»... weil ihre Kultur so ist«: Narrative des antimuslimischen Rassismus [1. Aufl.] 9783839428665

Do anti-Muslim discourses express a current form of racism? Yasemin Shooman investigates anti-Muslim narratives and thei

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German Pages 260 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
1. Einleitung
2. Historische Traditionslinien und theoretische Einordnung antimuslimischer Diskurse
3. Geschlechterbilder in antimuslimischen Diskursen
4. Antimuslimische Diskurse in etablierten und neuen Medien
5. Antimuslimischer Rassismus in der nicht-öffentlichen Kommunikation – Zuschriften an muslimische Verbände
6. Schlussbemerkung
Quellen und Literatur
Anhang
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»... weil ihre Kultur so ist«: Narrative des antimuslimischen Rassismus [1. Aufl.]
 9783839428665

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Yasemin Shooman »... weil ihre Kultur so ist«

Kultur und soziale Praxis

Yasemin Shooman (Dr. phil.) leitet die Akademieprogramme Migration und Diversität der Akademie des Jüdischen Museums Berlin. Sie hat am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin promoviert. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Rassismus, Islamfeindlichkeit und Medienanalyse.

Yasemin Shooman

»... weil ihre Kultur so ist« Narrative des antimuslimischen Rassismus

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Dr. Angelika Königseder Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2866-1 PDF-ISBN 978-3-8394-2866-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort | 11   1  

Einleitung | 13  

1.1   Theoretische Überlegungen zur Diskursanalyse und zum Topos-Begriff | 17   1.2   Die Bedeutung der Diskursanalyse für die Rassismusforschung | 24   1.3   Fragestellung und Auswahl der Quellen | 28   2  

Historische Traditionslinien und theoretische Einordnung antimuslimischer Diskurse | 35  

2.1   Vom „äußeren Feind“ zum „Anderen im Inneren“. Antimuslimischer Rassismus im Kontext der Migrationsgesellschaft | 35   2.1.1   Aushandlung einer deutschen Identität | 37   2.1.2   Traditionslinien des antimuslimischen Rassismus | 40   2.1.3   Musliminnen und Muslime als Europas Andere | 45   2.2   Keine Frage des Glaubens. Die Rassifizierung von „Kultur“ und „Religion“ im antimuslimischen Rassismus | 54   2.2.1   Deterministischer Kultur- und Religionsbegriff | 55   2.2.2   „Weiße“, „christliche“ und „westliche“ Suprematie | 59   2.2.3   Rassifizierung von Musliminnen und Muslimen | 63   2.2.4   „Klasse“ und „soziale Schicht“ | 74   2.2.5   Antimuslimischer Rassismus und Religionskritik | 76   2.2.6   Fazit | 79  

3  

Geschlechterbilder in antimuslimischen Diskursen | 83  

3.1   Muslimisch, weiblich, unterdrückt und gefährlich. Stereotypisierungen muslimischer Frauen in aktuellen Islam-Diskursen | 83   3.1.1   Der argumentative Rückgriff auf die Religion | 85   3.1.2   Funktionen von Geschlechterstereotypen in antimuslimischen Diskursen | 86   3.1.3   Wessen Stimmen werden gehört und wessen nicht? | 88   3.1.4   Der Topos der „gefährlichen Muslimin“ | 91   3.2   Kronzeuginnen der Anklage? Zur Rolle muslimischer Sprecherinnen in aktuellen Islam-Debatten | 100   3.2.1   Betty Mahmoodys „Nicht ohne meine Tochter“: Das Paradigma islambezogener „Opfer-Literatur“ | 102   3.2.2   Muslimische Sprecherinnen als „authentische Stimmen“ aus der Minderheit | 105   3.2.3   Argumentationsstrategien im Diskurs der „Kronzeuginnen“ | 110   4  

Antimuslimische Diskurse in etablierten und neuen Medien | 125  

4.1   Selbst- und Fremdbilder in der medialen Rezeption der ersten Deutschen Islam Konferenz. Eine Fallstudie zu den Tageszeitungen FAZ und DIE WELT | 125   4.1.1   Musliminnen und Muslime als Fremde | 126   4.1.2   „Gute“ und „schlechte“ Musliminnen und Muslime | 130   4.1.3   „Kultur“ als Grenzmarkierung: „Deutsche Werteordnung“ und „Leitkultur“ | 134   4.2   Zwischen Alltagsrassismus und Verschwörungstheorien – Islamfeindlichkeit im Internet | 140   4.2.1   Das Internet als Kommunikationsmedium | 141   4.2.2   Internationale Vernetzung der islamfeindlichen Internetszene | 143  

4.2.3   Das ideologisch geschlossene Weltbild islamfeindlicher Internetaktivisten | 147   4.2.4   Demografie als Kampfmittel | 153   4.2.5   Rassistische Zuschreibungen | 155   4.2.6   Instrumentalisierung von Menschenrechten | 158   4.2.7   Mobilisierungsfunktion und Auswirkungen der islamfeindlichen Internetdiskurse | 160   4.3   Die Rezeption des Mordes an Marwa el-Sherbini auf islamfeindlichen Webseiten und in Online-Kommentarforen von Zeitungen | 165   4.3.1   Täter-Opfer-Umkehr | 165   4.3.2   Leugnung und Relativierung des Tatmotivs | 170   4.3.3   Dehumanisierung: Musliminnen und Muslime als Hass-Objekte | 174   5  

Antimuslimischer Rassismus in der nicht-öffentlichen Kommunikation – Zuschriften an muslimische Verbände | 179  

5.1   Gewalt durch Sprache und verbale Diskriminierung: Sprachphilosophische und rassismustheoretische Überlegungen | 184   5.2   Sprecherpositionen und Schreibanlässe | 191   5.3   Dominante Topoi und Argumentationsstrategien | 194   5.4   Fazit | 216   6  

Schlussbemerkung | 219  

Quellen und Literatur | 225  

Quellen | 225   Abbildungen | 236   Literatur | 237   Anhang | 255  

Meinen Eltern

Vorwort

Dieses Buch ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation „...weil ihre Kultur so ist“ – Das Zusammenspiel von Kultur, Religion, Ethnizität, Geschlecht und Klasse im antimuslimischen Rassismus, mit der ich im Dezember 2013 am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin promoviert wurde. Einzelstudien, die ihr zugrunde liegen, sind zwischen 2009 und 2013 entstanden und wurden bereits in verschiedener Form veröffentlicht (siehe Anhang). Hinzugekommen ist ein noch unpublizierter Teil, in dem ich Zuschriften an muslimische Verbände bzw. die Türkische Gemeinde in Deutschland ausgewertet habe. Ich danke dem Verein der Freunde und Förderer des Zentrums für Antisemitismusforschung, der Delbrück’schen Familienstiftung und der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur für die großzügige finanzielle Unterstützung meines Dissertationsprojekts. Zu außerordentlichem Dank bin ich meinem Doktorvater, dem langjährigen Direktor des Zentrums für Antisemitismusforschung, Prof. Dr. Wolfgang Benz, verpflichtet, der mich weit vor Beginn der Promotion in meinem wissenschaftlichen Werdegang gefördert und mir schon als Studentin die Möglichkeit eröffnet hat, Vorträge zu halten und zu publizieren. Sein Wissenschaftsverständnis, das auf eine gesellschaftliche Relevanz und Breitenwirkung von Forschung zielt, hat meine akademische Sozialisation geprägt. Er war in vielerlei Hinsicht mein Lehrer. Meine Auseinandersetzung mit dem Thema antimuslimischer Rassismus wurde durch meine Zweitgutachterin, Prof. Dr. Iman Attia, entscheidend befördert. Für die anregenden Diskussionen und die beständige Motivation, die zum Gelingen und zur Fertigstellung dieser Arbeit maßgeblich beigetragen haben, bin ich ihr tief verbunden. Prof. Dr. Stefanie Schüler-Springorum, die 2011 die

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Leitung des Zentrums für Antisemitismusforschung übernommen hat, bin ich für die Fürsorge und Unterstützung, die ich durch sie insbesondere in der Abschlussphase meiner Dissertation erfahren habe, in höchstem Maße dankbar. Der langjährige Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen am Zentrum für Antisemitismusforschung war für mich eine große Bereicherung. Hervorheben möchte ich insbesondere Dr. Peter Widmann, dessen wertvolles Feedback mir immer viele Anregungen gegeben hat. Meine Arbeit geprägt haben darüber hinaus die fruchtbaren Gespräche in verschiedenen weiteren akademischen Netzwerken. Die Debatten in dem von Cengiz Barskanmaz initiierten Forschungsnetzwerk „Critical Race Theory Europe“, die Möglichkeiten zu einem transatlantischen Austausch boten, haben mein Rassismusverständnis beträchtlich erweitert. Ebenso anregend und inspirierend waren die intensiven Diskussionen in dem interdisziplinären „Netzwerk kritische Wissensproduktion in der postmigrantischen Gesellschaft“, dem ich seit 2011 gemeinsam mit Prof. Dr. Iman Attia, Dr. Naika Foroutan, Prof. Dr. Viola B. Georgi, Dr. Urmila Goel, Prof. Dr. Juliane Karakayali, Dr. Birgit zur Nieden, Dr. Riem Spielhaus, Dr. Vassilis S. Tsianos und Prof. Dr. Gökçe Yurdakul angehöre. Darüber hinaus gab es mit Nicola Lauré al-Samarai, Lucy Chebout, Olga Schmidt und Sebastian Friedrich Personen, die mir durch ihre inhaltlichen Kommentare und die Bereitschaft zum Korrekturlesen meiner Arbeit in unterschiedlichen Stadien eine unschätzbare Hilfe waren. Für das sorgfältige abschließende Lektorat möchte ich Dr. Angelika Königseder herzlich danken. Ein Projekt wie die Abfassung einer Dissertation lässt sich nur realisieren mit der Unterstützung durch einen Kreis von Menschen, die einen in den verschiedenen mühevollen Phasen des Reflektierens und Schreibens begleiten. Mein aufrichtiger Dank gebührt daher insbesondere meiner Familie, meinen Freundinnen und Freunden sowie Kolleginnen und Kollegen, die mir in dieser nicht immer einfachen Zeit Rückhalt gaben und mich ermutigt haben, mein Vorhaben zum Abschluss zu bringen. Berlin, im Juni 2014

1 Einleitung

„Es ist ein Skandal, wenn türkische Jungen nicht auf weibliche Lehrer hören, weil ihre Kultur so ist.“ – So ließ Thilo Sarrazin, damaliges Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank und ehemaliger Berliner Finanzsenator, in einem Interview mit der Zeitschrift „Lettre International“ im Herbst 2009 verlauten.1 Sarrazin, der ein Jahr später mit seinem Buch „Deutschland schafft sich ab. Wie wir unsere Zukunft aufs Spiel setzen“ zu einer der prominentesten antimuslimischen Stimmen in Deutschland avancierte, reproduzierte in diesem Interview eine Vielzahl an Stereotypen und Topoi, die Bestandteil gegenwärtig virulenter antimuslimischer Diskurse sind.2 Seine Aussagen verdeutlichen, welch deterministisches Kulturver-

1

„Klasse statt Masse. Von der Hauptstadt der Transferleistungen zur Metropole der Eliten“. Interview mit Thilo Sarrazin, in: Lettre International 86 (2009), S. 199.

2

Mittlerweile sind zahlreiche Studien zu verschiedenen Aspekten antimuslimischer Diskurse erschienen, die von den jeweiligen Autorinnen und Autoren mit Begriffen wie Islamophobie, Islamfeindlichkeit, Muslimfeindschaft oder antimuslimischer Rassismus erfasst werden. Vgl. exemplarisch für den deutschsprachigen Raum Sabine Schiffer, Die Darstellung des Islams in der Presse. Sprache, Bilder, Suggestionen, Würzburg 2005; Thorsten Gerald Schneiders (Hrsg.), Islamfeindlichkeit. Wenn die Grenzen der Kritik verschwimmen, Wiesbaden 2009; Iman Attia, Die „westliche Kultur“ und ihr Anderes. Zur Dekonstruktion von Orientalismus und antimuslimischem Rassismus, Bielefeld 2009; Farid Hafez, Islamophober Populismus. Moschee- und Minarettbauverbote österreichischer Parlamentsparteien, Wiesbaden 2010; Sebastian Friedrich (Hrsg.),

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ständnis diesen zugrunde liegt. Sie illustrieren darüber hinaus, wie stark Kultur und Ethnizität dieser Wahrnehmung nach als kongruente Kategorien gedacht und mit zugeschriebener Religionszugehörigkeit verknüpft werden. Denn zwei Sätze später erscheinen die türkischen Jungen, die ihren Lehrerinnen den Gehorsam verweigern, als Angehörige einer Gruppe, die laut Sarrazin „ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert“.3 Geschlechterstereotype – auch das wird in diesen Äußerungen bereits deutlich – spielen, ebenso wie Fragen der Schichtzugehörigkeit, eine wichtige Rolle in antimuslimischen Diskursen. Das zeigt sich in der das „Lettre“-Interview durchziehenden Abwertung einer Bevölkerungsgruppe, der Sarrazin bescheinigt, „keine produktive Funktion“ zu haben, „außer für den Obst- und Gemüsehandel“.4 Antimuslimische Diskurse verweben Kategorien wie „Kultur“, „Religion“, „Ethnizität“, „Geschlecht“ und „Klasse“ zu einem komplexen Geflecht,5 das in diesem Buch einer Analyse unterzogen wird. Wer von anti-

Rassismus in der Leistungsgesellschaft. Analysen und kritische Perspektiven zu den rassistischen Normalisierungsprozessen der „Sarrazindebatte“, Münster 2011; Wolfgang Benz, Die Feinde aus dem Morgenland. Wie die Angst vor den Muslimen unsere Demokratie gefährdet, München 2012; Zülfukar Çetin, Homophobie und Islamophobie. Intersektionale Diskriminierungen am Beispiel binationaler schwuler Paare in Berlin, Bielefeld 2012; Klaus J. Bade, Kritik und Gewalt. Sarrazin-Debatte, ‚Islamkritik‘ und Terror in der Einwanderungsgesellschaft, Schwalbach/Ts. 2013. 3

„Klasse statt Masse“, S. 199.

4

Ebenda.

5

Vgl. zu dem vielschichtigen Verhältnis der Kategorien „Religion“, „Kultur“ und „Ethnizität“ Claire Mitchell, The Religious Content of Ethnic Identities, in: Sociology 40 (2006), S. 1135-1152. Die Notwendigkeit der Einbeziehung der Kategorie „Klasse“ in die Analyse von Rassismus ist von zahlreichen Rassismusforscherinnen und -forschern dargelegt worden. Vgl. exemplarisch Étienne Balibar, Der „Klassen-Rassismus“, in: Ders./Immanuel Wallerstein, Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente Identitäten, Hamburg 1992, S. 247-260 und Robert Miles/Malcolm Brown, Racism, 2. überarb. Auflage, London/New York 2003, S. 6. Auf die Verknüpfungen von „Rasse“, „Klasse“ und „Geschlecht“ haben insbesondere Schwarze Feministinnen in den USA hingewiesen, vgl. Kimberlé W. Crenshaw, Demarginalizing the Intersection of Race and Sex. A Black Fem-

E INLEITUNG | 15

muslimischem Rassismus spricht und damit die Diskriminierung von Muslimen als Muslime konzeptionell als Rassismus begreift, sieht sich mit dem Einwand konfrontiert, dass religiöse Identität frei wählbar und damit – anders als zum Beispiel die „Hautfarbe“ – veränderlich sei.6 Die Auswertung des empirischen Materials soll daher nicht zuletzt zur Theoriebildung beitragen und deutlich machen, inwiefern antimuslimische Narrative als Ausdruck einer aktuellen Form des Rassismus eingeordnet werden können, in der eine Rassifizierung von (tatsächlicher oder zugeschriebener) Religionszugehörigkeit zu beobachten ist. Mit der vorliegenden Studie soll ein Beitrag zum besseren Verständnis des antimuslimischen Wissens unserer Zeit geleistet werden. Die gewählte Forschungsperspektive basiert daher auf einem interdisziplinär7 und multimethodisch8 ausgerichteten diskursanalytischen Ansatz. Für die Rassismusforschung, die als theoretischer Zugang

inist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory, and Antiracist Politics, in: Anne Phillips (Hrsg.), Feminism and politics, New York 1998, S. 314-343. Auch wenn es sich bei diesen Kategorien um Konstrukte handelt, wird im Sinne der besseren Lesbarkeit im Folgenden auf die Setzung von Anführungszeichen verzichtet. 6

Vgl. Nasar Meer, The politics of voluntary and involuntary identities: are Muslims in Britain an ethnic, racial or religious minority?, in: Patterns of Prejudice 42 (2008), H. 1, S. 61-81; Nasar Meer/Tariq Modood, Refutations of racism in the „Muslim question“, in: Patterns of Prejudice 43 (2009), H. 3-4, S. 335-354. Vgl. zum Konstrukt der „Hautfarbe“ und seiner Bedeutung für biologistische „Rasse“-Konzepte Susan Arndt, „Hautfarbe“, in: in: Dies./Nadja OfuateyAlazard (Hrsg.), Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk, Münster 2011, S. 332-342.

7

Vgl. Teun van Dijk, Analyzing Racism Through Discourse Analysis. Some Methodological Reflections, in: John Stanfield (Hrsg.), Race and Ethnicity in Research Methods, Newbury Park 1993, S. 93; Margarete Jäger/Siegfried Jäger, Deutungskämpfe. Theorie und Praxis Kritischer Diskursanalyse, Wiesbaden 2007, S. 17 f.

8

Vgl. Reiner Keller, Wissenssoziologische Diskursanalyse. Grundlegung eines Forschungsprogramms, Wiesbaden 2008, S. 268.

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zum Untersuchungsgegenstand dient,9 hat die Analyse von Diskursen eine zentrale Bedeutung, da Rassismus als soziale Praxis in hohem Maße diskursiv (re-)produziert wird.10 Paul Mecheril und Claus Melter definieren Rassismus daher „als machtvolles, mit Rassenkonstruktionen operierendes oder an diese Konstruktionen anschließendes System von Diskursen und Praxen […], mit welchen Ungleichbehandlung und hegemoniale Machtverhältnisse erstens wirksam und zweitens plausibilisiert werden“.11 Der Band basiert auf qualitativen Fallstudien, die keine quantitativen Aussagen treffen und daher nicht der Frage nachgehen, welches Ausmaß antimuslimische Diskurse in unserer Gesellschaft haben; deshalb erfolgt auch keine Auseinandersetzung mit vorhandenen Gegendiskursen. Vielmehr interessiert, wie diese antimuslimischen Diskurse beschaffen sind. Der Fokus der Studien liegt folglich auf der Rekonstruktion und Analyse von wiederkehrenden Argumentationsmustern, um eine Art „Topographie“ der dominanten antimuslimischen Stereotype und Topoi abzubilden und zu ermitteln, inwieweit sich diese zu einem Narrativ bzw. mehreren Narrativen zusammensetzen. Wie die Auswertung gegenwärtiger antimuslimischer Argumentationsfiguren zeigt, finden sich darin auch immer wieder Aktualisierungen histo-

9

Gelegentlich wird in den nachfolgenden Studien auch auf theoretische Analyseinstrumente zurückgegriffen, die eher der Vorurteilsforschung zuzurechnen sind (vgl. z.B. die sprachpsychologischen Überlegungen von Carl Friedrich Graumann und Margret Wintermantel in Kapitel 5). Auch wenn es Überschneidungen gibt, unterscheiden sich rassismustheoretische Perspektiven von Ansätzen der Vorurteilsforschung in einigen wichtigen Punkten: Während Rassismusanalysen gesamtgesellschaftliche Strukturen in den Blick nehmen, fokussiert die Vorurteilsforschung, die sich überwiegend sozialpsychologischer Ansätze bedient, beispielsweise stärker auf das Individuum als Träger rassistischer Einstellungen und sozialer Vorurteile.

10 Vgl. Teun van Dijk, Discourse and Racism, in: David Theo Goldberg/John Solomos (Hrsg.), A Companion to Racial and Ethnic Studies, Oxford 2002, S. 145-159; Martin Reisigl/Ruth Wodak, Discourse and discrimination. Rhetorics of racism and antisemitism, London/New York 2001. 11 Paul Mecheril/Claus Melter, Rassismustheorie und -forschung in Deutschland. Kontur eines wissenschaftlichen Feldes, in: Dies. (Hrsg.), Rassismuskritik, Bd. 1, Rassismustheorie und -forschung, Schwalbach/Ts. 2009, S. 15 f.

E INLEITUNG | 17

rischer Topoi. Dies deutet darauf hin, dass die aktuellen antimuslimischen Diskurse zwar im Kontext (west-)europäischer Migrationsgesellschaften angesiedelt sind, in denen Fragen nach Pluralisierung infolge von Einwanderungsprozessen und die gesellschaftliche Teilhabe von Minderheiten verhandelt werden, sie jedoch historisch tradiert sind. Gleichwohl wäre es falsch, von simplen Kontinuitäten und einer Linearität in der europäischen Wahrnehmung des Islams und der Muslime seit dem Mittelalter bis heute auszugehen.12 Um solchen essentialistischen Vorstellungen entgegenzuwirken, ist es unabdingbar, die Analyse antimuslimischer Diskurse an Raum und Zeit zu binden sowie zu kontextualisieren.

1.1 T HEORETISCHE Ü BERLEGUNGEN ZUR D ISKURSANALYSE UND ZUM T OPOS -B EGRIFF Zur Erforschung kollektiven Wissens und der Grenzen dessen, was zu einem jeweiligen Zeitpunkt sagbar ist, hat sich ein Spektrum diskursanalytischer Theorieschulen entwickelt, die sich zu einem großen Teil auf den Diskursbegriff Michel Foucaults beziehen.13 Für Foucault wird man „in dem Fall, wo man in einer bestimmten Zahl von Aussagen ein ähnliches System der Streuung beschreiben könnte, in dem Fall, in dem man bei den Objekten, den Typen der Äußerung, den Begriffen, den thematischen Entscheidungen eine Regelmäßigkeit (eine Ordnung, Korrelation, Positionen und Abläufe, Transformationen)

12 Vgl. Norman Daniel, Islam and the West. The Making of an Image, Edinburgh 1960; Gerdien Jonker, Im Spiegelkabinett. Europäische Wahrnehmungen von Muslimen, Heiden und Juden 1700-2010, Würzburg 2013, S. 153-168; HansWerner Goetz, Sarazenen als „Fremde“? Anmerkungen zum Islambild in der abendländischen Geschichtsschreibung des frühen Mittelalters, in: Benjamin Jokisch u.a. (Hrsg.), Fremde, Feinde und Kurioses. Innen- und Außenansichten unseres muslimischen Nachbarn, Berlin/New York 2009, S. 39-66; Kate Zebiri, The Redeployment of Orientalist Themes in Contemporary Islamophobia, in: Studies in Contemporary Islam 10 (2008), S. 4-44. 13 Zu den wichtigsten Schriften Foucaults in diesem Zusammenhang zählen: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt am Main 1971 und Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main 1973.

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definieren könnte, […] übereinstimmend sagen, daß man es mit einer diskursiven Formation zu tun hat [Hervorhebung im Original].“14

Ein Diskurs besteht also, kurz gesagt, aus regulierten Aussagen,15 die zu einem bestimmten Thema gemacht werden (können). Diskurse drücken sich nicht zwingend in schriftlich fixierten Texten aus, sondern auch in Bildern, Grafiken, Fotografien, Filmen etc. Neben insbesondere sprach- und literaturwissenschaftlichen Zugängen, die beispielsweise in der Diskurslinguistik und der Kritischen Diskursanalyse ihren Niederschlag gefunden haben, setzen sich auch die Sozialwissenschaften mit Diskursen auseinander. Abgesehen von verschiedenen Akzentuierungen, die sich nicht zuletzt aus der disziplinären Verankerung ergeben, nehmen diese diskurstheoretischen Ansätze aufeinander Bezug und teilen einige Grundannahmen, wie diejenige, dass Sprache die Wirklichkeit nicht einfach nur abbildet, sondern diese konstituiert. Denn nach Foucault sind Diskurse Praktiken, „die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen“.16 Diskursanalysen interessieren sich daher nicht nur für die Inhalte der Diskurse, sondern auch für die sozialen Bedingungen, unter denen sie entstehen, und für die Wirkungen, die sie entfalten. Laut Foucault ist die diskursive Erzeugung von Wirklichkeit und die damit verbundene Frage, welches Wissen als wahr und damit legitim gelten kann, von gesellschaftlichen Machtverhältnissen bestimmt: „Es gibt einen Kampf ‚um die Wahrheit‘, oder zumindest ‚im Umkreis der Wahrheit‘, wobei […] gesagt werden soll, daß ich unter Wahrheit nicht ‚das Ensemble der wahren Dinge, die zu entdecken oder zu akzeptieren sind‘, verstehe, sondern ‚das

14 Foucault, Archäologie des Wissens, S. 58. 15 An dieser Stelle kommen die diskursiven Ebenen – also die gesellschaftlichen Orte, an denen gesprochen wird – ins Spiel, denn eine Politikerrede folgt beispielsweise anderen Regeln als ein wissenschaftlicher Vortrag. Vgl. Siegfried Jäger, Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung, Münster 2004, S. 129. Eine „Aussage“ ist für Foucault „die elementare Einheit des Diskurses“. Er bezeichnet sie auch als „Atom des Diskurses“. Vgl. Foucault, Archäologie des Wissens, S. 117. 16 Ebenda, S. 74.

E INLEITUNG | 19

Ensemble der Regeln, nach denen das Wahre vom Falschen geschieden und das Wahre mit spezifischen Machtwirkungen ausgestattet wird‘.“17

Aus diesen Deutungskämpfen folgt zum einen, dass das jeweils gültige, diskursiv hervorgebrachte Wissen einer Zeit nicht statisch ist, sondern sich verändert. Siegfried Jäger, der Begründer der Kritischen Diskursanalyse, spricht deshalb von Diskursen als „Fluss von ‚Wissen‘ bzw. sozialen Wissensvorräten durch die Zeit“18 und weist damit auf die Dynamik von Diskursen hin. Diskursanalysen widmen sich daher unter anderem der Frage, wie in diachroner Perspektive „das Feld des Sagbaren ausgeweitet oder auch eingeengt wird“19 bzw. wie sich, so Reiner Keller in seinen Überlegungen zur wissenssoziologischen Diskursanalyse, die „Bedeutung von Zeichen, Symbolen, Gesten, Handlungen oder Dingen […] im konkreten Zeichengebrauch bestätigt, konserviert oder auch verändert“.20 Der Annahme folgend, dass Diskurse nicht unabhängig von gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen zirkulieren, ergibt sich zum anderen die Notwendigkeit, den politischen, sozialen, räumlichen und historischen Kontext, in dem sie artikuliert werden, in die Analyse mit einzubeziehen. Keller unterstreicht in diesem Zusammenhang, dass Diskurse immer durch soziale Akteure realisiert werden, die „über unterschiedliche und ungleich verteilte Ressourcen der Artikulation und Resonanzerzeugung“ verfügen.21 Für ihn fokussiert die Diskursanalyse daher drei zentrale Fragen: „Wer darf legitimerweise wo sprechen? Was darf/kann dort wie gesagt werden? Welche Konsequenzen sind damit verbunden [Hervorhebung im Original]?“22 Keller weist hier unter anderem auf den Aspekt der Sprecherpositionen in Diskursen hin. Diese „bilden ein in vielerlei Hinsicht gegliedertes und mehr oder weniger hierarchisches Netz von institutionell konfigurierten Rollensets und damit einher gehenden [sic]

17 Zit. nach Jäger/Jäger, Deutungskämpfe, S. 15 f. 18 Jäger, Kritische Diskursanalyse, S. 132. 19 Ebenda, S. 130. 20 Keller, Wissenssoziologische Diskursanalyse, S. 12. 21 Ebenda, S. 234. 22 Ebenda, S. 233.

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‚Chancen auf Gehör‘, für die je nach Stellenwert in der Diskurshierarchie unterschiedliche Qualifikationsforderungen als Voraussetzungen bestehen“.23

Die Analyse der Machtwirkung von Diskursen, die unter anderem aus der Art und Weise, wie sie durch soziale Akteure rezipiert werden, erschlossen werden kann, sollte also immer auch die Analyse der Sprecherpositionen berücksichtigen. Dabei interessiert sich die Diskursanalyse „für Akteure, die Sprecherpositionen einnehmen, nicht als individuelle Subjekte, sondern als soziale Rollenträger der Diskurse“.24 Akteure können aber weder vollkommen unabhängig an der Gestaltung von Diskursen mitwirken, noch sind sie ihnen bedingungslos ausgeliefert, wie Keller betont. Vielmehr regulieren „Diskurse als strukturierte Aussagekonfigurationen […] die Bedingungen der Zulassung von Akteuren zu Sprecherpositionen“.25 Dieser Aspekt spielt beispielsweise in der Analyse der Rolle muslimischer Sprecherinnen, die in aktuellen Islam-Debatten in der Funktion von „Kronzeuginnen“ auftreten, eine zentrale Rolle (vgl. Kapitel 3.2). Eine weitere Ebene der Diskursanalyse eröffnet die Frage nach den Diskursverschränkungen, denn Diskurse sind, wie Siegfried Jäger hervorhebt, „eng miteinander verflochten und miteinander verschränkt; sie bilden in dieser Verschränktheit das […] ‚diskursive Gewimmel‘, das zugleich im ‚Wuchern der Diskurse‘ resultiert und das Diskursanalyse zu entwirren hat; dabei ist darauf zu achten, wie sich verschiedene Diskursstränge beeinflussen, welche Überschneidungen, Überlappungen und Verschränkungen sich dabei ergeben und welche Effekte dadurch hervorgerufen werden“.26

Aus der Analyse von Diskursverschränkungen können, wie die Untersuchung des empirischen Materials zeigt, zudem wichtige Erkenntnisse in Hinblick auf das intersektionale Zusammenwirken verschiedener Dimensi-

23 Ebenda, S. 253. 24 Ebenda. 25 Ebenda, S. 255. 26 Jäger, Kritische Diskursanalyse, S. 132.

E INLEITUNG | 21

onen der sozialen Ungleichheit – wie „Rasse“27, Ethnizität28, Kultur, Religion, Geschlecht oder auch Klasse – in ausgrenzenden Diskursen gewonnen werden. In der nachfolgenden Auswertung der Quellen wird auf ausgewählte, den oben skizzierten Diskurstheorien entlehnte Analyseinstrumente zurückgegriffen, ohne sämtliche darin entwickelte analytische Kategorien zu adaptieren. Als Ausgangspunkt dient dabei die Annahme, dass jede Sprachhandlung, wie der Linguist Martin Wengeler hervorhebt, „gleichzeitig Produkt und Produzent gesellschaftlichen Wissens“ ist und „die Analyse von Sprachhandlungen in einem gegebenen Zeitraum unter Berücksichtigung der für die Handelnden zu beachtenden Voraussetzungen […] Rückschlüsse auf die Wirklichkeitssicht, das Wissen, die Mentalität der Handelnden“ erlaubt.29 Dieser Aspekt der Bewusstseinsbildung ist insofern von Bedeutung, als individuelles und kollektives Handeln davon beeinflusst werden.30

27 Mit dem Begriff „Rasse“ wird hier nicht auf eine vermeintliche biologische Realität, sondern ein soziales Konstrukt rekurriert, das, so Fatima El-Tayeb, „soziale, ökonomische, politische, psychologische Fakten geschaffen“ hat und „nachhaltig und bis in die Gegenwart unsere Wahrnehmung der Welt strukturiert“. Fatima El-Tayeb, Vorwort, in: Maureen Maisha Eggers u.a. (Hrsg.), Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, 2. überarb. Auflage, Münster 2009, S. 7. 28 Auch „Ethnizität“ ist ein Konstrukt, das – je nach Definition und Verwendung – auf genealogische Vorstellungen (gemeinsame „Abstammung“/„Herkunft“), somatische sowie kulturelle Merkmale (u.a. gemeinsame Sprache) rekurriert und bisweilen, wie Robert Miles und Malcolm Brown bemerken, genutzt wird „as a politically correct code word for ‚race‘“. Miles/Brown, Racism, S. 93. 29 Martin Wengeler, Argumentationsmuster und die Heterogenität gesellschaftlichen Wissens. Ein linguistischer Ansatz zur Analyse kollektiven Wissens am Beispiel des Migrationsdiskurses, in: Willy Viehöver/Reiner Keller/Werner Schneider (Hrsg.), Diskurs – Wissen – Sprache. Interdisziplinäre Beiträge zum Verhältnis von Sprache und Wissen in der Diskursforschung, Wiesbaden 2013, S. 151. 30 Zur Wirkungsweise von Diskursen und dem komplexen Verhältnis zwischen Diskurs und Bewusstsein vgl. u.a. Joachim Renn, Wie ist das Bewusstsein am Diskurs beteiligt? Handlungstheoretische Überlegungen zur performativen

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Wengeler schlägt zur Analyse von wiederkehrenden Diskurssegmenten (die im Foucaultschen Sinne als Aussagen eines Diskurses gelten können) den aus der Rhetorik stammenden Topos-Begriff vor, den er gleichbedeutend mit dem Begriff Argumentationsmuster verwendet.31 „Argumentationsmuster lassen sich in jedem inhaltlich bestimmten Diskurs auffinden, und ihre Analyse und evtl. die Auszählung ihrer Häufigkeit können dann Aussagen liefern über typische, wichtige oder dominante Denkweisen, Sichtweisen, Wahrnehmungsmuster bestimmter Gruppen, in einem bestimmten Zeitraum, bezogen auf ein bestimmtes Thema.“32

Wengeler bezieht sich mit seinem Topos-Konzept auf die Überlegungen zur Topik und Rhetorik von Aristoteles, der solche Sätze als einleuchtend bezeichnet, „die allen oder den meisten oder den Klugen so erscheinen“.33 Diese Bedingung weist auf die soziale Dimension von Topoi hin,34 da sie diejenigen Wissensbestände reflektieren, die eine soziale Gruppe zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt teilt. Angelehnt an Aristoteles versteht Wengeler Topoi daher als Argumentationsmuster, die „Aufschlüsse über kollektives, gesellschaftliches Wissen [geben], welches im Rahmen thematisch bestimmter öffentlicher Diskurse entweder explizit zur Sprache

Beziehung zwischen Semantik und Intentionalität, in: Reiner Keller u.a. (Hrsg.), Die diskursive Konstruktion von Wirklichkeit. Zum Verhältnis von Wissenssoziologie und Diskursforschung, Konstanz 2005, S. 101-126. 31 Vgl. Wengeler, Argumentationsmuster, S. 146. 32 Martin Wengeler, Topos und Diskurs. Möglichkeiten und Grenzen der topologischen Analyse gesellschaftlicher Debatten, in: Ingo H. Warnke (Hrsg.), Diskurslinguistik nach Foucault. Theorie und Gegenstände, Berlin/New York 2007, S. 171. 33 Aristoteles, Organon, Bd. I, Topik. Neuntes Buch oder Über die sophistischen Widerlegungsschlüsse, Hamburg 1997, S. 3 (100 b). 34 Vgl. dazu auch Hubert Knoblauch, Topik und Soziologie. Von der sozialen zur kommunikativen Topik, in: Thomas Schirren/Gert Ueding (Hrsg.), Topik und Rhetorik. Ein interdisziplinäres Symposium, Tübingen 2000, S. 651-667.

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kommt oder in sprachlichen Äußerungen, in Texten als verstehensrelevantes Hintergrundwissen zu Grunde gelegt und evoziert wird“.35

Letzterer Aspekt verweist darauf, dass Topoi nicht zwangsläufig der sprachlichen Oberfläche zu entnehmen sind, sondern aus Äußerungen bzw. Texten im Zuge eines Interpretationsprozesses abstrahiert werden müssen, da Positionen bzw. Behauptungen auch implizit begründet sein können. Die Topoi müssen also nicht explizit ausgesprochen werden, sondern können vom Zuhörer bzw. Rezipienten ergänzt werden. Der Topos-Begriff erscheint Wengeler deshalb insbesondere für die Analyse jener Texte geeignet, die einerseits auf Plausibilität zielen und andererseits die Argumentations- und Denkmuster, auf die sie rekurrieren, nicht unbedingt offenlegen, wie dies zum Beispiel bei öffentlich-politischer Argumentation und innerhalb kontroverser Debatten der Fall sei.36 Ein Topos hat zwar immer eine implizite oder explizite argumentative Funktion, er kann sich aber, so Wengeler, auch in einer Metapher, einem Stereotyp,37 einem Schlüsselwort oder einer Redewendung ausdrücken.38 Setzen sich die einzelnen Topoi eines Diskurses zu einem „erzählbaren“ Gefüge zusammen, so lässt sich von Narrativen oder narrativen Strukturen sprechen. Für Reiner Keller „konstituieren [sie] (bestreitbare) Weltzustände als Erzählungen, in denen es handelnde Akteure, Ereignisse, Herausforderungen, Erfolge und Niederlagen, ‚Gute‘ und ‚Böse‘ etc. gibt. […] Die dem kulturellen Wissensvorrat entstammenden oder auch im Diskurs selbst erzeugten Bausteine werden im jeweiligen Diskurs zu einer

35 Wengeler, Topos und Diskurs. Möglichkeiten und Grenzen der topologischen Analyse, S. 165. 36 Vgl. Wengeler, Argumentationsmuster, S. 153; Wengeler, Topos und Diskurs. Möglichkeiten und Grenzen der topologischen Analyse, S. 184. 37 Unter Stereotyp versteht Wengeler eine Bezeichnung für Aussagen über soziale Gruppen. Der Gegenstandsbereich der Topik umfasse daneben aber auch Aussagen zu Sachverhalten und damit ein breiteres Spektrum an Themen. Vgl. Martin Wengeler, Topos und Diskurs. Begründung einer argumentationsanalytischen Methode und ihre Anwendung auf den Migrationsdiskurs (1960-1985), Tübingen 2003, S. 223, Fußnote 59. 38 Ebenda, S. 197.

