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German Pages [215] Year 2023
Guy van Kerckhoven | Giovanni Jan Giubilato
Weltaufgang: die Geburt des kosmologischen Denkens Eugen Finks Eine Einführung in den dritten und den vierten Teilband der »Phänomenologischen Werkstatt« Eugen Finks
https://doi.org/10.5771/9783495995211 .
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Guy van Kerckhoven | Giovanni Jan Giubilato
Weltaufgang: die Geburt des kosmologischen Denkens Eugen Finks Eine Einführung in den dritten und vierten Teilband der »Phänomenologischen Werkstatt«-Ausgabe
https://doi.org/10.5771/9783495995211 .
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-99520-4 (Print) ISBN 978-3-495-99521-1 (ePDF)
1. Auflage 2023 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2023. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de https://doi.org/10.5771/9783495995211 .
Inhaltsverzeichnis
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
I.
Ein verborgener Schatz der Phänomenologie
13
II.
Eine noch unverbrauchte Kraft und neue Beharrlichkeit phänomenologischen Fragens
17
III.
Die Sprengung des mundan-ontischen Horizontes der deskriptiven Analytik der reinen Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . .
19
Auf dem Weg eigener Nachdenklichkeit: Überwindung der akt-intentionalen Auslegung des Bewußtseinslebens . . . . . . . . . . . . .
29
V.
Eine folgenschwere Entscheidung: Finks »Weg ins Freie« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
35
VI.
Hegels ›Phänomenologie‹ als Leitfigur: Ein »Fenster ins Absolute« . . . . . . . . . . . . . .
39
VII.
Der »Grundriß eines Systems der Philosophie«
43
VIII.
Die Erweckung der »kosmischen Ergriffenheit«
49
IX.
Die Überwindung der »Seinslässigkeit« des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
57
X.
Transzendentales Fragen als »Selbstbemächtigung des Lebens« und als Vorstoß in den Bereich des »Weltspiels« . . . .
65
IV.
5 https://doi.org/10.5771/9783495995211 .
Inhaltsverzeichnis
XI.
Finks »Einkehr ins Geheimnis«: »Tagebuchnotizen eines Abseitigen« . . . . . .
71
XII.
Entfaltung eines »Problem-Begriffes« der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
79
XIII.
Die Erschütterung des Staunens und die Trauer des Abschieds . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
87
XIV.
Die rollenden Würfel des Schicksals
. . . . . .
91
XV.
Phänomenologie als »Entwicklungsschrifttum«
97
XVI.
Die Umwandlung des Grundsinnes phänomenologischer Konstitutionsforschung
105
XVII.
Philosophie als Lehre und als Frage. Die kathartische Potenz des Staunens als Quellgrund des philosophischen Fragens
. . .
109
XVIII.
Kritische Bemerkungen zu Husserls Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . .
113
XIX.
Die Frage nach dem »Problem« der Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . .
119
XX.
Treue und Loslassen: Rettung des HusserlNachlasses und »Nachruf auf Edmund Husserl«
125
XXI.
Eine neue »Morgenröte« – Leuven . . . . . . .
135
XXII.
Die »Van Breda-Stunden«. Phänomenologie als ›Bewegungssystem‹. Operative Modelle der Husserlʼschen Phänomenologie, »offene Fragen« und spekulative »Ausblicke« . . . . .
141
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Inhaltsverzeichnis
XXIII.
Philosophische Gespräche mit Alphonse de Waehlens und Ludwig Landgrebe. Der »Theorie«-Begriff der Philosophie und die »Weltaufgetanheit« des Menschen. Die enthusiastische Einkehr in den »ur-einen Seinsgrund« . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
151
XXIV.
Kritik der phänomenologischen Forschung . .
157
XXV.
Überwindung des stagnierenden Seinsverständnisses der Phänomenologie: Entwurf der »urlichtenden Begriffe« . . . . . .
161
Unterwegs zu einer »Theorie des vorsprünglichen Begriffes der Welt« . . . . . .
167
XXVII. Die organische Einbeziehung der Seinsfrage in die Weltfrage: Welt als »Feld des Seins« . . . .
175
XXVIII. Die Frage nach der Seinswerdung und nach der universellen Vereinzelung als Leitfragen für die »Setzung des urlichtenden Entwurfs« . . . . .
183
XXVI.
XXIX.
Die onto-gonische Dynamik als Zündstoff: Heidegger und Nietzsche . . . . . . . . . . . .
189
XXX.
Eine neue Welt- und Seinsnähe: die »Heimsuchung« der »Eremitie« . . . . . . . . .
197
XXXI.
Ontologische Erfahrung als apriorische Öffnung der Weltwirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . .
203
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Vorwort
Die Phänomenologische Werkstatt Eugen Finks nimmt eine Sonder rolle im Rahmen der Eugen-Fink-Gesamtausgabe ein. Darin wird zum ersten Mal deutlich, wie komplex und tiefgründig, zugleich aber auch wie differenziert und teilweise schwierig sich das »sym philosophein« Husserls und Finks in den letzten Lebensjahren Hus serls gestaltet hatte. Zwar gehörte die Zusammenkunft Husserls und Heideggers in den 1920er Jahren bereits zu den Sternstunden phänomenologischer Begegnungen. Jedoch sind die überlieferten schriftlichen Zeugnisse bei weitem nicht so detailliert und einprägsam dargestellt wie in den ausführlichen Aufzeichnungen, die Fink über Jahre angefertigt und der Nachwelt überlassen hat. Ronald Bruzina, der 2019 verstarb, hatte sich in einer jahrzehn telangen Arbeit der Herausgabe der Werkstatt, die Aufzeichnungen zwischen 1927 und 1946 enthält, verschrieben. Dies stellte ihn edito risch vor äußerst schwierige Aufgaben. Der erste von insgesamt vier Teilbänden erschien 2006, der zweite im Jahre 2008. Zwar war er in der Editionsarbeit der letzten beiden Teilbände weit vorangeschritten, konnte diese Arbeit jedoch bis zu seinem Tod nicht zu Ende bringen. Guy van Kerckhoven nahm sich daraufhin – gemeinsam mit Giovanni Jan Giubilato – der Aufgabe an, Bruzinas Werk zum Abschluss zu bringen. Das beinhaltete insbesondere, in die Teilbände 3 und 4 angemessen einzuleiten. Weltaufgang: die Geburt des kosmologischen Denkens stellt diese Einleitung dar, welche die weitverzweigten Gedankengänge Finks auf eine einzigartige Weise zusammenfasst. Mit der Bildmonographie Eugen Fink 1905–1975. Lebensbild des Freiburger Phänomenologen, die Guy van Kerckhoven (gemeinsam mit Axel Ossenkop und Rainer Fink) 2015 ebenfalls beim Alber-Verlag herausgegeben hatte, hatte der bedeutendste Spezialist von Finks Leben und Werk nicht nur Fink, sondern auch sich selbst als Fink-For scher ein Denkmal geschaffen. Selten sind in einem Werk Philoso phie, Geschichte und Biographie auf eine solch gelungene Weise ver flochten und symbiotisch vereinigt worden. Weltaufgang: die Geburt des kosmologischen Denkens liefert für die Auseinandersetzung Finks
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Vorwort
mit Husserl, aber auch mit Heidegger, den angemessenen philosophi schen Kommentar nach. Damit wird ein Standard gesetzt, an dem sich jeder künftige Fink-Kommentar wird messen lassen. Die Phänomenologische Werkstatt enthält minutiöse Aufzeich nungen, die von der täglichen gemeinsamen Arbeit Finks mit Husserl zeugen. Sie dient dabei zu großen Teilen als philosophisches Tage buch, in dem Fink einerseits Husserls Gedanken festhält, die dieser ihm in langen Gesprächen (häufig auf Spaziergängen) mitgeteilt hat; dadurch bildet sie auf eine einzigartige Weise auch Husserls spätes Denken ab. Hierbei lässt Fink aber andererseits immer wieder eigene – nicht mit Kritik sparende – Gedanken einfließen, die einen tiefen Eindruck darüber vermitteln, wie sich Fink als selbständiger Philosoph gesucht und nach und nach auch gefunden hat. Dabei erhalten die Leserin und der Leser zudem Einblicke in die persönliche, teilweise von Krisen geprägte Gedankenwelt Finks – ein eindring liches Bild der Leiden des Schülers angesichts eines so strengen (teilweise auch selbstherrlichen) wie seinem Schüler Bewunderung entgegenbringenden Lehrers. Zugleich enthält die Werkstatt aber auch Aufzeichnungen, die als Skizzen für von Husserl an Fink her angetragene Publikationen dienen sollten. Dies sind einzigartige Quellen eines höchst lebendigen Philosophierens, das sich nur im gemeinsamen Denken auf diese Art entfalten konnte. Aufgrund der Vielzahl an Themen und der teilweise nicht linearen Gedankengänge ist es absolut unmöglich, an dieser Stelle Weltaufgang: die Geburt des kosmologischen Denkens auch nur grob zusammenzufassen. Die Leserin und der Leser können sich – durch das selbsterklärende Inhaltsverzeichnis angeleitet – ein eigenes Bild davon machen. Wohl aber kann und muss unterstrichen werden, wie einzigartig auch dieser Text ist. Die Autoren begnügen sich nie mit einer lediglich faktischen Aneinanderreihung philosophischer Thesen. Zwar stellt die Werkstatt ein absolut wesentliches Zeugnis der Genese zahlreicher systematisch hoch bedeutsamen Gedanken dar. Dazu gehört auch der Austausch, der nach Husserls Tod mit Gleichgesinnten stattgefunden hat. Aber der lebendige Stil von Welt aufgang: die Geburt des kosmologischen Denkens ermöglicht darüber hinaus, an den existenziellen Höhen und Tiefen Finks in diesen Jahren teilzunehmen. Über den philosophischen Kommentar hinaus scheint an unzähligen Stellen Finks eigenes Leben durch. Dass die Leserin und der Leser das miterleben können, ist – neben der äußerst hilfreichen philosophischen Anleitung, die Finks eigene, sich langsam entwi
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Vorwort
ckelnde Position schon hier greifbar macht – eine weitere meisterhafte Leistung dieses Buchs. Hierdurch ist es nicht nur ein wesentliches phänomenologisches, sondern auch ein lebensweltlich-existenzielles Werk. Es wird damit Finks beiden Lehrern gerecht. Es ist ein außeror dentliches Verdienst, das aufgezeigt zu haben, denn damit wird der Einheit der Phänomenologie – trotz ihrer höchst unterschiedlichen Ansätze – auf die einzig angemessene Weise Rechnung getragen. Schwelm, April-Mai 2023 Alexander Schnell
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I. Ein verborgener Schatz der Phänomenologie
Die Edition der »phänomenologischen Werkstatt« Eugen Finks war die Lebensarbeit von Ronald Bruzina.1 Wir begegneten uns ein erstes Mal Anfang der achtziger Jahre in der Wohnung an der Vesaliusstraße Nr. 4 in Leuven, die Fink selbst kurze Zeit bezogen hatte, als er im Juni 1940 aus der Deportation in Süd-Frankreich nach Leuven zurückge kehrt war. Mit lebhaftem Interesse verfolgte Bruzina die damals vom Husserl-Archiv in Angriff genommene Edition der »VI. Meditation« in der Reihe Husserliana- Dokumente.2 Bei meinen wiederholten Arbeitsbesuchen in ihrer Merzhausener Wohnung hatte Frau Susanne Fink mir die kartonierten Dosen gezeigt, in denen die Notizhefte von Finks Hand aufbewahrt wurden, die zum großen Teil aus der Zeit sei ner Assistenz bei Husserl stammten. An ihren Inhalt nahm Ronald Bruzina lebhaftes Interesse. Hatte F.-A. Schwarz noch im Jahre 1976 Finks gesammelte »phänomenologische Vorträge und Aufsätze« als »ein Vermächtnis« seines frühen phänomenologischen Philosophie rens mit dem durchaus zutreffenden Titel »Nähe und Distanz« veröf fentlicht3, so war Bruzina sich darüber im Klaren, dass in diesen bis lang unveröffentlichten Notizheften »beginnings and ends in phenomenology« sich gegenseitig berührten. Seit der Veröffentlichung seiner bahnbrechenden Studie »Husserl and Fink 1928–1938«4 im 1 Eugen Fink, Phänomenologische Werkstatt. Teilband 1: Die Doktorarbeit und erste Assistenzjahre bei Husserl. Teilband 2: Die Bernauer Zeitmanuskripte, Cartesianische Meditationen und System der phänomenologischen Philosophie. Herausgegeben von Ronald Bruzina. Eugen Fink Gesamtausgabe Bd. 3/1 und 3/2. Karl Alber, Frei burg/München, 2006 und 2008 (von nun an EFGA 3.1 und EFGA 3.2). 2 Eugen Fink, VI. Cartesianische Meditation. Teil 1: Die Idee einer transzendentalen Methodenlehre. Herausgegeben von Hans Ebeling, Jann Holl und Guy van Kerckho ven. Teil 2: Ergänzungsband. Herausgegeben von Guy van Kerckhoven. Husserliana Dokumente Bd. II.1 und II.2. Kluwer Academic Publishers, Dordrecht/Boston/Lon don, 1988. 3 Eugen Fink, Nähe und Distanz. Phänomenologische Vorträge und Aufsätze. Heraus gegeben von Franz-Anton Schwarz. Karl Alber, Freiburg/München, 1976. 4 Ronald Bruzina, Edmund Husserl & Eugen Fink. Beginnings and ends in Phenomeno logy 1928–1938. Yale University Press, New Haven & London, 2004.
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I. Ein verborgener Schatz der Phänomenologie
Jahre 2004 bei Yale University Press arbeitete er unermüdlich an der Edition jener Entwürfe und Notizen Finks, die in den Jahren seiner engen Zusammenarbeit mit Husserl und in den darauffolgenden Kriegsjahren entstanden waren. Von den geplanten 4 Teilbänden der Manuskripte Finks zu seiner »phänomenologischen Werkstatt« konnte er die beiden ersten in der Reihe Eugen Fink Gesamtausgabe zur Drucklegung bringen. Sie doku mentieren aufs genaueste Finks philosophischen Werdegang zur Zeit der Doktorarbeit und während der ersten Assistenzzeit bei Husserl. In diesen Jahren hatte Husserl seinen jungen Mitarbeiter mit der Ausarbeitung eines »systematischen Werkes« der transzendentalen Phänomenologie betreut, ihm außerdem die in Bernau redigierten »Zeitmanuskripte« ausgehändigt, die Eugen Fink später, als ihm im Jahre 1971 in Leuven die Ehrendoktorwürde verliehen wurde, an dem Husserl-Nachlass zurückerstattet hat. Im Mai des Jahres 2019 verstarb Bruzina allerdings in seiner Wohnung am Old Dobbin Road, ohne dass er seine Lebensarbeit rechtzeitig zu ihrem Ziele hatte führen können. Nun trat Frau Machiko Bruzina an uns mit der Bitte heran, diese editorische Aufgabe zu übernehmen. Es ist ein besonders glücklicher Umstand, dass Dr. Giovanni Jan Giubilato sich ohne jegliche Verzögerung dazu bereit erklärte, die Herausgabe des vierten Teilbandes mit zu übernehmen, Prof. Francesco Alfieri sich ebenfalls unverzüglich dazu verband, tatkräftig an der editori schen Gestaltung des dritten Teilbandes mitzuwirken.5 Dank ihrer exemplarischen Zusammenarbeit liegt die Edition der vierbändigen »phänomenologischen Werkstatt« Eugen Finks heute zum ersten Male in ihrer geschlossenen Form vor. Damit ist zweifellos ein herzinni ger Wunsch von Ronald Bruzina in Erfüllung gegangen. Denn es war seine grundsätzliche philosophische Überzeugung, die er mir ebenfalls in privaten Gesprächen mitgeteilt hat, dass in »der letzten phänomenologischen Darstellung« der »Krisis«-Problematik, dann aber in »Finks phänomenologischem Philosophieren« unmittelbar »nach dem Tode Husserls« nicht nur das einzigartige »vinculum fidei 5 Eugen Fink, Phänomenologische Werkstatt. Teilband 3: Letzte phänomenologische Darstellung: die »Krisis«-Problematik. Herausgegeben von Ronald Bruzina (Ɨ), Fran cesco Alfieri und Guy van Kerckhoven. Teilband 4: Finks phänomenologisches Philoso phieren nach dem Tod Husserls. Herausgegeben von Ronald Bruzina (Ɨ), Giovanni Jan Giubilato und Guy van Kerckhoven. Eugen Fink Gesamtausgabe Bd. 3/3 und 3/4. Karl Alber, Freiburg/München, i.D. (von nun an EFGA 3.3 und EFGA 3.4).
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I. Ein verborgener Schatz der Phänomenologie
et amoris«, das Husserl mit seinem letzten Schüler verband, sich weitergesponnen hatte, sondern dass gerade dieses Lebensband es zugleich verhinderte, dass unter die »transzendentale Phänomenolo gie« Edmund Husserls voreilig der Schlussstrich gezogen wurde, ohne den »new beginnings« Gehör zu schenken, die sie noch unverbraucht in sich enthielt. Gerade die Treuherzigkeit, die ihn auszeichnete, erlaubte es Fink, in Husserls Spätwerk den Weg zu finden, der ihn in eine neue Zukunft der Phänomenologie einwies.6
Das Repertorium von Eugen Finks phänomenologischen Schriften und Beiträgen wurde von Friedrich Wilhelm von Herrmann veröffentlicht in: Bibliographie Eugen Fink. Martinus Nijhoff, Den Haag, 1970. 6
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II. Eine noch unverbrauchte Kraft und neue Beharrlichkeit phänomenologischen Fragens
Richtet man das Augenmerk auf die editorische Leistung, die R. Bruzina mit der Veröffentlichung der Teilbände 1 und 2 der »Werk statt« vollbracht hat, so ist es sonnenklar, dass die beiden von ihm gewählten Bandtitel: »Die Doktorarbeit und die ersten Assistenzjahre bei Husserl« und »Die Bernauer Zeitmanuskripte, Cartesianische Medi tationen und System der phänomenologischen Philosophie« nur den allgemeinsten Bezugsrahmen zum Ausdruck bringen, innerhalb des sen sich jener außerordentlich lebendiger wirkungsgeschichtlicher Zusammenhang entfaltet hat, der nur mit dem Begriff »phänomeno logische Werkstatt« einigermaßen zutreffend gekennzeichnet werden kann. Das Gleiche gilt auch für die Titel des dritten und vierten Teilbandes. Die »letzte phänomenologische Darstellung« bezieht sich auf die Zeitspanne zwischen etwa Mitte 1934 und dem Todesjahr Edmund Husserls. Denn bekanntlich erhielt Husserl Anfang August 1934 vom Prager Philosophenkongress die Einladung, sich brieflich über die »gegenwärtige Aufgabe der Philosophie« zu äußern, und er kam noch während seines Aufenthalts in Kappel zu dem Entscheid, bei dieser Gelegenheit die um sich herumgreifende »Krise des europä ischen Menschentums« ins Visier fassen zu müssen. »Finks phänome nologisches Philosophieren nach dem Tode Husserls‘« ist seinerseits wesentlich mitgeprägt durch die Gründungszeit des Husserl-Archivs an der Universität Leuven und in den darauffolgenden Jahren durch die auf der Flugwache in Sankt-Märgen verbrachten Stunden einer »stillen Besinnlichkeit«. Gerade diese beharrliche, inwendige Nach denklichkeit verlieht seinem Philosophieren während des Krieges die besondere Gestalt einer philosophischen »Eremitie«. Mein Kollege Jan Giubilato wird während seiner Präsentation unserer gemeinsamen Editionsarbeit in einigen Zügen die Eigenart dieser Denkphase des Lebenswerkes Eugen Finks zu umzeichnen versuchen und dabei auf ihren philosophischen Ertrag hindeuten. Für diesen vierten Teilband wählte Bruzina gewissermaßen als »Maxime« ein Zitat aus dem
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II. Eine noch unverbrauchte Kraft
Vortrag, den Fink im Jahre 1959 auf der Husserl-Feier der Universi tät Freiburg gehalten hat, in dem er »die Spätphilosophie Husserls in der Freiburger Zeit« in die Erinnerung zurückrief: »… Husserls Spätphilosophie ist keine eingebrachte Ernte, kein festes Besitztum des kulturellen Geistes, kein Haus, in welchem man sich wohnlich einrichten kann. Alles ist offen, alle Wege führen ins Freie. Es ist eine unbequeme, herausfordernde und mühsame Philosophie, die keine Parteigänger und keine Jüngerschaft brauchen kann – die zuerst jeden auf den Weg eigener Nachdenklichkeit schickt«7. Die von ihm ins Auge gefasste zweite »Einleitung des Herausgebers« zu den Teilbänden 3 und 4 sollte, so hoffte Bruzina, »zeigen, wie Finks Beitrag zur letzten Entwicklung der Phänomenologie Husserls zu einem Denk programm jenseits des Husserlschen Ansatzes , das zwar den Wurzeln der phänomenologischen Philosophie, von der Fink ausging, entstammte, doch ihn zu einer Unabhängigkeit von der Husserlschen Phänomenologie führte«8. Tatsächlich gewann »mit Fink an Husserls Seite das Fragen eine andere Kraft und eine Beharrlichkeit, die neue Aspekte einer Phänomenologie eröffnete, die ansonsten vielleicht dazu tendiert hätte, in ihren Gewohnheiten zu erstarren«9. Es gelang Bruzina leider nicht mehr, diese zweite »Einleitung des Herausgebers« zu redigieren. Zusammen mit Jan Giubilato habe ich der abgeschlossenen Edition der beiden letzten Teilbände der »Werk statt« eine zweite »Einleitung« vorangestellt, die, der Grundintention Bruzinas entsprechend, es den künftigen Lesern erlauben möchte, das andere Gepräge, das die Phänomenologie unter der Hand durch Finks unaufhaltsam sich fortspinnende Reflexionen bekommen hat, unbe fangen gewahr zu werden.10 Gewissermaßen kann man sagen, dass mit der Erfüllung der Lebensaufgabe, die R. Bruzina sich gestellt hatte, die Lücke, die bislang zwischen Finks frühen phänomenologischen Beiträgen und seinen ausgereiften philosophischen Hauptwerken der Nachkriegszeit klaffte, in zunehmendem Maße geschlossen, wenn auch nicht endgültig abgedichtet worden ist. Eugen Fink, Nähe und Distanz, a.a.O., S. 225. Ronald Bruzina, »Einleitung des Herausgebers I«, in: EFGA 3.1, S. XCVII, Anm. 270. 9 Ebd., S. XCVII. 10 Vgl. dazu ebenfalls Ronald Bruzinas »Einleitung des Herausgebers I«, a.a.O., S. XXVIII f. 7
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III. Die Sprengung des mundan-ontischen Horizontes der deskriptiven Analytik der reinen Phänomenologie
Wie soll man die innere Verwandlung bezeichnen, die sich in »Hus serls Spätphilosophie in der Freiburger Zeit«11 allmählich vollzogen hat – in jener Atmosphäre einer einzigartigen geistigen »Symbiose«, in die Husserl seinen hochbegabten Schüler mit sanfter Hand einge führt hatte? Und wo befindet sich jener Bereich, an dem man feststel len muss: »hic Rhodus, hic salta« – jener Kreuzungspunkt, an dem sich Husserls und Finks Wege in die Phänomenologie unwiderruflich geschieden haben? Diese Fragen sollen nicht mithilfe irgendeines Machtspruches beantwortet werden, der über das Filigran der inneren Beziehungen zweier Menschen, die ihre geistige Existenz in tägli cher Arbeit miteinander verwoben hatten, doch nur hinwegtäuschen würde. Die »zweite Einleitung der Herausgeber« hat sich deshalb zur Aufgabe gemacht, dieses feingesponnene Gewebe sorgfältig auf zuwickeln und dabei das Tempo genau einzuhalten, das durch die Tagesarbeit diktiert worden ist, wie die beiden Phänomenologen sie in gegenseitiger Verbundenheit vollbracht haben. Von Anfang an hatte Husserl großen Wert darauf gelegt, dass für die beiden Werke, mit denen er sich seit Ende der 20er und Anfang der 30er Jahre an das philosophische Publikum gewendet hatte: die »Formale und transzendentale Logik« und die »Méditations cartésien nes«12, den richtigen Resonanzraum geschaffen wurde. Die Veröffent Eugen Fink, »Die Spätphilosophie Husserls in der Freiburger Zeit«, zuerst in: Edmund Husserl 1859–1959. Den Haag 1959 (Phaenomenologica Bd. 4), jetzt in: Nähe und Distanz, a.a.O., S. 205–227. 12 Edmund Husserl, Formale und transzendentale Logik. Versuch einer Kritik der logischen Vernunft. M. Niemeyer, Halle a.d. Saale, 1929; jetzt: Husserliana Edmund Husserl Gesammelte Werke, Bd. XVII, herausgeben von Paul Janssen. M. Nijhoff, Den Haag, 1974. Edmund Husserl, Méditations cartésiennes. Introduction à la phéno ménologie. Traduit de l‘allemand par Gabrielle Pfeiffer et Emmanuel Lévinas, A. Colin, 1931; jetzt: Nouvelle édition, Librairie philosophique J. Vrin, Paris 1996; deutsche 11
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III. Die Sprengung des mundan-ontischen Horizontes der deskriptiven Analytik
lichung seiner »Logischen Studien« hatte er inzwischen seinem Assis tenten Ludwig Landgrebe anvertraut13. Fink fiel seit August 1928 die Aufgabe zu, die in Bernau verfassten »Zeitmanuskripte« für den Druck vorzubereiten, gewissermaßen als eine Fortsetzung der von M. Heidegger zuvor im Jahrbuch veröffentlichten »Vorlesungen zur Phä nomenologie des inneren Zeitbewusstseins«14. Woran es ihm am meis ten nottat, war allerdings ein »systematisches Grundwerk« seiner phä nomenologischen Transzendentalphilosophie. Einzig nur ein solches Grundwerk war in seinen Augen dazu geeignet, die modische Schwenkung zur Existenzphilosophie effektiv zu kontern. Die Klä rung der Idee der »Transzendentalphilosophie« in ihrer spezifisch phänomenologischen Sinnbestimmung und Seinsart wurde somit in diesen Jahren zu einem Grundproblem der Phänomenologie erhoben. Es braucht deshalb nicht im mindesten wunderzunehmen, dass heute das Wuppertaler Institut für Transzendentalphilosophie und Phäno menologie an der inneren Entwicklung der Spätphilosophie Husserls einen so lebhaften Anteil genommen hat. Es steht außer Frage, dass es auch in Zukunft den dokumentierten Ertrag dieser höchst bedeut samen Wende in der phänomenologischen Grundkonzeption der Leitidee der Philosophie mit großer Sorgfalt ausleuchten wird. Außer dem war es Husserls Grundüberzeugung, dass seine Mitarbeiter sich mit solchen Arbeiten profilieren sollten, die weiterhin das »klassi sche« Bild seiner deskriptiven phänomenologischen Analytik mit Vorzug vertraten und sich dabei durch neue analytische Forschungs ergebnisse auszeichneten. So gab Fink im Zuge seiner Analyse von »Vergegenwärtigung und Bild«15 mit dem Aufweis der »horizonthaften Erstveröffentlichung: Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen und Pariser Vor träge, in: Husserliana Edmund Husserl Gesammelte Werke, Bd. I, herausgegeben und eingeleitet von Stephan Strasser. M. Nijhoff, Den Haag, 1963. 13 Siehe dazu das »Vorwort des Herausgebers« von Ludwig Landgrebe zu: Edmund Husserl, Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik. F. Meiner, Hamburg,1972, S. XXf. 14 Edmund Husserls Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins, herausgegeben von Martin Heidegger, in: Jahrbuch für Philosophie und phänomeno logische Forschung Bd. IX, 1928; jetzt: Husserliana Edmund Husserl Gesammelte Werke, Bd. X: Edmund Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917), herausgegeben von Rudolf Boehm. M. Nijhoff, Den Haag, 1966. 15 Eugen Fink, Vergegenwärtigung und Bild. Beiträge zur Phänomenologie der Unwirk lichkeit (1. Teil), zuerst in: Jahrbuch f. Philosophie und phänomenologische Forschung Bd. XI, 1930; jetzt: Studien zur Phänomenologie 1930–1939, M. Nijhoff, Den Haag, 1966, S. 1–78.
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III. Die Sprengung des mundan-ontischen Horizontes der deskriptiven Analytik
Entgegenwärtigungen« als »Bewusstseinsekstasen« der intentionalen Bewusstseinsanalytik Husserlʼscher Prägung neue Impulse. Es mehr ten sich auch die Indizien, dass es seiner Ansicht nach für die phäno menologische Forschung auf Dauer zu einem dringenden Bedürfnis wurde, von der »aktintentionalen Analyse« gegenstandskonstitutiver Forschung zur Problematik der »ganzheitsstrukturalen« Auslegung jener »Lebensfelder« fortschreiten zu müssen, in denen das strö mende Aktleben der Bewusstseinserlebnisse seinerseits eingebettet sei. Die Fortführung der »konstitutiv-temporalen Interpretation« von »Vergegenwärtigung und Bild«16 dürfte Fink dazu beschwingt haben, die Hand an die Ausarbeitung der Manuskripte Husserls zu »Zeit und Individuation« zu legen und sie mit selbständig geführten Zeitfor schungen zu flankieren. Wie Frau Susanne Fink mir während eines Besuches in ihrer Wohnung in Merzhausen persönlich mitgeteilt hat, erlitt Fink an seinem Lebensabend einen Schlaganfall, auf den eine schwere Depression folgte, und habe er darauf eine Reihe von bedeu tenden Schriften, darunter das »Zeitbuch«, das auch sein Privatassis tent F.-W. von Herrmann noch in den Händen gehalten hat, vernich tet. Die ursprünglich für den XII. Band des Jahrbuches f. Philosophie und phänomenologische Forschung geplante Veröffentlichung der Zeituntersuchung von 1917 im Sommer 1932 misslang ihrerseits. Darüber hat Fink Ende der 60er Jahre berichtet: »Die Ausarbeitung der Bernauer Zeitmanuskripte hätte nur einen schmalen Band erge ben«. Diese Manuskripte »bestehen aus wenigen Manuskript-Kon voluten«. »Einige der Manuskripte der Bernauer Zeit sind bereits als Beilage zur ›Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins‹ gedruckt worden – was Husserl offenbar entgangen war«. »Die aufgrund dieser schmalen Manuskript-Basis versuchte Ausarbeitung schei terte.«17 Zur Klärung des Grundsinnes seiner phänomenologischen Transzendentalphilosophie gehörte nach Husserl nicht nur die unent behrlich gewordene Auseinandersetzung mit der neueren Existenz philosophie in Deutschland. Die kritischen Einwürfe, die von Seiten der Vertreter der Rickert-Schule gegen die »ontologischen« und »intuitionistischen« Voraussetzungen der reinen Bewusstseinsphä nomenologie erhoben worden waren, waren ein untrügliches Anzei chen dafür, dass ihnen die Tragweite des transzendental-reduktiven 16 17
Ebd., S. 19. Siehe: »Fünf lose Blätter zur Zeitproblematik«, in: EFGA 3.2, S. 439–441.
21 https://doi.org/10.5771/9783495995211 .
III. Die Sprengung des mundan-ontischen Horizontes der deskriptiven Analytik
Verfahrens grundsätzlich entgangen und damit das Eingangstor zum weiten Umfeld phänomenologisch-konstitutiver Forschungen auf die Dauer verschlossen geblieben war. Auf die Widerlegung der von Rudolf Zocher und Friedrich Kreis gegen die Phänomenologie ins Feld geführten Bedenken18 sollte schließlich die Erwiderung der von Seiten der Dilthey-Schule an Husserls Phänomenologie geübten Kritik folgen. Dank der editorischen Bemühungen von Georg Misch und Bernhard Groethuysen waren von Mitte der zwanziger Jahre ab die Bände: »Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens«, »Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften« und »Weltanschauungslehre. Abhandlungen zur Philosophie der Philo sophie« erschienen19, die zum ersten Male den vollen Umfang des Vermächtnisses erblicken ließen, das insbesondere Diltheys späte Schaffensperiode der Nachwelt hinterlassen hatte. Und es war wie derum Georg Misch gewesen, der in einer Reihe von Beiträgen für den »Philosophischen Anzeiger«20 die bereits in seinem »Vorwort« zu 18 Siehe dazu: Eugen Fink, »Die phänomenologische Philosophie Edmund Husserls in der gegenwärtigen Kritik. Mit einem Vorwort von E. Husserl«, in: Kant-Studien, XXXVIII (1933) und Pan-Verlag, Berlin 1934; jetzt: Eugen Fink, Studien zur Phäno menologie 1930–1939, a.a.O., S. 79–156 und S. VII-VIII. Husserls »Vorwort« wurde in Husserliana Edmund Husserl Gesammelte Werke Bd. XXVII: Edmund Husserl, Vor träge und Aufsätze (1922–1937), herausgegeben von Thomas Nenon und Hans Rainer Sepp. Kluwer, Dordrecht/Boston/London, 1989 erneut veröffentlicht: a.a.O., S. 182– 183. 19 Wilhelm Dilthey, Die Geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Erste Hälfte. Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften. Zweite Hälfte. Abhandlungen zur Poetik, Ethik und Pädagogik; Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften; Wilhelm Dilthey, Weltanschauungs lehre. Abhandlungen zur Philosophie der Philosophie. In: Wilhelm Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. V-VIII. B.G. Teubner, Stuttgart/Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, resp. 1957,1958, 1960. Siehe dazu das »Vorwort des Herausgebers« aus dem Sommer 1923 von Georg Misch zu den Bänden V und VI, sowie das »Vorwort des Herausgebers« von Bernard Groethuysen zu den Bänden VII ((Sommer 1926) und VIII. 20 Georg Misch, Lebensphilosophie und Phänomenologie. Eine Auseinandersetzung der Diltheyschen Richtung mit Heidegger und Husserl. Zuerst als Zeitschriftartikel in: Phi losophischer Anzeiger III Jg., Heft 2 und 3 sowie IV. Jg., Heft 3, 1929–1930; dann in Buchform beim Verlag F. Cohen, Bonn, 1930¹ und Leipzig/Berlin, 1931²; jetzt »Mit einem Nachwort zur 3. Auflage« in: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 1967. Zu Husserls Lektüre und eingehendem Studium dieser Beiträge von Georg Misch, siehe: Edmund Husserls Randnotizen zu Georg Mischs Lebensphilosophie und Phänomenologie. Herausgegeben von Guy van Kerckhoven, in: Dilthey-Jahrbuch für Philosophie und Geschichte der Geisteswissenschaften, Bd. 12/1999–2000, heraus gegeben von F. Rodi, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, S. 145–186.
22 https://doi.org/10.5771/9783495995211 .
III. Die Sprengung des mundan-ontischen Horizontes der deskriptiven Analytik
Band V der Gesammelten Schriften Diltheys begonnene Klärung des inneren Verhältnisses seines lebensphilosophischen Erbes zur Phä nomenologie Husserls energisch vorangetrieben hatte. Denn »unter dem belebenden Eindruck von Husserls ›Logischen Untersuchungen‹, wo ihm nun aus der neuen philosophischen Bewegung der Zeit eine seiner eigenen verwandte Intention entgegenkam«21, hatte Dilthey in den Altersjahren »die abgebrochene Arbeit«, die der erkenntnistheo retischen Grundlegung der Geisteswissenschaften gewidmet war, »wieder aufgenommen«. Als Husserl in der »üblen« Revolutionszeit, im Juni 1933, das »Vorwort« zu dem Kant-Studien-Aufsatz verfasste in dem die »prinzi piellen Mißverständnisse« beseitigt werden sollten, die den »Grund sinn« seiner Phänomenologie, »der transzendental-konstitutiven«, wie er pointiert hervorhob, immer wieder verdunkelten, konnte wohl kaum ein Leser erahnen, wie sehr ihm die Aufgabe ans Herz gewach sen war, die Phänomenologie »durch selbstbesinnliche Klärung ihres prinzipiell neuartigen philosophischen Sinnes auf eine Stufe allseitiger Durchbildung zu bringen«22, – und welchen wichtigen Beitrag Fink wenige Monate zuvor, von August bis Oktober 1932, mit seinem »Entwurf einer VI. Meditation« zu diesem Ziel einer systematischen Ausgestaltung und Artikulation des Grundsinnes der transzenden tal-konstitutiven Phänomenologie geleistet hatte23. Erst heute sind wir in der Lage, Finks Ausführungen »zur Phänomenologie Edmund Husserls in der gegenwärtigen Kritik« im Rücklicht der anhaltenden Debatten, die er mit Husserl über den methodischen Grundsinn seiner transzendentalen Phänomenologie geführt hat, zu lesen. Zwar könnte man mit Marc Richir behaupten, dass in Husserls Phänomenologie die »transzendentale Methodenlehre« nur »der Idee nach« existiere24. Gegen die geschlossene »szientifische Form« unter dem Regiment
21 Georg Misch, »Vorwort des Herausgebers« in: W. Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. V, a.a.O., S. CXVII. 22 Edmund Husserl, »Vorwort« zu Eugen Fink, Die phänomenologische Philosophie E. Husserls in der gegenwärtigen Kritik, Husserliana Edmund Husserl Gesammelte Werke, Bd. XXVII, a.a.O., S. 182–183. 23 Siehe dazu: Eugen Fink, VI. Cartesianische Meditation. 1. Teil. Die Idee einer trans zendentalen Methodenlehre, a.a.O., insbes. die Randbemerkung 1 auf S. 3. 24 Marc Richir, »La question d’une doctrine transcendantale de la méthode en phéno ménologie«, in: Le Statut du phénoménologique. Épokhè Nr. 1, J. Million, Grenoble, 1990, S. 93–94.
23 https://doi.org/10.5771/9783495995211 .
III. Die Sprengung des mundan-ontischen Horizontes der deskriptiven Analytik
der Vernunft25 sträubte sich tatsächlich der deskriptiv-analytische Duktus der reinen Phänomenologie, wie Husserl sie im Sinne hatte. Aber gerade die »kritische« Lage, wie Husserl sie selber ins Auge fasste und die nach seiner Einschätzung eine Auseinandersetzung mit den »verschiedenen philosophischen Schulen« des Neukantianismus, der Existenzphilosophie und der hermeneutischen Lebensphilosophie unausweichlich werden ließ26, rief zumindest eine wenn auch noch durchaus provisorische »Re-kontextualisierung« des zentralen philo sophischen Impetus auf den Plan, der die pulsierende Lebensader der transzendental-konstitutiven Phänomenologie bildete. Und an dieser Stelle verdienen die eigenen Akzente, die Eugen Fink hierbei setzte, unsere volle Aufmerksamkeit. Sie traten schon in den »Einleitungspa ragraphen« klar heraus, die Fink seiner Dissertation vorangehen ließ, in denen er sich, wie er andeutete, auf »noch unveröffentlichte Manu skripte zur Phänomenologie der phänomenologischen Reduktion« stützen konnte27. Die Reformgestalt, die die reine Bewusstseinsphänomenologie von der deskriptiven »Innenpsychologie« erhalten hatte, als eine Art eidetischer Disziplin streng wissenschaftlicher analytischer For schung, reiche grundsätzlich nicht hin, um die transzendental-philo sophische Grundaufgabe zu bewältigen, die Husserl selbst in seinem Hauptwerk, den »Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phäno menologischen Philosophie«, in den Mittelpunkt seiner »phänomeno logischen Fundamentalbetrachtung« gestellt hatte: die Erforschung der »Weltkonstitution«. Gefordert sei vielmehr gerade die Spren gung des »mundan-ontischen« Horizontes, innerhalb dessen eine derartige eidetische Innenpsychologie sich fortwährend aufhielt: des Horizontes einer »vorgegebenen Welt«. Die analytische Rückfrage in die Dimension »absoluten Ursprungs« des transzendentalen Lebens als Quellgrund der konstitutiven Prozesse der »Weltbildung« sei keineswegs gleichbedeutend mit einer schlichten »Subjektivierung« des All des Seienden28, etwa im Rückgriff auf die Erfahrungsvorgänge. Gerade im Hinblick auf die »Subjektivität« des transzendentalen 25 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft. Die transzendentale Methoden lehre. Drittes Hauptstück. Die Architektonik der reinen Vernunft, A 832/ B 860. F. Meiner, Hamburg, 1956, S. 748. 26 Edmund Husserl, »Vorwort« zu: Eugen Fink, »Die phänomenologische Philosophie E. Husserls in der gegenwärtigen Kritik«, a.a.O., S. 182. 27 Eugen Fink, Vergegenwärtigung und Bild, a.a.O., S. 10, Anm. 1. 28 Ebd., S. 13.
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III. Die Sprengung des mundan-ontischen Horizontes der deskriptiven Analytik
Lebens ließ Fink nicht nach, als ein »zentrales Problem der kon stitutiven Phänomenologie«, als »ein Problembestand, den es in seiner ganzen drängenden Wucht ausschwingen zu lassen gilt«29, die Frage nach der »ontologischen Undurchsichtigkeit« dieser »Sub jektivität« seinen phänomenologischen Kollegen vor die Füße zu werfen. Zwar reichte die kurze Skizze der »Reduktionsproblematik« in den Einleitungsparagraphen zu seiner Dissertation kaum hin, um »der existenzialen Interpretation derselben als Aufbruch ins Absolute« sowie ihres spezifischen Zeitsinnes als »Augenblick« genügend Raum zu verschaffen30. Mit dem Entwurf der »Idee einer transzendentalen Methodenlehre«, die der konstitutiven Phänomenologie wenigstens als Richtschnur ihrer zunehmend verzwickten Nachforschungen dien lich sein sollte, ergriff Fink die Gelegenheit, »das Fenster ins Absolute (Hegel)«31, weiter aufzustoßen, aus dem er anlässlich des Studiums eines phänomenologischen »Einzelproblems«, etwa der Akte des Vergegenwärtigungsbewusstseins, ein erstes Mal mit Umsicht hin ausgeschaut hatte. »Die Welt im ganzen, sonst das universale Thema der Philoso phie überhaupt, wird durch die Reduktion erkennbar als Resultat einer transzendentalen Konstitution, sie wird ausdrücklich zurückgenom men in das Leben der absoluten Subjektivität. Diese Zurücknahme aber hat nichts zu tun mit einem ontischen (immanenzphilosophi schen) oder transzendental-apriorischen (›kritischen‹) Subjektivis mus«, so erläuterte Fink im Kantstudien-Aufsatz erstmals die von ihm vertretene, radikalisierende Auffassung des Husserlʼschen Reduk tionsverfahrens, die ihn innerlich bewegte und die er als ihre »existen ziale Entwurfsituation« kennzeichnete. »Erst die Reduktion holt die Welt im Wissen zurück in den Ursprung und entdeckt die transzen dentale Idealität der Welt (als der End-Objektiviertheit des absoluten Geistes)«32. Unverkennbar klingen in diesen Sätzen, in denen Fink den »konstitutiven Idealismus« der transzendentalen Phänomenolo gie mit Entschiedenheit von jeder Form mundanen Subjektivismus abzutrennen versuchte, die Ausführungen nach, die er am Schluss der »VI. Meditation« der phänomenologischen Idealismus-Frage gewid Ebd., S. 9. Ebd., S. 15. 31 Ebd., S. 18. 32 Eugen Fink, »Die phänomenologische Philosophie E. Husserls in der gegenwärti gen Kritik«, a.a.O., S. 148–149. 29
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25 https://doi.org/10.5771/9783495995211 .
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met hatte. Dass es in Wahrheit der konstitutive Weltgrund sei, der in der philosophischen Wissenschaft als das ›Absolute‹ zu sich komme, diese durchaus gewagte These schien in eine »spekulative Voranzeige des eigentlichen Sinnes des phänomenologischen Idealis mus«33 einzumünden, wie Fink nachher im »Entwurf eines Vorwortes« zu seiner »VI. Meditation«34 auch offen gestanden hat. Dennoch war diese neuartige Sinnbestimmung des phänomenologischen Idealis mus nach seiner Ansicht »keine metaphysische Konstruktion«, »keine voreingenommene Standpunktsüberzeugung«35«. Vielmehr betrach tete er sie als »die schlichte Formulierung der Grunderkenntnis der phänomenologischen Reduktion«, »die als leere Formel nichts, als Leitgedanke konkreter konstitutiver Analysen viel besagen kann«36. »Statt eines ›transzendenten‹ Verhältnisses zwischen Mensch und Weltgrund«, so beeilte er sich, diesen Leitgedanken künftiger konsti tutiver Weltforschung zu präzisieren, »muss ein ›transzendentales‹ angesetzt werden: das nicht den Menschen in seiner weltlichen End lichkeit, Hinfälligkeit, Ohnmacht überspringt, sondern als konstituierten Sinn begreift und damit zurücknimmt in das unendliche Wesen des Geistes«37. Angesichts dieses »konstituierten Sinnes« des endlichen menschlichen Erfahrungslebens als einer »Ebene der Endobjektiviert heit«38 des Geistes, der »Endkonstituiertheit«39 finaler Weltkonstitu tion, möchten wir auf einen letzten Akzent hinweisen, der uns gewich tig erscheint. Die Zurückleitung der Prozesse der »Weltbildung« auf die vor-seienden Vorgänge transzendentalen Lebens führt nicht etwa zu den »synthetischen Leistungen« des intentionalen Bewusst seins, die sich auf ein vorgegebenes »Gegenstandsfeld« beziehen. Sie gehören vielmehr zu dem Bereich einer »existenzialen Erschlossen heit«, die Fink in seinem vorgrabenden Kantstudien-Aufsatz wenig stens vorübergehend als eine Form »transzendentaler Intentionalität« Ebd., S. 149. Eugen Fink, »Entwurf eines Vorwortes«, in: VI. Cartesianische Meditation. 1. Teil: Die Idee einer transzendentalen Methodenlehre, a.a.O., S. 183. 35 Eugen Fink, Die phänomenologische Philosophie E. Husserls in der gegenwärtigen Kritik, a.a.O., S. 149. 36 Ebd., S. 149. 37 Ebd., S. 155. 38 Ebd., S. 149. 39 Eugen Fink, VI. Cartesianische Meditation. 1. Teil: Die Idee einer transzendentalen Methodenlehre, a.a.O., S. 83. 33
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III. Die Sprengung des mundan-ontischen Horizontes der deskriptiven Analytik
kennzeichnen möchte40. Wenn auch der »eigentliche Charakter« die ser transzendentalen Intentionalität laut Fink vorläufig noch »unbe stimmt« bleiben muss, so ist es zugleich unverkennbar, dass er auf seine »produktive«, »kreative« Natur bestehen möchte41. »Wie hart auch immer und doktrinär eine Bestimmung des Wesens der Kon stitution als produktive Kreation klingen mag«, so ist »zum mindes ten die Gegensätzlichkeit zum rezeptiven, ein Ansichsein fordernden Charakter des mundan-ontischen (psychischen) Erfahrungslebens angezeigt«42. Dass die Weltkonstitution im Grunde »ein mit ontischen Begriffen nicht erreichbares Verhältnis bedeutet«43, ist ein erstes, wich tiges Anzeichen dafür, dass die im »existenzialen Reduktionsentwurf« sich allmählich anbahnende »kosmologische Grundfrage«44 grundsätz lich differiert von der Frage nach der »gegenständlichen Gegebenheit« einer an sich seienden Welt, wie sie bislang für die phänomenolo gische Konstitutionsanalyse Husserls von maßgebender Bedeutung gewesen ist.
40 Eugen Fink, »Die phänomenologische Philosophie E. Husserls in der gegenwärti gen Kritik«, a.a.O., S. 143. 41 Ebd. 42 Ebd. 43 Ebd. 44 Ebd., S. 120.
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IV. Auf dem Weg eigener Nachdenklichkeit: Überwindung der akt-intentionalen Auslegung des Bewußtseinslebens
Anfang April 1933, wenige Wochen bevor er das »Vorwort« zu Eugen Finks Kantstudien-Aufsatz verfasste, wurde Edmund Husserl als Hochschullehrer in den Urlaub versetzt.45 »Es kamen die dunklen Jahre der Verlassenheit«46, deren Kronzeuge Eugen Fink geworden ist. Auf dem dritten Teilband der »Phänomenologischen Werkstatt« liegt deshalb dieser Schatten einer zunehmenden Verdunkelung. Dass sie Husserl nicht zum Verhängnis wurde, lag daran, dass, wie Fink mit tiefer Bewunderung feststellte, »das Denken in unablässiger Analyse in ihm strömte als ein unversieglicher Quell«47. Die innere Artikula tion der im vorliegenden Teilband gesammelten Textfragmente und Entwürfe ist bestimmt durch die Art und Weise, auf der Husserl unter diesen geänderten Bedingungen seine philosophische Arbeit neu organisiert hat. »Seine eigentliche Spätphilosophie«, so urteilte Fink, »liegt im Nachlass«48. Den Privatassistenten betreute Husserl mit der Aufgabe, die vielen Gäste, die ihm einen Besuch erstatten und sprechen wollten, zu empfangen bzw. die an ihn gerichteten Fragen brieflich zu beantworten. Auch für die Begleitung des phä nomenologischen Studiums junger Nachwuchsforscher mithilfe von Privatseminaren, Arbeitssitzungen und Gesprächen war Eugen Fink zuständig. Von Anfang an war R. Bruzina der Überzeugung, die zer streuten Zeugnisse dieser Tätigkeit Finks als Husserls Privatassisten ten möglichst sorgfältig dokumentieren und ohne Vorbehalt edieren zu müssen. An die dem dritten Teilband vorangestellte »Einleitung der Herausgeber« stellte diese editorische Vorentscheidung Bruzinas die 45 Siehe: Karl Schuhmann. Husserl-Chronik. Denk- und Lebensweg Edmund Hus serls. Husserliana Dokumente Bd. I. M. Nijhoff, Den Haag, 1977, S. 428. 46 Eugen Fink, »Die Spätphilosophie Husserls in der Freiburger Zeit«, in: Nähe und Distanz, a.a.O., S. 226. 47 Ebd., S. 226. 48 Ebd., S. 220.
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IV. Auf dem Weg eigener Nachdenklichkeit
nicht geringe Anforderung, die faktischen Wirkungszusammenhänge mit Präzision zu rekonstruieren und anhand des vorhandenen Quel lenmaterials die vielfältigen personalen Beziehungen zu ermitteln, die den unmittelbaren Anlass zu dieser besonderen Tätigkeit Finks als Husserls Assistenten geboten haben. Indem der Husserl-Forschung zum ersten Male ein Einblick in die »Werkstatt« gewährt wird, in der Husserl seinerseits nicht nachließ, wie Fink hervorgehoben hat, »den Lebensvollzug des transzendentalen Bewusstseins ›auf der frischen Tat ertappen‹«49 zu wollen, wird gleichzeitig die Arbeitsgesinnung spürbar, in der er sein Forscherleben seinem Ende entgegenführte. Es würde den Rahmen dieser Einführung jedoch endgültig sprengen, und wohl auch nur den Ausdruck eines rein archivalischen Geistes sein, wenn wir etwa anhand des »Inhaltsverzeichnisses« zum dritten Teilband eine schlichte Bestandsaufnahme des in ihm enthaltenen Quellenmaterials machen und alle die Kontaktpersonen, mit denen Fink in Husserls Namen einen regen Gedankenaustauch unterhielt, einfach auflisten würden. Wir ziehen es deshalb vor, zunächst einmal Husserls besondere Beziehung zu seinem Privatassistenten generell zu charakterisieren. In einem zweiten Schritt möchten wir das vor handene Quellenmaterial daraufhin prüfen, ob in ihm ein »anderes Gepräge« der Phänomenologie sich tatsächlich allmählich abzuzeich nen begann und was es für Fink bedeutet hat, dass der Meister – wie einen jeden – auch ihn »auf den Weg eigener Nachdenklichkeit«50 geschickt hat. Erst im Lichte einer schicksalhaften Neubestimmung der Phänomenologie erhalten die vielfältigen Zeugnisse der Privatassis tenz Finks das ihnen eigentümliche philosophische Profil. Es hat unter den Phänomenologen und ehemaligen Schülern Husserl wohl einiges Aufsehen erregt, dass Husserl in seinem »Vor wort« zu Eugen Finks Kantstudien-Aufsatz sich so vorbehaltslos zugunsten der Ausführungen seines jungen Mitarbeiters ausgespro chen hat – indem er auf Wunsch der Redaktion der Kantstudien bestätigte, dass in dessen Artikel »kein Satz ist, den ich mir nicht vollkommen zueigne, den ich nicht ausdrücklich als meine eigene Überzeugung anerkennen könnte«51. Denn, wie wir zuvor dargelegt haben, mehrten sich in diesem die neuen Akzentuierungen mit Bezug Ebd., S. 224–225. Ebd., S. 225. 51 Edmund Husserl, »Vorwort« zu: Eugen Fink, Die phänomenologische Philosophie E. Husserls in der gegenwärtigen Kritik, a.a.O., S. 183. 49
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IV. Auf dem Weg eigener Nachdenklichkeit
auf die Artikulation des »Grundsinnes« der transzendental-konstitu tiven Phänomenologie. Liest man diesen Aufsatz im Lichtschein des »wertvollen«52 »Entwurfs einer VI. Meditation«, mit dessen Studium Husserl noch bis Ende Januar 1934 beschäftigt war, so kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Husserl die tiefgreifende Verwandlung des Grundsinnes seiner Phänomenologie, die, wie Fink später bestätigt hat, »bei aller Nähe zu Husserls Philosophie« grund sätzlich »durch den Vorblick auf eine me-ontische Philosophie des absoluten Geistes bestimmt«53 gewesen war, nicht wahr- oder zumin dest nicht genügend ernstgenommen habe. Es würde einem geradezu nicht schwerfallen, in dieser Perspektive Finks Kantstudien-Aufsatz als eine an Husserls reine Bewusstseinsphänomenologie zumindest indirekt gerichtete »Kritik« zu lesen. Wenn es sich um »die Freilegung der konstituierenden Tiefenschichten des transzendentalen Lebens« handelte, zögerte Fink nicht, zu behaupten: »Und erst hier wird nicht nur der Sinn des ›Bezugs‹ zwischen Welt und transzenden taler Subjektivität voll erkennbar, sondern auch die aktintentionale Analytik des transzendentalen Lebens als eine notwendige, aber zu überwindende Zwischenstufe. Der Übergang von der vor-läufigen aktintentionalen Auslegung der Subjektivität zur Erhellung des konstituierenden Wesens der Intentionalität vollzieht sich vor allem als eine Ausweisung des produktiven Charakters der trans zendentalen Intentionalität. Damit wird der Gegensatz betont zur gegebenen, innerweltlichen Intentionalität«54. Dennoch möchten wir uns nicht von dem Gedanken leiten lassen, dass Finks Versuch, in einer 1934 in »Die Tatwelt« veröffentlichten kurzen Schrift, »Was will die Phänomenologie E. Husserls?«55, die spezifische Eigenart der »phänomenologischen Grundlegungsidee« herauszuarbeiten – genauso wie zuvor schon seine Hervorhebung Brief Edmund Husserls an Felix Kaufmann vom 5. I. 1934, in: Edmund Husserl. Briefwechsel. Band IV. Die Freiburger Schüler. In Verbindung mit Elisabeth Schuhmann herausgegeben von Karl Schuhmann. Husserliana Edmund Husserl Dokumente Bd. III.IV, Kluwer, Dordrecht/Boston/London, 1994, S. 201. 53 Eugen Fink, »Entwurf eines Vorwortes« zu: VI. Cartesianische Meditation. 1. Teil: Die Idee einer transzendentalen Methodenlehre, a.a.O., S. 183. 54 Eugen Fink, »Die phänomenologische Philosophie E. Husserls in der gegenwärti gen Kritik«, a.a.O., S. 142–143. 55 Eugen Fink, »Was will die Phänomenologie Edmund Husserls?«, zuerst in: Die Tatwelt X (1934), S. 15–32; jetzt in: Studien zur Phänomenologie 1930–1939, a.a.O., S. 157–178. 52
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IV. Auf dem Weg eigener Nachdenklichkeit
des »Grundsinnes der Phänomenologie« im Kantstudien-Artikel oder seine Explikation des spezifischen Sinnes des »konstitutiven Idealis mus« am Schluss der »VI. Meditation« – nicht Husserls volle Auf merksamkeit nach sich gezogen hätte. Dort hieß es: »Die gemeinhin übliche Interpretation der Husserlschen Phänomenologie sich in die Vorstellung einer bestimmten deskriptiven, und dann auch sich durch ›Wesensschau‹ logifizierenden Methodik verrannt. Eine bloße Haltung der sorgsamen Deskription und Wesensgesetze fixierenden Intuition, die auf alles und jedes Seiende anwendbar ist, ist keine Philosophie. Gewiß ist die Phänomenologie eine ›Methode‹, aber die Methode der radikalisiertesten Selbstbesinnung, der Selbstbehaup tung und Selbstverwirklichung des Geistes in der Aufschließung seiner eigenen transzendentalen Lebenstiefe«56. Und weiter: »Die Phänomenologie unternimmt keine Weltinterpretation im Rückgang auf das selbst in der Welt seiende Bewußtsein des Menschen von der Welt; ein solcher Ansatz würde notgedrungen zu einer ›Imma nenzphilosophie‹, zu einem ontischen ›Subjektivismus‹ führen. Davon aber ist die Phänomenologie weit entfernt«57. In einem Umfeld, das vorwiegend durch die Vormachtstellung, die die Existenzialana lytik des Daseins einnahm, sowie zusätzlich durch die Resonanz, die die hermeneutische Lebensphilosophie Diltheyʼscher Herkunft inzwischen bekommen hatte, geprägt wurde, war es gar nicht verwun derlich, dass Fink auf die äußerste existentielle Ergriffenheit insistierte, mit der eine Form »reiner Selbstbesinnung« in die Wege geleitet werden sollte, vermöge der »der Geist mit sich die Grunderfahrung der Selbstentdeckung seines unversehrten eigenen Wesens mache«. »Der Geist holt sich aus seiner Weltverlorenheit und Selbstentfrem dung zurück«. Und gerade diese »Rückkehr des Geistes aus seinem weltlichen ›Außer-sich-Sein‹ zu sich selbst« stelle nach Fink »das Grundgeschehen der Philosophie« dar58. »Der Geist wird dadurch in der »konkreten« Tiefe seiner Weltgeltung bildenden Existenz entdeckt«59. Unleugbar wurde in solchen Sätzen, die dem TatweltAufsatz entnommen sind, das Thema einer »existenzialen Entwurfsi tuation« der transzendental phänomenologischen Reduktion, das Fink
56 57 58 59
Ebd., S. 174. Ebd., S. 174–175. Ebd., S. 173. Ebd., S. 171.
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IV. Auf dem Weg eigener Nachdenklichkeit
bereits in seiner Dissertation gestreift hatte60, mit unverminderter Energie weiter ausgesponnen. Noch bevor er im Juni 1933 das »Vorwort« zu Finks Kantstu dien-Aufsatz verfasste, empfing Husserl von Daniel Martin Feuling das ihm am 7. März 1933 persönlich gewidmete Heft »La phénomé nologie«, das die Akten der 1932 in Juvisy gehaltenen »Journées d’étu des de la Société Thomiste« enthielt61. Aus den Kongressverhandlun gen wurde darin auf S. 103 eine Bemerkung seiner früheren Assistentin Edith Stein zitiert: »Bei der Interpretation der Phänome nologie durch Dr. Fink ist zu bedenken, dass er Husserls Einwirkung erst in den letzten Jahren erfahren hat, nachdem das Idealismuspro blem zentral geworden war; dass er selbst auch durch Heideggers Schule hindurchgegangen ist, ausserdem durch Fichtesche und Hegel sche Ideen bestimmt«62. Da beeilte Husserl sich, seinen jungen Mit arbeiter in Schutz zu nehmen. Pater Feuling, der ihm das Sonderheft der »Société Thomiste« zugeschickt hatte, teilte er am 30. März 1933 mit: »Berichtigen muss ich was meine hochbegabte Schülerin und Freundin, Fräulein Dr. Edith Stein, über Dr. Fink sagt. Sie selbst war auch – eineinhalb Jahr lang – meine Assistentin, aber damals noch Anfängerin. Nie habe ich mich ihr gegenüber in dem Maße aus gesprochen, ihr so systematische Erziehungsarbeit angedeihen lassen wie Dr. Fink. Dieser ist nun das 5. Jahr in fast täglichem Konnex mit mir; alle meine gedanklichen Entwürfe (alte und neue) und Horizonte habe ich mit ihm durchgesprochen, und wir denken gemeinsam, wir sind gleichsam zwei kommunizierende Gefäße. Er war hier zwar auch einige Semester Professor Heideggers Hörer, also sein akade mischer Schüler, nie aber sein Schüler im philosophischen Sinn. Und ebensowenig je ›Hegelianer‹. Es wäre ganz verkehrt zu meinen, dass durch ihn neue, dem konsequenten Gedankenzuge meiner früheren 60 Siehe: Eugen Fink, Vergegenwärtigung und Bild. Beiträge zur Phänomenologie der Unwirklichkeit (1. Teil), a.a.O., S. 14–15: »Die Reduktion wird zum je-meinigen Gang in den absoluten Ursprung«. 61 Siehe: Karl Schuhmann, Husserl-Chronik. Denk- und Lebensweg Edmund Hus serls, a.a.O., S. 427; »La phénoménologie«, in: Journées d’études de la Société Tho mise, Juvisy le 12 septembre 1932. Éditions du Cerf, Juvisy 1932. Siehe ebenfalls Hus serls Brief an Daniel Martin Feuling vom 30. III. 1933 (Abschrift), in: Edmund Husserl, Briefwechsel. Band VII: Wissenschaftlerkorrespondenz. In Verbindung mit Elisabeth Schuhmann herausgegeben von Karl Schuhmann. Husserliana Dokumente Bd. III.VII. Kluwer, Dordrecht/Boston/London, 1994, S. 87, Anm. 1. 62 Ebd., S. 89, Anm. 4.
