Norden Mexikos verortet ist und Herbert immer wieder Bezüge zu dessen soziopolitischen und regionalgeschichtlichen Verhältnissen herstellt. Damit einher geht die – unzutreffende – Zuordnung zur literatura norteña, die wiederum die ‚Attraktivität‘ des Romans für ein internationales beziehungsweise weltweites Publikum bedingt. Bei diesem hinterlässt Herbert den missverständlichen (ersten) Leseeindruck, als schreibe er hauptsächlich für eine mexikanische, mit dem soziopolitischen Kontext bestens vertraute Leserschaft. Hieraus lässt sich schließen, dass es weniger der Inhalt des Romans als Herberts Stil ist, der sich einer Übersetzung und internationalen Zirkulation verwehrt. Nichtsdestotrotz stieß Herberts Roman auch im Ausland, nämlich in Brasilien, Frankreich und Italien, auf eine interessierte Leserschaft, wo dieser jedoch, anders als in Mexiko, in unabhängigen Verlagen veröffentlicht wurde, bei Rocco Editora (Brasilien), 13e note éditions (Frankreich) und Gran Via Edizioni (Italien). Diese Kleinverlage charakterisiert ihre Bereitschaft, ausländische Autor*innen, die außerhalb des literarischen Mainstreams zu verorten sind, zu veröffentlichen. Das sind häufig Autor*innen, die nicht zwingend den Massengeschmack bedienen und deren literarische Projekte aufgrund ihres noch fehlenden symbolischen Kapitals speziell bei den großen Verlagshäusern nur verschlossene Türen vorfinden (vgl. Gallego Cuiñas 2019b). Selbst wenn dem so ist, kann Herberts Ästhetik und seine formal experimentelle Sprache als vorsätzliche Entscheidung gegen eine kommerzialisierbare, leicht übersetzbare und somit international zirkulierende Literatur betrachtet werden (vgl. Walkowitz 2015: 31). Darin zeigt sich eine gezielte (Selbst-)Platzierung Herberts am Rande der gegenwärtigen Weltliteratur-Debatte. Wobei dies nicht heißen soll, dass Herbert generell nicht an einer internationalen Zirkulation und Rezeption seiner literarischen Werke interessiert ist. Der Umstand, dass Herbert selbst nicht als Weltautor bezeichnet wird, ist nicht etwa auf einen etwaigen geringeren literarischen Wert von Canción de tumba zurückzuführen. Stattdessen deutet es darauf hin, dass sich Herbert in seiner Inszenierung als Außenseiter in Canción de tumba

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bewusst von den im globalen Buchmarkt erkennbaren Homogenisierungs- und Kommerzialisierungstendenzen von Literatur distanziert. Die Tatsache, dass Herberts Roman in Mexiko in einem multinationalen Verlagskonsortium veröffentlicht wurde, mag überraschen, wurde doch zu Beginn die These aufgestellt, dass diese Konzerne in der Mehrheit Mainstream taugliche Literatur veröffentlichen und noch dazu die zentralen Entscheidungsgeber und Wertmaßstabgeber in der aktuell geführten Weltliteratur-Debatte sind. Wie kann es also sein, dass Herbert trotz einer Veröffentlichung bei einem multinationalen Verlag nicht als Weltautor betrachtet wird? Zum einen ist hier erneut das spezielle Verlagskonzept der mexikanischen Niederlassung der Bertelsmann-Gruppe zu nennen. Zum anderen ist zu erwähnen, dass die Bertelsmann-Gruppe zwar nahezu weltweit agiert, ihre hauseigenen Autor*innen aber nur selten und nach gründlicher Abwägung der möglichen Verkaufschancen international in Umlauf setzt: „El cálculo de los editores de los grupos es que la demanda debe anteceder a la oferta para que un libro publicado por un sello hermano sea recogido en el catálogo de otra de las divisiones“ (Aguilar 2016). Das zeigt einerseits, dass eine Publikation in einem multinationalen Verlag und damit global agierenden Konzern allein nicht genügt, um als Weltautor*in anerkannt zu werden. Andererseits veranschaulicht der Sachverhalt aber auch, dass Weltliteratur heute, anders als zunächst angenommen, nicht nur in den großen Verlagshäusern fabriziert wird. 4.1.2.7 Lesbarkeit, Übersetzbarkeit und Stil von Papeles falsos Luisellis Schreibstil in Papeles falsos zeichnet sich durch sprachliche Präzision, Originalität, Eloquenz und eine aufs Wesentliche konzentrierte, lakonische Erzählweise aus. Kein Wort ist zu viel, jeder Satz, jedes Wort scheint bis ins Einzelne durchdacht und sein Platz im Text sorgfältig ausgewählt worden zu sein. Damit folgt sie dem Trend des journalistischen Schreibens, der sich aktuell abzeichnet und in dessen Zusammenhang Prägnanz und Kürze zunehmend gefragt sind: „[S]i son novelas, suelen estar a medio camino entre el folletín y el reportaje; si ensayos, son versiones ampliadas de artículos de opinión: trazos gruesos, temas de actualidad, mucho sentido común“ (Escalante Gonzalbo 2007: 321). Der wachsenden Geschwindigkeit eines zunehmend gesättigten Buchmarktes fällt vor allem der Stil, das heißt die Elaboriertheit und Distinguiertheit der einzelnen Werke zum Opfer: „[Y]a no hay tiempo para labrarse una reputación o para construir eso que solía llamarse una obra de largo aliento“ (Guerrero 2009: 25 [Herv. i. O.]). Letztere Aussage Gustavo Guerreros trifft interessanterweise auf Luisellis erste literarische Texte zu, von denen keiner, weder die Essaysammlung Papeles

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falsos noch ihre beiden Romane Los ingrávidos und La historia de mis dientes, die 200 Seiten-Grenze überschreitet. Zu dieser Feststellung passt zusätzlich eine Textpassage aus ihrem Roman Los ingrávidos (2011), in der die Protagonistin, eine Schriftstellerin, ehemalige Mitarbeiterin in einem US-amerikanischen Kleinverlag und Mutter zweier Kinder Folgendes über die Länge von Romanen sagt: „Las novelas son de largo aliento. Eso quieren los novelistas. Nadie sabe exactamente lo que significa pero todos dicen: largo aliento. Yo tengo una bebé y un niño mediano. No me dejan respirar. Todo lo que escribo es – tiene que ser – de corto aliento. Poco aire“ (Luiselli 2011: 14). Auch wenn Luiselli die autobiografischen Züge von Los ingrávidos viele Male widerlegte (vgl. Orero 2014), zwingt sich aufmerksamen Leser*innen die Frage auf, inwieweit sich diese Stellungnahme der Protagonistin auf Luiselli und ihr Schreiben übertragen lässt, das heißt, inwiefern hier die Stimme der Autorin, Luiselli selbst, spricht. Papeles falsos liest sich leicht und erfrischend. Der Lesefluss ist harmonisch und keineswegs sperrig. Nichts stört, wirkt unüberlegt oder lässt die Leser*innen aufhorchen beziehungsweise auf Widerstand stoßen. Zuweilen mutet Papeles falsos bei der Lektüre deshalb fast schon zu angenehm, ‚makellos sauber‘ – nahezu steril und gefällig an. Bei so vielen angenehmen Worten und Phrasen von Gewicht, erhoffen die Leser*innen sich beinahe, endlich auf ein vulgäres, unschönes Wort zu stoßen. Diesem Wunsch kommt Luiselli allerdings nicht nach. Sie eckt nicht an, zeigt sich manierlich – ihre Absicht ist, so scheint es, zu gefallen. Geradezu ‚süß‘, ‚zart‘ und ‚weich‘ klingend ist ihre Erzählstimme. Die Sprache der Autorin ist fluid, kultiviert und spricht für die umfassende Bildung Luisellis und ihre intellektuell-analytische Beobachtungskraft ihrer Umwelt, die sie in den einzelnen Episoden poetisiert und philosophisch reflektiert. Bis auf ein paar wenige Ausnahmen ist die mexikanische Prägung ihres Spanischs nicht erkennbar: Mexikanismen sind fast keine im Text vorhanden. Stattdessen gebraucht Luiselli ein ‚neutrales‘ bis hin zu ‚vorübersetztes‘ Spanisch, dessen Herkunft sich auf den ersten Blick nicht ausmachen lässt und das ohne große Schwierigkeiten auch von chilenischen, venezolanischen oder spanischen Leser*innen verstanden werden kann. Papeles falsos ist des Weiteren geprägt durch die Weltgewandtheit und souveräne Leichtfüßigkeit der Autorin. Aufgrund Luisellis Neigung zu aphoristischem Schreiben, fühlen sich die Leser*innen dazu angeregt, fast jeden zweiten Abschnitt zu unterstreichen oder in ein ‚Buch der schönen Worte‘ zu schreiben. Die unzähligen Ausschweifungen und bisweilen allzu geistreichen, geschliffenen Formulierungen der Autorin leiden jedoch unter dem intellektuellen Ballast,

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den Luiselli den Leser*innen aufbürdet. Die mehr als 70 Referenzen zu Intellektuellen aus der Literatur-, Kultur- und Kunstgeschichte25, die etlichen direkten, nicht übersetzten Zitate in den Originalsprachen Englisch, Italienisch, Portugiesisch und Französisch erwecken den Anschein, als möchte beziehungsweise müsse Luiselli den Leser*innen ihren Kosmopolitismus, ihre Belesenheit und ihre umfassende (Universal-)Bildung demonstrieren. In gewissem Sinne stellt sie dadurch mehr ihr im Rahmen ihres literaturwissenschaftlichen Studiums sowie ihrer Promotion erworbenes Wissen unter Beweis als ihr eigenes schriftstellerisches Schaffen. Durch diesen ‚intellektuellen Exhibitionismus‘, den Drang, sich besonders in der europäischen und nordamerikanischen Kultur- und Geistesgeschichte als versiert darzustellen, haben die Leser*innen das Gefühl, Luiselli versuche einem gewissen, genauer gesagt einem europäischen-nordamerikanischen, literarischen Standard gerecht zu werden, anstatt ihren eigenen Stil zu kreieren. Dieser Umstand bleibt insbesondere der deutschsprachigen Literaturkritik nicht verborgen, die bemängelt, dass Luiselli in ihrem unermüdlichen Eifer, all die von ihr gelesenen Bücher und Autor*innen aufzuzählen, ihr eigenes literarisches Projekt vergesse. Das führe dazu, dass ihr tatsächlich vorhandenes schriftstellerisches Potenzial nicht zur Geltung komme26: „Die besten Momente in diesem 25 Zu dieser mehrheitlich aus Männern nicht lateinamerikanischer Herkunft bestehenden Liste zählen der bereits erwähnte US-amerikanisch-russische Dichter Joseph Brodsky, Ezra Pound, Luchino Visconti, Igor Stravinsky, Sergei Diaghilev, Walter Benjamin, Jean-Jaques Rousseau, Robert Walser, Charles Baudelaire, Siegfried Kracauer, Henri Bergson, G. K. Chesterton, W. H. Auden, Rembrandt, Hannah Arendt, Bernal Díaz del Castillo, Fabio Morábito, Alfonso Reyes, Ignasi de Solà-Morales, Wallace Stevens, Galway Kinnel, Julio Torri, Salvador Novo, Timothy Right, Tomás Segovia, Heidegger, Johannes Hofer, Aristoteles, Cyril Connolly, José Ortega y Gasset, Ludwig Wittgenstein, Sor Juana Inés de la Cruz, Roberto Arlt, Edgar Allan Poe, Jorge Luis Borges, Robert Louis Stevenson, Louis Wolfson, George Steiner, E. M. Cioran, Samuel Beckett, Gherasim Luca, Gilles Deleuze, Roberto Bolaño, Samuel Johnson, Isabel Allende, Derrida, W. G. Sebald, Carlos González Lobo, Benito Juárez, Miguel Miramón, Ignacio Comonfort, Vicente Guerrero, Ignacio Zaragoza, Daniel Defoe, Francisco Zarco, Roland Barthes, Jim Morrison, Bernardo Álvarez, Ramón Alva de la Canal, Alejandro Zambra, Robert Creeley, Marguerite Duras, Gaston Bachelard, Octavio Paz, Gilberto Owen, Edgar Allen Poe, E. V. Lucas, Rubén Darío, Carlo Nordio, François-René de Chateaubriand, Miguel Unamuno, Benemérito de las Américas, Joaquín Ramírez, Enea Gandolfi, Lichtenberg, James Joyce, Michel de Montaigne, T. S. Eliot, Laura Zaramella, Joseph Conrad, Herman Melville, Umberto Eco, Lorenzino Ribaldi und Julio Cortázar. 26 In den analysierten Rezensionen der deutschen Übersetzung von Papeles falsos des Deutschlandfunks, der Wiener Zeitung, der Neuen Züricher Zeitung, der Frankfurter Rundschau, des Deutschlandfunks Kultur sowie der ZEIT sind sich die Rezensent*innen darüber einig, dass Luisellis mit ihrem literarischen Text vorrangig demonstriere, über welch immenses literarisches Wissen („das ist nur der, freilich besonders ergiebige, Buchstabe B in ihrem großen kanonischen Alphabet“ (Döbler 2014)) sie verfüge. Das lässt sich an den nachfolgenden Auszügen veran-

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Buch ergeben sich dann, wenn die Autorin auf geisteswissenschaftliche Sicherheitszäune pfeift […]“ (Döbler 2014). Vor diesem Hintergrund fällt außerdem auf, dass Luisellis Autorfigur in Papeles falsos durch ihre gepflegte Sprache und ihre ‚saubere‘ Ausdrucksweise die zurückhaltende, wohlerzogene, gebildete junge Frau mimt. Durch diese Inszenierung festigt sie in gewisser Weise die dominanten Geschlechterrollen und in diesem Fall das Klischee der tugendhaften Frau beziehungsweise Jungschriftstellerin, die noch dazu ihre Inspiration nicht in den literarischen Werken anderer Schriftstellerinnen sucht, sondern sich und ihr Schreiben ausgehend von einem männlichen literarischen Kanon definiert. Dadurch dass Luiselli Mexiko beziehungsweise die mexikanische Literaturgeschichte nicht als Basis ihres Werks wählt, folgt sie dem legitimen Anliegen und der Strategie vieler lateinamerikanischer Schriftsteller*innen, die stereotypen Erwartungen und Vorstellungen einer europäischen Leserschaft an ein lateinamerikanisches Buch nicht zu erfüllen (vgl. Aínsa 2010: 58)27. Mit diesem Schachzug überrascht sie sicherlich einen Teil der Leserschaft, während sie andere, besonders US-amerikanische und europäische Leser*innen zugleich von sich und ihrer ‚universal‘-gültigen Schreibfähigkeit überzeugt, da sie sie genau

schaulichen, in welchen die Rezensent*innen zwar einerseits Luiselli gegenüber ihre Bewunderung ausdrücken, andererseits aber auch zum Ausdruck bringen, dass es Luisellis Werk, abgesehen davon, an ‚eigenem‘ schriftstellerischen Können mangele: „Bildungsblüte“, „Denken aus zweiter Hand“ (Isenschmid 2014); „bildungsbeflissen“ (Reusch 2014); „ambitiös geschraubt“, „Zitatblüten“ (Neumann 2014); „intellektuell geht Luiselli an Grenzen“, „erfahrungsgesättigt und bildungsgetränkt“, „europäische Mentoren“ (Breitenstein 2014); „Beständig zitiert sie die berühmten Vorbilder und Großdichter, als müsste sie ihr eigenes Denken legitimieren“ (Döbler 2014); „Bücher und Schriftsteller sind also das Maß der Dinge“ (Sternburg 2014). 27 Luisellis Strategie scheint indes nicht vollkommen aufzugehen. So verweist der Journalist und Literaturkritiker Andreas Breitenstein in seiner Rezension zwar auf den Einfluss europäischer Literat*innen in Luisellis Papeles falsos, zugleich aber betont er, dass „die genuine mexikanische Prägung stets gewahrt in einem Überschuss an sinnlicher Anschauung, exzentrischem Staunen und magischem Denken [bleibe]“ (Breitenstein 2014). Jedoch muss an dieser Stelle hinterfragt werden, inwiefern Papeles falsos in der Tat die genannten Eigenschaften aufweist oder ob es sich hier nicht vielmehr um den branchenüblichen Jargon, das Sprechen in Klischees und Gemeinplätzen, handelt. Auf den Punkt gebracht bedeutet dies, dass hier Luiselli, trotz ihrer Bemühungen, eine ‚andere‘, alternative Form des Schreibens zu präsentieren, durch die (deutschsprachige) Literaturpresse dennoch in Zusammenhang mit einem – scheinbar – für Lateinamerika beziehungsweise in diesem Fall Mexiko typischen exotischen Schreibstil gebracht wird. Aufmerksame Leser*innen fühlen sich an dieser Stelle darüber hinaus an die Reduktion lateinamerikanischer Literaturen seitens der ausländischen Literaturkritik auf den magischen Realismus erinnert.

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dort – an ihrem westeuropäischen, bürgerlichen Bildungsstandard – abholt, wo sie stehen. Das macht Papeles falsos zu einem international rezipierbaren Titel und Luiselli zum Teil der dem gegenwärtigen Zeitgeist entsprechenden kosmopolitischen Literatur, wie sie auch die derzeitige Weltliteratur-Debatte propagiert: „[S]e expande en un movimiento centrífugo de vocación universal y circula, sin necesidad de señalar su patria de origen, con temas y estilos de un deliberado cosmopolitismo“ (Aínsa 2012: 85). Somit kann Papeles falsos schlussendlich als Luisellis strategischer Versuch gelesen werden, sich nicht etwa, wie von ihr selbst genannt, in ein mexikanisches literarisches Feld, sondern direkt in ein weltliterarisches Feld und eine europäisch-nordamerikanische literarische Traditionslinie einzuschreiben.

4.2 Ariana Harwicz – Widerspenstiges Schreiben als ein No-Go im internationalen Buchmarkt? ¿Siempre fuiste rebelde? Sí, aunque creo que mi mayor acto de rebeldía es la escritura. (Pulido [Harwicz] 2018)

4.2.1 Extraliterarische Analyse Argentinien und die argentinische Literatur nehmen durch das literarische und intellektuelle Erbe Jorge Luis Borges’ einen festen Platz im Weltliteratur-Panorama ein. Eine tiefere Auseinandersetzung mit dem Begriff Weltliteratur beziehungsweise Weltautor*in ist also auch für diese Region unerlässlich. Die jüngste argentinische Literaturproduktion rückte indes nicht nur wegen ihrer Präsenz auf der Frankfurter Buchmesse 2010 ins internationale Blickfeld, sondern auch die Literaturzeitschrift Granta und das Literaturfestival Hay trugen zu einer größeren Sichtbarkeit argentinischer Schriftsteller*innen und ihrer literarischen Texte in der Gegenwart bei (vgl. Gallego Cuiñas 2019b). Aktuell erleben besonders in den 1970er- und 1980er-Jahren geborene argentinische Schriftstellerinnen mit ihren literarischen Werken einen neuerlichen Boom (vgl. Gallego Cuiñas 2020: 71). Das war nicht immer so. Erinnert sei an dieser Stelle speziell an die lateinamerikanischen Boom-Autoren – allesamt Männer – und an die generell geringere internationale Zirkulation von literarischen Werken lateinamerikanischer Schriftstellerinnen: „[L]as mujeres ocupan un lugar menor en la circulación trasnacional de la literatura latinoamericana,

4.2 Ariana Harwicz – Widerspenstiges Schreiben als ein No-Go?

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su condición es doblemente subalterna en el espacio de la literatura mundial: por ser latinoamericanas y por ser mujeres“ (Gallego Cuiñas 2020: 73). Ana Gallego Cuiñas vertritt sogar die These, dass bis ins ausgehende 20. und frühe 21. Jahrhundert die globale Zirkulation denjenigen Autorinnen vorbehalten war, die die von Männern geschriebene kanonisierte Literatur imitierten oder sich zumindest an diesen literarischen Mustern orientierten (vgl. Gallego Cuiñas 2020: 73). Ariana Harwicz ist eine Autorin, die diesen kanonischen Schreibweisen eine klare Absage erteilt. Das literarische Projekt der argentinischen Schriftstellerin mit polnischen Wurzeln, dessen Auftakt ihr Debütroman Matate, amor (2012) markierte, und das sich durch eine ästhetische Sprengkraft, poetische Radikalität und schonungslose Offenheit auszeichnet, unterläuft formale Konventionen. Während Harwicz von der spanischsprachigen Literaturkritik schon früh als vielversprechende literarische Stimme Argentiniens gefeiert wurde, ließen Übersetzungen in andere Sprachen lange Zeit auf sich warten. Das Außergewöhnliche an Harwicz ist ihr geografischer Schreibort. Obwohl sie Argentinierin ist, lebt und arbeitet sie seit mehr als zehn Jahren in Frankreich. Zu Beginn des Buchs habe ich die These aufgestellt, dass Transnationalität beziehungsweise -kulturalität in der persönlichen Biografie wie auch in der Ausbildung von Schriftsteller*innen gegenwärtig als die Bedingung per se für weltliterarische Autorschaft zu sehen sei. Unter die Kategorie transnationale*r Schriftsteller*in fällt, wer in seiner*ihrer Laufbahn Migrationserfahrungen in anderen Worten geografische Mobilität nachweisen kann; wer über mehr als eine Muttersprache verfügt oder doch zumindest in seinen Sprachfähigkeiten der Zweisprachigkeit nahekommt; oder aber auch wer einen internationalen Bildungsweg durchlaufen hat. Auf den Punkt gebracht bedeutet das, dass Schriftsteller*innen, die Transnationalität als „gelebte Erfahrung und Praxis“ (Herrmann/Smith-Prei 2015: 270 [Ü. d. V.]) vorweisen können, geradezu prädestiniert für ‚weltliterarisches Schreiben‘ und damit auch für eine Ernennung zum*zur Weltautor*in sind: Transnationalism as lived experience and practice together with a cosmopolitan education and erudition is what enables an author to write literature that reaches beyond the horizon of the language in which a text is written and invites other cultures and languages not only to enrich but to coauthor the text. (Herrmann/Smith-Prei 2015: 270)

Harwicz’ Werdegang weist exakt jene Transnationalität sowie Transkulturalität auf, ausgehend von der lateinamerikanische Schriftstellerkolleg*innen in ihrem Alter, wie Valeria Luiselli, als Weltautor*innen bezeichnet werden. Überraschenderweise wird Harwicz trotz ihrer Mehrsprachigkeit (Spanisch und Französisch), ihrer internationalen Ausbildung (Argentinien und Frankreich) und ihrer geografischen Mobilität (Wohnsitze in Argentinien, Frankreich und Spanien) in keinem

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der analysierten Presseartikel oder mit ihr geführten Autoreninterviews (bisher) explizit als Weltautorin bezeichnet. Angesichts dieser Tatsache stellt sich die Frage, ob nur als Weltautor*in gilt, wer im öffentlichen und medialen Diskurs als solche*r tituliert wird. Oder handelt es sich bei der Benennung nicht um einen performativen Akt der (kommerziellen) Literaturkritik, sondern nur um das ‚Tüpfelchen auf dem i‘ einer bereits vor Auszeichnungen und Lobreden glänzenden Schriftstellerkarriere? Ist es am Ende also doch die Zahl an Übersetzungen, die darüber entscheidet, ob einem*einer Autor*in dieser ‚Titel‘ verliehen wird? Dies gilt es nachfolgend mittels einer Analyse von Harwicz’ Schriftstellerlaufbahn zu ermitteln. Vor diesem Hintergrund möchte ich in einem zweiten Schritt untersuchen, inwiefern Harwicz’ zunächst eingeschränkte Rezeption und Zirkulation auf ihre innovative Schreibpraxis zurückzuführen ist. Konkret gesprochen gehe ich von der Annahme aus, dass Harwicz’ eigenwilliger und experimenteller Schreibstil wider des literarischen Mainstreams, der eine lesbare und verständliche Schreibform propagiert, sich als ‚unkommerzialisierbar‘ und damit schwer ‚übersetzbar‘ präsentiert, was dazu führt, dass Harwicz und ihr literarisches Projekt sich einer Aufnahme in die derzeit geführte Weltliteratur-Debatte verweigern. 4.2.1.1 Biografischer Abriss und Einstieg in den Literaturbetrieb Die Positionierung von Autor*innen, im vorliegenden Fall von Harwicz, im literarischen Feld ergibt sich in Anlehnung an Bourdieus Feldtheorie (vgl. Bourdieu 2001) aus zwei miteinander in Beziehung stehenden und sich gegenseitig bedingenden Aspekten. Hierzu zählen auf der einen Seite das jeweilige Kapitalvermögen von Schriftsteller*innen, auf der anderen Seite aber auch die (Macht-)Verhältnisse zum jeweiligen Zeitpunkt im Feld: Hier ist das kulturelle Kapital des Wissens, der Schreibkompetenz und der eleganten Selbstpräsentation ebenso wichtig wie das Sozialkapital guter Beziehungen und einflussreicher Netzwerke, das es zu pflegen gilt. Schließlich wirkt das symbolische Kapital des literarischen Renommees mit, das man durch frühere Produktionen und deren Anerkennung durch Feldinstanzen wie Bestsellerlisten, Kritiker oder Akademien erworben hat. Zum anderen ist die Zuordnung einer Position abhängig von der Feldstruktur, in die ein Autor jeweils hineinschreibt. (Dörner/Vogt 2013: 152)

1977 in Buenos Aires, Argentinien geboren, im Stadtteil Villa Crespo aufgewachsen, lebt die Jüdin Ariana Harwicz seit 2007 in Frankreich. Zunächst wohnte und studierte sie in Paris, zog dann aber mit ihrem ersten Mann und dem gemeinsamen Sohn in einen kleinen und entlegenen Ort in der französischen Provinz, der ihr auch als Inspirationsquelle für ihr Schreiben diente.

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Nach der Scheidung lebt sie aktuell mit dem argentinischen Schriftsteller, Psychoanalytiker, Verleger und Übersetzer Edgardo Scott28 sowie ihren mittlerweile zwei Söhnen zusammen und pendelt zwischen Paris, der französischen Gemeinde Saint-Satur, rund 200 Kilometer südlich der französischen Hauptstadt, sowie Argentinien und Spanien. Aufbauend auf ein Studium der Philosophie, absolvierte Harwicz zunächst ein Studium zur Drehbuchautorin an der argentinischen Filmhochschule E.N.E. R.C. und verlagerte dann ihren Schwerpunkt von der Filmwissenschaft auf die Dramaturgie, die sie an der Theaterhochschule E.A.D. von Buenos Aires studierte. Daneben leitete sie als Dozentin Seminare in Drehbuchschreiben, schrieb Theaterstücke und führte Regie bei der Kurzdokumentation El día del Ceviche (2000), die auf mehreren lateinamerikanischen Filmfestivals gezeigt wurde. Die Entscheidung für ein Studium der Darstellenden Künste an der Université Paris VIII Vincennes-Saint Denis sowie in dessen Anschluss ein Masterstudium in Vergleichender Literaturwissenschaft an der Université Paris-Sorbonne führten zu ihrem Umzug nach Frankreich. Mit 35 Jahren veröffentlichte Harwicz 2012 ihren ersten Roman Matate, amor, der zeitgleich beim spanischen Verlag Lengua de Trapo sowie dem argentinischen Kleinverlag Paradiso veröffentlicht wurde. Das ist umso bemerkenswerter, da es sich bei der Parallelveröffentlichung nicht um den ‚gewöhnlichen‘ Weg handelt, den lateinamerikanische Schriftsteller*innen und ihr literarisches Debüt durchlaufen.

28 Damit reihen sich Harwicz und Scott in eine Reihe von berühmten Schriftstellerpaaren wie beispielsweise Julio Cortázar und Carol Dunlop, Silvina Ocampo und Adolfo Bioy Casares, Octavio Paz und Elena Garro, Siri Hustvedt und Paul Auster, Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sarte oder Ingeborg Bachmann und Max Frisch ein. In allen Fällen war es die Beziehung, die die Neugier der Leser*innen und Medien neben dem Interesse an ihrem literarischen Werk weckte. Ein konkretes Beispiel hierfür ist das mit Harwicz und Scott geführte Interview in der argentinischen Tageszeitung Clarín, in dem die beiden als „la pareja incorrecta de la literatura argentina“, aber auch als „una gran pareja de las letras argentinas. Un lujo intelectual“ (Frías 2019) angekündigt werden, was als Provokation zu verstehen ist. Im Interview plaudert das Paar aus dem Nähkästchen über ihre Beziehung und ihre schriftstellerische Arbeit. Stellenweise liest es sich wie ein Auszug aus einem Klatschmagazin und erinnert an das bereits kommentierte und seinerzeit mit Valeria Luiselli und ihrem nun Ex-Mann Álvaro Enrigue geführte Interview der Vogue (vgl. Felsenthal 2016). In beiden Fällen handelt es sich klar um eine Vermarktung und Inszenierung der Schriftsteller*innen seitens der Medien, an der die Schriftsteller*innen selbst jedoch nicht unbeteiligt sind: „Though other people determine much of an author’s reputation, image fashioning can be carried out by the author, too“ (Hadar 2018: 284). Schlussendlich kommt der Aufbau eines einzigartigen, unverwechselbaren Images auch ihnen selbst sowie dem Verkauf ihrer literarischen Werke zugute.

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Das ist auch Harwicz selbst bewusst: „‚Mi camino fue particular, yo como argentina no llegué a España como hacen muchos, que publican y un día llegan a España y es como una conquista, hablando de conquistadores y conquistados, y es como un logro, por supuesto‘“ (Basciani 2019 [Harwicz]). Bei dieser Aussage Harwicz’ ist eine Untersuchung der Bilder, die sie erzeugt, sehr interessant, da sie zugleich einen aufschlussreichen Einblick in Harwicz’ provokativen und subversiven Sprachgebrauch geben. So beschreibt sie die ‚Ankunft‘ lateinamerikanischer Schriftsteller*innen auf dem spanischen Buchmarkt als ‚umgekehrte‘ Eroberung, bei der nicht wie in der historischen Conquista spanische Invasoren Lateinamerika erobern, sondern lateinamerikanische Autor*innen sich in Gestalt von Eroberern des spanischsprachigen Buchmarktes bemächtigen. So gilt noch immer eine Veröffentlichung in Spanien als eine Errungenschaft für viele lateinamerikanische Autor*innen, der zumeist Publikationen in den Herkunftsländern in lokalen Verlagen vorausgehen. Dabei fungiert die Veröffentlichung in Spanien häufig als Türöffner für einen Zugang zum internationalen Buchmarkt, dem dann bestenfalls Übersetzungen folgen: „[E]l primer paso que ha de dar un escritor de América Latina para ser traducido – y entrar en el circuito internacional – es ser publicado en España, que sigue ejerciendo de gatekeeper de la literatura ‚latinoamericana‘“ (Gallego Cuiñas 2018: 4 [Herv. i. O.]). Harwicz’ Debüt folgten die beiden Romane La débil mental (2014) und Precoz (2015), die wegen ihrer thematischen Überschneidungen – alle drei kreisen um das Thema Mutterschaft sowie die Beziehung zwischen Mutter und Kind, oftmals als Trilogie betrachtet und auch von Harwicz selbst als solche bezeichnet werden: „Es una trilogía totalmente involuntaria. No fue una programación sino un devenir. Podría decirse entonces que es una trilogía sobre la pasión“ (Gigena 2017 [Harwicz]). Während Precoz noch in dem unabhängigen katalanischen Kleinverlag: Rata_ erschien, der pro Jahr gerade einmal neun Bücher herausgibt, führte ihr zwischenzeitlich internationaler Erfolg dazu, dass sie neuerdings vom spanischen Großverlag Anagrama verlegt wird, der sich um die Edition ihrer zukünftigen Veröffentlichungen in Spanien und Lateinamerika kümmern wird. Dieser wurde zwar 2010 von der italienischen Verlagsgruppe Feltrinneli übernommen, gilt aber noch immer als einer der renommiertesten spanischen Verlage. 2019 erschien Harwicz’ aktueller Roman Degenerado bei Anagrama in der Reihe Narrativas hispánicas neben namhaften Schriftstellern wie Roberto Bolaño oder Ricardo Piglia. Das überrascht umso mehr, da Harwicz’ Poetik und Ästhetik im Grunde nicht den gängigen eher ‚konservativen‘ Werten des Verlagshauses entsprechen. Eine Tatsache, auf die Gallego Cuiñas noch 2019 in ihrem Aufsatz „Últimas novelas del Río de la Plata en España: Fernanda Trías, Ariana Harwicz y María Gainza“ hinwies:

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[E]s difícil imaginar en Anagrama a autores jóvenes del Río del Plata con poéticas procaces y obscenas, vanguardistas e ilegibles, tales como Dani Umpi, Gabriela Cabezón Cámara, Fernanda Laguna o la propia Harwicz. Los valores de Anagrama son los valores universales hegemónicos: de la tradición, de la novela y de la alta cultura. (Gallego Cuiñas 2019b)

Diese Entwicklung ist bemerkenswert, da sie zeigt, dass Harwicz’ Publikationsmöglichkeiten als Jungschriftstellerin ohne symbolisches Kapital zunächst auf Kleinverlage beschränkt waren, die sich weniger am symbolischen Kapital von Autor*innen orientieren, sondern für die weiterhin der literarische Text als solcher im Vordergrund steht (vgl. Gallego Cuiñas 2019b). Zahlreiche Übersetzungen und Nominierungen für (internationale) Literaturpreise seit 2018 führten zur Vergrößerung von Harwicz’ symbolischem Kapital und wirkten sich auf ihr Ansehen und ihre Stellung im literarischen Feld aus. In der Folge eröffneten sich ihr mehr Auswahlmöglichkeiten für die Publikation ihrer Bücher. Zugleich wurde sie aufgrund ihres symbolischen Kapitals interessanter für mehr Verlage, die sich durch eine Aufnahme Harwicz’ ins Verlagsprogramm einen Zugewinn an symbolischem, aber sicherlich auch ökonomischem Kapital erhofften: „Die Verleger und Kritiker kommen dem erfolgreichen Autor entgegen, eröffnen ihm Freiräume, da sie wissen, dass sie das dem Autor verliehene symbolische Kapital mit Zins und Zinseszins zurückerhalten können“ (Dörner/Vogt 2013: 158). So kann davon ausgegangen werden, dass Harwicz sich für Anagrama wegen dessen Prestige entschied29: „Yo elegí Anagrama, me interesó, porque todos hemos crecido con el catálogo. Era como un lugar muy deseado […]“ (León 2019b [Harwicz]). Umgekehrt gewann sie wegen ihres nun internationalen Renommees an Attraktivität für den Verlag. In Anlehnung an Bourdieu kann festgehalten werden, dass es Harwicz’ symbolisches Kapital ist, das es ihr erlaubt, trotz der Veröffentlichung in Anagrama,

29 Adriana Rodríguez Alfonso bringt in ihrem Aufsatz „¿Malos tiempos para la dificultad?: Álvaro Enrigue, mercado y postura autorial“ (2020) die Vorteile, die eine Veröffentlichung im spanischen Verlagshaus Anagrama mit sich bringt, klar auf den Punkt: „[…] Anagrama cupa una posición muy privilegiada, ‚centrista‘ […] dentro del circuito editorial español, y publicar bajo su manto no solo otorga capital simbólico, traducido en reputación y créditos intangibles, sino también capital constante y sonante, expresado en números de ejemplares, arcos de distribución o derechos de autor, entre otras cuestiones que garantizan una remuneración económica por encima de la media“ (Rodríguez Alfonso 2020: 184). Deshalb kann davon ausgegangen werden, dass Harwicz sich nicht nur wegen des hohen Ansehens sowie des umfangreichen lateinamerikanischen Verlagsprogramms für Anagrama entschied, sondern für sie als Schriftstellerin vor allem auch die damit verbundenen positiven Begleiterscheinungen wie eine größere Sichtbarkeit oder eine umfassendere Verbreitung ihrer literarischen Werke von Interesse waren.

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(bisher) ihrem experimentellen Schreibstil treu zu bleiben: „Je nach dem ihm in Abhängigkeit von seiner Position zugestandenen symbolischen Kapital wird jedem Schriftsteller (usw.) eine begrenzte Menge legitimer Möglichkeiten eingeräumt […]“ (Bourdieu 2001: 412). Harwicz bringt das selbst zum Ausdruck: „Me dan además una enorme libertad a la hora de corregir, de pensar la lengua, porque no se estandariza para poder publicar en todos lados, se respeta la lengua de cada autor, sea cual fuera“ (León 2019b [Harwicz]). Ob und in welcher Form sich der Verlagswechsel auf Harwicz’ Schreibstil auswirken wird, werden erst ihre zukünftigen Veröffentlichungen bei Anagrama zeigen. Ferner veröffentlichte Harwicz im Jahre 2013 in Ko-Autorschaft mit Sol Pérez den Essay Tan intertextual que te desmayás. Harwicz schrieb über lange Zeit Beiträge für den argentinischen Literaturblog Eterna Cadencia. Zwischenzeitlich veröffentlicht sie Gastbeiträge über gesellschaftliche Entwicklungen und tagesaktuelle Geschehnisse in der spanischen Tageszeitung El País sowie in der argentinischen Tageszeitung Clarín. Der ‚Aufstieg‘ in die klassischen und angesehenen Printmedien der beiden Länder ist auf ihr nunmehr angesammeltes symbolisches Kapital zurückzuführen und hat zusätzlich den positiven Effekt, dass sich ihre Sichtbarkeit weiterhin vergrößert. Harwicz’ biografische Stationen werden immer wieder aufs Neue in den mit ihr geführten Autoreninterviews neben der Diskussion ihres eigentlichen literarischen Werks aufgegriffen und diskutiert30. Dabei wird häufig und zumeist hartnäckig vonseiten der Interviewenden versucht, direkte Bezüge zwischen Harwicz’ Büchern und Privatleben sowie zwischen ihrer Person und ihren Romanfiguren herzustellen: „Me hacen las notas como si yo fuera el personaje de Matate, amor (una mujer ahogada y sublevada frente a su condición de esposa y madre). Des-

30 Diese Praktik geht zumeist auch von den Verlagen aus: In Presseankündigungen und Klappentexten werden Übereinstimmungen zwischen den Figuren des Romans und den extraliterarischen Autorpersonen aufgezeigt, um dadurch den Titel auf dem (Buch-)Markt gezielt zu platzieren und gleichzeitig ein bestimmtes Autorbild zu entwerfen. Allerdings sind es, wie bereits angeführt, auch die Schriftsteller*innen selbst, die sowohl in der Öffentlichkeit, zum Beispiel bei Lesungen oder Interviews, oder aber auch auf innerliterarischer Ebene ein Bild konstruieren und sich entsprechend selbst in Szene setzen: „[C]onstruyen en y fuera de sus textos una imagen pública para definir una trayectoria literaria“ (Musitano 2010: 9). Interessant sind in diesem Zusammenhang, so vorhanden, auch die abgedruckten Autorenfotos, die eine Doppelfunktion, zum einen als Teil des Marketings, zum anderen als Teil des Paratextes innehaben (vgl. Wegmann 2013: 256 f.). Insofern sind auch die Werdegänge von Schriftsteller*innen als paratextuelle Elemente zu lesen, da sie sowohl für die Rezeption als auch Verbreitung, will heißen Vermarktung, literarischer Werke von nicht zu vernachlässigender Relevanz sind (vgl. Brouillette 2007: 3).

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pués de leer mi última novela, supongo que imaginarán que soy pedófila“ (Frías 2019 [Herv. i. O., Harwicz]). Ebendiese Gleichsetzung zeigt deutlich, dass Medien ihren Fokus immer mehr auf die Autor*innen und weniger auf deren literarische Texte richten: „Stationen der Biographie, charakterliche Besonderheiten, eigenwillige Techniken der literarischen Produktion erwecken in der Öffentlichkeit oftmals mehr Interesse als die spezifische Ästhetik des Werks“ (Kampmann 2013: 137). In Interviews betont Harwicz immer wieder, dass sie gewissermaßen über ‚Umwege‘ zur Schriftstellerarbeit fand: „No fue un acto consciente. Me tiré a la escritura. Era una experiencia de desconcierto: ¿Qué hago acá [en Francia]? con un bebe, en un pueblo, sin trabajo“ (Audran 2015b [Harwicz]). Als ganz unvorbereitet und improvisiert kann Harwicz’ Entscheidung für die Literatur dennoch nicht erachtet werden. Durch ihr Universitätsstudium in Argentinien verfügte sie bereits über das erforderliche kulturelle Kapital, das Fachwissen sowie die Schreibkompetenz, die sie außerdem durch ihr Zweit- und Masterstudium in Frankreich um transnationales Kapital in Form einer internationalen Ausbildung ergänzen konnte. Hier muss jedoch eingewandt werden, dass ein klassischer Ausbildungsweg sowie spezifische ‚Arbeitsplätze‘ für Schriftsteller*innen wegen einer nicht vorhandenen Professionalisierung des Schriftstellerberufes bis heute nicht wirklich existieren (vgl. Müller-Jentsch 2007: 217). Während es zu Zeiten des Booms üblich war, dass Schriftsteller*innen über keinerlei (vertiefende) literarische Kenntnisse beziehungsweise Ausbildung verfügten (vgl. Marling 2016: 143), gilt heutzutage zunehmend ein literaturwissenschaftliches Studium als Erfolg versprechende Basis, wenn nicht sogar als Voraussetzung, für einen vorteilhaften Einstieg in die Literaturwelt. Seinerzeit war es dagegen weniger eine spezifische (Aus-)Bildung, die eine Person dazu befähigte beziehungsweise ermächtigte, zu schreiben, sondern die jeweiligen Alltags- und Lebenserfahrungen, die zuweilen direkt vom Leben auf der Straße stammen konnten: „That was Bob Dylan’s boast when he sang ‚Nobody ever taught you how to live on the street‘. For a while, merely having the chutzpah to deliver that claim was considered credential enough [for becoming a writer]“ (Marling 2016: 143). Nicht so heute, wer sich als Schriftsteller*in gegenwärtig auf dem weltliterarischen Parkett durchsetzen möchte, entscheidet sich zumeist von Beginn an für eine internationale Ausrichtung des Studiums. Bestenfalls fällt die Wahl gleich auf einen MFA in Creative Writing respektive Kreativem Schreiben in den USA, wo Schreibschulen und Schreibwerkstätten bereits etabliert bis hin zu institutionalisiert sind. Im Zuge der ‚Schriftstellerausbildung‘ werden Autor*innen neben Schreibtechniken nützliches Insiderwissen über das Funktionieren des globalen Literatursystems vermittelt:

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Writers are educated not only in the modulus of ‚the beat‘, but in a vision of professional authorship that includes the utility of the older writer, the mentor, the agent, the editor – in other words a notion that while the creative genius is theirs, the process of bringing it to market involves liberal help from a wide variety of gatekeepers. (Marling 2016: 144 [Herv. i. O.])

Harwicz’ Haltung gegenüber einer spezifischen Ausbildung zur Schriftstellerin, wie sie Creative Writing-Seminare und -Studiengänge versprechen, ist dagegen geradezu vernichtend: „Enseñar a escribir no se puede y definitivamente la intensidad tampoco. Para escribir debes tener cabeza y corazón de escritor. Y eso es algo radical: se tiene o no se tiene. Miras la vida como escritor o no. Eso no se enseña“ (Silva 2016 [Harwicz]). Durch ihr fast schon biologisierendes Verständnis des Schriftstellerberufes, welches das literarische Talent als etwas Angeborenes, bestimmten Menschen Innewohnendes erscheinen lässt, ignoriert sie den Einfluss und die Funktion, den andere Akteur*innen auf die Position von Schriftsteller*innen im literarischen Feld haben und ausüben: „Jedenfalls findet der Schriftsteller seine Identität primär im Modus der Anerkennung, sei es durch das lesende Publikum, sei es durch die Kollegen, die seine Arbeiten als literarische zur Kenntnis nehmen“ (Müller-Jentsch 2007: 218 [Herv. i. O.]). Letzten Endes sind es gerade die Gatekeeper, die als regulierende und steuernde Instanzen im literarischen Feld agieren, indem sie sich die fehlende Professionalisierung der Schriftstellerarbeit zunutze machen, und so direkt auf die einzelnen schriftstellerischen Laufbahnen einwirken (vgl. Sapiro 2016b: 2). Ohne das aktive Zutun der genannten und etlicher anderer Institutionen sowie Akteur*innen ist es für Schriftsteller*innen nahezu unmöglich, einen weltliterarischen Status zu erlangen: „Writers do not get published without help – often a great deal of help – from other people. […] Friends, family, editors, agents, lawyers, bookstore owners, other artists, patrons, partners, and publishers play an important role in the creative process“ (Marling 2016: 1). Der Aufbau oder aber die Einbindung in ein (bereits bestehendes) soziales Netzwerk aus möglichen Unterstützer*innen wirken sich entsprechend begünstigend auf die Positionierung von Schriftsteller*innen im literarischen Feld aus, was sich gerade zu Beginn der literarischen Karriere als elementar erweist. Auch bei Harwicz waren Gatekeeper und noch dazu ihre sozialen Kontakte, also ihr Sozialkapital, für ihren Einstieg in das literarische Feld und ihre Anerkennung als Schriftstellerin nicht unbedeutend: „‚Un amigo que tiene inmobiliaria llama para decirme que una escritora argentina se había mudado a 40 kilómetros‘“ (Galarza 2014 [Harwicz]). Allein durch das von der Außenwelt zurückgezogene Schreiben in der französischen Provinz wurde Harwicz längst noch

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nicht zur Schriftstellerin: „The older, romantic notion of authorship, of isolated genius, has been chipped away“ (Marling 2016: 1). Demnach kann eine Person noch so viel oder vermeintlich ‚Weltbewegendes‘ zu Papier bringen, ohne Kontakt zur ‚Außenwelt‘, das heißt ohne eine Veröffentlichung, Verbreitung und Rezeption ihrer literarischen Texte durch Leser*innen sowie Literaturkritiker*innen gilt sie nicht als Schriftsteller*in im engeren Sinne: „Erst das lesende Publikum macht sie oder ihn zur Schriftstellerin oder zum Schriftsteller. Literatur, die nicht rezipiert wird, bleibt praktisch inexistent“ (Müller-Jentsch 2007: 217). So spielte bei Harwicz’ Initiation in literarische Kreise oder im weiteren Sinne ihrer Einführung in das literarische Feld eine weitere Person eine Schlüsselrolle. Diese bezeichnet William Marling als „the older writer“ (Marling 2016: 9), einen älteren mit den Regeln des literarischen Feldes vertrauten Schriftsteller: Siempre tiraba todos mis manuscritos, pero llevé el de Matate, amor a una escritora que se llama Alicia Dujovne Ortiz, […] le llevé unas treinta páginas y me dijo: ‚Acá hay una novela‘. Casi le beso los pies (risas), porque en mí no había una conciencia en absoluto de poder hacer literatura. (La Navaja Suiza 2015 [Harwicz])

Die Wertschätzung von Harwicz’ literarischem Debüt Matate, amor noch vor dessen tatsächlicher Veröffentlichung durch die wesentlich ältere argentinische, ebenso in Frankreich lebende Autorin und Journalistin Alicia Dujovne Ortiz verlieh Harwicz die Legitimation und Anerkennung als Schriftstellerin. Der von Harwicz zitierte Ausspruch Dujovne Ortiz’, „Hier haben wir einen Roman“ (Ü. d. V.), erinnert fast schon an einen performativen Akt durch den Harwicz zur Schriftstellerin wurde. Wenngleich Dujovne Ortiz nicht direkt als Entdeckerin beziehungsweise Harwicz’ Scout zu sehen ist, agierte sie dennoch als eine Art Vermittlerin sowie Mentorin bezüglich Harwicz’ Entscheidung für eine schriftstellerische Tätigkeit: „La escritora Alicia Dujovne Ortiz, que leyó el original, vive en el campo, es vecina mía, me señalaba la palabra salvaje“ (Zunini 2013 [Harwicz]); „En un momento había escrito que tomaba mate y Alicia, con buen tino, me dijo que lo sacara“ (Zunini 2013 [Harwicz]). Dass es sich bei Harwicz’ erster Berührung mit der Literaturwelt um eine argentinische und nicht etwa um eine französische Schriftstellerin handelt, kann als wegweisend für Harwicz’ Entscheidung für einen Einstieg in das argentinische literarische Feld gewertet werden. Es steht somit außer Zweifel, dass in der Mehrheit Einsteiger*innen in das Literaturgeschäft mithilfe von sozialen Beziehungen, speziell zu anderen, älteren Autor*innen, erste Verlags- und Agenturkontakte knüpfen (vgl. Marling 2016: 148; Müller-Jentsch 2007: 218).

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Das gilt nicht nur für den Erstkontakt zu Verlagen, denn ebenso bei der Veröffentlichung von Harwicz’ zweitem Roman La débil mental beim peruanischen Verlag Animal de Invierno spielte Harwicz’ Sozialkapital, also ein gut funktionierendes soziales Netzwerk, eine entscheidende Rolle (vgl. Chereque L. 2016 [Harwicz]). Das Fehlen direkter Kontakte zur Verlagswelt zu Beginn von Harwicz’ Karriere kann als eine Ursache dafür betrachtet werden, weshalb ihr literarisches Debüt letztlich in einem Kleinstverlag, sowohl in Spanien als auch in Argentinien, veröffentlicht wurde. Diese sind im Unterschied zu den multinationalen Verlagshäusern risikobereiter und offener für ästhetische Innovationen und Experimente im literarischen Feld, unabhängig von der späteren Verkaufsgarantie. Das macht sie, wie in Harwicz’ Fall, zur idealen Einstiegsplattform für (bisher noch) unbekannte Autor*innen und deren Erstlingswerke: „Lo que me preocupa es saber si el editor con el que voy a publicar arriesga o no arriesga, […] del mismo modo que hay escritores que arriesgan e intentan hacer de su libro una revolución, y los que no arriesgan, haciendo de su libro un oficio“ (La Navaja Suiza 2015 [Harwicz]). Ein Manko bleibt jedoch die meist geringere Aufmerksamkeit, die Schriftsteller*innen von Kleinverlagen außerhalb spezialisierter Leserschichten zukommt (vgl. Escalante Gonzalbo 2007: 260). Die Entscheidung für weitere Veröffentlichungen in unabhängigen Verlagen nach der geglückten Einschreibung in das literarische Feld, wie beispielsweise in Peru (Animal de Invierno), Israel (Zikit Books), Costa Rica (Ediciones Lanzallamas), Chile (Editorial Elefante) und Mexiko (Dharma Books), hängt mit Harwicz’ Verständnis der schriftstellerischen Arbeit zusammen: „No entiendo qué otra cosa podría hacerse si no es vivir escribiendo“ (Cueva 2015 [Harwicz])31. Von Relevanz sind für sie nicht die größere Reichweite oder der höhere Absatz ihres Werks, wie sie die Veröffentlichung in einem transnationalen Verlagskonsortium verspricht (La Navaja Suiza 2015 [Harwicz]), stattdessen identifiziert sie sich mit dem Agieren der Kleinverlage gegen den Strom, bei denen nicht die

31 Harwicz’ internationaler Erfolg führte dazu, dass sie sich in der Zwischenzeit tatsächlich in ‚Vollzeit‘ dem Schriftstellerberuf widmen kann und keinen Nebentätigkeiten mehr nachgehen muss, um ihr schriftstellerisches Projekt finanzieren zu können: „Con un hijo de 9 años y otro de 15 meses, hoy la vida la encuentra en el lugar soñado para cualquiera que quiera apostar a la escritura: traducida a casi una docena de idiomas, Harwicz solo se dedica a crear, traducir y dar charlas sobre literatura“ (Gorodischer 2019). Das ist umso bemerkenswerter, da ein Leben einzig von den Einnahmen der veröffentlichten Bücher im Allgemeinen nur für Bestsellerautor*innen möglich ist. Beachtenswert ist ferner, dass im Vergleich zu anderen Schriftstellerinnen bei Harwicz der Schwanger- und Mutterschaft nicht ein Rückzug aus der Literatur- und Arbeitswelt folgte, sondern diese erst zum entscheidenden Impulsgeber für ihre schriftstellerische Arbeit wurden (vgl. Audran 2015b; Cueva 2015; Tentoni 2014; Zunini 2013).

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Masse, sondern die Qualität und Einzigartigkeit der Bücher im Vordergrund steht (vgl. Chereque L. 2016 [Harwicz]). Im Widerspruch dazu steht indes der bereits thematisierte Wechsel Harwicz’ zu dem spanischen Großverlag Anagrama. Am Ende sind Autor*innen eben doch auch Unternehmer*innen, die ihre Bücher verkaufen wollen (vgl. Marling 2016: 153). Harwicz’ Haltung kann letztlich auch in Anlehnung an Pierre Bourdieu erklärt und nachvollzogen werden, nach welchem die Position eines*einer Schriftsteller*in im literarischen Feld die ihm*ihr zur Auswahl stehenden Handlungsmöglichkeiten bedingt. In anderen Worten: Einerseits wird den Schriftsteller*innen in Abhängigkeit zu den Strukturen des literarischen Feldes und auf der Grundlage ihres Kapitalvermögens ein Platz zugewiesen, andererseits erlaubt ihnen die Akkumulation von Kapital, sich prinzipiell flexibler und damit freier im literarischen Feld zu bewegen (vgl. Bourdieu 2001: 414). Übertragen auf Harwicz ergibt sich, dass Harwicz’ Bewegungsmöglichkeiten zu Beginn ihrer literarischen Karriere wegen ihres damals noch niedrigen symbolischen Kapitals eingeschränkt waren. Entsprechend gering war deshalb auch die Zahl an Verlagen, die ihr als Publikationsmöglichkeiten zu diesem Zeitpunkt zur Verfügung standen (vgl. Bourdieu 2001: 412). Letztlich war es ein Zugewinn an Kapital, der ihr in der Gegenwart bei der Auswahl an Verlagen mehr Möglichkeiten eröffnete. 4.2.1.2 Schreibort und Sprachwahl Im Unterschied zu den Boom-Schriftsteller*innen sowie den großen argentinischen Literat*innen des 20. Jahrhunderts wie etwa Julio Cortázar, für die ein längerer Aufenthalt in Paris, der damaligen Hauptstadt einer World Republic of Letters, zur Inspirationsquelle wurde, bewirkten diese Orte historischer und literarischer Bedeutsamkeit bei Harwicz eher den gegenteiligen Effekt: „Esa visión idealizada de escribir en París, bueno; me iba a los bares míticos de los intelectuales de los sesenta, me iba a las mismas mesas donde escribían ellos pero no resultó. Me sentaba donde se había sentado a escribir Simone de Beauvoir y no“ (Tentoni 2014 [Harwicz]). Mit ihrer Aussage widerspricht Harwicz zudem der Behauptung, die Reise in die Metropolen der sogenannten ‚alten Welt‘ käme noch heute einer Art Initiationsritus für lateinamerikanische Schriftsteller*innen gleich (vgl. Aínsa 2012: 169). So fand Harwicz weder in Buenos Aires, dem kulturellen und literarischen Herzen Argentiniens, noch in Paris, dem künstlerischen Zentrum Frankreichs, ihren idealen Schreibort, sondern in einem abgeschiedenen französischen Dorf: „Durante los casi 30 años que viví acá en Buenos Aires nunca escribí nada, sí

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fragmentos, cositas, documentales, ensayos, errores, pero yo siento que nunca dije nada. […] Tampoco escribo nada en la ciudad, en París, nada“ (Pomeraniec 2019 [Harwicz]). In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass die französische Hauptstadt ihren Rang und Titel als Weltliteratur-Hauptstadt längstens verloren hat, selbst wenn sie sich in der Frankophonie noch immer als jene präsentiert. Zwischenzeitlich haben ihr Metropolen wie London und New York für den englischsprachigen Raum oder Berlin, speziell bezüglich der europäischen, aber auch in Teilen der lateinamerikanischen Literaturproduktion, den Rang abgelaufen (vgl. Marling 2016: 154). Das Potenzial jener Städte scheint ebenso der argentinischen Schriftstellerin Samanta Schweblin bewusst zu sein, die neben ihrer Altersgenossin Selva Almada in letzter Zeit häufig in eine Reihe mit Harwicz gestellt wird, wenn es um das Potenzial der gegenwärtigen argentinischen Literaturschaffenden geht (vgl. Rosa 2015). Im Unterschied zu Almada, die weiterhin in Argentinien lebt, hat Schweblin vor mittlerweile mehr als fünf Jahren ihren Schreibort nach Berlin verlegt. Mittlerweile gelang ihr auch der Durchbruch in den USA, wo sie 2017 für den Man Booker International Prize nominiert wurde. In Harwicz’ Fall war es dagegen der Umzug in die französische Provinz, die Peripherie, der ihr die nötige Inspiration lieferte und zugleich als Impulsgeber ihres Schreibens fungierte (vgl. Audran 2015b [Harwicz]): „Yo soy campestre, de ahí, de lugares remotos donde nadie te conoce, no conocés a nadie, nadie te saluda“ (Pomeraniec 2019 [Harwicz]). Im Endeffekt, so sagt sie, unterscheide sich ihr aktueller Wohnort in Frankreich nicht wesentlich von Dörfern, wie sie sie auch aus Argentinien kenne (vgl. Tentoni 2015 [Harwicz]): „La influencia viene por el extrañamiento, lingüístico, geográfico, cultural. Es Francia pero podría haber sido Marruecos o Noruega. O un pueblo en cualquier lugar del mundo. Lo que me sirve para escribir es estar fuera del tiempo y el espacio conocidos“ (Munaro 2015 [Harwicz]). Dessen ungeachtet ist ihr Umzug nicht mit einem bewusst gewählten Einsiedlerdasein oder einem kompletten Rückzug aus dem kulturellen und literarischen Leben Argentiniens beziehungsweise Frankreichs zu verwechseln. Stattdessen hält Harwicz den Kontakt sowohl nach Paris, wo sie mehrere Tage in der Woche verbringt, nach Spanien, wo ihre Bücher verlegt werden, als auch nach Argentinien aufrecht, wo sie mehrere Monate im Jahr zubringt und an Lesungen, Buchvorstellungen und Literaturveranstaltungen teilnimmt (vgl. Tentoni 2014; Friera 2014; Galarza 2014). In dieser Hinsicht ähnelt Harwicz’ Lebensstil demjenigen anderer Schriftsteller*innen, die nach intensiven Schreibphasen sowie einem Rückzug aus der

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Öffentlichkeit, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung neuer literarischer Werke auf unterschiedlichen Kanälen präsent sind (vgl. Gardiner 2000: 271). Gleichzeitig erinnert ihre ständige geografische Mobilität aber auch an den ‚nomadischen‘ Lebensstil, den Fernando Aínsa als Teil des Zeitgeists der jüngeren lateinamerikanischen Schriftstellergenerationen bezeichnet (vgl. Aínsa 2012: 69). Auch Marie Audran betrachtet das ständige Pendeln zwischen dem französischen Dorf, Paris, Spanien, Argentinien und Israel als eine zentrale, den Lebensstil Harwicz’ prägende Eigenschaft (vgl. Audran 2019: 429). Darüber hinaus stellt sich die Frage, weshalb Harwicz, trotz ihrer durch das Studium fundierten Sprachkenntnisse sowie ihres alltäglichen Kontakts mit dem Französischen, nicht von Anfang an auf Französisch schrieb und damit die Möglichkeit einer strategischen Einschreibung in das französische literarische Feld versäumte. Auf diese Weise hätte sie eine Übersetzung ihrer Bücher ins Französische überflüssig machen können. Selbst wenn das Französische seinen einstigen hohen Stellenwert als Literatursprache wie auch sein symbolisches Kapital hinsichtlich der internationalen Kanonisierung von Autor*innen zugunsten des Englischen eingebüßt hat, hätte sich dieser Akt dennoch positiv auf ihre Positionierung, wenn auch nicht im weltliterarischen, so denn im europäischen literarischen Feld, ausgewirkt (vgl. Sapiro 2016b: 8). Besonders ist deshalb an Harwicz, dass sie, obwohl sie ihren Wohnsitz nach Frankreich verlegte und der französischen Sprache mächtig ist, nicht als Schriftstellerin im französischen literarischen Feld aktiv ist, sondern ihr Sprechort, trotz der geografischen Distanz, Argentinien bleibt. In diesem Punkt ähnelt Harwicz dem argentinischen Schriftsteller Juan José Saer, der seinerzeit auch aus Argentinien nach Frankreich migrierte, dessen literarischer Fokus aber weiterhin Argentinien und allem voran der argentinischen Pampa galt. Zugleich unterscheidet sie sich dadurch von den eingangs erwähnten lateinamerikanischen Schriftsteller*innen der Gegenwart, die einen transnationalen Lebensstil pflegen und sich früher oder später dafür entscheiden, nicht in ihrer jeweiligen Muttersprache, sondern in einer anderen, zuweilen hybriden oder nicht standardisierten Sprache oder einem Sprachregister zu schreiben (vgl. Ortiz Gambetta 2012: 15). Harwicz ist daher nicht als ‚Sprachwechslerin‘ zu sehen. Stattdessen schreibt und veröffentlicht sie bisher weiterhin auf Spanisch, wenngleich mit deutlich ausgeprägten und wahrnehmbaren Einflüssen der spanischen Varietät der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires, dem porteño. Das kann in gewisser Weise als ein Widerstand gegen die Tendenz zu einem ‚neutralem‘, regional nicht markierten Sprachgebrauch bezeichnet werden, der ein überregionales Verständnis des literarischen Textes und dessen spätere Übersetzung erleichtert.

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Obwohl in ihrem literarischen Werk schon jetzt der Einfluss der französischen Sprache erkennbar ist, wäre für Harwicz zu Beginn ihrer literarischen Karriere ein Schreiben auf Französisch einer widerrechtlichen sprachlichen Aneignung gleichgekommen: „No quise escribir en francés porque como inmigrante, tengo una identidad trastocada desde que estoy en Francia. No quería usar la lengua del otro, como un acto político, se podría decir. Quería usar mi propia lengua, la lengua castellana“ (Castillo 2017 [Harwicz]). Allerdings zeichnet sich auch hier in der Aktualität ein Wandel ab. So verfasste sie ihren aktuellen Roman Degenerado (2019) zunächst aus einer Mischung aus Französisch und Spanisch, entschied sich aber am Ende doch für eine Publikation in ihrer Muttersprache: Es una novela que fue escrita primero entre el francés y el español; un francés contaminado, un francés mal hablado y mal escrito, un francés de extranjera, y un porteño, un español, un castellano también intervenido, adulterado, corregido, cambiado; ambas lenguas ya en un estado de alteración. Después fui acorralando de a poco el francés porque no sonaba y quedó solo en español pero habiendo pasado por la lengua francesa. (Monfort 2019 [Harwicz])

Hierin zeigt sich letztlich doch Harwicz’ Tendenz und Bereitschaft zum Sprachwechsel. Deshalb kann davon ausgegangen werden, dass es eine Frage der Zeit ist, bis sie ihren ersten Roman direkt in französischer Sprache veröffentlichen wird. Schon zum jetzigen Zeitpunkt knüpft sie mit der Entscheidung für das sprachlich Hybride bis zu einem gewissen Grad an die in US-amerikanisch-lateinamerikanischen literarischen Communitys bereits gängigen sprachlich hybriden, experimentellen Schreibstrategien an (vgl. Bolte/Klengel 2013: 12). 4.2.1.3 (Selbst-)Repräsentation in der Öffentlichkeit Die stete Präsenz in der (medialen) Öffentlichkeit sowie Auftritte bei Lesungen und Literaturfestivals gelten heutzutage als ein integraler Bestandteil von Schriftstellerkarrieren32, ganz besonders im Kontext der Weltliteratur-Debatte (vgl. Marling 2016: 147): „Dependiendo del talento escénico de los autores, los asistentes ríen, aplauden, se emocionan. El punto es, precisamente, ese: dependiendo del talento escénico de los autores. Que, en su mayoría, sienten que no tienen ninguno“ (Guerriero 2017).

32 Zu vernachlässigen ist des Weiteren nicht, dass Lesungen sowie die Teilnahme an Literaturfestivals nicht nur als ein wichtiges Marketinginstrument für Autor*innen und ihr literarisches Werk zu betrachten sind, sondern ebenfalls eine zusätzliche Einnahmequelle für Autor*innen darstellen, die auf das Honorar, das sie für ihre Performance erhalten, bisweilen angewiesen sind.

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Wie wichtig die Selbstpräsentation in der Öffentlichkeit sein kann, zeigt eine Besprechung von Harwicz’ Roman Precoz (2016), die mit einer geradezu minutiösen Beschreibung von Harwicz’ Auftreten sowie Körperhaltung einsetzt: „En persona, Ariana Harwicz […] se parece a su prosa intensa y torrencial. Se expresa enérgica, rodeada de notas que la ayudan a absorber, masticar y esparcir todo lo que la rodea. […] Después de una pregunta dice ‚claro‘ y levanta la vista al techo“ (Díaz de Quijano 2016b). Auffallend sind die Bezüge, die zwischen Harwicz’ Äußerem und ihrem Schreibstil hergestellt werden. Gewiss kann das Gefühl der Unruhe sowie inneren Getriebenheit, das Harwicz in persona vermittelt, und das ihren literarischen Texten innewohnt, auch als ein Teil ihrer eigenen Inszenierung gewertet werden. Letztlich geht jeder Form der (Selbst-)Präsentation eine Vorüberlegung über das Bild, das jemand abgegeben möchte, voraus. An dieser Stelle wird ebenso deutlich, dass für einen Großteil der Leser*innen und Literaturkritiker*innen nicht allein der literarische Text genügt, sondern es vor allem das Image von Autor*innen ist, das den Absatz ankurbelt oder das Interesse für einen Titel weckt (vgl. Escalante Gonzalbo 2007: 303). Dementsprechend bedeutend ist dessen Pflege für diejenigen Schriftsteller*innen, die nicht nur mit ihrem literarischen Werk, sondern auch als Person Anklang beim Lesepublikum finden möchten. Nicht so Harwicz, der es weniger darum geht, einen ‚positiven‘ Eindruck bei ihren Auftritten zu hinterlassen (vgl. Néspolo 2019). Stattdessen sieht sie in diesen eine Möglichkeit, kontrovers zu debattieren, anstelle nur die nett lächelnde Autorin zu mimen, deren Funktion sich darauf beschränkt, durch ihre Präsenz, den Verkauf ihrer Bücher zu fördern: Lo que sí se puede hacer en las Ferias es volver las mesas de presentaciones o debates un lugar donde se dispare como se dispara al escribir, con esa misma puntería. Un lugar donde no se diga o haga lo que hay que decir o hacer, donde no se siga la lógica de la apariencia, del autorcito sentado en su lugar. […] El resto es folklore y olvido. (Harwicz 2016b)

Bruch mit Konventionen lautet ihre Maxime, dabei schreckt sie nicht vor gesellschaftlichen Tabuthemen zurück, sondern macht sie zum Mittel- und Ausgangspunkt ihrer literarischen Texte. Das wirkt sich entsprechend auf das von Harwicz zirkulierende Autorbild aus. Der Ruf, ihr Schreibstil sei „abstoßend, wild, derb, provokant, riskant“ (Koch 2019 [Ü. d. V.]), eilt ihr und ihren Romanen voraus. Daran stört sie sich, wie sie in Interviews kommentiert, aber nicht weiter: „[Harwicz] asegura no hacerse cargo de los adjetivos que preceden su nombre: provocadora, radical, salvaje“ (Gorodischer

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2019); „La etiqueta de narradora ‚extrema‘ o ‚radical‘ hace tiempo que circula, pero [a Harwicz] no le importa“ (Néspolo 2019). Gleichermaßen schockierend klingt deswegen ihr Konzept des Schreibens für manch ein*e Leser*in: „[C]uando escribo, tengo la impresión de que hay un acto criminal ahí. Hay un cuchillo en el bureau. Por otro lado, tengo la sensación de que escribir tiene que ver con trasgredir e ir hacia lo ilegal, con ir hacia lo que yo no podría ser que es ser una asesina“ (Audran 2015b [Harwicz]). Deswegen ist es wenig verwunderlich, dass seitens der Presse und Literaturkritik die ein oder andere ‚Lesewarnung‘ angesichts Harwicz’ grenzüberschreitenden Schreibens einer Empfehlung von Harwicz’ literarischem Werk vorausgeht. Ihre Bücher sind keinesfalls ‚leichte literarische Kost‘: „Lector sensible, abstenerse“ (Suarez 2014)33. Der argentinische Journalist und Literaturkritiker Maximiliano Tomas schreibt Folgendes über Harwicz’ Roman Precoz: „Es un volumen pequeño, breve, de tonos verdes y grises, en apariencia inofensivo. No se deje engañar y tenga cuidado. No encontrará en sus páginas entretenimiento, tranquilidad ni sosiego“ (Tomas 2015). Auch wenn diese Kommentare zumeist weniger ernst, denn ironisch gemeint sind, profitieren Harwicz’ Bücher von diesem Image, da bekanntermaßen derartige ‚Vorwarnungen‘ bestimmte Leser*innen zwar abschrecken mögen, andererseits generieren sie aber mehr Sichtbarkeit und führen dazu, dass andere Leser*innen gerade erst deshalb auf diese literarischen Texte aufmerksam werden. Somit deutet vieles darauf hin, dass Harwicz in der Öffentlichkeit und den Medien mittels ihrer literarischen Texte das Image des Enfant terrible kultiviert: „‚Trato de no dejarme intimidar por nada, ni la época ni la moral ni la ideología ni el editor ni los lectores ni mis padres, ni siquiera mis propios miedos o limitaciones‘“ (Gorodischer 2019 [Harwicz]). Nichtsdestotrotz leisten hierbei auch die Medien und die (kommerzielle) Literaturkritik einen nicht zu vernachlässigenden Beitrag, indem sie sich primär

33 Die nachfolgenden Auszüge aus literarischen Rezensionen betonen allesamt die ‚körperlichen‘ Spuren, welche die Lektüre von Harwicz’ Werk bei den Leser*innen hinterlässt: „[Y]a con el anterior, Matate, amor había dejado knock out a más de un lector“ (Suarez 2014 [Herv. i. O.]); „Leer a Ariana Harwicz es como cruzar nadando una marea de aguas revueltas, de oleadas intensas y violentas“ (Cedeira 2017); „Hay que tener valor para enfrentarse a sus novelas, hay que saber que saldremos de ellas con magulladuras y contusiones, incluso con una sensación de desasosiego que puede durar horas“ (Alimaña 2015); „Ariana Harwicz, una bomba nuclear de la literatura argentina reciente“ (Friera 2014); „Un fuego, todos los fuegos, los de Harwicz, que hacen trizas cualquier convención, apostando por el riesgo, lo que caracteriza siempre a la mejor literatura“ (Dapelo 2016). Diese sind wiederum ein Beleg für den von Harwicz selbst konstatierten zerstörerischen ‚Trieb‘, den sie mittels des Schreibens katalysiert und kanalisiert (vgl. Zunini 2013 [Harwicz]).

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auf diese Eigenschaft von Harwicz’ Schreiben fokussieren, diese nachdrücklich hervorheben und Harwicz sowie ihre Texte bisweilen hierauf reduzieren. Harwicz selbst entgeht dieser Umstand keineswegs: „Todo tipo de bravuconadas, de rebeldías, el mercado las aplaude y le encanta porque las vende“ (Koch 2019 [Harwicz]). Obwohl sie angibt, dass ihr eine derartige Kommerzialisierung missfällt, kann nicht von der Hand gewiesen werden, dass sie nicht selbst auch dieses Image, wenn auch auf provokante Art und Weise pflegt und dadurch festigt. Bei der Auseinandersetzung mit der Selbstpräsentation von Autor*innen drängt sich die Frage nach der Identität auf: Als was versteht sich Harwicz angesichts ihrer polyglotten Biografie: als argentinische, jüdische, französische, polnische oder womöglich ‚vereinfachend‘ als lateinamerikanische Schriftsteller*in? Korreliert ihre Eigenwahrnehmung mit derjenigen der Medien und Verlage? Sind diesen Fragen in einem postnationalen (Literatur-)Zeitalter wie wir es aktuell, trotz der weltweiten Zunahme von Mauern und dem Ausbau des Grenzschutzes, erleben, überhaupt von Relevanz? Gerade vor dem Hintergrund, dass Identitätskonzepte nicht mehr länger als geschlossene, statische, unveränderbare Größen gedacht werden können, die durch den Geburtsort eines Individuums vorbestimmt werden, erscheint diese Frage als obsolet. Die eigene Identität entwickelt sich stattdessen in einem stets fortdauernden Aushandlungs- und Gestaltungsprozess (vgl. Guerrero 2009: 28). Handelt es sich somit bei der geografischen beziehungsweise nationalen Kategorisierung und Fixierung von Autor*innen nur um ein Hilfsmittel, das Verlagen, Buchhändler*innen und Leser*innen oder auch Literaturkritiker*innen ein Denken in Schubladen ausgehend von geografischen Regionen erleichtert? Dieser Punkt kann durch einen Gastbeitrag Harwicz’ in der argentinischen Tageszeitung Clarín näher veranschaulicht werden. In diesem reflektiert sie über das Ansehen der lateinamerikanischen Literaturen in Frankreich. Dieses schätzt sie als relativ gering ein, nachdem sie ihr eigenes Buch erst nach langer Suche in der hintersten Ecke des Buchladens neben einem großen Stoffteddybär finden konnte. Zugleich hinterfragt sie dabei die generelle Sortierung in Buchhandlungen nach der Herkunft von Schriftsteller*innen: A los franceses les gusta entrar a una librería y ver las secciones de los países, aunque nada tenga que ver después literatura y nacionalidad, yo no creo por ejemplo que mi escritura pueda pensarse desde lo latino ni desde lo francés, entonces cerca de la sección ‚literatura feminista‘ debería estar la ‚literatura apátrida‘. (Harwicz 2020a)

Aus Harwicz’ Sicht sagt die Kategorisierung nach Nationalitäten nichts über die Bücher, die ein*e Autor*in schreibt, aus. Sich selbst verortet sie in der Sektion ‚staatenlose Literatur‘.

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Für Harwicz’ Selbstverständnis als Schriftstellerin spielen die Zuordnung und Kategorisierung ausgehend von ihrem Herkunftsland, ihrer Muttersprache, ihrer kulturellen Zugehörigkeit oder ihrem Geschlecht keine Rolle: „[M]i escritura no es argentina, no es polaca, no es francesa, no es comunista“ (Audran 2015b [Harwicz]). Stattdessen zeigt Harwicz beim Schreiben die Konstruktion der Identitätskategorien auf, indem sie mit den daran geknüpften Erwartungen spielt und sie immer wieder aufs Neue bricht (vgl. Tentoni 2015 [Harwicz]): „‚¿[E]ntonces dónde escribo, desde qué plataforma? ¿Cuál es la referencia, el centro, la periferia, Europa, Sudamérica, la Francia profunda?‘“ (Tentoni 2015 [Harwicz]). Durch die Frage nach den Referenzen, dem Woher, zeigt Harwicz außerdem die Relativität der Differenzkategorien auf, die je nach Sprechort und Blickwinkel variieren können. Die Problematik der Zuordnung zu nur einer sozialen Kategorie illustriert Harwicz anhand des neuerdings gesteigerten Interesses und der damit verbundenen größeren Sichtbarkeit von lateinamerikanischen Schriftstellerinnen auf globaler Ebene. In diesem Zusammenhang komme die Vermutung auf, dass Schriftstellerinnen allein aufgrund ihrer sozialen Positionierung als Frau (und Feministin) und nicht etwa wegen ihres literarischen Könnens veröffentlicht werden würden: „[C]reo que es una trampa porque puede posibilitar que al grito de soy latinoamericana, mujer y tengo afinidades feministas, que entonces me publiquen“ (La Navaja Suiza 2015 [Harwicz]). In Harwicz’ Aussage kann überdies eine indirekte Kritik am Sexismus des Literatursystems gelesen werden. So werden literarische Erzeugnisse von Schriftstellern mit Lob und Anerkennung bedacht, ohne explizit das Geschlecht der Literaten hervorzuheben. Die Lobrede auf das literarische Werk von Schriftstellerinnen enthalte, so Harwicz, nicht selten eine Parenthese, in der mit Überraschung auf die Tatsache, dass es sich bei der Autorin um eine Frau handele, verwiesen wird (vgl. Pimentel 2017 [Harwicz])34. Eine ähnliche und gleichfalls machistische Praxis sei es zudem, Schriftstellerinnen allein wegen ihres ‚gemeinsamen‘ Geschlechts in eine geistige 34 Ferner werden als (Wert-)Maßstab für ‚gute Literatur‘ etablierte literarische männliche Größen gebraucht. Dabei werden absurde Vergleiche wie, dass Autorinnen wie Männer schreiben würden, gezogen (vgl. Valente 2009). Infolgedessen werden Schriftstellerinnen nicht als eigenständige Literatinnen wahrgenommen, sondern als weibliche Replikate deklariert, wie zum Beispiel „die neue Bolaño“ in Valeria Luisellis Fall (vgl. Bady 2015) oder „Fogwill en polleras“ im Fall der argentinischen Schriftstellerin Pola Oloixarac (vgl. Friera 2009). Die Grenze des Tolerierbaren überschritt der Madrider Verlag Drácena, der im Dezember 2016 die Neuauflage eines Romans der mexikanischen Schriftstellerin Elena Garro mit folgendem sexistischen Slogan auf dem Schutzumschlag bewarb: „Mujer de Octavio Paz, amante de Bioy Casares, inspiradora de García Márquez y admirada por Borges“ (Rodríguez Marcos 2017). Aufgrund vehementer Kritik sowie Protesten musste der Verlag schließlich die Buchbinde nachträglich entfernen.

