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German Pages 512 [517] Year 2009
Manfred Kern Weltflucht
Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte Begründet als
Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker von
Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer
Herausgegeben von
Ernst Osterkamp und Werner Röcke
54 ( 288 )
≥ Walter de Gruyter · Berlin · New York
Weltflucht Poesie und Poetik der Vergänglichkeit in der weltlichen Dichtung des 12. bis 15. Jahrhunderts
von
Manfred Kern
≥ Walter de Gruyter · Berlin · New York
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-11-019819-5 ISSN 0946-9419 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Sigurd Wendland, Berlin
Manfred Kern
Weltflucht Poesie und Poetik der Vergänglichkeit in der Literatur des 12. bis 15. Jahrhunderts
für Ruth, Valentin und Moritz
VII
Vorwort Bei der vorliegenden Untersuchung handelt es sich um die redigierte Fassung meiner Habilitationsschrift, die im Mai 2006 an der Kultur- und Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Salzburg angenommen wurde. Für kritische Lektüre, wichtige Hinweise und Verbesserungsvorschläge habe ich Konstanze Fliedl, Gerold Hayer und Peter Kuon sowie der Gutachterin und den Gutachtern im Verfahren, Uta Störmer-Caysa, Volker Mertens, Ulrich Müller und Werner Röcke, zu danken. Für Motivation und erhellende Gespräche danke ich Heribert Derndorfer, Arno Dusini, Karl Entacher, Herwig Gottwald, Johannes Keller, Christopher Laferl, dem viel zu früh verstorbenen Christoph März, Lydia Miklautsch, Elisabeth Schmid, Ulrike Tanzer und Ulrich Wyss. Den Herausgebern der Reihe, Ernst Osterkamp und Werner Röcke, danke ich für die Aufnahme; Manuela Gerlof, Heiko Hartmann, Angelika Hermann und Susanne Rade vom de Gruyter-Verlag für die verlegerische Betreuung. Meiner Studienassistentin an der Universität Klagenfurt, Andrea Essl, danke ich für die Layoutierung und für die Erstellung des Personen- und Werkregisters, der Stiftungs- und Förderungsgesellschaft der Universität Salzburg für die Gewährung des Druckkostenzuschusses. Den meisten Dank schulde ich meiner Frau, Ruth Hager-Kern, die das Manuskript in der Habilitations- und in der Druckfassung lektoriert hat und die jede Menge Geduld mit mir aufbringen musste. Sie und unsere Kinder, Valentin und Moritz, haben mir schließlich mit ihrem frohen Weltsinn immer und immer wieder Rückhalt gegeben und Freude geschenkt. Ihnen ist das Buch gewidmet. Klagenfurt und Salzburg, im April 2009
M. K.
Inhalt Einleitung ...........................................................................................
1
„Blick von oben“ (1) – Trevrizents Schweigen (3) – Thema (5) – Aufbau (9) – Glückliche Paradoxie, Vergnügen am Text (14)
I. Frau Welt 1.
Allegorie und Topik der vanitas in der deutschen Lyrik des 15. Jahrhunderts ..................................
19
Michel Beheims schauderhafte Pastorella (19) – Hybride Topik und hermeneutische Offenheit (22) – Doppelte Lesbarkeit: Die „Graserin“ im Königsteiner Liederbuch (28) – Frau Welt wird Frau Ehre: Jörg Schillers ,Maienweise‘ (32) – Verfügbarkeit (39)
2.
Verdichtete Allegorie: Konrads von Würzburg ,Der Welt Lohn‘ ......................................
43
Eine Heimsuchung (43) – Lectio vanitatis, vanitas lectionis (47) – Sujetfügung (54) – Potentiale des Sujets (58) – Perspektiven (66)
3.
Weltliebe und weltliche Liebe – Zur negativen Signifikation des Erotischen ...................................
69
Eros-Thanatos (69) – Ich was vil nâch ze nidere tôt: Walthers Lied von der Mâze I (73) – Unheimlichkeit (77) – Exkurs: Vanitas und Syphilis? (83) – Sinnlichkeit und Hohe Minne: Walthers Lied von der Mâze II (92)
4.
Welt und Walther ...............................................................................
99
Vanitas und Lebensweg (99) – ,Elegie‘ (102) – ,Alterston‘ (105) – Minnesang und Transzendenz: Walthers ,Alterston‘ und Morungens ,Mörderin‘ (111) – Chronologie und Synchronie (113) – ,Abschied von Frau Welt‘ (115) – Wider liebe liep: Weltdienst und Weltlohn (122) – Zusammenfassung (125)
II. Allegorien und Allegoresen 1.
Welt-Allegorien in der bildenden Kunst ........................................ Fürst der Welt (135) – Jungfrauengleichnis und Vanitas-Allegorie (138) – Luxuria (141) – Bild und Raum (144) – Ikonologie der VanitasAllegorie (146) – Genealogie und Gene-Analogie (149)
135
X
2.
Inhalt
Mundus ridens et derisus – Ikonische und diskursive Strategien im contemptus mundi ..............................................................................
151
Definition (151) – Grundsätzliche Tendenzen (155) – Peregrinatio/navigatio – damnatio carnis (158) – Ubi sunt? (164) – Von Abstraktion und Ataraxie zur aufgeregten Mythologie der Weltverachtung (169) – Apostrophe, personificatio, sermocinatio (174) – O munde immunde! (177) – Mulier Aethiopissa: Körper, Geschlecht und Narration (182) – Schlussfolgerungen (187) – Zwei Erzählungen (197)
3.
Präfigurationen der vanitas in der hochmittelalterlichen Lyrik ....
203
Figuren der Souveränität I: Fortuna (203) – Figuren der Souveränität II: Venus (210) – Amors Schaufel (212) – Analogie als Differenz (217) – Paradoxe amoureux und Absolutismus der Immanenz (220) – Ich bin iuwer, frowe Minne (223) – Immanente Bindung und transzendente Aufhebung im Kreuzlied (227) – Figurationen der Fragilität (231) – Nähe, Zeit und Gefährdung bei Heinrich von Morungen (235) – ,Heidelied‘ (237) – ,Tagelied‘ (239) – ,Narzisslied‘ (242) – Fazit (247)
4.
Amor, Mors, Lebensschrift: Zu Dante und Petrarca ......................
249
6. April 1327, Karfreitag (249) – 9. Juni 1290 (254) – Das gegessene Herz (255) – Aspekte einer Semantik der toten Geliebten (259) – „Beatrisierte“ Transzendenz (265) – Leiblichkeit und Augenschein (268) – Mundus imago Laurae (272) – Laura imago mundi (277) – Il mio bel velo: Lauras Hülle (280) – Vergine bella: Ende der Lebensschrift, Permanenz der Lektüre (287)
5.
Resümee: Polysemie der vanitas – Pluralität der Epoche ..............
293
Von Petrarcas ,Geheimnis‘ zur offenen Polysemie (293) – Allegorien und Allegoresen, Geschlecht (299) – Genealogien und Gene-Analogien (306) – Linearität, Zyklizität, Eschatologie (310) – Kontingenz und Poetologie (313)
III. Poetik der Immanenz 1.
Dichtung als Weltwerk: Walters von Châtillon ,Alexandreis‘ .....
319
Herrscher und Held der Welt (317) – Überschreitung und Bestrafung: Alexander und Natura (324) – Exkurs: Walters Alexander und Dantes Ulisse (328) – Held der Welt, Dichtung der Welt (335) – Durst und Dichtung (337) – Die trügerische Quelle: Vergnügen des Lesers und Ruhm des Dichters (341)
2.
Welt und Unruhe im Tristanroman: Gottfried von Straßburg und Heinrich von Freiberg ................... Unmüezekeit (343) – Ein ander werlt (346) – Wunneclîchez leben und vorvorhte (Minnetrank) (351) – Zeitlichkeit und Idealität, Histoire und Discours
343
Inhalt
XI
(Minnegrotte, Baumgartenszene) (355) – Wie das Brot der edlen Herzen verzehren? (364) – „Hinfort von dieser schwachen Welt!“ (366) – Histoire statt Discours: Die verlorene Anderwelt (370) – Inszenierte Kontingenz: Der Tod der Liebenden (375) – Rosenstock und Weinrebe: contemptus mundi und allegoria amoris (380) – Abschied und Willkommen (385)
3.
Âventiure, Poetologie und Kontingenz: Hartmanns ,Iwein‘ .........
389
Kontingenz (389) – Âventiure als vanitas: Iweins Wahnsinn (391) – Curialitas zwischen Zeitlichkeit und Idealität (396) – Dichtung und Weltliebe (,Iwein‘, ,Armer Heinrich‘ und ,Gregorius‘) (399) – Poetologische Bescheidenheit und latente Negativität (408)
4.
Versuch einer Systematisierung .......................................................
411
Der Tod des Helden vor der Zeit (,Eneit‘) (411) – Ritterliches Scheitern (,Parzival‘, ,Willehalm‘) (415) – Kontingenz und narrativer Überschuss (420) – Poetik der Minne als Poetik der Immanenz (425) – Kontingenz und Mehrdeutigkeit im „historischen“ Sujet (431) – Kontingenz und Kulturalität: Konrads von Würzburg Prolog zum ,Trojanerkrieg‘ (433) – Poetik und Poesie der Vergänglichkeit (441)
Schluss ................................................................................................
443
Abbildungen ........................................................................................
451
Literaturverzeichnis ........................................................................... Abkürzungen .................................................................................. Quellen ............................................................................................ Forschungsliteratur ........................................................................
465 465 467 474
Register ................................................................................................ Personen und Werke ..................................................................... Begriffe ............................................................................................
493 493 497
Einleitung „BLICK VON OBEN“. – Dichtung ist eine Tätigkeit in und an der Welt. Die Stimme des poetischen Textes muss, sobald sie das Werk eröffnet, einen Akt der „Verschreibung“ vollzogen haben. Sie muss gewerldet sîn, wie es Gottfried von Straßburg im Prolog des ‚Tristan‘ (44, 65)1 so glücklich wie präzise benennt. In diesem gewerldet sîn wäre nun aber nicht der berüchtigte initiatorische Moment der Genese des poetischen Kunstwerks zu fassen, der zu den produktivsten Phantasmen der Literatur zählt.2 Es stellt weder eine produktionsästhetische noch eine rezeptionsästhetische Kategorie dar, sondern verweist auf ein ästhetisches Apriori, auf eine unhintergehbare Bedingung von Poesie. Sich-werlden ist ein Akt, der mit der Poetizität eines Textes immer schon gesetzt ist, der sich zugleich aber eben in der Stimme des Textes materialisiert, sei sie ein lyrisches Subjekt, sei sie die Stimme eines Erzählers oder der Erzählung. Freilich ist es eine besondere Welt, der sich der poetische Text „einwelten“ muss, ein ander werlt, wie es ebenfalls im ‚Tristan‘ (58) heißt. Es ist der Weltentwurf des Werks, der dem Werk selbst nicht vorliegt, sondern prozessual und inkalkulabel im Prozess des Zur-Sprache-Kommens entsteht (dies wiederum weder im „bloß“ produktionsästhetischen noch im „auch“ rezeptionsästhetischen Sinn). Mimesis ist Konstruktion von Wirklichkeit, ein Verfahren nicht der Wiedergabe, sondern der Repräsentation, die nichts anderes meint als Sprache, Schrift.3 Die Komplexität des mimetischen Entwurfs resultiert aus dem ästhetischen und kognitiven Potential, das die Sprache als nicht beherrschbares, geteiltes Medium im Sprachvermögen des Textes, in dem sich Autorschaft und Rezeption treffen, erzeugt. In der sprachlichen Besonderung des Geteilten und in der Aktualisierung, die jeder Rezeptionsvorgang bedeutet, besteht die Ästhetizität des poetischen Werks.
1 2 3
Hierzu unten Kap. III.2. Ein Beispiel gibt die produktionsästhetische Theorie, die Roland Barthes (2003, 267ff.) an der Divergenz von „l’Œuvre“ und „le Monde“ entwickelt; dazu unten Kap. III.2, 350f. Zur theoretischen Konzeption des aristotelischen Mimesis-Begriffs als Akt der Repräsentation Goodman 1990 und 1997, als Konstruktion/Konfiguration von Wirklichkeit Ricœur 1988.
2
Einleitung
Das lässt sich an einem der berühmtesten Texte Walthers von der Vogelweide beleuchten, nämlich an der ersten Strophe des sogenannten Reichstons (Cor 2.I; L. 8,4). Ihre Frage, ihr „Sujet“ lautet: wes/wie man zer welte solte leben.4 Noch bevor sie ausgesprochen wird, vollzieht das poetische Subjekt eine doppelte Separation, eine Trennung von dem, was man die vorausgesetzte Referentialität des Liedes nennen könnte, die mimetisch zu reproduzierende Wirklichkeit: Das poetische Subjekt imaginiert sich als einer, der auf einem Gipfel sitzt. Von ihm aus erhofft es sich offenbar den Überblick über sein Sujet. In der Pose des reflektierenden Melancholikers5 beginnt es nun aber – und dies ist die zweite und tiefergehende Separation – nicht in die Weite zu blicken, sondern in die Enge zu denken: dô dâht ich mir vil ange (I,6). Die Imagination von Welt geht einer gegebenen Evidenz voraus, die man erst schauen müsste, um sie dann zu bedenken. Erst kommt der poetische Entwurf, dann wird seine Referentialität hergestellt zu einer als vorhanden ausgegebenen Wirklichkeit, die wiederum nichts anderes als eine entworfene Welt darstellt, eine Welt, die nur aus der gewählten Perspektive auf dem Stein, von einem Gipfel her, wahrgenommen werden kann: Dem „engen“, subjektorientierten Denken der ersten Strophe setzen erst die folgenden Strophen entsprechende Formeln einer „weiten“, objektiven Sinneswahrnehmung zur Seite – ich h ô r t e ein wazzer diezen / unde s a c h die vische vliezen / ich s a c h , swaz in der welte was (Str. II in A, Str. III in BC) und Ich s a c h mit mînen ougen (...) / ich h ô r t e in Rôme liegen (Str. III in A, Str. II in BC).6 In der Frage „wes/wie man zer welte solte leben“ drückt sich eine semantische Spannung zwischen einem kategorischen „Ob überhaupt“, einem finalen „Weshalb“ und einem modalen „Wie“ aus, die sich in den beiden Überlieferungsvarianten – wes (A) oder wie (BC) – spiegelt. Diese Spannung scheint mir in keinem der beiden Fälle getilgt. Und sie ergäbe keinen Sinn, wenn man sie in der Referenz des Liedes auf eine ihm vorgängige Wirklichkeit verankern würde, da die reale Existenz schlicht gegeben ist und also wenigstens die „Ob überhaupt“-Frage ad absurdum führen wür4 5 6
Hs. A überliefert „wes“; B und C bieten die Lesart „wie“. Wenzel 1989. ‚Ich hörte ein Wasser rauschen / und sah darin die Fische schwimmen, / ich sah, was alles in der Welt war‘; ,Ich sah mit eigenen Augen (...) / ich hörte in Rom lügen.‘ (Hervorhebungen M. K.) Die ersten vier Verse von Str. III fehlen in A. Abfolge und Rivalität von Denken und Schauen der Welt ließen sich auch an Petrarcas ,Besteigung des Mont Ventoux‘ diskutieren. Sie weisen ebenso auf eine komplexe Relation zwischen Weltentwurf und Weltwahrnehmung. Deren Signifikanz, vor allem die Signifikanz des Blicks nach unten bzw. in die Ferne ergibt sich erst nach der Lektüre der Augustinischen ‚Confessiones‘ auf dem Gipfel des Berges. Schließlich ist die Unmittelbarkeit des Ereignisses nicht gegeben, sondern erst in der Schrift hergestellt, die nach dem Ereignis verfasst wird.
Einleitung
3
de. Sinn macht diese Spannung erst im Gedicht, das die Welt entwirft, auf die hin die Frage gestellt ist. Die poetische Kunst ist es dabei auch, diese Differenz zwischen einem primären Wirklichkeitsentwurf und einem sekundären Wirklichkeitsbezug zu verschleiern.7 Dichtung ist Weltwerk. Die Welt, in und an der Dichtung wirkt, ist eine entworfene. Zugleich widersetzt sich die Sprache dem poetischen Kalkül. Es wird konterkariert vom Widerständigen im Wort, vom Widerständigen in den Wortbildern vor allem. Die Tropen eines Textes sind die Paradoxa seiner Welt. Sie bilden die unhintergehbare Bedingung seiner ästhetischen Polysemie.8 In ihr treffen sich Autorschaft, Textstimme und Rezeption, in ihr verspricht (sich) die Sprache – so der Satz Paul de Mans, der Heideggers Worten „Die Sprache spricht“ jene theoretische Signifikanz und Präzision gibt, die der Erfinder deutlich verfehlt.9 Schon auf der Basis seiner Tropen, die Einverständnis versprechen und Missverständnis geben, stellt sich im poetischen Weltentwurf Kontingenz ein. In dieser ästhetischen Kontingenz – einer Kontingenz des schreibenden und des lesenden Verstehens – gründen Plausibilität und Referentialität des Weltentwurfs. Seine Polysemie macht ästhetische Erfahrung referentialisierbar, macht sie zu einem Instrument der Wirklichkeitskonstruktion und der Wirklichkeitsdeutung. TREVRIZENTS SCHWEIGEN. – ,ôwê werlt, wie tuostu sô? [...] du gîst den liuten herzesêr unt riwebæres kumbers mêr dan der freud. wie stêt dîn lôn! sus endet sich dîns mæres dôn.‘ 10
Mit diesen Klageversen kommentiert Parzivals Onkel Trevrizent, ehemals Gralsritter, nunmehr Einsiedler, seine Erkenntnis, dass niemand anderer 7
8 9 10
Darüberhinaus thematisieren die Strophen des Reichstons die Divergenz zwischen Wirklichkeitserfahrung und Wirklichkeitskonzept, zwischen der Kontingenz des historischen Verlaufs und der Folgerichtigkeit der „geschichtsmythischen“ Konstruktion, wie Historie verlaufen sollte. Man könnte in dieser Divergenz das zentrale Thema von Walthers politischer Lyrik erkennen. Die konkrete historische Erfahrung setzt die geschichtsmythischen Konstrukte der Zeit krisenhaften Erschütterungen aus, deren schwierige poetische Klärung die Positionswechsel der Autorstimme poetologisch besser begründen als die übliche These wechselnder Gönnerschaft. So der Grundgedanke in der Metaphorologie Hans Blumenbergs, vgl. bes. Blumenberg 1997 und 2001[a]. De Man 1979, 277 nach Heidegger 2003 [1959]. ‚O weh, Welt, wie kannst du nur so handeln? [...] / Du gibst den Menschen Herzensleid und mehr gramvollen Kummer / als Freude. Wie steht es um deinen Lohn?! / So [in diesem Missklang] endet die Weise der Geschichten, die du erzählst.‘
4
Einleitung
als der Neffe selbst den Tod Ithers und Herzeloydes verantwortet (Wolfram von Eschenbach: ‚Parzival‘ 475,13ff.). Die Klage reproduziert einen Topos, dessen Funktion man auch so beschreiben könnte, dass er in seiner Stereotypie nichts anderes darstellen soll als ein wortreiches Schweigen gegenüber den unerhörten Zusammenhängen, die Trevrizent an dieser Stelle plötzlich erkennt. Nehmen wir diesen Topos – für den Moment bloß – dennoch beim Wort, so bedeutet die Verschiebung der Frage nach den Ursachen des innerepischen Unheils auf die abstrakte Ebene der Weltkritik eine unzulässige Simplifizierung des Sachverhalts. Denn erstens war es Parzival und nicht die Welt, die all dies verursacht hat. Und wenn dessen unseliges Handeln schon in einem höheren Sinn zu kausalisieren wäre, so wäre die Ursache dieser Fehltritte in jenen Spielregeln zu erkennen, die der Gral und die vom Text imaginierte Transzendenz aufgestellt haben – jedenfalls nicht in den Spielregeln der Welt. Ihr wird das Ausbleiben oder besser: die pervertierte Abstattung des Lohnes für einen Dienst vorgeworfen, den sie nie verlangt hatte und der immer einem anderen, nämlich Gott, erbracht wurde. Da, wo dieser Dienst gelingt, wird er folglich auch nicht ihr gutgeschrieben. Die „Welt“, das ist hier eine Leerformel, die Leerformel für ein Schweigen, das den Abgründen der Kontingenz, die sich für Trevrizent auftun, gemäßer wäre – einer Kontingenz im übrigen, die wiederum nichts anderes als der Entwurf des Textes ist.11 Trevrizents wortreiches Schweigen gibt einen Beleg für die kurrente Formel mittelalterlicher Weltverachtung, es ist ein Sediment des theologischen contemptus mundi. Im theozentrischen Mittelalter sei die Verachtung des Diesseitigen die ultima ratio des Zeitalters, so ließe sich der triviale Konsens des neuzeitlichen Mittelalterbildes formulieren.12 Und aus dieser Perspektive scheint es nur folgerichtig, wenn sich auch die weltliche Dichtkunst des Themas der Weltverachtung und der Weltabkehr annimmt. Da Dichtung Weltwerk ist, müsste sie sich freilich konsequenterweise selbst aufheben. In der Denkfigur des contemptus mundi hätte sie die Verachtung ihrer selbst zu propagieren. „Weltflucht“ kann in der Poesie somit nur im Modus einer glücklichen Paradoxie formuliert werden. Ich nenne diese Paradoxie deshalb glücklich, weil sie auf eine Pluralität des Denkens und der ästhetischen Imagination verweist, die ein gängiges 11
12
In Gawans Weg ließe sich hingegen ein „wahrer“ Lohn der Welt erkennen, ein immanentes Gelingen, das narrativ um vieles unbeschwerter, wenn auch nicht leichter zu erringen ist, als das melancholische, an der Transzendenz orientierte Heil, das Parzival schlussendlich findet. Vgl. etwa die Idee vom (spät-)mittelalterlichen Pessimismus, wie ihn schon von Eicken 1917 und Huizinga 1975 als die eigentliche Signatur der Epoche konstruieren; differenziert hierzu Kiening 2003, 20ff.
Einleitung
5
Bild der Epoche relativieren muss: das Bild ihrer absoluten Andersheit zum Heute oder ihrer „Vormodernität“ – wie es neuerdings wieder häufiger heißt, mit einer erstaunlichen Gewissheit um das, was im Begriff so firm bezeichnet ist (was aber wäre „Modernität“, was und wo begänne sie und wann würde das „Vor“ enden?).13 Solche Effekte der Paradoxie können zugleich als Effekte des Poetischen und als sein genuines kulturelles Potential begriffen werden, und sie nachzuzeichnen ist das wesentliche Anliegen der vorliegenden Untersuchung. Die Ambivalenz der vanitas-Thematik, die glückliche Paradoxie poetischer „Weltflucht“ führt zu antithetischen Konzepten. Dies wird etwa an den Widersprüchen von Weltverachtung und Weltbezug in Konrads von Würzburg Versnovellen ,Der Welt Lohn‘ und ,Herzmäre‘ sowie an den Weltliedern Walthers von der Vogelweide sichtbar, insbesondere in ihrer Referenz auf dessen erotische Lyrik.14 Sie münden nicht in ein gradualistisch deutbares Konzept der Vereinbarkeit,15 sondern konstituieren scharfe Antithesen. Diese Antithesen aber verweisen auf die Disponibilität jenes „Absolutismus der Transzendenz“, der sich in der Tradition des contemptus mundi formuliert, sie verweisen auf Phänomene seiner Pluralisierung. THEMA. – Walthers fundamentale, aber schwer festzulegende Frage, wes/wie man zer welte solte leben, sollte nicht die Bedeutung des Themas dieser Untersuchung beglaubigen, sondern vorab dessen Perspektivität anzeigen. Es formuliert sich grundsätzlich im Modus von Verschiebungen und im Zeichen jener glücklichen Paradoxie, die aus Trevrizents wortreichem Schweigen spricht. Allgemein formuliert gilt mein Interesse den Entwürfen der Vergänglichkeit „der“ Welt oder „alles“ Irdischen in der weltlichen Poesie des 12. bis 15. Jahrhunderts, damit also auch dem poetologischen 13
14 15
Zu der von Hans Robert Jauß (1977) geprägten Formel von Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur u.a. Kiening 2003[a], 10ff. Die ihr inhärente crux lässt sich in einem Kompromiss (wie der vom „relationalen Charakter“ der Begriffe; ebd., 11) nicht beseitigen. Sie besteht – pointiert gesagt – in der trügerischen Sicherheit, dass mit ihr ein fester Ausgangspunkt philologischer Analyse gefunden wäre; sie gibt vor, benennen zu können, was das Alteritäre, das historisch Unerreichbare wäre (das somit aber auch nicht als alteritär oder nicht-alteritär bestimmt werden könnte), und dessen, was modern sei, was noch „zu uns“ spreche (obwohl eher davon auszugehen ist, dass „wir“ zu etwas und nicht etwas „zu uns“ spricht). Gerade die Weltverachtung beschreibt dabei ein in der sogenannten „Moderne“ Unerledigtes, eine Alterität ihrer selbst. Ich will damit nicht Jauß’ Ausführungen zur Differenz mittelalterlicher Literatur und ihrer dennoch gegebenen Lesbarkeit an sich kritisieren, sondern auf ein prinzipielles Ungenügen hinweisen, das seine Formel ebenso kennzeichnet wie die Begriffe der „Vormoderne“ und der „Vormodernität“. Vgl. unten Kap. I.2 und I.4. Das Konzept eines mittelalterlichen Gradualismus ist entwickelt bei G. Müller 1924.
6
Einleitung
Problem der Flüchtigkeit des poetischen Wortes selbst. Im engeren Sinne stehen Figurationen der vanitas im Zentrum, die sich im Kontext der erotischen Sujets ausbilden und die Imaginationen vor allem des weiblichen Körpers kennzeichnen. Zu den Leitbegriffen wird das Paar „Denkformen und Darstellungsformen“ zählen. Der Begriff der Denkform zielt dabei auf etwas, was man als kollektiv geteiltes kognitives Muster definieren könnte. In ihm werden – so meine Prämisse – Krisenerfahrungen nicht bewältigt, sondern überhaupt erst konstituiert, es gibt die Wege ihrer „logischen“ oder „diskursiven“ Semantisierung vor. Einer „Denkform“ eignet dabei eine auffällige Resistenz, die die Hartnäckigkeit von Diskursen, in unserem Fall von Diskursen der Vergänglichkeit und der Defizienz des Immanenten, erklärt. Der Begriff „Darstellungsform“ hingegen bezieht sich auf eingespielte Weisen der rhetorischen (oder auch bildnerischen) Repräsentation. Ihr Metier ist die ikonische Trope, Metapher und Allegorie zumal. Ich bin mir dabei bewusst, dass die Doppelformel „Denk- und Darstellungsformen“ oder „diskursive und ikonische Strategien“ Züge einer Verlegenheitslösung an sich trägt. Dies vor allem deshalb, weil sie künstlich trennt, was sich in mehrfacher Hinsicht nicht trennen lässt: Beides ist (wenngleich nicht ausschließlich) sprachlich konstituiert, es handelt sich um Sprachstrategien als fundamentale kognitive Modi, der eine tendenziell diskursiv, der andere tendenziell ikonisch (man könnte auch zwischen „nicht-tropisch“ und „tropisch“ unterscheiden). Die in der Doppelformel ausgedrückte Trennung und Verbindung zielt unter anderem darauf ab, einen Denkfehler zu vermeiden, nämlich den, der in der Darstellungsform bloß die Oberfläche, das Phänomen der Denkform erkennen würde. Darstellungsform und Denkform stehen zueinander freilich eher in einem Verhältnis der Reziprozität. Was sprachlich gedacht wird, kann dem, wie es dargestellt wird, niemals vorausgehen. Der Begriff der „Form“ soll die Affinität der in ihm gemeinten Gegebenheit zur Kategorie des Topos andeuten, wie sie Lothar Bornscheuer entwickelt hat.16 In einer epochalen Topik (verstanden als historisches Ensemble/System von Topoi) wären „produktive Problemphantasien“ zu erkennen, deren Produktivität in ihrer Intersubjektivität und in ihrer Kommunikativität besteht.17 Der Topos formuliert ein semantisches und ikonisches Äquivalent18, er ist das immer schon Geregelte, auf dessen Basis poetische Gestaltung und ästhetische Erfahrung kommunizieren. Er ist jenes Äquivalent, in dem sich die Diskurse (etwa ein geistlich16 17 18
Bornscheuer 1976, bes. 11ff. und 91ff. Ebd., 25. Mit dem Begriff des Äquivalents beziehe ich mich auf den des „allgemeinen Äquivalents“ bei Derrida 1993, 73; hierzu unten Kap. II.2, 191f.
Einleitung
7
theologischer mit einem weltlich-poetischen) und ihre Gattungen treffen; in ihm spielen Produktion und Rezeption zusammen. Aus dieser intersubjektiven Qualität ergibt sich wesentlich die kommunikative Funktion eines Textes. Sie besteht aber nicht nur in der Realisation des topischen Äquivalents (das dem Text wiederum nicht im eigentlichen Sinn vorgängig ist, da es außerhalb von Texten nicht existiert), sondern zugleich in der Überschreitung eines geteilten Verständnisses und seiner textuellen Repräsentationen. Diese Überschreitung ist ein Phänomen der Präsenz des poetischen Textes – Präsenz nicht im Sinne seiner performativen Gegenwärtigkeit19 oder seiner nicht rekonstruierbaren historischen Apparition20, sondern im Sinne seiner Ästhetizität, seiner Wahrnehmbarkeit. Sie gibt das pluralisierende, inkalkulable Moment ab, das seine Ästhetik (seine „Kunstschönheit“) erst dynamisch werden lässt. Die Überschreitung ist ein Phänomen des Widerspruchs und der Pluralisierung, das sich in der Intertextualität und in der Dialogizität eines Textes konkretisiert, das sich in seiner Referentialität auf das Vereinbarte und in dessen ambivalenter Repräsentation einstellt. Wenn wir dies so denken, ergibt sich freilich ein methodisches Problem, das auf ein kategoriales verweist: Wie wäre die Überschreitung zu messen, wenn ihre historisch-diskursive Norm immer erst aus der konkreten künstlerischen Repräsentation zu abstrahieren wäre? Die Gefahr eines Zirkelschlusses oder der Fehleinschätzung des Textes als mimetisches Symptom gründet in dem Paradox, dass Norm und Konventionalität nur aus dem je besonderen poetischen Kunstwerk erschlossen werden können, das sie immer schon hinter sich gelassen hat. Dieses Paradox muss uns vorab dazu anhalten, die Gegensätze zwischen den generischen Systemen, mit denen wir operieren, – beispielsweise den Gegensatz zwischen einem geistlichen und einem weltlichen Diskurs – als hypothetische Kategorien zu denken. Was tatsächlich gegeben ist, und dies will die Untersuchung wesentlich zeigen, sind Interferenzen zwischen rhetorischen Strategien, zwischen Gattungen, zwischen den Semantiken, die im je spezifischen Text realisiert werden. Somit geht es abstrakt gesprochen nicht um die Rekonstruktion einer epochalen Sicht auf Welt und Vergänglichkeit, sondern um ihre Konstruktion und Repräsentation im Text, die nicht auf ein allgemeines diskursives oder ikonisches Äquivalent (als wäre es sein eigentliches Signifikat) verweist, sondern dieses setzt. Es geht um die Klärung, wie sich die glückliche Paradoxie poetischer Weltverachtung mit der ästhetischen Verfasstheit von Texten verträgt, wie sie inszeniert wird, welche Effekte der Plura19 20
Hierzu Fischer-Lichte 2004 und Gumbrecht 2004. Zum Begriff vgl. Adorno 1997, 124ff.
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lisierung sie erzeugt und welche Formen der Kulturalität sie somit nicht spiegelt, sondern überhaupt erst formuliert. In diesem Prozess agiert das Kunstwerk freilich nicht für sich, sondern in Interferenz mit seinen kommunikativen Bedingungen, zu denen wesentlich seine intertextuelle Referenz rechnet. Hier aber kommen wieder die Begriffe der Denkform und der Darstellungsform ins Spiel, die ich als idealtypische Größen der rhetorischen, intertextuellen und kulturellen Referentialität eines Textes fasse. Eine „Geschichte“ der Denkformen und Darstellungsformen der vanitas ist von ihren spezifischen Repräsentationen her zu entwickeln. Sie ist keine der historischen Verläufe oder einer systematisierbaren Genealogie und Typologie der Diskurse, sondern eine Geschichte der phänomenologischen Differenzen, der Unhintergehbarkeit des konkreten Textes und der NichtArretierbarkeit seiner Signifikanz. Ziel ist der Entwurf eines differenten Bildes, das mehrschichtige Semantisierungen freilegt, die die nach wie vor eingespielten epochalen Konstruktionen konterkarieren könnten. Was diese Untersuchung bieten will, ist somit keine motivgeschichtliche Abhandlung,21 sind auch keine mentalitätsgeschichtlichen Querschnitte nach Art einer Geschichte des Todes oder der Todesbilder.22 Auch zielt sie nicht primär auf eine eigentliche kulturwissenschaftliche Analyse des Phänomens,23 wenngleich Aspekte davon durchaus einfließen. Das grundsätzliche Anliegen lässt sich eher im Begriff einer sujetorientierten historischen Poetologie umreißen. Sie konzentriert sich auf die Strategien der Bemächtigung von Welt, der Konstruktionen von Immanenz, die die weltliche Literatur in Relation zu den geistlich-theologischen Konzepten der Negativität des Zeitlichen leistet. An exemplarischen Texten und Textensembles will sie nachvollziehen, wie sich die weltliche Literatur als Medium und Fokus jener Kulturalität behauptet, auf die sie gerichtet ist, und wie sich in den Verfahren der Darstellung von Vergänglichkeit eine Auseinandersetzung um die Definitionsmacht, um den Entwurf von Welt und Weltlichkeit spiegelt. Die Paradoxie dieser Verfahren manifestiert sich dabei in einer grundlegenden Ambivalenz des Themas. Im Besonderen betrifft dies die Konzeptualisierungen von Subjektivität, Erotik und Zeitlichkeit sowie die Formen des Angedenkens, der memoria angesichts des Todes, der Wiederholbarkeit und der Permanenz immanenter Praktiken, nicht zuletzt der poetischen Praxis selbst. Sie stellen sich gegen die Perspektive einer absoluten Finalität, wie sie das „Gedenken an den Tod“, das Memento mori!, 21 22 23
Dies ist insbesondere für die Allegorie der Frau Welt zur Genüge getan worden, vgl. Closs 1934, Thiel 1956, Stammler 1959, Skowronek 1964. Ariès 2002, Haas 1989. Vgl. z.B. Kiening 2003.
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propagiert. Somit geht es auch um die Geschichte der Inbesitznahme eines Terrains und um seine Besetzung mit genuin poetischen Strategien der Darstellung von Zeitlichkeit, Vergänglichkeit und Defizienz: um die Inbesitznahme eines topischen Terrains, das nicht einem dominanten geistlich-theologischen Diskurs abgetrotzt, sondern neu erschlossen wird. Die Geschichte dieser Inbesitznahme beschreibt freilich weder einen linearen, noch einen ein für allemal vollzogenen Prozess. AUFBAU. – Die Untersuchung gliedert sich in drei Hauptteile. Der erste Hauptteil konzentriert sich auf die Figur der sogenannten Frau Welt, also auf jene spezifische Allegorie der vanitas, die die mittelhochdeutsche Poesie hervorgebracht hat. Diese Allegorie steht freilich nicht für sich, sondern verbindet Allegoreme, die sich in anderen Literaturen und Gattungen – der weltlichen Poesie wie der geistlich-theologischen Tradition des contemptus mundi – an den Figurationen von mundus, luxuria und mors ausbilden. Eröffnet wird mit einem Kapitel zur Welt-Allegorie in der spätmittelalterlichen Lyrik, motiv- und mentalitätsgeschichtlich gesehen also gleichsam von hinten. Am Beispiel des Weltliedes von Michel Beheim und seiner Spiegelungen in einer seiner Pastourellen, in einem Lied des Königsteiner Liederbuchs sowie im Lied von Frau Ehre des meisterlichen Dichters Jörg Schiller werden erste Phänomene und Verfahren der allegorisierenden Darstellung und der allegorischen Sinngebung analysiert. Sie unterlaufen oder problematisieren wenigstens in ihrer historisch-poetologischen Bedingtheit die Vorstellung eines ausgeprägten spätmittelalterlichen Pessimismus und zwingen zu einem Aufschub der Frage nach der kulturellen Signifikanz der Allegorie und der in ihr sich formulierenden Denkformen. Das zweite Kapitel widmet sich Konrads von Würzburg Verserzählung ‚Der Welt Lohn‘, also jenem Text, der die eigentliche, kanonische Sujetfügung leistet. Kennzeichen dieser Sujetfügung ist die Konfiguration allegorischer Handlung und Bedeutung in Relation zu den Modellen des Weltbezugs und der weltlichen Erotik, die die höfische Literatur im Programm der Hohen Minne ausgestaltet hat. Am Beginn der Reihe von Frau-Welt-Texten des späteren 13. bis ins 15. Jahrhundert steht somit ein komplexer, uneindeutiger Entwurf. Die literarhistorische „Logik“, auf die der motivgeschichtliche Befund verweist, wird dann sinnfällig, wenn man die späteren Zeugnisse als Filiationen liest, die das Potential dieses polyvalenten Referenztextes, eben Konrads Verserzählung, entwickeln. Das dritte Kapitel versucht eine erste poetologische und soziokulturelle Semantik von vanitas-Thematik und vanitas-Allegorie am Phänomen der negativen Signifikation des Erotischen zu geben. Den Ausgangspunkt bilden die irritierenden Worte vom „beinah erlittenen Tod aus niederer
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Minne“ in Walthers von der Vogelweide Strophe ,Aller werdekeit ein füegerinne‘. Die darin angedeutete Negativität sinnlicher Erotik wird in einer neuerlichen Rekapitulation des Beheimschen Weltliedes ausdifferenziert. Die Unheimlichkeit, die dem erotischen weiblichen Körper eingeschrieben ist, verweist auf die allegorische Engführung von Minne, luxuria und mors, die in der Allegorie der Frau Welt Gestalt wird. In ihr entrichtet die weltliche Poesie gleichsam den Tribut an eine fundamentale christlichtheologische Darstellungsform und Denkform: nämlich an die metaphorische Konzeption des amor saeculi in Bildern und Begriffen der illegitimen weltlichen Liebe (vor allem des Ehebruchs), aus der eine letztlich metonymische Gleichsetzung von Weltliebe und weltlicher Liebe resultiert. Weltliche Liebe symbolisiert nicht nur, sondern ist schärfster Ausdruck der Weltverfallenheit. (Im Prozess der Allegorese, der geistlichmoralischen „Anderslesung“ poetischer Grundmuster ist damit auf den zweiten Teil vorausgewiesen.) Dem schließt sich ein Exkurs an, der sich mit dem Phänomen beschäftigt, dass ikonische und diskursive Elemente der vanitas-luxuriaAllegorie bis in das 20. Jahrhundert hinein in der sanitätspolitischen Prävention gegen Geschlechtskrankheiten präsent bleiben. Das Faktum verweist weniger auf eine konkrete medizingeschichtliche Lesbarkeit der mittelalterlichen Allegorie als auf Resistenz und Aktualisierbarkeit ihrer konzeptuellen Verfahren. Ein zweiter Deutungsversuch von Walthers Mâze-Strophen, diesmal nicht für sich, sondern im Zusammenhang mit den übrigen Strophen des gleichen Tones betrachtet, soll die Affinität von Sinnlichkeit und Hoher Minne, damit also deren analoge negative Besetzbarkeit erweisen. Er leitet zum vierten Kapitel über, das Walthers Weltliedern, genauer gesagt der ‚Elegie‘, dem ‚Alterston‘, dem ‚Abschied von Frau Welt‘ und der ‚Welt-Lohn-Klage‘ gewidmet ist. An ihnen ist vor allem eine zweite zentrale Semantik zu entwickeln, die sich mit dem allegorischen Sujet der vanitas essentiell verschränkt: nämlich die Vorstellung von Lebensweg und Lebenszeit. Walthers Œuvre entwirft eine präzise Sängergestalt, eine persona auctoris, mit der es zu einer Neudeutung der zentralen Themen höfischer Lyrik, vor allem des Werbethemas, des Frauenpreises sowie des Singens selbst gelangt. Minne und Minnesang werden nach der Logik von Lebensweg und Lebenszeit gedacht und geraten so zum Signum immanenter Defizienz und zum Ziel schwieriger Revokationen, die paradoxerweise gerade die Permanenz des Werkes im „Hienieden“ über die Lebenszeit des Autors hinweg behaupten. In der Allegorie der Welt, die Walther hier erstmals entwickelt, ohne sie präzise auszugestalten (dies wird erst Konrad von Würzburg tun), manifestiert sich jene systematische Allegorese poetischer Immanenzkonzepte (Liebe, Dienst, Gestalt der Herrin), die
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den Gegenstand des zweiten Teils der Untersuchung bilden wird. Die Idee einer Permanenz des Werks hingegen weist voraus auf das Thema des dritten Teils, auf die Frage nach einer Poetik der Immanenz. Der zweite Hauptteil öffnet die auf die mittelhochdeutsche Weltallegorie konzentrierte Perspektive in zwei Richtungen: Zum einen widmet er sich der geistlich-theologischen Tradition des contemptus mundi, zum anderen sucht er nach „Präfigurationen“ der vanitas in der weltlichen Poesie selbst, dargestellt an der mittellateinischen, romanischen und mittelhochdeutschen Lyrik. Den Ausgangspunkt bildet eine einlässliche Analyse des Skulpturentyps eines sogenannten „Fürsten der Welt“ und der Ensembles, in deren Rahmen ihn die Sakralplastik um 1300 präsentiert. Dabei geht es weniger um eine entstehungsgeschichtliche Abklärung des Verhältnisses zur Allegorie der Frau Welt als um den Nachweis der Vieldeutigkeit, die der Gestalt und dem scheinbar so homogenen Programm der gotischen Kathedralarchitektur zukommt. Von hier ausgehend stellt sich in einem zweiten Kapitel die Frage nach den rhetorischen Verfahren der Weltkritik im contemptus mundi, die zwar nicht in ihrem grundsätzlichen Anliegen, wohl aber in ihrer tropischen Ausgestaltung durchaus divergieren. Die vanitas-Allegorien des einschlägigen theologischen Schrifttums – namentlich Mundus und Luxuria – arbeiten jenen Allegoresen vor, die sich an den Sujets und Konstellationen der höfischen Poesie festsetzen und aus ihnen die im ersten Teil erörterten Vorstellungen weltlich-erotischer Defizienz und Sündhaftigkeit entwickeln. Die Prozesse der semantischen Codierung sind dabei nicht in einem einfachen genealogischen Schema zu denken (etwa in der Art, dass Frau Welt die bloße Übertragung einer Allegorie des Mundus darstellen würde), sondern verweisen vielmehr auf produktive Interferenzen zwischen einem geistlich-theologischen und einem weltlich-poetischen Diskurs. Das Phänomen soll versuchsweise im Begriff der „Gene-Analogie“ gefasst werden. Solche Gene-Analogien versucht das dritte Kapitel an den „Figurationen der Souveränität und der Fragilität“ zu beschreiben, die sich in der hochmittelalterlichen Lyrik mit der Gestalt der Geliebten und mit Allegorien der Immanenz wie Fortuna und Venus verbinden. Die konkreten Beispiele geben die Fortuna- und Venuslieder der ‚Carmina Burana‘ sowie für den grand chant courtois Lieder Bernarts von Ventadorn, Walthers von der Vogelweide und vor allem Heinrichs von Morungen. „Präfigurationen“ der vanitas repräsentieren sie insofern, als die höfische Liebeslyrik insbesondere am paradoxe amoureux zu einem schwierigen „Absolutismus der Immanenz“ gelangt, der sich immer wieder an den Punkt seiner eige-
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nen Aufhebung heranschreibt, diese Aufhebung in seiner prinzipiellen Zyklizität aber aufzufangen versteht (Endlosigkeit des Liebeswerbens, Zeitlosigkeit der Geliebten wie des Liebenden). Es bedarf freilich nur geringer Verschiebungen oder „Allegoresen“ im Sinne von „Fehllesungen“, und diese Präfigurationen werden zu Figurationen, zu Allegorien der vanitas. Solche Verschiebungen liegen vor, wenn etwa das lyrische paradoxe amoureux im Kreuzlied nach den Kriterien transzendenter Heilserwartung oder – wie eben bei Walther – nach dem Kalkül der (verschwendeten) Lebenszeit gedacht wird. In einem vierten Kapitel werden die analysierten Verfahren und die aus ihnen entwickelten Kategorien an Dantes ‚Vita nova‘ (mit Blick auf seine ‚Comedia‘) und an den ‚Rerum vulgarium fragmenta‘ Petrarcas rekapituliert. Dies zum einen unter dem Aspekt, dass in beiden Fällen ein Konzept der Liebe, des Weltentwurfs und der Lebensschrift entwickelt wird, das gerade in seiner Heterogenität den Anspruch auf Totalität erhebt; zum anderen deshalb, weil hier auf je unterschiedliche Weise die mittelalterlichen Denkformen und Darstellungsformen der vanitas an die Grenzen ihrer epochalen Gültigkeit gelangen. Sie formulieren sich unter neuen literarästhetischen, literarhistorischen und bildungsgeschichtlichen Bedingungen, die auf epochale Veränderungen vorausweisen. Ein ausführliches Resümee beschließt den zweiten Hauptteil. Mit Blick auf den ersten Teil führt es die beschriebenen Phänomene und die aus ihnen entwickelten Theoreme zusammen (Allegorien und Allegoresen, Gene-Analogien, Formen der Linearität, der Zyklizität und der Eschatologie). Der dritte Hauptteil versucht, die Analysen der ersten beiden Teile und die poetologischen Aspekte, die sich mit ihnen eröffnet haben, in einer „Poetik der Immanenz“ zu systematisieren. Der Begriff zielt auf die leitende Frage, inwiefern sich die behandelten Figurationen und Präfigurationen der vanitas als poetologische Kategorien lesen lassen beziehungsweise welche poetologischen Theoreme sich „hinter“ ihnen verbergen. Untersucht wird dies an drei epischen Texten, die zugleich drei zentrale Sujets hochmittelalterlicher Epik und drei differente Konzeptualisierungen von Welt und Weltlichkeit widerspiegeln. Es sind dies die ,Alexandreis‘ Walters von Châtillon für das historisch-antike Sujet, der ,Tristan‘ Gottfrieds von Straßburg und seine Fortsetzung durch Heinrich von Freiberg für den Liebesroman sowie Hartmanns von Aue ,Iwein‘ für Sujet und Programm der âventiure. Im ersten Fall soll gezeigt werden, wie dem Thema der Weltbemächtigung und der Gestalt des Welteroberers, dessen frühzeitiger Tod in ein widersprüchliches exemplum vanitatis mündet, eine am antiken Epos orien-
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tierte, prononciert immanente Poetik und eine signifikante narrative Offenheit des Textes korrespondieren. Das Verfahren gipfelt in einer paradoxen „Musenabrufung“ am Ende des Werks, die das eitle Spiel der Dichtung einerseits offenlegt, es andererseits aber dem Leser als eine Übung anempfiehlt, deren Eigenwert auch aus der Perspektive der Transzendenz nicht zu löschen ist. Die glückliche Paradoxie poetischer Weltverachtung gerinnt hier zum expliziten poetologischen Programm. Die leitende poetologische Figur von Gottfrieds ‚Tristan‘ ist der Entwurf einer besonderen Welt der Liebenden, gewissermaßen einer Immanenz zweiten Grades, die sich von einer „Welt aller“ abhebt und sich in ihrer diskursiven wie ikonischen Repräsentation der Sphäre der Transzendenz annähert, ohne freilich mit ihr zu konvergieren. Das Verhältnis, das die Stimme des Erzählers, gleichsam als Mittlergestalt zwischen Autor und Rezipienten, zu dieser gesonderten Welt einnimmt, ist das einer unbedingten Affinität. Und hierin schlägt der Weltentwurf des Romans zugleich in eine Poetik der Immanenz um. Die schwierige Relation zwischen „Anderwelt“ und „Allerwelt“ spiegelt sich in der narratologischen Divergenz zwischen der Beschädigung, die die intendierte erotische Idealwelt innerhalb des konkreten Handlungsverlaufs („histoire“) erfährt, und ihrer Bekräftigung in Bildern des kontemplativen Stillstands („discours“), in denen sie dieser Bindung an das narrative Geschehen und ihrer Zeitlichkeit enthoben wird. An Heinrichs von Freiberg Fortsetzung ist zu zeigen, wie diese Strategien aufgegriffen und transformiert werden. Dies wiederum im Sinne einer glücklichen Paradoxie, wie sie der Epilog formuliert. Ihm zufolge soll der Tod der Liebenden zunächst ein exemplum vanitatis im konventionellen Sinn geben. Dieses Exemplum widerspricht sich indes selbst: zum einen, weil es jene Affinität nicht aufheben kann, die auch die Romanfortsetzung ihrem Sujet entgegenbringt, zum anderen, weil Tristans und Isoldes Tod die integumentale Voraussetzung des am Schluss propagierten geistlichen Sinnes bildet. An Hartmanns ‚Iwein‘ interessieren drittens die Entwürfe weltlicher Unzuverlässigkeit und Zufälligkeit, die sich im Aventiurehandeln des Protagonisten abbilden. Der Positivität ritterlicher Bewährung stehen dabei Perspektiven der Negativität entgegen, die sich unter anderem in einer spezifischen „Regie des Gelingens im letzten Moment“ und darin manifestieren, dass es eine beschädigte Welt ist, in der der Protagonist reüssiert. Um poetologische Verfahren handelt es sich insofern, als Kulturalität und Geschichtsmächtigkeit des poetischen Entwurfs in ihnen garantiert sind und weil ihnen eine poetologische Bescheidenheit der Autorstimme korrespondiert, die ihrerseits klare Referenzen zur negativen Sicht auf Welt und weltliche Dichtung im ,Gregorius‘ und im ,Armen Heinrich‘ aufweist.
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Das vierte Kapitel versucht die Ergebnisse dieser drei Fallstudien in einer breiteren Perspektive auf Gattungs- und Themengeschichte weltlicher Poesie (eben Âventiure, Minne und historisches Sujet) abzusichern. Den Schlusspunkt setzt eine Analyse des Prologs von Konrads von Würzburg ,Trojanerkrieg‘, der aus den aufgezeigten Verfahren einer Poetik der Immanenz gleichsam die Summe zieht. GLÜCKLICHE PARADOXIE, VERGNÜGEN AM TEXT. – Die vorliegende Studie versucht, zentrale Semantiken zu entwickeln, in denen sich poetische Repräsentation und poetologische Konzeption des vanitas-Themas verbinden: allen voran Semantiken des Erotischen, des Lebensweges sowie der Vorstellung von Finalität und Zyklizität. Meine Vorgehensweise hält sich bewusst nicht streng an das Schema der Chronologie oder der Gattungstypologie und sie beschränkt sich nicht auf eine Literatur. Der Gefahr des Eklektizismus, die freilich immer gegeben ist, steht der Gewinn einer differenzierten Sicht auf den je einzelnen Text gegenüber, dann auch die Tatsache, dass Phänomene der Pluralisierung nur an einem Ensemble zu entfalten sind, das nicht a priori zurechtgelegt ist. Nur aus der Perspektive einer offenen Analyse können Widersprüche wahrgenommen werden, wie sie schon die scheinbar homogene Tradition des contemptus mundi kennzeichnen. Die Textauswahl kann mitunter zufällig oder willkürlich erscheinen, vor allem aber ist die Repräsentativität der gewählten Texte schwierig zu bemessen. Dem ließe sich mit dem Hinweis begegnen, dass sich die Auswahl an historischer Kanonizität oder thematischer Signifikanz der Texte orientiert. Zudem kann der Untersuchung nicht daran gelegen sein, in den Phänomenen des Widerspruchs, die die Entwürfe von Zeitlichkeit und Hinfälligkeit der Welt kennzeichnen, eine ohnehin kaum zu messende Repräsentativität des je einen Effektes zu postulieren. Indem der konkrete Text freilich in jedem Fall ein Potential der Mehrdeutigkeit realisiert, kommt ihm wenn nicht Repräsentativität, so doch repräsentative Relevanz zu. In den Tropen des Textes und in ihrer hermeneutischen Widerständigkeit liegt eine unhintergehbare Polysemie begründet, eine Polysemie der Produktion, der Repräsentation und der Rezeption. Ihr kann sich nur eine offene und genaue Arbeit am Text annähern, und auf diese Weise erklärt sich auch mein Rückgriff auf dekonstruktivistische Lektüreverfahren. Die Beachtung textueller Evidenz bildet dabei die methodische Leitkategorie. Auch diese Evidenz ist freilich nicht einfach und unumstößlich gegeben, sondern immer erst freizulegen.
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Mit ihrem Interesse an der glücklichen Paradoxie, die das Thema der vanitas in der weltlichen Poesie und deren Poetik der Immanenz kennzeichnet, lässt sich diese Untersuchung schließlich von einem plaisir du texte (Roland Barthes) leiten, das in der Komplexität eines Liedes, eines Romans oder auch eines theologischen Traktats zum contemptus mundi besteht. Es könnte zugleich das Vergnügen an einer philologischen Arbeit erweisen, die sich weder vorweg sicher ist, zu welchen Ergebnissen sie gelangt, noch ob diese Ergebnisse die sicheren sind. In dieser produktiven Ungewissheit ließe sich der Tribut erkennen, den die Philologie ihrem Gegenstand, der Wortkunst, entrichten muss, zugleich aber auch der Lohn, den ihr die Wortkunst verspricht.
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1. Allegorie und Topik der vanitas in der deutschen Lyrik des 15. Jahrhunderts MICHEL BEHEIMS SCHAUDERHAFTE PASTORELLA. – Ains tags begund ich reiten, / gar lustiglichen aines morgens fru, lauten die unbeschwerten Eingangsverse von Michel Beheims Lied 279 (Gille/Spriewald II, 442-445). Das lyrische Tableau wird im Stile einer Pastourelle1 eröffnet, eine fast übertrieben frische Atmosphäre beherrscht den Liedeingang: Der fröhliche Reiter gelangt zur Maienzeit an einen grünen Anger, der – wie es sich gehört – mit allen Insignien des Frühlings ausstaffiert ist. Lilien, Veilchen, Rosen und Zeitlosen blühen auf, der Vogelsang von Galander2, Lerche, Drossel und Nachtigall sorgt für die entsprechende Klangkulisse. Es ist früh am Morgen und ein junges Herz schlägt in der Brust des Sprechenden. Wir dürfen uns seine Seelenlandschaft somit ähnlich heiter vorstellen wie den locus amoenus, den er durchmisst. Natürlich bleibt der Raum nicht leer, schon hier malt Amor die Landschaft3: Der Reiter begegnet der schönsten Frau, die er je gesehen haben will (Str. 2). Dass sie gerade Blumen pflückt, bereitet auf das zu erwartende erotische Geschehen vor. Das Lied folgt weiterhin einer pastourellenhaften Dramaturgie. Im Sinne der Gattungskonvention irritierend wirken das Wort weip (18) und das Attribut ir stalczer leib, mit dem die nun fällige descriptio personae beginnt. Wir scheinen eher eine Herrin vom Schlage der blumenpflückenden Isolde aus Heinrichs von Freiberg ,Tristan‘ (3400ff.) als das gewöhnliche Hirtenmädchen vor uns zu haben. In einer fast un1
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Zur Forschungsdiskussion über Begriff und Gattung der Pastourelle in der mhd. Lyrik s.v. Pastourelle (I. Kasten), RDLW III, 36-38. Die entsprechenden Liedformen und Liedtraditionen, die sich von Walther von der Vogelweide über den Tannhäuser bis in die spätmittelalterliche Lyrik entwickeln, weichen mehr oder weniger stark vom klassischen romanischen Typus ab. Wenn ich im Folgenden von „Pastourelle“ spreche, so im Bewusstsein um die Vorläufigkeit des Begriffs und um die Differenzen, die das unter ihm subsumierte lyrische Register (insbesondere in der Zeichnung der Aktanten) zur romanischen Gattungstradition aufweist. Das ist die Haubenlerche, mittellat. calandrius, frz. calandre (BMZ I, 457). Der Name leitet sich ab von Galerida, der Gattungsbezeichnung für die Lerchenvögel. Vgl. Goethes Gedicht ,Amor als Landschaftsmaler‘ (HA 1, 235-237); es formuliert zur universellen lyrischen Topik von Landschaft und Liebe eine prägnante poetische Psychologie.
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merklichen lyrischen Heteroglossie4 deutet sich hier jener Bruch des aufgerufenen lyrischen Registers an, den die beiden abschließenden Strophen vollziehen werden. Zunächst freilich reproduziert der Text die übliche Topik: Der Beschreibung des locus amoenus folgt die der puella bella.5 Sie gerät – für die spätmittelalterliche erotische Lyrik untypisch – recht abstrakt. Der weibliche Körper wird weder als solcher noch wenigstens in Form einer prächtigen Kleiderbeschreibung ins Bild gebracht, sondern verschwindet hinter dem allgemeinen Begriff der zirhait (33). Der Blick schwenkt zurück auf ihr Haupt, das einen Kranz von sieben Blumen trägt. Die Aufmerksamen unter den Rezipienten muss das Zahlwort irritieren: Warum ausgerechnet sieben? Die Zahl lässt eine Allegorese erwarten, die nicht folgt, mit ihr ist eine weitere lyrische Heteroglossie in das topische Textgefüge eingebracht. Die dezente Stilhöhe der Schönheitsbeschreibung bildet nun den Kontrapunkt zu der folgenden erotischen Annäherung. Sie läuft durchaus freizügig ab, auch wenn ihre Darstellung ostentativ und gegen das pastourellenhafte Register auf die Einhaltung des höfischen decorum achtet. Weiterhin lohnt es sich, auf die Zwischentöne zu achten: Ir hercz was frei und fröden reich, mit diesem Blick ins Innere wird die Beschreibung abgeschlossen. Im „freien Herzen“ ist jene freizügige Disposition der Frau angesprochen, auf die der Ritter der Pastourelle üblicherweise hoffen darf, die in der zugeknöpften descriptio aber zunächst unterdrückt wurde. Die Schöne ist es denn auch, die die Initiative übernimmt, sie grüßt als erste und redet dem Reiter, den sie ebenso schnell durchschaut wie er sie, mit süßen und sanften Worten zu. Er sitzt ab und trägt ihr in der Manier eines höfischen Liebenden seine Dienste an. Dabei taucht die Diktion immer wieder unter die prätendierte Stilhöhe ab: so zunächst in der Metapher vom „erhitzten Herzen“ des Mannes (45), die seinen Liebesaffekt unmissverständlich zum Ausdruck bringt. Höfisch kultiviertes Verhalten führt hier nicht auf Umwegen, sondern geradewegs zum Ziel: ich ret mit hupschen wiczen, / bis ich erpult dis frolin vein (47f.). Zwar ist buolen in der spätmittelalterlichen Liebeslyrik ein gängiges Verbum für ,lieben‘ und weder grundsätzlich sexuell noch klar negativ konnotiert; das finale Kompositum erbuolen meint aber – nicht zuletzt im Lichte des evozierten Gattungshorizonts – ein ganz bestimmtes Ende, an das die Liebeshändel gelangen. Höfische Wortregie und erotische Narration kontrastieren neuerlich, wenn das frolin vein mit hupschen wiczen, also die feine junge Dame nach den Regeln höfischer Lie-
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Der Begriff nach Bachtin 1979. Er ist Teil von Bachtins Konzept der Hybridität, dazu genauer im Folgenden. Zur Tradition der Schönheitsbeschreibung Krüger 1993, Tervooren 2000 und Spicker 2000.
1. Deutsche Lyrik des 15. Jahrhunderts
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beskunst „erbuhlt“ wird, wenn also der stilistische Nachhall der fin’amor auf die erotische Terminologie des späten Liebeslieds6 trifft. Der erste Stollen des Aufgesangs der vierten Strophe bleibt noch im arglosen Ton der Pastourelle, die schon beim Tannhäuser das männliche Ich als einen, der erotisch reüssiert, zu inszenieren weiß. Die Liebesgunst, die der Berichtende hier erfährt, dauert bis zum Anbruch der Nacht. Die Zeitangabe korrespondiert jener vom frühen Morgen am Liedeingang und zunächst eignet ihr nichts weiter Beunruhigendes. Sie bezeichnet bloß den leidvollen Moment des Abschieds. Auffallend mag die betonte Eile sein, die das frolin vein erfasst: Sie nimmt ain sneles urlab (54). Damit ist der entscheidende dramaturgische Wendepunkt angedeutet, er wird aber in einer gedanklichen Retardation bis zum Abgesang der Strophe hinausgezögert – was für die gekonnte Komposition des Liedes spricht. Mein frod und lust verkeret wart zu grossen schaul / ich schied von meinem pulen, so heißt es weiter. Das kräftige Wort schaul (,Schall‘, ,Ruf‘) liest sich zunächst wie eine manierierte Hyperbel in einer durchaus konventionellen Situation. Erst die folgenden Verse setzen den Ruf als proleptischen Schreckensschrei ins Recht: Die Pastourellenszene schlägt nach Art eines Vexierbildes plötzlich in eine Allegorie um. Die Schöne wendet dem Betrachter ihren Rücken zu. Er ist faulig und wurmzerfressen; Wurmlöcher, verpestetes Aas und eitrige Schwielen (manches unrainen wurmes maul und schelmen åss und pfulen; 62f.) verbreiten einen bestialischen Gestank. Die descriptio atrocitatis spiegelt die Schönheitsbeschreibung wider, ist allerdings um vieles konkreter auf das Leibliche hin formuliert. Die simultane Verkehrung des locus amoenus zur grauenvollen Landschaft des Verfalls ist umso eindringlicher, als sie neben Gesichts- und Hörsinn auch noch den Geruchssinn bedient. Angesichts dieser Umstände erübrigt sich die Frage an das Publikum, um wen es sich hier wohl handle – sie ist rhetorisch. Es folgen Allegorese und moralisatio. Die sieben Blumen, die das Haupt der Dame zieren sollten, bezeichnen die sieben Todsünden, aus denen die schändliche Krone der Frau Welt gebildet ist. Ebenso allegorischen Sinn trägt die Zeitregie des Liedes, auch wenn er nicht explizit formuliert wird: Der Lauf vom Morgen zum Abend bezeichnet die Lebenszeit. Die narrative Raffung zwischen dritter und vierter Strophe, vom raschen erpulen des Fräuleins zum jähen Einbruch der Nacht und zum plötzlichen Abschied erweist sich „von hinten“ betrachtet als eine sinntragende Beschleunigung, die die Eindringlichkeit der vanitas-Allegorie verstärkt. Mit den beiden Schlussversen richtet sich die Rede nicht mehr an das imaginierte Publikum („Ihr“), sondern apostrophiert ein exemplarisches „Du“. Der Sprecher des Liedes, der zunächst die konventionelle 6
Hierzu Herchert 1996.
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Männerrolle der Pastourelle repräsentiert hat, wandelt sich im selben Moment zum Typus des Sünders, der die gegebene Lehre exemplifiziert. Indem er sie – in gewissem Widerspruch dazu – aber auch selbst formuliert, wechselt er zugleich in den autoritativen Ton des Didaktikers: ach mensch, hab got vor ogen. / pedenk, wur zu du kummen müst. (,Ach Mensch, hab’ Gott vor Augen und / bedenk, wie du zwangsläufig enden wirst.‘) HYBRIDE TOPIK UND HERMENEUTISCHE OFFENHEIT. – Michel Beheim zählt zu den wenigen namentlich bekannten deutschen Lyrikern der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, die ein umfangreicheres Oeuvre hinterlassen haben. Es umfasst 452 Lieder, die er eigenhändig gesammelt hat und die zwischen 1449 und 1474 datieren. Hinzu kommen drei strophische Chroniken, das ,Buch von den Wienern‘ (um 1462/66), das ,Buch von der Stadt Triest‘ (1464/66) und die ,Pfälzische Reimchronik‘ (nach 1471). Er ist 1415 oder 1421 in Sülzbach bei Weinsberg geboren, seine Vorfahren kommen aus Böhmen, daher der Name. Er selbst war wie sein Vater Weber, schlug aber dann eine Karriere als Berufsdichter ein. Zunächst stand er wie sein Vorbild Muskatblüt in den Diensten Konrads von Weinsberg, des Reichskämmerers von Kaiser Sigismund. Nach Konrads Tod 1448 tritt er an zahlreichen Höfen des Reichsgebiets als Berufsdichter in Erscheinung, 1474 oder 1478 wird er – mittlerweile als Schultheiß in Sülzbach tätig – offenbar gewaltsam zu Tode gebracht. Diese in den Handbüchern nachzulesenden biographischen Details,7 die wie zumeist aus dem poetischen Werk gezogen und insofern nicht im strengen Sinn als Fakten aufzufassen sind, repräsentieren einen Dichtertypus, der eine bezeichnende Mittlerstellung einnimmt. Der Lebensweg eines durchs Reich reisenden Poeten findet sein Urbild in der Vorstellung, die man sich gemeinhin vom Leben Walthers von der Vogelweide macht. Analoge Lebensverläufe imaginiert man für die Spruchdichter des 13. Jahrhunderts. Michel Beheims mutmaßliche Ermordung erinnert vor allem an den Marner und an Reinmar von Brennenberg. Des weiteren denkt man an „bürgerliche“ Dichter im adeligen Milieu wie Konrad von Würzburg oder Heinrich von Meißen, genannt Frauenlob; für das 14. Jahrhundert an Heinrich von Mügeln, für das 15. an Muskatplüt. In seiner handwerklichen Profession vor der „Berufung“ zum Poeten kündigt sich schließlich ein Lebensentwurf an, wie ihn im 16. Jahrhundert der Typus des Meistersängers repräsentiert, wobei zu betonen ist, dass Michel Beheim gerade kein Hans Sachs des 15. Jahrhunderts zu sein scheint. Wollte man sein lyrisches Oeuvre ganz grob charakterisieren, dann setzt es thematisch, formal und von seinem sozio7
Cramer 1990, 98f. und Rupprich 1994, 224ff.; ausführliche Untersuchungen bieten McDonald 1981 und unter moderner literaturwissenschaftlicher Perspektive v.a. Niemeyer 2001.
1. Deutsche Lyrik des 15. Jahrhunderts
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kulturellen Kontext her die Tradition der sogenannten Sangspruchdichtung fort. Michel Beheims poetische Leistung – auch dies ein Stehsatz der Handbücher – liegt dabei auf dem Gebiet der „politischen Publizistik“.8 Gemeint ist eine Lyrik, die im weitesten Sinne Neues, Erstaunliches, Exorbitantes im Gewand gängiger Morallehre präsentiert. Das jeweilig Aktuelle wird ins Stereotyp-Exemplarische überführt, und dieser auch literarhistorisch konservative Gestus egalisiert zugleich das innovative Potential. An Beheims bekanntestem und gerne zitiertem Lied von Dracula ist das beispielhaft abzulesen (,von ainem wutrich der hies Trakle waida von der Walachei‘; Gille/Spriewald I, Nr. 99, 285-316). Durchwegs konventionell bleibt Michel Beheims erotische Poesie. Seine moralische Pastourelle von Frau Welt ist dennoch signifikant, gerade weil sie den beiden Gattungen, die sie verbindet – der Pastourelle und der didaktischen Allegorie – nur halb angehört. Das Lied verspricht einiges zu leisten, sowohl was historische Textualität und Ästhetik der spätmittelalterlichen Lyrik, als auch was eine erste Annäherung an die Semantik der vanitas-Allegorie betrifft. Die poetische Darstellungsform determiniert die Denkformen, die zum festen Bestand der Vergänglichkeitswarnung zählen. Gerade das erotische Register, das den Phänotyp des Textes abgibt, konfiguriert das traditionelle Sujet der Begegnung mit Frau Welt neu. Das semantische Potential dieser spezifischen, von der mittelhochdeutschen Literatur hervorgebrachten figura vanitatis gründet sich – um es vorweg und vorläufig so zu formulieren – auf die Engführung von pulchritudo, vanitas und luxuria in einem weiblichen Körperbild, auf das sich ein männliches Begehren richtet; der Moment des Betrachtens bezeichnet zugleich den Kairos der Erkenntnis und der Umkehr, der sich mit dem Schema des Lebensweges und des Lebensalters verbindet. Diese Aspekte dynamisieren sich in der narrativen und topischen Logik des pastourellenhaften Liedes. Einer Klärung der kulturellen Signifikanz des allegorischen Musters muss daher eine genauere historisch-poetologische Analyse vorangehen. Sie hat die heterogenen Schichtungen der Darstellungsweise und der Sinndimensionen freizulegen. Nur so lässt sich die konkrete Repräsentation der Weltallegorie adäquat erfassen und kontextualisieren, nur so lässt sich über das hinausgelangen, was im Sinne der abstrakten Totalitätsformel vom ewigen Zusammenspiel von Eros und Thanatos oder im Sinne des behaupteten spätmittelalterlichen Weltpessimismus, der sich hier spiegle, das immer schon Erwartete wäre. Die dramaturgisch geschickte Komposition und die wirkungsästhetische Qualität von Beheims Lied 279 sind unmittelbar sinnfällig. Auf stilistischer Ebene sind sie in der zunächst nur unmerklichen Konfrontation 8
Cramer 1990, 99.
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von rhetorischen Strategien gegeben, die einander widersprechen. Vor allem die in den erotischen Phänotyp eingestreuten Heteroglossien, deren Funktion zunächst – bis zur Peripetie in der vierten Strophe – offen gehalten wird, sorgen für eine „Irritation“ der Gattungserwartung. Signifikant ist in dieser Hinsicht vor allem das Zahlwort „sieben“: Als ungewöhnliches Attribut wird es in den topischen Blumenkranz eingeflochten und stört – kaum merkbar eben – den konventionellen Ton des Liedes. Hier deutet sich zu einem verfrühten Zeitpunkt und verräterisch jene Allegorese an, die am Ende auch der Zeitregie und der unspektakulären übrigen Topik – dem locus amoenus wie der descriptio personae – gleichsam „von hinten“ eine neue, unerwartete Bedeutsamkeit verleiht. Die kunstvolle Verzögerung des Registerwechsels von der Pastourelle in das allegorischdidaktische Lied macht die Täuschung der Rezeptionserwartung als wirkungsästhetisches Programm kenntlich. In diesem Zusammenhang ist freilich auf einen entscheidenden Punkt hinzuweisen. Die Handschriften versehen das Lied mit dem Titel: ain beispel von ainem weib, was vorn schan und hinden schraglich (,Ein Exempel von einer Frau, die vorne schön und hinten schrecklich war‘). Der Paratext operiert also von vornherein mit einer „Wie-Spannung“ und nicht mit einer „Was-Spannung“.9 Im Text selbst wird die Identität der Frau Welt freilich nur umschreibend preisgegeben; der Rätselcharakter, der für die moralisch-didaktischen „Beispiel“-Sprüche ab der Mitte des 13. Jahrhunderts typisch ist, bleibt also gewahrt.10 Im Falle einer Leserezeption, die sich auf ein didaktisches Exempel einrichtet, liegt der Reiz des Liedes somit im Umweg über die Pastourelle, den das beispel nimmt, und nicht im unerwarteten Umschlag der Pastourelle in das moralisch-didaktische Register. Im Vortrag sind prinzipiell beide Optionen des Spannungsaufbaus möglich. Lied 279 gibt ein eindrückliches Beispiel für Prozesse und Effekte der Kreuzung lyrischer Register und der ihnen zugewiesenen konventionellen Topik. Wir fassen hierin ein prinzipielles Phänomen der spätmittelalterlichen Poesie. Was sich in anderen Texten, zumal in der Liederbuchlyrik als mehr oder weniger unkontrollierter Prozess intertextuellen Einflusses erweist, verdankt sich hier einer planvollen Komposition. Wir können mit einiger Berechtigung von bewusst hergestellter Hybridität im Sinne Bachtins sprechen. Und genau in dieser hybriden „Ästhetik des poetischen Wortes“ wären nun auch Intention und Bedeutungspotential des Textes
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Die Termini variieren jene von Lugowski 1976, 40ff. (statt von „Was-Spannung“ ist dort von „Ob überhaupt-Spannung“ die Rede). Direkt im Stil des Rätsels formuliert sind die Verse 68f.: ratend, ist euch das frolin kund? / Ich zel es zu der welte.
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zu fassen.11 Fragen wir zunächst nach der ästhetisch-formalen Aussagekraft der hybridisierenden Verfahren, so dokumentieren sie die Verfügbarkeit eines umfassenden Repertoires lyrischer Register und die Produktivität, die sich aus einer prinzipiell unbegrenzten Lizenz zur Kombination ergibt. Der serielle Charakter der Lieder und die Reproduzierbarkeit des topischen Inventars können als die augenfälligste Eigenart der Textkonstitution gelten. Die textkompositorische Stereotypie der spätmittelalterlichen Lyrik übersteigt die des Minnesangs um vieles. Man ist verleitet, von lyrischem Kunsthandwerk zu sprechen, das in erster Linie das Typische, das Erwartete einzulösen trachte. Diese Ästhetik der Konventionalität erklärt die Dominanz des Topischen in den Texten und scheint der weitgehenden Anonymität der Lieder (wenigstens in den Liederbuchsammlungen) zu korrespondieren.12 Mit welch geringem Aufwand identische Verfahren der Darstellung zu konträren Sinngebungen führen, zeigt uns ein weiteres Lied aus Michel Beheims Oeuvre, nämlich Lied 337 (,von plumen und von farben‘; Gille/Spriewald II, 731-733). Es läuft bis ins Detail parallel zum Lied von Frau Welt. Den Beginn bildet wiederum der Spaziergang eines männlichen Ich hinaus an einen zur Maienzeit erblühenden Anger, also der funktional und dynamisch eingesetzte Natureingang, der für die pastourellenhafte Lyrik, für die Liebesallegorie und für die Minnereden in gleicher Weise typusbildend ist.13 Zum gängigen Formel-Repertoire des locus amoenus zählt auch hier der Vogelsang, es folgt die Begegnung mit der schönsten frawe, die der Berichtende je gesehen haben will. Sie befindet sich in einem Kräutergarten (wurczegarten, 20)14, ihre Beschreibung weiß neuerlich die einschlägigen Konvention auszureizen: Die engel-Metapher, auf der bis zur Penetranz insistiert wird, verbindet sich mit den Farbattributen „lilienweiß“ und „rosenfarben“ (für Wangen und Mund), also mit jener pulchritudo-Formel, die seit Walther von der Vogelweide15 kanonisch ist. Auch hier entwerfen die Attribute eine Frauengestalt, die sich zu einer Allegorie 11
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Bachtin 1979; dass das Konzept der Hybridität trotz Bachtins Vorbehalt gegen die „monologische“ Sprache der Lyrik wenigstens ein brauchbares terminologisches Instrumentarium im Umgang mit spätmittelalterlicher Lieddichtung abgibt, habe ich an anderer Stelle zu zeigen versucht (M. Kern 2005, bes. S. 17ff.). Zum Problem der Anonymität und zur Konstituierung einer neuen Ich-Rolle im spätmittelalterlichen Lied Haferland 2005. Vgl. für die Allegoriedichtung die ,Minneburg‘ (1ff.) und die Traumpartie in der ,Minnelehre‘ Johanns von Konstanz (156ff.); zum Spaziergang als Exordium der Minnereden Glier 1971, 394ff. Das Motiv findet sich auch in der Minnerede ,Der Krautgarten‘ (Brandis 1968, Nr. 500, 197f.). ‚Si wunderwol gemachet wîp‘, Cor 30.III,4; L. 53,38.
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auswachsen könnte, im Unterschied zu Lied 279 bleibt diese Option aber nur angedeutet. Stärker akzentuiert sind die erotischen Aspekte: Sie hat die Augen eines Falken16, die Beschreibung macht immerhin erst bei ir prustlin auss getrungen (34) halt. Den ersten Gruß spricht der Mann aus, wie dem Reiter im Weltlied ist ihm das Herz im Liebesaffekt entbrannt (37). Mit seiner Frage, warum die Dame sich hier so alleine aufhalte, öffnet sich die Perspektive neuerlich hin zur Allegorie oder wenigstens zur Didaxe. ,Mein wesen ist alein / der welt unstetikait / ist also gross und prait, / daz ich nit tar getrawen / auff kainen menschen pawen‘ (51-55)17, diese ihre Erklärung könnte uns aus der erotischen Sphäre leicht in eine andere führen, wie wir an der ,Maienweise‘ Jörg Schillers sehen werden. Mit dem Hinweis auf die Klaffer, wie die Liebesverräter in der spätmittelalterlichen Liebeslyrik genannt werden, schwenkt der Text allerdings auf das konventionelle erotische Tableau zurück. ,Also ist mir‘, antwortet der Mann, hier haben sich somit zwei von der Welt Enttäuschte gefunden. Er bietet seine Dienste an, gelobt Treue, Verschwiegenheit und Beständigkeit (63ff.) und redet so lange auf sie ein, bis sie ihm ihre Huld gewährt. Der Aufwand der Worte scheint höher als bei der trügerischen Frau Welt, die ihren unwissenden Opfern gegenüber nur allzu willfährig ist. Man umfängt und kost einander (74ff.), der Vollzug der Liebe bleibt – anders als im Falle des eindeutigen erbuolen im Weltlied – terminologisch vage. Schließlich windet das fraulin seinem Liebhaber noch einen Kranz aus Lilien, Rosen und Veilchen, in deren symbolischem Farbenwert sie ihren Liebesbund beschlossen sieht (82f.: in disen dreien varwen / sol wir uns hie vermarwen). Dieser Farbenwert bezeichnet nach der üblichen, allerdings tendenziell variablen Semiologie Reinheit, Intensität und Beständigkeit der vereinbarten Liebe, wobei im Violett des Veilchens der Aspekt des Leidens mitschwingt.18 Die Abfolge der Farben könnte im übrigen die Dramaturgie der Liebesbegegnung widerspiegeln: Zwei Liebende gehen ein unproblematisches Verhältnis ein (weiß, rot) und trennen sich im Zeichen der Treue (violett). Der Abschied, der hier ebenfalls betont abrupt genommen wird, lässt das superlativisch umschriebene Liebesglück (vgl. 17ff., 41ff., 71ff.) in einen ebenso superlativischen Affekt des Leidens umschlagen: ich mein, daz kainem manne / peschech so laide nie (91f.). Am Ende stehen die Hoffnung, wieder dorthin an den Anger der Liebe zu gelangen, und der Zwang des Meidens, den offen16 17 18
Schon die Bezeichnung Isoldes als der Minnen vederspil in Gottfrieds von Straßburg ,Tristan‘ (11989) verweist auf die erotischen Implikationen der Metapher; zum Falkenmotiv in der Liebeslyrik des 14. und 15. Jahrhunderts vgl. Bennewitz 1983 und M. Kern 2002. ,Ich bin allein hier, / die Unbeständigkeit der Welt / ist so groß und breit, / dass ich auf keinen Menschen / zu vertrauen wage.‘ Vgl. hierzu die erotischen „Farbenlehren“ in den Minnereden des ,Liederbuchs der Klara Hätzlerin‘, II.17 (Blumenfarben) und II.19-21; ferner Nr. 371-384 bei Brandis 1968, 141146.
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sichtlich die feindliche unstetikait der welt verantwortet. Bleibt nur die Bitte an Gott, den Liebenden für dieses Leid zu entschädigen. Das Lied ist – von seiner Topik her betrachtet – die getreue Kopie des Weltliedes (oder auch umgekehrt). Formal bedient es sich einer ähnlichen Technik des Spannungsaufbaus, zu nennen sind hier vor allem die Strophenenjambements. Mehrfach scheint sich ein Umschlag des Phänotextes in die didaktische Allegorie anzudeuten. Zwar wird diese Tendenz nicht explizit umgesetzt, sie läuft aber als Subtext in jenen Motiven mit, die wiederum signifikante Heteroglossien zum erotischen Vokabular darstellen (trügerische Welt, die entrückte Frau, Blumenallegoreme). Wie im Falle des Weltliedes ließe sich von einem wirkungsästhetischen Spiel mit den Möglichkeiten einer „verwilderten“ Lyrik sprechen. Manifest wird die hybride Strategie am Ende: Die forcierte Akzentuierung des Trennungsthemas und die Farbensymbolik führen das Lied, das ansonsten den Gattungstypus der Pastourelle weitestgehend einlöst, thematisch und szenographisch zurück in die Bahnen der konventionellen spätmittelalterlichen Liebesklage. Dies deutet sich innerhalb der vorangehenden PastourellenSituation mit der topischen Schelte gegen die Klaffer (55ff.) an. Die Differenzqualität, die der Pastourelle als genre objectif in dem von der Philologie entworfenen lyrischen Gattungssystem zukommen soll, zeigt sich auf diese Weise gleich wieder eingeebnet – ein für die deutsche Lyrik des 15. Jahrhunderts typischer Befund, der die Problematik des Systembegriffs dokumentiert.19 Sie besteht zumal darin, dass sie die Dynamik intertextueller Prozesse in einem klassifikatorischen Raster arretiert und formale wie generische Offenheit auf der Folie eines kategorialen Ordnungskonzepts fehlliest. Gerade Verfügbarkeit und Kombinierbarkeit lyrischer Register und Topiken führen zur Nivellierung ihrer (eben bloß tendenziell und nicht kategorial oder „systemisch“ gegebenen) Differenz und halten das, was sie „bezeichnen“ sollen, in Schwebe. Die poetische „Ikonographie“ von Beheims Lied 337 entspricht jener von Lied 279 bis ins Detail, entwirft jedoch eine konträre „Ikonologie“. Auf diese kunsttheoretischen Begriffe zurückzugreifen, macht deshalb Sinn, weil der Befund den ambivalenten Semantisierungen entspricht, die sich in der Bildenden Kunst der Zeit an traditionellen Ikonographien festsetzen. Ein Beispiel geben, um dies nur anzudeuten, etwa Dürers Stich ,Die vier Hexen‘ von 1497 (Abb. 1) oder Hans Baldung Griens Holztafelgemälde ,Zwei Hexen‘ von 1523 (Abb. 2). Sie referieren auf jene ikonographischen Typen der mehrperspektivischen Aktdarstellung, wie sie im 19
Den Systembegriff hat Klaus Hempfer (1988, 1991) für die europäische Lyrik der frühen Neuzeit forciert eingeführt; zur Diskussion und Adaptierung für die deutsche Lyrik Hübner 2002, zur Kritik Kern 2005.
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Falle der drei Grazien oder des Parisurteils vorliegen. Die von der Renaissance-Kunst neu entdeckten Sujets eröffnen divergente Sinnpotentiale, die immer schon zur Hand sind. In ihrer Disponibilität erweist sich die Gültigkeit einer negativen Ikonologien nun als immer schon hintergangen. Entsprechendes gilt in unmittelbarem Zusammenhang mit unserer Thematik auch für Baldung Griens Vanitas-Bilder (Abb. 3) und wird sich auch an der (früheren) Luxuria der Freiburger Vanitas-Gruppe (um 1300, Abb. 17) zeigen lassen. In derselben Manier, wie Beheims Weltpastourelle im erotischen Sujet eine geistlich-moralische Mahnung formuliert, lässt ein Holztafelgemälde aus dem 15. Jahrhundert (Abb. 4) ein höfisches Liebespaar zum exemplum vanitatis werden:20 Die Vorderseite zeigt es in einer Szene der Minnebegegnung, jugendlich-schön, reich gewandet und in paradiesischer Umgebung, auf der Rückseite ist es nackt und im Zustande der Verwesung zu betrachten. Die Darstellung des Paares vorne ist für sich genommen keineswegs negativ, erst die Rückansicht suggeriert diese Allegorese des positiven Augenscheins. Ähnlich operiert die Negativierung in Beheims Weltlied mit einer Perspektive ex post. Wenn ich für die Beschreibung dieses Phänomens und dieser Konvention auf Begriff und Konzept von Ikonographie und Ikonologie rekurriere, wie sie Erwin Panofsky und Ernst Gombrich formuliert haben,21 so fasse ich unter „Ikonologie“ nicht einfach das, was die augenscheinliche, sei es textuell, sei es bildnerisch gesetzte Bedeutung wäre. Vielmehr wäre die Disponibilität oder die gleichsam mutwillige Gesetztheit einer solchen Bedeutung als die unhintergehbare Bedingung dieser Ikonologie zu begreifen, also als das, was ihre Signifikanz erst ausmacht. Dies nur als erster Hinweis auf die „schwierige“, offene Semantik, die vanitas-Thema und vanitas-Allegorie schon in unserem ersten spätmittelalterlichen Beispiel kennzeichnen. Bereits hier sind wir darauf verwiesen, sie nicht in pauschale Epochenbefunde, in gesicherte kulturelle Anthropologien oder Mentalitäten umzumünzen. DOPPELTE LESBARKEIT: DIE „GRASERIN“ IM KÖNIGSTEINER LIEDERBUCH. – Die skizzierten Phänomene lyrischer Hybridität und semantisch
unfester Topiken lässt sich an weiteren Beispielen nachweisen. Was das Changieren zwischen pastourellenhaftem Phänotext und allegorischem Subtext betrifft, finden wir ein bezeichnendes Zeugnis im Königsteiner Liederbuch. Lied 128 trägt den für diese Sammlung typisch redundanten Titel „eyn ander lieth“. Er besagt nichts weiteres, als dass hier ein neues Lied beginnt, und verrät so für sich schon den seriellen Charakter spätmittelal20 21
Zur Freiburger Luxuria unten Kap. II.1; zum Holztafelgemälde unten Kap. I.3. Vgl. bes. Panofsky 2002 und Gombrich 2003.
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terlicher Lieddichtung, zumal in den Liederbüchern. Der Text ist dem Überlieferungstypus entsprechend um vieles inkonsistenter als bei Michel Beheim. Es handelt sich um ein sogenanntes Graserinnenlied, gewissermaßen die folkloristische Variante des pastourellenhaften Registers, das in den beiden Beheim-Liedern zu fassen war.22 Eröffnet wird wiederum mit der Schilderung eines locus amoenus, auf dem sich das männliche Ich und die Graserin begegnen. Von ihr erfährt dieses Ich, das offenbar von erotischem Unmut gepeinigt ist (vgl. IV,4), tröstlichen Zuspruch. Die Liebeshändel werden nur angedeutet, das Ende bilden Treueversicherung und Abschied. Dieses einfache lyrisch-narrative Schema wird nun aber in Versen entworfen, die – wenn nicht überhaupt unverständlich – von Katachresen und Stilbrüchen durchzogen sind. Schon der Beginn macht dies deutlich (I,1ff.): Mich süsset an des meies tufft So fast und lustigk me dann gutt. Das schafft das riß von morgenlufft Und dauwet uff den wolgemutt.
Das mag soviel heißen wie: ,Mich umspielt süß der Maienduft / so fest und wonnevoll, mehr als gut. / Das macht der Niederfall (oder das Reis?) der Morgenluft, / wenn sie auf [die Pflanze] Wohlgemut taut.‘ Es lässt sich kaum ein Natureingang denken, der kapriziöser und zugleich unbeholfener formuliert wäre. Weitgehend unverständlich bleibt im Folgenden die Rede von der liebsten ebentuer, die der Sprechende „an der Graserin“ erfahren haben will und die ihm den Ast des Wohlgemuts (der Pflanze wie der Stimmung) aufpfropfte. Sofern der offenbar verderbte Text überhaupt eine Deutung zulässt, könnte sich hinter der gestelzten Metaphorik eine kräftig erotische Aussage verbergen.23
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Die Ursprünge dieses Liedtypus lassen sich auf Steinmars Minnelieder zwischen Knecht und Magd zurückverfolgen, für die wiederum Neidharts dörperliches Milieu die stilistischen und thematischen Voraussetzungen geschaffen hat. Als Sujet findet sich die Begegnung mit der Graserin beim Mönch von Salzburg und bei Oswald von Wolkenstein. Beide Autoren haben für die Vermittlung des einschlägigen stilistischen wie motivischen Repertoires aus dem späthöfischen Minnesang in die Liebeslyrik des 15. Jahrhunderts Entscheidendes geleistet und den Prozess der Gattungsbildung entsprechend befördert. Das ist die liebste ebentuer, / der ich mich frow von hertzen fast; / die han ich von den grassen huer / und planzett uff wolgemudes ast (II,1-4). Für „von den grassen huer“ wäre wohl „von der grasrin huer“ zu konjizieren; ast ist eine aus dem Reimwort fast (II,2) gewonnene Konjektur von Sappler (Hg., 372) zu überliefertem off. Sappler fasst „ich“ als Subjekt des Satzes auf und schlägt folgende Deutungen vor: „,und pfropfte (meine Hoffnung) auf den Ast (?) der Pflanze Wohlgemut‘ oder ,ich pflanzte Wohlgemut‘ (?) oder auch ,(das ebentuer) wuchs auf dem Wohlgemut‘.“ Allerdings wird plantzett eher transitiv zu verstehen sein, und der Vers ist noch am verständlichsten, wenn man das ebentuer oder die Graserin als Subjekt auffasst (also: ‚und es/sie pfropfte [mir] den Ast des Wohlgemuts auf‘).
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Als sich der erotische Abenteurer dann in der vierten Strophe zu ihr ins Gras setzt, fühlt er sich von der Bürde seines Unmuts befreit, den er empfunden hatte, bis – wie es unvermittelt heißt – mir das seil wart uffgethan. Auch dies ließe sich – wenn überhaupt – am ehesten erotisch verstehen.24 Das Allegorem vom wie auch immer eröffneten Seil ist offenbar ein fernes Sediment des Brackenseils aus Wolframs ,Titurel‘ (oder auch des ‚Jüngeren Titurel‘), so legt es wenigstens der Folgevers – ich jaget die spor der truwen sted (etwa: ,ich verfolgte die Spur der steten Treue‘25) – nahe. Dann will der Liebende nach seines Herzens Wunsch gehandelt haben. Mehr oder weniger unvermittelt schließt das Lied mit den tröstlichen Worten (des Abschieds?), die die Graserin spricht: Sie will ihrem Liebhaber Eichenblatt und Wohlgemut pflücken (V,6). Auch in diese einfache Szene sind also allegorisierende Motive eingekreuzt.26 Symptomatisch für die Schwierigkeiten, die der Text bereitet, ist vor allem das unvermittelt eingebrachte allegorische Seil. Hier wird die gesuchte Bildlichkeit, auf die das Lied aus ist, am deutlichsten fassbar. Der offenbar intendierte ornatus difficilis realisiert sich freilich als ein ornatus defectus. Daran mag die Überlieferung mit Schuld sein. Sie ließe sich leicht auf mündliche Tradierung oder Verschriftlichung aus dem mündlichen Vortrag zurückführen. Auch das alte Erklärungsmuster, es läge ein Fall von „Zersingen“ vor, drängt sich auf. Ob allerdings für dieses Lied (wie im übrigen für die meisten anderen des Liederbuchs) mit einem textlich intakten Archetypus gerechnet werden kann, den erst eine mehr oder weniger lange mündliche und schriftliche Weitergabe entstellt hätte, darf bezweifelt werden. Ebenso gut kann es sich um eine ganz junge Schöpfung handeln, die hier zu Papier gebracht wurde. Die Unfestigkeit des Textes fällt jedenfalls in eine andere Kategorie als die beschriebenen Phänomene von Hybridität und Heteroglossie bei Michel Beheim. Sie kann für die Handschrift selbst, das Königsteiner Liederbuch, wie für den Sammlungstypus insgesamt als typisch gelten. Die prekäre Textgestalt allein erklärt freilich nicht die Inkonsistenzen des Liedes, sondern lässt sie bloß verschärft hervortreten. Auch in ihnen können wir nicht bloß Textverderbnisse, sondern Phänomene der Hybridität erkennen. Manifest wird dies zumal in der offenbar intendierten allegorischen Grundierung des folkloristischen Sujets. Die Allegoreme, die 24
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Vergleichen lässt sich etwa die Darstellung auf einer Miserikordie des 15. Jahrhunderts aus der Basilique Saint Materne in Walcourt (Belgien) (abgebildet auf dem Umschlag von Gaby Hercherts Studie [1996] zu den erotischen Motiven der Liederbuchlyrik; ich danke Frau Herchert für den Nachweis): Sie zeigt eine Frau, die an einem Seil zieht, das um den Penis eines Mannes gebunden ist. Oder auch der ,treuen Beständigkeit‘, wenig sinnvoll: ,der treuen Stätte‘. Sappler (Hg., 372) verweist auf eine Parallele in der Minnerede II.22 des Liederbuchs der Hätzlerin.
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der Text einbringt, lassen ihn aus dem Rahmen dessen heraustreten, was sein Sujet vorgibt. Abermals ist eine Nivellierung der Gattungsdifferenzen zu beobachten, der Text präsentiert sich als eine allegorisierende Minnerede im Register des Graserinnenliedes. Das gewählte Sujet schlägt dabei insofern auf die Strategie der Allegorisierung zurück, als sich gerade jene Elemente, die über es hinaus gehen – eben die allegorischen Blumen-, Farb- und Dingmotive (Seil) –, wenn überhaupt, so nur als Verhüllungen verstehen lassen. Sie machen erst recht die Tendenz zum Obszönen kenntlich, und das Lied wird eben doch in diesem Sinne zu lesen sein.27 Der aufgepfropfte Ast von Wohlgemut und das „eröffnete“ Seil bringen genau das zur Sprache, was sie zu verhüllen vorgeben. Und in dieser Divergenz zwischen „niederem“ lyrischen Register und „hohem“ allegorischen Stil könnte man, wenn man dies wollte, den Reiz noch dieses Textes wahrnehmen. An sich würde ihn nun mit Michel Beheims Weltlied nichts und mit dessen Pastourelle nur wenig verbinden, er wäre sozusagen der bloße Parallelfall eines Liederbuchliedes, das in einem analogen Sujet ähnliche Phänomene der Hybridität aufweist. Hellhörig muss uns allerdings die Nachschrift machen, die in der Handschrift auf die letzte Strophe – die Treueversicherung der Graserin – folgt: Dye falsche welt die vil gelobt / vund wenigk helt. Wir wissen nicht, ob dieser Epitext (so wie die Überschrift zu Beheims Weltlied) vom Verfasser selbst stammt oder ob er einer bemerkenswerten Lektüre des Schreibers (der Vorlage oder auch des Königsteiner Liederbuchs) zu verdanken ist. Letzteres schiene mir angesichts der Indifferenz des Liedtextes, was eine derartige didaktische Sinngebung angeht, plausibler. Trifft das zu, so dürfen wir mit einiger Berechtigung annehmen, dass das Lied auf der Folie von Michel Beheims Weltlied gelesen wurde. Nur die konkrete intertextuelle Referenz auf die moralische Pastourelle, in diesem Fall hergestellt von einem kenntnisreichen Rezipienten, erklärt den Epitext. Beheims Pastorella, die zu Frau Welt wird, lässt Frau Welt hier in die Rolle der Graserin schlüpfen. Ermöglicht wird diese sekundäre Assoziation durch analoge Formen der Hybridisierung: durch den mitlaufenden allegorischen Subtext, der im Falle Michel Beheims explizit wird und die Pastourelle in eine vanitas-Klage kippen lässt; durch analoge Motive wie den morgendlichen Spaziergang auf den Freudenanger, die allegorisierende Verwendung der Requisiten des locus amoenus (der lasterhafte, die sieben Todsünden symbolisierende Blumenkranz dort, Eichenblätter und Wohlgemut hier), die heteroglotte Konfrontation von erotischem Sujet und Elementen eines hohen Stils (höfische Metaphorik bei Beheim, Allegoreme im Königsteiner Lied). Das Graserinnenlied läuft 27
Gegen Sappler, ebd.
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parallel zu den ersten dreieinhalb Strophen von Beheims Weltlied. Der Epitext leistet auf erstaunlich ökonomische Weise jene Allegorese, für die Michel Beheim eineinhalb Strophen benötigt. Die Referenz lässt in nuce die Produktivität einer verfügbaren poetischen Topik und deren oszillierende Deutbarkeit fasslich werden. Sie verweist nebenbei auch auf konkrete intertextuelle Referenzen innerhalb des disparaten Corpus spätmittelalterlicher Liebeslyrik sowie auf Spuren konkreter und kompetenter Lektüren der Texte. FRAU WELT WIRD FRAU EHRE: JÖRG SCHILLERS ,MAIENWEISE‘. – Michel Beheims Pastourelle von Frau Welt könnte der konkrete Referenztext einer intertextuell bemerkenswerten Reihe sein. Darauf scheint ein weiteres Lied hinzudeuten, das ebenfalls im Ton der Pastourelle beginnt und als Allegorie endet. Es ist in mehreren Fassungen überliefert, zum einen im Liederbuch der Klara Hätzlerin (1471, Haltaus Nr. I.28), zum anderen in den Neithart-Fuchs-Drucken z (Augsburg 1491-97), z1 (Nürnberg 1537) und z2 (Frankfurt 1566), wobei z2 wiederum eine leicht abgewandelte Version bietet.28 Nach Ausweis der Verfassersignatur in der Liederbuchfassung (CKL 3, II.9,19) ist der Autor Jörg Schiller (Jörig Schilher). Schiller hat etwa zeitgleich mit Michel Beheim gedichtet und ist einer der frühen Meistersinger aus der Mitte des 15. Jahrhunderts. Darüber hinaus weiß man von seiner Biographie praktisch nichts.29 Das Lied ist im Ton der sogenannten Maienweise verfasst, der nach Ausweis mehrerer Zeugnisse eben auf Jörg Schiller zurückgeht und im späteren Meistersang beliebt war.30 Wie die Aufnahme in das Liederbuch der Klara Hätzlerin zeigt, hat Schillers Liedschaffen gegen die zumindest späterhin übliche Praxis des Meistersangs auch nach außen gewirkt.31 Die Überschrift mit ihrer unüblich präzisen Gattungszuschreibung (ein meisterliches lied) und die Verfassersignatur weisen dem Lied im Corpus eine ausgezeichnete Stellung zu. Ansonsten gilt für den Überlieferungstypus ja das „Prinzip“ der Anonymität (das sich auch im weitgehenden Verzicht auf einen signifikanten Paratext niederschlägt). Dies spricht für die Bekanntheit des Liedes wie des Verfassernamens. Schiller repräsentiert also – wenigstens der Perspektive des Liederbuchs der Klara Hätzlerin zufolge – einen ähnlich kanonischen Autor wie andere der namentlich genannten Lyriker der Sammlung, dar28 29 30 31
Zu den Druckfassungen des Liedes Bennewitz/Springeth/Müller 2001. S.v. Schiller (Schilcher), Jörg (Frieder Schanze), VL 8, Sp. 666-670. Dies macht es auch wenig sinnvoll, mit Dreyer (Analecta Germanica 1906, 340; zitiert nach CKL 3, 556) an Schillers Autorschaft zu zweifeln. Die Rezeptionszeugnisse für Schillers ,Maienweise‘ verzeichnet RSM 5, 351-353. Schiller wird in den Singschulregeln als einer derer genannt, deren Töne auch außerhalb der Schule verwendet werden dürfen, so Brunner 1975, 6f., Anm. 21.
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unter Neidhart, Freidank, der Mönch von Salzburg und Oswald von Wolkenstein.32 Betrachten wir zunächst die älteste Fassung, die des Liederbuchs.33 Die Parallelen zu Michel Beheims Weltlied springen leicht ins Auge. Auch hier folgt auf einen neidhartesken Natureingang der Erlebnisbericht eines Spaziergängers, der zur Maienzeit auf die blühende Heide hinauswandert, dem Vogelsang lauscht und einer Frau begegnet, wie er noch keine schönere gesehen haben will. In ihrer Topik laufen beide Texte wiederum ganz analog. Schillers Lied tendiert aber deutlich zur Amplifikation, wie vor allem die Schönheitsbeschreibung zeigt. Sie wird nicht bloß summarisch, sondern mit einem fast anatomischen Interesse fürs Detail gegeben: Eigene Erwähnung finden neben Haar, Augen und Mund noch Brauen, Zähne, Ohren, der nicht zu lange Nasenbogen, der sanft geschwungene Hals; schließlich noch die an das Herz (woran sonst?) geschmiegten Brüstlein, die in rechter höh empor geruckt sind (4,18). Angesichts der Vielzahl an Belegen für die Gestaltung des puella-bella-Topos ist es zwar schwierig, prätextuelle Bezüge zu identifizieren, ein so präzises Motiv wie das Kinngrübchen (4,19) macht eine konkrete Referenz aber doch wahrscheinlich: Schiller bildet offensichtlich die Schönheitskataloge der Lieder W 17 und W 31 des Mönchs von Salzburg nach. Die Strophe schließt mit der deusartifex-Formel: gott hat an ir / sein weiszheit nit gespart – ein Echo der stilbildenden descriptio, die Walthers Lied ,Si wunderwol gemachet wîp‘ (Cor 30; L. 53,25) entworfen hat: Got hât ir wengel hôhen vlîz (,Gott hat auf ihre Wangen große Sorgfalt [gewandt]‘), heißt es dort (III,1). Der Versuch, die intertextuellen Linien in Schillers Lied nachzuzeichnen, ist deshalb von Relevanz, weil auf diese Weise erstens sein enzyklopädisches Verhältnis zur Lieddichtung des Spätmittelalters wie des Minnesangs fassbar wird. Die Bezüge verweisen ferner auf einen lyrischen Kanon, der die Lieddichtung der Zeit generell prägt. Und drittens zeigen sie, dass bei aller Verfügbarkeit der einschlägigen Topik wenigstens fallweise konkret jene Texte durchschimmern, die diese Topik verantworten. Die Detailversessenheit der descriptio personae soll nun vor allem die beobachterische Sorgfalt des Sprechenden dokumentieren, der schließlich zu dem Ergebnis kommt, das ich nit zalt / kein ungestalt / an ires leibes pild (,dass ich keinen Makel an der Gestalt ihres Leibes erkennen konnte‘). Die Aussage mag fürs Erste nicht besonders auffällig sein, ist aber doch mehr als die bloß formelhafte Beendigung der Schönheitsbeschreibung, wenn wir das Lied auf der Folie von Michel Beheims Begegnung mit Frau Welt lesen wollen. Mit seiner fünften Strophe steht Schillers Spaziergänger 32 33
Die Zuschreibungen sind nach Ausweis der Parallelüberlieferung nicht immer korrekt. Textzitate im Folgenden nach CKL 3, 194-207.
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jedenfalls am selben dramaturgischen Wendepunkt wie jener Reiter, als er sich mit der blumenpflückenden Schönen einlässt. Es folgt der obligate Gruß. Die latent erotische Ambition artikuliert sich – parallel zu Beheims Wort vom erhitzten Herzen – in dem Nachsatz: von fräden mir nie bas geschach (5,9). Im Unterschied zu Frau Welt verhält sich diese Dame allerdings reserviert, man verneigt sich, und vorsichtiger als der Reiter bei Beheim fragt Schillers Wanderer nach ihrem Namen. Sie gibt sich umstandslos als Frau Ehre zu erkennen, die „aus dem Land“ geflohen sei, weil niemand ihrer achte. Damit fällt wiederum ähnlich spät die Entscheidung über die Gattung, der das Lied eigentlich angehören will. Zuvor zwischen neidharteskem Frühlingslied, Pastourelle und Allegorie changierend, legt es sich nun auf die moralisch-didaktische Allegorie fest. Die Klage der Ehre über den verkommenen Zustand der Welt gestaltet sich in Form einer veritablen Ständerevue: Niemand achte sie, nicht der geistliche Stand, der Adel nicht und auch nicht die gemein (5,17ff.). Und darum stehe sie eben so einsam auf der Heide. Wir fassen hier ein altehrwürdiges mythologisches Motiv, das durchaus geschickt im pastourellenhaften Register aktualisiert wird: Jenes von der Flucht der „heiligen Jungfrau“ Dike (Parthenos/Astraia), das von Hesiods ,Erga‘ (hier noch Aidos und Nemesis) über Arats ,Phainomena‘ in den Zeitaltermythos von Ovids ,Metamorphosen‘ gelangt und über diesen Weg auch der mittelalterlichen Mythographie einigermaßen vertraut ist. In der deutschen Literatur des Mittelalters könnten wir einen Reflex davon in der Geschichte des Rittertums im Prolog des ,Moriz von Craûn‘ erkennen: Auch hier flieht die entehrte personifizierte Ritterschaft zuerst von Griechenland nach Rom, dann von Rom nach Frankreich.34 Die näher liegende Parallele wird man in Konrads von Würzburg ,Klage der Kunst‘ (über deren gegenwärtige Missachtung in der Welt) sehen – auch dies ein Hinweis auf die Produktivität hybrider Gattungskreuzung. Im Unterschied zu Konrad ist der Autor in der Rolle des Spaziergängers nun aber nicht der unbemerkte Beobachter einer Gerichtsszene, die ebenfalls auf dem Blumenacker der Allegoriedichtung abläuft. Er selbst ist die Instanz, an die Frau Ehre appelliert, nachdem er sie dazu aufgefordert hat, ihm den Lauf der Welt auseinanderzusetzen. Die folgenden drei Strophen (6-8) traktieren die gängige Topik der Zeitklage: Alles ist voller Untreue, das Recht wird gebeugt, Krieg geführt, die Schwachen – Witwen und Waisen – nicht geschützt, Wucher, Unzucht und Simonie werden getrieben, Karten- und Würfelspiel sind die librey35, in der die Gelehrten heute studieren (die Erwähnung der Bibliothek als Ort 34 35
M. Kern 1998, 342f. V. 8,15, so die deutlichere Form der Handschrift. CKL ändert in liberei.
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der Studien36 ließe sich als Ferment eines einsetzenden deutschen Humanismus lesen). ,durch söliches volgt in [den Gelehrten] laster nach, die welt gemeinclich ietzunt auch umb sölich schande unde schmach die fliuch ich ser!‘ 37
Mit diesen Worten schließt Frau Ehre ihre lamentatio. Man verabschiedet sich, der Wanderer geht nach Hause und fasst sein Erlebnis in vorliegendes Gedicht, das die Lehre, die Frau Ehre Herrn Schiller verkündet hat, kommunizieren soll.38 Auch hier haben – so topisch die Zeitklage auch sein mag – konkrete Texte ihre Spuren hinterlassen, namentlich Walthers ,Reichston‘, Konrads ,Klage der Kunst‘ sowie sein zweiter Leich, der von der bedrohlichen Herrschaft des Mars und der Aufforderung an Venus und Amor, ihr ein Ende zu setzen, handelt und somit ebenfalls zwischen erotischem und didaktischem Register changiert.39 Obwohl Schillers Lied nun ein breites Spektrum intertextueller Referenzen aufweist, ließe sich dennoch in Beheims Weltlied gut sein eigentliches Vorbild erkennen. In analoger Weise wird hier wie dort Gattungscamouflage betrieben. Bis über die Mitte der Lieder hinaus bleibt in Schwebe, ob es sich um eine Pastourelle oder um eine Allegorie handelt; nach demselben dramaturgischen Prinzip wird vom vorgeblich erotischen ins didaktische Register gewechselt. Dabei bedienen sich die Texte derselben topischen Darstellungsformen. Dem Spiel mit Gattungsmustern, dem das zentrale wirkungsästhetische Moment zukommt und das sozusagen eine Form von lyrischem „suspense“ repräsentiert, dient formal unter anderem die enjambementartige Verlängerung der Topoi über die Strophengrenzen hinweg. „Ikonologisch“ verhalten sich die „ikonographisch“ identisch gebauten Lieder spiegelverkehrt zueinander. Auch und gerade in der Umkehrung der negativen Didaxe, die die vanitas-Allegorie bei Beheim leistet, zur positiv-paränetischen Begegnung des Wanderers mit Frau Ehre könnte sich Schiller als Schüler Michel Beheims verraten. Sein Lied formuliert dieselbe Weltklage, wenngleich mit anderen figürlichen Mitteln. Auch die beiden Sängerrollen sind grundsätzlich identisch gestaltet. Ihr konträres Verhalten erklärt sich daraus, dass der eine das Glück hat, an die richtige Dame zu geraten. So kann er sich selbst aus dem Spiel der 36 37 38 39
Zum studiolo (Studierraum und Bibliothek in einem) als Erfindung Petrarcas Stierle 2003, 141ff. ,Deshalb folgt ihnen das Laster auf den Tritt, / wegen solcher Schändlichkeit und Schmach / meide ich nun die gesamte Welt mit ganzer Kraft!‘ Derartige Entstehungsfiktionen finden sich in der spätmittelalterlichen Lyrik häufig. Hierzu unten Kap. III.4, 440.
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Weltklage nehmen und sich am Ende als im wahrsten Sinne berufener Kritiker der Zustände gerieren, während dem anderen der Makel eigener Weltverfallenheit anhaftet. Auch die beiden divergenten Ich-Posen in Beheims Weltlied, jene des Weltjüngers und jene des Mahners, wiederholen sich bei Schiller: Dem anfänglichen erotischen Interesse an der schönen Dame kontrastiert ein moralisches im zweiten Teil des Liedes. Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die abweichende Fassung der letzten beiden Strophen im Neithart-Fuchs-Druck z2 (die Unterschiede zwischen den Fassungen der Hätzlerin und den beiden früheren Drucken beschränken sich auf Varianten in der Formulierung und die Tilgung der Schillerschen Verfassersignatur): In Strophe 8 von z2 wird zunächst ein noch düstereres Bild der Zustände entworfen, in der 9. Strophe scheint es so, als hätte Frau Ehre den Wanderer nicht von vornherein auf ihrer Seite, sondern müsse ihn erst auf sich einschwören: „Derhalb, gesell Dir außerwel Der tugent schöne zier Und kleide dich mit fleiß darein, so wirst du auch mein diener sein. Fraw Ehr so ist der namen mein. Wilt du das thun, so gelob mir an.“ als sie das saget mir, da bot ich ir darauf mein hand. (z2, 9,4-13)40
Der Wanderer, hier kein anderer als Neithart Fuchs, schwört Frau Ehre in die Hand. Dies unterstreicht erneut die Korrespondenzen, die zwischen Beheims und Schillers Lied in der contemptus-mundi-Thematik bestehen, auch wenn sie an zwei konträren Personifikationen entworfen wird. Die Variante von z2 erklärt sich ferner aus der Funktion, die dem Schiller-Lied im Rahmen des lyrischen Schwankzyklus zukommt. Es liefert zu diesem eine abschließende Moral, die ex post zum exemplum vanitatis hochstilisiert, was der Zyklus zuvor geschildert hatte – die Machenschaften der Dörper wie Neithart Fuchsens selbst. Neithart Fuchs erscheint damit ähnlich wie Beheims Reiter als Weltjünger, der nun, am Ende des Zyklus, sein erbauliches Bekehrungserlebnis feiert. In das zyklische Ensemble eingebettet, gewinnt die ,Maienweise‘ Schillers in den Neithart-Fuchs-Drucken eine Signifikanz, die über das hinausgeht, was der Text ursprünglich, für sich stehend intendiert. Die revocatio 40
,„Deshalb, Freund, / entscheide dich / für die schöne Zierde der Tugend / und kleide dich mit Bedacht in ihr, / so wirst du auch mein Diener sein. / Frau Ehre, dies ist mein Name. / Willst du es tun, / so schwöre es mir.“ / Als sie dies zu mir gesagt hatte, / gab ich ihr meine Hand darauf.‘
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hat ihr Vorbild in den sogenannten Werltsüeze-Liedern im NeidhartCorpus des 13. Jahrhunderts.41 Schon die (ebenfalls bereits topische und von Walther vorgebildete) Klage des „echten“ Neidhart über seine Verfallenheit an die werltsüeze entwirft jenen allegorischen Horizont, vor den der Schwankzyklus mit dem Lied von Frau Ehre als Schlusslied gestellt wird. Hierin ist auch das Relais zu erkennen, das die Aufnahme der ,Maienweise‘ in die Neithart-Fuchs-Drucke erklärt.42 Deren Fassung z2 adaptiert Schillers Lied im Sinne des neuen Kontextes noch deutlicher und führt es über die angedeutete Weltverfallenheit von Neithart Fuchs selbst zugleich wieder näher an sein mutmaßliches Vorbild, das Weltlied Michel Beheims, heran. Schon die ältere Liederbuch-Fassung ließe sich im übrigen auch als Durchführung der nur angedeuteten didaktischen Perspektive von Beheims Pastourelle 337 betrachten: Die Klage des Mädchens auf der Heide über die ungetreue Welt wird nach dem Muster von Beheims Weltlied um die contemptus-mundi-Thematik erweitert, womit die Pastorella folgerichtig zur Allegorie der Ehre mutiert. Freilich muss Schiller bei der Komposition seines Liedes nicht derart reißbrettartig vorgegangen sein. Die Bezüge ergeben sich aufgrund des produktiven Synkretismus dieser Lyrik ja gewissermaßen wie von selbst. Damit ist abschließend auf Phänomene der Hybridität auch in Schillers ,Maienweise‘ hinzuweisen: Zunächst kann der eindeutig didaktische Schluss, auch wenn er dies prätendiert, nicht vergessen lassen, dass uns die züchtige Frau Ehre zuvor ihre schönen Brüste gezeigt hat. Indem sich das Lied darauf einlässt, die Topoi des erotischen Genres aufzurufen, riskiert es zugleich, dass seine finale Intention konterkariert wird. Im Zusammenhang mit der didaktischen Perspektive, die erst von hinten klar zutage tritt, verdienen die Holzschnitte der Neithart-Fuchs-Drucke einen kurzen Blick (Abb. 5): Sie zeigen eine Dame im Disput mit einem offenbar gelehrten Herrn. Der Holzschnitt von z entspricht der poetischen Szene einigermaßen: Der Mann scheint auf einem Stein in freier Natur zu sitzen. Auf dem Holzschnitt von z1 sitzt er bereits auf festem Gestühl und also schwerlich auf dem Anger, Frau Ehre erscheint in einem Kleid, das die hochgerückten Brüste kaum erahnen lassen würde. Im Holzschnitt zu z2 präsentiert sie sich schließlich bis zur Unkenntlichkeit vermummt vor einem ebenso vermummten Dichter, der vielleicht im Chorgestühl einer Kathedrale, jedoch sicher nicht auf der Heide sitzt.43 41 42 43
Vgl. v.a. WL 28, bes. Str. VII. und WL 34, hierzu Goheen 1993. Auf die Bezüge zu Neidharts werltsüeze verweisen auch Bennewitz/Springeth/Müller 2001, 41. Weniger ausschlaggebend scheint mir der neidharteske Natureingang, der nach Rettelbach 1995, 302 die Einfügung motiviert. Die Schnitte von z und z1 könnten Originalanfertigungen sein, der von z2 ist es sicher nicht.
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Auch hier erzeugt das hybride Spiel mit unterschiedlichen lyrischen Registern eine Ambivalenz, die den stereotypen Charakter des Textes betont und die formulierte Zeitkritik bei weitem nicht so authentisch erscheinen lässt, wie am Ende vorgegeben wird. Das Lied präsentiert sich als eine poetisch versierte Etüde, die prinzipiell – genau das lehrt ja der Vergleich mit dem Weltlied und der Pastourelle Michel Beheims – auch zu einem ganz anderen Schlussakkord finden könnte. In der semantischen Ambivalenz einer hybriden Topik liegt zugleich das ironische Verhältnis, das diese verwilderte Lyrik bewusst oder unbewusst gegenüber jenen einfachen und einsträngigen Sinnperspektiven eingeht, die sie am Ende zu geben behauptet oder die ihr die interpretierende Philologie gerne unterstellen würde. Wenn man also in Jörg Schiller mit Frieder Schanze einen „Spezialisten der Zeitklage“44 erkennen wollte, so wäre er es im Sinne eines poetischen Habitus, aber nicht im Sinne einer Haltung, für die der Autor mit dem ganzen existentiellen Ernst seiner Zeiterfahrung eintreten würde. Artifizialität und Konventionalität des Textes erweisen die Unangebrachtheit einer biographistischen oder simplen sozialhistorischen Lektüre. Und so darf bezweifelt werden, dass Jörg Schiller „in seinem Pessimismus […] unerreicht“45 sei; er ist es auch dann nicht, wenn man dies nur auf die Qualität der entworfenen lyrischen Szene bezieht. Wenn sich pessimistische Abgründe einer spätmittelalterlichen Welterfahrung auftun könnten, dann eher noch im Falle des Weltjüngers bei Michel Beheim, der kein amikales und letztlich – wenigstens für den moralischen Wanderer – erbauliches Gespräch mit Frau Ehre führt, sondern keine geringere als Frau Welt selbst erpuolt. Der Widerspruch zwischen dem Sünder-Ich und dem Ich des didaktischen Mahners, der das letzte Wort im Lied hat, macht aber auch hier den habituellen Charakter beider Posen deutlich. Dass die Zeitkritik in Schillers Œuvre über das gängige und in gewisser Weise triviale Maß hinausginge, dagegen sprechen im übrigen auch die Bezüge zwischen den Liedern im Corpus selbst. Wir fassen hier analoge Phänomene des „Liedrecyclings“ wie bei Michel Beheim.46 Realhistorische oder biographische Authentizität ist ebensowenig wie Originalität Sache und Sinn dieser Lyrik.
44 45 46
Schanze 1983, Bd.1, 255. Rettelbach 1995, 303. Vgl. die Lieder CKL 3.III (über den verkommenen Zustand der Welt am Beispiel des anmaßenden Bauernstandes) und CKL 3.VII (Begegnung mit einer schönen Dame auf der Heide, die der Sänger ohne Erfolg betören will; sie entpuppt sich als verheiratete Frau, die ihrem Gatten die Treue hält und der am Ende das ganze Lob des Sängers gilt).
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VERFÜGBARKEIT. – Versuchen wir an dieser Stelle ein poetologisches Resümee zu geben, so ist zunächst auf das enzyklopädische Verhältnis hinzuweisen, das die besprochenen Lieder zur lyrischen Tradition eingehen. Poesie arbeitet an einer überkommenen Topik. (Wenn die unterschiedlichen Textmuster zu keinem stringenten Phänotext zusammenlaufen wie etwa in Lied 128 des Königsteiner Liederbuchs, möchte man von „abarbeiten“ sprechen.) Der Effekt dieser Arbeit ist eine graduell unterschiedlich gebändigte „Verwilderung“ des Textes.47 Sie erweist sich in mehrfacher Hinsicht als ästhetisch produktiv. Zum einen verrät sich das Spiel mit lyrischen Gattungsmodellen und Registern als wirkungsästhetische Strategie, die den Grad an poetischer Kompetenz und ästhetischer Erfahrung der Autoren wie der Rezipienten belegt. Die Formen von Hybridisierung und Verwilderung führen zum anderen zu einer Dezentrierung der vom Text vermittelten Intention. Dabei wären – hält man sich an Bachtin – in der literaturwissenschaftlichen Analyse Effekte eines „unbewussten“ und „unkontrollierten“ Einflusses der Tradition einerseits und „Hybridität“ im Sinne eines intentionalen Verfahrens andererseits zu unterscheiden. Das wird nicht immer möglich sein und beide Phänomene lassen sich durchaus auch in einem Text festmachen. Bei Michel Beheim ist das Verfahren gezielt eingesetzt und wirkungsästhetisch relevant. Das Königsteiner Lied mag eher dem Typus des „beeinflussten“ Textes entsprechen, wobei der Epitext dem „chaotischen“ Wuchern der Topoi eine an Michel Beheim orientierte präzise Exegese abgewinnt. Hier wird unmittelbar manifest, dass sich Sinnstiftung in der Wechselwirkung von Produktion und Rezeption prozessual ereignet. Schillers Lied von Frau Ehre scheint zwischen beiden Möglichkeiten zu vermitteln, da die Topoi des locus amoenus und der puella bella nicht im Sinne der finalen Intention funktionalisiert werden, sondern redundant bleiben. Bei Michel Beheim fungieren sie ex post als sinntragende, allegorisierbare Details einer umfassenden vanitas-Programmatik, die nicht nur das poetische Subjekt und die Allegorie, sondern alles Weltliche einschließt, wie die Allegoreme einer verfallenden Landschaft und eines Zeitschemas des Vergehens bedeuten. Das hybride Widerspiel divergenter Register und Topiken und der in ihnen formulierten semantischen Potentiale erzeugt jedenfalls einen polysemen Überschuss. Die prätendierte Didaxe wird genau von jener erotischen Motivik konterkariert, die sie zu funktionalisieren trachtet. Ein Vergleich mit der Bildenden Kunst der Zeit und mit deren Neigung zur ikonographischen Digression bietet sich an und wurde ja auch schon von 47
Zum Begriff der Verwilderung Stierle 1980; für einen Versuch der Abgleichung mit Bachtins Konzept der Hybridität vgl. Kern 2003, 122ff.
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Johan Huizinga unternommen.48 Dessen Verdikt gegen die ästhetische Unzuträglichkeit rhetorischer und hermeneutischer Mehrdeutigkeit in der Poesie lässt sich in dieser generalisierten Form jedoch keineswegs halten. Zwar wird man einerseits von einer Nivellierung der Gattungsdifferenzen und von einer „verflachten“ Signifikanz poetischer Optionen sprechen müssen. Eine wesentliche Folge davon scheint der Verlust eines je spezifischen poetischen Stils, wie an den durchaus austauschbaren Liedern Beheims und Schillers unmittelbar zu sehen ist. Das „Parlando“ einer geteilten und verfügbaren poetischen Sprache bringt die Modulationen einer prägnanten Autorstimme, wie sie etwa noch das Œuvre Oswalds von Wolkenstein grundiert, zum Verschwinden.49 Auch dies mag ein Grund für die weitgehende Anonymität der Liedüberlieferung im 15. Jahrhundert sein. Als originäre Erfindungen gelten bestenfalls die Melodien, mit denen sich ja auch weitaus häufiger die Namen ihrer Autoren verbinden. Andererseits aber korrespondiert dieser Nivellierung ein durchaus produktiver ästhetischer Zustand: Unterschiedliche Gattungstypen treten zueinander in Beziehung. Der daraus resultierende Synkretismus entkleidet die entsprechende Topik ihrer intentionalen Differenz. Gerade der Topos als rhetorischer Ort des gedanklichen Stereotyps verliert auf diese Weise seine Eindeutigkeit als Ensemble von Zeichen, die auf einen bestimmten Sinn festgelegt wären. Der spielerische Charakter des Prozesses manifestiert sich in Phänomenen der Heteroglossie, die – bewusst oder unbewusst – gerade jenen Schematismus von Wertung und Weltsicht durchkreuzen, den man dem Spätmittelalter nur allzu gerne unterstellt. Über eine konvergierende Topik werden ehemals divergente Liedtypen assoziierbar. Formen und Funktionen lyrischer Hybridität erweisen sich dabei durchaus analog zu jenen in der Epik, wie sie die Forschung seit längerem beschrieben hat.50 Will man die Qualität hybridisierender Strategien in der Literatur des Spätmittelalters generell charakterisieren, so wird man sie kaum im Sinne Bachtins als an jeder Stelle, in jeder Gattung und in jedem Text bewusste poetische Setzungen begreifen. Vielmehr eignet ihnen eher der Charakter des „Bricolage“, der „bastelnden“ Arbeit an einer materiell überschüssigen Tradition.51 Aus der Sicht einer modernen Produktionsästhetik ergibt sich für die Texte die Schwierigkeit, mit einer solchen Redundanz zurechtzukommen. 48 49 50 51
Huizinga 1975, 439ff. Ein solcher „Parlando“-Ton ist es auch, der Ästhetik und Produktivität der Minnerede ausmacht, hierzu Kern 2006. Vgl. beispielsweise Fuchs 1997, Schulz 2000 und Schmitt 2002. Der Begriff des „Bricolage“ ist eine mythostheoretische Prägung von Lévi-Strauss (1997, 29ff.; der Mythologe füge wie ein Bricoleur überkommenes Material zusammen) und wurde u.a. von Stierle (1971) literaturwissenschaftlich adaptiert.
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Allem Anschein nach folgen sie aber gerade nicht einem ästhetischen Prinzip der Stringenz. Ihre literarhistorische und soziokulturelle Leistung besteht vielmehr in der Adaptierung und Pluralisierung jener Konzepte von Poetizität und Kulturalität, die die hochmittelalterliche Poesie ausgebildet hatte. Neue Formen der kulturellen Partizipation am literarischen Diskurs werden gerade aufgrund seiner Diffusion möglich.52 Die Literaturwissenschaft ist dabei vor die Schwierigkeit gestellt, konkrete Traditionen, konkrete Prozesse, konkrete intertextuelle Linien nachzuzeichnen. Die Reihe von Michel Beheim zum Königsteiner Liederbuch und zu Jörg Schiller und von dort weiter zu Neithart Fuchs hat uns nicht bloß gezeigt, dass es sie gibt, sondern dass auch hier die Textgeschichte nicht grundsätzlich in einem abstrakten Repertoire von Möglichkeiten verschwimmt, sondern – wenigstens mitunter – so etwas wie normative Einzeltexte erkennen lässt. Abstrakte Gattungsgeschichte kann so auf die Ebene des konkreten Textes und seiner spezifischen Referenzen gebracht werden. Semantische Ambivalenz ist der produktive Effekt der Nivellierung von Gattungstypen. Sie mag einerseits auf eine verlorene soziokulturelle Eindeutigkeit und Verbindlichkeit dieser Lyrik hinweisen, lässt die erotische Poesie aber gerade auch dort, wo sie in die Didaxe wechselt, zu einem Medium werden, das gängige Denkweisen durchbricht. Es ist genau die „Konventionalität“ der Poesie, die dies ermöglicht: Der ostentative Gestus des Verfertigens unterwandert den vermeintlichen Pessimismus des Zeitalters (in unserem Fall den Schauder der Weltverfallenheit), er konterkariert ihn in der „kunsthandwerklichen“ Sicherheit und Kalkuliertheit, mit der sich die Texte erzeugen. In dieser polyphonen Determinierung der ästhetischen, wenn nicht überhaupt kulturellen Entwürfe lässt sich die Relevanz ermessen, die den Formen von Verwilderung und Hybridität in der spätmittelalterlichen Lyrik zukommt. Und hierin wäre schließlich auch ihr widerständiges Potential (zumal gegenüber den epochalen Konstruktionen von Philologie und Geschichtswissenschaft) zu erkennen, das nach Bachtin den Begriff der Hybridität erst berechtigt sein lässt. Perspektiviert man diesen Befund auf die Allegorie der vanitas hin, so wird verständlich, warum deren scheinbar klare Semantik Effekte der Mehrdeutigkeit erzeugt. Michel Beheims Weltlied und die Nachschrift im Königsberger Liederbuch referieren auf Darstellungsformen der erotischen Lyrik und unterziehen sie einer negativen geistlichen Allegorese, die auf diese Weise freilich selbst poetisiert ist und deren didaktische Rigidität von vornherein gebrochen erscheint. Aufschlussreich ist somit nicht die
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Zum Phänomen der Partizipation Lieb/Strohschneider 1998.
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Destruktion des weltlich-erotischen Registers durch geistlich-moralische Sinngebung, sondern sind Verfügbarkeit und Willkür des Verfahrens. Genau in der heterogenen Semantisierung identischer Darstellungsformen scheinen die kulturelle Wirksamkeit und die kulturelle Relevanz der spätmittelalterlichen Poesie (wie auch der bildenden Kunst der Zeit) zu gründen. Die divergenten Sinngebungen verweisen dabei keineswegs auf den bloß ironischen oder unverbindlichen Status der Vorstellungen von Diesseitigkeit und der Geschlechterstereotypie, der verführenden weiblichen Allegorie der Vergänglichkeit und ihres verführten männlichen Opfers, wie sie etwa Beheims Weltlied vermittelt. Ein destruktives Wirkungspotential wäre den moralischen und anthropologischen Konzepten, die die besprochenen Lieder formulieren, durchaus zuzusprechen – wie ja auch den Hexenakten Dürers oder Griens, die moderne Ikonographie und restaurative Ikonologie vielleicht zuungunsten des positiven Körperbildes der Renaissance aufeinanderprallen lassen. Die Kombination von Schaulust und konzeptioneller Negativität belegt aber hier wie in der Poesie die Instabilität der ästhetischen und semantischen Verfahren. Und in dieser Instabilität wird eben jene Simultaneität divergenter Anthropologien sinnfällig, die die Kunst der Zeit entwickelt und kommuniziert. Heterogene Sujetfügung und divergente Semantisierung kennzeichnen nun aber schon den klassischen und kanonischen Text der mittelhochdeutschen Frau-Welt-Tradition: Konrads von Würzburg Verserzählung ,Der Welt Lohn‘. Sie soll uns im Folgenden beschäftigen.
2. Verdichtete Allegorie: Konrads von Würzburg ,Der Welt Lohn‘ EINE HEIMSUCHUNG. – Der gefeierte Autor und anerkannte höfische Weltmann Wirnt von Grafenberg sitzt schon den ganzen Tag lang lesend über einem Roman von Liebe und Abenteuer, als sich des Abends plötzlich die Tür zu seiner Kemenate öffnet und eine äußerst ansehnliche Dame eintritt. Sie ist schöner als Venus, Pallas Athene und alle anderen Göttinnen, denen einst die Pflege der Liebe oblag. Ihr Glanz erhellt – zur rechten Zeit, denn allmählich wäre eine Kerze zu entzünden – den Raum. Herr Wirnt erschrickt, wird bleich, springt auf und begrüßt die Dame so weltmännisch, wie es ihm bei dem Schrecken, den sie ihm eingejagt hat, nur möglich ist. Sie wünscht ihm den Lohn Gottes und meint tröstlich, er brauche sich vor ihr nicht zu entsetzen, da sie keine andere sei als die, der er bis anhin immer gedient habe. Sie sei gekommen, damit er ihren auserwählten Leib nach Herzenslust und eingehend betrachte und erkenne, wie schön und vollkommen sie sei. Der in den Modalitäten und Paradoxien des Hohen Minnedienstes versierte Wirnt von Grafenberg ist einigermaßen erstaunt, weil er die Dame nie gesehen zu haben glaubt; daher – sie möge verzeihen – wisse er auch nichts von seinem Dienst; wenn sie freilich schon von sich aus behaupte, dass er ihr Diener sei (was für den Adepten der Hohen Minne zweifellos der größte anzunehmende Glücksfall wäre), so wolle er gerne bis zu seinem Tode ihr zu Diensten stehen, zumal sie so schön und jugendlich erscheine, weswegen er sich glücklich schätzen müsse, diesen Tag erlebt zu haben. Bei der ganzen Pracht, die sie verkörpere, wolle er aber doch gerne wissen, von wo und wer sie sei. Er müsse sich keineswegs schämen, ihr untertan zu sein, antwortet die Dame, da ihr überhaupt alles auf Erden diene. Vom Kaiser abwärts beugen alle die Knie vor ihr, sie selbst habe niemanden außer Gott zu ehren und zu fürchten. Er, Gott, sei der einzige, der Macht über sie habe, über sie, die Welt, so nämlich sei ihr Name. Und nun sei es eben an der Zeit, Wirnt seinen zu erwartenden Lohn zu zeigen. Mit diesen Worten wendet Frau Welt dem guten Herrn, dem vom Lesen noch die Augen brennen, ihren Rücken zu, und er erkennt – von ganz anderem Schrecken gepackt – die Kröten und Schlangen, Ameisen, Würmer und Maden, die sich in dem von Eiterbeulen durchwachsenen, faulen Fleisch tummeln. Beim Anblick
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dieses entsetzlichen Wunders rät das Herz dem Ritter sofort, dass der, der hier zu Diensten sich finden ließe, ganz und gar verdammt wäre. Auf der Stelle verlässt er Weib und Kinder, nimmt das Kreuz und zieht ins Heilige Land, um dem Heere Gottes im Kampf gegen die Heiden beizustehen. Dort findet man ihn nun nicht der Welt, sondern der beständigen Buße ergeben. Seine Seele gesundet, nachdem er Leib und Leben – offenbar im Kampf – verloren hat. Konrads von Würzburg Verserzählung ,Der Welt Lohn‘1 ist – so die übliche Annahme – um 1260/70 entstanden. Sie ist das erste fassbare narrative Zeugnis des allegorischen Sujets. Der Überlieferung nach zu schließen, entfaltete sie eine breite und dauerhafte, weit in das späte Mittelalter reichende Wirkung,2 die sich offenkundig auch in den folgenden literarischen und bildnerischen Repräsentationen der vanitas-Allegorie direkt oder indirekt manifestiert. Und so darf man in dieser Erzählung des vielleicht wichtigsten und wirkungsmächtigsten deutschen Dichters der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts vorab den zentralen, kanonischen Referenztext erkennen. Umso auffälliger ist die pointierte szenographische und narrative Umsetzung, die die vermeintlich klare und einfache „Botschaft“ eines Exempels mit der dichten und kunstvollen Darstellungstechnik höfischer Poesie konfrontiert. Dies erzeugt von vornherein eine Spannung zwischen dem geistlich-moralischen Thema und seiner poetischen Präsentation, die bisher zu wenig wahrgenommen wurde.3 Der allzu ostentativ propagierte Sinn kippt in der ästhetisierenden, hochliterarischen Gestaltung ins Ambivalente. Das „wahrhaftige“ Entsetzen vor der vanitas mundi, wie wir es etwa in der frühmittelhochdeutschen memento-mori-Dichtung4 zu fassen glauben und wie es von Konrad im Prolog ostentativ aufgerufen wird, 1 2
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Textzitate nach Bleck 1991. Zur Überlieferung Bleck 1991, 62ff. Die Handschriften datieren von 1284 (also noch zu Konrads Lebzeiten) bis etwa 1450. Bleck (135ff.) stellt die These auf, dass der Text 1267 in Zusammenhang mit einem „oberrheinischen Kreuzzug“ entstanden sei (Hauptargument ist die Kreuznahme Wirnts), hierzu und zusammenfassend zur Datierung auch Brandt, 2000, 26f. und 101ff. Ein derartiger zeithistorischer Bezug wäre zwar prinzipiell denkbar, verfängt aber nicht als schlagendes Argument. Die Kreuznahme ist, wie die Gattung des Kreuzliedes und zumal auch Walthers Welt-Absagen zeigen (vgl. unten Kap. I.4), gerade im Zusammenhang mit der Thematik von vanitas und contemptus mundi ein konventionelles Motiv, was die von Bleck vorgenommene Identifizierung von habitueller Textintention und ernsthafter, zeithistorisch begründeter Überzeugung des historischen Autors problematisch macht. Sie wird schließlich von der genau gegenteiligen Funktion des Kreuzzugsmotivs im ,Herzmäre‘ Konrads unterlaufen, auf das Bleck nicht näher eingeht. So auch noch bei Quast 2005; auf die ironischen Tendenzen des Textes verweist hingegen auch Weder 1999. Die zentralen Beispiele geben Noker (Ende 11. Jh.) und die ,Erinnerung an den Tod‘ des sogenannten Heinrich von Melk (,Von des todes gehugede‘, um 1160).
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scheint zum wohligen „Schauder“ poetisiert. Die untergründige ironische Distanz, mit der hier erzählt wird, verrät sich dabei gerade in der sentimentalischen Beteiligung der Erzählerstimme am Geschehen. Konrads poetisch-spielerischer Umgang mit der überkommenen Topik des contemptus mundi offenbart sich bereits in den ersten Versen. Das Märe eröffnet mit einer emphatisch abmahnenden Apostrophe an alle Weltverliebten: Ir werlte minnære, vernemet disiu mære, wie einem ritter gelanc, der nâch der werlte lône ranc beidiu spâte unde fruo.5
Der warnenden Ankündigung kontrastiert die Art und Weise, mit der dieser Ritter, der nach dem Lohn der Welt gerungen haben soll, vorgestellt wird. Entworfen wird nicht das obskure Charakterbild eines verkommenen Weltjüngers, sondern das Portrait eines gefeierten, besonnenen und vielleicht etwas zu penibel auf höfische Eleganz bedachten Herrn, der den erstrebten Lohn längst und billigerweise erlangt hat. Der Lobpreis des höfischen Weltmannes wird nicht bloß vorsichtigerweise in relativen Epitheta gegeben – dies auch –, sondern versteigt sich zu mehrfachen Superlativen: sîn leben was sô v o l l e b r â h t daz sîn z e m b e s t e n wart gedâht in a l l e n tiuschen landen. er hæte sich vor schanden a l l i u sîniu jâr behuot. Er was hübisch unde fruot, schœne und a l l e r tugende vol. (13-19)6
Ein solches Leben müsste an sich auch das Wohlgefallen der Transzendenz verdienen, die „Übergoldung“ durch gotes hulde, wie es bei Walther von der Vogelweide (Cor 2.I,13f.; L. 8,13f.) heißt. Was Konrad hier entwirft, ist freilich nicht bloß ein idealtypischer höfischer Lebenslauf, sondern ein poetisches curriculum vitae. Es führt die Begabungen eines besseren Tristan, Kalogreant oder Moriz von Craûn zusammen, wie die Aufzählung der Kenntnisse und Fähigkeiten in höfischer Jagd und Unterhaltung, die ausgesuchten Umgangsformen, das aufwendige Turnierwesen, dem der 5
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,Ihr Liebhaber der Welt / nehmt euch die folgende Geschichte zu Herzen, / wie es einem Ritter erging, / der sich um den Lohn der Welt / von früh bis spät bemühte.‘ Vgl. auch 259ff.: Nu merket alle die nu sint / dirre werlte kint / diz endehafte mære (,Nun achtet alle, die ihr heute / als Kinder dieser Welt lebt, / auf das Ende dieser Geschichte‘). Hervorhebungen M. K. ,Sein Leben war so vorzüglich, / dass man in allen deutschen Landen / nur das Beste von ihm dachte. / Er hatte sich alle seine Jahre / vor jeder Schande bewahrt. / Er war höfisch und verständig, / schön und im Besitz aller Tugenden.‘
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Ritter anhängt, mutmaßen lässt. Der Weltmann Wirnt ist der Welt des höfischen Romans entsprungen.7 Dem entspricht auch das gelebte Ethos der Hohen Minne, das unserem Ritter die ungeteilte Gunst der Damen einbringt, die sich ihrerseits in ihrer Wahl ohne Zweifel stilsicher und klug (bescheiden, 37) zeigen.8 Dass diese literarische Kunstfigur mit ihrem poetischen Lebensentwurf den Namen eines historischen Autors, eben Wirnts von Grafenberg, zuerkannt bekommt (44-46), unterstreicht die ästhetisierende Tendenz, mit der hier das geistlich-moralische Thema traktiert wird. Die Ironie der Namensgebung besteht dabei zum einen darin, dass der „echte“ Wirnt in seinem höfischen Roman, dem ,Wigalois‘, die Position einer moderaten, gleichsam gradualistischen Positivität gegenüber der Welt vertritt9 und offenbar genau deshalb das willkommene Opfer einer vermeintlich rigiden Weltverachtung abgibt. Zum anderen besteht sie in der Behauptung des Erzählers, er habe seine „biographischen“ Informationen aus den Büchern beziehungsweise aus einem Zeugnis Wirnts selbst bezogen, was die zeitgenössischen Rezipienten ebenso verwundert haben mag wie uns.10 Man hat hier den Typus der sogenannten Dichtersage in statu nascendi vor sich, wie er sich neben Wirnt mit den Namen Heinrichs von Morungen, des Tannhäuser oder Heinrichs von Brennenberg verbindet. Dies weist zugleich auf ihren wenigstens hier durchschauten Kunstcharakter hin: Der Autor wird zum exemplum dessen, was er dichtete. Zum dritten ist es nicht ohne Reiz, dass gerade der höfische Romancier den (guten) Weltmann 7 8 9
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Insofern zieht der Tugendkatalog eine literarische Summe, die über eine Referenz auf Gottfrieds ,Tristan‘ (hierzu Bleck 1991, 108ff.) hinausgeht. Dies im Unterschied zu der notorischen Klage im späthöfischen Minnediskurs über die ungerechten Gunstzuweisungen der Damen an die, die es nicht verdient haben. Vgl. bes. ,Wigalois‘ 1265ff. (wer sich die Anerkennung der Welt verdient, dem hat Gott Glückseligkeit verliehen), 3736ff. (der Welt dienen und dabei Gott nicht vergessen), 2097ff. und 2389ff. (die Frauen sind es, die weltliche Freude spenden), aber auch 2949ff. (Klage über die Kontingenz des Weltlebens; nicht immer ist es der „Beste“, der reüssiert) und 7664ff. (nur der ist selig, der in der Welt nach Gottes Lohn strebt). Zur Diskussion, warum Konrad von Würzburg ausgerechnet Wirnt von Grafenberg die Rolle des Weltverliebten zugewiesen habe, Bleck 1991, 95ff. Dass er auf biographische Fakten zurückgreife, die er – wie im Prolog behauptet wird – Büchern, womöglich gar einer Chronik, entnommen habe, ist mit Sicherheit auszuschließen. Schon die Prologverse des ,Wigalois‘ geben – wie bereits Schwietering bemerkt hat (vgl. ebd., 96) – eine hinreichende Begründung für Konrads Quellenfiktion: Das Buch bittet um den höfischen Dank der Leser für den Dichter, der es der werlte ze minnen verfasst habe und ir gruoz damit gewinnen wolle. „Der Welt zuliebe und zum Gruß“, das lässt sich mit der Böswilligkeit des contemptus mundi, der ja die oberflächliche Intention von Konrads Märe ist, leicht als „Weltliebe“ missverstehen. Und von dieser Weltliebe verkünden nicht erst irgendwelche verschollenen Bücher, sondern das Buch, der ,Wigalois‘ selbst. In Konrads Quellenfiktion lässt sich somit auch eine intelligente Anspielung auf die rezeptionshistorisch und rezeptionstheoretisch bemerkenswerte Rede des Buches erkennen, mit der Wirnts Roman eröffnet.
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abgibt – in ihm scheint der Verfasser der Erzählung, Konrad von Würzburg, gewissermaßen selbst ein Bekenntnis abzulegen. Der sympathisierende Katalog von Wirnts Tugenden erwiese sich so als nicht eben uneigennützig. LECTIO VANITATIS, VANITAS LECTIONIS. – Wie schon zu Beginn die emphatische Apostrophe an die Weltminner und das ideale Charakterbild der Exempelgestalt Wirnt von Grafenberg nicht recht zusammengehen wollen, so widersprechen sich auch die Verse, die in die eigentliche Narration überleiten: sîn herze stille und offenbâr / nâch der minne tobte (50f.), heißt es abschließend über den guten Wirnt, der bis hier auf so besonnene Weise weltverfallen erschien, dass man darin keinen Makel erkennen wollte. Wer nun aber endlich die exorbitante, weltverfallene Tat eines Minnesklaven zu hören glaubt, irrt. Wir sehen Wirnt nicht als Rasenden der Liebe avant la lettre sein weltliches Unglück finden, vielmehr wird er uns als stiller Leser eines „abenteuerlichen“ Liebesromans vorgeführt (es könnte gut sein ,Wigalois‘ sein). Die Paradoxie der Formel vom stillen und offenen Liebestoben wird in der beschaulichen Übung konzentrierter Lektüre manifest: Sie subvertiert das kräftige Wort von Wirnts erotischem Wahnsinn. Das Bild des still vor sich hin lesenden Dichters ist nun schon für sich genommen mediengeschichtlich interessant.11 Wenn es im Rahmen des allegorischen Sujets jenen Schwellenakt bezeichnet, der den Übertritt in die andere, „höhere“ Wirklichkeit der Allegorie erst ermöglicht, lässt es sich ferner als narratives Aperçu des Autors Konrad von Würzburg zur Lesepsychologie begreifen. Traditionellerweise fungieren als solche liminale Akte zwei Topoi von unterschiedlicher Signifikanz: der Spaziergang, wie er sich etwa bei Michel Beheim und Jörg Schiller findet, und der Traum, für den Guillaumes ,Roman de la Rose‘ und Dantes ,Comedia‘ die prominentesten Beispiele geben.12 Einen wichtigen deutschen Beleg bietet die 11
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Hierzu Scholz 1980, 128f., zum Thema grundsätzlich Wenzel 1995, hier 220f. Scholz bezieht die Stelle zu Recht auf die Rede des Buches im Prolog des ,Wigalois‘ und erkennt in beidem ein aufschlussreiches Zeugnis für Lektüre als primäre Rezeptionsform. Dessen Signifikanz ist umso höher, als es sozusagen in eine Vortragskultur, in eine Kultur der „Vokalität“ (Schaefer 1992) hinein formuliert wird. Ferner ließe sich darüber reflektieren, ob mit dem folgenden halluzinatorischen Geschehen, mit dem Erscheinen der Welt, die stille Lektüre nicht insofern als eine „gefährliche“ Tätigkeit begriffen wird, als sie sich der „Kontrolle“ einer gemeinschaftlichen Hermeneutik entzieht. Diese Vorstellung wird bekanntlich das Ausgangsmotiv des ,Don Quixote‘ bilden. Vgl. ,Inferno‘ I,10ff.: Io non so ben ridir com’ i’ v’intrai, / tant’ era pien di sonno a quel punto / che la verace via abbandonai (,Ich weiß nicht genau wiederzugeben, wie ich dort [in den dunklen Wald] hineingeriet, / so sehr war ich an diesem Punkte voll des Schlafs, / dass ich den wahren Weg verließ‘). Die Worte weisen primär in einem allegorischen Sinn auf die „moralische“ Umnachtung des verirrten Lebenspilgers hin, vgl. die Kommentare von Chiavacci Leonardi, Bd. I, 11f. und von Gmelin, Bd. VI, 26. Sie referieren zugleich aber auf das
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,Minnelehre‘ Johanns von Konstanz (156ff.). Der Traum erscheint uns natürlich als das passendere, eindeutigere Motiv; im Spaziergang wird schleichend von der litteralen Landschaft in den allegorischen Raum gewechselt. In beiden Fällen kann die allegorische Topographie als Adaptation der Vorstellung von der Seelenlandschaft verstanden werden. Deutlich auf sie bezogen erweisen sich denn auch Dantes selva oscura und der Garten des ‚Rosenromans‘. Wenn bei Konrad nun das Lesen den entscheidenden Schwellenakt repräsentiert, so verrät dies zunächst eine feinsinnige Beobachtungsgabe und eine aufschlussreiche Einschätzung dessen, was Leseerfahrung bedeuten kann: Die dramaturgische Schlüssigkeit des Übergangs hängt hier, da es keinen Ortswechsel gibt (Wirnt bleibt in der Kemenate), einzig am Motiv der Einsamkeit und an der Erfahrung, dass der stille Lesende im Akt der Lektüre gleichsam in eine andere mentale „Wirklichkeit“ eintritt (die freilich nicht mit der Welt des Buches gleichzusetzen wäre). Die Analogie zum Traummotiv ergibt sich schon aus der trivialen Erfahrung, dass der müde werdende Leser sehr leicht in einen schlafähnlichen Zustand verfällt. Und Wirnt liest, wie wir wissen, bereits den ganzen Tag. Offenbar ist sich Konrad also der halluzinatorischen Zustände bewusst, denen der Lesende ausgesetzt sein kann. In dieser kleinen Erzählung liegt also mehr an Psychologie und psychologischer Motivation verborgen, als bisher wahrgenommen wurde.13 Eine psychologische Regie könnte man – und sei es bloß des hermeneutischen Vergnügens wegen – auch in Wirnts zweifachem Erschrecken wahrnehmen. Nach Freuds ,Traumdeutung‘ ließe es sich etwa so verstehen: Auf ein Entsetzen der Freude vor der unerwartet eintretenden erotischen Wunscherfüllung folgt ein Entsetzen des Schauders. Dem Begehren antwortet unverzüglich seine Zensur, die das libidinöse Objekt negativ allegorisiert. Eine solche Deutung würde wiederum den halluzinatorisch-traumartigen Zustand erhärten, in dem sich Konrad den lesenden Wirnt denkt.14 Dass Lektüreerfahrung der Auslöser einer conversio sein kann, wie sie Wirnt durchmacht, wird in kanonischer Weise von keinen geringeren als
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Traumgesicht als Exordialtopos der Visionsliteratur. Der latente Widersinn, der sich in dieser doppelten Funktion verbirgt (der Traum als die litterale Bedingung der Vision und als allegorisches Zeichen der Verirrung), spiegelt sich in dem dantesken Paradox, dass sich gerade der falsche Weg (freilich erst aufgrund des himmlischen Gnadenaktes) als der zielführende erweisen wird. Ein rechter, geradliniger Weg wäre der Logik des Werks und seiner Totalität zufolge gar nicht denkbar. Dass Konrad „ohne den Versuch psychologischer Motivierung“ auskomme, meint beispielsweise Rölleke (Hg.), 157. Vgl. hierzu auch Roland Barthes’ Ausführungen zum lector inclusus: „[D]as lesende Subjekt [ist] ein gänzlich unter dem Register des ‚Imaginären‘ fortgerissenes Subjekt.“ (Barthes 2006, 39)
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von Hieronymus und Augustinus vorexerziert.15 Auch in Boethius’ ,Consolatio‘, einem der wirkungsmächtigsten Texte im Mittelalter, fungiert die literarische Übung als Schwellenakt, der den Übertritt von einer als „real“ imaginierten Szene in die allegorische Sphäre ermöglicht: Boethius übt sich im Schreiben von Tristien, als die Philosophie den Kerkerraum betritt, um die Musen der Dichtung als billige Theaterdirnen zu verjagen und ihren Jünger wieder unter ihre tröstlichen Fittiche zu nehmen – auch dies eine conversio auf anderer, säkularer Ebene. Die legendarische Anekdote von Hieronymus, der in den Schriften der heidnischen Philosophen liest, des Nachts im Traum entrückt und geschlagen wird und sich hinfort nur mehr dem Studium der Heiligen Schrift hingibt, ist dem Mittelalter gut bekannt.16 Die „tolle lege“-Szene der ,Confessiones‘ (VIII.29) wird unter anderem von Petrarca imitiert.17 Wenn wir sie uns vergegenwärtigen, so vor allem des Kontrastes wegen: Wirnt liest nicht in der Bibel, sondern – hierin eher Hieronymus vergleichbar – in einem höfischen Roman. In der folgenden Begegnungsszene mit Frau Welt werden die Regeln Hoher Minne penibel durchexerziert. Wirnt und Welt begegnen einander wie Ritter und Dame. Wollte man ein passendes Äquivalent dazu finden, müsste man von einer regelrechten Don Quixoterie sprechen. Wirnt, der ohnehin ein literarisches Leben führt, halluziniert die Welt von minne und âventiure, in die er sich lesenderweise vertieft hat, in die Wirklichkeit seiner Kemenate. Als wäre dem nicht genug, verfällt auch die Stimme des Erzählers der selbst entworfenen poetischen Szene: ich spriche daz ûf mînen touf, daz si noch verre schœner was dan Vênus oder Pallas und alle die gotinne die wîlent phlâgen minne. (72-76)18
Bei seiner Taufe beteuert nicht Wirnt, sondern der Erzähler selbst die Schönheit der von ihm in Wirnts Kemenate versetzten Frau Welt und 15 16 17 18
Über die Relationen der Konradschen Lektüreszene zu Augustinus handelt ausführlich Quast 2005. Sie wird u.a. in der etwa zeitgleich entstandenen ,Legenda aurea‘ des Jacobus de Voragine berichtet (hg. Benz, 581-584, hier 581f.). Nämlich in der Beschreibung der Besteigung des Mont Ventoux, ,Familiarium rerum libri‘ IV.1,25ff., Steinmann (Hg.), 22ff. Es sind die ,Confessiones‘ selbst, die Petrarca, am Gipfel des Berges angekommen, an zufälliger Stelle aufschlägt. ,Ich beteuere bei meiner Taufe, / dass sie noch um vieles schöner war / als Venus oder Pallas / und alle die Göttinnen, / die einst die Liebe übten.‘ Die Formulierung „die wîlent phlâgen minne“ ist entweder im Sinne einer Zuständigkeit oder einer erotischen Praxis zu verstehen. Die Nennung von Pallas Athene erklärt sich aus ihrer Teilnahme am Parisurteil, s.v. Pallas [1], LAG, 456-461, hier 460.
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beschwört dafür die heidnischen Göttinnen als exempla. Die Autorstimme Konrads von Würzburg identifiziert sich neuerlich mit der Autorfigur Wirnt von Grafenberg. Sie suggeriert unmittelbare Teilhabe am narrativen Geschehen und vermittelt so auch den Rezipienten die Erfahrung des Dabeiseins. Deutlich sind der Zeigegestus und die theatralische Darstellungstechnik. Konrad schildert eine conversio mit Zuschauer. Die ostentativ behauptete Authentizität des unwirklichen Geschehens lässt auf der narrativen Ebene den halluzinatorischen Status der Szene, auf der metanarrativen Ebene aber den inszenatorischen Charakter des Erzählens durchsichtig werden. Dies alles mag den modernen Interpreten wenigstens dazu anhalten, dass er sich seiner Sache nicht sicher sein kann. Allzu plakativ läuft hier alles ab, sei es die höfische „Weltverliebtheit“ Wirnts, sei es der inszenierte Schauder der vanitas, dem sich der Erzähler ebenso bereitwillig hingibt, wie er zuvor dem Reiz seiner selbst fabrizierten Frau Welt erliegt. Konrads Erzähler teilt denn mit Wirnt auch das Pathos der Weltabkehr oder überbietet es geradezu in einer wiederum verräterisch theatralischen Geste: Hie mit schiet si von dannen. / daz si von mir verbannen / und aller cristenheite sî! (240f.) Die Art, wie die Personifikation von dem, der sie rief, wieder zur Tür hinaus komplimentiert wird, ließe sich in ihrer lapidaren Grobheit auch als Akt der Verdrängung verstehen: Teilt der Erzähler mit Wirnt das Ethos höfischer Weltliebe, so wird nicht dieser Weltliebe an sich abgeschworen, sondern eben nur der figura, die deren Negativität, deren eitles Ende verkörpern soll. Verschließt man die Tür nur gut genug vor Frau Welt, dann lässt es sich gut höfisch weiterleben. Freilich propagieren die Schlussverse die übliche Abkehr von allem Zeitlichen. Derselbe Erzähler, der zuvor mit Wirnts Weltwerken sympathisiert hatte, behauptet nun, was den Weltlohn betrifft, an ein ende komen (266) zu sein (dies ließe sich im übrigen und ironischerweise auch so lesen, dass er ihn wie Wirnt oder eindringlicher noch erfahren musste). Mit der Abgeklärtheit des Didaktikers, der sich seiner Sache sicher wäre, ist es aber nicht allzu weit her, wenn wir uns daran erinnern, dass er eben noch im Präsens und bei seiner Taufe gelobt hatte, dass die Dame, die die Welt repräsentiert, eine neue Venus sei. Man wird nicht so weit gehen wollen, Konrads Erzählung jede Ernsthaftigkeit abzustreiten. Ihr moralisch-didaktisches Anliegen zeigt sich jedoch in seiner narrativen Verhandlung deutlich konterkariert. Ich will darin eine bewusste Strategie erkennen: Was „wahrhaftige“, nicht ironisch gebrochene Erfahrung der vanitas ist, führt Hartmanns von Aue ,Der arme Heinrich‘ vor, auf dessen Folie sich Konrads ,Weltlohn‘ – allerdings kon-
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trastiv – sicher lesen lässt.19 Rigidität, verlässlicher Sinn und Eindringlichkeit des Exemplums sind eine Sache von Stil und Darstellungstechnik. Hartmann folgt hier dem Prinzip des verisimile, wenn er nicht dem allegorischen Körper, sondern dem Leib Heinrichs, der als ähnlich tadelloser Weltmann eingeführt wird wie Wirnt, die Folgen der Weltliebe einschreibt. Heinrichs Aussatz hat wie der Rücken der Welt symbolische Qualität, er ist zugleich einer mythischen Denkweise entsprechend die glaubhafte und geglaubte physische Manifestation göttlicher Bestrafung. Diese symbolische und mythische Evidenz verdeckt die Tatsache, dass es sich um nichts weniger als bei Konrad um eine poetische Setzung handelt. Der Auftritt der Personifikationsallegorie ist von prinzipiell anderer Qualität. Er bleibt a priori zeichenhaft und artifiziell, er bleibt eine ostentativ künstlerische Darstellungsform irdischer Eitelkeit. Die Artifizialität erhöht sich in der Divergenz zwischen der als historisch ausgegebenen schrecklichen Begebenheit und dem phantasmagorischen Auftritt der figura vanitatis im halluzinatorischen Moment einer langen Lektüre. Dies gestattet es dem Erzähler wie den Rezipienten, Ideologie und Erfahrung der Vergänglichkeit an einem Sinnbild zu zelebrieren, das der Lebenswirklichkeit gerade entrückt und a priori als poetische Setzung ausgewiesen ist. Die kausale Verknüpfung von Weltvernarrtheit und Aussatz im ,Armen Heinrich‘ muss hingegen als glaubhafte Manifestation göttlichen Wirkens in ganz anderer Weise verfangen. Im übrigen harmonisiert Hartmanns ,Der arme Heinrich‘ am Ende die von den Protagonisten verkörperten Extreme von Weltsucht und Weltflucht. Die beschworenen Schrecken der Weltliebe werden auch hier gebannt: in der erbaulichen Ernsthaftigkeit der Legende und in ihrem „lieto fine“.20 Konrads narrative Strategie der dramatischen Gegensätze und der ironischen Distanz weist hingegen durchaus voraus auf die Renaissancenovelle, und nicht zufällig hat sich gerade an seinen „Mären“ die Debatte um ein vornovellistisches Erzählen im Mittelalter entzündet.21 Auf diese Debatte muss hier nicht weiter eingegangen werden, auch sie verweist uns aber auf die disponiblen Sinnperspektiven des narrativen Registers, das in ,Der Welt Lohn‘ vorliegt. Die Gültigkeit der „moralischen Botschaft“ ist limitiert. Wenigstens bleibt sie streng sujetbezogen, wie ein Vergleich des Motivs der Kreuznahme in ,Weltlohn‘ und ,Herzmäre‘ deutlich macht: Im ,Herzmäre‘ fungiert die Kreuzfahrt des Ritters als List der Liebenden, die den Verdacht 19 20 21
Zu den Bezügen ausführlich Bleck 1991, 99ff. Zu den beiden Fassungen des Schlusses (Hochzeit Heinrichs und der Meierstochter mit oder ohne anschließenden Moniage) unten Kap. III.3, 402. Als „lieto fine“ charakterisiert Mertens den Schluss des ‚Iwein‘ (Kommentar zur Ausgabe, 1050). Heinzle 1978, J.-D. Müller 1984.
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des betrogenen Ehemanns zerstreuen soll. Hinter dieser List verbirgt sich wiederum ein literarisches Kalkül: Im Kreuzlied kann der Aufbruch zum Heidenkampf bedeuten, dass das weltliche Liebesverhältnis zugunsten der Gottesminne aufgegeben wird. Um den Gatten der Geliebten hinters Licht zu führen, tut der Ritter des ,Herzmäre‘ also nur so, als würde er jene conversio vollziehen, die Wirnt in ,Der Welt Lohn‘ „tatsächlich“ vollzieht. Auch hier haben die Liebenden die Rechnung freilich ohne die thematische Instanz der Erzählung gemacht. Im ,Herzmäre‘ ist das nicht die vanitas mundi, sondern das sentimentalische Pathos einer tristanesken Ehebruchsliebe: Der Ritter findet im Heiligen Land nicht sein Seelenheil, sondern den gramvollen Liebestod.22 Im Sterben liegend gibt er seinem Knappen den Befehl, sein Herz einzubalsamieren und der Geliebten zu überbringen. Damit imitiert die Narration in einem litteralen Sinn, was die andere Option des Kreuzliedes metaphorisch formuliert: Das Herz bleibt bei der Geliebten, der Leib zieht zum Gotteskampf ins Heilige Land.23 Im ,Herzmäre‘ wird es vom Ehemann abgefangen und der Gattin zum Mahle vorgesetzt, die nun ihrerseits – über die Beschaffenheit des köstlichen Gerichts aufgeklärt – den Liebestod erleidet. Diese veritable unio mit dem Geliebten bezieht ihren ästhetischen Reiz aus den zwei Extremen, die sie verbindet: aus der konkreten Schaurigkeit des Mahles und aus dessen symbolischer Schönheit; und wieder kann sie auch psychologisch gelesen werden.24 Sie gibt dem Epilog zufolge ein Exemplum für die Wahrhaftigkeit einstiger höfischer Minne, wie es sie heute nicht mehr gebe. Die sentimentalische Pose, die der Erzähler als Verfechter eines verloren gegangenen höfischen Ethos’ einnimmt, ließe sich dabei ebenso dekonstruieren wie das moralische Pathos der conversio in ,Der Welt Lohn‘ und würde in der analogen ästhetisierenden Übersteigerung des Themas eine analoge narrative Ironie freigeben. 22
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Konrad verschärft den Aspekt einer absoluten, tristanesken Liebesbindung gegenüber der französischen cœur-mangé-Tradition, aus der er sein Sujet bezieht. Dort fällt der Châtelain de Coucy, nachdem er sich im Gotteskampf bewährt und ausgezeichnet hat; sein Kreuzrittertum ist ihm nicht Ursache einer tiefgreifenden Liebesverzweiflung; zur Motivgeschichte Di Maio 2005, 20ff. Vgl. z.B. Friedrich von Hausen, MFMT VI.1-2 (MF 45,37). Zu dieser Psychologie ist vor allem eine Stelle aus Thomas’ ,Tristan‘ (Le Mariage de Tristan, 782ff., in: Tristan et Iseut, 376) zu vergleichen: Isolde singt nach Tristans Heirat eines Tages den lai de Guiron. Guiron wird vom Gatten seiner Geliebten ermordet, sein Herz wird ihr zum Mahle vorgesetzt. Der Lai – so heißt es – habe außerdem von dem Leid berichtet, das die Dame wegen des Todes des Geliebten (nicht wegen des anthropophagen Aktes!) ergriffen habe. Isolde singt den Lai dulcement – also so, wie üblicherweise das Herz schmeckt. Wenn sie sich mit der Dame identifiziert, richtet sich ihr kaum latenter Wunsch auf ein ähnliches Herzensmahl. Die Speise aber wäre das Herz Tristans, das sie im Singen gleichsam zu sich nimmt. Zur Semantik des „gegessenen Herzens“ am Beispiel Dantes vgl. unten Kap. II.4, 255ff.
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Die Divergenz der Sinnperspektiven beider Verserzählungen, die in der komplementären Funktionalisierung des gleichen Motivs, nämlich der Kreuzfahrt des Ritters, schlaglichtartig erkennbar wird, hat in der älteren Forschung zu einigen Irritationen Anlass gegeben.25 Dies umso mehr, als ein und derselbe Autor zwei derart konträre Texte „signiert“ hat (sowohl ,Herzmäre‘ als auch ,Weltlohn‘ schließen mit der Namensnennung Cuonrât von Würzeburc). Der Sachverhalt bestätigt die mittlerweile triviale Erkenntnis, dass die Erzählerstimmen innerhalb eines Œuvres divergieren können, auch wenn sie dezidiert denselben Autornamen tragen. Die narrativen Perspektiven und Strategien dürfen nicht als bekenntnishafte Aussagen der historischen Autorperson fehlgelesen werden.26 Dieses narratologische Faktum erweist ferner die Suche nach einem unmittelbaren Zeitbezug als aussichtslos. Wollte man mit Reinhard Bleck ,Der Welt Lohn‘ als Konrads ernstgemeinten Beitrag zu einem rheinischen Kreuzzugsprojekt verstehen,27 so wäre zu klären, wie sich diese propagandistische Ernsthaftigkeit zu ihrer Konterkarierung im ,Herzmäre‘ verhielte. Die Irritation schreibt sich im übrigen in den Etikettierungen der jüngeren Forschung fort: So meint Heinz Rölleke, ,Der Welt Lohn‘ müsse dem heutigen Leser fremdartig erscheinen, Rüdiger Brandt nennt den Text „mittelalterlicher“ als das ‚Herzmäre‘.28 Und noch Wolfgang Beutins Wort vom „endopsychischen Mythos“, der sich hier gestalte,29 behauptet gegen die historisch spezifische Ästhetik und gegen die Artifizialität der Erzählung so etwas wie eine mimetisch und poetisch ungebrochene Wahrhaftigkeit der narrativen Intention. ‚Herzmäre‘ und ‚Weltlohn‘ wurden vermutlich annähernd zur selben Zeit vom selben historischen Autor, allerdings mit jeweils „verstellter“ Autorstimme verfasst und gezeichnet. Sie gehören formal der gleichen Gattung an, verhandeln aber unterschiedliche Sujets (contemptus mundi, amour courtois). Die Sinnperspektiven divergieren nun aber nicht erst und natürlicherweise zwischen diesen beiden Texten, sondern schon innerhalb ein und desselben Textes. Zwar wird in ‚Der Welt Lohn‘ die Desavouierung höfisch-weltlicher Kulturalität zum Thema, die Narration selbst setzt diese Kulturalität allerdings (wenigstens phasenweise) ins Recht. In derselben Weise, in der sie phänotextuell destruiert wird, wird sie subtextuell affirmiert. Das zentrale narrative Verfahren ist die pathetische Ironie, unter deren Regie Wirnts ideale Weltverfallenheit zelebriert wird, das Liebestoben seinen Ausdruck in stiller Lektüre findet und die schauerliche 25 26 27 28 29
Vgl. den Überblick bei Brandt 2000, 101ff. So allerdings bei Bleck 1991, 123ff. Ebd., 135ff. Rölleke (Hg.), Nachwort, 157; Brandt 2000, 104. Beutin 1988/1989, 217f.
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Begegnung mit der figura vanitatis das höfische Protokoll Hoher Minne penibel durchdekliniert. So verweist Wirnts lectio vanitatis auf die vanitas lectionis, auf die Augenblickshaftigkeit der Lektüre, die Flüchtigkeit des festen Sinns. Sinngebung, Bedeutsamkeit ist eine Frage des Ortes, des Topos, an dem der Text mit dem jeweiligen Vers gerade steht. Gewissermaßen folgerichtig hat ,Der Welt Lohn‘ auch in der Überlieferung keinen festen Ort, sondern findet sich in Handschriften eingetragen, die vorwiegend geistliche Texte bieten (M, B, W), und in solche, die weltliche und geistliche Verserzählungen, sogenannte Minnereden und auch Lieder (S, D, C, G, P, K) versammeln.30 SUJETFÜGUNG. – Die präzise Dramaturgie von Konrads Verserzählung perspektiviert ein polysemes Ensemble – Formen und Sujets höfischer Poetizität und Kulturalität (Minnedienst, Hohe Minne, ritterliches Abenteuer, Turnierfahrt, Kreuznahme und Lektüre) – auf die zentrale Peripetie hin, nämlich auf jenen Moment, in dem sich die Allegorie der vanitas zu erkennen gibt. Dieser Moment bündelt die wirren Fäden einer spielerischen Genreszene und ermöglicht die Epiphanie einer exemplarischen Bedeutung im Körperbild der Frau Welt. Das Parlando der Reimpaarverse hat die Warnung vor der nichtigen Weltliebe, mit der die Erzählung eröffnet, schon fasst vergessen lassen, nun gerinnt sie zum dramatischen Schaubild. Signifikant für die Strategie der Fokussierung ist zumal die Zeit-Raum-Regie: Nicht der Ausritt, die freie Landschaft und die Dauer des Tages wie später bei Michel Beheim, sondern die konzentrierte Lektüre im Innenraum der Kemenate und der Moment des Abends bilden Kulisse und Ausgangspunkt der Narration. Der Autor präsentiert „eigentlich nur ein lebendes Bild“, wie es Helmut de Boor31 nannte, das Programm zu einem Tableau vivant vor der Zeit. Der Begriff führt allerdings insofern in die Irre, als er den dramatischen Aspekt unterschlägt: Auf ihn weist, wenn auch beiläufig, schon Wolfgang Monecke hin, wenn er meint „Wirnt und Frau Welt stehen beide auf einer Bühne“.32 Wir erinnern uns, dass der Erzähler so tut, als wären er und wir als Zuschauer involviert, insbesondere wenn er sich sowohl bei der Betrachtung der schönen Vorderseite der Welt als auch beim Anblick ihres gräulichen Rückens zu Ausrufen im Präsens hinreißen lässt (ich spriche daz ûf mînen tuof, 72; daz si von mir verbannen / und aller kristenheite sî!, 240f.). 30 31 32
Vgl. Aufstellung und Charakterisierung bei Bleck 1991, 2ff. und 62f. De Boor 1997, 39. Monecke 1968, 118. Monecke geht es an der Stelle eigentlich um das Phänomen der Zusammenführung von menschlicher und allegorischer Gestalt auf einer Ebene, er hebt daher das Wort „einer“ hervor (und versteht es als Zahlwort, nicht als Artikel). Für unseren Zusammenhang wäre hingegen das Wort „Bühne“ hervorzuheben.
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Gleichwohl zählt es zur Qualität des Textes, die „Enthüllung“ des einen Sinnes am allegorischen Bild hinauszuzögern, obwohl sie schon mit der programmatischen Apostrophe an die „Weltminner“, also vom ersten Vers an zu erwarten ist. Die kunstvolle Retardation erzeugt dabei erst jene Polysemien, die vom exordialen Thema wegführen, um schließlich im entscheidenden Moment in ihm zusammenzulaufen. Diese Retardation übersetzt in erster Linie das Regelwerk Hohen Minnedienstes in eine anschauliche, fast komödiantische Szene, die mit den entsprechenden Paradoxa spielt und mit durchaus parodistischem Unernst das Missverständnis illustriert, auf dem Wirnts Lebensentwurf aufbaut: In Frau Welt betritt eine Minneherrin die Szene, die – wie Wirnt, aber auch der Erzähler und die Rezipienten in ihrer gleichsam poetischen Verblendung zunächst meinen – absurderweise lohnen will, bevor ihr gedient wurde. In Gewand, Habitus und Rede spiegelt sie die minnesängerische belle dame sans merci. Ihre Gnadenlosigkeit besteht allerdings nicht in der Verweigerung des Lohnes, sondern in dessen pervertierter Abstattung. Konrads Versnovelle leistet eine glückliche Sujetfügung aus heterogenen Thematiken und Darstellungsformen. Was ihr vorliegt, ist zum einen das genuin poetische Thema höfischer Weltlichkeit, die an sich selbst die Desillusion und Destruktion ihrer vermeintlichen Idealität erfährt. Schon ,Der arme Heinrich‘ Hartmanns von Aue entwickelt dies im Genre der Verserzählung. Dem Thema korrespondieren auch die Motive von revocatio und conversio im lyrischen Register des Kreuzliedes oder der Minneklage, letzteres zumal bei Walther und Neidhart. Walthers Weltlieder, auf die noch ausführlich einzugehen sein wird,33 sind es denn auch, die jene allegorische Gestalt entwerfen, mit der Erfahrung und Erkenntnis der vanitas darstellbar werden: in Szenographie und Rhetorik der Hohen Minne, in der Interaktion zwischen Liebendem und Geliebter, in der soziokulturell verankerten Logik von Dienst und Lohn. Im Minnesang bildet bekanntermaßen das Paradox eines unbelohnten und dennoch unaufhörlichen Dienstes den kritischen Punkt. Schon das Kreuzlied kann die einseitige Liebesrelation als Undankbarkeit der Herrin im Besonderen und als Defizienz weltlicher Liebe im Allgemeinen deuten – mit der entsprechenden Konsequenz, nämlich der Hinwendung zur wahren Liebe und zu dem, der wirklich lohnen kann, wie es bei Friedrich von Hausen heißt (MFMT VI.4,10). Die trügerische Süße der Frauenliebe lässt sich in einem weiteren allegorischen Schritt zur trügerischen Süße der Welt generalisieren, so eben im Falle Walthers und Neidharts. Die Paradoxie einer misslungenen Relation von Liebesdienst und Liebeslohn überträgt sich als allegorisches Schema auf die Paradoxie einer generellen 33
Unten Kap. I.4.
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Welterfahrung, zumal im sozialen und soziokulturellen, aber auch im künstlerischen Kontext. Die Undankbarkeit der Herrin symbolisiert Kontingenz und Unberechenbarkeit der Welt, in die das poetische Subjekt allerdings weniger geworfen ist, als dass es sich selbst an sie bindet. Es ist genau dieser Aspekt der Wahl und der Entscheidung, der verhindert, dass Allegorie der Welt und Sujet der vanitas-Begegnung in einer simplen moralischen Rechnung aufgehen. Freilich will die Herrin Welt in Konrads Erzählung ihren Lohn gerade abstatten und nicht vorenthalten. Und mit dieser Verschiebung verschärft sich das, was etwa im Kreuzlied die Undankbarkeit der Geliebten ist, zu einem Werk des vorsätzlichen Truges und der Täuschung. Doch auch ihm geht, wie wir aus Wirnts „Biographie“ wissen, ein Sich-Ergeben in die Welt voraus. Der Schandlohn, den er zu gewärtigen droht, ist die Folge einer Fehlkalkulation, eines fatalen Lebensirrtums. Schon in der allegorischen Gestalt selbst wird dabei die angesprochene Mehrdeutigkeit sinnfällig. Ihr Körperbild behauptet die Simultaneität von schönem Schein und grausiger Verwesung, imaginiert also eine vermeintlich ontologische Gleichzeitigkeit: Welt und Weltverfallenheit seien immer schon, als was sie sich am Ende erweisen, nämlich hinfällig und sündhaft. Die Dissoziierung von Vorne und Hinten widerspricht dem und deutet auf das Moment der zeitlichen Dauer, der Vergänglichkeit als Prozess. Die Rigorosität eines theologischen contemptus mundi, der auf prinzipielle Weltverneinung zielt,34 wird auch insofern konterkariert, als die allegorische Begegnung mit dem Schema der Zeit, genauer: der Lebenszeit verzahnt ist. Auch hierauf wird im Zusammenhang mit Walthers Weltliedern einzugehen sein. Bei Konrad zeigt sich die rigide Negativität des allegorischen Körperbildes jedenfalls auf mehrfache Weise unterlaufen, so auch im Zeitschema der Erzählung selbst: Nicht am Morgen, sondern am Abend tritt Herrin Welt ins Zimmer des Lesenden; erst der Abend ist die Zeit der Umkehr. Konrad gelingt somit eine glückliche Synthetisierung, die auf den Denkformen und Darstellungsformen höfischer Dichtkunst gründet. Zumal in der Identifizierung des Protagonisten mit dem historischen Autor Wirnt von Grafenberg und mit dessen Stilisierung zum weltmännischen Literaten kommt das Märe jenseits einer simplen Beispielerzählung zu stehen und weist voraus auf die Novelle. (Auch hierin ist ihm schon Hartmann ein Vorläufer.) Zwar bildet eine motivgeschichtliche Klärung gerade nicht das eigentliche Interesse dieser Untersuchung, zumal sich die entsprechende Debat-
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Dazu unten Kap. II.2.
2. Verdichtete Allegorie: Konrads von Würzburg ,Der Welt Lohn‘
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te als unergiebig erwiesen hat.35 Eine poetologisch orientierte Lektüre macht es aber ganz unwahrscheinlich, dass ein Text, wie ihn Robert Priebsch aus den beiden lateinischen Exempla der Arundel Handschrift 406 und der ,Gesta Romanorum‘ (Oesterley, Nr. 202) erschließen wollte, Konrads Quelle gewesen wäre: Einem weltverfallenen Ritter begegnet hier eine schöne Frau und weist ihn an, ihren wurmzerfressenen, verwesten und stinkenden Rücken zu betrachten. Sie gibt sich als gloria mundi beziehungsweise als seculum zu erkennen, der Ritter bekehrt sich zu einem gottesfürchtigen Leben.36 Ich will nun ‚Der Welt Lohn‘ nicht als die höfische Aufschwellung, sondern die beiden Exempla als ein aus ihr gezogenes argumentum lesen.37 Da die Arundel-Fassung nach Priebsch um das Jahr 1273 in Mainz, also in etwa zu gleicher Zeit und in der gleichen Gegend wie ‚Der Welt Lohn‘ entstanden ist, lässt sich mit chronologischen Argumenten nicht operieren. Eine Beweisführung muss anders vorgehen. Zunächst reflektiert schon die Gestalt des Ritters jenes höfische Sujet, das bei Konrad vorliegt. Für seine Sujetfügung bewegt sich Konrad ferner auf einem intertextuellen Terrain, das ihm die vorgängige poetische Tradition bereitstellt: Er begreift wie schon Hartmann im ‚Armen Heinrich‘ den ritterlichen Lebenslauf als Weg der vanitas und verbindet ihn mit einer Welt-Allegorie, wie sie sich in Walthers Liedern findet. Die allegorische Gestalt der Herrin Welt selbst liefert dabei das gewichtigste Indiz für Konrads Priorität, da sie in das narrative Ensemble und seine intertextuelle Referenz homogen eingebunden ist – ganz im Unterschied zu den mehr oder weniger ad hoc und nicht eben glücklich kreierten Allegorien der gloria mundi (Fassung Arundel) und des seculum (,Gesta Romanorum‘). Wäre das Exemplum das originäre Produkt des geistlich-lateinischen contemptus mundi, so wäre als Name der Allegorie am ehesten luxuria zu erwarten; „Ego sum gloria mundi“ oder „Ego sum seculum“ liest sich hingegen wie eine Hilfsübersetzung von nichts anderem als: „diu Werlt bin geheizen ich“ (,Der Welt Lohn‘ 212).
35 36
37
Einen Überblick bietet Bleck 1991, 93ff. Priebsch 1918, 469ff. In den folgenden Untersuchungen von Closs (1934), Thiel (1956) und Stammler (1959) wurden Priebschs Thesen und Hinweise mehr oder weniger unhinterfragt übernommen. Zur Diskussion um eine lateinische Vorlage Bleck 1991, 93ff. Wenn man schon eine solche annehmen wollte, dann könnte man sie am besten gleich in der Fassung Arundel erkennen. Dass Priebsch an eine Mischform der beiden Fassungen denkt, verrät eine gewisse Verlegenheit, ob und warum Konrads elaborierte Erzählung auf ein solches lateinisches Exempel angewiesen sein sollte. Eine analoge Konstellation scheint im Verhältnis zwischen dem lateinischen Exempel vom geheilten Aussätzigen und Hartmanns von Aue ‚Armem Heinrich‘ vorzuliegen: Das Exempel dürfte aus der mhd. Verslegende gezogen sein; zusammenfassend hierzu Mertens (Hg.), 938ff. (mit Abdruck des Exempeltexts).
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I. Frau Welt
Das motivgeschichtlich einzig irritierende Faktum ist, dass erst Konrad ausgestaltet, was Walther (Cor 70.III,90f., L. 101,12f.) bloß andeutet: das schändliche Hinten der Welt. Dabei scheint es auf den ersten Blick so, als setze schon Walthers Anspielung ein fest geprägtes allegorisches Körperbild voraus, auch wenn es sich nicht belegen lässt. Aber das ist eher ein Rätsel, vor das uns Walthers Allegorie stellt. Es kann gelöst werden, wenn man den allusorisch-dunklen Charakter der Waltherstelle als bewusste Strategie begreift und erkennt, dass sie gerade nicht auf eine ausgeprägte Weltallegorie, sondern auf die entsprechenden Figurationen der Luxuria und des Leichnams referiert, wie sie contemptus mundi und memento-moriDichtung entwickelt haben, ohne die entsprechende Bildlichkeit explizit aufzurufen.38 Offenkundig hat sich erst Konrad darauf seinen Reim gemacht und bewusst zum vollen allegorischen Bild ausgestaltet, was Walther mit Kalkül im Vagen gehalten hatte.39 Begreift man Konrads Versnovelle in ihrer polyphonen intertextuellen Komposition und in ihrer spezifisch höfischen Textualität, so tut man gut daran, das übliche stemmatologische Denkschema (hier vom einfachen Exempeltext zur komplexen Narration) umzukehren: Ab dem ausgehenden 13. Jahrhundert entwickelt sich eine relativ breite Tradition von Welttexten. Sie lassen sich gut als Überschreibungen eines polyvalenten Grundtextes lesen, ohne dass man sich das Ensemble nun wiederum strikt so denken müsste, dass Konrad der Stamm und Walther die Wurzel wäre. POTENTIALE DES SUJETS. – Die motivgeschichtliche Forschung hat jene deutschen und lateinischen Texte längst zusammengetragen, in denen die Allegorie der vanitas ihren Jüngern gegenübertritt und/oder in denen auf das entsprechende allegorische Körperbild angespielt wird.40 Es mag daher genügen, sie hier kurz zu rekapitulieren und dann auf einige Ungereimtheiten hinzuweisen, in denen sich Phänomene der Überschreibung, der Fehllesung und der Resistenz jener Poetizität und Polysemie erkennen lassen, die die höfische Sujetfügung bei Konrad von Würzburg erzeugt hatte. Ich beginne mit den versifizierten deutschen Texten und nenne dann die lateinischen und deutschen Prosa-Exempla. 38 39
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Hierzu unten Kap. I.4, 115ff. Wenn ich das bei Thiel 1956, 56ff. ausgebreitete Material der Weltschelten in der Nachfolge Walters richtig überblicke, so ist zwar immer wieder (wie eben bei Walther) vom schändlichen Rücken der Welt die Rede. Erst seit Konrads ,Weltlohn‘ aber finden sich die entsprechende Attribute der Verwesung. Die übersichtlichste Zusammenstellung bei Bleck 1991, 143ff., der meine Liste auch weitgehend folgt; vgl. ferner Closs 1934 (vor allem zur anonymen ,Weltlohn‘-Erzählung von 1351), Thiel 1956, 112ff.; leicht zugängliche Sammlungen einzelner Texte bieten neben Bleck auch Röllekes Ausgabe von Konrads Weltlohn (105ff.) sowie Die deutsche Literatur I/1, 490-517.
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[1] Wahrscheinlich von Konrad angeregt ist das W e l t l i e d d e s s o g e n a n n t e n G u o t a e r e (eines Sangspruchdichters des ausgehenden 13. Jahrhunderts).41 Die Welt erscheint hier zunächst in ganzer Schönheit am Sterbebett eines Ritters und lässt ihn dann an ihrem Rücken den Tod als ihren Lohn schauen. Der Sterbende bereut. Auf dieses von den ersten beiden Strophen geschilderte Beispiel folgt eine dreistrophige moralisatio, die die Zuschauer dazu anhält, den Lohn der Welt an den verwesenden Leichen der Weltjünger, also nicht am allegorischen, sondern am konkreten Körper zu erkennen. Die letzte Strophe spricht von der umfassenden Präsenz des Todes und schließt mit der Aufforderung zur Umkehr. [2] In F r a u e n l o b s a l t e r c a t i o , M i n n e u n d W e l t ‘ (hg. Stackmann/Bertau, IV.17, um 1300) will die Minne ihre Vorrangstellung unter anderem mit dem polemischen Hinweis auf den gräulichen, von Würmern und Nattern zerfressenen Rücken der Welt argumentieren. [3] Das V e r s e x e m p e l , V o n d e r s c h o n e n v e r l o r e n e n f r a u w e n ‘ (um 1351) ist in vier Sammelhandschriften geistlicher Kurztexte überliefert und stellt neben Konrads Märe die meistverbreitete Weltlohn-Erzählung dar, mit ihren rund 660 Reimpaarversen ist sie zugleich die längste.42 Dem Erzähler-Ich erscheint eine schöne Frau, sie führt ihn am Morgen an einen blühenden Anger, wo man sich in großer Gesellschaft höfischen Vergnügungen hingibt, bis am Abend ein alter grauer Pilger mit zwölf rot gekleideten Rittern erscheint und das Fest beendet. Die Dame gibt sich als Welt zu erkennen, klagt darüber, dass sie jemals geboren wurde, zählt ihre Sünden auf und entblößt sich. Ihr ganzer Leib ist vom üblichen Getier besetzt und zerfressen. Mit ihr verfällt die Landschaft und geht in Flammen auf. In Feuer und Schwefel sitzend findet sich die gesamte Gesellschaft wieder, mit Ausnahme des Erzählers, der dem Geschehen bloß zusieht (187-270). Dem folgt eine ausführliche moralisatio. Die Erzählung ist auch deshalb von Interesse, weil sie ein aufschlussreiches Bindeglied zwischen den unterschiedlichen Texttraditionen darstellt, die von Konrad her auseinanderlaufen. Zum einen steht sie in der Tradition nachhöfischer Versdichtung. Zwar ist der Bezug auf ,Der Welt Lohn‘ grundlegend und in mehr oder weniger direkten Zitaten zu fassen, Ich-Perspektive und Szenographie (Anger, Fest) referieren aber mindestens ebenso deutlich auf die Tradition der Reden- und Allegoriedichtung des 14. Jahrhunderts. In dieser Mehrfachreferenz konstituiert sich denn auch die spezifische Hybridität dieses Textes, die in einigen Punkten wiederum auf Michel Beheim vorausweist und sich vor allem auf die Konzeption der Weltallegorie selbst entscheidend auswirkt. Überlieferungskontext und ausgebreitete geistliche wie moralische Lehre verbinden ihn hingegen mit den Prosatexten. [4] Dass M i c h e l B e h e i m und mit ihm auch Jörg Schiller ,Der Welt Lohn‘ kannten, darf mit einiger Sicherheit angenommen werden (besonders bei Schiller scheinen die Bezüge auf Konrads Dichtungen ja textkonstitutiv). 41
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Thomas Bein (2001) geht in seinem jüngeren Beitrag zu den Welt-Strophen des Guotaere davon aus, dass sich keine textgenetische Abhängigkeit von Konrad erweisen lasse, sondern dass es sich um eine „selbständige Formung des contemptus-mundi-Themas“ handle (111f., hier 112). Der Begriff vom „contemptus-mundi-Thema“ ist angesichts der präzisen Gestaltung allerdings etwas zu abstrakt, und die folgenden Ausführungen sollen zeigen, dass sich die Strophen – im Gesamtensemble der einschlägigen Texte betrachtet – eben doch am plausibelsten als Umschrift des Konradschen Textes verstehen lassen (und nicht der Waltherschen Weltallegorie, an die Bein schließlich als Vorbild denkt; ebd., 115). Text und Untersuchung bei Closs 1934.