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besonderen ‚Erzählung‘ zusammengeführt, auf einen referentiellen Anlass bezogen und über einen roten Faden, eine story line zu Diskursen integriert. […] Durch den Rückgriff auf eine story line können Akteure diskursive Kategorien sehr heterogener Herkunft in einem mehr oder weniger kohärenten Zusammenhang aktualisieren.“ 39

Ein Narrativ zählt demnach mehr als eine Kette von Motiven oder Ereignissen auf, vielmehr müssen diese in einem kausalen Verhältnis zueinander stehen, also auseinander hervorgehen. Narrative sind sinnstiftend, da sie Erklärungen für ein Geschehen oder eine Handlung anbieten – zum Beispiel im Sinne eines Ursache-Wirkung-Zusammenhangs –, die zu einer Erzählung verwoben werden. Für die Analyse antimuslimischer Diskurse folgen daraus die Fragen, inwieweit die dominanten antimuslimischen Topoi darin eine kohärente „Erzählung“ über Islam und Muslime bilden oder ob sich Kontradiktionen ausmachen lassen und wie diese von den Akteuren eingeordnet, erklärt und gegebenenfalls in die antimuslimische Narration eingepasst werden. Insbesondere bei Verschwörungstheorien, die im Internet zirkulieren, werden widersprüchliche Topoi miteinander verknüpft: zum Beispiel die Vorstellung, dass es Musliminnen und Muslimen einerseits an intellektuellen Fähigkeiten mangele, sie aber zugleich nicht-muslimische Mehrheitsgesellschaften konspirativ unterwandern würden, wofür ein gewisses Maß an Intelligenz erforderlich erscheint. Wie Erkenntnisse der Vorurteilsforschung belegen, sind solche Widersprüche kein spezifisches Merkmal antimuslimischer Argumentationsweisen, sondern finden sich zum Beispiel auch in antisemitischen Diskursen.40

1.2 D IE B EDEUTUNG DER D ISKURSANALYSE FÜR DIE R ASSISMUSFORSCHUNG Ausgehend von den bisherigen diskurstheoretischen Überlegungen lassen sich Diskurse „als mehr oder weniger erfolgreiche Versuche verstehen, Bedeutungszuschreibungen und Sinn-Ordnungen zumindest auf Zeit zu stabi-

39 Keller, Wissenssoziologische Diskursanalyse, S. 251 f. 40 Vgl. Daniel J. Levinson, The study of anti-Semitic ideology, in: Theodor W. Adorno u.a., The authoritarian personality, Oxford 1950, S. 75 f.

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lisieren und dadurch eine kollektiv verbindliche Wissensordnung in einem sozialen Ensemble zu institutionalisieren“.41 Wenn man also davon ausgeht, dass kollektives Wissen in Diskursen zirkuliert, so gilt dies auch für rassistisches Wissen. Wissensordnungen stiften, wie Reiner Keller hervorhebt, „nicht nur die Bedeutungsstrukturen unserer Wirklichkeit, sondern sie haben auch reale Konsequenzen: Gesetze, Statistiken, Klassifikationen, Techniken, Artefakte oder Praktiken bspw. können als Diskurseffekte analysiert werden.“42 Aus Sicht der Rassismusforschung ist die Analyse von Diskursen deshalb so bedeutsam, weil diese nicht nur die Wahrnehmung von und Einstellung gegenüber Minderheiten beeinflussen, sondern sowohl auf einer institutionellen Ebene wirksam werden, als auch diskriminierendes Handeln in verschiedenen Formen nach sich ziehen bzw. dieses legitimieren können. Für Teun van Dijk haben „all dimensions of the study of prejudice, discriminiation, and racism also […] an important discursive dimension“.43 Er macht darauf aufmerksam, dass „ethnic prejudices and ideologies are not innate, and do not develop spontaneously in ethnic interaction. They are acquired and learned, and this usually happens through communication, that is, through text and talk. And vice versa, such racist mental representations are typically expressed, formulated, defended, and legitimated in discourse and may thus be reproduced and shared within the dominant group.“44

Van Dijk hebt die soziale Dimension diskursiver Praxis hervor und weist darauf hin, dass die Reproduktion rassistischer Diskurse nicht auf der Ebene individueller Äußerungen zu analysieren ist, sondern als kollektiver Wissensbestandteil einer Gesellschaft. Wenn Angehörige von Minderheiten herabgesetzt, beleidigt, gedemütigt, eingeschüchtert und bedroht werden, geschieht dies durch eine explizit diskriminierende diskursive Praxis. Die Reproduktion von Rassismus kann aber – insbesondere in der Alltagskom-

41 Reiner Keller, Diskursforschung. Eine Einführung für SozialwissenschaftlerInnen, Wiesbaden 2011, S. 8. 42 Keller, Wissenssoziologische Diskursanalyse, S. 237. 43 Van Dijk, Analyzing Racism, S. 94. Vgl. auch Reisigl/Wodak, Discourse and discrimination. 44 Van Dijk, Discourse and Racism, S. 146.

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munikation – auch subtilere Formen annehmen. Philomena Essed hat dies in ihrem Konzept des Alltagsrassismus herausgearbeitet: „Racism is more than structure and ideology. As a process it is routinely created and reinforced through everyday practices.“45 Ein rassismustheoretischer Zugang nimmt Diskurse als Verknüpfungen der Makro- und Mikroebene des Rassismus in den Blick – als institutionell/strukturell, ideologisch und im Alltag verankert. Um der Frage nachzugehen, wie sich Rassismus konkret diskursiv manifestiert, schlagen Martin Reisigl und Ruth Wodak fünf Leitfragen für die Analyse vor: 1. Wie werden Personen und Gruppen sprachlich bezeichnet – zum Beispiel durch die Verwendung von Metaphern und Synekdochen? (referential strategies), 2. Welche Merkmale, Eigenschaften und Fähigkeiten werden ihnen zugeschrieben? (predicational strategies), 3. Mithilfe welcher Argumente versuchen Personen bzw. soziale Gruppen, die Ausgrenzung, Diskriminierung, Unterdrückung oder Ausbeutung anderer (und damit ihre eigenen Privilegien) zu rechtfertigen? (argumentation strategies), 4. Von welcher Perspektive bzw. von welchem Standpunkt aus werden diese Benennungen, Zuschreibungen und Argumente vorgebracht? (perspectivation and framing strategies) und 5. Werden die diskriminierenden Äußerungen offenkundig oder in abgeschwächter Form bzw. implizit artikuliert? (mitigation and intensification strategies).46 Der letzte Aspekt ist insbesondere relevant für die Analyse verschiedener Diskursebenen, da davon auszugehen ist, dass im öffentlichen Diskurs andere Sagbarkeitsgrenzen auszumachen sind als zum Beispiel im Schutze der Anonymität des Internets (vgl. Kapitel 4.2) oder in nicht-öffentlichen Briefen und E-Mails (vgl. Kapitel 5), bei denen der Effekt der sozialen Erwünschtheit in den Äußerungen weniger ins Gewicht fallen dürfte. Die Frage, welche Eigenschaften einer anderen Gruppe zugeschrieben werden, gibt in rassistischen Diskursen zumindest implizit immer auch Auskunft darüber, wie die Eigengruppe gesehen wird. Da Rassismen eine bipolare Struktur zugrunde liegt, sind – wie Stuart Hall argumentiert – Aussagen über die Anderen spiegelbildlich zu den Vorstellungen über das Eigene angeordnet:

45 Philomena Essed, Understanding Everyday Racism. An Interdisciplinary Theory, Newbury Park 1991, S. 2. 46 Vgl. Reisigl/Wodak, Discourse and discrimination, S. 44 f.

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„Die ausgeschlossene Gruppe verkörpert das Gegenteil der Tugenden, die die Identitätsgemeinschaft auszeichnet. Das heißt also, weil wir rational sind, müssen sie irrational sein, weil wir kultiviert sind, müssen sie primitiv sein, wir haben gelernt, Triebverzicht zu leisten, sie sind Opfer unendlicher Lust und Begierde, wir sind durch den Geist beherrscht, sie können ihren Körper bewegen, wir denken, sie tanzen usw.“47

Die Analyse der „predicational strategies“, wie sie von Reisigl und Wodak genannt werden, gibt also nicht nur Aufschluss über Fremd-, sondern auch über Selbstbilder, die in Diskursen verhandelt werden. Die Frage, die Reisigl und Wodak aufwerfen, nach den diskursiven Legitimierungsstrategien für die Ausgrenzung und Abwertung von Minderheiten lässt sich mit dem Topos-Begriff, wie ihn Wengeler definiert hat, analysieren, da mit ihm spezifische Argumentationsmuster freigelegt werden können. Für eine Rassismusanalyse ist schließlich der Machtaspekt, den die auf Foucault rekurrierenden Diskurstheorien betonen, entscheidend, da die diskursive Zuschreibungsmacht von Gruppen asymmetrisch ausfallen kann. So macht es in Hinblick auf die diskursiven Effekte einen Unterschied, ob negative Zuschreibungen von einer dominanten Sprecherposition aus (also beispielweise von Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft48) gegenüber einer Minderheit vorgenommen werden – oder umgekehrt. Rassistische Diskurse regeln Ein- und Ausschlüsse innerhalb einer Gesellschaft; eine diskursanalytische Perspektive kann sichtbar machen, entlang welcher Kriterien sich die Einteilung in In- und Outgroup diskursiv vollzieht und damit zu einem Bestandteil kollektiven Wissens wird. Dies ist aus rassismustheoretischer Perspektive eine entscheidende Frage, wenn

47 Stuart Hall, Rassismus als ideologischer Diskurs, in: Nora Räthzel (Hrsg.), Theorien über Rassismus, Hamburg 2000, S. 14. 48 Der Begriff der „Mehrheitsgesellschaft“ soll keine Homogenität suggerieren und bezieht sich auch nicht nur auf die zahlenmäßige Größe der bezeichneten Gruppe, sondern rekurriert auf ihre hegemoniale Position. Diese eröffnet, so Iman Attia, „den Gesellschaftsmitgliedern Möglichkeiten, ihre Erfahrungen, Sichtweisen und Interessen zu repräsentieren und durchzusetzen.“ Iman Attia, Kulturrassismus und Gesellschaftskritik, in: Dies., Orient- und IslamBilder. Interdisziplinäre Beiträge zu Orientalismus und antimuslimischem Rassismus, Münster 2007, S. 6.

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man der Annahme folgt, dass Kategorien wie Ethnie und „Rasse“ sozial konstruiert sind und keine „natürlichen“ Unterscheidungsmerkmale darstellen. Rassismus kann laut Birgit Rommelspacher „als eine Legitimationslegende verstanden werden, die die Tatsache der Ungleichbehandlung von Menschen ‚rational‘ zu erklären versucht, obgleich die Gesellschaft von der prinzipiellen Gleichheit aller Menschen ausgeht [Hervorhebung im Original]“.49 Argumentationsketten, die zu einem solchen Erklärungszusammenhang verwoben werden, lassen sich mithilfe der Analyse von Narrativen nachvollziehen, da es sich bei ihnen um sinngebende Erzählungen handelt, die sozialen Akteuren bestimmte Rollen zuweisen und Deutungen von Ursache-Wirkungs-Beziehungen anbieten.

1.3 F RAGESTELLUNG

UND

A USWAHL

DER

Q UELLEN

Diskurse sind also stets an Raum und Zeit gebunden und können nur unter Berücksichtigung des sozialgeschichtlichen Kontextes, aus dem sie sich speisen und auf den sie einwirken, verstanden werden. „Wo immer wir Rassismus vorfinden“, so Stuart Hall, „entdecken wir, daß er historisch spezifisch ist, je nach der bestimmten Epoche, nach der bestimmten Kultur, nach der bestimmten Gesellschaftsform, in der er vorkommt“.50 Für die Untersuchung antimuslimischer Diskurse der Gegenwart ist folglich zu berücksichtigen, dass Musliminnen und Muslime in Westeuropa eine Minderheit formen, die sich überwiegend aus Migrantinnen und Migranten sowie ihren Nachfahren zusammensetzt. Diese sind entweder aus ehemaligen Kolonien eingewandert, wie in Frankreich oder Großbritannien, oder als Arbeitsmigranten und Flüchtlinge hierhergekommen, wie es in Deutschland hauptsächlich der Fall ist. Fragen der Schichtzugehörigkeit stellen daher eine wichtige Analysekategorie für die Erforschung antimuslimischer Diskurse dar. Dieser Aspekt bildet zum Beispiel einen Unterschied zwischen der Situation in Europa und den USA. Dort haben Musliminnen und Mus-

49 Birgit Rommelspacher, Was ist eigentlich Rassismus?, in: Claus Melter/Paul Mecheril (Hrsg.), Rassismuskritik, Bd. 1, Rassismustheorie und -forschung, Schwalbach/Ts. 2009, S. 26. 50 Hall, Rassismus als ideologischer Diskurs, S. 11.

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lime – mit Ausnahme der African-American Muslims – einen vergleichbaren sozio-ökonomischen Hintergrund wie die Durchschnittsbevölkerung und gehören damit überwiegend einer gebildeten Mittelschicht mit stabilem Einkommen an.51 Diese strukturelle Differenz könnte einen Erklärungsansatz dafür liefern, warum in Europa Stereotype über „sozialschmarotzende“ Muslime, die ein „parasitäres“ Dasein führten, dominanter sind als in den USA, wo häufiger Verschwörungstheorien über vermeintlich einflussreiche Muslime anzutreffen sind. Darunter fällt etwa die Vorstellung, dass Präsident Obama ein heimlicher Muslim sei – ein Verdacht, den laut Umfragen im Jahr 2010 etwa ein Fünftel der Amerikaner hegte.52 Verschiedene, teils widersprüchliche Topoi von einerseits zivilisatorisch rückständigen und unterlegenen sowie andererseits mächtigen und bedrohlichen Musliminnen und Muslimen verweisen darauf, dass sich antimuslimische Diskurse nicht notwendigerweise zu einem kohärenten Narrativ verbinden. Vielmehr reflektieren diese Topoi unterschiedliche Wahrnehmungstraditionen. Eine solche Traditionslinie stellen orientalistische Diskurse des ausgehenden 18. und vor allem 19. Jahrhunderts dar. Sie stehen, wie der Literaturwissenschaftler Edward Said dargelegt hat, in enger Verbindung zum Kolonialismus.53 In ihnen verbinden sich kolonialistisches Superioritätsdenken in Bezug auf Islam und Muslime mit einer gleichzeitigen Faszination für den exotischen Orient als Sehnsuchtsort. Orientalistische Diskurse unterscheiden sich damit deutlich von den apokalyptischen Bedrohungsszenarien mittelalterlicher und frühneuzeitlicher

51 Vgl. Raida Chbib, Socioeconomic Integration of Muslims in Germany and the United States, in: American Institute for Contemporary German Studies (Hrsg.), The Many Sides of Muslim Integration. A German-American Comparison, Washington D.C. 2010, S. 17-29; Jocelyne Cesari, Islamophobia in the West. A Comparison between Europe and the United States, in: John L. Esposito/Ibrahim Kalin (Hrsg.), Islamophobia. The Challenge of Pluralism in the 21st Century, New York 2011, S. 27. 52 Vgl. Studie des Pew Research Centers for the People & the Press und des Pew Forums on Religion & Public Life „Growing Number of Americans Say Obama is a Muslim. Results from the 2010 Annual Religion and Public Life Survey“, http://www.pewforum.org/files/2010/08/growingnumber-full-report.pdf (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014). 53 Vgl. Edward W. Said, Orientalism, New York 2003.

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europäischer Islambilder.54 Dieser Wandel, der mit dem Kolonialismus einherging, ist Gegenstand des nächsten Kapitels, in dem überdies die Wahrnehmungsverschiebung von Muslimen als äußerem Feind hin zum „Anderen“ und „Fremden“ im Inneren Europas diskutiert wird. Den gegenwärtigen antimuslimischen Diskursen kommt, wie in diesem Kapitel unter anderem anhand von Debattenbeiträgen von Politikerinnen und Politikern sowie Intellektuellen herausgearbeitet wird, eine identitätsstiftende Funktion zu. Auf nationaler Ebene schlägt sich dies in sogenannten Leitkulturdebatten nieder, auf übernationaler Ebene wird Europa im Kontext des europäischen Einigungsprozesses als christliches Abendland (re-)konstruiert. Diese Funktion, die nationale und europäische Identität zu stabilisieren, erfüllte in der Vergangenheit in erster Linie die Abgrenzung zum Judentum, das nun im Zuge aktueller Debatten um Islam und Muslime in die „abendländische Identität“ inkorporiert wird. An die muslimische Präsenz infolge von Einwanderungsprozessen sind in Westeuropa Fragen der Aushandlung von Zugehörigkeit und der Verteilung symbolischer und materieller Ressourcen geknüpft. Die Analyse der Diskurse zeigt, dass es verkürzt wäre, antimuslimische Argumentationen vornehmlich auf Konflikte um religiöse Fragen zurückzuführen und damit auf eine Form der religiösen Intoleranz zu reduzieren. Vielmehr lässt sich ein Trend zur Ethnisierung von Religionszugehörigkeit und religiöser Aufladung ethnischer Zuordnungen ausmachen. Ausgehend von diesen Beobachtungen wird in den Kapiteln 2.1 und 2.2 eine theoretische Einordnung der gegenwärtigen antimuslimischen Diskurse vorgenommen. Dabei wird die Frage erörtert, inwiefern diese Diskurse als Ausdruck von antimuslimischem Rassismus zu werten sind – ein Rassismus, der in erster Linie Bezug auf die Merkmale Kultur und Religion nimmt, sich aber zuweilen auch mit biologistischen Argumentationsweisen vermischt, wie die Vorstellung einer demografischen Bedrohung durch Musliminnen und Muslime illustriert. Die theoretische Einordnung wirft auch die Frage auf, welche Rolle die Religion im antimuslimischen Rassismus spielt. Die Begriffe „Islamophobie“55 oder „Islamfeindlichkeit“ sind vielfach dafür kritisiert worden, dass

54 Vgl. Almut Höfert, Den Feind beschreiben. „Türkengefahr“ und europäisches Wissen über das Osmanische Reich 1450-1600, Frankfurt am Main 2003. 55 In der Wissenschaft werden seit etwa 15 Jahren verschiedene Begriffe – Islamophobie, Feindbild Islam, Islamfeindlichkeit, antimuslimischer Rassismus, Anti-

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sie in die Irre führten, da sie den Islam anstelle der Muslime als Objekt der Diskriminierung in den Mittelpunkt rücken. Der Politikwissenschaftler Fred Halliday brachte es auf den Punkt: „The enemy is not a faith or a culture, but a people.“56 Daran schließt sich allerdings die Frage an, ob es möglich ist, den Islam abzulehnen oder gar zu hassen und gleichzeitig Musliminnen und Muslimen gegenüber neutral zu sein – mit anderen Worten, den Islam von den Muslimen zu separieren. Diese Argumentationsfigur wird vor allem in rechtspopulistischen Milieus und auf antimuslimischen Webseiten bemüht (vgl. Kapitel 4.2). Interessant ist in diesem Zusammenhang beispielsweise der Slogan „Gib Islam keine Chance“, der im deutschsprachi-

muslimismus, Antiislamismus, Muslimfeindlichkeit – diskutiert, die unterschiedliche theoretische Konzepte reflektieren und mit denen die negative Haltung gegenüber Musliminnen und Muslimen sowie die Stereotypisierungen, denen sie diskursiv unterworfen sind, ihre gesellschaftliche Ausgrenzung und strukturelle Diskriminierung erfasst werden sollen. Im englischsprachigen Raum hat sich der Terminus „Islamophobia“ mittlerweile weitgehend durchgesetzt. Eingeführt in die breitere wissenschaftliche Diskussion wurde dieser zu Beginn des 20. Jahrhunderts erstmals bei französischen Autoren nachgewiesene Neologismus durch den britischen Think tank Runnymede Trust, der 1997 den Report „Islamophobia. A Challenge For Us All“ publizierte. Die Commission on British Muslims and Islamophobia definierte den Begriff darin als „dread or hatred of Islam – and, therefore, to fear or dislike of all or most Muslims“. The Runnymede Trust, Islamophobia. A Challenge For Us All, London 1997, S. 1. Damit stellten die Autoren einen Zusammenhang her zwischen der Ablehnung des Islams als Religion und der Ablehnung der Anhänger dieser Religion. 56 Fred Halliday, „Islamophobia“ reconsidered, in: Ethnic and Racial Studies 22 (1999), S. 898. Vgl. zur Begriffsdiskussion auch Chris Allen, Islamophobia, Farnham 2010, S. 135 ff.; Fernando Bravo López, Towards a definition of Islamophobia. Approximations of the early twentieth century, in: Ethnic and Racial Studies 34 (2011), S. 556-573; Brian Klug, Islamophobia. A concept comes of age, in: Ethnicities 12 (2012), S. 665-681; Armin Pfahl–Traughber, Die fehlende Trennschärfe des „Islamophobie“-Konzepts für die Vorurteilsforschung. Ein Plädoyer für das Alternativ-Konzept „Antimuslimismus“ bzw. „Muslimfeindlichkeit“, in: Gideon Botsch u.a. (Hrsg.), Islamophobie und Antisemitismus – ein umstrittener Vergleich, Berlin 2012, S. 11-28.

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gen Internet und auf Aufklebern verbreitet wird.57 Er stellt eine Adaption des bekannten Slogans „Gib Aids keine Chance“ dar, der seit 25 Jahren in den Anti-Aids-Kampagnen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung benutzt wird. Der Islam wird auf diese Weise mit einer tödlichen Krankheit gleichgesetzt. Da „der Islam“ aber kein sozialer Akteur ist, stellt sich die Frage, ob Musliminnen und Muslime hier nicht zwangsläufig mit gemeint sind, wenn ihre Religion pars pro toto attackiert wird. Die Analyse der Rhetorik auf antimuslimischen Webseiten verdeutlicht, dass dort vielfach vorgeblich der Islam angegriffen wird, tatsächlich aber die Mitglieder dieser Religionsgemeinschaft ausgegrenzt werden sollen. Solche Argumentationsstrategien lassen sich in den letzten Jahren verstärkt im Zusammenhang mit einer ideologisch geschlossenen Islamfeindlichkeit ausmachen, die die Religion in den Mittelpunkt ihrer Argumentation rückt und den antimuslimischen Rassismus mit Verschwörungstheorien über eine drohende „Islamisierung Europas“ anreichert. Diese Islamfeindlichkeit findet vornehmlich über das Internet Verbreitung, das als Kommunikationsmedium geringen rechtlichen Sanktionsdrohungen unterliegt und gegenüber dem öffentlichen Diskurs eine Radikalisierung ermöglicht. Für Rassismusanalysen hat die Kategorie Geschlecht eine große Bedeutung.58 Die Studien im dritten Kapitel untersuchen dominante Geschlechterstereotype in aktuellen Islam-Diskursen und gehen der Frage nach, inwieweit diese zur Legitimation antimuslimischer Haltungen herangezogen werden (vgl. Kapitel 3.1). Eine besondere Rolle kommt in diesen Diskursen muslimischen oder als solchen wahrgenommenen Sprecherinnen zu, die als „authentische“ Kronzeuginnen zur Beglaubigung antimuslimischer Positio-

57 Vgl. „Im Vergleich: Islamkritische Facebook-Seiten“, in: Politically Incorrect vom 4.2.2013, http://www.pi-news.net/2013/02/im-vergleich-islamkritische-fac ebook-seiten/ (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014). 58 Vgl. z.B. Patricia Hill Collins, Black Feminist Thought. Knowledge, Consciousness, and the Politics of Empowerment, Boston 1990; Katharina Walgenbach, „Die weiße Frau als Trägerin deutscher Kultur“. Koloniale Diskurse über Geschlecht, „Rasse“ und Klasse im Kaiserreich, Frankfurt am Main 2005; Encarnación Gutiérrez Rodríguez, Intersektionalität oder: Wie nicht über Rassismus sprechen?, in: Sabine Hess/Nicola Langreiter/Elisabeth Timm (Hrsg.), Intersektionalität revisited. Empirische, theoretische und methodische Erkundungen, Münster 2011, S. 77-100.

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nen funktionalisiert werden (vgl. Kapitel 3.2). So ist es sicherlich kein Zufall, dass Thilo Sarrazin die türkeistämmige Soziologin und Publizistin Necla Kelek ausgewählt hat, um sein Buch „Deutschland schafft sich ab“ im Haus der Bundespressekonferenz vorzustellen.59 Darin schreibt er: „Ich bin ganz froh, dass ich Necla Kelek zitieren kann“, denn anders als ihm könne man Kelek als „Deutsch-Türkin“ und damit Angehörige der von ihm kritisierten Minderheit wohl kaum Rassismus vorwerfen.60 Für die diesem Buch zugrundeliegenden Fallstudien wurde ein breites Spektrum an Quellen ausgewertet: Der etablierte öffentliche Diskurs wurde sowohl anhand von auflagenstarken Sachbüchern – unter anderem von Thilo Sarrazin, Necla Kelek und Peter Scholl-Latour (vgl. Kapitel 2.1, 2.2. und 3.2) – als auch von Artikeln aus seriösen Printmedien (vgl. Kapitel 4.1) in den Blick genommen. Für die Untersuchung dominanter Geschlechterstereotype in aktuellen Islam-Diskursen wurden darüber hinaus auch Bildquellen wie die Cover der Magazine „DER SPIEGEL“ und „Stern“ herangezogen (vgl. Kapitel 3.1). Eine weitere Diskursebene eröffnet das Internet als eine Art zweite (anonyme) Öffentlichkeit. Ausgewertet wurden Textund Bildquellen aus dem englisch- und insbesondere deutschsprachigen Internet aus dem Zeitraum August 2007 bis Dezember 2013 (vgl. Kapitel 4.2 und 4.3). Ein gänzlich anderes Korpus bilden die Zuschriften an muslimische Verbände und die Türkische Gemeinde in Deutschland, die im fünften Kapitel einer Analyse unterzogen werden. Sie stellen eine Form der niedrigschwelligen Alltagskommunikation dar und adressieren, anders als die in den vorangehenden Studien zugrunde gelegten Quellen, die sich an die Mehrheitsgesellschaft und damit an die Eigengruppe der Akteure wenden, das Objekt der Ablehnung – „die Muslime“ – direkt. Ausgehend von sprachphilosophischen Überlegungen zu Akten sprachlicher Gewalt bzw. zu gewaltvollem Sprechen und rassismustheoretischen Überlegungen zu

59 Am 30.8.2010 stellte Thilo Sarrazin sein Buch „Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen“ im Berliner Haus der Bundespressekonferenz vor Journalistinnen und Journalisten vor. Neben ihm und dem Pressesprecher der Deutschen Verlags-Anstalt, Markus Desaga, nahm auch die Soziologin und Publizistin Necla Kelek an der Buchpräsentation als Fürsprecherin Sarrazins teil. 60 Thilo Sarrazin, Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen, München 2010, S. 306 f.

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diskriminierender Rede und zu „Hate-Speech“ behandelt das fünfte Kapitel darüber hinaus die Frage, inwieweit sich in den Zuschriften an muslimische Verbände bzw. die Türkische Gemeinde in Deutschland verbale Gewalt und verbale Diskriminierung manifestieren. Wie Reiner Keller feststellt, aktualisieren und reproduzieren einzelne Diskursfragmente „eine Diskursstruktur nie völlig identisch, sondern immer in Form mehr oder weniger weitreichender Abweichungen. […] ‚Aktualisierung‘ kann also in zweifachem Sinne verstanden werden: Als Überführung einer Diskursstruktur in ein tatsächliches Ereignis und als damit einhergehende Modifikation bzw. Einpassung in die aktuellen Bedingungen eines situativen Kontextes.“61

Interessant erscheint im Vergleich der Fallbeispiele daher, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen dem etablierten Diskurs, dem Internet und der nicht-öffentlichen Kommunikation in Form der Zuschriften bestehen und inwiefern darin die gleichen antimuslimischen Topoi und Narrative in verschiedener Gestalt zum Ausdruck kommen. Eine weitere Frage ist die nach den Diskurskoalitionen, die sich in antimuslimischen Argumentationszusammenhängen zwischen verschiedenen politischen Milieus bilden. Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht zum Beispiel die partielle Anschlussfähigkeit feministischer Argumentationen für ein rechtspopulistisches Milieu, das sich ansonsten nicht unbedingt dem Kampf um Frauenrechte verschrieben hat (vgl. Kapitel 3.1, 3.2 und 4.2). Als Leitfragen der Fallbeispielanalysen in dieser Arbeit dienen also die Fragen danach, welche aktuellen antimuslimischen Argumentationsmuster existieren, was für Funktionen sie erfüllen, welche Selbst- und Fremdbilder darin artikuliert werden und welche Rolle dabei historische Bezüge spielen.

61 Keller, Wissenssoziologische Diskursanalyse, S. 237.

2 Historische Traditionslinien und theoretische Einordnung antimuslimischer Diskurse

2.1 V OM „ ÄUSSEREN F EIND “ ZUM „A NDEREN IM I NNEREN “. A NTIMUSLIMISCHER R ASSISMUS IM K ONTEXT DER M IGRATIONSGESELLSCHAFT In seiner Rede zum 20. Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung am 3. Oktober 2010 ging der damalige Bundespräsident Christian Wulff ausführlich auf das Thema Deutschland als Einwanderungsland ein. In Anspielung auf die Debatte um die Thesen von Thilo Sarrazin forderte Wulff ein „Verständnis von Deutschland, das Zugehörigkeit nicht auf einen Pass, eine Familiengeschichte oder einen Glauben verengt, sondern breiter angelegt ist“. Dann folgte eine Passage, die eine neue Leitkultur-Debatte auslösen sollte: „Das Christentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das Judentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das ist unsere christlich-jüdische Geschichte. Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland.“62 Nachdem die Presse zunächst gemeldet hatte, dass Wulffs Rede parteiübergreifend wohlwollend aufgenommen worden sei, erhob sich am darauffolgenden Tag harsche Kritik aus den Reihen der CDU/CSU. Der damalige

62 Christian Wulff, „Vielfalt schätzen, Zusammenhalt fördern“. Rede zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2010, S. 6, http://www.bundes praesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Christian-Wulff/Reden/2010/10/20101003 _Rede_Anlage.pdf?__blob=publicationFile, (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014).

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Vorsitzende der CSU-Landesgruppe im Bundestag und spätere Bundesinnenminister, Hans-Peter Friedrich, äußerte gegenüber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“: „Um das klar zu sagen: Die Leitkultur in Deutschland ist die christlich-jüdisch-abendländische Kultur. Sie ist nicht die islamische und wird es auch nicht in Zukunft sein. […] Dass der Islam Teil unserer Kultur ist, unterschreibe ich nicht.“63 Auch CDU-Fraktionschef Volker Kauder distanzierte sich von Wulffs Rede: „Ich teile nicht die Auffassung des Bundespräsidenten, der Islam gehöre zu Deutschland. […] Das auf unserer christlich-jüdischen Tradition beruhende Grundgesetz kann durch nichts relativiert werden, schon gar nicht durch einen Islam, der die Scharia vertritt und zur Unterdrückung der Frauen führt.“64

Ähnlich positionierten sich eine Reihe weiterer CDU/CSU-Politiker wie Wolfgang Bosbach oder Manfred Weber, aber auch Publizistinnen und Schriftstellerinnen wie Helga Hirsch und Monika Maron argumentierten in diese Richtung. So schrieb Maron: „Zu Deutschland gehören der Rechtsstaat, die Gleichstellung der Geschlechter, die Freiheit der Kunst, die Meinungs- und Religionsfreiheit, die Solidargemeinschaft, das Recht auf Bildung und gewaltfreie Erziehung. Aber nicht der Islam“, denn dieser sei im Gegensatz dazu gekennzeichnet durch „die Scharia, die Unterdrückung der Frauen und der Meinungsfreiheit, de[n] Anspruch auf den einzigen und alleinigen Gott“.65 Die BILD-Zeitung veröffentlichte am 5. Oktober eine von ihr in Auftrag gegebene repräsentative Umfrage, der zufolge 66 Prozent der Bundesbürgerinnen und -bürger Wulffs symbolische Inklusion des Islams ablehnten.66 Schließlich fühlte sich auch die Bundeskanzlerin Angela Merkel bemüßigt klarzustellen: „Es gilt in Deutschland ganz eindeutig das Grundgesetz und nicht die Scharia.“67 Außerdem sei die „über Jahrhunderte, wenn

63 „Die CSU gegen Wulff: Leitkultur ist nicht die islamische“, in: FAZ vom 6.10.2010. 64 „Kauder kritisiert Wulff“, in: Frankfurter Rundschau vom 8.10.2010. 65 „Der Islam gehört nicht zu Deutschland“, in: Der Tagesspiegel vom 5.10.2010. 66 Vgl. „Wulffs Islam-Rede. So denken die Deutschen“, in: BILD vom 5.10.2010. 67 „Kanzlerin Merkel in Wiesbaden. Mitten im Entfremdungsprozess“, in: FAZ vom 7.10.2010.

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nicht Jahrtausende“ zurückreichende „christlich-jüdische Tradition“ hierzulande die „prägende Kraft“.68 2.1.1 Aushandlung einer deutschen Identität All diese Äußerungen, die von einer Essentialisierung, Dichotomisierung und Hierarchisierung von Kulturen und Religionen durchzogenen sind, sind Bestandteile von gegenwärtig nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich, den Niederlanden, Großbritannien, Österreich, Belgien, Dänemark, der Schweiz und anderen europäischen Ländern äußerst virulenten antimuslimischen Narrativen. Deren Kontext bildet zwar die Regelung von Ein- und Ausschluss innerhalb der europäischen Migrationsgesellschaften, sie schöpfen aber auch aus historisch tradierten europäischen Sichtweisen auf „den Islam“ und „die Muslime“. Die in der Diskussion um Wulffs Rede ebenfalls zutage tretende Verengung des deutschen Einwanderungsdiskurses auf als Muslime markierte Migrantinnen und Migranten folgt einem derzeitigen Trend. Dabei sind im öffentlichen Diskurs einerseits „die Muslime“ überrepräsentiert, andererseits bleiben andere Minderheiten unsichtbar oder werden als Kontrastfiguren instrumentalisiert, um antimuslimischen Rassismus zu legitimieren.69

68 „Es gilt das Grundgesetz und nicht die Scharia“, in: Süddeutsche Zeitung vom 6.10.2010. 69 Die Strategie, Minoritäten gegeneinander auszuspielen, indem eine Hierarchisierung zwischen unerwünschten und angeblich erwünschten bzw. nützlichen Migranten vorgenommen wird, stellt eine beliebte Legitimierung rassistischer Argumentationen dar. Zuletzt hat sich Thilo Sarrazin erfolgreich dieser Strategie bedient. Er betont immer wieder, er habe beispielsweise nichts gegen Vietnamesen, da diese im Gegensatz zu den „integrationsunwilligen“ Arabern und Türken aufstiegs- und bildungsorientiert seien. Die SPD-Schiedskommission befand daraufhin in einem ersten Parteiordnungsverfahren gegen ihn, dass man ihm keine unzulässige Verallgemeinerung und damit keinen Rassismus vorwerfen könne, schließlich habe er ja zwischen einzelnen Migrantengruppen differenziert (vgl. Entscheidung der Landesschiedskommission der Berliner SPD vom 12.3.2010, S. 7, http://www.spd-berlin.de/w/files/spd-presse/pe-012-schiedskom mission-zu-sarrazin.pdf, zuletzt aufgerufen am 1.6.2014).

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In der Verknüpfung der Themen islamische Religion und Migration/ Integration zeigt sich eine spätestens seit der ersten Leitkultur-Debatte70 im Jahre 2000 beobachtbare massive Verschiebung der Wahrnehmung, im Zuge derer aus den ehemaligen „Gastarbeitern“, „Türken“ und „Ausländern“ zusehends „Muslime“ geworden sind.71 Dass die Kultur und damit inhärent auch die Religion als dominante Grenzmarkierung zwischen „Eigenem“ und „Fremdem“ bemüht wird, hängt zum einen sicherlich mit der zunehmenden Sichtbarkeit praktizierender Musliminnen und Muslime, zum Beispiel durch den Bau repräsentativer Moscheen, zusammen, und zum anderen mit der medialen Präsenz des Themas Islam und Muslime infolge der Terroranschläge des 11. Septembers 2001. Es fällt jedoch auf, dass die erste Leitkultur-Debatte zeitlich auf die Änderung des Staatsbürgerschaftsrechts 1999 folgte. Wie der Politikwissenschaftler Hartwig Pautz herausgearbeitet hat, ist die Debatte um eine „Leitkultur“ in engem Zusammenhang mit dieser Reform zu sehen: „The Leitkultur debate was meant to reconstruct […] new boundary lines between nationals and immigrants. No longer was the obsolete ius sanguinis – that is, national identity based on German descent – to be used to define who was part of the national body; rather, what I term ius cultus was to mark this boundary.“72

Die Ergänzung des bis dahin geltenden „Abstammungsprinzips“ um das „Geburtsortsprinzip“ verleiht in Deutschland geborenen Kindern von Ausländern ein Anrecht auf die deutsche Staatsbürgerschaft. Die Nachkommen von Migrantinnen und Migranten sind nun von Geburt an Deutsche. Diese Aufweichung des auf „Abstammung“ basierenden Nationsverständnisses ging interessanterweise mit neuen Ausgrenzungsmechanismen einher: Die religiöse und kulturelle Identität hat bei der Aushandlung von Zugehörig-

70 Der damalige Fraktionsvorsitzende der CDU, Friedrich Merz, führte den Begriff der „deutschen Leitkultur“ im Jahr 2000 in die politische Debatte ein, um damit einen hegemonialen Wertekonsens zu beschreiben, an den sich Einwanderinnen und Einwanderer anzupassen hätten. 71 Vgl. Riem Spielhaus, Religion und Identität. Vom deutschen Versuch, „Ausländer“ zu „Muslimen“ zu machen, in: Internationale Politik (2006), H. 3, S. 28-36. 72 Hartwig Pautz, The Politics of Identity in Germany: the Leitkultur Debate, in: Race & Class 46 (2005), H. 4, S. 41.

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keit massiv an Bedeutung gewonnen; mit ihr kann, wie die Debatte um die Rede des Bundespräsidenten Wulff veranschaulicht, Ausgrenzung fortgeschrieben werden. Mittels der Vorstellung einer „Leitkultur“, die auf eine (nie vollendete) Assimilation73 des kulturell Anderen abzielt, kann, so Pautz, auch in Zeiten einer brüchig werdenden „Abstammungsgemeinschaft“ die Fiktion einer homogenen Nation aufrechterhalten werden, denn sie wirkt gemeinschaftsstiftend und schafft zugleich neue Mechanismen der In- und Exklusion.74 Nicht nur „die Muslime“ erscheinen in diesen Debatten oft als ein monolithischer Block, der einen Fremdkörper in der Gesellschaft bildet. Das Konstrukt einer „Leitkultur“ suggeriert auch in den Reihen der Mehrheitsbevölkerung eine Homogenität und überdeckt damit Gegensätze im Inneren. Als Vertreterinnen und Vertreter der SPD und der Partei Bündnis 90/Die Grünen inmitten der Diskussion um die Äußerung des Bundespräsidenten auch noch die staatliche Anerkennung des Islams als Religionsgemeinschaft forderten, wurde dieser Vorstoß in Richtung Gleichstellung mit den christlichen Kirchen und dem Zentralrat der Juden aus Unions-Kreisen scharf attackiert: CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt mahnte, „dass Integration nicht über eine Aufweichung und Zurücksetzung unserer eigenen Leitkultur und Werteordnung laufen darf. […] Der Islam ist mit gutem Grund keine den christlichen Kirchen gleichgestellte Religionsgemeinschaft, und es wäre ein fataler Kurzschluss, damit die christlich-jüdische Prägung unserer Leitkultur in Frage zu stellen. […] Wir müssen von den Migranten Respekt dafür einfordern, dass sie in Deutschland unsere Kultur vorfinden und dass diese die maßgebliche ist.“75

73 Wie Étienne Balibar treffend bemerkt, steht die Assimilation, die rassifizierten Gruppen abverlangt wird, immer im Verdacht, sie „sei oberflächlich, unvollständig und bloß vorgetäuscht“. Étienne Balibar, Gibt es einen „NeoRassismus“?, in: Ders./Immanuel Wallerstein, Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente Identitäten, Hamburg 1992, S. 33. Die Assimilationsforderung ist daher kein Inklusionsangebot an Exkludierte, vielmehr manifestiert sich darin die Festschreibung von Differenz. 74 Vgl. Hartwig Pautz, Die deutsche Leitkultur. Eine Identitätsdebatte. Neue Rechte, Neorassismus und Normalisierungsbemühungen, Stuttgart 2005. 75 „Keine Gleichstellung des Islam“. Pressemitteilung der CSU vom 7.10.2010.