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und literarische Traditionslinie zu stellen: „‚Entiendo que es un halago hacia mujeres consideradas fuertes, pero a los hombres no les sucede eso‘“ (Díaz de Quijano 2016b [Harwicz]). So wird Harwicz in der Presse immer wieder in ein und demselben Atemzug mit gleichaltrigen Argentinierinnen wie den Schriftstellerinnen Samanta Schweblin und Selva Almada genannt, mit denen sie, abgesehen von Alter und Geschlecht, nichts gemein hat (vgl. Corominas 2015; Díaz de Quijano 2016b; Gigena 2016; Scherer 2016): „[A]utoras como Ariana Harwicz, Selva Almada o Samanta Schweblin (todas nacidas en los setenta, todas escribiendo sobre hijos y relaciones difíciles)“ (Rosa 2015). Zu nennen sind ferner die wiederkehrenden Vergleiche von Harwicz und ihren Romanen mit der Britin Virginia Woolf oder der US-Amerikanerin Sylvia Plath: „Como si Sylvia Plath y Virginia Woolf se hubieran fusionado y en el mix atravesaran la energía del punk“ (Pasik 2018). Diese sind zunächst als Anerkennung von Harwicz’ Schreibstil zu werten und rühren auch da her, dass Harwicz selbst innerhalb ihrer literarischen Werke auf diese als Inspiratorinnen verweist. Daneben handelt es sich hierbei um eine Marketingstrategie. So wird das neue ‚Produkt‘, in diesem Fall das noch unbekannte literarische Werk Harwicz’, mit der (literarischen) Qualität eines sich bereits auf dem Markt und unter den Leser*innen erprobten Produkts, das heißt den literarischen Erzeugnissen renommierter und namhafter Autor*innen, in Verbindung gebracht. Darüber hinaus fällt an dem genannten Beispiel auf, dass ein Vergleich der Schriftstellerinnen und ihrer literarischer Projekte nicht ausreicht, sondern Harwicz’ Schreiben stets mit Extremen assoziiert wird. Trotz jener literarischer Referenzen versteht sich Harwicz nicht (ausdrücklich) als feministische Schriftstellerin (vgl. Tentoni 2014 [Harwicz]), sondern protestiert sogar explizit gegen eine derartige Zuschreibung, welche derzeit Konjunktur hat: „No me gusta cuando me dicen: ‚En tanto mujer latinoamericana feminista …‘ Corré el micrófono y no me pongas tantos aprioris. Tratá de no convertirme en un objeto de consumo, en un cliché“ (Frías 2019 [Harwicz]). In diesem Kontext stellt sich zugleich die Frage, inwiefern sich Harwicz’ Außenwahrnehmung im öffentlichen und medialen Diskurs als feministische Schriftstellerin zunächst hinderlich für eine weltweite Zirkulation ihrer Bücher erwies. Interessanterweise spekuliert über diesen Aspekt auch die Autorin einer Rezension der deutschen Übersetzung von Matate, amor, die DER SPIEGEL veröffentlichte, und in welcher Harwicz’ Debüt bezeichnenderweise als „Extremroman“ tituliert wird (Metzger 2019). Jedenfalls widersetzt sich Harwicz zuweilen fast schon aggressiv dem Versuch, sie und ihr literarisches Werk einer bestimmten Kategorie, in diesem Fall der feministischen Literatur, zuzuordnen: „‚[M]e siento violentada cuando dicen que escribo con el coño sangrante. No, ni con el coño sangrante ni no sangrante‘“

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(González 2016 [Harwicz]). Genauso wenig versteht sie sich selbst als politisch motivierte beziehungsweise engagierte Schriftstellerin. Stattdessen tritt sie nachdrücklich für eine Literatur ohne Etikette jenseits geografischer, kultureller oder sozialer Grenzen ein (vgl. Audran 2019: 431) Ähnlich verhält es sich mit Harwicz’ Konzept von Autorschaft, das nicht für sich die alleinige Deutungshoheit und Interpretationsmacht bezüglich des eigenen literarischen Textes beansprucht. Vielmehr betrachtet Harwicz sich nach Abschluss, Druck und Veröffentlichung ihres literarischen Textes als eine weitere Leserin und ihre Auslegung des Textes als eine plausible Lesart unter vielen (vgl. Zalgade 2017 [Harwicz]). Harwicz’ Aufgeschlossenheit gegenüber einer Exegese ihrer Bücher hat jedoch zur Folge, dass die Presse sie und ihr Werk nach Belieben ausdeuten und sie im Anschluss viel Energie aufbringen muss, um sich der Kategorisierung ihrer Literatur wieder zu entledigen: „Me han dicho – dice Ariana Harwicz – que se trata de un libro sobre la maternidad vista desde un lugar no convencional“ (Zunini 2013); „¿Me obsesiona la maternidad? No lo sabía“ (Cueva 2015 [Harwicz]). Unterdessen erinnert dieses Prozedere, zuerst Erwartungen zu schüren, um diese im Anschluss zu brechen, an Harwicz’ Faible für den Bruch sowie die Subversion im beziehungsweise mit dem Text (vgl. Manrique Sabogal 2017). Dessen ungeachtet ist für Harwicz’ eigenen literarischen Text sowie für ihr Konzept von Schriftstellerarbeit nicht entscheidend, von wo aus oder mit welcher Motivation sie schreibt: „[Harwicz] señaló que un escritor sólo tiene la obligación ética de trabajar con y en libertad“ (González 2016). Erst nach Abschluss des eigentlichen Textes, bei der Zirkulation und Vermarktung wirken sich diese Faktoren unter Umständen auf die Rezeption aus: Lo único que tiene que importar es el texto, lo otro son añadidos. Lo importante es el texto, el texto, el texto. Si después, el hecho de que viva en el campo pueda ser interesante porque aporte un cierto exotismo, o que soy medio judía y vivo pseudoexiliada, mejor, pero eso es para aportar notas de color. Repito, lo importante es el texto. (La Navaja Suiza 2015 [Harwicz])

Die Attribute, mit denen speziell in der gegenwärtigen Weltliteratur-Debatte Schriftsteller*innen als Weltbürger*innen beschrieben und verkaufsfördernd beworben werden, betrachtet Harwicz deshalb als dekoratives und für die Literatur, in anderen Worten, den Text, belangloses Beiwerk. Weitaus bedeutender und auffälliger als die Zuschreibung zu einer spezifischen Kategorie ist in Harwicz’ Fall die fehlende Kategorisierung, das heißt die Loslösung von bestehenden Identitätskategorien. Diese vollzieht sich bei Harwicz durch die Selbstbezeichnung als ‚Fremde‘ oder etwa ‚Nichtdazugehörige‘:

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Siempre me sentí extranjera, incluso estando en mi país hasta los 30 años. Siempre sentía que estaba en la diáspora, que venía de otro lado, que era una errante. Cuando emigré finalmente a París, y luego el segundo exilio al campo, a la Francia profunda, fue como si, paradójicamente, hubiera encontrado ahí mi identidad, mi identidad en la extranjería; a partir del campo, del paisaje, del bosque. (Manrique Sabogal 2017 [Harwicz])

Harwicz’ ‚Flucht‘ in Bezug auf die Fixierung ihrer eigenen Identität oder ihr (selbstgewähltes beziehungsweise freiwilliges) „doppeltes Exil“ (Audran 2015b [Harwicz; Ü. d. V.]) zunächst nach Frankreich und in einem zweiten Schritt von der Stadt aufs Land, weisen Parallelen zu dem im Kontext der Weltliteratur-Debatte konstatierten ‚modernen Nomadentum‘ polyglotter Schriftsteller*innen, nicht nur lateinamerikanischer Provenienz, auf. Es handelt sich dabei primär um Autor*innen, die sich nicht mehr nur an einem Ort der Welt zuhause beziehungsweise an diesen gebunden fühlen und dieses Gefühl der Entgrenzung auch zum Thema ihrer Literatur machen. Das trifft in gewisser Weise ebenfalls auf Harwicz zu: „Se exalta así la ‚condición nomádica‘ y la figura del ‚fugitivo cultural‘ como componentes de una identidad que ya no es unívoca – territorio y lengua y menos aún étnica – sino múltiple, capaz de esgrimir, según qué circunstancia o conveniencia, uno u otro pasaporte“ (Aínsa 2010: 60). Daraus kann geschlossen werden, dass der dynamische Zustand des Dazwischen es Harwicz möglich macht, je nach Situation die eine oder andere Identität anzunehmen. Gleichzeitig ist aber ihr Gefühl der Fremdheit oder ihr „Ausländerstatus“, wie sie ihn nennt, auch eine gezielte Entscheidung gegen eine Zugehörigkeit jedweder Art, sowohl in Argentinien, ihrem Herkunftsland, als auch in Frankreich, ihrem neuen Aufenthaltsland. Dementsprechend grenzt sie sich im Grunde genommen bewusst selbst aus, indem sie sich als Außenseiterin positioniert, was durch die Verlegung ihres Wohn- und Schreiborts in die französische Provinz zusätzlich verstärkt wird. Zu dieser Form der Inszenierung passt auch ihr vorsätzlich falscher Gebrauch des Begriffs ‚Exil‘ für ihren Umzug nach Frankreich, bei dem es sich nicht um eine aus der Not getroffene, sondern freiwillig gewählte Entscheidung handelte: „Me gusta usarla [la palabra exilio] en un contexto que no tiene nada que ver: yo me vine en el 2007, a estudiar, no tiene nada que ver con la década del 70. La uso para dar dramatismo, para darle todo la significación y el peso que es ir de un país a otro“ (Audran 2015b [Harwicz]). Auf der einen Seite knüpft sie mit dem Begriff an die Epoche der argentinischen Militärdiktatur an, die tatsächlich viele Schriftsteller*innen ins Exil zwang und in Teilen auch als gängiger literarischer Topos argentinischer Literatur fungierte. Auf der anderen Seite spielt sie damit auf das in der Vermarktung noch immer populäre Bild politisch verfolgter Schriftsteller*innen an.

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Mittels der Selbstrepräsentation als im Exil lebende Schriftstellerin verleiht Harwicz ihrem Werdegang und damit auch ihrer Autorfigur einen Hauch von Dramatik, wie es die Verlagsindustrie derzeit von Autor*innen insbesondere des Globalen Südens fordert, da sich mit einer derartigen Story sowohl das Buch als auch der*die Autor*in gut vermarkten lässt. Auf diese Weise erfüllt Harwicz zum einen die Erwartungen, die ausländische Leser*innen gegenüber argentinischer Literatur und Literat*innen hegen, während sie sie zum anderen auf ironische Weise ins Gegenteil verkehrt. 4.2.1.4 Positionierung im literarischen Feld Harwicz begreift sich, wie zuletzt erläutert, weder als explizit argentinische Autorin noch ihr literarisches Werk als Fortführung der argentinischen literarischen Traditionen mit ihren klassischen Motiven und Topoi. Genauso wenig fühlt sie sich dem Französischen und seinem literarischen Erbe etwa durch ihren Wohnsitzwechsel nach Frankreich verbunden. Anstelle von Kontinuität und Bewahrung von Tradition, praktiziert sie den Bruch mit den Gewohnheiten sowie den mit einer Nationalliteratur verbundenen Klischees und Bildern einer beispielsweise ‚spezifisch‘ argentinischen Form des Schreibens (vgl. Audran 2015b [Harwicz]). Ihre Verbindung zu Argentinien ist in ihren Romanen allein auf sprachlicher Ebene und damit nur in der Originalversion ausmachbar, wo sich dies im Gebrauch der spanischen Varietät der Bewohner*innen der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires, dem porteño, ausdrückt (vgl. Audran 2019: 431). Davon abgesehen, kommen ihre literarischen Texte vollkommen ohne geografische Angaben oder landestypische beziehungsweise regionalspezifische Gepflogen- und Eigenheiten aus (vgl. Audran 2015b [Harwicz]; Scott 2017; Zunini 2013 [Harwicz]). Entsprechend enthalten Harwicz’ literarische Texte jenseits der sprachlichen Nuancen nichts, was als ‚charakteristisch‘ oder gar archetypisch für argentinische Literatur gelten kann: „‚[E]llos [los personajes] están fuera del tiempo y un lugar preciso. Por fuera de una geografía ubicable, de una geografía única, como yo‘“ (Tentoni 2015 [Harwicz]). Wenn berücksichtigt wird, dass Regiolekte aus dem Spanischen nur schwierig in anderen Sprachen wiederzugeben sind, erhärtet sich der Verdacht, dass einer Übersetzung von Harwicz’ literarischem Werk durch den Wegfall der sprachlichen Feinheiten auf den ersten Blick nichts genuin ‚Argentinisches‘ mehr anhaftet. Der Eindruck, dass Harwicz mit ihrer ‚deterritorialisierten‘ Schreibweise nach einem Platz auf dem internationalen Buchmarkt strebt, kann indes durch ihren Gebrauch des porteño-Dialekts, durch welchen ihre Literatur weiterhin als regional verortet zu betrachten ist, widerlegt werden.

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Mit den in den 1970er-Jahren geborenen und derzeit in der Literaturszene diesund jenseits des Atlantiks aktiven argentinischen Schriftsteller*innen verbindet Harwicz weniger die gemeinsame Herkunft, sondern vorrangig ihr ähnliches Alter sowie die Tatsache immer wieder gemeinsam bei literarischen Veranstaltungen, Konferenzen und Buchmessen zugegen zu sein (vgl. Zalgade 2017 [Harwicz]). Bezeichnenderweise wurde Harwicz nicht in die im Mai 2017 im Rahmen der Feria Internacional del Libro de Bogotá (FILBO) neu veröffentlichten Liste Bogotá39-2017 des Hay Festivals aufgenommen (vgl. Cuéllar 2017). Zu den 39 Nominierten zählen immerhin auch sechs argentinische Autor*innen, darunter Samanta Schweblin. Die Ursache hierfür liegt jedoch in Harwicz’ Alter, die mit ihrem Geburtsjahr 1977 genau die Altersgrenze von 40 Jahren erreicht hatte. Ferner eint Harwicz mit ihren Altersgenoss*innen, bedingt durch ihren ähnlichen lebensweltlichen Kontext, ihr Interesse an aktuell in Argentinien und auf dem lateinamerikanischen Kontinent geführten soziopolitischen Debatten: „[H] ay esa complicidad inherente a la época, esa discusión inherente a lo que está flotando en el aire, a los temas que nos unen, […] temas que tenemos en común de manera obligada por estar bajo el mismo cielo, digamos, a nivel generacional“ (Zalgade 2017 [Harwicz]). Ihr Generationsverständnis, nicht nur hinsichtlich der gegenwärtigen argentinischen, sondern auch bezüglich der lateinamerikanischen Literaturen insgesamt, fußt somit weniger auf einem gemeinsamen literarischen oder ästhetischen Projekt, denn auf einer ähnlichen politischen Ausrichtung der Schriftsteller*innen (vgl. Scott 2016 [Harwicz]). Das sollte jedoch nicht mit einer generellen Politisierung der literarischen Texte jener Autor*innen verwechselt werden. 4.2.1.5 Übersetzungen und Literaturpreise Es mag verwundern, dass Harwicz’ literarisches Debüt Matate, amor (2012) zuallererst ins Hebräische übersetzt und 2014 bei dem Verlag Zikit Books in Israel veröffentlicht wurde. Ein Grund dafür ist sicherlich Harwicz’ Familiengeschichte und ihre persönliche Verbindung zu Israel (vgl. Chereque L. 2016 [Harwicz]): „Vengo de una familia clase media judía Villa Crespo“ (Lamberti 2019 [Harwicz]). Hebräisch bezeichnet sie deshalb auch als die Sprache ihrer Kindheit (vgl. Massot 2020 [Harwicz]). Damit lässt sich der Umstand erklären, weshalb Harwicz im September 2016 zum jüdischen Literaturfestival Séfer Barcelona in Spanien eingeladen wurde. Allerdings ist ebenso davon auszugehen, dass die Übersetzung ins Hebräische in Verbindung mit den Anstrengungen des israelisch-argentinischen, in Israel wohnhaften Verlegers Uriel Kon steht, der Mitbegründer des Verlagshauses Zikit Books und Gründer des Verlages Tesha Neshamot ist (vgl. Szpilbarg 2019: 152), bei letzterem wurden auch Harwicz weitere Romane veröffentlicht.

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Kon macht es sich zur Aufgabe, dem israelischen Lesepublikum lateinamerikanische Literaturen jenseits des Booms nahezubringen und orientiert sich bei der Auswahl seiner Autor*innen unter anderem am Verlagsprogramm argentinischer unabhängiger Kleinverlage wie beispielsweise Mardulce Editoria (vgl. Szpilbarg 2019: 153). Das ist der Verlag, der Harwicz’ Debütroman in Argentinien wiederauflegte. In Israel stieß Kon mit seinem Konzept auf positive Resonanz. So erfreuten sich dort Harwicz’ Romane großer Beliebtheit, was sich in Verkaufszahlen niederschlug, die zum Teil diejenigen Spaniens und Argentiniens übertrafen (vgl. Szpilbarg 2019: 153). Ungeachtet der überaus positiven internationalen Kritiken beschränkte sich Harwicz’ Bekanntheit und die Reichweite ihrer Romane über Jahre hinweg, wenn diese anhand der Übersetzungen gemessen wird, mit Ausnahme von Israel auf den hispanophonen Raum. Das änderte sich erst mit der im Spätsommer 2017 veröffentlichten englischen Übersetzung von Matate, amor unter dem Titel Die, My Love bei dem im April 2017 gegründeten und in Edinburgh ansässigen schottischen unabhängigen Verlagshaus Charco Press35. Charco Press spezialisiert sich auf gegenwärtige lateinamerikanische, noch nicht ins Englische übersetzte Literaturen und beabsichtigt, ähnlich wie der israelische Verlag, der Harwicz verlegt, den englischen Leser*innen die formale, stilistische und inhaltliche Diversität der lateinamerikanischen Literaturproduktion aufzuzeigen (vgl. Grosso 2020). Ermöglicht wurde Harwicz’ Übersetzung ins Englische, wie auch die Hebräische, durch das Übersetzungsförderungsprogramm Programa SUR des argentinischen Außenministeriums36, das seit 2009 weltweit Übersetzungen argentinischer Literatur bezuschusst (vgl. Martínez 2019 [Harwciz]). Der englischen Übersetzung folgten Übersetzungen ins Deutsche, Arabische, Kroatische, Polnische, Türkische, Rumänische, Portugiesische, Georgische, Italienische und zuletzt ins Französische, wo ihr Roman im Januar 2020 beim renommierten französischen Verlagshaus Éditions du Seuil veröffentlicht wurde, das

35 Zwischenzeitlich erschien nicht nur die englische Übersetzung von Matate, amor bei Charco Press, sondern auch die ihres zweiten Romans La débil mental mit dem Titel Feebleminded (2019). Für 2021 ist außerdem die englische Übersetzung von Precoz geplant. Seit Ende 2019 ist Harwicz’ Übersetzung von Matate, amor nicht nur in Großbritannien, sondern auch in den USA im Buchhandel verfügbar. 36 Weiterführende Informationen sowie eine kritische Analyse des argentinischen Übersetzungsprogramms Programa SUR liefert der Aufsatz „Entre el mercado y la política cultural: una mirada sociológica sobre la extraducción en Argentina. El caso del Programa Sur (2010– 2012)“ (Szpilbarg 2017).

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auch die französischen Rechte am Werk Gabriel García Márquez’ besitzt. Eine Übersetzung ins Griechische ist aktuell in Vorbereitung. Interessanterweise war die Übersetzung ins Französische durch Isabelle Gugnon, die beispielsweise auch Bücher von Samanta Schweblin, Rodrigo Fresán oder Juan Gabriel Vásquez ins Französische übersetzt, definitiv diejenige, die am längsten auf sich warten ließ. So erschien sie acht Jahre nach dem Original und nachdem Harwicz bereits drei weitere Romane geschrieben und international an Bekanntheit gewonnen hatte. Dieser Umstand mag verwundern, wenn bedacht wird, dass Harwicz bereits mehr als zehn Jahre in Frankreich lebt. Sie selbst empfand das Fehlen einer Übersetzung dagegen als produktiv und förderlich für ihr Schreiben: „[M]e gusta la impunidad de que los libros aun no estén traducidos al francés, y acá nadie lee español. No es que no quiera que se traduzcan, ¿no? Pero me encanta que no me entiendan, es como estar escondida, agazapada, todo el día“ (Tentoni 2014 [Harwicz]). Obwohl Harwicz, wie im Zitat deutlich, eine Übersetzung ihrer Bücher ins Französische nicht kategorisch ablehnte, erweckt es doch den Anschein, als wäre sie mit diesem Umstand nicht unzufrieden gewesen. Die fehlende Partizipation im französischen literarischen Feld bis 2020 bedeutete für sie letztlich mehr ‚Freiheit‘ (vgl. Pablos 2016 [Harwicz]). Die ‚Unsichtbarkeit‘ ermöglichte ihr ein ‚ungezwungenes‘, ‚unkontrolliertes‘ und nicht für ein Massenpublikum ‚weichgespültes‘ Schreiben jenseits der Anforderungen und Trends des lokalen Buchmarktes: „‚[N]o te pueden leer, no hay críticas, tus libros no están expuestos en las vidrieras de las librerías de la ciudad más cercana, no te invitan al Salón Literario local‘“ (Tentoni 2015 [Harwicz])37. 37 In Frankreich stieß Harwicz’ Schreibstil auf Hindernisse. Das wird deutlich, wenn Harwicz auf Twitter berichtet, wie ihr französischer Verleger ihr zu verstehen gab, dass das französische Lesepublikum (noch) nicht bereit für Harwicz’ neuen Roman Degenerado sei, in dem sich Harwicz in die Psyche eines pädophilen Mannes hineinversetzt, der vor Gericht des sexuellen Missbrauchs von Kindern beschuldigt wird: „Me cuenta mi editor en Francia que Francia no está preparada para una novela desde el punto de vista del violador, que por ahora prefieren la novela de víctima. Y Racine, y Céline, y los poetas malditos? Cada época elige la amnesia que le va mejor y sus escritores amigos“ (Harwicz 2020b). In einem Interview klärt sie später darüber auf, dass diese Entscheidung weniger mit dem Verlag oder etwa mit Frankreich zu tun habe, sondern vielmehr auf die Funktionsweisen und Gesetzmäßigkeiten des Buchmarktes allgemein zurückzuführen seien: „El mercado manda sobre lo que hay que leer, cómo hay que pensar, la ideología de lo que vende, de lo que se traduce, de lo que gana premios, de lo que se nomina […]“ (Zambrano Alvarano 2020 [Harwicz]). ‚Gegen‘ den Markt und dessen auferlegte Modediktate zu schreiben, versteht Harwicz deshalb als politisch notwendigen Akt: „Si me piden que escriba como mujer latinoamericana de 40 años, que es la demanda del mercado, entonces voy a escribir lo contrario, tomando riesgos, que es lo que hay que hacer“ (Zambrano Alvarano 2020 [Harwicz]).

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Dennoch ist nicht von der Hand zu weisen, dass es sich hierbei um eine bewusste Inszenierung und gezielte positive Umdeutung Harwicz’ handelt, mit der sie von ihrer eigentlichen Enttäuschung ablenkt. Bemerkenswert ist ebenfalls, dass Harwicz in Presseinterviews immer wieder aufs Neue darauf zu sprechen kommt, dass die Übersetzung ins Französische mit einer Reihe von Problemen verbunden war, die sie mit Verleger*innen und Übersetzer*innen andernorts in dieser Form nicht hatte: Yo vivo en Francia hace muchos anos, escribo con la intromisión, con el sonido del francés, y el libro, que iba saliendo en distintos países, se resistía a encontrar una editorial francesa. Y lo que sucede es que la traducción es, también, un asunto político. Y entonces a Francia le importó un carajo el Man Booker Prize. A los franceses les importa ellos mismos. Fue también un aprendizaje de geopolítica literaria. (Libertella 2019: 5 [Harwicz])

Nicht nur sprachlich, sondern auch genretechnisch entzieht sich Harwicz literarisches Werk einer pauschalen Zuordnung zu einer konkreten literarischen Gattung: „Harwicz pertenece a esa especie (más que tradición) de escritores que sería injusto clasificar como narradores o poetas – ni que hablar de novelistas o prosistas –“ (Scott 2015). Gerade in Frankreich führte Harwicz’ ‚Abweichung‘ von den Standardformaten der Textgattung dazu, dass ihr Roman bis zuletzt dort keinen Verleger fand, sondern wie sie selbst berichtet, zunächst als zu experimentell eingeordnet, und damit als nicht markttauglich beziehungsweise ‚verkaufsfähig‘ klassifiziert wurde: „‚Una editora que tiene muchos autores latinoamericanos y españoles dijo que era interesante, que había una ruptura, había una intención de transgredir en la forma, pero era demasiado vanguardista‘“ (France24 2020 [Harwicz]). Hier muss bedacht werden, dass die eindeutige Kategorisierung eines literarischen Textes in bestehende (Verkaufs-)Rubriken als eine Voraussetzung für dessen internationale Kommerzialisierung und Zugänglichkeit für eine größere, nicht spezialisierte Leserschaft gilt: „Agentes y editoriales determinan más que nunca la adscripción de un autor a un campo preciso, así como los modos de recepción de un texto ora locales (independientes) ora trasnacionales (grandes conglomerados)“ (Gallego Cuiñas 2014: 4). Da dieser Umstand bei Harwicz nicht gegeben ist, kann das als ein weiterer Grund für die zunächst nur eingeschränkte internationale Rezeption angeführt werden. Wenn berücksichtigt wird, dass Harwicz’ Bücher vonseiten der Verlage sehr wohl als Romane bezeichnet werden, widerspricht das der weit verbreiteten Meinung, dass der Roman als internationales Genre per se die globale Zirkulation von Anfang an erleichtere (vgl. Bencomo 2009: 44; Escalante Gonzalbo 2007: 55; Walkowitz 2015: 2 f.). Außerdem ist es erstaunlicherweise der Aspekt der erschwerten Kategorisierung, der bei der argentinischen Literaturkritik auf

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positive Resonanz stößt: „Una de las virtudes de este tipo de literatura es la resistencia a la categorización“ (Tomas 2014). Es weist vieles darauf hin, dass dieser Umstand schlussendlich auf die jeweils spezifischen Funktionsweisen der nationalen literarischen Felder zurückzuführen ist, bei denen jeweils andere Kriterien für eine Kanonisierung von Schriftsteller*innen ausschlaggebend sind. Der argentinische Fall ist insofern ein besonderer, da im literarischen Feld, beispielsweise im Unterschied zum spanischen, nicht eine kommerzielle Logik überwiegt, sondern dieses als weitgehend autonom betrachtet werden kann: ‚[C]onsagran‘ desde el mercado académico universitario y priorizan la ‚ilegibilidad‘ textual orientada a un lector más culto“ (Gallego Cuiñas 2014: 4). Aber nicht nur in Argentinien ist die Literaturkritik voll des Lobes über Harwicz’ literarisches Talent, wo Harwicz als „eine freudige Überraschung“ (Rey 2017 [Ü. d. V.]) oder „eine der größten argentinischen Schriftstellerinnen“ (Suarez 2014 [Ü. d. V.]) beschrieben wird; sondern ebenso in Spanien, wo sie als „argentinische Schriftstellerin, die für das Beste der gegenwärtigen lateinamerikanischen Literatur steht“ (Juristo 2016 [Ü. d. V.]) gehandelt wird; oder in Peru (vgl. Dapelo 2016) und El Salvador, wo sie als „neue und vielversprechende Stimme“ (Barci 2016 [Ü. d. V.]) hochgelobt wird. Es muss deshalb als eine bedeutende Errungenschaft Harwicz’ gewertet werden, dass ihr literarisches Werk schon vor dem Erscheinen einer englischen Übersetzung im Jahr 2017 auf beiden Seiten des Atlantiks in der spanischsprachigen Presse und Literaturkritik durchweg lobend und enthusiastisch rezipiert wurde. Angesichts der positiven Kritiken, die Harwicz erntete, ist es deswegen mehr als erstaunlich, dass ihre literarischen Texte im Original, abgesehen von der Ernennung ihres Debüts Matate, amor als Roman des Jahres 2012 durch die argentinische Tageszeitung La Nación, zunächst mit keiner Auszeichnung gewürdigt, geschweige denn für einen Literaturpreis nominiert wurden. Zugleich erinnert diese Feststellung an einen kritischen Kommentar des argentinischen Schriftstellers César Aira über die Literatur als Kunst sowie über die Kriterien, die ein literarischer Text zu erfüllen hat, um mit einem Literaturpreis bedacht zu werden: „La literatura, entendida como arte de la palabra, a mucha gente hoy día no le basta, no le alcanza, necesitan algo más, necesitan ideología, derechos humanos, sensibilidad social. Cuando hay pura literatura, como en mi caso, somos los escritores a los que no les dan premios“ (Martín Rodrigo 2016 [Aira]). Einen ähnlichen Standpunkt vertritt ebenso Harwicz, die für eine Literatur ohne Etikette plädiert und eine klare Trennung von Politik und Literatur fordert (vgl. González 2016 [Harwicz]). Hiermit ist gemeint, dass Harwicz’ literarische Texte sich nicht an gegenwärtigen gesellschaftlichen Trends oder Moden orien-

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tieren (vgl. Tomas 2015): „‚Lo que importa es la verdad del texto, no estar en manos de efectismos o mandatos, de modas o antimodas, todo eso que está fuera del texto y no importa‘“ (Néspolo 2019 [Harwicz]). Für Harwicz macht nicht das Thema den Kern eines literarischen Werks aus, sondern der Sprachgebrauch. Der persönliche Stil ist für sie das, was von Bedeutung ist und was sie an Literatur interessiert: „No pienso ni la escritura ni la literatura ni el arte en términos de temáticas ni de géneros ni ‚de qué se trata‘ una novela. […] Sin estilo no hay nada, pero sin temática puede haber una obra“ (Gigena 2017 [Harwicz]). Nicht grundlos wird deswegen in Harwicz’ literarischem Werk ihre Ästhetik einer „escritura radicalmente literaria“ (Rosa 2015) hervorgehoben. Harwicz’ literarische Erzeugnisse werden deshalb im medialen Diskurs immer wieder als ‚schwer‘ konsumierbar und deshalb nicht dem Literaturgeschmack der breiten Massen entsprechend charakterisiert (vgl. Barci 2016; Rosa 2015; Suarez 2014; Tomas 2015): „Ariana Harwicz no escribe para todos, su público probablemente no será el de una bestsellerista“ (Alimaña 2015 [Herv. i. O.]). Umso mehr mag daher überraschen, dass Harwicz’ Roman Matate, amor sowohl in Italien (vgl. Martínez 2019) als auch in Deutschland, laut dem C.H.Beck Verlag, zum Bestseller avancierte, was der Verlag mit einem Banner in Großbuchstaben auf der Verlagsinternetseite würdigte (vgl. Verlag C.H.Beck oHG 2020). Allerdings ist aufgrund fehlender Einsicht in die Absatzzahlen nicht abschließend zu klären, ob es sich bei der deutschen Übersetzung des Romans tatsächlich um einen Titel handelt, der sich sehr gut verkauft oder ob dieses Label letztlich nur Teil der Marketingstrategie ist. Indirekt begünstigt wurde die nun breitere Rezeption durch die Übersetzung des Romans Matate, amor ins Englische 2017, was als Zäsur in Harwicz’ literarischer Laufbahn zu betrachten ist. Durch die englische Übersetzung gelang ihr der Sprung in die internationale (Literatur-)Liga, wodurch sie auch ins Blickfeld englischsprachiger Preisjurys geriet. Die Bedeutung, die Übersetzungen in der Gegenwart zukommen und welche Auswirkungen sie auf das Ansehen von Schriftsteller*innen haben, ist auch Harwicz nicht unbekannt: „La Gran Muralla es siempre la traducción, dime si eres traducido y te diré quién eres“ (Harwicz 2020a). In Harwicz’ Fall ist das umso bemerkenswerter, da ihrer ‚neuen‘ Form der internationalen Sichtbarkeit und bis dato geringen Resonanz in der Öffentlichkeit direkt die Aufnahme in die Longlist des Man Booker International Prize 2018 folgte. Auf dieser reihte sie sich mit ihrem bis dahin nur ins Hebräische und Englische übersetzten Debütroman neben namhaften Autor*innen ein, wie der polnischen Schriftstellerin Olga Tokarczuk, der 2019 rückwirkend der Nobelpreis für Literatur 2018 verliehen wurde, oder dem preisgekrönten spanischen Autor Javier Cercas. Harwicz’ eigene Überraschung über die Nominierung

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erinnert indes an die zuvor zitierten Worte Airas, dass Literaturpreise gegenwärtig Büchern vorbehalten seien, die sich inhaltlich mit zeitgenössischen Themen auseinandersetzen: „‚La novela no atraviesa tópicos grandilocuentes, como la ETA o el Holocausto, que trabajan otras de las nominadas. […] Y sin embargo, sola, va defendiéndose a espadazos de lenguaje, de forma‘“ (Pasik 2018 [Harwicz]). Während das Cover der englischen Ausgabe seither die Nominierung für den Man Booker International Prize wie ein Gütesiegel ziert, verweist die deutsche Ausgabe zumindest in ihrem Klappentext auf die unter potenziellen Leser*innen hoch angesehene Nominierung. Bei beiden handelt es sich um gezieltes Marketing, mittels dessen der literarische Wert des Romans unterstrichen und damit dessen Absatz gesteigert werden soll (vgl. Bencomo 2006: 20). Der Nominierung folgten weitere für englischsprachige Literaturpreise wie die Aufnahme in die Shortlist des britischen Republic of Consciousness Prize 2018, der Kleinverlage und ihre Arbeit prämiert, sowie die des britischen Premio Valle Inclán 2018, der die beste spanische Übersetzung des Jahres auszeichnet. Darüber hinaus war Harwicz 2019 mit der deutschen Übersetzung von Matate, amor Finalistin des Internationalen Literaturpreises des Haus der Kulturen der Welt. Zuletzt stand sie mit der englischen Übersetzung von Matate, amor auf der Shortlist für den US-amerikanischen Best Translated Book Award 2020, mit dem die beste englischsprachige Übersetzung des Vorjahres gewürdigt wird. Obschon Harwicz, trotz zahlreicher Nominierungen, schlussendlich keiner der genannten Preise tatsächlich verliehen wurde, verdeutlicht ihr Beispiel, dass sie bereits durch die Nominierung ihr kulturelles Kapital steigern konnte, wodurch sie international mehr Aufmerksamkeit gewann, was sich also ebenfalls auf ihr symbolisches Kapital auswirkte (Wynne 2016: 591vgl.). An Harwicz’ Beispiel lässt sich des Weiteren erkennen, dass die Wertigkeit des symbolischen Kapitals keine nationalen Grenzen kennt (vgl. English 2005: 263), sondern auch in anderen Ländern seine Gültigkeit beibehält, was sich in einer wachsenden Zahl an Übersetzungen von Matate, amor widerspiegelt. Summa summarum konnte an Harwicz’ literarischem Werdegang veranschaulicht werden, inwiefern eine Übersetzung ins Englische zum einen Übersetzungen in weitere Sprachen begünstigt, zum anderen aber auch, inwiefern dadurch die Wahrscheinlichkeit steigt, für internationale Literaturpreise nominiert zu werden. Deutlich wurde in diesem Kontext, inwiefern in einer Übersetzung ins Englische gegenwärtig ein enormes Potenzial für den weiteren Werdegang von Schriftsteller*innen steckt (vgl. Walkowitz 2015: 11), speziell vor dem Hintergrund der Vormachtstellung des Englischen auf dem globalen Buchmarkt und dessen entsprechend höherem symbolischen Kapital (vgl. Escalante Gonzalbo 2007: 278). In dieser Hinsicht ähnelt Harwicz’ aktueller ‚Karriereverlauf‘ stark demjenigen der mexikanischen Schriftstellerin Valeria Luiselli, der auch durch die Über-

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setzung ins Englische der internationale Durchbruch gelang, wenngleich dieser viel früher als bei Harwicz erfolgte, wo zwischen der Erstveröffentlichung und der Übersetzung des Romans fünf Jahre lagen, während es bei Luiselli nur drei Jahre dauerte. Da in der gegenwärtigen Diskussion um Weltliteratur bei der Frage, welche Auswahlkriterien herangezogen werden, auch Literaturpreisen eine besondere Bedeutung zukommt (vgl. Sapiro 2016b: 8), befand sich Harwicz somit lange Zeit im Hintertreffen gegenüber anderen argentinischen beziehungsweise lateinamerikanischen Schriftsteller*innen in ihrem Alter. Diesen Rückstand konnte sie jedoch zwischenzeitlich eindeutig wettmachen. Gewissermaßen machen Literaturpreise Autor*innen erst zu ‚wirklichen‘ beziehungsweise, buchstäblich, ‚ausgezeichneten‘ Schriftsteller*innen: „What are a book’s chances to access international consecration when the author is not already a well-known figure, a ‚brand-name‘, endowed with a strong symbolic capital?“ (Sapiro 2016b: 8). Demzufolge dienen Literaturpreise als Aushängeschilder und Qualitätssiegel sowohl für die Verlage als auch die Preisträger*innen selbst, indem sie die publizistische sowie allgemeine Aufmerksamkeit auf die Autor*innen lenken (vgl. English 2005: 21). Insbesondere Schriftsteller*innen des Globalen Südens werden erst oft dann außerhalb ihrer Produktionsländer wahrgenommen, wenn ihnen ein Literaturpreis verliehen wurde beziehungsweise sie auf der Liste der Nominierten stehen (vgl. English 2005: 256). Letzterer Punkt konnte zweifelsfrei anhand von Harwicz’ Schriftstellerlaufbahn und ihrer, nach der Nominierung für zahlreiche Literaturpreise, nun internationaler Sichtbarkeit belegt werden. 4.2.1.6 Zwischenfazit Wenn der Weltliteratur-Status eine*r Autor*in (allein) auf der Grundlage eines transnationalen Schriftstellerwerdegangs verliehen werden würde, besäße Harwicz, ausgehend von ihrem Leben und Schreiben zwischen Argentinien, Spanien und Frankreich, die besten Voraussetzungen dafür. Doch die in ihrer Laufbahn existierende Verbindung zwischen Lateinamerika und Europa fungierte in ihrem Fall nicht etwa als Brücke für einen Zugang zum Buchmarkt dies- und jenseits des Atlantiks. An dieser Stelle sei daran erinnert, dass bereits ihr Debütroman zeitgleich in Argentinien und Spanien veröffentlicht wurde. Auch das transnationale kulturelle Kapital, erworben im Zuge ihres Studiums und in Form von Auslandsaufenthalten und Mehrsprachigkeit, kann in Harwicz’ Fall nicht als förderlich für eine Wahl ihrerseits in den weltliterarischen Korpus erachtet werden.

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In jedem Fall zeigt eine fehlende Benennung Harwicz’, dass die besagte Transnationalität in Schriftstellerlaufbahnen letzten Endes nicht der allein ausschlaggebende Faktor für eine Selektion und Denomination als Weltautor*in ist. Durch die Publikationen ihres literarischen Werks in unabhängigen lateinamerikanischen Kleinverlagen waren Harwicz’ Romane lange Zeit nur einem spanischsprachigen Lesepublikum vorbehalten. Gleichzeitig gelang ihr hierdurch jedoch, trotz der Tatsache, nicht in einem multinationalen Verlagshaus verlegt zu werden, eine Verfügbarkeit ihrer literarischen Texte innerhalb eines Großteils Mittel- und Südamerikas zu erreichen. Was für viele lateinamerikanische Schriftsteller*innen bedeutender als eine Zirkulation und Rezeption im europäischen oder nordamerikanischen Raum sein mag, kann zugleich als einer der Gründe, weshalb Harwicz’ nicht das Prädikat Weltautorin zugestanden wird, betrachtet werden. Eine bis dato fehlende Ernennung Harwicz’ unterstreicht, dass es sich bei der Weltliteratur-Debatte und der Frage, wer zu diesem erlesenen Zirkel gehört und wer nicht, um eine Diskussion handelt, die in Lateinamerika selbst oder doch zumindest, wenn es sich um lateinamerikanische Autor*innen handelt, nicht von besonderem Gewicht ist. Daneben offenbart dieser Umstand erneut, dass die Entscheidung darüber, wer als Weltautor*in anerkannt wird und wer nicht, nicht von der Region selbst, sondern von ‚außen‘ beziehungsweise von Akteur*innen des Globalen Nordens getroffen wird. Hieraus lässt sich ersehen, dass für die internationale Kanonisierung von Schriftsteller*innen und in einem weiteren Schritt ihre etwaige Ernennung als Weltautor*in die Anerkennung sowie das Prestige im nationalen oder, wie an dieser Stelle der Eindruck entsteht, lateinamerikanischen literarischen Feld eine geringe bis untergeordnete Rolle spielt. Es sei denn bei letzterem handelt es sich um den nordamerikanischen oder doch zumindest westeuropäischen Raum: „[L]a verdadera consagración de un autor o un libro es la publicación en las metrópolis, y en particular en Estados Unidos, desde luego“ (Escalante Gonzalbo 2007: 278). In Anbetracht der Tatsache, dass Harwicz’ literarisches Werk zwischenzeitlich nun auch ins Englische so wie in viele weitere Sprachen übersetzt wurde und mittlerweile in mehr als zehn Ländern verfügbar ist, verwundert es dennoch, dass die erwähnten Nominierungen für bedeutende Literaturpreise noch nicht den Ausschlag dafür gaben, Harwicz und ihren literarischen Texten den weltliterarischen ‚Titel‘ zu verleihen. Hier sollte daher ein zusätzlicher Faktor in Erwägung gezogen werden: Im Rahmen der Analyse hat sich herauskristallisiert, dass für Harwicz eine derartige Positionierung auf dem literarischen Weltmarkt weder von speziellem Anreiz ist noch zu ihren erstrebenswerten Zielen zählt. So zeichnet sich ihr literarisches Projekt gerade dadurch aus, dass sie sich aktuellen Trends verweigert, das litera-

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rische Establishment herausfordert und einer ‚Domestizierung‘ und Homogenisierung, wie sie vor allem von den multinationalen Verlagskonsortien ausgeht, entgegenwirkt. Nun ließe sich fragen, ob es somit die bewusste Inszenierung als Außenseiterin ist, die eine Rezeption, Übersetzung und globale Zirkulation von Harwicz’ literarischem Werk einschränkt, so dass sie mehr als Störfaktor in der aktuell geführten Weltliteratur-Debatte, denn als potenzielle Kandidatin für diesen ‚Titel‘ betrachtet wird. Dass es sich bei dieser Form der Platzierung beziehungsweise Positionierung letzten Endes um eine gezielte Marketingstrategie handeln kann, hob bereits Pierre Bourdieu hervor: „Diese unassimilierbaren Emporkömmlinge werfen sich mit umso mehr Überzeugung auf das Dissimilieren, als ihre anfänglichen Bemühungen um Assimilierung wenig erfolgreich waren“ (Bourdieu 2001: 417 [Herv. i. O.]). Deshalb ist zu vermuten, dass Harwicz die Strategie der Marginalisierten verfolgt, da ihr eine Anpassung an den derzeitigen Literaturbetrieb zuwider war beziehungsweise misslang und sie darin eine Möglichkeit sah, sich auf einem anderen Wege einen Namen im literarischen Feld zu machen. Hierfür spricht ebenso der Umstand, dass Harwicz über einen längeren Zeitraum hinweg den Einstieg in die Literatur versuchte, sie aber immer wieder mit ihrem Vorhaben scheiterte (vgl. Tentoni 2014): „Desde lo personal, yo estudié muchísimos años y nunca encontraba desde dónde escribir“ (Zunini 2013 [Harwicz]). Vor diesem Hintergrund stellt sich zudem die Frage, inwiefern ein literarisches Werk, das nicht an ein breites Lesepublikum gerichtet ist, überhaupt Weltliteratur sein kann, wenn es doch nur einen kleinen Kreis an spezialisierten und passionierten Leser*innen anspricht respektive erreicht. Ob dem tatsächlich so ist, wird die Analyse der intraliterarischen Ebene von Harwicz’ Erstlingswerk Matate, amor im Folgenden zeigen.

4.2.2 Intraliterarische Analyse 4.2.2.1 Inhaltsanalyse Matate, amor erzählt in medias res die Geschichte einer namenlosen jungen (mutmaßlich argentinischen) Frau, die mit ihrem (wahrscheinlich französischen) Mann und dem gemeinsamen Baby in einem abgelegenen Haus nahe des Waldes, fernab ihres Herkunftslandes, in der (wohl französischen) Provinz lebt. Während ihr Mann tagtäglich zur Arbeit fährt, bleibt sie mit dem Kleinkind im Haus zurück. Entsprechend ist ihr Alltag durch die häuslichen und familiären ‚Pflichten‘ und Erwartungen der heteronormativen patriarchalen Gesellschaft an eine Mutter und Ehefrau geprägt: „Estoy sentada en el sofá […] cuando mi querido se aparece

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con el calzón medio bajo y me dice: ¿por qué no deja de llorar?, ¿qué quiere?, vos sos la madre, tenés que saber. No sé qué quiere, le digo, ni la menor idea …“ (Harwicz 2012: 12 f.). Der Umzug in ein anderes Land, die Heirat und zuletzt die Geburt ihres Sohnes bilden für sie eine Zäsur zu ihrem einstigen Leben und ihrer Arbeit als Schriftstellerin. Zwar verkörpert sie nach außen das Bild der idealen Hausfrau und Mutter: „Abroché bien las medias de mi bebé y mi hombre. Los calzoncillos y las camisas. Me miré como una campechana ignorante que cuelga ropa y se seca las manos en la falda cuadrillé antes de entrar en la cocina“ (Harwicz 2012: 7). Doch die Diskrepanz zwischen Schein und Sein könnte nicht größer sein. Die ihr von der Gesellschaft zugewiesene Mutterrolle füllt sie keineswegs aus, sondern stößt sie ab und lässt sie verrückt werden: „Al final de la noche tengo tanta rabia acumulada que podría beber hasta el paro cardíaco o cometer un crimen. Eso me digo, pero no es verdad. […] Esto son mis días, un atascamiento continuo. Una lenta perdición“ (Harwicz 2012: 25). Der Versuch, dieser erdrückenden Atmosphäre zu entfliehen, wofür ihre Ausbrüche in den Wald und die Affäre mit einem Nachbarn stehen, entwickelt sich zu einem selbstzerstörerischen Impuls, der in ihrer Einweisung in die Psychiatrie durch ihren Ehemann gipfelt: Eso veía de mí. Una mujer que debía calmarse. Volverse una ameba. Irse a un lugar de sábanas y paredes blancas, bajo la lengua, pastillitas, pildoritas, comprimidos. […] Hasta que un día los otros internos inflan globos y pintan carteles de despedida con crayones y soy dada de alta y vuelvo a la sociedad. (Harwicz 2012: 114)

Doch ihre versuchte ‚Resozialisierung‘ sowie das Bestreben eines Wiederaufbaus der familiären Ordnung scheitern, weshalb der Protagonistin am Ende des Romans nur der komplette Bruch mit der Familie und der endgültige Ausbruch in den Wald beziehungsweise die Wildnis bleibt. Der gerade einmal 135 Seiten umfassende Roman erinnert durch seine Kürze, seinen Erzählrhythmus und die zahlreichen Seitenumbrüche an Luisellis Aussage in Los ingrávidos (2012) über die Schriftstellerarbeit mit Kind, wie dies auch bei Harwicz der Fall ist, in Folge derer ihr nur noch ‚Puste‘ für Romane „de corto aliento“ (Luiselli 2011: 14) – Kurzromane oder Novellen – bleibt. Die kurzen, nahezu fragmentarischen Mikrokapitel ohne Nummerierung oder Kapitelüberschriften liefern Momentaufnahmen aus dem monotonen bis hin zu isolierten Alltag der Protagonistin sowie dem dysfunktionalen Familien- und Eheleben der Figuren: „No importa que pasara la mañana entera pensando cómo traducir mi estado de encierro“ (Harwicz 2012: 63). In inneren Monologen und einer Form des Bewusstseinsstroms gewährt die Protagonistin und Ich-Erzählerin einen intimen Einblick in ihr aufgewühltes und bedrückendes, mitunter bipolares Seelenleben: „Quiero ir al baño desde que terminó el almuerzo pero es imposible hacer otra cosa que ser madre. […] Me arrepiento, pero ni siquiera lo puedo decir.

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[…] Mamá era feliz antes del bebé. Mamá se levanta todos los días queriendo huir del bebé, y él llora más“ (Harwicz 2012: 99). Lediglich an zwei Stellen im Roman wechselt die Erzählperspektive (vgl. Harwicz 2012: 29–31, 37–39), ohne jegliche Vorankündigung oder Markierung, in die Sichtweise des Liebhabers der Protagonistin, eines verheirateten Familienvaters. Darüber hinaus zeigt die Protagonistin großes Interesse am Eheleben ihrer Schwiegereltern, über den Verbleib ihrer eigenen Eltern ist nichts bekannt, das sie nicht nur detailliert schildert, sondern gedanklich kommentiert und verächtlich bewertet. Generell nimmt sie häufig die sezierende Beobachterperspektive aus sicherer Distanz ein und zieht sich in kritischen Momenten immer wieder in den naheliegenden Wald zurück, anstatt aktiv zu handeln (vgl. Harwicz 2012: 16 f., 64). Einen weiteren Schwerpunkt bilden die gedanklichen Ausschweifungen der Protagonistin hinsichtlich ihrer sexuellen Fantasien und Abneigungen, die zuweilen fast schon animalische bis hin zu gewaltvollen Zügen annehmen (vgl. Zunini 2013 [Harwicz]): „Le doy mi cuero cabelludo. Tomá. Le doy mi cerebro. Le doy mi piel estirada. Tironeá. Le doy mis pestañas, no me importa perderlas. Que mis ojos se sequen de un abrir y cerrar. Me ofrezco. Agarrá. Tené. Probá“ (Harwicz 2012: 111). Zum einen schlagen sich diese im Gebrauch von Tiermetaphern und Tiergeräuschen nieder: „Y cuando deseo soy una vaca con la cabeza atorada. Y si deseo soy un ciervo entrando al bosque como lo haría un novio a la iglesia“ (Harwicz 2012: 74); „¡Ahí voy, amor! Quiero gritar, pero me hundo más en la tierra agrietada. Quiero gruñir, berrear […]“ (Harwicz 2012: 8). Zum anderen kommen sie in der besonderen Anziehungskraft zur Geltung, die der Hirsch, den sie immer wieder aufs Neue im Wald aufsucht, auf sie ausübt: „A cierta hora aparece un ciervo que se me queda mirando de una manera brutal como no me miró nadie nunca. Quisiera abrazarlo, si fuera posible“ (Harwicz 2012: 17); „[N]ecesitaba encontrarme con la punta de sus cuernos. Ciervo mío, ciervito de mi corazón. Ciervo, ojalá estés“ (Harwicz 2012: 143). Die ungenierte, nüchterne, geradezu brutale Direktheit und Intensität mit der Harwicz jene Passagen beschreibt, ist zugleich Ausdruck für die sexuelle Unabhängigkeit und Selbstbestimmung, wie sie ebenso für die weiblichen Figuren in Harwicz’ Romanen La débil mental (2014) und Precoz (2015) charakteristisch ist (vgl. Barci 2016). Fast ausnahmslos überwiegt eine bedrückende, beklemmende, beinahe schon aggressive Atmosphäre, die zwischen kurzen Momenten der Euphorie und Szenen, in denen die Nerven der Protagonistin zum Zerreißen gespannt sind, changiert. Nicht grundlos gilt Matate, amor von Verlagsseite als ein „thriller campestre“ (Harwicz 2012 [Herv. i. O.]), ein ländlicher Thriller, wie es auf dem Buchrücken zu lesen

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ist und was bereits der Titel vermuten lässt. Wer allerdings mit einem finalen Showdown rechnet, wird enttäuscht, beinhaltet die Handlung des Romans insgesamt doch mehr dichte Beschreibungen als tatsächliche Geschehnisse. Die schnellen Schnitte und rapiden Szenenwechsel sind zweifelsohne auf Harwicz’ dramaturgische und filmische Ausbildung zurückzuführen (vgl. Audran 2015b). Sie, plus die Tatsache, dass sich die Handlung, abgesehen von wenigen Schauplatzwechseln (Haus der Schwiegereltern, Nachbarschaft, Strand, Psychiatrie, Landstraße, Wald), fast ausschließlich auf einen Ort, das Wohnhaus und den Garten der Kleinfamilie, konzentriert, begünstigen eine Adaptation des Romans und Inszenierung als Theaterstück. So wurde der Roman bereits in Israel, Spanien Uruguay und in Argentinien als Theaterstück aufgeführt und auch in Brasilien ist eine Theateradaption geplant. Thematisch kann Harwicz’ Roman wegen seines unkonventionellen Umgangs mit Mutterschaft, der Abneigung der Protagonistin gegenüber ihrem eigenen Kind sowie ihrem Familienleben und das Gefühl des Verlusts von Selbstbestimmung mit der 2015 durch die israelische Soziologin Orna Donath angestoßenen Regretting Motherhood-Debatte in Verbindung gebracht werden. Die von Donath veröffentlichte Studie beschäftigt sich mit Müttern, die entgegen der gesellschaftlichen Erwartungen und des Konsens nicht ihr Glück und ihre Erfüllung in der Mutterschaft fanden und dies öffentlich bekennen (vgl. Donath 2016). Durch die Beschäftigung mit diesem heiklen Thema, noch vor Veröffentlichung der Studie, spricht Harwicz in gewisser Hinsicht ein gesellschaftspolitisches Tabu an. Zwar formuliert sie in Matate, amor keine offene Kritik an der heteronormativen patriarchalen Gesellschaft und ihrer Geschlechterordnung noch ist dies ihre Intention, zwischen den Zeilen ist aber dennoch ihre ablehnende Haltung lesbar: „‚La mujer está acosada por la maternidad, aún se considera un deber‘“ (Díaz de Quijano 2016b [Harwicz]). Das macht deutlich, dass Harwicz auch vor der literarischen Auseinandersetzung mit brisanten und im öffentlichen Diskurs umstrittenen Themen nicht zurückschreckt: „Hay en Matate, amor una mujer que se emancipa menos de algún malentendido régimen machista o patriarcal, que del mutante, camaleónico régimen familiar, invariablemente acosador y demandante“ (Scott 2017 [Herv. i. O.]). Nichtsdestotrotz, wie Harwicz selbst betont, handelt es sich hier weniger um eine politisch motivierte Entscheidung, sondern vielmehr um ein persönliches Bedürfnis (vgl. Cueva 2015 [Harwicz]). Den Titel ihres Romans versteht sie daher nicht als einen Mordaufruf gegenüber dem Ehemann der Protagonistin, wie fälschlicherweise auf den ersten Blick angenommen werden könnte, sondern vielmehr als einen selbstzerstörerischen Akt der Protagonistin gegenüber sich selbst: „La frase: ‚matáte, amor‘ es un acto de rebelión. De insurrección con ella misma (Garrido

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González 2013 [Herv. i. O., Harwicz,])“38. Tatsächlich entlädt sich die Gewalt der Protagonistin, obgleich an mehreren Stellen des Romans jene moralische Grenzüberschreitung zu geschehen droht, nicht gegen den Ehemann oder das eigene Kind, sondern primär gegen sich selbst (vgl. Harwicz 2012: 9, 21, 56, 61, 62): „Con una mano sostengo a mi nene, con la otra un raspador. Con una mano preparo la comida, con la otra me apuñalo. Qué bueno tener dos manos. Qué práctico“ (Harwicz 2012: 49); „Ya me quemé las yemas, ya me abrí la cabeza, ya me tajeé entera“ (Harwicz 2012: 67). Laut Harwicz handelt es sich entsprechend bei der Beziehung zwischen Mutter und Kind um eine andere – unkonventionelle –, aber dennoch existente, Form der Mutterliebe. Deshalb sieht sie als Autorin nicht die Gefahr gegeben, dass die Protagonistin, bedingt durch ihre psychische Überforderung, letztlich doch ihrem Kind gegenüber gewalttätig werden könnte. Schlussendlich überlässt Harwicz aber das letzte Urteil den Leser*innen selbst und gibt durch das mehr oder weniger offene Ende keine Richtung vor (vgl. Garrido González 2013 [Harwicz]). 4.2.2.2 Autofiktion in Matate, amor Selbst wenn Harwicz die Frage, ob es sich bei ihrem literarischen Debüt Matate, amor um ein autofiktionales Werk handle, verneint, sind die autobiografischen Schnittstellen zwischen der Protagonistin und Ich-Erzählerin des Romans und dem außerliterarischen Leben der Autorin für aufmerksame Leser*innen offenkundig (vgl. Castillo 2017 [Harwicz]). Diese Tatsache ist vorrangig auf den Entstehungskontext von Matate, amor zurückzuführen: Harwicz schrieb den Roman nach der Geburt ihres ersten Sohnes und ihrem Umzug in ein Dorf in der französischen Provinz, in einem Zustand, den sie selbst nachträglich als eine Form von ‚postnataler Depression‘ beschreibt: „La escribí en un estado de aislamiento, de desesperación. No diría que en depresión pero sí un estado de gran angustia que sentí entonces. Aquella (primera) novela me salvó de todo eso“ (Silva 2016 [Harwicz]). So handelt der Roman von einer Immigrantin, die mit ihrem Mann und dem gemeinsamen Kleinkind auf dem Land lebt, und die im Verlauf der Handlung immer tiefer in eine persönliche Krise gerät. Entsprechend teilen inner- und au-

38 Tatsächlich kommt es im Roman selbst dazu, dass die Protagonistin jenen Imperativ formuliert, wenngleich sie diesen nicht direkt, sondern nur gedanklich artikuliert und er nicht allein gegen ihren Mann, sondern gegen die versammelten Gäste eines Gartenfestes gerichtet ist: „Mátense todos. Como era costumbre, tocó a mi puerta. Amor, reina, gorda, mami, preciosura, mi chúcara, decía, ya no sé cuántos nombres tuve. Y yo nada“ (Harwicz 2012: 146).

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ßerliterarisches Ich wesentliche biografische Eckdaten, obgleich Harwicz an keiner Stelle tatsächlich explizit wird beziehungsweise diese direkt benennt. Folglich taucht Harwicz selbst ebenfalls nicht namentlich als Figur der literarischen Welt auf. In diesem Zusammenhang stellt sich deshalb die Frage, inwiefern, wenn die Homonymie zwischen Erzählerin, Protagonistin und Autorin nicht gegeben ist, überhaupt von dem Genre Autofiktion die Rede sein kann. So gilt diese doch als eines der Kriterien par excellence des Genres: „[U]n género literario reciente, cultivado por aquellos autores que utilizan su nombre real para narrar historias más o menos cernadas [sic] a una supuesta experiencia autobiográfica“ (Pozo García 2017: 17). Daneben finden sich aber auch Gegenstimmen, die der Kategorie Autofiktion ebenso literarische Werke zuordnen, in denen Autor*in und Erzähler*in beziehungsweise Protagonist*in keine namentliche Identität aufweisen (vgl. Pozo García 2017: 14). Dieser Widerspruch spricht wiederum für die bisher noch nicht abgeschlossene, eindeutige Spezifizierung und Abgrenzung des Begriffes als solchen. Gleichzeitig ist eine gewisse Übereinstimmung zwischen Autor*innen und ihren Figuren, unabhängig des literarischen Genres, aufgrund der Tatsache, dass es sich dabei um ihre Schöpfer*innen handelt, nicht von der Hand zu weisen: „[T]odo personaje es, en cierta medida, un reflejo de su autor“ (Pozo García 2017: 12). Dass die Homonymität in Matate, amor nicht gegeben ist, liegt daran, dass weder die Identität der Figuren noch der Ort der Handlung näher spezifiziert werden. Vielmehr handelt es sich in der Mehrheit um namenlose Charaktere, randständige Figuren, denen, wie Harwicz’ medialen Inszenierungen von sich selbst, ein Gefühl von Fremdheit gemein ist: „‚Las tres [novelas] transcurren en la marginalidad, en las fronteras, con personajes asfixiados, desesperados, que huyen‘“ (Manrique Sabogal 2017 [Harwicz]). Die Tatsache, dass die Protagonistin im Roman namenlos bleibt, unterstützt laut Harwicz den Glaube der Protagonistin, ein ‚Niemand‘ zu sein, was letztlich auch der Grund dafür ist, dass andere Figuren über sie urteilen und ihr ihre eigene Handlungsfähigkeit absprechen: „She feels she is nothing: neither mother, nor wife, nor writer, not even a foreigner. She is a caricature. […] She exists according to how the others – her neighbours, in-laws, husband, lover, baby, even reader – see her and categorise her“ (The Booker Prizes 2018 [Harwicz]). Durch das Fehlen eines Namens möchte Harwicz unterstreichen, dass die Protagonistin nur in der Funktion existiert, die ihr die Gesellschaft zuweist: „‚She is unnamed because she only has that role that society gives her: she is a mother, a wife, a lover […]‘“ (Rothlisberger 2018 [Harwicz]).

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Dennoch merkt Harwicz an, dass, unabhängig des Handlungsorts des Romans, es die Parallelen zu ihrer eigenen Biografie seien, die Leser*innen und Literaturkritiker*innen aufhorchen ließen und Vermutungen aufstellen ließen. Jene Übereinstimmungen seien offensichtlich und daher nicht zu verleugnen. Das sei letztlich auch für die Vergleiche in der Literaturpresse zwischen Protagonistin beziehungsweise Erzählerin und ihrer eigenen extraliterarischen Person ausschlaggebend (vgl. Zunini 2013 [Harwicz]). Nichtsdestotrotz handele es sich bei der Protagonistin keinesfalls um ein originalgetreues Abbild Harwicz’ noch erzähle Harwicz im Roman von ihrem eigenen Leben, sondern die Protagonistin sei eine Erfindung ihrerseits: „Ich habe die Erzählerin komponiert, wie einen Frankenstein, Golem oder Superman“ (Meier 2019 [Harwicz]). Die Absurdität dieser ständigen Vergleiche zeigt Harwicz in gewisser Weise durch einen, wohl ironisch gemeinten, Kommentar im Interview mit dem WDR auf, in welchem sie indirekt dem Roman die Schuld an ihrer Scheidung mit ihrem ersten Mann gibt: Ich habe immer gesagt: An dem Tag, an dem sie, mein Mann und meine Schwiegereltern, den Roman lesen, reiche ich die Scheidung ein. Sie haben ihn bisher nicht lesen können, weil er noch nicht auf Französisch erschienen ist. Und ich bin jetzt schon geschieden. Sie haben aber doch Passagen des Romans gelesen, allerdings nur mit Hilfe des Google-Übersetzers. Wahrscheinlich hat der mein Buch von den Metaphern und dem Humor befreit und alles wörtlich wiedergegeben. Ich glaube, deshalb ist es zur Scheidung bekommen. Der Google-Übersetzer ist der Schuldige!. (Wenzel 2019 [Harwicz])

Interessant ist an Harwicz’ Aussage, dass sie hier, wenn auch auf humoristische Art und Weise, die ‚negativen‘ Konsequenzen einer (schlechten) Übersetzung aufzeigt. So hatte die Übersetzung im besagten Fall die De-Ironisierung von Harwicz’ Sprache und damit auch dem literarischen Text zur Folge, dessen Essenz dadurch verloren ging. Als weitaus bedeutender hinsichtlich ihrer persönlichen Beziehung zum Text bezeichnet Harwicz dagegen das atemlose, staccatohafte Erzähltempo des Romans, das bei der Lektüre zum Ausdruck komme und ihren persönlichen (Schreib-)Zustand und Alltagsrhythmus nach der Geburt ihres Sohnes widerspiegele (vgl. Zunini 2013 [Harwicz]): „[E]n lo anecdótico [la novela] no tiene nada que ver con mi vida, pero sí en el sentimiento y en cierta disposición anímica“ (Verdile 2017 [Harwicz]). Zugleich kann Matate, amor vor dem Hintergrund, dass es sich hierbei um Harwicz’ literarisches Erstlingswerk handelt, auch im übertragenen Sinne als Harwicz’ Kreation verstanden werden: „[P]odemos pensar que se trata, en esta primera novela escrita fuera de Argentina, de un parto de sí mismo en tanto escritora, una vuelta a las materias y las sonoridades de los orígenes sublimadas en una obra“ (Audran 2015a: 97). Hiermit ist gemeint, dass Harwicz mit dem Roman zur Schriftstellerin wurde, das heißt im literarischen Feld debütierte.

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4.2.2.3 Harwicz’ Autorfigur und -bild in Matate, amor In der Protagonistin und der Handlung des Romans Matate, amor sind, wie zuvor angesprochen, zahlreiche Überschneidungen mit dem außerliterarischen Leben und der tatsächlichen Autorperson Ariana Harwicz ausmachbar. Die, wenn auch nicht lückenlos, vorhandenen Angaben in Form der Figurencharakterisierung ergeben im Verlauf des Romans ein Ganzes, das Autorbild, das Harwicz den Leser*innen in ihrem literarischen Debüt vermittelt und mittels welchem sie den Einstieg in die Literaturwelt vollzog: „No sólo se fabrica el libro […] sino que sobre todo se fabrica la imagen del autor, porque eso es lo que va a venderse“ (Escalante Gonzalbo 2007: 303). Bereits zu Beginn des Romans wird deutlich, dass sich die Protagonistin nicht als Teil ihrer nach außen harmonisch wirkenden Kleinfamilie betrachtet, welche bis auf wenige Momentaufnahmen nicht zu existieren scheint: „Acá estamos los tres juntos para una foto familiar. Brindamos por la felicidad del bebé y bebemos las cervezas, mi hijo sobre su sillita mastica una hoja“ (Harwicz 2012: 9); „La vida fluye. Y también, durante algunos kilómetros hacia el sur, fuimos una familia tipo, madre-padre-hijo, que lleva protector solar número 25, termo y abrigo para el atardecer“ (Harwicz 2012: 131). Stattdessen baut sie konsequent zwei Fronten auf: Auf der einen Seite sieht sie ihren Mann und das Baby, die beide voll des Glückes sind, auf der anderen Seite sich selbst, die nicht so wirklich dazugehören möchte und dem jungen Familienglück nichts abgewinnen kann: „Parece que el bebé se cagó y tengo que comprarle la torta de cumple mes. Otras madres seguro que la hacen ellas mismas. […] Las otras al segundo de parir suelen decir ya no imagino mi vida sin él, es como si hubiera estado desde siempre, pfff“ (Harwicz 2012: 8). Deshalb ist sie immer wieder versucht, dieses scheinbare Familienidyll zu zerstören beziehungsweise aus ihm auszubrechen: „Estaba a pocos pasos de ellos, oculta entre malezas. Los espiaba. ¿Cómo es que yo, una mujer débil y enfermiza que sueña con un cuchillo en la mano, era la madre y la esposa de esos dos individuos?“ (Harwicz 2012: 7). Jedoch hält sie sich jedes Mal aufs Neue zurück und es kommt nicht zum bereits erwarteten Gefühls- beziehungsweise Gewaltausbruch und zur Katastrophe. Nur einmal überschreitet sie die letzte moralische Hemmschwelle und schafft vollendete Tatsachen: Als sie nachts das Gewimmer ihres zuvor bei einem Unfall verwundeten Hundes nicht mehr länger ertragen kann, holt sie das Gewehr des Schwiegervaters und erschießt ihn kurzerhand, ohne mit der Wimper zu zucken: „Apunté y sin pensar en nada, pero con actitud de soldado israelí, escuché en mi cabeza que me daban la orden. ¡Fuego! ¡Fuego, carajo!, y disparé el primer tiro de mi vida“ (Harwicz 2012: 46). Hier fällt der direkte Vergleich der Protagonistin mit einem israelischen Soldaten ins Auge. Einerseits kann er als eine versteckte

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Anspielung auf Harwicz’ eigene israelische Abstammung interpretiert werden und noch dazu als eine weitere mögliche Parallele zwischen ihr und der Protagonistin gelesen werden. Andererseits ist die Darstellung des israelischen Soldaten als gnadenloses und nur den ihm erteilten Befehlen gehorchendes Wesen äußerst drastisch und kann auch als Kritik Harwicz’ an Soldaten im Allgemeinen und israelischen Soldaten im Besonderen gelesen werden. Ein wachsendes Gefühl von Fremdheit, Distanz und Exzentrizität durchzieht praktisch die gesamte Entwicklung der Protagonistin und spitzt sich bis zu ihrem endgültigen Bruch mit der Familie am Ende des Romans dramatisch zu: „Yo no entro porque soy una marginal, no sé hablar sin insultar, espío mi propia casa y hace días que no me baño“ (Harwicz 2012: 68). In diesem Zusammenhang fällt auf, dass es gerade das Bewusstsein über die eigene Abweichung von der Norm(alität) ist, das die Selbstwahrnehmung der Protagonistin prägt: „¿Se da cuenta él? De todas las bellas y sanas mujeres que hay en la región se vino a enganchar conmigo. Un caso clínico. Una extranjera. Alguien que debería ser clasificada de incurable“ (Harwicz 2012: 9). Hierbei alterisiert sie sich einerseits auf der Grundlage ihrer anderen Herkunft, die sie als problematisch betrachtet, andererseits konstruiert sie sich davon ausgehend als ‚krank‘ und von den anderen Frauen der Region, dem ‚Normalfall‘ beziehungsweise ‚Standard‘, abweichend. Fast schon überrascht fragt sie sich daher, weshalb sie niemand festnimmt und abschiebt (vgl. Harwicz 2012: 18). Zwar versucht sie den Anschein nach außen hin zunächst aufrechtzuerhalten und unternimmt immer wieder Anstrengungen diesbezüglich: „Ahí voy, digo, y soy una falsa mujer de campo con una pollera roja a lunares y el pelo florecido. Rubia, traeme, digo con mi acento“ (Harwicz 2012: 9). Gleichwohl überwiegen am Ende in ihrem Inneren die Zweifel und Widersprüche an dessen Plausibilität: „¿Una mujer normal, de una familia normal, pero una excéntrica, desviada, madre de un hijo y con otro, quién sabe a esta altura, en camino“ (Harwicz 2012: 8). Ihre Umwelt, speziell ihr Mann und ihre Schwiegereltern, verstärken das bereits vorhandene Fremdheitsgefühl zusätzlich: „La vez que vinieron mis suegros a pasar el día y yo preparé el almuerzo. El menú: croquetas de arroz con arroz. Y todos se ríen de mí“ (Harwicz 2012: 16). Beide Seiten vermitteln ihr stets unmissverständlich, sich bessern zu müssen, wenn sie Teil der Gesellschaft sein möchte: „Controlate, dice, no se te entiende nada si hablás de corrido. ¿Por qué no hacés un curso de pronunciación? ¿Por qué no intercambiás idiomas con algún aldeano?“ (Harwicz 2012: 106). Dabei werden sowohl Bezug auf ihre nicht ausreichend vorhandenen Sprachkenntnisse als Ausländerin genommen (vgl. Harwicz 2012: 64) wie auch ihre bisher noch nicht erfolgte Arbeitssuche und die Erziehungsweise ihres Sohnes bemängelt (vgl. Harwicz 2012: 22 f.). Selbst ihr Äußeres wird vonseiten der Schwiegermutter getadelt (vgl. Harwicz 2012: 63).

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Allen Unterstellungen gemein ist der Fokus auf die Mängel und Unvollkommenheit, die die Protagonistin scheinbar aufweist und die Kritik an ihrem passiven, ‚unproduktiven‘ Dasein in ihrer ‚bloßen‘ Funktion als Mutter39. An ihrer Art und Weise, wie sie die Reproduktionsarbeit verrichtet, nehmen sie jedoch ebenso Anstand: „¡Podrías empezar a cuidar mejor la casa!“ (Harwicz 2012: 43). Das Muttersein konsumiert ihren Alltag vollständig, weshalb sie andere Bedürfnisse und Aufgaben in der Folge vernachlässigt: „Yo misma, letrada y graduada universitaria, soy más bestia que esos zorros desahuciados con la cara teñida de rojo y un palo atravesándoles la boca de par en par“ (Harwicz 2012: 7). Insgesamt entsteht der Eindruck, als führe sie eine bessere Beziehung zur Wildnis und harmoniere mehr mit dieser, als den sie umgebenden Menschen: „Soy una bestia que respira lento y pesado, que saca el aire al resto“ (Harwicz 2012: 62). Das wiederum lässt sich damit erklären, dass ihr die in der Gesellschaft verbindlich geltenden und gemeinhin anerkannten Regeln generell widerstreben, da sie sich durch diese in ihrem Handeln beschränkt fühlt (vgl. Audran 2015a: 93). Hierfür spricht auch die Tatsache, dass sie, wie sie an anderer Stelle zugibt, am liebsten ihren Sohn im Wald zur Welt gebracht und mit ihm ein Leben fernab der Zivilisation und ihrer herrschenden Ordnung und Gesetze geführt hätte: „Yo, que quería parir un hijo no declarado. Sin registro. Sin identidad. Un hijo apátrida, sin fecha de nacimiento ni apellido ni condición social. Un hijo errante. No parido en una sala de partos sino alumbrado en el rincón más oscuro del bosque“ (Harwicz 2012: 68). In gewisser Weise erinnern ihre Sehnsucht nach der Natur und ihre mitunter animalischen Impulse an Franz Kafkas Die Verwandlung (1912). Während sich Gregor Samsa mit seiner Verwandlung zum Käfer gegen seine Familie und die für ihn untragbaren Zustände auflehnt, rebelliert die Protagonistin von Harwicz’ Roman durch ihre Ausflüchte in den Wald gegen die ihr aufgezwungenen Verhaltensnormen. An ihrer Haltung und Einstellung ändern letzten Endes auch ihr Aufenthalt in der Psychiatrie und der Versuch einer ‚Reintegration‘ in die Gesellschaft nichts:

39 Im Kontrast zu jenen Beanstandungen und dem ihr von der Gesellschaft auferlegten Optimierungszwang steht die schöngeistige, künstlerische Neigung der Protagonistin, welche eher durch Reflexion als durch aktives Handeln geprägt ist und welche die sie umgebenden Figuren offenbar verkennen beziehungsweise sich weigern zu akzeptieren: „No importa que caminara a lo largo del río seco y verduzco recorriendo mentalmente mil palabras sin encontrar la correcta. […] No importa si pensás en un soneto de Shakespeare si hurgás en tu conciencia buscando un minuto en el que hayas sido libre y no lo encontrás. No importa el cerebro y sus referencias, sus elucubraciones, su indagación de símbolos, su afán. Importa qué haces, adónde vas, si te movés“ (Harwicz 2012: 63).

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„Mi esposo dijo un chiste para alivianar la situación, ya estás afuera, ahora vamos a poder vivir en paz. Y me saludaron como dándome a entender que estaba lista, que tenía el diploma, que me fuera a vivir otra vez“ (Harwicz 2012: 142). In mancher Hinsicht ist es die Protagonistin selbst, die die genannten Kritikpunkte aufgreift und noch dazu wechselseitig verstärkt, indem sie sie auf sich bezieht und sich auf diese Weise selbst schlechtmacht: „Y soy una mujer que se dejó estar y tiene caries y ya no lee. Leé, idiota, me digo. Leéte una frase de corrido“ (Harwicz 2012: 9). Dabei beruft sie sich vorrangig auf ihre persönliche Vergangenheit, ihre Vorgeschichte, von der die Leser*innen nur mittels einzelner rückwärtsgewandter Gedankengänge der Protagonistin erfahren. Auf die Art greift Harwicz in diesen Passagen in sublimer Weise den Topos der Nostalgie auf. Selbst wenn die Bezüge auf das frühere Leben der Protagonistin keineswegs explizit sind, wird bei der Lektüre klar, dass sie zuvor ein anderer Mensch gewesen sein muss. Bei der Nostalgie handelt es sich um ein gängiges Motiv der gegenwärtigen lateinamerikanischen Literaturproduktion, speziell von Schriftsteller*innen, die an einem anderen, als ihrem Herkunftsort schreiben (vgl. Aínsa 2012: 144). Das ist besonders vor dem Hintergrund interessant, dass sich Harwicz, wie bereits thematisiert, selbst als ‚Exilantin‘ versteht (vgl. Audran 2015b [Harwicz]; Gigena 2017 [Harwicz]; Manrique Sabogal 2017 [Harwicz]). Im Mittelpunkt jener nostalgischen Anwandlungen steht im Fall der Protagonistin ihr akademischer und intellektueller Lebensweg, an den sie stets das volle, aber unberührte Bücherregal erinnert (vgl. Harwicz 2012: 16). Diesen, wie auch ihre Faszination für die Literatur insgesamt, gab sie im Zuge ihrer Ehe und der Geburt ihres Sohnes sowie dem damit verbundenen Umzug in ein anderes Land auf: „Intento concentrarme en Virginia Woolf, regalo de mi hombre, pero tengo demasiada leche“ (Harwicz 2012: 16); „Más tarde logré leer una página y media de Plath, después del embarazo leo cada vez más lento“ (Harwicz 2012: 17). Deshalb überträgt sie ihre wohl ehemals ehrgeizigen Bestrebungen nun auf ihr Kind: „Quisiera que la primera palabra que diga mi hijo sea una palabra bella. Me importa más eso que su seguro médico. Y si no, que no hable. Que diga magnolia, que diga piedad, no mamá o papá, no agua. Que diga devaneo“ (Harwicz 2012: 23). Ihre intellektuellen Ansprüche scheitern allerdings nicht zuletzt an der sie umgebenden geistlosen und kulturellen Ödnis, bedingt durch ihren Wohnsitz auf dem Land: „Me gustaría tener de vecinos a Egon Schiele, Lucien Freud y Francis Bacon, así mi hijo podría crecer y desarrollarse intelectualmente viendo que el mundo al que lo traje es algo más interesante que este montón de casitas para nada“ (Harwicz 2012: 21).