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I. Frau Welt
[5] Bleibt noch der Sonderfall des L i e d e s N r . C X V I I I d e r K o l m a r e r L i e d e r h a n d s c h r i f t (um 1470) zu erwähnen. Es ist In Kuonrâdes von Wirzeburc hovedône43 verfasst und trägt den Titel ‚Wie der meister der Welt urloup gît‘. „Meister Konrad“ führt hier ein Streitgespräch mit der allegorischen Gestalt und vollzieht in actu jene Abkehr, die die Autorstimme in ‚Der Welt Lohn‘ empfiehlt. Die Erzählung ist damit gleichsam weitergesponnen: Konrad wird Teil jenes Sujets, das er selbst kreierte, er wird wie Wirnt zur literarischen Gestalt, was darauf hindeutet, dass die Sympathien wahrgenommen wurden, die Konrads Autorstimme seiner Autorgestalt, Wirnt von Grafenberg, entgegenbringt. Unter diesem Aspekt zeigt sich das meisterliche Lied mit der höfischen Verserzählung denn doch eng verbunden, auch wenn der Disput selbst bloß deren Thema, nicht aber Szenographie und Dramaturgie reflektiert.44 Zu den Prosaversionen45 zählen neben den beiden erwähnten Zeugnissen der Handschrift Arundel 40646 [6] und der ,Gesta Romanorum‘ [7] noch folgende Texte: [8] Das P r e d i g t e x e m p e l N r . L X V I der Handschrift cgm 6 (Elsass, 1362); es lässt die Begegnung zwischen Welt und Ritter (wie bei Konrad) in der Kemenate stattfinden. Der junge Ritter will sich hier eben schlafen legen, als Frau Welt eintritt. Das Weitere folgt dem üblichen Schema. [9] Der deutsche Prosatext , V o n d e r w e l t v a l s c h e i t ‘ aus einer Zürcher Papierhandschrift von 1393 verweist schon im Namen des Protagonisten auf Konrad: Wirnt von Grafenberg begegnet Frau Welt (wie später der Weltjünger bei Michel Beheim) auf freiem Felde, seine Weltabkehr bildet den Ausgangspunkt einer mit ihr nur mehr lose verbundenen, erbaulichen Betrachtung über die wahrhafte Süße der Gottesliebe. [10] Das Exempel mit dem Titel , A m o r m u n d i v a n u s e t f i n a l i t e r p e n s o s u s ‘ aus einer Breslauer Handschrift des 14. Jahrhunderts weiß von einem Kleriker zu berichten, der den vanitates seculi verfallen sei. Als er gerade in seiner Kammer sitzt und über die Liebe dichtet (dictans de amore) erscheint ihm eine weibliche Gestalt, sie trägt den männlichen Namen „amor mundi“. Auch wenn auf die ‚Epistola Alexandri‘ als Quelle verwiesen wird, verrät schon diese Szenerie den Bezug auf Konrad. Der kuriose Quellenverweis erklärt sich wohl aus der in der Alexandertradition notorischen vanitas-Thematik. [11] Ebenfalls in einer Breslauer Handschrift aus der Mitte des 15. Jahrhunderts ist das Exempel ‚ D e s e r v i t o r i b u s m u n d i ‘ überliefert. Es berichtet relativ ausführlich von einem weltsüchtigen Ritter, der auf dem Weg zu einem höfischen Fest einer Frau begegnet, nämlich der Frau (!) Mundus (Cui femina: Ego vocor Mundus et sum). Wie schon Reinhard Bleck zeigen konnte,47 referieren die deskriptiven Erweiterungen (weltliche Werke, Begegnung und Dialog), die in diesem Text weit über das Maß der Gattung hinausgehen, auf Konrad und sie erzeugen einen analogen poetischästhetischen Überschuss, der den erbaulichen Zweck hinter sich lässt. Deutliche Analogien bestehen ferner zur genannten deutschen Prosafassung [9]. 43 44 45 46
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So die Überschrift zu Str. CXIV, die das Corpus der Hofton-Strophen eröffnet. „Der Text des Liedes zeigt keine Abhängigkeit zu ‚Der Welt Lohn‘, weder inhaltlich noch in Formulierungen“, lautet das Resümee bei Bleck 1991, 152. Es greift um vieles zu kurz. Alle im Folgenden besprochenen Texte sind abgedruckt bei Bleck 1991, 144-148. Auf sie basieren nach Priebsch 1918, 469, Anm. 2 drei weitere, weitgehend identische Versionen in den Handschriften Arundel 506 (Mainz, erste Hälfte des 14. Jahrhunderts) und MS Additional 21147 (Erfurt, um 1450), beide British Museum, sowie im ‚Promptuarium‘ des Dominikaners Johannes Herolt, eine Exempelsammlung von 1434. Bleck 1991, 146f.
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Dieses Ensemble zeigt sich bei aller Heterogenität in Sprache, Poetizität, Überlieferungskontext und Pragmatik doch erstaunlich homogen. Versucht man es zu systematisieren, lässt sich beim Schwellenakt beginnen, der zur Begegnung mit der Welt führt. Mit Wirnts ausgedehnter Lektüre setzt Konrad von Würzburg ein singuläres, eigenwilliges Ausgangsmotiv der narrativen Szene. Es entwickelt eine spezifische und zugleich schwer zu kategorisierende Signifikanz, die in der imaginativen, kontemplativen und mittelbaren Tätigkeit zu bestehen scheint, die das Lesen bedeutet. Jener Wirnt von Grafenberg, der uns vorgeführt wird, handelt nicht, sondern liest in der Welt; was er wahrnimmt und worin er sich bewegt, ist eine poetische Sphäre, und darin tun ihm die gleich, die ihrerseits von ihm lesen: Erzähler wie Rezipienten. Wirnts Welt ist schon innerpoetisch eine imaginäre, und auf diese Weise wird auch der fiktionale Status der Erzählung bewusst gehalten, aus der Autorstimme und Rezipienten metapoetisch ihre Lehre ziehen wollen. In dieser doppelten Verschiebung des Geschehens in die Poetizität gründet jedenfalls wesentlich die Ambivalenz des Textes; der lectio vanitatis korrespondiert wie gesagt die vanitas lectionis. Insofern mag es aufschlussreich sein, dass genau dieses Motiv praktisch durchgehend gelöscht ist: Nur im Breslauer Exempel vom ,Amor mundi‘ [10] überkommt die personifizierte vanitas den Kleriker – nur ihn kann sich ein lateinischer Autor offenbar als homme de lettres denken –, und zwar beim Dichten von der Liebe. Auch hier ließe sich noch sagen, dass es das eigene Sujet ist, das dem Dichter erscheint; signifikant jedenfalls ist die Gleichung von Liebesdichtung, Weltliebe und drohender Verderbnis. Im Innenraum der Kemenate situieren – wie Konrad – der Guotaere [1] und der Elsässer Prediger [8] das Geschehen. In beiden Fällen bildet das Bett den liminalen Ort, der in die allegorische Sphäre überführt. Als Ort von Schlaf und Traum entspricht er gut den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit, untergräbt damit aber zugleich die behauptete Wahrhaftigkeit des geschilderten Ereignisses. Als alter und todsiecher Ritter befindet sich beim Guotaere zudem der Weltmann selbst schon in jenem Zustand der Erbärmlichkeit, den ihm die Allegorie erst an ihrem Leib demonstrieren will. In diesem Vorgriff wird zum einen die poetische Schwäche und Einfallslosigkeit des Textes manifest, zum anderen könnte die Redundanz ein gewisses Unbehagen an der Künstlichkeit der Allegorie belegen: Aus der Sicht des Moralisten könnte einem bei Betrachtung des Schauderbilds der Welt nur allzu leicht wohlig werden, eher jedenfalls, als wenn man das litterale Bild des unweigerlichen eigenen Endes vor Augen geführt bekommt: Swer dirre vrouwen niht ensiht, / der seh’ der werlde diener an, / wie’s in dem alter sîn gestalt. (3,1ff.)48 Wer diese Dame nie gesehen haben will, der 48
Zitate nach: Die deutsche Literatur I/1, 490f.
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I. Frau Welt
soll sich ansehen, wie die Diener der Welt im Alter aussehen, beeilt sich der Sänger zu sagen. Nicht nur von der Welt, sondern von den Knochen ihrer Jünger fressen Kröten und Würmer das Fleisch: Gêt in den kerner und seht, / wes ir ze vriunt, ze mâge jeht. (4,37f.; ‚Geht ins Beinhaus und seht, wen ihr euren Freund und Verwandten nennt!‘) Damit liefert der Text die unfreiwillige Dekonstruktion jener Allegorie, mit der er begonnen hat. In ihrer Artifizialität ist der Terror der Weltverachtung immer schon gebändigt, und so ersetzt er sie mit den wahren Bildern des Schauders und der konkreten, nicht allegorischen Allgegenwart des Todes: Nu dar, der tôt ist ûf der vart! (5,1) In diesem Satz ist gerade nicht auf den Totentanz vorausgewiesen, wie Gabriele Thiel meint,49 sondern gleichsam vor der Zeit auf Distanz gebracht, was auch dessen Paradox sein wird: eine Artifizialität des Genres, die das moraltheologische Anliegen konterkariert. Oft genug betrachtet verliert sogar der an die Wand gemalte Tod seinen Schrecken, seine Präsenz wird eine ästhetische. Alle übrigen Prosafassungen ([6], [7], [9]-[11]) und die Versrede ‚Von der schonen verlorenen frauwen‘ [3] versetzen die Szene ins Draußen von (Burg-)Garten, Wald oder Heide. Sie genügen damit der literarischtopischen Tradition und dem, was man von einem Weltritter erwartet: Er sitzt nicht lesend in der Kammer, sondern turnierend auf dem Pferd. Genau im Topischen gerät das Moralische freilich zur Manier, wie insbesondere am Weltlohn-Exempel [3] und an jenem Text zu sehen ist, der diese Linie abschließt, nämlich an der Weltpastourelle Michel Beheims [4]. Dominant ist – auch dies war an Beheims Lied zu beobachten – die vom Metaphorischen ins Metonymische tendierende Verschränkung von Weltliebe und Erotik, vanitas und luxuria. Sie ist, wie zu zeigen sein wird, bereits eine grundlegende ikonische und diskursive Strategie in der Tradition des contemptus mundi.50 Klar thematisiert wird diese Verschränkung auch im Kolmarer Lied [5], in dem Frau Welt von ihren sieben Töchtern, den Todsünden, spricht (Str. 5,68).51 Dies führt uns zur Frage nach der Gestaltung der Allegorie selbst. Die Figur der Frau Welt ist eine mehr oder weniger glückliche Erfindung der mittelhochdeutschen Poesie. Unter dem Grundtheorem der Vergänglichkeit alles Irdischen ist hier die Welt an sich allegorisiert. Die Totalität der Anschauung sowie des Problems und des Phänomens, das diese Allegorie wahrzunehmen behauptet (und damit erst kreiert), repräsentiert sich in einer partiellen, besonderen Konstruktion: im Entwurf eines weiblichen Körperbildes, das vorne schön und hinten hässlich ist. Zwar lässt sich 49 50 51
Thiel 1956, 141. Unten Kap. II.1 und II.2. Zählung nach: Die deutsche Literatur I/1, 505-508.
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dieses Körperbild mit anderen allegorischen Figurationen in Verbindung bringen, keine andere poetische Sprache ermöglicht aber die begrifflich konzise Benennung als „Welt“. Zugleich ist diese Allegorie alles andere als homogen oder in sich geschlossen. Vielmehr verweisen Weiblichkeit, trügerische Schönheit und tatsächliche Scheußlichkeit des Körpers auf Luxuria, in der sich ihrerseits eine negative, als defizient und sündhaft konzipierte Erotik repräsentiert; die Attribute der Verwesung verweisen hingegen auf Mors. Der Lohn aber, den die Welt abstattet, ist zweifelhaft, er ist genau der, den man sich nicht erwartet hat. In dieser Undankbarkeit der Welt, die einerseits jener der Minneherrin entspricht, andererseits mit ihr kontrastiert (weil diese grundsätzlich nicht lohnt), repräsentieren sich schließlich Unberechenbarkeit und Kontingenz des Mundus. Die Allegorie führt somit zusammen, was in anderen Sprachen und poetischen Systemen als Konnex von mundus, luxuria und mors diversifizierte allegorische Figurationen der vanitas ergibt. Ihre Qualität ist es, dass sie die differenten Allegoreme (grob gesagt: Erotik, Sündhaftigkeit, Vergänglichkeit, Kontingenz und Tod) auf eine Weise bündelt, die ihr Wesen in einer prekären und polysemen Schwebe zwischen Hinfälligkeit und Diabolik hält (so bei Walther und Konrad). Beim Guotaere [1] ist sie einer Allegorie des Todes angenähert, wobei die implizierte Todesvorstellung auf die erotische Verfallenheit und auf das transzendente Verderben hin gewichtet bleibt. Im Kolmarer Lied [5] (das von der scheußlichen Rückansicht nichts berichtet), in der Versrede vom Weltlohn [3] und bei Michel Beheim [4] tendiert Frau Welt hingegen zur Allegorie der Luxuria. In beiden Tendenzen ist denn auch das „unglückliche“ Potential dieser spezifischen figura vanitatis zu fassen: der affirmative Zug hin zu Leibfeindlichkeit und anti-erotischer Rigorosität, die ihre Schlagkraft aus einer dominanten Misogynie beziehen. Die lateinischen Benennungen der Allegorie wiederum sind für die alte motivgeschichtliche Debatte aufschlussreich: Gloria mundi (ArundelFassung [6]), seculum (,Gesta Romanorum‘ [7]), amor mundi [10] und Mundus [11] lassen sich schwerlich als etwas anderes begreifen denn als Hilfsübersetzungen jenes Namens, der aus einer günstigen sprachlichen und poetischen Koinzidenz heraus im Mittelhochdeutschen eben eine komplexe Allegorie der vanitas konzis benennen und damit erst kreieren lässt. Dies ist auch das entscheidende Argument für die These einer Priorität Konrads gegenüber der Exempeltradition. Sie soll aber gerade nicht besagen, dass Frau Welt eine genuine mittelhochdeutsche Schöpfung abgebe. Vielmehr sind in ihr Strategien der Allegorisierung zusammengeführt, die der contemptus mundi entwickelt, zugleich findet sie aber ihre Präfigurationen in Diskurs und Bildlichkeit der höfischen Dichtung. Im zweiten Teil dieser Untersuchung wird dies detailliert zu erörtern sein.
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I. Frau Welt
Ein dritter Aspekt ist die Artifizialität und Konstruiertheit der Allegorie. In der poetischen Setzung, die sie darstellt, gründet genau jene Verfügbarkeit, die die weltverachtende Rigorosität des allegorischen Sujets unterläuft und mit der Konrads Text sein poetisches Spiel zu treiben weiß. Sie wird in unterschiedlicher Form und mit unterschiedlicher Intention von den übrigen Texten wahrgenommen und thematisiert. Frauenlobs Minne [2] beglaubigt ihre polemische Anspielung auf den Rücken der Welt mit einem Hinweis auf die schrift, auf ein „on dit“ sozusagen. Obwohl die Welt vor ihr steht, argumentiert sie bloß mit einer mittelbaren Evidenz – dies offenbar deshalb, weil die unmittelbare Evidenz gerade nichts dergleichen sehen lässt.52 Damit erweist die Anspielung letztlich nichts anderes als die Schwäche des Arguments, das sie bieten will, und sein Ungenügen angesichts der philosophisch ambitionierten Konzeption von amor und mundus, die diese altercatio entwickelt.53 Analoges wird sich am ersten fassbaren Erscheinen des Motivs bei Walther beobachten lassen.54 Zur kuriosen Konsequenz gebracht scheint diese Artifizialität in der Versrede vom Weltlohn [3]: Was Allegorie der Welt in ihrer Totalität sein wollte, gerät hier mehr oder weniger zur menschlichen Gestalt. Frau Welt ist nicht einmal Typus der Sünderin schlechthin, sondern bloß „eine schöne verlorene Dame“, wie es der Titel formuliert. Hugos von Montfort Weltlied55 wird dem Text darin folgen: Es bietet (ähnlich wie das Kolmarer Lied) eine Disputation zwischen Sänger und Frau Welt, diese lässt sich hier allerdings von den geistlichen und moralischen Argumenten überzeugen und tritt als geläuterte und durchaus welterfahrene Dame ab. Angesichts der problematischen, verkommenen Realverfassung geistlicher Lebensformen plädiert sie für eine pragmatische, biedere Weltlichkeit (und redet damit auch einer hausbackenen Poesie das Wort, die im Lied selbst gleich zu fassen wäre). Dafür erspart ihr Hugo von Montfort den peinlichen Blick auf den Rücken. Die Ikonographie der Allegorie erfüllt zwar alles andere als die Gesetze der „Naturwahrscheinlichkeit“, wohl aber die einer plausiblen Signifikanz. Das „unwirkliche“ Körperbild führt die allegorischen Aspekte – Nichtigkeit, Trug, Tod und Sünde – wirkungsästhetisch überzeugend zusammen. Jenseits dieser Konvention kommen die beiden Rätselstrophen Friedrichs von Sonnenburg zu stehen (,Ein frouwe ist starc, schœne und 52
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Din angesichte, din schöne lobelichen stat, / die schrift saget dinen rücke unfrut / von natern und würmen ungedigen. (IV.17,5-8; ,Dein Antlitz und deine Schönheit sind löblich anzusehen, / die Schrift [freilich] besagt, dass dein Rücken fruchtlos, / von Nattern und Würmern abgefressen sei.‘) Hierzu Steinmetz 1994 und Köbele 2003, bes. 133f. Unten Kap. I.4, 117ff. Hg. Hofmeister, Nr. 29; hierzu Bennewitz-Behr 1986/1987.
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kranc unt ist dâ bî gar alt‘; um 1250-1270).56 Der Bauch der Welt ist hier aus Stahl, ihr Rücken aus Blei und ihre Füße aus Federn. Das komposite Körperbild weist voraus auf die hybriden Weltfiguren des 15. bis 17. Jahrhunderts (der bekannteste Ableger dieser Tradition findet sich auf dem Titelkupfer von Grimmelshausens ,Simplicissimus‘).57 Was die Allegorese betrifft, so ergibt sich ihre Evidenz aus der Betrachtung des Rückens der Welt von selbst. Indem die Allegorie von sich aus Sinnerschließung leistet, gerät sie eher zur didaktischen Lehrmeisterin als zu jener Verführerin, als die sie zunächst erscheint. Penibel ausgestaltet ist dieser Aspekt in der Elsässer Predigt [8]. Hier setzt die Welt dem jungen Ritter detailliert auseinander, was ihr beschädigter Leib im einzelnen bedeuten soll. Der Prediger will offenbar ganz sicher gehen, dass nur ja nichts an moralischer Lehre vergessen oder missinterpretiert werde. Dies um den Preis einer unfreiwilligen, höchst komischen Szenenregie, die das didaktische Anliegen konterkariert und abermals die Artifizialität der Allegorie freilegt. Die umständlichen Erklärungen der Welt antworten nämlich auf die rührend mitleidige Frage des Jünglings: „Owe liebe frowe, wie sint ir hindenan so gar missestalt!“ Hier ist einer von ausnehmender Begriffsstutzigkeit. Was allegorisch genommen sein will, scheint er zunächst als Symptom einer schlimmen Krankheit fehlzulesen, an der die bedauernswerte Dame leide. Frau Welt hat ihm erst mühsam klarzumachen, dass er sich an ihrem Rücken nicht über i h r , sondern über s e i n trauriges Los zu entsetzen hat. Was schließlich die Sujetfügung betrifft, so ist zumal die Rede vom Weltlohn von jener Heterogenität gekennzeichnet, die in Michel Beheims Lied ihren Höhepunkt erreicht und Verfügbarkeit der Darstellungsformen und Sinnperspektiven dokumentiert. Bleibt an dieser Stelle noch kurz auf die bildnerische Rezeption hinzuweisen:58 Das mutmaßlich erste und einzige, wenigstens einzig erhaltene Zeugnis in der Sakralplastik, die Frau-Welt-Gestalt am Wormser Dom (um 1300, Abb. 19) lässt sich gut als bildliche Umsetzung von Konrads Versnovelle lesen. Dafür spricht zumal die Beifigur des knienden Ritters. Sie durchbricht offenbar ganz bewusst die ikonographische Konvention, die sie mit dem analogen Darstellungstypus vom „Fürsten der Welt“ teilt (herrschaftliche und höfische Staffage, Attribute der vanitas und der luxuria am krötenbesetzten und schlangenzerfressenen Rücken) und schränkt dabei zugleich den ikonologischen Gehalt ein: Der Betrachter ist nicht in derselben Weise direkter Widerpart der Allegorie, das implizierte exemplum wirkt von ihm vielmehr distanziert und ist ständisch spezifiziert. 56 57 58
Zitiert nach: Die deutsche Literatur I/1, 493f. Hierzu Kiening 1994; ein Beispiel gibt Abb. 25. Zur Welt-Allegorie in der bildnerischen Kunst ausführlich unten Kap. II.1.
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I. Frau Welt
PERSPEKTIVEN. – Auf der Basis der motivgeschichtlichen Fakten und des systematisierenden Befundes lässt sich somit Folgendes resümieren: Konrads von Würzburg Versnovelle steht am Beginn eines Ensembles von Texten, die ab dem ausgehenden 13. bis ins 15. Jahrhundert das Potential eines allegorischen Sujets ausloten. Es spricht viel dafür, dass wir in ihrer Sujetfügung Zentrum und Ausgangspunkt dieses Prozesses sehen dürfen. Der kurze Text erweist sich nicht bloß motivgeschichtlich als folgenreich: Er entwirft im stringenten allegorischen Sujet eine Poetizität und Polysemie, hinter die auch unter den spezifischen kommunikativen Bedingungen der Exempel- und Predigtliteratur59 nur bedingt zurückgegangen werden kann. ‚Der Welt Lohn‘ lehrt uns ferner dreierlei: Zum einen, dass das geistlich-allegorische Sujet schon im Moment seiner ersten poetischen Ausgestaltung eminent stilisiert und „ver-dichtet“ erscheint. Im Konnex von curialitas und contemptus mundi ist zweitens eine tiefgreifende Ambivalenz zu fassen, die sich mit dem Thema der vanitas und des contemptus mundi verbindet, sobald es im Kontext höfisch-weltlicher Dichtungstradition verhandelt wird. Die konträren Sinnperspektiven, die eine analoge Sujetfügung (Weltliebe/weltliche Liebe, Kreuzfahrt) in ,Der Welt Lohn‘ und dem ,Herzmäre‘, aber auch innerhalb der beiden Texte selbst hervorbringt, korrespondieren drittens jener alternativen „Ikonologie“, die aus einer weitgehend identischen „Ikonographie“ der lyrischen Topoi in den besprochenen Liedern Michel Beheims und Jörg Schillers entwickelt wird. Die zunächst erstaunliche hermeneutische Differenz motivisch weitgehend gleich gestrickter Lieder wie Beheims Weltlied und seiner Pastourelle erweist sich vor diesem Hintergrund als durchaus traditionell. Für die Frage nach einer soziokulturellen Semantik bedeutet dies, dass es gerade bei einem Sujet, aus dem authentische Befindlichkeiten des Zeitalters so leicht erschließbar scheinen,60 einer behutsamen und philologischen Lektüre bedarf. Sie wird in den Topiken und Texten nicht einfach Ausflüsse einer kulturhistorisch festen Mentalität erkennen, sondern poetisch formulierte Denkformen rekonstruieren, deren Disponibilität sich schon im inszenatorischen Charakter der Darstellungsformen erweist. Dies mag uns für das Folgende vor beliebten Pauschalformeln wie der vom spätmittelalterlichen Pessimismus warnen. Schon für das ausgehende 13. Jahrhundert sind wir schließlich auf das Phänomen der Verfügbarkeit 59
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Hierzu von Moos 1988, 113ff. Am Beispiel der Exempla von Johannes von Salisbury beschreibt auch von Moos Phänomene der Pluralisierung von Sinn (bes. 342ff. und zusammenfassend 435ff.). Zum kommunikativen Kontext der Predigtliteratur vgl. die Beiträge bei Mertens (Hg.) 2000. Rölleke (Hg.), 153, spricht von einem Thema, „das – wie die Resonanz beweist – seiner [Konrads] Zeit auf den Nägeln brannte“.
2. Verdichtete Allegorie: Konrads von Würzburg ,Der Welt Lohn‘
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verwiesen, das die ikonische und diskursive Topik weltlicher vanitas kennzeichnet. Der vermeintliche theologische „Terror“ des contemptus mundi zeigt sich in Konrads von Würzburg Versnovelle von Wirnt und Welt im „Spiel“ der poetischen Schrift gebändigt.61 Dass die mit intertextuellem Kalkül hergestellte Polysemie den scheinbar klaren und festen Sinngehalt unterläuft, dokumentieren zumal die Motive des „Litteralen“ und „Literarischen“, mit denen der Text operiert: der Akt des Lesens, der die allegorisch-visionäre Begegnung erst ermöglicht, sie zugleich aber als halluzinatorisch ironisiert, sowie die Gestalt des Autors als Protagonisten, der sich vom Minneritter zum Kreuzritter wandelt. In der Erzählung selbst besteht Wirnts weltlich-ritterliches Handeln bloß im Lesen eines Romans von Liebe und Abenteuer. Wer weiß, ob er wirklich ins Heilige Land auszog, wie der nicht besonders zuverlässige Erzähler behauptet; vielleicht wechselte er – gleichsam nach dem Beispiel des Heiligen Hieronymus – bloß das Buch und las in einer chanson de geste weiter. Dieser Wechsel der lectio von einer Minneszene in die allegorische Legende einer Kreuznahme ist es wenigstens, worin der Akt der Umkehr besteht, die der Erzähler für sich vollzogen zu haben behauptet, und den wir, im Vergleich zu Wirnt Leser zweiten Grades, mit ihm vollziehen.
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Die fruchtbare Formel von „Terror und Spiel“ wurde bekanntlich von Hans Blumenberg (1990, 2001[a]) in Hinblick auf die Wirkungspotentiale des Mythos geprägt.
3. Weltliebe und weltliche Liebe – Zur negativen Signifikation des Erotischen EROS-THANATOS. – Die Gefahren von Weltliebe und Weltverfallenheit werden bei Konrad von Würzburg im poetischen Modell der Hohen Minne allegorisch repräsentiert. Die Plausibilität dieser Darstellungsform gründet sich im Wesentlichen auf zwei Äquivalente: auf die so unverbrüchliche wie törichte Hingabe des Liebenden an die Minneherrin und auf die Zeichnung des Liebesverhältnisses als eine Form des Dienstes des Liebenden. Hingegen wird bei Michel Beheim und im Epitext des Königsteiner Liedes 128 der gefährliche Verkehr mit Frau Welt als sinnlicherotisches Verhältnis, als kaum verhüllter sexueller Akt imaginiert. Dies hat zwei Konsequenzen: Zum einen erweist sich Weltverfallenheit auf diese Weise als prekärer noch, zumal dann, wenn die figura vanitatis tatsächlich als dämonisches Wesen gedacht wird (was bei Michel Beheim in der Krone der Todsünden angedeutet ist, die die Welt trägt). Denn das männliche Ich würde sein Seelenheil nicht mehr bloß wie im Falle Wirnts aufs Spiel setzen, sondern hätte es eigentlich schon verspielt, wenn es im „Erbuhlen“ einer solchen Allegorie zu einem intimen Ende kommt. Zum anderen scheint in der Vorstellung einer geschlechtlichen Verbindung neben der dominanten allegorischen Bedeutung auch eine Sinndimension gewahrt, die wir litteral nennen könnten: nämlich eine moraltheologisch motivierte Verdammung sinnlicher Liebe. Der Sexualakt stellt nicht nur ein allegorisches Zeichen dar, sondern eine konkrete, man könnte auch sagen: metonymische Manifestation der Verfallenheit des poetischen Subjekts an eine defiziente und sündhafte Immanenz. Die schöne pastorella symbolisiert nicht bloß, sondern sie i s t diese Immanenz.1 Der Epitext zu Lied 128 des Königsteiner Liederbuchs belegt, dass litterale und allegorische Semantik in dieser Darstellungsform der Weltliebe oszillieren. Den dramatischen Gestus der Gleichsetzung von Weltliebe und weltlicher Liebe aber dokumentiert der Schrei des Entsetzens, mit dem das poetische Subjekt bei Michel Beheim seine Weltverlorenheit einbekennt. Die Paradoxie dieses Bekenntnisses besteht dabei darin, dass die Figur des Weltjüngers, das berichtende Ich, und die autoritative Stim1
Zu dieser signifikanten Vermischung von allegorischer und metonymischer Referenz zusammenfassend unten Kap. II.5, 299ff.
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me des Didaktikers, das Ich der moralisatio, zusammenfallen. Dieses „heterogene“ Ich ließe sich im Lichte der Sangspruchtradition und aufgrund der „Zeichnung“ des Œuvres durch den Autornamen („Onymität“ im Sinne von Gérard Genette2) auch als dessen innertextliche persona (fehl)lesen. Dass dasselbe Ich für die Authentizität des Erlebnisses und für die Autorität der verkündeten Lehre bürgen will, erzeugt jedenfalls eine Spannung, die den Kunstcharakter des Sujets und den gekünstelten Charakter seiner didaktischen Evidenz erweist (einer didaktischen Evidenz, die in Beheims sujetanaloger Pastourelle gerade nicht aufgerufen wird). Die Verschränkung von Schönheit und Sinnlichkeit mit Sünde und Tod, die in Frau Welt zum allegorischen Körperbild gerinnt, ließe sich leicht in der gängigen Eros-Thanatos-Formel fassen. Begreift man darin allerdings eine anthropologisch-kulturelle Universalie,3 ist der Erkenntniswert bescheiden. Ergiebiger ist eine kulturwissenschaftliche und literarästhetische Perspektivierung. Sie muss bei einer ganz prinzipiellen Auffälligkeit ansetzen: In Sujet und Allegorie der Frau Welt werden weltliche Liebe und Weltliebe identifiziert. Diese heikle Identifizierung ist nun schon biblisch verbürgt, wie die aufschlussreichen Worte über die „Freunde des Säkulums“ im Jakobusbrief zeigen: Adulteri, nescitis quia amicitia huius mundi inimica est Dei? Quicumque ergo voluerit amicus esse saeculi huius, inimicus Dei constituitur. (Iac 4,4)4
Klage und Warnung des Jakobusbriefes sind zwar durchaus allgemein auf die vermeintlichen Freuden der Welt bezogen, formulieren sich jedoch in einer Terminologie, die klar auf das erotische Begehren hinzielt. Dies belegen die Apostrophe der amici saeculi als adulteri und der Begriff der concupiscentia (4,2/3), der in den Versen zuvor mehrfach wiederholt wird.5 Der 2 3
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Genette 2001, 43ff. So noch Beutin 1988/89, 217f.: „Die Erscheinung [Frau Welt] gehört zu den in der Kunst seit Jahrhunderten immer erneut gestalteten künstlerischen Universalien, zu den [...] ,endopsychischen Mythen‘, deren Existenz seit der Antike bis ins 20. Jahrhundert belegbar ist und die immer neue Metamorphosen erfahren haben.“ Gerade der Begriff der Metamorphose denkt das künstlerisch wie epochal Differente im Schema von Festigkeit, geheimer Konstanz und linearer Entwicklung. In der Einheitsübersetzung: ‚Ihr Ehebrecher, wisst ihr nicht, dass Freundschaft mit der Welt Feindschaft mit Gott ist? Wer also ein Freund der Welt sein will, der wird zum Feind Gottes.‘ Ähnlich heißt es im ‚Römerbrief‘: nam prudentia carnis mors, prudentia autem Spiritus vita et pax. Quoniam sapientia carnis inimicitia est in Deum, legi enim Dei non subicitur nec enim potest. Qui autem in carne sunt, Deo placere non possunt; (Rm 8,6-8) ,Das Trachten des Fleisches führt zum Tod, das Trachten des Geistes aber zu Leben und Frieden. Denn das Trachten des Fleisches ist Feindschaft gegen Gott; es unterwirft sich nicht dem Gesetz Gottes und kann es auch nicht. Wer vom Fleisch bestimmt ist, kann Gott nicht gefallen.‘ Der griechische Text gibt sich mit den Begriffen des !"#$%&'() und der *+,)-. zunächst neutraler, wird mit &,#/0.+'1 aber eindeutig genug. Im Kommentar zur Einheitsübersetzung wird für die metaphorische Bedeutung von Ehebruch und Ehebrecher auf das alttestamen-
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christliche contemptus mundi verbalisiert sich somit a priori als anti-erotische Polemik. Und in diesem Abwehrreflex ist schlaglichtartig eine zentrale Differenz zum Weltpessimismus der griechisch-römischen Antike zu fassen.6 Die Verschränkung von vanitas und luxuria kommt in den Vanitasklagen des 11.-13. Jahrhunderts vor allem in Metaphern wie falsa dulcedo, iuventus und flos zum Ausdruck.7 Sinnfällig wird sie auch in der bildnerischen Tradition der Welt-Allegorie, wie die Figuren-Ensembles zeigen, in die der sogenannte „Fürst der Welt“ des Straßburger und des Freiburger Münsters integriert ist.8 Die biblische Verknüpfung von Weltliebe und Fleischeslust lässt sich somit als das diskursgeschichtliche Fundament begreifen, auf das im vanitas-Sujet der Begegnung von Ritter und Welt referiert wird. Für die pastourellenhaften Register ist die Darstellung sinnlicher Liebe nun gattungskonstitutiv, und es wäre ein Leichtes, in ihrer negativen Allegorese durch Beheims Weltlied und den Königsteiner Epitext einen Beleg für spätmittelalterliche Leibfeindlichkeit und rigide christliche Sexualmoral zu erkennen. Ebenso einfach wäre es, in der Dämonisierung des weiblichen Körpers ein patriarchales Stereotyp zu fassen, das dem weiblichen Part im Spiel nicht nur die Repräsentation des Negativen zumutet, sondern ihm auch die Schuld zuweist, da es ja die Frau ist, die verführt – eine Verschränkung, die im mittelalterlichen Eva-Diskurs autoritativ abgesichert ist.9 Diese Beobachtungen liefen allerdings nicht bloß auf eine triviale Erkenntnis hinaus, wenn man es bei ihnen bewenden ließe, sondern würden die mehrfache Lesbarkeit ein- und desselben textuellen Musters ignorieren. Die negativen Semantisierungen von Sinnlichkeit und Sexualität in Michel Beheims ‚Weltlied‘ und im Epitext zum Königsteiner Lied 128 repräsentieren nur e i n e n möglichen Modus, wie die ihrer Topik nach analogen, in ihrer Sinngebung aber konträren Lieder zeigen. Für sich genommen bleiben Beheims eigentliche Pastourelle und das Königsteiner Lied bei einer theologisch und moralisch unauffälligen Thematisierung des Erotischen, wie sie für ihre lyrische Gattung eben konstitutiv ist. Von Schillers ,Maienweise‘ her wäre eine unmittelbare kulturpsychologische Ausdeutung im Sinne der Eros-Thanatos-Formel am schärfsten zu beeinspruchen, da hier in der descriptio von Frau Ehre die erotische Topik
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tarische Buch ,Hosea‘ (2-3) verwiesen. Der Begriff lässt sich aber weder hier noch dort auf eine rein metaphorische Bedeutung reduzieren. Stammler 1959, 7ff. behauptet voreilig eine Analogie zwischen antiker und christlicher Tradition. Vgl. unten Kap. II.2. Hierzu ausführlich unten Kap. II.1. Vgl. zu dieser Verschränkung auch die metaphorologischen Typologien zu immundus/mundus und luxuria bei Schumacher 1996, 80ff. und 136ff. Hierzu u.a. Spreitzer 1998.
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I. Frau Welt
der Pastourelle aufgerufen wird, um die didaktische Programmatik im positiven Sinn zu affirmieren. Dies schließt aus, dass sich mit dieser Topik prinzipiell eine negative oder wenigstens prekäre Semantik des Sinnlich-Erotischen verbinden würde. Auch die Tugend kann verführerisch sein. Erotische Attraktivität als signum des Lasterhaften, das käme einer bürgerlichen Kultur gelegen und gerne würde sie ihr eigenes Stereotyp schon im Mittelalter konstituiert sehen. Literatur und Kunst haben den christlich-theologischen Generalverdacht gegen Schönheit und Sinnlichkeit (wenn er denn je in der Form existierte) freilich immer schon hintergangen. Das Gute nicht bloß als schön, sondern auch als begehrenswert darzustellen, ist eine a priori gegebene Möglichkeit, die ebenso in kanonischen Texten und in deren Allegorese, etwa im ,Hohelied‘ oder in der Verkündigungsszene verankert ist. Die erotische Signifikation des Tugendhaften ist zumal Praxis der Mariendarstellung in Dichtung und Bildender Kunst. Nicht bloß Marias mehr oder weniger zweifelhafte Töchter wie Beatrice und Laura, sondern sie selbst ist immer auch die Vergine bella, als die sie in Petrarcas großer Kanzone angerufen wird.10 Nicht aus mittelalterlicher, sondern aus moderner Sicht verbirgt sich hier ein Skandalon. Noch Umberto Eco weiß es für die Beschreibung der Marienstatue, die sich in der Abteikirche seines Rosenromans findet, zu nutzen: Sie ist „im modernen [also gotischen] Stil“ gearbeitet und schön seien ihre Brüste, die ein wenig hervortreten.11 „Durch die fromm gesenkten Augenwimpern mancher Madonna aus jener Zeit“ (nämlich der Renaissance) blinzle „ein so schalkhafter Liebeswink [...], als ob sie uns gern noch ein zweites Christkindlein schenken möchte“12 – dieses Diktum Heines wäre zu „jener Zeit“ kaum jemandem in den Sinn gekommen, zumindest nicht in dieser Form.13 Die Verschränkung des Sinnlich-Schönen und des Sündhaften ist somit ein dominantes, aber kein zwangsweise gegebenes Verfahren. Die divergenten semantischen Tendenzen der besprochenen Lieder sind keine genuinen Phänomene der spätmittelalterlichen deutschen Lieddichtung, sondern haben ihre Geschichte. Im Gattungssystem der hochmittelalterlichen höfischen Lyrik lässt sich die Pastourelle als komplementäres Register zum grand chant courtois verstehen. Beide lyrische Gattungen 10 11 12 13
RVF 366, vgl. unten Kap. II.4, 287ff. Umberto Eco: Der Name der Rose. Roman. Deutsch von Burkhart Kroeber, München 1986, hier: Erster Tag, Sexta, 66 und Dritter Tag, Nach Komplet, 295. Heinrich Heine: Die Stadt Lukka, Cap. VII, zitiert nach: H. H.: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Hg. von Manfred Windfuhr. Band 7/1: Reisebilder III/IV. Text. Bearbeitet von Alfred Opitz. Hamburg 1986, 177,37-40. Außer Savonarola, der gegen die angebliche Praxis der Geistlichen wettert, sie ließen ihre Dirnen als Madonnen bzw. die Madonna wie eine Dirne malen; vgl. das Zitat bei Winkle 1997, 540.
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konfligieren in Stil und Konzept der Liebe.14 Wenn nun die pastourellenhafte Lyrik ihr Modell einer sinnlichen Liebe und ihre direkte erotische Sprache gegen die Sublimierungen der fin’amor setzt, so erscheint es auffällig, dass sie die moralische Desavouierung als Preis für ihre „Freizügigkeit“ gewissermaßen mit sich führt – als eine Deutungsperspektive, die in ihr angelegt ist und die als Einbekenntnis der Sündhaftigkeit durch das poetische Subjekt aufgerufen werden kann; nämlich dann, wenn sich dem lyrischen Sujet die theologische Denkform einer metonymischen Identität von Sinnlichkeit und Sündhaftigkeit (Eros und luxuria), Sinnlichkeit und Hinfälligkeit (Eros und vanitas) assoziiert. Die weltliche Poesie entrichtet hier ihren Tribut an einen dominanten geistlichen Diskurs; sie entrichtet ihn für die Normüberschreitung, die sie praktiziert. Wenigstens können wir dies vorläufig so denken, und es mag die pointierte Klage über die Werltsüeze in den Liedern Neidharts ebenso erklären wie den Schreckensschrei in Michel Beheims Weltpastourelle oder die Adaptierung der Schillerschen ,Maienweise‘ zum allegorisch-moralisierenden Schlusslied des Neithart-Fuchs-Zyklus. Und vielleicht sind es die erotischen Leichs des Tannhäuser, die der Dichtersage vom Venusjünger den Ansatzpunkt bieten. Wenngleich auf anderem Niveau, läge dann analog zum Königsberger Epitext ein Fall rezeptiver Umdeutung vor, die jene negative Semantik aus der Latenz holt, die der sinnlichen Erotik pastourellenhafter Lyrik eingeschrieben zu sein scheint. Ein besonders bezeichnendes und möglicherweise auch traditionsmächtiges Beispiel bietet in diesem Zusammenhang freilich schon Walther von der Vogelweide. ICH WAS VIL NÂCH ZE NIDERE TÔT: WALTHERS LIED VON DER MÂZE I. – Die unter dem Titel ‚Aller werdekeit ein füegerinne‘ (Cor 23a; L. 46,32) vereinten beiden Strophen zählen zu den prominentesten und am häufigsten diskutierten Texten im Œuvre Walthers von der Vogelweide.15 Die erste Strophe eröffnet mit einer superlativischen Lobesformel an frowe Mâze, die eben a l l e r werdekeit ein füegerinne sei. Wer ihr gehorche, brauche sich nirgends zu schämen, weder am Hof noch auf der Straße – auch diese Raumformel zielt auf Totalität. Das poetische Subjekt wendet sich nun an diese von ihm selbst absolut gesetzte Instanz als ratsuchender Liebender. Sie möge ihn lehren, wie man ebene werben könne. Dass hier nicht ein Unschuldiger eine naive Frage stellt, ergibt sich aus dem Folgenden. Alles bisherige Werben habe nichts gefruchtet, weder „niederes“ noch „hohes“:
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Zu Gattungssystem und Forschungsdiskussion zusammenfassend Rieger 1983, Wolfzettel 1983 und Tervooren 1993. Einen konzisen Überblick gibt der Kommentar in der Ausgabe Schweikles, Bd. 2, 724ff.
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I. Frau Welt
wirb ich nider, wirb ich hôhe, ich bin versêret. ich was vil nâch ze nidere tôt, nû bin ich aber ze hôhe siech: unmâze enlât mich âne nôt. (I,8ff.)
Wörtlich übersetzt bedeutet dies: ‚Gleich ob ich nach Niederem oder nach Hohem werbe, ich bin in jedem Fall verwundet. Ich war beinahe nach niederer Minne tot, nun bin ich aber krank nach hohem Werben. Maßlosigkeit lässt mich nicht ohne Leid sein.‘ Nicht ohne Folgen für die Forschungsgeschichte blieben vor allem zwei ambivalente Begriffe in Vers 10: aber kann adversativ sein oder ‚wiederum, neuerlich‘ bedeuten; ze nidere tôt / ze hôhe siech lässt sich verstehen als ‚tot wegen niederem Werben‘ / ,krank von hohem Werben‘ oder als ,tot nach niederem Werben‘ / ,krank nach hohem Werben‘. Ich ziehe letzteres vor, da es das erste nicht ausschließt. Insgesamt hat die Strophe von der emphatischen Apostrophe an die Mâze hin zur Aussage über die subjektive „Befindlichkeit“ deutlich an Dramatik gewonnen: Das sprechende Subjekt befindet sich außerhalb der weltumspannenden Gültigkeit, die dem Prinzip der Maßhaltung zukommt. Als Jünger der unmâze ist es sozusagen nicht in die werdekeit ihrer Ordnung gefügt. Die Intensität dieser Diagnose über den Seins-Status des sprechenden Subjekts, der dem dritten Vers zufolge einer der Unseligkeit ist, dokumentieren der Begriff des im niederen Werben beinahe erlittenen Todes, der allerdings im Präteritum als überwunden dargestellt wird, und der momentane Zustand des Krankseins, den das hohe Werben bedinge. Damit schwächen sich Pathos und Dramatik der Rede nur scheinbar ab, da es ja nicht ausgeschlossen ist, dass es sich um ein Kranksein zum Tode hin handeln könnte. Für diese überraschende Hyperbolik bietet die zweite Strophe die nötige Erklärung: Niedere Minne sei jene, die so schwach oder minderwertig mache, dass sich das Begehren (oder der Leib, die Person) nach kranker Liebe abmühe. Diese Minne bringe Leid und Schmerz (wê), ohne dass sie dabei lobenswert wäre. Demgegenüber reize Hohe Minne das Begehren, sich zu hoher Würde aufzuschwingen.16 Die folgenden Verse schwenken von dieser sentenziösen Definition wiederum – ganz symmetrisch zur ersten Strophe – auf die Perspektive des sprechenden Subjekts zurück: diu
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Nidere Minne heizet, diu sô swachet,/ daz der muot nâch kranker liebe ringet./ diu minne tuot unlobelîche wê./ hôhe minne reizet unde machet/ daz der muot nâch hôher wirde ûf swinget. In Vers II.2 überliefern die Handschriften BCEF lîp statt muot in A. Die Variante von A ergibt einen schönen Parallelismus zu den Versen 4f., die vom muot zur hohen Minne sprechen; die zweite Variante scheint den Aspekt des Körperlichen deutlicher zu betonen, was sich gut zum Begriff der „niederen Minne“ fügt.
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winket mir nû, daz ich mit ir gê (II.6).17 Die Hohe Minne geriert sich also als Seelenführerin, die den muot dazu antreibt, sich zu erheben – ein Bild, das sich wie ein „gesunkener“ Platonismus liest.18 Da das Ziel – hôhiu wirde – nun in die Zuständigkeit jener Instanz fällt, die eingangs als aller werdekeit ein füegerinne beschworen wurde, wundert sich der Sprechende zu Recht, worauf die Mâze denn noch warten wolle, warum sie Minne und Ich nicht auf ihrer Wanderschaft zur hôhen wirde begleite. Die Referenzen zwischen den Versen und die stringente Argumentation weisen auf die durchdachte Komposition des Textes.19 Es ergibt sich ein klares logisches Problem: Wenn die Hohe Minne zu hoher Würde reizt und die Maßhaltung eine Baumeisterin („Fügerin“) aller Würde sein soll, müssten sie hier gemeinsam gehen. Der Text formuliert eine kleine allegorische Szene, in der die Aporie des liebenden Subjekts anschaulich dargestellt wird.20 Die abschließenden Verse führen zu jenem Gedanken zurück, den wir mittlerweile fast aus den Augen verloren hätten, nämlich zu dem einer „schädigenden Wirkung“ auch der Hohen Minne: Tritt zu Maßhalten und Minne noch die „Herzeliebe“ als offenbar dritte Passantin hinzu, so sieht sich das Ich verleitet, es sieht sich ‚in die Irre geführt, auf den falschen Weg gebracht‘. Die Weg- und Wandermetaphorik wird homogen weiterentwickelt. Was folgt, liest sich wie eine Allegorese, die das allegorische Tableau einer Wanderschaft mit Personifikationen in ein „konkretes“ lyrisches Liebesverhältnis übersetzt: mîn ougen hânt ein wîp ersehen, swie minneclich ir rede sî, mir mac doch schade von ir geschehen. (II,9ff.)
Seine Augen haben eine Frau gesehen, von der ihm – so lieblich sie auch sprechen mag – doch Schaden widerfahren könnte. Im Sinne der Korrespondenzen zwischen beiden Strophen müsste dieses wîp – und das würde der Ideologie der fin’amor entsprechen – jene hôhiu wirde verkörpern, von der zuvor als Ziel Hoher Minne die Rede ist. Dieses Ziel kann in seiner 17 18
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Das Pronomen diu könnte sich auch auf die hohiu wirde beziehen. Aufgrund der Parallelität zu Vers 3 (diu minne, nämlich die „niedere“) wird aber wohl auch hier diu , nämlich die „hohe“ gemeint sein. Die Metaphorik des Auffliegens zählt zu den gängigen Bildtopoi der höfischen Lyrik. Man denke etwa an Bernart de Ventadorns ,Lerchenkanzone‘ oder an Heinrichs von Morungen ,Venuslied‘ (MFMT XXII), das in den Strophen 2 und 4 vom Aufstieg des Ich bzw. des muot spricht (bes. 4,8: daz mîn muot stêt hôhe sam diu sunne). Es ist durchaus möglich, dass Walthers Verse konkret auf Morungen referieren; vom Aufstieg, hier: der Sinne, ist auch in seiner Morungenparodie ,Ich bin nû so rehte vrô‘ die Rede (Cor 91, L. 118,24; zum parodistischen Bezug dieses Liedes Ashcroft 1975 und M. Kern 1998, 96ff.). Platonistische Sedimente versucht Hrub! 1968 in den Liedern Morungens festzumachen, die Ergebnisse bleiben freilich zweifelhaft. Hierzu ausführlich P. Kern 1995, 262ff. Mâze in II.7 ist ebenso personifiziert wie in I.2, wäre also groß zu schreiben.
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Richtigkeit nicht in Frage stehen. Die herzeliebe kann also den Liebenden nicht auf das falsche Ziel bringen, ihm wohl aber den falschen Weg zum richtigen Ziel weisen. Und da dieser Weg nun der ist, dem die Versfüße des Hohen Sangs folgen, wäre der falsche etwa ein verstiegenes Lob – im Sinne des Dilemmas, das im Lied ,Si wunderwol gemachet wîp‘ (Cor 30, L. 53,25) formuliert wird: „Wenn ich sie mir durch schöne Lobesworte zu erhaben mache, so wird das Lob meines Mundes das Leid meines Herzens.“ (III.9f.) Vielleicht ist es die Pointe der beiden Strophen, das Dilemma der Mâze zuzuschieben, als einer Instanz, die dem Liebenden a priori äußerlich wäre, die nicht e r zu beachten, sondern die vielmehr auf i h n zu achten hätte, die ihn auf dem Weg zur hohen Würde gefälligst leiten und begleiten müsste. Die Maßlosigkeit des Liebenden wäre damit nicht bloß etwas, das sich – so die heute gängige Deutung der Strophen21 – mit dem Prinzip des Maßhaltens nicht vereinbaren lasse, sondern läge in der Verantwortung der Mâze und derer, die sie repräsentieren (der höfischen Gemeinschaft oder der Geliebten selbst, die diese mâze vom Liebenden einfordert, anstatt mit ihm einfach mitzugehen). Das Risiko trägt freilich der Liebende, einerseits zu Unrecht, zu seiner höheren Würde andererseits. Auf die Konstrukte, die die Forschung zu diesem komplexen Dilemma über Minne und Maßhaltung errichtete, sei hier nur kurz hingewiesen: Man sah in den beiden Strophen zunächst im Sinne einer biographischen Deutung, dann aufgrund der These einer planvollen zyklischen Anlage des Œuvres die programmatische Wende von einer Phase des Hohen Sangs und jener der „Mädchenlieder“ („Niedere Minne“) hin zum „ebenen Werben“ der Lieder einer „Neuen Hohen Minne“ formuliert. Insbesondere der Dreischritt „hoch-nieder-eben“ gilt seit längerem als erledigt, da ebene werben im Text als eine rein hypothetische und am Ende verworfene Kategorie vorgestellt ist. Nun repräsentiert das Liedcorpus Walthers von der Vogelweide zwar keinen stringent entwickelten Zyklus, aber auch nicht bloß eine Sammlung verstreuter Lieder. Vielmehr lässt sich von einem dynamischen Œuvre sprechen, das je neu konfiguriert werden kann und von jedem Überlieferungsträger auch je neu konfiguriert wird. Den Ansatzpunkt hierfür bieten die klaren Referenzen zwischen den Texten und vor allem dieselbe persona, die in ihnen – wenn auch in unterschiedlichen Posen – spricht. Im Werk ist somit auch der lyrische Weg dieser persona gegenwärtig. Unter diesen Prämissen stellt sich wie von selbst die Frage, worauf sich der Vers ich was 21
P. Kern 1995, 268 spricht etwa davon, dass in der Liebesdichtung generell ein „common sense“ darüber bestehe, dass Liebe maßlos sei; vgl. auch den Kommentar in Schweikles Ausgabe, Bd. 2, 726 mit einer Zusammenfassung der Forschungsdiskussion.
3. Weltliebe und weltliche Liebe
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vil nâch ze nidere tôt (I.9) bezieht, da er auf bisher Gesungenes zu verweisen scheint. Dabei wäre natürlich an Walthers sinnlich-erotische Lieder zu denken, jedenfalls aber an ein Sanges-Modell und ein lyrisches Liebeskonzept, wie es in der Pastourelle oder in der sinnlich-erotischen lateinischen Lyrik vorliegt.22 Auch wenn wir nicht eindeutig sagen können, worauf sich das kräftige Wort vom beinahe erlittenen Tod bezieht, es hat den Charakter einer revocatio, und diese revocatio wird lesbar, wenn man die beiden Begriffe – Niedere und Hohe Minne – auf das kompetitive Verhältnis zwischen einem sinnlichen und einem sublimierten lyrischen Liebeskonzept bezieht. Walthers Mâze-Strophen äußern sich somit poetologisch zur Konkurrenz zweier divergierender lyrischer Ästhetiken, die vom sprechenden Ich nicht bloß vertreten, sondern auch als „gelebt“ oder „durchlebt“ ausgegeben werden. Das poetische Subjekt behauptet eine existentielle Betroffenheit und ein existenzielles Involviertsein. Der Gestus des Erschauderns vor sich selbst nimmt in seiner Dramatik („ich fand beinahe den Tod“) den Schrei des Entsetzens vorweg, der dem Ich in Beheims Weltlied beim Anblick der wahren Natur seiner Geliebten entfährt. Zunächst – so können wir festhalten – fassen wir also schon in Walthers „Tod aus niederer Minne“ jene fundamentale „Unheimlichkeit“, die Michel Beheims erotische Einlassung mit Frau Welt inszenieren wird. In der poetischen Absage an die „Niedere Minne“ könnte jene negative Signifikation des Sinnlichen vorweggenommen sein, die Michel Beheims Weltlied am pastourellenhaften Register explizit vornimmt. Und wenn man davon ausgeht, dass Ästhetik im Sinne Freuds „nicht auf die Lehre vom Schönen“ eingeengt, „sondern als Lehre von den Qualitäten unseres Fühlens“ zu begreifen sei,23 so legt diese Negativität des Erotischen eine kulturpsychologische Deutung nahe. UNHEIMLICHKEIT. – Für die Rekonstruktion einer solchen kulturpsychologischen Signifikanz bietet sich Freuds „Theorie“ des Unheimlichen als heuristischer Ausgangspunkt an. Freud erkennt kurz gesagt im „Unheimlichen“ das ursprünglich „Heimliche“. Es manifestiere sich in ihm das Ziel des verdrängten unbewussten Wunsches. Diese Wunscherfüllung sei dem zum Bewusstsein gelangten Ich aufgrund der in ihm wirkenden ZensurInstanzen jedoch das Unheimliche geworden: „Das Unheimliche ist also […] das ehemals Heimische, Altvertraute. Die Vorsilbe ‚un‘ an diesem Worte ist aber die Marke der Verdrängung.“24 Kunst und Literatur wüss22 23 24
Zu Konstituierung und Effekten des persona-Konzepts bei Walther ausführlich M. Kern 2005[a]. Freud: Das Unheimliche, in: Werke XII (1917-1920), 227-168, hier 229. Ebd., 259; vgl. auch 231 und 243.
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ten es als eminent wirkungsästhetische Kategorie zu nutzen, sie würden sein aus dem Verdrängungsprozess resultierendes psychologisches Potenzial begreifen, was wiederum die psychoanalytische Relevanz des Ästhetischen – ein typisch Freudscher Gedanke – demonstriere. An Freuds Theorie ist für sich schon die paretymologische Argumentation problematisch, die aus einer spezifischen sprachlichen Gegebenheit des Deutschen eine ästhetische und psychologische Universalie entwickeln will. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht wird man zudem gegen die stadientheoretische Auffassung des Unheimlichen als des Regressiven Einspruch erheben, da sie notwendigerweise auf die Poesie zurückschlagen müsste und Dichtung als Spielfeld der Regression begreifen würde.25 Wollte man also das Unheimliche, das einer sinnlichen Erotik im Begriff der todbringenden „Niederen Minne“ oder im Schauder vor dem zur Frau Welt stilisierten weiblichen Sexualobjekt zukomme, als Reaktion einer vom (christlichen) Gewissen zensurierten (männlichen) Ich-Instanz auf den wiedergekehrten, regressiven Wunsch einer vormoralischen Sexualerfüllung verstehen, so wäre eine solche simple kulturpsychologische Deutung verfehlt.26 Ihre Unzureichendheit verrät sich bereits in der Plakativität der Lösung, die sie vorschlägt. Ihr widerspricht seitens der Evidenz der Texte die Komplexität, vor die uns das Corpus der mittelalterlichen Lyrik selbst stellt. Die Palette an lyrischen Registern innerhalb von Walthers oder Michel Beheims Œuvre zeigt, dass wir es mit divergenten Sinnpotentialen zu tun haben, die weder in einen stringenten zeitlichen Verlauf zu bringen sind, noch psychologische Stadien repräsentieren. Weder ist es Walther nach ‚Aller werdekeit ein füegerinne‘ unmöglich, ‚Nement, frowe, disen cranz‘ (Cor 51, L. 74,20) zu singen, noch löscht Michel Beheims Weltlied seine Pastourelle. Und selbst eine sekundär motivierte Weltabsage, wie sie mit der Einkreuzung von Jörg Schillers ‚Maienweise‘ in den Neithart-Fuchs-Zyklus vorliegt, kann nicht als gültige revocatio alles Vorangehenden betrachtet werden, auch wenn sie sich als eine solche ausgibt. Es würde indes nicht Freud und seinem literarischen Gespür entsprechen, wenn uns der von ihm konstruierte psychologische „Mechanismus“ des Unheimlichen die dramaturgische und wirkungsästhetische Dimension nicht präziser fassen ließe, die den Negativierungen sinnlicher Erotik zukommt. Zunächst beruht die Spannung, die die besprochenen Texte aufbauen, wesentlich auf einem Umschlag des Vertrauten ins Unvertraute, auf einer latenten Identität des „Heimlichen“, mit dem, was sich dann als das „Unheimliche“ entpuppt, vor dem man erschaudert und sich entsetzt. 25 26
Vgl. zu dieser problematischen Denkfigur auch Heinz Schlaffers (1990) Theorie von Literatur und Kunst als Rückzugsbereiche eines regressiven mythischen Denkens. Für frühere Versuche einer freudianischen Deutung höfischer Liebeslyrik vgl. Birkhan 1983 und U. Müller 1986. Eine jüngere lacanistische Lesung findet sich bei !i"ek 1996.
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In Frage steht dabei nichts weniger – und auch auf diesen Punkt verweist Freud – als das poetische Subjekt, das Ich selbst. Folgerichtig werden Dramatik und Emphase der Texte wesentlich über eine ans Äußerste gehende Gefährdung dieses Ich formuliert, wie im Falle Walthers der ostentative Selbst-Ausschluss des Sprechenden aus dem universell gültigen „Satz der Mâze“ zeigt. Das Ich sieht sich außerhalb einer fundamentalen Ordnung stehen und scheint im Bekenntnis, sich mit seinem „niederen Minnen“ beinahe auf den Tod eingelassen zu haben, die eigene Schuld einzugestehen. Dem Versuch des Wiedereintritts geht eine Erkenntnis voraus. Zwar wird deren Inhalt berichtet („niedere Minne“ schwächt so sehr, weil sie einen nicht näher definierten Schmerz bereitet, dabei aber keine Würde einbringt), aber nicht Grund und Zeitpunkt ihres Eintretens. Die dramaturgische Spannung resultiert dabei weniger aus der Artikulation dieser revocatio selbst, sondern aus einem dilemmatischen Effekt, der darin besteht, dass die Konsequenz der revocatio, die Hinwendung zur Hohen Minne, gerade nicht den Erfolg verspricht, den sie an sich versprechen müsste. Die Unheimlichkeit niederer Minne setzt sich fort in einem drohenden analogen Umschlag der „Heimlichkeit“ Hoher Minne. Von einer graduell gesteigerten, zweifachen Unheimlichkeit können wir im Falle Michel Beheims sprechen. Hier wird im Lied selbst jene Erkenntnis vollzogen, die das poetische Subjekt bei Walther bloß erinnert, ohne über die Qualität seiner Erfahrung etwas auszusagen: Die sinnlicherotische Szenerie, die die Strophen bis zum dramaturgischen Umschlag ins Allegorische entwickeln, ist eine der gattungspoetischen Vertrautheit. Mit dem Schreckensschrei, der dem Liebenden beim Anblick des abscheulichen Rückens seiner vermeintlichen Geliebten entfährt, entpuppt sich nicht bloß die latente Identität der vertrauten Figur der Pastorella mit der gräulichen Vanitas, sondern kippt auch die vertraute Gattung der Pastourelle ins Unheimliche. Der wirkungsästhetische Effekt des Liedes ergibt sich wie dargestellt auch auf einer poetologischen Ebene, indem sich selbst der abgebrühteste Rezipient in seiner „Gattungserwartung“ getäuscht und überführt sieht. All dies soll offenbar die Eindringlichkeit des seinerseits längst vertrauten, stereotyp gewordenen Themas der Weltabkehr und Vergänglichkeitsmahnung steigern. Von diesem Punkt her lässt sich indes der zweite Grad einer „gesteigerten Unheimlichkeit“ formulieren: Die Geschichte von Allegorie und Sujet zeigt uns, dass sie schon mit Konrads Versnovelle topisch geworden sind. Beheims Text verfremdet diese topische Konventionalität, indem er den Moment, in dem sich Frau Welt zu erkennen gibt, über jenen Kairos hinausschiebt, in dem für den Weltjünger eine heilsame Umkehr noch möglich wäre. Der späte, eigentlich verspätete Zeitpunkt, an dem die conversio eintritt, nämlich nicht unmittelbar vor, sondern erst nach dem Mo-
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ment des erbuolens, lässt die vertraute allegorische Begegnung wiederum unheimlich werden. Die Schwelle, die bei Walther im Wort vom b e i n a h e erlittenen Tod bezeichnet wird, scheint überschritten. Diese hyperbolische Überdehnung lässt sich nun zunächst als toposgeschichtliche und wirkungsästhetische Notwendigkeit verstehen. Schon in der Dynamik einer innerpoetischen Entwicklung, in einer intertextuell bedingten Zuspitzung der Textregie, die auf eine Überbietung des traditionellen Sujets abzielt, ist somit das Moment der Komplexitätssteigerung angelegt. Nur auf der Basis dieses literarästhetischen Befunds kann die kulturhistorische und kulturtheoretische Signifikanz von Sujet und Allegorie der vanitas präzisiert werden. Halten wir zum einen fest, dass Walthers Abkehr von der Niederen Minne im konkreten Rahmen höfischer Liebesthematik verankert bleibt, Sinnlichkeit hier also nur bedingt metonymisch für Weltverfallenheit an sich steht. Die moralisatio bei Michel Beheim lehrt uns das Gegenteil: Sie transzendiert die engere Thematik von Sinnlichkeit und Sexualität, begreift Register und Topik der Pastourelle in erster Linie als das adäquate „ikonographische“ Medium, in dem das Problem der Weltverfallenheit zu verhandeln sei (ähnlich wie Konrads Weltnovelle das Zeremoniell Hoher Minne als tauglichen, sinnfälligen Darstellungsmodus begreift). Dies bedeutet freilich nicht, dass die erotische Begegnung bloß allegorisch zu verstehen wäre, vielmehr bleibt auch auf einer litteralen Ebene eine entsprechende Signifikation bewahrt: Sinnliche Liebe bleibt der metonymische Ausdruck der Weltverfallenheit, und das macht es überhaupt erst sinnvoll, Walthers Absage an die Niedere Minne und Beheims erbuolen der Frau Welt in Beziehung zu setzen. Versuchen wir für die Frage nach der kulturellen Signifikanz die Rolle des poetischen Subjekts näher zu fassen. Schon bei Walther sieht es sich einer exemplarischen und existenziellen Gefährdung ausgesetzt. Zugleich ist es aufgrund der intertextuellen Relationen des Textes zum übrigen Œuvre und aufgrund der paratextuellen, fallweise auch textuellen Namensnennung als ein konkretes Ich ausgewiesen, in dem sich zwar nicht das biographische Subjekt Walther von der Vogelweide, wohl aber eine präzise konturierte persona auctoris konstituiert. Die systemischen Bezüge auf die höfische Liebeslyrik zeigen diese persona zudem in eine lyrische Gattungsordnung mit ihrerseits konkreten soziokulturellen, historischen und pragmatischen Referenzen eingebunden. Wir haben es gewissermaßen mit einem „starken Ich“ zu tun, dessen Aussagen von einem entsprechend markanten poetischen Diskurs abgesichert sind. Diese Markanz ermöglicht die Artikulation jener poetisch entworfenen Grenzerfahrungen, von
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denen unter anderem in ‚Aller werdekeit ein füegerinne‘ die Rede ist.27 Was das „gefährliche Spiel“ mit der Unheimlichkeit von Sinnlichkeit und Weltverfallenheit betrifft, setzt sich die Strategie fort in der Koketterie, mit der sich die poetischen personae im ‚Frauendienst‘-Roman Ulrichs von Liechtenstein28 oder bei Oswald von Wolkenstein mit der Welt einlassen: ich, Wolkenstein, leb sicher klain vernünftiklich, das ich der werlt also lang beginn zu hellen, Und wol bekenn, ich wais nicht wenn ich sterben sol, das mir nicht scheiner volgt wann meiner berche zol. het ich dann got zu seim gebott gedienet wol, so forcht ich klain dort haisser flamme wellen. (Kl. 18.VII,11ff.)29
Diese confessio in Oswalds berühmtem „Lebenslied“ ‚Es fügt sich‘ spricht vom gefährlichen Einklang mit der Welt, der sich in den Strophen zuvor in der Hauptsache wiederum als Verfallenheit an die Liebe formuliert. Dass der confessio keine oder bloß eine im Konjunktiv formulierte conversio folgt, weist auch hier auf eine hyperbolische Zuspitzung der topischen Pose des weltverliebten lyrischen Subjekts. Die betonte Lässigkeit, mit der es das Risiko auf sich nimmt, gründet sich auch hier auf die Deckung, aus der heraus dieses Ich spricht: Seine „Stärke“ bezieht es aus der „biographischen Prätention“30 einer persona auctoris und aus der Exemplarität, die sich aus dem Wechselspiel von behaupteter individueller Erfahrung und traditioneller Topik ergibt. Das Ich in Beheims Weltpastourelle scheint nicht in der Weise konturiert. Zwar haben wir es ebenfalls mit einem onym überlieferten Lied zu tun, von einer lyrischen persona im Sinne von Walthers oder Oswalds Œuvre lässt sich aber kaum mehr sprechen. Die stereotype Textkonstitution, die an Identität grenzende Nähe zu anderen pastourellenhaften Liedern oder auch Minnereden weist vielmehr auf ein paradigmatisches Schema hin, das das Lied reproduziert. Das poetische Subjekt präsentiert sich als ein typisiertes Ich. Weil es eben nicht durch syntagmatische Referenzen in ein lyrisches Corpus integriert ist, weil es Teil eines poetischen „Systems“ ist, dessen Referenzen im Kontext einer verfügbaren Topik changieren, 27 28 29
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In dieser Hinsicht ließe sich der Begriff des „starken Ich“ (auch weil er ein textuelles Konstrukt und keine autobiographische Spiegelung meint) mit dem des „strong text“ verbinden, wie ihn Harold Bloom (1997) entwickelt. Vgl. besonders die Klage über das versumt leben in ‚Frauendienst‘, Str. 1835f. (589,19ff.). ,Ich, Wolkenstein, führe ein wenig vernünftiges Leben, / weil ich schon so lange mit der Welt übereinstimme [pointiert gesagt: das Lied der Welt singe], / und dabei bin ich mir im Klaren, dass ich nicht weiß, wann ich sterben werde, / und dass ich nichts Evidenteres vorlegen kann als das, was meine Werke [an Gewinn oder Ungewinn] erbracht haben – / hätte ich dem Gebote Gottes entsprechend gelebt, / so müsste ich das Lodern der heißen Flammen wenig fürchten.‘ Den Begriff prägte Brandt 1989 für Walther.
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könnten wir von einem „schwachen Ich“ sprechen.31 Es ist ebenso stereotyp wie die lyrischen Paradigmen, in denen es auftritt und spricht. Konstante Darstellungsformen bilden dabei die Basis divergenter und zugleich austauschbarer Denkformen (grob gesagt einer weltlich-erotischen und einer geistlich-moralischen). Genau die Disponibilität der Bedeutung ein und derselben lyrischen Ikonographie ist es nun, die verhindert, dass wir in diesem „schwachen Ich“ ein ungeschütztes, ausgeliefertes Ich erkennen könnten, in dem sich Irritationen und Verwerfungen einer Epoche mimetisch reproduzieren würden. Wollten wir, nach der Kulturalität dieser Lyrik fragend, also von der „Beschädigung“ des lyrischen Subjekts in Michel Beheims Weltlied auf eine Verunsicherung des „epochalen“ Subjekts schließen, die sich hier artikuliere, wären wir fehlgeleitet. Vielmehr wird die potenzierte „Unheimlichkeit“, die der Begegnung mit der vanitas hier zukommt, von einer stereotypen Topik kompensiert. Der dramatische Gestus des erbuolens der Welt wird im Lied gefolgt von einem Gestus der Warnung, der zwar auf das vorangehende Beispiel verweist, der aber in der autoritativen Rede eines Ich, das zum Didaktiker ward, den Schock vergessen lässt, von dem sich dieses Ich als Liebender eben noch affiziert zeigte. Der Bruch zwischen beiden Ich-Konstruktionen und ihren Sprechhaltungen lässt auch im Lied selbst nicht einen syntagmatischen Verlauf, sondern den paradigmatischen Auftritt zweier Ich-Posen – der des Weltjüngers und der des Didaktikers – erkennen. Das Unheimliche ist im sicheren Zusammenspiel der Topoi, es ist in der wie von selbst ablaufenden Sujetfügung das Vertraute geworden. Insofern beobachten wir bei Michel Beheim die poetische Egalisierung jener Unheimlichkeit, die den Entwürfen von Sinnlichkeit und Gefährdung, weltlicher Liebe und Weltliebe in der erotischen Lyrik des Hochmittelalters inhärent zu sein scheint. Ihre artifizielle Handhabung deutet auf eine Entlastung der Poesie und der in ihr sich artikulierenden ästhetischen Erfahrung von den „tatsächlichen“ kulturellen Unheimlichkeiten hin, vor die das Zeitalter die Subjekte stellte (wenn dies denn in der Form zutrifft). Das allerdings spräche nun gerade nicht gegen die kulturelle Relevanz 31
Vielfalt und Heterogenität der Rollen in Michel Beheims Œuvre sind nunmehr einlässlich untersucht von Friederike Niemeyer (2001, bes. 75ff.; in Hinblick auf die von ihr entworfenen „drei Schaffensphasen“). Das Phänomen lässt sich als Effekt einer literarästhetischen Entwicklung begreifen: Die Referenz der unterschiedlichen Rollen aufeinander und ihre Verknüpfung im Werk sind eben nicht mehr markant genug, dass man wie im Falle Walthers von einer persona sprechen könnte, in der sie (weitgehend) zusammenlaufen. Gegeben ist diese Markanz noch bei Oswald von Wolkenstein, der – am Beginn der spätmittelalterlichen deutschen Lieddichtung stehend – die Verfügbarkeit und Pluralität von tradierten und transformierten Registern im Zeichen eben eines „starken Ich“ zu bündeln weiß. Natürlich vergröbert aber auch dieser Befund die Komplexität des literarästhetischen Sachverhalts.
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dieser Poesie: Vielmehr wären es ihre erprobten und zu topischen Schemata geronnenen Paradigmen, die die Disponibilität und damit auch die Suspendierbarkeit jener rigiden Diskurse erweisen würden, von denen nur allzu gerne und schnell angenommen wird, dass sie die kulturelle Erfahrung der Epoche ausgemacht hätten – sei dies nun eine grundlegende Tendenz zu Weltverachtung oder Weltverneinung, sei es ein stereotyper Abwehrreflex gegen sinnliche Liebe. In dieser Disponibilität ließe sich eine dialektische Bewegung von Affirmation und Suspension festmachen: Indem Erotik und Weltliebe in stereotypen poetischen Formen und Gesten als das Unheimliche zur Schau gestellt werden, in der ostentativen Vertrautheit ihrer Präsentation also, ist diese Unheimlichkeit zur Heimeligkeit hin gebändigt, die Lehre wird zur leeren Formel. Ihren Tribut an die geistlich-theologische Denkform einer Identität von Eros, luxuria und vanitas entrichtet die weltliche Poesie also mit Falschgeld. Wir sind auf die glückliche Paradoxie poetischer Weltverachtung gestoßen, von der in der Einleitung die Rede war: In ihrer Selbst-Aufhebung formuliert sie ihre heimliche Bestätigung. EXKURS: VANITAS UND SYPHILIS? – In Sujet und Allegorie der Frau Welt werden geschlechtertheoretische Klischees und traditionelle Kritik am amor carnalis formuliert und aktualisiert. Die spätmittelalterliche Lyrik kommuniziert hier überkommene Vorstellungen an ein Publikum, das allerdings nicht mehr wie noch im 13. Jahrhundert soziokulturell homogen wäre. Insofern trägt sie zu einer Diffundierung von Darstellungsformen und Denkformen bei, die generelle Stereotype eines mittelalterlichen Körper- und Geschlechterdiskurses eben in einer dialektischen Bewegung von Affirmation und Suspension ästhetisch konkretisieren. Analoge Verfahren lassen sich an den Zeugnissen der zeitgenössischen bildenden Künste ablesen. Ein besonders signifikantes Beispiel gibt ein doppelseitiges Holztafelgemälde, das mutmaßlich um 1470 in Deutschland entstanden ist (Abb. 4).32 Die Vorderseite zeigt ein Liebespaar in der Blüte von Jugend und Schönheit, die Rückseite zeigt es im Zustand der Verwesung. Das Ungeziefer, die Schlangen und die Kröten, die über und durch die Leiber kriechen, weisen den Verfall nicht als bloße Folge der Zeitlichkeit aus, sondern deuten ein moralisches Urteil an, das ein Moment der Dauer unterläuft und die Simultaneität der abgebildeten Zustände suggeriert.33 32 33
Camille 1998, 159ff. Die ursprünglich verbundenen Tafeln sind heute getrennt. Für dieses Theorem der Simultaneität lässt sich neben der mittelhochdeutschen WeltAllegorie auf Pierre de Nesson (1383-ca.1443) verweisen, den „Poète de la mort, des funérailles, du macabre“ (s.v. Pierre de Nesson [Giuseppe-Antonio Brunelli], DLF, 1188f., hier 1188). Er fasst Fäulnis und Verwesung nicht als postmortales Stadium, sondern als im le-
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Zumindest lässt sich das Bild nicht nur als Darstellung dessen lesen, was aus den Liebenden dereinst werden wird, sondern als das, was sie – im Sinne einer latenten Identität – immer schon sind. Über Entstehung und Pragmatik des Bildes lässt sich nichts Genaueres aussagen. Dass es ein Brautpaar repräsentiere, dem die Warnung vor dem Ende mit auf den Weg gegeben werde,34 darf jedoch bezweifelt werden. Eher handelt es sich um ein Liebespaar, das sich im Zeichen eines negativ gefassten amor curialis gefunden hat (und dieser steht – wie schon Andreas Capellanus zu betonen weiß – jenseits der Institution der Ehe). Das rückseitige Bild legt dies mit seiner ostentativ polemischen Ikonographie des Erotischen nahe. Besonders aussagekräftig ist in diesem Zusammenhang die Kröte, die auf der Scham der Frau sitzt. Deren Pose ist denn auch die der Entblößung, wohingegen der Mann sein Geschlechtsteil verhüllt, sich mit der Linken ans Herz fasst und den Blick von der Frau abwendet, somit Reue signalisiert (auf der Vorderseite ist er ihr zugewandt). Dass er den „Anfechtungen des Weibs“ nach wie vor ausgesetzt ist, seine Reue also möglicherweise zu spät kommt, darauf deutet die Schlange hin, die ihm ins Ohr flüstert und deren Körper das Herz durchbohrt hat, auf das er sich reumütig fasst; ferner die Rechte der Frau, die auf seiner linken Schulter ruht. Der auf der Vorderseite dargestellte amor curialis wird somit auf der Rückseite des Gemäldes als amor carnalis mit allen negativen Implikationen allegorisiert. Dies schlägt sich auch in der Ikonographie des Randes nieder (im Vorderbild der blühende Garten, auf der Rückseite düstere Schwärze und ausgetrocknete Erde). Das Gemälde reflektiert ikonographisch zudem das Motiv vom Sündenfall, wie die Schlange hinten und die Blume vorne anzeigen, die die junge Frau dem Mann als Geschenk überreicht. Letzteres unterstreicht als Symbol der Defloration die konkrete geschlechtlich-erotische Semantik. Was nun die wirkungsästhetische Absicht einer solchen Darstellung sein könnte, darüber lässt sich nur spekulieren. Dass das Konzept höfi-
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bendigen Leib immer gegenwärtigen, von der alternden Fleischeshülle bloß immer weniger verdeckten Zustand auf (Ariès 2002, 154f.). In der Tradition des contemptus mundi repräsentiert diese Idee eine klassische Radikalisierung des vanitas-Topos, hierzu unten Kap. II.2. Auch sie kann schon auf ein Bibelwort zurückgeführt werden, nämlich auf Mt 23,27: Vae vobis, scribae et pharisaei hypocritae, quia similes estis sepulcris dealbatis, quae a foris quidem parent speciosa, intus vero plena sunt ossibus mortuorum et omni spurcitia! In der Einheitsübersetzung: ,Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr seid wie die Gräber, die außen weiß angestrichen sind und so schön aussehen; innen aber sind sie voll Knochen, Schmutz und Verwesung.‘ Die Verfügbarkeit dieser Vorstellung belegt auch das Dictum der Meierstochter aus Hartmanns ‚Der arme Heinrich‘, 730f.: wan uns ist über den vûlen mist/ der pfelle gespreitet (‚Denn über den faulen Mist [der unser Körper ist]/ ist das feine Tuchwerk [der Haut] gespannt‘). Zu den Manifestationen dieser Vorstellung in der Renaissance am Motiv des weiblichen Bauches vgl. Helas 2001. So die Deutung bei Camille 1998, 160f.
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scher Liebe desavouiert wird, ist offensichtlich. Im Sinne eines epochalen Wandels wird sich dies allerdings kaum verstehen lassen.35 Den Gestus der revocatio finden wir nicht erst in einer „bürgerlich-spätmittelalterlichen“ Zeit, die dem, was ihr eine höfische Epoche als Erbe überließ, nicht entkommen könnte und es – deshalb – konterkarieren würde. Wir begegnen ihm vielmehr schon bei Walther, bei Konrad und eben bereits bei Andreas Capellanus. Zutreffend sind indes Camilles Wort von der „macabre attitude“ des Sujets und seine These, dass – angesichts der topisch-starren Gestaltung der schönen Vorderseite und der weitaus lebendigeren des Verfalls – ihr, nämlich der Darstellung des Verfalls, das eigentliche ästhetische Interesse des Künstlers wie der Rezipienten gegolten habe.36 Ähnlich vollzieht sich ja auch Michel Beheims originelle Zuspitzung der Begegnung mit der Welt auf festem topischen Grund. Wie im Text so zeigt sich auch im Bild die unheimliche erotische Begegnung, die sich als Manifestation sündhafter vanitas entpuppt, zur Manier des Sujets geronnen. Der zur Schau gestellte Schrecken, in dem man authentische historische Erfahrungshorizonte zu fassen vermeint, ist von der Sicherheit ikonographischer wie poetischer Konvention ebenso gebannt wie prolongiert. Die Verquickung von vanitas und luxuria, wie sie im Holztafelbild von 1470 und in den literarischen Weltallegorien des Hoch- und Spätmittelalters vorliegt, gründet sich auf eine notorische Denkform des geistlichtheologischen contemptus mundi.37 Sie lässt sich in weiteren Kunstwerken der Zeit fassen. Auf eines sei noch hingewiesen, nämlich auf die um 1500 entstandene vanitas-Gruppe von Gregor Erhart und Hans Holbein d. Ä. (Abb. 6).38 Dargestellt sind drei Gestalten, ein junger Mann, dessen Geschlechtsteil ein Tuch bedeckt, und zwei völlig nackte Frauen; die eine jung und in der Pose einer Venus pudica, deren Vulva der Konvention eines hohen Stils entsprechend nicht ausgeführt ist.39 Die Alte hingegen stellt ihr Geschlecht ostentativ zur Schau. Die Gruppe lässt sich zweifach lesen: Zum einen allegorisiert sie ganz herkömmlich die erotische Begegnung des Mannes mit der Frau als Konfrontation mit der Vergänglichkeit und/oder der Luxuria. Die alte, deflorierte Frau wäre demnach die Repräsentation jenes Seins, den der Schein der intakten Jungfrau als Objekt der Begierde des Jünglings verhüllt – mit allen Implikationen von Verfall und Sündhaftigkeit, die sich hier assoziieren. Das bedeckte Geschlecht des 35 36 37 38 39
So Camille 1998, 157ff. Ebd., 159 und 161. Die ikonographische Topik hat ihre Parallelen in der monumentalen gotischen Grabplastik, vgl. hierzu Körner 1997, 161ff. Vgl. unten Kap. II. Vgl. ferner die Darstellungstradition von „Tod und Mädchen“, zumal im Kontext des Totentanzes; hierzu ausführlich Kiening 2003, 101ff. Schon an der Knidischen Aphrodite des Praxiteles ist das weibliche Geschlechtsorgan als Nichts dargestellt, zur Debatte über dieses „Zeigen als Nichts“ u.a. Lehmann 2001.
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Mannes läse sich als Empfehlung zur Enthaltsamkeit, als Hinweis auf jene Möglichkeit der Entsagung und Separation von der Welt, die der contemptor mundi wählt. Der Jüngling wäre im Moment vor der Entscheidung dargestellt. Zum anderen könnte das Ensemble aber auch als apotropäische Allegorie der Defloration gelesen werden, die der Betrachterin drastisch die drohenden Folgen eines Lebens in der Sinnlichkeit vor Augen führen würde. Die ikonologische Pointe ist die, dass sich beide Deutungen keineswegs ausschließen und dass die apotropäische Allegorese von einer deutlich voyeuristischen, „venerischen“ Ikonographie unterlaufen wird. Die Darstellungsform erfüllt jedenfalls in geradezu idealer Weise das stereotype Geschlechterdispositiv: Ästhetische Lust und hermeneutische Negativität lasten allein auf dem weiblichen Körper. Aus der Perspektive eines kulturellen Materialismus könnte man nun versucht sein, derartige Darstellungen als bildnerische und poetische Manifestationen eines Unbehagens zu lesen, das auf eine ganz konkrete physische Gefahr antworte, nämlich auf die Bedrohung durch Geschlechtskrankheiten. Käme unser Holztafelgemälde nicht zu früh, könnten wir es leicht als Allegorie der Syphilis deuten. Doch die Syphilis wird in Europa bekanntlich erst nach der Entdeckung Amerikas epidemisch.40 Anders liegt der Fall bei der Vanitas-Gruppe von Erhart/Holbein. An ihr ist ein Detailmotiv von Interesse: Am Leib der Alten tritt deutlich das Geflecht der Venen hervor, beim Jüngling sind sie im Genitalbereich zu sehen, unsichtbar bleiben sie bei der Jungfrau. Auch wenn das Motiv nicht unmittelbar der medizinischen Symptomatik entspricht, könnte mit ihm dennoch auf die Syphilis angespielt sein. Vergleicht man diese Ikonographie einer Beschädigung des Leibes nun mit jener des Holztafelgemäldes, so könnte die organische Auffälligkeit die Allegoreme von Verwesung und Sünde (Schlangen, Kröten, Insekten) substituieren. Die Substitution verwiese auf die klassische Denkform von Krankheit als Strafe für die Sünde. Träfe diese Deutung zu, was ich offen lassen möchte, so wäre das Sujet wiederum doppelt lesbar: Zum einen – und dies wäre angesichts der üblichen Geschlechterstereotypie erstaunlich – könnte der Mann und nicht die Frau als der eigentliche Träger der Krankheit (und der Sünde) gefasst sein: als Deflorator und als der, der infiziert.41 Zum anderen – und dies würde sein bedecktes Geschlecht erklären – könnte man Jungfrau 40 41
Ob es vor der Entdeckung Amerikas in Europa schon einen anderen, harmloseren Stamm des Erregers gegeben hat, ist ungeklärt. Dies und die folgenden medizinhistorischen Angaben nach Winkle 1997, 517-617, bes. 532ff. und 541ff. Analoges gilt für eine entsprechende Deutung des Darstellungstyps von „Tod und Mädchen“, insbesondere für jene Beispiele, die den Tod als Landser und das Mädchen als Dirne imaginieren; hierzu Kiening 2003, 101ff., mit Bildbeispielen. Dass einige Zeugnisse als Allegorien der Syphilis interpretiert werden könnten, wird ebd., 103 angedeutet.
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und Alte eben als Vexierbild einer einzigen Gestalt verstehen, die als Jungfrau erschiene, in Wahrheit aber die infizierte Alte wäre, die den Jüngling ansteckt, sofern er sein Geschlecht nicht bedeckt, also nicht keusch bleibt. Für die Frage nach der konkreten kulturellen Signifikanz der besprochenen topischen Sujets und für die methodischen Probleme, vor die sie eine kulturwissenschaftliche Deutung stellen, ist nun von Interesse, dass die einschlägigen Allegorien der Syphilisprävention des 19. und 20. Jahrhunderts eine Ikonographie aufrufen, die jene der spätmittelalterlichen vanitas-luxuria-Tradition zu reproduzieren scheint. Ein aufschlussreiches Beispiel gibt das Titelbild zur vierten Ausgabe des Syphilis-Gedichts in vier Gesängen von Auguste Marseille Barthélemys (Abb. 7).42 Der syphilitische Tod lässt sich hier in Gestalt einer jungen Salondame von einem jungen Verehrer die Aufwartung machen. Auch diese Darstellung bringt die latente Identität zwischen Eros und Thanatos ins Bild, in diesem Fall an der Allegorie des Todes selbst, der dem grammatischen Geschlecht entsprechend weiblich ist. La Mort trägt ihre wahre Natur nicht auf dem Rücken, sondern verbirgt sie hinter einer Maske. Nachdem ihr der Jüngling offenbar nahe genug gekommen ist, um sich anzustecken, ist sie eben dabei, diese Maske fallen zu lassen. Das obligate Attribut der Sense, von der der verhüllende Mantel gleitet, unterstreicht die Dramaturgie des äußersten Moments, die für das überkommene Sujet charakteristisch ist. Der syphilitische Tod agiert freilich offensiver als die alte Frau Welt, die eher von ihren Jüngern aufgesucht wird, als dass sie diese heimsuchte, oder die sie erst heimsucht, nachdem sie sich ihr längst und freiwillig ergeben haben. Ikonographie und Dramaturgie der Szene sind also ganz traditionell, festgehalten ist der Augenblick, in dem die latente Identität von Liebe und Tod, luxuria und vanitas offenbar wird. Sichtbar ist sie bereits für die Amoretten im rechten oberen Bildbereich. Ihren apotropäischen Gesten nach zu schließen, erkennen sie, dass die Szene nicht die vertraute einer gewöhnlichen Liebesanbahnung, sondern die unheimliche der Ansteckung ist. Die Diener der Venus begreifen schockartig, dass sie Gefahr laufen, Handlanger des Todes zu werden. Merkur mit dem Asklepiosstab links oben steht für die Quecksilbertherapie, die damals mit mäßigem Erfolg zur Anwendung kam. Ob sein Erscheinen Prophylaxe oder das Gegenteil bedeuten soll, dass nämlich der Syphilispatient nur mehr ein Fall für die Medizin wäre, lässt sich nicht eindeutig entscheiden. Der gewählte Augenblick der Krisis soll die Eindringlichkeit der Mahnung für den Betrachter 42
[Auguste Marseille] Barthélemy: Syphilis. Poëme en Quatre Chants. Avec des Notes Explicatives par le Dr. Giradeau de Saint Gervais [etc.]. Quatrième édition, entièrement revue et augmentée d’un chant. Paris: Martinon, 1851. Das Bild ist (ohne nähere Erläuterungen) auch bei Porter 2004, 30 abgedruckt. Vgl. zu den folgenden Ausführungen M. Kern 2007.
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offenbar erhöhen, vielleicht bringen ihn der äußerste Moment und die Unsicherheit, ob der Abgebildete, sein intendiertes alter ego, noch einmal davonkommt, zur Einsicht (in der Geste, die die Linke des Jünglings beschreibt, könnte eine Abkehr im letzten Moment angedeutet sein). Diese Allegorie der Syphilis deutet weniger darauf hin, dass Wahrnehmung und Erfahrung eines Problems (hier – abstrakt gesagt – der latenten Identität von Liebe und Tod, Sünde und Krankheit) zu verschiedenen Zeiten analog konzipiert und dargestellt worden wären, sondern verrät sich tatsächlich als konkrete Fernwirkung einer mittelalterlichen Denk- und Darstellungsform. Sie verweist auf die Langlebigkeit und Flexibilität jener ikonographischen und diskursiven Stereotype, die eine künstlerische und poetische Tradition in der Verschränkung von Liebe, Vergänglichkeit und Tod erzeugt hat. Der Schöpfer des Bildes verstand es sehr gut, das überkommene ästhetische Material neu zu arrangieren. Konkret referiert die Darstellung auf die Tradition des Totentanzes und der aus ihm isolierten Sujets, namentlich auf jenes von „Tod und Mädchen“, hier invertiert zu „La Mort et le jeune homme“. Die weibliche Todesgestalt weist wie die mittelalterliche Frau Welt Aspekte einer luxuriaAllegorie auf (sie können im Falle von „Tod und Mädchen“ fallweise dem jungen Frauenkörper eingeschrieben sein43). Mit der Ikonographie werden die entsprechenden Denkformen aufgerufen und aktualisiert. In diesem Fall ist die stereotype Semantik der Geschlechterrollen besonders ostentativ zu fassen: Dass der Tod als Frau erscheint, ergibt sich zwar schon aus dem grammatikalischen Geschlecht und mag in der Tradition des petrarcaschen triumphus mortis gründen,44 ist aber dennoch signifikant für die diskursive Bewältigung eines sanitätspolitischen Problems: La Mort est féminine, jedenfalls ist es der syphilitische Tod und er richtet seine Aggression gegen den „reinen“ Mann, der als Opfer einer heimtückischen Heimsuchung figuriert. Noch im „modernen“ medizinischen Sujet bewährt sich die alte gendertheoretische Regie des Sündenfalls.45 Deutlicher als in diesem Stich, der seiner pedantischen allegorischen Ausgestaltung wegen auch ironisch gelesen werden kann,46 operieren mit dieser stereotypen Verschränkung von femme fatale, Lust, Lustkrankheit und Tod die Syphilis-Warnplakate der U.S.-amerikanischen Sanitätsbehörden aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs (Abb. 8-10).47 Vor allem die Su43 44 45 46 47
Hierzu Kiening 2003, 101ff. Die französische Totentanztradition scheint die Todesallegorie allerdings eher männlich aufzufassen; Kiening 2003, 21. Hierzu u.a. Spreitzer 1998. Darauf verweisen vor allem die putzigen Amoretten und der herbeieilende Merkur. Die Beispiele finden sich in der U. S. National Library of Medicine unter der Adresse: http://www.nlm.nih.gov/exhibition/visualculture/venereal.html (Stand: 16. 4. 2009).
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jets „She may be ... a bag of trouble“ (Abb. 8) und „Juke Joint Sniper“ (Abb. 9; etwa: ,Heckenschütze im Bumslokal‘) konstituieren ikonographisch dieselbe latente Identität von Frau, luxuria, Tod und Teufel, wie sie schon die mittelalterliche Welt-Allegorie grundiert (man beachte vor allem die durch Schattenwurf und tiefsitzende Augenhöhlen hergestellte Totenschädel-Ikonographie sowie Farbe und Mützenspitze in Abb. 8). Im Hintergrund steht hier wohl konkret die Tradition des Vampirmotivs.48 Für unseren Zusammenhang von besonderem Interesse ist freilich das Sujet „She may look clean – but“ (Abb. 10), das mit dem Gesicht eines braven, biederen Mädchens eine besonders heimtückische Allegorie der Vanitas/Luxuria entwirft. Es begnügt sich nicht bloß mit der Desavouierung des Sexuellen als ebenso sündhaft wie todbringend und lastet die Verantwortung dafür der Prostituierten auf, sondern kreuzt die militärisch-propagandistischen Feindbilder ein. Die Perfidie des Feindes soll sich nicht zuletzt darin manifestieren, dass er die Verteidigungskraft mit seinen brav und züchtig erscheinenden Frauen und also mit venerischen Mitteln unterminieren will. „You can’t beat the Axis, if you get VD [venereal disease]“, lautet die Bildunterschrift. Wenn nun die Institutionen der Seuchenprävention so dezidiert auf die einschlägigen und eingespielten ästhetischen Muster zurückgreifen, stellt sich natürlich umgekehrt die Frage, ob eine solche Semantisierung tatsächlich sekundär ist oder ob wir in ihr nicht eine immer schon gegebene Signifikanz oder wenigstens eine konkrete Lesbarkeit der entsprechenden historischen poetischen und bildnerischen Zeugnisse erkennen können. Die jüngere kulturwissenschaftliche Forschung ist hier überaus optimistisch geworden, wie etwa die Neudeutung der ‚Venus‘ (1540-45) von Angelo Bronzino (1503-1572) durch Margaret Healy zeigt.49 Die sinistre Gestalt im linken Bildhintergrund sollte früher eine Allegorie der Eifersucht darstellen, Healy zufolge ist sie die personifizierte Syphilis. Auch in der neuzeitlichen priapeischen Lyrik finden sich Metaphern, die auf die Sexualpathologie anspielen. Ein Beispiel gibt der „PriapHymnus“ in Kasper Stielers ‚Geharnschter Venus‘ (1660). Es soll die Schlangen-Zucht auß deiner Hütten weichen // kein Dorn noch Nessel-strauch verlezzen deine Brust, wird Priapen da gewünscht (v. 17f.), und dieser Wunsch wäre keineswegs uneigennützig, wenn man den Hymnus von einer medizinhistorischen Perspektive her liest.50 Eine eindeutige Sprache sprechen 48 49 50
Analoges gilt für die Kreuzung von trash-movie und Vampirfilm in ,From dusk till dawn‘ (Robert Rodriguez, 1996) und für die Vanitas-Szene in Stanley Kubricks ,Shining‘ (1980). Healy 1997. Dass mancher Wunsch an Priap eigentlich ein Wunsch des Sprechers an sich selbst oder sein Geschlechtsorgan ist, dokumentieren vor allem die letzten beiden Verse: du sollst den Zedern gleich die feulung überstehen // und halten in der Gluht auß auff Demanten-Art.
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schließlich Schlangen und Gift in der XVI. Elegie von Goethes ‚Erotica Romana‘ nach der Zählung der rekonstruierten Fassung; sie wurde für die Ausgabe der ,Römischen Elegien‘ gestrichen.51 In beiden Fällen ist freilich jener Abwehrreflex gegen die sinnliche Liebe invertiert, der sich in Walthers Wort vom „Beinahe-Tod“ artikuliert hatte. Zwar bleibt die sexuelle Lust das Metier einer genuinen Unheimlichkeit, mit Freuds Konzeption des „Unheimlichen“ wäre sie aber gerade nicht zu beschreiben: Die apotropäische Geste resultiert nicht aus der Erfüllung der Gebote „höherer“ Zensurinstanzen, vielmehr steht das Ich auf der Seite des Begehrens und sieht dieses als im Zustand seiner natürlichen Unschuld bedroht. Im Unterschied zu den Allegorisierungen im spätmittelalterlichen vanitas-Sujet wird sinnliche Liebe nicht durch ein sündhaftes Moment kompromittiert, das ihr inhärent wäre. Vielmehr sind es die Machenschaften dunkler Mächte, die den idyllischen und harmlosen Frieden einer beschaulichen Welt der Liebenden stören (Kaspar Stieler). Oder die Bedrohung wird im entsprechenden mythologischen Modus als gänzlich unbiblischer Sündenfall der lustfeindlichen Gegenwart gegenüber einem goldenen, krankheitsfreien und lustfreundlichen antiken Zeitalter historisiert; der Horror vor der Ansteckung sublimiert sich dabei in der zeittypischen Pose der Antikesehnsucht (Goethe). In Goethes ‚Elegie‘ wird die moderne Medizin in Gestalt des Hermes herbeizitiert. Das Vertrauen, dass im schlimmsten Falle die ärztliche Kunst Abhilfe schaffen könne, wirft einen (Queck-)Silberstreif der Hoffnung an den klagegesättigten Horizont.52 Das Wort von „uns alten Heiden“, die an die Macht der neuen Hermesjünger, der Ärzte, glauben, weist dezidiert die alte Verquickung von Sinnlichkeit, Sünde und göttlicher Strafe zurück. Überhaupt wird die Mythologie zum Medium jener Ironie, die den Schrecken überspielt, der noch hier dem erotischen Abenteurer wie einst Michel Beheims poetischem Ich einzufahren droht.53 Ähnlich wie 51
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Goethe: Erotische Gedichte, hg. Ammer, 59f. und 194; vgl. auch Nr. XX, ebd., 64 (Nr. XVIII nach der gedruckten Fassung; Goethe: Werke, HA, Bd. 1, 170): „Aber ganz abscheulich ists auf dem Wege der Liebe / Schlangen zu fürchten und Gift unter den Rosen der Lust;“ (XX,5f.) „Welche Seligkeit ists! wir wechseln sichere Küsse, / Atem und Leben getrost saugen und flößen wir ein.“ (XX,13f.) „Doch wir sind nicht so ganz wir alten Heiden verlassen, / immer schwebet ein Gott über der Erde noch hin, / Eilig und geschäftig, ihr kennt ihn alle verehrt ihn! / Ihn den Boten des Zeus, Hermes den heilenden Gott. / Fielen des Vaters Tempel zu Grund, bezeichnen die Säulen / Paarweis kaum noch den Platz alter verehrender Pracht, / Wird des Sohnes Tempel doch stehn und ewige Zeiten / Wechselt der Bittende stets dort mit dem Dankenden ab.“ (,Erotica Romana‘ XVI,35ff.; ebd., 60). „O! wie hätte Juno getobt, wenn im Streite der Liebe / Gegen sie der Gemahl giftige Waffen gekehrt.“ Die reale letale Bedrohung der Gattin durch den infizierten Ehemann wird im mythologischen Muster der zänkischen göttlichen Ehefrau ironisiert, die sich neben dem Spott noch das syphilitische Geschenk einhandelt.
3. Weltliebe und weltliche Liebe
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Schiller in den ,Göttern Griechenlands‘ – allerdings in einer kaum verhüllten, „unschicklichen“ Absicht, die auch die Streichung der Elegie aus dem veröffentlichten Zyklus bedingte – begreift sich Goethe als Jünger eines Zeitalters, das die spielerische Unschuld verloren hat. Anders als Schiller sieht er in den modernen Errungenschaften, konkret in der medizinischen Wissenschaft, aber nicht den Ausdruck einer erkalteten Welt, sondern die verwandelte Form, in der das segensreiche Wirken des antiken Heilsgottes fortbesteht. Von dieser remythologisierten Wissenschaft wird erwartet, dass sie mit technischen Mitteln die Wiederkehr des alten goldenen Zustands geschützter Liebe ermögliche. Gegen die fundamentale Melancholie Schillers steht der praktische Geist Goethes. Er erweist sich auch hier dem Eigennutz geschuldet. Die negative Semantisierung sinnlicher Liebe in der mittelalterlichen Lyrik angesichts dieser Beispiele medizinhistorisch zu lesen, würde wenigstens originelle Perspektiven eröffnen (zumal im Falle von Walthers „Beinahe-Tod aus niederer Minne“ könnte eine nach wie vor virulente biographistische Deutung zu prekären Folgerungen gelangen). Immerhin ist nicht grundsätzlich auszuschließen, dass die Warnung vor dem körperlichen Verkehr mit Frau Welt eine konkrete Allegorese zuließe, auch wenn allem Anschein nach im vorsyphilitischen Zeitalter weder die tatsächliche Bedrohung durch Geschlechtskrankheiten derart akut gewesen ist, noch die Wege der Ansteckung über den Sexualkontakt mit Sicherheit durchschaut worden sind.54 Gleichzeitig würde freilich der Bedeutungshorizont, den die Texte entwerfen, auf inadäquate Weise eingeengt. Die produktive Signifikanz der mittelhochdeutschen Welt-Allegorie besteht ja gerade darin, dass sie amor und luxuria, mors und vanitas verschränkt, was wiederum auf die metaphysischen und soziokulturellen Denkformen verweist, die mit der Kritik am amor curialis (in den höfischen Varianten) oder am amor carnalis (in den pastourellenhaften) aufgerufen werden. Gäbe es einen konkreten kulturhistorischen Hintergrund, den eine problematisierte sinnliche Erotik mimetisch reflektieren würde, so erwiese er sich im Moment seiner Formulierung immer schon transzendiert. Diese Transzendierung fassen wir im übrigen auch dort, wo es ihn gibt: Sei es im medizinischen Stich, der die alten Stereotype zusammen mit der überkommenen Ikonographie aufruft; sei es in der Syphilis-Metaphorik neuzeitlicher Dichtung, die die alte kausale Verquickung von Sexualität, Krankheit und Sünde prononciert zurückweist und sich hierin weniger rückständig erweist als noch die gesundheitsbehördlichen Sujets der vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts. 54
Vgl. dazu die Mutmaßungen bei Winkle 1997, 541ff. und (weitaus weniger verlässlich) bei Adam 2001 (bei Adam gerät die Syphilis zum negativen Weltgeist, der den Lauf der Weltwie der Kunstgeschichte maßgeblich geprägt haben soll und alles erklärt: von der Grausamkeit Ivans des Schrecklichen bis zur neuen musikalischen Ästhetik Beethovens).
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Der Befund wäre somit in die andere Richtung hin zu lesen: Nicht allegorisieren die mittelalterlichen Figurationen von vanitas und luxuria ein konkretes medizinhistorisches Problem. Vielmehr können bewährte Darstellungsformen und ein immer vorhandener moralischer Abwehrgestus aktualisiert werden, wenn es gilt, ein konkretes medizinisches Problem als eine komplexe Bedrohung hinzustellen, die nur durch metaphysische Rigidität, soziale Kontrolle und soziokulturelle Stereotypien beherrschbar wäre. Die literarischen Welt-Allegorien operieren hingegen – bewusst oder unbewusst – mit der „List“ ästhetischer Distanz. Indem die Poesie fundamentale Denkformen des contemptus mundi mit ihren Mitteln figuriert, weiß sie diese zugleich zu konterkarieren – und sie tut dies im Sinne einer Klärung der Paradoxien, die diesen Denkformen inhärent sind. Entsprechendes fehlt den modernen sanitätspolitischen Sujets. Ihre lächerliche und zugleich beklemmende Trivialität folgt zumal der Logik des Krieges, die zu einer metaphysisch-ontologischen Arretierung misogyner Frauenbilder führt und die jene komplexe Kulturalität tilgt, die sich in den Ironien eines Textes wie Konrads ,Weltlohn‘ formuliert. SINNLICHKEIT UND HOHE MINNE: WALTHERS LIED VON DER MÂZE II. – Kehren wir nach diesem Umweg nochmals zu Walthers füegerinne zurück: Die emphatische confessio und die mit ihr verbundene conversio (weg von der „Niederen Minne“) spiegeln eine Dramaturgie wider, die für den Topos des Bekenntnisses in der mittelalterlichen Lyrik typisch ist. Das poetische Subjekt posiert in der Rolle des Sünders, dem eher daran gelegen zu sein scheint, seine Verfallenheit als seine Reumütigkeit zur Schau zu stellen. Dies zeigen die entsprechenden Belege in der lateinischen weltlichen Lyrik – erinnert sei beispielsweise an die ,Vagantenbeichte‘ des Archipoeta55 – wie auch die angesprochenen „Selbst-Bezichtigungen“ bei Neidhart, Ulrich von Liechtenstein oder Oswald. Was als schauderhafte Sündhaftigkeit inszeniert wird und was man im Sinne von Freuds Theorie der Unheimlichkeit als „Terror“ fassen könnte, den die Zensurinstanz einer übermächtigen christlichen Moraltheologie ausübe, wird von den poetischen Zeugnissen immer schon in ein „Spiel“ überführt, das die behauptete Krisis auffängt: Sei es im Sinne ihrer „Bewältigung“ durch eine konventionelle Topik, in der sich die einschlägige Sinngebung zugleich disponibel und suspendierbar erweist, sei es als tatsächlich subversive, mehr oder weniger offene Ironisierung einer scheinbar dominanten Denkform.56
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Vgl. auch die „Bordellballade“ in den ,Carmina Burana‘ (CB 76), unten Kap. II.3, 212ff. Die Formel von „Terror und Spiel“ ist maßgeblich von Hans Blumenberg geprägt worden, um das dialektische Wirkungspotential des Mythos zu beschreiben (vgl. Blumenberg 1990 und Fuhrmann [Hg.] 1971). Die Übertragung auf unser Phänomen ist insofern gerechtfer-
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Während Walthers „Lied“ von der füegerinne nun zwar das „Problem“ der Niederen Minne (ohne es zu klären) verabschiedet,57 bleibt jenes der Hohen Minne ungelöst. Indes lohnt auch hier ein Blick auf die Überlieferung. Die beiden Mâze-Strophen bilden zusammen mit drei weiteren Strophen ein fünfstrophiges Lied. In den Ausgaben werden diese drei Strophen üblicherweise als eigenständiger Text geführt (nach dem Initium der ersten Strophe unter dem Titel ‚Sô die bluomen ûz deme grase dringent‘; Cor 23, L. 45,36).58 Schon in ihnen manövriert sich das poetische Subjekt in die mehr oder weniger dilemmatische Situation einer fälligen, aber nicht vollziehbaren Entscheidung. Die erste Strophe eröffnet mit einem Natureingang: Wenn die Blumen im Mai hervorsprießen und die Vöglein so schön singen, wie sie nur können, so ist dies dem kollektiven „Wir“ ein halbes Himmelreich. Gegen die konsensuelle Ansicht, dass dem nichts gleichen könne, setzt nun das singende Ich etwas, das seinen Augen schon oft besser getan habe. Die zweite Strophe bringt die Lösung: Wenn eine edle und schön geschmückte Dame unter die Leute gehe und wie die Sonne vor den Sternen glänze, dann könne der Mai noch so viele Blütenwunder aufbieten, wir lassen all die Blumen sein und stieren nur auf die würdevolle Frau hin (wir lâzen alle bluomen stân / und kapfen an daz werde wîp). Nû wol dan, welt ir die wârheit schowen / gên wir zu des meien hôhgezîte (III,1f.), mit dieser Aufforderung wird in der dritten Strophe der Wahrheitsbeweis angetreten. Nicht mehr ans „Wir“, sondern ans „Ihr“ wendet sich der Sänger und fordert es auf, den Mai, der mit all seiner (Heeres-)Macht gekommen ist, und die werde frowen zu vergleichen. Er selbst hat sich (wie schon in Strophe I) für das bessere „Stück“ (daz besser teil; III,6) entschieden. Müsste er wählen, wollte er eher, der Mai sollte März sein, als dass er – jetzt plötzlich: – m î n e frowen verlür. Mit seiner Suche nach dem, was hienieden halb ein himelrîche wäre, steht die Rhetorik des Liedes von Beginn an im Zeichen der Hyperbel. Der Topos von tempus amoenum und locus amoenus, der sich im Lob von Mai und Maienzeit manifestiert, ist als das vom Kollektiv, vom „Wir“ geteilte Optimum ausgewiesen, funktioniert dann aber bloß als komparativische Folie für das summum bonum des Minnesängers, das dieser natürlich in seiner Herrin erkennt. Die Überbietung gipfelt in einem „kosmologischen“ Adynaton, demzufolge der Sänger den Mai lieber März sein lasse, als von sei-
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tigt, als die Kategorie des Spiels hier wie dort eine genuine Leistung der Poesie (im Falle des Mythos eine Leistung der poetischen Mythologie) darstellt. Eine bloße sozialhistorische Deutung (Walthers „Niedere Minne“ hätte ihm den sozialen Tod eingebracht) greift um vieles zu kurz. In den Handschriften ABF folgen die Strophen von Cor 23a auf die drei Strophen von Cor 23, in CE stehen sie zwischen der zweiten und dritten Strophe. Wenigstens in CE sind somit alle fünf Strophen klar als Teil eines Liedes aufgefasst.
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ner Ansicht abzurücken. Seine Wahl stellt sich gegen den Konsens des Kollektivs und spielt dieses Kollektiv zugleich an die Wand, da es ihr nicht bloß zustimmen kann, sondern zustimmen muss. Das objektiv Beste, der Mai, muss dem subjektiv Höchsten – mîner frowen – weichen. Die Überbietung ist strategisch klug eingefädelt, sie tastet sich von der allgemeinen These hin zur konkreten Evidenz, von der Maienwonne über eine nicht näher definierte edeliu schœne frowe reine hin zu deren Identifizierung als mîne frowe. Diese Poetik der Maßlosigkeit wäre nun nicht allzu ungewöhnlich – mustergültig formuliert sie sich schon im Schachmatt, das Reinmars (Tugend-)Lob seiner Dame gegenüber allen anderen Damen ausspricht (MFMT X; MF 139,1). In der Verbindung mit den beiden Mâze-Strophen gewinnt sie allerdings an Brisanz. Lässt man diese Strophen wie in den Handschriften A, B und F folgen, so führen sie den überbietenden Frauenpreis in eine Grundsatzdiskussion über Liebeskonzept und Poetologie über, die ihn zugleich auf einer abstrakten Ebene wiederholt: Gegen den consensus omnium (repräsentiert im Satz von der Maßhaltung) steht die „individuelle“ Erfahrung (der Maßlosigkeit in der Liebe). Analoges ergibt sich, wenn die beiden füegerinne-Strophen zwischen Strophe II und III des Liedes 23 eingeschoben sind wie in den Handschriften C und E. An dieser Fassung ist noch unmittelbarer nachzuvollziehen, wie fruchtbar Liebesepiphanie und Liebestheorie in den fünf Strophen verschränkt sind: Die drei Maien-Strophen liefern das konkrete Bild zur zweistrophigen MâzeTheorie und lassen auf diese Weise die in ihnen formulierte laudative Konvention hinter sich.59 Fasst man somit, wie es die Überlieferung tut, alle fünf Strophen zu einem Lied zusammen,60 gewinnen Thematik und Poetologie insgesamt an Präzision. Eine sinnfällige Korrespondenz besteht dabei auch zwischen der Szenographie der Maien-Strophen (Cor 23) und dem Thema der Niederen Minne der Mâze-Strophen (Cor 23a): Der Natureingang (Strophe I), die hypothetische Epiphanie der edlen schönen Dame auf der Maienwiese (Strophe II) und die Beweisführung auf dem Blumenanger (Strophe III) scheinen von der Pastourelle inspiriert. Die abstrakte Konkurrenz entscheidet sich in der konkreten Gegenüberstellung der eben stattfindenden hôchgezît des meien (III,2) und des Auftritts mîner werden frowen (III,4; III,11). Und schließlich setzt das dominante Vokabular von Sehen und Sichtbarkeit (kapfen, II,11; die wârheit schouwen, III,1) einen klar sinnlich-erotischen Akzent. 59 60
Vgl. hierzu auch Hübner 1996, 237-245, allerdings mit anderer, gattungspoetischer Akzentuierung (Sieg „des laudativen Freudengesangs über das Lamento der Klagekanzone“; 240). Die bisherigen Versuche konzentrieren sich dabei auf das vermeintliche Problem der Zusammenfügung einer minnesängerischen und einer spruchdichterischen Perspektive; zur Diskussion vgl. den Kommentar in der Ausgabe Schweikles, Bd. 2, 728.
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Szenerie, Thematik und hyperbolischer Gestus entsprechen im übrigen der Schilderung von Markes Hoffest in Gottfrieds ,Tristan‘ (518ff.): Auch hier bietet der Mai alles auf, was er hat, auch hier setzt der allgemeinen Wonne aber erst die Schönheit von Markes Schwester Blanscheflur die Krone auf – wer sie sieht, der minnete dâ nâch iemer mê / wîp und tugende baz dan ê (637f.). Ein ähnlich konsensuelles Urteil will die Sängerstimme bei Walther ihren Zuhörern aufzwingen. Wie es im ‚Tristan‘ aber einen gibt, der konkreten erotischen Gewinn aus Blanscheflurs Schönheit zieht (nämlich ihr Geliebter, Riwalin), so ist es auch hier der Minnesänger, der den Preis heimführen will.61 Die Parallele verdeutlicht die konkrete erotische Perspektive der Maien-Strophen (Cor 23). Sie ist eben in der pastourellenhaften Szenerie und in der imaginierten körperlichen Präsenz der schönen Herrin gegeben, die sich in einem Moment des Augenscheins und der Sichtbarkeit ereignet und die Voraussetzung für das Urteil bildet: Wie die Sonne tritt sie auf. Wir alle lâzen alle bluomen stân / und kapfen an daz werde wîp (II,10f.). Auch diese Hyperbel hat eine Entsprechung im ‚Tristan‘: Isoldes Schönheit überbiete jene Helenas; nicht von Griechenland, sondern von Irland her erstrahle die neue, wahre Sonne der Schönheit: alle gedanke und alle man / die kaphen niuwan Îrlant an (8281f.), so heißt es in Tristans Lobpreis auf Isolde vor Markes Hof. Und auch hier wird bloß einer aus dem consensus omnium seinen konkreten erotischen Nutzen ziehen. Den alleinigen Gewinn aus dem allgemeinen Urteil beansprucht nun aber auch das poetische Subjekt in Walthers Lied: Der Sänger ist es, der zwischen Mai und Dame das bessere Stück wählt oder schon gewählt hat. Diese Wahl aber ist angesichts der Szenographie nicht bloß eine galante Entscheidung im Sinne sublimierter Hoher Minne, sondern ein Zugriff mit deutlich erotischer Absicht. Wenn man dies mit der Formel von Niederer und Hoher Minne verbindet, wie sie die Mâze-Strophen (Cor 23) formulieren, so erweist sich die Divergenz beider Konzeptionen letztendlich aufgehoben, sofern sie überhaupt je darin bestand, dass die eine auf sinnliche Erotik, die andere auf sublimierte Liebe ziele. Auch für die Hohe Minne reklamiert das Lied somit jene Sinnlichkeit, die man in den beiden Mâze-Strophen üblicherweise der Niederen Minne zugeschrieben sieht.62 Damit wird die Rede 61
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An eine konkrete intertextuelle Relation zwischen beiden Texten wäre im übrigen durchaus zu denken, in welche Richtung auch immer, denn Gottfried lobt bekanntlich Walther als Meister-Nachtigall des Minnesangs (4798ff.) und warum sollte sich Walther nicht zu einem Riwalin stilisieren, wenn er sich anderswo als Waltharius manu fortis geriert (Cor 50.V,10; L. 74,19)? Auf diesen Schluss scheint auch Hugo Kuhns Deutungsansatz (1982, 49-60) hinauszulaufen, der ein Konzept der „,Natur-Liebes‘-Lust und [der] Lust an der ,höfischen‘ frowe“ (ebd., 52) differenziert: Die höfische Minneherrin erscheine als „Maienkönigin“ und damit
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vom Schaden und von der Gefährdung verständlich, die dem Sänger von der lockenden Hohen Minne und unter Führung der herzeliebe drohe, wie es in der zweiten Mâze-Strophe heißt. Die Minneherrin des Hohen Sangs tritt als neue, bessere Pastorella in Erscheinung. Auf diese Pointe scheinen das eine Lied (nach den Fassungen C und E) oder die beiden respondierenden Liedteile (nach A, B und F) hinauszulaufen. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang auch das begriffliche Changieren des Textes zwischen unmarkiertem wîp, markiertem werdem wîp und der höfischen frowe (werdiu frowe, mîniu frowe). Auch wenn man Kurt Ruh63 zustimmen wird, dass die Forschung den programmatischen Charakter des Liedes zu sehr betont hat, so wird man nicht umhin können, dem Text eine eminent programmatische Tendenz zuzusprechen. Wenigstens scheint dies auf das Walther-Corpus in Handschrift A zuzutreffen, das mit diesen fünf Strophen eröffnet. Wenn nun eine mögliche Lesung des Liedes die ist, dass es jene Sinnlichkeit in die Sphäre Hoher Minne hineinhebt, die wir gewöhnlich der Niederen Minne zugewiesen sehen, so könnte dies bedeuten, dass – zumindest aus der Perspektive von A – alle Register von Walthers Minnesang als legitime Modalitäten Hoher Minne gedacht sind. Damit würde sich die übliche Ausschlachtung der „Programmstrophen“ für eine Werkchronologie erledigen, nämlich, dass Walther hier seinen „Liedern der Niederen Minne“ abschwöre, denn diese gäbe es gar nicht. Auch was üblicherweise unter dem Titel „Mädchenlieder“ firmiert, fiele unter die Kategorie einer neu gedachten Hohen Minne, ganz zu schweigen von jenen sinnlicherotischen Liedern eines zweifellos Hohen Sanges, wie beispielsweise dem Preislied ,Si wunderwol gemachet wîp‘ (Cor 30, L. 53,25). Die Rede vom „Beinahe-Tod“ durch Niedere Minne wäre somit als Irrealis aufzufassen, als eine Möglichkeit des Singens und Liebens, der sich der Sänger fast ergeben hätte, wenn sich Sinnlichkeit nicht als Moment Hoher Minne integrieren lassen hätte. Dass es dies tut, betonen die Strophen mit Verve – hier ist Walther im übrigen nicht alleine (wie schon die Parallelen zum ‚Tristan‘ zeigen), bestenfalls stünde er mit Morungen gegen Reinmar, doch auch dies würde bloß ein Klischee der Literaturgeschichtsschreibung prolongieren.
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als Objekt konkreten erotischen Begehrens. Kuhns Verständnis des Mai-März-Adynatons (ich lasse von ihr – meiner höfischen Minneherrin – dann, wenn mir der Mai zum „Merci“ wird, wenn die Minneherrin also in die Rolle der Pastorella schlüpft) scheint mir vom Text her zwar schwerlich richtig, sinngemäß aber durchaus passend: ,Der Mai muss mir eher März sein, als dass ich von ihr ließe, die auf der Maienwiese, wie eine werde Pastorella erscheint.‘ Ruh 1985, 189.
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Walthers „Hohe Pastourelle“, wie wir Lied Cor 23/23a behelfsmäßig nennen könnten, propagiert ein liebestheoretisch inklusives Modell höfischer Liebe, das den vier gradus amoris entspricht, die Andreas Capellanus in seinem Traktat entwirft.64 Man muss nicht unbedingt von einem Bezug des Textes auf ‚De Amore‘ ausgehen, jedenfalls scheint er darauf abzuzielen, die (wenigstens vermeintliche) Eingespieltheit des Hohen Sangs oder genauer: der Werbekanzone aufzubrechen, die mit ihrem sublimen Lohngedanken über die ersten beiden Grade nicht hinausgelangt. Damit wird freilich jenes Moment der „Unheimlichkeit“, das der Niederen Minne eignet, in die Sphäre der Hohen Minne herübergehoben. Und auch hier besteht diese Unheimlichkeit in nichts anderem als in einer prononcierten Weltbezogenheit, die sich im Erotischen manifestiert. Man kann dies wiederum von Andreas Capellanus her untermauern, der im dritten und letzten Buch seines Traktats den amor curialis als amor carnalis zurückweist. Die metonymische Nähe von Eros und vanitas propagieren ferner Walthers Weltklagen selbst und später eben die Begegnung von Wirnt und Welt im Zeichen Hoher Minne bei Konrad von Würzburg. Sujet und Allegorie der vanitas allegorisieren weltliche Liebe als Weltliebe und referieren damit auf eine Gleichsetzung, die zu den fundamentalen Denkformen christlich-theologischer Weltkritik zählt. Sind sie im Modus Hoher Minne verfasst, so stellen sie nicht bloß das erotische Begehren in seiner Nähe zu luxuria und mors zur Debatte, sondern höfische Kulturalität insgesamt. Dies wird auch an den bildnerischen Allegorien des „Fürsten der Welt“ und der Luxuria zu zeigen sein.65 In der Gestalt der Frau Welt selbst konfligieren ferner ein chronologisches und ein ontologisches Moment: Das Körperschema der Allegorie läuft prinzipiell auf eine Identifizierung von Schönheit und Verfall hinaus, radikalisiert also das Problem der Vergänglichkeit alles Irdischen; Vorne und Hinten lassen sich aber zugleich als Repräsentation der Zeit und des Zeitlichen, als Vorher und Nachher lesen: Mit der Frage von Weltabkehr und Weltverachtung verbindet sich folgerichtig ein „biographisches Kalkül“. Dieser Zusammenhang von vanitas und Lebensweg soll uns im Folgenden – wiederum am Beispiel Walther – interessieren, zumal unter der Perspektive des Werks, das diesen Lebensweg erst konstituiert, und mit Blick auf die ästhetische und poetologische Signifikanz, die sich daraus ergibt.
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Liber I, cap. VI.A, Trojel p. 32f. Es sind dies spei datio, osculi exhibitio, amplexus fruitio, totius personae concessio (Liebeshoffnung, Kuss, Umarmung, Hingabe). Da von diesen Graden im Gespräch zwischen plebeius und plebeia die Rede ist, ließe sich einwenden, dass sie für die höfische Liebe, also für die fin’amor nicht gelten können (und noch weniger für die Hohe Liebe). Dagegen sprechen freilich wiederum Tagelied und Tristanroman. Vgl. unten Kap. II.1.
4. Welt und Walther VANITAS UND LEBENSWEG. – Wirnt von Grafenberg hat sein Bekehrungserlebnis als avancierter Ritter und Weltmann. Frau Welt erscheint ihm am Abend. Auch wenn er an Jahren noch jung genug ist, um zum Kampf ins Heilige Land zu ziehen, imaginiert ihn Konrads Versnovelle offenkundig als einen Mann, der seine !"#$ bereits überschritten hat, der jenseits der vielbesungenen „Hälfte des Lebens“ steht, an deren Schwelle auch das Ich in Oswalds von Wolkenstein „poetischer Beichte“ Rückschau hält. Es gibt einen Kairos, eine angemessene Grenze, an der die Erkenntnis bisheriger Weltverfallenheit fällig, aber noch nicht versäumt ist, an der die conversio von einem Leben, das die vanitas des Diesseitigen offensiv verleugnet, hin zu einem Leben, das sich ihrer bewusst ist, ihren rechten Ort findet. In einer Versnovelle wie Konrads ‚Der Welt Lohn‘ beschreibt die Weltabkehr einen exemplarischen Akt, der den Intentionen der Gattung zufolge allgemeine Geltung behauptet (ungeachtet dessen, dass diese Gültigkeit bei Konrad ironisch unterlaufen wird). Wenn die conversio aber im Rahmen eines lyrischen Œuvres thematisch wird, eignet ihr eine konkrete poetologische Signifikanz jenseits des bloß Exemplarischen. Sie konstituiert ein biographisches Narrativ. Während andere Formen der Bezugnahmen zwischen Liedern das Liedcorpus bloß als ein strukturiertes Œuvre erscheinen lassen, schreibt sie ihm den Lebensweg der sprechenden poetischen persona als Subtext ein. Dieser Lebensweg kann wiederum die Rezeptionsgeschichte – die mittelalterliche wie die moderne – maßgeblich lenken. Beispiele hierfür gibt die Tradition der Trobador-Viten oder eine zyklisch konzipierte Sammlung wie Petrarcas ‚Rerum vulgarium fragmenta‘. Mit der großen Schlusskanzone an die Vergine bella schwenkt sie endgültig auf die Dramaturgie der conversio ein und verleiht der „persönlichen“ Signatur des Zyklus eine entsprechende allegorische Dimension. Auch in diesem allegorischen Moment, das aus dem prononciert Subjektiven entwickelt wird und dieses Subjektive zugleich zum Paradigmatischen hin perspektiviert, erweist sich Petrarcas ,Canzoniere‘ der lyrischen Tradition verpflichtet. Das Schema ist bereits in Dantes ‚Vita nova‘ vorgezeichnet. Die schon im Titel implizierte Wende eines „individuellen“ Lebens beschreibt auch hier den Weg einer conversio. Diese conversio wird zum
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Ende des Textes hin in ihrer thematischen Geltung so weit geöffnet, dass sie dezidiert die Schwelle zu einem neuen Text bildet, auch wenn er in diesem poetischen Moment erst in Umrissen erahnt werden kann. Der Verlauf, den die ,Vita nova‘ schildert, trägt somit wesentlich zur Konstruktion eines Gesamtœuvres bei, das Dantes Werke zu einer poetischen Lebensschrift verschränkt: von den Liedern im dolce stil nuovo über den lyrisch-epischen Lebenszyklus der ,Vita nova‘ hin zur ,Comedia‘, mit ihrer kosmologischen und metaphysischen Überhöhung der Weltwanderung desselben, mittlerweile mehrfach konvertierten poetischen Subjekts, in dessen komplexer Erfahrung sich nichts anderes als das komplexe poetische Werk selbst spiegelt. Die Totalität der Welt manifestiert sich auf poetisch-narrativer Ebene in der Totalität des Lebensweges, auf poetologischer Ebene in der Gesamtheit des Œuvres.1 In der Tradition mittelhochdeutscher Lyrik findet sich wenig Vergleichbares; wenn es sich aber zeigt, so unter analogen Prämissen, die damit den Blick auf eine dominante poetische Denkform freigeben. Am Schema des Lebenswegs orientiert sich etwa der ‚Frauendienst‘ Ulrichs von Liechtenstein als der einzige Text, der ein mittelhochdeutsches Liedcorpus narrativ arrangiert. Der „lyrische“ Roman bringt gegen Ende hin ebenfalls das Bekenntnis vom versumt leben ein und begreift das Werk des Minnesängers und Minneritters in der Rückschau als eines der vanitas (Str. 1835f.). Die Lied-Corpora in den großen Sammelhandschriften sind grundsätzlich nicht nach derartigen narrativen Prinzipien organisiert. Ansätze zu einer lyrischen „Erzählung des Lebens“ werden jedoch aus der Perspektive einzelner Lieder entwickelt. Es war der Fehler der früheren Minnesangphilologie, gegen die Überlieferung und gegen die mutmaßliche produktions- wie rezeptionsästhetische Praxis von hier aus auf Liedchronologien und a priori konzipierte Zyklen zu schließen.2 Es ist kein Zufall, dass sich Ansätze zur Narrativierung zuerst im Kreuzlied finden, also in jener lyrischen Gattung, die sich wesentlich auf Thematik und Topik der conversio gründet, wie noch die Verbindung von Hoher Minne und Kreuznahme in ,Der Welt Lohn‘ erkennen lässt. Allerdings ist der Zeitpunkt der conversio im Kreuzlied nicht auf eine bestimmte Schwelle im Lebensweg festgelegt, da ihre Motivation ja von außen an das poetische Subjekt herantritt: als ritterliche Notwendigkeit, an der „Fahrt über Meer“ teilzunehmen. Das Phänomen kann an Friedrichs von Hausen fünfstrophiger Kanzone ‚Sî darf mich des zîhen niet‘ (MF V; 45,37) illustriert werden. Sie 1 2
Zu Dante und Petrarca ausführlich unten Kap. II.4. Eine ausführliche jüngere Kritik der Zyklustheorien bietet Haferland 2000, 91ff.
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wechselt vom Modus der Minneklage in jenen des Kreuzliedes3 und lässt das poetische Subjekt eine conversio von der Frauenliebe zur Gottesliebe vollziehen. Dabei zelebriert noch die zweite Strophe die Ergebenheit an die Herrin, obwohl sie als Verfallenheit an das Diesseitige hart ans Sündhafte rühre: Das Angedenken des Liebenden scheint der Minneherrin mehr Raum zu geben als Gott (swenne ich vor gote getar, / sô gedenke ich ir; V.2,6f.) – wenn dies aber Sünde wäre, wieso habe er sie so schön geschaffen? (ob ich des sünde süle hân / wie geschuof er sî sô rehte wol getân; V.2,9f.) Die dritte Strophe formuliert den Topos vom langen Dienst zur Lebensrückschau um, die mit dem einbekannten Liebeswahnsinn und mit der zunächst bloß konstatierten, aber nicht erklärten Hinwendung auf Gott endet. Die Erklärung wird in der vierten Strophe nachgeliefert: Die Herrin habe ihren Lohn verweigert, nu wil ich dienen dem, der lônen kan (V.4,10). Das paradoxe amoureux einer unbelohnten Liebe, an der dennoch festgehalten wird, bezieht seine poetische Plausibilität üblicherweise daraus, dass sich das einzelne Lied gerade keinen narrativen Verlauf einschreibt, sondern gleichsam auf der Stelle tritt. Bei Friedrich von Hausen wird dieses Prinzip mit dem angedeuteten Lebensweg der Sänger-persona durchbrochen. Die fünfte Strophe nimmt die Radikalität der Liebesabsage, die letztlich eine Weltabsage impliziert, in einem klaren „Güterrelativismus“ zurück: Welchen Schaden der Liebende auch erfahren habe, er werde weder über seine Herrin noch über alle anderen Damen Schlechtes sagen, beklage aber, dass er so lange auf Gott vergessen habe. Ihn wolle er als Ersten lieben, sie erst danach. Schon in dieser frühen Kanzone der Hohen Minne und der Gottesliebe begegnen wir somit jenen Momenten des Lebensweg-Schemas, die für die topische Konfiguration zumindest der lyrischen vanitas-Klage verbindlich sind: confessio und conversio. Was bei Friedrich von Hausen in Spuren zu fassen ist, wird in den Liedern Heinrichs von Morungen, Reinmars, vor allem aber Walthers von der Vogelweide virulent: nämlich ein untergründiges biographisches Narrativ, das das jeweilige Lied in ein Œuvre einbindet und ein persönlich konturiertes poetisches Subjekt, eine lyrische persona entwirft. Da das singende und das liebende Ich identisch sind und auf den paratextuell überlieferten Autornamen referieren, lässt sich präziser noch von einer textuellen Autorgestalt sprechen, die lyrische persona repräsentiert eine persona auctoris.4
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In Handschrift C sind die fünf Strophen unter einer Rubrik überliefert (C 20-24), Handschrift B bietet die letzte Strophe getrennt von den übrigen vier (B 6-9; 28). Zu Begriff und Theorie einer solchen persona auctoris M. Kern 2005[a]. Die Referenz zwischen textuellem Ich und Autornamen im Paratext wird vor allem an jenen Autorbildern des Codex Manesse deutlich, die lyrische Szenen ins Bild bringen, so im Falle Morungens
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Dennoch wäre es auch im Falle Walthers verfehlt, von einer systematischen, homogenen narrativen Verschränkung des gesamten Œuvres zu sprechen. Narrative Fäden werden freilich von einzelnen Liedern her gesponnen. Das Netz intertextueller Referenzen innerhalb des Corpus kennt dabei weder thematische noch generische Grenzen (wie sie die Philologie allerdings, vor allem zwischen Minnesang und sogenannter Sangspruchdichtung, konstruiert). Ein zentrales Schema bildet dabei eben jenes des Lebenswegs und es lässt am deutlichsten die innertextliche persona auctoris fassbar werden. Diese persona weist, tendenziell wenigstens, ein Profil „paradigmatischer Individualität“ auf, das sich mit den Ich-Stimmen bei Dante und Petrarca vergleichen lässt.5 Obwohl die handschriftliche Überlieferung hierzu kaum einen Anlass gibt, machen die modernen WaltherAusgaben daher gleichsam folgerichtig nach, was Petrarca zweckmäßigerweise selbst besorgt hat: Sie „reorganisieren“ ein thematisch und formal heterogenes, gleichwohl aber autoreferentiell geprägtes lyrisches Œuvre nach „narrativen“ (generischen, werkchronologischen und pseudobiographischen) Gesichtspunkten. ,ELEGIE‘. – Vanitas-Klage und conversio konzentrieren sich in Walthers Œuvre auf eine Liedgruppe, die für den unterschwellig miterzählten Lebensweg von besonderer Markanz ist. Dies drückt sich auch im Namen aus, den ihr die Forschung zudachte. Die Rede ist von Walthers „Altersliedern“.6 An seiner sogenannten Elegie (‚Owê, war sint verswunden alliu mîniu jâr‘; Cor 97, L. 124,1) lässt sich schlüssig zeigen, wie die Referenzen auf andere Lieder aus der topischen Klage ein Lebensweg-Schema entwerfen:7 Die Pose eines poetischen Subjekts, das am Lebensende aus dem geträumten Leben erwacht, kann zum einen auf den angenehmen „eitlen“ Traum des Minnesängers bezogen werden, wie ihn ,Nement, frowe, disen cranz‘ (Cor 51, L. 74,20) beschreibt; zum anderen entspricht sie jener des distanzierten, vereinzelten Beobachters aus dem ‚Reichston‘, der in den Worten vom Wasser, daz [...] fliuzet, als ez wîlent vlôz, auch konkret anklin-
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oder Walthers. Bei Walther kommt hinzu, dass der Autorname mitunter auch in den Text selbst gesetzt ist. Das Phänomen erscheint im übrigen bei Oswald literarhistorisch weniger markant und bemerkenswert, wenn man die zeitliche Nähe zu Petrarca bedenkt und sein Œuvre als Gesamtes betrachtet. Von den im Folgenden besprochenen Weltliedern Walthers handeln unter dem Titel „Alterslieder“ zumal die entsprechenden Kapitel der Einführungsbücher von Brunner/Hahn/Müller/Spechtler 1996, 215-221 (Spechtler), Bein 1997, 232ff. und Scholz 1999, 150-169. Ich hoffe, sie unter neuen Perspektiven betrachten zu können, die aus den eingefahrenen Bahnen der Gattungsdebatte (weltlich, geistlich, minnesängerisch oder sangspruchhaft) sowie der Frage nach ihrer biographischen und motivgeschichtlichen Substanz herausführen. Einen konzisen Überblick bietet Schweikle (Hg.), Bd. 2, 775ff.
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gen könnte (Cor 97.I,11; vgl. Cor 2.II,1; L. 8,28). Die Lamentationen über die gegenwärtigen Zustände korrespondieren den Papstschelten sowie der spöttischen Klage über den Trübsinn der heutigen Jugend (Cor 90a, L. 117,29) und über den Niedergang des höfischen Gesangs (Cor 41; L. 64,13). Da die allgemeine Freudlosigkeit schon die wilden Vöglein bekümmere, nimmt es nicht Wunder, dass auch der Sänger ganz verzagt ist. Offenbar will er sich mit dieser Analogie als zahmes, höfisches Vöglein begriffen wissen – man könnte die Stelle somit als eine verkappte Anspielung auf Walthers nom de plume lesen. In den folgenden Versen wird nun aber gerade jene Abkehr von der Freude vollzogen, die eingangs der tristen höfischen Gegenwart vorgehalten wurde, und damit ist die gesamte Klage über die traurigen Zustände, über die verkehrte höfische Welt, gleich wieder gelöscht: waz spriche ich tumber man durch mînen bœsen zorn? swer dirre wunne volget, der hât jene dort verlorn, iemer mêr ouwê. (II,15ff.)8
Der alternative Entwurf eines verlorenen und wiederzugewinnenden Lebens in höfischer Freude, den die Verse zuvor in Referenz auf andere Lieder andachten, verkehrt sich in eine Weltabsage, die radikal verschärft, was in der ersten Strophe über das Leben als Traum gesagt wurde: swer dirre wunne volget, der hât jene dort verlorn. Wer auf die Freuden hienieden aus ist, der hat die der Transzendenz verspielt.9 Ins Poetologische übersetzt bedeutet dies, dass die Referenzen auf Themen und Lieder des Œuvres letztlich dazu dienen, dieses als nichtig zu verwerfen. Die dritte Strophe spinnt den Gedanken zu einer dezidierten vanitasKlage weiter. Sie hat – unter dem Schleier einer abstrakten Begrifflichkeit – deutlich die figura der Frau Welt vor Augen: Alles Süße sei Betrug, im Honig perlt die Galle, diu welt ist ûzen schœne, wîz, grüen und rôt, / und innan swarzer varwe, vinster sam der tôt (97.III,3f.).10 Wer von ihr verführt worden sei, der möge hersehen, was ihn tröste. Was nun folgt, ist aber nicht wie im Falle des Lohns, den Frau Welt persönlich spendet, die zynische Epiphanie der schönen Verwesenden, sondern ernste und optimistische Mahnung: Nicht viel bedarf’s zur Buße und sie ist Sache der Ritter, die nun als eigentliche Adressaten des Liedes angesprochen werden. Sie tra8 9
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‚Was rede ich, dummer Mann, in meiner törichten Wut? / Wer den Freuden hienieden nachhängt, der hat jene dort verloren, / immerfort o weh!‘ (II.15ff.) Die ‚Elegie‘ spiegelt damit die in C vorangehende Weltabsage von Lied Cor 96 (L. 122,24; ,Ein meister las‘). Die „unsichere“ Negativität gegenüber der Welt äußert sich noch in diesem „Bußgebet“ in den Formeln einer kaum zu vollziehenden Abkehr (Ein tumber wân, den ich zer welte hân, (…) ich solte in lân; II.1ff.; man beachte Präsens und Konjunktiv) sowie in der Verpflichtung Christi zur Hilfe (Str. IV). Zu den Metaphern der bitteren Weltsüße, Honig und Galle, vgl. Fechter 1958.
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gen Helm, Rüstung, Schild und geweihte Schwerter und haben damit schon verdient, was ihnen als Trost versprochen wird (werden also mehr gefeiert denn ermahnt). Könnte er, so der greise Sänger, ebenso großen Lohn verdienen, wie ihn der Kreuzritter erwerben kann, nämlich die Krone des ewigen Lebens; könnte er die „liebe Reise“ übers Meer antreten, er sänge „wol!“ und nicht mehr „ouwê!“. Was die ersten beiden Strophen der ‚Elegie‘ bis zur Abkehr von der Idee höfischer Freude bieten, lässt sich auch als ein Cento aus dem eigenen Werk verstehen. Und nichts anderes als dieses Werk ist eben das Leben, von dem hier berichtet wird. Leben und Werk fallen ineins. Es spricht also nicht das biographische Subjekt, nicht der historische Autor, sondern die persona auctoris als eine textimmanente Konstruktion, die über Referenzen auf Œuvre und Gattungstradition entworfen wird. Diese Strategie lässt sich an der ‚Elegie‘ beispielhaft ablesen und deshalb muss sie in der Forschung noch immer als Kronzeugin dafür herhalten, wie berechtigt eine biographistische Lektüre wäre, auch wenn man dies heute nur noch mehr oder weniger versteckt aussprechen will.11 Indem sie Alterslied und Kreuzlied zusammenzwingt, verschränkt die ‚Elegie‘ außerdem – und darauf kommt es in unserem Zusammenhang an – zwei Formen der Weltabkehr, die im Kairos und in der Praxis ihres Vollzugs differieren: die des bewaffneten Pilgers und die des Alten. Diese Verbindung lässt den Text ohne Rücksicht auf argumentative Stringenz erstaunliche Wendungen nehmen: Einerseits wird das Durchlebte schon in den ersten Versen als eitler Traum erkannt, andererseits aber der triste Zustand einer heutigen Welt beklagt. Was Weltabkehr sein will, affirmiert also zunächst einen bloß verloren gegangenen geglückten Weltbezug. Dessen beschworene Positivität ist identisch mit dem, was das Werk formuliert hatte, was also Teil des traum- und scheinhaften Lebensentwurfs des Sängers gewesen und somit ebenfalls als eitel zu widerrufen wäre (Str. I und II). Die Alternative, die als einfache und wirkliche ausgegeben wird, ist die Lebensform des Kreuzritters (Str. III). Gerade für sie kann sich aber der, der hier als Greis spricht, nicht mehr entscheiden. Dieses absurde Dilemma erzeugt dabei erst die propagandistische Schlagkraft des Tex11
So in Jan-Dirk Müllers Deutung von Walthers Preislied, die mit den Worten endet: „Ir sult sprechen willekomen – Warum sollte Walther nicht wirklich irgendwo angekommen sein, als er diese Worte sang?“ (J.-D. Müller 1994, 21) Die Pointe des Liedes ist es freilich gerade nicht, dass der historische Walther mit ihm einmal irgendwo angekommen wäre, sondern dass die textuelle persona immer wieder wo ankommt und dabei noch den heutigen Philologen glauben lässt, er sei wie sie nun am rechten Ort und verdiene dafür rechten Lohn. Das Lied gibt den ironischen Bezug, den Müller zwischen sich und Walther herstellt (es handelt sich um seine Antrittsvorlesung in München), als prekäre Meta-Ironie zurück. „Echte“ Werbehandlung will Haferland 2000 aus dem Minnesang bis Walther rekonstruieren, als mittelalterliche Form der Erlebnislyrik fasst ihn U. Müller 2002.
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tes: Das poetische Subjekt imaginiert einen erlösenden Ausweg aus seiner desperatio gegenüber Leben und Welt, der der Logik des Adynatons gehorcht: Sein Seelenheil würde er finden, wäre er nicht der erwachende Greis, sondern der junge Kreuzritter, dem nicht der eigene Lebensweg, sondern die große Historie, die hohe Politik den Zeitpunkt weist, an dem es recht ist umzukehren. Das Lied schließt folgerichtig im Irrealis: möht ich die liebe reise gevarn über sê, / sô wolte ich denne singen wol unde niemer mêr ouwê. Muss dieser Irrealis nicht zwangsweise auch auf die transzendente Verheißung abfärben, die die Reise übers Meer in Aussicht stellt? ,ALTERSTON‘. – Die Schwelle des Alters ist jener Lebensmoment, an dem sich der mittelalterliche Christenmensch tunlichst von der Welt lossagen soll. Neben der ‚Elegie‘ thematisiert dies Walthers Lied ‚Ir reiniu wîp, ir werden man‘ (Cor 43, L. 66,21), sein sogenannter ‚Alterston‘. Ihm weist nicht erst die moderne Philologie, sondern allem Anschein nach auch die handschriftliche Überlieferung eine prominente Position zu: Der gemeinsame Bestand der Handschriften B und C, hinter dem sich mit großer Wahrscheinlichkeit eine ältere Sammlung *BC verbirgt, endet mit dem ‚Alterston‘. Für den poetischen Lebensweg, der sich dem Œuvre einschreibt, ist er jedenfalls von einiger Signifikanz. Er verbindet die Radikalität der Absage mit der Konzilianz eines Abschieds. Beide Perspektiven tragen wesentlich die lyrische Spannung des Liedes und lassen exemplarisch das breite Spektrum dessen erkennen, was Welt und Eitelkeit des Irdischen der Poesie des Hochmittelalters bedeuten können. Nicht unerheblich für die Gewichtung der Spannung ist die Reihung der Strophen, und so muss auf die Fassungen des Liedes besondere Rücksicht genommen werden.12 Folgen wir zunächst der Fassung von Handschrift B und C, die eben mit dem Abschied von den reinen wîp und den werden man, von der Welt des Hofes also, beginnt. Von dieser Welt fordert der Sänger unbedingte Anerkennung ein (daz man mir muoz / êre und minneclîchen gruoz nû volleclîcher bieten an; I,2ff.13). Wie ein erzwungener Gruß zugleich ein minniglicher sein könnte, bleibt freilich ungeklärt. Die Autorstimme begründet ihre Forderung mit der vierzigjährigen Praxis eines Minnesangs, der immer so war, 12
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Die Unüberschaubarkeit der Forschungsliteratur zum ‚Alterston‘ erweist sich am eindrücklichsten darin, dass schon der Hinweis auf sie zum Topos geworden ist. Meine Ausführungen orientieren sich an McFarland 1982, Wachinger 1989, Knapp 1993 und vor allem an J.D. Müller 1995. volleclîcher ist Komparativ; den Positiv volleclîchen überliefert Hs. A, allerdings mit einem vorgestellten noch, das sich besser zum Komparativ fügt. In beiden Fällen ist implizit der Aspekt eines „mehr als bisher“ mitformuliert, in ihm wird die finale Perspektive, die das Lied grundiert, deutlich: Dichtung und Werk gelangen an einen Endpunkt.
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wie er sein soll.14 Das wäre nun noch keine Rückschau auf ein „abgeschlossenes Werk“ und kein Abschied, würde in den folgenden Versen nicht einbekannt, dass sich der Sänger einst gemeinsam mit seinem Publikum an diesem Sang erfreut habe; dies sei ih m aber nicht länger möglich, sondern bloß „iu gar“ – „nur noch Euch“. Sein Minnesang möge ihnen weiter dienen, er habe dafür ihre hulde. Die zweite Strophe betont – vereinfacht gesagt – die verdiente Ehrenstellung des Sängers, unabhängig von jedem tatsächlichen Stand, und schließt mit der gnomischen Aussage, dass das lobenswerteste Leben jenes sei, bei dem man am Ende rechtens handelt und dem Ende Entsprechendes tut (swâ man dem ende rehte tuot; II,12) – auch dies ein Abschied. Wenn die dritte Strophe hier konsequent anschließt, so steht die Einlösung der Gnome in einem krassen stilistischen Missverhältnis zu der Abgeklärtheit, mit der sie geäußert wurde. Es folgt nämlich eine scharfe Anklage der Welt: Der Sänger will ihren Lohn erkannt haben; sie nimmt ihm, was sie gab, und dafür muss sie sich schämen. Leib und Seele – zuviel also – habe er um sie tausendfach gewagt, nun sei er alt und sie treibe mit ihm ihre Possen. Es wäre jedoch nicht Walther, wäre diese Anklage nicht auch mit ironischer Verstellung gesprochen und würde sich in ihr nicht zugleich eine Referenz auf das eigene Œuvre verbergen. Zu fassen ist dies in den Analogien der Weltschelte zur „Klage gegen Frau Minne“ (Cor 17; L. 40,19). Damit sind wir weiterhin (wie schon mit dem vierzigjährigen Minnesang) auf die persona auctoris verwiesen, die aus dem topischen Gestus des Klägers ihre individuellen Konturen gewinnt. Ambivalent bleibt auch das Folgende: Wenn er zürne, lache sie, die Welt. Ein Weilchen möge sie noch lachen – das klingt zunächst wie die Bitte um ein paar schöne letzte Tage, mündet aber in eine apokalyptische Drohung: Auch für die Welt werde der Jammertag kommen. Er werde ihr endlich 14
wol vierzic jâr hân ich gesungen unde mê / von minnen und alse iemen sol (I,7f.); Die Phrase und alse iemen sol könnte auch als ,und wovon man sonst noch singen soll‘ verstanden werden. Damit wären die beiden großen Register angesprochen, nach denen die Philologie Walthers Werk gliedert: Minnelied und Sangspruch. Deren strikte Trennung ist jedoch eine philologische Marotte, die den Interferenzen im Werk nicht gerecht wird. Auch kann ich die Ausführungen J.-D. Müllers (1995, 8ff.) zu Sprecherwechsel und „Depotenzierung“ bzw. „Dekomposition der Sprecherrolle“ (ebd., 10/11) nicht nachvollziehen, jedenfalls nicht insofern, als die Rolle des Minnesängers von der des Spruchdichters geschieden und eine nach der anderen abgelegt würde, bis der Sprecher „auf seine nackte Kreatürlichkeit zurückgeworfen“ wäre (ebd., 10; dem philologischen Schema nach wäre dies erst recht eine spruchhafte Pose, es sei denn, man würde diese Kreatürlichkeit biographistisch verstehen: als die der historischen Person und nicht der poetischen persona. M. E. geht es gerade im Alterston aber um e i n Œuvre, das fortwährend mitverhandelt (also gerade nicht „depotenziert“ oder „dekomponiert“) wird. In dieser Hinsicht bietet Handschrift C eine interessante Variante für Vers 11: statt „mîn minnensanc, der diene iu dar“ heißt es „minnen sang, der diene iu dar“ – könnte es nicht einfach „mîn sanc“ geheißen haben?
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das nehmen, was sie „uns“ schon genommen habe, und sie schließlich noch verbrennen. Der Klage folgt in Strophe IV die conversio. Das Lob der lîbes minne soll verworfen werden, weil es der sêle leit sei. Statt dessen möge sich der lîp jener Liebe entsinnen, die beständig und würdig sei: Lîp, lâ die minne, diu dich lât, / und habe die stæten minne wert (IV,9f.). Das ist zum einen die in der Weltabsage gängige Verdammung des Irdischen und bekräftigt zum anderen das Ende jenes Minnesangs, der in der ersten Strophe an das Publikum abgetreten wurde. Dass Liebeslob im theologischen Sinn Seelenleid bedeute, erinnert im übrigen an den „Beinahe-Tod“, von dem die füegerinne-Strophen sprachen, und unterstreicht, wie nahe am Sinnlichen auch Hohe Minne liegt. Die letzte Strophe (V) wendet sich schließlich an ein schœne bilde, das sich der Sänger erkoren habe; es habe seine Schönheit und seine rede (seine Wortmacht, seine Überzeugungskraft) verloren. Das Wunderbare, das ihm innewohnte, sei entschwunden und so sei es verstummt. Was lilien- und rosenfarben war, habe nun die Farbe des Kerkers, Geschmack und Glanz seien dahin. Dem folgt ein knappes „Gebet“: Mîn bilde, obe ich gekerket bin in dir, sô lâ mich ûz alsô, daz wir ein ander vinden frô, wan ich muoz aber wider in.15
Die Welt, die in Strophe III bloß halb personifiziert angeklagt wurde, nimmt hier konkrete Gestalt an. Der Wechsel vom blühenden Leben zum blassen Kerker folgt dabei derselben Dramaturgie, in der sich die personifizierte Vanitas später, bei Konrad oder bei Michel Beheim, ihren Jüngern zu erkennen geben wird. Und so hat die Forschung konsequenterweise im erwählten bilde auch Frau Welt sehen wollen.16 Dass der Sänger in sie wieder einkehren müsse, lässt sich theologisch gut erklären: Am Jüngsten Tag ersteht alles Weltliche in seiner ganzen Körperlichkeit, und wenn die Welt 15 16
‚Mein Bild, wenn ich eingekerkert bin / in dir, so lass mich auf eine Weise frei, / dass wir einander froh wiederfinden, / wenn (weil) ich wieder in dich eintreten muss.‘ (V,9ff.) So noch J.-D. Müller 1995, 16f. mit detaillierten Hinweisen auf die bilde-Deutungen in der Forschung (Leben und Leib des Sängers, Welt, Gesellschaft u.a.m.). Genauer gesagt meint Müller, dass das schöne bilde „die vrouwe als Erscheinung des Inbegriffs höfischer Vollkommenheit“ (14) meine. Es werde „im Vollzug der Rede mit dem anderen häßlichen der Frau Welt überschrieben“ (17), „das Bild der vrouwe [wird] in das der Frau Welt hinübergespielt.“ (16) Ich akzentuiere dies im Folgenden etwas anders: dem schönen bilde als Chiffre der (poetisch entworfenen) vrouwe wird zwar eine Metaphorik der vanitas eingeschrieben, das eine und das andere Bild meinen aber gerade nichts „Verschiedenes“ (ebd., 14). Die konkrete Lesung des Begriffs bilde schließt im übrigen jene vielschichtige Referentialität nicht aus, die sich in den bisherigen Deutungen niederschlägt, sondern inkludiert sie gerade im eigentlichen Sujet und Fokus des Gesangs: eben in der poetisch entworfenen Geliebten.
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den Sänger hier im Liede nun aus ihrem carcer carnalis entließe, so müsste er dereinst wieder in sie eintreten. Gleichwohl kann sich in Walthers bilde nicht Frau Welt als solche verbergen. Denn dies würde voraussetzen, dass die Allegorie schon hier jene präzise Prägung erfahren hätte, die erst mit der Versnovelle Konrads von Würzburg gegeben ist. Es ist vor allem aber die Ankündigung der vorangehenden Strophen (I und IV) – mit dem lobe der lîbes minne, also mit dem Minnesang sei es zu Ende –, die eine konkretere Lesung des Begriffs notwendig macht. Bedenkt man außerdem, dass es das Herz der Minnedame wäre, in dem sich der Sänger am liebsten zu Hause wüsste, und dass ein solches Herz denn auch der Ort sein müsste, in den er gerne wieder einginge, so sind die Metaphern der vanitas niemand anderem als der Herrin selbst auf den Leib geschrieben. In der Verdrehung des üblichen Topos (von der Geliebten im Herzen des Sängers zum Sänger im Herzen der Geliebten) ließe sich dabei gerade die besondere Pointe des Textes erkennen. Die Deutung des bilde als vrouwe ist nicht neu. Sie lässt sich aber – und darauf kommt es mir an – poetologisch weiterdenken: Die Geliebte ist nichts anderes als die zentrale Imagination des Sanges und insofern eine Metonymie des Werks. Dieses Werk wird nun in der ersten Strophe denen hinterlassen, die im Hienieden bleiben; in der vierten Strophe wird ihm abgeschworen. Mit der vrouwe wird es alt; wie s i e dem Liebenden, sagt e s dem Autor, der es in die Welt gesetzt hat, nichts mehr. Es ist der Kerker, der ihn hier gefangen hält, der ihn an die Welt bindet. Lesen wir das geliebte bilde poetologisch, so führt die letzte Strophe also zu Ende, was die vorangehenden fortwährend thematisieren: Sie beschreibt eine schwierige „Entbindung“ des Autors vom Werk. Er geht, es bleibt. Für ihn ist es fahl und kerkerfarben geworden, die Welt hingegen schuldet ihm dafür Dank und Anerkennung. Der Geburt des Werks im Tode des Autors ist in den letzten beiden Versen zugleich die Aussicht auf eine Wiedervereinigung am Ende der Zeiten zur Seite gestellt. Vielleicht können wir Walther dereinst fragen, ob er es so gemeint habe. Bis zu diesem unsicheren Zeitpunkt müssen wir uns mit folgender Absicherung zufrieden geben: Der ‚Alterston‘ argumentiert fortwährend und simultan auf zwei Ebenen: auf einer binnenfiktionalen und auf einer poetologischen. Auf der einen Ebene werden Liebe, Leben und Welt verhandelt, auf der anderen die Praxis des Dichtens und das Werk. Im bilde als dem „Geschöpf“ der Autor-persona (i c h hâte ein schœne bilde erkorn, m î n bilde) ist beides – Liebe und Werk, Sujet und Sang – zur Identität gebracht. Es überdauert die Existenz des Autors hienieden und es wird die Sphäre der Immanenz, für die und in der es wirkt, im eschatologischen Moment
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transzendieren. Der Perspektive des Endes ist damit eine Perspektive des Überdauerns, es ist ihr die Permanenz des Werks entgegengesetzt. Die Absage an Hof (Str. I), Welt (Str. III) und an das Lob weltlicher Liebe (Str. IV) mündet in der Fassung BC in eine finale Geste des Abschieds, eines Abschieds auf unbestimmte Zeit (denn wer weiß, wann der Jüngste Tag kommen mag), aber nicht auf ewig. Signifikant ist die Konzilianz, mit der sich dieser Abschied formuliert: gegenüber dem eben noch verdammten bilde als dem Ziel des lange praktizierten Sanges, damit natürlich auch gegenüber dem eigenen Werk, das denen überlassen ist, die noch länger hienieden weilen mögen. Diese Konzilianz ist es, die die drastische Abkanzelung des einst erwählten Bildes erst ermöglicht, die sie erträglich macht und kompensiert. Was das Lied damit auch bietet, ist ein Minnesang, der eben nicht mehr so ist, wie er sein soll: ein Minnesang, der sich an eine Herrin wendet, die gleichsam mit dem Sänger alt geworden ist und so wie er an der Schwelle zum Tode steht. Sie ist als Bild gezeichnet, das seinen Glanz verlor, das nunmehr – wenngleich in gemäßigter Ikonographie – jenen Anblick bietet, den Frau Welt schauen lässt, wenn sie sich wendet. Darin ließe sich wiederum eine Referenz auf das Œuvre erkennen, nämlich auf die bekannte und berüchtigte Hohe-Minne-Parodie ‚Lange swîgen des hât ich gedâht‘ (Cor 49; L. 72,31), in deren letzter Strophe (nach der Fassung AC) der im erfolglosen Minnedienst gealterte Sänger seine Herrin nicht eben jünger werden lässt. Dem jungen Sänger, den sie dann gerne hätte, empfiehlt der alte, ihre ebenso alte Haut nicht mit Liedern, sondern mit der berühmten Weidenrute zu traktieren. Von einer solchen Flagellationsphantasie will Walthers ,Alterston‘ zwar nichts mehr wissen, für das, was sich im höfischen Gesang schickt, ist die Kerkerfarbe aber drastisch genug – eine Kerkerfarbe, mit der jenes Gesicht übertüncht wird, das der Sänger einst gar ze hêre gemalt haben wollte (,Si wunderwol gemachet wîp‘; Cor 30.III; L. 53,35ff.). Wenn er sie somit auch gleichsam mit ins Grab nimmt, ist dennoch zweifelsfrei gesagt, was bleibt: innerpoetisch die unbedingte, nur suspendierte säkulare Liebe des Sängers, metapoetisch aber das eigene poetische Werk, das als Weltwerk hienieden zurückgelassen wird. Ihm als Signum der vanitas abzuschwören, ist Angelegenheit des Alten, dem keine Zeit mehr bleibt. Die Jungen dürfen ihm weiter ergeben sein, sie dürfen sich – in den Worten der ‚Elegie‘ gesprochen – weiter der freudvollen Traumwelt des Diesseits hingeben. Weltabkehr präsentiert sich im ‚Alterston‘ also nicht als prinzipielle, sondern als individuelle Entscheidung. Sie folgt einer Chronologie, jener des Lebensweges, in der sie ihren festen Platz hat. Indem die ‚Elegie‘ das poetische Subjekt die Pose des Greises einnehmen lässt, entspricht sie dem ‚Alterston‘. Indem sie zugleich der Logik des Kreuzliedes folgt, radi-
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kalisiert sie freilich die Abkehr von der Welt vom bloß „biographisch“ indizierten zum universell gültigen Muss. Diese Abkehr lässt im Unterschied zum ‚Alterston‘ nichts bleiben als das geweihte Schwert, das der Alte kurioserweise und – weil er einer streng ideologischen Ratio folgt – verdientermaßen gerade nicht ergreifen kann. Auch wenn er als Kreuzritter gerne „tandaradei!“ sänge, wird ihm bloß das „ouwê!“ des greisen Alten bleiben. Sein Los muss uns nicht kümmern, war er es doch selbst, der es sich zuschrieb. Der ‚Alterston‘ evoziert die Topik von vanitas und Lohn der Welt unter einer Perspektive, die zwischen Abkehr und Abschied changiert. Die Fassung BC beschreibt dabei einen zyklischen Weg vom „Abschied zur Zeit“ über die „Abkehr“ zum „Abschied auf Zeit“, von der Übergabe des Minnesangs, des eigenen Weltwerks an die Jüngeren, die hienieden zurückbleiben, über die Anklage gegen die lohnverweigernde Welt, zur Hinwendung an den Gegenstand des Werks, das einst schöne, nun aber kerkerfarbene bilde, dem ins Herz wiedereinzukehren versprochen wird. Die Fassung A setzt die Schlussstrophen von BC an den Beginn. Dem Minnesang ist damit abgeschworen, bevor er den reinen Frauen und würdigen Männern (hier in der dritten Strophe) hinterlassen ward. Das schmälert den Wert des Erbes doch empfindlich. Den Schluss bildet die Lossagung von einer Welt, die selbst von jener Zeitlichkeit gezeichnet ist, mit der sie den Sänger narrt. Auch wenn Hof, Sänger und Dame klar Teil dieser Welt sind – Sänger und Dame zudem ein Teil, der vergehen muss, bevor die Welt vergeht –, so indiziert gerade die Fassung A deutlicher die notwendige Unterscheidung von bilde als konkreter Manifestation der Welt und dieser Welt als abstrakter Gesamtheit des Immanenten. Indes scheint mir im Unterschied zu Jan-Dirk Müller die „diskursive Einheitlichkeit“ der Fassung A nicht höher als die der Fassung BC17 und sie zielt auch nicht klarer auf die eschatologische Perspektive eines absoluten Endes. Der intime, melancholischere Ton, der die hier an den Anfang gesetzte Hinwendung an das bilde kennzeichnet, weitet sich bloß in einer konsequenten Klimax aus zur mahnenden Adresse an den Hof und schließlich zur Klage gegen die Welt als einer ontologischen Instanz, die zugleich sozial aufgefasst ist (Problematik des trügerischen Lohnes). Die Konzilianz auch dieser Fassung ließe sich ironischerweise gerade darin ermessen, dass sie mit der abschließenden Androhung des möglicherweise nahen Weltendes zugleich die Wiedereinkehr in das bilde für bald in Aussicht stellt.
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J.-D. Müller 1995, 23ff.
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MINNESANG UND TRANSZENDENZ: WALTHERS ,ALTERSTON‘ UND MORUNGENS ,MÖRDERIN‘. – Mit dem Versprechen, in das Bild, dem hienie-
den gedient ward, dereinst – zu transzendenter Zeit und an transzendentem Ort – wieder einzutreten, könnte Walther eine Vorstellung variieren, die Heinrich von Morungen in einem seiner berühmtesten Lieder entwickelt, nämlich in der Strophe an die vil süeziu senftiu toeterinne (MFMT XXXIV; MF 147,4).18 Sie beschließt das Morungen-Corpus der Manessischen Handschrift, womit auch hier ein biographisches Narrativ unterschwellig mitzulaufen scheint. Im Unterschied zu Walthers ‚Alterston‘ kündigt der Sänger in dieser „Vermächtnisstrophe“ jedoch nicht auf, sondern an: nämlich, dass er, von seiner Herrin zu einem sanften Tode gebracht, seinen säkularen Minnedienst mitnichten beenden werde: sol mir hie niht guot geschehen von iuwerm werden lîbe, sô muoz mîn sêle iu des verjehen, dazs iuwerre sêle dienet dort als einem reinen wîbe.19
Die Verlängerung des Dienstes ins Jenseits und damit in die Ewigkeit ist die konsequenteste Umsetzung des Programms der Hohen Minne. Sie impliziert nichts anderes als das Fortdauern des weltlich-erotischen Gesangs jenseits der Sphäre der Immanenz. Der Sänger, dieses selbsternannte Opfer der Liebe, bleibt der Täterin unbedingt und über den Tod hinaus verbunden. Gegen die literarhistorischen Chronologien gedacht geriert er sich damit petrarkistischer als Petrarca selbst, der am Ende über Laura doch „bloß“ zur Vergine bella gelangt. Dass Morungens poetisches Subjekt an einer Herrin festhält, die „dort“ als reinez wîp so extensiv wie nur möglich mariologisiert erscheint,20 bevorzugt gleichsam die danteske und möglicherweise mittelalterlichere Lösung. Freilich bleibt zu beachten, dass hier der „zeitlose“ Minnesänger spricht, der zwar schon einiges hinter sich gebracht hat, der aber eben nicht wie der Sänger des ‚Alterstons‘ dezidiert in die Jahre gekommen ist. Der bei Morungen phantasierte Liebestod wäre ein Tod zur Unzeit, eine mors immatura.21 Er korreliert nicht mit dem Kairos des Alters, und dies mag illustrieren, wie fern die poetische persona Morungens noch jener steht, der wir bei Walther begegnen. Ihre Zeitlosigkeit invertiert die im Angesicht des Todes fällige Abkehr zur Bekräfti18 19 20 21
Hierzu Ehlert 1993 und Kellner 1997, 50ff.; nur Weniges zum Lied selbst bietet die Untersuchung von Heller 1998. ‚Wenn mir hier nicht Gutes widerfährt / von eurem würdigen Leib, / so muss meine Seele euch versichern, / dass sie eurer Seele dort als einer reinen Frau dienen wird.‘ (9ff.) Hierzu Ehlert 1993, 50ff.; zum Mariologischen im Minnesang allgemein Kesting 1965. Ich würde das Verfahren nicht wie Tervooren 1993[a] als einsträngige Sakralisierung fassen, vgl. unten Kap. II.3, 226 und Kap. II.4, 266, Anm. 28. Zur Denkfigur des „unreifen Todes“ und zum Problem von Tod und Zeit vgl. Jankélévitch 2005, 164ff.
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gung des Weiterminnens. Sie verweigert jene Zeitlichkeit, die dem säkularen Minnedienst bei Walther anbemessen ist. Hier artikuliert sich eine andere Sängergestalt und darin lässt sich auch der fundamentale konzeptionelle Unterschied zu Petrarca fassen, bei dem das Ende des „symbolischen“ Jahres, das die 366 Gedichte des ,Canzoniere‘ beschreiben, ja auch für das Ende eines dichterischen Lebens stehen wird; schon im fehlenden Moment der Zeitlichkeit besteht auch die Differenz zu Dantes BeatriceLiebe, deren Verlauf ebenso einem präzisen biographischen Schema folgt. Morungens transzendenter Minnedienst richtet sich an eine, die bloß a l s ein reinez wîp erscheint, niemals aber dieses, nämlich Maria selbst sein kann. Auch wenn man gewarnt sein muss, eine solche poetische Hyperbel als Häresie fehlzudeuten, so bezeichnet sie doch eine Grenze dessen, was noch gesagt werden kann. Sie bezeichnet eine äußerste lyrische Lizenz, einen poetischen Freiraum, dessen soziokulturelle Relevanz in der Überschreitung des theologisch Sagbaren besteht – auch wenn er die dominanten Diskurse nur auf dem sicheren Terrain der poetischen Simulation suspendieren kann. Das Phänomen wird als „Absolutismus der Immanenz“ noch genauer zu diskutieren sein.22 Jedenfalls scheint sich der „Fiktionalitätskontrakt“ im Lichte solcher Hyperbeln als tragfähiger zu erweisen, als die jüngere Forschung mitunter zugeben will.23 Hält man Morungens Strophe gegen eine (als Prämisse anzunehmende) prinzipielle mittelalterliche Leitidee der vanitas mundi, so behauptet sie um vieles radikaler und eigenmächtiger das Recht eines poetischen Subjekts, den consensus omnium zu verlassen und ihn gerade in der sakralen Referenz aufzuheben, die dem poetischen Diskurs eignet (hier manifest im Begriff vom reinen wîp). Zugleich stellt sich aber die Frage, ob eine Konkurrenz beider Denkformen in dieser Radikalität überhaupt gegeben ist, ob die Suspendierung nicht deshalb möglich wird, weil sich das poetische Subjekt eben im fiktiven Modus der Hohen Minne bewegt und ausspricht. Dagegen könnte sich die bei Walther beschriebene Lossagung von Welt und vanitas und der Abschied vom erwählten bilde nun doch als der nur scheinbar konventionellere Weg erweisen. Sein Lied verschränkt in 22 23
Vgl. unten Kap. II.3. Zum Konzept eines Fiktionalitätskontrakts, der immer erst neu zu verhandeln wäre, sich somit als äußerst fragil erwiese und den prekären Status der Sängerstimme ermessen lasse, vgl. Strohschneider 1996. Strohschneider knüpft daran die Theorie einer nur ansatzweise gegebenen Ausdifferenzierung von Kommunikationsformen (wie etwa einer politischen und einer poetischen), die für sogenannte vormoderne Gesellschaften typisch sei. Dies scheint mir etwas zu schematisch gedacht. Kündbar oder unterschiedlich auslegbar ist der Fiktionalitätskontrakt auch noch in der Moderne, wie sich bis heute genügend oft zeigt. Künstlerische Provokation lebt ja nachgerade von der nach wie vor gegebenen uneindeutigen Grenze der Kommunikationsformen.
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hybrider Weise mehrere poetische Diskursebenen: die erotische, die soziokulturelle, die moralische und die anagogische. In der Spannung zwischen radikaler Absage und konziliantem Abschied wird die dominante Denkform der Vergänglichkeit eminent gebrochen formuliert. Wenn schließlich die Weltabkehr mit der Einforderung eines ganz weltlichen Lohnes, nämlich der gesellschaftlichen Anerkennung für die weltliche Praxis des Minnesangs verbunden bleibt und wenn sie mit der Aussicht endet, in das erwählte bilde, in den säkularen Kerker wieder einzukehren, dann mag Morungens poetischer „Absolutismus der Immanenz“ darin vielleicht sogar überboten sein. Zumindest scheint die Pointe in Walthers ‚Alterston‘, wenn Morungen nicht geschuldet, so doch an ihm geschult. Und unter dieser Perspektive verliert auch die poetologische Signifikanz der bilde-Strophe ihre Ungewöhnlichkeit. Wie Morungen den Minnesang im Dienst an einem reinen wîbe in die Transzendenz verlängert, transzendiert auch mit Walthers Bild das Werk die Grenze der Immanenz. Die verheißene Wiederbegegnung von Liebendem und erwähltem Bild referiert in ihrem poetologischen Sinn auf die Frage, was mit der Kunst geschehen wird, wenn ihr Schöpfer geht. Sie referiert auf das Problem einer Entbindung des Werks vom Autor und mündet in eine Bekräftigung immanenter Kunstpraxis. Unter diesem Aspekt gewinnt Burghart Wachingers Wort vom anderen, „geistlichen Minnesang“, der am Ende des ,Alterston‘ stehe,24 an Brisanz – freilich nicht im Sinne eines nunmehr „religiös begründete[n] gesellschaftliche[n] Handelns“25, sondern im Sinne einer Nobilitierung poetischen Tuns, dem ausgerechnet im eschatologischen Moment wieder der Primat zugestanden wird: Ins nunmehr defiziente bilde soll dereinst wieder eingekehrt werden. Walthers ‚Alterston‘ unternimmt eine gravierende Umschrift von Morungens Idee eines in die Transzendenz verlängerten Minnesangs. Diese Umschrift steht im Zeichen einer neuen persona auctoris, die das Werk entwirft (und zwar genau in diesem Doppelsinn: sie entwirft es, es entwirft sie). CHRONOLOGIE UND SYNCHRONIE. – Den Weltabsagen in Walthers ‚Elegie‘ und ‚Alterston‘ ist ein „biographisches Narrativ“ eingeschrieben. Der Kairos der Abkehr gehorcht der Chronologie des Lebenswegs. In der figura vanitatis, die Frau Welt darstellt, repräsentieren sich (scheinbare) Schönheit und (tatsächliche) Hinfälligkeit jedoch als latente Identität. Jugend und Alter, Schönheit und Grauen, Blüte und Verwesung fallen im allegorischen Körperbild zusammen; das Prinzip der Chronologie radikali24 25
Wachinger 1989, 112f. Ebd., 113.
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siert sich zum Prinzip der Synchronie, der Simultaneität. Aus diesem Widerspruch resultiert eine Spannung, die Grad und Schärfe des mittelalterlichen contemptus mundi variieren lässt. Auch Walthers Lossagungen von der Welt zeigen sich von der Frage irritiert, was das Diesseitige (und nicht zuletzt die weltliche Liebe als dessen prekärste Praxis) wert sein könne, wenn eine Perspektive ex post belegt, dass es latent immer schon gewesen sei, was es am Ende augenscheinlich ist. Die Idee der Identität, das synchrone Prinzip, erweist sich dabei in der ‚Elegie‘ deutlicher aktualisiert, wenn vom bloß geträumten Leben die Rede ist. Die figura vanitatis ist hier zwar nicht zum entsprechenden allegorischen Körperbild ausgestaltet, aber sie wird in einer Weise imaginiert, die das Gleichzeitige von scheinbarer Schönheit und wesenhaftem Verfall nicht bloß betont, sondern in den Farb- und Geschmacksattributen auch moralisch qualifiziert – im Sinne einer bewussten Irreführung, auf die die nur halb personifizierte Welt abziele: Außen sei sie von schöner Farbe, innen dunkel wie der Tod; ihre Honigsüße sei mit Galle versetzt. Gemäßigter oder eben konzilianter gibt sich der ‚Alterston‘. Das liegt wie gesagt darin begründet, dass die ,Elegie‘ kein „biographisches“ Bekenntnis der poetischen persona formuliert, sondern bloß von einem solchen ausgehend jenes Ideologem der conversio beschreibt, das wesentlich zum Legitimationsdiskurs der Kreuzzüge zählt. Wo der ‚Alterston‘ die Welt direkt anspricht, nämlich in der dritten Strophe (nach der Fassung BC), enthält auch er sich der suggestiven Ausmalung ihrer allegorischen Gestalt. Die beklagte Welt bleibt abstrakt (oder wenigstens ohne Körper). Das Lied begreift ihre imaginierte Undankbarkeit als Projektionsfläche für jene Vorwürfe, die die Hofgesellschaft zu hören verdiente, würde sie die geforderte Anerkennung verweigern. Strenggenommen ist die Welt freilich die falsche Instanz für die Klage des Sängers, dass sie ihm nehme, was er hatte, und über den Altgewordenen auch noch lache. Denn in ihrer eigenen Vergänglichkeit, die ihr auch gleich vorgerechnet wird, zeigt sie sich vielmehr mit ihrem vermeintlichen Diener in einer Schicksalsgemeinschaft verbunden. Dort, wo im ,Alterston‘ die Hinfälligkeit der Immanenz dann tatsächlich Gestalt annimmt, nämlich im erwählten bilde, wird der Aspekt einer latenten Identität von schönem Anschein und Verfall so weit als möglich zurückgedrängt, auch wenn er sich nicht endgültig tilgen lässt, wie schon das Wort vom bilde selbst belegt, dem a priori der Aspekt des Scheinhaften eignet.26 Vergänglichkeit ist kein immer gegebener Zustand, sondern wird in der Zeit gedacht: Einst war dieses bilde rosen- und lilienfarben, nun hat 26
McFarland 1982, 192ff.; vgl. auch die Diskussion zum bilde-Begriff im ‚Narzisslied‘ Morungens (MFMT XXXII; MF 145,1), hierzu Kern 1998, 45ff.
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es die des Kerkers angenommen, in dem nicht bloß der Sänger, sondern es selbst gefangen zu sein scheint. Wenn sich in diesem Bild wie erörtert zugleich das Werk manifestiert und wenn in diesem Werk auch das poetische Subjekt die Schwelle seines Todes überdauert (weil das Werk hienieden nicht verschwindet, sondern bleibt), so liegt es nahe, dass sich die sprechende Autor-persona mit ihm identifiziert. Diese Identifikation wiederum mildert die Absage zum Abschied, verwandelt den contemptus mundi in eine melancholische Verheißung. Die Abschwächung ist nicht zuletzt der Hypostasierung der Welt durch die Minneherrin geschuldet. Ganz analog erweisen sich die Klagen gegen diese ja auch mäßiger als die gegen Frau Minne. In diesen Korrespondenzen zwischen Weltallegorie, Liebesallegorie und Geliebter verrät sich im übrigen ein Moment, das die Produktivität der figurae vanitatis wesentlich ausmacht, nämlich die Breite an assoziierten und assoziierbaren Darstellungsformen und die Spanne der Konkretisierbarkeit dessen, was werlt genannt werden kann: vom bloßen Abstraktum über das abstractum agens (wie es im ,Alterston‘ auftritt) hin zur ausgestalteten Allegorie, deren anthropomorphe Erscheinung ebenfalls graduell gesteigert, die aber in der Minnedame ebensogut hypostasiert werden kann. Auch in diesem Punkt erweisen sich minne und werlt als wesensverwandt.27 ,ABSCHIED VON FRAU WELT‘. – Die Vergänglichkeit alles Weltlichen lässt sich chronologisch, also „in der Zeit“ oder als heimliche Identität von schönem Schein und verwerflichem Sein denken. Diese Spannung und die metonymische Nähe von Welt, Minne und Minneherrin bestimmen nun auch die allegorischen Tableaus zweier weiterer Lieder Walthers, in denen Zwiesprache mit der personifizierten Welt gehalten wird: ,Frô Welt, ir sult dem wirte sagen‘ (Cor 70; L. 100,24) und ,Wie sol man gewarten dir‘ (Cor 35; L. 59,37). Beide Lieder kreisen wie ‚Elegie‘ und ‚Alterston‘ um das Thema des contemptus mundi. Folgerichtig interferieren alle vier Texte auf komplexe Weise miteinander, und ihre Interferenzen lassen sich wiederum „narrativ“ lesen. Da ich mit ‚Elegie‘ und ‚Alterston‘ gleichsam vom Ende her begonnen habe, will ich den Mikrozyklus von Walthers Weltliedern weiter aus der Gegenrichtung lesen. Das Lied ‚Frô Welt, ir sult dem wirte sagen‘ (Cor 70; L. 100,24) repräsentiert den Typus des Dialoglieds, der bei Walther aus seiner ursprünglichen Beschränkung auf das Gespräch zwischen Sänger und Dame gelöst wird und sich nicht selten als eine Zwiesprache mit einer Allegorie gestaltet. In diesem Fall wendet sich – wie wir aufgrund der namentlichen An27
Zur produktiven Spannbreite, die den Figurationen von minne zukommt (vom Abstraktum über die Personifikation bis zur Deifizierung als Venus) vgl. Kern 1998, 399ff.
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rede durch die Allegorie selbst sagen dürfen – Walther an Frau Welt, um abzurechnen und Abschied zu nehmen, und zwar ganz im wörtlichen Sinn: Die Szene, die in der ersten Strophe entworfen wird, gleicht der eines Wirtshauses – zumindest liest sie sich so am griffigsten.28 Walther hat bei Frau Welt offenbar eben bezahlt, sie scheint zunächst allerdings nicht als Wirtin, sondern bloß als Saaltochter vorgestellt zu sein. Wer der „Wirt“ sein mag, bleibt wohl mit Absicht unklar. Jedenfalls ist er ausgefuchst, einer, vor dem man auf der Hut sein muss. Walther will ihm nichts schuldig bleiben, er möchte seinen Namen rechtzeitig von der Schuldnerliste gestrichen sehen, denn lieber wolle er von einem Juden borgen als von ihm. Dieser Wirt halte sich nämlich schweigend im Hintergrund, bis an einen ganz bestimmten Tag, an dem er eine Wette abschließen will, die sein Partner bloß verlieren könne.29 Zu denken wäre dabei im schlimmsten Falle an den Jüngsten Tag und somit an den Teufel, oder aber – und 28
29
Dass die Deutung des Begriffes wirt als ,Gastwirt‘ ein Anachronismus sei, hat bereits Priebsch 1918, 465f. eingewendet, ausführlich hierzu nun Kartschoke 2001, 150ff. Doch auch die andere Deutung – wirt als der höfische Gastgeber, womöglich gar als der Lehensherr – bereitet Schwierigkeiten. Die Szene schillert. Mit dem Thema der Verschuldung, des In-der-Kreide-Stehens und der Bezahlung lokalisiert sie das sprechende Ich jedenfalls eher im gastgewerblichen Milieu, dafür spricht auch der Begriff der „Herberge“ am Ende. Man denkt unwillkürlich an die taberna und an die ‚Vagantenbeichte‘ des Archipoeta. Zudem könnten der Begriff wirt und die Anrede der Welt als vrouwe auch ironische Euphemismen sein. Die Redeweise des Sängers lässt jedenfalls kaum an eine Hofszene denken, dies würde dem Text auch seine satirische Kantigkeit nehmen. Ich bleibe also bei der Auffassung, hier werde eine Wirtshaus-Szene imaginiert. Falsch wäre es allerdings ebenso, sie in die radikal andere Richtung zu denken und dieses Wirtshaus ein Freudenhaus sein zu lassen, wie dies Schumacher 2000, 176ff. tut. Was schließlich in der bisherigen Debatte um Wirtshaus oder Hof weitgehend übersehen wurde, ist das Entscheidende: Es geht nicht darum, wie sich die lyrische Szene an sich darstellt, sondern als welche sie die lyrischen Stimmen imaginieren, auf der einen Seite der Sänger, auf der anderen (ab der zweiten Strophe) Frau Welt selbst (sie begreift sich eher als Herrin am Hofe). Im übrigen entwickeln die beiden genannten jüngeren Arbeiten von Kartschoke und Schumacher zwei diametrale Deutungen und geben insofern für meine Lesung gute Bezugspunkte ab. Ich resümiere sie kurz: Kartschoke betont zu Beginn die Ambivalenz des Liedes und spricht sich gegen ein geistliches Verständnis aus (worin ich ihm weitgehend zustimme). Sein Fazit scheint mir allerdings zu prosaisch: Das Lied nehme Abschied von der Hofwelt und stelle zugleich eine Rückkehr in Aussicht. Diese Auffassung wird weder dem dramatischen Gestus des Textes noch seiner hintergründigen Ironie gerecht. Zum anderen Extrem tendiert Schumacher. Er liest die (zweifellos zu Recht konstatierte) erotische Motivik, die das Verhältnis von Welt und Walther beschreibt, als negative Stilisierung im Sinne einer scharfen, eben streng geistlichen luxuria-Allegorie, die eine radikale Welt- und Selbstanklage erhebe. Fast ins Groteske schlägt der Versuch einer biographistischen Verortung des Liedes aus: Die abschließende Ankündigung, nun in die wahre Herberge fahren zu wollen, lese sich wie der Aufbruch zu einem moniage. Da Walther selbst allem Anschein nach nicht ins Kloster gegangen sei, könnte es sein, dass er das Lied als „Gelegenheitsdichtung zum Klostereintritt eines Freundes oder Gönners“ komponiert hätte (185). Kartschoke 2001, 159f. bezieht die Verse auf den zuvor genannten Juden, was ich für ganz unwahrscheinlich halte.
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dies wurde noch kaum erwogen – es sei der Tod. Der Tag, von dem die Rede ist, wäre dann das Ende des individuellen Lebens und nicht überhaupt der Jüngste. Die Perspektive ist jedenfalls eine eschatologische und sie oszilliert auf signifikante Weise zwischen individueller und kosmischer Eschatologie.30 Frau Welt scheint dem allegorischen Tableau, in das sie Walther hier stellt, nicht viel abgewinnen zu können (Str. II). Sie versteht sich als Herrin im eigenen Haus, das sie auch keineswegs als Wirtshaus betrachtet, in dem man erst anschreiben lässt und dann seine Schulden begleicht. Sie bittet den schwierigen Besucher, der ohne Grund zürne, noch zu bleiben. Im Lichte des biographischen Narrativs scheint der Kairos der conversio noch nicht in der Weise gekommen wie in ‚Elegie‘ und ‚Alterston‘. Wenn die Welt weiters betont, wie viel Ehre sie Walther erwiesen habe und wie oft sie seinem Willen (auf seine Bitte hin) nachgegeben habe, so ist dies eine interessante Flucht nach vorne. Zumal im selben Atemzug paradoxerweise gesagt wird, dass sie es von Herzen bedauere, dass er es so selten getan habe (nämlich zu bitten). Spricht hier doch die dämonische Welt, die ihr Opfer noch nicht hinreichend umgarnt hat? Er möge schließlich bedenken, dass er ein gutes Leben führe; wenn er ihr also rechtmäßig widersage, sei es mit dem Frohsinn dahin. Dann wäre also die ‚Elegie‘ zu singen. Frô Welt, ich hân ze vil gesogen, / ich wil entwonen, des ist zît, fährt wiederum „Walther“ fort (Str. III). Auch die hinter diesen Versen verborgene Metaphorik ist schwer zu deuten. Bleibt Walther im Bildbereich des Wirtshauses und versteht er sich als Säufer, der zu viel getrunken habe und sich nun entwöhnen müsse? Oder schwenkt er auf die Sicht der – sagen wir es deutlicher: – Herrin Welt ein, deren Rede von Dienst und Lohn eher ein Verhältnis der Hohen Minne suggeriert und zwar ein erfülltes, das mehr dem Modus des Tagelieds als dem der Werbekanzone entspricht? (Die Szene wäre dann nicht das Wirtshaus, sondern der Hof. Und so will es Frau Welt ja auch haben.) Versteht sich Walther als Liebhaber oder (im Sinne einer infantilen Substitution des Erotischen) als Kind der Welt, das zu lange an ihrem Busen gesogen habe und nun abgestillt werden müsse?31 Die folgenden Verse schwenken jedenfalls auf den erotischen Modus ein, Walther sieht sich von ihrer Zartheit betrogen, die viel süße Freuden ge-
30 31
Zum eschatologischen Aspekt im contemptus mundi und zur Verschränkung von „Lebenszeit“ und „Weltzeit“ unten Kap. II.5, 311f. Die Vorstellung einer „mütterlichen“ Welt sehen Kartschoke 2001, 165 („liebevolle Mutter“) und Schumacher, 2000, 174 in einem fast emphatischen Sinne gegeben. Schumacher weist zugleich auf die erotischen Aspekte hin.