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IV. Auf dem Weg eigener Nachdenklichkeit
Entwicklung fremde Gedankenmotive auf mich wirksam geworden seien. Die konstitutive Phänomenologie, seitdem sie zum ersten rei nen Selbstbewusstsein ihres methodischen Sinnes durchgebrochen ist (1905 mit der phänomenologischen Reduktion), hat ihre absolut eigene Konsequenz, ähnlich wie die neuzeitliche exakte Physik seit Galilei. Was also Dr. Fink sagt, und nur er, ist absolut authentisch, und wenn er (aufgrund meiner Schriften und Manuscripte) über die Entwicklungsstufen der Phänomenologie spricht, so hat das unbe dingten Vorzug gegenüber allem, was meine früheren Hörer sagen können – so vortreffliche, aber nun eigene Wege gehende Denker sie geworden sind, und so redliche Kritiker (als liebe alte Freunde). Es nützt nicht sehr viel, Thomismus, Kantianismus, Hegelianismus etc. miteinander und mit dem konstitutiven Idealismus zu konfron tieren. Arbeit und Leistung vor allen Standpunkten!«63 Die Äuße rungen E. Steins dürften Husserl mit dazu bewegt haben, in dem kurz darauf, im Juni 1933 verfassten »Vorwort« zum Kantstudien-Artikel die Einwürfe im Vorfeld schon zu entschärfen, die gegebenenfalls gegen Finks Ausführungen geltend gemacht werden könnten. Diese Vorgänge rücken die wahre Natur der Mitarbeit Eugen Finks ins rechte Licht. In seiner am 1. Juni 1945 verfassten »Politischen Geschichte meiner wissenschaftlichen Laufbahn« äußerte Fink sich darüber wie folgt: »Diese Mitarbeit sich von der untergeord neten Assistenten-Tätigkeit bald zu einer selbständigen, von Husserl als solche immer wieder anerkannten produktiven Zusammenarbeit gesteigert. Husserl, der weit davon entfernt war, sich in mir einen Paradeschüler zu erziehen, hat meine Mitarbeit vor allem wegen ihrer stark kritischen Tendenz geschätzt. Husserl hat meine geistige Selbständigkeit gerade dadurch anerkannt, dass er immer wieder mei nen produktiven Widerspruch und meine Kritik suchte, die er als Sti mulanz zur Objektivierung seiner schöpferischen Gedanken brauchte. In dieser Zeit, in der Husserl die Ernte seines langen Forscherlebens einzubringen versuchte, habe ich für ihn gleichsam als geistiger Katalysator gewirkt.«64 63 Brief Edmund Husserls an Daniel Martin Feuling vom 30. III. 1933, a.a.O., S. 89– 90. 64 Eugen Fink, »Politische Geschichte meiner Wissenschaftlichen Laufbahn. Frei burg, 1. Juni 1945«, in: Axel Ossenkop, Guy van Kerckhoven, Rainer Fink, Eugen Fink 1905–1975. Lebensbild des Freiburger Phänomenologen. Karl Alber, Freiburg/ München, 2015, Bilder Nr. 510–515.
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V. Eine folgenschwere Entscheidung: Finks »Weg ins Freie«
Zwischen »produktivem Widerspruch« und »eigenem Weiterdenken« oszillieren somit viele im vorliegenden dritten Teilband der »phäno menologischen Werkstatt« gesammelte Dokumente. Vor allem auf den »produktiven Widerspruch« zu Husserl richteten außer Edith Stein insbesondere auch Jan Patočka und Ludwig Landgrebe ihre Aufmerk samkeit, wie aus den im 2. Teilband enthaltenen Dokumenten bereits mit aller Deutlichkeit hervorgegangen ist. An dieser Stelle möchten wir kurz auf die Rezension des Kantstudien-Aufsatzes hinweisen, die Jan Patočka 1934 in der Zeitschrift Česká mysl veröffentlicht hat. Denn sie enthält eine in unseren Augen wichtige Bemerkung über die grundlegenden philosophischen Absichten, die Fink verfolgen möchte. »Zur Metaphysik der Reduktion«, so notierte Patočka, »gehört sub specie ›absolut‹ eine mundane Unbegründbarkeit der Reduktion. Es gibt nach Fink keine ausreichende menschliche Begrün dung, die zur Reduktion führen würde. So ist die Reduktion nach sei ner Ansicht ein fortschreitender Akt des Selbstverständnisses des Abso luten«. Und er fuhr weiter: »Das ist etwas, das natürlich an Hegel erinnert, wie man auch bei anderen Auslegungen Finks an Hegel denkt (die konstitutive Auslegung hat so bei ihm den Charakter einer Krea tion, keinesfalls den der Rezeptivität usw.)«. Und er beschloss: „ In Finks Ausführungen eine gewisse Zweideutigkeit, die kritisch untersucht werden müsste, damit die Beziehungen zwischen Hegel und Husserl ins rechte Licht gerückt würden. Die Selbsterkenntnis des Absoluten kann, aber muss nicht zugleich absolute Erkenntnis sein. Ist es Fink tatsächlich gelungen, überall den Intentionen seines Meis ters treu zu bleiben, wenn dieser in verschiedenen Aussagen die unausweichliche Relativität jeder noetischen Anstrengung betont?«65
65 Jan Patočka, Rezension von Eugen Fink, Die phänomenologische Philosophie E. Husserls in der gegenwärtigen Kritik, in: Česká mysl, 30. 4. 1934 (16), S. 239–240; deutsche Übersetzung von Michael Heitz und Bernhard Nessler in: Eugen Fink – Jan
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V. Eine folgenschwere Entscheidung: Finks »Weg ins Freie«
Mit dieser scharfsinnigen Bemerkung sind die »Fragen und Ein wände« gleichlautend, die Ludwig Landgrebe brieflich aus Prag im April 1934 Fink zugehen ließ und die »das Resultat intensiver Dis kussionen mit Patočka« bildeten.66 Gerade zu der von Jan Patočka geforderten »kritischen Untersuchung« der Zweideutigkeit gewisser Ausführungen Finks mit Bezug auf den genauen Status des transzen dental-phänomenologischen Erkennens dürfte die Edition vor allem des 3. Teilbandes einen Beitrag leisten. Übrigens war die von Husserl gestiftete Arbeitsgemeinschaft mit seinem jungen Mitarbeiter keine ungetrübte Idylle. Als die Aussicht auf eine schnelle Veröffentlichung der erweiterten deutschen Cartesianischen Meditationen dahin schwand und die Drucklegung des XII. Bandes des Jahrbuches, der den II. Teil der Studie »Vergegenwärtigung und Bild« bringen sollte, sich immer weiter verschob, kam es in den Märztagen des Jahres 1933 zwischen Husserl und Fink zu einem der, wie Husserl es formulierte, »bekannten Ausbrüche der Enttäuschung«67. Offensichtlich neigte Fink dazu, »die große Sache«, die Husserl ihm anvertraut hatte, »durch Mutlosigkeit preiszugeben«68. Wie aus einem Antrag, den Fink im Juli 1933 an die Hohe Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft richtete, hervorgeht, empfand er seine wirtschaftliche Lage als »bedrückend und hoffnungslos«69. Seinen Mitarbeiter beschwor Hus serl allerdings wiederum, die »törichte, Ihrer nicht würdige Verzweif lung« von sich »abzuschütteln«70. Dichter Nebel umgab allerdings die Fink anvertraute Veröffentlichung im Jahrbuch des ersten Teils der »Forschungen zur Phänomenologie der Zeit«, der sich sachlich an die von M. Heidegger herausgegebenen »Vorlesungen zur Phänomenolo gie des inneren Zeitbewusstseins« anschließen sollte. Als Husserl Anfang Juni 1934 zu einem Landaufenthalt für den ganzen Sommer
Patočka, Briefe und Dokumente 1933–1977. Karl Alber, Freiburg/München, 1999, S. 40. 66 Siehe dazu: Ludwig Landgrebes Brief an Edmund Husserl vom 6. April 1934, in: Edmund Husserl, Briefwechsel. Band IV, a.a.O., S. 326. 67 Siehe dazu: Edmund Husserls Brief vom 6. III. 1933, in: Edmund Husserl, Brief wechsel. Band IV, a.a.O., S 91. 68 Ebd., S. 90. 69 Siehe: Eugen Fink, »Anträge und Berichte an die Hohe Notgemeinschaft der Deut schen Wissenschaft 1933 und 1934. Antrag vom 17. Juli 1933«, in: EFGA 3.2, S. 446. 70 Siehe: Edmund Husserls Brief an Eugen Fink vom 6. III. 1933, in: Edmund Hus serl, Briefwechsel. Band IV, a.a.O., S. 92.
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V. Eine folgenschwere Entscheidung: Finks »Weg ins Freie«
nach Kappel bei Lenzkirch aufbrach71, um dort »den Entwurf Assistenten nach Manuskripten und Gesprächen« zum »I. Band eines philosophischen Grundwerkes über Zeit und Zeitigung« in aller Ruhe selbst überarbeiten zu können72, und nun Fink dorthin einlud, kam es erneut zu einer schweren Vertrauenskrise zwischen Meister und Schüler. Fink kam die Aussicht, den ganzen Sommer an einer Rein ausarbeitung der ersten Hälfte der Schrift über die Zeit gefesselt zu bleiben, wie »die traurigste Zeit Lebens« vor73. Vor allem warf er Husserl vor, an die ihm bislang unterbreiteten Texte immer wieder »Umformungen« vorzunehmen74, die den Sinn des darin hin terlegten Grundgedankens wiederum verunstalteten. Daraufhin traf Husserl eine im Hinblick auf seine künftige Zusammenarbeit mit Fink weittragende Entscheidung: »Ich verzichte überhaupt noch an dem Werke über die Zeit mitzuarbeiten. Ich gedenke es erst nach dem Drucke zu lesen, es wird also ausschließlich Ihr Werk sein «75. Diese von Husserl am 21. Juli 1934 getroffene Entscheidung ver fehlte ihre Auswirkung nicht. Aus den erhaltenen Arbeitsplänen für den Herbst 1934 von Finks Hand geht hervor, dass eine »erste Samm lung und Bestandsaufnahme und Vergewisserung der Stromrichtung des eigenen Denkens« sich zu einem Arbeitsprojekt mit dem Titel: »System der Philosophie im Grundriß« verdichteten. Gleichzeitig häuf ten sich die Gedankenentwürfe zu einer Habilitationsschrift über »Weltbewusstsein und Welt« bzw. über »Weltbewusstsein und Welt ganzheit«76. Wenn die Frage gestellt werden sollte, wann Finks »Weg ins Freie«77 begann, so kann darauf heute geantwortet werden, dass es wohl in den Julitagen des Jahres 1934 gewesen sei, wenige Wochen bevor Husserl in Kappel vom internationalen Komitee des VIII. Inter 71 Siehe: Karl Schuhmann, Husserl-Chronik. Denk- und Lebensweg Edmund Hus serls, a.a.O., S. 447. 72 Siehe: Edmund Husserls Briefe an Dietrich Mahnke vom 31. XII. 1933 und vom 8. I. 1934, in: Edmund Husserl, Briefwechsel. Band III: Die Göttinger Schule. In Ver bindung mit Elisabeth Schuhmann herausgegeben von Karl Schuhmann. Husserliana Dokumente Bd. III.III. Kluwer, Dordrecht/Boston/London, 1994, resp. S. 512 und S. 515. 73 Siehe: Edmund Husserls Brief an Eugen Fink vom 21. VII. 1934, in: Edmund Hus serl, Briefwechsel. Band IV, a.a.O., S. 93. 74 Ebd., S. 94. 75 Ebd., S. 94. 76 EFGA 3.2, Z-XIV/II/1a-b, S. 252 und Z-XV/105a, S. 308. 77 Eugen Fink, »Die Spätphilosophie Husserls in der Freiburger Zeit«, in: Nähe und Distanz, a.a.O., S. 225.
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V. Eine folgenschwere Entscheidung: Finks »Weg ins Freie«
nationalen Kongresses für Philosophie in Prag dazu eingeladen wurde, sich brieflich »über die gegenwärtige Aufgabe der Philoso phie« zu äußern78.
78 Karl Schuhmann, Husserl-Chronik. Denk- und Lebensweg Edmund Husserls, a.a.O., S. 449.
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VI. Hegels ›Phänomenologie‹ als Leitfigur: Ein »Fenster ins Absolute«
Es ist das große Verdienst des von Ronald Bruzina herausgegebenen 2. Teilbandes der »Werkstatt«, dass er uns zum ersten Male gestattet, einen Blick hinter die Kulissen der »VI. Meditation« und des Kantstu dien-Aufsatzes zu werfen. Denn damit gewinnen wir ein konkretes Bild von den »operativen« philosophischen Begriffen, die Fink in die sen Jahren verwendet hat und die, wie seine nächsten Kollegen fest gestellt haben, nicht »unzweideutig« auf den Spuren der transzen dentalen Phänomenologie Husserls wandelten. Im Hintergrund stand in der Tat, wenn es sich um eine mögliche Zurückleitung der »aktin tentionalen Analyse« in die »Tiefendimensionen des konstituieren den transzendentalen Lebens« handelte, für Fink als Leitgestalt die Figur Hegels. Seit er im WS. 1930/31 das sogenannte »Japaner-Semi nar« übernommen hatte, an dem Tomoo Otaka, Jisho Ushui, Mayumi Haga und Goîchi Miyake teilnamen79, hatte Fink die »Vorrede« Hegels zur »Phänomenologie des Geistes« zum Gegenstand seiner Unterre dungen und Seminarübungen gewählt. Im gleichen Semester (Winter 1930/31) hörte er die Vorlesungen Heideggers über Hegels Phäno menologie.80 Die innere Motivation, die ihn zu einer durchaus umsich tigen Anlehnung an Hegel bewegte, hat Fink auch in aller Klarheit ausgesprochen: »Hegel von der Phänomenologie Husserls zu inter pretieren heißt nicht, aus der Phänomenologie des Geistes eine Ana lytik des Bewusstseins zu machen«. Und weiter: »Für Hegel wie Hus serl handelt es sich um die Grundlegung der Philosophie im Absoluten. Die Bestimmungen des ›Absoluten‹ bei Hegel als ›Ver nunft‹, bei Husserl als ›konstituierendes Bewusstsein‹ sind ›spekula tive Bestimmungen‹.«81 Dass Fink den Wegsinn der Phänomenologie 79 Zu dem sogen. »Japaner-Seminar«, siehe: EFGA 3.2, Z-VIII, S. 71f.; zu den »OtakaStunden«: ebd., Z-VII, S. 3f.; zum »Japaner-Vortrag«: ebd., Z-VII/Reihe XVI, S. 28 sowie Anm. 20. 80 Siehe: die »Beschreibung« des Heftes Z-VIII in, ebd., S. 71. 81 Ebd., Heft Z-VIII/2c-d, S. 72.
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VI. Hegels ›Phänomenologie‹ als Leitfigur: Ein »Fenster ins Absolute«
Husserls analog zu Hegels Aufstieg vom »endlichen zum unendlichen Erkennen« auffasste, und zwar als Einbruch in »das Geheimnis der Weltschöpfung«82, deutet erneut darauf hin, dass der von ihm ins Auge gefasste »existenziale Reduktionsentwurf« eine ungeheure Radikalisierung der ursprünglichen Husserlʼschen Konzeption des Reduktionsverfahrens beinhaltete. »Philosophie«, so notierte er sich, »ist das Durchbrechen des Weltgefängnisses, das Über-das-SeinHinauskommen, ist der große Exzess des Menschen in Gott«83. Und korrelativ sei »die konstitutive Phänomenologie Husserls« nach sei ner Ansicht ein »Ansatz, die Versprechungen einzulösen, die der Deutsche Idealismus gegeben hat. Die Konstitution der Welt aufzu hellen, ist nach Husserls Wort: ›Gott das Geheimnis der Weltschöp fung abzulauschen‹«84. Aus dem weiteren Umfeld der im 2. Teilband veröffentlichten Arbeitsnotizen geht weiterhin hervor, dass der junge Assistent im Laufe seiner Ausführungen auch Hegels »Logik« und die »Encyclopedie« in Betracht gezogen hat. Diese ungemeine Radikalisierung des phänomenologischen Vor habens führte gleichzeitig zu einer Neubestimmung der »natürlichen Einstellung« im Sinne einer »Weltbefangenheit« des menschlichen Lebens. »Zur Weltbefangenheit«, so erläuterte Fink seinen Grundge danken, »gehört als ein Moment: die Eingefangenheit in die Natur, die Unterworfenheit in den Waltungszusammenhang des Kosmos: die kosmische Selbstapperzeption: die Eingelassenheit in das Seiende, Überlassenheit an die Welt, die Verlassenheit: das Außersichsein«85. Und dieses »Außersichsein« bedeutete ihm nichts Geringeres als eine »Entstellung des Absoluten«, als »Selbstabsturz, Sichanderswerden« des Geistes, als die Stunde seiner »Knechtschaft«86. In diesen Boden einer »ontogonischen Metaphysik« hat Finks »kosmologisches Denken« offensichtlich seine ersten Wurzeln geschlagen. Die Grundidee der Phänomenologie, die ihm, wenn auch zunächst noch im Verborgenen, zum Leitfaden diente, war »keine Bewußtseinsphilosophie« mehr, »sondern, wenn man so will, Metaphysik«87. Aber, so fügte er gleich hinzu, »keine Metaphysik alten Stils«88. Denn die Geschichte der 82 83 84 85 86 87 88
Ebd., Heft Z-VIII/2d, S. 72. Ebd., Heft Z-VII/Reihe XIV/11a, S. 26. Ebd., Heft Z-VII/Reihe XXI/ 10a, S. 61. Ebd., Heft Z-XI/82a, S. 170. Ebd., Heft Z-XI/83a, S. 170. Ebd., Heft Z-XI/39a, S. 151. Ebd.
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VI. Hegels ›Phänomenologie‹ als Leitfigur: Ein »Fenster ins Absolute«
Metaphysik sei durch die Methode der Reduktion auf entscheidende Weise zäsuriert worden. »Philosophie die Methode des Wis sens zum Absoluten zu kommen«89. Und diese Methode impliziere, dass die Gegenstandskonstitution durch die Weltlichkeitskonstitu tion überholt werde, und diese wiederum neu konzipiert werde im Lichte der »Selbstkonstitution« als »Entstellung« des Absoluten. Nach diesen Ausführungen dürfte es nicht wundernehmen, dass Fink auch die unausweichlich gewordene Konfrontation der transzenden talen Phänomenologie Husserls mit den ontologischen Einsichten, zu denen die von Heidegger in die Wege geleitete »Hermeneutik der Faktizität« vorgedrungen war, in Zukunft nach dem Vorbild der »Differenz-Schrift« Hegels zu gestalten gedacht90. Aus dem eingehenden Studium der in der Mappe Z-XV des 2. Teilbandes gesammelten Arbeitszettel (»Mosaik, 1930–1935«) kann man mit Behutsamkeit schließen, dass Fink im Vorfeld zwei Ange bote, um Husserls intentionale Analytik reiner Bewusstseinserleb nisse grundsätzlich zu reformieren, abgelehnt hat: »Wohl kann man die phänomenologische Analytik des reinen Bewusstseins (im Mißverständnis des transzendentalen Wortsinnes ›Bewusstsein‹) auswerten als eine in umgreifende ontologische Horizonte einzustel lende Wesenslehre bestimmter Bewusstseinsstrukturen, somit bestimmter Weisen des existenzial ganzheitlich voranalysierten ›Daseins‹. Aber damit hat man sie um ihre philosophische Bedeutung gebracht. D.h. soviel wie einen Diamanten als Backstein benützen«91. Andererseits hielt Fink Husserls Versuch, die Problematik der perso nalen Welt mit den Mitteln der intentionalen Analyse bewältigen zu wollen, für ein »Selbstmißverständnis«92. »Intentionalität« sei näm lich prinzipiell kein personaler, sondern ein konstitutiver Begriff und führe zur Einsicht in das Wesen des Menschen als »intentional-kon stitutives Resultat«, d.h. als »Verendlichung«, als »Entnichtung« zur Existenz »des Absoluten«93, als »Weltsturz Gottes«94. Damit griff Fink wieder auf den im Kantstudien-Aufsatz ins Feld geführten Begriff einer »transzendentalen Intentionalität« zurück, an deren Eigenart man gar nicht mit »ontischen Begriffen« herankommen kann. 89 90 91 92 93 94
Ebd., Heft Z-XI/39a, S. 151–152. Ebd., Heft Z-XIV/Reihe II/1b, S. 252. Ebd., Heft Z-XV/57a, S. 289. Ebd., Heft Z-XV/63a, S. 291. Ebd., Heft Z-XV/49b, S. 285. Ebd., Heft Z-XV/110a, S. 310.
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VI. Hegels ›Phänomenologie‹ als Leitfigur: Ein »Fenster ins Absolute«
Wir haben nunmehr das Triebwerk einer potentiell »spekulati ven« Bestimmung der transzendentalen Phänomenologie freigelegt. Diese ist das Merkzeichen der gesamten frühen phänomenologischen Beiträge, die Fink mit seinem Namen unterschrieben hat, und die inzwischen in »Nähe und Distanz« sowie in den »Studien zur Phäno menologie 1930–1939« veröffentlicht worden sind.
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VII. Der »Grundriß eines Systems der Philosophie«
Nun breitet sich vor unseren Augen die philosophische Landschaft aus, die dank der Arbeitsnotizen des 3. Teilbandes der »Phänomeno logischen Werkstatt« bis in ihre verborgenen Winkel sich vor uns auf tut. Dass sich darin ein »anderes Gepräge« der Phänomenologie tat sächlich abzuzeichnen begann, hat auch der Japanische Kollege Hasime Tanabe bemerkt, der am 12. Juni 1934 auf die Veröffentli chung von Finks Tatwelt-Artikel: »Was will die Phänomenologie Edmund Husserls?« reagierte.95 Als besonders aufschlussreich emp fand er, dass Fink den »paradoxen, oder dialektischen Anfang der Phä nomenologie« herausstellte und damit die Phänomenologie als eine »den Ursprung der Welt konstitutiv entdeckende Geistesphilosophie« ans Licht rückte. Und Tanabe fuhr fort: »Aber Ihre Leistung ist nicht bloße Aufklärung über die Phänomenologie Husserls. Wenn ich nicht irre, haben Sie durch Ihre Bildung in der klassischen Philosophie, besonders Hegels, sowohl als in der gegenwärtigen Philosophie, besonders Heideggers, die Phänomenologie zur radikalen Grundle gung gefördert. Unser Meister als Gründer der neuen Wissenschaft hat nie selbst eine so klare Einsicht in seine Wissenschaft geäußert. Man könnte sagen, Sie , eine neue Epoche der Phänomenologie .«96 Auch Gaston Berger entging nicht die besondere Bedeutung, die Finks Tatwelt-Aufsatz »über die phänomenologische Grundlegungs idee« besaß, in dessen Ausführungen den Lesern von neuem eine Skizze eines künftigen systematischen Hauptwerkes der phänome nologischen Transzendentalphilosophie vor Augen geführt wurde. Am 14. August 1934 fuhr er gemeinsam mit Fink nach Kappel zu
95 Brief Hasime Tanabes an Eugen Fink vom 12. Juni 1934, in: Axel Ossenkop, Guy van Kerckhoven, Rainer Fink, Eugen Fink 1905–1975, a.a.O., Bilder Nr. 281–283. 96 Ebd.
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VII. Der »Grundriß eines Systems der Philosophie«
einem Besuch bei Husserl97. In der Kurzanzeige, die der Philosoph aus Marseille daraufhin in den Études philosophiques veröffentlichte98, betonte er »tout ce qu’il y a de tendu et d’extrême de distinguer soigneusement le moi ›mondain‹ de la subjectivité pure qui n’est pas dans le monde«. Diese Anspannung entsprang nach seiner Meinung aus der »beständigen Sorge«, um die Phänomenolo gie von jenen philosophischen Versuchen fernzuhalten, »dont on la rapproche illégitimement, comme la psychologie intentionnelle de Brentano, les essais de Dilthey pour déterminer l’esprit à partir des sciences morales, ou ceux de l’école de Marbourg pour y parvenir en s’appuyant sur le ›fait‹ de la science«99. Diesem neuartigen Gestaltungswillen der Phänomenologie sollte durchaus auch dann Rechnung getragen werden, wenn wir uns den Plänen für ein »systematisches Werk« zuwenden, wie sie sich im Herbst des Jahres 1934 gefestigt haben. Denn Finks eigene Skizzen standen unter dem Vorzeichen eines »Systems des sich vollendenden Geistes«100, während die »Gliederung der phänomenologischen Arbeit«, wie sie am Schluss des Tatwelt-Aufsatzes skizziert wurde101, eher in Zusammenhang mit dem »Bericht über Husserls unveröffent lichte Manuskripte« und mit der »Übersicht über den Hauptinhalt von E. Husserls unveröffentlichten Manuskripten« gebracht werden müsste, die Fink in Husserls Auftrag verfasst und in der Sammlung »Gram mata« untergebracht hat, die im vorliegenden 3. Teilband aufgenom men worden ist102. Seit Oktober und November 1933 ordnete und durchdachte Husserl seinen Nachlass, wie er seinem polnischen Kol legen Roman Ingarden mitteilte103. Und an diesem Ordnen und 97 Siehe: Karl Schuhmann, Husserl-Chronik. Denk- und Lebensweg Edmund Hus serls, a.a.O., S. 449. 98 Gaston Berger, Kurzanzeige von: »Eugen Fink, Was will die Phänomenologie Edmund Husserls?«, in: Études philosophiques (8) 1934, S. 44–45; vgl. Axel Ossenkop, Guy van Kerckhoven, Rainer Fink, Eugen Fink 1905–1975, a.a.O., Bild Nr. 292. 99 Ebd., S. 45; a.a.O., Bild Nr. 292. 100 EFGA 3.2, Z-XIV/V/3a, S. 255. 101 Eugen Fink, »Was will die Phänomenologie Edmund Husserls?«, a.a.O., »III. Der Problemraum der phänomenologischen Philosophie«, S. 177–178. 102 EFGA 3.3, M-III Grammata, Texte Nr. 2 und 3. 103 Brief Edmund Husserls an Roman Ingarden vom 2. XI. 1933, in: Edmund Husserl, Briefwechsel. Band III: Die Göttinger Schule. Herausgegeben in Verbindung mit Elisa beth Schuhmann von Karl Schuhmann. Husserliana, Edmund Husserl Dokumente Bd. III.III. Kluwer, Dordrecht/Boston/London, 1994, S. 292. Vgl. dazu die vorangegangen Briefe Husserls vom 11.VI. 1932 und vom 11.X. 1933, a.a.O., S. 287 und S. 291.
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VII. Der »Grundriß eines Systems der Philosophie«
Durchdenken beteiligte sich Fink aktiv, indem er Husserl im Oktober 1933 seine »Übersicht« vorlegte. Das Einteilungsprinzip, das Fink sowohl in seiner »Übersicht« als auch in seinem »Bericht« anwendete, war übrigens das gleiche: Die jeweiligen Manuskriptgruppen sollten entweder der mundanen (vorphilosophischen) oder der transzenden tal-konstitutiven, eigentlich philosophischen Ebene zugeordnet wer den. Für die durch die transzendentale Reduktion transzendentalphänomenologisch verwandelten Probleme der Metaphysik: Teleologie, Ethik, Theologie, sowie für die Probleme der auf sich selbst bezogenen Philosophie sollten zwei weitere Abteilungen vorbehalten werden. Bedeutsam sind unseres Erachtens insbesondere die Divergenzen, die man zwischen Finks eigenem Systementwurf und der in Husserls Auftrag ausgearbeiteten »Gliederung der phänomenologisch-konsti tutiven Forschungen« wahrnehmen kann. Während letztere die onto logisch vorgegebene Gliederung des Seienden nach Regionen zum Leitfaden wählte, enthielt Finks Dreiteilung eines »Systems der Philo sophie im Grundriß« in: »Kosmologie, Phänomenologie des Geistes und Ontogonie (Theologie)«104 keinen Verweis mehr auf irgendeine regionale Weltgliederung. »Welt«, so notierte er sich nämlich, „ als das Ganze des Seienden der All-Enthalt« und ist »weder in naturaler noch geistesgeschichtlicher (historischer) Einstellung fixierbar«105. Aber auch Heideggers »existenzialer Weltbegriff« sei »keineswegs der eigentlich kosmologische, ist auch nicht ursprünglicher«106 als der »bloß geisteswissenschaftliche Begriff der Welt«. »Welt ist, das zu zeigen ist die Aufgabe der Kosmologie, ein an sich bestehender reiner Enthalt«, und »unabhängig von der binnenweltlichen Faktizität des Subjekts«107. Gerade die von Fink ins Auge gefasste »Kosmologie« als ein I. Teil des »Systems der Philosophie« machte sich zur Aufgabe, »die unnaturalistische (›unvorhandene‹) Subjektivität in ihrer weltlichen Seinsweise«108 ins Visier zu bekommen. »Die Unvoll endetheit des Geistes in der Welt, sein fragmentarisches Dasein, die Wirklichkeit seiner Entstellung, ist keine ontologisch-kosmolo gisch demonstrierbare Tatsache«, sondern laut Fink »das spekulative 104 105 106 107 108
EFGA 3.2, Z-XIV/V/4a und V/3a, S. 255. Ebd., Z-XIV/II/2a, S. 252. Ebd., Z-XIV/II/2b, S. 253. Ebd., Z-XIV/Reihe VIII/2a, S. 260–261. Ebd., Z-XIV/IX/2b, S. 262.
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VII. Der »Grundriß eines Systems der Philosophie«
Faktum schlechthin, d.h. eine me-ontische Wahrheit«109. Das Pathos, das die Kosmologie beschwingt, sei das einer »Welttapferkeit im Wissen um die Weltgefangenschaft«, das »einer Ergriffenheit vom ›spekulativen Charfreitag‹«110. Eine weitere Darstellung, die erneut auf die philosophische Bedeutung der unveröffentlichten Manuskripte Husserls Bezug nimmt, ist in die Sammlung »Grammata« aufgenommen worden. Sie stammt aus dem Januar 1935111. Weihnachten 1934 weilte Jan Patočka als tschechischer Sekretär des in Prag gegründeten Cercle linguistique in Freiburg112. In Prag wurden Pläne geschmiedet, um Husserl die große Sorge um seinen Nachlass abzunehmen113. Über diese Vor gänge hat Patočka in seinen »Erinnerungen an Husserl« in aller Aus führlichkeit berichtet. Da Patočka im Januar 1935 wieder aus Freiburg abreiste, verfasste Fink ohne Verzögerung seinen kurzen »Bericht über Husserls Manuskripte«. Dieses Mal betonte er »die Methodik inten tionaler Sinnbefragung« der Phänomenologie, die mit der »Deskription der ursprünglichen Lebenswelt, des Menschen in seiner Heimwelt, der vorwissenschaftlichen Erfahrungswelt im intentionalen Sinnaufbau ihrer Geltungszonen, des Menschen in Normalität und Anomalität in allen seinen elementaren und höchst-differenzierten Verhaltungs weisen«114 sich ein neues Sprungbrett für den Einstieg in die trans zendental-konstitutiven Forschungen verschaffe. Kurz darauf, März 1935, bekam Husserl die beglückende Nachricht, dass der Cercle Phi losophique in Prag für ein bis zwei Jahre finanzielle Mittel bereitstel len und Dr. Landgrebe herschicken würde, um eine Bestandsauf nahme des Nachlasses durchzuführen und künftige Publikationen in die Wege zu leiten115. Nicht nur vom Prager Internationalen Komitee, Ebd. Ebd., Z-XIV/Merkzettel/10b, S. 263. 111 EFGA 3.3, M-III Grammata, Text Nr. 4: Edmund Husserls Manuskripte. 112 Karl Schuhmann, Husserl-Chronik. Denk- und Lebensweg Edmund Husserls, a.a.O., S. 455. 113 Jan Patočka, »Erinnerungen an Husserl«, in: Jan Patočka, Texte. Dokumente. Biblio graphie. Herausgegeben von Ludger Hagedorn und Hans Rainer Sepp. Orbis Phae nomenologicus. Quellen Bd. 2. Karl Alber, Freiburg/München und Verlag OIKOY MENH, Prag, 1999, S. 281. 114 Eugen Fink, »Edmund Husserls Manuskripte«, in: EFGA 3.3, M-III Grammata, Text Nr. 4. 115 Brief von Malvine und Edmund Husserl an Gustav Albrecht vom 17. März 1935, in: Edmund Husserl, Briefwechsel. Band IX: Familienbriefe. In Verbindung mit Elisa beth Schuhmann herausgegeben von Karl Schuhmann. Husserliana Dokumente Bd. 109 110
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VII. Der »Grundriß eines Systems der Philosophie«
sondern ebenfalls vom Wiener Kulturbund erhielt Husserl eine Ein ladung zu einem Vortrag116. In der Überarbeitung der Abhandlung, die er zuvor nach Prag abgeschickt hatte, entwarf Husserl eine »wesentlich tiefere geschichtsphilosophische Gedankenreihe«117. Mit dem am 7. Mai 1935 in Wien gehaltenen, wegen des überwältigen Erfolgs dort am 10. Mai 1935 nochmals wiederholten Vortrag: »Die Philosophie in der Krisis der europäischen Menschheit«118 erhielt die »letzte phänomenologische Darstellung«, zu der Husserl sich an sei nem Lebensende durchrang, die endgültige literarische Gestalt geschichtsphilosophischer Reflexionen.
III.IX. Kluwer, Dordrecht/Boston/London, 1994, S. 115. Siehe ebenfalls: Karl Schuh mann, Husserl-Chronik. Denk- und Lebensweg Edmund Husserls, a.a.O., S. 458. 116 Siehe ebenfalls den Brief von Malvine und Edmund Husserl an Gustav Albrecht vom 17. März 1935, a.a.O., S. 115. 117 Siehe Malvine und Edmund Husserls Brief an Gustav Albrecht vom 11. April 1935, a.a.O., S. 117. 118 Karl Schuhmann, Husserl-Chronik. Denk- und Lebensweg Edmund Husserls, a.a.O., S. 461–462. – Siehe die »Abhandlung«: Edmund Husserl, »Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie«, in: Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Ein leitung in die phänomenologische Philosophie. Herausgegeben von Walter Biemel. Husserliana Edmund Husserl Gesammelte Werke Band VI. M. Nijhoff, Den Haag, 1962, S. 314–348.
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VIII. Die Erweckung der »kosmischen Ergriffenheit«
In seiner am 2. April 1971 ausgesprochenen »Laudatio für Eugen Fink« rief H.L. van Breda in Erinnerung, wie Eugen Fink in den letzten Lebensjahren Husserls »zum Mitdenker und zum stellvertretenden Lehrer für die ausländischen Pilger-Philosophen« geworden war119. Zu diesen ausländischen Pilgern gehörte nicht nur Ortega y Gasset, der Husserl und Fink Mitte November 1934 mit einem Besuch über raschte120, sondern auch der amerikanische Philosoph Charles Morris von der Universität Chicago. Wie Felix Kaufmann an Eugen Fink schrieb, verbrachte Morris eine Studienreise in Wien und Prag, und wollte im Frühherbst nach Freiburg kommen, um Phänomenologie zu studieren121. Morris gehörte der pragmatischen Schule Deweys an und bereitete eine Arbeit über den Symbolbegriff vor. Und da kam er, so Kaufmann, bei Fink »vor die rechte Schmiede«122. Am 20. Oktober 1934 traf Morris in Freiburg ein. Im Zuge des § 10 der »VI. Medita tion« hatte Fink die Inadäquatheitsverhältnisse der natürlichen Spra che, insbesondere in den analogischen und symbolischen Redewei sen, von der »Inadäquatheit der transzendentalen Apophansis« scharf zu unterscheiden versucht123. Wie aus dem Notizheft mit dem Sigel OH-VIII hervorgeht124, das im vorliegenden 3. Teilband aufgenom men worden ist, wählte Fink nicht die Frage nach der Eigenart trans zendentaler Aussagen zum Hauptgegenstand seiner Unterrichtsstun 119 Herman Leo van Breda, »Laudatio für Ludwig Landgrebe und Eugen Fink«, in: Phänomenologie Heute. Festschrift für L. Landgrebe. Hrsg. von Walter Biemel (Phae nomenologica Bd. 51). M. Nijhoff, Den Haag, 1972, S. 4. 120 Karl Schuhmann, Husserl-Chronik. Denk- und Lebensweg Edmund Husserls, a.a.O., S. 453. 121 Brief von Felix Kaufmann an Eugen Fink vom 18.VIII. 1934, in: Axel Ossenkop, Guy van Kerckhoven, Rainer Fink, Eugen Fink 1905–1975, a.a.O., Bilder Nr. 301–303. 122 Ebd. 123 Eugen Fink, VI. Cartesianische Meditation. Teil 1: Die Idee einer transzendentalen Methodenlehre, a.a.O., § 10: Das Phänomenologisieren als Prädikation, S. 93–110. 124 EFGA 3.3, OH-VIII.
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den für Charles Morris, sondern vielmehr die Laut- und Schriftsprache als Medium vielfältiger Objektivation von Sinn und richtete zusätzlich das Augenmerk auf die pragmatische Dimension der Sprache. Ein kleiner, als Gelegenheitsschrift einzustufender Textentwurf von Finks Hand ist auf »Dezember 1934« datiert125. Zu diesem Zeitpunkt weilte er vorübergehend »zu Hause am Bodensee«126. Dieser Entwurf enthält einen »Vorschlag« zu einem Kupferstich, den der Künstler Robert Kastor, der ein Atelier in Paris besaß, von Husserl angefertigt hatte. Denn Husserl rang vergebens mit seiner Anfrage, um für dieses Porträt ein angemessenes »Motto« zu for mulieren127. Diese Gelegenheitsschrift findet sich ebenfalls in der Sammlung »Grammata«. Ebenfalls als Gelegenheitsschrift zu bewerten ist Finks »Vorwort« zu dem von der Belgrader Phänomenologin Zagorka Mičic verfass ten Buch: »Fenomenolojia Edmunda Husserla« (Belgrad 1937)«128. Ende 1934, Anfang 1935 weilte sie in Freiburg129 und erhielt dort einen Privatunterricht, an dem auch Fink sich mitbeteiligt haben mag. In seinem »Vorwort« betonte Fink das »Stadium der zweiten Wirksamkeit«130, zu der die Phänomenologie Husserls inzwischen fortgeschritten sei, in der sich der volle Sinngehalt der transzendentalphänomenologischen Reduktion erstmals enthüllte. Dieses Vorwort befindet sich ebenfalls in dem Bündel mit der Aufschrift »Grammata«. Der Textsammlung mit der Aufschrift »Grammata« unmittelbar vorangestellt sind die Antworten, die Eugen Fink Anfang des Monats Mai 1936 auf die Frageliste formuliert hat, die der französische Phi losoph Gaston Berger ihm zuvor hatte zukommen lassen131. Berger hatte Husserl im Jahre 1929 die Ehre erwiesen, ihn zum »membre correspondant de la Société d’Études Philosophiques de Marseille«
Ebd., M-III Grammata, Text Nr. 6. Edmund Husserls Brief an Jan Patočka vom 20.X. 1934, in: Edmund Husserl, Briefwechsel Band IV, a.a.O., S. 428. 127 Siehe dazu die Beilage XX: »Zur Unterschrift unter Kastors Bild« in: Edmund Husserl, Aufsätze und Vorträge (1922–1937), a.a.O., S. 238–239. 128 EFGA 3.3, M-III Grammata, Text Nr. 16. 129 Siehe die Briefe Edmund Husserls an Jan Patočka vom 20. X. 1934 und vom 14. II. 1935, in: Edmund Husserl, Briefwechsel. Band IV, a.a.O., S. 428–429. 130 EFGA 3.3, M-III Grammata, Text Nr. 16. 131 Ebd., Antworten an Gaston Berger, Mai 1936. 125
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zu erwählen132, und während eines Besuches bei Husserl in Kappel von Fink ein Durchschlagexemplar der »VI. Meditation« erhalten 133. In seinen Fragen drückte Berger das zentrale Interesse aus, das ihn bei der Verfassung der Schrift: »Le cogito dans la philosophie de Husserl« leitete134. Insbesondere auf die beiden erstgestellten Fragen nach der »Seinsweise« transzendentaler Erlebnisse und nach dem Fehlen jeglicher »mundaner« Motivation für den transzendentalen Reduktionsvollzug ist Fink in aller Ausführlichkeit eingegangen. Welche Bedeutung Berger den Finkʼschen Antworten beigemessen hat, kann man aus der im Jahre 1941 beim Verlag Aubier erschienenen Schrift über »Le cogito« unmittelbar herauslesen. An mehreren Stellen zitierte Berger Finks Antworten und wies zugleich auf sein Studium der bislang unveröffentlichten »VI. Meditation« hin. Die ihn in Atem haltende Grundfrage nach dem Status »de l’égo transcendantal et sa vie propre« »ne saurait«, so schrieb Berger, »avoir sa source dans une décision de l’esprit prise après un bref examen. Elle doit naître, en son temps, du développement patient et progressif des recherches et des analyses concrètes«135. Wie Fink, so strebte auch G. Berger »une compréhension critique de l’unité totale« des transzendentalphi losophischen Vermächtnisses Husserls an und unterwarf mit dieser Absicht seine analytischen Arbeiten einer »historico-teleologischen Reflexion«, um deren »verborgene Motivationsgeschichte« ans Licht zu bringen136. Die größere intellektuelle Selbständigkeit, die Husserl seinem Privatassistenten noch während des Kappeler Sommers des Jahres 1934 gewährt hatte, nicht nur für die weitere Ausarbeitung des »Zeit werkes«, sondern ebenfalls für die künftige Verfassung eigener phä Brief von Gaston Berger an Edmund Husserl vom 26. II. 1929, in: Edmund Hus serl. Briefwechsel. Band VIII: Institutionelle Schreiben. In Verbindung mit Elisabeth Schuhmann herausgegeben von Karl Schuhmann. Husserliana Edmund Husserl Dokumente Bd. III.VIII. Kluwer, Dordrecht/Boston/London, 1994, S. 77. 133 Brief von Frau Malvine Husserl an Elisabeth Rosenberg-Husserl vom 15. VIII. 1934, in: Edmund Husserl, Briefwechsel. Bd. IX, a.a.O., S. 442–443; siehe ebenfalls: Guy van Kerckhoven, Mundanisierung und Individuation bei E. Husserl und Eugen Fink. Die VI. Cartesianische Meditation und ihr ›Einsatz‹. Aus dem Französischen von Ger hard Hammerschmied und Arthur Boelderl. Königshausen & Neumann, Würzburg, 2003, S. 29 und S. 80. 134 Gaston Berger, Le cogito dans la philosophie de Husserl. Aubier, Éditions Montai gne, Paris, 1941. 135 Ebd. S. 115, Anm. 1. 136 Ebd., S. 11–12. 132
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nomenologischer Aufsätze, dürfte Fink in seinem Vorsatz bestärkt haben, eine »erste philosophische Arbeit« über »Weltbewusstsein und Welt« in die Wege zu leiten. Zwar bestand zu diesem Zeitpunkt kei nerlei Aussicht mehr auf die Möglichkeit einer baldigen Habilitation. Aber die Hoffnung auf eine akademische Laufbahn hielt Fink immer hin aufrecht. Die im Heft V-II aufbewahrte »Skizze zu der Schrift: »Welt und Weltbegriff. Eine problemtheoretische Untersuchung«137 verdient – da wir unvermindert nach dem »anderen Gepräge«, dem neuen Gesicht Ausschau halten wollen, das die Phänomenologie uns in sei nen Schriften und Entwürfen allmählich zugekehrt hat – wiederum unsere volle philosophische Aufmerksamkeit. Bereits in den Notiz heften zum 2. Teilband, insbesondere in den Skizzen zu »Weltbe wusstsein und Weltganzheit«138, kann man verspüren, dass Fink mit Rücksicht auf das »Weltproblem« sich intensiv mit der Antinomien lehre Kants beschäftigt hat. In Kants Trennung von konstitutivem Gebrauch der Kategorien und regulativem Gebrauch der Ideen erblickte er einen wertvollen Hinweis auf die unbedingt erforderliche Unterscheidung einer doppelten phänomenologischen Konstitutions form: des Gegenstands- und des Weltbewusstseins. Die Kategorien sind ontologisch-transzendentale, die Ideen hingegen kosmologischtranszendentale Bestimmungen. Dennoch machte Fink mit Rücksicht auf die kritische Unterscheidung von Kategorien- und Ideengebrauch einen gewissen Vorbehalt geltend: »Trotz der ungeheueren Einsicht in die nicht-ontische (nicht-›inhaltliche‹) sondern horizontale (›enthaltliche‹) Struktur der Welt, die in der Unterscheidung von Katego rien und Ideen zum Ausdruck kommt«, sei Kants Behandlung des Weltproblems im Grunde »objektivistisch« orientiert139. Welt gilt ihm als »das Ganze der Erscheinungen«, für deren Zusammenhang eine a priori entwerfende, die Horizonte des Ideenentwurfes bereitstellende »transzendentale Subjektivität« zuständig gemacht worden sei. In seiner Skizze war Fink darum bemüht, entgegen der Tendenz einer »anthropozentrischen Existenzphilosophie« die prinzipielle »Welt weite der Vernunft« in den Vordergrund zu stellen, zugleich aber zu Kant als dem »Entdecker des kosmologischen Horizontes der Seins frage« die gebührende Distanz zu wahren140. »Die Kosmologie als 137 138 139 140
EFGA 3.3, V-II. EFGA 3.2, Z-XV/105a, S. 308. Ebd., V-IV/7–8, S. 319. EFGA 3.3, V-II/4.
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Herausstellung des Welthorizontes des Seins« sei nach Fink mit der »Erledigung jeder ›idealistischen Hinterwelt‹«141 gleichbedeutend. Andererseits wog Fink Kants kosmologische Begrenzung der Seinsidee mit Umsicht gegen seine »Metaphysik der Freiheit«, seine Lehre von der intelligiblen Welt ab. In dieser Metaphysik offenbare sich nach Fink ein »meontisches Meinen«, das »Sein-übersteigend, weltdurch brechend«142 sei, das somit den Vorboten einer »Meontik des Abso luten«143 darstelle. Hauptaufgabe der »Kosmologie« sei es, »in der Herausarbeitung der Weltgefangenschaft des Lebens, mit ihren am Bewusstsein der Weltgefangenschaft sich entzündenden ›Sehnsüch ten‹«144 die, die Gebanntheit im Sein letztlich sprengende, Bewegung des »inwendigen Lebens« erstmals anzustiften. Immer offenkundiger wurde es nach diesen Ausführungen, dass Fink einem metaphysischen Pathos sein Herz schenkte, das seinem Lehrer wohl für immer fremd geblieben sein mag. Überschaut man die Notizen, die aus dem Herbst 1934 stammen, so stellt es sich heraus, dass die ursprünglich geplante »Fortsetzung« des Kantstudien-Artikels, die eine Auseinandersetzung der Phäno menologie »mit der von Dilthey herkommenden Richtung« vorsah145, in ihnen keinerlei Erwähnung mehr findet. Wie R. Bruzina richtig bemerkt hat, »hat Fink, soweit man weiß, diese Fortsetzung nicht geschrieben«146. Es lohnt sich allerdings, die im vorliegenden 3. Teil band erstmals veröffentlichte Mappe OH-I mit der Aufschrift »Mosaik«147 heranzuziehen, um sich ein deutliches Bild von den Gedanken zu verschaffen, denen Fink in diesem Zeitraum nachhing. Generell betrachtete er den Anthropologismus als eine »moderne Abart der Reflexionsphilosophie«148. Sie insistiere auf die Erlebnis vorgängigkeit des konkreten Menschen vor seiner Welt, gewähre des halb der sogenannten »inneren Erfahrung« eine Prävalenz. Grund sätzlich sei in der Lebensphilosophie der Lebensbegriff im Kontrast gegen einen naturalistischen Ontologismus konzipiert. In dieser Frontstellung gegen die Naturalisierung des Subjektiven seien Nietz 141 142 143 144 145 146 147 148
Ebd., V-II/8. Ebd., V-II/14. Ebd., V-II/15. Ebd., V-II/15. EFGA 3.2, Z-XI/25b, S. 146–147. Ebd., Anm. 14 zu S. 147. EFGA 3.3, OH-I. EFGA 3.2, Z-XIV/II/1b, S. 252.
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sches Lebensbegriff, Diltheys Begriff der Geschichtlichkeit oder Berg sons Begriff des »élan vital« miteinander einig. Was Fink diesen Den kern vorwarf, war die Feststellung, dass in ihnen »keine eigentlich begrifflich-ontologische Einstellung«149 zum Tragen gekommen sei. Daraus zog er das Fazit, dass sie zwar aus einer metaphysischen, wis senschaftspositivistischen oder biologistischen Perspektive heraus das Leben intendierten, aber »es prinzipiell auf dem Boden der Unbewegtheit des Geistes« auffassten. »Erst die Phänomenologie«, so meinte er, »bringt den Geist in Bewegung und damit das Leben, d.i. das schöpferische Wesen des Geistes, in den Griff«150. Innerhalb der gesamten lebensphilosophischen Bewegung gab Fink allerdings dem Denken Nietzsches den eindeutigen Vorrang. Denn in ihm vollzog sich die »Erweckung der kosmischen Ergriffenheit«151. In einer recht bemerkenswerten Notiz hielt er fest: »Die kosmologische Besinnung muss existenziell geführt sein von der kosmischen Erfahrung, deren entscheidendster Ausdruck die Philosophie Nietzsches ist: der ›tragi sche Pessimismus‹, die ›Optik des Lebens‹, ›Unschuld des Werdens‹, ›Jenseits von Gut und Böse‹«152. Aber, was bei Nietzsche »Lebens stimmung« ist, sollte »in die Härte begrifflicher Erkenntnis übersetzt werden«153. Mehrere in OH-I aufbewahrten Skizzen und Schemen einer »Nietzsche-Interpretation« deuten darauf hin, dass Fink wenig stens vorübergehend die Absicht hegte, eine Reihe von »Aufsätzen« der Lebensauffassung Nietzsches zu widmen154. Für Husserl dürfte eine Nietzsche-Interpretation wohl nicht zu den vordringlichsten Aufgaben gehört haben, mit denen er seinen jungen Mitarbeiter gerne betreut hätte. Am 7. Mai 1935 hielt Husserl im Wiener Kulturbund den Vortrag, den er am 10. Mai nochmals wiederholte: über »die Philosophie und die Krisis des europäischen Menschentums«. Im vorliegenden 3. Teilband findet sich in der Gruppe »Grammata« ein Vorschlag von Finks Hand für die »Schluss sätze« zum Wiener Vortrag Husserls.155 Als Grund für das Versagen der rationalen Kultur Europas nannte Fink »ihre Versponnenheit in Ebd., V-IV/5, S. 318. Ebd., Z-XII/4d, S. 181. 151 Ebd., Z-XIII/29a, S. 221. 152 Ebd., Z-XIII/XVIII/6a, S. 217. 153 Ebd. 154 Ebd., Z-XIII/24a, S. 219; vgl. dazu das von Fink entworfene »Schema der Nietz sche-Interpretation« in: EFGA 3.3, OH-I/27. 155 EFGA 3.3, M-III Grammata, Text Nr. 13. 149
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Naturalismus und Objektivismus«. Nur ein den Naturalismus über windender Heroismus der Vernunft sei in der Lage, die Wiedergeburt Europas »aus dem Geiste der Philosophie« herbeizuführen156. In Anbetracht der seltsamen »Offenheit der Phänomenologie – ihrer Entwicklungsmöglichkeit als Lebensphilosophie (Heidegger), als Korrelativismus positivistischer Haltung (Kaufmann, Schütz) und als Metaphysik des Geistes (meine Interpretation)«157 war Fink der Ansicht, dass eine Überwindung des endlichen Subjektes, des »frag mentarischen Daseins des Geistes in der Welt« für die Verwirklichung unendlicher Vernunftziele unentbehrlich sei158. Beharrsam war er in seiner Grundauffassung, dass einzig nur die phänomenologische Reduktion jene »Mobilmachung der Vernunft« ermögliche, die unsere Existenz aus jener »konstitutiven Objektivation« herauslöse, welche »Trägheit, Unbewegtheit des Geistes« bedeutet159.
156 157 158 159
Ebd. EFGA 3.2, Z-XII/39a, S. 203. Ebd., Z-XIV/V/9a, S. 257. Ebd., Z-XII/24a, S. 195.
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Das Arbeitsjahr 1934 wurde vorwiegend durch die Bemühungen beherrscht, eine systematische Gliederung der phänomenologischen Transzendentalphilosophie herzustellen, die auch einer gültigen Anordnung der Husserlʼschen Nachlassmanuskripte zugrunde gelegt werden könnte. Von diesen Versuchen, Husserls analytische For schungsergebnisse zu einer »Systematik« zusammenzuschließen, zeugten ebenfalls die Schlusssätze des von Fink 1934 in die Tatwelt veröffentlichten Aufsatzes: »Der Problemraum der phänomenologi schen Philosophie«160. Der Frühling des Jahres 1935 brachte eine »unerwartete Wendung«161, die dazu führte, dass die Arbeitsorgani sation der »phänomenologischen Werkstatt« nochmals umgestellt wurde. Mit der Entscheidung des Prager Cercle Philosophique, nach dem Vorbilde des Brentano-Archivs auch für ein Husserl-Archiv den Grundstein zu legen, wurde Husserl »der großen Sorge um seinen Nachlass enthoben«162. In diesen Märztagen des Jahres 1935 reiste Ludwig Landgrebe von Prag nach Freiburg, um zusammen mit Fink eine erste grobe Sichtung der Husserl-Manuskripte vorzunehmen.163 Während dieses Arbeitsaufenthaltes entspann sich zwischen beiden eine Reihe von philosophischen Gesprächen, die durch die in der Mappe Z-XIX des vorliegenden 3. Teilbandes enthaltenen Notizen belegt werden.164 Die Gelegenheit zu einer offenen Aussprache zwi schen Fink und Landgrebe hat sich ein weiteres Mal wiederholt, als
Eugen Fink, »Der Problemraum der phänomenologischen Philosophie«, in: »Was will die Phänomenologie Edmund Husserls?«, a.a.O., S. 177–178. 161 Brief von Frau Malvine Husserl an Gustav Albrecht vom 17. III. 1935, in: Edmund Husserl, Briefwechsel. Band IX, Husserliana Edmund Husserl Dokumente Bd. III.IX, a.a.O., S. 115. 162 Ebd. 163 Brief von Frau Malvine Husserl an Gerhart Husserl vom 16. III. 1935, in: Edmund Husserl, Briefwechsel. Band IX, a.a.O., S. 241–242. 164 EFGA 3.3, Z-XIX. 160
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IX. Die Überwindung der »Seinslässigkeit« des Menschen
Landgrebe Ende Januar bis Mitte Februar 1936 wenige Wochen in Freiburg weilte. Zu diesem Zeitpunkt arbeitete Landgrebe »eifrigst an der Herausgabe der ›Logischen Studien‹«, die Husserl ihm anvertraut hatte165. Die Notizen zu den im Januar-Februar 1936 geführten Gesprächen sind als »Reihe XX« des Notizheftes Z-XX im dritten Teilband wiedergegeben166. Hauptthemen der damals geführ ten Gespräche waren die inneren Beweggründe, die Fink zu seiner unvermindert kritischen Haltung zur Husserlʼschen Phänomenolo gie sowie zur Existenzialontologie Heideggers geführt hatten. Ende März 1935 wurde auch über das »sich in Vorbereitung befindende Zeitbuch«167 referiert. Schließlich führte Fink im Januar 1936 eine Reihe von »Einwendungen« gegen Husserls »Prager Vortrag« ins Feld168. Auch über Landgrebes Beitrag zum »Erlebnisbegriff«, der bis dahin als unveröffentlichtes Manuskript vorlag, hat Fink sich mit seinem Prager Kollegen unterhalten169. Wir ziehen aus diesem reichhaltigen philosophischen Gesprächsstoff einige markante philosophische Stellungnahmen heraus. Als eine Gefahr der Phänomenologie bezeichnete Fink »Hus serls illusionären Idealismus«, der »die ontische Undurchsichtigkeit des Seienden überspringt und die Schwere des weltlichen Lebens ver fehlt«170. Eine Neufassung des Begriffes »Wirklichkeit« schien ihm unentbehrlich zu sein. »Wirklichkeit kein gegenständlicher Begegnungscharakter, kein Moment an den Dingen, sondern Welt charakter«, so notierte er. »Alles was wirklich ist, ist in der Welt. Sein und binnenweltlich-Sein ist dasselbe«171. Und er verwies uns dabei an »Kants Restriktion des Seinsbegriffs auf die Welt«172. Nach wie vor schenkte Fink »Kants negativer Freilegung der Welt« besondere Auf merksamkeit173. In Heideggers existenzialem Weltbegriff sah er »eine metaphysische Vertiefung des geisteswissenschaftlichen Weltbe 165 Siehe den Brief von Frau Malvine Husserl an Roman Ingarden vom 14. I. 1936, in: Edmund Husserl, Briefwechsel. Band III, Husserliana Edmund Husserl Dokumente Bd. III.III, a.a.O., S. 305. 166 EFGA 3.3, Z-XX/Reihe XX. 167 Ebd., Z-XIX/II/8b. 168 Ebd., Z-XX/XX/1a. 169 Ebd., Z-XIX/II/7a, sowie die Anm. 3. 170 Ebd., Z-XIX/II/8a. 171 Ebd., Z-XIX/IV/10b. 172 Ebd. 173 Ebd., Z-XIX/I/1a.