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Neben den expliziten Verweisen auf die Kunst (Egon Schiele, Lucien Freud und Francis Bacon) folgen etliche weitere auf intellektuelle Persönlichkeiten aus der Literatur (Zelda Fitzgerald, Sylvia Plath, Beatrix Potter, Virginia Woolf), der klassischen Musik (Glenn Gould, Wolfgang Amadeus Mozart) und dem Tanz (Isadora Duncan) (vgl. Harwicz 2012: 11, 17, 16, 21, 53, 97 f., 106, 121 f.) sowie eine Referenz auf die britische Rockband The Smiths, der die Protagonistin indes nichts abgewinnen kann: „Temazo, dice y sube el volumen. The Smiths. Para él soy una extraterrestre porque no los conozco. Porque me parece de retrasado mental escuchar rock“ (Harwicz 2012: 44). Alle können sie als Zeugnisse der kulturellen Bildung der Protagonistin und damit auch Harwicz’ selbst gelesen werden, in deren tristen Alltag und Seelenleben zuweilen die Schatten jener Personen hereinragen und vorübergehende Hoffnungsschimmer und Momente plötzlicher Erkenntnis bedeuten. Auffallend und besonders erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang die expliziten, da namentlichen, Verweise auf die Schriftstellerinnen Plath, Fitzgerald und Woolf, deren Bücher die Protagonistin fasziniert rezipiert und mit denen sie sich selbst direkt vergleicht: „Tengo que dar con el perfil de Zelda Fitzgerald camino a Suiza, no precisamente a comer chocolates ni probar relojes“ (Harwicz 2012: 121). So wurde Fitzgerald, wie auch die Protagonistin von Matate, amor, zu Lebzeiten mehrmals von ihrem Ehemann in eine Psychiatrie, unter anderem in der Schweiz, eingewiesen. Die wiederkehrenden direkten und indirekten intertextuellen Bezüge auf die drei Schriftstellerinnen und ihre literarischen Werke führen dazu, dass Harwicz’ Schreiben des Öfteren mit diesen in Verbindung gebracht und als feministisch bezeichnet wird. Was hingegen auffällt, ist, dass es sich bei den erwähnten Referenzpersonen allesamt um Intellektuelle der europäischen und nordamerikanischen Kultur- und Geistesgeschichte und nicht etwa um argentinische literarische oder künstlerische Größen wie zum Beispiel Alexandra Pizarnik oder Victoria Ocampo handelt. Inhaltliche Parallelen weisen die Protagonistin und ihr Schicksal darüber hinaus zu Woolfs Roman Mrs Dalloway (1925) und dessen Figuren auf, über den sie in einer Episode, gebannt und an die früheren Zeiten erinnert, eine Radioreportage hört: Me quedo encerrada en el auto con los vidrios empañados, subo el volumen, saco el pie del embrague. ‚Mrs Dalloway es una novela sobre el tiempo y la interconectividad de la existencia humana‘, hace cuánto que no escuchaba ese léxico literario. […] Hablan de Septimus, el personaje héroe de guerra traumatizado que también daba batalla contra la

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depresión maníaca y la locura y que sí se tiró por la ventana, en la novela. Pienso en los efectos paliativos que podría tener sobre mi vida escribir o tirarme de una ventana. (Harwicz 2012: 97 f. [Herv. i. O.])

Zwar erlitt die Protagonistin nicht wie die Romanfigur Septimus ein Kriegstrauma, selbst wenn ihre Nachbarin aufgrund ihres Verhaltens jener Meinung sein sollte („Pobre gorda, seguro pensó que venía de algún país en guerra“ (Harwicz 2012: 18)), doch sind auch bei ihr Züge einer Depression und des Wahnsinns vorhanden. Interessanterweise hat die Protagonistin von Matate, amor zu diesem Zeitpunkt der Handlung bereits den besagten ‚Fenstersprung‘ hinter sich, der aus einem Eifersuchtsanfall ihres Mannes und der für sie ausweglosen Situation resultierte: „Hasta que corrí hacia fuera de la casa, por primera vez, atravesando el vidrio de par en par“ (Harwicz 2012: 56). Als letzte Rettung bleibt ihr nur die Flucht beziehungsweise der erneute Ausbruch in den Wald. Allerdings bleibt es fraglich, inwiefern es sich hierbei um einen schmerzlindernden Akt handelt oder doch eher um einen Hilfeschrei. Der Akt des Schreibens scheint, anders als wie bei Harwicz selbst, keine Option und Möglichkeit der Katharsis, sondern nur ein Wunschtraum zu sein, hat sie doch das Schreiben mit dem Umzug und der Geburt ihres Sohnes aufgegeben. Entgegen Harwicz’ außerliterarischen Bestrebens, nicht als feministische Autorin etikettiert zu werden, vertritt die Autorfigur von Matate, amor eine klar feministische Einstellung, wenn sie gegen die Normen sowie den traditionellen Geschlechtervertrag der patriarchalen Gesellschaft, verkörpert durch ihren Ehemann und ihre Schwiegereltern, rebelliert oder sich auf feministische Schriftstellerinnen, deren literarische Werke und außerliterarische Werdegänge beruft. Das wiederum führt zu dem Fehlschluss, dass sich Harwicz’ Erstlingswerk primär an eine weibliche und noch dazu feministische Leserschaft richtet, wodurch das Buch für die Allgemeinheit an Bedeutung verliert. Die damit einhergehende, bisweilen ungezügelte, animalische Wildheit der Protagonistin sowie ihre Selbstpositionierung als Randständige führen darüber hinaus dazu, dass das Autorbild, das Harwicz nach der Lektüre von Matate, amor hinterlässt, von Widerspenstigkeit und Exzentrizität geprägt ist. Dass die Versuche, die Protagonistin mittels einer Therapie wieder in die Gesellschaft einzugliedern und die alte familiäre Ordnung wiederherzustellen, scheitern, kann zudem als symbolisch für Harwicz’ eigene marginale Positionierung im literarischen Feld und ihren Widerstand gegen eine Domestizierung und Kommerzialisierung ihrer Literatur gesehen werden, wie sie das Verlegen in einem multinationalen Verlagshaus nach sich ziehen würde.

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4.2.2.4 Lesbarkeit, Übersetzbarkeit und Stil von Matate, amor Den Ausgangspunkt der nachfolgenden Überlegungen schuf ein Vortrag und eine Lesung Harwicz’ im Januar 2017 an der Universität zu Köln. Dabei kam im Publikum die Frage auf, inwiefern es (un)möglich wäre, Harwicz’ Bücher zu übersetzen oder ob dies einen substanziellen Verlust hinsichtlich ihres Stils – einem ‚brutalen‘ und ‚wilden‘ Schreiben, als welches es die Literaturkritik bezeichnet – mit sich bringen würde: „Ariana Harwicz (Buenos Aires, 1977) no escribe, vomita. Vomita palabras manipuladas, violadas, forzadas. Modela el lenguaje y lo somete a su voluntad, retorciéndolo en un continuo que no parece tener fin“ (Castillo 2017). Harwicz selbst gab damals zu, dass die Übersetzung ihrer literarischen Texte kein einfaches Unterfangen darstelle. Auch in der Aktualität hält Harwicz an diesem Standpunkt fest, wenn sie betont, dass von Schriftsteller*innen ein besonderer, sie auszeichnender Stil gefordert wird, es aber gerade letzterer sei, der nur schwer bis gar nicht übersetzbar sei: „‚The big problem, for which there is no solution, is that a writer needs to achieve an inimitable style – but how do you translate that? How can you translate what is untranslatable?‘“ (DeWald 2019 [Harwicz]). Ein Beleg für die Schwierigkeit einer Übersetzung von Harwicz’ Stil ist nicht zuletzt die Tatsache, dass, trotz der positiven Kritiken, die der Roman Matate, amor im spanischen Original erfuhr, über Jahre hinweg nur eine einzige und zwar nur die hebräische Übersetzung des Romans existierte. Dass die englische Übersetzung, die noch dazu in Kooperation zwischen Harwicz, der argentinischen, in Schottland lebenden Übersetzerin und Mitbegründerin von Charco Press Carolina Orloff und der kanadischen, in Teilen in Argentinien lebenden Übersetzerin Sarah Moses sowie unter Zuhilfenahme der Lektorin Annie McDermott, entstand, und nach Orloffs Aussage sogar in ihrer ersten Fassung abgebrochen und neu begonnen werden musste, spricht für sich und damit ebenfalls für die Komplexität von Harwicz’ Debütroman (vgl. Grosso 2020): „The translation of Die, My Love was very much a team effort“ (The Booker Prizes 2018 [Moses])40. 40 Eine englische Übersetzung von Matate, amor war nicht nur dank des vielseitigen Einsatzes der Verlegerin von Charco Press möglich, sondern wegen des argentinischen Übersetzungsförderprogramms Programa SUR. Nichtsdestotrotz ist das verlegerische Projekt, das das unabhängige schottische Verlagshaus Charco Press verfolgt, als außergewöhnlich zu bezeichnen. So gehörte Harwicz’ Roman zu den ersten Veröffentlichungen des 2006 gegründeten Hauses, das sich zunächst auf argentinische und zwischenzeitlich allgemein auf noch nicht ins Englische übersetzte lateinamerikanische Literaturen abseits des Mainstreams spezialisiert, um Orloff zu zitieren: „I sometimes look outside the mainstream of those authors that agents are pushing for, or who are getting invited by international literary festivals. […] I’m also particularly interested in different styles, in authors who are doing something that’s different, who are writing with a different voice, playing with language, reformulating ideas or themes“ (Mea-

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Im Folgenden soll daher anhand Harwicz’ Debütroman Matate, amor, erschienen 2012 zeitgleich in Spanien (Lengua de Trapo) und Argentinien (Paradiso), der Frage nachgegangen werden, ob Harwicz’ Schreiben bewusst einer Übersetzung widerstrebt oder, angesichts der zwischenzeitlichen Existenz von zahlreichen Übersetzungen des Romans, sich doch zumindest für den*die Übersetzer*in als ein mühseliges und schwieriges Unterfangen erweist. Auffallend ist zunächst, dass die Handlung des Romans sich weder durch die Beschreibung von lokalen Bräuchen und Eigenheiten auszeichnet noch von den Leser*innen spezifische Kenntnisse einer bestimmten Region abverlangt werden. Ganz im Gegenteil könnte sich die Handlung des Romans, wegen der fehlenden geografischen Angaben und nicht existenten genaueren Charakterisierungen der Figuren, an jedwedem Ort zutragen. Gleiches trifft auch auf das Thema des Romans, eine Ehekrise und postnatale Depression, zu oder das Genre, „un thriller campestre“ (Harwicz 2012 [Herv. i. O.]), einen ländlichen Thriller, das der Verlag dem Titel auf der Umschlagrückseite zuschreibt. Bei beidem handelt es sich keinesfalls um spezifisch ‚Argentinische‘ Sachverhalte, sondern, so kann behauptet werden, um universelle Themenkomplexe. Nur ein paar wenige sublime Indizien während des Verlaufs der Handlung lassen die Leser*innen vermuten, dass die Handlung in Frankreich verortet ist und die Protagonistin Ausländerin beziehungsweise Einwanderin und argentinischer Herkunft ist. Beispielsweise sagt das Baby, als es einen Hahn sieht, „cocoricot“ anstelle von „¡quiquiriquí“ (Harwicz 2012: 90) und an einer Stelle wird darüber gesprochen, wie im mittelalterlichen Frankreich Ehebrecherinnen öffentlich bloßgestellt und bestraft wurden (vgl. Harwicz 2012: 109). Der eindeutigste Hinweis für die argentinische Herkunft des Romans ist der Gebrauch der linguistischen Varietät des Spanischen von Buenos Aires und des Río de la Plata, des porteño, das sich durch die Pronominalform vos und die entsprechende Verbform, also dem für die Region typischen, sogenannten voseo,

dowcroft 2020 [Orloff]). Eine weitere interessante Maxime des Verlages ist es, nicht nur einzelne Titel zu publizieren, sondern verlagseigenen Autor*innen stattdessen die Möglichkeit zu geben, ihr gesamtes Werk zu veröffentlichen. Dabei greift der Verlag nicht nur auf renommierte, etablierte Übersetzer*innen zurück, sondern bietet auch Neueinsteiger*innen eine Möglichkeit, ihr Können unter Beweis zu stellen (vgl. Meadowcroft 2020 [Orloff]). Die Namen der Übersetzer*innen erscheinen zudem prominent neben den Autor*innen auf dem Buchcover. Im Kontext der Weltliteratur-Debatte ist beachtenswert, dass der Verlag es sich zwar zur Aufgabe macht, ‚besonderen‘ und nicht dem Massengeschmack entsprechenden Literaturen mehr Sichtbarkeit zu geben, zugleich aber die Prämisse gilt, dass es sich um literarische Texte handeln muss, die außerhalb ihres Entstehungskontextes von Interesse sind: „It has to have some kind of universal appeal that speaks outside the culture it comes from“ (Meadowcroft 2020 [Orloff]).

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auszeichnet. Daneben fällt der, wenngleich nicht übermäßige, Gebrauch von Argentinismen auf, zum Beispiel beschimpft die Protagonistin ihr Kind mit argentinischen Schimpfworten: „Pasé la mañana insultando al bebé. […] Espero que no reconozca ninguna palabra, que más tarde no repita delante de todos la concha de tu madre“ (Harwicz 2012: 87). Dazu zählen in einigen Fällen auch Begriffe aus der Umgangssprache und dem Jargon wie etwa dorima (marido, dt. Ehemann), rope (perro, dt. Hund), berreta (de mala calidad, dt. von schlechter Qualität), cualunque (cualquiera, dt. irgendein) etc. Edgardo Scott hebt des Weiteren hervor, dass in Harwicz’ Sprachgebrauch nicht allein Einflüsse des porteño nachwirken und überwiegen, sondern darüber hinaus, bedingt durch Harwicz’ Wohnsitz in Frankreich, der alltägliche Kontakt mit dem Französischen sich auf ihre Sprachwahl auswirke: „[U]n lenguaje que adopta el español del Río de la Plata a la vez que traduce y se traduce (engendra y se engendra) una y otra vez desde el francés de provincia“ (Scott 2017). Um jene Stellen und die sprachlichen Hybride ausfindig zu machen, bedarf es einer feingliedrigen linguistischen Analyse, die im Rahmen der Arbeit nicht zu leisten ist. Dessen ungeachtet erschweren die beschriebenen unterschiedlichen sprachlichen Einflüsse keinesfalls die Lektüre und das Verständnis des Textes für die Leser*innen beziehungsweise Übersetzer*innen. Gleichermaßen kann argumentiert werden, dass dieser regionale Wortschatz bei der Übersetzung von Matate, amor verloren geht, genauso wie die Vulgarität und Impulsivität, die Harwicz’ Stil kennzeichnen. Klingt und liest sich Harwicz auf die ‚gleiche‘ Weise ‚authentisch‘ und überzeugend in Chinesisch, Englisch oder zum Beispiel auch Deutsch?41 Aus theoretischer Perspektive betrachtet, kann diese Frage in Anlehnung an Walter Carlos Costa bejaht werden: „Una traducción lograda produce un idiolecto en el nuevo idioma con proporciones similares de lengua general, dialecto y sociolecto“ (Costa 2012: 84). Wenngleich eine Übersetzung sich unweigerlich in Teilen vom spanischen Original unterscheidet, ist es die Aufgabe von Übersetzer*innen, einen, dem von Harwicz’ in Matate, amor ebenbürtigen beziehungsweise gleichwertigen, Stil zu finden oder zu entwerfen. 41 Dass dies bei der deutschen Übersetzung nicht vollkommen geglückt ist, lässt sich anhand eines Auszugs einer Rezension des WDR belegen, in der der Rezensent bemängelt, dass die Übersetzung zwar gut, sich aber ‚anders‘ als das spanische Original lese: „Dagmar Ploetz, die herausragende Übersetzerin der Werke von Gabriel García Márquez, hat zwar ‚Stirb doch, Liebling‘ gut ins Deutsche übertragen, allerdings vermisst man hier und da etwas den rotzigen Ton des spanischsprachigen Originals, was auch daran liegen könnte, das Harwicz mehr als dreißig Jahre jünger ist als ihre Übersetzerin“ (Wenzel 2019). Interessant ist an dieser Stelle zudem, dass Harwicz und Luiselli beide von der gleichen Übersetzerin ins Deutsche übersetzt werden. Erstaunlicherweise wurde die deutsche Übersetzung dennoch für den Internationalen Literaturpreis 2019 des Berliner Haus der Kulturen der Welt nominiert.

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Wichtig ist dabei, wie es die Literaturübersetzerin Patricia Klobusiczky im Gespräch im Deutschlandfunk Kultur hervorhebt, die „Aura“ des Originaltextes zu wahren oder in der Zielsprache entsprechend zu rekonstruieren (Meyer et al. 21.07.17). In diesem Sinne ist der Übersetzungsprozess als ein Zusammenspiel zweier Seiten, sprich Lesarten, derjenigen der Autor*innen und derjenigen der Übersetzer*innen zu begreifen, dessen Ergebnis schließlich die Übersetzung ist (vgl. Bassnett 2016: 304). Das wiederum hat zur Folge, dass sich die dem Begriff Übersetzung zugrundeliegende Auffassung sowie der Standpunkt der Wissenschaft ihm gegenüber ins Positive gewandelt haben: Übersetzungen werden nicht mehr länger als gegenüber dem Original minderwertige Repliken oder aufgrund von textlichen Modifikationen als ‚untreu‘ gegenüber dem Original betrachtet, sondern stattdessen zunehmend als eine Form der „Fortschreibung des Originals“ (Bassnett 2017: 33 [Ü. d. V.]) erachtet. Als Zwischenergebnis kann daher festgehalten werden, dass der Roman Matate, amor weder in einem spezifisch ‚argentinischen‘ kulturellen Kontext noch einer spezifisch ‚argentinischen Realität‘ verwurzelt und untrennbar mit diesen verbunden ist. Genauso wenig erweist sich Harwicz’ Sprache als zu unverständlich und unzugänglich für Übersetzer*innen, die nicht mit der argentinischen Varietät des Spanischen vertraut sind. Allerdings sollte in diesem Zusammenhang eingewandt werden, dass die Schwierigkeit des Übersetzens gerade nicht allein in der Wortwahl von Autor*innen begründet liegt, denn, Übersetzen heißt nicht etwa Wort für Wort von einer Ausgangs- in eine Zielsprache zu transferieren, sondern die Worte bilden lediglich das Gerüst des literarischen Textes: „Die Wörter sind die Oberfläche. Also es ist die Spitze des Gletschers und alles andere liegt darunter“ (Meyer et al. 21.07.17). Diese Tatsache bestätigt auch Orloff, wenn sie betont, dass die Herausforderungen bei einer Übersetzung nicht nur auf semantischer Ebene zu finden sind, sondern die Schwierigkeit darin liege, den richtigen Ton zu treffen: „The challenges to render the work, not only on a semantic level, but in terms of its metric, tone, musicality, punctuation and so forth, are substantial“ (The Booker Prizes 2018 [Orloff]). Damroschs Feststellung, nach der bestimmte literarische Werke außerhalb ihres Entstehungskontextes nicht ‚funktionieren‘, das heißt nicht lesbar beziehungsweise verständlich sind, trifft auf Matate, amor nicht zu: „[S]ome works are so inextricably connected to their original language and moment that they really cannot be effectively translated at all“ (Damrosch 2003: 288). Obschon es etliche Jahre dauerte, bis der Roman in weitere Sprachen übersetzt wurde, ist die Tatsache, dass Matate, amor schon vor seiner Übersetzung auf beiden Seiten des Atlantiks im Original zirkulierte und sowohl in Spanien

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als auch im Cono Sur positive Kritiken erntete, Zeugnis dafür, dass die Handlung sehr wohl außerhalb Argentiniens funktioniert. Weitaus bedeutender und komplexer als die Handlung oder das Thema des Romans sind dessen Form, oder in anderen Worten die stilistischen und formalen Mittel, die Harwicz gebraucht, und die charakteristisch für ihren Stil sind: „No es tanto lo que pasa lo que importa […] sino la intensidad de lo que sucede“ (Tomas 2014). Für Harwicz stellt die Sprache das wichtigste Element ihrer schriftstellerischen Arbeit dar, wie sie selbst im Interview sagt: „La pregunta por la importancia del lenguaje es como preguntarle al pianista qué significan las teclas del piano. Lo son todo“ (Juristo 2016 [Harwicz]). Genau hierin, im Aspekt der Sprache, liegt der eigentliche Knackpunkt im Moment der Übersetzung, wie ihn auch der Schriftsteller und Literaturkritiker Simon Leys in Bezug auf die Herausforderungen und Schwierigkeiten hinsichtlich Übersetzungen im Allgemeinen hervorhebt: „Algunos escritores son fáciles de traducir: […] en general todos los novelistas cuyas tramas se pueden desenredar de su lenguaje. Otros son difíciles de traducir: […] en general cualquier novelista cuya narrativa sea inseparable de su lenguaje“ (Leys 2016: 12). Während die Handlung des Romans in wenigen, kurzen Sätzen wiedergegeben und resümiert werden kann und keinesfalls die Essenz von Matate, amor ausmacht, erfordert der Stil des Romans, die intensive Sprache, eine genauere und differenziertere Analyse. Das legt nahe, dass für Harwicz nicht die Handlung im klassischen Sinne im Vordergrund ihres Romans steht, es also weniger bedeutend ist, was im Roman passiert, sondern sie sich vielmehr auf das Wie konzentriert, also auf die sprachlichen Mittel, die erforderlich sind, um eine gewisse Atmosphäre zu erzeugen: [L]o que predomina y lleva adelante la trama, el ritmo, el universo, la diégesis, es el lenguaje. Aparecen primero las palabras, aparece primero una música, una textura, un tono, un sentimiento trágico y después lo que hacen los personajes: si van al bosque, si se escapan o matan al hijo, si tienen un amante; toda la travesía, toda la peripecia que hacen aparece después. (Ponce Padilla 2018 [Harwicz])

Übertragen auf die (Erzähl-)Struktur von Matate, amor kann festgehalten werden, dass diese, mit Ausnahme von einigen Analepsen in Bezug auf die Schwangerschaft der Protagonistin und das Eheleben ihrer Schwiegereltern, größtenteils linear und in Prosa geschrieben ist. Davon abgesehen wechselt in zwei Kapiteln vollkommen unvorbereitet die Erzählstimme zu derjenigen des Liebhabers der Protagonistin. Im zweiten Drittel und gegen Ende des Romans nimmt der Anteil lyrischer Passagen und Mikrokapitel zu, die sich weniger durch eine konkrete Handlung

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auszeichnen, als durch die Schaffung einer dichten Atmosphäre mit einem poetischen Charakter, wie es das folgende Beispiel veranschaulicht: Las flores salvajes empujan la tierra al costado de la ruta. La desgarran, la destierran. Como nosotros. Nos dimos cita en el borde de la sombra de los autos. Miro un nogal y pienso que lo prefiero a los hombres. Veo un halcón sobrevolar el pasto como si fuera el mar y pienso que es dichoso. Pero lo veo llegar entre la neblina de noviembre, al final de las casas, y lo prefiero a él antes que al nogal. Camina detrás de un tipo que tiraba de un carro, iiii, iiii, un chillido de dientes. (Harwicz 2012: 107)

Diese Passagen konzentrieren sich mehrheitlich auf die Vermittlung von Gefühlen und Eindrücken der Protagonistin und sind mit ihren Ausflüchten in den Wald verbunden, wenn ihre Nerven zum Zerreißen gespannt sind. Zugleich spiegeln sie ihr emotionales Chaos wider. Darüber hinaus enthalten sie für gewöhnlich ungestüme, zuweilen auch gewaltsame, sexuelle Fantasien, die auf die Affinität der Protagonistin zum Wilden und Animalischen verweisen und zugleich das Gegenteil zur bürgerlichen, familiären Ordnung symbolisieren: Pero enseguida el ajjj ajjj de un búho, ese sonido genital, involuntario y erótico me aterra. Apago la tele. Imagino a los animales en una orgía, un ciervo, una rata y un jabalí. Me río, pero inmediatamente me da miedo esa mezcolanza de bicharracos. Esas patas, alas, colas y pelambres enganchados en una carrera de placer. ¿Cómo eyaculará un jabalí? Vuelvo a escuchar el ajjj, ajjj, como de ahorcamiento, ajjj, ajjj, como una gárgara ronca y gatuna saliendo del pico curvo del búho. (Harwicz 2012: 15)

In jenen Passagen enthüllt Harwicz ihre wahre poetische Kraft und ihr Potenzial als Schriftstellerin. Dabei fällt ihr sorgfältiger und bedachter Umgang mit der Sprache auf, jedes Wort steht am richtigen Platz, kein Wort ist zu viel, keines zu wenig: „Hay mucho trabajo de depuración. Amo corregir. […] Trato de extraer todo lo que para mí sobra y dejar la mínima expresión. Me gusta jugar con ese límite en el que si saco una palabra más ya no se entiende nada“ (Koch 2019 [Harwicz]). Harwicz’ Schreibprozess mutet stellenweise geradezu minimalistisch an. Ein weiteres hierzu zählendes stilistisches Mittel sind die Auslassungen im Text, bei denen Harwicz die Leser*innen über die tatsächliche Bedeutung bewusst im Ungewissen lässt: „The unsaid is both a stylistic means and a political act in need of being discovered by the reader, so they can become complicit in its construction“ (DeWald 2019). Nur durch einen engen und direkten Austausch zwischen Harwicz und den Übersetzer*innen können diese Lücken mit Bedeutungen gefüllt werden. Dies dient jedoch lediglich dem für die Übersetzung erforderlichen Verständnis einzelner Textpassagen. So käme eine Übertragung und Aufnahme dieser ‚Erklärungen‘ Harwicz’ einer Verfälschung von Harwicz’ Schreibstil gleich (vgl. DeWald 2019).

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Bezeichnend für Harwicz’ Wortwahl ist ferner, dass es ihr weniger darum geht, einzelne Worte innerhalb des Satzes ‚sinngemäß‘ zu gebrauchen, sondern vielmehr konzentriert sie sich darauf, diese, unabhängig ihrer eigentlichen Bedeutung, so zu platzieren, dass sie zum Rhythmus des Textes passen (vgl. DeWald 2019 [Harwicz]). In der Übersetzung des Romans stellt das eine weitere Schwierigkeit dar. Eine direkte Übersetzung jener Begriffe in die Zielsprache mag zwar funktionieren, rhythmisch und klangtechnisch erzeugt der bedeutungsgleiche Begriff jedoch nicht zwingend denselben Effekt beim Lesen (vgl. DeWald 2019 [Orloff]). Allerdings darf Harwicz’ minutiöse Sprachpflege nicht mit dem Gebrauch ‚schöner‘ Worte gleichgesetzt oder verwechselt werden: „‚Cuando escribo trato de destrozar el lenguaje. […] Entre comillas, intento llevarme mal con el lenguaje, y en ese llevarme a las patadas busco afinarlo como si fuera un instrumento musical, un violín, un piano‘“ (Manrique Sabogal 2017 [Harwicz]). Das Resultat jener sprachlichen Präzision, das Harwicz sowohl mittels ihrer Sprachgewalt und der bewussten Sprachmanipulation erzeugt, weist eine eigene Musikalität auf: „[E]se lenguaje, es violento, rompe, quiebra la gramática, la transvierte, la subvierte, la pervierte“ (Zalgade 2017 [Harwicz]). Jedoch ist ihre Gesamtkomposition, trotz ihrer Anspielung auf das Stimmen von Musikinstrumenten, in keinerlei Hinsicht als harmonisch oder gar wohlklingend zu begreifen. Stattdessen wirkt in ihrem Schreiben der Einfluss von klassischen Musikern wie den Pianisten Glenn Gould, Johann Sebastian Bach, Ludwig van Beethoven und Frédéric Chopin fort, die ihre Arbeitsatmosphäre prägen und sich auf ihren Schreibrhythmus auswirken (vgl. Friera 2014 [Harwicz]; Koch 2013)42. Kennzeichnend hierfür sind abrupte Wechsel, Temposteigerungen, ein abgehackter, gehetzter bis hin zu frenetischer Erzählrhythmus, der besonders in Harwicz’ öffentlichen Lesungen und ihrer Performance zur Geltung kommt (vgl. Zalgade 2017 [Harwicz]). Entsprechend charakterisieren Harwicz’ Stil einerseits dessen ästhetische und dramaturgische Qualität sowie Poetizität, geprägt durch eine onomatopoetische, visuelle und (bild)gewaltige Sprache: „Cuando tengo sexo conmemoro aniversarios de ausentes. Cuando me enamoro […] echo tierra sobre un cajón. Qué importa de quién. Y cuando me masturbo profano nichos y cuando acuno a mi bebé digo amén y cuando sonrío desconecto un respirador artificial“ (Har-

42 Die klassische Musik beeinflusste Harwicz’ Schreiben nicht nur auf stilistischer Ebene, sondern auch inhaltlich. Die Protagonistin von Matate, amor teilt interessanterweise ebenso Harwicz’ Musikgeschmack: „Apenas todo el resto se escapó a deshincharse a los cuartos y dormir la siesta, escucho a mi suegro pasear sobre la nieve con su nuevo tractor verde; pienso que, si pudiera linchar a toda mi familia para estar a solas un minuto con Glenn Gould, lo haría“ (Harwicz 2012: 21).

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wicz 2012: 57). Andererseits zeichnet sich Harwicz durch ihre brutale Direktheit und Impulsivität, ihren Zynismus, gepaart mit dem Gebrauch eines vulgären Wortschatzes und einer schmutzigen Sprache aus, mittels der sie schonungslos (be)schreibt, erzählt und die Dinge offen und ungehemmt beim Namen nennt: „Cada vez que mi marido me la da, pestañeo y es como si talaran un árbol. Como hachazos. Como con la mano y queda la grasa chorreando“ (Harwicz 2012: 111). Harwicz nimmt kein Blatt vor den Mund und berührt lieber unangenehm, anstelle den Leser*innen einen weich gespülten Text zu liefern: „Abajo hay médanos y familias sentadas en sillas reclinables de playa. Hay abuelitos en el día libre del geriátrico, chochos de estar con sus hijos y nietos, hay embarazadas con depresión escondiendo el pucho, hay heroinómanos en rehabilitación, hay de todo“ (Harwicz 2012: 50). Während manch andere*r Autor*in als Ziel eines Familienausfluges ein anderes Panorama gewählt hätte und ein harmonisches Miteinander vor einer malerischen Landschaft entwerfen würde, dominiert bei Harwicz stets die Faszination für das Marginale, Abtrünnige und Abstoßende sowie das Interesse an gesellschaftlichen Randfiguren. Damit kann Matate, amor in gewissem Sinne als eine Art Gegenentwurf zur ländlichen Idylle verstanden werden, mit der Leser*innen in aller Regel das Attribut campestre (dt. ländlich), wie es auf der Rückseite des Schutzumschlags zu finden ist, verbinden. Nicht ohne Grund gebraucht der Verlag dieses in Verbindung mit dem Genre des Thrillers. Einzig hinsichtlich des Schauplatzes des Geschehens, der ländlichen Umgebung, trifft dieses zu. Abgesehen davon kann von ländlicher Idylle im Roman keine Rede sein. Harwicz’ kurzatmiger Roman verursacht nicht zuletzt durch seine Geschwindigkeit Schwindel beim Lesen und mit ihrem Stil und den Bildern, die sie beim Erzählen kreiert und evoziert, beunruhigt sie sicherlich die einen oder anderen Leser*innen beziehungsweise Übersetzer*innen. Aus diesem Grund lässt es sich nicht abstreiten, dass die Tatsache, dass lange Zeit nur eine Übersetzung von Matate, amor existierte, mit Harwicz’ Tendenz, die Leser*innen zu verstören, in Zusammenhang steht. So verlässt Harwicz gewöhnliches Terrain und entfernt sich sowohl hinsichtlich des Inhalts als auch der Form von Matate, amor vom literarischen Mainstream. Letzterer Punkt ist gerade dann von Bedeutung, wenn bedacht wird, dass laut Lawrence Venuti und Damrosch die Entscheidung zugunsten einer Übersetzung auch durch die Akzeptabilität eines literarischen Werks für das Lesepublikum des Ziellandes ausschlaggebend sein kann. Jene steht in Abhängigkeit zu den kulturellen Werten oder bereits existenten, vorfabrizierten Bildern und

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Vorstellungen von einer Region und ihrer Literatur (vgl. Damrosch 2003: 18; Venuti 2014: 186)43. Generell gehen Verlagsentscheidungen Wertungsprozesse voraus, in denen neben der Qualität von literarischen Texten ebenso spätere Verkaufschancen basierend auf einem potenziellen Lesepublikum entscheidend für den Erwerb von Rechten sind (vgl. Lillge 2013: 132). Wenn der Eindruck, den Harwicz mit Matate, amor in der (kommerziellen) Literaturkritik hinterließ, berücksichtigt wird, wird deutlich, weshalb zwischen der hebräischen Übersetzung von Matate, amor und der ihr folgenden englischen Übersetzung drei Jahre lagen. Die Rezensent*innen sind zwar in der Mehrheit voll des Lobes, dennoch verdichten sich die Stimmen zu einem überwältigenden Gesamtleseeindruck, der an den Leser*innen und Literaturkritiker*innen nicht spurlos vorbeigeht und an ihrer Komfortzone rüttelt (vgl. Cedeira 2017; Dapelo 2016; Rey 2017): „[Y] a con el anterior, Matate, amor había dejado knock out a más de un lector“ (Suarez 2014 [Herv. i. O.]). Schlussendlich ist es genau jener Nachhall bei der Lektüre, der literarische Werke wie Matate, amor von einer ‚primär‘ kommerziellen, unterhaltenden Literatur unterscheidet und der somit auch als die Essenz von Harwicz’ Schreiben bezeichnet werden kann: „Y hay otra […] [literatura] que demanda del lector una dedicación y una atención completa, y que así y todo no asegura ninguna recompensa, aunque pueda deparar momentos de disfrute (como oposición al mero placer)“ (Tomas 2014). Speziell die in Teilen explizit sexuell aufgeladenen Szenen, das obszöne Vokabular der Protagonistin und ihr schamloser, ungezwungener Umgang mit ihrem eigenen sexuellen Verlangen („Estaba en una maratón masturbatoria cuando volvió el ajjj, ajjj y me desconcentré“ (Harwicz 2012: 19); „Me metí despacito la mano en la bombacha“ (Harwicz 2012: 8)) können unter Umständen dazu führen, dass Harwicz’ Schreiben unzutreffenderweise als pornografisch, pervers bis hin zu abstoßend und verstörend empfunden wird und in der Folge nur auf diesen Aspekt reduziert wird: Cogeme, le grito con una voz que me sonó perruna. […] Cuando grito cogeme lo que menos hay es apetito. Y mientras entraba su pedazo de carne saliente en mi hueco, si eso es hacer el amor, estamos locos, deseé una habitación blanca por la que entre el aire de mar, la sal picante en mi lengua cortajeada. (Harwicz 2012: 62)

43 Hierzu passt auch Harwicz’ eigene Feststellung darüber, dass ihr Roman Matate, amor in jedem der Länder, in dem er zwischenzeitlich veröffentlicht, und die Sprachen, in die er mittlerweile übersetzt wurde, unterschiedliche Reaktionen hervorrief: „En Israel, Turquía, Georgia, Croacia, Francia, Estados Unidos, en todos los países generó empatías distintas, sobre todo en sociedades que supuestamente son más conservadoras y represivas, pero hay algo universal claro, la madre en cada cultura es diferente, pero tiene ese imperativo“ (Urbina 2020 [Harwicz]).

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Deshalb ist anzunehmen, dass jener bisweilen feministische, selbstbestimmte Unterton und die dementsprechende Auslegung des Romans, wie sie die (kommerzielle) Literaturkritik, trotz Harwicz’ Einwände, vornahm, zunächst eine breitere Rezeption, Zirkulation und Übersetzung von Matate, amor zusätzlich erschwerten44: „Erfolg an den Rändern des Marktes kann bedeuten, dass ein/e AutorIn in eine Schublade geschoben wird als [beispielsweise] […] ‚fanatische Feministin‘“ (Hawthorne 2017: 34 f.). Matate, amor zählt eben nicht zu den „Bücher[n], die den Status quo nicht kritisieren und die Mainstream-Perspektive weder politisch noch kreativ infrage stellen“ (Hawthorne 2017: 31). Denn anders als im Falle von Matate, amor, stoßen jene ‚konventionellen‘ Titel auf keinerlei Schranken oder Vorbehalte und werden in Massen weltweit produziert und übersetzt. Nichtsdestotrotz existieren auch Bücher, bei denen exakt jene ‚Abweichung‘ oder Differenzierung in Bezug auf das im literarischen Feld Konventionelle und Etablierte ausschlaggebend bei der Entscheidung für eine Übersetzung sind, wie es auch Costa unterstreicht: „[U]n texto literario (si uno exceptúa los bestsellers) es tanto más digno de traducción cuanto más singular es […]“ (Costa 2012: 84 [Herv. i. O.]). Hier muss zudem die Frage gestellt werden, inwiefern sich hinter Harwicz’ ‚widerspenstigem‘ Schreiben nicht ein bewusster Widerstandsakt gegen eine Übersetzung und eine Abwehr gegenüber einer damit verbundenen ‚Zähmung‘ beziehungsweise Domestizierung verbirgt: „Die klare Absicht, eine Anpassung zu verweigern, ist wichtig, um zum Beispiel der Versuchung zu widerstehen, die Sprache für Mainstream-Lesende ‚akzeptabler‘ zu machen“ (Hawthorne 2017: 50). Infolgedessen kann Harwicz’ Stil auch als eine „poética de la resistencia“ (Gallego Cuiñas 2014) bezeichnet werden: „Manche Originaltexte sind einfach widerständig und das ist deren Qualität, deren Essenz“ (Meyer et al. 21.07.17). Dabei handelt es sich um ein Konzept, das von Gallego Cuiñas geprägt wurde, und welches sie mit der sogenannten ‚lokalen Literatur‘ in Verbindung bringt:

44 Erstaunlicherweise ist dieser Trend zwischenzeitlich gegenläufig. So erfuhr Harwicz’ Roman fast zehn Jahre nach seiner Erstveröffentlichung im Kontext gegenwärtiger feministischer Proteste wie den Kampagnen #MeToo oder #NiUnaMenos eine neue Lesart und damit verbundene ‚höhere‘ Akzeptanz (vgl. Soto 2020 [Harwicz]). Diese gesellschaftlichen Entwicklungen führten zu einer zunehmenden Bereitschaft (ausländischer) Verlage, die literarischen Texte feministisch orientierter Autor*innen zu übersetzen und zu verlegen, wovon auch Harwicz profitierte.

4.2 Ariana Harwicz – Widerspenstiges Schreiben als ein No-Go?

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[E]l ‚local‘, se aplica a textos literarios que se ‚leen‘ al socaire de tradiciones nacionales y que ponderan el uso de un lenguaje ‚localista‘, ‚oral‘, ‚ilegible‘ (‚difícil‘ de consumir). Representan la ‚subalternidad‘ y circulan en editoriales independientes – o en ‚otros‘ formatos – que fraguan su valor en el capital simbólico dentro del marco de una comunidad de lectores especialistas o ‚privilegiados‘. (Gallego Cuiñas 2014: 3)

Als Konsequenz ergibt sich für mich, dass Harwicz mit einer ‚lokaleren‘ Schreibweise, die nur mit Schwierigkeiten auf eine globale Ebene übersetzbar ist, sich bewusst den Homogenisierungs- und Kommerzialisierungsprozessen widersetzt, die eine Inklusion in einen globaleren Buchmarkt mit sich bringt. Das erklärt zugleich das hohe Ansehen, das Harwicz in Argentinien selbst genießt, wo speziell Kleinverlage eine Plattform für eine derart experimentelle, widerständige Literatur bieten. Daneben leistet Harwicz mit ihrer Literatur einen Beitrag zur Erhaltung der Bibliodiversität der Region: „Das Wilde und Unangepasste ist für die Existenz und den Fortbestand von Bibliodiversität zentral“ (Hawthorne 2017: 99). In Anlehnung an Bourdieu kann Harwicz’ Widerstand gegenüber einer Anpassung und Integration in das literarische Feld auch als Konsequenz eines zuvor gescheiterten ‚Integrationsversuches‘ gewertet werden. Analog dazu kann es sich bei diesem Vorgehen also ebenso um eine alternative Strategie, sprich einen (erneuten) Versuch Harwicz’, handeln, sich im literarischen Feld einen Namen als Schriftsteller*in zu machen (vgl. Bourdieu 2001: 417). Schlussendlich sind alle Schriftsteller*innen bis zu einem gewissen Punkt auch als Unternehmer*innen zu verstehen, das heißt, es liegt auch in ihrem Interesse, dass ihre Bücher verkauft und gelesen werden. In diesem Sinne kann eine besonders ‚schwierige‘, besser gesagt ‚schwer zugängliche‘ Schreibweise, und damit ebenfalls erschwerte Lesbarkeit eines literarischen Textes auch als eine bewusste Entscheidung gewertet werden, mittels der ein*e Schriftsteller*in sich gezielt von der breiten Masse und den allgemeinen Markttendenzen abhebt, was sich letztlich gleichermaßen als (wirksame) Marketingstrategie entpuppt (vgl. Rodríguez Alfonso 2020: 178). Außer Zweifel steht allerdings, dass Matate, amor nicht Teil der born translated-Literatur ist, das heißt, dass Harwicz den Roman nicht mit Blick auf und unter Berücksichtigung einer späteren Übersetzung konzipiert und ihren Schreibstil entsprechend angepasst hat. Trotz der Schwierigkeiten, mit denen sich Übersetzer*innen angesichts einer Übersetzung von Matate, amor konfrontiert sehen und sahen, sind diese weniger das Ergebnis von Harwicz’ Wortwahl. Vielmehr liegen die Ursachen, wie bereits angedeutet, im lyrischen Anteil des Romans und den stilistischen Mitteln, die Harwicz gebraucht, begründet. Harwicz dient die Sprache nicht nur dazu, sich auszudrücken, zu entwerfen und zu schreiben. Stattdessen ist beziehungsweise geht es bei Matate, amor vor-

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rangig (um) Sprache, wie Leys es in Bezug auf die Entstehung lyrischer Texte im Allgemeinen hervorhebt: „[E]l idioma es […] el material mismo de la obra“ (Leys 2016: 12). Daraus lässt sich folgende Schlussfolgerung ziehen: Es ist die Nähe zur Lyrik, die eine Übersetzung von Matate, amor erschwert bis hin unmöglich macht. Dessen ungeachtet muss eingewandt werden, dass die Tatsache, dass ein literarischer Text ‚scheinbar‘ unübersetzbar sei, nicht zwangsläufig bedeutet, dass keine Versuche diesbezüglich unternommen werden oder bereits verschiedene Versionen an Übersetzungen jenes Textes existieren und zirkulieren. Nicht selten wird jene ‚angebliche‘ Unübersetzbarkeit von literarischen Texten durch Verlage als Werbestrategie und damit zur besseren Vermarktung des Titels benutzt. Für manche Übersetzer*innen stellt das Übersetzen (scheinbar) komplexer und komplizierter literarischer, will heißen unübersetzbarer Texte zwar eine intellektuelle Herausforderung dar, welche sie aber keinesfalls scheuen zu akzeptieren (vgl. Harrison 2014: 416). So verweist Nicholas Harrison auf die tatsächliche Existenz von Übersetzungen lyrischer Texte, ihre positive Rezeption und Zirkulation, ohne die Schwierigkeiten, die eine Übersetzung der lyrischen Form birgt, zu hinterfragen und die möglichen Verluste, die ihre Übersetzung mit sich bringen mag, zu vernachlässigen (vgl. Harrison 2014: 416). Das Verdienst fähiger Übersetzer*innen ist es daher, mit ihrer Übersetzung ein eigenständiges literarisches Werk in der Zielsprache anzufertigen, das sich trotz seiner möglichen Differenzen zum Original, seiner Herkunft, und damit seiner Beziehung zum Ursprungstext bewusst ist (vgl. Bassnett 2016: 308). Wenn diese Tatsache hingenommen wird, und davon ausgegangen wird, dass jede Übersetzung bis zu einem gewissen Punkt ein Neuschreiben oder eine Neuschaffung des Originaltextes ist, die aus einem Gleichgewicht von Verlusten und Neuerfindungen entsteht, es im Falle von Harwicz’ Erstlingswerk nicht etwa Matate, traductor (etwa „bring dich um, Übersetzer“), sondern zutreffender Weise Atrévete, traductor, („trau dich, Übersetzer“) heißen müsste. So ist Harwicz’ Roman keineswegs unübersetzbar. Das zeigen nicht nur die hebräische Übersetzung, sondern vor allem die der englischen Übersetzung folgenden zahlreichen Veröffentlichungen in mittlerweile rund fünfzehn Sprachen: En inglés, Matate, amor encuentra su imaginario visual, incluso, su montaje y su mejor forma narrativa. Si en español la lengua de Matate, amor es una lengua de facón, la afilada lengua del cuchillo […] en el pasaje al idioma inglés, Matate, amor encuentra el esplendor de su lengua cinematográfica. (Scott 2017 [Herv. i. O.])

Scotts durchweg positiver Kommentar bezüglich der englischen Version von Matate, amor und sein Verweis auf dessen qualitative Verfeinerung und Vervollkommnung durch die Übersetzung ähneln im Prinzip Damroschs Konzeption von

4.3 Juan Gabriel Vásquez – Aus dem Schatten Gabriel García Márquez’

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Weltliteratur und der von ihm aufgestellten Opposition zwischen Weltliteratur und nationaler Literatur: „[L]iterature stays within its regional tradition when it usually loses in translation, whereas works become world literature when they gain on balance in translation, stylistic losses offset by an expansion depth as they increase their range […]“ (Damrosch 2003: 289). Demzufolge kann Harwicz’ Matate, amor am Ende doch als Teil eines weit gefassten weltliterarischen Korpus verstanden werden, wenngleich eine Verleihung des weltliterarischen ‚Titels‘ und eine Etikettierung Harwicz’ als Weltautorin seitens der Verlage, Presse, Literaturkritik und anderer Wertungsinstanzen in der gegenwärtigen WeltliteraturDebatte bisher ausblieb.

4.3 Juan Gabriel Vásquez – Aus dem Schatten Gabriel García Márquez’ ins weltliterarische Rampenlicht [T]his novel as a whole, marks Juan Gabriel Vásquez as a Colombian writer working fully in the European tradition. Or maybe we can forgo geography altogether and just call him a true international writer. (Li 2016)

4.3.1 Extraliterarische Analyse Bei der Auseinandersetzung mit den Konzepten Weltliteratur und Weltautor*in im Kontext der gegenwärtigen lateinamerikanischen Literaturen drängt sich unweigerlich die Frage nach dem literarischen Panorama Kolumbiens auf, der Herkunft des „großen Literaten“ (Marling 2016: 12 [Ü. d. V.]), Boom-Autors und Nobelpreisträgers Gabriel García Márquez. Handelt es sich bei diesem doch um einen der weltweit bekanntesten sowie meist gelesenen lateinamerikanischen Autoren und mehrheitlich an erster Stelle genannten lateinamerikanischen Schriftsteller in der aktuell geführten Debatte um das Konzept Weltliteratur. Auch sechs Jahre nach García Márquez’ Tod im April 2014 lebt sein literarisches Erbe in der Feder zahlreicher Schriftsteller*innen und Kulturschaffender – nicht nur lateinamerikanischer Provenienz – fort und dessen Bedeutung für die Wahrnehmung und Rezeption der Literaturproduktion des lateinamerikanischen Kontinents bleibt unbestreitbar. Allerdings stellte García Márquez’ literarischer Nachlass sowie die damit verbundene im öffentlichen Diskurs stattfindende Festschreibung und Reduktion der lateinamerikanischen Literaturen auf den magischen Realismus für lange Zeit die literarischen Arbeiten jüngerer Schriftstellergenerationen in den Schatten, aus welchem diese zunächst nur mühsam herauszutreten vermochten. In kaum

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einem anderen Land als Kolumbien werden die Literaturproduktion und deren Außenwahrnehmung allein durch einen einzigen Schriftsteller bestimmt, so als ob es neben ihm beziehungsweise seither keine neuen literarischen Entwicklungen und Entdeckungen gegeben hätte. Weder werden paraguayische Schriftsteller*innen nach der Nachfolge Augusto Roa Bastos’ gefragt noch US-amerikanische Literaten nach dem Schreiben nach dem Ableben Ernest Hemingways (vgl. González 2015 [Vásquez]): „En Colombia el problema es la presencia permanente del fenómeno de García Márquez. La primera pregunta de todo periodista a un escritor es cómo se escribe bajo la sombra de García Márquez“ (Plaza 2006: 113 [Vásquez]). Um sich von dieser Last zu lösen und García Márquez’ Erbe zu überwinden, begingen viele lateinamerikanische Literat*innen einen symbolischen ‚Vatermord‘ an García Márquez und seinen Zeitgenoss*innen und beriefen sich stattdessen auf literarische Vorbilder und Einflüsse anderer Regionen (vgl. Robbins/González 2014: 2). Diese Zeiten gehören jedoch der Vergangenheit an. So ist die literarische Landschaft Kolumbiens heutzutage als äußerst divers, heterogen und polyphon zu begreifen und lässt sich keineswegs (mehr) einzig auf die literarische Strömung des magischen Realismus beschränken, was zwischenzeitlich auch auf dem internationalen Buchmarkt realisiert wurde. Zu den kolumbianischen Schriftsteller*innen, die dennoch immer wieder aufs Neue in Verbindung mit García Márquez gebracht werden, zählt der 1973 in Bogotá geborene Juan Gabriel Vásquez, der allerdings, abgesehen von seinem Vornamen, zunächst keine direkten Parallelen zum großen Literaten García Márquez aufweist. Während Vásquez zu Beginn seiner Schriftstellerkarriere im Schatten des literarischen Schwergewichts sowie dessen Œuvre stand und sich mühsam einen eigenen Namen erarbeiten musste, können die Vergleiche und Verweise in der Gegenwart, wie es scheint, eher als Wertschätzung und ruffördernd für den vielfach prämierten, international renommierten und in mittlerweile knapp 30 Sprachen übersetzten Autoren gewertet werden. Nicht von ungefähr ist Vásquez zwischenzeitlich als aktiver Mitstreiter der gegenwärtigen Weltliteratur-Debatte im Gespräch, wofür nicht nur die Tatsache spricht, dass er im Frühjahr und Sommer 2017 die Friedrich Dürrenmatt Gastprofessur für Weltliteratur an der schweizerischen Universität Bern innehatte (vgl. Walter Benjamin Kolleg 2017). Das nachfolgende Kapitel widmet sich primär Vásquez als Jungautor zum Zeitpunkt der Veröffentlichung seines ersten Romans Los informantes (2004)45, 45 Bereits einige Jahre zuvor gab Vásquez sein eigentliches literarisches Debüt mit den beiden Romanen Persona (veröffentlicht bei Magisterio 1997) und Alina suplicante (erschienen bei Norma 1999), die beide in kolumbianischen Verlagen veröffentlicht wurden. Bei letzterem Verlag handelt es sich sogar um das ehemals prestigeträchtige kolumbianische Verlagshaus, das

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in anderen Worten seinem Debüt auf dem literarischen Parkett und dem damit verbundenen Einstieg in das internationale Literaturgeschäft: „Con Los informantes yo comenzaba a intuir qué tipo de escritor quería ser, qué tipos de novelas me interesaba escribir, a qué tipo de familia literaria quería aspirar y en las siguientes novelas no he hecho más que afianzar esa idea“ (Buitrago Ramírez 2016: 201 [Vásquez]). Im Vordergrund steht dabei die Frage, inwiefern es sich bei Vásquez um einen „transkulturellen Schriftsteller46“ handelt und ob er dieses Autorbild, das dem Zeitgeist der gegenwärtig geführten Weltliteratur-Debatte entspricht, von Anfang an gezielt anstrebte, das heißt seinen Karriereweg danach ausrichtete.

über lange Zeit hinweg über die Rechte an García Márquez’ literarischem Werk verfügte. Diese Romane strich Vásquez allerdings im Nachhinein, aufgrund ihrer fehlenden Professionalität, Unreife und den sichtbaren ‚Fauxpas‘ eines literarischen Neulings, bewusst aus seiner persönlichen Bio- und Bibliografie sowie aus allen weiteren, den beiden Büchern folgenden Klappentexten (vgl. González 2015 [Vásquez]; Guerriero 2012 [Vásquez]): „[A]prendí con las dos primeras novelas que es muy doloroso publicar un libro que uno siente después defectuoso o que siente la necesidad de modificarlo. Pero esas, más que modificadas, las he eliminado de mi biografía“ (Buitrago Ramírez 2016 [Vásquez]). Entsprechend werden die beiden Romane gegenwärtig mehrheitlich nicht mehr wie normalerweise üblich unter seinen publizierten Titeln aufgelistet. 46 Die italienische Literaturwissenschaftlerin Arianna Dagnino definiert in Transcultural writers and novels in the age of global mobility (2015) den „transcultural writer“, als welche sie in der Gegenwart zwischen den Welten wandelnde Schriftsteller*innen bezeichnet, folgendermaßen: „[A]uthors who do not belong in one place or one culture – and usually not even one language – and who write between cultures and are interested in the complex dynamics of cultural encounters and negotiations“ (Dagnino 2015: 14). Ihre Definition bezieht sich auf Autor*innen, die im Allgemeinen aus freier Entscheidung heraus einen mobilen, transnationalen bis hin zu nomadischen Lebensstil führen, die die Kompetenz zur Mehrsprachigkeit besitzen, sich an verschiedensten geografischen und kulturellen Orten zu Hause fühlen und sich selbst als Menschen mit multiplen, dynamischen Identitäten verstehen (vgl. Dagnino 2015: 1). Des Weiteren muss erwähnt werden, dass es sich bei den Autor*innen mit dem entsprechenden privilegierten Lebensstil primär um Angehörige der bildungsbürgerlichen Mittelschicht handelt, von denen niemand aus wirtschaftlichen Gründen zur Migration gezwungen wurde, selbst dann nicht, wenn es sich bei ihnen um Migrant*innen der zweiten Generation handeln mag (vgl. Dagnino 2015: 17). Charakteristisch für die literarischen Projekte jener Autor*innen, die nicht mit ‚Migrationsliteratur‘ verwechselt werden dürfen (vgl. Dagnino 2015: 14), sind das Fehlen einer spezifisch nationalen, kulturellen oder auch ethnischen Zugehörigkeit sowie die generelle Loslösung ihrer Literatur und Autorperson von fixen Zuschreibungen: „[W]ith their works, their complex and fluid nature seems to dispel any attempt to pin them down, to fit (or restrict) them into any kind of defining box, even the most flexible and sophisticated one“ (Dagnino 2015: 17). Letzten Endes bezwecken sie damit eine Hinterfragung etablierter Produktions-, Rezeptions- und Analysemuster von Literatur (vgl. Dagnino 2015: 4 f.).

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Ausgehend von Interviewmaterialien mit und Pressetexten zu Vásquez sollen ein umfassender biografischer Abriss des Autors erstellt und zentrale Aspekte herausgearbeitet werden. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass es sich bei den (Selbst-)Repräsentationen Vásquez’ in den vorliegenden Materialien um gezielte Inszenierungen seitens der Medien sowie des Schriftstellers selbst handelt. Diese geben nicht etwa darüber Auskunft, wie oder wer Vásquez tatsächlich ist, sondern nur, welches Autorbild beziehungsweise welche Autorfigur er verkörpert. Auf intratextueller Ebene, das heißt mittels einer Analyse des genannten Debütromans Los informantes, gilt es in einem nächsten Schritt zu klären, inwieweit es sich bei dem, in Unterschied zu den Vorgängerwerken, Alina suplicante (1999) und Persona (1997), erstmals in einem spanischen Verlag veröffentlichten Titel, (bereits) um einen ‚universellen‘ Roman handelt. Dabei wird von Interesse sein, wodurch sich Vásquez’ Schreiben auszeichnet und ob es sich gegebenenfalls speziell an ein internationales Lesepublikum richtet. 4.3.1.1 Biografischer Abriss und die Konstruktion einer literarischen Karriere Vásquez wurde 1973 in der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá geboren. Als Sohn einer Anwaltsfamilie schien für ihn die Laufbahn als Jurist und die spätere Anstellung in der Anwaltskanzlei des Vaters, der bereits seine Schwester angehörte, von Beginn an vorgezeichnet. Umgeben von Büchern seiner belesenen Familie spielte die Literatur in seinem Alltag von klein auf eine wichtige Rolle: „[…] I grew up with this idea that novels are important, that good writers are people you should look up to, and they were looked up to in my family“ (Ruffinelli 2013/2014: 151 [Vásquez]). Schon im Grundschulalter schrieb er erste Kurzgeschichten, die im Jahrbuch seiner Schule veröffentlicht wurden (Rodríguez Freire 2011/2012: 204 [Vásquez]). Trotz alledem kam eine künstlerische Tätigkeit als Schriftsteller ohne universitären Abschluss für Vásquez zunächst nicht infrage (vgl. Ruffinelli 2013/2014: 152 [Vásquez]). Nach dem Abschluss des Colegio Anglo-Colombiano 1990, einer spanisch-englischen Privatschule, absolvierte er daher der Familientradition folgend ein Studium der Rechtswissenschaften an der Universidad del Rosario in Bogotá. Bereits zu diesem Zeitpunkt begeisterte er sich im Grunde mehr für literarische Texte als für Paragrafen und Gesetze, was sich auch in seiner Abschlussarbeit über die Homerische Ilias widerspiegelte (vgl. Buitrago Ramírez 2016: 200; Paternostro 2010: 77 [Vásquez]). Nach seinem Studium entschloss er sich 1996, Kolumbien den Rücken zu kehren, um damit der alltäglichen Gewalt im öffentlichen Raum zu entfliehen und vor allen Dingen endlich seinen Traum vom Schreiben zu verwirklichen. Um dieses Vorhaben sobald wie möglich in die Tat umzusetzen, schien ihm kein Ort besser

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geeignet zu sein, als Paris, die Hauptstadt der Casanovaschen World Republic of Letters, die schon das Ziel zahlreicher lateinamerikanischer Schriftsteller*innen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war: Yo llegué a París con 24 años y cada año tengo una idea distinta de por qué elegí esa ciudad. El año pasado creía que fue porque Vargas Llosa y García Márquez habían estado en París. París tuvo cierta reputación durante el boom, se decía que el premio Nobel se hacía allí: Miguel Ángel Asturias, Pablo Neruda pasaron tiempo en la ciudad … (Plaza 2006: 110 [Vásquez])

Dort, wo bereits Generationen von Schriftsteller*innen vor ihm ihre Quelle der Inspiration gefunden hatten, unter ihnen auch seine literarischen Vorbilder (vgl. Maeseneer/Vervaeke 2012 [Vásquez]; Plaza 2006: 110 [Vásquez]), erhoffte sich auch Vásquez, einen erfolgreichen Einstieg in die literarische Welt vollziehen zu können: „I chose Paris because of what I thought Paris did to writers or writer wannabes“ (Paternostro 2010: 77 [Vásquez]). Als Vorwand für seinen Umzug nach Frankreich beziehungsweise Paris, wo er niemanden kannte und dessen Landessprache er nicht sprach, diente ihm zunächst das Studium der Lateinamerikanischen Literatur, das er 1999 mit einer Promotion an der Sorbonne in Paris abschloss. Dennoch lieferte der Aufenthalt in Paris nicht unweigerlich den gewünschten und erhofften kreativen Impuls für Vásquez’ Schriftstellerkarriere. Deshalb verließ er nach einer ernüchternden Bilanz, trotz der Veröffentlichung zweier Romane Persona (1997) und Alina suplicante (1999) in den kolumbianischen Verlagen Norma und Magisterio, die französische Hauptstadt wieder (vgl. Maeseneer/Vervaeke 2012 [Vásquez]). Danach verbrachte er ein Jahr bei Freund*innen in den belgischen Ardennen. Der Rückzug aus dem öffentlichen Leben und der Großstadt diente ihm, wie er selbst sagt, der literarischen Selbstfindung: „Durante este tiempo comprendí muchas cosas del tipo de escritor que quería ser, a quién quería parecerme. Fue un año en el ‚desierto‘, un año para descubrirme a mí mismo, según el cliché filosófico“ (Maeseneer/Vervaeke 2012 [Vásquez]). Auf diesen Zeitraum geht sein Erzählungsband Los amantes de Todos los Santos (2001) zurück, dessen einzelne Kurzgeschichten allesamt in Frankreich und Belgien verortet sind und von deren Protagonist*innen niemand kolumbianischer Herkunft ist. Schon in seinen beiden zuvor erschienenen Romanen Persona und Alina suplicante war nicht etwa Bogotá, sondern in Teilen Florenz und Paris der Schauplatz der Handlung. Das führte wiederum dazu, dass Vásquez’ besagtes Werk in der spanischen Literaturpresse als „europäisches Buch eines kolumbianischen Schriftstellers“ (Rojo 2008 [Ü. d. V.]) betitelt wurde. Eine ähnliche Rezeption erfuhr der Erzählband in Kolumbien, wo er zwar positive Kritik erntete, aber unter der Rubrik ‚ausländische Autor*innen‘ erschien: „Poco después de publicado el libro, el escritor colombiano Héctor Abad me mandó por

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correo un recorte del periódico en el cual mi libro aparecía en la lista de más vendidos … pero en la columna de autores extranjeros.“ (Vásquez 2009a: 181). Einerseits kann dieser Umstand als ein Versuch Vásquez’ interpretiert werden, sich (direkt) in das europäische literarische Feld einzuschreiben, nachdem er mit diesem Ansinnen zuvor in Kolumbien gescheitert war. Andererseits handelte es sich zu jener Zeit um einen bewussten (Widerstands-)Akt Vásquez’, allein wegen seiner geografischen Herkunft einer literarischen Auseinandersetzung mit Kolumbien verpflichtet zu sein und nicht Ort und Thema der Handlung seiner Romane ‚frei‘ und unabhängig seiner Herkunft und Muttersprache wählen zu können (vgl. Hollanda Cavalcanti 2013: 236 [Vásquez]). Eine Integration in das beispielsweise französische literarische Feld blieb ihm allerdings schon allein deswegen verwehrt, weil er weiterhin auf Spanisch, seiner Muttersprache, seine Romane verfasste und diese auch in einem kolumbianischen beziehungsweise spanischen Verlag verlegen ließ. Die Resistenz Vásquez’ gegenüber einer Fixierung auf ‚typisch‘ lateinamerikanische Themen, wie sie häufig die internationale Verlagsbranche fordert und nicht lateinamerikanische Leser*innen erwarten, erinnert ihrerseits an das literarische Manifest des mexikanischen Crack in den 1990er-Jahren, das eine Entkoppelung von Herkunft des*der Autor*in und Ort der Handlung forderte. Es ist deswegen genauso denkbar, dass sich Vásquez zu Beginn seiner literarischen Karriere explizit darum bemühte, nicht als kolumbianischer Autor per se betrachtet zu werden und kein spezifisch kolumbianisches, sondern ein möglichst breites Lesepublikum ins Auge gefasst hatte: „In recent decades a growing proportion of works has been produced primarily for foreign consumption“ (Damrosch 2003: 18). Stattdessen unternahm Vásquez Anstrengungen, einen möglichst universellen Schreibstil zu finden, um auf diese Weise Teil einer ‚globalen Literatur‘ zu werden, die sich folgendermaßen charakterisieren lässt: „[U]na literatura que no se asimila totalmente a la representación nacional sino a un objeto ‚mundial‘ cuya única marca de identidad es la lengua“ (Gallego Cuiñas 2014: 3). Das erklärt zudem, weshalb er sich selbst und seiner Literatur einen kosmopolitischen Anstrich verlieh. In der Folge kann, ausgehend von der Literaturwissenschaftlerin Catalina Quesada Gómez, Vásquez’ literarische Karriere wie auch sein Schriftstellerprojekt durch eine anfängliche Deterritorialisierung beziehungsweise Entgrenzung hinsichtlich der kolumbianischen Thematik charakterisiert werden. Diese resultiert im späteren Karriereverlauf in einer Reterritorialisierung, das heißt der nicht nur literarischen Hinwendung zu Kolumbien, sondern auch des tatsächlichen geografischen Rückzugs Vásquez’ nach Kolumbien im Jahre 2012 (vgl. Quesada Gómez 2014: 14). Darüber hinaus muss erwähnt werden, dass Vásquez interessanter- und paradoxerweise, trotz seines Faibles für angloamerikanische Literatur, Frankreich

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und nicht etwa England oder die USA als erste Station seiner (internationalen) literarischen Karriere wählte. So gehören zu den ihn prägenden literarischen Einflüssen, mit denen er sich auch in Frankreich auseinandersetzte, vorwiegend Schriftsteller*innen des anglophonen Sprachraums: „[…] Vásquez recorre los espacios y lugares de París por donde han pasado Joyce, Scott Fitzgerald, Hemingway y Gertrude Stein para empaparse literal y literariamente de su atmósfera“ (Aínsa 2012: 70). Da Vásquez im Anschluss seines Aufenthaltes in Belgien noch nicht nach Kolumbien zurückkehren wollte, wählte er als nächste Station seiner schriftstellerischen Laufbahn Barcelona, was für ihn den idealen Schreibort für einen lateinamerikanischen Autoren repräsentierte: Pensé […] que la calidad de las editoriales y la crítica literaria sobre la literatura latinoamericana podía hacer que Barcelona fuera un destino para mí. Probablemente, si en los años sesenta Vargas Llosa, García Márquez, Donoso y Bryce Echenique no hubiesen escogido Barcelona sino Madrid, habría acabado en la capital. (Maeseneer/Vervaeke 2012 [Vásquez])

Für Vásquez’ Entscheidung war zunächst das historische Gewicht der katalanischen Metropole ausschlaggebend, die schon den Boom-Autoren in den 1960erJahren als strategischer Schreib- und Publikationsort diente und ihre Aufnahme in eine World Republic of Letters begünstigte: „La consagración de esta novelística latinoamericana iba ligada con la imagen de Barcelona como una suerte de meridiano de Greenwich decisivo para su promoción y visibilidad […]“ (Bencomo 2009: 34). Doch auch die gegenwärtige Bedeutung Barcelonas als kosmopolitische Weltstadt mit einer großen lateinamerikanischen (Schriftsteller-)Community, als Sitz zahlreicher renommierter Verlage und Literaturzeitschriften und als künstlerisches Zentrum Spaniens ist in diesem Zusammenhang nicht zu vernachlässigen. Wie für viele andere lateinamerikanische Autor*innen um die Jahrtausendwende kam für Vásquez die Veröffentlichung in einem spanischen Verlag der Verwirklichung des Traums vom renommierten und erfolgreichen internationalen Schriftsteller gleich: Publicar en España se convirtió entonces en la meta más deseada para un latinoamericano: alcanzarla significaba ascender a una especie de primera clase literaria, editada en Madrid o Barcelona, distribuida en varios países y premiada con toda suerte de ventajas (colaboraciones en periódicos y revistas, viajes a congresos y ferias, inmediato reconocimiento público) […]. (Volpi 2010: 4)

Jorge Volpis Zitat erweckt den Anschein, als repräsentieren die spanischen Städte Madrid und Barcelona sowie die dort ansässigen Verlage für lateinamerikanische Literat*innen noch immer das ‚Mekka‘ der spanischsprachigen Literaturproduktion, in anderen Worten, als wären dort die Schaltzentralen der Macht einer World

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Republic of Letters für den spanischsprachigen Raum verortet: „[L]e corresponde a España precisamente convertirse en la punta de la lanza de la promoción y representación del fenómeno globalizador dentro del espacio de las literaturas escritas en castellano“ (Bencomo 2009: 37). Selbst wenn dem nicht immer so ist, bildete Spanien, zumindest für Vásquez’ Schriftstellerprojekt und -karriere, die bis zum damaligen Zeitpunkt aufgrund der steten Ortswechsel einen nomadischen Charakter besaßen, eine weitere notwendige Zwischenstation auf seinem Weg zum international anerkannten Autoren: „[L]a emigración de Colombia a mediados de los noventa, el paso por París, el curioso desvío hacia Bélgica y la radicación en Barcelona, tenían mucho que ver con la ambición de ganarse un lugar dentro de lo que Pascale Casanova llamó la República Mundial de las Letras“ (Vervaeke 2012: 30). Die im Laufe der Jahre gewonnene Distanz zu Kolumbien erlaubte es ihm außerdem, wie er selbst sagte, sich dem Land allmählich wieder auf literarischer Ebene anzunähern (vgl. Hollanda Cavalcanti 2013: 237 [Vásquez]; Maeseneer et al. 2013: 215 [Vásquez]; Wiener 2007: 13 [Vásquez]). Deshalb machte er ab seinem vierten Buch, Los informantes (2004), Kolumbien sowie die kolumbianische Geschichte wieder zum Gegenstand seiner literarischen Werke. Allerdings muss angemerkt werden, dass sich Vásquez im Zuge dessen nicht etwa wie manch andere kolumbianische Autor*innen den speziell international auf großes Interesse stoßenden literarischen Topoi im Roman zuwandte, wie zum Beispiel der Gewalt, dem Drogenhandel, der Megastadt oder der Guerilla (vgl. Hernández 2014). Darüber hinaus spielte die Tatsache, dass Vásquez sich in Spanien anders als zuvor in Frankreich oder Belgien problemlos auf Spanisch verständigen konnte, eine wichtige Rolle. Auf diese Weise war es ihm möglich, sich auch jenseits des ‚bloßen‘ Schreibens seiner eigenen literarischen Werke beruflich der Literatur zu widmen, beispielsweise als Literaturkritiker, Kolumnist, Journalist, Dozent an der Universität oder Übersetzer (vgl. González 2015 [Vásquez]). So schrieb er über mehrere Jahre regelmäßig politische Kolumnen und Kommentare für den Kulturteil, unter anderem für die spanische Tageszeitung El País sowie die kolumbianische Tageszeitung El Espectador. Trotz seiner Diskussionsfreudigkeit, die von Themen wie das Recht auf Abtreibung, den Friedensprozess in Kolumbien, die Legalisierung von Drogen bis hin zur gleichgeschlechtlichen Ehe reichen, verzichtet Vásquez anders als viele seiner lateinamerikanischen schriftstellerischen Zeitgenossen vollkommen auf den Gebrauch von sozialen Medien wie Twitter, Instagram oder Facebook. Das macht ihn zu einem Literaten und Kritiker im klassischen Sinne, der unter Einsatz der ‚traditionellen Medien‘ wie Radio und Printpresse dennoch stets im öffentlichen und medialen Diskurs präsent ist.

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Vásquez’ journalistischer Ethos, allen voran die akribische Recherche, findet sich auch in seinen Romanen wieder, die allesamt einen investigativen Ansatz verfolgen und einen aufklärerischen Anspruch erheben: „[E]n algún momento siento la necesidad de salir al mundo y hacer reportajes, entrevistas, ir a los lugares donde ocurre esa ficción en particular, dónde ocurrirá esa ficción, y hacer una especie de trabajo de campo“ (Buitrago Ramírez 2016: 199 [Vásquez]). Wenngleich Vásquez sich klar als engagierter Autor versteht, der sich in seinen literarischen Werken auch mit polithistorischen Themen auseinandersetzt, distanziert er sich nachdrücklich von einem Literaturverständnis, das öffentlich diffamiert und anklagt (vgl. Hollanda Cavalcanti 2013: 244 [Vásquez]). Vásquez’ journalistischer Ehrgeiz ist indes im Zusammenhang mit seinem persönlichem Schriftstellerkonzept zu sehen: Seine Aufgabe sieht er nicht nur in der Unterhaltung der Leser*innen, sondern darüber hinaus weiß er, seinen Einfluss als Person des öffentlichen Lebens auf soziopolitische Debatten zu nutzen (vgl. Läubli 2017 [Vásquez]; Vervaeke 2014: 40 [Vásquez]). Vásquez’ Haltung erinnert an die lateinamerikanischen Schriftsteller*innen zu Zeiten des Booms und ihren Ruf als öffentliche Intellektuelle im politischen Diskurs. Dabei handelt es sich zugleich um eine moralische Verpflichtung, von der sich jüngere Generationen an Autor*innen im Laufe der Jahre losgesagt hatten (vgl. Domínguez Michael 2005: 27 f.). Eine direkte Folge von Vásquez’ Engagement ist, dass ihm häufig die Rolle des Kulturbotschafters Kolumbiens zugewiesen wird. Auf der einen Seite dient er Kolumbien als werbewirksames, prominentes Aushängeschild, das das Land nach außen hin vertritt, auf der anderen Seite fungiert er als (kultureller) Vermittler hinsichtlich aktueller Geschehnisse und Debatten im Land (vgl. Montgomery 2013). Ersterer Punkt lässt sich eindrucksvoll anhand der offiziellen Tourismus-Webseite Kolumbiens veranschaulichen. Kolumbien wird dort unter anderem anhand seiner großen Literat*innen auf der Unterseite „Colombia, un país con encanto literario“ beworben. Neben dem Nobelpreisträger García Márquez sowie anderen renommierten Schriftsteller*innen kolumbianischer Provenienz wird auch Vásquez als Autor mit weltweitem Ansehen beziehungsweise als Teil der kolumbianischen Weltliteratur aufgeführt: [E]n la actualidad contamos con importantes escritores como Fernando Vallejo, William Ospina, Laura Restrepo, Juan Gabriel Vásquez y Héctor Abad Faciolince, autores que han merecido diferentes reconocimientos a nivel internacional por el éxito de sus libros y su aporte valioso a la literatura mundial. (PROCOLOMBIA. Exportaciones Turismo Inversión Marca País 2020)

Vásquez blieb so, trotz seiner faktischen geografischen Abwesenheit, weiterhin mit Kolumbien und den Geschehnissen vor Ort verbunden, zum anderen konnte

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er sich durch seine fortwährende Präsenz in den Medien einen Ruf als kritische Stimme und scharfsinniger Beobachter erarbeiten. Ausdruck fand die Wertschätzung von Vásquez’ journalistischem Engagement in der zweimaligen Verleihung des kolumbianischen Journalismuspreises, dem Premio Nacional de Periodismo Simón Bolívar: 2009 für den Essay El arte de la distorsión und 2012 für ein Interview mit dem US-amerikanischen Schriftsteller Jonathan Franzen. 2015 hatte Vásquez zudem den Vorsitz der preisgebenden Jury des Premio Nacional de Periodismo Simón Bolívar inne. Zugleich erinnert Vásquez’ Prämierung in Kolumbien aber auch an Rafael Lemus’ These über die Würdigung a posteriori von Literat*innen lateinamerikanischer Provenienz in ihren Herkunftsländern, sobald diese einmal außerhalb Lateinamerikas, vor allem in Spanien, verlegt und anerkannt werden (vgl. Lemus 2012: 30). Hier muss ergänzt werden, dass es sich bei dieser Betrachtungsund Herangehensweise um ein Überbleibsel des Kolonialismus handelt. Kennzeichnend dafür ist, dass die postkoloniale ‚Peripherie‘ sich bei ihren Wertungsentscheidungen weiterhin am Zentrum und damit dem ehemaligen ‚Mutterland‘ Spanien orientiert und selbst wenn es darum geht, ihre eigenen literarischen Produktion zu bewerten, den Globalen Norden als Referenz hierfür gebraucht (vgl. Escalante Gonzalbo 2007: 278). Ferner gelang es Vásquez, sich mittels seiner journalistischen Tätigkeit in der spanischen medialen Öffentlichkeit und Kulturlandschaft einen Namen zu machen: „Hacía informes de lectura para editoriales, editaba la revista Lateral en Barcelona y entre una y otra cosa, traducía literatura“ (vgl. Duzán 2013). Dadurch erhielt er Zugang zu wichtigen sozialen und kulturellen Netzwerken und konnte schlussendlich sein symbolisches Kapital vergrößern. Es ist davon auszugehen, dass in diesem Kontext auch der spanische Verlag Alfaguara, der Teil der multinationalen Penguin Random House Gruppe ist, auf ihn aufmerksam wurde. Bei ihm veröffentlicht Vásquez seitdem seine Bücher. Wertungs- und Kanonisierungsprozesse im spanischen Literatursystem orientieren sich weniger an Stimmen aus den (Literatur-)Wissenschaften, sondern primär an der Privat- und Marktwirtschaft: „El sistema español tradicionalmente ha evaluado su literatura […] cimentándose en los premios y en el aval de los medios de comunicación: en la ‚legibilidad‘ y en el mercado editorial“ (Gallego Cuiñas 2014: 4). Vásquez war zu diesem Zeitpunkt kein ‚unbeschriebenes Blatt‘ mehr, sondern konnte bereits von seinem in Kolumbien, Frankreich und Belgien erworbenen symbolischen Kapital Gebrauch machen. Das unterstützt die These der argentinischen Literaturkritikerin Nora Catelli, dass auch einer Veröffentlichung in einem spanischen Verlag zunächst eine Anerkennung oder bestenfalls Kanonisierung im Herkunftsland vorausgehen muss, was sie am Beispiel des chilenischen Schriftstellers Roberto Bolaño demonstriert:

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Ni siquiera con él [Bolaño] se cumple el relato de la llegada legendaria del joven desconocido con el manuscrito bajo del brazo que se presenta ante la Agencia Balcells de Barcelona o ante cualquiera de las otras, sino que está presente el mecanismo anterior de consagración intermedia. (Catelli 2010: 43)

So hatte Vásquez bereits im Vorfeld einen Titel, Los amantes de Todos los Santos (2001), in der kolumbianischen Dependance von Alfaguara publiziert (vgl. Plaza 2006: 110 [Vásquez]). Hier kam Vásquez sicherlich die Verlagspolitik des multinationalen Konsortiums zugute, das alleiniger Inhaber der spanischen Vertriebsrechte seines literarischen Werks ist. Im Rahmen des Projektes Alfaguara Global, das sich einem regen literarischen Austausch zwischen Spanien und Lateinamerika verschrieben hat, wurden demgemäß Vásquez’ Bücher nicht nur in Spanien, sondern auch in verschiedenen Ländern Lateinamerikas zeitgleich auf den Markt gebracht. Allerdings bildet Vásquez hierbei eine Ausnahme, denn nur wenigen lateinamerikanischen Autor*innen, die bei Alfaguara oder in anderen transnationalen Verlagshäusern verlegen, ist eine umfassende Zirkulation im spanischsprachigen Raum, wie sie das literarische Werk Vásquez’ erfährt, vergönnt47. Tatsächlich zirkulieren nur all jene literarischen Werke sowohl in Spanien als auch in mehreren lateinamerikanischen Ländern zugleich, denen in einem Selektionsprozess von Verlagsseite ein mögliches Verkaufspotenzial zugeschrieben wird. Entsprechend wird die getroffene beschränkte Auswahl an und Sichtbarkeit von Autor*innen lateinamerikanischer (Nachbar-)Länder immer wieder aufs Neue bemängelt (vgl. Escalante Gonzalbo 2007: 220). 4.3.1.2 Literaturpreise und Übersetzungen Nach mehr als einem Jahrzehnt in Spanien und sechs veröffentlichten Werken, unter ihnen vier Romane Los informantes (2004), Historia secreta de Costaguana (2007), El ruido de las cosas al caer (2011), eine Biografie über den polnisch-britischen Schriftsteller Joseph Conrad (Joseph Conrad: el hombre de ninguna parte (2004)), ein Kurzgeschichtenband Los amantes de Todos los Santos (2001) und eine Essaysammlung El arte de la distorsión (2009), kehrte Vásquez 2012 gemeinsam mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern zurück in die kolumbianische Hauptstadt Bogotá, wo er seither lebt und schreibt. Zwischenzeitlich hat er zwei weitere Romane, Las reputaciones (2013) und La forma de las ruinas (2014), sowie eine weitere Kurzgeschichtensammlung

47 Als (Gegen-)Beispiel kann Julián Herbert angeführt werden. Die Zirkulation seines literarischen Werks beschränkte sich im spanischsprachigen Raum zunächst auf Mexiko, trotz der Tatsache, dass seine Bücher in einem transnationalen Verlagshaus, bei Penguin Random House, veröffentlicht wurden und werden.