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be;32 er habe ihr tief in die Augen gesehen (das ist nichts weniger als die erfüllte Wunschvorstellung des Minnesängers33), und ohne Zweifel sei ihr Anblick wunderlîch gewesen.34 Dies alles hält das Wesen dieser Herrin Welt gut in Schwebe, um schließlich die Wahrheit über ihre schandvolle Rückansicht umso effektiver zu enthüllen: doch was der schanden alse vil, / dô ich dîn hinden wart gewar, / daz ich dich iemer schelten wil. ‚So viel Schändliches aber war da, als ich deiner hinten ansichtig wurde, dass ich dich immerfort schmähen werde.‘ (III.8ff.) Klarheit wird dabei freilich eher suggeriert als hergestellt. Denn worin genau das Schändliche dieser Rückansicht bestünde, bleibt unausgesprochen. Die Anspielung liest sich so, als läge ihr bereits jenes präzise Körperbild vor, das sich erst in Konrads von Würzburg ‚Weltlohn‘ belegen lässt. Dieser Widerspruch hat Anlass zu gravierenden motivgeschichtlichen Irritationen gegeben. Sie zu beseitigen, indem man das Wort vom schändlichen Rücken bloß metaphorisch versteht, scheint angesichts der prononcierten Körperlichkeit gerade dieser Welt nachgerade unmöglich. Außerdem ist die Darstellungsform des bloß scheinbar schönen, in Wahrheit aber verfallenen Körpers in der Luxuria-Allegorie der Zeit vorgeprägt.35 Auf sie wird das Wort vom schändlichen Rücken wohl referieren. Dass die Rezipienten dies nur schwer durchschauen konnten, mag durchaus bewusstes Kalkül sein. Und somit wäre das motivgeschichtliche Rätsel zu lösen, wenn man nicht im Alten und Altbekannten, sondern im Neuen, erst Schemenhaften der Allegorie den eigentlich wirkungsästhetischen Effekt des Textes und des Körperbildes begreift, das er skizziert. Auch wenn Frau Welt zu Walthers Zeit jedenfalls noch jung ist, wenn sie noch nicht die Last einer langen Tradition am ohnehin fragilen Rücken trägt, so ist sie es bereits hier leid, mit diesem billigen Vorwurf konfrontiert zu werden, und sie entlässt ihren Gast mit einer vermeintlich versöhnlichen Bitte: gedenke an manegen liehten tac, / und sich doch underwîlent her,/ Niuwan sô dich der zît betrâge (IV,3ff.). ‚Erinnere dich an die vielen schönen Tage und blicke dann manchmal noch her, außer es wäre dir die (bei mir 32
33 34
35
dîn zart hât mich vil nâch betrogen, / wand er vil süezer fröiden gît (III,3f.); die Formulierung ist eigentlich absurd, denn wie wollte einer betrogen sein, wenn er tatsächlich viel Süßes erhalten hat. Eine Korrektur von gît in giht würde den Widerspruch lösen, doch macht er gerade in Hinblick auf das Folgende, die gefürchtete Rückkehr zu den Freuden der Welt, Sinn. Vgl. die analoge Formulierung under diu ougen sehen in ,Nement, frowe, disen cranz‘ (Cor 51.V,3; L. 75,3). Für die Verse III,4f. (dô was dîn schouwen wunderlîch / al sunder lougen) wird üblicherweise Textverlust angenommen. Die Konjekturen sind bestrebt, jene Ambivalenz aufzuheben, die im Attribut wunderlîch zum Ausdruck kommt, im Sinne von: ‚da war dein Anblick ohne Zweifel schön‘. Am vorsichtigsten ist interessanterweise Lachmann, der ein bloß pleonastisches dez muoz ich jehen einfügt. Von der Metrik her scheint mir die Annahme einer Lücke nicht zwingend, wenn man die Freiheiten in der musikalischen Gestaltung bedenkt. Hierzu unten Kap. II.2, 182ff. (bes. zur mulier Aethiopissa).
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verbrachte) Zeit zuwider.‘36 Genau das war sie nicht, wie Walther zugeben muss: Im Gegenteil, er würde die Herrin wunderlîchen gerne wiedersehen (also auf die Gefahr hin, abermals ihren schändlichen Rücken schauen zu müssen). Doch zu sehr fürchte er ihren Hinterhalt (lâge), vor dem niemand sicher sei. Daher das letzte Wort: got gebe iu, frowe, guote naht. / ich wil ze herberge varn (vv. IV,9f.). Erinnern wir uns an die Begegnung Wirnts mit Frau Welt bei Konrad von Würzburg und an den Modus der Hohen Minne, in dem sie verfasst ist, so sehen wir, dass bei Walther vorweggenommen ist, was dort die Plausibilität der poetischen Szene ausmacht. Deutlicher noch als bei Konrad ist die Beziehung zur Welt als erotisches Verhältnis gezeichnet. Mag es der Text auch an expliziten Worten fehlen lassen, ihrer Rede nach zu schließen präsentiert sich die Allegorie gleichsam in der Frauenrolle des Tagelieds: Wie im Tagelied, so geht es auch in diesem Dialog um einen Abschied (freilich eher zu Anbruch des Abends, des Lebensabends). Damit hätte schon Walther die Welt so weit erbuolt wie später Michel Beheim. Tief in die Augen hat er ihr geblickt, vielleicht an ihrem Busen – sei es erotisch, sei es infantil – gesogen. Das Verhältnis ist jedenfalls als ein sinnliches imaginiert, auch wenn der Grad an Verfallenheit und deren körperlicher Vollzug in Schwebe bleiben.37 Wenn Walther dann am Ende „Gute Nacht!“ wünscht, um vom Wirtshaus der Welt in die sichere Herberge zu fahren, so geriert er sich vielleicht als verlorener Sohn, und der Gestus der Bestimmtheit mag sich aus dem Wissen erklären, dass es einen Vater gibt, der wartet. Bei Konrad wird nicht in die Herberge gefahren, sondern ins Heilige Land. Und der Minnesänger des Kreuzliedes, auch er ein losgesagter Weltjünger, will dem dienen, der lohnen kann, ohne wie die Welt im Hinterhalt zu liegen. Bedenken wir, dass in diesem Weltlied Walthers das Motiv des Alterns nicht ausgeprägt ist, dass es eher an der Hälfte, denn am Ende des Lebens situiert wäre.38 Wollten wir von hier aus einen Aufführungszyklus fingieren, so könnte auf ‚Frô Welt, ir sult dem wirte sagen‘ gut das ‚Palästinalied‘ antworten. Dort braucht dem Sänger nicht die Welt zu sagen: dîn leben ist guot, vielmehr erkennt er selbst: Nû alrêst lebe ich mir werde (Cor 7.I,1; L. 14,38).39 Eine derartige Korrespondenz von Weltabschied zur Unzeit 36 37
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Eher unwahrscheinlich scheint mir die Bedeutung: ,wenn dir langweilig ist.‘ Schumacher 2000, 175f. liest die erotische Relation als Ehebruchsliebe (der Gehörnte ist der anfangs genannte „Wirt“), allerdings nicht im Sinne einer tristanesken oder Hohen Minne zur Welt (dies durchzudenken hätte einigen Reiz), sondern im Sinne des Ehebruchs, den die Dirne mit dem Freier begehe, und zwar durchaus im Interesse des Zuhälter-Gatten (hier des Teufels) – eine wenig konsistente Konstruktion. Dass hier keineswegs der alte Sänger spricht, betont auch Schumacher 2000, 178ff. Auf diese Weise ließe sich die Andeutung Jungbluths (1971, 534) weiterdenken, die Metapher „ze herberge varn“ „müsse sich auf einen positiven Akt, ein sündentilgendes T u n be-
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(also nicht an der Schwelle des Alters) und dem Ankunftsjubel des Kreuzritters läge wenigstens von der Tradition her nahe. Dass die ‚Elegie‘ derselben Logik gehorcht, ist ein Indiz, aber kein Beleg für diese Verbindung. Im Sinne der jüngeren Diskussionen um performative Programme und Pragmatiken, in denen die alte Sehnsucht nach dem authentischen Text, nach der „Urfassung“ als Suche nach der „Urperformanz“ weiterlebt,40 ließe sich immerhin Folgendes denken: Die ,Elegie‘ könnte aus der Perspektive der nun tatsächlich greisen persona das neu gestalten, was ein gemeinsamer Vortrag des ,Abschieds von Frau Welt‘ und des ,Palästinalieds‘ schon einmal präsentiert hätte. Gegen das geträumte, trughafte Freudenleben wählt der Alte im Irrealis die Lebensform des Kreuzritters. Ist dieser Irrealis am Ende die Entschuldigung dafür, dass die Kreuzritterpose, die Walther im ‚Palästinalied‘ einnimmt, immer eine Pose, poetischer Trug der persona auctoris blieb? Dies freilich nur nebenbei. Tatsächliche Korrespondenzen lassen sich – aufgrund der präzisen Analogien in Topik und Thematik – nur zur ‚Elegie‘ und zum ‚Alterston‘, nicht aber zum ‚Palästinalied‘ festmachen. Wie dort subsumiert die figura vanitatis die sozialen Kontexte, in die sich der Sänger einbezogen sieht, verbindet sich mit ihrem Auftritt die Frage nach Lohn und Schuldigkeit sowie das Problem der Freude hienieden, ihrer Hinfälligkeit und ihrer Erinnerbarkeit (man beachte vor allem die Bitte der Welt im ,Abschiedsdialog‘ und die Rückbesinnung auf den Traum in der ,Elegie‘). Die unterschiedlichen Perspektiven aller drei Lieder nehmen eine je spezifische Gewichtung derselben sensiblen Balance zwischen Immanenz und Transzendenz vor, und in dieser Balance werden Kommunikativität und Kulturalität höfischer Lyrik transparent. Die mehrfachen Referenzen, die der lyrische Diskurs formuliert, die ständische, die erotische, die kulturelle, die ontologische und – sofern die conversio in die Kreuzfahrt mündet – auch die politisch-historische, sie alle laufen in der personifizierten Welt zusammen. Anders als in der ‚Elegie‘ und deutlicher als im ‚Alterston‘ bleibt im ‚Abschied von Frau Welt‘ allerdings die erotische Referenz dominant. Das Verhältnis zwischen Walther und Welt ist ein intimes und ein sinnliches. Verräterisch ist vor allem die Metaphorik, mit der der Sänger die Bitte der Welt zurückweist: Er fürchtet ihre lâge. Üblicherweise ist nicht die Welt, sondern die Minne aller herzen lâgærîn, wie wir aus Gottfrieds ‚Tristan‘ (11715) wissen. Minne und Welt sind bei Walther nicht wie später bei
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rufen können, wie es eine Pilgerfahrt ins Heilige Land nach zeitgenössischer Auffassung gerade darstellt.“ Am weitesten geht hier Harald Haferlands (2000) Versuch, den Minnesang bis Walther als konkrete Werbehandlung aufzufassen und seine spezifischen Kommunikationsbedingungen (einmaliger Vortrag vor einem kleinen Kreis Gleichgesinnter) zu rekonstruieren.
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Frauenlob Konkurrentinnen, sondern wesensverwandt, vielleicht latent identisch. Wenn der Abschied hier ferner an das erinnert, was die Tannhäusersage als Abschied des Sängers aus dem Venusberg inszenieren wird, und wenn wir bedenken, dass da noch ein Wirt war, über dessen Identität wir im Unklaren bleiben, der aber durchaus auch der Dämon oder der Tod sein könnte, so gerät Frau Welt hier in gefährliche Nähe zu Luxuria, der ja ebenfalls die Schande auf den Leib geschrieben sein kann.41 Als trunkener Gast, deftiger Liebhaber oder säugendes Kind einer solchen Welt hätte Walther alle Ursache, sich als verlorener Sohn zu fühlen, der schon das bloße Angedenken an die vermeintlich schöne Zeit zu fürchten und daher eilig seine Rechnung zu begleichen hätte. Auch hier erweist sich der bußfertige Sünder in seinem Bekenntnis freilich beflissener, als es das tatsächliche Sündenregister erfordern würde. Doch übertriebene Reue hat noch keinem geschadet. Wir erinnern uns für die Hyperbolik der Lossagung und die Dramatik ihrer Dringlichkeit an den Sündenkatalog von Wirnts Weltleben, der alles andere als unehrenhaft ist. Auch die Weltwerke des poetischen Subjekts bei Walther stehen in umgekehrter Proportion zum Bekenntnis. Einen guten Einblick in die wahren Verhältnisse und in die Regie einer klimaktischen Übertreibung, die davon abhängt, an wen sich der Bekennende wendet, gibt nicht zuletzt der ,Alterston‘: Dasselbe immanente Tun verlangt der Hofgesellschaft Anerkennung ab, gibt gegenüber der Welt Anlass zur Sündenklage und zur Angst um das Seelenheil (Lobe ich des lîbes minne, daz ist der sêle leit; Cor 43.IV,5), mündet gegenüber dem schœnen bilde aber in einen melancholischen Abschied auf Zeit. Die Kunst der Übertreibung, der laufende, mithin sich überschlagende Wechsel der Redegesten und Metaphoriken (vom Grobianismus des Wirtshaustons zur elaborierten Sprache Hoher Minne) – all dies weist auf die Artifizialität der Weltfluchtpose, auf den Spielcharakter, der ja bereits in der dramolettenhaften Szene selbst zu greifen ist. Wenn ein auf die Transzendenz fixiertes Mittelalter tatsächlich in letzter Konsequenz alles Immanente mit dem Terror des Sündenvorwurfs belegen würde, so wäre dieser Terror im poetischen Spiel immer schon gebändigt. Walthers Weltklagen referieren auf die ikonischen und diskursiven Strategien des contemptus mundi und wissen sie im Sinne einer wirkungsästhetischen Zuspitzung zu aktualisieren. Dabei zeigen sie eindrücklich, dass sich die Semantik so fundamentaler christlicher Muster der Krisis, wie confessio, revocatio und conversio es darstellen, verschiebt, wenn sie in den Registern der weltlichen Poesie formuliert werden. In der simultanen Präsenz divergenter Denk41
Vgl. unten Kap. II.1, 142, Anm. 16 (zur Luxuria von Moissac; Abb. 19) und II.2, 203ff. (mulier Aethiopissa).
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formen (wie Angedenken und Lossagung, Abkehr und Abschied) ist eine spezifische Pluralität mittelalterlicher Weltanschauung freigelegt, deren Qualität genau darin besteht, dass sie offene Paradoxien zu ertragen imstande ist. Erträglich sind diese Paradoxien, weil eine klare Ordnung der Diskurse besteht, weil traditionell fixiert ist, was in welcher Redegattung gedacht und gesagt werden kann. Dies gilt zum einen für die Differenz zwischen theologischem Traktat und weltlicher Poesie, zum anderen aber ebenso für die Widersprüche und Paradoxien der Weltverachtung innerhalb der Poesie selbst. Die Konventionalität poetischer Formen kann gerade zur Überschreitung des Konventionellen führen, wenn sich divergente „feste“ Anschauungen in ihrer Konfrontation als disponibel und suspendierbar erweisen. An Walters Weltliedern ist dieser Effekt beispielhaft zu erkennen, weil sich ihre unterschiedlichen Perspektivierungen in einem konsistenten Œuvre bündeln. WIDER LIEBE LIEP: WELTDIENST UND WELTLOHN. – Was immer schon ausgemacht und vereinbart schien, wird von der Poesie im paradoxen Doppelsinn des Wortes „aufgehoben“. Ein letztes Beispiel für diese ästhetische Differenz gibt – nach dem biographischen Narrativ des Sängerlebens gerechnet – das früheste Weltlied Walthers (Cor 35; L. 59,37). Es ist in fünf Handschriften (A, B, C, E, O) mit unterschiedlichem Strophenbestand und mit unterschiedlicher Strophenfolge überliefert. Betrachten wir zunächst die fünfstrophige Fassung BC. Sie beginnt mit einer Frage: Wie sol man gewarten dir?, also etwa: ‚Wie soll man sich dir gegenüber verhalten?‘ So könnte auch ein Werbelied an die Minneherrin eröffnen, der zweite Vers benennt jedoch – vielleicht ein kleiner Überraschungseffekt – eine andere Adressatin: die Welt. Die folgende Einforderung des Lohns für erbrachten Dienst und des Prinzips der Gegenseitigkeit behält den Modus des Werbeliedes bei. Auf welch raffinierte Weise die Analogie präsent gehalten und gleichzeitig auf eine Ebene gehoben wird, die den erotischen Diskurs transzendiert, dokumentieren am augenfälligsten die Verse III,5ff.: Dû maht mich wol pfenden / und mîn heil erwenden: / daz stêt, vrowe, in dînen henden. (‚Du kannst mich zahlen lassen / und mein Glück zunichte machen: / das, Herrin, steht in deinen Händen.‘) Was dieses Glück im Falle der Minneherrin wäre, wissen wir. Zu Herrin Welt gesprochen, weisen die Verse auf eine Bringschuld. Wollte man sie auf eine eingeforderte, auch materielle Anerkennung des Sängers seitens der höfischen Gesellschaft reduzieren, so würde dies genau gegen die Totalität des Diesseitigen stehen, die in der allegorischen Gestalt verkörpert ist. Was der Sänger erwartet, wurde schon in der zweiten Strophe ausgesprochen, ohne dass es dezidiert benannt worden wäre: Dû hâst lieber dinge vil, / der mir einez werden sol. In den Kategorien des Minnesangs gedacht wäre wieder klar,
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was „einez“ meint. Die minnesängerischen Formeln sind es im übrigen auch, die den Reiz der Strophenreihung der Fassung A ausmachen (III-III). Leicht ließe sich in diesem Lied also Frau Welt durch die geliebte Herrin oder – näherliegend noch – durch Frau Minne substituieren. Die ambivalente Redeweise hält auch das Begehren des poetischen Subjekts in Schwebe. Es bezieht sich nicht auf etwas Konkretes, sondern eben auf die Welt in ihrer Totalität. Der dominante erotische Grundton unterstreicht abermals, wie leicht im Sujet der Liebeslyrik das Problem der Bindung an die Immanenz virulent werden kann. Die in der Fassung E angeschlossenen Strophen VI und VII42 drohen zunächst mit einer Aufkündigung: Die Welt müsse auf die Freude des Sängers (die, die er empfindet, und die, die er gibt) verzichten, wenn sie ihn nicht entschädige. Dem folgt eine abrupte Apostrophe an das Publikum: gêt heim, hie ist gesungen. / wirde ich hie verdrungen, / sô beslüzze ich mîne zungen. Es hat sich ausgesungen, die Zuhörer können gehen. Bliebe die Antwort aus und wäre er mit seinem Gesang von hier verwiesen, so schlösse der Sänger – für immer oder bis auf weiteres – seine Zunge: Ihm bliebe nichts mehr zu sagen. In den Minneliedern Walthers wird diese Drohung wiederum zur Geliebten und zu Frau Minne hin gesprochen.43 Im angedrohten Verstummen fassen wir also neuerlich eine deutliche Referenz auf das Œuvre selbst. Sie spricht sich schließlich generell in der Pose des „Gehrenden“ aus. Dessen Anliegen wird am Ende der Strophe scheinbar an den Hof weitergegeben, zumal im lokalen Adverb hie, das sich sowohl auf den Ort des Textes, also auf das Lied selbst, als auch auf den Ort, an dem es gesungen wird, also auf den Hof bezieht. Wer nun aber meint, dass damit endlich klar wäre, was der Sänger will, und in Frau Welt der Hof oder gar der undankbare Hof zu Wien gemeint sei, wird vom Nachsatz betrogen, den die siebte Strophe – gewissermaßen nach einer dramatischen Pause – anfügt: Ich hân dir gedienet sô, Werlt, daz ich michs niht schame. swie dû mich mit lône machest frô, dir geschiht vil lîhte alsame. Ich wölte oc ein vil cleine. weistû waz ich meine? wider liebe liep, daz eine.44
42 43 44
In E handelt es sich um die fünfte und die sechste Strophe, weil die vierte Strophe von BC fehlt. Vgl. bes. ,Ich hân ir sô wol gesprochen‘ Cor 17 (L. 40,19) und ,Lange swîgen, des hât ich gedâht‘ Cor 49 (L. 72,31). ,Ich habe dir auf eine Weise gedient, / Welt, dass ich mich dessen nicht schäme. / Wie immer du mich mit Lohn froh machen willst, / vielleicht wird dir Gleiches widerfahren. /
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Auf die brüske Weise, mit der die vorige Strophe das Publikum noch hinauskomplimentieren wollte, antwortet die letzte Strophe der Fassung E mit einer neuen Konzilianz. Nicht nur diese Regie scheint im ‚Alterston‘ wieder aufgegriffen. Wie dort für einen vierzigjährigen Minnesang, so wird hier für den Weltdienst Anerkennung eingefordert. Wie dort befinden sich Sänger und Welt in einer Schicksalsgemeinschaft: Wie die Welt an ihm handelt, so wird es auch ihr geschehen – dort hieß es, dass die Welt ein Possenspiel mit ihrem Diener treibe und dennoch selbst ihren letzten Tag gewärtigen werde. Die Schlusssentenz formuliert neuerlich im Vokabular des Minnesangs, was als der Welt Lohn erwartet wird, ohne mit den Worten: „für Liebe Liebes, nichts sonst“, nur das zu meinen, was sie im erotischen Lied bedeuten würden. Dieses erste Lied in unserem hypothetischen Weltlied-Zyklus Walthers dokumentiert die konzeptionellen Analogien zwischen Minnedienst und Weltdienst sowie zwischen den Figurationen, an die sich dieser Dienst richtet: Minneherrin, Herrin Minne und Herrin Welt. Dass es weitgehend in Sprache und Bildlichkeit des Minnesangs formuliert ist, das ausgesprochene Anliegen aber weder bloß erotisch noch bloß soziokulturell zu verstehen wäre, weist uns auf einen entscheidenden Kunstgriff, der Walthers poetisches Schaffen auszeichnet: Jene mehrfachen Referenzen, die das Programm des amor curialis im Minnesang konfigurieren und die seine Relevanz ausmachen, werden in den Weltliedern konsequent und offen thematisch. Sie machen damit zum einen den substantiellen Zusammenhang zwischen Walthers erotischer, politischer und moralischer Lyrik transparent, der eine philologische Aufspaltung seines Œuvres in Sangsprüche und Minnelieder so problematisch macht. Sie belegen zum anderen die Relevanz erotischer Lyrik und – indem sie im Modus erotischer Topik, Motivik und Metaphorik das Problem der Immanenz verhandeln – die Relevanz der Erotik als poetisches Thema, das die Diskurse bündelt. Im Eros fassen wir den „crucial point“ der vanitas. Wir erinnern uns an den „Beinahe-Tod aus niederer Minne“ bei Walther selbst, an den Hohen Minnediener der Welt, Wirnt von Grafenberg, und schließlich an ihren „Buhlen“ in der vanitas-Pastourelle Michel Beheims. Im erotischen Modus formuliert sich das Problem der Immanenz mit Eindringlichkeit und Eindeutigkeit. Liebe scheint der metonymische Fokus alles Diesseitigen zu sein, sie ist als sinnliche Liebe Brennpunkt des vanitas-Diskurses; als die andere, geistliche Liebe ist sie zugleich das, was die Grenzen der Immanenz transzendieren kann.
Ich hätte auch gern eine kleine Wenigkeit. / Weißt du, was ich meine? / Für Liebe Liebes, nur dies eine.‘
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ZUSAMMENFASSUNG. – Walthers Weltlieder bilden ein komplexes kommunizierendes Ensemble. In ihm wird das „narrative“ Modell des Lebenswegs als lyrisches Gestaltungsparadigma und Immanenz als dessen zentrale Problemkategorie poetisch produktiv. Die Perspektiven, die die Texte auf den gemeinsamen Fokus hin entwickeln, dokumentieren sowohl in ihrer Heterogenität als auch in ihrer Referentialität auf das Œuvre zunächst die hermeneutische Vielschichtigkeit eines analogen Schemas. ‚Elegie‘, ‚Alterston‘ und ‚Abschied von Herrin Welt‘ treffen sich darin, dass sie Rückschau auf ein „eigenes“ Leben halten und dass sie – an der Schwelle eines Übergangs situiert – dieses Leben als defizitär wahrnehmen. Defizitär ist es in seiner strikten Relation auf die Sphäre der Immanenz, die in Begriff und/oder Gestalt der Welt gefasst wird. In ‚Elegie‘ und ‚Alterston‘ wird auf ein zu Ende gehendes Leben geblickt. Dies führt zur Erkenntnis, dass die Relation zwischen Subjekt und Welt dem Diktat der Zeitlichkeit unterworfen ist, und zwar in einem zweifachen, akuten und prinzipiellen Sinne: Akut insofern, als das eigene Leben an sein Ende gekommen ist; prinzipiell, indem Weltzeit und Welt selbst als endlich erkannt sind. Weder hat das eigene Dasein in der Welt Bestand, noch die Welt selbst. Diese doppelt wahrgenommene vanitas impliziert wiederum eine endgültige Konsequenz, die der Dramaturgie von Erkenntnis, Bekenntnis und Abkehr folgt. Alle drei Lieder kommunizieren nun zum einen insofern, als sie dieses thematische und dramaturgische Grundschema teilen. Sie tun es zum anderen darin, dass sie das verbrachte Leben durch Referenzen auf ein „Werk“ hin konkretisieren und dieses „Werk“ unter der Perspektive eines Lebenswegs homogenisieren. Das Leben beschreibt sich als das, was schon einmal gesungen wurde, es ist nichts anderes als das Werk. Die Person, die dieses Leben gelebt hat, ist daher auch nicht das biographische Ich, sondern die poetische persona des Autors Walther von der Vogelweide, die „nur“ als Konstruktion des Werkes zu fassen ist.45 Diese Konstruktion bleibt auf fundamentale Weise heterogen. Sie ist weder einer leitenden „Idee“ geschuldet, die wie im Falle von Dantes ,Vita nova‘ ein bestehendes Werk mit Hilfe eines narrativen Metatextes sekundär organisiert (geschweige denn, dass eine solche Idee bei Walther a priori gegeben wäre); noch zwingt sie in einem gleichsam „autophilologischen“ Akt des Autors wie im Falle von Petrarcas ,Rerum vulgarium fragmenta‘ ein heterogenes lyrisches Corpus unter ein zyklisches Anordnungsschema, das in seiner symbolischen Referenz (Modell des „Lebensjahres“) die formalen und thematischen Bezüge zwischen den einzelnen Gedichten zu narrativen Leitmotiven im Sinne einer Lebensschrift hoch45
M. Kern 2005[a].
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I. Frau Welt
stilisieren würde. Die Referentialität im Corpus Walther steht poetologisch vielmehr auf einer anderen Stufe, die nicht zwangsweise als die typologisch frühere zu denken wäre. Zyklische Strukturen durchziehen es weder programmatisch noch systematisch. Sie sind Setzungen des je einzelnen Liedes, das im eigenen Œuvre thematische Linien erkennt und fortführt. Der lyrische Lebensweg, den wir in Walthers Liedern fassen, und mit ihm das lyrische Werk beruhen somit auf keinem Konzept, sondern erweisen sich als ein vielschichtiger Prozess, der „ex post“, von der Warte des je einzelnen Liedes her formuliert wird und insofern auch keine homogene Richtung, kein lineares Fortschreiten kennt, weder thematisch noch generisch. Ein ebensolches „Konstrukt ex post“ ist die Sänger-persona. Je nach Thema, je nach Gattung differiert die Rolle, die das poetische Subjekt in Lied oder Strophe einnimmt. Zugleich bündeln die Referenzen zwischen den Liedern aber diese Rollen, diese personae zu einer persona, die sich – wie es Timothy McFarland genannt hat46 – als „composite persona“ begreifen lässt. Über die Nennung des Autornamens, wie wir ihn im ‚Abschied von Frau Welt‘ fassen, wechselt diese persona aus dem Status der exemplarischen Rolle (des Liebenden, des Gehrenden, des Klagenden, des Scheltenden usw.) in jenen der Individualität (einer konkreten Autorgestalt). Die „biographische“ Markanz, die dieser poetisch konstruierten Individualität zukommt, ergibt sich wesentlich aus einer Onymität, die nicht bloß paratextuell in den maßgeblichen Handschriften, sondern eben auch im Text selbst gesetzt sein kann. Und sie gewinnt ihre präzisen Konturen gerade aus der Pluralität der exemplarischen Stimmen und Posen, mit und in denen das benannte poetische Subjekt erscheint und die es – vom jeweiligen Lied her – zu integrieren vermag. In beiden Phänomenen, in der innertextlichen Onymität und in der Pluralität des Corpus, fassen wir den wesentlichen Unterschied von Walthers Werk zu den angesprochenen Œuvres Friedrichs von Hausen und Heinrichs von Morungen. Zwar reflektieren die Lieder Friedrichs von Hausen konkrete historische Erfahrungen in einer Weise, die über das Topische und Gattungstypische hinauszugehen scheint,47 und findet Heinrich von Morungen zu einem für die Gattung hochgradig distinkten Stil; gleichwohl treten aber ihre personae, sofern man hier überhaupt von sol46 47
McFarland 1972, 194f. Friedrich von Hausen lässt sich biographisch einigermaßen fassen (die Daten sind gesammelt bei Meves 2005, 279ff.). Sein Tod während des dritten Kreuzzugs ist urkundlich bezeugt. Dieser historische Kontext scheint der von ihm gepflegten Gattung des Kreuzlieds eine besondere Signifikanz zu geben (die Texte selbst überschreiten die Gattungskonvention freilich keineswegs). Dass auch Hausens Minnelied MFMT I (,Ich muoz von schulden sîn unvrô‘) mit seiner Anspielung auf die Aeneassage konkretes historisches Geschehen, nämlich die Italienzüge Barbarossas thematisiere, versucht Ashcroft 1999 zu zeigen.
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chen sprechen sollte, nicht aus dem Rahmen jener individuell signierten Exemplarität heraus, die dem poetischen Subjekt in der hochhöfischen Lyrik prinzipiell eignet. Bei aller Intensivierung des Liebesleidens, das Morungens Lieder auch als Progress zu beschreiben verstehen: der Liebesweg, den sein poetisches Subjekt durchmacht, ist kein Lebensweg, er ist biographisch insignifikant, der Sänger altert nicht. Hingegen kann die Pluralität des Werks und die „biographische“ Erfahrung, die die onyme Sänger-persona in Walthers Altersliedern (und nicht nur in ihnen) prätendiert,48 das Modell eines Lebenswegs implementieren, der sich nicht auf die „Biographie“ des Liebenden beschränkt, sondern die Totalität einer individuellen Welterfahrung behauptet. Erst eine solche poetische persona wendet sich füglich nicht bloß an die Dame oder an die Minne, sondern an die Herrin Welt. Was sich als Subjekterfahrung im Metier der Minne artikulierte, kann sich nun als umfassende Diesseitserfahrung der Person artikulieren. In welch hohem Maße sich diese Übertragung jedoch dem ursprünglichen erotischen Sujet verdankt, wird noch zu erörtern sein.49 Wie im Falle der vanitas-Thematik in der spätmittelalterlichen Lyrik ist auch für die Beurteilung der Denkformen und Darstellungsformen der Immanenz, die sich in Walthers Weltliedern finden, eine poetologische Analyse die unabdingbare Voraussetzung. Sie erst macht verständlich, wie sich das Modell des Lebenswegs lyrisch integrieren lässt. Dieses Modell aber beschreibt nichts weniger als ein „persönliches“ Dasein, das den Bedingungen der Zeitlichkeit unterworfen ist. Die poetische Auseinandersetzung mit der Defizienz dieses Daseins und mit der Zeitlichkeit der Welt selbst wird auf diese Weise unmittelbar und umfassend möglich. Der lyrische Diskurs erspart sich den Umweg über eine symbolische Repräsentation, wie sie das paradoxe amoureux im Hohen Sang oder die Divergenz zwischen amor curialis und amor coelestis im Kreuzlied leisten. Da das Konzept des Lebenswegs, den das Werk beschreibt, nun aber kein diesem Werk inhärentes Apriori darstellt, sondern vom jeweiligen Lied und seinem spezifischen Standort her immer wieder neu konfiguriert wird, wird die Heterogenität verständlich, mit der Walthers drei Weltabsagen das Problem der vanitas traktieren. Heterogen sind sie in mehrfacher Hinsicht, zumal in ihren thematisch divergenten Entwürfen: Die ‚Elegie‘ schreibt sich von der Zeitklage hin zur confessio eigener Weltverfallenheit. Der hypothetische Ausweg besteht in einer conversio, die die greise Sängerpersona nur noch symbolisch vollziehen kann. In ein gleichsam mosaisches Dilemma verstrickt, propagiert sie die Kreuznahme als jenen Heilsweg, 48 49
Das glückliche Wort von der „biographischen Prätention“ in Walthers Liedern hat Rüdiger Brandt (1989) geprägt. Vgl. unten Kap. II.3.
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den nur noch andere beschreiten können. Der ,Alterston‘ formuliert eine poetische revocatio mit Blick auf das eigene Œuvre, die auf ähnlich paradoxe Weise die Situation des Autors und die der Gesellschaft dissoziiert: Dem Hof wird der eigene Minnesang um den Lohn der Ehre (auch dies ein Lohn der Welt!) als Hinterlassenschaft angeboten. Während die anderen das Erbe antreten, verwirft es der Autor als Weltwerk. Die Halbherzigkeit der Distanzierung wird im melancholischen Abschied von jenem Bild manifest, dem das Œuvre geschuldet ist, verbunden mit dem Versprechen der Wiedereinkehr dereinst. Der ‚Abschied von Frau Welt‘ schildert in actu, was die beiden übrigen Lieder bereits vollzogen haben. Zwar mag der Greis in ‚Elegie‘ und ‚Alterston‘ noch nicht in der sicheren Herberge angekommen sein, in die der Sänger hier aufzubrechen vorgibt, doch ist er bereits auf dem Wege. Das Dialoglied spielt mit der Gefahr, der ein noch keineswegs ergrautes Ich ausgesetzt ist, weil es mithin nicht weiß, ob es überhaupt schon an der Zeit wäre zu gehen. Die Rede vom üblen Hinterteil der Welt ließe sich so auch als reine Schutzbehauptung lesen, die keinesfalls auf Evidenz beruhen würde. Als heterogen erweist sich in den Liedern schließlich, was Welt genannt wird, was es bedeutet und wie es erscheint. Dieser Pluralität korrespondiert die Vielschichtigkeit einer komplexen persona. Ihr Lebensweg ist aufgrund des vielstimmigen Œuvres und aufgrund der in ihm entworfenen umfassenden Wirklichkeitserfahrung die Domäne eines „starken Ichs“. In dem Maß, in dem dieses Ich über die zwar spezifisch konturierten, aber doch in den generischen Grenzen des Minnesangs verbleibenden personae bei Hausen und Morungen hinaustritt, gelangen Walthers lyrische Entwürfe zu einer neuen „metaphorischen Pertinenz“50, was die lyrische Repräsentation von Welt und Dasein betrifft. Die Verschiebung, die hier statthat und die im Sinne von Paul Ricœurs Theorie von Metaphorik und Mimesis „lebendig“ genannt werden kann, leisten das Schema des Lebenswegs und die ihn verantwortende poetische persona, die nicht als paradigmatischer Typus, sondern eben als exemplarisches und zugleich historisch ausgewiesenes, onymes Individuum poetisch konstruiert wird. Bei Hausen und Morungen bleibt das Problem von Immanenz, Weltlichkeit und Vergänglichkeit streng auf den Minnediskurs bezogen und sozusagen stationär. Wo man ihre Lieder auf der Skala der Lebenszeit situieren wollte, ist ungewiss, da zwar Referenzen innerhalb der beiden Corpora bestehen, diese aber nicht einem Lebensweg-Schema folgen, das 50
Ricœur 1988, Bd. I, 7ff. und 2004. Der Begriff des „Metaphorischen“ erscheint dabei durchaus im engeren Sinne als zutreffend, da Repräsentation von Wirklichkeitserfahrung in der höfischen Lyrik eben weitgehend metaphorisch geleistet wird, wie u.a. die Gestalt der Frau Welt selbst zeigt.
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sie subtextuell narrativieren würde. In dem einen Fall affirmiert die conversio des Liebenden von Frauendienst zu Gottesdienst eine prinzipielle Hierarchie. In dem anderen Fall bedeutet die Überführung weltlicher Liebe in die Transzendenz eine intelligent pointierte Hyperbel. Mit leiser Ironie überspielt sie freilich eher die Divergenz zwischen irdischer und himmlischer Liebe, als dass sie sie ernstlich diskutieren würde. Persona und Lebensweg konstituieren hingegen bei Walther ein Zeitgefüge, das dem Problem der Immanenz die chronologische Tiefe eines Prozesses verleiht, in dem Lebenszeit und Weltzeit in komplexe Beziehung zueinander treten. Die Bewertung der Immanenzerfahrung und die Denkfiguren der vanitas erweisen sich dabei als nicht mehr kategorial gültig (wie im Falle des Kreuzliedes), sondern als wenigstens im Rahmen der Chronologie, des biographischen Narrativs relativ. Erkenntnis und Erfahrung von vanitas sind nicht Ergebnis einer spezifischen thematischen und generischen Perspektive (wie im Kreuzlied), sondern in das Zeitgefüge des Lebenswegs eingegliedert. Das Eingeständnis der vanitas unterliegt den Bedingungen der Lebenszeit. Dies impliziert eine interessante Paradoxie, die für die poetische Gestaltung der Weltabkehr von entscheidender Bedeutung ist. Üblicherweise folgt das christliche Bekehrungserlebnis der Regie der Plötzlichkeit (es genügt, an die Bekehrung des Paulus zu denken). Das Paradigma wird poetisch mustergültig im Falle der Säumigen in Dantes ‚Purgatorio‘ umgesetzt, zumal bei Manfredi di Svevia, der im Augenblick des Todes die conversio vollzieht (III,103ff.; zum Phänomen der Plötzlichkeit kommt hier noch jenes des äußersten Moments). Demselben dramaturgischen Schema folgen die Weltbegegnungen seit Konrad. Bei Walther hingegen – dies erweist zumal der Dialog mit Frau Welt – ist die dramatische Zuspitzung relativiert. Der Aufbruch des Gastes verläuft kalkuliert. Offenbar wusste der, der hier zehrte, wo er sich niedergelassen hatte. Es ward bestellt, konsumiert und nun wird ordentlich die Rechnung beglichen. Die Einsicht in das wahre Wesen der Welt ist keiner jähen und vom Schrei des Erschauderns begleiteten Erkenntnis geschuldet, sondern offenbar das immer schon Gewusste, das nunmehr allerdings akut wird. Nicht anders ist es im Falle des ‚Alterstons‘, wenn Abschied und Abkehr im Ton der Melancholie vollzogen werden, dies selbst noch in der klagenden Anrede der Welt. Und auch die ‚Elegie‘ lässt das poetische Subjekt nicht aus dem Traum aufschrecken, sondern formuliert die Rückschau auf das, was war, ebenfalls mit resignativer Geste. In allen Fällen handelt es sich gewissermaßen um eine „kalte“ Erkenntnis, und die Begegnung mit der Welt folgt nicht den szenischen Modalitäten der Welt-Epiphanie seit Konrad von Würzburg. Die Welt eröffnet sich Walther nicht, indem sie ihm jäh den Rücken zuwendet, sie ist ihm vielmehr vertraut. Ihr schändliches Hinten ist nicht
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etwas, was auf den Moment vor Augen erscheint, sondern worum der, der mit der Welt Händel führt, längst weiß. Ja nicht einmal im Moment der Abkehr wird das Bild immanenten Grauens präsent gehalten, wenn es überhaupt schon als eines von Eiterbeulen und Wurmfraß gedacht ist. Die Erinnerung an die schöne Seite birgt vielmehr die Gefahr, dass der Konvertit auf den ganzen Plunder der Vergänglichkeit wieder vergisst und neuerlich in den Hinterhalt einer Welt gerät, die er nur allzu gern von vorne betrachtet. Zu lange hat sich der, der hier spricht, mit der Welt eingelassen und zu sehr ist das, was war und was als poetisches Werk Teil seiner selbst ist, identisch mit dem, wofür „Welt“ steht. Dies führt zu einer gesteigerten Komplexität dessen, was Immanenz innerpoetisch dem lyrischen Subjekt und was sie poetologisch für die Praxis des Dichtens bedeutet. Das Problem der latenten Identität des Schönen und des Verfallenen, das in Vorder- und Hinteransicht der figura vanitatis zusammenfällt, lässt unter dem Prinzip der Chronologie, unter dem Zeitgefüge des Lebenswegs keine einfache Verdammung zu, da es dem poetischen Subjekt nichts Äußerliches ist. Walthers persona steht nicht bloß Frau Welt gegenüber, sondern ist mit ihrem Werk in der Welt. Zwischen Ich, Werk und Welt besteht ein Verhältnis problematischer Intimität, und dies eben ganz nach dem Muster der Hohen Minne, einer – wie uns das Lied von der Maßhaltung lehrte – sinnlich akzentuierten Hohen Minne. Wie die Minneherrin ist die Welt dem poetischen Subjekt überlegen, zugleich aber ist sie ihm schicksalhaft verbunden: stirbe aber ich, so ist sie tot, heißt es über die vrouwe;51 dîn jâmertac wil schiere komen / und nimet dir, daz dû uns hast genomen, heißt es im ‚Alterston‘ zur Welt. Der, der sich hier von der Welt abwendet, geht ihr nur jenen Weg voran, den sie ebenso wird beschreiten müssen; so wie er in der fünften Strophe der Hypostase der Welt, dem einst schönen bilde bloß vorangeht, um sich dereinst wieder froh mit ihm zu verbinden. Die Stelle weist auf eine als fundamental wahrgenommene Analogie von Lebenszeit und Weltzeit und auf die eschatologische Grundierung von Weltabkehr und contemptus mundi, sowohl im Sinne der „kleinen“, persönlichen Eschatologie des Menschen als auch im Sinne der „großen“, kosmischen Eschatologie. Beides, die Analogie zwischen Lebenszeit und Weltzeit sowie deren eschatologische Konzeption, sind im übrigen jene Theoreme, die die Denkformen der vanitas maßgeblich bestimmen.52
51 52
Cor 49 (L. 72,31), Str. IV,6 nach der Fassung E. Hierzu unten Kap. II.5, 311f. Zum prekären Verhältnis zwischen Lebenszeit und Weltzeit, deren Ineinssetzung eine lange Tradition hat und in der Neuzeit immer wieder fatale Folgen zeitigte, bei Walther aber nur bedingt gegeben ist, Blumenberg 2001, bes. 80ff.; zu eschatologischer Erwartung, Lebens- und Welteschatologie Blumenberg 1999, 46ff.
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Die gesteigerte Komplexität des Verhältnisses zwischen Ich und Welt bei Walther basiert auf Analogie und Intimität sowie auf der Konfiguration des Ich im poetischen Modell des Lebenswegs. Dies führt zu einer Pluralisierung dessen, was Welt bedeutet, und verhindert eine einfache, absolute Abkehr, die nach dem gängigen Schema christlicher conversio im bußfertigen Moment der Epiphanie vollzogen würde. Wie gesagt, wesentlichen Anteil hat dabei auch der Modus der Minne, in dem sich das Verhältnis von Walther und Welt beschreibt: Die Autorstimme kann von ihr nicht lassen. Der dilemmatischen Konzeption kann die Aufspaltung, die Diversifikation des Problems der vanitas nur teilweise beikommen: Da ist zum einen das eigene Werk als Weltwerk, das denen, die hienieden bleiben, belassen wird. In der Sphäre der Immanenz ist es ein positives Gut, das sein Äquivalent in der Anerkennung durch die findet, an die es sich richtet. Zum anderen steht es im Sinne der persönlichen eschatologischen Erwartung als Lobpreis der lîbes minne, in die man für unsere Zwecke auch die Liebe zum Leben hineinlesen könnte, dem Seelenheil entgegen. Der Rückfall in die Rigidität des contemptus mundi folgt auf dem Fuß, sobald „Welt“ nicht mehr konkret die des Hofes und die des eigenen Lebens, sondern die abstrakte Totalität des Diesseitigen meint, der jene betrügerische Irreführung unterstellt wird, die sich hinter der Forderung nach Anerkennung gegenüber dem Hof nur schlecht verbirgt. Der Undank der Welt gleicht jenem der geliebten Dame, der die Einlösung des eben verworfenen weltlichen Liebesgesangs für die Zeit dereinst versprochen wird (eine schwierige Überbietung der Verlängerung des Minnedienstes in die Transzendenz bei Morungen). Nicht weniger als im ‚Alterston‘ changieren die Aspekte einer diversifizierten Immanenz in der ‚Elegie‘. Dass das eigene Leben als eitler Traum erscheint, ist weniger ein Werk der Zeit an sich, sondern der freudlosen Mitwelt. Dagegen setzt der Sänger in seiner Zeitklage jene Freude, die eben noch als Traum verloren schien. Dies, um sie schließlich der Denkfigur des Kreuzzugsaufrufs preiszugeben und als ins Honigglas gefüllte Galle zu enttarnen. Der contemptus mundi ist nur eine Weise, in der Walthers Lieder modulieren, wenn sie das Problem der Immanenz verhandeln. Fungieren Begriff und Gestalt der Welt im theologischen vanitas-Diskurs als „totale Metaphern“, so sind sie bei Walther in ihre einzelnen Referenzen aufgespalten: in die politische (Briefe aus Rom) und die kulturelle (Freudlosigkeit) der ‚Elegie‘, in die gesellschaftliche (Vermächtnis und Lohnerwartung) und die erotische (Minnesang und Rede zum bilde) des ‚Alterstons‘. Die totale Perspektive, die den contemptus mundi kennzeichnet, ist von einem differenzierten Urteil gegenüber den Hypostasen der Welt – Hof, Herrin, Werk – aufgebrochen. Die Welt selbst erscheint in der ‚Elegie‘ als begriffliche Abstraktion, nur halb personifiziert ist sie im ‚Alterston‘. Sobald sie als
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Gestalt wie im ‚Dialoglied‘ und in der ‚Weltlohnklage‘ (Cor 35) gefasst ist und dabei jene konkreteren Instanzen impliziert, die ,Elegie‘ und ,Alterston‘ separat adressieren, wandelt sich der Modus der Verdammung zu dem einer latenten Bindung. Mit der Rigidität des contemptus mundi spricht Walther bloß dann zur Welt, wenn er sie von Hof, Dame und Werk differenziert. Und er tut es dort, wo er sich am Ende seines Lebens und sie nicht fern vom Ende ihrer Tage angekommen sieht. Die Welt scheint in ‚Alterston‘ und ‚Elegie‘ mit Walther alt geworden zu sein. Dort wo sie wie der Sänger erst an ihrer !"#$ steht, am Scheitelpunkt von Lebenszeit und Weltzeit also, bleibt sie dem Gast vertraut und gefährlich wie eh. Der Aspekt der Gefährdung besteht fort, solange in der Immanenz verblieben wird, solange dem Maß des Lebenswegs entsprechend noch nicht sicher ist, ob tatsächlich schon Abschied zu nehmen wäre. Dass selbst noch der Greis sein Weltwerk nicht verwirft, sondern mit testamentarischer Sorgfalt über es verfügt, und dass er seinem bilde, dem er unfreundlich direkt die Vergänglichkeit der Schönheit an den Kopf wirft, im selben Moment die Wiedereinkehr verspricht, verrät eine fundamentale Liebe zum eigenen Leben, auch wenn es nur mehr geträumt erscheint. Es verbleibt als Spur des Werks im Hienieden, weil es mit ihm identisch ist. Das Verhältnis zwischen Ich und Welt ist eines der Liebesbindung, nach dem Modus Hoher Minne fordert es für Dienst Lohn. Walthers – dem Modell des Lebenswegs nach gedacht – frühestes Lied ‚Wie sol man gewarten dir‘ (Cor 35, L. 59,37) verbleibt noch ganz im Bereich der Immanenz. Wenn es hier am Ende vom erwarteten Weltlohn heißt: weistû waz ich meine? / wider liebe liep, daz eine (VII,6f.), so ist der gemeinte Weltdienst weder auf die erotische, noch auf die soziale Referenz zu reduzieren. Er ist in einem umfassenden Sinn poetisch und erweist den Poeten als Erotiker der Welt mit aller Konsequenz, er erweist ihn als ein animal saeculare. Wenn Poesie die Grenzen dessen, was gedacht werden kann, auch nicht überschreitet, sie strapaziert sie immerhin aufs Äußerste – im Sinne produktiver Widersprüche und Paradoxien. Und hierin findet sich zu Walthers Weltliedern tatsächlich nichts Entsprechendes. In diesem Sinne mögen sie füglich die Themen des zweiten und des dritten Teils dieser Untersuchung vorgeben: die Frage nach Allegorien und Allegoresen der vanitas im geistlichen contemptus mundi und in der weltlichen Poesie sowie die nach einer Poetik der Immanenz. Bliebe mit Blick auf die leidige motivgeschichtliche Diskussion festzuhalten: Eine „Herrin Welt“ ist vor Walther nicht belegt. Wir wollen sie als seine Erfindung gelten lassen.
II. Allegorien und Allegoresen
1. Welt-Allegorien in der bildenden Kunst FÜRST DER WELT. – Die männliche Gestalt präsentiert sich den Betrachtenden in einer prätentiösen Haltung (Abb. 11). Die Stellung ihrer Füße beschreibt ein offenes V, so, als entwürfe sie nach außen hin eine amphitheatralische Perspektive, als fokussierte sie zugleich die Blicke in einem größtmöglichen Radius auf sich. Die Zehen, von weichem Schuhwerk bedeckt, weisen wie der Kopf leicht nach oben (die Geste ist in der Frontalansicht deutlicher als im Profil). Die Beine sind nach außen gedreht, der Gewandansatz ist unangemessen hoch. Warum die Bordüren, die die seitlichen Schlitze des Kleides begrenzen, so auffällig hervortreten, ist zunächst nicht einsichtig. Ebenso unklar erscheint fürs erste der feste, fast krampfhafte Griff der Linken, die das Gewand mittig rafft. Man hat den Eindruck, als wäre vorne des Tuchs zu viel, ohne dass man schon wüsste, dass es davon hinten fehlt. Die Rechte hingegen hält nicht ganz auf Mundhöhe eine Kugel (dass es ein Apfel ist, lässt sich nur aus der Nähe erkennen), auf die auch die stieren Augen gerichtet sind. Es ist ein etwas abfälliger Blick, zunächst im rein räumlichen Sinn, weil der Kopf wegen der hochgezogenen Brauen und der spitzen, leicht nach oben weisenden Nase angehoben scheint, auch wenn er es tatsächlich nicht ist. Im Blick auf den Apfel vermischen sich Geringschätzung und Gier. Beides hält die bildnerische Dynamik, die sich ganz auf Gesicht und Gesichtsfeld (den Bereich zwischen Kopf und Apfel) begrenzt, in Schwebe. Die Gestalt ist ikonographisch an der Schwelle zwischen einer kontemplativen Betrachtung des Apfels und einer aus ihr folgenden Esslust gearbeitet. Noch scheint der Moment nicht gekommen, in dem die Gier, in den Apfel zu beißen, die Gestalt überkommt. Dass der entscheidende Biss nicht unmittelbar bevorsteht, legen die Distanz zwischen Hand und Mund und vor allem dessen Geschlossenheit nahe. Sein Lächeln ist breit und wird von den fast aufgebläht wirkenden Wangen verstärkt. Es richtet sich wie der Blick offensichtlich auf den Apfel und verbindet die Arroganz dessen, der in der Vorfreude des Genießens steht, mit der Torheit eines Unbedachten, denn der Apfel könnte ja auch sauer sein. Souverän ist dieses Lächeln nur gegenüber dem Objekt des Appetits (auch hierin aber womöglich schon betrogen), demnach vielleicht herrisch, aber nicht herrenhaft, auch wenn ein Kranz oder eine Krone das wohlgekämmte, in einer gebrannten Locke auslaufende Haar ziert.
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II. Allegorien und Allegoresen
Zur Linken der männlichen Gestalt befindet sich eine weibliche, die sich deutlich nach rechts neigt, so als wäre ihr Blickwinkel auf diese Weise ein besserer (Abb. 12). Sie ist ganz Bestandteil einer Komposition und auf das männliche Bildnis bezogen, während er innerszenisch sich selbst (und dem Apfel) genügt, auch wenn seine Pose die Rezipienten zu jener Betrachtung einlädt, in der sich die weibliche Gestalt bereits ergeht. Auf deren Mund liegt ebenfalls ein Lächeln, eine Spur geöffneter und törichter möglicherweise, und doch bleibt undeutlich, worauf dieses Lächeln und der zugehörige Blick gerichtet sind – auf den Mann, auf den Apfel oder auf den bevorstehenden Akt des Genusses? Schon die Neigung der weiblichen Figur gibt deutlicher als im Falle des Mannes ein Moment der Bewegung zu erkennen. Es wird verstärkt durch den Faltenwurf ihres Gewandes, das den Boden mehr zu bedecken scheint, als es natürlich und angemessen wäre (dies bestätigt ein kurzer Blick auf die beiden anderen Frauengestalten neben ihr; Abb. 13). Ihre Rechte fasst das Kleid knapp unter der Schulter, dies weniger, als ob sie es halten wollte, eher scheint sie dabei zu sein, es sich vom Leibe, wenn nicht zu reißen, so doch gleiten zu lassen. Damit erklärt sich auch die seltsame Bewegung der Linken, die dabei ist, eine noch gar nicht entblößte Scham zu bedecken. Sie beschreibt die bekannte Geste der Venus pudica. Indes lohnt es sich, ein wenig aus dem Radius zu treten, den die Füße des Mannes beschreiben. Genau mit Überschreiten der Grenzlinie, die sein rechter Fuß markiert, erklärt sich die Raffung seines Gewandes: Auch dieses ist offenbar dabei zu fallen, was sein krampfhafter Griff aber eher zu verhindern als zu befördern sucht: Sein Rücken liegt bereits bloß, auf ihm und durch ihn kriechen Kröten, Schlangen und ekles Gewürm. Diese Darstellung des „Fürsten der Welt“ findet sich am Straßburger Münster. Sie datiert auf das Ende des 13. Jahrhunderts und ist die kunstgeschichtlich bedeutsamste ihres Genres.1 Ihr ikonologischer Gehalt verliert sich allerdings in den vielfachen Spuren, die die Komposition freigibt. In der allegorischen Ikonographie wird uneindeutig, was ihr als theologische Allegorese angeblich vorausgeht: Iam non multa loquar vobiscum, venit enim princeps mundi et in me non habet quidquam, sed, ut cognoscat mundus quia diligo Patrem, et sicut mandatum dedit mihi Pater, sic facio. Surgite eamus hinc. (Io 14,30-31)2
1 2
Für die kunstgeschichtliche Forschung sei verwiesen auf Hamann (Hg.) 1928, Huhn 1959, Recht 1971 und 1994, Fast 1990, Van den Bossche 2001. In der Einheitsübersetzung: ‚Ich werde nicht mehr viel zu euch sagen; denn es kommt der Herrscher der Welt. Über mich hat er keine Macht, aber die Welt soll erkennen, dass ich den Vater liebe und so handle, wie es mir der Vater aufgetragen hat. Steht auf, wir wollen weggehen von hier.‘
1. Welt-Allegorien in der bildenden Kunst
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Der Begriff des princeps mundi aus dem ‚Johannesevangelium‘ gilt gemeinhin als die „verbale Wurzel“ des Bildmotivs. Schlüssig ist dies allerdings nur dann, wenn man die bildnerische Komposition nicht als „ikonographische Verdichtung“3, sondern im Gegenteil als ikonographische (oder auch ganz allgemein: zeichenhafte) Diffusion des Schriftworts, als seine Ver-Dichtung in ganz anderem Sinne begreift. Unklar ist dabei bereits, was dieses Schriftwort selbst verdichten sollte. Die synoptischen Glossen in der Nestle-Alandschen Ausgabe des ‚Neuen Testaments‘ führen zum Satan der Verführungsszene (Lc 4,1-134). Denkt man das Wort nach seinem historischen Sinn, wäre aber ebensogut auf den römischen Kaiser und seinen Stellvertreter Pilatus verwiesen, dessen Auftritt ja mit der Passionsgeschichte ansteht. Dass narratologisch gesehen eine Prolepse vorliegt, legt auch das Verbum venit nahe. Ihm korrespondiert die Vorausdeutung, dass dem Kommen des princeps mundi seine Vertreibung (Io 12,31) beziehungsweise seine Verurteilung (Io 16,11) folgen werde. Bemerkenswert ist die Behauptung Jesu, dass ihm dieser princeps mundi a priori nichts anhaben könne, er tangiere ihn nicht. Dass er des Messias habhaft werde, diene nur dazu, der Welt zu zeigen, dass dieser den Vater liebe – eine Vorwegnahme der Worte, die Christus zu Pilatus sagen wird: „Regnum meum non est d e m u n d o h o c“ (Io 18,36 [Hervorhebung M. K.]), „Non haberes potestatem adversum me ullam, nisi tibi esset datum desuper“ (Io 19,11). Der princeps mundi ist Medium des Heilsgeschehens und nicht sein Akteur. Die Entsprechungen im ersten und zweiten Korintherbrief (I Cor 2,6 und II Cor 4,4) sowie in dem an die Epheser (Eph 2,2), lassen den Begriff weiter diffundieren: Er findet sich auch im Plural (I Cor 2,6), ferner korrespondieren dem princeps mundi der deus huius saeculi (II Cor 4,4) und der princeps potestatis aeris (Eph 2,2), dessen Gesetz sich – der Syntax zufolge – neben und nicht über jenes der Welt stellt.5 In gewisser Übereinstimmung mit der Uneindeutigkeit der genannten neutestamentlichen Texte über Zahl und Wesen des princeps mundi neigt auch die kunstwissenschaftliche Deutung dazu, eine Differenz außer Acht 3 4
5
Der Begriff bei Kiening 1994, 448, allerdings nicht direkt auf den „Fürsten der Welt“ bezogen. Vgl. bes. Lc 4,13: Et consummata omni tentatione, Diabolus recessit ab illo usque ad tempus. Die prospektive Zeitangabe bezieht sich augenscheinlich auf Lc 22,3, wo vom Eingang des Diabolus in Iudas Iscarioth die Rede ist (vgl. ferner Lc 22,31/40/46). Mc 14,41 spricht bloß von den manus peccatorum, denen der Menschensohn ausgeliefert werde. Et vos, cum essetis mortui delictis et peccatis vestris, in quibus aliquando ambulastis secundum saeculum mundi huius, secundum principem potestatis aeris, spiritus, qui nunc operatur in filios diffidentiae (Eph 2,1-2). Die Einheitsübersetzung formuliert den Parallelismus von secundum saeculum und secundum principem im Sinne einer vereinfachenden Hierarchie um: ‚Ihr wart tot infolge eurer Verfehlungen und Sünden. Ihr wart einst darin gefangen, wie es der Art dieser Welt entspricht unter der Herrschaft jenes Geistes, der im Bereich der Lüfte regiert und jetzt noch in den Ungehorsamen wirksam ist.‘
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zu lassen, die für die Ikonologie des von ihr so betitelten Bildmotivs von einigem Interesse ist (zumal wenn es gilt, das Verhältnis zwischen princeps mundi und Frau Welt zu klären): die Differenz zwischen „Fürst der Welt“ und „Welt als Fürst“. Ersteres würde eher eine Vorstellung implizieren, bei der zu fragen wäre, wer es sein könnte, der sich „Fürst der Welt“ nennen ließe, das zweite aber wiese auf einen Darstellungstypus, der das, was Welt in ihm bedeutet, a priori verengt beziehungsweise auf einen Modus der soziomorphen Repräsentation zuspitzt.6 Jedenfalls gilt es, die Differenz im Blick zu halten und sie nicht mit einer Formulierung wie der von Gertrude Gsodam – „Der ,mundus‘, gleichgesetzt mit dem ,princeps huius mundi‘“ – voreilig einzuebnen.7 Der Titel „Fürst der Welt“ für die Skulptur an der Westfassade des Straßburger Münsters suggeriert eine Klarheit der Deutung, die bei näherer Betrachtung, zumal der gesamten Skulpturengruppe im Gewände des südlichen Seitenportals, in nichts anderem besteht als in einem Bündel von Fragen. Deren Produktivität ergibt sich wiederum aus der Menge an Relationen, die sich assoziieren. In genau diesem Prozess der semantischen Pluralisierung gründet auch die ikonische Attraktivität des konkreten Bildnisses und des Bildtypus, den es repräsentiert – eine Attraktivität, die mutmaßlich nicht erst die kunstwissenschaftliche Reflexion herausgefordert hat, sondern schon seine historische Wirkung und zugleich seine zeitliche wie räumliche Begrenztheit erklären könnte: Denn es handelt sich keineswegs um einen verbreiteten Bildtypus, der es innerhalb der Sakralplastik zu einer gewissen Kanonizität gebracht hätte. Die Zeugnisse begrenzen sich vielmehr geographisch auf den oberrheinischen und den fränkischen Raum (Straßburg, Basel, Freiburg bzw. Nürnberg, Regensburg)8 und auf die Zeit um 1300. JUNGFRAUENGLEICHNIS UND VANITAS-ALLEGORIE. – Wäre in der männlichen Gestalt tatsächlich der „Fürst der Welt“ abgebildet, so stellte sich zunächst die Frage, worin dieser hier seine Welt fände. Wenn man 6
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Zum Begriff der „Soziomorphie“ Topitsch 1972 (Hinweis bei Beutin 1988/89, 222); er zielt auf die christliche Tendenz, den ordo der Schöpfung in sozialen/soziomorphen Kategorien und Anschauungen zu denken. Diese Betrachtungsweise spiegelt sich auch in den metaphorischen Modellen der Ökonomie und der Politik wider, die das christlichtheologische Denken bestimmen und die in der jüngeren philosophischen Diskussion neue Aufmerksamkeit gefunden haben, vgl. Agamben 2005; Topitschs Theorem würde auf das Modell der Ökonomie zielen. LCI 4, s.v. Welt, Fürst der Welt, Frau Welt, Sp. 496-498, hier Sp. 496. Die bei Stammler 1959, 26f. besprochene und auf Tafel VIII abgebildete Kapitell-Figur eines „Fürsten der Welt“ im Bamberger Karmeliter-Kreuzgang lasse ich beiseite, weil die Verwesungs- und Sündenmotivik fehlt, die die Gestalt ikonographisch eindeutig identifizieren würde.
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nicht nur lateinisch, sondern auch deutsch denkt, was angesichts der zur Entstehungszeit vorliegenden Frau-Welt-Tradition vielleicht sogar das plausiblere wäre, so könnte man sagen, es sei die törichte Jungfrau, die als Welt hier neben ihrem Fürsten zu stehen komme. Wenn man sie und den Fürsten im Kontext des Ensembles betrachtet, muss jedenfalls auffallen, wie sehr sich die beiden Gestalten vom eigentlich kanonischen Sujet abheben, das im Gewände verbildlicht wird, nämlich vom biblischen Gleichnis der fünf klugen und fünf törichten Jungfrauen (Mt 25,1-13), das im Unterschied zur Weltallegorie nun wirklich ein kanonisches Sujet der Sakralplastik darstellt.9 Für sich bemerkenswert ist bereits die bildnerische Repräsentation der textuell vorgegebenen und hermeneutisch keineswegs beliebigen Zahl (sie bezieht sich in der Auslegungstradition üblicherweise auf die fünf Sinne, die zu reinigen dem Christenmenschen obliege oder mit denen gesündigt werden kann)10: Das rechte Gewände selbst zählt nur drei kluge Jungfrauen mit ihrem sponsus Christus (Abb. 14; die Fünfzahl komplettieren die beiden Gestalten an der Fassade), entsprechend das linke drei der törichten (ebenfalls komplettiert von zwei weiteren an der Fassade aufgestellten Skulpturen). Die beiden Paare an den Fassaden dienen dabei einzig dazu, das „Wort“ der Zahl nach zu erfüllen, die topographische Absonderung degradiert sie freilich zu Randfiguren, die am „ikonisch-narrativen“ Spiel kaum teilnehmen. Schon ikonographisch tanzt nun aber vor allem die dritte und im engeren Ensemble des Gewändes äußerste törichte Jungfrau aus der Reihe, diejenige, die neben dem „Fürsten“ steht: Die Körper und Gesichter der anderen vier Törichten sind gramgebeugt und antworten darin der abweisenden Geste des sponsus und dem seligen Lächeln der klugen Jungfrauen, aus dem sich auch eine selbstgerechte Häme ablesen ließe, wenn man ihnen übel wollte. Die dritte kümmert sich um all dies nicht, weil sie ihren sponsus offenbar nicht in Christus, sondern eben im „Fürsten“ erkannt hat, der im übrigen jene Gestalt darstellt, mit der die bildnerische Darstellung das biblische Sujet in ikonographischer wie hermeneutischer Hinsicht gravierend aufbricht. Wollte man im Sinne dieser Verschiebung neu nachrechnen, könnte man e i n e besonders törichte Jungfrau zählen, in der sich der Übergang des biblischen Gleichnisses zu einer nicht-biblischen Allegorie manifestieren würde. Innerhalb des Gewändes ergäben die beiden „gewöhnlich“ törichten und die drei klugen Jungfrauen hingegen die kanonische Fünfzahl, wenn auch nur einfach und nicht zweifach.
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Vgl. s.v. Jungfrauen, kluge und törichte (H. Sachs), LCI 2, Sp. 458-463. Zusammenfassend hierzu ebd., Sp. 458f.
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Jedenfalls ist auf dem ikonographischen und narrativen Bruch zu insistieren, der im gesamten Ensemble des Gewändes (Abb. 15) gegenüber dem biblischen Grundtext besteht: Wollten wir ihn narrativieren, ließe sich sagen, dass die besonders törichte Jungfrau, die wir der Einfachheit halber Frau Welt nennen, offenbar erst gar nicht versucht hat, Einlass beim sponsus zu finden, wie es das Gleichnis allerdings vorsieht. Ihre Lampe trägt sie nicht nach unten gekehrt, sondern hat sie zu ihren Füßen liegen.11 Auch dieses Motiv weist somit nicht nur wie die Gruppierung der Figuren (rechts die drei klugen Jungfrauen mit dem sponsus innen, links die inneren beiden törichten Jungfrauen, Frau Welt und Fürst außen) auf den Zusammenhang des Ensembles, sondern zugleich auf die Differenz, die hier konstruiert ist, sowie auf die Separation der beiden äußeren Gestalten zur Linken des Betrachters, „Fürst“ und „Frau Welt“, vom übrigen Ensemble. Die bildnerische Repräsentation kontaminiert somit den ihr zugrunde liegenden Gleichnistext mit einer Allegorie, die eine Betrachtung für sich nicht nur rechtfertigt, sondern auch verdient. Als ihr imaginierter Fokus erscheint der Apfel, was Fürsten und Jungfrau in Relation zu Adam und Eva treten lässt. Freilich liegt in der ikonographischen Analogie keine Deutung des Sündenfalls vor (etwa im Sinne einer Allegorisierung Adams und Evas zu Fürst und Frau Welt), sondern wiederum eine Distanzierung. Denn die ikonographische Analogie funktioniert kontrastiv: Das törichte Lächeln des Fürsten und seiner Welt, die Gier nach dem Apfel und der lockere Sitz der Gewänder thematisieren eine ostentative Schamlosigkeit, die die aus dem Sündenfall resultierende Schamhaftigkeit des ersten Menschenpaares im schärfsten antithetischen Sinne w i d e r spiegelt. Weist die Nacktheit des paradiesischen Paares auf den kommenden Akt der Bedeckung, so kündigt sich in der Bekleidung von Fürst und Welt die schamlose Entblößung an. Nicht nur in ihr ist Weltliebe ein weiteres Mal erotisch repräsentiert. Dieser sponsus und seine sponsa verbinden sich im Zeichen der libido, die zumal der weiblichen Jungfrau auf den Leib geschrieben ist: im ikonographischen Zitat des Kontrapost und in der pudica-Geste, die alles andere als Schamhaftigkeit bedeuten soll, sondern vielmehr die Ikonographie der
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In Fürst und Frau Welt ließe sich eine fast blasphemische Nachgeschichte zum Gleichnis gegeben sehen, der Art nämlich, dass die dritte törichte Jungfrau vollzogen hätte, was ihren beiden Gefährtinnen noch bevorsteht: Die Hinwendung an den princeps huius mundi als Konsequenz aus der Abweisung durch den sponsus, der auf diese Weise mit seiner Rigidität zum Anstifter der Sünde würde. Diese – für das Mittelalter kaum zu erwartende – Fehllektüre belegt immerhin das hermeneutische Risiko der Verschiebung des biblischen Gleichnisses zur contemptus-mundi-Allegorie und den Bruch innerhalb des Straßburger Ensembles.
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Knidischen Aphrodite12 (Abb. 16) zitiert, die hier gewissermaßen einen Moment zu früh, noch vor der Entblößung gezeigt wäre. LUXURIA. – Dass die Jungfrau neben dem Fürsten auch als Repräsentation der Luxuria zu lesen wäre, diese Allegorese legt nicht zuletzt ein Vergleich mit dem Skulpturenprogramm in der Vorhalle des Freiburger Münsters nahe. Es hängt mit dem Ensemble in Straßburg räumlich, konzeptuell und der Werkstatt nach eng zusammen.13 In Freiburg kommt neben den „Fürsten der Welt“ Luxuria zu stehen (Abb. 17). Sie ist vorne nackt und trägt auf dem Rücken ein Bocksfell, das sie mit der Rechten um die Schulter zieht, mit dem linken Arm aber an ihre Seite drückt. Mit der Hand hält sie sich eine Bocksklaue vor ihre Scham, eine Geste, deren phallische Anzüglichkeit kaum einen Gedanken der Beschwichtigung aufkommen lässt.14 Der warnende Engel, der zu ihrer Linken beigestellt ist, soll offenbar die apotropäische Intention der Darstellung gegen ihre verführerische ästhetische Präsenz absichern. Sein Spruchband, Ne intretis, wird wohl auf die schamlose koitale Geste bezogen sein. Es handelt sich um ein Zitat aus Mt 26,41 und ist somit zu lesen als: „Ne intretis [in tentationem]!“15 Angesichts dieser Luxuria und ihrer Geste lassen sich die gemeinte tentatio und das gemeinte intrare aber schwerlich anders als ganz konkret verstehen: „Tretet/Dringt nicht ein in diese Versuchung hier!“ Die Komposition wirft die dringliche Frage auf, wer in dieser Gruppe nun verführe und wer verführt werde. Die zentrale Gestalt scheint sowohl ikonographisch als auch im Sinne einer Psychologie des betrachtenden Blicks – schon der provozierenden Nacktheit wegen – allemal die weibliche zu sein. Was man den Fürsten der Welt nennt, erschiene somit eher als der verführte Weltjünger, der der ihm beigestellten weiblichen Figur erläge (während sie in der Straßburger Gruppe üblicherweise als die von ihm Verführte gedeutet wird) und der somit auf jenes intrare aus wäre, vor dem der Engel warnt. Die Fäulnissymbole, die der Fürst auch hier auf dem Rücken trägt, ließen sich auf diese Weise als ikonologisches Hysteron-proteron verstehen, sie wären das vorweg aufgerufene Signum des vollzogenen Lasters. Wollte man nach einer Repräsentation des Teufels suchen, so würde man den diabolischen Bock jedenfalls weniger im Für12 13 14
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Zur ikonographischen Kanonizität der Knidia, zumal in der allegorischen Repräsentation der Luxuria Hinz 1998, 124ff. und 168ff. (zur Freiburger Darstellung). Zur baugeschichtlichen Einordnung des Straßburger Münsters Fast 1994, 17ff., zu den Skulpturen der Jungfrauengruppe ebd., 166ff. Bei Hinz 1998, 168, heißt es, dass „Klaue und Horn [des Bockes] sich ebenso anzüglich wie beschwichtigend über dem Schoße kreuzen“. Worin das beschwichtigende Moment liegen sollte, ist umso weniger einsichtig, als Klaue und Horn keineswegs „sich kreuzen“, sondern von Luxuria zur Scham hingeführt werden. Hinweis bei Kempf/Schuster 1923, 40.
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sten als vielmehr in der Frau mit dem Bocksfell finden.16 Eine Verbindung des seitlichen vanitas-luxuria-Ensembles mit der zentralen Jungfrauengruppe ist schließlich im Skulpturenprogramm der Vorhalle des Freiburger Münsters nur lose gegeben. Es wird also säuberlich getrennt, was in Straßburg kontaminiert ist. Dass mit dem Straßburger Fürsten der Welt (bzw. mit dem Bildtypus generell) nicht der Teufel bezeichnet wäre und in der törichten Jungfrau neben ihm auch nicht die Welt ihrem Beherrscher verfiele, sondern dass in ihm der weltliche Fürst als oberste Verkörperung von Weltlichkeit, als der, der sich ihrer vana gloria zuvorderst ausliefert, zu erkennen wäre, darauf deutet auch die Analogie zu Adam und Eva hin. Betrachten wir in diesem Zusammenhang, was wir ein wenig aus den Augen verloren haben, nämlich seinen Rücken und erinnern wir uns an die entsprechende Stelle der ‚Johannes-Apokalypse‘, die einen passenden Schlüssel bietet: Et vidi de ore draconis et de ore bestiae et de ore pseudoprophetae spiritus tres immundos velut ranas: sunt enim spiritus daemoniorum facientes signa, qui procedunt ad reges universi orbis congregare illos in proelium diei magni Dei omnipotentis (Apc 16,13-14).17
Der apokalyptische Kontext ist das dominante Thema der Gesamtkomposition des Straßburger Portals (im Tympanon findet sich die Gerichtssze16
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Weitere ikonographische Analogien, die sich vom Freiburger Paar – Fürst der Welt und Luxuria – ziehen lassen, erweitern die Deutungsperspektiven eher, statt sie einzuschränken: Etwa korrespondiert ihm der Darstellungstypus von Teufel und Luxuria. Berthold Hinz (1998, 126ff.) weist hierfür auf das Portalrelief der Abteikirche St. Pierre in Moissac (Abb. 18) hin, die den Teufel und eine Luxuria zeigt, deren Nacktheit mit jenen Sündenund Todesattributen verbunden ist, wie sie für Frau Welt und Fürsten der Welt kennzeichnend sind: An den Brüsten saugen Schlangen, die sich um den Leib der Allegorie schlingen, auf der Scham sitzt eine riesige Kröte. Der offensichtlich haptische Zugriff des Teufels macht die Allegorie nicht nur als Verkörperung der entsprechenden Sünde, sondern konkreter als die der entsprechenden Sünderin, des „lüsternen Weibs“ lesbar, das des Teufels wäre. Eine solche Deutung könnte auch im Falle der Freiburger Luxuria impliziert sein, da das umgehängte Bocksfell die teuflische Inbesitznahme symbolisieren könnte. (Diese Inbesitznahme wäre als aktive und dezidiert sexuelle Hingabe aufzufassen, wobei der Teufel – wäre er das Bocksfell – seltsamerweise zur bloßen Hülle degradiert wäre, sich also eher das „lüsterne Weib“ in ihm, als er sich in diesem manifestieren würde.) Jedenfalls besetzen Schlangen und Kröten das diabolische, vom Teufel affizierte Objekt und nicht diesen selbst, was wiederum gegen eine Deutung des „Fürsten der Welt“ als Teufel spricht, wie sie Huhn 1959 vertritt. Zur Darstellungstradition der Luxuria selbst Hinz 1998, 260f., Anm. 137 und s.v. Luxuria (O. Holl), LCI 3, Sp. 123f. Holl identifiziert im übrigen die neben dem Fürsten postierte Straßburger Jungfrau als Luxuria und sieht in der Draperie des Gewandes ebenfalls die bevorstehende Entblößung bezeichnet; auch er spricht aber von ihrer Verführung durch den Fürsten der Welt. In der Einheitsübersetzung: ‚Dann sah ich aus dem Maul des Drachen und aus dem Maul des Tieres und aus dem Maul des falschen Propheten drei unreine Geister hervorkommen, die wie Frösche aussahen. Es sind Dämonengeister, die Wunderzeichen tun; sie schwärmten aus zu den Königen der ganzen Erde, um sie zusammenzuholen für den Krieg am großen Tag Gottes, des Herrschers über die ganze Schöpfung.‘
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ne). Das Jungfrauengleichnis liefert hierzu sozusagen die moralischtropologische Sinnperspektive. Eine solche Verschiebung der allegorischen Totale auf Leben und Lebensentscheidung des Menschen dokumentiert sich auch in der Gestalt des Fürsten, der nicht als apokalyptischer Kämpfer figuriert, sondern eben als Welttor, der seinen „persönlichen“ Kampf längst verloren hat. Daher sammeln ihn die apokalyptischen Frösche auch nicht zum Endkampf, sondern sie versammeln sich au f ihm zum Zeichen seiner Verfallenheit. Kurz gesagt: Der Fürst der Welt exemplifiziert so wie die törichte Jungfrau zu seiner Seite nicht den Verführer, sondern den selbst Verführten, den werlte minnære in seiner ganzen Torheit. Sinnfällig wird seine Verblendung in der völligen Konzentration auf sich beziehungsweise auf den Apfel, den man als vielschichtiges Symbol der Welt selbst lesen kann: Als Reichsapfel würde er die Welt als Objekt herrscherlicher Begierde bezeichnen, das – bedenkt man die Relation zum Paradiesesapfel – zugleich deren Sündhaftigkeit und Todgeweihtheit illustrieren könnte. Seine törichte Selbstfixiertheit lässt den Fürsten jedenfalls nicht einmal als den aktiven Verführer der dritten törichten Jungfrau kenntlich werden, und so sind sie und er eben am ehesten und am besten als Figurationen einer der Welt verfallenen Menschheit zu verstehen. Als solche bringen sie konkreter noch jene menschlichen Repräsentanten ins Bild, die in der irdischen Hierarchie ganz zuoberst stehen, nämlich das weltliche Herrscherpaar. Neuerlich bestätigt sich das Prinzip einer soziomorphen christlichen Weltsicht. Weltliebe und Weltverfallenheit repräsentieren sich in den obersten Repräsentanten der Welt, in den principes huius mundi. Somit wäre die adäquatere Terminologie für das Skulpturenpaar vorläufig „Fürst und Fürstin der Welt“, wobei der Genitiv als subiectivus, nicht als obiectivus zu verstehen wäre. Als weltliche Herrin entspricht die dritte törichte Jungfrau zugleich auch dem Darstellungstypus der Frau Welt, sie entspricht der Repräsentation der Welt als H e r r i n . Verschärft wird die übliche theologische Polemik gegen die Sphäre der Immanenz durch einen historisch-konkreten Akzent: Der Straßburger Fürst und seine törichte Jungfrau verkörpern nicht nur weltliche Herrschaft, sondern weltlich-höfische Kulturalität insgesamt. Im Falle des Freiburger Belegs scheint dies mit dem Motiv der Rose zumal auf die höfische Minnedoktrin bezogen. Und wenn man die Freiburger Luxuria aus der Perspektive eines Fürsten der Welt betrachtet, der als höfischer Liebender gezeichnet ist, lässt sich auch sie als die denkbar schärfste polemische Verzerrung der höfischen Minne, der Minneherrin und schließlich der Welt selbst verstehen.
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BILD UND RAUM. – Versuchen wir noch, diese Deutungslinien mit der Raumwirkung der Straßburger Westfassade und der möglichen Raumbewegung der Betrachtenden abzugleichen. Zunächst sind männliche und weibliche Allegorie der Weltliebe sinnigerweise am äußeren Rand des Portals postiert, zum Portal hin aber ihre auf die Transzendenz bezogenen Pendants, Christus als sponsus und die erste kluge Jungfrau (wir können sie hier der Symmetrie wegen hervorheben, auch weil sie als einzige aus der Gruppe heraus auf die Gegenseite blickt).18 Den schauerlichen Rücken des Fürsten erblickt nicht, wer von Süden kommend eintritt oder aus dem Tor hinausgeht, sondern nur, wer an ihm vorbeigeht. Was die übrigen Annäherungsrichtungen betrifft, so sieht man die Zeichen des Verfalls am Rücken der Skulptur – gegen die Regie von Verbergen und Enthüllen, in der ihr grundsätzlicher wirkungsästhetischer Effekt besteht –, b e v o r einen noch die schöne Vorderseite über den wahren Zustand der Welt täuschen könnte. Hat der Blick der Eintretenden Fürsten und Frau Welt passiert, fällt er auf die inneren törichten Jungfrauen, die mit der Geste der Reue, auch wenn sie für sie selbst zu spät kommt (was theologisch problematisch genug ist), den Weg in jenes himmlische Jerusalem weisen, für das die Kathedrale selbst steht.19 Betrachtet man das Skulpturenensemble am Südportal der Straßburger Westfassade im Gesamten, so erweisen sich der Fürst der Welt und seine sponsa als marginalisiert. Das Bildprogramm bringt die geistliche Denkform der Vertikalität zum Ausdruck: Die Welt ist es, die in Gestalt ihrer höchsten Repräsentanten vom Paradies immer schon ausgeschlossen bleibt. Wenn man sich in diesem Zusammenhang und bei nochmaligem Anblick des Apfels an die Analogie zum Sündenfall erinnert, so präsentiert sich Weltliebe als dessen radikale Verschärfung, da man angesichts des Werks, des Kunstwerks, schon um ihren Effekt wissen muss, ja mehr noch: ihn sogar sieht. Der Straßburger „Fürst der Welt“ ist weder die Welt selbst, noch ihr eigentlicher Beherrscher, der Teufel. Er ist nicht der „Große Verführer“, wie hartnäckig behauptet wird, sondern der „Große Verführte“. Die ihm 18
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Dass die vier Gestalten, Christus und sponsa, Fürst der Welt und törichte Jungfrau zu seiner Linken, ein korrespondierendes Ensemble bilden, bestätigt auch der entstehungsgeschichtliche Befund der kunsthistorischen Analyse, vgl. Fast 1990, 144ff. und Van den Bossche 2001, 45f. Man könnte sagen, dass diejenigen, die auf die Kathedrale zugehen, im Vergleich zum Figurenensemble des Gewändes den umgekehrten symbolischen Weg beschreiten: Von der Weltverliebtheit zur Reue, zum Eingang in die heiligen Sphäre. Damit wäre die latente radikale Negativität der Komposition (vgl. oben Anm. 11) wenigstens abgemildert: Der Zustand der Weltfäulnis wäre als umkehrbar gedacht, die Eintretenden können andere werden als Fürst und Fürstin der Welt, denen sie – solange sie v o r der Kathedrale stehen – gleichen.
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beigestellte törichte Jungfrau ist nicht seinen, sondern den gleichen Verlockungen des mundus erlegen, die sich blicktechnisch im Apfel zu kondensieren scheinen. Sie ist vor allem aber die ikonographische und ikonologische Nahtstelle zwischen dem visualisierten biblischen Gleichnis und der im „Fürsten“ gegebenen vanitas-Allegorie, die ihrerseits als komplexe Allegorese des Gleichnisses funktioniert. Die Denkformen, die hier zusammenlaufen, sind die des Jüngsten Gerichts und damit die der Eschatologie, wobei der Fokus zumal im biblischen Gleichnis auf den moralischen Aspekt, auf das Verhalten des einzelnen Christenmenschen gelegt ist.20 Wenn mit dem Fürsten der Welt der weltliche Herrscher gemeint ist, formuliert sich Weltkritik zugleich als Herrschaftskritik, was dem Ensemble möglicherweise politische Brisanz und Aktualität verleihen sollte. Es kondensiert und zitiert außerdem mehrere Darstellungsformen, die seine geistliche Bedeutung pluralisieren, wenn nicht fallweise sogar hintergehen: So mischt sich unter die Ikonographie der Torheit bei den inneren beiden törichten Jungfrauen und bei den zwei weiteren an der Fassade eine Gestik und Mimik der Reue. Christus als sponsus weist sie dennoch zurück; in der ikonischen Tragik dieser Pose reproduziert sich also auch jene beunruhigende theologische Rigidität, die dem biblischen Gleichnis zu eigen ist. Die selbständige Komposition von Fürst und dritter Jungfrau im Gewände korrespondiert der Sündenfall-Ikonographie, dies – wie die Gesten der Entblößung zeigen – im Sinne einer antithetischen Verschärfung, die uns im Falle der Jungfrau zudem auf den Typus der Knidischen Aphrodite und auf deren christlichallegorische Umdeutung zur Luxuria verweisen. Die Repräsentation sündhafter irdischer vanitas in Gestalt des verfaulenden weltlichen Herrschers erklärt sich nicht nur aus einer soziomorphen christlichen Weltsicht und möglicherweise aus konkreten kirchenpolitischen Kalkülen, sondern verrät, wie die höfische Darstellungsform zeigt (Gewandung, Blumenkranz, in Freiburg die Rose), eine polemische Tendenz geistlicher Weltkritik, die ihr vornehmstes Ziel in höfischer Kulturalität an sich findet – eine Strategie, die sich insofern gegen sich selbst wendet, als nicht nur Fürst und törichte Jungfrauen den höfischen Habitus verkörpern, sondern das gesamte Figurenprogramm, allen voran die Tugenden, im Geist der courtoisie gebildet sind. Dies weist auf die Verschiebungen, die sich im Zusammenspiel von Denk- und Darstellungsformen ergeben – Verschiebungen, die zugleich als Aufschübe klarer Deutungsperspektiven zu verstehen sind. Immerhin wäre es ja denkbar, dass 20
Im Zeichen des anagogischen Sinns stehen hingegen das Hauptportal der Westfassade sowie mit Ecclesia und Synagoga auch das Portal der Südfassade; eine allgemeine allegorische Perspektive dominiert das nördliche Seitenportal mit den über die Laster triumphierenden Tugenden.
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einer aus dem südlichen Seitenportal tritt und – da aus dieser Blickrichtung der Rücken des Fürsten nicht zu sehen ist – sich ermuntert fühlt, den Verlockungen der Welt wieder nachzugeben. Wenigstens eine ästhetische Verlockung stellt die Westfassade des Straßburger Münsters zweifellos dar. Sie provoziert die concupiscentia oculorum, die sich – in Übereinstimmung mit dem „ungeheuren“ Sujet – auch dort noch als „erschreckend“ erfahren lässt, wo sie wie bei Goethe in der Konzentration auf das „Geregelte“ mit aller Macht unterdrückt werden soll: Herabgestiegen von der Höhe [der Plattform des Münsters], verweilte ich noch eine Zeitlang vor dem Angesicht des ehrwürdigen Gebäudes; aber was ich mir weder das erstemal noch in der nächsten Zeit ganz deutlich machen konnte, war, daß ich dieses Wunderwerk als e i n U n g e h e u r e s gewahrte, das mich hätte e r s c h r e c k e n müssen, wenn es mir nicht zugleich als e i n G e r e g e l t e s faßlich und als ein Ausgearbeitetes sogar angenehm vorgekommen wäre. Ich beschäftigte mich doch keineswegs, diesem Widerspruch nachzudenken, sondern ließ ein so erstaunliches Denkmal durch seine Gegenwart r u h i g auf mich fortwirken.21
Die Westfassade des Straßburger Münsters ist ein „ungeheuer Geregeltes“ und ein „geregeltes Ungeheures“ zugleich. Dass in einer solchen Provokation der Schaulust die fundamentale Ambivalenz der künstlerischen Darstellung des Verwerflichen gründet, macht nicht erst die ikonographische Tradition zur „Verführung des Heiligen Antonius“ deutlich, sondern formuliert sich schon auf dem warnenden Spruchband des Engels, der der Freiburger Luxuria-Gruppe beigegeben ist. Insofern fehlt dem Straßburger Münster nur eines, nämlich die Warnung: Nolite adire! IKONOLOGIE DER VANITAS-ALLEGORIE. – Wollte man nach einem Text oder nach einer textuellen Topik fragen, die dem spezifischen Bildtypus des „Fürsten der Welt“ vorgängig wäre, so fände man Entsprechendes eher in der Frau-Welt-Literatur als in der zweifellos reichen und langen Tradition des geistlich-theologischen contemptus mundi, die freilich, wie zu zeigen sein wird, nie dieselbe figurativ-allegorische Prägnanz entwickelt hat. Jedenfalls liegen Sujet und Topik der „Frau Welt“ zur Entstehungszeit und im Entstehungsraum der männlichen Sakralskulptur in mehreren Texten vor, sind also relativ präsent. Bezöge man deren Ausprägung auf die entsprechende mittelhochdeutsche Texttradition, würden sich ihre geographische Begrenztheit und auch ihre Nicht-Kanonizität erklären. Jedenfalls wäre hinter die These Wolfgang Stammlers zurückzugehen, die 21
Goethe: Dichtung und Wahrheit, Zweiter Teil, 9. Buch, HA 9, 357,33-358,4 [Hervorhebungen M. K.]. Zu Goethes Auseinandersetzung mit dem Straßburger Münster ausführlich Liess 1985.
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besagt, dass die Personifikationsallegorie der „Frau Welt“ aus jener des princeps mundi hervorgegangen sei.22 Für den bildnerischen Typus, wie er in Straßburg vorliegt, kann sie nicht gelten, und schon gar nicht kann jener, in der contemptus-Tradition mitunter personifiziert gedachte mundus die eindeutige Fortsetzung des biblischen princeps huius mundi sein, weil weder im ‚Johannesevangelium‘ noch in der exegetischen Tradition Klarheit oder Einigkeit darüber besteht, wer dieser princeps huius mundi denn genaugenommen wäre. Vergleicht man nun aber die männliche bildnerische Allegorie mit ihrem weiblichen Pendant in Dichtung und bildnerischer Kunst, zeigen sich neben den Analogien signifikante Differenzen: Beide sind vorne schön, hinten aber wurmzerfressen. Beide verhüllen zunächst, was sie erst im prekärsten Moment zu entblößen gedenken. Doch dies ist vielleicht schon zuviel gesagt: Denn wem gegenüber sich die männliche Gestalt in böser oder auch didaktischer Absicht verstellen wollte, ist im Unterschied zu Frau Welt keineswegs klar. Wie gesagt: Sämtliche „Fürsten der Welt“ sind mit sich selbst beschäftigt, sie präsentieren sich nicht, nicht der besonders törichten dritten Straßburger Jungfrau, nicht der Freiburger Luxuria (die Kommunikation mit ihr vollzieht sich nur mittelbar über das Attribut der Rose) und auch nicht den Betrachtenden. Vielmehr sind diese es, die den Fürsten beobachten. Dass er sie hierzu einlädt, deuten einzig die Fußhaltung sowie Fall und Raffung des Gewandes an. In dieser Ikonographie verbirgt sich aber eher der deiktische Akt eines dritten, nämlich des „Autors“ des Bildnisses. Oder – abstrakter gesagt – sie visualisiert die autoritative Denkform der Verdammung all dessen, was die Skulptur tut: der Zelebration des gefundenen Gefallens an der Welt. Die Betrachtenden sind damit nicht die Verführten, sondern die autoritativ Gewarnten. Sie sollen den an sich selbst, an seiner Weltliebe betrogenen „Fürsten der Welt“ als Mahnung davor begreifen, was sie einesteils sicher werden und andernteils werden könnten, wenn sie es ihm gleichtun: In jedem Fall werden sie wie er dereinst verwesen, doch mögen sie zusehen, dass es nicht die dämonischen Schlangen und Kröten sind, die sie schon jetzt zerfressen, sofern sie der Welt zuliebe auf Gott vergessen haben. Wollte man für die Gestalt nun einen annähernd adäquaten Titel suchen, so wäre er kaum in dem irreführenden „princeps mundi“ zu finden. Besser würde man ihn den Weltjünger, den filius mundi nennen, dies durchaus in kontrastiver Relation zum filius hominis (was hermeneutisch bedenklich genug wäre). Dieser filius mundi vereint in sich, was im Falle der Frau-Welt-Szenen auf zwei Akteure verteilt ist: Er ist der Weltjünger, der die apotropäischen Zeichen seiner geliebten Welt – Fäulnis, Verwesung 22
Bes. Stammler 1959, 35.
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und Sünde – selbst am Leibe trägt. Frau Welt geht hingegen immer auf ihre Jünger zu, sie ist die fleischgewordene Warnung, das nach außen projizierte, zur Kenntlichkeit gebrachte Begehren des Welttoren. Dieser Logik folgt die bildnerische Allegorie ebenso wie die literarische. Die Skulptur am Wormser Dom, das einzige tatsächlich als Frau Welt identifizierbare Bildzeugnis um 1300 (Abb. 19), gestaltet die Begegnung im Zeichen einer ikonographisch und ikonologisch eindeutigen Hierarchie: Der werlte minnære kniet zu Füssen seiner Herrin. Der Darstellung liegt keine Texttradition, sondern ein konkreter Text, nämlich Konrads Weltnovelle zugrunde.23 Dem, was seitens der motivgeschichtlichen Forschung an lateinischen Texten für die Genese des Sujets zusammengetragen wurde,24 steht die spezifische Ikonographie und Szenographie als das von ihr Verschwiegene gegenüber. Sie steht im Zeichen einer Verzeitlichung oder Historisierung dessen, was die Motivgeschichte als die topische Wiederholung längst geschaffener Darstellungs- und Denkformen begreifen wollte: Wie der filius mundi zu Straßburg oder zu Freiburg ist diese Frau Welt zuallererst als höfische Figur kenntlich. Die Unterwerfungsgeste des Weltminners am Wormser Dom verbildlicht die Hierarchie der Hohen Minne und verweist darin auf Wirnts Begegnung mit der Welt, die in eben diesem poetischen Modus gestaltet ist. Dass keine bloße Illustration vorliegt, zeigen wiederum die Strategien der Distanzierung, in diesem Fall der Distanzierung vom Text. Der Ritter, der vor seiner Herrin Welt kniet, ist nicht einer, der sich bekehren wird. Die Plastik am Sakralbau („Sakralplastik“ wäre aufgrund der ausbleibenden Kanonisierung des Sujets zuviel gesagt) beschreibt eine Radikalisierung, die sich mit den Darstellungen des filius mundi in Straßburg und Freiburg vergleichen und begründen lässt: In allen Bildzeugnissen erscheint der höfische Mensch per se als der Verfallene. Er wird den Bekehrungsakt, den sein Pendant im Text vollzieht, nie vollziehen können. Diese geänderte innerszenische Logik erklärt sich auch aus dem anderen künstlerischen Medium, sie ist vor allem aber dem genius loci geschuldet, der Kathedrale als Ort der Transzendenz, vor dem alles Weltliche zunichte gemacht werden muss. In Frage gestellt ist damit folgerichtig nicht nur „eitle“ weltliche Herrschaft, sondern weltliche Kulturalität als ganze. Sie wird als Praxis der Sündhaftigkeit, zumal des sündhaften erotischen Begehrens, stigmatisiert. In dieser Signifikation entspricht die Wormser Welt-Gruppe ihren Pendants in Straßburg und Freiburg. Schwer zu entscheiden ist, wo sich die 23 24
Trotz der kontroversen Forschungsdiskussion (hierzu Bleck 1982/86) scheint diese Annahme, zumal im Lichte der textgeschichtlichen Entwicklung des Welt-Sujets (oben, Kap. I.2) die bei weitem plausibelste. Vgl. v.a. Thiel 1956 und Stammler 1959.
1. Welt-Allegorien in der bildenden Kunst
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Polemik schärfer formuliert: Wenn wie in Freiburg die Insignien höfischer Liebe (die Rose des Fürsten und sein Habitus) einer Luxuria-Darstellung korrespondieren, die erotisches Begehren drastisch gesagt als Masturbation mit dem Bocksfuß brandmarkt; oder wenn wie in Straßburg in zwei Gestalten, die im Moment vor der schamlosen Entblößung und im Zustand des verlorenen Seelenheils dargestellt sind, auch das höfische Liebespaar repräsentiert ist; oder wenn wie in Worms der Minneritter vor einer Dame kniet, die in erster Linie eine Welt der courtoisie im Zustand konkreter wie metaphorischer Verwesung zeigt. Das Wormser Bildnis tilgt jedenfalls jene poetische Ironie, die Konrads Weltnovelle in sich und in ihrer Relation zum ,Herzmäre‘ durchzieht, in Walthers Weltliedern aber aus den Korrespondenzen zu anderen Texten seines Œuvres und aus der Tatsache resultiert, dass sein contemptus mundi einer Ratio des Kairos folgt, wie sie die „Biographie“ der Sänger-persona vorgibt. Der antiweltlichen Polemik entspricht im übrigen auch in Worms die Marginalisierung des Bildes durch seine Aufstellung am Rand des Sakralbaus: Das Weltliche bleibt außen vor – mundus non intrat vel mundus non intret. Wird die Allegorie der Weltliebe wie im Falle der Westfassade des Straßburger Münsters oder der Vorhalle des Freiburger Münsters in ein kanonisches Ensemble integriert, so ergeben sich zwangsläufig spezifische ikonologische Relationen: Die Einbindung in das Jungfrauengleichnis und der damit indizierte Bezug auf die biblische Idee des princeps mundi konkretisieren die Abscheu gegen das Weltliche als Abscheu gegen den weltlichen Herrscher. Diese Relationen und die Logiken des grammatischen Geschlechts im lateinisch-theologischen Diskurs, der dem Konzept des Gesamtensembles zugrunde liegt, führen zu einer Allegorie, die Weltliebe und Repräsentanz der Welt in einer einzigen Gestalt verdichtet. Auf diese Weise ergibt sich eine „narzisstische“ Synthese, die ihrerseits Perversion und Verlorenheit des dargestellten amor mundi noch potenziert: Als Liebhaber der Welt ist der filius mundi zugleich in sich selbst verliebt. GENEALOGIE UND GENE-ANALOGIE. – Ein Vergleich der Wormser Frau Welt mit ihren männlichen Entsprechungen in Straßburg und Freiburg zeigt, wie wenig Aussicht auf Erfolg der Versuch hat, Analogie und Differenz beider Bildtypen in ein genetisches Verhältnis gleich welcher Richtung zu übersetzen. Daher ist jedes Zeugnis nicht nach seiner Genealogie, sondern nach seinen Genealogien zu befragen, wobei man besser noch von „Gene-Analogien“ spräche: also von Korrespondenzen zu Darstellungsformen, die Gestaltung und Lesbarkeit des konkreten Bildes determinieren. Diese Gene-Analogien sind nicht nur in der einschlägigen contemptus-mundi-Tradition zu finden, sondern referieren zugleich auf weltliche Texte und Texttraditionen.
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II. Allegorien und Allegoresen
In dieser Hinsicht können wir den Straßburger und den Freiburger filius mundi und die Wormser Frau Welt als ein Paradigma begreifen, das die Suche nach den Gene-Analogien der poetischen Vanitas-Entwürfe leiten soll. Zunächst sind die Relationen zur lateinischen Tradition des contemptus mundi zu prüfen; in weiterer Folge die Entsprechungen zu Allegorien wie Minne/Venus oder Fortuna, aber auch zu poetischen Gestalten wie der lyrischen Minneherrin. Dies soll den bildnerischen Beispielen entsprechend unter zwei Prämissen geschehen: Zum einen sollen die Korrespondenzen zwischen einer Allegorie der Vanitas und dem skizzierten Ensemble von Personifikationen nicht als sekundäre Angleichungen verstanden, sondern in ihrer Reziprozität betrachtet werden. Zum anderen muss man sich a priori von dem Mythos verabschieden, dass zwischen einer männlichen Allegorie des filius mundi und einer Herrin Welt bloß der Wechsel des grammatischen Geschlechts stünde und sonst nichts.25 Dass die Differenz vielmehr differente Konzeptualisierungen voraussetzt und zugleich nach sich zieht – Konzeptualisierungen, für die das Geschlecht der Allegorie allerdings von Bedeutung ist –, machen die besprochenen Bildzeugnisse unmittelbar evident. Wollte man aber eine motivgeschichtliche These formulieren, so müsste sie so lauten, dass im filius mundi und in der ihm beigestellten Luxuria eher Frau Welt ins Lateinische verschoben ist, als dass die Frau Welt der mittelhochdeutschen Texte eine bloße Übersetzung des mundus der theologischen contemptus-mundi-Tradition wäre. Die Komplexität der GeneAnalogien macht eine solche dezidierte Aussage aber eben unmöglich.
25
Vgl. Stammler 1959, 35: „Indes, für den deutschen Prediger, für den deutsch schreibenden Eiferer ergab sich eine Schwierigkeit: in der lateinischen Sprache hieß es: d e r Mundus und war ganz selbstverständlich als Mann vorzustellen; dagegen lautete das Wort im Deutschen: d i e Welt. Diese Schwierigkeit behob man in sehr einfacher Weise: auf deutschem Boden wandelt sich der mundus oder sein Herr, der princeps mundi, in eine Frau, die Welt. Die männliche Verleiblichung ist also der ältere Typus, was ich gegenüber bisherigen Annahmen ausdrücklich betonen möchte.“ An diesem Absatz erstaunt manches: Zum einen, wie eine schwierige Differenz zwischen generisch unterschiedlichen Apellativa eine einfache Differenz generisch unterschiedlicher „Verleiblichungen“ ergeben könnte; zum anderen, wie rasch die sprachliche Differenz zu einer räumlichen Distribution umgedeutet wird (und nicht vielmehr als kulturelle, soziokulturelle Differenz gelesen wird); zum dritten, wie unvermittelt im Modus einer strikten und ein für allemal vollzogenen Genese gedacht wird.
2. Mundus ridens et derisus – Ikonische und diskursive Strategien im contemptus mundi DEFINITION. – Was ist der contemptus mundi? Auf diese Frage lässt sich zunächst mit „Übersetzungen“, tautologischen Ekphrasen1 wie diesen antworten: Das Nichtachten, Geringachten, ja Verachten alles Diesseitigen und v. a. der weltl[lichen] Betriebsamkeit, die Absage und Verweigerung, der Verzicht auf weltl[liche] Aktivität, die Besinnung auf den rechten Gebrauch der Weltgüter, doch auch eigentl[liche] Weltflucht (fuga mundi, saeculi), all dies gehört zu dem komplexen Begriff.2
Es lohnt sich, diese Definition kurz zu analysieren. Sie ist schon deshalb eher eine Ekphrase, weil sie nicht begrenzt, sondern aus einer offenen Aufzählung von Aspekten, Variationen, Realisaten dessen besteht, was sich als contemptus mundi bezeichnen lässt, was ihn „ausmacht“ oder ausmachen kann. Signifikant dabei ist der Gestus der Inversion, der am Ende des Satzes der „Ekphrasis“ den Anstrich einer Definition verleiht. Denn die Schlussformel suggeriert, dass der „komplexe Begriff“ dem unter „all dies“ Subsumierten vorgängig wäre, obwohl es sich eher umgekehrt verhält (womit die syntaktische Ordnung dem Sachverhalt eher entsprechen würde als die Aussage des Satzes). Die Ekphrase selbst folgt einer bewährten Strategie, indem sie Heterogenes zusammenführt: eine (mehr oder weniger stringente) Gradation des Vorsatzes (vom „Nichtachten“ zum „Verachten“), ein totales und (!) partielles Objekt, auf das er sich bezieht („alles Diesseitigen u n d v. a. der weltlichen Betriebsamkeit“) sowie eine Klimax im performativen Vollzug (von „Absage“ über „Besinnung“ bis zu „Weltflucht“). Verbale und praktische, offensive und defensive, radikale und pragmatische Akte stehen nebeneinander, und es drängt sich die Frage auf, gegen wen sich diese Akte richten, auf wen sie konkret zielen. Besonders intrikat scheint die paradoxe Steigerung von „alles Diesseitigen“ zu „v. a. der weltlichen Betriebsamkeit“. Es fehlt das Erotische als 1 2
Zum tautologischen Verfahren von Definitionen, in dem zugleich die definitorische Illusion gründet, de Man 1996, bes. 419 (mit Konzentration auf die Metapher). S.v. contemptus mundi, LMA III, Sp. 186-194, hier unter „A. Contemptus mundi als Begriff und Haltung abendländischer mittelalterlicher Geistigkeit“ (L. Gnädinger), Sp. 186f.
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zentraler Bildspender und als das eigentliche Ziel, dem der Generalverdacht des contemptus mundi gilt. Wäre es mit „weltlicher Betriebsamkeit“ gemeint, wäre das „v. a.“ zu Recht gesetzt. In wessen Namen die Akte der Weltverachtung gesetzt werden, formulieren die weiteren Zeilen aber doch: Als Terminus technicus der christl[ichen] Spiritualität meint c[ontemptus] m[undi] jedoch stets eine nur bedingte oder relative Weltverachtung in dem Sinne, daß sie vor dem Hintergrund der Credo-Sätze von der Auferstehung des Fleisches (resurrectio mortuorum) und der Erwartung der zukünftigen Welt (vita venturi saeculi) strikte auf eine ewige Seligkeit, auf ein Leben in der Anschauung Gottes nach dem Tode, wovon ein Vorgeschmack bereits hienieden in der Kontemplation und unio mystica gekostet wird, bezogen bleibt. Die Lehre vom c[ontemptus] m[undi] ist also paränet[ischer] Teil einer theol[ogisch] bestimmten Anthropologie.3
Ziel des contemptus mundi wäre demzufolge eine Parainesis, die sich an den Christenmenschen richtet. Diese klare Aussage, diese – nun veritable – Definition ist nur um den Preis einiger Reduktionen möglich, die das ekphrastisch entwickelte Heterogene einer künstlich hergestellten Homogenität opfern. Diese Homogenität aber stellt ihrerseits nichts weniger als die definitorische Voraussetzung dar: Denn was wäre unter dem contemptus mundi als „Terminus technicus“ zu verstehen – der Titelbegriff kontemptorischer Schriften, eine bestimmte literarische Gattung? Wie stellt sich die „bedingte oder relative Weltverachtung“ zu den Steigerungsformen, von denen die Definition ihren Ausgang nimmt („Nichtachten, Geringachten, Verachten“), was und wo ließe sich – angesichts der Ekphrase – d i e „theologisch bestimmte Anthropologie“ finden, deren „paränetischer Teil“ (der einzige, der wichtigste?) der contemptus mundi wäre? Und schließlich: Wie ernst soll es uns mit dem superlativischen Begriff „stets“ sein oder mögen wir in ihm das definitorische Augenzwinkern gegenüber dem eigenen Absolutismus erkennen? Es ist einfach, Definitionen als Fiktionen ihrer selbst zu erweisen. Dies sollte hier nicht demonstriert werden. Vielmehr soll Louise Gnädingers Explikation aus dem ‚Lexikon des Mittelalters‘, aus einem Referenzwerk der Mediävistik also, zu zwei Gegebenheiten hinführen, die uns im Folgenden einen Weg durch das Dickicht der contemptus-Traditionen weisen könnten: auf deren Verfügbarkeit und Variabilität. Der contemptus mundi ist keine Textsorte, sondern ein hermeneutisches Schema, ein Modus der Allegorese, der universell anwendbar ist. Er beschränkt sich nicht auf eine bestimmte materielle Substanz, auf ein „Sujet“, sondern ist als diskursives Akzidens zu verstehen, als eine Denkform, die sich mit jeder Dar-
3
Ebd., Sp. 187.
2. Mundus ridens et derisus
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stellungsform verbinden kann.4 Einen Beweis hierfür gibt die Allegorie der Frau Welt selbst: Im Phänotyp der schönen Frau wird – unter der invertierenden Strategie des contemptus – das Gegenteil des Anscheins als dessen Substanz sichtbar gemacht. Mit welcher Radikalität sich dabei der contemptus mundi formuliert, hängt davon ab, welcher Aspekt dominiert: der einer Synchronie oder der einer Diachronie von schönem Anschein und defizienter Substanz. Der Schärfegrad des contemptus lässt sich nach der Gewichtung von „werden“ oder „sein“ bemessen. Zwar ist die Allegorie für sich betrachtet immer „synchronisch“ gedacht, Zeitpunkt und Prozess der Begegnung mit ihr können aber einen diachronischen Aspekt einbringen. Die gemäßigte Position wäre die, dass die Allegorie lehre, was alle Welt einmal sein wird, die radikale, dass sie bedeute, was alle Welt immer schon ist. Der contemptus mundi und die Darstellungsformen, die er verwendet, sind ferner nicht fest aneinander gebunden, er kann, muss aber nicht erfolgen, wie sich schon an der rhetorischen und topischen Matrix gezeigt hat, auf die die Frau-Welt-Texte zurückgreifen: Sie haben diese Matrix nicht erst als ihre eigene entwickelt, sondern adaptieren ein vorhandenes Gefüge (der Hohen Minne oder der Pastourelle etwa) in einem allegorischen Verfahren. Die Pluralität der Modi, der Redeweisen, Gattungen und loci, in und an denen sich der contemptus festzusetzen vermag, an denen er – zuweilen dem Anschein nach unerwartet, in Wahrheit aber kalkuliert – formuliert wird, ist kaum zu überblicken, kaum in eine kategoriale Ordnung zu bringen. So könnte man in ihm eine generelle Denkform oder auch die Manifestation, die Modalität einer solchen generellen Denkform erkennen (im Sinne dessen, was Gnädinger „theologische Anthropologie“ nennt). Diese Denkform ließe sich als klare Hierarchie zwischen Immanenz und Transzendenz, als vertikale Weltsicht verstehen, die im „Hienieden“ den Boden, den Grund fassen würde, auf dem das Höhere nicht basieren würde, sondern in dem dieses Höhere und Eigentliche seine abgrundtiefe Kehrseite, sein defizitäres Äquivalent fände. Dass eine theologisch konstruierte Dualität zwischen dem, was von dieser, und dem, was nicht von dieser Welt sein soll, die dominante und ubiquitäre Basis einer mittelalterlichen Weltsicht bilden würde, diese Prämisse wäre aber schon deshalb problematisch, weil sie der definitorischen Stringenz halber eine solche Weltsicht im Singular fingiert. Besser sprechen wir zunächst von einer ubiquitär möglichen Tendenz, die sich in unterschiedlichen Kontexten und in unterschiedlichen Redeformen manifestieren kann.
4
Mit diesen hybriden Formeln der Ausschließlichkeit und der Gewissheit entrichte ich unverzüglich den Tribut für die wohlfeile Kritik an Gnädingers Definition.
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II. Allegorien und Allegoresen
Ebenso vermitteln die einschlägigen älteren Überblicksdarstellungen5 den Eindruck einer festen Topik, die im Wesentlichen schon von den entsprechenden kanonischen Texten der Bibel, aber auch der Antike ausgebildet, in der Patristik weiter überliefert und über die mittelalterliche Traktat-, Predigt- und Exempelliteratur zunächst an die volkssprachliche geistliche und in weiterer Folge an die weltliche Literatur kommuniziert worden wäre. Auch hier müsste jedoch im Plural und mithin gegenläufig gedacht werden: Es gibt Topiken, die Tendenzen des contemptus umsetzen können, die ein Potenzial des contemptus bezeichnen, nicht aber zwingend mit ihm assoziiert sein müssen – so etwa die panegyrische Totenklage, die laus temporis acti und anderes mehr. Es wäre also immerhin denkbar, dass sich der contemptus mundi diesen loci gegenüber als „parasitär“ (jedenfalls als nicht vorgängig) verhält. Die differenzierte Umsetzung kontemptorischer Tendenzen dokumentiert sich ferner in einer ebenso vielschichtigen und vieldeutigen Metaphorologie. Die fictio personae beschreibt dabei nur ein en metaphorischen Modus, wenngleich einen äußerst eingängigen und präzisen. Auch ihm fehlt es freilich an jener Homogenität, die das definitorische Begehren so bereitwillig imaginiert. Die Metaphoriken, derer er sich bedient, sind nicht die genuinen Erzeugnisse des contemptus, in ihrer Heterogenität sind vielmehr dessen divergente Tendenzen wesentlich mitbedingt. Jede Metaphorik konzeptualisiert Weltkritik auf spezifische Weise, sie verleiht dem sprachlichen Akt eine spezifische performative Qualität, sie formuliert Appelle, konstituiert Adressaten usw. Vor allem die Strategien der Personifikation des mundus sind in dieser Hinsicht von einiger Signifikanz. Schon die Bibelstellen, die wir im Zusammenhang mit dem „Fürsten der Welt“ besprochen haben, weisen auf ein Bündel von Referenzen, die sich im contemptus mundi konstituieren. Ich nenne – als die signifikantesten – die metaphysische Referenz, mit der eine mythologische unmittelbar verzahnt ist, die politische und die moralische Referenz. Die metaphysische Referenz fassen wir in der anagogisch-eschatologischen Perspektive, wie sie sich etwa in den Worten Christi vor Pilatus (Io 16,36) und in der ‚Johannes-Apokalypse‘ formuliert. Ihre mythologische, auch mythologisch-figürliche Akzentuierung erfährt sie zumal in der Gestalt des dämonischen Apparates, als dessen Spielwiese und Domäne der mundus oder die saecula erscheinen. Die politische Referenz konstituiert sich schon im Begriff des princeps huius mundi und in der Dichotomie der beiden Reiche: dieses hienieden und jenes, das nicht von dieser Welt ist. Gattungen, Ten5
Vgl. für den Zusammenhang mit der Allegorie der Frau Welt v.a. Closs 1934, Thiel 1956 und Stammler 1959. Einen konzisen jüngeren Überblick über Traditionen und Formen des contemptus mundi bietet Kiening 1994, 409-416.
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denzen und Topiken des contemptus sind immer auf diese politische Referenz hin zu prüfen, in ihr fassen wir nicht nur die Tendenz, sondern das Tendenziöse, mithin das historische Substrat, das uns die vermeintliche Homogenität der Denkform wiederum in eine Pluralität heterogener Strategien zu übersetzen hilft. Schließlich spricht die moralische Referenz aus den oben genannten Stellen der Paulusbriefe, sie ist unmittelbar mit Dramaturgie und Pathos der conversio verbunden und weist uns auf die bedeutende Rolle dessen, der den contemptus ausspricht: Er darf sich als der Gerechte erkennen, dem – und wäre es auch spät, so doch niemals zu spät – die Umkehr gelungen ist. Er ist der, der sich vom mundus separiert, und er sieht sich dazu legitimiert, in einem Vorgriff auf das göttliche Urteil selbst zu separieren und zu klassifizieren. Sein usurpiertes Urteilsrecht ist in den Formeln „ihr wart einst und ihr seid jetzt“, „die Welt ist“ oder auch „du, Welt, bist“ unmittelbar zu greifen. Es kann sich zudem auf den autoritativen verbalen Akt der Separation berufen, den das ,Johannesevangelium‘ Christus selbst setzen lässt: Si mundus vos odit, scitote quia me priorem vobis odio habuit. Si de mundo essetis, mundus, quod suum est, diligeret; quia vero de mundo non estis, sed e g o e l e g i v o s d e m u n d i , propterea odit vos mundus.6
Diese vom Wort des Heilands legitimierte Anmaßung der Separation und der Erwählung ist es, die den contemptus mundi mithin attraktiver macht, als der mundus für den, der ihn verdammt, und vielleicht auch für die, an die er sich wendet, je hätte sein können. GRUNDSÄTZLICHE TENDENZEN. – Der folgende skizzenhaften Überblick über Strategien, Topiken und Metaphoriken des contemptus mundi versucht in einer gleichsam chronologisch akzentuierten Typologie, Figurationen des mundus und der vanitas mundi zu ermitteln. Sie sind gerade nicht als genetische Voraussetzung, sondern als ein Potenzial von Denkmöglichkeiten und Darstellungsformen zu begreifen, als eine Art Matrix, auf der sich die Konfiguration einer Allegorie wie Frau Welt oder auch des Fürsten der Welt präziser kontextualisieren lässt. Dies vielleicht auch im kontrastiven Sinn, jedenfalls aber im Sinne einer Heterogenität, die sich aus der spezifischen appellativen und performativen Funktion der literarischen und künstlerischen Repräsentationsformen ergibt. Wir haben uns somit dem Problem oder besser der Paradoxie der Motivgeschichte zu stellen: Sie besteht zum einen in der Homogenisierung des Heterogenen, zum anderen in einer genetischen Denkweise, die sich 6
Io 15,18-19 (Hervorhebung M. K.); in der Einheitsübersetzung: „Wenn die Welt euch hasst, dann wisst, dass sie mich schon vor euch gehasst hat. Wenn ihr von der Welt stammen würdet, würde die Welt euch als ihr Eigentum lieben. Aber weil ihr nicht von der Welt stammt, sondern weil ich euch aus der Welt erwählt habe, darum hasst euch die Welt.“
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üblicherweise mit der Beobachtung verschränkt, dass alles immer schon vorhanden wäre, sich immer schon ein vorgängiger Beleg fände; zum dritten – ebenso paradox mit dem genetischen Schema verbunden – in der Behauptung einer Chronologie durch Belege, die in Wahrheit die Chronologien durcheinander werfen; schließlich in der homogenisierenden Vermischung von Motiven, Topiken und sich wechselweise bedingenden Diskursen und Metaphoriken, wobei die Frage meist unterschlagen wird, wie diese Metaphoriken konzeptualisierend wirksam werden. (Das Diskursive wird üblicherweise als dem Metaphorisch-Ikonischen vorgängig gedacht.) Der Versuch einer neuen ordnenden Analyse muss dabei vor allem eine Idee verabschieden, in der chronologische wie genetische Konstrukte wesentlich gründen, nämlich die Idee einer Teleologie, und würde sich diese auch nur im Mantel einer behaupteten, quasi evolutionären Entwicklung des contemptus mundi verbergen.7 Rufen wir uns nochmals die entscheidenden Parameter der vanitasAllegorie, wie sie in Gestalt der Frau Welt oder des Fürsten vorliegt, in Erinnerung (im Bewusstsein der Gefahr einer Synthese, die schon hier Heterogenes als Homogenes fehldeutet). Relativ fest ist die I k o n o g r a p h i e der männlichen wie der weiblichen Allegorie: Schon ihr Körperschema (schöner Schein vorne, verwesendes Sein hinten) ermöglicht unterschiedliche Allegoresen, die – und das ist entscheidend – die „Personifikation“ nie für sich auslegen, sondern sie immer unmittelbar in Relation zu ihrem Betrachter stellen, sei er nun binnenfiktional die Figuration des adressierten Menschen (der Sänger in den Weltliedern, der Protagonist einer Welterzählung, die törichte Jungfrau am Straßburger Münster oder der Ritter der Wormser Weltgruppe) oder dieser adressierte Mensch selbst, nämlich der Rezipient eines Bildes oder eines Textes. Die Spanne der Allegoresen lässt sich an folgenden Oppositionen bemessen: Zum einen ist dies der Gegensatz zwischen V e r h ü l l e n u n d E n t h ü l l e n , dem als Intentionen der Allegorie V e r f ü h r u n g o d e r A b m a h n u n g korrespondieren. Überblickt man die behandelten Textzeugen (im Falle der Bildzeugen ist nur bedingt eine klare Signifikation möglich), so kann nur in den wenigsten Fällen (oder eigentlich nur in Walthers ‚Abschied von Frau Welt‘) von einer offensiven Strategie der Allegorie gesprochen werden. Zumeist geht die Initiative von den „Adressierten“ aus: Der werlte minnære ist einer, der die Welt gesucht hat, nicht einer, der von ihr verlockt wurde (darin liegen ja auch Sinn und Kalkül des Begriffs 7
Vgl. hierzu etwa Peter Sloterdijks These von einer Umleitung der monastischen Idee der Weltverachtung in eine „Weltflucht nach vorn“ und von ihrem Fortbestand als museales Relikt, das den gegenwärtigen Mustern und Vollzügen der „Weltfremdheit“ widerspreche: „Der contemptus mundi ist für neuzeitliche Subjekte selbst verächtlich geworden.“ (Sloterdijk 1993, 105)
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„minnære“, den Konrad von Würzburg einführt). Im Moment der Begegnung präsentiert sich Frau Welt nicht als Gestalt der Verschleierung. Vielmehr ermöglicht oder initiiert sie gerade die Erkenntnis über den Irrtum und den Fehlweg des Lebens. Sie ist nicht das „Instrument“ einer diabolischen Verführung, sondern einer rettenden conversio. Medialität und Komposition der Bilddarstellung bedingen, dass die Entsprechungen des Weltverliebten in der bildenden Kunst, die Straßburger Jungfrau und der Wormser Ritter, einen scheinbar unumkehrbaren Zustand der Verfallenheit repräsentieren. Die conversio, die im Text von der heimgesuchten Figur vollzogen werden kann, muss der Betrachter vollziehen. Er ist es auch, der über die Möglichkeiten der Raumregie verfügt: In ihm dynamisiert sich die Statik der bildnerischen Komposition, ihm ist der Blick auf das „Hinten“ der Allegorie möglich, er kann und soll die conversio unmittelbar vollziehen, indem er in den Kirchenraum eintritt. Im dramaturgischen Schema der conversio kristallisiert sich eine zweite Opposition heraus, nämlich die von S y n c h r o n i e u n d D i a c h r o n i e : Rein ikonographisch betrachtet erscheint die Allegorie der Welt als die Verbildlichung einer radikalen, anklagenden Weltverneinung. Das Körperschema behauptet eine Simultaneität von schönem Schein und defizientem Sein. Die Divergenz von „Vorne“ und „Hinten“ codiert zudem nicht nur eine erkenntnistheoretische Opposition, sondern beschreibt zugleich eine moralische Erfahrung: die von Trug und Wahrheit, Täuschung und „Enttäuschung“. Derjenige, der dieser Erfahrung ausgesetzt ist, muss sie als Bedrohung des Seelenheils wahrnehmen, die umso wirkungsmächtiger ist, als dem Betrachter immer eine mehr oder weniger mutwillige Versäumnis unterstellt werden kann. Diese radikale Semantik des allegorischen Leibes kann aber auch zurückgenommen werden: wenn nämlich das Körperschema chronologisch gelesen wird, wenn es eine Diachronie bezeichnet, wie dies in jenen poetischen Texten der Fall ist, die Welterkenntnis mit einem bestimmten „biographischen“ Kairos verzahnen. In den Bildzeugen lässt sich diese „Beruhigung“ in der Relation zwischen Allegorie und Betrachter fassen. Was ikonographisch die schärfste Drohung sein müsste, formuliert sich zur ikonologischen Mahnung um. Zum umkehrwilligen Weltjünger spricht die Allegorie kein rigides „Immer schon zu spät!“, sondern ein tröstliches „Nie zu spät!“ In dieser Relativierung der Synchronie zur Diachronie wird nicht nur die Konzilianz erkennbar, die Wesen und Handeln der Allegorie kennzeichnet und ihrer ikonischen Rigidität zuwiderläuft. Sie bietet zugleich auch den Ansatzpunkt für eine Konzilianz gegenüber der Allegorie selbst, die sich in einer G r a d a t i o n d e r c o n v e r s i o des Weltjüngers niederschlagen kann. Diese Gradation betrifft nicht den Vollzug der Abkehr (er lässt sich ja nur als ein Entweder-Oder denken), sondern ihre
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verbale Bekräftigung, das Bekenntnis also, dessen Spanne vom elegischen Abschied zur radikalen Verdammung reicht – mit allen ironischen Abstufungen, wie sie bei Walther von der Vogelweide und Konrad von Würzburg greifbar wurden. Die genannten Oppositionen – Körperschema, Dramaturgie der Enthüllung und Gradation der conversio durch die confessio – bestimmen maßgeblich die Semantik der Allegorie und damit auch die Optionen ihrer Allegoresen. In Hinblick auf sie sind Denk- und Darstellungsformen der contemptus-Tradition zu perspektivieren. Schließlich bleibt ein vierter Aspekt zu nennen, der sich aus der letzten Opposition ableiten lässt. Als Sprechakt kennt der contemptus mundi eine klare Rollenverteilung: Er richtet sich an beziehungsweise gegen den mundus oder die Welt. Schon hierin fassen wir eine entscheidende Divergenz zu der narrativen Dynamik, die die Begegnung mit der vanitas-Allegorie in den poetischen Texten kennzeichnet. Der contemptus mundi lässt die Welt, den mundus nicht zu Wort kommen, er gönnt der Welt keine sermocinatio, beziehungsweise liegt die S t i m m g e w a l t immer auf Seiten des Weltverächters. Schon dies deutet auf einen Akt der Beherrschung, auf eine S o u v e r ä n i t ä t d e s S p r e c h e r s gegenüber seinem Objekt hin, wie sie dem Weltjünger im allegorischen Sujet – zunächst wenigstens – gerade nicht gegeben ist (dies gilt auch für die Sängerstimme Walthers und die des Erzählers bei Konrad von Würzburg8). Wer den contemptus mundi formulieren kann, ist einer, der schon immer in Sicherheit ist. Er weiß um jene Separation, die schon in den genannten Stellen des ‚Neuen Testaments‘ die Verdammung der Welt erst möglich macht, und er hat diese Separation längst mitvollzogen. Die poetische Welt-Allegorie hingegen narrativiert diesen Sprechakt: Sie skizziert, was ihm vorausgeht, sie involviert ihre Weltminner und späteren Weltverächter in einer Weise, die der apodiktischen Redegewalt des contemptor mundi in Predigt und Traktat zuwiderläuft. Diese Narrativierung bedeutet wiederum eine Dynamisierung und Pluralisierung der entsprechenden Semantiken und der aus ihnen resultierenden Hierarchie zwischen Immanenz und Transzendenz. PEREGRINATIO/NAVIGATIO – DAMNATIO CARNIS. – Wenn ich mich den engeren ikonischen und diskursiven Strategien des contemptus mundi von den Randbereichen her nähere, so im Bewusstsein, dass sich in diesem Nachzeichnen von bildlichen und konzeptionellen „Feldern“ keine homogene Landschaft abschreiten lässt, die in ein wie immer geartetes Zen8
Ich erinnere daran, dass der Erzähler in ‚Der Welt Lohn‘ so tut, als würde er die Situation nicht beherrschen, sondern wäre vom Geschehen mitgerissen. Als contemptor mundi und mit auktorialer Stimme spricht er nur im Prolog und im Epilog; ähnlich der Stimmenwechsel in der Weltpastourelle Michel Beheims.
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trum führen würde, noch dass der Weg in klassischer Weise vom Allgemeinen zum Besonderen führen könnte, weil es keinen gemeinsamen Fluchtpunkt gibt, außer eben in dieser Abstraktion, die man die Idee des contemptus nennen könnte, die in Wahrheit freilich hypothetisch ist. Vor allem aber wäre dieser Weg keinesfalls einer, der uns eine Zeitachse entlang führte und also einer chronologischen Kausalität (das frühere Allgemeine als die Voraussetzung des späteren Besonderen) gehorchen würde. Jede der im Folgenden umrissenen Metaphoriken, jede mit diesen verbundene Konzeptualisierung existiert – auch wenn sie topisch ist – nicht für sich, sondern in konkreten Gestaltungen, in konkreten Texten. Von ihnen aus ist je neu die Frage nach dem zu stellen, was sich einer hypothetischen Idee des contemptus mundi gegenüber immer schon als heterogen erweist. Beginnen wir bei den Metaphoriken, die Gefährdung und Hinfälligkeit des menschlichen Seins in der Welt an der Weite, Unvorhersehbarkeit und Gefährlichkeit der Sphäre und mithin an der Dauer des Aufenthalts oder des Durchgangs durch sie beschreiben, bei den Metaphoriken der peregrinatio und der navigatio. Dass das Leben eine peregrinatio sei, setzt zunächst weniger eine ausgeprägte Vorstellung voraus. Vielmehr hält die metaphorische Formel das Potenzial der Bildfüllung, der Konkretisierung des metaphorischen Feldes in hohem Maße offen. Der Begriff selbst, der im übrigen nicht als dem in ihm „gedachten“ Bild vorgängig zu denken ist, evoziert nicht nur ein Gehen, sondern ein Durchgehen. Damit stellt er sowohl die Frage nach der Raumbewegung als auch die nach ihrem Ziel und definiert den Raum als Sphäre oder Distanz, die es zu durchmessen gilt, die dem Wanderer somit fremd und widrig bleibt. Die Verbildlichung menschlicher Existenz im Modus des Gehens (nicht aber ihre Semantik) ist grundsätzlich universell und nicht spezifisch biblisch oder patristisch. Für die griechische Mythologie gibt das Rätsel der Sphinx das signifikanteste Beispiel. Es imaginiert das Wesen, nach dem es fragt, als ein Gehendes: „Was ist das? Als einziges Lebewesen geht es auf vier, auf zwei und auf drei Beinen, am schnellsten aber ist es, wenn es die wenigsten Glieder zur Fortbewegung gebraucht.“ Erst die Antwort auf das Rätsel führt es in eine Perspektive der Negativität über: „Der Mensch ist es. Zuerst, als kleines Kind kriecht er auf vier Füßen. Alt geworden gebraucht er den Stock, niedergebeugt vom Alter.“ Die mehr oder weniger neutrale Phänomenologie menschlicher Existenz, die das Rätsel entwirft, wird im finalen Bild seiner Lösung, im Bild des hinfälligen Greises, zur Idee eines fatalen Regresses umformuliert. Was der Frage zufolge die Besonderheit des Menschen begründen soll, wird zum Signum seiner
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Hinfälligkeit: der aufrechte Gang.9 Diese Negativität bezieht sich freilich weniger auf den Raum, in dem sich der Mensch zu ergehen hat, als eben auf die Fähigkeit des Gehens selbst; sie deutet auf die Hinfälligkeit des Lebens, nicht der Welt, und hierin manifestiert sich ein wesentlicher Unterschied des griechisch-antiken Lebenspessimismus zur christlichmittelalterlichen Weltverachtung.10 Hingegen konzeptualisiert der Begriff der peregrinatio seit der Philosophie des Hellenismus die Sphäre der Wanderschaft als das, was dem Wanderer und seinem Ziel äußerlich ist. Schon hier verraten sich in der unterschiedlichen Metaphorisierung des durchwanderten Raumes Gradationen, die eine breite Spanne der Bewertung zulassen und die Hierarchie zwischen Weg oder Sphäre des Weges und Ziel verschärfen können. Die gängigsten Metaphern sind Wüste und Meer, beide evozieren den Aspekt der Weite und der Ödnis, der Irrwegigkeit und der Gefährdung, des elementaren Chaos und der Unberechenbarkeit. Insbesondere die Meeresmetapher und das Bild von der Seefahrt sind in diesem Zusammenhang von Bedeutung. Ihrer universellen Verfügbarkeit kontrastiert ihre unterschiedliche epochale Signifikanz.11 Mit der lebensphilosophischen Wende des Hellenismus wird der Begriff der peregrinatio virulent. Einen definitorischen Beleg bietet Seneca, wobei es im Kontext um die Perspektivierung des Lebens auf den Tod hin geht: Peregrinatio est vita. Multum quum deambulaveris, domum redeundum est.12 Im Unterschied zur christlichen Konzeptualisierung ist die Wanderschaft hier freilich eher Gang, Rundgang als Durchgang, der etymologische Sinn der Präposition per ist nicht aktualisiert. Der Stoiker ist im Vergleich zum Christen außerdem nicht in der Lage, genauer zu umreißen, welches Heim den Heimkehrer erwarte. In diesem Manko begreift er freilich keineswegs einen Nachteil, und es schlägt auch nicht zum Nachteil der Welt aus, die 9 10
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Das Rätsel der Sphinx findet sich in den hellenistischen Didaskalien zum Sophokleischen Ödipusdrama; meine Paraphrase folgt dem Text in: Sophoclis fabulae, rec. Pearson, Oidipous Tyrannos, propositio III. Ich will hier keine „geschlossene“ Theorie historisch-kultureller Weltverachtungskonzepte bieten, sondern eben Perspektiven auf topische Metaphorologien und divergente Semantiken eröffnen. Zu einschlägigen Vorstellungen in der ägyptischen Kultur vgl. Assmann 2000; seine „kulturwissenschaftliche Thanatologie“ (ebd., 16 u. ö.) ist beachtenswert, dokumentiert aber gerade in der Hochstilisierung ägyptischer Jenseitsvorstellungen zum pauschalen Erklärungsmuster für Phänomenalität und Identität einer Kultur die problematische Tendenz zur Homogenisierung. Ihr hat sich Hans Blumenberg (1997) einlässlich gewidmet. ‚Eine Wanderschaft ist das Leben. Nachdem du viel herumgegangen bist, musst du nach Hause zurückkehren.‘ Das Zitat stammt aus der fragmentarisch überlieferten Schrift ‚De remediis fortuitorum‘, in: L. Annaei Senecae Opera omnia quae supersunt. Ex recensione F. Ern. Ruhkopf. Tom. IV. 1829, 417-424, hier 418. Auf die Stelle ist schon hingewiesen bei Thiel 1956, 17, Anm. 12.
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durchwandert sein will. Vielmehr begründet es ein positives Verhältnis, lässt es eine Weltliebe zu, die den Philosophen in die schwierige Lage bringt, seine Zöglinge zu überzeugen, dass nicht fortgesetzt zu wandern, sondern irgendwann eben auch heimzukehren sei. Ein Müssen bedeutet – im Gegensatz zur christlichen Idee der peregrinatio – nicht das Gehen, sondern das Heimkehren. Auch den stoischen Weisen hält dabei bloß eine Kette: Vna est catena, quae nos alligatos tenet, amor uitae, qui ut non est abiciendus, ita minuendus est, ut, si quando res exiget, nihil nos detineat nec inpediat quo minus parates simus, quod quandoque faciendum est, statim facere.13
Die antike Wanderschaft des Lebens ist eher eine Bindung als eine lästige Wegespflicht, die man möglichst schnell und ohne Ansehung der Umgebung hinter sich bringen sollte (oder wenn, dann nur in der Stimmung eines fortwährenden Alarmiertseins vor den lauernden Gefahren). Dies dokumentiert auch die berühmte Sentenz Marc Aurels: !"#$%&, '()*+,-&, .-/012%&· '.$%23!14 Diese Anfechtung des Nicht-Aussteigen-Wollens kennt die christliche Verwendung des Begriffsbildes von peregrinatio und navigatio nicht, da der durchmessene Raum als eine Sphäre der „reinen“ Negativität begriffen ist. Der Wanderer bedarf, will er sich nicht verirren, der Führung, und der Weg hat ein klares Ziel, das oben, in einer hierarchisch übergeordneten Sphäre liegt. Die Wanderschaft soll in der Transzendenz enden. Das Hienieden ist eben bloß Durchgang, Abweg, Ort der Verirrung von einer Heimkehr, die unter der Prämisse angetreten wird, dass man das intendierte Zuhause am besten nie verlassen hätte. Gerade dort, wo der Heimgang am umständlichsten vollzogen wird, in Dantes ‚Comedia‘, treten Hierarchie und Widrigkeit am deutlichsten hervor. Die Metaphorisierung von Welt und eigenem Leben als selva oscura ist dabei eine mögliche Option; eine weitere Option ist der schon erwähnte
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Ad Luc. III.26,10. ,Eine Kette nur gibt es, die uns gebunden hält, die Liebe zum Leben, die wir zwar nicht von uns werfen dürfen, aber doch schwächen müssen, damit, wenn einmal die Sachlage es fordert, nichts uns festhält noch hindert, bereit zu sein, was einmal zu tun ist, sofort zu tun.‘ Text und Übersetzung nach Seneca: Philosoph. Schriften III. Die stoische Idee der catena und der Heimkehr lässt sich insgesamt als eine scharfe Abkehr von der sokratisch-platonischen Vorstellung der Metoikesis, der ‚Umsiedelung‘ vom defizienten Diesseits in eine ersehnte ideale Transzendenz begreifen, die ihrerseits dem christlichen contemptus mundi strukturell, aber auch im Gestus der Negativität entspricht, wenngleich sie zunächst, in den früheren platonischen Dialogen ‚Phaidon‘ und ‚Kriton‘, mit der politischen Defizienz des Diesseits begründet wird; später wird diese Defizienz vom ontologischen Status der Welt her untermauert. Zur Idee einer Pathologie der Welt und zum Pathos der Weltflucht in der platonischen Metoikesis-Lehre vgl. Sloterdijk 1993, 80ff. ‚Du bist eingestiegen, du bist fortgesegelt, du bist angekommen, nun steig aus!‘; Marc Aurel, ,Wege zu sich selbst‘, III 3.
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II. Allegorien und Allegoresen
Gang durch die Wüste15 oder eben die Fahrt übers Meer. Besonders das Meer allegorisiert auf ideale Weise Unberechenbarkeit und Widrigkeit der Welt, das Schiff die prinzipielle Fremdheit des Christenmenschen gegenüber dem Diesseits und zugleich (ironischerweise) die Fragilität seiner transzendenten Behütung während der „Fahrt“. Über Verfügbarkeit, Variabilität und Verbreitung dieser Metaphorik, zumal in der Patristik, gibt Hugo Rahner Auskunft,16 sie kann auch mythologisch akzentuiert sein, so in der christlichen Allegorisierung des Odysseusmythos, genauer des Sirenenabenteuers: Der wachsame Steuermann des Seelen- oder auch des Kirchenschiffes lässt sich an den Mastbaum, das Symbol des Kreuzesholzes, binden, um den Verlockungen der Sünde zu entgehen.17 Eine interessante Variante dieser mythologischen Allegorie findet sich im geistlichen Leich Konrads von Würzburg, die Verse richten sich an Gott, zunächst als Vater, dann als Sohn: Hilf uns von dem wâge unreine clebender sünden zuo dem stade, daz uns iht ir agetsteine ziehen von gelückes rade. dînen sun den crûcifixen heiz uns leiten ûz dem bade der vertânen wazzernixen, daz uns ir gedœne iht schade. Ich zel dich zuo dem swanen blanc, der an sîm ende singet sanc: dîn schrei verdranc S!renen clanc, der dônes vanc ze grunde zôch der sünden kiel.18
Die Stelle verbindet die Metaphorisierung des Lebens als navigatio mit einer geistlichen Allegorese des Sirenenmythos,19 mit der Allegorie der rota 15 16 17
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Belege bei Thiel 1956, 18. Rahner 1984. Vgl. hierzu ebd., 281ff. Noch Joseph Ratzinger, nunmehr Benedikt XVI., zitiert diesen theologisierten Mythos nach Paul Claudels ,Der seidene Schuh‘ (für den Hinweis danke ich Ulrike Tanzer, Salzburg). Der Christenmensch sieht sich hier als an das Kreuz Gebundener auf dem Meer treiben, das Kreuz ist allerdings nicht mehr der Mastbaum seines Seelenschiffes, sondern das treibende und von den Wellen hin und her geworfene Fahrzeug selbst (Ratzinger 1968, 20ff.). Konrad von Würzburg: Kleinere Dichtungen III, Leich 1,125ff. ,[Gott Vater,] Hilf uns aus den unreinen Wogen / der haftenden Sünden hin zum Ufer, / damit uns nicht ihre Magnetsteine / vom Glücksrad hinunterziehen. / Fordere deinen Sohn, den gekreuzigten, / auf, dass er uns aus dem Bade / der verfluchten Wassernixen geleite, / damit uns deren Gesang nicht schade. // Ich rechne dich [Christus] dem weißen Schwane zu, / der, wenn er stirbt, einen Sang anstimmt: / Dein Ruf ließ / den Klang der Sirenen verstummen, / deren verfängliche Töne die sündigen Schiffe zu Grunde zog.‘
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Fortunae und schließlich mit der christologischen Tierdeutung, hier des Schwanes als Sinnbild Christi.20 Angesichts dieses Synkretismus sind wir wiederum auf das Faktum verwiesen, dass sich die homogenen Konzepte und Metaphoriken, die die Motivgeschichte entwickelt, immer nur im Modus der Heterogenität, der Kreuzung von Vorstellungen und Metaphern realisieren. Konrad von Würzburg nimmt an unserem (hypothetischen) Grundtypus der navigatio einige Verschiebungen vor, die es verdienen, etwas genauer betrachtet zu werden. Eine besteht in der Umdeutung des Meeres vom chaotischen, ambivalenten zum negativen Element der Sünde, vom Element, das der Sünde Raum gibt, zum Element der Sünde selbst. Dem korrespondieren andere Metaphorisierungen der Welt, beispielsweise als Haus des Teufels.21 Der Blick in dieses Haus ist dabei ein anderer als der auf die Weite des Meeres, er folgt einer vertikalen, keiner horizontalen Perspektive, er aktualisiert das Konzept einer klaren Hierarchie der Sphären. Diese Hierarchie versetzt auch den, der sie formuliert, in eine Position jenseits der Gefährdung: Anders als der, der vom „Weltmeer“ spricht, sieht er sich außerhalb des Hauses der Sünde, in dem der Teufel der Herr ist. Wird ferner dieses Weltmeer zum Sündenpfuhl, so liegt die damnatio carnis nicht ferne: Es ist kein metaphorischer Zufall, dass Konrad die Sünde weiblich codiert, dass die sündhafte Versuchung in den Sirenen wesentlich erotisch gefasst ist: Schon bei Homer ist der erotische Aspekt angedeutet, in Ovids ,Ars amatoria‘ (III 311ff.) fungieren sie dezidiert als Sinnbild weiblich-sinnlicher Verführungskunst, die geistlichen OdysseusAllegoresen der Patristik wissen dies gut zu funktionalisieren, und spätestens mit der Erklärung des Mythologems in Isidors ,Etymologien‘ (XI iii.30-31) wird dieser Aspekt in der mittelalterlichen Mythographie generell kanonisch.22 19
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Die Verbindung von Sirenen und Magnetstein (die Sirenen sitzen auf dem Magnetberg, locken mit Gesang die Schiffer an, die Schiffe werden vom Magnetstein angezogen und zerschellen) geht vermutlich auf Gottfried von Straßburg (,Tristan‘ 8089ff.) zurück, s. v. Sirenen, LAG, 582-586, hier 585. Das im Rahmen der geistlichen Allegorese des Sirenenmythos übliche Mastbaum-KreuzAllegorem ist zur Opposition der Gesänge, des verlockenden Sündenlieds der Sirenen und des heilsamen Todesgesangs des Christus-Schwanes verschoben. So bei Guibert de Novigento: Moralium in Genesim liber VII, PL 156, Sp. 186; der Beleg schon bei Priebsch 1918, 466. S.v. Sirenen, LAG, 582-586, hier 584. Bei Isidor heißt es: Sirenas tres fingunt fuisse ex parte virgines, ex parte volucres, habentes alas et ungulas: quarum una voce, altera tibiis, tertia lyra canebant. Quae inlectos navigantes sub cantu in naufragium trahebant. Secundum veritatem autem meretrices fuerunt, quae transeuntes quoniam deducebant ad egestatem, his fictae sunt inferre naufragia. Alas autem habuisse et ungulas, quia amor et volat et vulnerat. Quae inde in fluctibus conmorasse dicuntur, quia fluctus Venerem creaverunt. (‚Man stellt sich vor, dass es drei Sirenen gegeben habe, einsteils Jungfrauen,
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II. Allegorien und Allegoresen
Der Konnex von mundus und Fortuna wird uns noch eingehender beschäftigen,23 er findet im Aspekt der Unberechenbarkeit seinen entscheidenden Konvergenzpunkt. Die Anspielung auf die rota Fortunae in Konrads Leich beschreibt allerdings einen interessanten Bildbruch, denn die Angst, die Sirenen könnten „uns“ mit ihrem Magnetstein vom Rade nach unten ziehen, kollidiert mit der grundlegenden und gewissermaßen natürlichen Vorstellung, dass sich dieses Rad ohnehin drehe, dass es der Sirenen also gar nicht bedürfe, um von oben nach unten zu fallen. Die Unbedingtheit der Drehbewegung ist bei Konrad ersetzt durch ihre Potentialität, ihre Möglichkeit, die eintritt, wenn die Sünde Hand an das Rad legt. Und so sind wir auch im Falle dieses Textes auf eine freilich nicht eindeutige Differenz verwiesen, die die Totalität des contemptus mundi abschwächt zu einer partiellen Warnung vor einem mundus, der sich dem heilsamen Wirken, hier dem heilsamen Gesang Christi, verschließt. Damit stünden wir wieder vor einer Separation: Wer die Stimme des ChristusSchwans vernimmt, ist dem Meer der Sünde entronnen, er ist am festen Ufer einer anderen, neuen Welt angekommen und dem Abenteuer der sündigen Seefahrt entbunden. Er ist biblisch gesprochen nicht mehr ein filius h u i u s mundi, sondern lebt in einer besonderen und gesonderten Welt, die im transzendenten Heilswerk geborgen ist. UBI SUNT? – Meeresmetaphorik und rota Fortunae veranschaulichen im geistlichen Leich Konrads von Würzburg Unberechenbarkeit und Unbeständigkeit der Welt. In diesen beiden Aspekten gründet nicht nur die ikonische Vorstellung von der Ausgesetztheit des seefahrenden oder wandernden Menschen, sondern auch die abstrakte Maxime von der Nichtigkeit all seines Tuns: Was „hienieden“ vollbracht wird, unterliegt zumindest dem Gesetz der Zeit, der Gefahr des Verschwindens, es folgt dem Prinzip der vana gloria mundi. Dem Stoiker ist sie – wie bei Marc Aurel zu lesen steht – Anlass, peregrinatio und navigatio als einen Weg der Entbindung zu betrachten, genauer freilich als einen Weg der Entbindung von der Nichtigkeit weltlicher Geschäfte, weltlicher Streitigkeiten. Wenn dieser Weg den Wanderer oder das Schiff schon nicht in ruhiges Gewässer leitet, so gibt er ihm wenigstens jene „Ruhe des Herzens“, die ihn auch an den Wogen der weltlichen Schicksalsschläge nicht verzweifeln lässt. Fortwäh-
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andernteils Vögel mit Flügeln und Krallen: Von ihnen sang die eine, die andere spielte die Flöte, die dritte schlug die Lyra. Und sie brachten mit ihrem Gesang hervorragende Seefahrer zum Schiffbruch. In Wahrheit waren sie freilich Huren, die die Vorbeikommenden einst verführten und in Armut stürzten; man stellte sich dies dann so vor, als hätten sie diese Schiffbruch erleiden lassen. Dass sie Flügel und Krallen hätten, [wird ihnen zugeschrieben,] weil die Liebe fliegt und verwundet. Dass sie in den Fluten angesiedelt werden, [erklärt sich,] weil die Fluten Venus hervorbrachten.‘) Unten Kap. II.3, 203ff.
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rend, so Marc Aurel, sei an die zu denken, die in höchstem Ansehen stehend ein Opfer der Tyche wurden. Dann sei zu fragen: „!"# $#$ !%$&' ()*+$';“ – „Wo ist nun all jenes? Es ward Rauch und Asche und Mythos oder nicht einmal Mythos.“24 Die Konsequenz dieser Haltung ist nun aber nicht die Verachtung der Welt, sondern genauer die Verachtung der Bindung an die Welt, der Angst vor dem Verlust, der Angst vor dem Tod, die Verachtung des Todes selbst. Damit liest der stoische Weise jene alte Frage anders, die Bestand und Sinn weltlichen Tuns gleichsetzt und im „Wo sind sie geblieben?“ zugleich ein „Wo werden wir bleiben?“ mitspricht. Konzentriert ist sie zumal auf die „großen Männer“ und ihre „großen Taten“. In ihr, in der Frage, nach dem, was bleibt oder wo man verbleibt, formuliert sich die fundamentale antike Verzweiflung gegenüber Zeitlichkeit und Kontingenz der Welt und sie verdichtet sich in Horror und Abscheu gegenüber der vana gloria mundi. Eitel kann der Ruhm der Welt in zweierlei Hinsicht sein: weil der Tote von seiner gloria nichts mehr hat und/oder weil diese gloria selbst der Zeit unterworfen, weil sie selbst vergänglich ist. Für das Problem gibt es bloß ambivalente Lösungen. Schon die Nekyia der ‚Odyssee‘ weiß auf die Ubisunt-Frage mehrere schlagende Antworten zu geben, zuallererst die einfache topographische: „Hier sind sie, in der Unterwelt!“ Im Totengespräch des Odysseus mit Achilleus will der Lebende den Verstorbenen mit dem Bericht von dessen Nachruhm und mit dem Erstaunen über dessen Königswürde im Reich der Schatten trösten. Der, den das „ubi sunt?“ schon betrifft, der tote Achilleus, antwortet mit dem frappanten unbedingten Wunsch, zurückzukehren und sei es als Knecht eines Knechtes (, 488ff.). Die Antwort auf Erkenntnis und Erfahrung der Zeitlichkeit ist bei Homer die paradoxe Liebe zu ihr. Auch Aeneas’ Klage über den gefallenen Pallas mündet in die Verzweiflung vor dem vanus honos (XI 42ff.), wiederholt nun aber den alten Topos des homerischen Weltverdrusses: „Niemals geboren zu werden, ist für den Menschen das beste; wenn aber einmal geboren, so alsbald wieder zum Aïs hinabzuschreiten.“25 Die Paradoxie einer solchen Gnome besteht nicht zuletzt darin, dass sie in der Nicht-Existenz das eigentliche Telos der Existenz sehen will (weshalb das „niemals“ im zweiten Satz auch durch ein „möglichst rasch hinunter“ ersetzt ist). Dass dieser Widerspruch erkannt wurde, macht die dritte Option deutlich, die nun das Prinzip der -."$/ (hier noch: *012"34$5) einführt: Die glücklichsten Menschen seien
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Marc Aurel, ,Wege zu sich selbst‘, XII 27-34, hier XII 27. Der Begriff des „Mythos“ meint hier „Geschichtchen“, „fabulae“. So der Beleg im ,Certamen Homeri et Hesiodi‘, in: Homeri Opera V, ed. Allen, 75ff.; vgl. auch Sophokles’ ,Ödipus auf Kolonos‘, 1224.
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II. Allegorien und Allegoresen
die, die ihre Tage feiernd zubringen. An diesem Prinzip der Lust wird sich seit Aristoteles eine ganze Philosophie der Leidvermeidung abmühen. Eine prinzipiell andere Lösung zu diesen drei Graden des !"-#$%&'Topos formuliert aber eben der Achilleus der Nekyia: Wenn er ein imaginiertes Knechtsein „hienieden“ dem Königsruhm im „Jenseits“ vorzöge, stellt er mit der ganzen Autorität des Betroffenen die Alternativen einer Transzendenz bloß, die in der Antike ohnehin in zweifelhaftem Ruf steht. Die christliche Weltlehre entgeht diesem gewichtigen Einwurf, der auf eine unbedingte Apologie der Weltliebe abzielt, mit einer so einfachen wie schlagenden Umkehrung oder Erweiterung der Topographie: Das transzendente Ziel irdischer Existenz liegt nicht mehr im „Unten“, sondern im „Oben“. Die antike Aporie, die aus der Erkenntnis der Zeitlichkeit jeder Existenz und aus der noch größeren Armseligkeit des Zustandes resultiert, der ihr folgen wird, mündet in eine fundamentale Melancholie; gegen sie setzt die neue christliche Topographie eines jenseitigen „Oben“ und „Unten“ die Glückseligkeit des Erlösten und die Marter des Verdammten, gegen Melancholie setzt sie aufgeregte Anstrengung, die aus den gegensätzlichen Aussichten, aus Verheißung und Drohung resultiert. Die Differenz, die eine solche Hierarchisierung des Jenseits erzeugt, lässt sich gut an dem unterschiedlichen Gemütszustand nachvollziehen, der in Dantes ‚Comedia‘ den im Limbus wohnenden „guten Heiden“ auf der einen sowie den Verdammten und Glückseligen auf der anderen Seite zukommt: Gelassenheit steht gegen Aufregung, flache gegen starke Emotion (sei es Entsetzen, sei es Euphorie). Dass der wandernde Dichter mit Vergil, seinem „Meister und Autor“, (mitunter wenigstens) jene Melancholie teilt, die dieser „gute Heide“ ins Jenseits mitnahm, ist für diesen nur ein schwacher Trost, da der Zögling im Angesicht des Paradieses, in der Euphorie des „Endlich oben!“ nur allzu rasch auf sie und ihn vergisst. Wenn nun der vana gloria mundi auch die nicht entrinnen können, an die man sich nach ihrem Tode erinnert, so bleiben dennoch denen, die erinnern, als Trost die ()*& +%,-.%. Diese „Ruhmestaten der Männer“ schreiben sich im Epos, im Kunstwerk fort, schlagen dabei allerdings eher und ironischerweise nicht zu deren, sondern zu dessen Ruhm, zum Ruhm des Kunstwerkes selbst aus: Der Autor errichtet ein monumentum aere perennius – dies freilich im Sinne eines Memorials, das zuallererst auf sich selbst verweist. Was Topos und Quelle der Melancholie war, wird dichtungsund weltaffirmativ. Gerade das poetische Kunstwerk imaginiert in seiner Immaterialität jene Beständigkeit, die selbst noch der härtesten Materie angesichts der Zeitlichkeit alles Weltlichen versagt ist. Seine vermeintliche Fragilität wird zum Versprechen der Dauer, sie behauptet eine Inversion der vana gloria zur gloria sempiterna, die sich allerdings vorzüglich auf sich
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selbst, auf das Medium und nicht auf das Sujet eines „glorreichen“ Erinnerns bezieht. Schon aus der antiken Erkenntnis der Zeitlichkeit des Irdischen resultiert die Einsicht, dass das Vermeiden von Leid die höchste Kunst des Lebens wäre. Gerade die epikureische und die stoische Konzeption erweisen die dritte homerische Option, ein Leben des feiernden Frohsinns, als einen Irrweg und führen auf diese Weise jene Strategien der Abkehr vom Weltlichen ein, die ein rigider christlicher contemptus mundi schließlich perfektionieren wird. Schon Senecas Bild von der catena, die uns an die Welt binde, zeigt die argumentative Richtung an. Die Lösung des Problems bietet ein strenger Dualismus, der Nachweis, dass der beste Teil des Menschen gerade nicht von dieser Welt sei, sondern an einem Göttlichen partizipiere, das ihren Gesetzen und folglich auch den Gesetzen der Vergänglichkeit entzogen sei. Diese Vorstellung ist schon mit dem sokratischplatonischen Konzept der Metoikesis, der „Umsiedelung“ in eine transzendente Idealität ausentwickelt.26 Sie führt bei Marc Aurel zwar nicht zur endgültigen Verachtung irdischer Existenz, wohl aber zu einer Relativierung, deren Wortwahl und Metaphorik an den christlichen contemptus heranreicht.27 So heißt es im vierten Buch der ‚Wege zu sich selbst‘ (Kap. 48), wiederum im Zusammenhang mit dem Ubi-sunt-Topos, dass alles Menschliche als ephemere Erscheinung zu betrachten sei, „!"#$% &$' &()*+,-' ./+,-' 0$ 1*+,"-% 2 134+.“.28 Diese negative Formel setzt das Pindarische Bild vom Menschen als „eines Schattens Traum“ und also wiederum eine ehrwürdige antike Tradition fort,29 geht in der Reduktion des intakten Leibes auf ein Übergangsstadium zwischen dem Schleim der Zeugung und der Mumifizierung oder dem Zerfall im Tode aber über sie hinaus: Beachtenswert ist vor allem, wie in die gut philosophischen Zustände der Indifferenz, die der lebenden Form vorangehen und folgen (Zeugungsschleim und Asche), der Blick auf den Leichnam eingekreuzt wird. Die Mumie ist ein philosophisches Skandalon. Sie ist das tote Relikt, das die einst lebende Form in schauderhafter Weise bewahrt und die Materie gerade nicht in die biologisch wie philosophisch produktiven Zustände der Indifferenz zurückführt, sondern ihr die tröstliche Partizipation am Gesamten und Unvergänglichen des Kosmos vorenthält.
26 27 28 29
Vgl. oben Anm. 13. Dass sie ihn vorwegnehmen würde, kann nicht gesagt werden, da er schon in den entsprechenden Bibelstellen formuliert wird, etwa im alttestamentlichen Buch ,Kohelet‘, das allerdings seinerseits hellenistisch beeinflusst ist. ,Gestern noch ein Tropfen Schleim, morgen Mumie oder Asche.‘ (Übers. R. Nickel) Pythische Ode VIII 95; vgl. auch Horazens Wort: pulvis et umbra sumus (Ode IV.7,16); den Hinweis verdanke ich Heribert Derndorfer (Eferding/Linz).
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II. Allegorien und Allegoresen
In der Mumie gelangt die Monstrosität der verworfenen Weltbindung zur abschreckenden Anschaulichkeit. Was sich als neutrale und ungeschminkte, anatomische Begrifflichkeit geriert, evoziert ein emphatisches Bild des Ekels, überschreitet also gerade die vorgebliche Neutralität. Die Konsequenz formuliert sich bei Marc Aurel freilich in einem milderen Bild: Die kurze Spanne des Hierseins sei in Übereinstimmung mit der Natur zu verbringen und heiter zu lösen, so als würde eine reife, zu Boden gefallene Olive die Erde, die sie hervorbrachte, und den Baum, der sie trug, preisen. Wiederum erweist sich die Verachtung der Welt als geheimes Ringen mit der Weltliebe, als Versuch, Senecas Kette zu durchtrennen. Das Ziel ist – so heißt es in Anschluss an das zitierte Bild der navigatio („Du bist eingestiegen, weggesegelt, angekommen – jetzt steig aus!“) –, zu einem Zustand der „Anästhesie“ zu gelangen, Leiden und Freuden gegenüber unempfindlich zu werden, damit dem Gefäß nicht jenes diene, das so viel wertvoller sei: Die Rede ist von der Dualität von Leib und Seele (III 3). Denselben Grundgedanken verfolgt das zweite Buch von Boethius’ ‚Consolatio‘, es formuliert ebenso – allerdings unter dem Leitbild der unbeständigen Fortuna – das Problem der vana gloria und die Frage „ubi sunt?“. Die Lösung findet es in einer analogen Dualität von Leib und Seele. Signifikant dabei ist, dass sich in der Gestalt der allegorischen Lehrmeisterin des Philosophen die polemische Ikonographie des vergänglichen Leibes – schöner Schein, hässliches Sein – umkehrt: Die Philosophie tritt ihm in einem Kleid gegenüber, das zwar aus feinstem Stoff und aufwendig gewirkt, allerdings aufgrund seines Alters und wegen der Angriffe von Gewalttätern trübe und zerschlissen ist (I 1.p.). Die Philosophie erscheint avant la lettre als invertierte Frau Welt. Boethius’ ‚Consolatio‘ zählt im Mittelalter zu den wirkungsmächtigsten Schriften einer von der spätantiken Tradition getragenen philosophischen Ethik.30 Sie lässt sich als Schnittstelle zwischen einem antikphilosophischen und einem mittelalterlich-theologischen Diskurs der Weltkritik begreifen. Die Signifikanz von Senecas und Marc Aurels Konzeptionen ist insofern gegeben, als sie in eine Zeit fallen, in der sich der christliche Diskurs in Orientierung auf den spätantiken auszubilden beginnt (insbesondere Seneca gilt in Belangen der philosophischen Ethik auch dem Mittelalter als Autorität31). Einen idealen Konvergenzpunkt bezeichnet dabei der Ubi-sunt-Topos. Freilich unterliegt auch er einem Prozess der Adaptierung und Verschärfung, wie im Folgenden zu zeigen sein wird. 30 31
Vgl. hierzu die jüngeren Beiträge bei Hoenen/Nauta (Hgg.) 1997. S.v. Seneca, LAG, 572-575.
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VON ABSTRAKTION UND ATARAXIE ZUR AUFGEREGTEN MYTHOLOGIE DER WELTVERACHTUNG. – Ubi sunt?, diese Frage stellt auch der christliche contemptus mundi. Ein Beispiel gibt Anselms von Canterbury († 1109) ‚Exhortatio ad contemptum temporalium et desiderium aeternorum‘ (PL 158, Sp. 677-686). Schon der Titel spricht die Alternative an, die dem christlichen Philosophen vor Augen steht: Es ist nicht die Seelenruhe des stoischen Weisen, sondern ein offensives Begehren, das sich von den diesseitigen Dingen abgewandt hat und ganz auf ein jenseitiges Ewiges gerichtet ist. Die Erkenntnis irdischer Hinfälligkeit, die bei Marc Aurel idealiter in einen Zustand der Gelassenheit mündet, ist bei Anselm von einer Rhetorik und Metaphorik der emotionalen Aufgeregtheit begleitet. Sie gründet in einer neu etablierten christlichen Mythologie der Transzendenz, in der anthropomorphen Konzeption dessen, was jenseits dieser Welt liegt. Man könnte auch von einem unphilosophischen Regress sprechen: Der Tod ist nicht mehr die Auflösung einer in der Form des Leibes vorübergehend konkretisierten „Allmaterie“, aus der alles neu werden kann, und er ermöglicht nicht mehr die befreiende Partizipation der unvergänglichen Seele an einem holistisch gefassten Göttlichen. Er bezeichnet vielmehr wieder den Eingang des Menschen in eine remythisierte Transzendenz, deren Topographie sich allerdings entscheidend geändert hat. Zu sterben bedeutet in der antiken Hades-Mythologie, in eine Unterwelt hinabzugehen, wobei sich im Abstieg zugleich eine Wertung spiegelt: Die „transzendente Existenz“ ist ein trostloses, in jedem Sinn des Begriffs i n f e r i o r e s Abbild immanenten Lebens, und auf ein solches Leben danach lässt sich – wie Achilleus’ Beispiel zeigt – bloß melancholisch antworten: im Modus eines contemptus i l l i u s mundi sozusagen. Nunmehr steht jedoch eine Sphäre des absolut erstrebenswerten Obens gegen eine absolut zu vermeidende Verdammung ins Unten. Die Entscheidung, wohin gegangen wird, fällt hier, hoc in mundo, wobei der Weg des Menschen, der sich an diese Welt bindet, nach unten weist. Die mythologische Grundierung der christlichen Vorstellung von Weltlichkeit und Transzendenz lässt sich an signifikanten Denk- und Bildformeln in Anselms Traktat ablesen. Er setzt an mit dem Gleichnis von den Jungfrauen (Sp. 677A, Sp. 679BC). Mit ihm sind emphatische Redefiguren verknüpft, zumal jene der Nacht und des Dunkels wie des Wachens oder Erwachens des Menschen: Consurge per noctem ad orationes et lacrymas ad Deum. (Sp. 679B)32 Tränen und Klagen sollen die Bindung an die Welt auflösen. Zugleich soll der Jammer über das Hienieden in eine drastische Sehnsucht nach dem Oben verwandelt werden. Das Leben selbst ist als ambulatio gefasst, die den Spuren Christi folgen möge (Sp. 680D), es ist ein 32
,Erhebe dich die Nacht hindurch, um dich Gott in Gebeten und Tränen zuzuwenden.‘
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II. Allegorien und Allegoresen
Wandern im fremden Element und es steht von Beginn an nicht etwa im Zeichen einer stoischen Akzeptanz (im Sinne von Marc Aurels „Leben gemäß der Natur“), sondern der Separation: Fac te alienum ab actibus saeculi, ut haeres efficiaris regni Dei. (Sp. 679D)33 Die Forderung nach Entfremdung ergibt sich nicht zuletzt aus den Tücken des Weges, die wiederum die Immanenz an das jenseitige Unten angleichen: in medio laqueorum diaboli ambulas. Evigila, ne in mortis barathrum incidas. (Sp. 677C)34 Schon die Welt ist die Hölle, in ihr greift die Sünde Platz, der irdische Tod kann für den, der sich in ihren Schlingen verfängt, zum Schlund werden, der ihn ins Unten hinabfallen lässt. Die mythologische Bevölkerung des Diesseits mit Gestalten und Allegorien der Hölle, unter anderem mit den Todsünden wie Luxuria (Sp. 679D) und Invidia (Sp. 682B), zu denen weltliche Geschäftigkeit unweigerlich hinführe, ist dabei nicht eine späte Übertreibung, sondern bloß die rhetorische und metaphorische Ausgestaltung einer Vorstellung, die schon der zweite Epheserbrief (Eph 2,1-2) deutlich genug formuliert.35 Auf diese Klärung der Verhältnisse folgt als zweiter Teil des Traktats eine Verhaltenslehre, die dem Weltverächter für die Dauer seiner notgedrungen irdischen Existenz ans Herz gelegt wird. Sie reduziert die anfängliche Drastik und führt, etwa im Lob von patientia, tolerantia, caritas und diligentia pacis (Sp. 681D-682C), zu einer moderaten Ethik der Rechtschaffenheit, die noch im radikalen Genre des contemptus-Traktats den Pragmatismus des Autors verraten könnte.36 Die aufgezählten Tugenden beschreiben nämlich Akte der Beteiligung an der Welt, sie orientieren sich an den Patrum exempla (Sp. 682D), damit an großen Männern, die nicht nur das Seelenheil, sondern auch hienieden Anerkennung erlangt haben. Auffälligerweise folgt diesem Entwurf eines christlich-ehrenvollen Weltlebens die nochmalige Warnung vor dem, was es – neben der transzendenten Versprechung – eben auch einbringen könnte: den honos mundi, die Wertschätzung durch die Welt. Freilich wäre es ohnehin nicht die Anerkennung der Welt schlechthin, sondern das Wohlgefallen der gleichgesinnten, ebenso bereits „separierten“ Geister. Anselm beschließt den Traktat mit Sätzen wie diesem: Cave honores, quos tenere non potes. (Sp. 684C) Im Unterschied zur einleitenden damnatio scheint hier weniger die Ehrenhaftigkeit der genannten honores, als eben ihr Bestand in Frage gestellt. Dies nun eröffnet den Raum für den Topos, nach dem wir suchen: 33 34 35 36
,Mach dich den Geschäften dieser Welt fremd, und du wirst, wonach du trachtest, das Reich Gottes erlangen.‘ ,Mitten durch die Schlingen des Teufels wanderst du. Sei wachsam, damit du nicht in den Schlund des Todes fallest!‘ Vgl. oben Kap. II.1, 137. Hierzu Flasch 2001, 202ff.
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Brevis est hujus mundi felicitas, modica est hujus saeculi gloria. Caduca est et fragilis temporalis potentia. Dic ubi sunt reges? ubi principes? ubi imperatores? ubi rerum locupletes? ubi potentes saeculi? ubi divites mundi? Quasi umbra transierunt, et velum somnium evanuerunt. (Sp. 684D-685A)37
Der Höllenrachen, der sich im Angesicht der vanitas mundi zu Beginn des Traktats aufgetan hatte, scheint an dieser Stelle geschlossen. Wären die gelisteten Fürsten der Welt wenige Sätze zuvor noch in den „Schlund des Todes“, des leiblichen wie des seelischen, gestürzt, so müssen sie hier nur als Schatten und Traumgesichte verschwinden, und mit diesen Bildern scheint ein Anflug jener Melancholie zurückzukehren, die seit Homer die Reflexion über die Zeitlichkeit des Irdischen begleitet – selbst in diesem Text, der über weite Strecken mehr eine damnatio als einen contemptus mundi beschreibt. Den emphatischen Gesten zu Beginn des Traktats korrespondiert nun ein Zustand der Ruhe: Si vis esse quietus, nihil saeculi appetas. (Sp. 685A)38 Kurioserweise metaphorisiert sich der angestrebte Zustand abschließend im Bild des Leichnams: Esto mortuus mundo, et mundus tibi. Mundi gloriam aspice, tanquam mortuus; sicut sepultus non habeas curam de saeculo. Tanquam defunctus ab omni terreno te priva negotio. (Sp. 686A)39
Üblicherweise ist der Leichnam Allegorie des Mundus (wie hier ja auch) und nicht Allegorie dessen, der diese Welt verachtet. Die Inversion des Bildes setzt die Ausblendung der Attribute der Verwesung voraus. Der Tote fungiert nicht als Schreckensbild, sondern als Metapher der Nichtbeteiligung: Er bezeichnet den „Defunktionierten“, der für die Welt unbrauchbar geworden ist. Die theoretische Negativität ist am Ende des Traktates nicht geringer als zu Beginn, die metaphorische wohl. Die Ubi-sunt-Frage bringt einen neuen Ton in den scharfen rhetorischen Gestus ein, sie formuliert und provoziert divergente Bildvorstellungen, keine Metaphorik der Verdammung oder der Höllengefahr, sondern eine der Melancholie. Die Bilder des eschatologischen Schreckens sind ersetzt durch Bilder des Vergehens und Verschwindens. Der Stil des Traktats hat sich abgekühlt, und dennoch bleibt die theoretische Negativität auf hohem Niveau. Die argumen37
38 39
‚Kurz ist das Glück dieser Welt, bescheiden der Ruhm dieser Zeit. Hinfällig und zerbrechlich ist zeitliche Macht. Sag an, wo sind die Könige? Wo die Fürsten? Wo die Kaiser? Wo die an Gütern Wohlhabenden? Wo die Mächtigen der Zeit? Wo die Reichen der Welt? Wie Schatten sind sie dahingegangen und wie Träume sind sie verschwunden.‘ ‚Wenn du gelassen sein willst, so habe kein Verlangen nach dem Zeitlichen.‘ ‚Sei der Welt ein Toter und die Welt dir. Den Ruhm der Welt, betrachte ihn – wie ein Toter; wie der Begrabene sollst du keine zeitlichen Sorgen haben. Wie ein Verschiedener entziehe dich jedem weltlichen Geschäfte.‘ Im Partizip defunctus verbindet sich offensichtlich (vor allem in Zusammenhang mit negotium) die übertragene Bedeutung (‚verstorben‘) mit der eigentlichen (‚funktionslos, erledigt‘).
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II. Allegorien und Allegoresen
tativen, appellativen und metaphorischen Verläufe des Textes geben zudem eine performative Dimension frei: Der Text ist Vollzug dessen, wozu er auffordert. Sein Verlauf vom contemptus über die conversio hin zur praeparatio spiegelt den intendierten Lebensvollzug. Damit zielt er auf Verwandlung und gründet diese auf die Behauptung seiner Gültigkeit, die sich aus der Totalität der integrierten Metaphoriken, Topoi und Stile ergibt. Die Protagonisten der Ubi-sunt-Frage sind jene exempla mundi amoris, die zuvor im Kontext der damnatio mit der einschlägigen christlicheschatologischen Mythologie konfrontiert waren (Teufels- und Sündenallegorie, „vertikale“ Transzendenz: Oben und Unten, dies ille). Während der Weltjünger eben noch stürzen musste, entschwindet er nun wie ein Schatten. Die äußersten Beispiele weltlicher Geschäftigkeit – Kaiser, Könige, Fürsten und Reiche – die zunächst in grellen Farben auftraten und der Verdammnis anheim gegeben wurden, lösen sich auf in Imaginationen, deren Konturen sich verwischen. Die metaphorische Beruhigung führt zurück zum abstrakten philosophischen Niveau der Ataraxie. Sie verbindet sich hier, im christlichen Kontext, allerdings auf signifikante Weise mit der Leiche als dem ubiquitären Symbol der Vergänglichkeit – nur ist es eben die sozusagen leiblose, abstrakte Leiche als Gegenbild des Lebendigen. Der christliche Weise, der um die vanitas mundi Bescheid weiß, lebt metaphorisch in jener Gestalt, die die genannten Verblichenen nunmehr sind: tanquam defunctus. Die antithetische Korrespondenz färbt dabei auf die zuvor genannten exempla vanitatis insofern ab, als sie im Unterschied zu einem vanitas-Toren wie dem „Fürsten der Welt“ nicht als verwesende Leichen, also nicht in Bildern des Ekels (was prinzipiell denkbar wäre), sondern als Schatten- und Traumbilder imaginiert werden. Hinter der geänderten Metaphorik verbirgt sich eine dramaturgische Ratio, eben die des Verlaufs einer conversio, die rhetorisch vollzieht, was als Ziel der Lebenspraxis vorgegeben wird: den Zustand einer christlichen Indifferenz gegenüber der Welt. Sie kann schon deshalb nicht die Schärfe des anfangs aufgerufenen eschatologischen Horrors fortsetzen, weil sich mit ihm jene christliche Lebensethik ad absurdum führen würde, die der Mittelteil des Traktats entwirft. Die geänderte Metaphorik transportiert somit jenen Kompromiss, der im Bild der lebenden Leiche die theoretische Negativität gegenüber der Welt einerseits bewahren, die gefährliche Radikalität des contemptus mundi andererseits aber kaschieren kann. In der „abgekühlten“ Darstellungsform verschleiert sich das Paradox einer Denkform, die den Absolutismus der Eschatologie gegen die moralische Doktrin einer christlichen Weltexistenz prolongiert. Dass sich mit dem melancholischen Ton der Ubi-sunt-Frage auch eine heimliche Affirmation des Tuns und der Werke derer verbinden kann, die man hier fragend verschwinden lässt, zeigt unter anderem die Anwendung
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des Topos in der mittelalterlichen Alexanderepik: Dem, der einst die ganze Welt besaß, blieben nur wenige Fuß übrig, nämlich der Raum des Grabes, so lautet die übliche Beschlussformel. Noch im Verschwinden des königlichen Schattens formuliert sich zugleich aber das Erstaunen vor seiner exorbitanten irdischen Erscheinung. Gegen die Perspektive, Alexander als den „bloßen“ Menschen zu begreifen, der selbst er im Tode ist, steht das universalhistorisch Bleibende und Prägende der Gestalt, die im übrigen Teil des göttlichen Heilsplans ist. Und in dieser universalhistorischen Signifikanz rechtfertigt sich auch der betriebene epische Aufwand, den allen voran das Epos Walters von Châtillon betreibt: Ubi est? – Hoc in libro!40 Gerade die vanitas-Topik, die sich mit Alexander notorisch verbindet, verrät dabei eine ebenso notorisch egozentrische Sichtweise: Die knapp bemessene Lebensspanne des Einzelmenschen dramatisiert die Erkenntnis von der Vergänglichkeit alles Irdischen und verstellt die Sicht darauf, dass etwas bleibt. Die Apokalypse ist ein egozentrisches Projekt. Auch der contemptus mundi propagiert die Verbindung von Lebenszeit und Weltzeit – zuungunsten der Weltzeit. Und eher erklärt diese Verbindung die Plausibilität der eschatologischen Naherwartung, als dass ihr diese vorgängig wäre: Wenn mein Ende nahe ist, ist es nur recht, wenn es auch mit der Welt bald zu Ende geht. Die Gegenkraft bilden Akte und Worte des Erinnerns, die sich ironischerweise bereits in der Frage nach denen, die waren, formulieren. Denn letztlich gibt sie selbst schon jene Antwort, auf die sie gar nicht aus ist: Schon hier, in der bloßen Frage sind die verblieben, von denen es heißt: ubi sunt? In diesem Aspekt verbirgt sich eine heimliche Affirmation des Zeitlichen, die dann relevant wird, wenn sich die Wahrnehmung vom Individuum weg verlagert, hin zu seinem Tun. Insbesondere das Kunstwerk bezeichnet mit seiner Architektur der Erinnerung einen Ort des Aufgehobenseins dessen oder derer, die als verschwunden genannt, genau in dieser Nennung aber wieder zum Erscheinen gebracht werden. Diese Dialektik zwischen individueller Eschatologie und transindividueller Erinnerung erzeugt schließlich auch jenes Paradox, dem wir in Walthers ‚Alterston‘ begegnet sind: Dem Verwerfen des Weltwerks, des Gesangs durch die Autor-persona korrespondiert sein Bestehenbleiben in und mit der Welt. Das Werk transzendiert jene Grenzen, die dem Leben des Autors gesetzt sind, und auf die Frage „Ubi est?“ würde es antworten: „Hic sum!“
40
Vgl. unten Kap. III.1.
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APOSTROPHE, PERSONIFICATIO, SERMOCINATIO. – Im Œuvre Anselms findet sich neben dem Traktat auch eine Exhortatio ad saeculi odium vehementer accendens, verfasst als Brief an seinen Mitbruder Herluin (,Epistola ad Herluinum‘, PL 158, Sp. 1072C-1073B).41 Thema dieses Briefes ist die Kontrastierung von Gottesliebe und Weltliebe. Er eröffnet mit Anselms Lob für Herluin, der begonnen habe, von der Süße Gottes zu kosten (Incoepisti, mi charissime, gustare quoniam dulcis est Dominus). Wer nun allerdings einen erbaulichen sermo über dieses Bild des göttlichen Geschmacks erwartet, sieht sich getäuscht. Die Metapher der Süße scheint den Verfasser eher zu beunruhigen, denn schon im zweiten Satz folgt ein eindringliches „cave!“. Hüten solle sich Herluin vor dem Duft der Welt (sapor saeculi), denn deren Süße sei oder bringe nichts anderes als ewige Bitternis (aeterna amaritudo). Warum sich die Metaphorik des Kostens von der Süße Gottes unversehens mit der Vorstellung assoziiert, man könnte Geschmack an der Welt finden, ist unklar. Möglicherweise ist es die säkulare Bildlichkeit, die den Mönch irritiert. Denn warum sollte der, der eben begonnen hat, Gottes Süße zu schmecken, gleich wieder auf den Geschmack an der Welt kommen, es sei denn, der contemptor mundi würde die Gefahr einer metaphorischen „Re-Inversion“ erkennen und befürchten, dass die Bildsprache aus der sakralen in eine säkulare Signifikanz zurückkippen könnte (und dass mit ihr auch der frisch gebackene Jünger der Gottessüße wieder der Weltsüße verfiele, deren Defizienz er mutmaßlich schon kennen müsste). Jedenfalls führt kein argumentativer, sondern bestenfalls ein appellativer Weg vom ersten zum zweiten Satz des Briefes, vom Lob der Süße Gottes zur Warnung vor der Süße der Welt. Sieht man von dieser Irritation ab, so nimmt der kausallogische Bruch das Schema des argumentativen und metaphorischen Kontrasts vorweg, das der Brief ausentwickelt: Gegen den dulcis Dominus steht die dulcedo saeculi, gegen den amicus Dei der amicus saeculi.42 Interessant für das Folgende ist die Erklärung, die an den Begriff anschließt: Der amicus saeculi sei der Freund zeitlicher Vergnügung (saecularis delectationis amicus est). Offensichtlich soll damit klar gestellt werden, dass für die Liebe zum saeculum nicht gelten kann, was für den amor Dei gilt, dass sie nämlich eine personale Liebe wäre. Die Vorstellung des personifizierten saeculum wird als konstruiert kenntlich gemacht. Dennoch bleibt Anselm bei dieser Strategie der personificatio und unterwandert sie zugleich: Si mundus, vel aliquid eorum, quae sunt mundi, ridet tibi; noli arridere illi. Certe, frater, non ridet tibi, ut in fine risus tu rideas; sed simulat risum, ut te irrideat. Esto igitur, dilectisssime, 41 42
Auf den Brief verweist bereits Closs 1934, 3f. Der Brief zitiert das entsprechende Wort im Jakobusbrief (Iac 4,4), vgl. oben Kap. I.3, 70f.
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semper cautus, ut anticipes eum, et retorqueas fraudem ejus in eum; et cum ille tibi fallaciter ridet, tu veraciter irride eum. Et certe nunquam veracius irridebis illum, quam si, cum ipse riserit contra te, tu fleveris contra illum. (Sp. 1073A)43
War im Traktat der diabolische Fallensteller noch einer, der im mundus sein Unwesen trieb, so erhält an dieser Stelle der mundus selbst ein Gesicht. Er lächelt und er tut es in trügerischer Absicht. Die dem Christenmenschen anempfohlene Reaktion ist ebenso antithetisch wie die des Traktats: Antwortet der contemptor mundi dort auf die Hinfälligkeit der Welt mit einem Leben als „defunktionalisierte“ Leiche, so quittiert er hier das trügerische Lächeln der Welt mit seinem wahrhaftigen Weinen (schon im Traktat kennzeichnen die Tränen den Zustand der Weltverachtung). Die Personifizierung des mundus erzeugt eine Atmosphäre der Eindringlichkeit und erhöht die kompositorische wie ikonische Prägnanz des Textes. Der Mensch hat ein sichtbares Gegenüber, das ihn begehrt, den Mundus, und er hat ein unsichtbares Gegenüber, das er begehren soll, Gott. Der personifizierte Mundus wird Teil jenes mythologischen Apparats, der die christliche Topographie und Hierarchie von Immanenz und Transzendenz belebt und anthropomorphisiert. Die Personifikation als Darstellungsform dient der Dramatisierung und Radikalisierung der mit ihr transportierten Vorstellungen. Unter diesem Aspekt soll sie uns im Folgenden interessieren, weniger im Sinne einer genealogischen Rekonstruktion ihrer Entfaltung oder im Sinne der Frage, inwiefern sie eine Allegorie wie die des Fürsten oder der Frau Welt vorwegnehmen würde. Der Mundus erhält in diesem Brief Anselms von Canterbury ein Gesicht, er lächelt in betrügerischer Absicht, aber er bleibt stumm. Der Autor weigert sich, der Personifikation eine Stimme zu geben, und betont ihren hypothetischen Charakter: mundus vel aliquid eorum, quae sunt mundi. Es ist, als hätte er Angst vor dem konnotativen und ästhetischen Potenzial einer allzu wörtlich genommenen Welt-Gestalt; es ist, als würde er fürchten, ihr törichtes Lächeln könnte sich am Ende als allzu betörend erweisen. Das Recht auf Artikulation verbleibt jedenfalls ganz auf der Seite des Weltverächters. Der beklagte Mundus gilt durch dessen bloße Anklagerede als hinreichend überführt. Im Hintergrund verbirgt sich dabei abermals die Strategie der Separation: Der contemptor Mundi hat sie bereits vollzogen, und indem sich seine Anklage nicht direkt gegen den Menschen richtet, 43
‚Wenn der mundus, oder etwas von dem, was zum mundus gehört, dich anlächelt, so lächle du jenem nicht zu. Sei sicher, Bruder, er lächelt dir nicht zu, damit du, der Angelächelte, am Ende lächeln mögest; nein, er täuscht sein Lachen nur vor, damit er dich verlachen kann. Sei also, Geliebtester, immer auf der Hut, damit du ihm zuvorkommst und seinen Verrat auf ihn selbst zurückschleuderst. Und wenn jener dir trügerisch zulächelt, so verlache ihn du wahrhaftig. Und sei sicher, auf keine andere Weise wirst du ihn wahrhaftiger verlachen, als wenn du, sobald er selbst gegen dich lächelt, gegen ihn weinst.‘
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sondern eben gegen die personifizierte Welt, führt er den Weltjünger sacht an seine Seite. Der Begehrende wird Objekt der Verführung, das Begehrte agiert als das lockende Subjekt. Die Umkehrung bedeutet auch eine Umkehrung der Sündenlast. Hinter diesem „Denkfehler“ verbirgt sich ein forensisches und ein pädagogisches Kalkül: Der Mundus ist Ziel einer Anklage, der angesprochene Mensch Objekt eines pädagogischen Unternehmens. Die Sünde der Weltverliebtheit resultiert aus den Anfechtungen eines diabolisierten Mundus ridens oder irridens – aus Anfechtungen, denen der Weltjünger in seiner Unwissenheit nachgibt. Der contemptor hat daher ihm gegenüber vor allem pädagogische Arbeit zu leisten, während er gegen die Welt selbst juridisch vorgehen muss. Die Verzahnung zweier an sich konträrer Redeformen, der forensischen und der pädagogisch-paränetischen, konstituiert wesentlich den spezifischen Ton der contemptus-Tradition. Die Akzentuierung des je einen Aspekts bedeutet zugleich eine Gattungsentscheidung, so etwa in ‚De vanitate mundi et rerum transeuntium usu‘ Hugos von St. Victor (PL 176, Sp. 703ff.; um 1120/30), einem Lehrdialog in vier Büchern.44 Die Gesprächspartner sind ein mit dem Buchstaben D bezeichneter contemptor mundi und ein mit I benannter Gegenredner, an den D sein Wissen um die Hinfälligkeit des Irdischen weitergibt. Das D steht für den „Docens“, das I für den „Interrogans“ (es könnte den iuvenis ignarus mitmeinen). Die Lehrsituation ergibt sich interessanterweise zufällig aus der szenisch eingebetteten anfänglichen Klage des D gegen den mundus immundus, der uns in unserer Bindung an ihn betrüge: o munde immunde, quare sic dileximus te? [...] Ecce quomodo decepti sumus. Diese Klage ist dem I, der sie gewissermaßen en passant vernimmt, zunächst unverständlich: Quid vides, o homo?, spricht er und bittet um eine nähere Erklärung des von D Geschauten, damit auch er von der Gefahr befreit würde. Sei es aber, dass er grundlos verwirrt sei, so biete er, I, D seinen Trost an: Sin [...] vane conturbaris, forsitan consolabor te. Dass D nicht vane, sondern de vanitate Anklage führt, erhellt schon aus der folgenden Aufforderung: Consurge, et ascende, et aspice mecum, et ostendam tibi mirabilia magna! Die anschließende Schau des mundus wechselt aus dem Modus der Personifikation in den des Exemplums. I betrachtet Seefahrende, Wandernde, Reiche, Heiratende und Studierende zunächst in der Situation des Glückes und wird von D zu einer zweiten Schau angehalten, die nun das jeweils üble Ende zeigt. Die Beispielreihe vermischt dabei allegorische Exempla wie die Seefahrenden und Wandernden mit prototypischen Stationen eines „Lebensweges“. Die Erkenntnis, zu der I geführt 44
Über den Text und über Hugos Vanitas-Lehre in einem umfassenderen theologischen Zusammenhang handelt Schlette 1961.