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IX. Die Überwindung der »Seinslässigkeit« des Menschen
griffs«. Heideggers »kosmologischer Subjektivismus« sei grundsätz lich durch eine »Luminartheorie der Subjektivität« geprägt174. Auch auf die 1932 verfasste transzendentale »Methodenlehre« kam Fink im Laufe seiner Gespräche nochmals zurück175. Das phänomenologische Erkennen ist wesenhaft »me-ontisch«, eröffnet den »Distanzhorizont zum Sein«, um zum »onto-gonischen Werden« vorzustoßen176, in die »absolute Dimension« einzudringen. Nicht wird die Tragik des end lichen Lebens dadurch etwa gewichtlos; sie wird vielmehr durchschaut auf ihre »Konstitution«, als eine »Entstellung« des Absoluten177. Die mit dem Weltsturz des Absoluten einhergehende Weltbefangenheit des Menschen bedingt die für die natürliche Einstellung charakteris tische »Seinslässigkeit«. Zum ersten Male deutet Fink im Laufe seiner Gespräche auf die beschwingende Kraft hin, die »der Stimmung des enthusiastischen In-der-Welt-Seins«178 innewohnt. Das Heimweh, das den Menschen im Enthusiasmus innerlich ergreift, ist ein Ansporn, um den spekulativen Absprung zu wagen, auch wenn dieser immer wieder scheitern muss. Auf das »Wesen des Enthusiasmus« wird Fink im Rahmen des Februar 1940 in Leuven gehaltenen Vortrags, den er im Sommer 1946 auf Schloss Salem ein zweites Mal gehalten hat, in aller Ausführlichkeit eingehen179. Finks Arbeitsnotizen zur Vorberei tung dieses Vortrags sind ein Bestandteil des 4. Teilbandes180. Im arbeitsreichen Jahr 1935 war Husserl mit der Vorbereitung mehrerer »Vorträge« beschäftigt, zu denen er vom Cercle Philoso phique aufgefordert worden war. Seinen Mühen ›in philosophicis‹ galten ebenfalls die in Wien gehaltenen Doppelvorträge. Im Vorder grund standen dabei die »geschichtsphilosophischen« Probleme. Hier kamen die letzten Fragen der Phänomenologie, die »Randprobleme«, die »anticipierte Teleologie« zur »Handgreiflichkeit« und nahmen, wie Husserl schrieb, „ alten Kopf ganz in Beschlag«181. Die Beiträge, die Fink zur Gestaltung von Husserls Prager Vortrag geleistet Ebd., Z-XIX/II/4a. Ebd., Z-XIX/II/3a. 176 Ebd., Z-XIX/II/3a. 177 Ebd., Z-XIX/II/2a. 178 Ebd., Z-XIX/II/4b. 179 Eugen Fink, Vom Wesen des Enthusiasmus. Verlag H. von Chamier, Essen, 1947. 180 EFGA 3.4, Z-XXX/1a-5a. 181 Brief Edmund und Malvine Husserls an Dorion Cairns vom 19. VI. 1935, in: Edmund Husserl, Briefwechsel. Band IV, Husserliana Edmund Husserl Dokumente Bd. III.IV, a.a.O., S. 51. 174 175
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IX. Die Überwindung der »Seinslässigkeit« des Menschen
hat, sind glücklicherweise erhalten geblieben und in dem Bündel »Grammata« untergebracht worden. Es handelt sich dabei um ein »Exposé eines Vorschlags eines Gedankenganges« sowie um einen »Vorschlag einer Disposition für den Prager Vortrag«182, die in den Monaten Juli-August 1935 verfasst worden sind – wenige Zeit also vor der Verkündigung der »Nürnberger Gesetze« im September des selben Jahres183. Thema dieser Beiträge ist »das Problem der Huma nität«, das Fink nicht von vornherein in den äußerst beunruhigenden politischen Rahmen hineingestellt hat, sondern gegen das Licht einer philosophischen Frage hielt, die er in mehreren Notizheften mit: »Die Bestimmung des Menschen« betitelt hat. Die prinzipielle Unzu länglichkeit aller ontologischen Bestimmungsversuche des Menschen wurzelt in einem statisch-stagnierenden Selbstverständnis, das erst durch die »radikale Selbstvertiefung des Lebens«, die durch die phä nomenologische Reduktion herbeigeführt wird, überwunden werden kann. Über die Lehre von der reinen Subjektivität hinaus rückte nunmehr die Problematik der »teleologischen Sinnbestimmung« der »Lebensganzheit« in den Blick: worauf das individuelle und kollektive personale Leben »›hinauswill‹ in der Tiefe seiner Innerlich keit«184. Und mit dieser Themenwahl kehrte die Phänomenologie sich »der Geschichtlichkeit« zu. Der »Aufriß einer transzendentalen teleologischen Innenbetrachtung der Geschichte« setze sich das Ziel, »die mundane morphologische Außenbetrachtung« der Geschichte in die Schranken zu weisen185. Mit Vehemenz wandte Fink sich in seinen Ausführungen gegen die »methodologische Usurpation des Universalitätsanspruchs der Philosophie«186 durch den Historismus. Kurz nachdem Fink sich in Kappel mit Husserl ausführlich über diese geschichtsphilosophischen Fragen unterhalten hatte, fuhr er zum Bodensee. Auf dem Ferienprogramm stand »eine Klettertour in Oberbayern«187. Darüber wird im Folgenden noch ausführlicher zu sprechen sein. Siehe: EFGA 3.3, M-III Grammata, Text Nr. 12. Siehe: Karl Schuhmann, Husserl-Chronik. Denk- und Lebensweg Edmund Hus serls, a.a.O., S. 467 sowie die Anm. 1. 184 EFGA 3.3, M-III Grammata, Text Nr. 12. 185 Ebd. 186 Ebd. 187 Brief Edmund Husserls an Felix Kaufmann vom 17. IX. 1935, in: Edmund Husserl, Briefwechsel. Band IV, Husserliana Edmund Husserl Dokumente Bd. III.IV, a.a.O., S. 216. 182
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IX. Die Überwindung der »Seinslässigkeit« des Menschen
Finks Beitrag zur Gestaltung der »Krisis-Schrift« ist im Übri gen nicht auf diese beiden, oben erwähnten Beiträgen beschränkt gewesen. Als S. Strasser und W. Biemel die Aufgabe erhielten, die wichtigsten Texte von Husserls Spätphilosophie in der Reihe Husserliana kritisch zu edieren, setzten sie sich mit Eugen Fink in Verbindung, der die Entstehung der Cartesianischen Meditationen und der Krisis-Schrift aus nächster Nähe miterlebt hatte. Fink gestattete es W. Biemel, den »Entwurf zur Fortsetzung der Krisis-Schrift« sowie die Skizze »Zum Problem des Unbewussten« als Beilagen in die Edition einzugliedern188. Auch den Text, den Fink im Jahre 1939 in der Revue Internationale de Philosophie veröffentlicht hatte über »Die Frage nach dem Ursprung der Geometrie als intentional-historisches Problem«189 hat W. Biemel im Einvernehmen mit Eugen Fink als »Beilage III« dem Paragraphen 9a) der Krisis-Schrift über Galileis Mathematisierung der Natur zugeordnet190. Die Ein- und Beilagen zum Haupttext der KrisisSchrift, die Fink in der Sammlung »Grammata« aufgehoben oder im Falle des 1936 verfassten »Vorschlags zu Husserls Manuskript ›Historie als Ursprungsanalyse‹« separat aufbewahrt hat, sind in dem vorliegen den dritten Teilband auch als solche eigens gekennzeichnet worden191. Weiterhin übernahm Fink alle die redaktionellen Aufgaben, die mit der Veröffentlichung eines ersten Krisis-»Artikels« in der Zeitschrift »Philosophia« verbunden waren. Husserl war fest dazu entschlossen, die Fortsetzung zu diesem Artikel zu liefern, in der Überzeugung, dass die Krisis-Schrift »das Centrum seiner Lebensarbeit« enthielt, wie Frau Husserl am 14. III. 1936 an Gustav Albrecht schrieb192. Wenn es nach Husserl ging193, sollte ein zweiter Artikel im Ausgang 188 Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzen dentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, a.a.O., Beilage XXIX und Beilage XXI, S. 514–516 und S. 473–475. 189 Eugen Fink, »Die Frage nach dem Ursprung der Geometrie als intentionalhisto risches Problem«, in: Revue Internationale de Philosophie, Bruxelles, 1. Jg., No. 2, 1939, S. 203–225. 190 Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzen dentale Phänomenologie, a.a.O., S. 365–386. 191 Siehe: EFGA 3.3, M-III Grammata, die Texte Nr. 5, 7,8,9–11, sowie den Text »His torie als Ursprungsanalyse«. 192 Brief von Malvine Husserl an Gustav Albrecht vom 14. III. 1936, in: Edmund Husserl, Briefwechsel. Band IX, Husserliana Edmund Husserl Dokumente Bd. III.IX, a.a.O., S. 125. 193 Brief E. Husserls an Rudolf Pannwitz vom 14. IV. 1937, in: Edmund Husserl, Briefwechsel. Band VII: Wissenschaftlerkorrespondenz. In Verbindung mit Elisabeth
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IX. Die Überwindung der »Seinslässigkeit« des Menschen
vom Problem der vorwissenschaftlichen Lebenswelt die Notwendig keit einer »wahrhaft kopernikanischen Wendung« vermittelst der transzendental-phänomenologischen Reduktion dartun. Der dritte Artikel sei der Kritik der neuzeitlichen Psychologie und Psychophysik gewidmet. Der Schlussteil sollte dem Leser die »Sinngliederung der Wissenschaften« vor Augen führen und die »Erleuchtung ihres echten Sinnes« herbeiführen. Im Schlagschatten der weltweiten Bedeutung, die Husserls Krisis-Schrift inzwischen bekommen hat, wollen wir erneut auf bestimmte Akzente achten, die Fink während seiner Mitarbeit beim Zustandekommen des Krisis-Textes setzte. Nach den ersten Ausfüh rungen in seiner Dissertation war Fink ständig darum bemüht, die transzendentale Phänomenologie von jeglicher Form »ontischen Sub jektivismus«, von jeglicher Gestalt einer »Immanenzphilosophie« scharf abzuheben. In einer bislang kaum beachteten Anmerkung zum Tatwelt-Aufsatz »Was will die Phänomenologie Edmund Husserls?« hatte er darauf hingewiesen, dass das durch den Reduktionsvollzug freigelegte »Bewusstseinsleben« »nicht in dem allgemeinen, engsten Sinn des Wortes « zu verstehen sei, sondern »das Unbewusste also immer mit einbegriffen ist«194. Keineswegs ver trete die Phänomenologie einen »Bewusstseinsidealismus«, der aus der Sicht der Tiefenpsychologie »nur eine fundierte Dimension des Lebens«195 darstelle. Mit dieser Bemerkung eröffnete Fink wiederum eine Perspektive auf den »tendenziellen Charakter«, der dem trans zendentalen Leben als solchem innewohnt, auf die »Triebintentiona lität« – jenen die Konstitution insgesamt durchschwingenden Zug zur »Selbstverwirklichung in der Weltverwirklichung«. Die konstitu tive Forschung habe zum Ziel, ein »Verstehen des Alls des weltlich Seienden aus seiner transzendentalen Sinnbildung«196 zu leisten. Ihre Tragweite sei somit »onto-gonisch« und betreffe das Seiende selbst, »nicht Bedeutsamkeitscharakter an ihm«197. Die konstitutive Weltbildung ist allerdings kein »in objektivistischen Schuhmann herausgegeben von Karl Schuhmann, Husserliana Edmund Husserl Dokumente Bd. III.VII. Kluwer, Dordrecht/Boston/London, 1994, S. 227. 194 Eugen Fink, »Was will die Phänomenologie Edmund Husserls?« in: Studien zur Phänomenologie 1930–1939, a.a.O., S. 175, Anm. 1. 195 EFGA 3.3, M-III Grammata, Text Nr. 5. 196 Eugen Fink, »Was will die Phänomenologie Edmund Husserls?«, in: Studien zur Phänomenologie 1930–1939, a.a.O., S. 175. 197 EFGA 3.3, M-III Grammata, Text Nr. 10.
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IX. Die Überwindung der »Seinslässigkeit« des Menschen
Kategorien fassbarer Vorgang«, etwa als eine »Schöpfungstat des ›Weltgeistes‹, an der der Mensch partizipiere«198, auffassbar. Im innersten Kern des von Fink verwendeten Konstitutionsbegriffes rührt sich eine Betroffenheit durch das Rätsel des Weltgeschehnisses. Finks Weg in die Phänomenologie führt uns auf ein Geheimnis zu.
198 Eugen Fink, »Was will die Phänomenologie Edmund Husserls?« in: Studien zur Phänomenologie 1930–1939, a.a.O., S. 175.
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X. Transzendentales Fragen als »Selbstbemächtigung des Lebens« und als Vorstoß in den Bereich des »Weltspiels«
Ein Seins- und Weltverständnis, das aus der »geistigen Weltbildung« hervorgehen sollte199, sei in Finks Augen ein »transzendentales« par excellence. Wie aber sollte dem Geist aus dem zunächst undurch dringlichen Sein eine »Weltbildung« aufgehen? Diese Frage hat Fink wohl dazu veranlasst, Übungen über Kants »Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können«, in die Wege zu leiten. Sie waren als Unterrichtsstunden Frau Mercedes Alonso zugedacht, die vermutlich im Gefolge des Besuches von Ortega y Gasset zu Husserl nach Freiburg gekommen war. Die Vorbereitungen zur »pädagogischen Interpretation von Kants Prolegomena«, die Notizen zur sogenannten »Alonso-Stunde« sind im vorliegenden dritten Teilband in der Sammlung »Grammata« aufgenommen worden.200 Gerade Kants kritischer Verwandlung der dogmatischen Metaphysik schenkte Fink seine volle Aufmerksam keit. Zum einen steuerte er Kants transzendentale Frage nach der Möglichkeit der Metaphysik auf die Problematik der »Transcenden talien« zu. Zum anderen hob er aus diesem Problembereich den besonderen Zusammenhang von »ens und verum« heraus. Denn in diesem verbirgt sich »das Problem einer im Wesen des Seienden liegenden Subjektsbezogenheit«201. Diese pädagogischen Übungen nehmen Finks spätere Arbeiten, insbesondere die von ihm erhobenen »Vorfragen zum Phänomen-Begriff« in der Schrift »Sein, Wahrheit, Welt«202 offensichtlich schon vorweg. Indem Kant das Seiende als Ebd. EFGA 3.3, M-III Grammata, Text Nr. 15. 201 Ebd. 202 Eugen Fink, Sein, Wahrheit, Welt. Vor-fragen zum Problem des PhänomenBegriffs. Phaenomenologica Bd. 1. M. Nijhoff, Den Haag 1958; jetzt in: Eugen Fink, Sein, Wahrheit, Welt (EFGA 6). Herausgegeben von Virgilio Cesarone, Karl Alber, Freiburg/München 2018, S. 207–329. 199
200
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X. Transzendentales Fragen als »Selbstbemächtigung des Lebens«
»verum« im Sinne »des Seienden als Erscheinung« auslegte203, d.h. als ein »grundsätzlich binnenweltliches«204 auffasste, traf er eine fol genreiche Entscheidung. Denn mit ihr vollzog sich »die Verwandlung der rationalistischen Metaphysik in die kosmologische«205. Kants Philosophie stelle nach Fink »als Kosmologie«206 »die erste Heraus arbeitung des Problems der Welt«207 dar. Seine größte Leistung sei die Entdeckung unserer Weltbefangenheit. Aller Rückgang auf das weltbildende Leben ist, so Fink, weltbefangen. Zugleich sah er in Kants Denken einen Ansporn dazu, die »intelligible Welt« nicht län ger in einem Außerhalb, als »Weltübersteigung« zu verlegen, sondern in der verborgenen Tiefe aufzusuchen, deren »der Mensch durch den existenziellen Einsatz« im praktischen Leben »teilhaftig wird«208. Die Weltbefangenheit ist jedoch ontisch unaufhebbar. Die phänomeno logische Reduktion leistet keine ontische, sondern eine me-ontische »Aufhebung«209 derselben. In »Religion und Spekulation« erblickte Fink ein »dumpfes Wissen um Befreiung« aus dem Bannkreis, der den menschlichen Geist umfängt210. Zweifellos stellen die »Alonso-Stunden«, die vermutlich Mitte 1935 stattgefunden haben, ein »Vorspiel« dar für den zweitwichtigsten Beitrag, den Fink seit der Veröffentlichung seines Aufsehen erre genden Kantstudienaufsatzes geliefert hat: für den am 4. Dezember 1935 in Dessau, am 5. Dezember in Bernburg auf Einladung der KantGesellschaft gehaltenen Vortrag »Die Idee der Transzendentalphiloso phie bei Kant und in der Phänomenologie«211. Das Manuskript zu die sem Vortrag hat Fink seinem Lehrer zur Lektüre vorgelegt212. Da der Vorsitzender der Kant-Gesellschaft, Arthur Liebert, schon im Jahre 1933 nach Serbien emigrierte, Husserl im Januar 1935 vom Reichs ministerium dazu aufgefordert wurde, aus der Kant-Gesellschaft aus zutreten, im Jahre 1936 die Gesellschaft insgesamt zum Erliegen kam, EFGA 3.3, M-III Grammata, Text Nr. 15. Ebd. 205 Ebd. 206 EFGA 3.2, Z-XIII/35a, S. 222. 207 Ebd., Z-XIII/36b, S. 223. 208 Ebd., Z-XIII/52b, S. 227. 209 Ebd., Z-XIII/XVIII/5a, S. 217. 210 Ebd., Z-XIII/XVIII/4b, S. 216. 211 Eugen Fink, »Die Idee der Transzendentalphilosophie bei Kant und in der Phäno menologie«, in: Nähe und Distanz, a.a.O., S. 7–44. 212 Ebd., S. 7. 203
204
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X. Transzendentales Fragen als »Selbstbemächtigung des Lebens«
bestand keine Aussicht darauf, diesen Vortrag bald in den »Kant-Stu dien« in Druck gehen zu lassen. Die im vorliegenden dritten Teilband enthaltenen Notizheften mit der Signatur Z-XVI, Z-XVII und OH-V213 sind ein beredtes Zeugnis dafür, dass Fink diesen Vortrag mit beson derer Sorgfalt vorbereitet hat. Die Vorarbeiten und Ausarbeitungen dürfen sich mit den Aufgaben zur redaktionellen Ausgestaltung von Husserls Prager Vorträgen zum Teil überschnitten haben. Einzelne Notizen deuten darauf hin, dass Fink dem am 13. November 1935 von Heidegger gehaltenen Vortrag: »Vom Wesen des Kunstwerkes« beige wohnt hat214. »Im Vortrag«, so fasste Fink während der Vorbereitungen seine Grundintention zusammen, »muss meine Grundauffassung der Philo sophie deutlich werden«215. Und tatsächlich wird zum ersten Male seit dem Kantstudien-Aufsatz der Name Husserl nicht mehr nachdrück lich im Titel aufgeführt. Was Fink mit seinem Vortrag anstrebte, war nicht ein doxographischer Vergleich der Husserlʼschen Phäno menologie mit Kants Transzendentalphilosophie. Der Vortrag sollte vielmehr einen Einblick in das Wesen der Phänomenologie tout court gewähren. Ihre »im verdeckten Grunde treibende Intention« sei näm lich »das Abzielen auf eine ontogonische Metaphysik, ein Verstehen des Seienden im Konstruieren des ontogonischen Prozesses«216. Das die Phänomenologie auszeichnende Seinsverständnis sollte kontrastie rend von der Art abgehoben werden, »wie bei Kant das transzenden tale Problem zu einer Neubegründung der Ontologie« geführt hat217. Zur Erfüllung dieser, diesmal offen zugestandenen, Grundintention der Phänomenologie forderte Fink nunmehr eine »Tieferlegung« der Husserlʼschen Korrelationsforschung. Dazu gehörte, dass die Aus gangspositionen, der sie sich anfangs verschrieben hatte, zurückge drängt werden, insbesondere: 1) die Gleichsetzung von Seiendem und Gegenstand (also das Überspringen der ontologischen Frage: τί το ον?); 2) der Dogmatismus der Egoität (das Verabsolutieren des ›reinen ego‹ oder der Monadenvielfalt); 3) die Auffassung des Selbstheitscha rakters des Subjekts als ›gegenständlicher‹ (und folglich das Verfehlen EFGA 3.3, Z-XVI, Z-XVII und OH-V. Ebd., Z-XVII/1a-b und /19a. 215 Ebd., Z-XVI/III/1a. 216 Ebd., OH-V/36. 217 Eugen Fink, »Die Idee der Transzendentalphilosophie bei Kant und in der Phäno menologie«, in: Nähe und Distanz, a.a.O., S. 43. 213
214
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X. Transzendentales Fragen als »Selbstbemächtigung des Lebens«
der Problematik der »Entstellung«)218. Insbesondere bemängelte Fink an der Anfangsgestalt der Phänomenologie ihre »Benommenheit vom Seienden«219 und charakterisierte ihre Grundhaltung als »Seins lässigkeit«, als ein »das gegenständlich begegnende Seiende und vor allem sich selbst als ein Seiendes unter dem Seienden immer schon Sein-lassen«220, oder »In-Geltung-Halten«221 von Seiendem überhaupt. Erst die »transzendentale Wendung«, die sich mit der Reduktion vollzog, markierte den »Übergang zur Charakteristik der Phänomenologie als ontogonischer Metaphysik«222. Denn die Reduk tion überwand die Seinslässigkeit und führte an die entscheidende Frage heran: »Was ist also das ens? Prinzipiell ›konstituiertes crea tum‹«, demnach Gebilde einer »schöpferischen Vernunft«, der »konsti tuierenden, der sich selbst zeitigenden lebendigen Vernunft«. Damit förderte Fink ein »verum« ans Tageslicht, in dem er »das prin zipiell Andere als bei Kant« erschaute223. Die »ontische« Subjektivität, auf die Kant rekurrierte, sei gar nicht das eigentliche Subjekt; vielmehr ist es »der lebendige Geist«, der kein besonderes »Vermögen«, keine »Natur« des Menschen darstelle, aber gerade seinem meontischen Wesen Ausdruck verleiht224. »Das Weltwesen des Menschen = die meontische Tiefe der Weltkonstitution«225. Diese Tiefe ist »ontolo gisch unerreichbar«226. Dass in der Tiefe des Menschenlebens die Weltschöpfung geschieht, zeichnet ihn gerade als »Weltwesen« aus227. Ob eine solche, erneut von Fink umrissene »ontogonische Metaphysik«228 lediglich ein »Ikarusflug der spekulativen Vernunft« sei oder eine Möglichkeit wissenschaftlicher Fragen darstellt – die ses Problem ließ er vorläufig dahingestellt229. Aber im Fragen der »transzendentalen Frage« erblickte er den »Griff des Menschen nach Siehe: EFGA 3.3, OH-V/43. Ebd., OH-V/45. 220 Eugen Fink, »Die Idee der Transzendentalphilosophie bei Kant und in der Phä nomenologie«, in: Nähe und Distanz, a.a.O., S. 42. 221 Ebd., S. 42. 222 EFGA 3.3, OH-V/44–45. 223 Ebd., OH-V/43–44. 224 Ebd., OH-V/44. 225 Ebd., Z-XVI/6b. 226 Ebd. 227 Eugen Fink, »Die Idee der Transzendentalphilosophie bei Kant und in der Phä nomenologie«, in: Nähe und Distanz, a.a.O., S. 43. 228 Ebd., S. 43. 229 Ebd., S. 44. 218
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X. Transzendentales Fragen als »Selbstbemächtigung des Lebens«
sich selbst«, die wagemutige Tat einer »Selbstbemächtigung Lebens«230. Mit ihr nehme der Mensch als »Weltwesen« das Wagnis auf sich, »den Weg zur Vollendung seiner weltlich-fragmentarischen Existenz« zu beschreiten, sich »der Macht des Seinsspiels« zu bemäch tigen231. Auf dem Hintergrund der Einsicht in die fragmentarische Existenz des Menschen stelle eine Phänomenologie, die sich »zur kon stitutiven Ontogonie« fortentwickelt hat, das »Problem der Selbstvol lendung des Geistes«232. Sich der Eingelassenheit in das Seiende zu entziehen, ist allerdings kein risikoloses Unternehmen. Denn damit befördere der philosophierende Mensch sich angeblich zum »selb ständigen Versucher des Seins, zum Weltspieler«. »So gleicht er den Göttern, wie Heraklit von Zeus sagt: ›er spielt mit den Welten‹«233.
230 231 232 233
Ebd., S. 44. EFGA 3.3, OH-V/47. Ebd., OH-V/22. Ebd., OH-V/24.
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XI. Finks »Einkehr ins Geheimnis«: »Tagebuchnotizen eines Abseitigen«
Die Herzkammer des vorliegenden 3. Teilbandes, die Stelle, an der man den Pulsschlag von Finks Philosophieren genau messen kann, bilden ohne Zweifel die aus dem Oytaler Aufenthalt stammenden Notizgruppen. Wie bereits erwähnt, unternahm Fink Mitte Septem ber 1935 eine Klettertour in Oberbayern, ohne Husserl eine Adresse zu hinterlassen234. Er hielt sich in der Nähe von Oberstdorf im Ober allgäu auf – im Oytal, das im Schatten des »Großen Wilden« liegt. Dort bezog er ein »Haus auf den Hügeln des Vorgebirges«, rundum »Holundersträuche, ein Kreuz, Ländlichkeit «235. Indem er nachts aus der Hütte »in das weißlich-blaue Blinklicht der Sterne« heraustrat, wurde er gewahr, »wie die Verknüpfung mit dem Menschlich-Erha benen, mit dem Sittengesetz« ihm nur noch wie »eine grausige Natur ferne« vorkam. Im Anblick des »Großen Wilden« schien es ihm, als ob »zwischen Jetzt und Tod die ganze Welt« eingespannt war236. In der ländlichen Abgeschiedenheit des Oytals begann Fink eine Reihe von Reflexionen, in denen er es unternahm, sich seine »Motivation des Philosophierens«237 zurechtzulegen. Er versuchte, in Worten zu fassen, »was in meinem 30. Jahr sichtlich geworden ist an der ›Phi losophie‹, die in meinem Leben vielleicht liegen mag«238. Zeitweise erwog er die Möglichkeit, diese Notizen zu einer Schrift mit der Auf schrift »Hütte im Oytal« zu bündeln239. Mehrere Hefte tragen auf dem Außenumschlag die Maxime »λαθε ßιωσας = Lebe im Geheimnis«240
Brief Edmund Husserls an Felix Kaufmann vom 17. IX. 1935, in: Edmund Husserl, Briefwechsel. Band IV, Husserliana Dokumente Bd. III.IV, a.a.O., S. 216. 235 EFGA 3.3, Z-XXIII/15. 236 Ebd., OH-VII/13. 237 Ebd., M-IV/1, Zwei lose Blätter aus den dreißiger Jahren. 238 Ebd., OH-VII/50. 239 Vgl. dazu die Angaben in der »Beschreibung« zu der Mappe OH-III; siehe ebenfalls Finks »Pläne für 1938«, in: Z-XXIII/15. 240 Ebd., OH-VI/2. 234
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XI. Finks »Einkehr ins Geheimnis«: »Tagebuchnotizen eines Abseitigen«
sowie als Symbol die Zeichnung eines zunehmenden Mondes über dem Meer oder das Bild zweier Hunde241. Seine Stellung als Privatassistenten eines völlig vereinsamten Ordinarius mag ihm zu diesem Zeitpunkt immer fragwürdiger gewor den sein. Er notierte: »Das Zerrbild des ›Philosophen‹: der ›gute Jünger‹, der im Wahne einer Dienstidee lebt und so sein Leben überschlägt. (Beispiel: Husserls Auffassung des guten Nachfolgers; eine Rolle, die mir zugedacht ist!). Diese ›Selbstlosigkeit‹ ist von alters her mit allen Gloriolen umgeben worden«242. In der Abgeschie denheit des Oytals entschloss er sich dazu, das »Tagebuch eines Abseitigen«243 zu führen. Die innere Gliederung desselben sollte »durch die allmähliche Verwandlung der Maxime λαθε ßιωσας« selbst diktiert werden: »von der Einsamkeit des Sich-Aussondernden bis zur Einsamkeit als Heimkehr ins ›Geheimnis‹«244. Den Stufen gang dieses sich steigernden Rückzugs gliederte Fink wie folgt: »1) gegen die Öffentlichkeit und unproblematische Weise zu leben. Also sich zurückholen aus Staat, Sitte, Tradition; 2) »Verhaltenheit«. 3) Heimkehr in die ›menschenlose Welt‹: Hochgebirge. 4) Einsamkeit als Weg zum Selbst. 5) Vom Selbst zum ›Geheimnis‹«245. Wenn irgendwann der Punkt erreicht wurde, an dem das »vin culum fidei et amoris«, das ihn mit Husserl verband, unwiderruflich zerriss, – die Stelle, an der man sagen muss: »hic Rhodus, hic salta« – so ist es wohl hier, in den in der Hütte im Oytal geschriebenen Notizen, die Fink uns hinterlassen hat. Nunmehr drückte er unum wunden seinen »Gegensatz zu Husserl hinsichtlich der Motivation des Philosophierens« aus. »Bei Husserl ist die Motivation Wissenschaft als Grundlage eines humanen Daseins. Wissenschaft als auto nom gewordene Religion (Judengott im Hintergrund!).« »Meine Auffassung vom Antrieb des Philosophierens ist ›jenseits von Gut und Böse‹: Philosophieren eine Leidenschaft des Lebens, das ihm Eigenmacht verschafft«246. Wie ein »Don Quijote«sah Fink sich »auf der Pilgerfahrt zum unversehrten Leben«247, einem Leben mit dem Ziel, sich aus allen »ontischen Selbstentfremdungen zurückzu 241 242 243 244 245 246 247
Ebd., die Beschreibungen der Hefte OH-III, OH-IV, und Z-XVIII sowie OH-VI. Ebd., OH-VII/A/5a. Ebd., OH-VII/24. Ebd., OH-VII/24–25. Ebd., OH-VII/25. Ebd., M-IV/1. Ebd., OH-VII/13.
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XI. Finks »Einkehr ins Geheimnis«: »Tagebuchnotizen eines Abseitigen«
nehmen«248. »Weltanschaulich«, so verdeutlichte er nochmals seine eigene Position, »kämpfe ich gegen Husserls ›Geist des 18. Jahrhun derts‹«249. Gerade in dem Augenblick, da Husserl seinen Prager Vorlesungszyklus vorzubereiten hatte, wahrte Fink demnach eine philosophische Distanz, die ihn als jungen Phänomenologen gera dezu auszeichnete. Die »versucherische Existenzform«, in der die »Idee einer Selbst bemächtigung des Lebens« offensichtlich verwurzelt sei, die er am Schluss seines Dessauer Vortrags pointiert hervorhob, möchte Fink allerdings von einer existenziellen Philosophie abheben, die zwar ebenfalls »gegen die Unterstellung des philosophierenden Interes ses unter die Dienstidee der objektiven Kulturform ›Wissenschaft‹« reagierte, aber nach seiner Meinung zur »Statik einer Haltung« führte. »Demgegenüber«, so schrieb er, »setze ich die Philosophie als eine Lebensbewegung an«. Was in der Philosophie in Bewegung kommen soll, ist »Benommenheit, Versponnenheit und Befangen heit«250. Diese drei sind konstitutiv für die »Natürliche Einstellung« des Menschen. »Benommen sind wir vom Seienden, versponnen sind wir in das Apriori, befangen sind wir in der Welt«251. Die versu cherische Existenzweise sollte ihre wahrhaft philosophische Potenz durch ein »unablässiges Hineingehen in Fragen«252 erweisen, durch ein »Hineinfragen in die Spielräume der transzendentalen Bezüge«, wie des Bezugs von ›ens und verum‹. Und eben in einem solchen Fragen offenbare sich »die Idee der Transzendentalphilosophie«253, die nicht etwa nur das bislang unbekannte Wesen des Menschen, »seine onto logische Unerreichbarkeit«, ans Tageslicht fördert254, sondern die sich ebenfalls der Aufgabe einer Auslegung der Konstitution des Ganzen des Seienden nicht entzieht. Erst in einer solchen Existenzweise stelle der Mensch sich »Gott und den letzten Dingen«255. Als Weltwesen späht er nach der Weltschöpfung aus, die sich in der Tiefe seines Lebens ereignet. In einem eigentümlichen Wissen »kosmologischkosmogonischer Art« überwindet diese Existenzform die »Entstellt 248 249 250 251 252 253 254 255
Ebd., M-IV/2a. Ebd., OH-VII/42. Ebd., OH-VII/14–15. Ebd., OH-VII/23. Ebd., OH-VII/15. Ebd., OH-VII/50. Ebd., OH-VII/23. Ebd., M-IV/2a.
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XI. Finks »Einkehr ins Geheimnis«: »Tagebuchnotizen eines Abseitigen«
heit« und das »Außer-sich-Geratensein«, die zur »Selbstverfassung« des natürlichen Lebens gehören256. In der Maxime »λαθε ßιωσας« lag nach Fink eine dreifache Anweisung für den Lebensweg, den er fortan begehen möchte: »1) ›lebe abseits‹ ; 2) ›lebe in der Einsamkeit‹ ; 3) ›lebe im Geheimnis‹«. Und er fügte hinzu: »Geheimnis ist das Seiende im Ganzen als Erscheinung Gottes 257«. Mit Vehemenz wandte er sich gegen einen »seiner metaphysischen Natur« beraubten, »profanierten« Begriff des Wissens. »Sofern Wissen ursprünglich geschieht, ist es wesenhaft in der Nachbarschaft des Geheimnisses.« »Wie ›Licht‹ nur ist, sofern es in der Dunkelheit ist, ist Wissen nur im Geheimnis«258. Gerade in der Geborgenheit einer Lebensform, die sich dem Ganzen des Seienden verschließt, das sich uns erstmals in den »panischen« Lebensmomenten unseres Daseins offenbart, sei »Gott durch die Welt verborgen«259, die Spur des Geheimnisses bis zur Unkenntlichkeit verwischt worden. Die philosophierende Selbstbemächtigung des Lebens auf dem Boden des ›Staunens‹ sei dagegen im wahrsten Sinne des Wortes eine »Heimsu chung des Menschen«, die vom Schrecken und Entsetzen durchzittert sei260. Eine solche Existenzform ist »Wagnis und Gefahr in einem«261. Die im vorliegenden Band vor allem über die Mappen OH-III, OH-IV und OH-VI ausgestreuten Notizen aus dem »Oytal«, die sich zusehends zu einem Schriftprojekt »Vom freien Leben«262 verdichtet haben, sind ein äußerst aufschlussreiches biographisches Dokument. Denn hier begegnet man Eugen Fink so wie er ist: ein junger Philosoph, der in der unmittelbaren Nähe eines Denkers, der längst Weltruf erlangt hatte, sich an einem Kreuzpunkt seines eigenen philosophi schen Lebensweges befand und der sich über die Zukunft, seine und gleichzeitig die der Phänomenologie, in der stillen Abgeschlossenheit des Hochgebirges beriet. Zugleich werden wir die volle Stoßkraft des existenziellen Engagements gewahr, dass er mit einer »existenzialen« Vollzugsform der transzendental-phänomenologischen Reduktion von Anfang an zu verbinden beabsichtigte und der vorwiegend »gno seologisch« motivierten Gestalt eines Reduktionsvollzugs entgegen 256 257 258 259 260 261 262
Ebd., OH-IV/3 und OH-IV/7. Ebd., Z-XXII/34–35. Ebd., Z-XXII/34. Ebd., OH-VII/48. Ebd., Z-XXII/32. Ebd., OH-VII/49. Ebd., OH-VI/2.
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XI. Finks »Einkehr ins Geheimnis«: »Tagebuchnotizen eines Abseitigen«
hielt, den Husserl für die seine Phänomenologie innerlich durchstim mende Schwungkraft hielt. Mindestens zweimal ist es, im Nachklang der in den Kant-Gesellschaften von Dessau und Bernburg gehaltenen Vorträge, zu einem »Streitgespräch zwischen dem Gelehrten und dem Philosophen (Wissenschaft und versucherische Exis tenz)«263 gekommen. Diese Gespräche mit Husserl fanden am 21. Januar und am 18. Februar 1936 statt. Zu diesem Zeitpunkt war auch Landgrebe aus Prag wieder nach Freiburg gekommen.264 Wir möchten im Folgenden aus den uns erhalten gebliebenen »Notizen« dieser Gespräche einige Punkte hervorheben. Vorrangig sei für Fink die Ausarbeitung einer »Metaphysik des Spiels«; denn, so notierte er, »das Wesen des Lebens = das Spiel«265. An zweiter Stelle käme die Entfaltung der »Idee der Transzendental philosophie als ein Überfragen des Seins«. Dabei bedürfte es einer »kritischen Beleuchtung von Ontologie und Reflexionsphilosophie«, um eine gebührende »Distanz zu Heidegger und Husserl« bewahren zu können266. Schließlich sollte »der Naturbegriff der Philosophie als Selbstbemächtigung ( Heimsuchung und ›versucherische Existenz‹)«267 wieder zu Ehren gebracht werden. Nun sprach Fink sich ungehemmt über die Zwietracht, in der er sich »zu der Phänomeno logie in Husserls Durchführung« ständig befand, aus. Es gäbe bei Husserl eine innere Unausgewogenheit zwischen der spekulativen Kraft, die von der Theorie der Reduktion ausging, und der eigentlich thematischen analytischen Arbeit, die auf den begrenzten Bereich der Gegenstands- und der selbstapperzeptiven Konstitution beschränkt sei. Ein Zeichen dieser bedenklichen Sachlage sei die »durchgängige Orientierung des Wesens des Lebens am ›Subjekt als Bewusstsein‹«. Diese führe zu einem »Dogmatismus der Egoität«, zum Unvermögen, hinter die Individuiertheit des Lebens zurückzugehen. Außerdem witterte Fink in Husserls Phänomenologie einen »Dogmatismus der Statik« in der Erfassung des absoluten Lebens, d.h. ein stationäres Ausruhen in der Dimension des Bewusstseins. »Husserls ›transzen dentaler Ansatz‹ bei dem ›ego‹ muß weiter entwickelt werden Ebd., OH-VII/36–37 und OH-VI/3. Siehe: Karl Schuhmann, Husserl-Chronik. Denk- und Lebensweg Edmund Hus serls, a.a.O., S. 472. 265 EFGA 3.3, OH-VI/2. 266 Ebd., OH-VII/50. 267 Ebd. 263
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zum Begriff des ›Geistes‹«268, so Fink. Angelpunkt einer künftigen »ontogonischen Metaphysik« sei die Entfaltung eines »Vitalbegriffs der Vernunft«269. Gerade die Gegenüberstellung von »Vitalität und Bewusstsein« wurde zum Gegenstand eines ersten Streitgesprächs zwischen Husserl und Fink.270 »Denken«, so behauptete Fink, ist »als Sturm, als Leidenschaft, als exzentrische Größe des Lebens« aufzufassen, und er forderte einen »strengen, harten, verwegenen Rationalismus«, der »schöpferischer« Natur sei271. Mit diesem »Vital begriff«, mit diesem »pathischen Begriff des Geistes« als »dämoni scher Naturmacht« möchte Fink sich vor allen gegen die kantische »praktische Vernunft« und die sich in ihr erschließende »intelligi ble Welt« kehren. Dem »Moralismus in idealistischem Gewande« erklärte Fink die »Todfeindschaft«272. Sich gegen die Verfangenheit des Lebens in seinen Gebilden, gegen die »Entselbstung« auflehnend sollte der Mensch »sich sein Gesetz geben aus der Fülle und Mächtig keit des zum Sein zu bringenden Selbst«. Dieses »Gesetz des Selbst« bestehe eben in der »Übernahme der ›Rolle‹ des Weltspielers«273. Das vielfach gebrochene metaphysische Wesen des Menschen in der Philosophie durch die verschiedenen Formen seiner Versklavung und Entstellung sollte »in der Vernichtung seiner übernommenen Endlichkeit die Befreiung seiner me-ontischen Seinsmacht vollstre cken«274. Diese Befreiung bedeutete aber zugleich »einen Untergang in Gott«275, eine Einkehr in »das Geheimnis (Gott)«276. Gerade das »Gottesproblem« bildete den Gegenstand einer zwei ten Aussprache zwischen Fink und Husserl, die Mitte Februar 1936 stattfand. Nach Fink ging eine religionspsychologische oder – phäno menologische Behandlung der Gottesfrage, die etwa nach Husserls Beispiel einen »a-religiösen Weg zur Religion« beschreite277, an der philosophischen Frage nach Gott vorbei. Hier wies Fink auf den für Ebd., OH-III/27–28. Ebd., OH-II/23. 270 Ebd., OH-VI/15. 271 Ebd., OH-II/23. 272 Ebd., OH-IV/11. 273 Ebd., OH-VI/15–16. 274 Ebd., OH-II/25–26. 275 Ebd., OH-VII/23. 276 Ebd., OH-VII/35. 277 Siehe dazu Edmund Husserls Brief an Gustav Albrecht vom 22. XII. 1935, in: Edmund Husserl, Briefwechsel. Band IX, Husserliana Edmund Husserl Dokumente Bd. III.IX, a.a.O., S. 124. 268
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ihn bedeutsamen Unterschied zwischen einer »kosmogonischen« und einer personalistisch-moralischen Religion hin. »Husserl«, so schrieb er, »hält die personalistische (jüdischer Monotheismus) für die philo sophisch relevantere, ich umgekehrt«278. Die kosmogonische Religion sei die Bewahrung des spekulativen Geheimnisses, aber ihrem Wesen nach keine Offenbarungsreligion. Aus den Gesprächen, die er zu dieser Zeit mit Landgrebe führte, geht hervor, dass Fink, durch die Lektüre von K. Löwiths Nietzsche-Buch: »Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkunft des Gleichen« (Berlin 1935) dazu angeregt, die Frage nach der Heimkehr ins unversehrte Leben verstärkt an eine Nietzsche-Interpretation angebunden hat279. Gelegentlich hegte Fink Zweifel daran, ob die an den Anfang sei ner »Reise ins Leben«280 gestellten Einzelmeditationen nicht einem Müßiggang des phänomenologischen Denkens den Weg ebneten. „›Arbeiten‹ kann man nicht mit Stern und Edelweiß«281. Trotzdem bestand er stolz auf die stille Besinnlichkeit, die seine Seele beglückte. Was er in der Stille des Oytals hatte angedeihen lassen, war: »Samm lung meines Lebens: Dichtung zur Dichtigkeit einer wesentlichen Existenz«282. Gerade in einer Stimmung, in der die »Weltraumweite des Lebens«283 dem Menschen zur Erfahrung werden kann, erblickte Fink die Grundvoraussetzung für die »Genesis des Begriffs der Ersten Philosophie«, die aus dem »Staunen« geboren wird, für die Tathand lung einer »Erhebung zur ›spekulativen Allgemeinheit‹«284. Von den im Oytal verfolgten Gedankengängen ließen die in Dessau und Bernburg gehaltenen Vorträge nur wenig durchschei nen. Was in diesen Vorträgen völlig unterblieb, war ein Hinweis auf die »Metaphysik des Spiels«, auf den einheitlichen Zusammen hang von »Spiel und Für-sich-sein«, von Spiel als Metapher für die Existenzform des Sich-selbst-zurückholen-Könnens aus allen Verfangenheiten und Entstelltheiten, dessen Aktualisierung gerade »Philosophieren« sei. Fink gestand offenherzig, dass, an diesem Kardinalpunkt seines denkerischen Vorstoßes angelangt, die führende Gedankenrichtung seiner philosophischen Bemühungen »nicht mehr 278 279 280 281 282 283 284
EFGA 3.3, OH-VII/36–37. Ebd., OH-VII/12. Ebd., Z-XVIII/3b. Ebd., Z-XXIII/8. Ebd., Z-XXIII/16. Ebd., OH-III/29. Ebd., Z-XXIII/17.
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XI. Finks »Einkehr ins Geheimnis«: »Tagebuchnotizen eines Abseitigen«
›phänomenologisch‹«285 sei. In einem am 19. XII. 1935 an Landgrebe abgesandten Brief hat Husserl ihm Bericht von seiner Lektüre des Dessauer Vortrags erstattet und gleichzeitig die »interessanten Über legungen« erwähnt, die es im Gefolge dieser Lektüre zwischen ihm und Fink gegeben hat286. Diese Gespräche wurden alsbald um die Jahreswende überschattet durch die Tipparbeiten, die Fink überneh men musste, da Husserl seine Krisis-Arbeit »auf die höchste mir mögliche Stufe bringen wollte«. Denn sie sollte »so etwas wie mein philosophisches Testament« darstellen287, so meinte Husserl. Mitte März 1936 erkrankte Husserl an einer Rippenfellentzündung und musste einen Erholungsaufenthalt in Rapallo einlegen288. Von den von seinem Privatassistenten im Oytal verfolgten Gedankengängen dürfte er im Grunde nur ganz wenig mitbekommen haben. Durch »äußerste Gedankenkonzentration« riegelte Fink selbst sein »mono logisches Denken« ab zur »Wahrung des Sich-selbst-erfahrens in der Eingestelltheit in das Ganze der Dinge«289. Es war die Grunderfah rung, die seine gesamte philosophische Existenz durchdringen würde.
Ebd., Z-XXIII/19. Brief Edmund Husserls an Ludwig Landgrebe vom 19. XII. 1935, in: Edmund Husserl, Briefwechsel. Band IV, Husserliana Edmund Husserl Dokumente Bd. III.IV, a.a.O., S. 343–344. 287 Brief von Edmund Husserl an Ludwig Landgrebe vom 28. II. 1936, a.a.O., S. 348. 288 Karl Schuhmann, Husserl-Chronik. Denk- und Lebensweg Edmund Husserls, a.a.O., S. 474. 289 EFGA 3.3, OH-VII/47–48. 285
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XII. Entfaltung eines »Problem-Begriffes« der Philosophie
Ein Beispiel für die phänomenologische Studienbegleitung, die Fink in Husserls Auftrag geleistet hat, sind die Unterredungen mit Fräulein Dorothy Ott. Am 6. August 1936 berichtete Frau Malvine Husserl ihrer Tochter Elisabeth Rosenberg-Husserl über den Besuch, den »Miss Ott vom Smith College mit Fink und Hans Lassner« dem Hus serlʼschen Hause gemacht hatte290. Die Studentin aus Northampton, Massachusetts, wollte zunächst in die Alpen gehen, danach ein Jahr in Freiburg bleiben291. Im Sommer 1936 weilte Husserl erneut in Kappel292. Gesprächsstoff dieses Sommers war zweifellos Finks bevor stehende Heirat am 18. August mit Fräulein Martl Opitz. Die junge Dame scheute das Bergsteigen nicht und Ende Juni 1936 machte sie eine Klettertour im Donautal bei Tiergarten, gemeinsam mit Eugen Fink, Anni und Alfred Riemensperger und Alfred Zwikelmaier.293 Im darauffolgenden Sommer 1937 beteiligten sich auch Finks Bruder Ernst und Fräulein Ott an einer Kletterwanderung am Gfällmatten im Süd-Schwarzwald294. Der Unterricht, den Fink Miss Ott erteilte, wird im vorliegenden dritten Teilband durch mehrere Schriftstücke doku mentiert. An erster Stelle sind die »Lesestunden« zu erwähnen, die Fink im Herbst 1936 der »Metaphysik« des Aristoteles gewidmet hat. Finks Notizen zu diesem Unterricht sind in dem Heft mit der Signatur Z-XXI versammelt worden295. Diese Themenwahl war keine reine Willkür. Sie stand in Zusammenhang mit einer »problemtheoretischen 290 Brief von Frau Malvine Husserl an Elisabeth Rosenberg-Husserl vom 6. August 1936, in: Edmund Husserl, Briefwechsel. Band IX, Husserliana Edmund Husserl Dokumente Bd. III.IX, a.a.O., S. 476. 291 Ebd. 292 Siehe: Karl Schuhmann, Husserl-Chronik. Denk- und Lebensweg Edmund Hus serls, a.a.O., S. 477. 293 Siehe: Axel Ossenkop, Guy van Kerckhoven, Rainer Fink, Eugen Fink 1905–1975. Lebensbild des Freiburger Phänomenologen, a.a.O., Bild Nr. 324. 294 Ebd., Bilder Nr. 354–357. 295 EFGA 3.3, Z-XXI.
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XII. Entfaltung eines »Problem-Begriffes« der Philosophie
Entfaltung des wesentlichen Fragegehalts der φιλοσοφια«296. Die Per spektive einer Entwicklung des »Problembegriffes« der Philosophie war ebenfalls maßgebend für Finks Kommentar zur »Formalen und transzendentalen Logik«, mit dem er Miss Otts Dissertationsprojekt über das »Evidenzproblem in der phänomenologischen Philosophie Husserls« flankierte. Dieser Unterrichtsstoff ist in der Mappe Z-XXII untergebracht297. Eine Beilage enthält den klar gegliederten Plan des Dissertationsvorhabens von Miss Ott298. Eine weitere Beilage enthält eine nur als Fragment erhaltene »Einführung in die phänomenologische Philosophie«, die Fink anlässlich der »Ott-Stunden« verfasst und dem Dissertationsentwurf unmittelbar vorangestellt hat299. Unsere Auf merksamkeit möchten wir insbesondere auf die Ausführungen Finks zum »Problem-Begriff der Philosophie« lenken. Bekanntlich hat Fink erst im Jahre 1939 in der Revue internatio nale de Philosophie I (Bruxelles) einen fast gleichnamigen Aufsatz: »Das Problem der Phänomenologie E. Husserls« veröffentlicht300. In den Anfangszeilen zu dieser Schrift hat er nochmals wiederholt, dass »das Problem einer Philosophie ihre ständig sich radikalisierende Grundfrage« sei, »in deren aktivem Entwurf die Selbstaufstel lung und Selbstbegründung einer Philosophie geschieht«301. Dank der vorliegenden Edition ist es zum ersten Male ersichtlich, dass Fink die Entfaltung eines derartigen »Problem-Begriffes der Philo sophie« bereits an den Anfang seines Philosophieunterrichts von Miss Ott gestellt hat. Die »Hoheit der Philosophie«, ihre »Souveräni tät«302 wieder voll zur Geltung zu bringen, war ein Anliegen, das Fink sich sehr zu Herzen genommen hat. Sie liegt in ihrer »freien Selbsterschaffung«; diese ist eine »Spielsetzung des Geistes«. Sie setzt den Welt-Entwurf aufs Spiel, der den a-thematischen Lebensboden des Menschen bildet303. Die Hoheit der Philosophie soll demnach im Ausgang von »dem metaphysischen Begriff für das Wesen des Ebd., Z-XXI/III/3a. Ebd., Z-XXII. 298 Ebd., Z-XXII, »Beilage II«. 299 Ebd., Z-XXII, »Beilage I«. 300 Eugen Fink, »Das Problem der Phänomenologie Edmund Husserls«, in: Revue Internationale de Philosophie I, Bruxelles 1939, S. 226–270; jetzt in: Eugen Fink, Stu dien zur Phänomenologie 1930–1939, a.a.O., S. 179–223. 301 Ebd., S. 180. 302 EFGA 3.3, Z-XXIII/18. 303 Ebd., Z-XXIII/17. 296
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XII. Entfaltung eines »Problem-Begriffes« der Philosophie
Lebens: dem Begriff des ›Spiels‹«304 zum Tragen kommen. Die Philosophie ist das »spielende Sein«, der Philosoph »ὁ θεος παιζων«305. Mit dieser Grundkonzeption einer »ersten Philosophie« umriss Fink in aller Schärfe seinen philosophischen Horizont des Jahres 1936. Wesenskomponente dieses Horizontes seien folgende Themenbereiche: 1) Philosophie als Naturbegriff; 2) Philosophieren als Selbstbemächtigung des Lebens; 3) die Metaphysik des ›Spiels‹; 4) Das relative Recht einer Reflexionsphilosophie; 5) die Ontologie und ihr Recht; 6) Die Transzendentalphilosophie als Problemsetzung der Welt.306 In zweifacher Hinsicht beabsichtigte er, diesen Begriff einer πρωτη φίλοσοφια einer weiteren Aufklärung zu unterziehen: im Hinblick auf das spannungsvolle Verhältnis zur »Wissenschaft« einerseits und zur »Weltanschauungslehre« andererseits. Von einem »Popularbegriff« wollte Fink nachdrücklich den »Problembegriff der Philosophie« abheben. Die Erschütterung des Popularbegriffs sollte eben eine erste Aufgabe seines Privatunterrichts für Miss Ott darstel len307. Eigentlicher Auftrag der Philosophie sei es, »das Rätsel des Seins« zu befragen308, in die Rätselhaftigkeit der Welt zurückzukeh ren. Und alles Wissen, zu dem man hier gelangen kann, ist seinem Wesen nach »Sein zum Geheimnis, Raub am Seienden, verwegene Erleuchtung weltalten Dunkels«.309 Im Hinblick auf das Weltphäno men muss das Philosophieren »in der fundamentalen Lebensverfas sung der Unruhe«, von der »das Experiment, das Wagen des Lebens, Revolution« zeugen, das Sprungbrett ihres unablässigen Nach fragens suchen310. Sie alle bringen den Nachweis des schöpferischen Seins, das im menschlichen Existieren haust. In ihnen bekundet sich ein »Offenhalten, Freihalten von dogmatischen Theorien«311. Eben diese Offenheit sei nach Fink »das Wesensmerkmal« eines »Problem begriffes« der Philosophie. Eine gedankenreiche Ausführung über diesen »Problembegriff« hat Fink in seine Notizen zu den mit Land grebe geführten Gesprächen eingeschoben. Sie ist mit der Signatur 304 305 306 307 308 309 310 311
Ebd., Z-XXIII/18. Ebd. Ebd., Z-XX/3a. Ebd., Z-XXII – Beilage I. Ebd., Z-XXII/I/2a. Ebd. Ebd. Ebd., Z-XXII/I/2b.
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XII. Entfaltung eines »Problem-Begriffes« der Philosophie
»Reihe XXVIII« versehen worden312. In diesen Zeilen knüpfte Fink bei dem Logos-Aufsatz aus dem Jahr 1911 über »Philosophie als strenge Wissenschaft« an, in dem Husserl sich mit Diltheys »Weltanschau ungsabhandlung« kritisch auseinandergesetzt hat313. Den Nachweis eines zum Problembegriff der Philosophie gehörenden eigenständi gen »Wissensbegriffes« hoffte Fink am Leitfaden einer erneuten Lek türe von Kants »Prolegomena« und Hegels »Phänomenologie« liefern zu können. Die Lebensbewegung der wissenden Selbstbemächtigung kontrastierte er mit der bloßen »existentiellen Lebensattitude« eines Nietzsche oder Kierkegaard. Im Rahmen der neuartigen Bestimmung der »Natürlichen Einstellung« als »Weltbefangenheit« wies Fink mit Nachdruck auf den »kosmologischen Horizont der Seinsidee« als den umgreifenden »thematischen Universalhorizont« der Philosophie hin314. Die phänomenologische Transzendentalphilosophie sei ihrer seits dazu berufen, die »konstitutive Ursprungsforschung« der Welt in die Wege zu leiten315. »Weltbildung« sollte hier allerdings nicht bedeuten: »Gegenstandskonstitution«. Von einer subjektivistischen Umdeutung der ontogonischen Konstitutionsproblematik sei nicht die Rede316. Am 23. Januar 1937 rundete Fink die erste ›Phase‹ seiner mit Miss Ott geführten philosophischen Unterhaltungen ab. In einer zweiten Phase sollte auf die Darstellung des allgemeinen Aspektes der Philosophie eine phänomenologische Analyse der Erkenntnis folgen, in der Absicht, durch eine interne Analytik derselben das spekulative Problem von ›ens und verum‹ auf einen wirklichen Frageboden zu bringen317. Eine solche Analytik bot Aussicht darauf, in weiterer Folge das »Problem der Evidenz« in Angriff zu nehmen, das Miss Ott zum Ebd., Z-XX/ Reihe XXVIII/1a-4b. Edmund Husserl, »Philosophie als strenge Wissenschaft«, in: Logos Bd. I, 1910– 11 (I.C.B. Mohr), S. 289–341; mit einer Inhaltsanalyse, einem Nachwort und einem Anhang in der Reihe: Quellen der Philosophie. Hrsg. von Rudolph Berlinger, als Bd. 1 veröffentlicht durch: Wilhelm Szilasi, V. Klostermann, Frankfurt a.M., 1965. Kriti sche Edition in: Edmund Husserl, Aufsätze und Vorträge (1910–1921). Mit ergänzenden Texten herausgegeben von Thomas Nenon und Hans Rainer Sepp. Husserliana, Edmund Husserl Gesammelte Werke Band XXV, M. Nijhoff, Den Haag, 1987, S. 3– 62. 314 EFGA 3.3, Z-XX/Reihe XXVIII/3a. 315 Ebd. 316 Ebd., Z-XX/Reihe XXVIII/3b: »Vorbegriff von ›Konstitution‹, Gefahr des ›Sub jektivismus‹«. 317 Ebd., Z-XXII/53–54. 312
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Hauptthema ihrer geplanten Dissertation gewählt hatte318. Noch am selben Tag überreichte Fink Husserl einen »Kurzbericht« mit der Auf schrift: »K. Löwith und die Phänomenologie«; er ist im vorliegenden dritten Teilband in der Textsammlung M-III Grammata untergebracht, kann an dortiger Stelle nachgelesen werden319. Löwith war im Jahre 1923 mit einer Studie über »Nietzsche« bei M. Geiger promoviert worden, bevor er sich im Jahre 1928 bei Heidegger in Marburg habilitierte mit der Studie: »Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen«320. Im April 1935 war ihm der Marburger Lehrauftrag entzogen worden, im Oktober desselben Jahres wurde er aufgrund des Reichsbürgergesetzes offiziell aus dem Amt enthoben. 1936 erhielt er einen Ruf an die Kaiserliche Universität Tohoku in Sendai dank der Hilfe von Shuzo Kuki. In Japan gewann Löwith im Kreise der phänomenologisch Interessierten einen rasch wachsenden Einfluss. Diesen Widerhall dürfte Fink zur Redaktion seines »Kurz berichtes« veranlasst haben. Eher noch als in Löwiths anti-systema tischer Attitüde sah Fink in seinem »Anthropologismus« eine »Gefahr« für die künftige Rezeption von Husserls transzendentaler Phänomenologie in Japan321. Gerade Löwiths »nihilistischer Agnos tizismus« unterminiere auf Dauer die systematischen Ansprüche der Husserlʼschen Phänomenologie. Für Fink, der als Privatassistent von Husserl die japanischen Professoren Takahashi, Usui, Otaka und Miyake, die amerikanischen Gelehrten Cairns, Farber und Morris bei ihrem Studium der Phänomenologie begleitet hat322, war es eine wichtige Angelegenheit, dass Husserls transzendentalphilosophi scher Ansatz im Ausland in seiner vollen Tragweite gewürdigt wurde. Die von Löwith exemplarisch geübte Skepsis dürfe einzig als eine »raumschaffende Handlung« für die wahren Grundfragen der Philo sophie eingestuft werden323. Finks »Bericht« hat Husserl wohl noch Ebd., Z-XXII – Beilage II. Ebd., M-III Grammata, Text Nr. 18. 320 Karl Löwith, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen. Ein Beitrag zur anthropologischen Grundlegung der ethischen Probleme. Drei Masken-Verlag, Mün chen, 1928. 321 EFGA 3.3, M-III Grammata, Text Nr. 18. 322 Siehe dazu Eugen Finks »Lebenslauf«, eingereicht als »Beilage zum Habilitati onsgesuch« am 18. Dezember 1945, in: Axel Ossenkop, Guy van Kerckhoven, Rainer Fink, Eugen Fink 1905–1975. Lebensbild des Freiburger Phänomenologen, a.a.O., Bil der Nr. 526–528 (insbes. »S. 2«). 323 EFGA 3.3, M-III Grammata, Text Nr. 18. 318
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XII. Entfaltung eines »Problem-Begriffes« der Philosophie
zur Kenntnis nehmen können, bevor er am 22. Februar 1937 Löwith für seine Berufung nach Sendai, wo die Husserl-Schüler Satomi Taka hashi, Tomoye Oyama und Goîchi Miyake lehrten, gratulierte324. In seinem Brief stellte auch Husserl dem hartnäckigen Beharren in einer »anthropologischen Positivität« die Methode der phänomenologi schen Reduktion gegenüber. Nur sie erreiche die Ebene »universaler Selbstbesinnung in wirklicher Concretion«325. Im Laufe des Monats August 1937 machte Miss Ott das groß zügige Angebot, durch geldliche Zuwendungen nicht nur Finks finan zielle Not zu lindern, sondern auch die »knappe Existenz« der inzwi schen emigrierten Familie Gerhart Husserls aufzubessern326. Als Tochter des Bankiers John Ott aus Winnetka in Illinois verfügte sie über ein beträchtliches eigenes Vermögen. Im August 1937 verließ Miss Ott Freiburg.327 Sie plante eine sechsmonatige Weltreise, die sie über Istanbul, Persien, Palästina, Ägypten, Indien und Japan wieder nach Amerika bringen sollte.328 Am 18. November 1937 verstarb sie ganz unerwartet – »ein großer Verlust für die Phänomenologie«, so bedauerte Frau Malvine Husserl329. Die Gedanken über den Problem-Begriff der Philosophie haben Fink nachhaltig beschäftigt. Noch im Oktober 1937 berichtete Frau Husserl ihrem Sohn, dass »Fink über seine Abhandlung: ›Die Phäno menologie E. Husserls‹ mit dem Meister referiert« habe, die erst im Jahre 1939 in der Revue internationale de Philosophie erschien330. Wie 324 Brief Edmund Husserls an Karl Löwith vom 22. II. 1937, in: Edmund Husserl, Briefwechsel. Band IV, Husserliana Edmund Husserl Dokumente Band III.IV, a.a.O., S. 397–398. 325 Ebd., S. 397. 326 Siehe dazu den Brief von Frau Malvine Husserl an Elisabeth Rosenberg-Husserl vom 15. IX. 1937, in: Edmund Husserl, Briefwechsel. Band IX, Husserliana Edmund Husserl Dokumente Bd. III.IX, a.a.O., S. 493–494. 327 Brief von Frau Malvine Husserl an Gerhart und Dodo Husserl vom 20. VIII. 1937, in: Edmund Husserl, Briefwechsel. Band IX, Husserliana Edmund Husserl Dokumente Bd. III.IX, a.a.O., S. 263. 328 Ebd., S. 263 sowie den Brief von Frau Malvine Husserl an Gerhart Husserl vom 14. X. 1937, in: Edmund Husserl Briefwechsel. Band IX, Husserliana Edmund Husserl Dokumente Bd. III.IX, a.a.O., S. 269. 329 Brief von Frau Malvine Husserl an Elisabeth Rosenberg-Husserl vom 10. XII. 1937, in: Edmund Husserl Briefwechsel. Band IX, Husserliana Edmund Husserl Doku mente Bd. III.IX, a.a.O., S. 503. 330 Brief von Frau Malvine Husserl an Gerhart Husserl vom 14. X. 1937, in: Edmund Husserl, Briefwechsel. Band IX, Husserliana Edmund Husserl Dokumente Bd. III.IX, a.a.O., S. 268 sowie die Anm. 206.; Eugen Fink, »Das Problem der Phänomenologie
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XII. Entfaltung eines »Problem-Begriffes« der Philosophie
Fink in einer auf »Dezember 1937« datierten Anmerkung angedeutet hat, überreichte er Husserl den ersten Paragraphen einer weiteren Schrift: »Die Entwicklung der Phänomenologie Edmund Husserls«331, die der Meister noch während seiner Krankheit gelesen hat. Auch dieser neue Beitrag stand ausdrücklich unter dem Vorzeichen des »Problembegriffes der Philosophie«. »In Entwurf«, so schrieb Fink, »bildet sich eine neue Dimension möglichen Wissens und geschieht die Selbstbegründung der Philosophie«332. Dieser Ent wurf vollzieht sich »in der staunenden Zukehr zum Seienden«. Denn nur so findet der Mensch sich »in der Morgendämmerung eines neuen Welttages«333. Den in dem Notizheft Z-XXIII aufbewahrten Notizen ist zu entnehmen, dass Fink eine Fortsetzung seines Fragments über »Die Entwicklung der Phänomenologie E. Husserls« ins Auge gefasst hat und ebenfalls den anlässlich der Unterrichtsstunden von Miss Ott in die Wege geleiteten Kommentar der »Metaphysik« des Aristoteles fortführen wollte334. Sowohl in seinem Dessauer Vortrag als auch in den beiden Aufsätzen: »Das Problem der Phänomenologie E. Husserls« und »Die Entwicklung der Phänomenologie E. Husserls« lehnte Fink eine bloß doxographische Darstellung der Phänomenologie mit Entschieden heit ab. Diese in den Kompendien der Philosophiegeschichte vielfach betätigte Methode sei gerade »die sicherste Weise eines verschlie ßenden Niederhaltens jeglichen Verständnisses«335 einer lebendigen, mit voller Kraft aufschwingenden Philosophie. Trotz dieses erklärten Widerstandes ließ er die Veröffentlichung einer kurzen Skizze zu, »die aus dem Jahr 1930 stammt und für das Eislersche Philoso phenlexikon bestimmt «.336 Über diesen Artikel hat Husserl in Edmund Husserls«, in: Revue Internationale de Philosophie 1/2 (Bruxelles 1939), S. 226–270; jetzt in: Eugen Fink, Studien zur Phänomenologie 1930–1939, a.a.O., S. 179–223. 331 Erstveröffentlichung in: Eugen Fink, Nähe und Distanz, a.a.O., S. 45–74. Der erste Paragraph trägt im Manuskript die Überschrift: »Das Problem«. 332 Ebd., S. 69. 333 Eugen Fink, »Das Problem der Phänomenologie Edmund Husserls«, in: Studien zur Phänomenologie 1930–1939, a.a.O., S. 183. 334 EFGA 3.3, Z-XXIII/9 und /15. 335 Eugen Fink, »Die Idee der Transzendentalphilosophie bei Kant und in der Phä nomenologie«, in: Nähe und Distanz, a.a.O., S. 10. 336 Siehe: Hans Rainer Sepp und Thomas Nenon, »Einleitung der Herausgeber«, zu: Edmund Husserl, Aufsätze und Vorträge (1922–1937), in: Husserliana Edmund Husserl Gesammelte Werke Band XXVII, a.a.O., S. XXIV, Anm. 4.