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Canciones para el incendio (2018) und einen Essayband Viajes con un mapa en blanco (2018) veröffentlicht, die allesamt bei Alfaguara verlegt werden. Den Höhepunkt seiner bisherigen Schriftstellerkarriere und den Gipfel seines internationalen Erfolges markierte sicherlich 2011 die Verleihung des Premio Alfaguara de Novela für seinen Roman El ruido de las cosas al caer (vgl. Rodríguez Marcos 2011). Zwar handelt es sich bei diesem im Unterschied zum prestigeträchtigen Premio Herralde, dem nachgesagt wird, ‚literarische Qualität‘ über kommerziellen Wert zu stellen, um einen marktstrategischen beziehungsweise profitorientierten Literaturpreis (vgl. Bencomo 2006: 16). Nichtsdestotrotz besitzt der Premio Alfaguara wegen des monetären Wertes und des damit verbundenen medialen Interesses für viele Schriftsteller*innen eine hohe Attraktivität: „Seiscientas entrevistas sobre el mismo libro son demasiadas. El Premio Alfaguara tiene una bendición que al mismo tiempo es una tortura: la obligación de presentar el libro en todos los países de habla hispana“ (Maeseneer et al. 2013: 214 [Vásquez]). Neben dem Preisgeld von 175.000 US-Dollar brachte dieser auch den Vertrieb des prämierten Titels im kompletten spanischsprachigen Raum mit sich und führte dazu, dass Vásquez’ literarisches Werk ebenso international, das heißt auch außerhalb des spanischsprachigen Raumes an Aufmerksamkeit gewann, was sich wiederum in steigenden Übersetzungsanfragen niederschlug. Geschickt vonseiten der Verlage eingesetzt, fungieren Literaturpreise somit als ein hervorragendes „Marketinginstrument“ (English 2005: 153 [Ü. d. V.]), das den Absatz des prämierten Titels ankurbelt und erhöht. Die Problematik hierin liegt, dass das literarische Feld immer mehr durch eine kommerzielle Logik dominiert wird, in der nicht mehr allein der etwaige literarische Wert eines Werks bei der Prämierung entscheidend ist, sondern vor allem die Wahrscheinlichkeit, dieses später bestmöglich vermarkten und verkaufen zu können (vgl. Escalante Gonzalbo 2007: 317). Allerdings handelt es sich bei dem besagten Premio Alfaguara bei weitem nicht um den einzigen Literaturpreis, den Vásquez für seine literarischen Texte erhielt. Neben der Auszeichnung seines literarischen Werks in spanischer Originalfassung48 wurden seine Bücher auch international mit zahlreichen Preisen gewürdigt. Zu den wichtigsten zählen sicherlich der International IMPAC Dub-

48 Zur Liste der spanischen Auszeichnungen, mit denen Vásquez’ literarisches Werk ausgezeichnet wurde, zählen unter anderem der Premio Real Academia Española 2014, der Premio Arzobispo Juan de San Clemente 2014 sowie der Premio Qwerty 2007. 2020 wurde Vásquez erstmals in seinem Herkunftsland Kolumbien ausgezeichnet, wo er den renommierten, durch den kolumbianischen Schriftsteller Héctor Abad Faciolince ins Leben gerufenen Premio Biblioteca de Narrativa Colombiana für seinen Kurzgeschichtenband Canciones para el incendio (2018) erhielt (vgl. López 2020).

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lin Literary Award 201449 (100.000 €), der englische PEN Award 2012, der italienische Gregor von Rezzori-Preis 2013 (10.000 €), der portugiesische Casa da América-Preis 2016 (4.000 €), der portugiesische Literário Casino da PóvoaPreis 2018 (20.000 €) sowie der französische Roger Caillois-Preis 2012. Mit letzterem Preis wurde Vásquez im jungen Alter von 39 Jahren für sein bisheriges literarisches Gesamtwerk beehrt. Dabei handelt es sich um eine Würdigung, die seinerzeit auch Mario Vargas Llosa, Ricardo Piglia, Carlos Fuentes und Roberto Bolaño erhielten. Außerdem war Vásquez mehrmaliger Finalist des französischen Literaturpreises Prix Médicis, des Prix Fémina, des Literaturpreises, der im Rahmen der Mario Vargas Llosa Biennale verliehen wird, des griechischen Public Book Award sowie zuletzt 2019 als erster kolumbianischer Autor des Man Booker International Prize (vgl. Cain 2019)50. Abgesehen von den zahlreichen Auszeichnungen und Nominierungen wurde Vásquez 2007 in Bogotá im Zuge der Feierlichkeiten um die Welthauptstadt des Buchs, einen Titel, den die UNESCO alljährlich verleiht, als einer der gegenwärtig 39 repräsentativsten und vielversprechendsten lateinamerikanischen Schriftsteller unter 40 Jahren nominiert. Der Aufnahme in jene Liste folgte die Publikation einer gemeinsamen Anthologie Bogotá 39. Antología del cuento latinoamericano, die durch das Hay Festival und das Kulturministerium Bogotás gefördert wurde. Sowohl die Wahl der Autor*innen als auch die Anthologie wurden in den Medien und der Wissenschaft kritisch diskutiert und hinterfragt: Mehr als die Hälfte der gelisteten Schriftsteller*innen, so auch Vásquez, lebte zu jener Zeit in den USA oder Europa beziehungsweise hatte bereits mehrere Jahre dort verbracht. Darüber hinaus schrieben zwei der 39 Autor*innen zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Liste auf Englisch und damit primär für ein US-amerikanisches Publikum. Infolgedessen waren die nominierten Autor*innen in ihren Herkunftsländern wie auch in Lateinamerika weitaus weniger bekannt als in den USA oder Europa (vgl. Roda 2007). Das führte dazu, dass sie in der Presse auch als die „neuen Nomaden“ (Manrique Sabogal 2007 [Ü. d. V.]) bezeichnet wurden: „[H]ijos del mestizaje cultural y cosmopolitas de herencia y vocación global“ (Manrique Sabogal 2007). Nichtsdestotrotz brachte die Debatte den teilnehmenden Schrift-

49 Interessanterweise handelt es sich bei dem besagten irischen Literaturpreis um eine Auszeichnung, deren Anspruch es ist, „excellence in world literature“ zu prämieren (International DUBLIN Literary Award Office 2020). 50 Darüber hinaus zählte Vásquez 2019 zum Kreis der potenziellen Anwärter*innen für den Literaturnobelpreis (vgl. Haynes 2019).

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steller*innen, ebenso Vásquez, eine größere (internationale) Aufmerksamkeit und damit auch ein größeres Interesse an ihren schriftstellerischen Arbeiten ein. Einen weiteren Höhepunkt in Vásquez’ internationaler literarischer Karriere bildete die Verleihung des Orden de Isabel la Católica 2018 mit dem Vásquez’ schriftstellerisches Projekt, aber auch sein kulturelles Verdienst dies- und jenseits des Atlantiks, das heißt in Spanien und Kolumbien gewürdigt wurde. Bei diesem Orden handelt es sich um eine der höchsten Auszeichnungen Spaniens, deren Ursprung auf König Ferdinand VII zurückgeht und mit der heutzutage der spanische König Felipe VI gemeinsam mit dem*der amtierenden spanischen Außenminister*in besondere kulturelle oder wissenschaftliche Leistungen prämiert (vgl. Manetto 2018). Zuletzt erhielt Vásquez 2019 ein einsemestriges Stipendium des Barnard College mit Sitz in New York, in dessen Rahmen er unter anderem als Writer in Residence eine Vorlesungsreihe abhielt (vgl. Burnyeat 2020). Für Vásquez hat der Gewinn von Literaturpreisen eine dreifach positive Auswirkung: Erstens führt er zur Steigerung seines symbolischen Kapitals, zweitens ermöglicht ihm dieser eine Konzentration auf und Professionalisierung seiner Schriftstellerarbeit, ohne auf weitere Nebenverdienste angewiesen zu sein, und drittens steigert ein Preisgewinn in der Regel auch den Absatz seiner Bücher (vgl. Dücker 2013: 216). Vásquez ist ein besonderer Fall, da er neben Autor*innen wie Laura Restrepo, Fernando Vallejo oder Héctor Abad Faciolince dank der Vielzahl an Prämierungen seiner literarischen Werke, den hohen Anzahlungen, die er vom Verlag im Voraus für neu geplante Titel erhält, und den Anteilen, die er pro verkauftes Buch bekommt, zu den wenigen kolumbianischen Schriftsteller*innen zählt, die allein von ihrer schriftstellerischen Arbeit leben können (vgl. Semana 2017). Damit gehört er einer Minderheit an, denn anders als die genannten Schriftsteller*innen ist es gerade Autor*innen, die in Kleinverlagen ihre literarischen Texte veröffentlichen, nicht möglich, sich einzig und allein der Literatur zu widmen. Hinzu kommt, dass Kolumbien nicht wie beispielsweise Mexiko über ein staatlich gefördertes Schriftstellerprogramm verfügt. Vásquez’ Fall erweckt den Eindruck, als habe er seine zwei ersten Romane vor allem deshalb aus seinem Œuvre gestrichen, weil er für sie, anders als für die Mehrheit seiner späteren literarischen Erzeugnisse, keine Preise erhielt51. Wenn James F. Englishs Aussage in The economy of prestige (2005) über die Re-

51 Diese Vorgehensweise, störende Elemente gezielt aus dem Lebenslauf zu entfernen, passt auch zu Vásquez’ sonstiger langfristiger, zielgerichteter Karriereplanung: „No creo que uno deba aprender en público y por eso los quité“ (Guerriero 2012 [Vásquez]). Auf diese Weise entwarf er sich letztlich eine möglichst geradlinige und gleichförmig verlaufende Erfolgsgeschichte frei von ‚peinlichen Patzern‘ und ohne Brüche.

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lation zwischen der Verleihung eines Literaturpreises und der Anerkennung als Autor*in auf Vásquez übertragen wird, war Vásquez zum damaligen Zeitpunkt so gesehen also noch kein ‚wirklicher‘ Schriftsteller: „[I]t is the prize, above all else, that defines the artist“ (English 2005: 21). Im Grunde genommen betrat Vásquez erst nach der Verleihung des Premio Alfaguara 2011 das schriftstellerische Rampenlicht, wofür auch die Tatsache spricht, dass alle anderen größeren Auszeichnungen im Nachhinein erfolgten. Seither wird Vásquez in der Literaturpresse fast durchweg anhand seiner gewonnenen Preise vorgestellt, deren Auflistung sich je nach Landessprache unterscheidet. In diesem Akt zeigt sich, dass in Zeiten der Celebrity Culture die offizielle Auszeichnung Autor*innen erst zu Schriftsteller*innen im eigentlichen Sinne macht, deren öffentliche und mediale Inszenierung in vielerlei Hinsicht mit derjenigen von TV- und Filmstars mithalten kann (vgl. English 2005: 78). Inwiefern Literaturpreise hoch im Kurs stehen und die Präsentation von Schriftsteller*innen und ihren literarischen Werken anhand ihrer Auszeichnungen erfolgt, verdeutlicht die Allgegenwart von verliehenen Preisen auf Buchcovern, Schutzumschlägen, in Werbematerialien und Presseartikeln (vgl. English 2005: 20 f.). Dass sich Verlage und Literaturagenturen bei der Vermarktung von Autor*innen auf diese stützen und diese gezielt nutzen, gibt der aktuelle Katalog der spanischen Literaturagentur Casanovas & Lynch deutlich wieder. Sie vertritt auch Vásquez, den sie anhand der großen Zahl von verliehenen und nominierten Literaturpreisen bewirbt (vgl. Casanovas & Lynch 2017). Entsprechend dienen Verlagen und Literaturagenturen in der Gegenwart Literaturpreise als (Vergleichs-)Maßstab, um die Marktfähigkeit und die Absatzchancen von Schriftsteller*innen zu berechnen und sie in einem nächsten Schritt entsprechend zu bewerben (vgl. Marling 2016: 6). Dabei handelt es sich um einen Grundsatz, der in Vásquez’ Fall, gemessen an der geografischen Reichweite seines literarischen Werks, besonders gut zu funktionieren scheint. Allerdings muss an dieser Stelle kritisch angemerkt werden, dass die Existenz von Übersetzungen allein keine Auskunft über den tatsächlichen Absatz eines literarischen Werks geben kann. Fakt ist, dass Vásquez’ Bücher weltweit zirkulieren. Wie ‚gut‘, ist eine andere Frage, die nur auf der Grundlage von Verkaufs- und Absatzzahlen, die bedauerlicherweise nicht vorliegen, geklärt werden kann. Dessen ungeachtet veranschaulicht dieser Sachverhalt aufs Neue, inwieweit die Entscheidung für die Übersetzung eines Buchs, der Erwerb von Übersetzungsrechten und letztlich auch die Aufnahme in eine World Republic of Letters durch das Vorhandensein von prestigeträchtigen literarischen Auszeichnungen bedingt wird (vgl. Sapiro 2016b: 8). In der Konsequenz gilt die Übersetzung als Conditio sine qua non für eine Erlangung des weltliterarischen Status: „[A]l pensar el campo editorial mundial, lo que aparece como central es la cues-

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tión de la traducción“ (Szpilbarg 2012: 455). Mittlerweile sind Vásquez’ Bücher laut seiner Agentur in mehr als 30 Sprachen übersetzt, dem Autor zufolge 28 Sprachen (vgl. Buitrago Ramírez 2016: 208 [Vásquez]), und werden in weltweit mehr als 40 Ländern verlegt. Hierzu gehören Weltsprachen wie Englisch, Französisch, Arabisch und Chinesisch, aber auch Sprachen wie Portugiesisch, Deutsch, Japanisch, Koreanisch, Hebräisch, Griechisch, Russisch, Serbisch, Ungarisch und Isländisch. Dabei fällt auf, dass, wenn Autor*innen einmal, speziell in lesestarke Sprachen und mit Erfolg übersetzt wurden, die Hürden für weitere Übersetzungen niedriger sind: „[T]he titles proposed for translation have already passed the gate of publication and had a certain success, be it in critical esteem or in sales, in the authors’ own countries and, sometimes, elsewhere“ (Sapiro 2003: 453). Das erklärt wiederum die hohe Zahl an Übersetzungen, die zwischenzeitlich von Vásquez’ literarischem Werk existieren. Zugleich stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, welche Kriterien ein Buch erfüllen muss, um von ‚weltweitem‘ Interesse zu sein, wovon in Vásquez’ Fall angesichts der erstaunlichen Bandbreite an Übersetzungssprachen zweifelsfrei die Rede sein kann: „Beyond its initial common literary attractiveness, the text has to appeal to particular local tastes, which may be different, perhaps even contradictory“ (Marling 2016: 29). Birgt Vásquez’ Schreiben und Stil also so viele Facetten und damit für jede*n Leser*in unabhängig des geografischen und kulturellen Lesekontextes sowie des persönlichen Erwartungshorizontes Anknüpfungspunkte? Sind seine Romane womöglich ‚universell‘ und dadurch in gewisser Weise äußerst einfach in andere Sprachen und kulturelle Kontexte zu übersetzen beziehungsweise zu übertragen? Antworten hierzu wird eine Analyse seines Romans Los informantes mit insgesamt 16 Übersetzungen im nächsten Kapitel geben. Nichtsdestotrotz ist davon auszugehen, dass Vásquez seine Nebentätigkeit als Übersetzer aus dem Englischen und Französischen ins Spanische, beispielsweise literarischer Werke des englischen Erzählers E. M. Forster, des US-Amerikaners John Dos Passos oder des Franzosen Victor Hugo, beim Schreiben seiner eigenen Bücher von Nutzen war (vgl. Jaggi 2010). Diese Tätigkeit ließ ihn einerseits ein großes Gespür für die Feinheiten der Sprache entwickeln, gleichzeitig aber auch ein Bewusstsein über die möglichen Schwierigkeiten und Hindernisse im Übersetzungsprozess. Zudem ist an Vásquez’ schriftstellerischen Laufbahn interessant und bemerkenswert, dass sein Weg zum Autor mit internationalem Ansehen nicht, wie mittlerweile fast schon Standard, über die USA und die dort ansässigen Kulturinstitutionen wie Verlage, Literaturzeitschriften und Universitäten verlief. Stattdessen gelangte er mit einem Wohnsitz in Spanien, einer Publikation in einem

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spanischen Verlag sowie der journalistischen Tätigkeit in spanischsprachigen Medien zum erhofften, weltweiten Erfolg. Dabei wäre ein Umzug in die USA in seinem Fall, zum einen aufgrund seiner bilingualen spanisch-englischen Schulbildung, zum anderen wegen seines großen Interesses für angloamerikanische Literatur, mehr als plausibel und sicherlich realisierbar gewesen. Ebenso hätte Vásquez die Gelegenheit und seine englischen Sprachfähigkeiten nutzen können (vgl. Hollanda Cavalcanti 2013: 239 [Vásquez]), um wie etliche andere lateinamerikanische Schriftsteller*innen sein literarisches Debüt direkt in englischer Sprache zu geben und über das Leben in der US-amerikanischen Diaspora zu schreiben (vgl. Aínsa 2012: 103). Ein Schreiben in englischer Sprache kam, ungeachtet seiner umfassenden Sprachkenntnisse und journalistischen Arbeiten in Englisch, dennoch nicht für Vásquez infrage. Im Englischen konnte er nicht wie im Spanischen, seiner Muttersprache, auf das entsprechende literarische Handwerkszeug und die notwendige Schreiberfahrung zurückgreifen: I have never written fiction in English. […] What I think is that language is like a tool box, a big tool box, and I have been collecting tools in Spanish all my life so they are there. […] Writing fiction in English is like using a deprived tool box. I don’t know all the tools, I know how to use them well. […] It’s limiting. (Ruffinelli 2013/2014: 155 [Vásquez])

Infolgedessen entschied sich Vásquez gegen den derzeit unter seinen lateinamerikanischen schriftstellerischen Zeitgenoss*innen gängigen Trend und wählte weder das Englische als Literatursprache noch New York oder London als seinen Schreibund Wohnort (vgl. Aínsa 2012: 100). Dass ihm ein Aufstieg zum internationalen Literaturstar trotzdem gelang, offenbart, dass in den USA wider der gängigen Prognosen von Theo D’haen, Fernando Escalante Gonzalbo und Mads Rosendahl Thomsen (vgl. D’haen 2013: 7 f.; Escalante Gonzalbo 2007: 278; Thomsen 2008: 29) nicht die alleinige Entscheidungsmacht sowie -zentrale über die Kandidat*innen einer neuen World Republic of Letters verortet sind: „At 40, the writer [Juan Gabriel Vásquez] already is an international literary superstar“ (Montgomery 2013)52.

52 Literaturstars oder „star authors“ (Herv. i. O.), wie Barbara Straumann sie bezeichnet, werden in erster Linie durch die Medien erzeugt und protegiert (Straumann 2013: 143), was das obige Zitat zu Vásquez unmissverständlich zum Ausdruck bringt. Die Medien beteiligen sich an diesem Schaffensprozess, da sie, wie zuvor erwähnt, eine wertsteigernde Wirkung auf ihre Förder*innen haben können: „Medien [benutzen] Namen, Bild und ‚Image‘ von Autoren, um die öffentliche Aufmerksamkeit zu bündeln“ (Straumann 2013: 142). Die Produktion von Starautor*innen steht dabei in einem ursächlichen Zusammenhang mit der Celebrity Culture. Mit Unterstützung der Medien und Werbung werden ausgewählte Personen zu Stars inszeniert

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Ferner lässt dieser Sachverhalt vermuten, dass Spanien ebenso wie spanischen Verlagen weiterhin eine zentrale Rolle hinsichtlich der Laufbahn lateinamerikanischer Schriftsteller*innen, ihrer Kanonisierung sowie ihrer Positionierung in einem transnationalen literarischen Feld beziehungsweise (Buch-)Markt zukommt. Nichtsdestotrotz sollte im Zuge dessen die Bedeutung der englischen Übersetzungen von Vásquez’ literarischem Werk, die unabhängig von seinem tatsächlichen Schreib- und Wohnort aus erfolgte, nicht unterschätzt werden, vor allem, wenn bedacht wird, dass die Übersetzungsraten für fremdsprachige Belletristik in den USA äußerst niedrig sind (vgl. Damrosch 2003: 18; University of Rochester 2016). Angesichts der großen Zahl an anglophonen Leser*innen konnte Vásquez mittels dieser die Reichweite seiner Bücher und damit auch sein internationales Ansehen maßgeblich vergrößern. Es ist nicht auszuschließen, dass in diesem Fall auch die überregionale Reputation, also das symbolische Kapital seiner kanadischen Übersetzerin Anne McLean eine zentrale Rolle spielte. So ist sie als englische Übersetzerin von Schriftsteller*innen wie Héctor Abad Faciolince, Enrique Vila-Matas, Javier Cercas und Julio Cortázar bekannt und wurde beispielsweise für die Übersetzung von Los informantes für den Independent Foreign Fiction Prize nominiert und für El ruido de las cosas al caer mit dem IMPAC Preis ausgezeichnet. 4.3.1.3 Literarische Referenzen und Literaturkritik Vásquez’ Weg in das weltliterarische Feld wurde nicht nur durch den Gewinn von internationalen Literaturpreisen geebnet und verkürzt, sondern zu größerem (internationalen) Ansehen verhalfen ihm bereits etablierte Kanongrößen und Referenzautor*innen, die er zum Teil noch selbst persönlich kennenlernen konnte. In erster Linie sind hier Begegnungen mit Carlos Fuentes, Gabriel García Márquez und Mario Vargas Llosa zu nennen, die Vásquez selbst als Privileg empfindet: „Que yo haya podido hablar con Carlos Fuentes, que yo pueda, teó-

und als solche vermarktet, indem sie mit einer Aura von Exklusivität versehen werden (vgl. Escalante Gonzalbo 2007: 311). Starautor*innen verfügen über ein sie auszeichnendes charakteristisches Ansehen, das sowohl auf den extraliterarischen als auch intraliterarischen (Selbst-) Repräsentationen der jeweiligen Person basiert. Allerdings lassen sich Leser*innen nicht selten zu einem Fehlschluss verleiten und setzen fälschlicherweise inner- und extraliterarisches Ich gleich (vgl. Straumann 2013: 143). Starautor*innen besitzen dennoch die Möglichkeit, das Bild, das von ihnen in der Öffentlichkeit kursiert, bis zu einem gewissen Grade zu beeinflussen. Der Kult um ihre Person bewirkt jedoch in manchen Fällen einen Kontrollverlust, infolgedessen „werden star authors zum verdinglichten Besitz der Öffentlichkeit“ (Straumann 2013: 143 [Herv. i. O.]).

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ricamente al menos, encontrarme con García Márquez o Vargas Llosa, es como si un escritor francés del siglo XXI pudiera ir por la calle y hablar con Victor Hugo o Flaubert“ (Maeseneer et al. 2013: 210 [Vásquez]). Auf diese Autoren und ihre literarische Arbeiten berief Vásquez sich entweder selbst oder aber ebendiese bedachten seine bisherigen schriftstellerischen Leistungen mit Lob und Anerkennung und griffen ihm auf diese Weise unter die Arme. Zum Beispiel widmete Fuentes in seinem Essayband La nueva novela hispanoamericana (1998) Vásquez und seinen zwei Romanen Los informantes und Historia secreta de Costaguana einen eigenen Abschnitt. Bei der Analyse von Vásquez’ Werk unterstreicht er besonders dessen „gran inteligencia narrativa“ (Fuentes 1998: 391), sein erzählerisches Talent, das in beiden literarischen Texten zum Ausdruck komme. Während die Verweise zwischen Fuentes, Vargas Llosa und Vásquez wechselseitig sind, äußerte sich García Márquez nie explizit zu Vásquez. Dagegen sind die posthumen und durch Dritte vorgenommenen Vergleiche zwischen García Márquez und Vásquez umso augenfälliger. Die Vorgehensweise, aufstrebende literarische Neulinge oder Jungautor*innen ohne bisher eigene Errungenschaften mittels Anpreisungen durch kanonisierte Schriftsteller*innen auf Buchumschlägen und in Klappentexten in Szene zu setzen, ist als eine gängige Praxis von Verlagen zu werten. Das erzeugt einen Wiedererkennungseffekt bei den Leser*innen, steigert das öffentliche und mediale Interesse am jeweiligen literarischen Text und dem*der Autor*in und erhöht nicht zuletzt dessen*deren symbolisches Kapital (vgl. Escalante Gonzalbo 2007: 301; Kampmann 2013: 136). So sind zu Vásquez’ Büchern Referenzen und positive Stimmen von gleich vier spanischsprachigen literarischen Größen zu finden: dem peruanischen Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa, dem Mexikaner Carlos Fuentes, dem Peruaner Alfredo Bryce Echenique und den Spaniern Enrique Vila-Matas und Juan Marsé. Speziell Vargas Llosas lobende Worte, „[u]na de las voces más originales de la nueva literatura latinoamericana“, wie sie auf dem Umschlag von Las reputaciones zu lesen sind, sind von zentraler Bedeutung, heben sie doch Vásquez aus den gegenwärtigen lateinamerikanischen Literaturen als besonderes Exempel hervor. Für nicht wenige Leser*innen, speziell außerhalb Lateinamerikas, besitzt der Name des peruanischen Nobelpreisträgers Wiedererkennungswert und fungiert zugleich als Garant für ‚gute‘ Literatur. Das wusste auch der deutsche Verlag Schöffling & Co zu nutzen, der Vargas Llosas Statement nicht auf den Umschlag von Die Reputation (2016) druckte, sondern stattdessen auf den des zuerst auf Deutsch erschienenen Roman Die Informanten (2010): „Juan Gabriel Vásquez ist eine der originellsten neuen Stimmen der lateinamerikanischen Literatur“.

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Daneben würdigten aber auch lateinamerikanische Zeitgenossen wie zum Beispiel der zehn Jahre ältere Argentinier Rodrigo Fresán Vásquez’ Schriftstellerarbeit, für den Vásquez nach dem Gewinn des Alfaguara Preises nicht mehr länger als ein Schriftsteller mit dem Beiwort ‚jung‘, sondern als etablierter Autor zu betrachten ist: „[H]e aquí un joven que ya no es un ‚joven escritor‘ (probablemente nunca lo haya sido, salvo para la foto y el año de nacimiento en las solapas) sino un escritor a secas“ (Fresán 2011). Auffälligerweise zieht Fresán einen Vergleich zu Vargas Llosa, der Kanongröße, dem Vásquez in den Augen Fresáns in der Kunst des Romanschreibens in nichts nachsteht: „Maldito sea el maldito rigor del maldito joven escritor Juan Gabriel Vásquez quien […] probablemente sea el autor ‚joven‘ que más y mejor sabe sobre el atemporal arte de cómo plantar y erigir una novela después de Mario Vargas Llosa“ (Fresán 2011). Das wiederum erweckt den Eindruck, als gäben die Boom-Autoren noch immer die Messlatte für ‚literarische Qualität‘ vor. Bisweilen treten sie noch immer als hartnäckige, die Zeiten überdauernde Kontrahenten auf, mit denen es Jungautor*innen zunächst aufnehmen müssen. Nicht weniger bedeutend für Vásquez’ Positionierung im weltliterarischen Feld sind die positiven Stimmen von Schriftsteller*innen des anglophonen Raumes wie die des US-amerikanischen Autors Jonathan Franzen, der irischen Schriftsteller John Banville und Colm Tóibín sowie der beiden US-amerikanischen Literat*innen Nicole Krauss und Khaled Hosseini. Die Vielzahl lobender Stimmen aus dem Globalen Norden legt zudem die Vermutung nahe, dass für die internationale Anerkennung eines lateinamerikanischen literarischen Werks nicht allein dessen etwaiger literarischer Wert entscheidend ist, sondern es vielmehr der Bestätigung bereits etablierter europäischer oder nordamerikanischer Literat*innen bedarf: „[L]a consagración internacional se prueba más por el espaldarazo de un intelectual-faro del centro que por los méritos intrínsecos de la obra de la periferia“ (Gramuglio 2013a: 367). Interessant ist in diesem Zusammenhang Tóibíns Stellungnahme zu Los informantes: „Para quien ya haya leído las obras completas de Gabriel García Márquez y esté a la busca de un nuevo novelista colombiano, Los informantes de Juan Gabriel Vásquez es un magnífico descubrimiento“. Der IMPAC-Preisträger und damit selbst eine literarische Referenz, zumindest in Irland, schlägt einen geschickten Bogen von García Márquez, der wohl der Mehrheit der irischen Leser*innen als kolumbianischer Autor und Nobelpreisträger bekannt ist, zu dem bisher noch unbekannten Vásquez und nennt die beiden praktisch in ein und demselben Atemzug. Ganz entscheidend war somit in Vásquez’ Fall ein gut ausgebautes Netzwerk, das sich interessanterweise primär aus männlichen Förderern zusammen-

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setzte und ihm sowohl zu Beginn seiner literarischen Karriere als auch in ihrem weiteren Verlauf zu seiner aktuellen Position im weltliterarischen Feld verhalf. Darüber hinaus sollten Vásquez’ eigene beständige Zitation und Bezugnahme auf Autor*innen unterschiedlicher Herkunft in Interviews und Essays wie Jorge Luis Borges, Mario Vargas Llosa, Philip Roth, Joseph Conrad, Javier Marías, Juan Carlos Onetti, Carlos Fuentes, Gustave Flaubert, V.S. Naipaul, William Faulkner, Saul Bellow, Don DeLillo, Fjodor Dostojewski, um nur ein paar wenige Namen einer langen Liste zu nennen, nicht unerwähnt bleiben. Einerseits gebraucht er diese, um sich von García Márquez und dem magischen Realismus zu distanzieren („[T]here was nothing useful in the Colombian tradition. Magical Realism was not useful. […] The writers who were helpful for me were not in the Magical Realist mode, nor in the Colombian tradition“ (Ruffinelli 2013/2014: 158 [Vásquez])). Andererseits inszeniert er damit aber bewusst seine eigene Belesenheit und profunden Kenntnisse der Weltliteratur: „‚Mis novelas hablan de mi país con herramientas aprendidas de la literatura mundial‘“ (Néspolo 2014 [Vásquez]). Mit anderen Worten, die ‚Jonglage‘ mit Zitaten aus der Literatur- und Kulturgeschichte sowie der ständige Verweis auf literarische Größen der Weltgeschichte dienen der Zurschaustellung seines durch die Lektüre und das Studium erworbenen und akkumulierten kulturellen Kapitals. Diese Inszenierungsstrategie bleibt auch der (Literatur-)Presse nicht verborgen, die Vásquez fast schon als einen Universalgelehrten darstellt, der auf den verschiedensten Gebieten bestens bewandert ist: „Vásquez lo ha hecho con paciencia. Fue leyéndolo todo, todo, hasta poder hablar casi de cualquier cosa. De pájaros y ecología con Jonathan Franzen, de la dictadura chilena con Arturo Fontaine, de la literatura post boom con Carlos Fuentes“ (Caputo/Rodríguez 2013). Für ‚gemeine‘ Leser*innen mögen Vásquez’ Bildungsblüten daher fast schon einen künstlich aufgeblasenen, (pseudo)intellektuellen Eindruck hinterlassen. Eine Konsequenz von Vásquez’ derartigem öffentlichen Auftreten ist, dass unter seinen kolumbianischen schriftstellerischen Zeitgenoss*innen nicht nur Freund*innen und Förder*innen zu finden sind, sondern sich auch viele kritische Stimmen bemerkbar machen: „Una parte de los escritores colombianos de su generación lo detesta y lo acusa de ser un narrador inflado“ (vgl. Wiener 2007: 12). Vásquez’ Abgrenzung vom magischen Realismus sollte noch unter einem anderen Blickwinkel betrachtet werden. Konkret gesprochen kommt Vásquez’ oben zitierter Aussage „Der magische Realismus barg nichts Nützliches für mich“ (Ü. d. V.) einer Lossagung von der kolumbianischen Literaturtradition und damit auch einer ‚Befreiung‘ von literarischem Ballast und jeglichen mit dem magischen Realismus verbundenen Erwartungshaltungen gleich. Hinter dieser Vorgehensweise verbirgt sich also ein raffinierter Schachzug hinsichtlich Vásquez’ Platzie-

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rung im literarischen Feld. Indem er zu verstehen gibt, dass er kein ‚magischer Realist‘ ist und die kolumbianische Literaturgeschichte keinen entscheidenden Einfluss auf sein persönliches Schriftstellerprojekt ausübte, bringt er unmissverständlich zum Ausdruck, dass er sich nicht in einem kolumbianischen literarischen Feld, sondern vielmehr in einem transnationalen literarischen Feld verortet sieht (vgl. Hidalgo 2014: 110). Zu dieser Strategie passt, dass sich Vásquez wie der argentinische Schriftsteller Fresán, der ebenfalls zu seinen jüngsten literarischen Vorbildern zählt (vgl. Vervaeke 2014: 41 [Vásquez]) und noch dazu von der gleichen spanischen Literaturagentur vertreten wird, nicht einer einzigen literarischen Tradition verschrieben fühlt, sondern anstatt dessen viele verschiedene regionale literarische Einflüsse anführt (vgl. Hidalgo 2014: 110). Aus diesem Grund spricht Vásquez mit seinen Büchern nicht nur ein spezifisches, beispielsweise kolumbianisches Lesepublikum an, sondern fährt gezielt ‚mehrgleisig‘, ohne sich auf ein bestimmtes Zielpublikum festzulegen. In dieser Hinsicht ähnelt er abermals Fresán und dessen kosmopolitischer Sichtweise, nach der sich Literatur im gegenwärtigen kapitalistischen Zeitalter analog zur wirtschaftlichen Globalisierung international auszurichten habe, was wiederum nur durch die Aneignung verschiedener literarischer Traditionen zu gewährleisten sei (vgl. Hidalgo 2014: 123). Fresán impliziert hiermit, dass sich Literatur in der Gegenwart dem größtmöglichen Markt anzupassen habe, um von Interesse beziehungsweise erfolgreich zu sein. Damit verkörpern Vásquez wie auch sein literarisches Werk die wesentlichen Eigenschaften eines globalen Autors beziehungsweise globaler Literatur. Die wechselnden Verweise auf Literat*innen dies- und jenseits des Atlantiks bewirken außerdem, dass Vásquez’ Literaturprojekt äußerst schwierig zu fassen ist und sich einer eindeutigen Klassifizierung bewusst entzieht, was besonders der Literaturkritiker Jorge Carrión hervorhebt: „‚¿Hacia dónde tiende el proyecto de Vásquez, Europa o América Latina, Piglia-Borges o Gabo-Vargas Llosa? ¿Es posible un lugar equidistante en medio del Atlántico?‘“ (Wiener 2007: 13 [Carrión]). Wohin Vásquez’ literarische ‚Reise‘ letztlich führen wird, kann zum jetzigen Zeitpunkt nicht abschließend beurteilt werden. Ausgehend von Vásquez’ (Selbst-)Repräsentation in der internationalen Literaturpresse scheinen zumindest seine Bemühungen, zu den ‚Besten der Besten‘ auf globaler Ebene zu zählen, bereits Früchte zu tragen. Vásquez gilt nicht mehr länger als ein aufsteigender Stern des kolumbianischen Literaturhimmels, sondern wird inzwischen in eine Riege mit den illustren Literat*innen der Weltliteratur eingereiht. Längst ist er aus dem Schatten García Márquez’ herausgetreten: „Mit Nachfolgern wie Vasquez kann Garcia Marquez sich getrost zur Ruhe setzen“ (Ebel 2010). Wenn auch nicht direkt García Márquez’ literarischer

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Tradition folgend, so wird Vásquez doch mit ihm auf eine Stufe gestellt: „Der andere Weg: Juan Gabriel Vasquez befasst sich mit der realen, nicht der magischen Geschichte seines Landes“ (Ebel 2010). Darüber hinaus werden Parallelen zwischen Vásquez’ Biografie – zum Beispiel seine Entscheidung, nach Paris zu gehen – und denjenigen von James Joyce und Ernest Hemingway gezogen: „To get a clear view of one’s country and its neuroses, sometimes a writer has to leave it. James Joyce and Ernest Hemingway knew this. And so does Juan Gabriel Vasquez“ (Montgomery 2013). Die Gleichsetzung geht sogar so weit, dass eine Audioaufnahme Vásquez’ 2013 im Anschluss an eine Lesung in der Library of Congress in Washington, D.C. in das Archive of Hispanic Literature on Tape angefertigt und in die Sammlung integriert wurde. In der mehrere hundert Tonaufnahmen umfassenden Sammlung wurden ehemals die Stimmen von lateinamerikanischen Autor*innen wie Gabriel García Márquez, Gabriela Mistral, Mario Vargas Llosa und Octavio Paz archiviert (vgl. Montgomery 2013). Außerdem wurde Vásquez zu Ehren im Oktober 2015 ein zweitätiges internationales Kolloquium mit dem Titel Juan Gabriel Vásquez: una arqueología del presente an der Université Paul-Valéry-Montpellier in Frankreich abgehalten, an dem neben dem Autor selbst internationale Expert*innen teilnahmen und verschiedene Aspekte von Vásquez’ Werk erörterten. Die auf eine einzige Person und ihr Werk fokussierte wissenschaftliche Auseinandersetzung ist für gewöhnlich bereits kanonisierten Schriftsteller*innen vorbehalten und kann deshalb auch als eine Wertschätzung seines literarischen Werks seitens der Literaturwissenschaft betrachtet werden. 4.3.1.4 Literarische Vor- und Gegenbilder Obgleich Vásquez’ gegenwärtige literarische Vorbilder primär in der nordamerikanischen Literaturgeschichte zu verorten sind, besonders Philip Roth zählt zu seinen Lehrmeistern (vgl. Rodríguez Freire 2011/2012: 205 [Vásquez]), war für den Anfang seiner schriftstellerischen Laufbahn vor allem Vargas Llosa wegweisend. Immer wieder taucht der Name des peruanischen Romanciers in Interviews mit Vásquez auf, dessen Karriere ihm als Muster diente und der eine gewisse Vorbildfunktion auf ihn ausübte: „He was a huge influence for me, not only from the point of view of his writings, but from the point of view of the ethics of a writer, how to be a writer“ (Ruffinelli 2013/2014: 152 [Vásquez]). Nicht zuletzt wegen seiner wohlwollenden Haltung gegenüber Vásquez, als Beispiel sei hier erneut die Rezension von Las reputaciones genannt, kann Vargas Llosa daher, auch ohne bewusstes, aktives Zutun, die Funktion des „older

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writer or patron“ (Marling 2016: 9), des älteren und erfahreneren Schriftstellers und Mentors, zugeschrieben werden. Einer genaueren Untersuchung bedarf die bereits angesprochene Beziehung Vásquez’ zu García Márquez. Zunächst einmal fällt auf, dass Vásquez sich vor Publikum und besonders auf direktes Nachfragen in Interviews stets explizit und vehement von García Márquez und dessen literarischem Werk distanziert: „‚I realized from very early on that he [García Márquez] had nothing to teach me from the point of view of method and technique and strategy, even though ‚One Hundred Years of Solitude‘ is one of the reasons I became a writer,‘ Vasquez said“ (Montgomery 2013). Die Schärfe von Vásquez’ Ablehnung mag zunächst an den durch jüngere Schriftstellergenerationen begangenen literarischen ‚Vatermord‘ erinnern, wird jedoch durch den Verweis auf die persönliche Bedeutung von Cien años de soledad nachträglich gemäßigt. Folglich entspricht Vásquez’ Aussage keinesfalls einer generellen Anzweiflung oder gar Entwertung von García Márquez’ literarischem Erbe. Vielmehr bringt er damit zum Ausdruck, dass García Márquez’ Schreiben keinen maßgeblichen Einfluss auf sein eigenes Schriftstellerprojekt hatte. Es lässt sich nicht abstreiten, dass eine Orientierung an oder Imitation von García Márquez’ Schreibstil Vásquez’ Schriftstellerkarriere nicht etwa förderlich gewesen wäre, sondern dazu geführt hätte, dass er in dessen ‚Schatten‘ geblieben wäre. In einem verblüffenden Kontrast zu seiner bewussten verbalen Distanzierung steht indes Vásquez’ öffentliches Auftreten sowie seine schriftstellerische Laufbahn. Beide weisen zahlreiche Übereinstimmungen zu García Márquez auf, die speziell den mit García Márquez’ Biografie vertrauten Leser*innen evident erscheinen mögen. Die vermeintlich zufällig vorhandenen Parallelen zwischen den beiden Schriftstellern werden durch den nach García Márquez’ Tod gedrehten und veröffentlichten Dokumentarfilm Gabo, la magia de lo real (2015), in dem Vásquez als Kommentator auftritt, der wichtige Station von García Márquez’ Biografie nachzeichnet, zusätzlich bekräftigt. Die, wenn auch inszenierte, Ähnlichkeit wird mehr als offenkundig, wenn Vásquez, bekleidet mit dem für García Márquez typischen weißen Leinenhemd, dessen kolumbianische Geburtsstadt Aracataca besucht, die dem großen Literaten vermutlich als Inspirationsquelle für das aus Cien años de soledad bekannte Dorf Macondo diente. Bei einem Vergleich der beiden Lebensläufe sind noch weit mehr Ähnlichkeiten feststellbar: Zunächst nahmen beide Schriftsteller auf Wunsch ihrer Eltern ein Studium der Rechtswissenschaften auf, das sie nur mit mäßigem Interesse und Eifer verfolgten (vgl. Marling 2016: 17). Den Weg des Schriftstellers schlugen sie ein, nachdem sie sich bereits im Journalismus erprobt und bewährt hatten. Dabei handelt es sich kurioserweise um dieselbe kolumbianische Tageszeitung El

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Espectador, für die sie als Korrespondenten und Kolumnisten tätig waren (vgl. Marling 2016: 24). Beide verließen Kolumbien mit Ziel Europa und verbrachten einige Jahre in der französischen Hauptstadt Paris. Dort kamen sie in Kontakt mit Gleichgesinnten, García Márquez mit der literarischen Bohème und Vásquez mit anderen lateinamerikanischen Schriftsteller*innen, mit deren Hilfe sie eine Art Übergangs- beziehungsweise Initiationsritus in die Literaturwelt vollzogen (vgl. Marling 2016: 19). Sowohl García Márquez als auch Vásquez versprachen sich von ihrem dortigen Aufenthalt mehr Erfolg, der aber zunächst ausblieb, zumal beide in den Folgejahren trotz erster literarischer Erzeugnisse eine Schaffenskrise in Form einer Schreibblockade erlebten (vgl. Marling 2016: 23). Nach diversen Zwischenstationen fand sich Vásquez schließlich zusammen mit seiner Familie, ähnlich wie ehemals García Márquez, in Barcelona ein (vgl. Marling 2016: 31). Die katalonische Stadt besaß schon damals den Ruf einer lebendigen und etablierten Kulturmetropole, in der alles, was Rang und Namen hatte, ansässig war (vgl. Marling 2016: 27). Seinen internationalen literarischen Durchbruch erreichte Vásquez erstaunlicherweise, wie auch seinerzeit García Márquez, erst im Alter von fast vierzig Jahren (vgl. Marling 2016: 12). Zugegebenermaßen könnte es sich bei der aufgezeigten großen Schnittmenge an Gemeinsamkeiten der beiden Literaten auch um eine Kette von Zufällen handeln. Das heißt, dass es eine Reihe äußerer Umstände waren, die Vásquez dazu bewogen, mehr oder weniger den gleichen Lebensweg wie García Márquez einzuschlagen. Dafür spräche auch die Tatsache, dass Vásquez sich, wie bereits thematisiert, für gewöhnlich stets von García Márquez’ Schriftstellerprojekt distanziert. Außerdem haben auch andere lateinamerikanische Schriftsteller*innen, wie zum Beispiel Vargas Llosa, den Vásquez als ein persönliches Vorbild nennt, zeitweilig in Paris gelebt. Des Weiteren war es sowohl bei Vásquez als auch bei García Márquez nicht nur der Wunsch, Schriftsteller zu werden, sondern die gegenwärtige soziopolitische Situation, die die beiden dazu motivierte, das Land zu verlassen. Darüber hinaus ist die journalistische Tätigkeit, der sich beide über Jahre hinweg widmeten, bis heute eine gängige Praxis unter Autor*innen, bevor sie ihr eigentliches Debüt als Schriftsteller*innen im literarischen Feld geben. Der Einstieg in den Journalismus ergibt sich nicht selten aus einer ökonomischen Notwendigkeit, wie sie wohl in beiden Fällen vorlag. Der zeitliche Aufwand für die Anfertigung journalistischer Texte ist in der Regel wesentlich geringer als für beispielsweise einen Roman und auch die Veröffentlichung sowie die Bezahlung erfolgen im Allgemeinen zeitnah. Insgesamt gesehen, ist die Parallelität zwischen den Lebensläufen der beiden kolumbianischen Schriftsteller jedoch mehr als augenfällig.

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Es muss deshalb in Betracht gezogen werden, dass es sich, obgleich sicherlich nicht in allen Fällen, um gewollte Zufälle vonseiten Vásquez’ handelte. Das bedeutet, dass Vásquez nicht ohne eine gewisse Absicht García Márquez’ Spuren folgte, selbst wenn er dies auf äußerst subtile Art und Weise tat und mit der Absicht, diese im Nachhinein zu verwischen. Vásquez’ Haltung gegenüber García Márquez kann deswegen sowohl als subversiv wie auch affirmativ beschrieben werden: Auf der einen Seite versuchte Vásquez den Schatten García Márquez’ abzuschütteln, was ihm auch definitiv gelang. Auf der anderen Seite konstruierte er gezielt seine Schriftstellerlaufbahn im Spiegel García Márquez’, so dass dieser seinen Erfolg auf ihn zurückwarf. Summa summarum kann bei Vásquez sehr wohl von einer gezielten (Selbst-) Inszenierung als der ‚neue García Márquez’ gesprochen werden, die durch eine Fremdrepräsentation durch die Medien zusätzlich unterstützt wird. 4.3.1.5 Zwischenfazit Im Aufsatz „La literatura de los inquilinos“, der in Vásquez’ Essayband El arte de la distorsión (2009) erschien, und den er bereits 2004 auf der Feria de Libro in Bogotá vorgetragen hatte, präsentiert Vásquez sein persönliches Konzept des Autors sowie des Schreibens. Dieses entwickelt er ausgehend von den Aussagen der Literaten Joseph Conrad, Philip Roth und V. S. Naipaul, die zu seinen literarischen Vorbildern zählen. Gleich zu Beginn erteilt Vásquez Konzepten wie Diaspora- und Exilliteratur eine Absage. Als Grund hierfür führt er den in der Gegenwart oftmals inflationären Gebrauch der Begrifflichkeiten sowie den mit ihrem Gebrauch verbundenen ideologischen Ballast an (vgl. Maeseneer/Vervaeke 2012 [Vásquez]). Ferner widerstrebt Vásquez eine terminologische ‚Zweckentfremdung‘ und unrechtmäßige Aneignung des Konzeptes Exilant, da er selbst keinesfalls aus politischen Gründen Kolumbien verließ: „Yo no soy un exiliado político: puedo volver a mi país cada vez que quiero. […] Cargar con esa definición de literatura del exilio me parecía robar algo que no me pertenecía, porque tengo amigos, compañeros novelistas, que sí están en la situación de no poder volver a sus países“ (Maeseneer/Vervaeke 2012 [Vásquez]). Seine persönliche Lebens- und Arbeitssituation, den steten Wechsel des Wohnorts wie auch den damit in Verbindung stehenden, fortwährenden Zustand des „estar de paso“ (Vásquez 2009a: 180) – der Durchreise, bezeichnet Vásquez als ein von ihm geschätztes Privileg: No puedo dejar de lado el hecho de que me gano la vida como traductor y crítico, y eso es posible en muy pocos países de lengua hispana, pero tampoco hay por qué pasar por alto las cuestiones de temperamento, que no por abstractas son menos ciertas: prefiero la ex-

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trañeza a la familiaridad, el anonimato a la atención, y me he acostumbrado a las libertades curiosas y un poco inexplicables que uno gana cuando vive en madriguera ajena. (Vásquez 2009a: 179 f.)

Vásquez’ Zitat verdeutlicht, dass seine Entscheidung für ein Leben und Arbeiten im Ausland auf seine persönliche Präferenz für ‚das Fremde‘, ihm noch Unbekannte oder wie er es metaphorisch nennt, das Leben in fremden Behausungen („madriguera ajena“), zurückzuführen ist. Die Darstellung in Gegensatzpaaren wie Fremdheit – Vertrautheit, Anonymität – Aufmerksamkeit wie auch die Betonung der durch ein Leben im Ausland zugewonnenen Freiheiten wecken den Eindruck, als stelle Vásquez’ Aufenthalt im Ausland für ihn ein einziges Erlebnis voll kurioser Überraschungen dar. Dieser Eindruck wird durch Vásquez’ vorgenommenen Vergleich zwischen dem Leben im Ausland und dem Lesen ‚guter‘ literarischer Werke noch verstärkt: „[C]ada vez me parece más probable que las razones que uno tiene para vivir en lugares ajenos se acaben pareciendo a las que tiene para leer ficción de la buena: ampliar nuestra noción, insoportablemente confinada y estrecha y miope y provinciana […]“ (Vásquez 2009a: 180). Vásquez’ Hervorhebung der Vorzüge des Lebens im Ausland, das er als Horizonterweiterung versteht, demonstriert die privilegierte Situation, in der er sich im Vergleich zu vielen anderen (lateinamerikanischen) Schriftsteller*innen befindet, welche ihren Lebensunterhalt mehrheitlich nicht allein durch das Schreiben und Übersetzen finanzieren können. Auch können sich letztere einen derartigen Auslandsaufenthalt häufig nicht leisten oder aber ein Leben im Ausland ist für sie weniger positiv konnotiert, da es nicht auf einer freien Entscheidung basiert. Zugleich lässt Vásquez all diejenigen, die nicht zum belesenen Bildungsbürgertum gehören, das heißt, die über keinen Zugang zu ‚guter‘ Literatur verfügen, was er mit dem Leben an ein und demselben Ort gleichsetzt, als Engstirnige, Kurzsichtige und Provinzielle erscheinen. Hinter dieser Äußerung Vásquez’ verbirgt sich eine elitäre Haltung, die an das realitätsferne Dasein des Intellektuellen im Elfenbeinturm erinnert. Allerdings ging Vásquez’ eigener Versuch, nicht nur seinen Schreibort zu wechseln, sondern auch in literarischer Hinsicht einen Blick über den ‚nationalen‘ Tellerrand hinaus zu wagen und allzu vertrautes literarisches Terrain zu verlassen, auch nicht auf. Schlussendlich widmete er sich in seinen Romanen wieder Kolumbien und auf den ersten Blick eher lokalen Fragestellungen, das heißt ihm bekannten Stoff und Themen. Interessant an Vasquez ist des Weiteren, dass er den Großteil seines literarischen Œuvre außerhalb seines Herkunftslandes, in Europa und speziell in Spanien, schuf. Gleichzeitig war er durch das Schreiben in spanischer Sprache und

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die Veröffentlichung in einem transnationalen Verlag sowie durch seine journalistische Tätigkeit stets im literarischen Feld seines Herkunftslandes Kolumbien präsent. Deswegen kann bei ihm nicht von einer kompletten ‚Entwurzelung‘, als welche Vásquez sie bezeichnet, die Rede sein: „[Q]ué implica, para un novelista y para su obra, estar en el extranjero mientras esa obra se construye, qué implica el desarraigo“ (Vásquez 2009a: 181). Dennoch sind die Auswirkungen, die ein Leben im Ausland auf die schriftstellerische Arbeit haben, in Vásquez’ Fall mehr als ersichtlich. Im besagten Aufsatz begibt sich Vásquez deshalb auf die Suche nach einem Konzept, das seine persönliche Situation, die des zum damaligen Zeitpunkt aus freier Entscheidung im Ausland lebenden und schreibenden Autors, treffend widerspiegelt (vgl. Maeseneer/Vervaeke 2012 [Vásquez]). Bei seinen literarischen Nachforschungen stößt er auf den von Naipaul gebrauchten und aus der Zoologie entlehnten englischen Begriff inquiline (dt. Einmieter), der sich laut dem Duden auf ein „Insekt, das in Nestern anderer Tiere lebt“, bezieht (Duden 2020). In dessen Beschreibung findet er sich selbst wieder: „Es lo que yo soy: alguien que por razones de conveniencia intelectual, emocional, moral, ha decidido establecer una distancia con el lugar de donde viene“ (Maeseneer/Vervaeke 2012 [Vásquez]). Anders als viele lateinamerikanische Schriftsteller*innen seiner sowie vorheriger Generationen versteht Vásquez sich nicht als Expatriate-Schriftsteller, der seinen persönlichen Lebensstil und das Gefühl des ‚Fremdseins‘ und ‚Nichtdazugehörens‘ zum Impulsgeber seines Schreibens und Gegenstand seiner Romane macht (vgl. Vásquez 2009a: 182)53. Viel bedeutender als die Frage, von wo aus (geografisch gesprochen) ein*e Schriftsteller*in schreibt, ist für Vásquez die Frage, welche Auswirkungen ein Ortswechsel auf die Schriftsprache von Schriftsteller*innen hat (vgl. Vásquez 2009a: 184): „[E]l territorio del escritor es la lengua en que escribe, y que la condición de emigrado causa en esa lengua interferencias que el escritor debe estar en condiciones de aprovechar. Escribir fuera, igual que leer en otras lenguas, es someterse voluntariamente a la hibridación, a la impureza“ (Vásquez 2009a: 184). Aufgabe von im Ausland lebenden Schriftsteller*innen sei es daher, zunächst unter den fremden Einflüssen ihre eigene Sprache zu finden und sich erst in einem zweiten Schritt im Sinne Roths der eigentlichen Themenfindung zu widmen (vgl. Vásquez 2009a: 186). Vásquez kritisiert das von etlichen im Ausland lebenden Autor*innen demonstrierte ‚scheinbare‘ Expertenwissen über ihre neuen ‚Wahlheimaten‘. Sich

53 Dennoch gehörte Vásquez während seines Aufenthaltes in Europa sicherlich zu der Gruppe privilegierter beziehungsweise ‚erwünschter‘ Migrant*innen, für die gemeinhin der Begriff Expatriates gebraucht wird.

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selbst grenzt er von diesen ab und stellt sich, trotz seines langen Auslandsaufenthaltes, als keinesfalls allwissend dar: „Yo, como colombiano, como originario de una sociedad en perpetuo movimiento, una sociedad inestable de la periferia cultural, y como dueño de un estatus de inmigrante, que es inestable y precario por definición, no puedo compartir esas certidumbres“ (Vásquez 2009a: 183). Nicht einmal in Bezug auf sein Herkunftsland Kolumbien erlaubt er sich eine solche Anmaßung, sondern genau an diesem Punkt, der Unsicherheit beziehungsweise Ungewissheit knüpft Vásquez mit seinem Konzept des escritor inquilino an. Dessen Aufgabe und Potenzial sieht er darin, nach den ‚dunklen Flecken‘ zu suchen, das heißt nach dem Unbekannten, das für ihn erst aus der Distanz sichtbar wird: „¿Y en dónde vale la pena buscar? Evidentemente, en territorios donde haya todavía vacíos, donde la novela no lo haya explorado – y encontrado – ya todo“ (Vásquez 2009a: 186). Dabei betrachtet er das Genre des Romans, trotz der preisgekrönten Werke literarischer Größen wie im Falle Kolumbiens des Literaturpreisträgers García Márquez, als keinesfalls restlos erschöpft. Stattdessen biete die Welt laut Vásquez noch immer genügend Material für Geschichten. Den Romanautor*innen komme in Anlehnung an Naipaul und Conrad die Aufgabe zu, all jene unerzählten Geschichten zu entdecken und zu literarischem Stoff zu verarbeiten: „[O]tra de las lecciones de Naipaul y Conrad es que el mundo entero es la cantera del novelista, pues el mundo entero es un inventario de zonas oscuras que el novelista habrá de inventar o descubrir“ (Vásquez 2009a: 187). Gleichermaßen war es in Vásquez’ Fall auch die Distanz zu Kolumbien, der Blick aus der Ferne auf sein Herkunftsland, der ihn Dinge wahrnehmen ließ, die er zuvor nicht gesehen hatte. Das erlaubte ihm, ein neues Verständnis von ‚seinem‘ Land zu entwickeln: „[M]e tomó diez años descubrir, gracias a Conrad y Naipaul, que mi país podía ser material novelístico precisamente porque hasta el momento yo había sido incapaz de entenderlo, o, en otras palabras, precisamente por su condición de zona oscura“ (Vásquez 2009a: 187). Der von Naipaul und Conrad konstatierten ‚Dunkelheit‘, in anderen Worten seinem Unwissen hinsichtlich bestimmter Gegebenheiten der kolumbianischen Geschichte, folgend, beschloss Vásquez diese mittels des Genres des Romans zu ergründen (vgl. Vásquez 2009a: 188). Seine Aufgabe als Schriftsteller sieht er deshalb darin, in seinen Romanen Antworten auf diese offenen Fragen zu finden (vgl. Montgomery 2013 [Vásquez]). Vásquez’ Herangehensweise an den literarischen Gegenstand, die des ‚Unwissenden‘ und ‚Fremden‘, passt letztlich zum Gefühl der Entwurzelung und des Entgrenztseins von transnationalen Schriftsteller*innen: „[D]icha sensación momentánea que resiente el escritor delante del espacio representado en su ficción viene a reflejar una tendencia actual del ‚estar en el mundo‘, en donde la

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existencia transnacional desubica al ser y lo convierte en extraño, en un ser de ninguna o todas partes“ (Houde 2015: 120). Alles in allem weist sowohl Vásquez’ schriftstellerische Laufbahn als auch das Bild, das Vásquez von sich als Schriftsteller in El arte de la distorsión zeichnet, deutliche Parallelen zu Arianna Dagninos Konzept des*der transkulturellen Schriftsteller*in auf. So entsprechen Vásquez’ privilegierter Status als ‚freiwilliger Migrant‘, sein nomadischer Lebensstil als zwischen den Ländern Schreibender und Lebender sowie seine gebildete und belesene Art, speziell seine literarischen Referenzen auf englischsprachige Autor*innen, den von ihr aufgeführten Charakteristiken transkultureller Schriftsteller*innen. Inwiefern sich dies auch auf sein intraliterarisches Autorbild übertragen lässt, wird sich bei einer Analyse seines Romans Los informantes im Folgenden zeigen.

4.3.2 Intraliterarische Analyse Mit seinem Debütroman Los informantes, der 2004 bei dem spanischen Verlag Alfaguara erschien, und in dem sich Vásquez noch in Spanien lebend erstmals seinem Herkunftsland Kolumbien aus literarischer Perspektive annähert, knüpft er direkt an sein in El arte de la distorsión beschriebenes Konzept des Schriftstellers an: [T]odas las condiciones de mi experiencia como inquilino – las incertidumbres, las particularidades de una vida más o menos itinerante, la experiencia fragmentada, la percepción desde fuera de un país inestable y, sobre todo, el tratamiento de ese país como territorio desconocido – están incluidas de manera tácita en la novela. (Vásquez 2009a: 188)

Demgemäß ist sein Roman als eine Suche des bisher noch für ihn Unbekannten (Kolumbiens) und ein Versuch, dieses zu verstehen, zu sehen. Da es sich hierbei um Vásquez’ ersten in einem spanischen Verlag veröffentlichten literarischen Titel handelt, gilt es im Weiteren zu klären, ob dieser, wenngleich er sich mit einer auf den ersten Blick genuin kolumbianischen Thematik auseinandersetzt, von internationalem Leseinteresse ist und auf welche Weise sich Vásquez’ persönliches Schriftstellerkonzept des escritor inquilino auf intraliterarischer Ebene manifestiert. 4.3.2.1 Inhaltsanalyse Die Handlung des Romans setzt im Jahre 1991 ein, als Gabriel Santoro (senior), emeritierter Rhetorik-Professor und Jurist des Obersten Gerichtshofs, seinen gleichnamigen Sohn, Gabriel Santoro (junior), einen jungen Journalisten, nach jahrelanger ‚Funkstille‘ zwischen ihnen plötzlich kontaktiert.

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Angesichts einer bevorstehenden riskanten Herzoperation möchte der Vater die Fehler der Vergangenheit wiedergutmachen. Die Operation sowie die darauffolgende Rehabilitation des Vaters bezeichnet der Sohn rückblickend als den Auslöser für die im Roman geschilderten Ereignisse: „[N]ada sería como es si no lo hubieran operado“ (vgl. Vásquez 2004: 308 [Herv. i. O.]). Die Ursache für den Bruch zwischen Vater und Sohn war der Inhalt eines Buchs mit dem Titel Una vida en el exilio, das der Sohn über die deutsch-jüdische Familienfreundin Sara Guterman sowie die soziopolitischen Verhältnisse im Kolumbien der 1940er-Jahre schrieb: „Publiqué un libro, un libro inocente, y ya nada volvió a ser lo mismo“ (Vásquez 2004: 30). In diesem Buch erzählte Santoro junior die Lebensgeschichte Gutermans, die 1938, kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, mit ihrem Vater von Deutschland nach Kolumbien floh. In diesem Zusammenhang erwähnte Santoro junior die zum damaligen Zeitpunkt in Kolumbien im Auftrag der USA geführten schwarzen Listen mit Namen von Nazi-Kollaborateur*innen und -Propagandist*innen: Se trata de las Listas de Nacionales Bloqueados, tristemente célebres entre los historiadores, tristemente olvidadas entre el gran público. Durante la Segunda Guerra Mundial, las también llamadas Listas Negras del Departamento de estado de los Estados Unidos tuvieron como objetivo bloquear los fondos del Eje en Latinoamérica. Pero en todas partes, no sólo en Colombia, el sistema se prestó para abusos, y en más de un caso pagaron justos por pecadores […]. (Vásquez 2004: 228 f.)

Wer auf diesen Listen stand, musste mit der Überwachung und Konfiszierung des Eigentums rechnen und wurde häufig in Arbeitslager interniert. Immer wieder kam es vor, dass Personen fälschlicherweise auf diesen Listen aufgeführt waren. Beispielsweise waren auch geflüchtete deutsche Juden und Jüdinnen von dieser Form der Verfolgung betroffen. Dem Sohn war nicht bewusst, dass er mit diesem Buch die Büchse der Pandora öffnen würde. Während das Buch des jungen Journalisten in der Presse mehrheitlich auf positives Echo stieß, veröffentlichte sein Vater, Santoro senior, eine vernichtende Rezension über die erste Buchveröffentlichung seines Sohnes: Mi opinión es que tenías todo el derecho de averiguar, de preguntar, incluso de escribir, pero no de publicar. […] Mi opinión es que debiste olvidarte del asunto y lo vas a hacer ahora, aunque sea demasiado tarde, porque todo el mundo va a hacerlo, todos van a olvidar tu libro a la vuelta de dos meses. Es así de simple, no tengo más que decir. Mi opinión es que tu libro es una mierda. (Vásquez 2004: 88)

Der Verriss des Buchs durch den eigenen Vater sowie die Erniedrigung und Bloßstellung des Sohnes führten zum Zerwürfnis der beiden (vgl. Vásquez 2004: 85–90). Gleichzeitig war es die Empörung des Vaters, die dazu beitrug, dass das Buch in der Öffentlichkeit verstärkt wahrgenommen wurde: „Por sus propios mé-

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ritos, Una vida en el exilio habría logrado pasar desapercibido, mi padre – o más bien su reacción desmedida, impetuosa, irreflexiva – se encargó de poner el libro en el centro de la escena, y de lanzar todos los reflectores sobre él“ (Vásquez 2004: 89 [Herv. i. O.]). Dem Sohn war es bis dato unerklärlich, weshalb seine Enthüllungen zu einem dunklen Kapitel der kolumbianischen Geschichte nicht etwa auf das Lob sowie die Zustimmung des Vaters, sondern auf dessen Zorn stießen. Was er zu diesem Zeitpunkt nicht wusste, war, dass der Vater befürchtete, dass infolgedessen auch seine eigene unrühmliche Vergangenheit ans Tageslicht kommen und seinen Ruf schädigen könnte. Obwohl der Vater die Herzoperation zunächst gut übersteht und den Sohn um Verzeihung bitten kann, bleibt auch danach ungeklärt, weshalb er diesen Teil der kolumbianischen Geschichte am liebsten unkommentiert lassen möchte: „‚Quiero que te olvides de lo que te dije‘, dijo mi padre, ‚quiero que te olvides de lo que escribí […]‘ (Vásquez 2004: 69). Nachdem der Vater bei einem Autounfall ums Leben kommt und seine Version der Wahrheit mit ins Grab nimmt, ist es seine Liebhaberin Angelina Franco, die damit an die mediale Öffentlichkeit geht. Das lässt den Sohn einerseits über das Schweigen seines Vaters (vgl. Vásquez 2004: 226), andererseits über die Motivation Francos, dieses düstere Geheimnis zu offenbaren (vgl. Vásquez 2004: 230), rätseln. Während nach dem öffentlichen Bekanntwerden des Verrats dem Vater post mortem alle Titel aberkannt werden („Por esos días yo había sabido […] que la Universidad del Rosario iba a retirar a mi padre de la lista de ex alumnos ilustres, que le iban a retirar también el doctorado Honoris Causa […] y, que la concesión de la Medalla al Mérito sería cancelada […]“ (Vásquez 2004: 299)), begibt sich Santoro junior, ungläubig und mit dem Ziel, den Ruf des Vaters zu retten, mithilfe von Guterman auf die Suche nach den wahren Beweggründen des Vaters. Stück für Stück bringt der Sohn das durch den Vater über Jahrzehnte wohl gehütete Geheimnis ans Licht. Je weiter er in der Vergangenheit gräbt, desto mehr gerät die Gegenwart ins Wanken: La vida que he recibido como herencia – esta vida en la que ya no soy el hijo de un orador admirable y un profesor condecorado, ni siquiera del hombre que sufre en silencio y luego revela en público haber sufrido, sino de la criatura más despreciable de todas […] – comenzó un lunes. (Vásquez 2004: 217)

Seinerzeit war der Vater als geheimer Informant für die besagten schwarzen Listen tätig und bezichtigte irrtümlicherweise, wie es sich im Nachhinein herausstellte, den Vater eines Freundes, Konrad Deresser, als Nazi-Sympathisanten. Daraufhin verlor die Familie Deresser ihr Hab und Gut und zerbrach an den Folgen der Denunziation.

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Bei seinen Recherchen, die ihn bis nach Medellín führen, erfährt Santoro junior von der späten Reue des Vaters für seine Tat und seinen missglückten Versuch, kurz vor seinem Tod, sich mit Enrique Deresser, dem Sohn des Freundes, zu versöhnen. Mit der Publikation eines weiteren Buchs mit dem gleichnamigen Titel wie der Roman selbst, Los informantes, in dem Santoro junior die Vergangenheit seines Vaters aufarbeitet und Verantwortung für dessen Taten übernimmt, versucht er letztlich abzuschließen, was seinem Vater zu Lebzeiten nicht mehr gelang (vgl. Vásquez 2004: 309). Der Abschluss, die Veröffentlichung und Vorstellung jenes Buchs auf Konferenzen, ist es, mit dem der eigentliche Roman schließt und damit auch dessen Lektüre für die Leser*innen endet: „Un año después de terminarlo publiqué el libro que usted, lector, acaba de leer (Vásquez 2004: 313)“. Der Roman besteht aus insgesamt zwei Teilen, wobei Vásquez die Technik des Romans im Roman gebraucht. Durch die Metakommentare des Erzählers entsteht beim Lesen das Gefühl, als ob der literarische Text gerade erst im Entstehen sei: „Mientras escribo compruebo que en el curso de varios meses se han acumulado sobre mi escritorio, más que las cosas y los papeles que necesito para reconstruir la historia […]“ (Vásquez 2004: 110). Folglich kann von einer Fiktionalisierung des Schreibprozesses die Rede sein. Durch dieses Mittel werden im ersten Teil neben der eigentlichen Romanhandlung die Recherchen und der Schreibprozess des Buchs „Los informantes“ geschildert. Diese wirken sehr realistisch, da in den Aufbau des literarischen Textes verschiedene dokumentarische Materialien und Medienformate einbezogen werden, wie beispielsweise die Tonbandaufnahmen der Interviews mit Guterman, die Buchkritik Santoro seniors, Briefe der Familie Deresser sowie Auszüge des Buchs Una vida en el exilio (vgl. Soler 2005: 130). Der erste Teil untergliedert sich ferner in die vier großen Kapitel „La vida insuficiente“, „La segunda vida“, „La vida según Sara Guterman“ sowie „La vida heredada“ und endet mit der fiktiven Datumsangabe 1994. Es folgt der zweite Teil mit dem Titel „Posdata de 1995“. Er beschreibt die Begegnung zwischen Santoro junior und Enrique Deresser nach dem Tod des Vaters. Interessanterweise enthält die deutsche Übersetzung noch ein zusätzliches (erklärendes) Kapitel, in dem Vásquez den nicht mit der kolumbianischen Geschichte vertrauten Leser*innen einen knappen geschichtlichen Abriss liefert und die Romanhandlung geschichtlich einordnet. Obwohl die Vorfälle im Roman in Teilen auf tatsächliche historische Ereignisse, wie die besagten schwarzen Listen während der Amtszeit der kolumbianischen Präsidenten Alfonso López Pumarejo und Eduardo Santos zwischen 1941–1945 zurückgehen (vgl. Houde 2017: 14), handelt es sich bei Los informantes

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um eine größtenteils fiktive und keinesfalls vollkommen den historischen Tatsachen entsprechende dokumentarische Erzählung. Hierfür spricht ferner der Umstand, dass die Geschehnisse aus der Perspektive eines autodiegetischen Erzählers geschildert werden, der zwar selbst Teil der erzählten Welt ist, aber nur über ein auf seine Person begrenztes und daher subjektives Wissen verfügt. Allerdings waren es, wie im Roman selbst, die (tatsächliche) Begegnung mit einer alten deutsch-jüdischen Dame im Jahr 1999 sowie deren Erinnerungen und Bericht, die den Auslöser für die Geschichte beziehungsweise den Roman gaben und Vásquez’ Interesse an diesem wenig beleuchteten Abschnitt der kolumbianischen Geschichte weckten (vgl. Buitrago Ramírez 2016: 201 f.). Obwohl diese Frau die Inspiration für die Figur der Sara Guterman im Roman lieferte und sie Vásquez wie Santoro junior im Roman als Informantin diente (vgl. Maeseneer/Vervaeke 2012 [Vásquez]), ist letztere nicht als ein originalgetreues Abbild dieser zu verstehen. Vielmehr entstammt sie Vásquez’ Feder sowie den während der Anfertigung des Romans durchgeführten ausgiebigen Recherchen. Am Rande finden im Verlauf der Handlung eine Reihe historischer kolumbianischer Persönlichkeiten Erwähnung. Hierzu zählen der ermordete Anwalt und Politiker Jorge Eliécer Gaitán sowie der für seine antisemitische Einreisepolitik bekannte kolumbianische Minister Luis López de Mesa. Zum Figurenrepertoire des Romans gehören aber in der Tat auch zwei, zum Zeitpunkt des Entstehens des Romans noch real existierende beziehungsweise lebende Personen. Es handelt sich dabei um die österreichisch-jüdischen Buchhändler*innen und Besitzer*innen der ältesten Buchhandlung Bogotás Lilly und Hans Ungar, denen Vásquez auf diese Weise Tribut zollt (vgl. Hurtado 2013). Auf jene trifft Santoro junior im letzten Kapitel des Romans nach der Publikation seines zweiten Buchs, als diese ihn einladen, einige Exemplare zu signieren (vgl. Vásquez 2004: 316 f.). Mit diesem raffinierten Schachzug gelingt es Vásquez, der eigentlich fiktiven Erzählung mehr Glaubwürdigkeit zu verleihen: „[L]a presencia del narrador en la librería de los Ungar fragiliza la frontera entre realidad y ficción que Vásquez se empeña en debilitar“ (Houde 2017: 24). Hinsichtlich der Zeitstruktur des Romans ist festzustellen, dass die Handlung von Los informantes auf verschiedenen, ineinander verschachtelten Zeitebenen verläuft. Dabei konzentriert sich der zentrale Handlungsstrang auf die 1990er-Jahre. Daneben weist der Roman mehrere Zeitsprünge in die Vergangenheit auf. Die, keinesfalls als nebensächlich zu betrachtenden Geschehnisse, stehen in einer kausalen Verbindung zum gegenwärtigen Geschehen des Romans. Das zeigt sich jedoch erst im Verlauf der Lektüre. So ist es der Erzähler und Protagonist, der Stück für Stück die Fragmente aus unterschiedlichen Zeiten verbindet und sie in seinem zweiten Buch, dessen

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Entstehungsprozess die Leser*innen mitverfolgen, zu einem Gesamtgebilde, der wahren Geschichte um seinen Vater, zusammensetzt (vgl. McCormick 2010). Dabei muss er, genauso wie die Leser*innen, feststellen, dass ein endgültiges Festschreiben der Vergangenheit, aufgrund der Vielzahl an Perspektiven und des Fehlens der Aussage des bereits toten Vaters („[(]¿Cómo había ejercido mi padre el papel de informante? Ya nunca lo sabría, porque de eso no había testigos)“ (Vásquez 2004: 226)), unmöglich ist: „Die Vergangenheit, begreifen Held und Leser, ist niemals starr, und auch die Toten sind nicht tot. Deshalb kommt auch die Betrachtung und schriftliche Fixierung der Vergangenheit zu keinem Ende, sie ist vielmehr ein im Prinzip unendlicher Vorgang des Über- und Neuschreibens“ (Ebel 2010). Gleich zu Beginn erfahren die Leser*innen mittels einer Analepse über den Streit zwischen Sohn und Vater. Ein Telefonanruf und Besuch beim Vater wecken beim Sohn die Erinnerung daran, wie der Vater ihn ehemals in einer seiner Universitätsvorlesungen verhöhnte, weshalb er den Kontakt zum Vater abbrach. Daneben werden im Kapitel „La vida según Sara Guterman“ in den Gesprächen, die Santoro junior mit Guterman im Zuge der Recherchen für sein neues Buch führt, immer wieder Rückblenden in die 1930er- und 1940er-Jahre integriert. Einerseits erhalten die Leser*innen so einen Einblick in die soziopolitischen Verhältnisse kurz vor Kriegsausbruch in Deutschland, die Guterman und ihren Vater zur Flucht nach Kolumbien bewogen. Andererseits erfahren die Leser*innen durch ihre Erzählungen von der angespannten Stimmung und den ernüchternden Umständen, die Guterman und ihr Vater in Kolumbien vorfanden. Nach der Enthüllung des Geheimnisses des Vaters sieht Santoro junior sich gezwungen, ein weiteres Buch zu schreiben und zu veröffentlichen, in dem er explizit auf die unrühmliche Vergangenheit des Vaters eingeht (vgl. Ebel 2010). Hierbei sind die Berichte Gutermans wie auch ihre Schilderungen der Jugendjahre Santoro seniors von zentraler Bedeutung, da allein durch deren Hilfe dem Erzähler und Protagonisten, aber auch den Leser*innen, die Rekonstruktion der knapp 50 Jahre in der Vergangenheit liegenden Geschichte des Verrats möglich ist. Auf diese Weise erschafft Santoro junior eine Gegenerzählung zur von der Liebhaberin des Vaters in Umlauf gesetzten medienwirksamen Version der Geschichte. Die dramatische Schilderung von Santoro seniors Niedergang, der seiner Geliebten kurz vor seinem Unfalltod sein bestgehütetes Geheimnis offenbarte, dient letzterer vor allem dafür, Santoro senior als Lügner und Betrüger zu brandmarken und sich selbst als eines seiner Opfer in Szene zu setzen:

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En su lugar [del padre] estaba Angelina Franco, ex amante y testigo de cargo, la mujer que había presenciado la caída. El esquema dramático – de la gloria a la desgracia, y todo con romance incluido – era bien claro; el potencial periodístico hubiera sido evidente hasta para un novato. (Vásquez 2004: 228)

Des Weiteren unterstreicht ihre Darstellung der Geschehnisse der Vergangenheit die im Roman vorhandene Vielstimmigkeit hinsichtlich der Verratsgeschichte, die letztlich auch als verbindendes Element der Einzelschicksale dient. Jene Vielstimmigkeit und Multiperspektivität sind es jedoch auch, die einen Abschluss der Vergangenheit sowie das Auffinden der einzig ‚wahren‘ Version der Vorfälle unmöglich machen (vgl. Magenau 2010). Gleichzeitig legt Vásquez mit dieser Methode die Komplexität der Geschichtsschreibung offen: „Geschichte ist genau dieser Prozess des fortgesetzten Weiterschreibens und Umschreibens“ (Magenau 2010). Dabei geht es Vásquez ebenso darum, zu klären, welche Darstellung der historischen Vergangenheit die Gegenwart erreicht und wer die Macht besitzt, darüber zu entscheiden, welche Version als die ‚gültige‘ beziehungsweise einzig ‚wahre‘ betrachtet wird. Die Aufgabe der Romanschreiber*innen sieht er darin, denjenigen Stimmen Gehör zu verschaffen, die in der offiziellen Version der Vergangenheit nicht auftauchen. Das ist auch zunächst Santoro juniors Absicht, als er Gutermans persönliche Geschichte in seinem ersten Buch schildert: „[E]l escritor Gabriel Santoro es causante del despertar de la memoria de Sara Guterman y de los que prefieren olvidar“ (Giraldo Bermúdez 2008: 124). Entsprechend ist die Auseinandersetzung mit dem individuellen sowie kollektiven Gedächtnis als eines der zentralen Themen des Romans zu sehen: „La memoria, la individual y la colectiva, es la gran protagonista de Los informantes junto con la utilización de la palabra“ (Obiols 2004). In diesem Zusammenhang beschäftigt sich Los informantes mit der Frage, inwiefern ein Wieder- beziehungsweise Neuerzählen zurückliegender Ereignisse, das Geschehen der Vergangenheit verändern und bestenfalls wiedergutmachen kann (vgl. Maeseneer/ Vervaeke 2012 [Vásquez]). Aus diesem Grund ist der Aspekt des Erzählens aus unterschiedlichen Perspektiven von zentraler Bedeutung für den Roman: „Habla el narrador, rastreador de vidas ajenas e indirectamente de la propia, hablan los interrogados y hablan los afectados por las palabras de los anteriores“ (Obiols 2004). Das wird bereits vor Beginn der Handlung im Paratext des Romans deutlich, wo Vásquez ein Zitat des großen griechischen Redners Demosthenes aus Rede über die Krone dem eigentlichen literarischen Text voranstellt: „¿Quién quiere hablar? ¿Quién quiere hacer acusaciones respecto de los acontecimientos pasados? ¿Quién quiere garantizar el porvenir? Demóstenes, Sobre la corona“ (Vásquez 2004: 9 [Herv. i. O.]).