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wird, wiederholt sich refrainartig: Video plane quod et hoc vanitas, et vanitas vanitatum est (Sp. 712A).45 Die Anklage gegen die Welt, mit der das Lehrgespräch eröffnet, mündet nicht in einen Dialog mit dem mundus, sondern in eine Betrachtung weltlicher Geschäfte, die den Weltjünger zur wahren Erkenntnis führt. Der, der den Anfechtungen der Welt ausgesetzt ist, schaut diese Erkenntnis nicht nur, sondern verbalisiert sie auch selbst – eine pädagogisch geschickte Strategie. Die Stimme, die dem mundus verweigert wird, ist dem Weltjünger zuerteilt, er formuliert auf diese Weise selbst jene Lehre, die ihm angetragen werden soll. Von der Darstellungsform der Personifikation ist in jene der Vision und der Evidenz gewechselt, die die exemplarischen Weltszenen vermitteln. Damit ist zunächst neuerlich auf den prekären Status des personifizierten Mundus verwiesen. O MUNDE IMMUNDE! – Hugos von St. Victor ‚De vanitate mundi‘ eröffnet mit der Apostrophe: O munde immunde! Der Vokativ gibt eine augustinische Formel wieder.46 Sie operiert mit dem Prinzip einer etymologia per antiphrasim, der zufolge der Name das Gegenteil dessen bezeichnet, was die Seinsweise des Benannten ist.47 Im konkreten Fall handelt es sich um eine geschickte Umkehrung der fundamentalen antiken Vorstellung von einer geordneten Welt, die im griechischen Begriff des !"#$%& und in dessen lateinischer Übertragung, dem mundus, terminologisch verdichtet ist.48 Das Geordnete, Gezierte und Saubere ist nach augustinischem Kalkül in Wahrheit nur der verschleiernde begriffliche Anschein einer gegenteiligen Entität. Was als mundus (‚Schmuck, Zierde, Reinheit‘) erscheint, ist in Wahrheit immundus (‚schmucklos, ungeziert, unrein‘). Die Formel ist insbesondere aus apologetischer Sicht schlagend, weil sie in der paradoxen 45 46
47
48
Der „Refrain“ reproduziert die bekannte Formel des alttestamentlichen Buchs ‚Kohelet‘. Vgl. u. a. Augustinus: Sermo CV (‚De verbis Evangelii Lucae‘), PL 38, Sp. 622. Im Angesicht der Ewigkeit heißt es: Quid strepis, o munde immunde? quid strepis? Zur Funktion des Begriffs im Kontext von Sündenlehre und Sündenmetaphorik Schumacher 1996, 80ff. (allgemein) und 347ff. (Mundus immundus). In der Verbindung mit mundus beschreibt immundus nicht bloß eine Metapher, sondern eine schon mit der Sprachfigur gesetzte Identität. Zum Prinzip der antiphrastischen Etymologie vgl. Isidor: ,Etymologien‘ I.xxxvii,24: Antiphrasis est sermo e contrario intellegendus, ut ,lucus‘, quia caret lucem per nimiam nemorum umbram. (‚Die Antiphrasis ist eine Rede, die aus ihrem Gegenteil zu verstehen ist, wie im Falle von „lucus“ [,Wald‘], der wegen des übermäßigen Schattens der Wälder des Lichts entbehrt.‘) Die folgenden Beispiele (Parzen, Eumeniden) konzentrieren sich auf den Sonderfall der Antiphrasis, den Euphemismus. In Isidors ,Etymologien‘ wird mundus von motus abgeleitet (weil der mundus in ständiger Bewegung sei), auf den Aspekt der Ordnung und des Schmucks aber mit Blick auf den griechischen Begriff verwiesen (vgl. III.xxix und XIII.i,1-8). Zu Begriffsgeschichte und mittelalterlichem Begriffsverständnis vgl. die allerdings etwas pauschalen Ausführungen bei Thiel 1956, 9ff.
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Definition des Substantivs durch das kontradiktorische Adjektiv die eitle Verblendung oder gar den verbrecherischen Vorsatz der antiken KosmosPhilosophie entlarvt, die positive Weltbezogenheit antiker Naturlehre mit Hilfe der christlichen Hierarchisierung von Immanenz und Transzendenz grundlegend erschüttert und dabei – unverhofft – das Tyche-Konzept der hellenistischen und spätantiken Ethik sowie das aus ihm abgeleitete Misstrauen gegen den Lauf der Welt hinter sich hat. Die ethisch-moralische Perspektive stoischer Weltverachtung, wie wir sie an Seneca und Marc Aurel kennengelernt haben, wird dabei verabsolutiert. Ausgeblendet aber ist die naturphilosophische Gewissheit, dass der Kosmos etwas Geordnetes sei – nur sie aber wusste die Unordnung einer Tyche zu kompensieren, die auch dem Stoiker sauer aufstieß. Die von Augustinus in der contradictio in adiecto „rekonstruierte“ verschleiernde Benennung des mundus gibt das Prinzip seiner christlichen Gestaltung, seiner personificatio im contemptus vor. Systematisch ist dies etwa in der pseudoaugustinischen Predigt ‚De fallacia mundi‘ (sermo XXXI, PL 40, Sp. 1290-1292) der Fall. Der Mundus firmiert hier als proditor, der das Gegenteil dessen gibt, was er verspricht: mala statt bona, mors statt vita, moeror statt gaudium, turbatio statt quies. Was Substanz hat wie die Blüte oder auch das Verlangen, verliert sie in Kürze: cito beziehungsweise velut fumus evanescit. Aus dieser antiphrastischen Konzeption ergibt sich auch die radikale Maxime, dass der fallax mundus et proditor gerade dann am meisten zu fürchten ist, wenn er lockt, nicht wenn er zurückweist (numquid non magis timendus es dum allicis, quam dum spernis?). Beachtet man die Metaphorik, die in den „Gaben“ des Mundus aufgerufen oder impliziert ist, so sind wir abermals auf Meer (quies-turbatio) und Blüte (flos vanescit) verwiesen. Es fehlt allerdings an einer klaren Strategie der personificatio, und der beklagte Mundus erscheint schließlich eher als die abstrakte Summe der im Folgenden aufgeführten Hauptsünden, zu denen er verführt. Wieder ist der forensische Grundton der Predigt offensichtlich. Dem Beklagten wird allerdings nicht nur die Rede, sondern auch die Gestalt verweigert. Die Evidenz bleibt eine verbale, sie bleibt eine Evidenz der begrifflichen Antithesen, die schon mit der anfänglichen Formel – o munde immunde – ihr ganzes rhetorisches Kapital ausspielt und sich in weiterer Folge ganz den eigentlichen Adressaten, den fratres charissimi, zuwenden kann. Zunächst als Richter angesprochen, finden sie sich in der Rolle der Schüler wieder, vor denen ein didaktisches Panorama weltlicher Hinfälligkeit und weltlicher Anfälligkeit für die Sünde entworfen wird. Der Mundus verliert seine Gestalt, noch bevor er sie in der Apostrophe eigentlich gewinnen konnte. Das einzige Körperbild, das sich im Text findet, ist jenes eines allegorischen aus den Todsünden komponierten Leibes des Teufels,
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als dessen caput die superbia erscheint.49 Der mundus verschwindet aus dem Gesichtsfeld des Klägers, in seinem Gefolge erscheinen als Beklagte Teufel und Sünden, die Welt wandelt sich von der Personifikation, die diese Sünden verkörpern oder hypostasieren könnte, wieder zum Metier teuflischer und sündhafter Anfechtungen. Der mundus, der zunächst Teil jener Mythologie zu sein verspricht, die die hierarchische Topographie zwischen Transzendenz und Immanenz bevölkert, wird zum Raum, in dem das bekannte Personal seinen Platz einnimmt. Mit einer solchen Platzanweisung schließt denn auch der Text: Nachdem er die fratres an der pädagogischen Hand durch das drastische Panorama einer verfallenen Welt geführt hat, weist er ihnen – das ‚Matthäusevangelium‘ zitierend – die Sitze im Oben zu: Venite, benedicti Patris mei, possidete regnum quod vobis paratum est ab origine mundi. Amen. Der contemptor spricht hier nicht mehr mit seiner Stimme, sondern mit der Stimme des Evangelisten, der seinerseits den Erlöser sprechen lässt.50 Die Aufforderung zur Bescheidenheit in der Welt mündet in die höchste transzendente Anmaßung, in das Versprechen, dass die, die der dargebrachten Lehre folgen, die Würde des Königreichs dort oben verdienen – und zwar nach dem Spruche keines geringeren als des himmlischen Königs selbst, dessen Urteil der contemptor vorwegnimmt, indem er sich hinter dessen Stimme und Wahrspruch verbirgt. Die Verachtung der Welt verfolgt neuerlich die Strategie einer maximalen Separation. Während Hugo von St. Victor ausgehend von der forensischen Formel „o munde immunde!“ in den Lehrdialog wechselt und eine Vision exemplarischer vanitas-Szenen vorführt, die im Umschlag von der Blüte ins Vergehen eher dem Gestus und der Emphase der Melancholie gehorchen, pflegt der Stil dieser Predigt eine Regie der Eskalation: Der mundus proditor ist die Vorverkörperung des Teufels und der Sünden. Der Text vollzieht eine unmittelbare Verknüpfung von vanitas und vitium, Welt und Sünde. Er verkürzt die Distanz zwischen dem, was Welt ist und wozu sie führen 49
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Auch hier ist die Körpermetapher nur ein Element in einem hybriden Katalog der Übertragungen: O superbia, noverca virtutum, mater vitiorum, porta inferni, magistra erroris, caput diaboli, vitiorum principium, quid inter homines facis, quid eis promittis, quod te tantum diligere demonstrant? Ecce amatores tui tam cito de altitudine cadunt. (,Oh Hochmütigkeit, Stiefmutter der Tugenden, Mutter der Laster, Tor zur Hölle, Lehrmeisterin der Verirrungen, Haupt des Teufels, Anfang aller Laster, was machst du unter den Menschen, was versprichst du ihnen, dass sie also ihre Wertschätzung für dich zur Schau stellen? Siehe, deine Liebhaber, so schnell stürzen sie aus der Höhe.‘) Als Beispiel wird Nebukadnezar genannt (ebd., Sp. 1291f.). Zitat aus Mt 25,34. Schon der Evangelientext nimmt eine zweifach verschobene sermocinatio vor: Der Evangelist lässt Jesus nicht mit seiner gewissermaßen historischen Stimme in der ersten Person sprechen, sondern mit der eschatologischen Stimme des Menschensohnes, in der dritten Person: tunc dicet rex his qui a dextris eius erunt [etc.]; nach der Einheitsübersetzung: „Dann wird der König denen auf der rechten Seite sagen: Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid, nehmt das Reich in Besitz, das seit der Erschaffung der Welt für euch bestimmt ist.“
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kann, und beschreibt damit ein äußerstes Potenzial jener Negativität, die dem contemptus mundi zu eigen ist. Die Identifizierung von mundus und vitia, die sich nicht zuletzt in den identischen Apostrophen an mundus, superbia und divitiae formuliert, bezeichnet die denkbar radikalste Form, in der sich vanitas denken und darstellen lässt. Nicht weniger radikal als die Absage ist die eschatologische Gewissheit, dass gegen das trügerische Reich des Teufels hienieden ein übergeordnetes, transzendentes Königreich in Besitz zu nehmen wäre. Indem der contemptor für seine Verheißung die Stimme des Königs des letzten Tages usurpiert, läuft er Gefahr, im Vollzug jener superbia ertappt zu werden, die er eben verdammte. Einzig die Plausibilität einer Rhetorik der Eskalation, die sich füglich der Autorität des Bibelwortes bedient, scheint ihn davor zu bewahren. Womit er letztlich eine ars mundi immundissima in Anspruch nimmt: die Redekunst. Auch hierin erweist sich diese pseudo-augustinische Predigt als täuschend echt. Schon die augustinische Apostrophe deutet den Schritt zur Personifikation an, der in der contemptus-Tradition immer gegenwärtig ist. Indem sie auf eine sermocinatio verzichtet, entschlägt sie sich allerdings einer allegorischen Verkörperung des Mundus. Denn dies zöge eine Szenographie nach sich, die der dramaturgischen Ratio der Predigt, des Traktats oder des Lehrgesprächs widersprechen würde. Die Apostrophe ist – wie ja auch das Beispiel Hugos von St. Victor zeigte – äußerst wirkungsmächtig und findet ihren Eingang auch in die deutsche memento-mori-Literatur, beispielsweise Ende des 11. Jahrhunderts bei Noker: Ja du vil ubeler mundus, wie betriugist tu uns sus! du habist uns gerichin, des sin wir allo besuichin. wir ne verlazen dih ettelichiu zit, wir verliesen sele unde lib. also lango, so wir hie lebin, got habit uns selbwala gegibin.51
Auch in dieser Anklage gegen den mundus proditor sind Hinfälligkeit und Sündhaftigkeit der Welt zur Deckung gebracht. Deutlicher als in den behandelten Traktaten ist vom Menschen ein Akt der Entscheidung gefordert, der dessen Selbstverantwortlichkeit betont. Ihr ist freilich jene Erkenntnis vorgängig, die der contemptor vermittelt. Nicht anders agiert das ,Memento mori‘ des sogenannten Heinrich von Melk (um 1160/80). Es führt im zweiten Teil nun aber zwei hypostatische Verkörperungen des Mundus vor, die in ihrer Ikonographie das konkretisieren, was beispielsweise in der pseudoaugustinischen Predigt auf dem abstrakten metaphorischen Niveau des flos vanescens verblieb: Der 51
Str. 18; ‚Ja, du gar schlimmer Mundus, wie betrügst du uns so! / Du hast uns beherrscht, dadurch sind wir alle betrogen. / Wenn wir dich nicht beizeiten verlassen, verlieren wir Seele und Leib. / Solange wir hier leben, hat Gott uns die freie Entscheidung (d.h. freien Willen) gegeben.‘ (Text und Übers.: Die deutsche Literatur I.1, 522f.)
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contemptor adressiert ein wip wolgetan (597ff.) und einen reichen vnt edelen ivngelinc (663ff.), also gewissermaßen jene menschlichen Repräsentanten der Weltjüngerschaft, die hinter Frau Welt und Fürsten der Welt zu stehen scheinen. Das wip wolgetan wird zu einer Betrachtung ihres hingeschiedenen Gatten angewiesen. An seiner (offenbar noch frischen) Leiche wird ein Bild entworfen, das die Ikonographie des alten und des toten Leibes auf groteske Weise vermischt und dabei auch das satirische Motiv einer Mesalliance zwischen der jungen Schönen und dem hässlichen Alten/Toten einkreuzt. Der schöne Körper des einstigen jungen Werbers ist dahin, die schöne Gewandung ist unnütz geworden, in der Mitte bläht sich der Bauch wie ein Segel – dies aber offenbar nicht erst seit seinem Tode. Der einstige Liebhaber nimmt schon als alternder Gatte die Gestalt eines Toten an. Er muss – in den Augen seiner jungen Frau (wie ihr das der contemptor pikanterweise und ohne sie selbst der Zeitlichkeit preiszugeben unterstellt) – hienieden als eine „defunktionalisierte“ Leiche gewandelt sein, freilich in anderer Weise, als Anselm es gelehrt hatte. Ein Motiv verdient nicht nur ihre Aufmerksamkeit, sondern auch die unsere: „Sieh an, wie die Zunge in seinem Munde liegt, mit der er so angenehm Liebeslieder zu singen wusste“ (da mit er div trivt liet chunde/ behagenlichen singen; 612f.). Nur wenig versteckt entzündet sich der genüssliche Sarkasmus des Weltverächters vor allem an der Eitelkeit weltlich-höfischer Kulturalität – wobei er vergisst, dass sich die trivt liet zwar nicht mehr von dieser, wohl aber von anderen Zungen ohne Umstände weiter singen ließen. Was bei der Betrachtung des toten Gatten durch seine junge Frau nur unterschwellig zu fassen ist, wird im Falle des zweiten Exemplums manifest: Der reiche Jüngling soll den Deckel des Grabes seines Vaters heben und dessen wurmzerfressene Leiche betrachten. An ihrer statt ergreift dezidiert der contemptor das Wort (ich spriche fvr in vnt mit im; 695). Der Hypostase des Mundus, dem Leichnam des toten Reichen, ist die sermocinatio vergönnt, und als Spiegelbild seines Sohnes schildert er ihm in grellen Farben die Verdammnis, die er gewärtigt und die sein Sohn gewärtigen werde, wenn er sich nicht rechtzeitig bekehre. Diese spezifischen Szenen wissen die vanitas-Topik in jene konkreten Körperbilder zu überführen, die in den mundus-Apostrophen bloß ansatzweise zu fassen sind (im Mundus ridens oder in parabolischen Analogien wie dem flos vanescens). Die Personifikation des mundus im geistlichen Traktat, in der Predigt und im Lehrdialog bleibt weitgehend eine Stilfigur der Emphase. Sie ist als rhetorische Strategie ausgewiesen und wird nicht ausimaginiert (mundus, vel aliquid eorum, quae sunt mundi, beeilt sich Anselm klarzustellen). Die sprechende Leiche ist hingegen eine Konkretisierung, die eine griffige ikonische Ausgestaltung ermöglicht. Sie ersetzt den abstrakten und letztlich auch diffusen Begriff des mundus durch den konkre-
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ten Körper, der – indem er wider die „Naturwahrscheinlichkeit“ zum Sprechen gebracht wird – zugleich einen exemplarischen Status erhält. Die Leiche wird zur metonymischen Repräsentation des mundus immundus. In ihrer Exemplarität verbindet sie den universalen Geltungsanspruch des personifizierten Mundus mit der imaginativen Wirkung des (toten) Menschenleibs. In der Relation zwischen Vater und Sohn deutet sich zudem jene ikonische Annäherung von schönem Schein und verwesendem Sein an, die im Fürsten der Welt gegen Ende des 13. Jahrhunderts zum Sujet hochgotischer Plastik wird, die in Frau Welt aber schon um 1200 als poetische Imagination zu fassen ist. MULIER AETHIOPISSA: KÖRPER, GESCHLECHT UND NARRATION. – Verkörperungen des mundus bedürfen einer spezifischen Szenographie. Dies dokumentieren zumal jene exempla, in denen die motivgeschichtliche Forschung wesentliche Vorstufen der mittelhochdeutschen Welt-Allegorie erkennen wollte.52 Ein solcher Fall liegt in der Exempelerzählung von der sogenannten Äthiopierin vor, die im fünften Buch der ,Vitas Patrum‘ (es steht unter dem Titel ,de fornicatione‘) berichtet wird (cap. V.23, PL 73, Sp. 879):53 Ein namenloser Mann zieht mit seinem eben der Mutterbrust entwöhnten Sohn in die Einsamkeit, um als Mönch zu leben. Als der Sohn erwachsen ist, sieht er sich den Anfechtungen der Dämonen ausgesetzt und will in die Welt (saeculum) zurückkehren. Der Vater rät ihm zu einem vierzigtägigen Aufenthalt in der Wüste. Der Sohn gehorcht und kann darbend und arbeitend seine Begierden überwinden. Nach zwanzig Tagen sieht er ein teuflisches Werk über sich kommen: Es erscheint ihm eine weibliche Gestalt velut mulier Aethiopissa, stinkend und schändlich anzusehen. Der Jüngling kann den Gestank nicht ertragen und weist die Erscheinung von sich, die sich nun folgendermaßen erklärt: In den Herzen der Männer erscheine sie schön; seines Gehorsams wegen habe Gott ihr aber nicht erlaubt, ihn, den Jüngling, zu verführen, sondern sie gezwungen, ihm ihren Gestank zu offenbaren. Der Jüngling erhebt sich, 52 53
Die folgenden Textstellen nennen schon Closs 1934, 15f. und Thiel 1956, 26ff., freilich ohne genauer auf sie einzugehen. Es handelt sich um eine in Textbestand und Textschichten stark differierende Sammlung von legendarischen Lebensbeschreibungen, Lehrgesprächen und Exempelerzählungen über die frühchristlichen Eremiten und Wüstenmönche des Nahen Ostens. Die Antoniuslegende ist der bekannteste Repräsentant dieses Typus. Die Sammlung wächst im Laufe der Überlieferungsgeschichte beständig an, die lateinischen Fassungen beruhen auf griechischen Vorbildern, die bis ins vierte Jahrhundert zurückreichen und in mehreren Phasen ins Lateinische übertragen wurden, s.v. Vitas Patrum (U. Williams), LMA VIII, Sp. 1765-1768. Über Ideologie und Praxis des Anachoretentums handelt allgemein Sloterdijk 1993, 86ff., mit guter Analyse der hier wirksamen Phantasmen von sensationeller Entsagung und athletischer Askese.
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dankt Gott, kehrt heim zu seinem Vater und versichert ihm, dass er nun nicht mehr in die Welt zurückkehren wolle.54 Tatsächlich lässt sich manches an dieser mulier Aethiopissa als Präfiguration der hochmittelalterlichen vanitas-Allegorie, namentlich von Frau Welt, lesen: Da ist die Dichotomie zwischen schönem Schein und hässlichem Sein, im Vordergrund steht allerdings der olfaktorische, weniger der visuelle Aspekt. Dieser ist im Namen der Gestalt, der auf die Schwärze verweist, und im Begriff turpis aspectu bloß angedeutet, aber nicht expliziter Grund der apotropäischen Geste des Jünglings. Die Dominanz des Gestanks verbindet sich gut mit dem diabolischen Ursprung der Erscheinung, die zugleich als „Konstrukt“, als „Werkstück“ des Teufels ausgewiesen ist (opus quoddam diabolicum). Szenographisch handelt es sich um eine Epiphanie, allerdings – und damit sind wir endgültig auf eine entscheidende Differenz zur Welt-Begegnung verwiesen – eröffnet sich diese „Erscheinung“ ihrem Gegenüber von vornherein. Der Anfechtung ist somit leicht zu widerstehen, das entspricht ja auch der legendarischen Tradition: Dem Heiligen, dies belegt am deutlichsten die Antoniuslegende, zeigt sich der Dämon gewöhnlich in seiner wahren Gestalt, er vermag sich vor ihm nicht zu verstellen. Auch im Falle dieses Jünglings von sicher zweifelhafterem Wesen ist die Separation längst gelungen, die entscheidende conversio vom saeculum ist mit dem Gang in die Wüste vollzogen. Die Erscheinung der mulier Aethiopissa dokumentiert die Umkehr in ihrem Endzustand, in ihr gelangt der gelungene Vollzug der Weltabkehr zur geschauten Evidenz. Dies wird nicht zuletzt durch die eindeutige, gerade nicht ambivalente Signifikanz des imaginären weiblichen Körpers erwiesen. Aufschlussreich – im Sinne der Separation – ist die Erklärung, die die mulier über sich selbst abgibt: Nicht zu erkennen sei ihre wahre, scheußliche Gestalt nur dann, wenn sie in den Herzen der Männer wohne (in cordis hominum dulcis appareo); wer sie aus seinem Herzen verbannt habe, dem könne sie sich nur in ihrer wahren Gestalt zeigen. 54
Venit quidam in Scythi aliquando, ut fieret monachus. Qui etiam attulit filium suum nuper ablactatum. Qui cum factus esset juvenis, coeperunt impugnare daemones et sollicitare eum. Et dixit patri suo: Vado ad saeculum, quia non possum carnales concupiscentias sustinere. Pater autem ejus consolabatur eum. Dixit ergo ille juvenis: Jam sustinere non valeo, pater; dimitte me redire ad saeculum. Dixit ei pater suus: Audi me, fili, adhuc semel, et tolle tibi quadraginta panes, et folia palmarum dierum quadraginta, et vade in eremo interiore, et esto ibi quadraginta diebus, et voluntas Dei fiet. Qui obediens patri suo, surrexit et abiit in eremo, et mansit ibi, laborans et faciens plectas de palmis siccis, et panem siccum comedens. Et cum ibi diebus viginti quiesceret, ecce vidit opus quoddam diabolicum venire super se; et stetit coram ipso velut mulier Aethiopissa, fetida et turpis aspectu, ita ut fetorem ejus sufferre non posset, et abjiciebat eam a se. Et illa dicebat ei: Ego sum quae in cordibus hominum dulcis appareo; sed propter obedientiam tuam, et laborem quem sustines, non me permisit Deus seducere te, sed innotui tibi fetorem meum. Ille autem surrexit, et gratias agens Deo, venit ad patrem suum, et dixit ei: Jam nolo ire ad saeculum, pater. Vidi enim operationem diaboli et fetorem ejus. Cognoverat autem et pater ejus de hoc ipso, et dixit ei: Si mansisses quadraginta dies, et custodisses usque in finem mandatum meum, majora habuisti videre.
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Die Identität dieser Gestalt bleibt nun relativ vage: Benannt wird sie toponymisch – mulier Aethiopissa55 –, schon ihrem Namen nach ist sie also keine eindeutige Allegorisation, auch wenn sie als opus diabolicum ausgewiesen ist und natürlich jenes saeculum verkörpert, dem sich der Jüngling ursprünglich zuwenden wollte. So ließe sich von einer prä-allegorischen Offenheit der Exempelerzählung sprechen: Sie manifestiert sich abgesehen von der Gestalt der Aethiopissa auch in der Unbestimmtheit von Zeit (aliquando) und handelnden Personen (quidam); benannt ist einzig der Ort des Geschehens, in Scythi, der sich vermutlich auf Skythopolis (Bethsan) im oberen Jordantal, in der Nähe von Pella bezieht. Doch dies erscheint nebensächlich im Vergleich zum eigentlichen Abschluss der Erzählung, den wir unterschlagen haben: Der Jüngling kehrt bereits nach zwanzig Tagen aus der Wüste zurück. Auf seinen Bericht antwortet der Vater nun nicht mit Lob, sondern mit einem Vorwurf, dessen Gewicht und Reichweite sich allerdings nicht erschließen will: „Wärest du vierzig Tage geblieben, und hättest du mein Gebot bis zum Ende beachtet, so hättest du Größeres noch geschaut!“ Der letzte Satz gibt vor, das Eigentliche wäre noch zu erwarten und der Sinn des Exemplums erschlösse sich erst dann, wenn dieses Eigentliche auch eintreten würde. Was es aber wäre, darüber lässt uns der Text im Unklaren, und so führt er schließlich jene Evidenz ad absurdum, die er zunächst zu geben schien: Denn was sollte die Vision nach zwanzig Tagen im Vergleich zu den erwarteten majora wiegen, was bietet sie im Vergleich zu dieser niemals einzulösenden Verheißung anderes als minora? Nicht zufällig ist es gerade dieser letzte Satz, den das ,Speculum ecclesiae‘ des Honorius Augustodunensis (PL 172, Sp. 1058B/C) tilgt. Im Sinne der Pragmatik dieser Predigtsammlung dient das Exemplum als eines unter vielen, die auf den Weg des wahren Lebens führen sollen (Multa alia exempla deducunt nos ad vitae itinera, heißt es abschließend). Die Fassung des ,Speculum‘ reduziert die Komplexitäten, indem sie expliziert, was der Text der ,Vitas Patrum‘ in einer prä-allegorischen Schwebe hält: Die ehemalige Aethiopissa zeigt sich dem Jüngling hier nicht bloß hässlich, sondern auch nackt; von ihm abgewiesen verweist sie nicht auf jene, in deren Herzen sie schön erscheine, sondern beteuert, es sei genau sie, die er zuvor begehrt habe. Schließlich gibt sie ihre allegorische Identität preis: Sie sei Bild der luxuria (luxuriae imago), der auch er verfallen wäre, hätte er dem Vater nicht
55
An einen möglichen Zusammenhang mit Moses’ äthiopischer Gattin denkt Thiel 1956, 27f. Sie wurde als Präfiguration der Ecclesia gedeutet, einer Ecclesia, die auch die „unreinen“ gentes, die Heiden also, repräsentiere, denen sich das Christentum geöffnet habe. Hinter ihrer hässlichen Gestalt verberge sich also wahre Schönheit, womit freilich eine genau gegenteilige allegorische Semantik zur Aethiopissa der ,Vitas Patrum‘ gegeben wäre.
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gehorcht.56 (Im Kontext bleibt die Äthiopierin darin nicht die einzige, als luxuriae imago fungiert unter anderem noch Medusa.) Gestrichen ist im ‚Speculum‘ auch der Begriff des saeculum, die Perspektive der Negativität gegenüber dem Weltlichen engt sich damit ein auf das sündhafte Leben in der Welt. Dieses verkörpert sich – und das wäre die wesentliche Analogie zu Frau Welt – in der Gestalt des defizienten weiblichen Körpers. Dessen Defizienz beschreibt sich hier allerdings weniger oder zumindest nicht explizit im Modus der Vergänglichkeit, in einem Bild des verwesenden Leichnams, sondern in einem Körper, der die symbolischen Zeichen des Dämonischen an sich trägt: Schwärze (nicht explizit im ‚Speculum‘), Hässlichkeit (turpis bzw. taetra), schamlose Nacktheit (nicht in den ‚Vitas‘) und Gestank.57 Die besondere Signifikanz der mittelhochdeutschen vanitas-Allegorie besteht in der aktuell sichtbaren ikonischen Verbindung von schönem Anschein und verwesendem Seinszustand. Dieser Aspekt fehlt hier. Schöner Schein und eitles, hässliches Sein sind nicht in ein er Schau zusammengeführt. Und Thema der Schau ist nicht die Täuschung, sondern die in ihr immer schon offenbare Erkenntnis, die Gewissheit. Der Allegorie der luxuria eignet daher im Unterschied zu jener der vanitas kein identifikatorisches Potenzial, damit auch nicht die Ambivalenz einer latenten Affirmation des Weltlichen, wie sie in den höfischen Welt-Texten, zumal bei Walther von der Vogelweide und bei Konrad von Würzburg, zu fassen war. Die Denkform des contemptus ist daher auch nicht wie im Darstellungsmodus der Frau Welt umkehrbar, sondern absolut. Die Allegorie selbst bildet ferner nicht den zentralen dramaturgischen Focus der Narration, sondern das Medium einer narrativ bereits vollzogenen, ikonisch bloß nochmals affirmierten Evidenz. Beide Darstellungsformen treffen sich allerdings in der negativen Besetzung des Körpers: Er ist defizient und vor allem weiblich. Die luxuriaAllegorien und luxuria-Exempla repräsentieren dabei immer nur die eine Seite, sei es die hässliche, sei es die schöne. Für diese beibehaltene Diffe56
57
Inde legitur quod quidam patrum parvulum filium in heremo nutrierit, quem adultum luxuria titillaverit. Pater autem jussit eum in heremum secedere et solus jejuniis et orationibus XL diebus vacare. Expletis vers XX diebus vidit tetram et nimis fetidam mulierem nudam super se irruere; cujus fetorem ferre non valens coepit eam a se repellere. At illa: „Cur, inquit, me tantum exhorrescis cujus amore tantum inardescis. Ego enim sum luxuriae imago, quae dulcis in hominum cordibus appareo, et nisi patri tuo obedisses, sicut et alii a me prostratus esses.“ Ille vero grates Deo retulit qui eum a spiritu fornicationis eripuit. Multa alia exempla deducunt nos ad vitae itinera. Ein später Reflex des Exemplums könnte im übrigen in den Luxuria-Epiphanien bei Ariost und Grimmelshausen vorliegen: Ruggiero erkennt in der erst schönen Alcina das hässliche, teuflische Weib (‚Orlando furioso‘ VII.lxxiii); auf Simplicissimus’ Gebet hin entpuppt sich die auf der Insel gestrandete Köchin als teuflisches Weib und verschwindet unter Gestank (,Simplicissimus‘, Continuatio, cap. XX).
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renz sei auf die erörterten bildnerischen Repräsentationen am Portal der Église St. Pierre in Moissac (Abb. 18) und in der Vorhalle des Freiburger Münsters (Abb. 17) verwiesen. Mit dem verfallenden Körper und den an den Brüsten saugenden Schlangen werden im ersten Fall Defizienz und Negativität des Weltlichen am weiblichen Körper unmittelbar ikonisch ausgewiesen. Im zweiten Fall werden sie durch Attribute (Bocksfell), Gesten (Venus pudica, symbolische Penetration) und Ensemble (Engel mit Spruchband: Ne intretis, princeps/filius mundi) sichergestellt. Der umständliche allegorische Apparat deutet dabei wie gesagt darauf hin, dass in der Ästhetizität des Kunstwerks eine Gefahr erkannt wurde: nicht die einer Fehl d e u t u n g, sondern die einer Fehl w i r k u n g der negativ besetzten Kunstschönheit. Als Repräsentationen einer „schönen“ Luxuria lassen sich auch biblische Gestalten wie Dalila, Isabel und Salome58 sowie von vornherein allegorische Gestalten wie die Hure Babylon lesen. Am weiblichen Körperbild der luxuria-Allegorie ist dabei immer kontrastiv der Zustand abzulesen, in dem sich das männliche Subjekt der Sünde befindet: für den, der im Status des Verderbens lebt (wie etwa der Freiburger „Fürst der Welt“), erscheint sie schön, im Status des Heiles epiphaniert sie in ihrer ganzen Hässlichkeit.59 Damit weicht die Ikonologie dieser geistlichen Allegorie entscheidend von jener der höfischen Herrin Welt ab, deren allegorischer Körper in den Text- und Bildzeugnissen Schönheit und Verfall simultan verbindet und somit in einem Zustand der Ambivalenz bleibt. Beiden Allegorien – geistlicher Luxuria und höfischer Vanitas – ist jedoch eine signifikante Verschiebung gemeinsam: Die Gefahr der Versündigung in und mit der Welt wird zum Vorsatz des Objekts umgedeutet, der Begehrende erscheint als der aus Mangel an Erkenntnis und Einsicht Verführte. Die Initiative zur Sünde liegt nicht beim (männlichen) Subjekt, 58
59
Hierzu Thiel 1956, 21 mit Verweis auf die Deutung im ‚Liber sententiarum‘: Puellae quae evertunt sensum nostrum, tres sunt. Teneritudo carnis nostrae, quae est Dalila quae Samsoni eruit oculos. Amoenitas mundialis gloriae, quae est Jezabel, et Naboth occidit. Diffidentia futurae vitae, quae est filia Herodiadis, et aufert caput prophetae (‚Liber sententiarum‘ 117, PL 184, Sp. 1149). ,Es gibt drei Mädchen, die unseren Verstand vernichten. Die Schwäche unseres Fleisches, die Dalila ist, die Samson die Augen ausstach. Die Annehmlichkeit des weltlichen Ruhmes, die Jezabel ist und Naboth zu Tode brachte. Das Misstrauen gegenüber dem künftigen Leben, die die Tochter der Herodias ist und das Haupt des Propheten hinwegtrug.‘ Die Strategie der Allegorisierung ist für sich bemerkenswert. Bernhard bietet keine allegorische Deutung der biblischen Gestalten, sondern stellt ihnen als Personifikationen (puellae) jene Sündenbegriffe voran, die sie exemplifizieren sollen. Die biblischen Gestalten erscheinen auf diese Weise nicht als Exempla, sondern als historische Repräsentationen der allegorischen puellae. Hierzu fügen sich auch die beiden von Stammler 1959, 36f. angeführten allegorischen Disputationen der Lingua dolosa und des Amor Dei sowie der Gloria inanis mit einem Mönch über das Problem der Weltbezogenheit bzw. über die Verführung zur Welt. In beiden Fällen gibt es keine ambivalenten Körperbilder.
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sondern beim (weiblichen) Objekt des Begehrens. Diese Fehlprojektion lässt sich vorzüglich am weiblichen Körper repräsentieren. Dabei ist die Spekulation müßig, ob das grammatische Geschlecht über Art und Charakter der Allegorie entscheidet oder ob eine Denkform, die erst in den kategorialen Bahnen des Geschlechts zu ihrer Prägnanz findet, sozusagen immer wie von selbst auf jenen Begriff stößt, der ihr eine adäquate Repräsentation ermöglicht (und das wäre hier, im lateinischen und geistlichen Genre eben luxuria, dort, im deutschen und säkularen eben diu werlt). In jedem Fall sollte klar geworden sein, dass es sich in der Relation zwischen mundus und werlt nicht um e i n e n Weg handelt, schon gar nicht um einen einfachen, und dass für die höfische vanitas-Allegorie nicht eine simple Inversion des allegorischen Geschlechts genügen würde. Dies ist schon deshalb nicht möglich, weil es eine entsprechende feste Semantik oder Signifikanz nicht gibt, wie die Übertragung des vanitas-Schemas auf Ecclesia in einem Text des 14. Jahrhunderts zeigt. Die Ikonographie soll den heruntergekommenen Zustand der Kirche im Schisma bezeichnen, und gibt Ecclesia selbst Anlass zur Klage.60 Ziel dieser Klage wäre nun eine Umkehr, die – wollte man sie allegorisch repräsentieren – zur Wiederherstellung des schönen allegorischen Leibes aus dem Zustand seiner Verfallenheit führen müsste: Das Bild einer absoluten Negativität, das im Falle der Luxuria eine Unumkehrbarkeit, einen gesicherten und festen Seinsausdruck beschreibt, ist im Falle der verwesenden Ecclesia auf ein bestimmtes historisches Stadium bezogen, es repräsentiert ein Bild des Übergangs. Diese Verschiebung deutet auf die flexible Semantik des entsprechenden allegorischen Körperschemas (schöner Schein – hässliches Sein) hin. SCHLUSSFOLGERUNGEN. – Schon dieser skizzenhafte Durchgang verweist auf die unterschiedlichen Modi, auf die Pluralität und das Potential an Möglichkeiten, in denen sich vanitas und contemptus mundi im Kontext eines mittelalterlichen theologischen Diskurses denken und darstellen lassen. Dass sie – ebenso wie die grundlegende Idee des Problems oder genauer gesagt die Vorstellung, dass es hier ein Problem gäbe – keineswegs genuin mittelalterliche Erfindungen sind, zeigt die Metaphorik von Meer und Wanderschaft, die bereits in der Antike vielschichtig gestaltet wird. Sie bringt zumal in der Chronotopik der Seefahrt das chaotische Moment ins Bild, das die Welt bedeutet: Die Bedrohlichkeit des Raumes manifestiert sich in seiner Weite, die den lauernden Gefahren genügend verborgene Orte bietet; wie der Raum beschaffen sei, ist ungewiss. Die Gefährlichkeit der Zeit besteht in der Unvorhersehbarkeit des Umschlags der Meeresruhe in den Sturm und in der andauernden Bedrohung bis zur 60
Stammler 1959, 49f.
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Ankunft im Hafen; wie diese Zeit bemessen sei, bleibt ebenso unklar. Man könnte die Seefahrtsmetaphorik auch als Dramatisierung der peregrinatio, der Wanderschaft über Land, verstehen, die die irdische Existenz vor allem an die Vorstellung der Fremdheit und des Übergangs bindet. In beiden Fällen ist das Ziel aus christlicher Perspektive die transzendente Heimat, die es zu erreichen gilt, und zwar wiederum in Unkenntnis des Wo und des Wann. Auch sie hat im platonischen Konzept der Metoikesis ein einflussreiches antikes Vorbild. Ausgeblendet bleibt dabei die Frage, warum überhaupt zu wandern wäre. Immerhin gäbe es ja einen hypothetischen Weg, der ohne Umstände nach Hause führen würde: Niemals geboren zu sein oder eben alsbald – christlich gedacht – nicht in den Hades, sondern hinaufzukehren. Diesem Alsbald stünde das christliche Suizidverbot entgegen. Was der contemptor mundi, wenigstens in Anselms Traktat, empfiehlt – „hienieden“ eine Existenz als lebende Leiche zu fristen –, ließe sich ironischerweise als die symbolische Übertretung dieses Suizidverbots verstehen. Schließlich könnte sich im ostentativen Insistieren auf dem Wandern-Müssen ein heimliches Wollen verbergen, so wie sich eben auch in der weiblichen Allegorisation des (zumal erotischen) Weltbegehrens und in seiner apotropäischen Besetzung durch Attribute oder Signifikanten des Sündhaften eine veritable Affinität (eine ästhetische vor allem) verbirgt. Nichts nämlich lässt sich künstlerisch besser repräsentieren als etwas, das zugleich als Anziehendes und Gefürchtetes, Verbotenes imaginiert wird. Selbst im Gestus der Separation, der die metaphorischen und appellativen Strategien des contemptus durchzieht, ließe sich also immer der Rest einer latenten Anhänglichkeit entdecken, könnte man auf die bewahrte Spur jener antiken catena stoßen, von der bei Seneca die Rede ist; und sei es auch, dass sie sich nur noch „formal“ in den rhetorischen Mitteln und in deren Widerständigkeit gegen eine eindeutige Sinngebung, in der Anfälligkeit zum Bild- oder Gedankenbruch verbergen würde. Ein Beispiel gibt die Metapher der Süße, die Gottesliebe und Weltliebe in Anselms Brief an Herluin verbindet. Die metaphorische Analogie ruft dem contemptor offenbar die Vorstellung einer tatsächlich gefährlichen Nähe in Erinnerung: Wie sonst wäre das kausallogische Paradox zu erklären, dass ausgerechnet dem Schmecken der Gottesliebe, mit dem Herluin angeblich begonnen habe, eine re-conversio zur Süße der Welt folgen könnte? Im übrigen bezeichnet sich in dieser Parallelität ein weiteres Paradox des contemptus, das zu einem contemptus seiner selbst führen könnte: Dass er nämlich auf die Repräsentation Gottes in seiner Schöpfung radikal vergisst. Über die creatio
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ließe sich auf eine Tangente zwischen Gottes- und Weltliebe geraten, die gerade nicht kontradiktorisch, sondern affirmativ sein müsste.61 Die Personifikation des Mundus lässt sich als Alternative zu seiner raum-zeitlichen Repräsentation in Meer und Wanderschaft auffassen. Sie erscheint zunächst als eine rhetorische Strategie, als eine emphatische Redefigur und erst in einem weiteren Sinn als ein Tropus, der einen abstrakten Begriff in das kategorial Andere einer anthropomorphen Gestalt überführt. Die entsprechenden Verfahren der Apostrophe und der Personifikation korrespondieren im Grunde mit den höfischen Frau-WeltSzenen, zugleich spielen sie aber auf einem konträren Terrain, auf einer Bühne, die von vornherein klare Hierarchien aufstellt und eine klare Separation vornimmt, auch in den Adressaten der Traktate und Predigten selbst: Es sind die fratres, die ohnehin schon Separierten, an die sich das „Venite benedicti Patris mei possidete paratum vobis regnum!“ wendet. Gerade dem apostrophierten Mundus werden im Unterschied zu Frau Welt Körper und Stimme verweigert, seine Evidenz ist eine verbale: die Evidenz der forensisch oder pädagogisch-paränetisch ausgeschlachteten Antithesen. Eine somatische Evidenz findet sich nicht oder nur in Spuren, im Mundus ridens etwa, dessen Plastizität sich freilich weniger aus ihm selbst, sondern aus der Plastizität des weinenden und als Leichnam lebenden Weltverächters ergibt. Die Personifikation ermöglicht zudem entsprechende Hypostasierungen des mundus durch Allegorien der Sünde, die in den behandelten Beispielen freilich ebenso rhetorisch bleiben und ikonisch nicht ausgestaltet werden. Körperbilder, körperliche Repräsentationen der vanitas verlangen nach einer spezifischen Szenographie und entwickeln semantische Signaturen, die wesentlich mit der Kategorie des Geschlechts operieren. Unabhängig von ihr ist die Leiblichkeit der Allegorie nicht zu denken, vor allem wenn sie eine poetische Semantik evoziert, die den engeren allegorischen Zweck auch überschreiten kann. Beim sogenannten Heinrich von Melk figuriert der männliche Mundus im Bild des toten, gealterten Gatten, zu dessen Betrachtung die junge Witwe angehalten wird. Das memento mori verbindet sich dabei mit einer Liebestopik und Liebeskasuistik, wie sie der erotische Schwank kultivieren wird, und schließt den Weltjünger mit dem Frauensklaven62 kurz. Die weibliche Personifikation der luxuria, die die deutlichsten Analogien zur höfischen vanitas-Allegorie aufweist, kennt zwei divergente Darstel61
62
Hierzu Groh 2003; ein mittelhochdeutsches Beispiel gibt das Weltlob Friedrichs von Sonnenburg (,Schült ich gots hôhiu wunderwerc‘; in: Die deutsche Literatur I.1, 491-493), der auf konzise Weise diese Paradoxie des contemptus mundi benennt; nicht die Welt, sondern das Handeln des Menschen in ihr sei zu beklagen. Zum Topos Maurer 1953 und Schnell 1985, 475ff.
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lungsformen, die sich nicht verbinden: Auf der einen Seite ist dies der intakte, verfänglich schöne Körper, dessen negative Signifikation durch entsprechende Attribute (Bocksfell und figürliches Ensemble in Freiburg) oder narrative Kontexte (biblische Exempla) gewährleistet wird; auf der anderen Seite der verwesende, hässliche und stinkende Leib, der ebenfalls von entsprechenden Attributen (Kröten, Schlangen) besetzt sein kann (mulier Aethiopissa, Luxuria von Moissac). An der literarischen oder bildnerischen Repräsentation der luxuria lassen sich dabei Inversionen und Umbesetzungen ablesen, die die Komplexität der Allegorie poetisch, theologisch und gleichsam diskurspsychologisch erhöhen: Subjekt und Objekt der sündhaften Begierde sind geschlechtlich codiert und vertauschen die Rollen. Das männliche Begehren richtet sich auf einen weiblichen Leib, der es in einem Akt der Verführung zuerst provoziert. Die textuellen wie bildnerischen Allegorien der luxuria entwickeln eine Deixis, die den Status des männlichen Subjekts manifest werden lässt: Die schöne Luxuria zeigt es im Zustand der Sünde; die hässliche, stinkende tritt dem Bekehrten gegenüber. Diese Verteilung belegt, dass das, was die motivgeschichtliche Forschung als Ursprung (hier konkret der WeltAllegorie) imaginiert, immer schon eine Übertragung voraussetzt: Es gibt keine ursächliche, primäre Bedeutung des verfallenden Körpers. Selbst dort, wo sie am ehesten zu vermuten wäre, in der „individuellen“ und „litteralen“ Leiche, ist sie nicht zu finden, da es – wie Heinrich von Melk lehrt – schon diese „litterale“ Leiche nicht gibt. Der verfallende, verwesende Leib kann nicht sich selbst bedeuten, er muss allegorisch gelesen werden, sei es als Zeichen der Hinfälligkeit, sei es als Zeichen der Unreinheit und Sündhaftigkeit dessen, der dieser Leib war. Der Schrecken beim Anblick des Leichnams kann nur durch eine entsprechende negative Signifikation gebändigt werden, solange er nicht einfach im Bild der schönen Leiche ausgeblendet wird, wie an Dante und Petrarca zu sehen sein wird. Neben den männlichen Imaginationen des Leichnams bei Heinrich von Melk, der, wenn auch nicht den Mundus, so den filius mundi bezeichnet, findet sich auch die weibliche Leiche, etwa in jener kurzen Exempelerzählung aus den ,Gesta Romanorum‘ (Oesterley, Nr. 56), die von der Vision eines Eremiten berichtet, der gemeinsam mit einem Bruder von der Mutter im Ehebruch empfangen und geboren worden ist. Auf seine Gebete hin zeigt ihm Gott das Bild der Mutter: Sie erscheint ihm mit zwei Kröten und einer Schlange, also als Schauderbild der luxuria, und bedeutet dabei zuvorderst den unbarmherzigen Gott, denn die Kröten lassen sich wohl auf nicht anderes beziehen als auf die unkeuschen Früchte jenes Verkehrs,
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den die Schlange nur allzu durchsichtig bezeichnet.63 Im Unterschied zum Jüngling aus den ‚Vitas Patrum‘ darf sich dieser Eremit noch nicht einmal sicher sein, dass er trotz seiner Weltabsage der Verdammnis entronnen wäre. In Anbetracht dieser divergenten rhetorischen und hermeneutischen Potenziale gilt noch für den rigidesten contemptus: Weder ist es ihm möglich, ohne Bildlichkeit zu denken, noch ihrer Ambivalenz zu entrinnen. Die Idee, dass es hinter einer Repräsentation, hinter einem Signifikanten, ein „gewisses“ Signifikat geben könnte, erweist sich als Fiktion. Nicht erst dieser Grundsatz verweist uns auf die Fiktionen der Motivgeschichte: Wir fassen sie in den Annahmen, dass es eine feste Chronologie und eine klare Typologie der hermeneutischen, rhetorischen und metaphorologischen Verfahren in der Geschichte des contemptus mundi gäbe und dass sie als Genealogie, als Stammbaum rekonstruierbar wären. Blickt man auf die entsprechenden Strategien und ihren historischen Ort und liest man die Texte genau, so zeigt sich, dass wir nicht von Genealogien, sondern nur von Gene-Analogien, von Semantiken sprechen können, die sich in einer grundlegenden Denkform kreuzen. Man könnte auch mit einem Begriff Jacques Derridas operieren und von einem „allgemeinen Äquivalent“ sprechen.64 Dieses allgemeine Äquivalent verwiese uns auf ein transzendentales Signifikat, in dem wir in unserem Falle die Transzendenz selbst, den Primat des Metaphysischen und dessen fingierte Präsenz erkennen könnten. Es stellt insofern eine „geneanalogische“ Basis dar, als sich in ihr die Strategien des contemptus mundi bündeln und sich quasi-systemisch betrachten lassen. Schon ein Benennungsversuch dieser Denkform, etwa als „Verdruss über die trügerische Hinfälligkeit der Welt“, macht freilich unmittelbar einsichtig, dass es sich nicht um ein Rekonstrukt, sondern um ein Konstrukt handelt. Das „geneanalogische“ Äquivalent des contemptus mundi wäre nicht als ein „Gedanke“ zu missverstehen, der den entsprechenden Strategien seiner textuellen Realisation und Repräsentation vorgängig wäre, der ihnen als feste Prägung vorliegen würde und bloß aufgegriffen werden müsste. Vielmehr bahnt sich dieses Äquivalent immer erst in den Darstellungsformen an, die es formulieren. Es konstituiert sich – in der Terminologie Derridas gesprochen – als „Spur“ der Bild- und Redestrategie des konkreten Textes. 63
64
De adulterio. Mulier quedam duos filios in adulterio concepit et peperit. Primus filius factus est heremita et pro matre intime in oracionibus suis rogavit. Deus vero preces eius exaudiuit, ostendit ei matrem suam, que ei apparuit cum duobus buffonibus et serpente. (,Über Ehebruch. Eine Frau empfing und gebar im Ehebruch zwei Söhne. Der erste Sohn wurde Eremit und bat in seinen Gebeten inständig für seine Mutter. Gott aber erhörte seine Bitten und zeigte ihm seine Mutter, die ihm mit zwei Kröten und einer Schlange erschien.‘) Derrida 1993, 73. Bei Derrida bezieht sich der Begriff auf die Semantik des Gebens und der Gabe.
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Das Äquivalent ist nur in pluralen Denkformen existent, die sich wiederum nicht unabhängig von ihren Darstellungsformen, von den Rhetoriken, Metaphoriken und Allegoriken, entwickeln, sondern sich erst in ihnen erzeugen. Korrespondenzen zwischen den einzelnen Strategien der Konzeption und Repräsentation des contemptus mundi, zwischen den Typen, die wir ebenfalls bloß idealiter entwickeln können und die sich vom einzelnen Text und von der Textgattung her (Traktat, Dialog, Predigt) keineswegs ausschließen müssen, die keine unbedingte und ausschließende Entscheidung fordern – diese Korrespondenzen existieren wiederum nicht in der Weise, dass das eine Konzept oder die eine Metaphorik das oder die andere bedingen würde. Nicht ist die metaphorische Repräsentation der vanitas im Bild von navigatio oder peregrinatio den personifizierenden Strategien in der Apostrophe oder im allegorischen Körperbild der Luxuria vorgängig oder umgekehrt.65 In diesem Zusammenhang wird auch die Rekonstruktion einer klaren epochalen Signifikanz problematisch. Tendenziell kann die Differenz zwischen antiker und mittelalterlicher Weltverachtung in ihren beiden divergenten „Äquivalenten“ ermessen werden, in Ataraxie und begrifflicher Abstraktion einerseits, in Sehnsucht nach der Transzendenz und in einer sie formulierenden Mythologie andererseits. Zugleich suggeriert auch diese Opposition eine Homogenität von zwei Diskurssystemen, eines antiken und eines mittelalterlichen, die in Wahrheit, nämlich der Evidenz der Texte zufolge, nicht gegeben ist. Das war und wäre ausführlicher noch an den Interferenzen und Synkretismen zwischen antik-philosophischer und christlich-theologischer Weltkritik zu zeigen.66 Die Unmöglichkeit und Unangemessenheit, die besprochenen Konstellationen und Semantiken des contemptus mundi in eine klare chronologische und genealogische Abfolge zu übersetzen, verweist uns auch für die Frage des Zusammenhangs mit der höfischen Welt-Allegorie eher auf die entscheidenden Differenzen. Grundlegend ist der Kontrast zwischen Separation auf der einen und Involviertsein auf der anderen Seite. Er findet seinen Niederschlag in einer Differenz der Dramaturgie, des Personals, der Stimmen, der Rhetorik, der Metaphorik und der Chronotopik. Beginnen wir bei den Stimmen, so steht der mehr oder weniger souveränen Stimme des contemptor die involvierte Stimme des Sängers oder des Erzählers gegenüber, die sich den Status der Überlegenheit erst im Dialog, 65 66
Vgl. zu derartigen epistemologischen Fiktionen des Ursprungs, der eindeutigen Chronologien und der Totalität Derrida 1976, 434ff. Für den mittelalterlichen contemptus mundi wurde dies an den behandelten Texten unmittelbar sinnfällig; für den Hellenismus gibt etwa das Buch ,Kohelet‘ ein Beispiel, das auf die zeitgenössische Philosophie referiert; stoische Ataraxie und Bilder des Schauders verbindet die besprochene Erwähnung der Mumie bei Marc Aurel.
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in der Begegnung mit der Welt oder in deren Nachvollzug mühsam und krisenhaft – der Selbsttäuschung und Selbstüberführung ausgesetzt – erarbeiten muss. Die Warnung vor der Weltsüße spricht der aus, der von ihr gekostet und der sie nicht nur wie der Briefsteller bei Anselm aus sicherer theologischer Entfernung geschaut hat. Die Abkehr von der Welt steht unter dem gefährlichen Vorzeichen einer jederzeit möglichen Rückkehr (Walthers ,Abschied von Frau Welt‘) oder einer Separation, die den Adressaten gerade nicht oder noch nicht zugemutet wird (so in Walthers ,Alterston‘). Die Welt selbst bleibt nicht stumm, sondern gewinnt in ihrer Rede an Kontur – in einer Rede, die sie nicht bloß zum Instrument jener Evidenz degradiert, die am Ende klar vor Augen steht (wie im Falle der mulier Aethiopissa). Vielmehr versteht sie in einer Weise zu sprechen, die nicht mit der Sicherheit der sakralen Allegorie auf Trug und teuflische Verführung weist, sondern eher auf ein Einverständnis, das das Begehren des Weltjüngers stärker in den Vordergrund rückt als die Absicht der Verführung seitens der Allegorie: Walthers wie Konrads Frau Welt spricht mit der Stimme der vrouwe des Hohen Sangs und löst damit eine Wunschvorstellung ein, die aus der Imagination ihres männlichen Gegenübers kommt. Deutlich zu sehen ist dies auch am Erzählerkommentar über die Schönheit der Dame, die Wirnt von Grafenberg in ‚Der Welt Lohn‘ erscheint: Nicht die Welt selbst inszeniert sich als Liebesgöttin, sondern sie wird vom Erzähler als solche imaginiert. Die Wahrnehmung der Allegorie folgt einer anderen Perspektive und gehorcht einer anderen Dramaturgie: Der geistliche Weltverächter blickt auf den mundus als auf etwas, das ihm fremd ist, dies selbst noch in einer allegorischen Szene, die der höfischen Weltbegegnung am nächsten ist, in der Exempelerzählung vom Jüngling in der Wüste. Der höfische Weltjünger ist jedoch als lyrisches Subjekt, als Figur oder als Erzählerstimme in der Welt, wie nicht zuletzt die Metaphorik von Dienst und Lohn dokumentiert. Sie ist die Metaphorik einer Bindung, die in jenem Sujet, aus dem sie kommt, in der höfischen Lyrik unbedingt ist. Weltliebe erweist sich im contemptus mundi als eine immer schon erkannte und überwundene Torheit. In Weltnovelle und Weltlied steht die absolute Gültigkeit dieser These in Frage. Die Relativität der Weltverachtung resultiert aus ihrer zeitlich markierten Opportunität (etwa am Ende des Lebensweges) und sie ermöglicht das poetisch kokette Spiel mit der Option zur Rückkehr (Walthers ,Abschied‘) oder einer möglicherweise nie vollziehbaren Umkehr, wie sie Oswalds Eingeständnis des klein vernünfteclichen Lebens beschreibt. Dies führt uns zur Differenz in der Chronotopik: Die Stimme des contemptor spricht aus einem Zeit-Raum, der von einer klaren Hierarchie zwischen Immanenz und Transzendenz definiert ist, und er bezieht in und
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mit seiner Rede schon vor der Zeit den Platz, den er sich und denen, die seinem Rat folgen, in einem Akt der Selbstversprechung, in der Usurpation der evangelischen Verheißung zuspricht: „Venite benedicti in regnum meum!“ Der singende oder erzählende Weltjünger hingegen weiß um sein gewerldet-Sein, das nach den Worten von Gottfrieds ‚Tristan‘ zugleich einen Akt der eigenen Positionierung in dieser Welt beschreibt.67 Er kennt nicht das klösterliche Asyl, den irdischen Übergangsraum in eine heilsame Transzendenz, wie ihn die separierten fratres besitzen; er kennt nicht die Existenzform als lebende Leiche, sondern bleibt selbst im Vollzug der conversio noch in der Welt, in einem unsicheren Zwischenraum, der die Sehnsucht nach der Transzendenz schließlich und ironischerweise als Sehnsucht nach dem verworfenen bilde und nach einer Wiedereinkehr in dieses formulieren kann (Walthers ,Alterston‘). Natürlich verweist uns der Blick auf die geistlich-theologische Tradition des contemptus mundi auf konzeptionelle und ikonische Strategien, die der höfischen vanitas-Topik und vanitas-Allegorie vorgängig sind: Auf die Metaphorik des Wanderns und des Seefahrens, des Irrens und der Einkehr im „Wirtshaus“ einer sündhaften Welt, auf Personifizierungsweisen wie die Apostrophe, auf Körperbilder und -schemata wie den lachenden Mundus oder auf die Epiphanie hässlichen Seins im Anschein einer schönen Gestalt, damit auch auf Dramaturgien und Ikonographien des Umschlags (Verschleiern – Enthüllen) sowie auf die mit ihnen verbundenen Konzepte der conversio (Erkennen, Verwerfen, Abwenden). Die contemptus-Tradition liefert aber weder metaphorisch noch hermeneutisch feste Denk- und Darstellungsformen, die es für die weltliche Literatur bloß zu übernehmen gälte. Gerade die Differenz der Gattungen, der Redeformen und Bildvorstellungen, vor allem aber die Divergenz zwischen Separation und Involviertsein zeigen vielmehr an, dass es sich um einen komplexen Vorgang handelt, wenn das skizzierte „allgemeine Äquivalent“ theologischer vanitasKonzepte einer genuin weltlichen, poetischen Metaphorologie eingeschrieben werden soll – einer Metaphorologie, die ursprünglich etwas anderes besagt: etwas, das im Kontrast zu dem steht, was von einem theologischen Standpunkt aus formuliert werden müsste. Ihre geneanalogische Basis findet die höfische vanitas-Tradition folglich nicht bloß oder nicht einmal in erster Linie im theologischen contemptus, sondern in den Verfahren höfischer Poesie. Wenn diese unter der Perspektive von Weltkritik und Weltverachtung allegorisch gelesen werden, zeigen sich die Denkformen und Darstellungsformen eines theologischen Diskurses nicht einfach übernommen, sondern werden in gene-analogischer Abgleichung mit ihnen neue ikonische und diskursive Konzepte konfiguriert. 67
Vgl. unten Kap. III.2.
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Schon der poetische Diskurs selbst hat Theoreme und Bilder entwickelt, die eine gene-analogische Affinität zu Figurationen der vanitas zeigen. Um solche poetische Prä-Figurationen der vanitas soll es im Folgenden gehen. So viel lässt sich vorwegnehmen: Ihre generischen, dramaturgischen und ikonischen Erscheinungsformen (z.B. Pastourelle, Märe, Hohe Minne, Personifikation) weisen a priori Referenzen auf, die von einer litteralen Ebene auf eine allegorisierende verweisen, wie an den Referenzen des Minnesangs zu sehen ist: namentlich an der soziokulturellen, der anthropologischen und der metaphysischen Referenz (Dienst-LohnSchema, Eros als Subjekterfahrung, metaphysische Codierung der Liebe). Indem sich die weltliche Literatur des vanitas-Problems annimmt, schreibt sie sich einen Diskurs ein, dem sie sich zunächst entzieht, der ihr äußerlich ist, den sie in ihrer Referentialität aber immer schon metonymisch tangiert, wie beispielsweise an der Divergenz zwischen Frauen- und Gottesliebe im Kreuzlied manifest wird. Die poetische Deixis der vanitas scheint – wenn wir Deixis als Verbindung von Sprechen und Zeigen, von Äußerung und Repräsentation verstehen – grundlegend vielschichtiger definiert als jene des contemptus. Wenn wir schließlich vom Begriff der Referentialität an die Referenzen erinnert werden, die wir dem contemptus selbst zugesprochen haben, so können wir feststellen, dass auch hier jener Optimismus einer einfach und eindeutig zu ermittelnden historischen Signifikanz zu verabschieden ist, wie er die frühere Forschung bestimmte. Weder kann – wie dies beispielsweise August Closs tut68 – von einem auffälligen Anstieg der contemptus-Tradition ab dem 11. Jahrhundert die Rede sein, noch die immer wieder zitierte Cluniazensische Reform als ihr historisches Kausalereignis benannt werden – oder es müsste eine solche Annahme überlieferungsstatistisch erst einmal nachgewiesen werden. Auch spiegelt sich im „weltfeindlichen Pessimismus“ nicht einfach „der Kampf der Kirche gegen den frohen Geist des Rittertums“.69 Unsere Beispiele zeigten, dass sich Emphase und Grad der Weltabkehr weder periodisch bemessen noch chronologisch den eingefahrenen Epochensignaturen zuweisen lassen (was im übrigen zumeist in einem zirkulären Verfahren geschieht: von der contemptus-Tradition wird auf die weltverachtende Epoche geschlossen, diese wiederum erklärt jene). Damit soll keineswegs geleugnet werden, dass es spezifische historische Signaturen gibt und dass diese – allerdings mit deutlich komplexeren Verfahren und im methodologischen Wissen um die Unsicherheiten – rekonstruierbar sind. Natürlich eignet schon dem princeps mundi der Bibel 68 69
Closs 1934, 2f. Vgl. auch Thiel 1956, 37 und Stammler 1959, passim. Closs, ebd.
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eine spezifische historische Referenz, natürlich haben Augustinus’ Begriff des mundus immundus und seine rhetorische Arretierung im Vokativ der Apostrophe historische und biographische Relevanz (sie fügen sich gut in den apologetischen Tenor patristischen Schrifttums und in das vitaSchema des Sünderheiligen, beziehungsweise konstituieren sie dessen spezifische Rhetorik mit). Natürlich wäre die auch politische Brisanz eines so wirkungsmächtigen Traktats wie jenes von Lothar de Segni, des nachmaligen Papstes Innozenz III., nicht zu bestreiten.70 Zugleich scheint eine fest gefügte Topik des contemptus, zu der auch die auctoritas der kanonischen Autoren wie eben Augustinus beiträgt, die Texte bei aller Differenz aber immer auf einen Grundton christlicher Weltverdammung einzustimmen und ihrer historischen, generischen und poetischen Singularität entraten zu lassen. Außerdem entzieht die dominante Topik einer möglichen Zunahme und Verbreitung des contemptus von vornherein die Schärfe des Unerhörten, weil sie in Wahrheit bloß die Inflation des immer schon Vernommenen wäre, die intensivierende Wiederholung eines sonst gar nicht mehr beachteten Grundtons. Zudem ließe sich eine solche Inflation auch als Form der Verschleierung lesen: Eine besonders ostentative Weltflucht könnte durchaus einer latenten Weltsucht korrespondieren. Dass eine solche Dialektik nicht erst die Essenz einer ubiquitären barocken vanitasThematik sein muss, hat schon Johan Huizinga angedeutet.71 Wenn wir unsere Beispiele dennoch wenigstens im Ansatz chronologisch rekapitulieren, so ließe sich die unterschiedliche Tendenz, die der mulier Aethiopissa aus den ,Vitas Patrum‘ und der Luxuria des ,Speculum Ecclesiae‘ abzulesen wäre, als hermeneutische Klärung des Überschüssigen, als „bessere“ Beherrschung der Sinngebung verstehen. Aber das mag weniger seine epochalen als seine intertextuellen Gründe haben: Der zweite „Mythograph“ geht mit seinem „Mythos“ zumeist strenger um als der erste. Zudem bietet das ,Speculum‘ ein Florilegium für die Prediger und zielt schon deshalb auf eindeutige Signifikanz und nicht auf narrativen Überschuss. Insgesamt können wir von einer a priori – oder wenigstens seit Augustinus und den ,Vitas Patrum‘ – gegebenen Verfügbarkeit der entsprechenden diskursiven und ikonischen Verfahren des contemptus ausgehen. Eher würde es sich anbieten, von einer z u n e h m e n d e n Verfügbarkeit, von einer Bändigung des kontemptorischen „Terrors“ aufgrund seiner habituellen Wiederholung zu sprechen; doch auch dies würde die chronologischen Konstrukte nur von einer textgenetischen auf eine toposund diskursgeschichtliche verschieben. Was sich feststellen lässt, zumal an 70 71
Zur historischen Wirkung Kiening 1998, 334ff. Huizinga 1975, 195.
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den bildnerischen Zeugnissen um 1300, ist nicht eine Veränderung der kontemptorischen Absicht, wohl aber eine Angleichung der zu verwerfenden Welt-Allegorie an Sinnbilder und Repräsentationen jener höfischen Kulturalität, die aus theologischer Sicht diese Welt am ehesten repräsentiert und den Primat der Transzendenz zu unterlaufen droht. Diese Sinnbilder sind nun aber gerade keine Erfindungen des geistlichen Diskurses, sondern Prägungen einer säkularen Kultur, Prägungen einer neuen Ästhetik, die auch in der Sakralkunst Einzug hält und die – wie etwa in Straßburg – die Tugenden in Körpern bildet, deren Sinnlichkeit über die Moralität dessen hinausweist, was sie bezeichnen sollen. Insofern wäre im Folgenden weniger nach den Säkularisaten in der weltlichen Literatur als nach den Sakralisaten zu fragen, derer sich ein geistlicher Diskurs, zumal ein so präziser wie der des contemptus mundi erfolgreich bedient, erfolgreich auch insofern, als er die Motivgeschichte dazu verleitet, diese „Verschleierungen“ in einer allzu einsträngigen Sicht zu übersehen. ZWEI ERZÄHLUNGEN. – In der ersten Druckfassung der ,Gesta Romanorum‘ (Utrecht, um 1472) wird folgende Geschichte überliefert (Oesterley, Cap. 143; ,De timore extremi judicii‘): Ein König hat das Gesetz erlassen, dass vor dem Hause eines Mannes, der zu einem sofortigen Tode verurteilt sei, des Morgens Trompeten geblasen werden. Der Delinquent habe daraufhin in schwarzen Kleidern vor dem königlichen Gericht zu erscheinen. Als sich dieser König nun bei einem großen Gastmahl in freudloser Stimmung zeigt, bittet man seinen Bruder, nach der Ursache seines Missmuts zu fragen. Der König verspricht für den folgenden Tag eine Antwort. Am Morgen lässt er vor dem Hause des Bruders die Trompeten blasen, dieser erinnert sich an das Gesetz und findet sich bestürzt am Hofe ein, muss seine schwarzen Kleider ablegen und auf einem wackeligen, über einer tiefen Grube aufgestellten Stuhle Platz nehmen. Über seinem Haupt wird ein Schwert an einem seidenen Faden aufgehängt. An den vier Seiten des Delinquenten – vorne, hinten, rechts und links – werden vier Männer mit Schwertern postiert, die unter Androhung des Todes zustoßen müssen, wenn es der König befiehlt. Dieser lässt nun Musik aufspielen und eine festliche Tafel anrichten und fragt seinen Bruder, warum er bei all diesen Freuden nicht fröhlich sein wolle. Der Bruder weiß dies mit dem Hinweis auf seine missliche Lage leicht zu begründen. Der König erklärt daraufhin, er habe dieses Arrangement eingerichtet, um die versprochene Antwort zu geben, und formuliert folgende, auf ihn selbst bezogene Allegorese: Der wackelige Stuhl bezeichne die vier Elemente, auf denen er mit seinem zerbrechlichen Körper (corpore fragili) über dem Graben der Hölle (puteus infernalis; p. 499,37f.) sitze. Das Schwert über ihm sei das göttliche Gericht, der Mann mit dem Schwert vor ihm
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der Tod, der hinter ihm die Sünden, die er in der Welt begangen habe, der rechts von ihm der Teufel und der links von ihm das Gewürm, das sein Fleisch nach dem Tode zerfressen werde. Wenn oder weil er dies alles fortwährend bedenke, werde er sich niemals freuen können (cum omnia ista considero, numquam gaudere potero; p. 500,8). Und wenn er, der Bruder, schon vor ihm, dem Sterblichen, solche Angst habe, um wieviel mehr müsse dann er, der König, seinen Schöpfer fürchten. Er solle nun gehen und keine so dummen Fragen mehr stellen (Vade ergo et noli amplius tales questiones querere a me! p. 500,10ff.). Der Bruder erhebt sich und beteuert seinen festen Vorsatz, diesem Gebote nach zu handeln, alle aber, die davon hören, loben die umständlich inszenierte Antwort des Königs. An dieser Geschichte könnte uns vielerlei interessieren, zuallererst etwa die Tatsache, dass das, was sich als Anekdote oder Exemplum ausgibt, in Wahrheit nichts anderes ist, als das, worauf seine narrativen Fäden zulaufen: ein allegorisches Bild, eine Allegorie der Vanitas und der Sündengefahr des Menschenlebens. Die Narrativierung des Bildes führt zu einigen Ungereimtheiten, zu narrativen Offenheiten oder Eröffnungen des Textes, die seine allegorische Signifikanz zu überschreiten oder zu hintergehen drohen. Die Plausibilität des zentralen allegorischen Ensembles, seine ikonische und hermeneutische Eindrücklichkeit, weiß diese Offenheiten allerdings hinreichend zu kaschieren: Da ist zunächst das undurchschaubare Gesetz des plötzlichen, vom König verfügten Todes, das dem Delinquenten ein schauderhaftes Ritual der Selbstunterwerfung aufzwingt und noch im äußersten Moment drastischen Gehorsam erzwingt. Welchen Anlass aber hätte einer wirklich, sich diesem Gesetz zu unterwerfen? Natürlich dient es der dramaturgischen und wirkungsästhetischen Intensivierung, ist es ein Zeichen jener Willkür und Unerbittlichkeit, die das allegorische Zentralbild als Seinsweise menschlicher Existenz inszeniert (was wiederum ein schlechtes Bild auf den mitgemeinten großen König, Gott, wirft). Wir dürfen seine narrative Widersprüchlichkeit aber doch ernst nehmen, auch wenn sie sozusagen sekundär ist, wenn sie das ist, was dem Text passiert, wenn der narrative Widerspruch der Preis für die dramaturgische Wirkung ist. Auch das Gastmahl erscheint zunächst als ein füglicher Ausgangspunkt für die narrative Einbettung der Allegorie (zumal es das schöne Kontrastbild zu der schrecklichen Szene am folgenden Morgen abgibt und in diesem Wechsel genau jener bedrohliche Umschlag nachgestaltet ist, den die Allegorie bezeichnet). Wiederum steht dieser Funktionalität des Motivs aber seine narrative Eigendynamik wenigstens latent im Wege: Das Fest wird immerhin vom König ausgerichtet; dass ihn der Bruder nach dem Grund seines Unbehagens fragt, ist nicht nur deshalb so legitim wie einfühlsam. Hätte der König, was er am Morgen mit dem Bruder insze-
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niert, in Form einer Parabel zum besten gegeben, es wäre wohl ebenso überzeugend, wenngleich nicht so eindringlich gewesen. Freilich, der König hätte sein Fest auf diese Weise ruiniert. Die drastische szenische Umsetzung der Parabel in einem Tableau vivant ist aber nicht nur die wirkungsästhetisch schlagendere Antwort, sondern auch eine Demonstration von Macht und Willkür. Herrschaftstheoretisch ist die Darstellung der (transzendenten) Bedrohung des Königs am Untertanen zugleich eine Demonstration der unbedingten (immanenten) Macht des Königs, die zudem am latenten Konkurrenten, dem Bruder, vollzogen wird, am engsten Vertrauten, dem man am meisten zu misstrauen hat. Wir fassen darin sozusagen den sensus historicus der Inszenierung, dessen Lehre die absolute Unterwerfung (oder aber auch die absolute Unterworfenheit) unter den Souverän wäre. Welche Konsequenz aber wäre aus dieser allegorischen Lehre zu ziehen? Wie erklärt sich die Zufriedenheit der Untertanen? Die narrativ transformierte Allegorie erlaubt zumindest die Frage, wie man sich eine „Nachgeschichte“ zu denken hätte. Darf es von nun an keine Feste mehr geben oder darf bei den künftigen Festen keiner der Gäste eine andere Miene aufsetzen als der griesgrämige König, weil sie nun ebenso Wissende sind wie er? Oder geht es nur darum, die Erkenntnis des Königs symbolisch zu vollziehen, hat sie sich damit erledigt und es mag wieder gefeiert und gelacht werden? Warum aber lacht dann nicht auch der König oder wird er es in Hinkunft wieder tun? Kann also die transzendente Gewissheit von einem immanenten Pragmatismus über- oder auch hintergangen werden – etwa in der Art der homerischen Weltverzweiflung, die in ein Lob des Festes als des drittbesten Weges mündet, der jenen bleibt, die weder so glücklich waren, nicht geboren zu werden, noch einmal geboren alsbald zum „Aïs“ hinabsteigen konnten? Dies alles ließe sich eingehend diskutieren, in unserem Zusammenhang wird allerdings die Allegorie selbst am meisten interessieren. Wir können sie nämlich als allegorische Darstellung der semantischen Möglichkeiten des contemptus mundi begreifen. Die Anekdote vom griesgrämigen König, der sich mit einem allegorischen Tableau vivant zu erklären weiß, ist alt. Schon Cicero berichtet in seinen ,Tusculanae disputationes‘ (5.21,61) von Dionysios II., dem Tyrannen von Syrakus, er habe seinem Höfling Damokles, nachdem dieser ihn glücklich gepriesen hätte, ein üppiges Mahl bereiten, über seinem Haupt aber ein Schwert an einem Faden aufhängen lassen, damit er das vermeintliche Glück nachvollziehen könne, in dem der Herrscher lebe.72 Die viel 72
Vgl. u.a. auch Horaz, ,Oden‘ 3.1,17. Die Anekdote wird ferner beim ersten ,Mythographus Vaticanus‘ (I.128) berichtet, ihre Bekanntheit im Mittelalter belegt eine Stelle in Konrads von Würzburg ,Trojanerkrieg‘, wo sie auf Priamus angewandt wird (5450ff.); s.v. Damocles, LAG, 198.
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umständlichere Inszenierung in den ,Gesta Romanorum‘ erklärt sich aus einer komplizierteren Signifikanz, die wiederum aus den darzustellenden Aspekten der vana gloria mundi und des contemptus mundi resultiert. Die „einfache“ Einrichtung des hängenden Damoklesschwertes vervielfacht sich: Zunächst ist das Darüber in ein Darunter weitergedacht: Dem drohenden Schwert oben entspricht der klaffende Graben unten, der Grab und Höllenschlund zugleich symbolisiert. Die Änderung des Bühnenaufbaus entspricht der hierarchischen christlichen Topographie einer zwischen negativer und positiver Transzendenz schwebenden Sphäre der Immanenz. Dem fragilen Körper des Menschen, der in der Nacktheit des königlichen Bruders sinnfällig wird, entspricht die Fragilität der von den wackligen Sesselbeinen symbolisierten vier Elemente. Die Korrespondenz zwischen der brüchigen Integrität des Körpers und dem unfesten Zustand der Elemente ließe sich als ein Relikt der etwa bei Marc Aurel gegebenen Idee auffassen, dass sich der tote Leib in den indifferenten Zustand einer Allmaterie auflöse (ohne dabei den positiven Sinn des Wiedereingangs in eine neue Potentialität materiellen Werdens mitzuerinnern). Jedenfalls fließt mit den Elementen ein naturwissenschaftlicher Diskurs ein, der dem metaphysisch-moralischen des contemptus fremd ist. Zugleich verrät sich hier der Anspruch jeder Allegorese, am allegorischen Bild nichts – und seien es nur die Sesselbeine – unausgelegt zu lassen. Dies auch auf die Gefahr hin, dass die Geschlossenheit der allegorischen Signifikation aufgebrochen wird, weil sich die bildnerische Repräsentation ihrer diskursiven Beherrschung immer erfolgreich entzieht. Die Wiederholung des Schwertmotivs durch die vier Seitengestalten verweist uns mit den Personifikationen von Tod, Sünde und Verwesung und mit der Gestalt des Teufels auf die christliche Transzendenzmythologie. Dabei rechnen die Schwerter unterschiedlichen Kategorien zu: Sie symbolisieren zwei physiologische und zwei metaphysische Bedrohungen, denen die menschliche Existenz ausgesetzt ist. Den physiologischen Schwertern ist nicht zu entrinnen, sie schlagen in jedem Falle zu. Denkt man sie nicht im Sinne der üblichen allegorischen Unschärfe, sondern wirklich systematisch durch, so entbehrt die gesamte Apparatur nicht einer gewissen Ironie: Denn was, wenn das Schwert der Sünde als erstes zuschlägt – stürzt der Getroffene dann mitsamt dem Gestühl in den Graben und haben die Schwerter von Tod, Verwesung und Teufel das Nachsehen? Gibt es eine Rivalität zwischen den analogen Prinzipien von Tod und Verwesung einerseits, Teufel und Sünde andererseits? Oder agieren sie einträchtig und verraten sich dabei als wenigstens redundante Vervielfachungen, die aufgrund der vier Seiten des menschlichen Körpers notwendig sind, womit sich wiederum die allegorische Lehre als Dienerin des Bildes erwiese und nicht umgekehrt, wie es sein sollte? Wenn ferner eines
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der vier Schwerter zuschlägt, vermag das göttliche Schwert über dem Haupte dann überhaupt noch einen präzisen Schlag zu führen oder entgeht der Delinquent gerade ihm? Und schließlich: Gehorchen die allegorischen Schwertträger wie ihre menschlichen Repräsentanten ebenfalls nur unter schwersten Androhungen dem Befehl ihres Königs, Gottes selbst? Dass Gott dem Tod Anweisung gibt, wann er zuzuschlagen habe, ginge noch hin, wie aber steht es um Sünde und Teufel? Die ikonische Repräsentation ist ständig dabei, den ihr unterstellten Sinn zu hintergehen. Insofern mögen die Paradoxien dieser narrativen Allegorie zugleich die Paradoxien christlicher vanitas-Vorstellung und mundus-Kritik bezeichnen. Die vier Schwerter beschreiben zudem gewissermaßen die vier Hauptrichtungen auf einer semantischen Windrose, nach der die Tendenz zu bemessen wäre, die die jeweilige Klage über die Hinfälligkeit alles Weltlichen, zumal des menschlichen Leibes, nehmen kann: zur Bedrohung durch den Tod als der neutralsten Option, zum Schauderbild der Verwesung, zum Schreckensbild der Sünde oder zur Identifizierung von Hinfälligkeit und diabolischer Verfallenheit.73 In der narrativen Einbettung der Allegorie, in der Abfolge von Fest und simuliertem Todesurteil verrät sich schließlich die für den contemptus typische Synchronisierung von Freude und Tod, Schönheit und Vergänglichkeit des Weltlichen. Die andere Erzählung findet sich ebenfalls in Oesterleys ‚Gesta‘Edition (cap. 202; ,Exemplum quod debemus relinquere mundum‘), zählt aber nicht zum Kernbestand der ,Gesta Romanorum‘. Sie ist schnell referiert und wir kennen sie bereits: Ein ganz den weltlichen Belangen zugekehrter Ritter ergeht sich in einem Garten und begegnet einer schönen Dame. Sie will ihm, der oft ihre Vorderseite (anteriora) betrachtet habe, auch ihre Rückseite (posteriora) zeigen und dreht sich um. Dem in Ansehung von Gewürm und verfaultem Fleisch entsetzten Ritter gibt sich die Gestalt als gloria mundi zu erkennen. Das Exemplum verrät sich unschwer als Palimpsest der Weltnovelle Konrads von Würzburg. Robert Priebsch wollte in einer ihm zugrunde liegenden früheren Fassung jedoch deren Vorbild erkennen – eine so unnötige wie unbeweisbare Konstruktion, die wie besprochen die poetologische und intertextuelle Evidenz der Texte ignoriert.74 Sie verweist uns abschließend auf die Unergiebigkeit motivge73
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Es hat einen gewissen Reiz, die Anordnung nach einer Signifikanz der Himmelsrichtungen zu denken: Im Falle eines orientierten Kompasses läge der Tod im Osten (er ermöglicht die Auferstehung), die Verwesung im Norden, die Sünde im Westen, der Teufel im Süden (der Hitze wegen – der Allegoriker weiß alle semantischen Schwierigkeiten zu meistern); im Falle einer Nordung läge der Tod im Süden (der Milde wegen – denn der Tod ist in dieser Gruppe noch das harmloseste), die Verwesung im Osten, im Norden die Sünde und im Westen der Teufel. Oben Kap. I.2, 56ff.
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II. Allegorien und Allegoresen
schichtlicher Genealogien. Was uns interessieren muss, ist freilich die szenische Einbettung: Der Ritter ist dabei, sich spazierend zu ergehen, die Raumregie entspricht jener der Pastourelle oder auch der Minneallegorie. Szene und Gestalten erweisen sich als Sakralisate einer Topik, die die höfische Poesie geprägt und überliefert hat. Und um diese „Gene-Analogien“ der vanitas in der weltlichen Poesie selbst soll es uns im Folgenden zu tun sein.
3. Präfigurationen der vanitas in der hochmittelalterlichen Lyrik FIGUREN DER SOUVERÄNITÄT I: FORTUNA. – Fortune plango vulnera / stillantibus ocellis (,Ich beklage die Wunden der Fortuna mit Augen voller Tränen‘) lautet das Incipit des Planctus Fortunae, den Lied 16 der ,Carmina Burana‘, das Mittelstück in der Reihe der Fortuna-Lieder CB 14-18, formuliert. Ob es sich um eine Klage über die Wunden der Fortuna oder über die Wunden, die Fortuna zufügt, handelt, bleibt zunächst in der Schwebe. Erst das folgende Verspaar formuliert den planctus in die Eindeutigkeit: quod sua michi munera / subtrahit rebellis (,weil sie mir ihre Gaben wegnimmt, die Empörerin‘). Dennoch ist die doppelte Lesbarkeit des Genitivs Fortune am Liedanfang – als genitivus obiectivus oder subiectivus – nicht ohne Bedeutung: Der Text dissoziiert das, was die persönliche fortuna eines individuellen Lebens sein könnte, von einer überindividuellen Instanz, von Fortuna als Allegorie eines immanenten Prinzips, die den Verlauf des Lebenswegs durch Zuteilung oder Entzug ihrer Gaben („Addition“ oder „Subtraktion“, vgl. 1,4: subtrahit) bestimmt. Jene „persönliche“ Fortuna figuriert im Folgenden als Occasio, die ihrerseits leiblich imaginiert wird: Vorne trägt sie Haare, hinten ist sie kahl. Damit ist wiederum ein Bild des Umschlags gegeben, das über das Schema des Körpers zwei differente Zeitzustände – ein glückliches Vorher und ein desillusionierendes Nachher – so knapp wie möglich zusammenführt. Diachrone Differenz wird in ein (Körper-)Bild der Simultaneität gezwungen.1 1
Die Allegorie der Occasio ist die römische Entsprechung zum griechischen Kairos. Sie ist entweder ihm entsprechend männlich oder (v.a. später) weiblich gedacht. Die allegorische Darstellung kann sich in letzterem Falle der Tyche/Fortuna annähern, lockiger Scheitel und kahler Hinterkopf bilden das für sie typische Allegorem; s.v. Occasio (H. von Geisau), DKP, Bd. 4, Sp. 226. Von den unterschiedlichen Fortuna-Allegorien des Mittelalters handelt mit Blick auf Frau Welt Skowronek 1964. Die Arbeit orientiert sich an der motivgeschichtlichen Methode und versucht aus Textbruchstücken eine Typologie zu entwickeln, ohne sie entsprechend zu kontextualisieren. Ziel ist der Nachweis, dass die „Doppelseitigkeit“ der Welt-Allegorie auf Fortuna zurückzuführen sei. Mir hingegen geht es um einen bestimmten allegorischen Typus, den der souveränen Fortuna, die dem Körperbild der Frau Welt gerade kontrastiert. Sie stellt prinzipiell eine differente Figuration weltlicher vanitas dar, zumal dann, wenn man das Verhältnis der allegorischen Gestalt zur „individuellen“ Existenz betrachtet. Gegen die Denkform der Finalität, die sich in Frau Welt repräsentiert, ist in Fortuna eine Denkform der Zyklizität entworfen.
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II. Allegorien und Allegoresen
Bezeichnend für die grundlegende Ambivalenz des Liedes ist die relativierende Partikel: plerumque sequitur Occasio calvata – zumeist, nicht immer, erweist sich das lockige Glück als hinten kahl. Der Text entzieht sich über solche Formeln der rigiden Weltverachtung des contemptus mundi und findet zu einem Stil der Ambivalenz auf ikonischer wie hermeneutischer Ebene. Die prononcierte Ich-Stimme gibt dabei a priori vor, dass es eine bestimmte, das „bloß“ Exemplarische transzendierende Biographie sei, die hier Anlass zur Klage gebe. Die zweite Strophe weist in der Ausmalung dieser Biographie auf den Typus des Königs (schon die Betitelung Fortunas als rebellis, als Empörerin zielt in diese Richtung), lässt sich aber zugleich auf jeden anderen Lebensweg beziehen: „Ich war emporgehoben auf Fortunas Thron gesessen (sederam elatus), mit der bunten Blumenkrone der (Lebens-)Blüte geziert (prosperitatis vario / flore coronatus).“ Die Metaphorik der Blüte und das Attribut varius zu flos sind nicht ohne Ironie: Im Kontext eines planctus Fortunae weisen sie zwangsweise auf die metaphorische Kehrseite, auf das Verblühen hin, das der Blüte zwingend folgt und das im Bild- und Denkschema der vanitas, zu dem natürlich auch Fortuna rechnet, notorisch ist. Das Bild inkludiert immer schon sein Gegenbild. Dem Bild der Blüte gilt dabei die Erinnerung, dem Gegenbild eignet der Status der Präsenz: nunc a summo corrui / gloria privatus (,nun aber fiel ich vom Gipfel, des Ruhmes beraubt‘). Die dritte Strophe blickt nach vorne und bringt jenes Allegorem, das wir längst erwarten: Fortune rota volvitur: descendo minoratus; alter in altum tollitur; nimis exaltatus rex sedet in vertice – caveat ruinam! nam sub axe legimus Hecubam reginam.2
Die Fortuna-Allegorie dieses Liedes widmet sich genau dem Problem, dem auch die Aufmerksamkeit der geistlichen mundus-Theorie gilt: nämlich der Unstetigkeit der Zeit im „Hienieden“ und ihrem unabänderlichen Vergehen, ihrer vanitas. Die Perspektive, die von der Ich-Stimme eingenommen wird, ist eine Perspektive ex post. Die Rede ist daher nicht vom Verschwinden, sondern schärfer noch: vom Verschwunden-Sein des Le2
,Das Rad der Fortuna dreht sich, / ich sinke erniedrigt hinab. / Ein anderer wird in die Höhe getragen; / allzu erhöht / sitzt der König auf der Höhe – / er hüte sich vor dem Niedergang! / Denn unter der Achse sehen wir [wörtlich: „lesen wir“] / Hecuba, die Königin.‘ Ich fasse „Achse“ als Metonymie für das Rad. Hecuba liegt auf dessen Grund, ist also vom Rad gefallen und hängt nicht auf dessen Unterseite.
3. Präfigurationen der vanitas
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bensglücks. Wir begegnen auch hier der Dramaturgie und der Bildlichkeit des Umschlags (im Körperbild der Occasio) sowie einem einschlägigen Exemplum, das sich in Gestalt der trojanischen Königin sehen lässt und seinen Sinn unmittelbar erschließt: Schon indem wir sie am Grunde des Rades erblicken, können wir die Königin Hecuba „lesen“. Dass indes auch die Fortuna dieses Liedes keine homogene oder originäre allegorische Vorstellung abgibt, verrät uns die Metapher von den Wunden, die sie schlägt. Sie verweist auf eine andere Figur der Immanenz, auf die Allegorie der Liebe. Inwiefern die vulnera Fortunae als Übertragung zu verstehen wären, sei dahingestellt; jedenfalls sind uns die vulnera amoris um vieles geläufiger. Wie das Ich des Liebenden erscheint auch das Ich, das nach dem Gesetz der Fortuna lebt, als ein beschädigtes. Es spricht als Figur, deren Souveränität verloren gegangen ist. Wegen des dominanten Vokabulars des Herrschens und König-Seins drängt es sich geradezu auf, in diesem Ich den princeps mundi, den weltlichen Fürsten (im Sinne des besprochenen ikonographischen Paradigmas) zu sehen. Die generalisierende Perspektive, die der Wechsel von der ersten Person des Singulars zur ersten Person des Plurals im Verbum legimus eröffnet, deutet allerdings abschließend an, dass nicht einfach das Rollen-Ich des Königs, sondern ein besonderes Ich Klage führt, das in seiner Exemplarität zugleich für „uns alle“ spricht. Der Herrscher figuriert als der sinnfälligste Repräsentant des Menschen, der in seinem Lebensweg dem Wechsel der Zeit ausgesetzt und wie alles Irdische dem Verschwinden preisgegeben ist. Die Verkörperung eines allgemeinen Lebensgesetzes im konkreten Typus des Königs folgt dem Prinzip eines exemplum a maiore und steigert mit der Fallhöhe auch die wirkungsästhetische Eindrücklichkeit. Sie spendet zugleich Trost, da nicht nur der gewöhnliche, sondern auch der königliche Mensch als Unglücksrabe ausgewiesen wird. Auffällig sind außerdem die Analogien zu den einschlägigen figurae vanitatis: Unser princeps fortunae gleicht in seinem enttäuschten Weltvertrauen dem princeps mundi. Damit wird zugleich Distanz geschaffen: Der König als der scheinbar privilegierte Mensch hat am meisten zu verlieren und er ist der, der zu guter Letzt am schlechtesten aussteigt. Im Vergleich zu ihm scheinen wir noch verhältnismäßig günstig davonzukommen. Wie der princeps mundi der Sakralplastik erweist sich dieses Ich ferner als verloren, im Unterschied zu diesem weiß es allerdings um seinen Zustand. So wäre es dem vergleichbar, der sich einer conversio, einer Abkehr von der Welt unterziehen wird. Doch genau diese conversio erfolgt im Lied nicht. Es kennt und beschreibt keine Perspektive der rettenden Transzendenz und formuliert folglich auch keinen Akt der Verdammung (obwohl er als contemptus Fortunae genauso leicht zu geben wäre wie der contemptus mundi und obwohl er sich dabei wiederum auf eine weit in den Stoizismus
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II. Allegorien und Allegoresen
zurückreichende Tradition stützen könnte). Gegen das Bild vom einmaligen, „persönlichen“ und irreversiblen Niedergang steht vielmehr jenes des Kreislaufs, der Wiederholung: Während dieser König hier sinkt und mit uns die schon unten liegende Hecuba „liest“, sitzt bereits ein anderer auf seinem Thron und ihm bleibt nur jenes „caveas!“ hinaufzurufen, das der Fallende von seinem Vorgänger vermutlich ebenso vernahm und ignorierte. (Wovor aber sollte man sich auch hüten, wenn der Absturz unweigerlich kommt?) Die Vorstellung des Kreislaufs, die sich in der rota Fortunae ikonisch repräsentiert, steht gegen die eschatologische Perspektive, die sich aus der Sicht des Einzelnen aufdrängen würde und die sich im contemptus mundi auch entsprechend formuliert.3 Auch Fortuna stellt eine Allegorisation der Immanenz dar. Im Unterschied zu Mundus oder Welt beschreibt sie allerdings eine Figur der Souveränität, wie auch das berühmteste Fortuna-Lied der ‚Carmina Burana‘, CB 17 (‚O Fortuna, velut luna‘), belegt. Von Interesse ist dabei schon die Rhetorik, da sie an die entsprechende Formel des contemptus mundi – O munde immunde! – erinnert. Auch dieses Lied führt im emphatischen Modus der Apostrophe Klage und praktiziert damit von Beginn an genau das, wozu es am Ende aufruft (mecum omnes plangite!). Wie in CB 16 wechselt die Perspektive jedoch vom Ich zum Wir, ist also zirkulär. Begleitet sind die Apostrophen von Bildern der Negativität.4 Sie münden aber nicht in einen Aufruf zum Austritt aus dem circulus, auch wenn er als circulus vitiosus fingiert ist – denn er ist es wiederum nicht im eschatologischen Sinn. Das Rad der Fortuna wird immer eine neue Drehung nehmen. Fortuna verkörpert eine der Immanenz zugeschriebene Souveränität. Sie ist eine Allegorie der unbeständigen Welt, die ironischerweise von erstaunlicher Beständigkeit ist, denn ihre Geschichte reicht mindestens bis zur Tyche des Hellenismus zurück.5 In der mittellateinischen Lyrik des Hochmittelalters erfährt sie eine spezifische Akzentuierung. In den besprochenen Liedern zeigen dies die Metaphorik der Verwundung und die Idee einer unauflöslichen Bindung des Menschen, der ihr ausgesetzt ist. In beiden Aspekten nähert sich Fortuna der Allegorie der Liebe oder der Göttin Venus an. Und im Unterschied zur vana gloria mundi repräsentiert sie ein Prinzip, das nicht an den Lebensweg nur eines Individuums gebunden ist. Der Lauf ihres Rades bezeichnet die Unausweichlichkeit von 3 4 5
Dieser Aspekt der Iteration und der Zyklizität verleiht auch der „doppelseitigen“ (rechts schönen, links fahlen) Fortuna, wie sie Skowronek (1964, 69ff.) darstellt und mit Frau Welt verbindet, eine ganz andere Qualität. Sie ist eine Figur der Wiederholung, nicht des Endes. Zufälligkeit des Spiels: vita detestabilis [...] tunc curat ludo mentis aciem (1,6ff.), nunc per ludum dorsum nudum fero tui sceleris (2,10ff.); Metaphern des Vergehens: potestatem dissolvit ut glaciem (1,11f.), vana salus [...] obumbrata et velata (2,5ff.), sors salutis [...] defectus in angaria. Aus der umfassenden Forschungsliteratur sei verwiesen auf Frakes 1988 und die Angaben s.v. Fortuna, LAG, 255-258.
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Aufstieg und Niedergang, die mit dem Verweis auf reale oder historische Evidenz (legimus Hecubam) untermauert wird. Der Rhythmus der Biographien, die zunächst als „persönliche“ imaginiert sind (wie sich eben auch die planctus Fortunae zunächst „persönlich“ geben), vermittelt im allegorischen Bild des Glücksrads den Anschein der Gleichförmigkeit. Das Attribut widerspricht damit dem grundlegenden Phänomen, das in der Allegorie dargestellt werden soll, nämlich dem Phänomen der Kontingenz. Indem diese Kontingenz als rhythmischer, sich ständig wiederholender Verlauf verbildlicht oder – um es mit CB 16 zu sagen – „gelesen“ wird, ist sie in gewisser Weise gebändigt. Vielleicht kann man hierin die entscheidende Differenz zu vanitas-Allegorien wie Frau Welt, Fürst der Welt oder Luxuria fassen – eine Differenz, die Fortuna eben zu einer souveränen und nicht defizienten Figur der Immanenz werden lässt. Im Unterschied zu Vanitas (und in gewisser Analogie zu Amor/Venus) trennen sich bei Fortuna die Macht der Allegorie und das Geschick derer, die ihr ausgeliefert sind. Zwischen Welt und Weltjünger besteht eine Beziehung, die als Ähnlichkeit, als Konjunktion beschrieben werden kann (weswegen sich etwa der Straßburger Fürst ebenso gut als Mundus wie als filius Mundi lesen lässt). Das Verhältnis zwischen Fortuna und Mensch ist hingegen eines der Disjunktion. Die als Fortuna allegorisierte Immanenz zeigt sich nicht jenem Niedergang preisgegeben, dem das einzelne Individuum erliegt. Im Gewand der Fortuna erscheint die Welt nicht von ihrer eigenen, „großen“ (eschatologischen) Vergänglichkeit gezeichnet, die der „kleinen“ Vergänglichkeit des Weltjüngers korrespondiert. Vielmehr ist sie Herrin über eine unerschöpfliche Folge und Wiederholung rhythmisch auf einander folgender Lebensverläufe, die im übrigen – in der bildlichen wie textlichen Konzeption der rota Fortunae – Komplexitäten reduzieren: Im Prinzip bedürfte es für jedes Individuum eines eigenen Rades, und es müsste auf diesem noch eines befestigt sein, das die Wechselfälle innerhalb des Lebenszyklus beschriebe. In Rhythmus und Kreislauf des Rades verbirgt sich jedenfalls eine ambivalente Semantik. Sie verbindet den Aspekt der Unentrinnbarkeit mit dem des kalkulierten Verlaufs von Aufstieg und Niedergang. Sie weist zugleich auf einen Wiederbeginn, der das gewisse eschatologische Ende des oder auch dieses Weltenlaufs gerade nicht in Erinnerung ruft. In dieser Bildidee ist das Phänomen der Kontingenz also ebenso repräsentiert wie zur Ordnung hin gewendet. Die Disjunktion zwischen einer souveränen Figur der Immanenz und den wechselhaften Schicksalen der ihr ausgelieferten Menschen schlägt sich dabei auch ikonographisch nieder: Fortuna selbst erscheint als intakter, herrscherlicher weiblicher Leib; Verfallenheit alles Irdischen, Blüte und Verwesung verkörpern sich in den Ge-
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stalten derer, die auf ihrem Rade sitzen: Den schönen Leibern auf der linken Seite des Rades korrespondieren die verfallenen auf der rechten.6 Dass der Sachverhalt in dieser Weise gedacht und dargestellt sein kann, aber nicht muss, belegt die Rede der Raison über Fortuna in der Fortsetzung des ‚Rosenromans‘ durch Jean de Meun (vgl. bes. 4769-6183). Sie stellt sich explizit in die boethianische Tradition der Fortuna-Polemik.7 Die Analogisierung von Mundus- und Fortuna-Kritik gipfelt in der Bezeichnung der Welt als essil present (5024) und in Aussagen wie: Mout est chaitis e fos naïs, / Qui creit que ci seit ses païs (5033f.; ,Sehr unglücklich und ganz töricht ist, / wer glaubt, daß seine Heimat hier sei‘ [Übers. K. A. Ott]). Fortuna erscheint in weiterer Folge als Gestalt der Hinfälligkeit: In ihrem Haus, das auf dem vanitas-Felsen steht (5921ff.), stolpert sie vom herrschaftlichen in den heruntergekommenen Trakt, dabei entblößt sie sich, erkennt ihr Unglück und hockt jammernd in ihrem Bordell (6145ff.). Entblößung und Nacktheit ersetzen das, was im Falle des Mundus oder der Aethiopissa die Verwesung ist. Die Verkommenheit der Fortuna wird also nicht im physischen, sondern im moralischen Verfall des allegorischen Leibes imaginiert. Die maßgebliche Codierung der Allegorie nach Bildern und Kategorien des Erotischen verweist wiederum auf die eminente Bedeutung des Geschlechts der Allegorie. Dies gilt natürlich auch für die Gestalt der Raison, die dem Amant, den sie belehren will, ihre Liebe anträgt (5795ff.; auch hier schießt der ikonische Mehrwert der Allegorie über ihren diskursiven Zweck hinaus). Im übrigen gerät diese Fortuna eher zu einer Allegorie des einzelnen Menschen (oder der Frau) als zu der eines universalen Prinzips, entspricht also mehr der Occasio, wie sie u.a. in CB 16 erscheint. Eine aufschlussreiche Inversion der souveränen Fortuna, die sich neben die hinfällige und entblößte Fortuna des ‚Rosenromans‘ stellen lässt, bietet auch die ,Crône‘ Heinrichs von dem Türlin (um 1225). In der konzeptuellen Scheitelszene des Romans gelangt Gawein, hier der in jeder Hinsicht tüchtige und reüssierende arthurische Ritter schlechthin, in den Palast der Saelde, um von ihr jene Begnadung mit Glück und Gelingen zu erfahren, die sein bisheriger und künftiger Weg der Bewährung immer 6
7
Die mittelalterliche Ikonographie lässt sich vor allem an den Handschriften verfolgen. Wichtige Beispiele geben die Benediktbeurer Handschrift selbst (Abb. 20) und der ‚Hortus Deliciarum‘ Herrads von Landsberg (Hg. Gillen, fol. 215; Abb. 21), signifikant außerdem die Wandmalerei in St. Cyrakus in Berghausen, mit einer Königsgestalt in vollem Ornat rechts und mit gebeugtem Haupt links vom Rad. (Auf dem Rad selbst klammert sich ein oder „der“ Mensch fest; ob und wie er an der abfallenden Seite dargestellt war, ist nicht mehr zu erkennen); s.v. Fortuna (G. Ristow, Redaktion), LCI 2, Sp. 53f.; vgl. auch Kiening 1994, 447f. und die dortigen Abb. 6-8. Die Vorstellung dieser souveränen Herrin Fortuna dominiert gegenüber der doppelseitigen, von der Skowronek 1964, 69ff. handelt. Vgl. die Forderung nach einer Übersetzung der ,Consolatio‘ 5035ff. und die Ausführungen zur Missachtung Fortunas durch den Weisen 5347ff.
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schon exemplifiziert hat (15649ff.). Dieser Weg ist gleichwohl ein schwieriger, und es begleiten ihn Szenen und Bilder der Negativität genau jener Immanenz, deren Positivität Gawein verkörpert. Dies ist zumal in den Imaginationen von Schauder und Gewalt der Fall, die die sogenannten Wunderketten beschreiben. Die Perspektive der Negativität und der immanenten Kontingenz wird nun gerade in jener Szene einbezogen, die ihre Überwindung beschreiben will, eben im Akt der Begnadung Gaweins durch die Saelde, und sie repräsentiert sich in der Gestalt der Allegorie selbst: Die Saelde erscheint doppelgestaltig, die rechte Körperhälfte ist schön und glänzend, die linke fahl und grau.8 Ihr allegorischer Leib spiegelt somit den Lauf des Rades wider, die Disjunktion zwischen der souveränen Figur der Immanenz und der Defizienz der ihr ausgesetzten Menschen ist wieder in einen Zustand der Konjunktion gebracht. Als Gawein jedoch den Raum betritt, erglänzt auch ihre linke Körperhälfte und die rota Fortunae steht still. Die Begnadung liest sich auf diese Weise eher als ein Akt, den der Begnadete der Begnadenden zuteil werden lässt als umgekehrt. Die gängige Maxime „Virtus domitor Fortunae“ wird dabei in die Terminologie und Dramaturgie des höfischen Romans übersetzt: Der ritterliche Bändiger der Saelde erweist sich als ihr vornehmster Diener. Die Immanenz wird durch sich selbst erlöst, durch der werlt kint 9. Wir greifen hier eine Phantasie der Arretierbarkeit und der Arretierung weltlicher Unbeständigkeit im utopischen Moment der poetischen Imagination. Eine analoge Phantasie entwickelt im übrigen der Prolog, wenn er gerade im Rekurs auf die „Geschichtlichkeit“ und das „Vergangen-Sein“ von König Artus die Unvergänglichkeit arthurischer Idealität behauptet, die im Akt der poetischen „Erinnerung“ gegeben wäre (161ff.).10
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Die Darstellung der Saelde entspricht somit – allerdings nur in dieser Szene – dem von Skowronek 1964 untersuchten Typus. Ansonsten ist es ihre zwielichtige Schwester Giramphiel, die die negative Seite einer tückischen Tyche verkörpert. Die Allegorien des Romans sind insgesamt hochgradig anthropomorphisiert, was eben auch erklärt, dass sich die Ikonographie der Saelde von jener der souveränen Fortuna entfernt und sich der Occasio, der Allegorie des individuellen Glücks, annähert (vgl. oben Anm. 1). Zum komplexen Fortuna-Konzept und -Apparat in der ,Crône‘ ausführlich Ebenbauer 1977 und Knapp 1977. So der Erzähler über sich selbst (10444). Da die Narration nichts anderes als eine poetische Setzung darstellt, korrespondiert der narrativen Konstruktion des Weltlichen eine Poetik der Immanenz. Der Protagonist als innerpoetischer Akteur und der Erzähler als Handelnder auf einer poetologischen Ebene lassen sich parallelisieren. Im übrigen erweist sich die allegorische Darstellung der rota in der ‚Crône‘ komplexer als üblich: Das Rad dreht sich nicht gleichmäßig, die Drehung beschreibt auch nicht eigentlich den Lebensverlauf selbst, sondern die Wechselfälle in ihm. Interessant ist das Theorem einer kompensatorischen Ordnung: Für jeden Aufstieg muss es einen Abstieg geben, jedem Gewinner entspricht ein Verlierer. Hierzu M. Kern 1998, 288ff.
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Indes durchkreuzt das Bild der doppelgestaltigen Saelde gerade jene Vorstellung der Souveränität, die der Sphäre der Immanenz in der Figur der herrscherlichen Fortuna – mit Mühe und Aufwand sozusagen – zugeschrieben wurde. Sie verliert ihre Autarkie gegenüber der eschatologischen Drohung, die in der Vergänglichkeit jedes irdischen Lebens immer schon das Ende aller Generationen, die Vergänglichkeit der Welt als ganzer bewiesen sieht. Dieses Paradox ließe sich zum einen neuerlich mit dem Phänomen eines ikonischen Überschusses erklären: Bildlichkeit und wirkungsästhetische Plausibilität der Allegorie wiegen mehr als konzise Sinnkonstruktion und schlüssige Allegorese. In der „beschädigten“ Saelde könnte sich aber auch eine besondere „Hinterlist“ des Textes verbergen: Er würde die poetische Möglichkeit einer unmöglichen Vorstellung (eben der Arretierung immanenter Zeitlichkeit) nochmals übertreiben, indem er sie genau als Akt nicht des eigentlichen Souveräns, der Saelde, sondern des Helden imaginiert. Wie auch immer, Konzept und Repräsentation der Immanenz der Fortuna-Lieder in den ,Carmina Burana‘ bedeuten eine poetische Provokation, die darin besteht, dass sich die Klage führende Ich-Stimme mit dem planctus begnügt und sich somit der Immanenz gerade nicht entzieht, sich nicht separiert, sondern sich ihr ausliefert. Vergessen wird auf jene conversio, die der confessio sowohl im contemptus mundi als auch im boethianischen FortunaDiskurs11 notwendigerweise folgt. Hierin erweist sich der planctor Fortunae nun verwandt mit dem, der über Venus Klage führt oder in ihren Diensten steht. FIGUREN DER SOUVERÄNITÄT II: VENUS. – Die Beispiele, die die ‚Carmina Burana‘ für Venusjünger und Venusklagen bieten, sind bekanntermaßen zahlreich. Eine Systematisierung unter dem Aspekt allegorisierter Weltlichkeit lässt sich folgendermaßen andeuten: Wie Fortuna beschreibt Venus eine Figur der Souveränität, der das Jammerbild des ins Unglück gestürzten Liebenden kontrastiert. Auch in dieser Konstellation ist also die beschriebene Disjunktion zwischen souveräner Welt-Allegorie und hinfälligem Weltbezug zu fassen. Der Vorstellung des Ausgeliefertseins an den mundus und der Bildlichkeit der vanitas entsprechen die dominante Konzeption und Metaphorisierung des Liebeszustands als Folge einer defizienten Diesseitsfixierung, die wiederum am Körper des Liebenden sinnfällig wird. Dabei wird mitunter dieselbe Bildlichkeit evoziert, die auch den contemptus mundi durchzieht. So etwa beschreibt CB 175 (,Pre amoris te11
Für den ‚Roman de la Rose‘ gilt dies nur innerhalb der Rede der Raison. Der Amant selbst distanziert sich von seiner Amor- und damit Fortunawelt ebensowenig wie die IchStimmen in den CB-Liedern.
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dio‘) das Liebesleiden als Schiffbruch in voller Fahrt (patior naufragium quassa rate, velo; 1,4). Die „Ansteckung“ mit der Liebe gibt dem Liebenden den Tod, sein Herz ist nicht nur dem obligaten Brand ausgesetzt, sondern droht zu Asche zu zerfallen, falls die apostrophierte puella die Flammen nicht lösche (Str. 3).12 Die Verursacherin von Feuer und Sturm (Str. 4) wird also zugleich als Retterin imaginiert: Virgo tu dulcissima, cum sis formosissima, adhuc in hac cella me egenum eripe de ferventi procella.13
Diese abschließende Strophe lässt sich als Überschreibung einer conversio lesen: Der contemptor mundi würde in einer ähnlichen Lage nicht die dulcissima, sondern die vera virgo, Maria, anrufen. Sie würde ihn den Fährnissen der Schifffahrt über das unzuverlässige Meer der Welt entreißen, indem sie ihn in eine Zelle, in die des Klosters nämlich, bringt. In dieser Zelle aber, in diesem Übergangs-Raum der Separation, sollte der ehemalige Weltjünger zumal vor dem Sturm der Liebe sicher sein. Die ganz andere Jungfrau, die in CB 175 angerufen wird, die puella formosissima aber lässt ausgerechnet den sakralen Ruheraum zum schwankenden Schifflein werden. Gebeten wird somit um nichts weniger als um eine Rückholung in die Immanenz, und die puella selbst erscheint als ähnlich souverän wie die, die zuvorderst den Titel virgo verdienen würde. Das Paradox besteht wie bei Fortuna in der Bindung an eine Instanz, die das missliche Los, die Erfahrung der unsicheren Existenz im Diesseits gerade verkörpert. Freilich, im Falle der Liebe ist dieser Umschlag ins Unglück immer als reversibel gedacht, kann sich der drohende Verlust immer als höchster Gewinn erweisen. Im Unterschied zu jener der vanitas kann die Rechnung der Liebe am Ende die nochmals umgekehrte, positive Bilanz ergeben, und in dieser Erwartung gründen Hoffnung und Wahn des Liebenden. Dieses Kalkül verkompliziert das Schema und führt die mit ihm verzahnten Bildvorstellungen des Niedergangs, des Sterbens und des Betrugs in die Absurdität. Sie sind in ihrer Signifikanz nicht mehr oder – um nicht in die Gefahr einer genetischen Denkweise zu geraten: – sie sind nie eindeutig lesbar. So zeichnet etwa CB 104.I das Bild der Venus analog zum Mundus als Verführerin und Räuberin, in der nichts als der Tod zu finden wäre. Wer sich der Venus ergibt, sei wie derjenige, der dem Mundus anhängt, im Leben schon den höheren Tod gestorben. Vivens morior (,indem ich lebe, sterbe ich‘; I.3,5), klagt der Liebende; moriar in Venere, lautet der 12 13
Amoris transitio / me donat exitio, / cor cremat scintilla; / quam si non extinxeris, cor erat favilla. ,Du allersüßeste Jungfrau, / da du so wohlgestaltet bist, / hierher, in dieser Zelle entreiße mich Elenden aus dem brausenden Sturm.‘
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Refrain. Gleichzeitig konterkariert die Liebe aber den biographischen Status des sprechenden Ich: Nuper senex iuvenesco, / desenesco / nec compesco motus animi (,Eben ein Greis noch, verjünge, entgreise ich mich und bezähme nicht die Leidenschaften des Geistes‘; 2,1ff.). CB 104.II imaginiert in der analogen Situation einer neu entflammten und als todbringend empfundenen Liebe eine Retterin namens Flora. Der Name lässt sich wenigstens in unserem Zusammenhang nicht ohne eine signifikante Referenz auf die Blume als Sinnbild der vanitas lesen. Genau diejenige, die mit dem Blühen auch das Verblühen im Namen trägt, wird als eine gedacht, die den Liebenden vor dem Tod in der Liebe bewahren könnte. Dies weist neuerlich auf die Verweigerung der Separation, auf die Unmöglichkeit jener revocatio hin, die der contemptus mundi angesichts der Tücken der Welt formuliert, obwohl die Tücken der Liebe in analoger Weise metaphorisiert und codiert sind (nämlich in Bildern der Süße, der Verführung und der Bindung). Die gleiche Metaphorik, die gleiche Ikonographie und die gleiche Signatur des Namens konstituieren konträre Denkformen. Dabei wäre zu beachten, dass Flora – würde sie helfen – zur Flora deflorata würde, zur verblühten Blüte, zu einer Figur und zu einem Namen der vanitas. In ihr wären Preisgabe an die Sinnlichkeit und Preisgabe an die Welt enggeführt und im Moment des symbolischen oder physischen Todes identifiziert. Schließlich bleibt noch auf die Ironie hinzuweisen, die im Refrain von CB 104.I steckt: moriar in Venere, ,ich werde in Venus sterben‘, das lässt sich verstehen als: „Venus bringt mir den Tod“, könnte aber ebenso gut bedeuten (und wir erinnern uns, dass wir es mit einem nuper senex zu tun haben): „Im Venusdienst, beim Liebesakt werde/will ich den Tod finden“ – und wenn es auch nur der beliebig oft wiederholbare „kleine Tod“ wäre. AMORS SCHAUFEL. – Die rhetorische Semantik des Namens der römischen Liebesgöttin ist in der mittellateinischen Liebeslyrik denkbar breit, sie reicht von der Metapher für den geschlechtlichen Akt bis hin zur mythologisch-allegorischen Repräsentation der sinnlichen Liebe. Diese wiederum ist, wie schon die besprochenen Beispiele zeigten, hypostasierbar durch die Gestalt der Geliebten, in der sich jene Souveränität und körperliche Unversehrtheit manifestieren kann, die dem Liebenden gerade fehlt. Ein Beispiel für derartige produktive Verschiebungen zwischen mythologischer Gestalt, Allegorie, „Hyper-“ oder „Hypostasierung“ (der Geliebten durch Venus oder umgekehrt) gibt die „Bordellballade“ CB 76: Hier berichtet einer, wie er vom Wein trunken aus der Schenke kommt und noch dem Tempel der Venus einen Besuch abstatten will. Alleine geht er hin, in prächtigen Kleidern und mit vollem Geldbeutel. Er bittet die schöne Kustodin um Einlass, sie trägt der Göttin das Begehren des Jünglings vor
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(Str. 3-8). Der Jüngling darf eintreten und schildert Venus seine Leiden. Sie erkennt in ihm ihrerseits ille dictus Paris und somit einen idealen Adepten ihrer „Sekte“ (iuvenis! aptissime sodes nostre secte;14 12,2). Und wenn er Denare in vorzüglicher Münze zu bezahlen wisse (si tu das denarios monete electe; 12,3), so stehe seiner Heilung nichts im Wege. Der volle Geldbeutel tut sein Teil, Venus winkt ihre Dienerinnen aus dem Raume, entledigt sich der Kleider, um ihr Fleisch von schneeigem Glanz zu zeigen (carnes ut ostenderet nivei decoris; 17,2). Indem der Jüngling sie zehn Stunden lang an seinem Bett festhält, heilt er sich selbst (Str. 17). Danach wird gebadet und getafelt (Str. 18-21). So geht es immerhin ganze drei Monate. Der Aufenthalt erscheint – wenn der Beutel des Jünglings nicht ein riesiger Sack gewesen ist – vergleichsweise günstig. Danach muss Venus freilich verlassen werden, und der einst reiche Jüngling fristet nun als pauperatus sein Leben, der Münzen und Kleider entledigt. In der Logik des soziokulturellen Kontexts gedacht, in dem man sich die ‚Carmina Burana‘ geschrieben und rezipiert denkt, stellt er also dar, was Dichter und Rezipienten sind: ein armes studierendes Mönchlein. Dem Ende der Geschichte folgt eine entsprechende Lehre: Terreat vos, iuvenes, istud quod auditis! dum sagittam Veneris penes vos sentitis, mei este memores! vos, quocumque itis, liberi poteritis esse, si velitis. (Str. 22)15
Die ganze Ballade verrät sich leicht als mythologisierte Allegorie eines Bordellbesuchs und dennoch erschöpft sie sich nicht in der simplen Camouflage einer nur allzu gewöhnlichen Versuchung. Dagegen sprechen schon die übertriebene Dauer des Aufenthalts und die überzeichnete sexuelle, kulinarische und finanzielle Leistungsfähigkeit der handelnden Personen. Der berichtende iuvenis ist nicht der einfache Bordellbesucher und Venus nicht bloß nom de plume für die Hure. Die Darstellung des Bordellbesuchs im mythologisch-allegorischen Modus bedingt eine poetische Distanzierung des wirklichkeitsnahen Geschehens. Es wird aus einer real erfahrbaren temporalen und topographischen Sphäre in ein mythologisch grundiertes künstliches Paradies entrückt. Mit der Stilisierung zum Venustempel ändert sich auch die semantische Qualität der Heterotopie, die das 14 15
sodes ist eine Verschleifung aus si audes. ,Abschrecken möge euch, Jünglinge, das, was ihr vernahmt! / Wenn den Pfeil der Venus ihr an euch bemerkt, / so seid meiner eingedenk! Ihr, wo immer ihr hingeht, / könnt frei sein, wenn ihr nur wollt!‘ In der Präposition penes (,im Inneren von, bei, an‘) darf das fast gleichlautende Substantiv mitgehört werden; nicht nur in dieser Paronomasie, sondern auch in der Metapher/Metonymie von der sagitta Veneris ist auf den Penis angespielt, er repräsentiert also das kaum verhüllte, eigentliche Thema von Allegorese und moralisatio des Liedes.
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II. Allegorien und Allegoresen
Bordell grundsätzlich darstellt.16 Das Lied führt auf diese Weise die exemplarische Begebenheit und die aus ihr deduzierte Lehre in einen Zustand der Polysemie über. Es lässt sich nicht nur einfach „historisch“ lesen, als Warnung davor, sein Geld mit Huren durchzubringen, sondern geriert sich als Warnung vor dem, was die Institution der Prostitution, die Dirne und das im Bordell befriedigte sexuelle Begehren in einem übertragenen Sinn schon immer bezeichnen können: die Sünde der luxuria, sei es in einem engeren oder in einem allgemeineren Sinn. Indem aber die konkrete Referenz der mythologischen Gestalt und des mythologischen Ortes, des templum Veneris, bewusst gehalten wird, indem fortwährend durchsichtig bleibt, was „eigentlich“ gemeint ist, wird die allegorische Konstruktion, die diese Ballade veranstaltet, zugleich ostentativ zur Schau gestellt. Auf diese Weise kann man die Denkform, die sich hinter der Allegorisierung verbirgt (luxuria als die zentrale Sünde der Weltverfallenheit), mitverhandelt und ironisch hinterfragt sehen. Der Verlust und die Ermahnung, die am Ende stehen, ließen sich leicht nach der Logik einer geistlichen Warnung durchrechnen, einer Warnung vor der luxuria, vor der Sündhaftigkeit der sinnlichen, zumal der käuflichen Liebe, und in weiterer Folge nach der Logik einer Warnung vor der Welt, die sich im Bordell hypostasiere. Wir erinnern uns an das Bild vom „sündigen Haus des Teufels“ bei Guibert von Novigento17 und in Walthers ,Abschied von Frau Welt‘. Oder wir denken an die Freiburger Luxuria, dann wäre der Jüngling einer, der in Venus-Luxuria „eingetreten“ wäre und die Warnung des Engels („Ne intretis!“) in den Wind geschlagen hätte. Auch in diesem Lied läuft manches analog zur ikonischen und diskursiven Ratio der Weltkritik, wie sie in Gestalt des Mundus, der Luxuria oder der Fortuna gegeben wird: allem voran eben das Ergebnis des Abenteuers, der Umschlag von einem Zustand des Glücks und des Reichtums in einen des Unglücks und der Armut. Da dieser Umschlag allerdings in Form eines Geschäfts, also kalkuliert und nicht kontingent abläuft, wird die gängige Semantik konterkariert. Auch die Körperbilder entsprechen der einschlägigen Ikonographie: Der iuvenis betritt den Venustempel wie der Weltjünger oder das Opfer der Fortuna reich gewandet und mit vollem Geldbeutel und er verlässt es arm und nackt. (Dass wir sagen könnten, er verließe den Venustempel im Habitus des Weltflüchtlings, des contemptor mundi, ohne dies gewollt zu haben, könnte die besondere Ironie des Liedes sein.) Venus zeigt wie Luxuria ihr Fleisch, ohne dass es freilich (wie jenes der mulier Aethiopissa) verwest und stinkend wäre. Sie ist wie Fortuna eine 16 17
Zum Begriff der Heterotopie vgl. Foucault 2005. Vgl. oben Kap. II.2, 163, Anm. 21.
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Figur der Souveränität, eine Betrugsabsicht wäre ihr jedoch nicht zu unterstellen. Und anders als die Welt gibt sie am Ende nicht den Lohn, sondern sie erhält ihn für ihre Leistungen, die der, der sie in Anspruch nahm, nur rechtens zu bezahlen hat. (Wir erinnern uns wieder an Walther, der ebenfalls seine Schulden begleicht, bevor er das Wirtshaus der Welt verlässt.) Der Jüngling lässt sich ferner bewusst darauf ein, wovor der contemptus mundi am eindringlichsten warnt: auf die Versuchung der Weltliebe, die hier ganz konkret – wir könnten auch sagen: metonymisch und nicht metaphorisch – im sexuellen Begehren und in seiner Befriedigung repräsentiert ist. Während in der vanitas-Tradition diese Versuchung vorzugsweise in einer erotischen Bildlichkeit dargestellt wird, die scheinbar metaphorisch auf ein allgemeines Problem verweist, bleibt sie explizit als sexuelle Verlockung gedacht. Gelangt in dem einen Fall ein abstraktes Problem zur ikonisch konkreten Repräsentation, entwirft im anderen Fall das konkrete sexuelle Geschehen aufgrund seiner mythologischen Stilisierung Perspektiven, die eine generalisierende Allegorese andeuten, ohne dabei die konkrete Referenz zuzudecken: Im Unterschied zu Frau Welt verweist die erotische Attraktivität dieser Venus nicht metaphorisch auf eine generelle, abstrakte Weltverfallenheit, sondern zentriert sie – hierin Luxuria ähnlich – metonymisch auf sich. Indem jedoch die konkrete Referenz, der Bordellbesuch, niemals ausgeblendet wird, und indem also das, was in der vanitas-Tradition als Betrug von Mundus, Luxuria oder Welt gedacht wird, nach einem geschäftlichen Kalkül abläuft, scheint jener Mechanismus der allegorischen Signifikation blockiert zu sein, mit dem die theologische Polemik gegen die Immanenz vorzugsweise operiert: Diese Venus meretrix lässt sich nicht wie Luxuria zum diabolischen Popanz hochstilisieren, der die teuflische Verworfenheit der Immanenz unmittelbar vor Augen führen würde. Es ist ein Jüngling, der wissentlich jene Torheit begeht, vor der der contemptus mundi warnt. Gerade in CB 76 wird damit das Verlaufsschema des Lebensweges thematisiert. Der weltselige erotische Leichtsinn gehorcht auf prononcierte Weise der Logik der Juvenilität. Der mittellose Zustand am Ende suggeriert einen Verlust vor der Zeit: Zu früh, nicht erst im Alter, dann, wenn es ohnehin Zeit ist, abzutreten, hat hier einer sein Kapital verspielt und gibt dieses Beispiel an die weiter, die sich am selben biographischen Punkt befinden, an die iuvenes eben. Zugleich wirkt die Warnung in mehrfacher Hinsicht als aufgesetzt: Zum einen besteht ein Missverhältnis zwischen dem poetischen Aufwand, mit dem das erinnerte, glückliche Einst vergegenwärtigt wird, und der Lakonie, mit der ihm das triste Jetzt entgegengehalten wird. Überhaupt lässt sich bezweifeln, ob dieses triste Jetzt ein definitiver Zustand ist. Die Klage selbst entspricht
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jedenfalls keineswegs dem elegischen Ton des „Königs“, des planctor Fortune von CB 16. Zum anderen folgt auch hier auf die confessio keine conversio. Die Ausmalung der Freuden im Tempel der Venus und die Leistungsfähigkeit des Protagonisten in den geschilderten Vergnügungen deuten eher auf das Gegenteil hin. Äußerlich zeigt er sich zwar in einem erbärmlichen Zustand, seine Virilität scheint aber kaum gelitten zu haben. Dies legt den Verdacht nahe, er hätte sein Geld nur allzu gerne ausgegeben und würde es jederzeit wieder tun, wenn sich nur die Gelegenheit böte. Zum dritten entspricht der prahlerischen Positivität des Berichts die Bedingtheit der aus ihm abgeleiteten Warnung: liberi poteritis esse, si velitis, lautet der letzte Vers. „Wenn ihr wollt, könnt ihr frei sein“ – das ist aus der Perspektive des contemptus mundi gesehen eine bedenkliche Relativierung. Wobei weniger das Wollen selbst, als die Frage, was man will, darüber entscheiden würde, auf welche Weise – abmahnend oder ermunternd – man sich das Beispiel des Sprechers zu Herzen nimmt. Der fadenscheinigen mythologischen Stilisierung eines allzu trivialen Sachverhalts korrespondiert die Fadenscheinigkeit der Warnung vor einem Verlust, über den man sich immer schon im Klaren war (im Tempel der Venus, im Bordell ist eben zu bezahlen). In ihrer Analogie und in ihrem Kontrast zu den ikonischen und diskursiven Topoi der Weltkritik erweist dieses Venuslied somit nicht nur die Gesuchtheit seiner eigenen allegorischen Konstruktion, sondern zugleich die Disponibilität und Konterkarierbarkeit der analogen Strategien des contemptus mundi, vor allem seiner rigiden Negativität, die in der Identifizierung von Sinnlichkeit und Sünde, Verlockung und Verderben, schönem Anschein und hässlichem Schein gipfelt. Gegen die lineare Zwangsläufigkeit von luxuria und vanitas steht die (nicht ausgeschlossene) Wiederholbarkeit des erotischen Tempelbesuchs, und gegen die Umkehrung der Schuldenlast vom begehrenden männlichen Subjekt auf das begehrte weibliche Objekt steht ein von Beginn an klares Verhältnis von Leistung und Preis, Dienst und Lohn, bei dem beide Seiten – wenigstens temporär – auf ihre Rechnung kommen. Zumindest wird der Wert der erkauften Vergnügungen, den sie im Augenblick des Genusses haben, an keiner Stelle des Textes in Frage gestellt. Es ist durchaus denkbar, dass dieses Lied im Laufe eines Jugendlebens mehrfach gesungen werden kann, dass sich diese rota Veneris des öfteren dreht, bevor es an der Zeit ist, endlich umzukehren. Es ist durchaus denkbar, dass auch hier Amor zur Schaufel greift, und die Worte, die die Vernunft dem Jüngling bei dem einen Ohr eingibt, beim anderen Ohr wieder hinausschaufelt, so wie dies der Amant im ‚Roman de la Rose‘ von sich
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bekennt.18 In Lied CB 76 ist nicht das biographische Schema, wohl aber die Zwangsläufigkeit seines Verlaufs ausgeblendet. Die Zeit der Jugend, die sich aus der Perspektive des contemptus mundi der Gefahr der Weltliebe nur allzu gerne aussetzt, ist nicht mit der dramatischen Schwelle des Alters konfrontiert. Der Moment der conversio ist aufgeschoben. Der beschriebene Verlust ist weder als unumkehrbar dargestellt noch mit dem Verlust der Jugend synchronisiert. Das Lied stellt sich somit gegen die Idee einer vanité der Jugend, wie sie die personifizierte Raison im ,Rosenroman‘ behauptet: Damit er dem Betrug der Jennece entgehe, empfiehlt Raison dem Liebenden, er möge so leben, als befände er sich schon im Zustand des Alters (vgl. 4477ff. und 4532ff.). Dabei weiß sie wohlweislich zu verschweigen, was denn die Verheißung einer solchen prätendierten Altersexistenz wäre; was es denn brächte, wenn man gleich eine Existenz als lebende Leiche fristen würde, so wie dies Anselm von Canterbury dem Weltflüchtling empfiehlt. ANALOGIE ALS DIFFERENZ. – Die behandelten Fortuna- und Venuslieder der ,Carmina Burana‘ weisen in ihrer Ikonographie, in ihrer Dramaturgie und in ihrem thematischen Kern (der Unbeständigkeit der Welt oder der Liebesqual und der daraus resultierenden Leiderfahrung und Todesnähe) Analogien zu den Figurationen der vanitas auf, wie sie die Tradition des contemptus mundi entwickelt. Diese Analogien verstärken gleichzeitig die fundamentalen Differenzen: Fortuna und Venus präsentieren sich als Figuren der Souveränität. Auch sie sind Allegorien der Weltlichkeit und des Weltlebens, ihnen ist das, wofür sie stehen und wofür sie verantwortlich gemacht werden, aber nicht auf den Leib geschrieben: der Umschlag vom Positiven ins Negative, die Hinfälligkeit, Vergänglichkeit und Verderbtheit der Immanenz. Das Verhältnis zwischen Welt und Weltjünger, das sich im Moment des unweigerlichen Verfalls als Konjunktion beschreibt, ist zu einem Verhältnis der Disjunktion verschoben, einer Disjunktion zwischen der leidverursachenden Allegorie der Immanenz und dem, der unter ihr leidet. Seiner confessio folgt keine conversio. Was sich in der Tradition des contemptus als eschatologische Unausweichlichkeit beschreibt, der nicht nur der Weltjünger, sondern auch die Welt selbst unterliegt, ist im Kontext der Fortunalieder zyklisch gedacht und hält im erotischen Lied immer die Möglichkeit einer Erlösung gegenwärtig – einer Erlösung, die innerhalb derselben und durch dieselbe Sphäre vollzogen werden kann: Die Liebe ist das beste Remedium der Wunden, die sie schlug. 18
Ainsinc Raison me preeschait; / Mais Amours [...] / Hors de ma teste, a une pele / Quant au sarmon seiant m’aguiete / Par l’une des oreilles giete / Quanque Raison en l’autre boute. (4629ff.) ,So predigte mir Vernunft; / aber Amor, [...] / wie der mich bei dieser Predigt überwachte, / da warf er mit seiner Schaufel aus meinem Kopf / aus dem einen Ohr heraus, / was Vernunft in das andere steckte.‘ (Übers. K. A. Ott)
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Das Phänomen einer differenten Analogie schließt a priori die Möglichkeit aus, dass Fortuna- oder Venusklage als die Säkularisate eines Schemas der Weltanklage zu denken wären, wie sie der geistliche Diskurs entwickelt hat. Auch hier können wir – wie schon innerhalb der unterschiedlichen Register des contemptus selbst – bestenfalls von einem semantischen Äquivalent sprechen, von einem Grundproblem (man könnte es die Erfahrung und Bewältigung der Kontingenz nennen), in dem sich die Denkformen und Darstellungsformen beider Diskurse treffen, ohne dass sie in einem genetischen Verhältnis zueinander stünden. Annäherungen wie die zwischen Venus und Luxuria (die man etwa in CB 76 gegeben sehen könnte) scheinen die Kontrastwirkung eher zu verschärfen. Dabei ließe sich durchaus so weit gehen, eine genetische Verwandtschaft zwischen der personifizierten Sünde in der contemptus-Tradition und der mythologisierten Liebe weltlicher erotischer Lyrik zu behaupten, freilich in umgekehrter Richtung: Dass in der Venus-Gestalt der mittellateinischen Liebeslyrik die antike Göttin weiterlebt, ist schon im Namen evident. Dass sich auch hinter der personifizierten Luxuria Venus/Aphrodite verbirgt, hat Berthold Hinz wenigstens für die bildnerischen Zeugnisse schlüssig zeigen können.19 Es wäre daher durchaus möglich, die literarische Allegorie der fleischlichen Sünde so wie ihre bildnerische Entsprechung als Sakralisat, als theologische „Enteignung“ einer säkularen Figur zu denken. Die Analogie zwischen beiden Gestalten, Venus und Luxuria, sei sie nun genetisch oder sekundär, ist für die geistliche Polemik gegen die sinnliche Liebe jedenfalls prekär: Einerseits ermöglicht Venus-Luxuria eine griffige Repräsentation des vanitas-Problems und beschreibt eine Figur, in der sich Hinfälligkeit und Sündhaftigkeit der Welt verschränken lassen. Da ihr andererseits eine in Gestalt und Handeln zwar analoge Venus entspricht, die von dieser negativen Signifikanz aber nicht berührt wird, ist das prätendierte Monopol der geistlichen Deutung – Venus-Luxuria als Sinnbild der Sünde, der Vergänglichkeit und des Todes – von vornherein gelöscht. Einen Beleg dafür liefert CB 76, und zwar gerade in seiner differenten Analogie zu den hermeneutischen und ikonischen Strategien des vanitas-Diskurses und der anti-erotischen Polemik, die das Herzstück des contemptus mundi bildet (sei es, dass er Sinnlichkeit als metaphorisches Vehikel der Weltkritik gebraucht, sei es, dass er Weltkritik metonymisch in der Kritik an der sinnlichen Liebe äußert). Schon CB 76 belegt also jene divergenten Sinngebungen konvergenter Darstellungsformen, die das Nebeneinander der regelrechten und der allegorischen Pastourelle Michel Beheims später belegen wird. Dabei erweist schon die bloße Möglichkeit einer anderen Allegorese die Suspendierbarkeit eines scheinbaren geistli19
Hinz 1998, Teile II und III.
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chen Deutungsmonopols. Dass dies nur in einem bestimmten poetischen Kontext und unter bestimmten Lizenzen möglich ist, ist unerheblich. Auch die nur partielle Aufhebung durchbricht die vermeintlich absolute Gültigkeit der theologischen Denkform oder erweist sie als von ihren Vertretern und vielleicht auch von der Forschung als immer bloß imaginiert. Bleiben wir bei Venus. Sie ist auch dort keine Tochter der Luxuria, wo sie als unverlässlich und heruntergekommen vorgestellt wird, wie in CB 105. Berichtet wird hier von der Traumerscheinung eines fahlen und zerzausten Cupido (Str. 2).20 Er klagt über den Niedergang der Liebe, verfällt dabei aber gerade nicht in die platonische Unterscheidung einer himmlischen und einer gemeinen Aphrodite des Volkes,21 sondern sieht das positive Ursprungsbild in jener Liebe, die Ovid lehrte und die nun darniederliege (Str. 7f.). Ovid habe sich, in den Künsten Cupidos glücklich unterwiesen, den Begierden und Regeln der Welt entziehen können und habe danach gestrebt, genau diese Welt aus ihrem Irrtum zurückzurufen; er habe mit Verstand zu lieben gelehrt. Wie die folgenden Strophen zeigen, geht es dabei – in Übereinstimmung mit der ,Ars amatoria‘ – nicht um ein Konzept der sublimierten, sondern der kultivierten sinnlichen Liebe, die nun barbarisiert werde. Dem Liebesbarbarismus der moderni wird eine elitäre Liebeskultur der antiqui entgegengehalten (Str. 9-11). Das Lied verficht damit eine Idee, die in der späteren Minnedidaktik einigermaßen verbreitet ist: die Kritik an einer wahllosen, fortuna-artig blinden Liebe, die gerade den falschen Liebenden reüssieren lasse, den wahren aber bestrafe. Die spätere didaktische Systematisierung des mittelalterlichen, zumal des höfischen Liebeskonzepts führt zu einer Annäherung der Liebe an die Figurationen einer hinfälligen und verderbten Welt, wie sie sich zumal in Luxuria repräsentiert. Sie führt weg vom poetischen Konzept einer leidvoll erfahrenen, aber gerade darin affirmierten Souveränität der Liebe. Die Entwicklung und die in ihr zu erkennende Infiltration des Liebesdiskurses mit Denkformen der Weltpolemik folgt dabei aber keiner klaren epochalen Ratio, sondern beschreibt gewissermaßen das Phänomen einer Diskursentfaltung, die die immer schon gegebenen Analogien zur Deckung bringen kann, aber nicht muss. Bevor wir uns im Folgenden noch eingehender mit diesen Analogien zwischen Liebesklage und Weltklage beschäftigen, sei zu den beschriebenen Tangenten zwischen contemptus mundi und weltlicher Lyrik betont: 20 21
Körperbild und Bedeutung zeigen gewisse Analogien zur Erscheinung der Ecclesia im Körperschema der Welt (vgl. oben Kap. II.2, 187). So wie Ecclesia dort steht die Liebe hier als Instanz nicht generell, sondern bloß in ihrem jetzigen Zustand in Frage. Aphrodite Urania und Aphrodite Pandemos, den Gegensatz entwickelt Pausanias in seiner Symposions-Rede (Platon, ‚Symposion‘, 180c-185c).
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Sowohl Fortuna als auch Venus kann vorgehalten werden, was eine geistliche Polemik dem Mundus und seinen allegorischen Repräsentationen, sei es Luxuria, sei es Frau Welt, vorhält: nämlich ein Versprechen nicht einzuhalten, das niemals gegeben wurde. An Venus oder Fortuna gerichtet, affirmiert diese Vorhaltung freilich die Souveränität dieser Figurationen der Immanenz, anstatt sie zu destruieren. PARADOXE AMOUREUX UND ABSOLUTISMUS DER IMMANENZ. – Im Modus der fin’amor fingiert die höfische Liebeslyrik eine unbedingte Auslieferung des Liebenden an das, was er liebt. Diese unbedingte Auslieferung nähert sich – als Akt der Hingabe – dem an, was Jacques Derrida unter dem Begriff der „unmöglichen Gabe“ beschrieben hat. Diese unmögliche Gabe wäre verkürzt gesagt eine Gabe, die ohne Kalkül und ohne Wissen gegeben würde.22 Indem der grand chant courtois das Entstehen von Liebe als einen unbewusst und ungewusst vollzogenen Akt imaginiert, der daher auch nicht auf eine Gegengabe, auf einen Tausch rechnen kann, reicht er einerseits denkbar knapp an eine derartige Fiktion heran. Schon indem er sich – wenigstens nachträglich – dem Kalkül, dass diese Liebe doch Gewinn abwerfen könnte, nicht verschließt (beispielsweise in der fortwährenden Vergewisserung, dass die Geliebte aufgrund ihrer Schönheit und Tugend den Aufwand lohne, auch wenn sie selbst nicht lohnen würde), dokumentiert er zugleich eben die Unmöglichkeit dieser Gabe. Man könnte von der anderen Seite, von jener der Herrin her, auch von einem „unmöglichen Lohn“ sprechen, weil er für einen Dienst erwartet wird, der nie erbeten wurde. Im Gestus des „trotz allem“, mit dem im grand chant geliebt wird, in der zirkulären Struktur des Gesangs, der immer an seinen Ausgangspunkt zurückkehrt, scheint dieses Paradox erkannt zu werden. Zugleich liegt in ihm eben ein minimales Kalkül verborgen. Es lässt das Präsent der Liebe immer schon zur Rechnung werden und denkt somit – wie es in der Terminologie Derridas zu formulieren wäre – das in der Gabe verborgene „transzendentale Signifikat“ niemals als präsent, sondern bloß als Spur, als ein a priori Abwesendes.23 Der terminus technicus für den Einsatz des Liebenden, der zugleich die historische Signatur des Konzepts erkennen lässt, lautet freilich nicht „Gabe“, sondern „Dienst“. Und wie sich die Gabe kaum ohne Gegengabe denken lässt, so auch nicht der Dienst ohne Lohn, selbst wenn dieser Dienst – und hierin liegt eben der unausgesprochene Irrtum des Begriffs –
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Derrida 1993. Das Paradox und die Ironie des Derridaschen Begriffs der Gabe liegen dabei wie so oft in dem „Denkfehler“ verborgen, dass er genau jenes onto-theologische Signifikat als ein Apriori setzt, das es als nicht-präsent und also nicht-existent zu erweisen gilt.
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unerbeten erbracht wurde und der Lohn schon in seiner bloßen Akzeptanz durch die Minneherrin bestünde: Bona domna, re no·us deman mas que·m prendatz per servidor, Qu’e·us servirai combo senhor, cossi quel del gazardo m’an.
So heißt es in Bernarts de Ventadorn Kanzone ‚Non es meravelha‘.24 Das Beispiel zeigt, dass es der grand chant courtois letzten Endes vermeidet, den unbedingten Dienst des Liebenden als einen bedingten zu begreifen, ihn nach dem Kalkül der Angemessenheit durchzurechnen. Dort, wo dies allerdings getan wird, ist der Preis nicht weniger radikal als das paradoxe amoureux25 selbst. Die Lossagung von der Minneherrin in Bernarts ‚Lerchenkanzone‘ endet in einer Vorstellung, die uns aus Anselms ,Exhortatio ad contemptum temporalium‘ vertraut ist: Aissi·m part de leis e·m recre; mort m’a, e per mort li respon, e vau m’en, pus ilh no·m rete, chaitius, en issilh, no sai on.26
Der Verlust des Lebens, der aus der Lossagung von der Liebe resultiert, könnte auf den unbedingten, immer gegebenen, paradoxen Lohn verweisen, der im Lieben selbst bestünde: Dieser Lohn wäre die bloße Existierbarkeit, die Fiktion einer für sich lebenswerten Existenz – „Gott möge mich keinen Tag oder Monat länger leben lassen, so ich keine Sehnsucht nach Liebe mehr habe“, heißt es in der zweiten Strophe von Bernarts Kanzone ,Non es meravelha‘.27 Diese einzig mögliche Existenzform beschreibt sich innerpoetisch als Tätigkeit des Liebens, poetologisch aber als jene des Singens. In der höfischen Lyrik ist beides identisch und nicht das eine – wie in der Forschung vielfach behauptet – der Metadiskurs des anderen. Das Ende des Liebens beschreibt sich in Bernarts ‚Lerchenkanzone‘ folglich auch als Ende des Singens. Das Singen ermöglicht dabei die allgemeine Teilhabe an dieser existenziellen Bedingung des Liebens, es 24
25 26
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Zitiert nach Mittelalterliche Lyrik Frankreichs I, Nr. XVII, Str. VII; ,Edle Dame, nichts erbitte ich von Euch, / als daß Ihr mich als Diener nehmen sollt, / denn ich werde Euch wie (man) einem guten Herrn (dient) dienen, / wie immer es auch mit dem Lohn ergehe‘ (Übers. D. Rieger). Man erinnere sich an dieser Stelle daran, dass die Welt den ebenso unerbetenen Lohn für einen Dienst erstatten will, der ihr nicht willentlich erbracht worden ist. Zur Begriffsprägung vgl. Spitzer 1959. Ebd., Lied XVI, Str. VII,5ff. ,So trenne ich mich von ihr und sage mich (von ihr) los; / sie hat mich getötet, und als Toter [oder: durch den Tod] antworte ich ihr / und ich gehe, da sie mich nicht (in ihrem Dienst) behält, / unglücklich fort ins Exil, ich weiß nicht wohin.‘ (Übers. D. Rieger) Ebd., Lied XVII, Str. II, 5ff.: Ja Domnedeus no·m azir tan / qu’eu ja pois viva jorn ni mes, / pois que [...] d’amor non aurai talan.
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ermöglicht seine Kommunikation nach Außen, die mit dem Ende des Liebens zugleich unterbunden wird. Insofern kann der Name dessen, an den sich die Tornada von Bernarts ‚Lerchenkanzone‘ richtet, etymologisch genommen werden: Die Lossagung von Liebe und Singen lässt den Adressaten des Gesangs zu jener Gestalt werden, die Traurigkeit und Unmöglichkeit der Freude bereits im Namen trägt: Tristans, ges no·n auretz de me, qu’eu m’en vau, chaitius, no sai on. De chantar me gic e·m recre, e de joi e d’amor m’escon.28
Das Ende der Liebe bedeutet auch das Ende der Poesie. Die Radikalität der Absage ließe sich als eschatologische Übertreibung verstehen: Die „persönliche“ Enttäuschung, das persönliche Ende wird auf eine kommunikativ beteiligte „Mitwelt“ (hier benannt mit der Namens-Chiffre „Tristan“) übertragen, die als vom Los des Sängers betroffen imaginiert wird.29 Dessen künftige Existenz als lebender Toter nähert die liebeslyrische Lossagung neuerlich der revocatio des contemptus an, freilich mit dem Unterschied, dass wie in den Fortuna- und Venusliedern auch diese Lossagung in keine transzendente Heilsaussicht mündet. Dies wiederum könnte die Absurdität des Kalküls von Dienst und Lohn erweisen, das als leitendes Thema das Lied durchzieht: vom Eingeständnis des Nichtwissens und des Selbstverlusts in der Liebe (Str. II und III), über die Verzweiflung gegenüber den Damen (De las domnas me dezesper; Str. IV) und die Invektive gegen die Herrin, die sich nur den Anschein gebe, eine solche Herrin zu sein (Str. V), bis hin zur Liebes-desperatio, zur Behauptung, ihre Gnade verloren zu haben. Die Unangebrachtheit dieses Kalküls erwiese sich dabei schon darin, dass die Gnade nicht verloren gegangen sein kann, weil sie nie versprochen wurde.30 Der Anfang des Liedes wäre mit seinem Bild von der Lerche, die den Strahlen der Sonne entgegenfliegt und sich im Flug fallen lässt, genau auf diese Inkommensurabilität und Unkalkulierbarkeit der Liebesbindung zu beziehen.
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Ebd., Lied XVI, Str. VIII. ,Tristan, Ihr werdet von mir nichts (mehr) [d.h. keine Lieder] erhalten, / denn ich gehe, unglücklich, fort, ich weiß nicht wohin. / Vom Singen lasse ich ab und sage ich mich los, / und vor der Freude und der Liebe weiche ich aus.‘ (Übers. D. Rieger) Zur Deutung des Tristan-Namens vgl. Mittelalterliche Lyrik Frankreichs I, hg. Rieger, 263f. Vorgeschlagen wurden die Dame (wie bei den meisten Senhals) oder – für Rieger weniger wahrscheinlich – ein Dichterkollege (Raimbaut d’Arenga?). M. E. ist die Referenz offengehalten, „Tristan“ muss der erotischen und poetologischen Logik des Liedes zufolge jeder werden, der es vernimmt. Die Sprache verspricht (sich) in Bernarts ,Lerchenkanzone‘ fortgesetzt und mehrfach, ließe sich mit Paul de Man (1979, 277) sagen.
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Dem paradoxe amoureux, der Unmöglichkeit eines unbedingten Dienstes, entspräche schließlich das Paradox oder die Unmöglichkeit seiner Aufkündigung, die die Geleitstrophe ausspricht. In ihr formuliert das Lied gewissermaßen ein Missverständnis seiner selbst: Der Liebende fingiert den paradoxen, unbedingten Dienst zunächst als die einzig lebenswerte Existenzweise; die Lossagung beruht hingegen auf dem unangebrachten, gegen das Liebesparadox gerichteten Kalkül des Lohnes und entpuppt sich so als fataler Irrtum. Denn sie mündet in eine Existenz als lebende Leiche, eine Existenz, die im Unterschied zur conversio des contemptor mundi bei Anselm keine Alternative eröffnet: Sie gelangt im Verzicht auf das unmögliche irdische Glück nicht zur Vorwegnahme einer transzendenten Seligkeit. Der kalkulierte Austritt aus dem paradoxe amoureux erweist letztlich nichts anderes als die Paradoxie seiner selbst. Indes muss auch hier – wenn man gegen die rigide Dramaturgie dieses Liedes die zirkuläre Logik trobadoresker Kunst setzt – kein endgültiges Ende bezeichnet sein. Die radikale Negativität des Liedes ließe sich vom Œuvre her hinterfragen, ohne dass man sie damit entschärfen müsste. Erst eine biographistische Deutung würde die ‚Lerchenkanzone‘ als Bernarts letztes Lied fehllesen. Ironie und Produktivität des paradoxe amoureux bestehen aber gerade darin, dass genau auf diesen Schluss nach den Gesetzen der Zirkularität und der Wiederholung, die diese Liebespoesie definieren, ein neues Lied gesungen werden kann, wenn nicht sogar muss. Die domna der ‚Lerchenkanzone‘ Bernarts de Ventadorn beschreibt eine Figur der negativen Souveränität, auf deren Willkür nur mit einem Ende des Dienstes und also mit einem Ende des Singens geantwortet werden kann. In diesem Akt besteht die einzige souveräne Entscheidung, die dem liebenden Sänger verbleibt. Da sie auf einem unangemessenen Kalkül basiert, ist ihr widersprüchlicher Effekt jedoch gerade die Aufgabe einer einzig im Lieben und Singen gegebenen (beziehungsweise fingierten) positiven Existenzmöglichkeit. Das eine Paradox, jenes der Liebe, wird gegen ein anderes eingelöst, nämlich gegen das Paradox eines Lebens als Toter, wie es der contemptus mundi empfiehlt. Ein solches totes Leben steht hier freilich nicht im Zeichen von transzendenter Erwartung und kontemptorischem Frohsinn, sondern von Trostlosigkeit und Trauer um einen echten Verlust im Hienieden. Wieder schreibt sich die weltliche Poesie an die Logik theologischer Weltverachtung heran, analogisiert sich ihr. In dieser Analogie erweist sie zugleich ihre Differenzqualität und damit die Suspendierbarkeit des theologischen Deutungsmonopols. ICH BIN IUWER, FROWE MINNE. – Das Lied ‚Ich hân ihr so wol gesprochen‘ Walthers von der Vogelweide (Cor 17; L. 40,19) entwickelt in den Grundzügen denselben Gedankengang. Es beginnt mit einer Klage gegen
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die Dame. Allerdings leidet der Sänger nicht, weil ihr Lohn ausgeblieben ist, sondern weil er ihn in der pervertierten Form der Strafe erhalten habe: Für das Lob, das er ihr singe, ernte er bloß ihren Hohn. Die klagende Partei appelliert daher an die zuständige Instanz, an die personifizierte Minne selbst (frowe minne, daz sî iu getân; Str. I). Damit schwenkt das Lied in das szenographische Muster des „Minnegerichts“ ein, das spätestens mit Andreas Capellanus’ ,De amore‘ topisch geworden ist, und führt es im Folgenden aus. Die dominante rhetorische Strategie ist einmal mehr die Apostrophe, hier an Frowe Minne. Wieder stehen wir vor einer fictio personae, die die adressierte Personifikation gerade nicht zu Wort kommen lässt, dafür aber die Anklage gleich in der zweiten Strophe auf die zur Richterin berufene Minne überträgt. Der liebesleidende Sänger präsentiert sich als verdienter Kämpfer der Liebe. Ihres Ansehens wegen habe er gegen unstæte liute gefochten, weshalb er füglich eine gute Behandlung verdiene. Mit genau dieser Ansicht könnte er freilich einem fundamentalen Irrtum erlegen sein: Die Behauptung unterstellt nämlich, die Minne würde nicht souverän, sondern nach dem festen Gesetz des Verdiensts handeln. Aufgrund dieser Fehleinschätzung sieht sich der Sänger zu Unrecht im Kampf für die Minne von der Minne selbst verwundet, während sie, die Minneherrin, unbeschadet davongekommen sei (Str. II). Er sieht sich gewissermaßen einem „friendly fire“ ausgesetzt, ohne zu bedenken, dass genau dies nicht gewiss ist: ob es sich nämlich um ein friendly fire handelt. Würde sie seiner Ratio folgen, wäre die Minne dazu angehalten, entweder auch die andere Partei zu verwunden oder die Wunde des Sängers zu heilen (Str. III). Hier wird also eine Kommensurabilität der Liebesempfindung eingefordert, die in anderen Liedern, etwa im Mâze-Lied (Cor 23a; L. 46,32),31 als Unmöglichkeit erkannt ist. Die in den Handschriften E und Ux eingeschobene Strophe32 formuliert das Problem in der zu erwartenden Terminologie: Die Minne habe dem Sänger besser zu lohnen als anderen, denn er sei es auch, der ihr besser gedient habe. Was solle ihre neue Unart, dass sie genau den erhöhe (hêret), der sie verunehre, und dass sie auf diese Weise die Besten verderbe. Das ist der oben an CB 105 skizzierte Gedanke einer Pervertierung der Liebesidee. Im übrigen ist der Vorwurf unzutreffend, da die als Ungerechtigkeit wahrgenommene Unkalkulierbarkeit der Liebesgabe das paradoxe amoureux des Hohen Sangs eben erst konstituiert. Das Lied schließt mit der Beteuerung, der Sänger gehöre ganz ihr, der Minne (Ich bin iuwer, frowe Minne), stellt dies aber unter eine Bedingung und tilgt damit die Idee einer unbedingten Liebesbindung: Wenn sie, die Geliebte, ihm und dem Pfeil der Liebe entginge, dann wäre die Selbstver31 32
Vgl. oben Kap. I.3. Cor 17.V; L. 169,1; die Strophe fehlt in den Handschriften A und C.
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schreibung an die Minne aufgehoben (wir zwei sîn gescheiden). Die Beteuerung formuliert sich damit zur Drohung um, die das Ende des Singens miteinschließt (wer solte iu danne iemer iht geklagen?). Wiederum steht hier eine Figur der Souveränität gegen ein beschädigtes, verwundetes Ich. Die Vorwürfe an den Souverän, in diesem Fall die Minne selbst, entsprechen jenen, die die ‚Lerchenkanzone‘ an die Minneherrin richtet, und belegen neuerlich die Möglichkeit einer allegorischen Ersetzung der konkreten Liebesbeziehung. Sie evoziert eine andere, artifiziellere und traditionellere Ikonographie (Liebeswunde, Liebespfeil) und verhandelt das Problem der Leiderfahrung auf einem prinzipielleren Niveau, womit auch dessen Referentialität breiter wird.33 In Appellform, Apostrophe und Dramaturgie des Liedes sind dabei deutliche Korrespondenzen zu Walthers Dialoglied mit Frau Welt zu erkennen. Der Ratio des Abschieds von der Welt nähert sich die angedrohte Aufkündigung der Minnedienerschaft des Sängers an. Dies auch insofern, als die Unterwerfung der Minne unter ein Kalkül der Angemessenheit und die daraus resultierenden „moralischen“ Vorhaltungen ihre behauptete Souveränität beschädigen. Im Unterschied zum Dialog mit Frau Welt verbleibt der Sänger mit seiner Rechnung aber diesseits der Immanenz. Die angedrohte Lossagung zielt nicht auf eine conversio hin zu „jener“ Sphäre, sondern vollzieht eine poetologische Inversion: Die Machtverhältnisse werden umgekehrt, die Klage gegen die Willkür der Minne dokumentiert letztendlich nicht deren, sondern seine, des Sängers Souveränität: Wenn es mit dem Minnesang aus ist, schlägt auch für die Minne die letzte Stunde. Wie aber aus Walthers brüskem Abschied von der Welt die Angst spricht, er könnte ihr nur allzu bereitwillig wieder verfallen, so verbirgt sich auch in der Drohung gegen die Minne ein Paradox: wer solte iu dann iemer iht geklagen – „Wer sollte Euch noch Klagelieder singen, wenn wir geschieden sind?“ Wäre der Minne eine sermocinatio gegönnt, sie könnte mit der Gegenfrage antworten: „Wie willst du Klagelieder singen, wenn ich deinem Begehren stattgebe?“ Aus mit dem Sang ist es, wenn der Anlass, die poetische Fiktion des Minneleids fehlt.34 Die Anklage ist somit nichtig, weil sie sich unter der Vorgabe, dass nur so weitergesungen werde, gegen das poetische Prinzip, das paradoxe amoureux, wendet und es auf diese Weise letztlich bestätigen muss. Das Lied affirmiert mit seiner poetologischen Inversion der Macht33
34
Dies illustriert u.a. die sozialhistorische Deutung des Liedes, die die Minne als Figuration des Hofes, vorzugsweise des Hofes zu Wien begreift (vgl. etwa Nolte 1991, 185ff.). Hinter einer solchen Lesung verbirgt sich jene biographistische Konstruktion, die zu den wirkungsmächtigsten Denkschemata der Waltherphilologie zählt. Die Strategien der „Ermächtigung des Sängers“, die sich in solchen Passagen aussprechen, verlaufen also ambivalenter als bei Kellner 1997, bes. 47f. dargestellt.
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verhältnisse die unkalkulierbare Erfahrung der Liebe. Damit macht es auch deren poetische Setzung bewusst. Es gibt vor, denkbar knapp an jenem Punkt zu stehen, der den Austritt aus dem paradoxen Zirkel des Liebens und damit eine Lösung der in ihr implizierten immanenten Bindung bezeichnen würde, erweist sich aber in Wahrheit als denkbar weit von ihm (und von dem, was im Dialog mit Frau Welt geschieht) entfernt. Das Lied, der Gesang affirmiert sich letztlich selbst. Die bedenkliche Analogie zwischen Walthers Klage gegen die Minne und seinem Abschied von der Welt ist eine Analogie der Differenz, sie dokumentiert als solche neuerlich die Mehrdeutigkeit korrespondierender lyrischer Szenographien und lässt uns folgenden Schluss ziehen: Die Paradoxie einer Gabe, die nicht kalkuliert ist und doch immer wieder nachträglich kalkuliert wird, die Kontingenz der Liebeserfahrung, die Korrespondenz zwischen dem unbedingten Begehren und der von diesem imaginierten Souveränität des Liebesobjekts sowie die Dramaturgien des Umschlags erzeugen in der höfischen Liebeslyrik ein ikonisches und hermeneutisches Tableau, das den Strategien des contemptus mundi in wesentlichen Punkten entspricht. Die Liebesbindung formuliert sich in einer DienstLohn-Analogie, die das grundlegende Paradox einer immer neuen aporetischen Verhandlung unterzieht, dabei aber selbstredend zu keiner Lösung gelangt (worin wiederum genau die geheime und raffinierte Selbstlegitimation eines Sanges begründet liegt, der sich ständig wiederholen muss und wiederholen will). Bei aller Sublimation bleibt das erotische Konzept streng auf Sinnlichkeit und Leiblichkeit bezogen und kontrastiert hierin Körperbilder der Souveränität mit solchen der Beschädigung (dass sich dabei das Dispositiv der Geschlechter und ihrer Leiber ändern kann, deutet sich in der Figur von Walthers Minne an; wir werden ihm an den Imaginationen eines beschädigten Körpers der Minneherrin nachgehen). Das Paradox dieser Dienstliebe drängt die Texte immer wieder an den Punkt der Lossagung. Es bedarf nur einer kleinen allegorischen Verschiebung und es bedarf bloß der Sakralisierung des verhandelten Problems, damit aus der besungenen Herrin die Allegorie der vanitas und aus der problemgesättigten Liebe die Idee vom zweifelhaften Lohn der Welt wird. Die weltliche erotische Lyrik schafft sich somit selbst die geneanalogische Basis für jenes poetische Sujet, das ihre Souveränität, ihren paradoxen „Absolutismus der Immanenz“ aufzuheben scheint; sie schafft sich jenes Sujet, in dem sie gewissermaßen ihren demütigen Kniefall vor einem theologisch-eschatologischen Diskurs vollzieht, den sie immer schon hinter sich gelassen hat. Denn indem sie dies mit den eigenen poetischen Modellen tut, fällt sie im Modus der Ironie auf die Knie und erweist gerade die Suspendierbarkeit, das Ende des Absolutismus transzendenter Weltkritik. Nicht wäre also das paradoxe amoureux, wären Minne- und For-
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tunaklage als Säkularisate jener Weltklagen zu verstehen, die die contemptusTraditionen entwickeln, vielmehr erwiese sich das Genre der Frau-WeltTexte als Sakralisat, als der theologische „Raub“ an einer säkularen Poesie (den diese noch dazu selbst angestellt hätte).35 So können und wollen wir dies jedenfalls an dieser Stelle denken. IMMANENTE BINDUNG UND TRANSZENDENTE AUFHEBUNG IM KREUZLIED. – Der Übertragung des paradoxe amoureux auf ein paradoxe mondial, wie es in Walthers ‚Abschied von Frau Welt‘ vorliegt, sind die Lossagungen vorgängig, die das Kreuzlied formuliert. Für das Kreuzlied ist die allegorische Überschreitung jener Grenzen der Immanenz konstitutiv, in denen sich die Liebeslyrik bewegt. Es ist jenes lyrische Genre, in dem das paradoxe amoureux und seine transzendente Aufhebung zusammengeführt sind. Damit setzt es um, was der Hohe Sang gerade verweigert. Es konfrontiert einen poetischen Diskurs der Immanenz mit einem theologischen Diskurs der Transzendenz. Angesichts der Entsprechungen beider Diskurse, angesichts der para-metaphysischen Referenz der unbedingten Liebesbindung (die Minneherrin als immanentes Substitut eines absoluten „transzendentalen Objekts“) und angesichts des grundsätzlichen hierarchischen Gefälles zwischen beiden Diskursen ist diese Engführung oder Kontamination durchaus naheliegend, und sie wird in den Kreuzzugsaufrufen und deren Versprechungen eines transzendenten Heils, das im Ritterdienst nun endlich zu finden wäre,36 auch indiziert. Bemerkenswert – auch für das subversive Potential und den Grad der Selbstbehauptung der Poesie – ist daher nicht das Faktum der diskursiven Konfrontation von Frauenliebe und Gottesliebe, sondern die Pluralität der möglichen Entscheidungen.37 Für unseren Zusammenhang mag ein kurzer Blick auf Friedrich von Hausen genügen. Einen guten Ausgangspunkt bieten jene aggressiven Phantasien, die die Strophen von MFMT XV (,Wâfenâ, wie hât mich minne gelâzen‘) formulieren, auch wenn es sich bei ihnen gerade nicht um ein veritables Kreuzlied handelt. Die ersten beiden Strophen kommen zudem in der Handschrift C, ihrem einzigen Überlieferungszeugen, in einiger Distanz zu den Strophen 3 und 4 zu stehen, mit denen sie in ,Des Minnesangs Frühling‘ unter einer Liednummer kombiniert sind (C 15/16 zu C 45/46). In35 36 37
Den Vorwurf des „Raubes“, einer illegitimen Aneignung sieht Hans Blumenberg (1999, 20ff.) im Begriff der Säkularisierung impliziert und hierauf gründet sich auch seine Begriffskritik. Von zentraler geistesgeschichtlicher und faktengeschichtlicher Bedeutung sind bekanntermaßen die Kreuzzugs-Aufrufe von Papst Urban II. und Bernhard von Clairvaux, hierzu Runciman 2001, 104ff. und 555ff. Hierzu u.a. Kasten 1986, 284ff., Schnell 1986 und Klein 2000.
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teressieren muss an ihnen die Metaphorik der körperlichen Beschädigung, die mit dem Kalkül verbunden ist, dass dem Dienst ein Maximum an Lohn folgen müsste, aber nicht folgen kann. Gerade in XV.1/2 häufen sich die Termini einer solchen Kalkulation: mich dûhte ein gewin, und wollte diu guote / wizzen die nôt, diu wont in mînem muote (XV.1,6f.).38 Der anaphorische Ruf zu den Waffen, mit dem beide Strophen beginnen, gibt vor, auf eine metaphorische Beschädigung des Liebenden zu reagieren: Er sieht sich verflucht (verwâzen; 1,3) und von der Herrin ohne Rute verbläut (2,7). Seine Gegenaggression bleibt hypothetisch, sie manifestiert sich in einer äußersten verbalen Spannung zwischen Selbstalarmierung (wâfenâ) und dem beschwichtigenden Rückzug auf das Theorem vom unbedingten Dienst im Zeichen des paradoxe amoureux: und wil dienen mit triuwen der guoten / diu mich dâ bliuwet vil sêre âne ruoten (2,6f.). In den metrisch und inhaltlich korrespondierenden Strophen 3 und 4 (C 45/46 und B 43/44) findet sich schließlich die Phantasie einer physischen Aggression. Sie richtet sich nun aber nicht gegen die Geliebte, sondern gegen einen allegorischen Leib, gegen die Minne. Minne, got müeze mich an dir rechen! wie vil dû mînem herzen der vröiden wendest! und möhte ich dir dîn krumbez ouge ûz gestechen, des het ich reht, wan du vil lützel endest An mir sölhe nôt, sô mir dîn lîp gebôt. und waerest dû tôt, sô dûhte ich mich rîche. sus muoz ich von dir leben betwungenlîche.39
Dieser Leib ist zunächst nicht als intakter, schöner, sondern als entstellter Leib imaginiert, wenn wir das krumme Auge, das die Minne haben soll, als Metonymie dafür verstehen, dass hier eine dem Anschein nach schöne Gestalt dabei ist, ihr wahres Gesicht zu zeigen. Der Liebende begnügt sich nun aber nicht damit, sich von einer solchen Minne (als wäre sie der mundus ridens oder die stinkende Luxuria) abzuwenden, sondern droht ihr, ihr krummes Auge auszustechen, wenn ihm nicht sofort gelohnt werde. Der erbrachte unbedingte Dienst begründet nicht bloß eine Forderung nach Lohn, sondern verschärft diese zu einem Akt der (irrealen) Nötigung. Die 38
39
,Mir erschiene es schon ein Gewinn, wenn die Gute auch nur um die Not wüsste, die in meinem Inneren wohnt.‘ Da dieses Wissen allein schon genügte, um einen Mechanismus des Belohnens auszulösen, verbirgt sich in diesem Minimum eben zugleich ein Maximum des Gewinns; vgl. zur Terminologie des Kalküls außerdem geniezen (1,4), gunnen (2,2), daz ich in der werlte bezzer wîp iender vunde, [...] dêst mîn wân (2,4f.; „dass ich in der Welt keine bessere Frau finden könnte, das ist meine Spekulation“ – der Satz rechtfertigt den Einsatz). ‚Minne, Gott müsste eigentlich an dir für mich Rache nehmen! / Wie viele Freuden du meinem Herzen verkehrst! / Und wenn ich dir dein krummes Auge auszustechen vermöchte, / ich hätte das Recht dazu, weil du so gar nicht / die große Not beendest, die mir dein Leib auferlegt hat. / Und wenn du tot wärest, wie reich käme ich mir vor! / So aber muss ich von dir bezwungen weiterleben.‘
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Aggression steigert sich zum Todeswunsch gegen die Liebe, der freilich ebenso irreal ist, weil er sich gegen eine Allegorie und zugleich gegen eine Instanz des Sanges, also auch gegen sich selbst richtet: und waerest du tôt, sô dûhte ich mich rîche (4,6). Die Unmöglichkeit dieser Phantasie bezeichnet der letzte Vers: sus muoz ich von dir leben betwungelîche (4,7). Auch am Ende der Strophen 3 und 4 steht die äußerste Spannung einer paradoxen, zwangsweisen Fügung in das Unmögliche. Die Aggression entpuppt sich letztlich als Autoaggression. Und darin folgt sie wiederum der Logik des grand chant courtois, auch wenn sie dessen decorum in der phantasierten Verunstaltung der Minne durchbricht. Abhilfe deutet sich nur von der anderen Seite schlechthin an, von Gott: Minne, got müeze mich an dir rechen! (4,1) Das Lied oder besser gesagt: das Strophenensemble steht damit an dem besagten transzendenten Wendepunkt, den es selbst nicht überschreitet, dessen Überschreitung aber jene Kreuzlieder Friedrichs von Hausen vollziehen, die im überlieferten Corpus den unmittelbaren Kontext bilden. Die Schärfe des beinahe vollzogenen contemptus amoris in den Strophen XV.1-4 scheint genau auf dieses Konzept des transzendenten Austritts und des poetischen Registerwechsels zu referieren. Die auf Strophe 1 und 2 in Handschrift C folgende Kreuzliedstrophe betont unter Androhung des Verlusts des Himmelreichs, dass die Kreuznahme eine unumgängliche Verpflichtung bedeute. Ihr wiederum folgt Lied V (C 20-24), das dem paradoxe amoureux endlich die revocatio im Zeichen der transzendenten Verheißung entgegenhält: Mîner vrowen was ich undertân, / diu âne lôn mînen dienst nan. [...] / nu will ich dienen dem, der lônen kan.40 Dass die Herrin den Dienst des Sängers tatsächlich entgegengenommen hätte, davon kann freilich nicht die Rede sein. Vielleicht begründet sich so die Abschwächung in Strophe 5, die revocatio der revocatio: Sie beteuert, dass – bei allem Leid – gegen sie nichts Schlechtes zu sagen wäre, der Grund der Abkehr sei vielmehr das lange Vergessen auf Gott. Hier sind wir nun endlich bei dem zentralen (wenngleich nicht schärfsten) Gedanken des contemptus mundi angelangt: Dass die Liebe zur Welt nämlich die Zeit verkürze, die für das Denken an Gott reserviert sein sollte.41 Die Relativierung dieses Arguments steht in Hausens Lied allerdings eben zuvor zu lesen: „Wann immer ich es vor Gott wagen darf, so denke ich an sie. Er muss es mir vergeben – warum hat er sie auch so schön gemacht?“42 Die Signifikanz des Kreuzliedes besteht darin, dass es einerseits eine Übertragung des minnelyrischen Sujets veranstaltet, die dessen Absolutis40 41 42
,Meiner Herrin war ich Untertan, / die, ohne mir zu lohnen, meinen Dienst entgegennahm [...] / Nun will ich dem dienen, der auch wirklich zu lohnen versteht.‘ (4,1f. und 4,10) Dies ist später auch ein Hauptgedanke in Petrarcas ‚Secretum‘, vgl. unten Kap. II.5, 293ff. swenne ich vor got getar, sô gedenke ich ir. / daz geruoch ouch er vergeben mir: / ob ich des sünde süle hân, / wie geschuof er sî sô rehte wol getân? (2,6ff.)
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mus der Immanenz durch einen Absolutismus der Transzendenz zu tilgen vorgibt. Andererseits kann die Hierarchisierung von Gottesliebe und Frauenliebe auch relativiert, wenn nicht gar umgekehrt werden: So etwa, wenn der Liebende in Hausens Lied VI sein Herz an sie zurücksenden will, der Leib aber bei Gott verbleibt.43 Die Paradoxie des fragmentierten Körpers verweist auf das paradoxe amoureux und affirmiert es gegen die erwartete Hierarchie von amor carnalis und amor Dei, indem es eine signifikante Inversion formuliert: Das Herz ist als Organ der Liebe mit einem Sensorium für das ausgestattet, was jenseits des Physischen liegt. Es existiert – das reflektiert ja genau die Metapher seiner Schenkung – nicht bloß im physiologischen Sinn, sondern metaphorisiert eine absolute Bindung. Genau dieses gewissermaßen transzendentale Organ verbleibt jedoch in der Sphäre einer immanenten Liebe; der Leib, die der Sterblichkeit verschriebene Hülle, wird Gott dediziert. Derselben Ratio folgt, wie wir sahen, der Kreuzritter in Konrads ‚Herzmäre‘ und kontrastiert darin mit dem Weltflüchtling Wirnt von Grafenberg. Im zurückgesandten oder zurückbleibenden Herzen formuliert sich eine Nostalgie, die sich auf die imaginierte Geliebte richtet und die in ihr letztlich alles Zurückgelassene symbolisch kondensiert. Man könnte darin jene unbedingte Sehnsucht nach der Heimkehr vorweggenommen sehen, die das spätere Kreuzlied – auch, aber nicht nur in Reaktion auf die desillusionierenden historischen Erfahrungen – formuliert. Das prominenteste Beispiel hierfür gibt Neidharts Sommerlied 11. In einem Akt des poetischen Realismus, in der zunächst verschleierten und dann enthüllten „historischen“ Wahrheit über den Zustand der Pilger, hintergeht es jene transzendente Verheißung, die die Kreuzzugsideologie propagiert hatte.44 Mit seiner Restituierung der Frauenliebe liest es sich zudem als Gegengesang zu Neidharts Liedern der Weltsüße, als ein Gegengesang, der diese Weltsüße in Gestalt der vrouwe des Minnesangs wieder ins Recht setzt. Eine Voraussetzung dafür, dass sich diese desillusionierende Erkenntnis 43 44
Zur Deutung des Liedes als Dialog zwischen Herz und Leib vgl. Klein 2000, 83ff. Das bei der Geliebten zurückgelassene Herz ist verfügbarer Topos des Genres. Es handelt sich um ein Botenlied. Ein Bote wird vom Sänger, der sich als Kreuzritter im Heiligen Land befindet, nach Österreich entsandt, um seiner Minneherrin Gruß und Dienst zu übermitteln und denen daheim den Wunsch der „Pilger“ zu überbringen, sie wären zu Hause. Vgl. bes. VI,4ff.: ob si dich des vrâgen / wiez umbe uns pilgerîne stê, / sô sage, wie wê / uns die Walhen haben getân! des muoz uns hie betrâgen. (,Wenn sie [die Freunde und Verwandten zu Hause] dich [den Boten] fragen, wie es denn um uns Pilger bestellt sei, so sage, wie übel die Wälschen an uns gehandelt haben! Deshalb muss es uns hier verdrießen.‘); VII,6f.: den lieben tac / lâze uns got geleben, daz wir hin heim ze lande strîchen! (,Gott möge uns den lieben Tag erleben lassen, an dem wir nach Hause kehren können!‘). Das Lied wird allgemein mit dem von 1217-1219 veranstalteten Kreuzzug gegen Ägypten in Verbindung gebracht, an dem Herzog Leopold V. von Österreich teilgenommen hat und der desaströs endete (hierzu Runciman 2001, 925ff.).
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überhaupt einstellen und formulieren kann, bilden dabei genau der poetische Entwurf der höfischen Liebe und sein Absolutismus der Immanenz. FIGURATIONEN DER FRAGILITÄT. – Dass Dienst ohne Lohn vor allem vertane Zeit bedeute, weiß Walthers Lied ‚Mîn vrouwe ist ein ungenædic wîp‘ (Cor 29, L. 52,23) wortreich zu explizieren. Nicht Liebesnot und Dienstesmüh sind es, die zu beklagen wären: mîne zît aleine, / hab ich die verlorn, daz ist mir leit (III,7f.). Das paradoxe amoureux geht an die Substanz der Lebenszeit. Dass dies mit der Zeit, die für Gott aufzuwenden wäre, konfligiert, weiß schon Friedrich von Hausen. Walthers „Gedenken an Zeit und Zeitlichkeit“ gelangt in der handschriftlichen Überlieferung des Liedes zu zwei alternativen Lösungen.45 Dass das Kalkül der vergeudeten Lebenszeit im grand chant courtois unangebracht ist, reflektiert die Fassung C: Es dürfe der Herrin nicht leid sein, wenn er in fremde Lande reite und sich dort nach würdigen Frauen umsehe. Die Erfahrung habe ihn freilich gelehrt, dass es zwar viele gebe, die schön seien, doch keine unter ihnen, deren Verweigerung ihm jemals ein Weh tun könnte (doch ist ir deheine / weder grôz noch kleine, / der versagen mir iemer wê getuo; V,6ff.).46 Den Vergewisserungsakt vervollständigt das in C anschließende Preislied ,Si wunderwol gemachet wîp‘ (Cor 30, L. 53,25). Fassung E hingegen radikalisiert das Problem: Sie hât mir bescheiden manigen tac / und versûmet mir47 vil schœne leben (,Sie hat manchen meiner Tage beansprucht und mich um viel schöne Lebenszeit gebracht‘; VI,1f.). Bleibt die Drohung, anderswâ zu tanzen, wenn sie ihre Gnade verweigere (VI,6ff.). Die abschließende Strophe (VII) treibt das Problem der unerfüllten Lohnerwartung in einer Umkehrung der üblichen Topik auf die Spitze: Mancher klage über das Nein seiner Herrin, er habe über ihr Ja zu klagen.48 Sie versage nicht, sondern verspreche (gelobet; VII,7). Und dieses Versprechen sei unselig, weil es sich auf ein fortwährend aufgeschobenes, absolutes 45
46
47 48
Es liegen im Wesentlichen zwei Fassungen vor, die der Hs. C und die der Hs. E (der wiederum Hs. O entspricht; eine rudimentäre Version bietet das Wolfenbütteler Fragment Ux). Der Strophenbestand ist für die ersten drei Strophen gleich, E hat die dritte Strophe von C allerdings an zweiter Stelle. Es folgen in C und E zwei je verschiedene Strophen (bei Cormeau Str. IV und V bzw. VI und VII). Würde man Walther für den eingeschobenen Vers „weder grôz noch kleine“ rügen wollen, läge man falsch: Die Leporello-Formel durchbricht den vermeintlich sublimen Ton, der Authentizität und Ernsthaftigkeit des Hohen Sanges ausmachen soll, und enthüllt seinen Spielcharakter und seine Offenheit hin zur Ironie. Cormeau schreibt nach Handschrift O mîn. Vgl. Heinrich von Morungen MFMT XX (MF 137,17): Du sprichest iemer neinâ neinâ nein, / neinâ neinâ nein. / daz brichet mir mîn herze enzwein. / maht dû doch eteswenne sprechen jâ, / jâ jâ jâ jâ jâ jâ jâ? / daz lît mir an dem herzen nâ. (,Immer sagst du: nein, nein, nein, / nein, nein, nein. / Kannst du nicht doch irgendwann einmal sagen: ja, / ja, ja, ja, ja, ja, ja, ja? / Das läge mir so nah am Herzen‘; 5ff.)
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Futur beziehe (‚gerne‘ und ‚jâ‘, daz müeze unsælic sîn; VII,8).49 Die Umkehrung ließe sich im Lichte von Walthers Klage vor der Minne als latente Legitimierung des paradoxe amoureux verstehen, wäre aber ebensogut als der äußerste Punkt zu begreifen, der eine ganz andere Sinngebung zuließe: etwa dann, wenn man auf dieses Lied den Abschied von Frau Welt lesen würde.50 In diesem Fall könnte das aufgeschobene Versprechen der Minneherrin den vorsätzlichen Trug der Welt allegorisieren. Indes muss das Denken in der Zeit auch sie nicht unbeschädigt lassen: „Werde ich in ihrem Dienste alt, so wird sie nicht viel jünger werden. Mein Haar zeigt sich dann vielleicht in einem Zustand, dass sie einen Jungen will. Dann helfe euch Gott, mein junger Herr: So rächt mich und geht ihre alte Haut mit der grünen Rute an!“51 Die berühmte Schlussstrophe von ‚Lange swîgen des hât ich gedâht‘ (Cor 49, L. 72,31) verbindet mit dem Motiv der gealterten Dame eine Flagellationsphantasie, die die phantasierte Aggression gegen die Minne in Friedrichs von Hausen Strophe MFMT XV.3 auf die Geliebte überträgt. Dem assoziiert sich ein Körperbild, das die makellose Schönheit der Herrin einem „realen“ Prozess des zeitlichen Verfalls unterzieht und sein imaginiertes Ergebnis gegen den gegenwärtigen Anschein hält. Die schöne Herrin erscheint als prämortales Schauderbild – dieser Entwurf einer entstellten Leiblichkeit verweist oder weist voraus auf jene poetische und bildnerische vanitas-Ikonographie, die sich in Walthers Œuvre selbst nur ansatzweise findet. Beschworen wird sie freilich nicht im Modus des Schreckens, sondern in dem einer brutalen Komik, die den Souverän des Liedes möglicherweise der Obszönität,52 jedenfalls aber der Lächerlichkeit preisgibt. Der Kunstgriff, nach der Zeit zu rechnen, was sich der Zeit entzieht, ist alt und gängig. Schon Pythagoras stellt sich in Ovids ‚Metamorphosen‘ (XV 232ff.) eine gealterte Helena vor, die vor dem Spiegel ihre Falten beweint und sich wundert, wie man um solch ein Gesicht zehn Jahre lang Krieg führen konnte. Dieser mythologische Beweis für die Theorie steter Verwandlung bedeutet einen Verstoß sowohl gegen die Logik der Mytho49
50 51 52
Konsequenterweise, so ließe sich sagen, folgt in Handschrift E eine Strophe, die sich an ein herzeliebez frouwelîn richtet, also jene intime Nähe suggeriert, deren Unmöglichkeit Cor 29 beklagt (die Strophe variiert offenkundig Lied Cor 26; L. 49,25); danach kommt das Lied ,Frauwe nement disen cranz‘ (E 51-54; Cor 51; L. 74,20), das eine verlorene, aber gerade nicht erträumte Liebeserfüllung imaginiert (die sogenannte Traumstrophe [51.IV] fehlt in dieser Fassung). Man beachte, dass die vrouwe im ersten Vers der Fassung E gar als unselic wîp angesprochen wird (statt sonst ungenædic wîp), als Frau, die Unseligkeit bringt. Solde ich in ir dienste werden alt, / die wîle junget sî niht vil. / sô ist mîn hâr vil lîhte alsô gestalt, / daz sie einen jungen danne wil. / Sô helfe iu got, herre junger man, / sô rechet mich und gânt ir alten hût mit sumerlatten an! Nämlich dann, wenn man die Sommerrute (sumerlatten kann auch Singular sein) als obszöne Metapher versteht, vgl. hierzu Mertens 1989, 205ff.
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logie, deren Figuren kein Altern kennen, als auch gegen den Hohen Stil des Epos. Er konfrontiert ihn mit einer subversiven Gegenstimme (die im übrigen auch die „hohe Theorie“ des Pythagoras ins Burleske abgleiten lässt) und gehorcht einer poetologischen Ratio. Ein poetologisches Kalkül ist es auch, das das nur mäßig verborgene, eigentliche Thema in Walthers Lied abgibt. Dies dokumentiert nicht zuletzt die Inversion des Reinmarschen Diktums „stirbet si, sô bin ich tôt“53 zu „sterbet si mich, sô ist si tôt“54, die den bei Walther durchvariierten Gedanken, dass ihr Ansehen sich seinem Gesang verdanke, intertextuell pointiert. Die Minneherrin ist poetologisch ein Geschöpf des Sängers, wie dieser innerpoetisch ihr Geschöpf ist. Insofern sagen Reinmar und Walther dasselbe, und insofern schließt schon bei Reinmar die ostentative Affirmation des Hohen Sangs seine latente Aufhebung mit ein. Denn die Minneherrin als den Souverän des Sanges auch nur hypothetisch in der Zeit zu denken, führt das paradoxe amoureux von einer anderen Perspektive her an jenen kritischen Punkt, der den Absolutismus der Immanenz gefährdet und an dem eine Allegorese nach der Denkform der vanitas ansetzen könnte (bzw. an dem sie auch ansetzt, wie Walthers Körperbild zeigt). Der beschädigten Frau korrespondiert eine Beschädigung der Chronotopik des grand chant courtois, der – hierin dem mythologischen Erzählen ähnlich – gerade auf eine Arretierung der Zeit zielt. Reinmars bloße Andeutung einer Zeitunterworfenheit der Minneherrin belegt, dass es nicht erst Walthers barbaristischer Phantasie der Geißelung bedarf, um die Minneherrin als Figur der Fragilität zu denken und zu bilden. Die Vorstellung ließe sich neuerlich als eine Übertragung verstehen, als eine Übertragung von Tod und Todesnähe, denen das begehrende Subjekt ausgesetzt ist, auf das begehrte Objekt. Die Identifizierung von Eros und Thanatos, die für die psychologische Selbstdiagnose des Liebenden typisch ist, oszilliert – wir erinnern uns an die Venuslieder der ‚Carmina Burana‘ und an Bernart de Ventadorn – zwischen der Idee einer symbolischen, poetischen Setzung und ihrer Darstellung als eine physische Bedrohung. Analoges lässt sich an der Topik der Liebeskrankheit beobachten: Ihre metaphorische Signifikanz besteht in der Klärung und im Bewusstwerden des unerhörten Zustands des Liebens; gleichzeitig ist sie immer auch tatsächliches und von außen wahrnehmbares Symptom. Das eine ist ohne das andere weder zu denken noch darzustellen. Wirkungsmächtige epische Beispiele liefert schon der mittelalterliche Eneasroman, man denke an Didos Liebestod oder an Eneas’ und Lavinias Liebeskrankheit. Insbesondere an Dido lässt sich dabei das Phänomen der beschädig53 54
,Wenn sie stirbt, so bin ich tot‘; Reinmar, MFMT IX.3,8 (MF 158,21). ,Bringt sie mich zu Tode, ist sie tot‘; Cor 49.IV,6.