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XII. Entfaltung eines »Problem-Begriffes« der Philosophie
einem Brief vom 18. VI. 1937 an Marvin Farber berichtet: »Hüten Sie sich«, so warnte er Farber, »vor aller Literatur über Husserl. Nur Finks Abhandlungen ausgenommen. Alles Andere ist ganz verständnis los«337. Im vorliegenden Teilband ist dieser Text, an dessen Gestaltung Husserl teilweise mitgewirkt hat, in der Sammlung M-III Grammata abgedruckt338, allerdings in der Fassung, in der er in Finks Papieren vorlag. Wo diese von der im Ziegenfuß-Lexikon abgedruckten Version abweicht, ist dies auch eigens vermerkt worden. Alle frühen phänomenologischen Beiträge Finks zeichnen sich dadurch aus, dass sie den Überblick über das Ganze der von Hus serl geleisteten Analysen nicht gegen die Behandlung irgendwelcher Einzelthemen einwechselten, dabei jedoch nicht nachließen, sich in die, die Phänomenologie innerlich antreibenden, Grundfragen immer tiefer einzubohren.
Brief Edmund Husserls an Marvin Farber vom 18. VI. 1937, in: Edmund Husserl, Briefwechsel. Band IV, Husserliana Edmund Husserl Dokumente Bd. III.IV, a.a.O., S. 85. 338 EFGA 3.3, M-III Grammata, Text Nr. 14. 337
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XIII. Die Erschütterung des Staunens und die Trauer des Abschieds
Während über Europa dunkle Wolken zusammenzogen, brannte im Husserlʼschen Haus in der Lorettostraße das Licht. An der Tagesord nung war der Besuch von Ludwig Landgrebe, der am 2. Februar 1937 aus Prag eintreffen wollte339. Auf dem Arbeitsprogramm stand die Ausarbeitung der »Logischen Studien« sowie der Entwurf eines Vade mekums für die archivalische Verwahrung der Husserl-Manuskripte, das Landgrebe vielleicht zusammen mit Fink während seines Besu ches herzustellen gedachte340. Während Landgrebes Besuches ent warf Husserl bis zu zweimal »einen Gedankengang für die notwen dige Einleitung in die ›Logische Studien‹«341. Diese Versuche misslangen – nach Husserl aus demselben Grunde wie auch Land grebes Versuch missraten war. Nach einer erneuten Lektüre seiner »Formalen und transzendentalen Logik« war Husserl zu dem Ergebnis gekommen, dass dieses Buch bereits genau das enthielt, was wirklich zur »Einleitung« in die »Logische Studien« gehörte342. Husserl ver sprach immerhin, Landgrebe einen neuen Einleitungsentwurf zuge hen zulassen, der dann die Grundlage für die endgültige Fassung bil den sollte. Auch Fink erklärte sich dazu bereit, zu der sich in Arbeit befindenden Fassung seine »Randbemerkungen« an Landgrebe zu schicken.343 Finks kritische Bemerkungen zu der von Landgrebe ver fassten »Einleitung« zu den »Logischen Studien« sind in Notizform im vorliegenden dritten Teilband als Reihe LXVIII des Heftes mit der Signatur Z-XXV wiedergegeben344. Wir wenden uns im Folgenden Briefe Ludwig Landgrebes an Edmund Husserl vom 18. XII. 1936 und vom 19. I. 1937, in: Edmund Husserl, Briefwechsel. Band IV, Husserliana Edmund Husserl Doku mente Bd. III.IV, a.a.O. S. 362 und S. 364. 340 Brief Ludwig Landgrebes an Edmund Husserl vom 18. XII. 1936, in: a.a.O., S. 362. 341 Brief Edmund Husserls an Ludwig Landgrebe vom 31. III. 1937, a.a.O., S. 366. 342 Ebd., S. 366–367. 343 Brief Ludwig Landgrebes an Edmund Husserl vom 6. IV. 1937, a.a.O., S. 371. 344 EFGA 3.3, Z-XXV/LVIII/1a-12b. 339
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XIII. Die Erschütterung des Staunens und die Trauer des Abschieds
lediglich dem Hauptvorwurf der von Fink gegen Landgrebes Entwurf erhobenen »kritischen Bedenken« zu. Generell warf Fink Landgrebes »Einleitungsentwurf« vor, dass er »nicht das Problem der Schrift zum Expositionsthema« gemacht hat, nämlich: »warum die Genealogie der Logik zur Analyse ihres Gründens in der lebensweltlichen Erfahrung werden« sollte345. Die sem Vorwurf stimmte Husserl zu: »Das lag offenbar daran«, so hielt er Landgrebe vor, »dass Sie Ihre langen alten Studien über ›Erlebnis‹ und ihre inneren Auseinandersetzungen mit Dilthey und Heidegger nicht zur befriedigenden Ausreifung gebracht hatten und glaubten daraus Passendes als neue Einleitung verwerten und so die alte seelische Last loswerden zu können«346. Das bereits erwähnte Notizheft Z-XXV enthält weiterhin eine Reihe von Notizen, die uns Aufschluss bieten über den Inhalt der von Fink mit Husserl geführten Gespräche in den Monaten März, April, Mai, Juli und November des Jahres 1937. In diesen rückte Finks Umdeutung der phänomenologischen Reduktion im Sinne eines »methodologisch reflektierten Staunens« wieder in den Vordergrund – offensichtlich ein weiterer Schritt in der Richtung einer Vertiefung der »existentialen Entwurfssituation« der Reduktion, die Fink bereits in seiner Dissertation ein erstes Mal sondiert hatte. Der »ekplektischen Struktur« des »Staunens« widmete er in den beiden Beiträgen: »Zum Problem der Phänomenologie Husserls« und »Die Entwicklung der Phä nomenologie Husserls« eingehende Analysen347. In seinen mit Husserl geführten Gesprächen hielt Fink unvermindert an seiner kritischen Haltung angesichts der phänomenologischen »Intentionalanalytik« fest. »Husserls Philosophie ist methodisch nicht reflektiert genug, um das spekulative Element in den Grundgedanken der phänomenolo gischen Reduktion, der Konstitutionsidee, der teleologischen Grund Ebd., Z-XXV/LVIII/1a. Siehe: Edmund Husserls Brief an Ludwig Landgrebe vom 31. III. 1937, in: Edmund Husserl, Briefwechsel. Band IV, Husserliana Edmund Husserl Dokumente Bd. III.IV, a.a.O., S. 367. Zu Landgrebes Arbeiten, siehe: Ludwig Landgrebe, Wilhelm Diltheys Theorie der Geisteswissenschaften. (Analyse ihrer Grundbegriffe). In: Jahrbuch für Phi losophie und phänomenologische Forschung, Bd. IX, M. Niemeyer Verlag, Halle a.d. Saale, 1928, S. 237–366, sowie: Ludwig Landgrebe, Der Begriff des Erlebens. Ein Bei trag zur Kritik unseres Selbstverständnisses und zum Problem der seelischen Ganzheit. Königshausen u. Neumann, Würzburg, 2010 (Erstveröffentlichung). 347 Siehe, Eugen Fink, Studien zur Phänomenologie 1930–1939, a.a.O., S. 182f.; ders., Nähe und Distanz, a.a.O., S. 64. 345
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XIII. Die Erschütterung des Staunens und die Trauer des Abschieds
auffassung der Historie u.dgl. bewusst zur Abhebung zu bringen und eine phänomenologische Begründung des spekulativen Denkens zu versuchen«, so lautete sein Fazit348. Immer wieder legte er Wert darauf, Husserls Intentionalanalyse »ent-schränkend aus der Enge der Gegenstandsphänomenologie« zu befreien, sie aus der »Enge einer erkenntnistheoretischen Problematik« herauszuführen. Als Jan Patočka Anfang August 1937 von Paris nach Freiburg reiste, um Husserl zu sehen, bemerkte er den Stimmungsumschwung, der bei Husserl eingetreten war. Für Deutschland sah der Meister keine Hoffnung; dass es trotz allem gelingen würde, sein geistiges Erbe nach Prag zu entführen und so für die Nachwelt sicherzustellen – dieser Traum war inzwischen verflogen349. Am letzten Tag seines Aufenthaltes zog Hussel sich eine ernste Verletzung zu350. Es folgten die Monate der Krankheit, von der er sich nicht mehr erholte. Nur noch »in kleinen Rationen« konnte er während seiner Krankheit »mit Fink philosophieren«351. Es war Eugen Fink, der über sein Grab die Worte des Abschiedes gesprochen hat. Die am 29. April 1938 gespro chene »Totenrede auf E. Husserl« stellte er später an den Anfang des Bündels M-III Grammata352.
EFGA 3.3, Z-XXV/125a-b. Siehe: Jan Patočka, »Erinnerungen an E. Husserl«, in: Texte, Dokumente, Biblio graphie. Hrsg. von L. Hagedorn und H.R. Sepp, Karl Alber, Freiburg/München, 1999, S. 285. 350 Ebd., S. 285. 351 Brief von Frau Malvine Husserl an Elisabeth Rosenberg-Husserl vom 13. XI. 1937, in: Edmund Husserl, Briefwechsel. Bd. IX, Husserliana Edmund Husserl Dokumente Bd. III.IX, S. 500–501. 352 EFGA 3.3, M-III Grammata, Text Nr. 1. 348
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XIV. Die rollenden Würfel des Schicksals
Wir berühren den äußersten Rand des »συνφιλοσοφειν«, des philo sophischen Zwiegespräches, das Husserl und Fink miteinander geführt haben. In das weitere Umfeld des von Husserl am 15. Novem ber 1935 an der Prager Universität gehaltenen Vortrags: »Die Krisis der europäischen Wissenschaft und die Psychologie«353 gehört der undatierte Beitrag Finks mit der Aufschrift: »Kritische Anmerkungen zur ›wissenschaftlichen Philosophie‹ des modernen ›Physikalismus‹«, der in der Textsammlung M-III Grammata aufgenommen worden ist354. Zwar ist dieser Entwurf nicht als »Beilage« in die »KrisisSchrift« integriert worden; aber inhaltlich gehört er zu den Ausfüh rungen zur »Gesamtcharakteristik des neuzeitlichen physikalistischen Rationalismus«, denen Husserl den Paragraphen 12 seiner »KrisisArbeit« gewidmet hat. In einer auf »Juni 1936« datierten Beilage (IV) hat er seine Reflexionen über »die Voraussetzung der klassischen Physik« fortgeführt355. Frühestens seit dem Entwurf der »Idee einer transzendentalen Methodenlehre«, die, wie Kant dargetan hat, »das Szientifische«, die einheitlich gestaltete Wissenschaftsform der Phi losophie unter dem Regiment der Vernunft zum Gegenstand hat, mit der sie sich von jeglicher Art rhapsodischer Ausschweifungen grund sätzlich unterscheidet356, hat Fink die Charakteristik einer »wissen schaftlichen Philosophie« zu einem Hauptanliegen seiner philoso phischen Erwägungen gewählt. Diesmal nahm er nicht so sehr – wie Husserl in der »Krisis-Schrift – den »klassischen Physikalismus«, sondern vielmehr den kontemporären des Wiener Kreises, der Car 353 Karl Schuhmann, Husserl-Chronik. Denk- und Lebensweg Edmund Husserls, a.a.O., S. 469. 354 EFGA 3.3, M-IIII Grammata, Text Nr. 17. 355 Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzen dentale Phänomenologie. Husserliana Edmund Husserl Gesammelte Werke Band VI, a.a.O., § 12, S. 66–68 sowie die Beilage IV, S. 387–391. 356 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Der transzendentalen Methodenlehre Drittes Hauptstück, Die Architektonik der reinen Vernunft, F. Meiner Verlag, Ham burg, 1956, A 832/B 860, S. 748.
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XIV. Die rollenden Würfel des Schicksals
nap-Gruppe, des amerikanischen »logisierenden Empirismus« ins Visier. Dieser vertritt eine rein »instrumentalistische« Auffassung der Wissenschaft, ohne jegliche ontologische Substruktion eines »an sich Seienden«357. Seine Selbstcharakteristik als einzig gültige Form »wis senschaftlicher Philosophie« fordert die Phänomenologie zu einer kritischen Auseinandersetzung heraus, insbesondere zu einer kriti schen Musterung der instrumentalen Auffassung der Logik und der Rationalität im allgemeinen, als eine Konsequenz der zunehmenden Technisierung des Wissenschaftsbetriebs. Besondere Aufmerksam keit schenkt Fink den neueren Arbeiten von Otto Neurath und Rudolf Carnap. Beide fassen die empirischen Feststellungen von Tatsachen als schlichte »Protokollsätze« auf und möchten den letzten »Rest von einer Metaphysik des Gegebenen« vertilgen358. In dieser Reformbe wegung wittert Fink einen »horror metaphysicae«359. Husserl selber hat das Erfordernis, sich über die Natur des transzendental-phäno menologischen Wissens die gewünschte Klarheit zu verschaffen, und zwar nicht nur mit Rücksicht auf die neupositivistischen Tendenzen der Gegenwart, durchaus ernst genommen. Im Paragraphen 56 der »Krisis« musterte er das Spannungsfeld, das sich in der nachkanti schen Philosophie zwischen dem physikalistischen Objektivismus und dem immer wieder sich meldenden »transzendentalen Motiv« aufgetan hatte360. Auch er behielt die großen Philosophien im Blick feld, die in der Vergangenheit den Versuch gewagt hatten, eine »Phi losophie als strenge Wissenschaft« zu begründen. Dabei verwies er auf Fichtes »Wissenschaftslehre« und auf Hegels »Vorrede« der »Phä nomenologie des Geistes«361. Einen von »Kant oder Hegel, von Aris toteles und Thomas sich nährenden Betrieb mit Aporien und Argu mentationen« wies er allerdings von der Hand362. In seinen Konzeptpapieren zum »Problembegriff der Philosophie« hat Fink auf die Notwendigkeit beharrt, bei der Klärung des die trans zendentale Phänomenologie leitend-bestimmenden »Wissenschafts begriffes« sich ebenfalls von Kant über den »Begriff der Metaphysik als Wissenschaft« beraten zu lassen. Gleichzeitig hat er das Bedürfnis EFGA 3.3, M-III Grammata, Text Nr. 17. Ebd. 359 Ebd. 360 Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzen dentale Phänomenologie, a.a.O., S. 194f. 361 Ebd., S. 204.-205. 362 Ebd., S. 134. 357
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XIV. Die rollenden Würfel des Schicksals
klar zum Ausdruck gebracht, sich in verstärktem Maße Hegels »Begriff der Wissenschaft« zuwenden zu wollen363. Die als Reihe IV in das Notizheft Z-XXII eingetragenen »Thesen« über den »Begriff der Wissenschaft« in Hegels »Vorrede« zur »Phänomenologie des Geistes« bestätigen übrigens Finks Vorhaben, sich unter diesem besonderen Gesichtspunkt die einleitenden Textpartien der »Phänomenologie des Geistes« von neuem anzueignen364. Ein bedeutender Teil des 3. Teil bandes der »Werkstatt« gibt den Niederschlag der von Fink unter nommenen Lektüre und Exegese der einleitenden Partien von Hegels »Phänomenologie« in seinem vollen Umfang wieder. Man findet die dazugehörigen Notizen im Heft Z-XXIV sowie in der diesem Heft zugeordneten »Beilage I«365. Der Takt des gesamten Interpretations versuches wird durch die dreifache Gliederung der Hegelʼschen »Ein leitung« bestimmt: »I. Kritik des Kritizismus; II. Darstellung des erscheinenden Wissens; III. Methode der Ausführung«366. Wie R. Bruzina zuvor schon bemerkt hat, hat im Rahmen dieser Textexegese vermutlich auch das »Colloquium über die Phänomenologie des Geis tes« stattgefunden, an dem Karl Alpheus und Alfred Seidemann teil genommen haben367. Seine Hegel-Deutung hat Fink selbst auf »1938« datiert368; das Colloquium dürfte aber schon früher, im Jahre 1937 organisiert worden sein 369. Im Sommer des Jahres 1938 erhielt Fink das Angebot, den Husserl-Nachlass nach Amerika zu begleiten und dort ein neues Leben zu beginnen. An Gerhart Husserl schrieb er offenherzig: »Die Würfel meines Schicksals sind bereits gefallen«370. Seine Gesichtspunkte über die künftige Erschließung des HusserlNachlasses hat er in einem »Memorandum über die Nachlassmanu skripte« festgehalten. Es ist im dritten Teilband im Heft Z-XXV unter gebracht371.
EFGA 3.3, Z-XX/XXVIII/1a. Ebd., Z-XXII/IV/1a-1b. 365 Ebd. 366 Ebd., Z-XXIV/II/5a; vgl. die Beilage I, Z-XXIV/2. 367 Ebd., Z-XXV/77a; vgl. die »Beschreibung« zu: Z-XXIV. 368 Ebd., die »Beschreibung« zu: Z-XXIV. 369 Ebd., Z-XXIV/I/4a-b sowie die Anm. 2. 370 Brief Eugen Finks an Gerhart Husserl vom 16. X. 1938, in: Axel Ossenkop, Guy van Kerckhoven, Rainer Fink, Eugen Fink 1905–1975. Lebensbild des Freiburger Phä nomenologen, a.a.O., Bilder Nr. 381–383. 371 EFGA 3.3, Z-XXV/60a-b. 363
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XIV. Die rollenden Würfel des Schicksals
Es steht außer Frage, dass die, die gesamte Assistentenzeit von Eugen Fink innerlich durchstimmende, »me-ontische Philosophie des absoluten Geistes«372 durch das Studium der »Phänomenologie« Hegels nachhaltig geprägt worden ist. Deshalb sind die im dritten Teilband wiedergegebenen Lesenotizen von Finks Hand zu »Hegels Phänomenologie« sowie der diesen beigelegte »Versuch einer Ausle gung von Hegels Phänomenologie des Geistes« besonders aufschluss reich. Denn hier sprach Fink sich offen über Husserls phänomenolo gischen »Idealismus« aus. Die Gefahr eines subjektiven Idealismus bestehe darin, dass er sich in einem »Dogmatismus der Egoität« verfängt. Husserls Phänomenologie läuft ständig Gefahr, sich in eine »verabsolutierende ontische Hypostase der Intentionalität« zu verrennen373. Dass Husserl es auch in der »Krisis-Schrift« nicht unterließ, einen »radikalen transzendentalen Subjektivismus« zum eigentlichen Sinn der neuzeitlichen Geistesgeschichte zu proklamie ren374, stieß bei Fink auf Widerstand. In seinen Augen sei die Neuzeit grundwesentlich bestimmt durch eine Verlagerung des vierfachen Problemhorizontes der Metaphysik – der vierfachen Frage nach dem Seienden als Seiendem, als Einem, als Wahrem und als Gutem375. Der These von der »Immanenz der geistigen Gebilde im Leben«, die die typische Form einer einsatzgebundenen Reflexionsphilosophie vertritt, stellte Fink die These von »der Immanenz des Lebens im Geist« gegenüber376. »Immanenz der Idee des Seins im Absoluten« und »nicht umgekehrt«, so hatte Fink behauptet377, als er sich gegen die vorgängige Trennung von Erkenntnis und Sein gewendet hatte, die seiner Meinung nach die Grundvoraussetzung des Korrelativismus sei. Wogegen Hegel polemisiert hatte, war das Auseinanderfallen der transzendentalen Einheit von Seiendem und Wahrem in der Form einer Trennung von Erkenntnistheorie und Ontologie. Hervor gerufen sei dieser »Problemverfall«378 der Metaphysik durch das pseudo-cartesianische Motiv eines überspitzten Methodismus, einer 372 Eugen Fink, »Entwurf eines Vorwortes« zu: VI. Cartesianische Meditation. Teil 1: Die Idee einer transzendentalen Methodenlehre, a.a.O., S. 183. 373 EFGA 3.3, Z-XXV/86a. 374 Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzen dentale Phänomenologie, a.a.O., § 26, S. 101. 375 EFGA 3.3, Z-XXIV/6, Beilage I. 376 EFGA 3.2, Z-XIII/36a-40a, S. 222–223. 377 Ebd., Z-XIII/46a, S. 225. 378 EFGA 3.3, Z-XIV/6–7, Beilage I.
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XIV. Die rollenden Würfel des Schicksals
durch Misstrauen genährten Prüfung des menschlichen Erkenntnis vermögens. Die Folgen dieser verheerenden Entwicklung seien eine der Erkenntnistheorie unrechtmäßig gewährte Vorrangstellung sowie eine unheilvolle Wendung zum subjektiven Idealismus379. Husserls Stimme war für immer verstummt. Aus Finks Lebens horizont war die väterliche Gestalt des sanften Ratgebers restlos ver schwunden – nicht aber aus dem Gedächtnis des verwaist Hinterblie benen. Es war Marvin Farber, der die Initiative zu einem »Memorial Volume« für Husserl ergriff. Ende Oktober 1938 sagte Fink ihm seine Mitarbeit zu. Er möchte dem »Volume« einen »kleinen Artikel über den Nachlass Husserls« beisteuern380. Im Januar 1939 teilte er Farber mit, sich inzwischen mit Landgrebe verständigt zu haben und einen Beitrag mit dem Titel »Der analytische Stil der Phänomenologie Hus serls« schreiben zu wollen381. September 1939 musste Fink jedoch auch im Namen Landgrebes aus Leuven, wohin beide inzwischen emigriert waren, Marvin Farber mitteilen, dass sie auf ihre Beiträge einstweilen verzichteten382. Der Ausbruch des Krieges, die Entfesse lung der Kriegspsychose könnte die in Leuven begonnene Mitarbeit zur Erschließung des dorthin geretteten Nachlasses gefährden. Nicht von dieser Restriktion betroffen war allerdings die Mitarbeit an dem von der neugegründeten »Phenomenological Society« herausgegebe nen »Periodical«. Fink stellte zunächst eine Arbeit über die »intentio nal-analytische Deskription« in Aussicht, die gleichsam den »vor-phi losophischen Habitus« der Phänomenologie darstelle383. Auf diesen ersten Beitrag sollte eine »Serie von Artikeln« folgen, deren Hauptge genstand eine kritische Besinnung auf die impliziten Voraussetzun gen der Husserlʼschen Phänomenologie sei384. Am 6. Mai 1940 konnte Fink Farber den Titel seiner Abhandlung mitteilen: »Traktat über phänomenologische Forschung«385. Gleichzeitig sprach er die Hoffnung aus, seinem amerikanischen Kollegen in Zukunft »Teile einer großen Schrift« zuwenden zu können, an der er zu diesem Zeit Ebd., Z-XIV/9, Beilage I. Brief Eugen Finks an Marvin Farber vom 31. X. 1938. – Die nachfolgenden Brief dokumente werden aus den »Marvin Farber Papers« zitiert, die im Universitätsarchiv der University at Buffalo (USA) aufbewahrt werden. 381 Brief Eugen Finks an Marvin Farber vom 26. I. 1939. 382 Brief Eugen Finks an Marvin Farber vom 25. IX. 1939. 383 Brief Eugen Finks an Marvin Farber vom 18. XII. 1939. 384 Ebd. 385 Brief Eugen Finks an Marvin Farber vom 6. V. 1940. 379
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XIV. Die rollenden Würfel des Schicksals
punkt arbeitete: »Ontologische Erfahrung«386. Erst am 25. Mai 1946 konnte Farber den brieflichen Kontakt mit Fink wieder herstellen: »We are all very glad to learn that you and Dr. Landgrebe had survived the war «387. Mit dem Vortrag im argentinischen Mendoza »Über das Wesen der ontologischen Erfahrung«388 tat Fink einen Schritt in die weite Welt hinaus. In seinem Herzen trug er all das Elend mit, das über Europa gekommen war und ihn in die bitterste Einsamkeit gestoßen hatte. Darüber unterrichtet uns der 4. Teilband der »phänomenologischen Werkstatt«, in dem nicht mehr die Früchte eines συνφιλοσοφειν ein gesammelt sind, sondern der uns die harten Nüsse der »Eremitie« wie in einer Schale ausgeschüttet anbietet.
Ebd. Brief M. Farbers an Eugen Fink vom 25. Mai 1946. 388 Eugen Fink, »Vom Wesen der ontologischen Erfahrung«, in: Actas del Primer Congreso Nacional de Filosofίa, Universidad Nacional de Cuyo, Mendoza, Argentina, Marzo 30 -Abril 9, 1949, Tomo II, S. 733–741. 386 387
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XV. Phänomenologie als »Entwicklungsschrifttum«
Wir kehren nochmals zu den Herbsttagen des Jahres 1937 zurück. Während des Spätsommers hatte Husserl sich infolge eines Sturzes eine schwere Verletzung zugezogen und daraufhin eine Brustfellent zündung erlitten. Obwohl er »im Tage nur eine halbe Stunde auf , manchmal ein wenig länger«, und »nur mit Stock und Nach hilfe ein paar Schritte machen«389 konnte, schätzte Fink in einem an seinen Kollegen J. Patočka gerichteten Brief die neuentstandene Situation so ein, dass nach seiner Meinung wohl »keine Gefahr«390 für Husserls Gesundheit bestand. Trotz zunehmenden Beschwerden ließ der Meister sich nicht von seinem festen Vorsatz abbringen, mit aller Kraft den dritten, in seinen Augen bedeutendsten Teil seiner KrisisSchrift (Teil III A. und B.) einem raschen Abschluss entgegenführen zu wollen. Den in das Notizheft Z-XXV eingetragenen Zeugnissen der regelmäßigen Begegnungen und Gespräche, die es zwischen Husserl und Fink gegeben hat, kann man entnehmen, mit welcher Lebendig keit der philosophische Austausch nunmehr in privater Atmosphäre fortgeführt wurde. Reichlichen Gesprächsstoff boten nicht nur Finks eigene Vorschläge zur Fortsetzung der Krisis-Arbeit391, sondern eben falls die von ihm angestellten und seinem Lehrer vorgetragenen Überlegungen zur Debatte um die »Wissenschaftsmethodologie im Neukantianismus«. Von besonderem Gewicht sind seine Gedanken zur kritischen Revision eines zentralen Begriffes der Phänomenologie Husserls: des Begriffes der »Naivität«392 bzw. der »natürlichen Ein stellung«. In der von ihm eröffneten Perspektive einer »me-ontischen 389 Karl Schuhmann, Husserl-Chronik. Denk- und Lebensweg Edmund Husserls, a.a.O., S. 487. 390 Vgl. Finks Postkarte an Patočka vom 2. IX. 1937 mit einer vom Garten der neuen Wohnung Husserls aufgenommenen Photographie des Freiburger Münsters, in: Eugen Fink – J. Patočka, Briefe und Dokumente 1933–1977, a.a.O., S. 20. 391 Vgl. z.B. EFGA 3.3, Z-XXVI/5a. 392 Vgl. Ebd., Z-XXV/38a.
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XV. Phänomenologie als »Entwicklungsschrifttum«
Radikalisierung« der transzendentalen Phänomenologie Husserls sollte sie als grundsätzliche »Weltbefangenheit«393 menschlicher Existenz gedeutet werden. Auch die gegenwärtige Lage kam zur Sprache, die Fink als »Situation nach der Sintflut des Nihilismus«394 einschätzte. Und mit seinem Assistenten unterhielt Husserl sich über das Wesen der Religion395 – ein Thema, das wohl in Zusammen hang mit dem großen Widerhall gestanden haben mag, den die von Papst Pius XI. ausgefertigte Enzyklika »Mit brennender Sorge« in den Märztagen des Jahres 1937 gefunden hatte. In ihr wurden die Verstöße gegen das im Jahre 1933 abgeschlossene Reichskonkordat scharf verurteilt und die nationalsozialistische Doktrin insgesamt als grundlegend antichristlich und heidnisch verworfen. Allem voran referierte Fink während der Unterhaltungen mit Husserl über seine neue Abhandlung: »Die Entwicklung der Phänome nologie Husserls«, von der ein erster Paragraph im Dezember 1937 in Form eines Typoskriptes vorlag. Diesen Text, der nach Fink den ersten Teil einer umfassenderen Schrift bilden sollte, hat Husserl »noch während seiner Krankheit vor dem Tode«396 gelesen397. Wäh rend Husserls Krankheit sich zusehends verschlimmerte, traf Alfred Schütz zu Weihnachten in Freiburg ein. Mit ihm stand Fink seit dem Erscheinen der einzigen Monographie, die Schütz zu Lebzeiten veröffentlicht hat: »Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt«398 (1932), in einem regen brieflichen Verkehr. Und die Rezensionen zu den »Méditations cartésiennes« und zur »Formalen und transzendentalen Logik« Edmund Husserls, die er 1932 und 1933 veröffentlicht hatte399, hat Alfred Schütz mit Fink eingehend diskutiert. Es ist daher nicht zu verwundern, dass Fink nicht zögerte, ihm bei seinem Eintreffen wäh rend des Winters 1937/38 den innovativen Essay zu unterbreiten400, Vgl. z.B. ebd., Z-XXV/7a. Ebd., Z-XXV/39a. 395 Vgl. EFGA 3.4, Z-XXVI/49a. 396 Eugen Fink, »Die Entwicklung der Phänomenologie E. Husserls«, a.a.O., S. 45, Anm. d. Verf. 397 Vgl. ebd. S. 45–74. 398 Alfred Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, Springer, Wien, 1932. 399 Vgl. Alfred Schütz, »Méditations cartésiennes von Edmund Husserl«, in: Deutsche Literaturzeitung, 53 (1932), S. 2404–2416; »Formale und transzendentale Logik von Edmund Husserl«, in: Deutsche Literaturzeitung, 54 (1933), S. 773–784. 400 Dies wird nicht nur durch Finks Notizen (vgl. Z-XXVI/102a), sondern auch durch die Dokumente des Schütz-Nachlasses dokumentiert. In einem auf Englisch verfassten 393
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XV. Phänomenologie als »Entwicklungsschrifttum«
an dem er gerade arbeitete. Indem er die »Einheit des Schrifttums« Husserls erneut in den Vordergrund rückte, verfolgte Fink nach wie vor die Absicht, den Blick auf das »systematische Ganze der phänomenologischen Philosophie«401 zu lenken. Es ist bezeichnend für die Art und Weise, in der er sich voll Bedacht an den inneren systematischen Kern der phänomenologi schen Philosophie Husserls heranmachte, der nach seiner Einschät zung nie eine »öffentlich-literarische Form gewonnen hat«402, dass er zunächst einmal in Erwägung zog, dass Husserls Werk im Grunde ein »Entwicklungsschrifttum« darstelle und es folglich »keinen Text, kein Buch« gebe, »in dem diese Philosophie ihre endgültige und voll ständige systematische Darstellung gefunden hätte«403. Im Ausgang von dieser nüchternen Feststellung sollte vordringlich das Problem des »zunächst noch unbegriffenen Daseins einer Philosophie in der Zeit«404 ins Auge gefasst, d.h. danach gefragt werden, wie man das »In-der-Zeit-Sein einer dokumentierten Philosophie« richtig ins Visier bekommen kann, etwa indem man in ihr den lebendigen Lebensausdruck des philosophierenden Menschen erblickt, oder sie vielmehr für den fixierten Lehrgehalt hält, der den Rang einer Doktrin innehat, oder ob man in ihr schließlich der mühsamen Artikula tion eines grundlegenden Problems begegnet. Das in vielen philoso phischen Lehrbüchern angewandte Verfahren, eine Philosophie als Lebensäußerung zu verstehen und sie aufgrund einer existenziellen Typologie bzw. einer »Psychologie der Weltanschauungen« in gewisse Klassen einzustufen – und hier bezieht Fink sich nach aller Wahr scheinlichkeit auf K. Jaspers‘ Werk von 1919 –, stellt nach seiner Meinung das »gründlichste Sich-Vergreifen am Wesen der Philoso phie« dar. Diese psychologisierende Untertreibung des Eigenwesens der Philosophie »im Horizont der Naivität« bzw. im »Dunstkreis und im Schütz-Archiv an der Beinecke Rare Book and Manuscript Library der Yale University aufbewahrten Text, der auf dem Umschlag den Titel »Bruchstücke eines Manuskripts über Paradoxien der Phänomenologie, die Eugen Fink beschrieben hat« trägt, bezieht sich Schütz ausdrücklich auf das »phenomenological paradoxon which Eugen Fink (backed by the endorsement of E. Husserl) has treated in his essay of 1937« (vgl. Alfred Schütz Papers. General Collection, Beinecke Rare Book and Manuscript Library, GEN MSS 129, Box 12, Folder 221). 401 Eugen Fink, »Die Entwicklung der Phänomenologie E. Husserls«, a.a.O., S. 45. 402 Ebd. 403 Ebd. 404 Ebd., S. 46.
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XV. Phänomenologie als »Entwicklungsschrifttum«
des naiven Selbstverständnisses«405 soll aber nach Fink als Hinweis dafür dienen, dass die »Theorie über das wahre und eigentliche Subjekt des Philosophierens« nicht unbedingt »dem theoretischen Sinngehalt derjenigen Philosophie« zu entnehmen ist, »nach deren Entwicklung die Frage steht«406. Mit dieser scheinbar harmlosen und beiläufigen Bemerkung über die Differenz zwischen dem theoreti schen Sinngehalt einer Philosophie und ihrem Selbstverständnis, d.h. ihrer Meta-Theorie über sich selbst und ihr eigenes Philosophieren, greift Fink die Frage nach dem wahren philosophischen Subjekt wieder auf, die ihn schon während der Ausarbeitung der VI. Cartesianischen Meditation in ihren Bann zog. Wie aus dem Entwurf eines Vorwortes zur »Transzendentalen Methodenlehre« eindeutig hervorgeht, war es gerade diese Fragestellung, die die unterschwellige, aber tiefschür fende Divergenz mit der von Husserl bezogenen philosophischen Grundposition an die Oberfläche kommen ließ: »Husserl bestreitet, dass nur ›scheinbar‹ der Mensch philosophiere, weil das transzenden tale Ego selbst der ›Mensch‹ sei (allerdings durch selbstapperzeptive Konstitution). D.h. Husserl verlegt den Unterschied zwischen trans zendentalem Subjekt und dem Menschen nicht noch in die Dimension der Individuation«407. »Scheinbar« philosophiert der Mensch, weil er in der Erschei nungswelt tätig ist. In Wahrheit jedoch ereignet sich das Phänome nologisieren in allen denjenigen Aktionen, wie sie in den §§ 5 bis 10 der »VI. Meditation« nacheinander thematisiert werden408, als das fungierende phänomenologische Tun des durch »ent-menschenden« Vollzug der Reduktion erstmals etablierten und freigelegten trans zendentalen Zuschauers. Dieser sei seinerseits wiederum nur »der funktionelle Exponent des transzendental konstituierenden Lebens«409, das im Erkenntnisleben des phänomenologisierenden Ebd., S. 47–48. Ebd., S. 49. 407 Eugen Fink, VI. Cartesianische Meditation. Teil 1: Die Idee einer transzendentalen Methodenlehre, a.a.O., S. 183. 408 Das in der transzendentalen Elementarlehre phänomenologisierende Leben legt Fink in seinen unterschiedlichen philosophischen Funktionen auseinander und macht es als »reduzierendes, regressiv analysierendes, konstruktiv-phänomenologisieren des theoretisch erfahrendes, ideierendes, explizierendes, wissenschafttreiben des« reflektiv zum Thema. Vgl. Fink, VI. Cartesianische Meditation. Teil 1: Die Idee einer transzendentalen Methodenlehre, a.a.O., S. V; 30–31. 409 Ebd., S. 44. In seinen Notizen spricht Fink auch vom Menschen als »Platzhalter des Absoluten« in zweifachem Sinne: »1) anstelle des Absoluten (Einfallstor), 2) er 405
406
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XV. Phänomenologie als »Entwicklungsschrifttum«
Ichs »zu sich selbst kommt«. Auf diese Weise leitet Fink einen Stu fengang in die Wege, der vom weltlichen psycho-physischen Subjekt ausgehend durch die einschneidenden Geschehnisse der reductio und der absolutio hindurch zum Absoluten hinaufführt. Letztere stellt die Ablösung »aus den Bänden des Lebens, aus der Weltbefangenheit«, aus dem »inständigen Gestelltsein in das Seiende des existenten Men schen«410 dar, der dank dieser Loslösung von den »Inständen«, in denen sich seine Endlichkeit konstituiert hat411, den steilen Weg hin auf zum Absoluten beschreitet. In die Ursprungsdimension einkeh rend, wird ihm die befreiende reductio ad unum des alles konstituie renden Lebens teilhaftig. Wie Fink am Ende der »VI. Cartesianischen Meditation« ausführt, sei das eigentliche »Subjekt der absoluten Wis senschaft das Absolute selbst«412: »In der transzendentalen Tendenz des Phänomenologisierens vollbringt es sein eigenes Für-sich-Wer den, indem es von der Welt aus, in der es immer schon in der Form des menschlichen Selbstbewusstseins eine gewisse Erhelltheit erlangt hat, durch die phänomenologische Reduktion seine Tiefen des kon stitutiven ›Vor-Seins‹ eröffnet und transzendentales Selbstbewusst sein realisiert. Wie das ›ansichseiende‹ Absolute die Einheit von ›Sein‹ und (konstituierendem) ›Vorsein‹ ist, so ist auch das Für-sichWerden des Absoluten ebenso sehr mundan seiend: als menschliches Philosophieren, als auch ›transzendental-seiend‹: als Erkenntnis handlung des phänomenologischen Zuschauers«413. hält in seinem Sein das Absolute aus – oder: 1) ekbantisch 2) katabantisch« (EFGA 3.1, Z-V/VI/21b, S. 307). 410 EFGA 3.2, Z-IX/36a, S. 103. 411 Phänomenologisch unterscheidet Fink in aller menschlichen Welt- und Selbster fahrung die »Gegenstände« von den »Umständen« und »Inständen« dieser Erfahrung. In den Inständen vollzieht sich die genetisch unerreichbare Selbstkonstitution (bzw. Ontifikation und Selbstkontingentisierung) des transzendentalen, absoluten Lebens zum weltlichen, menschlichen Leben. Zu den Inständen zählt Fink »Geschichte/ Geburt/Tod/Sein-bei/Schicksal« (EFGA 3.1, Z-IV/55a, S. 239). Andererseits meldet sich in den Umständen die Weltlichkeit, die »Umwelt« als das »Umstehende« (EFGA 3.1, Z-IV/52a, S. 236–237). »Tag« und »Nacht«, »Licht und Schatten« sind für Fink wichtige »Umstände«, die eine eigene phänomenologische Analyse verdienen: »In den Umständen, in denen sich ein Gegenstand befindet, und zwar wesensmäßig befindet, und die auch in eigenartiger Weise die Apperzeption von ihm mit betreffen, meldet sich das Phänomen der Welt. Tag, Nacht z. B. sind ausgezeichnete Umstände« (EFGA 3.1, M-II/5, S. 422–423). 412 Eugen Fink, VI. Cartesianische Meditation. Teil 1: Die Idee einer transzendentalen Methodenlehre, a.a.O., S. 166. 413 Ebd., S. 166–167.
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Der Phänomenologie als Erscheinungslehre des me-ontischen Absoluten bzw. des sich in die Welt hineinlegenden, mundanisie renden und damit der Endlichkeit anheimstellenden »ὂντως ὂν« kommt demnach eine vermittelnde Funktion zu, indem sie dieses seiendste Seiende analytisch aus-legt, es aus seiner phänomenalen Unscheinbarkeit und »me-ontischen Nichtigkeit« herausreißt und in der begrifflichen Entfaltung des Denkens dialektisch erfasst. Es ist die Aufgabe künftiger Forschung, auf der Grundlage der nunmehr voll ständigen Edition der »Werkstatt-»Materialien mit Sorgfalt zu prüfen, in welchem Maße dieser frühe »me-ontisch-transzendentale« Ansatz, der sich in den Schriften: »VI. Cartesianische Meditation« (1932) und »Die phänomenologische Philosophie Edmund Husserls in der gegen wärtigen Kritik« (1933) zuerst abgezeichnet hat und der daraufhin im Dessauer Vortrag über »Die Idee der Transcendentalphilosophie bei Kant und in der Phänomenologie« (1935) weiterentwickelt wurde, mit den philosophischen Ansichten zu vereinbaren ist, zu denen Fink sich in den Schriften, die aus den Jahren 1937 bis 1939 stammen, durchgerungen hat. Aller Anschein spricht dafür, dass Fink die von der Reduktion vermittelte »me-ontische Zirkularität« zwischen Welt und Absolutem, zwischen End-Konstituiertem und konstituierender Ursprungsdimension, zwischen den terminierenden Prozessen kon stitutiver Individuation (»Mundanisierung«) und dem umwälzen den philosophisch-phänomenologischen Vorgang der Entmenschung (»Absolution«) wenn nicht ganz aufgegeben, so doch allmählich zurückgestellt hat – zugunsten eines grundsätzlich »kosmologischen« Verständnisses der Philosophie als »ontologischer Erfahrung«. Und damit wird dem Menschen als »Weltwesen«, das sich zu seinem Sein und zum Sein alles Seienden vorgängig verhält, jene einzigartige Rolle eines »Mittlers« zugesprochen, die vordem vom transzendentalen Zuschauer besetzt wurde. Der Mensch als ens cosmologicum414 sei eben jene Stätte der Vermittlung, habe jene metaphysische »Stellung im Kosmos« inne, an der »die als Selbst- und Weltverständnis einheit liche universale Sinnauslegung des Seienden« sich vollzieht – an der das »Λἐγειν des ὂν«, das »διαλἐγεσθαι« geschieht, und d.h.: an der der apriorische »Entwurf der Seinsverfassung«415 des Seienden im
414 Vgl. Cathrin Nielsen & Hans Rainer Sepp (Hrsg.), Wohnen als Weltverhältnis. Eugen Fink über den Menschen und die Physis. Karl Alber, Freiburg/München, 2019. 415 EFGA 3.4, Z-XXIX/13a-b. Vgl. auch Z-XXIX/111a–b.
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Ganzen (d.h. des Wahren, des Schönen, des Einen und des Seienden selbst) sich begrifflich entfaltet.
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XVI. Die Umwandlung des Grundsinnes phänomenologischer Konstitutionsforschung
Die Abhandlung von 1937 ist schon deshalb ein bedeutsames Doku ment, weil Fink sich in ihr mit größerer Freiheit auszusprechen wagte als in den anderen frühen »phänomenologischen Studien«, die fester an den Publikationsplänen angebunden waren, mit denen Husserl sich trug. Allerdings begegnet uns in dem Dessauer Vortrag des Jahres 1935 etwas Ähnliches, nämlich eine Schrift, in der Fink es uns gestattet, den Blick hinter die Kulissen des phänomenologischen Unternehmens seines Lehrers Husserl zu werfen, und bei dem wir das schöpferische Aufblühen seines eigenständigen Denkens »auf frischer Tat ertappen« können. Man darf ja nicht vergessen, dass Fink in diesen Jahren bei vielen Gelegenheiten den Meister vertrat – und für die Ohren der vielen Gäste, die in Freiburg eintrafen, seine Aussagen wie eine »zweite offizielle Stimme« der Phänomenologie Husserls klangen. Der Anfang Dezember 1935 in den Kantgesell schaften von Dessau und Bernburg gehaltene Vortrag: »Die Idee der Transcendentalphilosophie bei Kant und in der Phänomenologie«416 bot ihm tatsächlich die Gelegenheit, die eigene »Grundauffassung der Philosophie« – wie er diesmal betonen möchte – »deutlich«417 zum Ausdruck zu bringen. In den Notizen, die aus dieser Zeit stammen, fasste er sie wie folgt zusammen: »1) Philosophieren ist ein radikales Fragen, das Probleme erzeugt und so den Menschen selbst in Frage stellt. 2) Philosophieren ist Zugrunderichten der ›Lebenssicherheit‹. 3) Philosophieren ist Selbstbemächtigung des Lebens«418. Mit aller Kraft widersetzte er sich der »Gefahr«, der sich die Phänomenolo gie Husserls aussetzte, wenn sie in eine »reflexionsphilosophische Vgl. Eugen Fink, »Die Idee der Transzendentalphilosophie bei Kant und in der Phänomenologie«, a.a.O., S. 7–44. 417 EFGA 3.3, Z-XVI, III/1a. 418 Ebd., Z-XVI, III/4a. 416
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XVI. Umwandlung des Grundsinnes
Subjektivierung des Seienden«419 einmünden und in ihr ganz erstar ren würde. Denn, wie er hervorheben möchte, die Phänomenologie begreift das eingeklammerte und zum bloßen Phänomen verwandelte Seiende eben »aus seinen letzten transzendentalen Ursprüngen in der konstituierenden Subjektivität«. Um jedoch einer unberechtigten Verkürzung des Seienden auf seine »subjektive Geltung« bzw. auf sein bloßes »Für-uns-Sein« rechtzeitig vorzubeugen, sei die Phänomeno logie als eine transzendentale Theorie der Weltkonstitution, und d.h. als »ontogonische Metaphysik«, allerdings dazu aufgefordert, die »Entfaltung der inneren Problematik der Bezüge der Transcendenta lien«420, dieses Erbe der klassischen Philosophie, von neuem in Gang zu bringen. Das phänomenologische Fragen nach dem konstitutiven Ursprung des Seins impliziert somit für Fink »ein Überfragen des Seienden schlechthin«, folglich »auch aller seienden Weisen des Entstehens und Vergehens«421. Für die Phänomenologie wird eine Auseinandersetzung mit dem »spekulativen Begriff des ›Werdens‹ bei Hegel«422 zu einer dringenden Aufgabe, die sie nicht länger aus dem Weg gehen darf. Von besonderem Gewicht ist weiterhin, dass sie im Horizont ihres philosophischen Selbstverständnisses Raum schafft für eine neue, »me-ontische« Gestik, mit der sie sich an die Konstitutionsproblematik heranmacht. Als »meontische ontogoni sche Metaphysik«423 soll die Phänomenologie künftig ein »Verstehen des zunächst dem Geist undurchdringlichen Seins aus der geistigen Weltbildung«424 herbeischaffen. Auf diese Weise erhält ihr Philoso phieren das ausgesprochene Profilbild einer »Selbstbemächtigung des Lebens«425. Für Fink führt die in der Phänomenologie Husserls zwar keimhaft enthaltene, aber in ihr nicht zur vollkommenen Reife gebrachte Idee der Transzendentalphilosophie als ein Überfragen des Seins notwen digerweise zu einem spekulativen »Hineinfragen in die Spielräume der transzendentalen Bezüge (d.h. in die Transcendentalien-Proble
419 420 421 422 423 424 425
Ebd., Z-XVII/14a. Ebd., Z-XVI/5b. Ebd., Z-XVII/17a. Ebd., Z-XVII/14a. Ebd., Z-XVII/17b. Eugen Fink, »Was will die Phänomenologie E. Husserls?«, a.a.O., S. 175. Ebd., Z-XVII/20b.
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XVI. Umwandlung des Grundsinnes
matik)«426, d.h. also in die Bezüge von »ens-unum-verum-bonum«427. In der »Erforschung des Zusammenhangs der Transzendentalien«428 erblickt er »das gemeinsame Problem«, das die Phänomenologie zuinnerst mit der Transzendentalphilosophie I. Kants verbindet. Es ist jedoch fraglich, ob Husserl mit dieser Darstellung der inneren Verwandtschaft seiner Phänomenologie zu Kants Philosophie ohne weiteres einverstanden sein konnte. Denn sie verlagert das ursprüng lich erkenntniskritische Interesse der Phänomenologie, das in den Augen Husserls die wahre Erbschaft der von Kant herrührenden Phi losophie darstelle, indem sie es in die Richtung einer »metaphysischen Ontogonie« lenkt. Wie Fink weiter ausführt, haben »Kants Neube gründung der Metaphysik« und die »spekulative Fortführung des kan tischen Ansatzes im Deutschen Idealismus« in ideengeschichtlicher Hinsicht die »äußere Situation« geprägt, in der die Phänomenologie das Licht der Welt erblickte. Ihre »innere Situation« sei allerdings maßgeblich bestimmt durch die Notwendigkeit einer expliziten »Wie deraufnahme des transzendentalen Problems (Kants)«, und zwar in der Gestalt »der Frage nach dem inneren Bezug von ens und verum«429. »Die grundsätzliche Verwandlung, die das transcendentale Problem des Bezugs von ens und verum in der Phänomenologie erfährt«, so beschließt Fink seine Ausführungen, kann kernhaft in folgenden Sät zen zusammengefasst werden: »Bei Kant führt das transzendentale Problem zu einer Neubegründung der Ontologie, in der Phänomeno logie verwandelt sich dieses Problem in die Ableitung des Seienden, d.h. eine ontogonische Metaphysik«430. In den in den Anfangstagen des Monats Dezember 1935 gehal tenen Vorträgen ist die in Aussicht gestellte »ontogonische Meta physik« lediglich als ein »Problemansatz« »in leerer Allgemeinheit« aufgeführt worden. Es besteht kein Zweifel daran, dass für Fink die Ausführung dieses zunächst in einigen Hauptzügen umrissenen philosophischen Programmes eng verbunden war mit der Inangriff nahme der Frage »nach dem Menschen als dem irgendwie ins Ganze des Seienden ausgeweiteten Weltwesen«431 und mit der weittragenden EFGA 3.3, OH-VII/50. Ebd., Z-XX/ 3a. 428 Ebd., Z-XVII/15a. 429 Ebd., Z-XVII/15b-16a. 430 Eugen Fink, »Die Idee der Transzendentalphilosophie bei Kant und in der Phä nomenologie«, a.a.O., S. 43. 431 Ebd., S. 32. 426 427
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XVI. Umwandlung des Grundsinnes
Aufgabe, »die Welt« fortan »als den kosmologischen Horizont des Seins«432 zu begreifen. Während im Text seines Vortrags die philo sophische Gesamtkonzeption des angekündigten neuen metaphysi schen Entwurfs nur durchschimmert, vermitteln die in der »Werk statt« erstmals erschlossenen Materialien ein weitaus genaueres Bild davon, mit welchen Gedanken Fink sich in diesen Tagen trug. Was ihm Anfang 1935 – in seinem »30. Lebensjahr« – »an der Philosophie, die in Leben« lag, »sichtlich geworden war«, hat er in vier Hauptpunkten festhalten wollen: 1) die »Metaphysik des Spieles«; 2) Die »Idee der Transzendentalphilosophie als Überfragen des Seins im Hineinfragen in die Spielräume der transzendentalen Bezüge« (d.h. in die Transcendentalien-Problematik); 3) das Spannungsver hältnis zwischen »Ontologie und Reflexionsphilosophie in kritischer Beleuchtung (Distanz zu Husserl und Heidegger)«; 4) der »Natur begriff der Philosophie als Selbstbemächtigung (Heimsuchung und versucherische Existenz)«433.
432 433
EFGA 3.3, Z-XXV/ 14a. Ebd., OH-VII/50.
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XVII. Philosophie als Lehre und als Frage. Die kathartische Potenz des Staunens als Quellgrund des philosophischen Fragens
Richten wir das Augenmerk erneut auf die nur als Fragment überlie ferte Schrift aus dem Jahre 1937: »Die Entwicklung der Phänomenolo gie E. Husserls«, und ziehen wir zusätzlich die vorbereitenden Notizen in Betracht, in denen Fink darum bemüht war, das zunächst breiter angelegte Schriftprojekt zum Tragen kommen zu lassen, so fällt uns auf, dass er der zwei Jahre zuvor in seinen Kantvorträgen kundgege benen philosophischen Grundintention die Treue hielt. Eine Notiz aus der Mappe Z-XXVII, die den Aufriss der geplanten neuen Schrift enthält, bestätigt diesen Tatbestand: »1. Entwicklung = nicht Biogra phie, nicht Doxographie, sondern Problementfaltung. 2. Problem (im philosophischen Sinne) ist Staunen (Entsetzen, ›Fürsichsein‹, ›Mitt ler‹, Stillstand und Bewegung der Seinsidee, der Wahrheitsidee, der Weltidee und Gottesidee). 3. Problementwurf und Interpretation.«434 Indem er sich ausführlich über die mundane Seinsweise einer Philosophie beriet und die Art und Weise zu bestimmen versuchte, in der sie sich in der Welt-Zeit entfaltet, rückte ihr Auftreten als eine Lehre in den Vordergrund. Als sprachlicher und schriftlicher Ausdruck der Gedanken ist die Philosophie wesenhaft »Mitteilung« – und geht darin sozusagen »außer sich«. Sie äußert sich und versetzt sich damit »in die Situation des vor- und außerphilosophischen Weltverständ nisses«, betritt »den Boden des fraglosen und traditionalen Seinsver ständnisses«435. In dieser Entäußerung lässt sie sich auf eine durchaus »paradoxe Existenzform« ein. Diese paradoxe Sachlage kann man sich am Leitfaden der Problematik der philosophischen Sprache und der Frage nach der »Natur des philosophischen Satzes«436 vergegenwär tigen. Im § 10 seiner »VI. Cartesianischen Meditation« hat Fink sie mit 434 435 436
EFGA 3.4, Z-XXVII/66a. Fink, »Die Entwicklung der Phänomenologie E. Husserls«, S. 55–56. Ebd., S. 54.
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XVII. Philosophie als Lehre und als Frage
besonderer Bezugnahme auf »das phänomenologische Prädizieren« schon ausführlich geschildert. Dabei betonte er vor allem die unaus weichliche Schwierigkeit aller transzendentalen Prädikation, in der Artikulation des »me-ontischen« Ursprunges alles Seienden notge drungen zu einer ontischen Begrifflichkeit ihre Zuflucht nehmen zu müssen. Diesmal richtet er jedoch seine Aufmerksamkeit auf die intersubjektive Dimension einer »sekundären Verweltlichung« des Philosophierens. Damit kommt erstmals die »Alterität« in Sicht, an die ein jedes verlautende »Ansprechen« sich wendet. Zum ursprüng lichen Gestus einer jeden philosophischen Theorie gehört die beson dere Adresse eines »Hinsagens zu Jedermann«437. Die Notwendigkeit eines »Außersichgehens der Philosophie«, eines In-die-ErscheinungTretens derselben hat Hegel schon klar ausgesprochen: »Die Kraft des Geistes ist nur so groß als ihre Äußerung, seine Tiefe nur so tief, als er in seiner Auslegung sich auszubreiten und sich zu verlieren getraut«438. Immerhin ist die Lehre, als das von der Philosophie ange wandte Mittel zu ihrem Erscheinen, eben »nur« ein Mittel für das Sich-Zeigen ihres Wesens. Dieser Wesenskern, der den Geist einer Philosophie bildet, ist das sie zuinnerst bewegende Problem, das durch die Lehre vermittelt, in ihr dargetan wird. Die Frage nach der »Seins art« eines philosophischen Problems, nach der Entstehung desselben und nach der Begrifflichkeit, in der es sich artikuliert, verbindet Fink mit der nach dem Anfang des Philosophierens. Und für die Würdigkeit allen philosophischen Fragens ist nach seiner Ansicht das Staunen der unaustilgbare Quellgrund. Wie für die Antike, so ist auch für Fink die Erfahrung des Staunens die wahre Geburtsstätte der Philosophie. Das Problem »im philosophischen Verstande«, so führt er an, »wird als Dimension eines möglichen Wissens überhaupt erst aufgebrochen und ›erzeugt‹ im Staunen«.439 Das eigentliche Problem einer Philosophie sei somit nie vor-bekannt, etwa als ein innerhalb einer konventionellen Typik von offenen Fragehorizonten und intersubjektiven Wissensfortschritten irgendwie schon vorhandener, gegebener Wissensausstand440. Viel Ebd., S. 56. Ebd., S. 58. Zitat aus Hegels Vorrede zur »Phänomenologie des Geistes«. 439 Ebd., S. 62. 440 Finks Konzeption der Philosophie als me-ontischer Phänomenologie führt ihn sehr früh zu einem neuen und radikalen Verständnis von Philosophie als katastro phé, bzw. als »katastrophalem Denken«, das im Versuch einer spekulativen Überfra gung des Seins in Hinblick auf seinen konstitutiven Ursprung ein endgültiges Durch 437
438
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XVII. Philosophie als Lehre und als Frage
mehr entspringt es erst in einem staunenden Widerfahrnis, das den Menschen überfällt und seine natürliche Existenz tief erschüttert. »Im Staunen widerfährt dem Menschen eine ihn auf sich selbst vereinzelnde Vereinsamung, die ihn löst aus der gemeinschaftlich immer schon beredeten, allgemeinverständlichen Sphäre traditiona ler Welterkenntnis und ihn zurückbringt in den Urstand seiner Exis tenz.«441Auf dem Staunen folgt der Problementwurf als »eigentliches Handeln« der Philosophie. Dieses bringt das Für-sich-Sein des Men schen erneut in Bewegung. Indem er sich auf die philosophische Fahrt begibt, lässt der Mensch als das »Weltwesen«, das sich zu seinem Sein und zum Seienden im ganzen verhält, die »Lässigkeit« seines gängigen Selbst- und Weltverständnisses hinter sich und scheidet damit aus der »Geborgenheit in einer heimischen Welt«442 aus. Hier kündigen sich die schmerzhafte Einsamkeit und Bodenlosigkeit eines philosophischen Fragens an, das »das denkende In-Bewegung-Brin gen des Weltverständnisses und des selbstverständlichen Bodens des menschlichen Lebens«443 zu seiner Lebensaufgabe wählt. In der kathartischen Potenz des Staunens, in der ent-setzenden, heraus schlagenden Kraft, die ihr innewohnt, liegt nach Fink der eigentliche Beweggrund für alles theoretische Verfahren. Sie stellt gewisserma ßen den »kinetischen Ursprung«444 aller Theorie dar. Nicht nur mit Alfred Schütz tritt Fink zu diesem Thema in Diskussion und widerlegt die gegen ihn ins Feld geführten Einwände445. Auch mit Husserl sucht Fink das Gespräch über die wichtigsten Themen seiner neuen
brechen des hermeneutischen Zirkels nach sich zieht. Dieser Bruch meldet sich hier z. B. in der Nicht-Vorgegebenheit und Nicht-Vorbekanntheit des philosophischen Problems innerhalb der natürlichen, vor-philosophischen Einstellung, bzw. in der natürlichen Unmotiviertheit der Philosophie. Vgl. dazu Giovanni Jan Giubilato, »Brea king the Hermeneutic Circle. Phenomenology as ‘Catastrophe of Man’ in Fink’s Early Thought«, in: Phänomenologische Forschungen 2022–2, herausgegeben von C. Nielsen und A. Schnell, S. 37–56. 441 Eugen Fink, »Die Entwicklung der Phänomenologie E. Husserls«, a.a.O., S. 62. 442 Ebd., 68. Die formale Wesensstruktur dieses vom Staunen hervorgerufenen Bru ches innerhalb der natürlichen-traditionellen Einstellung bezeichnet Fink mit dem griechischen Wort ἔκπληξις (Herausschlagen); vgl. dazu vgl. Giovanni Jan Giubilato, Freiheit und Reduktion. Grundzüge einer phänomenologischen Meontik bei Eugen Fink (1927–1946), Bautz, Nordhausen, 2017, insb. S. 156–168. 443 Eugen Fink, »Die Entwicklung der Phänomenologie E. Husserls«, a.a.O., S. 71. 444 Vgl. Eugen Fink, »Das Problem der Phänomenologie Edmund Husserls«, a.a.O., S. 183. 445 Vgl. EFGA 3.4, Z-XXVI/102a.
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XVII. Philosophie als Lehre und als Frage
Abhandlung, wie folgende Notiz bestätigt: »Meine Thesen im Hus serlgespräch am 4. Nov. 1937: 1. Hegels Theorie des ›philosophischen Satzes‹ als Schlüssel zum Verständnis seines Begriffes der Dialektik! [Gegen die statische ›ontische Wahrheit‹ die bewegte ›spekulative‹]. 2. Begriff der ›natürlichen Einstellung‹? Ist diese unphilosophisch oder das schlafende Philosophieren? Der Begriff des Menschen als des ›Philosophierenden‹. 3. Das ›Staunen‹ als Ursprung von Religion, Kunst und Philosophie. 4. ›Welttrunkenheit der Vernunft‹ = Staunen. 5. ›Im Freien philosophieren‹ = inmitten der Dinge, in Wind und weitem Raum! 6. Aufgabe der ›Phänomenologie‹ ist das positive Begreifen der Möglichkeit des spekulativen Denkens!!«446
446
Vgl. EFGA 3.3, Z-XXV/42a.