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Es ist die Stärke des schillernden Begriffs „Leitkultur“, dass er eine semantische Leerstelle repräsentiert, die jeder seinen Bedürfnissen entsprechend füllen kann. Was der Begriff – wie Dobrindts Aussage illustriert – jedoch zweifelsfrei verspricht, ist Dominanz und Hegemonie. Antimuslimische Narrative dienen, wie solche Äußerungen veranschaulichen, nicht nur der Abgrenzung nach außen, sondern auch einer Selbstvergewisserung und Identitätsstiftung nach innen. Diese Dimension, das „Eigene“ zu konsolidieren, zeigt sich auch in der Wir-Sie-Dichotomie, die die Argumentation der Wulff-Kritiker durchzieht. Die in der Debatte äußerst präsente Anrufung einer „abendländischen“ Identität nimmt nicht nur Bezug auf das zeitgenössische Konstrukt eines westlichen Europa, sondern appelliert, wie die Aussage Merkels in Hinblick auf die „über Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende“ zurückreichende „christlich-jüdische Tradition“ zeigt, auch an das kollektive Gedächtnis. Dabei wird in einer relativ neuen Argumentationsfigur in politischen und medialen Debatten das jüdisch-christliche Abendland in Abgrenzung zum Islam beschworen. Die Philosophin Almut Shulamit Bruckstein hat sich während der Diskussion um Wulffs Rede kritisch mit dieser Inkorporierung des Jüdischen auseinandergesetzt und kommt zu dem Schluss: „Es stockt einem der Atem bei so viel Geschichtsvergessenheit.“ Sie hebt hervor, dass es „keine jüdisch-christliche Tradition“ gab, diese vielmehr „eine Erfindung der europäischen Moderne und ein Lieblingskind der traumatisierten Deutschen“ sei. „Erst nach der Schoah hat in Deutschland ein jüdischchristlicher Dialog begonnen.“76 2.1.2 Traditionslinien des antimuslimischen Rassismus Seit Jahrhunderten galten die Juden als Europas Andere. Die verschiedenen Formen ihrer Ausgrenzung und Verfolgung ziehen sich durch die Zeiten bis zum Kulminationspunkt, dem Völkermord im 20. Jahrhundert. Muslime wurden dagegen seit dem Mittelalter eher als äußerer Feind wahrgenommen. Erst im Zuge der postkolonialen Migration nach Westeuropa bzw. mit der Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften durch die Bundesrepublik leben zahlenmäßig große muslimische Minderheiten hier und haben die

76 „Die jüdisch-christliche Tradition ist eine Erfindung“, in: Der Tagesspiegel vom 12.10.2010.

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Position des Anderen im Inneren eingenommen. Wie die Religionshistorikerin Gerdien Jonker in ihren Studien zur europäischen Islamwahrnehmung zeigt, spielte die Abgrenzung gegenüber Musliminnen und Muslimen aber schon sehr früh eine wichtige Rolle bei der Herausbildung einer christlichen europäischen Identität: „Nicht zufällig etablierte sich die Selbstbezeichnung ‚Europa‘ in der Bevölkerung erstmals während der Kreuzzugsmobilisierung gegen die vorrückenden Osmanen. Konnte sich deren Urheber, Papst Piccolomini, am Ende militärisch auch nicht durchsetzen: Dieser prägte die Wahrnehmung der früheren Kreuzzüge entscheidend, indem er sie rückblickend zur notwendigen Verteidigung des christlichen Europas gegen den aufrückenden muslimischen Feind umdeutete. Damit hatte das populäre sowie das historische Gedächtnis Europas ihr [sic] identitätsstiftendes Feindbild.“77

Im Rahmen des mittelalterlich-christlichen Weltbildes wurde Differenz hauptsächlich entlang der religiösen Identität konstruiert.78 Den Christen standen Heiden, die die Heilsbotschaft noch nicht angenommen hatten, und Häretiker, die vom Glauben abgefallen waren, gegenüber. In dieses Wahrnehmungsmuster wurden auch Muslime eingepasst, die zunächst als „Sarazenen“ oder – in biblischer Erzähltradition als Abkömmlinge Ismaels, dem Sohn von Abraham und seiner Sklavin Hagar – als „Ismaeliten“ oder „Hagarener“ bezeichnet wurden, bevor aus ihnen nach der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen 1453 „Türken“ wurden. Zentrales Motiv bei der Einordnung von Muslimen, so die Historikerin Almut Höfert, war die Figur des Antichristen, „mit dem nicht nur Nichtchristen als äußere Glaubensfeinde, sondern auch Christen als teuflische Gegenspieler des wahren Glaubens disqualifiziert wurden“.79 Damit verknüpft war die Figur des Häretikers, „der eine falsche Botschaft verbreitet, teuflische Wunder tut, sich sexuellen Ausschweifungen hingibt, am Ende jedoch den gerech-

77 Jonker, Im Spiegelkabinett, S. 154. 78 Vgl. Almut Höfert, Alteritätsdiskurse. Analyseparameter historischer Antagonismusnarrative und ihre historiographischen Folgen, in: Gabriele HaugMoritz/Ludolf Pelizaeus (Hrsg.), Repräsentationen der islamischen Welt, Münster 2010, S. 21-40. 79 Ebenda, S. 25.

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ten Tod erleidet“.80 In diesem Zusammenhang wurde insbesondere der Prophet Mohammed als Lügner, Betrüger, falscher Prophet und Antichrist attackiert.81 Der evangelische Theologe Thomas Naumann erklärt dies mit der Provokation, die aus dem Selbstverständnis Mohammeds herrührt, zwar nicht der erste, dafür aber der letzte Prophet zu sein. Diese Vorstellung kollidiert mit dem christlichen Glauben, „dass jemand, der nach Jesus Christus mit abweichenden Lehren auftritt, kein echter Prophet sein kann.“82 In mittelalterlichen Polemiken taucht in diesem Zusammenhang auch wiederholt die Anschuldigung auf, der Prophet Mohammed sei ein Epileptiker gewesen, die von ihm empfangenen göttlichen Offenbarungen seien halluziniert, seine Anhängerinnen und Anhänger folgten demnach den Irrlehren eines Besessenen. Dieser Topos ist auch außerhalb theologischer Auseinandersetzungen tradiert worden. Er findet sich zum Beispiel in Karl Mays „Orientzyklus“, der im Kontext kolonialistischer und orientalistischer Diskurse des 19. Jahrhunderts zu verorten ist.83 Im letzten Band der auflagenstarken Romanreihe, die von der Abenteuerreise eines deutschen Helden durch „den Orient“ handelt, fragt der arabische Diener Halef, der gerne das gemäß islamischen Speisevorschriften verbotene Schweinefleisch verzehren möchte, seinen deutschen Herrn, ob dieser glaube, „daß der Prophet den Erzengel richtig verstanden hat in Beziehung auf das Schweinefleisch?“ Daraufhin antwortet ihm Kara Ben Nemsi:

80 Ebenda, S. 26. 81 Vgl. Martin Schmeisser, „Mohammed, der Erzbetrüger“. Negative Darstellungen des Propheten in den religionskritischen Produktionen des Libertinismus und der Radikalaufklärung, in: Dietrich Klein/Birte Platow (Hrsg.), Wahrnehmung des Islam zwischen Reformation und Aufklärung, München 2008, S. 77-108. 82 Thomas Naumann, Feindbild Islam. Historische und theologische Gründe einer europäischen Angst, in: Thorsten Gerald Schneiders (Hrsg.), Islamfeindlichkeit. Wenn die Grenzen der Kritik verschwimmen, Wiesbaden 2009, S. 25. 83 Vgl. Yasemin Shooman, „Durch Wüste und Harem“. „Orient“ und „Orientalen“ bei Karl May, in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Vorurteile in der Kinder- und Jugendliteratur, Berlin 2010, S. 79-96.

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„Ich glaube, daß Mohammed entweder nur geträumt oder sich die Erscheinung des Engels nur eingebildet hat. Durch sein eigenartiges Leben und sein regelloses Grübeln ist seine Phantasie in krankhafter Weise erregt worden. Er hat Hallucinationen gehabt, die ihm Dinge vorspiegelten, welche nicht vorhanden waren. Er sah Erscheinungen, die es in Wirklichkeit nicht gab; er hörte Stimmen, die seinem eigenen Gehirn entstammten.“84

Der Epilepsie-Topos korrespondiert mit dem christlichen Vorwurf, der Islam sei keine „authentische“ Religion – eine Argumentationsfigur, die in abgewandelter Funktion (zur Legitimierung einer Beschneidung der Religionsfreiheit von Musliminnen und Muslimen in Europa) auch in aktuellen islamfeindlichen Diskursen auftaucht.85 Karl Mays Orientdarstellung ist exemplarisch für ein Genre von literarischen Texten, die Edward Said mit seinem Konzept des Orientalismus beschrieben hat.86 Der Orientalismus als eine diskursive Praxis steht in engem Zusammenhang mit dem Kolonialismus, da mit ihm ein westlicher Hegemonieanspruch über den als kulturelles Gegenbild entworfenen Orient formuliert wurde. Mit dem Kolonialismus geht ein Bruch in der europäischen Wahrnehmung von Musliminnen und Muslimen einher: Das Feindbild des Islams als das eines starken militärischen Gegners und Rivalen87 wurde abgelöst durch die Vorstellung eines exotischen und unterlegenen Orients, den der Westen

84 Karl May, Der Schut, Bamberg 1982, S. 65 (Reprint der Freiburger Erstausgabe von 1892). 85 Susanne Winter, Spitzenkandidatin der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ), die sich wiederholt einer antimuslimischen Rhetorik bedient, stellte beispielsweise während des Grazer Gemeinderatswahlkampfs 2008 infrage, ob der Islam als richtige Religion anzusehen sei, schließlich habe der Prophet Mohammed den Koran im Zuge epileptischer Anfälle verfasst. Vgl. Rede von Susanne Winter am 13.1.2008, Videomitschnitt, http://www.youtube.com/watch?v=meypJb9I c0Q (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014). 86 Vgl. Said, Orientalism. 87 Vgl. Thomas Kaufmann, Aspekte der Wahrnehmung der „türkischen Religion“ bei christlichen Autoren des 15. und 16. Jahrhunderts, in: Dietrich Klein/Birte Platow (Hrsg.), Wahrnehmung des Islam zwischen Reformation und Aufklärung, München 2008, S. 9-25.

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zivilisieren müsse.88 Stereotype über das aggressive und barbarische Wesen der Muslime wurden zwar weiterhin kolportiert, jedoch fest mit der Zuschreibung von Minderwertigkeit verknüpft. In der Allgemeinen Realencyclopädie, die Mitte des 19. Jahrhunderts als „Conversationslexikon für das katholische Deutschland“ erschien, heißt es in dem Artikel „Mahomedanismus“: „So wie aber die schnelle und weite Ausbreitung des Mahomedanismus sich durch Anwendung der Waffengewalt und die außerordentliche Gunst der Verhältnisse sehr leicht erklärt, so enthielt auch die Religion Mahomeds durchaus kein Element in sich, um die Völker zu irgendeiner neuen und höheren Entwickelung zu treiben. Die Verfassung blieb nach wie vor Despotie; das Ziel des Volkes sinnlicher Genuß in träger Hingabe, sobald die Aufregung des Körpers vorüber war; aller höheren Bildung war sogar direkt durch den Koran, der Weg abgeschnitten.“89

Hier zeigt sich eine deutliche Überschneidung mit kolonialrassistischen Topoi (Betonung von Körperlichkeit sowie Unfähigkeit zu geistiger Leistung usw.), die direkt mit dem Islam in Verbindung gebracht werden, der für die attestierte Rückständigkeit und Stagnation verantwortlich sei. Für Ramon Grosfoguel und Eric Mielants ist das Machtgefälle, das die kolonialen Beziehungen zwischen Europa und den ehemaligen „islamischen Imperien“ prägte, die Voraussetzung dafür, dass „the notion of ‚people with the wrong God‘ in the Theological Christian imaginary of the 16th and 17th centuries was secularized into a ‚scientific evolutionary hierarchical civilization‘ imaginary that turned the late 15th century ‚people with the wrong religion‘ (imperial difference) into the inferior ‚savages and primitives‘ of ‚people without civilization‘ (colonial difference) in the 19th century. […] The Christian-centric global religious hierarchy and the Eurocentric global racial/ethnic hierarchy were increasingly entangled and the distinction between practicing a non-

88 Vgl. Ziauddin Sardar, Der fremde Orient. Geschichte eines Vorurteils, Berlin 2002. 89 Zit. nach Wolfgang Benz, Zur Genese und Tradition des Feindbildes Islam, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 58 (2010), H. 7/8, S. 589.

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Christian religion and being racialized as an inferior human being increasingly erased.“90

Die vermeintliche Inferiorität des Islams und der Muslime ist bis heute ein fester Topos in westlichen Islam-Diskursen. Diese sind allerdings von einer Ambivalenz gekennzeichnet und schlossen – vor allem im Falle des Orientalismus – auch Formen der Exotisierung und Faszination ein. Aus der im kulturellen Gedächtnis tradierten kollektiven Erinnerung91 an die Ausbreitung des Islams und die damit einhergehende Zurückdrängung des Christentums, die Kreuzzüge sowie die Türkenkriege speisen sich wiederum Topoi, die in aktuellen antimuslimischen Narrativen ebenso präsent sind und zum Beispiel im gegenwärtigen Topos einer drohenden „Islamisierung Europas“ ihren Widerhall finden (vgl. Kapitel 4.2). Im antimuslimischen Rassismus der Gegenwart fließen deshalb verschiedene Wahrnehmungstraditionen zusammen, die die Gleichzeitigkeit von zugeschriebener Unterlegenheit und Übermacht bedingen. Letzterer Aspekt spielt für die Wahrnehmung der „islamischen Welt“, die als monolithischer Block konstruiert wird, insbesondere seit der Islamischen Revolution im Iran 1979, dem Ende des Ost-West-Konflikts 1990 und den Terroranschlägen vom 11. September 2001 verstärkt eine Rolle. 2.1.3 Musliminnen und Muslime als Europas Andere Ein Beispiel des Rückgriffs auf mittelalterliche Angstszenarien und orientalistische Überlegenheitsfantasien liefern unter anderem die stark rezipierten Dokumentarfilme, Reportagen und Bücher des Journalisten Peter Scholl-

90 Ramon Grosfoguel/Eric Mielants, The Long-Durée Entanglement Between Islamophobia and Racism in the Modern/Colonial Capitalist/Patriarchal WorldSystem, in: Human Architecture 5 (2006), H. 1, S. 3 f. 91 Vgl. Gerdien Jonker, Europäische Erzählmuster über den Islam, in: Thorsten Gerald Schneiders (Hrsg.), Islamfeindlichkeit. Wenn die Grenzen der Kritik verschwimmen, Wiesbaden 2009, S. 71-83; Matthias Schwerendt, Araber, Türken, Ungläubige. Islamrepräsentationen in Kreuzzugsnarrativen deutscher Geschichtsschulbücher des 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 58 (2010), H. 7/8, S. 627-638.

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Latour.92 Für seinen Erfolg maßgeblich ist die Selbstinszenierung als intimer Kenner „des Orients“, den er ausgiebig bereist hat. Seine literarische Bearbeitung „authentischer Erfahrungen“, die im Habitus des „Wissens aus erster Hand“ geschildert werden, liest sich streckenweise wie die Abenteuer des Kara Ben Nemsi in Karl Mays Orientzyklus – eine Assoziation, die Scholl-Latour durchaus selbst herstellt, wenn er beispielsweise ein Kapitel seines Buches „Im Land der Skipetaren“ nennt.93 Peter Scholl-Latour kann zwar – anders als prominente „Islamkritikerinnen“ wie Necla Kelek in ihren autobiografisch gefärbten Büchern (vgl. Kapitel 3.2) – keine Sprecherposition „von innen“ für sich proklamieren. Doch auch wenn er selbst kein „Orientale“ ist, stellt er seine Expertise über lokale kulturelle Praktiken als so glaubwürdig dar, dass ihn – ähnlich dem Helden aus Karl Mays Orientromanen – hin und wieder selbst die Einheimischen nicht als Europäer erkennen.94 Seine Beschreibung der von ihm bereisten Länder fällt keinesfalls durchweg negativ aus, auch wenn Gewaltbereitschaft, Fanatismus, Irrationalität und die „unberechenbaren Leidenschaften der islamischen Massen“95 Leitmotive bilden. Die Bücher sind aber – ganz in orientalistischer Manier – ebenso durchzogen von Sympathie und Anerkennung für eine als „ursprünglich“ und „archaisch“ bewunderte Kultur, die

92 Vgl. Verena Klemm/Karin Hörner (Hrsg.), Das Schwert des „Experten“. Peter Scholl-Latours verzerrtes Araber- und Islambild, Heidelberg 1993. 93 Peter Scholl-Latour, Der Fluch des neuen Jahrtausends. Eine Bilanz, München 2002, S. 83-86. Der Buchtitel des fünften Romans aus Karl Mays Orientzyklus lautet „Durch das Land der Skipetaren“. 94 Vgl. Peter Scholl-Latour, Allah ist mit den Standhaften. Begegnungen mit der islamischen Revolution, Stuttgart 1983, S. 625. Auch Kara Ben Nemsi wird auf seinen Reisen zuweilen für einen Einheimischen gehalten. Vgl. Karl May, Durch Wüste und Harem, Bamberg 1982, S. 176 f. (Reprint der Freiburger Erstausgabe von 1892). 95 Peter Scholl-Latour, Das Schwert des Islam. Revolution im Namen Allahs, Frankfurt am Main 1990, S. 155. Vgl. für eine ausführliche Analyse Georg Auernheimer, Die unausweichliche welthistorische Konfrontation. Peter SchollLatours Fernsehserie Das Schwert des Islam, in: Verena Klemm/Karin Hörner (Hrsg.), Das Schwert des „Experten“. Peter Scholl-Latours verzerrtes Araberund Islambild, Heidelberg 1993, S. 107-128.

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jedoch stets in dichotomer Anordnung zum „zivilisierten Abendland“ entworfen wird. In Bestsellern wie „Allah ist mit den Standhaften“ (erstmals erschienen 1983) und „Das Schwert des Islam“ (1990 als Buch erschienen und 1991 als vierteilige Fernsehserie im ZDF ausgestrahlt) wird zwar überwiegend auf außenpolitische Konflikte in der „islamischen Welt“ Bezug genommen, dennoch stellt Scholl-Latour bereits in diesen frühen Werken die Verknüpfung zum Anderen im Inneren der europäischen Migrationsgesellschaften her. Das letzte Unterkapitel von „Allah ist mit den Standhaften“, das die Leserinnen und Leser auf mehr als 750 Seiten u.a. nach Algerien, Israel/Palästina und in den Iran führt, handelt zum Beispiel von den „Türken in Berlin“. Scholl-Latour sympathisiert zwar mit diesen „Menschen aus fremden Kulturkreisen“, die seinem Urteil zufolge „andere Verhaltens- und Lebensnormen mitbringen und auch beibehalten wollen“. Anschließend gibt er jedoch kommentarlos die Einschätzung eines anonym bleibenden deutschen Diplomaten wider, der sich darüber besorgt zeigt, dass man es bei den eingewanderten Türken „mit einer Rasse zu tun [habe], deren Ursprünge nach Zentral-Asien zurückreichten und denen die Zugehörigkeit zum Islam unüberwindbare Schranken setze. Die Illusion einer Angleichung der Türken an deutsche Lebensart und deutschen Habitus möge man – von Ausnahmen abgesehen – getrost begraben. Da aufgrund der sträflichen Leichtfertigkeit der deutschen Gesetzgeber aller Parteien keine legale Möglichkeit zur Rückführung der meisten Anatolier mehr existiere, könne sich Deutschland darauf gefaßt machen, mit einer rassischen und religiösen Minorität zu leben.“96

Auch in seinem Buch „Das Schwert des Islam“ geht Scholl-Latour der Frage nach, „warum die Muslime sich in fremde Kulturen so schwer integrieren lassen“97 und stellt an anderer Stelle in Hinblick auf Frankreich fest: „Nicht nur faschistisch oder rassistisch angehauchte Franzosen blicken mit bösen Ahnungen auf die Bildung einer massiven exotischen Bevölkerungsgruppe im eigenen Land, die weniger aufgrund ihrer maghrebinischen Merkmale als infolge ihres

96 Scholl-Latour, Allah ist mit den Standhaften, S. 760. 97 Scholl-Latour, Das Schwert des Islam, S. 44.

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kompromißlosen religiösen Engagements im Sinne des Korans weder integrierbar noch assimilierbar ist.“98

Der Topos der Unintegrierbarkeit, den Peter Scholl-Latour in seinen Büchern bemüht, hebt auf eine unüberbrückbare Andersartigkeit der Musliminnen und Muslime ab. Er ist fester Bestandteil im Argumentationsrepertoire der Integrations- und Leitkultur-Debatten seit der Jahrtausendwende und kennzeichnet auch die eingangs skizzierten Abwehrreaktionen auf die Aussagen des Bundespräsidenten Wulff hinsichtlich der Zugehörigkeit des Islams. In Thilo Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“ bildet dieser Topos eine der Kernaussagen. Dabei ist weder die Argumentationsfigur neu, noch die Minderheit, die als unassimilierbar gekennzeichnet wird – beobachtbar ist jedoch eine Verschiebung des Begründungszusammenhangs hin zu der Kategorie Religion.99 In den 1960er- und 1970er-Jahren, so Levent Tezcan in seinen Überlegungen zu den Prozessen der Formierung eines muslimischen Subjekts in Deutschlands, firmierten Türken noch „zusammen mit den Italienern, Spaniern und Griechen unter dem Banner ‚Südländer‘“.100 Doch bereits Anfang der 1980er-Jahre wurde im bundesdeutschen Migrationsdiskurs Differenz verstärkt entlang der Kategorie Kultur erfasst und eine Hierarchie zwischen „kulturnahen“ und „kulturfernen“ Ausländern als Topos etabliert, der die Arbeitsmigrantinnen und -migranten aus europäischen Ländern zumindest auf diskursiver Ebene nach und nach in die „Ingroup“ eines abendländischen „Wir“ aufsteigen ließ. Besonders deutlich kommt dies in einem Artikel der FAZ aus dem Jahre 1982 zum Ausdruck, in dem es heißt:

98 Ebenda, S. 107. 99 Für den britischen Kontext hat Malcolm D. Brown eine ähnliche Verschiebung ausgemacht: „Th[e] focus on nationality or ethnicity, rather than religion, has been observed as typical of discourse throughout the 1970s and into the 1980s. It was only during the Rushdie affair that academic discourses in the United Kingdom switched their focus from ‚Asians‘ or ‚Pakistanis‘ to ‚Muslims‘.“ Malcolm D. Brown, Comparative Analysis of Mainstream Discourses, Media Narratives and Representations of Islam in Britain and France Prior to 9/11, in: Journal of Muslim Minority Affairs 26 (2006), S. 300. 100 Levent Tezcan, Das muslimische Subjekt. Verfangen im Dialog der Deutschen Islam Konferenz, Konstanz 2012, S. 13.

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„Immer noch wird unter Verzicht auf jegliche Differenzierung über ‚die Ausländer‘ in der Bundesrepublik gesprochen. […] Anscheinend soll hierzulande nicht zum Bewußtsein kommen dürfen, daß es verschiedene Grade von Fremdheit gibt und daß das Zusammenwohnen mit den besonders Fremden naturgemäß – genauer gesagt: kulturgemäß – am schlechtesten funktioniert. Mit den Ost-, den Süd- und den Südosteuropäern […] geht es ziemlich gut […]. Das kann nicht überraschen, denn seit Völkerwanderungszeiten ist das Hin und Her zwischen slawischen, romanischen, germanischen und auch keltischen Völkerschaften eingeübt. In ein und demselben europäischen Kulturkreis ist ein stillschweigendes Wir-Gefühl entstanden. Aber ‚außen vor‘ sind vor allem die Turk-Völker geblieben – dazu zählen Palästinenser, Maghrebinen und andere aus ganz und gar fremden Kulturkreisen Gekommene. Sie, und nur sie, sind das ‚Ausländerproblem‘ der Bundesrepublik. […] Sie sind nicht zu integrieren: subjektiv wollen sie es nicht, und objektiv können sie es nicht.“101

Diese Einschätzung, die insbesondere Migrantinnen und Migranten aus Herkunftsländern mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit als unüberwindbar fremd stigmatisiert, findet sich zu Beginn der 1980er-Jahre nicht nur im politisch konservativen Milieu. Das Magazin „DER SPIEGEL“ zitierte 1981 den SPD-Bundestagsabgeordneten Thomas Schröer mit den Worten „Das Ausländerproblem in der Bundesrepublik ist ein Türkenproblem. Dies muss deutlicher als bisher ausgesprochen werden“.102 Und obwohl die SPIEGEL-Titelgeschichte im weiteren Verlauf auch ihre Diskriminierung thematisiert, werden die Türken – anders als die „leicht zu integrierenden Portugiesen, Spanier, Italiener oder Jugoslawen“103 – als „eine Volksgruppe“ beschrieben, „deren Angehörige sich nur schwer zur Anpassung an die kulturellen wie religiösen Normen des Gastlandes bewegen lassen [Hervorhebung Y.S.].“104 Frank-Olaf Radtke weist auf die in diesem Zusammenhang bedeutenden Folgen des Anwerbestopps von 1973 hin, der insbesondere türkeistämmige Arbeitnehmerinnen und -nehmer betraf. Diese stellten daraufhin aus Angst vor einem Verbot der Wiedereinreise (von dem Ausländer aus Staaten der

101 „Fremde und Allzufremde“, in: FAZ vom 2.12.1982. 102 „Ausländer: ‚Schmerzhafte Grenze gezogen‘“, in: DER SPIEGEL vom 7.12.1981, S. 26. 103 Ebenda, S. 25. 104 Ebenda, S. 26.

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Europäischen Gemeinschaft nicht betroffen waren), die Pendelmigration ein und holten stattdessen ihre Familien nach Deutschland. Infolgedessen schnellte die Zahl der Migrantinnen und Migranten aus der Türkei in der Bundesrepublik binnen weniger Jahre nach oben, was einen Erklärungsansatz dafür liefern könnte, warum diese Gruppe so sehr in den öffentlichen Fokus rückte.105 Ebenso wichtig scheint allerdings der sich zu diesem Zeitpunkt verstärkende Trend zur Kulturalisierung gesellschaftlicher Konflikte zu sein, der als nicht-europäisch klassifizierte Menschen in besonderem Maße betraf und bis heute betrifft. Der Ethnologe Martin Sökefeld hat in seiner Abhandlung zum wissenschaftlichen Diskurs über Einwanderung aus der Türkei gezeigt, dass der Topos der kulturellen Distanz und Unintegrierbarkeit bestimmter Gruppen auch schon die Forschung dieser Zeit prägte: „Warum waren Einwanderer, Ausländer, Gastarbeiter so inhärent problematisch? Ein Erklärungsmodell begann sich seit der Mitte der 70er Jahre durchzusetzen: Kultur. Einwanderer, und hier nun besonders solche türkischer Herkunft, sind deshalb so problematisch, weil sie einer anderen Kultur angehören, bzw. weil ihre Kultur so anders ist als unsere [Hervorhebung im Original].“106

Sökefeld zitiert zur Illustration unter anderem aus einer 1984 publizierten Studie über „türkische Gastarbeiterkinder“, in der die Autorin zu dem Schluss gelangt, dass „die Probleme der Integration […] sich besonders bei den Türken [stellen], weil sie dem uns vergleichsweise fremden – orientalisch islamischen – Kulturkreis angehören“.107 Hier erfolgt, ähnlich wie in dem SPIEGEL-Artikel, die Grenzmarkierung explizit nicht nur entlang der Merkmale Ethnizität und Kultur, sondern auch Religion – eine Amalgamie-

105 Vgl. Frank-Olaf Radtke, Fremde und Allzufremde. Prozesse der Ethnisierung gesellschaftlicher Konflikte, in: Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.), Ethnisierung gesellschaftlicher Konflikte, Bonn 1996, S. 9. 106 Martin Sökefeld, Das Paradigma kultureller Differenz. Zur Forschung und Diskussion über Einwanderer aus der Türkei in Deutschland, in: Ders. (Hrsg.), Jenseits des Paradigmas kultureller Differenz, Bielefeld 2004, S. 16. 107 Beatrice Berkenkopf, Kindheit im Kulturkonflikt. Fallstudien über türkische Gastarbeiterkinder, Frankfurt am Main 1984. Zit. nach Sökefeld, Das Paradigma kultureller Differenz, S. 17.

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rung, die die Leitkultur- und Integrationsdebatten seit der Jahrtausendwende wesentlich kennzeichnet. Der Topos einer Inkompatibilität von hermetisch in sich geschlossenen Kulturkreisen, der darüber hinaus anklingt, stellt ein zentrales Element des kulturalistisch argumentierenden Rassismus dar, zu dem auch der antimuslimische Rassismus zählt (vgl. Kapitel 2.2). In dem „Heidelberger Manifest“108 vom 17. Juni 1981, in dem eine Reihe westdeutscher Professoren „die Unterwanderung des deutschen Volkes durch Zuzug von vielen Millionen von Ausländern und ihren Familien, die Überfremdung unserer Sprache, unserer Kultur und unseres Volkstums“ beklagte, wird eine solche Verknüpfung von Ethnizität, Kultur und Religion ebenfalls bereits deutlich, denn es mündet in der Forderung nach der „Erhaltung des deutschen Volkes und seiner geistigen Identität auf der Grundlage unseres christlich-abendländischen Erbes“.109 Auch wenn es heute also manchmal so erscheinen mag, als seien antimuslimische Narrative ein Post-9/11-Phänomen, so zeigt sich in diesen Schlaglichtern auf bundesdeutsche Diskurse der frühen 1980er-Jahre, dass die Anfänge des aktuellen antimuslimischen Rassismus deutlich früher auszumachen sind. Sie stehen im Zusammenhang mit Debatten, die das nationale Selbstverständnis und Zugehörigkeitsfragen in einer sich durch Einwanderung wandelnden Gesellschaft verhandeln. Mittlerweile besitzt das Thema Islam und Muslime zunehmend auch auf einer übernationalen Ebene eine integrierende Funktion bei der Anrufung einer gemeinsamen europäisch-abendländischen Identität. Dies belegt die Rhetorik zahlreicher rechtspopulistischer Parteien Europas. Bei sogenannten Anti-Islamisierungskongressen und Anti-Minarettkonferenzen kommen Vertreterinnen und Vertreter der deutschen PRO-Bewegung mit Mitgliedern des belgischen Vlaams Belang, der italienischen Lega Nord,

108 Vgl. zur Entstehungsgeschichte und Rezeption des Manifests Andreas Wagner, Das „Heidelberger Manifest“ von 1981. Deutsche Professoren warnen vor „Überfremdung des deutschen Volkes“, in: Johanna Klatt/Robert Lorenz (Hrsg.), Manifeste. Geschichte und Gegenwart des politischen Appells, Bielefeld 2011, S. 285-313. 109 Abgedruckt in: Peter Dudek/Hans Gerd Jaschke (Hrsg.), Entstehung und Entwicklung des Rechtsextremismus in der Bundesrepublik. Zur Tradition einer besonderen politischen Kultur, Bd. 2, Dokumente und Materialien, Opladen 1984, S. 302.

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des französischen Front National und der österreichischen FPÖ zusammen.110 Da die politische Rechte auf die Anschlussfähigkeit ihres Feindbilds Islam in der breiten Bevölkerung setzt, dient die religiös aufgeladene antimuslimische Rhetorik als Modernisierungsstrategie und hat die alte Parole „Ausländer raus“ vielfach abgelöst. Dies illustrieren beispielsweise die Ausführungen der FPÖ-Politikerin Susanne Winter gegenüber der Zeitung „Zur Zeit“: „Die Anzahl der integrationsunwilligen ‚islamischen Landbesetzer‘ hat in Europa mittlerweile eine unerträgliche Größe erreicht. Der Islam ist historisch betrachtet immer eine Feindreligion auf unserem Kontinent gewesen. […] Der muslimische Einwanderungs-Tsunami, der in den letzten Jahrzehnten unseren europäischen Kontinent mit Ausländern islamischen Glaubens überflutet hat, muß unbedingt und unverzüglich gestoppt werden. […] Ich möchte es auf den Punkt bringen: Der Islam muß wieder dorthin ‚zurückgeworfen‘ werden, wo er herkommt. Nämlich jenseits des Mittelmeeres. Das werden wir nur im Zuge einer europäischen Vernetzung schaffen.“111

Interessant ist die deutliche Bezugnahme auf ein historisch tradiertes Feindbild Islam, das Winter hier aufruft, um gegen Migrantinnen und Migranten in Europa heute zu mobilisieren. Diese werden quasi als Wiedergänger historischer Invasoren („islamische Landbesetzer“) konstruiert und mittels Metaphern, die dem Bereich der Naturkatastrophen entlehnt sind („Tsunami“, „überflutet“), dämonisiert. Entsprechend kann die aggressive exkludierende Rhetorik als „Selbstverteidigung“ inszeniert werden. Die von Winter geforderte europäische Vernetzung von Islamfeinden ist indes längst Realität. Das Motto „Abendland in Christenhand“, das die österreichische FPÖ wiederholt in ihrem Wahlkampf benutzte, entlieh die Kleinpartei PRO NRW 2010 für den Landtagswahlkampf in Nordrhein-West-

110 Vgl. Alexander Häusler, Antiislamischer Rechtspopulismus in der extremen Rechten. Die „PRO“-Bewegung als neue Kraft?, in: Stephan Braun/Alexander Geisler/Martin Gerster (Hrsg.), Strategien der extremen Rechten. Hintergründe – Analysen – Antworten, Wiesbaden 2009, S. 130-147. 111 „Schluß mit Asylmißbrauch! Graz wieder den Grazern!“ Interview mit Susanne Winter, in: Zur Zeit Nr. 49/2007.

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falen und beschriftete ihren Wahlkampfbus mit den Slogans „Islamisierung stoppen“ und „Kreuzzug für das Abendland“. Ein Unbehagen angesichts des Vorhandenseins muslimischer Minderheiten verspüren in Europa aber nicht nur Rechtspopulistinnen und -populisten: Insgesamt stimmten bei einer repräsentativen Untersuchung in acht EU-Mitgliedsstaaten über 44 Prozent der Befragten – und damit fast jeder Zweite – der Aussage zu, in ihrem Land lebten zu viele Muslime. In Ländern, in denen der Anteil der muslimischen Bevölkerung weit unter einem Prozent liegt, wie in Polen oder Ungarn, lagen die Werte sogar noch höher.112 Dies zeigt, dass antimuslimische Ressentiments nicht an die reale Präsenz ihrer Objekte (und damit auch nicht an reale Erfahrungen) gebunden sind. Dem aktuellen antimuslimischen Rassismus steht also ein spezifisches Wissensarchiv zur Verfügung, das sich aus einer langen Tradition europäisch-christlicher und orientalistischer Islambilder speist.113 Er kann als ein komplexes Geflecht aus verschiedenen historisch tradierten Elementen verstanden werden, die im Kontext europäischer Migrationsgesellschaften mit zum Teil neuen Funktionen aktualisiert werden. Integrationsdebatten, die im Zuge eines europäischen Einigungsprozesses unter anderem der Selbstvergewisserung einer „abendländischen“ Identität aber auch der Legitimation des gesellschaftlichen Ausschlusses marginalisierter Gruppen dienen, bilden dafür den Rahmen. Unter dem Schlagwort des „War on Terror“ geführte militärische Interventionen in der „islamischen Welt“ und ihre Wechselwirkung mit sicherheitspolitischen Diskursen im Inland stellen weitere Bezugsgrößen dar und verknüpfen den äußeren Feind mit dem Anderen im Inneren.114

112 Vgl. Andreas Zick/Beate Küpper/Andreas Hövermann, Die Abwertung der Anderen. Eine europäische Zustandsbeschreibung zu Intoleranz, Vorurteilen und Diskriminierung, Berlin 2011, S. 70. 113 Vgl. Benz, Die Feinde aus dem Morgenland, S. 49 ff.; Iman Attia (Hrsg.), Orient- und IslamBilder. Interdisziplinäre Beiträge zu Orientalismus und antimuslimischem Rassismus, Münster 2007. 114 Vgl. Emran Qureshi/Michael A. Sells (Hrsg.), The New Crusades. Constructing the Muslim Enemy, New York 2003; Liz Fekete, A Suitable Enemy. Racism, Migration and Islamophobia in Europe, London 2009; Deepa Kumar, Islamophobia and the Politics of Empire, Chicago 2012.

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2.2 K EINE F RAGE DES G LAUBENS . D IE R ASSIFIZIERUNG VON „K ULTUR “ UND „R ELIGION “ IM ANTIMUSLIMISCHEN R ASSISMUS Ein besonders anschauliches Fallbeispiel des aktuellen antimuslimischen Rassismus mit großer Breitenwirkung stellt Thilo Sarrazins 2010 erschienener Bestseller „Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen“ dar.115 Der Autor hatte ein Jahr zuvor schon mit einem Interview (vgl. Einleitung) eine ausgiebige öffentliche Debatte provoziert. Als „DER SPIEGEL“ und die „BILD“-Zeitung vorab Auszüge aus seinem Buch druckten, war auch den darin ausgebreiteten Thesen zu Einwanderung, Muslimen, Unterschicht, Intelligenz und Vererbung sowie der demografischen Bedrohung Deutschlands eine hohe öffentliche Aufmerksamkeit sicher.116 In einer der auch im „SPIEGEL“ vorab veröffentlichten Passagen heißt es: „Ich möchte nicht, dass das Land meiner Enkel und Urenkel zu großen Teilen muslimisch ist, dass dort über weite Strecken Türkisch und Arabisch gesprochen wird, die Frauen ein Kopftuch tragen und der Tagesrhythmus vom Ruf der Muezzine

115 Die Verkaufszahlen von „Deutschland schafft sich ab“ lagen laut Auskunft der Deutschen Verlags Anstalt im Juni 2014 bei ca. 1,4 Millionen Exemplaren. 116 Auf den Verlauf der Debatte wird in der nachfolgenden Analyse nicht näher eingegangen. Es sei nur kurz darauf verwiesen, dass Sarrazin nach einer anfänglichen Welle der Empörung viel prominente Unterstützung erhielt, darunter von Politikern und Intellektuellen wie Klaus von Dohnanyi, Helmut Schmidt, Ralph Giordano, Henryk M. Broder und Peter Sloterdijk – was zeigt, dass das Buch und seine Rezeption als Teil eines Elitendiskurses gewertet werden können. Vgl. ausführlich zur Debatte um das Buch Bade, Kritik und Gewalt, S. 86-146; Sebastian Friedrich/Hannah Schultes, Von „Musterbeispielen“ und „Integrationsverweigerern“. Repräsentationen von Migrant_innen in der „Sarrazindebatte“, in: Sebastian Friedrich (Hrsg.), Rassismus in der Leistungsgesellschaft. Analysen und kritische Perspektiven zu den rassistischen Normalisierungsprozessen der „Sarrazindebatte“, Münster 2011, S. 77-95. Eine Auswahl der Debattenbeiträge sind versammelt in Deutschlandstiftung Integration (Hrsg.), Sarrazin. Eine deutsche Debatte, München 2010.