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ten Souveränität gut fassen, freilich mit anderem Akzent als bei der Minneherrin: Denn zum einen steht sie als die, die liebt, gegen das Geschlechterdispositiv des Hohen Sanges, zum anderen ist ihre Souveränität nicht die der Geliebten, sondern die der Herrscherin. Eine Figur der vanitas gibt Dido aber insofern ab, als sie ihre politische und physische Integrität der Liebe wegen und in Missachtung transzendenter Gesetze verliert (Aeneas’ Auftrag kann auch aus mittelalterlicher Sicht als ein göttlicher Auftrag gelten, weil er Teil eines universalhistorischen Plans ist). Beschädigt wird die Souveränität der lyrischen Minneherrin nun zunächst von den „randständigen“ Gattungen her, vom Frauenlied vor allem. Was im grand chant als Souveränität der Herrin beschrieben wird – ihre Willkür, zumal ihre willkürliche Verweigerung –, wird im Frauenlied als nie vorhanden imaginiert oder mit einem Gefühl der Angst begründet, der Angst vor dem Verlust physischer und sozialer Integrität, die zugleich auf den Zwang verweist, dem die Herrin aus dieser Perspektive unterworfen ist. Der Souveränität, die die männliche Stimme des grand chant der Herrin zuspricht, korrespondiert die Fragilität der weiblichen Stimme im Frauenlied.55 Diese Verschiebung des Souveränen ins Fragile droht jene Disjunktion aufzuheben, die den „Absolutismus der Immanenz“ im poetischen Liebesdiskurs wesentlich trägt, die Disjunktion von leidendem Subjekt und seinem leidlosen Liebesobjekt. In ihr wäre somit eine weitere GeneAnalogie zu Denkformen und Darstellungsformen der vanitas zu erkennen, eine weitere Schwelle, die das diesseitige Konzept zur Transzendenz hin aufzubrechen droht. Die Beispiele Reinmars und Walthers zeigten, dass diese Tendenz im Wesentlichen den Kalkülen eines poetologischen Diskurses gehorcht, der dem Minnesang a priori inhärent ist: Sei es, indem die beschädigte Souveränität der Minneherrin bloß potentiell bleibt und das Gattungssystem affirmiert (Reinmar), sei es, dass sie seine Gewissheiten im Modus der Parodie erschüttert (Walther) und von hier aus eben auch den Wechsel vom weltlichen ins geistliche Register ankündigt, einen Wechsel, wie ihn Walthers Weltlieder denn auch vollziehen. Jenseits dieses Zweckes sind derartige Transgressionen selten, da sie das ikonische und diskursive System des grand chant courtois eben gefährden. Umso aufschlussreicher sind die Figurationen der Fragilität, die sich bei Heinrich von Morungen finden.
55
Über die Frauenlieder werden zudem kleine Narrative, lyrische Mikrozyklen entworfen, die die Œuvres der Minnesänger durchziehen. Ein gutes Beispiel geben die Frauenlieder Reinmars, bes. MFMT XXVII und MFMT XXVIII; eine Zusammenstellung in: Frauenlieder des Mittelalters, hg. Kasten, Nr. XXVII-XXXIII, vgl. auch Kastens Kommentar, ebd. 245-257, ferner Kasten 1993.
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NÄHE, ZEIT UND GEFÄHRDUNG BEI HEINRICH VON MORUNGEN. – Auch im Œuvre Heinrichs von Morungen dominiert zunächst die Fiktion einer uneingeschränkten Souveränität der Geliebten, der ein umso radikalerer Selbstverlust des Liebenden entspricht. Die in diesem Zusammenhang verwendete Bildlichkeit zielt gerade bei Morungen auf eine scharfe Divergenz zwischen der Positivität des erotischen Begehrens und der Negativität der Bilder, mit der die Begehrte belegt wird: Die Minneherrin wird als (böswillige) Elfe imaginiert, die den Sänger verzaubert hat (MFMT V; MF 126,8), sie ist eine hêre Vênus, die ihn nach Belieben trösten oder ihn entmutigen kann (MFMT XXII; MF 138,27). Sie handelt als eine landverheerende Räuberin, die ohne Fehdeansage auf seinen Schaden hinarbeitet (MFMT IX; MF 130,9).56 Sie wird schließlich als vil süeziu senftiu tœterinne adressiert, die es auf sein Leben abgesehen habe, in der irrigen Meinung, sie wäre so seines Dienstes entbunden (MFMT XXXIV; MF 147,4). Genau hierin verbirgt sich im übrigen die geheime Ironie dieser Strophe, die wiederum eine Ironie der Zeit ist: „Die Liebe zu Euch hat mich dazu genötigt, dass eure Seele die Herrin meiner Seele ist. Wenn mir hienieden von eurem teuren Leib kein Guts geschieht, so muss euch meine Seele versichern, dass sie eurer Seele dort als einer reinen Frau dienen wird.“57 Mit der behaupteten „Seelenliebe“ wird ein immanentes, sinnli56
57
Die negative Bildlichkeit ist in Morungens Liedern ein durchgängiges Prinzip – gerade auch dort, wo sich aus ihr die typische „positive“ Erwartung, der wân des Liebenden, formuliert: So wird im sogenannten ‚Elfenlied‘ die Erfüllung der Bitte des Liebenden als Rache vorgestellt, die sie an ihm vollziehen solle. Das Paradox löst sich auf, weil die Freude des Liebenden so groß wäre, dass er im Liebesglück zerschmelzen müsste. Der positive Gedanke mündet also wieder in ein negatives Bild des Selbstverlusts, dem der Liebende ausgesetzt ist. Die Folgestrophe entwickelt eine Phantasie der temporären Beherrschung der Geliebten (für drei Tage und mehr Nächte), der die klagende Erkenntnis ihrer allzu großen Freiheit, ihrer Souveränität eben, gegenübersteht (jâ ist si leider vor mir alze vrî; V.2,8). Zum ‚Venuslied‘ M. Kern 1998, 31ff.; in seinem Zentrum steht das Erleben ihrer Souveränität in Akten der Willkür und des kontingenten positiven wie negativen Verhaltens (tröstliches Erscheinen in der Nacht, leidvolles Verschwinden am Tage). Die letzte Strophe eröffnet mit der Divergenz zwischen Gottes- und Frauenliebe (die Bitte an Gott um Hilfe würde der Ernsthaftigkeit der Liebe spotten; auch hier also der Absolutismus der Immanenz); beschlossen wird das Lied von einem Bild des Sterbens in Permanenz: Dem Liebenden ergeht es wie dem Schwan, der singt, swenne er stirbet (wörtl.: wann immer – oder sooft! – er stirbt). Der schöne Todesgesang des Liebenden als Sänger könne dabei bewirken, dass man ihn um sein Leid beneide. Der Beklagenswerteste als der Beneidenswerteste: das ist die poetologische Inversion des Todesbildes zu einer Fiktion poetischer Allmacht. Die metaphorische Negativität im Lied von der ‚Räuberin‘ hängt vor allem an den Bildern der Illegitimität, deren Allegorese wiederum metaphorisch formuliert wird: den Raub haben ihre Augen und ihr roter Mund vollzogen (Str. 2). Zur Gewalt-Metaphorik bei Morungen bes. Kellner 1997. nein, iuwer minne hât mich des ernoetet, / daz iuwer sêle ist mîner sêle vrouwe. / sol mir hier niht guot geschehen / von iuwerm werden lîbe, / sô muoz mîn sêle iu des verjehen, / dazs iuwerre sêle dienet dort als einem reinen wîbe. (XXXIV,7ff.)
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II. Allegorien und Allegoresen
ches Begehren in den Kategorien der Transzendenz gedacht, ohne den primären Aspekt der Sinnlichkeit zu leugnen (denn das „Gute“, der Lohn, käme – wenn es denn käme – hienieden vom teuren Leib). Nur so lässt sich der immanente Liebesdienst in die Transzendenz verlängern, und noch dort steht er im Zeichen des Leibes, wenn er nicht der Seele, sondern der Frau, der nunmehr reinen Frau gilt. Was zwischen dem „teuren Leib“ und der „reinen Frau“ liegt, der Prozess der Zeit, der Prozess des physiologischen Verfalls, des Alterns und des Todes, bleibt verschwiegen. Er ist als Leerstelle übersprungen, also gewissermaßen so ostentativ nicht mitgedacht, dass er nicht übersehen werden kann. Das Lied hebt die Imagination einer zeitenthobenen immanenten Idealität, die die Geliebte repräsentiert, in eine Sphäre der Transzendenz. Es kontrastiert ein Vorher und ein Nachher, das im Unterschied zum vanitas-Gedanken, wie ihn Walthers ,Alterston‘ im Abschied vom schœnen bilde formuliert, auf der paradoxen Identität beider Zustände und beider Formen des Begehrens – des erotischen Dienstes hier und jenes Dienstes dort – besteht.58 Was dazwischen geschieht, ist nur in einer unmerklichen Verschiebung der Attribute – von „würdig“ zu „rein“ – zu fassen. Auch dieses Lied denkt in der Zeit, setzt aber alles daran, dies zu verschleiern. Damit wird der lyrische „Absolutismus der Immanenz“ auf die Spitze getrieben und zugleich aufs Äußerste strapaziert. Die Beschädigung der körperlichen Idealität der Minneherrin bleibt die gelöschte Prämisse des Gedankens einer transzendenten Fortdauer des Liebesdienstes. Morungens Strophe setzt mit der implizierten Vorstellung ihres kommenden Todes die süße, sanfte Mörderin selbst einem poetisch imaginierten „Mord“ aus.59 Die unbedingte Liebesbindung verrät sich als geheime Aggression. Am Ende verbirgt sich hinter der Apotheose des werden lîbes zum reinen wîp doch nur die Apotheose des Begehrens, gegen das sich das Objekt nicht helfen kann. Und wenn dieses Begehren haptisch wird, ist es genau auch die Ursache jener Figurationen der Beschädigung und der Fragilität, die sich in diesem Œuvre vergleichsweise häufig finden. Haptisch ist dabei schon der bloße Blick, auch dies lehrt die Strophe von der toeterinne. Denn das Lieben des Sängers ist ein Beschauen: Waenent ir, ob ir mich toetet, daz ich iuch iemer mêr b e s c h o u w e? (XXXIV,5f. [Hervorhebung M. K.])60 Es sind solche Imaginationen der Nähe (und sei es bloß eine Nähe auf Sichtweite), die die Souveränität der Geliebten als 58 59 60
Vgl. oben Kap. I.4, 111ff. Dies und nicht die Zwecklosigkeit des imaginierten Tötungsakts der Dame (Kellner 1997, 51f.) scheint die eigentliche ironische Pointe des Liedes zu sein. Die übliche Deutung begreift die Transzendierung des Minnesangs als Spiritualisierung. Lieben gerate in die Nähe der „theoria“ (Kellner 1997, 51); ein sinnliches Begehren scheint mir dabei aber gerade nicht ausgeblendet.
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fragil erweisen. Die damit vollzogene Inversion aber berührt sich in Bildlichkeit und Konzept neuerlich mit den bekannten Entwürfen der vanitas. Prozess und Effekt der Engführung von Souveränität und Fragilität lassen sich dabei beispielhaft am ‚Heidelied‘, am ‚Tagelied‘ und am ‚Narzisslied‘ Morungens nachvollziehen. ,HEIDELIED‘. – Das sogenannte ‚Heidelied‘ (MFMT XXIII; MF 139,19) entwirft in drei Strophen drei Szenen der Begegnung zwischen Liebendem und Herrin: den gemeinsamen, leidlosen Tanz auf der Heide, die leidvolle Begegnung an einem geheimen, abgeschlossenen Ort und die visionäre Begegnung oben, an den Zinnen der Burg.61 Die Anapher ich vant si, die die Zufälligkeit der Begegnung zu thematisieren scheint, und weitere Korrespondenzen zwischen den Strophen suggerieren dabei einen Verlauf, der keiner (temporalen, topographischen oder konsekutiven) Logik folgt. Von Interesse in unserem Zusammenhang ist vor allem die mittlere Strophe: Ich vant sî verborgen eine und ir wengel von trehen naz, dâ si an dem morgen mînes tôdes sich vermaz. Der vil lieben haz tuot mir baz danne daz, dô ich vor ir kniewete, dâ si saz und ir sorgen vergaz.62
Der unerhörten Begebenheit des gemeinsamen, leidlosen Tanzes auf der Heide, wie sie die erste Strophe geschildert hat, antwortet die zweite Strophe gleich zu Beginn mit dem skandalösen Bild der weinenden Herrin. Grund, Ort und Zeit des Weinens bleiben unklar: „Ich fand sie verborgen und alleine und ihre Wangen von Tränen nass, dort, wo sie an dem Morgen meines Todes sich vermessen hatte/vermaß.“ Dies kann bedeuten, der Liebende hätte sie an jener Stelle weinend wieder getroffen, wo sie am Morgen das Todesurteil über ihn gesprochen hatte,63 oder er hätte sie am Morgen danach – nach dem Tanz auf der Heide? – weinend angetroffen, und damit (im Akt des Weinens) hätte sie gleichsam den Tod über ihn verfügt. 61
62 63
Die wichtigsten jüngeren Deutungsversuche haben Ernst von Reusner (1985), Heinrich Götz (1989) und Klaus Speckenbach (1999) vorgelegt. Sie konzentrieren sich vor allem auf die Schwierigkeiten des Textverständnisses selbst. Da es mir gerade nicht um die Ermittlung eines festen Wortsinns, sondern um die vielfache Lesbarkeit des Textes ankommt, werde ich darauf nicht ausführlich eingehen. Gemeinsam ist allen drei Arbeiten die These, dass das Lied die Konventionen des Hohen Sanges (vorübergehend) aufhebe bzw. überschreite, um sie schlussendlich zu affirmieren; so auch Kellner 1997, 55f. Eine solche dialektische Konzeption wirft allerdings die Frage auf, ob diese Überschreitung nicht gerade als essentieller Teil der Gattungsnormen zu begreifen wäre. Ich streiche im letzten Vers das in MFMT der Metrik wegen nach sorgen konjizierte gar. So die Übersetzung Tervoorens (Hg.), 109, vgl. auch den Kommentar zur Stelle, ebd., 176.
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II. Allegorien und Allegoresen
Die Folgeverse bringen wenig Erhellendes: „Der Hass der Geliebten bekommt mir besser als das, da ich vor ihr kniete, wo sie saß(,) und ihre Sorge/Obsorge ganz vergaß.“ Der Hass könnte sich auf den Akt des Weinens beziehen, das somit ein Weinen der Wut wäre; er könnte auf die gattungskonstitutive, dem Lied vorausgehende und in der ersten Strophe konterkarierte Rollennorm referieren (der Sänger erfährt das Verhalten der Dame als Ablehnung). Die Unentscheidbarkeit findet ihre textuelle Entsprechung in dem Pronomen „daz“. Es bezeichnet (im Unterschied zum Hass) eine Indifferenz im Verhalten der Herrin, eine Unbenennbarkeit schlechthin. Bezogen ist es offensichtlich auf den Akt des Kniens vor ihr, von dem wiederum nicht klar ist, ob es überhaupt auf ein im Lied berichtetes Geschehen (das vermessene Todesurteil am Morgen?) oder auf ein als vorgängig vorgestelltes Ereignis anspielt. Ebenso bleibt unentscheidbar, worin ihr oder sein Vergessen auf das Sorgen in eben diesem Moment des Kniefalls bestünde:64 Auf wen hätte sie überhaupt Bedacht zu nehmen – auf sich oder auf ihn? Korrespondiert die vernachlässigte Sorge dem vermessenen Todesurteil (wenn dieses denn ein dezidierter Urteilsakt und nicht eine Wahrnehmung des Sängers gewesen wäre, die aus ihrem Verhalten resultiert hätte)? Und wäre die Sorglosigkeit ein Verstoß gegen die Konventionen Hoher Minne, könnte sie dann nicht auf das Vorige bezogen sein, auf den Tanz auf der Heide, also auf eine Situation, die dem, was den Gesetzen der fin’amor zufolge denkbar ist, ganz zuwider läuft? Indes könnte die vergessene Sorge auch auf das Folgende verweisen, auf die Begegnung oben an der Zinne: Der Sänger will sie dort alleine angetroffen haben, im Unterschied zu den beiden anderen Strophen allerdings offenbar von ihr an diesen Ort bestellt (Ich vant si an der zinne / eine, und ich was zuo zir gesant). Füglich, so die weitere Fiktion, hätte er sich in diesem Moment ihrer und ihrer Liebe bemächtigen können (dâ mehte ichs ir minne / wol mit vuoge hân gepfant). Diese imaginierte Erfüllung des Begehrens in der zweisamen Nähe mündet in eine destruktive Allmachtsphantasie, die sich am Ende als bloße Täuschung entpuppt: „Da glaubte ich die Lande im Moment verbrannt zu haben, doch hatte mir ihr süßes Band der Liebe den Verstand verblendet.“65
64
65
Zur Stelle Speckenbach 1999, 138f., der als Subjekt zu vergaz den Sänger annimmt, also statt „ich kniete vor ihr, die da saß und auf ihre Sorgfaltspflicht mir gegenüber vergaß“ „ich kniete vor ihr, die da saß, und vergaß auf meine Sorgfaltspflicht ihr gegenüber“. Die Lesung ist zwar in sich schlüssig, löscht aber zwangsweise die unhintergehbare Polysemie des Textes, und worauf sie konkret hinauslaufen wollte, bleibt ebenso dunkel. Dô wânde ich diu lant hân verbrant sâ zehant, / wan daz mich ir süezen minne bant / an den sinnen hât erblant. (3,5ff.)
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Ich breche hier bewusst ab, um zu betonen, dass dieses Lied das philologische Verlangen nach Kohärenz nicht befriedigen kann, weil es dies offenbar gar nicht will: Seine poetische Lehre besteht genau in der Löschung eines hermeneutisch ermittelbaren Sinns. Jede interpretative Homogenisierung würde daher bloß ihre Illegitimität vor dem Text erweisen. „L’absence de figuration [...], l’absence de tout élément de récit, interdit l’usage de la fiction critique en vertu de laquelle on demanderait: de quoi parle-t-il [le poème]? Simplement, il parle.“ So heißt es bei Paul Zumthor.66 Die Schwierigkeit dieses Liedes besteht allerdings gerade nicht in der Absenz, sondern in der Präsenz bildlich-szenischer und narrativer Elemente. In der Unmöglichkeit des Verstehens spiegelt sich die Unmöglichkeit der Nähe, die hier thematisiert wird. Sie ist in der Mittelstrophe im Bild einer Beschädigung repräsentiert, die unmittelbar den Begriff des SichVermessens und des Todes assoziiert. Der weinenden Geliebten entspricht der Tod des Liebenden, vielleicht wäre noch am ehesten in dieser Korrespondenz eine Kausalität angedeutet: Ihr Leid wäre sein Tod, der Tod des Liebenden wie des Singenden. Es würde die Souveränität der Geliebten aufheben. Die beschädigte Integrität ihres Leibes wäre die Aufgabe jener Arretierung der Zeit, die den „Absolutismus der Immanenz“ in der höfischen Liebeslyrik garantiert. Die Nähe zwischen Sänger und Herrin liest sich als haptischer Zugriff, als Zugriff auf ihre Leiblichkeit, in der genau ihre Fragilität bestünde. In diese Richtung ließe sich dieses „unsinnige“ und zugleich ästhetisch höchst suggestive Lied denken, zumal wenn wir es im Lichte von Morungens Tagelied und seiner Narzisskanzone lesen. ,TAGELIED‘. – Morungens Tagelied (MFMT XXX; MF 143,22) wird nicht als Bericht eines lyrischen Erzählers, sondern in der ungewöhnlichen Form eines Wechsels gegeben – einer Wechselrede von Mann und Frau, die sich getrennt von einander an das gattungstypische Geschehen, die leidvolle Trennung bei Anbruch des Morgens, erinnern.67 Der Hinweis auf drei Körperbilder mag genügen: Die erste, eröffnende Strophe des Mannes vergegenwärtigt den Anblick des weißen Leibes der Geliebten, in dem er den Schein des Mondes erkennen wollte: „Da tagte es.“ Der schöne Leib ist Ursache einer Täuschung, die sich wiederum als eine Täuschung in der Zeit verrät: Was den Anschein vermittelt, dass noch genug Zeit wäre, der mondhelle Leib, der einen Aufschub des Moments der Tren66 67
Zumthor 2000, 233. ,Aufgrund des Fehlens von [bildhafter/szenischer] Darstellung, des Fehlens jeglichen berichtenden Elements verbietet sich die gewohnte philologische Fiktion, derzufolge man fragen würde: Wovon spricht das Gedicht? Es spricht einfach.‘ Zur besonderen Realisation des Gattungstypus Gottzmann 1989.
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nung suggeriert, kontrastiert mit der leidvollen Tatsächlichkeit des längst anbrechenden Morgens und lässt eine Wiederholung unmöglich erscheinen: „Wird er jemals wieder durch die Nacht leuchten, ihr schöner Leib?“ (Mit diesem fragenden Wunsch beginnt das Lied.) Die dritte, ebenfalls vom Mann gesprochene Strophe berichtet von Küssen und Tränen, mit denen sie ihn geweckt habe. Mit seinem Trost erreicht er zwar, dass sie von ihrem Weinen ablässt und ihn nochmals umfängt; genau dieser Moment der Vereinigung bezeichnet aber wieder eine Täuschung in der Zeit: „Da tagte es.“ Die vierte Strophe spricht (wie die zweite) die Frau: Er habe sie abgedeckt, weil er ihre Arme (oder „mich, die Arme“) nackt sehen wollte. Sie wundert sich, dass ihm dieses „Ersehen“ nicht verdrießlich wurde. Genau in diese Imagination eines perpetuierenden, arretierten Blicks – daz in des n i e verdrôz [Hervorhebung M. K.] – bricht neuerlich und endgültig die Zeit: „Da tagte es.“ Auf anderer dramaturgischer Ebene und in einem anderen lyrischen Register als das ,Heidelied‘ imaginiert auch dieser „Tageliedwechsel“ die physische Nähe der Liebenden als das Unmögliche schlechthin, als einen Moment in der Zeit, der (im Unterschied zum werbenden Begehren des grand chant) weder arretierbar noch perpetuierbar ist. Sinnliches Erleben wird in Bildern des zeitlichen Vergehens memoriert, auf die die kataphorische Phrase antwortet: Dô tagte ez. Das gedämpfte Licht der Nacht ist vom hellen Licht des Morgens gelöscht, die immanente Liebeserfüllung kann nur als verlorene Zeit erinnert werden. Ihr weißer Leib, der wie der Mondenschein leuchtete, verschwindet im gleißenden Leuchten des Tages. Man wird nicht so weit gehen, an jenes Tageslicht zu denken, das im geistlichen Tagelied das Licht der Erlösung, das lumen Christi, bezeichnet und die Nacht der Immanenz beendet. Festzuhalten bleibt aber, dass die Unterworfenheit des sinnlichen Erlebens unter die Zeit grundsätzlich das notorische Thema des Tagelieds darstellt und eine Leiderfahrung provoziert, die jener der Werbekanzone antithetisch korrespondiert: Der fortwährend in die Zukunft, ins absolute Futur verschobenen Liebeserfüllung steht ihr Vergehen oder Vergangensein, ihr Verschwinden aus der Präsenz gegenüber. Das Denken des immanenten Liebesbegehrens in der Zeit zerstört die Imaginationen der Unversehrtheit und repräsentiert sich in entsprechenden Körperbildern der Beschädigung oder der Fragilität. In Morungens Tageliedwechsel ist dies zum einen der mondscheinhelle Leib, dessen betonte Weiße den Gedanken an die Todesbleiche nahelegt. Stützen würde dies die Lichtregie des ‚Narzissliedes‘, die den Leib der Geliebten erblîchen lässt: Hier, im Tagelied, erbleicht er zumindest vor dem Licht des Tages. Das Geschlechterdispositiv kehrt sich mit der Chronotopik einer vergangenen Erfüllung um: die Leidende, die Weinende ist die Frau, der Trö-
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stende der Mann. Die vierte Strophe stellt das Problem der Beschädigung nicht nur als eines der Zeit, sondern zudem als eines des männlichen Begehrens dar, sie identifiziert Zeit und Begehren als Aktanten der Beschädigung: Der Zeitpunkt des Tagesanbruchs lässt das männliche Betrachten der nackten Arme (oder der nackten Armen?) genau in dem Verdruss enden, den es zur Verwunderung der Frau zuvor nicht zu kennen schien. Ihm geht ein latent gewaltsamer Akt der Entblößung voran, der den weiblichen Körper dem männlichen Blick, aber auch jenem Licht aussetzt, dessen Helle den Mondesglanz verschwinden lässt. Mit dieser Bildlichkeit, mit diesen Repräsentationen einer fragilen und beschädigten Intimität, die in Fragilität und Beschädigung des weiblichen Körpers sinnfällig wird, gibt sich Morungens Tageliedwechsel selbst die Antwort auf die Frage der Frau in der zweiten Strophe: „Owê, – sol aber er iemer mê den morgen hie betagen? als uns diu naht engê, daz wir niht durfen klagen: ,Owê, nu ist ez tac,‘ als er mit klage pflac, dô er jungest bî mir lac. Dô tagte ez.“ 68
Die ersten drei Verse und der Hinweis auf den jüngst vergangenen Moment (jungest) im vorletzten Vers, der Hinweis auf jenes letzte Mal, das vermuten lässt, dass es schon frühere Male gegeben hat, suggerieren die mögliche Wiederholbarkeit der erotischen Erfüllung. Dass die Nacht als Zeit dieser Erfüllung in einen Tag übergehen könnte, der nicht die Zeit ihres Endes, sondern ihres Perpetuierens wäre, diese Utopie wird vom Refrain ins Paradox verschoben: Die Worte „dô tagte ez“ setzen ihr eine unüberwindbare Grenze. Die Antwort, die (sich) das Lied auf seine Frage gibt, besteht in der Vorstellung einer Unmöglichkeit: in der Erinnerung eines verlorenen Moments der Erfüllung, im Beschwören einer für immer vergangenen Präsenz. Wäre es denkbar, dass man im absoluten Präteritum des Tagelieds denselben „Absolutismus der Immanenz“ fassen könnte, der sich im absoluten Futur des Werbelieds verbirgt? Ermöglichen Erinnerung und Erwartung als Modi der Wiederholung in gleicher Weise eine Arretierung der Zeit und des Zeitlichen, die in der fragilen Präsenz der Gegenwart als flüchtig erfahren werden?
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,O weh, / wird er jemals wieder / den Morgen hier Tag werden lassen können? / So, dass wir, wenn für uns die Nacht vergeht, / nicht zu klagen brauchen: / „O weh, nun ist es Tag!“. / Dies waren seine Klageworte, / als er das letzte Mal bei mir lag. / Da tagte es.‘
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II. Allegorien und Allegoresen
,NARZISSLIED‘. – Im Anbrechen des Tages und im Verschwinden des fragilen Leibes der Frau wird dem begehrlichen männlichen Betrachten jenes verdrießliche Ende beschert, das es wundersamerweise von sich aus nicht zu kennen schien. In Morungens ‚Narzisslied‘ (MFMT XXXII; MF 145,1) ist es das begehrende Subjekt selbst, das das Liebesobjekt, den Leib der Frau, nachhaltig beschädigt, wie in der zweiten Strophe des Liedes69 zu lesen ist: Minne, diu der werelde ir vröude mêret, seht, diu brâhte in troumes wîs die vrouwen mîn, dâ mîn lîp an slâfen was gekêret und ersach sich an der besten wunne sîn. Dô sach ich ir liehten tugende, ir werden schîn schoen unde ouch vür alle wîp gehêret, niuwan daz ein lützel was versêret ir vil vröuden rîchez mündelîn.70
Die im Traum imaginierte höchste Glückserfahrung besteht in einem Prozess des Sich-Ersehens an Gestalt und Substanz (Schönheit und Tugend) der Herrin. Diesem „Ersehen“ eignet ein stark haptisches Moment: Es handelt sich gewissermaßen um einen ästhetischen Zugriff, der ihre körperliche Intaktheit nicht nur gefährdet, sondern verletzt sieht, und dies an einer erotisch hochsensiblen Stelle, an ihrem freudenreichen Mund. Die beobachtete Verletzung, die der Interpret nur allzu gerne als eine verursachte begreifen würde, führt den vorangehenden Superlativ von der besten wunne ad absurdum und kündigt jene umfassende Inversion an, von der die folgende, dritte Strophe berichtet: Grôz angest hân ich des gewunnen, daz verblîchen süle ir munt sô rôt. des hân ich nu niuwer klage begunnen, sît mîn herze sich ze sülher swaere bôt, Daz ich durch mîn ouge schouwe sülhe nôt sam ein kint, daz wîsheit unversunnen sînen schaten ersach in einem brunnen und den minnen muoz unz an sînen tôt.71
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Zur problematischen Überlieferung (Strophe 1 in Handschrift C unter dem Namen Morungen, die Strophen 1-4 unter dem Namen Reinmars in Handschrift e; das Autorbild Morungens in C scheint dabei gerade die in Str. 2 beschriebene Szene zu zitieren), zur Forschungsdiskussion und für eine umfassende Interpretation (vor allem in Hinblick auf das Narzissmotiv) M. Kern 1998, 45ff.; vgl. ferner Callesen 1999 und Wolf 2001. ,Die Liebe, die der Welt ihre Freude mehrt, / seht, die führte mir in Form eines Traumbilds meine Herrin zu, / als mein Leib im Schlaf lag / und sich (so) an seiner besten Wonne ersehen konnte. / Da sah ich ihre strahlenden Tugenden und ihren würdigen Glanz, / schön und auch vor allen Frauen erhaben, / nur dass ein wenig ihr so freudenreiches Mündlein verletzt war.‘ MFMT ergänzt im letzten Vers nach rîchez aus metrischen Gründen rôtez.
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Die erwartete Freude schlägt in eine Leiderfahrung um, deren Ende erst mit dem Tod des Liebenden gegeben wäre. Der Akt des Schauens, der sich zunächst als Akt einer „bloßen“ Wahrnehmung und einer daraus resultierenden Erkenntnis darstellt, verrät sich nun doch als die eigentliche Ursache, als ein Akt der latenten „Aggression“. Er zerstört den intakten Leib der Geliebten durch ein Ersehen, das eben als ästhetischer Zugriff zu lesen wäre. Zu diesem Schluss nötigen wenigstens die beiden Gleichnisse: die Anspielung auf den Mythos von Narziss und das Bild vom törichten Kind, das sein Abbild im Spiegel betrachtet und solange danach langt, bis es den Spiegel zerbricht, in der ersten Strophe. Auch der Ovidianische Narziss zerstört das Bild, in das er sich verliebt, wenn er es zu fassen versucht, und muss sich daher im Zustand einer distanzierten Nähe zum begehrten Objekt verzehren. Das Traumbild der Herrin, das dem Liebenden als begehrenswertes Bild der Souveränität erschienen ist, erweist sich in analoger Weise im Moment des begehrlichen Ersehens als Scheinbild von höchster Fragilität: Indem sich der Liebende in seiner Betrachtung ergeht, droht es zu vergehen, was wiederum den Akt des Schauens als illegitim, als ein Vergehen am Liebesobjekt erweist. Man könnte diesen Verlauf insofern „mutwillig“ nennen, weil es eine Instanz gibt, die über den Traum Regie führt: die Minne. Ihr Status bleibt ungeklärt: Ist es die personifizierte Liebe selbst, ist es die Liebe des Sängers? Oder ist sie beides, wie es die Parallelisierung im Aufgesang der zweiten Strophe nahelegt? Die Liebe (des Sängers) weiß der Welt die Freude zu mehren und sie (die Liebe selbst) führt dem Liebenden die Herrin als Quelle seiner höchsten Freude zu. Die vermeintliche Erfüllung des Begehrens im Sich-Ersehen schlägt allerdings um in den imaginierten Tod der Geliebten: Ihr roter Mund droht zu verbleichen. Wenn wir das als Metonymie fassen dürfen, so entwerfen die zweite und dritte Strophe zwei antithetische Bilder vom Leib der Herrin: das eines intakten Anscheins und das einer letalen Gefährdung. Ihr Leib gerät zu einer Gestalt des Verschwindens, er beschreibt eine Figuration der vanitas. Erkennendes und verursachendes Subjekt dieses Prozesses ist das männliche, von der Minne geleitete Begehren. Diese Imagination einer visuellen und visionären Intimität zwischen Liebendem und Geliebter, die in der Beschädigung ihrer leiblichen Intaktheit mündet, könnte nicht auf eine sublimierte Repräsentation, sondern auf eine sublimierte Analogie zum Akt der Defloration verweisen. So 71
,Was ich gewonnen habe, war große Angst, / dass ihr so roter Mund verbleichen solle. / Deshalb habe ich eine neue Klage angestimmt, / weil sich mein Herz solchem Kummer hingab, / dass ich durch mein Auge solches Leid betrachte, / wie ein Kind, das ohne Bedacht auf den Verstand / sein Abbild in einer Quelle ersah / und es bis zu seinem Tod lieben muss.‘ MFMT ersetzt in Vers 2 das handschriftliche munt mit mündelîn.
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II. Allegorien und Allegoresen
würde sich das Motiv von der aufgehobenen Souveränität und der in dieser Aufhebung formulierten Todesbedrohung erklären, der das Bild der Herrin ausgesetzt ist. Um dies zu verdeutlichen, lässt sich auf eine analoge Regie in den Liebesliedern der ‚Carmina Burana‘ verweisen, zumal auf jenes Lied, das eine Flora als Geliebte adressiert (CB 104.II): Die Ironie der Namensgebung besteht wie gesagt darin, dass die ersehnte Liebeserfüllung aus dieser Flora eine deflorata werden ließe. Die Metaphorik der Blüte schließt das Verblühen als ikonische und hermeneutische Signatur der vanitas mit ein. Ob dies hier mitgemeint ist, sei dahingestellt. Die Traumszene in Morungens ‚Narzisslied‘ zeigt jedenfalls eine gene-analogische Nähe zu Semantik und Regie der vanitas. Diese Nähe verrät sich außerdem in der doppelten revocatio, mit der auf das drohende Verbleichen der imaginierten Herrin reagiert wird: Da ist zum einen die Übertragung der Todesgefahr oder eines todesnahen Zustands auf den Begehrenden. Die imaginierte Beschädigung der Herrin mündet in eine tatsächliche Leiderfahrung des Sängers, der wie Narziss an sein beschädigtes Wunschbild in distanzierter Nähe bis zum Tod gebunden ist. Die vierte Strophe schließlich formuliert zu dieser Phantasie der Fragilität eine panegyrische Vergewisserung, die die Allmacht und Souveränität einer nun nicht im Traum erscheinenden, sondern der „realen“ Herrin imaginiert: Hôher wîp von tugenden und von sinnen die enkan der himel niender ummevân sô die guoten, die ich vor ungewinne vremden muoz und immer doch an ir bestân. Owê leider, jô wânde ichs ein ende hân ir vil wunnenclîchen werden minne. nû bin ich vil kûme an dem beginne, des ist hin mîn wunne und ouch mîn gerender wân.72
Die Verse stellen die oben skizzierte Disjunktion zwischen dem Liebenden als Gestalt der Fragilität und der Geliebten als Figur der Souveränität wieder her. Im restituierten Superlativ des Frauenpreises und im restituierten paradoxe amoureux einer ewigen distanzierten Bindung (vremden und bestân) werden Zeit (das Denken der Liebesbeziehung in Anfang und Ende) und Begehren (als illegitimes, auf Liebeserfüllung gerichtetes Kalkül) gelöscht. 72
,Eine erhabenere Frau – an Tugenden und Verstand – / kann der Himmel nicht umfassen, / als sie, die Gute, die ich zu meinem Schaden (oder: um sie/mich vor Schaden/Verlust zu bewahren) / meiden und an die ich immer doch gebunden sein muss. / O weh, leider, ja ich hatte gedacht, / in ihrer glückbringenden, würdigen Liebe an ein Ende zu kommen. / Nun stehe ich kaum am Beginn. / Deshalb sind meine Freude und mein begehrendes Hoffen dahin.‘
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Indes bleibt natürlich noch auf die ikonische und diskursive Komplexität hinzuweisen, die dieses Lied auszeichnet. Die vanitas-Phantasie, zu der sich die Schau der Minneherrin hinentwickelt, bliebt aus zwei Gründen hypothetisch: Zum einen handelt es sich um ein poetisch fingiertes Traumerlebnis, zum anderen erweist sich das Bild aufgrund des mythologischen Subtextes als eine „narzisstische Projektion“ des Sängers: Der selbst entworfenen, defizienten Imagination – beschrieben als beste wunne (2,4), der das Schattenbild des Narziss (3,7) korrespondiert – steht die superlativische Imagination der „wahren“ Herrin gegenüber. Sie gibt ihr jene Souveränität zurück, die ihr im Akt der intimen Schau genommen wurde. Diese Konstellation ließe sich poetologisch folgendermaßen entziffern: Die Entwürfe des Sängers können dem wahren, idealen Bild, das die Voraussetzung der Liebe wie des Sanges ist, nicht entsprechen, sie erweisen sich ihm gegenüber als defizient, flüchtig und instabil. Zugleich besteht aber keine andere Möglichkeit als die einer fortwährenden scheiternden Annäherung an dieses Bild der Idealität. Morungens Leiderfahrung mündet im fortgesetzten Dichten (niuwe klage, vremden und bestân). Dieses Dichten realisiert sich jedoch gerade in der narzisstischen Imagination eines gelingenden Liebesbegehrens, wie es die Traumszene in der zweiten Strophe ausphantasiert. Das im Traum geschaute Liebesobjekt entspricht dem poetisch realen Objekt, dem „Ideal der Minnedame“ der letzten Strophe freilich bestenfalls approximativ. Was das Lied formulieren kann, ist bloß ein traumhaftes Schemen jener Idee, die als Ursache seines Liebesbegehrens und seiner Sangeskunst vorgestellt wird. In beiden Fällen aber handelt es sich um poetische Projektionen, die dem poetologischen Kalkül zufolge der Sänger entwirft. Im ersten Fall gibt er dies selbst zu, wie die Narzisserkenntnis der dritten Strophen belegt: Was der Sänger für sein Liebesobjekt hielt, ist bloß eine Projektion seiner selbst. Im zweiten Fall handelt es sich um eine dem konkreten Lied vorgängige Norm der Gattung. So könnten wir von einem doppelten poetologischen Narzissmus sprechen, der in Morungens Lied XXXII manifest wird: Er manifestiert sich zum einen im Idealobjekt der Dame, die nichts anderes als eine Projektion des Sängers vorstellt, zum anderen im Lied selbst, das das innerpoetische, absurde und (auto-)destruktive Begehren als Kunstwerk kommuniziert und dem Sänger jene Anerkennung einbringt, die ihm als Liebendem verwehrt ist. Im poetologischen Sinne ist die Geliebte also immer das Gedicht. Wollte man dies andeutungsweise nach Freuds Theorie des Narzissmus73 denken, so würde die narzisstische Kränkung, die der Sänger als 73
Sigmund Freud: Zur Einführung des Narzissmus (1914), in: Werke X, 137-170. Freud unterscheidet zunächst einen primären und einen sekundären Narzissmus. Der primäre
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II. Allegorien und Allegoresen
Liebender erfährt (weil er seine Liebe auf ein sublimiertes Idealobjekt richtet, das ihm unerreichbar bleibt), in eine „narzisstische Bestätigung“ als Singender münden. Der Gedanke ist Morungens Œuvre nicht fremd. Sein ‚Venuslied‘ (MFMT XXII; MF 138,17) schließt mit dem Bild, dass der liebesleidende Sänger dem Schwan gleiche, der im Sterben schön singe. Es könne sein, dass man ihn um diese seine Liebesnot beneide, nämlich in dem Moment, in dem man sie in Form des Liedes vernimmt: Ich tuon sam der swan, der singet, swenne er stirbet. waz ob mir mîn sanc daz lîhte noch erwirbet, swâ man mînen kumber sagt ze maere, daz man mir erbunne mîner swaere? (5,5ff.)
Narzissmus bezeichne die libidinöse Selbstfixierung des Kindes. Die Überwindung dieses Stadiums vollziehe sich in der Übertragung des sexuellen Begehrens auf das Objekt. Subjektlibido werde zur Objektlibido. Ein Scheitern dieses Übertragungsprozesses könne dann zum sekundären, pathologischen Narzissmus führen. Idealerweise verschiebe sich der primäre Narzissmus aber auf das sogenannte Ideal-Ich. Ihm gelte von nun an die Selbstliebe. Seitens der Objektlibido entspreche dem Ideal-Ich ein sublimiertes Liebesobjekt. Schließlich formuliert Freud noch eine etwas krude Geschlechtertheorie. Ihr zufolge neige der Mann dazu, seine Subjektlibido in übersteigerter Form auf das Objekt seines Begehrens zu projizieren. Freud nennt das Sexualüberschätzung. Dem gegenüber stehe der „echteste Typus des Weibes“, der durch eine „Steigerung des ursprünglichen Narzissmus“ gekennzeichnet sei. Diese Steigerung äußere sich in der „Selbstgenügsamkeit des Weibes“, d.h. in dem Bedürfnis, geliebt zu werden anstatt zu lieben (155). Eine Projektion der Subjektlibido auf das Objekt finde dann statt, wenn das „echte Weib“ seinen Narzissmus auf das Kind übertrage. Freud betont freilich, dass ihm „jede Tendenz zur Herabwürdigung des Weibes“ fern liege und dass er sich bewusst sei, hier ideale Typen zu konstruieren. Gerade in ihrer geschlechtertheoretischen Stereotypie lässt sich diese Konstruktion aber gut auf die Konstellation übertragen, die bei Morungen vorliegt. Nach Freuds Theorie würde der Minnesänger an sich den anti-narzisstischen, männlichen Typus repräsentieren, die vollkommene Minneherrin wäre dessen überschätztes Sexualobjekt par excellence. Sie selbst würde in ihrer passiven Rolle, als Gestalt, die geliebt wird, ohne zu lieben, hingegen Freuds „echtes Weib“ sein. Mythologisch gesprochen wäre der Sänger eher Echo, die Besungene hingegen Narziss. Diese Grundkonstellation zeigt sich freilich auf einer poetologischen Ebene invertiert. Maßgeblich ist das Prinzip der Unerreichbarkeit der Geliebten; es bedingt, dass sich die Liebesbeziehung a priori als pathologisch darstellt, und zwar dezidiert: Der Sänger spricht ja von nichts mehr als von seinem Liebesleiden. Sein Ideal-Ich stellt eine pathologische Figur dar, seine existentielle Erfüllung findet es im Leiden. Dem entspricht eine Sublimierung des Objekts zum Idealobjekt, wie in Lied XXXII zumal die vierte Strophe verdeutlicht. Nicht erst nach Freuds Theorie, sondern der allgemeinen Erfahrung zufolge bedeutet nun Geliebtwerden eine Bestätigung des Selbstgefühls. Gegenliebe bleibt dem Minnesänger aber verwehrt. Seine Objektwahl beschert ihm eine fortwährende narzisstische Kränkung. Sie wird aufgefangen im Ideal-Ich des Leidenden. Sie wendet sich zudem aber als schöner Gesang nach außen, an das Publikum. Dieser schöne Gesang soll dem lyrischen Subjekt als Singendem jene Bestätigung einbringen, die ihm als Liebendem verwehrt ist. Die narzisstische Kränkung mündet in eine narzisstische Bestätigung, die in der Übersetzung des Liebesleides ins schöne Lied geschieht. Und genau hierin wäre eben die Übertragung der binnenliterarischen Konstellation ins Poetologische zu fassen. Eine Freudsche Interpretation von Morungens Lied versucht im übrigen schon Peschel 1980.
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Die poetologische Semantik der lyrischen Szene im ‚Narzisslied‘ läuft auf eine analoge Inversion hinaus, wenngleich sie deutlicher im Zeichen des Leidens steht: Die erotische Kränkung mündet in eine Bekräftigung der Kunstübung und ihrer Permanenz. Die Darstellungsform, insbesondere das Narzissmythologem, steigert dabei die hermeneutische Komplexität des Textes. Der poetologische Narzissmus, die Affirmation von Singen und Sangeskunst, die aus der Negativität der Bilder des Verschwindens und des Vergehens bis zum Tode hin resultieren, verweist uns schon hier auf jene Poetik der Immanenz, die im dritten Teil dieser Untersuchung zu beschreiben sein wird: Auch wenn es zwecklos und ohne Nutzen ist, wenn man sich immer nur am Beginn findet, obwohl man sich schon am Ende glaubt – gesungen muss werden und zwar in erster Linie im Interesse des Subjekts. FAZIT. – Die Figurationen von Souveränität und Fragilität in den Liedern Heinrichs von Morungen bestätigen die poetologische und kulturelle Relevanz des „Absolutismus der Immanenz“, den die weltliche Lyrik des 12. und 13. Jahrhunderts kultiviert. Sie geben den Blick auf zentrale GeneAnalogien zu den Denkformen und Darstellungsformen der vanitas frei, die diese Lyrik aus sich selbst entwirft. Minnesang und Minnesänger binden sich in der Herrin an eine Figur der Säkularität, deren Kehrseite der Tod, das Vergehen, das künftige „Ubi est?“ wäre. Diese Perspektive der Zeitlichkeit deutet sich an, sie bleibt in der unbedingten Bindung an das paradoxe amoureux aber im Doppelsinn des Wortes aufgehoben. Der an seine Grenzen geführte, aber doch bewahrte Absolutismus der Immanenz tilgt das Phänomen der Zeit, der Zeitunterworfenheit des Begehrens und seines Kalküls der Belohnung – um den Preis, dass das Begehren selbst gelöscht wird und sich in einer Übertragung der Todesnähe auf die Figur des Liebenden verbirgt. Zu Figurationen der vanitas werden diese GeneAnalogien, wenn sie sich mit Allegoresen verbinden, die eine heils- und zeitökonomische Logik einblenden. Wie die angesprochenen Lieder Friedrichs von Hausen und Walthers von der Vogelweide zeigen, ist dies zum einen im Kreuzlied, zum anderen aber dann der Fall, wenn der grand chant courtois nach einem biographischen Schema, nach dem Lebensweg einer im Œuvre entworfenen Autor-persona gelesen wird. Von Präfigurationen der vanitas ist dabei nicht im literarhistorisch-chronologischen Sinn, sondern in einem kategorialen Sinn zu sprechen, da die Umdeutung der lyrischen Liebesrelation zum Schema der Weltliebe immer wieder eingebracht oder zurückgenommen werden kann. Nur einmal wird Morungens Herrin – wenngleich verborgen – dem Tod preisgegeben, und zwar genau in jenem Lied, das sie als Mörderin tituliert. In diesem Akt einer poetischen Tötung wird die Geliebte als fra-
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II. Allegorien und Allegoresen
gile Figur der Immanenz in einen transzendenten Raum versetzt, der sie ihrer Fragilität gerade entbindet. Systematisch ausimaginiert und narrativiert ist dieser „Tötungsakt“ bei Dante und Petrarca und er bildet das poetische „Geheimnis“ ihrer Entwürfe einer neuen Liebe und einer neuen Lyrik. Im folgenden Kapitel soll dargestellt werden, wie sich in der ,Vita nova‘ und in den ,Rerum vulgarium fragmenta‘ die entsprechenden Konstellationen der höfischen Lyrik transformieren, wie dem Liebesdiskurs planvoll und konsequent ein Lebensweg-Modell eingeschrieben wird und welche poetologischen Perspektiven sich aus diesen Prozessen ergeben. An den Subjektentwürfen, an den Imaginationen der Geliebten und an den poetischen Lebensschriften Dantes und Petrarcas wird das Wechselspiel zwischen Weltbindung und Weltflucht, zwischen Absolutismus der Immanenz und Absolutismus der Transzendenz beispielhaft transparent. Und es trägt wesentlich Dynamik und Ästhetizität beider Werke.
4. Amor, Mors, Lebensschrift: Zu Dante und Petrarca 6. APRIL 1327, KARFREITAG. – In gemeinsamer Anstrengung versuchen Voglia, Amor, Piacer und Usanza einen ermatteten Wanderer wieder auf die Beine zu bringen. Speranza redet ihm gut zu, reicht seinem Herz die rechte Hand, und zum wiederholten Male lässt sich dieses arme und armselige Herz (il misero cor) von der blinden und unloyalen Führerin (nostra cieca et disleale scorta) betören: Die Sinne regieren es (Sind sie ebenso blind wie die Hoffnung?), die Vernunft ist tot. – Metonymisch für das Herz erhebt sich aus dem einen rastlosen und irrenden Verlangen ein neues, weiteres (de l’un vago desio l’altro risorge). Dem Bild des Erhebens folgt ein Bild des Verwachsens, also kein Wechsel, keine metaphorá des Ortes, sondern eine Verwandlung, eine metamórphosis am Ort: Tugend, Ansehen, Schönheit, edles Gebaren und süße Worte haben den, der hier singt, an die längst bekannten schönen Zweige gebunden, in die sich das Herz nun lind und fast unmerklich verfängt (ai be’ rami [...] ove soavemente il cor s’invesca). Auch diesen Versen ist wie schon vielen zuvor eine Überbietung des ovidianischen Daphne-Mythos eingeschrieben: Das poetische Subjekt treibt es noch weiter als Ovids Apollo und will seiner baumgewordenen Laura nach- oder einwachsen.1 Mit der letzten Terzine wechselt Sonett 211 aus Petrarcas ,Rerum vulgarium fragmenta‘ noch einmal das Bild: Was eben Geäst war, wird zum Labyrinth, das zugleich als ein Lorbeerbaum, in den man sich verheddert, zu denken wäre, als ein Weg, der im Durchgang sich verästelt – metamórphosis und metaphorá verschmelzen: Mille trecento ventisette, a punto su l’ora prima, il dì sesto d’aprile, nel laberinto intrai, né veggio ond’esca.2 1
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Zu invescarsi vgl. den Kommentar bei Santagata (Hg.), 908 zu 11. Der Terminus kommt aus der Jagdsprache und bezieht sich auf den Vogelfang mit der Leimrute. Der metaphorische Gebrauch ist an sich topisch (vgl. u.a. den prominenten Beleg in Gottfrieds von Straßburg ‚Tristan‘ 11796ff.). Das Bild des mit dem Lorbeerbaum verleimten Herzens beschreibt eine unauflösliche Bindung, insofern ließe sich im Verkleben auch ein symbiotisches Verwachsen ausgedrückt sehen. Im übrigen bleibt Apollo bei Petrarca im Unterschied zu den ‚Metamorphosen‘ seiner Daphne ebenso invescato wie das poetische Subjekt der ‚Fragmenta‘ seiner Laura, vgl. RVF 34,7f. (Hinweis bei Santagata); die Stelle gibt ein eindrückliches Beispiel für die Umschrift des ovidianischen Grundmythos: Ovids Apollo ist von dem Petrarcas überboten, diesem neuen Apollo erst vergleicht sich das poetische Subjekt. ‚Tausend dreihundert sechsundzwanzig, pünktlich / zur ersten Stunde, den sechsten Tag im April, / trat ich in das Labyrinth ein, und nicht seh’ ich, wie ich entkomme.‘
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Es ließe sich lange bei der Frage verweilen, wie das Bild vom Lorbeerbaum, dem sich der Liebende einverleibt, und jenes vom Labyrinth, das niemals zu verlassen sein wird, zusammengehen. Hinter der metaphorischen Katachrese verbirgt sich jedenfalls eine sinnträchtige Krasis. Karlheinz Stierle erkennt im Daedalus-Mythos, der Petrarcas Œuvre, konkret das ,Bucolicum carmen‘ und die ,Fragmenta‘ durchzieht, eine vielschichtige poetologische Semantik. Sie verweise auf den für Werk und Wirkung epochalen Schritt vom unvollendeten Epos, der ,Africa‘, zu einem Zyklus, der im episch-narrativen Sinn a priori fragmentarisch und disparat bleibe, weil er sich aus lyrischen Texten als „Fragmenten“ zusammensetze. Daedalus, der mythische Erfinder des Labyrinths, figuriere in diesem Zusammenhang als „ein Lehrmeister in der dichterischen Erschließung jener labyrinthischen Innenwelt des liebenden Ich, die der Gegenstand der Rerum vulgarium fragmenta sein wird.“3 Wie der Lauramythos die ovidianische Daphne-Metamorphose so transformiert freilich auch Petrarcas Labyrinth sein antikes Pendant: Es ist endlos und nicht dazu geschaffen, dass man es verlasse. An keinen Theseus ist gedacht, und kein Minotaurus könnte in der Mitte sitzen, weil dieses Labyrinth eine Mitte gar nicht kennt. Der Erbauer hat es selbst für sich errichtet und betreten, und überall – die Paronomasie drängt sich auf – „lauert“ Laura. Von Interesse ist das Datum, der Zeitpunkt des Eintritts in dieses lyrische Labyrinth, das von der Kategorie des Zirkulären und nicht des Linearen, des Perpetuierens und nicht des Finalisierens bestimmt ist. Unter diesem Aspekt beschreibt dieses Datum ein anti-zirkuläres Paradox. Es weist mit Blick auf Lauras Tod, der sich an dieser Stelle des ‚Canzoniere‘ bereits ankündigt, nicht zufällig zurück auf die erste Begegnung und markiert sie in der präzisen Zeitangabe als nackten numerischen Moment. Es weist zurück auf das dritte Sonett, das den in RVF 211 angesprochenen Eintritt ins Labyrinth schildert, ihn aber nicht mit einer numerischen, sondern mit einer symbolischen Zeitangabe versieht:4 Era il giorno ch’al sol si scoloraro / per la pietà del suo Factore i rai – es ist der Tag, an dem die Sonne 3 4
Stierle 2003, 491f., hier 492. Für das Labyrinth als poetologische Metapher verweist Stierle (896, Anm. 127) auf Burrichter 2003; der Poetologie des Labyrinths widmet sich auch Barthes’ Seminar „La métaphore du labyrinthe“ von 1978/79 (Barthes 2003, 165-179). Zur Zeitkonzeption der ,Rerum vulgarium fragmenta‘, zu den Schichtungen und Interferenzen zwischen Linearität und Zyklizität in der „Laurazeit“ Stierle 2003, 648ff. und 896, Anm. 126 mit Hinweisen zur Forschungsdiskussion: Eine „übergreifende narrative, nicht nur temporale Konsistenz“ werde in den ,Fragmenta‘ schon von der divergenten Signifikanz der Zeit her fortwährend dementiert. Die andere Position vertritt Santagata 1993, der die auch narratologisch planvolle Anlage, zumal mit akribischen entstehungsgeschichtlichen Argumenten erweisen will. Es spricht für die Güte des Zyklus, dass er beide Hinsichten zulässt, dass ihre Richtigkeit keine Frage der textuellen Evidenz, sondern der Perspektive ist, unter der man den Text betrachtet.
4. Amor, Mors, Lebensschrift: Zu Dante und Petrarca
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ihre Strahlen in frommer Trauer um ihren Schöpfer erblassen lässt,5 als der Liebende von den Augen(strahlen) seiner Herrin, die sie von nun an ist, erfasst und umgarnt wird. Ché i be’ vostr’occhi, donna, mi legaro: Von schönen Augen sieht sich das Ich umsponnen – damit ist von einem Ariadnefaden anderer Qualität die Rede, von einem, der in ein neues, lyrisches Labyrinth h i n e i n führt.6 Karfreitag, den 6. April 1327 wird der Petrarca der ‚Rerum vulgarium fragmenta‘ ins Labyrinth der Laura-Liebe, ins Labyrinth der lyrischen Dichtung verstrickt. Labyrinth und Lorbeer bilden zwei zentrale poetische Tropen und zwei grundlegende poetologische Kategorien des Zyklus. Sie beschreiben ein Gehen, das nur als Irregehen begriffen werden kann, und sein unbedingtes, fortwährendes Ziel. In diesem Paradox des zielgerichteten Irregehens7 verbirgt sich das Paradox einer Existenz, deren selbstverantwortete Unbedingtheit (vom dolce errore spricht RVF 161,7) dem transzendenten Ziel des christlichen Lebensweges widerspricht. Der antithetische Gestus trägt wesentlich die Signifikanz des Datums. Karfreitag – jener Tag, der Weltzeit in Heilszeit überführt, der Tag, an dem sich die Immanenz in toto der Transzendenz ergibt – bedeutet für das lyrische Subjekt den Beginn einer immanenten Gefangenschaft, einer Verwickelung und eines labyrinthischen Ganges (mi legaro – im Faden kommunizieren die beiden Bildbereiche, der traditionelle von der Liebesgefangenschaft und der neue vom lyrischen Labyrinth). Petrarcas Karfreitagerlebnis beschreibt die fundamentale Störung eines Gleichgewichts, dem im Bild der Sonne eine kosmische Dimension und eine kosmologische Gültigkeit zugeschrieben ist. Die Sonne, die den ersten kreativen Befehl – fiat lux – fortwährend präsent hält, richtet ihr Erscheinen an der symbolischen Heilszeit, an einem Zeitmaß der Transzendenz aus: In Korrespondenz zum „Zustand“ des Schöpfers, der für seine Schöpfung durch den Tod ging, verdunkelt sie ihr Antlitz. Ein anderes Licht, das Augenlicht der donna, verweigert – wenigstens in der Wahrnehmung dessen, der es zu schauen beginnt – diese Verdunkelung. Vielleicht ist es aber auch keine Weigerung, sondern ein Unvermögen, eine Unmöglichkeit dieser Augen, sich zu trüben. Jedenfalls stört dieses Licht die kosmisch-kosmologische Orientierung auf die Transzendenz, indem es das eine, lyrische Subjekt 5 6
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Die Stelle spielt auf die biblische Sonnenfinsternis zu Christi Todesstunde an (Lc 23,44f.). Damit deutet schon Petrarca eine Antwort auf die sinnige Bemerkung Roland Barthes’ (2003, 179) an, dass sowohl für das Mythologem als auch für das Labyrinth als poetologische Metapher die entscheidende Frage nicht sei, wie man es verlassen könne, sondern wo es beginne. Die Frage „Où commence un Labyrinthe?“ bedeute wiederum poetologisch nichts weniger als zu fragen: „où commence la lisibilité?“ Die ,Rerum vulgarium fragmenta‘ beschreiben eben kein „richtungsloses Irren“ (so Stierle 2003, 611), sondern eine – wenn man so will – „laurientierte“ Bewegung im poetischen und erotischen Labyrinth.
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II. Allegorien und Allegoresen
von ihr ausnimmt, indem es dieses Subjekt der allgemeinen Ordnung entbindet. Dieser Akt der Separation verläuft genau gegen jene Abkehr, die im contemptus mundi vollzogen wird. Er führt zu einer krisenhaften Bindung, die nicht gewollt und dennoch nicht zu lösen ist, zur Bindung des Subjekts an eine Welt, die freilich nicht die gewöhnliche, sondern eine selbstentworfene besondere Welt darstellt. Das vereinzelte, aus dem kosmischen Konsens geworfene Ich tritt ein in ein Labyrinth, das eine an d ere Immanenz und nicht einfach die Immanenz schlechthin symbolisiert. Es bindet sich an eine Projektion, in der es sich selbst spiegelt. Es bindet sich an einen Weltentwurf, der den schwierigen Erfahrungsraum einer poetischen Subjektivität bezeichnet, die einen neuen Entwurf von Dichtung, Geschichtlichkeit und Leben auf die donna Laura bezieht und so als erotische Relation darstellt. Laura erscheint auf diese Weise nicht einfach als Figur der Immanenz schlechthin, sondern als Figur einer selbstgewählten Welt, die sich von der allgemeinen Welt und von der Transzendenz zugleich separiert, darin aber immer eine schwierige Beziehung, eine fortwährende Krise beschreibt. Die poetische Darstellung (nicht Entwicklung!) dieser fortwährenden Krise ergibt nichts anderes als die Biographie im etymologischen wie literarisch-technischen Wortsinn: „Lebensschrift“ und „Beschreibung eines Lebens“. In dem einen Sinne erfährt sich die subjektive Existenz im labyrinthischen Irregehen, das von Figurationen eines fragilen Subjekts und eines souveränen, begehrten Objekts – Laura – begleitet wird. In dem anderen Sinn schreibt sich diese allegorisch repräsentierte Biographie eine konkrete Historizität ein, wie wir sie eben schon im bloßen Datum, 6. April 1327, fassen. Die Lebensschrift beansprucht allegorische und historische Signifikanz. In diesem Anspruch wäre vielleicht das eigentliche poetische und poetologische „Geheimnis“ der ,Rerum vulgarium fragmenta‘ zu entdecken. Es bestünde in einer äußersten formalen, rhetorischen, thematischen und konzeptuellen Kapazität, die den Zyklus auszeichnet. Diese Kapazität trägt den widersinnigen Entwurf einer Totalität aus Fragmenten und erklärt ihre Wirkung bis in die jüngste wissenschaftliche Rezeption.8 Die poetische Plausibilität von Petrarcas Zyklus, sein 8
In thematischer Hinsicht wird die totalisierende Kapazität der ,Rerum vulgarium fragmenta‘ an der unmittelbaren Zusammenstellung der Kanzone 128 (,Italia mia‘) und der Kanzone 129 (,Di pensier in pensier‘) sinnfällig: Hier greifen zwei Summen des Zyklus, die seiner politischen und die seiner erotischen Referenz, direkt ineinander. Von dieser fragmentarischen Totalität her versucht Karlheinz Stierle seine klassizistisch-kanonizistische Sicht auf Petrarcas Entwurf von Werk und Person zu entwickeln. Vergessen scheint dabei mitunter auf die poetische und poetisch-traditionelle Bedingtheit dieses Entwurfs (hierzu Friedrich 1964, 159ff. und Suitner 1977). Sie offenbart sich zumal an seiner Vielschichtigkeit, die wiederum der Komplexität und Heterogenität des Œuvres entspricht.
4. Amor, Mors, Lebensschrift: Zu Dante und Petrarca
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verisimile besteht sowohl in seiner Intertextualität, in der umfassenden Referenz auf die poetische Tradition, als auch in seiner Geschichtsmächtigkeit.9 Innerpoetisch ist die Bindung an die vielfach allegorisierte und zugleich konkret, historisch gefasste Geliebte jenes durchgängige Thema, jener Ariadnefaden, an dem das poetische Ich seinen textuellen Weg findet und in dem es sich an ein Ziel bindet, das immer prospektiv bleibt oder zyklisch perpetuiert. Die Permanenz dieser Verbundenheit und Gebundenheit an eine selbstentworfene Immanenz wird als fortwährende Todesnähe erfahren. Hierin korrespondiert Petrarcas Liebesentwurf dem der höfischen Lyrik; er geht zugleich über ihn hinaus, indem er diesen Weg historisch-biographisch als Lebensweg fasst, der in der Zeit verläuft und Lebenszeit verbraucht, der das Altern und ein Näherrücken des Todes kennt. Der eigene Tod lässt sich dabei nur imaginieren: als eine äußerste Grenze, die jenen Ausgang aus dem Labyrinth erzwingen wird, den das Subjekt von sich aus für unmöglich und undurchführbar hält (né veggio ond’ esca). Diese Grenze könnte in der prekären revocatio erreicht sein, die die letzte Kanzone, das Gebet an die Vergine bella beschreibt. Der „echte“ Tod, oder besser eine mors verisimilis, ereilt hingegen innerpoetisch das imaginierte geliebte Objekt, Laura, und kodiert somit die absolute Bindung als Bindung an ein immer schon Verschwundenes, genauer: an eine Figur der schriftgebundenen vanitas. Sie wird von der fragmentarischen lyrischen Schrift entworfen, und die Stimme des Dichters antwortet ihr – in rime sparse (RVF 1,1), in sì poca carta (RVF 127,87), als pietra morta in pietra viva, in guisa d’uom che pensi et pianga et scriva (,toter Stein in lebendem Stein, in Gestalt eines Menschen, der denkt, weint und schreibt‘; RVF 129,51f.), als einer, der mit Papier und Griffel schreit (vgl. RVF 23,99: ond’io gridai con carta et con incostro). Im vario stile wird das vano als diskursive, ikonische und poetologische Leitkategorie der ,Fragmenta‘ zur Substanz der poetischen Schrift.10
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Stierle (2003) spricht vom „Charakter eines diskontinuierlichen Fortgangs in Denkbruchstücken, gleichsam de fragmento in fragmentum“ (572); er mache „ein Ganzes poetisch erfahrbar [...], das jenseits der Ausdrücklichkeit aufscheint“ (581). „Diese offene Welt des Vielfältigen“, die die ,Rerum vulgarium fragmenta‘ beschreiben, sei „obsessiv auf das eine, die Geliebte Laura, zentriert“ (648) – dass Laura selbst eine Figur der Vielfalt darstellt, wäre hinzuzufügen. Der fragmentarische Status der formulierten Subjekterfahrung materialisiere sich in der Schrift als Medium und Thema der ,Fragmenta‘, meint Stierle 2003, bes. 611 und 652ff. Damit ist auf eine dekonstruktivistische Lektüre der ,Rerum vulgarium fragmenta‘ verwiesen, deren Praktikabilität schon Warning 1983 aufzeigt.
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II. Allegorien und Allegoresen
9. JUNI 1290. – Das grundlegende Narrativ der ‚Rerum vulgarium fragmenta‘, die Bindung an eine Geliebte, die der Tod ereilt, hat seinen zentralen intertextuellen Bezugspunkt in Dantes Beatriceliebe und in Dantes Werk. Petrarcas Zyklus weiß dieses Werk bekanntermaßen auf mehreren Ebenen zu spiegeln und zu verändern: von der Grundkonzeption bis hinein in die Feinstruktur ikonischer und diskursiver Anspielungen.11 Diese spiegelnde mutatio Dantis, die über die akkreditierten Verfahren von imitatio und aemulatio hinausgeht, lässt sich schon an der symbolischen und historischen Zweideutigkeit des absoluten Datums in den ‚Fragmenta‘, Karfreitag, 6. April 1327, ablesen: Die Zeitmessung bei Dante folgt einer allegorischen Ratio und nicht dem historischen Realsinn einer bloßen Datumsangabe. In der ‚Vita nova‘ ist es die Neun, unter deren allegorische Signifikanz jenes absolute Datum gestellt ist, das sich schon hier findet: Es ist der 9. Juni 1290, Beatrices Todestag. Die dreifache Wiederholung der Neunzahl in Tag, Monat (der neunte nach syrischer Rechnung) und Jahr verweist zum einen auf die Neun als Beatrices Zahl, auf das Zusammenwirken der neun Himmelsphären bei ihrer Geburt. Zum anderen i s t Beatrice die Neun, sie ist die Zahl selbst, ein Wunder, das die Trinität der Welt geschenkt hat und das in der Drei seine mathematische wie ontologische Wurzel hat: questa donna fue acompagnata da questo numero del nove a dare ad intendere, ch’ella era uno nove, cioè uno miracolo, la cui radice, cioè del miracolo, è solamente la mirabile Trinitade (19,6 [XXIX,3]).12
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Dass die Auseinandersetzung mit Dante ein poetisch-konstitutives Verfahren darstellt, das bis in die Mikrotexturen der ,Rerum vulgarium fragmenta‘ wirkt, weiß Kuon 2004 umfassend zu zeigen; als grundsätzliches Phänomen des Gesamtwerks ist sie dargestellt bei Stierle 2003. Stierle greift in diesem Zusammenhang auf den Begriff der Transformation zurück und will mit ihm Petrarcas spezifische Intertextualität fassen, die jenseits von imitatio, Überbietung oder aemulatio zu stehen komme (591). Der Begriff besagt für sich genommen wenig; günstiger erscheint der von Petrarca selbst gewählte Terminus der mutatio, auf den Kuon (25f.) hinweist. Er lässt sich als terminologische Krücke für den transgressiven Akt begreifen, den Petrarcas Intertextualität vollzieht: Was sie hinter sich lässt, kann sie nur im fortwährenden kontrastiven Bezug erweisen. Erst das Zitat zeigt, was, wie viel und wie weit die kanonischen Vorbilder (sei es Dante, seien es die antiken Autoritäten, seien es die antiken Mythologeme) überschritten werden. Stierle (620) spricht in diesem Zusammenhang auch von „markierter Differenz“. Wichtig ist dabei der prozessuale Charakter von Petrarcas Mutationen: Sie entwickeln sich im Prozess der Aneignung innerhalb des jeweiligen Textes selbst, sie beschreiben ein Fortschreiten, das vom Prätext her und zugleich von ihm weg führt. ,Diese Herrin war begleitet von dieser Nummer Neun, damit sich zeige, dass sie eine Neun sei, also ein Wunder, dessen Wurzel – Wurzel des Wunders – einzig und allein die wundersame Trinität ist.‘ Ich folge der neuen Zählung in der Ausgabe von Gorni/Rossi, die sich an den Gedichten orientiert (die traditionelle Kapiteleinteilung ist in römischen Ziffern in Klammer beigegeben).
4. Amor, Mors, Lebensschrift: Zu Dante und Petrarca
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Es ist die schleichende Ironie dieser Stelle, dass die zahlensymbolische Idealität und Apotheose Beatrices – entgegen der behaupteten astrologischen Evidenz zur Geburtsstunde – von ihrem Tode, nicht von ihrer Geburt her entwickelt wird, sie besteht vom Tode her. Vielleicht wäre in dieser widersinnigen allegorischen „Mathematik“ des Textes jene noch tiefere Affinität zwischen Beatrice und der Neunzahl zu erkennen, die die Stimme des Kommentators für möglich hält, selbst aber nicht mehr ermitteln will.13 Bevor wir zu Petrarca zurückkehren, wollen wir uns jedenfalls dem widmen, was in Dantes Werk, zumal an der Gestalt Beatrices, Spuren der Immanenz und der vanitas sein könnten. DAS GEGESSENE HERZ. – Genau neun Jahre nach der ersten Begegnung entbietet Beatrice, dieser nun am Beginn seines achtzehnten Lebensjahres stehende „jüngste Engel“ (angiola giovanissima; ,Vita nova‘ 1,9 [II,4]), dem Liebenden, der eben sein achtzehntes Lebensjahr beendet, den ersten Gruß (1 [II]). Überwältigt von der Süße der Worte zieht er sich in seine Kammer zurück, gedenkt der Geliebten und fällt in einen Schlummer, der ihm folgende Schau eingibt: In glutfarbenem Nebel erscheint ein Herr, dessen furchterregendem Anblick sich der Träumer aber doch mit Freude hingibt. Es ist s e i n Herr, Amor (erst das Sonett wird ihn so nennen). In den Armen hält er eine nackte, nur von leichtem Tuch umhüllte Gestalt, die zu schlafen scheint. In ihr ist unschwer die donna de la salute (1,15 [III,4]) zu erkennen: die Herrin des eben erlebten Grußes wie einer prinzipiellen Gnade.14 Das Tuch ist eher blutig als blutfarben, denn Amor hält außerdem das Herz des Liebenden in Händen, von dem die Erwachende zögerlich und zweifelnd (dubitosamente; 1,17 [III,6]) zu essen beginnt. Es dauert nicht lange, da wandelt sich die Freude, die nun der Herr selbst beim Betrachten dieses schauerlichen Aktes empfindet, in bitterstes Weinen. Er nimmt die donna wieder in seine Arme und entschwebt mit ihr zum Himmel. Dieser Fortgang ist das eigentliche Schreckensbild der Schau, und es lässt den Träumer erwachen. Die Traumvision der ‚Vita nova‘ entwickelt eine poetische Ikonographie, die sich nach den oben entwickelten Kategorien lesen lässt: Es sind wiederum Figurationen der Fragilität und der Souveränität, die hier allerdings nicht bloß kontrastiert sind, sondern ineinander fließen. Der Liebende figuriert dabei als eine passive Gestalt, als einer, der vorgibt, 13
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Forse ancora per più sottile persona si vederebbe più sottile ragione in ciò; ma questa è quella ch’io ne veggio, e che più mi piace. (19,7 [XXIX,4]) ,Vielleicht könnte eine noch subtilere Person darin einen noch subtileren Sinn aufzeigen. Dieser aber ist es, den ich darin sehe, und der mir auch mehr zusagt.‘ Kein Interpret wird sich anmaßen, diese subtilere Person zu sein, denn sie wäre, wenn es sie gäbe, niemand anders als der Text selbst. conobbi ch’era la donna de la salute, la quale m’avea lo giorno dinanzi degnato di salutare.
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II. Allegorien und Allegoresen
seine imaginierte Schau zu „erleiden“. Im Traum selbst ist er nur metonymisch anwesend, als brennendes Herz. Weil sie schläft, erscheint die Geliebte zunächst unbeteiligt, als reines Zeige- und Schauobjekt, bis sie von der eigentlich souveränen Gestalt, Amor, dem Herrn des Liebenden, zum Essen des Herzens angehalten wird. Die metaphorische wie narrative Dramaturgie ist die eines vielfachen Umschlags: Der schauderhaften Metaphorik (Glut, Blut, Röte, Essen des Herzens) steht der visionäre Genuss entgegen; dem furchterregenden Anblick Amors gibt sich der Liebende gleichwohl mit Freuden (letizia) hin, ebenso erfreut sich Amor in seiner innervisionären Schau an der donna, die sich das Herz des Liebenden (oder im Herz den Liebenden) – wenn auch zögerlich – einverleibt. Das Adverb dubitosamente wäre für sich einige Überlegungen wert. Es ließe sich als das poetologische Eingeständnis lesen, mit dem Motiv vom cœur mangé – diesem degoutantesten Motiv, das die Poesie der fin’amor hervorgebracht hat – das decorum aufs äußerste ausgereizt zu haben. Zugleich macht genau diese Referenz auf die trobadoreske Tradition die Spannung begreiflich, von der diese Schlüsselszene in Dantes ,Vita nova‘ ihrerseits zehrt. Es ist die maximale Spannung zwischen den Bildern der Negativität und ihrer positiven Semantik: Die Dame, die in den entsprechenden Trobadorlegenden und Novellen das Herz ihres Geliebten zu sich nimmt, ist keine donna de la salute, sondern eine Ehebrecherin.15 Nicht Amor führt ihr eigentlich das Herz zu, sondern der gehörnte, sich rächende Gatte. Die schauerliche Untat der Anthropophagie liest sich im übertragenen Sinn jedoch als Vollzug jener unio, die den ehebrecherischen Liebenden gerade verweigert werden soll. Die Inkorporation weiß im schauderhaftesten aller denkbaren Akte die unmögliche Nähe der Liebenden physisch herzustellen. Auf diese Weise stiftet sie Identifikation und legitimiert die illegitime Liebe. Bei Dante scheint der semantische und wirkungsästhetische „Kippeffekt“ noch einmal überdehnt, da ein Motiv der erotischen Illegitimität auf eine legitime Liebe übertragen wird. Als derjenige, der das Herz serviert, kann Amor selbst jenes Gefallen an der positiven, „mystischen“ Semantik des anthropophagen Aktes zeigen,16 das
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Zur Tradition des Motivs vom gegessenen Herzen vgl. Di Maio 2005. Die wirkungsmächtigsten Vertreter sind die beiden Trobador- bzw. Trouvèreviten des Guillem von Cabestain und des Châtelain von Coucy, diesen folgen wiederum Konrads von Würzburg ,Herzmäre‘ (nach dem Châtelain) und Novelle IV.9 aus Boccaccios ,Dekameron‘ (nach Guillem, vgl. auch die mit dem Vater-Tochter-Konflikt verbundene Variante in IV.1). Zu dieser „mystischen Semantik“ wäre auch die unterschwellige Referenz auf die Eucharistie zu rechnen. Man denkt in diesem Zusammenhang vor allem an den Prolog von Gottfrieds von Straßburg ,Tristan‘ (228ff.), auch wenn hier das Motiv der Anthropophagie fehlt (bzw. auf die Relation zwischen Roman und Rezipienten übertragen ist): Der Liebestod ist das lebende Brot, das die Rezipienten in Form der Erzählung zu sich nehmen. Bei Dante
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in den Herzlegenden das illegitime Vergnügen des Ehemanns bezeichnet. Während dieses „Vergnügen“ dort nun von zwei Seiten untergraben wird (weil es erstens den Hahnrei endgültig ins Unrecht setzt und weil es zweitens aufgrund seiner positiven Liebessemantik bloß dessen ausgemachte und finale Torheit erweist), ist die letizia Amors in der ‚Vita nova‘ uneingeschränkt positiv und beschreibt gerade in einem Bild von dramatischer Negativität die Souveränität des Herrn der Liebe. Der Text entwickelt somit die spezifische Semantik seiner neuen Liebe, indem er auf ein traditionelles Konzept referiert und es zugleich invertiert. Eine neue Qualität weiß Dante auch dem bezeichnenden Aspekt abzugewinnen, dass es – wenigstens in den ursprünglichen provenzalischen und französischen Legenden – die Herzen der Dichter sind, die verspeist werden.17 Da Dantes Beatriceliebe erst das Werk hervorbringt, ließe sich auf einer poetologischen Ebene sagen, dass das Essen des Dichterherzens auch die Inkorporation des Werks durch Beatrice und also durch die ideelle Adressatin dieses Werks bedeutet. Indes ist der ikonisch schauerliche Akt, in dem sich zunächst die absolute Souveränität des Liebesgottes manifestiert, unmittelbar assoziiert mit einem Bild, das gerade den Verlust dieser Souveränität beschreibt. An eine erste Inversion der tradition courtoise schließt direkt die nächste an: Es ist genau der Moment der Freude, der Amor die „Beherrschung“ verlieren lässt, er bricht in Tränen aus, nimmt die donna wieder in seine Arme und entschwebt mit ihr nach oben. Dieser Umschlag muss uns am meisten interessieren. Die Vision erweist sich in ihm als fragil; was visionäre Präsenz sein sollte, mündet in ein Bild des Verschwindens, das die Gestalt Amors ebenso wie die Gestalt der Geliebten als Figurationen einer spezifischen vanitas kennzeichnet. Der Liebesgott repräsentiert wie Beatrice selbst zunächst natürlich die irdische Liebe, einen Eros der Immanenz, der nicht zuletzt in der „anmaßenden“ sakralen Formel, mit der er sich dem Liebenden offenbart, – „ego sum dominus tuus“ – in Konkurrenz zur Transzendenz tritt. Wie die Herrin der höfischen Liebe erscheint auch Beatrice zunächst als eine solche Repräsentation der Immanenz, und in diese Richtung weist auch ihre Fragilität, die im Traum in der Nacktheit, im Zustand des Schlafes und in dem sanftem Zwang, unter dem sie Amor folgen muss, angedeutet ist. (Im Text selbst wird diese Fragilität von Beatrices Trauer um den Tod ihres Vaters bis hin zu ihrem eigenen Tod sukzessiv entwickelt.)
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opfert Amor als dominus des Dichters gewissermaßen dessen Herz, dabei könnte ein diffuser christologischer Aspekt mitschwingen. Der Hinweis bei Di Maio 2005, 18f., die den Gedanken aber nicht weiter verfolgt.
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Auch hier operiert die ‚Vita nova‘ allerdings mit einer signifikanten Umdeutung. In der höfischen Lyrik rechtfertigt sich die unbedingte Bindung an die Minneherrin gegenüber der Verpflichtung zur Gottesliebe unter anderem mit der Frage, warum sie Gott so schön hätte machen sollen, wenn er nicht wollte, dass man sie liebe. Dante nimmt diese ironische Argumentation beim Wort: Beatrice, das Wunder der Trinität, das Quadratprodukt der Drei, ist als Geschöpf Gottes nicht der Immanenz gegeben, sondern bloß geliehen – auf Widerruf gewissermaßen, und diesem Widerruf hat in Dantes Traum der Liebesgott selbst zu gehorchen. Beatrice ist nicht nur die Geliebte des Jünglings, sondern das Objekt eines transzendenten Begehrens. Sie ist die angiola giovanissima sowohl im Sinne der laudativen Metapher des dolce stil nuovo als auch konkret: Ein Engel bittet Gott um Rückholung seiner „Schwester“ in die Transzendenz, und Gott selbst findet an ihr Gefallen.18 In ihrer Fragilität, in ihrer tatsächlichen Auslieferung an den Tod lässt sich Beatrice einerseits als eine klassische Figur weltlicher vanitas lesen, andererseits wird sie zum immanenten Objekt eines transzendenten Begehrens, zur temporären Inkorporation der Transzendenz in der Gestalt der schönen Frau. Diese hybride Konzeption spiegelt sich in den ambivalenten Darstellungsformen der ,Vita nova‘, die zu einer Überlagerung divergenter Denkformen führen – etwa des Kontrasts von Frauenliebe und Gottesliebe, irdischem Amor und Gott, vanitas und Apotheose. Die intertextuelle Polyphonie des Textes besteht in der Inversion der fin’amor über die Poesie des dolce stil nuovo hin zum Entwurf einer Liebe, die sich „neues Leben“ nennt. Das Verfahren führt zur fortwährenden Präsenz 18
Die Bitte des Engels findet sich in der zweiten Strophe der berühmten Kanzone ,Donne ch’avete intelletto d’amore‘ (10,15-25 [XIX,4-14]). Dass Beatrice auf Erden weilt, bedeutet, wenn auch den einzigen, so doch einen unerhörten difecto (,Mangel‘; 10,18) des Himmels (in ihm erklärt sich und äußert sich folgerichtig das transzendente Begehren). Nur das (personifizierte?) Mitleid verteidigt gegen alle Heiligen die Ansprüche „unserer Partei“, also der Immanenz (Sola Pietá nostra parte difende; 10,19), Gott weist die Bitte des Engels mit den Worten zurück, die himmlischen Scharen (Dilecti miei) sollen erdulden, dass ihre Hoffnung (spene) là – also in der Immanenz! – verbleibe, solange es ihm gefalle (quanto Mi piace). In der Kanzone auf Beatrices Tod (,Li occhi dolenti per pietà del core‘; 20,8-9 [XXXI,8-9]) heißt es dann, dass Beatrices Gang ins Paradies fé maravigliar l’etterno Sire, / sì che dolce disire / lo giunse di chiamar tanta salute; / e fella di qua giù a!ssé venire, / perché vedea ch’esta vita noiosa / non era degna di sì gentil cosa (,ließ den ewigen Herrn erstaunen, sodass ein süßes Verlangen, solch’ Heil zu rufen, sich ihm einstellte. Und er ließ sie von dort unten zu sich kommen, weil er sah, dass dieses kummervolle Leben einer solchen edlen Sache nicht würdig sei‘). Der zweite Gedanke formuliert das „süße“ Begehren Gottes zu einer providentiellen Maßnahme um, die das Mythologem von Dike-Astraia spiegelt, die aus der schlechten Welt zum Himmel flieht (vgl. Ovid, ,Metamorphosen‘ 1,149f.); es rechnet von Hesiods ,Erga‘ über Arats ,Phainomena‘ zum Kernbestand des Zeitaltermythos; ihm eignet also so etwas wie eine eschatologische Perspektive, die ja auch Dantes Œuvre durchaus durchzieht und sich in den Begriff des neuen Lebens hineinlesen lässt.
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eines mehrfachen Sinns im Text.19 Die ikonischen Strategien wissen diesen mehrfachen Sinn in mehrdeutigen Bildern zu simultaneisieren, wie am Amortraum deutlich zu sehen ist. Neben dem „anagogischen“, auf Beatrices „Auffahrt“ verweisenden Sinn und neben dem „moralischen“ Sinn fragiler Immanenz könnten wir auf einen verborgenen Litteralsinn des Begehrens verweisen, der sich im Bild der nackten donna de la salute verbirgt: Ihren Leib umfließt uno drappo sanguigno. Man sollte das Attribut beim Wort nehmen und die nackte Geliebte von einem Tuch umhüllt sehen, das sanguigno ist, weil es vom Blut aus dem Herzen des Liebenden getränkt wurde. Der Liebende würde auf diese Weise metonymisch vom nackten Leib der Geliebten Besitz ergreifen, so wie sie von ihm, wenn sie sein Herz isst. Der Amor der ‚Vita nova‘ zeigt jedenfalls keine konsistente Konzeption: Er symbolisiert sinnliches Begehren ebenso wie eine transzendente Sehnsucht. Gott und die himmlischen Scharen aber begehren ihrerseits – in Logik und Sprache weltlicher Liebe! – das Objekt der neuen Liebe und des neuen Lebens, Beatrice, die Gestalt einer fragilen Souveränität. In dieser Inkonsistenz und in der Überschreitung der ihr vorgängigen poetischen Entwürfe liegt der grandiose Widersinn der dantesken Liebe begründet. Dem Motiv vom gegessenen Herzen eignet dabei eine besondere Signifikanz. In den entsprechenden Novellen legitimiert die para-religiöse unio der Liebenden, die der anthropophage Akt ermöglicht, die illegitime Ehebruchsliebe und entzieht sie in ihrem sentimentalischen Pathos der transzendent motivierten Kritik als exemplum vanitatis et luxuriae. Dantes doppelte Inversion (der illegitimen Ehebruchsliebe zur legitimen, der fin’amor zu einer Liebe, die sich in der Geliebten auf die Transzendenz richtet) entwirft hingegen in der visionär vollzogenen gegenseitigen Einverleibung (Essen des Herzens, das vom Herzen blutige Gewand) die Transformation stilnovistischer Liebe zum amor novus, der in Beatrice die Opposition von Immanenz und Transzendenz aufhebt. ASPEKTE EINER SEMANTIK DER TOTEN GELIEBTEN. – Die Beatrice der ,Vita nova‘ erscheint in Bildern der Beschädigung, die den Figurationen der Fragilität entsprechen, wie sie die höfische Lyrik entwickelt hat. Dort führen diese Figurationen den poetischen „Absolutismus der Immanenz“ an einen Punkt, der die Grenze seiner Gültigkeit bezeichnet: Er läuft Ge19
Zur mehrfachen, allegorischen Lesbarkeit als Programm der ,Vita nova‘ Hempfer 1982. Hempfer kann zwar nachweisen, dass der Text seine notwendige, auch spirituelle Allegorese behaupte, nicht aber, dass sie in einer arretierbaren Sinngebung bestünde. Prinzip ist also doch die hermeneutische Polyvalenz und nicht eine „allegorische Gesamtbedeutung“, die sich „allmählich“ realisiere (so ebd., 34f.). Man könnte mit Jauß 1971 auch vom postallegorischen Status des Textes sprechen.
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fahr, in sein Gegenteil zu kippen und die Herrin zur figura vanitatis geraten zu lassen. Wie erörtert bezeichnet dieser Punkt bei Heinrich von Morungen die äußerste ikonische und diskursive Möglichkeit, das Konzept des Hohen Sanges zu affirmieren; in den Widerrufen Walthers von der Vogelweide setzt hier die genau gegenteilige Allegorese an: In der Gestalt der Frau Welt und in ihrer beschädigten Leiblichkeit gerinnt die Transgression der Gattungsnorm zum Akt einer conversio. Was im grand chant courtois der Absolutismus der Immanenz war, erliegt in dieser geistlich-allegorisierenden Lesart endlich seiner eigenen Unmöglichkeit, seiner Paradoxie, während er innerhalb des Systems mit dem Ziel ausgereizt wird, ihn erst recht zu bestätigen: Allegorisiert zu Frau Welt gerät die Herrin zur Figur weltlichen Scheins, dem ein schauderhaftes Sein entspricht. Der schöne weibliche Leib repräsentiert der außerpoetischen Logik nach in Wahrheit nichts anderes als physische und allegorische Fäulnis: Vanitas und Luxuria. Indem Dantes Beatrice tatsächlich durch den Tod geht (und also die zirkuläre Struktur der fin’amor durchbrochen wird), müsste sie sich genau als eine solche figura vanitatis erweisen, die auf das zugrundeliegende Konzept weltlicher Liebe zurückschlagen und dessen Unmöglichkeit und Nichtigkeit bezeichnen würde. Das Ende der ,Vita nova‘ liefert denn auch einen entsprechenden Beleg, allerdings verbunden mit einer signifikanten Verschiebung: Nach dem Tod Beatrices findet der Liebende Gefallen an einer donna pietosa, an einer mitleidenden Florentinerin, und läuft Gefahr, nochmals der Immanenz zu verfallen (cap. 24-27 [XXXV-XXXVIII]). Gegen die zunächst gegebene Evidenz des Textes (die donna pietosa erscheint als tugendhaftes Wesen) erkennt er in ihr aber schließlich den Trug der Welt (überspitzt gesagt eine Figur der luxuria). Damit wird die Möglichkeit einer Liebe im Hienieden und nach den Regeln des dolce stil nuovo zwar nicht negiert, aber im eigentlichen Sinn transzendiert: Der Liebende bindet sich neuerlich an Beatrice, die mittlerweile von einer figura vanitatis zu einer figura aeternitatis wurde und also dem Zugriff einer Deutung nach den Prinzipien des contemptus mundi entzogen ist (cap. 28 [XXXIX]). Vorsorglich erweckt bereits die lebende Beatrice das Begehren der Transzendenz, ihr Tod bedeutet nicht ihr Ende, sondern ein Zu-sichKommen, die Rückholung einer Gabe der Transzendenz, die nie gegeben, sondern nur – nach der geheimen Ratio des etterno Sire – geliehen war (20,10 [XXXI,10]). Mit dem Tod der Geliebten überschreitet auch Dantes Beatrice-Liebe die Grenzen der Immanenz, ohne dass ihre weltlicherotische Logik gänzlich getilgt werden würde. Nicht ist es die Transzendenz an sich, die der in ein neues Leben eintretende Jüngling liebt, sondern die in sie eingegangene Geliebte. Die Transzendierung der BeatriceLiebe bedeutet keine Löschung, sondern vielmehr eine Infiltration der
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himmlischen Sphäre mit einer, nennen wir es: säkularen Topik, die zumindest auf der Ebene der Darstellungsformen legitimiert, was eigentlich gestrichen wurde: die im weiblichen Körper repräsentierte diesseitige Schönheit, das in der Liebe zu ihm repräsentierte sinnlich-erotische wie ästhetische Begehren. Und an den Nachwirkung dieses Paradoxes laborieren noch die Imaginationen Beatrices und ihrer Leiblichkeit in der ‚Comedia‘. Schon im Traum vom gegessenen Herzen kündigt sich diese Infiltration an, denn es ist Amor, der irdische dominus des Liebenden, der die Geliebte in den Himmel bringt, und wir können es zwar nicht sehen, weil die Vision hier abbricht, aber es ist immerhin denkbar, dass er Beatrice nicht nur abgibt, sondern mit ihr in die Transzendenz eingeht. Die Vorstellung vom tatsächlichen Tod der geliebten donna bezeichnet einen fundamentalen Bruch mit der poetischen Tradition. In den Figurationen der Fragilität, die die höfische Lyrik entwickelt, ist dieser Bruch zwar angelegt, seine Durchführung bei Dante bedeutet jedoch einen epochalen Schritt von entscheidender konzeptueller Folgewirkung. Dass man ihn aus einem persönlichen historischen Erleben des Autors, also mimetisch erklären wollte, lag nahe. Die Nichtigkeit dieser Erklärung erweist sich schon in ihrer tautologischen Struktur: Denn wenn es auch den Tod einer Beatrice gegeben hätte, so bewiese er für sich genommen nichts. Seine Semantik ist in jedem Fall das Produkt einer poetischen Erfindung, eines innerpoetischen Kalküls und einer innerpoetischen Dramaturgie. Die historisch-autobiographische „Verlesung“ von Dantes Werk könnte uns aber doch auf die entscheidende Spur, auf den poetologischen Grund von Dantes „Erfindung“ hinführen. Die narrative Umschrift des Liebeskonzepts des dolce stil nuovo und die zyklische Zusammenstellung der Gedichte in der Tradition trobadoresker Viten und Kommentare stehen im Zeichen des Entwurfs einer neuen poetischen persona. Es geht um eine neue biographische Signifikanz, die das Modell einer „neuen Liebe“ zum Modell eines „neuen Lebens“ umschreibt. Dieses Modell bedingt eine fundamental geänderte Chronotopik, zumal die Aufgabe eines perpetuierenden lyrischen Liebeswerbens zugunsten eines Verlaufs im Zeichen der Lebenszeit. Das Lebensschema verlangt nach einer Übersetzung der zirkulären Krisenstruktur einer sich nicht erfüllenden trobadoresken Liebe: Sie ist in der Zeit zu denken. Würde sich dieser Entwurf weiterhin an die unnahbare Minneherrin wenden, müsste er in der Parodie seiner selbst enden. Denn die Geliebte der höfischen Lyrik kann nicht ohne Schaden als der Zeit unterworfenes Geschöpf gedacht werden. Zu sehen war dies an Walthers barbarischer imago einer gealterten Minneherrin, der der junge Liebhaber mit seiner „Sommerrute“ an die Haut geht. Jean de Meun for-
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muliert es im ‚Rosenroman‘ eleganter, wenngleich nicht weniger apodiktisch: Car beauté est de tel matire: / Quant el plus vit e plus empire.20 Unter dieser Prämisse lässt sich aus dem vermeintlich größten Schaden, dem Tod der Geliebten, der höchste Gewinn ziehen. Gerade der frühe Tod rettet sie vor der Zeit und verlängert das Begehren in die Transzendenz. Zugleich setzt er jenen dramaturgischen Schnitt einer Krisenerfahrung, in der ein neues Leben erst die berühmte Bedingung seiner Möglichkeit findet: Der Tod der Geliebten ist das unabdingbare Äquivalent, in dem die Signifikanz des lyrischen Lebensentwurfs garantiert ist. Indem er jene Figur, in der sich das liebende Selbst spiegelt, aus der Immanenz in die Transzendenz versetzt, gelangt dieser Entwurf zu einer neuen Legitimation des Subjekts, die gerade in dessen unerhörter Überhebung besteht: Sein Begehren teilt mit ihm das höchste Wesen, der Gott der ,Vita nova‘ selbst. Seine Geliebte gerät dabei schon im Hienieden zur christologischen figura: Kapitel 15 [XXIV] der ‚Vita nova‘ berichtet von einer Begegnung des Liebenden mit Giovanna, der Geliebten Guido Cavalcantis, und mit Beatrice, die hinter Giovanna geht. Es ist Amor selbst, der die Allegorese für die Szene vorgibt: Er habe Guido veranlasst, Giovanna den Namen „Primavera“ zu geben, weil sie es sei, die zuerst komme (prima verrà). Giovanna aber heiße sie nach Giovanni, Johannes dem Täufer, der dem wahren Licht vorangegangen sei. Und wie dieser ausrief: Parate viam Domini!, so gehe Giovanna einer Beatrice voran, die man – so der Liebesgott – auch Amor (also im Lichte der Vision von Kapitel 1: dominus tuus) nennen könnte. Die Analogisierung des erotischen Ereignisses mit dem Heilsgeschehen scheint hier noch auf eine ambivalente Konkurrenz zwischen Immanenz und Transzendenz zu zielen, ist aber jedenfalls ganz auf das berichtende Subjekt fixiert: Nur dieses einen Heute wegen, nur dieser einen Begegnung wegen habe Amor Guido veranlasst, Giovanna Primavera zu nennen, und hat ihn darin letztlich betrogen. Denn das, was Guido als laudative Formel verstehen muss, die seine Geliebte hervorhebt, dient bloß der laudatio einer anderen, Beatrices, und eines anderen, Dantes ,Vita nova‘. Wieder lässt der allegorisierende Text Bildlichkeit und Rhetorik des 20
‚Denn Schönheit ist so beschaffen: / je länger sie lebt, um so mehr verwelkt sie.‘ (8321f.; Übers. K. A. Ott) Die Verse sind allerdings nicht an eine Herrin, sondern an den jungen Amant gerichtet, der sich nicht auf seine Schönheit verlassen, sondern sich umfassend bilden soll, da nur Gesittung, Kunstverstand und Wissenschaft (meurs, arz e sciences; 8315) Bestand haben. Einen analogen Gedanken formuliert übrigens Petrarcas ,Secretum‘ (II.15): Franciscus rechtfertigt sich vor Augustinus, nie seinen Sinn bloß auf körperliche Schönheit gerichtet zu haben (Me ne in hoc mortali et caduco corpusculo spem posuisse), nach der Devise Domitians: „Scias nil gratius decore, nil brevius.“ (‚Wisse, dass nichts angenehmer als körperliche Anmut, nichts kürzer.‘)
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dolce stil nuovo hinter sich und überbietet, indem er Beatrice Giovanna überbieten lässt, auch Guido Cavalcanti.21 Die Epiphanie bleibt ganz auf das Ich und dessen Wahrnehmung bezogen. Selbst der Souverän dieses Ich, Beatrice, erscheint wie schon im Traum vom gegessenen Herzen bloß als Objekt einer Inszenierung Amors, des Herrn des Liebenden. In diesen Aspekten verrät sich der geheime Narzissmus, der den Selbstentwurf grundiert und mit dem er wiederum auf die Tradition höfischer Liebe antwortet, um sie überbietend fortzuschreiben. Indem er das Objekt seiner Selbstbespiegelung in die Transzendenz verlegt und es christologisch zu stilisieren weiß, schreibt er sich die höchste Legitimität zu. Die Bindung des Selbst an das von ihm entworfene begehrte Objekt liest sich als Bindung, die den Schritt aus der defizienten, zeitgebundenen Immanenz in die Transzendenz vollzieht. In Wahrheit bleibt freilich alles der poetische Entwurf, die poetische Welt einer sich selbst entdeckenden Subjektivität. Der Narzissmus des Liebenden erweist sich wie schon bei Morungen als poetologischer Narzissmus: Er steht im Zeichen des Werks, der Lebens s c h r i f t .22 Bei dieser Lebensschrift führt nun das Erinnern die Feder, sie ist das materialisierte Exzerpt eines immateriellen Aktes, der als Akt der Lektüre im Buch des Lebens imaginiert ist, wie es am Beginn der ,Vita nova‘ heißt. Das Attribut „neu“ verweist dabei auf eine fundamentale Veränderung, auf eine conversio, der sich das Subjekt im Gedenken inne wird und die wesentlich am Tod der Geliebten orientiert ist. Dieser Tod bedeutet eine Lösung des liebenden Begehrens von der Sphäre der Immanenz (ohne dass die Liebe ihrer immanenten Prägung, ihrer Sinnlichkeit entbunden würde und sich auf etwas anderes als auf Beatrice bezöge). Aufgrund der christologischen Stilisierung schon der lebenden Beatrice liest sich der Weg, den das liebende Subjekt nimmt, freilich eher als platonistischer Aufstieg denn als Akt der Umkehr, der conversio im eigentlichen Sinn. Eine conversio, die der Verirrung entsprechen würde, von der die ,Comedia‘ ausgehen wird, wäre nur in der erwähnten, ebenfalls als neu titulierten Liebe zur donna pietosa nach Beatrices Tod zu fassen. In ihr, so ließe sich sagen, wird die Welt, von der in der ,Vita nova‘ ohnehin nie die Rede war, weil Beatrice nie eine figura huius mundi repräsentierte, ein letztes Mal zurückgewiesen, in ihr erst ist die Immanenz eigentlich gelöscht. Oder 21
22
Die Allegorese, die die ,Vita Nova‘ hier anstellt, transzendiert auch den stilnovistischen Sinn der Namengebung im folgenden Sonett, dessen abschließendes Terzett lautet: e sì come la mente mi ridice / Amor mi disse: „Quell’è Primavera, / e quell’à nome Amor, sì mi somiglia“. (15,9 [XXIV,9]); ,Und so wie mir es die Erinnerung eingibt, sagte Amor zu mir: „Die eine ist Primavera, und die andere trägt den Namen Amor, so gleicht sie mir.“‘) Die christologische Deutung liegt im Sonett wegen der Namensformen – Vanna und Bice – noch ganz fern. Vgl. oben Kap. II.3, 245ff.
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genauer: Die allgemeine Welt, die ohnehin geschönte Welt einer stilnovistischen Liebe, ist verabschiedet zugunsten der besonderen Welt des lyrischen Subjekts, in der der Gegensatz zwischen Immanenz und Transzendenz aufgehoben ist. Eine Vision Beatrices (cap. 28 [XXXIX]) veranlasst den Liebenden, sich von dieser donna pietosa wieder abzuwenden, und lässt ihn endgültig zum „Märtyrer“ seiner wahrhaft neuen Liebe werden.23 Was Dante hier veranstaltet, ließe sich mit Roland Barthes als ein „seconder le monde“ begreifen, und diese „Rückstellung“ der Welt stünde auf zweifache Weise im Zeichen des Werks: Zum einen rettet sie die Konstruktion der ‚Vita nova‘, zum anderen ermöglicht sie die ,Comedia‘. Mit der ‚Comedia‘ aber wird „l’être aimé l’âme conductrice, initiatrice, de l’Œuvre“.24 Wir könnten Dantes Einfall, einen Zyklus von Gedichten in den narrativen Verlauf einer neuen Lebensschrift zu bringen, die ihr Zentrum im Tod der Geliebten findet, einen „poetischen Mord“ nennen, der im Zeichen des Werks stünde. Indem der Dichter in der Gestalt des rückgeholten Engels, Beatrice, die Transzendenz für sich vereinnahmt, indem er so tut, als würde er sich ihr fügen und nicht umgekehrt, weiß er jene Opposition zwischen Immanenz und Transzendenz geschickt zu hintergehen, die schon ein wesentliches Zentrum des Problementwurfs der höfischen Liebeslyrik bildet. Um den Preis allerdings, dass weder die ,Vita nova‘ noch die ,Comedia‘ einer lebenden Beatrice, ob es sie nun gab oder nicht, gefallen hätte: Par parenthèses – et je n’y mets aucune ironie, plutôt un sentiment douloureux: ce n’est pas tellement sûr que La Divine Comédie aurait plu à Béatrice vivante; elle aurait peut-être été choquée, vexée de devenir une image, si belle soit-elle, une image privée de sa propre voix à elle, car on prétend toujours être soi-même, et non sa propre image;25
Roland Barthes will dies ohne Ironie gesagt haben. Wäre es zu ironisch, wenn man die lebende Beatrice, von der Barthes spricht, in der mitleidenden Florentinerin erkennen wollte, deren Einfühlsamkeit und Verständnis, deren Lebendigkeit dem Dante der ‚Vita nova‘ am Ende peinlich ist, so peinlich, dass er gar von Sünde spricht? Dem „seconder le monde“ korrespondiert ein „faire l’œuvre transcender“; die tote Geliebte, die „image“ einer „Beatrice vivante“, die Erfindung der Poesie fungiert dabei als „âme 23 24 25
dintorno a!lloro si facea uno colore purpureo, lo quale suole apparire per alcuno martirio che altri riceva. – ,und rings um sie [um die klagenden Augen] ergab sich eine Farbe, wie sie an anderen aufgrund eines Martyriums aufzutreten pflegt.‘ (28,4 [XXXIX,4]) Barthes 2003, 273 (‚das geliebte Wesen wird die leitende und initiierende Seele des Werks‘). Ebd. (,Nebenbei bemerkt – und ich meine das ohne jede Ironie, eher mit einem Gefühl des Schmerzes: Es ist nicht so sicher, dass die ,Göttliche Komödie‘ einer lebenden Beatrice gefallen hätte; sie wäre vielleicht vor den Kopf gestoßen gewesen, verärgert, ein Bildnis geworden zu sein, so schön es auch sei, ein Bildnis, von ihm ihrer eigenen Stimme beraubt; denn immer beansprucht man, man selbst zu sein und nicht sein eigenes Bildnis;‘)
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conductrice, initiatrice“, die der lebenden Beatrice den eigentlichen Todesstoß versetzt. „BEATRISIERTE“ TRANSZENDENZ. – Die tote Geliebte gibt jenem Bruch körperhafte Gestalt, der die vita nova, das neue Leben als das neue Werk, erst ermöglicht.26 Sie ist eine Erfindung, die nicht jenseits, sondern nur innerhalb des Œuvres zu denken ist, so wie auch das neue Leben nur der innerpoetische Entwurf sein kann, und keine Spiegelung einer außerpoetischen biographischen Begebenheit. Beatrices Tod zieht als die entscheidende Wende in Dantes ‚Vita nova‘ einen Akt der Separation nach sich (man könnte auch sagen: er vollendet eine immer schon angelegte Distanzierung). Er führt das liebende Subjekt in eine eigene Welt, die sich der im Text phantasierten Transzendenz analogisiert. Der Begriff des Phantasmas ist deshalb berechtigt, weil sich diese Transzendenz in Wahrheit eher dem Entwurf der Beatrice-Liebe angleicht als umgekehrt. Wie diese ist auch sie eine Erfindung des Werks und sie weist voraus auf jenes große, panoptische Phantasma der Transzendenz, das die ‚Comedia‘ entfalten wird. Die Formeln, über die diese Ähnlichkeit hergestellt wird, haben wir schon besprochen: dominus tuus, parate viam, der Liebende als ein Märtyrer, der Zeugnis für sich selbst ablegt. Vielleicht wären sie als Formeln zu begreifen, die eher eine intertextuelle, denn eine typologische Relation entwickeln; eine Relation, die zumal die Bibel als den „Text“ der Transzendenz schlechthin eher poetisieren (ins Werk integrieren), als dass sie die ,Vita nova‘ in einer Referenz, die außerhalb ihrer selbst läge, binden und auf diese Weise zum bloßen „Signifikanten“ für etwas anderes werden ließen. Das Wort des Engels vom Mangel, den der Himmel an der lebenden Beatrice erleidet, und jener über Beatrice staunende eterno Sire, in dem der christliche Gott zum Dio der ‚Vita nova‘ wird, machen dies hinreichend evident. Der Tod der Geliebten ermöglicht ein Schema des ascensus, in dem sich die transzendente Verheißung formuliert, die dem Text vorschwebt. Freilich ist diese transzendente Verheißung wiederum nicht etwas, das dem Text äußerlich oder „vorgeschrieben“ wäre, sondern etwas, das er selbst entwirft: eben das neue Leben, das sich am Ende, dort wo es perfekt wird, zum neuen Werk hin, zur ‚Comedia‘ öffnet.27 Die Transgressi26 27
In einer solchen „rupture“ erkennt Barthes 2003, 280ff. die universale Bedingung jeder poetisch entworfenen vita nova. Sie ist Voraussetzung und Kristallisationspunkt des Werks, sie ermöglicht nichts weniger als seine „Schreibbarkeit“. Zur komplexen Schwellenfunktion, die der ,Vita Nova‘ als Vollendung und Aufhebung stilnovistischer Lyrik einerseits, als eigenwertigem und nicht einfach neutralisiertem VorText der ,Comedia‘ andererseits im Gesamtwerk Dantes zukommt, ausführlich Wehle 1986.
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II. Allegorien und Allegoresen
on, die Dantes ‚Vita nova‘ vom dolce stil nuovo her vollzieht und die ihrerseits in eine neue poetische Lebensschrift, in einen neuen poetischen Selbst- und Weltentwurf mündet, lässt sich dabei mit binären Formeln wie Sakralisierung oder Säkularisierung nicht adäquat fassen.28 Wie sich schon am Amortraum der ‚Vita nova‘ gezeigt hat, wäre eher von Simultaneität, von einer Synchronisierung „säkularer“ und „sakraler“ Denkformen innerhalb einer prinzipiell ambivalenten Komposition zu sprechen. Insbesondere wird dies an den Bildern und Konzeptualisierungen der Leiblichkeit sinnfällig, die die Kategorien, mit denen wir operierten, hinter sich lassen, also über das hinausgehen, was sich in stringenter Weise „Figurationen der Fragilität und der Souveränität“ nennen ließe. Zumal an der ambivalenten Leiblichkeit Beatrices in der ,Vita nova‘ konnte dies bereits beobachtet werden: an den Imaginationen der Fragilität (die schlafende, nackte, weinende und schließlich die tote Beatrice) und an den transzendenten Metaphern, die sich mit diesem Leib assoziieren (angiola giovanissima). In diesem Zusammenhang sei auf zwei Bilder der Fragilität verwiesen, die gerade zum signum von Beatrices transzendenter Apotheose werden: Das eine findet sich in den beiden Terzetten des Sonetts ‚Venite a ’ntender li sospiri miei‘ am Ende von Kapitel 21 [XXXII]. Sie begreifen das Verschwinden der donna gentil als ein Eingehen in jenes saeculum, das einzig ihrer würdig sei (la mia donne gentil, che se n’è gita / al secol degno della sua virtute; 21,6). Die Formulierung ist verräterisch: Nicht erweist sich Beatrice als dem ewigen saeculum gemäß, sondern umgekehrt. Auch diese hyperbolische Inversion stellt sich als Effekt einer Transzendenzkonzeption dar, die unter dem Primat des Werks steht. Dem Bild des Hingangs in eine jenseitige Welt, die erst mit Beatrice ganz zu sich kommt und eine Sphäre wird, in die man (und in die vor allem der Liebende) „heimgehen“ wollte, diesem Bild des Hingangs assoziiert sich nun die klassische Formel des contemptus mundi: [Voi udirete lor] dispregiar talora questa vita, / in persona dell’anima 28
Für die höfische erotische und die spätmittelalterliche geistliche Lyrik vor allem des deutschen Mittelalters hat Helmut Tervooren (1993[a]) versucht, das Begriffspaar fruchtbar zu machen. Das im Grunde affirmative epochale Schema, das sich daraus ergeben hat (den Strategien der Sakralisierung in der höfischen Lyrik und ihrer Kanonisierung antwortet die geistliche Lyrik mit Strategien der Säkularisierung, der Verwendung weltlicher ikonischer Muster zum Transportieren geistlichen Sinns), erscheint in seiner Linearität und Prognostizierbarkeit problematisch. Es droht literarästhetische und literarhistorische Komplexitäten eher zu verdecken, ganz abgesehen davon, dass es mit dem Begriff der Sakralisierung unterstellt, die höfische weltliche Lyrik würde sich diskursiver und ikonischer Verfahren, die von der geistlichen Literatur, zumal von der Marienlyrik geprägt worden seien, eher bedienen, als dass sie diese erst konstituierte. Implizit, so ließe sich mit Blumenberg (1999) sagen, verbirgt sich auch hier im Begriff der „Säkularisierung“ die Vorstellung einer „illegitimen“ Enteignung theologischen Besitzes.
4. Amor, Mors, Lebensschrift: Zu Dante und Petrarca
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dolente / abandonata della sua salute (21,6).29 Die Verachtung der Welt ist auch hier im hingeschiedenen Frauenleib ikonisch repräsentiert, allerdings nicht im Sinne einer affirmativen, sondern einer kontrastiven Repräsentation: Die fragile Körperlichkeit, das fragile Leben der Geliebten allegorisiert nicht die Hinfälligkeit der Welt und ihr eigentlich Verachtenswertes; Weltabkehr und Weltverachtung des poetischen Subjekts beschreiben vielmehr eine absolute Bindung genau an jene Gestalt des Verschwindens, der nicht wie üblich die vanitas mundi, sondern die spes transmundana auf den flüchtigen Leib geschrieben ist. Im Wort von der verachteten Welt wird ein nicht zu ermessender Gewinn in Aussicht gestellt, den die tote Geliebte erteilen werde und von dem das Leben hienieden die leidende Seele abschneide. Gegen diese transzendente Verheißung formuliert die Kanzone ,Quantunque volte, lasso, mi rimembra‘ (Kap. 22 [XXXIII]) – gleichsam spiegelbildlich – die Vorstellung eines absoluten Verlusts: Sowohl für das Ich der ersten Strophe als auch für jenes der zweiten – sie sind dem vorangehenden Kommentar zufolge zwei verschiedene Stimmen30 – besteht dieser Verlust darin, dass die Herrin seinem Blick entzogen ist. Demjenigen, der dies verantwortet, dem grausamen Tod, wenden sich beide Stimmen als dem Feinde zu, der mit der Herrin auch sie selbst hinwegraffen hätte sollen. In dieser Imagination eines souveränen Todes (dem grammatischen Geschlecht nach einer weiblichen Todesgestalt) scheint die in der ‚Vita nova‘ an sich distanzierte Semantik restituiert: Die fragile Herrin gerät zur Figuration weltlicher vanitas. Im personifizierten weiblichen Tod könnte man dabei jene andere Seite des allegorisierten weiblichen Leibes repräsentiert sehen, die bei „Frau Welt“ die schändliche Rückansicht bildet. Was dort vorne und hinten, Schein und Sein ist, wäre hier Beatrice und Morte. Freilich, die Strophe, die das eigentlich autorisierte Ich, die Stimme Dantes, spricht, verweist auf den Genuss, den nun der Himmel und die Engel aus Beatrices Präsenz ziehen. Die Herrin erliegt zwar der Grausamkeit des Todes, zugleich entbietet sie in ihrer spirital bellezza grande (22) den Engeln jenen Gruß, der einst das Heil des Liebenden war, und lässt sie über ihre gentilezza staunen.31 29 30 31
‚Und Ihr hört sie [meine Seufzer] bisweilen dieses Leben im Namen der leidenden Seele verachten, die von ihrem Heil verlassen.‘ Die eine spricht daher von der donna, die andere aber von der donna mia. a·llei [Morte] si volser tutti i miei disiri, / quando la donna mia / fu giunta da la sua crudelitate; / per che ’l piacere de la sua biltate, / partendo sé dalla nostra veduta, / divenna spirital bellezza grande, / che per lo cielo spande / luce d’amor, che gli angeli saluta, / e lo ’ntellecto loro alto e sottile / face maravigliar, sì v’è gentile. (22,17-26) – ,Auf ihn [den Tod] ist all mein Verlangen gerichtet, seit meine Herrin seiner Grausamkeit nicht entging; weil das Vergnügen ihres Glanzes, abgetrennt von unserem Sichtkreis, zur geistlichen großartigen Schönheit ward, die durch den Himmel ein
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II. Allegorien und Allegoresen
Genau in diesem Parallelbild einer bellezza da Morte giunta und einer spirital bellezza grande divenuta sind die beiden divergenten Sinngebungen des fragilen weiblichen Körpers enggeführt: Die tote Beatrice ist figura vanitatis und signum aeternitatis zugleich. Und in der Aufhebung des himmlischen Mangels, darin, dass nun endlich und ausgerechnet ein Licht der Liebe den Himmel durchglänzt, erweist sich die Sphäre der Transzendenz neuerlich nicht bloß als poetisiert, sondern als genuines Phantasma des Werks. LEIBLICHKEIT UND AUGENSCHEIN. – Der Fortgang der Geliebten in die danteske Transzendenz wird von den Augen als Organen der Immanenz als eine leidvolle Trennung erfahren. Als solche Organe der Immanenz sind es füglich auch sie, die der anonymen gentile donna giovane e bella, der mitleidenden Florentinerin verfallen. Erst das imaginäre Gesicht der gloriosa Beatrice (offenbar eine Schau des Herzens, des Organs der Transzendenz) entbindet den Liebenden von all dem, was „diesseits“ seiner separierten Welt sich findet – nach der alten Zählung übrigens in jenem Kapitel, das die verzehnfachte Drei (XXX) und ihr Quadrat (IX), Trinität und Beatrice in der Zahl XXXIX zusammenführt.32 Beatrice erscheint dem Liebenden in jenen vestimenta sanguigne, in denen sie ihm das erste Mal begegnet war. Und auch wenn hier das Herz zu schauen scheint (lo mio cuore cominciò doloresamente a pentere), so ist es doch die überwältigende sinnliche Erscheinung, die die endgültige Umkehr herbeiführt: Das blutrote Gewand verweist auf jenes blutige leichte Tuch, in dem die Visio Amoris die schlafende Geliebte dem Liebenden vor Augen geführt hatte. Es verweist auf jene Szene, die von einer vielfachen Sinnlichkeit durchzogen war (Farbe, Geschmack, Nacktheit). Im Attribut sanguigno materialisiert sich hier wie dort ein erotisches Begehren. Und diese Sinnlichkeit, dieser Primat von Leiblichkeit und Augenschein bleibt auch in der ,Comedia‘ das verborgene und zugleich unhintergehbare „Skandalon“ der Beatriceliebe. Die Signifikanz des Weltengangs, den die ,Comedia‘ entwirft, ist ganz wesentlich eine Signifikanz der Körper.33 Im poetischen Vollzug, inner-
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Licht der Liebe vergießt, das die Engel grüßt und ihren hohen, subtilen Intellekt erstaunen macht, so liebreich, wie sie ist.‘ Freilich stammt die Kapitelzählung nicht von Dante, sondern leitet sich vom ersten Gesamtdruck (Florenz 1576) ab. Nach der Zählung von Gorni handelt es sich um Kap. 28. Vgl. hierzu schon Auerbach 2001 [1929] und Guardini 1958. Guardinis Wort vom „irdisch Vergangenen“, das „in einen endgültigen, jenseitig-ewigen Zustand aufgenommen“ werde (ebd., 104), sowie die darin begründete Signifikanz der Körperbilder stützt Auerbachs Formel vom „Dichter der irdischen Welt“. Inwiefern sie für das ‚Paradiso‘ gilt, sei dahingestellt. Das Paradiso imaginiert eine Sphäre, die prinzipiell jenseits des Leiblichen und des Sichtbaren liegt und muss daher immer in Körper-Emanationen und Gleichnisse ausweichen. Die einzige Gestalt, auf deren Leiblichkeit insistiert wird, ist – abgesehen von Dante – Beatrice selbst.
4. Amor, Mors, Lebensschrift: Zu Dante und Petrarca
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halb der Narration ist diese Signifikanz keine visionäre, sondern eine tatsächlich erfahrene, auch wenn im ,Paradiso‘ – aus Gründen des prekären Status der in dieser Sphäre imaginierten Leiblichkeit – der Hinweis notorisch wird, dass das Geschaute nicht unmittelbar, sondern durch den Filter der Erinnerung wiedergegeben wird und somit nur in Gleichnissen und Bildern „gebrochen“ erscheinen kann: Anders wäre nicht perzipierbar, was sich der Perzipierbarkeit fortwährend entzieht.34 In dieser Fiktion einer produktions- wie rezeptionsästhetisch notwendigen Verfälschung wird – so ließe sich behaupten – die postulierte Authentizität der Vision a priori gelöscht, wird sie zur Unmöglichkeit: Jenseits der Schrift ist keine gewesene Präsenz der Vision denkbar. Uns kann in diesem Zusammenhang wieder nur die Gestalt Beatrices – oder noch weniger: können nur einige Fragmente ihres Erscheinens interessieren. Von grundsätzlicher Wichtigkeit ist, dass die entsprechenden Stellen im ‚Purgatorio‘ und im ‚Paradiso‘ immer einen zwar nicht materiell, wohl aber visuell intakten Körper imaginieren.35 Die transzendente Seinsweise dieses Leibes äußert sich in einer nicht mehr gegebenen Beschreibbarkeit, nicht aber in einer dem Augenschein entzogenen, getilgten Leiblichkeit. (Und in dieser Hinsicht lässt die Beatricegestalt der ‚Comedia‘ alle Versuche ihrer allegorischen Bändigung hinter sich, auch diejenigen, die schon der Text selbst unternimmt.)36 Skizzieren lässt sich das Phänomen an einigen Blicken, die Dante und Beatrice während ihres alto volo wechseln. Zu Ende des vierten canto erstickt ein Blick Beatrices Dantes abschließende Frage nach der Substituierbarkeit verfehlter Gelübde. Ihre Augen, pieni di faville d’amor cosí divini, zwingen ihn dazu, sich abzuwenden und seine Augen zu senken (IV 139ff.). Die Szene erinnert an die Formen und Gesten der Überwältigung, die Gruß und Gesicht der Geliebten schon in der ‚Vita Nova‘ auslösen. Dass der Geführte bloß den Blick abwendet, zeigt seine Veränderung; der Dante des ‚Inferno‘ wäre noch ohnmächtig hingesunken. Indes sind in den faville d’amor die Funken irdischer Sinnlichkeit im doppelten Wortsinne aufgehoben, wie aus Beatrices Antwort am Beginn von canto V deutlich wird: Die Hitze der Liebe sei es, die sie so in Flammen setze, dass ihr Blick für Dante nicht mehr zu ertragen sei. Diese Liebe wiederum entstehe aus dem perfetto veder, aus der visio 34 35
36
Vgl. bes. ‚Paradiso‘, canto XXXIII. Man vergleiche hierzu die berühmte Umarmungsszene mit Casella, bei der Dante dreimal ins Leere greift (‚Purgatorio‘ II,76ff.). Sie will natürlich besagen, dass Dante nur phantasmagorische Körperbilder schaut. Im Falle Beatrices wird dies aber gerade nicht bewusst gehalten. Zur Beatrice-Allegorese zusammenfassend Prill 1999, 158-163; zur hermeneutischen und intertextuellen Polysemie von Beatrices „Rückkehr“ in der ,Comedia‘ (insbesondere auch mit Blick auf die ,Vita Nova‘) Bologna 1998.
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II. Allegorien und Allegoresen
beatifica des ewigen Lichts, das Beatrice in Dantes Augen schon erglänzen sieht. Und auch wenn etwas anderes die Liebe der Menschen in die Irre führe, so bewahre sie doch immer die Spur dieser primären Liebe (V 1ff.). Ebensogut ließe sich sagen, dass in den Worten fiammegiare und faville d’amor ein sinnlicher Eros nicht nur rhetorisch seine Spuren hinterlassen hat. In canto VIII wird der dritte Himmelskreis betreten, jene Sphäre, von der die Welt in ihrem Irrtum glauben wollte, dass von ihr aus die schöne Kypris die närrische Liebe ausgestrahlt habe.37 Offenbar treibt Venus aber noch immer ihre Tollheiten, denn wie anders wäre es möglich und wer anders vermöchte es als die alte Göttin, dass dem Aufsteigenden die donna plötzlich schöner noch erscheint (la donna mia ch’i’ vidi far piú bella; VIII 15). Der irdisch verirrte, sinnliche Blick fällt auf einen Leib, der die transzendente Geliebte wieder zu dem macht, was sie war: zur Hypostase der Liebe, zu jener Beatrice, die der Liebesgott würdig sieht, seinen Namen, Amor, zu tragen. Die eben getilgte Mythologie schreibt sich den Versen im Moment ihrer Tilgung wieder ein und pluralisiert ihren poetischtheologischen Hauptsinn. Im dreißigsten Gesang wird die Schwelle zum Empyreum überschritten. Die Lichtfülle löscht jeden Gesichtssinn, es ist nichts mehr auszunehmen in dieser entmaterialisierten Welt, außer dem Leib der Führerin selbst, auf den sich Dantes Blick nun richtet und der sich weiter betrachten, aber nicht mehr beschreiben lässt. Die Bildregie vollzieht dabei eine sinnige, zweifache metaphorische Transgression, die Beatrice neuerlich in ihrer Femininität ins Recht setzt: Das Gleichnis von der aufgehenden Sonne ist zunächst auf das göttliche Licht der letzten Sphäre bezogen, beides – das Licht des Gleichnisses wie das göttliche – repräsentieren sich dann aber in der Gestalt der Geliebten. Damit ist der Liebende da angelangt, wo der Dichter – sei es der Trobador, sei es der Minnesänger, sei es Dante selbst – immer schon stand: An der Unsagbarkeit der an Beatrice geschauten körperlichen Schönheit. Wie die Sonne im Anblick nur noch flimmert, so entzieht ihm die Erinnerung an ihr süßes Lächeln die Möglichkeit des poetischen Angedenkens: ché, come sole in viso che più trema, così lo rimembrar del dolce riso la mente mia da me medesmo scema. (XXX 25ff.)
Dem für den Augensinn unerträglichen Glanz der Sonne entspricht hier nicht erst die Geliebte selbst, sondern bereits die Überwältigung, die von der versuchten Vergegenwärtigung ihrer Erscheinung ausgelöst wird. Sie 37
Solea creder lo mondo in suo periclo / che la bella Ciprigna il folle amore / raggiasse, volta nel terzo epiciclo; – VIII 1ff.
4. Amor, Mors, Lebensschrift: Zu Dante und Petrarca
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lässt nicht die Augen erblinden, sondern löscht – wortreich zwar – die Worte. Beatrices Lächeln ist jene Geste, die sie als die vertrauteste Gestalt wenigstens des ,Paradiso‘ identifiziert und in der sie ihre poetische, stilnovistische Femininität, die ihr zugedachte Rolle der donna mia, bis zu ihrem Verschwinden bewahrt: Als sie Dante im canto XXXI verlässt und ihren Platz in der Himmelsrose einnimmt und als Bernhard von Clairvaux dem Fragenden zeigt, wo sie sitzt, entsendet dieser ein Dankesgebet, das im übrigen nichts anderes als den Dank für das innerpoetisch Erlebte, den Dank für das Werk abstattet. Beatrice antwortet ein letztes Mal mit einem Lächeln. Es ist zugleich die letzte Imagination einer stilnovistischen Leiblichkeit, die sich in der ‚Comedia‘ findet,38 und sinnigerweise ist von keinem Eindruck mehr die Rede, den dieses Lächeln auf den Empfänger gemacht habe. Wäre dies der Fall, so müsste es wie zuvor die impressione eines erotischen Blickes sein, der zugleich ein melancholischer wäre.39 Die skizzierten Szenen der Intimität im ‚Paradiso‘ stehen in auffälligem Kontrast zum triumphalen Auftritt Beatrices im 30. Gesang des ‚Purgatorio‘. Für ihn wählt Dante die Figur der Beatrice gloriosa. Erst nach dem öffentlichen Reuebekenntnis des poetischen Subjekts wird jene Nähe wieder möglich, in der die theologisch orthodoxe Seelenführerin und die überhöhte stilnovistische Geliebte, eine Beatrice gloriosa und eine Beatrice amorosa, verschmelzen können. Die Alternative wäre gewesen, das Wiedersehen mit der verlorenen Geliebten (wie im Falle von Petrarcas LauraVisionen) als intime Begegnung darzustellen. Dante entschlägt sich ihr zugunsten einer Triumphszene, die der Logik und Ambition seines kosmologisch-heilsgeschichtlichen Entwurfs auch angemessen ist. Man könnte die zweite Option aber in der idyllischen Begegnung mit Matelda (canto XXVIII) an der Grenze des irdischen Paradieses und vor Beatrices triumphalen Einzug substituiert sehen. Es ist gewissermaßen ein zweiter Tod, den die in der Himmelsrose und aus dem Text verschwindende Beatrice erleidet. Und doch verweist ihre Leiblichkeit noch im Verschwinden auf eine Ironie, eine Ironie der Immanenz gewissermaßen, von der sich die finale Schau Dantes nicht 38
39
Das nächste und letzte Körperbild zeigt Beatrice, wie sie ihre Hände zum gemeinsamen Gebet der Seligen faltet, um Dante die Schau der Trinität zu ermöglichen (,Paradiso‘ XXXIII 37ff.; es ist übrigens Bernhard, der Beatrice in dieser Haltung wahrnimmt und Maria auf sie hinweist, um die Legitimität seine Bitte zu bekräftigen). Die Melancholie von Beatrices letztem Lächeln hat Jorge Luis Borges in seinen ‚Dantesken Essays‘ mustergültig herausgearbeitet (Borges 1992, hier 249-253). Die Szene gibt ein signifikantes Beispiel dafür, wie die ‚Comedia‘ in der Detailgestaltung die Monumentalität ihres Weltentwurfs hintergeht und damit gerade ihre Poetizität sichert. Achtet man auf diese glücklichen Konter-Strategien des Werkes, zu denen eben auch die Bilder von Augenschein und Leiblichkeit zählen, wird jenes „unschuldige Lesen“ des Textes möglich, das Borges (205) vorschwebt.
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II. Allegorien und Allegoresen
lösen kann. Die Schönheit der paradiesischen Beatrice präfiguriert eine poetische Gottesvorstellung, die – dem thomistischen Synkretismus entsprechend – platonisch-aristotelisch durchfärbt ist (!"#$, %&'()*+, caritas). Sie ist die körperliche Präfiguration eines transzendentalen Signifikats, das so abstrakt wie möglich gedacht wird. Gerade weil es aber zu schreiben und geschrieben ist, lässt es sich nicht ohne Erdenrest, ohne Form, ohne Körper denken: In der Geometrie der trinitären Kreise verbirgt sich die Rosa caelestis, verbirgt sich die Geliebte, verbirgt sich Beatrice. Ihre sinnliche Leiblichkeit stellt dabei nicht bloß eine mimetische Notwendigkeit dar, vielmehr bezeichnet die Beatrice amorosa den Tribut der ,Comedia‘ an das poetische Konzept jenes dulcis amor novus, aus dem sie hervorgegangen ist und ohne den sie ebenso wenig denkbar wäre, wie sie ihn längst hinter sich gelassen hat. Auch die höchste Transzendenz lässt sich unkörperlich nicht denken. Sie muss immer „imaginiert“ werden. Diese poetische crux des ‚Paradiso‘ findet in den unvollendeten Illustrationen Botticellis ihren sinnfälligen Ausdruck (Abb. 22): Seine bildnerische wie poetische Plausibilität erlangt Dantes ‚Paradiso‘ nur in Ikonen der Weltlichkeit, im Leib der Geliebten und in den „para-erotischen“ Blicken und Gesten, die Beatrice und Dante noch hier austauschen. Die Erfahrbarkeit des paradiesischen Augenscheins wird in einer Gestalt garantiert, die in der Tradition der poésie courtoise wie nichts sonst für die weltliche Sphäre einsteht: in der souveränen Herrin, der einzig vertrauten Figur in diesem fernen und entfernten, entmenschlichten Bereich. Sie ist nicht bloß im Hienieden, sondern auch „dort oben“ nur als die vorstellbar, die sie immer war. Schon Heinrich von Morungen kann die „süße sanfte Mörderin“, der er im Jenseits weiter dienen will, nur so denken: als ein reinez wîp. Und schon in diesem Begriff verbirgt sich eine Analogie, eine Nähe zu jener Gestalt, als deren Hypostase die himmlische Beatrice in der ‚Comedia‘ mithin auftritt: Maria. Eine Beschreibung Marias fehlt im ‚Paradiso‘, wohl weil der Text nicht über das hinausgelangt wäre, worin er sich schon bei Beatrice verausgabt hatte. Hätte er es unternommen, er hätte auf eine Lobesformel mit Sicherheit nicht verzichten können, auf die Lobesformel der Leiblichkeit und des Augenscheins schlechthin: Vergine bella. MUNDUS IMAGO LAURAE.40 – Schon Michail Bachtin hat in seiner Theorie der Chronotopik den Begriff von Dantes „Vertikalität“ geprägt.41 Gerade Augenschein und Leiblichkeit als Kategorien, die für Entwurf und Erfahrung aller drei Weltbereiche der ,Comedia‘ substantiell sind, zeigen 40 41
Die Phrase bildet den Titel des Aufsatzes von Joachim Küpper (1992). Bachtin 1989, 89ff.
4. Amor, Mors, Lebensschrift: Zu Dante und Petrarca
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freilich, dass die spezifische Wirkkraft dieser Vertikalität in einem aufrecht erhaltenen Spannungsverhältnis zwischen dem Physischen und Metaphysischen besteht, in der fortwährenden Ko-Präsenz des Leiblichen im Spiritualisierten und des Spiritualisierten im Leiblichen. Nur auf diese Weise kann die intendierte Totalität poetisch erzeugt werden.42 Karlheinz Stierle43 hat Bachtins Begriff der Vertikalität – in Form einer Inversion – für Petrarca fruchtbar gemacht: Die Vertikalität Dantes finde in Petrarcas Horizontalität ihre antithetische Entsprechung. Von hoher Signifikanz ist in diesem Zusammenhang die neue Repräsentation und Konzeptualisierung der Landschaft, die schon in ihrer Weite und Totalität als horizontale Spiegelung des dantesken Weltenraums begriffen werden kann. Dabei überträgt sich freilich auch das beschriebene Spannungsverhältnis in die diesseitige Sphäre und in den horizontalen Raum der ‚Rerum vulgarium fragmenta‘:44 Räumlich lässt sich diese Spanne eben in den Landschaftsimaginationen fassen, ästhetisch repräsentiert sie sich in Petrarcas spezifischer Mythologie und in deren kontrastiver Referenz auf theologische Deutungsmuster. Schon am Karfreitagserlebnis (RVF 3), das den Anfang des Zyklus bildet, konnte dies beobachtet werden. Es entbindet das poetische Subjekt dem kosmologischen, sozusagen vertikalen Konsens und verschreibt es einer mythologisierten, horizontalen Welt irdischer Liebe, in der sinnlicher und poetologischer Eros verschmelzen. Dantes Verirrung in der selva oscura zwingt das Ich zu einem phänomenalen Umweg, der es zielgerichtet durch den gesamten poetisch entworfenen Kosmos führt. Im Unterschied dazu beschreibt Petrarcas Verwundung durch die Augen der anderen Sonne, Laura, den eigentlichen Eintritt in ein konsequent diesseitiges Labyrinth, sie beschreibt den Beginn eines fortgesetzten, gerade nicht teleo42
43 44
Für diese Konzeption von Augenschein und Leiblichkeit bildet die christliche Vorstellung der leiblichen Auferstehung einen zentralen Referenzpunkt; in ihr gründet gewissermaßen die Plausibilität jener kaum verschobenen Immanenz, die sich im Leib der himmlischen Beatrice manifestiert. Im Weltmodell Dantes – so ließe sich überspitzt behaupten – gibt es letztlich gar keine Transzendenz; andernfalls wäre der Weg eines Lebenden durch eine Welt jenseits des Lebens gar nicht möglich, auch wenn er ein visionärer Weg ist (was innerhalb der Narration im übrigen immer wieder vergessen wird). Auch insofern lässt sich Auerbachs Formel vom „Dichter der irdischen Welt“ rechtfertigen. Stierle 2003, passim, bes. 36ff., zu den ,Rerum vulgarium fragmenta‘ 634ff. Analoges gilt, wie Stierle (2003, 663ff.) gezeigt hat, für das Raumkonzept der ‚Trionfi‘; wenn in ihnen auch kein gänzlich neues allegorisches Terrain erschlossen wird (vgl. das analoge Raumkonzept im Amorreich von Andreas’ ,De amore‘, Liber I, cap. VI, D*, Trojel p. 91ff.), so erweist sich Petrarcas innovative Raumregie darin, dass eine aszendierende allegorische Reihe auf ein und derselben Ebene, also gerade nicht in einer vertikalen Raumordnung abläuft. Hierarchisierung leistet allein die Kategorie der Zeit, die Abfolge der Triumphe, was wiederum bedeutet, dass der einzelne Triumph im Moment seiner Präsenz eine Gültigkeit erlangt, die durch keine topographische Skalierung unterminiert wird.
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II. Allegorien und Allegoresen
logischen Irregehens. Formal entspricht dem ein Zyklus lyrischer „Fragmente“, der sich der episch-narrativen Homogenität der canti in Terzinen, dieser Strophenform der Folgerichtigkeit und des kontinuierlichen Fortschreitens, a priori entzieht. Im vario stile verkörpert sich das formale wie thematische Prinzip einer Bewegung in der Horizontalität, die sich der Teleologie verweigert und sich ostentativ dem vano hingibt. Das lyrische Irregehen eröffnet und durchmisst dabei eine Welt, die wiederum keine vorgegebene, sondern eine eigene Welt darstellt, eine Welt, die auf keinen Kosmos referiert, der der Poesie äußerlich wäre. Auch Petrarcas Welt ist der spezifische Raum einer singulären Erfahrung, einer Erfahrung, die einem Subjekt vorbehalten ist, das sich nicht weniger separiert als jenes der ,Vita Nova‘. Einsamkeit/einsames Gehen und Denken/Eingedenken in der Einsamkeit sind Bedingung und Vollzug dieser Separation. 45 Diese Separation steht in ihrer unbedingten Immanenz jedoch unvermeidlich im Zeichen der vanitas mundana, einer vanitas, die allerdings ihr eigenständiges Recht gegen jene transzendente Verheißung behauptet, die sich in Dantes Beatriceliebe verkörpert. Ein gutes Beispiel für dieses Paradox einer positiven Negativität, die der Flüchtigkeit von Laura und Lorbeer, Eros und Poiesis zukommt, bietet Sonett RVF 310. Es entwickelt das Thema des vergreisten Wanderers, der sich in einer Welt ergeht, die zu einem neuen Frühling erwacht. Zugleich zeigt es, wie sich der engere, subjektkonzentrierte Weltentwurf gerade im zweiten, der toten Laura gewidmeten Teil des Zyklus noch einmal öffnet. Es zeigt, wie die vollzogene Separation aufgebrochen wird: Zephiro torna, e ’l bel tempo rimena e i fiori et l’erbe, sua dolce famiglia, et garrir Progne et pianger Philomena, et primavera candida et vermiglia. Ridono i prati, e ’l ciel si rasserena; Giove s’allegra di mirar sua figlia; l’aria et l’acqua et la terra è d’amor piena; ogni animal d’amar si riconsiglia. Ma per me, lasso, tornano i più gravi sospiri, che del cor profondo tragge quella ch’al ciel se ne portò le chiavi; et cantar augelletti et fiorir piagge e ’n belle donne honeste atti soavi sono un deserto, et fere aspre et selvagge.46
45 46
Ebd., 525ff.; zum Bedeutungsfeld des pensare und des andare pensando 546ff. ,Der Zephyr kehrt zurück und bringt die schöne Zeit wieder / und die Blumen und das Gras, seine süße Familie, / und Proknes Zwitschern und das Klagen Philomenas / und den Frühling, weiß und rot. // Die Wiesen lachen, und der Himmel klart wieder auf; / Ju-
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Die beiden Quartette entwerfen das Panorama einer Welt des Frühlings und greifen dafür auf eine metaphorische und mythologische Topik zurück, die auf den ersten Blick hochgradig konventionell erscheint. Nichts freilich würde die Signifikanz dieser Konventionalität mehr verkennen, als wenn man sie mit Stierle als „tot und abstrakt“ begriffe.47 Von einem „Friedhof totgerittener Gemeinplätze des Frühlingseingangs“ (ebd.) zu reden, ist nur dann legitim, wenn man darin die bewusste Strategie des Textes erkennt. Denn wenn etwas tatsächlich totgeritten wird, dann sind es jene Gemeinplätze, die sich der Zyklus selbst erschrieben hat: Die beiden Quartette evozieren eine altbekannte Landschaft, sie beschwören das alte Szenario des Frühlingsraumes als Ort einer Epiphanie der Geliebten.48 Die Pointe steckt dabei im mythologischen Detail: Giove s’allegra di mirar sua figlia. Üblicherweise wird die genannte figlia mit Venus identifiziert und die Phrase auf die astronomisch-astrologische Konstellation der entsprechenden Planeten zur Frühlingszeit bezogen.49 Das ostentative Vokabular einer Wiederkehr (torna, rimena, rasserena) lässt freilich an eine andere figlia denken: nämlich an Proserpina. Wenn man Proserpina nun als eine Figuration Lauras verstehen dürfte, verlöre gerade die Konventionalität dieses Naturentwurfs ihre Unschuld und sie würde innerhalb des Zyklus eine Unerhörtheit formulieren: nämlich die Idee ihrer Wiederkehr. Zweifellos war es diese Laura, in der sich fortwährend auch die primavera verkörperte.50 Fast zwangsläufig muss daher Proserpina, die im Frühling aus der Unterwelt zurückkehrt, auf die nunmehr tote Laura-Primavera verweisen. Die beiden Quartette lesen sich unter diesem Aspekt wie der Versuch einer Wiedererweckung – einer Wiedererweckung, die die beiden Terzette allerdings sogleich negieren: Im Unterschied zu Jupiter vermag sich das poetische Subjekt nicht zu freuen. Was ihm wiederkehrt, sind tiefere Seufzer noch, das Arsenal des Frühlings – Vögel, Blumen und das süße Gebaren der schönen, ehrenvollen Damen – sind ihm nichts als Wüste und wildes Getier. In der allem Anschein nach antithetischen Referenz der wiedergekehrten Proserpina auf die hingegangene Laura-Primavera kommt der absolute Verlust zum Ausdruck, den der Liebende erlitten hat. Er spiegelt sich auch
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piter erfreut sich am Anblick seiner Tochter; / die Luft und das Wasser und die Erde sind voll von Liebe; / ein jedes Lebewesen wird sich des Liebens wieder inne. // Doch zu mir, Wehe, kehren schwerer noch / die Seufzer zurück, die jene aus dem tiefen Herzen zieht, / die die Schlüssel zu ihm mit sich zum Himmel trug; // Und das Singen der Vögel und das frohe Blühen / und das liebliche Gebaren schöner und ehrbarer Damen / sind eine Wüste, und Tiere, rau und wild.‘ Stierle 2003, 634. Zur Frühlingslandschaft ebd., 608ff., am Beispiel von RVF 126. So im Kommentar Santagatas (Hg.), 1204f. zu 6. Vgl. u.a. RFV 126 und 127.
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II. Allegorien und Allegoresen
in der Phänomenologie der Landschaft wider. Die Frühlingsnatur, an der sich die gesamte Welt erfreut, bleibt dem Dichter wüste Ödnis. Die Landschaft, die zuvor immer das Medium einer Epiphanie der Geliebten sein konnte, trägt nunmehr die Insignien ihres Verschwindens, ihrer Abwesenheit. Wie Eurydice wird die Laura des Dichters eben nicht wieder erscheinen.51 Liest man das Sonett bis zu diesem Punkt, scheint alles klar. Die Frage wäre allerdings, ob es nicht doch nach einer Lektüre verlangt, die über ihn hinaus geht, ob die ‚Fragmenta‘ an dieser Stelle ihre eigenen Grenzen nicht doch transzendieren könnten: Gegen die auf den Tod zuschreitende und in Laura vom Tode schon getroffene Linearität des Lebens steht die in den Quartetten entworfene Zyklizität des Weltenlaufs. Dem Verschwinden auf der einen entspricht die Wiederkehr auf der anderen Seite. Jenseits der Existenz des Subjekts, die sich dem Ende nähert, gibt das Sonett den Blick auf eine Welt frei, die fortdauert. Die mittelalterlichen vanitas-Diskurse sind von einer eschatologischen Perspektive grundiert, die die Vergänglichkeit des Seienden systematisch als die des Seins in seiner Gesamtheit fehlliest. Diese eschatologische Perspektive scheint hier durchbrochen – auch und gerade dann, wenn dieses Durchbrechen für das poetische Subjekt nicht gilt. Vielleicht entwerfen die Quartette – ungeachtet der revocatio in den Terzetten – doch ein Szenario des Künftigen. Vielleicht kehrt in Proserpina doch auch Laura zurück, eine Laura, die freilich nicht mehr die alte, die Laura anticha (vgl. RVF 320,1) wäre. Würde aber auch in dieser neuen Laura das Werk selbst figuriert sein, so wäre in ihrer Wiederkehr auch dessen Fortdauer über das Leben der werkimmanenten persona auctoris hinaus imaginiert. Dies wenigstens könnte es sein, was der Text erahnt oder was er erahnen lässt, und es würde auf die Erweiterung des Weltentwurfs verweisen, auf jene prospektive Perspektive, die nicht zuletzt auch die politische Thematik des ,Canzoniere‘ grundiert und seine Geschichtsmächtigkeit erst ausmacht. Ob sich nun in der entworfenen Frühlingslandschaft eine wiederkehrende, neue Laura ankündigt oder nicht, die Wüste, die das poetische Subjekt für sich erkennt, ist die Repräsentation ihres Verschwindens in der subjektiven Wahrnehmung der Landschaft. Diese Reziprozität von äußerer und innerer Welt ist eine Form des Denkens und Darstellens, die Pe-
51
Zum Eurydike-Mythologem vgl. RVF 323,61-72 (die bella donna dieser letzten in einer Reihe von Visionen des Verschwindens, freut sich als Eurydice nova über ihren Eingang ins Jenseits; zur Stelle Santagata [Hg.], 1255f. zu 61-72 und Kuon 2004, 123ff.) sowie RVF 332,49-54 (der Wunsch, wie Orpheus seine Eurydike so auch Laura mit Gesang dem Tod zu entreißen, scheint den Mythos so ostentativ zu verkürzen, dass sich die Zitation als eine doppelte Unmöglichkeit, ein zweifaches Adynaton liest).
4. Amor, Mors, Lebensschrift: Zu Dante und Petrarca
277
trarca kultiviert, auch wenn er sie nicht erfindet.52 Gerade an ihr hat sich die Debatte um Petrarcas Modernität entzündet. Dass sie wenig erhellend ist, teilt sie mit dem Begriff der Modernität, der in seiner Pauschalität ebenso in die Leere geht wie jener der Alterität. Letztlich wird auf diese Weise bloß affirmiert, was ohnehin nicht affirmiert werden muss: nämlich Petrarcas kanonische Geltung. Für eine wissenschaftliche Erklärung der grandiosen Wirkungsgeschichte, die im übrigen längst vor dem beginnt, was in der besagten Debatte unter Moderne verstanden wird, wäre vielmehr auf den Absolutismus einer subjektbezogenen Bildlichkeit zu verweisen, den die Lauralandschaft der ,Fragmenta‘ auf die Spitze treibt. Uns soll indes im Folgenden jene Umkehrung interessieren, die sich in RVF 310 ebenfalls andeutet: Statt „mundus imago Laurae“ lässt sich ebensogut lesen „Laura imago mundi“. LAURA IMAGO MUNDI. – Wie Dantes Lebensschriften ‚Vita Nova‘ und ,Comedia‘ ganz dem Aufstieg in eine selbstentworfene Transzendenz verschrieben sind, so ergehen sich Petrarcas ,Rerum vulgarium fragmenta‘ als poche carte (vgl. RVF 127,87), als „Zettelwerk“ eines Lebens, in einer selbstentworfenen Immanenz. Die spezifische Signifikanz dieser Immanenz besteht in ihrer Poetizität und in ihrem Bezug auf Metaphern und Begriffe mittelalterlicher Weltkritik. Wie schon die Metaphorik des Labyrinths zeigte, entwerfen die ,Fragmenta‘ eine intrikate conditio mundana mit Bildern und Formeln, die den polemischen Gestus des contemptus mundi fortwährend präsent halten, dabei jedoch auf eine schwierige Affirmation zielen. Repräsentation und Wahrnehmung der selbstgewählten Welt stehen im Zeichen einer Negativität, die sich in paradoxer Weise an sie bindet. Auch diese Negativität lässt sich erst im Vergleich zum dantesken Entwurf adäquat ermessen: Während Dantes Konzept eines Aufstiegs immer und ohne essentiellen Bruch in der Beatriceliebe repräsentiert ist, ihr also eine prinzipielle Homogenität eignet, bleibt Petrarcas Welt der Laura antithetisch zu einer Sphäre der Transzendenz gefasst, die vom irrenden Subjekt auch nicht als Ziel seines Weges begriffen wird. Nicht zuletzt aufgrund dieser Negativität gewinnt Petrarcas lyrische Lebensschrift wie die epische Dantes den Anschein einer Totalität. Das 52
Hierzu Küpper 1992 und Stierle 2003; einen berühmten epischen Vorläufer haben die ,Rerum vulgarium fragmenta‘ diesbezüglich zumindest in der sogenannten Blutstropfenszene von Chrétiens de Troyes ,Conte du Graal‘: Eine Wildgans wird von einem Falken verwundet, aus der Wunde fallen drei Blutstropfen in ein Schneefeld. Bei dessen Betrachtung imaginiert Percevaus das Antlitz seiner geliebten Gattin Blancheflor (4098ff.). Die Erscheinung wirft ihn ganz auf das Angedenken zurück (Et panse tant que toz s’oblie; 4136) und separiert ihn von der Welt, bis ihn Gauvains aus seiner Vision „erwecken“ kann, in einem Moment, da ihre „Materialität“ verloren geht, weil die Sonne den Schnee schmelzen lässt (4358); vgl. auch Wolframs von Eschenbach ,Parzival‘ 281,10ff.
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II. Allegorien und Allegoresen
Phänomen ließe sich auf mehreren Ebenen beschreiben. Zum einen und zuerst natürlich im Sinne der negativen Metaphorik der Liebe, der die Tendenz zum Tode hin a priori eingeschrieben ist. In dieser Hinsicht antwortet der Zyklus auf die vorgängige Tradition mittelalterlicher erotischer Lyrik, lässt sie aber zugleich im gebrochenen biographischen Narrativ, in der Lebensschrift aus 366 Fragmenten, hinter sich. Angesprochen wurde schon die Motivik des denkenden sich Ergehens in „dieser“ Welt. Sie weist das poetische Subjekt als einen filius mundi aus, der als Liebender und Dichtender in doppelter Weise eine vita mundana praktiziert und darin der eigentlichen figura mundana im Text, der Geliebten, korrespondiert. Existenz und Sosein des Souveräns der poetischen und erotischen Erfahrung bleiben dem Subjekt nicht fasslich. Laura handelt ohne einsichtige Logik, inkalkulabel und kontingent. Ihre Präsenz ist eine fortwährende und zugleich flüchtige, eine Präsenz, die nur in der Schrift evoziert werden kann. Auch darin schreibt sich in den ‚Rerum vulgarium fragmenta‘ eine Konstellation fort, die schon der höfische grand chant entwickelt hatte, und schon darin gerät Laura zu einer figura mundi. Weil der Tod der Geliebten die unhintergehbare Prämisse des Werkes bildet, ist sie freilich mehr als dies: nämlich eine figura vanitatis. Was sich dabei zunächst als Regress zur trobadoresken und stilnovistischen Liebe ausnimmt, die Rückholung der Geliebten aus der Sphäre der Transzendenz, der sie bei Dante a priori zurechnet, erweist sich als das progressive Skandalon in Petrarcas Antwort auf den Vorgänger.53 Dieses Skandalon besteht in der affirmativen Negativität, mit der die vanitas mundana in der Gestalt Lauras inszeniert und zelebriert wird. Als imago mundi ist Laura einer konstitutiven Beschädigung ausgesetzt, die sich allegorisch nicht bändigen lässt – im Unterschied zu Beatrices Fragilität, die die imago caelestis/angelica in ihr erst sinnfällig macht. Dies ließe sich im Verhalten der Geliebten, in ihrem Erscheinen, in ihrem Tun zeigen, wobei alles wiederum im Zeichen der Negativität gedacht und repräsentiert ist: Laura schlägt Wunden, sie setzt in Flammen, lässt zu Eis erstarren usw. Sie handelt – der Wahrnehmung des poetischen Subjekts zufolge – nach den Prinzipien der Welt-Allegorien Fortuna oder Venus: uneinsichtig, kontingent. Auch Petrarcas Negativität behauptet ihren Anspruch in einer maximalen ikonischen und diskursiven Spannung, in einer Simultaneität von Perspektiven und Strategien affirmativer, idealisierender und revokatorischer, destruktiver Bildlichkeit. Diese Simultaneität lässt sich wiederum spiegelverkehrt zu der bei Dante sehen und reagiert direkt auf Beatrice, etwa in der „paradiesischen Laura“, wie sie die Kanzone RVF 126 53
Zu Petrarcas Rückbezug auf stilnovistische Lyrik Suitner 1977. Als „ferner Erbe“ der Trobadors ist Petrarca bei Friedrich 1964, 161 charakterisiert.
4. Amor, Mors, Lebensschrift: Zu Dante und Petrarca
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(,Chiare, fresche et dolci acque‘) imaginiert. Quante volte diss’io / allor pien di spavento: / Costei per fermo nacque in paradiso (RVF 126,53ff.),54 diese Verse beschließen die Epiphanie der Laura-Primavera, die das poetische Subjekt in Betrachtung der Frühlingslandschaft von Vaucluse zu erinnern vorgibt und die es doch nur fingieren kann. Das „wiederholte Sagen“, die Zuschreibung einer paradiesischen Geburt an Laura, bedeutet dabei nicht einfach, dass die stilnovistische laudative Formel, die bei Dante eine litterale Gültigkeit beansprucht hatte, ins „bloß“ Metaphorische rückgeführt wäre, sondern übersetzt sie in eine subjektive Gültigkeit: Diese subjektive Gültigkeit stellt sich aber explizit gegen eine imagine vera (60), gegen die wahren Verhältnisse des Ortes und der Landschaft, die in der poetisch provozierten Epiphanie der schönen Geliebten, ihres divin portamento (57), verschwindet und in ihrer Faktizität nicht mehr erfahrbar ist. Das poetische Subjekt dünkt sich im Himmel und nicht mehr dort, wo es ist (credendo esser in ciel, non là dov’era; RVF 126,63). Ähnliches leistet der laudative Katalog von RVF 247 (,Parrà forse ad alcun che ’n lodar quella‘): gentile, santa, saggia, leggiadra, honesta et bella (3f.) – dies alles ist Laura nicht, sondern dazu macht sie erst ein irrlichternder Stil (1f.). Der hyperbolische Gestus des Sonetts will dabei nachweisen, dass das Abwegige dieses Stils nicht darin besteht, mit den zitierten Attributen zu weit zu gehen, sondern zu kurz zu greifen: Lingua mortale al suo stato divino / giunger non pote (12f.). Die sterbliche Zunge, genauer: die Sprache des Liebenden und Dichtenden, die jene von Demosthenes, Cicero, Vergil und Homer überbietet, kann Lauras göttlichem Status niemals gemäß sein und dennoch muss sie aus Liebe auf sie fixiert bleiben, nicht durch Wahl, sondern aus Schickung (Amor la spinge et tira, / non per electïon, ma per destino; 13f.). All dies kann nicht über den hypothetischen, konstruierten Charakter dieses stato divino hinwegtäuschen: Vorausgesetzt ist ein poetischer Akt (faccendo; 3), der in seiner Hyperbolik – adoro in terra – die positive Bildlichkeit des Sonetts subvertiert. Lauras Schönheit erschließt sich nur dem subjektiven Blick, dem subjektiven Augenschein, sie ist im Unterschied zu Dantes Beatrice und im Unterschied zu der am Ende der ‚Fragmenta‘ apostrophierten Vergine bella (auf sie weist der laudative Katalog voraus) nicht jenseits des Subjekts gedacht. Auch von diesem Punkt her wird die wesentliche Differenz zwischen Petrarcas Laura und Dantes Beatrice fasslich: In Laura konzeptualisiert und verbildlicht sich eine Poesie der selbstentworfenen Immanenz. Deren dezidiert subjektiver Charakter ist gegen jene ontologische Objektivität gesetzt, die Dantes Beatriceliebe bean54
,Wie viele Male sagte ich / voll des Erschauderns: / Diese da ward sicher im Paradies geboren.‘ Zu den Implikationen des Begriffs „spavento“ (,erschrecken‘ mit stark affektiver und negativer Konnotation) Santagata (Hg.), 598f. zu 54. Offensichtlich ist an die Angst vor dem divinatorischen „Gesicht“, vor der Epiphanie des Göttlichen zu denken.
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II. Allegorien und Allegoresen
sprucht, also gegen die Bindung an eine Geliebte, die tatsächlich aus der Transzendenz kommt und so den ascensus in diese Transzendenz erst ermöglicht. Folgerichtig sind im Falle Lauras Figurationen der Souveränität und der Fragilität nicht parallel geführt, sondern mehr oder weniger streng den beiden Teilen der ‚Fragmenta‘, in vita und in morte, zugeordnet. Die Konstruktion einer souveränen Geliebten in vita zielt dabei im Unterschied zu Dante auf eine „Sakralisierung“, die nicht analogisch, sondern antithetisch zu begreifen ist, wie schon das karfreitägliche Erblassen der Sonne und das Erstrahlen der Laura in RVF 3 gezeigt haben. Dass der Tod diese Figur der Souveränität im Moment ihrer !"#$, ihres äußersten Gewahrwerdens ereilt, lässt sie zur plausiblen imago mundi, genauer: zur imago vanitatis werden. Die Plausibilität ergibt sich nicht zuletzt aus der damit erreichten Dramatisierung, aus einer Dramatisierung, die auf die immanente Mythologie von Laura und Labyrinth zurückschlägt und deren so paradoxe wie antithetische Negativität potenziert. IL MIO BEL VELO: LAURAS HÜLLE. – Von Interesse sind daher die Figurationen der vanitas, die sich mit dieser imago mundi zwangsläufig verbinden. Schon im ersten Teil in vita sind sie in der fortwährenden Nicht-Präsenz der Geliebten gegeben. Eigentlich thematisch werden sie mit Lauras Tod im zweiten Teil, der nun konkreten Bildern der Vergänglichkeit nicht länger entraten kann, wie gerade in der Degeneration des Leibes zum Leichnam augenfällig wird. Auch in dieser Hinsicht bietet Sonett 310 einen Text, der alles andere als „tot und abstrakt“ ist. Wird die Landschaft, in der sich der Liebende ergeht, tatsächlich zum Substitut55 des geliebten Körpers, der sich ihm immer schon entzogen hat, dann erschließt sich im Vexierbild einer Welt des frühlingshaften Anscheins, die dem Betrachter bloß ein wüstes Sein enthüllt, eine weitere Dimension: Auf der Folie der Petrarcaschen Ähnlichkeit zwischen Landschaftsraum und Körper der Geliebten vollzieht sich dieselbe Dramaturgie des Umschlags, die für die Allegorie der Frau Welt konstitutiv ist (schöner Schein, verwesendes Sein). Abgesehen von dieser kosmographischen Figuration der vanitas, die das decorum eines Hohen Stils zu wahren weiß und das Schauderbild des verwesenden Körpers in der allegorisierten landschaftlichen Wüste bändigt, gerät aber auch der konkrete Leichnam Lauras in das Blickfeld des ,Canzoniere‘. Auch hierin überschreitet der Zyklus jene antiken und mittelalterlichen poetischen Konventionen, die er zusammenführt. Er beginnt, das Unerhörte poetisch zu denken und zu imaginieren: den toten Leib der Geliebten (Dante hatte sich der poetischen Vergegenwärtigung 55
Stierle (2003) spricht in diesem Zusammenhang öfters von „Supplement“ (z.B. 606, 633).
4. Amor, Mors, Lebensschrift: Zu Dante und Petrarca
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von Beatrices Leiche wohlweislich entzogen56) – und zwar nicht im Modus der Ironie, der Parodie oder einer sei es kontemptorischen, sei es misogynen Polemik, wie dies später im Barock bei Quevedo oder Hofmanswaldau, und letztlich noch bei Rimbaud der Fall ist.57 Die Vergegenwärtigung der mortal bellezza, die zu Asche und Erde ward, bildet ein durchgängiges Motiv des Zyklus in morte bis hinein in die große Vergine-Kanzone und deren (scheinbar) finales Wort über Laura: tale è terra (RVF 366,92). Das physische Verschwinden der Geliebten und die daraus resultierende absolute Unmöglichkeit der Liebe erhöhen den Grad lyrischer Negativität, der jedoch ein fortwährender Versuch des bewahrenden Angedenkens als Gegenstrategie antwortet. So formuliert etwa das abschließende Terzett von Sonett 303 zunächst den Gedanken einer umfassenden vanitas alles Irdischen, wenn es das Leben als bloßen Weg zum Tode hin begreift: i dì miei fur sì chiari, or son sì foschi, come Morte che ’l fa; così nel mondo sua ventura à ciaschun dal dì che nasce.58
Im Umschlag der Epitheta des hellen Scheins ins dunkle Sein spiegelt sich deutlich die alte, verlorene Ikonographie der Laura. Der absoluten Negativität, die sich aus der rationalen Schlussfolgerung ergibt – così nel mondo sua ventura à ciaschun dal dì che nasce –, kontrastiert jedoch die melancholische Vergegenwärtigung des Verlusts im folgenden Sonett 304. Signifikant für die „kühle“ vanitas-Topik, die sich mit der Hingeschiedenen assoziiert, ist hier das Bild von der verlöschten Flamme, die ein kleiner Marmorstein bedeckt: Quel foco è morto, e ’l copre un picciol marmo.59 Das Bild des kleinen 56 57
58 59
,Vita Nova‘ 19,2 [XXVIII,2]. Vgl. beispielsweise Francisco de Quevedos Sonett ‚La mocedad del año‘ (Aus dem Turm. Moralische und erotische Gedichte, Satiren und Grotesken. Spanisch – Deutsch. Ausgewählt und übertragen von Werner von Koppenfels. Mainz 2003, 128), Hofmanswaldaus ,Sonett. Vergänglichkeit der Schönheit‘ (Neukirchs Anthologie, 46f.) und Rimbauds ,Vénus Anadyomène‘ (Sämtliche Dichtungen. Französisch und Deutsch. Hg. und übertragen von Walther Küchler. 8. Aufl., Heidelberg 1997, 46). Das Phänomen dieser parodistischen Brechung der Petrarcaschen vanitas-Idee wäre eine eigene Betrachtung wert. Das Schlagwort des „Antipetrarkismus“ (hierzu Fechner 1966, bes. 137ff.) trifft ihre Signifikanz und Wirksamkeit in der späteren europäischen Lyrik nur unzureichend. ,Meine Tage waren so hell, nun sind sie so düster / wie der Tod, der dies getan; es ist in der Welt / das, was allem zukommt, von dem Tag an, da es geboren ward.‘ Der Begriff foco ist ambivalent, er lässt sich auf die Liebe des Sprechers ebenso wie auf die Geliebte beziehen (Santagata [Hg.], 1189f. zu 9). In Schwebe bleibt daher auch der Bezug der folgenden Verse: „Wenn diese Flamme mit der Zeit (wie schon bei andren [Flammen]) fortgeschritten wäre bis ins Alter – mit Reimen bewaffnet, derer ich nun mich entledige, mit greisem Stil hätte ich durch Worte den Fels wohl zerbrechen und von Süße weinen lassen können.“ Mit dieser Imagination einer im Alter schließlich erweichten Laura (oder eines im Alter von der erotischen Emotion zum reinen ästhetischen Genuss gekommenen steinernen Selbst – „Petrarca“?) scheint sich der Text nicht einmal im äußersten patheti-
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II. Allegorien und Allegoresen
Grabsteins oder des marmornen Sargdeckels reflektiert einen locus classicus im contemptus mundi, der freilich dem gemäßigten Ton des ubi-sunt-Topos folgt und eben kein Bild des Schauders entwirft. Laura erscheint in morte zwar als imago vanitatis und wird mit den entsprechenden Formeln belegt,60 aber es sind eben Lexikon und Ikonographie einer „kühlen“, keiner „heißen“ vanitas: Asche, Erde und Grabstein. Gleichwohl weiß der Text die Attribute von Ekel und Verwesung zu integrieren, allerdings nur in der Erinnerung an die vergangene Liebe zu einer „Laura in vita“: Mentre che ’l cor dagli amorosi vermi fu consumato (RVF 304,1; ,zu einer Zeit, als dies Herz von den Liebeswürmern verzehrt ward‘). – Die Würmer der eitlen irdischen Liebe, die in der traditionellen vanitas-Ikonographie Vergänglichkeit und Sündhaftigkeit dieser Liebe bezeichnen,61 zehrten vormals am Herz des Liebenden, sie zehren nicht jetzt an der Leiche der Geliebten.62 Das Ekelbild vom Wurmfraß rechnet signifikanterweise nicht zum Bildrepertoire der Gedichte des ersten Teils. Indem es von seinem traditionell erwartbaren „Ort“, von der toten Geliebten auf das Herz des Liebenden verschoben wird, ist es im Moment seiner Assoziation zugleich distanziert. Die metaphorische Strategie illustriert Petrarcas Technik einer maximal ausgereizten Negativität, die sich dennoch jener conversio von der weltlichen Eitelkeit verweigert, die aus der Sicht des contemptus mundi zu erwarten wäre. Diese Paradoxie einer spezifischen vanitas laurea formuliert auf anderer Ebene auch Sonett 350. Es beginnt mit der Klage über nostro caduco et fragil bene, das hinfällige Gut der Schönheit, und erkennt in Laura die unerhört verschwenderische Manifestation dieses Guts, das von der irrenden Welt nicht wahrgenommen worden und jäh verschwunden sei. An dem kurzen Blick, den der Himmel dem Liebenden auf sie (im Unterschied zur blinden, irrenden Welt) gegönnt hat, will er sich weiterhin erfreuen, um ihren nunmehr heiligen Augen zu gefallen.63 Auch wenn im Wurmbild von Sonett RVF 304 das schauerliche Inventar der Vergänglichkeit dem toten Leib Lauras gefährlich nahe kommt, so bleibt die Disjunktion zwischen einer Ikonographie des Verschwindens
60 61 62
63
schen Moment den poetischen Ironien zu verschließen, die seinen Entwurf mittragen; vgl. zu diesem ironischen Zug auch den Sturz ins Wasser (RVF 67). Dass diese Formeln Petrarca bestens vertraut sind, zeigen ‚Secretum‘ und ‚De remediis utriusque fortunae‘. Vgl. das Tafelbild vom jungen und verwesenden Paar (Abb. 4), hierzu oben Kap. I.3, 83f. Analoges formuliert die altercatio zwischen poetischem Subjekt und Amor in RVF 360,69ff.: ché legno vecchio mai non róse tarlo / come questi ’l mio core, in che s’annida, et di morte lo sfida (,dass altes Holz niemals ein Wurm zernagte, wie dieser [Amor] mein Herz, in das er sich einnistet und das er auf den Tod herausfordert‘). Auf biblische Bezüge des Wurmgleichnisses (Idt 16,20; Sir 7,19; Is 66,24) verweist Santagata (Hg.), 1189 zu 1. Zur umstrittenen Deutung des letzten Terzetts Santagata (Hg.), 1346 zu 12-14.
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und einer Ikonographie des Verwesens aufrecht. Diese Disjunktion findet sich in den ‚Trionfi‘ wieder und lässt sich an der Miniatur zum ,Triumphus Mortis‘ aus dem Codex der Anne Polignac (um 1500, Abb. 23)64 beispielhaft nachvollziehen: Lauras Leiche liegt mit geschlossenen Augen und im weißen Habitus der Keuschheit als Entschlafene auf dem Sarg. Der sie begleitende Zug der Toten ist ebenfalls im Zustand des Schlafs gezeichnet. Nur die personifizierte Morte erscheint in der schauderhaften Gestalt des Skeletts (umschlungen von einer Schlange als Insignie von Fäulnis und Sünde, vanitas und luxuria). Die Tote selbst verweist auf die kommende, neue Ikonographie eines melancholischen, sozusagen lessingschen Todes. Auf ihn verwies uns zuvor schon die unter dem „kleinen Marmor“ begrabene Flamme, die an die gesenkten Fackeln der Genien auf den antiken Grabstelen denken lässt. Dem leidvollen Wissen um den Verlust der cosa mortal korrespondiert gerade keine Lösung des poetischen Blicks von ihr, sondern das fortwährende, weiterhin zwischen Klage und Beschwörung changierende Angedenken an das, was nun Asche und Erde ist.65 „,Petrarca‘ non berrà mai le acque del Lete“, heißt es bei Peter Kuon,66 und der Satz verweist neuerlich auf die antithetische Konzeption der ,Rerum vulgarium fragmenta‘ zu Dantes Werk: Der Dante des ,Purgatorio‘ vollzieht mit dem Trinken vom Lethefluss des irdischen Paradieses die endgültige Abkehr von jenem amor mundanus, dem er sich nach Beatrices Tod zugewandt hatte (wie ihm seine donna de la salute hier nochmals vorwirft). Poetologisch bedeutet dieses Trinken die finale Abkehr von der stilnovistischen Tradition,67 mithin – im Sinne Harold Blooms68 – die Löschung jenes Einflusses, der das neue Leben und das neue Werk erst ermöglicht hat, und bekräftigt die Transgression, die dieses neue Werk vollzieht. Dante mag dabei umso bereitwilliger trinken – und vielleicht ist dies der Vorwurf, den Petrarcas Insistenz auf der memoria impliziert – als Beatrice, im Unterschied zu Laura, a priori von jener anderen Welt kommt, auf die sich Dantes alto volo richtet. Die ,Rerum vulgarium fragmenta‘ verweigern sich – vielleicht aus analogen Gründen der Einflussangst – dieser Lösung (oder Löschung) und nehmen 64 65
66 67 68
Biblioteca Petrarchesca Reiner Speck, Ms VI, hierzu Speck/Neumann (Hgg.) 2004, 289f. Vgl. u.a. RVF 320,14 (vo piangendo il suo cenere sparso; ,so ziehe ich dahin und beweine ihre verstreute Asche‘), RVF 327,12ff. (et se mie rime alcuna cosa ponno, / consecrata fra i nobili intellecti / fia del tuo nome qui memoria eterna; ,und wenn meine Reime irgend was vermögen, / geweiht unter den verständigen Edlen / sei hier deines Namens ewiges Angedenken‘); RVF 358,1 (Non pò far Morte il dolce viso amaro; ,Nicht kann der Tod das süße Gesicht bitter machen‘). Kuon 2004, 144. Ebd. Bloom 1997. Im Lichte der Kategorien Blooms (14ff.) läge eine Mischung aus „Clinamen“ und „Kenosis“ (also in etwa ,Abweichung‘ und ,Löschung‘) vor.
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II. Allegorien und Allegoresen
bewusst jene Ausgestaltung vor, der sich Dante aus ästhetischen Gründen nicht entziehen k a n n : Sie imaginieren Lauras irdische Leiblichkeit noch dort, wo sich das penser in einem para-dantesken Akt in die Sphäre der Transzendenz erhebt: Levòmmi il mio penser in parte ov’era quella ch’io cerco, et non ritrovo, in terra: ivi, fra lor che ’l terzo cerchio serra, la rividi più bella et meno altera. Per man mi prese, et disse: – In questa spera sarai anchor meco, se ’l desir non erra: i’ so’ colei che ti die’ tanta guerra, et compie’ mia giornata inanzi sera. Mio ben non cape in intelletto humano: te solo aspetto, et quel che tanto amasti e là giuso è rimaso, il mio bel velo. – Deh, perché tacque et allargò la mano? Ch’al suon de’ detti sì pietosi et casti poco mancò ch’io non rimasi in cielo.69
Fasst man Sonett 302 der ,Rerum vulgarium fragmenta‘ – wogegen wenig spricht – als ein intertextuelles Palimpsest zu Dantes alto volo mit Beatrice, so zeigt sich zunächst, wie es die Genetteschen Kategorien einer „littérature au second degré“ a priori zu hintergehen weiß.70 Hypertextuelles Spiel und hypertextueller Ernst, Pathos und Ironie durchkreuzen oder wechseln sich hier nicht ab, sondern bedingen sich gegenseitig zum Nutzen des Textes. Schon dass ein Sonett ganze 36 canti (,Purgatorio‘ XXX bis ,Paradiso‘ XXXII) palimpsestieren will, geht schwerlich ohne Ironie hin. Als Form der dichten Konzentration weiß es Dantes Perspektive kosmischer Totalität mit der einer ostentativen Intimität zu parieren, die dem neuen alto volo zukommt. Plastizität und Eindringlichkeit verleiht diesem volo die Tatsache, dass er endet, sobald die Geliebte den Griff der Hand löst. Für das Übrige soll der Hinweis auf den Kreis und – am wichtigsten – auf den velo genügen. Der dritte Kreis, in den hier aufgeflogen wird, ist der 69
70
,Mich erhob mein Denken in einen Bereich, wo jene war, / die ich suche und nicht finde auf der Erde: / Dort, unter denen, die der dritte Kreis umschließt, / sah ich sie wieder, schöner noch und minder hehr. // Sie fasste mich an der Hand und sagte: „In dieser Sphäre / wirst du einst mit mir sein, wenn das Verlangen nicht irrt: / Ich bin die, die dir solchen Krieg gab / und die ich meinen Tag vor dem Abend endete. // Mein Wohl lässt sich mit menschlichem Verstand nicht fassen: / dich allein erwarte ich und jenes, das du so sehr geliebt / und das dort unten ist verblieben: meine schöne Hülle.“ // Weh, was verstummte sie und löste die Hand? / Denn beim Klang solch gütiger und reiner Worte / fehlte nur wenig und ich wäre im Himmel geblieben.‘ Genette 1993, vgl. bes. das Raster auf Seite 44.
4. Amor, Mors, Lebensschrift: Zu Dante und Petrarca
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der Venus, jene Sphäre, die im ,Paradiso‘ (canti VIII-IX) die spiriti amanti versammelt71 und die in sinnreichem Bezug zu dem Wirbel steht, in dem die illegitimen Liebenden des ,Inferno‘ (canto V) herumgetrieben werden. Es ist der Himmelskreis, in dem noch bei Dante die alte Liebesgöttin ihr Recht und ihre Macht demonstriert, wenn Beatrice plötzlich schöner erscheint. Man könnte von der irdischsten oder auch poetischsten Sphäre in Dantes Paradiso reden. Dies umso mehr, als Petrarca schon an früherer Stelle, in der Kanzone RVF 142, ihrer mythologischen Qualität Rechnung trägt (eben gegen Dantes explizite, implizit aber hintergangene Anweisung): Unter den Schatten des Lorbeers flieht hier der Liebende, um dem unbarmherzigen Licht zu entgehen, das ihn vom dritten Himmel her entzündet hat (1ff.). Der dritten Sphäre gedenkt, eben als Sphäre der spiriti amanti, auch Sonett RVF 287: Es richtet sich an den jüngst verstorbenen Freund Sennuccio del Bene, der dorthin aufsteigen werde und oben Guitton d’Arezzo, Cino da Pistoia, Dante und Franceschino degli Albizzi grüßen soll. Das Sonett macht Dante zwar die Freude, seine visionäre Konstruktion zu kanonisieren, kann sich aber einer zweifachen „Hinterlist“ nicht enthalten: Der exklusive Wanderer durch die Welten erscheint als einer unter vielen, zudem als einer, der gerade nicht jenseits der Werke und der Autoren steht, die er im Titel des neuen Lebens und des neuen Werks zu überbieten beansprucht hatte. In den ‚Trionfi‘72 ist diese Hinterlist im übrigen noch weiter getrieben, wenn Beatrice und Dante ausgerechnet im ‚Triumphus Cupidinis‘ (IV 31) im Kreis der großen Liebesdichter und ihrer Geliebten wandeln. Davon abgesehen assoziiert sich der intertextuellen Ironie ein konsolatorisches Pathos, das literarästhetisch wiederum in die Zukunft weist: Der Nekrolog auf Sennuccio nimmt die fiktionalen Entwürfe, die man als Dichterkollegen geteilt hatte, sozusagen beim Wort und lässt sie einen Trost spenden, der im Bewusstsein um ihren fiktiven Charakter nur der Trost der Melancholie sein kann. Aber kommen wir zum entscheidenden Punkt: Ihr Wohlergehen dort oben – ivi 73 – lasse sich mit menschlichem Verstande nicht ermessen, meint die imaginierte Laura von RVF 302. Im selben Moment verweist sie freilich auf den imperfekten Status dieser himmlischen Glückseligkeit. Der Himmel der ,Rerum vulgarium fragmenta‘ bleibt jener Himmel des Mangels, von dem die ,Vita Nova‘ spricht, solange Beatrice im Hienieden 71 72 73
Vgl. Santagata (Hg.), 1184 zu 3-4, mit Verweis auf die im Folgenden genannten Parallelbelege und auf II Cor 12,2 (scio hominem in Christo ante annos quattuordecim sive in corpore nescio sive extra corpus nescio Deus scit raptum eiusmodi usque ad tertium caelum). Hinweis bei Santagata (Hg.) 1147 zu 10-11. Zur Opposition von ivi und là giuso oder qui, und zu ihrer konstitutiven Funktion im zweiten Teil der ,Rerum vulgarium fragmenta‘ Stierle 2003, 624ff.
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II. Allegorien und Allegoresen
weilt, freilich unter anderem Akzent: Die transzendente Laura wartet. Sie wartet auf den Liebenden und auf ihren bel velo. Sie insistiert damit auf etwas, das die paradiesische Beatrice geflissentlich zu unterschlagen weiß: Dass sie dort – ivi – nicht fertig ist, solange sie ihren velo, ihren Leib nicht wieder hat. Es ist die besondere Pointe dieser Worte, dass die ,Rerum vulgarium fragmenta‘ hier nicht nur innerpoetisch, sondern auch theologisch gegen die ,Comedia‘ recht behalten: Perfekt ist die Transzendenz erst am jüngsten Tag, am Tag der leiblichen Auferstehung.74 Im bel velo als dem erotischen Leitthema des Zyklus und im te, der persona des Liebenden und Dichtenden, ist es zugleich das Werk, auf das dort oben gewartet wird. Lauras velo ist par excellence der „Signifikant“ der Welt, die dem ‚Canzoniere‘ vorschwebt. In ihm erlangt das poetische Begehren seine Materialität, zugleich ist es dieser velo, der immer schon verschwunden ist, wie aus dem Madrigal RVF 52 beispielhaft erhellt: Die nackte Diana im Bade habe ihren Liebenden (Actaeon) nicht heftiger entzünden können, als sich das Ich hier am Anblick einer pastorella alpestra et cruda erfreut, die einen leggiadretto velo, einen feinen Schleier wäscht, der a l’aura, an der Luft und an der Laura, die zarten blonden Haare umschließt. Der Anblick lässt das Ich im Liebesfrösteln erzittern (tutto tremar d’un amoroso gielo). Schon hier ist es die paradoxe Präsenz der immer schon Verschwundenen, die in der Schrift festgehalten wird: Weder ist sicher, ob es der Schleier der Laura oder der ihre ist, den die Pastorella wäscht, noch wessen Haar er tatsächlich umschließt. Dem korrespondiert eine Überdehnung des assoziierten Mythologems: Die Pastorella wäscht nicht wie Dianas Dienerinnen die Göttin selbst, sondern bloß ein ungewisses Substitut, und die Metamorphose, die im amoroso gielo angedeutete Erstarrung in der Hitze, verweist auf einen Stein („Petrarca“), der zerfließen wird. Im zweiten Teil der ‚Fragmenta‘ wird der velo zu Staub und Asche. Gerade dieser pulverisierte velo, der Signifikant von Leiblichkeit und Augenschein, erhält im Warten Lauras sein Recht zurück. Der entscheidende Satz in Sonett RVF 302 – aspetto il mio bel velo – beschreibt nichts weniger als eine Überschreitung der Dualität von Körper und Seele, von Materiali-
74
Um diese Tatsache weiß natürlich auch die ,Comedia‘, konterkariert sie aber in den Imaginationen einer körperlichen Präsenz Beatrices. Zum komplexen kirchengeschichtlichen Vorstellungsbereich s.v. Auferstehung der Toten, Auferstehung des Fleisches, LThK 1, Sp. 11911202, bes. 1198-1202. Die Idee zielt letztlich auf eine Versöhnung der kontemptorischen Leibfeindlichkeit und des Gedankens einer ursprünglich positiven Materialität der Schöpfung (hierzu Groh 2003). Die Aufhebung eines der zentralen christlichen Paradoxa ist erst für den eschatologischen Moment versprochen, bis dahin dürfen beide Vorstellungen – Negativität des Leibes, Positivität der Schöpfung – gleichsam legitimerweise nebeneinander stehen, und sie tun es auch.
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tät und Spiritualität zugunsten der Hülle/!"#75. Dass Laura in der dritten Sphäre auf ihren velo wartet, verweist auf die limitierte Transzendenz, von der die ,Rerum vulgarium fragmenta‘ ausgehen, und führt Dantes Vertikalität zurück in die Horizontalität. Diese Rückführung steht wie gesagt im Zeichen einer schwierigen Affirmation:76 Die Pointe der letzten Terzine ist in der Ungewissheit zu fassen, mit der die Utopie formuliert wird. Schweigen und Loslassen am Ende verbildlichen den flüchtigen Charakter eines visionären Einsseins zwischen Liebendem und Geliebter, wie es überdies im Hienieden nie stattgefunden hat.77 Dieses Einsseins „dort oben“ kann nur im Sonett selbst vollzogen werden und verschwindet noch dort. Am Ende steht die Negativität des jetzigen leidvollen Moments, der das Versprechen einer transzendenten Utopie als leer, der es als die eigentliche Fragilität erfährt, die in Schweigen und Verschwinden mündet. Es kann nur in der Schrift interimistisch geborgen werden und bleibt selbst dort bloß Spur, an der nur eines gewiss ist: das Werk selbst. VERGINE BELLA: ENDE DER LEBENSSCHRIFT, PERMANENZ DER LEKTÜRE. – Sonett RVF 302 schildert nur eine von mehreren visionären
Epiphanien der toten Laura.78 Diese Strategie der wiederholten Vergegenwärtigung des Verlorenen ist von einer ebenso perpetuierenden Perspektive des Widerrufs begleitet. Die konstitutive Ambivalenz, das fortgesetzte Changieren zwischen einer Bewegung des Angedenkens und der Erkenntnis seiner Unmöglichkeit ließe sich auf mehreren Ebenen beschreiben. Etwa auf jener der Körperbilder und Körperbegriffe, die ein Spektrum zwischen bel velo und carcere eröffnen und gegenwärtig halten, oder auf einer klassifikatorischen Ebene, die – wiederum unter vielschichtigen intertextuellen Referenzen – divergente Perspektiven des Verschwindens entwirft: Etwa die kontemptorische einer Destruktion der mortal belezza (RVF 366,85) durch Morte (RVF 338) oder die danteske einer 75
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‚Hülle‘ und ‚!"#‘ hängen natürlich nur paronomastisch und nicht etymologisch zusammen. Hülle steht in einem Ablautverhältnis zu ‚hehlen‘, dieses wiederum ist vermutlich verwandt mit lateinisch celare und griechisch $%"&'()*+ (Kluge 1999, 363 und 387); der Begriff scheint gerade im Kontext der vanitas-Vorstellungen interessant – die schöne Hülle der Frau Welt „verhehlt“ die Substanz. Die Etymologie von velum/velare und von !"# ist den Angaben von Walde 1954, Bd. 2, 745f. bzw. Frisk 1970, Bd. 2, 962f. zufolge unsicher. Vgl. dazu die negativ besetzte Körperlichkeit in der Metapher vom carcere, so RVF 325,101 (wiederum konterkariert in der paradoxen Attribuierung: suo bel carcere terreno), vgl. auch RVF 306,4 und 349,9f. (Belege bei Santagata [Hg.] 1274 zu 101-2, mit Verweis auf das analoge Bild von der pregione). Zum dubitativen Charakter der ,Rerum vulgarium fragmenta‘, die das, was sie erinnern, nur im Zeichen des vano erinnern können, Kuon 2004, 144. Im Falle von RVF 302 ist die Fragilität der Vision schon in der Divergenz zwischen den Präteritalformen ihrer Erinnerung und den Präsensformen ihres Verschwindens (cerco et non ritrovo) gegeben. Vgl. u.a. RVF 336, 342, 343, 356 und 359.