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XVIII. Kritische Bemerkungen zu Husserls Phänomenologie
Finks Arbeitspläne vom Anfang des Jahres 1938 sind ein Anzeichen dafür, dass er die Ernte seiner philosophischen Bemühungen der letzten Jahre einfahren und den der Phänomenologie seines Lehrers eng gesteckten Rahmen sprengen wollte. Zunächst trug er sich mit der Absicht, seinen Dessauer Vortrag zu einer Schrift über Kant und das Transzendentalienproblem auszuweiten. Auch die Fortsetzung seiner »Entwicklungs«-Schrift zog er in Erwägung und er dachte daran, im Zuge des Frau Dorothy Ott gewährten Unterrichts einen Aufsatz zum »Begriff der Metaphysik« abzufassen. Weiterhin nahm er die beiden Projekte zu »Hütte im Oytal« und zur »Lehre vom Weltbegriff«447 in die Hand. Die im ersten Abschnitt des vierten Teilbandes der »Phä nomenologischen Werkstatt« dem Publikum erschlossenen Mappen Z-XXVI und Z-XXVII lassen deutlich erkennen, dass Fink mit der geplanten, leider nicht zum Abschluss gebrachten Fortführung seiner »Entwicklungs«-Schrift das Ziel verfolgte, die Phänomenologie seines Lehrers einer schonungslosen Kritik zu unterziehen448. Die in diesen Mappen enthaltenen Notizen gestatten es uns heute, die Hauptpunkte seiner kritischen Stellungnahme zu Husserls Phänomenologie aufzu listen. Dabei gilt es zu bedenken, dass jede der von ihm formulierten Thesen zugleich als Sprungbrett für die Ausgestaltung seines eigenen Philosophierens fungiert hat. 1) Husserls Phänomenologie ist »ungeschichtlich«. Was man in ihr vermisst, ist eine wirkungsvolle Auseinandersetzung mit der philosophischen Tradition und insbesondere mit dem Erbe des spekulativen Idealismus.449 Deshalb sollte am Schluss des ersten Teils der »Entwicklungs«-Schrift auf die Darstellung des von der Vgl. EFGA 3.3, Z-XXIII/9, 15. Vgl. insb. die Notizen Z-XXVII/10a, 53a, 54a und 56b, wo Fink auf die Themen hindeutet, die am Ende des (schon geschriebenen) I. Teils der Schrift hinzugefügt werden sollten. 449 Vgl. EFGA 3.4, Z-XXVI/38a. 447
448
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XVIII. Kritische Bemerkungen zu Husserls Phänomenologie
Phänomenologie am Leitfaden der »Intentionalität« unternommenen Rückleitungsversuches, der sie dazu geführt hat, »zu den intentional verstandenen Seinsursprüngen« vorzudringen, eine explizite Bezug nahme auf das »Verhältnis« folgen, in dem die »Phänomenologie zu der Problemtradition der abendländischen Philosophie«450 steht. Und gerade in diesem Abschnitt sollten die verschiedenen Facetten der an der Phänomenologie bemängelten »Ungeschichtlichkeit« ans Licht gebracht werden. Die Phänomenologie, so lautete Finks Fazit, ist »ungeschichtlich, indem sie die Neubegegnung mit dem Seienden als philosophisch entscheidend ansieht; sie ist ungeschichtlich, sofern sie zu keiner Auseinandersetzung mit der geschichtlich-vergangenen Philosophie kommt, d.h. zunächst keine Stellungnahme zum Problem der Spekulation hat ; ferner ist sie ungeschichtlich, weil sie ihre innere Geschichtlichkeit nicht ausspricht (Transzendentalienpro blem)«451. Insbesondere läuft die Phänomenologie Gefahr, für die antike Philosophie nicht das rechte Verständnis zu finden, indem sie diese für den Ort der Urstiftung der objektiven Wissenschaft hält. Von dieser Grundüberzeugung geleitet, verfehlt sie den Zugang zum wahren Begriff der Metaphysik und steht einer Wiederbegegnung mit dem antiken Problem der »Transzendentalien (ὂν – ἔν – ἀληθἐς – ἀγαθόν)«452 im Weg. Gerade das Fehlen einer von szientistischen bzw. außer-philosophischen Voraussetzungen befreiten lebendigen Wiederbegegnung mit der Philosophie der Antike ist in Finks Augen der Grund, »warum das subjektivistische Problem des ›phänomenolo gischen Idealismus‹ bei Husserl zu einem ›Dogmatismus der Egoität‹ statt zum Problem ens qua verum führt«453. 2) Die Phänomenologie Husserls ist insofern dogmatisch, als sie zu einer »Verabsolutierung des endlichen Subjekts« bzw. der erkennenden »Egoität« führt. Die Erstarrung, in der der phänome nologische Grundlegungsversuch ins Stocken gerät, erfolgt auf der Basis eines »verkürzten«, »gegenstands-intentionalen Begriffs« der menschlichen Endlichkeit. Husserls »Subjektivismus« ist somit »ein Irrweg, eine Sackgasse«454, in die das philosophisch ohnehin bedeut same Problem der menschlichen Subjektivität geraten ist, weil man 450 451 452 453 454
Ebd., Z-XXVII/53a. Ebd. EFGA 3.4, Z-XXVII/56a. Ebd., Z-XXVII/56b. Ebd., Z-XXVII/9a.
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XVIII. Kritische Bemerkungen zu Husserls Phänomenologie
ihre »Mittler-Natur«455 nicht richtig erfasst hat. Die »immense ana lytische Arbeit«, die Husserls Phänomenologie geleistet hat, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie der Gefahr ausgesetzt ist, zu einer Reflexionsphilosophie zu erstarren, mit der »der Mensch in sich zurückläuft«456. 3) Die Phänomenologie Husserls ist in ihrem Wesen anti-meta physisch. Indem sie den philosophischen Anspruch auf eine Neube gründung des Wissens erhob, forderte sie zugleich dazu auf, »alles als Seiendes Geltende zu prüfen durch Rückführung auf den originären Modus der Selbstbegebenheit«. Sie machte dabei jedoch implizit die Voraussetzung, dass das Gegenständlich-Seiende, das Für-uns-Sein des Seienden das Seiende schlechthin sei. Dieses Für-uns-Sein wurde von der Phänomenologie nicht wiederum hinterfragt. Vielmehr hielt die phänomenologische Analytik sich fortwährend »innerhalb des Für-uns-Seins« auf, in der Überzeugung, »dass es ein Sein des Seien den, unbezüglich auf unsere Erfahrung, nicht geben könne«.457 Diese Haltung führte zu einer »Aufhebung des (die metaphysische Natur des Wissens bestimmenden) Gegenbegriffs des ›Geheimnisses‹«458, dass es Seiendes statt Nichts gibt und dass es sich in der »Bewegung des Außer-sich-Gehens, des Sich-Aussetzens«459 des Wesens (bzw. der οὐσία) in das Erscheinen (ἀποφαίνεσθαι) offenbart. 4) In der Phänomenologie findet eine ungeheuerliche Nivellie rung des Begriffes des »Seienden« statt, weil innerhalb der Grenzen, die dem phänomenologischen Blickfeld gesetzt sind, »der Zusam menhang von Seiendem überhaupt und Gegenstand«460 gar nicht aufleuchten kann. In der Phänomenologie Husserls wird das Seiende einzig nur im Ausgang von einem rein »gegenstandstheoretischen« Gesichtspunkt in Betracht gezogen. In dieser Perspektive wird das Sein eines Seienden »als Geltung, und zwar als gegenständliche Gel tung«461 aufgefasst. Diese einseitige Orientierung der Auslegung des »Seienden« am Leitbild des »Gegenstandes« ist nach Fink das untrügliche Anzeichen einer »Unbewegtheit der ontologischen Fun
455 456 457 458 459 460 461
Ebd., Z-XXVII/14b. Ebd., Z-XXVII/57a. Ebd., Z-XXVI/9b. EFGA 3.4, Z-XXVI/38a. Ebd., Z-XXVI/19a. Ebd., Z-XXVII/53b. Vgl. Ebd., Z-XXVII/3a.
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XVIII. Kritische Bemerkungen zu Husserls Phänomenologie
damentalbegriffe«, eines »Stillstand des Seinsbegriffs«462, den man innerhalb der phänomenologischen Analytik Husserls verspüren kann. Husserl hantiert nämlich durchgängig mit einem »Modell des Wissens«, das sich des intentionalen »Schema: Bewusstsein-von« bedient und einer ontischen, d.h. weltbefangenen Erkenntniseinstel lung Vorschub leistet. Sogar die Wesenheit fasst Husserl folgerich tig als einen »Gegenstand höherer Ordnung« auf. Es ist demnach unverkennbar, so meint Fink, dass Husserl mit »einem ontologisch verstümmelten Seinsbegriff«463 operiert, und zwar mit einem rein »erkenntnisrelativen Seinsbegriff«. Dieser reduziert »Sein« als den generellen »Existenzcharakter an den Gegenstanden der Erfahrung« zu einem »thetischen« Charakter an den intentionalen Objekten. Die Existenz-»Setzung« intentional »vermeinter« Gegenstände ver weist uns ihrerseits an die Erkenntnisleistungen des konstituieren den, welterfahrenden Bewusstseins. Die Maxime »Zurück zu den Sachen selbst«, die die Phänomenologie so nachhaltig geprägt hat, geht somit von der unkritischen Annahme aus, dass »Sein« einen doxischen Charakter an den intentionalen Gegenständen darstellt. Man soll sich darüber nicht verwundern, dass die darauffolgende Suche nach einem »fundamentum inconcussum« aller Welterfahrung, nach jenem Seienden, »in dessen Erfahrung eine Täuschung über das erfahrene Sein nicht möglich ist«, damit beendet wird, dass das Ego der transzendentalen Erfahrung eben als ein keinerlei Täuschung unterliegendes auf den Plan gerufen wird.464 Denn dieses sei eben »sofern es erfahren wird, ein qua objectum absolutes Sein«465. Die Verabsolutierung des transzendentalen Ego innerhalb der Phänome nologie ist das erkenntniskritische Endergebnis ihrer grundsätzlich gegenstandstheoretischen Orientierung. Aus dieser »Sackgasse der Egoität« führt nach Fink nur ein einzi ger Weg heraus, der es zugleich gestattet, »die Husserlschen Ansätze« auch weiterhin »fruchtbar zu machen«466. Mit dem »Mittler-Sein« des Menschen soll in der Phänomenologie Ernst gemacht werden. Denn aus der unermesslich geleisteten Arbeit zur theoretischen Neu begründung der Philosophie hat Husserl nicht die Konsequenzen 462 463 464 465 466
Ebd., Z-XXVII/6a. Ebd., Z-XXVII/9b. Vgl. Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, a.a.O. EFGA 3.4, Z-XXVII/7a-b. Ebd., Z-XXVII/9a.
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XVIII. Kritische Bemerkungen zu Husserls Phänomenologie
gezogen, die ihn zu einer »Metaphysik der Vermittlung« hätten hin führen können. Woran es innerhalb seiner Phänomenologie fehlte, war eine explizite Wiederaufnahme der Transzendentalien-Proble matik. Und in seinen nach wie vor eindrucksvollen Nachforschungen kam es weder zu einer ausreichenden Analyse des inneren Bezugs von »Ansichsein und Für-uns-Sein« noch zu einer systematischen Erforschung des Verhältnisses, das zwischen »Wesen« und »Erschei nung« obwaltet. In einer Notiz, die aus dem Jahre 1937 stammt, hat Fink »drei Bezirke philosophischen Fragens« genannt, die uns wenigstens in nuce Auskunft darüber bieten, wie er seine Arbeiten künftig Gestalt geben wollte: »1. Husserls Phänomenologie entschränkend aus der Enge der Gegenstandsphänomenologie, aus der Enge der ›erkenntnistheoretischen‹ Problematik, aus der Enge der ›internen Analytik‹. 2. ›Die Bestimmung des Menschen‹; Wesen des Lebens als ›Spiel‹; das pathische Weltbild; ›Bildung‹; die Grund mächte: das Heilige, das Göttliche usw.; Nietzscheinterpretation. Kul tur- und Naturbegriff des Geistes; – Hütte im Oytal. 3. Metaphysik: ens-verum-Problematik. Die Intelligibilität des Seienden«467.
467
EFGA 3.3, Z-XXV/29a.
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XIX. Die Frage nach dem »Problem« der Phänomenologie
Aus den in den beiden letzten »Werkstatt«-Bänden rekonstruierten Arbeitszusammenhängen geht hervor, dass die Abhandlung von 1937 zur »Entwicklung der Phänomenologie Husserls« zusammen mit den kritischen Bemerkungen zu Husserls Phänomenologie, die Fink in diesem Rahmen verfasste, als eine Art »Prolegomena« zu einer Gesamtinterpretation des philosophischen Erbes, das sein Lehrer hin terlassen hat, gelesen werden können. Das Projekt einer umfassenden »Auseinanderlegung des phänomenologischen Grundproblems«468 nahm Fink zwei Jahre später mit dem 1939 in der Revue internationale de Philosophie veröffentlichten Aufsatz: »Das Problem der Phänome nologie Husserls« in Angriff. Wie er selbst angedeutet hat, ging dieser Beitrag aus dem Versuch hervor, »in das Fragen einer Philosophie mitfragend einzuspringen« und auf diese Weise eine »unausweichlich bedingte Interpretation« ihres »lebendigen Geistes«469 zu liefern. Im selben Heft der Revue, das dem Gedächtnis des Grundlegers der Phänomenologie gewidmet war, erschienen u.a. auch die Beiträge von Ludwig Landgrebe, Antonio Banfi, Gaston Berger, Jan Pos, Jean Héring und Jan Patočka. Auf Wunsch des Herausgebers der Revue steuerte Fink dem Gedächtnisheft noch ein bislang unveröffentlichtes Husserl-Manuskript bei: »Die Frage nach dem Ursprung der Geometrie als intentional-historisches Problem«470. Da »die allgemeine Proble matik, in die das Manuskript eingestellt ist, im Manuskript selbst nicht objektiviert ist«471 – wie es oft bei den Forschungsmanuskripten Husserls der Fall ist –, schickte Fink der Manuskriptveröffentlichung Eugen Fink, »Die Entwicklung der Phänomenologie E. Husserls«, a.a.O., S. 73. Ebd. Vgl. auch Eugen Fink, »Das Problem der Phänomenologie Edmund Hus serls«, a.a.O., S. 179. 470 Edmund Husserl, »Die Frage nach dem Ursprung der Geometrie als intentionalhistorisches Problem«, in: Revue Internationale de Philosophie, 1/2 (1939), S. 203– 225. 471 Ebd., S. 203. 468
469
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XIX. Die Frage nach dem »Problem« der Phänomenologie
ein kurzes »Vorwort« voraus, in dem er kurz den Entstehungskontext desselben im Rahmen der »Krisis«-Arbeiten schilderte. Husserls »Forderung nach einer wissenschaftlichen Philosophie« habe ihn in seinem Spätwerk zu einer kritischen, teleologisch-historischen Reflexion über den Ursprung der objektiven Wissenschaft und zu einer nachhaltigen Besinnung auf die kulturphilosophische Situation der Gegenwart geführt. Auf diesem Wege wollte er »Raum für einen wirklichen Neuanfang der Philosophie und für einen neuen Seinsbe griff«472 schaffen.473 Dass zwischen dem im Jahre 1939 in der Revue erschienenen Aufsatz zum »Problem der Phänomenologie Edmund Husserls« und dem zwei Jahre zuvor erschienenen Beitrag über »Die Entwicklung der Phänomenologie Husserls« ein enger Zusammenhang besteht, darauf hat Fink selbst in einer Fußnote hinweisen wollen, die er der Erstveröffentlichung seiner »Entwicklungs«-Schrift in der 1976 beim Verlag Karl Alber erschienenen Sammlung: »Nähe und Distanz. Phänomenologische Vorträge und Aufsätze« beigefügt hat. Diesen inneren Zusammenhang rücken die zahlreichen in dem dritten und vierten Teilband der »Werkstatt«-Ausgabe gesammelten Arbeitsnoti zen aus dieser Zeit ins rechte Licht. Tatsächlich trug das Anfangsstück der »Entwicklungs«-Schrift im Manuskript die Überschrift: »I. Das Problem«474. Die in den Mappen Z-XXIII, Z-XXV und Z-XXVI ent haltenen Arbeitsnotizen von Finks Hand gestatten es, dass man heute ein genaues Bild davon gewinnen kann, in welchem Maße die beiden Schriftprojekte aus dem Jahre 1937 und 1939 sich überschnitten haben. So stellt der Aufsatz über »das Problem der Phänomenologie
Ebd. Kurz daraufhin, Anfang Februar 1939, erschien der von Fink herausgegebene Ent wurf Husserls zu einer »Vorrede zu den Logischen Untersuchungen« aus dem Jahre 1913 im allerersten Heft der an der Universität zu Leuven neubegründeten Zeitschrift Tijd schrift voor Philosophie (vgl. E. Husserl, »Entwurf einer Vorrede zu den ,Logischen Untersuchungen‘ (1913)«, in: Tijdschrift voor Philosophie, 1/1 (1939), S. 106–133.). Dem Text stellte Fink eine kurze Vorbemerkung voran, in der er die Wichtigkeit dieses Dokumentes betonte, weil es eine Selbstinterpretation Husserls enthielt, mit deren Hilfe er sich gegen die »typischen Missverständnisse seiner Phänomenologie« zu verteidigen versuchte. 474 Der Übergang von dem einen Schriftprojekt zum anderen wird durch folgende Notizen: EFGA 3.4, Z-XXVII/56b, 57a, 58a und Reihe A (insbes. A/10) paradigma tisch dokumentiert. 472
473
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XIX. Die Frage nach dem »Problem« der Phänomenologie
Husserls« nicht eine einfache Fortführung »wichtiger Gedanken«475 dar, die Fink bereits in der »Entwicklungs«-Schrift geäußert hat. Vielmehr griff er auf das ursprüngliche Anliegen zurück, von dem das im Dezember 1937 fertiggestellte Typoskript nur das Anfangs stück enthielt.476 Immerhin blieb auch der Beitrag für die Revue ein Fragment. Nur die beiden ersten der insgesamt acht geplanten Teile kamen in ihm zur Ausführung. Vom »konstitutiven Aufriß der phänomenologischen Problematik«: »A. Das Seiende als Phänomen; B. Die Idee einer intentionalen Analytik; C. Die radikale Reflexion; D. Wissenschaft und Lebenswelt; E. Die Theorie der Natürlichen Einstellung; F. Die Theorie der Phänomenologischen Reduktion; G. Die Theorie der Konstitution; H. Das Grundproblem«477 lagen nur die Abschnitte A. und B. vor. Bereits in der einführenden Partie über »Die Frage nach dem Problem der Phänomenologie als eine bedingte Interpretation« hat Fink sich von neuem der Problematik des Staunens zugewendet. Weit davon entfernt, das Staunen für eine bloß vorübergehende psychologische Stimmung zu halten, gilt es, den Vorgang des Stau nens als »ursprüngliche Theorie«, d.h. als die »Grundstimmung des reinen Denkens« zu verstehen. Im Staunen als kathartischer Erfahrung ereignet sich die Geburt der Philosophie. Denn in der ent-setzenden Verwunderung über das Seiende im Ganzen, das in seinem Fraglossein wankend wird, »blitzt die erschütternde Ahnung einer eigentlicheren Weise des Wissens vom Seienden auf«478. Was dem Menschen hier widerfährt, ist der seltsame Vorgang, »dass seine Wissenstraditionen, seine Vorkenntnisse von Welt und Ding« auf einmal zerfallen und er »in die Not einer neuen Auseinandersetzung mit dem Seienden gerät«479. In dieser Notlage öffnet der Mensch sich gleichsam wieder uranfänglich zur Welt; er findet sich in der Morgen 475 Eugen Fink, »Die Entwicklung der Phänomenologie E. Husserls«, a.a.O., S. 45, Fußnote. 476 Finks Arbeitsnotizen zu seiner Schrift »Das Problem der Phänomenologie Hus serls« sind vorwiegend in der Reihe A des Notizheftes Z-XXVI gruppiert. Ein detail lierter Entwurf ihres Inhalts findet sich in der Mappe Z-XXVI auf den Notizseiten A/4a und A/7a. Vgl. auch EFGA 3.3, Z-XXV/36a-b, 40b, 191b; V–III insb. 8–18; Z-XXVI/38a; EFGA 3.4, Z-XXVII, insb. von 53a bis 66b, A/10a, 11a und 12a. 477 Eugen Fink, »Das Problem der Phänomenologie Edmund Husserls«, a.a.O., S. 185. 478 Ebd., S. 182. 479 Ebd., S. 184.
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XIX. Die Frage nach dem »Problem« der Phänomenologie
dämmerung eines neuen Welttages. Das Ganze des Seienden geht ihm neu auf. Wozu er sich in dieser Öffnung freigibt, ist das »Erleiden der Gewalt des wahrhaft Seienden«. Der Mensch bestimmt sich zur wissenden Hinnahme dessen, was jenseits aller Menschenmacht ist. Wozu er hier gleichsam erwacht, ist somit »die Idee« im philosophi schen Sinne, »die Ahnung des seiendsten Seienden«, und zwar in der Weise seiner »Entbehrung«480. Im Staunen wird gerade »diese Entbehrung zur erfahrenden Begegnung« in der Gestalt einer nicht ablassenden Unruhe des menschlichen Geistes, die ihn dazu antreibt, die Verborgenheit des Seienden zu lichten. »Loslassen des Geltenden und Entwurf eines neuen Begriffs von ›Seiendes‹ und ›Wahrheit‹«481, so fasst Fink in seinen Arbeitsnotizen die den Menschen in seinem Staunen heimsuchende »Jagd nach dem Seienden« zusammen, die die wache Kraft seiner begrifflichen Erkenntnis auf eine harte Probe stellt. Denn in der Entfaltung der staunenden Frage wird die Totalität der »Binnenstrukturen der Welt«482 in jene Fragwürdigkeit gestoßen, die eben den philosophischen »Problementwurf« auszeichnet. Gerade die Überlegungen zur universalen, über alle regionalen Gebietseinteilun gen hinausgreifenden Tragweite der philosophischen Verwunderung rufen den »kosmologischen Begriff der ›Welt‹« auf den Plan, mit dem nach Fink eine Aufgabe der Metaphysik bezeichnet wird. Von der Höhenlage einer »auf das Ganze des Seienden gehende Verwunderung«483 aus wendet er den Blick wiederum auf das phänomenologische Arbeitsfeld seines Lehrers. Die spezifi sche Art und Weise, in der die Phänomenologie Husserls nach dem Seienden fragt, ist nämlich die, dass die Entscheidung dieser Frage ihm zu einer Analytik des Bewusstseins wird. Der philosophische »Problementwurf« bzw. die »Hypothesis«, die die Phänomenologie Husserls grundlegend bestimmt, so meint Fink, »liegt in der Anset zung des intentional verstandenen originären Bewusstseins als des wahrhaftigen Seinszugangs«484. Demnach entfaltet sich das Seinspro blem zu einer intentionalen Analytik und wird die Phänomenologie eine Wissenschaft des Bewusstseins. Der besondere phänomenolo gische Sinn, den die Interpretation des Seins aus dem Wahrsein 480 481 482 483 484
EFGA 3.4, Z-XXVI/82a. Eugen Fink, »Das Problem der Phänomenologie Edmund Husserls«, a.a.O., S. 187. Ebd. Ebd., S. 189. Ebd., S. 201.
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XIX. Die Frage nach dem »Problem« der Phänomenologie
in Husserls Philosophie bekommt, ist derjenige, der sich in der intentional-analytischen Theorie der Selbstgebung entfaltet. In die innere Sinnesordnung des Bewusstseins konstruktiv vorgreifend, gelangt Husserl zur Bestimmung der Originarität als Anschauung. Jede originär gebende Anschauung sei eine Rechtsquelle der Erkennt nis. »Zum Horizont aller Entscheidungen über ein ›Ansichsein‹ und die Möglichkeit eines darauf bezogenen Wissens« wird »die Phäno menalität des Seienden«485, sein Sich-Zeigen und Sich-Ausweisen in den selbstgebenden Erfahrungen. Als ein »beunruhigende Problem, das über den bisher charakterisierten Ansatz der phänome nologischen Grundfrage hinaustreibt«, bezeichnet Fink am Schluss seiner vorzeitig abgerissenen Ausführungen die »Frage nach dem Sein der Intentionalität«486. Die in der Mappe Z-XXVI aufbewahrten Arbeitsnotizen vermit teln uns einen Einblick in die einzelnen Versuche, die Fink unternom men hat, um die geplante Arbeit zum »Problem der Phänomenologie« weiterzuführen. Zwar sei es der unbestreitbare Verdienst der von Hus serl begründeten phänomenologischen Transzendentalphilosophie, dass sie ein radikales »Hineinfragen in den Bezug von Sein und Wahr sein« in die Wege geleitet habe. Das »Problem der Phänomenologie« darf jedoch nicht auf die »Grundfrage« eingeschränkt werden, wie eine intentionale Analytik der Akte des Bewusstseins sie gestellt hat, nämlich als Frage nach der Zugangsweise zum Seienden als einem Gegenstand der Erkenntnis. Zum phänomenologischen »Pro blem«-Gehalt gehört auch das »Problematische«, das am Rande ihrer Analysen auftaucht, – das sie aber noch keineswegs gelöst hat. Im »Dogmatismus der Egoität«, in der »anthropologischen Verabsolutie rung des endlichen Subjekts«, in einer Auffassung der Konstitution als »Erschaffung des Seienden« wittert Fink die Gefahr, dass die Phänomenologie das eigentliche Wesen des Menschen als »Mittler« verkennt und ihn irrtümlich für einen »Weltschöpfer« hält. Von neuem ist für Fink das »subjektivistische« Motiv der Husserlʼschen Phänomenologie der Stein des Anstoßes. Den phänomenologischen Subjektivismus kennzeichnet er als die »dogmatische Erstarrungs gestalt eines grundsätzlichen Problems«487 – des Wahrheits- und Seinsproblems, das Husserl aus dem Fragehorizont der Transzenden 485 486 487
Ebd., S. 201. Ebd., S. 223. EFGA 3.4, Z-XXVII/64b.
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XIX. Die Frage nach dem »Problem« der Phänomenologie
talien: ens-unum-verum-bonum herausgenommen hat, was es mit sich gebracht hat, dass seine deskriptiv-analytische Forschung in den Engpass des »Sinnbezugs von Gegenstand und Bewusstsein«488 hineinschlitterte. Aus diesen und vielen anderen Äußerungen Finks geht hervor, dass er ständig dazu bereit war, sich in die Grenzbereiche der Phänomenologie seines Lehrers vorzuwagen und die bewusst seinsanalytische Auslegung der »fungierenden Intentionalität« zu hinterfragen. Unermüdlich stellte er den verborgenen »philosophi schen Motiven der Phänomenologie E. Husserls«489 nach – zum Zweck eines »Wieder-in-Gang-Bringens der Philosophie in der Phä nomenologie«490.
488 489 490
Ebd., Z-XXVII/A/13a. Vgl. ebd., Z-XXVII/A/8a. Ebd., Z-XXVII/64b.
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XX. Treue und Loslassen: Rettung des Husserl-Nachlasses und »Nachruf auf Edmund Husserl«
Mit Husserls Tod am 27. April 1938 ging auch die symbiotische Exis tenz, die Eugen Fink mit seinem phänomenologischen Lehrer für mehr als zehn Jahre geführt hatte, zu Ende. Obwohl die schon seit mehreren Monaten andauernde Krankheit Husserls den treuen Mit arbeiter und Assistenten darauf vorbereitet hatte, sich eines Tages von ihm verabschieden zu müssen, traf dennoch das schmerzhafte Erleb nis des Verscheidens des Vaters der Phänomenologie Fink mit aller Härte. Bis in die letzten Lebenstage stand er seinem Lehrer zur Seite. Trotz eintretenden längeren Phasen der Lethargie und Bewusstlosig keit war es Husserl dennoch vergönnt worden, sich ab und zu mit klarem Verstand mit seinem Assistenten zu unterhalten und mit ihm gemeinsam zu philosophieren. Am 16. März hatte er an ihn die Worte gerichtet: »Ich danke Ihnen sehr, ich werde Sie nie verlassen«491. Mit Husserls Tod fing für Fink eine neue, äußerst bewegte Phase seines Lebens an. Sie forderte ihn zunächst dazu heraus, sich aktiv an der Rettung des Nachlasses Edmund Husserls und an der Gründung des Husserl-Archivs am Philosophischen Institut der Universität Leuven zu beteiligen. Im März des Jahres 1939 entschied er sich zur Emigra tion nach Belgien und wurde als erster Mitarbeiter des neu errichteten phänomenologischen Forschungszentrums mit der Transkription und Vorbereitung der Publikation des Vermächtnisses seines Lehrers beauftragt. Der Kriegsausbruch zwang ihn im Oktober 1940 zu einer raschen Rückkehr nach Deutschland, wo er zwei Monate später als Soldat in die Wehrmacht einberufen wurde. Erst im Frühjahr 1945 wurde er aus dem Kriegsdienst entlassen. Für das Fortleben des phi losophischen Erbes Edmund Husserls waren die Jahre von 1938 Elisabeth Husserl Rosenberg, »Aufzeichnungen aus Gesprächen mit Edmund Husserl während seiner letzten Krankheit im Jahre 1938«, in: Ossenkop, van Kerck hoven, Fink, Eugen Fink (1905–1975). Lebensbild des Freiburger Phänomenologen, Bil der Nr. 1504–1511. 491
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XX. Treue und Loslassen
bis 1940 von entscheidender Bedeutung. Der damals ergriffenen Ini tiative zur Rettung des gesamten Bestandes seiner nachgelassenen Manuskripte ist es zu verdanken, dass einer neuen Forschergenera tion ein uneingeschränkter Zugang zu den Quellen seines Lebens werkes gewährt worden ist. Bis zum heutigen Tag beschwingt diese Begegnung mit Husserls schöpferischer Gedankenwelt, wie sie uns aus seinen Manuskripten ohne Umschweife zuspricht, die phänome nologische Forschung und bereichert sie mit kräftigen neuen philo sophischen Impulsen. »Der ideellen Aufgabe der Bewährung und Sicherung des Lebenswerkes Ihres Vaters fühle ich mich verpflichtet und bin jeder zeit und unter allen Umständen daran zu arbeiten gewillt«492. Mit diesen Worten gab Fink am 16. Oktober 1938 Husserls Sohn Gerhart, der seit Ende 1936 in die U.S.A. ausgewandert war und dort einen engen Kontakt mit Dorion Cairns und Marvin Farber pflegte, die schriftliche Versicherung, sich auch in Zukunft nach besten Kräften dafür zu engagieren, dass der Ertrag des außerordentlich produktiven Forscherlebens Husserls gehütet und in angemessener Form dem philosophischen Publikum erschlossen werde. Die schier aussichts lose Situation, in der sich Husserls geistiges Vermächtnis befand, seitdem die Pläne, um seine Manuskripte nach Prag überzusiedeln, gescheitert waren, veränderte sich schlagartig mit dem unerwarteten Eintreffen von Pater Herman Leo Van Breda in Freiburg am 15. August 1938. Der von ihm veröffentlichte Bericht über »Die Ret tung von Husserls Nachlass und die Gründung des Husserl-Archivs« gestattet es uns heute, einen detaillierten Einblick in die erstaunliche Verkettung der einschneidenden Ereignisse zu gewinnen, die dazu geführt haben, dass noch im Dezember desselben Jahres am Philoso phischen Institut der Leuvener Universität das Husserl-Archiv gegründet wurde.493 Van Breda war nach Freiburg gereist mit der Absicht, für seine bevorstehende Promotion die von Husserl dem Thema »Reduktion« gewidmeten Manuskripte zu inventarisieren und eingehender zu studieren. Die bedrückende Lage, in der er dort die Witwe des verstorbenen Philosophen und die verwaist zurückgeblie benen Mitarbeiter vorfand, und das bedrohliche politische Klima in Brief Eugen Finks an Gerhart Husserl, 16. X. 1938. Herman Leo Van Breda, »Die Rettung von Husserls Nachlass und die Gründung des Husserl-Archivs«. In: Husserl-Archiv Leuven. Geschichte des Husserl-Archivs / History of the Husserl-Archives, Springer, Dordrecht, 2007, S. 1–38. 492
493
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XX. Treue und Loslassen
Deutschland, das für das Vermächtnis des Begründers der phänome nologischen Bewegung nichts Gutes zu versprechen schien, bewegten ihn dazu, den wagemutigen Plan zu fassen, um Husserls umfangrei chen Nachlass nach Belgien zu retten und dort eine internationale Husserl-Forschungsstelle zu gründen. Bereits am 6. September 1938, nachdem er zuvor »mit Finks bereitwilliger Hilfe den Entwurf eines Vertrages zwischen der Familie Husserl und dem Leuvener Philoso phischen Institut ausarbeiten«494 können, leitete Van Breda eine »lange Besprechung« mit Landgrebe und Fink in die Wege, »deren Gegenstand vor allem eventuelle Mitarbeit bei der Leu vener Institution war«495. Aus dieser Zeit stammen nach aller Wahr scheinlichkeit Finks »Memorandum über die Nachlassmanuskripte«496 sowie seine, uns in der Mappe Z-XXVI wenigstens in Notizform überlieferten Aufzeichnungen mit der Aufschrift: »Bedingungen für Louvain«, in denen er die Themen andeutete, die ihm für die künftig in Leuven anzubietenden Seminare besonders geeignet schienen: »1. Hegels ›Phänomenologie des Geistes‹, 2. Kants ›Ideenlehre‹, 3. Aris toteles‘ ›Metaphysik‹, 4. Husserls Phänomenologie, 5. Plato: ›Phaidros‹, ›Sophistes‹, ›Timaios‹, ›Parmenides‹, ›Staat‹ usw.«497. In dieser Autoren- und Themenwahl spiegelt sich Finks tiefschürfende Aus einandersetzung mit denjenigen Philosophen wider, die ihm in den vergangenen zehn Jahren als die wichtigsten Referenzen für die fort währende Weiterbildung seines eigenen Denkens gedient haben. Nur eine Figur fehlt in dieser Liste, von der noch die Rede sein wird: die Figur Nietzsches. Im Juli 1938 verfasste Fink einen »Nachruf auf Edmund Hus serl«498, den er zunächst in der von Arthur Liebert in Belgrad heraus gegebenen Zeitschrift Philosophia veröffentlichen wollte499, den er jedoch im Monat Dezember desselben Jahres wieder zurückforderte. Die Gründe für diesen Entschluss, das schöne philosophische Epitaph für seinen Lehrer Husserl kurzfristig zurückzuziehen, waren bislang unbekannt. Etwa vierzig Jahre später ordnete er diesen Text in die Ebd., S. 30. Ebd., S. 14. 496 EFGA 3.3, Z-XXV/60a-b. 497 EFGA 3.4, Z-XXVI/36a. 498 Eugen Fink, »Edmund Husserl † (1859–1938)«, in: Nähe und Distanz. a.a.O., S. 75–97. 499 Im ersten Band dieser Zeitschrift wurde 1936 der Anfang der Krisis-Arbeit (Teil I und II) veröffentlicht. 494
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XX. Treue und Loslassen
Sammlung phänomenologischer Vorträge und Aufsätze ein, die im Jahre 1979 unter dem Titel: »Nähe und Distanz« posthum erschien. Einige Notizen aus dem vierten Teilband der »Werkstatt«-Ausgabe gestatten es heute, seine damalige Entscheidung ins rechte Licht rücken zu lassen. Zum ersten Male werden jetzt nämlich die Ände rungen und Umformulierungen der ursprünglichen Fassung sichtbar, mit denen Fink sich zwischen Juni und Dezember 1938 trug. Die sich damals anbahnende kosmologische »Wende«, die ihn zu einer neuen Konzeption des Gesamtsystems seines Philosophierens zwang, war wohl der Grund dafür, dass er die Veröffentlichung dieses »Nachrufes« auf seinen ehemaligen Lehrer einstweilen unterband. Nach Fink sei das Seins- und Wahrheitsproblem (der Zusam menhang von ens und verum) die die Phänomenologie – meistens insgeheim – leitende Grundfrage. In seinem »Nachruf« weist er darauf hin, dass auch in Husserls ständigem »Zurückfragen ins Ursprüngli che« sich ein neuer »Entwurf von Sein und Wahrheit« abgezeichnet hat. Husserls Rückgang auf den als »transzendentale Subjektivität« gekennzeichneten Urgrund aller Welterfahrung, der ihn zu einer Neubestimmung von Sein und Wahrheit geführt hat, ging aus einem grundsätzlichen »Loslassen des Selbstverständlichen«500 hervor, aus dem radikalen Vollzug der phänomenologischen Epoché hinsichtlich jeglicher Form weltlichen Wissens. Deshalb, so führt Fink weiter aus, habe Husserls »Denkleidenschaft um das Problem der Reduktion am meisten gekreist, nicht aus einem intellektuellen Raffinement, sondern aus Lebensinteresse«501. Es erübrigt sich an dieser Stelle, die Bedeutung in die Erinnerung zurückzurufen, die Husserl selbst der Lehre von der Reduktion in seiner »phänomenologischen Funda mentalbetrachtung« beigemessen hat. Finks Radikalisierung der Phä nomenologie in der Richtung einer »me-ontischen Erscheinungslehre des Absoluten« bzw. einer »onto-gonischen Metaphysik« entsprang ihrerseits aus der seit der »Einleitung« zu seiner Doktorarbeit über »Vergegenwärtigung und Bild« nicht ablassenden Bemühung, um der »existenzialen Entwurfssituation der Reduktion« auf den Grund zu gehen. Besonders bemerkenswert ist nun aber, dass Fink darauf bestand, dass die Schlussworte des soeben zitierten Satzes unbedingt geändert werden sollten. Statt »aus Lebensinteresse« sollte es jetzt heißen: »aus der äußersten Not der Seinsverlassenheit und Seinssu 500 501
Eugen Fink, »Edmund Husserl † (1859–1938)«, a.a.O., S. 87. Ebd., S. 88.
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che«502. Obwohl er sich darüber im Klaren sei, dass die »Theorie der Reduktion im ›Nachruf‹ nur eine Skizze« darstelle, habe sie nichtdestoweniger eine fundamentale Bedeutung »als Ausdruck einer bestimmten Interpretation«. Und zwar derjenigen, durchaus originel len Interpretation, wonach »Epoché und Reduktion« nunmehr »als ›Loslassen‹ und ›Suchen‹ und somit als ontologische Erfahrung«503 gedeutet werden müssen. Husserls »Begriff der Reduktion« dagegen würde auf deren rein »methodischen Sinn« beharren und damit nur eine bestimmte »Zugangsweise« zum Seienden ins Visier fassen, die in der Maxime »Zurück zu den Sachen selbst« bzw. zu den »Phänomenen« zum Ausdruck käme. In Husserls Auffassung, so meinte Fink, sei das phänomenologische »Loslassen sozusagen auf ein bestimmtes Loslassen hin fixiert, und das Suchen schon ein Finden von Bestimmtem«504. Auf dem von Husserl eingeschlagenen Weg, der ihn von der »natürlichen Einstellung« zur Sphäre der »abso luten transzendentalen Subjektivität« geführt habe, sei das Loslassen lediglich »ein Loslassen des ›Objektivismus‹ und das Suchen schon gleich ein Finden, eben das Finden des absoluten Bodens«505 aller Welterfahrung in der Gestalt der fungierenden transzendentalen Subjektivität. Darüber kann, so führte Fink weiter aus, nicht der geringste Zweifel bestehen, dass Husserl mit diesem »Übergang von der objektivistischen ›Naivität‹ der natürlichen Einstellung« und den in ihr grundsätzlich beheimateten positiven Wissenschaften »in die reduktiv ermöglichte Auslegung der ›leistenden‹ Subjektivität« als des absoluten Grundes für jedes objektiv-wissenschaftliche Wissen dem geläufigen Begriff des Seienden einen wichtigen »Ruck« gegeben und damit eine grundsätzliche »Wandlung des Seienden-Begriffs und Begriffs der Erkenntnis«506 bewirkt habe. Wenn auch die Wichtigkeit des von Husserl Geleisteten unbestritten sei, so sollte die Beschränktheit seines gesamten Unternehmens dennoch nicht verheimlicht werden. Nachdem »der Boden der Subjektivität erreicht« wurde, sei die innere Mobilität des Husserlʼschen Denkens sozusagen erschöpft gewesen; ein neuer Ruck sei nicht mehr erfolgt. Indem die »philosophische Wandlung prinzipiell zu Ende« gekom 502 503 504 505 506
EFGA 3.4, Z-XXVI/68a. Ebd., Z-XXIX/44a. Ebd. Ebd., Z-XXVIII/ 36a. Ebd.
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men war, erwuchs auf dem erreichten Stand »eine Unendlichkeit von wissenschaftlichen Forschungsfortschritten«507 in der Form einer infinitesimalen intentional-analytischen Zerstückelung des Bewusst seinsfeldes und seiner konstitutiven Leistungen. In diesem Sinne, so beschloss Fink seinen Gedankengang, habe Husserl die eigentlich philosophische Bewegung seiner Phänomenologie »in die immanenzphilosophische Enthüllung einer bestimmten Domäne«508 zurück gedrängt – in die Sphäre der Subjektivität und ihres »Dogmatis mus« eingesperrt. Es ist nach diesen Ausführungen offenkundig, dass hinter den im Jahre 1938 erwogenen, scheinbar geringfügigen Änderungen, die Fink an seinem »Nachruf auf Edmund Husserl« vornehmen wollte, seine fortwährend kritische Auseinandersetzung mit dem »Grundproblem Husserls« stand. Was in Finks Augen vor allem problematisch war, war die Feststellung, dass Husserl die Phänomenalität des Seins grundsätzlich als eine Weise des Für-uns-Seins des Seienden auf fasste. Die von Husserls Phänomenologie eingeleitete Denk-»Bewe gung«, die nach dem Seienden im Ganzen fragt und dieser Frage die Gestalt einer intentionalen Analytik verleiht, sei somit unzurei chend. Sie stelle »nur ein Schritt«, nur einen »Ruck« innerhalb der breiteren Entfaltung des Seins- und Wahrheitsproblems dar, dessen Fragehorizont durch die Problematik der »Transzendentalien« maßgeblich bestimmt wird. Der von Husserl gemachte phänomeno logische »Schritt« sei letztlich in einem »Dogmatismus der Subjekti vität«509 zum »Stillstand« gekommen. Und »dieser Stillstandsform einer echten metaphysischen Problematik«510 möchte Fink seine eigenen philosophischen Bemühungen entgegenhalten. Von der Absicht geleitet, auf dem Boden einer radikal verwan delten Auffassung der »Reduktion« in den Bereich einer onto-goni schen Metaphysik vorzustoßen, verdichteten diese Bemühungen sich zusehends zu einer »Metaphysik des Spiels«. Um 1939 herum gewan nen sie eine neue Konturenschärfe in den Vorentwürfen zu einer Schrift, die den Begriff der »ontologischen Erfahrung« im Titel führen sollte. Von entscheidender Bedeutung für die innere Artikulation dieser »ontologischen Erfahrung« seien die beiden Momente des 507 508 509 510
Ebd. Ebd., Z-XXIX/44a. Ebd., Z-XXVIII/36a. Ebd.
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»Loslassen« und des »Suchen«. Sie sind eben die unverkenn baren Anzeichen eines fortwährenden In-Bewegung-Haltens „ Begriff des Seienden und der Wahrheit«511, die Husserl »schon ersten Ruck … fixiert« habe. Denn es kann nicht geleugnet werden, dass Husserl sich den Zugang zu der »Bewegung der ›onto logischen Erfahrung‹ versperrt« habe, und zwar aufgrund der Ungeschichtlichkeit seines Denkens, das unterschwellig von einer anti-metaphysischen Grundhaltung genährt wurde. Die gravierenden Folgen derselben wurden nicht nur in der durchgängigen Nivellierung des Seinsbegriffes und im hartnäckigen Beharren auf einem »Dog matismus der Egoität« offenbar, sondern auf einer tieferliegenden Ebene in der »These von der Abgeleitetheit, Nachträglichkeit und Fundiertheit des Begriffs gegenüber der Anschauung«512 spürbar, die der Begründer der Phänomenologie auf seine Fahne schrieb. Denn damit verfehlte Husserl die Chance, um die eigentlich philosophische Leistungsfähigkeit des phänomenologischen Denkens zu aktivieren, die nach Finks Ansicht gerade in der »ontologischen Dialektik«513 liegt, die aus der Grunderfahrung eines unaufhaltsamen »Loslassens und Suchens des Seienden« hervorgeht und zum Hinterfragen der Fundamentalbegriffe von Seiendem und Wahrheit führt. Diese radikalisierte Gestalt des reduktiven Verfahrens, die er gelegentlich auch ein »Entbehrungsverstehen« nennt, hat Fink im Jahre 1939 in einem mit Van Breda geführten Gespräch mit Nach druck als seinen »eigenen Besitz«514 reklamiert: »Phänomenologische Reduktion und das Entbehrungsverstehen!? Epoché ein Entzug? Was Naivität ist, wird in ihr nicht zugänglich, sondern erst nach ihrer Überschreitung. Phänomenologische Reduktion und κάθαρσις und Verwunderung«515. Das »Loslassen und Suchen« der Philosophie sei aus dem Wesen des Staunens bzw. aus jener Verwunderung zu begreifen, die den Menschen aus seiner Weltbefangenheit entsetzt, den Ent-wurf des philosophischen Problems hervorruft und die kathartische Bewegung der „›Heimsuchung‹, der ›Heimkehr‹ und der ›Sehnsucht‹« in Gang bringt. Diese Bewegtheit entspricht nach Fink genau demjenigen, was bereits Nietzsche mit der »großen 511 512 513 514 515
Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. ebd., Z-XXVI/100a. Ebd., Z-XXVI/44a.
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Sehnsucht« vor Augen stand: dem »philosophischen Ἔρως nach dem ›Eigentlich-Seienden«, der zu einem »Loslassen des Vorgegebenen und Darüber-hinaussuchen«516 führt. Husserl verstand das Moment des Loslassens vorwiegend als ein »Außer-Spiel-Setzen« des objektiven Dogmatismus der positiven Wissenschaften. Was über »die Entdeckung einer bislang verdeckten Dimension des Seienden«, die in der fungierenden transzendentalen Subjektivität aufgefunden und nachgewiesen wurde, hinausliegt, entzog sich seinem Blick. Er machte Halt beim »absoluten Boden« der transzendentalen Subjekti vität. Dort kam die philosophische Bewegung der Phänomenologie zum Stillstand. Je »stärker diese einmalige Wendung betont wird«, so hob Fink hervor, »desto stärker gewinnt die phänomenologische Reduktion den Charakter einer Methode (eines Zugangsweges)«517. Nicht nur wird auf diese Weise unter Verwendung eines »dogmati schen und vulgären Begriff von ›absolut‹ die Subjektivität ver absolutiert«518. Die Phänomenologie verbaut sich damit außerdem grundsätzlich die Möglichkeit, dass innerhalb ihrer Nachforschungen eine wahrhaft »ontologische Dialektik« zum Tragen kommt. Besonders aufschlussreich sind die Arbeitspläne und Veröffent lichungsprojekte, die Fink in der Zeit unmittelbar nach Husserls Tod seinen Notizheften anvertraut hat519. Aus diesen kann man die Richtung gleichsam herauslesen, die sein eigenes phänomenologi sches Philosophieren einschlagen wollte. Mit dem im Jahre 1939 in der Revue internationale veröffentlichten Aufsatz »Das Problem der Phänomenologie Edmund Husserls« gelang es ihm, die geplante Fortsetzung seiner »Entwicklungs«-Schrift wenigstens teilweise zum Ziel zu führen. Um diese Zeit muss ihm auch das berühmte, später leider vernichtete »Zeitbuch«: »Edmund Husserl. ›Phänome nologische Analytik der Zeit‹ – herausgegeben von Eugen Fink«520 in mehr oder weniger geschlossener Form vorgelegen haben. Auf Finks Arbeitsliste stand weiterhin eine »Mosaik« benannte Schrift – nach aller Wahrscheinlichkeit eine schriftlich herausgearbeitete Auswahl der philosophischen Hauptthesen, die sich seit Ende der zwanziger Jahre in den zahlreichen Mappen angehäuft hatten, in 516 517 518 519 520
Ebd., Z-XXVI/43b. Ebd., Z-XXVIII/36a. Ebd. Vgl. ebd., Z-XXVI/38a. Ebd., Z-XXVI/53a.
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denen er seine Notizen aufbewahrte521 –, sowie die Arbeit zu »Welt und Weltbegriff«, von der weiter unten in Abschnitten XXVI und XXVII noch ausführlicher die Rede sein wird. Es folgten die »HegelInterpretationen«, vermutlich seine Notizen zur »Interpretation von Hegels ›Phänomenologie des Geistes‹«522, die aus dem Jahre 1938 stam men, und die diesen handschriftlichen Aufzeichnungen beigelegte maschinengeschriebene Ausarbeitung: »Versuch einer Auslegung von Hegels ›Phänomenologie des Geistes‹«523. Mit Rücksicht auf das weite Feld einer »Nietzsche-Interpretation«, das noch offenstand, verdienen diejenige Aufzeichnungen unsere besondere Beachtung, die Fink dem Begriff des »Schöpferischen« und dem »Begriff der Freiheit als Spiel« widmete. Denn in den »schöpferischen Momenten« seines Lebens löst der Mensch sich »vom Selbst-Verfängnis und sich frei«524. Mit dem Gedanken, dass das Wesen des Lebens das Spiel sei, hielten die Skizzen zur Konzeption einer »ersten Philosophie« Schritt, welche mindestens vom Jahre 1936 an in seinen Gesichtskreis trat. In das Projekt »Aristoteles und die ›Transzendentalien‹« flossen mehrere Interessengebiete ein, die Fink in diesen Jahren systematisch durchkämmte. An erster Stelle sollen hier im Herbst 1936 von ihm veranstalteten Übungen zur »Metaphysik« des Aristoteles525 erwähnt werden, die im Rahmen des Privatunterrichtes von Frau Dorothy Ott stattgefunden haben. Ein Jahr zuvor boten die sogenannten »AlonsoStunden«526 Fink die Gelegenheit, um Kants kritische Verwandlung der dogmatischen Metaphysik, die Transzendentalien-Problematik und insbesondere den Zusammenhang von »ens und verum« scharf unter die Lupe zu nehmen. Und im Zuge der Überlegungen zur »Idee der Transcendentalphilosophie bei Kant und in der Phänomenologie«, die er anlässlich seines Dessauer Vortrags angestellt hatte, verfolgte Fink weiterhin die ihn beschwingenden Gedanken, dass das transzen dentale Fragen eine Art »Selbstbemächtigung des Lebens« darstelle und dass das »Weltwesen des Menschen« das eines »Mittlers« sei. Es
Vgl. M-II (aus den Jahren 1929–1935) in EFGA 3.1; Z-XV (1930–1935) in EFGA 3.2; OH-I (»Mosaik I« aus 1934), OH-IV (»Mosaik II« aus 1935) und Z-XXV (1937– 1938) in EFGA 3.3; Z-XXVI (1937/38–1949) in EFGA 3.4. 522 Vgl. EFGA 3.3, Z-XXIV. 523 Ebd., Beilage I. 524 EFGA 3.4, Z-XXVI/A/13b. 525 Vgl. EFGA 3.3, Z-XXI. 526 Ebd., M-III Grammata, Text Nr. 15. 521
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ist also kein Wunder, dass der nächste thematische Schwerpunkt auf der Arbeitsliste hieß: »Bestimmung des Menschen: Mittler«. Die Vielseitigkeit der Arbeitspläne, die aus dieser Zeit stammen, ist ein beredtes Zeugnis dafür, dass Fink keine Mühe scheute, um für die verschiedenen Aspekte seines Denkens, das in seinen inneren Bestandteilen bereits sehr ausgearbeitet und kohärent strukturiert war, die angemessene Ausdruckform zu finden. Andererseits deutet die Erwähnung eines Schriftstückes mit der Aufschrift: »Husserls nachgelassenes Werk« darauf hin, dass Fink sich jedes Mal mit Eifer ans Werk machte, wenn es sich darum handelte, das geistige Erbe seines verstorbenen Lehrers zu pflegen und in angemessener Form einer schnell heranwachsenden neuen Forschergeneration zur Verfü gung zu stellen. Der von ihm während des Sommers 1938 in Aussicht gestellte Beitrag zu dem von Marvin Farber in die Wege geleite ten »Memorial Volume« für Edmund Husserl sollte einen kleinen »Artikel über den Nachlass Husserls« ergeben, »der die außerordent liche Bedeutung desselben und zugleich die Schwierigkeiten der Edi tion«527 ans Licht ziehen möchte. Über das Schicksal dieses Artikels, der in dem im Jahre 1940 veröffentlichten Gedächtnis-Band528 fehlte, wurde bereits im Kapitel XIV berichtet. Im Zuge der Arbeiten, die auf dieses gescheiterte Projekt folgten, entstand allerdings das ominöse »Traktat über phänomenologische Forschung«. Auf diese Abhandlung werden die nachfolgenden Kapitel XXIV und XXV eingehen.
Brief Eugen Finks an Marvin Farber vom 31. X. 1938. Marvin Farber (Hrsg.), Philosophical Essays in Memory of Edmund Husserl, Oxford University Press, Cambridge (MA), 1940.
527
528
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Am 16. März 1939 wanderte Fink nach Belgien aus. Mit diesem Vor gang vollzog sich eine tiefgreifende »Umorganisation zivi len Daseins«529. Er trat in den Dienst des neugegründeten HusserlArchivs und bezog eine geräumige Wohnung in einem Vorort der Leuvener Altstadt. Ein Grundriss des Hauses in der Koning Albertlaan mit handschriftlichen Eintragungen von Finks Hand sowie Aufnah men von seiner Frau Martl vor dem Eingang des Hauses sind bis zum heutigen Tag in seinem Freiburger Nachlass aufbewahrt worden530. Auf die in Angriff genommene Transkriptionsarbeit der HusserlManuskripte und auf die noch zu leistenden unentbehrlichen Vorar beiten zu ihrer editorischen Erschließung wirft das bereits erwähnte »Memorandum über die Nachlassmanuskripte E. Husserls«531 ein bezeichnendes Licht. Hier zeigt sich erst recht, wie sehr Fink mit dem paradoxen Status des »Entwicklungsschrifttums« Husserls als eines objektiv zwar vorhandenen Schriftguts, in dem jedoch die philoso phische Lehre selbst nicht in einer leicht greifbaren objektiven Gestalt vorliegt, gerungen hat. Schon in den Jahren 1933–34 war er mit dieser Frage konfrontiert worden532. Sie stellte sich ein weiteres Mal, als er gemeinsam mit Ludwig Landgrebe im März 1935533 und am Anfang des Jahres 1936534 die Aufgabe einer systematischen Anordnung und Gliederung der Husserl-Manuskripte zu bewältigen versuchte. Die unzähligen Forschungsmanuskripte, die Husserl hinterließ, enthalten sein eigentliches philosophisches Vermächtnis. Aber seine Philoso phie befindet sich in diesen Manuskriptmassen sozusagen in einem Brief Eugen Finks an Marvin Farber vom 26. I. 1939. Vgl. Axel Ossenkop, Guy van Kerckhoven, Rainer Fink, Eugen Fink 1905–1975. Lebensbild des Freiburger Phänomenologen, a.a.O., Bilder Nr. 395–397. 531 EFGA 3.3, Z-XXV/60a-b. 532 Vgl. Finks »Bericht über Husserls unveröffentlichte Manuskripte« und »Übersicht über den Hauptinhalt von E. Husserls unveröffentlichten Manuskripten« in: EFGA 3.3, M-III Grammata, Texte Nr. 2 und 3. 533 Vgl. EFGA 3.3, Z-XIX/II. 534 Vgl. ebd., OH-VI; Z-XX/XX; vgl. auch EFGA 3.4, Z-XXVI. 529
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»Zwischenreich der Wirklichkeit« und muss allererst »zum Sein« gebracht werden. Noch in dem Vortrag, den er anlässlich der HusserlFeier am 3. Juli 1959 an der Freiburger Universität hielt: »Die Spät philosophie Husserls in der Freiburger Zeit«535, betonte er diese ein zigartige Sachlage, die Husserls Denkstil völlig entsprach. Die Manuskripte von seiner Hand sind eben, wie Fink feststellte, »Nie derschriften eines tagtäglichen Denkens, mit all den unausgedrückten Unterschieden guter und schlechter Disposition, mit der stillschwei genden Voraussetzung der jeweils den Denkeinsatz bestimmenden allgemeineren Problematik, die aber im jeweiligen Manuskript nicht mitobjektiviert ist; mit all den privaten Charakteren einer Gedanken fixierung εỉς ἐμέ536«. In der einzigartigen »Einsamkeit« der inneren Monologe drücke sich die radikale Einkehr des Husserlʼschen Den kens aus, das ohne jeden aktuellen oder potentiellen Adressaten dahinströmt. Um »vollends zu sein«, bedarf es einer eingehenden »Bearbeitung und Ausarbeitung« der hinterlassenen Manuskript massen »von eingearbeiteten Schülern«, nicht etwa nur in der allei nigen Absicht, sie alsbald zu edieren und dem Publikum zugänglich zu machen, sondern vielmehr im Sinne eines »epimetheischen« Nach vollzugs dessen, was von Husserl selbst »prometheisch«537 gedacht worden ist. Die Mitarbeiter seien demnach dazu aufgefordert, dieser in unzähligen Forschungsmanuskripten sich herauskristallisierenden Philosophie nach und nach eine gültige Objektivierung angedeihen zu lassen. In eins damit sollten die günstigsten Bedingungen für eine durchaus verlässliche intersubjektive Verbreitung des nachgelassenen Werkes geschaffen werden. Das Charakteristische der Philosophie Husserls mag »nicht so sehr die allgemeine Problemstellung sein, wenngleich bei H ein originärer Neuentwurf der zen tralen philosophischen Probleme der Tradition vorliegt«. Das ent scheidend Eigentümliche der Phänomenologie sieht Fink »vielmehr in der analytischen Methode der Problembewältigung. Spekulative Thesen, die in ihrer Abstraktheit wahr sein mögen, sind phänome nologisch immer noch unentschieden, solange die ausführliche inten Eugen Fink, »Die Spätphilosophie Husserls in der Freiburger Zeit«, in: Nähe und Distanz, a.a.O., S. 207 ff. 536 Brief Eugen Finks an Gerhart Husserl vom 16. X. 1938, in: Ossenkop, van Kerck hoven, Fink, Eugen Fink (1905–1975), Lebensbild des Freiburger Phänomenologen, Bil der Nr. 381–383. 537 Eugen Fink, »Die Entwicklung der Phänomenologie Edmund Husserls«, a.a.O., S. 73. 535
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tionale Analyse der fraglichen Phänomene noch aussteht. M.a.W., die Idee der philosophischen Wahrheit ist in der Philosophie E H vom Himmel der spekulativen Ferne auf die Erde der mühevollen analytischen Arbeit herabgeführt worden.«538 Am 28. März 1939 fand die erste »Réunion« des »Comité pour la préparation de l’édition des papiers-Husserl« im neuerdings eröff neten Husserl-Archiv statt. Anwesend waren der Präsident des Leu vener Philosophischen Instituts: Monseigneur Léon Noël, Professor Joseph Dopp – Van Bredas Doktorvater –, der neoscholastische Phi losoph und ausgewiesene Aristoteles-Experte Prof. Augustin Man sion, Herman Leo Van Breda und Eugen Fink. Im darauffolgenden Monat April wurde auch die umfangreiche Privatbibliothek Husserls, die über 2700 Bände und etwa 2000 Sonderdrücke enthielt, vom Leuvener Hoger Instituut voor Wijsbegeerte erworben. Im Juni trafen diejenige Husserl-Manuskripte in Leuven ein, die Ludwig Landgrebe in den Jahren 1935/36 nach Prag gebracht hatte. Als im Dezember 1939 die zweite »Réunion« des »Comités« stattfand, fertigte Fink bei dieser Gelegenheit einen »Bericht über die Nachlassmanuskripte Edmund Husserls vom 2. Dezember 1939« an, der als »Beilage I« zu der Mappe Z-MH I im Teilband 3.4 der Edition der »Phänomenologi schen Werkstatt« zum ersten Mal veröffentlicht worden ist539. In sei nem »Bericht« möchte er ein klares Bild von den Schwierigkeiten zeichnen, die mit der Transkription der in Gabelsberger Kurzschrift verfassten Manuskripte Husserls verbunden waren. Zugleich wollte er den Anwesenden einen Überblick über die nachgelassenen Manu skripte bieten mit dem Ziel, eine Grundlage für ihre künftige syste matische Anordnung zu schaffen. Das Entzifferungsverfahren von Husserls »Hieroglyphen«, so führte er aus, gleiche »der Interpretation eines kaum noch lesbaren mathematischen Kontextes, wo allein das Nachrechnen der Rechnung die einwandfreie Deutung der strittigen Zahlenstelle gestattet«. Diese Sachlage, sich »handanlegend« mit den Phänomenen und ihrer Analyse und Beschreibung befassen zu müs sen, entspreche ganz der von Husserl selbst »programmatisch gefor 538 Brief Eugen Finks an Marvin Farber vom 26. I 1939. Vgl. EFGA 3.3, Z-XXV/ CXCVIII/1a, wo neben dem Januar 1939 in der Revue internationale de philosophie veröffentlichten Aufsatz zum »Problem der Phänomenologie Husserls« auch eine Schrift mit dem Titel: »Der analytische Stil der Husserlschen Philosophie« als ein eigenes Arbeitsprojekt angeführt wird. 539 Vgl. EFGA 3.4, MH-I/3b.
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derten konkreten Arbeitsphilosophie«540. Die »unerlässliche Bedin gung jeder sinnvollen künftigen Publikation der Nachlassmanuskripte« Husserls bestehe nach seiner Ansicht in der zwingenden Aufgabe, die innere, bislang verborgen gebliebene Sys tematik der Phänomenologie ans Licht zu bringen. Den zum Comité Versammelten präsentierte Fink daraufhin die heute noch geltende thematische Einteilung des gesamten Nachlasses Husserls in sechs Sektionen (mit den Buchstaben A, B, C, D, E, F). Ausgangspunkt für die von Fink vorgeschlagene systematische Anordnung war der Gedanke, dass die Reduktionsproblematik das wahre Fundament der Phänomenologie bildet und außerdem eine Art »philosophischer Wasserscheide« darstellt. Demnach fungiert die Gruppe B, die alle diejenigen Manuskripte enthält, die Husserl der phänomenologischen Reduktion und ihrer Methodik gewidmet hat, als ein Scharniergelenk. Ihr unmittelbar vorangestellt ist die Gruppe A, in der die Manuskripte »zur mundanen Phänomenologie« unter gebracht sind. Mit der Transkription dieser beiden ersten Sektionen (A und B) wurde Ludwig Landgrebe betraut, während Fink sich den Manuskriptgruppen C541 und D zuzuwenden gedachte. Die erstere stelle »den dritten und letzten Versuch« dar, den Husserl unternahm, um seine »phänomenologische Theorie der Zeit« zum Abschluss zu bringen. Die Gruppe D bietet Aussicht auf die »konstitutive Theorie der Natur« und auf das »Problem der Individuation« – einen Problembereich, in dem Fink »die sinnvolle Fortsetzung der Lehre von der Zeitkonstitution«542 erblickte. Wohl aus derselben Zeit stammt ein maschinengeschriebener Entwurf, in dem Fink eine »Einführung in die Phänomenologie« skiz ziert, die eine kritische Erörterung der phänomenologischen Reduk tion – des »Zentralgedankens Husserls« – zu ihrem Ausgangspunkt zu wählen beabsichtigte. Dieser Entwurf findet sich am Schluss der Mappe Z- XXX543. Wie er dort ausführt, hänge »nach Husserls Über zeugung« von der »Entdeckung« der Reduktion jeder authentische »Eingang und die Möglichkeit von Philosophie überhaupt« ab. Die EFGA 3.4, MH-I/3b. Vgl. Edmund Husserl, Späte Texte über Zeitkonstitution (1929–1934): Die C-Manu skripte. Hrsg. von D. Lohmar. Husserliana: Materialien, Bd. VIII, Springer, Dor drecht, 2006. 542 EFGA 3.4, Z-MH-I, Beilage I: »Bericht über die Transkription der Husserlschen Manuskripte«/5. 543 Vgl. Ebd., Z-XXX/61a ff. 540 541
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Reduktion sei daher »das Tor, der Eingang in die Philosophie, die Ein leitung, die erst die Philosophie einleitet im Sinne einer Bildung, einer Aufstockung«544. Wie aber, so Fink, sei Husserls »Absolutsetzung der Subjektivität als Ego« im Vollzug der Reduktion verankert? Ist Husserl vielleicht »der Columbus der Philosophie, der ein Kontinent der Seele und ein Reich des Geistes entdeckt«545 habe, in diesem jedoch verfangen blieb?