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Im Roman ist es Santoro junior, der sich in der Pflicht sieht, jene Aufgabe zu übernehmen und über die Vergangenheit zu sprechen beziehungsweise zu schreiben: „[E]s a fin de cuentas el hijo homónimo de Gabriel Santoro quien, con el comienzo de su libro sobre la refugiada alemana de origen judío Sara Guterman […] asume ese papel de análisis y revisión del pasado con fines pedagógicos y esclarecedores“ (Müller 2017: 329). Doch die Aufarbeitung und Richtigstellung der Vergangenheit Santoro seniors bringt nicht den erhofften entlastenden Effekt in der Gegenwart (vgl. Müller 2017: 330). Enrique Deresser akzeptiert die von Santoro junior angestrebte Annäherung und Aussöhnung genauso wenig wie zuvor den Versuch einer Entschuldigung dessen Vaters. Stattdessen kritisiert er die von Santoro junior unternommene Einmischung in die Vergangenheit ihrer Väter und deren öffentliche Zurschaustellung als unberechtigt und heuchlerisch. Vor diesem Hintergrund problematisiert Vásquez in Los informantes die Frage nach der Rechtmäßigkeit des Erzählens sowie dem Recht andere Stimmen zu repräsentieren (vgl. Baker 2017: 428). Diese Problematik findet sich häufig in journalistischen Texten wieder, was sich im Roman in der Leidenschaft Santoro juniors manifestiert, das eigentlich private Leben anderer Personen der Öffentlichkeit preiszugeben: Pero lo más importante de esas dos páginas era otra cosa: en ellas había la confirmación de que todo aquello podía ser contado, la sugerencia de que podía ser yo quien lo hiciera, y la promesa de esa satisfacción curiosa: darle forma a la vida de los demás, robar que les ha pasado, que siempre es desordenado y confuso, y ponerle un orden sobre el papel. (Vásquez 2004: 36)

Entsprechend behandelt der Roman den Themenkomplex von Ethik, Recht und Unrecht sowie Schuld, Reue, Sühne, Vergebung und Verzeihung (vgl. Becker 2010). Innovativ bei der Thematik von Los informantes sind zwei gegensätzliche Tendenzen hinsichtlich aktueller Entwicklungen lateinamerikanischer Literaturen. Auf der einen Seite widmet sich Los informantes dem Motiv der Migration und Entwurzelung, wobei es sich um ein derzeit häufig in den lateinamerikanischen Literaturen bearbeitetes Sujet handelt (vgl. Esteban/Montoya Juárez 2011: 8 f.). Letzteres ist als eine Projektion von Vásquez’ persönlicher, außerliterarischer Situation, das heißt seiner Entscheidung, aus Kolumbien auszuwandern, zu betrachten (vgl. Vervaeke 2012: 30). Allerdings findet in diesem Fall keine Eins-zu-eins-Umsetzung seiner eigenen Biografie auf den literarischen Gegenstand, sondern eine Umkehrung statt. Geschildert wird nicht, wie weit verbreitet, die Auswanderung eines*einer Lateinamerikaner*in in die USA oder nach Europa sowie dessen*deren Gefühl von Fremdheit und Nostalgie. Vielmehr wid-

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met sich Vásquez im Roman dem Kapitel der Flucht jüdischer und oppositioneller Deutscher vor der Vernichtung durch die Nationalsozialisten und Nationalsozialistinnen (vgl. Rohter 2009). In gewisser Weise wählt Vásquez damit auch ein Thema, das außerhalb Kolumbiens, im Globalen Norden, nicht unbekannt und damit ebenso für nicht kolumbianische Leser*innen von Interesse ist. Auf der anderen Seite und in direkter Verbindung mit dem zuerst genannten Punkt erteilt Vásquez mit Los informantes dem gegenwärtigen Boom um die kolumbianische Drogen- und Gewaltproblematik eine Absage zugunsten einer Auseinandersetzung mit der vielschichtigen Vergangenheit seines Herkunftslandes „[A]bre[n] el espectro narrativo de la literatura colombiana, que sólo se ha limitado a contar sobre violencia, la guerrilla, el narcotráfico, la pobreza, los desplazados y la ciudad de una manera subterránea, un tanto maldita […]“ (La Nación 2004). Er widmet sich nicht nur einem bis dato wenig thematisierten Aspekt der kolumbianischen Geschichte, sondern legt mit seinem Roman auch die globalgeschichtlichen Verflechtungen offen, welche Einfluss auf die späteren soziopolitischen Entwicklungen des Landes ausübten (vgl. Furió 2015). Obwohl der Titel Los informantes, auf Deutsch ‚die Informanten‘, zunächst anderes vermuten lässt, handelt es sich bei dem Roman nicht um einen Kriminalroman im engeren Sinne. Nichtsdestotrotz weist der Roman einige Elemente der Gattung des Detektivromans auf. So bleibt beispielsweise über mehr als die Hälfte des Romans die übertriebene Reaktion Santoro seniors auf die Buchpublikation des Sohnes ungeklärt, was spannungsfördernd wirkt. Als charakteristisch für den Detektivroman kann außerdem die akribische und hartnäckige Spurensuche in der Vergangenheit Santoro seniors sowie die Befragung von Zeitzeug*innen beziehungsweise Zeitgenoss*innen des Vaters seitens des Sohnes gesehen werden. Darüber hinaus gibt es im Verlauf der Handlung sogar eine Leiche, den Vater, der allerdings nicht Opfer eines Gewaltverbrechens, sondern eines allem Anschein nach selbstverschuldeten Autounfalls wurde. Ferner sind die Versuche Santoro juniors, die Umstände des (Unfall-)Todes seines Vaters zu untersuchen, das Verbrechen des Vaters in der Vergangenheit aufzuklären und dessen Beweggründe nachzuvollziehen, als für das Genre des Kriminalromans kennzeichnend zu betrachten. Doch selbst wenn der Roman im Aufbau diesem kriminalistischen Genre folgt, handelt es sich bei Los informantes auch um eine Familiengeschichte. Der Generationenkonflikt, der sich zwischen dem renommierten und erfahrenen Rhetorikprofessor, dem Vater, und dem ambitionierten Schriftstellerneuling, dem Sohn, abspielt, erscheint auf den ersten Blick typisch und wenig innovativ. Obschon Vásquez selbst die klassische Tragödie als Vorbild diente (vgl. Vervaeke 2014: 43 [Vásquez]), erzählt der Roman weitaus mehr als nur eine familiäre Tragödie. Allerdings ist es diese, die den Erzähler und Protago-

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nisten dazu motiviert, sich mit der historischen Wahrheit auseinanderzusetzen, welche er Stück für Stück ans Tageslicht befördert. Deshalb kann Los informantes zusätzlich als Literatur mit Geschichtsbezug betrachtet werden. Vásquez’ Auseinandersetzung mit und Aufarbeitung der kolumbianischen Vergangenheit im Roman besitzt daneben auch Passagen mit investigativem Charakter, wie er für eine Reportage typisch ist. Das ist sicherlich auf Vásquez’ journalistischen Hintergrund zurückzuführen (vgl. Buitrago Ramírez 2016: 199 [Vásquez]). Gleichzeitig führt dies dazu, dass Los informantes als „una literatura de nítido corte político“ (Libertella 2007), eine Literatur mit klarer politischer Ausrichtung, gesehen werden kann, als welche sie der mexikanische Schriftsteller Mauro Libertella bezeichnet. Los informantes ist weder ein reines Geschichtsbuch noch handelt es sich um einen literarischen Text mit denunziatorischer Absicht. Insgesamt fällt auf, dass eine ausschließliche Zuordnung des Romans zu nur einer einzigen literarischen Gattung wegen Vásquez’ Gebrauch unterschiedlicher Stile und Motive erschwert ist und den Roman vielmehr eine Mischung verschiedener literarischer Genres kennzeichnet. 4.3.2.2 Autofiktion in Los informantes Die Homonymität zwischen Autor, Protagonist und Erzähler, ein eindeutiges Indiz für die autofiktionale Tendenz des Romans, manifestiert sich gleich zu Beginn der Handlung (vgl. Negrete Sandoval 2015: 232). Obschon der Roman durch eine persönliche, tatsächlich stattfindende Begegnung Vásquez’ motiviert wurde, handelt es sich bei Los informantes um einen fiktionalen Text und keinesfalls um eine autobiografische Erzählung mit Wirklichkeitsanspruch, selbst wenn die Konstruktion des Romans und die Erzählweise mittels ‚Zeugenaussagen‘ diesen Anschein erwecken mag (vgl. Ardila Jaramillo 2015: 238): „[N]o he podido interrogarlo a él para escribir este libro, y he tenido que valerme de otros informantes“ (Vásquez 2004: 71). So ist es charakteristisch für das Genre der Autofiktion, ein scheinbar autobiografisches Erlebnis des*der Autor*in als Anstoß und Impulsgeber für das Schreiben zu wählen (vgl. Pozo García 2017: 17). Ungeachtet dessen erkennt Vásquez die (namentliche) Ähnlichkeit zwischen ihm und dem Romanhelden an. Die Wahl der Ich-Perspektive begründet er damit, dass es ihm ein wichtiges persönliches Anliegen war, die Geschichte der alten Dame zu erzählen sowie ein dunkles Kapitel der kolumbianischen Geschichte zu beleuchten: „The narrator should be someone who resembled me. That was a way to say I’m morally committed to this story“ (Ruffinelli 2013/2014: 156 [Vásquez]).

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Die Ich-Erzählsituation ermöglicht Vásquez, die Schaffung einer Erzählerfigur, die über den gleichen Kenntnisstand, wie er selbst verfügt. Hieraus ergibt sich, dass diese sich erst sukzessive der Thematik annähern und wie er als Romanautor Nachforschungen betreiben muss, um am Ende zu einer Erkenntnis zu gelangen (vgl. Hollanda Cavalcanti 2013: 245 [Vásquez]). Letzterer Aspekt erinnert zugleich an Vásquez’ Konzept der literatura de inquilinos und sein Bestreben, Licht in dunkle Ecken der Geschichte seines Landes zu bringen. Demgemäß gleichen sich der Schriftsteller, Erzähler und Protagonist hinsichtlich des moralischen sowie ein Stück weit aufklärerischen Anspruchs, den sie mit ihren Recherchen sowie ihrem Schreiben verfolgen. Das verdeutlichen besonders ein Zitat Vásquez’ aus einem Interview und ein Auszug aus Los informantes, in dem Santoro junior über seine Schreibmotivation sinniert: [L]a novela es para mí la herramienta mejor dotada para iluminar los rincones oscuros de nuestra historia, y así tratar de decir algo importante sobre lo que somos y cómo hemos llegado a ser así. (Wiener 2007: 13 [Vásquez]) ¿[P]ara qué lo había hecho? Desde luego no para mi propio beneficio, pues la desgracia de mi padre, y de mi propio nombre, había sido confirmada por mi libro, aunque para mí los efectos de la confesión fueran otros y bien distintos. (Vásquez 2004: 337)

Interessanterweise existieren weitere Parallelen zwischen der inner- und außerliterarischen Welt. Beispielsweise bewirkte die reale Publikation des Romans Los informantes ähnliche Reaktionen wie Santoro juniors Veröffentlichung von Una vida en el exilio innerhalb der erzählten Welt. Auch wenn das Buch in der kolumbianischen Öffentlichkeit keinesfalls so hohe Wellen schlug wie im Roman, stieß Los informantes in Vásquez’ persönlichem Umfeld nicht nur auf positive Resonanz: „[M]uchos me recriminaron excavar cosas que ya se habían olvidado exitosamente“ (Maeseneer/Vervaeke 2012 [Vásquez]). In diesem Zusammenhang fällt auf, dass Vásquez mit dem gleichen Vorwurf wie die von ihm geschaffene Romanfigur Santoro junior konfrontiert wurde. Im Roman ist es Santoro senior, der seinem Sohn vorhält, ein in Vergessenheit geratenes und damit abgeschlossenes Kapitel der Vergangenheit in der Gegenwart gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung wieder aufzugreifen: „[A]quí llegas tú, paladín de la historia, para hacerte el valiente despertando cosas que la inmensa mayoría prefiere ver dormidas“ (Vásquez 2004: 86). Vásquez kann demnach als ein weiterer, genauer gesagt der letzte einer Reihe von Informanten bezeichnet werden, von denen Santoro senior der erste war: „El primer informante, el primer delator en una historia de delaciones, es, entonces, el propio escritor. El título, pues, es metáfora de su arte“ (Aristizabal 2005: 124). Die Vielzahl an Berichterstatter*innen, die im Roman zu Wort kommen, allen voran Guterman, die Geliebte des Vaters sowie Deressers Sohn und

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nicht zuletzt Santoro junior selbst, der über all das Protokoll führt, rechtfertigen die Wahl des Romantitels wie des Titels des Buchs im Buch Los informantes im Plural: „[E]n el título del libro, Los informantes, estaba contenida ella [Guterman] tanto como mi padre, aunque la información que cada uno había dado fuera de naturaleza tan distinta“ (Vásquez 2004: 313). Des Weiteren können im Roman Bezüge zu Vásquez’ Jurastudium hergestellt werden. Einerseits verhandelt er die klassische Schuldfrage sowie den Versuch einer Wiedergutmachung, andererseits ist mit Santoro senior als Juraund Rhetorik-Professor ein direkter Repräsentant der Rechtswissenschaften als Teil des Figurenrepertoires anwesend (vgl. Vervaeke 2018: 191). Obwohl nicht von einer vollkommenen Identität der beiden gesprochen werden kann, tragen der autodiegetische Erzähler, Gabriel Santoro junior, sowie der Urheber des Textes, Juan Gabriel Vásquez, den gleichen Vornamen ‚Gabriel‘. Weitere Gemeinsamkeiten sind laut Vásquez auf biografischer und geistiger Ebene ausmachbar, welche er jedoch nicht weiter ausführt: „[W]hen I wrote the novel I tried to shape him [the narrator] in a way that resembled my own biography. Certain aspects of my own biography, certain opinions that I had, and the general look on life that maybe we shared“ (Ruffinelli 2013/2014: 156 [Vásquez]). Ein weiteres gemeinsames Merkmal ist ihr schriftstellerischer Werdegang: Wie bei Santoro junior verlief auch Vásquez’ Weg ausgehend vom journalistischen Schreiben hin zum Metier des Schriftstellers. Bei beiden handelt es sich um Schriftsteller, Journalisten und Chronisten der Vergangenheit ihres Landes. Einen wesentlichen Unterschied weisen die beiden hinsichtlich ihres Alters auf. Während Vásquez zum Zeitpunkt der Anfertigung des Romans etwa 28 Jahre alt war und diesen mit 31 Jahren im Jahr 2004 abschloss und veröffentlichte, ist sein Alter Ego in Los informantes rund zehn Jahre älter (vgl. Ruffinelli 2013/2014: 156 [Vásquez]). Dieser Altersunterschied war gemäß Vásquez erforderlich, um der Chronologie der Handlung gerecht zu werden, sowie um die Vater-Sohn-Geschichte stimmig und kohärent erzählen zu können (vgl. Vervaeke 2014: 43 [Vásquez]). Auch wenn die Ähnlichkeit von Erzähler, Protagonist und Autor in Los informantes offenkundig ist, dürfen sie keinesfalls als identisch betrachtet werden. Wenn nun über Gabriel Santoro junior, Vásquez’ Alter Ego in Los informantes, und dessen Charakter gesprochen wird, bedeutet es nicht, dass die ihm zugeschriebenen Charakterzüge automatisch auch auf Vásquez selbst zutreffen: „El álter ego de Juan Gabriel Vásquez, Gabriel Santoro, se confiesa a sí mismo no sólo chismoso, sino infiel, traidor, delator, alguien que nunca ha sabido ‚dónde termina la amistad y comienza el reportaje‘“ (Aristizabal 2005: 124). Die Konstruktion einer eigenen (fiktiven) Erzählerfigur, wie Vásquez sie in Los informantes entwirft und in seinen darauffolgenden Romanen fortentwi-

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ckelt, ist als wichtiger Bestandteil des Schaffensprozesses seiner Autorpersönlichkeit sowie seiner erstmaligen Positionierung im internationalen literarischen Feld zu sehen, womit sich das nächste Unterkapitel genauer auseinandersetzen wird. 4.3.2.3 Vásquez’ Autorfigur und -bild in Los informantes Der Protagonist und Erzähler von Los informantes ist, wie bereits erwähnt, ein junger ambitionierter Journalist, dessen Bestreben es ist, ein Schriftsteller zu werden. Dabei handelt es sich um ein Ziel, dass der Erzähler schon von Kindheit an verfolgt. Als Vorbild diente ihm damals kein Geringerer als der kolumbianische Nobelpreisträger Gabriel García Márquez. Allerdings wurde seine Begeisterung über die Typografie von García Márquez’ Erstlingsroman La hojarasca (1955) (in der deutschen Übersetzung Laubsturm) und deren Imitation durch seine Lehrerin gebremst, die ihm unterstellte, beim Schreibwettbewerb getäuscht zu haben, da sie seine Art, den Text zu untergliedern, für die eines Erwachsenen hielt (vgl. Vásquez 2004: 336). Um sein aktuelles Buchprojekt realisieren zu können, genügte dem Erzähler und Protagonisten nicht nur die Lektüre der großen (lateinamerikanischen) Literat*innen der Moderne. Stattdessen musste er sich ganz im Sinne seines Vaters mit den Rhetorikern und Oratoren der römischen und griechischen Antike auseinandersetzen: „Para escribir sobre mi padre me he visto obligado a leer ciertas cosas que a pesar de su tutoría no había leído nunca. Demóstenes y Cicerón son lo más evidente, casi un cliché. Julio César no era menos predecible“ (Vásquez 2004: 112 [Herv. i. O.]). Anknüpfungspunkte und Parallelen zu seinem Vater fand er des Weiteren in der Figur des Verräters in der Erzählung Tema del traidor y del héroe (1944) von Jorge Luis Borges. Folglich ist der Erzähler und Protagonist von Los informantes bestens bewandert auf dem weltliterarischen Parkett, was er durch literarische Referenzen im Verlauf der Handlung immer wieder unter Beweis stellt. Er führt Literat*innen unterschiedlicher Regionen an, wenn es darum geht, seine Belesenheit zu demonstrieren und zu betonen, dass ihn Bücher in allen Lebenslagen begleiteten: „‚Cuando se murió mi mamá yo estaba leyendo El hombre de la pistola de oro. Ian Fleming. Cuando me gradué estaba leyendo La aventura de Miguel Littin. García Márquez. Cuando mataron a Lara Bonilla estaba leyendo Hiroshima. John Hersey‘“ (Vásquez 2004: 140 [Herv. i. O.]). An diesem Zitat wird deutlich, dass für den Erzähler und Protagonisten besonders literarische Einflüsse aus dem englischsprachigen Raum von Bedeutung sind. Im Roman wohnen die Leser*innen dem Schreibprozess seines zweiten Buchs unmittelbar bei, dessen Entstehung, Publikation und Rezeption Santoro junior auf

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metafiktionaler Ebene teils gleichzeitig, teils nachträglich und bisweilen skeptisch kommentiert und reflektiert (vgl. Vásquez 2004: 230 f.). Während er zunächst noch die Schreibtipps des Vaters, einem renommierten Rhetorikprofessor, befolgt, den er bewundert, distanziert er sich im Verlauf der Romanhandlung immer weiter von ihm (vgl. Vásquez 2004: 35 f.). Ungeachtet der Versuche Santoro juniors, sich von seinem Vater abzugrenzen und von dessen Erbe zu lösen, meldet sich letzterer auch nach seinem Tod noch als kritische Stimme aus dem Off in der Gedankenwelt des Sohnes zu Wort: „Para eso lo escribiste, para que todos sepan lo bueno que eres. Mi padre volvía de entre los muertos para acusarme“ (Vásquez 2004: 323 [Herv. i. O.]). Zugleich ist es der Sohn selbst, der auf der Suche nach Antworten und Erklärungen imaginäre Diskussionen mit seinem verstorbenen Vater führt, in denen er sich einerseits selbst verteidigt, andererseits aber auch die Rolle des streng urteilenden Vaters einnimmt: „Sí, papá, es terrible, el poder de las cosas dichas es terrible, tú lo sabías, recordabas lo que habías hecho, lo que tus palabras habían causado“ (Vásquez 2004: 226). Diese gedanklichen Debatten sind die Fortsetzung des bereits zu Lebzeiten bestehenden Wettstreits zwischen Vater und Sohn, bei welchem der Sohn verzweifelt nach der Anerkennung des Vaters strebte, wohingegen der Vater nur wenig Lob für ihn übrighatte. So sah er die literarischen Arbeiten des Sohnes als minderwertig an, da sich dieser, anders als er selbst, mit der Gegenwart und nicht mit den großen Rhetorikern der Vergangenheit beschäftigte (vgl. Vásquez 2004: 72). Des Weiteren erweist sich die Loslösung vom Vater schon allein deshalb als aussichtsloses Unterfangen, da beide über den Tod hinaus durch den gemeinsamen identischen Namen untrennbar miteinander verbunden sind. Auf diese Weise schuf sich der Vater bereits zu Lebzeiten ein Denkmal: „[M]i padre era un ejemplar de esa especie tan predecible: los que confían tanto en los logros de su vida que no temen bautizar a sus hijos con su propio nombre […]“ (Vásquez 2004: 23). Das führt zum einen dazu, dass dem Sohn die akademischen Meriten des Vaters zugutekommen, zum anderen aber, dass der Rufverlust des Vaters sowie dessen Diskreditierung auch für den Sohn nicht ohne negative Folgen bleiben: „‚Su papá no era más que un mediocre y un impostor y usted igual, que al fin y al cabo de tal palo tal astilla‘“ (Vásquez 2004: 301). So erreichen nach dem Tod des Vaters auch Santoro junior gehässige, anonyme Schmähbriefe, die, ausgehend von den Taten des Vaters, den Sohn und seine schriftstellerische Arbeit abwerten. Den Gipfel des Absurden erreicht die Gleichnamigkeit von Vater und Sohn bei der Todesanzeige Santoro seniors, bei der der Trauernde den gleichen Namen wie der Verstorbene trägt, was ein Großteil der Trauergäste für einen Druckfehler hält (vgl. Vásquez 2004: 117). Auf

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diese Weise dominiert der Vater auch nach seinem Tod noch über den Sohn, der zum ‚Druckfehler‘ wird. Generell steht der Sohn ganz im Schatten seines berühmten Vaters und bleibt unbeachtet. Schon viel früher im Roman ‚verschwindet‘ Santoro junior als Individuum, als ihn der Vater vor seinen Seminarteilnehmenden gnadenlos niedermacht: „Yo había dejado de existir en ese momento preciso: yo, Gabriel Santoro hijo, me acaba de evaporar en esa fecha histórica (que ya no recuerdo) y en ese lugar definido, el salón de actos de la Corte Suprema de Justicia, carretera séptima con calle veintiocho“ (Vásquez 2004: 80). Durch den Tod des Vaters wird der Sohn erstmals zum Protagonisten, dem es obliegt, die Vergangenheit seines Vaters zu rekonstruieren. Die neu gewonnene Unabhängigkeit erlaubt es ihm, ein weiteres Buch – Los informantes, das Buch im Buch – zu schreiben. Zudem ist es die neu gewonnene ‚Freiheit‘, die es ihm ermöglicht, dem nachzugehen, was sein Vater zu Lebzeiten abwertete, der Rekonstruktion und Nacherzählung des Lebens anderer. Paradoxerweise steht bei diesen Nachforschungen kein anderer im Mittelpunkt als der Vater selbst: „Yo soy el sucesor de mi padre y soy también el ejecutor testamentario“ (Vásquez 2004: 110). Nichtsdestotrotz kann der Sohn das Erbe des Vaters und damit dessen fortdauernde Präsenz und Dominanz auch nach dessen Tod nicht abschütteln: „Pensé en el posible legado de mi padre; […] terminé por considerar que de muchas formas mi vida no era distinta de la suya: era una mera prolongación, un curioso seudópodo“ (Vásquez 2004: 119). Sinnbildlich steht hierfür die im Zitat aufgezeigte amöbenhafte Verschmelzung von Vater und Sohn. Diese Frustration und dieser Pessimismus übertragen sich zudem auf die Psyche und damit ebenfalls auf den Schreibprozess des Sohnes, der im Verlauf des Romans immer mehr an sich selbst zweifelt und auch das Vertrauen in andere Menschen verliert (vgl. Vásquez 2004: 321). Dementsprechend sind die Metakommentare über das Schreiben durch ein Gefühl von Unsicherheit und Versagensangst vonseiten des Erzählers und Protagonisten geprägt: „¿Me había contaminado la doble faz de mi padre al punto de obligarme para siempre a sospechar dobleces en el resto de la humanidad? ¿O me había contaminado el hecho de contarla por escrito? ¿Había sido un error escribir Los informantes?“ (Vásquez 2004: 321 [Herv. i. O.]). In seiner selbstkritischen Betrachtungsweise des eigenen literarischen Textes weist der Ich-Erzähler von Los informantes Übereinstimmungen mit der seit den Nullerjahren auftretenden Tendenz des autofiktionalen Schreibens in Form eines skeptischen Ich-Erzählers auf: „Los del Milenio han adoptado con naturalidad la autoficción como una de sus prácticas preferidas, afianzando de este modo en las últimas décadas la figuración literaria del autor como un personaje autocrítico, dubitativo y dudoso“ (González 2014: 278). Analog dazu kann San-

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toro junior selbst als sein größter Kritiker gesehen werden, der immer wieder seine eigene Arbeit sowie sein Buchprojekt infrage stellt. Außerdem versucht er pflichteifrig, die Taten seines Vaters auszugleichen: [E]n el proceso de escribir sobre ello, mi padre dejaría de ser la figura falsa que él mismo había asumido, y reclamaría su posición frente a mí como lo hacen todos nuestros muertos: dejándome como herencia la obligación de descubrirlo, de interpretarlo, de averiguar quién había sido en realidad. (Vásquez 2004: 309)

Hierzu passt, dass es sich bei Santoro junior um einen grüblerischen Einzelgänger handelt, der nicht den persönlichen Umgang mit anderen Menschen sucht, sondern lieber in ihrer Abwesenheit neugierig und heimlich in ihre Privatsphäre eindringt: „[S]iempre me he sentido a gusto en soledad […]. […] Me gustan las vidas ajenas; me gusta examinarlas a mis anchas. Es probable que al hacerlo viole varios principios de la discreción, de la confianza, de las buenas maneras. Es muy probable“ (Vásquez 2004: 261 f.). Seine Ambitionen lassen ihn dabei die Bedürfnisse anderer Menschen übersehen. Die Akribie mit der Santoro junior seine Ziele verfolgt, besitzt bisweilen sonderbare Züge. Sein Interesse gilt den Zahlen, so neigt er dazu, alles Neue, zu vermessen, beispielsweise auch den Durchmesser der Brustwarzen der Frauen, mit denen er schläft (vgl. Vásquez 2004: 330). Sein Handeln ist dabei keinesfalls uneigennützig, sondern Beziehungen pflegt er nur so lange, wie sie für ihn selbst und seine Interessen, in diesem Fall die Recherchen für seine Buchpublikation, von Nutzen sind: Angelina salió de mi vida como sale tanta gente: por mi incapacidad para tomar contacto, o para conservarlo, por mi desgano involuntario, por esa ineptitud terrible que me impide mantener un interés sostenido y constante – un interés que vaya más allá del intercambio de información, de las preguntas que hago y las respuestas que espero y las crónicas que redacto con esas respuestas –. (Vásquez 2004: 333)

Seine sozialen Kontakte dienen ihm nur als Informant*innen für seine journalistischen Zwecke. Das hat wiederum zur Folge, dass ihm selbst auch andere den Rücken zukehren und sich nicht längerfristig auf ihn einlassen, so dass er am Ende alleine zurückbleibt (vgl. Vásquez 2004: 333 f.). Bei seinem Vorgehen stellt er sein Buchprojekt und dessen Erfolg über alles: „Lo había utilizado [a mi padre]: me había aprovechado, para mis propios fines exhibicionistas o egocéntricos, de lo más terrible que había sucedido en su vida“ (Vásquez 2004: 323). Zudem agiert er egozentrisch und narzisstisch, wenn er aus den Verbrechen des eigenen Vaters in der Vergangenheit Kapital schlägt und sich als den aufklärerischen, versöhnlichen Sohn inszeniert. Das wird ihm auf der einen Seite vorgeworfen („Una de las primeras reseñas del libro lo acusaba, o me acusaba a mí, de una mezcla deplorable de narcisismo y exhibicionismo“

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(Vásquez 2004: 321)), auf der anderen Seite wird ihm das auch selbst schmerzlich bewusst: „En ese momento no fui más que un narciso, sublimado por el falso prestigio de la letra de imprenta, es cierto, pero narciso al fin y al cabo. Divulgar la desgracia de mi padre no era más que una sútil, renovada traición“ (Vásquez 2004: 323). Die Furcht, bei seinen Recherchen möglicherweise nicht alles bedacht zu haben sowie die Gewissheit, selbst nur als Berichterstatter zu fungieren, lassen ihn daher im Vorfeld eines, den Roman abschließenden, Gesprächs mit Enrique Deresser, einem tatsächlichen Zeitzeugen, am Schriftstellerberuf sowie seiner sich selbst auferlegten Berufung, die Wahrheit über die Vergangenheit seines Vater herauszufinden, zweifeln: [Y]o sólo había redactado un informe, mientras que él [Deresser] lo había vivido: de nuevo la superioridad de los hombres vivos sobre nosotros, los simples habladores, los cuentacuentos, los comentaristas; nosotros, en fin, los que nos dedicamos al oficio cobarde y parasitario de referir las vidas de los demás. (Vásquez 2004: 336 [Herv. i. O.])

Die Autorfigur, die sich den Leser*innen in Los informantes präsentiert, ist die des jungen aufstrebenden Schriftstellers, der über eine umfassende literarische Bildung verfügt und durch das Renommee seines Vaters theoretisch beste Startbedingungen im literarischen Feld besitzt. Der Rufverlust des Vaters ist es jedoch, der den ambitionierten Neuling in der Realität dazu zwingt, den eigenen, dem Vater gleichen Namen, wieder positiv aufzuwerten sowie sich mittels einer Distanzierung von den Taten seines Vaters einen eigenen Namen zu machen. Diese Zielsetzung lässt ihn bei der Realisierung seines Buchprojektes äußerst hartnäckig und nicht selten eigennützig agieren. Sein übertriebener investigativer Eifer lassen ihn ethische und moralische Grenzen übersehen. Zwar meldet sich an mehreren Stellen des Romans sein Gewissen in Form von (Selbst-) Zweifeln an seiner schriftstellerischen Arbeit, seiner sich auferlegten Aufgabe und Verantwortung sowie seiner Rolle in der Gesellschaft zu Wort (vgl. Ardila Jaramillo 2015: 240). Sie halten ihn aber nicht davon ab, seinen eigenen Interessen oberste Priorität beizumessen. Bei den Leser*innen bleibt somit am Ende das Autorbild eines durchaus befähigten und auf dem weltliterarischen Parkett bewanderten Schriftstellers zurück, dem es jedoch an Sensibilität und Feingefühl im Umgang mit seinem dokumentarischen Material sowie seinen Zeitzeug*innen mangelt, so dass der „Wahrheitssucher […] in die Falle des selbstgerechten Moralisten läuft“ (Becker 2010).

4.3 Juan Gabriel Vásquez – Aus dem Schatten Gabriel García Márquez’

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4.3.2.4 Lesbarkeit, Übersetzbarkeit und Stil von Los informantes Der Umstand, dass Vásquez’ Roman Los informantes in einem spanischen Verlagshaus erschien und damit zunächst für den spanischen Markt zugänglich war sowie die Tatsache, dass der Roman in rund 16 Sprachen übersetzt wurde, verleitet zu der Annahme, dass es sich bei dem Roman um ein auf ein internationales Lesepublikum ausgerichtetes Buch handelt. Inwiefern diese Hypothese zutreffend ist, gilt es nachfolgend zu überprüfen. Wenn der Handlungsort als Indikator genommen wird, kann festgestellt werden, dass geografisch gesehen, mit Ausnahme des kurzen Berichts Gutermans über die Hintergründe ihrer Flucht aus Deutschland, Kolumbien als zentraler Schauplatz des Romans fungiert. Der Großteil der gegenwärtigen Handlung ist in der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá verankert. Die den Roman abschließenden Passagen tragen sich in Medellín zu, wie beispielsweise der Versuch Santoro seniors, sich kurz vor seinem Tod beim Sohn seines Freundes für seine Taten in der Vergangenheit zu entschuldigen oder auch die letzten Nachforschungen Santoro juniors auf den Spuren des Vaters. Die in der Vergangenheit stattfindenden Episoden, das heißt in den 1940erJahren, sind in Duitama und Fusagasugá, eher unbekannten kleineren kolumbianischen Städten, lokalisiert. Während sich Gutermans Familie in Duitama niederließ, wo ihr Vater ein Hotel gründete, ist ebenso in Fusagasugá ein Hotel, das als Internierungslager für die auf den schwarzen Listen genannten Kollaborateur*innen mit den Achsenmächten umfunktioniert wurde, der Handlungsort. Vor diesem Hintergrund ist es umso überraschender, dass, obwohl die Handlung des Romans primär in Kolumbien spielt, kaum regionale Spezifika auftauchen oder etwa sprachliche Eigenheiten und Wendungen der kolumbianischen Varietät des Spanischen auffindbar sind. Stattdessen kann festgehalten werden, dass der Roman in einem ‚neutralen‘ Spanisch verfasst wurde, dessen kolumbianischer Ursprung bei der Lektüre nicht ausmachbar ist. Da Los informantes nicht in einem kolumbianischen Verlag veröffentlicht wurde, sondern in einem spanischen Verlagshaus, das noch dazu multinational ist, kann davon ausgegangen werden, dass sich das den Roman redigierende Lektorat zunächst vorrangig am spanischen Buchmarkt und damit auch an einem kastilisches Spanisch sprechenden Lesepublikum orientierte. Zugleich muss beachtet werden, dass Vásquez zum Zeitpunkt des Erscheinens von Los informantes bereits mehr als acht Jahre im Ausland gelebt hatte, was erwiesenermaßen ebenso zu Veränderungen in seinem Sprachgebrauch führte: „Todo escritor expatriado sabe lo difícil que es mantener un vínculo nutricio con su propia lengua, percibir los cambios sutiles de acento, los nuevos giros, la creatividad espontánea del habla que sigue manifestándose en el país que se dejó atrás“ (Aínsa 2012: 141). Vásquez hebt selbst hervor, dass in

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der Folge seiner wechselnden Wohnorte (Frankreich, Belgien und Spanien), seiner damit verbundenen geografischen Distanz zu Kolumbien sowie seinem Interesse an anglophoner Literatur, seine literarische Sprache und damit auch seine Muttersprache, das Spanische, an ‚Reinheit‘ verlor (vgl. Hollanda Cavalcanti 2013: 238 [Vásquez]). Diese Aussage steht im Widerspruch dazu, dass in Los informantes keinerlei sprachliche Mischformen vorzufinden sind, sondern der Roman vielmehr in einem standardisierten beziehungsweise neutralisierten Spanisch verfasst wurde, dessen spezifische regionale Herkunft unerkennbar bleibt. Die Einflüsse des Französischen, Englischen und kastilischen Spanisch spiegeln sich in Vásquez’ Schreibstil folglich weniger auf der Ebene der Lexik, sondern vielmehr in der Satzstruktur und Erzählweise von Los informantes wieder, was schwieriger nachvollziehbar ist. Während Vásquez aus dem Französischen die Möglichkeit, lange, komplexe Sätze zu konstruieren, übernahm, ist seine sprachliche Präzision auf das Englische zurückzuführen (vgl. Hollanda Cavalcanti 2013: 239 [Vásquez]). Dennoch kann Vásquez unterstellt werden, dass er mit der Entscheidung für das Schreiben in einem von regionalen Markierungen ‚bereinigten‘ Spanisch von Anfang an sprachliche Barrieren vermied, die eine spätere Übersetzung des Romans erschwert hätten: „From the moment an author perceives his ultimate audience as international rather than national, the nature of his writing is bound to change. In particular one notes a tendency to remove obstacles to international comprehension“ (Parks 2016). Das ist ein Beleg dafür, dass es sich bei Los informantes um einen Roman handelt, der der von Rebecca L. Walkowitz als born translated bezeichneten Literatur, zugerechnet werden kann. Nicht nur die Übersetzung von Los informantes wurde vermutlich durch die Wahl eines neutralen, standardisierten Spanisch vereinfacht, sondern schon die Publikation in einem spanischen anstelle eines kolumbianischen Verlages begünstigte die Zirkulation innerhalb der spanischsprachigen Welt: „[P]ara un latinoamericano, publicar en las editoriales españolas no significa una invasión bárbara o un acto de traición, sino la única forma de escapar de sus jaulas nacionales y de ser leídos en los demás países de la región“ (Volpi 2010: 4). Somit können hinter dieser Entscheidung letztlich auch kommerzielle Interessen Vásquez’ vermutet werden (vgl. Trujillo et al. 2016: 18). Hinter der Übernahme von Elementen und Stilmitteln anglophoner sowie frankophoner Literaturen kann zudem der Versuch Vásquez’ gesehen werden, sich in eine übernationale Literaturtradition einzuschreiben, um sich so mithilfe der Imitation gängiger Muster einen direkten Zugang zur World Republic of Letters zu verschaffen. Das scheint ihm, zumindest wenn es der Literaturpresse nach zu urteilen geht, geglückt zu sein, so titelt die österreichische Tageszei-

4.3 Juan Gabriel Vásquez – Aus dem Schatten Gabriel García Márquez’

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tung Der Standard: „Der kolumbianische Schriftsteller schreibt faszinierende Weltliteratur“ (Zeyringer 2018). Analog dazu sind in Los informantes, trotz klarer Bezüge zu Jorge Luis Borges, ebenfalls Einflüsse des nordamerikanischen Schriftstellers Thomas Pynchon wie auch des deutschen Schriftstellers W.G. Sebald auffindbar, wie sie Jasper Vervaeke in seinem Aufsatz „Una mirada en los abismos de la historia. La impronta de Pynchon, Borges y Sebald sobre Los informantes de Juan Gabriel Vásquez“ (2012) herausarbeitet. Des Weiteren sind Parallelen zu dem US-amerikanischen Literaten Philip Roth und dem spanischen Schriftsteller Javier Marías ausmachbar, die sich in ihren Romanen ebenso mit den Verflechtungen von Politik und Privatem beschäftigen (vgl. Furió 2015). Bei der Verarbeitung ‚fremder‘ literarischer Einflüsse und Stoffe handelt es sich um ein legitimes Vorgehen von Schriftsteller*innen, die durch die Veränderung und Weiterentwicklung bereits existenter literarischer Materialien sich selbst sowie ihre eigenen Schreibstile erfinden: „El buen escritor es un saqueador, un violador de temas, de estructuras, de estilo. El que se las da de original no demuestra más que su infinita ignorancia de todo lo que hay bajo el sol y de todos los muertos que antes de él han corrido bajo los puentes“ (Aristizabal 2005: 124). Bei Vásquez zeigt sich das insofern, als dass er bei der Auseinandersetzung mit dem ihm ‚eigenen‘, bekannten Gegenstand, nämlich Kolumbien und der kolumbianischen Geschichte, externe, nicht der kolumbianischen Literaturgeschichte zugehörige Elemente heranzieht und diese weiterverarbeitet (vgl. Vervaeke 2012: 30). Demzufolge manifestiert sich Vásquez’ fehlende Zugehörigkeit, bedingt durch das Verlassen seines Herkunftslandes sowie zahlreiche Umzüge, sowohl auf inhaltlicher als auch stilistischer Ebene von Los informantes (vgl. Vervaeke 2012: 30). Darüber hinaus sollten die vielzähligen Verweise auf die römische und griechische Antike und ihre großen Redner von Cicero, Herodot, Demosthenes, Aischines, Vergil, Platon bis hin zu Caesar, aber auch die Bezüge zu Philosophen wie zum Beispiel Nietzsche, auf die die Leser*innen während der Lektüre von Los informantes stoßen, nicht unerwähnt bleiben. Obschon es sich bei Los informantes nicht um einen philosophischen Text im engeren Sinne handelt und die Referenzen zu den Rhetorikern und der antiken Redekunst auf die Profession der Romanfigur Santoro seniors und deren Wissen zurückzuführen sind, lässt es sich nicht von der Hand weisen, dass Vásquez hiermit, wie unbeabsichtigt oder geradezu beiläufig, sein humanistisches Bildungsgut zur Schau stellt (vgl. Vervaeke 2018: 193). Selbst wenn er mit seinem profunden Wissen über das klassische Altertum den einen oder die andere philosophiebegeisterte*n Leser*in beeindrucken mag, läuft Vásquez damit die Gefahr, dass sein Text für all die anderen Leser*innen stellenweise zu gelehrt und kultiviert erscheint.

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Die wiederholten Bezugnahmen im Roman auf das griechisch-römische Altertum, genauer gesagt auf dessen große Persönlichkeiten, können als ein Zeichen für Vásquez’ Bestreben gelesen werden, an die westliche Kulturgeschichte anzuknüpfen. Die Abkehr von lokaler oder gar lateinamerikanischer Kulturtradition und stattdessen die Entscheidung für international ‚Bekanntes‘ spricht aufs Neue dafür, dass Vásquez zu den Verfechter*innen einer ‚globalen‘ Literatur zählt: „[T]hey avoid references to the intricacies of their own cultures and local literary traditions, and instead use motifs and narrative strategies familiar to the Western reader“ (vgl. Watroba 2018). Aufgrund der fehlenden stilistischen Eigenheiten im Text entsteht in diesem Zusammenhang der Eindruck, als verlasse sich Vásquez lieber auf allseits Bekanntes und Altbewährtes, anstatt literarisches Neuland zu betreten und sprachliche Wagnisse einzugehen. Das kann allerdings auch darin begründet sein, dass es sich bei Vásquez zum Zeitpunkt des Entstehens des Romans Los informantes noch um einen Debütanten auf dem literarischen Parkett handelte. Umso umfassender ist Vásquez’ Repertoire an erzählerischen Mitteln: Im Roman finden sich neben den Interviews beziehungsweise Tonbandaufnahmen der Gespräche mit Guterman, die einem Verhör gleichen, Briefe, die die Korrespondenz der Familie Deresser bezeugen, auch die Transkription des Fernsehinterviews, in welchem die dunkle Vergangenheit Santoro seniors zutage trat. Während diese verschiedenen Formate dem Roman einen sachlich-journalistischen Charakter verleihen, zeichnet sich Vásquez’ Erzählstil in Los informantes durch beobachtungs- und beschreibungsgenaue Passagen aus. Das wird deutlich bei dem ausdrucksstarken und mit allen Sinnen erfahrbaren Porträt, das der Erzähler von Los informantes von der kolumbianischen Metropole zeichnet, zu welcher er eine Hassliebe pflegt: Soporté el hedor de los hatos ganaderos, soporté la niebla fría de los páramos y también la violencia del descenso siguiente, la explosión en la nariz de los olores agresivos y el ataque plateado de los yarumos y el escándalo de los canarios y los cardenales, y soporté, al atravesar el Magdalena – ese río sin pescadores y sin atarrayas, porque ya no hay bocachicos –, el calor estupefaciente y la ausencia del viento. (Vásquez 2004: 326)

Hervorzuheben ist weiterhin Vásquez’ dramaturgische Finesse und der hervorragende Aufbau des Romans. Die Handlung des Romans ist auf den ersten Blick zwar sehr verschachtelt, doch Vásquez gelingt es, trotz der unterschiedlichen Zeitebenen, die einzelnen Erzählstränge zu einem schlüssigen Ende zu führen. Vásquez’ Rekurse auf literarische Traditionen anderer Regionen sind auch als ein Versuch deutbar, aus dem Schatten Gabriel García Márquez’ zu treten, mit welchem kolumbianische Autor*innen und ihr literarisches Schaffen stets in Verbindung gebracht werden. Interessanterweise ist es gerade das Fehlen

4.3 Juan Gabriel Vásquez – Aus dem Schatten Gabriel García Márquez’

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von Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Schriftstellern, was der (internationalen) Literaturpresse sofort auffällt, so dass García Márquez’ Name trotz alledem in der Mehrheit der Rezensionen genannt wird oder sein literarisches Wirken in irgendeiner Form präsent ist. Sowohl in den US-amerikanischen, deutschen als auch englischen Medien wird immer wieder auf den großen kolumbianischen Literaten und dessen literarisches Werk verwiesen, mit dem Vásquez’ nüchterner, auf historischen Fakten beruhender Erzählstil ohne magische Elemente eindeutig kontrastiert: In sharp contrast to Mr. García Márquez’s levitating priests and very old men with enormous wings, „The Informers“ is a straight-ahead, old-fashioned narrative, though not necessarily linear. Mr. Vásquez moves back and forth between the 1980s and ’90s and the 1930s and ’40s, but shows restraint, addressing history rather than myth. He avoids unnecessary pyrotechnics, perhaps out of respect for the gravity of his subject. (Rohter 2009) Stilistisch nimmt sich Vásquez beim Erzählen eher zurück – er bleibt dem eher spröden Stil der Dokumentation verhaftet. Mit dem ‚magischen Realismus‘ seines berühmten Landsmanns Gabriel García Márquez hat Vásquez, der seit längerem in Barcelona lebt, nichts zu tun. (Maier 2010) In this dense, intricate book, he returns to the history rather than the myth of his country, examining its dark corners and the consequences of actions by characters who cannot suddenly sprout wings and fly away from their destiny, as García Márquez might have it. (Caistor 2008)

Dabei klingen die Rezensenten der New York Times, der Berliner Literaturkritik und des Guardian fast schon ein wenig enttäuscht darüber, dass in Los informantes die surrealen Effekte ausbleiben und die Figuren des Romans keine wundersamen Verwandlungen, wie beispielsweise in García Márquez’ Cien años de soledad, durchlaufen. Die Pressekommentare zeigen somit abermals die Unmöglichkeit auf, als kolumbianische*r Schriftsteller*in außerhalb Kolumbiens nicht mit García Márquez in Verbindung gebracht und mit dessen literarischer Leistung verglichen oder anhand dieser gemessen zu werden. Auffallend ist dennoch die – trotz des in der Presse dominierenden Bildes des ‚Anti-Márquez’ – durchweg positive Kritik, die Vásquez und sein Roman Los informantes ernten. Vor diesem Hintergrund kann argumentiert werden, dass, wenn Vásquez schon beim Schreiben seines Romans an eine globale Leserschaft gedacht und damit von Anfang an den internationalen Erfolg im Visier gehabt hätte, die Übernahme von Elementen und Stilmitteln des magischen Realismus in seinen Schreibstil, wahrscheinlich seine Erfolgsaussichten international verbessert hätte. Indem sich Vásquez aber bewusst von García Márquez’ Schreibstil distanzierte, entschied er sich gegen den Erfolg versprechenden, um nicht zu

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sagen, ‚einfachen‘ Weg und stattdessen für sein eigenes literarisches Projekt jenseits geläufiger und bekannter Topoi der kolumbianischen Literatur. Zwar beschäftigt sich Vásquez ebenso wie seinerzeit García Márquez mit der Geschichte Kolumbiens, jedoch unterscheidet er sich in seiner Herangehensweise sowie durch den Gebrauch anderer ästhetischer und narrativer Mittel. Neben der Auseinandersetzung mit der ‚offiziellen‘ kolumbianischen Landesgeschichte interessieren Vásquez die persönlichen, individuellen Geschichten und Schicksale ‚gewöhnlicher‘ Menschen, die er geschickt in die jeweiligen gesellschaftspolitischen Zusammenhänge einbettet (vgl. Maeseneer et al. 2013: 209). Auch in Los informantes bilden diese den Auslöser für die Romanhandlung und die Nachforschungen in der Vergangenheit. Im Unterschied zu García Márquez liegt Vásquez’ Schwerpunkt auf der umfänglichen Recherche, Dokumentation und Aufarbeitung historischer Fakten und Ereignisse, die er mit erzählerischer Genauigkeit und in journalistischer Praxis beinahe tatsachengetreu, wenn auch im Rahmen fiktionaler Erzählungen, wiedergibt. Dabei wählt er als Autor nicht die Erzählperspektive eines ‚Lokalen‘, sondern seinem persönlichen Schriftstellerkonzept des escritor inquilino entsprechend, richtet er den Blick von außen auf die historischen sowie gesellschaftspolitischen Geschehnisse im Land. Durch diesen erzähltechnischen Kniff imitiert er die Leseperspektive sowie den Kenntnisstand eines nicht mit Kolumbien vertrauten Lesers, wobei dieser Blick trotz der Auseinandersetzung mit dem zunächst ‚Unbekannten‘, zumindest in seinem Roman Los informantes, keinesfalls exotisierend ist. Darüber hinaus bietet der Roman auch für ‚kolumbianische‘ oder ‚Kolumbien affine‘ Leser*innen, die Gelegenheit, (noch) mehr über die kolumbianische Zeitgeschichte und ihre weltweiten Verflechtungen zu lernen. Diesbezüglich unternimmt Vásquez den Versuch, verschiedensten Stimmen und damit auch Betrachtungsweisen der Vergangenheit im Roman Raum zu geben, um gemeinsam mit den Leser*innen am Ende der Lektüre ‚Licht ins Dunkel‘ zu bringen: „I’m taking them [the readers] by the hand and I’m saying, let’s get into this mess together and try to understand it“ (Burnyeat 2020 [Vásquez]). In der Tat verbergen sich hinter Vásquez’ Auseinandersetzung mit scheinbar spezifisch kolumbianischen Angelegenheiten im Grunde genommen allgemeingültige Themen: „[V]ásquez encontró en la historia de su país un terreno fértil para explorar algunos de los grandes temas universales, como lo son el pasado, la memoria, la literatura y su interrelación“ (Vervaeke 2012: 30). So kann seine Form des Schreibens, genauer gesagt die Beschäftigung mit universellen menschlichen Erfahrungen, als ein gezielter Schachzug Vásquez’ gewertet werden. Durch diese Eigenschaft von Los informantes besitzt der Roman weltliterarisches Potenzial: „Um sich als exemplarisches Beispiel der Weltlitera-

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tur zu qualifizieren, muss ein Text universelle Werte vertreten, die weitgehend als politisch unfragwürdig und ideologisch neutral erscheinen“ (Schoene 2013: 360). Gegen die Hypothese, bei Los informantes handele es sich um einen für ein internationales Publikum konzipierten Roman, spricht allerdings der Umstand, dass Vásquez im Roman keinerlei Erklärungen anführt, wenn er auf historische Persönlichkeiten oder Geschehnisse der kolumbianischen Geschichte Bezug nimmt. Geradezu beiläufig bezieht er sich während der Fahrten und Spaziergänge des Erzählers durch die kolumbianische Hauptstadt sowie bei der Fahrt nach Medellín auf emblematische Ereignisse der kolumbianischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, beispielsweise den Mord am Anwalt und Präsidentschaftskandidaten Jorge Eliécer Gaitán. Letzterer gilt als Auslöser für „La Violencia“, einen zehn Jahre andauernden Bürgerkrieg: „Unos días después visité a Sara por sorpresa, la secuestré y la llevé a caminar por la carrera quinta desde su casa hasta la calle catorce, y bajamos a pie hasta el lugar donde mataron a Gaitán. Aquello había sucedido a la una de la tarde – 1948, nueve de abril, una de la tarde“ (Vásquez 2004: 291). Ebenfalls wie nebenbei verweist der Erzähler von Los informantes auf die Allgegenwart von Gewalt im öffentlichen Raum im Zusammenhang mit den Drogenkartellen in den 1980er- und 90er-Jahren hin, welche sich in zahlreichen Morden unter anderem an den Präsidentschaftskandidaten Carlos Pizarro Leongómez sowie Luis Carlos Galán niederschlugen: „¿Dónde estaba cuando mataron a Galán, a Pizarro? Pensé que era posible, en efecto, una vida regida por el lugar donde uno está cuando asesinan a otro; sí, esa vida era la mía, y la de varios“ (Vásquez 2004: 329). Auch der Name ‚Escobar‘ fällt in diesem Kontext. Doch bezieht sich dieser nicht etwa auf den weltweit bekannten kolumbianischen Drogenbaron Pablo Escobar, sondern, möglicherweise zur Überraschung der nicht informierten Leser*innen, auf den nach einem Eigentor und dem Ausscheiden des kolumbianischen Teams bei der Fußballweltmeisterschaft 1994 ermordeten kolumbianischen Fußballspieler Andrés Escobar (vgl. Vásquez 2004: 328 f.). Hier überlässt es Vásquez allerdings den interessierten Leser*innen, sich näher zu informieren und versteht es nicht als seine Aufgabe, weiterführende historische oder gar landeskundliche Informationen zu liefern. Entweder er geht davon aus, dass hispanophone Leser*innen über die notwendigen Kolumbienkenntnisse verfügen oder er betrachtet es für das Gesamtverständnis des Romans nicht als erforderlich, jene Personen und Vorkommnisse der kolumbianischen Zeitgeschichte zu kennen. Jedoch kann dies als ein klares Indiz dafür gelesen werden, dass Vásquez beim Schreiben von Los informantes zu Beginn primär eine kolumbianische und nicht etwa internationale Leserschaft im Sinn hatte, welche mit den historischen Grundlagen des Landes vertraut ist und deshalb keinerlei zusätzlicher Informationen bedarf.

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Letztere Annahme wird durch das der deutschen Übersetzung von Susanne Lange beigefügte abschließende Kapitel „Nachwort des Autors“ verstärkt, in dem Vásquez auf knapp drei Seiten „nichtkolumbianischen Lesern“ einen kurzen Abriss über die kolumbianische Verstrickung in den Zweiten Weltkrieg gibt und damit Informationen über den historischen Hintergrund des Romans liefert: „Die folgenden Zeilen sind ein Versuch, sie [die Beziehungen zwischen Kolumbien und den Kriegsparteien] nichtkolumbianischen Lesern zu erläutern“ (Vásquez 2011: 377). Ähnliches trifft für die 2009 in den USA erschienene englische Übersetzung des Romans von Anne McLean zu, welche neben einem Nachwort zusätzlich ein dreiseitiges Kapitel mit Anmerkungen enthält, in welchem den anglophonen Leser*innen in Kurzform historische Persönlichkeiten, Abkürzungen sowie kulturhistorische Informationen zur Verfügung gestellt werden (vgl. Vásquez 2009b: 349–351). Obwohl die genannten Kapitel am Ende von Los informantes und folglich nach Abschluss der Lektüre des Romans stehen, handelt es sich hierbei um Vásquez’ Bestreben, die Lesbarkeit und das Verständnis für internationale Leser*innen zu erleichtern. Es kann also festgehalten werden, dass, wenn Vásquez tatsächlich gewollt hätte, dass Los informantes für Leser*innen jedweder Herkunft und unterschiedlichsten Kenntnisstandes ohne weiteres zugänglich sein sollte, er von Anfang an diese Informationen in den Text integriert hätte. Dadurch wäre eine nachträgliche Kommentierung durch die Übersetzer*innen nicht erforderlich gewesen. Alternativ hätte er diese Angaben von Anfang an weggelassen, um den Lesefluss des Textes für nicht kolumbianische Leser*innen nicht zu bremsen. Vásquez sträubt sich folglich gegen die im US-amerikanischen und europäischen Buchmarkt lange Zeit dominante Vorstellung von lateinamerikanischen Schriftsteller*innen als Kulturbotschafter*innen, denen die Aufgabe zukommt, den nicht lateinamerikanischen Leser*innen ein Stück Zeit- und Kulturgeschichte ihrer jeweiligen Herkunftsländer zu vermitteln. Nichtsdestotrotz ist es Vásquez’ eigenes Konzept des escritor inquilino, welches wiederum an das überholte Bild des*der lateinamerikanische*n Schriftsteller*in als Kulturbotschafter*in sowie Informant*in anknüpft. So macht Vásquez es sich zur Aufgabe, bisher weitgehend unbekannte Episoden der kolumbianischen Geschichte ausfindig zu machen, diese offenzulegen, zu beschreiben, zu verstehen und letzten Endes nicht nur einem internationalen, sondern auch einem nationalen Lesepublikum zu erklären. Im Roman wird die Unmöglichkeit dieses Unterfangens, Kolumbien zu verstehen, an einer Stelle deutlich, als der Erzähler angesichts der Ermordung des

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Fußballspielers Escobar die Komplexität der Verhältnisse sowie die Bedingungen, unter denen Journalist*innen und Schriftsteller*innen ihre Arbeit verrichten, schildert: [P]ara mí lo de Escobar era un memorando […] que me enviaba el país y que subrayaba, más que la imposibilidad de entender a Colombia, lo ilusoria, lo ingenua que era cualquier intención de hacerlo escribiendo libros que muy pocos leen y que no hacen más que traer problemas a quien los escribe. (Vásquez 2004: 330 f.)

Es scheint so, als sei ein tatsächliches Verstehen des Landes, auch zur persönlichen Sicherheit, nur mit ausreichend zeitlicher und geografischer Distanz möglich, was wiederum Vásquez’ Migrationsentscheidung erklärt, welche den Grundstein für sein Konzept des escritor inquilino legte. Nach sorgfältiger Abwägung der verschiedenen Argumente hat sich herauskristallisiert, dass es sich bei Los informantes keinesfalls, wie zu Beginn angenommen, um einen primär für eine internationale Leserschaft konzipierten und damit ‚exportorientierten‘ Roman handelt. Obwohl sich Los informantes durch zahlreiche Elemente, allen voran den Gebrauch eines neutralen, einfach zu übersetzenden Spanisch, auszeichnet, die gemeinhin als charakteristisch für eine ‚globale Literatur‘ oder aber für die sogenannte born translated-Literatur gelten können, finden sich ebenfalls Elemente im literarischen Text wieder, die gegen eine solche Einordnung sprechen. Insofern steht es außer Frage, dass Vásquez mit seiner Entscheidung für die Abhandlung eines scheinbar nur kolumbianische Leser*innen tangierenden Themas sowie einer Abkehr von einem Schreiben in der Tradition García Márquez’, das sich noch immer großer internationaler Beliebtheit erfreut, einer massentauglichen, globalisierfähigen Literatur eine Absage erteilt. Doch genauso wenig handelt es sich bei Los informantes um einen der ‚lokalen Literatur‘ zuzuordnenden Roman, der außerhalb seines ursprünglichen Entstehungskontextes aufgrund zahlreicher kultureller und historischer Referenzen sowie sprachlicher Eigenheiten nicht verständlich ist. Stattdessen liegt Vásquez’ Kunst darin, eine Balance zwischen diesen beiden Extremen zu finden, denn die Handlung des Romans und die Art und Weise von Vásquez’ Erzählen sprechen bestenfalls dafür, dass es sich bei Los informantes um einen glokalen Roman handelt. So sind es die globalgeschichtlichen Verflechtungen, die Auswirkungen auf einen lokalen, persönlichen Vorfall haben, welcher letztlich keinesfalls genuin kolumbianisch ist, sondern universale Themen von globaler Bedeutung verhandelt. Genau in diesem Mittelweg liegt letztlich das weltliterarische Potenzial des Romans verborgen.

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4.4 Rita Indiana – Je marginaler desto zentraler […] Indiana bien podría considerarse heredera de los escritores del „boom“, con quienes admite compartir el „referente social“, sobre todo con García Márquez. Lo que no tiene en común con ellos […] es la „comodidad que tenían para moverse por el mundo, porque eran hombres, eran blancos, tuvieron muchísima más libertad […]“. (Martín Rodrigo 2018)

Die auf globaler Ebene dominanten Repräsentationen und Vorstellungen von der Dominikanischen Republik changieren zwischen dem aus Reiseprospekten bekannten karibischen ‚Urlaubsparadies‘ und der ‚dunklen‘ Vergangenheit der Insel während der Herrschaft des Präsidenten und Diktators Rafael Trujillo. Der literarische Reichtum der Insel bleibt dagegen, abgesehen von denjenigen literarischen Texten, die auf Englisch in der Diaspora geschrieben und publiziert werden, für die Mehrheit unsichtbar (vgl. Bustamante 2017). Gerade in Deutschland, den Niederlanden und Belgien beschränkte sich das Repertoire an Übersetzungen von literarischen Texten dominikanischer Provenienz bis vor Kurzem auf diejenigen Autor*innen, die auf Englisch veröffentlichten (Maeseneer 2016: 38), allen voran der US-amerikanisch-dominikanische Schriftsteller Junot Díaz54. Die spanischsprachige Literaturlandschaft der Dominikanischen Republik verschwindet in der Folge aus dem Blickfeld eines Großteils der europäischen Leser*innen. Sie repräsentiert „la periferia de la periferia caribeña“ (Maeseneer/Logie 2015: 20), ein Randgebiet der ohnehin schon wenig beachteten karibischen Literaturen.

54 Trotz ihrer größeren internationalen Sichtbarkeit wurde die englischsprachige Literaturproduktion der dominikanischen Diaspora, speziell diejenigen literarischen Texte, die in den USA verfasst wurden, lange Zeit von den auf der Insel lebenden Kulturschaffenden nicht als integraler Bestandteil der dominikanischen Literatur anerkannt (vgl. Maeseneer 2016: 34). Ursache war einerseits der Gebrauch einer anderen als der offiziellen Landessprache, was eine Übersetzung erforderlich machte, andererseits die Tatsache, dass diese literarischen Texte ihren Ursprung außerhalb der Insel hatten und nicht in landeseigenen Verlagen veröffentlicht wurden. Das allmähliche Abrücken von einer klaren Ablehnung diasporischer Autor*innen vonseiten des kulturellen Establishments steht im Zusammenhang mit der Verleihung des Pulitzer-Preises an den US-amerikanisch-dominikanischen Schriftsteller Junot Díaz 2008, der anschließend zum offiziellen Kulturbotschafter des Landes ernannt wurde. Allerdings erfolgte die nachträgliche Anerkennung Díaz’ als ‚dominikanischer‘ Autor nicht ganz uneigennützig, sondern war mit strategischen Überlegungen verbunden: „This official recuperation can be explained as a desire to use Díaz’s success for national purposes. Alternatively, and more cynically, it could be interpreted as a governmental strategy to fill the vacuum caused by authors from the island hardly known outside of it“ (Maeseneer 2016: 35).

4.4 Rita Indiana – Je marginaler desto zentraler

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Guillermina de Ferrari sieht die randständige Platzierung der karibischen Literaturen in einer World Republic of Letters darin begründet, dass sich diese primär auf der Grundlage von sprachlicher Zugehörigkeit formiere, was im Falle der Karibik dadurch erschwert werde, dass beinahe auf jeder Insel eine andere Sprache gesprochen werde. In der Folge ‚kommuniziere‘ beispielsweise die Insel Martinique in ihrer Literatur mehr mit der französischen Hauptstadt Paris als mit Puerto Rico (vgl. Ferrari 2012: 21). Rita De Maeseneer geht in ihrem Aufsatz „La recepción de la literatura dominicana en algunos países europeos (2000–2018)“ (2019) noch einen Schritt weiter, in dem sie die Literatur der Dominikanischen Republik in dreifacher Hinsicht als peripher bezeichnet. Dabei bezieht sie sich zunächst auf die spanischsprachigen karibischen Literaturen, die gegenüber den auf Kuba geschriebenen Literaturen ins Hintertreffen geraten. Auf nächster Ebene nennt sie die lateinamerikanischen Literaturen, bei denen sie die dominanten literarischen Zentren in Mexiko, Chile und Argentinien verortet, wohingegen die Dominikanische Republik wenig Aufmerksamkeit erhält. An letzter Stelle spannt sie einen Bogen zur globalen Ebene, bei der den lateinamerikanischen respektive der dominikanischen Literatur ein niedriger Stellenwert im Vergleich zu den Literaturen anderer Regionen oder „universell/westlicher“ (Ü. d. V.) Literaturen, wie sie sie nennt, zukommt (vgl. Maeseneer 2019: 372). Infolgedessen wird die dominikanische Literatur nicht als eigenständige literarische Kategorie anerkannt, sondern für gewöhnlich unter die Kategorien karibische oder lateinamerikanische Literaturen subsumiert (vgl. Maeseneer 2016: 40). Das hat zur Folge, dass die in der Rezeption von lateinamerikanischen Literaturen gängigen stereotypen Sujets, wie der Machismo oder der magische Realismus, ebenfalls auf die dominikanische Literaturproduktion übertragen werden (vgl. Maeseneer 2016: 40). In der Gegenwart können grob zwei Gruppen von dominikanischen Autor*innen unterschieden werden, deren literarische Texte verschiedene, speziell inhaltliche Ausrichtungen vorweisen. Während sich die eine Gruppe von Autor*innen aus einer eher traditionellen Perspektive spezifisch nationalen, das heißt dominikanischen Themen widmet, sind es vor allem jüngere Schriftsteller*innen, die sich gegenüber internationalen Themen öffnen: [N]ational authors could be considered those who continue to write about trujillato in a traditional way […] on the other hand, [the others] can be called international writers. Their work presents a very open-minded Dominicanness and discusses silenced and marginalized groups, such as Haitians. (Maeseneer 2016: 33 [Herv. i. O.])

Letztere Autor*innen sind es, die wegen ihrer internationalen Ausrichtung das Interesse ausländischer Verlage wecken, welche in ihren literarischen Texten das

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Potenzial für eine Kommerzialisierung über die Dominikanische Republik hinaus erkennen (vgl. Maeseneer 2016: 34). Feststeht in jedem Fall, dass es die eine dominikanische Nationalliteratur nicht gibt. Selbst wenn die Literaturproduktion des östlichen Teils der Insel Hispaniola in der internationalen Rezeption lange Zeit nur auf Themen wie karibische Musik und die Herrschaft Trujillos reduziert wurde, sind die literarische Landschaft der Dominikanischen Republik sowie auch die in ihr verhandelten Themen und Ästhetiken als äußerst vielseitig zu betrachten (vgl. Maeseneer 2016: 41), wofür die nachfolgende Analyse einen eindeutigen Beleg liefert.

4.4.1 Extraliterarische Analyse 4.4.1.1 Biografischer Abriss Eine Schriftstellerin, die aktuell dabei ist, das literarische Panorama der Dominikanischen Republik zu verändern, ist die 1977 in Santo Domingo, der Hauptstadt des Landes, geborene Rita Indiana Hernández. Sie macht es sich zur Aufgabe, die „Bananenmauer55“ (Siguenza 2019 [Indiana] [Ü. d. V.]), die die karibische Insel umgibt, zu durchbrechen. Ihr dritter Roman Tentakel, im Original La mucama de Omicunlé, ist im Frühjahr 2018 erstmals in deutscher Übersetzung im Verlag Klaus Wagenbach erschienen. Indiana erfuhr zunächst weniger wegen ihrer literarischen Texte, die nur eine geringe Auflage und damit Reichweite hatten, sondern vor allem wegen ihrer musikalischen Karriere international Aufmerksamkeit. Sie wurde 2017 als erste spanischsprachige Autorin mit dem Gran Premio de Literatura de la Asociación de Escritores del Caribe ausgezeichnet und wird zwischenzeitlich durch den spanischen Verlag Periférica verlegt. Bei Periférica handelt es sich um ein Verlagshaus, das abseits der kulturellen Zentren Spaniens, in Cáceres, Extremadura, mehr Offenheit für literarische Projekte und Innovationen der Peripherie – entsprechend des Namens – demonstriert, und auf diese Weise ein neues Licht auf jene Regionen und ihre Literaturen wirft (vgl. Maeseneer 2016: 32). Inwiefern Indiana sich gezielt für den Verlag entschied beziehungsweise in Bezug auf ihre Veröffentlichung vor der Wahl zwischen einem unabhängigen Kleinverlag und einem transnationalen Multikonzern stand, kann nicht abschließend beantwortet werden: „¿Qué interesa más, pasar desapercibido en una edito-

55 Mit dieser Bezeichnung spielt Indiana auf das dominante Image der Dominikanischen Republik als einer der größten Anbieter und Exporteure weltweit von Bananen an.

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rial potente o fichar por un sello independiente que trate con mimo tu obra y se esfuerce en su promoción?“ (Díaz de Quijano 2016a). Dennoch spricht Indiana sich durch die Publikation ihrer literarischen Texte in einem unabhängigen Verlag gegen die Homogenisierungsbestrebungen der transnationalen Verlage aus. Diese locken zwar Schriftsteller*innen kurzfristig oft mit einem höheren Honorar, längerfristig laufen Nachwuchsautor*innen aber die Gefahr, in der Masse an jährlichen Neuerscheinungen unterzugehen. Überdies sind sie nicht selten dazu gezwungen, sich an die Wünsche der Leser*innen und den damit verbundenen Forderungen von Verlagsseite anzupassen (vgl. Gallego Cuiñas 2014: 3). Zugleich leisten Verlagshäuser wie Periférica einen Beitrag zur Bibliodiversität, indem sie auch literarische Werke jenseits des Mainstreams, zu denen Indianas Bücher definitiv zählen, veröffentlichen, für die es im Programm der multinationalen Verlagskonsortien im Allgemeinen keinen Platz und vor allem keine Nachfrage gibt (vgl. León 2016a). Erwähnenswert ist des Weiteren, dass Indianas literarisches Werk, obwohl es in einem unabhängigen spanischen Verlag publiziert wird, sowohl in Spanien als auch Lateinamerika zirkuliert, was wiederum Ana Gallego Cuiñas These widerspricht, dass sich die Zirkulation von Schriftsteller*innen, die in unabhängigen (nationalen) Verlagen verlegt werden, auf das regionale Umfeld beschränke (vgl. Gallego Cuiñas 2014: 3). Indiana genießt noch dazu eine Sonderrolle, da sie die einzige dominikanische Autor*in ihrer Generation ist, die in Spanien verlegt wird (vgl. Bustamante 2017). Doch wer ist „La Mo(n)stra“, zu Deutsch etwa die Monsterin, wie Indiana von ihren Fans genannt wird? Wer verbirgt sich hinter der Person, die die spanische Tageszeitung El País im Jahr 2011 als eine der hundert einflussreichsten lateinamerikanischen Persönlichkeiten ernannte (vgl. El País 2017) und die sie gleichzeitig als „eine der explosivsten literarischen Entdeckungen“ (Rodríguez 2011 [Ü. d. V.]) auswählte? Um welche ‚Art‘ von Schriftstellerin handelt es sich bei ihr und wo ist sie in der gegenwärtig geführten Debatte um das Konzept Weltliteratur zu verorten? Sängerin, Musikproduzentin, Werbetexterin, Performancekünstlerin, kritische Stimme der Dominikanischen Republik, Kolumnistin, queere Ikone … Keine der genannten Facetten wird dem, was die Dominikanerin tatsächlich repräsentiert und verkörpert, vollkommen gerecht. So überschneiden und vermischen sich ihre Fähigkeiten und Vorlieben stets aufs Neue und auf verschiedenste Weise. Nicht grundlos wird ihre Persönlichkeit als ‚chamäleonartig‘ beschrieben (vgl. Maeseneer 2013: 156): „[L]a polifacética artista dominicana-caribeña, ‚camaleónica‘, ‚figura del arte dominicano alternativo‘, ‚diva del electro merengue‘, ‚pop star‘“ (Bustamante 2017). Indiana ist ‚alles‘ und eine in jedem Sinne vollkommene Künstlerin.