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II. Allegorien und Allegoresen
Rückholung per adornare il cielo durch einen Gott, der das „lauratische“ Begehren mit dem poetischen Subjekt teilt und es auf diese Weise auch legitimiert (RVF 337). Per adornare il cielo – in der bloßen Idee, dass der Himmel dieses Schmucks bedürftig wäre, fassen wir wieder das unerhörte Paradox eines transzendenten Mangels, den nur die Destruktion immanenter Schönheit auszugleichen vermag. Die heimliche Hintergehung der transzendenten Verheißung wird dabei im Wert bekräftigt, der gerade der flüchtigen Leiblichkeit, dem sí bel corpo (RVF 335,14) zukommt. Diese Bilder einer „beatrisierten Laura“79 münden schließlich in die laudative Formel von der vera beatrice für die Vergine bella von Kanzone RVF 366. Ihre intertextuelle wie innertextliche Berechtigung und ihre latente Referenz auf Laura selbst sind aus der angedeuteten Pluralität der Perspektiven abzuleiten, unter denen der Tod der Geliebten in den ,Fragmenta‘ betrachtet wird, zumal aus dem Insistieren auf ihrer Leiblichkeit und auf dem Augenschein, der auch an der Laura in morte genommen wird: „La rievocazione della bellezza fisica della donna amata [...] finisce nella sua riduzione a polvere.“ Dieses Resümee Peter Kuons zu RVF 32380 ließe sich auch umkehren: Die Beschwörung des Zerfalls der schönen Geliebten zu Asche mündet in die Vergegenwärtigung ihrer einstigen physischen Schönheit. Die Prozessualität der ,Rerum vulgarium fragmenta‘ steht auch und gerade zum „narrativen“ Ende der lyrischen Lebensschrift hin im Zeichen von Zyklizität, Wiederholung und Perpetuierung. Diese Aspekte sind es auch, die in der altercatio zwischen Ich und Amore (RVF 360) die richtende Ragione dazu veranlassen, den Urteilsspruch aufzuschieben: „Piacemi aver vostre questioni udite, / ma più tempo bisogna a tanta lite“, gibt die nobile donna lächelnd zur Antwort, als sie um ihre sententia gebeten wird (156f.).81 Mit ihr entschlägt sich Ragione keineswegs einer Entscheidung oder gäbe sie gar zu, ihr nicht gewachsen zu sein.82 Vielmehr beharrt sie auf ihrer Urteilskraft und auf ihrer Zuständigkeit, indem sie den Aufschub verfügt. Und sie handelt zugleich ganz im Sinne der dubitativen Bewegung des Werkes selbst. Wenn dabei weniger die „Größe des Streites“ (sie freilich 79 80 81
82
Diese Tendenz des Zyklus in morte arbeitet vor allem Kuon 2004, 126 am Beispiel von RVF 325 heraus. Kuon 2004, 123. Mit der altercatio referiert Petrarca auf eine Tradition, die wenigstens bis zu Andreas Capellanus’ ,De amore‘ zurückreicht. Die Ambivalenz des Spruches könnte auf das Urteil Gottes im ,Ackermann‘ des Johannes von Tepl vorausweisen; einen direkten Einfluss Petrarcas auf Johannes von Tepl hält Kiening 1998, 15 für nicht nachweisbar, ein Konnex ergibt sich freilich wenigstens über die mittelalterliche Tradition der allegorischen Gerichtsszene, hierzu ebd., 176ff. So Kuon 2004, 141: „Pare che il problema [...] oltrepassi la ragione umana e cada nelle competenze di un altro giudice.“
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auch) als das Gefallen, das sie an ihm gefunden hat, die Begründung abgibt, so ließe sich in dieser Ragione durchaus eine Allegorie der ästhetischen Vernunft, eine Allegorie des Lesens erkennen, die gegen das poetische Subjekt des Zyklus (aber mutmaßlich mit dem Autor) für dessen Fortdauer, für seine Permanenz plädiert. Am Ende der ,Rerum vulgarium fragmenta‘ dominieren drei Tendenzen: Das Beharren auf einer verlorenen irdischen Liebe (oder das erzwungene Verweilen im Labyrinth, aus dem das Ich keinen Ausweg kennt), die Spiritualisierung dieser Liebe in der Figur einer beatrisierten Laura und die verstärkt einbrechende Reue des poetischen Subjekts, das sich in seiner Lebensschrift selbst an die Schwelle des Todes und damit an den Kairos der Umkehr gekommen sieht. Die Engführung dieser Tendenzen verrät den mehrfach subversiven Impuls, der Petrarcas ,Fragmenta‘ gegen Schluss hin durchdringt: Subversiv ist er zum einen gegenüber dem eigenen Konzept, das er ständig aufzuheben droht; indem er sich dieser Aufhebung andererseits fortwährend entzieht, wird die traditionell erwartbare conversio verweigert. Die schwierige Affirmation der selbstentworfenen Welt stilisiert Laura zum poetologischen Sinnbild der poetischen Schrift, in deren „Spur“ das Abwesende zur einzig denkbaren Präsenz kommen kann. Diesem derridaschen Theorem folgt Karlheinz Stierles Wort von der „Lauratisierung der Schrift“.83 Und es verweist durchaus griffig auf den dekonstruktiven Zug, der den ,Fragmenta‘ selbst inhärent zu sein scheint – zumindest bis hin zum Gebet an die Vergine bella, vielleicht aber auch darüber hinaus. Die große Kanzone RVF 366, die den Zyklus beschließt, wird üblicherweise – und darin korrespondiert sie sinnreich dem ersten Sonett – als Palinodie gelesen. Auch sie scheint die Adressatin zu wechseln: von Laura zu Maria. Schon die exordiale Apostrophe – Vergine bella – weist freilich mit ihrer zweifachen Signifikanz darauf hin, dass sich diese Verse nicht nur von Laura ab und zu Maria hin wenden, sondern dass sie sich in Maria auch an Laura wenden könnten. Dass der Begriff der Palinodie zu kurz greift, weiß Joachim Küpper in einer luziden Analyse darzustellen.84 Gegen das palinodische Moment wahre die Kanzone eine Polysemie, die aus der doppelten Referentialität zumal des verwendeten laudativen und erotischen Lexikons resultiere (178): auf den innerzyklischen Entwurf der Lauraliebe einerseits, auf den Intertext der Mariendichtung andererseits. Petrarcas Strategie bestehe dabei in einer kaum merklichen, aber umso entscheidenderen Verschiebung der konventionellen spiritualisierten Topik: Ausgewählt werde, was 83 84
Stierle 2003, 652ff. Küpper 2002; mit ausführlichen Hinweisen zur Diskussion in der Forschung.
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„zugleich, sei es auf das Phänomen der korporealen Liebe als solche, sei es auf die Liebe des Sprechers zu Laura bezogen werden könnte.“ (173) Dabei neige sich die Balance zumal in der ersten Strophe, deren Zweck es sei, die Lesenden entsprechend zu konditionieren (174), dem Irdischen zu (164). Bezeichnend hierfür sei, wie Petrarca die göttliche Erwählung Marias zur Mutter des Menschensohnes begründe: Sie folge „der Logik des Gefallens“ (172). (Dieses ästhetisch-erotische Kalkül unterwirft das heilsgeschichtliche Ereignis der Dramaturgie der Lauraliebe, so ließe sich ergänzen.) Auf diese Weise betreibe die Kanzone keine Subversion der propagierten Reue, die mit diskursiven und metaphorischen Heteronomien operiere (173); vielmehr sei es die Polysemie der poetischen Sprache selbst, die zur „Konfusion der Diskurse von eros und agape“ führe. Dies münde zwangsläufig in die Frage, die Petrarcas ,Vergine bella‘ aufwerfe: „Wäre auf diese Weise die Laura-Liebe das Eigentliche, und das Marienlob (nur) eine Metapher?“85 Dem ist wenig hinzuzufügen, außer dass sich auch in der Polysemie der Kanzone eine mutatio Dantis erkennen ließe. So könnten im Attribut der vera beatrice (52) nicht nur die „wahren“ Verhältnisse zwischen Laura und Maria, sondern auch die zwischen Beatrice und (Petrarcas) Maria und damit insgeheim auch zwischen Beatrice und Laura hergestellt sein. Und wenn die Kanzone, wie Küpper meint, schon keine Antwort auf die von ihr aufgeworfene Frage gibt, so könnte sie wenigstens eine andeuten. In diese Richtung weisen genau im Zusammenhang mit der conversio von Laura zu Maria zumindest „Ironien der Schrift“ wie etwa diese: Vergine, tale è terra lautet der Beginn der achten Strophe (92). Es ist eine von sechs Apostrophen, die kein Epitheton begleitet, und sie ist die einzige, die nicht unmittelbar durch eine Form der zweiten Person als Epiklese ausgewiesen ist.86 Man könnte sie rein hypothetisch auch ohne Beistrich lesen und also auf eine dritte Person beziehen. Dann ergäbe sich nicht unmittelbar eine revokatorische Antithese – ‚Jungfrau [Maria], eine solche [nämlich Laura] ist Erde‘ –, sondern die Bekräftigung eines unverständlichen, mithin die 85
86
Ebd., 181. Im Folgenden widmet sich Küpper Petrarcas Marienkonzeption (v.a. unter dem Aspekt einer Deifizierung, die mir nicht schlüssig aus der Kanzone ableitbar erscheint) und einer etwas verstörenden Theorie und Geschichte der Kunst, die ganz unter dem Diktat des geistlichen Diskurses gesehen wird und schließlich ein Hegelianisches Geschichtsmodell affirmiert. In diesem Zusammenhang greift Küpper auf seine These von der „Depragmatisierung“ zurück, die die Geschichte der mittelalterlichen Lyrik kennzeichne (vgl. Küpper 1992). Dabei stellt sich die gewichtige Frage, wie und wo man sich eine pragmatische Vorstufe europäischer Liebesdichtung (im Sinne realer erotischer Werbehandlung) vorstellen soll. Implizit spukt hier das alte Konzept vom lebenswirklichen, pragmatischen Kern als Ursprung der Poesie, gegen die schon die a priori gegebene hochgradige Artifizialität spricht. Der Bedeutung von Küppers Ausführungen zur ,Vergine bella‘ tut dies alles freilich keinen Abbruch. Ihnen stehen dreizehn Apostrophen mit Epitheta gegenüber.
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Transzendenz kompromittierenden Verlusts: ‚Und eine solche Jungfrau [Laura] musste Erde werden!‘ Damit sei nicht auf die Wahrscheinlichkeit, sondern nur auf das Potential dieser Fehllektüre hingewiesen. Sie besagt nicht mehr und nicht weniger, als dass in der bloßen, attributlosen Epiklese Vergine die Präsenz derer, der hier auch abgeschworen wird, am höchsten ist.87 Und sie belegt den extremen Grad, den die Ambivalenz des Textes zu erreichen vermag. Küpper spricht mit gutem Recht von einem „abgründigen Akzent“ (187). Dennoch scheint gerade sein Wort von der Skalierung, die die Kanzone entwerfe und unter dem die Relation zwischen Laura und Maria zu sehen wäre, auf eine unzulässige Harmonisierung der Polysemie dieses letzten Gedichts wie des Zyklus insgesamt hinauszulaufen. Wiederum wäre eher auf einer paradoxen Simultaneität der antithetischen Perspektiven und Verfahren zu insistieren.88 Genau diese Simultaneität muss uns an etwas Entscheidendes erinnern, nämlich an die Position der Kanzone: Als letztes Gedicht setzt sie dem Zyklus ein Ende, bildet also eine in mehrfacher Hinsicht intrikate Schwelle. Binnennarrativ eröffnet sich dem poetischen Subjekt die Perspektive einer an sich unmöglichen Transgression: Maria soll ihm jenen Austritt aus dem Labyrinth eröffnen, den er selbst nicht findet, den Übergang in jene Sphäre, in der Laura auf ihn und ihren velo wartet. Auf metanarrativer Ebene beendet dieses 366. Gedicht einen Zyklus, dessen Zahl das Leben allegorisiert, das große Jahr. Zugleich bedeutet diese Zahl freilich auch das kleine Jahr, den Jahreskreis. In der Zahl korrespondiert eine Figur der Finalität einer Figur der Iteration. Aus dieser Perspektive wiederum gewinnt ein Hinweis Küppers (163f.) an poetologischer Brisanz: Indem auf die an Gott gerichteten letzten Sonette (RVF 364 und 365), die im Zeichen der conversio stehen, noch ein Gebet an Maria folgt, vollziehen die ,Fragmenta‘ eine bemerkenswerte Rückwendung. Dem ontologischen 87
88
Vgl. außerdem 9ff.: Vergine, s’a mercede / miseria extrema de l’humane cose / già mai ti volse (,Jungfrau, wenn zur Gnade die äußerste Not menschlicher Belange je dich bewegte‘), 22: Vergine, que’ belli occhi (Jungfrau, diese schönen Augen‘), 74f.: Vergine, ma ti prego, che ’l tuo nemico del mio mal non rida (,Jungfrau, ich bitte dich, dass dein Feind nicht über mein Übel lache‘), 79: Vergine, quante lagrime ò già sparte (,Jungfrau, wie viele Tränen habe ich vergossen‘) und 126f.: Vergine, i’ sacro et purgo / al tuo nome et penseri e ’ngegno et stile (,Jungfrau, ich weihe und reinige in deinem Namen Gedanken, Ingenium und Stil‘). Das letzte Beispiel ist besonders intrikat, da es die Schrift noch in der Umwidmung nicht tilgt, sondern „gereinigt“ bewahrt. Unsicher bin ich mir in der Zuordnung von 105: Vergine, in cui ò tutta mia speranza (,Jungfrau, in der meine ganze Hoffnung ruht‘) und 113: Vergine, tu di sante / lagrime et pie adempi ’l meo cor lasso (,Jungfrau, du mit heiligen Tränen und frommen fülle mein wehes Herz‘). Den Apostrophen folgen hier zwar keine Epitheta, aber explizierende Sätze. Beide Fälle sind umso bedenklicher, als sie sich in jener Strophe finden, die Laura im luxuria-Bild der Medusa erscheinen lässt. Küpper selbst spricht von der „Kopräsenz“ von Revokation (Hinwendung zu Maria) und Revoziertem (Lauraliebe), vgl. 191.
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Abstieg von Gott zu Maria entspreche dabei ein formalästhetischer Aufstieg vom Sonett zur Kanzone. Bedenkt man dies und die komplexe Referenz der ,Vergine bella‘ auf Lauraliebe und Laurapoetik, so steht am Ende nicht die finale Schau des Höchsten (wie bei Dante), sondern ein Schwellentext, der den Wiedereintritt in den Zyklus wenigstens ermöglicht: Das letzte Gedicht eröffnet poetologisch gesehen den Übergang zum ersten. Angesichts dieser meta-narrativen Perspektive der Iteration, die sich jenseits der binnennarrativen Logik vom Ende des Lebens und der Lebensschrift auftut, ließe sich mit dem Augustinus des ‚Secretum‘ (II.43, 170) zum Autor Franciscus sagen: „Semper aliquid loci venturis cupiditatibus reservasti!“ – „Immer hast du etwas Raum für kommende Begierden gelassen!“ Am Ende der ‚Rerum vulgarium fragmenta‘ treten Werk und persona auctoris auseinander. Der Autor geht, das Werk, die Schrift bleibt. Man kann diesen Gedanken schon im Œuvre Walthers von der Vogelweide angelegt sehen, wenn man es vom ‚Alterston‘ her liest. Bei Petrarca wird er freilich Prinzip. Die ‚Rerum vulgarium fragmenta‘ überspielen die Denkformen irdischer vanitas und den eschatologischen Zwang, der ihnen eingeschrieben ist, in einer Poetologie der Iteration, die schon in der Zahl der „Fragmente“ bezeichnet ist. In ihr allegorisiert der Zyklus jene Permanenz, die er als seine Kanonizität tatsächlich erreicht hat. Erinnern wir uns in diesem Zusammenhang an den neuen Frühling in RVF 310 und an den Urteilsspruch der Ragione, in der wir die ästhetische Urteilskraft der Lesenden erkennen konnten. Beide Motive beschreiben im Zyklus selbst Figurationen seiner Fortdauer. Diese Fortdauer steht unter der Maxime des Schlussverses von RVF 327: fia del tuo nome qui memoria aeterna. ‚Hier, hienieden, sei ewige Erinnerung an deinen Namen.‘ – Im Namen aber verbinden sich Laura, Lorbeer und Werk. Raccomandami al tuo Figliuol, verace homo et verace Dio, ch’accolga ’l mïo spirto ultimo in pace,89
Diese letzten Verse der Vergine-Kanzone formulieren innerpoetisch die Aussicht auf ein „finis!“, das das lyrische Subjekt nur von anderer Seite erbitten kann. Zugleich weisen sie in einem metapoetischen Sinn zurück auf die ersten Verse der ‚Rerum vulgarium fragmenta‘, auf den Eintritt ins Labyrinth, sie bilden also die Schwelle zu fortwährender Lesbarkeit und wiederholter Lektüre. Dem Frieden, den die Stimme des Autors als letztes Wort in ihre Lebensschrift setzt, korrespondiert die Unruhe des künftigen Lesens – ici commence la lisibilité. 90 89 90
‚Befiehl mich deinem Sohn, dem wahren / Menschen und wahren Gott, / dass er meinen letzten Geisteshauch in Frieden empfange.‘ Nach Barthes 2003, 179, vgl. oben 251, Anm. 6.
5. Resümee: Polysemie der vanitas – Pluralität der Epoche VON PETRARCAS ,GEHEIMNIS‘ ZUR OFFENEN POLYSEMIE. – Petrarcas Werk führt die Metaphorologien und Konzepte zusammen, unter denen die Literaturen des Mittelalters Weltlichkeit und weltliche Unzulänglichkeit reflektieren. Auch in dieser Hinsicht bezeichnet es also einen Scheitelpunkt – freilich mehr im typologischen als im chronologischen Sinn. Der Verlockung, die Signifikanz von Petrarcas Werk als eine Signatur der Zeit, der epoché, zu lesen, gilt es möglichst zu widerstehen. Ein solches Vorgehen würde, auch wenn es sich induktiv gäbe, immer in die Gefahr geraten, Kreisschlüsse zu produzieren. Oder anders gesagt: Es würde unter der Vorgabe, sie erst zu erschließen, gängige historische Denkschemata bloß affirmieren.1 Zunächst ist es ein umfassendes synkretistisches Verfahren, das Petrarcas Œuvre insgesamt auszeichnet. Es ist in der sprachlichen, formalen, generischen und thematischen Vielgestaltigkeit des Werks ebenso zu fassen wie im fragmentarischen Status, in der beinahe konstitutiven Unvollendetheit auch der abgeschlossenen Texte. Was nun den Gegenstand dieser Untersuchung betrifft, so zeigte sich, dass die ‚Rerum vulgarium fragmenta‘ jene Darstellungsformen und Denkformen der vanitas einander annähern, die immer schon Affinität zueinander zeigen: Figurationen der Souveränität und der Fragilität im höfischen Liebesdiskurs einerseits, ikonische und diskursive Topoi des contemptus mundi andererseits. Neben den ‚Fragmenta‘ gibt hier das ‚Secretum meum‘ ein äquivalentes Beispiel aus einer anderen Perspektive: Es reiht sich ein in die lateinische Tradition der konsolatorischen Schriften, sein Thema ist im engeren 1
In klassischer Weise formuliert dies etwa das Nachwort von Regn/Huss (Hgg.) zu Petrarcas ‚Secretum‘, 493f., hier 493: Petrarcas „Fokussierung des Ich ist S y m p t o m eines tiefgreifenden Epochenwandels. Sie markiert den A u f b r u c h z u r N e u z e i t , doch dieser erfolgt aus den D e n k v o r a u s s e t z u n g e n d e s M i t t e l a l t e r s heraus.“ [Hervorhebungen M. K.] Was wäre hier die (naturhafte) Ursache, deren (mimetisches) Symptom Petrarcas Œuvre darstellen sollte? Worin bestünde die Homogenität, die im Begriff „Neuzeit“ und „Mittelalter“ impliziert ist? Und suggeriert das Wort vom „Aufbruch zur Neuzeit“ nicht, dass diese „Neuzeit“ dem Autor bzw. dem Œuvre schon als feste Vorstellung vor Augen läge, als ein gewusstes Ziel und nicht als etwas, dessen Umrisse sich im poetischen Prozess bestenfalls erst formulieren?
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Sinn die Reflexion des Verhältnisses von Welt und Ich. Die Spannung zwischen Immanenz und Transzendenz verdichtet sich dabei genau in der Gestalt des poetisch konstruierten Subjekts. Es ist Medium dieser Spannung, denn es begreift sich als in die Welt gesetzt und glaubt zugleich, seinen prospektiven Ort im Metaphysischen zu haben. So wie die ‚Fragmenta‘ lässt auch Petrarcas ‚Secretum‘ Strategien eines poetischen und eines theologischen Welt-Diskurses im Text selbst kollidieren. Steht die beibehaltene Ambivalenz im einen Fall unter der Domäne erotischer Poesie, so in diesem unter der einer philosophisch-theologischen consolatio. Während die ‚Fragmenta‘ jedoch nach Amors Diktat im volgare geschrieben sind und damit ihre Relativität programmatisch zur Schau stellen, bringt das ‚Secretum‘ seinen Anspruch auf Gültigkeit nicht erst im Genre, sondern schon in der Wahl der Sprache zum Ausdruck. Das „Geheimnis“, um das es geht, wird daher füglich unter den Augen der Wahrheit abgehandelt: Veritas selbst ist es, die Franciscus am Beginn erscheint, um ihn sodann mit Augustinus, der sie begleitet, einen Lehrdialog führen zu lassen. Die angedeutete Vielstimmigkeit äußert sich schon in dieser Grundkonstellation: Denn wie kann erstens etwas, das vor der Wahrheit abgehandelt wird, „Mein Geheimnis“ heißen? Zweitens verleiht der forcierte Charakter des Streitgesprächs dem Lehrdialog zwischen Kirchenvater und poeta laureatus einen mitunter komödiantischen Zug, der die für das Genre konstitutive Hierarchie zwischen Lehrer und Schüler aufweicht und den existenziellen Ernst des Themas ironisch hintertreibt. Die auf diese Weise erzeugte Inkonsistenz der handelnden Figuren kulminiert in der Allegorie der Wahrheit selbst. Schon bei ihrem Erscheinen stellt sie sich als eine ganz spezifische Wahrheit vor: „Illa ego sum, quam tu in Africa nostra [!] curiosa quadam elegantia [!] descripsisti.“2 Hier spricht nicht die Wahrheit an sich, sondern die Wahrheit des Werks. Und sie nennt dieses Werk, das Africa-Epos Petrarcas, nicht „deines“, sondern „unseres“, gebraucht also den pluralis majestatis des Autors.3 Petrarcas Veritas ist außerdem in erster Linie schön und schweigt. Grundsätzlich müsste sie eine Instanz der Entschiedenheit und der Entscheidung sein. Petrarcas schweigende Wahrheit aber gerät zu einer Figur der Unentschiedenheit und der Unentscheidbarkeit des Widerstreits, der im ‚Secretum‘ geführt wird – des Widerstreits, ob man sich an der transzendenten Ewigkeit zu orientieren habe oder ob die
2 3
‚Jene bin ich, die du in unserer Africa mit einer sorgfältigen Gewähltheit beschrieben hast‘ I.3. Unter diesem Aspekt wäre die Erklärung im Stellenkommentar von Regn/Huss (Hgg.), 408f., Anm. 9, zu präzisieren, dass Veritas mit dem Plural ihr Naheverhältnis zu Petrarca und ihr Gefallen an der ‚Africa‘ zum Ausdruck bringe.
5. Resümee: Polysemie der vanitas – Pluralität der Epoche
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Sorge des Sterblichen gerade den sterblichen Dingen gelten sollte: dem tätigen Leben im Zeichen der Dichtkunst zumal.4 Das Problem der vanitas mundana wird im dritten Buch virulent. Es widmet sich der vanitas vanitatum schlechthin, nämlich Franciscus’ Liebe zu einer mulier mortalis (III.9). Einige Andeutungen mögen genügen: Es ist Augustinus’ Hauptvorwurf, dass diese Liebe Franciscus von Gott ablenke (III.20) und zur luxuria führe (III.50). Dem assoziieren sich die stereotypen kontemptorischen Formeln wie jene vom caducum corpulum (III.10)5, von der feminei corporis feditas (III.70) und – zuvor schon – vom appetitus carnalis und von der flammata libido (II.45). Franciscus versucht, dies mit dem Hinweis auf die außergewöhnliche Tugend dieser mulier zu parieren, in der eine göttliche Zierde sich manifestiere (divini specimen decoris effulget; III.9). Seine Liebe beziehe sich auf die wachsende Schönheit ihrer Seele (III.21) und beweise, dass er sich der Unverschämtheit seines Geschlechts und des Säkulums immer schon entzogen habe (woran er im übrigen schwer zu tragen gehabt habe).6 Diese Worte verweisen auf dieselbe Separation von einer gemeinen Welt, wie sie auch der Liebende der ‚Fragmenta‘ vollzieht. Was dem und der Idee einer Manifestation des Göttlichen in der irdischen Schönheit von Augustinus weiter entgegengehalten werden kann, ist der nochmalige Hinweis auf die Verkehrung der Ordnung, auf eine schiefe Wertigkeit 4 5
6
Als Sinnbild der Hybridisierungs- und Pluralisierungsphänomene fasst Küpper 2002[a], 52f. die schweigende Wahrheit. Dass sie dabei allerdings Gott selbst repräsentieren sollte, scheint mir wenig plausibel. Augustinus beschwört hier in bemerkenswerter Weise das Bild von der toten Geliebten: Franciscus werde sich schämen, wenn er dereinst das vom Tode gezeichnete Antlitz und die erbleichten Glieder der Geliebten sehen werde; die Darstellungsform operiert wie in den ,Rerum vulgarium fragmenta‘ mit einem „gemäßigten“ Schauderbild: Imaginiert wird nicht der verwesende Frauenleib, sondern die schöne und junge Tote (vgl. zu diesem „kühlen“ vanitas-Bild oben 281f.). Franciscus antwortet entsetzt: Avertat Deus omen! Ego ista non videbo. Von den ,Rerum vulgarium fragmenta‘ aus betrachtet, werden ironischerweise beide nur halb Recht behalten: Augustinus mit dem prophezeiten früheren Tod Lauras, Petrarca, weil er den Tod zwar erleben, die Tote aber nicht sehen wird. Im Folgenden verweist der Lehrer den widerspenstigen Schüler auf das funereum carmen, das er der Geliebten vorausschauend gesungen habe (III.11; die Anspielung bezieht sich dem Kommentar von Regn/Huss [Hgg.], 460, Anm. 9 zufolge auf die ,Elegia ritmica in morte di Laura‘), es folgt eine nochmalige Evokation des bald von Krankheiten und Geburten gezeichneten weiblichen corpus egregium (III.12). Aufschlussreich ist auch die Diskussion über die greise Geliebte (III.66): Franciscus findet Trost in der Vorstellung, dass sie mit ihm altern werde; Augustinus hält es hingegen für noch verwerflicher, dass Franciscus als bereits älterer Mann einer Greisin statt eines jungen Mädchens wegen in Liebe entbrenne (anum illam ardeas) und verfällt damit der Logik eines primitiven amor mundanus, der Franciscus’ sublimierter Liebe keineswegs gerecht wird. sepe graviter tulerim quod nec sexui satis convenirem nec seculo in quo, ut vides, impudentium sunt omnia; III.56. Vom „gendering“ her interessant ist nebenbei bemerkt vor allem die Kategorie des pudor, den Franciscus für sich reklamiert.
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II. Allegorien und Allegoresen
zwischen Liebe zur Schöpfung und Liebe zum Schöpfer (III.20). Die Autorität des Kirchenvaters wird dabei von feinen sprachlichen Strategien untergraben, etwa wenn er aus einem intimen Redegestus in den pauschalen Plural einer kontemptorischen Apostrophe zurückfällt, die sich gegenüber diesem Gesprächspartner als hoffnungslos überholt erweist.7 Auf die ironische Grundierung der altercatio deuten ferner der deifizierte Amor, von dem auch Augustinus spricht (III.49), die Anrufung der dii superi durch den Kirchenvater (wenn auch nur im Zitat; III.82) und sein verunglücktes Orpheus-Exemplum hin.8 Gerade in dieser Phase der admonitio und der consolatio amantis scheint Augustinus zum Ovidius catholicus zu geraten, dessen remedia amoris aus der Apotheke des contemptus mundi abgestanden wirken. Den Nerv trifft er dort, wo die Aufforderung zu conversio und zu cogitatio mortis (III.58) mit Franciscus’ poetischem Werk kollidiert. Wenn es heißt, Franciscus bewundere, ergriffen von den Reizen des Geschöpfs (creature captus illecebris), in Gott mehr den artifex als dass er den creator liebe, so formuliert sich hierin der Vorwurf einer Überhebung, da dieses Geschöpf ja zugleich Erfindung und Sujet eines anderen artifex, des poeta laureatus, ist (III.20). Schließlich weiß Augustinus Franciscus’ Liebe als bloße Namenliebe zu entlarven: Nicht weniger als vom Glanz ihres Körpers sei er von dem ihres Namens ergriffen worden und habe den Cäsaren- und Dichterlorbeer deshalb so geliebt, weil eben sie so hieß. Zuletzt habe er die lauream poeticam nicht weniger begehrt als die dominam selbst – wir könnten ergänzen: die dominam Lauram (III.32). In Franciscus’ Streben nach Dichterruhm erkennt Augustinus in weiterer Folge eine blinde und eitle Ausflucht, durch die eine Umkehr und ein Eingedenksein des Todes hinausgezögert werden. Er spricht in diesem Zusammenhang von der sinnlosen „Partikularisierung“ der verbleibenden Lebenszeit (die Menschen versuchen sie zu verlängern, indem sie sie in immer kleinere Einheiten zerteilen): Finge quotlibet particulas; omnes in ictu oculi prope simul evanscunt. – ‚Erfinde so viele Teilchen wie du willst; alle verschwinden sie beinahe zugleich mit einem Augenschlag.‘ Es wäre ein reizvoller Gedanke, dies auf die 366 „Partikel“ zu beziehen, die in den ‚Rerum vulgarium fragmenta‘ versammelt sind. 7 8
Non videtis, o ceci, quanta velocitate volvuntur sidera, quorum fuga brevissime vite tempus devorat – III.62 (,Seht ihr nicht, ihr Blinden!, mit welcher Geschwindigkeit die Gestirne kreisen, deren Dahineilen die Zeit des überaus kurzen Lebens verschlingt‘; Übers. Regn/Huss). Dass sich Franciscus von der Vergangenheit lösen und auf die cogitatio mortis hinwenden solle, wird ausgerechnet mit dem warnenden Beispiel des Orpheus untermauert, der seine geliebte Eurydike verloren habe, nachdem er sich nach ihr umgedreht hatte. Hier besteht das Verhältnis zwischen Text und Mythologem in einem in jeder Hinsicht gegebenen ironischen Widerspruch; vgl. ferner das komödiantische Wortgefecht über die beliebige Deutbarkeit der Exempla (v.a. des glatzköpfigen Caesar als exemplum vanitatis oder gloriae; III.59).
5. Resümee: Polysemie der vanitas – Pluralität der Epoche
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Illa omnium execrabilis et horrenda dementia est, quod nescitis utrum supremis necessitatibus suffecturum sit, in ridiculas vanitates, ceu superabundet, effundere.9
Auch dieser eindringlichen Mahnung vor der periculosa dilatatio (III.80) vermag Franciscus die berechtigte cura mortalium, die Sorge um die Dinge hienieden, entgegenzuhalten und hintergeht damit geschickt die transzendente Verheißung von „jenem höheren Ruhm“, der im Himmel zu genießen sein wird.10 Die gloria, der Franciscus’ prima cura gilt, ist freilich die gloria laurea11, der Ruhm seiner Poesie. Dass auch er an ihr Gefallen gefunden habe, muss – gegen seine pädagogische Pflicht – sogar Augustinus gestehen.12 Mit seinem berühmten Ratschlag: „Dimitte Africam!“ (III.94), gerät der konsolatorische Dialog schließlich zur Anweisung über ein künftiges poetisches Arbeitsprogramm. Vom Postulat der cogitatio mortis her ist die Hinwendung zur Lebensschrift, sei es in den Episteln, sei es in den ‚Fragmenta‘, gegen die kontemptorische Logik legitimiert: te tibi restitue. Die folgenden Bilder, mit denen Augustinus Franciscus auf das selbstreflexive Denken im Zeichen des Todes hinlenken will, erzeugen jene komplexe Spannung von Finalität und Zyklizität, die auch dem zweiten Teil der ,Fragmenta‘, in morte Laurae, eingeschrieben sind: Lauf der Jahreszeiten, verfallende Mauer, seinem Setzer entwachsender Baum, rota Fortunae. Und am Ende formuliert der Text sein eigenes da capo: FRANCISCUS: Sed desiderium frenare non valeo. AUGUSTINUS: In antiquam litem relabimur.13
Das Gespräch müsste eigentlich wieder von vorne beginnen. Auch das ‚Secretum‘ schließt also mit einer Figur der Wiederholung: Was es verhandelt, kommt zu keinem Ende und wird mit jeder Lektüre neu verhandelt 9
10 11 12
13
‚Das ist der verdammenswerte entsetzliche Wahnsinn aller, daß ihr das, wovon ihr nicht wißt, ob es für die letzten Bedürfnisse ausreichen wird [nämlich die verbleibende Lebenszeit], auf lächerliche Nichtigkeiten verschwendet, ganz als sei es in Hülle und Fülle vorhanden.‘ III.82, Übers. Regn/Huss (Hgg.). illa maiore [gloria] in celo fruendum erit [...]. Itaque istum esse ordinem, ut mortalium rerum inter mortales p r i m a sit cura (III.84, Hervorhebung M. K.). Ein kleiner Buchstabensturz würde sie zur gloria laurae machen. delectabar [...] quod [...] tam dulcisonum carmen erumperet. (III.53; ,Ich ergötzte mich, als der so süße Klang des Liedes zu mir empordrang.‘) Welches carmen Petrarcas gemeint ist, lässt sich nicht genau feststellen, vgl. den Kommentar von Regn/Huss (Hgg.), 466, Anm. 73. Seine pädagogische Pflicht vergisst Augustinus außerdem, wenn er meint, er habe oben im Himmel lachen müssen, als er sah, wie der liebesleidende Petrarca offenbar auf Ovids einfachste Lehren vergessen habe (III.52); auch der gestrenge Kirchenvater hat also seinen Ovid gelesen, wieder ist die ironische Grundierung des Lehrgesprächs deutlich. ‚FRANCISCUS: Doch kann ich mein Verlangen nicht zügeln [nämlich das Verlangen, sich erst dem hinzugeben, was eben als reliqua benannt wurde, und erst dann hoc unum zu verfolgen]. – AUGUSTINUS: Wir fallen in den alten Streit zurück.‘ Der Dialog hatte mit der Darlegung des Lehrers begonnen, dass es dem Schüler nicht am Vermögen, sondern am Willen mangle. Hätte er gelernt, müsste Franciscus sagen: Sed desiderium frenare n o l o .
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II. Allegorien und Allegoresen
werden (schon im Proömium hieß es, dass das Büchlein zum wiederholten Lesen verfasst worden sei).14 So stellt sich denn auch die Frage, von wem sich Franciscus besiegt sieht, wenn er bekennt: Victus sum (III.35) – vom Kirchenvater oder doch von der Liebe zum Lorbeer? Viel zwar wiegt die Autorität des Lehrers, die loquentis auctoritas (III.91), doch ist dieser nicht Aurelius Augustinus, sondern der Augustinus Petrarcas, die altera vox des reflektierenden Subjekts.15 Petrarcas ‚Secretum‘ erörtert die vanitates mundanae als Anliegen und Sorge des Subjekts, indem es drei diskursive und ikonische Traditionen zusammenführt: die des contemptus mundi, die der ciceronianischen und römisch-stoischen Ethik und die des amour courtois. Am Ende steht wiederum eine schwierige Affirmation: sozusagen die Wiedergewinnung von Senecas Kette, die uns an das „Hienieden“ bindet.16 Im Falle des Franciscus sind es zwei Ketten aus Diamant, adamantine cathene: Amor et gloria (III.2-3). Mit der Idee von der prima cura mortalium schwenkt das ‚Secretum‘ auf eine „Theorie der Horizontalität“ ein, die den ‚Rerum vulgarium fragmenta‘ ähnelt. Die Hierarchie zwischen Transzendenz und Immanenz wird subvertiert, und es gelangt explizit zur Geltung, was die höfische Poesie in einem Phänomen wie dem „Absolutismus der Immanenz“ latent hielt. Ob darin schon jene Legitimität der Neuzeit konzipiert oder angelegt ist, von der Hans Blumenberg handelt,17 lässt sich bezweifeln. Sie ist es jedenfalls nicht im Sinne einer teleologischen Linearität oder eines un14
15 16 17
Hoc igitur familiare colloquium [...] scriptis mandare instituo [...] ut dulcedo quam semel ex collocutione percepi, quotiens libuerit, ex lectione percipiam. – ,Ich habe beschlossen, diese trauliche Unterredung schriftlich niederzulegen, damit ich die Süße, die ich einmal aus ihr erfuhr, aus der Lektüre, sooft es beliebt, wieder erfahre‘ (Prohemium, §9). Damit wird auch zugegeben, dass die Lehre nicht von Dauer ist (was sich textintern eben an Franciscus zeigt) und dass sich im Begriff der dulcedo ein gewisser Selbstgefallen verbirgt. Die im folgenden Paragraphen formulierte Behauptung, der Autor habe das Buch nur für sich verfasst, führt sich aufgrund der formalen Hinweise zur Lektüre, die gleich darauf gegeben werden, von selbst ad absurdum. Über die Komplexität der Augustinus-Gestalt des ‚Secretum‘ handelt ausführlich Küpper 2002[a]. Vgl. oben Kap. II.2, 161. Blumenberg 1999. Unter der Perspektive dieses Theorems betrachtet Stierle 2003, 661ff. vor allem die ,Trionfi‘, für das ,Secretum‘ vgl. Küpper 2002[a], 2f.: „Es kann als Kronzeuge für die von H. Blumenberg entwickelte These einstehen, daß die Moderne sich nicht konstituiert in einem kontinuierlichen Prozeß der Säkularisierung, sondern in Konsequenz eines theologischen Absolutismus, der die Autonomie des Mundanen nicht nur ermöglicht, sondern sie nachgerade erzwingt.“ Es ist verlockend und bis zu einem gewissen Grad auch plausibel, sich die Dinge so zurecht zu legen, affirmiert aber doch nur die bekannten teleologischen Theorien der Geisteswissenschaft. Davon abgesehen verkürzt Küppers Satz (notwendigerweise) Blumenbergs Theorie, vor allem aber widerspricht er ihr insofern, als im Wort von der t h e o l o g i s c h e r z w u n g e n e n „Autonomie des Mundanen“ ungewollt genau jene behauptete Illegitimität der Neuzeit bekräftigt wird, gegen die Blumenberg anschreibt.
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hintergehbaren epochalen Schrittes. Petrarcas Œuvre erweist sich auch im ‚Secretum‘ als prospektiv. Der Begriff der Prospektivität wäre jedoch nicht im Sinne einer evolutiven historischen Logik zu denken, sondern im Sinne einer Potentialität, die sich im Kunstwerk formuliert, im Sinne einer „Spur des Zukünftigen“, die sich weder räumlich noch zeitlich „erfüllen“ muss, aber aus einer Perspektive ex post, wie wir sie einnehmen, einen signifikanten Vorverweis gibt – jenseits der Kategorien historischer Linearität oder des tatsächlich Eingetretenen. Zumal unter diesem Aspekt einer prospektiven Zusammenführung traditioneller Vergänglichkeitsvorstellungen ist das ,Secretum‘ ein tauglicher Leitfaden für ein Resümee dessen, was in diesem zweiten Teil zu untersuchen war: Allegorien und Allegoresen der vanitas, die entsprechenden diskursiven und ikonischen Strategien in der weltlichen und geistlichen Literatur, ihre Differenz und ihre Affinität (Präfigurationen der vanitas, gene-analogische Relationen), Vorstellungen wie Finalität, Linearität und Zyklizität, die Annäherung von Welt- und Lebenszeit im eschatologischen Moment und schließlich die poetologische Reflexion, die sich hier anschließt. ALLEGORIEN UND ALLEGORESEN, GESCHLECHT. – Die erotische Poesie des Mittelalters verhandelt Problementwürfe eines je literatur- und genrespezifischen Weltbezugs, eines je besonderen amor mundanus. In Gestalten wie Fortuna, Venus und der Minneherrin entwickelt sie Figurationen weltlicher Souveränität und Fragilität. Insofern eine geistliche Allegorese diese Gestalten den einschlägigen Allegorien der Weltkritik annähern kann (mulier Aethiopissa, Luxuria, Mundus) beziehungsweise neue Allegorien wie die der Frau Welt aus ihnen zu bilden weiß, repräsentieren sie eben Präfigurationen der vanitas. Die „Herrin Welt“ der mittelhochdeutschen Literatur stellt zwar das Produkt einer spezifischen poetischen Sprache dar, nicht aber das einer spezifischen Denkform. Dies dokumentiert etwa die Deutung Lauras als imago einer feminei corporis feditas (III.70), pointiert gesagt: als eine figura luxuriae et vanitatis in Petrarcas ‚Secretum‘. Hierher stellen ließe sich auch die Mors der ‚Trionfi‘: Auch wenn sie dem Bild der Keuschheit, Laura, kontrastiert, besteht doch zwischen beiden Gestalten eine diffizile Affinität. Sie ließe sich als eine „Affinität der Disjunktion“ bezeichnen. In Mors bekommt jene Seite der Geliebten einen eigenen Körper, die im Falle von mulier Aethiopissa, Luxuria, princeps/filius mundi und Welt die Kehrseite des allegorischen Körperbildes darstellt: die bittere ontologische Wahrheit
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II. Allegorien und Allegoresen
nach oder hinter dem süßen Anschein irdischer Schönheit.18 Dieser schöne Anschein aber lässt sich je nach Perspektive des Textes entweder als imago pudicitie (die Laura der ‚Trionfi‘) oder als imago luxuriae (die Laura des Augustinus im ‚Secretum‘) lesen. Zu betonen ist die Affinität, die diese Allegoresen und ihre Ausgangsfiguren – gerade aufgrund ihrer Differenz – zueinander haben. Sie ergibt sich aus einer ausgereizten Spannung zwischen Positivität und Negativität, Souveränität und Fragilität, die die Gestalt der Geliebten in der höfischen Lyrik auszeichnet. Affinität besteht außerdem in der Negativität der Bilder und Metaphern, mit der sich die Positivität weltlicher Liebeserfahrung oder das, was ich „Absolutismus der Immanenz“ nannte, formuliert (Heinrich von Morungen liefert hier die eindringlichsten Beispiele). Differenz wird hingegen in der unangemessenen Überschreitung fasslich, die die geistliche Allegorese vornimmt, wenn sie die Negativität weltlicher Liebeserfahrung, die von der erotischen Poesie in einer paradoxen Schleife ins Positive gewendet wird, auf eine destruktive Semantik des Weltlichen festlegt (wenn etwa der Augustinus des ,Secretum‘ Laura als imago luxuriae begreift). Aus der Perspektive der ursprünglichen poetischen Konzeptionen stellen diese Festlegungen Überschreitungen oder illegitime Fehllesungen des weltlichen Registers und seines fiktional-simulativen Geltungsbereichs dar (sie könnten zugleich dokumentieren, dass diese Tendenz in der weltlichen Poesie angelegt ist und sie daher die geistlichtheologische Diskursmacht gefährdet). Das Wissen um diesen Mechanismus der (mehr oder weniger bewussten) geistlichen Fehllektüre oder wenigstens sein Erahnen spricht sich schon in Walthers Dialoglied mit der Welt aus, wenn das scheidende poetische Subjekt entschuldigend darauf hinweist, welch gefährliches Gefallen es an der Vorderseite der allegorischen Dame gefunden habe. Es artikuliert sich ferner im ‚Alterston‘ in der versöhnenden Aussicht auf eine Wiedervereinigung mit dem verworfenen Bild. Und es äußert sich noch in der schwierigen Lossagung von der donna pietosa in Dantes ‚Vita nova‘, bei Petrarca im Disput des ‚Secretum‘ um die Wertigkeit Lauras sowie in den unvollkommenen Absagen an sie in den ‚Rerum vulgarium fragmenta‘. Auf die Spitze getrieben werden sie in der Vergine-Kanzone, deren stilistisches und hermeneutisches Wagnis genau jene „Affinität in der Differenz“ freigibt, von der die Rede war: Sie ist schon im ersten Attribut, bella, ausgesprochen, das die angerufene Jungfrau mit der Geliebten, der abgeschworen werden soll, unauflöslich verbindet. Die ikonische, diskursive, 18
Als Chronologie repräsentiert ist die Dichotomie von Anschein und Sein im Falle der (erst) schönen Luxuria und der (dann) hässlichen Mulier Aethiopissa, als Simultaneität aber in dem einen Körperbild von Frau Welt und princeps/filius mundi; vgl. oben Kap. II.1 und II.2.
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generische und literarhistorische Komplexität, mit der diese Prozesse ablaufen, verlangt nach einem – fast möchte man sagen: heillos komplexen Begriff für die beschriebenen Gestalten und Konzepte der vanitas. Es ist am ehesten eben jener der Allegorie. Im rhetorischen Schema der fictio personae (so es überhaupt ein bloß rhetorisches ist) laufen mehrere Strategien zusammen: Die „materielle“ des Ornatus, die wirkungsästhetische der ikonischen Trope, die exegetische des mehrfachen Schriftsinns und schließlich das dekonstruktive Moment einer „Fehllesung“.19 Spätestens Paul de Man hat gezeigt, dass Tropen nichts „Gewisses“ sind, dass sie „(sich) versprechen.“20 Das trifft freilich nicht erst auf ihre sprachliche Substanz, sondern schon auf ihre sprachliche Form, auf ihren Namen selbst zu. Der Begriff der Personifikation bedeutet – wenigstens in unserem Zusammenhang – eine beträchtliche Verharmlosung. Er privilegiert das bloße Verfahren, den technischen Vorgang, und droht die semantischen Potentiale und Paradoxien zu unterschlagen, die ihm zugrundeliegen und ihn begleiten.21 Man benennt Luxuria, Mundus und Welt daher am besten als Allegorien, wenn man den Denkformen, die sie verkörpern und formieren, im Namen annähernd adäquat Rechnung tragen will. Der Begriff der Personifikation würde den folgenreichen und systematischen „Denkfehler“ des contemptus mundi bloß prolongieren. Dieser Denkfehler besteht in der Suggestion eines metonymischen Verhältnisses zwischen Körperbild und Konzept, während es sich in Wahrheit um eine allegorische Verschiebung handelt. Die geistliche Allegorese der beschriebenen weltlichen Präfigurationen der vanitas hat diese Verschiebung als Fehllesung erzeugt und führt sie in der Erörterung der einmal geschaffenen Allegorie weiter. 19
20 21
Dass die Rückkehr zum rhetorisch-theoretischen „Grunde“ des Allegoriebegriffs und eine entsprechende Eingrenzung seiner Gültigkeit die Lösung der bekannten Schwierigkeiten bilden oder gar eine adäquate Anatomie der Begriffsgeschichte ermöglichen würde, ist eine Fiktion. Dies zeigt sich etwa an den Ausführungen Anselm Haverkamps: das Versprechen, unter dem Begriff „Allegorie“ nur von der metaphora continua, nicht aber von Personifikation, Figur und mehrfachem Schriftsinn zu handeln, lässt sich nicht halten, erst recht nicht aus jener modernen theoretischen Perspektive, die hier legitimerweise eingenommen wird; s.v. Allegorie (Anselm Haverkamp, Bettine Menke), in: ÄGB 1, 49-104, bes. Einleitung, I. und II., 49-70); zu Begriff, Geschichte und Verfahren der Personifizierung in der mittelalterlichen Literatur Kiening 1994[a], mit der treffenden Beobachtung, dass Personifikationen immer zur „Personalisierung“ tendieren (369), durch (ikonische und hermeneutische) „Prozessualität“ gekennzeichnet seien und in ihrem Verweischarakter nicht aufgehen (384). Vgl. bes. de Man 1979, Kap. II.9 „Allegory“, 188ff. und Kap. II.10 „Allegory of Reading“, 221ff. Dies mag auch für den Begriff der „Personalmetapher“ gelten, den Ernst Robert Curtius (1993, 141ff.) vorgeschlagen hat; das Problem der Verkürzung, die mit der klassifikatorischen Stringenz unweigerlich verbunden ist, kennzeichnet ebenso die Ausführungen Meinolf Schumachers (1996, 49ff.) zu Personifikation und Personalmetapher im Kontext einer Metaphorologie der Sünde.
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II. Allegorien und Allegoresen
Der im Hintergrund wirksame hermeneutische Mechanismus wäre schon an der frühesten Geschichte christlicher Luxuriadarstellung zu fassen: Sie lässt sich als theologische Allegorese der Göttin Venus, konkret des Typus der Knidischen Aphrodite und der mit ihm verbundenen literarischen wie bildnerischen Tradition beschreiben.22 Analog werden in Frau Welt die Frauenrollen des Minnesangs (sei es die Herrin, sei es die pastorella) theologisch-moralisch allegorisiert, unter der Vorgabe, dass das Verhältnis zwischen Körperbild (schön-verwesend) und abstraktem Signifikat (vanitas und luxuria mundi) ein metonymisches wäre: So als läge keine zeichenhafte, arbiträre Verweisung, sondern eine substantielle Partizipation vor. Schärfer, nämlich klarer und radikaler, ist dies bei den bildnerischen und textuellen Allegorien der Luxuria der Fall: Der Frauenleib soll nicht metaphorisch, sondern metonymisch Sünde und Verwesung repräsentieren, er ist Teil von ihr (in der feminei corporis feditas materialisieren sich luxuria, vanitas und appetitus carnalis). Tatsächlich handelt es sich um eine strategische Fehllesung: Sie trennt das Sündhafte vom Begehren jener (männlichen) Figur, die als Weltjünger, Sänger oder Autor mit Frauenliebe und Weltliebe geschlagen ist (beide Formen der Liebe sind dabei wiederum im Verhältnis einer metonymischen Identität gedacht). Die Sünde liegt nicht im Subjekt, sondern im Objekt der Begierde, und diese Extrapolation suggeriert, dass die Integrität dieses Subjekts (die vorzugsweise als seelische und körperliche Reinheit vorgestellt wird) im Akt der weltverachtenden conversio wieder errungen werden könne. In ihr wirkt – es sei so plakativ gesagt – ein antiweltliches und misogynes theologisches Kalkül, das seine prägnanteste Formulierung ausgerechnet im Traktat ‚De amore‘ des Andreas Capellanus, nämlich in dessen drittem, der damnatio amoris gewidmeten Buch findet: Luxuriosa est etiam omnis femina mundi.23 Dass es sich bei diesen allegorischen Verschiebungen – ästhetisch betrachtet – um Trivialisierungen handelt, steht außer Frage, freilich um wirkungsvolle. Die poetische und bildnerische Polysemie, die den Allegorien der vanitas mundi noch im geistlichen Kontext eignet (erinnert sei an die Straßburger und Freiburger Skulpturengruppen und an die Selbstwidersprüche im contemptus), hintergeht freilich fortwährend jene Eindeutigkeit, die ihnen eine sakralisierende Exegese einschreiben wollte. Auch diese sekundäre „Fehllesbarkeit“ rechtfertigt es, von Allegorien und Allegoresen der vanitas zu sprechen. 22 23
Hinz 1998, 96ff. und 126ff. Buch III, Kap. ,De vitiis mulierum‘, Trojel (Hg.), 353. Zur gesellschafts- und kriegspolitischen Strategie säkularisiert, demonstriert dieses misogyne Kalkül seine Plausibilität bis in die Moderne hinein, wie die Methoden der Syphilisprävention zeigen, vgl. oben Kap. I.3, 88ff.
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Die grundlegende Denkform des contemptus mundi begreift also den Körper, zumal den weiblichen Körper als Personifikation von Vergänglichkeit und Sünde; als Personifikation nicht nur im Sinne einer rhetorischen Strategie, sondern im Sinne der Behauptung, dass sich Vergänglichkeit und Sünde in ihm materialisieren würden. Ikonisch findet diese Denkform in der Darstellungsform der Frau Welt, des princeps/filius mundi und der ihm beigestellten Luxuria ihren prägnantesten Ausdruck: Sie führen falschen schönen Anschein und wahres verdorbenes Sein in einem Körperbild simultan zusammen (im Falle der Freiburger Luxuria ist die Allegorese erst durch mühsame negative Signifikation des schönen Leibes möglich, sie bleibt dem Körperbild selbst äußerlich). Eine philologische und kunstwissenschaftliche Analyse muss auf dem allegorischen Charakter dieser Strategien insistieren: Es handelt sich (auch wenn sie es vorgeben) nicht um metonymische Repräsentationen, sondern um Verschiebungen, um Prozesse einer semantischen und ikonischen metaphorá. Es ist die Leistung der Poesie, dass sie sich mit ihren Figurationen von Souveränität und Fragilität eine provokante (und riskante) Engführung mit diesen theologischen Allegoresen erlaubt. Indem das poetische Liebeskonzept an die Grenzen der Negativität geführt wird, um es von hier aus gerade zu affirmieren, wird die pseudo-metonymische, allegorische Strategie des theologischen vanitas-Diskurses durchschaut und seine Suspendierbarkeit erwiesen. Der kontemptorische Absolutismus wird von einem Absolutismus der Immanenz konterkariert. Direkt in Kontakt geraten beide Strategien in einer Gattung wie dem Kreuzlied oder in den Liedern und Œuvres, die einen biographischen Verlauf entwerfen, der a priori zu einer „Entscheidung“ des poetischen Subjekts führen muss. In diesen „Relais“ schließlich wird das gene-analogische Widerspiel zwischen weltlichen und geistlichen Repräsentationen des Weltbezugs und der Weltflucht am deutlichsten fassbar. Betrachtet man die dargestellten Verfahren unter dem Aspekt der Geschlechterdispositive, die sie entwerfen, so geht es auch hier nicht ohne den weiblichen Körper, so kann auch hier die „Signifikation“ nur „über ihre Leiche“ laufen, wie es der Titel von Elisabeth Bronfens Buch griffig formuliert.24 Die zentralen diskursiven und ikonischen Relationen, die das 24
Bronfen 1994. Zusammenfassend zu Allegorie und Geschlechterdifferenz s.v. Allegorie (Anselm Haverkamp, Bettine Menke), in: ÄGB 1, 49-104, hier IV.2. Allegorie der Geschlechterdifferenz [B. Menke], 100ff. Im Zentrum der einschlägigen Forschungsdiskussion steht das Phänomen eines „symbolischen Überspringens“ der allegorischen Signifikation („Naturalisierung“), also in etwa das, was ich als Phänomen eines metonymischen Kurzschlusses zu beschreiben versuchte; außerdem die Dissoziierung des „bildlich Vorgestellten“ durch „das allegorische Bedeuten“ (ebd., 102) sowie die Unkontrollierbarkeit der allegorischen Setzung (im Sinne der möglichen Fehllesungen).
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Verhältnis zwischen figura vanitatis und dem betrachtenden Subjekt bestimmen, sind dabei getragen von der Opposition des Anderen und des Selbst, über die Christian Kiening am Beispiel der spätmittelalterlichfrühneuzeitlichen Todesdarstellungen gehandelt ist.25 Allgemeiner gesagt sind es die Oppositionen von Identifikation und Distanzierung, Konjunktion und Disjunktion und auch sie stellen Allegoresen, strategische Fehllesungen dar. Wenn wir die dargestellten Grundtypen unter dieser Perspektive grob resümieren, ergibt sich folgender Befund: Relativ plakativ gestalten sich die Oppositionen – natürlicherweise, ist man versucht zu sagen – im allegorischen Modus, also im Falle von Frau Welt, princeps/filius mundi und Luxuria. Im Körperbild von Frau Welt repräsentiert das „andere Weibliche“ vorne eine idealisierte Projektionsfigur des (männlich codierten) Begehrens. Die negative Rückseite verschiebt diese Figuration einer ersehnten Nähe, einer Identifikation, in die Distanz, in ein Verhältnis der mehrfachen Disjunktion, die apotropäisch wirken soll: Im doppelten Anderen, im weiblichen und verfallenen Körper, wird das Begehren gelöscht, beziehungsweise – dem Übertragungsverfahren des contemptus mundi entsprechend – auf das „transzendente Objekt/Signifikat“, Gott, in einem Akt der conversio verschoben. Eine analoge Strategie verfolgen die bildnerischen Sujets von Fürst der Welt und Luxuria: Der verfallende männliche Körper – Zeichen des „anderen Selbst“ (Kiening) des Betrachters – bezeichnet die Gefahr, die von der Identifikation mit dem „weiblichen Anderen“ ausgeht. Dieses weibliche Andere verschleiert in seiner begehrenswerten Schönheit seine wahre doppelte Andersheit (weiblich und sündhaft) und gibt sich als eine Figur der Nähe, der Attraktion aus (auf sie verweist gerade die Warnung „Ne intretis!“). Die hermeneutische Absicht der Darstellungen zielt wiederum auf eine mehrfache Distanzierung: auf eine Distanzierung vom anderen Selbst (Fürst der Welt) und vom anderen Weiblichen (Luxuria), also auf die transzendente „Reinigung“ oder „Bereinigung“ des Begehrens. (Entsprechend die Distribution im Falle der mulier Aethiopissa, die allerdings vom Ergebnis her gedacht ist: Die hässliche Epiphanie verweist auf eine gelungene Distanzierung vom allegorisierten weiblichen Anderen, dem sich das begehrende Selbst zunächst identifizieren will.) Schwieriger gestaltet sich die Konstellation bei den beschriebenen poetischen Präfigurationen der vanitas. Zwar operieren auch die poetischen Figurationen weltlicher Souveränität in auffälliger Weise mit der Opposition des (weiblichen) Anderen und des (männlichen) Selbst. In der souveränen Herrin (oder auch in Fortuna und Venus) ist dieses Andere aber 25
Kiening 2003.
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auf eine Distanz gebracht, die das Begehren gerade nicht löscht, sondern verstärkt. Zu einer Löschung kommt es vielmehr dann, wenn das weltlich Souveräne als fragil vorgestellt wird. Die Imagination der Herrin als fragiles, beschädigtes Liebesobjekt resultiert aus einem Akt der Aneignung und Bemächtigung, der in eine neuerliche Disjunktion von Geliebter und liebendem Subjekt münden muss (so die „Logik“ des paradoxe amoureux). Der Absolutismus der Immanenz lässt sich nur über die Distanz zwischen Objekt und Subjekt, Anderem und Selbst aufrecht erhalten, nur in dieser Distanz sind Zeit und Vergänglichkeit arretierbar. Wird diese Konstellation im Modell von Lebensweg und Lebenszeit gedacht, verkomplizieren sich die Verhältnisse nochmals und sie tragen ihre Paradoxien weiterhin auf dem „Rücken“ des imaginierten weiblichen Anderen aus. Um das Stillstellen von Zeit unter einer Denkform der Zeitlichkeit noch garantieren zu können, bedarf es der Löschung des Lebendigen, der „Tötung“ der Geliebten, wie sie Dante und Petrarca vornehmen. Als Figur einer transzendenten Souveränität (bei Dante) oder als Figur eines unerledigbaren immanenten Begehrens (bei Petrarca) lässt sich das Liebesobjekt nur imaginieren, wenn es im Tod seiner äußersten Fragilität ausgesetzt wird. Während sich eine weiblich codierte „Souveränität der Immanenz“ in Frau Welt und im Ensemble von Fürst der Welt und Luxuria unter transzendenter Perspektive als Figur der „Defizienz“ entpuppt (und dies durchaus in Konvergenz mit den von Bronfen identifizierten Symbolen, vor allem mit der im Geschlechtlichen verankerten Negativität),26 scheint hier erst die Löschung der „Defizienz“ (des Körperlichen, Sinnlichen, Zeitlichen) die Konstruktion einer unversehrbaren „Totalität“ zu ermöglichen. Indes zeigten uns die Imaginationen von Leiblichkeit und Augenschein bei Dante und Petrarca, dass genau dies nicht gelingt und offenbar auch nicht gelingen soll: Der Tötungsakt an der lebendigen Geliebten bleibt unvollendet, er tilgt eben nicht restlos ihr Lebendiges, ihren Körper. Eine an Bronfen orientierte Interpretation kann der tatsächlichen poetischen Polysemie somit nicht genügen – und dies in mehrfacher Hinsicht: Sie bezieht sich auf innerpoetische Konstruktionen, denen zudem ein eminent poetologischer Sinn eingeschrieben ist, der seinerseits stringente Oppositionen wie jene von Identität und Differenz, Totalität und Defizienz immer schon hinter sich lässt. Die „toten“ Geliebten Dantes und 26
Bronfen 1994, 24 entwirft für die beiden Wahrnehmungsperspektiven, unter denen das andere Weibliche ihrer Theorie zufolge betrachtet werde, die Formel von der „Totalität der Mutterbrust“ und der „Defizienz der vulva“; auf dieser Folie wären zumal die besprochenen vanitas-Darstellungen des Holztafelgemäldes von 1470 (Abb. 4) und der Skulpturengruppe von Erhart/Holbein (Abb. 6) sowie Walthers Abschied von Frau Welt (im Motiv des Saugens) lesbar.
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II. Allegorien und Allegoresen
Petrarcas, aber auch die fragile Souveränität der Herrin Morungens und das verblasste schœne bilde in Walthers ,Alterston‘ beschreiben poetologisch gesehen Figurationen des Werks. Sie sind nicht mimetische Spiegelungen realer Frauen, sondern Imaginationen der Schrift und werden somit nichts anderes, wenn sie schließlich das Werk oder die Schrift repräsentieren. Diese Tatsache untergräbt a priori eine fundamentale gendertheoretische und kulturpsychologische Deutbarkeit, wie sie Bronfen unternimmt. Auch die Illegitimität des „Gehens über die weibliche Leiche“ wäre somit komplexer noch zu denken.27 Der bei Bronfen konstatierte Distanzierungsakt vom weiblichen Anderen kann wenigstens im künstlerischen und poetischen Sujet nie gelingen und ist dort auch nicht intendiert, weil dieses Andere eben die Imagination der Autor-persona (und nicht die Spiegelung des begehrten Objekts eines biographischen Individuums) ist und weil diese Imagination als poetisches Werk deren Lebenszeit überdauert.28 Gerade in dieser Verschiebung und in der Komplexität, die sich aus ihr ergibt, gründet freilich die kulturelle Relevanz der poetischen Entwürfe, die die Suspendierbarkeit von vermeintlich festen Geschlechterdispositiven ebenso erweisen wie die der theologischen Allegoresen. GENEALOGIEN UND GENE-ANALOGIEN. – Ähnlich komplex wie die semantischen Prozesse sind die literarhistorischen zu reflektieren, unter denen Präfigurationen und Figurationen der Vergänglichkeit sich bilden und kreuzen. Begriffspaare wie Sakralisierung und Säkularisierung drohen hier zu kurz zu greifen, zumal dann, wenn sie in einfachen genealogischen Schemata zur Anwendung kommen; etwa in jenem, das in Frau Welt die 27 28
Dies gilt etwa auch für die aktualisierende kultur- und geschlechterpsychologische Lesung der ‚Vita nova‘ bei Theweleit 1991, 856ff. Insofern wäre die Schriftwerdung der weiblichen Leiche – ein Gedanke, den Bronfen (1994, 13ff.) schon an ihrem ersten Beispiel, dem Gemälde ‚Der Anatom‘ von Gabriel von Max, diskutiert – eigentlich kein sekundärer Schritt, weil die gemalte Leiche nie etwas anderes als einen künstlerischen Entwurf abgibt. Noch deutlicher erweist sich das Ungenügen von Bronfens Deutung an Poes Erzählung ‚The Oval Portrait‘ (ebd., 162ff.). Die Divergenz von Kunst und Leben (die gemalte Geliebte stirbt im Prozess ihrer künstlerischen Repräsentation, die Stillstellung ihrer Lebendigkeit im Portrait verlangt ihren Tod) wird hier nicht einfach dargestellt, vielmehr handelt es sich um die ironische Repräsentation einer Denkfigur, eines topischen und stereotypen Phantasmas der Kunst selbst. Der Denkfehler, der Bronfens Theorie durchzieht (vor allem dort, wo sie auf künstlerische und nicht auf historische Konstellationen eingeht), dürfte somit in ihrer Prämisse bestehen, dass Bild oder Schrift erst wird, was immer schon Bild oder Schrift ist. Der Poetizität ist nicht zu entrinnen, zumal wenn wir aus der Perspektive des Werks denken und nicht aus der des Schöpfers bzw. seiner realen Existenz und Psychologie, die sich im Werk repräsentieren soll. Es sind, das zeigen in unserem Zusammenhang gerade Dante und Petrarca, a priori keine lebenden Frauen, die hier als weibliche Imaginationen der Kunst, als Kunstobjekte „arretiert“ werden würden. Pointiert gesagt: Wie der Dichter vieles dichtet, so malt auch der Maler vieles, nur eines sicher nicht: sein Modell.
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simple Übersetzung eines dominus Mundus begreift, wie ihn die contemptusTradition im übrigen gar nicht kennt. Statt von Genealogien von GeneAnalogien zu reden, mag vorläufig passabel sein. Der Begriff impliziert bewusst ein Paradox: dass nicht genetisch sein kann, was analog ist. Dieses Paradox könnte helfen, historische Prozesse vielschichtiger zu denken, als dies jene teleologischen Synthesen tun, die hinter Formeln wie „wird zu“, „folgt aus“ oder „ist Symptom von“ stehen. Roland Barthes weist sie unter der klugen Maxime zurück: „Ce serait transformer des ‚coprésences‘ en éléments d’un tout organique, rationnel.“29 Gerade eine komparatistische Analyse, die nicht dem strengen Schema der Chronologie folgt, wirkt hier korrigierend. Sie verweist uns auf die Gleichzeitigkeit heterogener Konzepte, sie verweist uns auf Parallelitäten zwischen heterogenen poetischen Modellen, ohne deren literarhistorische Unterschiede zwangsweise zuzudecken. Sie verweist uns auf spezifische generische und literarästhetische Bedingungen, die zu einer differenten Ausprägung analoger Konstellationen führen. Zu beobachten ist dies an der mittellateinischen erotischen Poesie einerseits, am Minnesang andererseits. In beiden Fällen ist die spezifische Semantik des Liebeskonzepts wesentlich an ein topisches Milieu gebunden, das die Gattungen nicht einfach nur als ihr tatsächliches soziokulturelles Umfeld abbilden, sondern überhaupt erst entwerfen: Sei es jenes der iuvenes clerici in den Liebesliedern des Codex Buranus, sei es die courtoisie des grand chant. Aus diesen topischen Milieus heraus erheben sich die lyrischen Stimmen. Und diese Stimmen können individuelle Konturen annehmen, wobei die Prozesse wiederum keiner strengen, den literarischen Œuvres äußerlichen oder vorausgehenden Ratio folgen. Es sind spezifische literarästhetische Verläufe und eine letztlich nicht prognostizierbare poetische Ingeniosität, die jene prägnanteren lyrischen personae hervorbringen, die aus den Liedern Heinrichs von Morungen oder Walthers von der Vogelweide sprechen. In Walthers Œuvre konstituiert sich dabei erstmals im deutschen Minnesang so etwas wie ein klares biographisches Narrativ. In der Weise, wie das poetische Subjekt sein Verhältnis zur Welt reflektiert, und vor allem in der Perspektive der Lebenszeit zeigen sich gewisse Affinitäten zu Dante und Petrarca. Gleichwohl bleiben diese lyrischen Reflexionen an ein stereotypes Gattungssystem, an ein allgemein kommuniziertes topisches Milieu gebunden und sie verdanken sich nicht einer planvollen und systematischen Entfaltung des Œuvres. Entworfen werden sie vielmehr vom einzelnen Lied her, das in seiner Referenz auf andere Lieder die persona und deren Lebensweg je neu bildet (wobei diese Entwürfe wiederum je 29
Barthes 2003, 177. (,Das würde bedeuten, „Kopräsenzen“ in Elemente eines organischen, rationellen Ganzen zu verwandeln.‘)
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nach Überlieferungsträger und Überlieferungscorpus differieren). Dantes und Petrarcas lyrische Entwürfe wurzeln zwar über den Stilnovismus in der höfischen Lyrik des Hochmittelalters, heben sich von ihr aber in einer unhintergehbaren Differenz ab. Diese Differenz resultiert aus den ästhetischen, thematischen und soziokulturellen Verschiebungen, die in ihren Werken konfiguriert werden: Es sind dies die Schemata und Metaphoriken von Lebenszeit und peregrinatio, die Chronotopik von Stadt und Landschaft sowie platonistische Konzepte, um nur Weniges zu nennen. Die Unterschiede zwischen den besprochenen Autoren und Werken lassen sich nun aber nicht unmittelbar in epochale Befunde ummünzen. Dies nämlich würde bedeuten, auf unzulässige Weise zu homogenisieren, was als komplexes Zusammenspiel von intertextuellen, soziokulturellen und bildungsgeschichtlichen Bedingungen zu verstehen wäre – Bedingungen, die im poetischen Vermögen eines Autors und in der Prozessualität seines Werks erst ihre kreative Dynamik entwickeln. Was dabei zur „Schrift“ wird, ist keine „Errungenschaft“, kein Ausdruck oder eben keine „Symptomatik“ einer ein für allemal fixierten Epoche, sondern die je besondere poetische Kreation, die die ästhetischen, soziokulturellen und bildungsgeschichtlichen Potentiale „ihrer“ Zeit, kurz: die Kulturalität, in der sie sich formt, erst zur Sprache bringt – aus der spezifischen Perspektive und in der spezifischen Stimme, unter der und mit der sie diese Potentiale (und nicht Bedingungen!) wahrnimmt. Erst der Wirkungsprozess des Œuvres, seine Kanonisierung erzeugt so etwas wie eine theoretische (keineswegs aber faktische) Unhintergehbarkeit des mit ihm „epochal“ Erreichten. Auf unser spezifisches Thema bezogen bedeutet dies, dass wir mit keinen stringenten Verläufen rechnen können; dass wir gerade am Problem von Weltlichkeit und Transzendenz mit Formen der Pluralisierung konfrontiert sind, die sich nicht nach einer simplen Epochensystematik verteilen lassen,30 sondern ästhetischen und kulturellen Kalkülen gehorchen, die ihrerseits nicht homogen sind. Zu sehen war dies schon am spezifischen Fall der mittelhochdeutschen Frau-Welt-Dichtungen: An den unterschiedlichen Semantiken, an den divergenten Allegoresen analoger Sujets, an den Dramatisierungen und Entdramatisierungen derselben figura vanitatis, die die entsprechenden Texte vornehmen. Würde man etwa die höhere Komplexität von Walthers Texten als Signum einer höfischen Klassizität begreifen, die mit ihm erreicht wäre, und alles Folgende als notwendige Reduktion und nicht etwa als Potenzierung 30
Etwa im Sinne der Diesseitsstimmung des 11./12. Jahrhunderts, wie sie Brinkmann 1924 behauptet, und des spätmittelalterlichen Pessimismus, von dem bei Huizinga 1975 mithin die Rede ist.
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von Möglichkeiten betrachten, die mit der erfolgreichen Kanonisierung von Sujets und Genres sowie unter einer gesteigerten Artifizialität gegeben wäre; und würde man die späteren Texte ihrerseits als Symptome einer spätmittelalterlichen Vergänglichkeitshysterie oder eines epochalen vanitasFaibles missverstehen, so ergäbe diese literarhistorische Konstruktion zwar so etwas wie eine immer schon erwartete geistes- oder mentalitätsgeschichtliche Stimmigkeit, erwiese aber doch nur ihre eigene Simplizität. Auch das prospektive Potential Dantes und Petrarcas folgt nicht der teleologisch-linearen Ratio der Literaturgeschichten und resultiert auch nicht einfach aus dem Potential einer bestimmten Literatur in ihrer je spezifischen historischen Situation, sondern ist die poetisch-kreative Antwort auf eine kulturell wie intertextuell glückliche Konstellation. Die besondere Signifikanz, die beiden Œuvres in einem historischen Spannungsfeld der vanitas-Konzepte zukommt, ist die, dass sie die divergierenden Strategien der weltlichen Poesie und des geistlichen contemptus mundi – nicht zuletzt aufgrund der Bildungskompetenz der Autoren – zusammenführen und in entsprechend polysemen Konzeptionen kollidieren lassen. Dass es sich um konkurrierende Strategien handelt, zeigen zumal Petrarcas ,Rerum vulgarium fragmenta‘ und sein ,Secretum‘. Beiden Werken ist außerdem abzulesen, wie sich das poetische Wirkungspotential gerade aufgrund dieser Polysemie erhöht und wie sich dabei die poetischen Konzeptionen gegenüber den theologischen behaupten. Die gene-analogischen Relationen zwischen weltlicher und geistlicher Weltreflexion ließen sich auch diskurstheoretisch aufschlüsseln. Aber hier wäre es ebenso eine unzulässige Abstraktion, von einem theologischen „Master-Diskurs“ zu reden, unter dessen Diktat der poetische Diskurs stünde. Denn dass es diesen Master-Diskurs nicht gibt, erweist sich bereits an der Heterogenität der kontemptorischen Literatur selbst. Diese Heterogenität mündet schon in den ‚Carmina Burana‘ in die Parodierung (CB 76), im ‚Secretum‘ aber in die Konterkarierung der Tradition des contemptus mundi in der widerborstigen Stimme des Franciscus. In beiden Fällen begegnen wir auf generisch wie historisch unterschiedlichem Terrain Phänomenen der Pluralisierung, die sich mit dem Begriff des Diskurses nicht angemessen klassifizieren lassen, sofern man in ihm differente Darstellungsformen und Denkformen homogenisieren will. Um zu einer adäquaten Sicht auf konzeptuelle und ikonische Mehrdeutigkeiten zu gelangen, sind wir somit wiederum auf nichts anderes als auf das alte, unverzichtbare Geschäft der Philologie geworfen, auf eine möglichst differenzierte Lektüre: der Texte, ihrer intertextuellen Verflechtungen, der Semantik ihrer ästhetischen wie kulturellen Entwürfe. Wollten wir dennoch so etwas wie einen gene-analogischen Verlauf andeuten, so ließe sich sagen: Die theologisch-kontemptorische Tradition des 11. und
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12. Jahrhunderts kultiviert Denkformen und Darstellungsformen der vanitas, denen sich die Entwürfe der säkularen Poesie analogisieren (am Beispiel der Lyrik etwa in Gestalt von Fortuna, Venus oder der vrouwe) und die sie mithin übernimmt (inkalkulable Souveränität, Liebeserfahrung als kontingente Leiderfahrung). In der Wahrnehmung des poetischen Subjekts nähert sich das geliebte Objekt dem mundus ridens an. Der kontemptorische Diskurs reagiert seinerseits auf diese Annäherungen und weiß sie zu integrieren: In Frau Welt gerät die Minneherrin zur Allegorie von vanitas und luxuria, im Fürsten der Welt repräsentiert sich eine negativ gefasste höfische Kulturalität; im ‚Secretum‘ und im ‚Triumphus Mortis‘ setzen sich Konstruktionen von luxuria und vanitas an der Gestalt der Laura fest. (Das Verfahren ist kein neues: Schon die früheste Luxuria-Tradition lässt sich in ihren grundlegenden Zügen wie gesagt als theologische Allegorese eines säkularen Darstellungstypus und seiner Wirkungsgeschichte, nämlich der Knidischen Aphrodite begreifen.) Eine sich konsolidierende Poesie weiß das Potential der verfügbaren ikonischen und diskursiven Topik weiter zu nutzen, bis zu dem Punkt, wo Dante und Petrarca eben die gesamte Spanne an Differenzen im Sinne einer neuen Polysemie zu integrieren vermögen. Bei all diesen Prozessen handelt es sich aber eben um keine genealogischen Übernahmen, sondern um Prozesse der Analogisierung, aufgrund derer die je eigenen Sujets (der Liebe, der Weltverachtung) neu konzeptualisiert werden. Insgesamt betrachtet verweisen sie aber auf einen faszinierenden ästhetischen Überschuss – sei es im kontemptorischen Traktat, sei es im poetischen Text oder Bildwerk. So könnte uns also eine „gene-analogisch“ denkende Philologie zu einer komplexen Beschreibung führen, in der ästhetische Vielschichtigkeit als diffiziles Zusammenspiel jener intertextuellen, geographischen und zeitlichen Differenzen verstehbar wird, aus denen sich „Geschick“ und „Profil“ der Literaturen und Kunsttraditionen erst ergeben. Jedenfalls können die Texte nur dann adäquat erfasst werden, wenn die Philologie über eine Theorie historisch-kausaler, homogen konzipierter Verläufe und vorgefasster epochaler Signifikanzen hinausdenkt. LINEARITÄT, ZYKLIZITÄT, ESCHATOLOGIE. – Der Absolutismus der Immanenz, zu dem die weltliche Poesie seit dem Hohen Mittelalter findet, manifestiert sich auf einer poetischen und auf einer metapoetischen Ebene: zum einen in ihren Figuren der Dauer und der Zyklizität (Fortuna, Venus, vrouwe) sowie in ihren Vorstellungen des Perpetuierens und der Iteration des Werkes selbst (poetologischer Narzissmus, Permanenz des Gesangs und der Lektüre). Es ist wiederum das biographische Narrativ eines Œuvres, das diesen Absolutismus der Immanenz mit Figuren und Figurationen der Linearität und der Finalität konfligieren lässt, die sich
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allerdings signifikanterweise weitgehend auf die poetische Ebene beschränken.31 Die Überschreitung der Gattungskonvention findet dabei die Bedingung ihrer Möglichkeit in der Konvention selbst: Das konventionelle poetische Subjekt, die Sängerstimme konkretisiert sich zur persona auctoris, zu einer Person, deren „Biographie“ vom Werk entworfen wird. Die Allegorese, die dieser Prozess am Sujet, dem lyrischen Liebeskonzept, vornimmt, steht im Zeichen der Lebensschrift. Das Leben, das sie repräsentiert, folgt der Logik des Todes als des finalen Kairos schlechthin. Er verlangt nach der entscheidenden Lossagung, nach einer conversio von jener Welt, zu der das alte erotische Sujet transformiert wurde. Die Lossagung, die das Prinzip der Zyklizität im grand chant courtois immer zu verhindern wusste, wird in der neuen Logik einer biographischen Linearität schlagend und mündet in die Stilisierung des begehrten Objekts (sei dies nun die Geliebte, sei es die Welt selbst) zur Figur der vanitas – zu einer Figur, in deren Hinfälligkeit sich zuletzt, am Ende der Lebensschrift, die Defizienz des Begehrens selbst bekundet, ohne dass dabei freilich jene Distanzierung und Separation zu vollziehen wäre, die der contemptus mundi veranstaltet. Das eigene Werk, das sich metapoetisch in den Entwürfen des Weltbezugs, der Geliebten zumal, manifestiert, lässt sich nicht als metonymische Repräsentation von vanitas und luxuria lesen: Dies demonstrieren Walthers komplexer Abschied von der Welt ebenso wie Dantes Spiritualisierung von Geliebter und Werk oder Petrarcas Insistenz am labyrinthischen Irregehen, sei es im ‚Secretum‘, sei es in den ,Rerum vulgarium fragmenta‘. Die Konstellation verweist uns auf ein eschatologisches Substrat, das in den eigentlichen Allegorien der vanitas sinnfällig wird: an Mundus, Werlt, aber auch an Luxuria und – sofern sie dieser analogisiert wird – auch an der Geliebten. Die Allegorien der vanitas sind eschatologische Allegorien. In ihnen verbirgt und bewahrt sich die christliche Naherwartung, die Idee vom bevorstehenden Ende der Weltzeit.32 Die Konfrontation des poetischen Subjekts mit der Allegorie der vanitas führt nicht zufällig an der 31
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Auf einer metapoetischen Ebene wäre dies vielleicht bei Walthers Nachrufstrophen auf Reinmar der Fall (Cor 55.I/II; L. 82,24/83,1; hierzu nunmehr Kasten 2005). Sie betrachten die Kunst des Autors mit dessen Tod als verloren, denken diesen Autor aber wiederum wesentlich als figura und nicht als biographisches Subjekt: Er wird von einem poetischen Subjekt angesprochen, das sich selbst schon fast an dasselbe Ende gekommen sieht, sich also zuallererst in den Kategorien der spezifischen Gattung des Nekrologs wahrnimmt. Dass diese Idee des unwiederbringlichen Verlusts auch in den Imperativ des Fortsetzens, des Weiterschreibens münden kann, wird der Nachruf auf Gottfried vom Straßburg zeigen, mit dem Heinrich von Freiberg seine Tristan-Fortsetzung eröffnet (dazu unten Kap. III.2, 366ff.). Zur Naherwartung bes. Blumenberg 1999, Kap. IV („Verweltlichung durch Eschatologie statt Verweltlichung der Eschatologie“), 46-62; vgl. auch Groh 2003, 20ff. und 27ff.
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Hinfälligkeit der Welt zur Erkenntnis der eigenen Hinfälligkeit und zur conversio: Dieser Akt transformiert das in der Allegorie bewahrte eschatologische Substrat einerseits zur individuellen Eschatologie, deren Eintreten unmittelbar erwartet wird. (Dem Prinzip des vierfachen Schriftsinns zufolge könnte man von einer Konzentration auf den moralischen Sinn sprechen.) Die Analogisierung individueller und kosmischer Endlichkeit, die Erfahrung der eigenen Endlichkeit an einer Figur, die die Endlichkeit a l l e n irdischen Seins bezeichnet, bedeutet andererseits zugleich eine hermeneutische Radikalisierung. Denn die deduktive, vom Allgemeinen auf das Besondere schließende Erkenntnis setzt einen induktiven Fehlschluss voraus: den Fehlschluss von der eigenen Endlichkeit auf die der Welt, die Synchronisierung von Lebenszeit und Weltzeit.33 Im Akt des contemptus mundi verbirgt sich somit ein eschatologischer Egoismus und dieser Egoismus stellt eine der Formen dar, in denen die „Entschärfung“ der eschatologischen Naherwartung, wie sie Hans Blumenberg zufolge schon in der christlichen Patristik erreicht wurde,34 wieder aufgehoben ist; „individuelle und kosmische Eschatologie“ (ebd.) fallen in der Allegorie der vanitas, in e i n e m allegorischen Körperbild zusammen. Architektonisches Programm wird diese eschatologische Denkform im besprochenen Figuren-Ensemble am Straßburger Münster. Ihre radikalste Darstellungsform findet sie aber wiederum in der Gestalt der Frau Welt: In der ikonischen Simultaneisierung von Vorher und Nachher, Werden und Vergehen, in dem einen weiblichen Leib, der nicht nur das fatale Telos alles Irdischen und keine bloße Erwartung, sondern eine immer schon gegebene Präsenz der Eschatologie behauptet, potenziert sich jene konzeptuelle Negativität, die der Absolutismus der Transzendenz entwickelt hat. Die weltliche Poesie, zumal die erotische Lyrik weiß auch ihn zu hintergehen: im Gegensatz zwischen Werk und persona auctoris, im Auseinandertreten von Poetologie und Sujet. Gegen das poetische Narrativ des Endes ist eine Poetologie der Iteration gesetzt, gegen die persona auctoris behauptet sich der poetologische Narzissmus des Autors. Seine Stimme denkt sich im Werk über ihre Lebenszeit hinaus. Dieses Prinzip der Iteration ist wiederum angedeutet bei Walther, programmatisch formuliert ist es am Ende der ‚Rerum vulgarium fragmenta‘ Petrarcas und in der gloria poetica, die das unerledigbare Postulat des ‚Secretum‘, die Lebenspassion des Franciscus bildet (nicht einmal Augustinus, Autorität und Lieblingsautor Petrarcas, vermag sie ihm auszutreiben). Dass dies alles in der poetologischen Selbstbezüglichkeit der Gattung a priori angelegt und nicht die individuelle Errungenschaft des dich33 34
Zu Begriffsprägung und historischer Konzeptualisierung Blumenberg 2001. Blumenberg 1999, 56.
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tenden Ingeniums oder gar der Ausfluss eines biographischen Erlebens ist, belegen die einschlägigen Zeugnisse im Œuvre Morungens, das noch ganz der zeremoniellen Stereotypie des Hohen Sanges verschrieben ist: die fortgesetzte narzisstische Klage in Lied MFMT XXXII und der befriedigende Gedanke an den Neid derer, die das Leid des Liebenden vernehmen und so für die Permanenz seines Gesanges sorgen, in Lied MFMT XXII.4. Auf seinem Grabstein will der Sänger schließlich geschrieben wissen, wie lieb die Herrin ihm und wie einerlei er ihr gewesen sei. Wer dann über ihn, den Toten, hinweggehe, solle seine Not lesen und den Gewinn verkünden, den ihr die Sünde eingebracht habe, die sie an ihrem Freund begangen habe (MFMT VIII.3).35 In Wahrheit ist der Stein längst gemeißelt: im Lied, das fortbesteht und in dem das Leid des Liebenden als Sängerruhm fortdauert. Auch diese Geliebte ist eine figura mundi. Genau ihre Sünde, ihr vermeintlicher Betrug gibt jedoch den Anlass für die ästhetisch schöne Klage und sichert so die fortwährende Gegenwart des Subjekts im Lied, sie garantiert seine Permanenz in der poetischen Schrift. KONTINGENZ UND POETOLOGIE. – In Morungens Epitaph erscheint die geliebte vrouwe abermals als Figur der Souveränität. Ihre Indifferenz präsentiert sich aus der Sicht des Liebenden als sündhaftes Verhalten. Hinter dem Paradox, dass der höchsten Zuneigung eine absolute Gleichgültigkeit antwortet, verbirgt sich ein Erfahrungsmodell der Kontingenz. Die unkalkulierbare Souveränität der Geliebten korrespondiert der Unzuverlässigkeit der Welt. Ihre Schönheit nimmt der Liebende als ein Versprechen wahr, das nicht eingelöst werden kann, so wie das Lächeln der Welt dem Weltjünger ein Verlachen ist: mundus irridens. Auch in dieser Parallelität verbirgt sich eine Gene-Analogie zwischen lyrischem Liebeskonzept und contemptus mundi. Die Kontingenz, die sich das literarische Kunstwerk selbst als sein Sujet wählt, wird freilich schon im ästhetischen Akt seiner poetischen Formulierung, im schönen Gesang bewältigt. Der Absolutismus der Immanenz und sein poetologischer Zweck verhindern jene metonymische Engführung von Frau und vanitas, die der contemptus mundi hergestellt hat. Nicht im Zeichen der Unzuverlässigkeit der Welt, sondern im Zeichen ihrer vanitas formulieren Petrarcas ‚Trionfi‘ das Problem der Kontingenz. Der Siegeszug der Keuschheit wird mit dem Auftritt der Morte – una donna involta in veste negra (‚Triumphus Mortis‘ I 31) – jäh beendet. Die Allegorie des Todes betrachtet Laura, die als einzige Lebende den Triumphus Pudicitie 35
Wan sol schrîben kleine / reht ûf dem steine, / der mîn grap bevât, / wie liep sî mir waere / und ich ir unmaere; / swer danne über mich gât, / Daz der lese diese nôt / und ir gewinne künde, / der vil grôzen sünde, / die sî an ir vründe / her begangen hât.
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II. Allegorien und Allegoresen
angeführt hat, zunächst als figura vanitatis: Ihr und ihresgleichen, die in Jugend und hoher Schönheit stehen und nicht um das Ende ihres Lebens wissen, bereite sie die Nacht noch vor dem Abend.36 Laura selbst antwortet zum Erstaunen der Morte nicht mit dem Schauder des hinfälligen Wesens, das im Anschein höchster Lebendigkeit seiner Sterblichkeit überführt worden ist, sondern mit der festen Stimme einer schönen contemptrix: „In costor non ài tu ragione alcuna, / ed in me poca; solo in questa spoglia.“ Gegen ihre Begleiterinnen könne die Todesallegorie nichts ausrichten (weil sie ja schon tot sind) und wenig nur gegen sie selbst – bloß gegen ihre Hülle (TM I 49f.). Angesichts solcher Gelassenheit wandelt sich die fera Morte in die Gestalt des schmeichelnden Todes: Wenn sie, Laura, ihrem Rat und nicht erst ihrem Zwange folgen wolle, so sei es ohnedies besser, das Alter und seine Beschwerlichkeit zu fliehen (egli è pure il migliore / fuggir vecchiezza e’ suoi molti fastidi; TM I 65f.). Der eintretende Tod des schönsten irdischen Wesens veranlasst den Erzähler zu der erwartbaren rigiden Aussage, dass hienieden alles vanità sei (TM I 92.): Miser chi speme in cosa mortal pone! (‚Armselig, wer Hoffnung auf ein sterbliches Ding setzt!‘; TM I 85) „Wer aber täte dies nicht?“, heißt es im Folgevers, die Rigorosität der vorangehenden Vergänglichkeitsmahnung wird sogleich wieder unterlaufen. Den kontemptorischen Sermon beendet eine abrupte abbreviatio (TM I 101f.) und auf den ‚Triumphus Mortis‘ wird der ‚Triumphus Fame‘ folgen. Das Schlusstableau beschreibt eine mehrfache Inversion: Die fera Morte wird in Laura zur Morte pietosa (TM I 108), die Schar, die sich um die Tote versammelt, verabschiedet sie mit den Worten: „Vattene in pace, o vera mortal dea!“ (TM I 124) Die Verlockung ist groß, diese Worte als eine kühne Umschrift des Bibelworts (Mt 27,54) zu lesen: „vere Dei Filius erat iste!“, meinen die verängstigten römischen Soldaten beim Tod Christi (und kompromittieren das biblische Heilsgeschehen, indem sie es aus ihrer paganen Perspektive heraus bestätigen). An Lauras Leichnam selbst verkehrt sich schließlich die Ikonographie von Tod und Vergänglichkeit: Morte bella parea nel suo bel viso (TM I 172; vgl. Abb. 23). Nicht mehr erweist das Schöne im Tode bloß seine Hinfälligkeit und Hässlichkeit, sondern es lässt noch Ursache und Moment seines Vergehens als schön erscheinen. Auch die Regie von ‚Triumphus Mortis I‘ zeigt, dass die poetischen Entwürfe von Welt und Vergänglichkeit Phänomene der Kontingenz 36
Vgl. TM I 34ff.: „O tu, donna, che vai / de gioventute e di bellezze altera, / e di tua vita il termine non sai, // io son colei che sì importuna e fera / chiamata son da voi, e sorda e cieca / gente, a cui si fa notte inanzi sera.“ – ,Oh du, Herrin, die einhergeht / in Jugend und in hoher Schönheit / und die du um die Grenze deines Lebens nicht weißt, // ich bin es, die ungelegen und wild / von euch gerufen wird, taub und blind / Volk, dem die Nacht noch vor dem Abend bereitet wird.‘ Ob sich die Adjektive sorda und cieca auf Morte oder gente beziehen, ist nicht eindeutig, vgl. den Kommentar bei Pacca/Paolino (Hgg.), 276f. zu 38.
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repräsentieren. Sie dokumentiert zugleich den prägenden Einfluss der contemptus-Tradition. Die Sphäre der Immanenz folgt keiner Ratio des Verdienstes oder des Kalküls. Morte – hier deutlich auch Hypostase von Fortuna und Mundus – agiert ungelegen und wild, womöglich auch taub und blind. Dass sie darin dem Willen Gottes untersteht, wie ihr Laura gleich bescheidet (TM I 70), verweist auf den Selbstwiderspruch, der der geistlichen Weltverachtung eingeschrieben ist. Folgerichtig wird er von Morte auch geflissentlich kaschiert. Dies gelingt unter anderem deshalb, weil sich das Phänomen der Kontingenz nötigenfalls zum Phänomen einer negativen, diabolischen Providenz hochstilisieren lässt: Dass der Tod sein Exemplum gerade am Schönsten, das hienieden ist, statuiert, belegt nicht die Zufälligkeit seines Eintretens, sondern eine böse Absicht, den wissentlichen Trug, den der Mundus an sich selbst begeht. Dichtung ziele, so ließe sich sagen, mit den Mitteln lyrischer oder narrativer Konstruktion auf Bewältigung von Kontingenz.37 Im Falle des ‚Triumphus Mortis‘ ist dies zumal an der Inversion zu sehen, die das Schlusstableau vornimmt. Die ästhetische Präsenz, in die die Betrachtung der schönen Leiche mündet, weiß die diskursive Logik der vanitas zu hintergehen, die eben zuvor noch aufgerufen wurde. Wenn wir von Kontingenzbewältigung sprechen, laufen wir freilich Gefahr, als eine vorgängige „Naturtatsache“ zu betrachten, was erst Produkt einer kulturellen Ordnung, in unserem Fall eines geistlichen Vergänglichkeits-Diskurses ist. Die Kontingenz, von der er spricht, ist nichts anderes als eine Konstruktion, die ihre Evidenz aus der Indifferenz der Wirklichkeit – und schon das wäre zu viel gesagt – beziehen zu können glaubt. Dichtung leistet nun nicht bloß Bewältigung einer solchen Kontingenz, sondern entwirft sie erst als ihr Sujet. Neben allen Strategien der poetischen Klärung und Sinnstiftung bleibt dabei immer ein inkommensurabler Rest bestehen: Phänomene einer ästhetischen Präsenz, die sich der diskursiven oder strukturel37
Hierzu Warning 2003, bes. 183f. Eine umfassende Auseinandersetzung mit philosophischen und ästhetischen Konzepten von Kontingenz bieten die Beiträge bei von Graevenitz/Marquard (Hgg.) 1998, zum Grundsätzlichen bes. Wetz 1998 (Zufall und Kontingenz) und Lübbe 1998, zum Einfluss des christlich-theologischen (v.a. augustinischen) Konzepts Küpper 1998, zur Geschichtlichkeit in Bezug auf Mittelalter und Renaissance Küpper 1998[a]. Besonders hervorzuheben ist für den Gegenstandsbereich dieser Untersuchung und für die folgenden Kapitel der Beitrag von Haug 1998, der sich auf den Zusammenhang von Kontingenz und Fiktion, sowie auf das literarische Spiel als Inszenierung und Bewältigung von Kontingenz konzentriert. Mir geht es um zentrale (gattungs- und textpoetische) Entwürfe des Zufälligen und um ihren Zusammenhang mit Weltklage und Weltkritik. Grundsätzlich bleibt auf das Paradox hinzuweisen, dass die literarische Konstruktion auf einer intentionalen Ebene per definitionem nur Pseudo-Kontingenz herstellen kann; tatsächliche Kontingenz ereignet sich in den dekonstruktiven Effekten, die poetische Sprache erzeugen muss (worauf Haug, 164, hindeutet, wenn er vom „Zufälligen des Gelingens“ spricht).
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II. Allegorien und Allegoresen
len Bändigung, der Logik von Narration und Deskription entziehen. Im poetischen Modus ist Kontingenz ein poetologisches Phänomen. Wir fassen sie in der höfischen Lyrik im paradoxe amoureux, in den Imaginationen des schönen Körpers, in der Unbedingtheit des Begehrens oder im poetologischen Narzissmus der Autorstimme. In der Epik – um so viel vorwegzunehmen – fassen wir sie motivlich im Wunderbaren, narratologisch in einer „Regie des Gelingens im letzten Moment“, die immer auch den Blick auf die Alternative freigibt: dass alles anders kommen könnte als erzählt. In diesen Phänomenen geht Poesie über jenes Postulat der Kontingenz hinaus, die ein geistlicher Diskurs als Makel der Immanenz zu setzen und zu dramatisieren weiß. Und in ihnen verhindert sie zugleich, dass ihre eigenen Weltentwürfe sich in einer simplen Schlüssigkeit, in einfachen Modellen der Bewältigung erschöpfen. Die weltliche Dichtung des 12. bis 15. Jahrhunderts verhandelt das Thema der vanitas mundana im Zeichen einer glücklichen Paradoxie, die der rigorosen Negativität des contemptus mundi antwortet. Sie muss dies schon allein deshalb tun, weil sie sich selbst als „Weltwerk“, als in der Immanenz verbleibendes und diese verhandelndes Werk begreift. Die Schlussmaxime in Petrarcas erstem Triumph des Todes – Morte bella parea nel suo bel viso – verweist mit ihrer Inversion des klassischen vanitas-Topos auf die Überführung einer poetisch entworfenen Immanenz in Poetologie, sie weist auf eine poetologische Überschreitung, wie wir sie in der Idee einer Permanenz von Schrift und Lektüre fassen. Um solche Formen der poetologischen Reflexion, die sich am Problem der Vergänglichkeit entzünden und manifestieren, um eine solche „Poetik der Immanenz“ soll es im Folgenden gehen.
III. Poetik der Immanenz
1. Dichtung als Weltwerk: Walters von Châtillon ,Alexandreis‘ HERRSCHER UND HELD DER WELT. – Nach der Unterwerfung des indischen Königs Porus, zu Ende des neunten Buches von Walters von Châtillon ,Alexandreis‘ (um 1180), will sich Alexander keineswegs zufrieden geben, obwohl er mittlerweile über ein Weltreich herrscht. Es zieht ihn hinaus aufs Meer, ostwärts. An der Mündung des Indus schifft er sich ein und erklärt sich seinen Soldaten gegenüber folgendermaßen: Antipodum penetrare sinus aliamque videre / Naturam accelero (IX 569f.). Der Antipoden Küste wolle er schleunigst bedrängen, eine (oder: „die“?) andere Welt sehen – ein „endlich“ möchte man hinzufügen, um ennui und Neugierde dessen adäquat wiederzugeben, dem der Erdkreis zu eng ist (vgl. X 8), wie sehr er ihn auch schon „penetriert“ hat. Alexander ahnt nicht, dass Walters Epos mit dem zehnten Buch nicht bloß ein weiteres, sondern das letzte eröffnet. Zunächst machen die Schiffe, nach Süden gewandt (zu den Antipoden), gute Fahrt. Wie in der Welt der âventiure die Zügel, so lässt man hier die Segel schießen, nicht wissend, wie weit sich der unbekannte Ozean ausdehne (X 4f.). Ein Sturm zwingt Alexander dann aber zum Abdrehen (X 168ff.), doch auch aus dem Kampf mit den Wogen geht er als Sieger hervor. Er kehrt nun nach Babylon zurück, um sich – wie es dem antiken und neuzeitlichen Aufbruch ins Ungewisse entspricht – westwärts zu wenden, die Säulen des Hercules zu überschreiten und den westlichen Erdkreis kriegerisch zu unterwerfen (Occiduumque sibi bello submittere solem; X 176). Ob damit – gewissermaßen vor der Zeit – ungeahnte Kontinente gemeint sind oder ob sich der Vers auf jene Gebiete Westeuropas bezieht, die bloß Alexander noch nicht bekannt sind, ist nicht mit Sicherheit zu entscheiden. Den folgenden Versen nach beabsichtigt Alexander jedenfalls, mit der Eroberung Spaniens, Italiens, Galliens und Germaniens jenem Reiche vorzugreifen, das dereinst das Römische sein sollte. Doch die Völker kommen ihm zuvor: In Babylon angekommen erwartet ihn ein pompöser Aufzug von Unterwerfungswilligen (X 216ff.), nur die Römern fehlen. Sizilien befiehlt gar Bergen und Unterweltseen (montes Infernosque lacus; X 241f.), dem König dienstbar zu sein. Die subsidiären Instanzen der Natur vollziehen, was die Natur selbst, wie wir sehen werden, gerade
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III. Poetik der Immanenz
ablehnt: sie unterwerfen sich. Ein anderer freilich kommt auch nach Babylon, Antipater, Alexanders alter Vertrauter. Er führt das Gift der Furie Proditio mit sich. Im Moment des höchsten Triumphs, ausgestattet mit den Insignien der Weltherrschaft, ereilt Alexander der heimtückische Tod. Doch selbst noch im Sterben packen ihn die Angst vor der Enge und die Gier nach neuen Welten: „Iam tedere potest membris mortalibus istam Circumscribi animam. consumpsi tempus et euum Deditus humanis, satis in mortalibus hesi. Hactenus hec.“ (X 402ff.)1
Die Verse ließen sich wie das Bekenntnis eines reuigen Weltjüngers lesen, der – am äußersten Moment des Lebens angelangt – im contemptus mundi das Heil seiner Seele zu finden meint. Insbesondere für mittelalterliche Ohren musste es so klingen, als würde Alexander hier abschwören und seine Seele gleichsam avant la lettre (er ist ja Heide) zum ewigen Leben hinwenden. Er schwört auch wirklich ab, um sich freilich ein transzendentes Sein vorzustellen, das nicht weltflüchtig, sondern weltmächtiger noch wäre als sein bisheriges Leben: Man rufe ihn wohl in den Olymp, damit er dort mit Jupiter, dessen Kräfte bereits nachlassen, die Geschicke der Welt bedenke und einen neuerlichen Himmelssturm der Brüder vom Ätna (Ethneos fratres; X 411) oder des Typhoeus abwehre.2 Mars wolle die Führung eines derartigen Kriegszuges offenbar ihm, Alexander, in die Hände legen. Im Medium der Mythologie lässt sich selbst die äußerste superbia des Welteroberers als amüsante Marotte abtun. Die eigentliche Ironie der Stelle ist aber die, dass sie auf einen Himmelssturm anspielt, der längst oder besser gesagt immer schon vollzogen ist, ohne dass der Heide Alexander davon Notiz genommen hätte: Oben herrscht nicht Jupiter, sondern der christliche Gott und dieser hat keinen Bedarf an einem irdischen Feldherrn. Die implizierte Vorstellung vom 1
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,Schon ist diese Seele es überdrüssig, von sterblichen Gliedern / beschränkt [wörtlich: umschrieben] zu sein. Ich verbrauchte Zeit und Leben, / hingegeben den menschlichen Belangen, lange genug war ich in sterblichen Dingen verhaftet. / Dies nun bis hier und nicht länger.‘ Dem Ausweis Colkers (Hg.) zufolge handelt es sich bei Vers X 403 um ein Zitat aus Lucans ,Pharsalia‘ V 276. Die Stelle ist dunkel. Gemeint sind wohl nicht die Zyklopen, wie im Kommentar von Streckenbach (Übers.), 410 vermutet, sondern die Giganten, vgl. auch das bei Colker (Hg.), 486 abgedruckte Scholion zu X 411 aus der Hs. G. Dass sie als Brüder vom Ätna bezeichnet werden, lässt sich als Kontamination mit dem Mythos von Typhoeus erklären (Typhoeus wurde von Zeus unter dem Ätna begraben), und in Apollodors Version der Gigantomachie wird immerhin Enkelados unter Sizilien festgehalten (s.v. Gigantes [H. von Geisau], DKP 2, Sp.797f.). Auch ziehen die Götter mit Herakles einen menschlichen Helden bei, um den Kampf zu gewinnen. Die Phantasie des sterbenden Alexander liest sich wie eine Spiegelung dieses Motivs, was wiederum zeigt, wie präzise sich Walter an der mythographischen Tradition orientiert.
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streitbaren christlichen Gott, die noch im literarischen Spiel die Präsenz der Idee einer ecclesia militans zu Walters Zeiten verrät, verbarg sich zuvor auch schon in Leviathans angstvoller Prophetie, dass dereinst ein nouus homo kommen werde, dem es im Unterschied zu Alexander gegeben sei, die Pforten des Hades einzureißen (X 134ff.). Die trügerische Perspektive einer olympischen Apotheose vor Augen scheidet der König der Griechen jedenfalls hin, nachdem er die Herrschaft an Perdikkas weitergegeben hat. Walter selbst zögert nicht, die Proportionen von fama und vanitas seinem Jahrhundert entsprechend zurechtzurücken: Für die fallax gloria rerum, die mit eitlen Flügeln die Augen der Sterblichen umschwirrt (X 437f.) Magnus in exemplo est. cui non suffecerat orbis, Sufficit exciso defossa marmore terra Quinque pedum fabricata domus (...). (X 448ff.)
Alexander gibt ein Beispiel für den trügerischen Ruhm der Welt. Ihm, dem der Erdkreis nicht genügte, bleibt nur ein „Haus“ in der Erde von fünf Fuß Länge, immerhin freilich aus Marmor verfertigt. Indes dokumentieren bereits die Folgeverse jene Ambivalenz, die das zehnte Buch der ,Alexandreis‘, das „Buch Vanitas“, wie man es nennen könnte, insgesamt kennzeichnen: Mit einem mehr oder weniger bescheidenen Grab muss sich Alexander bloß begnügen, bis ihn Ptolemaeus, sein Diadoche in Ägypten, nach Alexandria überführen wird. Damit scheint die konventionelle mittelalterliche Vanitasklage von der antiken epischen Kategorie einer fama aeterna unterlaufen. Diese fama aeterna aber stellt ein immanentes Prinzip dar. Im zehnten Buch der ,Alexandreis‘ kollidieren theologische Denkformen der Weltverachtung und antike poetische Darstellungsformen der Weltbemächtigung, ohne dass eindeutig Position bezogen würde. Das mittellateinische Epos kann sich offenbar nicht entscheiden, ob es seinen Protagonisten im Zeichen der vanitas oder der gloria mundi sterben lassen soll. Diese Unentschiedenheit äußert sich in weiteren einander widersprechenden narrativen und exegetischen Perspektiven, die der Text ausgerechnet zu seinem Ende hin eröffnet. Sie verschärfen die Divergenz von antiker epischer und mittelalterlicher hermeneutischer Tradition. Zunächst repräsentiert Alexander – dem universalhistorischen Schema entsprechend – natürlich den imperator mundi. Zugleich geriert er sich freilich als einer, der die Welt erfahren hat und weiter erfahren will. Damit fallen in ihm der Heldentypus der ‚Ilias‘ und jener der ‚Odyssee‘ zusammen. Auch darin folgt Walter von Châtillon Vergil, der in der Gestalt des Aeneas die arma, also das iliadische Prinzip, und den vir als Prinzip der ‚Odyssee‘ integriert. Die Verschränkung bleibt in der Folge wenigstens für die vergilianische europäische Epik verbindlich. Dies dokumentieren nicht erst Ariost und
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III. Poetik der Immanenz
Tasso und im Sinne einer Verschiebung auf die poetologische Ebene auch Dantes ‚Comedia‘ (sie lässt die Autorgestalt die Mühen des Kampfes allegorice in sich ausfechten); es gilt bereits für Walter von Châtillon, und darin kann man nebenbei erkennen, wie unangemessen die Denkfigur von der Mediävalisierung der Antike und von deren Aufhebung erst mit der Renaissance in einer so festen Teiltradition wie eben der vergilianischen Epik ist.3 Das Vorbild des Epikers Walter von Châtillon ist Vergil. Das Vorbild des epischen Helden Alexander ist Aeneas. Die dominante poetologische Tendenz ist die der aemulatio, wie der Autor selbst unter der schützenden Deckung seines Helden unmissverständlich verlauten lässt: Am Grab des Achilles wünscht sich Alexander einen Sänger, der ihn – wie Homer den griechischen Helden – preisen werde, damit der bestatteten Asche der Ruhm nicht verwehrt sei (Post mortem cineri ne desit fama sepulto; I 491). Seinen Homer hat er in Walter gefunden. Als Welteroberer und Weltenentdecker überbietet Alexander – nach dem Vorbild des Aeneas – den Helden der Griechen vor Troja. Aeneas nun hatte schon beide – Achilles wie Odysseus – in sich vereint. Freilich bleibt er in beiden Aspekten der (er)leidende Held. Aeneas repräsentiert den Helden wider Willen, den Typus des heroischen Melancholikers, und in diesem Charakterzug spiegelt sich zugleich die intertextuelle Melancholie der ‚Aeneis‘ wider. Walter von Châtillon aber lässt Alexander nicht nur sein selbstgewähltes dezidiertes Vorbild Achilles, sondern auch sein implizites poetologisches Vorbild Aeneas überbieten, indem er einen aktiven Helden konstruiert, wie ihn die europäische Epik bis dahin nicht kannte. Die subtile Überbietung Vergils besteht zum einen darin, dass sich der nachgeborene Dichter in Alexanders Grabrede auf Achilles zum eigentlichen Nachfolger Homers ausrufen lässt; zum anderen aber in dem Faktum, dass sich der historische Heros als die eigentliche Überbietungsfigur des homerischen Helden präsentiert. Aeneas erscheint nur als Zwischenschritt. Womit Vergil bedeutet wird, er hätte das falsche Sujet gewählt.4 3 4
Vgl. hierzu die Einleitung zum LAG, bes. XIVff. Diese Überbietung des großen Vorbilds über das Sujet zählt zu den klassischen poetologischen Topoi in der europäischen Literaturgeschichte. Wir begegnen ihm auch in der mittelhochdeutschen Epik, etwa in den Berufungen Wolframs auf Heinrich von Veldeke oder im Literaturexkurs von Gottfrieds ‚Tristan‘. In beiden Fällen wird den Vorgängern unter dem Mantel einer bescheidenen Unbescheidenheit bedeutet, sie hätten in dem, was aktuell erzählt wird, den Stoff gefunden, der sie erst zu jenen Meistern gemacht hätte, als die sie gelten. Bei Walter von Châtillon dokumentiert der Hinweis auf die Unübertrefflichkeit des Sujets dieselbe Ambition zur Überbietung, wie wir sie in der Grabrede Alexanders fassen. Gegenüber Vergil wird sie nicht explizit ausgesprochen, wohl aber gegenüber Lucan, der sich angesichts von Alexanders Leistungen geärgert hätte, bloß über Caesars Taten berichtet zu haben (V 507f.).
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Den „Reichsgründer“ Aeneas überbietet Alexander mit Leichtigkeit, weil jenes Reich, das Vergils Protagonist begründet, seine Macht erst prospektiv, nach dessen Tode entfalten wird: Verwundert und bewundernd schaut Aeneas in der Unterwelt die von Anchises gewiesene Zukunft Roms (,Aeneis‘ VI 711, VI 854). Alexander überbietet aber auch den irrenden Seefahrer Aeneas, den polytropos wider Willen, der obendrein immer zu spät kommt und die Fakten, die Odysseus geschaffen hat, bloß dokumentarisch nachfahren kann. Im Unterschied zu Aeneas stößt Alexander an die Grenzen der bekannten Welt vor. Mit ihm versucht Walter, diese Grenzen aber auch zu überschreiten, dorthin zu gelangen, wo das mittelalterliche Wissen um die Beschaffenheit des orbis in der bloßen Ahnung endet. Die Formel hierfür ist im Begriff vom sinus Antipodum (IX 569) zu fassen, nach dem Alexander am Ende des neunten Buches der Sinn steht.5 Alexander hat sich an dieser Stelle die erfahrbare Welt bereits angeeignet. Was ihm zu tun bleibt, bedeutet eine Transgression. Sie ist in zweifacher Hinsicht hybrid: Zum einen im ethischen Sinne von „Hybris“ oder „superbia“, zum anderen in einem poetologischen Sinn, als sich das iliadische und das odysseeische Prinzip nicht wie bei Aeneas auf die beiden Hauptstränge des Epos aufteilt, sondern immer zugleich präsent bleibt: Alexander gedenkt den sinus Antipodum nicht bloß zu entdecken, sondern ihn als Eroberer zu „penetrieren“. Dass diese Perspektive im zehnten Buch der ‚Alexandreis‘ noch eröffnet wird, ist keineswegs selbstverständlich, sondern dokumentiert einen „hybriden“ Überschuss, den der Text mit seinem Helden teilt. Die Antipodenfahrt Alexanders ist ein poetisches Kuriosum. Sie bleibt ohne Effekt, abgesehen davon, dass sie Alexanders spezifische und ambivalent bewertete superbia dokumentiert (was eigentlich nicht mehr nötig wäre) und der Natura ein (ebenso nicht mehr nötiges) Argument gibt, gegen ihn vorzugehen. Die poetologische Pointe mag allerdings gerade in der abrupten Unentschiedenheit liegen, mit der diese Fahrt verläuft: Unversehens, von einem Sturm überrascht, aber nicht bezwungen, dreht Alexander ab, um seinen Vorstoß über die Grenzen der Welt nun westwärts und nicht ostwärts zu planen. Vielleicht entwirft Walter von Châtillon in der Antipodenfahrt die Perspektive auf ein Epos, das sich potentiell anschließen ließe, und überschreitet damit hypothetisch die Regeln und Grenzen sei5
Die Pläne Alexanders haben keine direkte Entsprechung in der Hauptquelle Walters, der ‚Alexanderhistorie‘ des Quintus Curtius Rufus (1. Jh. n. Chr.); hierzu Christensen 1969, 112ff. Dort ist bloß von einer Fahrt Alexanders zur Mündung des Indus und hinaus auf den Ozean die Rede (Buch IX, Kap. 34 und 37), die Episode dokumentiert offenbar einen antiken „Forschergeist“. Der mittelalterliche Epiker deutet die Fahrt a n die Grenzen der bekannten Welt zur Fahrt ü b e r die Grenzen hinaus um, und erst bei ihm wird sie zu einer versuchten Überschreitung der Immanenz umgedeutet.
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nes (historischen) Sujets. Dem mittelalterlichen Epiker genügt offenbar die bloße Andeutung, dass ihm so wie seinem Helden, die Welt zu klein zu werden droht (ein Späterer wie Ariost hätte hier weitererzählt). Zugleich dokumentiert sich hier eine implizite Parallelität von Sujet und poetologischem Habitus im Zugriff auf die Welt: Der rastlosen Unentschiedenheit des Welteroberers entspricht die narrative Offenheit des Epos. Analoges gilt für die folgende Orientierung westwärts (sofern man in diesem Fall von „Orientierung“ sprechen kann). Ihr setzt der Tod eine Grenze. Zwar ist sie künstlich durch Gift herbeigeführt; da sie aber von Natura persönlich initiiert wird, könnte man sie auch natürlich nennen. (Auch in diesem Paradox dokumentiert sich die polyphone Perspektive des Textes.) Die Überschreitung, die Held und Werk westwärts imaginieren, besteht zum einen in der symbolischen Vorwegnahme des Römischen Reiches, die im Triumphzug zu Babylon und in den Unterwerfungsgesten auch der westeuropäischen Völker indiziert ist; zum anderen manifestiert sie sich in einer dunklen, wiederum unentschiedenen Andeutung einer Expedition über die Säulen des Hercules, also über die klassische Grenze des bekannten orbis hinaus, die im Unterschied zu seiner „schwammigen“ Ostgrenze immer präzise definiert war. Bei seiner Rückkehr nach Babylon befindet sich Alexander am Gipfel seiner Macht. Der Text präsentiert ihn als Herrscher der Welt im Sinne einer Totalität, die wie der Held selbst an die Gesetze der Universalhistorie rührt. Auch deshalb kann diese Weltherrschaft nur auf den äußersten Moment von Alexanders Leben beschränkt sein. Zugleich lässt sich darin ein dramaturgischer Kunstgriff erkennen, nämlich die Maximierung der Fallhöhe. Diesem Zweck dient auch die Perspektive einer potentiellen totalen Welterfahrung, die in der versuchten Antipodenexpedition und in der imaginierten Expedition nach Westen angedeutet wird und eine Perspektive der narrativen Überschreitung entwirft. Dass sie nicht durchgeführt wird, bedeutet weniger eine „konservative“ Bescheidung des Textes gegenüber der Gattungstradition. Vielmehr lässt sich die innovative Poetologie der ‚Alexandreis‘ schon darin erkennen, dass sie eine solche Perspektive überhaupt eröffnet. Sie nimmt jene narrativen Überschreitungen der erzählbaren und erzählten Welt vorweg, die die Renaissance-Epik auszeichnen werden. Und nicht zuletzt darin verrät sich auf poetologischer Ebene eine Weltverliebtheit, die der des Protagonisten durchaus gleichkommt. ÜBERSCHREITUNG UND BESTRAFUNG: ALEXANDER UND NATURA. – Alexander möchte eine Welt erfahren, die jenseits des Bekannten liegt, er möchte als imperator mundi zugleich del mondo esperto sein, wie es von Dantes Ulisse heißen wird. Dieses Verlangen dokumentiert eine gewisse Unein-
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sichtigkeit gegenüber den etablierten Grenzen des orbis. Ihre Gültigkeit scheint ein mögliches „Darüberhinaus“ nicht auszuschließen, ihr Hauptmerkmal besteht in ihrer Vorläufigkeit (zu dieser Annahme hat Alexander nach seinen bisherigen Erfahrungen im übrigen allen Grund: denn weder seine Überschreitungen der skythischen noch die der indischen Grenze bedeuteten jene Bedrohung, als die sie erschienen waren). Dieses „Darüberhinaus“ beschränkt sich allerdings auf die Sphäre der Immanenz. Es ist nicht nach jenem Chronotopos der Vertikalität gedacht, den Michail Bachtin aus Dantes ‚Comedia‘ abstrahiert.6 Alexanders Ambitionen verbleiben vielmehr in einer diesseitigen Sphäre. Erst die Göttin Natura denkt sie in die Vertikale (X 98ff.), und es ist ausgerechnet Leviathan, wie der Fürst der Hölle hier heißt, der ihr in dieser Befürchtung Recht geben wird. Schon längere Zeit betrachtet Natura die Taten des Eroberers mit Argwohn. Dies nicht ohne Grund: Sie macht sich zum Anwalt einer von Alexander affizierten oder eben auch penetrierten Welt. Lange hat sie zugesehen, der beabsichtigte Antipodenzug lässt sie endlich handeln. Welchen Status Walters Epos Natura zuweist, ist dabei schwer zu definieren. Auch hier sind die narrativen wie exegetischen Perspektiven polyphon und divergent. Natürlich, ist man versucht zu sagen, ist Natura eine Kunstfigur.7 Neben anderen Allegorien ersetzt oder modifiziert sie jenen Götterapparat, der die Identität der Gattung wesentlich ausmacht. Sie ist aber doch auch mehr als ein Geschöpf der poetischen Konvention. Sie verkörpert das Prinzip des Werdens, die Schöpferin Natur. In dieser Hinsicht gibt sie eine immanente Hypostase Gottes ab, sie repräsentiert jene Instanz, die den anfänglichen Akt der göttlichen Kreation für die Dauer der saecula in Gang hält.8 Und als solche registriert sie füglich die problematische, destruktive Tendenz von Alexanders Eroberungen. Unter diesem Aspekt ist Natura also ins Recht gesetzt. Zugleich handelt Alexander allerdings auch, und dies sogar par excellence, nach dem biblischen Prinzip: „Macht euch die Erde untertan!“ Die destruktive Kraft, mit der er dieses (wiederum immanente) Prinzip verwirklicht, bedeutet aber eben eine Überschreitung des Legitimen.9 Alexanders Weltneugierde bedeutet eine Beschädigung dieser Welt. Insofern 6 7 8 9
Bachtin 1989, 89ff. Analoges gilt schon für die Physis der spätantiken orphischen Kosmogonie, in der Curtius 1993, 116f. „eine der letzten religiösen Erfahrungen der spätheidnischen Welt“ erkennen will. Zur Gestalt der Natura in antiker und mittelalterlicher Tradition Curtius 1993, Kap. 6, 116ff. und – bezogen auf Walter von Châtillon – Ratkowitsch 1991, 198ff. Im Sinne dieser Überschreitung geht vor allem die detaillierte Schilderung der Zerstörungen, die die eroberten Städte zu erleiden haben (insbesondere Theben und Tyrus, aber auch Persepolis), über die antike epische Tradition hinaus, wenngleich sich Vorbilder bei Vergil (Zerstörung Trojas) und bei Lucan ausmachen lassen.
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III. Poetik der Immanenz
ließe sich von einer verschärften Vorstellung irdischer Hinfälligkeit sprechen, da diese nicht bloß einem natürlichen, sondern einem mutwilligen Prozess der Zerstörung unterliegt. Dabei wird eben nicht bloß das Menschenwerk in Mitleidenschaft gezogen, sondern auch die Sphäre der Natur – eine im übrigen sehr hellsichtige Diagnose gegenüber den Leiden, die der Krieg verursacht. Dem kontrastiert das segensreiche, lebensspendende Wirken der Natura10: Ihre Schritte lassen jene Landschaften erblühen, die unter den Huftritten von Alexanders Heereszug veröden. Auch dieses Bild setzt sie gegenüber dem Eroberer ins Recht. Walter lässt Natura, das Prinzip der Schöpfung und des Lebens, nun aber dorthin gehen, wo Tod und Verbrechen zu Hause sind, um sich zu beklagen:11 Natura begibt sich zu Leviathan und fordert ihn auf, gegen Alexander vorzugehen. Sie findet bei Leviathan wie gesagt Gehör, weil sie Alexanders Taten aus der Sphäre der Immanenz in die Transzendenz, vom Horizontalen ins Vertikale denkt. Leviathan folgt ihr bereitwillig – nicht zuletzt dank ihrer hervorragenden rednerischen Begabung – und begreift Alexander als den publicus hostis, als den „offenen“, gemeinsamen Feind, dessen Beseitigung er in einer pompösen Rede an die Mächte der Hölle propagiert. Die Ahnung von einem, der dereinst kommen wird, die Pforten der Hölle zu brechen, bestärkt ihn darin.12 Die narrativen und exegetischen Perspektiven, die diese Passage nun eröffnet, stehen zueinander wiederum in einem paradoxen Verhältnis.13 Die zunächst ins Recht gesetzte Natur setzt sich ins Unrecht, indem sie Leviathan zu einem Verbrechen anstiftet, auch wenn es sich – angesichts der Beschädigung der Schöpfung – als gerechtfertigter Mord an einem Welttyrannen darstellt. Natura scheint aus der Rolle des immanenten schöpferischen Prinzips in jene der trügerischen Welt zu wechseln. Zu10
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Sie ist nebenbei bemerkt nicht als schöne Jungfrau (wie bei Alanus ab Insulis), sondern als ehrwürdige Greisin vorgestellt, was einerseits auf die altehrwürdige Schöpfung verweist, andererseits aber auch die notorisch eschatologische Sicht des Mittelalters reflektieren könnte: In der greisen Natura könnte das nahe Ende der Welt angedeutet sein. Greisin ist Natura freilich schon bei Claudian, hierzu Curtius 1993, 116 (ebd., 128 zur Naturagestalt bei Alan). Die Klage der Natur ist topisch („planctus Naturae“), angesichts der globalen Auswirkungen von Alexanders Kriegszügen ist es aber denkbar, dass sich Walter konkret an Tellus’ Klage in Ovids Phaeton-Episode orientierte (MM II 272ff.). Zu Walters möglichen Vorbildern für diese Szene zusammenfassend Ratkowitsch 1991, 198, allerdings ohne Erwähnung Ovids. An der Stelle wird eine typologische Relation zwischen Alexander und Christus konstruiert, allerdings im kontrastiven Sinne. Weitergedacht wird diese Relation in den zitierten Worten des sterbenden Alexander, mit denen er seine bevorstehende Apotheose phantasiert. Ihm wird die rein negative Deutung der Gestalt Alexanders nicht gerecht, die sich für Ratkowitsch 1991, 198ff. ergibt.
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gleich ordnet sie sich ein in eine Reihe epischer Unterweltbesucherinnen, man denke etwa an Juno in Ovids ‚Metamorphosen‘ (IV 432ff.). Die Natura der philosophisch-theologischen Allegoriedichtung gerät zur poetischen Gestalt. Sie wird eine „Theaterallegorie“, wie Leviathan eben einen „Theaterteufel“ abgibt. Der Chronotopos der Vertikalität, der in der Allegoriedichtung einen metaphysisch-spekulativen Anspruch erhebt, wird den Bedingungen der weltlichen Gattung unterworfen, er erscheint der Poetizität des Genres entsprechend selbst poetisiert. Auch in diesem Punkt zeigt sich die ‚Alexandreis‘ also den Denkformen der Immanenz verpflichtet. Die Stimme des Epikers geht zu den Regesten ihres Helden ein emphatisches Verhältnis ein. Mit den erfundenen Episoden einer abgebrochenen Expedition zu den Antipoden und einer geplanten Fahrt nach Westen überschreitet das Epos im Modus der Potentialität sowohl die Grenzen der antiken Gattungstradition als auch jene der christlich-universalhistorischen Weltreichstheorie. Und in Naturas Gang in die Hölle des Leviathan wird weniger das antike epische Motiv der Katabasis mediävalisiert, als dass die christlich-mittelalterliche Transzendenzvorstellung antikisiert wird. Zwar scheint in Natura zunächst die Providenz gegen die ordnungsstörende Exorbitanz des Weltherrschers eingreifen zu wollen, in der „theatralisierten“ Höllenszene wird dies jedoch gleich wieder zurückgenommen. Natura fungiert eben nicht als Gottes Stellvertreterin, wenn sie den Teufel zum Mord anstiftet; vielmehr wird sie Teil jener immanenten „Öffentlichkeit“, deren Bestand Leviathan von Alexander als dem publicus hostis bedroht sieht. Das Problem der superbia regelt sich nicht durch einen strafenden göttlichen Eingriff, sondern in der Rivalität zwischen zwei Weltherrschern: dem menschlichen, Alexander, und dem diabolischen, Leviathan. Dass die Strafe für die (destruktive) Überschreitung, die Alexander begeht, selbst nur als Vergehen gegen das Tötungsverbot gedacht werden kann, diesem Paradox einer eingreifenden Providenz entgeht der Text, indem er die transzendente Perspektive mehr oder weniger konsequent ausblendet. Die abstrafenden Instanzen sind ebensowenig imstande, Alexanders Grenzverletzung an den Maßstäben eines transzendent verankerten, göttlichen ordo zu messen, wie dieser selbst die Grenzen seiner universalhistorischen Mission zu beurteilen weiß. Weder Alexander noch Natura und Leviathan können über die immanente Logik der Handlung hinausdenken. Indem sich Natura an Leviathan wendet, verliert sie den Status einer ins Recht gesetzten Verkörperung der Schöpfung und gerät in bedenkliche Nähe zu jenem trügerischen Wesen, das im Epos mit Begriffen wie fallax gloria mundi umschrieben wird. Leviathan aber trägt die Züge eines eitlen und hilflosen „Fürsten der Welt“, der aus Angst vor der eigenen Machtlosigkeit den zukünftigen descensus Christi zitternd erwartet.
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III. Poetik der Immanenz
Nun wäre dies alles nicht weiter erstaunlich, wenn dem seitens der Erzählregie und des Kommentars eine Gewissheit des Urteils gegenüber stünde. Doch eine solche Gewissheit deutet sich nirgends an. Zwar versäumt es auch Walter von Châtillon nicht, die notorische vanitas-Formel von den fünf Fuß Boden zu zitieren, die dem Eroberer der Welt geblieben wären. Aber selbst an dem Punkt, an dem sich schon Lamprecht (wohl nach Albéric de Pisançon) in die Sicherheit des christlichen contemptus mundi rettet, erweist sich die ,Alexandreis‘ als hochgradig ambivalent. Gegen die wohlfeile vanitas-Lehre bleibt ein umfassendes poetisches und poetologisches Konzept der fama gesetzt, gegen eine klare Verurteilung der curiositas des Weltentdeckers steht die narrative Neugierde, die das Epos mit ihm teilt, gegen die Hybris des Eroberers die Melancholie des Dichters, dem sein Protagonist abhanden zu kommen droht, gegen die gerechtfertigte Bestrafung des Penetrierers der Welt die Negativität der bestrafenden Organe, gegen die fünf Fuß Boden schließlich die Aussicht auf das große materielle Mausoleum in Alexandria und das noch größere immaterielle in der ,Alexandreis‘ selbst. Dies alles bedeutet eine unerwartete Komplexitätssteigerung, die nun den Text selbst seine generischen und ästhetisch-historischen Grenzen überschreiten lässt. Wir stehen einem Synkretismus an poetischen und hermeneutischen Strategien gegenüber, der einerseits n ich t m eh r, andererseits n o c h n ic h t zu einer Synthese findet: Die ,Alexandreis‘ denkt ihr Sujet nicht mehr nach den Gesetzen der ihr vorgängigen mittelalterlichen Alexandertradition (also in der Beschränkung auf universalhistorische oder transzendente Konzepte exemplarischer Sinngebung); sie denkt es noch nicht in einer neuen Hierarchisierung horizontaler und vertikaler Achsen, wie sie Dante in der ,Comedia‘ und Petrarca in seinen ,Trionfi‘ entwerfen werden. Auch poetisiert die ‚Alexandreis‘ ihr Sujet noch nicht so radikal, wie dies etwa Ariosts ‚Orlando‘ an der chanson de geste tun wird. Immerhin deutet sich dergleichen aber in den potentiellen Ausfahrten Alexanders nach Süden und Westen und in der Katabasis der Natura an. Gegen die Beschränkungen, die das Sujet vorgibt, stehen Präsenz und Dynamik der literarischen Potentiale, die der prononcierten Vergilaemulatio Walters Wesentliches verdanken und also einer ästhetischen und intertextuellen Ambition folgen. EXKURS: WALTERS ALEXANDER UND DANTES ULISSE. – Der mittelalterlichen Alexanderrezeption gilt der makedonische König schon immer als ein exemplum vanitatis. Bei Walter von Châtillon ist dies zwar auch der Fall, aber eben auf eine prekäre und vertrackte Weise. Zum einen ändert sich der übliche Ton des contemptus – des contemptus mundi und des contemptus amatoris mundi gleichermaßen – zum elegischen, melancholischen Ton, der
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im Zweifel über den Charakter des Helden diesem zugleich die Bewunderung sichert. An Alexander erweist sich nicht einfach die fallax gloria mundi, vielmehr trotzt ihr eine fama aeterna, deren Medium nicht zuletzt das Epos selbst verkörpert. Dass dieses Epos freilich ebenso immanent, also Weltwerk bleibt wie die fama aeterna, von der es kündet, ist die spezifisch mittelalterliche Konzession, die Walter in den Schlussversen reflektieren wird. Zum anderen inszeniert die ‚Alexandreis‘ ihren Helden nicht bloß als Eroberer, sondern als Weltenentdecker. Auch hier ist ihr eine breite mittelalterliche Tradition vorgängig. Wir fassen diese Tradition in den Wundertaten Alexanders, namentlich in Orientexpedition, Meerfahrt und Greifenflug. Natürlich beschreiben auch der ‚Iter ad Paradisum‘ und die in dessen Nachfolge stehenden einschlägigen Episoden der mittelalterlichen Alexanderromane Wege an Grenzen;14 Wege an Grenzen, die nicht zuletzt an den liminalen Raum zwischen Immanenz und Transzendenz rühren. Der orbis, der in diesen Berichten und Beschreibungen entworfen wird, bleibt dennoch gewissermaßen fest. Bei Walter wird in der versuchten Antipodenfahrt und in der projektierten Fahrt über Gibraltar hinaus aber eine Sphäre eröffnet, in der das Wissen des Textes vom Modus der Stabilität in den einer dunklen Ahnung wechselt. Dass es ein „Darüberhinaus“ geben könnte, das dennoch in der Sphäre der Immanenz bliebe, hält der Text mit seinem Protagonisten wenigstens für denkmöglich: Binnenfiktionaler und außerfiktionaler Wissensstand sowie die Ahnung von dessen Vorläufigkeit decken sich. In seinem Verlangen, die gesetzten Grenzen des immanenten Raumes nicht einfach hinzunehmen, treibt Alexander eine zweifelnde Neugierde und ein Ungenügen, das aus einer Diskrepanz zwischen dem bestehenden Wissen und dem Denkmöglichen resultiert. In dieser Neugierde scheinen sich zugleich die kaum erlaubten Sehnsüchte einer mittelalterlichen Elite zu thematisieren, über die epistemologischen Grenzen ihres Weltbildes hinauszudenken. Wie die kosmographischen Berichte der Alexandertradition zeigen, gilt Alexander dem Mittelalter als jene Gestalt, die diese Grenzen abgeschritten hat und auf deren Zeugenschaft und Autorität sich das entsprechende Wissen wesentlich gründet und beruft. Es ist daher kein Zufall, dass die ‚Alexandreis‘ gerade dieser Gestalt die Idee der Grenzüberschreitung in den Mund legt: „Nunc quia nil mundo peragendum restat in isto, Ne tamen assuetus armorum langueat usus, Eia, queramus alio sub sole iacentes Antipodum populos ne gloria nostra relinquat Vel virtus quid inexpertum quo crescere possit Vel quo perpetui mereatur carminis odas. 14
Hierzu zusammenfassend s.v. Alexander [1], LAG, 38-54, bes. 49 und 51.
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III. Poetik der Immanenz
Me duce nulla meis tellus erit inuia. uincit Cuncta labor. nichil est inuestigabile forti. Plures esse refert mundos doctrina priorum. Ve michi, qui nondum domui de pluribis unum!“ (X 312ff.)15
Diese Worte Alexanders, unmittelbar vor dem Giftanschlag gesprochen, formulieren noch einmal unmissverständlich die Idee der fama aeterna, die sein Handeln leitet. Sie ist das Ziel einer radikalen vita activa, die auf das kriegerische, aber auch auf das exploratorische Erfahren der Welten gerichtet ist; auf ein Erfahren, das sich eben über das Bestehende, über das Bekannte hinausdenkt. Und in dieser Neugierde nach der Welt, in diesem Habitus eines del mondo esperto trifft sich Walters Alexander mit Dantes Ulisse.16 In canto XXVI des ,Inferno‘ erklärt sich dieser bekanntlich auf die Frage Vergils nach seinem Ende folgendermaßen: Er habe nach seiner Abfahrt von der Insel Kirkes zunächst mit jener kleinen Mannschaft, die ihn nie verlassen habe, das offene Meer, d.i. das westliche Mittelmeer, durchfahren (Ma misi me per l’alto mare aperto; XXVI 100). Nach offenbar lebenslanger Fahrt, an der Grenze ihres Lebens angelangt, hätten sie die Grenzen der bekannten Welt, die Säulen des Hercules überschritten und seien in tollem Flug (folle volo; XXVI 125) fünf Monate lang nach Süden gesegelt. In dem Moment, als sich die Schemen eines hohen Berges abzeichneten, habe sie ein Strudel erfasst, der das Schiff mit allen Wassern dreimal herumgewirbelt und dann verschlungen habe. Die Komplexität dieser Passage des ,Inferno‘ wird allein schon durch die umfassende Rezeption in Literatur und Forschung dokumentiert.17 Ihre Faszination liegt wie im Falle der ,Alexandreis‘ in jenen offenen Perspektiven begründet, die den Text über seinen literarästhetischen und geistesgeschichtlichen Standort hinausweisen lassen. Sie können wiederum 15
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‚Da in dieser Welt nichts zu tun bleibt / und damit wir die Geübtheit im Kriege nicht verlieren, / wohlan, so wollen wir die Völker der Antipoden, die unter einer anderen Sonne wohnen, / aufsuchen. Nichts lasse der eigene Ruhm / oder die Kühnheit unversucht, wodurch sie wachsen / oder sich die Preisgesänge des ewigen Liedes verdienen könnte. / Unter meiner Führung ist den Meinigen kein Boden unzugänglich. Alles / besiegt das Bemühen, nichts ist dem Starken unerforschlich. / Zahlreich sind nach der Meinung der Alten die Welten. / Weh mir, der ich von vielen eine noch kaum bezwungen!‘ Auf Relationen zwischen dem zehnten Buch der ‚Alexandreis‘ und der Ulisse-Erzählung in ‚Inferno‘ XXVI hat bereits Avalle 1966 hingewiesen. Ihm ist an einer Motivgeschichte der Grenzüberschreitung in der mittelalterlichen Literatur gelegen. Hier gehe u.a. Walters Alexander mit seiner Antipodenfahrt Dantes Ulisse voraus. Am Ende steht die These, dass Dante eine umfassende Summe aus der Tradition ziehe und sie zugleich auf das für ihn Wesentliche reduziere (ebd., 66f.). Ich beziehe mich auf Stierle 1988 (v.a. zur Deutung der Stelle selbst), Imbach 1994 (zur mythographischen Tradition) und auf Kuon 2004[a] (bes. zur Rezeption); alle mit ausführlichen Hinweisen auf die Forschungsdiskussion.
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auf mehreren Ebenen beschrieben werden. So ist auf einer mythographischen Ebene unklar, wie Dante sein Sujet überhaupt denkt:18 Von Homers ,Odyssee‘ hatte er keine Kenntnis, gleichwohl vermag die Formulierung „ch’i’ ebbi a divenir del mondo esperto“ (XXVI 97) den polytropos Odysseus Homers so präzise ins Extrem zu wenden, dass der Grundtext gewissermaßen mitgelesen scheint.19 Zugleich erlaubt Dantes „distanzierte Nähe“ zu Homer eine gravierende Umschrift der mythographischen Fakten: Ulisse kehrt überhaupt nicht nach Ithaka zurück, sondern bezwingt seine Sehnsucht nach Vater, Sohn und Gattin, um von der Insel Kirkes aus zu einer lebenslänglichen Expedition aufzubrechen, die ihn eben am Lebensende über die Grenzen der Welt hinausfahren lässt.20 Die produktive Fragmentierung und Umdeutung der Mythologie ist für die mittelalterliche Antikerezeption typisch.21 Mit ihrem Zugriff auf das Sujet fügt sich die ‚Comedia‘ somit gut in deren Tradition ein. Die neue Konfiguration des literarischen Charakters ist, wenn auch unbewusst, so doch dezidiert antihomerisch und entwickelt zwei maßgebliche Relationen: Zum einen ist Ulisse das Gegenbild zum pius Aeneas22; wie nicht zuletzt Jorge Luis Borges gezeigt hat, besteht zum anderen eine diffizile innertextliche Analogie zur Dante-Gestalt der ,Comedia‘ selbst.23 Liest man sie poetologisch, so präsentieren sich diese Relationen als noch komplexer: Schon dass es Vergil ist, der in Ulisse das Gegenbild des von ihm geschaffenen Heros befragt, entbehrt nicht einer gewissen Ironie.24 Diese
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Hierzu ausführlich Stierle 1988, 111f., Anm. 1, zur mittelalterlichen Mythographie außerdem Imbach 1994 und s.v. Ulixes, LAG, 631-638. Die im Kommentar Gmelins (Hg., Bd. IV, 389ff.) und bei Imbach 1994, 59ff. gegebenen Hinweise auf die entsprechenden Belege aus der römischen Literatur, die Dante bekannt sind (besonders Ovids experiens Ulixes; ,Metamorphosen‘ XIII 159), können dieses Paradox auf einer textphilologischen, aber nicht auf einer grundsätzlichen Ebene auflösen, auf der es umso auffälliger bleibt: Die Idee, eine letzte Reise des Odysseus zu schreiben, setzt, so könnte man meinen, die Kenntnis des Problems voraus, dass Teiresias Odysseus zwar prophezeit, er werde nach seiner Rückkehr noch zu einer weiteren Fahrt aufbrechen müssen (,Odyssee‘ ! 119ff.), von einer solchen Fahrt im Epos aber nichts mehr berichtet wird. Stierle 1988, 120 sieht diese Sujetfügung konkret aus dem Bericht in Ovids ‚Metamorphosen‘ abgeleitet (XIV 223ff.; Macareus berichtet Aeneas von Odysseus’ Abenteuern bis zum Aufenthalt bei Kirke, wo er selbst zurückblieb). Hierzu LAG, Einleitung XXIIIff. Auf diesen Aspekt konzentriert sich Stierle 1988. Borges 1992, 222-226; vgl. hierzu nunmehr auch umfassend Stierle 2007. Vergil drängt sich förmlich auf, Ulisse selbst zu befragen. Sein ambivalentes Interesse an dessen Geschichte, vielleicht auch seine Genugtuung an ihrem Verlauf, lesen sich wie ein textpsychologischer Kommentar zum dilemmatischen intertextuellen Verhältnis der ,Aeneis‘ zur ,Odyssee‘. Explizit begründet Dantes Vergil seine Initiative damit, dass der Grieche (in seiner Arroganz?) dem ihm unbekannten Dante eine Antwort verweigern könnte, vgl. den Kommentar von Chiavacci Leonardi (Hg.), 779, zu 75. Denkbar wäre auch, dass Vergil spricht, weil nur er Ulisse auf Griechisch anreden kann (so Philalethes
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Ironie verschärft sich, wenn Dante einerseits in Vergil seinen Meister gefunden haben will, andererseits aber insofern Ulisse entspricht, als er selbst in einem anderen, umfassenderen Sinn als del mondo esperto erscheint. Unklar bleibt demzufolge, wie er die Fahrt seines Ulisse bewertet haben will, oder besser gesagt: warum er sich vielmehr einer expliziten Bewertung entschlägt. Dass diese Fahrt einen Akt der superbia darstellt, lässt sich aufgrund des Eingreifens Gottes schwerlich negieren. Ulisse befindet sich unter den falschen Ratgebern im achten Graben des achten Höllenkreises, und so wurde auch die Rede, die er seinen Gefährten bei Gibraltar hielt, als Grund angesehen, der zu diesem göttlichen Urteil führte. Gleichwohl beruft sich Ulisse in ebendieser Rede auf virtute e canoscenza (XXVI 120) und auf die Verpflichtung zur esperïenza (XXVI 116), in der man vielleicht das positive, „fromme“ Prinzip der esperanza mithören darf. Nun ließe sich natürlich argumentieren, dass diese Prinzipien als pervertiert erscheinen, nicht so sehr wegen der Exorbitanz des Unternehmens selbst, sondern weil es eigenmächtig, ohne Wissen und nicht im Bewusstsein um jene Instanz ausgeführt wird, die es zu sanktionieren hätte. Dass Ulisse nach wie vor von diesem frevelhaften Nichtwissen gezeichnet ist, verrät nicht zuletzt die indifferente Benennung Gottes als altrui (XXVI 141; Homers Odysseus würde „Poseidon“ sagen, Dantes Ulisse ist immerhin vorsichtig genug, sozusagen dem „unbekannten Gott“ die Verantwortung zuzuerkennen). Zweifellos verkörpert Ulisse aber ein Ethos, das nicht per se negativ sein kann, wie sein Insistieren auf einer fundamentalen anthropologischen Differenz zum Tierischen, nämlich auf die Vorstellung vom Menschen als animal rationale bezeugt. Und mag Karlheinz Stierles Deutung, Ulisse gebe das Urbild des autonomen Subjekts ab, auch zu modernistisch gedacht sein,25 so erfährt die exorbitante Selbstüberschätzung des Dantesken Ulisse doch auch die ambivalente Zustimmung des Textes. Diese Exorbitanz manifestiert sich in der Ignoranz gegenüber jenem transzendenten „Anderen“, der die Grenzen gesetzt hat. In dieser Ignoranz aber repräsentiert sich wiederum eine immanente Neugierde, die in der unternommenen Überschreitung bloß einen Verstoß gegen immanente und daher disponible Grenzen erkennen kann, aber keinen Verstoß gegen die Transzendenz. Unter dieser Perspektive erscheint Dantes Ulisse als Gefangener einer Dialektik, die sich – wenngleich historisch natürlich anders definiert – systemisch analog zu jener darstellt, in der sich der Odysseus von Adornos
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[Übers.], 198, Anm. 18), dann freilich würde Dante schon die Frage nicht verstanden haben, geschweige denn die Antwort. So Kuon 2004[a], 67, Anm. 11 zu Stierle 1988, 128.
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und Horkheimers ‚Dialektik der Aufklärung‘ befindet. In beiden Fällen symbolisiert die mythologische Gestalt die Radikalisierung eines Prinzips (hier des immanenten, dort des rationalen), das nur dann legitim ist, wenn es sich in einer komplementären Relation auf sein Gegenprinzip hin beschränkt. Im Falle seiner Verabsolutierung erweist es sich hingegen als ethisch so illegitim wie epistemologisch defizitär. Auch diese Analogie mag im übrigen die Bereitwilligkeit erklären, mit der die moderne Forschung in Dantes Symbolfigur das neuzeitliche Subjekt avant la lettre repräsentiert sieht. Genau in ihrer immanenten Neugierde treffen sich nun aber Dantes Ulisse und Walters Alexander, auch wenn im Falle der ,Alexandreis‘ die Idee einer fama aeterna jene der curiositas substituiert und die implizierte poetologische Programmatik der vergilianischen Epik geschuldet ist. Im Unterschied zu Walter von Châtillon denkt Dante die immanente Hybris seines Ulisse allerdings zu Ende. Das gewählte Genre erlaubt ihm, dies unter den Prämissen einer klaren Hierarchie von Horizontalität und Vertikalität zu tun. Nicht anders als Alexander überschreitet Ulisse die Säulen des Hercules in dem Bewusstsein, in der horizontalen Sphäre der Immanenz zu verbleiben. In Wahrheit, das heißt der Konzeption des Textes zufolge, handelt es sich aber um einen unerlaubten und, oder besser: w e i l unbewussten Eintritt in die vertikale Sphäre der Transzendenz. Deren Reaktion könnte rigider nicht sein: Würde sich bloß das Meer „wie ein Leichentuch über den Schiffbrüchigen“26 legen, so wäre Ulisses letzte Fahrt nicht mehr als ein poetisch eindrucksvolles exemplum vanitatis. Der esperto del mondo verschwände von dieser Welt, ohne Spuren zu hinterlassen. Indem wir ihn jedoch im Inferno wieder finden, gibt er nicht bloß ein Beispiel für die Vergänglichkeit und Hinfälligkeit des Irdischen, sondern eines für ein vanum nefas, für eine eitle Übertretung der Gesetze der Transzendenz. Zwar behauptet die ,Comedia‘ zunächst, es seien die falschen Ratschläge gewesen, die Ulisses in die Hölle gebracht hätten. Die Dramaturgie der Begegnung Dantes und Vergils mit dem Frevler kann es aber kaum vermeiden, dass vom Ende des canto XXVI her betrachtet die letzte Ausfahrt des Ulisse als der geheime Grund seiner Höllenqual erscheint. Prinzipiell hätte ein universalgeschichtliches Konzept Walters mittellateinischem Epos gestattet, Alexanders Ende unter analogen Prämissen zu denken und darzustellen. Auch Alexander verhält sich gegenüber jenen universalhistorischen Grenzen ignorant, die eine transzendente Instanz seinem historischen Wirken gesetzt hat. Deren Überschreitung manifestiert sich in seinen Zukunftsplänen, die in einer virtuellen Vorwegnahme des Römischen Reiches und in einer prä-augusteischen imperialen Frie26
Kuon 2004[a], 69.
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densutopie gipfeln (vgl. X 283ff.). Eine Steigerung des exemplum vanitatis zum exemplum superbiae stünde jedoch gegen die Logik der ‚Alexandreis‘. Aufgrund ihrer vergilianischen Poetik kann sie die metaphysische Perspektive bloß rudimentär, im Auftreten Naturas als strafende Instanz, einführen. An der antiken Epik orientiert, bleibt das Epos ebenso wie sein Protagonist der Immanenz verpflichtet: Was in die Sphäre einer sanktionierenden Transzendenz führen könnte, wird nach den Gesetzen der Mythologie umgeschrieben. Natura wechselt vom Status einer Hypostase göttlicher Providenz in den einer „Theaterallegorie“, die in eine ebenso theatralisierte Hölle hinabsteigt. Der contemptus mundi, der angesichts von Alexanders Tod – zumal im Lichte der mittelalterlichen Sujettradition – fällig wäre, formuliert sich auf diese Weise zur melancholischen lamentatio über die fallax gloria mundi um. Gegen sie wiederum wird ironischerweise Alexanders fama aeterna gesetzt, die sich nicht zuletzt dem eben gedichteten Epos verdankt. Die revocatio, die der Text den mittelalterlichen Denkformen der vanitas schuldet, wird verschoben auf die extradiegetische Ebene des Epilogs. In der Gestalt des Helden, der die Grenze des orbis überschreitet, präfiguriert Walters Epos also die Fahrt des Ulisse als eine der zentralen Episoden der ‚Comedia‘. Die Unentschiedenheit des Textes in der Bewertung zeigt sich jedoch noch höher als dort. Die Zeitläufte sollten Dantes Ulisse ins Recht setzen. Das Urteil, das die ‚Comedia‘ über ihn spricht, erweist sich spätestens seit Kolumbus als Irrtum. Seine intertextuelle Korrektur folgt auf den Schritt. Davon zeugen unter anderem Ariosts und Tassos Repliken auf Ulisses letzte Ausfahrt:27 In Ariosts ,Orlando‘ ist von den neuen Argonauten die Rede, die Gibraltar hinter sich lassen und neuen Boden und eine neue Welt (nuove terre e nuovo mondo) entdecken werden (XV.xxi ff.). Tasso lässt Ubaldo und Carlo auf dem Nachen der Fortuna so wie Ulisse über die Säulen des Hercules hinausfahren und bis zu jenem Berg gelangen, dessen Umrisse Ulisse gewahrt haben will: Freilich ist es nicht der Berg des ,Purgatorio‘, sondern der höchste Gipfel der Kanarischen Inseln (,Gerusalemme liberata‘, XV.xxiv ff.).28 Die letzte Ausfahrt von Dantes Ulisse ist in jene Sphäre der Immanenz zurückgeführt, von der er selbst meint, dass er sie nie überschreitet. Sein Scheitern bleibt zwar ein exemplum vanitatis, es bezeugt aber nicht mehr die Sanktionsmacht göttlicher Vorsehung, sondern die Willkürlich27 28
Das Folgende nach Kuon 2004[a], 69ff. Die „Jungfrau“ (Fortuna) berichtet auf Ubaldos Frage, Ulisse sei auf den Ozean hinausgefahren und man habe nie wieder von ihm gehört. Die Referenz auf Dante präsentiert sich auf diese Weise zugleich als Löschung des Wahrheitsanspruches der ,Comedia‘ und als Offenbarung ihrer Fiktionalität. In den folgenden Stanzen wird die Fahrt des Kolumbus prophezeit.
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keit des Zufalls.29 Beide Umschriften belegen die poetische Kanonizität der Episode im ‚Inferno‘ und reihen Dantes Urteil über Odysseus unter die grandiosen Ungerechtigkeiten der Weltliteratur ein. Die neue ZeitRaum-Erfahrung, das neue Weltbild, das Ariost und Tasso zugrunde liegt, verdankt sich jener Überschreitung, die Dantes Ulisse in einer gleichsam prophetischen Vorwegnahme30 unternimmt. Sie ist in demselben immanenten Bewusstsein vollzogen worden, das Ulisse leitet, und hat die diskursive und epistemologische Plausibilität der dantesken Konzeption erledigt. Deren suggestive Präsenz nimmt daran freilich keinen Schaden. Sie besteht einerseits in der Exorbitanz des geschilderten Unternehmens, in deren fundamental ambivalenter Darstellung andererseits. Wie andeutungshaft der Text vorgeht, zeigt zumal das Schlussbild: Indem der Berg, den Ulisse vor sich sieht, nicht dezidiert als Läuterungsberg identifiziert wird, hat es ex post den Anschein, als hätte die ,Comedia‘ die Möglichkeit eines visionären Irrtums und die künftige Notwendigkeit einer Revision schon von vornherein einkalkuliert. In der hellsichtigen Ambivalenz, nach der die Szene komponiert ist, wird die Poetizität der ‚Comedia‘ fassbar. Sie sichert dem Werk sein Bestehen, obwohl sich der Traum, den es zu Papier bringt, als einer erweist, der nicht am Morgen, sondern vor Mitternacht, also falsch geträumt ist31 – auch dies eine Ironie, die in der poetischen Mehrdeutigkeit der ,Comedia‘ angelegt ist, in einer Mehrdeutigkeit, die die Gewissheit von Weltentwurf und Urteil konterkariert. Ihr verdankt der Text die Resistenz gegenüber seiner historischen Erledigung. Und nicht zuletzt in diesem Punkt erweist sich Dante an Walter geschult, auch wenn man von keiner direkten Referenz der ‚Comedia‘ auf die ‚Alexandreis‘ ausgehen wollte.32 HELD DER WELT, DICHTUNG DER WELT. – Aus Angst vor den Neidern habe er sich mit dem Gedanken getragen, seine ‚Alexandreis‘ zu vernichten oder erst nach seinem Tode erscheinen zu lassen, behauptet Walter von Châtillon in seinem Prosaprolog. Diese kleine Legende einer schwie29 30 31
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Zu Formen des Kontingenten schon bei Dante Stierle 2000. Stierle 1988, 111. Dass nur die morgendlichen Träume wahr sind, ist eine gängige antike Vorstellung. Sie wird mit Bezug auf die eigene Vision auch bei Dante reflektiert, vgl. ,Inferno‘, XXVI 7ff.: Ma se presso al mattin del ver si sogna, / tu [Fiorenza] sentirai di qua da picciol tempo / di quel che Prato, non ch’altri, t’agogna. (‚Aber wenn gegen Morgen hin die Träume wahr sind, wirst du in kurzer Zeit erfahren, was Prato, von anderen zu schweigen, dir wünscht.‘) Vgl. den Kommentar von Chiavacci Leonardi (Hg.), 768 zu 7. Die Dante-Philologie beurteilt die bisherigen Versuche skeptisch, die sich allerdings – abgesehen von Avalle 1966 (vgl. oben Anm. 16) – auf die (zu wenig signifikanten) Erwähnungen Alexanders in ,Inferno‘ XII 107 und XIV 31 konzentrieren; zusammenfassend hierzu s.v. Gualtiero di Châtillon (M. P. Stocchi), Enciclopedia Dantesca III, 293.
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rigen Publikationsentscheidung bringt sein Programm der imitatio unmissverständlich zum Ausdruck. Walter imitiert Vergil, der vorgehabt haben soll, seine unfertige ‚Aeneis‘ dem Feuer zu übergeben. Auf Vergils Beispiel stützt sich auch das Hauptargument, die Angst vor den Neidern, die im notorischen Bescheidenheitstopos nichts anderes als die Überzeugung formuliert, Großartiges geleistet zu haben. „Wenn nicht einmal Vergil, mit dem ich mich gar nicht vergleichen will, vor den Neidern sicher war, um wie viel weniger dann ich“ – hinter dieser Aussage steht eine mehr als schiefe Logik der gespielten Selbstbescheidung, denn warum sollte der bloß gute Epigone eher beneidet werden als sein besseres Vorbild? Zur aemulatio wird die behauptete imitatio über das Lob des gewählten Sujets. Zwar hat Walter seinen Meister in Vergil gefunden, dessen Meistersujet wäre freilich der Alexanderstoff und nicht die Aeneassage gewesen. Allein indem der Imitator ein Sujet gestaltet, an das sich seine Autoritäten allesamt nicht gewagt hatten, beginnt er über diese hinauszuwachsen. Dies ist kein neuer Gedanke. Schon Juvencus, poetologisch ebenfalls in der Nachfolge Vergils stehend,33 behauptet seinen Überbietungsanspruch mithilfe des Sujets: Wenn schon die trügerischen Lieder über die Taten der Alten den heidnischen Dichtern, namentlich dem Maro, beständigen Ruhm eingebracht haben, so werde ihm, Juvencus, der feste Glaube die Zier eines ewigen Lobes einbringen. Er nämlich singe von den lebensspendenden Taten Christi, und dieses Werk (das Heilswerk, aber zugleich wohl auch das poetische) werde auch der Brand am Ende der Zeiten nicht hinwegraffen.34 Selbst Otfrid von Weißenburg vermag auf diesem Weg die Autorität der (paganen) antiken Poesie hinter sich zu lassen: Auch wenn er sich bewusst ist, dass er in einer barbarischen, von den Zügeln der Grammatik ungebändigten Sprache dichtet (Widmungsbrief an Liutbert, Z. 58ff.), so übertrifft selbst der ungelenke fränkische Vers die ausgefeilte Kunst der Griechen und Römer, weil er Gottes Lob singt und seine Metrik im ästhetischen auch einen geistlichen Sinn erfüllt (Cur scriptor hunc librum theotisce dictaverit; I.1,31ff.). Nun wechseln freilich Juvencus und Otfrid nicht bloß das Sujet, sondern auch den generischen Modus. Die theologischen Regesten sind mit den mythologischen und historischen der vergilianischen Tradition aus christlicher Sicht bloß metaphorisch verwandt. Walter hingegen tritt über diese Tradition gerade nicht hinaus. Seine Orientierung an den alten Auto33 34
Zusammenfassend hierzu Kartschoke 1975, 32ff. Quod si tam longam meruerunt carmina famam, / Quae veterum gestis hominum mendacia nectunt, / Nobis certa fides aeternae in saecula laudis / Immortale decus tribuet meritumque rependet. / Nam mihi carmen erit Christi vitalia gesta, / Divinum populis falsi sine crimine donum. / Nec metus, ut mundi rapiant incendia secum / Hoc opus; ,Evangeliorum libri IV‘, Praefatio, 15-22, zitiert nach Kartschoke 1975, 56.
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ritäten ist nicht bloß formal-stilistisch gegeben. Und sein Anspruch, sie aufgrund der Exorbitanz des Sujets auch poetisch zu überbieten, kann sich nicht auf die Gewissheit stützen, dass ein allfälliger göttlicher Schiedsspruch gar nicht anders als für ihn entscheiden könnte, weil hier von vornherein mit ungleichen Federn gefochten wäre, da dem christlichen Dichter das Wort Gottes die Feder führt. Vergil bleibt das ganze Mittelalter hindurch jene Autorität, auf die sich imitatio und aemulatio antiker Epik in einem engeren sowie antiker Kunstfertigkeit und Gelehrsamkeit in einem weiteren Sinn beziehen.35 Unter anderem in diesem Bezug konkretisiert sich das komplexe Kontinuitätsverständnis des christlichen Mittelalters gegenüber der heidnischen Antike. Walter bringt diese Vergil-imitatio wieder auf das ursprüngliche Niveau zurück. Diese Tatsache ist für Bewusstsein und Selbstverständnis einer weltlichen Dichtkunst des Mittelalters signifikant und sie verdient das Interesse einer historisch perspektivierten Poetologie. Die Rücknahme der unter anderem bei Juvencus vollzogenen Überschreitung epischer Gattungsnormen im theologischen Sujet bedingt eine Verselbständigung der prononciert weltlichen imitatio: Zwar bleiben die heilsgeschichtlichen und theologischen Topoi präsent, doch werden sie dem antikisierenden Programm untergeordnet. Der immanenten Handlungsmotivation Alexanders entspricht eine Poetologie der Immanenz seitens des Textes, dem esperto del mondo entspricht eine poesia del mondo, die die Denkformen der Transzendenz so weit als möglich suspendiert und sie dort, wo ihnen nicht zu entgehen ist (etwa in der Höllenfahrt Naturas und im Vanitaskommentar zum Tod Alexanders), mit den Mitteln eines episch-mythologischen Apparats beziehungsweise mit dem Konzept einer fama aeterna umformuliert. Wie die mittellateinische erotische Poesie so bezeichnet Walters ‚Alexandreis‘ im epischen Register eine äußerste Möglichkeit mittelalterlicher weltlicher Literatur. Sie ist bloß im Freiraum poetischer Simulation gegeben und von diesem abgesichert. Wo dieses Terrain wieder verlassen wird, nämlich im Epilog, ist es nun Zeit für jene revocatio, von der eine genuin mittelalterliche Sujettradition erwarten ließe, dass sie schon viel früher gegeben würde. Die Absage an eine weltliche Dichtkunst gehorcht dabei derselben Dramaturgie des äußersten Moments wie die Weltabkehr eines anderen Autors, nämlich Wirnts von Grafenberg in Konrads von Würzburg ‚Der Welt Lohn‘. DURST UND DICHTUNG. – Juvencus und Otfrid verraten schon in ihren Proömien, wie sie die antike Epik überbieten können: nicht formalästhe35
Zusammenfassend hierzu s.v. Vergil (F. J. Worstbrock), VL 10, Sp. 247-284 und s.v. Vergilius, LAG, 662-669.
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tisch, wohl aber in der Weltmächtigkeit des Werks, von dem das epische Wort hier handelt. Diese Weltmächtigkeit bedeutet im geistlichen Sujet nichts anderes als Heilsmächtigkeit: Das epische Wort imitiert den Heilssinn, die poetische Praxis ist allegorisch-moralische und anagogische Arbeit am Seelenheil. Was auf dem stilistischen Terrain des buchstäblichen Sinns imitatio der antiken Vorbilder bleiben muss, kann auf der allegorischen Ebene zur überbietenden aemulatio geraten. Dies zeigt, wie dezidiert sich die christliche Poetologie des hermeneutischen Vorteils christlichtranszendenter Weltdeutung und Heilsgewissheit bewusst ist und wie prononciert sie ihn auch einzusetzen weiß. Gegen die antike Musenanrufung wird folgerichtig der christliche Inspirationstopos gesetzt. Juvencus wendet sich an den sanctificus Spiritus und an das Wasser des Jordans statt an die Musenquelle (‚Evangeliorum libri IV‘, Praefatio, 25ff.); Fíngar thínan dua anan múnd minan, heißt es bei Otfrid (Invocatio scriptoris ad deum; I.ii,3). Der von Gott geführte Griffel des christlichen Autors steht gegen den prekären mythologischen Apparat von Inspirationsgöttern, die – wie schon Hesiod zu berichten weiß36 – auch lügen können und die Boethius zufolge den wachen Geist des Philosophen, späterhin des Christenmenschen als scaenicae meretriculae („Theaterdirnchen“) mit der sirenenhaften Unvernunft ihrer Gesänge einnebeln.37 Der Status der Musen ist in der christlichen Dichtung ein prekärer geworden.38 Vor diesen Prämissen ist es umso auffälliger, wie lapidar und konventionell die ‚Alexandreis‘ mit der Musa beginnt: „Gesta ducis Macedum [...] Musa refer.“ Walters prätentiöses Stilideal deutet sich hier bloß in der Endstellung des Musennamens innerhalb der fünfversigen Periode an, mit der das Epos eröffnet. Im Lichte seiner Vergil-imitatio fällt auf, dass jenes Ich des Autors ganz verschwindet, das dem Proömium der ‚Aeneis‘ eingeschrieben ist (Arma virumque cano; Musa mihi causas memora; ‚Aeneis‘ I 1 und I 8). Freilich bleibt es nicht bei diesem, wie es zunächst scheint, ostentativ traditionellen Museneingang. Ihm folgt die Widmung an Erzbischof Wilhelm von Reims (1176-1202). Sie setzt mit der „At tu“-Formel zwar ebenfalls traditionell fort,39 formuliert dann aber doch erstaunlich neue Gedanken, die beides hinter sich lassen: sowohl das, was von der antiken, als auch das, was von der mittelalterlichen Tradition her zu erwarten wäre. Wilhelm wird nicht als geistlicher Würdenträger, sondern im imperialen Ornat porträtiert, als Nachfolger Wilhelms des Eroberers und als einer, 36 37 38 39
,Theogonie‘ 27: !"#$% &$'"$( )*++, +-.$/%. So die Vorwürfe der Philosophie gegen die Musen der Dichtkunst in der Eröffnungsszene der ,Consolatio‘ (I.i.p.). Ihnen stellt sie ihre wahren, philosophischen Musen gegenüber. Curtius 1993, 235; s.v. Musae, LAG, 407-409. Schon in Hesiods ‚Erga‘, die sich an seinen Bruder richten, findet sich dergleichen. Colker (Hg.) verweist für die ‚Alexandreis‘ auf Statius’ ‚Achilleis‘ I 14.
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der Reims nicht weniger Ehre eingebracht habe als die Waffentaten des Brennus, der im Jahr 390 Rom eroberte. Dass Wilhelms Regesten freilich anderer Natur sind, dokumentieren die Folgeverse: Die Philosophie selbst habe ihn gleich nach der Geburt als ihren Zögling aufgenommen und seine Brust der Lehre geöffnet, indem sie ihm den gesamten Helikon gewissermaßen einflößte (I 19ff.). Vom Feuer des Studieneifers durchglüht, habe er die geheimen Gründe erforscht: Huc ades et mecum pelago decurre patenti, Funde sacros fontes et crinibus imprime laurum Ascribique tibi nostram paciare camenam. (I 24ff.)40
Was als Widmung beginnt, liest sich am Ende als Beschwörung einer Epiphanie, der Epiphanie eines zum neuen Apollo mutierten Gönners, der der Muse des Dichters zu Hilfe eilen möge. Als nutrix Wilhelms erscheint die Philosophie; der Helikon, den sie ihm zuführt, ist damit offensichtlich nicht jener von Boethius’ scaenicae meretriculae, sondern der der philosophischen Musen, was dem gelehrten und historischen Anspruch des Epos angemessen ist. Wilhelm wird nicht als umsichtiger Theologe, sondern – was zu Walters Zeiten freilich noch nicht streng zu scheiden wäre – als Philosoph tituliert. Allerdings ergründet dieser Philosoph nicht die theologischen Geheimnisse, sondern die geheimen Gründe der Dinge hienieden: causas penetrare latentes (I 23). Dass hier jenes Vokabular vorweggenommen ist, dem wir im zehnten Buch bei Alexanders Antipodenfahrt wieder begegnen werden, ist kein Zufall. Und ebenso wie Alexander erobernd und erfahrend den Erdkreis penetriert, so betreibt auch Wilhelm seine Sache mit Feuereifer, auch wenn es das Feuer des Studiums ist (studii fornace; I 22). Offenbar ist es ein betont weltlicher Wissensdurst, der Wilhelm leitet, und es sind die Quellen des weltlichen Wissens, einer „immanenten“ Philosophie, die dieser neue Apollo Walter erschließen soll. Das Epos, das sich einem widmet, dem die Welt fortwährend zu klein wird, wendet sich somit gleich zu Beginn an eine autoritative Gönnerfigur, deren Interessen die Welt ebenso keine Grenzen zu setzen vermag; es eröffnet in einem dezidiert säkularen Modus und begibt sich poetologisch a priori auf den Boden von Welt und Weltlichkeit. Der Epilog bezeichnet daher füglich den Ort und den Moment, an dem der Austritt aus einer Welt vollzogen werden muss, die sich poetisch und poetologisch der Immanenz verschrieben hat. Und ebenso füglich vollzieht sich dieser Austritt im Modus der revocatio. Nach der Schilderung 40
‚Hier sei zugegen und durchlaufe mit mir das offene Meer, / lass die heiligen Quellen sich ergießen und drück den Lorbeer auf die Locken, / gestatte, dass dir unsere Kamöne [unsere Muse] zugeschrieben sei.‘
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III. Poetik der Immanenz
von Alexanders Tod, seiner provisorischen Grablegung in die kleine, doch marmorne Kammer zu Babylon und nach dem Ausblick auf die Überführung seiner Leiche in das monumentale Mausoleum zu Alexandria schließt die ,Alexandreis‘ mit der alten epischen Formel des zur Neige gehenden Tages: Sed iam precipiti mersurus lumina nocte, Phebus anhelantes conuertit ad equora currus. Iam satis est lusum, iam ludum incidere prestat. Pyerides, alias deinceps modulamina uestra Alliciant animas. alium michi postulo fontem, Qui semel exhaustus sitis est medicina secundae. (X 455ff.)41
Die Verse beschließen keinen gewöhnlichen Tag. Es ist nicht bloß der letzte Tag Alexanders, sondern auch der letzte des Buchs. Der Abschied der epischen Stimme aus der poetischen Welt wird mythologisch beschrieben. Mit dem Sonnengott löscht auch der Dichter, als Jünger ebendieses Phoebus, die Lichter seiner Dichterstube und verabschiedet seine Musen. Zusammen mit dem Buch bleiben sie im Dunkeln zurück, solange wenigstens, bis einer, ein Leser etwa, kommt, Licht macht, und das Buch an sich nimmt. Der Abgang des Dichters ist freilich einer für immer. Er formuliert sich nach dem bekannten Schema der conversio: Zu einer anderen Quelle wird er wandern, zum wahren Helikon, der den durstigen Geist für immer stillen wird. Im Aspekt der Endgültigkeit, mit der dieses Bekenntnis abgelegt wird, erscheint die Zeit, die an der Quelle der Musen verbracht ward, als Lebenszeit gedacht, mit dem Werk scheint der Dichter selbst an das Ende seines Lebens gekommen. Auch der conversio, die Walters „Musenabrufung“ beschreibt, ist ein biographisches Kalkül eingeschrieben, das uns an jene Verläufe erinnert, denen wir in der Autorgestalt Wirnts von Grafenberg aus Konrads Weltnovelle und in den Weltliedern Walthers von der Vogelweide begegnet sind. Das dichterische Leben, die dichterische Arbeit wird als ludus bezeichnet, als ein unernstes Spiel, das sich betreiben lässt, solange die Schwelle noch nicht erreicht ist, an der der Ernst der Transzendenz hereinzubrechen droht. Der dem poetischen Spiel ergebene Dichter gibt vor, erst hier zu bemerken, dass es nicht das lebendige Wasser war, das er von der Musenquelle getrunken hat. Hier erst erkennt er sich als ein zweiter Tantalos, dessen Durst – ähnlich dem seines Helden – an dieser immanenten Quelle nicht zu stillen ist. Und mit diesem Be41
,Aber um bei hereinbrechender Nacht die Lichter zu löschen, / wendet Phoebus das ausschnaubende Gespann zum Meere hin. / Schon genug ist gespielt, schon ist es besser, das Spiel abzubrechen. / Pieriden, andere Seelen mögen hinfort eure Töne / verlocken. Mich verlangt es nach anderer Quelle, / die – wenn man einmal nur trinkt – heilend den zweiten Durst auch stillt.‘
1. Dichtung als Weltwerk: Walters von Châtillon ,Alexandreis‘
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kenntnis verwandelt er sich in jenen Christenmenschen, den er die ganzen zehn Bücher hindurch weitgehend vergessen hat lassen. Seine Rettung findet er am wahren Helikon, am lebendigen Wasser, das Christus ihm reichen wird. Hier stillt er jenen Weltdurst, der bei seinem Protagonisten nur mit dem Gifttrank zu stillen ist: Crescit auara sitis iuueni, sed potio tantam / Comprimet una sitim; (X 200f. ,Es wächst der gierige Durst dem Jüngling, aber der eine Trank – das Gift nämlich – wird ihn tilgen.‘). In den prekären verbalen Analogien zwischen der Quelle des Heils und dem Trank des Verderbens, die gleichermaßen den Weltdurst stillen, wird der aparte Reiz augenfällig, der Walters Manierismen auszeichnet. DIE TRÜGERISCHE QUELLE: VERGNÜGEN DES LESERS UND RUHM DES DICHTERS. – Die Regie der conversio, die Walters Epilog formuliert, folgt dem bewährten und eingespielten Muster von Lebenszeit und Kairos der Umkehr. Die Musenabrufung steht außerhalb jener Tradition, der sich das Epos verschrieben hat. Mit der konstruierten Opposition zwischen einem falschen und einem wahren Helikon greift es auf eine typologisierende Mythenallegorese zurück, die von den christlichen Apologeten kultiviert wurde42 und auf die in der christlichen Epik mitunter rekurriert wird, wenn sich beispielsweise Juvencus vom heiligen Geist das Wasser des Jordan statt jenes der Quelle am Helikon erhofft. Dabei zeigt Walters Epilog gerade im topischen Gestus der conversio, dass die transzendente Perspektive dem Epos äußerlich bleibt. Er dokumentiert die Weltlichkeit des Sujets, der poetischen Gestaltung und der poetologischen Konzeption. Seine Musenabrufung reflektiert zwar die Denkformen des contemptus mundi oder neutraler gesagt: die Divergenz von geistlicher und weltlicher Dichtung, formuliert sie aber auf einen spezifischen Zweck hin: Das eben zu Ende gebrachte Werk präsentiert sich als ludus, der sich der Immanenz verschrieben hat. Der Begriff des Spiels impliziert dabei das Eingeständnis der Nebensächlichkeit und Defizienz. Die bekannten Topoi der revocatio werden aufgerufen: Im Abend, der innerhalb der poetischen Welt hereinbricht, ist der Lebensabend des Autors mitgedacht, das poetische Werk repräsentiert ein verbrachtes Leben in der Immanenz, mit dem Epilog ist der Moment gekommen, an dem der Autor Abschied nicht nur vom Werk, sondern von der Welt als gesamter nimmt. Dichtung symbolisiert als imaginierte, mimetische Konstruktion von Welt zugleich die Flüchtigkeit des Diesseitigen. Nicht zuletzt die mythologischen Bilder – Phoebus und Helikon – nehmen der Abkehr aber die kon42
Ein eingängiges Beispiel gibt die typologische Differenzierung des falschen und des wahren Orpheus, nämlich Orpheus und Christus, in der ‚Exhortatio ad Graecos‘ Klemens’ von Alexandria (um 200, I.1,3f.); hierzu LAG, Einleitung XI.
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III. Poetik der Immanenz
temptorische Schärfe. Sie formuliert sich im melancholischen Ton eines Abschieds, dessen mythologische Bildlichkeit das Verabschiedete präsent hält. Die besondere Ironie dieses Epilogs besteht freilich darin, dass jenes Werk, das der Dichter eben hinter sich gebracht hat, dem Leser als Aufgabe zugedacht wird, die er nicht überspringen kann. Erst wenn er sie ebenso zu Ende gebracht hat wie jener, kann er ihm zur wahren Quelle folgen: So lässt sich jedenfalls die abermalige Adresse an den ersten Rezipienten, an Erzbischof Wilhelm von Reims, lesen. Wie im Proömium wird sie mit einem „At tu“ eingeleitet. Die adversative Konstruktion scheint von vornherein ein Missverständnis darüber ausschließen zu wollen, dass der Leser etwas anderes zu tun habe als der Dichter: Wilhelm soll das sorgfältig geschaffene Werk entgegen nehmen und sich nicht dagegen wehren, die heilige Mitra mit dem Efeu des Dichters zu verbinden (hanc uatis circum tua timpora sacrae / Non dedigneris ederam coniungere mitrae; X 464f.). Dem ersten Leser wird das Werk anempfohlen. Bevor er das Spiel sein lässt, hat er es erst zu spielen. Dem ist ein Versprechen beigegeben, das Walters Konzilianz gegenüber dem mundus noch einmal dokumentiert und den immanenten Zweck der Dichtung gegen ihre transzendente Verabschiedung, als nun wirklich letztes Wort, ins Recht setzt: Nam licet indignum tanto sit presule carmen, Cum tamen exuerit mortales spiritus artus, Viuemus pariter. uiuet cum uate superstes Gloria Guillermi nullum moritura per euum. (X 466ff.)43
Die Stimme des Epikers kann es nicht lassen: Nicht genügt es ihr, dass der Geist nach dem Tode in die Ewigkeit christlicher Transzendenz eintrete. Sie will sich ebenso in die Welt hienieden einschreiben. Bestand und Leben im flüchtigen Diesseits, dieses paradoxe Versprechen gibt dem Dichter wie dem Gönner das Werk. Dem ewigen Ruhm Alexanders, dem vorzüglichen Sujet, entspricht der ewige Ruhm des Liedes über ihn. Sie bedingen sich gegenseitig. Mit dem Protagonisten schreiben sich Autor und Gönner/Leser, der gefälligerweise einbezogen wird, ein in die diesseitige Zeit. Was eigentlich keinen Bestand hat, die vana gloria mundi, gerinnt im Epos zur fama aeterna. Sie wird durch und als dieses zum monumentum aere perennius. Ihr ist im letzten Vers der ‚Alexandreis‘ nicht einmal (oder wenigstens nicht dezidiert) die Grenze alles Zeitlichen gesetzt: gloria moritura nullum per euum.
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,Denn mag dies Lied einem solchen Bischof auch nicht würdig genug sein – / wenn der Geist die sterblichen Glieder verlassen wird haben, / leben wir dennoch weiter. Leben wird mit dem Sänger / Willhelms dauernder Ruhm, durch kein Zeitalter wird er vergehen.‘
2. Welt und Unruhe im Tristanroman: Gottfried von Straßburg und Heinrich von Freiberg UNMÜEZEKEIT. – Die ‚Alexandreis‘ Walters von Châtillon stellt im Proömium, im vanitas-Thema des zehnten Buches und in der Musenabrufung des Epilogs eine unmittelbare Korrespondenz zwischen ihrem weltlichen Sujet und ihrer weltlichen Poetologie her. Entsprechende Analogisierungen begegnen auf anderem stofflichen und intertextuellen Terrain auch in der weltlichen Dichtung der mittelalterlichen Volkssprachen. In den Weltliedern Walthers von der Vogelweide und in Konrads von Würzburg Weltnovelle etwa wird weltliches Dichten explizit als eine problematische diesseitige Übung begriffen. In beiden Fällen manifestiert sich der Zustand der Weltverfallenheit im lyrischen Singen oder im Lesen von Literatur. Walthers lyrische persona schwört seiner Liebeslyrik ab, bei Konrad findet Wirnts Begegnung mit Frau Welt im offenbar kritischen Moment der Lektüre eines abenteuerlichen Liebesromans statt. Dass das Verhältnis von Dichtung und Welt grundsätzlich als Verhältnis einer schwierigen Affinität gedacht wird, mag darin gründen, dass beidem eine eigentümliche Flüchtigkeit zukommt, in der zugleich ihre Attraktivität besteht. Weltliche Dichtung ist allgemein gesagt die mimetische Repräsentation des Diesseitigen im imaginativen Modus der poetischen Konstruktion. Wenn es die Verschränkung von Eros und Poiesis, die Relationen zwischen vanitas-Allegorie und Minneherrin, Weltliebe und weltlicher Liebe sind, die den poetischen Vergänglichkeitsdiskurs des Mittelalters auszeichnen, dann verspricht der Tristanroman die verfänglichste Umsetzung dieser Grundkonstellation. Gedenkt man ir ze guote niht, von den der werlde guot geschiht, sô wære ez allez alse niht, swaz guotes in der werlde geschiht. Der guote man swaz der in guot und niuwan der werlt ze guote tuot, swer daz iht anders wan in guot vernemen will, der missetuot. [...] Trîbe ich die zît vergebene hin, sô zîtec ich ze lebene bin sone vare ich in der werlt sus hin, niht sô gewerldet alse ich bin.
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Ich hân mir eine unmüezekeit der werlt ze liebe vür geleit und edelen herzen zeiner hage: den herzen den ich herze trage, der werlde in die mîn herze siht.1
Die Evidenzen, die sich aus Statistiken ablesen lassen, sind üblicherweise prekär. Auch wenn sie tatsächlich jenen Geist der Empirie verkörpern würden, der in den hermeneutischen Disziplinen immer wieder als das Ersehnte beschworen wird, wären sie als literaturwissenschaftliche Instrumentarien nur mäßig geeignet. Der Begriff „Welt“ ist jedoch zweifellos ein Leitwort im strophischen Prolog von Gottfrieds ‚Tristan‘ (und darüber hinaus, bis etwa Vers 70), nicht bloß wegen der Häufigkeit seines Vorkommens, sondern auch wegen der klanglichen Präsenz, die sich daraus ergibt. Weitere Leit- oder Titelworte der folgenden Abschnitte sind sene (71-130; als Wort für das Sujet), rihte (131-167; für die adäquate narrative Repräsentation), lieben (168-221; für das wirkungsästhetische Programm – die richtig erzählte Geschichte macht den Rezipienten Liebe, Tugend usw. lieb), und schließlich ir [Tristans und Isoldes] tôt und unser leben (222-242; gleichsam als der den Rezipienten versprochene Gewinn aus der Lektüre).2 Wenn Folge und Verteilung dieser Leitbegriffe etwas besagen, so dies, dass der Text an seiner Welthaltigkeit und Weltbezogenheit gleich zu Beginn keinen Zweifel aufkommen lässt. Neben dieser Programmatik erzeugen die Wiederholungsverfahren eine Sprachmelodie, die eine gleichsam meditative Lektüre zu empfehlen scheint, wie dies Eckart Conrad Lutz angedacht hat.3 Man könnte auch von einer narkotisierenden Wortästhetik sprechen, die das, was bedeutet wird, allerdings weniger kaschiert, als eben zu ästhetischer Präsenz führt.
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Gottfried von Straßburg: ,Tristan‘ 1-8, 41-49. ,Gedenkt man ihrer nicht im Guten, / von denen der Welt Gutes geschieht, / so wäre alles gleich nichts, / was Gutes in der Welt geschieht. // Der gute Mensch, was der im Guten / und der Welt allein zu Gute tut, / wer dies anders als im Guten / vernehmen will, der handelt falsch. // [...] Wenn ich die Zeit nutzlos vertreibe, / solange meine Lebenszeit bemessen ist, / so verbringe ich mein Leben in der Welt / nicht in der Weise eingeweltet, wie ich es bin. // Ich habe mir eine Beschäftigung / der Welt zu Liebe auferlegt / und edlen Herzen zum Gefallen: / jenen Herzen, denen mein Herz gehört, / jener Welt, in die mein Herz zu blicken weiß.‘ Von den Leitwörtern im ,Tristan‘-Prolog handelt bereits Albrecht Schöne (1955). Meine Listung beansprucht weder Vollständigkeit, noch will sie eine eindeutige Verteilung oder eine gültige Gliederung des Prologs behaupten. Lutz 2002. Unter dem Begriff der meditativen Lektüre versteht Lutz eine Leseweise, die an die geistliche Lesekultur angelehnt ist (hierzu Illich 1991). Sie hat eine hermeneutischinterpretative Dimension, die sich in der Applikation der entsprechenden mehrfachen Sinnunterlegung ausdrückt, und eine im engeren Sinn meditative. Beides zielt auf eine correctio morum oder, wie es im ‚Tristan‘ heißt, auf das Erlernen von moraliteit (8023); vgl. ebd., bes. 300f.
2. Welt und Unruhe im Tristanroman
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Schon der strophische Prolog positioniert das Werk jedenfalls inmitten der Welt, es ist zweifellos Teil jenes Guten, das mit Kunst und Kunstvermögen in und für die Welt betrieben werden soll. Folgerichtig versteht sich die Autorstimme als jemand, der – in Kenntnis seiner Zeitlichkeit und seiner bemessenen Lebenszeit – in die Welt eingeboren ist. Von besonderer Signifikanz ist in diesem Zusammenhang Gottfrieds Neologismus vom gewerldet-Sein (44, wiederholt in Vers 65). Der Begriff verschränkt offensichtlich Weltleben und Verantwortlichkeit, aus denen wiederum aktive Tätigkeit – von Gottfried bloß ex negativo als unmüezekeit benannt – resultiert. Ihr geht nebenbei bemerkt ein kontemplativer Akt voraus, nämlich die Einsicht in diese Welt, die nicht bloß verstandesmäßige, sondern emotionale Beteiligung erfordert und daher vom Herzen als dem entsprechenden „Sinnesorgan“ geleistet wird: der werlde in die mîn herze siht (49). Die hermeneutische Reichweite der weltbezogenen unmüezekeit, der sich der Autor verschrieben hat, ist denkbar umfassend. Zunächst zählt Beschäftigung zu den erfolgversprechenden remedia gegen die Liebespassion, wie sie schon Ovid in seinen „liebestheoretischen“ Schriften empfiehlt.4 Dass der Prolog des ‚Tristan‘ diese „klinische“ Wirkung im Sinn hat, belegt die folgende Diskussion über den Nutzen der spezifischen Beschäftigung, die hier vorgeschlagen wird: der Lektüre von seneden mæren (97ff.). Den Einwand, dass die Liebesgeschichte das Liebespathos gerade anfache, der liebespathologische Zustand also eine Kontraindikation des empfohlenen Lektüreprogramms wäre, dem würde der Autor an sich zustimmen; doch sei es eben so, dass dieses Leiden zugleich einen besonderen Genuss bedeute, dass es zelebriert werden wolle; es sei Teil seiner Linderung. Und es führe dazu, dass daz edele herze erst im senemære so richtig geherzet wird – es kommt in ihm erst zu sich (117f.). Die Parallelität der Begriffe geherzet und gewerldet ist evident. Sie behauptet eine absolute Affinität zwischen Autor, Geschichte und Rezipienten, die Geschichte bildet gleichsam deren Herzstück, und sie entpuppt sich als identisch mit der Welt, der sich das edle Herz „einwelten“ muss. Der ovidianischen Heiterkeit und Ironie dieser remedia-Rhetorik steht eine sakrale Emphase entgegen, die auf die eucharistische Brotmetaphorik am Ende des Prologs vorausweist. Rechtes gewerldet-Sein verpflichtet zur vita activa im Zeichen des senemære. Nur so wird die bemessene Lebenszeit sinnvoll zugebracht. Unmüezekeit bezeichnet unter dieser Perspektive eine 4
Krohn (Hg.), Kommentar zu 81ff., 29 verweist auf Ovids ,Remedia Amoris‘ 136ff. Ovid empfiehlt hier eine geistige Ablenkung, eine Konzentration auf Nicht-Erotisches, wie sie bei Gottfried gerade nicht intendiert ist. Vielmehr scheint mit unmüezekeit an jene Kultiviertheit und kultivierte künstlerische Praxis gedacht, zu der Ovid die Liebenden (in diesem Falle die puellae) verpflichtet, wenn sie denn in Liebesdingen Erfolg haben wollen (,Ars amatoria‘ III 311ff.).
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essentielle und existenzielle poetische Unruhe. Und es sieht ganz so aus, als wäre sie als Gegenbegriff zur Todsünde der acedia konzipiert. EIN ANDER WERLT. – Die Geschäftigkeit des Autors, sein Interesse und seine Beteiligung gelten nun freilich nicht der gemeinen Welt, einer Welt aller, sondern richten sich auf ein ander werlt, auf eine besondere Welt, die von der Gemeinde der edelen herzen gebildet wird. Obwohl diese Welt gerade nicht die Welt in ihrer Gesamtheit repräsentiert, ist es die Gesamtheit der Erfahrung, die sie auszeichnet. Die Welt, der die Rede des Autors gemäß (ebene; 56) ist (und umgekehrt), ist eine, diu sament in eime herze treit ir süeze sûr, ir liebez leit, ir herzeliep, ir senede nôt, ir liebez leben, ir leiden tôt, ir lieben tôt, ir leidez leben. dem lebene sî mîn leben ergeben, der werlt wil ich gewerldet wesen, mit ir verderben oder genesen. (59-66)5
Die umfassende Qualität dieser „anderen Welt“ wird mit entsprechenden rhetorischen Mitteln konstruiert: Antithese, Chiasmus und Paradoxon arbeiten gemeinsam an einer Spracharchitektur, die die intendierte Totalität eines exklusiven mundus perfectus adäquat repräsentieren soll.6 Hier bleibt keine Lücke. Wie schon in den ersten Versen verantwortet nicht nur die copia verborum, die pleonastische Verdichtung der Leitbegriffe, sondern auch ihre klangliche Dimension, ihre spezifische Melodie die suggestive Wirkung der Konstruktion. Narkotisierend ist sie wiederum insofern, als sie alles andere aus dem Blick nimmt. Die sprachlich-rhetorische Dramatisierung entspricht dem radikalen Gestus, mit dem sich der Autor seiner Welt ausliefert: Mit ihr will er untergehen oder gerettet sein. In diesen Worten deutet sich ein Gedanke an, der in den folgenden Versen bloß implizit weitergeführt wird, nämlich in welchem Verhältnis die „Anderwelt“ nicht zur „Allerwelt“, sondern zu jenem Bereich stünde, der ihr jenseitig ist: zur Transzendenz. Dies umso 5
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[Ich meine eine andere Welt,] ‚die zugleich in ihrem Herzen / ihre bittere Süße und ihr liebes Leid (er)trägt, / das, was ihr von Herzen lieb ist, ihre Liebesnot, / ihr liebes Leben, ihren leidvollen Tod, / ihren lieben Tod, ihr leidvolles Leben. / Diesem Leben will ich mein Leben widmen, / dieser Welt will ich eingeweltet sein, / mit ihr zugrunde gehen oder gerettet werden.‘ Gottfried spinnt hier offensichtlich Gedanken weiter, die Thomas im Epilog seines ,Tristan‘ entwickelt: Schon dort verbindet sich der Aspekt einer remedialen Wirkung der Liebesgeschichte mit der Idee einer inklusiven, Leid und Freude umfassenden Welt der Liebenden, an die sich der Roman exklusiv richtet (Tumas fine ci sun escrit: / A tuz amanz saluz i dit); vgl. Manuscrit Sneyd 2 (Oxford, Bodleian Library, French d 16, fol. 17ab), 38ff., in: Tristan et Iseut, 480. Hierzu u.a. Wyss 2002, 332.