544 545
Ebd., Z-XXX/64b. Ebd.
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XXII. Die »Van Breda-Stunden«. Phänomenologie als ›Bewegungssystem‹. Operative Modelle der Husserlʼschen Phänomenologie, »offene Fragen« und spekulative »Ausblicke«
Finks philosophische Tätigkeit in Leuven war keineswegs auf die Transkription der Husserl-Manuskripte eingeschränkt. Mit Schwung erfüllte er am Philosophischen Institut der Leuvener Alma Mater die Lehraufträge, mit denen er betraut wurde. Die von ihm gewählten Themen: »Kritische Darstellung der phänomenologischen Reduktion«, »Heideggers Metaphysik der Aletheia«, »Hegels Ansatz in der ›Phäno menologie des Geistes‹« und »Philosophische Interpretation von Rilkes Duineser Elegien«546 sind ein untrügliches Zeugnis dafür, dass er nicht zögerte, seine eigene philosophische Position weiterzuentwickeln, und dabei die Diskussion nicht scheute. Und so kam es im Zuge dieser rasch aufblühenden Lehrtätigkeit auch zu einer Reihe von intensiven Unterrichtssitzungen mit Herman Leo Van Breda, den sogenannten »Van Breda Stunden«. Sie fanden von Anfang Dezember 1939 bis Ende Januar 1940 statt. In dem vierten Teilband der »Phänomenologischen Werkstatt« dokumentieren die Mappen Z-XXVIII (Reihe X) und Z-XXX (»van Breda-Seminar«) diese Gespräche, die damit zum ersten Mal dem Publikum zugänglich werden. Die Frage, die Van Breda Fink unterbreitete, war diejenige, mit der er sich schon getragen hatte, als er im Sommer 1938 nach Freiburg gereist war. Denn sie bildete den Hauptgegenstand der von ihm ins Auge gefassten Pro motionsschrift über Husserl: die Frage nach der Bedeutung und der philosophischen Tragweite der »phänomenologischen Reduktion«. »Unsere Frage ist nach der phänomenologischen Reduktion; diese ist nur als die Methode des Zugangs zu dem Seienden ›absolute 546 Ossenkop, van Kerckhoven, Fink, Eugen Fink (1905–1975). Lebensbild des Frei burger Phänomenologen, a.a.O., S. 23.
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Subjektivität‹«547. Und diese von Van Breda erhobene Frage bot Fink die willkommene Gelegenheit, um seine Erörterungen zur phä nomenologischen Reduktion wiederum so zu gestalten, dass dabei die innere Architektonik und Systematik der Phänomenologie, d.h. ihre Darstellung als ein »Bewegungssystem«, als ein »System von Wegen«548 in den Vordergrund gerückt wurde. Welcher Weg am besten von der Preisgabe der natürlichen Geis teshaltung zur Gewinnung der neuen phänomenologischen Grund haltung führe, diese Frage hat Husserl zeitlebens gefesselt. Bekannt lich entwarf er mehrere »Wege in die Phänomenologie«, untersuchte mehrere Möglichkeiten, in das von ihr erstmals eröffnete weite Forschungsgebiet einzusteigen. Niemand wird zufällig Philosoph; so erwog Husserl in seinem im Jahre 1930 verfassten »Nachwort zu den Ideen«: »Verschiedene Wege führen zu demselben Desiderat einer Wissenschaft von der transzendentalen Subjektivität«549. Nach Finks Überzeugung stellen diese »Wege in die Phänomenologie« aber keineswegs »bloß pädagogische Einleitungen« dar. Sie sind vielmehr als die eigentliche »Exposition« der phänomenologischen »Problematik« zu betrachten. In ihnen drängt nämlich »der Bewe gungsansatz Systems«550 der Phänomenologie sich in den Vordergrund. Wie er darlegen möchte, ist das phänomenologische System nicht etwa nur ein offenes Forschungssystem, eine Art kon kreter »Arbeitsphilosophie«, deren Horizont virtuell unendlich sei. Ein stufenartiger, vielschichtiger Zusammenhang von thematischen EFGA 3.4, Z-XXVIII/28a. Vgl. Ebd., Z-XXVI/100a. 549 Edmund Husserl, Erste Philosophie (1923/24) (Hua VIII), herausgegeben von Rudolf Boehm. M. Nijhoff, Den Haag, 1959, S. 251. Dieser Text stellt den zweiten Teil der von Husserl im Wintersemester 1923/24 gehaltenen Vorlesungen dar. In ihnen setzte Husserl sich das Ziel, eine »Erste Philosophie« in der Gestalt einer reinen oder transzendentalen Phänomenologie systematisch zu begründen. Wie er dort dargetan hat, führt ein »erster Weg« zur transzendentalen Reduktion uns schrittweise durch eine »Kritik der mundanen Erfahrung« und des Weltglaubens hindurch. Der zweite »cartesianische Weg« erfolgt dagegen vielmehr sprunghaft, durch Vollzug der ἐποχή in »reiner Selbstbesinnung«. Der dritte »psychologische Weg« fordert wiederum zu einer fortschreitenden Radikalisierung und Überwindung der eidetischen Innenpsy chologie heraus. In den ergänzenden Texten zeichnet sich ein weiterer »Weg« ab: »Weg in die transzendentale Phänomenologie als absolute und universale Ontologie durch die positiven Wissenschaften und die positive Erste Philosophie«. In den aus den Jah ren 1925/26 stammenden Manuskripten tauchen auch Mischformen dieser möglichen »Wege«, die zu der Domäne der transzendentalen Subjektivität hinleiten, auf. 550 EFGA 3.4, Z-XXX/LVI/11a. 547
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Einzeluntersuchungen und von reflexiven, rückblickenden Infrage stellungen durchzieht vielmehr das gesamte System der Phänomeno logie. In diesem zunächst einmal labyrinthisch anmutenden Gebäude kann man seines Erachtens folgende, sich progressiv anbahnende und teilweise wieder überschneidende »Gänge« unterscheiden: »I. Weg von der Logik aus (»Formale und transzendentale Logik«; »Logi sche Untersuchungen«; »Philosophie der Arithmetik«); II. Weg von Descartes (»Ideen«, »Meditationen«); III. Weg von der Psychologie; IV. Weg von der Welt der Erfahrung; V. Weg von der natürlichen Einstellung; VI. Weg von den Wissenschaften, Idee einer radikalen und universalen Wissenschaft; VII. Historischer Weg«551. Für die in Leuven veranstaltete Übung: »Kritische Darstellung der phänomenologischen Reduktion« wählte Fink den »Weg von der Logik aus«. Die Lektüre der »Formalen und transzendentalen Logik« seines Lehrers, zu der er im Jahre 1939/40 die Initiative ergriff, betrachtete er als ein konkretes »Exempel für den konstruierten Systemaufriss« der phänomenologischen Forschungen552. Auf jeden Fall stand die Aufgabe einer »Einführung in die Phänomenologie«, wie er sie ins Auge fasste und in Angriff nahm, den gleichlautenden Versuchen Husserls sehr kritisch gegenüber. Die Auffassung der phänomenologischen Einklammerung »als reflexive Epoché und als Zurückleitungsmethode«, die Konzeption des phänomenologischen Systems »als ein Bewegungssystem, ein System von ›Wegen‹« und die Darstellung der transzendentalen Reduktion als die philosophisch letztendlich entscheidende »Bewegung auf diesen Wegen«553 betrach tete Fink zeitlebens als sein geistiges Eigentum. In ihnen lag nach seiner Ansicht ein entscheidender Anstoß zum produktiven Weiter denken der Husserlʼschen Phänomenologie. Tatsächlich kann man in der Formel »System und Reduktion« die gesamte Arbeit zusammen Ebd., Z-XXX, LVI/4a. Vgl. dazu Finks Ausführungen »Zu ›Formale und transzendentale Logik‹ [Hus serl-Stunde]« in der Mappe Z-XXX, Reihe LVII. In der darauffolgenden Reihe LVIII skizziert Fink die Grundzüge zu einer »Kritik des Husserlschen Begriffs der Kon sequenzlogik«. Die Reihe LIX enthält ihrerseits Notizen zu »Husserls Kritik der ›ungenügenden Formalisierung der Aristotelischen Syllogistik‹«. Kritisches Material »zum Einsatz der Husserlschen Sprach-Analyse« ist in der letzten Reihe LX der Mappe Z-XXX zusammengetragen worden. In der Mappe Z-XXVI befinden sich auf Kalen derblättern aus dem Frühjahr 1940 geschriebene Notizen von Finks Hand, die sowohl chronologisch als auch inhaltlich in unmittelbarem Zusammenhang mit seinem Kommentar der »Formalen und transzendentalen Logik« Husserls entstanden sind. 553 Ebd., Z-XXVI/100a-b. 551
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fassen, die Fink mit der von ihm inaugurierten »Phänomenologie der Phänomenologie« geleistet hat. Denn diese leitete eine umgreifende methodologische »Über-Reflexion« in die Wege, die sowohl den Status als die Funktionsweise der Phänomenologie ins Visier nahm. Für seine Lehrtätigkeit an der Leuvener Universität und für die dort mit den Kollegen des Philosophischen Instituts geführten Gespräche konnte er mühelos auf die Forschungsarbeiten zurückgreifen, die er seit Anfang der dreißiger Jahre als Privatassistent Husserls geleistet hatte. Denn sowohl in den Vorarbeiten zu einem »Systematischen Werk« der Phänomenologie als auch in der nur einem beschränkten Kreis bekannt gewordenen »VI. Cartesianischen Meditation«554 hatte Fink den Grundstein für die durchaus kritisch gemeinte umfassende Revision der Phänomenologie seines Lehrers gelegt. Das phänomenologische »System« gäbe es nach Fink nur als ein »konstruierbares« in dem Sinne, dass es aus dem Schrifttum Husserls, aus seiner konkreten Arbeitsphilosophie, aus den unzähli gen Forschungsmanuskripten und Einzelanalysen, die der Meister hinterlassen hatte, erstmals herausgeholt werden müsste. In Husserls Werken sei es keineswegs »objektiv« schon vorhanden. Nur im Nachhinein, im konkreten Durchgang durch die stufenartige Archi tektonik der Phänomenologie könne man ihm näherkommen. Das Eigentümliche der Phänomenologie bestehe eben darin, dass »alle systematischen Entwürfe keine konkreter Forschung vorausgehenden Konstruktionen sind, sondern in den Analysen . Aber die Ermöglichung der füllenden Analysen sprengt wiederum den systematischen Entwurf, der somit den Charakter der Beweglichkeit hat«555. Es darf hier daran erinnert werden, dass Fink bereits in seiner Dissertation über »Vergegenwärtigung und Bild« die Eigenart 554 Zu ihren ersten Lesern zählten außer Husserl auch Dorion Cairns, Felix Kaufmann und Alfred Schütz. Bei einem Besuch in Kappel am 14.8. 1934 übergab Fink Gaston Berger, der aus Marseille angereist war, eine Kopie der »VI. Meditation«, mit Aus nahme jedoch des Paragraphen 12, der seine Interpretation des »konstitutiv-phäno menologischen Idealismus« enthielt. Vgl. dazu Guy van Kerckhoven, Mundanisierung und Individuation. Die VI. Cartesianische Meditation und ihr ›Einsatz‹, a.a.O., S. 41 sowie Anm. 44; S. 80–81 (= Berger!) und S. 83–84. 555 EFGA, 3.2, B-I/22a, S. 333. Das Zitat stammt aus den ersten Editionsarbeiten zu den »Bernauer Manuskripten«, die Fink ab Ende 1928 in Angriff nahm. Parallel zu seiner Dissertationsschrift war er mit einem Entwurf einer »Einleitung« zu diesen Texten beschäftigt. In den Dispositionen, die er zu diesem Zweck entwarf, folgte auf eine Skizze des historischen Kontextes der Phänomenologie und ihrer inneren Ent wicklung in den damals dem Publikum zugänglichen Schriften Husserls eine Darstel
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der phänomenologischen Systematik mit folgenden Worten beschrie ben hatte: »Die phänomenologische Analyse ist vorläufig. Damit meinen wir die Bezogenheit des phänomenologischen Apriori auf seine Entwurfssituation, die jeweils innegehaltene reduktive Stufe. Wesensmöglichkeiten haben selbst Grenzen ihrer Relevanz, haben eine bestimmte ›Tragweite‹. Zu jedem phänomenologischen Apriori gehört der zunächst verborgene, anonyme Horizont seiner Geltung, seiner Tragweite, und es bedarf einer ›transzendentalen Selbstkritik‹, um die erste phänomenologische Naivität der einfachen Deskription durch die Besinnung auf den um-greifenden Horizont kritisch zu relativieren.«556 Mit der Vorläufigkeit einer jeden phäno menologischen Einzelanalyse gehe eine innere Beweglichkeit einher, die der Phänomenologie insgesamt den Charakter eines »offenen Systems« verleiht. Er bezeichnete es somit als die spezifische Aufgabe des »Entwurfs einer transzendentalen Methodenlehre«, wie er ihn im Jahre 1932 Husserl unterbreitete, »die ganze Systematik der phä nomenologischen Fragestellungen, die Struktur des methodischen Vorgehens, die Dignität und den Stil transzendentaler Erkenntnis und ›Wissenschaft‹ phänomenologisch verständlich zu machen, also das im phänomenologischen Arbeiten anonym fungierende Denken und Theoriebilden einer eigenen transzendentalen Analytik zu unterzie hen und so die Phänomenologie zu vollenden in der letzten transzen dentalen Selbstverständigung über sich selbst«557. Die von Eugen Fink verfolgte Zielstellung, um das System der Phänomenologie aus den konkreten Analysen heraus zu destillieren und es daraufhin in seinen Grundstrukturen zu zergliedern, stieß jedoch auf zwei ernsthafte Schwierigkeiten. Seines Erachtens gingen sie aus der Eigenart des Denkens Husserls hervor. Denn »in den ver schiedenen Phasen seiner Entwicklung« habe Husserl »verschiedene systematische Konzeptionen«558 entwickelt. Als einzelne Phasen des gesamten Bewegungsvorganges des Husserlʼschen Denkens gab er an: »I. psychologische Klärung von Begriffen der Mathematik und Logik; II. Erkenntnistheorie; III. spiritualistische Metaphysik«559 bzw. lung der Reduktion als Eingangstor einer jeden konkreten phänomenologischen Ana lyse. 556 Eugen Fink, »Vergegenwärtigung und Bild«, a.a.O., S. 16. 557 Eugen Fink, VI. Cartesianische Meditation. Teil 1: Die Idee einer transzendentalen Methodenlehre, a.a.O., S. 9. 558 EFGA 3.4, Z-XXVI/100b. 559 Ebd., Z-XXX/LVI/6a.
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»Psychologie, Erkenntnis, Metaphysik«560. Außerdem sei das syste matische Anliegen der Phänomenologie durch »drei Milieu-Motive […] fast verdeckt«561 worden. Diese gingen aus der geistigen und kulturwissenschaftlichen Umwelt des 19. Jahrhunderts hervor und blieben auch dort latent wirksam, wo Husserl anscheinend »in Gegen satz geriet«562. Diese Motive waren laut Fink: der Positi vismus, der Psychologismus und der Wissenschaftskult. Mit ihnen verband er die Namen von »Mach [und] Avenarius«, die eine »anti hegelsche Stimmung« verbreitet hatten, und von »Brentano [und] Weierstraß«563, die in der Mathematik und den Naturwissenschaften das einzig gültige Modell streng wissenschaftlicher Erkenntnis sahen. Mehr als dreißig Jahren nachdem er in seinen Gesprächen mit Van Breda das Thema »System und Reduktion« ausführlich erörtert hatte und dabei auf die »operativen« Denkmodelle eingegangen war, »die in Husserls Theorie der Reduktion den Gedankengang mitbestimmen«, bot die im Jahre 1971 an ihn ergangene Einladung zu einem Vortrag am Leuvener Hoger Instituut voor Wijsbegeerte im Rahmen der an dortiger Stelle veranstalteten »Phänomenolo gischen Studientage« Fink die außergewöhnliche Gelegenheit, um das damals angeschnittene Thema nochmals aufzugreifen564. Diese »Reflexionen zu Husserls phänomenologischer Reduktion« enthalten wohl das abschließende Urteil, das er über die Phänomenologie seines Lehrers abgegeben hat. In seinem Vortrag wies er auf die fünf »Modelle« hin, die Husserls »Analysen dirigieren – und nicht mit der gleichen Genauigkeit reflektiert sind, die er sonst im Ana lysen-Vollzug gebraucht«565: »1. die prinzipielle Orientierung des Erkenntnisproblems an der Erfahrungserkenntnis (– die Wesenser Ebd., Z-XXX/LVI/10b. Ebd., Z-XXVI/100b. 562 Ebd., Z-XXX/LVI/7b. 563 Ebd., Z-XXX/LVI/7b. 564 Eugen Fink, »Reflexionen zu Husserls phänomenologischer Reduktion«, in: Nähe und Distanz, a.a.O., S. 299–322. Zuerst veröffentlicht in: Tijdschrift voor Filosofie 33 (3), 1971, S. 540–558. Im Anschluss an die Studientage fand am 2. April 1971 die Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Katholieke Universiteit te Leuven an Eugen Fink und Ludwig Landgrebe statt. Bei dieser Gelegenheit sprach Van Breda seine »Laudatio für Ludwig Landgrebe und Eugen Fink« aus (in: Walter Biemel (Hrsg.), Phänomenologie Heute. Festschrift für Ludwig Landgrebe, Nijhoff, Den Haag, 1972, S. 1–13). 565 Eugen Fink, »Reflexionen zu Husserls phänomenologischer Reduktion«, a.a.O., S. 321. 560
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kenntnis wird gleichsam als Erfahrung der Ideation interpretiert –); 2. Modell des Vorrangs der ›Immanenz‹ vor der ›Transzendenz‹; 3. Modell für die epochale Modalisierung des Weltglaubens bildet die Glaubens-Inhibierung bezüglich eines Einzeldinges; 4. als Modell der Welttotalität fungiert das Horizont-Phänomen, d.h. die inbegriffliche [kosmologische] Ganzheit wird von einer binnenweltlichen Situation aus angedacht; 5. die Weltzugehörigkeit des Menschen wird erör tert am Leitmodell der ›naturalistischen‹ Selbstauffassung als eines Leibkörpers.«566 Diese unterschiedlichen Denkmuster sind jedoch Ausdruck eines einheitlichen operativen Horizontes, in dem die Phä nomenologie Husserls eingebettet sei. Husserls grundsätzlich nichtspekulative Vorgehensweise hinderte ihn daran zu begreifen, dass die natürliche Einstellung als das Sprungbrett für den Reduktionsvollzug »kein natürliches Vorkommnis [ist], sondern eine Grundverfassung des erlebenden Lebens, die erst im Durchbruch sich gewissermaßen von rückwärts zeigt«. Die natürliche Einstellung sei, so Fink, »ein transzendentaler Begriff, […] welcher die Selbstvergessenheit, das verweltlichte Außer-sich-Sein der Subjektivität anzeigt«567. Statt einen spekulativen Vorstoß in die »me-ontische Tiefe des absoluten Geistes« zu wagen, wies Husserl die Phänomenologie vielmehr in die Schranken einer intentionalen Analytik des reinen bzw. des transzen dentalen Bewusstseins. Die fünf von ihm aufgewiesenen Denkmodelle stellten somit »offene Fragen« dar, die Fink an die »operativen Voraussetzun gen« richten möchte, die Husserls Reduktionstheorie maßgeblich bestimmt haben. Dass er sie stellte, minderte nicht die Ehrfurcht vor Husserl, wenn auch »seine Grundgedanken« für ihn »voller Fragwürdigkeit geblieben sind«. Denn »in der unerhörten Leiden schaft seiner Wißbegierde«, so gestand Fink, habe Husserl »ein erschütterndes Zeugnis abgelegt von der ›Condition humaine‹: beirrt zu bleiben vom Rätsel des Seins, ausgesetzt in das Labyrinth der Welt, gebannt in unsere Endlichkeit«568. In dieser Verlegenheit vor dem Geheimnis von »Sein, Welt und Endlichkeit« sah er gerade die Herausforderung, die von »dem großen Meister« an die Nachwelt ergangen war. Indem er nochmals Zeugnis davon ablegen wollte, was in seinen Augen eine »Phänomenologie der Phänomenologie« 566 567 568
Ebd. Ebd., S. 303. Ebd., S. 322.
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bedeuten könne, wenn sie sich mit Nachdruck der »Freiheitshandlung der phänomenologischen Reduktion«569 zuwendet, stellte er während seines Vortrags als erstes das Seinsproblem in den Vordergrund. Husserl habe die Seinsfrage grundsätzlich auf eine Geltungstheorie eingeschränkt, indem er innerhalb seiner intentionalen Analysen auf dem Setzungscharakter der Bewusstseinsakte beharrte. Unter diesem Gesichtspunkt wurde das Sein auf die leistende Subjektivität zurückbezogen, das An-sich-Sein zu einer Gestalt des Für-sich-Seins verkürzt. Eben die Perspektive einer Stilllegung der Seinsfrage beun ruhigte Fink zutiefst. Wie er dreißig Jahre zuvor in seinem Aufsatz über »Die Entwicklung der Phänomenologie Edmund Husserls« bereits hervorgehoben hatte, bringt die »Notwendigkeit [des] Außersichge hens der Philosophie«570 es mit sich, dass sie zunehmend Gefahr läuft, »in ihrer Ausdrucksform zu versteinern, in ihrer Dokumentation unterzugehen«571. Auch Husserls Philosophie sei im Sprachtext fixiert worden und könnte als ein vorhandenes spirituelles Sinngebilde, das in einem Buch oder in Manuskripten oder eventuell in Stenogrammen objektiviert ist, angenommen werden. Demgegenüber bracht Fink Hegels Wort in Erinnerung: »Die Kraft des Geistes ist nur so groß als ihre Äußerung, seine Tiefe nur so tief, als er in seiner Auslegung sich auszubreiten und sich zu verlieren getraut«572. Gegenüber der Versteifung der Phänomenologie auf den Lehrgehalt einer intentiona len Analytik der vorgegebenen Welt berief er sich auf die volle geistige Schwungkraft, die gerade die »Freiheitshandlung« der phänomenolo gischen Reduktion in sich schließt. Und mit ihr kam als zweites das Weltproblem an die Oberfläche. Mit ihm erhebt sich die Frage nach der »über alle unsere Erfah rungsbereiche« hinausliegenden, als solcher entzogenen und dennoch »in ihrer Typik uns verlässlich« bekannten Totalität. Die Welt als die allumgreifende Ganzheit ist nie gegeben, sie ist niemals ein Datum unserer Erfahrungen – und doch ist sie uns irgendwie vertraut. Eine Kosmologie wird deshalb auch notwendigerweise von der Kraft eines spekulativen Denkens angetrieben. Wie Fink in der im Jahre 1951 an Ebd., S. 301. Eugen Fink, »Die Entwicklung der Phänomenologie E. Husserls«, a.a.O., S. 58. 571 Eugen Fink, »Reflexionen zu Husserls phänomenologischer Reduktion«, a.a.O., S. 299. 572 Ebd. Vgl. Eugen Fink, »Die Entwicklung der Phänomenologie E. Husserls«, a.a.O., S. 58. 569
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der Freiburger Universität gehaltenen Vorlesung »Zur ontologischen Frühgeschichte von Raum – Zeit – Welt« klargemacht hat, ist »das Eigentümliche des ›Spekulativen‹ der ›Ausblick‹, das Hinausspähen aus einer befangenen-verschlossenen Situation ins Offene, – über alles Endliche hinweg und hinaus ins Un-Endliche, über alles Seiende hinweg ins ›Sein‹, – über alles Gegebene hinweg ins Ungegebene, – ins Ganze«573. Aber schon viel früher, um 1939 herum, bestimmt er das Wesen der spekulativen Besinnung als den »Entwurf des Seins des Seienden«, der »im Dialog des menschlichen Geistes mit sich selbst« geschieht. Dieser ontologische Entwurf ist »erleuchtet durch die ›Ahnung der Idee‹ des ›am meisten Seienden‹«574. Die uns niemals unmittelbar gegebene, uns stets entzogene Welt lässt sich somit nur spekulativ, d.h. im Überstieg alles Gegebenen, mittel bar begreifen. Und dabei ist es das Symbol des Spieles, das als ein Medium, als Vermittlungsstätte fungiert. Bereits in der Vorkriegszeit begreift Fink diese Vermittlung als eine symbolische, d.h. als eine »gleichnishafte« Vermittlung. So notiert er sich: »Vom Wesen des Gleichnisses: Die formale Struktur des Gleichnisses ist die Verwei sung ›so – wie‹. Das im Gleichnis sich aussprechende Verstehen ist ein ›archaisches‹. (Nicht im Sinne von ›primitiv‹, sondern urtümlich.) Das Gleichnis ist symbolhaftes Verstehen. ›Symbol‹ = Συμßάλλειν. Das Zusammenfallende ist das Symbolisierende und das Symboli sierte in einem gemeinsamen Zug. Diese Gemeinschaft ist keine ›genos‹-hafte, sondern eine ›analogische‹«.575 Wir nähern uns hiermit dem Quellgebiet jener spekulativen kosmologischen Gedanken, die in Finks Hauptwerk »Spiel als Weltsymbol«, das im Jahre 1961 erschien, ihren höchsten Ausdruck finden würden.
Eugen Fink, Nachdenkliches zur ontologischen Frühgeschichte von Raum – Zeit – Bewegung. Nijhoff, Den Haag, 1957, S. 81. 574 EFGA 3.4, Z-XXIX/224a. 575 Ebd., Z-XXIX/267a. 573
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XXIII. Philosophische Gespräche mit Alphonse de Waehlens und Ludwig Landgrebe. Der »Theorie«-Begriff der Philosophie und die »Weltaufgetanheit« des Menschen. Die enthusiastische Einkehr in den »ureinen Seinsgrund«
Von dem anspruchsvollen, ihn philosophisch beschwingenden Ambi ente, das Fink während seines Aufenthaltes in Leuven vorfand, und von der regen philosophischen Tätigkeit, die er dabei entfaltete, zeugen die zahlreichen, in der Mappe Z-XXVIII (Meine Thesen in Gesprächen) angesammelten Notizen von seiner Hand. Schritt für Schritt kann man anhand dieser Dokumente die Gespräche verfolgen, die er mit den Leuvener Kollegen Alphonse de Waehlens und Her man Leo Van Breda sowie mit seinem langjährigen Weggenossen Ludwig Landgrebe geführt hat. Diese Sammlung von Gesprächsno tizen gewährt uns einen unverstellten Einblick in den lebendigen Gedankenaustausch, wie er in den Jahren 1939–40 in Leuven stattge funden hat. In den lebhaften Diskussionen, die er mit seinen Kollegen führte, stellte Fink seine eigenen philosophischen Stellungnahmen auf die Probe und fand sich zugleich in seinen philosophischen Grundüberzeugungen vielfach bestärkt. Alphonse de Waehlens war im Jahre 1934 zum doctor juris, im Jahre 1936 zum doctor phil. promoviert worden und wurde im Jahre 1942 maître agrégé de l’Ėcole Saint-Thomas d’Aquin der Leuvener Universität mit einer Promoti onsschrift über »La philosophie de Martin Heidegger«, die im gleichen Jahre erschien. Mit wem konnte Fink leichter über Heideggers Denken ins Gespräch kommen als mit diesem Attaché au Fonds national belge de Recherche Scientifique, der den neuesten Entwicklungen auf dem Gebiete der Phänomenologie und der Existenzphilosophie seine volle Aufmerksamkeit schenkte? Aber auch über Nietzsches Philosophie konnte Fink sich mit ihm unterhalten. Ein wichtiges Thema der von ihm mit de Waehlens geführten Gespräche war der
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XXIII. Philosophische Gespräche mit Alphonse de Waehlens und Ludwig Landgrebe
»Problembegriff der Philosophie«, den er gegen einen maßgeblich durch den Positivismus geprägten Begriff der Philosophie als einer theoretischen Wissenschaft ins Feld geführt hat. Mit diesem »Pro blembegriff« setzte Fink sich das Ziel, »den ursprünglichen Begriff der Theorie wieder zurückzuerobern«576. Als Θεωρια sei die Philosophie nämlich die begriffliche »Zukehr zum übermenschlich-mächtigen Wesen alles Seienden«. In ihrem Mittelpunkt stand somit die »Öff nung des Menschen« zur Welt, seine »Weltaufgetanheit«577. Folglich sei die Philosophie »keine Wissenschaft im Sinne einer Wissenschaft unter anderen«. Ihre Art des Wissens sei »die Σοφία, das Wissen von den ἀρχαί, die Bestimmung der Natur des Seienden und der Natur der Wahrheit«578. Sie beschäftigt sich mit dem Entwurf jener »ursprünglich-lichtende«579 Begriffe, mit denen das menschliche Wissen der Wissenschaften im binnenweltlichen Raum zwar operiert, doch ohne vom Ursprung dieser Begrifflichkeit in der ontologischen Erfahrung etwas zu erahnen. Unsere besondere Aufmerksamkeit verdienen Finks äußerst auf schlussreiche Bemerkungen zum »Weltproblem« und zum »Weltbe griff« in seinen mit Ludwig Landgrebe geführten Gesprächen. Zu diesem Zeitpunkt bereitete Landgrebe einen Artikel zu »World as a Phenomenological Problem«580 vor, der in der ersten Nummer der Zeitschrift Philosophy and phenomenological Research veröffentlicht werden sollte. In diesem wollte er darlegen, dass »es eigentlich bei Husserl kein Weltproblem «, und allem voran keine ausrei chende »Erklärung für die Transzendenz der Gegenstände«. Nach seiner Ansicht weise »Husserl auf die Konstitution von Transzenden tem, aber nicht der Felder der Transzendenz. Dies sei vielmehr immer schon vorausgesetzt«. »Die Gegenständlichkeit der Gegenstände (das kantische Problem der ›transzendentalen Deduktion‹)« sei somit für Husserl »nicht zu einer Frage geworden; selbst in der Sphäre der Pas EFGA 3.4, Z-XXVIII/45a. Ebd., Z-XXVIII/XLI/1b. 578 Ebd., Z-XXVIII/XLI/1a. 579 Ebd., Z-XXVIII, 9b. 580 Ludwig Landgrebe, »The World as a Phenomenological Problem«, in: Philosophy and Phenomenological Research, Vol. 1, No. 1 (Sep., 1940), S. 38–58. Finks geplante Teilnahme an der Veröffentlichung der ersten Nummer dieser unter der Ägide der International Phenomenological Society erscheinenden Zeitschrift wurde durch den Einmarsch der deutschen Truppen in Belgien im Mai 1940 abrupt abgebrochen. Vgl. dazu EFGA 3.3, »Einleitung der Herausgeber«. 576 577
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XXIII. Philosophische Gespräche mit Alphonse de Waehlens und Ludwig Landgrebe
sivität Husserl als Affektion der Gegenstände die Sphäre von Gegenstehen schon vorausgesetzt«581. Diesen Ausführungen mochte Fink aber entgegenhalten, dass es ihm »sehr fraglich« vorkam, »ob das Problem der Welt in einer Frage nach der konstitutiven Aufklärung der Feldsphäre von Transzendenz besteht, gleichsam in der Frage, wie die Subjektivität zu einem ›Draußen‹« kommt. Wie er meinte, würde »Husserl selbst […]« eine solche Fragestellung »a limine ablehnen«, weil »das ›Draußen‹ kein ›Jenseits‹ der Subjektivität ist, sondern ein ›Jenseits‹« nur für »eine naive Auffassung des Subjekt-Objekt-Bezu ges« darstelle. In diesem Sinne sei die Objektivität »für Husserl ein Stufenbau von höherstufigen Transzendenzen in der Immanenz«582. Und insofern transzendiere »sich eigentlich die Subjektivität nicht«; die »Transzendenz« sei eigentlich »eine Schicht in der Subjektivität«, eben die Schicht der »Endterminierung der konstitutiven Prozesse«. Landgrebes Ausgangspunkt, wonach »Husserl die ›Welt interpretiert als das Feld von Gegenständlichkeit‹ [und dieses] immer vorausge setzt , ohne diese ›Voraussetzung‹ aufzuklären«583, sei dem nach, wie Fink betont, grundsätzlich falsch. Husserl habe »in der Situation der Vorgegebenheit des Welthorizontes, der Erfahrung von Gegenständen« den Ausgangspunkt für seine phänomenologischen Analysen gefunden, aber eben dieser »Vorgegebenheitsstil« sei für ihn infolge der »Methodik der phänomenologischen Reduktion« und der »Epoché an der Voraussetzung aller Gegebenheit von Einzelgegen ständen« zum Thema »umfassender konstitutiver Untersuchungen« geworden. Und in seiner Spätphilosophie habe diese konstitutive Betrachtung »des alle gegenständliche Gegebenheit im voraus umfas senden Welthorizontes« zu einer »konsequenten subjektivistischen Interpretation der in der früheren Stufe« als solcher noch nicht ausreichend hervorgehobenen »Problematik«584 der Welt und der Weltkonstitution geführt. In den Augen Finks seien Husserls spätere Analysen zur Lebenswelt und zu ihrer Konstitution einzig nur »eine konsequente Entwicklung« der von ihm ab initio verfolgten Intention »in der Richtung auf einen absoluten Subjektivismus hin« gewesen. Gerade diesen »absoluten Subjektivismus« seines Lehrers möchte Fink als eine »Erstarrungsform eines fundamentalen Problems« ent 581 582 583 584
EFGA 3.4, Z-XXVIII/XIX/1a. Ebd., Z-XXVIII, XIX/1b. Ebd., XIX/2a. Ebd.
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larven – »nämlich des Problems der ›Vermittlung‹«585. »Seiner meta physischen Natur nach« sei der Mensch kein »Schöpfer« der Welt. Seine »metaphysische Stellung« als »Weltwesen« ist vielmehr die eines »Mittlers«586. Finks abschließendes Urteil lautete, dass Husserls Phänomeno logie zwar fruchtbare Wege geöffnet hat, die zur Exposition der Weltfrage hingeleitet haben, es ihr dennoch nicht gelang, diese Frage so zur Entfaltung zu bringen, dass dabei eine endgültige Überwindung des »Dogmatismus der Subjektivität« bereits in Sicht kam. Es entging ihr nämlich grundsätzlich, dass die Frage nach der Welt zutiefst in der Problematik der Transzendentalien verwurzelt sei. Folglich habe sie das Weltproblem »nur in der gnoseologischen Sphäre behandelt, […] ohne [es] als ein Verhältnis des Hervorkommens des Wesens in die Erscheinung zu verstehen«587. Da sie »keine Reduktion der Erscheinung auf den Begriff«588 zu vollziehen vermochte, musste das Verdikt heißen: »die Phänomenologie Husserls ›beschreibt‹, aber ›begreift‹ nicht«589. Es traf sie mit voller Härte. Als seine Aufgabe sah Fink es an, dafür Sorge zu tragen, dass die nach dem Tode Hus serls weiterlebende Phänomenologie in den Schoß der Philosophie zurückkehre. »Bei Husserl und auch bei Heidegger« zeichnete sich eine »Bewegungsrichtung der Philosophie« ab, die sie zu einer sub jektivistischen Verinnerlichung verführte, welche einer »Bewegung zum seiendsten Seienden«590 im Weg stand. Der echte Antrieb zur Philosophie bestehe eben in jener »charismatischen Gelöstheit der Seele und tiefen Weltoffenheit«591, in jener die »Entbehrung« durch stehenden »Transzendenz der Sehnsucht«, die dem Menschen im Enthusiasmus zuteilwird. Auf Einladung des »Philosophischen Kring« hielt Fink im Februar 1940 in Leuven den Vortrag »Vom Wesen des Enthusias Ebd., XIX/2b. Ebd., Z-XXVIII/7a. 587 Ebd., Z-XXX/47a. 588 Ebd., Z-XXX/47a. 589 Ebd., Z-XXVIII, 46b. 590 Ebd., Z-XXVI/94a. Mit Bezug auf diese »Interiorisierungstendenz« notierte Fink sich Folgendes: »Das Recht dieser ›subjektiven Tendenz‹ besteht im Problem von ens und verum. ›Aber das Wahre ist ebenso sehr wie als Substanz so als Subjekt zu fassen‹. (Hegel) Aber auch umgekehrt: Das Wahre als Subjekt ist nicht die Versteifung auf den Menschen (das endliche Subjekt), sondern ist das seiendste Seiende als Subjekt, ist die eigentliche Substanz als Subjekt.« 591 Eugen Fink, Vom Wesen des Enthusiasmus, a.a.O., S. 9. 585
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mus«592. In diesem griff er die Gedanken über das Staunen als die das Philosophieren innerlich durchstimmende Grundbewegtheit wieder auf, denen er zuvor, im Jahre 1937, in der Abhandlung »Die Entwick lung der Phänomenologie Edmund Husserls« nachgegangen war und die er im Jahre 1939 in dem Artikel »Das Problem der Phänomenologie Edmund Husserls« weitergeführt hatte. Dieser Vortrag kann als ein Scharniergelenk betrachtet werden, das die innere Bewegtheit, die seine frühen phänomenologischen Beiträge bereits durchzieht, an die Fragebereiche weiterleitet, die in der Nachkriegszeit seine ganze Kraft in Anspruch nehmen werden. Bekanntlich hat Fink diesen Vortrag im Sommer 1946 auf Schloss Salem nochmals gehalten. In den Vorder grund drängen sich die Themen der Freiheit und des Selbstseins des Menschen. In dem Dispositionsentwurf zu diesem Vortrag kreisen Finks Gedanken um den Begriff des »Spiels« als schöpferischer Kraft des menschlichen Geistes und um den der »Großen Sehnsucht«. Unverkennbar sind es die Früchte einer intensiven Beschäftigung mit dem Denken Nietzsches in diesen Jahren. Gleichzeitig möchte er zu den eindrucksvollen Analysen, die Heidegger dem Phänomen der Stimmungen gewidmet hat, Distanz halten. Mit der Bestimmung der menschlichen Existenz als »Weltmitte«, als eines »Mittlers inmitten des Seienden«, nimmt er bereits einen Grundgedanken der philoso phischen Anthropologie vorweg, deren Grundlinien er in den darauf folgenden Jahren zeichnen wird.593 Eine die Seinsart des Menschen grundsätzlich durchziehende und durchtreibende »Bewegungstendenz des Endlichen zum Unendli chen, des Bedingten zum Unbedingten, des Relativen zum Absoluten, des Nichtigen zum Seiendsten, der Erscheinung zum Wesen«594 bildet die Grundlage für jene »absoluten Verhältnisse« zum »Wahren, Schönen und Heiligen«, auf deren fruchtbarem Boden die Philoso phie, die Kunst und die Religion aufwachsen. In ihr kommt eine »entbehrende Sehnsuchtsbeziehung« zu »dem am meisten Sein des
Notizen und Entwürfe zur Vorbereitung des Vortrags finden sich hauptsächlich in der Mappe Z-XXX des »Werkstatt«-Bandes 3.4, sind jedoch auch in den Mappen Z-XXVI und Z-XXVIII zerstreut. Einer der ersten Dispositionsentwürfe zu diesem Vortrag befindet sich in der Mappe Z-XXVI/78a. 593 Vgl. dazu Cathrin Nielsen, Hans Rainer Sepp. (Hrsg.), Wohnen als Weltverhältnis. Eugen Fink über den Menschen und die Physis, a.a.O.. 594 Eugen Fink, Vom Wesen des Enthusiasmus, a.a.O., S. 12. 592
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XXIII. Philosophische Gespräche mit Alphonse de Waehlens und Ludwig Landgrebe
seiendsten Seienden« zum Ausdruck, eine »Seinsarmut«595, die im Herzen des Menschen jene »Transzendenz der Sehnsucht« entfacht, die als »Ahnung der Idee«596 »das innerste Wesen des Menschen geistes« ausmacht. Die »Not-Wendung«, die »das Entbehrte herein stehen und das seiendste Seiende aufglänzen lässt in der Nähe des Menschen«, »geschieht im Enthusiasmus«. Im Enthusiasmus geht es also dem Menschen gar nicht um das »anschaulich Gegebene«, d.h. um das, »was ihm vorliegt, wobei er sich aufhält, worin er sich befindet«597, sondern »spekulativ« um die entbehrend erfahrene, transzendentale »Dreifaltigkeit des ur-einen Seinsgrundes«598, d.h. um die »Dreifaltigkeit des Theion als des Heiligen, des Schönen und des Wahren«599. Dieser »Bezugssinn des in sich dreifaltigen Enthusiasmus muß nun«, so betont Fink in seinem Vortrag, »im Widerstand gegen die narzisstische Tendenz des modernen Menschen begriffen werden« 600, vermöge der »die theozentrische Ausrichtung der menschlichen Transzendenz zur anthropozentrischen Selbstanbe tung« entartet. Gerade der Versuch, den »ur-einen Seinsgrund«, der dem Menschen in der enthusiastischen Erfahrung erschlossen wird, vermittelst einer philosophischen Begrifflichkeit in die Nähe kommen zu lassen, wird Fink dazu veranlassen, eine Schrift über »ontologische Erfahrung« in Aussicht zu stellen.
Während seines Leuvener Aufenthalts beschäftigte Fink sich mit einer Auslegung und »Übersetzung in philosophischer Reflexion« der Duineser Elegien R. M. Rilkes. Einige der Grundgedanken dieser Arbeit hat er im Rahmen einer von der Leuvener Universität veranstalteten Zusammenkunft vorgetragen. Vgl. Hans Rainer Sepp, »Seinsarmut. Eugen Finks Übersetzung der Duineser Elegien in philosophische Refle xion«, in: Trigon, Bd. 8, Berlin: BWV 2009, S. 159–167. 596 Eugen Fink, Vom Wesen des Enthusiasmus, a.a.O., S. 10. 597 Ebd., S. 9. 598 Ebd., S. 16. 599 Ebd., S. 9. 600 Ebd., S. 21. 595
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XXIV. Kritik der phänomenologischen Forschung
Eines der bedeutendsten, bislang unbekannt gebliebenen Schriftstü cke, das im vierten Teilband der »Phänomenologischen Werkstatt« zum ersten Male dem Publikum zugänglich wird, ist ohne Zweifel der »Traktat über phänomenologische Forschung«, der vom Frühjahr 1940 datiert. Dieser Text hat eine lange und verwickelte Entstehungsge schichte, die in der »Einleitung der Herausgeber« zum dritten Teilband der »Phänomenologischen Werkstatt« mit Sorgfalt rekonstruiert wor den ist601. Er unterscheidet sich auf Anhieb von den Abhandlungen, die Fink zuvor verfasst hat. Gewissermaßen stellt er ein »Gegenstück« zu dem im Jahre 1939 veröffentlichten Aufsatz über »Das Problem der Phänomenologie Husserls« dar. Dieser enthielt, wie bereits aus geführt worden ist, wichtige Gedanken aus der geplanten Schrift über »Die Entwicklung der Phänomenologie E. Husserls«, von der im Jahre 1937 nur ein erster Paragraph zum Druck gelangt war. Während er sich in der Abhandlung von 1939 nachdrücklich um »das Verständnis des Sinnes der Phänomenologie als einer Philosophie« bemüht hatte, so ging es ihm diesmal, wie Fink Mitte Januar 1940 unumwunden zu Ludwig Landgrebe sagte, »um die spezifische Gefahr der Phänomenologie: nämlich die Verkehrung ursprünglicher philo sophischer Motive in eine un-philosophische dogmatische Methodik ›phänomenologischer Forschung‹«602. »Die erste Abhandlung«, so notierte er sich, »ist somit eine ›Interpretation‹, die zweite eine ›Kri 601 Die ersten Einträge, in denen Fink sich mit dem Schriftprojekt des »Traktats« beschäftigt hat, finden sich in der Mappe Z-XXVI in Form einzelner, auf Kalender blättern vom Februar bis März 1940 niedergeschriebenen Notizen der Reihe CXXIII (»Mosaik 1940«) und am Schluss der Mappe Z-XXVII (vgl. Z-XXVII/67a, 68a und Anm.). Weitere Notizen zum »Traktat« sind in der Mappe Z-XXX (von Blatt 6a an, mit Unterbrechungen) aufbewahrt. Außerdem liegt ein von Fink im Frühjahr 1940 auf der Basis zahlreicher Skizzen und Vorentwürfe angefertigtes Typoskript zu einem »Anfangsstück« des »Traktats« in der Mappe Z-XXIX (Reihe CCCXVII) vor, das zusammen mit den dazu gehörenden textkritischen Anmerkungen ediert worden ist. 602 EFGA 3.4, Z-XXVIII/XIX/1a.
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XXIV. Kritik der phänomenologischen Forschung
tik‹. Sie beziehen sich aufeinander.«603 Das Risiko einer »Ablösung von der Philosophie« wurde nach seiner Meinung gerade durch den »reformatorischen Anspruch einer Neubegründung«604 hervorgeru fen, mit dem die Phänomenologie ihren Platz hatte behaupten wollen. Indem er sich explizit auf die »methodische Grundfragen der Phänomenologie« bezog, verfolgte er das Ziel, auf diesem Wege »die latenten Voraussetzungen der Husserlschen Methodik in Frage stellen«605. Eine ihrer wichtigsten Voraussetzungen sei die von Husserl in seiner Programmschrift erhobene Forderung »strenger Wissenschaftlichkeit«. Diese orientierte sich nämlich maßgeblich am Ideal einer mundanen Wissenschaft. Damit wurde nicht nur ein außer-philosophisches Kriterium für die Selbstbegründung und Selbstaufstellung der Philosophie verwendet. In eins damit wurde die Phänomenologie einer grundsätzlich anti-philosophischen Vor entscheidung unterstellt. Die philosophische Leitidee der Phänome nologie wurde lediglich im Gegenzug gegen eine als »spekulativ« und »unwissenschaftlich« abqualifizierte traditionelle Auffassung vom Philosophiebetrieb und gegen die vorherrschende »Uneinigkeit und Mannigfalt von Philosophien«606, gegen die Anarchie philosophi scher Systeme zur Abhebung gebracht. Die Folge dieses Verfahrens war die, dass die Phänomenologie ihren eigenen philosophischen Anfang vollkommen übergangen habe. Diesen könne sie nur noch »in Verwandlung ihres Programmes« strenger Wissenschaftlichkeit nachholen. Und damit setzte sie sich in Gegensatz zu ihren eigenen »programmatisch-kritischen«607 Anforderungen. In den Notizen, die sich am Schluss der Mappe Z-XXVII befinden608, fasste Fink seine Ansicht über diese missliche Sachlage zusammen. Husserls Philoso phie sollte nicht länger im Ausgang »von ihren programmatischen Bestimmungen und Forderungen und dem, was sie als ihre Absicht proklamiert, begriffen«609 werden. Denn sie waren aus einem außerphilosophischen – wenn nicht gerade anti-philosophischen – Ambi ente hervorgegangen. Einzig im Gegenzug gegen ihr methodisches Programm möge es der Phänomenologie gelingen, in Zukunft ihr 603 604 605 606 607 608 609
Ebd., Z-XXX/16a. Ebd., Z-XXIX/51a. Finks Brief an Farber vom 6. V. 1940. EFGA 3.4, Z-XXVII/67a. Ebd. Vgl. Ebd., 68a und Anm. Ebd., Z-XXVII/67a.
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XXIV. Kritik der phänomenologischen Forschung
volles philosophisches Potential zur Entfaltung zu bringen. Als Philo sophie, nicht als bloße Forschungsmethode unter anderen soll sie sich künftig nur dann behaupten können, wenn sie die programmatischen Anforderungen und Forschungsabsichten, mit denen sie sich trug und die aus einer grundsätzlich weltbefangenen Sphäre stammen, energisch von sich abschüttelt. Die schier unlösliche »Spannung von Philosophie und phänomenologischer Forschung«610 war es somit, die Fink mit seinem »Traktat« in den Vordergrund schieben wollte, wie aus der rhetorischen Frage hervorgehen mag, die er in seinen Notizen aus der Mappe Z-XXX stellte: »Soll die Philosophie reformiert werden durch eine phänomenologische Forschungshaltung – oder soll diese phänomenologische Forschung aus der Problematik der Philosophie angetrieben sein?«611 »Ich selbst sehe die Aufgabe der Phänomenologie in dem Wie der-in-Gang-Bringen der Philosophie in der Phänomenologie«, hatte Fink am 27. Dezember 1939 zu Landgrebe gesagt612. »Der Traktat über phänomenologische Forschung« sollte »als Frage nach dem Ver hältnis von Phänomenologie und Philosophie« »nicht eine Kritik« sein, »die von außen eine Zensur appliziert«, »sondern der Versuch, von innen selbst eine Besinnung auf stille Voraussetzungen durchzu führen«613. Ein derartiges Fragen sei allerdings »in einem zweifachen Stile möglich, 1) mit der Intention auf das Grundproblem, als,Inter pretation‘; 2) mit der Intention des Ausgangs von der faktischen Gestalt, als Kritik, als Erörterung der ›Motive‹«614. Dieser doppelten Fragerichtung entsprachen genau die Beiträge zum »Problem der Phä nomenologie« und zum »Traktat über phänomenologische Forschung«.
610 611 612 613 614
Ebd. Ebd., Z-XXX/35a. Ebd., Z-XXVII/64b. Ebd., Z-XXVII/68a. Ebd.
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XXV. Überwindung des stagnierenden Seinsverständnisses der Phänomenologie: Entwurf der »urlichtenden Begriffe«
Wie in kaum einem anderen Text tritt im »Traktat über phänomenolo gische Forschung« Finks ambivalentes Verhältnis zur Phänomenologie Edmund Husserls in aller Klarheit hervor. Einerseits bezeugt er seine uneingeschränkte Hochschätzung für die einzigartige philosophische Leistung, die sein Lehrer erbracht hat. Andererseits unterzieht er die Begrenztheit ihrer Ausgangspositionen einer unbarmherzigen Kritik. Seine gedrängte Darlegung der »Grenze der Phänomenologie« und seine kritische Musterung ihrer uneingestandenen »Vorausset zungen«615 beschließt er mit der Aussage, dass sich in der bloßen »phänomenologische Erforschung« und rein analytisch-deskriptiven Auslegung »sinnlicher Gegebenheiten« eine völlige »Unbezüglich keit zur Philosophie« bekundet. »Die Ahnungslosigkeit«, mit der in der sogenannten »phänomenologischen Forschung« »Grundbegriffe der Metaphysik wie allbekannte Prädikate zu- und abgesprochen werden«, hält er für geradezu »dilettantisch«616. »Vage, unentwickelte oder verfallene metaphysische Begriffe als ›gegebene‹ einfach aufzu greifen und damit räsonierend umzugehen«, das ist nach seiner Mei nung »nicht die Sache der Philosophie«. Vielmehr ist es ein Anzeichen dafür, dass die »phänomenologische Forschung« sich »im Dämmer einer verfallenden Tradition«617 aufhält. Wie er es in den »Elementen einer Husserl-Kritik« kernhaft formulieren wird, ist »Deskription ohne Entwurf, ohne Setzung des Begriffs des Gegebenen, begriffsblinder Positivismus – Analyse ohne Bezug zum spekulativen Gedanken, also Analyse, die nur ein gegebenes Wissen ins Uferlose entfaltet,
615 616 617
Ebd., Z-XXIX/318b. Ebd., Z-XXIX, CCCXVII/5a. Ebd., Z-XXIX, CCCXVII/6a.
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XXV. Überwindung des stagnierenden Seinsverständnisses der Phänomenologie
Geschwätz.«618 Es kann demnach nicht ausgeschlossen werden, dass man die Phänomenologie – als den Namen für eine Tradition des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, die sich auf der Grundlage »wirk lich handanlegende Arbeit«619 an der Deskription und Analyse ausgebildet hat – eines Tages nur noch als ein obskures und unver ständlich gewordenes »Denkrelikt« aus einer fernen Vergangenheit betrachten wird. Demgegenüber möchte Fink hervorheben, dass die Phänome nologie ihren Platz nur dann dauerhaft behaupten kann, wenn sie sich als Philosophie und nicht als Forschungsmethode versteht620. Das impliziert aber, dass sie sich der grundsätzlichen Aufforderung nicht entzieht, die ursprüngliche Setzung der Grundbegriffe alles menschlichen Wissens zu vollziehen. Das bedeutet, dass sie sich von neuem die Aufgabe stellen muss, zur letzten Klarheit zu durchden ken, »was ein Ding, was eine Eigenschaft, was das Allgemeine, das Einzelne, das Eins und das Viele, was Bestehen, was Wesen, was Wirklichkeit und Möglichkeit, was das Ganze aller Dinge, was das Seiendste in allem Sein und was das Wesen der Wahrheit sei«621. In Anlehnung an Hegels These, dass Philosophie »zuerst das Geben ihrer Begriffe« ist, hält Fink dem Idol der Voraussetzungslosigkeit die Setzung jener »urlichtenden Begriffe« entgegen, die alles mensch liche Weltverständnis erstmals ermöglichen. Die größte Gefahr der phänomenologischen Philosophie bestehe nach seiner Ansicht in der »Stagnation« des von ihr in einem »Ruck« vorangetriebenen Seinsverständnisses – in jenem Stillstand, in dem sie als eine vor gespielte Forschungsmethode sich nicht mehr zur ursprünglichen Setzung, zum originellen Entwurf der Idee des Seienden, des Einen, des Schönen und des Wahren aufrafft. Ebd., Elemente einer Husserl-Kritik/7. Ebd., Elemente einer Husserl-Kritik/2. 620 In Bezug auf das verzerrte Bild, das von der phänomenologischen Philosophie gegeben wurde, das dadurch zustande kam, dass in den letzten Jahren modische Trends der zeitgenössischen Philosophie und der philosophischen Forschung verfolgt wurden, die die Phänomenologie »of its highest aspirations (viz., that of developing a full-fledged theory of reason able to provide a new foundation for metaphysics and, linked to the latter, reforming humanity); [and] of its most important methodological tools (e.g., the so-called transcendental reduction)« beraubt haben, siehe die kritische Einführung zu Daniele De Santis, Husserl and the A Priori. Phenomenology and Rationality, Springer, Cham, 2021. 621 Eugen Fink, »Zum Problem der ontologischen Erfahrung«, in: Nähe und Distanz, a.a.O., S. 128. 618
619
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XXV. Überwindung des stagnierenden Seinsverständnisses der Phänomenologie
Die »Elemente einer Husserl-Kritik«, die im zweiten Abschnitt des vierten Teilbandes der »Phänomenologischen Werkstatt« abgedruckt sind, stammen aus dem »Frühjahr 1940«, demnach aus der Zeit, in der Fink sich mit dem »Traktat über phänomenologische Forschung« befasste, dessen »zur Hälfte ausgearbeitete Manuskript infolge der Kriegsereignisse verlorengegangen«622 ist. Der Text besteht aus einer Sammlung von insgesamt 56 oft thesenhaft formulierten Aus sagen. Das Hauptziel, das Fink in ihnen verfolgen möchte, ist, wie die dritte These angibt, »die Zurückstellung der phänomenologischen Forschung in die Philosophie (meine Forderung!)«623. Im Übrigen enthält die These mit der Nummer 9 eine »Disposition für ›Traktat über phänomenologische Forschung‹«. Als ein »Desiderat« bezeichnet er »eine radikalisierte Form der Reduktion«. Diese soll im Zuge einer »Prüfung der Voraussetzungen der auf Vorausset zungslosigkeit abzielenden Methoden, z.B. der phänomenologischen Reduktion«, wie sie Husserl in den Sinn gekommen war, in Anschlag gebracht werden. In der Eigenart des sie auszeichnenden Vollzugs versteht die radikalisierte Reduktion sich als eine »Prüfung der in den urlichtenden Begriffen sich vollziehenden Setzungen«624. Denn je mehr »der Begriff der Reduktion« als bloße Methode aufgefasst und fixiert wird, desto schneller kommt »die ontologische Erfahrung zum Stillstand«625. Um die in der Phänomenologie Husserls zum Stehen gekommene ›ontologische Erfahrung‹« wieder in Bewegung zu setzen und somit das phänomenologische Denken insgesamt »aus der Erstarrung im dogmatischen Subjektivismus zu befreien«, greift Fink auf die Ressourcen zurück, die die staunende, enthusiastische und ent-setzende Grunderfahrung des »me-ontisch« radikalisierten Reduktionsvollzugs in sich schließt. Das Zerbrechen des Weltbodens, die Suspendierung der ständigen Seinsgeltung der immer schon vorgegebenen Welt, das Rätselhaft-Werden jener Weltbenommen heit, in der als einem »absoluten Vorurteil« das menschliche Leben sich dauerhaft verfängt, führt zu einem »Loslassen und Suchen«626, das man mit Recht für einen Ur-Akt der Befreiung menschlicher Existenz halten kann. »Die binnenweltliche Zukehr zu den Dingen 622 623 624 625 626
EFGA 3.4, Elemente einer Husserl-Kritik. Ebd., Elemente einer Husserl-Kritik/3. Ebd., Elemente einer Husserl-Kritik/10. Ebd., Z-XXVII/40a. Ebd., Z-XXIX/44a.
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XXV. Überwindung des stagnierenden Seinsverständnisses der Phänomenologie
können wir also interpretieren als eine Benommenheit von den Dingen, das In-die-Welt-Hineinleben als die Weltbefangenheit des Menschen. Damit meinen wir die Lebensstrukturen, die nicht nur im theoretischen Weltbezug sich abspielen, sondern alles Weltle ben durchherrschen. Die Natürliche Einstellung ist wesentlich eine Befangenheit. Eine Befangenheit ist ein Verschlossen-Sein in einem begrenzten Bereich des Offenen, ohne dass die Begrenztheit als solche erkannt wird.«627 Diese natürliche Benommenheit von der »Binnenweltlichkeit« kann gebrochen werden durch »phänomenolo gische Reduktion und κάθαρσις […] und Verwunderung«628. In diesen erwacht die »entbehrende Sehnsucht« zum Übermenschlichen und wird dem Menschen der Zugang zur enthusiastischen Erfahrung gewährt. Wenn die Phänomenologie hingegen – wie es bei »Husserl« der Fall ist – auf ihrer »anti-spekulative Haltung« beharrt, »als Flucht vor dem Begriff«629, dann versperrt sie sich den Weg zu einer »metaphysica generalis« und zur Ausarbeitung einer »Theorie der urlichtenden Begriffe«630. Und gerade in einem solchen Fall läuft sie Gefahr, zu einer »methodisch erstarrte phänomenologischen Forschung« zu entarten. Denn das Wesen der Philosophie besteht nach Fink im Begriff, im lebendigen Akt der »Begreifung, d.i. Setzung des urlichtenden Entwurfs«631. »Das Geben von Begriffen«, so erläutert er den Satz Hegels, dass die Philosophie zuerst »das Geben ihrer Begriffe« sei, »ist das Setzen des Begriffs des Seienden und zwar nicht als einer subjektiven Vorstellung vom Seienden, die das Seiende an sich selbst nichts angeht, sondern ist der Entwurf der ontologischen Fundamentalbegriffe, die schon jeder Unterscheidung von Seiendem an sich und subjektiver Vorstellung davon zugrunde liegen.«632 Der in den »Elementen einer Husserl-Kritik« an den Tag gezogene »Antagonismus von Spekulation und Analyse« kann, so hebt Fink hervor, »erst dann fruchtbar sein, wenn der spekulative Begriff die Bedingung der Möglichkeit des analytischen Verstehens eröffnet«633. Für die Phänomenologie bedeutet dies, dass sie noch Phi 627 Eugen Fink, »Philosophie als Überwindung der Naivität«, in: Nähe und Distanz, a.a.O., S. 104. 628 EFGA 3.4, Z-XXVII/44a. 629 Ebd., Elemente einer Husserl-Kritik/36. 630 Ebd., Elemente einer Husserl-Kritik/32. 631 Ebd., Elemente einer Husserl-Kritik/43. 632 Ebd. 633 Ebd., Elemente einer Husserl-Kritik/3.
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XXV. Überwindung des stagnierenden Seinsverständnisses der Phänomenologie
losophie ist »genau in dem Maße, als in ihr ein Suchen lebendig«634 bleibt. Es ist nämlich »eine fundamentale Aufgabe der Philosophie, die Unmittelbarkeit als solche zu erkennen und zu bestimmen und damit das in ihr verfangene Dasein aus ihr herauszuführen, in sich reflektieren zu lassen. Die unmittelbare Welthaltung ist (philoso phisch bewertet) das stagnierende Seinsverständnis, ein Stillstand der ›ontologischen Erfahrung‹«.635
634 635
Ebd., Elemente einer Husserl-Kritik/33. Ebd., Elemente einer Husserl-Kritik /41.