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bestimmt wird. […] Ich möchte nicht, dass wir zu Fremden im eigenen Land werden.“117

Sofort nach Erscheinen des Buches wurde der Vorwurf des Rassismus laut. Diesen wiesen sowohl der Autor selbst als auch die Soziologin und Publizistin Necla Kelek, die sein Buch im Haus der Bundespressekonferenz vorstellte, mit ähnlichen Argumenten zurück. So sagte Sarrazin gegenüber der „WELT am Sonntag“, er sei kein Rassist, da er nicht mit ethnischer Zugehörigkeit, sondern nur mit dem Merkmal der Kultur argumentiere.118 Auch Kelek befand, es sei absurd, Sarrazin des Rassismus zu bezichtigen, „denn der Islam ist keine Rasse, sondern Kultur und Religion“.119 Zwar ist Kelek zuzustimmen, dass der Islam keine biologisch definierte „Rasse“ darstellt; nur trägt diese Argumentation nicht weit, denn genauso wenig gehören Schwarze oder Juden einer genetisch unterscheidbaren menschlichen „Rasse“ an, weil es diese nicht gibt.120 2.2.1 Deterministischer Kultur- und Religionsbegriff Diese Erkenntnis, wonach es sich bei „Rassen“ um soziale und politische Konstrukte handelt, aber vor allem die Erfahrung der Shoah führten zwar dazu, dass Rassentheorien nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa offiziell auf breite Ablehnung stießen.121 Damit verschwanden jedoch keinesfalls rassistische Denk- und Handlungsweisen, die Menschen kategorisieren und diese Kategorien mit unterschiedlichen Wertungen versehen.

117 Sarrazin, Deutschland schafft sich ab, S. 308 f. 118 Vgl. „Mögen Sie keine Türken, Herr Sarrazin?“ Interview mit Thilo Sarrazin, in: WELT am Sonntag vom 29.8.2010. 119 „Thilo Sarrazin. Die Provokation und die Debatte“, in: BILD am Sonntag vom 29.8.2010. 120 Vgl. u.a. Ashley Montagu, Statement on Race. An Annotated Elaboration and Exposition of the Four Statements on Race Issued by the United Nations Educational, Scientific, and Cultural Organizations, 3. überarb. Auflage, New York 1972. 121 Eine Ausnahme bilden einige Bio-Wissenschaften. Vgl. AG gegen Rassismus in den Lebenswissenschaften (Hrsg.), Gemachte Differenz. Kontinuitäten biologischer „Rasse“-Konzepte, Münster 2009.

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Im Alltagsrassismus wie auch auf der strukturellen Ebene spielen Ausgrenzungsmechanismen aufgrund von Zuschreibungen, die an somatischen Faktoren wie der „Hautfarbe“ festgemacht werden, weiterhin eine zentrale Rolle, auch wenn diese sprachlich häufig mit neuen Begriffen wie „Migrationshintergrund“ transportiert werden. Das Konstrukt der „Rassen“122 wirkt somit implizit fort und ist mittlerweile untrennbar mit kulturellen und religiösen Zuschreibungen verbunden.123 Analog zu der historischen Vorstellung, wonach sich „Rassen“ als „Träger der Weltgeschichte“124 miteinander im Kampf befänden,125 gehen wirkmächtige Theorien der Gegenwart – wie Samuel Huntingtons Postulat vom „Kampf der Kulturen“ – davon aus, dass in sich geschlossene „Kulturkreise“ die Menschheitsgeschichte bestimmten und sich gegenseitig bekämpften.126 Beide Modelle folgen dabei einer ähnlichen Logik, denn der

122 Historisch betrachtet wurden zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Kontexten verschiedene Rasse-Begriffe verwendet. Vgl. Michael Banton, Racial Theories, 2. Auflage, Cambridge 1998. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde „Rasse“ beispielsweise mit „Volk“ und „Nation“ gleichgesetzt. Vgl. George L. Mosse, Die Geschichte des Rassismus in Europa, Frankfurt am Main 2006, S. 70. 123 Vgl. Alana Lentin/Gavan Titley, The Crises of Multiculturalism. Racism in a Neoliberal Age, London/New York 2011, S. 62 ff. 124 Houston Stewart Chamberlain, Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts, 10. Auflage, München 1912, S. 7. 125 Vgl. Mosse, Die Geschichte des Rassismus in Europa, S. 55 und 83 ff. 126 Vgl. Samuel Huntington, Der Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München 1996, S. 49. Huntington formulierte seine These vom „Clash of Civilizations“ erstmals Anfang der 1990er-Jahre und verfasste 1996 ein gleichnamiges Buch. Das Kulturkampf-Paradigma hat seine Wirkung auch heute, knapp 20 Jahre später, noch nicht eingebüßt. Kurz gefasst geht Huntington davon aus, dass die Konflikte des 21. Jahrhunderts nicht von politischen, ideologischen oder wirtschaftlichen Interessen geprägt sein werden, sondern von einem Zusammenprall der „Kulturkreise“, wobei er Letztere als die „größte kulturelle Einheit“ definiert (Huntington, Der Kampf der Kulturen, S. 53). Huntington unterscheidet sieben „Kulturkreise“, als deren elementares Merkmal er die Religion einstuft (ebenda, S. 60 f.). Laut Huntington hätten „Kulturkreise“ zwar „keine klar umrissenen Grenzen, ihre Entste-

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hier zugrunde liegende Kulturbegriff ist ein totalitätsorientierter. Wie der Kultursoziologe Andreas Reckwitz feststellt, ist „die Kopplung von Kulturen als Lebensformen an einzelne ‚Kollektivsubjekte‘ – Völker, Ethnien, Nationen, Kulturkreise –, damit an Gemeinschaften […] für das totalitätsorientierte Kulturkonzept insgesamt charakteristisch. […] Aus dieser Sicht gibt es zwar radikal unterschiedliche Lebensformen, aber für das einzelne Kollektiv (oder gar das einzelne Individuum) sind diese keineswegs austauschbar oder kombinierbar, vielmehr erscheint eine bestimmte Lebensweise idealerweise nach innen homogen und nach außen geschlossen.“127

Kultur determiniert in dieser Vorstellung oftmals in jeder Hinsicht das Dasein des Individuums aufgrund der Zugehörigkeit zu einem Kollektiv („Kulturkreis“). Diese kulturelle Zugehörigkeit wird wiederum genealogisch über die „Abstammung“ hergeleitet. Nur so ist es etwa möglich, von in Deutschland geborenen und sozialisierten Kindern als Kinder aus einem „islamischen Kulturkreis“ zu sprechen. Historikerinnen und Historiker weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass im Rassismus schon immer biologische und kulturelle Differenzmarkierungen miteinander verknüpft worden sind.128 Zugleich wird – ausgehend von solchen Anpassungen in der Argumentation, in denen auf den expliziten Rasse-Begriff verzichtet wird – in der Forschung seit mehr als zwei Jahrzehnten unter dem von Étienne Balibar und Stuart Hall geprägten Schlagwort vom „Rassismus ohne Rassen“129 eine zunehmende Verschiebung von dem biologistisch

hung und ihr Ende stehen nicht präzise fest. […] Gleichwohl sind Kulturkreise sinnvolle Einheiten, und wenn die Grenzlinien zwischen ihnen auch selten scharf gezogen sind, so sind sie doch vorhanden.“ Zudem seien sie „der dauerhafteste aller menschlichen Zusammenschlüsse.“ (Ebenda, S. 54 f.). 127 Andreas Reckwitz, Unscharfe Grenzen. Perspektiven der Kultursoziologie, Bielefeld 2008, S. 23. 128 Vgl. Karin Priester, Rassismus. Eine Sozialgeschichte, Leipzig 2003, S. 251. 129 Vgl. Hall, Rassismus als ideologischer Diskurs; Balibar, Gibt es einen „NeoRassismus“?

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argumentierenden Rassismus hin zu einem Neo- bzw. Kulturrassismus diskutiert.130 Historisch verortet Balibar die Anfänge dieses Rassismus in „der Epoche der ‚Entkolonialisierung‘, in der sich die Bewegungsrichtung der Bevölkerung zwischen den alten Kolonien und den alten ‚Mutterländern‘ umkehrt und sich zugleich die Aufspaltung der Menschheit innerhalb eines einzigen politischen Raumes vollzieht. Ideologisch gehört der gegenwärtige Rassismus, der sich bei uns um den Komplex der Immigration herum ausgebildet hat, in den Zusammenhang eines […] Rassismus, dessen vorherrschendes Thema nicht mehr die biologische Vererbung, sondern die Unaufhebbarkeit der kulturellen Differenzen ist.“131

Auch für Albert Memmi, der eine der einflussreichsten Rassismusdefinitionen formuliert hat,132 bezieht sich „der Rassismus […] in der Gegenwart […] nicht mehr auf biologische und soziobiologische, sondern auf ethnische, kulturelle und religiöse Unterschiede“.133 Um eine solche Form des kulturalistisch argumentierenden Rassismus handelt es sich auch beim antimuslimischen Rassismus. Grundlage ist der Glaube an eine historisch gewachsene unausweichliche Differenz und Hierarchie134 der Kulturen sowie der Religionen als integralem Bestandteil von

130 Vgl. exemplarisch Nora Räthzel (Hrsg.), Theorien über Rassismus, Hamburg 2000. 131 Balibar, Gibt es einen „Neo-Rassismus“?, S. 28. 132 Die Definition lautet: „Der Rassismus ist die verallgemeinerte und verabsolutierte Wertung tatsächlicher oder fiktiver Unterschiede zum Nutzen des Anklägers und zum Schaden seines Opfers, mit der seine Privilegien oder seine Aggressionen gerechtfertigt werden sollen.“ Albert Memmi, Rassismus, Frankfurt am Main 1987, S. 164. Vgl. zur Wirkmächtigkeit dieser Definition Ina Kerner, Differenzen und Macht. Zur Anatomie von Rassismus und Sexismus, Frankfurt am Main 2009, S. 45. 133 Albert Memmi, Kolonialismus und Rassismus, in: Christoph Burgmer (Hrsg.), Rassismus in der Diskussion, Berlin 1999, S. 50. 134 Damit unterscheidet sich der antimuslimische Rassismus deutlich von Rassismus-Modellen wie dem differentialistischen Rassismus von Pierre-André Taguieff oder dem Ethnopluralismus. In diesen Modellen wird gegen eine Vermischung und für die Beibehaltung differenter Kulturen plädiert („Recht auf Differenz“), dabei aber vorgeblich ihre Gleichwertigkeit behauptet. Vgl.

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Kulturen. Diese werden als essentialistische, also als in ihrem Wesen unwandelbare135 und somit statische Konstrukte verstanden. Damit einher geht eine Quasi-Naturalisierung kultureller Eigenschaften. Hierbei werden allen Personen einer kulturell-homogen definierten Gruppe bestimmte Merkmale zugeschrieben. Zudem wird das soziale Verhalten der Mitglieder dieser Gruppe vorrangig oder gar ausschließlich aus der Gruppenzugehörigkeit und den damit verbundenen unterstellten Eigenschaften abgeleitet. Derartige Annahmen rekurrieren implizit auf einen Kollektivcharakter.136 Sarrazin demonstrierte eine solche Verwendung des Kulturbegriffs in einem Interview mit der taz: „Einerseits sind wir alle Menschen, andererseits sind wir nicht nur männlich und weiblich; wir sind auch groß und klein, klug oder weniger klug, wir haben unterschiedliche Temperamente, und wir werden auch durch unsere kulturelle Herkunft unterschiedlich geprägt, ohne dass wir das später wieder einfangen können [Hervorhebung Y.S.].“137

Für das Individuum bleibt bei dieser deterministischen Sichtweise auf kulturelle Einflüsse wenig Spielraum – menschliches Handeln wird so allein aufgrund von zugeschriebenen Gruppenzugehörigkeiten erklärbar. 2.2.2 „Weiße“, „christliche“ und „westliche“ Suprematie Während in biologistischen Rassentheorien, zum Beispiel bei Arthur de Gobineau und Robert Knox, die Vermischung von „Rassen“ als bedrohlich angesehen wird, da eine solche „Verunreinigung“ zu Degeneration und da-

Pierre-André Taguieff, Die ideologischen Metamorphosen des Rassismus und die Krise des Antirassismus, in: Ulrich Bielefeld (Hrsg.), Das Eigene und das Fremde. Neuer Rassismus in der Alten Welt?, Hamburg 1998, S. 236. Im antimuslimischen Rassismus ist die Bewertung der kulturellen Unterschiede hingegen zentral. 135 Vgl. Memmi, Rassismus, S. 170 f. 136 Ebenda, S. 169 f. 137 „Es war ein langer und lauter Furz“. Interview mit Thilo Sarrazin, in: taz vom 7.12.2010.

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mit zum Niedergang der höherwertigen „Rassen“ führen würde,138 warnt der Neorassismus vor einer Vermischung der Kulturen, die einen Verlust an Werten und kulturellen Errungenschaften nach sich zöge. Die von Sarrazin und anderen beklagte Gefährdung des europäischen Kultur- und Zivilisationsniveaus durch Einwanderung und überdurchschnittliche Vermehrung der vermeintlich unterentwickelten Musliminnen und Muslime weist strukturelle Ähnlichkeiten mit den Ängsten vor der Vermehrung „minderwertiger Rassen“ auf, wie sie für den biologistischen Rassismus kennzeichnend sind. In der neorassistischen Meistererzählung wird die überlegene „westliche Zivilisation“ durch die Ausbreitung „fremder“ und inkompatibler Kulturen, insbesondere der islamischen, bedroht. In Sarrazins Buch liest sich das wie folgt: „Demografisch stellt die enorme Fruchtbarkeit der muslimischen Migranten auf lange Sicht eine Bedrohung für das kulturelle und zivilisatorische Gleichgewicht im alternden Europa dar“, denn „kulturell und zivilisatorisch bedeuten die Gesellschaftsbilder und Wertvorstellungen, die sie vertreten, einen Rückschritt.“139

Sarrazin geht also von einer klar abgrenzbaren „islamischen Kultur“ aus, deren Träger – die Musliminnen und Muslime – durch ihre physische Vermehrung zu einer existenziellen Gefahr für die europäische Kultur werden. Mit dem Fokus auf die Fertilitätsrate einer Gruppe gleitet Sarrazins Argumentation an dieser Stelle in den Bereich des biologistischen Rassismus ab. Den Vorwurf des Eroberungswillens via Geburtenrate hatte er gegenüber den hiesigen Migrantinnen und Migranten aus der Türkei bereits in seinem Interview mit der Zeitschrift „Lettre International“ erhoben.140 Dieser Topos, wonach sich unerwünschte Bevölkerungsteile überproportional vermehren, steht in historischer Kontinuität rassistischer und eugenischer

138 Vgl. Mosse, Die Geschichte des Rassismus in Europa, S. 78 und 93. 139 Sarrazin, Deutschland schafft sich ab, S. 267. 140 Das entsprechende Zitat lautet: „Die Türken erobern Deutschland genauso, wie die Kosovaren das Kosovo erobert haben: durch eine höhere Geburtenrate.“ Klasse statt Masse, S. 199.

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bzw. sozialdarwinistischer Diskurse des 19. Jahrhunderts.141 Dazu gehören auch die Theorien von Francis Galton, auf den sich Sarrazin in „Deutschland schafft sich ab“ affirmativ bezieht.142 Konstitutiv für den antimuslimischen Rassismus ist eine dichotome Konstruktion von „westlicher“, soll sein „christlich-abendländischer“, versus „islamischer“ Kultur, die einander als statische Entitäten gegenüberstehen und als unvereinbar angesehen werden. Der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt gab beispielsweise in einem Interview mit der österreichischen Tageszeitung „Kurier“ Anfang März 2010 zu bedenken: „Auf die Dauer ist es unwahrscheinlich, dass man mit islamischen Minderheiten wirklich zusammenleben kann in einer Gesellschaft, die überwiegend nicht islamisch ist. Der kulturelle Unterschied ist allzu groß.“143 In dieser Hypothese kommt die Vorstellung einer fundamentalen und unüberwindbaren Andersartigkeit von Musliminnen und Muslimen, die in bundesdeutschen Migrations- und Integrationsdiskursen spätestens seit Beginn der 1980erJahre auszumachen ist (vgl. Kapitel 2.1), explizit zum Vorschein. Die Auffassung Helmut Schmidts scheint in der deutschen Bevölkerung (und bei den Bürgerinnen und Bürgern anderer westeuropäischer Staaten) anschlussfähig zu sein; darauf deuten unter anderem die Ergebnisse einer ländervergleichenden Studie der Universität Münster zur „Wahrnehmung und Akzeptanz religiöser Vielfalt in Europa“ hin. In einer im Sommer 2010, also noch vor der „Sarrazin-Debatte“, durchgeführten repräsentativen Umfrage stimmten nur etwas mehr als 20 Prozent der Befragten in Deutschland der Aussage „Der Islam passt durchaus in unsere westliche Welt“ zu.144

141 Vgl. Peter Weingart/Jürgen Kroll/Kurt Bayertz, Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt am Main 1988. 142 Vgl. Sarrazin, Deutschland schafft sich ab, S. 92 f.; Peter Weingart, Ist Sarrazin Eugeniker?, in: Michael Haller/Martin Niggeschmidt (Hrsg.), Der Mythos vom Niedergang der Intelligenz. Von Galton zu Sarrazin. Die Denkmuster und Denkfehler der Eugenik, Wiesbaden 2012, S. 19-26. 143 „Euch in Wien geht es besser“. Interview mit Helmut Schmidt, in: Kurier vom 2.3.2010. 144 Vgl. Detlef Pollack, Wahrnehmung und Akzeptanz religiöser Vielfalt in ausgewählten Ländern Europas. Erste Beobachtungen, in: Ders. u.a., Grenzen der

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Üblicherweise wird bei einer solchen bipolaren Sicht auf Islam und (christlichen145) Westen Letzterer als emanzipativ, demokratieaffin und fortschrittlich beschrieben, während der Islam als rückständig, unwandelbar, irrational und barbarisch gilt.146 Diese Hierarchisierung schlägt sich auch in einer evolutionistischen Vorstellung von zivilisatorischen Phasen, die Religionen durchlaufen, nieder. Dem schon aufgeklärten Christentum steht der noch unaufgeklärte Islam gegenüber, der häufig mit dem Mittelalter oder der Vormoderne assoziiert wird – überspitzt formuliert: Welcher Religion ich angehöre, ist in kulturrassistischen Weltbildern nicht nur eine Frage des Glaubens, sondern zeigt, ebenso wie meine Zugehörigkeit zu einem „Kulturkreis“, das Stadium der menschlichen Entwicklung an, in dem ich mich befinde.147 Sarrazin kommt in seinem Buch zu dem Schluss: „Die meisten islamischen Glaubensrichtungen haben den gesellschaftlichen

Toleranz. Wahrnehmung und Akzeptanz religiöser Vielfalt in Europa, Wiesbaden 2014, S. 24. 145 Etwa zwei Drittel der Deutschen (drei Viertel in den ehemaligen westdeutschen Bundesländern und 55 Prozent in Ostdeutschland) hält laut Umfragen „das Christentum für das Fundament unserer Kultur“. Pollack, Wahrnehmung und Akzeptanz religiöser Vielfalt in ausgewählten Ländern Europas, S. 26. 146 Eine solche quasi-spiegelbildliche Anordnung von Zuschreibungen findet sich auch in der zitierten quantitativen Studie: „Insbesondere in Deutschland entsteht der Eindruck, als würde der Islam ebenso negativ beurteilt, wie das Christentum positiv gesehen wird“, resümiert der Religionssoziologe Detlef Pollack. „Zwischen 60 und 80 % der Westdeutschen attribuieren dem Islam Gewaltbereitschaft, Fanatismus und Benachteiligung der Frau, dem Christentum aber werden diese Eigenschaften nur von 5 bis 10 % zugeschrieben. Während Toleranz, Solidarität, Achtung der Menschenrechte und Friedfertigkeit etwa 50 bis 60 % der Westdeutschen im Christentum entdecken, verbinden derartige Eigenschaften weniger als 10 % von ihnen mit dem Islam.“ Ebenda, S. 23. 147 Vgl. zur Tradition evolutionistischer Zeitordnungen als Denkfigur bei der Zuschreibung von Primitivität, Unzivilisiertheit sowie Rückständigkeit gegenüber den „kulturell Anderen“ und ihrer Rolle bei der Erzeugung von Differenz sowie Distanz zwischen dem „Eigenen“ und dem außereuropäischen „Fremden“ Johannes Fabian, Time and the Other. How Anthropology Makes its Object, New York 2002.

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Entwicklungsprozess noch vor sich, den die Richtungen des Christentums in den letzten 500 Jahren mehrheitlich hinter sich gebracht haben.“148 Hier zeigt sich deutlich, wie sehr die Abwertung des Anderen der Aufwertung des Eigenen dient. 2.2.3 Rassifizierung von Musliminnen und Muslimen Mit dem Dreischritt Essentialisierung, Dichotomisierung und Hierarchisierung wird im antimuslimischen Rassismus die Hybridität, Durchlässigkeit und Dynamik kultureller Identitäten negiert.149 Folglich wird jedes (insbesondere negative) Verhalten von Menschen, die als Muslime markiert sind, auf den Islam zurückgeführt. Wer wie Sarrazin betont, dass sogenannte Brennpunktschulen einen hohen Anteil an muslimischen Schülerinnen und Schülern aufwiesen oder dass viele Straf- bzw. Gewalttäter einen muslimischen Hintergrund hätten, der suggeriert, dass die vermutete Zugehörigkeit zum Islam Bildungsferne bzw. die Neigung zu Gewalt und Kriminalität begünstigt oder gar verursacht.150 Denn jede Betonung eines Merkmals impliziert Kausalität. Der argumentative Rückgriff auf die islamische Religion wird nicht selten zur Abwehr des Rassismusvorwurfs benutzt: Schließlich handle es sich lediglich um die Ablehnung eines Glaubens und der dürfe doch kritisiert werden. Dabei wird der Begriff der Religion häufig in einer ähnlich deterministischen Art und Weise verwendet wie der Kulturbegriff: Aus einer oftmals selektiven und wortwörtlichen Lektüre des Korans werden pauschale Rückschlüsse auf das soziale Verhalten der Musliminnen und Muslime gezogen und damit unterstellt, diese seien in ihrem Handeln vorrangig und eindeutig von ihrer Religion bestimmt, und zwar ohne dass ein

148 Sarrazin, Deutschland schafft sich ab, S. 269. 149 So ist es auch kein Zufall, dass Thilo Sarrazin es „schlimm“ findet, „dass viele ‚Deutschländer‘ am Ende weder richtige Türken noch richtige Deutsche sind“. Ebenda, S. 313. Vgl. zur Hybridität kultureller Identitäten im Kontext von Migration Naika Foroutan, Hybride Identitäten. Normalisierung, Konfliktfaktor und Ressource in postmigrantischen Gesellschaften, in: Heinz-Ulrich Brinkmann/Haci-Halil Uslucan (Hrsg.), Dabeisein und Dazugehören. Integration in Deutschland, Wiesbaden 2013, S. 85-99. 150 Vgl. Sarrazin, Deutschland schafft sich ab, S. 264, 291 und 304.

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von Raum und Zeit abhängiger Aneignungsprozess der religiösen Quellen stattfände. In diesem Zuschreibungsprozess, der auf ein vermeintlich zeitloses „Wesen“ des Islams abhebt, aus dem sich das Denken, Fühlen und Handeln jeder Muslimin und jedes Muslims ableiten ließe, wird die Selbstverortung des Individuums ausgeblendet. Zudem treten seine sonstigen Identitäten – die sich zum Beispiel aus dem Geschlecht, dem Alter, der politischen Einstellung, Schichtzugehörigkeit, dem Beruf etc. ergeben – zugunsten einer Markierung als Muslim in den Hintergrund. Diese Markierungspraxis ist Teil eines sozialen Vorgangs, der in der angelsächsischen Rassismusforschung mit dem Terminus „racialization“ erfasst wird.151 Für Paul A. Silverstein beschreibt Rassifizierung den Prozess „through which any diacritic of social personhood comes to be essentialized, naturalized, and/or biologized“.152 In die deutschsprachige Diskussion wurde das Konzept von Mark Terkessidis153 und Maureen Maisha Eggers154 eingebracht. In Anlehnung an sie begreife ich die Rassifizierung von Musliminnen und Muslimen wie folgt: Aus einer dominanten gesellschaftlichen Position heraus werden sie unabhängig von einem individuellen Glaubensbekenntnis als eine homogene und quasi-natürliche Gruppe in binärer Anordnung zu weißen christlichen/atheistischen Deutschen bzw. Europäern konstruiert und mit kollektiven Zuschreibungen versehen; es wird ein Wissen über sie und ihr

151 Der Begriff wurde von den Rassismusforschern Michael Banton und Robert Miles in die wissenschaftliche Debatte eingeführt. Vgl. zur aktuellen Diskussion des Konzepts Karim Murji/John Solomos (Hrsg.), Racialization. Studies in Theory and Practice, New York 2008. 152 Paul A. Silverstein, Immigrant Racialization and the New Savage Slot. Race, Migration, and Immigration in the New Europe, in: Annual Review of Anthropology 34 (2005), S. 364. 153 Mark Terkessidis, Die Banalität des Rassismus. Migranten der zweiten Generation entwickeln eine neue Perspektive, Bielefeld 2004, S. 98. 154 Maureen Maisha Eggers, Rassifizierte Machtdifferenz als Deutungsperspektive in der kritischen Weißseinsforschung in Deutschland, in: Dies. u.a. (Hrsg.), Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, 2. überarb. Auflage, Münster 2009, S. 57.

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Wesen als Gruppe erzeugt,155 und sie gelten anhand verschiedener Merkmale als „identifizierbar“. Der Anthropologe Juanid Rana hat zum Beispiel darauf aufmerksam gemacht, dass bei gegenwärtigen Praktiken des Racial-Profilings im Zuge der Bekämpfung des Terrorismus versucht wird zu definieren, wie ein Muslim aussieht.156 Entsprechend plädierte der bekannte US-amerikanische Philosoph und Autor Sam Harris in einem Aufsehen erregenden BlogArtikel im April 2012 dafür, dass „we should profile Muslims, or anyone who looks like he or she could conceivably be Muslim [at the airport], and we should be honest about it“.157 Dieser Logik zufolge wird die muslimische Identität – und das ist ein entscheidender Faktor – zu einem Merkmal, das man einem Menschen aufgrund seines äußeren Erscheinungsbildes ablesen kann, und zwar unabhängig davon, ob die Person sich selbst mit dem islamischen Glauben identifiziert oder nicht. Arun Kundnani kommt in Bezug auf antimuslimischen

155 Mit dem sprunghaften Anwachsen der Wissenskategorie „Muslime“ in insbesondere quantitativen Studien in Europa haben sich Birgitte Johansen und Riem Spielhaus ausführlich beschäftigt: „During the last decade, administrations, politicians, scholars, media and NGOs in several European countries have displayed a growing interest in obtaining and providing factual knowledge about Muslim populations: how do they live, what do they think, what are their interests and concerns, and how well integrated are they? One of the means of obtaining such knowledge is quantitative research, and this has led to the conduct of a growing number of surveys and opinion polls targeting Muslims. This quantification is part of a broader process in which ‚Muslims‘ have been turned into a highly politicized category, and as such the polls and surveys hold valuable information, not only about what Muslims think and do, but also about the current social imaginaries about who these Muslims supposedly are.“ Birgitte Johansen/Riem Spielhaus, Counting Deviance. Revisiting a Decade’s Production of Surveys among Muslims in Western Europe, in: Journal of Muslims in Europe 1 (2012), S. 81 f. 156 Vgl. Juanid Rana, The Story of Islamophobia, in: Souls. A Critical Journal of Black Politics, Culture and Society 2 (2007), S. 149. 157 Sam Harris, In defense of Profiling, in: Sam Harris Blog vom 28.4.2012, http://www.samharris.org/blog/item/in-defense-of-profiling (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014).

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Rassismus im britischen Kontext zu dem Urteil, dass „religious belonging has come to act as a symbol of racial difference. The new official language […] largely takes faith to be, like race, a destiny set at birth and something that someone can observe about you from your appearance.“158 Im antimuslimischen Rassismus findet also eine Amalgamierung von kulturell-religiösen und somatischen Faktoren statt, die als Hinweis auf eine „fremde Herkunft“ gelesen werden. Für bestimmte als „ethnisch“ gefasste Gruppen gilt, dass ihnen – nicht nur in rassistischen Diskursen – die religiöse Markierung als Muslime eingeschrieben ist. Dies betrifft insbesondere Einwanderinnen und Einwanderer sowie ihre Nachkommen aus Herkunftsländern des Nahen und Mittleren Ostens. Eine solche Verknüpfung von Religion und Ethnizität reicht historisch bis ins Mittelalter zurück, wie Robert Miles und Malcolm Brown feststellen: „In a context where the nature of the material world, and relations between people, were explained and structured through religion, European representations of the populations of other regions were organised necessarily in terms of religion. […] However, the structural opposition between Europe and the Muslim world was not perceived as solely religious. The perception was based on religion, but was also somatic in character. The ‚enemy‘ of Christendom was represented not only as Muslim, ‚heretic‘ or ‚infidel‘, but also as ‚Arab‘, ‚Moor‘, ‚Turk‘, ‚Saracen‘ and ‚foreigner‘.“159

158 Arun Kundnani, The End of Tolerance. Racism in 21st Century Britain, London 2007, S. 127. 159 Miles/Brown, Racism, S. 28 f. Miles und Brown bezeichnen Muslime zwar als „racialised group“ und räumen ein, dass „an amalgam of nationality (‚Arab‘ or ‚Pakistani‘, for example), religion (Islam) and politics (extremism, fundamentalism, terrorism) is frequently produced in Orientalist, Islamophobic and racist discourses“ und dass Islamophobie „does interact with racism“. Dennoch sehen sie Islamophobie nicht als eine Form des Rassismus, da „the alleged distinctiveness of the Muslim is not usually regarded as biological or somatic“. Eine Verknüpfung von Rassismus und Islamophobie liege vor, wenn „Muslims (qua a racialised group as well as a religious Other) are variously characterised as inferior and backward (but with a ‚noble savage‘ quality), as incompatible with Westerners, or even as direct threat to the West. In all of these cases, in parallel with Orientalist discourses and with the ideology of

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Die Kategorien Ethnizität, Kultur und Religion können daher weder einfach addiert noch auseinanderdividiert werden, weshalb die Frage, ob eine Person als „Muslim“ oder beispielweise „Araber“ diskriminiert wird, in den meisten Fällen in die Irre führt. Vielmehr muss in einem intersektionalen Verständnis des antimuslimischen Rassismus davon ausgegangen werden, dass diese Zuschreibungen fest miteinander verflochten sind. Das zeigt sich beispielsweise in der synonymen Verwendung der Bezeichnungen „Türke“, „Araber“, „Migrant“ und „Muslim“, wie sie in medialen, politischen und auch wissenschaftlichen Diskursen auftritt.160 So wird in der vom Bundesinnenministerium in Auftrag gegebenen Studie „Muslime in Deutschland. Integration, Integrationsbarrieren, Religion und Einstellungen zu Demokratie, Rechtsstaat und politisch-religiös motivierter Gewalt“ die soziale Integration der befragten Musliminnen und Muslime (mit und ohne deutsche Staatsangehörigkeit) unter anderem mit der Frage nach dem „Umfang der Kontakte zu Deutschen“ gemessen.161 Damit wird das Muslim-Sein als Äquivalent zu einer Ethnie konzipiert – und als Antagonismus zum Deutsch-Sein. Für diese wie für andere quantitative Studien (zum Beispiel „Muslimisches Leben in Deutschland“ des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge) wurden die Teilnehmenden zudem über eine Abfrage der Einwohnermeldeämter oder Telefonbücher nach Personen mit

racism, Islam is represented as, stricto sensu, essentially different from the West, and as homogeneous or even inferior.“ Ebenda, S. 164 f. Da der Prozess der Rassifizierung von Musliminnen und Muslimen von Miles und Brown durchaus wahrgenommen und als Voraussetzung des Rassismus gesehen wird, wirkt ihre Unterscheidung von Islamophobie und Rassismus an dieser Stelle nicht stringent. 160 Auch Sarrazin definiert in seinem Buch Muslime pauschal als Migranten aus den „Herkunftsgebiete[n] Bosnien und Herzegowina, Türkei, Naher und Mittlerer Osten sowie Afrika“. Sarrazin, Deutschland schafft sich ab, S. 261. Diese Zuschreibungen können je nach Kontext variieren – in Großbritannien werden andere Herkunftsländer, wie Pakistan und Bangladesch, mit der Bezeichnung „Muslim“ assoziiert. 161 Katrin Brettfeld/Peter Wetzels, Muslime in Deutschland. Integration, Integrationsbarrieren, Religion und Einstellungen zu Demokratie, Rechtsstaat und politisch-religiös motivierter Gewalt, Hamburg 2007, S. 94.

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„muslimische[n] Vor- und Nachnamen“ ermittelt.162 Die „Identifikation“ als Muslim bzw. Muslimin erfolgte also über den Namen. Dieser kann – ebenso wie ein bestimmtes Äußeres (schwarze Haare, Bart etc.), die Sprache oder religiöse Kleidung wie das Kopftuch163 – für als Muslime markierte Menschen auf der Ebene der sozialen Interaktion zum Stigma werden. Der Begriff Stigma, so Erving Goffman, habe sich im antiken Griechenland entwickelt „to refer to bodily signs designed to expose something unusual and bad about the moral status of the signifier. The signs were cut or burnt into the body and advertised that the bearer was a slave, a criminal, or a traitor — a blemished person, ritually polluted, to be avoided, especially in public places.“164

Ein Stigma – ein in den Körper quasi eingeschriebenes sichtbares Zeichen – diskreditiert also den Träger in seinem sozialen Dasein und grenzt ihn oder sie durch die damit verbundene Abweichung von der Gemeinschaft der „Normalen“ aus.165 Als eine Kategorie der Stigmata nennt Goffman die „tribal stigma of race, nation, and religion, these being stigma that can be transmitted through lineages and equally contaminate all members of a family“.166 In der sozialen Interaktion können auch an sich „unsichtbare“ Zeichen zu sichtbaren Markierungen werden. Shahram Khosravi, der die Namenswechsel von Migrantinnen und Migranten in Schweden untersucht hat, kommt zu dem Schluss: „Some people felt that Muslim names acted as a barrier during the ritual of introducing themselves in everyday social interactions. Receiving ‚better treatment‘ from Swedes after changing their names was a recurring point made during interviews. […] One way of coping, therefore, is ‚to keep the stigma from looming large‘ and downplaying one’s Muslim identity, so as to be accepted as a ‚good‘ immigrant. […]

162 Ebenda, S. 70. 163 Sarrazin benennt z.B. explizit das Kopftuch als „sichtbare[n] Unterschied, der ein Gefühl der Distanz schafft“. Sarrazin, Deutschland schafft sich ab, S. 313. 164 Erving Goffman, Stigma. Notes on the Management of Spoiled Identity, Englewood Cliffs 1963, S. 1. 165 Vgl. ebenda, S. 5. 166 Ebenda, S. 4.

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Name-changers believe and hope that covering their Muslim identity with ‚neutral‘ European names will facilitate their individual integration into society.“167

Auch in Deutschland können muslimisch konnotierte Namen Diskriminierung auslösen. Im Februar 2010 wurde beispielsweise der Fall einer Kieferorthopädin aus Baden-Württemberg bekannt, die sich geweigert hatte, einen Patienten aufgrund seines Vornamens Cihad zu behandeln. Zur Begründung gab die Ärztin an, sie gehe davon aus, der Name des Jungen bedeute „Heiliger Krieg“: „Das empfinde ich als Kriegserklärung gegen alle NichtIslamisten. Ich will nichts mit gewaltbereiten Menschen zu tun haben“, so die Ärztin gegenüber einer Zeitung.168 Von antimuslimischem Rassismus Betroffene können also durch unterschiedliche Merkmale als „Andere“ gekennzeichnet sein. Dafür muss ein soziales Wissen verfügbar sein, mithilfe dessen die entsprechenden Zeichen als Bedeutungsträger lesbar werden. Der Mörder von Marwa el-Sherbini, die 2009 im Dresdner Landgericht erstochen wurde, konnte sein späteres Opfer beispielsweise nur deshalb als „Islamistin“ und „Terroristin“ beschimpfen, weil er über ein entsprechendes gesellschaftliches Wissen verfügte, das ihm die Einordnung des Kopftuchs der Frau als Symbol für Islamismus und Terrorismus erlaubte. Die Reproduktion solch wirkmächtiger Stereotype findet sich nicht nur in politisch reaktionären Kreisen. Auch in als progressiv geltenden Milieus sind sie verbreitet: So brandmarkt zum Beispiel die Frauenrechtlerin Alice Schwarzer das Kopftuch pauschal als „Flagge des Islamismus“.169 Damit soll keinesfalls unterstellt werden, dass Schwarzer Aggressionen gegenüber Kopftuchträgerinnen billigt, dennoch trägt sie mit ihren Thesen zu einem gesellschaftlichen Klima bei, in dem solche Frauen per se dem Extremismusverdacht ausgesetzt sind. Die Gründe für die Diskriminierung von Menschen, die als Muslime markiert sind, lassen sich also häufig nicht auf ein einziges Merkmal

167 Shahram Khosravi, White masks/Muslim names. Immigrants and namechanging in Sweden, in: Race & Class 53 (2012), H. 3, S. 70 und 78. 168 „Wegen seines Namens – Cihad darf nicht zum Zahnarzt“, in: Stuttgarter Zeitung vom 5.2.2010. 169 „Die Islamisten meinen es so ernst wie Hitler“. Interview mit Alice Schwarzer, in: FAZ vom 4.7.2006.