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mehr, als Gott bei der Charakterisierung der gemeinen Welt durchaus ins Spiel kommt: Sie, die bloß auf Freude aus sei, möge er auch in Freuden leben lassen, heißt es mit lapidarer Ironie (53f.). Offenbar ist es die „Anderwelt“, die Gottes Urteilskraft verdient – während sie an der „Allerwelt“ bloß verschwendet wäre. Neuerlich fällt der Begriff der „Eingemeindung“ in diese Welt und es wird präzisiert, wozu gewerldet-Sein verpflichtet: Der „Anderwelt“ gilt die unmüezekeit des Autors, sein Wirken im Zeichen einer Tugend, die gegen das Laster der acedia gestellt ist, und im Zeichen einer poetischen Heilkunst, die jenes Leid lindern will, an der die „Anderwelt“ laboriert. Dass sie an ihm krankt, wäre schon zu viel gesagt. Denn da das Leid integraler Bestandteil des gemeinten Weltlebens ist, kann es keine Störung bedeuten, sondern entspricht vielmehr dem Wesen der Anderwelt. Die unmüezekeit des Autors zielt folgerichtig nicht auf eine Beseitigung, sondern auf eine gleichsam kathartische Klärung des Leids.7 Das Paradox wird mit den Versen verständlich, die die Rezeptur des angebotenen „Remediums“ preisgeben: diz leit ist liebes alse vol (115). Liebe und Leid sind eben nicht zu trennen, sondern die beiden Ingredienzien einer umfassenden Welterfahrung. Dies zur Anschauung und eben zur Klärung zu bringen, ist das senemære da. Die Sphäre, in der die gemeinte Welt zu sich kommt, ist somit eine poetische. Im senemære ist die Gemeinschaft der edlen Herzen exemplarisch repräsentiert. Die Geschäftigkeit des Autors widmet sich dieser exemplarischen Repräsentation, die sich wiederum in zwei e d e l e n senedæren verkörpert: Tristan und Isolde. Sie haben jene Totalität der Erfahrung gelebt, die das gewerldet-Sein in der Anderwelt ausmacht: Ihre Aretalogie (211ff.) liest sich folgerichtig wie die Wiederholung der zitierten Weltbeschreibung und operiert mit denselben rhetorischen Kunstgriffen: uns ist noch hiute liep vernomen, süeze und iemer niuwe, ir inneclîchiu triuwe, ir liep, ir leit, ir wunne, ir nôt. (218ff.)8
Dass es ein und dieselbe Welt ist, in der Autor, Rezipienten und Protagonisten sich treffen, erweist sich in der doppelten Lesbarkeit des Possessiv7
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Ich beziehe mich hier auf die Deutung des Katharsis-Begriffs als Klärung, als exemplarische Zurschaustellung und Aufklärung des anvisierten „Problems“, wie sie Eugen Dönt (2003) vorgeschlagen hat. Man könnte auch auf den Begriff der „Läuterung“ zurückgreifen, den Gottfrieds Roman selbst sowohl im Sinne des Sujets als auch im Sinne der Poetologie gebraucht; vgl. für das Sujet 8265 (diu lûtere, diu liehte Îsolt) sowie 8294f. (der Îsôte under ougen siht, / dem lûtertz herze unde muot), für die Poetologie das „geläuterte“ Wort, das Hartmanns Dichten auszeichne (4626), und die Läuterung des Worts im Schmelztiegel der Kunst vom Helikon (4860ff.), dort allerdings ohne Nennung des Begriffs. ‚Sie zu vernehmen ist uns noch heute lieb, / süß und immer neu: / ihre innigliche Treue, / ihre Liebe, ihr Leid, ihre Wonne, ihr Unglück.‘
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III. Poetik der Immanenz
pronomens „ir“, das sich auf ein ander welt ebenso beziehen lässt wie auf Tristan und Isolde – eine wirklich günstige Fügung der Grammatik, denn so kann man die beiden Liebenden schon zu einem Zeitpunkt mitgemeint sehen, an dem ihre Namen noch nicht einmal gefallen sind (nämlich in den oben zitierten Versen 59ff.). Tristan und Isolde repräsentieren in exemplarischer Weise die „Anderwelt“. Dies bringen die berühmten Schlussverse des Prologs unmissverständlich zum Ausdruck. Die poetische Vergegenwärtigung, ja Beschwörung ihrer Präsenz trachtet danach, die Grenze ihres Todes aufzuheben. Dies greift wohl auf den entsprechenden Gedanken in Hartmanns ‚Iwein‘-Prolog (48ff.) zurück. Dessen paradoxe Behauptung ist bekanntlich die, dass die ästhetische Darstellung einer auch hier als ideal begriffenen „Vor-Welt“ dem tatsächlichen Leben in dieser vorzuziehen sei. Im ‚Tristan‘ radikalisiert sich diese Programmatik weniger in einer gedanklichen, als in einer metaphorischen Überbietung, im Rückgriff auf die sakrale, eucharistische Bildlichkeit vom „Brot des Lebens“, das der charismatische Tod der beschworenen Liebenden jenen verspreche, die noch in ihrer Gemeinschaft leben. Dass die Rezipienten zu der vergleichsweise geringen Anstrengung verpflichtet sind, Herz und Ohren der Geschichte zuzuwenden, ist billig. Auch dies im übrigen eine Referenz zum ,Iwein‘ (249ff.), zu jener Stelle, an der Kalogreant am Artushof seine Zuhörer dazu auffordert, ihm nicht nur ihr Ohr, sondern auch ihr Herz zu leihen, da seine Erzählung vergebene Mühe sei, wenn sie nicht das Herz erreiche. ir tôt muoz iemer mêre uns lebenden leben und niuwe wesen; wan swâ man noch hœret lesen ir triuwen, ir triuwen reinekeit, ir herzeliep, ir herzeleit, Deist aller edelen herzen brôt. hie mite sô lebet ir beider tôt. wir lesen ir leben, wir lesen ir tôt, unde ist uns daz süeze alse brôt. Ir leben, ir tôt sint unser brôt. sus lebet ir leben, sus lebet ir tôt. sus lebent si noch und sint doch tôt, und ist ir tôt der lebenden brôt. Und swer nu ger, daz man im sage ir leben, ir tôt, ir fröude, ir klage, der biete herze und ôren her: er vindet alle sîne ger. (228-242)9
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‚Ihr Tod muss für immer / uns Lebenden lebendig und gegenwärtig sein. / Denn wo immer man / ihre Treue, die Reinheit ihrer Treue, / ihre Herzensliebe und ihr Herzensleid lesen hört, / das ist das Brot aller edlen Herzen. / Auf diese Weise lebt ihr beider Tod
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Hinzuweisen ist neuerlich auf die Totalität des von Tristan und Isolde gelebten Lebens (oder auch Todes) und auf die ästhetische Wirkung, die Rhetorik und Wohlklang erzeugen. Gut erkennbar ist die strategische Identifizierung zwischen Liebenden und „Anderwelt“, die vom inklusiven Pronomen ir geleistet wird. Die Konzentration auf die Exemplarität Tristans und Isoldes verantwortet zwar zunächst die Scheidung dieses ir vom uns, das die Gemeinde der edelen herzen bezeichnet. Mit Vers 238 wird aber ein signifikanter Wechsel von der ersten Person des Plurals in die dritte Person des Plurals vollzogen: ir tôt ist nicht mehr „unser“, sondern der lebenden brôt. Der Wechsel der Person lässt die folgenden Possessivpronomina wiederum inklusiv werden, er identifiziert im Finale die beiden Exempelgestalten mit der in ihnen repräsentierten Welt und deren Bewohnern, den noch lebenden edlen Herzen, die man im ir der folgenden Verse mitlesen könnte. Wie sich die parareligiöse Dimension, die mit der biblischen und eucharistischen Metaphorik um Brot, Tod und Leben zweifellos gegeben ist, neben oder gar gegen das realtheologische Erlösungswerk Christi stellt, muss hier nicht weiter diskutiert werden.10 Zwei wesentliche Differenzen seien festgehalten: Zum einen ist die Brotmetaphorik im ‚Johannesevangelium‘ (6,22-59) nicht dezidiert mit dem Kreuzestod gekoppelt, wenngleich Vers 6,52 (et panis quem ego dabo caro mea est pro mundi vita) sowie die hinzutretende Metaphorik vom Trinken des Blutes natürlich auf ihn verweisen und im eucharistischen Sakrament beides verbunden ist. Zum anderen praktizieren – und das ist wohl der gewichtigere Unterschied – Tristan und Isolde kein bewusstes Erlösungswerk. Im Zusammenhang mit dem vanitas-Problem entscheidend ist allerdings, dass der Tod der beiden Liebenden kein Bild des Verfalls und der Eitelkeit abgibt, sondern Intaktheit und Bestand jener Welt garantiert, an die sich der Roman wendet. Diese Welt aber gehört, auch wenn sie ein ander werlt sein soll, dennoch der Sphäre der Immanenz an. Die Analogisierung des Lebens und Sterbens von Tristan und Isolde mit dem transzendenten Erlösungswerk Christi zielt folgerichtig nicht auf eine Kontrastie-
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fort. / Wir lesen ihr Leben, wir lesen ihren Tod, / und dies ist uns süß wie das Brot. / Ihr Leben, ihr Tod sind unser Brot, / somit lebt ihr Leben, somit lebt fort ihr Tod. / Somit leben sie noch, obwohl sie tot sind, / und ist ihr Tod das Brot der Lebenden. / Und wer nun danach verlangt, dass man ihm / ihr Leben, ihren Tod, ihre Freude, ihre Klage erzähle, / der sei mit Herz und Ohren anwesend. / Er findet all sein Verlangen erfüllt.‘ Für die jüngere Forschungsdiskussion sei auf Wachinger 2002 und auf Lutz 2002 verwiesen. Wachinger tendiert zu einer pragmatischen Deutung im Sinne eines poetologischen Überbietungsgedankens. So innovativ wie erhellend ist der rezeptionsästhetischprogrammatische Akzent, den Lutz auf die Stelle legt. Er sieht seine These vom Konzept einer meditativen, an den geistlichen Lesemodus angelehnten Lektüre, die Gottfried vorschwebe, in der sakralen Analogie verifiziert (vgl. oben Anm. 3).
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III. Poetik der Immanenz
rung von Immanenz und Transzendenz, sondern auf eine finale Abgrenzung der „Anderwelt“ von der „Allerwelt“. Der Prolog des Romans entwickelt somit das Modell einer sozusagen gespaltenen Immanenz. Die zweite Welt, die ihm als die seine, als die eigentliche vorschwebt, wird dabei der Sphäre der Transzendenz so weit als möglich angenähert. Im Sinne ihrer Exemplarität und Idealität ist sie dem Zeitlichen enthoben. Zugleich ist diese exklusive Welt um nichts weniger eingebettet in die inklusive und defiziente Welt aller, in der der Tod gerade nicht Leben spendet. Dieses Paradox aber ist Gegenstand, Problem und Arbeit der Romanhandlung selbst.11 Dass es ein Paradox des Sujets wie der Poetologie darstellt, lässt sich mit Blick auf Roland Barthes’ Ausführungen zum „Dilemma zwischen Werk und Welt“ verdeutlichen: Sowohl der Prozess des Schreibens als auch der poetische Entwurf setze einen Akt der Distanzierung (oder eben eine „Separation“) voraus, die Abwehr des Kontingenten, einer störenden Welt und die Abwehr dessen, was sich nicht in die poetische Konstruktion fügt. Zugleich – und deshalb handle es sich um ein Dilemma – sei die Heimsuchung durch die Welt für das Werk notwendig, es konstituiere sich erst aus den beiden isomorphen Kräften („deux forces isomorphes“), dem Rückzug von der Welt und der Begierde nach Welt („retraite“ und „concupiscences“).12 Das produktionsästhetische Dilemma spiegelt sich dabei im Werk selbst wider. Im Tristanroman zeigt sich dies an der schwierigen Affinität, die Tristan und Isolde ihrer Außenwelt, der Welt des Hofes, entgegenbringen. Denis de Rougemont hat dieses Phänomen der Affinität im übrigen in der luziden Beobachtung auf den Punkt gebracht, dass es die Liebenden selbst seien, die sich ihre Hindernisse und Schwierigkeiten erzeugen (müssen).13 Die aus diesem Dilemma folgende poetologische Devise aber lautet nach Barthes „Seconder le monde“: Seconder le monde veut dire diriger l’œuvre vers la présence du monde, faire le monde coprésent à l’Œuvre: le monde, c’est-à-dire en somme tout ce que j’ai dit comme étant les obstacles temporels à l’ecriture: la société, le mondain, les concupiscences, l’amour, la norme.14 11
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Zur Divergenz von Zeitlichkeit und Zeitenthobenheit, die den Roman kennzeichne und in der Minnegrotten-Episode in einer temporären „Jederzeitlichkeit“ zu fassen sei, J.-D. Müller 2002, vgl. ders. 2003, 222f.; zu „Zeitmessung“ und Definitionsmacht von Zeit StörmerCaysa 2001, die dem Roman einen „nicht nur ästhetischen, sondern auch theoretischen Vorzug“ (65) in der mittelalterlichen Arbeit am Zeitproblem zuspricht. Barthes 2003, 268ff., der Begriff „le dilemme ,Monde/Œuvre‘“ auf Seite 268. De Rougemont 2004, bes. 43f. Auch dies gilt ebenso im poetologischen Sinn: ohne Hindernis keine Liebespassion, ohne Widerspruch kein Roman (ebd., 37). Barthes 2003, 273f. ,Die Welt an zweite Stelle setzen will sagen: das Werk gegen die Präsenz der Welt zu richten, und die Welt zum/im Werk ko-präsent zu machen: die Welt, das ist in Summe alles das, was ich als zeitliche Hindernisse gegen das Schreiben nannte: die Gesellschaft, das Mondäne, die Begierden, die Liebe, die Norm.‘
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Diese Sätze beschreiben gut jene poetologische Programmatik, die sich hinter der Idee einer „Anderwelt“ im Prolog von Gottfrieds ,Tristan‘ verbirgt, und sie lassen sich – mutatis mutandis – auch auf den innerpoetischen Konflikt zwischen der Welt der Liebenden und der Welt des Hofes übertragen. Im übrigen scheint die „Anderwelt“ immer eine Welt aus zweien zu sein: innerpoetisch die Welt von Tristan und Isolde, poetologisch die von Autor und Werk beziehungsweise von Werk und Rezeption. WUNNECLÎCHEZ LEBEN UND VORVORHTE (MINNETRANK). – Nachdem Tristan für Marke mit Erfolg um Isolde geworben hat, wird die Fahrt von Dublin nach Cornwall angetreten. Während der Rast, die man einlegt, damit sich die Damen von den ungewohnten Strapazen der Seefahrt erholen, begibt sich Tristan zu Isolde. Der Kapitän besucht seinen wichtigsten Passagier und man verlangt nach einem Getränk. Eine kleine Kammerzofe sieht das Gefäß mit dem Minnetrank und reicht es den beiden. Eine kleine Unaufmerksamkeit, sozusagen ein Versagen der Küche hat uns den größten Liebesroman der Weltliteratur beschert. Wenig später betritt Brangäne die „Kielkemenate“ (11542) und sieht das Glas, das den Minnetrank beinhaltete, geleert. Ohne um sich zu blicken, weiß sie, was der Fall ist und erschrickt zu Tode. Mit totem Herzen nimmt sie das Glas und wirft es in die See, die eben noch ruhig war, nun aber tobt (11690ff.). Die Regie des Textes wählt eine äußerst fokussierte Perspektive, der Blick konzentriert sich ganz auf das Medium, das das zentrale Geschehen des Romans, die Ehebruchsliebe zwischen Tristan und Isolde, aus der narrativen Latenz hebt. So wie die nunmehr und plötzlich Liebenden dem Blick von Außen, der sich in Brangäne manifestiert, entzogen sind, so ist auch ihrem Erleben jede Wahrnehmung des Äußeren fern. Das Tableau entfernt sich von der Kategorie des verisimile zugunsten einer symbolischen Repräsentation, denn im Falle einer realistischen Darstellung, in der Perspektive einer Totale wäre das Geschehen an Bord schwer oder nicht ohne Komik zu imaginieren: Da sitzen zwei, die eben vermeintlichen Wein getrunken haben, stellen das Glas auf einem Beistelltisch ab, eine dritte betritt ohne zu klopfen den Raum und serviert ungebeten ab, im Zustand eines tödlichen Schocks riskiert sie keinen Blick auf die Anwesenden, die ebensowenig Notiz von ihr nehmen. Die Dramaturgie des Textes weist auf die mit dem Minnetrank vollzogene Trennung zwischen einer Außenwelt, in die Tristan und Isolde eingebunden sind, und einer Innenwelt, in der sich die Liebenden zugleich von dieser Außenwelt separieren. Brangänes Wahrnehmung zufolge bricht mit dem vollzogenen Trinken nichts weniger als der Tod in eine mehr oder weniger banale Reisehandlung ein. In der Innenwelt der Liebenden läuft ein völlig anderer, konträr metaphorisierter und bewerteter Prozess
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ab. Dies zeigen die antithetischen Entsprechungen, mit denen die Wirkung des Minnetranks geschildert wird: Mit ihm stellt sich zwischen ihnen der werlde unmuoze ein, Minne, die Wegelagerin aller Herzen (11714f.). Bezieht man den Begriff der unmuoze auf das entsprechende Vokabular des Prologs, so wäre sie als eine permanente Unruhe zu verstehen. Sie würde die exklusive Sphäre der „Anderwelt“ kennzeichnen und sie stünde im positiven Kontrast zu der indifferenten, unbeteiligten Trägheit der gemeinen Welt. Der Trank selbst wäre im Lichte der Speisemetaphorik des Prologs das Äquivalent zum Brot, eucharistisch gedacht: der Kelch mit dem Blut des Lebens. In den Kategorien ovidianischer Liebesrezeptur wäre er zugleich das remedium jener erotischen Vergiftung, die er auslöst. Dies umso mehr, als der Text vorweg konstatiert, was er erst im Folgenden entwickeln wird: Dass nämlich die Liebe Tristan und Isolde, die zuvor zwieträchtig waren, im jähen Moment des Trinkens einträchtig werden lässt (11720f.). Diese je eingetretene Liebe, die in der Perspektive der Außenwelt als katastrophales Ereignis erscheint und in der Metaphorik von Tod und aufgewühlter See entsprechend repräsentiert wird, liest sich in jener Welt, deren unmuoze der Minne gewidmet ist, weitgehend positiv. Tristan und Isolde stellen ihre Beispielhaftigkeit auch gleich im Sinne des Prologs unter Beweis. Schon der Weg zum Liebesgeständnis ist eine kleine Schule der Liebenden, eine kurz rede von guoten minnen / diu guotet guoten sinnen (12189f.). Die edelen senedære des senemære treiben selbst mære, um zueinander zu finden (11939). Im Unterschied zu ihrem Minnegrottenleben sind es hier allerdings nicht antike Liebesgeschichten, sondern ist es die eigene, gemeinsame Biographie, die sie Revue passieren lassen.15 Ein Wort, lameir (11990ff.), ergibt das Geständnis, ihm folgt als ein sæleclîcher anevanc (12045) der erste Kuss. Für das weitere bedarf es wiederum der Mittlerin, Brangäne, die ihnen die Gelegenheit zum Liebesvollzug verschaffen will, ohne zu vergessen, auf die tödliche Gefährdung hinzuweisen: Der Teufel habe mit ihnen (sie, Brangäne, eingeschlossen) seinen Spott getrieben (12131f.). Das scheint sehr topisch gesprochen, bedeutsamer sind diese Worte: herzefrouwe, schœne Îsôt, iuwer leben und iuwer tôt diu sint in iuwer pflege ergeben: leitet tôt unde leben, als iu ze muote gestê. (12153ff.)16
15 16
Zur Verzahnung von Lesen und Lieben Haug 1997. ‚Herrin des Herzens, schöne Isolde, / euer Leben und euer Tod, die sind euch nun zur treulichen Behandlung überantwortet: / führt sie, Tod und Leben, so, / wie (oder: dass) es eurem Empfinden entspreche.‘
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Die Tyrannei des Reimes zwinge die guten Dichter, ihre großartigsten Schönheiten zu finden, heißt es bei Proust.17 In den Reimworten Îsôt-tôt und ergeben-leben wird dieses Prinzip unmittelbar sinnfällig. Vor der Liebesvereinigung wird Isolde von Brangäne die Verantwortung über Leben und Tod und darüber, wie sie beides führen will, übertragen. Als Verkörperung der vom Roman gemeinten Anderwelt erhält sie die Entscheidungsfreiheit zur endgültigen Separation von der Außenwelt, zu der Brangäne, da sie beiderseits involviert ist, vermittelt. Was in der einen Welt das Leben ist (und zwar ganz wörtlich, da Tristan und Isolde sich an der Liebeskrankheit zu verzehren drohen), kann in der anderen den Tod bedeuten. Brangänes Rede vor dem ersten Liebesvollzug führt die Perspektiven beider Welten des Romans zusammen. Der Ambivalenz, die daraus resultiert, kontrastiert wiederum die Positivität, die der geschlechtlichen Vereinigung in der Binnenwelt der Liebenden zukommt. Dies unterstreichen nicht nur die neuerlichen Metaphern von den Heilmitteln der Liebe (die Minne führt die Liebeskranken einander als Ärztin zu, damit sie sich selbst von der Krankheit heilen, deren Ursache sie darstellt), sondern auch der folgende Exkurs, der im Sinne von Zeitklage und laus temporis acti noch einmal das Beispiel richtiger Liebe hochhält, das Tristan und Isolde einer Zeit der erotischen Dekadenz geben (dies im Unterschied zu den späteren Exkursen zur huote und zum „windschaffenen Christus“, die durchaus ambivalent argumentieren und die behauptete Idealität der Anderwelt deutlich unterlaufen). Der Exkurs, mit dem sich Gottfried einer Beschreibung des Geschlechtsaktes unter dem topischen Vorwand der abbreviatio entschlägt, will statt einer langen rede von minnen eine kurz rede von g u o t e n minnen bieten, diu guotet guoten sinnen (12189f. [Hervorhebung M. K.]). Der Pleonasmus kennzeichnet den Übergang zu besagtem meditativen Ton in Gottfrieds Kommentarsprache. Er bekräftigt auch mit dem Mittel der Sprachkunst die Idealität der Liebenden. Aus ihr ergibt sich zugleich die zeitlose Gültigkeit ihres Beispiels, das im Angedenken des Autors in die Präsenz gehoben wird: ich hân von in zwein [Tristan und Isolde] vil gedâht und gedenke hiute und alle tage; swenne ich liebe und senede klage vür mîniu ougen breite und ir gelegenheite in mînem herzen ahte sô wahsent mîne trahte 17
„[L]a tyrannie de la rime force [les bons poètes] à trouver leurs plus grandes beautés.“ Marcel Proust: À la recherche du temps perdu I. Édition publiée sous la direction de JeanYves Tadié. Paris 1987 (Bibliotheque de la Pléiade 100), I.1, p.24.
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und muot mîn hergeselle, als er in die wolken welle. (12204ff.)18
Am eigenen Tun und Fühlen exemplifiziert der Autor die gleichsam anagogische Wirkung des berichteten senemære. Es entbindet das Empfinden von der Welt hienieden und führt es hinauf in die ideale Immanenz der anderen Welt, für die der Roman geschrieben ist. Seine Allgegenwart und Aufrufbarkeit zeigt das senemære der Sphäre des Zeitlichen entrückt, separiert es von der gemeinen Welt und analogisiert es dem Bereich der Transzendenz (die Analogie manifestiert sich in der zugeschriebenen anagogischen Qualität). Der Kontrast zur gemeinen Welt wird im Folgenden noch gesteigert durch das ebenso „biblisierende“ Bild von der schlechten Saat, die wir säen und der schlechten Frucht, die wir daher ernten; durch die Anklage gegen „uns Falschmünzer der Liebe“ (wir valschen minnære, / der Minnen trügenære; 12315f.). Unser Trachten ist falsch, nicht weil es der Welt, sondern weil es einer falschen Welt gilt, die wir erst durch falsches Verhalten hervorbringen: wir die zer werlde haben muot, / swie sô der sî bœse oder guot, / wie tuon wir unseren tagen (...) (12263ff.).19 Wie im Prolog das transzendente Urteil über die Anderwelt aussteht (was diese gerade auszeichnet), so entschlägt sich der Text auch hier einer Bewertung des „Willens zur Welt“. Die Eingemeindung in die tristanische Anderwelt bedeutet ein Risiko, sie bedeutet offenbar die Übernahme von Verantwortlichkeit für das eigene Leben und Sterben, wie dies Brangäne Isolde gegenüber äußert. Der Roman bleibt also auch dort, wo er die gemeinte Anderwelt als mustergültig inszeniert, in der Sphäre der Immanenz. Wenn er sie schildert, dann entbindet er sie aber der Zeitlichkeit und nähert sie der Transzendenz an, ohne sie freilich mit dieser zu identifizieren. Denn nur die Arbeit des Autors, sein Angedenken, sein narratives Meditieren, kann die Zeit zum Stillstand bringen. Dass ihr die Anderwelt nicht prinzipiell enthoben ist, bleibt die leidvolle Erfahrung der Liebenden selbst: Zwar verbringen sie die Überfahrt mit wunneclîchem leben (12397), doch ist diesem eine zeitliche Grenze gesetzt: in tete diu vorvorhte wê (12399). Diese Vorfurcht bezeichnet den Zeitpunkt des neuerlichen Eintritts der Liebenden in die Sphäre des „gemeinen“ Lebens, das sie an Markes Hof erwartet. Dieser Wiedereintritt trägt den letalen Konflikt in sich, weil Isolde einen Mann nehmen soll, den sie nicht will, und weil sie mittlerweile zur Frau geworden ist. 18
19
‚Ich habe der beiden häufig gedacht, / und mein Angedenken gilt ihnen heute und alle Tage, / wann immer ich Liebe und sehnsüchtige Klage / vor meinen Augen ausbreite / und ihr Beisammenliegen / in meinem Herzen achtsam bedenke, / so wächst mein Trachten / und das Empfinden, mein Heeresgefährte, / als wolle es hinauf in die Wolken.‘ ‚Wir, die wir unser Trachten auf die Welt richten, / sei es nun schlecht oder gut, / wie aber handeln wir ...‘ (nämlich eben nicht im Sinne des Weltideals, sondern seiner Verfälschung).
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ZEITLICHKEIT UND IDEALITÄT, HISTOIRE UND DISCOURS (MINNEGROTTE, BAUMGARTENSZENE). – In der Minnetrankszene wird eine Konstellation entfaltet, die das Romangeschehen von nun an trägt und die zugleich ein poetologisches Paradox des Textes beschreibt: Die Welt der Liebenden erfüllt paradigmatisch die „Innennormen“ höfischer Liebe, sie konstituiert Idealität in einer diesseitigen, von der übrigen Welt aber abgegrenzten Sphäre.20 Was ansonsten – sowohl in der Tradition des contemptus mundi als auch in seinen Äquivalenten innerhalb der weltlichen Poesie – der neuralgische Punkt irdischer Eitelkeit ist, wird diesem so weit als möglich entrückt. Immer, wenn die Tristanliebe zum Paradigma des narrativen Angedenkens erhoben wird, eignet ihr als Beständigkeit, was sonst Hinfälligkeit ist. Zugleich konfligiert die Binnenwelt der Liebenden mit jener im Roman geschilderten Außenwelt, die die Welt aller ist und so – wohl oder übel – auch die ihrige sein muss. In dieser Einbindung bleibt sie nicht unbeschädigt und so ist sie von einer paradoxen, doppelten Entsprechung gekennzeichnet: einerseits zu einer Transzendenz, mit der sie die einschlägige Metaphorik einer zeitenthobenen Idealität und einer lebensspendenden Wahrhaftigkeit teilt, und andererseits zu einer immanenten Defizienz, in die sie nicht bloß „geworfen“ ist, sondern an die sie als an einen Ort, von dem sie kommt, genealogisch und narrativ gebunden bleibt. Gottfrieds ‚Tristanroman‘ lebt wesentlich von dieser Divergenz; sie ist dem Sujet zwar prinzipiell inhärent, erst die Romane der Thomas-Linie wissen sie aber nicht bloß als Effekt ungünstiger Umstände, sondern als eine essentielle Gegebenheit zu formulieren. Der weitere Handlungsverlauf changiert zwischen beiden Möglichkeiten: die Liebenden einerseits eingebunden in ihre höfische Welt handeln zu lassen, sie dieser Welt andererseits temporär zu entrücken. Die daraus resultierende Spannung kann keine andere narrative Lösung als den „tragischen“ Tod Tristans und Isoldes finden. Der Weg dorthin ist nicht von einer substantiellen Veränderung der dilemmatischen Grundsituation, sondern von einer gesteigerten Entfremdung und Unvereinbarkeit gekennzeichnet, die beide Sphären zunehmend ins Unrecht setzt, worin eben auch die fortschreitende Beschädigung der Anderwelt im und durch den narrativen Prozess besteht. Die prinzipiell denkbare zweite Variante, dass die Missverständnisse vorzeitig aufgeklärt würden,21 diese Variante des Tristanromans als Komödie wird nicht gewählt. Sie hätte in Gottfrieds Fall zudem bedeutet, dass die Allerwelt ihre Inferiorität gegenüber der 20 21
Zu Begriff und idealem Status der „Innennormen“ höfischer Liebe im ,Tristan‘ Schnell 1985, 508ff. Vgl. die törichte Bemerkung Markes in der Tristanfortsetzung Heinrichs von Freiberg (6731ff.), die Liebenden hätten doch etwas sagen sollen und alles hätte sich lösen lassen (hierzu unten 390).
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Anderwelt eingesteht und damit die in ihr repräsentierten gesellschaftlichen Normen, Institutionen und kommunikativen Verfahren noch radikaler in Frage gestellt wären, als dies ohnehin der Fall ist. Die mit der Minnetrankszene gesetzte Konstellation wird nun in zwei weiteren Schlüsselepisoden weiterentwickelt, in der MinnegrottenAventiure und in der Baumgartenszene. Beide Stellen machen in ihrer narrativen Einbettung und in ihrer gegenseitigen Korrespondenz zugleich die dramaturgische Steigerung des einmal geschürzten Knotens nachvollziehbar und sie enden mit einem jeweils signifikanten Bild des Stillstands, das zugleich Ausgangspunkt eines qualitativen Neueinsatzes der epischen Handlung ist. Im einen Fall motiviert es die Rückkehr der Liebenden von ihrem Wunschleben im distanzierten Raum der fossiure a la gent amant (16704) an Markes Hof, im anderen die endgültige Trennung der beiden Liebenden nach ihrer Entdeckung, die alle Zweifel Markes über das ehebrecherische Verhältnis beseitigt. In der idyllischen Abgeschiedenheit der Minnegrotte findet die ideale Anderwelt ihren realen Ort. Er ermöglicht den Liebenden ein durchorganisiertes Leben, das Kunstsinn und Eros umfassend befriedigt. Als Tristan und Isolde eines Tages jedoch den Klang von Jagdhörnern und Hundegebell vernehmen, erkennen sie sofort, dass es mit ebendieser Abgeschiedenheit zu Ende gegangen ist. Das zeitenthobene Paradies der Liebenden ist der Zeitlichkeit des realen Hoflebens zurückgegeben. Marke ist in den Wald geritten, um zu jagen – dies seine Form der Unmüßigkeit, der Ablenkung im Leiden (17279ff.). Die Hunde nehmen die Spur eines kapitalen Hirsches auf, der die Jagdgesellschaft in die Nähe der Lichtung führt, auf der die Minnegrotte gelegen ist. Tristan hat wie immer eine blendende Idee. Als wüsste er, dass es Marke sein muss, will er diesmal mit Isolde auf dem kristallenen Bett der Grotte anders ausruhen, als sie es gewohnt sind: nicht wie Mann und Frau, sondern wie Mann und Mann, voneinander abgewandt und das Schwert dazwischen gelegt (17409ff.). Der Schlaf, dem sich beide hingeben, lässt die Szene zum Bild gerinnen. Dass es sich um eine durchsichtige Inszenierung handelt, müsste ein halbwegs kluger Beobachter leicht erkennen können. Denn lägen die Liebenden wirklich wie Mann und Mann, würden sie kein Schwert inmitten brauchen. Wäre das Requisit aber nicht für zuschauende Dritte, sondern für die beiden Schlafenden als Hindernis ihrer Begierde vonnöten, wäre es mit dem Liegen nach Männerart nicht weit her. Ein Jäger ist der erste, der die Liebenden durch eines der drei Fenster an der Decke der Minnegrotte betrachtet, er führt den König hin, der sofort erkennt, wer hier liegt. Marke betrachtet das Bild, das sich ihm bietet, und liest es – wie dies Tristans Absicht war – falsch. Er liest es nach dem Augenschein, wozu nicht zuletzt die ästhetisch-erotische Über-
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wältigung beiträgt, die Isoldes Schönheit bei ihm verursacht: In diesem Moment und unter diesen Lichtverhältnissen wächst sie noch einmal über sich hinaus. Die entrückte Sphäre der Minnegrotte, in der die Anderwelt endlich und ungestört zu sich kommen konnte, endet in einem Bild des Trugs, der sie zugleich zurückführt und wieder einbindet in die Welt des Hofes, unter der Bedingung einer substantiellen Änderung: Nie wieder wird das Leben für die Liebenden so sein, wie es hier war.22 Wenn Tristan und Isolde an den Hof zurückkehren, so bedeutet dies somit keineswegs, dass selbst diese Liebenden ohne die Welt nicht auskommen können.23 Mit ihr fügt sich das Ideale bloß dem Faktischen, die Anderwelt ist von der Allerwelt eingeholt worden, nicht will sie zu ihr zurück. In diesem Zusammenhang wäre auch zu fragen, ob das Bild, mit dem die Episode endet, tatsächlich ein Trugbild ist und ob Marke nicht vielleicht doch richtig gelesen hat. Denn die Inszenierung könnte im falschen Augenschein zugleich symbolisch repräsentieren, dass sich die Liebe der edelen senedære jenseits dessen vollzieht, was alle Welt als ihr Höchstes ansehen würde, nämlich jenseits der geschlechtlichen Vereinigung, auch wenn sie diese, freilich im Sinne einer Musik, einer Harmonie der edlen Herzen miteinschließt: si harpheten, si sungen leiche unde noten der minne (17214f.), […] in einander [si] klungen sô suoze dar inne, als ez der süezen Minne wol zeiner klûse wart benant: la fossiure a la gent amant (17224ff.).24
Die sogenannte zweite Baumgartenszene schließt unmittelbar an die Minnegrottenepisode an, als sollte sie zum einen den Verlust des Wunschlebens ein für allemal besiegeln, denn das Ende bildet die Abschiedsszene zwischen Tristan und Isolde; als würde sie dies zum anderen konterkarieren, da sie ein explizites Bild jener Vereinigung nachreicht, der die Idylle zwar den Raum geboten hatte, die in ihrem Rahmen aber gerade nicht explizit, sondern bloß symbolisch repräsentiert wird – etwa mit Allegorie und Allegorese der Grotte oder mit der Liebesmusik, die die Liebenden 22 23 24
sine wurden aber niemer mê / in allen ir jâren / sô heinlîch sôs ê wâren, / nochn gewunnen nie zir fröuden sît / sô guote stat sô vor der zît (17708ff.). So die gängige Deutung; zur jüngeren Forschungsdiskussion J.-D. Müller 2002, 392ff. und Tomasek 2007, 204ff. ‚Sie harfenierten und sangen / Leichs und Noten der Liebe. / [...] Sie kamen so süß / zum Einklang in diesem Drinnen, / das der süßen Liebe mit Bedacht / zu einer Klause bestimmt war: / Die Grotte der Liebenden.‘
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praktizieren. Liegen sehen wir Tristan und Isolde in der fossiure a la gent amant jedoch nur nach Art der Männer, von einander abgewandt. Es geschieht an einem Mittag (18130): Isolde lässt sich ein Bett zurichten, als Ort wählt sie den Baumgarten, an dem der versuchte Liebesverrat schon einmal – glücklich allerdings – gescheitert war (14390ff.). Brangäne soll Wache halten. Isolde schickt nach Tristan: nu tete er rehte als Âdam tete: / daz obez, daz ime sîn Êve bôt, / daz nam er und az mit ir den tôt (18166f.). Für die Einsicht, dass der Baumgarten das irdische Paradies (gleichsam die verlorene „Anderwelt“ schlechthin) in prekärer Weise spiegle, bedürfte es nicht erst dieses expliziten Vergleichs. Die Ratio seiner Einfügung ist durchsichtig, er soll die Szene an die Ausführungen zur „Eva-Natur des Weibes“ im huote-Exkurs rückbinden. Dass dieses rhetorisch-technische Kalkül der vorsätzlichen Ausreizung hermeneutischer Komplexität keinen Abbruch tut, bezeichnet präzise die narratologische und diskursive Ironie, die der Roman kultiviert. Wollten wir den Vergleich auf seine Tragfähigkeit hin prüfen, so ergibt sich wenigstens ein gravierender Unterschied: Diese neue Eva bietet ihrem Adam, was sie ihm schon längst geboten, und dieser kostet, wovon er längst gekostet hat. Die sakralisierende Typologie verrät sich als dramaturgischer Effekt. Auch das, was folgt, die Vertreibung aus dem ohnehin mäßigen Paradies am MarkeHof, ist die erste nicht, die der Roman schildert (freilich ist sie endgültig und also bedeutsam genug). Die folgende Szene gestaltet sich spiegelbildlich zum Schlusstableau der Minnegrottenepisode: Im Moment der Zusammenkunft blendet der Text von den Liebenden weg. Er folgt Brangäne in die Kemenate und zeigt, wie sie diese abschließt. Plötzlich tritt Marke auf – als wäre er der Herr dieses Paradieses und würde wie jener die Geschöpfe suchen, von denen er wüsste, dass sie sein Gebot übertreten haben. Er fragt nach der Königin und wird in den Garten verwiesen, wo sie schlafe. Brangäne, die dies mitanhört, erschrickt und schweigt, lässt das Haupt sinken, Hände und Herz entfallen ihr (18190ff.). Sie wiederholt ihre Geste aus der Minnetrankszene, es ist die Geste einer todbringenden Desillusion. Mit ihrem Körper zeigt die Mittlergestalt zwischen beiden Welten den Bruch, die Unmöglichkeit ihrer Parallelexistenz an. Wir aber, Zuhörende und Lesende, betrachten die Liebenden wie in der Minnegrotte aus der Sicht des Königs: und Marke kêrte hin zehant, dâ er sîn herzeleit dâ vant: wîp unde neven die vander mit armen zuo zein ander geflohten nâhe und ange. ir wange an sînem wange, ir munt an sînem munde.
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swaz er gesehen kunde, daz in diu decke sehen lie, daz vür daz deckelachen gie ze dem oberen ende: ir arme und ir hende, ir ahsel unde ir brustbein diu wâren alsô nâhe inein getwungen unde geslozzen, und wære ein werc gegozzen von êre oder von golde, ez endorfte noch ensolde niemer baz gefüeget sîn. Tristan und diu künigîn die sliefen harte suoze, ine weiz, nâch waz unmuoze. (18197ff.)25
Im Unterschied zu dem Tableau vivant, das Tristan und Isolde in der Grotte selbst inszenieren, ist diese Ästhetisierung der Liebesszene das Werk des Beobachters, konkret des Erzählers, der die Liebesumarmung als skulpturales Bildwerk imaginiert. Der Augenschein ist in diesem Fall unmissverständlich. Er ist zugleich ästhetisch, was zum einen die melancholische Reaktion Markes bewirkt: Das lebende Kunstwerk provoziert nicht Aggression, sondern die plötzliche Erkenntnis oder eben die Klärung dessen, was längst der Fall ist. Marke liegt mit diesem Bild sein endelîchez herzeleit vor Augen. Sein alter wân, seine Einbildung, ist dahin, nun mutmaßt er nicht mehr, sondern er weiß (18224ff.). Auf einer rezeptionsästhetischen Ebene bringt die Szene das Äußerste dessen zur Darstellung, was im Rahmen der Gattungsnormen darstellbar ist. Das ästhetisierende Verfahren scheint dabei der voyeuristischen Befriedigung, die gleichwohl gewährt wird, vorzubauen und entbindet den Liebesvollzug von seinem narrativen Kontext – für den ästhetischen Moment einer gemeinsamen Betrachtung durch Romanfigur, Erzähler und Leser. Der Ehebruch gerinnt zum Kunstwerk, die Anderwelt der Liebenden scheint für die Dauer eines kontemplativen Augenblicks der Zeitlichkeit und der Sphäre der gemeinen Welt entrückt.
25
,Und Marke wandte sich sofort dorthin, / wo er sein Herzensleid fand: / Frau und Neffen die fand er / mit ihren Armen nah und eng / ineinander verflochten. / Ihre Wange an seiner Wange, / ihr Mund an seinem Munde. / Was er sehen konnte, / was ihn die Decke sehen ließ, / was über das Deckenlacken hinausragte / am oberen Ende: / Ihre Arme und ihre Hände, / ihre Schultern und ihre Brustpartie, / die waren so eng zusammen / gedrängt und geschlossen. / Und hätte man ein Kunstwerk / aus Erz oder Gold gegossen, / so dürfte es nicht noch könnte / es je besser gefügt sein. / Tristan und die Königin / lagen in süßem Schlaf, / ich weiß nicht, nach welcher Art Beschäftigung.‘
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Eine ganz ähnliche Strategie verfolgt auffälligerweise Tagelied MFMT I Wolframs von Eschenbach (‚Den morgenblic bî wahtaeres sange erkôs‘).26 Die notwendige Trennung der Liebenden wird hier – der Gattung entsprechend – in einer Vereinigung im äußersten Moment suspendiert: sus kunden sî dô vlehten ir munde, ir bruste, ir arme, ir blankiu bein, Swelch schiltaer entwurfe daz, geselleclîche als si lâgen, des waere ouch dem genuoc. ir beider liebe doch vil sorgen truoc, si pflâgen minne ân allen haz. (III,5ff.)27
Es wäre lohnend, genauer darüber nachzudenken, was die je spezifische Formulierung eines analogen Vergleichs von Kunst und erotischer Vereinigung über die ästhetische Programmatik beider Autoren besagt. Im Falle Wolframs wird das ästhetisch Außergewöhnliche einer als real imaginierten Szene daran bemessen, dass die Kunst zu tun hätte, es zu repräsentieren (dass es die Wortkunst schafft, steigert ihren Wert). Gottfried denkt gewissermaßen umgekehrt: Die lebendige Szene zeichnet sich deshalb aus, weil sie an das heranreicht, was die bildende Kunst vermöchte. Die literarhistorische Ironie der Parallele ist die, dass Gottfrieds mutmaßlich schärfster poetologischer Widersacher zu einer analogen Darstellungsweise greift. Es handelt sich (auch wenn sich die Äquivalenz zwischen Kunstwerk und poetischer Szene bei Wolfram verkehrt) um ein zutiefst ästhetizistisches Bild und weist daher eher auf die Domäne Gottfrieds. Doch Wolfram zeigt keine schlechtere Hand. Die Frage, ob und wer hier von wem entlehnt, ist müßig. Wichtiger ist, dass an Wolframs Version transparent wird, was auch für Gottfried gilt: Die hermeneutische Schwierigkeit, die im Problem einer illegitimen Liebesbeziehung, in der Frage der Darstellungsweise und der mit ihr verbundenen rezeptionsästhetischen Lenkung zugunsten der Liebenden besteht, wird umgangen, indem sie auf die Ebene eines ästhetischen Problems transponiert wird. Die Ästhetisierung entbindet die Szene ihrem Kontext, enthebt sie – wenigstens für den Moment der Betrachtung – der Zeit und der Sphäre jener Narration, aus der sie entwickelt wurde. In den beiden Tableaus, Minnegrotte und Baumgarten, werden Tristan und Isolde zur Betrachtung durch die in Marke repräsentierte allge26 27
Beide Stellen werden schon bei Ebenbauer 2000, 264f. verglichen, dort auch ausführlich zur Geschichte der Szene in der Tristantradition sowie allgemein zum Motiv der ertappten Ehebrecher; hierzu auch die klassische Untersuchung von Peter von Matt 1996. ,Sie konnten / ihre Münder, ihre Brüste, ihre Arme, ihre blanken Beine, so ineinander flechten, / wenn ein Maler das entwerfen wollte, / so wie sie hier beisammen lagen, er hätte genug daran zu tun. / Obwohl ihrer beider Liebe von großen Sorgen beschwert war, / gaben sie sich der Liebe ohne Einschränkung hin.‘
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meine Welt und durch die besondere Welt, die die Rezipienten repräsentieren mögen, freigegeben. Beide Szenen sind in einen Handlungsverlauf eingebunden, der ihren Bestand einerseits zerstört, andererseits transzendieren sie ihn in der Ästhetisierung, die sie beschreiben. Zeit und Geschehen gelangen im Moment der Betrachtung zum Stillstand. Die gesteigerte ästhetische Präsenz der bildnerischen Posen, die die Liebenden einnehmen, blendet die Frage ihrer kontextuellen Bewertung und Bedeutung aus. Sie lässt sie – gewissermaßen als zu profan – hinter sich. Wollten wir die narrative Dynamik des Tristanromans mit den Kategorien von Verbot und Überschreitung beschreiben, wie sie Georges Bataille als Prinzipien einer Kulturalität der Erotik entwickelt hat,28 so erweist sich in Minnegrotten- und Baumgarten-Szene die Überschreitung des Verbotenen auf der Ebene des „discours“ legitimiert: Sie mündet in Bilder einer exemplarischen Idealität. Ihre Destruktion erfährt diese Idealität in der Zeitlichkeit der „histoire“, in der Einbettung der anderen Welt der Liebenden in die gemeine, erzählte Welt des Hofes. Im narrativen Prozess führt dies zu einer beiderseitigen Beschädigung. Eine Lösung ist immer nur temporär, durch die Entbindung der Binnenwelt im „discours“ möglich, im Rahmen der „histoire“ wird sie erst der Tod der Liebenden gewähren.29 Aus dieser Ambivalenz resultiert auch das strukturelle Dilemma des Romans, dessen narrative Bewegung keine substantielle Ent28
29
Bataille 1994, bes. Kap. V („Die Überschreitung“), 63ff. Natürlich sind es keine wissenschaftlichen Konzepte, die Bataille entwirft. Die Kategorien seines holistischen Mystizismus taugen allerdings dazu, die essentielle Verbindung von Idealität und Körperlichkeit in der Tristanliebe (hierzu Kap. XIII „Die Schönheit“, 135ff.) sowie deren ambivalente Metaphorisierung in Bildern des Sündhaften wie des Heiligen (Kap. XI „Das Christentum“, 113ff.) adäquat zu denken. Ich bin mir bewusst, dass die Unterscheidung von „discours“ als Sphäre der Anderwelt und von „histoire“ als die ihrer narrativen Einbindung in die „gemeine“ Welt dem tatsächlichen Sachverhalt und den narratologischen Kategorien nur bedingt entspricht und auch von der Begriffsprägung durch Tzvetan Todorov abweicht (hierzu Martinez/Scheffel 2000, 22ff.). Meine Akzentuierung fasst „histoire“ als Geschichte und deren narrative Verbalisierung, „discours“ aber als das Reden über sie, als das kontemplative, die Narration anhaltende Moment. Sie deckt sich auch nur annähernd mit der Differenz zwischen einer diegetischen und einer extradiegetischen Ebene im Sinne der Narratologie von Gérard Genette (1998). Zu differenzieren wäre unter diesem Gesichtspunkt vor allem die noch der Sphäre der Diegese angehörende Entbindung der Anderwelt in den besprochenen „bildnerischen“ Szenen und die eigentliche extradiegetische Ebene des Erzählerkommentars, der den ambivalenten Status der Liebenden gerade nicht ausblendet, sondern beispielsweise im huoteExkurs vertieft (wie etwa die schwierige Analogisierung von Isolde und Eva dokumentiert; dem intensiv diskutierten Verhältnis zwischen Erzählung und Kommentar im ,Tristan‘ widmen sich u.a. die jüngeren Beiträge von Haug 2002 und Warning 2003, hier 204f.; zusammenfassend Tomasek 2007, passim). Die Stimme des Kommentators weiß ebenso wie jene des Erzählers beide Perspektiven zu bedenken und jeweils intentional in den Vordergrund zu rücken: sowohl die einer zeitenthobenen Idealität der Liebenden als auch die ihrer Einbindung in einen Erzählverlauf, der diese Idealität ambivalent werden lässt.
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III. Poetik der Immanenz
wicklung, sondern bloß eine zyklische Verschärfung und „kathartische Klärung“ des immer gleichen Problems erzeugen kann. In dieser Hinsicht nähert der Text sich im übrigen dem an, was das narrative Substrat der Minnelyrik ausmacht.30 Da Gottfrieds Roman Fragment geblieben ist, wissen wir nicht, wie er zu seinem Finale gekommen wäre und wie er es gestaltet hätte. In der letzten Episode, die er dichtete, überträgt sich das Problem, wie es denn zu einer Lösung der oder auch v o n d e r dilemmatischen Liebeskonstellation kommen könnte, auf den Protagonisten selbst: Tristan sieht sich in Arundel vor die Wahl gestellt und gedenkt, seine Liebe zu Isolde der Blonden auf Isolde Weißhand zu übertragen. Dass er die Liebe, der er sich entschlagen will, in jener, die ihm als Ausweg vorschwebt, willentlich gespiegelt sieht, ist die crux dieser Übertragung. Der Evidenz der vollständigen Fassungen zufolge misslingt sie denn auch und sie tut dies dezidiert physisch wie psychisch: Tristan verliert – gegenüber Isolde Weißhand – seine Manneskraft. Der Prolog von Gottfrieds ‚Tristan‘ formulierte eine klare Wertigkeit zwischen den zwei Welten, die ihm zugrunde liegen. In der Narration selbst lässt sich diese Hierarchie nicht aufrecht erhalten. Die Anderwelt ist mit der gemeinen Welt so verzahnt, dass beide aufeinander angewiesen sind. Das Sujet scheint in diesem Punkt der Poetologie, die ihm der Autor 30
Zum Begriff der „kathartischen Klärung“ vgl. oben 347, Anm. 7; zum lyrischen Charakter des Tristanromans u.a. Wyss 2002. Die „Episodizität“ des Romans stellt in der Diskussion um seine Struktur das zentrale „philologische Skandalon“ dar (hierzu u.a. Worstbrock 1995, 34ff.). Walter Haug versuchte es in seiner Theorie einer „variierenden Überhöhung“ zu entschärfen (zusammenfassend Haug 1992, 224f.). Als „ein dekonstruktives Prozessieren im Paradigma“ ist diese Episodizität bei Warning 2003, 185ff. (hier 186) begriffen. Sie trage die Ambivalenz des Romans und führe – unter der Perspektive der Überschreitung von Normen betrachtet – zum Konzept einer „Kulturimmanenz der Transgression“ (dies im Sinne der im Prolog beschriebenen „schwierigen Welt“); vgl. hierzu und zum Problem paradigmatischen Erzählens auch J.-D. Müller 2003, mit dem schönen Begriff einer „Ökonomie der Transgression“ (242), die sich gerade aus der besonderen strukturellen Verfasstheit des Textes ergebe. Das „dekonstruktive Prozessieren“ erledigt Warning zufolge allerdings nicht die narratologische crux der Romankonzeption in der Thomas-Tradition: wie sich nämlich der Tod der Liebenden „zwingend aus dem Minnetrank ableiten [lasse], wie er als Liebestod gerettet werden kann vor dem gemeinen Tod aller Sterblichen“ (Warning 2003, 205). Zu diskutieren wäre an dieser These schon, ob „zwingend“ die richtige Kategorie darstellt. Ich werde an der Fortsetzung Heinrichs von Freiberg zu zeigen versuchen, dass der Roman allerdings zu einem Ende kommen kann, ohne seine Konzeption preiszugeben, nur darf der Anlass für den Liebestod nicht aus dem eigentlichen Konflikt zwischen Hofwelt und Welt der Liebenden resultieren, sondern er muss von außen kommen. Dies gelingt über die narrative Spiegelung, die die Nampotenis-Handlung darstellt. Im übrigen lässt sich die zyklische Struktur des Romans unter der Kategorie der Wiederholung luzide beschreiben, wie Susanne Köbele (2002) gezeigt hat: Wiederholungen nehmen Setzungen von Analogie und Differenz in sprachlichen Fein- und narrativen Großstrukturen vor und bestimmen die narratologische Besonderheit des Textes.
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zumutet, gleichsam überlegen.31 Es ist die narratologische Pointe des Romans, dass er sein eigenes Projekt gleichzeitig hintertreibt. Die histoire widerlegt den discours und umgekehrt. Die Anderwelt beschädigt sich in ihrer wohlgemerkt aktiven Relation zur gemeinen Welt fortwährend selbst, erweist sich ihr im discours freilich überlegen, in jenen Momenten des Stillstands, in denen sie auch das ästhetische Staunen eines Repräsentanten der gemeinen Welt wie Marke verdient. Gewerldet-Sein liest sich im Roman selbst komplexer als der Prolog verspricht, da sich die intendierte Welt sowohl dem Bereich des ihr Jenseitigen, der Transzendenz, als auch der ihr diesseitigen, gemeinen Welt wechselweise annähert oder entfernt. Die Gültigkeit von Gottfrieds Welt-Programm erweist sich gerade darin, dass er für seine exklusive Welt eine transzendente Lösung verweigert, dass er sie in der Sphäre einer forcierten Immanenz behält, die nicht zuletzt in der Körperlichkeit der von Tristan und Isolde praktizierten Liebe zum Ausdruck kommt. Der Roman vermeidet – natürlich schon aus Gründen, die ihm das Sujet vorschreibt – jenen antikörperlichen und damit antiweltlichen Platonismus, der bei Dante die höchste Sublimierung des höfischen Liebesdiskurses darstellen wird. Wie schwierig die Rückholung dieser Liebe auf den Boden einer ambivalent erfahrenen Zeitlichkeit (und mit ihr auch Körperlichkeit) sein wird, ist an Petrarcas ‚Canzoniere‘ nachzuvollziehen. Wollen wir in Ermangelung eines authentischen Endes des Romans die Denkformen von Welt und gewerldet-Sein resümieren, in deren Zeichen Gottfrieds ,Tristan‘ steht, so lässt sich festhalten: Die Bilder eines zeitenthobenen Stillstands, die Minnegrottenepisode und Baumgartenszene beschließen, können als Äquivalente zur programmatischen Exemplarität der Liebenden gelesen werden, von der im Prolog die Rede ist. Dort hieß es, dass der Tod der Liebenden zugleich ihr Leben sei, dass Tristan und Isolde im Angedenken der rezipierenden Anderwelt, die sie zugleich verkörpern, lebendig werden, obwohl sie gestorben sind. Die beiden Bilder, in denen die schlafenden Liebenden dem narrativen Kontext entbunden sind und in denen sie gleichsam zu Skulpturen gerinnen,32 müssten sich demnach – entsprechend der Formel vom gelesenen Leben und vom gelesenen Tod (vgl. 236ff.) – als proleptisch-symbolische Bilder jenes mutmaßli31 32
Aus dieser Perspektive ließe sich die Feststellung von Walter Haug (2002, 281f.) auch umkehren, der zufolge das Liebespaar innerhalb der Handlung hinter den Ansprüchen jener Liebesidee zurückbliebe, die in Prolog und Kommentaren entwickelt werde. In diesem Zusammenhang ist auf den Statuensaal hinzuweisen, den sich Tristan in der Thomas-Fassung in Arundel einrichtet. Tristan vollzieht hier selbst, was Erzähler und Rezipienten zuvor an Minnegrotten- und Baumgartenszene tun: Er übt sich in einer kontemplativen Betrachtung des selbst Erlebten und der geliebten Isolde, wobei diese Betrachtung beides in den Status einer Idealität hebt und der Zeit sowie den Bedingungen jener Welt entbindet, in die die Liebenden eingebunden sind (vgl. Tristan et Iseut, 381ff.).
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chen Schlusstableaus betrachten lassen, das die Liebenden tatsächlich im Moment des Todes gezeigt hätte. In ihrer ästhetischen Präsenz und in ihrer prekären Dauer repräsentieren diese Bilder nun aber das Äquivalent und den Widerspruch zu jenen polemischen fünf Fuß Grabesraum, die die Alexandertradition als zynische Summe des Weltlebens verbleiben lässt. Wenn sich in den schlafenden, noch lebenden Liebenden der Minnegrotte und des Baumgartens die ruhenden, toten Liebenden der fehlenden Schlussszene in einer symbolischen Vorwegnahme abbilden, dann setzt der ‚Tristan‘ dem üblichen vanitas-Reflex die ästhetische Präsenz des immanenten Lebens noch im Zustand des Todes entgegen. Es wäre ein Leichtes und es entspräche der Perspektive des contemptus mundi, würden aus den dann tatsächlich toten Leibern dieser edelen senedære die obligaten Würmer, Kröten und Schlangen kriechen. Dass es aus den Leichen wachsen wird, wissen die Fortsetzungen. Doch sie tragen statt Würmern Früchte: Weinstock und Rosenstrauch. Die Abscheulichkeit des verfaulenden Weltfleisches bleibt diesen Liebenden und der Gemeinde edler Herzen erspart. Im poetischen Angedenken ist ihre Anderwelt und die in ihnen repräsentierte Idealität einer immanenten Liebe der hinfälligen Zeitlichkeit enthoben. Auf anderem poetischen Terrain und unter anderer poetologischer Programmatik können Tristan und Isolde freilich der präziseste Ausdruck dieser Zeitlichkeit sein, wie beispielsweise ihre Auftritte unter der flüchtigen schiera ov’ è Dido in Dantes ‚Comedia‘ (,Inferno‘ V 85) oder unter den amanti erranti im ,Triumphus Cupidinis‘ (III 80) Petrarcas zeigen.33 WIE DAS BROT DER EDLEN HERZEN VERZEHREN? – Es gehört nach wie vor zu den Stereotypen der Literaturwissenschaft, die mittelalterlichen Kompletteure und Fortsetzer der großen Romane wenn überhaupt, so scheel anzusehen. Im Falle von Gottfrieds ‚Tristan‘ verschärft sich dies. Da ist zum einen der Fragmentstatus des kanonischen Werks an sich, zum anderen die Frage, warum es Fragment blieb: Weil der Autor mitten im Werk sein Leben hingab, am Ende weil er als Ketzer verbrannt ward oder – nüchterner gedacht, aber bedeutsam genug – weil er selbst nicht mehr wusste, wie er sein Werk zu Ende bringen solle, weil es für dieses Werk und seine aporetische Konzeption kein Ende gäbe, weil das Fragment sein perfekter Zustand wäre?34 Der bloße Status eines unvollendet-vollendeten Werks hebt die Bedeutsamkeit des ,Tristan‘ und die Bedeutsamkeit der 33 34
Dante will Tristano in ,Inferno‘ V 66 gesehen haben, Petrarca Tristano und Isolda in ,Triumphus Cupidinis‘ III 80 und 82. In diese Richtung denkt etwa wieder Warning 2003, 205. Die Diskussion über den Fragmentschluss ist zusammengefasst bei Huber 2001, 128 und Tomasek 2007, 225ff.
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Arbeit an ihm. Schon unter diesem Gesichtspunkt muss sich der Versuch, zu Ende zu bringen, was nicht zu Ende zu bringen ist, als Profanierung ausnehmen. Signifikant ist in dieser Hinsicht Peter K. Steins Wort von der „Domestizierung der Tristanliebe“, die Gottfrieds „Epigonen“, Ulrich von Türheim und Heinrich von Freiberg, diesem edelen senemære angetan hätten.35 Der romantische Ursprung der Germanistik verrät sich noch heute im ergriffenen Schauder vor dem apokalyptischen Biest der Tristanminne, das Gottfried in die Welt gesetzt habe und das seine Fortsetzer mit Lasso und Peitsche der christlichen Morallehre einzufangen versuchen. Die Philologie hat sie bei diesem biederen Geschäfte natürlich längst ertappt und lässt die Bestie wieder fahren, um ihr begeistert hinterher zu laufen. Das ist unter umgekehrten Vorzeichen die Fortsetzung jener Prüderie, mit der man sich im 19. Jahrhundert von Gottfried mitunter angewidert abwandte.36 Damit sei nun weder die fraglos gegebene künstlerische Bedeutung von Gottfrieds Roman bestritten, noch will ich mich an der Tristanforschung schadlos halten. Der Sachverhalt beleuchtet vielmehr das komplexe und produktive Potenzial, vor das eine literarhistorische Konstellation dieses Zuschnitts die Philologie stellt: Hier der unvollendet-vollendete Roman, der über den „Mythos“, den er behandelt, selbst zum Mythos wurde, dort die Fortsetzungen, die diesen Mythos – den poetischen wie den poetologischen – zu Ende bringen wollen. Literarästhetische Empathie und literaturwissenschaftliches Kalkül treten angesichts dieser Konstellation auseinander. Hans Ulrich Gumbrecht hat das Verhältnis der Philologie zum Fragment als kulinarisch-erotisches metaphorisiert.37 Ihm zufolge laute die entsprechende Devise: „Eat Your fragment!“ Sie fügt sich gut zur grundsätzlichen Beliebtheit der Speisemetaphorik im Mittelalter, wenn es gilt, das Verhältnis zum Text zu beschreiben.38 Und nichts 35
36 37 38
Stein 2001, 216 u.ö. Zur Hartnäckigkeit des Epigonentopos vgl. die Urteile in der Literaturgeschichte Helmut de Boors, die sich noch in den überarbeiteten Fassungen finden: Heinrich von Freiberg sei ein „Mann der formalen Begabung“ (de Boor 1997, 81), Ulrich von Türheim der geborene Kompletteur (vgl. de Boor 1991, 179). Beides gibt ein schönes Beispiel für die bereits mittelalterliche Kunst des zwîvellobes. Die neuere Forschung hat sich von diesen Denkschemata allerdings weitgehend gelöst, vgl. Grothues 1991, Strohschneider 1991, J.-D. Müller 1992, Fritsch-Rößler 1999, 384ff. und Voß 1999. Zusammenfassend hierzu Huber 2001, 34f. Gumbrecht 2003, 17f. Vgl. die Ausführungen zum „monastischen Lesen“ bei Illich 1991, bes. 55ff. Lesen wird als essentiell körperliche Tätigkeit aufgefasst und geschieht – da weitgehend laut gelesen wird – unter maßgeblicher Beteiligung des Kauapparats; die lectio begleitet außerdem das gemeinsame Mahl der Mönche. Ein gutes Beispiel geben die Bilder von der Süße des Gottesworts im ‚Evangelienbuch‘ Otfrids von Weißenburg. Die Rezeptionsform, die dem ‚Tristan‘ im Sinne einer kontrastiven Analogie vorschweben könnte, wäre demnach weniger die meditative Lektüre, wie Eckart Conrad Lutz (2002) meint, sondern die kulinarische.
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anderes als „Eat my fragment!“ scheint Gottfried von Straßburg im Prolog den edlen Herzen zuzurufen. Als Genießer des lebenden Brotes der Liebestoten verraten sich eben auch die Philologinnen und Philologen. Wenn sie sich dabei fragen, wie es denn im ausgebackenen Zustande geschmeckt hätte und dafür vom Backwerk kosten, das die Fortsetzer hinterlassen haben, rufen sie einhellig: „So nicht!“ Wenigstens Heinrich von Freiberg erweist sich aber – gemessen an der undankbaren Aufgabe, etwas zu Ende zu bringen, was man selbst nicht begonnen hat und woran man also letztlich unschuldig wäre – als kongenialer Schüler seines Meisters. Für unser Interesse sind drei Stellen wesentlich, die auf die prekäre Immanenz, wie sie in Gottfrieds ,Tristan‘ repräsentiert ist, rekurrieren: Der Prolog, Tristans und Isoldes Waldleben und der Epilog, der vor dem Problem steht, ob er den Tod der Liebenden unter der Perspektive weltlicher vanitas, wie sie der „Geist der Erzählung“ in erwartbarer Weise erwiese, betrachten solle oder nicht. Heinrich entscheidet sich für beides und gelangt auf diesem Wege zu einem kuriosen contemptus mundi, der sich zugleich als eine Bestätigung jener anderen Welt liest, mit der Gottfrieds Erzählerstimme zugrunde gehen oder gerettet werden will. „HINFORT VON DIESER SCHWACHEN WELT!“ – Heinrich von Freiberg beginnt seine Fortsetzung des Tristanromans im Zeichen des Ubi-suntTopos. „Wo sind sie verblieben?“, diese Frage lässt sich auf ruhmreiche Zeiten, Taten und Menschen beziehen und sie zählt wie oben erörtert39 seit der Antike zum festen Repertoire der Vergänglichkeitsklagen. Ihre primäre Intention ist es, die gloria mundi als eitel zu erweisen. Beispiele hierfür geben Walters von Châtillon ,Alexandreis‘ und Petrarcas vierter Triumph, der ,Triumphus fame‘, doch belegen sie zugleich, dass über den bloßen contemptus hinaus der Hingang vergangener Größe nicht nur betrauert, sondern ihre Wiederkehr im Akt des Angedenkens zugleich beschworen wird. Der Topos verbindet sich folgerichtig auch nicht mit den Ekel-Bildern von Verwesung und Verfall, sondern mit einem dominanten melancholischen Gestus. Insofern fügt er sich gut in die Exordialtopik des panegyrischen Genres und weiß zugleich das Ansehen des Rühmenden zu heben, da auf diese Weise der Nachweis erbracht ist, dass er sich am richtigen Vorbild orientiere und es zu erreichen wenigstens bestrebt sei. So auch bei Heinrich von Freiberg: Wohin der Schatz von Gottfrieds hoher Kunst gekommen sei, lautet die Ausgangsfrage seines Prologs. Sie lässt vorab vermuten, dass er wisse, wo er sie wiederfinden werde:
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Kap. II.2, 164ff.
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Wâ nu rîcher künste hort, wâ schœne rede, wâ blüende wort, wâ vünde vîolîn gevar, wâ sprüche sam die rôsen clâr, wâ sinnic saz, wâ vündic sin? der aller ich ein weise bin. getichtes des gar spêhen, des rîchen und des wêhen bin ich ein erbelôser man und hâb mich doch genumen an zu volbringene diz mêr, daz sô blüende hât unz her mit schœner rede betichtet und meisterlîch berichtet mîn hêrre meister Gotfrit von Strâzburc, der sô mangen snit, spêhen unde rîchen, schône unde meisterlîchen nâch durnechtiges meisters siten ûz blüendem sinne hât gesniten [.] (1ff.)40
Der skizzierten positiven Semantik des Ubi-sunt-Topos entsprechend gibt die Klage über die mit dem Meister hingegangene Kunst nicht Anlass zu einer Reflexion über Hinfälligkeit und Flüchtigkeit weltlicher Werke oder gar zu einem Schauderbild der Verwesung, vielmehr zelebriert sie im Denkmodus des Verlusts den Bestand und die Gültigkeit des vom Meister gegebenen Beispiels und letztlich auch dessen Wiederbringbarkeit durch keinen anderen als den Klagenden selbst. Die Verse wissen das Lob des Vorgängers – wie es für eine mittelalterliche Poetik typisch ist – ganz konkret zu verorten, als Lob seiner Sprachkunst. Die Erinnerung an dieses Vermögen des Meisters repräsentiert dabei zugleich das, was sie preisen soll: rhetorischen Prunk in äußerster Manier und auf höchstem Niveau. Die florale Metaphorik etwa reflektiert nicht einfach den metaphorischen Topos von den flores rhetorici, sondern greift konkret auf das Bild von der Wortheide in Gottfrieds Literaturexkurs (4636ff.) zurück. Von ihr
40
‚Wo ist er nun, der Schatz der reichen Kunst, / wo ist die schöne Rede, wo die blühenden Worte, / wo die veilchenfarbenen rhetorischen Erfindungen, / wo die Bonmots so schön wie Rosen, / wo der kunstvolle Ausspruch, wo der geistreiche Kunstverstand? / An alle dem bin ich eine Waise. / Des klugen Gedichts, / des reichhaltigen und schmerzvollen, / bin ich ein Mann ohne Erbe / und habe mich dennoch dessen angenommen, / diese Geschichte zu Ende zu bringen, / die bis in unserer Tage / auf so blühende Weise / und mit so schöner Wortkunst / und meisterhaft / mein Herr, der Meister Gottfried / von Straßburg, eingerichtet hat, / der uns so üppigen Blumenschnitt, / klugen und reichhaltigen, / schön und meisterhaft, / in der Art des durchgefärbten Meisters / aus blühendem Kunstverstand geschnitten hat.‘
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soll der Meister selbst seine Blumen geschnitten haben.41 Die Metapher des Schneidens überkreuzt sich dabei mit jener des Schneiderns, die für die poetische Kunst ebenso gängig ist. Dass Gottfried seiner materie, seinem Sujet also, ein prunkvolles Gewand, eine entsprechende textura gegeben habe, rekurriert wiederum auf den ,Tristan‘ selbst.42 Die Ausgangsfrage des Literaturexkurses ist ja die, wie die Einkleidung Tristans zu seiner Schwertleite adäquat beschrieben werden könnte. An ihrem Ende ist es dann der Dichter selbst, der seinem Protagonisten ein allegorisches Kleid schneidert (4963ff.). Aufgerufene Bildbereiche und rhetorische Kunstgriffe verweisen a priori auf das Programm der imitatio, das Heinrich von Freiberg verfolgt. Die Überdehnung Gottfriedscher Stilkennzeichen verrät zugleich den ämulatorischen Anspruch, der sich mit dem imitatorischen verbindet. Indem die preziöse Stilistik des Meisters noch einmal gesteigert wird, präsentiert sich der Nachfolger gleichsam als ein Rokoko-Gottfried. Dabei werden auch dessen bewährte hermeneutische Strategien aufgegriffen. Als Waise stellt sich der Nachfolger dar, alleingelassen auf der Wortheide von seinem Meister, als tummer künstelôser man (46), dessen Kunstfertigkeit bloß in der imitatio seines Vorbildes bestehen könne. Die Pose des dummen Dichters, der nichts ohne seine Quelle der Inspiration vermag, erinnert an die betonte Kunstlosigkeit in Wolframs ,Willehalm‘ (2,19f.). Dort ist es die Gotteskindschaft, die den Dichter erwarten lässt, dass seinem sin jenes Kunstvermögen vom Vater eingegeben werde, das ihm eigentlich fehle. Ein analoges inspiratives Vater-SohnVerhältnis, allerdings auf profanem Terrain, suggerieren im Falle Heinrichs die Begriffe „Waise“ und „Mann ohne Erbe“. Man wird dies nicht überstrapazieren wollen, aber es ist immerhin denkmöglich, dass Heinrich von Gottfried jene Inspiration erhofft, die Wolfram von Gott Vater erbittet. In der Metaphorik von Gottfrieds Tristanprolog gedacht, scheint der tote Vorgänger selbst das lebende Brot des Nachfolgers geworden zu sein. Den Abschluss des melancholischen Lobpreises bildet eine aufschlussreiche Verabschiedung, der verwaiste Nachfolger findet sich mit dem Tod des Meisters ab:
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Im ,Tristan‘ ist die Metapher Ausgangspunkt der vieldiskutierten Auseinandersetzung mit des hasen geselle, mutmaßlich Wolfram von Eschenbach. Von Blumen der Wortheide wird jener Kranz geflochten, den Gottfried Hartmann zuerkennen will. Der Dichter pflückt nicht nur von ihr (vgl. 4644), sondern pflanzt ihr seine Blumen ein (vgl. 4649). Man kann sie somit als floristische Allegorie intertextuellen Wettbewerbs, in den poetologischen Kategorien des Mittelalters gedacht: als Ort der aemulatio auffassen, vgl. M. Kern 2007[a]. Schon bei Gottfried folgt auf die Metaphorik der flores rhetorici jene von der Dichtkunst als Textilgewerbe (4689ff.; über den „Färber“ und „Weber“ Bligger von Steinach).
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nu muge wir nicht gehaben sîn: got unser schepfer daz gebôt, daz in genumen hât der tôt hin von dirre brœden werlt. (30ff.)43
Aus der Perspektive des Verstorbenen ist der Tod die willkommene Erlösung von einer defizienten Welt. Aus der Perspektive derer betrachtet, die hienieden verbleiben, ist das Werk, das der Verstorbene hinterließ, allerdings keineswegs eitel, sondern von Bestand. Die Differenzierung erinnert an den Abschiedsgestus in Walthers ,Alterston‘, der der Welt als wertvolles Erbe hinterlässt, was er selbst als für die Seele schädlich empfindet: sein Singen von weltlicher Liebe, seine Dichtung als Weltwerk. Dem Begriff der brœden werlt und dem Verschwinden Gottfrieds aus dieser kontrastiert der nochmalige Lobpreis seines Kunstwerks, das nicht bloß hinterlassen wurde, sondern nach wie vor blüht (man beachte den Wechsel ins Präsens). Die Spur, die vom Meister hienieden bleibt, ist also alles andere als brœde. Das folgende Verspaar liest sich allerdings so, als würde es die beschworene Präsenz des Meisters im Werk gerade eingrenzen wollen: die tôten mit den tôten dort, / die lebenden mit den lebenden hie!44 Dies greift die tôt-leben-Formel aus Gottfrieds Prolog auf, insistiert allerdings auf einer säuberlichen Trennung beider Sphären. Schien es zunächst so, als wäre Gottfried für Heinrich jenes lebende Brot, das Tristan und Isolde der Gemeinde edler Herzen sein sollen, will der verwaiste Schüler seinen Meister nunmehr doch wieder dort wissen, von wo er ihn herbeirief: in der Ruhe des Grabes. Und dabei versteht er sich – wie die Formulierung in der ersten Person des Plurals anzeigt – als Stimme, die für die Gemeinde der Lesenden (auch hier wohl edle Herzen) spricht. Die nochmalige Grablegung lässt sich gut nach Harold Blooms Konzept der Einflussangst45 lesen und dokumentiert im Sinne einer solchen „Psychologie der Intertextualität“ den ämulatorischen Charakter, der Heinrichs Gottfried-imitatio durchzieht. Wie weit diese geht, erweisen die abschließenden Verse des thematischen Prologs (40ff.; ihm folgen Nennung und Preis des Auftraggebers Reimund von Lichtenberg). Sie rechtfertigen zunächst nochmals in nüchternem Ton das Vorhaben: Da Gottfried nun einmal dieses Buch unvollendet zurückgelassen habe, wolle er, Heinrich, – obwohl dumm und kunstlos – sich seiner annehmen, und es an jenes jammervolle Ende führen, da Tristan und Isolde in glühender 43 44 45
,Wir können ihn nun einmal nicht wiederhaben, / da Gott, unser Schöpfer, befohlen hat, / dass ihn der Tod / von dieser eitlen Welt nehme.‘ Die Wendung findet sich schon in Chrétiens ,Le Conte du Graal‘ 3568: Les morz as morz, les vis as vis! Bloom 1997. Nach Blooms Kategorien (14ff.) läge ein Fall von „Tessera“ (Perfektionierung) und „Apophrades“ (Wiedergängerei des Meisters im neuen Werk) vor.
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Liebe (eine eher ungottfriedsche Metapher) den Tod fanden.46 Dies freilich unter dem Vorbehalt, ob er mich lât sô lange leben, / der lîp und leben mir hât gegeben (51f.). Die Klausel greift jenen Gedanken der Selbstverschreibung an das poetische Werk auf, den die Autorstimme in Gottfrieds Prolog formulierte, als sie meinte, sie wolle mit ihrer „anderen Welt“ gerettet werden oder zugrunde gehen. Mit Gottfrieds Tod mitten im Werk scheint diese Selbstverschreibung auf unerwartet konkrete Weise wahr geworden. Dieses Buch, so die Pointe, verschlingt die Dichterleben. Der Gedanke überbietet jene Empathie gegenüber dem Text, die Gottfried der Gemeinde der edlen Leser abfordert. Die biographische Evidenz belegt, dass der Dichter selbst sein Leben lassen musste, damit die edlen Herzen sein Werk als ihr Brot genießen können. Der Fortsetzer hat allen Grund, dasselbe Schicksal zu fürchten. Indem er das Wagnis im Wissen um die nicht bloß metaphorische, sondern um die tatsächlich biographische Bedrohung auf sich nimmt, bringt er nun von vornherein ein größeres Opfer als der Meister, der von alledem noch nichts wusste. Die ironisch-pathetische Überdehnung der Dichter-Werk-Symbiose enthüllt dabei von Beginn an den spielerischen Charakter, der Heinrichs aemulatio grundiert. HISTOIRE STATT DISCOURS: DIE VERLORENE ANDERWELT. – Gegen das „Genie“ des Meisters setzt der „Epigone“ seine literarhistorische Kompetenz und Virtuosität. Signifikant dafür ist das Übergewicht, das die histoire gegenüber dem discours gewinnt. Die Erweiterung der narrativen Perspektive und der integrierten epischen Modelle drückt sich nicht zuletzt in der Einleitung zur Artusepisode aus, die das Herzstück der Fortsetzung bildet. Hie nahet aventiure (1447), heißt es da. So beginnt üblicherweise ein arthurisches Abenteuer, aber keine Episode des Tristanromans. Die Einbindung der Artuswelt hat ihr stoffgeschichtliches Vorbild und ist hier nicht prinzipiell ein Phänomen der üblichen sekundären epischen Verknüpfung der Sujets zu umfassenden Zyklen. Schon in Eilharts ,Tristrant‘, auf den Heinrich von Freiberg wie schon zuvor Ulrich von Türheim zurückgreift, findet sich Entsprechendes. Die konkrete Ausgestaltung ist für die literarhistorische Position des Textes signifikant und verrät den spezifischen Charakter der Fortsetzung. Sie orientiert sich narratologisch eben nicht bloß am genuinen Vorbild, das ihr Gottfrieds ,Tristan‘ bietet. Ihr steht vielmehr ein breites Repertoire kanonischer Texte, Sujets und Erzählmodelle zur Verfügung, die sie entsprechend zu integrieren weiß. Mit 46
sint daz er diz buoch verlie / und sîn nicht hât voltichtet / [...] sô hân ich mich genumen an, / ich tummer künstelôser man, / daz ich ez volbringen wil / mit rede unz an daz jâmerzil, / daz Tristan und die blunde Isôt / in glüender minne lâgen tôt.
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Silke Grothues von einem Gattungswechsel zu sprechen,47 wäre dabei insofern übertrieben, als ein späthöfischer Roman wie Heinrichs ,Tristan‘ keine exklusive generische Orientierung kennt. Seine ästhetische Identität findet er vielmehr in der Integration jener erfolgreichen narrativen Paradigmen, die eine mittlerweile konsolidierte Tradition höfischen Erzählens zur Verfügung stellt. Die Einleitungsformel gibt Heinrichs Artusepisode a priori den Anschein eines Exkurses. Dessen Zweck ließe sich etwa in einer repräsentativen Funktion erkennen. Âventiure wird in der Artuswelt, wie sie sich hier präsentiert, inszeniert und nicht zufällig gefunden. Artus lädt anlässlich der Gründung der Tafelrunde alle Ritter, die sich ihrer für würdig halten, zu einer Bewährungsprobe in den Wald zu Karidol. Dieser Wald gleicht allerdings nicht mehr dem von Brociliande aus Chrétiens ,Yvain‘. Hier eröffnet sich nicht mehr der unheimliche Raum für einen zunächst als kontingent erfahrenen Bewährungsweg, sondern – so Volker Mertens48 – ein „Abenteuerpark“, eigens zum Schaukampf hergerichtet. Incognito tritt Tristan in diese Sphäre ein und siegreich geht er aus ihr hervor: Er wirft Dalkors und Keie vom Pferd, der Kampf mit Gawan endet unentschieden, die Kontrahenten erkennen sich, und hocherfreut führt Gawan Tristan an den Artushof. Die (nach)gestellte Abenteueratmosphäre mag zum einen im poetischen Metier das Repräsentationsbedürfnis jener böhmischen Adelsschicht befriedigen, der Heinrich von Freiburg seine Fortsetzung dediziert hat.49 Ihr inszenatorischer Charakter korrespondiert einem Aventiurekonzept, wie es Heinrichs pseudo-historische Verserzählung, die ‚Ritterfahrt Johanns von Michelsberg‘, oder die Venus- und Artusfahrt in Ulrichs von Liechtenstein ‚Frauendienst‘ entwickeln. Denkt man die Passage zum anderen nicht nach ihrer soziokulturellen, sondern nach ihrer poetologischen Signifikanz durch, so ermöglicht sie eben die Inklusion anderer, ursprünglich generisch differenter Paradigmen. Tristan kann hier in einer Rolle erscheinen, die ihm bei Gottfried prinzipiell fremd ist, nämlich als Aventiureritter. Damit trägt Heinrich einen Aspekt nach, der bei Gottfried gleichsam zu kurz kommt, er gibt neben der Minne auch dem Abenteuer programmatischen Raum.50 Doch dabei bleibt es nicht. Das Aventiuremessen ist bloß Ausgangspunkt einer Handlungssequenz, die das arthurische Modell in die zirkuläre Struktur des Tristanromans rückbindet. Gawan weiß Tristans Leid zu 47 48 49 50
Grothues 1991. Mertens 1998, 255. Hierzu Grothues 1991. Auch damit setzt er auf anderem literarhistorischen Niveau um, was schon Eilhart umgesetzt hat, der von Mannheit und Minne zu erzählen sich vornimmt.
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erkennen und zu lindern, er schlägt der Artusgemeinde einen Jagdausflug vor, der sie an den Hof Markes führt. Indem dieser dem Herrn der Tafelrunde die gastliche Aufnahme aller seiner Ritter verspricht, findet auch Tristan jenen Zutritt wieder, der ihm seit seiner Flucht aus Cornwall untersagt ist. Dass er auch den Weg in Isoldes Kammer finden werde, dies zu wissen, ist Marke mittlerweile erfahren genug. Deshalb lässt er eine Messerfalle aufstellen, an der sich Tristan prompt verletzt. In einem solidarischen Akt fügen sich nun die übrigen Artusritter selbst Verletzungen zu. Marke kann Tristan nicht überführen und nimmt ihn wieder am Hofe auf. Das Intrigenspiel der Liebenden kann unter Beteiligung des Pagen Tantrisel, ein kindliches alter ego Tristans und eine höfische Verkleidung Amors, von vorne beginnen, bis die Liebenden neuerlich in flagranti ertappt und abgeurteilt werden: Tristan zum Tode auf dem Rad, Isolde zum Scheiterhaufen. In einem furiosen Showdown wissen sie zu entkommen. Zumal in ihm manifestiert sich jene erfrischende narrative Substanz, mit der Heinrich die vermeintliche Schwere des Gehalts von Gottfrieds ‚Tristan‘ zu parieren weiß. Was als Exkurs beginnt, wirkt aber noch in einer weiteren Hinsicht auf die grundsätzliche Konstellation des Sujets zurück: Zwischen Anderwelt und Allerwelt schiebt sich eine dritte: die Welt arthurischer courtoisie, die mit den Liebenden sympathisiert. Im narrativen Überhang verbirgt sich somit auch die hermeneutische Substanz der Fortsetzung. Sie zielt darauf ab, die scharfe Opposition zwischen Gottfrieds beiden Welten aufzuweichen. Dasselbe Phänomen kann am Waldleben beschrieben werden, das Tristan und Isolde nach ihrer gelungenen Flucht gemeinsam mit Kurvenal und Tantrisel führen. Es korrespondiert dem Minnegrottenleben im Sinne eines Gegenbildes. Die Wiederholung der utopischen Existenz will in der Fortsetzung nicht gelingen: Tristan und Isolde finden die Grotte nicht mehr. Das paradiesische Ambiente, das der verlorene Ort einst von selbst gewährte, muss nunmehr erst hergestellt werden. Tristan jagt mit Kurvenal nicht zum Vergnügen, sondern weil er für den Lebensunterhalt sorgen muss. Ein locus amoenus ist die Laubhütte – die buode, wie sie sich mittelhochdeutsch nennt (3391 u.a.) – nicht von sich aus, Isolde muss sie mit Blumenschmuck erst entsprechend ausstaffieren. Beim Blumenlesen geschieht es auch, dass sie unversehens Marke begegnet (3400ff.). Auch hier ist es der sinnreiche Zufall, der beide Welten aufeinander stoßen lässt. Die Initiative zur Zusammenführung geht allerdings diesmal von Isolde aus. Sie bemerkt Marke und weiß es so einzurichten, dass er auf sie aufmerksam wird. Der trügerische Anschein, der ihn dazu bringt, ihr neuerlich zu vergeben, ist keine Schutzmaßnahme, sondern aktiver Beitrag zur Rückkehr an den Hof – offenbar um einem Waldleben zu entrinnen, das entbehrungsreich genug ist, um ihm mit eini-
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ger Leichtigkeit entsagen zu können. Als Mittel der Täuschung dient nicht wie in der Minnegrotte eine gestellte Bettszene, sondern die trügerische Rede: Nachdem sie sicher ist, dass Marke sie bemerkt hat und ihre Worte auch vernehmen kann, meint Isolde zu Tantrisel, wie lange es her sei, dass Tristan sie gerettet habe. Ein halbes Jahr, gibt sie sich selber zur Antwort und schließt die Bemerkung an, dass er wie ein Feigling gehandelt habe, weil er sie an dem selben tage [...] in diser arbeit so lange Zeit allein gelassen habe (3475ff.). In bewährter Weise weiß sie hier, indem sie nicht lügt, zu lügen – denn die Wahrhaftigkeit der Aussage hängt an der rechten Relation der Zeitangabe an dem selben tage, die Marke natürlich nicht auf eben diesen jetzigen, sondern auf jenen Tag der Rettung bezieht. Mit den Worten, man habe sie mutwillig ihrem Herrn und König entfremdet, der ihr nicht lieber sein könne als in dem Moment, da sie ihm zur Frau gegeben ward, gewinnt sie endgültig sein Herz zurück. Marke kniet vor Isolde nieder, bittet um Verzeihung und bekommt einen Kuss auf den Mund – ein Akt der körperlichen Nähe, wie ihn die Versöhnung nach der Minnegrotte gerade nicht beschrieb. Tantrisel wird von Isolde fortgeschickt, um Tristan über die neugeschaffenen Fakten in Kenntnis zu setzen, und dieser ist es nicht nur nicht leid, sondern freut sich gar über den Kuss zwischen Königin und König. Die Episode zeigt, dass Heinrichs Fortsetzung jene Bilder des narrativen Stillstands vermeidet, mit denen Gottfried die entsprechenden kritischen Episoden in seinem Roman enden lässt, um eine scharfe Differenz zwischen der Binnenwelt der Liebenden und der Außenwelt des Hofes herzustellen. Hier scheint eher eine ambivalente Annäherung vollzogen, die womöglich den Prozess einer sich steigernden Beschädigung beider Sphären bezeichnen soll. Immerhin war die Welt des Hofes nahe daran, die beiden Liebenden grausam zu Tode zu bringen. Deren Agieren wiederum scheint zunehmend zum Mittel des vorsätzlichen Betrugs zu greifen. Der Preis, den sie hierfür zu entrichten haben, ist der, dass ihnen der Ausweg in die Sphäre einer lebbaren erotischen Idealität verweigert wird. Die konzeptionelle Abweichung ist zugleich eine poetologische. Sie lässt sich als Akt einer ämulatorischen Distanzierung vom Vorbild verstehen. Gegen Gottfrieds discours setzt Heinrich die Materialität der histoire. Schon bei Gottfried erweist sich die narrative Substanz des Sujets dem Konzept des Romans insofern überlegen, als sie die im Prolog formulierte Dichotomie zwischen Anderwelt und Allerwelt zugunsten einer substantiellen Ambivalenz immer wieder invertiert. Die Verstärkung dieser Tendenz bietet der Fortsetzung offenbar die Gelegenheit, über eine bloße imitatio hinauszugelangen, und verleiht ihr eine eigene, gleichwohl am Vorbild orientierte Signatur.
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Der Text vermeidet es jedenfalls, die Narration gewissermaßen vor der Zeit, nämlich vor dem großen Schlusstableau des Liebestodes in kontemplativen Bildern zum Stillstand zu bringen. Wo er es im Ansatz dennoch tut, gerinnt die Darstellung nicht zur ästhetischen Skulptur, sondern atmet sie eine morbide Atmosphäre, die in anderer Weise auf das Ende vorausdeutet als Minnegrotte und Baumgartenszene. So im Falle jenes kurzen, aber umso einprägsameren Bildes, das den Eindruck schildert, den Isolde auf Kaedin macht, als er sie zum ersten Mal erblickt: Dar nâch reit die schœne Isôt, gein der alle schœne tôt was, die bî iren lebetagen maget oder vrouwe mochte tragen, Tristandes vröuden houbetschatz. sie gebârt, als ob sie sprêche tratz allem dem, daz schônheit in dieser werlt von wîben treit (4463ff.)51
Die Szene ereignet sich nach der Episode vom Waldleben: Tristan war nach Arundel zurückgekehrt, aber immer noch nicht fähig, mit Isolde Weißhand die Ehe zu vollziehen. Als Kaedin, ihr Bruder, davon erfährt, stellt er ihn zornig zur Rede. Tristan rechtfertigt sich mit der einzigartigen Schönheit der blonden Isolde. Als Kaedin den Beweis einfordert, beschließt man, gemeinsam nach Cornwall zu fahren. Der Beweis wird hier erbracht. Isolde erscheint als Todesgöttin der Schönheit, gewissermaßen als ein personifizierter „overkill“, in dem sich die Schönheit der Welt selbst ihr Ende setzt. Der Todesbildlichkeit korrespondiert auf der Seite Tristans die Metapher vom Freudenschatz. Figuriert Isolde hier als Frau Welt auf anderem Niveau,52 so figuriert Tristan als ihr Jünger und beide als Todesboten ihrer selbst. Rhetorik und Bildregie des Textes lassen die Anderwelt in kein kontemplatives, sondern in ein aggressives metaphorisches Verhältnis zur Allerwelt treten. Diese antwortet mit ihrer schärfsten Waffe: mit ihrer Unverlässlichkeit und Kontingenz. Das Phänomen hatte sich in der unauffindbaren Grotte schon angedeutet, es manifestiert sich endgültig in Isolde Weißhands unmotivierter Lüge, die den siechen Tristan zu Tode bringt.
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‚Danach kam die schöne Isolde geritten, / der gegenüber alle Schönheit tot darnieder lag, / die zu ihren Lebzeiten / eine Jungfrau oder eine Dame verkörpern konnte / – Tristans höchster Schatz der Freuden. / Sie gebärdete sich so, als würde sie allem / trotzen, was diese Welt / an Frauenschönheit zu bieten hat.‘ Die betonte „Weltlichkeit“ und Nähe zur Allegorie der vanitas dokumentieren Isoldes reiche Staffage und ihre Überbietung Alexanders, Artus’ und Saladins (4514f.) im Reichtum. In dieser Reihe repräsentiert wenigstens Alexander auch eine Beispielfigur weltlicher Eitelkeit.
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INSZENIERTE KONTINGENZ: DER TOD DER LIEBENDEN. – Das Ende der beiden Liebenden resultiert nicht unmittelbar aus dem Konflikt zwischen ihrer idealen Binnenwelt und jener Außenwelt, in der sie sozialisiert sind. Der weltliche Zufall, der Tristans und Isoldes Tod verursacht, würde sonst zwangsläufig auf eine Kausalität von Vergehen und Strafe verweisen. Eine solche Kausalität aber würde das paradoxe Verhältnis zwischen Individuation und Sozialisation der Liebenden auflösen und in eine mehr oder minder banale Aufhebung der eigentlichen Dynamik münden, mit der die Thomas-Tradition das Sujet gestaltet. Das Einbrechen der Kontingenz ereignet sich daher in einer Episode, die die Grundkonstellation des Romans bloß spiegelt und auf diese Weise eine klare Hierarchisierung zwischen Binnenwelt und Außenwelt, aber auch zwischen Binnenwelt und Transzendenz umgehen kann.53 Nachdem Tristan in der Verkleidung des Narren abermals von Marke überführt worden und nach Arundel zurückgekehrt ist, scheint seine Ersatz-Ehe mit Isolde Weißhand zunächst zu gelingen: Endlich vermag er den Geschlechtsakt mit seiner Ehefrau zu vollziehen. Musste Isolde Weißhand zuvor feststellen, dass das Wasser, das sie beim Ritt durch eine Pfütze an der Scham benetzte, kühner sei als ihr Mann (3741ff.), so ist es nunmehr umgekehrt: er wart nu gein ir lîbe noch küener wan daz wazzer, dâ von ir ê wart nazzer der brûnen bluomen anger, der anger, der swanger was der brûnen blüemelîn. die rede lâzen wir nu sîn. (5966ff.)54
Da hier trotz der floralen Metaphern ohnehin alles unverblümt gesagt ist, würde sich die Dezenzformel erübrigen. Die direkte erotische Bildlichkeit von der weiblichen Scham als Blumenwiese konterkariert Gottfrieds preziöse Metaphorik des Geschlechtlichen (Türschloss, Musik der Liebe, 53
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Die Spiegelung löst somit das entscheidende narratologische Problem des Romans, seine Zyklizität und prinzipielle Unabschließbarkeit, vgl. oben 362, Anm. 30. Zu Zufallsstruktur und Zufallskonzept in Gottfrieds ,Tristan‘ Worstbrock 1995. Worstbrock betrachtet sie von der boethianischen Tradition her und sieht in den Zufällen des ‚Tristan‘ die Konzeption einer catena fatalis gegeben (44). Signifikanz und Funktion des Zufalls gründen in der Reaktion der handelnden Figuren auf ihn, gerade der Zufall lasse sie gleichsam zu sich kommen, er sei Wirkungsinstrument und Darstellungsprinzip der epischen catena fatalis. Möglicherweise sind narratives Geschehen und besondere Narratologie des Romans aber auch in diesen Begriffen zu weitreichend und einem sekundären philologischen Kalkül gemäß plausibilisiert. ,Er handelte nun gegen ihren Körper / noch verwegener als das Wasser, / von dem zuvor / die Wiese brauner Blumen nass wurde, / jene Wiese, die / mit den braunen Blümlein schwanger ging. / Aber lassen wir das.‘
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Skulptur) in Neidharts Manier.55 Auch diese Neigung zur Zote bezeichnet eine Strategie von Heinrichs aemulatio. Der gelungene und offensichtlich auch intensive sexuelle Verkehr mit der anderen Isolde56 führt die Narration nun zu einem Stillstand von anderer, unvermuteter Seite: Tristans Konflikt scheint gelöst, seine Liebe erfolgreich übertragen, damit fände die alte Passion ein so jähes wie erstaunlich triviales Ende. Einen Ausweg bietet eben die narrative Spiegelung: Kaedin ist in Kassîe, die Gattin des Nampotenis, verliebt. Tristan weiß die Ehebruchsliebe zu fördern. Und weil Nampotenis seine Frau misshandelt, ist sie auch legitimiert. Doch der Gatte kann die ehebrecherischen Liebenden mit jenem Sachverstand überführen, an dem es Marke (aus heimlicher Solidarität mit Tristan und Isolde?) mangelt. Im folgenden Kampf fällt Kaedin, Tristan wird – übrigens wie Amfortas von einem gelupten Speer (6278) – letal verwundet, bevor er seinerseits Nampotenis tötet. Die Wunde kann nur von der blonden Isolde geheilt werden, und Tristan lässt nach ihr aussenden. Kehre das Schiff mit ihr zurück, solle man weiße, im anderen Fall schwarze Segel setzen. Isolde ist ohne Umstände zur Überfahrt bereit (6356ff.). Dass Tristan die Alternative überhaupt für denkmöglich hält und deshalb ein schwarzes Segel mitführen lässt, ermöglicht das neuerliche Einbrechen jener sinnreichen Kontingenz, die schon zu seiner Verwundung führte und in der sich die Unverlässlichkeit der Welt am eindringlichsten manifestiert: Als Isolde Weißhand das Schiff erblickt, erklärt sie, es habe schwarze Segel gehisst. Tristan verstirbt so plötzlich, dass er weder Ach noch Weh rufen kann. Der Erzähler kritisiert, anders als bei Ulrich von Türheim (3385ff.)57, Isolde Weißhands Verhalten nicht und unterstellt ihr auch keine böse Absicht, sondern lässt sie aus einer plötzlichen Laune heraus lügen (ich hân geschimpfet, Tristân!, ruft sie mit Entsetzen über Tristans so unvermutet raschen Tod aus; 6401). Die Erzählregie weiß die Kontingenz des Geschehens gut zu inszenieren, und mit ihr eröffnet sich eine Perspektive der Sinngebung, die im Folgenden auch umgesetzt wird, einmal in der Figurenrede und einmal im Epilog.
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Vgl. 3780ff.: Das kühne Wasser bespritzt jene Engstelle (engerl), von der der höfische (!) Neidhart in dem Lied ‚aldâ die brûnen bluomen stân‘ gesungen habe. Gemeint ist vermutlich das Lied B64-68/c 20, SNE I,425ff. Die flektierte Form des Adjektivs „nass“, nazzer, lautet sinnigerweise gleich wie seine unflektierte Komparativform. Zu einer komparativischen Lesart verführt zunächst auch das Adjektiv küener. Sie wäre leicht möglich, wenn man ê in sît ändern würde: „Davon ward ihre braune Blumenwiese nasser als zuvor vom Wasser“ – das ist ja auch der derbe Sinn des Verses. Vgl. bes. 3394f.: grôze sünde Ysôt erwarp, / daz si in tôte âne nôt, sowie die Scheltworte der blonden Isolde an Isolde Weißhand: ,wes sitzet ir bî dem tôten, / den ir, vrouwe, ertœtet hât? / durh got hin von der bâre gât! / ir habet getân ein michel mort: / gêt hin dan und sitzet dort!‘ (3418ff.)
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Voran geht dem eine ins Sentimentalische gesteigerte Schlussszene, die mit ihrem finalen Bild jenen narrativen Stillstand im discours herbeiführt, dessen sich der Text zuvor erfolgreich entschlagen hat: Als die blonde Isolde nach ihrer Landung vom bereits eingetretenen Tode Tristans erfährt, verliert sie ihre Lebenskraft und lässt sich minneveige (also vom bevorstehenden Liebestod gezeichnet) und schweigend von Kurvenal ins Münster an Tristans Bahre führen (6512ff.). Sie stirbt mit den Lippen auf denen von Tristans Leiche, sie saugt gleichsam aus dem toten Geliebten den eigenen Tod: dô nam sie daz baldekîn von dem antlitze sîn und sach in alsô tôten an und viel ûf in und aber sân dructe sie an der selben stunt iren munt an sînen munt, ir wangen an die wangen sîn und ir blanken arme fîn den tôten umbe viengen. des tôdes stœze giengen ir vaste gein dem herzen; sîn tôt ir tôdes smerzen vüegete, wan er ouch den tôt durch sie leit und des tôdes nôt; der tôt inzwei daz herze ir brach. weder ach noch wê, noch wê noch ach gesprach die küneginne nie: tôt ûf dem tôten lac sie hie. dem minnetôten wîbe in sterbendem lîbe begonde ir herze krachen, rehte als ob tûsent spachen krachten von viures nôt. sus gelagen die gelieben tôt: Isôt die küneginne die starp in sîner minne, Tristandes, wan er ouch vertarp und in ir glüenden minne starp: er starp durch sie und sie durch in. (6559ff.)58 58
‚Da nahm sie das Leichentuch von seinem Antlitz / und blickte ihn an, tot wie er war, / und fiel auf ihn und / drückte im selben Moment ihren Mund auf seinen Mund, / ihre Wange an seine Wange, / und ihre blanken, zarten Arme / umfingen den Toten. / Die Schläge des Todes trafen / hart auf ihr Herz; / sein Tod fügte ihr tödliche Schmerzen zu, / weil auch er den Tod, / die Not des Todes, ihretwegen erlitten hatte; / der Tod brach ihr Herz entzwei. / Weder Ach noch Weh, weder Weh noch Ach / sprach die Königin. / Tot lag sie auf dem Toten. / Der liebestoten Frau / begann im Sterben / das Herz krachend zu brechen, / gerade so, als ob tausend Späne / im Feuer knistern. / So lagen die Liebenden
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Die Lippen der Liebenden und ihre Wangen berühren sich, Isolde umfasst Tristan – wider die Wahrscheinlichkeit der in der Situation getragenen Kleider – mit bloßen Armen (die im Attribut blank im übrigen den Namen der Kontrahentin aufrufen!). Unschwer zu erkennen, dass sich in diesem Bild jenes der Baumgartenszene wiederholt, nur dass die gelieben hier tatsächlich den Tod erfahren und nicht bloß zum ästhetischen Bild erstarren. Den inszenatorischen Charakter deutet die einleitende Regiebemerkung des Erzählers an: wie tet die vrouwe? daz sage ich (6558). Heinrichs imitatio ist stilistisch neuerlich von der pleonastischen copia verborum getragen, die im Gegensatz zu Gottfried jedoch nicht im Zeichen einer para-logischen Antithetik steht, sondern einem interessanten Rationalismus folgt:59 Das wundersame, einträchtige Sterben wird in anatomischer Genauigkeit beschrieben. Über den Kuss dringt der Tod in Isoldes Herz und lässt es brechen. Der Prozess ist physiologisch analog zu jenem der Liebesentstehung vorgestellt, bei dem üblicherweise das Bild der oder des Geliebten durchs Auge ins Herz des oder der Liebenden dringt. Die folgende Trauerrede Kurvenals schlägt jenes Thema der Weltkritik an, das der Epilog nach dem Bericht von Überführung der Leichen, Grablegung und Rosen-Reben-Wunder wieder aufgreifen wird. Kurvenal demonstriert dabei seine absolute Empathie nicht nur verbal, sondern auch körperlich. Indem er seinerseits Isoldens Geste nachahmt und nun die tote Königin und den toten Tristan auf den Mund küsst (6602ff.) und indem er so seine spiegelklare Treue (6611) kundtut, erweist er sich als jenes edle Herz, das den Tod der Liebenden als Brot zu sich nimmt. Er handelt als erster und idealer Rezipient, und in diesem verbirgt sich – nach Gottfrieds Prolog gedacht – folgerichtig auch der Erzähler. Allerdings ist es nicht das Brot des Lebens, sondern der Geschmack des Todes, den er zu sich nimmt. Dies jedenfalls suggeriert seine Distanzierung von jener Welt, die nicht nur als kontingente Gegenwelt die Liebenden zu Tode brachte, sondern als deren eigentliche Diener sie sich nun erweisen sollen:
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tot darnieder: / Isolde, die Königin, / sie starb in seiner Liebe, / Tristans, da auch er zugrunde gegangen / und in ihrer glühenden Liebe gestorben war. / Er starb ihretwegen und sie seinetwegen.‘ Es ist dies nicht die einzige Stelle, die das Liebesgeschehen nach den wissenschaftlichen Standards und Erklärungsmodellen der Zeit rationalisiert. Das beste Beispiel gibt der astrologische Exkurs, mit dem Tristans Untreue gegenüber der blonden Isolde und seine Hinwendung zu Isolde Weißhand erklärt wird, die gegen die Logik des Minnetranks stehen: Es handle sich um eine Eklipsis, eine astronomische Verdunkelung jenes Sternes, an den die Macht des Tranks gebunden sei und unter dessen Einfluss Tristan und Isolde stehen (225ff.). Der alogische, magische Sachverhalt wird nach einem quasi-kausalen Kalkül umgedeutet.
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er jach: „sich, werlt, diz ist dîn lôn, den dû zu jungest gibest in, die dir zu dienest iren sin, lîp und herze neigen: den kanstu kurze erzeigen die valschen in der letzten stunt. du strîchest in honic in den munt den alden und den jungen: swan sie dan mit den zungen dar nâch grîfende sîn, sô tröufest dû in galle dar în.“ (6620ff.)60
Damit scheint Eindeutigkeit hergestellt. Es gibt hier nur mehr eine Welt. Die minnemystische, positive Dialektik einer Liebe-Leid-Harmonie scheint suspendiert. Deutlich wird zudem die Identität zwischen Welt und Minne: Die Formel vom endlichen Lohn der Welt reflektiert jene des ,Nibelungenlieds‘ (wie liebe mit leide ze jungest lônen kann; 1.17). Kurvenals Anklage entspricht ferner den Vorwürfen, die Pallas und Juno gegenüber Venus in Konrads ‚Trojanerkrieg‘ (2230ff.) beim Streit um den Apfel der Discordia äußern.61 Freilich bewahrt die Metaphorik jene Paradoxie, in der für Gottfried die Herausforderung und Ausgezeichnetheit der Welt besteht, der er gewerldet sein will. Sie lebt in den pathetischen Phrasen weiter, die Kurvenal verwendet: „sich werlt, die [Tristan und Isolde] hat dîn süezikeit / gecleidet in des tôdes cleit.“ Dieses Ende der Klage (6651) tilgt im Unterschied zur üblichen Topik die versprochene Süße der Welt nicht und transzendiert damit den simplen Mechanismus des contemptus mundi. Latent gegenläufig oder wenigstens ambivalent lässt sich auch das Bild von Honig und Galle verstehen, das an die entsprechende Passage in Walthers ‚Elegie‘ erinnert.62 Auch Kurvenals Weltklage folgt einer Logik des rechten Moments. Damit ist zunächst ihre Kontextgebundenheit bewiesen, sie ist im eigentlichen Wortsinn topisch; wir fassen hier nicht den finalen Lehrsatz der Fortsetzung. Dennoch: Auch wenn der spezifische Gebrauch der einschlägigen Metaphern die Klarheit der Absage unterläuft und wenn die Empathie des Sprechers dessen Urteil vom nichtigen Weltdienst konterka60
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,Er sprach: „Sieh, Welt, dies ist dein Lohn, / den du endlich denen gibst, / die Verstand, / Leib und Herz in deine Dienste geben: / Denen kannst du ohne Umstände / im äußersten Moment deine Falschheit beweisen. / Du streichst ihnen Honig in den Mund, / Alten wie Jungen: / Wenn sie dann mit der Zunge danach greifen, / so träufelst du ihnen Galle drauf.‘ Pallas und Juno verweisen hier übrigens dezidiert auf das Los Tristans und Isoldes (2312f.). Der Text verstößt mit dieser Anspielung bewusst gegen die innerliterarische Chronologie (die Göttinnen können von Tristan und Isolde eigentlich noch nichts wissen) und dokumentiert den „akademisch-scholastischen“ Charakter des Streits, der wesentlich die Ironie der Darstellung ausmacht. Vgl. oben Kap. I.4, 103.
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riert, so scheint die vanitas-Regie an diesem narrativen Punkt doch dem Alexander-Topos angeglichen: Die Bilanz des Weltlebens der Liebenden läuft Gefahr, die fünf Fuß Erde, die dem Weltenherrscher bleiben, nicht zu übertreffen, auch wenn Weinrebe und Rosenstock aus ihren Gräbern wachsen werden. Doch ließe sich deren Verzweigung ineinander nicht nur als Bild bestehenden Nachruhms lesen, sondern als Beweis, dass diese Liebenden nicht einmal im Zustand des Todes dem Dienst am vanus amor mundi entsagen können. ROSENSTOCK UND WEINREBE: CONTEMPTUS MUNDI UND ALLEGORIA AMORIS. – Die Stimme des Epikers scheint dies im Epilog zu bekräftigen,
wenn sie sich mit Kurvenals Argumenten nun nicht an die Liebenden, sondern an die Rezipienten wendet und zum Weinreben-RosenstockWunder Folgendes erklärt: Nu dar, ir werlde minner, sehet alle in disen spiegel her und schouwet, wie in aller vrist hin slîchende unde genclîch ist, die werltlîche minne! Isôt die küneginne, swie die in sîner minne bran und in ir minne her Tristan, ez nam doch swachez ende. ein iegelîch cristen wende herze, muot und sinne hin zu der wâren minne, die unzurgenclîch immer ist. wir cristen sulen minnen Crist, der von der megde wart geborn und uns den blüenden rôsendorn bezeichent wol in aller stunt; der an dem criuze durch uns wunt wart in den tôt pînlîche gnuoc; und der die rôten rôsen truoc mit bitterlîchem smerzen durch uns an sînem herzen, an vüezen und an henden. wir cristen sullen wenden an in lîp, sêle und unser leben, wan wir ez sîn die wînreben, die ûz im liez erspriezen er und uns der trûben vruchtbêr hât gemachet, daz wir hân sin und vernunft. nu ruofe wir an den vater des himelischen suns, daz er lâ vlechten sich in uns
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den wâren blüenden rôsendorn, Crist sînen zarten sun einborn, und uns die genâde gebe, daz wir alsam die wînrebe uns vlechten wider in in und unser herze und unseren sin in im verwerren und verweben, als man sach den wînreben sich vlechten in den rôsendorn über den gelieben ûz erkorn, die in der liebe ir ende nâmen. nu sprechet âmen, âmen, âmen! (6847ff.)63
Mit diesen Schlussversen wird der komplizierte und problematische Roman allem Anschein nach zu einem erbaulichen Ende gebracht. Erbaulich ist dieses Ende auch für die Philologie, denn Heinrich scheint genau dort, wo es sein soll, das einzulösen, was wir immer schon erwarteten: Die Fortsetzung schafft Klarheit. Schnell ist der Begriff der „Domestizierung“ der Tristanliebe zur Hand und wunderbar bestätigt sind unsere philologischen Denkschemata: Dort das unbändigbare Fragment des Klassikers, mit dem bestenfalls der moderne Interpret gemeinsame Sache machen darf, hier der nicht unbegabte nachklassische Fortsetzer, der bei aller Ambition doch nur den Ausweg in eine triviale christliche Weltabkehr wählen kann. Bestätigt sehen könnte man auch die von der neueren Forschung vermehrt behauptete Tendenz des Zeitalters: die Rückkehr zu religiösen, frömmelnden Verständnisformen im Laufe des 13. Jahrhunderts.64 Dass 63
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,Nun her, Ihr, die ihr die Welt liebt, / blickt alle in diesen Spiegel / und seht, wie zu jeder Zeit / die weltliche Liebe / hinschleicht und vergänglich ist! / Isolde die Königin, / wie sehr sie auch in Liebe zu ihm brannte / und in Liebe zu ihr Herr Tristan, / es nahm doch ein mageres Ende. / Jeder Christ richte / sein Herz, sein Streben und seinen Sinn / auf die wahre Liebe, / die für immer unvergänglich ist. / Wir Christen sollen Christus lieben, / der von der Jungfrau geboren wurde / und uns den blühenden Rosendornenstock / für immerdar bezeichnet. / Der am Kreuze für uns bis auf den Tod / in Schmerzenspein verwundet ward. / Und der die roten Rosen / im Verein mit bitteren Schmerzen / für uns in seinem Herzen trug, / an Füßen und an Händen. / Wir Christen sollen auf ihn / Leib, Seele und unser Dasein richten, / weil wir die Weinreben sind, / die er aus sich heraus sprießen ließ. / Er ließ uns Trauben als Frucht tragen, / damit wir Sinn und Verstand haben. / Nun wollen wir den Vater / des himmlischen Sohnes anrufen, / dass er den wahren blühenden Rosenstock / sich in uns verflechten lasse, / Christus seinen geliebten eingeborenen Sohn, / und dass er uns die Gnade erweise, / dass wir uns so wie die Weinrebe / wiederum in ihn verflechten / und unser Herz und unser ganzes Sinnen / in ihn verknüpfen und verweben, / so wie man die Weinrebe / sich in den Rosendorn verflechten sah / über den auserkorenen Liebenden, / die in der Liebe ihr Ende fanden. / Nun sprecht alle: Amen, Amen, Amen!‘ Schon Bernt (Hg., Einleitung, 202) zufolge tragen Heinrichs vermeintliche Weltflucht und Vergeistlichung am Ende des ,Tristan‘ den „Stempel der Zeit“. Für den höfischen Roman behauptet Entsprechendes Brunner 2002.
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an der Begräbnisstätte der Liebenden auf Markes Veranlassung hin das Kloster a l’estelle sente Mariâ (6804) gegründet wird,65 ließe sich mit der Praxis vergleichen, die heidnischen Tempel mit christlichen Kirchen zu überbauen. Wie das Beispiel der Chiesa Santa Maria sopra Minerva in Rom zeigt, wird sie bis ins 13. Jahrhundert gerne geübt. Hier würde die Klostergründung das weltfixierte Leben der senedære geistlich überhöhen und egalisieren – als architektonische Entsprechung zur christologischen Metaphrase des Rosen-Reben-Wunders. Oder würde sie die Praxis reflektieren, die Kirchen über den Gräbern der Märtyrer zu errichten, was aber wäre dann der Sinn? Fast zu glatt bestätigt sich auch die Grundthese, dass die Fortsetzung vor allem eines leisten wolle: die Rezeption des Klassikers steuern, so Peter Strohschneider.66 (Die Philologie lehrt uns im übrigen gerade das Umgekehrte: dass das Fragment die Rezeption der Fortsetzungen steuert.) Wer dies allerdings so sehen will, erweist sich gegenüber dem Text relativ vergesslich: Kurz zuvor noch zelebrieren die rhetorisch ausgefeilten Nekrologstrophen (6414ff.) – ähnlich wie Gottfrieds Prolog – das Tristanleben als pathetisches, affirmatives Paradigma immanenter Leidensschönheit. Und wenn man den Epilog unter dem Aspekt der aemulatio analysiert, so verweisen die Denkfiguren der Typologie, der Analogie und der Allegorie zuallererst auf Gottfrieds ‚Tristan‘. Grundsätzlich zielt die typologische Relation auf die Vollendung von etwas Fehlerhaftem durch etwas Perfektes. Als Mittel christlicher Hermeneutik stellt sie vorzugsweise die Beziehung von Altem und Neuem Testament als Verheißung und Erfüllung dar.67 Die entscheidenden Attribute sind alt-neu oder falsch-wahr: Eva ist der Typus, Maria der erfüllende Antitypus; was der alte Adam verwirkt hat, macht der neue Adam Christus wieder gut. Bei Heinrich geben Tristan und Isolde den defizienten weltlichen Typus für Christus und dessen Braut, die christliche Seele ab. Die typologische Rhetorik ist konkret im Gegensatz zwischen weltlicher und wahrer christlicher Liebe (6851 zu 6858) sowie zwischen bloßem und wahrem Rosenstock (6879) zu fassen. Ähnliche Typologismen kennt nun auch Gottfried, ein Beispiel geben Tristans Lobpreis Isoldens als „neue Sonne“ (8284) oder der Begriff vom „wahren Helikon“ (4895).68 In beiden Fällen wird das geistliche hermeneutische Muster allerdings vollständig in 65 66 67 68
Der Name spielt auf das Kloster Marienstern in der Lausitz an, stellt also auch eine „lokalpatriotische“ Referenz her; hierzu Bernt (Hg.), Einleitung, 187. Zur memorialen Funktion von Markes Klostergründung Fritsch-Rößler 1999, 396ff. Strohschneider 1991, 73f. Vgl. hierzu insbesondere die Beiträge von Friedrich Ohly („Typologie als Denkform der Geschichtsbetrachtung“), Northrop Frye („Typologie als Denkweise und rhetorische Figur“) und Paul J. Korshin („Typologie als System“) in: Bohn (Hg.) 1988. Zur Deutung der beiden Stellen in Gottfrieds ,Tristan‘ M. Kern 1998, 166ff. und 2000.
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den Romankontext integriert, seine Signifikanz ist eine profane und keine geistliche wie im Falle von Heinrichs Epilog. Gottfrieds Neigung zur geistlichen Analogie ist allenthalben gegenwärtig, zumal in der eucharistischen Metaphorik des Prologs oder im kathedralenartigen Bau der Minnegrotte. Im letzten Fall bedient er sich ausgiebig der Allegorese. Allerdings bleibt der allegorische Sinn auch hier auf die Immanenz bezogen. Bei Heinrich ist er klar geistlich: Der Rosenstock bezeichnet Christus, der Rebstock die christliche Seele. Die Wendung gegen die Welt geriert sich als Widerruf dessen, was der Roman fortwährend zelebrierte. Sie stellt sich nicht bloß in die Tradition des contemptus mundi und der mit ihm verbundenen Denk- und Redeformen der revocatio und der conversio, sondern reproduziert in der Apostrophe an die werlde minner den Gestus höfischer Weltverachtung in Konrads Versnovelle ‚Der Welt Lohn‘. Aber kann diese revocatio wirklich egalisieren, was zuvor mit narrativem Aufwand ausgebreitet wurde? Zu bedenken ist, dass sie jene sentimentalisch-depressive Pose nachahmt, die zuvor Kurvenal, eine Gestalt des Romans, angesichts der toten Liebenden eingenommen hatte. Die Schlussworte schlagen also zunächst eine ebenso momentane und nicht endgültige Perspektive an wie jede andere Episode im Text. Sie können den Gesamttext schwerlich löschen, vielmehr werden sie von diesem untergraben: Der Epilog vollzieht nämlich selbst einen Schwenk, der wie im Falle Kurvenals auf die latente Empathie hinweist, die in der Weltklage mitformuliert ist. Auf den Topos von der Hinfälligkeit der Welt und der weltlichen Liebe, der vanitas vanitatum, folgt die geistliche Allegorese des Pflanzenwunders. Das säkulare, weltliche Ereignis wird die Basis geistlicher Lehre. Die christologische Deutung des Wunders, das sich über dem Grab von Tristan und Isolde ereignet, schlägt ins Gegenteil dessen um, was die Weltanklage besagt. Säkulare Liebe figuriert mit dem Wechsel vom typologischen in den allegorischen Deutungsmodus als Modell der geistlichen: Tristan wird zum Sinnbild Christi, Isolde zum Sinnbild der christlichen Seele. Die beiden Liebenden, die eben noch ein Beispiel der Weltverfallenheit geben sollten, werden zu Gleichnisfiguren geistlicher Bedeutsamkeit hochstilisiert. Wenn man mit Helmut de Boor von Tristan und Isolde als Minneheiligen sprechen will,69 dann sind sie es nicht bei Gottfried, sondern hier. Was zunächst als Absage intendiert ist, mutiert zu einer Aufwertung. Rhetorische und ästhetische Präsenz der copia verborum schießen also auch in Heinrichs Epilog über jenen einsträngigen Sinn hinaus, den man ihm nur allzu gerne unterstellt. Das Phänomen weist wiederum auf Gottfried selbst zurück. Auch bei ihm ist es die Sprachkunst, die Ausreizung 69
De Boor 1991, 138.
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rhetorischer und poetischer Muster, die jene Sphäre ästhetischer Präsenz erzeugt, die das Werk – um es mit der Formel Gumbrechts zu sagen70 – „diesseits der Hermeneutik“ bleiben lässt. Es liegt im Wesen dieser ästhetischen Präsenz, die sich nur im inkalkulablen Prozess der Produktion und Rezeption des Textes einstellen kann, dass sie keinem handfesten Plan entspringt, sondern einem „work in progress“ gleicht. Getragen wird es von der (beispielsweise klanglichen) Materialität und dem (beispielsweise reimkünstlerischen) Spiel der Sprachfiguren, die dem narrativen und diskursiven Sinn poetischer Sprache immer schon voraus sind. Das Zusammenspiel komplexer rhetorischer und hermeneutischer Muster zeigt, dass Sinn oder Gehalt nicht a priori gegeben und dann verdichtet sind, sondern immer erst erdichtet werden: Man denke wiederum an Gottfrieds Prolog, der sich zur eucharistischen Metapher vom Brot der Liebenden gewissermaßen erst hindichtet. Sie ist poetisch schlüssig, ohne dass diskursiv zu klären wäre, was die eucharistische Analogie bedeute. Das poetische Wort scheint in Gottfrieds Tristan gehaltvoll, aber nicht auf einen präzisen Gehalt hin kalkuliert oder durch einen solchen gezügelt. Und auch Heinrich scheint diesem poetischen Wort in seinem Epilog die Zügel schießen zu lassen. Jedenfalls darf bezweifelt werden, dass hier die letztgültige „Moral aus der Geschicht’“ gegeben würde und wenn, dann wäre sie schon in sich nicht konsistent. Und so schiene es genauso passend, wenn in den letzten Vers statt „âmen, âmen, âmen“, das Palindrom von Îsot gesetzt wäre, das Tristan, als Narr verkleidet, erfunden hat (5360): „Tosî, Tosî, Tosî!“71 Peter Strohschneider meinte, das Ziel der Fortsetzungen sei es nicht, zu Ende, sondern weiter zu erzählen. Doch auch er versteift sich auf die These von der „Domestikation des problemhaften Faszinosums“72, nämlich von Gottfrieds ,Tristan‘, die genau ein ebensolches Zu-Ende-Bringen bedeuten müsste. Heinrichs abschließendes Verspaar vor dem finalen „Amen“ bricht jedoch jene einsträngige Perspektive wieder auf, in der eine solche „Domestikation“ erst vollzogen wäre. Im Wort von den gelieben ûz erkorn wird gegen die Devise von Konrads ‚Weltmäre‘, mit der der Epilog beginnt, die tristanische gesetzt, die schon Konrad selbst im ‚Herzmäre‘ in gewisser antithetischer Logik zu ‚Der Welt Lohn‘ formuliert hatte.73 70 71
72 73
Gumbrecht 2004. Im Lichte von Susanne Köbeles Aufsatz (2002, hier 114) ließe sich in der „heilige[n] Wiederholung: nu sprechet âmen, âmen, âmen“ eine sinnreiche Spiegelung des Profanen (des wiederholten Palindroms „Tosî, Tosî, Tosî!) erkennen (sie ist ja schon im „metri causa“ des mehrfachen Amen gegeben). Das Profane wäre im Schlussvers also gerade nicht gelöscht, wie Köbele meint. Strohschneider 1991, 95. Hierzu oben Kap. I.2, 51ff. Man vergleiche die divergenten Perspektiven des Exemplarischen, das beide Mären auf ihre Weisen behaupten, sowie die konträre Funktionalisierung
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Das Rosen-Reben-Wunder der Tristantradition ließe sich als Säkularisat geistlicher Allegoreme verstehen.74 Heinrich habe es, so ist man zunächst verleitet zu denken, der „Theologie“ rückerstattet.75 Die Ironie seines Epilogs ist jedoch die, dass er die genuin immanente, aus der ovidianischen Tradition kommende Metamorphose auf den Gräbern der Liebenden die Quelle geistlichen Sinnes sein lässt. Tristan und Isolde als Allegorie des Erlösungswerkes Christi, dieser hermeneutische Schritt egalisiert den in der typologischen Relation zwischen falscher weltlicher und wahrer geistlicher Liebe zunächst formulierten revokatorischen Gestus. Er restituiert die Aura des sentimentalischen Bildes von den beiden Liebestoten, dessen ästhetische Präsenz und Bedeutsamkeit als die litterale Dimension der Allegorese bestehen bleibt. Was zunächst verworfen ward, zeigt sich am Ende ins Recht gesetzt. Diese paradoxe, aber doch folgerichtige Strategie des Textes setzt eine Empathie voraus, wie sie nur dem edlen Herzen gegeben sein kann, einem Herzen, das wie Kurvenal an den Lippen der schönen Leichen hängt und dessen contemptus mundi als geheime und melancholische affirmatio amoris gedacht ist. ABSCHIED UND WILLKOMMEN. – Die Poetik der Immanenz, die Gottfrieds ,Tristan‘ formuliert, ist von einiger Komplexität: Sie besteht zunächst in einer unruhigen Geschäftigkeit im Dienste einer schwierigen Welt, die die paradoxe Erfahrung des Lebens im senemære als etwas repräsentiert, das unbedingte Teilnahme verlangt. Die Entscheidung für die Welt nimmt keine Rücksicht auf die eigentliche Sphäre der Transzendenz:
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der Kreuzfahrt. Sie bringt dem Liebenden im ‚Herzmäre‘ nicht wie Wirnt die Befreiung vom weltlichen Leiden, sondern den schmerzvollen Liebestod in der Fremde. Gegen die Bindung an die Geliebte gibt es kein remedium, nicht einmal die Nähe zum Heiligen Grab. Der Weinstock ist schon im ‚Alten Testament‘ ein häufig verwendetes Symbol (u.a. für den wechselnden Zustand Israels), im ‚Johannesevangelium‘ (15,1-8) beschreibt die entsprechende Parabel Christus als den von Gott kultivierten Weinstock, seine Anhänger aber als dessen Reben. In der patristischen Weiterdeutung fungiert der Weinstock als Allegorie der ecclesia, was sich auch besser zum grammatischen Geschlecht der lateinischen vitis fügt. Nicht die Parabel des Evangeliums, sondern diese Modifikation wird von Heinrichs Deutung vorausgesetzt und erklärt die – von den deutschen Lexemen und von der höfischen Symbolik her betrachtet – fremde Zuordnung des Weinstocks zu Isolde und der Rose zu Tristan. Letzteres ist auch im Lichte der geistlichen Symbolik unkonventionell, da die Rose eher mariologisches als christologisches Symbol ist, sich aber freilich nicht bloß darauf beschränkt. So verbildlicht sie gerade auch das Martyrium, und dies ist auch die Brücke zu Heinrichs Auslegung. Im übrigen würde die umgekehrte Zuordnung, Rose zu Isolde, Weinstock zu Tristan, die eigentlich die näher liegende wäre, einer geistlichen Deutung größere Schwierigkeiten bereiten; s.v. Rose (R. Schumacher-Wolfgarten), LCI 3, Sp. 563568, s.v. Weinstock (A. Thomas), LCI 4, Sp. 491-494 und s.v. Weinrebenmadonna (A. Thomas), ebd., Sp. 489-491 (Maria als die Weinrebe, die die Traube Christus hervorbringt). Zur Denkfigur des „Säkularisats“ als der Theologie entwendeten Raubguts Blumenberg 1999, bes. Kapitel II („Eine Dimension verborgenen Sinnes“) 20-34.
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III. Poetik der Immanenz
Die Stimme des Autors verschreibt sich ganz der Welt, der sie gewerldet sein will; mit ihr will sie zugrunde gehen oder gerettet sein. In gewisser Weise könnte man darin jene Umkehrung der Hierarchie von Ewigkeit und Zeit vorweggenommen sehen, von der Schelling sprechen wird: Nicht ist die Sphäre des Zeitlichen jenes Gefängnis, aus dem auszubrechen wäre, sondern das postulierte Ewige findet in der Hingabe an das Zeitliche seine Befreiung.76 Jedenfalls scheint bei Gottfried die Entscheidung durch die Analogisierung der intendierten Anderwelt mit der Transzendenz a priori abgesichert. Die damit verbundene Differenzierung von anderer und gemeiner Welt zeigt sich im Prozess der Narration allerdings aufgeweicht. Die histoire suspendiert sie, während sie jene Bilder des discours affirmieren, in denen die Narration zum Stillstand kommt. Das innovatorische Potential von Gottfrieds ,Tristan‘ erweist sich dabei darin, dass er eine der stereotypen Denkformen der vanitas – die Identifizierung von amor carnalis, Sünde und immanenter Defizienz – durchbricht, u.a. im Verfahren der Separation von Anderwelt und Allerwelt sowie in der ideellen Analogisierung der Sphäre der Liebenden mit der Transzendenz. Man kann in ihr – mehr oder weniger behelfsmäßig – eine Entbindung dieser besonderen Welt von der Zeit gegeben sehen. Dem steht das Phänomen der Inklusion gegenüber, nämlich die Einbindung der Anderwelt in die Allerwelt, die deren Idealisierung unterwandert und sie der Immanenz gleichsam zurückgibt. Sie ist nicht nur eine Notwendigkeit auf der Ebene der Narration, sondern äußert sich auch im Phänomen der ironischen Distanznahme des Erzählers, wie sie in Kommentaren wie jenem zur huote oder jenem zur „Eva-Natur des Weibes“ vollzogen wird. Die Denkformen von Welt und Weltlichkeit, die Gottfrieds ,Tristan‘ integriert, sind dabei insofern auch poetologische Denkformen, als sie zum einen spezifische Modi der Darstellung und der Rezeption bedingen; zum anderen, als der Roman von Erzähler und Rezipienten absolute Empathie fordert, ihr gewerldet-Sein in der Welt des senemære voraussetzt. Dies deshalb, weil diese besondere Welt eben als die erst poetisch entworfene Repräsentation einer integrativen Lebenserfahrung aufgefasst ist77 und nichts weniger als ein neues „Brot des Lebens“ verspricht, wobei der Begriff des Lebens entschieden immanent, also auf das Hienieden bezogen ist; dies freilich unter dem Risiko, dass Gedeih und Verderb mit jener Welt zu teilen sind.
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F. W. J. Schelling: Die Weltalter. Erstes Buch. Die Vergangenheit. Druck I (1811). In: Schelling 1995, 213-319, bes. 227ff. Im senemære kommt die Welt wie in einem Spiegel zu sich, man vergleiche den Spiegelbegriff im Epilog Heinrichs von Freiberg (6848).
2. Welt und Unruhe im Tristanroman
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Heinrichs von Freiberg Fortsetzung setzt im ämulatorischen Verfahren folgerichtig die Materialität der histoire gegen Hermeneutik und Präsenz des discours. Gottfried löst die poetisch entworfene Welt aus ihrer hierarchischen Gebundenheit an die Transzendenz. Heinrichs abschließende Auslegung der Baummetamorphose am Grab der Liebenden steht im Zeichen eines contemptus mundi, der diese Entbindung ebenso konterkariert wie bestätigt. Zunächst formuliert sie die Klage von der vana gloria mundi unter den gemäßigten Bedingungen des Ubi-sunt-Topos. „Wo sind sie geblieben?“, diese Frage richtet sich in Heinrichs Prolog angesichts des Todes des Autors an Kunst und Kunstfertigkeit; im Epilog zielt sie angesichts der toten Liebenden auf Sujet und Weltkonzept. Obwohl sich die Adresse an die Liebhaber der Welt wahrscheinlich auf Konrads ‚Der Welt Lohn‘ bezieht, verzichten die Verse auf die obligate Fäulnis des Fleisches. Heinrichs vanitas-Klage formuliert sich im Modus der Melancholie. Das Weltleben Tristans und Isoldes zeigt sich schließlich in der paradoxen Bewegung bestätigt, die seine geistliche Ausdeutung beschreibt, und in dieser Bestätigung ließe sich auch der Urteilsspruch Gottes ausgesprochen sehen, von dem in Gottfrieds Prolog die Rede ist. Im Prolog weiß Heinrich zu berichten, dass Gott den Meister während dessen Arbeit am senemære zu sich gerufen habe. Wenn man also die ängstliche Frage stellen wollte: „Ist er gerichtet?“, so wäre schon hier die Antwort gegeben: „Ist gerettet!“ Dies gälte denn – vom Epilog her besehen – auch für die andere Welt selbst, die der Meister gemeint hatte. Und allem Anschein nach muss dieser Gott ein empfindsamer Ästhet und ein edles Herz, kurz: ein liebender Gott gewesen sein. An der Poetik der Immanenz, die im Tristanroman der ThomasTradition entworfen wird, ist abzulesen, dass die Poesie die Urteilsmechanismen eines theologischen Diskurses zu invertieren weiß, indem sie sie aufgreift und ihnen nachzugeben scheint. Das senemære von Tristans und Isoldes Leben und Tod ist das lebende Brot, weil es zwar nicht für immer, aber immer wieder den Hunger, auch den Welthunger jener zu stillen vermag, die es zu sich nehmen: bei jeder neuen Lektüre. Auf diese Wiederholbarkeit und auf die in ihr gründende „Permanenz des Werks“ haben uns schon Petrarcas ‚Rerum vulgarium fragmenta‘ verwiesen. Und die Allegorie von den zwei Quellen, mit der Walter von Châtillon sein Alexanderepos beschließt, scheint auf denselben Gedanken hinauszulaufen. Sie mündet in eine Empfehlung zur Lektüre, also in die Aufforderung, sich jener Quelle zuzuwenden, von der sich der Autor eben abgewandt hat: der Quelle der Dichtkunst, die den Durst nicht für immer, aber immer wieder stillt. Der Vergleich mit Walters Musenabrufung lässt zudem den Ort, den „Topos“, präziser benennen, an dem Heinrich von Freiberg das geistliche Muster von contemptus und revocatio aufruft: Es ist jener Ort des Abschieds,
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des Abschlusses der poetischen Arbeit durch den Autor und mit diesem – immer wieder – durch die Rezipienten. Es ist jener Schwellenort des Übertritts von der poetischen Wirklichkeit in die außerpoetische, der in Konrads von Würzburg ‚Weltlohn‘ den sinnreichen Raum der Begegnung Wirnts mit der Vanitas bezeichnet. Dieser Übertritt ist niemals endgültig, da es dem Besitzer des Buches von Laura, Tristan, Alexander oder auch der Weltnovelle freisteht, die Lektüre von neuem zu beginnen. So liest sich der Abschied aus der Welt der Poesie zugleich als ein Willkommen. Die Musenabrufung der ‚Alexandreis‘ und Heinrichs geistliche Meditation zum Tristanischen Grabeswunder greifen die revocatio als eingespielten Topos des Beschlusses auf. Indem sie seine Gültigkeit auf Moment und Ort der endenden Narration beschränken und damit seine Unwiderruflichkeit im spezifischen Medium des immer wieder lesbaren Textes verneinen, wissen sie ihn zugleich zu invertieren. Das allegorische Mythologem und die geistliche Allegorese präsentieren sich auf diese Weise als die adäquaten Darstellungsformen einer poetologischen Denkform der Vanitas, die noch im Akt einer scheinbaren Negation die poetische unmüezekeit, das poetische Weltwerk als sinnvolles Tun legitimiert. Der Tod der Liebenden wird im senemære das lebende Brot und er wird es immer wieder. Es ließe sich mit Schillers ‚Nänie‘ so sagen: Auch das Schöne muß sterben! Das Menschen und Götter bezwinget, Nicht die eherne Brust rührt es des stygischen Zeus. [...] Siehe! Da weinen die Götter, es weinen die Göttinnen alle, Daß das Schöne vergeht, daß das Vollkommene stirbt. Auch ein Klaglied zu sein im Mund der Geliebten, ist herrlich, Denn das Gemeine geht klanglos zum Orkus hinab.78
Die Poesie weiß das Flüchtige im flüchtigen, klingenden und verklingenden Lied zu bannen. So behauptet es die ‚Nänie‘ an der Oberfläche. Ist es ihre besondere Hinterlist, dass sie den Tod des Schönen erst inszeniert, um sich dann an ihm weiden zu können und sich selbst zu feiern? Wäre die vanitas des Schönen eine Figur der Dauer, die von niemand anderem als von der flüchtigen poetischen Schrift selbst gesetzt wäre und zwar zu i h r e m höheren Ruhm? Exegi monumentum aere perennius – ein schlechter Lateinschüler soll dies einmal so übersetzt haben: „Ich errichtete ein Denkmal beständiger als Luft.“
78
Friedrich Schiller: Sämtliche Werke. Auf Grund der Originaldrucke hg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert. Erster Band: Gedichte, Dramen I. 8., durchges. Aufl., München 1987, 242.
3. Âventiure, Poetologie und Kontingenz: Hartmanns ,Iwein‘ KONTINGENZ. – Tristans und Isoldes Tod ist weder bei Heinrich von Freiberg noch sonst im Tristanroman ursächlich mit dem eigentlichen Konflikt verbunden, sondern wird aus einer Episode entwickelt, die diesen Konflikt bloß spiegelt. Er ist nicht die immer schon erwartete fatale Konsequenz, die sich aus der prekären Relation zwischen der idealen Binnenwelt der Liebenden und ihrem illegitimen Status in der Welt des Hofes ergeben würde. Vielmehr trägt diese Relation einen narrativen Prozess, der prinzipiell ad infinitum fortdauern könnte. Der zirkuläre Gang der Handlung kennt (wenigstens seit dem Minnetrank) keine substantielle Änderung, sondern bloß eine graduelle Verschärfung der narrativen Kreisbewegung zwischen Liebesverrat und Aufdeckung1 und folgt in dieser Hinsicht einer gleichsam minnelyrischen, trobadoresken Ratio. Das tristanische paradoxe amoureux ist ebenso wie das lyrische das immer schon Bewusste und Gewusste; wäre es die Ursache für das Ende der Erzählung, für den Tod der Protagonisten, würde es sich von selbst erledigen, und diese Erledigung müsste die Frage provozieren: „Warum nicht gleich?“ Es würde sich als Pseudo-Paradox, als willkürlich gesetzte Nichtigkeit entpuppen. Auch der grand chant courtois verläuft zirkulär. Er kennt kein Ende, sondern bloß dramaturgische und metaphorische Verschärfungen der Paradoxie, die ihn trägt. Ein Austritt aus dem circulus vitiosus würde die Aufhebung der poetischen und poetologischen Signifikanz seines „Absolutismus der Immanenz“ bedeuten. Daher lassen sich auch die Endes-Phantasien der Minnesänger nur radikal formulieren: entweder als Ende des Singens oder als Tod des Sängers. Nachdem er die Ungnade seiner Dame endgültig erkannt haben will, verabschiedet sich Bernart von Ventadorn in seiner ‚Lerchenkanzone‘ vom Geschäft des Dichtens und imaginiert dieses Lied als sein letztes (wobei sich die entsprechende Geleitstrophe sinnigerweise an einen Tristan wendet).2 Stirbet sî, sô bin ich tôt, heißt es bei Reinmar (MFMT IX.3,8; MF 158,28); sterbet si mich, sô ist si tôt, antwortet Walther von der Vogelweide (Cor 49.IV,6; L. 73,16). Beide Aussagen besagen 1 2
Zur Forschungsdiskussion um die Romanstruktur vgl. oben Kap. III.2, 362, Anm. 30. Vgl. oben Kap. II.3, 221ff. Tristan ist eine einschlägige Exempelgestalt in der höfischen Lyrik, hierzu Mertens 1993.
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III. Poetik der Immanenz
dabei letztlich dasselbe: Es hat sich ausgesungen, wenn eine der beteiligten Figuren aus dem Spiel austritt. Dies würde im übrigen auch im Falle einer positiven Erledigung gelten: Wäre die Liebe geglückt, wäre der Sang beendet. Analoges gilt für den Tristanroman, auch im Sinne einer gütlichen Bereinigung des Konflikts, wie sie Marke bei der Betrachtung der toten Liebenden in Heinrichs von Freiberg Fortsetzung (6731ff.) andeutet: „Weh, Tristan, wenn du dich mir eröffnet hättest, so hätte ich dir Isolde zur Frau gegeben. Ich hätte mir die Mitschuld an eurem Tod erspart und ihr wäret davongekommen!“ Marke spricht hier als Verkörperung des törichten Lesers, der sich – und darin besteht die besondere Torheit – post festum die Mühe des Lesens ersparen will, indem er erklärt, wie man den Roman hätte verhindern können, und der damit auch unmissverständlich zeigt, worum es gerade nicht geht: um die Beseitigung jenes Paradoxes, das die narrative Substanz ausmacht. Das negative Ereignis des Todes kann weder jener besonderen Welt angelastet werden, der Tristan und Isolde gewerldet sind, noch jener engeren Hofwelt, in der sie sozialisiert sind. Es belegt vielmehr die Negativität des Zufalls. Dieser Zufall manifestiert sich in dem Lanzenstoß, der Tristan letal verletzt, und in Isolde Weißhands unmotivierter Lüge vom schwarzen Segel, den das rettende Schiff gesetzt habe. Insofern sind die Weltklagen Kurvenals und des Erzählers unpräzise, da beide (der Erzähler mehr noch als Kurvenal) in der Negativität der Kontingenz die geheime Kausalität weltlicher Liebe erkennen wollen: Diese habe den Liebenden den Tod gebracht. Die histoire läuft hier differenzierter als der discours. Sie vermeidet jene Eindeutigkeit, die der Kommentar zunächst suggeriert, und macht auf diese Weise auch die Wiederherstellung der verworfenen Idealität der Liebenden im geistlichen Sinnbild möglich. In Walters von Châtillon ‚Alexandreis‘ ist der Fall ähnlich gelagert: Auch Alexanders Tod resultiert nicht unmittelbar aus seiner Hybris, obwohl sie das Epos durchaus darzustellen weiß und obwohl sich diese Lösung angesichts der Roman- und der Exempeltradition3 anböte. Es ist vielmehr die Reaktion auf diese Hybris, die Alexanders Tod herbeiführt, wobei die Reihe der handelnden Instanzen (Natura – Leviathan – die Furie Proditio – Antipater) schrittweise die Legitimität dieser Reaktion untergräbt. Mit Antipaters Giftanschlag endet schließlich im ordnungswidrigen Verbrechen, was Natura in berechtigter Sorge um den Bestand der Ordnung tätig werden ließ (wobei Natura selbst den ersten Schritt setzt, indem sie sich nicht an Gott, sondern an den Teufel wendet). Obwohl es sich um eine geplante Tat handelt, der in Naturas und Leviathans vorausblickender 3
Zusammenfassend hierzu s.v. Alexander, LAG, 38-54, bes. 53f.
3. Âventiure, Poetologie und Kontingenz: Hartmanns ‚Iwein‘
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Umsicht ein providentieller Zug eignet, präsentiert sich also auch Alexanders Tod als Ausdruck der Negativität des Zufalls. Der ursprüngliche Kausalkonnex zwischen seiner Hybris und ihrer legitimen (providentiellen) Sanktionierung wird zum Akt der Kontingenz oder schlimmer noch: zu einem vorsätzlich begangenen Verbrechen. Und dies wiederum gibt Anlass zu einer entsprechenden Verdammung jener Instanz, die diesen Zufall verantworten soll: des mundus, der Welt. Kontingenz ist eine ihrer problematischsten Erscheinungsformen. Der höfische Roman weiß das Phänomen nun in einer narrativen Ordnung zu entwerfen, die wiederum auch poetologisch signifikant ist: in der Sphäre der âventiure. Ich will dies an jenem Werk illustrieren, in dem âventiure unmittelbar thematisch wird, am ,Yvain‘ Chrétiens de Troyes beziehungsweise an dessen Übertragung durch Hartmann von Aue. ÂVENTIURE ALS VANITAS: IWEINS WAHNSINN. – Nachdem Iwein den Termin versäumt hat, der ihm von Laudine gesetzt worden war (nach Jahresfrist sollte er von der Aventiurefahrt zurückgekehrt sein, zu der ihn Gawein überredet hatte, vgl. 2763ff.)4, nachdem ihm Lunete die eheliche Gemeinschaft mit Laudine in deren Namen aufgekündigt hat und nachdem er im selben Moment den Verstand verloren, sich die Kleider vom Leib gerissen hat und in den Wald gelaufen ist, vegetiert Iwein nunmehr als „wilder Mann“ – körperlich jenem Waldmenschen ähnlich, der ihm einst den Weg zum Brunnen gewiesen hatte, im Gegensatz zu diesem aber auch mental verwildert.5 Erstaunlich, dass ihn die Dienerin der Gräfin von Narison überhaupt noch erkennt, als sie ihn eines Tages „um die Mittagszeit“ schlafend am Saum der Landstraße liegen sieht (3361ff.).6 Iwein wird 4
5 6
Und zwar unter dem Hinweis auf Erec als negatives Exempel. Die Anspielung fehlt in Chrétiens ‚Yvain‘. Wie in den Verweisen Chrétiens auf den ‚Chevalier de la Charrette‘ konstituiert sich auch in dieser Referenz bei Hartmann die Vorstellung eines zusammenhängenden Œuvres. Sie lässt sich außerdem als rezeptionsästhetische Ironie auffassen: Gawein repräsentiert den naiven Rezipienten, der den ‚Erec‘-Roman im Sinne eines moralischen Lehrsatzes simplifiziert (worin ihm die Germanistik lange gefolgt ist). Dass damit indirekt vom Autor vor einer solchen Simplifizierung gewarnt wird, ergibt sich aus der narrativen Konsequenz: Von Gaweins Rat nimmt Iweins Unglück seinen Ausgang. Als bewusste Fehldeutung des ‚Erec‘ liest auch Haug 1997, 223f. die Stelle. Zur äußeren Analogie mit dem Waldmenschen vgl. die Begriffe tôre in dem walde (3260) zu walttôre (440) sowie môre (3261 zu 427). Dass der „wilde Mann“ kein Tor ist, zeigt sich an seiner Fähigkeit zu sprechen, die Iwein allerdings verliert. Erkennungszeichen ist eine allseits bekannte Narbe Iweins, anhand derer ihn die Dienerin der Gräfin von Narison identifiziert. Die Stelle gibt im übrigen ein gutes Beispiel für die kommunikative Offenheit und die Kultur der Partizipation, die der Chrétiensche Roman praktiziert. Den Rezipienten bleibt es überlassen, den erzähltechnischen Kunstgriff zu plausibilisieren: Hat sich Iwein die Narbe während seines (nicht auserzählten) Abenteuerlebens mit Gawein zugezogen? Dann wäre dieses so unheilvoll nicht, wie es scheint, da es nicht bloß Laudine veranlasst, Iwein zu verstoßen, sondern auch seine Rückkehr in die hö-
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III. Poetik der Immanenz
mit Feimurgans wundersamer Salbe von seiner „Hirnsucht“ (3427) geheilt. Die Qualität des Textes erweist sich an dieser Stelle übrigens darin, dass er über das narrativ Notwendige hinaus davon zu berichten weiß, dass die Dienerin die Salbe – offenbar aus Zuneigung zu dem charismatischen Kranken – überreich anwendet, wofür sie sich wird rechtfertigen müssen, da sie von ihrer Herrin angewiesen ist, sparsam mit dem Mittel umzugehen. Freilich, es wirkt auch überdosiert: Iwein erwacht und memoriert das Ritterleben, das er bis zu seiner Verstoßung und zu seinem Wahnsinn geführt hat, als Traum. Als er nun seinen heruntergekommenen Zustand erkennt, bezichtigt er den Traum des Betrugs: Troum, wie wunderlîch dû bist! dû machest rîche in kurzer vrist einen alsô swachen man der nie nâch êren muot gewan: swenner danne erwachet, sô hâstû in gemachet zeime tôren als ich. (3549ff.)7
Klinisch gesehen leidet Iwein an einer Amnesie, die sich zu lösen beginnt. Was die literarische Gestalt für ein Gaukelspiel hält, ist freilich narrative Realität. Während das Leben aus einer personalen Perspektive als wahnhafter Traum erscheint, verweist der vermeintliche Traum aus einer auktorialen Perspektive auf die wahnhafte Fragilität des Lebens. Iweins Klage wird so als Anklage gegen die vana gloria mundi lesbar, die einen derart vorbildlichen Rittersmann zum Waldtoren werden ließ. Das Problem der Kontingenz gewinnt dabei in zweierlei Hinsicht an Kontur, wobei in beiden Fällen das Widerspiel zwischen formulierter personaler und impliziter auktorialer Wahrnehmung von entscheidender Bedeutung ist: Zum einen entwirft Iweins Traumleben die Vision eines unmöglichen sozialen Aufstiegs. Die Erkenntnis der Traumillusion ist für den ritterlichen Waldtoren nämlich nicht Ursache neuerlicher Depression, sondern Ansporn, das zu werden, was der vermeintliche Traum ihm vorgegaukelt habe, gewesen zu sein. Obwohl Iwein seinen verkommenen Zustand nach wie vor als authentischen Seinsstatus begreift, will er Ritter werden: Obwohl er Bauer sei, turniere alles in ihm, der Traum habe ihn in den Zustand versetzt, im Ritterleben reüssieren zu können, obwohl er gänzlich unerfahren sei (3569ff.). Diese Phantasie suspendiert nichts weniger als die gesellschaftli-
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fische Existenz ermöglicht. Es ist gut denkbar, dass eine Praxis des Gesprächs über Literatur sich u.a. an solchen nicht auserzählten Perspektiven entzündet hat. Zum Begriff der Partizipation am Beispiel der spätmittelalterlichen Minnereden Lieb/Strohschneider 1998. ‚Traum, wie wundersam bist du! / Du machst ohne Umstände / einen so wertlosen Mann, / der niemals nach Ehre trachtete, zu einem reichen: / Wenn er dann wieder erwacht, / so hast du ihn zu einem Toren / gemacht wie mich eben.‘
3. Âventiure, Poetologie und Kontingenz: Hartmanns ‚Iwein‘
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che Ordnung. Würde der Bauer wirklich zum Ritter werden können, bewiese dies entweder den Triumph der absoluten Kontingenz über die sozialen Hierarchien oder es müsste ihm so ergehen, wie es Don Quixote ergehen wird. Die Imagination ist tolerabel, weil sie aus auktorialer Perspektive als solche kenntlich bleibt. Sie entwirft dennoch eine erstaunliche Überschreitung jener sozialen Grenzen, die den elitären Status der Gesellschaft sichern, an die sich der Roman wendet. Zum anderen – und in Hinblick auf die Relation zwischen Traum und Welt wichtiger – verbindet sich in dieser Rede und in der Gestalt Iweins ein maximaler Kontrast zwischen Kulturalität und Naturalität, zwischen dem höfischen Herrn über die Zauberquelle, der Iwein war, und dem Waldtoren, der er (noch) ist. In Iwein manifestiert sich nach dem Modell der vier Ähnlichkeiten, von denen bei Michel Foucault die Rede ist,8 die Konvenienz des Gegensätzlichen. Was Foucaults System zufolge den Bestand der Dinge garantiert, die Differenzierungsleistung von Sympathie und Antipathie, erweist sich – wenigstens im Moment – als aufgehoben.9 Dass Iwein in sich den verlorenen Status höchsten sozialen Ansehens und den gegenwärtigen Status absoluter Defizienz vereint, suggeriert eine latente Identität beider Zustände. Für die literarische Gestalt belegt diese latente Identität den trügerischen Charakter des Traumes, auf auktorialer Ebene repräsentiert sie die Unberechenbarkeit der Welt. Indem sich an Iwein die Möglichkeit des jähen Falls vollzieht, wird seine Metamorphose zum Waldtoren als Figuration der vanitas, als exemplum der vana gloria mundi lesbar. Der Umschlag schönen Scheins in eitles Sein, dieser Prozess der trügerischen Kontingenz vollzieht sich an ein und demselben Körper. Und in dieser Zeichenhaftigkeit des Leibes entspricht Iwein – freilich bloß temporär – Frau Welt. Darin mag man auch das entscheidende semantische Potenzial der Stelle sehen. Sie formuliert jene Perspektive der Negativität, die der folgende Weg des Gelingens nur scheinbar verdeckt, und vermag auf diese Weise die Komplexität der Narration und ihrer Poetologie gegen einen ansonsten nur allzu leicht diagnostizierbaren „einfältigen“ Optimismus zu behaupten. 8 9
Foucault 1974, 46ff. Im („vormodernen“) Denksystem der Ähnlichkeiten verbindet das Prinzip der Konvenienz nach Foucault die Sphären, wie etwa das Tierische und das Pflanzliche im Zoophyten, es setzt dabei eine „Ähnlichkeit des Ortes“ voraus (ebd., 47); die Sympathie ist die Neigung zur Identifizierung, ihre Gegenkraft ist die Antipathie. Sie verhindere, dass die Welt in den Zustand chaotischer Indifferenz (zurück)falle, indem sie beispielsweise zwischen Feuer und Wasser die Luft setze (54f.). In Iwein – so ließe sich sagen – finden die Oppositionen von Kulturalität (Zustand höfischer Idealität) und Naturalität (der Wilde) ihren Ort der Konvenienz. Was ansonsten von einer festen gesellschaftlichen Hierarchie nach dem Prinzip der Antipathie getrennt ist, wird von der immanenten Kontingenz, verstanden als Wirkkraft der Sympathie, identifiziert.
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III. Poetik der Immanenz
Jedenfalls brachte Iwein sein Leben vor dem „Fall“ als Jünger einer besonderen Welt zu: Er verschrieb sich der âventiure, dem Prinzip des Ungebunden-Zufälligen und wurde dafür folgerichtig von jener Instanz bestraft, die die Bindung schlechthin repräsentiert, nämlich von der Minne: ez ist von minne komen, lautet die Diagnose der Dienerin der Gräfin von Narison über Iweins Wahnsinn (3405). Indem Iwein gegen diese Minnebindung verstößt, verstößt er gegen sich selbst;10 seine Neigung zur âventiure mündet in ein Vergehen gegen die eigene Identität und führt geradewegs in den Selbstverlust. Die Verdammung durch Laudine, die Lunete am Artushof ausspricht, macht dabei nur explizit, was Iwein insgeheim bereits ahnt: Als er von seinem letzten Turnier an den Artushof zurückkommt, sitzt er im Moment der allgemeinen Festesfreude schweigend da (3082ff.), weil ihm der Gedanke an Laudine und an sein Versäumnis bereits vor Augen führt, was dann eintritt: Er verlôs sîn selbes hulde (3221). Iweins Verhältnis zur âventiure, die ihm dies einbringt, ist dabei offensiv, es ist eines der curiositas: Iwein provoziert die Kontingenz, schon indem er dem Artushof zuvorkommen will und Kalogreants verunglückten Abenteuerweg gegen Artus’ Gebot alleine nachreitet. Ritterliche curiositas führt ihn zunächst in den Status höfischer Idealität: Er gewinnt Laudine und die Herrschaft über ihr Reich. Unter misslichen Bedingungen oder genauer: dann, wenn die Hingabe an das Regime der Kontingenz eben mit jener selbstauferlegten Bindung kollidiert, die Iweins Minne zu Laudine bedeutet, führt sie ins Unglück. Im Falle Iweins tritt das Ereignis also nicht unmittelbar in jener Sphäre ein, der er sich verschrieben hat. Im Unterschied zum Typus des scheiternden jungen Ritters, der noch zu diskutieren sein wird,11 bringt ihm sein Abenteuerleben nicht den Tod. Sein allerdings symbolischer Tod ergibt sich vielmehr aus dem Verstoß gegen die selbst gewählte Liebespflicht. Dabei ist bemerkenswert, dass ebensowenig wie im Falle von Erecs „Verliegen“ von Schuld im eigentlichen Sinn die Rede ist. Iweins „Verreiten“, seine Terminvergessenheit hat keinen bewussten Grund, sie ist kontingent, so unmotiviert wie die Lüge von Isolde Weißhand über das schwarze Segel des Schiffes, das Isolde die Blonde bringt. Dass Iwein seinen Status auf einem Wege wiedergewinnt, der sich materiell von dem nicht unterscheidet, auf dem er ihn verloren hat, verweist neuerlich auf jene Neigung zur semantischen Komplexität, die das scheinbar einfache Erzählmodell auszeichnet und jene simple Didaxe a priori transzendiert, die dem chrétienschen Roman in Gaweins Hinweis auf 10 11
Dass sich Iweins Identität in seiner Liebe zu Laudine gründet, dokumentiert das Motiv vom Herzenstausch beim Abschied (2990ff.). Unten Kap. III.4, 411ff.
3. Âventiure, Poetologie und Kontingenz: Hartmanns ‚Iwein‘
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Erecs Vergehen, aber auch seitens der Philologie lange unterstellt wurde. Was er war, kann Iwein wieder nur durch âventiure werden. Nun aber steht sie nicht im Zeichen der curiositas, sondern der curialitas12, der Wiederherstellung gestörter Ordnungen. Unter der Lugowskischen Prämisse einer „Motivation von hinten“13 betrachtet, wäre man leicht verleitet, das, was zunächst als kontingent erscheint, als von einer höheren providentiellen Instanz inszeniert zu betrachten. Doch auch eine solche narrative Pädagogik des ritterlichen Bildungsromans konterkariert der Text in mehrfacher Hinsicht: Der Positivität seines Endes steht die Negativität des möglichen Scheiterns gegenüber, die fortwährend präsent gehalten wird. Sie manifestiert sich in einer „Regie des Gelingens im letzten Moment“, in der das Regime der Kontingenz fortdauert: Iwein hetzt von Unrechtsfall zu Unrechtsfall, er bewegt sich (im Unterschied zum Abenteuerleben vor seinem Wahnsinn) in einer ostentativ beschädigten Welt. Die vielen Fälle einer destabilisierten Ordnung, mit denen Iwein konfrontiert ist, müssen dabei förmlich die Frage provozieren, wie weit die Welt hier eigentlich aus den Fugen geraten ist und wieviel wir von der herrschenden Heillosigkeit überhaupt zu sehen bekommen. Die Störung erstreckt sich mit dem Motiv der Entführung der Königin auch auf den scheinbar festen Bezugspunkt höfischer Idealität, auf den Artushof. Iweins Kampf mit Gawein ist ein Kampf auf Leben und Tod. Dass ein letaler Ausgang verhindert wird, ist das Ergebnis eines positiven Zufalls. Die melancholischen Worte Laudines beim ersten Liebesgeständnis – Ouwî, mîn herre Îwein, / wer hât under uns zwein / gevüeget dise minne (2341ff.) –, die sich wie eine Vorahnung lesen, dass sich im Gelingen ein Scheitern verbergen könnte, diese Worte spiegeln sich schließlich in dem ambivalenten Ausblick des Erzählers auf Iweins und Laudines wænlîchez Glück, auf seinen bloß mutmaßlichen Bestand (8148, 8159). Das Ende der Narration erweist sich nicht als teleologischer, ein für alle mal unumkehrbarer Finalstatus, sondern trägt den Anschein des Willkürlichen an sich.14 Das vermeintlich „utopische“ Ende ist eine poetische Setzung und steht im Zeichen der Fragilität. Diese Fragilität erweist den Status der Immanenz noch dort als einen prekären, wo das Weltleben nach den Bedingungen einer ins Transzendente verweisenden Selbstverpflichtung 12 13 14
Hierzu M. Kern 2002. Lugowski 1976. Vgl. zur Stelle den Kommentar bei Mertens (Hg.), 1051 zu 8159, der eine „Distanzierung vom gattungstypischen Glück ohne Ende“ konstatiert und auf die anderslautenden Formeln in Chrétiens ‚Yvain‘ (6793: boin chief; 6801: pais sans fin) sowie auf Hartmanns ‚Erec‘ selbst (10111ff.) verweist. Freilich formuliert der ‚Iwein‘, wie zu zeigen sein wird, hier nur ins Explizite, was die narrative Skepsis im chrétienschen Roman immer schon ausmacht.
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gelingt, wo es nicht im Zeichen der ohnehin eitlen curiositas, sondern in jenem der curialitas steht. In dem einen Fall ist die erzählte Welt von der Kontingenz unmittelbar bedroht, im anderen Fall befindet sie sich in einem geschützten Raum, von dem unklar bleibt, wie repräsentativ er für die Welt insgesamt und wie beständig er wäre. CURIALITAS ZWISCHEN ZEITLICHKEIT UND IDEALITÄT. – Der Prolog von Hartmanns ‚Iwein‘ eröffnet mit dem Hinweis auf die Unvergänglichkeit von Artus’ Namen; er trägt immer noch der êren krône, die der König einst selber trug (10f.). Im Begriff von der „Krone der Ehren“ verbirgt sich das höfisch-ritterliche Konzept eines Ruhmes, der dem, der ihn verdient, über den Tod hinaus sicher ist.15 Gegen diesen triumphus famae setzt die folgende Zeitklage (48ff.) jedoch den Gedanken des Verlusts. In ihm formuliert sich wie so oft die topische Frage „Ubi sunt?“, die die Wirksamkeit dessen, was immanent fortbestehen kann, radikal beschränkt: Diese Welt konnte von ihrer großen Vergangenheit nichts retten, Bestand hat einzig die Erinnerung an die verlorene Idealität. Die Verzahnung von laus temporis acti und Zeitklage auf dem Terrain der memoria erzeugt allerdings eine komplexe Ambivalenz. Zunächst muss sich die jetzige Welt in reuiger Bescheidenheit gegenüber ihrer einstigen Größe üben. Das ist konventionell. Der Satz, doch müezen wir ouch nû genesen, der auf den entsprechenden Gedanken in Heinrichs von Freiberg ‚Tristan‘-Prolog vorausweist („die Toten dort, die Lebenden hier“), leitet dann aber eine erstaunliche Umkehrung der im Topos gelieferten Denkform ein. Zielt sie bei Heinrich im poetologischen Sinn auf die Überbietung des Vorgängers, formuliert sie hier eine neue Valenz des historischen Paradigmas, das Artus und Artuswelt dem Text zufolge abgeben. Diese Neuformulierung wird (wie später bei Heinrich von Freiberg) poetisch geleistet und sie ist poetologisch signifikant:
15
Im Lichte dessen, was Jacques Derrida (2005, 66f.) über Tod, Namen und Gedächtnis ausführt, könnte man das Bleiben von Artus’ Namen als einen Akt der melancholischen Beschwörung auffassen. Ihre Ironie wäre die, dass sie das unwiederbringlich Verlorene in der Formbarkeit der Erzählung und mit dem Eigensinn des poetischen Angedenkens neu bzw. überhaupt erst zu gestalten vermag: und zwar so produktiv, dass das Erzählen „heute“ den Vorzug vor den Werken „damals“ verdient. Das Paradox vom lebenden Namen nimmt diesen Gedanken der Folgeverse vorweg und korrespondiert nicht unwesentlich der Idee vom lebenden Brot, das der im Roman erinnerte Tod von Tristan und Isolde darstellt. Hier kommt ein Vermögen der Poesie zum Ausdruck, auf das sich Derrida offenbar bezieht, wenn er sich wünscht, erzählen zu können (mit diesem Wunsch eröffnen seine „Mémoires“). „Mémoire“ sei eine Möglichkeit des Namens, der den legitimierenden Fokus der narrativen Konstruktion abgebe (ebd., 68) und der dem poetischen Wort jene „fiktive Vollendung“ (Baudelaire) zugestehe, die sich in der Realität ausschließe (ebd., 87).
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ichn wolde dô niht sîn gewesen, daz ich nû nicht enwære, dâ uns noch mit ir mære sô rehte wol wesen sol: dâ tâten in diu werc wol. (54ff.)16
Die Weigerung des Erzählers, die ohnehin irreale Möglichkeit zu wählen, damals gelebt zu haben, anstatt heute zu leben, ließe sich zunächst als bloßer Witz verstehen: mit der Pointe, dass ein Leben damals unweigerlich bedeuten würde, dass der Erzähler jetzt tot wäre und also zu schweigen hätte. Schon hierin würde sich eine gewisse Weltverliebtheit äußern, die den pessimistischen Gestus der Zeitklage konterkarieren würde. Der Zusatz, der die Gegenwart rechtfertigt – „jetzt kann uns die Erzählung vom idealen Damals wohltun“ –, hebt die Reflexion auf eine poetologische Ebene. Zwar ist nicht explizit gesagt, dass die ästhetische Erfahrung eines vergangenen, idealen Weltzustands besser wäre als dessen tatsächliches Erleben, vielmehr bleibt die Wertigkeit zwischen historischem Vollzug und poetischem Nachvollzug in einer paradoxen Schwebe gehalten; subtextuell scheint die ästhetische Erfahrung des imaginierten Weltideals aber doch als die bessere Option vorgestellt zu sein. Die Stelle hat entsprechende Aufmerksamkeit erfahren. Die heute allgemein akzeptierte Deutung, dass in ihr die Leistung des fiktionalen Modells behauptet werde, ist insbesondere von Walter Haug formuliert worden.17 Doch ließe sich dies weiter und in gewisser Weise auch anders denken, nämlich nicht im Sinne einer Affirmation, sondern einer grundsätzlichen poetologischen Skepsis, die zugleich eine Skepsis gegenüber jener Immanenz bedeuten würde, die hier als ideal imaginiert ist. Das Paradox könnte nämlich nicht bloß den Akt der Imagination, die Idealisierung der Vergangenheit als Akt der poetischen Setzung kenntlich machen, wie dies in der Haugschen Deutung vorausgesetzt wird, sondern zugleich auch die Problematik dieses Setzungsaktes reflektieren. Der chrétiensche Roman wäre sich demnach bewusst, dass er eine experimentelle Ausschaltung jenes kontingenten Prinzips voraussetzt, dessen Wirksamkeit grundsätzlich schon in der Zeitunterworfenheit der paradigmatischen Welt dokumentiert wäre. In deren Erkenntnis ließe sich ja auch die heimliche Pointe von Chrétiens Aussage festmachen, ein toter höfischer Mensch sei mehr 16 17
,Ich würde damals nicht gelebt haben wollen, / ohne nicht auch nun leben zu können, / nun, da es uns mit der Erzählung über sie / so richtig wohl ergehen soll. / Damals taten ihnen die Werke wohl.‘ Vgl. bes. Haug 1992, 126ff. In Hartmanns Satz werde „[d]ie Überlegenheit der Literatur über die bloße Faktizität [...] zum erstenmal explizit formuliert.“ (126; das Adverb „explizit“ scheint überzogen). Sinnvermittlung sei dabei „gerade nicht auf ein moralisches Rezept zu reduzieren, [...] sie läuft vielmehr über die fiktionale Erzählung als autonomen Erfahrungsprozeß.“ (127f.)
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wert als ein gemeiner Lebender.18 Zudem müssten Autor und Publikum auf diese Erkenntnis schon aufgrund ihres Wissens um die chronistischen „Fakten“ verwiesen sein, denen zufolge sich die Artuswelt ja selbst ihr Ende bereiten wird. Was sich unter Ausschaltung der chronistischen Perspektive zugunsten der paradigmatischen als Exempel zeitenthobener Idealität liest, liest sich im anderen Fall als Bestätigung der Unterworfenheit selbst noch der vorbildlichsten Welt unter das Diktat der Zeitlichkeit, mithin unter das prinzipielle historische Verlaufsschema von Aufstieg und Niedergang. Wenn dieses Wissen um den prekären, ja imaginären Status idealer Vergangenheit nicht schon dem Artusroman zu Hartmanns Zeiten bewusst wäre, so würde es kurze Zeit später im ‚Prosa-Lancelot‘ thematisch werden. Von laus temporis acti und Zeitklage her scheinen die fraglichen Verse Hartmanns somit die Suspendierbarkeit des Zeitlichen in der Narration zu behaupten und zugleich deren Fragilität, ihren experimentellen Charakter zu erweisen. Kompensiert wird diese Fragilität des poetischen Entwurfs von seiner Wiederholbarkeit und Permanenz, von der prinzipiellen „Unendlichkeit“ der Lektüren. In ihr müsste folglich auch die „heimliche“, prekäre Beständigkeit einer flüchtigen, narrativ konstruierten Welt gründen. Das Verhältnis, in dem die tatsächliche Welt zu ihr zu stehen hätte, beschreibt sich dabei als eines der essentiellen Beteiligung: Wegen Keies Frechheiten weigert sich Kalogreant zunächst, seine Geschichte zu erzählen. Als er schließlich auf den Befehl der Königin hin doch fortfährt, fordert er nichts weniger als das Herz der Zuhörer, ihr eigentliches Rezeptionsorgan; denn wo nur die Ohren geboten werden, sei die narrative Mühe für Erzähler und Rezipienten verloren (243ff.). Gleicht man diese rezeptionsästhetische Maxime mit den binnenliterarischen Kategorien ab, nach denen Iweins Leben abläuft, so genügt für eine adäquate ästhetische Erfahrung nicht die curiositas der Zuhörer, sondern bedarf es ihrer curialitas. Dass die Rezeption von Literatur im Zeichen der curialitas zu geschehen hat, dann aber zugleich deren Vollzug bedeutet, dokumentiert innerhalb des Romans auch die aufschlussreiche Vorleseszene auf der „Burg zum schlimmen Abenteuer“ (6455ff.): Im Akt des Lesens erweist sich die höfisch-ideale güete der jungen Vorleserin, also jenes Ideal, für das Artus in den ersten Versen des ,Iwein‘ das Exemplum abgibt.19 Auch hier mag die Tatsache, dass das höfische Leitbild, das die junge Dame exemplifiziert, in 18 19
Mais pour parler de chix qui furent / Laissons chix qui en vie durent, / Qu’encor vaut mix, che m’est a vis, / Un courtois mors c’uns vilains vis. (,Le Chevalier au Lion‘, 29ff.) Die Verse beschließen die Klage über den gegenwärtigen Niedergang von Rittertum und Liebe. Zur Übertragung der Kategorien von curiositas und curialitas auf eine rezeptionstheoretische Ebene vgl. M. Kern 2002, 408ff., zur Vorleseszene ebd. 395ff.
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einem Bereich angesiedelt ist, der dieser Idealität genau entgegensteht, auf deren Fragilität hindeuten: In der „Burg zum schlimmen Abenteuer“ werden auf Veranlassung der beiden Riesen, deretwegen die Burg ihren Namen hat und die Iwein besiegen wird, dreihundert Zwangsarbeiterinnen aus dem Land „Jungfrauenwert“ (6326)20 gefangen gehalten. Die curialitas der Zuhörer bildet jedenfalls die Voraussetzung dafür, dass sich jenes wol wesen einstellen kann, das ihnen die Geschichte verspricht. Dass es ebenso wie der Begriff des Genesens mehr bedeutet als eine bloße Referenz auf das Prinzip von prodesse et delectare, hat Walter Haug hinreichend argumentiert.21 Das positive Verhältnis zur Immanenz, das sich in der Idee des Fortbestands von Artus’ Namen und in der Idealität der imaginierten Welt formuliert, bedarf auch auf einer literarästhetischen und rezeptionstheoretischen Ebene einer fortgesetzten Anstrengung und unterliegt, was die Möglichkeit des Gelingens betrifft, derselben profunden Skepsis, wie sie innerpoetisch Iweins Abenteuerweg zur Anschauung bringt. DICHTUNG UND WELTLIEBE (,IWEIN‘, ,ARMER HEINRICH‘ UND ,GREGORIUS‘). – Der Forderung nach einer Rezeption im Zeichen der curialitas und der Erkenntnis ihrer nur bedingten Möglichkeit korrespondiert die ostentative Bescheidenheit, mit der sich der Autor selbst in den Text einschreibt. Sie spielt seine Arbeit in einer Weise herunter, die der „Poetologie der Idealität“, die in der folgenden laus temporis acti formuliert wird („lieber lebe ich heute und höre von ihren edlen Werken“), vorab zu widersprechen scheint: „Ein gelehrter Ritter, der davon in den Büchern las und der, wann immer er seine Zeit nicht besser zuzubringen wusste, sich auch dem Dichten widmete – was man gerne hört, darauf wandte er seinen Fleiß, er hieß Hartmann und war einer von Aue –, der dichtete diese Geschichte.“22 (21ff.) Die feine Ironie dieser Autorsignatur besteht nicht erst im Widerspruch zwischen der behaupteten Beiläufigkeit des Märe (oder wenigstens der Praxis seiner dichterischen Produktion) und dem folgenden Lobpreis des Sujets, sondern formuliert sich schon in den Versen selbst: Der Auffassung weltlicher Dichtkunst als eines Parergons kontrastiert der schon in Hinblick auf die ständischen Konventionen paradoxe Stolz eines Ritters auf seine Belesenheit, die hier in erster Linie eine 20
21 22
Der Name der Juncvrouwen wert kann ebenso ‚Insel‘ wie ‚Wert der Jungfrauen‘ bedeuten. Letzteres ist wiederum doppeldeutig und bezeichnet ‚Würde‘ ebenso wie ,Tauschwert‘ – die Gefangenen sind ja der Preis, den der Landesherr entrichten muss, damit ihn die Riesen am Leben lassen (6319ff.). Haug 1992, 127f. Ein rîter, der gelêret was / unde ez an den buochen las, / swenner sîne stunde / niht baz bewenden kunde: / daz er ouch tihtens pflac. / daz man gerne hœren mac, / dâ kêrt er sînen vlîz an. / er was genant Hartman / unde was ein Ouwære, / der tihte diz mære.
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belletristische Belesenheit meinen muss; sie besteht ferner in der iterativen Konjunktion swenne, die sich auch so verstehen lässt, dass es dem Autor an Stunden, die ansonsten nutzlos verstrichen wären, nicht ermangelt und dass ihn in diesen Stunden eine regelrechte Sucht zum Dichten gepackt hätte. Von Bedeutung ist dabei, dass die Autorsignatur jener im ‚Armen Heinrich‘ korrespondiert. Ob sie deren Zitat ist oder umgekehrt, ist eine Frage der relativen Chronologie (üblicherweise wird der ‚Iwein‘ als Hartmanns letztes Werk aufgefasst). Jedenfalls konstruiert die Selbstnennung eine Beziehung zwischen den Perspektiven, in denen die beiden Texte das Problem irdischer Existenz und des Dichtens als unmüezekeit in der Welt und für die Welt betrachten. Dass diese Perspektiven einander zu widersprechen scheinen, bestätigt zunächst den Befund, den die kontrastiven Korrespondenzen zwischen Konrads von Würzburg ‚Der Welt Lohn‘ und ,Herzmäre‘ ergeben haben: Die Konzepte von Immanenz, die sich im literarischen Text formulieren, sind abhängig vom Sujet, vom poetischen Modus und von der Gattungsidentität, keinesfalls aber Ausfluss persönlicher Erfahrung oder Überzeugung des historischen Autorsubjekts. Zugleich weiß die Prägnanz der Autorsignatur Hartmanns diese Differenz aber auch zu unterlaufen und beide Texte im Zeichen e i n e s Œuvres zu verbinden. Dieses Œuvre dokumentiert nicht bloß die Spannbreite an Posen, die die Stimme desselben Autors einzunehmen vermag, ohne dabei den Status einer das „Gesamtwerk“ repräsentierenden „einheitlichen“ persona zu verlieren, sondern lässt zugleich (wiederum wie bei Konrad von Würzburg) Korrespondenzen sichtbar werden, die auf die diskursiven Horizonte zurückwirken, die die Texte entwerfen. In dieser Hinsicht muss auffallen, unter welchen Prämissen die Belesenheit der ErzählerStimme in den Dienst der literarischen Kommunikation gestellt ist: Der gelehrte Ritter-Autor des ,Armen Heinrich‘ ist kein „aventürender“ Dichter, der zur Feder greift, wenn es die Geschäfte erlauben, sondern ein „suchender“ – in der Terminologie des Artusromans gedacht ein Dichter der queste, und die richtet sich, wie die Suche nach dem Heiligen Gral zeigt, vorzugsweise auf die Transzendenz. Was er finden will, ist folglich etwas, das die swære stunde [...] senfter mache (10f.). Das Vokabular weist auf eine andere, im geistlichen Sinne dramatischere Erfahrung des „Hienieden“ als jene Verse, die im ,Iwein‘ vom wol wesen und vom genesen im Lesen einer Abenteuererzählung sprechen. Das poetische Werk mit geistlicherbaulichem Sujet widmet sich nicht der Ehre eines vorbildhaften Königs, sondern will der Ehre Gottes gemäß sein und auf diese Weise den Leuten gefallen (13ff.). Von ihnen wird als Gegenleistung erwartet, dass sie für den Dichter Fürbitte leisten – ein Geschäft, das für die Rezipienten doppelten Gewinn abwirft, da es nicht nur ein Lesen erlaubt, das die Stunden
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im Jammertal erträglicher macht, sondern den Betenden selbst jene Gnade verspricht, die sie scheinbar altruistisch für einen anderen, hier eben für den Dichter, erbitten. Die Exposition der Legendenerzählung stellt Heinrich als vorbildlichen höfischen Ritter dar und ist hierin – wie ausgeführt23 – auch der intertextuell zuverlässige Referenzpunkt für die Aretalogie des Ritters Wirnt in Konrads Weltnovelle. Heinrich ist der werltvreude ein spiegelglas (61), er vereint ritterliche Kampfkraft, Tugenden und höfische Kultiviertheit (er singt vil wol von minnen; 71): alsus kunde er gewinnen / der werlde lop unde prîs (72f.), lautet das Resümee. Schon bei Hartmann steht dabei die prinzipielle Positivität von weltbejahendem Handeln, sofern es nur integer bleibt, nicht in Frage. Der fatale Umschlag von Glück in Unglück, wie ihn die Formel „sîn hôchmuot wart verkêret / in ein leben gar geneiget“ zum Ausdruck bringt, steht im Zeichen jener Kontingenz, auf die sich die Einsicht in die vana gloria mundi gründet. Im Unterschied zu Wirnt bei Konrad von Würzburg wird Heinrichs Weltfixierung allerdings doch deutlicher, aber immer noch nicht eindeutig als sündhaft codiert, wenn sein Los wie jenes Absaloms beweisen soll, daz diu üppige krône werltlîcher süeze vellet under vüeze ab ir besten werdekeit. (86ff.)24
In Form der Krankheit schlägt die unzuverlässige Welt ihrem Jünger im Moment vermeintlich höchsten Gelingens die Krone der Eitelkeit vom Kopf. Das Bild lässt in Heinrich unschwer die Präfiguration eines „Fürsten der Welt“ erkennen. Der Akzent liegt freilich immer noch stärker auf der törichten Blindheit als auf der Sündhaftigkeit des Weltverliebten. Es folgen die üblichen Sentenzen und Bilder aus dem Arsenal geistlicher vanitas-Topik, die genau diese Simultaneität von eitlem Anschein und jammervollem Sein exemplifizieren: media vita in morte sumus,25 das Bild der Kerze, die im hellen Leuchten zu Asche zerfallen muss, die mit Galle vermischte Süße26 und die im besten Blühen welkende Blume (97ff.). Der gedankliche Prozess, der die Denkform der vanitas hier definiert, schließt also von der Kontingenz zumindest auf ein Substrat der superbia, das ihr inhärent wäre.27 Das ist deutlich genug, aber doch nicht so einseitig und 23 24 25 26 27
Vgl. oben Kap. I.2, 50f. ,Dass die hoffärtige Krone / weltlicher Freuden / im Moment ihres höchsten Ansehens / zu den Füßen herabfällt.‘ Die Verse zitieren die Antiphon Notkers I. Balbulus von St. Gallen; Mertens (Hg.), 909 zu 90-96. Zum Topos Fechter 1958. Diese Ambivalenz wird auch im Kommentar von Mertens (Hg.), 908f. zu 82 (mit Hinweisen auf die Forschungsdiskussion) hervorgehoben.
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unbedingt gegen die Welt gerichtet, wie es der Fall wäre, wenn die Denkbewegung umgekehrt (von einer a priori konstatierten superbia mundi auf die Kontingenz als ihres Symptoms) laufen würde. Dass die Drastik des contemptus mundi überdies einer dramaturgischen Ratio folgt, belegt die Narration selbst: Die Todessucht der Jungfrau, die für Heinrichs Heilung ihr Leben geben will, ist als Akt der Weltflucht in ihrer Radikalität dem Sachverhalt ebenso unangemessen wie die Vorstellung Heinrichs und der Ärzte von Salerno, dies würde tatsächlich die Heilung bringen. Und schließlich bedeuten die Genesung des Kranken und seine Ehe mit der in ihrer transzendenten Heilsgewissheit „betrogenen“ Retterin einen Wiedereintritt in jenes Weltleben, das zuvor verdammt ward – freilich begleitet von einer höheren Einsicht in die Relativität irdischer Ordnung, wie sie nicht zuletzt der Verstoß dieser Ehe gegen die Standeskonventionen eindringlich dokumentiert.28 ,Der arme Heinrich‘ demonstriert, dass in der Welt – durch Gottes Einwirken und durch die Erkenntnis des Menschen – wieder ins Lot kommen kann, was heillos war. Wenn wir davon ausgehen, dass der ,Iwein‘ nach dem ,Armen Heinrich‘ entstanden ist, so rechtfertigt dieses Ergebnis auch die Hinwendung zu einem Dichten, das keinem unmittelbar geistlich-erbaulichen Zweck dient, sondern ein Geschäft der Muße, ein „Weltwerk“ im engeren Sinn darstellt – sofern es das Problem der Kontingenz entsprechend bedenkt und ihr mit Kategorien entgegentritt, die jener Providenz und jenem Prozess des Einsehens korrespondieren, die im ,Armen Heinrich‘ die Welt retten. Im ‚Iwein‘ werden diese Kategorien im propagierten Ethos der curialitas sowie im fragilen Gelingen der Bewährungshandlung erkennbar, und beides hält die Negativität des Kontingenten fortwährend präsent. Wenn wir dabei für einen Moment Hartmanns Œuvre als eines denken, das sich in sinnreichen Korrespondenzen zwischen den mit seinem Namen gezeichneten Texten konstituiert, dann würde ,Der arme Heinrich‘ jene Re-Legitimation weltlichen Erzählens vorbereiten, die der ,Iwein‘ vollziehen würde, nachdem sie der ,Gregorius‘ zuvor mit äußerster diskursiver und metaphorischer Schärfe aufgekündigt hätte: Mîn herze hât betwungen dicke mîne zungen daz si des vil gesprochen hât daz nâch der werlde lône stât: daz rieten im diu tumben jâr. nû weiz ich daz wol vür wâr: 28
In der Fassung B wird die Ehe nicht vollzogen, beide Eheleute gehen ins Kloster; hierzu zusammenfassend Mertens (Hg.), 936f. zu 1514-1516; zu den Varianten des Schlusses auch U. Müller 2000 und Gärtner 2003.
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swer durch des helleschergen rât den trôst ze sîner jugent hât daz er dar ûf sündet, als in diu jugent schündet, und er gedenket dar an: ,dû bist noch ein junger man, aller dîner missetât der wirt noch vil guoter rât: du gebüezest si in dem alter wol‘, er wirt des lîhte entsetzet, wande in des willen letzet diu êhafte nôt, sô der bitterlîche tôt den vürgedanc richet und im daz alter brichet mit einem snellen ende. (1ff.)29
Der ‚Gregorius‘ fällt gleichsam mit der Tür ins Haus, wenn er mit dieser confessio beginnt. Die Ich-Stimme, die sich hier ausspricht, reproduziert die konventionelle Topik, sie weiß ihre Rolle zu spielen. Diese Rolle steht ganz im Zeichen eines unbedingten contemptus mundi, der jenes biographische Kalkül der Weltverneinung, von dem etwa die vanitas-Klagen in Walthers einschlägigen Liedern geleitet sind, als fatale Fehleinschätzung brandmarkt und den Gedanken der Simultaneität von Leben und Tod sowie von Weltliebe und Sündhaftigkeit bekräftigt. Der Sprechende – dies Teil seiner Rolle – präsentiert dabei kein anderes Exempel als sich selbst, mit dem ironischen Effekt, dass hier einer anprangert, was er nicht bloß selbst begangen hat, sondern worin er – im Unterschied zu der bedrohlichen Vision, die er entwirft – noch einmal davongekommen ist. Denn offensichtlich hat die Frechheit seiner Jugend gerade nicht den als verdient hingestellten Lohn des Todes erfahren. Wollten wir uns den vorstellen, der hier spricht, so wäre er wie Wirnt, wie Walther und all die anderen Konfitenten der vanitas der sprichwörtliche Mann in den besten Jahren, also einer, der diese schon hinter sich hätte. Das persönliche Exemplum erweist sich also als Pseudo-Exemplum, und diese Dialektik rechnet zur poetischen confessio wie das Amen zum Gebet. 29
,Mein Herz hat oft / meine Zunge dazu gezwungen, / dass sie viel davon gesprochen hat, / was auf den Lohn der Welt ausgerichtet ist: / Das hatten ihm die dummen Jahre geraten. / Nun weiß ich es mit Sicherheit: / Wer – vom Schergen in der Hölle beraten – / im Vertrauen auf seine Jugend / sündhaft lebt, / weil ihn die Jugend dazu antreibt, / und dabei denkt: / „Du bist noch ein junger Mensch, / für alle deine Verfehlungen / wird sich Abhilfe finden lassen: / du kannst sie gut im Alter büßen“, / der denkt anders, als er soll. / Leicht wird er dazu nämlich außerstand gesetzt, / dann nämlich, wenn ihm die unausweichliche Not / einen Strich durch die Rechnung macht, / wenn der bittere Tod / seine fürwitzige Absicht rächt / und ihm die Lebenszeit / mit einem schnellen Ende verkürzt.‘
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In der konventionellen Rolle gibt sich gleichwohl die persona auctoris zu erkennen, denn das Weltwerk, von dem hier die Rede ist, ist von besonderer Art: Es ist eines der Worte. Wie es in diesem Zusammenhang üblich ist, bekennt die Autorstimme, die sich später mit Namen Hartman nennt (173), offenbar von ihrer Mahnung selbst aufgescheucht, dass sie nunmehr bereit wäre, wahrheitsgemäß und gottgefällig zu sprechen, damit sich die Sündenlast verringere, die ich durch mîne müezikeit / ûf mich mit worten hân geleit (41f.). Hier empfiehlt sich ein konkretes Verständnis des Begriffs der müßigen Unbeschwertheit im Sinne der acedia, des Vergehens der „Trägheit“, die den Dichter nicht bloß zu seinem Wortgeschäfte veranlasst habe, sondern die mit diesem Wortgeschäft identisch sei. Anders als im ,Iwein‘ wäre das Dichten um den Lohn der Welt (vgl. 4) also nicht der Versuch, der Untätigkeit zu entgehen („wenn er nichts Besseres zu tun hatte, dichtete er“), sondern deren möglicherweise schlimmster Vollzug. Auch diese Verschärfung des contemptus mundi zum contemptus poesis mundialis folgt einer dramaturgischen Ratio: Das dichtende Subjekt gleicht sein Los dem Schicksal seines Helden an. Dichtung als Weltwerk ist deshalb keine lässliche Sünde, weil die Abkehr von ihr und die Hinwendung zum legendarischen Sujet – beides vorgestellt im letzten möglichen Moment – die Zuversicht des Gregorius spiegelt, dass noch im Zustand äußerster Sündhaftigkeit Reue und Umkehr nicht bloß möglich sind, sondern Gottes Gnade garantieren. Wenn diese Analogie gilt, wenn confessio und conversio poetica, mit denen der Prolog eröffnet, auf einer poetologischen Ebene eine imitatio Gregorii bedeuten, ließe sich natürlich weiter fragen, ob der, der sich hier reuig in Szene setzt, am Ende für sich auch in Anspruch nehmen könnte, nicht bloß ein Sünder, sondern wie Gregor ein guter Sünder zu sein? Und wäre es diesem guten Sünder dann eben auch möglich, sich jenem Werke wieder zuzuwenden, dem er abgeschworen hat, und sich ähnlich wie der arme Heinrich am Ende doch wieder „gewerldet“ sein zu lassen? So fern liegt der Gedanke der imitatio jedenfalls nicht, wenn wir daran denken, dass curialitas im ,Iwein‘ poetologisch durch die „herzensmäßige“ Beteiligung an der Erzählung praktiziert wird und das Prinzip der produktiven wie rezeptiven Empathie nicht nur von Hartmann, sondern ebenso von den Autorstimmen Gottfrieds und natürlich auch Wolframs30 propagiert wird, also ein generelles produktions- und rezeptionsästhetisches Prinzip höfischer Dichtung repräsentiert. Der Begriff des guten Sünders, den Gregorius verkörpert, weist noch auf einen zweiten Aspekt: auf die ambivalente Konzeption von Welt und Weltlichkeit in der Narration selbst. Sie relativiert den radikalen Gestus 30
Zur Forderung der Beteiligung, des Eintritts in den Gang der Erzählung, wie sie der Prolog des ‚Parzival‘ entwirft, Haug 1992, 169f.