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Eine Zuordnung nur zu einem einzigen all jener Bereiche widerspricht ihrer Ablehnung gegenüber jeglicher Art der Kategorisierung oder Etikettierung. Handelt es sich hierbei doch um Prozesse, denen sie vonseiten der Öffentlichkeit und Literatur- beziehungsweise Musikkritik während ihrer gesamten Karriere ausgesetzt war und ist: „Labels exist cause they have a function. I’m uncomfortable with them anyways because I’ve been dealing with labels all my life. Tomboy, headbanger, weirdo or lesbian, underground, celebrity. Labels are caricatures“ (Alamo 2013 [Indiana]). Ebenso zuwider ist ihr ein Denken in Schubladen hinsichtlich der geografischen Zuordnung von Literaturen, in ihrem Fall den karibischen Literaturen. Dieses ermögliche ihrer Meinung nach zwar eine Schematisierung von Literaturen aus einer bestimmten Region, werde aber im Kontext der karibischen Literaturen keineswegs deren Heterogenität gerecht: „Las etiquetas existen porque son útiles para la academia, el bibliotecario o la publicidad. Definitivamente existe una literatura caribeña, pero no es un paquete homogéneo“ (Peguero Isaac 2015 [Indiana]). Genauso unbeständig wie ihre Beschäftigungen und vielfältig wie ihre Identitäten sind und waren auch ihre Wohnorte. Der Lebensstil, den Indiana verkörpert, erinnert an die „condición nomádica“ (Aínsa 2012: 80), den nomadischen Zustand, der laut Fernando Aínsa eine der zentralen Eigenschaften gegenwärtiger lateinamerikanischer Literaturschaffender darstellt. 1977 in Santo Domingo, der Hauptstadt der Dominikanischen Republik, geboren, verbrachte sie bereits in ihrer Kindheit und Jugend mehrere Jahre in New York, USA, wohin ihr Vater migriert war (vgl. CCCB Centre de Cultura Contemporània de Barcelona 2011): „A los 14 años se mudó a Nueva York, donde hizo vídeos, performances y camas en un hotel“ (Sancho 2011 [Herv. i. O.]). Später lebte sie für einige Zeit in Miami. Indiana besuchte eine katholische Schule in Santo Domingo und begann im Anschluss ein Kunstgeschichtestudium an der Universidad Autónoma de Santo Domingo, das sie nie abschloss. Ebenso verließ sie auch die Hochschule für Design Altos de Chavón wieder (vgl. CCCB Centre de Cultura Contemporània de Barcelona 2011). Die USA waren es auch, die sich etliche Jahre später für sie und ihre Electro Merengue Band Rita Indiana y Los Misterios als ‚Sprungbrett‘ für ihre internationale Karriere als Musikerin erwiesen (vgl. Terhaar 2016). Auf dem Gipfel ihres musikalischen Erfolges und nach mehreren internationalen Konzertauftritten, entschied sie sich für den Rückzug aus der medialen Öffentlichkeit und gab die Musik Ende 2011 vorerst auf (vgl. Venegas 2015). Seit 2009 lebt sie in San Juan, Puerto Rico mit ihrer Partnerin und ihren Kindern, von wo aus sie 2020 auch ihr musikalisches Comeback verkündigte.

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In der internationalen Presse hält sich das hartnäckige Gerücht, dass Indiana in ihrer Jugend zeitweise als Model arbeitete (vgl. Martínez Caicedo 2013; Peguero Isaac 2015; Sancho 2011; Terhaar 2016). Hierbei handelt es sich vermutlich um einen Marketinggag ihrer Plattenfirma, denn Indiana dementierte diese Spekulation persönlich in einem Presseinterview: „‚No sé por qué se inventaron eso. Lo curioso es que nadie jamás me pregunta por lo de ser modelo, pero luego lo escriben igualmente‘“ (Sancho 2011 [Indiana]). An dieser Stelle zeigt sich deutlich, dass einzig die Autoreninterviews den Schriftsteller*innen die Möglichkeit bieten, ihr in den Medien kursierendes Autorbild selbstständig zu beeinflussen oder wie im Falle Indiana dieses gegebenenfalls zu korrigieren (vgl. Amossy 2014: 70) Des Weiteren kursiert ein Bild Indianas als rebellische, Skateboard fahrende Jugendliche in den Medien, die sich schon früh für Literatur begeisterte: „En los años 90 era una jovencita que soñaba con ser escritora. Rodaba por las calles de Santo Domingo a bordo de un skateboard, llevaba piercings en las cejas, escuchaba música heavy metal y escribía cuentos que luego publicaba en una revista literaria“ (Peguero Isaac 2015). Inwiefern es sich wieder nur um eine erfundene biografische Anekdote handelt, ist nicht erwiesen. Feststeht jedoch, dass jene Beschreibung Indianas sehr der achtjährigen Protagonistin ihres Romans Papi (2005) ähnelt, welche ebenso die Straßen Santo Domingos sowie ihr eigenes Stadtviertel mit dem Skateboard erkundet (vgl. Indiana 2011: 148–154). Ferner fällt auf, dass sich Print- und Onlinemedien wie beispielsweise die kolumbianische Tageszeitung El Espectador, die spanische Tageszeitung El Periódico oder die venezolanische Tageszeitung El Nacional zunächst weniger für ihre literarischen Texte, sondern mehr für ihre äußere Erscheinung sowie ihr Auftreten in der Öffentlichkeit interessieren. In diesem Kontext scheut sich die Presse nicht, dieses zu bewerten oder in einen Zusammenhang mit ihrem literarischen Stil zu bringen: „[Indiana] [m]ide más de un metro noventa y sus palabras trasmiten una entereza que su físico quebradizo no tiene“ (Hevia 2011). Der Hauptfokus liegt dabei auf Anspielungen auf ihre Körpergröße: „En una ocasión le preguntaron: ¿Quién es Rita Indiana? Ella contestó – estirando la última palabra como una cinta elástica –: ‚Rita Indiana es una mujer altísima‘“ (Peguero Isaac 2015). Da Indiana überdurchschnittlich groß ist, sind einerseits Vergleiche mit dem US-amerikanischen Basketballspieler Michael Jordan zu finden (vgl. Peguero Isaac 2015), andererseits verlieh diese Tatsache aber auch dem bereits erwähnten Gerücht um ihre scheinbare Modelkarriere mehr Gewicht: „Rita Indiana – Santo Domingo (1977), pelo corto, ojos vivarachos, manos gráciles – fue modelo durante un tiempo […]“ (Peguero Isaac 2015). Indianas Erscheinungsbild und Modestil sind es, die ihr den Beinamen „La Mo(n)stra“ eingebracht haben, womit auf ein Wesen verwiesen wird, das weder

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männlich noch weiblich ist: „In Latin America, she was called ‚La Mostra‘ because of her diverse collection of talents and her tall, masculine-chic appearance“ (Terhaar 2016). Darüber hinaus schreckt die Presse auch vor abschätzigen bis hin zu beleidigenden Bemerkungen hinsichtlich Indianas eher androgynen Looks nicht zurück: Rita Indiana no es guapa a primera vista. Con su cabello corto y sus rasgos duros y ásperos, como el que ha recibido golpes desde pequeño, no es la clase de mujer que te llama la atención en la calle. No voltearías a contemplarla mientras se desaparece por la calle envuelta en aquella ropa recia y varonil que no es más que un reflejo de su carácter. (El Nacional 2015)

Äußerungen solcher Art, die auf den ersten Blick belanglos erscheinen, spiegeln den in der Publizistik und im Literaturbetrieb vorherrschenden Sexismus wider. Das Äußere eines Schriftstellers ist nicht weiter von Belang, während über das Erscheinungsbild von Schriftstellerinnen häufig öffentlich und heftig debattiert wird und dieses in Bezug zu ihrem Schreiben gesetzt wird. In der besagten Rezension in der venezolanischen Tageszeitung El Nacional wird zwar im Laufe des Textes die einleitende Aussage über Indiana relativiert, indem darauf verwiesen wird, dass Indianas wahre Qualitäten an anderer Stelle zu finden sind: „Es el segundo vistazo que te hace verla guapa a segunda vista. Porque leyéndola descubres que ese carácter áspero que reluce en su rostro atraviesa como bisturí las fallas de su propia patria“ (El Nacional 2015). Dennoch handelt es sich bei der Relativierung, nach dem Motto ‚wahre Schönheit kommt von innen‘, um äußerst abwertende Worte gegenüber der Schriftstellerin. Selbst wenn triviale Kommentare, wie der genannte, primär als Aufhänger zur Vorstellung beziehungsweise besseren Vermarktung von Autorinnen benutzt werden, die der eigentlichen Werkbesprechung vorausgehen, geben sie letztlich keinerlei relevante Auskunft über das literarische Können von Schriftstellerinnen und die literarische Qualität ihrer Werke. 4.4.1.2 Einstieg in den Literaturbetrieb Indiana begann ihre literarische Laufbahn schon früh, zunächst mit Lyrik und Erzählungen, die sie zu Beginn in geringer Auflage in subkulturellen Zeitschriften publizierte und später in den beiden Erzählbänden Rumiantes (1998) und Ciencia Succión (2001) veröffentlichte. Inzwischen längst vergriffen, wurden letztere beiden sowie einige ihrer Gedichte und die Performance Azucal 2017 erneut unter dem Titel Rita Indiana. Cuentos y Poemas 1998–2003 bei dem alternativen dominikanischen Verlagsprojekt Ediciones Cielonaranja herausgegeben.

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Lange Zeit galt Indiana als Geheimtipp der alternativen Literaturszene der spanischsprachigen Karibik, wo sie rasch zur Kultfigur avancierte: „[U]n símbolo de la literatura underground hecha en Las Antillas“ (Europa Press 2011 [Herv. i. O.]). Zwischenzeitlich umfasst ihr literarisches Werk bereits mehr als sechs Bücher. Ihren ersten Roman La estrategia de Chochueca gab zunächst kein Verlag heraus, sondern Indiana machte ihn der Öffentlichkeit mittels Fotokopien zu einem erschwinglichen Preis zugänglich, bevor er im Jahr 2000 bei Riann Ediciones und drei Jahre später von dem puerto-ricanischen Verlag Isla Negra Ediciones veröffentlicht wurde (vgl. Bustamante 2017). Durch den eigenständigen Druck und die direkte Weitergabe an potenzielle Leser*innen, das heißt, die Entscheidung für nicht konventionelle Vertriebswege, umging Indiana die Einstiegsschranken des literarischen Feldes und widersetzte sich der Logik des kommerziellen Literaturmarktes, in dem nur diejenigen Zugriff auf Literatur erhalten, die dafür bezahlen (vgl. Bencomo 2006: 23). Damit verschrieb sie sich der ‚lokalen Literatur‘, das heißt einer Produktion ihrer literarischen Texte abseits der regulären Strukturen eines globalen Buchmarktes sowie einer Distribution und Zirkulation ihrer Texte auf alternativen Kanälen (vgl. Gallego Cuiñas 2014: 3). Wenngleich der offizielle dominikanische Kultursektor kein Wort darüber verlor, blieb die Veröffentlichung ihres Erstlingswerks in der dominikanischen Literaturszene nicht ohne positives Echo. Dennoch wurde auch Indianas zweiter Roman Papi erneut im Ausland, 2005 in Puerto Rico, bei dem Verlag Ediciones Vértigo, veröffentlicht (vgl. Maeseneer 2013: 156). Erst fünf Jahre später wurde die dominikanische Version bei dem Verlag Premium neu aufgelegt, ein Jahr vor der Herausgabe des Romans auf der anderen Seite des Atlantiks im spanischen Verlag Periférica. Weitere fünf Jahre später, 2016, erschien Indianas erste Übersetzung ins Englische durch den US-amerikanischen Verlag University Chicago Press. Mit der ersten Übersetzung fand die internationale Wahrnehmung und Auseinandersetzung mit ihrem literarischen Werk im nicht spanischsprachigen Ausland ihren Ausgangspunkt: „Translation […] enables the international reception of literary texts“ (Venuti 2014: 180). Der Übersetzung ins Englische folgten 2017 die italienische Version von Papi im Verlag NN Editore sowie ein Jahr später die norwegische Übersetzung beim Verlag Solum Forlag. Gemessen an den Kriterien, die Gisèle Sapiro als ausschlaggebend für eine internationale Anerkennung von Nachwuchsschriftsteller*innen ‚ohne‘ eigenen Namen anführt und mit der bestenfalls eine Übersetzung einhergeht (vgl. Sapiro 2016b: 8), überrascht es, dass Indiana zu diesem Zeitpunkt weder über große Mengen an symbolischem Kapital verfügte noch ihr Werk mit einem Literaturpreis dotiert war.

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Wegweisend für die Kaufentscheidung der Übersetzungsrechte ihres international noch unbekannten Werks war daher neben der ästhetischen Qualität des literarischen Textes das symbolische Kapital des Verlages, welches Sapiro als eine weitere Vorbedingung nennt (vgl. Sapiro 2016b: 8), in diesem Fall das des spanischen Verlages Periférica, bei dem Indiana zu jener Zeit verlegt wurde. Das zeigt ferner, dass Verlage, angesichts der unüberschaubaren Anzahl von jährlichen Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt, sich immer mehr an den Kaufentscheidungen anderer, ausländischer Verlage mit ähnlicher Ausrichtung orientieren (vgl. Sapiro 2016a: 88). Indianas folgende Romane Nombres y animales (2013), mit dem sie 2014 in Puerto Rico als Finalistin für den IV Premio Las Américas nominiert wurde, und La mucama de Omicunlé (2015), mit dem sie 2016 Teilnehmerin der Endausscheidung des II Premio de la Novela de Bienal Mario Vargas Llosa in Peru und des VI Premio Las Amércias de Novela in Puerto Rico wurde, erschienen beide nur noch bei dem spanischen Verlag Periférica und nicht mehr in lokalen Verlagshäusern der Großen Antillen. Damit hat Indiana das erreicht, was der mexikanische Schriftsteller Jorge Volpi als den derzeitigen Wunschtraum eines*einer lateinamerikanischen Schriftsteller*in bezeichnet: eine Veröffentlichung in einem spanischen Verlagshaus. Eine solche ist laut ihm mit einer besseren Sichtbarkeit und Zirkulation des literarischen Werks verbunden, das in der Folge bestenfalls noch mit einem spanischen Literaturpreis prämiert wird, was wiederum mit einer Reihe von Vorzügen verbunden ist. Dem gegenüber stellt er die Publikation in Verlagen der lateinamerikanischen Herkunftsländer, die er als Verlage „zweiter Klasse“ (Ü. d. V.) bezeichnet, da die in Lateinamerika publizierenden Autor*innen nach seiner Meinung nicht außerhalb ihrer Produktionsländer zirkulieren und wahrgenommen werden (vgl. Volpi 2010: 4). An Indianas Fall ist außergewöhnlich, dass sie bereits zu Beginn ihrer literarischen Laufbahn, obwohl sie noch keinen eigenen Roman, sondern lediglich einige Kurzgeschichten und Gedichte geschrieben hatte, das Interesse spanischer Literaturwissenschaftler*innen wie dem Hispanisten Eduardo Becerra weckte. Dieser nahm sie neben anderen Nachwuchsautor*innen 1999 in den Kurzgeschichtenband Líneas aéreas auf, der im spanischen Verlag Lengua de Trapo erschien. Sechs Jahre später war sie wieder Teil einer in Spanien bei Páginas de Espuma veröffentlichten Anthologie über Latino/a-Literatur (vgl. Maeseneer 2016: 32 f.). Somit konnte sie schon vor ihrer ersten Romanveröffentlichung und deren Neuauflage bei Periférica 2011 auf eine Publikationsgeschichte in Spanien zurückblicken. Inwiefern ihr die Aufnahme in die besagten Anthologien, die gemeinhin als ‚Sprungbrett‘ für eine internationale Karriere betrachtet werden (vgl. Sánchez

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Prado 2016b), eine spätere Übersetzung erleichterte, kann nicht abschließend geklärt werden. Jedoch vergrößerte diese sowohl Indianas Sichtbarkeit als auch die Reichweite ihrer literarischen Texte, die bis dato auf die Großen Antillen beschränkt war. Beachtenswert ist in diesem Kontext, dass vor Indianas Romanerscheinung Tentakel 2018 auf dem deutschen Buchmarkt schon 2014 eine ihrer Kurzgeschichten in der von dem nicaraguanischen Schriftsteller Sergio Ramírez herausgegebenen Anthologie Zwischen Süd und Nord. Neue Erzähler aus Mittelamerika56 im schweizerischen Unionsverlag erschienen war. Es kann davon ausgegangen werden, dass auch diese zu einer größeren, besser gesagt erstmaligen Sichtbarkeit Indianas auf dem deutschen Buchmarkt beitrug, was letztlich das Interesse des Klaus Wagenbach Verlages an ihrem übrigen literarischen Werk geweckt haben könnte. De Maeseneer geht dagegen davon aus, dass das symbolische Kapital des spanischen Verlages bedeutsam war. So weist Periférica ein ähnliches Verlagsprogramm wie der deutsche Verlag Klaus Wagenbach auf. Außerdem bezeichnet sie in diesem Zusammenhang die Nominierung Indianas für den Literaturpreis, der im Rahmen der Mario Vargas Llosa Biennale 2016 verliehen wurde, als entscheidend (vgl. Maeseneer 2019: 378). Hierdurch zeigt sich abermals, welchen Einfluss (bestimmte) Literaturpreise beziehungsweise bereits die Nominierung für diese auf die Sichtbarkeit von Autor*innen auf internationaler Ebene haben (vgl. Wynne 2016: 592). Im Frühsommer 2018 erschien Indianas fünfter Roman Hecho en Saturno abermals bei Periférica in Spanien, über den der Verlag schrieb: „[E]sta novela no es local: su pasión, las contradicciones de sus personajes, la demolición de las viejas ideas de justicia e igualdad en pos del dinero, son universales y en muchos momentos parece que leyéramos sobre nuestro día a día, sobre este país, cualquier país“ (Editorial Periférica 2018). Die Verlagsankündigung erweckt den Eindruck, als verabschiede sich Indiana mit ihrem neuen Romanprojekt endgültig von der Karibikinsel und nehme stattdessen Kurs auf die World Republic of Letters. Inzwischen wird Indiana durch die spanische und in Barcelona ansässige Literaturagentur Schavelzon Graham vertreten, die in ihrem Katalog die literarischen Größen Mario Benedetti, Paul Auster, Elena Poniatowska, Ricardo Piglia, Gioconda Belli und Juan José Saer offeriert, von deren Ansehen sie indirekt auch profitiert.

56 Interessanterweise entschieden sich hier die schweizerischen Verleger*innen dafür, die Dominikanische Republik der geografischen Region Mittelamerika zuzuordnen.

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4.4.1.3 Literaturpreise und Positionierung im literarischen Feld Nach zahlreichen Nominierungen wurde Indiana schließlich 2017 mit dem Gran Premio Literario de la Asociación de Escritores del Caribe ausgezeichnet57. Dieser Preisgewinn ist definitiv als ein Meilenstein in ihrer internationalen schriftstellerischen Karriere zu bewerten, da er sie als eine der gegenwärtig bedeutendsten literarischen Stimmen der Antillen hervorhebt (vgl. Bustamante 2017): „La obra ganadora de premios se hace acreedora de manera indiscutible de una visibilidad y de un capital cultural que la resalta de manera individual“ (Bencomo 2006: 20). Auf der einen Seite verhalf ihr diese Prämierung international zu mehr Bekanntheit, da bei Schriftsteller*innen des Globalen Südens das Prädikat ‚Literaturpreisträger*in‘ eine gewichtige Rolle spielt, wenn es darum geht, sich aus der Masse an (international) konkurrierenden Autor*innen auf dem globalen Buchmarkt, abzuheben: „[T]his is all the more true of foreign or global-diasporic artists, whose uncertain relation to the domestic cultural arena seems to be susceptible of no other measure than that they are […] ‚the only winner of both the Booker Prize and the National Book Critics Circle Award‘ […]“ (English 2005: 256). Auf der anderen Seite verschob sich durch die Auszeichnung Indianas die bis dato beschränkte und undifferenzierte Wahrnehmung der Literaturen der Insel vonseiten des (englischsprachigen) Auslands sowie die damit einhergehende Reduktion auf nur einen gegenwärtig preisgekrönten und international bekannten Autoren, den US-amerikanischen-dominikanischen Schriftsteller und PulitzerPreisträger Junot Díaz. In diesem Zusammenhang ist auch eine Pressenachricht aus der dominikanischen Tageszeitung El Nacional zu erwähnen, in der über Indiana Folgendes geschrieben wird: „Ni oportunismos ideológicos, ni pretensiones literarias, exotismos, o lugares comunes, caracterizan la obra de esta escritora que es, según el gran escritor puertorriqueño Don Luis Rafael Sánchez: Lomejor [sic] que le ha sucedido a la narrativa dominicana“ (Vicioso 2017). Die Autorin Chiqui Vicioso, die interessanterweise selbst dominikanische Schriftstellerin ist, drückt Indiana ihre Anerkennung aus. Zugleich veranschaulicht der Auszug aber, dass Indianas Preisverleihung allein noch kein hinreichender Beleg für ihr schriftstellerisches Können darzustellen scheint. Stattdessen bedarf es zusätzlich der Stimme eines weiteren renommierten und im literarischen Feld etablierten männlichen

57 Zuletzt stand sie mit der englischen Übersetzung ihres Romans La mucama de Omicunlé (Tentacle) auf der Shortlist für den Best Translated Book Award 2020. Mit dem gleichen Roman, allerdings in deutscher Übersetzung (Tentakel), wurde sie bereits für den LiBeraturpreis 2019 nominiert, mit dem Litprom e.V. alljährlich das unter seinen Leser*innen beliebteste Buch einer Autorin aus dem Globalem Süden auszeichnet.

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Schriftstellers, der seine explizite Empfehlung ausspricht, wodurch deutlich wird, dass die literarische Deutungsmacht auf der Insel fest in männlicher Hand liegt. Schon einige Jahre zuvor, veranlasst durch ihren Erfolg in Spanien nach der Veröffentlichung von Papi (2011), war Indiana nach vorausgehendem Desinteresse plötzlich vonseiten des dominikanischen Kultursektors als ‚dominikanische‘ Schriftstellerin reklamiert und zur Buchmesse geladen worden: „Se podría tildar esta pequeña apertura por parte de las autoridades dominicanas como una especie de negociación, una alianza estratégica, un intento de recuperar e instrumentalizar la literatura dominicana exitosa en el extranjero“ (Maeseneer/Logie 2015: 25). Das neu geweckte Interesse an Indiana seitens der Dominikanischen Republik lässt sich dadurch erklären, dass die Zirkulation sowie Übersetzung eines literarischen Textes auch mit einem Zuwachs an Ansehen des Produktionsbeziehungsweise Herkunftslandes sowie dessen Literatur und Kultur allgemein einhergeht (vgl. Sapiro 2016a: 84). Insofern verdeutlicht die Reaktion des dominikanischen Kulturbereiches auf Indianas internationales Ansehen und die damit verbundene a posteriori Anerkennung als ‚dominikanische‘ Schriftstellerin, dass lateinamerikanische Nachwuchsautor*innen oftmals erst international erfolgreich sein müssen, um in ihrem Herkunftsland Ansehen als Schriftsteller*innen zu erwerben: „[S]i tienen algún impacto en su país es porque han sido editadas en un sello español o porque se sabe que serán traducidas o porque sus autores han sido previamente legitimados en eventos internacionales“ (Lemus 2012: 30). Gleichzeitig unterstreicht dieser Umstand abermals Mads Rosendahl Thomsens Feststellung darüber, dass die Kanonisierung auf nationaler Ebene auf der Grundlage anderer Wertmaßstäbe erfolgt und anderen Gesetzmäßigkeiten gehorcht als auf internationaler Ebene (vgl. Thomsen 2008: 3). Schlussendlich bedeutet dies, dass literarische Texte, die international gefeiert werden, in diesem Fall das literarische Werk Indianas, nicht zwangsweise im Herkunftsland der Autor*innen dieselbe Wertschätzung genießen müssen. So erlangte Indiana beispielsweise, bedingt durch die Unterstützung in den USA lebender dominikanischer und puerto-ricanischer Literaturkritiker*innen und Wissenschaftler*innen58, eine größere Sichtbarkeit an US-amerikanischen

58 Durch die Aufnahme Indianas literarischer Texte in den Lehrplan ihrer Universitätsseminare und -vorlesungen wie auch durch das Verfassen von wissenschaftlichen Abhandlungen sowie Führen akademischer Debatten über Indianas Werk leisteten Literaturwissenschaftler wie Fernando Valerio-Holguín (Colorado State University), Juan Duchesne Winter (University of Pittsburgh), Néstor Rodríguez (University of Toronto) oder Julio Ramos (ehemals University of California, Berkeley) im positiven Sinne Vorschub hinsichtlich Indianas Anerkennung und damit auch Kanonisierung in den USA und Kanada (vgl. Maeseneer 2014: 257 f.).

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Universitäten und damit in den USA insgesamt als in der Dominikanischen Republik selbst (vgl. Maeseneer/Logie 2015: 24). Die geringe Wahrnehmung Indianas in akademischen Kreisen der Dominikanischen Republik lässt sich ebenfalls dadurch erklären, dass die Insel über keine ausgeprägte Universitätslandschaft in den spanischen Literaturwissenschaften verfügt, was eine fundierte Auseinandersetzung mit Indianas Büchern zusätzlich erschwerte (vgl. Maeseneer/Logie 2015: 22). Hinzu kommt, dass Indiana nicht zu denjenigen Schriftsteller*innen zählt, die eine Förderung vonseiten des dominikanischen Kulturministeriums erhalten, zum Beispiel in Form von Veröffentlichungen in Anthologien (vgl. Maeseneer/Logie 2015: 22). Daneben machte sich Indiana einen Namen in den Print- und digitalen Medien durch regelmäßige Kolumnen, die sie zwischen Ende 2013 und Anfang 2016 für die spanische Tageszeitung El País und die venezolanische Onlinezeitschrift Prodavici schrieb. In ihnen meldete sie sich zu tagespolitischen Themen, aber auch zu soziokulturellen Debatten inner- und außerhalb der Dominikanischen Republik kritisch zu Wort (vgl. Bustamante 2017). Durch ihre regelmäßigen Beiträge und Kolumnen in den Medien erschuf sich Indiana bereits zu diesem Zeitpunkt ein (internationales) Lesepublikum. Eventuell weckte sie auf diese Weise auch das Interesse ausländischer Verlage an ihren Texten, die sich anhand ihrer Pressebeiträge bereits ein erstes Bild ihres Schreibens machen konnten. Erneut fällt in diesem Kontext auf, dass Indiana nicht die dominikanische, sondern die ausländische Presse als Plattform für ihre journalistische Tätigkeit gebrauchte. Die Ursache hierfür liegt wohl darin, dass Indiana eine kritische bis hin ablehnende Haltung hinsichtlich mancher soziopolitischer Entwicklungen in der Dominikanischen Republik einnimmt: „Su trabajo se presenta de forma irreverente y contestatario en tiempos de precariedad, racismo y sexismo“ (Contreras Capó 2016). In der Konsequenz ist es nicht überraschend, dass sich diese (Protest-)Haltung Indianas nicht förderlich auf ihr Standing innerhalb der nationalen Kulturszene auswirkt. Zusammenfassend kann hinsichtlich Indianas fehlender Präsenz und Anerkennung im literarischen Feld ihres Herkunftslandes festgehalten werden, dass diese nicht mit der ästhetischen Qualität ihres literarischen Werks zusammenhängen, sondern vielmehr auf ihre politische Einstellung und die Botschaften, die sie in ihren literarischen Texten transportiert und die Themen, die sie abhandelt, zurückzuführen sind: No resulta difícil relacionar el silencio de la crítica insular sobre la producción de [Indiana] Hernández al hecho de que su obra ejemplifica, acaso más puntualmente que otros textos de la literatura dominicana reciente, el impulso hacia una cartografía subversiva de la identidad dominicana. (Rodríguez 2002)

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Indianas Schreiben charakterisiert sich demgemäß durch eine Distanzierung von den gängigen Topoi der dominikanischen Literatur, die sich mit der düsteren Vergangenheit der Insel unter der diktatorischen Herrschaft Rafael Trujillos (1930–1961) sowie der Regierungszeit Joaquín Balaguers (1966–1968 und 1986– 1996) beschäftigen (vgl. Maeseneer 2013: 156). Selbst wenn ihrem Schreiben etwas Rebellisches und Provokatives innewohnt, heißt das nicht, dass Indiana sich vollkommen von der Dominikanischen Republik und lokalen Thematiken abwendet. Tatsächlich bilden weiterhin die Großen Antillen den zentralen Dreh- und Angelpunkt ihrer Romane. Lediglich ihre Herangehensweise sowie ihr Umgang mit bekannten Themen der karibischen Literaturen sind außergewöhnlich vgl. (El Nacional 2015). Dementsprechend kann Indiana als Verfechterin einer anderen, alternativen ‚Dominikanität‘ betrachtet werden, die sich primär aus Einflüssen der dominikanischen Jugend- und Subkultur zusammensetzt: „Despojada de toda pretensión, esta alta poeta comenzó a reflejar la otra cotidianidad dominicana, la de una juventud jarta (con J) de los clichés sobre ‚los valores‘, y los anglicismos de una clase media dominicana empeñada en parecer gringa“ (Vicioso 2017). Darin zeigt sich schlussendlich, dass Indiana als Schriftstellerin jenseits des (dominikanischen) Mainstreams zu verorten ist. 4.4.1.4 Musikalische Karriere und gegenwärtige Entwicklungen Lange Zeit war es die Musik, mit der Indiana international für großes Aufsehen sorgte, und die ihr Bild als lateinamerikanischer Popstar in der Öffentlichkeit prägte, obgleich ihre literarischen den musikalischen Ambitionen vorausgingen: „Since 2009 [Indiana] Hernández is more known as the leading voice of her successful and prize-winning electro-merengue-beat band, Rita Indiana & Los Misterios“ (Maeseneer 2013: 156)59. Dadurch unterscheidet sie sich von dem Gros der in der Musik und der Literatur aktiven Kunstschaffenden, das über die Musik allmählich seinen Weg zur Literatur findet: „‚[Y]o, a diferencia de lo tradicional, empecé con los libros y luego pasé a la música‘“ (Sancho 2011 [Indiana]). Ähnlich wie ihre Kolumnen zeichnet sich ihre Musik durch sozialkritische Texte und eine entwaffnende Offenheit aus: „Criticando la sociedad dominicana o hab-

59 Da sich die Analyse primär auf Rita Indiana in ihrer Rolle als Schriftstellerin fokussiert, wird ihre musikalische Karriere an dieser Stelle nur kurz angerissen, für weiterführende Informationen siehe Bustamante (2017). In Anbetracht der musikalischen Einflüsse, die Indianas Werk prägen, muss diese aber dennoch stets mitgedacht werden. Genauso wie sich umgekehrt Indianas Musik durch einen hohen Grad an Narrativität und Poetizität auszeichnet (vgl. Venegas 2015). Es handelt sich somit um wechselseitige Einflüsse, aus denen sich letztlich Indianas künstlerisches Projekt zusammensetzt (vgl. Sancho 2011 [Indiana]).

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lando de sexo sin tapujos, el spanglish de sus letras atrapan y golpean a quien las escuche“ (El Nacional 2015). Angesichts ihres musikalischen Erfolges überrascht es wenig, dass sie 2010 bei der internationalen dominikanischen Buchmesse nicht etwa als Schriftstellerin, sondern als Musikerin eingeladen wurde und auf der Bühne auftrat (vgl. Maeseneer 2013: 156). Dieser Umstand demonstriert, dass Indiana, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt bereits mehrere Romane veröffentlicht hatte, in der Dominikanischen Republik weiterhin ein größeres Ansehen als Sängerin genoss, während ihre literarischen Ambitionen nicht in gleichem Maße gewürdigt wurden. In diesem Kontext muss jedoch bedacht werden, dass Sänger*innen grundsätzlich sichtbarer sind als Schriftsteller*innen, da Popmusik viel leichter zugänglich, konsumierbar und verbreiteter ist als Literatur, was im Übrigen auch Indiana selbst bewusst ist: „‚Music is more democratic than literature‘“ (Contreras/Garsd 2020 [Indiana]). Durch ihren internationalen Durchbruch als Sängerin, zu dem speziell ihr Erfolg in den USA zählt, geriet Indiana zwangsläufig in ein Spannungsfeld zwischen Kunst und Kommerz: „‚[E]star al frente de un proyecto musical te convierte también en empresaria, y por ahí sí que no paso. Finalmente, la fama. Yo no estoy hecha para eso‘“ (Sancho 2011 [Indiana]). Deshalb entschied sich Indiana Ende 2011 für einen Rückzug aus dem Musikgeschäft, um sich fortan nur noch der Literatur zu widmen: „[D]ecidió retirarse de los escenarios y volver al anonimato que da la literatura en un continente en el que dicen que poco se lee, donde los autores no son ‚rockstars‘ que llenan estadios“ (Venegas 2015). In diesem Zusammenhang ist auch ihr Lied „Maldito Feisbu“ zu verorten, das sie 2010 veröffentlichte und als dessen Konsequenz sie vorübergehend die sozialen Netzwerke verließ und ihren eigenen offiziellen Internetauftritt deaktivierte (vgl. Martínez Caicedo 2013). Zeitweilig mied sie mediale Aufmerksamkeit und besuchte stattdessen nur noch literarische und wissenschaftliche Veranstaltungen, wo sie sich mit Themen wie den karibischen Literaturen, Rassismus und den Rechten der LGBTIBevölkerung befasste (vgl. Bustamante 2017). Das Engagement für letztere liegt vor allem in der Tatsache begründet, dass sich Indiana selbst, aufgrund ihrer sexuellen Identität und ihrem Outing als lesbische Frau, mit Homophobie in ihrem Herkunftsland auseinandersetzen musste (vgl. Hevia 2011). Im Frühsommer 2020 meldete Indiana sich mit der Veröffentlichung zweier Songs („Como Un Dragón“ und „El Zahir“) aus der musikalischen Abwesenheit zurück und kündigte darüber hinaus für Spätsommer 2020 ihr zweites Album mit dem Titel Mandinga Times an (vgl. Marín 2020).

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4.4.1.5 Zwischenfazit Wenn es darum geht, vor dem Panorama der aktuell geführten Diskussion um das Konzept Weltliteratur Indianas schriftstellerisches Projekt einzuordnen, fällt auf, dass sie, trotz oder gerade wegen ihres subversiven Schreibens jenseits festgefahrener Bilder und Vorstellungen von ‚Dominikanität‘, zu der Gruppe der exportfähigen und international vermarktbaren Schriftsteller*innen der Insel zählt. Ein Beleg hierfür sind nicht zuletzt die internationale Zirkulation ihres literarischen Werks in englischer, italienischer, norwegischer und mittlerweile auch deutscher Übersetzung sowie die Auszeichnung mit einem bedeutenden (karibischen) Literaturpreis. Doch ist dieser Umstand bereits ausreichend, um mit dem ‚Titel‘ Weltautorin gewürdigt zu werden? Jedenfalls ist speziell der Fakt, dass es sich bei Indiana um eine mehrsprachige, kosmopolitische Person handelt, die problemlos zwischen dem Spanischen und Englischen – Sprachen, die sie beide auf muttersprachlichem Niveau beherrscht – hin- und herwechselt, ein weiteres Argument für diese Annahme. Hinzu kommt Indianas persönliche entgrenzte Biografie, ihr nomadischer Lebensstil zwischen der Dominikanischen Republik, Puerto Rico und den USA sowie die von ihr bearbeiteten Themen, die den gegenwärtigen postnationalen Zeitgeist repräsentieren, aber auch für eine Tendenz hin zu einer Globalisierung der Alltagskultur und wachsenden Individualisierung sprechen (vgl. Maeseneer 2016: 34). Selbst wenn Indiana nicht über eine in diesem Kontext oftmals als Voraussetzung genannte Ausbildung in Kreativem Schreiben, einen literaturwissenschaftlichen Abschluss oder gar einen Lehrauftrag an einer Universität verfügt (vgl. Marling 2016: 144; The editors 2013), weiß sie, welch zentrale Bedeutung für ihre Anerkennung als Schriftstellerin die Präsenz auf unterschiedlichsten Ebenen einnimmt. Deshalb ist ihr auch bewusst, dass das Schreiben von Literatur ‚allein‘ nicht (mehr) genügt, um den Leser*innen und Kritiker*innen in Erinnerung zu bleiben (vgl. Marling 2016: 147): „[…] Rita Indiana cumple con la figura del autor actual: multimedial, premiada, con gran exposición al público, muy activa en el mundo mediático“ (Maeseneer 2019: 379). Durch ihre Präsenz in unterschiedlichen Medien und die simultane Arbeit mit verschiedenen Formaten (Literatur, Musik, Kolumnen und Performance Kunst) schafft Indiana von sich ein vielseitiges Bild, dessen unterschiedliche Facetten sich immer wieder überschneiden, und für Leser*innen, Musik- und Kunstliebhaber*innen vielfältige Anknüpfungspunkte anbietet. Alles in allem besitzt Indiana somit das Potenzial zur Weltautorin. Allerdings entzieht sie sich durch ihren „discurso político-estético de resistencia“ (Bustamante 2017) wohl bewusst einer eindeutigen Zuordnung und damit auch einer Kategorisierung (seitens der Verlage und Medien) als Weltautorin.

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Das in der (medialen) Öffentlichkeit von ihr zirkulierende Autorbild, das sie auch selbst durch ihre Auftritte pflegt, ist stattdessen das der unangepassten, experimentellen, versatilen und queeren Künstlerin, was sie letztlich interessanter für die alternative Literatur-, Kultur- und Musikszene als für den literarischen Mainstream macht.

4.4.2 Intraliterarische Analyse Obwohl Indiana als Schriftstellerin zweifelsfrei eine Vielzahl der Eigenschaften einer Weltautorin vereint, gilt es im Folgenden zu klären, inwiefern ebenso ihr Roman Papi, der als erster ihrer Romane in Spanien verlegt und überdies ins Englische und andere Sprachen übersetzt wurde60, das Potenzial zur Weltliteratur birgt. Angesichts der Tatsache, dass der Roman Papi im Ausland auf positivere Resonanz stieß und erst weitaus später, nach einer Wiederauflage, das Interesse der Kritiker*innen in Indianas Herkunftsland, der Dominikanischen Republik, weckte, stellt sich die Frage, ob Indiana den Roman von Anfang an für ein globales Lesepublikum konzipiert hatte. Anhand einer kritischen Lektüre und Analyse des Romans soll daher überprüft werden, inwiefern Indiana mit Papi den Versuch unternahm, sich (direkt) in den Korpus der Weltliteratur mit exportfähigem Potenzial einzuschreiben. 4.4.2.1 Inhaltsanalyse Der Titel des Romans erscheint bei flüchtiger Betrachtung zunächst ‚simpel‘: „Der Titel kommt so unliterarisch daher, wie es nur geht: ‚Papi‘. Klingt nach Kinderbuch. Ist es auch. Und ist es überhaupt nicht“ (Küppers 2013: 31). Auf den ersten Blick ist dies ebenso die Handlung des Romans Papi, dessen Erzählerin und Protagonistin ein achtjähriges Mädchen ist. Verortet in der Dominikanischen Republik, genauer gesagt der Hauptstadt Santo Domingo, beschreibt und erzählt Indiana die komplizierte Beziehung zwischen einer Tochter und ihrem abwesenden Vater, dessen Rückkehr sich das Mädchen sehnlichst wünscht und welche es sich auf lebendigste Art und Weise vorstellt: „[C]uando me dijeron que él iba a volver yo había dejado de esperarlo hacía tiempo y había visto un millón de veces su regreso, la ropa con que papi iba a volver, cómo iba a bajar del avión, oliendo el aire, salado, arrodillándose para lamer el suelo“ (Indiana 2011: 11).

60 Diese Umstände waren es auch, die mich dazu bewogen, für die Analyse Papi und nicht etwa Indianas früher erschienenen Roman La estrategia de Chochueca (2000) auszuwählen.

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Der Roman repräsentiert keineswegs ein besonders ‚dominikanisches‘ Anliegen, sondern beschäftigt sich mit einem universellen Thema: der Vater-Tochter-Beziehung. Zuerst erweckt der Roman somit den Eindruck, als handle es sich um eine Geschichte, die bereits in verschiedenen Formen erzählt und viele Male gelesen wurde, nichts Außergewöhnliches oder etwa Innovatives. Auf den zweiten Blick geschehen auf den 220 Seiten so viele verrückte Ereignisse und begegnen den Leser*innen so viele verschiedene bisweilen skurrile Gestalten, was eine genauere Beschreibung des stellenweise paradox anmutenden Handlungsverlaufs äußerst komplex bis hin zu unmöglich macht. Das immense Personenrepertoire, zu dem unzählige, wechselnde Freundinnen des Vaters, Groupies und Mafiosi, aber auch Personen aus der Nachbarschaft und dem Stadtviertel gehören, macht eine konkrete Aufstellung der Figurenkonstellation schwierig. Generell bilden Exzess und Übertreibungen die rekurrenten und damit prägenden Elemente des Romans. Zu den wiederkehrenden Figuren zählen einzig das namenlose Mädchen, (ihr) „papi“, die bis auf im letzten Kapitel eher unbedeutende Mutter, die Tanten Leysi und China sowie die Großmutter Cilí. In Wirklichkeit verbirgt sich hinter dem Titel weitaus mehr als nur der liebevolle Kosename des Vaters. Stattdessen handelt es sich um einen Verweis auf die vielschichtige Beziehung, die das Mädchen zu seinem Vater unterhält: Papi es la palabra de relevo de múltiples conexiones de deseo, pero nunca es el objeto del deseo en un sentido edipal; la niña narradora desea a las novias de papi y todo lo que él arrastra consigo, tanto o más que a papi mismo. Ya la ambigüedad de la palabra en el español coloquial posee un rol de relevo de deseo, ‚papi‘ es indistintamente el amante, el niño, el padre o la interjección de placer o admiración (‚¡Ay papi!, ¡Qué papi!‘, etc.). (Duchesne-Winter 2008: 300 [Herv. i. O.])

Wie im Zitat aufgezeigt, vergöttert das Mädchen geradezu überschwänglich seinen Vater und begehrt alles, was ihn umgibt. Allerdings handelt es sich keineswegs um eine sexuelle oder gar körperliche Liebe, die das Mädchen dem Vater gegenüber empfindet, sondern entsprechend der Polysemie der Bezeichnung papi verweist diese auf die kindliche Liebe zwischen Vater und Tochter. Das vergebliche Warten auf papi, dessen Rückkehr sich stets aufs Neue verschiebt, zieht sich wie ein roter Faden durch das gesamte Buch hindurch: „Te estoy esperando en el balcón de la casa de tu mamá, en casa de Cilí“ (Indiana 2011: 12); „Un día papi va a volver y todo va a ser como antes, mejor que antes […]“ (Indiana 2011: 40); „[P]orque papi va a venir a buscarme en cualquier momento, eso me ha dicho por teléfono“ (Indiana 2011: 54). Demgemäß stellt die Qual des Wartens das zentrale Motiv des Romans dar.

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Die Bereitschaft und Ausdauer des Mädchens, sich in Geduld zu üben, ist nahezu unerschöpflich, was besonders in Kapitel vier zum Ausdruck kommt: Y al otro día llamó una novia de papi, que papi estaba enfermo. Y al otro día llamó un amigo de papi, que a pi lo habían metido preso. Y al otro día llamó una tía de papi lo habían encontrado muerto. Y al otro día llamó una hermana de papi, que papi no estaba muerto na. Y al otro día sonó el teléfono y era una operadora que decía que papi estaba del otro lado y que era una llamada de larga distancia. (Indiana 2011: 57 f.)

Das erneute endlose Ausharren des Mädchens führt zu seiner Nahrungsverweigerung, was in einem durch die Dehydratation ausgelösten Delirium inmitten der Berge an Spielsachen – Geschenke seines Vaters – und verdorbene Speisereste – Essen, das seine Mutter ihm brachte – kulminiert: „Y yo imagino (ya estoy completamente ciega) cómo mis juguetes se me están poniendo viejos. Cómo la hiedra y el musgo trepan por las paredes de mi fuerte Playmobil. Y sigo esperando“ (Indiana 2011: 57). Die in diesem Zusammenhang beschriebenen überbordenden Fantastereien ermöglichen dem Mädchen, die sich scheinbar über Jahre hinziehende Wartezeit und Abwesenheit des Vaters zu überbrücken: „Y luego empezaron a llegar las tarjetas que decían merry christimas, happy birthday, happy new year, good luck, happy easter, happy birthday, it’s a boy!, it’s a girl!, it’s a down syndrom martin!, and so on“ (Indiana 2011: 66). Zugleich ist es allein in den Träumereien des Mädchens, in denen ein glückliches Zusammensein mit dem Vater nach seinen eigenen Vorstellungen möglich ist und in denen es für die lange Warterei entschädigt wird: „Al día siguiente para que yo le perdone por no llevarme a la discoteca me deja sentarme en sus piernas mientras manejo su carro […]“ (Indiana 2011: 51). Die gemeinsamen Momente mit dem Vater, wie sie sich das Mädchen erträumt, sind dabei keineswegs altersgerecht, sondern reichen von spektakulären Verfolgungsjagden, kostspieligen Einkaufstouren, feuchtfröhlichen nächtlichen Feiern bis hin zu dubiosen Geschäften, bei denen es seinen Vater begleitet. Nicht nur beim Lesen geht dabei jegliches Zeitgefühl verloren, sondern ebenso die Dauer der erzählten Zeit bleibt durch die Übertreibungen des Mädchens weitestgehend diffus und unbestimmt. Trotz dieser Tatsache kann ein Voranschreiten der Handlung, das heißt ein klarer Ausgangs- sowie Endpunkt der Geschichte, ausgemacht werden (vgl. Duchesne-Winter 2008: 294). Die Handlung setzt im Grundschulalter des Mädchens ein und kommt in dessen Pubertät zum Abschluss (vgl. La conjura de los libros 2016). Dazu passt, dass der Roman auf eine lineare Erzählweise verzichtet, sondern sich kurze Episoden aus der Fantasie, der Gegenwart und der Vergangenheit des Mädchens vermischen (vgl. Duchesne-Winter 2008: 294): „Y cuando yo

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era más chiquita mi papá me llevaba a mí como una cartera, o eso dice él, que andaba conmigo encima como una cartera.“ (Indiana 2011: 36). Kurioserweise endet die Handlung mit den gleichen Worten des Mädchens wie sie auch einsetzt: „Papi es como Jason, el de Viernes trece. […] Cuando uno menos lo espera se aparece“ (Indiana 2011: 9 [Herv. i. O.]); „Y por fin comienzo: papi es como Jason … Aplausos, aleluyas, amén. Que cuando uno menos lo espera se aparece“ (Indiana 2011: 209). In der Folge bietet sich der Roman durch seine Struktur, ähnlich einer Musik-CD in Dauerschleife, für eine zirkuläre Lektüre an: „Incluso la novela contiene la posibilidad de haber leído un libro en loop, es decir, uno que se repite inacabablemente a partir de un punto determinado“ (La conjura de los libros 2016 [Herv. i. O.]). Während der zwölf Kapitel bekommen die Leser*innen anhand von Monologen und Bewusstseinsströmen, erzählt aus der Perspektive des Mädchens, einen umfassenden Einblick in dessen Vorstellungskraft und üppige Fantasie. Beide bedingen auch sein Denken sowie seine Wahrnehmung der Realität und folglich die der erzählten Welt, was das nachfolgende Zitat veranschaulicht: Y papi y yo seguimos subiendo y subiendo y subiendo, ya ni el mar se ve. Y la temperatura comienza a descender y a descender y a descender y papi tiembla y yo tiemblo, y hacemos fogoticos poniendo ambas manos juntas y ahuecando y soplando dentro. Papi enciende la calefacción que lleva el carro con un calor de mentira por el que se cuelan, aún en sus mejores momentos, alfileres de frío. Afuera todo es blanco y le digo a papi que si esto es la nieve, que si ahora por fin vamos a necesitar ropa de invierno. Él me dice que no, que esto son nubes solamente. (Indiana 2011: 32)

Wie im Titel des Romans angedeutet, drehen sich die einzelnen erzählten Episoden um die Figur des Vaters, dessen Kosename papi kontinuierlich wiederholt wird und den das Mädchen wie einen Superhelden idealisiert und zutiefst vergöttert. Diesem Vaterkult tut auch die Tatsache keinen Abbruch, dass dieser in etliche rechtswidrige Tätigkeiten verstrickt ist, deren tatsächliches Ausmaß und Konsequenzen für das Mädchen bis zum Ende des Romans nicht einzuschätzen beziehungsweise begreiflich sind: „Algunas palabras se me complican. Es decir, no las entiendo muy bien. Primero que nada Socio. Yo pienso que es como Compadre […]“ (Indiana 2011: 87). Trotz seiner Abwesenheit ist der Vater in der Fantasie des Mädchens stets präsent. In der Realität tritt er dagegen nie wirklich in Erscheinung, sondern es wird nur über seine hypothetische Ankunft, die stets mit seiner Abreise verbunden ist, gemutmaßt: „[L]a venida de papi siempre se da en la forma de su ida. La aparición de papi siempre se da como antesala de su desaparición. Su mayor plenitud es el vaciamiento“ (Duchesne-Winter 2008: 292 [Herv. i. O.]). Die entstandene körperliche Abwesenheit und Leere versucht der Vater deshalb durch

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materielle Geschenke auszugleichen: „Papi también me ha comprado botas y crayolas y alphabet stickers, pre tested water colors, flexi foam sheets, pelucas de la Barbie, sweat shirts, halloween decorations […], leather gloves para el invierino, para cuando vaya a visitarlo, para cuando papi vuelva y me lleve con él“ (Indiana 2011: 37). Bei den Beschreibungen liegt der Schwerpunkt entsprechend auf der materiellen beziehungsweise konsumbezogenen Ebene der Vater-Tochter-Beziehung, während über die tatsächliche Sorgearbeit des Vaters, wohl auch aufgrund dessen ständiger Abwesenheit, nichts bekannt ist. Das Ende des Wartens und auch des Romans markieren nicht etwa die langersehnte Ankunft des Vaters, sondern die Nachricht über dessen gewaltsamen Tod, den die Mutter, der fassungslosen Tochter überbringt: „Y como cada tarde, mami viene con sus gafas oscuras, […] y sin quitarse las gafas de sol me informa que a papi acaban de matarlo“ (Indiana 2011: 170). Diese Nachricht bringt nicht nur das Weltbild des Mädchens über den in seinen Augen unbesiegbaren Vater ins Wanken, sondern macht ebenfalls jegliche Hoffnung auf ein baldiges beziehungsweise endliches Wiedersehen mit ihm zunichte: „Yo lloro y ni sé por qué. Porque tu papá se murió, ah sí verdad“ (Indiana 2011: 176). Erst nach dem Tod des Vaters, in Kapitel zwölf, das gleichzeitig das letzte des Romans darstellt, tritt die Mutter aus ihrem bisherigen Schattendasein: „Mami levanta la mano en la que lleva su bolsa de orina y sangre para saludarme y me sonríe y yo le sonrío y entonces me dice: ya puedo ponerme de pie y hasta caminar despacito, pero todavía voy a necesitar tu ayuda para ir al baño“ (Indiana 2011: 220). Bei einem Besuch der kranken Mutter in der Klinik sieht das Mädchen diese plötzlich mit neuen Augen. Nach den vorausgegangenen fantastischen Abenteuern mutet diese letzte Szene erstaunlich ruhig an: „En ese último y breve capítulo marcado por el silencio, la narradora retorna ahora como la hija de mami, como si despertara de un delirio“ (Duchesne-Winter 2008: 305). Genretechnisch gesprochen lässt sich der Roman am ehesten als Coming-ofAge-Roman beziehungsweise Bildungsroman klassifizieren, da er die Kindheit und das Heranwachsen des Mädchens während des Wartens auf den Vater sowie die Ernüchterung nach dessen Tod beschreibt: „[S]omos testigos del proceso de formación y aprendizaje, o mejor dicho desaprendizaje“ (Contreras Capó 2016). Dennoch existieren Stimmen, die Papi wegen seines Genre-Mixes als unklassifizierbar bezeichnen (vgl. Carrión 2018; Publishers Weekly 2016): „Like her [Indiana’s] genre defying electric, alt-merengue sound, Papi is not easy to place in a box. It’s not realism, but it’s not really a fantasy novel either, despite the extravagance of the narrator’s hallucinations“ (Terhaar 2016).

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Rita De Maeseneer zieht dagegen Parallelen zur novela del dictador (dt. Diktatorenroman), deren Charakteristiken sie in der Figur des Vaters vereint sieht, der zwar nicht in der Öffentlichkeit als solcher in Erscheinung tritt, aber in der familiären Sphäre über allen anderen schwebt und, trotz seiner faktischen Abwesenheit, somit stets omnipräsent ist: „Like the characters in the dictator novels, he has a generic name, a low-class background, he is compared to God and to the devil (in its modern version of Friday the 13th’s hero, Jason), he orders the construction of huge buildings, he has a double, and he is very lonely, etcetera“ (Maeseneer 2013: 158). Daneben kann die Figur des Vaters als ein Repräsentant der in den USA, genauer gesagt in New York, lebenden dominikanischen Community gelesen werden, als welchen ihn auch Indiana selbst betrachtet: „[E]staba trazando las líneas de un arquetipo caribeño, el macho comerciante, el mesías capitalista inmigrante que regresa con los bolsillos llenos de dinero y con deudas pendientes que en algun [sic] momento tendrá que pagar“ (Cordeu 2015 [Indiana]). Der Vater zählt im Roman zu denjenigen Dominikaner*innen, die in die Vereinigten Staaten von Amerika migrierten, um dort ihren sozialen Status zu verbessern: „El personaje de Papi se constituye así como una voz marginal que, luego de haber probado suerte en el exterior, regresa triunfante a la República Dominicana, cargando el lastre del estereotipado ‚dominicano ausente‘, el dominican york“ (Maillo-Pozo 2015 [Herv. i. O.]). Entsprechend hoch sind die Erwartungen derjenigen, die auf der Insel zurückbleiben, einerseits hinsichtlich des Lebensstandards und Wohlstands, den die Dominican Yorks scheinbar in den USA genießen, andererseits in Bezug auf die großzügigen Geschenke, die diese ihren Familienangehörigen zukommen lassen (vgl. Maillo-Pozo 2015). Die Erwartungshaltung der Inselbewohner*innen gegenüber ihren in den USA lebenden Familienangehörigen zeigt sich im Roman anhand des Anspruchsdenken der Tochter sowie der Mutter gegenüber dem abwesenden Vater, dem die eigenen Wünsche explizit und unmissverständlich mitgeteilt werden: Mami y yo escribimos una carta […] [y] en la carta mami y yo le pedimos a papi una televisión a colores, le pedimos que no mande más bicicletas, que lo que queremos, que lo que yo quiero, que lo que yo necesito es una televisión a colores porque a las bicis se las está comiendo el salitre. (Indiana 2011: 39)

Darüber hinaus stehen der Überfluss und Exzess, der jedwede Handlung und Eigenschaft des Vaters kennzeichnet, sowie die ‚Fangemeinde‘, die er ständig um sich schart und die nur darauf zu warten scheint, etwas von seinem Reichtum abzubekommen, für die, wenn auch durch Indiana bewusst übertriebenen, Vorstellungen, die die auf der Insel lebenden Dominikaner*innen mit den zurückkehrenden Dominican Yorks verbinden: „Y se organizan, se están organi-

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zando a ambos lados de la avenida bordeada de palmeras porque todos han tenido la misma idea, ir a tu encuentro, y se han preparado, pancartas en mano, banderolas, letreritos, cruzacalles que dicen güelcon güelcon!“ (Indiana 2011: 14). Im Verlauf der Handlung nehmen die Figur des Vaters und dessen Konsumkult immer groteskere Züge an. Das wiederum kann als eine Kritik vonseiten Indianas hinsichtlich der gesteigerten Konsumkultur sowie des Materialismus der Mafiosi gedeutet werden, denen der Vater des Mädchens angehört, und was ihm letztlich gegen Ende des Romans zum Verhängnis wird. Bei einer genaueren Lektüre fällt auf, dass der Kult um den Vater und damit das in der dominikanischen Gesellschaft vorherrschende Patriarchat im Roman ins Gegenteil verkehrt werden. Das kommt nach Juan Duchesne-Winter in der Kleinschreibung des Kosenamens papi durch Indiana zum Ausdruck, welche er mit einer Desakralisierung der Vaterfigur und Auflösung der patriarchalen Gesellschaftsstrukturen gleichsetzt: [E]l nominativo papi, nunca alterna aquí con su variante formal padre, ni siquiera con papá y que nunca (salvo en inicio de oración y en obvias erratas) aparece con la mayúscula inicial usualmente aplicada a un apelativo paterno que casi es un nombre propio, lo que lo distancia de vocativos mayúsculos divinos como Padre o Señor. […] La p minúscula, sumada al diminutivo papi, emasculan claramente a la gran P patriarcal. (Duchesne-Winter 2008: 292 [Herv. i. O.])

Zwar sehnt sich das Mädchen nach dem Vater, in dessen Gesellschaft es sich das Leben in bunten Farben ausmalt, doch es selbst, ebenso wie seine Mutter, Tanten und Großmutter wissen sich auch ohne ihn zu behaupten und agieren somit letzten Endes unabhängig von ihm. Während den Leser*innen die komplette Identität des Mädchens, dessen Namen nicht einmal bekannt ist, verborgen bleibt, sind die Schauplätze und der Zeitrahmen, in dem sich die Handlung zuträgt klar ausmachbar. Joaquín Balaguer, der zwischen 1986 und 1996 zum zweiten Mal Präsident der Dominikanischen Republik war, ist noch an der Macht. Der Gebrauch von geografischen Angaben, zu denen die Namen von Straßen, Plätzen, Gebäuden und Stadtvierteln zählen (Aeropuerto Internacional de las Américas, avenida George Washington, avenida Independencia, avenida Abraham Lincoln, avenida Churchill, Plaza de la Bandera, San Juan de la Maguana, estadio Quisqueya, Country Club, barrio La Feria, barrio Centro de los Héroes), erlauben es, die Koordinaten der Handlung innerhalb der dominikanischen Hauptstadt Santo Domingo abzustecken, die als Hauptschauplatz fungiert. Daneben spielen sich einige Episoden in den USA ab, in den Städten New York und Miami. Sie sind als Nebenschauplätze zu sehen, da dort ein Großteil

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der dominikanischen Diaspora lebt und sich das Mädchen vorstellt, wie sie dort ihren Vater besucht. Obwohl der Roman die Themen (dominikanische) Migration, Diaspora und die Erwartungen derjenigen Menschen behandelt, die zurückbleiben, zählt Indiana nicht zu den lateinamerikanischen Schriftsteller*innen, die in den USA leben und die ihre eigenen Migrationsgeschichten zum Antrieb und zum Motiv ihres Schreibens machen (vgl. Aínsa 2012: 103). Das Leben und Schreiben in den USA, speziell in New York als Hauptstadt einer möglicherweise neuen World Republic of Letters, besitzt für dominikanische Schriftsteller*innen, neben den spanischen Metropolen Barcelona und Madrid, eine strategische Bedeutung, um sich im transnationalen literarischen Feld Geltung als Literat*in zu verschaffen (vgl. Maeseneer/Logie 2015: 20). Ein nicht geringer Teil der dominikanischen Literaturproduktion findet seinen Ursprung daher in englischer Sprache in der US-amerikanischen Diaspora (vgl. Maeseneer 2016: 34). Indianas persönliche Erfahrung, einige Jahre in den USA gelebt zu leben, führte nicht dazu, dass sie ins Englische wechselte, um sich direkt in das USamerikanische literarische Feld einzuschreiben: „Some writers have tried to mitigate the need for translation by choosing to write in a dominant language, if they can“ (Walkowitz 2015: 11). Handelt es sich doch beim Gebrauch des Englischen als Schriftsprache – auch durch Nichtmuttersprachler*innen, um eine immer mehr zu beobachtende Entscheidung von Schriftsteller*innen aus dem Globalen Süden. Diese Entwicklung führt dazu, dass vermeintlich kausale Zusammenhänge zwischen der Muttersprache und der Schriftsprache der Autor*innen an Bestand verlieren (vgl. Walkowitz 2015: 22). Selbst wenn Indiana sich gegen ein Schreiben auf Englisch entschied, haben die englische Sprache sowie die nordamerikanische (Populär-)Kultur Spuren in ihrem Roman Papi hinterlassen. Alles in allem beschäftigt sich der Roman also nur vordergründig mit dem allzeit bekannten und nahezu universellen Motiv des abwesenden Vaters. Stattdessen erzählt Indiana vielschichtig und facettenreich vom Alltag des jungen Mädchens auf der Insel. Sie setzt sich dabei thematisch auseinander mit der dominikanischen sowie US-amerikanischen Populärkultur, der dominikanischen Diaspora, der Kritik am exzessiven Konsumverhalten bestimmter Gesellschaftsschichten, der Kritik am in der Geschichte der Dominikanischen Republik praktizierten Personenkult und den patriarchalen Gesellschaftsverhältnissen auf der Insel.

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4.4.2.2 Autofiktion und Indianas Autorfigur und -bild in Papi In Anbetracht der ausführlichen, seitenlangen Beschreibungen und Charakterisierungen des Vaters sowie dessen Handlungen überrascht es, dass über die Protagonistin und Erzählerin des Romans nur wenig bekannt ist. Ihre tatsächliche Identität bleibt auch nach Abschluss der Romanlektüre ungeklärt (vgl. Latella 2018). Allein ihre Handlungen und Verhaltensweisen im Verlauf des Romans ergeben am Ende ein relativ vollständiges Bild von ihr. Zu Beginn ist es allein die sprachliche Ebene, die Rückschlüsse auf das Alter des Mädchens ermöglicht. So kann anhand der Wortwahl sowie des Sprachstils, aber auch der fantasievollen Beschreibungen abgeleitet werden, dass es sich bei der Erzählerin und Protagonistin um ein Mädchen im Grundschulalter handelt. Als deutliches Beispiel hierfür kann eine Aneinanderreihung von kindlichen, selbst erfundenen Schimpfwörtern genannt werden, die das Mädchen den Mitfahrer*innen eines Busses entgegenschleudert: „Y Damián, Juan José y todos los otros enanos, bolas de manteca, bolas de moco, bolas de cebo, culos cagaos, mascapantis, mamañemas, mamasijas sacan la cabeza por las ventanitas de la guagua como jicoteas para ver los Be Emes y los Ferraris que papi tiene parqueados“ (Indiana 2011: 98 f.). Gewissheit über das junge Alter der Protagonistin erhalten die Leser*innen allerdings erst auf Seite 84, wenn in einem Nebensatz erwähnt wird, dass das Mädchen acht Jahre alt ist: „[Y]o soy tan fuerte que mi brazo de ocho años nos sostiene a ambas“ (Indiana 2011: 84). Angesichts des jungen Alters der Protagonistin überraschen daher die mitunter anstößigen Bemerkungen, der vulgäre Wortschatz („TU MALDITA MADRE HIJO DE LA GRAN PUTA METETE UN DEO EN EL CULO“ (Indiana 2011: 74 [Herv. i. O.])) sowie die Kenntnisse über beispielsweise grausame Abtreibungspraktiken: „[A] la embarazada se las coloca en los primeros turnos de la fila, adonde las otras, viendo peligrar su posición, la hacen abortar majándole dos Situtex en el desayuno. Y si no, la agarran detrás de una matica y le meten una percha“ (Indiana 2011: 118 f.). Das keineswegs dem Wissensstand eines Kindes entsprechende Sach- und Erfahrungswissen ist es, die die Leser*innen an der kindlichen Unschuld und Unwissenheit des Mädchens zweifeln lassen. Daran haben ebenso die Sexualisierung der Protagonistin beispielsweise durch das Tragen bestimmter Kleidung („El traje de baño me lo compró papi y son unas tanguitas azul turquesa que cuando mami las vio le dieron grima […]“ (Indiana 2011: 54)) wie auch ihr eigenes sexuelles Begehren gegenüber den Freundinnen des Vaters Anteil, nach deren Aufmerksamkeit und Beachtung es heischt: „[…] María Cristina y yo nos despegamos del suelo y de papi muy deprisa, mientras nos besamos con los ojos cerrados […]“ (Indiana 2011: 84). Damit das gelingt, schlüpft das Mädchen sogar in die Kleidung seines Vaters und malt sich mit Filzstift einen Bart: „Y AQUÍ ESTOY arrastrando el pantalón de papi (que me han gra-

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pado hacia arriba y que me cubre las sandalias de goma), la camisa de seda de papi (que hace poco por detener este viento que me traspasa) y las patillas y el bigote de magic marker azul […]“ (Indiana 2011: 82 [Herv. i. O.]). Was auf den ersten Blick wie ein kindliches Verkleidungsspiel wirkt, kann bei näherem Betrachten laut Duchesne-Winter als eine Form des Crossdressing betrachtet werden, bei dem die Protagonistin in der Rolle des Vaters auftritt und ebenfalls dessen männliche Begierde nach einer seiner Freundinnen nachahmt: „[L]a narradora no deja de testimoniar sus avatares en el cross-dressing y otras performances de gender-crossing, entre las que cuentan sus identificaciones sexuales ambiguas y el intenso deseo platónico por algunas novias de papi que consume su precoz pubescencia“ (Duchesne-Winter 2008: 305 [Herv. i. O.]). Diese Handlungen der Protagonistin können letztlich als ein Wechselspiel mit ihrer uneindeutigen, will heißen bewusst mehrdeutigen, queeren sexuellen Identität interpretiert werden. Das Verwirrspiel der Geschlechter findet seinen Ausgangspunkt bereits zuvor, wenn dem Mädchen wegen eines Kopflausbefalls die Haare kurz geschnitten werden und es in der Folge für einen Jungen gehalten wird. Hinzu kommt in dieser Episode die, wenngleich kindliche, Zuweisung und Nachahmung der Vaterrolle im Spiel mit den gleichaltrigen Freundinnen und im Zuge dessen die Übernahme dessen Parts im Geschlechtsakt: Y fue por esto que me cortaron el cabello como a un varón. Y fue por eso que cuando jugábamos al papá y a la mamá mis amiguitas querían que yo fuera el papá. Y fue por eso que me le subí encima a Natasha debajo de su cama. (Y a Mónica y a Sunyi y a Renata y a Jessy y a Franchy y a Zunilda y a Ivecita). (Indiana 2011: 71)

In Bezug auf die sexuelle Ambiguität ähnelt die Protagonistin also der Autorin, der aufgrund ihres kurz geschorenen Haares und Kleidungsstils eine androgyne Erscheinung nachgesagt wird und die sich gleichermaßen weder als eindeutig hetero- noch als homosexuell identifiziert. Die namentliche Gleichheit von Erzählerin beziehungsweise Protagonistin sowie Autorin ist nicht gegeben, was gegen eine autofiktionale oder gar autobiografische Schreibweise Indianas spricht. Während die anderen Familienmitglieder, abgesehen von der Mutter (mami) und dem Vater (papi), namentlich bekannt sind und von ihm direkt benannt werden, taucht der Name des Mädchens an keiner Stelle des Romans auf. Nichtsdestotrotz bezog Indiana in Teilen die Inspiration aus ihrem eigenen Leben sowie aus ihrer Kindheit, wie sie selbst im Interview sagt: „‚Mi papá fue asesinado en Nueva York en 1989. Y de su muerte tengo cinco versiones distintas. Era mi héroe. Mi ídolo. Tuve una relación muy cálida con él pero por desgracia

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también muy intermitente‘, admite“ (Hevia 2011 [Indiana]). Deshalb kann dem Roman eine persönliche und damit, wenn auch geringe, autobiografische Tendenz bescheinigt werden: „[…] Indiana reconoce que le ha salido una novela ‚más autobiográfica de lo que quisiera‘“ (Europa Press 2011). Den tatsächlichen Ursprung des Romans sieht Indiana allerdings nicht in ihrem eigenen Leben begründet, sondern er ergab sich aus der Relektüre des Romans Cien años de soledad von Gabriel García Márquez sowie Seheindrücken aus dem Kriminalfilm Scarface, was auch den Genre-Crossover des Romans erklärt: „‚De golpe, recordé que todos nuestros mafiosos, cuando están en nuestro país se comportan como Trujillo, pero cuando llegan a Estados Unidos adquieren los atributos del personaje de Al Pacino en el filme‘“ (Sancho 2011 [Indiana]). Von primärer Bedeutung für den Roman ist deswegen in Bezug auf die Protagonistin lediglich die Tatsache, dass es sich bei dem Mädchen um die Tochter papis und damit um einen Teil der ‚königlichen Familie‘, wie es diese nennt, handelt: „Luego está la Familia Real, que somos yo, mi abuela, mis tías y los mellizos Puchy y Milly, además de mi más, a quien la familia real de papi reconoce como la única mujer de papi porque fue la primera y se casaron como dios manda por la iglesia“ (Indiana 2011: 124). Bedingt durch die interne Fokalisierung, das heißt die Schilderung der Geschehnisse aus der Perspektive des Mädchens, erfahren die Leser*innen weder durch Dritte, wie das Mädchen heißt, noch existieren präzise indirekte Charakterisierungen, die mehr Auskunft über das Mädchen geben. Nur an einigen wenigen Stellen wird auf sein hageres Aussehen angespielt, wie zum Beispiel bei einer Busfahrt: El chófer […] me dice: espejuelúa! cada vez que me subo a la guagua o cada vez que me ve por el retrovisor y luego en el segundo asiento está Juan José que me dice mosquito súper desarrollado y tres asientos después Damián me dice mini bruja y luego (ya más en confianza) me dicen flaquindé, denutre, garza, biafra, espaguetico, maría palito, cacatúa, jirafa, palo e lu, poste e lu, juana santa y topa, mangueroide, raquítica, baquebolista […]. (Indiana 2011: 95)

Alleine ausgehend von den Spitznamen und Beschimpfungen, wie beispielsweise ‚Reiher‘ („garza“), ‚Spaghetti‘ („espaguetico“), ‚Gespensterschrecke‘ („maría palito“), ‚Giraffe‘ („jirafa“) oder etwa ‚Lichtmast‘ („poste e lu“), die die anderen Mitfahrer*innen der Protagonistin verleihen, lässt sich erahnen, dass es sich bei der Protagonistin um ein äußerst schlaksiges Mädchen handeln muss, was auch an anderer Stelle betont wird: „A mí me dejan entrar porque soy muy alta y por eso estoy en la sección 12 del campamento con las muchachas que ya usan tampones, aunque la sección que me toca de verdad es la 10“ (Indiana 2011: 164).

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Inwiefern dieses Mädchen tatsächliche Gemeinsamkeiten mit der ehemals jungen Indiana besitzt, bleibt dahingestellt, jedoch weckt der Spitzname ‚Basketballerin‘ („baquebolista“) sowie generell die Hinweise auf die großgewachsene Statur des Mädchens Erinnerungen an den in der Presse gezogenen Vergleich zwischen Indiana und dem Basketballspieler Michael Jordan. Des Weiteren entspricht, wie bereits kommentiert, das freche und provozierende Auftreten der Protagonistin im Roman dem in der Presse gezeichneten Bild der jungen, unangepassten und Skateboard fahrenden Indiana (vgl. Peguero Isaac 2015). Indiana schuf mit der Protagonistin eine kecke, selbstbewusste Figur, die es ‚faustdick hinter den Ohren hat‘: „[L]a autora admite que ‚después de una primera compasión, dan ganas de matarla‘. Ella significa ‚la clase media rumiante, autista e infantil‘“ (Rodríguez 2011). Durch ihre kindliche Naivität und unermüdliche Geduld weckt sie auf der einen Seite die Sympathie und das Wohlwollen der Leser*innen, welche sie auf der anderen Seite jedoch durch ihr zumeist aufmüpfiges bis hin zu respektloses Verhalten verspielt. Darüber hinaus macht der Umstand, dass die Geschichte komplett aus ihrer (subjektiven), wenn auch nicht immer ganz realistischen, Sichtweise erzählt wird, sie zur Stimme beziehungsweise Repräsentantin der dominikanischen Realität im Roman: La niña […] se convierte en una portavoz de la realidad de su país, aunque esté mirándolo todo desde su lugar privilegiado como la hija oficial de Papi, el narco-dictador-rey de los pobres más importante de la nación. Y cuando habla (narra) hablan por su boca absolutamente todos los personajes, así los vamos conociendo y desconociendo. (Carrión 2018)

Infolgedessen prägt und bestimmt sie das Bild sowie die Eindrücke, die die Leser*innen von ihr, den anderen Figuren wie auch ihrer Umwelt und dem Alltag auf der Insel bekommen. Selbst wenn sie als Tochter papis über gewisse Sonderrechte und Vorteile verfügt, besitzt sie das Bewusstsein und schärft den Blick für gesellschaftliche Randgestalten und Problematiken: „[N]ombra los márgenes, sin venir de los márgenes, y reconoce las desigualdades entre las clases, las razas y las nacionalidades, sin sufrirlas en carne propia“ (Contreras Capó 2016). In diesem Punkt fungieren das Mädchen und seine Alltagsbeobachtungen als Spiegel der dominikanischen Gesellschaft, in der die rassistische Diskriminierung und Ausgrenzung von Haitianer*innen, insbesondere Afro-Haitianer*innen, zur Tagesordnung zählen. Das zeigen zum einen die immer wiederkehrenden desolaten Bilder von haitianischen Land- und Bauarbeiter*innen („cuerpos de obreros haitianos empalados en las varillas erectas sobre las que cayeron desde el decimocuarto piso de una obra“ (Indiana 2011: 131); „El camión llevaba yuca, y en la parte de atrás, en el bordecito, iban sentados dos haitianos, uno con una gorra roja y el otro sin camisa agarrado al camión con una mano y con la otra cu-

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briéndose del frío, aunque no podía“ (Indiana 2011: 178)), zum anderen die Mutter des Mädchens, die sich rassistisch über krauses Haar Schwarzer Menschen äußert: „[M]ami pedía que el pelo se me pusiera malo como el de los prietos para que los malditos piojos se enredaran en un afro y perecieran asfixiados“ (Indiana 2011: 71). Trotz der Tatsache, dass es sich bei der Erzählerin und Protagonistin im Roman um ein kleines Mädchen handelt, das noch dazu nicht den gleichen Namen wie Indiana trägt und sich, wohl auch wegen seines jungen Alters, nicht wie Indiana dem schriftstellerischen Metier widmet, gibt der Roman Aufschlüsse über Indianas Autorbild und -figur. Anstatt selbstkritisch über das eigene Erzählen zu reflektieren oder sich an unschönen sprachlichen Formulierungen aufzuhalten, ist es für das Mädchen weitgehend bedeutender seinen Alltag, den Kontakt zu den Menschen, die es umgeben, und die Gespräche, die es mit ihnen führt, spontan und lebendig wiederzugeben. Dabei geht es ihm weniger darum, das tatsächlich Erlebte ‚authentisch‘ zu erzählen, sondern aus den andernfalls eintönigen und tristen Alltagserfahrungen baut es mithilfe einer gehörigen Portion Witz, Frechheit und Fantasie Luftschlösser und andere Fantasiegebilde. Was andere von diesen Geschichten halten oder auch über es selbst denken, kümmert das Mädchen wenig. Das Autorbild, das Indiana im Roman entwirft, ist darum nicht das der (aus)gebildeten Schriftstellerin, sondern das der kecken Alltagsbeobachterin, deren Erzählstoff die ‚einfachen‘ Menschen von den Straßen und Plätzen Santo Domingos und ihre manchmal unglaublichen Geschichten liefern. Die Autorfigur, die Indiana von sich in Papi schafft, zeichnet sich weniger durch ihre Gewöhnlichkeit, denn durch ihre Originalität aus. So stellen das kleine Mädchen und damit auch Indianas Autorfigur ein ‚Unikum‘ dar. Ihre Impulsivität, Direktheit und Lässigkeit führen schlussendlich dazu, dass sie als ‚Störfaktoren‘ identifiziert und unter dem Vorwand der ‚Unreife‘ zunächst von der weltliterarischen Bühne und dann des Raumes verwiesen werden. 4.4.2.3 Lesbarkeit, Übersetzbarkeit und Stil von Papi Bereits zum jetzigen Zeitpunkt fällt auf, dass die Sprache einer der zentralen Punkte bei der Analyse von Indianas Schreibstil ist: „El lenguaje de sus novelas resulta una transcripción del español callejero y sin consonantes del Caribe mezclado con el inglés traído por las remesas y el éxodo“ (Martínez Caicedo 2013). Auf sprachlicher Ebene laufen die unterschiedlichen Erfahrungen und Interessen Indianas zusammen, wie die karibische Musik, die US-amerikanische und dominikanische Populär- und Massenkultur, das Kino und die Lyrik.