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XXVI. Unterwegs zu einer »Theorie des vorsprünglichen Begriffes der Welt«
Als eine unumgängliche Aufgabe der Philosophie bezeichnete Fink den Versuch, die unmittelbare Welthaltung des Menschen, die Art und Weise seines grundsätzlich in der Welt verfangenen Daseins zu beschreiben und in ihren konstitutiven Elementen zu zergliedern sowie das Zustandekommen dieser universalen Weltsituation genau zu erforschen, deren Grundcharakter der der »Weltgeläufigkeit«, der »Weltvertrautheit« und der »Weltgewohnheit«636 sei. Eine derartige, von Fink anvisierte Auslegung der Weltsphäre und der Weltstruktur verfolgte allerdings das Ziel, das stagnierende Seinsverständnis zu erschüttern und in Bewegung zu bringen, das die »Befangenheit-ineiner-Geltung«637 des menschlichen Lebens kennzeichnet. In ihr wird nämlich der »Dogmatismus« offenkundig, der die natürliche Einstellung des Menschen grundwesentlich durchzieht. Es sollte des halb nicht verwundern, dass Fink es als eine vordringliche Aufgabe betrachtete, einen angemessenen »kosmologischen« Begriff der Welt zu entwerfen und sich gleichzeitig mit der Absicht trug, zu einer »Auf stellung des kosmologischen Begriffs von ›Sein‹« und im weiteren Verfolg zu einer »kosmologische Ontologie«638 zu gelangen. Die »Befreiung von der Weltbefangenheit« bzw. von der »Gebanntheit im Sein«639 konnte nach seiner Meinung nur durch eine »Katastrophe der weltlichen Existenz«640 des Menschen herbeigeführt werden. Eine 636 EFGA 3.2, Z-VII/VIII/la-6a, S. 10–14. Vgl. dazu auch Finks »Entwurf zu einem Anfangsstück einer Einleitung in die Phänomenologie« von Dez. 1930/Jan. 1931 in: Eugen Fink, VI. Cartesianische Meditation. Teil 2: Ergänzungsband, a.a.O., S. 10–105. 637 Eugen Fink, VI. Cartesianische Meditation. Teil 1: Die Idee einer transzendentalen Methodenlehre, a.a.O., S. 44. 638 EFGA 3.2, Z-XI/7b, S. 141. 639 Ebd. 640 Zu Finks Konzeption der Philosophie als einer Form »katastrophalen Denkens« vgl. G. J. Giubilato, »Breaking the Hermeneutic Circle: Phenomenology as ‘Catastro phe of Man’ in Fink’s Early Thought«, in: Phänomenologische Forschungen 2022/2, 37–56.
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XXVI. Unterwegs zu einer »Theorie des vorsprünglichen Begriffes der Welt«
solche umwälzende Bewegung vollzieht sich im ekbantischen Taumel der Begeisterung, in der erschütternden Kraft des Staunens, in der die Selbstgewissheit menschlicher Existenz und die Trägheit seines Geistes zu Grunde gerichtet wird. Vom enthusiastischen Aufschwung ergriffen, erwacht im Menschen die nicht zu stillende Sehnsucht nach dem »am meisten Seienden«. Und die in der schmerzhaften Entbehrung wachgehaltene Ahnung des »ὄντως ὄν« ebnet ihm den Weg zur spekulativen Entfaltung einer »universale Wissenschaft des Absoluten«641 – mit Husserl gesprochen –, oder, wie Fink es vorzog, zu einer neuen »ontogonischen« Kosmologie, die die Frage nach der »Weltganzheit« erstmals ins Visier fasste. Zwei Motive, die bereits in seinen Arbeitsnotizen aus dem Anfang der dreißiger Jahre an die Oberfläche gekommen sind, haben Fink dazu bewegt, diesen philosophischen Weg zu wählen. Zum einen beruhte die von ihm frühzeitig ins Auge gefasste »Meontik des absoluten Geistes« als eine »Freiheitslehre« des Absoluten auf der ontologisch-konstitutiven Grundthese, dass „›Sein‹ als Endlich keit ein Moment in der Autogenese des Absoluten« darstellt, als das »Wohin seiner Emanation«642 aufgefasst werden muss. Zum anderen bot die Anknüpfung an Kants Antinomienlehre Fink die Gelegenheit, die Gedanken über »Welt-Ganzheit« und über »das Seiende im Ganzen«, mit denen er sich bereits in diesen Jahren trug, in zugespitzter Form herauszuheben. In Kant sah Fink den ersten Vertreter eines kosmologischen Weltbegriffs, wenn auch sein Den ken weitgehend noch dem Umkreis der Weltgebanntheit verhaftet geblieben war und sich grundsätzlich in einem transzendentalen Sub jektivismus verfangen hatte. Kants Unterscheidung eines »konstituti ven« Gebrauchs der Kategorien und eines »regulativen Gebrauchs« der Ideen erwies sich auf jeden Fall als ein besonders brauchbares begriffliches Hilfsmittel, um sich die Frage nach der Weltganzheit und ihrer Konstitution zu eigen zu machen. Denn sie enthielt in Finks Augen einen wertvollen »Index für eine zwiefache phänomeno logische ›Konstitution‹: Gegenstandsbewusstsein und Weltbewusst sein«. »Kants ›Grundsätze des reinen Verstandes‹«, so hob er poin tiert hervor, »betreffen Indizes gegenstands-konstitutiver Probleme, die ›Ideen‹ dagegen Weltganzheit-konstitutive. Oder anders gesagt: die ›Kategorien‹ sind ontologisch-transzendentale Bestimmungen, 641 642
EFGA 3.2, Z-XV/101a, S. 306. Ebd., Z-XV/105a, S. 308.
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XXVI. Unterwegs zu einer »Theorie des vorsprünglichen Begriffes der Welt«
die ›Ideen‹ kosmologisch-transzendentale«643. Wenn die Phänomeno logie »ihre entscheidende Problemstellung« künftig »in der Frage nach dem Weltursprung« sehen sollte, »die sie aber grundsätzlich von aller naiven (vorkritischen) Seinsauffassung freihält«644, dann sollte sie »das Konstitutionsproblem der ›Weltweite‹« auch so in Angriff nehmen, dass auf Anhieb klargestellt wird, dass sie »das naturwissenschaftliche Problem der ›Welt‹ und ihrer Ganzheit« für »grundsätzlich verfehlt« hält. Denn die Welt ist »keine ›objektive‹ Ganzheit, keine Ansammlung von ›Objekten‹ (Innerweltlichem), sondern die Schwingungsweite der Zeitlichkeit. Welt ist kein Seiendes , sondern das Worin des Seienden, der Enthalt aller Inhalte«645. »Philosophie«, so notierte sich Fink, »ist Frage nach der Welt. Das Problem der Philosophie ist die Welt. Inwiefern ist die Welt ein Problem? Welt = das Ungegebene, paradox das immer gegebene Ungegebene; immer sind wir in der Welt, verstehen Seiendes als in der Welt und haben doch nie überblickbar das Ganze«646. Die im vierten Teilband der »Werkstatt«-Ausgabe gesammelten Notizblätter gestatten es dem Leser, den Fortgang der Arbeiten an der geplanten und leider nie zu Ende geführten »Welt-Schrift« weiter zu verfolgen, über die schon in den Paragraphen VII und X berichtet worden ist. Die Bemerkungen am Schluss des Vortrags zur »Idee der Transcendentalphilosophie bei Kant und in der Phänomenologie« aus dem Jahre 1935 enthielten allenfalls einen Hinweis auf ein breiteres Forschungsprogramm, von dem zu diesem Zeitpunkt nur der Problemansatz von Fink skizzenhaft umrissen werden konnte. 643 Die nunmehr vollständig vorliegenden Materialien der »Werkstatt«-Bände gestatten es zum ersten Male, sich ein genaues Bild von der gesamten Entwicklung zu machen, die Finks »Weltdenken« durchlaufen hat. Im Ausgang von den ersten Ansät zen zu einer geplanten »Weltschrift« kann man schrittweise die innere Entfaltung von Finks Gedanken zu »Welt und Weltbegriff« verfolgen bis zu der äußerst aufschlussrei chen Vorlesung des Wintersemesters 1955/56 (vgl. Eugen Fink, Sein, Wahrheit, Welt (EFGA 6), a.a.O.). Es zeigt sich weiterhin, wie die frühe Auseinandersetzung mit der Transzendentalphilosophie Kants Fink bereits einen Leitfaden an die Hand gab für die in den sechziger und siebziger Jahren verfassten »Epilegomena« zu Immanuel Kants »Kritik der reinen Vernunft« (vgl. Eugen Fink, Epilegomena zu Immanuel Kants »Kritik der reinen Vernunft« (EFGA 13), hrsg. von G. van Kerckhoven, Teilbände 1–3, Karl Alber, Freiburg/München, 2011). 644 Eugen Fink, »Die phänomenologische Philosophie E. Husserls in der gegenwär tigen Kritik«, a.a.O., S. 102. 645 EFGA 3.2, Z-VII/XVIII/5b, S. 52. 646 EFGA 3.3, V-II/2–3.
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XXVI. Unterwegs zu einer »Theorie des vorsprünglichen Begriffes der Welt«
Wenn eine ontogonische Metaphysik »nicht nach dem Menschen als einem bestimmten Seienden unter dem Seienden« fragt, »wie« dies in »alle reflexiven Thematisierungen, von der Psychologie bis zur Anthropologie« der Fall sei, sondern vielmehr darum bemüht ist, ihn in seiner Sonderstellung als ein »ins Ganze des Seienden ausgeweitete Weltwesen«647 herauszuheben, dann habe sie sich zuallererst mit der schwierigen Aufgabe zu befassen, »die Welt als den kosmologischen Horizont des Seins«648 aufleuchten zu lassen. Und so taucht in der Aufgabenliste für das Jahr 1938 eine Schrift zum »Weltbegriff«649 bzw. zur »Lehre vom Weltbegriff«650 von neuem auf. Es fällt dabei auf, dass nach Fink der Weltbegriff in mehrfacher Hinsicht untersucht werden sollte, und zwar so, dass die Erfahrung von Welt zunächst als jenes »Urerlebnis« in Frage käme, das sich als »Grund aller Erlebnisse der Binnenweltlichkeit« abzeichnet und das dennoch auf rätselhafte Weise nicht im Ausgang vom Subjekt dieses Erlebens begrifflich erfasst werden kann. Vielmehr sei Welt eine »transzendentale Bestimmung des Seienden« – d.h. sie gehört in die Transzendentalien-Problematik hinein. So schreibt Fink: »Die Theorie des Weltbegriffs ist ein Problem der Philosophie, ist die Frage nach dem Seienden im Ganzen als Einem. ὄν und ἕν. Ein transzendentales Problem. Die Theorie des Weltbegriffs ist eine der vierfach-einheitlichen Grundfragen der Philosophie, die den Begriff der ›Metaphysik‹ bestimmen«651. In der begrifflichen Durchdringung des Urphänomens »Welt« meldete sich die zentrale philosophische Aufgabe, die die von Finks ins Auge gefasste Kosmologie sich zeitle bens gestellt hat. Als Frage nach der »Ganzheit des Seienden« befasst sie sich mit den Lebensbezügen, die zwischen »Welt und Selbst« obwalten, aber auch in einer weiteren Perspektive mit der Lebensver bundenheit von »Welt und Tier«. Im Verfolg ihrer Analysen sollten auch die Unterscheidungen von »Innenwelt und Außenwelt« und von »Raum und Zeit« in ihren Gesichtskreis treten. Auf diesem Wege möchte Fink die kosmologische Differenz zwischen Welt und Binnen weltlichem, zwischen Welt und »Erscheinung« (dem »Seienden für 647 Fink, »Die Idee der Transzendentalphilosophie bei Kant und in der Phänomeno logie«, a.a.O., S. 32. 648 EFGA 3.3, Z-XXV/4a. 649 EFGA 3.4, Z-XXVI/38a. 650 EFGA 3.3, Z-XXIII/9, /15. 651 Ebd., Z-XXV/148a.
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XXVI. Unterwegs zu einer »Theorie des vorsprünglichen Begriffes der Welt«
ein Wissen«) gezielt herausarbeiten, zugleich aber die tragende, aber ständig unterschlagene »ontologische Erfahrung« zur begrifflichen Entfaltung bringen. Als wichtige Bestandteile dieser umfassenden Philosophie der Welt fanden auch die Abschnitte gelegentlich Erwäh nung, die Fink den Themenbereichen: »Wachheit und Schlaf« und »Reales und Ideales«652 zu widmen gedachte. Besonders mit Bezug auf die Frage nach dem Abwechslungsrhythmus von »Wachen und Schlaf« und seinen »funktionalistischen Auslegungen, die immer das Phänomen überspringen«653, taucht das Welt-Thema häufiger in den Listen von möglichen Vorträgen auf, die Fink in diesen Jahren aufgestellt hat. So nahm er sich vor, in den Jahren 1936/38 in Bad Kreuzlingen zu diesem Thema zu referieren. Diese Vorträge sind aber nie zustande gekommen. Tatsächlich gewinnt das Thema des »Schlafes« in Finks Überlegungen zur Weltfrage sehr früh eine besondere Bedeutung, die auf eine intensivere Beschäftigung mit dem Denken Heraklits in diesen Jahren hinweist. So findet sich in Finks Aufzeichnungen folgende Notiz: »Die These, dass der Bezug des Menschen zu dem umgebenden Seienden (›Offenheit‹) das Denken und den Erinnerungszusammenhang des Lebens möglich mache. Ist dies nicht merkwürdig? Zunächst glaubt man doch, es ist gerade umgekehrt. Das Denken ermöglicht das Dabeisein bei dem umgeben den Seienden. Demgegenüber sagt Heraklit, das Dabeisein ermöglicht das Denken. Warum? Weil im Offensein der Mensch dem umwalten den ›Nous‹ offen ist. Der ›Nous‹ in dem Seienden. Das περιέχον, das ›Umgebende‹ als Ort des ›Nous‹!«654 In den Nachkriegsschriften wird diese Beschäftigung mit dem Denken Heraklits einen erstrangigen Platz in Finks Kosmologie einnehmen. EFGA 3.4, Z-XXVI/18a. Ebd., Z-XXVI/66b. Vgl. auch ebd., Z-XXVI/43b. 654 Katharina Schenk-Mair hat schon im Jahre 1997 eine umfassende Studie zur »Kosmologie Eugen Finks« vorgelegt, in der sie eine Explikation des kosmischen Weltbegriffs am Leitfaden der »Lebensvollzüge des Schlafens und Wachens« in den Vordergrund schob. Von wegweisender Bedeutung für ihre Studie war das im Jahre 1966 von Fink gemeinsam mit M. Heidegger veranstaltete »Heraklit-Seminar«. Die heute erschlossenen »Werkstatt«-Materialien werfen auf diesen Themenbereich ein bezeichnendes Licht. So wird es etwa ersichtlich, wie Fink bereits in seinen frühen Arbeitsnotizen die Weltfrage mit der Problematik von Schlaf und Wachen verbunden hat, außerdem die Frage nach den gesellschaftlichen, kultischen und politischen Bedingungen für die Produktion von Idealität in seinen Gesichtskreis einbezog. Vgl. Katharina Schenk-Mair, Die Kosmologie Eugen Finks. Königshausen & Neumann, Würzburg, 1997. 652
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XXVI. Unterwegs zu einer »Theorie des vorsprünglichen Begriffes der Welt«
Darüber besteht nicht der geringste Zweifel, dass Fink das drin gende Bedürfnis empfand, den »kosmologischen Weltbegriff« von Husserls »phänomenologisch-horizontalem« Weltbegriff und von Heideggers »existenzialer« Konzeption des menschlichen Weltbe zugs mit einer gewissen Schärfe abzuheben655. So ermöglicht der »Horizont«-Begriff der Welt es nach seiner Ansicht nicht, dass man die Weltganzheit, die Welttotalität in ihrem Erscheinen-lassen des in ihr erscheinenden binnenweltlichen Seienden zu Gesicht bekomme. Und während Heidegger der ontologischen Differenz von Sein und Seiendem eine Vorrangstellung gewährt, möchte Fink den Akzent auf die kosmologische Differenz von Welttotalität und binnenweltlich Seiendem setzen. Mit den Ausdrücken »Kosmos« und »kosmolo gisch« möchte er nicht so sehr die Welt als solche ins Visier fassen, sondern die Welt in ihrem alles umfangenden und durchwaltenden Erscheinen-Lassen auf den Plan rufen. Und dieses »Wesen« der Welt, diesen »Weltaufgang« im Sinne einer »apriorische Öffnung der Weltwirklichkeit«656 vermisse er sowohl in Husserls phänomenolo gischer Thematisierung der Welt als eines Universalhorizontes – wie auch in Heideggers Analyse der Welt als eines Bewandtnisganzen des in-der-Welt-seienden Daseins. Hier ist der geeignete Ort, um kurz darauf hinzuweisen, dass die Mappe Z-XXV den Entwurf eines ver mutlich um diese Zeit (1938) verfassten, aber anscheinend nie abge sandten Briefes von Finks Hand enthält, der M. Heidegger zugehen sollte. Anlässlich der Anfertigung eines Manuskriptes, »das zum Thema ›Die Lehre vom Weltbegriff‹« hatte, wollte Fink Heidegger darum bitten, »den beigelegten Abschnitt über Ihren Weltbegriff einer Durchsicht zu unterziehen, die es mir möglich machen würde, ein krasses Missverständnis zu vermeiden«657. Von besonderem Gewicht sind zwei weiteren Notizsammlungen, die in den vierten Teilband der vorliegenden »Werkstatt«-Ausgabe Eingang gefunden haben. So ent halten die Notizen der Mappe Z-XXIX eine Reihe aufschlussreicher kritischer Äußerungen zu Heideggers Weltauffassung. Aber vor allem die Mappe Z-MH-I: »Notizen zur Philosophie Heideggers – offenbar meist von 1939« erweist sich in der Hinsicht als eine wahre Schatz kammer. Viele der hier zu Wort kommenden Überlegungen dürften im Zusammenhang mit den Gesprächen entstanden sein, die Fink 655 656 657
Vgl. EFGA 3.3, Z-XXV/68a-b; EFGA 3.4, Z-XXVI/75a. Ebd., Z-XXIX/303a. EFGA 3.3, Z-XXV/62.
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zunächst am 28. November und dann am 3. und am 10. Dezember 1938 mit Pater Pandžić geführt hat658, der zu diesem Zeitpunkt in Freiburg studierte und eine Dissertation über »Das Problem der Wahr heit in der Philosophie von M. Heidegger« vorbereitete659. Aber laut Finks eigener Angabe stammt die Notizsammlung als solche aus der Zeit unmittelbar nach seiner Ankunft in Leuven im Frühjahr 1939, als ihm die Einladung zuging, mit einem »Heidegger-Artikel«660 zu der Revue Néoscolastique beizutragen. Diese Einladung dürfte Fink zum Anlass genommen haben, um nicht nur seine »kritischen Einwände« gegen Heideggers Philosophie zu Papier zu bringen, sondern um vor allem seinen eigenen philosophischen Standpunkt zu verdeutlichen. Großen Wert legte er darauf, mit einer »Theorie der Welt« eine »spe kulative Bestimmung des Begriffs der Welt« in die Wege zu leiten. Und das bedeutete, wie er in seinen Aufzeichnungen festhielt: eine Theorie »des vorsprünglichen Begriffs als einer lichtenden Wahrheit (= Φύσις und das umfangende Eine des Seins des Seien den)«661 erstmals zustande zu bringen.
Vgl. EFGA 3.4, Z-XXVI/6a, und CCCIV/6a sowie 8a. Der Text wurde im Jahre 1942 veröffentlicht: Vladimir fra Kruno Pandžić, Problem istine u filozofiji Martina Heideggera, Univerza v Ljubljani, Ljubljana, 1942. Die Reihe CCCIV der Mappe Z-XXIX enthält weitere Notizen von Finks Hand, die im Rahmen der Arbeitssitzungen, die er mit Pandžić abgehalten hat, niedergeschrieben worden sind. In diesen Papieren findet sich auch ein »Dispositionsvorschlag für Herrn Pater Pandžić’s Arbeit über ›Das Problem der Wahrheit in der Philosophie Martin Heideggers‹«. Vgl. EFGA 3.4, Z-XXIX/CCCIV/1a. 660 Vgl. EFGA 3.4, Z-MH-I/1a. 661 Ebd., Z-XXIX/319b. 658
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XXVII. Die organische Einbeziehung der Seinsfrage in die Weltfrage: Welt als »Feld des Seins«
Worauf Fink mit dem Vorhaben einer »spekulative Bestimmung des Begriffs der Welt« als des »umfangenden Einen« abzielte, war nicht etwa eine allgemeine »Lehre vom Weltbegriff«, sondern vielmehr eine Begriffstheorie, d.h. eine »Lehre vom apriorischen Begriff«662 der Welt. In ihr möchte er, in eindeutiger Abgrenzung von Husserl und Heidegger, seine Grundauffassung von der »begrifflichen Natur der Wahrheit« darlegen. Denn nach ihm bestehe »das Wesen des Begriffs« im »Vorgriff«, d.h. im ur-lichtenden »apriorischen Ent wurf«. Und deshalb stand die von ihm geplante Schrift zur »Lehre vom Weltbegriff« mit der von ihm ins Auge gefassten »Theorie des Begrif fes«663 in einem inneren Zusammenhang. So möchte Fink mit seiner Lehre vom Weltbegriff unsere Aufmerksamkeit zunächst darauf len ken, dass der Begriff »Welt« zwar in zahlreichen Bedeutungsvarianten zur Verwendung kommt – Κόσμος πολλαχῶς λέγεται –, denen die vielfachen Seinsweisen entsprechen, in denen man »Welt« begegnet. Aber einzig nur als »nicht-seiend« waltet die Welt als »Kosmos«. Und so scheint es durchaus angebracht, den »kosmologischen« Weltbegriff von einem »konstitutiven« und einem »ontologischen« sorgfältig zu unterscheiden. Denn häufig unterließ Fink es in seiner Argumenta tion, deutlich anzugeben, auf welchen dieser Begriffe er sich beziehen Ebd., Z-XXIX/305a und 320a–b. Auf ähnliche Weise stand Finks Kritik an Husserls Auffassung des »Phänomens«, wonach dieses als etwas »Vorbegriffliches« einzig nur in der unmittelbaren Anschau ung erfasst und in der Ideation für sich herausgehoben werden kann, in einem inneren Zusammenhang mit seiner expliziten Wiederaufnahme des »ens-verum-Problems«. Vgl. dazu Finks »Elemente einer Husserl-Kritik« sowie seine Nachkriegsvorlesung des WS. 1955/56: »Sein, Wahrheit, Welt« in: Eugen Fink, Sein, Wahrheit, Welt (EFGA 6), a.a.O.; vgl. ebenfalls G. van Kerckhoven, »Vorfragen zum Phänomen-Begriff bei Eugen Fink«, in: Hans Rainer Sepp, Armin Wildermuth (Hrsg.), Konzepte des Phä nomenalen: Heinrich Barth – Eugen Fink – Jan Patočka. Königshausen & Neumann, Würzburg, 2010, S. 113–129. 662
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XXVII. Die organische Einbeziehung der Seinsfrage in die Weltfrage
möchte. Und die Tatsache, dass er zunächst im Ausgang von einer naiven Ontologie zu einer me-ontisch radikalisierten transzendentalkonstitutiven Phänomenologie fortschritt, die er letztendlich in der Gestalt einer kosmologischen Philosophie zu überwinden versuchte, legt es nahe, dass man leicht zu Fehldeutungen verführt wird, wenn man diese Phasen nicht mit Präzision voneinander trennt. Was sich hier, an der Geburtsstätte von Finks kosmologischem Denken, all mählich abzuzeichnen begann, war die organische Einbeziehung der Seinsfrage in die Weltfrage. Im Paragraphen 11/c. der »VI. Cartesianischen Meditation« ist Fink darum bemüht, die phänomenologische Philosophie der Vor macht des »Idol der Wissenschaft« in seinem »weltlichen« Sinn zu entreißen, indem er hervorhebt, dass alle mundanen Wissenschaften »Wissenschaften vom Seienden« sind, während »die phänomenologi sche Wissenschaft sich auf das konstitutive Werden des Seienden«664 bezieht. Zwar könne man »mit einem gewissen Rechte« »gegenüber dem relativen Sein der individuellen Substanzen das Sein selbst als ›absolut‹, die Welt als das ›Absolute‹ (absolut Seiende)«665 bezeich nen. Auf diesem Wege gelangt man zu einem mundan-ontologischen Begriff der Welt als der »Allheit des Seienden«. Im transzendentalreduktiven Vollzug kommen wir allerdings zu der Einsicht, »dass das, was wir für die unbezügliche und letztlich selbständige Allheit des Seienden gehalten haben, in Wahrheit nur eine abstrakte Schicht im konstitutiven Werden darstellt, dass das Universum des Seienden: die Welt, nur ein relatives ›Universum‹ ist«666. Im »theoretischen Erfahren« der Phänomenologie, das einen Erkenntnisprozess sui generis darstellt, in welchem »die Idee des Seins transzendiert«667 wird, vollzieht sich die »reduktive Verwandlung« des mundan-onti schen Seinssinnes der Welt als eines »absolut geltenden« Bereiches alles Seienden – was Fink dadurch unterstreichen möchte, dass er das Wort Universum in Anführungszeichen setzt. Die ontologische Allheit des Seienden ist »relativ«, weil sie den »Inbegriff der Enden der konstitutiven Lebensprozesse« darstellt und demnach sinnhaft 664 Eugen Fink, VI. Cartesianische Meditation. Teil 1: Die Idee einer transzendentalen Methodenlehre, a.a.O., S. 146. Vgl. hier den schönen Parallelismus zu Aristoteles Met. IV.1, 1003a ff. 665 Ebd., S. 156. 666 Ebd. 667 Ebd., S. 84.
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XXVII. Die organische Einbeziehung der Seinsfrage in die Weltfrage
zurückbezogen ist auf das konstitutive Werden, das das transzenden tale Leben in einem »spielenden Bezug« vor sich gehen lässt. In diesem Sinne bezeichnet der mundan-ontologische Begriff von Welt eine Totalität, die als ein konstitutives Endprodukt eingestuft werden muss. Damit wird die »konstitutive« Bedeutung des Weltbegriffes offenkundig, dessen Grundcharakter Fink später mit dem Wort »Bin nenweltlichkeit« kennzeichnen wird: »Die Welt als die Alleinheit des real Seienden, grenzenlos offen nach Raum und Zeit, mit der ganzen Unermesslichkeit der sie füllenden Natur, mit allen Plane ten, Milchstraßen und Sonnensystemen; mit der Mannigfaltigkeit des Seienden als Stein, Pflanze, Tier und Mensch; als Boden und Lebensraum menschlicher Kulturen, ihres Aufgangs und Niedergangs im Wandel der Geschichte; als Stätte letzter ethischer und religiöser Entscheidungen; die Welt in dieser Vielfalt ihres Daseins; mit einem Wort: das Sein – ist nur ein Moment des Absoluten«668. Die Welt als Allheit des real Seienden (das Sein), die eben mit dem ontologischen Begriff von Welt »naiv« gemeint wird, enthüllt sich als »Ebene der Endterminierung« der konstitutiven Prozesse des transzendentalen Lebens, als ein konstituiertes »Resultat« des außer-sich-getretenen, in individuierter Gestalt da-seienden »Absoluten«. Zur »Welt« »ver endlicht sich« »das Unendliche«669. Was aber ist dieses wahre, dieses unendliche Absolute? Im Gefolge der reduktiven Tätigkeit, die dank einer »Überfra gung des Seins« den Menschen von seiner Seins- und Weltbefangen heit entbindet, wird der »Universalhorizont alles Seins (die Welt) durch die Erkenntnis, dass ›Seiendes‹ die konstitutive Dignität von Endprodukt, von Resultat hat«, auf den »Universalzusammenhang der Weltkonstitution«670 zurückgeführt. Das Sein erweist sich als das konstituierte Moment eines umfassenderen, nicht-seienden Kon stitutionsgeschehens, aus dessen Tiefe es »hervorkommt« und »in die Erscheinung«671 tritt. Fink bezieht somit den naiv-ontologischen Weltbegriff in eine konstitutive Theorie der »Verweltlichung« hinein und stellt auf diese Weise den Zusammenhang mit einem transzen
Ebd., S. 158–159. EFGA 3.2, Z-VII/XVII/23a-b, S. 44–45. 670 Eugen Fink, VI. Cartesianische Meditation. Teil 1: Die Idee einer transzendentalen Methodenlehre, a.a.O., S. 157. 671 EFGA 3.4., Z-XXIX/200a–b. 668
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dental-konstitutiven Begriff von Welt her672. Unter diesem Gesichts punkt erweisen sowohl Husserls phänomenologisch-deskriptiver Begriff von Welt als »Horizont« als auch Heideggers fundamentalontologischer Begriff der (Um-)Weltlichkeit der Welt – wie er in Sein und Zeit eingeführt wird – sich als grundsätzlich zurückbezogen auf ontologisch-konstituierte Strukturen der Weltlichkeit, die als solche zur konstituierten Binnenweltsphäre gehören673 und in den horizont bildenden Entgegenwärtigungen bzw. in Umstandsapperzeptionen verwurzelt sind. Indem sie demnach konstitutive »Resultate« darstel len, sollen sie zu dem konstitutiven Begriff der Welt zurückgeleitet werden, der sich uns nach dem Vollzug der phänomenologischen Reduktion erstmals offenbart und sich nachdrücklich auf den »onto gonischen« Konstitutionsprozess der »Endkonstituiertheit« alles Sei enden im Sinne einer »Weltbildung« bezieht. Der auf diesem Wege zum Tragen kommende »konstitutive Weltbegriff« bildet das Sprungbrett für die entscheidende »kosmolo gische« Wende, mit der Fink sich endgültig von Husserls transzen dentaler Phänomenologie verabschieden wird. Als das Absolute darf nicht mehr die als eine konstituierte Endschicht entlarvte Alleinheit des Seins bezeichnet werden. »Absolut« ist vielmehr der Prozess der me-ontischen Weltkonstitution, das Geschehen der Verweltlichung des transzendentalen Lebens – demnach die »umgriffliche Einheit von Seiendem überhaupt und Vor-Seiendem«, von Welt (im naiv-ontolo gischen Sinne) und »Ursprung der Welt«674. »Absolut«, so betont Fink, bedeutet ein »Solutum ab esse«675 im Sinne eines EntbundenSeins aus dem Seinszusammenhang, eines Sich-von-ihm-losgesagtHabens. Das gegenwendige kosmische Geschehen des Weltaufgangs umspannt »in sich ›Gegensätze‹, die keine Seinsgegensätze sind«, sondern »in einem nicht-ontischen Sinne« eine »coincidentia opposi »Die Aufgabe der Philosophie ist es, aus dem Begriff des Absoluten den Begriff des Seins auszutreiben. Sein ist Resultat. Sein ist transzendentale Oberfläche. Die Phänomenologie ist davon weit entfernt, bloße Theorie des Seins (Ontologie) zu sein. Und doch ist dies eine ins Ganze treffende Charakteristik. Τί τὸ ὄν? Konstitutives Resultat« (EFGA 3.2, Z-IX/49b, S. 108). Vgl. dazu G. van Kerckhoven, »Fenomeno logia e riduzione tematica dell'idea dell’essere«, in: Magazzino di Filosofia 5 (2001), S. 23–46. 673 Vgl. z.B. EFGA 3.2, Z-XV/18a, S. 274. 674 Eugen Fink, VI. Cartesianische Meditation. Teil 1: Die Idee einer transzendentalen Methodenlehre, a.a.O., S. 157. 675 EFGA 3.1, Z-V/VII/12a-b, S. 321. 672
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XXVII. Die organische Einbeziehung der Seinsfrage in die Weltfrage
torum«676 von Sein (τὸ ὄν) und Nicht-Sein (τὸ μὴ-ὄν) bilden. Die »konstitutive Kosmogonie« enthüllt sich somit als »das grundsätzlich letzte, selbst nicht mehr als ›relativ‹ erkennbare Universum«677. Die ses absolute Universum wird von Fink nicht mit Anführungszeichen versehen – im Gegensatz zu dem »Universum« des Seins. Die Welt im kosmologischen Sinne ist das absolute »Worin von Sein und Nichts«678 bzw. das »absolute Medium, das vorgängig alles Seiende umgreift und einbegreift«679. Wie Fink während eines Gespräches, das im März 1935 stattfand, seinem Kollegen Ludwig Landgrebe klipp und klar vorgehalten hat, ist »das Absolute = das ontogonische Werden, dessen Pole ›Sein‹ und »Nichts‘ sind«680. Diese absolute Welt im Sinne des Kosmos ist gerade »das in aller Ontologie ausgeschlossene Dritte«681. Als der auserlesene Ort des Erscheinen-Lassens des in ihr erscheinenden binnenweltlichen Seienden ist sie »der Spielraum und die Spielzeit aller Dinge«. In ihr »ist alles versammelt, geeinigt und geschieden, was überhaupt ist«. Die Welt im kosmischen Sinne »ist das Feld des Anwesens, wo die Dinge zum Vorschein kommen und wo der Mensch das Seiende teilweise erfährt und gänzlich apriori weiß. Sie ist die universelle Gegend aller Lichtung und Erkenntnis. Sie ist das Feld des Seins«682. Dieses im vorweg aus der Ontologie und dem ontologischen Denken seit Parmenides »ausgeschlossene Dritte« zu denken, ist ein durchaus gewagtes Unternehmen. In »Spiel als Weltsymbol« hat Fink diese ungeheure Herausforderung auf sich genommen und es sich zur Aufgabe gemacht, die Welttiefe als »die große kosmische Harmonie aller Gegensätze«683 auszuloten. Hier möchte er in den »Totalprozess der Weltbewegung als Aufgang und Untergang aller Dinge, als Vordergrund des Erscheinens und als Tiefe des verborgenen Wesens, als Ineinanderspiel der Gegensätze, als Aufhebung der Zeit
676 Eugen Fink, VI. Cartesianische Meditation. Teil 1: Die Idee einer transzendentalen Methodenlehre, a.a.O., S. 157–158. 677 Ebd., S. 156. 678 EFGA 3.2, Z-XV/81c, S. 297. 679 Eugen Fink, Sein, Wahrheit, Welt (EFGA 6), a.a.O., S. 317. 680 EFGA 3.3, OH-IV/43. 681 EFGA 3.2, Z-XV/81c, S. 297. 682 Eugen Fink, Sein, Wahrheit, Welt (EFGA 6), a.a.O., S. 317. 683 Eugen Fink, Spiel als Weltsymbol (EFGA 7), hrsg. von Cathrin Nielsen und Hans Rainer Sepp, Karl Alber, Freiburg/München, 2010, S. 130.
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XXVII. Die organische Einbeziehung der Seinsfrage in die Weltfrage
demarkationen und der Grenzen von Leben und Tod«684 vordringen. Er war sich dessen scharf bewusst, dass das kosmische Geschehen, das »der verständige Verstand nur in binnenweltlichen Raumzeiten und Zeiträumen überblicken und in strengen Kategorien fassen und erläutern kann«, wenn man es dennoch in seiner »Allheit und Allein heit« betrachten möchte, eine unerhörte »Herausforderung für den Menschengeist«685 darstelle. Wie er selber gestand, verfolgte er mit seiner ontogonischen Metaphysik, die sich zunehmend in der Rich tung eines kosmologischen Philosophierens bewegte, keineswegs die Absicht, »die Welt als ein nur scheinbar Seiendes gegenüber dem ›eigentlich Seienden‹, dem ὄντως ὄν des Absoluten« zu entwerten. Im Gegenteil möchte er »gerade die Welt das ὄντως ὄν sein gegenüber dem Nichts des Absoluten«. In diesem Sinne konnte er in einem sehr präzisen Sinne sagen, dass »die Welt das Absolute ist«. Sein Weltdenken stand in einem betonten Gegensatz zu jeder »welt befangenen, ontologischen Philosophie«, die in der Unterscheidung zwischen »uneigentlichem und eigentlichem Sein das Sein oder Seinsstärke zum Maßstab« wählte686. Tatsächlich legte Fink nicht auf das Sein, sondern auf das Grund geschehen des kosmogonischen Weltaufgangs das größte Gewicht. So konnte es geschehen, dass er später, im Zuge der Vorlesung des SS. 1949 über »Welt und Endlichkeit«, in der er seine ganze Hoffnung darauf setzte, im Ausgang von einer »metaphysischen Erörterung« des Weltbegriffs (vor allem bei Kant und Heidegger) mit der eigenen kosmologischen Exposition der Weltfrage nunmehr gute Fortschritte machen zu können, seinen Leitgedanken etwas plakativ formulierte: »Welt ist das Aufgehen des Seins«687. Und es handelte sich dabei nicht um einen genitivus subjectivus, als ob die Welt die Entbergung des Seins sei und das Sein das »Subjekt« dieser entbergenden Tätigkeit wäre – sondern um einen genitivus objectivus, indem das Sein aus schließlich als das Resultat des onto-gonischen Hervorbringens betrachtet werden sollte. Sein ist nämlich »das Geschenk der
Ebd., S. 253. Ebd. 686 EFGA 3.2, Z-XV/127a, S. 315. In Bezug auf Heidegger stellte Fink nicht nur das »Fehlen des kosmologischen Weltbegriffs« fest (EFGA 3.4, Z-MH-I/3a), sondern auch das Fehlen »de[s] kosmologische[n] Begriff[s] der Zeit!!« (Ebd., Z-MH-I/33a). 687 Eugen Fink, Welt und Endlichkeit, hrsg. von Franz-Anton Schwarz, Königshausen & Neumann, Würzburg, 1999, S. 205. 684
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XXVII. Die organische Einbeziehung der Seinsfrage in die Weltfrage
Welt«688. Oder, wie Fink es etwas umständlicher dargelegt hat: »Im Weltaufgang geschieht das reine Schenken des Seins, das jegliches ins Vorkommen lässt, es ins Dasein bringt, indem es eingelassen wird in Raum und Zeit und in einen Anblick«689. Im Ur-Ereignis des Welt aufgangs, »im Aufgehen-lassen in die Lichtung der eröffneten Welt wird jeglichem Seienden sein Maß an Wirklichkeit zugemessen; es entsteht sozusagen allererst in solchem Aufgang in die Welt. Die Welt aber ist nicht ein zuvor hervorgebrachtes Gefüge, ein Behälter, worin nun die Dinge Ort und Dauer und Aussehen haben, – Welt ist das ursprüngliche Hervorbringen selbst. Wenn wir dieses als Raumgeben und Zeitlassen bezeichnen, so sind das Verlegenheitsausdrücke; aber sie zielen ab auf den Bewegungscharakter, auf das ›Geben‹. Es gibt nicht Welt, wie es Tag und Nacht gibt. Sondern Welt ist das, was alles ›gibt‹, was alles schenkt, von dem wir dann sagen: ›es gibt es‹«690. An dieser Stelle wird erstmals ersichtlich, in welchem Sinne die Seins frage von Fink in die Weltfrage einbezogen wurde. Und in eins mit dieser unzweideutigen philosophischen Stellungnahme rückt auch sein inneres Verhältnis zu Heideggers Denken ins rechte Licht691. Zusammenfassend kann man sich die »metaphysischen Pro bleme«, mit denen Fink sich in den dreißiger Jahren bei der Ausar beitung seiner kosmologischen Denkansätze vorrangig zu befassen vorhatte, anhand folgender Arbeitsliste von seiner Hand vergegen wärtigen. Die aufgelisteten Themen sind im Übrigen repräsentativ für die Fragebereiche, denen er sich in seinen zahlreichen Nachkriegs vorlesungen mit erneuter Energie zugewendet hat. »1. Raum und Zeit – im kosmologischen Verstande (›Theorie des Weltbegriffs‹). 2. Das ›Vorkommen‹ des Seienden (›Kraft‹ und ›Äußerung‹; – Wesen und Erscheinung). 3. Der ›Nous‹: die noetische Natur des Seienden. (Keine Möglichkeit des Menschen!) (›Nous‹ und das ›Vorkommen‹ des Seienden!??!); 4. Das ›Sagen‹ die ›Lichtung der Urbegriffe‹; – das ›Gespräch‹; – die ›Dialektik‹. ὄν καὶ λόγος; 5. Geschichtlichkeit der Phi losophie (der Einrichtung der tragenden Grundbegriffe der mensch 688 Eugen Fink, Einleitung in die Philosophie, hrsg. von Franz-Anton Schwarz, Königs hausen & Neumann, Würzburg, 1985, S. 109. 689 Eugen Fink, Welt und Endlichkeit, a.a.O., 206. 690 Ebd., S. 206–207. 691 Vgl. dazu auch die detaillierte Studie von Giulia Cervo, Mondo, libertà, finitezza: Eugen Fink e la questione meontica dell’origine. unv. Diss. Università degli Studi di Trento, 2017 (online abrufbar: http://eprints-phd.biblio.unitn.it/1994/1/Tesi_di_d ottorato.pdf).
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XXVII. Die organische Einbeziehung der Seinsfrage in die Weltfrage
lichen Existenz inmitten des Seienden). ›Stillstand der Ontologie‹ und ›Fortschritt der Wissenschaften‹. ›Bewegung der Ontologie‹ und ›Boden‹ der Wissenschaften?«692.
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EFGA 3.4, Z-XXIX/185a.
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XXVIII. Die Frage nach der Seinswerdung und nach der universellen Vereinzelung als Leitfragen für die »Setzung des urlichtenden Entwurfs«
Bekanntlich vertrat Leibniz in der Schrift »Principes de la nature et de la grâce« (1714) die Ansicht, dass die philosophische Grundfrage lautete: »Warum existiert etwas und nicht vielmehr Nichts?« Denn das Nichts, so fügte er hinzu, sei doch einfacher und unkomplizierter als das Etwas, dessen Bestehen wir ständig wundernehmen. Dieses »Wunder aller Wunder«693, dass es nämlich »Welt« statt »Nichts« gibt, dass Seiendes ist und es sich »in Erscheinung« zeigt, stand im Zentrum des philosophischen Interesses, das Fink mit einer »Kosmologie« zu verfolgen unternahm. In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg weitete er sein Blickfeld zu den Bereichen der philosophischen Anthropologie, der Philosophie der Bildung und der Gesellschaftstheorie aus. Mit seinem kosmologischen Denken möchte Fink den Versuch wagen, sowohl das »τὸ ὄν ᾗ ὄν« – das Seiende als Seiendes – als das »τὸ ὄν ᾗ μὴ ὄν« – das Seiende insofern es nicht ist – zu denken, indem er darum bemüht war, den Vorgang des Erscheinens des Seienden im Hinblick auf seine me-ontische »Konstitution« zu befragen. Zunächst durch Husserls genetische Phänomenologie angeregt, unternahm Fink den Versuch, in die »Pro zesse der Weltkonstitution«694 und der Individuation »eines vor aller Individuierung liegenden ›einshaften‹ transzendentalen Lebens«695 vorzudringen. Mit Hilfe eines konstruktiven Verfahrens bemühte er sich darum, die »Erscheinung« zu durchschauen, ihr Konstituiert-Sein
693 Martin Heidegger, »Nachwort zu: »Was ist Metaphysik?««, in: Wegmarken (HGA 9), Klostermann, Frankfurt am Main, 1976, S. 307. 694 Eugen Fink, VI. Cartesianische Meditation. Teil 1: Die Idee einer transzendentalen Methodenlehre, a.a.O., S. 16. 695 Ebd., S. 164.
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zu verstehen und damit »die konstitutive Kosmogonie«696 in ihrem transzendentalen Werden ans Licht zu bringen. Mit der »Reduktion der Erscheinung auf den Begriff« fasste Fink demnach ein durchaus verwickeltes philosophisches Verfahren ins Auge. Denn es galt, den »kosmogonischen Konstitutionsprozess«697 als eine »transzendentale Selbstbewegung« zu durchleuchten, in der das »ansichseiende« Abso lute (die »Einheit von ›Sein‹ und konstituierendem ›Vorsein‹«698) in die »Situation des Außersichseins« übergeht, in der Schicht der »Endkonstituiertheit« sich entäußert. Und der menschlichen Vermitt lungsfunktion, dem Einsatz seines phänomenologischen Denkens, sei es wiederum zu verdanken, dass diese »Selbstbewegung« »zu sich selbst« kommen kann, – dass das aus sich herausgegangene »Abso lute« sich be-greift. Im Zuge der Artikulation der »ontologischen Erfahrung« vermittelst der »urlichtenden Begriffe« vollzieht sich somit der einzigartige Vorgang einer Rückkehr des Absoluten in sich selbst. Es ist außer allem Zweifel, dass es sich bei der Grundlegung einer πρώτη φιλοσοφία, deren Aufgabe es sei, die ontogonischen Prozesse der »Weltbildung«, den Vorgang des Weltaufgangs als sol chen erklärlich zu machen, vom Anfang an darum handelte, »die Setzung des urlichtenden Entwurfs«699 zu vollziehen, in welchem die jenigen Grundbegriffe zum Tragen kommen sollten, mithilfe denen der ontogonische Prozess der Individuation und der Ontifikation erfasst werden könne. In der Tat war die Problematik der »Individuation« der Kern des gesamten philosophischen Anliegens, das Fink sich schon während seiner Assistentenzeit mit Husserl zu Herzen genommen hatte – so etwa in der »VI. Cartesianischen Meditation« (1932) – und das er auch nach den Kriegsjahren (1946–1970) niemals aus den Augen verloren hat. »Das tiefste philosophische Problem ist das der Ontifikation, d.h. das Verhältnis von Ursprung und Welt«700, so notierte er sich bereits in einer frühen Niederschrift aus 1930. Es ist mithin die Frage nach dem Geschehen der Seinswerdung, die für die Entfaltung des »kosmologischen« Weltbegriffs einen fruchtbaren Boden schuf. Und mit dieser Frage hielt die nach der Vereinzelung des aus sich heraus 696 697 698 699 700
Ebd., S. 15. Ebd., 119. Ebd., 167. EFGA 3.4, Elemente einer Husserl-Kritik/43. EFGA 3.2, Z-VII/5b, S. 7.
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gehenden transzendentalen Lebens Schritt. In dieser Hinsicht sind einige Textstellen aus der »VI. Cartesianischen Meditation« besonders aufschlussreich, in denen Fink diese Gedanken weiterverfolgt hat. Als es ihm darum ging, den weltlichen Status der transzendentalen Phä nomenologie als einer intersubjektiven Wissenschaft mit Husserl zu diskutieren, und er den Meister damit zum ersten Mal auf das Problem einer »sekundären Mundanisierung« des »phänomenologisierenden Tuns« aufmerksam machen wollte, das als solches »eine Unruhe in gleichsam statisch beharrlichen Weltkonstitutionsprozess« hervorrief, weil es »innerhalb des transzendentalen Lebens« eben die »Gegenbewegung«701 des Zu-sich-selbst-Kommens anstiftete, schrieb er: »Während jedes weltliche ›Wir‹ mit Recht als ein Kollekti vum von realiter getrennten und individuierten Einzelsubjekten ver standen wird, die in einer gemeinsamen Strebung stehen, ist es nun hinsichtlich transzendentaler Gemeinschaften von Monaden ein offe nes Problem, ob sie wirklich aus ›Individuen‹ aufgebaut sind; also es ist die Frage, ob ein gemeinsames Phänomenologisieren ein pluraler Erkenntnisprozess ist oder letztlich als eine transzendentale Tendenz bestimmt werden muss, die sich nur monadisch-plural artikuliert; also ob das Geschehen des ›Für-sich-Werdens‹ der transzendentalen Subjektivität sich nicht in einer vor aller monadischen ›Individuation‹ liegenden Tiefe abspielt«702. Um in diese aller »monadischen« Indivi duation vorausgehende Tiefendimension vorzudringen, in der auch das Kollektivum einer phänomenologisierenden Wir-Gemeinschaft letztlich verwurzelt sei, galt es nach Finks Ansicht, das phänomenolo gische System insgesamt neu zu konzipieren, und zwar als ein »Sys tem des Lebens«, das seinem innersten Wesen nach den Bereich einer »konkret spielende Intentionalität«703 bildete. Dieser Gedanke enthielt in Wahrheit den Zündstoff für eine tiefgreifende Verwand lung der transzendentalen Phänomenologie seines Lehrers. Die Frage, »ob die Individuation des transzendentalen Ego (als einer individuel len Monade in der monadischen Intersubjektivität) nicht eine Stufe der Selbstobjektivation eines vor aller Individuierung liegenden ›eins
701 Eugen Fink, VI. Cartesianische Meditation. 1. Teil: Die Idee einer transzendentalen Methodenlehre, a.a.O., S. 124. 702 Ebd., S. 137. 703 EFGA 3.2, B-VII/10c, S. 424.
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haften‹ transzendentalen Lebens«704 sei, hielt Fink für unumgänglich, wenn die Phänomenologie das Ziel verfolgen sollte, ein radikales »Verstehen des Alls des weltlich Seienden aus seiner transzendentalen Sinnbildung, d.i. aus seiner Konstitution«705 herbeizuführen. Die Grundfrage der Phänomenologie, so hatte er in seinem berühmten Aufsatz »Die phänomenologische Philosophie Edmund Husserls in der gegenwärtigen Kritik« unmissverständlich zu verstehen gegeben, sei eben »die Frage nach dem Ursprung der Welt«706. Und mit ihr wurde nicht etwa nur »die Einheit von Seiendem und Weltform, das Zusammen von fundierter und fundierender Sphäre«707 in Frage gestellt. In den Fragekreis rückte ebenfalls die nach dem Prozess der – »primären« – Verweltlichung und Vermenschlichung des transzen dentalen Lebens ein – und in weiterem Verlauf die nach dem Vorgang einer »sekundären Verweltlichung« des »phänomenologisierenden Tuns«, in dem dieses transzendentale Leben »zu sich komme«. Die Frucht dieser neuartigen Herangehensweise an Husserls transzen dentale Phänomenologie, in der in einer einzigen, umgreifenden Denkbewegung Selbstkonstitution, Weltkonstitution und die Etablie rung der Instanz des phänomenologischen Reflektierens hinterfragt wurden, war eine »ontogonische Metaphysik«, die es nicht unterließ, die bislang »ungeprüfte Voraussetzung aller Phänomenologie«, dass nämlich »das Seiende erscheine«708, in ihr Blickfeld aufzunehmen. Das kosmogonische Erscheinen des Seins, die Seinsbildung in der Gestalt einer heraufdämmernden Welt, sollte zum Gegenstand einer Konstitutionsforschung eines ganz neuen Stils gemacht werden, die – behutsam – in die me-ontische Tiefendimension eines »transzenden talen Lebens, das ›eins‹ ist und vor aller Individuation liegt«, hinüber leiten möchte. Eine solche Konstitutionsforschung gewähre die Mög lichkeit, ein jedes binnenweltliches Seiende in seiner »Transparenz« zu durchschauen und auf diese Weise der »konstitutiven Kosmogo nie« auf die Spur zu kommen. Wie Fink in der »VI. Cartesianischen Meditation« erläuternd hinzufügte, ging es ihm bei diesem wagemu 704 Eugen Fink, VI. Cartesianische Meditation. 1. Teil: Die Idee einer transzendentalen Methodenlehre, a.a.O., S. 164. 705 Eugen Fink, »Was will die Phänomenologie Edmund Husserls?«, a.a.O., S. 175. 706 Eugen Fink, »Die phänomenologische Philosophie E. Husserls in der gegenwär tigen Kritik«, a.a.O., S. 101. 707 Ebd., S. 102. 708 Eugen Fink, »Phänomenologie und Dialektik«, in: Nähe und Distanz, a.a.O., S. 228–249, hier S. 249.
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tigen Vorstoß in die »letzten Tiefen« des Konstitutionsprozesses um Fragen, die auf den »universalen Lebenszusammenhang« hinzielten, in denen sich das »transzendentale Weltwerden« vollziehe, also um »Fragen und Probleme, die ihre Lösung nur im Zusammenhang der methodischen Entfaltung des Begriffs des Absoluten finden können; genauer gesagt ist ihre Lösung gerade diese Entwicklung und Dar stellung des Begriffs des Absoluten. Es zeigt sich vielleicht dann, dass die Monadengemeinschaft selbst noch eine konstituierte Schicht im konstitutiven Weltwerden darstellt. Damit ist die Frage gestellt, ob die transzendentale Individuation der pluralen Monaden eine letztliche und reduktiv unaufhebbare Determination des konstituie renden Lebens ist. Es mag sich dann erweisen, ob das Absolute selbst pluralistisch gegliedert und einer Individuation unterworfen ist – oder ob alle Gliederungen nur in ihm liegende Selbstartikulationen sind, es selbst nur unter der Idee des ›Einen‹ endgültig gedacht werden kann«709. Worauf sein phänomenologisches Denken, das sich zusehends in eine onto-gonische Metaphysik verwandelte, letztlich hinauswollte, indem es »aus dem Pathos der Selbstbehauptung des Geistes vor dem Chaos aufbrechend«710 sich diese Fragen vorhielt, die aus einer radikalen transzendentalen Selbstbesinnung hervorgingen, war ein »Verstehen des zunächst dem Geist undurchdringlichen Seins aus der geistigen Weltbildung«711. Diese ihm vor Augen stehende me-ontische, ontogonische Metaphysik nannte Fink »Metaphysik des Spiels«712.
709 Eugen Fink, VI. Cartesianische Meditation. 1. Teil: Die Idee einer transzendentalen Methodenlehre, a.a.O., S. 160. 710 Eugen Fink, »Was will die Phänomenologie Edmund Husserls?«, a.a.O., S. 175. 711 Ebd. 712 Vgl. z.B. EFGA 3.3, Z-XX/3a; OH-VII/50. Vgl. auch Eugen Fink, Welt und End lichkeit, a.a.O., S. 207 ff, wo Fink feststellt: »die schöpferische, urspringende Bewe gung des Seins im Weltaufbruch muss vom Spiel her gedacht werden«.
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XXIX. Die onto-gonische Dynamik als Zündstoff: Heidegger und Nietzsche
Es ist unverkennbar, dass der nervus rerum der »ontogonischen Meta physik«, mit deren Ausarbeitung Fink in diesen Jahren befasst war, die Spannung war, die zwischen »Ursprung« und »Entsprungenem«, zwischen der »Endkonstituiertheit« alles binnenweltlich Seienden und dem »konstitutiven Werden« der Welt, zwischen den Bruchteilen des Irdischen und der Totalität des umfassenden Weltganzen bestand. Wie nachhaltig diese Frage Fink beschäftigt hat, zeigt sich daran, dass diese Problematik noch in einem Dialog auftauchte, den Fink am 11. März 1953 mit M. Heidegger geführt hat und der vor wenigen Jahren in Band 16 der EFGA veröffentlicht worden ist713. Zusammen mit den beiden letzten Teilbänden der »Phänomenologischen Werk statt« trägt auch die Veröffentlichung dieser Dokumente, die jüngeren Datums sind, dazu bei, die immer noch rätselhafte Beziehung, die zwischen Heidegger und Fink bestand, wenigstens teilweise zu ent schlüsseln. Denn obwohl Heideggers Einfluss sich an vielen Stellen bemerkbar gemacht hat und man über die inneren Affinitäten, die zwischen seinen Denkanstößen und Finks eigenen Denkversuchen zweifellos bestanden, nicht hinwegschauen kann, so kann zu gleicher Zeit nicht geleugnet werden, dass die Ausstrahlung, die Heideggers Denken besaß, in Fink gleichzeitig den nicht heraufzubeschwörenden Antagonismus von Ontologie und Kosmologie hervorrief. Wenn man die »häretische« Stellung, die Fink zu Husserl bezog, für einen Mark stein der Geschichte der Phänomenologie halten kann, der mit Sorg falt dokumentiert und inzwischen vielenorts kommentiert worden ist, ist die schillernde, keineswegs eindeutige Haltung, die der junge Fink zu Heidegger einnahm, bis zum heutigen Tag noch kaum eingehender erforscht worden – in scharfem Kontrast zu dem produktiven Gespräch mit Heidegger, für das Finks Nachkriegsschriften, und allem 713 Eugen Fink, Existenz und Coexistenz (EFGA 16), hrsg. von Annette Hilt, Karl Alber, Freiburg/München, 2018.
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XXIX. Die onto-gonische Dynamik als Zündstoff: Heidegger und Nietzsche
voran das berühmte, im Jahre 1966 gemeinsam mit Heidegger ver anstaltete Heraklit-Seminar714 Zeugnis ablegen. Als Hauptquellen für Finks langjährige Beschäftigung mit dem ontologischen Denken M. Heideggers und mit der Entfaltung der Seinsfrage in seinem Werk kommen an erster Stelle seine Freiburger Vorlesungen in Betracht, in denen er sich ohne Umwege auf Heideggers Gedankengänge bezog: »Einleitung in die Philosophie« (SS. 1946), »Welt und Endlichkeit« (SS. 1949), »Sein und Mensch. Vom Wesen der ontologischen Erfah rung« (WS. 1950/51) und »Sein, Wahrheit, Welt« (WS. 1956/57)715. Aber auch kleinere Arbeiten kann man als eine wertvolle Quelle her anziehen, wie etwa die »Bruchstücke einer Vorlesung zum Begriff der ›ontologischen Differenz‹ bei Heidegger«, die Fink im Jahre 1948 in Form eines Aufsatzes mit der Aufschrift: »Philosophie als Überwin dung der Naivität« veröffentlicht hat716. Im Vordergrund des philoso phischen Interesses steht hier das »ausdrückliche Übersteigen des Seienden im Ganzen durch den Entwurf der Seinsverfassung alles Seienden«. Dieser Entwurf vollzieht sich »philosophierend in der fra genden Verwunderung über das Sein«, – oder, wie Fink es vorziehen möchte, »in einer ontologischen Erfahrung«. Indem er sich umsichtig der Frage zuwendet, in welchem Verhältnis die in Heideggers Denken sich so eindrucksvoll zu Wort meldende »ontologische Differenz« zur »kosmologischen Differenz« stehen mag, möchte er den Nachdruck auf den Umstand legen, dass die letztere aus einem Hinterfragen jener »Voraussetzung des Seins« hervorgegangen sei, in der alles natürliche Weltleben grundsätzlich verfangen bleibt. Wenige Jahre später, am 15. September 1952, benutzte Fink die Gelegenheit eines in Muggen brunn privat veranstalteten »Colloquiums über Dialektik«717, um seine eigene philosophische Position nochmals klarzustellen. Im Laufe die ses Colloquiums machte sich bereits jene »grundsätzliche Differenz Für eine meisterhafte Darstellung der Grundlinien dieser Konfrontation zwischen den beiden Philosophen am Leitfaden der Thematik der Physis vgl. Cathrin Nielsen, »Kategorien der Physis. Heidegger und Fink«, in: Welt denken. Annäherungen an die Kosmologie Eugen Finks, hrsg. von Cathrin Nielsen & Hans Rainer Sepp, S. 154–183. Karl Alber, Freiburg/München, 2010. 715 Eugen Fink, Einleitung in die Philosophie, a.a.O.; Eugen Fink, Welt und Endlichkeit, a.a.O.; Eugen Fink, Sein, Wahrheit, Welt (EFGA 6), a.a.O. 716 Zuerst abgedruckt in: Lexis 1 (1948), S. 107–127. Vgl. Eugen Fink, »Philosophie als Überwindung der ›Naivität‹«, in: Nähe und Distanz, S. 98–126. 717 Martin Heidegger, »Colloquium über Dialektik«, hrsg. und mit einem Nachwort versehen von G. van Kerckhoven, in: Hegel Studien XXV, Bouvier, Bonn, 1990, S. 9– 40. 714
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XXIX. Die onto-gonische Dynamik als Zündstoff: Heidegger und Nietzsche
in der Leitfadenauslegung des frühgriechischen Denkens«718 bemerk bar, die während des von Fink und Heidegger gemeinsam veranstal teten »Heraklit-Seminars« aus dem Jahre 1966 ans Tageslicht kam. Auf der Grundlage der heute erschlossenen neuen Quellenma terialien sind wir der Ansicht, dass die Problematik der Ontifika tion bzw. der Individuation einen besonders wertvollen Faden her anreicht, anhand dessen man nicht nur die Entwicklung von Finks Denken nachvollziehen und dabei die innere Kontinuität der von ihm über Jahre hinweg verfolgten Leitgedanken im Auge behalten kann, sondern anhand dessen man sich ebenfalls ein differenziertes Bild machen kann von den Motiven, die bei seinen wiederholten Versuchen, zu Heideggers Denken Stellung zu beziehen, eine Rolle gespielt haben. So stellt Fink in dem im Jahre 1953 mit Heidegger geführten Gespräch die Frage, »ob die Vereinzeltheit des Seienden eben ein ›Urphänomen‹ ist – oder ob es auch der Philosophie unmöglich ist, ›hinter‹ die Vereinzelung zurückzudenken«719. Nach seiner Ansicht habe die Metaphysik dieses Grundproblem bislang »immer am Modell von Urgrund, Wesen, aition, ἀρχὴ gestellt, also auf eine ontologische Ebene zurückverlegt«. Es scheint Fink jedoch »fraglich, ob das Problem nicht erst dann dringlich , wenn Sein = Erscheinen (im Sinne von Aufgehen im Offenen) gedacht« und damit auf eine ontogonische Ebene gebracht wird. Wie Fink berichtet, »wurde Heidegger verlegen und sagte, er verstünde nicht, worauf ich hinauswolle«720. Das in den vorangegangenen Paragraphen Dar gelegte bestärkt uns in der Überzeugung, dass es die Frage nach dem »Weltaufgang« war, die Fink im Auge hatte – d.h. das sich im Problem des Verhältnisses von »An-sich-sein und Für-uns-sein« bzw. von »Wesen und Erscheinung« meldende Grundproblem einer kosmolo gischen Onto-gonie. Wie er Heidegger erklärlich machen wollte, sei mit dem »Individuationsproblem« eben »die Frage« gemeint, »ob das Sein (als das nur verschwindende Anwesen in allem Anwesenden) wesenhaft durch die Macht des Negativen, als eine ihm entschwin dende Macht, bestimmt sei, demnach das Seiende abgerissen und abgetrennt, unterschieden und bestimmt sei – unterschieden und versammelt – oder ob dies nur für den Tag des Erscheinens gelte und nicht für die Nacht des Seins, in der in der Tat ›alle Kühe schwarz 718 719 720
Ebd., S. 36–37. Eugen Fink, Existenz und Coexistenz (EFGA 16), S. 967f. Ebd.