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zurückführen. Vielmehr greifen im antimuslimischen Rassismus kulturellreligiöse und ethnische Kategorien ineinander. Dies wirft die Frage auf, inwiefern weiße Konvertitinnen und Konvertiten anders von antimuslimischem Rassismus betroffen sind. Zum einen gilt es hier den Aspekt der Reversibilität zu berücksichtigen, wie das Beispiel von Sven Kalisch (ehemals Muhammad Kalisch) zeigt. Der Münsteraner Professor für das Fach „Religion des Islam“ wandte sich öffentlich vom islamischen Glauben ab und bekundete, kein Muslim mehr zu sein.170 Auf islamfeindlichen Webseiten erntete er dafür viel Zuspruch. Kommentare wie „Willkommen zurück im Reich der Vernunft und der Zivilisation“171 und „Willkommen Zuhause alter Knabe!“172 artikulieren eine Wiederaufnahme in das imaginierte Kollektiv der Nation, die „geborenen“ Ex-Muslimen – selbst wenn sie als „Kronzeuginnen“ oder „Kronzeugen“ zur Beglaubigung antimuslimischer Positionen funktionalisiert werden – nicht ohne Weiteres zur Verfügung steht. Andererseits machen viele konvertierte Kopftuch tragende Frauen im Alltag die Erfahrung, dass sie nicht mehr als weiße Deutsche adressiert werden. Das Kopftuch wirkt also als eine so massive Markierung, dass es andere Markierungen zu überschreiben scheint. Dennoch konnte der Jurist Cengiz Barskanmaz in der Analyse von Gerichtsurteilen zum Kopftuch nachweisen, dass die Kategorie des „Weißseins“ bei den Zuschreibungen, denen Konvertitinnen ausgesetzt sind, eine Rolle spielen kann. So urteilte das Verwaltungsgericht Lüneburg im Jahr 2000 zugunsten einer Lehramtsanwärterin, die mit Kopftuch unterrichten wollte (das Urteil wurde in einem Berufungsverfahren später wieder aufgehoben):

170 Vgl. „Neues Aufgabengebiet für Sven Kalisch“. Pressemitteilung der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster vom 13.7.2010, http://www.unimuenster.de/Rektorat/exec/upm.php?nummer=13166 (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014). 171 Kommentar Nr. 62 zum Artikel „Islamwissenschaftler Kalisch kein Moslem mehr“, in: Politically Incorrect vom 21.4.2010, http://www.pi-news.net/2010 /04/islamwissenschaftler-kalisch-kein-moslem-mehr/ (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014). 172 Kommentar Nr. 78 zum Artikel „Islamapostat Kalisch für BILD Verlierer des Tages“, in: Politically Incorrect vom 22.4.2010, http://www.pi-news.net/2010 /04/islamapostat-kalisch-fuer-bild-verlierer-des-tages/ (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014).

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„Zum Argument, das Kopftuch sei ein Symbol fundamentalistischer Grundeinstellung, erwiderte das Gericht, dass es auf das Selbstverständnis der Trägerin ankomme. In diesem Fall sei aber die fundamentalistische Bedeutung ohnehin auszuschließen, da eine fundamentalistische Grundeinstellung ‚bei der Klägerin als Deutscher mit evangelisch-lutherischer Erziehung fern liegen dürfte.‘ Obwohl das Kopftuch eindeutig als ‚Ausdruck einer fremden Kultur, Religiosität oder Geisteshaltung‘ verortet wurde, schien es immerhin einen Unterschied zu machen, ob die Trägerin des Kopftuchs eine ‚gebürtige Deutsche‘ war oder nicht. Im Umkehrschluss wird der Kopftuchträgerin mit Migrationshintergrund eine grundsätzliche Möglichkeit politisch-fundamentalistischer Einstellungen zugesprochen [Hervorhebung im Original].“173

Weiße Konvertitinnen und Konvertiten scheinen in gewisser Weise als Hybride wahrgenommen zu werden. Zu diesem Schluss gelangt auch der britische Soziologe Leon Moosavi in seiner aktuellen Studie. Die Wahrnehmung des Islams als eine „nicht-weiße“ Religion hätte auch Auswirkungen auf Europäerinnen und Europäer, die diesen Glauben annehmen: „Upon converting to Islam, ‚white‘ converts experience a re-racialization whereby they are no longer able to access white privilege in a way they once were.“174 Ihr „Weißsein“ besteht also nicht ungebrochen fort, ist aber auch nicht vollkommen verschwunden und kann, wie der Fall Kalisch zeigt, unter Umständen wiederhergestellt werden. Vielleicht ist es diese Uneindeutigkeit, die sie in den Augen der Mehrheitsgesellschaft besonders verdächtig und gefährlich macht. In der SPIEGEL Special-Ausgabe „Allah im Abendland. Der Islam und die Deutschen“ heißt es in dem Artikel „Die Glaubenswechsler“: „Groß sind Unbehagen und Verunsicherung in der Bevölkerung über jene Landsleute, die sich aus freien Stücken zu einer für die meisten Deutschen fremden und unheimlichen Religion bekennen.“175 Esra

173 Cengiz Barskanmaz, Das Kopftuch als das Andere. Eine notwendige postkoloniale Kritik des deutschen Rechtsdiskurses, in: Sabine Berghahn/Petra Rostock (Hrsg.), Der Stoff aus dem Konflikte sind. Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz, Bielefeld 2009, S. 376. 174 Leon Moosavi, The Racialization of Muslim Converts in Britain and Their Experiences of Islamophobia, in: Critical Sociology (vorab online publiziert am 29.4.2014), S. 2. 175 „Die Glaubenswechsler“, in: SPIEGEL Special (2008), H. 2, S. 94.

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Özyürek, die den Diskurs über zum Islam Konvertierte in Deutschland und zum Christentum Konvertierte in der Türkei erforscht hat, schlussfolgert: „In the twenty-first century religious converts are the dangerous hybrids, polluting and challenging the cultural superiority and purity of the dominant group.“176 Um die Frage nach dem Verhältnis der Markierungen „muslimisch“ und „weiß“ beantworten zu können, benötigt es jedoch weitere empirische Untersuchungen zu den spezifischen Alltags- und Diskriminierungserfahrungen von Konvertierten sowie zum diesbezüglichen medialen und politischen Diskurs. Festzuhalten bleibt, dass weiße Konvertiten und Muslime mit „Migrationshintergrund“ bzw. „nicht-europäischer Herkunft“ nicht denselben Rassifizierungsprozessen zu unterliegen scheinen. Letztere können der Markierung als Muslime kaum entrinnen. Auch wenn der Prozess der Rassifizierung von Musliminnen und Muslimen im Kontext der Debatten infolge der Terroranschläge vom 11. September 2001 verstärkt Aufmerksamkeit erfahren hat, handelt es sich um kein völlig neues Phänomen. Die Kategorien Kultur und (islamische) Religion waren bereits in historischen „Rasse“-Konstruktionen eingeschrieben. „Religion determines race“, so lautet beispielsweise die Schlussfolgerung von Moustafa Bayoumi, der die Einbürgerungspraxis in den USA aus historischer Perspektive untersucht hat. Seit 1790 war die Einbürgerung dort zunächst nur weißen Personen vorbehalten, ab 1870 konnten sich auch Schwarze einbürgern lassen: „Until the last of prerequisite laws were abolished in 1952, the White-Black dichotomy in American race relations dominated naturalization law. During this period, Whites and Blacks were eligible for citizenship, but others, particularly those from Asia, were not“, so der Jurist Ian Haney Lopez.177 Bayoumi stieß unter anderem auf den Fall des jemenitischen Einwanderers Ahmed Hassan, der 1942 einen Antrag auf Erlangung der US-Staatsangehörigkeit gestellt hatte. Er wurde von dem zuständigen Richter in seinem Einbürgerungsverfahren als „nicht-weiß“ klassifiziert:

176 Esra Özyürek, Convert Alert. German Muslims and Turkish Christians as Threats to Security in the New Europe, in: Comparative Studies in Society and History 51 (2009), H. 11, S. 95. 177 Ian F. Haney Lopez, White by Law. The Legal Construction of Race, 2. überarb. Auflage, New York 2006, S. 31 f.

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„In his three-page decision dated December 14, 1942, Judge Arthur J. Tuttle straightforwardly stated that ‚Arabs are not white persons within the meaning of the [Nationality] Act‘ […]. Interestingly, Tuttle based his determination of Hassan’s whiteness not principally on the color of his skin but primarily on the fact that he was an Arab and Islam is the dominant religion among the Arabs. ‚Apart from the dark skin of the Arabs,‘ explained the judge, ‚it is well known that they are a part of the Mohammedan world and that a wide gulf separates their culture from that of the predominately Christian peoples of Europe. It cannot be expected that as a class they would readily intermarry with our population and be assimilated into our civilization‘.“178

Bayoumi leitet daraus ab, dass „Arabs were not considered white people by statute because they were (unassimilable) Muslims“.179 Die unüberwindbare Differenz wurde also nicht nur anhand der „Hautfarbe“, sondern auch anhand der Merkmale Kultur und Religion konstruiert. Die Markierung von „Wir“- und „Sie“-Gruppen sowie die Regelung von Ein- und Ausschluss, von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit, bilden einen wichtigen Bestandteil rassistischer Praxen. Auch Sarrazins Buch ist durchzogen von dieser ausgrenzenden Rhetorik und der Verweigerung von Zugehörigkeit: „Ich möchte nicht, dass wir zu Fremden im eigenen Land werden.“180 Seinem imaginierten „Wir“ gehören offenkundig per definitionem nur Nicht-Muslime an. Diese rhetorische Ausbürgerung deutscher Musliminnen und Muslime findet sich auch an anderen Stellen des Buches: „Wir dulden das Anwachsen einer kulturell andersartigen Minderheit, deren Verwurzelung in der säkularen Gesellschaft mangelhaft ist, die nicht unsere Toleranzmaßstäbe hat, und die sich stärker fortpflanzt als ihre

178 Moustafa Bayoumi, Racing Religion, in: New Centennial Review 6 (2006), H. 2, S. 269. Später änderte sich die Klassifizierung von Arabern in den USA und sie wurden zunehmend als Weiße eingeordnet. Dabei handelt es sich jedoch um einen reversiblen Prozess, wie die Entwicklung infolge der Anschläge vom 11. September 2001 gezeigt hat. Vgl. Amaney Jamal/Nadine Naber (Hrsg.), Race and Arab Americans Before and After 9/11. From invisible citizens to visible subjects, New York 2008. 179 Bayoumi, Racing Religion, S. 269. 180 Sarrazin, Deutschland schafft sich ab, S. 309.

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Gastgesellschaft.“181 Wohlgemerkt spricht Sarrazin hier von Menschen, die zu einem erheblichen Teil deutsche Staatsbürgerinnen und -bürger sind. Seine Wortwahl ist indes aufschlussreich: Gäste zeichnen sich dadurch aus, dass ihr Aufenthalt zeitlich begrenzt ist, während Gastgeber jederzeit entscheiden können, wen sie in ihrem Haus haben wollen und wen nicht. Solche Passagen reflektieren das Bedürfnis, Musliminnen und Muslimen die gleichrangige Stellung in der Gesellschaft zu verweigern (vgl. Kapitel 5.3). 2.2.4 „Klasse“ und „soziale Schicht“ Es geht beim antimuslimischen Rassismus – ähnlich wie bei anderen Rassismen – nicht nur um Abwertung, sondern ebenso um die Wahrung von Privilegien und um Exklusion. Laut Stuart Hall dient der Rassismus unter anderem dazu, „soziale, politische und ökonomische Praxen zu begründen, die bestimmte Gruppen vom Zugang zu materiellen oder symbolischen Ressourcen ausschließen“.182 Deshalb artikuliert er sich häufig gerade im Kontext des sozialen Wandels, der durch eine voranschreitende gesellschaftliche Partizipation der Minderheit ausgelöst wird: Es sind eben nicht die Hinterhofmoscheen, die Abwehr hervorrufen, sondern repräsentative Gotteshäuser, die Musliminnen und Muslime als im Stadtbild sichtbare Mitglieder der Gesellschaft ausweisen. Darüber hinaus werden im antimuslimischen Rassismus soziale Konflikte kulturalisiert und die sozioökonomische Marginalisierung von Menschen, die als Muslime markiert sind, auf eine Verweigerungshaltung der Minderheit selbst zurückgeführt, die wiederum in ihrer Religion wurzele. Dieser Diskurs findet sich in allen politischen Milieus. So gelangen eine Lehrerin und ein Lehrer in der Zeitschrift der sich politisch als links verstehenden Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) zu der Feststellung: „Der aktuelle Integrationsbericht der Bundesregierung belegt, dass der Anteil deutscher Jugendlicher, die eine Ausbildung absolvieren, mehr als doppelt so hoch ist als bei den Immigranten. Die Arbeitslosigkeit ist bei den ImmigrantInnen doppelt so hoch wie bei der Gesamtbevölkerung. Eine der Ursachen für diese Entwicklungen

181 Ebenda, S. 277. 182 Hall, Rassismus als ideologischer Diskurs, S. 7.

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scheint ein Kulturkonflikt zwischen westlichen und aus dem traditionellen Islam herrührenden Vorstellungen zu sein.“183

Wie so oft setzen auch die Autorin bzw. der Autor dieses Artikels Einwanderer und Muslime gleich. Hier zeigt sich zudem deutlich, wie soziale Ungleichheit mittels Ethnisierung, Kulturalisierung und Islamisierung „erklärbar“ gemacht wird. So kann strukturelle Diskriminierung ausgeblendet und das Problem nach außen verlagert werden. Gleichzeitig wird an diesem Beispiel deutlich, dass neben dem Topos der kulturellen Bedrohung noch ein weiterer traditionsreicher Vorwurf im antimuslimischen Rassismus dominiert: der des parasitären Daseins. Entsprechend wird in dem zitierten Artikel behauptet, Musliminnen und Muslime würden Deutschland vielfach nur als „Beutegesellschaft“ betrachten.184 Und auch Sarrazin diagnostiziert: „In jedem Land Europas kosten die muslimischen Migranten aufgrund ihrer niedrigen Erwerbsbeteiligung und hohen Inanspruchnahme von Sozialleistungen die Staatskasse mehr, als sie an wirtschaftlichem Mehrwert einbringen.“185 Er hält es zudem für eine „Tatsache […], dass es sich [beim Islam] um eine sehr abgeschlossene Religion und Kultur handelt, deren Anhänger sich für das sie umgebende westliche Abendland kaum interessieren – es sei denn als Quelle materieller Leistungen“.186 An anderer Stelle zeigt sich Sarrazin überzeugt, dass „ohne die Grundsicherung […] zumindest Türken und Araber in Deutschland ein anderes generatives Verhalten gezeigt [hätten]. Insbesondere unter den Arabern in Deutschland ist es verbreitet, Kinder zu zeugen, um mehr Sozialtransfers zu bekommen.“187 Solche Argumentationsmuster, in denen bestimmte Gruppen zu Fremden erklärt werden, denen ihr niedriger sozialer Status einseitig angelastet wird, sind nicht auf Muslime beschränkt, wie das Beispiel des Rassismus

183 „Deutschenfeindlichkeit in Schulen. Über die Ursachen einer zunehmenden Tendenz unter türkisch- und arabischstämmigen Jugendlichen“, in: blz. Zeitschrift der GEW Berlin (2009), H. 11, S. 27. 184 Ebenda. 185 Sarrazin, Deutschland schafft sich ab, S. 267. 186 Ebenda, S. 270. 187 Ebenda, S. 150.

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gegen Roma zeigt, deren Armut häufig ebenfalls auf ihre Kultur und ihre vermeintliche Integrationsunfähigkeit zurückgeführt wird. 2.2.5 Antimuslimischer Rassismus und Religionskritik Eine Schwierigkeit bei der Analyse des antimuslimischen Rassismus besteht darin, dass dieser zuweilen im Gewand der Religionskritik in Erscheinung tritt und sich durch ein Anknüpfen an emanzipative Diskurse auszeichnet. Antimuslimische Positionen werden zum Beispiel mit dem Eintreten für die Rechte von Frauen oder Homosexuellen begründet. Da der Islam, wie andere patriarchal geprägte Religionen, durchaus repressiv ausgelegt werden kann und vielerorts auch wird sowie zweifellos auch unter Musliminnen und Muslimen sexistische und homophobe Denk- und Verhaltensmuster verbreitet sind, reicht nicht allein die Betrachtung des semantischen Gehalts einer Aussage zur Beurteilung aus; vielmehr muss der Kontext – wer zu wem mit welcher Absicht spricht – bei der Analyse Berücksichtigung finden. Denn wenn egalitäre Argumente zur Rechtfertigung der Diskriminierung und Ausgrenzung von Musliminnen und Muslimen herangezogen werden, dann liegt eine Instrumentalisierung von Menschenrechten vor, die auf die Legitimierung von Rassismus zielt. Dass die Bezugnahme auf emanzipative Argumentationen, wie das Postulat der Geschlechtergleichheit, keine neue Strategie zur Verteidigung rassistischer Denkweisen und Handlungen darstellt, zeigt ein Blick auf die Kolonialgeschichte. Die postkoloniale Theoretikerin Gayatri Chakravorty Spivak hat für die Instrumentalisierung von Frauenrechten im Zuge kolonialer Unterwerfung die Formulierung „White men are saving brown women from brown men“ geprägt.188 Auch im Kontext kolonialer Interventionen in der sogenannten islamischen Welt ist diese Argumentationsfigur bemüht worden, wie Leila Ahmed gezeigt hat. Aus dem behaupteten zivilisatorischen Gefälle zwischen „dem Westen“ und „dem Islam“ – nicht zuletzt festgemacht an der Unterdrückung der muslimischen Frau –, wurde ein Erziehungsauftrag gegenüber Gesellschaften mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit abgeleitet. Diese Argumentationsweise diente also unter

188 Gayatri Chakravorty Spivak, Can the Subaltern Speak?, in: Cary Nelson/ Lawrence Grossberg (Hrsg.), Marxism and the Interpretation of Culture, Chicago 1988, S. 296.

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anderem zur Rechtfertigung der Besatzung dieser Länder. Dass es sich hierbei nicht nur um eine zweifelhafte Indienstnahme feministischer Anliegen zur Unterjochung Anderer handelte, sondern diese Anleihen beim Feminismus oftmals nur vorgeschoben waren und mit einer gleichzeitigen dezidiert frauenfeindlichen Haltung einhergehen konnten, belegt Ahmed am Beispiel des britischen Kolonialbeamten Lord Cromer, der von 1883– 1907 Generalkonsul von Ägypten war. Während er in Ägypten die Zwangsentschleierung muslimischer Frauen propagierte, war Cromer nach seiner Rückkehr nach England Gründungsmitglied und Präsident der „Men’s League for Opposing Women’s Suffrage“, die in Großbritannien gegen die dortige Frauenbewegung und die Einführung des Frauenwahlrechts kämpfte.189 Solche Paradoxien tauchen nicht nur in historischen Kontexten auf. Das Netzwerk Kritische Migrations- und Grenzregimeforschung hat zum Beispiel darauf hingewiesen, dass in der Diskussion um die Thesen von Thilo Sarrazin das reaktionäre Frauenbild des Autors keine große Aufmerksamkeit erregte. Sarrazin legitimiert seine antimuslimische Haltung explizit mit dem Hinweis auf das frauenfeindliche „Wesen“ der Muslime: „Muslime betrachten es im Allgemeinen als anerkannte Wahrheit, dass Frauen Männern nicht ebenbürtig sind“,190 das hätte seine Koranlektüre ergeben. Verallgemeinernd und homogenisierend spricht er deshalb auch von einer „konsequente[n] Missachtung und Verletzung der Rechte der Frauen in der islamischen Kultur“.191 Die Beschuldigungen der Muslime als sexistisches Kollektiv gehen bei Sarrazin mit einer Idealisierung der deutschen Mehrheitsgesellschaft als Hort der weiblichen Emanzipation einher, weshalb er zu dem Schluss gelangt, ihr patriarchales Rollenverständnis mache „für die muslimischen jungen Migranten die Anpassung [an die deutsche Gesellschaft, Y.S.] doppelt schwer“.192 Dieses Selbstbild als Angehöriger einer geschlechtergerechten „abendländischen Kultur“ steht in Kontrast zu den Ausführungen in seinem Buch, in dem Frauen – Musliminnen wie Nichtmusliminnen – hauptsächlich als Gebärende vorkommen, die entweder zu

189 Vgl. Leila Ahmed, Women and Gender in Islam. Historical Roots of a Modern Debate, New Haven/London 1992, S. 150 ff. 190 Sarrazin, Deutschland schafft sich ab, S. 315. 191 Ebenda. 192 Ebenda, S. 316.

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viel (muslimische Frauen und weiße Unterschichtsangehörige) oder zu wenig (weiße Akademikerinnen) Nachwuchs produzierten.193 Die Lektüre von Thilo Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“ zeigt, wie eng die Diskriminierungsmerkmale „Rasse“, Klasse und Geschlecht miteinander verschränkt sind und wie in rassistischen Diskursen der eigene Sexismus externalisiert wird, während der Verweis auf den Sexismus der Anderen dazu dient, Rassismus zu legitimieren. Auch in Hinblick auf das Thema Homo- und Transphobie lassen sich ähnliche Argumentationsfiguren ausmachen.194 Bei der Sachverständigenanhörung im Bundestag zu einem Gesetzesentwurf, der die Aufnahme des Merkmals „sexuelle Identität“ als Diskriminierungsgrund ins Grundgesetz vorsah, plädierte ein von der CDU eingeladener Jurist im Jahr 2010 gegen eine solche Grundgesetzänderung und erläuterte dies wie folgt:195 „Aus dem Blickwinkel der Migrations- und Integrationspolitik ist zu berücksichtigen, dass für gläubige Muslime, bei denen die Toleranz gegenüber der Gruppe der Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgenden [sic!], transsexuellen und intersexuellen Menschen noch wenig entwickelt ist, die politisch erwünschte Integration unter ausdrücklicher Einbeziehung des Bekenntnisses zur Verfassung zusätzlich und erheblich erschwert wird.“196

Die Ablehnung des Diskriminierungsschutzes für sexuelle Minderheiten begründet Kluth mit einer Homo- und Transphobie, die hier als spezifisch muslimisches Phänomen präsentiert wird und von der die deutsche Mehrheitsgesellschaft gänzlich frei zu sein scheint. Die eigene Homo- und Transphobie kann mittels des instrumentalisierten Homophobievorwurfs gegenüber Musliminnen und Muslimen also dethematisiert werden.

193 Vgl. Netzwerk Kritische Migrations- und Grenzregimeforschung, Demokratie statt Integration. Stellungnahme vom 1.10.2010, http://www.demokratie-stattintegration.kritnet.org/ (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014). 194 Vgl. dazu auch Çetin, Homophobie und Islamophobie. 195 Für diesen Hinweis danke ich Lucy Chebout. 196 Winfried Kluth, Schriftliche Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages am Mittwoch, dem 21. April 2010, http://www.artikeldrei.de/fileadmin/artikel3/dokumente/Stellungnahme_ Kluth.pdf (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014).

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In Hinblick auf die Problematik der Abgrenzung zwischen seriöser und instrumentalisierter Religionskritik weist Iman Attia darauf hin, dass Religionskritik historisch gesehen vor allem Kritik an der eigenen Religion war. Sie bemängelt zudem, dass „hegemoniale Islamkritik in ‚westlicher‘ Perspektive […] ‚die eigene‘ Religion von der Kritik aus[nimmt] und […] sie als gelungenes Vorbild für Modernisierung und Säkularisierung“ präsentiert.197 In einer essentialisierenden und dichotomisierenden Sichtweise würden sowohl Differenzierungen innerhalb der Religionen als auch Gemeinsamkeiten zwischen ihnen unterschlagen, weshalb eine solche, hegemoniale Diskurse stärkende „Islamkritik“ weder religions- noch gesellschaftskritisch orientiert sei. Für Annita Kalpaka und Nora Räthzel ist „Kritik […] eine Kommunikationsform, die nur unter Gleichberechtigten möglich ist, wenn sie nicht bloße Machtausübung sein soll“.198 Sie weisen damit auf mögliche rassistische Effekte hin, die nicht unbedingt intendiert sein müssen. Die Frage der Machtasymmetrie gilt es auch in Hinblick auf den Umgang mit Religionskritik, die aus einer dominanten gesellschaftlichen Position heraus gegenüber Minorisierten geübt wird, zu berücksichtigen. Das bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass es nicht auch aus der Perspektive der Mehrheitsgesellschaft eine nicht-rassistische Kritik an der religiösen Praxis von Minderheitenangehörigen, der Verbandspolitik muslimischer Organisationen oder an politischen Gruppierungen, die sich einer religiösen Rhetorik bedienen, geben kann. Eine solche Kritik richtet sich jedoch – will sie nicht ins Leere laufen –199 nicht generalisierend an „den Islam“ oder „die Muslime“, sondern an konkrete Akteure. 2.2.6 Fazit Laut einer im Oktober 2010 publizierten Studie im Auftrag der FriedrichEbert-Stiftung befürworteten 58,4 Prozent der Befragten eine „erhebliche

197 Iman Attia, Islamkritik zwischen Orientalismus, Postkolonialismus und Postnationalsozialismus, in: Bülent Uçar (Hrsg.), Die Rolle der Religion im Integrationsprozess. Die deutsche Islamdebatte, Frankfurt am Main 2010, S. 113. 198 Annita Kalpaka/Nora Räthzel, Die Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein, in: Räthzel, Theorien über Rassismus, S. 190. 199 Vgl. Kerner, Differenzen und Macht, S. 370.

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Einschränkung der Religionsausübung“ für Musliminnen und Muslime.200 Dass solche Einstellungen auch diskriminierendes Verhalten nach sich ziehen können, verdeutlicht ein Beispiel aus der ARD-Talkshow „Hart aber fair“. Dort wurde kurz nach Erscheinen von Thilo Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“ das Thema „Wie viele Einwanderer verträgt Deutschland?“ verhandelt. Der Moderator Frank Plasberg präsentierte den Fall eines Arztes aus Hessen, der in seiner Praxis ein Plakat aufgehängt hatte, auf dem zu lesen war: „In dieser Arztpraxis gilt ein striktes Verbot von Kopftüchern bei islamistischen [sic!] Frauen und Mädchen. […] Kinderreiche islamistische [sic!] Familien mit mehr als 5 leiblichen Kindern werden in dieser Arztpraxis nicht behandelt. Grundkenntnisse der deutschen Sprache werden zwingend vorausgesetzt.“

Von Frank Plasberg wurde dies als zwar übertriebene, aber dennoch bemerkenswerte Privatinitiative gelobt: „Hier hat sich ein Arzt, der sicher über das Ziel hinausgeschossen ist, das muss man dann auch wieder dazu sagen, aber er hat sich einfach Luft verschafft, weil er nicht weiter zusehen wollte.“201 Das sich hier zeigende Unvermögen, Rassismus aus der Mitte der Gesellschaft als solchen einzustufen und zu benennen, hat eine Blindheit gegenüber Diskriminierung zur Folge. Daniel Bax resümierte bereits nach der ersten Sarrazin-Debatte 2009 in der taz, dass man in Deutschland unfähig sei, Rassismus zu erkennen, „wenn er sich mal im Bankiersanzug statt in der Bomberjacke artikuliert“.202 Die hier kritisierte Verkürzung von Rassismus auf Rechtsextremismus resultiert aus der in Deutschland verbreiteten Annahme, dass sich Rassismus nur da manifestiere, wo er auf einen biologistischen Rasse-Begriff rekurriert. Begreift man „Rassen“ aber als soziale und politische Konstrukte und nicht als naturgegebene Gebilde, dann sind sie das Ergebnis und nicht die Voraussetzung des Rassismus. „Es ist nicht der Unterschied, der stets den Rassismus nach sich zieht, es ist

200 Oliver Decker u.a., Die Mitte in der Krise. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2010, Berlin 2010, S. 134. 201 „Wie viele Einwanderer verträgt Deutschland?“ ARD-Talkshow „Hart aber fair“ vom 15.9.2010, https://www.youtube.com/watch?v=mQkpJJ3kx7c (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014). 202 „Rasse statt Klasse“, in: taz vom 12.10.2009.

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vielmehr der Rassismus, der sich den Unterschied zunutze macht“, so Albert Memmi.203 Wie das Beispiel des antimuslimischen Rassismus zeigt, nimmt der Begriff der Kultur und ihm inhärent auch der Begriff der Religion in heutigen rassistischen Weltbildern eine ähnliche Stellung ein wie der biologistische Rasse-Begriff.204 Damit einher geht eine zu beobachtende Rassifizierung von Musliminnen und Muslimen, im Zuge derer die Identität, die mittels des antimuslimischen Rassismus konstruiert und angegriffen wird, nicht ohne Weiteres „ablegt“ werden kann.

203 Memmi, Rassismus, S. 167. 204 Vgl. David Theo Goldberg, Racist Culture. Philosophy and the Politics of Meaning, Cambridge 1993, S. 70.

3 Geschlechterbilder in antimuslimischen Diskursen

3.1 M USLIMISCH , WEIBLICH , UNTERDRÜCKT GEFÄHRLICH . S TEREOTYPISIERUNGEN MUSLIMISCHER F RAUEN IN AKTUELLEN I SLAM -D ISKURSEN

UND

„Allahs rechtlose Töchter. Muslimische Frauen in Deutschland“ – so titelte Deutschlands auflagenstärkstes Nachrichtenmagazin „DER SPIEGEL“ im November 2004 und reproduzierte mit seinem Cover das historisch tradierte205 und nach wie vor dominante Stereotyp der unterdrückten Muslimin. Die Titelgeschichte, die nach dem am 2. November 2004 verübten Mord an dem niederländischen Filmemacher Theo van Gogh erschien, versucht, das angebliche Scheitern des Multikulturalismus in Deutschland am Beispiel muslimischer „Parallelgesellschaften“ mit einem Fokus auf die dort vorherrschenden Geschlechterverhältnisse nachzuweisen.

205 Vgl. Ahmed, Women and Gender in Islam; Jonathan Lyons, Islam Through Western Eyes. From The Crusades To The War On Terrorism, New York 2012, S. 155-190.

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Abbildung 1: Cover des Magazins „DER SPIEGEL“ Nr. 47 vom 15.11.2004.

Zwar existieren immer auch individuelle Lesarten von Bildern, dennoch lassen sie sich in Hinblick auf die Bildkomposition, die Form- und Farbgebung und damit verknüpfte Botschaften analysieren. Auf diesem Cover ist im Vordergrund eine in dunkle, lange Kleidung gehüllte Frau abgelichtet, die mit gesenktem Kopf durch das Bild eilt. Sie bleibt gesichtslos und zu einem entindividualisierten Opfer degradiert, das den mitleidigen Blicken der Leserinnen und Leser ausgesetzt ist. Diese Anordnung setzt sich in dem 34-seitigen Themenschwerpunkt fort.206 Darin wird der Leserschaft das traumatische Schicksal einzelner muslimischer Frauen näher gebracht, die von ihren Familien tyrannisiert werden. Bei der Lektüre entsteht der Eindruck, dass ihre Lebensumstände repräsentativ seien für einen Großteil der Musliminnen in Deutschland. Sie „leben in Deutschland unter dem Joch des Patriarchats, weggesperrt in der Wohnung, hilflos gegen Gewalt und Zwangsheirat“, so das siebenköpfige SPIEGEL-Autorenteam, das die Titelreportage verfasst hat.207 Die Analyse über einen längeren Zeitraum zeigt, dass sich bei der medialen Darstellung muslimischer Frauen durch fortwährende Wiederholung mit geringer Variation ein bestimmtes Muster herausgebildet hat, dessen

206 Vgl. „Für uns gelten keine Gesetze“ und „Die verlorenen Töchter“, in: DER SPIEGEL vom 15.11.2004, S. 60-78 und 79-88. 207 „Für uns gelten keine Gesetze“, S. 60.

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sich beispielsweise auch das Magazin „Stern“ mit seiner Titelgeschichte „Frauen im Islam“ vom Juli 2010 bediente. Abbildung 2: Cover des Magazins „Stern“ Nr. 28 vom 8.7.2010.

Der Untertitel „Wie sie im Namen Allahs unterdrückt werden – und sich dagegen wehren“ gesteht muslimischen Frauen zwar ein gewisses Maß an Handlungsmacht zu, erklärt ihre Unterdrückung aber zugleich pauschal zu einem Faktum. 3.1.1 Der argumentative Rückgriff auf die Religion Die Rechtlosigkeit und Unterdrückung, denen Musliminnen in Deutschland ausgesetzt sind, hat diesen SPIEGEL- und Stern-Ausgaben zufolge eine eindeutig zu identifizierende Quelle: den Islam. Dass es sich beim SPIEGEL-Themenschwerpunkt nicht um eine Religions- oder Patriarchatskritik in einem breiteren Sinne handelt, zeigt sich darin, dass nicht „Gottes rechtlose Töchter“ porträtiert werden, sondern – signalisiert durch die Verwendung der arabischen Bezeichnung für „Gott“ – patriarchale Strukturen nur im Zusammenhang mit Islam und Muslimen angeprangert werden.208

208 Vgl. zu den medialen Effekten der Nichtübersetzung der Gottesbezeichnung „Allah“ Sabine Schiffer, Die Verfertigung des Islambildes in deutschen Medien, in: Siegfried Jäger/Dirk Halm (Hrsg.), Mediale Barrieren. Rassismus als Integrationshindernis, Münster 2007, S. 188 f.

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Obgleich es an einer Stelle im Text heißt, dass die beschriebenen Gewalttaten gegen muslimische Frauen durch ihre männlichen Familienmitglieder „mit dem Islam […] wenig zu tun“ hätten, liest man einige Zeilen später, dass angeblich jeder Muslim die Überlieferung kenne: „Die Frau hat dem Mann zur Verfügung zu stehen, und sei es auf dem Rücken eines Kamels.“209 Passend dazu sind in die mehrseitige Reportage über die Seiten verstreut im Schriftbild herausgehobene Koranzitate hinein montiert, die den frauenfeindlichen Charakter des Islams und der Muslime illustrieren sollen. Auch in der Stern-Titelgeschichte finden sich entsprechende großgedruckte Koranzitate in einer Bildstrecke. Vergleichbare Bibelstellen werden in beiden Ausgaben nicht thematisiert. Da aus medienanalytischer Sicht nicht nur das Dargestellte, sondern auch das Ausgeblendete bedeutsam ist,210 wird damit der Eindruck erweckt, dass patriarchale Strukturen ein Alleinstellungsmerkmal des Islams wären und sich aus den religiösen Schriften jedes Verhalten von Menschen, die als Muslime markiert sind, vollständig erklären ließe. So heißt es in der SPIEGEL-Reportage: „Etwa 30 Prozent der Klientinnen deutscher Frauenhäuser sind Musliminnen. […] Der Koran, glauben ihre Männer, gebe ihnen das Recht, Frauen zu unterdrücken. Der Koran, glauben die Frauen, erlege ihnen die Pflicht auf zu dulden.“211 Vernachlässigt wird, dass auch nicht-muslimische Frauen häufig nicht den Mut und die Kraft aufbringen, ihre gewalttätigen Ehemänner zu verlassen, es sich hierbei also um kein spezifisch muslimisches Phänomen handelt. Mit der unterstellten Kausalität zwischen islamischer Religion und häuslicher Gewalt wird zudem der Eindruck erweckt, als könne ein Muslim gar nicht anders, als seine Frau, Schwester oder Tochter zu tyrannisieren, das stünde schließlich so im Koran. 3.1.2 Funktionen von Geschlechterstereotypen in antimuslimischen Diskursen Einen vergleichbaren Reflex, gewalttätiges Verhalten getaufter Männer mit dem Christentum zu erklären, findet man in der SPIEGEL-Reportage nicht, obwohl eine Studie zitiert wird, wonach auch 25 Prozent der mehrheits-

209 „Für uns gelten keine Gesetze“, S. 75. 210 Vgl. Schiffer, Die Darstellung des Islams in der Presse, S. 38. 211 „Für uns gelten keine Gesetze“, S. 66.

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deutschen Frauen schon einmal Gewalt durch den Partner erlebt haben. Bezeichnenderweise wird zwischen diesen Gewalterfahrungen in dem Artikel keinerlei Zusammenhang hergestellt. Gewalt gegen die „eigenen Frauen“ kann durch die Kontrastfigur der unterdrückten Muslimin also dethematisiert werden. Ein ausschließlicher Fokus auf die islamische Religion als monokausale Erklärung für Frauenunterdrückung erfüllt mehrere Funktionen: Wenn patriarchale Gewalt und Sexismus in erster Linie bei den Anderen verortet und nicht in einen gesamtgesellschaftlichen Kontext gestellt werden (schließlich beherbergen Frauenhäuser auch mehrheitsdeutsche Frauen), kann das Phänomen bequem ausgelagert werden. Zugleich wird die Vorstellung eines unüberbrückbaren Gegensatzes zwischen „westlicher“ und „islamischer“ Kultur zementiert. Dass dem Verweis auf einen vermeintlich genuin muslimischen Sexismus nicht zwangsläufig eine anti-sexistische Grundhaltung zugrunde liegt, lässt sich empirisch nachweisen: Bei einer repräsentativen Studie in acht EU-Mitgliedsstaaten stimmten 2009 in Deutschland 76,1 Prozent der Befragten der These zu „Die muslimischen Ansichten über Frauen widersprechen unseren Werten“. Aus demselben Sample der Befragten waren 52,7 Prozent gleichzeitig der Meinung „Frauen sollten ihre Rolle als Ehefrau und Mutter ernster nehmen“ – und artikulierten damit selbst ein konservatives Geschlechterrollenverständnis.212 Fremd- und Selbstbild sind aus psychoanalytischer Sicht oft spiegelverkehrt zueinander angeordnet. Durch Projektion auf den Anderen können negative Elemente des Eigenen externalisiert werden.213 Die Funktion solcher Fremd- und Selbstbilder liegt auf der Hand: Die Fremddämonisierung wird meist begleitet von einer Selbstidealisierung – rechtlos erscheinen vor diesem Hintergrund nur noch die „Töchter Allahs“, wohingegen die westlichen Europäerinnen am Ende eines verwirklichten Emanzipationsprozesses stünden. Im Umgang mit muslimischen Frauen in Deutschland bietet dieses Narrativ in zweifacher Hinsicht eine Entlastung: Das Projekt der Geschlechtergleichheit scheint innerhalb der Mehrheitsbevölkerung nahezu realisiert – die Rolle mehrheitsdeutscher Männer und Frauen besteht nun darin, muslimische Frauen „mit Migrationshintergrund“ aufzuklären und

212 Zick/Küpper/Hövermann, Die Abwertung der Anderen, S. 70 ff. 213 Vgl. Birgit Rommelspacher, Anerkennung und Ausgrenzung. Deutschland als multikulturelle Gesellschaft, Frankfurt am Main/New York 2002, S. 11.

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vor ihren Männern zu schützen. Andererseits können durch einen solchen Fokus die Diskriminierungserfahrungen muslimischer Frauen jenseits der eigenen Community unsichtbar gemacht werden. 3.1.3 Wessen Stimmen werden gehört und wessen nicht? Bei der Analyse des medialen Diskurses über „die muslimische Frau“ fällt ins Auge, dass sie in erster Linie als Opfer muslimischer Männer thematisierbar scheint und sich vorrangig nur in diesem Kontext Gehör zu verschaffen vermag, nicht aber als Opfer einer Diskriminierung durch die Mehrheitsgesellschaft. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang beispielsweise die SPIEGEL-Berichterstattung über den Fall der Lehrerin Fereshta Ludin, die vor dem Bundesverfassungsgericht gegen das von ihrem Arbeitgeber ausgesprochene Kopftuchverbot geklagt hatte.214

214 „Das Kreuz mit dem Koran“, in: DER SPIEGEL vom 29.9.2003, S. 82-97. Die Lehrerin Fereshta Ludin wurde nach ihrem 1998 erfolgreich abgeschlossenen Referendariat nicht in den baden-württembergischen Schuldienst übernommen, weil sie nicht auf das Tragen ihres Kopftuchs verzichten wollte. Sie klagte sich daraufhin durch alle Instanzen. Am 24.9.2003 erging schließlich ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das der Klägerin recht gab und befand, dass „ein Verbot für Lehrkräfte, in Schule und Unterricht ein Kopftuch zu tragen, […] im geltenden Recht des Landes Baden-Württemberg keine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage“ fände. Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts Nr. 71/2003 vom 24.9.2003, http://www.bundesverfas sungsgericht.de/pressemitteilungen/bvg71-03.html, (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014). Zugleich wurden die Bundesländer auf die Möglichkeit hingewiesen, eine solche Verbotsgrundlage neu zu schaffen. In der Folge erließen acht Bundesländer Gesetze, die das Tragen von religiösen Kleidungsstücken sowie Symbolen im Schuldienst und zum Teil auch in anderen Bereichen des öffentlichen Dienstes untersagen. In fünf Bundesländern (Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Nordrhein-Westfalen sowie dem Saarland) wurden in verschiedener Form Ausnahmen für christlich-abendländliche und jüdische Kleidungsstücke und Zeichen formuliert. Vgl. Sabine Berghahn, Deutschlands konfrontativer Umgang mit dem Kopftuch der Lehrerin, in: Dies./Petra Rostock (Hrsg.), Der Stoff aus dem Konflikte sind, S. 45 ff.