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Indiana verglich die Entstehung des Romans Papi mit der Arbeit eines DJs, der die Varietät, die ihm seine Plattensammlung bietet, vollkommen ausschöpft und Rhythmen und Stile verschiedenster Art kombiniert (vgl. Cordeu 2015 [Indiana]). Nicht zuletzt deshalb muss der Musik im Roman ein besonderer Stellenwert beigemessen werden: „‚La [novela] he escrito como un gran rap, tiene una cadencia de hip hop o de merengue‘, ha dicho la autora“ (Europa Press 2011 [Indiana]). Die Handlung des Romans liest sich stellenweise wegen der Vielzahl an Songtiteln und der Verweise auf bekannte dominikanische Merengue-Musiker, wie zum Beispiel Fernando Villalona, Johnny Ventura und Wilfrido Vargas, wie ein Streifzug durch die Musikgeschichte der Insel. Ohne große Mühen ließe sich auf der Grundlage dieser Referenzen ein zum Roman passender Soundtrack zusammenstellen. Für Leser*innen ohne die entsprechenden (regionalen) Musikkenntnisse verlieren jene musikalischen Passagen an Bedeutung, da kein Wiedererkennungseffekt gegeben ist und es macht den literarischen Text für jenen Typ Leser*in folglich unzugänglich. Liebhaber*innen und Kenner*innen des Merengue, die sich mehrheitlich unter den dominikanischen Leser*innen sowohl in der Diaspora als auch auf der Insel selbst finden, für die der Merengue ein wichtiges Kulturgut darstellt, fühlen sich dagegen angesprochen und identifiziert: „Papi se convierte así en una especie de plataforma literaria que recoge íconos del merengue posdictatorial que se erigieron como los rostros y voces más conocidos en los circuitos trasnacionales (Maillo-Pozo 2015 [Herv. i. O.]). Noch dazu fungiert der Merengue als verbindendes Element zwischen Tochter und Vater. So werden die wenigen Episoden, die die beiden tatsächlich gemeinsam verbringen stets musikalisch umrahmt (vgl. Maillo-Pozo 2015). Die allzeit präsente Musik im Roman führt dazu, dass dieser stellenweise an einen Videoclip erinnert, in dem sich in rasantem Tempo Bilder und Rhythmen vermischen (vgl. Latella 2018). Dieses Format entspricht den Sehgewohnheiten der Konsument*innen internationaler Popkultur und macht den Roman dadurch international gut rezipierbar. Um die Geschichte aus der Sicht eines kleinen Mädchens ‚authentisch‘ erzählen zu können, reproduziert und imitiert Indiana zudem dessen kindliche Sprache auf kreative Art und Weise: In Übereinstimmung damit sind auf textueller Ebene unzählige Lautmalereien zu finden, die an die in Comics gebrauchte onomatopoetische Sprache erinnern („zum, zum“, „cras, cras“, „claca, claca, claca“, „retetetetetete“, „ratatatatatatata“, „rutututututututu“). Des Weiteren weist der Text eine Reihe von Neologismen („me hacen ba bay“ (Indiana 2011: 31)) auf, wie sie ebenso häufig von kleinen Kindern kreiert werden. Es lassen sich aber auch – bewusste – Fehler („Papi y yo andamo loquísimo por la cartera. Carretera!, me corrige papi, carretera!“ (Indiana 2011: 103)), Übertreibungen („y papi suda, suda, suda, suda,

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suda, suda muuucho“ (Indiana 2011: 24)) sowie Hyperbeln und (Wort-)Spielereien auffinden, wie sie typisch für den Sprachgebrauch eines achtjährigen Mädchen sind: Papi tiene más de to que el tuyo, más fuerza que el tuyo, más pelo, más músculo, más dinero y más novias que el tuyo. Papi tiene más carros que el tuyo, más carros que el diablo, tantos carros que tiene que venderlos porque no le caben en su propia marquesina. Papi tiene carros que hablan y te dicen que te pongas el cinturón y que cierres la boca, en inglés, francés y otros idiomas. (Indiana 2011: 18)

Bemerkenswert an dem vorliegenden Zitat ist zudem, wie die vermeintliche Hypermaskulinität des Vaters durch die übertriebenen Beschreibungen des Mädchens ironisiert werden und damit auch an Glaubwürdigkeit verlieren. Trotz ihres jungen Alters ist das Mädchen, wie zuvor bereits aufgezeigt, alles andere als schüchtern, so dass die vorherrschende Grundstimmung des Romans sich in einem frechen und unverschämten Ton ausdrückt, der durch viele Vulgarismen, umgangssprachliche Begriffe aber auch durch Straßensprache geprägt ist. Augenfällig ist des Weiteren der mündliche Sprachgebrauch, der den kompletten Text dominiert und sich besonders auf Ebene der Syntax manifestiert. Wenn die Erzählerin mit den Berichten über ihren Vater in Fahrt kommt, werden an manchen Stellen jegliche Regeln der Zeichensetzung außer Kraft gesetzt und es reiht sich Aussage an Aussage: Entonces llamamos por teléfono y yo le digo a papi que yo quiero ver a Bugs Bunny en colores y él llora del otro lado y yo lo sé porque papi tiene un jipío cuando llora y cuando cuelgo suena el timbre y abro la puerta y es Corporán de los Santos el campeón de la televisión dominicana, con su afro, con sus siete corporettes botando confetti y serpentinas por la nariz que viene a hacerme la entrega del televisor que me manda papi, en una cajota muy grande con la que me hago una casita, mientras mami y su novio miran la telenovela de las siete y media. (Indiana 2011: 39 f.)

Deutlich erkennbar ist an diesem Textbeispiel der Gebrauch von Polysyndeta. Dieses rhetorische Stilmittel manifestiert sich in der Aneinanderreihung einzelner Satzglieder, die fast alle durch die Konjunktion „y“ (dt. und) miteinander verbunden sind. Das wiederum erzeugt beim Lesen den Effekt der direkten Berichterstattung, bei der nach der Bitte um einen Fernseher sowie dessen sofortige Zustellung sogleich wieder ein neues Ereignis hinzukommt, von dem das Mädchen sofort erzählen muss. Zu ergänzen sind außerdem die seitenlangen Aufzählungen, in denen das Mädchen akribisch aufführt, was sein Vater alles besitzt beziehungsweise welche Geschenke er ihm bereits gemacht hat:

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Cause now he‘s got boneless skinless chicken breasts, whole boneless beef, mi nenes, nintendos, plantilla e media, escuelas de tae kwon do, semillas de cajuil, semáforos, hotel style turkey breast, boneless steak, tarántulas domesticadas en peceras, ledbetter boneless beef bacon wrapped tenderloin filets, lámparas japonesas de papel de pergamino tibetano, all purpose white potatoes, mujeres, all purpose yellow onions, mujeres, campbells tomato, chicken noodle, mujeres, green beans-onion-alphabet soup. (Indiana 2011: 38)

Mit der für die Leser*innen weitestgehend sinnfrei erscheinenden Auflistung von Mahlzeiten, japanischen Lampen, Frauen und Nintendos veranschaulicht das Mädchen auf seine kindliche Art und Weise, dass es nichts gibt, was sein Vater nicht besitzt. Die umfangreiche Auflistung der Besitztümer des Vaters steht sinnbildlich für dessen Status und Männlichkeit. Jene Textabschnitte führen zudem dazu, dass die Handlung des Romans an schwindelerregendem Tempo gewinnt: „Throughout, long run-on sentences force readers to sort through a dizzying array of words, emotions, and images“ (Kirkus Review 2016). Manch eine*n Leser*in mag die Geschwindigkeit dieser Satzkaskaden sowie die Absurdität und Unsinnigkeit der Beobachtungen des Mädchens abschrecken. Wer jedoch mithält, bleibt am Ende zwar atemlos zurück, jedoch um eine besonders virtuose Leseerfahrung bereichert. Genauso sieht das auch die internationale Literaturkritik, die einen vorzeitigen Abbruch der Lektüre als geradezu waghalsiges Unterfangen bezeichnet: „[La novela] [e]s tan veloz que se ingiere del tirón, pues dejarla a medias sería tan peligroso como saltar de una motocicleta a toda velocidad“ (Sancho 2011). In diesem Kontext wird hervorgehoben, dass es sich bei Papi nicht um einen ‚gewöhnlichen‘ Roman, sondern um eine ästhetische wie auch sprachliche Herausforderung für jedwede*n Leser* handelt: „[P]ocos lectores están acostumbrados a leer una novela que huye todo el tiempo, sincopada, y a esa fuerza imaginativa llena de violencia con la que la niña va construyendo su primer andar por el mundo“ (Carrión 2018). Nicht grundlos wird Indiana nachgesagt, dass sie sich gegen jegliche Normen und Regeln der Real Academia Española widersetze (vgl. Rodríguez 2011), was sicherlich daran liegt, dass sie sich dafür entschied, ihre Romane in der dominikanischen Varietät des Spanischen zu verfassen, wie es auf den Straßen Santo Domingos gesprochen wird, und nicht etwa in einem ‚neutralen‘, ‚regelkonformen‘ Spanisch, wie es in einem Wörterbuch oder in Indianas Worten in einer lateinamerikanischen Telenovela zu finden ist (vgl. Indiana 2019): Pequeña minera de la oralidad, me dedique a copiar a bolígrafo las expresiones idiomáticas, las onomatopeyas, las formas de contar lo extraño, las barrocas malas palabras con que las mujeres acompañaban los jalones de pelo en sus peleas. Sin entender muy bien lo que hacía, empecé a escribir en dominicano. (Indiana 2019)

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Der Effekt hiervon ist, dass die sprachlichen Äußerungen des Mädchens so unmittelbar erscheinen, als würde es sich mit diesen direkt an die Leser*innen richten („búscalo que no lo vas a encontrar“ (Indiana 2011: 98); „Primero, debes entender la historia detrás de la aventura. Un buen conocimiento de la historia antes de empezar el juego hará tu aventura más rica“ (Indiana 2011: 121)). In diesem Kontext sind die stilistischen und sprachlichen Experimente zu verorten, die einerseits den Gemütszustand des Mädchens widerspiegeln, der sich von Kapitel zu Kapitel bisweilen sehr sprunghaft verändert, und die andererseits dazu beitragen, dass der Rhythmus und Tonfall der Erzählung variiert: El carro, un carro carro. Un carro carro carro, el carro más carro, car, ataca, atácalo, cógelo, chúbalo, chúbalo, chúbalo. Car, car. Por un carro fue que lo mataron, por un car, un carro carro caro, bien caro. Los carros caros más baratos, los carros caros son raros, uno dos, tres carros pasan sin darle, pero el cuarto de lao, le da de lao, lo está majando […]. (Indiana 2011: 171)

Der Gebrauch der dominikanischen Varietät des Spanischen kommt nicht nur auf der Ebene des Wortschatzes mit Begriffen und sprachlichen Wendungen wie ser un hijo de machepa (dt. etwa ein Niemand sein), patana (camión de gran tamaño, dt. Lastkraftwagen), guillo (bracalete, dt. Armreif), jipío (dt. etwa Geräusch der Lungen beim Einatmen) oder suape (fregona, dt. Wischmopp) zum Ausdruck, sondern auch in der Morphologie, der Syntax und Phonetik des Textes. Damit letztere richtig erfahrbar wird, müsste der Text eigentlich laut gelesen werden. Denn nur auf diese Weise kommt der für die Region typische Wegfall des s und d, die Aspiration des h, der Lautwandel von l zu r sowie viele andere für die Aussprache der Region typische Veränderungen zur Geltung, die sich in Ausdrücken wie écusenme, vamo, pielna, cambialme, jartar, a to lo que da, dolol etc. manifestieren. So schafft Indiana ein originalgetreues Abbild der soziolinguistischen Realität der Dominikanischen Republik, das an mancher Stelle aufgrund seiner plötzlichen Rhythmus- und Geschwindigkeitswechsel mehr an ein Lied als an einen Roman erinnert. Letzter Umstand widerspricht wiederum der eingangs aufgestellten These, dass Indiana den Roman bewusst für ein internationales Publikum schrieb. Gleichzeitig darf jedoch nicht vergessen werden, dass der Gebrauch all jener Regionalismen für diejenigen Leser*innen, die den Roman in Übersetzung lesen, keine Rolle mehr spielt, da es im Allgemeinen unmöglich ist, diese in die Zielsprache zu übertragen, das heißt beizubehalten. Deshalb bemerken diese Regionalismen letzten Endes nur diejenigen Leser*innen, die sich die Mühe machen, das Original mit der Übersetzung zu vergleichen: „The loss in translation remains invisible to any reader who doesn’t undertake a careful comparison to the foreign text – i. e., most of us“ (Venuti 2004). Trotzdem stellen sie grundsätzlich eine Herausforderung für

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die Übersetzer*innen dar, die ein möglichst passendes Pendant in der Zielsprache finden müssen. In diesem Kontext führt auch Indiana selbst die ‚Widerstände‘ an, auf welche sie bei den Verlagen mit ihrem literarischen Werk stieß: „Escribir en dominicano significa que te pedirán que añadas un glosario a tus novelas, que escribas en un lenguaje más cómodo, más amable. Que recibirás cartas de rechazo de editores y agentes en las que te explican que lo universal es lo genérico y lo tuyo es la oralidad“ (Indiana 2019). Hinsichtlich der sprachlichen Register, die Indiana im Roman verwendet, ist ferner der Gebrauch des Spanglish zu nennen, der auf der einen Seite dem Einfluss der US-amerikanischen Populärkultur zu verschulden ist, auf der anderen Seite aber auch auf die transnationale Migration der Dominikaner*innen in die USA zurückzuführen ist. Diese sprachliche Mischform manifestiert sich nicht nur in der Präsenz zahlreicher Anglizismen und Lehnwörter aus dem Englischen („me seca el pelo con el blower en high“ (Indiana 2011: 72), „vending machine“ (Indiana 2011: 204)), sondern im konstanten Code-Switching, dem steten Wechsel – zum Teil innerhalb eines Satzes – zwischen dem Englischen und Spanischen („Y a contar hasta twenty“ (Indiana 2011: 70), „Y nos quedamos viendo a otra vieja que le habla a las latas de leche en polvo ninety nine cents for christ sake“ (Indiana 2011: 70)). Die Verwendung dieser Mischsprache und die in diesem Zusammenhang geschaffenen Neologismen verlangen von den Leser*innen sowohl Englisch- als auch Spanischkenntnisse ab und sie erschweren zusätzlich die Übersetzung des Romans. Einige der Begriffe und Wendungen erfordern außerhalb ihres regional gebräuchlichen Kontextes, das bedeutet außerhalb der Spanglish sprechenden (dominikanischen) Community, definitiv eine weiterführende Erklärung (vgl. Walkowitz 2015: 13), die Indiana jedoch nicht vorlegt und die auch nicht in den Übersetzungen in Form eines Glossars zu finden sind. Bemerkenswert ist, dass bei einem Blick in die englische Übersetzung des Romans Papi. A novel (2016) und einem exemplarischen Vergleich der zuletzt genannten Textstellen festgestellt werden kann, dass die kommunikative Mischpraxis der Protagonistin dort nicht beibehalten wird. Stattdessen ist der Text in der Übersetzung einheitlich und durchgehend in englischer Sprache verfasst („And now to count to twenty“ (Indiana 2016: 43), „Then we stared at another old woman talking to the ninety-nine-cent cans of powdered milk, for Christ’s sake“ (Indiana 2016: 43)), wodurch die Sprechhaltung des Mädchens zwangsläufig an Besonderheit einbüßt. Es muss deshalb von einem ‚Verlust‘ an Ausdruckskraft oder doch zumindest von einer Modifikation hinsichtlich des Schreibstils Indianas im Zuge der Übersetzung gesprochen werden: „Obejas’s translation may have lessened the

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original Spanish cadence by default, but it’s certainly not lost“ (León 2016b [Herv. i. O.]). Dieser Umstand spricht indes gegen eine Annahme, dass es sich bei Papi um Weltliteratur handele, da, um Damrosch zu zitieren, jener Typus von Literatur durch den Übersetzungsprozess bereichert wird (vgl. Damrosch 2003: 281), was bei der englischen Übersetzung des Romans Papi jedoch nicht der Fall ist. Dem kann entgegengehalten werden, dass (fast) jedes Buch durch die Übersetzung bereichert wird, da es in der Region der Zielsprache eine neue Rezeption erfährt. Übersetzen heißt, etwas ‚Neues‘ zu schaffen, das zwar in direkter Verbindung zum Originaltext (ent)steht, dessen Endprodukt aber nicht als eine wortgenaue Eins-zu-Eins-Übertragung zu verstehen ist. Letztlich handelt es sich bei der Übersetzung um eine, der anvisierten Zielgruppe angepasste Auslegung des Originaltextes seitens der Übersetzer*innen und damit um eine weitere, mögliche Lesart desselbigen: „Far from reproducing the source text, a translation rather transforms it by inscribing an interpretation that reflects what is intelligible and interesting to receptors“ (Venuti 2014: 180). Dass die Übersetzung von Papi in den USA auf positive Kritik stieß, zeigt, dass der Roman keineswegs untrennbar mit seinem Entstehungskontext sowie seiner Ursprungssprache verwoben ist, was nach Damrosch eine Übersetzung vollkommen unmöglich machen würde: „[S]ome works are so inextricably connected to their original language and moment that they really cannot be effectively translated at all“ (Damrosch 2003: 288). Selbst wenn Indianas Stil stellenweise eine Übersetzung beeinträchtigt, ist der Verlust, der mit der englischen Übersetzung einhergeht, keinesfalls so groß, dass der Roman in Übersetzung unlesbar und dadurch in seiner Zirkulation auf den lokalen dominikanischen oder bestenfalls den spanischsprachigen Raum beschränkt wäre. Deshalb gilt es, zwischen einer gleichsprachigen oder originalsprachigen Rezeption sowie einer internationalen, auf die Übersetzung bezogene Rezeption eines literarischen Textes zu unterscheiden. Diese müssen nicht zwangsläufig einer Meinung sein, da das Leseverständnis auch durch die soziale Positionierung der Leser- und Kritiker*innen beeinflusst wird. So mag es zwar Weltliteratur geben, aber nicht den*die universelle*n Leser*in. Grundsätzlich gilt es in Kauf zu nehmen, dass eine jedwede Übersetzung mit einem gewissen Grad an Verlust einhergeht: „In fact, a work begins to lose cultural reference and historicity the minute it is translated“ (Marling 2016: 35). Doch nicht nur dann treten die von William Marling genannten Konsequenzen ein, sondern selbst wenn ein literarischer Text innerhalb des gleichen Sprachraums bleibt, aber seinen Entstehungskontext verlässt, verliert er die ursprünglichen Bezugspunkte.

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Papi erfüllt die Voraussetzungen, die an einen literarischen Text vor der Übersetzung gestellt werden. Er ist sowohl für Leser*innen in der Originalsprache als auch für Leser*innen außerhalb des Produktionslandes ansprechend: „Beyond its initial common literary attractiveness, the text has to appeal to particular local tastes, which may be different, perhaps even contradictory“ (Marling 2016: 29). Folglich gelingt Indiana mit Papi der schwierige Spagat zwischen einem literarischen Text, der einerseits lokal verortet ist und lokale Thematiken abhandelt, und der andererseits dennoch auf das Interesse einer globalen Leserschaft stößt. Die durchweg begeisterte Resonanz, die die englische Übersetzung von Papi in der US-amerikanischen Presse erntete, hängt sicherlich zu einem beträchtlichen Teil mit dem hohen Renommee, das seine US-amerikanisch-kubanische Übersetzerin Achy Obejas genießt, zusammen: „Obejas brilliantly transfigures her [Indiana’s] prosody into English“ (Publishers Weekly 2016); „Masterfully translated by Achy Obejas […]“ (Terhaar 2016). Prominente Übersetzer*innen können die Sichtbarkeit eines literarischen Debüts vergrößern. Dieser Umstand weckt Erinnerungen an das positive Echo, dass die englische Übersetzung von Cien años de soledad des kolumbianischen Literaturnobelpreisträgers Gabriel García Márquez erhielt und das William Marling in Teilen auf das Ansehen des US-amerikanischen Übersetzers Gregory Rabassa im US-amerikanischen literarischen Feld zurückführte: How did the reviewers know the translation was good? […] The status of Gregory Rabassa was a critical touchstone for most reviewers. He was invoked as if a name brand, someone whose judgment in selection of works and authors, as well as in words and sentences, was impeccable. (Marling 2016: 37)

Das Zitat zeigt, wie García Márquez und die englische Übersetzung seines literarischen Werks letztlich von Rabassas kulturellem Kapital profitierten. Obejas verfügt als Schriftstellerin und Übersetzerin karibischer Autor*innen über die notwendige Qualifikation und Fachkompetenz, die eine adäquate Übersetzung des Romans Papi einem*einer Übersetzer*in abverlangt (vgl. Jemc 2016). Dazu ist sie die Übersetzerin des preisgekrönten US-amerikanisch-dominikanischen Autors Junot Díaz (vgl. Terhaar 2016). Auf Indianas Sichtbarkeit und Ansehen in den USA wirkte es sich deshalb positiv aus, dass sie als Debütantin neben bereits renommierten Autor*innen in die Liste von Obejas übersetzten Werken aufgenommen wurde. Die ständigen Verweise in der Presse auf Obejas Verdienst als Übersetzerin lassen allerdings fast den Eindruck entstehen, dass der Erfolg von Papi in den USA weniger mit Indianas künstlerischer Eigenleistung als Schriftstellerin zusammenhängt, sondern erst die Übersetzung den Roman ‚lesens-‘ und ‚lobenswert‘ machte.

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Korrekterweise muss in diesem Zusammenhang noch darauf hingewiesen werden, dass es sich bei einer Übersetzung einerseits um ein literarisches Produkt handelt, welches in direkter Verbindung zum Original steht und das aus der bestenfalls gut funktionierenden Zusammenarbeit von Autor*in und Übersetzer*in hervorgeht. Andererseits ist die Übersetzung aber auch als ein eigenständiges und daher vom Original separat zu betrachtendes literarisches Werk zu sehen (vgl. Bassnett 2016: 304). Beide Umstände sind bei der Übersetzung des Romans Papi gegeben, wie die nachfolgende Aussage der Übersetzerin Obejas zeigt, die zum einen auf die Kooperation mit Indiana verweist, zum anderen betont, dass Indiana klar zwischen Original, das heißt ihrem persönlichen schriftstellerischen Werk, und der Übersetzung, der Aufgabe der Übersetzerin, unterscheidet: „Obejas compliments Indiana’s openness in the process, as well: ‚She was great – helpful and responsive, but not intrusive. She totally got that the translation was its own thing‘“ (Jemc 2016 [Obejas]). Da einer Übersetzung ins Englische für gewöhnlich weitere Übersetzungen in andere Sprachen folgen (vgl. Sapiro 2015: 325), kann davon ausgegangen werden, dass der Prestigewert der Übersetzerin, will heißen Obejas symbolisches Kapital sowie auch das generell höhere symbolische Kapital der englischen Sprache (vgl. Escalante Gonzalbo 2007: 278), sich vorteilhaft auf den Rechtekauf sowie die Übersetzungsentscheidung des italienischen und norwegischen Verlages auswirkten. Vor diesem Hintergrund springt besonders das Cover der US-amerikanischen Ausgabe des Romans ins Auge. Auf diesem ist zum einen der übliche Verweis auf der*die Übersetzer*in, in diesem Fall Obejas, zu finden, zum anderen aber auch eine Referenz auf Díaz, der sich wiederum positiv über Indiana und ihren Roman äußert: „As delirious as it is powerful, Papi is a harrowing vision of a daughter trapped in the underworld of her father. Rita Indiana is one of a kind“. Díaz, der sich bereits im US-amerikanischen literarischen Feld einen Namen gemacht und mehrere Literaturpreise gewonnen hat, fungiert als Gütesiegel und zugleich als Garant für ‚lesens-‘ und ‚empfehlenswerte‘ Literatur. Der Roman Papi spricht damit in seiner englischen Übersetzung eine implizite Leseempfehlung an diejenigen Leser*innen aus, die Díaz und dessen literarisches Werk bereits kennen und gelesen haben und ihn folglich als Wertmaßstabgeber anerkennen. Sein Kommentar besitzt also einen Wiedererkennungswert für die Leser*innen (vgl. Kampmann 2013: 136). Zugleich verleiht Díaz’ Namen auf dem Buchumschlag von Indianas Erstlingsroman (in englischer Übersetzung) der Schriftstellerin mehr Gewicht beziehungsweise Glaubwürdigkeit und verhilft ihr, als bis dato noch unbekannter Autorin, zu mehr Sichtbarkeit im US-amerikanischen literarischen Feld.

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Das Beispiel unterstreicht darüber hinaus, inwiefern für Indianas Positionierung als Schriftstellerin die Einbindung in ein soziales Netzwerk förderlich war, auf welches vermutlich auch die Verbindung zu Díaz zurückzuführen ist. Doch auch für Díaz bietet diese ‚Beziehung‘ Vorteile. Durch das Kritikerzitat für Indiana verkörpert er den wertenden ‚Altvater‘ und wird zur literarischen Autorität. Die Existenz der angloamerikanischen Kultur beschränkt sich indes nicht nur auf die sprachliche Ebene in Indianas Roman. Der gesamte literarische Text ist mit kulturellen Referenzen in Form von Produktmarken von Konsumgütern (hauptsächlich Luxusartikel, Spielzeug und Lebensmittel: Froot Loops, Coca Cola, avena Quaker, Paper Mate, Nike, Pontiac, Ray-Ban, Adidas), Filmstars (John Travolta), Sänger*innen (Ozzy Osborne, Tears for Fears, Alpha Blondie, Metallica), Kinderheld*innen (ET, Barbie, Winnie Pooh, Bugs Bunny, pato Donald) und Filmcharakteren (Rocky, Jason, Luke Skywalker, Darth Vader, Doctor Spock) gespickt. Sie durchdringen den Alltag auf der Insel und damit konsequenterweise auch die Sprache des Mädchens und vermischen sich mit den lokalen kulturellen Referenzen wie der dominikanischen Musik (besonders dem Merengue) und der lokalen Gastronomie (arroz con guandule (dt. etwa Reis mit Erbsen), Ponche Crema de Oro (dt. ein Eierlikör aus der Karibik), helado de champola (dt. eine Art Milchshake mit Eis), mofongo (dt. ein Kloß aus Kochbananen) etc.). Bei den kulinarischen Verweisen ist die symbolische Dimension des Essens von Bedeutung (vgl. Beushausen et al. 2014: 11): So stiftet Indiana durch den Konsum der landestypischen Speisen und Getränke im Roman Identität. Die zahlreichen Bezüge auf die US-amerikanische Populärkultur sorgen dafür, dass der Roman auf globaler Ebene lesbar wird, da ein Großteil der Leser*innen, unabhängig ihrer Herkunft, die ein oder andere (Kindheits-)Erfahrung mit diesen Produkten oder Persönlichkeiten in Verbindung bringt und sich dementsprechend angesprochen fühlt. Das Resultat ist ein hybrider Text mit einem experimentellen beziehungsweise gewagten Stil oder anders gesagt ein buntes Potpourri, das sich aus einer Kombination von Lyrics, Filmszenen aus Genres wie dem Horror, Science-Fiction, Fantasy und Action sowie Episoden aus der dominikanischen Realität zusammensetzt. Genau dieser Mix ist es auch, der Indianas schriftstellerisches Projekt auszeichnet, die sich in ihrem Schreiben unterschiedlichster Stile bedient und verschiedenste popkulturelle Einflüsse verarbeitet: „Todo vale en la literatura de Rita Indiana – un poco como los collages y balbuceante sinsentidos del Dadá – ya que uno atraviesa sus libros como si fuesen no-literatura, pastiches donde la poética ha sido remplazada por el amor a la cultura de las masas y los talkshows“ (Muñoz 2011 [Herv. i. O.]). Deshalb kann festgestellt werden, dass es sich bei dem Roman Papi keinesfalls um eine ‚einfach‘ zu lesende oder übersetzende Lektüre handelt. Ganz im

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Gegenteil, durch seinen besonderen Stil, die vielen sprachlichen Register und die unzähligen kulturellen und musikalischen Referenzen, stellt der Roman eine Herausforderung für jedwede*n Leser*in oder Übersetzer*in, der*die nicht mit dem dominikanischen Kontext vertraut ist, dar. Dazu im Widerspruch stehen die zahlreichen Referenzen aus der globalen Pop- und Konsumkultur und damit ein fast schon ‚universell‘ oder zumindest für ‚westliche‘ Leser*innen und Übersetzer*innen verständliches Vokabular. Da das Buch über keinerlei Glossar oder Fußnoten mit weiterführenden Erklärungen und Kommentaren verfügt61, ist anzunehmen, dass Indiana entweder davon ausgeht, dass der*die implizite Leser*in all jene Referenzen kennt, oder Indiana erachtet es nicht als erforderlich, dass die Leser*innen diese Kenntnisse benötigen, um (dennoch) Vergnügen an der Lektüre zu finden. Dazu passt auch der Kommentar einer Rezensentin, dass es sich bei Papi weniger um erzählende Literatur handelt, deren Absicht es ist, die Leser*innen zu unterhalten. Stattdessen steht im Roman vielmehr die ästhetische Erfahrung im Vordergrund, der gegenüber sich der*die Leser*in bei der Lektüre öffnen muss (vgl. Terhaar 2016). Aus diesem Grund ist es auch nicht zwingend vonnöten, den Roman in seiner Gesamtheit zu ‚verstehen‘, geht es doch primär um das ästhetische Erlebnis einer nicht standardisierten Literatur abseits des Mainstreams, die in den Großverlagen und -buchhandlungen zu finden ist. Die Vielzahl an Referenzen zur dominikanischen und US-amerikanischen (Pop-)Kultur sprechen daher dafür, dass Indiana ihren Roman Papi keineswegs speziell für ein internationales Publikum konzipierte. Vielmehr entsteht der Eindruck, als habe sich Indiana mit ihrem Schreibstil in Papi vorsätzlich gegen eine ‚leicht‘ zu lesende und übersetzende Literatur entschieden, um auf diese Weise ein Zeichen gegen die sprachlichen und stilistischen Homogenisierungstendenzen des globalen Buchmarktes zu setzen: „By using nonstandard versions of a national language, a work opposes political and cultural homogenization, both the kind imposed by other speakers of that language and the kind imposed by translators and publishers“ (Walkowitz 2015: 32). Aufgrund der Bestrebungen Indianas nach einer unkonventionellen, bisweilen eckigen und kantigen Schreibweise, stellt eine Übersetzung ihres Romans ein ehrgeiziges und mühsames, aber keinesfalls unmögliches Unterfangen dar. Es existieren sehr wohl Übersetzungen von Papi, die bereits näher thematisierte englische sowie eine italienische und norwegische Übersetzung, welche noch dazu sehr positive Kritik ernteten.

61 In dieser Hinsicht unterscheidet sich Indianas Roman Papi zum Beispiel von Junot Díaz’ Roman The Brief Wondrous Life of Oscar Wao (2007), mit dem sie immer wieder verglichen wird.

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In diesem Zusammenhang hat sich außerdem gezeigt, dass Papi nicht als born translated-Literatur zu verstehen ist. Schließlich kann von einem Buch, in dem das Spiel mit der Sprache sowie die Sprache selbst einen zentralen Bestandteil des Romans ausmachen, unmöglich behauptet werden, dass dessen Autorin bereits im Schreibprozess eine spätere Übersetzung gedanklich vorwegnimmt. Vielmehr erinnert die Sprache Indianas, die sich aus Elementen des Spanglish, des Englischen und des Spanischen der Antillen zusammensetzt, an die von Walkowitz beschriebene Technik des Multilingualismus, mittels derer (gezielt) ein multinationales Publikum erreicht und angesprochen werden kann: „Written for multiple audiences, contemporary novels have developed strategies of multilingualism designed for the foreign, nonfluent, and semifluent readers who will encounter them“ (Walkowitz 2015: 44). Somit kann sich hinter dieser Schreibtechnik Indianas ebenso eine Strategie hinsichtlich der Ansprache des Zielpublikums verbergen. Dies würde bedeuten, dass Indiana sich mit dem Roman bewusst an mehrsprachige Leser*innen der dominikanischen Diaspora, beispielsweise in den USA lebende Dominikaner*innen, wendet. Diese erkennen und verstehen auch die zahlreichen Bezüge zur dominikanischen wie auch nordamerikanischen (Populär-)Kultur problemlos. Hierfür spricht ferner die Tatsache, dass Papi innerhalb der dominikanischen Diaspora in New York wie auch in Puerto Rico, wo der Roman zuerst erschien, als Kultbuch gehandelt wird (vgl. Hevia 2011). Aus dieser Erkenntnis geht letzten Endes hervor, dass der Roman zwar nicht vorrangig auf ein ‚breites‘ internationales Publikum ausgerichtet wurde, der Aspekt der Multilingualität, wie sie der dominikanischen Diaspora und deren Leser*innen zu eigen ist, bei der Konzeption aber sicherlich eine große Rolle spielte. Daneben bietet der Roman Papi für all die anderen Leser*innen, die nicht die notwendigen Vorkenntnisse mitbringen, ein ‚Fenster‘ in eine ‚andere‘, unbekannte Welt. Das ist wiederum nach Damrosch ein Kriterium, das den Roman zur Weltliteratur macht (vgl. Damrosch 2003: 15). Exemplarisch hierfür seien nochmals die Vielzahl an Regionalismen, sprachlichen Register und kulinarischen Spezialitäten genannt, denen einen Hauch von Exotik anhaftet. Gepaart mit gesellschaftspolitischen Themen weckt diese Kombination das Interesse eines ‚westlichen‘ Lesepublikums. Zugleich kann hier, abermals in Anlehnung an Damrosch, eingewandt werden, dass die Version, die Papi von der dominikanischen Insel präsentiert, nicht vollkommen ‚innovativ‘ sein kann. Schließlich handelt es sich bei dem Roman um einen der wenigen belletristischen Titel, der zu den alljährlich ins Englisch übersetzten drei Prozent an fremdsprachiger Literatur in den USA zählt (vgl. University of Rochester 2016). So vertritt Damrosch ebenso die Ansicht, dass vornehmlich diejenigen Romane ins Englische übersetzt werden, die die nicht selten

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stereotypen Vorstellungen und Fantasien der US-amerikanischen Leser*innen gegenüber der jeweiligen Region, in diesem Fall der Dominikanischen Republik, bedienen, bestärken und bestenfalls bestätigen (vgl. Damrosch 2003: 18). Demnach wären die Bilder, die Indiana in Papi von der Dominikanischen Republik entwirft, wenig unkonventionell, sondern vielmehr klischeebeladen. Dass dem nicht so ist, zeigt der Umstand, dass der Roman Papi sich für eine mehrschichtige und mehrdeutige Lektüre anbietet. So mag er zwar auf den ersten Blick die Leseerwartungen eines internationalen Lesepublikums, das mit lateinamerikanischen Literaturen, in diesem Fall karibischen, oftmals Themen wie Magie, Fantasie, Gewalt, Exotik und Machismo verbindet, erfüllen. Denn in der Tat sind das alles Themen, die der Roman auf die eine oder andere Weise abhandelt. Das blieb auch der Presse nicht verborgen, die diese Komponenten als Indiz dafür sieht, dass Indianas Schreibweise in Papi an den magischen Realismus erinnert (vgl. Sancho 2011). Durch die Erzählung der Geschehnisse aus der Sicht des kleinen Mädchens spielt Indiana bewusst und auf übersteigerte Weise mit diesen Elementen, indem das Mädchen alles, was es schildert, übertreibt, ins Gegenteil verkehrt und damit ad absurdum führt. Deshalb entpuppt sich der Roman Papi vielmehr als explosive, fast schon parodistische Nachahmung des magischen Realismus, als welche ihn auch der ecuadorianische Schriftsteller Ernesto Carrión bezeichnet: „[L]a novela nos hace pensar en un realismo mágico dinamitado desde las entrañas“ (Carrión 2018). Zugleich muss beachtet werden, wie von Indiana selbst konstatiert, dass die Tatsache, dass ein literarisches Werk dem magischen Realismus zugerechnet wird, nicht die Autor*innen selbst bestimmen, sondern vielmehr die Literaturkritik oder Literaturwissenschaftler*innen einem literarischen Text dieses Attribut zuweisen (vgl. Indiana 2015). Dabei gilt nach Indiana nicht selten allein der geografische Ursprung eines Werks als ausschlaggebend für die eine oder andere Zuweisung: Al norte de Nueva Orleans y al sur del Amazonas, los mismos elementos que definen al género más popular de Latinoamérica se convierten en literatura fantástica o surrealista. Fuera de los paralelos malditos que definen al gran Caribe, un muerto violador es ‚weird fiction‘, cool, horror contemporáneo. Dentro es un pastiche de García Márquez tan predecible como un polvo al aire libre en una novela de Isabel Allende. (Indiana 2015)

Indianas Schreibstrategie ist daher als gezielte Distanzierung ihrerseits bezüglich des Booms und den vornehmlich damit in Verbindung stehenden männlichen Erfolgsautoren zu werten (vgl. La conjura de los libros 2016). Ihr Roman Papi kann folglich abhängig von der Lektüreperspektive sowohl als affirmativ als auch als subversiv gegenüber diesen Leseerwartungen und Vorstellungen verstanden werden.

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Des Weiteren ging aus der Analyse hervor, dass es keineswegs die Geschichte über die Beziehung zwischen Vater und Tochter ist, die das Verständnis erschwert, da diese, wie bereits erwähnt, recht ‚simpel‘ ist. Tatsächlich bildet sie nur den Rahmen für ein großes Sprachspektakel, denn die Komplexität des Romans liegt in seiner Erzählweise und seinem Stil begründet. Wie in der spanischen Tageszeitung El País geschrieben, ist Papi als „un tour de force“ (Manrique 2011 [Herv. i. O.]) zu verstehen, in der die Leser*innen, während sie das Mädchen beim Warten auf ihren Vater begleiten, sich wie auf einer turbulenten und schwindelerregenden Achterbahnfahrt fühlen, in der stets unklar ist, was als Nächstes passiert. Lediglich, dass Papi irgendwann in naher Zukunft um die Ecke kommen soll („‚al doblar la esquina‘“ (Indiana 2011: 59)), ist das einzige, worauf sich die Leser*innen verlassen können. Der Roman Papi zählt damit keineswegs zu der eingangs benannten globalen Literatur, die leicht konsumierbar und exportfähig ist. Die Analyse hat demonstriert, dass es gewiss nicht einfach ist, die Welt, die Indiana in ihren literarischen Texten kreiert, zu verstehen, und ihrem Schreibstil zu folgen. Zumal Indiana keine stilistischen Anstrengungen scheut, um eine andere Literatur zu schaffen, die ebenso wie sie selbst, unklassifizierbar ist und sich einer jeglichen Form von Kategorisierung entzieht. Indianas literarischer Durchbruch in Spanien, Puerto Rico, Italien, Norwegen und den USA überrascht in Anbetracht dieser Feststellungen umso mehr. Gerade im Hinblick auf die Barrieren, die literarische Texte überwinden müssen, bevor sie den ausländischen Buchmarkt erreichen und erschließen können, ist es erstaunlich, dass Indianas Roman Papi international verstanden und rezipiert wird: „[B]ooks cannot move easily across borders due to linguistic and cultural differences that impede easy dissemination“ (Brouillette 2007: 49). Die Tatsache, dass vom Roman Papi bereits mehrere Übersetzungen im Umlauf sind, widerlegt deshalb Damroschs These über den (möglichen) Statusverlust, der einem literarischen Text außerhalb seines Produktionslandes nach der Übersetzung und Zirkulation in einem neuen Sprach- und Kulturraum widerfährt: „A work can hold a prominent place within its own culture but read poorly elsewhere, either because its language doesn’t translate well or because its cultural assumptions don’t travel“ (Damrosch 2003: 289). Das bedeutet, dass Papi ungeachtet seiner sprachlichen Experimente und stilistischen Eigenheiten sehr wohl außerhalb der Dominikanischen Republik ‚funktioniert‘, das heißt, für ein nicht lokales Lesepublikum intelligibel ist. Für das internationale Verständnis sowie die Anerkennung des Romans spricht außerdem der Umstand, dass zwischenzeitlich eine Filmadaptation von Papi durch die puerto-ricanische Filmemacherin Noelia Quintero, die noch dazu Indianas

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Partnerin ist, geplant ist, die sich primär auf das vierte Kapitel des Romans fokussieren wird (vgl. La Tempestad 2017). Abschließend lässt sich folgende Schlussfolgerung ziehen: In Bezug auf die eingangs aufgestellte Hypothese kann festgehalten werden, dass, obwohl Papi mehr Gemeinsamkeiten mit einer ‚lokalen Literatur‘ aufweist, sich der Roman (dennoch) für eine Lektüre, Rezeption und Zirkulation auf globaler Ebene anbietet. Summa summarum handelt es sich bei dem Roman Papi nicht um Weltliteratur im engeren Sinne, sondern vielmehr um einen glokalen62 und damit global relevanten literarischen Text, in dem Indiana gekonnt globale und lokale Themen sowie Elemente miteinander verknüpft und verbindet.

62 Ich danke Rita De Maeseneer für ihren wertvollen Kommentar diesbezüglich.

5 (Welt-)Bühne frei – Auswertung Die Analyse hat gezeigt, dass die Konzepte Weltliteratur und Weltautor*in bezogen auf die Schriftsteller*innen in Lateinamerika selbst – außerhalb der wissenschaftlichen Debatten – keine Relevanz hatten. Keine*r der Autor*innen, die meinen Korpus konstituieren, nahm in den analysierten Autoreninterviews Stellung zu der Debatte noch bezog er*sie sich explizit auf die Bezeichnung beziehungsweise auf diesen ‚Titel‘. Insofern kann festgehalten werden, dass in keinem Fall eine aktive Aneignung des ‚Titels‘ Weltautor*in stattfand. Interessanterweise unternahmen auch die hispanophonen Online- und Printmedien, genauer gesagt die originalsprachige Rezeption, keinerlei Anstrengungen, die besagten Autor*innen innerhalb dieses Diskurses zu platzieren oder sie hinsichtlich ihrer Meinung diesbezüglich zu befragen. Als Konsequenz ergibt sich für mich, dass es sich bei der Debatte um das Konzept Weltliteratur respektive Weltautor*in um eine Debatte handelt, die vornehmlich in der Wissenschaft und noch dazu im nordamerikanischen und europäischen Raum geführt wird. Dies wird vor allem bei einem Blick in die fremdsprachige Rezeption deutlich, wo in Interviews und Rezensionen sowohl in der deutsch- als auch englisch- und in einem Fall sogar italienischsprachigen Presse, die Begriffe immer wieder auftauchen. Hierfür spricht ebenfalls die Tatsache, dass die Mehrheit der spanischsprachigen Wissenschaftler*innen, die an dieser Debatte teilnehmen, an Universitäten des Globalen Nordens forscht und lehrt. Daraus lässt sich ersehen, dass die analysierten lateinamerikanischen Schriftsteller*innen dieser Debatte zunächst keinerlei Bedeutung schenkten. Zumindest wurde die Begrifflichkeit als solche innerhalb des lateinamerikanischen Diskurses nicht gebraucht. Weltautor*in sein oder nicht, besaß für die betreffenden Literat*innen erst einmal keine entscheidende Geltung. Das bedeutet jedoch nicht, dass ihnen der Diskurs gänzlich fremd ist. Weltautor*innen werden in Lateinamerika nur nicht als solche bezeichnet, dennoch wird eine ‚Weltautorschaft‘ von vielen angestrebt. Dies wirft weitere Fragen auf. Was ist nun ein*e Weltautor*in? – Um die am Anfang der Studie stehende Frage wieder aufzugreifen. Oder, um es, angesichts der Vielzahl an Akteur*innen und Instanzen, die an diesem ‚Werdens-‘ beziehungsweise Schaffensprozess beteiligt sind, noch spezifischer zu formulieren: Wie werden lateinamerikanische Schriftsteller*innen zu Weltautor*innen?

https://doi.org/10.1515/9783110748758-005

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Um dies klären zu können, möchte ich kurz rekapitulieren, was in der Gegenwart Schriftsteller*innen als solche ausmacht. Was zuerst ziemlich banal und einfach zu beantworten sein mag, ist in der Gesamtsicht viel komplexer. So ist ein*e Schriftsteller*in weitaus mehr als (nur) eine Person, die literarische Texte verfasst und veröffentlicht, so dass diese von anderen Personen gelesen werden können. Nichtsdestotrotz bilden die Anfertigung literarischer Texte sowie ihre Veröffentlichung die Grundvoraussetzung für die Ausübung des Schriftstellerberufs und nicht etwa das Absolvieren einer spezifischen Ausbildung oder der Erwerb eines akademischen Titels. Den Beginn einer literarischen Karriere markiert entsprechend die Veröffentlichung in einem Verlagshaus, die zugleich auch der ‚offiziellen‘ Anerkennung als Schriftsteller*in dient: „Publications are a confirmation of someone’s authorship and of the claims s/he can make on that basis“ (Janssen 1998: 267). Eine Buchveröffentlichung allein macht jedoch heutzutage längst nicht mehr den*die Schriftsteller*in aus, so braucht es weitaus mehr, um sich im umkämpften literarischen Feld einen der begehrten Plätze zu sichern und um erstmalig beziehungsweise längerfristig die Aufmerksamkeit der Literaturkritik auf sich zu lenken (vgl. Janssen 1998: 267). Dies gelingt nur, wenn Schriftsteller*innen sich aktiv in Debatten und Diskussionen einschalten und generell ihr Betätigungsfeld erweitern (vgl. Janssen 1998: 267). Dazu gehört beispielsweise die Publikation in Literaturzeitschriften. Diese ist insofern von Vorteil, da es sich bei den Leser*innen zumeist um zentrale Akteur*innen des literarischen Feldes handelt (vgl. Janssen 1998: 267): „[The publications] can stimulate the interest of fellow writers, critics, publishers, and other experts and keep an author’s work in the public eye while s/he is working on a new book“ (Janssen 1998: 268). Selbiges trifft auf die Teilnahme an (internationalen) Literaturfestivals zu, bei denen neben interessierten Leser*innen stets auch Expert*innen aus der Buch- und Medienbranche präsent sind (vgl. Janssen 1998: 268). In diesem Zusammenhang kommt Autoreninterviews, (Vor-)Lesungen sowie der Bereitschaft zur Teilnahme an Diskussionsforen und gegenwärtigen Debatten eine besondere Bedeutung zu. Einerseits helfen diese dabei, die Aufmerksamkeit der Leser*innen, der Literaturkritiker*innen sowie der Öffentlichkeit allgemein auf sich zu richten. Andererseits geben sie den Schriftsteller*innen aber auch die Gelegenheit, sich zu ihren literarischen Projekten zu äußern sowie sich innerhalb literarischer Debatten und damit im literarischen Feld zu positionieren: „[I]nterviews, lectures, essays, etc. offer authors the possibility of intervening in critical reception by making explicit their ideas and premises, but also by reacting to the critics’ interpretation“ (Janssen 1998: 268). Schlussendlich dienen all jene Aktivitäten dazu, als Schriftsteller*in in den Fokus der Kritiker*innen zu gelangen, deren Zustimmung zu ernten, um so geeignete Unterstützer*innen für das eigene

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schriftstellerische Projekt zu finden. Die Gefahr liegt dabei weniger darin, durch eine ‚schlechte‘ öffentliche Autor-Performance die bisher ‚gute‘ Kritik des eigenen literarischen Werks zunichte zu machen, als in einer generellen Verweigerung solcher Auftritte, was das Misstrauen der Literaturkritiker*innen erzeugen kann (vgl. Janssen 1998: 270): „Critics, after all, assume that authors of stature have an all-encompassing view on the nature and role of literature, which, like the critics, they are able to articulate. If a writer fails to prove that s/he has such a literary outlook, doubts concerning the quality of his/her work can arise“ (Janssen 1998: 270). Nicht weniger bedeutend ist die Anhäufung von sozialem Kapital, da ein gut ausgebautes soziales Netzwerk speziell im Literaturbereich zum Öffnen von Türen dient, die andernfalls verschlossen bleiben. Bei der schriftstellerischen Tätigkeit kommt hinzu, dass sie mehrheitlich auf freiberuflicher Basis erfolgt und ein*e Schriftsteller*in somit bei Fragen, Problemen oder sonstigen Anliegen nicht auf Kolleg*innen oder Vorgesetzte innerhalb einer bestehenden Organisationsstruktur zurückgreifen kann (vgl. Janssen 1998: 269): „In such a situation personal contacts and feelings of mutual regard and friendship are crucial for achieving numerous objectives, such as being able to publish in a literary magazine, but also for finding sufficient copy for that magazine“ (Janssen 1998: 269). Es versteht sich von selbst, dass sich der Aufbau und die Konstitution dieses Netzwerks insbesondere durch den Sitz in der Jury eines Literaturpreises, die Mitarbeit in der Redaktion einer Literaturzeitschrift oder beispielsweise die Partizipation in einer Schriftstellerorganisation, das heißt durch den Kontaktaufbau zu zentralen Akteur*innen und Instanzen des literarischen Feldes, positiv auf die weitere literarische Karriere auswirkt (vgl. Janssen 1998: 270): „Depending on the status of these bodies and organizations and that of their members and contributors, such activities may increase the social capital of writers in the course of their career“ (Janssen 1998: 270). Die Bedeutung all jener ‚Zusatzaktivitäten‘ liegt letztlich darin, dass sie zum einen den Status der Schriftsteller*innen als solche bestätigen, zum anderen aber auch ihre Anerkennung und ihr Standing als ernst zu nehmende Figur im literarischen Feld festigen und vergrößern. Die Folge hiervon ist nicht etwa, dass die literarischen Werke jener Autor*innen oder ihre Auftritte in der Öffentlichkeit zwingend positiv seitens der Kritik gewertet werden. Stattdessen führt ein solcher Ruf dazu, dass Kritiker*innen sowie andere Instanzen des literarischen Feldes sich in gewisser Weise gezwungen sehen, diesen Schriftsteller*innen in jedem Fall – egal ob positiv oder negativ – Beachtung zu schenken (Janssen 1998: 271). Prinzipiell lässt sich deshalb sagen, dass als Schriftsteller*in gilt und Anerkennung genießt, wer neben der Publikation des literarischen Werks, das heißt

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der Buchveröffentlichung, regelmäßig für Literaturzeitschriften schreibt, an Literaturfestivals und Lesungen teilnimmt und noch dazu ein Netzwerk zu anderen Autor*innen, Literaturkritiker*innen oder Verleger*innen pflegt. In dieser Hinsicht schließe ich mich Susanne Janssens Argumentation an. Übertragen auf die Weltliteratur-Debatte bleibt jedoch weiterhin ungeklärt, in welcher Hinsicht sich nun Weltautor*innen von ‚regulären‘ oder ‚Nicht‘-Weltautor*innen unterscheiden. Die in Kapitel 4 im Rahmen der Analyse dargestellten Ergebnisse rechtfertigen die Aussage, dass für die Verleihung des ‚Titels‘ Weltautor*in neben den oben genannten Kriterien weitere Faktoren erfüllt sein müssen, wie dies auch in der eingangs aufgestellten Hypothese vermutet wird. Diese sei an dieser Stelle noch mal kurz in Erinnerung gerufen: So vertrete ich die These, dass nur als Weltautor*in gelten kann, wer über transnationales Kapital verfügt, und/oder sich innerhalb als auch außerhalb seiner*ihrer literarischen Werke als kosmopolitisch und ‚universal‘ gebildet inszeniert. Auf der Grundlage meiner Ergebnisse möchte ich einen Anforderungskatalog erstellen, den lateinamerikanische Schriftsteller*innen zu erfüllen haben, wenn sie als Weltautor*innen angesehen werden möchten, und im Zuge dessen überprüfen, inwiefern meine Hypothese haltbar ist. Die Reihenfolge der aufgelisteten Faktoren sagt indes nichts über deren unterschiedliche Gewichtung beziehungsweise Rangfolge aus, da letztlich alle Faktoren miteinander verflochten sind.

5.1 Extraliterarische Faktoren 5.1.1 Transnationaler Werdegang Im Rahmen der Analyse der Biografien und Werdegänge der Schriftsteller*innen hat sich herauskristallisiert, dass sich ein transnationaler Werdegang oder ein nomadischer Lebensstil, der sich durch einen regen Wechsel des Wohnsitzes im Verlauf der Ausbildung oder der schriftstellerischen Laufbahn insgesamt auszeichnet, vorteilhaft auf eine Ernennung als Weltautor*in auswirkt. Als Ursache hierfür kann angeführt werden, dass es in der heutigen globalisierten Welt nicht nur erwartet wird, sondern es fast schon als gängige Praxis (zumindest bestimmter gesellschaftlicher Schichten) gilt, regelmäßig den Wohnsitz zu wechseln und/oder sich an verschiedenen Orten gleichzeitig Zuhause zu fühlen. Das steht wiederum in Verbindung mit der Artikulation und Zelebration eines ‚hippen‘ Lebensgefühls a la „sind wir nicht alle ein bisschen Migrant*innen“ oder doch zumindest Weltenbummler*innen, in dessen Kontext auch das Bild des*der Weltbürger*in evoziert wird.

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Transnationalität als gelebte Erfahrung wird daher für immer mehr Schriftsteller*innen und ihre literarischen Projekte zum Grundsatz: Einerseits wecken sie auf diese Weise nicht nur mit ihren literarischen Texten, sondern auch mit ihrer persönlichen Biografie das Interesse der Leser*innen. Andererseits ermöglicht ein konstanter Ortswechsel Sichtbarkeit und Publicity an mehreren Orten zugleich. An dieser Stelle ist hinzuzufügen, dass sie auf diese Weise auch ein transnationales Publikum ansprechen, denn wer beispielsweise wie Harwicz in Frankreich und Argentinien lebt oder Luiselli in den USA und Mexiko, kann Menschen aus beiden Ländern neugierig auf seine beziehungsweise ihre literarischen Texte machen. Vor diesem Hintergrund ist auffallend, dass alle Autor*innen meines Korpus mindestens einmal ihren geografischen Schreibort beziehungsweise das Land ‚wechselten‘ und dies auch aus freien Stücken taten, also als zwischen den Welten wandelnde Schriftsteller*innen bezeichnet werden können. Einzig bei Herbert fand dieser Umzug allein innerhalb Mexikos statt. Luiselli und Vásquez sind, aufgrund der Tatsache, dass der Ortswechsel in ihrem Lebenslauf eine Konstante darstellt, als Paradebeispiele für den Faktor Transnationalität zu betrachten. Während Luiselli nach Aufenthalten in Lateinamerika, Asien, Afrika und Europa weiterhin im Ausland – in den USA – lebt, kehrte Vásquez, nachdem er längere Zeit in Europa verbrachte, genauer gesagt in Frankreich, Belgien und Spanien, wieder zurück nach Kolumbien. Auch Harwicz, die ihren ständigen Wohnsitz von Argentinien nach Frankreich verlegte und deren gegenwärtige Lebensweise durch ein Pendeln zwischen Spanien, Argentinien, Frankreich und Israel geprägt ist, erfüllt dieses Kriterium. Jene Transnationalität kann ebenfalls in Indianas Werdegang nachgewiesen werden. Jedoch ist in ihrem Fall die zurückgelegte geografische Distanz weitaus geringer, wenn berücksichtigt wird, dass sie die Dominikanische Republik verließ, dann vorübergehend in den USA lebte und sich nun primär in Puerto Rico aufhält. In Indianas Fall fand also kein Ortswechsel nach Europa statt. All jene – ausgenommen Herbert – sind deshalb auch, in Anlehnung an Arianna Dagninos Konzept, als transkulturelle Schriftsteller*innen zu sehen, da sie erstens Transnationalität als gelebte Erfahrung praktizieren, zweitens polyglott sind, drittens ihre Zugehörigkeit nicht von ihrer nationalen oder kulturellen Identität abhängig machen und viertens für sie das Konzept Identität nur im Plural sowie in Bewegung existiert. Vor diesem Hintergrund komme ich zu dem Schluss, dass sich die Werdegänge potenzieller Weltautor*innen nicht nur durch Transnationalität oder Transkulturalität, sondern sogar Transkontinentalität auszeichnen. Hinsichtlich der Wechsel der Wohnorte möchte ich des Weiteren festhalten, dass diese den Schriftsteller*innen nicht nur einen anderen Erfahrungshintergrund

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verschaffen, wodurch sie sich transnationales Kapital aneignen können, sondern sie ermöglichen im optimalen Fall eine globalere Präsenz durch die Sichtbarkeit der Schriftsteller*innen an unterschiedlichen geografischen Orten. Überraschend ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass sich, mit Ausnahme von Herbert und Indiana, alle anderen analysierten Autor*innen erst im Ausland dem Schreiben widmeten und damit auch ihre literarischen Debüts erst veröffentlicht wurden, nachdem sie bereits im Ausland lebten. Im Gegensatz zur geografischen Mobilität steht der aktuelle Aufenthaltsbeziehungsweise Schreibort, so leben drei von fünf Autor*innen weiterhin beziehungsweise wieder in Lateinamerika (Mexiko, Kolumbien, Puerto Rico) und damit im Globalen Süden, während die anderen beiden im Globalen Norden – den USA und Frankreich – verortet sind. Allerdings muss in diesem Punkt genauer differenziert werden, denn, während Luiselli sich mit New York als Wohnort eine Metropole mit großer lateinamerikanischer Community sowie ausgeprägter Kultur- und Literaturlandschaft ausgewählt hat, lebt Harwicz in Frankreich, aber nicht im kulturellen Zentrum, der französischen Hauptstadt Paris, sondern in einem kleinen abgelegenen Dorf in der ‚Peripherie‘. Obwohl also dem Punkt Transnationalität im Kontext der Weltliteratur-Debatte eine hohe Bedeutung zukommt, hat die Analyse auch gezeigt, dass dieser Faktor nicht allein ausreichend ist, da andernfalls, bis auf Herbert, alle untersuchten Schriftsteller*innen als Weltautor*in angesehen werden müssten.

5.1.2 Ethnie Die Kategorie Ethnie kam bei der Analyse der Autor*innen meines Korpus an keiner Stelle explizit zur Sprache. Das bedeutet nicht, dass diese Kategorie bei der Verleihung des ‚Titels‘ Weltautor*in generell keine Rolle spielt. Vielmehr spricht dies dafür, dass die von mir analysierten Autor*innen offenbar in der Rezeption nicht negativ von Rassismus betroffen sind: Alle kommen aus dem Globalen Süden, werden aber als weiß gelesen.

5.1.3 Geschlecht/Gender Lautstarke Debatten, soziale Bewegungen und Kampagnen über geschlechtsspezifische Ungleichheit, sexuelle Diskriminierung und Gewalt, die unter anderem auch von Vertreter*innen der Literatur- und Popkultur initiiert und mitgetragen

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wurden, führten in den letzten zehn Jahren nicht nur zu einem wachsenden gesamtgesellschaftlichen Bewusstsein für den im Alltag vorherrschenden Sexismus, sondern hatten zur Folge, dass, wie es die Kulturwissenschaftlerin und Journalistin Sonja Eismann kritisiert, der Feminismus „zu einer Marke geworden ist, mit der sich Images genauso wie Produkte verkaufen lassen“ (Eismann 2019). Diese Integration und in gewisser Hinsicht ‚Absorption‘ durch den Mainstream machte den Feminismus salonfähig. Hinter einer feministischen Positionierung in der Gegenwart verbirgt sich deshalb oftmals weniger ein politisches Statement, sondern vielmehr eine „zeitgeistgemäße Selbstdarstellung“ (Eismann 2019). Diese Entwicklungen gehen auch an der lateinamerikanischen Kultur- und Literaturbranche nicht vorüber, in der Schriftstellerinnen und ihre literarischen Werke eine noch nie dagewesene Sichtbarkeit erfahren, welche sogar so weit geht, dass von einem neuen Boom die Rede ist, den dieses Mal nicht Männer, sondern Frauen anführen. Das äußert sich darin, dass Print- und Online-Zeitungen sowie -Zeitschriften den Schriftstellerinnen nun ganze Sonderausgaben widmen, sie zu wichtigen Veranstaltungen und Konferenzen eingeladen werden, sie zu den Gewinnerinnen von Literaturpreisen gekürt werden und ihren Stimmen insgesamt mehr Gehör geschenkt wird. Auch wenn es sich hierbei in Teilen um eine Strategie des spanischsprachigen Buchmarktes handelt, der die Gunst der Stunde nutzt, kann doch davon ausgegangen werden, dass sich hierin ein Bewusstseinswandel der Leserschaft ausdrückt, der sich in einem wachsenden Interesse an feministischer Literatur sowie an von Frauen geschriebenen Texten widerspiegelt. Davon profitieren auch die Autorinnen meines Korpus: „Sin duda, la resistencia feminista es hoy un mercado en expansión, valga el oxímoron. La literatura mundial, constituida en/por/para el mercado global, pone a circular textualidades disidentes – ma non troppo – cuando hay una oferta y una demanda crecientes“ (Gallego Cuiñas 2020: 82 [Herv. i. O.]). Angesichts der Tatsache, dass der Anteil an Literatur oder zumindest Belletristik lesenden Frauen höher ist als derjenige der Männer, besteht Grund zu der Annahme, dass die Fokussierung auf feministische Themen in der Literatur auch damit zusammenhängt, dass es hierfür mehr Akzeptanz und Rezipient*innen gibt als beispielsweise ein feministischer Film im Mainstreamkino bekommen würde. Das zeigt sich zum einen in den zahlreichen Prämierungen, die Luiselli und ihr literarisches Werk erhielten, aber auch in der großen Zahl an Übersetzungen, die sowohl von ihrem als auch von Harwicz’ literarischen Werken zwischenzeitlich existieren und zirkulieren. Während Harwicz’ Erstlingsroman, der in einem anderen Kontext als dem aktuellen geschrieben wurde, bedingt durch die gesellschaftlichen Veränderungen eine neue, ‚feministische‘ Rezeption erfuhr, waren es in Luisellis Fall gerade jene

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Entwicklungen, die dazu beitrugen, dass sich Luiselli zwischenzeitlich als Feministin bezeichnet. Ganz anders verhält sich Harwicz, die sich weiterhin gegen eine derartige Klassifizierung und damit einhergehende Instrumentalisierung und Kommodifizierung seitens des Buchmarktes sträubt: „Hay que cuidarse de los fenómenos epocales. Yo no me reivindico como mujer, lo soy. No escribo desde mi femineidad ni tampoco desde el feminismo, más allá de mis ideas“ (Frías 2019 [Harwicz]). Luisellis ‚Wandel‘ ist umso überraschender, da sie 2017 noch in einer ihrer Kolumnen in der spanischen Tageszeitung El País Kritik gegenüber den neuen Ausprägungen des Feminismus übte (vgl. Luiselli 2017a). Der besagte Artikel löste eine Empörungswelle aus, die darin kulminierte, dass Luiselli diesen nachträglich veränderte, ihren Standpunkt relativierte (vgl. El Universal 2017) und auf Twitter erklärte, dass sie missverstanden worden sei: „No es un texto anti feminista, sino frustrado con volver a dar batallas que todas creíamos ganadas“ (Luiselli 2017b). In Zusammenhang mit der dadurch entstandenen Polemik tauchte ein älterer Artikel Luisellis wieder auf, bei dem sie etliche Jahre früher, noch vor ihrer ersten Buchveröffentlichung, die Literaturnobelpreisverleihung von 1993 an die US-amerikanische Schriftstellerin Toni Morrison als Auslöser nahm, deren tatsächliches literarisches Können infrage zu stellen. Morrisons (Selbst-)Repräsentation als Sprecherin der US-amerikanischen Afroamerikaner*innen, so schrieb Luiselli, verschleiere, dass Morrison sich mit den immer gleichen Themen auseinandersetze und in ihren Schreiben keinerlei Entwicklung auszumachen sei: „Morrison es una escritora que tiene perfecta conciencia de su lugar de enunciación. Es decir, sabe desde dónde y para quiénes escribe“ (Luiselli 2009: 59). Luisellis damalige Aussage über Morrisons ‚privilegierten‘ Standpunkt erinnert paradoxerweise an Luisellis eigene gegenwärtige Position, denn auch von ihr kann behauptet werden, dass sie sich ihrer Stellung und der damit verbundenen Einflussmöglichkeiten bestens bewusst ist: „Más que una responsabilidad, siento una sororidad. […] Cuando yo empecé a escribir, sentías que había como un huequecito para ti como mujer. Crecimos todas con una sensación de que éramos como rivales, había tan poco sitio que había que peleárselo“ (Guimón 2019 [Luiselli]). Luisellis veränderte Einstellung gegenüber anderen Schriftstellerinnen sowie zum Feminismus selbst ist in Teilen auf ihre zwischenzeitliche Politisierung zurückzuführen, so sagt sie selbst in einem Interview: „Me tuve que volver feminista a chingadazos, todavía crecí sin pensar que había tantos problemas ahí“ (Maristain 2020a [Luiselli]). Es weist jedoch vieles darauf hin, dass es sich um eine bewusste, da derzeit ‚angesagte‘ Selbstdarstellung handelt. Denn Luiselli weiß, dass sich eine Positionierung als Feministin aktuell eher positiv als negativ auf die Rezeption ihrer literarischen Texte sowie auf ihre Wahrnehmung in der Öffentlichkeit auswirkt.

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Die neue Aufmerksamkeit, die schreibende Frauen erfahren, darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass, während nach ‚außen‘ hin Gleichstellung von Autorinnen und Autoren kundgetan wird, die Geschlechterunterschiede im Innern des Literatursystems, speziell die gläserne Decke, fortbestehen. Da sich die zentralen Entscheidungsbereiche, wie der Vorsitz von Preisjurys, die Leitung von Verlagshäusern oder des Kulturteils von Zeitungen, innerhalb der Buchbranche immer noch vorwiegend in männlicher Hand befinden, haben es Schriftstellerinnen auch in der Gegenwart schwerer als ihre Kollegen, Teil relevanter Netzwerke zu werden, um so aussichtsreiche Positionen im literarischen Feld zu erreichen. Das hat sich im Rahmen der Analyse vor allem daran gezeigt, dass sowohl bei Luiselli als auch bei Harwicz im Zusammenhang mit ihrem internationalen Erfolg stets auf den gegenwärtigen Boom lateinamerikanischer Schriftstellerinnen verwiesen wird. Dadurch ist der Eindruck entstanden, dass es viel mehr die aktuellen Verhältnisse sind, die eine positive Rezeption ihres Schreibens begünstigen, und weniger ihr eigentliches literarisches Können sowie die Qualität ihrer literarischen Texte. Zwischen den Zeilen kann gelesen werden, dass ihr Erfolg vor allem darauf fußt, dass sie Frauen sind. Des Weiteren waren und sind Luiselli, Harwicz und Indiana, anders als ihre männlichen Kollegen Herbert und Vásquez, seitens der Literaturpresse sexistischen Kommentaren ausgesetzt, die sich auf ihr Auftreten in der Öffentlichkeit wie auch auf ihr Aussehen allgemein konzentrieren. Hieraus lässt sich ersehen, dass Schriftstellerinnen sich neben ihrem literarischen Schaffen, welches noch dazu in der Mehrheit aus ‚männlicher‘ Sicht und anhand ‚männlicher‘ Maßstäbe bewertet wird, auch außerhalb ihrer literarischen Texte beweisen müssen. Ein konkretes Beispiel hierfür ist der wiederholte Verweis auf Luisellis Familienstand in der Literaturpresse: Während ihrer Ehe mit dem mexikanischen Schriftsteller Álvaro Enrigue, wurde sie in Interviews und Rezensionen nicht selten als ‚die Frau von …‘ oder ‚ihr Ehemann ist …‘ präsentiert. Diese Bezugnahme bleibt interessanterweise auch nach ihrer Scheidung bestehen, wenn auch mit dem Zusatz ‚Ex-‘. Hierin manifestiert sich, dass Schriftstellerinnen und ihr literarisches Werk nicht unabhängig betrachtet und bewertet werden, sondern in Relation zur Leistung männlicher Kollegen gestellt werden, während dies umgekehrt so gut wie nie der Fall ist. Ferner müssen sich die Literatinnen häufig mit Fragen über die Vereinbarkeit von Familie und Schriftstellerarbeit auseinandersetzen, während dieselben Fragen Literaten nicht gestellt werden. Das Privatleben der Schriftstellerinnen rückt zunehmend ins Rampenlicht, was Harwicz’ Tweet vom Juli 2020 veranschaulichte, in welchem sie die Relevanz ebendieser privaten Informationen für den literarischen Text als solchen infrage stellte: „Es tendencia en las solapas y

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contratapas de los libros indicar la elección sexual de la autora, su opinión política y si tiene hijos. ¿Algún lector entra a la librería pidiendo, por favor deme un libro de alguna autora madre de muchos hijos o afiliada al Partido Obrero?“ (Harwicz 2020c). Die Analyse hat aber auch gezeigt, dass die Haltung der Literaturpresse Luiselli gegenüber, die sich im Gegensatz zu Harwicz und Indiana, in der Öffentlichkeit als die kultivierte, ruhige und gepflegt auftretende Schriftstellerin gibt, die noch dazu ‚fotogen‘ in Magazinen posiert, mit anderen Worten die durch ihre Performance das traditionelle weibliche Geschlechterbild erfüllt und bestätigt (einmal abgesehen von ihrer Scheidung), insgesamt anerkennender ist. Harwicz’ und Indianas eigensinniges sowie widerspenstiges, in Teilen damit eher ‚männlich‘ konnotiertes Auftreten und Verhalten wider der Geschlechternormen, harmonieren indes nicht mit den ‚klassischen‘ Bildern von der in sich gekehrten und gebildeten Literatin. Umgekehrt hat es sich bei Herbert erwiesen, dass ein Männlichkeitskonzept, wie er es verkörpert, durch sein in der Vergangenheit mehr einem Rockstar denn einem Schriftsteller gleichendes Erscheinen und Gebaren, ebenfalls nicht auf grundsätzliche Zustimmung stößt. Vielmehr ist es Vásquez’ Inszenierung als seriöser, intellektueller und ernsthafter im schlichten Jackett oder Hemd auftretender Schriftsteller, der noch dazu in Interviews nur wenig über sein Privatleben preisgibt und auch sonst auf die Präsenz in sozialen Medien verzichtet, die in der Öffentlichkeit Anklang findet. Eine weitere relevante Dimension ist die Klassenzugehörigkeit, die sich sowohl bei Luiselli als auch bei Vásquez als distinktives Merkmal erweist. Diesbezüglich kann festgehalten werden, dass im Kontext der Weltliteratur-Debatte speziell die Weiblich- und Männlichkeitskonzepte der Oberschicht, wie sie Luiselli und Vásquez verkörpern, propagiert werden. Darüber hinaus sollte erwähnt werden, dass die Übersetzungen ins Englische und Deutsche der analysierten Bücher durchweg von Frauen gefertigt wurden. In Anlehnung an die Aussage des portugiesischen Literaturnobelpreisträgers José Saramago, dass Weltliteratur von Übersetzer*innen gemacht werde (vgl. Peschel 2017), veranschaulicht das Buch, dass es sich hierbei sogar primär um Übersetzerinnen handelt. Zu ergänzen ist, dass die Arbeit als Übersetzer*in, aufgrund ihrer schlechten Bezahlung eine ziemlich prekäre Beschäftigung ist: „[F]ür literarische Übersetzer ist der Lohn sehr karg. Das Durchschnitts-Honorar liegt bei knapp über 18 Euro pro Normseite, netto“ (Peschel 2017). Wenn bedacht wird, dass Übersetzer*innen wegen der geringen Sichtbarkeit und damit verbundenen geringen Wertschätzung ihrer Leistung im Vergleich zum Originaltext ein kaum von der

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Öffentlichkeit beachtetes Dasein fristen, überrascht es wenig, dass es sich beim Beruf der Übersetzer*in um eine Tätigkeit handelt, die in der Mehrheit von Frauen ausgeübt wird. Angesichts dieser Ergebnisse liegt die Schlussfolgerung nahe, dass in der gegenwärtig geführten Weltliteratur-Debatte Schriftstellerinnen von der boomenden ‚Konjunktur‘ des Feminismus profitieren. Zugleich zeigt die Arbeit aber auch, dass dies längst nicht bedeutet, dass die Themen Gleichberechtigung und Gleichstellung hiermit als ‚erledigt‘ betrachtet werden können. Deshalb gilt es abzuwarten, inwiefern es sich hierbei nur um ein vorübergehendes (Mode-)Phänomen handelt oder ob dieses tatsächlich das Potenzial besitzt, die Strukturen des literarischen Systems längerfristig zu verändern.

5.1.4 (Aus-)Bildung Einen anderen Punkt, den ich herausstellen möchte, ist die Akademisierung des Diskurses um das Konzept Weltliteratur beziehungsweise Weltautor*in. Da es sich, wie eingangs erwähnt, um eine Debatte handelt, die in erster Linie von Akademiker*innen geführt wird, bedeutet dies für die Schriftsteller*innen meines Korpus, dass im Grunde genommen daran nur teilnehmen kann, wer selbst auch studiert hat. Das ‚klassische‘ Literaturstudium und nicht etwa ein Studium in Literarischem oder Kreativem Schreiben, wie es in der Gegenwart vielerorts angeboten wird, fungiert dabei als Beleg für die Erfüllung der ‚Mindestanforderungen‘ an eine*n Schriftsteller*in. Es wird davon ausgegangen, dass, wer Literatur studiert hat, die literaturwissenschaftlichen Grundlagen und Methoden beherrscht, vertiefte Einblicke in die Literaturgeschichte verschiedener Länder erworben hat, eine gute sprachliche Ausdrucksfähigkeit besitzt, belesen ist – kurz: schreiben kann. Auch wenn unter den Autor*innen schon immer auch Studierte waren, ist die gegenwärtige Akademisierung, in anderen Worten, Professionalisierung der Autorenausbildung nicht mit früheren Werdegängen von Schriftsteller*innen vergleichbar, bei der primär das literarische Können im Vordergrund stand und dieses nicht anhand etwaiger universitärer Titel gemessen wurde. Eine Fragestellung, die in diesem Zusammenhang noch weiterer Untersuchungen bedarf, ist, ob die Professionalisierung der Autor*innen längerfristig zu einer Zunahme vermarktungsfähiger und -konformer Literatur führen wird. Zugleich dient die Bezugnahme auf die akademische Laufbahn dazu, den persönlichen Expert*innenstatus deutlich zu machen. Akademische Titel verleihen scheinbar die ‚Legitimation‘, zu bestimmten gesellschaftlichen Themen spre-

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chen zu können oder angefragt zu werden beziehungsweise diese in der Literatur bearbeiten zu können. Generell gilt, dass sich die Autor*innen, aufgrund der Vielzahl an Neuerscheinungen und der vorherrschenden Konkurrenz auf dem internationalen Buchmarkt, durchsetzen müssen. Hierzu dient neben der literarischen Qualität ihrer Texte, eben auch ihr absolvierter Ausbildungsweg, das heißt ihr kulturelles Kapital, das sie bestenfalls an renommierten Universitäten im In- und Ausland erworben haben. Auch nach Abschluss des Studiums bleiben viele Autor*innen an der Universität, wenn auch nicht in der Forschung, sondern in der Lehre. Auf diese Weise bleiben sie in direktem Kontakt zu aktuellen Forschungsthemen, bringen ihre eigenen literarischen Texte durch die Aufnahme in die Leseliste ihrer Seminare in die akademische Debatte ein und platzieren sowie inszenieren sich als Expert*innen im literarischen Feld. Bei den Autor*innen meines Korpus trifft dies speziell auf Luiselli und Vásquez zu. Beide glänzen mit einer akademischen Karriere, die sie in Teilen im Ausland – Luiselli in Mexiko, Spanien sowie den USA und Vásquez in Kolumbien und Frankreich – absolvierten und weisen neben ihrer literaturwissenschaftlichen Ausbildung noch dazu ein Philosophie- (Luiselli) und Rechtswissenschaftenstudium (Vásquez) vor – Disziplinen par excellence, um ihre Befähigung für kritisches Denken zu belegen. Während Luiselli im Besitz eines US-amerikanischen Doktortitels ist, den sie allerdings nicht offen zur Schau stellt (vgl. Maristain 2020b [Luiselli]), trat Vásquez, der in Frankreich promovierte, im Sommer 2017 die Friedrich Dürrenmatt Gastprofessur für Weltliteratur an der Universität Bern an, in deren Rahmen er zahlreiche Vorträge und Vorlesungen hielt und noch dazu ein Seminar über „The Art of the Novel“ leitete. Die Ergebnisse letzteres flossen wiederum in Vásquez 2017 erschienen Essayband Viajes con un mapa en blanco ein, der damit als Musterbeispiel für die gegenwärtige Akademisierung von Literatur betrachtet werden kann. Beide sind als Dozent*innen für Literatur(wissenschaft) sowie in Luisellis Fall zusätzlich noch in Kreativem Schreiben tätig. Auf diese Weise erhalten sie Zugang zu aktuellen Forschungsdebatten wie auch die Möglichkeit, ihr kulturelles Kapital und ihre Sichtbarkeit zu erhöhen. Ähnliches trifft auf Harwicz zu, die neben Philosophie, Film- und Theaterauch Literaturwissenschaften studiert hat, wodurch sie insgesamt sehr interdisziplinär aufgestellt ist. Durch ihr Studium (bis zur Masterebene) sowohl in Argentinien als auch in Frankreich konnte sie nicht nur ihr kulturelles Kapital vergrößern, sondern noch dazu transnationales Kapital erwerben. Anders als Luiselli und Vásquez besitzt sie aktuell, abgesehen von der Teilnahme an Konferenzen und Gastvorträgen, keinen Kontakt mehr zur Universität.