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XXIX. Die onto-gonische Dynamik als Zündstoff: Heidegger und Nietzsche
sind‹«721. Als Heidegger ihm daraufhin antwortete, »es gebe für ihn kein Individuationsproblem; man dürfe das ›Erscheinen‹ nicht ›zu negativ‹ denken, die ›Welt‹ sei das einzige ›Individuum‹«, erwiderte Fink, dass er diese Antwort »erwartet hätte«. Wie aus den in der »phänomenologischen Werkstatt« aufbewahrten Notizen eindeutig hervorgeht, war Fink bereits Anfang der vierziger Jahre zu der Über zeugung gekommen, dass Heidegger »gegen die Gradualität des Seins des Seienden« »unempfindlich« war722. Und eben das Geschehen der Seinswerdung und der Vereinzelung, wonach ein Wesen in die Erscheinung tritt und sich dem Werden preisgibt, möchte Fink – auf dem Hintergrund einer »konstitutiven« Dynamik, die zwischen »Ursprung und Entsprungenheit«723 obwaltet und die demnach die Bewegung vom »An-sich-sein« zum »Für-uns-sein«724 vorantreibt – als ein prozessuales und emanatives verstanden wissen. Nach seiner Meinung vollziehe es sich in der Gestalt einer Ent-»Äußerung«. Noch ein weiteres Mal werden wir hier an den bereits herbeizitierten Spruch Hegels erinnert, dass »die Kraft des Geistes nur so groß als ihre Äußerung «. Denn tatsächlich bemühte Fink sich darum, die Natur der »konstitutiven« Dynamik, den Grundcharakter des »her vorbringenden« Geschehens, dadurch in den Griff zu bekommen, dass er sich auf Hegel bezog, wie aus folgendem Zitat hervorgeht: »Hegel verkennt nicht die Endlichkeit, aber er kämpft gegen ihre Fixation. Endlichkeit und Unendlichkeit = als ein Verhältnis der Kraft begriffen: das Endliche als Verendlichung des Unendlichen, als Selbstbegren zung im Außer-sich-gehen, im Sich-anders-werden. Das Wesen ist ver-wesend, d.i. sich äußernd, außer-sich-gehend«725. Das sich auf der Ebene der Phänomenalität zeigende Seiende ist somit nach seiner Meinung »nicht nur unverborgen« – es ist außerdem »außer sich, d.h. in der auf das Wesen hinzielenden Erscheinung gegeben«726. Zum »Wesen« gehört »wesentlich« ein konstitutives Werden, das in dem Vorgang seines durch die »Kraft« vermittelten Hervorkommens bestehe. In diesem Hervorkommen ist es allerdings »ver-wesend, d.i. sich äußernd, außer-sich-gehend«727. Was Heidegger nicht durch 721 722 723 724 725 726 727
Ebd. EFGA 3.4, Z- XXVI/83a. EFGA 3.2, Z-XV/26b, S. 277. EFGA 3.4, Z-XXIX/113a. Ebd., Z-XXVIII/21b. Ebd., Z-XXIX/200a–b. Ebd., Z-XXVIII/21b.
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schaut, ist eben dieser Charakter des Werdens, diese »konstitutive« Dynamik, wodurch das Seiende »von sich aus ›sich aussetzt‹, aus sei ner verborgenen Tiefe ›hervorkommt‹ und sich in die Erscheinung«728 entlässt. Denn bei Heidegger – wie übrigens auch bei Husserl – wird nach Finks Einschätzung die Erscheinung ausschließlich im Modus des »Für-uns-sein des Seienden« betrachtet und nicht in Zusammenhang mit der onto-gonischen Dynamik des »Außersich-gehens des Seienden selber« aus seinem An-sich-sein heraus gedacht. Und genau in diesem Sinne ist alles Sein – so lautet Finks me-ontisch-onto-gonischer Leitgedanke – immer das Resultat eines Werdens, d.h. das konstitutive Ergebnis eines ontifizierenden und individuierenden Werdens – aber nicht eines ›seienden‹ Werdens, sondern eines Werdens, das zum ›Sein‹ führt729. Dieses Werden in seiner me-ontischen Natur zur begrifflichen Explikation zu bringen wird die Aufgabe sein, die Fink einer erst im weiteren Verfolg zum Tra gen kommenden »Metaphysik des Welt-Spiels« anvertrauen mochte. Es ist somit nicht verwunderlich, dass er in seinem Haupt werk »Spiel als Weltsymbol« die Problematik der Seinswerdung und der universellen Vereinzelung alles Seienden erneut ins Gespräch gebracht hat. Dort möchte er zunächst auf die generelle Weltverges senheit hinweisen, in der »die Endlichkeit der Dinge wie ein Fund , den man unmittelbar machen und an jedem belie bigen Ding auch wieder exemplifizieren kann«, wodurch »gerade die Herkunft der Endlichkeit der endlichen Dinge aus dem Walten der Welt verdeckt und in Vergessenheit «730. Dann aber Ebd., Z-XXIX/200a–b. Vgl. »das Sein als Gewordenes des konstitutiven Werdens« (EFGA 3.2, Z-XI/77a, S. 168); »Das ›Sein‹ ist abstraktes Moment des spekulativen Werdens der Weltkon stitution: die Weltbefangenheit« (Ebd., Z-XV/38b, S. 282); »Alles Sein ist konstitutivmeontisches Resultat« (Ebd., Z-IX/IX/2a, S. 92); »Zur These: Alles Sein und alles Seiende: die Welt ist prinzipiell Resultat. Dabei ist die Idee eines ontischen Resultates als eines Produktes von einem anderen Seienden grundsätzlich abzuwehren. Meon tisches Produkt« (Ebd., Z-IX/XVII/5b, S. 98); »Die Aufgabe der Philosophie ist es, aus dem Begriff des Absoluten den Begriff des Seins auszutreiben. Sein ist Resultat. Sein ist transzendentale Oberfläche. Die Phänomenologie ist davon weit entfernt, bloße Theorie des Seins (Ontologie) zu sein. Und doch ist dies eine ins Ganze treffende Charakteristik. Τί τὸ ὄν? Konstitutives Resultat« (Ebd., Z-IX/49b, S. 108); »Die Ent nichtung des Nichts, die zum Sein führt, nennt Hegel das ›Werden‹. Werden ist für ihn ein spekulativer Begriff und bedeutet nicht ein seiendes Werden, ein Geschehnis im gewöhnlichen Sinne« (Ebd., Z-XV/47a-b, S. 284). 730 Eugen Fink, Existenz und Coexistenz (EFGA 16), a.a.O., S. 74. 728
729
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möchte er darauf aufmerksam machen, dass »Endlichkeit sozusagen selber zu einem ›Phänomen‹, zu einem Datum an den Dingen . Das ›Sein‹ wird gedeutet als Sein von Endlich-Seiendem, das Seins problem verliert die Spannung gegen das Un-Endliche«. »Bestenfalls wird ein bestimmtes höchstes Seiendes, der Gott oder das Absolute, als Inhaber von ›un-endlichem Sein‹ proklamiert. Und das geschieht umso mehr«, so beschloss er seine Ausführungen, »desto mehr die Frage zurücktritt (oder besser: überhaupt nicht gestellt wird), wie die Einzeldinge in das Weltganze heimgehören. Und solange diese Frage unterbleibt, kann die Endlichkeit der Dinge nicht zurückgedacht werden in den Individuationsprozess der Welt.« »Die Welt waltet als die Macht der universellen Individuation«731. Das kosmische Spiel, das Welt-Spiel, dessen Symbol das menschliche Spiel ist, ist das konstitu tive Spiel der Individuation, d.h. des Prozesses der Verweltlichung und Verendlichung. Es ist der onto-gonische Prozess des Weltwerdens, »die bewegende Macht des Alls, die hervorbringt und vernichtet, die zeugt und tötet, die höchste Lust und tiefstes Leid vereint«732. Indem es »allen Vergang, alles Aufgehen und Untergehen der endli chen Dinge steuert«733, gewinnt in seinem Gespiele »jedes Seiende überhaupt Ort und Weile, Aufgang und Untergang, Wachstum und Schwund, Glanz und Verschattung«. Denn, wie vorher Heraklit und Nietzsche, so möchte auch Fink sich den kosmogonischen Prozess der universellen Vereinzelung dadurch vergegenwärtigen, dass er ihn »spekulativ«, d.h. als »im Bilde des Spiels«734 sich spiegelnd, in den Blick nahm. An dieser Stelle ist es angebracht, darauf hinzuweisen, wie bedeutsam die vielen Verweise, nicht etwa nur auf Hegel, sondern ebenfalls auf Nietzsche sind, die im Laufe der in den Teilbänden 3 und 4 der »Phänomenologischen Werkstatt« angesammelten Arbeitsnotizen von Finks Hand auftauchen. Neben Hegel ist Nietzsche zweifelsohne die andere große Leitfigur, die Finks denkerische Bemühungen in diesen Jahren nachhaltig beeinflusst hat. Herold einer neuen Seinsund Welterfahrung, einer neuen »ontologischen Erfahrung«, ist er gerade deshalb, weil er mit der »kosmischen Metapher des Spiels« seine Blicke auf die Stellung des Menschen als eines »Mitspieler 731 732 733 734
Eugen Fink, Spiel als Weltsymbol (EFGA 7), a.a.O., S. 74, 222. Ebd., S. 75. Ebd., S. 71. Ebd.
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XXIX. Die onto-gonische Dynamik als Zündstoff: Heidegger und Nietzsche
im kosmischen Spiel« gerichtet hat. Wo Nietzsche Sein und Werden als »Spiel« begreift, steht er, so meinte Fink, nicht mehr unter der Vorherrschaft der Ontologie. Diese hat seit den Tagen Parmenides‘ die »Ausschließung des Nichts aus dem Sein« bewirkt und mit ihr »die Weltvergessenheit des Denkens«735 angestiftet. Es ist bemer kenswert, wie die Gestalt Nietzsches Fink auf dem Weg begleitete, der ihn von der bei Husserl verbrachten Assistenzzeit736 zu seiner Freiburger Lehrtätigkeit geführt hat – die er ausgerechnet mit einer Probevorlesung über »Nietzsches Metaphysik des Spiels«737 begann. Und nicht zufällig fand die Veröffentlichung seiner Nietzsche-Inter pretation im Jahre 1960738 gleichzeitig mit dem Erscheinen von »Spiel als Weltsymbol« statt.
735 »Zum Problem der Ontologie« bzw. zur Ausklammerung des Werdens der »Welt« aus dem ihr zufolge ontologisch-statisch gedachten Bereich des Seins und zum darauffolgenden »tiefen Einschnitt zwischen dem Welt-Denken der Jonier und dem Seins-Denken der Eleaten« vgl. Finks paradigmatische Vorlesung von 1951 »Zur ontologischen Frühgeschichte von Raum – Zeit – Bewegung« (Nijhoff, Den Haag, 1957). 736 Fink befasste sich ungefähr seit 1935 mit dem Projekt einer Nietzsche-Interpreta tion, die er mit dem Titel »Apologie des Lebens« versah und die von dem Grundgedan ken geleitet war, dass Nietzsches Philosophie am Leitfaden der Metaphysik des Spiels gedeutet werden solle. Vgl. EFGA 3.3, OH-II/48–49. 737 Eugen Fink, »Nietzsches Metaphysik des Spiels«, in: Cathrin Nielsen, Hans Rai ner Sepp. (Hrsg.), Welt denken. Annäherungen an die Kosmologie Eugen Finks, a.a.O., S. 25–37. 738 Eugen Fink, Nietzsches Philosophie, Kohlhammer, Stuttgart, 1960.
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XXX. Eine neue Welt- und Seinsnähe: die »Heimsuchung« der »Eremitie«
In Anlehnung an den Titel, den Fink für einen Aufsatz über Nietzsche gewählt hat739, könnte man sagen, dass »Finks neue Welterfahrung« sich zusehends in einer Schrift herauskristallisierte, die auf einen Aufenthalt im Hochgebirge zurückging, der im September 1935 stattgefunden hat740. Die zahlreichen Annotationen zu der geplanten Schrift: »Hütte im Oytal« sind ein beredtes Zeugnis dafür, dass er sich mit ungewöhnlicher Energie und Geisteskraft aus einem philosophischen Ambiente zu befreien suchte, das durch die unbe strittene Vormachtstellung der Phänomenologie Husserls und der Existenzialanalytik Heideggers geprägt wurde741. Nirgendwo anders verdichteten sich die verschiedenen Grundmotive seines Denkens, die er bis dahin entwickelt hatte: das »Hinausgehen über die reduktive Gegebenheit«742, die Gestaltung einer Transzendentalphilosophie im Sinne eines »Überfragen des Seins im Hineinfragen in die Spiel räume der transzendentalen Bezüge«743, die Betroffenheit durch das Welträtsel in der Form einer Offenheit für das »Geheimnis der Welt 739 Eugen Fink, »Nietzsches neue Welterfahrung«. In: Nietzsche aujourd'hui. Bd. 2, Paris 1973 (Publications du Centre culturel de Cérisy-la-Salle), S. 345–364. – Wie derabgedruckt in: Alfredo Guzzoni (Hrsg.), 90 Jahre philosophische Nietzsche-Rezep tion, Hain, Königstein, 1979, S. 126–139. Bereits in seinem Aufsatz aus dem Jahre 1949 »Zum Problem der ontologischen Erfahrung« wies Fink ausdrücklich darauf hin, dass »bei Kierkegaard und vor allem bei Nietzsche sich eine neue Ursprünglichkeit : sie sind Herolde einer neuen ontologischen Erfahrung«, a.a.O., S. 128 – Vgl. Actas del Primer Congreso Nacional de Filosofia, a.a.O., S. 734. 740 Vgl. vorher Paragraphen XI; vgl. auch EFGA 3.4, Z-XXVI/45a, wo Fink die Schrift »Hütte im Oytal« auch »Bergeremit« oder »Erémitage dans la montagne« nennt. 741 Die Bedeutung Nietzsches für Finks Philosophie wird vor allem von Hans Ebeling hervorgehoben, indem er feststellt, dass Nietzsche die von Fink angestrebte »Befrei ung von Heidegger« darstellt und gleichsam als okkulter Mentor gegen Heidegger fungiert. Vgl. Hans Ebeling, »Nietzsche bei Heidegger und Fink«, in: Perspektiven der Philosophie 22 (1996), S. 59–76. 742 Eugen Fink, VI. Cartesianische Meditation. 1. Teil, a.a.O., S. 7. 743 EFGA 3.3, OH-VII/50.
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schöpfung«744, zu einer derart sich zuspitzenden, eingreifenden philo sophischen Aktion, zu einer einzigen, mächtig aufwallenden »Lebens bewegung«745 als in den Aufzeichnungen, die aus der Ermitage in den Allgäuer Alpen in der Nähe von Oberstdorf hervorgegangen sind. Was sich hier abzuzeichnen begann, war in Finks eigenen Worten: ein »eigentümliche Wissen (kosmologisch-kosmogonischer Art)«746. Die während des Aufenthaltes im Schatten des »Großen Wilden« gemachte Grunderfahrung, an die er nachher in den in Dessau und Bernburg gehaltenen Vorträgen nochmals erinnerte, war die eines »Griff des Menschen nach sich selbst«, einer »Selbstbemächti gung des Lebens«747. Das »Ziel der Philosophie«748 sah Fink nunmehr in jener »Selbstzurücknahme des Lebens aus den ontischen Selbst entfremdungen«, mit der die in der Einsamkeit des Hochgebirges verbrachten Tage ihn zunächst beschenkt hatten. Mit der Befreiung aus der Gefangenheit, die er als eine »Benommenheit vom Seienden«, als eine »Befangenheit in der Welt«749 erfuhr, wurde ihm eine »ver sucherische Existenzform« zuteil. »Die Möglichkeit«, so notierte er sich in seinen Vorbereitungen zum Dessauer Vortrag, »vom ontischen Menschen zum me-ontischen Geist vorzudringen in der Selbstbe mächtigung des Lebens, ermöglicht erst die Distanz zum Sein, das Sich-Heraushalten, die me-ontische Epoché«750. Man kann sagen, dass das Leben sich hier in einer tiefgreifenden Verwandlung aus dem »Außer-sich-geraten-Sein«751 zurückholt, in dem es sich zuvor in einer »Weltverlorenheit«, in einer »Weltbenommenheit« von sich selbst ent-fremdet hat. Insofern handelt es sich tatsächlich um eine Aktion, die durch eine grundsätzliche Nachträglichkeit geprägt ist, da sie der ursprünglichen Entfernung nachkommt, mit der das Leben sich schon im vorweg von sich selbst distanziert hat752. Die philosophische
EFGA 3.2, Z-VII/XXI/10a, S. 71. EFGA 3.3, OH-VII/14–15. 746 Ebd., OH-IV/3. 747 Fink, »Die Idee der Transzendentalphilosophie bei Kant und in der Phänomeno logie«, a.a.O., S. 44. 748 EFGA 3.3, Z-XVI/1b. 749 Ebd., OH-VII/23. 750 Ebd., Z-XVII/17b. 751 Ebd. 752 Die Bewegung des »Außer-sich-geraten-Seins« entspricht nämlich jener Grund beweglichkeit des Lebens, jener ursprünglichen κίνησις τοῦ ßίου, die Fink in der »VI Cartesianischen Meditation« auch die »innerste Lebenstendenz des transzendentalen 744 745
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XXX. Eine neue Welt- und Seinsnähe: die »Heimsuchung« der »Eremitie«
Bestrebung, die in der »me-ontischen Epoché«753 erwacht, bildet somit einen Gegenzug gegen die ursprüngliche Selbstentfremdung und Selbstverlorenheit des Lebens. Die Wiederherstellung einer Lebensinnigkeit, nach der dieser seltsame »Griff nach sich selbst« des Lebens trachtet, bezeichnete Fink als eine »Heimsuchung«. Sie sollte es dem Menschen ermöglichen, in eine ursprüngliche Seinsnähe – jenseits der »ontischen Selbstentfremdungen« – einzuziehen und in diesem Haus des Seins zu wohnen. So paradox es einem zunächst vorkommen mag, enthält diese Figur einer denkenden »Selbstbemächtigung des Lebens« auch eine implizite Kritik an der künstlichen Trennung und Gegenüberstellung von »Mensch und Leben«, die das charakteristische Merkmal einer Reflexionsphilosophie darstellt. Denn diese erzeugt eine unüber brückbare Kluft zwischen dem denkenden Subjekt und dem Objekt seines Reflektierens. Unter ihren Händen wird das Leben zu einem Ding unter anderen vergegenständlicht. Als Fink erklärlich machen möchte, was ihm »sichtlich geworden an der ›Philosophie‹, die in Leben vielleicht liegen mag: 1. Eine Metaphysik des Spieles« – denn »das Wesen = das Spiel«754 –, »2. Die ›Idee der Transzendentalphilosophie‹ als Überfragen des Seins im Hineinfra gen in die Spielräume der ›transzendentalen Bezüge‹«, fügte er in einem Atemzug hinzu: »3. ›Ontologie‹ und ›Reflexionsphilosophie‹ in kritischer Beleuchtung (Distanz zu Husserl und Heidegger)«755. In der von ihm beabsichtigten Wiedergewinnung einer ursprüngli chen Welt- und Seinsnähe dank des Vollzuges einer »me-ontischen Epoché« spielte zweifellos auch ein Denkmotiv eine Rolle, das er Nietzsche verdankte: nämlich der gedankenvolle Aufruf, »der Erde treu zu bleiben« in dem Akt eines frei gewählten »Auszugs aus der Öffentlichkeit des Lebens«, einer »freiwilligen Verbannung«756. Das »Sich-Zurückholen aus der das Leben selbst verdeckenden Öffentlich keit, Sich-Aussetzen in die Unsicherheit und bange Ungewissheit einer einsamen Lebenserfahrung« 757 betrachtete Fink nicht als »eine Abkehr«, sondern »recht eigentlich eine Zukehr zu den Dingen, Lebens: [die] Weltverwirklichung« (S. 12) bzw. die »teleologische Tendenz alles kon stituierenden Lebens: die Tendenz auf das Sein« (S. 23) genannt hat. 753 EFGA 3.3, Z-XVII/17b. 754 Ebd., OH-VI/2. 755 Ebd., OH-VII/50. 756 EFGA 3.4, Eremitie/2–3. 757 Ebd., Eremitie/2.
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XXX. Eine neue Welt- und Seinsnähe: die »Heimsuchung« der »Eremitie«
noch diesseits ihres möglichen ›Nutzens‹, zu Wind, Wolke, Stern, zu Tier und Mitmensch, Mann, Frau, Kind, zu Dämonen, Engeln und Gott; und so ist sie wahrhaft eine Rückkehr, eine Rückkehr ins heile, ins unversehrte Leben«758. Diese »Heimsuchung des Menschen in das Wesen des Seienden, das In-die-Nähe-kommen-wollen zum eigentlich-Seienden, zu dem ›seiendsten Seienden‹«759 bildet das Hauptthema des am Schluss des vierten Teilbandes der »Werkstatt«-Ausgabe erstmals veröffent lichten Typoskripts »Eremitie (Aphorismen aus einem Kriegstagebuch, 1940–1944)«, das Fink vermutlich im Jahre 1945 erstellt hat. Eine in der Mappe Z-XXIX aufbewahrte Notiz enthält das Leitmotiv dieser Tagebuchaufzeichnungen: »Als Thema in Eremit das Sich-Öffnen des Menschen für das An-sich-sein des Seienden: ›Natur‹ als die ›allum fangende Φύσις‹. Freiheit als ›Erleiden‹ begriffen! Freiheit als das Aufgerissen-werden der sich schützenden Kreatur durch die ›Mächte‹ des Schönen, Heiligen, Wahren. Die Zeitsituation der ›Sophistik‹! Die ›Wendung zum Menschen‹! Der Mensch dreht sich um sich selbst (sucht Schutz in seinen ›Institutionen‹). Das ›recommencement‹ der Phänomenologie ist nur eine Vorbereitung der philosophischen Erkenntnis, d.i. eine Ursprünglichkeit des unverdeckten Seins inmit ten des Seienden. Aber jetzt beginnt erst die Bildung der philosophi schen Begriffe, beginnt erst die Dialektik!«760 Mit Rücksicht auf das »Verhältnis zum Staat« bedeutete die von Fink frei gewählte Eremitie eine »Apolitie, die den Staat, dieses den bildenden Menschen zumeist selber verschlingende Menschengebilde, von seinem Lebensursprung her«761 in Frage stellen und einer Prüfung unterziehen möchte. Was »das Verhältnis zur Kirche« anbelangt, so sei sie »ein Gottsuchen, das Harren auf die Stimme aus dem Dornbusch«762, die dem Men schen seinen Lebensauftrag zuerteilt. In Anbetracht ihres inneren Verhältnisses zur Philosophie sollte in der Eremitie die Grundhaltung des »Lathebiosas« zum Ausdruck kommen – jene Attitüde, die der Maxime »Lebe im Geheimnis!« gehorchen möchte. Denn in dieser Haltung sollte das dialektische »Gespräch der Seele über das Sein«763 758 759 760 761 762 763
Ebd., Eremitie/3. Ebd., Z-XXVIII/35a. Ebd., Z-XXIX/129a. Ebd., Eremitie/5. Ebd., Eremitie/6. Ebd., Z-XXIX/111b.
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XXX. Eine neue Welt- und Seinsnähe: die »Heimsuchung« der »Eremitie«
geführt werden. Dieses Gespräch wird beschwingt und genährt durch das nie zur Ruhe kommende »Heimweh der Seele nach dem ent behrten Eigentlich-Seienden«764 – durch jene »Sehnsucht«, die alle »ontologische Erfahrung« grundwesentlich durchzieht. Es ist klar, dass den Gedanken, die Fink in der »Eremitie« nachhing, das Erlebnis einer »positiven Einsamkeit«765 zugrunde lag, aus dem in ihm eine Lebenslehre emporquoll und ein Existenz bild hervorging, anhand denen er einen Blick hinter die »Fassaden der öffentlichen Lebensdeutung« werfen möchte. »Im Hochgebirge« wurde der »Eremit« von der »großen Sehnsucht« ergriffen; dort bekam er zum ersten Male das »ewigen Rätsel des Menschen« zu Gesicht766. Wie dereinst Nietzsche in Sils Maria »6000 Fuß über dem Meere und viel höher über allen menschlichen Dingen«767 von den Gedanken befallen worden war, aus denen die Gestalt »Zarathustras« hervortrat, so verführten die »alpinen Gedanken«, die ihn in der Oytaler Hütte heimgesucht hatten, Fink dazu, das gesamte Widerfah ren der Menschheit in ihrer bewegten Geschichte in Augenschein zu nehmen. Und da kam ihm »die erste Hälfte des XX.ten Jahrhunderts« als ein Zeitalter entgegen, in dem er nur »die Folge der modernen Amputation des Lebens, des anthropozentrischen ›Drehwurms‹, der furchtbaren Entgötterung, der Seins- und Gottesverlassenheit«768 gewahren konnte. Man kann die vielen Anspielungen auf Nietz sches beispielhafte Gedankenführung, die im Zuge der »Eremitie« auftauchen769, nicht überhören. Dennoch antwortete Fink auf die Faszination, die von Nietzsches Denken auf ihn ausstrahlte, mit einer durchaus originellen philosophischen Geste: »Nicht seine hin tergründig-abgründige Psychologie, nicht seine Ideale entwerfende Passion, nicht seine Kritik der bisherigen höchsten Werte, seine Bekämpfung der modernen Ideen, nicht sein Nihilismus und seine Ebd., Z-XXIX/53a. Ebd., Z-XXVI/67b. 766 Ebd., Z-XXVI/39a. 767 Nach dem berühmten Ausdruck Friedrich Nietzsches, der aus der Einsamkeit des Hochtals von Sils Maria an seinen Freund Peter Gast (Heinrich Köselitz) schrieb: »Dieses Engadin ist die Geburtsstätte meines Zarathustra. Ich fand eben noch die erste Skizze der in ihm verbundenen Gedanken; darunter steht ,Anfang August 1881 in SilsMaria, 6000 Fuß über dem Meere und viel höher über allen menschlichen Dingen‘«. Vgl. Friedrich Nietzsche, Nietzsche Briefe Kritische Gesamtausgabe. Bd. III/1, S. 444. 768 EFGA 3.4, Eremitie/7. 769 Vgl. ebd., Eremitie/37, 38, 57, 64, 72, 73, 74, 78, 86. 764
765
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XXX. Eine neue Welt- und Seinsnähe: die »Heimsuchung« der »Eremitie«
Überwindung, nicht sein heroisches Ideal, auch nicht seine sublime Stunde des einsamsten Glücks« – »nein, allein seine Metaphysik des Spiels«770 möchte er für sein eigenes Denken in Anspruch nehmen. Was Nietzsches Überwindungsversuch des europäischen Nihilismus seine »große Fragwürdigkeit« verlieh, ja zu einem »Verhängnis über Europa« werden ließ und uns bis zum heutigen Tag vor ein schier unlösbares »Rätsel« stellte, war die ungeheure Gleichung »Sein = Spiel«, in der Nietzsche, wie vor ihm schon Heraklit, seine metaphy sisch-ontologische Grundthese ausgesprochen hatte.771
Ebd., Eremitie/73. Jedoch blieb – so Fink – Nietzsches Metaphysik des Spiels »nur eine metaphysi sche Intuition. Sein Unvermögen zum Begriff hat sowohl eine phänomenale Analyse des ontischen Modells des Spiels, als auch eine begriffliche Entfaltung seines ontolo gischen Sinnes verhindert« (Eugen Fink, »Nietzsches Metaphysik des Spiels«, a.a.O., S. 37). Auf ähnliche Weise äußert er sich im Aufsatz zum »Problem der ontologischen Erfahrung«: »Bei Kierkegaard und vor allem bei Nietzsche meldet sich eine neue Ursprünglichkeit; sie sind Herolde einer neuen ontologischen Erfahrung, wenngleich sie ganz unvermögend bleiben, ihre Ahnung des Seins im Begriff aufzuprägen« (Fink, »Zum Problem der ontologischen Erfahrung«, a.a.O., S. 128). Eine Phänomenologie des Spiels und Analyse seines ontologischen Sinnes hat Fink bekanntlich auch in seinem Buch Oase des Glücks (1957) (vgl. Eugen Fink, Spiel als Weltsymbol, EFGA 7, a.a.O., S. 11–29) vorgelegt. 770 771
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XXXI. Ontologische Erfahrung als apriorische Öffnung der Weltwirklichkeit
Einen überraschenden Fund stellt das umfangreiche Material zu einer Schrift über »Ontologische Erfahrung« dar, das im vierten Teilband der »Phänomenologischen Werkstatt« dem Publikum zum ersten Male zugänglich wird. Zu dem Zeitpunkt, an dem er mit der Abfassung des »Traktats über phänomenologische Forschung« befasst war, teilte Fink seinem amerikanischen Kollegen Marvin Farber mit, dass diese Arbeit »die erste geistig selbständige Schrift nach den langen Lehrjahren bei Husserl«772 zu werden versprach. Bislang konnte niemand vermuten, dass mehrere bedeutenden Schriften und Werke von seiner Hand, so der Vortrag »Vom Wesen der ontologischen Erfahrung«, den Fink im April 1949 auf dem I. Nationalen Kongress für Philosophie in Men doza hielt773, der Text der Vorlesung des WS. 1946/46 mit der Auf schrift »Philosophie des Geistes«774 – in dem eine Theorie des onto logischen Entwurfs skizziert wird – sowie der Text der Vorlesung des WS. 1950/51 über »Sein und Mensch. Vom Wesen der ontologischen Erfahrung«775 auf dieses Schriftprojekt zurückgehen, dessen Anfänge dank der geleisteten Editionsarbeit heute bis in die frühen dreißiger Jahre zurückverfolgt werden können. Die in der Hauptsache in der Mappe Z-XXIX aufbewahrten Arbeitsnotizen zu diesem Projekt umspannen einen Zeitraum, der von 1938 bis Ende 1945 reicht. Aus zahlreichen Notizen, die sich in der Mappe Z-XXX befinden, geht außerdem hervor, dass viele Arbeitsmaterialien, die ursprünglich dem »Traktat über phänomenologische Forschung« zugedacht worden waren, dessen Originalmanuskript infolge der Kriegsereignisse des Sommers 1940 leider verloren gegangen war, vermutlich von Fink Finks Brief an Farber vom 30. III. 1940. Eugen Fink, »Zum Problem der ontologischen Erfahrung«, a.a.O. 774 Eugen Fink, Philosophie des Geistes. Hrsg. von F.-A. Schwarz. Königshausen und Neumann, Würzburg, 1994. 775 Eugen Fink, Sein und Mensch: vom Wesen der ontologischen Erfahrung. Hrsg. von E. Schütz und F.-A. Schwarz, Karl Alber, Freiburg/München, 2004. 772
773
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XXXI. Ontologische Erfahrung als apriorische Öffnung der Weltwirklichkeit
während der Kriegsjahre in dieses Schriftprojekt über »ontologische Erfahrung« hinübergeführt und eingegliedert worden sind. So taucht der »Traktat« mehrmals als Untertitel zu der Schrift über »Ontologi sche Erfahrung« auf, deren zentraler Themenbereich laut Finks Angabe »die Exposition des Problems der ›ontologischen Erfahrung‹ – in einer Erörterung der impliziten ontologischen Setzungen der Phänomenologie«776 sein sollte. »Im Aufweis der Grenze der phäno menologischen Analyse« sollte deren – insgeheime – »Führung durch die spekulative Besinnung« an den Tag gebracht werden. Und diese besteht ihrem Wesen nach im »Entwurf des Seins des Seienden«, wie er »im Dialog des menschlichen Geistes mit sich selbst« zustande kommt. Aus der Sonderstellung, die der Mensch im Kosmos ein nimmt, hervorgehend, wird dieser »ontologische Entwurf« »durch die ›Ahnung der Idee‹ des ›am meisten Seienden‹ erleuchtet«. Er blüht somit einzig nur in einem »Entbehrungswissen vom ›am meisten Seienden‹« auf, in dem sich die tiefe »Not des endlichen Geistes«777 bekundet. Mit den umfangreichen Arbeitsmaterialen, die Fink diesem Schriftprojekt in den Kriegsjahren zugetragen hat, wird uns zum ers ten Male der missing link herangereicht, der es uns gestattet, die innere Gedankenentwicklung nachzuvollziehen, die Fink von der frühen Konzeption einer »me-ontischen Philosophie des absoluten Geistes«, wie sie aus der kritischen Auseinandersetzung mit der phänomeno logischen Transzendentalphilosophie seines Lehrers herauswuchs, und von dem darauffolgenden Aufriss der Idee der Philosophie als einer »Selbstbemächtigung des Lebens«, die die Frucht einer inneren »Eremitie« war, die durch die Kriegszeit keineswegs unterbrochen wurde, zu den Schriften geführt hat, die mit seiner Lehrtätigkeit an der Freiburger Universität Schritt hielten. Bereits in der ersten Hälfte der dreißiger Jahre mehren sich die Arbeitsnotizen, die darauf hindeuten, dass Fink den Grundge danken der phänomenologischen Reduktion mit Hegels Begriff der Erfahrung in Verbindung gebracht hat. Im Rahmen der von ihm skizzierten »Me-ontik des absoluten Geistes« deutete Fink die trans zendental-phänomenologische Reduktion als eine »Aufhebung« der natürlichen Einstellung, d.h. der Naivität, in der das weltgewohnte und weltbenommene Leben des Menschen verläuft – der »Welt
776 777
Vgl. EFGA 3.4, Z-XXIX/ 88a, 213b; 298a; 299a-b; 318a-b. Ebd., Z-XXIX/224a.
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XXXI. Ontologische Erfahrung als apriorische Öffnung der Weltwirklichkeit
vertrautheit im Ganzen«778, in der es sich beständig aufhält. So heißt es etwa am Anfang der »VI. Cartesianischen Meditation«: »Die Selbstbesinnung des Menschen wird erst dann zu einem Weg in die transzendentale Einstellung, wenn sie ›radikalisiert‹ wird in einem Sinne, wie es eben in der natürlichen Einstellung nicht möglich ist: nämlich radikalisiert zur Aufhebung der natürlichen Einstellung«779. Diese Radikalisierung geschieht im Vollzug der Reduktion, die die »Aufhebung der Befangenheit und Naivität darstellt, welche die Verschlossenheit der natürlichen Einstellung gegen die transzenden tale Ursprungsdimension ausmachen«780. Mit dem Einstieg in die Ursprungsdimension eröffnet sich eine bisher ungeahnte, neuartige transzendentale »theoretische Erfahrung«, die »gerade die Idee des Seins transzendiert«781 und »die konstituierenden Aufbauprozesse aus dem ihnen eigenen Zustand des ›Vorseins‹ «782. Was die phänomenologische Erfahrung somit auszeichnet ist ihre »mit keiner weltlich vorgegebenen Weise von Produktivität vergleichbare« Schöpferkraft. Von dieser bot nach Finks Ansicht Hegels Begriff der »spekulativen Erkenntnis« »eine echte Vorahnung«783. Ganz im Sinne dieser ersten Andeutungen, die im Text der »VI. Cartesiani schen Meditation« auftauchen, führt Fink in seinen frühen Interpre tationsversuchen zu Hegels »Phänomenologie des Geistes«784 aus: »Das Entscheidende ist an der Phänomenologie des Geistes als der Erfahrung, die das Bewusstsein mit sich macht, die Aufhebung von Eugen Fink, VI. Cartesianische Meditation. Teil 1: Die Idee einer transzendentalen Methodenlehre, a.a.O., S. 33. 779 Ebd., S. 35–36. 780 Ebd., S. 149. 781 Ebd., S. 84. 782 Ebd., S. 85. 783 Ebd., S. 86. 784 Dank der vor kurzer Zeit erschienenen Bände 3.3. und 3.4. der »Werkstatt«-Aus gabe ist es möglich, von Finks früher Auseinandersetzung mit der Philosophie Hegels ein genaues und nahezu vollständiges Bild zu gewinnen. Vgl. EFGA 3.2, Z-VIII (Finks Notizen zum im Wintersemester 1930/31 veranstalteten »Japaner-Seminar« über Hegels Vorrede zur »Phänomenologie des Geistes«); EFGA 3.3., Z-XXIV und die dieser Mappe zugeordnete »Beilage I« (Finks Versuch einer Auslegung von Hegels »Phänomenologie des Geistes«); EFGA 3.4, Z-XXX (Notizen zum »Traktat über phänomenologische Forschung«) und Z-XXIX (Materialien zu »Ontologische Erfahrung«, 1939). Vgl. auch Eugen Fink, Hegel. Phänomenologische Interpretationen der »Phänomenologie des Geistes«, hrsg. von Jann Holl, Klostermann, Frankfurt am Main, 1977. Diesem Buch liegen Finks Vorlesungen über Hegels »Phänomenologie des Geistes« vom WS 1948/49 und vom WS 1966/67 bis SS 1967 zugrunde. 778
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XXXI. Ontologische Erfahrung als apriorische Öffnung der Weltwirklichkeit
Sein (Gegenstand) und Wissen. Das bedeutet, phänomenologisch interpretiert, die Aufhebung der ›natürlichen Einstellung‹ und ist der Vollzug der phänomenologischen Reduktion. Inwiefern? Die ohnmächtige Entgegengesetztheit von Gegenstand und Erkenntnis (also die ontologische Auffassung der Erkenntnis) ist die natürliche Einstellung.«785 Zusammen mit der reduktiven Grunderfahrung einer »Aufhebung« der vorgängigen Trennung von Erkenntnis und Sein wird auch die These von der »Immanenz der geistigen Gebilde im Leben«, die kennzeichnend ist für eine Reflexionsphilosophie, grund sätzlich hinterfragt. An ihrer Stelle tritt die umwälzende Erkenntnis von der »Immanenz des Lebens im Geist«786 bzw. von der »Immanenz der Idee des Seins im Absoluten«787. Dementsprechend interpretiert Fink Hegels »Phänomenologie des Geistes« in dem Sinne, dass sie die »Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins« sei, die »von der Endlichkeit zu der Unendlichkeit« fortschreitet – die den »Weg zur absoluten Sphäre« geht, den er auch »Ekbase« nennen möchte. Andererseits beschreitet nach seiner Ansicht die »Wissenschaft der Logik« den entgegengesetzten Weg, die »Katabase«, der sie »von der Unendlichkeit zur Endlichkeit«788 leitet. Aus einer Notiz, die um 1939 geschrieben wurde, geht deutlich hervor, wie Fink »Hegels Bestimmung des Begriffs der Erfahrung« zum Leitfaden gewählt hat, um seine eigenen Gedanken zur »ontolo gischen Erfahrung« Form und Gestalt zu geben: »Hegels Bestimmung des Begriffs ›Erfahrung‹ = 1) Erfahren der Nichtigkeit der Entspre chung von Seinsidee und Wissensidee (im Hinblick auf die treiben den Ideen des wahrhaft Seienden und des wahrhaften Wissens); 2) Nichtstehenbleiben beim negativen Resultat (wie die Skepsis); 3) die Negation der vorgängigen Positivität (Benommenheit) ausdrücklich als Negation setzen [›Loslassen‹! Herauskommen aus einer Befangen heit]; 4) Neubestimmung der Seinsidee und Wissensidee, die aber die Negation der vorgängigen Ideen in sich enthält. – Hegels Charakte ristik der ›Erfahrung des Bewusstseins‹ [[= ›ontologische Erfahrung‹ oder ›metaphysische Erfahrung‹ oder ›metaphysische Bewegung‹]] ist eine spekulative Bestimmung des ›Staunens‹! [Husserls Theorie der ›Reduktion‹ ist eine andere Bestimmung des Staunens!!??!] – 785 786 787 788
EFGA 3.2, Z-XV/76a, S. 295. Ebd., Z-XIII/36a-40a, S. 222–223. Ebd., Z-XIII/46a, S. 225. Ebd., Z-XV/82b, S. 297.
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XXXI. Ontologische Erfahrung als apriorische Öffnung der Weltwirklichkeit
Die ontologische Erfahrung vollzieht sich ruckweise. Alle Rucke sind ›Verrückungen‹. (Der ›gesunde Verstand‹ findet dann leicht Verrückt heiten!) Hegels Begriff der stationären Weise der ontologischen Erfahrung? – Jeder Ruck hat den Charakter des Erwachens, des Weltunterganges (Hegels Begriff der ›Verzweiflung‹!) – «789. Außerdem legen zahlreiche Arbeitsnotizen zu der geplanten Schrift über »ontologische Erfahrung« Zeugnis dafür ab, dass Fink sich in ihr das Ziel gesetzt hat, die unterschiedlichen philosophischen Posi tionen von »Husserl und Hegel! ›Analytik und Dialektik!« dadurch behutsam gegeneinander abzuwägen, dass »in einer kritischen Besin nung auf die Grenze der deskriptiven Analyse das Wesen des alle Analytik im voraus umgreifenden ontologischen Entwurfs sichtbar , und zwar im Hinblick auf die bestimmte Analytik der Phänomenologie Husserls«790. Und als dritte philosophische Gestalt, die er mit dem Gedanken des »ontologischen Entwurfs« unmittelbar verbunden wissen möchte, tritt in vielen der von Fink hinterlassenen Arbeitsnotizen der Name Heideggers zum Vorschein. »Husserl – Heidegger – Hegel: Husserls ›Analyse‹ – Heideggers ›ontologischer Entwurf‹; Hegels Begriff des Seins und der Wahrheit – diese drei Motive sollen in eine Einheit gebracht werden in der Expo sition des Problems der ›ontologischen Erfahrung‹«791, so heißt es in einer Notiz. Denn die Frage nach dem Wesen der ontologischen Erfah rung war für Fink die »nach dem sich bildenden ›Seinsverständnis‹«. Und das bedeutete noch keineswegs, dass er die Namen »Husserl – Heidegger – Hegel« auf einen gemeinsamen Nenner bringen wollte. Zu Husserl notierte Fink sich: »Phänomenologie«; zu Heidegger: »Ontologie«, zu Hegel: »Metaphysik«. Was er mit der Schrift »Das Problem der ontologischen Erfahrung« genau ins Auge fassen möchte, darüber gibt uns eine weitere Notiz Aufschluss: »Die Schrift ›Das Problem der ontologischen Erfahrung‹, die zu ihrem Thema hat die Transzendentalien-Metaphysik als den Versuch, Husserl und Hegel zu versöhnen, soll in ihrer Einleitung ausgehen von der ›Überwindung der Erkenntnistheorie durch die Metaphysik‹«. Im Vorfeld sollte dabei allerdings die Auffassung bekämpft werden, dass eine solche Überwindung einer Hinwendung zur Ontologie gleichkäme. »Nicht tritt an die Stelle der Zergliederung 789 790 791
EFGA 3.4., Z-XXVI/8a-b. Ebd., Z-XXIX/293a. Ebd., Z-XXIX/295a.
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XXXI. Ontologische Erfahrung als apriorische Öffnung der Weltwirklichkeit
des Erkenntnisvermögens die Urfrage nach dem Sinn von Sein, unter Überwindung des Anthropologismus, Psychologismus, Subjek tivismus, ›Transzendentalen Idealismus‹ – es gilt das Problem zu exponieren, wie Erkenntnistheorie ebenso ›naiv‹ (?) ist wie die ontologische Theorie. Philosophie ist ontologischer Entwurf des Seins des Seienden: ist die apriorische Öffnung der Weltwirklich keit.«792 Den von ihm ins Feld geführten »Begriff der Metaphysik als Problematik der ›Transzendentalien‹« versuchte Fink daraufhin in einigen Grundzügen näher zu umreißen: »Der Begriff der ›Theorie‹ bestimmt durch eine Katharsis, durch eine Lösung des Menschen aus dem ›Verfängnis‹. Das Problem des Wesens und das Hervorkommen des Seienden. Die Tiefe des Seins, die Stufen der Seinsmacht des Seienden. Der Begriff der Dialektik als der begrifflichen Urlichtung der menschlichen Existenz in der Welt; Dialektik als das Gespräch über das Seiende. Der Begriff der Philosophie als ontologischer Erfah rung und die Geschichtlichkeit der Philosophie (wenn die Philosophie still steht, dann Fortschritt der Wissenschaften!) Die Philosophie als Wissenschaft = Sophia«793. Was Fink mit Rücksicht auf die hier zum Einsatz kommende »Dialektik« mit besonderem Nachdruck betonen möchte, war seine Grundüberzeugung, dass »das Urlicht des menschlichen Seins inmitten des Seienden in ›lichtenden Begriffen‹, und nicht in einer vorbegrifflichen Anschauung«794 liege. Weder in einer (phänomenologisch-analytisch aufgewiesenen) »intuitiven Evidenz«, noch in einem im Zuge der Hermeneutik der Faktizität in Anschlag gebrachten vorbegrifflichen »Vor-Verständnis« liegt nach Fink die ultima ratio der philosophischen Erkenntnis, wie er bereits in seiner Dissertation zu »Vergegenwärtigung und Bild« mit Umsicht angedeutet hatte. »Das Wesen der Philosophie« ist »die ontologische Erfahrung: die Proklamation der Fundamentalbegriffe als Interpreta tion des Seienden«795. Und er fügte erläuternd hinzu: »Die ›ontologi sche Erfahrung‹ ist staunendes In-den-Begriff-Setzen der Wahrheit, ist die begriffliche Interpretation der Idee des Seienden, ist die Stiftung des Grundes möglicher welthafter Existenz des Menschen«796.
792 793 794 795 796
Ebd., Z-XXIX/303a. Ebd., Z-XXIX/307a. Ebd., Z-XXIX/193a. Ebd., Z-XXIX/17a. Ebd., Z-XXIX/6a.
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XXXI. Ontologische Erfahrung als apriorische Öffnung der Weltwirklichkeit
Die »apriorische Öffnung der Weltwirklichkeit«797 wird somit von Fink in der begrifflichen Natur der Wahrheit als des Geschehens der »Lichtung der Fundamentalbegriffe« fest verankert. Die Rolle, die dem Menschen in diesem einzigartigen Geschehen zugewiesen ist, ist die eines »Mittlers«: »das Wesen der ontologische Erfahrung = Entwurf und Erleiden, d.h. aber nicht dasselbe wie Heideggers ›geworfener Entwurf‹, sondern der Entwurf ist als solcher gerade ein Aufgehen-Lassen des Seienden, eine ›Erfahrung machen‹ (im Sinne Hegels in der Einleitung zur ›Phänomenologie des Geistes‹); das Wesen der ontologischen Erfahrung ist die Vermittlung. Dies die kosmische Stellung des Menschen, ἂνθρωπος μεσίτης. – Der sich öffnende Mensch zum Übermenschlichen, der Mensch als das ›Zwi schenwesen‹«798. In diesem durchaus sonderbaren Auftrag, der dem Menschen als einem »Vermittler« zuerteilt ist, erblickt Fink in einem »die Größe des Menschen«799 und »das wesentliche Geschehnis in der Philosophie«800. Denn als »ὁ μεσίτης«801 ist seine Weltstellung die eines »Zwischenwesens«, wobei das »Zwischen« eben »im Sinne der Vermittlung, in seiner ›Öffnung‹ zum wahren Seienden hin, in seiner ›Welthaftigkeit‹«802 verstanden werden muss. Und als »wesentliches Geschehnis der Philosophie« ist die ontologische Erfahrung »nicht die Aneignung der ontologischen Einsichten, keine Erkenntnistheorie der metaphysischen Erkenntnis, sondern der Aufgang der Seinsver fassung überhaupt, die Bildung der ontologischen Wahrheit«803. So hebt Fink in einer Notiz hervor: »Die ›ontologische Erfahrung‹ ist nicht die eingefahrene Erfahrung auf dem Boden einer Interpreta tion des Seienden als Seienden, im Raume einer vorausgegangenen Entscheidung und Bestimmung des Seins von ›Seiendem‹ und der ›Wahrheit‹, sondern ist die Erfahrung, die sich gerade als der aprio rische Entwurf der Seinsverfassung alles Seienden (im Ringen mit dem Seienden selbst) vollzieht; sie ist die ›Lichtung des Seienden‹, die ›Dialektik‹ (διαλέγεσθαι), die nicht der Mensch aus sich entnimmt (reine ›Freiheit‹ der menschlichen Vernunft), sondern die er aus dem Seienden (dem Ansichsein des Seienden) entreißt, ›raubt‹, also die 797 798 799 800 801 802 803
Ebd., Z-XXIX/303a. Ebd., Z-XXIX/22a. Ebd., Z-XXIX/8a. Ebd., Z-XXIX/227a. Ebd., Z-XXIX/8a. Ebd., Z-XXIX/58a. Ebd., Z-XXIX/227a.
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XXXI. Ontologische Erfahrung als apriorische Öffnung der Weltwirklichkeit
›ontologische Erfahrung‹ ist nicht die Produktion der Wesensverfas sung des Seienden durch den Menschen, sondern die ›Proklamation‹, die schöpferische Tätigkeit der ›Vermittlung‹«804. Dieses »Entwurf und Erleiden« innerlich miteinander verspannende »Mittler«-Sein des Menschen versucht er sich folgendermaßen zurechtzulegen: »Die ›ontologische Erfahrung‹: These ist: die Subjektivität entwirft in der ›dialektischen Erfahrung‹ ein Modell des Seienden, ein Bild ihrer selbst und aller Dinge, und stiftet den ›Kosmos‹. Diese ontologische Produktivität des Subjekts aber ist eine endliche. Es ist nicht der absolute Geist selbst, der philosophiert, sondern der enthusiastisch vom Gott angerührte endliche Menschengeist. Bei Hegel und Hus serl entspringt die Welt aus dem absoluten Geist. Ontologische Produktivität und Idee des ›Summum ens‹. Der Mensch als ›Mittler‹! Problem der Vermittlung. Die Endlichkeit der Philosophie – aber die Unendlichkeit des Summum ens. Keine Henosis, sondern Homoio sis! Die Gradualität des Seins als Urerfahrung!«805. Philosophieren bedeutet demnach für Fink ein einzigartiges »im Aufgang Stehen, im Aufgang des Seienden, in seiner Aktivität des Herauskommens und Vorkommens«806. Und in diesem fortwährenden Sich-Hineinhalten in das Grundgeschehen des Weltaufgangs sind entwerfendes Tun und pathisches Erleiden innig miteinander verwoben: »Die ontologische Erfahrung muß gerade die Einheit sein der Aktion der Freiheit als Auf gehen-Lassen des Seienden, sein Herauskommenlassen, sein »Vor kommen«. Die leidende Freiheit«807. Wie Fink es prägnant formuliert: »Ontologische Erfahrung: der schöpferische Entwurf der Seinsbe griffe als erleidender Aufgang des Seienden für uns. Eine ›Erfahrung‹?! Diese apriorische Erfahrung als Wesen der geistigen Weltstiftung«808. Während seine Arbeitsnotizen zu der Schrift über »ontologische Erfahrung« sich zusehends mehrten, war Fink darum bemüht, sich programmatisch die Hauptthemen zu vergegenwärtigen, die in die ser Schrift zur Ausführung gelangen sollten. So vermerkte er: »In ›Ontologische Erfahrung‹: 1. Eine ausführliche Analyse und Theorie des ›Staunens‹ 2. Theorie der ›Vermittlung‹ 3. An-sich-sein und Für-uns-sein des Seienden – Wesen und Erscheinung 4. ›Nous‹ – 5. 804 805 806 807 808
Ebd., Z-XXIX/170a. Ebd., Z-XXIX/244a. Ebd., Z-XXIX/259a. Ebd., Z-XXIX/56a. Ebd., Z-XXIX/275a.
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XXXI. Ontologische Erfahrung als apriorische Öffnung der Weltwirklichkeit
›Idee‹ und ›Begriff‹ (Theorie der ›Sehnsucht‹ und ›Heimsuchung‹) 6. Κάθαρσις und ὁμοίωσις θεῷ«809. Dem aufmerksamen Leser dieser Notizen wird es ebenfalls nicht entgehen, dass Fink sich in ihnen Rilkes »Duineser Elegien« zugewendet hat, deren »Auslegung« offen bar mit der Zeit zu einem bedeutenden Bestandteil der geplanten Schrift heranwachsen sollte. »Die Auslegung der Duineser Elegien«, so notierte er sich, »geschieht im Zuge der Frage nach dem Sein des Menschen. Wie ist das Sein des Menschen zu bestimmen? Als das Nichtige-Endliche und Sein zu Gott«. Die »Elegie«, wie sie auf unnachahmliche Weise in Rilkes dichterischem Gesang anschwoll und verklang, bezeichnete er »als die Stimmung, in der die Endlichkeit des menschlichen Seins als Seinsarmut vor dem Seinsreichtum des eigentlich-Seienden aufgeht«. Nie zuvor sei »die Endlichkeit als Sein vor dem unendlichen Sein« – die »elegische Weisheit« – auf so eindrucksvolle Weise zum Ausdruck gebracht worden als in dieser, wie Fink schrieb, »gedankentiefsten Dichtung Rilkes«810. Besonders bedeutsam ist weiterhin der Umstand, dass Fink, als er sich darüber Gedanken machte, wie das Weltwesen des Menschen treffend zu charakterisieren sei, zu der Spiel-Metapher griff – und damit bereits die Überlegungen zu einer Phänomenologie und Ontologie des Spiels vorwegnahm, denen er im Jahre 1957 die reizende kleine Schrift »Oase des Glücks« gewidmet hat811. So heißt es etwa in einer Arbeitsnotiz: »Das Wesen des Menschen ist das ›Spiel‹; Spiel ist schöpferische Frei heit; Spielen ist ein Sich-zu-sich-Verhalten, so dass gerade darin ein Verhalten zum Sein alles Seienden liegt; Spiel ist ein Untergehen in Rollen, ist die Selbstverdeckung der Freiheit, ist Bildung einer ›Welt‹; Spiel und Schauspiel: die sakrale Funktion der Kunst (Dionysos – der Gott der Maske und des Spiels); Die Form des Unwesens des Spiels: die ›Schauspielerei‹«812.
Ebd., Z-XXIX/147b. Vgl. z.B. ebd., Z-XXIX/248a; 263a; 313b. 811 Eugen Fink, Oase des Glücks, Gedanken zu einer Ontologie des Spiels, Karl Alber, Freiburg/München, 1957. Heute in: Eugen Fink, Spiel als Weltsymbol (EFGA 7), a.a.O., 11–29. Vgl. auch die jüngste, von Annette Hilt und Holger Zaborowski besorgte Ausgabe von »Oase des Glücks«, die nicht nur diesen bedeutenden Text, sondern auch zahlreiche Interpretationen von der Hand führender Fink-Forscherinnen und -Forscher enthält: Eugen Fink, Oase des Glücks. Gedanken zu einer Ontologie des Spiels. Hrsg. von Annette Hilt und Holger Zaborowski, Karl Alber, Baden-Baden, 2023. 812 EFGA 3.4, Z-XXIX/307a. 809
810
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XXXI. Ontologische Erfahrung als apriorische Öffnung der Weltwirklichkeit
Immer von neuem kehrte Fink im Zuge seiner Arbeitsnotizen zu dem von ihm vertretenen Gesichtspunkt zurück, der für ihn von aus schlaggebender Bedeutung war, dass »der Aufgang des Wesens des Seins: die begriffliche Ausarbeitung dieser Seinsauslegung«813 in sich beschließe. Die von ihm ins Auge gefasste »apriorische Öffnung der Weltwirklichkeit« berief sich somit »nicht« auf »eine Theorie der apriorischen Erkenntnis, der Ideation, der Wesensschau« im Sinne Husserls. »Gegen den Intuitionismus« phänomenologischer Her kunft sich auflehnend, möchte er eine »Theorie der produktiven Grundstellung des Geistes zum Seienden, indem er inne wird, was ihm das Seiende ist«,814 zur Geltung bringen. Gerade der Sachverhalt, dass die apriorische Öffnung der Weltwirklichkeit nach seiner Ansicht begrifflich vermittelt sei, war der innere Beweggrund dafür, dass Fink mit großer Entschiedenheit der Husserlʼschen »Analytik« die »Dia lektik« gegenüberstellte – die allerdings, wie er meinte, »keine bloß menschliche Methode« sei, »ein Kunstgriff, um das Unendliche in den endlichen Begriffen einzufangen«. »Die Dialektik des kosmologi schen Denkens gründet in der dialektischen Zwietracht der Welt selbst«,815 so gab er am Schluss der Freiburger Vorlesung aus dem WS. 1950/51 seinen Zuhörern nochmals zu bedenken. Eine beträcht liche Anzahl von Arbeitsnotizen geben uns Auskunft darüber, dass Finks unaufhaltsame Suche nach dem Quellgrund für die »Proklama tion« der »urlichtenden« Fundamentalbegriffe, in denen die apriori sche Erschließung der Weltwirklichkeit stattfindet, sich keineswegs mit einer leichtfertigen Ablehnung des phänomenologischen Aprio rismus seines Lehrers zufriedengab816. Vielmehr führte sie ihn zu einer Wiederbegegnung mit der Geschichte der Philosophie, zu einer neuartigen Weise, sich ihrem ehrwürdigen Erbe wieder anzueignen, indem es ihm in einer durch das Problem der »ontologischen Erfah rung« geradezu verwandelten Beleuchtung erschien. So stellte er sich die Frage: »Wie hängen zusammen: 1. Der ›endliche‹ Rückgang des Aristoteles auf das Wissen von den ›Gründen‹, 2. Kants ›synthetische‹ Erkenntnis a priori, 3. Hegels ›Erfahrung des Bewusstseins‹ (als Weg
Ebd., Z-XXIX/301b. Ebd., Z-XXIX/301b. 815 Eugen Fink, Sein und Mensch: vom Wesen der ontologischen Erfahrung. a.a.O., S. 322. 816 EFGA 3.4, Z-XXIX/301b.
813 814
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zum absoluten Wissen) 4. mit der ›ontologischen Erfahrung‹?«817. Übrigens war er der Ansicht, dass »zu ›ontologischer Erfahrung‹ Hegel, Kant, Aristoteles, Plato, Leibniz, Husserl, Heidegger, Fichte zu studieren «. Und mit Bezug auf Kant hieß es: »Die Frage der ›Kritik der reinen Vernunft‹ = ›wie sind synthetische Urteile a priori möglich‹ ist die Frage nach dem Wesen der ontologischen Erfahrung« – und folglich sollte die kantische Kritik nicht etwa – wie üblich – auf ihre rein erkenntnistheoretische Tragweite eingeschrumpft werden. »Kants Frage ›Wie sind synthetische Urteile a priori möglich‹ ist eine Formel für ›ontologische Erfahrung‹!?«818 Allerdings war er gleich zeitig der Überzeugung, dass Kant zwar den »Entwurf«-Charakter dieser einzigartigen Erfahrung erfasst habe, ihm jedoch der »Auf gang-Charakter« des Seienden entgangen sei. Was den Deutschen Idealismus anbetrifft, so ist dieser »keineswegs – wie es oft behauptet wird – ›absoluter Idealismus‹ in dem naiven Sinne, dass er gleichsam eine totale subjektive Konstitution des Seienden zur These hätte, im Gegensatz gegen den partialen Idealismus Kants, der nur die ›Formen‹ der Gegenständlichkeit der Gegenstände ›subjektiv‹ sein ließe (ohne eine Bildung dieser Formen andererseits selbst wieder anzusetzen!) Eine solche Auffassung setzt 1) Idealismus = Subjektivismus; 2) ›absolut‹ = total; 3) und hat das Problem des ›Idealismus‹ gänzlich von der Frage nach dem Verhältnis von ›An-sich-sein‹ und ›Für-unssein‹ des Seienden abgelöst und so das Problem des Idealismus zer stört.« Demgegenüber möchte Fink den Standpunkt vertreten, dass »der Deutsche Idealismus in Wahrheit bewegt vom Problem der ›ontologischen Erfahrung‹, d.h. von der Bewegung der Begriffe des Seienden und der Wahrheit – auf die Idee des seiendsten Seienden und des Wissens vom seiendsten Seienden hin, von der Erscheinung zum Wesen«819. In einer flüchtigen Notiz mit der Aufschrift »Welche sind meine Thesen 1939?« fasste Fink die Hauptgesichtspunkte, die ihn zu die sem Zeitpunkt bei seinem unermüdlichen philosophischen Schaffens drang gefesselt hielten, nochmals kurz und bündig zusammen: »1. Begriff der Dialektik. 2. Begriff der Seinsinterpretation (Für-uns-sein und An-sich-seienden). 3. Bewegung der Seinsinterpretation. 4. Das Sein des Menschen als ›Spiel‹ (positive Freiheit). 5. Die Idee des 817 818 819
Ebd., Z-XXIX/6b. Vgl. Z-XXIX/55a, 148a und 57a. Ebd., Z-XXIX/21a.
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XXXI. Ontologische Erfahrung als apriorische Öffnung der Weltwirklichkeit
›ens realissimum‹ (Sein und Schein). 6. Das Sich-Aussetzen des Seien den (die ›Äußerung‹). 7. Die ›Vermittlung‹ (Mensch = ›Mittler‹). 8. Das Sich-zum-Sein-alles-Seienden-vorgängig-Verhalten.«820 Und, auf seine eigene Entwicklung der letzten Jahre zurückblickend, schrieb er: »Früher erschien mir die Philosophie als die Selbstbemächtigung des menschlichen Lebens, als das Sich-Zurückholen des Menschen aus allen Selbstentfremdungen und Selbstverlorenheiten; nunmehr aber als die Heimsuchung des Menschen in das Wesen des Seienden, das In-die-Nähe-Kommen zum eigentlich-Seienden, zu dem ›seiendsten Seienden‹ als Katharsis und ›Homoiosis-Theo‹, als Sehnsucht und als ontologische Erfahrung, als Dialektik«821.
820 821
Ebd., Z-XXIX/125a. Ebd., Z-XXVIII/35a.
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