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Während das Aufbegehren muslimischer Frauen für ihr Recht auf Selbstbestimmung im Falle der von ihren Familien unterdrückten „Töchter Allahs“ vom „SPIEGEL“ als emanzipativer Akt gedeutet wird, wird Ludins Rechtsstreit als Ausdruck von Fundamentalismus und Integrationsverweigerung gewertet. Ludin fordere „Toleranz für die Intoleranz“,215 sie „wollte und will besser behandelt werden als ihre Mitbürger“,216 ihre Klage vor dem Bundesverfassungsgericht sei also eine Anmaßung und Provokation, so das Urteil der acht SPIEGEL-Autorinnen und -Autoren der Titelstory „Das Prinzip Kopftuch – Muslime in Deutschland“ vom 29. September 2003. Abbildung 3: Cover des Magazins „DER SPIEGEL“ Nr. 40 vom 29.9.2003 mit dem Halbprofil von Fereshta Ludin.

Diese konträren Reaktionsmuster auf Zwänge, denen muslimische Frauen ausgesetzt sind – hier Entrüstung und Solidarität, da Verurteilung – deuten darauf hin, dass es bei dem Topos der unterdrückten Muslimin weniger um die Emanzipation muslimischer Frauen als eher um eine Selbstvergewisserung geht. Denn die Schicksale der von Zwangsheirat und anderen Gewaltformen betroffenen Frauen festigen ein dominierendes Islambild, das durch die Zuschreibung von Rückständigkeit und Unzivilisiertheit gekennzeichnet ist, während die aus freien Stücken Kopftuch tragende Frau die Deutungshoheit der Mehrheitsgesellschaft infrage stellt. Durch sie wird das Kopftuch

215 Ebenda, S. 84. 216 Ebenda, S. 83.

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zu einem uneindeutigen Symbol.217 Die Stimmen von Musliminnen, die auf eine eigene Interpretation ihres Kopftuchs pochen, werden allerdings kaum gehört. Die Frage „Wer darf sprechen und sich selbst repräsentieren und wer nicht?“ eröffnet eine wichtige Analyseebene in Hinblick auf Machtund Dominanzverhältnisse und damit auch auf rassistische Strukturen.218 Auffällig ist, dass Fereshta Ludin, anders als die in der SPIEGEL-Ausgabe zu „Allahs rechtlosen Töchtern“ porträtierten Frauen, nicht selbst zu Wort kommt. Bei der Frage nach der Möglichkeit einer Selbstrepräsentation tritt eine Unterscheidung muslimischer Frauen zutage in diejenigen, die sich durch Verinnerlichung von als „westlich“ gekennzeichneten Werten zu einem autonomen Subjekt entwickelt hätten – deren Äußerungen folglich als authentisch gelten können und denen man Gehör schenkt – und solchen, die die „islamisch-patriarchale“ Repression internalisiert hätten. Ihre Stimmen werden von Teilen der Mehrheitsgesellschaft als unmündig und damit „unauthentisch“ zurückgewiesen, so zum Beispiel von der Frauenrechtlerin Alice Schwarzer, die sich im „SPIEGEL“ wiederholt zum Thema Islam und Geschlecht äußerte.219 Auch den Fall Fereshta Ludin hat Schwarzer ausführlich kommentiert. In einem Beitrag mit dem Titel „Die Machtprobe“

217 Interviews, die Aufschluss geben über die vielfältigen Motive von Frauen, die in Deutschland ein Kopftuch tragen, finden sich unter anderem in den Studien von Yasemin Karakaşoğlu, Muslimische Religiosität und Erziehungsvorstellungen. Eine empirische Untersuchung zu Orientierungen bei türkischen Lehramts- und Pädagogik-Studentinnen in Deutschland, Frankfurt am Main 2000 und bei Schirin Amir-Moazami, Politisierte Religion. Der Kopftuchstreit in Deutschland und Frankreich, Bielefeld 2007. 218 Vgl. Maria do Mar Castro Varela/Nikita Dhawan, Migration und die Politik der Repräsentation, in: Anne Broden/Paul Mecheril (Hrsg.), Re-Präsentationen. Dynamiken der Migrationsgesellschaft, Düsseldorf 2007, S. 29-46. 219 Mit Alice Schwarzers Islambild hat sich unter anderem die Soziologin Daniela Marx ausführlich beschäftigt. Vgl. Daniela Marx, Vom „feministischen Schreckgespenst“ zur gefragten Expertin – Alice Schwarzers Islamismuskritik als Eintrittskarte in die Welt der Mainstream-Medien, in: Margarete Jäger/ Jürgen Link (Hrsg.), Macht – Religion – Politik. Zur Renaissance religiöser Praktiken und Mentalitäten, Münster 2006, S. 209-230.

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bezweifelt sie, dass Ludin „wirklich religiöse Motive hat“.220 Zwar geht Schwarzer nicht so weit, muslimischen Frauen in toto das Recht abzusprechen, sich selbst zu artikulieren, doch will sie die Möglichkeit zur Selbstrepräsentation auf jene Frauen beschränkt wissen, die ihrem Verständnis einer emanzipierten Muslimin entsprechen. So fragt sie in dem Artikel rhetorisch, warum das Bundesverfassungsgericht zur Klärung der Kopftuchfrage nicht „einen Bericht bei Irene Khan, der Generalsekretärin von Amnesty International, an[fordert], die Muslimin ist – und unverschleiert? Warum fragt niemand nach Studien bei Wassila Tamzali, der langjährigen UNESCO-Vorsitzenden für Frauen, Muslimin – und unverschleiert?“221 Alice Schwarzer erhebt also nicht den Anspruch, im Namen der Musliminnen zu sprechen, aber die Definitionsmacht darüber, wer von ihnen sprechen darf und wer nicht, will sie sich nicht nehmen lassen. Dieser paternalistische Habitus vieler weißer Feministinnen ist von postkolonialen Theoretikerinnen seit den 1980er-Jahren beständig problematisiert worden.222 Ihre Kritik zielt auf ein Feminismus-Verständnis, das den Sexismus als machtvollstes Unterdrückungsverhältnis begreift und Rassismus ausblendet.223 3.1.4 Der Topos der „gefährlichen Muslimin“ Alice Schwarzer verweigert Frauen wie Fereshta Ludin aber nicht nur das Recht auf Selbstrepräsentation, sondern beschuldigt sie auch der Komplizinnenschaft mit fundamentalistischen muslimischen Männern. „Denn“, so Schwarzer, „die angeblich so ‚naive‘ Ludin befindet sich bei näherem Hinsehen in durchaus politischen Zusammenhängen“.224 Diese Wortwahl ist insofern aufschlussreich, als sie offenbart, dass muslimischen Frauen aus Schwarzers Sicht nur ein begrenztes Repertoire an Rollen zugestanden

220 Alice Schwarzer, „Die Machtprobe“, in: DER SPIEGEL vom 23.6.2003, S. 88. 221 Ebenda, S. 90. 222 Vgl. exemplarisch Chandra Talpade Mohanty, Under Western Eyes. Feminist Scholarship and Colonial Discourses, in: Feminist Review 30 (1988), S. 61-88. 223 Vgl. Birgit Rommelspacher, Dominanzkultur. Texte zu Fremdheit und Macht, Berlin 1998, S. 102 ff. 224 Schwarzer, „Die Machtprobe“, S. 88.

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wird. Zugespitzt formuliert: Entweder sie sehen ein, dass sie von ihren Männern und ihrer Religion unterdrückt werden und begehren Rettung durch die Mehrheitsgesellschaft oder sie sind zu „naiv“, um sich ihrer Unterdrückung gewahr zu werden und bleiben passiv. Schlagen sie beide Rollen aus und treten, wie Ludin, für das Recht auf das Tragen eines Kopftuchs ein, setzen sie sich Schwarzers Vorwurf aus, sie seien Kollaborateurinnen der Islamisten, die an einer Unterwanderung der deutschen Gesellschaft arbeiteten: „Beobachter der Islamisten-Szene wissen, dass in den nicht-islamischen Staaten mit hohem Muslim-Anteil auf die soziale jetzt die juristische Offensive folgt. […] Sie haben versucht, kritische Bücher zu verbieten (wie Udo Ulfkottes ‚Der Krieg in unseren Städten‘) – und nun versuchen sie, auch noch das ‚Recht‘ auf Kopftuchlehrerinnen zu verankern. Wird da schleichend die Scharia in Deutschland eingeführt?“225

Auch in einem Interview im Titelschwerpunkt zu „Allahs rechtlosen Töchtern“ äußerte sich Schwarzer ähnlich: „In konzertierten Aktionen wird seit einigen Jahren versucht, die Scharia in das deutsche Recht zu infiltrieren. Die Flagge dieses Kreuzzugs ist das Kopftuch“, so ihre Überzeugung. 226 Das Angstszenario einer „schleichenden Islamisierung“, demzufolge Muslime sich verabredet hätten, westliche Gesellschaften von innen heraus zu zersetzen, ist ein Kernbestand islamfeindlich-rechtspopulistischer Argumentation (vgl. Kapitel 4.2), derer sich Schwarzer an dieser Stelle bedient. Die argumentative Nähe wird unterstrichen durch ihre positive Bezugnahme auf Udo Ulfkotte, einen wichtigen Stichwortgeber der rechtspopulistisch-islamfeindlichen Szene in Deutschland.227

225 Ebenda, S. 90. 226 „Augen fest verschlossen“. Interview mit Alice Schwarzer, in: DER SPIEGEL vom 15.11.2004, S. 70. 227 Vgl. Benz, Die Feinde aus dem Morgenland, S. 71-79. Die These, in Deutschland gebe es eine falsche Toleranz gegenüber Musliminnen und Muslimen aufgrund einer vermeintlich verbreiteten „Fremdenliebe“ – verursacht durch das schlechte Gewissen wegen der Verbrechen der Nationalsozialisten – macht Alice Schwarzers Multikulturalismuskritik wiederum anschlussfähig für rechtspopulistische Argumentationen. Vgl. Schwarzers Äußerung in dem In-

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Der Verhüllungstopos, der bei der medialen Inszenierung der muslimischen Frau dominiert, lässt sich auch als Metapher für ein verschwörerisches Agieren im Geheimen und Verborgenen lesen. Abbildung 4: Cover des Magazins „VIEW“ Nr. 10 vom Oktober 2006.

Das zur Zeitschrift „Stern“ gehörende Magazin „VIEW“ wählte für seine Titelgeschichte „Islam – Die unheimliche Religion. Peter Scholl-Latour erklärt die Macht der Muslime“ zum Beispiel eine Aufnahme, auf der eine unüberschaubare Gruppe von Frauen in Reihen aufgestellt zu sehen ist. Ihre Anordnung deutet auf eine organisierte Zusammenkunft hin, zugleich verschließt sich den Leserinnen und Lesern des Magazins die Intention ihres Tuns, da sie von hinten fotografiert wurden und damit mit dem Rücken zum Betrachter stehen. Erst in der Bildunterschrift im Magazininneren erfährt man, dass es sich bei den Frauen um Angehörige der muslimischen Minderheit in Paramaribo, der Hauptstadt des südamerikanischen Surinam, handelt, die das Ende des Ramadan feiern. Sie sind ganz in Weiß gehüllt und wirken durch das Sonnenlicht, das ihre Körperkonturen unter der Totalverhüllung nur erahnen lässt, im wahrsten Sinne des Wortes gespens-

terview mit der FAZ vom 4.7.2006: „Doch es gibt ein besonderes deutsches Problem: dieses deutsche Minderwertigkeitsgefühl, das leicht in Größenwahn umschlagen kann. Diese Fremdenliebe, die Verherrlichung des Fremden ist ein Resultat dieser mangelnden Selbstachtung.“ Vgl. dazu auch Kapitel 3.2.

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tisch. Im Zusammenspiel mit dem Titel und dem Text verkörpern diese Frauen das bedrohliche und unheimliche Andere. Neben dem Stereotyp der „unterdrückten Muslimin“ existiert also parallel die Figur der „gefährlichen Muslimin“ – und das nicht erst seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Die diskursive Verknüpfung von Schleier und Gewaltbereitschaft findet sich zum Beispiel auf dem Cover der SPIEGEL Special-Ausgabe vom Januar 1998 mit dem Titel „Weltmacht hinterm Schleier – Rätsel Islam“. Abbildung 5: Cover des Magazins „SPIEGEL Special“ Nr. 1 vom Januar 1998.

Anknüpfend an orientalistische Haremsfantasien des 19. Jahrhunderts 228 wird hier einerseits das Klischee der geheimnisvollen und erotischen Orientalin aufgerufen. Zugleich wird das Zusammenspiel von „Frau“, „Islam“ und „Bedrohung“ durch das halbe Gesicht einer verschleierten Frau, deren Augenbraue zu einem Krummsäbel geformt ist, versinnbildlicht. Die Gewalt, die von Musliminnen und Muslimen auszugehen droht, wird so auch noch als primitiv gekennzeichnet, denn es sind keine modernen Waf-

228 Vgl. Karin Hörner, Verborgene Körper – verbotene Schätze. Haremsfrauen im 18. und 19. Jahrhundert, in: Kerstin Gernig (Hrsg.), Fremde Körper. Zur Konstruktion des Anderen in europäischen Diskursen, Berlin 2001, S. 177-207; Reina Lewis, Gendering Orientalism. Race, Femininity and Representation, London/New York 1996.

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fen, derer sie sich bedienen, vielmehr löst das archaische Bild des säbelschwingenden Muslims Assoziationen von mittelalterlichen Praktiken aus. Auch das Plakat, mit dem 2009 in der Schweiz die Volksinitiative gegen den Bau von Minaretten erfolgreich beworben wurde,229 bedient sich einer vergeschlechtlichten Symbolik der expandierenden „islamischen Gefahr“. Speerspitzenartige Minarette schießen raketenförmig aus dem Inneren der Schweizer Flagge empor, die linke Bildhälfte nimmt eine bis auf die Augenpartie tiefverschleierte und wie die Minarette ganz in Schwarz gezeichnete Frau ein. Abbildung 6: Plakat der Schweizer Volksinitiative „Gegen den Bau von Minaretten“ 2009.

Quelle: http://www.minarette.ch/grafiken/plakat-d.pdf (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014).

229 Am 29.11.2009 wurde die Volksinitiative „Gegen den Bau von Minaretten“ in der Schweiz angenommen und der Satz „Der Bau von Minaretten ist verboten“ in die Bundesverfassung aufgenommen. Diese Abstimmung war von Politikerinnen und Politikern der Schweizerischen Volkspartei sowie der Eidgenössischen Demokratischen Union initiiert worden. Vgl. Felix Müller/Mathias Tanner, Muslime, Minarette und die Minarett-Initiative in der Schweiz. Grundlagen, in: Dies. u.a. (Hrsg.), Streit um das Minarett. Zusammenleben in der religiös pluralistischen Gesellschaft, Zürich 2009, S. 39.

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Dieses Bild ist mittlerweile zu einem populären Motiv der islamfeindlichen Ikonographie avanciert. Es findet sich in Variationen zum Beispiel auf Plakaten der deutschen rechtspopulistischen PRO-Bewegung oder polnischer Anti-Moscheebau-Initiativen.230 Die Verknüpfung von totalverschleierter Frau – dem Symbol für den Islam schlechthin –231 und nationaler Symbolik, wie der Flagge, evoziert das Bild der „gefährlichen Muslimin“ eindrücklich. Denn in islamfeindlichen Narrativen stellt die Gebärfähigkeit der Muslimin eine „Waffe“ dar, mit der sie die europäischen Nationen demografisch „bekämpft“. Besonders explizit und drastisch kommt dies bei folgender Zeichnung zum Ausdruck, die auf antimuslimischen Webseiten Verbreitung findet und unter anderem in dem sogenannten Manifest des norwegischen Attentäters Anders Behring Breivik abgedruckt ist, der am 22. Juli 2011 in Oslo und auf der Insel Utøya 77 Menschen tötete, um, nach eigenem Bekunden, Norwegen und Europa vor der „Islamisierung“ zu retten.232 In seiner Schrift warnt Breivik vor einer „ongoing Islamic colonisation of Europe through demographic warfare“.233

230 Vgl. http://pro-nrw.net/2-500-plakate-in-einer-nacht-aufgehangt/; http://www. euroislam.pl/index.php/2010/03/nie-chca-meczetu-beda-pikietowac-na-ochoc ie/ (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014). 231 Vgl. Anna C. Korteweg/Gökçe Yurdakul, The Headscarf Debates. Conflicts of Belonging in National Narratives, Stanford 2014; Irene Zempi/Neil Chakraborti, Islamophobia, Victimisation and the Veil, Basingstoke 2014. 232 Vgl. Anders Behring Breivik alias Andrew Berwick, 2083. A European Declaration of Independence, http://info.publicintelligence.net/AndersBehringBrei vikManifesto.pdf (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014), S. 574. In seinem „Manifest“, das Breivik kurz vor den Anschlägen per E-Mail verschickte, erläutert er die Motivation für seine bevorstehenden Taten und offenbart ein geschlossenes islamfeindliches Weltbild, das auch auf vielen antimuslimischen Webseiten – die Breivik zum Teil ausführlich zitiert – artikuliert wird (vgl. Kapitel 4.2). 233 Ebenda, S. 16.

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Abbildung 7: Zeichnung aus dem „Breivik-Manifest“ 2011, S. 574 (Urheber unbekannt).

Quelle: http://info.publicintelligence.net/AndersBehringBreivik Manifesto.pdf (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014).

Zu sehen ist eine Schwangere, die durch die Burka deutlich als Muslimin markiert ist. Ihre Hände zeigen, dass es sich bei der Frau um ein Skelett handelt. Sie verkörpert den Tod, und todbringend ist auch das muslimische Kind, das sie gebären wird, symbolisiert durch die Zündschnur an ihrem Bauch, der eine Bombe formt. Mit dem Fokus auf ihre Fortpflanzungsfähigkeit wird die Figur der „gefährlichen Muslimin“ in die Tradition biologistisch-rassistischer Argumentationsweisen eingebettet.234 In dem Bild der permanent Gebärenden fließen das Stereotyp der unterdrückten und der gefährlichen Muslimin zusammen: Weil sie so unemanzipiert ist, bekommt sie so viele Kinder, weil sie so viel Nachwuchs produziert, vermehren sich Muslime als unerwünschter Bevölkerungsteil so überproportional und werden dadurch zur Bedrohung – so die Argumentationskette. Dass dieses Narrativ sich nicht nur in randständigen, sondern durchaus auch in etablierten Diskursen findet, illustriert die Lektüre von Thilo Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“, dessen Thesen ganz zentral um eine durch Musliminnen und Muslime

234 Vgl. Thomas Etzemüller, Ein ewigwährender Untergang. Der apokalyptische Bevölkerungsdiskurs im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2007.

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vermeintlich verursachte demografische Bedrohung kreisen (vgl. Kapitel 2.2). Die Kategorie Geschlecht spielt in antimuslimischen Diskursen eine zentrale Rolle.235 Stereotypisierungen „der muslimischen Frau“ können dabei zwischen paternalistischer Viktimisierung und Dämonisierung schwanken. Selbstverständlich existieren in öffentlichen Islam-Diskursen auch andere Bilder als die hier skizzierten – obgleich diese in den untersuchten Medien ungleich schwächer ausgeprägt zu sein scheinen. Den dominanten Diskurs aufzubrechen und vielstimmiger zu machen, ist allein deshalb notwendig, da Stereotype, die in medialen und politischen Diskursen produziert werden und als sozial geteiltes Wissen kursieren, einen stigmatisierenden Effekt haben können. Dies zeigen unter anderem die Studien zur Diskriminierung muslimischer Frauen im Ausbildungswesen und auf dem Arbeitsmarkt.236 Besonders Frauen, die durch das Tragen eines Kopftuchs als Musliminnen sofort sichtbar sind, machen die Erfahrung, dass ihnen in Bewerbungssituationen eine ablehnende Haltung entgegenschlägt. Diese Einstellung wird von Personalverantwortlichen im Dienstleistungssektor zum Beispiel „mit den erwarteten negativen Kundenreaktionen oder mit der zugeschriebenen Rückständigkeit und dem mangelnden Integrationswillen von Kopftuch tragenden Frauen begründet“, so Mario Peucker, der im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes den Forschungsstand zur Diskriminierung von Musliminnen und Muslimen im Kontext der Arbeitswelt zusammengetragen hat.237

235 Vgl. Irmgard Pinn/Marlies Wehner, EuroPhantasien. Die islamische Frau aus westlicher Sicht, Duisburg 1995; Margret Jäger, Fatale Effekte. Die Kritik am Patriarchat im Einwanderungsdiskurs, Duisburg 1996; Christina von Braun/Bettina Mathes, Verschleierte Wirklichkeit. Die Frau, der Islam und der Westen, Berlin 2007. 236 Vgl. u.a. Albert Scherr/Caroline Janz/Stefan Müller, Diskriminierungsbereitschaft in der beruflichen Bildung. Ergebnisse und Folgerungen aus einer Betriebsbefragung, in: Soziale Probleme. Zeitschrift für soziale Probleme und soziale Kontrolle (2013), H. 2, S. 245-269. 237 Mario Peucker, Diskriminierung aufgrund der islamischen Religionszugehörigkeit im Kontext Arbeitsleben. Erkenntnisse, Fragen und Handlungsempfehlungen, Berlin 2010, S. 46.

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Die Geschlechterstereotype beschränken sich dabei keinesfalls nur auf muslimische Frauen. Zu den vergeschlechtlichten Bildern gehört zum Beispiel auch das Stereotyp des übersexualisierten muslimischen Mannes, das Parallelen aufweist zu rassistischen Zuschreibungen gegenüber Schwarzen Männern (vgl. Kapitel 5.3).238 In einer Studie zur Benachteiligung von Nachkommen türkischer Einwanderinnen und Einwanderer auf dem Arbeitsmarkt kommen die Forscher nach Gesprächen mit Arbeitgebern zu dem Ergebnis: „Einige Gatekeeper stellen türkische Männer nicht ein, weil sie ihnen ein ‚aggressives Interesse‘ […] an Kolleginnen zuschreiben und diese Haltung den weiblichen Beschäftigten nicht zumuten wollen.“239 Antimuslimische Narrative können, wie diese Beispiele zeigen, nicht nur das Denken von Menschen beeinflussen, sondern auch ihr Handeln – mit folgenschweren Konsequenzen für die Betroffenen.

238 Vgl. Patricia Hill Collins, Black sexual politics. African Americans, gender, and the new racism, New York 2004, S. 58. 239 Norbert Gestring/Andrea Janßen/Ayça Polat, Prozesse der Integration und Ausgrenzung. Türkische Migranten der zweiten Generation, Wiesbaden 2006, S. 166.

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3.2 K RONZEUGINNEN DER A NKLAGE ? Z UR R OLLE MUSLIMISCHER S PRECHERINNEN IN AKTUELLEN I SLAM -D EBATTEN Es sind nicht nur die Blicke von „außen“, die wirkmächtige antimuslimische Stereotype und Topoi erzeugen. In aktuellen Islam-Debatten treten auch einige als Musliminnen oder muslimische „Renegatinnen“ wahrgenommene erfolgreiche Publizistinnen in der Rolle sogenannter Islamkritikerinnen240 in Erscheinung.241 All diesen Frauen ist eine Sozialisation in muslimisch geprägten Milieus gemeinsam. Darüber hinaus teilen sie negative Erlebnisse und Erfahrungen, zumeist in ihrem eigenen familiären Umfeld, die sie in ihren öffentlichen Statements und Publikationen auf die „islamische Kultur“ ihrer Herkunftsgesellschaften zurückführen, aus der sie sich befreit hätten. Mit ihrem Schicksal „bezeugen“ sie eine in der deutschen Mehrheitsgesellschaft verbreitete Wahrnehmung, die in dem Stereotyp der unterworfenen muslimischen Frau zum Ausdruck kommt, deren Pendant die emanzipierte westliche Europäerin bildet. Dieser Topos reiht sich in einen gegenwärtigen Islam-Diskurs ein, der Europas freiheitlichdemokratischer Kultur und Tradition der Aufklärung einen nicht-integrierbaren, rückständigen, irrationalen und gewaltbereiten Islam gegenüberstellt

240 Der Begriff „Islamkritiker“ findet in aktuellen Islam-Debatten sowohl als Eigen- wie auch als Fremdbezeichnung Verwendung. Er rekurriert einerseits auf den emanzipativ konnotierten Begriff der Religionskritik, kann andererseits aber auch der Abwehr des Rassismus-Vorwurfs dienen. So deklarieren beispielsweise rechtspopulistische Akteure, wie die sogenannte PRO-Bewegung, ihre Diffamierung von Musliminnen und Muslimen ebenfalls als „Islamkritik“. Abgesehen davon ist der Begriff nicht zuletzt deshalb problematisch, weil er verschiedene gesellschaftliche Missstände, an denen Kritik geübt wird, einzig auf die Religion zurückführt und alle anderen Ursachen überdeckt. 241 Dieses Phänomen ist nicht auf Deutschland beschränkt. Vgl. Gökçe Yurdakul, Governance Feminism und Rassismus. Wie führende Vertreterinnen von Immigranten die antimuslimische Diskussion in Westeuropa und Nordamerika befördern, in: Dies./Y. Michal Bodemann, Staatsbürgerschaft, Migration und Minderheiten. Inklusion und Ausgrenzungsstrategien im Vergleich, Wiesbaden 2010, S. 111-125.

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(vgl. Kapitel 2.1 und 2.2). An diesem Diskurs beteiligen sich die „Islamkritikerinnen“, indem sie stellvertretend für ein imaginiertes Kollektiv Zeugnis ablegen und damit gesellschaftliches Wissen herstellen, das die bestehenden hegemonialen Islambilder beglaubigt. Es stellt sich daher die Frage, auf welche Art und Weise die „authentischen“242 Erfahrungen der muslimischen Sprecherinnen, die sowohl auf staatlicher als auch auf zivilgesellschaftlicher Ebene gefragte Ansprechpartnerinnen der Mehrheitsgesellschaft sind, in eine Geste des Bezeugens übertragen und in ein politisches Argument übersetzt werden. Zuvor soll erörtert werden, in welcher literarischen Tradition die muslimischen „Islamkritikerinnen“ mit ihren zeugnisgebenden Schriften stehen. Die Frage nach der Stellung der Frau im Islam ist nicht erst seit Kurzem eines der Hauptthemen von in Europa geführten Islam-Debatten. Bereits im Mittelalter finden sich scharfe Polemiken gegen die der katholischen Kirchenlehre zuwiderlaufende Haltung von Muslimen zur Unauflöslichkeit der Ehe und die Praxis der Polygamie, die als sündhaft und unsittlich gegeißelt wurden.243 Auf der anderen Seite existiert eine lange Tradition der Faszination für die vermeintliche sexuelle Freizügigkeit, wie sie in den Haremsfantasien in der Malerei und Literatur des 19. Jahrhunderts zum Ausdruck kommt.244 In gegenwärtigen Islam-Diskursen dominiert das Stereotyp der unterdrückten Muslimin. Dies lässt sich neben der medialen Präsenz des Topos’ (vgl. Kapitel 3.1) unter anderem leicht an der Ausrichtung der zahlreichen Publikationen zum Themenkreis „Frau im Islam“ ablesen. Wenn man beispielsweise in der Bücher-Suchmaschine des InternetVersandhauses Amazon diese Stichworte eingibt, so erhält man eine Reihe von Buchtiteln, die, obwohl sie von verschiedenen Verlagen vertrieben

242 Die Verwendung von Anführungszeichen soll nicht die subjektiven Erfahrungen der Autorinnen in Abrede stellen, sondern eine generelle Skepsis gegenüber dem Authentizitätsbegriff im Kontext der Erschließung „fremder Kulturen“ zum Ausdruck bringen. Der Literaturwissenschaftler Graham Huggan spricht in diesem Zusammenhang von einem „cult of authenticity“ und einem „mainstream demand for ethnic (minority) autobiography [which] signal[s] the possibility of indirect access to ‚exotic‘ cultures“. Graham Huggan, The Postcolonial Exotic. Marketing the Margins, London 2001, S. 155. 243 Vgl. Daniel, Islam and the West, S. 135 ff. 244 Vgl. Körner, Verborgene Körper – verbotene Schätze.

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werden, auf ihrem Cover einer nahezu identischen bildlichen Anordnung folgen: ein weibliches Gesicht, verhüllt von einem Schleier, von dem, wenn überhaupt, nur noch die Augenpartie zu sehen ist. Dieser Verhüllungstopos steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Geste der „Enthüllung“, des Blicks in das Innere einer verschlossenen Welt, den die Autorinnen mit ihren Lebenszeugnissen verheißen. Bei diesen Büchern, die Titel tragen wie „Blut für Allah. Ich war die Frau eines islamischen Terroristen“245 oder „Fatwa. Vom eigenen Mann zum Tode verurteilt“,246 handelt es sich größtenteils um Erfahrungsberichte von Frauen, die Gewalt vonseiten muslimischer Männer erlebt haben, zumeist während einer Lebensphase, die sie erzwungenermaßen in einem Land mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit verbracht haben. 3.2.1 Betty Mahmoodys „Nicht ohne meine Tochter“: Das Paradigma islambezogener „Opfer-Literatur“ Begründet wurde diese Art autobiografisch geprägter, islambezogener „Opfer-Literatur“ mit dem 1987 erschienenen, für den Pulitzer-Preis nominierten und allein in Deutschland über vier Millionen Mal verkauften Bestseller „Nicht ohne meine Tochter“ der US-amerikanischen Autorin Betty Mahmoody.247 Das Buch wurde 1991 mit der US-Schauspielerin Sally Field in der Hauptrolle verfilmt. Mahmoodys Schilderung der Peinigung durch ihren muslimischen Ehemann basiert auf ihren Erlebnissen während eines 18-monatigen Aufenthalts 1984/85 im Iran. Ihr Ehemann Moody hatte sie und die gemeinsame kleine Tochter zu einem Urlaub in seiner Heimat überredet und beide dann gegen ihren Willen dort festgehalten. Der Erfahrungsbericht folgt einer einfachen Dramaturgie: Mahmoodys in Amerika sich „westlich-assimiliert“ verhaltender, liebevoller Ehemann entwickelt

245 Nadia Chaabani, Blut für Allah. Ich war die Frau eines islamischen Terroristen, Berlin 2000. 246 Jacky Trevane, Fatwa. Vom eigenen Mann zum Tode verurteilt, München 2009. 247 Der Verlag der deutschen Ausgabe des Buches, Bastei Lübbe, wirbt bis heute damit, dass der Bestseller zu seinem größten Verkaufserfolg wurde. Vgl. „Gustav Lübbe zum Gedenken – Zur Geschichte von Bastei“, http://www.bas tei.de/beitrag/standardbeitrag_17549.html (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014).

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sich während des Aufenthalts in seiner Heimat Iran, in der kurz zuvor die Islamische Revolution stattgefunden hat, zurück zum „tyrannischen Orientalen“, der seine Frau und seine Tochter brutal misshandelt: „Je länger wir im Iran blieben, desto mehr gab er der unbegreiflichen Anziehungskraft seiner ursprünglichen Kultur nach.“248 Wie diese Kultur, die Moody zu determinieren scheint, sich aus der Perspektive Betty Mahmoodys darstellt, erschließt sich der Leserin bzw. dem Leser in den das Buch durchziehenden abwertenden Beschreibungen des „Fremden“, das der „westlichen Kultur“ in jeder Hinsicht unterlegen ist: „Obwohl sie [eine Verwandte ihres Mannes] den vergangenen Abend mit Putzen zugebracht hatte, war ihr Haus, gemessen an amerikanischen Vorstellungen, immer noch schmutzig.“249 Aussagen wie „Einmal im Jahr nimmt jeder Iraner ein Bad“250 sowie ausführliche Schilderungen von stinkenden Körperausdünstungen und mangelnder Körperpflege zeichnen das Bild einer unzivilisierten Gesellschaft, die „noch die einfachsten Grundregeln von Hygiene und sozialer Gerechtigkeit lernen mußte“251 und darüber hinaus sogar animalische Züge trägt: „Die Iraner saßen im Schneidersitz auf dem Boden oder hockten auf einem Knie und stürzten sich auf das Mahl wie eine Herde wilder Tiere in verzweifelter Gier auf ihr Fressen.“252 Für die lebensbedrohlichen Erfahrungen, die Mahmoody machen musste, ist – folgt man der Perspektive der Protagonistin – die Kultur und Religion ihres Mannes verantwortlich: Bereits unmittelbar vor Antritt der Reise hat sie angesichts seiner „Hinwendung zu islamischen Ritualen“ Grund, Moody zu misstrauen, wie sie in ihrem Fortsetzungsbuch „Aus Liebe zu meiner Tochter“ rückblickend beschreibt, denn das Praktizieren seiner Religion „ließ Böses ahnen“.253 Später im Iran spürt die Ich-Erzählerin „eine islamische Schlinge um [ihren] Hals“.254 Die Leserin bzw. der Leser fiebert bis zum Schluss mit der

248 Betty Mahmoody, Nicht ohne meine Tochter, Bergisch Gladbach 1990, S. 91. 249 Ebenda, S. 114. 250 Ebenda, S. 213. 251 Ebenda, S. 73. 252 Ebenda, S. 23. 253 Betty Mahmoody, Aus Liebe zu meiner Tochter, Bergisch Gladbach 1993, S. 69. 254 Mahmoody, Nicht ohne meine Tochter, S. 238.

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Autorin mit, als es Betty und ihrer Tochter gelingt, sich durch eine abenteuerliche Flucht aus dieser Schlinge zu befreien. Ein breites amerikanisches und westeuropäisches Publikum sowie einige weiße Feministinnen rezipierten Mahmoody als „Augenzeugin“ im Sinne einer anti-islamischen Patriarchatskritik,255 und in den USA wurde sie in Sorgerechtsprozessen zwischen Angehörigen gescheiterter bi-nationaler Partnerschaften als Zeugin und Sachverständige gehört.256 Ihre Zeugenschaft wurde durch ihren Opferstatus und ihre damit einhergehende emotionale Verwicklung – die dem idealen Gerichtszeugen, der sich als neutraler Beobachter positionieren soll,257 zum Nachteil gereichen würde – nicht beeinträchtigt, sondern gestärkt, schließlich fällt es zweifelsohne schwer, bei der Schilderung eines solch tragischen Schicksals die Empathie zu verweigern. Die Opfererfahrung schafft eine unangreifbare Evidenz, die einem aus der Außenperspektive Bezeugenden nicht ohne Weiteres zuteilwerden würde. Die Literaturwissenschaftlerin Anne-Kathrin Reulecke kommt zu dem Urteil: „Mahmoody macht eine illegitime Anleihe beim Feminismus, indem sie Leserinnen und Leser, welche die öffentliche Thematisierung von Gewalt gegen Frauen befür-

255 Vgl. beispielsweise die Titelgeschichte „Die Hatz auf Betty Mahmoody“ des Magazins „Emma“ vom September 1991. 256 Vgl. Mahmoody, Aus Liebe zu meiner Tochter, S. 89. 257 Sybille Krämer stellt in ihren Überlegungen zur „Grammatik der Zeugenschaft“ in Bezug auf den Gerichtszeugen fest: „Der Zeuge ist gefragt in seiner Eigenschaft, ein Beobachter gewesen zu sein. Er zählt ausschließlich als Rezipient eines Geschehens; auf seine kognitiven und urteilenden Aktivitäten, auf seine Meinungen, Bewertungen oder Schlussfolgerungen kommt es dagegen in keiner Weise an: Sie stören und trüben den Vorgang des Bezeugens. […] Das Ideal der Zeugenschaft – jedenfalls so, wie es in der Rechtssphäre Profil gewinnt – ist das Unbeteiligtsein an eben jenem Vorgang, der zu bezeugen ist.“ Sybille Krämer, Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität, Frankfurt am Main 2008, S. 230.

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worten und aus diesem Grund das Buch begrüßen, dazu zwingt, einer rassistischen Erklärung dieser Gewalt zu folgen.“258

Wie im Folgenden dargelegt wird, ist dieser Aspekt der rassistischen Deutung des Erlebten auch paradigmatisch für das schriftstellerische Werk der muslimischen „Islamkritikerinnen“, die in der literarischen Tradition Betty Mahmoodys stehen. 3.2.2 Muslimische Sprecherinnen als „authentische Stimmen“ aus der Minderheit Während die Berichte der bislang genannten Autorinnen auf einen geografisch außerhalb des Westens gelegenen Islam zielten, setzte mit der Jahrtausendwende eine Wahrnehmungsverschiebung im deutschen IslamDiskurs ein, die eine Auseinandersetzung mit dem Anderen im Inneren verstärkte (vgl. Kapitel 2.1). Die Religion ist seitdem zu einem bestimmenden Faktor in der Diskussion um „Integration“ geworden – verstärkt durch Ereignisse, die ein breites mediales Echo hervorgerufen haben, wie der Mord an dem niederländischen Filmemacher Theo van Gogh durch einen sich auf den Islam berufenden Täter im November 2004 oder als „muslimisch“ beschriebene Praktiken wie „Zwangsheirat“ und „Ehrenmord“.259

258 Anne-Kathrin Reulecke, „Die Befreiung aus dem Serail“. Betty Mahmoodys Roman Nicht ohne meine Tochter, in: Klemm/Hörner, Das Schwert des „Experten“, S. 249. 259 Dass diese Formen patriarchaler Gewalt medial nicht zwangsläufig unter dem Paradigma der Religion verhandelt werden, zeigt das Beispiel der Reportage „Knüppel im Kreuz, Kind im Bauch“ des Magazins „DER SPIEGEL“ vom 29.10.1990. Darin wird ein „Ehrenmord“ überwiegend in ethnischen Kategorien beschrieben (weshalb in dem Artikel keine „Islamexpertin“, sondern eine „Türkenexpertin“ interviewt wird), religiöse Zuschreibungen spielen keine tragende Rolle. Dies steht ganz im Gegensatz zu der Titelgeschichte „Allahs rechtlose Töchter“, die „DER SPIEGEL“ am 15.11.2004 publizierte und die dieselbe Problematik mit dem Fokus auf die islamische Religion abhandelt (vgl. Kapitel 3.1). Vgl. dazu ausführlich Yasemin Yildiz, Turkish Girls, Allah’s Daughters, and the Contemporary German Subject. Itinerary of a Figure, in: German Life and Letters 62 (2009), S. 465-481.