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Auch Herbert hat Literaturwissenschaften studiert, wenn auch ‚nur‘ in Mexiko, ging danach aber im Vergleich zu den anderen Autor*innen nur wenigen akademischen Tätigkeiten nach, so dass dies kaum ins Gewicht fällt. Auf ihn trifft damit eher das ‚alte‘ Schriftstellermodell zu, nach welchem der Impuls zum Schreiben weniger aus der Lektüre zahlreicher Bücher im Rahmen eines Universitätsseminar stammt, sondern vielmehr aus den gesammelten (Lebens-)Erfahrungen, was in seinem Fall auch die popkulturellen und musikalischen Einflüsse erklärt. Im Gegensatz zu Harwicz, Luiselli und Vásquez ist er im Besitz ‚nur‘ eines Universitätsabschlusses. Dennoch gibt er zwischenzeitlich auch Kurse in Literarischem Schreiben an mexikanischen Schulen und neuerdings auch Universitäten. Indiana als ‚Studienabbrecherin‘ weist als einzige Autorin meines Korpus kein abgeschlossenes Studium auf, sondern schöpfte ihre Erfahrungen und Inspirationen wie Herbert aus ihren Alltagsbeobachtungen und aus Einflüssen der Populärkultur, Kunst und Musik. Der Faktor (Aus-)Bildung, genauer gesagt der Bildungsstatus der analysierten Schriftsteller*innen, ist bei allen an ihren sozialen Status beziehungsweise ihre Klassenzugehörigkeit gekoppelt. Dies zeigt sich darin, dass Vásquez, Luiselli und Harwicz über mehrere Studienabschlüsse verfügen und überdies ihr Studium in Teilen im Ausland absolvierten. Ganz anders als Indiana und Herbert, die jeweils nur in ihren Herkunftsländern studierten. Weltautor*innen können also mindestens einen Universitätsabschluss vorweisen und besitzen dazu noch die Fähigkeit, den Kontakt zur Wissenschaft aufrechtzuerhalten. Dabei sind sie sowohl Forscher*innen als auch Forschungsgegenstand.

5.1.5 Präsenz in den (sozialen) Medien und in der Öffentlichkeit Neben der bereits genannten Lehrtätigkeit an Universitäten und Hochschulen zählt das journalistische Engagement zu den bevorzugten ‚Nebentätigkeiten‘ der analysierten Schriftsteller*innen. Dabei handelt es sich zum einen um eine zusätzliche Einkommensquelle, da die Mehrheit nicht allein von der Veröffentlichung ihrer Bücher leben kann. Zum anderen, wie es Susanne Janssen angeführt hat, dienen journalistische Beiträge in Online- und Printmedien dazu, um als Autor*innen im literarischen beziehungsweise öffentlichen Diskurs präsent zu bleiben, wenn gerade keine neue Buchveröffentlichung ansteht. Zeitungen schmücken sich wiederum gern mit Artikeln prominenter Buchautor*innen, die (neue) Leser*innen anlocken. Die Präsenz in Online- und Printmedien ist, angesichts der Geschwindigkeit mit der neue Bücher erscheinen, Autor*innen präsentiert und damit auch Weltautor*innen fabriziert werden, von zentraler Bedeutung, um nicht nach einer erfolg-

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reichen Buchpublikation in der Versenkung zu verschwinden. Dies gelingt durch das Schreiben von Artikeln, Kommentaren und Kolumnen, die weniger mit dem eigenen schriftstellerischen Projekt, denn mit gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Diskursen in Verbindung stehen. Ferner gehören hierzu auch das Schreiben für Literaturblogs, Rezensionen, die Teilnahme an Interviews sowie die Veröffentlichung von Erzählungen, Gedichten oder Auszügen aktueller Romanprojekte. Bis auf Herbert schreiben alle Autor*innen des Korpus regelmäßig für internationale Online- und Printmedien. Das beliebteste Format stellt dabei die Kolumne dar1, wobei bemerkenswert ist, dass alle, ausgenommen Herbert, schon als Kolumnist*innen für El País geschrieben haben. Als Jungschriftsteller*innen verschaffte den Autor*innen diese Zeitung, die noch dazu durch ihren Onlineauftritt überall in der spanischsprachigen Welt zugänglich ist, eine größere Sichtbarkeit und somit auch Bekanntheit. Kurzum, wer regelmäßig in einer Zeitung schreibt, hat damit schon ein (internationales) Lesepublikum. Mit seinen journalistischen Aktivitäten verschaffte sich Vásquez in Spanien Anerkennung und einen gewissen Bekanntheitsgrad, was ihm den Zugang zum Literaturbetrieb erleichterte und sicherlich auch die Aufmerksamkeit seines späteren Verlags weckte. Ähnlich wie in Kolumbien, wo er durch seine regelmäßigen kritischen Beiträge in der Tagespresse bekannt wurde und sich auf diese Weise eine ‚treue‘ Leserschaft schuf, die nicht nur seine Presseartikel, sondern auch seine Bücher konsumierte. Print- und Onlinemedien entscheiden sich bewusst für bereits renommierte Schriftsteller*innen als Verfasser*innen von Kolumnen und Kommentaren, um die Aufmerksamkeit auf ihr Medium zu richten, wodurch sie wiederum ihr symbolisches Kapital vergrößern. Das erklärt den Umstand, weshalb Harwicz neuerdings nicht mehr nur in Literaturblogs schreibt, sondern auch für die argentinische Tageszeitung Clarín sowie El País. Umgekehrt profitieren auch die Literat*innen von diesem Angebot beziehungsweise dieser Möglichkeit, denn das Schreiben für international angesehene Tageszeitungen ist mit einem Prestigegewinn verbunden. Entsprechend können Luisellis und Vásquez’ Gastbeiträge in The Guardian, El País und The New York Times als Win-win-Situationen sowohl für die beiden als auch für die sie publizierenden Medien betrachtet werden.

1 Zur Kolumne ist festzuhalten, dass diese nicht zwingend eine umfassende journalistische Recherche vorab erforderlich macht, sondern es für das Verfassen von ihr lediglich einer ‚bissigen‘ oder doch zumindest kritischen Meinung bedarf. Sie repräsentiert mehr eine Person und deren Meinung, während ein journalistischer Rechercheartikel eher den Inhalt in den Fokus rückt. Die Schreiber*in von Kolumnen werden häufig mit Foto abgebildet, was den Wiedererkennungseffekt steigert und Sichtbarkeit verschafft, während journalistische Beiträge in der Regel zum Thema dazugehörige Bilder aufweisen.

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Es gibt klare Anzeichen dafür, dass in diesem Zusammenhang nicht nur das Renommee als Schriftsteller*in entscheidend ist, sondern auch das soziale Engagement, das diese*r an den Tag legt. Mit anderen Worten wird hier die Bereitschaft der Literat*innen gefordert, sich inner- und außerhalb ihrer literarischen Texte mit gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklungen zu beschäftigen und/ oder sich zu tagespolitischen Ereignissen zu äußern. Es handelt sich hierbei um eine ‚Wiederbelebung‘ des*der Kulturbotschafter*in, eine Funktion, die lateinamerikanischen Schriftsteller*innen in der Vergangenheit zugewiesen wurde. Deutlich wird dies insbesondere bei Luiselli und ihrem Einsatz für unbegleitete minderjährige Migrant*innen in den USA wie auch ihren Stellungnahmen sowohl zur US-amerikanischen als auch zur mexikanischen Migrationspolitik. Dieses Engagement zeigt sich auch bei Vásquez, der sich nicht nur in seinen Büchern, sondern ebenfalls in den Presseartikeln, mit der Gegenwart und der Vergangenheit Kolumbiens beschäftigt. In Teilen trifft dieser Sachverhalt auch auf Indiana zu, wobei sie ihren Einsatz für die LGBTI-Community weniger öffentlich inszeniert, als das bei Luiselli und Vásquez der Fall ist. Ganz anders als im Falle Herberts und Harwicz’, die sich vehement für eine ‚rein‘ schriftstellerische Arbeit aussprechen beziehungsweise deren Engagement ‚allein‘ der Literatur gilt, wie es auch Herbert in einem Interview klar zum Ausdruck brachte: „Si yo quisiera discutir a la sociedad, me hubiera formado como sociólogo y me dedicaría a la sociología ¿no? La discusión de lo social es importante, pero porque cruza el barrio donde vivo, que es el barrio de la literatura …“ (Ortuño 2020 [Herbert]). Ein weiteres Medium, das bisher lediglich am Rande erwähnt wurde, aber sich wachsender Bedeutung erfreut, ist der Kurznachrichtendienst Twitter mittels welchem Schriftsteller*innen nicht nur Werbung für ihre Bücher, Artikel oder bevorstehende Veranstaltungen machen, sondern den sie dafür nutzen, um einen Dialog mit Leser*innen oder Schriftstellerkolleg*innen einzugehen, um sich in gesellschaftspolitische Debatten einzuschalten, um Alltagsbeobachtungen zu teilen oder um dem Format entsprechend, kurze literarische Texte zu veröffentlichen. Alle Schriftsteller*innen meines Korpus, mit Ausnahme Vásquez, sind in diesem sozialen Netzwerk vertreten. Vásquez liefert klare Anzeichen dafür, dass es sich hierbei um eine strategische Entscheidung seinerseits handelt, um das von ihm kursierende Bild des reflektierten und intellektuellen Literaten, der in der ‚analogen‘ Welt zuhause ist, nicht zu gefährden: „Ich bin kein Gegner von Technologie, aber ein gedrucktes Buch hat unersetzlichen Wert. Im Kontakt mit einem Buch finde ich eine Langsamkeit, eine Fähigkeit zur Konzentration, die die Grundlage des Nachdenkens bildet“ (Läubli 2017 [Vásquez]). Obschon es ihm bewusst ist, dass sein Schreiben dadurch nur eine begrenzte Reichweite besitzt und er mit einem Account auch seine Bücher besser vermark-

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ten könnte, sieht er sich durch die begrenzte Zahl von gerade einmal 280 Zeichen, die ein Tweet erlaubt, in seinen sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten eingeschränkt: „[A]ls Mensch, der an die Kraft der Komplexität und der Sprache glaubt, um politische Ideen zu schärfen, will ich den Raum der politischen Debatte verteidigen“ (Läubli 2017 [Vásquez]). In dieser Hinsicht ähnelt er der Literaturkritikerin Sigrid Löffler, die im Deutschlandradio Kultur im Zusammenhang mit digitaler Literaturkritik die Seriosität des, wie sie es bezeichnete, „elektronische[n] Stammtischgeschnatter[s]“ (Gerk 2020 [Löffler]) infrage stellte. Dies scheint Herbert indes nicht zu stören, so ist er mit mehr als 44.500 Tweets seit seiner Anmeldung 2011 der aktivste der untersuchten Schriftsteller*innen. Obwohl er den Account auch privat benutzt, wofür die Vielzahl an Trivialitäten, Musikvideos und Gesprächsfetzen, die er veröffentlicht, spricht, kompensiert er damit den Umstand, dass er als einziger keine regelmäßigen Kolumnen für Tageszeitungen schreibt. Immerhin lesen und folgen ihm etwa 22.000 Personen. Mehr Follower*innen weisen lediglich Luiselli (circa 46.000), was wohl auf ihren generell größeren Bekanntheitsgrad zurückzuführen ist, und Indiana (circa 25.000) auf, wobei Indianas Beiträge viele Follower*innen wegen ihrer Musik und nicht (allein) wegen ihrer Literatur folgen. Ihre Reichweite erhöhen Luiselli und Indiana zudem, indem sie nicht nur Beiträge auf Spanisch, sondern ebenso auf Englisch verfassen. Harwicz ist dagegen diejenige, mit der geringsten Anzahl an Follower*innen (circa 6.000). Diese vergleichsweise niedrige Zahl, trotz Harwicz’ internationaler Bekanntheit, hängt sicherlich damit zusammen, dass sie sich anders als Herbert und Indiana, ‚nur‘ der Literatur widmet. Dies zeigt sich auch in ihren Tweets, die sich vornehmlich mit den Mechanismen, Instanzen und Ritualen des Literaturbetriebs auseinandersetzen, an welchen sie nicht selten auf bissige und sarkastische Art Kritik übt. Als Fazit lässt sich ziehen, dass von Weltautor*innen heutzutage erwartet wird, dass sie die Phasen zwischen ihren Buchprojekten mit ‚Leben‘ füllen. Das heißt, dass sie nicht nach der Publikation eines Buchs sowie der Teilnahme an Interviews, bis zum Abschluss des nächstens Projekts von der Bildfläche verschwinden, sondern mittels Beiträgen in (Online-)Medien sowie der Teilnahme an Lesungen, Debatten, Literaturfestivals (auf welche im Rahmen des Fazits nicht noch mal vertieft eingegangen wird) und anderen Formaten den Kontakt zu ihren Leser*innen aufrechterhalten und auch die Literaturkritik mit neuen Materialien versorgen. So lautet die Devise getreu der gegenwärtigen Ökonomie der Aufmerksamkeit: Präsenz zeigen und produktiv bleiben: „Agents, editors, and publishers are not interested in a single hit but in the flow of product, the series hero, the recognizable style and imprint of an Auster or a Murakami“ (Marling 2016: 145).

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Diese Entwicklungen stehen maßgeblich in Verbindung mit der Celebrity Culture sowie einer wachsenden Kommerzialisierung von Literatur, da Schriftsteller*innen, die nicht nur einer Sache – der Literatur – nachgehen, sich viel besser vermarkten lassen. Zu einer Performance als Weltautor*in gehört deshalb auch, von sich ein (Autor-)Bild in unterschiedlichen Facetten zu schaffen beziehungsweise sein*ihr Können auf verschiedenen changierenden Ebenen unter Beweis zu stellen.

5.1.6 Netzwerke und Referenzen Ein weiterer zentraler Faktor, der über die Ernennung als Weltautor*in entscheidet, ist, wie es Janssen für Schriftsteller*innen im Allgemeinen herausgearbeitet hat, der Besitz von sozialem Kapital materialisiert im Aufbau oder der Einbindung in ein gut funktionierendes Netzwerk. Der Kontakt zu zentralen Figuren des Literaturbetriebs, sei dies mithilfe von Literaturagent*innen, durch Schriftstellerkolleg*innen oder anhand anderer sozialer Beziehungen, erleichtert definitiv den Zugang zum umkämpften literarischen Feld. Darüber hinaus verhelfen beispielsweise Referenzen von Kanongrößen eine*r noch unbekannte*n Autor*in zu (mehr) Sichtbarkeit, wie dies beispielsweise bei Vásquez mittels eines Kommentars von Mario Vargas Llosa, eines Kapitels in einem Buch von Carlos Fuentes oder bei Indiana durch die Empfehlung Junot Díaz’ der Fall war. Eine besondere Rolle kommt in diesem Zusammenhang ‚älteren‘, bereits im literarischen Feld anerkannten Schriftsteller*innen oder anderen Mentor*innen zu, die den ‚Neulingen‘ die Regeln des Spiels vermitteln und ihnen weitere wichtige Kontakte verschaffen. Entsprechendes ist bei allen Autor*innen des Korpus beobachtbar. Während Luisellis und Herberts Einstieg in die Literaturwelt durch ein Stipendium des mexikanischen Schriftsteller- und Künstlerförderprogramms FONCA erleichtert wurde, das ihnen hilfreiche Kontakte und Austauschmöglichkeiten verschaffte, waren es bei Harwicz und Vásquez andere Literat*innen, die sie in der Anfangsphase unterstützten. Letzteres trifft auch auf Luiselli zu, die mit ihrem Exmann, Álvaro Enrigue, einen ‚Experten‘ an ihrer Seite hatte. In Indianas Fall waren es dagegen ihre Kontakte in die Wissenschaft. Es kann davon ausgegangen werden, dass diese Funktion sowohl in den USA lehrende, aus der Karibik migrierte Literaturwissenschaftler*innen übernahmen wie auch der spanische Literarturwissenschaftler Eduardo Becerra. Auch bei diesem Faktor werden die Einflüsse der Kategorie Klasse beziehungsweise soziale Herkunft sichtbar. Es ist unbestreitbar, dass Luiselli, bedingt

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durch den Diplomatenstatus ihres Vaters, Zugang zu anderen sozialen Kreisen hatte und auf weniger Hindernisse stieß als zum Beispiel Herbert. Den Punkt Referenzen gilt es auch noch von einer anderen Seite zu betrachten. So finden sich explizite und implizite Referenzen zu Kanongrößen in einer Vielzahl der analysierten literarischen Texte wieder. Wie sich gezeigt hat, dienen sie als Wiedererkennungseffekt und Orientierungshilfe für Leser*innen, da sie mithilfe dieser, die ‚neuen‘ Autor*innen kategorisieren und bereits bekannten, bestehenden literarischen Richtungen zuordnen können. Da es sich bei den ermittelten Referenzen und intertextuellen Bezügen primär um Verweise auf Personen der nordamerikanischen und europäischen Kultur- und Literaturgeschichte handelt, ist es nicht von der Hand zu weisen, dass dadurch auch die eigene umfassende Bildung und Belesenheit demonstriert wird sowie die Fähigkeit, nach ‚westlichen‘ Maßstab oder in anderen Worten auf gleichem Niveau Literatur produzieren zu können. Besonders ausgeprägt ist diese Form der Inszenierung bei Luiselli, die in Papeles falsos mit unermüdlichem Eifer, gerade so, als wolle sie beweisen, dass sie im Fach Weltliteratur besonders gut aufgepasst habe, eine*n Autor*in nach dem*der anderen auflistet. Eine ähnliche Tendenz findet sich aber auch in Vásquez’ Roman Los informantes sowie in seinem Umgang mit Gabriel García Márquez, von dem und dessen Literatur er sich einerseits abgrenzt, mit dem er andererseits aber auch viel gemein hat. In sublimer und deshalb weniger offensichtlich ausgeprägter Form ist diese Absicht in Harwicz’ Debüt Matate, amor ausmachbar. Auffallend und zugleich überraschend ist, dass sich bei allen die Mehrheit der Referenzen auf europäische und nordamerikanische Literat*innen bezieht und nur zu einem weitaus geringeren Teil auf Intellektuelle lateinamerikanischer Provenienz. Hinsichtlich der Referenzen kann deshalb festgehalten werden, dass wer Weltautor*in werden möchte, zunächst den Kanon zitieren und zelebrieren muss, zu dem er*sie ‚gern‘ selbst zählen möchte. Hieraus ergibt sich zwangsläufig und allein schon deshalb, weil die zentralen Entscheidungs- und Auswahlinstanzen im Globalen Norden verortet sind, dass jene Aspirant*innen sich affirmativ zu den globalen literarischen Machtverhältnissen zu bewegen haben und kein subversives Schreiben betreiben dürfen beziehungsweise können.

5.1.7 Klein- vs. Großverlage Festzustellen ist, dass nicht etwa, wie eingangs angenommen, die multinationalen Verlage in der Gegenwart die (einzigen) Produzenten von Weltliteratur darstellen, sondern ebenso manche Kleinverlage. Bei letzteren ist anzumerken, dass speziell ihr oftmals höheres symbolisches Kapital für die Kaufentscheidung ausländischer

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Verlage hinsichtlich der Übersetzungsrechte ausschlaggebend ist. So orientieren sich ausländische Verlagshäuser nicht selten am Verlagsprogramm ähnlich ausgerichteter lateinamerikanischer unabhängiger Kleinverlage. Dies fällt sowohl bei Luiselli, Harwicz als auch bei Indiana auf, die allesamt ihre Bücher zunächst in Kleinverlagen veröffentlichten und deren Übersetzungen in der Folge ebenso bei ausländischen Kleinverlagen erschienen. Umgekehrt verblieben die Übersetzungen von Autor*innen, die ihr Original bei einem Großverlag publiziert hatten, auch im Ausland in der Hand der multinationalen Verlage (Vásquez). Eine Ausnahme ist Herbert, dessen Bücher, obwohl sie in Mexiko nicht in einem Kleinverlag, sondern in einem multinationalen Verlag verlegt werden, im Ausland die Aufmerksamkeit von Kleinverlagen gewinnen konnten. Diese Diskrepanz ist möglicherweise auf zwei Umstände zurückzuführen. Zum einen zeichnet sich die mexikanische Niederlassung der Verlagsgruppe Penguin Random House dadurch aus, dass sie sich, entgegen der Tendenzen multinationaler Großverlage, für Jungschriftsteller*innen stark macht. Zum anderen kann davon ausgegangen werden, dass Herberts Gewinn des Premio Jaén de Novela mit der unveröffentlichten Version von Canción de tumba den Roman für den spanischen Großverlag interessant machte, obschon der literarische Text eher die Charakteristiken jener Bücher aufweist, wie sie in der Mehrheit im Programm von Kleinverlagen zu finden sind. Daneben ist zu vermuten, dass Herbert schon zuvor bei den ausländischen Kleinverleger*innen durch seine Gedichte oder auch seine Musik bekannt war. Hinsichtlich des Publikationsorts ist bemerkenswert, dass diejenigen Autor*innen meines Korpus, die aktuell in Lateinamerika leben, ihre literarischen Texte nicht direkt vor Ort, sondern in Spanien oder zumindest in spanischen Großverlagen mit Niederlassungen in Lateinamerika publizieren. Hierzu zählt Vásquez, der zwar seinen ersten Publikationsversuch in Kolumbien startete – hierbei handelt es sich um die Bücher, die er im Nachhinein von seiner Veröffentlichungsliste strich, dessen Bücher aber in der Aktualität ausnahmslos vom spanischen Großverlag Alfaguara verlegt werden. Der Umstand trifft ebenfalls auf Herbert zu, dessen Bücher seit Canción de tumba (2011) bei der transnationalen Verlagsgruppe Penguin Random House erschienen, ausgenommen die Neuauflage von Un mundo infiel, die 2016 bei Malpaso Ediciones verlegt wurde. Auch Indiana zählt zu dieser Gruppe von Autor*innen, so werden ihre Bücher seit Papi (2011) zwar von einem Kleinverlag publiziert, dieser hat aber seinen Hauptsitz ebenfalls in Spanien. Luiselli und Harwicz, Autorinnen, die beide nicht permanent in Lateinamerika leben, entschieden sich zunächst für eine Publikation in unabhängigen Kleinverlagen ihrer Herkunftsländer (Mexiko/Spanien und Argentinien respektive). Mit wachsendem Ansehen (Harwicz) sowie bedingt durch den Sprachwechsel ins Englische

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(Luiselli) wechselten beide in der Zwischenzeit zu in den USA beziehungsweise in Spanien ansässigen Großverlagen. Beide verfügen über hohes symbolisches Kapital, bedingt durch die namhaften Autor*innen, die ebenfalls Teil der jeweiligen Verlagsprogramme sind. Typisch für Weltautor*innen ist demnach, sich zwar geografisch betrachtet im Globalen Norden zu verorten, die eigene Literatur aber weiterhin im Globalen Süden, möglichst bei Kleinverlagen mit hohem symbolischem Kapital und internationalem Ansehen, zu veröffentlichen. Damit kann Jorge Volpis aufgestellter These, dass es sich bei den lateinamerikanischen um ‚zweitklassige‘ Verlage handele, die den Autor*innen nur eine eingeschränkte und zumeist auf ihr eigenes Herkunftsland oder höchstens den lateinamerikanischen Kontinent beschränkte Sichtbarkeit ermöglichen, widersprochen werden (vgl. Volpi 2010: 4). Zugleich wird aber auch deutlich, dass eine Publikation in einem multinationalen Verlag, der möglicherweise nicht über dieselbe Menge symbolisches Kapital verfügt, dem Ansehen und Ruf als Weltautor*in keinen Abbruch tut.

5.1.8 Schreib- und Sprechort Der Publikationsort sollte auch noch von einer anderen Seite – dem Schreibort, also der Frage, wo sind die Schriftsteller*innen verortet, beleuchtet werden. Im Rahmen der Analyse konnte diesbezüglich festgestellt werden, dass gegenwärtig Harwicz die einzige Autorin ist, die in Europa, genauer gesagt in Frankreich, lebt. Vásquez, der sich ebenfalls längere Zeit in Europa, konkret in Frankreich, Belgien und Spanien, aufhielt, ist zwischenzeitlich wieder nach Kolumbien zurückgekehrt. Auch bei Luiselli waren Aufenthalte in Spanien und Frankreich Stationen in ihrem Werdegang. Aufschlussreich ist, dass es sowohl bei Harwicz als auch bei Vásquez die Distanz zu ihrem Herkunftsland und damit der Wechsel des Schreiborts war, der sie der Literatur nahebrachte. Beide veröffentlichten ihren ersten Roman erst als sie bereits im Ausland, genauer gesagt in Europa, lebten. In Teilen trifft dies auch auf Luiselli zu, die ebenfalls in Spanien mit dem Schreiben anfing und zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Papeles falsos bereits in den USA lebte. Die USA sind ein Land, in dem sich drei von fünf Autor*innen mindestens zeitweise aufhielten: Wie bereits kommentiert, befindet sich Luisellis derzeitiger Lebensmittelpunkt in New York, auch Indiana verbrachte einen Teil ihrer Jugend dort und zuletzt zog es interessanterweise auch Vásquez im Rahmen eines Stipendiums dorthin. Ist also doch New York die neue Hauptstadt einer gegenwärtigen World Republic of Letters? Dafür spricht die bereits angeführte Tatsache, dass die Debatte

5.1 Extraliterarische Faktoren

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um das Konzept Weltliteratur vornehmlich in den USA geführt wird. In diesem Kontext ist die Verortung in den USA somit als äußerst förderlich zu betrachten. Das zeigt sich zum Beispiel daran, dass Luiselli mit ihrem englischsprachigen Debüt Lost Children Archive seitens des Verlages und noch vor Erscheinen des Buchs mit der Ankündigung „The moving, powerful and urgent English-language debut from one of the brightest young stars in world literature“ (HarperCollins Publishers 2020) innerhalb dieser Debatte platziert wurde. Dass diese Form der weltliterarischen Kanonisierung damit eher über die USA, das heißt im Zuge der englischen Übersetzung, als über Spanien verläuft, ist in Luisellis Fall gerade angesichts der Tatsache, dass ihr literarisches Werk nicht etwa weltweit oder zumindest im spanischen Original prämiert wurde, mehr als offensichtlich2. Ebenfalls sollte erwähnt werden, dass sich Harwicz’ Sprechort, trotz ihres faktischen Wohnsitzes in Frankreich, schon allein wegen ihres Schreibens auf Spanisch sowie ihrer Veröffentlichung in einem argentinischen Verlag in Argentinien befand. Eine Einschreibung in das französische literarische Feld stand für sie nie zur Debatte. Ganz anders bei Vásquez, der zum einen basierend auf seinem Konzept des escritor inquilino, zum anderen durch seine Veröffentlichung bei einem spanischen Verlag bewusst seinen Sprechort ins Ausland verlagerte. Nichtsdestotrotz schrieb er sich aber durch seine Rückkehr nach Kolumbien sowie die konstante Präsenz in den kolumbianischen Medien ebenfalls in das kolumbianische literarische Feld ein. Luisellis Anliegen zu Beginn ihrer literarischen Karriere war es, sich in das mexikanische literarische Feld einzuschreiben, wobei sie schon immer, bedingt durch die Publikation beim Verlag Sexto Piso, der auch eine Niederlassung in Spanien besitzt, wo er ebenfalls die Bücher lateinamerikanischer Autor*innen vertreibt, auch Teil des spanischen literarischen Feldes war. Im Verlauf ihrer Schriftstellerlaufbahn veränderte Luiselli ihren Sprechort hin zur in den USA situierten und schreibenden lateinamerikanischen beziehungsweise mexikanischen Autorin. Im Zuge dessen wechselte sie in ihren literarischen Texten auch vom Spanischen ins Englische, so dass aktuell vieles darauf hin deutet, dass es ihr Bestreben ist, Teil des englischsprachigen, genauer gesagt US-amerikanischen, literarischen Feldes zu werden. Mehr oder weniger in ihren ‚nationalen‘ literarischen Feldern verankert blieben dagegen Herbert, der weder in den USA noch in Europa lebte, und Indiana, die zwar zeitweise in den USA lebte, ansonsten aber ihren Aktionsradius auf die Karibik, speziell die Dominikanische Republik und Puerto Rico, beschränkt.

2 Siehe Kapitel 5.1.9 für eine ausführliche Erörterung der Zusammenhänge von Literaturpreisen und Weltautorschaft.

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5 (Welt-)Bühne frei – Auswertung

Insgesamt fällt auf, dass die Tendenz in Richtung einer Verschiebung der Schreiborte aus Lateinamerika in den Globalen Norden geht, was sich darin manifestiert, dass Weltautor*innen über mehr als einen Sprechort verfügen und danach streben, in mehreren literarischen Feldern präsent zu sein.

5.1.9 Literaturpreise Mit Ausnahme von Harwicz, die es bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht über Nominierungen ‚hinausgebracht‘ hat, wurden alle anderen Schriftsteller*innen meines Korpus mindestens einmal für ihre literarischen Werke ausgezeichnet. Herberts Fall ist ein besonderer, da er, abgesehen von den Auszeichnungen, die er für seine Gedichte erhielt, bereits mit dem Manuskript von Canción de tumba einen spanischen Literaturpreis verliehen bekam sowie nach Veröffentlichung desselbigen einen weiteren namhaften mexikanischen Literaturpreis erhielt. Danach erhielt er jedoch keine weiteren Prämierungen mehr, auch nicht für die Übersetzungen seiner Bücher. Obwohl Indianas literarisches Werk mehrfach für Literaturpreise nominiert wurde, gewann sie letztlich wie Herbert nur einen einzigen Literaturpreis, ebenfalls in der spanischen Originalfassung. In beiden Fällen überrascht die geringe Anzahl an Preisen. Allerdings handelte es sich jeweils um regional hoch angesehene Prämierungen: Der Premio de Novela Elena Poniatowska ist ein staatlicher Literaturpreis, der vom Kultursekretariat Mexiko-Stadt verliehen wird. Beim Gran Premio Literario de la Asociación de Escritores del Caribe, der auf den Regionalrat der Karibikinsel Guadeloupe zurückgeht und der sowohl hispano-, franko- als auch anglophone literarische Texte prämiert, handelt es sich ebenfalls um einen Literaturpreis, der aus öffentlichen Geldern finanziert wird. Beides sind keine kommerziellen Preise, was sowohl Herberts als auch Indianas großes schriftstellerisches Ansehen sowie ihren hohen Stellenwert in Mexiko (Herbert) beziehungsweise der Karibik (Indiana) erklärt. Die Liste der Preisgewinne führt aktuell Vásquez mit 12 Auszeichnungen an. Die Verleihungen erfolgten in Vásquez’ Fall kontinuierlich im Verlauf seiner literarischen Karriere und folgten fast immer in kurzen Abständen auf seine jeweils neu veröffentlichten Bücher. Zudem wurden ihm, dem Aktionsfeldes eines Weltautors entsprechend, Literaturpreise in verschiedenen Sprachräumen und nicht nur dem englischsprachigen verliehen. Er erhielt Auszeichnungen für die englisch-, italienisch-, portugiesisch- sowie französischsprachigen Übersetzungen seiner Bücher. Des Weiteren wurden seinen Romanen im spanischen Original, primär in Spanien und erst 2020 erstmals in Kolumbien, eine Auszeichnung zuerkannt. Die ‚späte‘ Auszeichnung in Kolumbien ist darauf zurückzuführen, dass Vásquez durch seine faktische Abwesenheit in Kolumbien nicht als ‚kolum-

5.1 Extraliterarische Faktoren

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bianischer‘, sondern ‚ausländischer‘ Autor wahrgenommen wurde, wofür die bereits erwähnte Rezension eines seiner Bücher in der Sektion ‚ausländische Autor*innen‘ spricht. Bei den ihm verliehenen Literaturpreisen handelt es sich fast durchweg um Literaturpreise mit hohem (internationalen) Ansehen und damit Gewicht im literarischen Feld. Interessanterweise war es bei Vásquez sogar so, dass die Verleihung des Premio Alfaguara de Novela 2011 – ein kommerzieller Buchpreis – den Ausgangspunkt für zahlreiche weitere internationale nicht kommerzielle Literaturpreise bildete. Diese Tatsache widerlegt indes Frank Wynnes Feststellung darüber, dass kommerzielle Literaturpreise nicht zu einer größeren Berühmtheit von Autor*innen beitragen: „Literary awards confer a degree of celebrity, while commercial prizes tend merely to confirm it“ (Wynne 2016: 591). Vásquez’ Vielzahl an Literaturpreisen ist auch ein Beleg dafür, dass Schriftsteller noch immer die Preiskanone dominieren und damit letztlich in der Mehrzahl zu den Gewinnern zählen. Auf Platz zwei der meist prämierten Autor*innen meines Korpus steht Luiselli mit derzeit elf Auszeichnungen. Während es zu Beginn ihrer literarischen Laufbahn nur wenige Literaturpreise waren, die ihr verliehen wurden, stieg die Anzahl dieser seit ihres englischsprachigen Essays Tell Me How It Ends (2017) geradezu ‚exponentiell‘ an. So gewann sie ab diesem Zeitpunkt bis zum Spätsommer 2020 sieben weitere Literaturpreise, zu denen laufend weitere Prämierungen hinzukommen. Es steht deshalb außer Zweifel, dass es sich hierbei um den sogenannten ‚Matthäus-Effekt‘ handelt, der auf den US-amerikanischen Soziologen Robert K. Merton zurückgeht und welchen er in Anlehnung an eine Passage des Matthäusevangeliums benannte, die folgendermaßen lautet: „Denn wer da hat, dem wird gegeben, dass er die Fülle habe; wer aber nicht hat, dem wird auch das genommen, was er hat“ (Matthäus 25, 29). Merton bezog sich damit auf Beobachtungen, die er im wissenschaftlichen Umfeld machte, wonach renommierte Wissenschaftler*innen mit weitaus größerer Wahrscheinlichkeit weitere Auszeichnungen erhielten als unerfahrene Jungwissenschaftler*innen: „[T]he Matthew effect consists in the accruing of greater increments of recognition for particular scientific contributions to scientists of considerable repute and the withholding of such recognition from scientists who have not yet made their mark“ (Merton 1968: 57). Ganz nach dem Prinzip the winner takes it all zeigte sich daher bei Luiselli, dass nach einer Auszeichnung stets viele weitere folgen, wenn erst einmal ausreichend Sichtbarkeit erlangt wurde. Bemerkenswert ist in ihrem Fall zudem, dass es sich, mit Ausnahme eines italienischen Preises, ausschließlich um englischsprachige Literaturpreise der USA, Kanadas und Großbritanniens handelte.

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5 (Welt-)Bühne frei – Auswertung

Wohingegen sie und ihr literarisches Werk bis dato mit keinem einzigen spanischsprachigen Preis ausgezeichnet wurden. Deshalb besteht Grund zu der Annahme, dass ihre Literatur insgesamt eher ein englischsprachiges oder angesichts der Zahl an US-amerikanischen Auszeichnungen ein US-amerikanisches Publikum anspricht, was sowohl den Kritiker*innen als auch Leser*innen in Mexiko nicht verborgen blieb. Die fehlende sowie in Teilen verhaltene Anerkennung, die sie (mittlerweile) in Mexiko erfährt – vor allem nach ihren zahlreichen Prämierungen, deutet meines Erachtens auf eine soziohistorische Kontinuität hin. So weist Luisellis Wahrnehmung und Rezeption in Mexiko in Teilen Parallelen zu der in konservativen und patriotischen Kreisen umstrittenen historischen Persönlichkeit der Malinche auf3. Malinche, die zunächst als Sklavin an die spanischen Konquistadoren verkauft wurde, war als Übersetzerin und Dolmetscherin des spanischen Eroberers Hernán Cortés tätig. Ihr wurde vorgeworfen, für den Untergang des Aztekenreichs und die Eroberung Mexikos durch die Spanier*innen verantwortlich zu sein. Welche Spuren dieser scheinbare ‚Verrat‘im mexikanischen kollektiven Gedächtnis hinterließ, zeigt sich an den noch immer im mexikanischen Alltag gebräuchlichen Begriffen ‚malinchista‘ und ‚malinchismo‘: „Basándose en la figura histórica de la Malinche se denomina ‚malinchista‘ a una persona (independientemente de su género) y ‚malinchismo‘ a una tendencia que prefiere lo ‚ajeno‘ a lo ‚propio‘ o a lo ‚nacional‘“ (Helber 2013: 40). Übertragen auf Luiselli bedeutet dies, dass ihr ‚vorgeworfen‘ wird, sich mehr in Richtung den USA beziehungsweise des Globalen Nordens zu orientieren, anstatt sich ihrer mexikanischen Herkunft zu besinnen. Deshalb wird Luiselli weniger als mexikanische Autorin betrachtet und nur als solche beansprucht, wenn es darum geht, die Erfolge im Ausland lebender Mexikaner*innen zu präsentieren. Bei einer Analyse von Harwicz’ Nominierungen ist festzustellen, dass, obwohl mit diesen in allen drei Fällen kein Preisgewinn einherging, sie Harwicz’ literarischem Werk dennoch zu einer größeren Sichtbarkeit verhalfen, was sich in einer in der Folge geradezu sprunghaften Zunahme an Übersetzungen widerspiegelte. Dass ihr am Ende keiner der Preise verliehen wurde, spricht dafür, dass es sich bei Matate, amor eben doch um einen zu radikalen Text oder „uncomfortable read“ (The Booker Prize Foundation/The Reading Agency 2018) handelt, wie es im Reader’s Guide zur International Booker Prize-Nominierung stand. So wurde der Roman zwar ausgiebig und von vielen Seiten gelobt, konnte

3 Zur Figur der Malinche, zu literarischen (Re-)Lektüren ihrer Person und Geschichte in der Chicana-Literatur sowie zur bewussten Aneignung und Umdeutung des Begriffs malinche siehe Helber (2013).

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aber allein schon wegen dieser Tatsache nicht Teil der „novelas mainstream ganapremios“ (Tabarovsky 2014 [Herv. i. O.]) werden. Ich stimme daher Gisèle Sapiros These zu, dass auch Literaturpreise darüber entscheiden, wer als Weltautor*in anerkannt wird und wer nicht (vgl. Sapiro 2016b: 8). Auffallend ist in diesem Zusammenhang überdies, dass der wachsenden Sichtbarkeit der Autor*innen meines Korpus im Globalen Norden in der Mehrheit ein Literaturpreisgewinn oder doch zumindest eine Nominierungen vorausging. Dies unterstreicht die Tatsache, dass abgesehen von Harwicz und Herbert, die anderen Schriftsteller*innen in ihren Herkunftsländern erst als solche anerkannt und für sich reklamiert wurden, als sie im Ausland bereits in irgendeiner Form prämiert oder ausgezeichnet worden waren. Das trifft insbesondere auf Luiselli und Indiana zu.

5.1.10 Übersetzungen Da ein literarischer Text erst durch eine Übersetzung tatsächlich außerhalb seines Herkunftslandes sowie jenseits seiner Ursprungssprache zirkulieren und rezipiert werden kann, kommt der Übersetzung in der Weltliteratur-Debatte eine, wenn nicht sogar die zentrale Rolle zu. Dieses Umstands ist sich auch Harwicz bewusst, wenn sie, wie weiter oben erwähnt, sagt, dass Übersetzungen letztlich über das Ansehen und die Position von Schriftsteller*innen auf dem globalen Buchmarkt entscheiden (vgl. Harwicz 2020a). Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass abgesehen von Harwicz und Herbert, deren erste Übersetzungen jeweils ins Hebräische (Harwicz) und Französische (Herbert) erfolgten, bei den anderen Autor*innen meines Korpus das Werk stets zuerst ins Englische und anschließend in andere Sprachen übersetzt wurde. Am schnellsten wurde erstaunlicherweise die englische Übersetzung von Papeles falsos publiziert. Sie erschien bereits drei Jahre nach dem spanischen Original. Wie Luiselli letztlich als Jungschriftstellerin, ohne umfangreiches oder gar zu diesem Zeitpunkt prämiertes Œuvre der Zugang zum englischsprachigen Buchmarkt gelang, kann nur gemutmaßt werden. Doch es ist durchaus denkbar, dass hierbei sowohl ihr mexikanischer Verleger, ihr Ex-Mann Álvaro Enrigue, ihr Promotionsstudium, der Wohnsitz in den USA als auch ihre Kontakte zur hispanischen Community vor Ort hilfreich waren. Bei allen anderen Autor*innen betrug die Zeitspanne zwischen der Veröffentlichung des Originals und der englischen Übersetzung ihres literarischen Debüts indes rund fünf Jahre. Lediglich bei Herbert ließ diese besonders lange auf sich warten. Es dauerte sieben Jahre, bis die englische Übersetzung von Canción de tumba erschien.

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5 (Welt-)Bühne frei – Auswertung

Der Matthäus-Effekt, ausgelöst durch eine Übersetzung ins Englische, wie im Falle Luisellis und Vásquez’, trat in Herberts Fall überraschenderweise nicht ein. Bei ihm folgten der englischen Übersetzung bis zum Spätsommer 2020 keine weiteren Übersetzungen. Ein Grund hierfür ist sicherlich das unterschiedlich hohe symbolische Kapital der US-amerikanischen Verlagshäuser, in denen die englischen Übersetzungen der Autor*innen des Korpus jeweils veröffentlicht werden. Umso bemerkenswerter ist deshalb die 180-Grad-Wende, die Harwicz’ Schriftstellerlaufbahn sowie ihr Roman Matate, amor nach der englischen Übersetzung erfuhren. Galt dieser bis zu diesem Zeitpunkt als nur schwer oder sogar vollkommen ‚unübersetzbar‘, belehrte die englische Übersetzung und damit einhergehende Nominierung für den International Booker Prize die Literaturwelt eines Besseren. Das symbolische Kapital, das der Roman durch seine Übersetzung ins Englische sowie die Nominierung erwarb, machte ihn plötzlich für andere Regionen ‚übersetz-‘ und ‚lesbar‘, was durch die mittlerweile mehr als zehn Übersetzungen von Matate, amor belegt werden kann. Die ‚Macht‘ beziehungsweise das ‚Gewicht‘ einer Übersetzung ins Englische, die in gewisser Weise den Anstoß für den darauffolgenden MatthäusEffekt gibt, blieb auch Harwicz selbst nicht verborgen: „It [the English translation] brought prestige and visibility. That’s why the task of a translator is so difficult and political, because it’s the English language that opens all the doors“ (Rothlisberger 2020 [Harwicz]). So gesehen sind Übersetzer*innen, speziell diejenigen, die in die englische Sprache übersetzen, als zentrale Multiplikator*innen von Literatur, genauer gesagt von Weltliteratur, zu verstehen. Eine Übersetzung ins Englische ist die höchste und zugleich die wichtigste Hürde, die ein*e Autor*in überwinden muss, sofern er*sie nach einem Dasein als Weltautor*in strebt. Offensichtlich besitzen Übersetzungen in andere Sprachen weitaus weniger Wirkungskraft, wenn es darum geht, als Autor*in global sichtbar zu sein. Welche Sprache hinter Englisch folgt, ist aufgrund des geringeren symbolischen Kapitals nur noch eine Nebensächlichkeit. Das lässt sich auf folgende Formel bringen: Eine Übersetzung ins Englische ist ein Muss, alle weiteren Übersetzungen sind dagegen ein Plus, aber eben kein Muss mehr. In Bezug auf die Anzahl an Übersetzungen des jeweiligen literarischen Debüts übernimmt Vásquez durch die Verfügbarkeit von Los informantes in rund sechzehn Sprachen die Führung, dicht gefolgt von Harwicz’ Matate, amor, das mittlerweile laut der Autorin in fünfzehn Sprachen gelesen werden kann. Es folgt Luiselli, deren Debüt Papeles falsos ‚nur‘ acht, einschließlich der spanischen, Versionen vorweisen kann4. Wenn bedacht wird, dass Luisellis aktuelle

4 Es ist anzunehmen, dass diese Zahl an Übersetzungen in der Zukunft, angesichts Luisellis größerer Bekanntheit, noch steigen wird. So erschien knapp zehn Jahre nach der Erstveröf-

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Bücher in bis zu zwanzig Sprachen übersetzt werden, ist die Entwicklung, die sie und ihr literarisches Werk in den letzten zehn Jahren durchlaufen haben, umso beachtenswerter. Selbiges trifft auf Vásquez zu, dessen Bücher in der Gegenwart in fast dreißig Sprachen zirkulieren. Andererseits muss hervorgehoben werden, dass es im Falle Luisellis und auch bei Vásquez viele Jahre dauerte und des Schreibens weiterer Bücher bedurfte, bis sie das Ansehen, das sie aktuell genießen, erreicht hatten. Ganz anders als bei Harwicz, die direkt mit ihrem literarischen Debüt eine solch umfassende Reichweite und Zahl an Übersetzungen erzielte. Am Ende der Liste an Übersetzungen befinden sich Herbert mit fünf5 und Indiana mit vier (jeweils inklusive des spanischen Originals) verfügbaren Sprachversionen ihrer Debüts. Obwohl in beiden Fällen auch eine Übersetzung ins Englische existiert, brachte diese nicht wie bei den anderen Autor*innen die globale ‚Übersetzungsmaschinerie‘ ins Rollen und ging auch nicht mit einem wachsenden Ansehen einher. Alles in allem kommt der Übersetzung ins Englische im Kontext der gegenwärtigen Weltliteratur-Debatte eine Schlüsselrolle zu, da durch sie nicht nur die Zahl an potenziellen Leser*innen wächst, sondern ebenso der Zugang zu international renommierten Literaturpreisen ermöglicht wird. Deutlich wurde aber auch, dass eine Übersetzung ins Englische, dieses Potenzial zwar birgt, es aber nicht zwingend beziehungsweise nicht immer freigesetzt wird. Die Übersetzung ins Englische allein macht folglich noch keine*n Weltautor*in aus.

5.2 Intraliterarische Faktoren 5.2.1 Sprache Bei der Untersuchung der Sprache der jeweiligen Debüts ist aufgefallen, dass speziell diejenigen literarischen Texte auf globaler Ebene zirkulieren, die konventionellen Erzählformen treu bleiben und sich weniger auf stilistische oder ästhetische Experimente einlassen, sondern stattdessen der Handlung oder doch zumindest dem Inhalt Priorität einräumten. Unter die Kategorie sprachliche Experimente und Eigenheiten, die eine Zirkulation einschränken, fallen Regionalismen, Kolloquialismen und generell all das, was von der sprachlichen Norm, einem fast schon künstlich anmutendem neutralen Panspanisch („un castellano neutro des-

fentlichung von Papeles falsos im September 2020 eine Neuauflage des Buchs beim Verlag Sexto Piso. 5 Nach der Veröffentlichung der türkischen Übersetzung von Canción de tumba im September 2020 kann Herbert mittlerweile auch sechs Übersetzungen seines Debüts vorweisen.

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provisto de retórica, directo, imaginarizado y vacío de emoción“ (Gallego Cuiñas 2018: 3 [Herv. i. O.])), abweicht, und sich somit nicht ohne größere Anstrengungen übersetzen lässt. In diesem Zusammenhang ist es interessant festzustellen, dass speziell Vásquez und Luiselli diese ‚Sprachregelung‘ beziehungsweise ‚-regulierung‘, welche Rebecca L. Walkowitz 2015 treffend mit dem Konzept born translated-Literatur umschreibt, bereits verinnerlicht haben. Deshalb entscheiden sie sich gegen einen übermäßigen regionalen Sprachgebrauch und verwerden regionale Besonderheiten nur wohl dosiert, so dass kein Glossar erforderlich ist. Kennzeichnend für ihre literarischen Texte (Papeles falsos und Los informantes) ist weiterhin ein kultivierter, gepflegter, formvollendeter und sich flüssig lesender Ausdruck, der die Leser*innen geistig anregt sowie nach Abschluss der Lektüre mit einem ‚guten‘ Gefühl zurücklässt. Im Gegensatz zu diesen nehmen Herbert, Harwicz und Indiana es wohl wissend in Kauf, dass gerade das Spiel mit der Sprache, das ihre literarischen Texte auszeichnet, die Zirkulation ihres Textes einschränken kann. Sie setzen auf einen vulgären, ungeschönten, geradezu eckig und kantigen Sprach- und Schreibstil, der sich einer ‚Zähmung‘ sträubt und die Lektüre nicht als Spannungsmoment versteht, sondern das ästhetische Erlebnis in den Mittelpunkt stellt. Alles andere käme, trotz des möglicherweise größeren Erfolges, laut Harwicz einem Verrat des persönlichen Stils sowie ihres Schriftstellerethos gleich: „Y la censura no es sólo temática. Abarca al lenguaje, a la palabra que voy a escribir. ¿Se entenderá, será rara, le caerá bien al lector? Cuando entra eso en tu escritura está todo arruinado, es como la lepra, aunque publiques y vendas y te traduzcan a veinte idiomas“ (Frías 2019 [Harwicz]). Diese Gruppe Autor*innen entscheidet sich damit wissentlich und willentlich gegen eine ‚Sprachreinigung‘ und den mit einer Homogenisierung einhergehenden Verlust des persönlichen Sprach- und Schreibstils auf Kosten einer möglicherweise vielfachen Übersetzung und damit größeren Reichweite ihrer literarischen Texte. Das Thema Sprachwechsel beziehungsweise Sprachvermischung ist ein weiterer relevanter Aspekt. Alle Autor*innen des Korpus tendieren dazu, verschiedene sprachliche Einflüsse in ihren literarischen Texten zu verarbeiten, bis hin die Sprache ihrer Bücher zu wechseln. Bei Luiselli ist dieser Wechsel nicht etwa innerhalb ihrer literarischen Texte ausmachbar, denn diese sind, trotz ihres Wohnsitzes in den USA, sprachlich ‚rein‘ und zeichnen sich nicht durch den Gebrauch eines hybriden Spanglish aus, was letztlich die Übersetzung erschweren würde. Stattdessen entschied Luiselli sich mit der Veröffentlichung ihres jüngsten Romans Lost Children Archive (2019) dazu, von jetzt an ausschließlich in englischer Sprache zu schreiben und zu publizieren. In der Tat besitzt sie durch ihre ständigen Wohnortswechsel

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in der Kindheit, den Besuch englischer Schulen und ihrer damit nur beschränkten faktischen Aufenthaltsdauer in Mexiko, abgesehen von ihrem mexikanischen Pass, so gut wie keinen Bezug mehr zu Mexiko. Die Entscheidung für das Englische ist so gesehen ihrem Lebensumfeld verschuldet, wobei sie dementsprechend eigentlich auf dem in der hispanischen Community weit verbreiteten und gebräuchlichen Spanglish schreiben müsste, was sie, wie in einem Interview geäußert, aktuell plant: „No encuentro una manera de escribir en spanglish bien. En lo que estoy escribiendo ahora encuentro una manera de hacerlo más eficaz, pero también creo que hay una larga tradición de autores chicanos que lo hacen mejor, yo todavía no sé cómo quiero hacerlo“ (Maristain 2020a [Herv. i. O., Luiselli]). Somit kann ihrer Entscheidung für das Englische vor allem ökonomisches und strategisches Kalkül unterstellt werden. Auch bei Harwicz ist die Tendenz zum Hybriden, bedingt durch ihren Wohnort in Frankreich, vorhanden, bei ihr handelt es sich nicht um eine Vermischung mit dem Englischen, sondern mit dem Französischen. Dies zeichnet sich jedoch, zumindest in ihrem Debütroman Matate, amor, weniger auf lexikalischer, sondern eher und bestenfalls sublim auf syntaktischer Ebene ab: „La lengua de la novela nace del francés para elegirse argentina, porteña, del Río de la Plata“ (Scott 2017). Ähnlich verhält es sich bei Vásquez, der die verschiedenen sprachlichen Einflüsse in seinem Umfeld anführte, um zu begründen, weshalb seine literarischen Texte sprachlich eher ‚neutral‘ oder in einem Spanisch, wie es in Spanien gesprochen wird, geschrieben sind und wenig ‚genuin‘ kolumbianische Regionalismen aufweisen. Die sprachliche Mischung sowie die Inklusion englischer oder auch spanglisher Termini wie sie in Herberts und Indianas literarischem Text zu finden sind, kann auf die sprachliche Realität, die die beiden umgibt, zurückgeführt werden. So sind es bei Herbert die geografische Nähe zu den USA wie der Alltagsgebrauch USamerikanischer Begriffe und bei Indiana das Leben in der Diaspora in den USA wie auch das Zusammenleben mit Rückkehrer*innen in der Dominikanischen Republik und Puerto Rico. In beiden Fällen handelt es sich somit nicht um strategische Entscheidungen, sondern vielmehr um die Wiedergabe der angloamerikanischen Einflüsse, die das Alltagsleben der beiden Autor*innen prägen und bestimmen. Das demonstriert besonders anschaulich ein Zitat Herberts aus einem in El País veröffentlichten Interview: „Yo nunca estudié formalmente inglés, pero en la calle, en Acapulco, oyes inglés todo el tiempo“ (Ortuño 2020 [Herbert]). Als Fazit lässt sich ziehen, dass sich die literarischen Texte von Weltautor*innen in der Regel, aber doch nicht immer, durch den Gebrauch eines ‚neutralen‘, ‚sauberen‘ Spanisch abheben, das von störenden, auch als ‚provinziell‘ oder ‚vulgär‘ wahrgenommenen, regionalen Einflüssen bereinigt ist, die nicht

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mit dem Bild des*der kosmopolitischen, universal gebildeten Schriftsteller*in zusammenpassen. Hier macht sich auch die Kategorie Klasse bemerkbar. So überrascht es kaum, dass insbesondere Vásquez und Luiselli, die beide an Universitäten beziehungsweise Hochschulen lehren, wo ein intellektueller Habitus dominiert, eine fast schon nüchterne, wenngleich seriöse und renommierte ‚Variante‘ des Spanischen gebrauchen.

5.2.2 Sujet Ohne dies zuvor bei meiner Auswahl beabsichtigt zu haben, gleichen sich die literarischen Werke des Korpus inhaltlich in dem Punkt, dass es sich bei allen in gewisser Hinsicht um Familienromane beziehungsweise um literarische Texte handelt, die sich mit den verschiedensten Facetten des Themas Familie auseinandersetzen. Die Thematik Familie mit ihren Beziehungen, Auseinandersetzungen und Aushandlungen macht die Bücher universal interessant. Leser*innen auf der ganzen Welt sind für familiäre Probleme, Eltern-Kind-Beziehungen, Trauer und auch Tod empfänglich, die sie aus ihrem Alltag kennen, und sie können dazu einen Bezug aufbauen. Für eine globale Leserschaft ist es eine Gleichzeitigkeit von Fremdheit und Vertrautheit, die in den Familienthemen und damit auch in den literarischen Werken des Korpus steckt. Zudem ist es bemerkenswert, dass alle Autor*innen, mit Ausnahme Luisellis, von dysfunktionalen Familien und -verhältnissen erzählen. In zwei Werken geht es um die Hinterfragung der dominanten Vaterfigur und damit der patriarchalen Ordnung, wobei der ‚Umsturz‘ und der Versuch einer Emanzipation auf ganz unterschiedliche Weise vollzogen werden: bei Indiana (Papi) aus der Sicht der Tochter und bei Vásquez (Los informantes) aus der Perspektive des Sohnes. Herbert und Harwicz beschäftigen sich mit dem Thema Mutterschaft in ihren jeweiligen Debüts. Während es in Herberts Canción de tumba das Ausharren am Krankenbett der todkranken Mutter und ein Versuch der Versöhnung mit der Vergangenheit und der schwierigen Beziehung zur Mutter sind, nimmt Harwicz in Matate, amor nicht die ‚klassische‘ Mutterrolle ein, sondern zeichnet das komplexe Bild einer jungen Frau, die das Muttersein bereut, und sich von der, ihr seitens der Gesellschaft auferlegten, ‚Last‘ befreien will. Auch Luiselli verhandelt in Papeles falsos das Thema Familie im weitesten Sinne, dabei konzentriert sie sich jedoch auf generelle Fragen der Identität und Entwurzelung. Gerade zu letzterem passt auch, dass der Stadtspaziergang, den Luiselli in Papeles falsos unternimmt, wohl am ehesten mit den Worten schöngeistig, intellektuell, bildend und reflexiv umschrieben werden kann. Vásquez setzt sich

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dagegen neben dem Streit zwischen Vater und Sohn mit der kolumbianischen Zeitgeschichte auseinander, so dass für seinen Debütroman Los informantes eine Beschreibung mit den Adjektiven informativ und spannend am ehesten passt. In beiden Fällen handelt es sich somit um eine Auseinandersetzung mit allgemeingültigen Themen. Umso auffallender ist es deshalb, dass gerade diejenigen drei Autor*innen (Herbert, Harwicz und Indiana), deren literarische Debüts nur eingeschränkt international zirkulieren, sich mit gesellschaftlichen Tabuthemen beschäftigen: Regretting Motherhood, sexuelle Selbstbestimmung (Harwicz); Tod, Drogen, Alkohol (Herbert); Queerness, exzessives Konsumverhalten und übermäßiger Vaterkult (Indiana). Jene drei Romane gleichen sich deswegen auch hinsichtlich der sie charakterisierenden Eigenschaften: experimentell, verstörend, widerständig. Besonders augenfällig ist, dass zumindest in ihren jeweiligen literarischen Debüts wider Erwarten keine der Autor*innen gesellschaftspolitische Themen gegenwärtiger Relevanz explizit zum Gegenstand der literarischen Welt macht, was wiederum gegen meine eingangs geäußerte These, dass Weltautor*innen solche Trends und Themen in ihren Büchern aufgreifen müssen, spricht. Wenn, so werden diese allenfalls peripher berührt und machen in keinem der Bücher den Kern der Handlung aus. In diesem Zusammenhang ist es zudem beachtenswert, dass ebenfalls keines der analysierten Bücher die Stereotype nicht lateinamerikanischer Leser*innen bedient oder sich als ‚Klischeeroman‘ für das jeweilige Herkunftsland präsentiert, was damit auch Damroschs These widerspricht, dass nur ins Englische übersetzt werde, was den Vorstellungen, Bildern und der Imagination der US-amerikanischen Leser*innen entspreche (vgl. Damrosch 2003: 18).

5.2.3 Autofiktion und Autorbild Mit der Entscheidung für das autofiktionale Schreiben orientieren sich die Schriftsteller*innen meines Korpus in ihren literarischen Debüts an dem aktuellen länderübergreifenden Trend und der wachsenden Tendenz zur öffentlichen Zurschaustellung und Inszenierung des persönlichen (Schriftsteller-) Lebens. Es ist festzustellen, dass im gegenwärtigen Zeitalter Autor*innen nicht nur ein Produkt, ihr Buch, erschaffen, sondern auch sie selbst zum Produkt werden, das sich permanent vermarkten und in Szene setzen muss. Aus dieser Symbiose entsteht letztlich ein weiteres Produkt: der autofiktionale Roman. Mit Ausnahme von Indiana, bei der die autofiktionale Tendenz im Roman Papi weniger ausgeprägt ist, mimen die Autor*innen in ihren Büchern den*die selbstkritische*n und von Selbstzweifeln geplagte*n Erzähler*in beziehungsweise Schriftsteller*in und präsentieren ganz unterschiedliche Ausprägungen des

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Genres sowie Erscheinungsformen von Autorbildern und Autorfiguren: „Dabei bleibt wie in jeder Art von Literatur höchst ungewiss, ob wahr ist, was behauptet wird, ob die Autorin tatsächlich ein Antidepressivum nach dem anderen einwirft, der Autor nach dem Familieneinkauf einen Seitensprung plant“ (Abenstein 2019). Auch wenn viele Übereinstimmungen zwischen der inner- und außerliterarischen Welt sowie zwischen den Romanfiguren und ihren Schöpfer*innen ausgemacht werden können, bleiben die in den Romanen präsenten Figuren am Ende eben doch literarische Figuren, deren Zuhause die fiktionale (Gedanken-) Welt ihrer Autor*innen ist und bleibt. Entsprechend kann, trotz der teils unverkennbaren autobiografischen Bezüge in allen untersuchten Romanen, in keinem Fall abschließend geklärt werden, wo genau die Grenze zwischen Realität und Fiktion verläuft. Dieses ‚Rätselraten‘ ist gewollt und kann als ein Spiel mit der voyeuristischen Neugierde der Leser*innen betrachtet werden: „Gleichzeitig lässt sich darin auch ein Widerstand den Lesern und den Kritikern gegenüber entdecken, die immer genau wissen wollen, wie es im Leben eines Schriftstellers so zugeht […]“ (Abenstein 2019). Die für die Autofiktion charakteristische Homonymie von Autor*in, Protagonist*in und Erzähler*in ist nur bei Vásquez, Luiselli und Herbert tatsächlich gegeben, wobei sie am ausgeprägtesten in Herberts Canción de tumba ist. Es fällt auf, dass nicht nur die namentliche Gleichheit existiert, sondern darüber hinaus biografische Daten des Protagonisten und Erzählers mit denjenigen des Autors – Herbert – übereinstimmen. Ganz anders als in den Romanen Papi und Matate, amor, in denen die Protagonistinnen und Erzählerinnen namenlos bleiben. Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass in vier von fünf Büchern, abgesehen von Papi, der Akt des Schreibens als solcher sowie die Leidenschaft für Literatur thematisiert werden. Speziell in Herberts Canción de tumba und Vásquez’ Los informantes machen Metareflexionen über den Schreibprozess sowie die Entstehung des literarischen Textes einen Großteil der Handlung aus und vermitteln den Leser*innen das Gefühl, diesen unmittelbar beizuwohnen. Während bei Luiselli vor allem die Bibliophilie zum Ausdruck kommt, sind es bei Harwicz die Erinnerungen an ein ehemals den Büchern gewidmetes Leben und die Sehnsucht nach den vergangenen Zeiten. Die in diesem Zusammenhang ins Leben gerufenen Autorfiguren und -bilder reproduzieren nicht die Klischees und Vorurteile, die lange Zeit außerhalb Lateinamerikas mit lateinamerikanischen Literaturen beziehungsweise Literat*innen in Verbindung gebracht wurden. So begegnet den Leser*innen in keinem der Bücher ein Che Guevara ähnelnder Revolutionär oder etwa einer Frida Kahlo gleichenden temperamentvollen Schriftstellerin, um nur zwei beispielhafte (noch immer) dominante Stereotype und Ikonen der lateinamerikanischen Popkultur zu

5.2 Intraliterarische Faktoren

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nennen. Stattdessen lassen sich die analysierten Autorfiguren und -bilder grob in zwei Fraktionen unterteilen: die ‚Konventionellen‘ und die ‚Unangepassten‘. Zwar weisen Luisellis und Vásquez’ Autorfiguren in ihren Debütromanen auch den ein oder anderen merkwürdigen oder seltsamen Wesenszug auf, doch handelt es sich hierbei eher um kleine persönliche Marotten und nicht um ihr Autorbild dominierende Elemente. Im Gegenteil verkörpern beide – sowohl in Papeles falsos als auch in Los informantes – bibliophile Autor*innen, die sich besonders intellektuell geben, hoch hinauswollen, verkopft agieren, die Bücher über alles – auch über tatsächliche menschliche Beziehungen oder das eigene Wohl – stellen, und deren Zuhause das weltliterarische Pantheon darstellt. Aus diesem Pantheon zitieren sie unentwegt. Die andere Gruppe Autor*innen, zu der Harwicz, Indiana und Herbert zählen, verkörpert das genaue Gegenteil der erstgenannten: Allesamt stellen sie Exzentriker*innen, gesellschaftliche Außenseiter*innen dar, die von der Norm abweichen und von denen andere eher den Blick abwenden, als ihren Geschichten Gehör zu schenken. Sie kennzeichnet ein ‚rotzig‘, frecher und selbstbewusster (Unter-)Ton (Indiana in Papi), ein schonungsloses, radikales und widerspenstiges Erzählen und Verhalten (Harwicz in Matate, amor) sowie ein exzessives und vulgäres Draufgängertum (Herbert in Canción de tumba). Dadurch bedienen sie zwar den Voyeurismus und die Sensationslust der Leser*innen, taugen aber gerade durch ihren schriftstellerischen ‚Ungehorsam‘ und literarischen Widerstand gegen Kategorisierungen und Zuschreibungen nicht als unumstrittener ‚Publikumsliebling‘.

6 Coda – Fazit und Ausblick Dass allein Luiselli und Vásquez nun direkt mit dem Konzept Weltliteratur in Verbindung gebracht werden, sei dies im Rahmen von Rezensionen (Luiselli), durch den Gewinn bestimmter Literaturpreise (Vásquez), durch die Übernahme einer Gastprofessur (Vásquez) oder durch Verlagsankündigungen (Luiselli), unterliegt weder der Beliebigkeit noch der bloßen Willkür der Verlage oder Literaturkritik und ist auch nicht allein marketingtechnischen Überlegungen und strategischen Beobachtungen geschuldet. Diese Entscheidung wird stattdessen auf der Grundlage eines umfangreichen Anforderungskatalogs getroffen, den lateinamerikanische Schriftsteller*innen in der Gegenwart zu erfüllen haben. Ganz nach dem Motto: „Sag mir wer du bist und ich sage dir, ob du das Potenzial zum*zur Weltautor*in hast“. In diesem Zusammenhang wurden die einzelnen und für die Ernennung zum*zur Weltautor*in zentralen intra- und extraliterarischen Komponenten herausgearbeitet. Die Rangfolge der einzelnen Faktoren konnte jedoch nicht abschließend ermittelt werden. Vieles weist darauf hin, dass es sich vielmehr um ein komplexes Wechselspiel der verschiedenen Faktoren handelt. Das Erfüllen einzelner Kriterien kann in jedem Fall als notwendig, aber längst nicht als hinreichend für eine Etikettierung als Weltautor*in betrachtet werden. Dementsprechend zeigt die Arbeit, dass das Aufweisen eines transnationalen Schriftstellerwerdegangs und einer transnationalen Ausbildung, die Kompetenz zur Mehrsprachigkeit, das Vorlegen von Übersetzungen (speziell ins Englische) sowie der Gewinn von Literaturpreisen – alles extraliterarische Faktoren – notwendige Ausgangs-, aber eben nicht hinreichende Bedingungen darstellen, mit denen der Zugang zum weltliterarischen Parkett zwar eröffnet wird, ein Platz auf der dazugehörigen Bühne jedoch keineswegs gesichert ist. Dies gilt auch als Ursache dafür, dass weder Harwicz noch Herbert noch Indiana, die in gewisser Weise diese Eigenschaften aufweisen, jenes weltliterarische Attribut vergönnt ist. Folglich sind es nicht allein die extraliterarischen Faktoren, die die Benennung beeinflussen. Der Grund für die Ernennung zum*zur Weltautor*in ist vielmehr im Ethos, den die Schriftsteller*innen verkörpern, zu suchen, das heißt in dem Autorbild beziehungsweise der Autorfigur, die sie sowohl innerhalb ihrer literarischen Texte wie auch außerhalb dieser in Gesprächen, Interviews, Präsentationen und anderen Beiträgen von sich erzeugen. Da Herberts, Indianas und Harwicz’ extra- wie auch intraliterarisches Autorbild jenseits des Mainstreams oder sogar des literarischen Establishments zu verorten ist, verkörpern sie nicht den Typ Autor*in, der für diesen weltliterarischen ‚Titel‘ gesucht wird. https://doi.org/10.1515/9783110748758-006

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Die Konzepte Weltautor*in und Extremautor*in, als welche beispielsweise Harwicz bezeichnet wird und was in gewisser Weise auch auf Herbert übertragbar ist1, sind nicht miteinander vereinbar. Während Ersteres nach Konsonanz und einem reibungslosen Zusammenspiel der Literaturen der Welt strebt, steht Zweiteres für Dissonanz und Bruch. Hieraus lässt sich ersehen, dass zu einem ‚Dasein‘ als Weltautor*in ebenfalls eine gewisse Konventionalität dazugehört, die wiederum auf die Wichtigkeit von einem bestimmten Klassenhabitus hinweist. Harwicz’, Herberts und Indianas Nonkonformität, Exzentrizität, Direktheit und Widerständigkeit wie auch ihre vielseitige und eigenwillige Ästhetik führen also dazu, dass sie als facettenreich betrachtet werden, aber zugleich schwer zu kategorisieren sind, was wiederum die zentrale Voraussetzung darstellt, um überhaupt als Weltautor*in wahrgenommen und bezeichnet zu werden. Daneben können diese Autor*innen aber auch als ein Beleg dafür betrachtet werden, dass es durchaus möglich ist, sich einer Etikettierung als Weltautor*in zu widersetzen und trotzdem global gelesen zu werden. Bei der Bezeichnung als Weltautor*in handelt es sich zwar primär um eine Fremdzuschreibung beziehungsweise um eine Entscheidung, die andere für eine*n Autor*in treffen, jedoch können Autor*innen diese proaktiv sowohl positiv als auch negativ beeinflussen. Dies lässt sich an Luiselli und Vásquez veranschaulichen, denen ein gutes Gespür für den Zeitgeist bescheinigt werden kann. Beide pflegen einen intellektuellen Habitus, positionieren sich auch außerhalb ihrer Literatur in gesellschaftspolitischen Debatten und inszenieren sich noch dazu als Expert*innen des weltliterarischen Kanons sowie der Weltgeschichte im Gesamten. Dabei bewegen sie sich in einem Spannungsfeld gegenüber ihrer zugeschriebenen Herkunftskultur und nationalen Geschichte, das zwischen kreativer Aneignung und bewusster Distanzierung changiert. Ihre Literatur und damit in gewisser Weise auch Weltliteratur zeichnet sich dadurch aus, dass sie zwar sprachlich, aber keinesfalls ästhetisch anspruchsvoll ist, so dass sie stets übersetzbar und vermittelbar bleibt.

1 Allerdings muss an dieser Stelle angeführt werden, dass Herbert in letzter Zeit bemüht ist, nicht nur durch seine Entscheidung sich 2018 in eine Entzugsklinik zu begeben, sein Image als „escritor extremo“ (Herbert 2018) nicht mehr länger zu unterfüttern: „Ahora todo es distinto. […] Hace poco me interné en una clínica prepsiquiátrica para el tratamiento de las adicciones. Desde que me dieron de alta, hago yoga y medito por la mañana, salgo a correr a la alameda, voy al gimnasio. Estoy sobrio. Me repito que ya no soy un niño, que yo soy responsable, que la vida es una milicia“ (Herbert 2018). Hierzu gehört deshalb auch der Abschied von seinem bisherigen ‚Rockstarleben‘, wie er es mit ironischem Unterton äußerte: „[N]o soy Mick Jagger (risas) y no estoy dispuesto a sacrificar mi sentimiento de estar vivo a cambio de la iconografía“ (Medellín 2019 [Herv. i. O., Herbert]). Welche Auswirkungen dieser Imagewandel auf sein zukünftiges Schreiben und die Vermarktung seiner Bücher haben wird, wird sich indes erst noch zeigen.

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Auf einen Nenner gebracht bedeutet das, Weltliteratur ist intellektuell anregend, aber keinesfalls zu widerspenstig. Andernfalls könnte sie streng genommen nicht als Weltliteratur gelten. Kennzeichnend für sie ist zudem, dass der Handlung des literarischen Textes mehr Priorität zukommt als den ästhetischen Mitteln sowie der Form. Inhaltlich handelt es sich um eine Mischung aus Unterhaltungs- und Bildungslektüre, die Leser*innen Informationen über bisher ‚Unbekanntes‘ vermittelt, aber auch an gegenwärtige gesellschaftspolitische Debatten anknüpft und Leser*innen zugleich den Blick in bis dato ‚fremde‘ Welten ermöglicht. Anknüpfungspunkte und Wiedererkennungseffekte schaffen in diesem Zusammenhang Verweise auf westliche Kanongrößen, wobei allein die Wiedergabe der Tradition nicht genügt, sondern dennoch ein gewisses Maß an Innovationscharakter vorhanden sein muss. Abschließend bleibt die Frage, was es für die besagten Schriftsteller*innen bedeutet, ein*e Weltautor*in zu sein. Weder Luiselli noch Vásquez nutzen das Konzept selbst noch berufen sie sich auf diesen ‚Titel‘. So gesehen bringt es ihnen auf den ersten Blick keine direkten Vorteile. Indirekt jedoch schafft der ‚Titel‘ größere (weltweite) Sichtbarkeit und Aufmerksamkeit, was somit vor allen Dingen der Vermarktung und des Verkaufs ihrer Bücher dient und wovon sie letztlich auch selbst profitieren. Allerdings ist diese Benennung ebenfalls mit Nachteilen verbunden. Oftmals werden die betroffenen Autor*innen dem Vorwurf ausgesetzt, dass sie diesen ‚Titel‘ bewusst anstrebten und sich deshalb das Schreiben einer globalen, an den Mainstream angepassten Literatur zu eigen machten. Außerdem stehen die besagten Schriftsteller*innen durch den ‚Titel‘ unter einem besonderen Druck, da hohe Erwartungen an ihre Literatur, ihre öffentlichen Auftritte sowie ihre zukünftigen literarischen Werke gestellt werden. In diesem Kontext kristallisiert es sich letztlich auch heraus, ob es sich nur um kurzzeitige aufstrebende literarische Talente beziehungsweise, um aus der Musikbranche entlehnte Bezeichnungen zu verwenden, um One-Hit-Wonder handelt oder ob die besagten Autor*innen und ihre Literatur tatsächlich fortwährenden Bestand als Evergreen haben. Auf längere Sicht betrachtet, spielt deshalb der Faktor Zeit beziehungsweise Nachhaltigkeit eine Rolle. Das heißt, zumindest bei der ‚Titelverteidigung‘ ist es auch von Bedeutung, wessen Bücher noch in zwanzig oder sogar fünfzig Jahren gelesen werden, da ihnen ‚universale‘ Qualität und Relevanz über die Gegenwart hinaus und nicht nur für den gegenwärtigen Moment zugesprochen werden. Ob den Autor*innen meines Korpus, speziell Luiselli und Vásquez, diese ‚Titelverteidigung‘ gelingen wird oder ob ihnen längerfristig andere Autor*innen ihren Platz auf dem weltliterarischen Parkett sowie der Bühne streitig machen werden, ‚steht in den Sternen‘ und wird auch von ihren zukünftigen Buchprojekten abhängen. Da es sich in der Mehrheit jedoch nicht um einen offiziell von einer höheren Instanz verliehenen ‚Ehrentitel‘ handelt, außer vielleicht bei Vásquez, der die ent-

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sprechende Professur vorübergehend innehatte, sondern zumeist um eine strategische Ernennung und Verkündigung durch Verlage, Literaturkritik und Medien mit dem Zweck der besseren Vermarktung, führen Weltautor*innen zumindest in der Gegenwart ein flüchtiges und kurzlebiges Dasein. So ist es wohl nur eine Frage der Zeit, bis sich das Spotlight auf der Bühne der Weltliteratur dem*der nächsten Kandidat*in zuwendet, während sich für den*die Vorgänger*in der Vorhang schließt. Letztlich wird mit dieser ‚Titelverleihung‘ zwar der Versuch unternommen, den Autor*innen einen Platz neben teils Jahrhunderte alten weltliterarischen Größen zu verschaffen, doch spricht die Bezeichnung Weltautor*in schlussendlich dafür, dass es sich hierbei weniger um die eigentliche Literatur der Schriftsteller*innen handelt, die ausgezeichnet wird, sonst müsste es korrekterweise Weltliteraturautor*in heißen, sondern dass damit vielmehr ausgedrückt wird, dass es sich hierbei um eine Person von Welt handelt, der dieser ‚Titel‘ gerade deshalb gebührt, da sie den gegenwärtigen Zeitgeist verkörpert. Die Konzepte Weltliteratur respektive Weltautor*in sind deshalb primär als affirmativ und für den Markt zu betrachten, wenngleich sie auch die Chance bieten, Dinge sichtbar zu machen und nicht essenzialistisch zu schreiben. Gegenwärtig bedeuten die Blätter, will heißen die Bücher, (eines Teils) meiner Autor*innen in den Augen von Literaturkritik, Verlagen und Medien die Welt. Auf Dauer muss dieser Effekt nicht zwingend weltbewegend sein. Ihre aktuelle ‚Ehrung‘ als Weltautor*innen attestiert ihnen zwar eine Prominenz gegenüber anderen Schriftsteller*innen aus dem Globalen Süden, genauer gesagt aus Lateinamerika, ob diese jedoch längerfristig mit einem Stammplatz auf der Bühne der Weltliteratur einhergeht oder ob mit der Bezeichnung nur ihre nicht europäische oder nicht nordamerikanische Herkunft auf dem kurzlebigen Markt unterstrichen wird, steht auf einem ganz anderen Blatt geschrieben. Der Begriff Weltliteratur behält sich die Ambiguität zwischen Literatur der ganzen Welt und Literatur eines Weltzeitalters weiterhin vor.

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