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des Prologs ebenso, wie dies im ‚Armen Heinrich‘ die Rückkehr des geheilten Protagonisten in jene Welt tut, aus der ihn der Aussatz geworfen hatte. Auch das Ritterleben des Gregorius folgt den Gesetzen der Weltsüße. Wie Heinrich erweist er sich als der werltvreude ein spiegelglas, mit dem Unterschied – und hierin gibt sich eben der künftige Papst zu erkennen –, dass er sich die trügerische Qualität weltlichen Gelingens als die dem Menschen mitgegebene Erblast bewusst hält: Täglich memoriert der Landesherr Gregorius die tragischen Umstände seiner Geburt im Zeichen der Sünde und nimmt damit die Erkenntnis vorweg, dass sein scheinbar erreichter weltlicher Idealzustand nur den Scheitelpunkt des Entsetzlichen darstellt. Dabei ist Gregors Weltleben nicht prinzipiell, sondern nur potenziell negativ. Dass sich diese Potenzialität aber erfüllt, unterliegt wiederum nicht der Kausallogik von Sünde und Bestrafung, sondern ist Ergebnis eines kontingenten Geschehens. Nur notdürftig wird diese Kontingenz mit dem Wirken des Teufels begründet.31 Erzähltechnisch resultiert sie nicht weniger aus der Auslieferung an den Zufall, an das „chaotische Gesetz“ der âventiure, wie dies bei Iwein der Fall ist. Dabei ist es hier wie dort nichts anderes als die Selbstpreisgabe an die Kontingenz, die die Dinge wieder ins Lot bringen kann: Wie sich Iwein nicht sicher sein kann, Laudine und seine Identität durch âventiure-Arbeit im Zeichen der curialitas wiederzuerlangen, ihm aber kein anderer Weg als dieser offen steht, so kann auch Gregorius auf seine Rettung bloß vertrauen, indem er sich neuerlich und existenzieller noch der Kontingenz in Gestalt des Felsens ausliefert, der als Ort scheinbar äußerster Heilsferne ihm eben dieses Heil zurückbringt. Folgerichtig im eigentlichen Sinne ist dabei nichts. Wie schon Gregors Welthandeln und der Status der Sünde, in die es führte, keiner Logik gehorchen, so gehorcht die gnadenreiche Berufung des guten Sünders zum Papst keiner Logik des Verdiensts, sondern bestenfalls einer Logik der Kompensation: Das inkommensurable Werk der Reue wird von einem ebenso inkommensurablen Akt der Gnade egalisiert. Erschwerend kommt hinzu, dass sich die unverständliche Kontingenz des Geschehens „von hinten“ betrachtet als von der Providenz geleitet ausnimmt. Da anzunehmen wäre, dass Gott seinen Plan, Gregor zum Papstamte zu berufen, nicht aus einer momentanen Laune heraus fassen könnte, sondern dies sein immer schon gefasster Ratschluss gewesen sei, erweist sich gerade der falsche Weg als der richtige. 31
Vgl. 1960ff. (der, der schon Eva verführte, bewirkt, dass Gregorius seiner Mutter besser gefällt als je ein anderer Mann). Ins Land der Mutter wird Gregorius’ Schiff auf dessen Gebet zu Gott hin getrieben (1825ff.).
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Hier kommt genau jenes Paradox zum Ausdruck, das allen mittelalterlichen Denkformen der vanitas zugrunde liegt und das letztlich belegt, dass der contemptus mundi bloß die Frage verschleiert, wie man sich das Verhältnis zwischen Gott und Welt der christlichen Theologie zufolge vorzustellen hätte. Es ist die Kunst der weltlichen Poesie, diese Verschleierung in der absurden Konzeption von âventiure als eines Verlaufs kenntlich werden zu lassen, der zugleich nach dem Prinzip der Kontingenz und der Providenz lesbar ist. Ebenso auf den Punkt bringen es die paradoxen Worte von Konrads Frau Welt: ich fürhte niemen âne got, / der ist gewaltic über mich (,Der Welt Lohn‘ 210f.). Dieses Paradox aber erklärt die Disponibilität des contemptus und macht zugleich sein Unterlaufen möglich, es suspendiert seinen absoluten Anspruch. Diese Suspendierbarkeit kann sich in einem ironischen Verhältnis realisieren, wie es die gegenläufigen Konzepte von Weltliebe und Erotik in ‚Der Welt Lohn‘ und im ,Herzmäre‘ zueinander eingehen. Sie findet ferner in den Möglichkeiten des gewerldet-Seins ihren Ausdruck, die ,Gregorius‘, ,Armer Heinrich‘ und ,Iwein‘ entwerfen, wobei diese Möglichkeiten zugleich divergenten poetologischen Positionen und wechselnden Konzepten der Empathie entsprechen. Die zwischen Kontingenz und Providenz changierenden Handlungsverläufe entwickeln eine paradoxe Vorstellung von Welt und Weltgeschehen. Dies wiederum macht eine einsinnige interpretative Bewältigung unmöglich, wie sie in der Forschung des längeren versucht wurde, unter anderem in jenen Ansätzen, die Welterfahrung und Weltkritik im ,Armen Heinrich‘ und im ,Gregorius‘ nach den Maßgaben theologischer oder biblischer Modelle, etwa jenem Absaloms oder Hiobs analysieren und dabei auf eine einsträngige Exegese kommen wollten.32 Das Ungenügen solcher Ansätze dokumentiert das Potential der Überschreitung, das der poetischen Gestaltung der Sujets und ihren poetologischen „Thesen“ zu eigen ist. Dabei deutet sich schon in der vom Autornamen geleisteten Bindung der Texte zu einem Œuvre jene Aufweichung der Differenz zwischen legendarischen und arthurischen Sujets an, die an Hartmanns Texten grundsätzlich auffällt: Narrative Darstellungsformen und die von ihnen getragenen Denkformen werden in die Gestaltung auch eines legendarischen Lebensweges wie jenes von Gregorius oder Heinrich integriert und konterkarieren dabei jenen „Absolutismus der Transzendenz“, der sich als die dominante hermeneutische Zugriffsmöglichkeit im ,Gregorius‘ und in abgeschwächter Form im ,Armen Heinrich‘ vorab formuliert.
32
Die neuere Forschung argumentiert um vieles differenzierter, indem sie die je spezifischen narratologischen und poetologischen Bedingungen berücksichtigt; vgl. bes. Strohschneider 2000, Ernst 2002 und Röcke 2002.
3. Âventiure, Poetologie und Kontingenz: Hartmanns ‚Iwein‘
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Aus dieser Perspektive betrachtet wendet sich der ,Iwein‘ folgerichtig wieder jener müezikeit weltlicher Worte zu, die der ,Gregorius‘ verdammt hatte. Dass die Ingerenz der Erzählmodelle wechselseitig läuft, die poetische und poetologische Konzeptualisierung von Immanenz im ,Iwein‘ also auch auf jene in den beiden legendarischen Texten rekurriert, böte eine Erklärung für die ironische Zaghaftigkeit, mit der der Dichter denselben Namen nennt, den er schon im Prolog des ,Gregorius‘ und im ,Armen Heinrich‘ genannt hatte: Wenn dieser Hartmann nichts Besseres zu tun wusste, dichtete er eben auch. Dichten versteht sich hier freilich als Ausweg aus jener müezikeit, in der die Autorstimme des ,Gregorius‘ ihre Verfehlung erkannt hatte. Wir fassen in der fraglichen Stelle des ,Iwein‘ somit den ersten Schritt hin zu jener Umdefinition, die in der gefährlichen poetischen Muße eine existentielle poetische Geschäftigkeit begreift. Gottfried wird den Gedanken zu Ende denken. Zwischen Hartmanns Autorsignaturen und den mit ihnen verbundenen Reflexionen über das Problem des Dichtens und des Weltlebens bestehen klare Referenzen.33 Dass sich diese Referenzen nicht für eine lebenswirkliche Interpretation verwerten lassen, würde sich – verstünde es sich nicht ohnehin von selbst – auch darin zeigen, dass Hartmann in seinen Artusromanen zu keiner substantiell anderen Repräsentation von Kontingenz und Immanenz kommt als Chrétien. Schon dessen Œuvre tariert das fragile Gelingen im Hienieden jeweils neu aus. Die Dominanz des contemptus mundi erweist sich dabei noch in seiner prekären Überwindung mitformuliert: im Wort vom wænlîchen Glück, mit dem der ‚Iwein‘ an sein narratives Ende gelangt. Die poetische Erinnerung an eine ideale Vorwelt ermöglicht deren Entbindung von der Zeitlichkeit. Der hypothetische Charakter dieser Entbindung manifestiert sich in der Entscheidung des Autorsubjekts, diese ideale Vorwelt lieber narrativ zu imaginieren als in ihr tatsächlich existiert zu haben, und im Festhalten an der negativen Kontingenz der Handlungsverläufe. An dieser Negativität, an diesem fundamentalen Misstrauen gegenüber dem unzulänglichen Irdischen lässt sich die Zeitgebundenheit des chrétienschen Romans ebenso ablesen, wie sie sich im Tristanroman an der „Sakralisierung“ der exklusiven Anderwelt ablesen lässt. Im übrigen ließe sich der Rückgriff auf Modelle geistlicher Exegese bei Gottfried tatsächlich als jener säkulare Raub am theologischen Eigentum verstehen, der Hans Blumenberg zufolge den impliziten Bedeutungskern des Begriffs der Säkularisierung ausmache und diesen daher diskredi33
Analoges wäre am Corpus der Lieder darzustellen, insbesondere an den einschlägigen Zeugnissen, die die Kreuzlieder und Minnesang-Absagen (MFMT V, XV und XVII) geben.
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III. Poetik der Immanenz
tiere.34 Hier wäre er berechtigt. Wollten wir dies für einen Moment in mythologischen Kategorien denken, so könnten wir freilich von einem prometheischen Raub sprechen. Der Gedanke hilft, ernüchtert wieder, zu erkennen, was die poetische Überschreitung nicht nur in Hinblick auf einen scheinbar dominanten theologischen Diskurs leistet: Sie bedeutet auch eine Suspendierung jener Alterität mittelalterlicher Poesie, die der modernen Literaturwissenschaft, insbesondere da, wo sie sich anthropologisch wähnt, als Denkformel nur allzu rasch zur Hand liegt; und sie gibt eine Modernität poetischer Repräsentation auch in sogenannten vormodernen Texten preis, die der vermeintlichen Modernität, in der sich die Gegenwart angekommen glaubt,35 immer schon, wenigstens im Modus des Potentiellen, voraus ist. POETOLOGISCHE BESCHEIDENHEIT UND LATENTE NEGATIVITÄT. – Hartmanns ‚Iwein‘ liefert ein eindrückliches Zeugnis für jene „Poetik der Immanenz“, die sich im Konzept der âventiure und im Modell des Aventiureromans formulieren lässt. Die prekäre Erfahrung von Weltlichkeit und weltlicher Kontingenz wird in der Gestalt des zum Waldmenschen verrohten Iwein und in seinem geträumten Leben transparent, sie artikuliert sich ebenso in der poetologischen Bewertung des Sujets, die der Prolog leistet, in der Konstruktion einer vergangenen Idealwelt, gegen deren zeitenthobene Poetizität eine geschichtliche Flüchtigkeit gesetzt ist, die vom klagenden „Ubi sunt?“ der laus temporis acti bekräftigt wird. Dem großmundigen Versprechen der heilsamen Wirkung einer Narration im Geiste der curialitas steht die ostentative Bescheidenheit gegenüber, mit der der signierende Autor sein Dichten als etwas ausgibt, das bloß besser wäre als Nichtstun. Die Autorsignatur selbst referiert auf die entsprechenden Nennungen im ‚Gregorius‘ und im ‚Armen Heinrich‘. Dort verschränkt sich die Frage des Dichtens unmittelbar mit der vanitas-Thematik. Die einschlägigen Metaphern und Topoi werden dabei zu poetischen Denkformen ausgestaltet, die für die künftige höfische Literatur prägend sind: Die Divergenz von vermeintlicher Chronologie und tatsächlicher Simultaneität honigsüßen Scheins und galligen Seins wird in Walthers Weltliedern neu formuliert, der weltliche Lebensentwurf des armen Heinrich weist auf den Wirnts bei Konrad von Würzburg voraus, die Müßigkeit poetischen Zungenspiels im Dienste der Welt, von dem der ,Gregorius‘ spricht, führt über den ,Iwein‘ 34 35
Blumenberg 1999. Zum grundsätzlichen Problem einer modernen „Undankbarkeit“ gegenüber historischen Kulturen, die sich unter anderem an dem Vorwurf bemessen lässt, diese Vergangenheit hätte jene „intellektuellen“ oder „ethischen“ Standards noch nicht erfüllt, die ihr die Moderne verdankt, Finkielkraut 2001, 149ff.
3. Âventiure, Poetologie und Kontingenz: Hartmanns ‚Iwein‘
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zur gegenteiligen Formel poetischer Geschäftigkeit im ,Tristan‘, in der sich die emphatische Eingemeindung in eine exklusive Anderwelt vollzieht. Im Zeichen, um nicht zu sagen: gezeichnet von der Fragilität des Gelingens erscheint der Artusroman nur scheinbar positiver als das senemære von Tristan und Isolde. Das Verhältnis ließe sich sogar umgekehrt denken, denn wenigstens in der Sphäre der tristanischen Binnenwelt erweist sich der Status der Immanenz als so firm, dass es der Erzähler in Gottfrieds Prolog wagen kann, sich dieser Welt auf Gedeih oder Verderb auszuliefern. In Hartmanns Prolog hingegen lesen wir, dass der Autor – trotz der Beteuerung, dass damals zu Artus’ Zeiten alles besser gewesen wäre – lieber jetzt lebt, wo uns die Erzählungen von dieser Welt gut tun können. Die ästhetische Verfasstheit einer als ideal imaginierten Vergangenheit im Roman garantiert die Bändigung jener Kontingenz, die diese ideale Vergangenheit im angenommenen Moment ihrer historischen Tatsächlichkeit noch zu bedrohen scheint. Dass freilich die poetische Welt das Inkalkulable und Zufällige der Immanenz nicht einfach ausblendet, wird von der fortwährend präsent gehaltenen Perspektive belegt, dass es auch anders hätte kommen können, als es narrativ und eben nur narrativ kam. So gedacht erwiese sich der Optimismus und die Konstruktivität des chrétienschen Romans als ein latenter Pessimismus und als eine latente Skepsis, die weiter davon entfernt ist, sich der Immanenz zu ergeben als der ,Tristan‘. Jedenfalls wird eine grundlegende Irritation gegenüber der Welt sichtbar. Ihr entspricht auf poetologischer Seite eine auffällige Bescheidenheit, die der radikalen Weltbezogenheit des tristanischen Erzählers kontrastiert.
4. Versuch einer Systematisierung DER TOD DES HELDEN VOR DER ZEIT (,ENEIT‘). – Der chrétiensche Artusroman unterscheide sich von den übrigen Gattungen der höfischen Epik durch ein spezifisches Modell der Bewährung, das im Finalstatus, den der Protagonist (und mit ihm zumeist die Protagonistin) erreiche, eine gleichsam utopische Perspektive eröffne – dies die communis opinio in der Forschung. Es sollte am Beispiel des ,Iwein‘ deutlich werden, dass dieser Perspektive des Gelingens (die sich „von hinten“ auch als Perspektive der Providenz verstehen ließe) eine Perspektive der „Negativität“ korreliert. In ihr ist das scheinbar einfache narrative Modell mit einer Komplexität ausgestattet, die seine ästhetische und kulturelle Signifikanz sowie seine Produktivität im Œuvre Chrétiens und in dessen mittelhochdeutscher Rezeption wesentlich begründet. Der vordergründige Optimismus und die poetische „Unbeschwertheit“ arthurischen Erzählens äußert sich beispielsweise in der raschen und frappierenden Re-Integration eines mordenden Verirrten wie Mabonagrain aus dem ,Erec‘ oder in den Kniefällen Yvains vor Laudine1 bzw. Laudines vor Iwein, die mit der Nonchalance dramaturgischer Folgerichtigkeit die gravierenden Deutungsprobleme, vor die sich die Philologie mit ihnen gestellt sieht, immer schon hinter sich gelassen haben. Diesem Optimismus aber geht eben eine grundlegende Skepsis zur Hand, die sich auf mehreren Ebenen dokumentiert: Sei es narrativ in der „Regie des Gelingens im äußersten Moment“, sei es auf der Ebene des Erzählerkommentars und der ironischen Subtexte, die er zu formulieren weiß, sei es im grundsätzlichen poetologischen Bewusstsein und Wissen um die „Vorläufigkeit“ der fiktiven Konstruktion, in der paradoxerweise aber gerade ihr Geltungsanspruch behauptet wird. Die kulturelle Ironie dieser „positiven Negativität“ bestünde dabei darin, dass der höfische Roman die an ihn gestellte Aufgabe – nämlich der höfischen Gesellschaft, für die er verfasst ist, ein Medium der Repräsentation zu bieten – ebendieser Gesellschaft als Forderung zurückgibt: curialitas ist ein prekärer Prozess, der im fiktionalen Gelingen gerade nicht als etwas gefeiert wird, das auf einen außerpoetisch bereits erreichten zivilisa1
Nur in drei Handschriften wird Chrétiens Laudine namentlich genannt, in den sieben übrigen ist sie la dame de Landuc (Chrétien de Troyes: Romans, 706, Anm.1).
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torischen Standard verwiese. Vielmehr erweist der Roman die Fragilität eines kulturellen Ideals weltlicher Existenz, das er nicht bloß repräsentiert, sondern überhaupt erst zu formulieren hat.2 Seine Relevanz ist dabei schon in der eingeforderten Beteiligung der Rezipienten behauptet. Eine Rezeption „mit dem Herzen“ wäre der erste Schritt zur approximativen Annäherung an das Ziel der curialitas als weltlicher Existenzform, in der auch eine defiziente Gegenwart genesen könnte. Wenn dem Artusroman somit ein „pädagogisches Prinzip“ zu eigen wäre, dann in dieser Form der Kulturarbeit. Diese eigentümliche „positive Negativität“ ist nun keine voraussetzungslose Erfindung Chrétiens de Troyes. Vorgebildet ist sie etwa im Eneasroman. Sie wird dort zum einen in der Minnehandlung thematisch, die mit ihren beiden Modellen – Eneas-Dido und Eneas-Lavinia – eine Perspektive des Scheiterns und eine des Gelingens kontrastiv ausgestaltet. Wenigstens in ,Erec et Enide‘ und im ,Chevalier au Lion‘ sind diese beiden Optionen auf eine Liebesbeziehung zusammengezogen. Der teleologischen Anlage des antiken Sujets kontrastiert auch auf der Seite seines zweiten Themas, jenem der ritterlichen Bewährung, ein Gegenbild als korrigierendes Äquivalent: Es artikuliert sich in einem Motiv, das im Artusroman zunächst ausgeblendet bleibt, nämlich im „frühzeitigen Tod des jungen Helden“. In ihm entrichtet der Roman dem sinnstörenden Prinzip der Kontingenz jenen Tribut, der die gelungene und in diesem Falle auch geschichtsmächtige Herrschaftsbegründung durch Eneas plausibel macht, indem er gerade ihre Relativität dokumentiert und gleichsam die Kosten aufführt, die sie verursacht. Eine einschlägige Passage bieten Bewährung und Tod von Euanders Sohn Pallas. Er fällt im Kampf gegen Turnus vor der Zeit und gegen die Erwartungen, die sich in den vielversprechenden Anlagen des jungen und höfischen Ritters vorab und zugleich vergeblich konkretisieren. Wie Didos Schicksal bedeutet auch Pallas’ Tod eine fundamentale Störung im teleologischen Verlauf, den der Roman schildert. Bei Heinrich von Veldeke formuliert sich dies unmissverständlich im Kontrast der beiden Reaktionen auf diesen Tod, der des Eneas einerseits, der von Pallas’ Eltern, zumal der Mutter andererseits. Die Totenklage des Eneas (8021ff.) ist zunächst auf die kontextuelle Funktion des Ereignisses bezogen: Die Leiderfahrung des Titelhelden wird die Tötung von Turnus motivieren. Der Vollzug der Rache kann dem zunächst kontingenten Geschehen einen tieferen, providentiellen Sinn verleihen und nur er kann das Versagen 2
Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang der Hinweis von Denis de Rougemont (2004, 33f.), dass der höfische Roman das kulturelle Ideal, das ihm vorschwebt und das er entwirft, immer als ein schon verlorenes imaginiert.
4. Versuch einer Systematisierung
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der Götter kompensieren, das in Pallas’ Tod – so Eneas – offen zutage trete. Die Ratio hinter diesem Gedanken ist klar: Mit Turnus’ Ende wäre auch das höhere Ziel, die Herrschaft über Italien, für Eneas erreicht. Der Tod des jungen Ritters, dessen Kontingenz sich auch am Missverhältnis zwischen der Vorbildlichkeit des Toten und der moralischen Defizienz dessen, der ihn erschlug, zu bewahrheiten droht, erwiese sich als jenes Opfer, das die providentielle Erfüllung dem Protagonisten abverlangt, ja mehr noch, es hätte sich auf diese Weise auch gelohnt. In Eneas’ Trauerrede formuliert sich somit verdeckt eine positive Erwartung, die der Trojaner in der triumphalen Ausstattung bekräftigt, die er der Leiche beigibt: Schilde und Rüstungen derer, die Pallas zu Tode brachte, schmücken seine Bahre. Den Verlust des Lebens verspricht der Gewinn des Nachruhms auszugleichen. Und so sehen es offenbar auch Eneas’ Mannen, die seine „kindische“ Trauer kräftig – ein teil zornlîche – kritisieren (8082ff.). Dem hält die Trauerrede Euanders eine neue Dimension des Verlusts entgegen: Sein Reich sei nun ohne Erben (8155), Pallas’ Tod bedrohe zugleich dessen Bestand – diese Wahrnehmung variiert die typische Verschränkung von Lebenszeit und Weltzeit, und in dieser Verschränkung potenziert sich wiederum die Erkenntnis irdischer Eitelkeit und die Wirkungsmacht des in der Klage mitformulierten contemptus mundi.3 In Euanders Rede fällt auch der zentrale Begriff, der die Störung dessen, was adäquat wäre, bezeichnet: alze fr! (8161) habe sich Pallas auf ein Leben als Ritter eingelassen. Was Gelingen versprach, erweist sich im trostlosen Ende als Niedergang, dem der schale Geschmack der Voreiligkeit und einer hybriden Vergessenheit auf die Unberechenbarkeit der Ritterwelt beiwohnt. Deutlichere Worte noch findet Pallas’ namenlose Mutter, die königliche Gattin Euanders. Sie ist bei Vergil als schon verstorben gedacht und spielt nur insofern eine Rolle, als sie so von ihrem Gatten glücklich gepriesen werden kann, durch den rechtzeitigen Abstieg ins Reich des Hades vor dieser äußersten Leiderfahrung bewahrt worden zu sein (,Aeneis‘ XI 158f.). Das ist der typische Habitus antiken Weltverdrusses, der sich auch in Aeneas’ Wort vom vanus honos ausspricht (,Aeneis‘ XI 52). Der mittelalterliche Eneasroman lässt Pallas’ Mutter noch am Leben sein und er lässt sie Eneas die Schuld am Tode des Sohnes geben, womit sie dem vergilianischen Euander sozusagen die Worte im Mund verdreht:4 Die blinden Götter können ihrer Verfluchung nur entgehen, wenn sie Eneas 3 4
Hierzu oben Kap. II.5, 311f. Bei Vergil beteuert Euander, dass Aeneas am Tode des Sohnes unschuldig sei (,Aeneis‘ XI 164), allerdings schulde ihm der Trojaner das Leben des Turnus. Der gramgebeugte Vater sieht seinen einzigen Lebenssinn in der Zeugenschaft, die er von der vollzogenen Rache dereinst ablegen will (,Aeneis‘ XI 179ff.).
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III. Poetik der Immanenz
für den Verlust büßen lassen (8200ff.). Dass diese Rede alles andere als bloß topische Klage ist, belegt die Kritik der Königin an Eneas’ Inszenierung des Trauerzuges. Die beigegebenen Rosse und Waffen der von Pallas Erschlagenen helfen nichts, im Gegenteil: Sie verschärfen bloß die Trauer, da sie Zeugnis ablegen von der Unangemessenheit und Unverdientheit dieses frühen Todes wie auch von dem erwarteten Lebensweg im Zeichen des Gelingens, der nun zunichte ist. Die Klage qualifiziert den von Eneas inszenierten triumphus famae als schale Option und bestätigt die Unwiederbringlichkeit und die Sinnlosigkeit des Verlusts. Die Königin repräsentiert damit – neben Dido und Amata – eine dritte weibliche Gegenfigur, die die romanpoetisch und reichsideologisch exemplarische Karriere des römischen Staatsheros empfindlich konterkariert. Aus einer auktorialen Perspektive lässt sich Pallas’ Tod mehrfach lesen: Zum einen bestätigt er ein Wissen um die historische und das heißt hier: heilsgeschichtliche Differenz zwischen dem paganen Einst und dem christlichen Jetzt. Er dokumentiert die Defizienz einer Welt, die – von unzureichenden Göttern geleitet – den Launen des Zufalls ohne jene rettende christliche Heilsgewissheit ausgesetzt ist, die selbst dort noch einen Sinn erkennen kann, wo die Sinnlosigkeit offen vor Augen liegt, weil dieser Sinn immer als ein geheimer, verborgener gedacht werden kann. Zum anderen changiert die Semantisierung dieses Todes zwischen dem Gedanken weltlicher Hinfälligkeit und jenem des Nachruhms (das antike Epos geht dem mittelalterlichen Roman hierin voran). Die Rivalität zwischen beiden Perspektiven kommt nicht zuletzt in der Errichtung des Pallasgrabes und in seiner Wiederauffindung durch Friedrich Barbarossa zum Ausdruck. Die eingeschobene Legende mag die Funktion haben, die Historizität von Geschehen und Bauwerk zu beglaubigen (wobei die Frage wäre, wer dies bezweifeln würde); indem eine kaiserliche Archäologie ihre eigene imperiale Vergangenheit wieder ans Licht bringt, wird der translatorische Anspruch durch das Zeugnis der Erde bestätigt; indem die Aktion aber auch das „ewige“ Licht in Pallas’ Mausoleum erlöschen lässt, scheint sich ferner eine Differenz zwischen der Dauerhaftigkeit dieser altrömischen gloria mundi, die im Dunkeln und für sich leuchtete, zu jener „neurömischen“ auszudrücken. Die heilsame Gegenwart des christlichen Kaisers egalisiert die problematische Präsenz einer fama aeterna, deren flüchtiges Licht vor ihr folgerichtig auch erlischt.5
5
Zur Motivgeschichte vgl. Fromm (Hg.), Kommentar zu 226,18-227,10, 857f. Über Ästhetik und Funktion der descriptio, auch mit Blick auf Ambition und Kunst der Beschreibung im gesamten Roman handelt Masse 2004, 219ff., die in der Auffindungslegende einen deutlichen Reflex der translatio-Idee erkennt (eine Sicht, die schon in der früheren Forschung vertreten wurde).
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Aus der Perspektive einer Literarästhetik des höfischen Romans betrachtet, belegt das Beispiel des Pallas aber eben das schon hier virulente Problem, wie die Unwägbarkeiten der âventiure mit der Idee der Bewährung zu vereinbaren wären. Die Akzentuierung hat eine je nach Romanmodell spezifische Poetik der Immanenz zur Folge. Das Programm einer „positiven Negativität“ der âventiure, wie sie von Eneasroman und Artusroman (bei allen Unterschieden in Sujet und Poetologie) formuliert wird, ist in hohem Grade inklusiv; es zielt nicht auf die Tilgung, sondern auf die Einbindung des Kontradiktorischen, der Perspektiven des Gelingens und des Scheiterns, von Providenz und Kontingenz, Finalstatus und Vorläufigkeit. Erst aus dieser Inklusion resultiert die Weltmächtigkeit und Weltbezogenheit der poetischen Entwürfe, die in der Affirmation zugleich immer die Suspendierbarkeit des Affirmierten mitbedenken. Diese Neigung zum sinnfälligen Paradox dokumentiert sich in der Zunahme kontingenter Unglücksfälle,6 in weiterer Folge aber auch darin, jene Historizität und Zeitgebundenheit der poetischen Welt thematisch werden zu lassen, die das chrétiensche Modell in einer bewussten poetischen Setzung aufgehoben hatte: Dies ist zumal in der „chronistischen“ Summe der Fall, die der ,Prosa-Lancelot‘ veranstaltet. Er löst nicht nur formalästhetisch jene konzeptionellen Bindungen auf, auf denen das poetische Modell Chrétiens gründet. RITTERLICHES SCHEITERN (,PARZIVAL‘, ,WILLEHALM‘). – Der Schritt zurück in die „Zeitlichkeit“ wird vom chrétienschen Roman allerdings im Motiv des verfrühten Todes schon vorweggenommen. In ihm thematisiert sich das Problem der Kontingenz so grundsätzlich wie nur möglich. Die entsprechende Beispielgestalt im Œuvre Chrétiens ist der tote Geliebte der cousine, in Wolframs ,Parzival‘ der im Minnedienst für Sigune zu Tode gekommene Schionatulander. Auch wenn Gestalt und Geschichte durch Chrétiens ,Perceval‘ vorgegeben sind, so lassen sich die Umgestaltungen und Akzentuierungen, die Wolfram vornimmt, doch auf der Folie von Veldekes ,Eneasroman‘ lesen oder vielmehr mussten sie vom Publikum aus dieser Perspektive wahrgenommen werden. Das Verfahren wäre dabei weniger als Verschiebung zu begreifen, die das „ursprüngliche“ Modell aufbrechen würde und die sich nicht zuletzt auch in dem transzendenten
6
Im Falle des Artusromans betrifft dies vor allem die Integration des Todes, dies ein Leitgedanke in Walter Haugs Theorie des höfischen Romans (vgl. u.a. Haug 1992). Die Bändigung des „Absolutismus von Tod und Eros“ im klassischen, chrétienschen Modell scheint mir dabei etwas zu glatt als intendiert und gelungen betrachtet. Auch hat es den Anschein, als würde Haug hier zu mimetisch denken, in dem Sinne, dass genau diese Absolutismen „natürliche“ Gegebenheiten und nicht erst kulturelle Konstruktionen wären.
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Aspekt manifestieren würde, der mit der Gralsthematik eingebracht wäre,7 sondern als eine Parallelführung, die jene Perspektive der Negativität verschärft, die allerdings schon das Grundmodell integriert hatte. Das Phänomen der Kontingenz formuliert sich nicht nur am klassischen Weg des arthurischen Helden, wie ihn die Geschichte Gawans nach wie vor exemplifiziert, sondern auch an der schwierigen Providenz, der Parzival unterliegt (die Schwierigkeit manifestiert sich dabei nicht zuletzt im „kontingenten“ Verstoß Gottes gegen die eigene Regel, der zufolge nur einmal die Chance bestehe, zum Gral zu gelangen), und drittens am markanten Eintritt des Todes in den Handlungsverlauf, eben an der Gestalt Schionatulanders, aber nicht nur an dieser, sondern auch an Herzeloyde und Ither sowie – in symbolischer Weise – an Amfortas. Dass der christliche Gott, der ansonsten im Artusroman bloß am Rande und als dezidiert höfischer Gott die Regie übernimmt,8 zunehmend ins Romangeschehen involviert wird, forciert den providentiellen Charakter des Handlungsverlaufs. Ihm korreliert ein schärferes Ausgeliefertsein der fiktionalen Welt an die Kontingenz. Der Tod greift im ,Parzival‘ um sich und liefert zuhauf Beispielfiguren, die belegen, dass man sich im Aventiureleben der vana gloria mundi ergibt. Dies gilt schon für Gahmuret, es gilt ebenso für den ausziehenden Parzival wie für Ither, wobei in allen drei Fällen das Phänomen der Kontingenz mit der Frage nach einer schuldhaften Überhebung mehr oder weniger explizit verbunden ist. Deutlicher als in ,Erec‘ und ,Iwein‘ konstruiert sich ein kausallogischer Zusammenhang zwischen dem inkalkulablen Ausgang des Aventiurelebens und der fahrlässigen Preisgabe des Selbst an dieses.9 Es ist freilich die Erfahrung der Minne, in der sich die Hingabe an das Weltleben unmissverständlich formuliert. In ihr verwirklichen sich das 7 8
9
So im Grunde die Deutung Walter Haugs (ebd.). Ein solcher höfischer Gott verhindert im ,Erec‘, dass Enite in Angesicht des scheintoten Erec ihrem Leben ein Ende setzt. Im letzten Moment lässt er den Grafen Oringles dazwischen treten, der sich in weiterer Folge allerdings als höchst problematische Figur erweist (Chrétien 4632ff.; Hartmann 6110ff.; zu Problem und Deutung des höfischen Gottes im ,Erec‘ Scholz 2000); in Hartmanns ,Iwein‘ ermöglicht Gott den Sieg des Löwenritters über Laudines treulosen Truchsess, weil er den schönen Damen, die ihn darum bitten, keine Bitte abschlagen kann (5357ff.; vgl. – nicht ganz so dezidiert – Chrétien 4513f.). Im ,Iwein‘ wird die Terminvergessenheit des Protagonisten nicht motiviert; im ,Erec‘ ist zwar von einer Pflichtvergessenheit des „sich verliegenden“ Landesherrn die Rede, dessen Ausritt ließe sich aber nicht nur als Eingeständnis einer Schuld, sondern auch als der trotzige Nachweis verstehen, wie unberechtigt der kolportierte Vorwurf ist, er würde sich wissentlich der Trägheit hingeben. Bewirkt Erecs neue vita activa einerseits ein ordnungsstiftendes Handeln, so bedeutet sie andererseits aber auch eine Auslieferung an Gefahren, die Leib und Leben weitaus mehr gefährden als das liebesselige dolce far niente eines Frischvermählten, der keinen Grund hat, an seiner ritterlichen Tüchtigkeit zu zweifeln. Auch im ,Erec‘ bleibt die Frage einer Verfehlung somit offen.
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Prinzip der Kontingenz und die Überschätzung des Diesseitigen, in ihr gerät der Weltbezug zum sündhaften Verstoß gegen die Hierarchie zwischen Transzendenz und Immanenz. Dies zeigt sich an Amfortas’ Liebeshybris, die dezidiert gegen das Gebot des Grals verstößt. Sein Handeln nach der Maxime weltlicher Liebe spricht sich im Schlachtruf „Amor!“ aus. Dass dieser Schlachtruf, wie es Trevrizent mit deutlicher Untertreibung formuliert, nicht volleclîchen guot sei (,Parzival‘ 478,30ff.), belegt auf sinnige Weise der Lanzenstoß des Heidenritters, der Amfortas am Geschlecht trifft – als wäre dies das Organ des Weltjüngers schlechthin, ist man versucht zu sagen. In der Zwielichtigkeit der Minne kulminiert die Problematik einer Existenz, die zu sehr auf das „Hienieden“ hin orientiert ist, in ihr kondensieren sich alle Unwägbarkeiten, mit denen die Welt aufzuwarten weiß, sie ist ihr Substitut, wie die Fragen des Erzählers an Frau Minne zeigen (291,1ff.): Würde man Minne durch Welt ersetzen, ergäbe dieser Kommentar einen regelrechten contemptus mundi. Die Perspektive des Scheiterns, die im ,Parzival‘ ihre tatsächlichen Opfer einfordert – Gahmuret, Amfortas und Schionatulander zumal –, wird in der arthurischen Dramaturgie des Gelingens zwar nach wie vor (wenngleich zu einem höheren Preis) aufgefangen. Die finale Positivität steht aber nicht mehr bloß unter dem Zeichen einer fiktionalen Setzung, eines wænlîchen Glückes, sondern thematisiert explizit das Problem der Zeitlichkeit: Die Mission Loherangrins wird scheitern (824,1ff.) und ein ideales christliches Reich wird sich am Rande einer offenbar heillosen Welt, in Indien, in Gestalt des von Feirefiz und Repanse de Schoye gezeugten Priester Johannes etablieren (822,1ff.). Das paradigmatische „Einst“ zeigt sich der Geschichtlichkeit unterworfen. Der utopische Finalstatus formuliert sich deutlicher noch als eine vom Autor herbeigeführte Setzung: Parzival, den ich hân brâht, / dar sîn doch sælde het erdâht – ,so habe ich nun Parzival dorthin geführt, wo sich das Glück schlussendlich seiner annahm‘ (827,17f.), so beschließt die Autorstimme ihre Erzählung. In den noch folgenden Versen wird sie unter das sentenziöse Motto gestellt, dass es der Mühe lohne, wenn ein Leben so ende, dass es Seelenheil und Gunst der Welt zugleich bewahre. Der Anspruch auf Gültigkeit relativiert sich dabei auch in der einschränkenden Dedikation des Werks an „eine gewisse Frau“ und in der Kategorie der süßen Worte, die es deswegen zu erfüllen gehabt habe. Radikaler noch stellt Wolframs ,Willehalm‘ die Möglichkeit der Bewährung in einer Welt des ritterlichen Kampfes in Frage, und auch hier lässt sich dies am „frühzeitigen Tod des jungen Helden“ zeigen. Das Modell, das Pallas bei Veldeke abgibt, spiegelt sich im Tod von Willehalms Neffen Vivianz. Zwar ist das narrative Faktum selbst (wie im Falle Schionatulanders) vom Sujet beziehungsweise von Wolframs Vorlage vorgege-
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ben, nicht aber die Ausgestaltung der Problematik. Sie wird in einer spezifischen intertextuellen Referenz fundamental umformuliert. Dass Wolfram mit der Darstellung von Vivianz’ Tod auf „seinen Meister“ Veldeke (,Willehalm‘ 76,24f.; vgl. ,Parzival‘ 532,1) Bezug nimmt, erweisen Willehalms Totenklage ebenso wie die Rachehandlung, die er an Arofel vollzieht. Beides steht im Zeichen einer Überbietung des Vorgängertextes: Vivianz ist wie Pallas vor der Zeit zu Tode gekommen, sein Tod widerspricht ebenso wie jener dem, was der junge Ritter erwarten ließ, er bedeutet einen Verstoß gegen das, was angemessen wäre. Eneas’ Klage gegen die Götter korrespondieren Gyburgs und Willehalms fast blasphemische Zuweisungen der Verantwortung an Christus.10 Obwohl sich Turnus schon ergeben hat, tötet ihn Eneas, als er an Turnus’ Hand Pallas’ Ring bemerkt, und verletzt damit die ritterlichen Regeln gleichsam im Affekt. Dies wird von der exorbitanten Unerbittlichkeit überboten, mit der Willehalm Arofel stellvertretend für Noupatris und Halzebier hinrichtet, die Vivianz’ Tod verursacht hatten (79,1ff.). Die gesteigerte Heillosigkeit immanenten Geschehens wird von der Gewissheit kompensiert, dass Vivianz gerade nicht dasselbe exemplum vanitatis wie Pallas abgibt, weil er im Glaubenskrieg und also als Märtyrer fällt. Aus einer immanenten Perspektive gesehen ist damit die Unangemessenheit des verlorenen jungen und vielversprechenden Lebens freilich nicht aufgehoben, wie die fortgesetzten Klagen Willehalms, Gyburgs und von König Loys dokumentieren (60,21ff.; 100,28ff.; 183,27ff.). Der Preis für das erlangte Seelenheil erscheint in ihnen als zu hoch veranschlagt. Die Leiderfahrung in der Immanenz droht gegen die transzendente Heilsgewissheit auszuschlagen. In der Welt selbst potenziert sich die Destruktivität des Geschehensverlaufs schließlich am Geschick derer, die ihr nicht nur mit dem Leib, sondern auch mit der Seele ausgeliefert sind: Die heidnischen Ritter sind im ,Willehalm‘ die wahren Weltjünger. Ihr Schicksal ist umso härter, als sie eben nicht jene „Heidenhunde“ darstellen, als die sie in der ,chanson de Roland‘ und im ,Rolandslied‘ abgeschlachtet werden. Sie sind vorbildliche höfische Ritter, die in ihrem Ethos ritterlicher Bewährung und höfischer Frauenliebe die Positivität der Immanenz verkörpern. Als das entsprechende Signum des Weltbezugs fungiert abermals die Minne.11 Sie gibt in ihnen ihre eigene ideale Repräsentation der absoluten Heillosigkeit, dem vollkommenen Verlust preis: durh minne unminne in ûf’ez gras / valt, lautet die paradoxe Formel zum Tode von Noupatris (27,26f.; 10 11
Vgl. 101,10ff. (Gyburg meint, Gott müsse sich schämen, wenn er sie und Willehalm für ihre Leiden nicht entschädige) und 456,1 (Christus müsse sich seiner Niederlagen schämen, klagt Willehalm). Zur Diskussion um die divergenten Konzeptualisierungen von Minne im ,Willehalm‘ vgl. Ortmann 1993, Miklautsch 1995 und M. Kern 1999.
4. Versuch einer Systematisierung
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‚der Liebe wegen fällte ihn die Un-Liebe auf das Gras‘). Dem müsste konsequenterweise ein radikaler contemptus amoris mundialis folgen. Der ‚Willehalm‘ kann sich ihm entziehen, weil er Frauenliebe und Gottesliebe in der Eheliebe Willehalms und Gyburgs identifiziert. In ihr deutet sich mehrfach eine christologische Allegorese an: Gyburg liebt in Willehalm Christus und umgekehrt,12 Willehalm fordert seine Kämpfer auf, indem sie für ihn kämpfen, gleichzeitig für Christus zu kämpfen und in Gyburg die christliche Seele zu retten (298,19ff.). Der Widerspruch zwischen der idealen Binnennorm, die diese Liebe repräsentiert, und den katastrophalen Folgen, die sie in der Welt zeitigt, ließe sich im übrigen als Transposition des Tristanproblems auf die Ebene eines Sujets begreifen, das nicht mehr bloß auf die Sphäre der Immanenz bezogen ist. Diese Transposition würde sich vor allem darin manifestieren, dass die Analogie zwischen weltlicher und geistlicher Liebe in Gyburg und Willehalm zur Identität hin tendiert. Dass in Wolframs ‚Willehalm‘, in der Komplexität und Paradoxie seiner Gestaltung die konkrete zeithistorische Erfahrung einer scheiternden Kreuzzugsbewegung zur poetischen Repräsentation gelange, wäre eine naheliegende Deutung. Die Subtexte, die den höfischen Roman durchziehen, würden dabei auch den Blick auf jene Paradoxa freigeben, die die Realitätserfahrung durchziehen mussten: Namentlich trifft dies auf die ideologische Konzeptualisierung der Kreuzzüge und den Nachweis ihrer Unzulänglichkeit durch den historischen Verlauf selbst zu, der sich in den militärischen Niederlagen und in den Pervertierungen der Kriegsziele manifestierte, wie sie zumal der vierte Kreuzzug mit sich brachte. Die neuen Themen vom schuldhaften Verhalten der Christen, die sich als von Gott legitimiert betrachten, und der „guten Heiden“ scheinen eine entsprechende historische Kontingenzerfahrung zu formulieren. Der widersprüchliche Effekt dabei ist, dass die historische wie die literaturgeschichtliche Entwicklung und auch der Roman selbst die ideologischen Schemen eher festigen als aufbrechen. Willehalms Geste der Versöhnung am Ende des Romans entwirft zwar eine utopische Perspektive. Die Frage wäre aber, ob sie darin den ideologischen Anspruch nicht erst recht legitimiert. So scheint es jedenfalls, wenn man auf die Vor- und Nachgeschichte Ulrichs von dem Türlin und Ulrichs von Türheim sowie auf die prononcierte Willehalmrezeption im weiteren Aventiureroman oder in der Chronistik 12
Vgl. 215,16f. (solt ich [Gyburg] durh Mahmeten Krist / unt den marcrâven verkiesen, / unt mînen touf verliesen?); 220,30 (ich diente im [Willehalm] und der hoesten hant.); 310,17ff. (ich trag al eine die schulde [am katastrophalen Geschehen], / durh des hoehisten gotes hulde, / ein teil ouch durh den markîs.); das ist auch die Wahrnehmung von Willehalms Verwandten, vgl. 260,6ff.: und sprâchen, si hete den hoehesten got / und ir vil werden minne / mit wîplîchem sinne / an dem marcgrâven geêret / und ir saelekeit gemeret. Vgl. zur christologischen Perspektive M. Kern 1999, 582f.
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III. Poetik der Immanenz
blickt. Namentlich im Buch Akkon von Ottokars ‚Reimchronik‘ referieren die ideologischen Darstellungsmuster dezidiert auf Wolfram: Noch die äußerste Niederlage wird im Auftreten des christlichen Königs von Äthiopien, der den Fall Akkons rächen will, zum ideologischen Triumph umgeschrieben, der bloß aufgrund der korrumpierten christlichen Institutionen, zumal der päpstlichen Politik, und der widrigen Umstände wegen nicht auch historische Wirklichkeit wird (52833ff.). Dies lässt sich als Radikalisierung von Willehalms Versöhnungsangebot an Terramer lesen, das auf einer politisch-pragmatischen Ebene zwar die Möglichkeit einer friedlichen Koexistenz imaginiert, eine Lösung des heillosen Zustandes aber letztlich nur im Sinne einer Ideologie der Taufe, also einer Bekehrung der Heiden denken kann. Diese Lösung konkretisiert sich auch in der bei Wolfram angedeuteten künftigen Verbindung von Loys’ Tochter Alise und Terramers Sohn Rennewart nach dessen Taufe. Immanente Liebe führt – wie an Willehalm und Gyburg gezeigt wird – nur dann aus der Heillosigkeit, wenn sie als christliche Eheliebe auf die Sphäre der Transzendenz verweist. Das Motiv des Moniage, in dem Willehalm und Gyburg schließlich ihre Leben beschließen werden, zeigt dabei, dass selbst diese Ehe nur ein Durchgangsstadium ist, ein Zugeständnis an die Immanenz. Dieses Zugeständnis ist im Falle der beiden höfischen Heiligen Willehalm und Gyburg auch deshalb eigentlich unnötig, weil es ohne Folgen bleibt: Das Paar zeugt (im Unterschied zu Alise und Rennewart und in interessanter – geistlich-typologischer? – Analogie zu Tristan und Isolde) keine Kinder, die die Sache Gottes in der Welt auf fruchtbare Weise befördern könnten. KONTINGENZ UND NARRATIVER ÜBERSCHUSS. – Wolframs ,Parzival‘ und ,Willehalm‘ gestalten an unterschiedlichen Sujets die Möglichkeit und die Problematik ritterlicher Bewährung. Analog zu den Werken Hartmanns werden dabei die Texttraditionen, die hinter den beiden Romanen stehen, die arthurische und die heroisch-legendarische, über den Autornamen, die Erzählergestalt und die entsprechenden expliziten Referenzen des ‚Willehalm‘ auf den ,Parzival‘ in einem Œuvre verbunden.13 Dieses Œuvre lässt die poetischen Repräsentationen ritterlicher Welterfahrung nicht als genregebundene, divergente Darstellungs- und Denkformen erscheinen, sondern systematisiert sie zu komplementären Perspektiven, die auf dasselbe Problem abheben. Die poetische und poetologische Komplexität der Texte steigert sich auf diese Weise gegenüber der Gattungstradition, die sie jeweils fortschreiben. 13
Dabei nimmt die Autorstimme kontrastiven Bezug auf den gelehrten Dichter Hartmann, wenn sie sich in ihrer illiteraten „Rohheit“ inszeniert; zur Diskussion Bumke 2004, 5ff.
4. Versuch einer Systematisierung
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Aus der Sicht des Œuvres erweist sich das immanent verankerte arthurische Zeit-Raum-Gefüge schon bei Hartmann auf das Thema einer problematischen Weltverfallenheit hin perspektiviert: Iwein lässt sich vom ,Armen Heinrich‘ her betrachtet als genau jener Weltjünger lesen, den der Protagonist der höfischen Legendenerzählung repräsentiert, und er gibt als verrohter Waldmensch ein entsprechendes exemplum vanitatis ab. Das poetische Versprechen des Artusromans, dass Bewährung hienieden möglich und von zivilisatorischer Relevanz sei, formuliert sich im Modus poetologischer Bescheidenheit und im Zeichen einer „positiven Negativität“, die Fragilität und Vorläufigkeit des fiktiven Entwurfs kenntlich halten. Im ,Parzival‘ wird mit der Gralsaventiure die Frage nach der transzendenten Signifikanz und Relevanz ritterlich-abenteuerlichen Handelns unmittelbar thematisch, neben die immanenzbezogene Perspektive und Struktur der Horizontalität tritt eine transzendenzbezogene der Vertikalität. Die narrative Gestaltung hält sie – überspitzt gesagt – als „unsichtbare“ Parallelität präsent, die das gängige Schema der Aventiurehandlung in den Gawanbüchern begleitet.14 Umgekehrt durchziehen, auch dies dokumentiert der „Tod des jungen Helden vor der Zeit“, narrative und hermeneutische Modelle des Aventiureromans den ,Willehalm‘. Die homogene Perspektive der Transzendenz, die den Glaubenskampf in der chanson de geste mit entsprechender Eindeutigkeit konzeptualisiert, zeigt sich mit dem Bewährungsschema und dem Bewährungsethos des höfischen Romans kontaminiert; was in der Gattungstradition Vertikalität war, erweist sich, wenn wir bei diesen Begriffen bleiben wollen, „horizontalisiert“. Die konzeptuelle Mehrschichtigkeit höfischen Erzählens deutet sich in den Relationen innerhalb von Hartmanns Œuvre an, bei Wolfram determiniert sie die Narration a priori und überschreitet dabei die Grenzen jener Modelle, die von der Gattungstradition vorgegeben sind.15 Sie schlägt sich in der inklusiven Verbindung generisch unterschiedlicher Handlungsmuster nieder. Das Phänomen ließe sich mit Karlheinz Stierle 14
15
Zur horizontalen und vertikalen Chronotopik in der mittelalterlichen Literatur Bachtin 1989, 84ff. Den „Einfluß der mittelalterlichen jenseitigen Vertikalen“ sieht Bachtin am deutlichsten im Zeit-Raum-Gefüge der von ihm sogenannten Visionsliteratur gegeben (,Rosenroman‘, Dantes ,Comedia‘; ebd. 89). Der „organische und stimmige“ Chronotopos des Aventiureromans (87f.) ergebe sich hingegen aus seiner „horizontalen“ Beschränkung, die allerdings im ,Parzival‘, auf den sich Bachtin u.a. bezieht, in zweierlei Hinsicht aufgebrochen erscheine: Zum einen, als es sich nicht mehr um eine homogene Welt des Wunderbaren und der zeitenthobenen Idealität handle, zum anderen, als eben die Gralsaventiure die Raumzeit des Geschehens zum „Vertikalen“ hin öffne. Im ,Tristan‘ gestaltet sich eine solche Mehrschichtigkeit hingegen nicht im Sinne einer chronotopischen Hierarchie von Horizontalität und Vertikalität, sondern als eine Hierarchie der Immanenz in sich, indem „Anderwelt“ und „Allerwelt“ konfligieren.
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III. Poetik der Immanenz
als „Verwilderung“ beschreiben.16 Deren produktiver Effekt wäre in der Pluralisierung poetisch-narrativer und poetisch-konzeptueller Möglichkeiten zu erkennen. Im Falle des ‚Willehalm‘ könnte man auch von Hybridität im Sinne Bachtins sprechen.17 Deren – von Bachtin als Kriterium behauptete – Intentionalität würde dabei auf eine Polyphonie zielen, die die Divergenz der Stimmen des Romans gerade nicht homogenisieren will, sondern intentional herstellt und es bei einer paradoxen Konfrontation eines poetisch-höfischen Ideals mit einer politisch-theologischen Ideologie belässt. Für die Geschichte des höfischen Romans im 13. Jahrhundert, wenigstens in der mittelhochdeutschen Literatur, bedeutet Hybridisierung zunächst neue poetische Perspektiven: Mit den Aventiuremodellen, die die Gattung narratologisch tragen, werden auch die Konzepte der Kontingenz verfügbar, allerdings in einem prononciert materiellen Sinn. Dies sei im Folgenden wenigstens kursorisch umrissen. Einen besonderen, frühen Fall bietet Heinrichs von dem Türlin ,Crône‘. Ihrer komplexen Aventiurewelt, die nicht zuletzt in den imaginären Abenteuervisionen der sogenannten Wunderketten sinnfällig wird,18 steht die Begnadung des Protagonisten durch Fortuna/Saelde gegenüber. In der entsprechenden allegorischen Scheitelszene wandelt sich die Personifikation immanenter Unbeständigkeit selbst zur Figuration einer diesseitigen Idealität, deren Beständigkeit in Wesen und Wirken des ersten Artusritters gründet. Beim Eintritt Gaweins in Saeldes Palast steht ihr Rad still und auch ihre linke Körperhälfte, ansonsten wie der Rücken von Frau Welt, wenngleich weniger drastisch, Sinnbild eines bösen Endes alles Zeitlichen, beginnt zu leuchten.19 Der Roman restituiert hier in einer komplizierten narrativen Bewegung jene Zeitenthobenheit der arthurischen Welt, die der ,Parzival‘ durchbricht. Die Gralwelt wird durch das Wirken Gaweins gleichsam als transzendenter Spuk des poetischen Raumes verwiesen, das chronotopische Gefüge ist in die Sphäre der Horizontalität rückgeführt. Eine Perspektive der Negativität, die der chrétiensche Roman noch im Moment des Gelingens gegenwärtig hält, manifestiert sich zwar auch in der ‚Crône‘ auf mehreren Ebenen: etwa in der offensichtlich auf den ,Iwein‘ referierenden laus temporis acti des Prologs und in der Klage um den historischen Verlust arthurischer Idealität, in Gaweins vermeintlichem Tod sowie in einem imaginär und dramaturgisch komplexer gewordenen Aventiureweg. Der rein materielle Zuwachs an kontingenten Bedrohungen wird allerdings egalisiert vom Wirken der zur Saelde stilisierten Fortuna, in der sich 16 17 18 19
Stierle 1980. Bachtin 1979, bes. 180ff; zu Willehalm als einem hybriden Helden Fuchs 1997. Hierzu Wyss 1981 und Keller 1997. Vgl. oben Kap. II.3, 208f.
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der providentielle Charakter des Romangeschehens im Unterschied zum Chrétienschen und Wolframschen Gralroman ohne eine dezidierte transzendente Referenz poetisch repräsentiert. Den Aventiureroman der Zeit um 1300 kennzeichnen analoge Phänomene, nunmehr auch außerhalb des arthurischen Sujets. Die Wechselfälle des epischen Ritterlebens, die aufwendigen Reisen, die historischen und geographischen Referenzen, die etwa der ,Reinfried von Braunschweig‘ oder der ,Apollonius von Tyrlant‘ Heinrichs von Neustadt beschreiben, potenzieren die kontingente Abenteuerwelt um weitere, eben auch pseudo-historisierende Aspekte (Reinfried kämpft ums Heilige Grab, Apollonius wird der erste christliche Römische Kaiser und leitet damit das Imperium aus der Profangeschichte in die Geschichte des Heils über).20 Ein narratives Schema, das grob gesagt dem des antiken Abenteuerromans entspricht (und im Falle des ,Apollonius‘ auch in ihm wurzelt), fängt die gesteigerte materiellen Schwierigkeiten, vor die ritterliche Bewährung gestellt ist, in der konzeptuellen Gewissheit ihres Gelingens ab. Die Vielfältigkeit der Welt besteht in der Vielfältigkeit der Erzählgänge, die einer „verwilderten“ Epik als narrative Optionen vorliegen. Bedrohlich ist die Sphäre immanenter Kontingenz bloß für den Roman selbst: Die paradigmatische Komposition macht die Serien von Aventiuren theoretisch ad infinitum verlängerbar. Die Ironie der Robinsonade des Protagonisten, mit der der ,Reinfried‘ abbricht, besteht dabei darin, dass sie den Roman als Fragment in einem Zustand hinterlässt, der auf einer poetologischen Ebene jene Negativität der Kontingenz ins Recht setzt, die auf der narrativen Ebene eigentlich ausgeschlossen ist. Riskieren wir einen – zugegeben rudimentären – Blick auf die Repräsentationen und die Poetologien der Kontingenz im Abenteuerroman der frühen Neuzeit, so ließen sich wenigstens drei Typen differenzieren: Die Exuberanz der fiktionalen Welten in der europäischen Sujettradition der chanson de geste und in der Gattungstradition des höfischen Romans wird von Ariosts ,Orlando furioso‘ fortgesetzt. Der Prozess der Verwilderung, den Karlheinz Stierle an eben diesem Metier analysiert,21 findet dabei zu einer epochal neuen Ästhetik, deren positive Poetologie der Immanenz paradigmatisch an der Überwindung jener Grenzen des Raumes manifest wird, die eine Perspektive der Transzendenz der abenteuernden curiositas gesetzt hatte. Dies deutet sich etwa an Ariosts Korrektur von Dantes „letzter Ausfahrt des Odysseus“ an.22
20 21 22
Hierzu Ebenbauer 1984 und 1985 sowie Ridder 1998. Stierle 1980. Oben Kap. III.1, 334f.
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III. Poetik der Immanenz
Ohne direkte transzendente Referenz und ohne jene providentielle Grundierung, die im höfischen Roman schon in der aristokratischen Geburt und im aristokratischen Ethos der Protagonisten angezeigt ist, schildert ein frühneuzeitlicher Prosaroman wie der ,Fortunatus‘ eine Welt, deren Vielfältigkeit und Unverlässlichkeit in einem pluralisierten sozialen Milieu und in neuen (unter anderem monetären) Mechanismen zu fassen sind. Über beide Momente radikalisiert sich das zugrunde liegende Fortuna-Prinzip des antiken Romans. Dem narrativen und stilistischen Aufwand, den der Versroman der italienischen Renaissance treibt, steht dabei die Lakonie einer betont schmucklosen Prosa gegenüber, in der sich ein entsprechend nüchterner Pessimismus artikuliert. Der „poetische Rest“ ist in den wirren Raumbewegungen der Protagonisten (allen voran von Fortunatus’ Sohn Andolosia) zu fassen, die mit allerlei Wunderzeug veranstaltet, narrativ aber bis aufs Notwendige reduziert werden. Er ist ferner in der allegorischen Bedeutungsebene anzitiert, die mit dem Auftritt der Fortuna in den Text eingebracht wird. Zum Verschwinden bringt ihn die Ermordung Andolosias, die der radikalen Weltfixiertheit der Protagonisten ein desillusionierendes Ende setzt.23 Das narrativ wie hermeneutisch komplexeste Modell repräsentiert schließlich der „pseudo-biographische Roman“, wie er in Grimmelshausens ,Simplicissimus‘ vorliegt. Kontingenz besteht dabei nicht nur in einer chaotischen Welterfahrung des biographischen Subjekts, die sich nicht mehr zu einem sinnvollen Verlauf harmonisiert, sondern in der Kontingenz dieses Subjekts selbst und in seinem willkürlichen Agieren. Die Integration des Protagonisten in eine Sphäre unberechenbarer Zeitlichkeit geschieht nicht unter dem Aspekt einer charakterlichen Formung, sondern in einer chamäleonartigen Anpassung und Fügung. Und diese Sphäre wird, solange das Subjekt in ihr existiert, auch in ihren katastrophalen Wendungen, nicht ernstlich hinterfragt oder gar moralisiert. Die Weltabsage formuliert sich erst am Ende als zitathafter Sermon eines zweifelhaften Eremiten (V Buch, cap. XXIV), der in der ,Continuatio‘ erneut aufbricht, um schließlich auf einer paradiesischen Insel (für dergleichen nunmehr locus classicus der Literatur) sein Dasein als Weltverächter zu fristen und seine Erlebnisse auf Palmblättern festzuhalten. Erst an dieser Stelle wird die allegorische Konsequenz aus der poetisch-hybriden Handlung gezogen und mit Worten das Bild der Welt als hybride Fratze gezeichnet, ein Bild, das den einschlägigen spätmittelalterlichen Vignetten und auch dem Titelemblem des Buches selbst gleicht. In seinem Schematismus 23
Vgl. zu diesen Aspekten des ,Fortunatus‘ Bachorski 1983, Kästner 1990, J.-D. Müller 1995[a] und Haug 1998; zu Phänomenen der Kontingenz und der Weltflucht handelt am Beispiel der ,Magelone‘ Röcke 1985.
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verrät dieses Welt-Bild freilich den bekannten habituellen, topischen Gestus und macht somit erst recht den positiven Weltbezug des Romans transparent. Diese heimliche Positivität besteht selbstverständlich nicht in einer affirmativen Bejahung und Beschönigung, sondern in einer gleichsam fatalistischen Akzeptanz immanenter Wirrnis, an der nicht zuletzt die Ideologien der Transzendenz wesentlich Verantwortung tragen. Der Undurchsichtigkeit und unklaren Wertigkeit einer pluralisierten narrativen Welterfahrung, die nicht mehr wie im höfischen Roman unter den Ägiden klarer soziokultureller, historischer und metaphysischer Referenzen steht, entspricht eine Allegorie der vanitas, die selbst eine entsprechend präzise Körpersignatur verloren hat und zum hybriden Wesen geworden ist, dessen Ästhetik und Konzept auf neue Darstellungs- und Deutungsmuster aus Emblematik und Hieroglyphik referieren. Die Welt hat keinen Frauenleib mehr, sondern ist eine wilde Komposition aus dämonologischen und emblematischen Ikonographien.24 Die Gefahr, dass man einer solchen Welt begegnen könnte, ist freilich gering: Das Unheimliche, das in der weltlichen Literatur des Mittelalters jederzeit und in jedem Sujet aus dem Vertrauten hervorbrechen kann (sei es Frau Welt in der Pastorella, sei es der Waldmensch im Ritter), erweist sich auf diese Weise gerade distanziert, dem tatsächlichen Anschein der Immanenz entfremdet und somit allegorisch gebändigt. Gerade die hybride Weltallegorie negiert, ohne es zu wollen, die Möglichkeit einer eindeutigen Lesbarkeit dessen, was Immanenz bedeutet, und negiert damit den Absolutismus des contemptus mundi, den sie an der Oberfläche behauptet. Sie leistet also dasselbe, was schon die Konfrontation divergenter poetischer Register im Werk Michel Beheims oder Konrads von Würzburg (Welt- und Herznovelle) geleistet hatte: Noch im Gestus der Weltverneinung formuliert sie einen heimlichen Weltbezug. POETIK DER MINNE ALS POETIK DER IMMANENZ. – Der Aventiureroman kultiviert eine Poetik der Immanenz, in der immer die Frage nach dem Finalstatus gestellt wird; er muss zu einer Bewertung dessen kommen, wie Aufwand und Ergebnis epischen Handelns zueinander stünden. Einer solchen Logik widersetzen sich die Sujets und Dramaturgien der Liebe. Die Bewährung des Liebenden manifestiert sich nicht im Telos, sondern im Prozess, in der Beständigkeit, mit der er seine Liebe gegen jede Wirrnis praktiziert, käme sie von außen oder von innen. Dies zeigte sich beispielhaft am Tristanroman. Das Telos, verstanden als materielle Einlösung einer ideellen Einstellung, ist der Liebe äußerlich. Ihre Gültig24
Vgl. die Beispiele bei Kiening 1994; zu den einschlägigen Ikonographien in der Emblematik Schilling 1979.
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III. Poetik der Immanenz
keit erweist sich vielmehr gerade in der schärfsten Negation „materieller“ Erfüllung, im Liebestod. So formuliert es sich auch im ,Herzmäre‘ oder in den Novellen vom gegessenen Herzen des ,Decamerone‘ (IV.1 und IV.9): Die denkbar schrecklichste Erkenntnis des Todes des Geliebten und damit der Unmöglichkeit einer tatsächlichen Liebeserfüllung ist im ideellen Sinn ihr eigentlicher Vollzug. Indem das Herz des Geliebten gegessen ist, ist ein weiterer Verbleib im widrigen Hienieden nicht nur unmöglich, sondern zugleich unnötig, weil die Inkorporation den Finalstatus ideell vollzieht. Die physische Trennung durch den Tod ermöglicht jene – im etymologischen Sinne – metaphysische Vereinigung, die zuvor bloß temporär und im Konflikt der ideellen Binnenwelt mit der widrigen Außenwelt zu vollziehen war. Die genannten Liebestode geben daher auch kein Exemplum des Verschwindens und der vanitas weltlicher Liebe, sondern münden in Bilder ihres Perpetuierens. Bei Konrad von Würzburg und Boccaccio ist dies im poetischen Memorial der Fall, das die Texte den Liebenden mit ihren abschließenden Ermahnungen an die Zuhörenden oder mit den genüsslichen sospiri der werkimmanenten Rezipienten und Rezipientinnen setzen. Im ,Tristan‘ Heinrichs von Freiberg materialisiert sich ein solches Denkmal botanisch, im Ergrünen von Wein- und Rosenstock. Da die Sphäre der Immanenz in sich und nicht in Hinblick auf die Transzendenz hierarchisiert ist, erweist Leiderfahrung nicht die Negativität des Irdischen, ist der Liebestod nicht der Beweis für dessen Hinfälligkeit, sondern bloß ein Erkenntnismittel, das der Außenwelt beigegeben wird und sie zu der Überzeugung gelangen lässt, dass die, die hier liegen, nicht ihre größten Verräter, sondern ihre idealen Repräsentanten gewesen seien. Dies durchschaut – wenigstens für einen Moment – sogar Marke, auch wenn er seiner Erkenntnis mit der törichten Lösung ex post („Hättet Ihr euch mir doch nur eröffnet!“) und der Grablegung der Liebenden im frisch gegründeten Kloster zuwiderhandelt. Dass die Weltklagen Kurvenals und des Erzählers Fehldeutungen darstellen, beweist nicht bloß die paradoxe Allegorisierung in Heinrichs Epilog selbst, sondern auch der prononciert tristanische Ton in der abschließenden Didaxe von Konrads ,Herzmäre‘, die auf Gottfrieds ,Tristan‘ rekurriert. Diese Konzeption gehorcht der Logik höfischer Liebeslyrik. Im Falle der Herznovellen besteht dabei nicht nur eine Korrespondenz, sondern ein genealogischer Zusammenhang, da das Sujet aus den Trobador- bzw. Trouvèreviten kommt.25 Es handelt sich um Episierungen des lyrischen paradoxe amoureux, im Tristanroman wenigstens um eine Übertragung lyrischer Konstellationen auf das Sujet. Was die lyrische Poetik der Immanenz selbst betrifft, sei an die Affinitäten zwischen Minneherrin und Welt25
Hierzu Di Maio 2005.
4. Versuch einer Systematisierung
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allegorie erinnert. Sie formulieren sich beispielhaft im Œuvre Morungens. Die Herrin erscheint einerseits, so im ,Venuslied‘ (MFMT XXII, MF 138,17) oder im Lied ,Sîn hiez mir nie widersagen‘ (MFMT IX, MF 130,9)26 als die rätselhafte und souveräne Gestalt, der gegenüber sich das männliche Subjekt ausgeliefert sieht. Die unbedingte Bindung erweist sich dabei gerade angesichts der empfundenen Grausamkeit und Willkür, mit der sie handelt. Zugleich erscheint sie – wenigstens dann, wenn der Sänger eine Begegnung imaginiert – als das Flüchtige, sei es, dass sie sich unvermittelt dem Blick entzieht (wie in der „Fensterszene“ des ‚Venuslieds‘, Str. 3), sei es, dass sie in ihrer Körperlichkeit als fragil imaginiert wird. So in Morungens ,Narzisslied‘ (MFMT XXXII; MF 145,1), wenn das Bild der Dame, im Traum vom Blick des Sängers gebannt, eine todesähnliche Hinfälligkeit preisgibt oder wenn sie in der imaginierten Begegnung des ,Heidelieds‘ (MFMT XXIII, MF 139,19) mit tränennassen Wangen vor dem Sänger steht, über den sie das Todesurteil gesprochen hatte.27 Lyrische Kontingenzerfahrung formuliert sich somit in der immer wieder dem Scheitern preisgegebenen Relation zwischen Liebendem und Geliebter oder in der Willkür, mit der sie das Begehren zurückweist (mit dem Effekt, dass sie es erst recht provoziert). Die Produktivität dieser Konstellation und seine Bindung an Konzepte der Welterfahrung manifestiert sich nicht zuletzt in den direkten Verschränkungen lyrischer Zyklen mit dem Thema der vanitas, wie sie bei Dante und Petrarca konstitutiv werden. Auch sie leben vom Motiv eines Todes, der zu früh eintritt: des Todes der Geliebten selbst. Und auch in diesen Modellen formuliert sich folgerichtig das Problem von Kontingenz als eine Denkform irdischer vanitas, die in die bekannten Lösungen mündet: bei Dante in eine Sublimierung der menschlichen Beatrice zur allegorisch-spirituellen, aber dennoch leiblich vorgestellten Geliebten, bei Petrarca in die Metamorphose Lauras zur Verkörperung eines poetologischen Prinzips, das einen eminenten Weltbezug herstellt und erst im abschließenden Hymnus an die Vergine bella aufgehoben wird. Schon das erste Attribut, das in RVF 366 der Himmelskönigin zugesprochen wird, erweist freilich den contemptus Laurae als bloß scheinbar vollzogen. Dass die Selbstauslieferung des Minnesängers an die Minneherrin nichts anderes als eine Selbstauslieferung an die Welt, und zwar nicht an die Welt an sich, sondern an die immanente Praxis der Poesie codiert, formuliert sich nicht erst in dem Spiel, das der ,Canzoniere‘ mit der Graphemfolge treibt,28 sondern schon in Morungens gewichtigem 26 27 28
Vgl. besonders das Bild von der Dame als rouberîn, 1,6. Vgl. oben Kap. II.3, 237ff. Hierzu Kablitz 1989.
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III. Poetik der Immanenz
Satz: wan ich dur sanc bin ze der welte geborn (MFMT XIII.1,7, MF 133,19); er übersetzt den gängigen binnenfiktionalen erotischen Topos: wan ich wart dur sî und durch anders niht geborn (MFMT XV.2,6; MF 134,30) ins Poetologische. Wie sich der Sänger als Liebender der Dame ausliefert, liefert er sich im poetologischen Sinn seiner poetisch imaginierten Welt aus und hierin korrespondiert er der Erzählergestalt in Gottfrieds Tristanprolog. Im Unterschied zu den ,Rerum vulgarium fragmenta‘ Petrarcas und ihrer Verschiebung des Begehrens von Laura auf die Vergine bella wird die immanente Liebesrelation im Œuvre Morungens ohne einen solchen Akt der Abkehr in die Transzendenz hinein verlängert. Dies zeigt die Strophe an die vil süeziu senftiu toeterinne (MFMT XXXIV; MF 147,4), in der die lyrische Minnebindung wie im Falle der Tristanliebe mit entsprechenden sakralen Analogien aufgeladen ist. Weltliche Liebe konfligiert dabei gerade nicht mit einem transzendenten Eros, ein hierarchisches Gefälle besteht vielmehr zwischen ihr und dem, was ihr in der Außenwelt entgegensteht. Mit dieser Sublimierung wird zudem nicht auf den Aspekt des Sinnlichen und des Körperlichen verzichtet, wie bei Morungen die Attribute süeziu senftiu und der sinnliche Akt des Liebens selbst, das beschouwen, zeigen: Die Liebesbindung realisiert sich in der Transzendenz zwar als Herrschaft zwischen Seelen (iuwer sêle ist mîner sêle vrouwe); in der Geschlechteridentität dieser Seelen bleibt jedoch der Aspekt sinnlicher Erotik bewahrt, die Seele des Sängers dient der Seele seiner Herrin als einem reinen wîbe. Dabei ist im Attribut reine das Körperhafte nicht am Verschwinden, vielmehr verspricht sich in ihm die Sphäre der Transzendenz als jenes Milieu, in dem diese immanente Liebe ohne die Widrigkeiten, denen sie im Zeitlichen ausgesetzt ist, zu sich kommen kann. Ihr fortgesetztes Misslingen hienieden entlarvt sie gerade nicht als Werk irdischer Eitelkeit, das spätestens mit dem Tod ein Ende fände, sondern als etwas, das mit ihm gerade perpetuiert. Von dieser Idee Morungens her lässt sich auch die paradoxe Logik nachvollziehen, die sich in Walthers ,Alterston‘ verbirgt:29 mîn minnesang kann den Nachgeborenen als positives Vermächtnis des abtretenden Sängers hinterlassen werden, auch wenn dessen Seele im Moment der Weltabkehr gegen des lîbes minne die wâre minne setzt. Der revocatio und dem contemptus jenes Bildes, in dem sich die Weltbezogenheit des Dichters manifestiert, kontrastiert schließlich der prospektive Wiedereintritt in dessen Herz und damit eine Vorstellung des Perpetuierens, die der transzendenten Fortsetzung irdischer Liebe bei Morungen korrespondiert. Dass sich die analoge Denkform bei Walther komplexer und konfliktreicher gestaltet, erklärt sich aus einer Komplexitätssteigerung des Œuvres. Dessen 29
Oben Kap. I.4, 105ff.
4. Versuch einer Systematisierung
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diversifizierte Thematik pluralisiert sowohl das, was Welt in ihm bedeutet, als auch die persona des Sängers selbst. Wenn wir auch hier nochmals auf die Neukonzeptionen in der folgenden europäischen Lyrik blicken und dafür auf Petrarca zurückkommen, so erweist sich der Beschluss der ,Rerum vulgarium fragmenta‘ mit dem Hymnus an die Vergine bella ebensowenig als revokatorischer Rückschritt gegenüber der zuvor prononciert zelebrierten Poetik der Immanenz. Die heimliche Ironie der Petrarcaschen Übertragung wäre vielmehr darin zu fassen, dass die adressierte himmlische Jungfrau eher als Hypostase Lauras denn umgekehrt erscheint. Abgesehen von den Attribuierungen (bella, saggia, pura, chiara) suggeriert dies auch der Aufwand, den die 365 vorgängigen Lieder mit der vielschichtigen, erotischen und poetologischen figura betreiben, die den Schriftzug Laura trägt. Die poetisch-ästhetische und konzeptuelle Leistung Petrarcas ist dabei in der Inversion jener Transzendierung zu fassen, die Dante an der Gestalt Beatrices von der ,Vita nova‘ zur ,Comedia‘ hin vollzogen hatte. Von der ,Comedia‘ aus gesehen erweist sich die irdische Erscheinungsform Beatrices in der ,Vita nova‘ als die zeitliche Präfiguration jener Existenz, die die Beatrice des ,Paradiso‘ im Jenseits führt. In der paradiesischen Beatrice wird zwar jene Vertikalität Gestalt, die Bachtin in der ,Comedia‘ konstituiert sieht. Sie negiert freilich keineswegs im Gestus der Weltverächterin den Wert immanenter Idealität, den sie schon zu Lebzeiten (nämlich in der ‚Vita nova‘) repräsentiert hatte. Vielmehr zieht diese positiv begriffene Immanenz ihre Spur bis ins ,Paradiso‘ selbst, da Beatrice sich eben nicht auf eine allegorische Verkörperung der Theologie oder des theologischen !"#$ reduzieren lässt, sondern immer auch die Geliebte bleibt und als solche auf „Dante“ eine Wirkung ausübt, die sinnlich-erotisch metaphorisiert ist. Bei Petrarca, so könnte man vielleicht sagen, verkehrt sich die Richtung: Verweist die irdische Beatrice der ,Vita nova‘ aus der Perspektive des ,Paradiso‘ auf das, was die himmlische sein wird, so verweist die transzendente Laura auf das, was mit der immanenten Laura verloren ward. Damit werden auch die Leiderfahrung von Petrarcas Ich und sein Verbleib im „Hienieden“ legitimiert. Die revocatio, die im Hymnus an die Vergine bella veranstaltet wird, repräsentiert keinen Rückfall hinter eine schon erreichte Poetik der Immanenz, in der die selbstgewählte poetische Lebensform des Subjekts gerechtfertigt und zugleich – in Hinblick auf ihre Flüchtigkeit – melancholisch grundiert ist; vielmehr weist sie der himmlischen Jungfrau die Repräsentanz jenes Ideals zu, das sich im „Hienieden“ an Laura formuliert hatte. Indem der Zyklus von 366 Gedichten zudem nicht nur auf das „große“ Jahr, das Leben, sondern auch auf das „kleine“ Jahr verweist, bezeichnet das letzte Lied zugleich eine Schwelle, die auf den Anfang zurückführt und so die Permanenz von Werk und Lektüre behauptet.
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III. Poetik der Immanenz
Kehren wir zur höfischen Lyrik des Hochmittelalters und zum Œuvre Morungens zurück. Die Irritationen, von denen die lyrische Minnebindung getragen ist, zielen hier auf jene schwierige Welt, der sich Gottfried im Tristanprolog eingemeindet wissen will. Diese Welt verbindet Liebesund Leiderfahrung und sie steht als exklusive Binnenwelt des oder der Liebenden hier wie dort im Kontrast zu einer „Allerwelt“. Im Hohen Minnesang fordert sie dem Liebenden eine maximale Separation ab, für die er sich in einem fortwährenden Akt der Vergewisserung gegen die kontingenten Fährnisse absichern muss, die sowohl von Außen als auch seitens der imaginierten Willkür des Liebesobjekts drohen. Die Opposition zwischen Binnenwelt und Außenwelt konfiguriert im übrigen nicht bloß den grand chant courtois, sondern definiert als lyrische Chronotopik auch die übrigen Gattungen: Sie gestaltet sich in der Pastourelle als räumlicher Gegensatz zwischen einer Welt der Gesellschaft, des Hofes und einer Welt der Natur, die das erotisch-sexuelle Begehren seiner kulturellen und sozialen Bindungen enthebt; und sie gestaltet sich als zeitlicher Gegensatz zwischen (vergangener und geglückter) Entbindung und dem (gegenwärtigen) poetischen Bericht, der sich genau an jene Sphäre wendet, die diese Bindungen verkörpert. Deren Normen werden bestenfalls temporär unterlaufen, wenn nicht überhaupt heimlich affirmiert.30 Im Tagelied kontrastiert der intime, geschlossene Raum mit der im Morgenlicht als unabwendbar imaginierten Öffentlichkeit. Der dramaturgische Scheitelpunkt, der Moment der Trennung, situiert die lyrische Szene am Übergang zwischen vergangener Erfüllung und künftiger Suspension der Liebesübereinkunft. Im Hohen Minnesang verlagert sich der prohibitive Einfluss einer erosfeindlichen Außenwelt auf die Liebesrelation selbst. Der Geliebten gilt ein Absolutismus des Begehrens, wie er an sich nur der Transzendenz zukommen dürfte. In einem Akt der Willkür wird diesem Begehren aber fortwährend die Erfüllung verweigert. Die Liebesbindung stellt sich räumlich vertikal und zeitlich zirkulär dar. Aus dieser paradoxen Konstellation resultiert die besondere gene-analogische Affinität des Hohen Sangs zum contemptus mundi. Sie wird im Kreuzlied oder in Walthers Alterslyrik sujetkonstitutiv. Folgerichtig zeichnet Wirnts Verhältnis zu Frau Welt bei Kon30
Affirmativ erweist sich die klassische Pastourelle, weil die Lizenz zum erotischen Abenteuer schon in der ständischen Differenz zwischen pastorella und Ritter gegeben ist; grundsätzlich affirmativ sind auch die Geschlechterrollen der Gattung. (Analoges gilt für Neidharts „Gegengesang“.) Von Subversion ließe sich am ehesten noch in den höfischen Pastourellen des Tannhäuser sprechen, da sie als Geliebte nicht die pastorella, sondern die vrouwe imaginieren. Sie subvertieren jedenfalls die poetologischen Normen des Minnesangs; die Widerrufe in den Bußliedern des Pseudo-Tannhäuser belegen schließlich, dass das Konzept erotischer Sinnlichkeit von einer Perspektive der conversio und des contemptus her immer als Akt einer illegitimen Subversion diskreditiert werden kann.
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rad von Würzburg genau diese Konstellation nach. Als oberste, allegorische Minnedame verspricht sie, was ihre litteralen Töchter in der Imagination des männlichen Ichs fortwährend verweigern, nämlich Lohn, Entschädigung für die geleisteten Mühen. Die Einlösung bedeutet dabei die radikalste Form des üblichen Undanks, da Frau Welt, indem sie lohnen will, ihren Adepten nicht nur in seiner physischen, sondern auch in seiner transzendenten Existenz bedroht. Die Negativität des Hohen Sanges lässt sich allegorisieren zur Negativität der Welt. Demgegenüber würde die Pastourelle den höchsten Grad an Positivität repräsentieren, der Welt, Natur und Sinnlichkeit entgegenzubringen wäre. Die Moralisierung der Gattung bei Michel Beheim erwiese diese Positivität freilich als die größte Torheit, die der Diener eines amor mundialis begehen könnte. Die schwierige Welt der höfischen Liebeslyrik und des Tristanromans wäre mit diesen beiden vanitas-Texten in einem polemischen Akt der geistlichen Allegorese rückübersetzt in eine simple Negativität gegenüber der Immanenz – würden Beheims eigentliche Pastourelle, Konrads ,Herzmäre‘ und die Ironien von ,Der Welt Lohn‘ einen solchen Akt nicht konterkarieren und als disponiblen Teil in einem polyvalenten poetischen Deutungsspiel enttarnen. KONTINGENZ UND MEHRDEUTIGKEIT IM „HISTORISCHEN“ SUJET. – Die aemulatio antiker Epik ermöglicht Walter von Châtillon eine umfassende Überschreitung jener Konventionalität, von der Stoffgestaltung, Figurenzeichnung und poetische Repräsentation in der vorgängigen und weitgehend auch in der späteren mittelalterlichen Alexandertradition getragen sind. Dem wenigstens ambivalenten, über weite Strecken hinweg aber affirmativen Weltbezug der Narration korrespondiert eine Poetik der Immanenz, die in der Absicht gründet, die antike Epik auf ihrem eigenen Terrain zu überbieten. Dies im Unterschied zu der Arbeit an Vergil, die – wie das Beispiel von Juvencus zeigte – die Bibelepik leistet. Wie weit sich die ,Alexandreis‘ in ihrem Immanenzbezug nach vor wagt, erhellen auf der narrativen Ebene die Perspektiven des zehnten Buchs, das in der Fahrt zu den Antipoden über die Grenzen des orbis hinausdenkt und sie hypothetisch auch überschreitet, sowie die ebenfalls beinahe gelingende Umschrift der Universalgeschichte, die Alexander mit der beabsichtigten Eroberung Roms und der Gebiete des erst künftigen Römischen Reiches anstrebt. Nur sein gewaltsamer Tod verhindert, dass Realität wird, was das Epos als Potential seiner spezifischen Sujetfügung imaginiert. (Unter diesem Aspekt ist es ironischerweise der Teufel Leviathan, der in einem verbrecherischen Akt garantiert, dass die Profangeschichte so verläuft, wie es der göttliche Plan vorsieht.) Auf poetologischer Ebene entspricht dem ein fortwährendes Sich-Einlassen auf die poetischen Repräsentationsweisen antiker Epik,
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III. Poetik der Immanenz
dessen Höhepunkt das Spiel mit den säkularen Musen im Epilog bildet. Der autonome Wert dieses Spiels dokumentiert sich in der Empfehlung an den Leser, sich dem zuzuwenden, wovon sich der Autor als Christenmensch mit gespielter Unbefriedigtheit abwendet. Erst wer sich dem Spiel ausgiebig hingegeben hat, darf es auch beenden. Im direkten Bezug auf Walter gestaltet Ulrich von Etzenbach seinen Alexanderroman (um 1280). Er überträgt das Verfahren der aemulatio auf die Tradition der höfischen Epik, zumal auf Wolfram von Eschenbach, übernimmt (mit Modifikationen) den mythologisch-allegorischen Apparat31 und zeichnet in der Haupthandlung wie in den umfassenden Exkursen, die er mit Rücksicht auf die literarischen Kenntnisse seines Publikums aus Walters historischen und mythologischen Anspielungen entwickelt,32 ein Panorama epischen Geschehens, das wenigstens in seiner materiellen Vielschichtigkeit über die ,Alexandreis‘ auch hinausgeht und jene Phänomene der „Verwilderung“ aufweist, die den späthöfischen Roman generell kennzeichnen. Damit ist auch die mittelhochdeutsche Bearbeitung des lateinischen Epos von einem narrativen und poetologischen Überschuss getragen, der die universalhistorischen und geistlichen Deutungsperspektiven des Sujets pluralisiert.33 Dies ist im übrigen schon im ,Alexanderroman‘ Rudolfs von Ems (um 1230-1250) der Fall, der sich allerdings an Quintus Curtius Rufus’ ,Historia‘ orientiert: Rudolf geht in der Stilisierung Alexanders zum höfisch-exemplarischen Herrscher, dessen Interesse nicht bloß der Eroberung, sondern auch der Erkundung der Welt dient, am weitesten. Beide Formen der Weltaneignung exemplifizieren dabei natürlich kein sich genügendes Ethos der Immanenz, sondern affirmieren den räumlichen wie zeitlichen ordo göttlicher Welteinrichtung. Gleichwohl erhalten Profangeschichte und weltlicher Herrscher für sich Wert zugesprochen. Das programmatische Interesse an der Immanenz, das von den transzendenten Denkformen legitimiert ist, dessen Repräsentation aber in Umfang und Gewichtung über eine bloße Verweisfunktion hinausgeht, korrespondiert im übrigen dem Konzept von Rudolfs ,Weltchronik‘, die in der Widmung an den Stauferkönig Konrad IV. der säkularen Geschichte ihren legitimen Platz neben der Heilsgeschichte zuweist. Als deren Supplement bietet sie 31 32 33
So neben Natura und Leviathan auch Fortuna und die Parzen; vgl. die Belege s.v. Fortuna und s.v. Parcae, LAG, 255-258 und 465f. Ein besonders einprägsames Beispiel bieten die Exkurse zur Geschichte Thebens und Trojas; hierzu M. Kern 2001, 222ff. Was nicht bedeutet, dass sie verschwinden. So schwört Iokaste bei Ulrich – in einem Bekehrungsakt avant la lettre und vor der Zeit – angesichts der katastrophalen Enthüllung ihres Inzests mit dem Sohn den Heidengöttern ab und wendet sich dem christlichen Gott zu, der sie denn auch von ihrem heillosen Leben erlöst und sterben lässt (3071ff.). Die Stelle operiert mit der Opposition zwischen einer Welt ante gratiam und sub gratia.
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der königlichen Bildung und dem königlichen Interesse sowohl Unterhaltung als auch ein êwiges memorial (21697). Die materielle Pluralisierung des Sujets resultiert im ,Alexander‘ und in der ,Weltchronik‘ schon aus der Masse der einbezogenen Quellentexte und aus der Vielschichtigkeit der narrativen Strategien; die poetische Repräsentation von Welt und Geschichtlichkeit überschreitet auf diese Weise jene einheitliche Perspektive, die das leitende didaktische oder universalhistorische Konzept vorgibt. Die antiken Sujets sind von hoher Signifikanz für die konkrete Gestaltung der Hierarchie zwischen Immanenz und Transzendenz in der mittelalterlichen weltlichen Literatur. Zum einen kommt ihnen – wie die Theorie der translatio imperii et studii belegt – historisch wie ästhetisch hohe Dignität zu, zum anderen repräsentiert sich in ihnen eine anstößige Weltverfallenheit, die aus mittelalterlicher Sicht nicht zuletzt an den letztlich negativen Geschicken Trojas, Alexanders und ansatzweise auch Aeneas’ abgelesen werden kann. Die paradoxe Spannung zwischen Exemplarität und Fatalität ist dabei unter den Ägiden der Heilsgeschichte und der Paganismuskritik diskursivierbar. Schon im frühen Antikeroman, bei Veldeke wie auch in Herborts ,Liet von Troye‘, werden die entsprechenden Deutungsstrategien aber keineswegs systematisch aufgerufen. Dass die poetische Gestaltung vielmehr dazu tendiert, sie gleichsam zu übersehen, belegt für die französische Literatur bereits Benoîts de Sainte-Maure ,Roman de Troie‘, der das tragische Weltgeschehen zum Ursprungsmythos eines höfischen Kulturideals stilisiert.34 Hier kündigt sich in der volkssprachlichen Literaturtradition eine poetische Toleranz gegenüber Kontingenz und Hinfälligkeit alles Weltlichen an, wie sie für die mittelalterliche vergilianische Epik Walter von Châtillon beispielhaft praktiziert. KONTINGENZ UND KULTURALITÄT: KONRADS VON WÜRZBURG PROLOG ZUM ,TROJANERKRIEG‘. – Die eben skizzierte Tendenz mündet im ,Trojanerkrieg‘ Konrads von Würzburg geradezu in eine Inversion der negativen Semantik, die dem Geschichtsverlauf einer Welt „vor der Gnade“ wie von selbst zugeschrieben werden kann. Der Prolog zeigt dabei, dass die Umpolung der Wertungsmechanismen deduktiv von der Poetologie her entwickelt wird.35 Er setzt mit einer absoluten Frage an: „Waz sol 34 35
Hierzu Masse 2004, 403ff. mit weiterführender Literatur. Eine benoîtsche Perspektive formuliert sich auch in der Geschichte des Rittertums, mit der der ,Moriz von Craûn‘ eröffnet, vgl. M. Kern 1998, 337ff. Von der programmatischen Funktion des Prologs für Konrads Sujetfügung und von der Differenz der in ihm formulierten Ästhetik in Hinblick auf seine Vorgängertexte (insbesondere den ,Roman de Troie‘ Benoîts de Sainte-Maure) handelt ausführlich Lienert 1996, 17ff. Ich konzentriere mich auf eine literaturtheoretische Perspektivierung im Sinne jener Aspekte, die hier einer „Poetik der Immanenz“ die Konturen geben.
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nû sprechen unde sanc?“ 36 Die Erzählerstimme sieht sich gleich zu Beginn an ein Ende der Poesie gelangt. Schon der bloße Umfang des Textes weist diesen radikalen Zweifel jedoch als rhetorischen Habitus aus. In ihm könnte sich das Kalkül verbergen, dass der Blick von einem Abgrund aus den Glanz des vorliegenden Gedichts umso reiner erscheinen lassen müsse. Die folgende Zeitklage erkennt diesen Abgrund im kulturellen Niedergang der Gegenwart: Weder bedanke man heute diejenigen, die den Glanz der Freude dichterisch zu kommunizieren wüssten, noch gebe es deren viele. Dabei ließe doch die Wertschätzung, die man dem Edelstein ohne Gleichen, nämlich dem Waisen der Kaiserkrone entgegenbringe, vermuten, dass man – zu Hofe wenigstens – auch das exklusive Gedicht zu schätzen wisse. Das folgende Gleichnis vom Phönix, der sich im Feuer verbrenne, um aus der Asche neu zu erstehen, formuliert den Niedergang zu einem Übergang um: ich wil den spæhen orden getihtes ime [nämlich dem Phönix] gelîchen, der schiere in tiutschen rîchen sô vaste wil verswinden, daz man kûm einen vinden mac in der lande creizen, der müge ein meister heizen red und guoter dœne. (46ff.)37
Gleichnis und Auslegung sind für Konrads Poetologie in mehrfacher Hinsicht signifikant: Sie weisen zum einen auf eine klassizistische Wahrnehmung der vorgängigen höfischen Literatur. Sie und ihre Meister repräsentieren eine Autorität, die es zu überbieten gilt. Der Niedergang der Kunstdisziplin verspricht – im Bild des Phönix gedacht – eine im vorliegenden Roman vollzogene Wiedergeburt, die auf das Alte rekurriert und es zugleich einzustellen weiß. Ein neuer poetischer Phönix wird sich aus der Asche der Meister erheben und ist sich dabei dessen, was er hinter sich lässt, mindestens ebenso bewusst wie dessen, was er dem alten Phönix schuldet. Das Gleichnis leitet ferner über zu einer Theorie der Exklusivität der Dichtkunst: Im Unterschied zu den anderen Künsten könne sie nicht erlernt werden, sondern sei von Gott als Talent verliehen.38 Diesem Kon36 37
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Der Vers rekurriert auf den Beginn von Konrads ,Partonopier‘ (hierzu Haug 1992, 344ff.) und verschärft ihn. ,Ich will den scharfsinnigen Ordensstand / der Dichtkunst ihm [dem Phönix] vergleichen, / der in den deutschen Reichen / so rasch und ganz zu verschwinden droht, / dass man kaum einen finden / kann in den Landeskreisen, / der als Meister gelten könnte / der Rede und guter Melodien.‘ Der Satz, dass niemand den Dichter seine Kunst lehren könne, wan gotes gunst aleine (74ff.), ist eine offensichtliche Kontrafaktur zur Inspirationsvorstellung aus Wolframs ,Willehalm‘Prolog: swaz an den buochen stât geschriben, / des bin ich künstelôs beliben. / niht anders ich gelêret bin: / wan hân ich kunst, die gît mir sin (2,19ff.) – und dieser Sinn wird als unlôser und wîser von
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zept einer mittelalterlichen Genieästhetik, die sich nicht an der freien Erfindung, sondern am Vorgefundenen erweist (vgl. 266ff.), steht die Idee einer materiellen Autarkie der Dichtung zur Seite: Im Unterschied zu allen übrigen Künsten benötige sie zu ihrer Ausübung bloß, was ihr von selbst zur Verfügung steht, nämlich Verstand und Stimme. Hier wird eine Selbstgenügsamkeit der „Vokalität“ in einer Zeit und in einem Werk imaginiert, das ohne die Materialität der Schrift nicht denkbar wäre. Dass aus der Passage kein positivistischer Beweis für Medialität und Ästhetik der Mündlichkeit zu ziehen ist, die die volkssprachliche Poesie nach wie vor determiniere, belegen die folgenden Verse. Indem sie die Idee der dichterischen Autarkie radikalisieren, blenden sie gerade jene Unmittelbarkeit der Kommunikation aus, die der Theorie zufolge eine Sphäre der Vokalität kennzeichnen müsste:39 Wenn Zeit und Gesellschaft so heruntergekommen sind, dass man an edlen Sprüchen nicht mehr interessiert sei, sondern in der fauligen poetischen Erfindung einen Karfunkel erkenne, so wie die Fledermäuse den Funken eines Holzspans für wahres und beständiges Licht halten (142ff.), wenn dem so ist, so wolle der Dichter eben für sich singen (176ff.). Ja, wenn auch niemand mehr lebte, so würde er dennoch weiter dichten, damit ihm selbst seine Stimme erklinge: ich tæte alsam diu nahtegal, diu mit ir sanges dône ir selben dicke schône die langen stunde kürzet. [...] ir dôn ir wol gevellet, dur daz er trûren stœret. ob si dâ nieman hœret, daz ist ir alsô mære, als ob ieman dâ wære, der si vernemen künde wol. (192ff.)40
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Gott selbst erbeten. Schon im ,Willehalm‘ ist der psalmodische Topos ins „Individuelle“ übersetzt, da die ostentativ behauptete Ungelehrtheit mit dem ,Parzival‘ als Kennungsmerkmal der Wolframschen Autorstimme entwickelt ist (in Relation auf den gelehrten Ritterautor Hartmann). Dem wiederum setzt Konrad den ein für allemal begabten, elitären Dichter entgegen. Genau in diesem Kontrast, nicht in einer Analogie manifestiert sich die Referenz, die mir mehr als „allenfalls“ (Lienert 1996, 18, Anm. 111) gegeben scheint. Zum Konzept der Vokalität vgl. Schaefer 1992. Es besagt – grob gesprochen –, dass die Oralität mittelalterlicher Literatur nicht in erster Linie im produktionsästhetischen Sinne zu denken wäre, sondern in der direkten oralen Kommunikation des von Skriptualität bestimmten Textes an ein anwesendes Publikum bestehe. ,Ich würde es der Nachtigall gleichtun, / die mit dem Tönen ihres Gesangs / sich selbst auf schöne Weise / die lange Zeit verkürzt. / [...] Ihr Klang gefällt ihr wohl, / weil er die Trauer zu vertreiben weiß. / Auch wenn sie niemand hört, / so gilt ihr dies gleichviel, / wie wenn einer da wäre, / der sie vernehmen könnte.‘ Die Stelle greift den entsprechenden Gedanken aus dem Prolog zum ,Partonopier‘ auf (hierzu Haug 1992, 358ff.). Indem das dortige Motiv fehlt, die Nachtigall sänge sich zu Tode (wahrscheinlich eine Übertragung
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Was sich zunächst als eine radikal narzisstische Poetologie ausnimmt, ist in Wahrheit existenzielle Übung: Dichten bedeutet nicht nur Zeit-, sondern auch Leidvertreib, ein remedium gegen die untätige Langeweile hienieden, gegen jene Melancholie, die zum Nährboden des contemptus mundi werden könnte. Sowohl in der Idee einer exklusiven Praxis der Kunst, die der Beteiligung einer gemeinen Welt entraten kann, als auch im Ethos einer unbedingten Tätigkeit (und sei sie nur eine für sich) spiegelt sich Gottfrieds Theorie und Praxis der poetischen unmüezekeit im Dienste einer exklusiven Anderwelt. Das Dichten, notfalls für sich selbst, bedeutet folgerichtig keine müßige Beschäftigung, sondern steht im Zeichen hohen Fleißes und gewagter Mühe (vgl. 216f.). Von hier aus gelangt der Prolog zu einer Theorie des Sujets. Was sich der Dichter vornimmt, ist ein tiefez buoch (219), ein abgründiges Buch, ein endloser Strom, in dem ein Berg versinken könnte, dessen Boden mit Worten kaum zu fassen ist und in dem die Zunge kaum ankern kann (220ff.): ich wil ein mære tihten, daz allen mæren ist ein her. als in daz wilde tobende mer vil manic wazzer diuzet, sus rinnet unde fliuzet vil mære in diz getihte grôz. ez hât von rede sô wîten vlôz, daz man ez kûme ergründen mit herzen und mit münden biz ûf des endes boden kan. (234ff.)41
Die verwendete Metaphorik ist für die poetologische Reflexion nicht weniger aufschlussreich als das Phönixgleichnis. Entwirft dieses das Prinzip einer aemulatio der Autoritäten, der klassischen Meister, aus deren Asche sich der neue Dichter-Phönix erhebt, so denkt die Meeresmetapher (inter)textuell. Dabei ist nicht ganz deutlich, was dieses Meer tatsächlich bezeichnet. Offenbar nicht einfach nur das Sujet, sondern das Buch (vgl. 219), nicht im Sinne eines bereits vorliegenden Trojaepos oder Trojaromans, sondern im Sinne der Idee, der Potentialität, die das vorliegende Werk zur aktuellen Gestaltung bringt.
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aus dem Schwanen-Topos), ist er zwar rhetorisch entschärft (Lienert 1996, 19), poetologisch aber radikalisiert er sich, wenn man die folgende kosmische Bildlichkeit bedenkt, mit der die Autorstimme ihre ausgezeichnete Position begründet. ,Ich will eine Geschichte dichten, / die der Herr aller Geschichten ist. / Wie in das wilde, tobende Meer / Wasser ohne Zahl tosen, / so fließen und ergießen sich viele Geschichten in diese große Dichtung. / In ihr fließen die Ströme der Rede so breit, / dass man / mit Herzen und Mündern / kaum bis an den Grund / gelangen kann.‘ Eine interessante Perspektive böte die Deutung von her nicht als „Herr“, sondern als „Heer“: ,dieses Sujet hier ist allen anderen ein Heer‘, das könnte einerseits bedeuten, dass es wie ein Heer über sie komme oder aber sie alle zu einem Heer verbinde; in beiden Fällen wäre ein signifikantes Bild der Polyphonie und der Hybridität des Textes entworfen.
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Die Begriffe der Unergründlichkeit, der Tiefe und der Bodenlosigkeit und das Gleichnis vom Meer, in dem sich die Ströme klar begrenzter narrativer Formen zum Grenzenlosen hin öffnen, suggerieren dabei eine Totalität der intendierten Narration, die genau das ästhetische Prinzip der „Verwilderung“ spiegelt, die die poetische Praxis späthöfischer Epik charakterisiert.42 Zu bedenken ist dabei die deutliche Negativität der Bilder (der grundlose Strom, der selbst Berge verschlingen könnte; das tosende Meer mit seinem endlosen Redefluss). In ihr deutet sich auf einem poetologischen Niveau eine riskante Affirmation jener Ambivalenz an, die den fatalen Geschehensverlauf des trojanischen Sujets kennzeichnet. Deutlich wird dies zumal im Bild vom tobenden Meer, das jene Stelle in Gottfrieds ,Tristan‘ reflektieren könnte, in der Brangäne die Karaffe des Minnetranks in die eben noch ruhige, nun aber aufgewühlte See wirft (11690ff.). Dass Konrads Gestaltung des „alten Buchs von Troja“ im Zeichen einer prononcierten Gottfried-imitatio steht, ist bekannt.43 In ihr gründet denn auch die Umdeutung des katastrophalen „historischen“ Geschehens, das die kontingente Negativität einer heillosen Immanenz mustergültig und ohne Schwierigkeit erweisen könnte, zu einer exemplarischen Narration, an der eine exklusive Gesellschaft nichts weniger als ihre eigene, positive Kulturalität einüben könnte, sofern sie zuzuhören gewillt ist. Diese programmatische Idee beschließt den Prolog: ob sîn gelücke waltet, und wil mir got ze helfe komen, sô wirt ein wunder hier vernomen, von âventiuren wilde, dâ bî man sælic bilde und edel bîschaft nemen sol: man hœret übel unde wol gedenken hie der liute. swer zuht und êre triute, der biete herze und ôren her: so merket und erkennet er überflüzzichen hort von strîte, daz er hie noch dort bevant nie grœzer slahte, sô die vor Troye mahte, vil manic ellentrîcher helt. (280ff.) [...] wird ich sô wol gehandelt von götelicher stiure, daz ich dis âventiure 42
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Vgl. auch 266ff., wo davon die Rede ist, dass das „alte Buch“ von Troja zu neuer Blüte gebracht werden soll und der Dichter seine Brüche und Verwerfungen mit Reimen glätten will, sodass sie nicht mehr aufbrechen. Über die Konzepte der „Verwilderung“ und der „Hybridität“ lassen sich auch Moneckes (1968, 1ff.) Ausführungen zu Konrads Ästhetik der wildekeit theoretisch präziser fassen. Ausführlich hierzu Lienert 1996.
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III. Poetik der Immanenz mac ûf ein ende bringen, ich sag iu von den dingen, wie daz vil keiserlîche wîp Helêne manigen werden lîp biz ûf den tôt versêrte, und waz man bluotes rêrte, daz durch si wart vergozzen (308ff.)44
Dass gerade aus einem Roman, der den blutigen Niedergang einer beispielhaften höfischen Welt zum Gegenstand hat, Ideal und Praxis der courtoisie zu lernen wären, dieses Paradox transzendiert wissentlich die sich anbietende Denkform des contemptus mundi und es steht wiederum im Zeichen der Gottfriedschen Idee einer „schwierigen Welt“. Die Herausforderung, die sie an den stellt, der sich ihr eingemeinden will, besteht darin, das inklusive Nebeneinander von Liebe und Leiden nicht bloß zu akzeptieren, sondern aktiv im Sinne einer fortwährenden kulturellen und zivilisatorischen Anstrengung zu üben. Die Paradoxie eines Unternehmens, das sich jenen wohlfeilen Lösungen verweigert, die diese Paradoxie diskursivierbar machen würden, spiegelt sich in den Bildern des poetologischen und narrativen Risikos: So steht das poetische Vorhaben sowohl physisch als auch vom dichterischen Vermögen her in Frage, dem Gewinnversprechen an die Rezipienten und dem kaiserlichen Zauber der Protagonistin, Helena, stehen die Monstrosität der zu vernehmenden Schlachten und die Ströme vergossenen Blutes entgegen. Es wäre töricht zu glauben, dass sich diese Paradoxie interpretativ aufheben lassen würde, zumal sie genau der Pogrammatik der Verwilderung zuzuschreiben ist und das innovative Potential des Textes ja gerade darin besteht, dass er sich ihr gewissermaßen ungeschützt ausliefert. Perspektiven einer hermeneutischen Bewältigung lassen sich dennoch vom Text selbst her formulieren. Zu nennen ist zum einen eine grundlegende narrative Ironie, die sich aus der copia verborum und aus der Fülle erzählerischer Möglichkeiten ergibt, die Konrad in seinem Meer aus Worten zusammenfließen lässt. Zu fassen ist diese Ironie zumal in der Sphäre der Götter, die hier dezidiert zu Göttern der Poesie stilisiert sind. Sie geben 44
,Wenn ihm [der intendierten Erneuerung des „alten Buchs von Troja“] Glück beschieden ist / und Gott mir zu Hilfe kommt, / so wird man hier eine wunderbare / Wildnis der Aventiuren vernehmen, / an der man sich ein seliges Vorbild / und edlen Beistand nehmen soll: / Man hört hier schlecht und gut / der Leute gedenken. / Wer Kultiviertheit und Ansehen schätzt, / der biete Herz und Ohren dar: / So wird ihm / ein überreicher Schatz / von Kämpfen zur Kenntnis gebracht, / sodass er weder hier noch dort / je größere Schlacht vernahm, / als wie sie vor Troja / so mancher tapfere Held veranstaltete. [...] Wenn ich von göttlicher Lenkung / so wohl geleitet werde, / dass ich diesen Roman zu einem Ende bringe, / dann sage ich euch davon, / wie die kaiserliche Frau, / Helena, manchen würdevollen Leib / bis auf den Tod verwundete / und wieviel Blut man ließ, / das durch sie vergossen wurde.‘
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schon in der einleitenden Erzählsequenz des Parisurteils das erste Bild einer höfischen Idealwelt ab, die das, was sie exemplifizieren soll, zugleich karikiert. Dies zeigt sich etwa am euhemeristischen Exkurs, der der Schilderung des Festes vorgeschaltet ist, das Jupiter anlässlich der Hochzeit von Peleus und Thetis ausrichtet (804ff.). Wenn dieser Exkurs behauptet, dass die Götter eigentlich Menschen mit besonderen Fähigkeiten gewesen seien, die ihre Zeitgenossen mit ihren Zauberkünsten gegängelt hätten, dann reflektiert er eine traditionelle apologetische Polemik, übersetzt sie zugleich aber in ein poetisches Spiel. Ihm eröffnet eine höfisierte Mythologie breiten Raum, wie das Defilee der geladenen, mediävalisierten Götter plastisch vor Augen führt: Apollon erscheint mit seiner Apotheke, Minerva mit einem Bücherkarren, Mars will für jene Ordnung sorgen, die ein ovidianischer Cupido, der unkontrollierbar mit seinen Pfeilen umherschießt, von vornherein auf den Kopf stellt (934ff.). Das ironische Spiel, das den historischen Aspekt des Sujets und damit auch die Ernsthaftigkeit des katastrophalen Verlaufs von Beginn an zu unterlaufen weiß, setzt sich in dem extensiven scholastischen Disput fort, den Juno, Pallas und Venus im Streit um den Apfel veranstalten und der die konsolidierten poetischen Ideologien von Minne, Aventiure und Herrschaft ausgiebig durchzuspielen weiß. Hier zeigt sich denn auch die Hierarchie zwischen einer kontingenten Welt und einer einzig beständigen Transzendenz in eine Opposition gebracht, die in der Sphäre der Immanenz selbst wirksam wird: Dem Vorwurf von Juno und Pallas, dass Venus gerade die zu Tode bringe, die ihre eifrigsten Diener wären und dass sie sich auf diese Weise als Verkörperung immanenter Unzuverlässigkeit erweise, begegnet die Göttin, indem sie die Schuld Fortuna zuschreibt (2344ff.). Diese Argumentation ist nun für sich nicht stringent, da Venus auf diese Weise zugesteht, dass es eine gäbe, die über ihr stünde und also eigentlich den Apfel verdiente, und da sie zuvor mit den Hinweisen auf die Schicksale der biblischen Minnesklaven Adam, David, Salomon und Samson nicht nur ihre Macht, sondern auch ihre Willkür dokumentiert (2164ff.; dass sich die Heidengöttin dabei zur Herrin über zentrale Gestalten der Heilsgeschichte aufschwingt, ist eine Ironie für sich). Abgesehen davon deutet sich in Venus’ Anklage gegen Fortuna aber doch der entscheidende diskursive Ausweg aus dem Paradox an: Die Defizienz, in der sich das Ideal weltlich-höfischer Liebe realisiert, kann nicht diesem selbst zur Last gelegt werden, sondern ist der Effekt weltlicher Kontingenz und des Ungenügens der handelnden Personen.
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Deutlicher als der ,Trojanerkrieg‘ formuliert dies Konrads ‚Minneleich‘.45 Er schildert eine Welt, die unter der Regentschaft von Mars und Discordia steht, während Venus und Amor schlafen. Die Männer hätten sich dem Krieg, dem Morden und dem Brandschatzen verschrieben. Mit der höfischen Kultiviertheit, mit der schönen Welt höfischer Kunstübung und ritterlichen Dienstes sei es dahin. Die Leidtragenden sind in erster Linie die Minneherrinnen, die man einst hofierte, denen man nun aber bloß Missachtung schenke. Die große Zeit einer Welt der Minne, für die Riwalin und Blanscheflur, Tristans Eltern, mit ihrem schönen Leiden einstehen, sei dahin (das Exemplum dokumentiert, dass die intendierte kultivierte Idealwelt wiederum die schwierige, inklusive ist, von der schon Gottfried spricht). Der Untergang Trojas und Paris’ Tod belegen hingegen das schädliche Wirken von Mars und Discordia. Die Verantwortung für den fatalen Zustand der Gegenwart tragen die Männer, die sich deren Herrschaft unterworfen hätten. Der Dichter ruft nun Venus und Amor zum Kampf gegen die heutigen Jünger des Mars auf. Sie sollen sie mit ihren guten allegorischen Waffen beschießen und sie dazu bringen, sich wieder den positiven Mühen des Minnedienstes zuzuwenden. Die utopische Verheißung wird mit der abschließenden Aufforderung, die Waffenröcke, Helme und Schwerter ab- und die Kränze und Tanzschleppen anzulegen, im Lied selbst vollzogen. Der Leich setzt damit gegen eine Sphäre des Krieges und der Barbarei die Utopie höfischer Kulturalität, die sich nicht zuletzt in einer Wertschätzung künstlerischer Praxis manifestiert, wie sie auch der Prolog des ,Trojanerkriegs‘ als das verlorene Ideal einer kultivierten Gesellschaft propagiert. Aus beiden Entwürfen resultiert eine Theorie der Verantwortlichkeit, die sich in der Verpflichtung zur Kulturalität spiegelt. Was nur allzu leicht als Kontingenz der Welt erscheint, unterliegt in Wahrheit der Kausalität menschlichen Fehlverhaltens, das nicht a priori verfügt ist. Der Grundgedanke von der kultivierenden Macht des Minnesangs referiert im übrigen auf Gottfrieds ,Tristan‘, wo es heißt, dass die Welt ohne den Gesang der Nachtigallen unruoches vol (4760) wäre. So etwa könnte die Allegorese lauten, die aus dem allegorischen Mythos dieses Leichs zu gewinnen wäre, und auf Ähnliches könnte auch das sælic bilde und die bîschaft zielen, die der Autorstimme im ,Trojanerkrieg‘ zufolge der âventiuren wilde (283ff.) zu geben verspricht. Das grundlose Meer des Romans, die materielle und poetologische Pluralität der poetischen Welt, die hier repräsentiert wird, müsste freilich auch diese Perspektive als zu kurz gegriffen und als platt erweisen, wenn man sie verabsolutieren wollte. Das riskante poetische Spiel und das zelebrierte Paradox einer schwierigen Welt wären ihr immer schon voraus. 45
Hierzu ausführlich M. Kern 1998, 466ff.
4. Versuch einer Systematisierung
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Es ist die höhere (nämlich gleichsam transzendente) Ironie des Fragments, das Konrads Roman geblieben ist, dass die reale Zeitlichkeit (oder der adressierte Gott) den Autor wie jenen des ‚Tristan‘ entgegen seiner im Prolog ausgesprochenen Hoffnung aus dem Werk gerissen, ihn auf diese Weise aber auch von dessen Vollendung entbunden hat. Andererseits ist im Prolog gesagt, was zu sagen ist, und hätte es ein Ende gegeben, so würde es nicht so lauten wie die Worte der Fassungslosigkeit, mit denen „Wolfram“ im ,Göttweiger Trojanerkrieg‘ dem Untergang einer höfischidealen Gesellschaft gegenübersteht: Vil menger hande unflautt / din aventür begangen hatt (23969f.), hält er Venus entgegen, die er den gesamten Text hindurch hofiert hatte, und kann mit diesem contemptus mundi doch nur sich selbst meinen.46 POETIK UND POESIE DER VERGÄNGLICHKEIT. – Konrads ,Trojanerkrieg‘ bricht ab, bevor das erste Ereignis zu schildern gewesen wäre, das der Handlung unweigerlich den Weg in die „historische“ Katastrophe gewiesen hätte: Hektors Tod. Der unvollendete Roman hält das tatsächliche Ende offen, das vom Sujet her klar wäre und die Negativität eines immanenten Geschichtsverlaufs thematisieren würde, dem jene Heilsgewissheit versagt ist, der sich eine Zeit sub gratia noch im schärfsten immanenten Widerspruch sicher sein kann. Diese de facto verbliebene Offenheit eines Endes, dem „de iure“ nicht zu entrinnen ist, ließe sich als Gleichnis dafür nehmen, was die skizzierten Poetiken der Immanenz leisten. Mit dem historischen Epos vergilianischer Façon, mit dem Tristanund dem Aventiureroman wurden drei exemplarische Möglichkeiten besprochen, in denen weltliche Dichtung die geistliche Deutungshoheit über jene Konzepte und Phänomene der Kontingenz untergräbt, auf die sich ihre poetischen Konstruktionen beziehen und die sie zugleich gestalten.47 Schon in deren materieller Pluralität lässt sich das subversive Potenzial erkennen, das der Poesie eignet und das einsträngige Lösungen a priori konterkariert; dies auch dort, wo sie sich zunächst andeuten: Sei es in der geistlichen Allegorese des tristanischen Grabeswunders, sei es in der Musenabrufung Walters von Châtillon, sei es in der poetologischen Beschei46
47
,Jede Menge Unrat hat dein Abenteuer/dein Roman begangen.‘ Selbst hier steht der plumpen Didaktisierung freilich die bestätigende Lehre entgegen, die die edlen minnere aus der schließlich doch noch zu einem guten Ende gelangten Liebe zwischen Helena und Segremans ziehen sollen (24907ff.; Segremans hat Helena, die hier die Tochter Agamemnons ist, nach dem trojanischen Krieg endgültig entführt). Zur ambivalenten Deutung des Geschehens im ,Göttweiger Trojanerkrieg‘ vgl. Kern 1995, 219ff. Dichtung reagiert nicht einfach mimetisch auf Kontingenzerfahrungen, sondern präsentiert Kontingenzentwürfe, die die entsprechende reale Erfahrung erst in einer je divergenten Weise diskursivierbar machen und damit a priori pluralisieren; hierzu am Beispiel des Tristanromans Warning 2003.
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III. Poetik der Immanenz
denheit, mit der Hartmann von Aue im ‚Iwein‘ auf das Programm der Weltverachtung in seinen Legendenromanen rekurriert. Die poetischen Darstellungsformen generieren in ihrer zunehmenden Komplexität auch neue Denkformen, was Fragen der Kontingenz, ihrer Repräsentation in Minne, Minneherrin oder âventiure, im tragischen Tod junger Helden und im historischen Niedergang ganzer Welten betrifft. Die dominante Hierarchie, die zwischen Immanenz und Transzendenz besteht und die das christliche Mittelalter natürlich nie verabschiedet, spiegelt sich auch in den poetischen Strategien der Diskursivierung des Problems auf vielfältige Weise: in den mehrfachen Widerrufen, in der Negativität, die eine Dramaturgie des Gelingens begleitet, und in den Formen der Sakralisierung, die die Dualität von Transzendenz und Immanenz in die weltliche Sphäre selbst hineintragen. Zugleich bewahrt dieser Einfluss die poetischen Denkformen vor einer insignifikanten Beliebigkeit und sichert ihnen ihre Relevanz. Der betonten und eingestandenen Fragilität der poetischen Konstruktionen, der eine Poetologie der Vorläufigkeit entspricht, steht die Offenheit und Wiederholbarkeit des Textes gegenüber, die ihn noch dann zur fortgesetzten Lektüre empfiehlt, wenn zugegeben wurde, dass der Durst hier bloß temporär zu stillen sei. In diesem Sinne des Verbleibs der Poesie in der Sphäre, für die sie verfasst wurde (wovon unter anderem Walther spricht), lässt sich auch im Mittelalter Monumenten begegnen, die sich der Maxime aere perennius verschreiben. Eine äußerste Möglichkeit bezeichnet dabei die tristanische, paradoxe Denkform einer schwierigen Welt, in deren Akzeptanz Chance und Mühe von Kulturalität und zivilisatorischer Anstrengung begründet wären. Weltliebe in diesem Sinn erlaubt es der Stimme des Autors, ihren poetischen Dienst in die Transzendenz hinauszudenken oder sich ihrem Werk auf Gedeih oder Verderb auszuliefern – unter der Gewissheit, dass der historische Autor im schlimmsten Fall von Gott heimgeholt wird, wie uns Heinrich von Freiberg über Gottfried von Straßburg oder wie uns das offene Ende des ,Trojanerkriegs‘ über Konrad von Würzburg wissen lässt. So waren in den Optionen, die die gewählten Beispiele freigeben, keine linearen und umfassenden Entwicklungen oder keine festen Konzepte zu beschreiben, sondern die stets gegenwärtigen poetischen und poetologischen Paradoxien, die über das hinausweisen, was aus der Sicht der Historizität und Alterität des Mittelalters das immer schon Erwartbare wäre. Die Poetizität des Textes erschließt Perspektiven des Künftigen, eines Noch-nicht-Möglichen. Auch und zumal dies zu erweisen, ist Aufgabe der Philologie, auch ihr bleibt zu denken, was jenseits des Unentscheidbaren liegt, wie es bei Derrida heißt.48 48
Derrida 2005, 180.
Schluss Es sind konkurrierende Denkformen, die den Vergänglichkeitsdiskurs des 12. bis 15. Jahrhunderts bestimmen: Die Vorstellung von Gleichzeitigkeit und Identität schönen irdischen Anscheins und verderbten Seins steht gegen die Idee eines chronologischen Verlaufs; die radikale Maxime, dass die Separation von allem Irdischen am besten immer schon vollzogen wäre, steht gegen die Auffassung, dass es im Lebensweg einen günstigen Moment, einen Kairos der Abkehr gebe; der allegorischen Engführung von vanitas und luxuria kontrastiert deren Suspension in der unverbrüchlichen Bindung an die Geliebte, die das lyrische paradoxe amoureux entwirft. Allgemeiner gesprochen antwortet dem „Absolutismus der Transzendenz“ im theologischen contemptus mundi der „Absolutismus der Immanenz“ in der weltlich-poetischen Tradition, einer Perspektive der eschatologischen Finalität widerspricht die Idee der Zyklizität, in der die eminent poetologischen Figuren von Permanenz und Wiederholung gründen. Diese Konzeptualisierungen von Weltlichkeit, Zeitgebundenheit und Vergänglichkeit deuten darauf hin, dass die grundlegenden Denkweisen der Epoche weniger gradualistisch, denn antagonistisch, antithetisch zu betrachten wären.1 Kaschiert wird das Phänomen allerdings in den analogen Metaphorologien, mit denen weltliche wie geistliche Texte und Texttraditionen operieren, und in einer grundsätzlich unumstößlichen Hierarchie zwischen Transzendenz und Immanenz, in dem also, was man gemeinhin den Theozentrismus des Mittelalters nennt. In ihm können Pluralität und Paradoxie, die sich aus den genannten Oppositionen ergeben, immer Zuflucht nehmen, in ihm sind sie aufgehoben, aber nicht gelöscht. Diese mithin „geborgene“ Divergenz der Stimmen verweist auf das prospektive Potential der Weltentwürfe und Welterfahrungen, die die „mittelalterliche“ Poesie formuliert, sie verweist auf ihre Ästhetizität und ihre kulturelle Relevanz.
1
Auf dieses Phänomen verweisen schon die divergenten Perspektiven der etwa zeitgleich erschienenen geistesgeschichtlichen Studien von Günther Müller (1924), Hennig Brinkmann (1924) und Johan Huizinga (1975 [1924]), die mit ihren Konzepten des „Gradualismus“, der (hochmittelalterlichen) „Diesseitsstimmung“ und des (spätmittelalterlichen) „Pessimismus“ in Wahrheit eher antagonistische Parallelitäten als historische Abfolgen beschreiben.
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Schluss
Die Darstellungsformen der vanitas tragen diese Antagonismen, sie lassen sie in ihrer mehrfachen Lesbarkeit gleichsam zu sich kommen. Die poetischen und bildnerischen Tropen – der schöne, verfallende Leib, das eitle und doch zu spielende Spiel der Dichtkunst – hintergehen die Versuche der Sicherung eines beständigen Sinns. Die Allegorese vermag die Szenographien der Vergänglichkeit und ihre dynamischen Potentiale nicht mit letzter Gewissheit zu bändigen. In ihnen findet denn auch eine „Poetik der Immanenz“ ihre Ansatzpunkte: Dort, wo die „säkulare“ Poetologie in der Stimme des Textes den Abschied aus der lyrischen oder epischen Welt vollzieht, wo dem poetischen Weltwerk ein scheinbares Ende gesetzt ist, erweist sich bloß dessen Bestand, wie der ‚Alterston‘ Walthers von der Vogelweide, Petrarcas ,Vergine bella‘, die „Musenabrufung“ in Walters von Châtillon ,Alexandreis‘, die geistliche Lehre in Heinrichs von Freiberg ,Tristan‘ und die poetologische Bescheidenheit Hartmanns von Aue beispielhaft zeigen. Geht der Autor, bleibt das Werk. Gegen die Finalität der innerpoetischen Entwürfe von Zeitlichkeit stellt sich die poetologische Figur der Wiederholung und der Permanenz des Textes, der Permanenz seiner Lesbarkeit. Das Thema irdischer Vergänglichkeit, die Fragilität, die sich hinter oder gerade im schönen irdischen Anschein verbirgt, zeigt sich in der weltlichen Literatur des 12. bis 15. Jahrhunderts von einer grundlegenden Ambivalenz getragen. Deren Schärfe kulminiert in den eigentlichen Allegorien der Vergänglichkeit, in Frau Welt, im sogenannten Fürsten der Welt und in Luxuria, die eine äußerste ikonische und semantische Spannung des Gegensätzlichen, des Schönen und des Hässlichen, in einem Körperbild zusammenführen. Am eindrucksvollsten manifestiert sich diese Spannung vielleicht in der Freiburger Luxuria (Abb. 17): Das Bocksfell, das um ihren schönen nackten Leib geworfen ist, ließe sich als Verbildlichung jener negativen christlichen Allegorese lesen, die aus der antiken Aphrodite die mittelalterliche Luxuria gebildet hatte. Die Divergenz zwischen der Kunstschönheit des dargestellten Leibes und seiner negativen Signifikation, die Divergenz zwischen Bildwirkung und Bildsinn entpuppt sich dabei als jenes diabolische Prinzip, das die Allegorese gerade bezeichnen will, von dem sie in Wahrheit jedoch selbst gezeichnet ist. Es ist diabolisch im etymologischen Sinn: Darstellung und Sinngebung „über–“ oder „zerwerfen“ sich. Gegen die geistlich-allegorische Arretierung einer negativen Bedeutung steht die Ästhetizität des Bildes. Nicht erst eine moderne Analyse ist es, die diesen Effekt herauspräpariert, er lässt sich vielmehr als die latente Unsicherheit der historischen Rezeption begreifen, wenigstens deutet der große Aufwand hermeneutischer Sicherung darauf hin (Bocksfell, Spruchband „Ne intretis“, Fürst der Welt).
Schluss
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Die einfache Rechnung vom immanenten Trug, der sich im positiven Anschein des Irdischen manifestiere, geht auch dort nicht auf, wo sie offensiv und mit aller Mühe propagiert wird, nämlich im theologischen contemptus mundi. Erinnert sei an die Beispiele, die die einschlägigen Texte Anselms von Canterbury geliefert haben, namentlich an das kausallogische Paradox, dass den Weltverächter gerade die Metapher von der Süße Gottes auf den Gedanken bringt, man könnte, wenn man von ihr gekostet habe, wieder der Süße der Welt verfallen; oder an das Bild vom lebenden Leichnam, das dem Christenmenschen eine Lebensweise anbefiehlt, die letztlich gegen das göttliche Gebot einer wirkenden Existenz hienieden steht. In dieser Empfehlung verrät sich der eschatologische Egoismus, den die theologische Weltverachtung propagiert, wenn sie das vergehende Selbst mit dem bleibenden Anderen gleichzusetzen versucht. Die implizierte transzendente Verheißung zeigt sich dabei gerade in dem kompromittiert, was sie zu löschen vorgibt: Darauf verweisen Walthers „Gebet“ an das verlorene bilde, „Dantes“ Wehmut beim letzten Lächeln Beatrices und schließlich Lauras Warten auf ihren bel velo und auf den Liebenden der ,Rerum vulgarium fragmenta‘. Der Griff der transzendenten Hand Lauras löst sich am Ende des Sonetts RVF 302. Was bleibt, ist die poetische Schrift. Das Verlässlichste erweist sich als das Flüchtigste, das Flüchtigste aber als das Verlässlichste. Das transzendente Versprechen kann nur im immanenten poetischen Schriftzug, im Weltwerk der Dichtung gehalten werden und bezeugt darin nicht dessen, sondern seine eigene Fragilität. Ich will damit nicht behaupten, dass die latenten Selbstwidersprüche im contemptus mundi das Ende seiner historischen Wirksamkeit bedeuten würden, das wäre absurd. Ihre Konsequenz für Literaturgeschichte und Literarästhetik aber ist die, dass sie auf die Suspendierbarkeit der theologischen Denkformen verweisen, auf eine Suspendierbarkeit, wie sie eben in den Strategien der Pluralisierung zu fassen ist, die die weltliche Poesie in ihrem Metier entwerfen kann. Im Nachzeichnen solcher Effekte der Pluralisierung, die sich diese Untersuchung vorgenommen hatte, sollte nun nicht die Modernität des „Mittelalters“ erwiesen werden, sondern die Unzureichendheit von Begriffsformeln wie jener der „Alterität und Modernität“ oder der „Vormodernität“ der Epoche. Die besprochenen Texte und Bildzeugen stören ein Konzept der Folgerichtigkeit und Linearität historischer Verläufe, zumal der Verläufe in den Literatur- und Kunstgeschichten; sie stören die Idee einer epochalen Symptomatik des poetischen oder bildnerischen Kunstwerks, die Idee, dass sich in ihm epochale Gegebenheiten manifestieren würden, die ein ein für allemal Erreichtes repräsentieren und nicht vielmehr auf das prekäre und fragile Moment poetisch wie künstlerisch erzeugter Kulturalität hindeuten würden. In seiner Ästhetizität hintergeht das Kunstwerk auch jene Konstruktionen, die die Ge-
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Schluss
schichtswissenschaft oder die Philologie an ihm entwerfen. Am intrikaten Thema der „Weltflucht“ galt es also auch methodologisch zu zeigen, dass Geschichtswissenschaft und Philologie die Vorläufigkeit ihrer Resultate nicht nur zu akzeptieren, sondern zum Prinzip ihrer Ermittlung zu machen haben. Blicken wir kurz und kursorisch nach vorne, so ließe sich resümierend feststellen, dass das „Mittelalter“ der „Neuzeit“ ein Potential der Vielstimmigkeit und der Heterogenität zur Hand gibt. Die Polysemie des vanitas-Diskurses in der weltlichen Dichtung konnte an einem Text wie Petrarcas ,Secretum‘ beispielhaft nachvollzogen werden. Sie hätte sich in anderer ästhetischer und kultureller Konfiguration auch am ,Ackermann‘ des Johannes von Tepl darstellen lassen, wie die vielfältigen Perspektiven der Untersuchung von Christian Kiening zeigen. Die Ambivalenz epochaler Konzeptualisierungen wird von Kiening ja schon im Titelbegriff der „schwierigen Modernität“ thematisiert.2 „Schwierigkeit“ und „Modernität“, verstanden als das prospektive Potential des Textes, wären dabei zumal darin zu fassen, dass er in der Gestalt des Ackermanns nicht einfach vorwegnimmt, was „kommen“ wird, und in der Allegorie des Todes nicht einfach persistieren lässt, was eine künftige Epoche in langer und nie erledigter Arbeit überwinden wird, sondern dass beide Diskutanten mit Argumenten sprechen, die in gleicher Weise zum Legitimationsdiskurs von Immanenz und Transzendenz zählen.3 Die künftigen Verfahren des vanitas-Diskurses in Literatur und Kunst sind von einer fortschreitenden Diffusion gekennzeichnet, erweisen aber zugleich den langen Atem theologisch-kontemptorischer Denkformen. Insbesondere die Totentanztradition prolongiert die Topik eines eschatologischen Egoismus und einer umfassenden Negativität, wie nicht zuletzt an den latenten oder offenen Identifizierungen von vanitas und luxuria im Teilsujet von „Tod und Mädchen“ sinnfällig wird.4
2 3
4
Kiening 1998. Vgl. etwa cap. XIV, in dem der Tod – in gewisser Nähe zum dantesken Stilnovismus und zur schmeichlerischen Morte in Petrarcas ,Triumphus Mortis I‘ – davon spricht, er habe die beklagte „Märtyrerin“ vom scheinbaren Glanz der Welt und vom lästigen Alter befreit; dagegen cap. XXIV mit dem Argument des caducum corpulum und cap. XXX mit dem Topos vom appetitus carnalis und der concupiscentia oculorum, die sich in der hinfälligen irdischen Schönheit manifestieren sollen. Demgegenüber insistiert der Ackermann – nicht unähnlich dem Franciscus im ,Secretum‘ – auf dem Meisterstück kreatürlicher Schöpfung, das die Frau repräsentiere, und auf ihrer zivilisatorischen Wirkung (cap. XXV, cap. XXIX); die wuchtigen Epiklesen und Beschwörungen der transzendenten Allmacht im abschließenden Gebet erweisen hingegen die Kleinheit irdischer Bitte und irdischen Verlusts. Aus der umfangreichen Literatur sei verwiesen auf: Der tanzende Tod (hg. Kaiser), DeGirolami Cheney (Hg.) 1992, Kaiser 1995, Hausner/Schwab (Hgg.) 2002 und Kiening 2003.
Schluss
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Zugleich ist diese Negativität abermals in der Ästhetizität des Kunstwerks aufgehoben. Der an die Wand gemalte Tod verliert seinen Schrecken, er wird zur ästhetischen Gewohnheit, die vor allem in den grotesken und in den erotischen Motiven des Genres nicht nur dem Memento mori, sondern auch der concupiscentia oculorum Genüge tut.5 Auf die Tendenz hin zum poetischen „Spiel“ verweist auch eine Verschiebung, wie sie Hofmannswaldaus ,Sonett. Vergänglichkeit der schönheit‘ (Neukirchs Anthologie, 46f.) vornimmt. Die Stimme des nicht erhörten Liebenden verbirgt sich hier hinter einer allegorisch-moralischen Paränese, sie verbirgt sich in der Gestalt des Todes, in der sie sich jenes weiblichen Körpers bemächtigen will, der ihr ansonsten unerreichbar bleibt. Die besondere Ironie dieses poetischen Tötungsaktes besteht in seiner Unvollendbarkeit: Alles an ihrem schönem Leib wird vergehen, fast alles; was aber selbst vor dem Tode bestehen bleibt, ist ihr Herz, Dieweil es die natur aus diamant gemacht. Das diamantene Herz ist eine Trope der Beständigkeit, man könnte auch sagen: eine Figuration der Souveränität, die der Tradition erotischer Lyrik zufolge negativ gemeint ist: Was einzig von der belle dame sans merci bleiben wird, ist ihre Hartherzigkeit. Die Trope weist zugleich aber auf das preziöse Gut, das die beklagte Unerweichlichkeit der Geliebten darstellt. Und so könnte die Angesprochene gegenfragen, was denn bliebe, wenn sich ihr Herz angesichts dieser Vision einer rächenden Tötung, angesichts ihrer Löschung durch die Zeitlichkeit doch noch erweichen ließe? „Nichts!“, müsste der Liebende in der Maske des Todes antworten. Und er hätte damit zugegeben, dass für die Geliebte das diamantene Herz die bessere Option darstellt, weil so wenigstens etwas dem Zugriff der vanitas entzogen ist und – zum Sonett geworden – perpetuieren kann. Die Tradition des Totentanzes verweist auf eine ikonische Sättigung des vanitas-Themas, auf seine Erledigung in der Exuberanz seiner poetischen und bildlichen Repräsentation. Diese Tendenz der Bändigung eines transzendenten „Terrors“ lässt sich auch als das Paradox begreifen, das dem hybriden und gleichsam überallegorisierten Körperbild der spätmittelalterlichen Allegorie von Mundus, Luxuria und Superbia implizit ist (Abb. 25).6 5
6
Ein gutes Beispiel hierfür gibt das bei Kiening 1994 behandelte Klappbild der Superbia aus dem ausgehenden 16. Jahrhundert (Abb. 24). Ihr opulentes Kleid lässt sich hochheben, zum Vorschein kommt das von den obligaten Schlangen umwundene Skelett ihres Unterleibs. Darunter sitzt – vielleicht auf einem Sarg – ein nacktes Liebespaar in der mythologischen Pose der Renaissance-Ikonographie (zitiert scheint das Sujet von Venus und Mars oder Venus und Adonis). „Der Schockeffekt [lebt] zugleich von der Ästhetisierung, vom Spiel mit dem Voyeurismus“, heißt es bei Kiening (457). Hierzu Kiening 1994, mit weiteren Abbildungen.
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Schluss
Gegen diese „hysterisierte“ Ikonographie setzt die Emblematik eine abgekühlte Bildlichkeit, eine Ikonographie der Beruhigung.7 Sie nimmt jene aufgeregte Mythologie der Transzendenz zurück, die der theologische contemptus mundi kultiviert hatte, und aktualisiert eine aus der spätantiken Lebensphilosophie kommende Metaphorik der Ataraxie (allerdings mit deutlichem Ausschlag zur Melancholie hin). In den einschlägigen Emblemen, zumal in dem sich entlaubenden Baum,8 konfligieren dabei wiederum Figurationen der Finalität mit solchen der Zyklizität. Der Baum, der im Herbst seine Blätter verliert, verweist zugleich auf eine künftige Zeit des Frühlings. Der „zyklische Altruismus“ des jahreszeitlichen Sujets kontrastiert mit dem „eschatologischen Egoismus“, der in der Entlaubung das Sinnbild zu Ende gehender Lebens- und Weltzeit erkennt. Wir erinnern uns an das schöne Bild von der reifen Olive bei Marc Aurel (,Wege zu sich selbst‘ IV.48) und an die Ambivalenz von Petrarcas Frühlingssonett RVF 310,9 in dem sich die Finalität des innerpoetischen Lebenswegs und der metapoetische Verweis auf die Permanenz seiner Lesbarkeit kreuzen. Es mag eine analoge Ambivalenz sein, die zur „Verlesung“ des berühmten Sujets „Et in Arcadia ego“ geführt hat.10 Dem kontemptorischen Schriftsinn der Phrase und dem kontemptorischen Bildsinn des Gemäldes von Giovanni Francesco Guercino (1621/1623) – „Auch in Arkadien bin ich, der Tod“ – antwortet eine Umdeutung, die Bild und Schrift gegen die Grammatik und gegen die ursprüngliche Intention fehlliest: „Auch ich war in Arkadien“. Sie setzt der Figur des Endes eine der Permanenz entgegen; und anstatt sich darüber zu entsetzen, dass man nicht einmal hier vor dem Tod gefeit wäre, können die Betrachter der Inschrift nun beruhigt antworten: „Du warst in Arkadien, wir sind es und andere werden es sein.“ Diese Inversion ist insofern nur folgerichtig, weil dem ursprünglichen Satz a priori die Paradoxie einer permanenten Finalität eingeschrieben ist: Denn wenn der Tod seine Arbeit selbst in Arkadien verrichtet, so wird er auch dort zu keinem Ende kommen. Das Leben gibt ihm immer neu zu tun, es setzt seiner Mühe kein Ende und entlarvt seine eschatologische Häme als Verhüllung einer endlosen Anstrengung. Die Geschichte des „Ich in Arkadien“-Sujets weist eindringlich darauf hin, dass die Ikonen der vanitas immer auch in die andere Richtung lesbar sind. Selbst für Frau Welt kann dies gelten, sonst wäre die Angst unbegründet, man könnte ihr erneut verfallen, wenn man von ihrem Rücken weg und wieder in ihr schönes Antlitz blicke. So jedenfalls formuliert es Walthers ,Abschiedslied‘. Vielleicht begründet sich in dieser umgekehrten 7 8 9 10
Beispiele in: Emblemata (hg. Henkel/Schöne), Index Sp. 2072. Zum Thema Schilling 1979. Emblemata, Sp. 149 und Sp. 171ff. Vgl. oben Kap. II.2, 168, und Kap. II.4, 274ff. Panofsky 2002[a]
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Lesbarkeit auch der Erfolg der neuzeitlichen vanitas-Sujets, deren epochale Signifikanz wiederum in einer Beruhigung der eschatologischen Drohung und in der Inversion ihrer grundlegenden Negativierung von Schönheit, Leiblichkeit und Sinnlichkeit bestehen könnte. So lässt sich etwa das Bild eines unbekannten französischen Meisters (um 1630, Abb. 26) nicht nur linear, sondern zyklisch lesen. Die dominante ikonographische und ikonologische Spur führt zwar (gegen den Uhrzeigersinn!) von der Kerze über den Spiegel und das beleuchtete schöne Antlitz der jungen Frau zum Totenkopf (und ruft dabei im Spiegelmotiv die alte Verknüpfung von Schönheit, Eitelkeit und Sündhaftigkeit, vanitas und luxuria auf). Doch das Bild konstituiert keine lineare Sichtachse, sondern eine kreisförmige. Der Blick des Betrachters muss also nicht unbedingt zu einem Ende kommen, sondern könnte auch zirkulieren. Würde seine Richtung – wie es dem Thema der Zeitlichkeit nur gemäß wäre – dem Uhrzeigersinn folgen, beschriebe er nichts weniger als einen paradoxen Kreislauf vom Totenkopf zur erblühenden Jugend und erwiese damit die Divergenz zwischen Sujetsinn und Repräsentation. Aus dem Antagonismus von Linearität und Zyklizität resultiert die zentrale poetologische Signifikanz, die den besprochenen Figurationen der vanitas zukommt und sie zu einer Poetik der Immanenz hinführt, zu einer Phantasie dessen, was bleibt. In ihr gründet die Idee vom Bestand des künstlerischen Weltwerks. Die ambivalente Semantik macht dabei noch den Reiz des musikalischen vanitas-Stilllebens aus: In Simon Renard de Saint-Andrés Gemälde (um 1650, Abb. 27) korrespondiert der Flüchtigkeit der Existenz die Flüchtigkeit der Musik. Der Totenschädel mag den Komponisten oder den Musiker bedeuten; die verknitterten, aber lesbaren Notenblätter und die intakten Instrumente verweisen jedoch auf die fortwährende Spielbarkeit des Werks. In der Poesie ist es ausgerechnet die Flüchtigkeit der poche carte (Petrarca, RVF 127,87), die Flüchtigkeit der Schrift, deren komplexer Weltentwurf über den Absolutismus transzendenter Weltverachtung hinausgelangt und die Unzureichendheit jener transzendenten Verheißung erweist, die gegen die Vergänglichkeit und Unzuverlässigkeit der Immanenz gesetzt ist. In dieser Idee war eine der poetologischen Grundfiguren der ,Rerum vulgarium fragmenta‘ Petrarcas zu erkennen. Sie scheint zugleich die geheime „Logik“ der grotesken Entstehungsfiktion zu sein, die am Ende des ,Simplicissimus‘ formuliert wird: Der Roman, der die Kontingenz des Lebensverlaufs und des Subjekts inszeniert, ihr aber nichts anderes entgegensetzen kann als die Ironie der poetischen Repräsentation – dieser Roman ist aus Palmblättern gezogen, auf denen der schiffbrüchige bekehrte Simplicissimus seine Memoiren notiert haben soll (,Continuatio‘, cap. XXXIII).
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Schluss
Poesie und Poetik der Vergänglichkeit in der weltlichen Dichtung des 12. bis 15. Jahrhunderts verweisen auf die Kultur- und Geschichtsmächtigkeit der einschlägigen ästhetischen Entwürfe. Vergänglichkeit als Problem poetischen Denkens und Darstellens impliziert eine glückliche Paradoxie, eine heimliche Affirmation. Von Weltflucht lässt sich folglich nur in einem Doppelsinn des Wortes sprechen: Dem „Hinweg von der Welt!“ ist immer schon ein „Zur Welt hin!“ eingeschrieben. Was dieses heimliche Anagramm für die kommunikative Praxis, für die individuelle historische und heutige Leseerfahrung, für das kulturelle Bewusstsein und das imaginative Vermögen leistete und leistet, lässt sich nicht hoch genug einschätzen.
Abbildungen
Abb. 1: Albrecht Dürer: Die vier Hexen (1497), Kupferstich, 19 x 13,1 cm. Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum (Quelle: Heinrich Wölfflin: Die Kunst Albrecht Dürers. 5. Aufl., München 1926, 121).
Abb. 2: Hans Baldung Grien: Zwei Hexen (1523), Holz, 65 x 45 cm. Frankfurt a. M., Städelsches Kunstinstitut (Quelle: Das Städel. Sammlung Gemälde Alter Meister. Vernissage. Die Zeitschrift zur Ausstellung, Nr. 14/1999, 7).
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Abbildungen
Abb. 3: Hans Baldung Grien: Die drei Lebensalter und der Tod (1509/10), Holz, 48,2 x 32,5 cm. Wien, Kunsthistorisches Museum (Quelle: Otto Fischer: Hans Baldung Grien. 2. Aufl., München 1943, Abb. 3).
Abb. 4: Holztafelgemälde, Deutschland um 1470, 62,2 x 36,5 cm. The Cleveland Museum of Art (Vordertafel), Musée de l’Œuvre Notre-Dame de Strasbourg (Hintertafel) (Quelle: Camille 1998, 160f., Abb. 146 und 147).
Abbildungen
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Abb. 5: Neithart Fuchs und Frau Ehre, Druck z (Augsburg 1491/97), 103r; Druck z1 (Nürnberg 1537), 77v; Druck z2 (Frankfurt 1566), 86r (Quelle: Die Historien des Neithart Fuchs, hg. Jöst).
Abb. 6: Allegorie der Vanitas, Gregor Erhart und Hans Holbein d. Ä. zugeschrieben, Augsburg, um 1500, Lindenholz mit alter Fassung, H: 46 cm. Wien, Kunsthistorisches Museum (Foto: M. Kern).
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Abbildungen
Abb. 7: Titelbild aus [Auguste Marseille] Barthélemy: Syphilis. Poëme en Quatre Chants. Avec des Notes Explicatives par le Dr. Giradeau de Saint Gervais [etc.]. Quatrième édition, entièrement revue et augmentée d’un chant. Paris: Martinon, 1851.
Abb. 8: “She may be ... a bag of trouble”, 1940 (Quelle: U. S. National Library of Medicine, History of Medicine Division, http://profiles.nlm.nih.gov/VC/B/B/C/B/, Stand: 21. 4. 2009).
Abbildungen
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Abb. 9: “Juke Joint Sniper”, 1942 (Quelle: U. S. National Library of Medicine, History of Medicine Division, http://profiles.nlm.nih.gov/VC/B/B/B/Z/, Stand: 21. 4. 2009).
Abb. 10: “She may look clean – but”, ca. 1943 (Quelle: U. S. National Library of Medicine, History of Medicine Division, http://profiles.nlm.nih.gov/VC/B/B/C/F/, Stand: 21. 4. 2009).
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Abbildungen
Abb. 11: Fürst der Welt. Straßburger Münster, Westfassade, südliches Portal, linkes Gewände (Quelle: Hamann [Hg.] 1928, Abb. 70).
Abb. 12: Fürst der Welt und äußere törichte Jungfrau. Straßburger Münster, Westfassade, südliches Portal, linkes Gewände (Quelle: Hamann [Hg.] 1928, Abb. 70).
Abbildungen
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Abb. 13 und 14: Die inneren beiden törichten Jungfrauen. Straßburger Münster, Westfassade, südliches Portal, linkes Gewände; Christus und kluge Jungfrau. Ebd., rechtes Gewände (Quelle: Hamann [Hg.] 1928, Abb. 71 bzw. Abb. 73).
Abb. 15: Welt-Allegorie und Jungfrauengleichnis (Gesamtensemble). Straßburger Münster, Westfassade, südliches Portal (Quelle: Hamann [Hg.] 1928, Abb. 53).
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Abbildungen
Abb. 16: Venus Colonna, römische Kopie nach Praxiteles’ Aphrodite von Knidos. Rom, Musei Vaticani (Quelle: Hinz 1998, 19).
Abb. 17: Fürst der Welt, Luxuria und Engel. Freiburg, Münster, Vorhalle (Quelle: Marcus Aronica: Vom Teufelchen zum Weltenrichter. Eine Einführung in das Bildprogramm der Portalhalle im Freiburger Münsterturm. 2. Aufl., Freiburg 2006, 47).
Abbildungen
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Abb. 18: Teufel und Luxuria. Moissac, St. Pierre, Portalrelief (frühes 12. Jh.) (Quelle: Hinz 1998, 127).
Abb. 19: Frau Welt und kniender Ritter. Wormser Dom, Südportal (Quelle: Stammler 1959, Tafeln X und XI).
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Abbildungen
Abb. 20: Fortuna aus dem Codex Buranus, Clm. 4660, fol. 1r (Quelle: Faksimile-Ausgabe der Handschrift der Carmina Burana und der Fragmenta Burana (Clm. 4660 und 4660a) der Bayerischen Staatsbibliothek in München. Hg. von Bernhard Bischoff. München 1967).
Abb. 21: Fortuna aus dem ,Hortus Deliciarum‘ Herrads von Landsberg, fol. 215 (Quelle: Herrad von Landsberg. Hg. Gillen, 123).
Abbildungen
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Abb. 22: Beatrice und Dante in der dritten Planetensphäre (Dante: Divina Comedia, Paradiso VIII). Berlin, Kupferstichkabinett, Botticelli/Codex Hamilton 201 (um 1490/1510) (Quelle: Schulze Altcappenberg [Hg.] 2000, 224).
Abb. 23: Petrarca: Triumphus Mortis. Biblioteca Petrarchesca Reiner Speck, Ms VI, Codex der Anne Polignac (um 1500) (Quelle: Speck/Neumann [Hgg.] 2004).
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Abbildungen
Abb. 24: Kupferstich-Klappbild der Superbia, vielleicht von Conrad Goltzius (Ende 16. Jh.) (Quelle: Kiening 1994, Abb. 15).
Abb. 25: Allegorie der Welt. London, British Library, Einblattdruck (15. Jh.) (Quelle: Kiening 1994, Abb. 10).
Abbildungen
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Register Personen und Werke Adorno, Theodor W. 7, 332f. Alanus ab Insulis 326 Albéric de Pisançon 328 Albrecht Der jüngere Titurel 30 Altes Testament 385 Hohelied 72 Hosea 71 Kohelet 167, 177, 192 Amor mundi vanus et finaliter pensosus 60f., 63 Andreas Capellanus De amore 84f., 97, 224, 273, 302 Anselm von Canterbury 169-175, 181, 188, 193, 217, 221, 445 Aphrodite von Knidos ! Praxiteles Apollodor 320 Aratos Phainomena 34, 258 Archipoeta 92, 116 Ariost 185, 321, 324 Orlando furioso 328, 334f., 423 Aristoteles 1, 166, 272 Augustinus 49, 177-180, 196, 262, 292-298, 300, 312 Confessiones 2, 49 Bachtin, Michail 20, 24f., 39-41, 272f., 325, 421f., 429 Barthélemy, Auguste Marseille 87f. Barthes, Roland 1, 15, 48, 250f., 264f., 292, 307, 350f. Bataille, Georges 361 Baudelaire, Charles 396 Beethoven, Ludwig van 91 Beheim, Michel 22f., 29, 35f., 47, 66, 77, 218, 425 Pastourelle (Nr. 337) 9, 25-27, 31, 37-41 Weltlied (Nr. 279) 9, 19-27, 31, 33f., 37-41, 54, 59, 62f., 65, 69f., 71, 73, 78-82, 90, 107f., 119, 124, 158 Benedikt XVI. ! Ratzinger, Josef Benoît de Sainte-Maure Roman de Troie 433 Bernhard von Clairvaux 227, 271 Bernart de Ventadorn 11, 75, 221-223, 225, 233, 389
Bibel ! Altes Testament, Neues Testament Bligger von Steinach 368 Blumenberg, Hans 3, 67, 92, 130f., 160, 227, 266, 298, 311f., 385, 407f. Boccaccio Decamerone 256, 426 Boethius 49, 168, 208, 210, 338f., 375 Borges, Jorge Luis 271, 331 Bronzino, Angelo 89 Caesar 296, 322 Cavalcanti, Guido 262f. Carmina Burana 11, 210, 213, 217, 233, 244, 307, 309 CB 14-18: 203 CB 16: 203-208, 216 CB 17: 206 CB 76: 92, 212-219, 309 CB 104: 211f., 244 CB 105: 219, 224 CB 175: 211 Certamen Homeri et Hesiodi 165 Cervantes, Miguel de Don Quixote 47, 49, 393 Chrétien de Troyes 277, 407, 411f., 423 Le Chevalier de la Charrette 391 Erec et Enide 412, 416 Perceval 369, 415 Yvain 371, 391, 395, 397f., 412 Cicero 199, 279, 298 Cino da Pistoia 285 Claudel, Paul 162 Claudian 326 Curtius, Ernst Robert 301, 325f., 338 Curtius Rufus, Quintus 323, 432 Damokles 199f. Dante 112, 277-280, 287, 305-311, 427 Vita nova 12, 52, 99f., 125, 248, 254-269, 274, 285f., 300, 429 Comedia 12, 47f., 100, 129, 161, 166, 263265, 268-273, 284-286, 322, 325, 328, 330335, 364, 421, 423, 429, 445 De Man, Paul 3, 222, 301 De Rougemont, Denis 350f., 412 De Saint-André, Simon Renard 449
494!
Register
De servitoribus mundi 60, 62f. Derrida, Jacques 6, 191f., 220, 289, 396, 442 Dionysios II. 199 Dürer, Albrecht 27, 42 Eco, Umberto 72 Eilhart von Oberg Tristrant 370f. Elsässer Predigt 60f., 65 Epistola Alexandri 60 Erhart, Gregor 85f., 305 Exempla der Arundel Handschrift 406 57, 60, 63 Fortunatus 424 Foucault, Michel 214, 393 Franceschino degli Albizzi 285 Frau Welt (Wormser Dom) 148-150, 157 Frauenlob 22, 59, 64, 121 Freidank 33 Freud, Sigmund 48, 77f., 90, 92, 245f. Friedrich von Hausen 52, 55, 100f., 126, 128f., 227-232, 247 Friedrich von Sonnenburg 64, 189 Fürst der Welt (Straßburger Münster) 135-150, 302-304, 312 Gesta Romanorum 57, 60, 63, 190, 197-202 Goethe, Johann Wolfgang von 19, 90f., 146 Gombrich, Ernst 28 Gottfried von Straßburg 311, 442 Tristan 1, 12f, 26, 45f., 95f., 120, 163, 194, 249, 256, 322, 343-375, 379, 382-387, 409, 420f., 426, 428, 430, 436-438, 440f. Göttweiger Trojanerkrieg 441 Grien, Hans Baldung 27f., 42 Grimmelshausen, Hans Jakob Christoph von Simplicissimus 65, 185, 424f., 449 Guercino, Giovanni Francesco 448 Guibert de Novigento 163, 214 Guillaumes de Lorris ! Roman de la Rose Guitton d’Arezzo 285 Guotaere, Der 59, 61f., 63 Hartmann von Aue 347, 420, 444 Der arme Heinrich 13, 50f., 55, 57, 84, 399402, 406-408, 421 Erec 391, 395, 416 Gregorius 13, 399, 402-408 Iwein 12f., 45, 51, 348, 391-409, 411, 416, 421f., 442 Hegel, G. F. W. 290 Heidegger, Martin 3 Heine, Heinrich 72
Heinrich von Brennenberg 46 Heinrich von dem Türlin Diu Crône 208-210, 422 Heinrich von Freiberg 311, 442 Ritterfahrt Johanns von Michelsberg 371 Tristan-Fortsetzung 12f., 19, 362, 365-387, 389f., 396, 426, 444 Heinrich von Melk 44, 180, 189f. Heinrich von Morungen 11, 46, 101, 126, 128f., 234-237, 260, 272, 306f., 427, 430 MFMT V 235 MFMT VIII 313 MFMT IX 235, 427 MFMT XIII 428 MFMT XV 428 MFMT XX 231 MFMT XXII (Venuslied) 75, 235, 246, 313, 427 MFMT XXIII (Heidelied) 237-240, 427 MFMT XXX 239-241 MFMT XXXII (Narzisslied) 240, 242-247, 263, 313, 427 MFMT XXXIV (Vil süeziu senftiu toeterinne) 111-113, 235f., 247, 428 Heinrich von Mügeln 22 Heinrich von Neustadt Apollonius von Tyrlant 423 Heinrich von Veldeke 322 Eneasroman 412-415, 417f., 433 Herbort von Fritzlar Liet von Troye 433 Hesiod 34 Erga 258, 338 Theogonie 338 Hieronymus 49, 67 Hofmannswaldau, Christian Hofmann von 281, 447 Holbein, Hans d. Ä. 85f., 305 Holztafelgemälde von 1470 (Tafelbild vom jungen und verwesenden Paar) 83-86, 282 Homer 163, 165f., 171, 199, 279, 322 Ilias 321f. Odyssee 321-323, 331f. Honorius Augustodunensis Speculum Ecclesiae 184f., 196 Horaz 167, 199 Horkheimer, Max 332f. Hugo von Montfort 64 Hugo von St. Victor 176-180 Innozenz III. ! Lothar de Segni Isidor von Sevilla 163, 177 Iter ad Paradisum 329
Personen und Werke Ivan der Schreckliche 91 Jacobus de Voragine 49 Johannes von Konstanz Minnelehre 25, 48 Johannes von Salisbury 66 Johannes von Tepl Ackermann 288, 446 Jungfrauen, kluge und törichte (Freiburger Münster) 142 (Straßburger Münster) 139-150, 156 Juvencus 336-338, 341, 431 Klemens von Alexandria 341 Kolmarer Liederhandschrift, Lied CXVIII 60, 6264 Königsteiner Liederbuch 9, 28-32, 39-41, 69, 71, 73 Konrad von Weinsberg 22 Konrad von Würzburg 10, 22, 69, 85 Geistlicher Leich 162-164 Herzmäre 5, 44, 51-53, 66, 149, 230, 256, 384, 400, 406, 425f., 431 Klage der Kunst 34, 35 Minneleich 35, 440 Partonopier 434f. Trojanerkrieg 14, 200, 379, 433-442 Der Welt Lohn 5, 9, 42-67, 69, 79f., 92, 97, 99f., 107f., 118f., 124, 129f., 148f., 158, 185, 193, 202, 230, 337, 340, 343, 383f., 387f., 400, 406, 408, 425, 430f. Krautgarten, Der 25 Kubrick, Stanley 89 Lamprecht (Pfaffe) Alexander 328 Leopold V. 230 Lévi-Strauss, Claude 40 Liber sententiarum 186 Liederbuch der Klara Hätzlerin 26, 32, 36 Liutbert von Mainz 336f. Lothar de Segni 196 Lucan 322, 325 Pharsalia 320 Lugowski, Clemens 24, 395 Luxuria (St. Pierre, Moissac) 142, 186, 190 Luxuria-Gruppe (Freiburger Münster) 28, 141150, 186, 190, 214, 302-304, 444 Manfredi di Svevia 129 Marc Aurel 161, 164-170, 178, 192, 200, 448 Marner, Der 22 Max, Gabriel von 306
495!
Minneburg, Die 25 Mönch von Salzburg 29, 33 Moriz von Craûn 34, 45, 433 Muskatplüt 22 Mythographus Vaticanus 200 Neidhart 29, 33f., 37, 55, 73, 92, 230, 376, 430 Neithart-Fuchs 32, 36f., 41, 73, 78 Neues Testament 154, 158 Apokalypse 142, 154 Johannesevangelium 137, 147, 155 Matthäusevangelium 179 Paulusbriefe 155 Apc 16,13-14: 142 I Cor 2,6: 137 II Cor 4,4: 137 II Cor 12,2: 285 Eph 2,1-2: 170 Eph 2,2: 137 Iac 4,4: 70f., 174 Io 6,22-59: 349 Io 12,31: 137 Io 14,30-31: 136 Io 15,1-8: 385 Io 15,18-19: 155 Io 16,11: 137 Io 18,36: 137 Io 19,11: 137 Lc 4,1-13: 137 Lc 22,31/40/46: 137 Lc 23,44f.: 251 Mc 14,41: 137 Mt 23,27: 84 Mt 25,1-13: 139 Mt 25,34: 179 Mt 26,41: 141 Mt 27,54: 314 Rm 8,6-8: 7 Nibelungenlied 379 Noker 44, 180 Notker I. Balbulus 401 Oswald von Wolkenstein 29, 33, 40, 81f., 92, 99, 102, 193 Otfrid von Weißenburg 336 Evangelienbuch 336, 365 Ottokar von der Steiermark Reimchronik 420 Ovid 163, 249f., 296f., 345, 352, 439 Ars amatoria 219, 345 Metamorphosen 34, 232, 243, 258, 326f., 331 Remedia Amoris 345
496!
Register
Panofsky, Erwin 28 Paulus 129 Petrarca, Francesco 35, 102, 305-311 Africa 250, 294, 297 Bucolicum carmen 250 Besteigung des Mont Ventoux 2, 49 De remediis utriusque fortunae 282 Elegia ritmica in morte di Laura 295 Rerum vulgarium fragmenta 12, 99, 111f., 125, 248-254, 272-292, 293-297 , 300, 309, 311f., 363, 387, 427f., 445, 449 RVF 1: 253 RVF 3: 250f., 273, 280 RVF 23: 253 RVF 34: 249 RVF 52: 286 RVF 67: 282 RVF 126: 275, 278f. RVF 127: 253, 275, 277, 449 RVF 128: 252 RVF 129: 252f. RVF 142: 285 RVF 161: 251 RVF 211: 249-252 RVF 247: 279f. RVF 287: 285 RVF 302: 284-287, 445 RVF 303: 281 RVF 304: 281f. RVF 306: 287 RVF 310: 274-277, 280, 292, 448 RVF 320: 276, 283 RVF 323: 276, 288 RVF 325: 288 RVF 327: 283, 292 RVF 332: 276 RVF 335: 288 RVF 336: 287, 300 RVF 337: 288 RVF 338: 287 RVF 342: 287 RVF 343: 287 RVF 349: 287 RVF 350: 282 RVF 356: 287 RVF 358: 283 RVF 359: 287 RVF 360: 288 RVF 364: 291 RVF 365: 291 RVF 366: 72, 99, 111, 281, 287-292, 427429, 444
Secretum meum 229, 262, 292-300, 309-312, 446 Trionfi 88, 273, 283, 285, 298, 299f., 310, 313-316, 328, 364, 366, 446 Predigtexempel Nr. LXVI der Handschrift cgm 6: 60, 61 Pierre de Nesson 83 Pindar 167 Platon 75, 161, 167, 188, 219, 272 Poe, Edgar Allan 306 Praxiteles Aphrodite von Knidos 85, 141, 145, 302, 310 Prosa-Lancelot 398, 415 Proust, Marcel 353 Quevedo, Francisco de 281 Raimbaut d’Arenga 222 Ratzinger, Josef 162 Reimund von Lichtenberg 369 Reinfried von Braunschweig 423 Reinmar 94, 101, 233f., 389f. Reinmar von Brennenberg 46 Ricœur, Paul 1, 128 Rimbaud, Arthur 281 Rodriguez, Robert 89 Roman de la Rose 47, 48, 208, 210, 216f., 261f., 421 Rudolf von Ems Alexanderroman 432f. Weltchronik 432f. Sachs, Hans 22 Santa Maria sopra Minerva 382 Savonarola 72 Schelling, F. W. J. 386 Schiller, Friedrich 91, 388 Schiller, Jörg (Jörig Schilher) 9, 32-41, 47, 59, 66, 71, 73, 78 Seneca 160f., 167f., 178, 188, 298 Sennuccio 285 Sigismund (Kaiser) 22 Sokrates 161, 167 Sophokles 160, 165 Statius 338 Steinmar 29 Stieler, Kaspar 89f. Tannhäuser 19, 21, 46, 73, 121, 430 Tasso 322 Gerusalemme liberata 334f. Thomas von Aquin 272
Personen und Werke Thomas von Britannien 355, 362f., 375, 387 Tristan 52, 346 Ulrich von Etzenbach Alexanderroman 432 Ulrich von Liechtenstein 81, 92, 100, 371 Ulrich von Türheim Tristan-Fortsetzung 365, 370, 376 Rennewart 419 Ulrich von dem Türlin Arabel 419 Urban II. 227 Vergil 279, 325, 330-338, 433, 441 Aeneis 165, 321-323, 331, 336, 413f. Vitas Patrum 118, 121, 182-185, 191, 196 Von der schonen verlorenen frauwen ! Weltlohn Von der welt valscheit 60 Walter von Châtillon 173, 431f., 433, 441 Alexandreis 12, 319-343, 366, 387f., 390f., 444 Walther von der Vogelweide 3, 5, 10, 11, 19, 22, 25, 44, 55, 73-77, 85, 101f., 149, 158, 185, 260, 307f., 340, 343, 403, 408, 430, 442 L. 8,4 (Reichston) 1-3, 5, 35, 45 L. 14,38 (Palästinalied) 119f. L. 40,19 (Ich hân ir sô wol gesprochen) 106, 123, 223-226 L. 45,36 (Sô die bluomen ûz deme grase dringent) 93-97
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L. 46,32 (Aller werdekeit ein füegerinne) 10, 73-77, 78-81, 91, 92-97, 224 L. 49,25 (Herzeliebez frouwelîn) 232 L. 52,23 (Min vrouwe ist ein ungenaedic wîp) 231f. L. 53,25 (Si wunderwol gemachet wîp) 25, 33, 76, 96, 109, 231 L. 59,37 (Wie sol man gewarten dir?) 10, 122124, 132 L. 66,21 (Alterston) 10, 105-115, 117, 120f., 124-132, 193f., 292, 300, 306, 369, 428, 444 L. 72,31 (Lange swîgen des hât ich gedâht) 109, 123, 232-234, 261, 389f. L. 74,20 (Nement, frowe, disen cranz) 78, 102, 118, 232 L. 82,24 (Nachruf auf Reinmar) 311 L. 100,24 (Frô Welt, ir sult dem wirte sagen) 10, 57f., 59, 115-122, 125-132, 156, 193, 214f., 225, 227, 300, 448 L. 118,24 (Ich bin nû so rehte vrô) 75 L. 122,24 (Ein meister las) 103 L. 124,1 (Elegie) 10, 102-105, 109f., 113115, 117, 120, 125-132, 379 Weltlohn (anonyme Verserzählung) 58, 59, 62f, 64 Wilhelm von Reims 338f., 342 Wirnt von Grafenberg 46f., 50, 56, 124 Wolfram von Eschenbach 322, 368, 432 MFMT I (Den morgenblic) 360 Parzival 3f., 277, 404, 415--423, 435 Titurel 30 Willehalm 368, 415, 417-422, 434f.
Begriffe Absolutismus der Immanenz 11, 112f., 220, 226, 231, 234f., 239, 241, 247f., 259f., 298, 300, 303, 305, 310, 389, 443 Absolutismus der Transzendenz 5, 172, 226, 230, 248, 298, 303, 312, 406, 425, 443, 449 acedia 346f., 404 aemulatio 254, 322, 328, 336f., 338, 368, 370, 376, 382, 431f., 436 Allegorese 20f., 145, 213, 215, 218, 233, 235, 262, 341, 357, 419 geistliche 162f., 299-302, 310, 383, 385, 388, 431, 441 der Welt-Allegorie 28, 65, 86, 91, 136, 141, 260, 444 Allegorie der vanitas ! vanitas
Allegoriedichtung 25, 59, 327 Allegorisierung 9, 30f., 39, 48, 62f., 84f., 90, 97, 140, 162, 186, 195, 207, 210, 214, 232, 260, 262, 267, 280, 291f., 302-304, 426, 431, 447 altercatio 59, 64, 282, 288, 296 Alterität 5, 277, 408, 442, 445 amour courtois 53, 298 Anachoretentum 182 Analogie, Analogisierung 219, 382f., 393 (in) der Differenz 149, 218, 223, 341, 362 säkular-geistliche 71, 124, 130f., 262, 265, 310-312, 349, 354, 361, 386, 419f. rhetorisch-topische 106, 120, 122, 140, 142, 144, 188, 226
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Anthropologie 28, 42, 70, 152f., 195, 332, 408 Anthropomorphismus 115, 169, 175, 189, 209 Anthropophagie 52, 256, 259 Antike 70f., 154, 161, 166f., 187, 218, 322, 366 Antikerezeption 331 Antoniuslegende 146, 182f. Äquivalent 6f., 69, 131, 153, 191-194, 218, 355, 363f., 412 Artifizialität 38, 51, 53, 62, 64f., 82, 121, 290, 309 Artusroman 398, 400, 407-412, 415f., 421 Ataraxie 169, 172, 192, 448 auctoritas, Autorität 168, 180, 196, 254, 298, 312, 336f., 434, 436
poetische 56, 66, 100, 363, 386, 408, 442 theologische 73, 83, 145-148, 172, 194, 218f., 266, 312, 337, 432, 445f. vanitas 12, 23, 85-88, 91f., 97, 112f., 127, 130, 152-155, 185, 214, 233f., 247, 292f., 341, 388, 396, 401, 406, 427f., 438, 443 descriptio 19-21, 24, 33, 71, 414 deus artifex 33, 296 Diachronie (von Sein und Vergehen) 153, 157, 203 ! Chronologie discours 13, 355, 361, 363, 370, 373, 377, 386f., 390 Disjunktion 207-210, 217, 234, 244, 282f., 299, 304f. dolce stil nuovo 100, 258, 260f., 263, 266
chanson de geste 67, 328, 421, 423 Chronologie (von Sein und Vergehen) 97, 109, 111-115, 129f., 157, 300, 408, 443 Chronotopik 187, 192f., 233, 240, 261, 272, 308, 325, 327, 421f. Cluniazensische Reform 195 confessio 81, 92, 101, 121, 127, 158, 210, 216f., 403f. contemptus mundi 4, 11, 14f., 44f., 56-58, 63, 66f., 71, 84f., 92, 114-117, 130-132, 146, 149-159, 164, 167-172, 180, 185-201, 204206, 210, 212, 215-219, 222f., 226, 229, 260, 277, 282, 293, 296, 298, 301-304, 309, 311, 313, 316, 320, 328, 334, 341, 355, 364, 366, 379, 383-387, 403-407, 413, 417, 419, 425, 427, 430, 436-441, 443, 445 conversio 48-52, 55, 81, 92, 99-102, 114, 117, 120f., 129, 131, 155, 157f., 172, 183, 188, 194, 205, 211, 217, 223, 225, 263, 282, 289291, 296, 302, 304, 311, 404, 430 curialitas 66, 395-399, 402, 404f., 408, 412 curiositas 328, 333, 394-396, 398, 423
Ecclesia 145, 184, 187, 219, 321, 385 Einfluss, Einflussangst 24, 39, 283, 315, 369, 421, 442 Emblematik 424f., 448 Epikureismus 167 Eschatologie, eschatologisch 12, 108, 110, 113, 117, 130f., 145, 154, 171-173, 179f., 206f., 210, 217, 222, 226, 258, 276, 286, 292, 299, 310-312, 326, 445, 448f. exemplum vanitatis ! vanitas Exordialtopik 48, 366
damnatio carnis 158, 163 Darstellungsform 6-10, 35, 66, 115, 127, 145, 177, 191-194, 218, 258, 261, 309f., 406 poetische 23, 41, 321, 442 vanitas 12, 51, 55f., 69, 82f., 86, 88, 118, 153-158, 172, 185, 234, 247, 293, 295, 312, 388, 444 decorum 20, 229, 256, 280 Deixis 147, 195 Dekonstruktion, dekonstruktiv 14, 52, 62, 253, 289, 301, 315, 362 Denkform 6-10, 82, 187, 191f., 203, 212, 258, 299-305, 309f., 382, 420
figura vanitatis ! vanitas fin’amor 21, 73, 75, 97, 220, 238, 256, 258-260 Finalität 8, 14, 203, 291, 297, 299, 310, 443f., 448 Fortuna 11, 150, 163f., 168, 203-211, 214, 217-220, 222, 278, 282, 299, 304, 310, 315, 334, 422, 424, 432, 439 Fragilität 11, 162, 166, 200, 231-244, 247f., 255-261, 266, 278, 280, 287, 293, 299f., 303, 305, 392, 395, 398f., 409, 412, 421, 442, 444f. Frau Welt 8-11, 31, 34, 113f., 138, 168, 189, 207, 220, 260, 280, 287, 302-306, 374, 393, 422, 425, 431, 444 Bildende Kunst 138-144, 148-157 Geschlechterkonzept 78, 83, 310-313 Körperbild 23, 54-58, 62-64, 70, 113f., 118, 203, 299-304, 312, 447 Sujetentwicklung 56-65, 87, 118f., 175, 181-185, 203, 206, 215, 299 ! Michel Beheim, Konrad von Würzburg, Walther von der Vogelweide, Frau Welt (Wormser Dom) Frauenlied 234
Begriffe Fürst der Welt 11, 65, 135-149, 154-156, 171f., 175, 181f., 205, 207, 304f., 310, 327, 444 ! princeps mundi, Fürst der Welt (Straßburger Münster), Luxuria-Gruppe (Freiburger Münster) Gender ! Geschlecht Gene-Analogie 11f., 149f., 191, 194f., 202, 244, 299, 303, 306, 309f. 313, 430 Genealogie 8, 11, 149, 175, 191f., 202, 306f., 310, 355, 426 Genieästhetik 435 genre objectif 27 Geschlecht, Geschlechtertheorie 42, 83, 8688, 150, 182, 187, 226, 240, 246, 295, 303, 306, 428, 430 gloria mundi 57, 63, 142, 164-168, 186, 200f., 206, 297f., 312, 321, 327-329, 334, 342, 366, 387, 392f., 401, 414, 416 grand chant courtois 11, 72, 220f., 229-234, 240, 247, 260, 278, 307, 311, 389, 430 Heterogenität 12, 23, 42, 61, 65, 82, 102, 125, 127f., 151-156, 159, 163, 252, 307, 309, 446 Heteroglossie 20, 24, 27, 30f., 40 Heterotopie 213f. histoire 13, 355, 361, 363, 370, 373, 377, 387, 390 Hohe Minne 9, 43, 46, 49, 54f., 69, 74-80, 92-97, 100f., 107, 109-112, 117, 119, 121, 127, 130, 132, 148, 153, 238 Horizontalität 163, 273f., 287, 298, 326, 328, 333, 421f. Hybridität, Hybridisierung 20-41, 59, 65, 113, 153, 179, 258, 295, 323, 413, 422, 424f., 436, 447 Hypostase, Hypostasierung 115, 130f., 179f., 212, 214, 270, 272, 315, 325, 334 Ikonographie 28, 42 Fortuna 207-209 Liebe 225 poetische 27, 35, 66, 82 vanitas, Welt-Allegorie 64f., 80, 84-91, 135148, 157, 168, 180f., 187, 194, 205, 207, 214, 217, 232, 281-283, 314, 425, 447-449 Ikonologie 27f., 35, 42, 65f., 86, 136-141, 146-149, 157, 186, 449 imitatio 254, 336-338, 368f., 373, 378, 404, 437 Intertextualität, intertextuell 8, 24, 27, 31-35, 41, 57f., 67, 80, 95, 102, 196, 201, 233,
499! 253f., 258, 265, 269, 284-289, 308-310, 322, 328, 331, 334, 343, 368f., 401, 418 Inversion 151, 166, 171, 174, 187, 190, 208, 225, 230, 233, 235, 237, 242, 247, 257-259, 266, 273, 314-316, 429, 433, 448f. Iteration ! Wiederholung Kanonizität 14, 138, 141, 146, 252, 292, 335 Katachrese 29, 250 Katharsis 347, 362 Konjunktion 207-209, 217, 304 Kontingenz 3f., 46, 63, 165, 207, 209, 218, 226, 278, 313-316, 350, 371, 374-378, 389397, 401-409, 412-424, 427, 430-433, 437, 439-442 Konventionalität 7, 25, 38, 41, 79, 122, 275, 431 Kreuzlied 12, 44, 52, 55f., 101f., 104, 109, 119, 126-129, 195, 227-230, 247, 303, 407, 430 Kulturalität 8, 13, 41, 53f., 82, 92, 120, 143148, 181, 197, 308, 310, 361, 393, 433, 437, 440-442, 445 Labyrinth 249-253, 277, 280, 289, 291f., 311 laus temporis acti 353, 396, 398f., 408, 422 Lebensweg-Schema 10, 14, 22f., 97-102, 105, 109, 113, 125-132, 176, 193, 203-206, 215, 247f., 251, 253, 305, 307, 406, 414, 443, 448 Lebenszeit 10, 12, 56, 128-130, 132, 173, 231, 253, 261, 296, 299, 305-308, 312, 340f., 344f., 403, 413, 448 Liebesallegorie 25, 115, 202 Liederbuchlyrik 24f., 30 locus amoenus 19-21, 24f., 29, 31, 39, 93, 282, 372, 424 Luxuria, luxuria 9-11, 23, 57f., 63, 65, 71, 83, 87, 92, 97, 141f., 145, 170, 185-187, 190, 192, 196, 207, 214-219, 295, 300, 302f., 310f., 443-449 ! Luxuria (St. Pierre, Moissac), LuxuriaGruppe (Freiburg) Mariendichtung 266, 289f. Meistersang 22, 32 Memento mori 8, 44, 58, 180, 189, 447 Metoikesis 161, 167, 188 Minne 59, 115, 120, 123f., 224-232, 243, 352f., 357, 417 Minnerede 25f., 30, 40, 54, 59, 81, 392 Minnesang 10, 25, 29, 55, 95f., 102-113, 120124, 128, 131, 195, 225, 230, 234, 236, 247, 302, 307, 407, 430, 440
500!
Register
Minnesklaven 47, 439 Modernität 5, 277, 408, 445f. monumentum aere perennius 166, 342, 388, 442 moralisatio 21, 59, 70, 80, 213 Motivgeschichte 8f., 52, 56, 58, 63, 66, 102, 118, 148, 150, 163, 182, 190f., 197, 330, 414 Mundus 11, 60, 63, 150, 171, 175-182, 189, 206-208, 211, 220, 301, 307, 315 Musenanrufung 338 Mythographie 34, 163, 196, 330f. Mythologie, mythologisch 154, 169, 172, 175, 192, 233, 270, 273, 280, 408, 448 antike 34, 90, 93, 159, 162, 169, 213-216, 232, 246, 275, 285, 320, 331, 333, 336-338, 340, 342, 432, 439 Mythologisierung 91, 213, 273 Narzissmus 245-247, 263, 310, 312, 316 navigatio 158-164, 168, 192 Negativierung 28, 78, 449 Negativität 8, 10, 13, 42, 50, 56, 77f., 86, 103, 144, 159-161, 171f., 180, 185-187, 206, 209, 216, 223, 235, 247, 256f., 274, 277-282, 286f., 300-305, 312, 316, 328, 390f., 395, 402, 407, 411f., 415f., 421-423, 426, 431, 437, 441f. 446-449 Niedere Minne 74, 77-80, 93-97, 124 Oralität 435 ornatus 30, 301 Panegyrik 154, 244, 366 paradoxe amoureux 11f., 101, 127, 220-233, 244, 247, 305, 316, 389, 426, 443 Paränese, paränetisch 35, 152, 176, 189, 447 Pastourelle 9, 19-25, 27-29, 31f., 34f., 37f., 62, 66, 70-73, 77f., 80f., 91, 94f., 97, 124, 153, 158, 195, 202, 218, 430f. peregrinatio 158-161, 164, 188, 192, 308 Permanenz 8, 10f., 109, 247, 253, 287, 289, 310, 313, 398, 429, 443f., 448 persona (auctoris) 70, 76f., 80-82, 99-115, 120, 125-130, 149, 173, 247, 261, 276, 286, 292, 306f., 311f., 343, 400, 404, 429 Personifikation 36, 50f., 75, 115, 147, 150, 175f., 179, 181, 186, 189, 195, 200, 224, 301-303, 422 Personifizierung 194, 301 Phänotext 27f., 39, 53 Pluralisierung 5-7, 14, 41, 66, 138, 145, 158, 270, 295, 308f., 424f., 429, 432f., 441, 445 poeta laureatus 294, 296
Poetizität 1, 41, 54, 58, 61, 66, 271, 277, 306, 327, 335, 408, 442 Präsenz 7, 141, 191, 240f., 269, 278, 286, 289, 315, 328, 335, 344, 348, 361, 364, 369, 383-385 princeps mundi 136-138, 140, 147, 149f., 154, 186, 195, 205, 299f., 300, 303f. ! Fürst der Welt Produktionsästhetik 1, 40, 269, 350, 404, 435 Providenz 258, 315, 327, 334, 391, 395, 402, 405f., 411-416, 423f. Renaissance 42, 51, 72, 84, 315, 324, 424, 447 revocatio 36, 55, 77-79, 85, 121, 128, 212, 222, 229, 244, 253, 276, 334, 337-341, 383, 387f., 428f. Rezeption, Rezeptionsästhetik ! Wirkungsästhetik rota Fortunae 162-164, 204, 207, 209, 216, 297 Sakralisierung 111, 197, 202, 226f., 266, 280, 302, 306, 358, 407, 442 Säkularisierung 197, 218, 227, 266, 298, 302, 306, 385, 407 Schriftsinn, mehrfacher 301, 312 Seelenlandschaft 19, 48 Separation 2, 86, 155, 158, 164, 170, 175, 179, 183, 188f., 193f., 210-212, 252, 265, 268, 274, 277, 295, 311, 350f., 353f., 386, 430, 443 sermocinatio 158, 174, 179-181, 225 Simultaneität (von Sein und Vergehen) 42, 56, 83, 114, 157, 186, 203, 266, 278, 291, 300, 303, 312, 401, 403, 408 Souveränität 11, 158, 203-212, 215, 217-220, 223, 225f., 232-237, 239, 243-247, 252, 255259, 266, 278, 280, 299, 303-306, 310, 313, 427, 447 Soziomorphie 138, 143 Stil, hoher 233 Stoizismus 160f., 164f., 167, 170, 178, 192, 205, 298 Subtext 27f., 31, 53, 99, 129, 245, 397, 411, 419 Synagoga 145 Synchronie (von Sein und Vergehen) 113f., 153, 157, 201 ! Simultaneität Synkretismus 37, 40, 163, 192, 272, 293, 328 Syphilis 86-89, 91, 302
Begriffe Tableau vivant 54, 199, 359 Tagelied 97, 117, 119, 239-241, 360 Todsünden 21, 31, 62, 69, 170, 178, 346 Topik 6, 19f., 22, 27f., 32-34, 38-40, 66, , 8082, 85, 92, 120, 202, 261, 275, 289, 310, 446 contemptus mundi, vanitas 19, 67, 100, 110, 146, 154-156, 196, 403, 446 erotische 71f., 124, 231, 233 Topos 4, 6, 80, 92, 101, 108, 166, 196, 366f., 388, 396, 428, 435 ! locus amoenus, vanitas-Topos Totentanz 62, 88, 446f. Transgression 7, 73, 122, 132, 227, 234, 254, 260, 265, 270, 280, 291, 300, 316, 323-337, 361f., 393, 406, 408, 431, 433 translatio 414, 433 Tristanroman 97, 343, 350, 355, 361f., 370f., 387, 389f., 425f., 431 Typologie 265, 326, 341, 358, 382f., 385
501! figura vanitatis 23, 51, 54, 63, 69, 113-115, 120, 130, 205, 260, 268, 278, 282, 299, 304, 308, 314 ! Darstellungsform, Denkform, Ikonographie, Topik Venus 11, 35, 43, 49f., 73, 87, 115, 121, 164, 206, 210-222, 270, 275, 278, 285, 299, 304, 310, 371, 439-441, 447 Venus-Luxuria 214, 218 Venus pudica 85, 136, Vertikalität 144, 153, 163, 172, 272f., 287, 325-328, 333, 421, 429f. Verwilderung 39, 41, 422f., 432, 437 vita activa 330, 345, 416 Vokalität 47, 435
Überbietung 80, 93f., 131, 249, 254, 322, 336, 348f., 374, 396, 418 Überschreitung ! Transgression Ubi-sunt-Topos 164-173, 247, 282, 366f., 387, 396, 408
Weltflucht 4f., 121, 151, 156, 161, 196, 248, 303, 381, 402, 424, 446, 450 Weltzeit 117, 125, 129f., 132, 173, 251, 311f., 413, 448 Wiederholung 148, 196, 206f., 223, 240f., 288, 291f., 297, 312, 347, 362, 443f. Wirkungsästhetik 1, 7, 14, 23f., 27, 35, 39, 46, 64, 78-80, 84, 100, 118, 121, 144, 198f., 205, 256, 269, 301, 344, 349, 351, 360, 398f.
vanitas -Allegorie 9, 11, 21, 23, 28, 35, 44, 138, 145f., 158, 183-189, 194, 207, 343 -Klage 31, 101f., 387, 403 -Thema 5, 9, 14, 28, 36f., 59f., 127, 343, 408, 447 -Topos 170, 173, 383, 401, 446 exemplum vanitatis 12f., 28, 36, 172, 259, 296, 328, 333f., 421
Zeitaltermythos 34, 258 Zeitklage 34f., 38, 127, 353, 396-398, 434 Zirkularität ! Zyklizität Zyklizität (als Denkform und Struktur) 12, 14, 203, 206, 217, 220, 223, 250, 253, 362, 371, 389, 430, 448f. Zyklus (Werk-) 36, 76, 91, 99, 100, 110, 125f., 250-254, 261, 264, 273-275, 278-281, 286-292, 429