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In diesem diskursiven Kontext ziehen einige als (Ex-)Musliminnen rezipierte „islamkritische“ Autorinnen – beispielsweise Necla Kelek, Seyran Ateş, Serap Çileli oder Ayaan Hirsi Ali in den Niederlanden – große Aufmerksamkeit auf sich. Ihre Legitimität erhalten sie durch ihren Status als „authentische Stimme“ qua Herkunft aus der muslimischen Minderheit. Sie bedienen sich einer Geste des Bezeugens, indem sie mit ihrem Binnenblick das Innere des Anderen zu durchschauen helfen, zu dem die Mehrheitsgesellschaft keinen Zugang zu haben glaubt.260 So lautet der Untertitel von Necla Keleks 2005 erschienenem Buch „Die fremde Braut“ über Zwangsehen und arrangierte Hochzeiten unter Muslimen – das zeitweise die SPIEGEL-Bestsellerliste anführte und sich über 285 000 Mal verkaufte – bezeichnenderweise „Ein Bericht aus dem Inneren des türkischen Lebens in Deutschland“. Gleich zu Anfang weist Kelek die Leserinnen und Leser darauf hin, dass ihr Buch vielen Musliminnen und Muslimen nicht gefallen werde, „weil ich aus dem Inneren ihrer Gesellschaft berichte, was versteckt, verschwiegen, verdrängt wird“.261 Im Gegensatz zu den Sekundärerfahrungen durch die Medien, auf die die meisten Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft in Bezug auf das Thema Islam angewiesen sind, bietet sich der Leserin und dem Leser hier die Möglichkeit zur Partizipation an scheinbar unmittelbaren Erfahrungen, die zudem als eine Art Geheimwissen inszeniert werden. Damit, so Schirin Amir-Moazami, sind die muslimischen Sprecherinnen „in einer öffentlichen Wahrnehmung sowohl Repräsentantinnen einer ‚fremden‘ Kultur als auch deren glaubwürdigste Kritikerinnen“.262 Diese Einordnung erhebt die muslimischen „Islamkritikerinnen“ in den Status von Kronzeuginnen, denn dieser setzt die Zugehörigkeit zu dem Kreis der Beschuldigten voraus.263

260 Vgl. Schirin Amir-Moazami, Islam und Geschlecht unter liberal-säkularer Regierungsführung – Die Deutsche Islam Konferenz, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 37 (2009), S. 197. 261 Necla Kelek, Die fremde Braut. Ein Bericht aus dem Inneren des türkischen Lebens in Deutschland, Köln 2005, S. 12. 262 Amir-Moazami, Islam und Geschlecht unter liberal-säkularer Regierungsführung, S. 197. 263 Vgl. Jan C. Joerden, Europäisierung des Strafrechts – ein Beispiel: Der Kronzeuge, in: Timm Beichelt u.a. (Hrsg.), Europa-Studien. Eine Einführung, Wiesbaden 2006, S. 331.

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Den Anspruch auf Wahrhaftigkeit, der der Geste des Bezeugens inhärent ist, artikuliert Necla Kelek zu Beginn ihres Buches mit einer Beglaubigungsformel: „Dies ist eine wahre Geschichte. […] Sie erzählt von meiner Familie, die aus Anatolien über Istanbul nach Deutschland kam, und sie erzählt von meinem Weg in die Freiheit.“264 Glaubwürdigkeit und Integrität – Voraussetzung für jede Zeugenschaft – werden insbesondere durch die Konsequenzen, die diese muslimischen Sprecherinnen aus dem Erlebten für ihr eigenes Handeln ziehen, hergestellt: Ihre bipolare Sicht auf „Islam“ und „Westen“ erlaubt lediglich, sich unzweifelhaft auf eine dieser beiden Seiten zu schlagen, was im Kontext einer „wahrhaftigen“ Emanzipationsgeschichte nur bedeuten kann, zum Islam auf Distanz zu gehen. Frauen, die beteuern, aus eigener Überzeugung ein Kopftuch zu tragen, werden von den muslimischen „Islamkritikerinnen“ daher überwiegend als unmündig und fremdbestimmt angesehen.265 In einer solch dichotomen Perspektive werden die Bemühungen muslimischer Feministinnen, die beispielsweise eine Re-Lektüre des Korans aus weiblicher Perspektive fordern und praktizieren,266 ausgeblendet und eine – wie der Philosoph Heiner Bielefeldt sie nennt – Semantik der „Eigentlichkeit“ bedient:

264 Kelek, Die fremde Braut, S. 11. 265 Seyran Ateş, eine Berliner Anwältin, die nach eigenen Angaben vorwiegend Mandantinnen mit türkischem oder kurdischem Hintergrund vertritt, die Opfer von familiärer Gewalt geworden sind, sieht junge Kopftuchträgerinnen beispielsweise per se als fremdbestimmt an: „Nicht selten binden sich […] selbst Töchter von ‚modernen‘ Türken plötzlich ein Kopftuch um, weil andere Mädchen auch eins tragen. Zum einen steht dahinter sicher der Wunsch dazuzugehören, zum anderen unterwerfen sich die Mädchen weitestgehend unbewusst dem sozialen Druck.“ Seyran Ateş, Der Multikulti-Irrtum. Wie wir in Deutschland besser zusammenleben können, Berlin 2007, S. 42. Unter anderem aus dieser Überzeugung heraus plädiert Ateş für das Verbot des Kopftuchs von Schülerinnen und Beamtinnen im öffentlichen Dienst. Die Juristin arbeitete während ihrer Studienzeit in einer Beratungsstelle für türkische und kurdische Migrantinnen. 1984 drang dort ein Attentäter ein, erschoss eine ihrer Kolleginnen und verletzte sie lebensgefährlich. 266 Vgl. beispielsweise Amina Wadud, Qur’an and Woman. Rereading the Sacred Text from a Woman’s Perspective, New York 1999.

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„Die unterschiedlichen Formen muslimischen Lebens und muslimischen Selbstverständnisses – von mystischen Ausprägungen über die traditionelle Volksfrömmigkeit bis hin zu Projekten eines dezidiert liberalen oder auch feministisch inspirierten Reformislams – verbleiben im Schatten des vermeintlich ‚eigentlichen‘ Islams, der nach wie vor mit Fanatismus, Autoritarismus und Militanz assoziiert wird.“267

Die muslimischen „Islamkritikerinnen“ stellen ein gesellschaftliches Wissen über einen solchen eigentlichen Islam dadurch her, dass sie in ihren autobiografisch geprägten Schriften268 Passagen über „das Wesen“ des Islams und Erklärungen über „den Muslim als solchen“ einstreuen. So heißt es in der „Fremden Braut“ beispielsweise: „Muslime sind von jeher der Meinung, alles, was in ihrem Leben passiert, geschehe mit Billigung Allahs. Einen freien Willen, eine eigene Entscheidung gibt es ohnehin nicht.“269 Und an anderer Stelle liest man: „Während man im westlichen Kulturkreis unter Respekt die gegenseitige Anerkennung und Achtung der Verschiedenartigkeit zweier Kulturen versteht, ist für den Muslim ‚Respekt‘ immer auch mit Unterwerfung verbunden. […] Wenn Muslime Respekt vor dem Islam einfordern, dann meinen sie nicht die Achtung oder Anerkennung ihres Glaubens, sondern den Respekt vor dem Stärkeren – in ihren Augen

267 Heiner Bielefeldt, Das Islambild in Deutschland. Zum öffentlichen Umgang mit der Angst vor dem Islam, Berlin 2008, S. 14. 268 Die meisten Publikationen der muslimischen „Islamkritikerinnen“ beschränken sich nicht auf die Beschreibung der eigenen Biografie, sondern vermengen Selbsterlebtes mit den Erfahrungen anderer. Dies gilt insbesondere für Necla Kelek, die als promovierte Soziologin den Anspruch erhebt, mit ihren Büchern einen Beitrag zur Migrationsforschung in Deutschland zu leisten. Kritikerinnen und Kritiker werfen ihr jedoch eine unwissenschaftliche Arbeitsweise vor. So belegt sie beispielsweise keine einzige ihrer Aussagen und keines ihrer zahlreichen Zitate mit einem Quellennachweis. Vgl. die Petition „Gerechtigkeit für die Muslime“ von Yasemin Karakaşoğlu und Mark Terkessidis, die von 60 Migrationsforscherinnen und -forschern unterzeichnet wurde, in: DIE ZEIT vom 1.2.2006. 269 Kelek, Die fremde Braut, S. 37.

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die Anerkennung, dass der Orient und mit ihm der Islam auf dem Vormarsch sind.“270

In ihrem 2006 erschienenen Folgebuch „Die verlorenen Söhne. Plädoyer für die Befreiung des türkisch-muslimischen Mannes“, für das die Autorin Interviews mit jungen Gefängnisinsassen in Deutschland mit autobiografischen Passagen verwoben hat, konstatiert Kelek: „Europa ist eine durch die Erfahrungen von Kriegen und Krisen, von Aufklärung und Vernunft, von Freiheits- und Emanzipationskämpfen zusammengewachsene Gemeinschaft. […] Mit einem islamischen Welt- und Menschenbild, das, über Jahrhunderte hinweg ‚versiegelt‘, von Generation zu Generation weitergereicht wird und sich gegen Wandel sträubt, hat diese nicht viel gemein – in den grundlegenden Prinzipien sind beide unvereinbar.“271

270 Ebenda, S. 236 f. 271 Necla Kelek, Die verlorenen Söhne. Plädoyer für die Befreiung des türkischmuslimischen Mannes, Köln 2006, S. 203. Hingewiesen sei an dieser Stelle auf die im Jahre 2002 publizierte Dissertation Keleks mit dem Titel „Islam im Alltag“, in der sie in dem Kapitel „Islam und Moderne – ein Antagonismus?“ zu dem Schluss kommt: „Der Ansatz, mit den Kategorien Tradition und Moderne komplexe soziale Strukturen erklären zu wollen, muss als fragwürdig erscheinen. Aufgrund der Unschärfe der Begrifflichkeiten, insbesondere ihrer eurozentristischen Herkunft und Definitionsmacht, sind sie kaum geeignet, soziale Wirklichkeit analytisch zu beschreiben. […] Was als modern und was als traditionell anzusehen ist, entscheidet der Konsens der Eliten, welche die Begriffe definitorisch verwenden. Wie oben dargestellt, geschieht dies etwa aus der eurozentristischen Sichtweise, indem die fremde Kultur in Abgrenzung zur eigenen Moderne als traditionell erklärt wird. [Es gilt], die Monopolisierung der Kategorie Moderne als eurozentristische Konstruktion, als Merkmal westlicher Kulturzuschreibung, aufzulösen. Moderne ist kein Privileg des Westens, sondern ein in erheblichem Umfang globaler Prozess, der auch in anderem als im westlichen Kontext zu beobachten ist. […] Moderne [wird] stets im Kontext einer spezifischen Tradition konstruiert und muss keineswegs deckungsgleich mit dem westlichen Inhalt von Moderne sein. Ein solches Verständnis von Tradition und Moderne vorausgesetzt, kann das, was wir heute als Islam erfahren und beschreiben, als besondere, kulturspezifische Konstruktion von

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In Anknüpfung an orientalistische Diskurse aus dem Zeitalter des Kolonialismus wird dem aufgeklärten und fortschrittlichen Europa in diesem Narrativ ein als unwandelbar und barbarisch imaginierter Islam gegenübergestellt und der „Orient“ als kulturelles Gegenbild des „Westens“ entworfen. Aus Sicht der „Islamkritikerinnen“ treten alle anderen Erklärungsmuster für die erlebte Gewalt – wie soziale oder ökonomische Faktoren – zugunsten eines essentialistischen Kulturbegriffs zurück. Dieser ist wiederum Vorbedingung für ihre Zeugenschaft, der die Annahme zugrunde liegt, dass „sich Kulturen aus dem Inneren heraus kompakt ‚verstehen‘ ließen“.272 3.2.3 Argumentationsstrategien im Diskurs der „Kronzeuginnen“ Bedienten die größtenteils nicht-muslimischen Autorinnen, die von ihrem Aufenthalt in einem islamisch geprägten Land berichteten, mit ihrem Schicksal den Topos der unterdrückten Frau im Islam, deren Kontrastfigur die emanzipierte, sich selbst befreiende Europäerin darstellt, so geht das Zeugnis der muslimischen „Islamkritikerinnen“ weit darüber hinaus. Sie beglaubigen ein längst nicht nur von politisch konservativer Seite postuliertes Scheitern der multikulturellen Gesellschaft273 und die Existenz von sogenannten Parallelgesellschaften, wobei die Schuld für diese Entwicklung ausschließlich bei der muslimischen Minderheit im Land liege. Bei Kelek heißt es dazu: „Es gibt auch in meiner Verwandtschaft Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen, die seit dreißig Jahren und länger schon in Deutschland leben und immer noch kein Deutsch sprechen. […] Die deutsche Gesellschaft ist doch nicht schuld daran, dass

Moderne erfasst werden.“ Necla Kelek, Islam im Alltag, Islamische Religiosität und ihre Bedeutung in der Lebenswelt von Schülerinnen und Schülern türkischer Herkunft, Münster 2002, S. 61. Zu den eklatanten Widersprüchen zwischen den Ausführungen in ihrer Dissertationsschrift und ihren kurze Zeit später veröffentlichten Publikationen hat die Autorin öffentlich keine Stellung genommen. 272 Amir-Moazami, Islam und Geschlecht unter liberal-säkularer Regierungsführung, S. 197. 273 Vgl. Lentin/Titley, The Crises of Multiculturalism, S. 11 ff.

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diese Menschen sich weigern, ‚in dieser Gesellschaft anzukommen‘. […] Sie haben sich längst ihre eigene Parallel-Gesellschaft geschaffen, auch mithilfe der deutschen Errungenschaften von Sozialversicherung und Arbeitslosenunterstützung.“274

Der Frage, wie es zu den mangelnden Sprachkenntnissen kommt und welche Möglichkeiten des Spracherwerbs gerade der Generation der sogenannten Gastarbeiterinnen und –arbeiter geboten wurden, geht Kelek gar nicht erst nach. Für sie sind diese das Resultat einer angeblichen Verweigerungshaltung der Migrantinnen und Migranten und ihrem fehlenden Willen zur gesellschaftlichen Teilhabe. Entsprechend konstatiert die Autorin etwas später: „Die Integration der Mehrheit der in Deutschland lebenden Türken ist gescheitert.“275 In ein politisches Argument lassen sich die Erfahrungsberichte der muslimischen „Islamkritikerinnen“ übersetzen, indem sie nicht nur ihr eigenes Erleben ins Zentrum ihrer Schilderungen stellen, sondern stellvertretend für ein imaginiertes Kollektiv Zeugnis ablegen und damit Anspruch auf Repräsentativität erheben. Dies wiederum setzt beim Publikum die Formel „Gefahr im Verzug“ in Emotionen um, da die Nötigungen, die diese muslimischen Sprecherinnen erfahren haben, jederzeit und überall wiederholbar erscheinen. In der Laudatio von Heribert Prantl, dem Leiter des Ressorts Innenpolitik bei der „Süddeutschen Zeitung“, auf die Publizistin Necla Kelek, die für ihr Buch „Die fremde Braut“ mit dem Geschwister-SchollPreis ausgezeichnet wurde,276 heißt es: „Das Buch ist wie ein Faustschlag auf den Schädel. Der soll uns aufwecken, uns die Augen öffnen – und uns

274 Kelek, Die fremde Braut, S. 258. 275 Ebenda, S. 260. 276 Mit dem Geschwister-Scholl-Preis zeichnen der Bayerische Landesverband im Börsenverein des Deutschen Buchhandels und die Stadt München jährlich ein Buch aus, „das von geistiger Unabhängigkeit zeugt und geeignet ist, bürgerliche Freiheit, moralischen, intellektuellen und ästhetischen Mut zu fördern und dem verantwortlichen Gegenwartsbewusstsein wichtige Impulse zu geben“, http://www.geschwister-scholl-preis.de/preis/index.php (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014).

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zeigen, was wir nicht akzeptieren dürfen.“277 Auch der damalige Bundesinnenminister Otto Schily würdigte Keleks „Die fremde Braut“ in einer Rezension für das Magazin „DER SPIEGEL“ als „einen alarmierenden Einblick in eine […] Parallelgesellschaft“. Darin lebten türkische „Frauen, die durch Zwangsheirat mit einem ihrer Landsleute nach Deutschland gekommen sind. Sie heißen Emine, Zeynep oder Fadime, sind in der Türkei aufgewachsen und typischerweise von ihren Eltern im Alter von 16, 17 oder 18 Jahren mit einem meist unbekannten Landsmann oder entfernten Verwandten in Deutschland verheiratet worden.“278

Das Verweben der autobiografischen Erfahrungen mit anderen Opfergeschichten ist ein Grundmuster in dem schriftstellerischen Werk der muslimischen „Islamkritikerinnen“. So lernen wir beispielsweise in dem mit einem Vorwort des damaligen brandenburgischen Ministerpräsidenten Matthias Platzeck und einem Nachwort von Terre des Femmes versehenen Buch „Eure Ehre – unser Leid. Ich kämpfe gegen Zwangsehe und Ehrenmord“ nicht nur die Leidensgeschichte der Autorin Serap Çileli kennen, die für ihr Engagement mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt wurde. In Rückblenden schildert eine Ich-Erzählerin, wie sie Anfang der 1980er-Jahre als 15-Jährige aus Deutschland in die Türkei zwangsverheiratet wurde. Dieser persönliche Erlebnisbericht wird unterbrochen durch eingestreute kurze Erzählsequenzen, in denen uns die Geschichten anderer muslimischer Frauen, Esra, Meyram, Leyla, Ayla usw. vorgestellt werden. Die Leserin bzw. der Leser erhält keine näheren Angaben zu ihrer Identität oder dem Kontext, in dem sie Çileli ihr Schicksal zugänglich gemacht haben. Sie erscheinen daher wie ein Kollektiv von unzählbaren Opfern, denen die Autorin eine Stimme verleiht. Von einer allwissenden Erzählerinstanz werden die Leserinnen und Leser in die Gedanken und Gefühle, Ängste und Hoffnungen der Protagonistinnen eingeweiht. Diese fiktionalisierte Erzählform ver-

277 Laudatio von Heribert Prantl vom 14.11.2005, http://www.geschwister-schollpreis.de/preistraeger_2000-2009/2005/laudatio_prantl.php (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014). 278 „Alarmierender Einblick. Bundesinnenminister Otto Schily über die Darstellung der türkischen Parallelgesellschaft in Necla Keleks Buch ‚Die fremde Braut‘“, in: DER SPIEGEL vom 24.1.2005, S. 59.

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stärkt paradoxerweise die Glaubwürdigkeit der Autorin als Zeugin, die durch die Präsentation eines so intimen Wissens für sich in Anspruch nehmen kann, von den Frauenfiguren in ihrem Buch ins Vertrauen gezogen worden zu sein und damit als Sprachrohr für diese Opfer zu fungieren. Die Lebensgeschichten sind eingeflochten in allgemeine Reflexionen Çilelis aus heutiger Sicht. Dabei dienen die „authentischen“ Erfahrungen, die als überindividuell ausgegeben werden, der unmittelbaren Beglaubigung der getroffenen pauschalen Aussagen: „Wie ist die Normalität in Migrantenfamilien, wenn es ums Heiraten geht? Was spielt sich im Vorfeld ab, wenn die Tochter des Hauses ins heiratsfähige Alter kommt? Gleich nach dem Eintritt der ersten Regelblutung, nachdem die Brüste zu wachsen beginnen, die ersten Schamhaare sprießen, kommt der Tag, an dem das heiratsfähige Mädchen in die Gesellschaft eingeführt wird. Die Familie zeigt, was sie zu bieten hat. Auch bei mir war es nicht anders. Als ich mit acht Jahren hierher kam, hatte ich keine Puppen mehr. Im Gegenteil, man setzte alles daran, mich möglichst schnell erwachsen wirken zu lassen. So bekam ich an meinem neunten Geburtstag von meiner Mutter einen Schminkkasten geschenkt. […] Und damals war ich keine Ausnahme. Viele türkische Mädchen dürfen sich schminken, bauchfreie T-Shirts anziehen – bis sie verkauft werden. Es ist fast so wie mit einer Frucht, die man auf dem Markt präsentiert. […] Wer sie schließlich besitzt, kann sie aussaugen, solange er will. Bis zum Schluss nur noch eine leere Hülle bleibt.“279

Diese Passage, die türkische Eltern pauschal des Kinderhandels bezichtigt, wird von Çileli mit dem Anspruch eingeleitet, „die Normalität in Migrantenfamilien“ zu illustrieren. Zugleich lässt die Erzählerin ihre Leserschaft aus dem Gesagten die tiefe Entwürdigung spüren, die sie durch die Zwangsverheiratung und damit einhergehende Degradierung zum willenlosen Objekt erfahren hat. Diese Opfererfahrung immunisiert nicht nur Çileli moralisch gegen den Vorwurf der Reproduktion rassistischer Argumentationsmuster. Ein solcher kulturalistisch begründeter Rassismus, der gekennzeichnet ist von dem Glauben an eine historisch gewachsene und unüberbrückbare Differenz sowie Hierarchie der „Kulturen“ und eine damit einhergehende Naturalisie-

279 Serap Çileli, Eure Ehre – unser Leid. Ich kämpfe gegen Zwangsheirat und Ehrenmord, München 2008, S. 97.

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rung kultureller Eigenschaften (vgl. Kapitel 2.2), durchzieht auch die Argumentation der anderen muslimischen „Islamkritikerinnen“, wie das nachfolgende Beispiel illustriert: Als am 7. April 2009 in der ARD-Sendung „Menschen bei Maischberger“ das Thema „Glaube statt Gier: Kommt die religiöse Wende?“ verhandelt wurde, saß den Vertretern der christlichen Kirchen, wie dem katholischen Bischof Walter Mixa und dem evangelischen Pfarrer Jürgen Fliege, die bereits mehrfach erwähnte Autorin Necla Kelek gegenüber, um über „den Islam“ im Allgemeinen und die Stellung der Frau im Besonderen Auskunft zu geben. Dabei übte sie harsche Kritik: „Seit 1400 Jahren glauben islamische Männer, dass Frauen ihr Besitz sind und dass sie über ihr Leben bestimmen dürfen.“280 Mit dieser Äußerung weist Kelek mehr als einer halben Milliarde Menschen einen Kollektivcharakter zu. Dieser wird von ihr nicht nur in der Gegenwart diagnostiziert, sondern auch gleich noch auf 1400 Jahre rückprojiziert. Damit positioniert sie Muslime (wenigstens die muslimischen Männer) außerhalb der Geschichte, als hätten sie, anders als andere Bevölkerungsgruppen auf dieser Welt, keinerlei historische Entwicklung durchgemacht.281 Bemerkenswert an der Zusammensetzung der Gäste in Maischbergers Sendung ist, dass es sich bei den christlichen Protagonisten um Theologen handelte, während Keleks Kompetenz in Bezug auf den Islam auf ihrem Status als „Erfahrungsexpertin“ basierte.282 Der Aufhänger für das Gespräch war wohlgemerkt ein Gesetzesentwurf in einer mehrheitlich von Schiiten bewohnten Provinz in Afghanistan, hatte also folglich wenig mit

280 http://mediathek.daserste.de/daserste/servlet/content/2084470?pageId=487872 &moduleId=311210&categoryId=&goto=1&show= (zuletzt aufgerufen am 14.2.2010). 281 Vgl. zu den im Konzept der Moderne liegenden Ursprüngen dieses Arguments, das die Geschichtlichkeit der Anderen negiert und sie aus dem evolutionären Fortschrittsnarrativ exkludiert Paul Gilroy, Between Camps. Nations, Cultures and the Allure of Race, London/New York 2004, S. 64. 282 Den Begriff der „Erfahrungsexpertin“ hat die Soziologin Daniela Marx geprägt, um mit ihm auf die Funktionalisierung und Vereinnahmung weiblichmuslimischer Erfahrungen in feministischen Diskursen hinzuweisen. Vgl. Daniela Marx, Mission: impossible? Die Suche nach der „idealen Muslimin“. Feministische Islamdiskurse in Deutschland und den Niederlanden, in: Femina Politica 17 (2008), S. 55-67.

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Keleks bisherigem Studienobjekt der türkischen Minderheit in Deutschland zu tun – was das ihrer Einladung in die Sendung zugrunde liegende Bild eines monolithischen Islams offenbart. Wie dieses Beispiel zeigt, setzt die Rolle, die den muslimischen „Islamkritikerinnen“ als Kronzeuginnen zukommt, immer auch das nötige Publikum voraus. Die Argumentation der „Kronzeuginnen“ wird – und das ist ihre zentrale Funktion – von vielen Debattenteilnehmerinnen und -teilnehmern dazu benutzt, die eigenen antimuslimischen Ressentiments zu legitimieren. So begründet der Publizist Ralph Giordano seine vehemente Ablehnung repräsentativer Moscheebauten in Deutschland mit dem Verweis auf die „Insider-Informationen“ von Necla Kelek, die seine Annahme eines nichtintegrierbaren Islams untermauerten. „Großmoscheen“ seien „kein Ausdruck muslimischen Integrationswillens […], sondern ein Zentrum integrationsfeindlicher Identitätsbewahrung, das Symbol eines Angriffs auf unsere demokratische Lebensform, ein Anspruch auf Macht und Einfluss.“283 Ähnlich äußerte sich auch der stellvertretende hessische CDU-Fraktionsvorsitzende Hans-Jürgen Irmer in einem Zeitungsartikel im Januar 2010 nach der Schweizer Volksabstimmung zum Minarett-Verbot. In seinem Artikel mit dem Titel „Danke, Schweiz – Minarette sind politische Symbole“ warnt Irmer vor einer „schleichenden Islamisierung“ Deutschlands und bezieht sich auf Necla Kelek als Gewährsfrau: „Die Sozialwissenschaftlerin Necla Kelek, selbst Muslima, hat in einem Interview mit der Zeitung Cicero schon 2007 zum Thema Moschee und Minarettbau ausgeführt, […] dass die liberalen Westler denken würden[,] eine Moschee sei im Prinzip das Gleiche wie eine Kirche oder eine Synagoge, dies sei allerdings nicht der Fall, denn Islam bedeute ‚Unterwerfung‘. Es gebe keine kritische Selbstreflektion der

283 Ralph Giordano, Nicht die Moschee, der Islam ist das Problem, in: Franz Sommerfeld (Hrsg.), Der Moscheestreit. Eine exemplarische Debatte über Einwanderung und Integration, Köln 2008, S. 37. In diesem Beitrag bezieht Giordano sich zwar auf das Bauvorhaben einer Moschee in Köln-Ehrenfeld, redet aber darüber hinaus auch ganz allgemein einer vermeintlich „schleichenden Islamisierung“ Deutschlands das Wort. Als Beleg dienen ihm unter anderem die Ausführungen Necla Keleks, die er explizit als „Kronzeugin“ bezeichnet (S. 43).

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Gemeinschaften, man lerne in der Moschee nicht Nächstenliebe und ein guter Mensch zu sein, sondern sich zu unterwerfen.“284

In der Tat finden sich bei Kelek zahlreiche Textstellen, in denen sie klischeehafte Bilder von Islam und Christentum antagonistisch aneinanderreiht und im Ergebnis die Überlegenheit des Letzteren postuliert. Unter anderem ist dies in dem Buch „Die verlorenen Söhne“ der Fall, in dem die Autorin neben der muslimischen Frau nun auch den muslimischen Mann als Opfer seiner Religion ausmacht und folgende Fragen erhellen will: „Warum sind so viele muslimische und türkische Jungen Schulversager? Warum haben viele türkische Jungen ein Gewaltproblem? Warum sitzen überproportional viele Muslime in deutschen Gefängnissen? Sind soziale Benachteiligung und mangelnde Bildungschancen die Ursache dafür? Oder der Islam und die archaischen Stammeskulturen einer sich ausbreitenden ‚Parallelgesellschaft‘?“285

Legt man Keleks Islambild zugrunde, scheint die Antwort auf diese Fragen auf der Hand zu liegen: „Während der Islam eine autoritäre Religion ist, die immer noch von einer vor Jahrhunderten formulierten ‚überlegenen Wahrheit‘ ausgeht, die der Gläubige zu begreifen und der er sich zu unterwerfen hat, fordert Jesus die Menschen auf, ‚an sich zu glauben‘, und ermutigt sie, keine Angst zu haben. […] Während der Koran, wie in Sure 4, Vers 89, beschrieben, Ungläubige verfolgt […] lehrt Jesus, nicht nur den Nächsten, sondern sogar den Feind zu lieben. […] Während das Alte Testament wie der Koran Geschichten von Blut und Gewalt erzählt, ist das Neue Testament eine Botschaft der Liebe und Hoffnung.“286

Mit ihrer bipolaren Gegenüberstellung von Islam (und – durch den in der Tradition des christlichen Antijudaismus stehenden Verweis auf den grausamen alttestamentarischen Gott – implizit auch Judentum) versus Christentum offenbart Kelek einmal mehr ein manichäisches Weltbild. Analog

284 Hans-Jürgen Irmer, „Danke, Schweiz. Minarette sind politische Symbole“, in: Wetzlar Kurier vom Januar 2010, S. 1 f. 285 Kelek, Die verlorenen Söhne, S. 22 f. 286 Ebenda, S. 192 f.

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zu ihrer essentialisierenden Verwendung des Kulturbegriffs gebraucht sie auch den Begriff der Religion in einer deterministischen Art und Weise, indem sie aus den religiösen Texten das soziale Verhalten der Mitglieder der jeweiligen Religionsgemeinschaften ableitet und ihr die Religion damit – ebenso wie die Kultur – als monokausale Erklärung für menschliches Handeln dient. Neben der Kulturalisierung ist auch eine Ethnisierung der IslamDiskurse durch die muslimischen „Islamkritikerinnen“ zu beobachten. So schreibt Serap Çileli: „Eine glückliche Kindheit ist für viele türkische Kinder ein Fremdwort. Ein Grund dafür mag sein, dass Kinder in türkisch-muslimischen Familien einen anderen Stellenwert haben als in modernen deutschen oder westeuropäischen, wo das Kind von den Erwachsenen umhegt wird. Anders bei den Muslimen, hier kommen die Großen – oder besser die Älteren – immer zuerst.“287

An dieser Stelle fällt – neben der üblichen dichotomen Unterscheidung zwischen idealisierter „westlicher“ und dämonisierter „islamischer“ Kultur – die Verschiebung von der zunächst rein ethnischen Bezeichnung „türkische Kinder“ über eine Verknüpfung von ethnischer und religiöser Kategorie hin zu einer reinen Markierung als „Muslime“ auf, was die Aussagen über die beklagte mangelnde emotionale Zuwendung zu Kindern implizit mit der islamischen Religion begründet. Diese hier sichtbar werdende synonyme Verwendung von ethnischer und religiöser Kategorie durchzieht das ganze Buch und ist nicht nur für die Autorin Serap Çileli kennzeichnend; auch die anderen prominenten muslimischen „Islamkritikerinnen“ bedienen sich dieser Sprechweise. Die Ethnisierung der Kategorie „Muslim“ als Teil eines Rassifizierungsprozesses hat zur Folge, dass die muslimische Identität Personen allein aufgrund der „Abstammung“ zugeschrieben wird und ihr Verhalten dann ohne größere Argumentationsbrüche auf den Islam zurückgeführt werden kann (vgl. Kapitel 2.2). Die Stimmen muslimischer „Islamkritikerinnen“ wie Kelek und Çileli beziehen ihre Argumentationsstärke als „Kronzeuginnen“ aus ihrer vermeintlichen Innenansicht, die der Migrationsforscher Klaus Bade als „anekdotische Evidenz“ bezeichnet hat, die von belastbaren Ergebnissen

287 Çileli, Eure Ehre – unser Leid, S. 42.

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empirischer Forschung zu unterscheiden sei.288 Auf einen ausführlichen Abgleich der durch die muslimischen „Islamkritikerinnen“ postulierten Thesen zu den muslimischen „Parallelgesellschaften“ mit den Ergebnissen empirischer Sozialforschung wird hier bewusst verzichtet. Es sei nur darauf hingewiesen, dass wissenschaftliche Studien diesen Thesen größtenteils widersprechen. So schreibt Seyran Ateş beispielsweise: „In Deutschland existieren Parallelgesellschaften. Ich meine damit nicht die vielen Subkulturen, die sich im Zuge der wachsenden Ausdifferenzierung der Gesellschaft herausgebildet haben. […] Ich meine damit tatsächlich eine Gesellschaft, die sich als Konkurrenz und in Abgrenzung zu unserer Mehrheitsgesellschaft gebildet hat und das erklärte Ziel verfolgt, Strukturen der Mehrheitsgesellschaft, die nicht mit der eigenen Kultur zu vereinbaren sind, zu verändern. Die Mehrheitsgesellschaft soll sich den Traditionen und Gewohnheiten der Minderheitengesellschaft anpassen oder gar unterordnen. Wir haben es mit einer sehr starken, selbstbewussten und teilweise ausgesprochen arroganten muslimischen (egal ob praktizierend oder nicht) Gemeinschaft zu tun, die sich eine von der Mehrheitsgesellschaft unabhängige Welt mit eigener Legislative, Judikative und Exekutive geschaffen hat. Kontakt zu Urdeutschen ist in dieser Welt gar nicht mehr nötig und oft auch nicht erwünscht.“289

Wie bei den anderen muslimischen „Islamkritikerinnen“ fehlen auch bei Ateş Belege für diese pauschalisierenden Behauptungen. Laut der 2009 vorgelegten Studie „Muslimisches Leben in Deutschland“ des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge leben in Deutschland Musliminnen und Muslime, die entweder selbst oder deren Eltern bzw. Großeltern aus 49 verschiedenen islamisch geprägten Herkunftsländern stammen (die deutschen Konvertitinnen und Konvertiten wurden in dieser Studie nicht berücksichtigt) und aus sehr unterschiedlichen Gründen – als politische Flüchtlinge, Arbeitsmigrantinnen und -migrantenen, Studierende usw. – nach Deutschland eingewandert sind. Vor diesem Hintergrund ist das homogenisierende Bild einer muslimischen Gemeinschaft in Deutschland unzutreffend. Des Weiteren widerlegt die Studie die von Seyran Ateş und anderen muslimischen „Islamkritikerinnen“ behaupteten Abschottungstendenzen. Demnach

288 Klaus J. Bade, Leviten lesen. Migration und Integration in Deutschland, in: IMIS-Beiträge (2007), H. 31, S. 45. 289 Ateş, Der Multikulti-Irrtum, S. 16.

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sind 55 Prozent der in Deutschland lebenden Musliminnen und Muslime Mitglied in einem deutschen Verein, wohingegen nur vier Prozent ausschließlich einem herkunftslandbezogenen Verein angehören. Was die Kontakthäufigkeit zu Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft angeht, kommt die Studie zu folgendem Ergebnis: „Es gibt praktisch keine Gruppe, die keine Kontakte zu Deutschen im Alltag hat und auch keinen Kontaktwunsch äußert; in der Gruppe der muslimischen Migranten aus der Türkei […] sind dies jeweils rund 1 Prozent. Damit lassen sich keine Belege für eine Abgrenzung der Personen aus muslimischen Herkunftsländern gegenüber Angehörigen der Aufnahmegesellschaft finden.“290

Deutlich schwieriger lässt sich die Frage nach den Dimensionen des von den muslimischen „Islamkritikerinnen“ thematisierten Phänomens Zwangsheirat beantworten, da hier nur auf Zahlen von Beratungsstellen zurückgegriffen werden kann und unklar ist, wie viele Betroffene eine solche aufsuchen. Möglicherweise existiert also eine hohe Dunkelziffer. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang jedoch, dass Necla Kelek explizit jede Unterscheidung zwischen erzwungenen und arrangierten Ehen, bei denen die künftigen Eheleute einander zumeist durch ihre Familienangehörigen vorgeschlagen werden, ablehnt.291 Abgesehen von den unklaren empirischen Grundlagen der Argumentation der muslimischen „Islamkritikerinnen“ stellt sich aber die Frage, was sie zu gefragten Ansprechpartnerinnen für die Mehrheitsgesellschaft macht. Sie stärken mit ihren Deutungen des Bezeugten einen hegemonialen Diskurs, nach dem es zum einen massive Integrationsdefizite bei der in Deutschland lebenden muslimischen Minderheit als Kollektiv gibt und diese Versäumnisse zum anderen in erster Linie auf eine Verweigerungshaltung der Minderheit selbst zurückzuführen sind, die wiederum in ihrer Religion wurzele. Dieses eindimensionale Erklärungsmuster entbindet die Aufnahmegesellschaft implizit ihrer Verantwortung für die sozialen Konflikte, die in Einwanderungsgesellschaften existieren. Nicht weniger bedenklich ist die Zementierung einer Wahrnehmung, die Migrantinnen

290 Vgl. Sonja Haug/Stephanie Müssig/Anja Stichs, Muslimisches Leben in Deutschland, Nürnberg 2009, S. 275 f. 291 Vgl. Kelek, Die fremde Braut, S. 221 f.

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und Migranten aus islamisch geprägten Ländern und deren Nachkommen als eine homogene Gruppe konstruiert, deren Identität vorrangig durch die islamische Religion determiniert werde. Zugleich ist die deutsche Mehrheitsgesellschaft einer Kritik der „Kronzeuginnen“ in Form einer Schelte der „Alt-68er“ und sogenannter Multikulti-Illusionisten oder „Gutmenschen“ ausgesetzt. Dabei stellen sie einen kausalen Zusammenhang zwischen der vermeintlich übereifrigen Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit und dem aus ihrer Sicht zu nachgiebigen Umgang mit den „integrationsunwilligen“ Migrantinnen und Migranten her. So resümiert Kelek in „Die fremde Braut“: „Die Deutschen haben sich engagiert mit ihrer nazistischen Vergangenheit auseinander gesetzt, was sicherlich viel zu dem zivilen und demokratischen Gepräge dieser Republik beigetragen hat. Aber zuweilen verstellt das besondere Schuldgefühl gegenüber Juden, Sinti, Roma, Homosexuellen und anderen den klaren Blick auf die heutigen Realitäten von Unterdrückung und Ausgrenzung. Gerade die gut meinenden Deutschen neigen dazu, in jedem hier Asyl suchenden Ausländer gleichsam den Wiedergänger eines vor dem Holocaust zu rettenden Juden zu sehen. […] Die Deutschen […] verzeihen den Muslimen alles, nur um ihre eigene vermeintliche Schuld abzutragen.“292

Auch Serap Çileli gelangt zu einer ähnlichen Einschätzung in ihrem Buch „Eure Ehre – unser Leid“: „Was war mit den Deutschen los? Warum reagierten sie so vorsichtig, ja ängstlich? Meine einzige Erklärung war die Geschichte Deutschlands. Anscheinend wirkten sich Nazi-Deutschland und die Erbschuld der Deutschen bis heute aus und lähmten Politik und Gesellschaft.“293

Aus dieser Feststellung lässt sich leicht die Forderung nach einem Schlussstrich unter die Beschäftigung mit deutscher Schuld und nach einer „unverkrampfteren“ Artikulation von Vorbehalten gegenüber als „fremd“ stigma-

292 Ebenda, S. 256 f. 293 Çileli, Eure Ehre – unser Leid, S. 20.

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tisierten Minderheiten ableiten, was diese Argumentation sehr anschlussfähig für rechtskonservative bis rechtspopulistische Diskurse macht.294 Dadurch, dass die eigene Emanzipation von den „Kronzeuginnen“ als Resultat einer Verinnerlichung von als „westlich“ gekennzeichneten Normen gedeutet wird, bieten sie Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft ein positives Selbstbild an. Die Geschlechterfrage diene, so Birgit Rommelspacher, in diesem Kontext der Herstellung und Festschreibung von angenommener Differenz zwischen Angehörigen der „islamischen“ und der „westlichen“ Kultur: „In diesen Diskursen liefert ‚die‘ muslimische Frau eine Folie, vor deren Hintergrund die Emanzipation ‚der‘ westlichen Frau umso heller erstrahlen kann. […] Ausschlaggebend für die Bewertung dieser ‚Emanzipation‘ ist nun nicht mehr die Ungleichheit zwischen Männern und Frauen, sondern der Abstand zwischen ‚der‘ westlichen und ‚der‘ islamischen Frau.“295

So will eine Rezensentin in der taz Necla Keleks „Fremde Braut“ gar zur Pflichtlektüre in den Schulen erheben: „Denn es erklärt etwas Wesentliches über die unterschiedlichen Menschenbilder zwischen westlicher und islamischer Gesellschaft. Einerseits eine Gesellschaft, die das Individuum wahrnimmt und anerkennt, andererseits eine Gesellschaft, die auf Familie und Umma (Gemeinschaft) basiert. Man gehört sich nicht selbst, und die Frau gehört sich schon gar nicht.“296

294 Dazu passt, dass Serap Çileli bei einer von dem Landesvorsitzenden der rechtspopulistischen Bürgerbewegung PAX Europa e.V., René Stadtkewitz, organisierten Veranstaltung mit dem Titel „Der Islam – ein Integrationshindernis?“ am 4.11.2009 als Referentin vorgesehen war. Die Podiumsdiskussion, die im Berliner Abgeordnetenhaus stattfinden sollte, musste aber aufgrund heftiger Kritik (u.a. aus Stadtkewitz’ eigener Partei, der CDU) abgesagt werden. Stadtkewitz, Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin, trat daraufhin aus Protest aus der CDU aus. 295 Birgit Rommelspacher, Zur Emanzipation „der“ muslimischen Frau, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (2009), H. 5, S. 38. 296 „Die Macht der Mütter“, in: taz vom 5.3.2005.

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Dieser Sichtweise entsprechend wünscht sich Kelek, dass die Deutschen „sehr viel selbstbewusster ihre Errungenschaften und Werte verteidigen“.297 Die Soziologin Elisabeth Beck-Gernsheim kommt zu dem Schluss: „Zur geheimen Anziehungskraft von Keleks Buch wie von ähnlichen Berichten dürfte auch beitragen, daß sie der Mehrheitsgesellschaft die Rolle des moralischen Wächters zuweisen. Damit wird – in teils indirekten, oft aber ganz offenen Formen – eine moralische Hierarchie zwischen dem Westen und dem Islam entworfen, und zwar eine Hierarchie eindeutiger Art: Ganz selbstverständlich ist es der Westen, dem die moralisch überlegene Position zukommt.“298

Aus diesem moralischen Gefälle lässt sich die Legitimität zur Kontrolle und Erziehung der muslimischen Minderheit durch die Mehrheitsgesellschaft ableiten, die Beck-Gernsheim mit dem „zivilisatorischen Auftrag“ der europäischen Kolonialmächte und deren Selbstverständnis als „white men’s burden“ vergleicht. Es gilt, diese Argumentationsmuster einer kritischen Reflexion zu unterziehen, ohne muslimische Sprecherinnen, die sich negativ über ihre Ingroup oder ehemalige Ingroup äußern, pauschal dem Verdacht der Anbiederung an die Mehrheitsgesellschaft auszusetzen. Nur so kann vermieden werden, dass jede Form der Selbstkritik als „Nestbeschmutzung“ denunziert wird. Eine differenzierte Kritik wird jedoch nicht umhin kommen, sich der Asymmetrie von Mehrheits- und Minderheitendiskursen und des daraus folgenden Stigmatisierungspotenzials bewusst zu sein. Von lösungsorientierter und damit konstruktiver Kritik zu unterscheiden sind zudem Debattenbeiträge, die rassistisches Denken reproduzieren. Der ständige Rückgriff einiger Debattenteilnehmerinnen auf eine bipolare Rhetorik, der eine Wir-Sie-Dichotomie zugrunde liegt, die Musliminnen und Muslimen eine fundamentale unüberwindbare Andersartigkeit und Minderwertigkeit unterstellt (vgl. Kapitel 2.2) und diese Position mit einer vermeintlichen Innenansicht legitimiert, führt zwangsläufig zu der Frage nach dem positiv-identitätsstiftenden Potenzial, das diese Rhetorik für die Sprecherin bereithält. Die Rolle der Kronzeugenschaft erfüllt nicht nur für das Publi-

297 Kelek, Die fremde Braut, S. 265. 298 Elisabeth Beck-Gernsheim, Wir und die Anderen. Kopftuch, Zwangsheirat und andere Mißverständnisse, Frankfurt am Main 2007, S. 79.

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kum, sondern auch für das sie ausfüllende Subjekt bestimmte Funktionen, erlaubt sie im Kontext der Integrationsdebatten doch wenigstens auf der Diskursebene den „Frontenwechsel“ auf die Seite der Mehrheitsgesellschaft. Deutlich wird dies beispielsweise in folgendem Zeitungsartikel, den Necla Kelek anlässlich der Deutschen Islam Konferenz zum Thema Integration von Muslimen in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ veröffentlichte. Darin heißt es: „Wenn die Muslime meinen, die Triebhaftigkeit des Mannes nur dadurch beherrschen zu können, dass man die Frau aus der Öffentlichkeit verbannt oder die Frauen und Töchter unter den Schleier zwingt oder verheiratet, dann widerspricht das den Werten unserer Gesellschaft von der Selbstbestimmung des Menschen.“299

Ganz selbstverständlich verortet sich Kelek, die sich ansonsten da, wo es ihre Argumentation stützt, als Muslimin positioniert,300 hier als Teil der deutschen Mehrheitsgesellschaft, von der sie Musliminnen und Muslime als Kollektiv expressis verbis ausschließt. „Ich gehöre“, so liest man auch bei Serap Çileli, „zu der Minderheit von Türken, die sich hier wirklich integriert haben. […] Seitdem ich meine Geschichte öffentlich gemacht und gegen eklatante Menschenrechtsverletzungen wie Zwangsehe und Ehrenmord kämpfe, wird mir das immer wieder bescheinigt.“301

„Integrieren“ müssen sich dann nur noch die anderen.

299 Necla Kelek, „Bist du nicht von uns, dann bist du des Teufels“, in: FAZ vom 25.4.2007. 300 Vgl. beispielsweise den Artikel „Sie wollen ein anderes Deutschland“, den Kelek am 14.3.2008 in der FAZ veröffentlichte. Darin richtet sie das Wort an die muslimischen Verbände in Deutschland: „Ich möchte hier, stellvertretend für die nichtorganisierten Muslime in diesem Land, sagen, dass wir es Ihnen nicht länger überlassen, in der Öffentlichkeit zu vertreten, wie und was der Islam in diesem Land sein kann.“ 301 Çileli, Eure Ehre – unser Leid, S. 37.

4 Antimuslimische Diskurse in etablierten und neuen Medien

4.1 S ELBST - UND F REMDBILDER IN DER MEDIALEN R EZEPTION DER ERSTEN D EUTSCHEN I SLAM K ONFERENZ . E INE F ALLSTUDIE ZU DEN T AGESZEITUNGEN FAZ UND DIE WELT Spätestens seit der ab 2001 intensiv geführten Diskussion um ein neues Zuwanderungsgesetz, das 2004 verabschiedet wurde, und der Anerkennung Deutschlands als Einwanderungsland seitens der konservativen Parteien ist ein Paradigmenwechsel von der Ausländer- zur Integrationspolitik erfolgt. Der Soziologe Valentin Rauer sieht darin eine semantische Verschiebung von der Unterscheidung eines überzeitlichen, kulturell definierten „Innen“ und „Außen“ hin zu einer Beschreibung „kulturräumlicher Prozesse“: „Der Integrationsbegriff ist zwar keineswegs frei von ‚Kulturalisierung‘, im Vergleich zur Ausländerpolitik dynamisiert er jedoch die Logik der vorausgesetzten kulturellen Grenzen.“302 Dennoch bleibt die Bedeutung dieses mittlerweile zu einem migrationspolitischen Schlüsselbegriff avancierten Schlagworts zunächst einmal vage – etymologisch gesehen bezeichnet es nur die Herstellung eines Ganzen aus verschiedenen Teilen. Im Rahmen von Integrationsdebatten wird daher auf der Seite der deutschen Mehrheits-

302 Valentin Rauer, Kulturelle Grenzziehungen in integrationspolitischen Diskursen deutscher Printmedien, in: Özkan Ezli/Dorothee Kimmich/Annette Werberger (Hrsg.), Wider den Kulturenzwang. Migration, Kulturalisierung und Weltliteratur, Bielefeld 2009, S. 82.

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gesellschaft die Frage erörtert, was eigentlich das Eigene ausmacht und wie folglich eine Integration der Migrantinnen und Migranten und ihrer Nachkommen auszusehen habe.303 Auch der damalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble erklärte das Thema Integration zum zentralen Anliegen seiner im September 2006 erstmalig einberufenen Deutschen Islam Konferenz. Sie trat nur zwei Monate nachdem Bundeskanzlerin Angela Merkel im Juli 2006 Vertreterinnen und Vertreter von Migrantenverbänden zu einem Integrationsgipfel eingeladen hatte zusammen. In den drei darauffolgenden Jahren wurde dieser institutionalisierte Dialog des Staates mit muslimischen Verbandsvertretern und nichtorganisierten Einzelpersonen in den Medien stark rezipiert. Im Folgenden soll diese mediale Rezeption anhand der Berichterstattung der beiden wichtigsten konservativen überregionalen Zeitungen – „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ und „DIE WELT“ – auf die darin implizit verhandelten Selbst- und Fremdbilder hin untersucht werden.304 4.1.1 Musliminnen und Muslime als Fremde Das Fremdbild, so die Psychologin Birgit Rommelspacher, lässt sich als Kehrseite des Eigenen beschreiben. Wer also über andere spricht, sagt implizit häufig zugleich etwas darüber aus, wie er sich selbst sieht. Rommelspacher weist jedoch auch darauf hin, dass das Gefühl der Fremdheit nicht einfach „gegeben“ ist, vielmehr handle es sich bei der Konstruktion

303 Vgl. zur Kritik am Integrationsparadigma Sabine Hess/Jana Binder/Johannes Moser (Hrsg.), No integration?! Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Integrationsdebatte in Europa, Bielefeld 2009. 304 Ausgewertet wurde die erste Phase der Deutschen Islam Konferenz, die von 2006 bis 2009 während der Amtszeit von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble tagte. Für diesen Zeitraum finden sich bei der Stichwortsuche im Online-Archiv der Zeitung „DIE WELT“ 275 Treffer für „Islamkonferenz“, die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ) verzeichnet in demselben Zeitraum 244 Artikel mit diesem Stichwort. Die Ergebnisse umfassen in beiden Fällen sowohl Online- als auch Printartikel. Für das vorliegende Kapitel wurden lediglich Artikel ausgewertet, die über Agenturmeldungen hinausgingen und einen kommentierenden Charakter haben sowie Interviews mit oder Beiträge von Teilnehmenden der Deutschen Islam Konferenz.

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des Fremden um einen aktiven Prozess. Das Gemeinsame werde aus der Wahrnehmung ausgeschlossen und das Trennende betont und dermaßen ins Extrem gesteigert, dass die Unterscheidung immer selbstverständlicher erscheine: „Im Grunde kann jede Differenz als Fremdheit interpretiert werden. Sie wird jedoch umso mehr als Fremdheit verstanden, je mehr die Unvertrautheit in den Vordergrund geschoben und die Differenz als symbolische Grenze erfahren wird, die zwischen ‚Ihr‘ und ‚Wir‘ trennt. […] Es geht also nicht nur um die Tatsache von Differenz überhaupt, sondern auch um die Frage, welche Intentionen mit der Feststellung von Unterschieden verknüpft sind, d.h., inwiefern sie der Exklusion und der symbolischen Grenzziehung dienen.“305

Daraus ergibt sich die Frage, welche Schlussfolgerungen aus den medial verhandelten Selbst- und Fremdbildern bezüglich der ihnen zugrunde liegenden Integrationskonzepte gezogen werden können. Die Deutsche Islam Konferenz konstituierte sich am 27. September 2006. Die vier gebildeten Arbeitsgruppen traten in der Folgezeit im ZweiMonats-Rhythmus zusammen und stellten ihre Ergebnisse dem übergeordneten Gremium, dem Plenum der Deutschen Islam Konferenz, als Diskussionsgrundlage zur Verfügung. Das einmal pro Jahr tagende Plenum bestand aus 30 Teilnehmenden, wovon jeweils 15 den deutschen Staat und 15 die Musliminnen und Muslime repräsentieren sollten. Diese bipolare Struktur setzte sich in der medialen Rezeption mehr oder weniger ungebrochen fort. Zwar hatte der Bundesinnenminister in einer Regierungserklärung zum Auftakt der Konferenz die Feststellung, dass der Islam ein Teil Deutschlands sei, zum viel zitierten Diktum erhoben und damit ein Tabu – wahrscheinlich nicht nur innerhalb seiner eigenen Partei – gebrochen. Zugleich bleibt in den vielen Interviews und Essays, in denen Wolfgang Schäuble sich zur Deutschen Islam Konferenz öffentlich äußerte, stets eine Dichotomie von „Wir“ und „Sie“ gewahrt. So übertitelte die FAZ ein Schäuble-Interview mit dessen Aussage „Wir müssen den Muslimen Zeit geben“.306 Und FAZ-Redakteur Peter Carstens erklärte in einem Bericht über die dritte Plenarsitzung der Deutschen Islam Konferenz, dass dort über

305 Rommelspacher, Anerkennung und Ausgrenzung, S. 11. 306 FAZ vom 20.5.2008.

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ein Thesenpapier gestritten worden sei, welches das „Verhältnis zwischen Muslimen und deutscher Gesellschaft“ zum Thema hatte.307 Zumindest auf der sprachlichen Ebene zementiert Carstens damit einen Antagonismus zwischen beiden und legt den Schluss nahe, dass Musliminnen und Muslime eben (noch) kein Teil dieser Gesellschaft seien. Deutlich wird diese diskursive Exklusion bei einer Ersetzung der Religionsgruppe: Von dem Verhältnis zwischen Katholiken und deutscher Gesellschaft zu sprechen, erschiene sicherlich absurd. Die symbolische Grenzziehung zwischen muslimischer Minderheit und deutscher Mehrheitsgesellschaft kommt auch auf einer anderen Ebene zum Tragen: Einen Tag vor der Eröffnung der Deutschen Islam Konferenz äußerte der Feuilletonredakteur Christian Geyer in einem Beitrag in der FAZ in Hinblick auf den bevorstehenden Dialog mit muslimischen Verbandsvertretern Unverständnis über den damaligen Generalsekretär und jetzigen Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime, Aiman Mazyek. Dieser hatte sich zuvor in der Sendung „Stadtgespräch“ des hessischen Fernsehens geweigert, auf die Frage zu „einigen Einzelheiten seiner Religion, die Toleranz gegenüber Andersgläubigen in muslimisch geprägten Staaten betreffend“ zu antworten. „Für diese Frage, so gab er barsch zurück, sei er nicht zuständig, man möge sich an die Botschaften der islamischen Staaten wenden. […] Was ist denn der Herr Mazyek für einer, fragte man sich vorm Hessenfernsehen. Sollte es qua Generalsekretär des Zentralrats der Muslime in Deutschland etwa nicht seines Amtes sein, auch Fragen zum muslimischen Glauben an und für sich zu beantworten, ob gelegen oder ungelegen?“308

Geyer interpretierte das Beharren Mazyeks, als deutscher Muslim nicht zur Situation in Staaten mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit Rede und Antwort stehen zu wollen, als ein Ausweichen vor unbequemen Fragen. Dahinter steht die Vorstellung einer monolithischen muslimischen Identität, die eine kollektive Verantwortung für Missstände im Ausland, auf die deutsche Musliminnen und Muslime wenig Einfluss haben dürften, einschließt. Implizit wird der Muslim Mazyek von Geyer damit auf seine nichtdeutsche

307 „Wertestreit in der Islamkonferenz“, in: FAZ vom 13.3.2008. 308 „Beleidigtsein verboten“, in: FAZ vom 26.9.2006.

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Herkunft verwiesen, die dieser Vorstellung einer angenommenen Verbundenheit mit islamisch geprägten Staaten zugrunde liegt. Birgit Rommelspacher bezeichnet solche Fragen, wie die an Mazyek gerichtete, als „Identifikationsrituale […], bei denen die Anderen als Fremde identifiziert und auf ihre Fremdheit hingewiesen werden“.309 Das Bild von Muslimen als zugewanderten Fremden, wie es sich beispielsweise in der Schlagzeile „Schäuble will, dass Muslime ‚deutsch‘ werden“310 zeigt, mit der „DIE WELT“ einen Artikel zur Eröffnung der Deutschen Islam Konferenz betitelte, perpetuiert die Ethnisierung der Kategorie „Muslim“, die synonym mit Begriffen wie „Türke“ oder „Migrant“ Verwendung findet. Als vier säkulare türkische Verbände den zweiten Integrationsgipfel wegen der Reform des Zuwanderungsgesetzes im Juli 2007 zu boykottieren drohten, wurde diese Meldung in der Zeitung „DIE WELT“ mit der Schlagzeile „Muslime stellen Angela Merkel Ultimatum“ versehen.311 Die Ethnisierung der Islam-Diskurse kann, wie in Kapitel 2.2 dargelegt wurde, dazu führen, dass nicht mehr die Selbstverortung des Individuums, sondern eine Zuschreibung aufgrund der „Abstammung“ bestimmend ist. Soziale Interaktionen von Personen, die auf diese Weise als Muslime „identifiziert“ werden, scheinen dann nur noch vor dem Hintergrund der Religions- und/oder kulturellen Zugehörigkeit interpretierbar. Entsprechend wollte beispielsweise „DIE WELT“ in der Islam Konferenz auch die Probleme der Rütli-Schule in Berlin-Neukölln, die einen hohen Anteil von Schülerinnen und Schülern mit arabischem und türkischem Hintergrund aufweist, thematisiert wissen.312 Den speziellen „Integrationsbedarf“ von Musliminnen und Muslimen hatte auch Wolfgang Schäuble in einem Beitrag für die FAZ unterstellt: „Man tut sich schwer, die Sprache zu lernen, viele brechen die Schulausbildung ab, und entsprechend hoch ist die Arbeitslosenquote gerade unter Muslimen.“313

309 Rommelspacher, Anerkennung und Ausgrenzung, S. 16. 310 DIE WELT vom 27.9.2006. 311 DIE WELT vom 10.7.2007. 312 Vgl. „Die vielen Stimmen des Islam in Deutschland“, in: DIE WELT vom 27.9.2006. 313 „Muslime in Deutschland“, in: FAZ vom 26.9.2006.

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Dieser Effekt der Kulturalisierung von Integrationsfragen durch die Deutsche Islam Konferenz wurde in der „WELT“ und der FAZ insgesamt wenig hinterfragt. Einzig der damalige Integrationsminister von NordrheinWestfalen, Armin Laschet, wies in einem Interview mit der „WELT“ auf die Gefahr hin, „Fragen der Bildung oder des Arbeitsmarktes“ zu islamisieren.314 Für „DIE WELT“ berichtete hauptsächlich die Chefkorrespondentin Mariam Lau über die Deutsche Islam Konferenz. Ihrer Meinung nach hingen Integrationsdefizite von Musliminnen und Muslimen in Deutschland sehr wohl ursächlich mit ihrer Religion zusammen: „Die vielen Integrationsprobleme in Deutschland und anderen westeuropäischen Staaten haben insofern mit dem Islam zu tun, als das Überlegenheitsgefühl, das Misstrauen gegen alle außerhalb der eigenen Familie oder die Verachtung der Arbeit mit dem Islam zu tun haben.“315

Belege für diese Annahmen bleibt die Journalistin schuldig. Dieses eindimensionale Erklärungsmuster, das vorrangig auf die „fremde“ Religion der „zu Integrierenden“ zurückgreift, entbindet die Gesellschaft implizit ihrer Verantwortung für die Sicherstellung der sozialen Teilhabe aller ihrer Mitglieder. 4.1.2 „Gute“ und „schlechte“ Musliminnen und Muslime Neben der Perpetuierung einer Wahrnehmung von Muslimen als Fremde und der Fortschreibung einer dichotomen Anordnung von „Wir“ und „Sie“ fällt bei der Rezeption der Deutschen Islam Konferenz in der Zeitung „DIE WELT“ und stärker noch in der FAZ eine binäre Einteilung in „gute“ und „schlechte“ Musliminnen und Muslime ins Auge. So preist Regina Mönch, Feuilletonredakteurin der FAZ, die Islam Konferenz zwar als „das einzige Forum, dem es langsam gelingt, Muslime und ihre Interessen differenziert wahrnehmbar zu machen“,316 womit sie die Sichtweise auf die muslimische Minderheit als monolithischen Block zu unterlaufen scheint. Dieser homogenisierende Blick wird von Mönch jedoch zugunsten einer nicht minder

314 „Neoliberale schaden der Integration“, in: DIE WELT vom 1.10.2006. 315 „Die Mühen der Ebene“, in: DIE WELT vom 2.5.2007. 316 „Distanziert euch von den Islamisten“, in: FAZ vom 30.3.2009.

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stereotypen Einordnung in „säkulare, liberale Muslime“ einerseits und „Radikale und verbohrt Orthodoxe“ andererseits aufgegeben. Zu Letzteren zählt sie alle Vertreter der organisierten Musliminnen und Muslime (mit Ausnahme der Aleviten). Die vier muslimischen Dachverbände, die sich in ihrem Bemühen um eine staatliche Anerkennung des Islams als Religionsgemeinschaft zum sogenannten Koordinierungsrat der Muslime in Deutschland zusammengeschlossen hatten, bezeichnet Mönch als „SchariaVerbände“ und „fundamentalistische Verbände“. In einem weiteren Artikel teilt sie die Teilnehmenden der Deutschen Islam Konferenz in „die orthodoxen Verbände des Scharia-Islam, die säkularen Muslime und de[n] Staat“ ein.317 Auch die FAZ-Redakteurin Uta Rasche diagnostizierte als eines von Innenminister Schäubles Zielen, „die frommen Muslime zum Verzicht auf das Denken in Kategorien der Scharia [zu] verpflichten“.318 Die Etikettierung der organisierten Musliminnen und Muslime mittels des in aktuellen Islam-Diskursen extrem negativ aufgeladenen Begriffs „Scharia“ markiert diese pauschal als demokratie- und menschenrechtsfeindlich. Denn „auch wer vom islamischen Recht kaum etwas weiß“, so der Jurist und Islamwissenschaftler Mathias Rohe, „hat nicht selten präzise Vorstellungen davon. Handabhacken, Auspeitschen oder Steinigen von Ehebrechern, Tötung Andersgläubiger und Benachteiligung von Frauen sind einige der am weitesten verbreiteten Stereotype“.319 Die Scharia, die beispielsweise auch von den Gläubigen zu befolgende Speisevorschriften oder rituelle Handlungen umfasst, wird durch die Fokussierung auf das Strafrecht zur Chiffre für einen mit „unserer“ Gesellschaft inkompatiblen Islam.320 In einem antagonistischen Verhältnis zu diesem stehen laut FAZ und „DIE WELT“ diejenigen Teilnehmenden der Deutschen Islam Konfe-

317 „Es geht um alles, was Europas Freiheit ist“, in: FAZ vom 13.3.2008. 318 „Im Zeichen alter Gegensätze“, in: FAZ vom 27.9.2006. 319 Mathias Rohe, Das islamische Recht. Geschichte und Gegenwart, München 2009, S. 3. Rohe weist auf das weitläufige Missverständnis hin, bei der Scharia handle es sich um ein übergreifendes, klares Gesetzeswerk. Das islamische Recht sei hingegen vielgestaltig und in fortwährender Entwicklung befindlich, da die Rechtsquellen stets aufs Neue ausgelegt würden und zudem verschiedene Rechtsschulen existierten. 320 Vgl. zur reduzierten Semantik des Begriffs „Scharia“ auch Schiffer, Die Darstellung des Islams in der Presse, S. 44.

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renz, die mit dem Attribut „säkular“ versehen werden und – wie es heißt – „durch ihr Leben Beispiel geben für einen modernen Islam in Deutschland“.321 Auch diese Zuschreibung wird nicht näher erläutert, sie erschließt sich jedoch, wenn man in Betracht zieht, wer zu dieser Gruppe gerechnet wird. Am häufigsten wird die Publizistin Necla Kelek als „Vertreterin der nicht-organisierten ‚säkularen‘ Muslime“322 genannt, zugleich wird sie wiederholt als „Islamkritikerin“323 oder auch als „Dissidentin“324 bezeichnet, die „religiöse Überzeugungen für die fehlgeschlagene Integration verantwortlich macht“.325 Auf die Frage, ob sie sich selbst als Muslimin sehe, antwortet sie in einem Interview mit der Zeitung „DIE WELT“: „Es gibt im Islam kein Recht auf eine persönliche Entscheidung, es gibt in unserem Sinne keine Religionsfreiheit. Die Menschen sind von Geburt an – wenn sie einen muslimischen Vater haben – Muslim. Deshalb bin ich Muslimin, obwohl mich niemand gefragt hat. Eine Glaubensgemeinschaft kann aber nach unserer Rechtsauffassung nicht Unbeteiligte per Definition zu Mitgliedern erklären.“326

Unklar bleibt, wieso Kelek, wenn sie nicht als Muslimin vereinnahmt werden möchte, an der Deutschen Islam Konferenz teilnimmt. Widersprüchlich erscheint vor diesem Hintergrund auch ihre in einem Artikel der FAZ formulierte Kritik an der „andauernde[n] Negation unseres [der säkularen Muslime, Y.S.] Muslimseins“ durch die Vertreter der muslimischen Verbände.327 Im weiteren Gespräch mit der „WELT“ definiert Kelek „die säkularen, aufgeklärten Muslime“ in Opposition zu denjenigen, die eine Moschee

321 „Wirklichkeit überwindet Wunschdenken“, in: FAZ vom 2.5.2007. 322 „Zwischenbericht der Islamkonferenz. Schulen sollen deutschsprachigen Islam-Unterricht anbieten“, in: FAZ vom 13.3.2008. 323 Beispielsweise in der WELT vom 26.9.2006 („Islam-Kritikerin Kelek: ‚Wir brauchen ein Kopftuchverbot an Grundschulen‘“) oder in der FAZ vom 11.4.2007 („Schäuble lobt Gründung des Koordinierungsrats“). 324 „Trojanisches Pferd“, in: FAZ vom 8.5.2007. 325 „Im Zeichen alter Gegensätze“, in: FAZ vom 27.9.2006. 326 „Islam-Kritikerin Kelek: ‚Wir brauchen ein Kopftuchverbot an Grundschulen‘“, in: DIE WELT vom 26.9.2006. 327 „Sie wollen ein anderes Deutschland“, in: FAZ vom 14.3.2008.

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besuchen.328 Somit kann bei der Lektüre der Eindruck entstehen, dass – der Perspektive der FAZ und der „WELT“ zufolge – tendenziell solche Musliminnen und Muslime als „säkular“ und integrationsbereit gelten, die ihre Religion nicht praktizieren und Fragen der Religionsausübung skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen,329 während in Moscheevereinen und Verbänden organisierte Gläubige dem Verdacht des Fundamentalismus und der Integrationsfeindlichkeit ausgesetzt sind, ohne dass ihre Heterogenität Berücksichtigung fände.330 Diese binäre Einteilung wirkt sich auch darauf aus, wessen Stimmen vermehrt gehört werden. Während Necla Kelek331 und andere Teilnehmende der Deutschen Islam Konferenz, die zur Gruppe der „Säkularen“ gerechnet werden, wie beispielsweise Ezhar Cezairli332 oder Feridun

328 Vgl. „Islam-Kritikerin Kelek: ‚Wir brauchen ein Kopftuchverbot an Grundschulen‘“, in: DIE WELT vom 26.9.2006. 329 Zuweilen wird diese Perspektive aber auch von jenen Journalisten infrage gestellt, die sie an anderen Stellen unkritisch reproduzieren. Vgl. beispielsweise den Artikel von Mariam Lau „Schäuble, Dompteur der streitenden Muslime“, in: DIE WELT vom 13.3.2008. Darin greift Lau die Kritik Necla Keleks an dem Vorsitzenden des Islamrats, Ali Kizilkaya, auf. Kelek hatte in ihrem Fazit zur Deutschen Islam Konferenz beklagt, Kizilkaya lebe „weiter nach seinen religiösen Vorschriften. Wir sind, was die Werteordnung betrifft, nicht sehr viel weiter gekommen. Die eigentliche Arbeit steht noch bevor.“ Daraufhin wirft Lau die Frage auf, ob „am Ende dieser Arbeit stehen [soll], dass Herr Kizilkaya seine Religion nicht weiter ausübt?“, und gibt dann zu bedenken: „Das wäre jedenfalls nicht im Sinne der deutschen Rechtsordnung.“ 330 Vgl. auch „Am Tisch mit Islamisten und Orthodoxen“, in: FAZ vom 12.3.2008. 331 Vgl. neben dem Interview in der Zeitung DIE WELT („Islam-Kritikerin Kelek: ‚Wir brauchen ein Kopftuchverbot an Grundschulen‘“) beispielsweise folgende Artikel von Necla Kelek in der FAZ, in denen sie auf die Deutsche Islam Konferenz eingeht: „Bist Du nicht von uns, dann bist du des Teufels“ vom 25.4.2007; „Das Minarett ist ein Herrschaftssymbol“ vom 6.6.2007; „Freiheit, die ich meine“ vom 15.12.2007; „Sie wollen ein anderes Deutschland“ vom 14.3.2008; „Experiment erfolgreich gescheitert“ vom 25.6.2009. 332 Interview mit Ezhar Cezairli „Wir müssen uns gegen Etikettenschwindel wehren“, in: FAZ vom 27.4.2007.

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Zaimoglu,333 ihre durchaus nicht einheitlichen Sichtweisen in Interviews oder als Autorinnen und Autoren von Artikeln – insbesondere in der FAZ – ausführlich darlegen dürfen, kommen die kritisierten Verbandsvertreter meist nicht selbst zu Wort;334 ihre Positionen werden oftmals in indirekter Rede durch Dritte wiedergegeben. Der Faktor des Sprechendürfens als Voraussetzung des Gehörtwerdens ist wiederum von erheblicher Bedeutung für die Herausbildung hegemonialer und marginaler Diskurse. 4.1.3 „Kultur“ als Grenzmarkierung: „Deutsche Werteordnung“ und „Leitkultur“ Obwohl der praktizierte Islam für viele Kommentatorinnen und Kommentatoren ein entscheidendes Integrationshindernis darstellt, wird er von manchen zugleich auch als Teil der Lösung gesehen. So formuliert Mariam Lau in einem Artikel die Hoffnung: „Wenn alles gut geht, [soll] ein neuartiger, moderner ‚deutscher Islam‘“ entstehen.335 Diesem evolutionären Verständnis eines Islams, der sich zu einem „deutschen Islam“ entwickeln soll, liegt eine gewisse Selbstidealisierung als „aufgeklärtes Abendland“ zugrunde, wie sie Wolfgang Schäuble in einem Interview mit der FAZ zum Ausdruck brachte: „Der Islam hat noch einen weiteren Weg in die moderne Welt zurückzulegen als das Christentum, das seine Geschichte in Europa schon ein Stück weit hinter sich gebracht hat.“ Dieses Islam-Bild wird von dem Interviewer aufgegriffen, als er Schäuble die Frage stellt, ob „man denn so weit gehen [könne], es für eine Lektion der deutschen Geschichte zu halten, dass man mit Gelassenheit versuchen sollte, der fremden, antimodernen Religion

333 Interview mit Feridun Zaimoglu „Ja, es gibt einen deutschen Islam“, in: FAZ vom 1.10.2006. 334 In der Zeitung DIE WELT finden sich – anders als in der FAZ – auch ein Interview mit Ali Kizilkaya, dem Vorsitzenden des Islamrats („Das Kopftuchtragen ist ein islamisches Gebot“ vom 22.12.2006) sowie ein Streitgespräch zwischen Lale Akgün, der Islam-Beauftragten der SPD-Bundestagsfraktion, und Aiman Mazyek, dem Generalsekretär des Zentralrats der Muslime in Deutschland („Pro und contra Islam-Konferenz“ vom 25.6.2009). 335 „Die vielen Stimmen des Islam in Deutschland“, in: DIE WELT vom 27.9.2006.

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des Islams ein wenig Zeit zu geben, sich hier einzufügen“.336 An anderer Stelle bezeichnete „DIE WELT“ Schäuble als „Dompteur der streitenden Muslime“337 und suggerierte damit, es bedürfe ihrer Zähmung und Dressur. Passend dazu warb „DIE WELT“ einige Monate später, man müsse „Geduld haben mit dem Islam“.338 In all diesen Formulierungen klingt ein paternalistisch anmutendes Integrationsverständnis an, das mit Regulierung, Anleitung und Erziehung zur Teilhabe umschrieben werden kann. So zitierte die FAZ die schleswigholsteinische Bildungsministerin Ute Erdsiek-Rave, die in der Deutschen Islam Konferenz das Ziel sieht, „in Deutschland lebende[n] Muslime[n] bestimmte Gebote und Regeln zu übermitteln“.339 Ausgegangen wird von einer vorhandenen „Leitkultur“ der Aufnahmegesellschaft, in die sich die zu integrierende Gruppe mittels Identifikation mit bestimmten Normen und Verhaltensweisen einfügen soll (vgl. Kapitel 2.1). Besonders deutlich wird das in der starken medialen Aufmerksamkeit, die die Arbeitsgruppe 1 „Deutsche Gesellschaftsordnung und Wertekonsens“ im Vergleich zu den anderen Arbeitsgruppen erfuhr. In dieser AG sollte ein Wertekonsens ausgearbeitet werden, den alle Beteiligten am Ende durch ihre Unterschrift anerkennen sollten.340 Schirin Amir-Moazami hat in diesem Zusammenhang auf das Problem aufmerksam gemacht, dass bei einer solchen Bekenntnisforderung „genau genommen eine überrechtliche Rationalität am Werk [ist], die ethisches Verhalten, Wertvorstellungen und teilweise sogar Gefühle tangiert und zu regulieren

336 „Wir müssen den Muslimen Zeit geben“, in: FAZ vom 20.5.2008. 337 DIE WELT vom 13.3.2008. 338 DIE WELT vom 22.9.2008. 339 „Islamkonferenz ohne Beschlüsse“, in: FAZ vom 2.5.2007. 340 Zur Bekenntnisforderung als symbolische Unterwerfungsgeste vgl. Rolf Cantzen, Der „deutsche Wertekonsens“ und die Religion der Anderen. Kulturalisierung des Islam: Die 2. Islamkonferenz in ausgewählten Printmedien, in: Iman Attia, Orient- und IslamBilder. Interdisziplinäre Beiträge zu Orientalismus und antimuslimischem Rassismus, Münster 2007, S. 267-277.

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versucht, also Bereiche, die im liberal-demokratischen Rechtsstaatsverständnis idealtypisch nicht in den staatlichen Geltungsbereich fallen“.341

Necla Kelek betonte in der FAZ hingegen mehrfach die Notwendigkeit, den Musliminnen und Muslimen in der Deutschen Islam Konferenz ein über die Treue zum Grundgesetz hinausgehendes Bekenntnis abzuverlangen: „Durch die europäische Geschichte der Aufklärung ist ein Wertekanon entstanden, der sich auch, aber eben nicht nur, in der Verfassung spiegelt.“342 Deutlich wird an dieser Stelle, dass die in der FAZ und „WELT“ mehrfach als „deutsch“ klassifizierte „Werteordnung“343 häufig in dem Kontext einer vermeintlich klar abgegrenzten „europäischen“ Identität und Kultur verortet wird.344 Kelek legt ihrer Argumentation dabei einen essentialistischen Kulturbegriff zugrunde: Die europäische Kultur ist diesem Narrativ zufolge gekennzeichnet durch Freiheit sowie Demokratie und steht in der Tradition der Aufklärung. Dem Islam hingegen seien Rückständigkeit, Gewaltbereitschaft und Unterdrückung inhärent. Er sei deshalb nicht integrierbar. Den Forderungen nach einem Bekenntnis zu „deutschen“ oder „europäischen“ Werten, das über einen „Verfassungspatriotismus“ hinausweisen soll, liegen Annahmen zugrunde, die in der FAZ und „WELT“ kaum infrage gestellt wurden: So wird beispielsweise von einem von allen Mitgliedern der deutschen Mehrheitsgesellschaft geteilten Wertekonsens ausgegangen, obwohl medial verhandelte Wertekonflikte zum Alltag gehören (man denke nur an die Themen Sterbehilfe, Stammzellenforschung etc.). Daher ver-

341 Amir-Moazami, Islam und Geschlecht unter liberal-säkularer Regierungsführung, S. 201. 342 „Sie wollen ein anderes Deutschland“, in: FAZ vom 14.3.2008. 343 So beispielsweise in dem Artikel „Wertestreit in der Islamkonferenz“, in: FAZ vom 13.3.2008, in dem Peter Carstens konstatiert, dass die Vertreter der organisierten Muslime es abgelehnt hätten, „sich zu einer deutschen Werteordnung zu bekennen“; siehe auch „Zwischenbericht der Islamkonferenz. Schulen sollen deutschsprachigen Islam-Unterricht anbieten“, in: FAZ vom 13.3.2008. 344 Dies korrespondiert mit der im öffentlichen Diskurs zu beobachtenden Verschiebung von einer „deutschen“ hin zu einer „europäischen“ Leitkultur. Der Begriff „europäische Leitkultur“ wurde von dem Politikwissenschaftler Bassam Tibi geprägt. Zur ausgrenzenden Funktion dieses Konzepts vgl. Pautz, Die deutsche Leitkultur, S. 73 ff.

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wundert es auch nicht, dass dort, wo diese Werte näher benannt werden, sie sich auf die im Grundgesetz festgeschriebenen, mit den Menschenrechten in Einklang stehenden Normen beziehen. Am häufigsten wird die Gleichberechtigung der Geschlechter angeführt. So appelliert Wolfgang Schäuble in einem Interview mit der Zeitung „DIE WELT“ an die Muslime: „Wenn Ihr hier heimisch werden wollt, müsst ihr beispielsweise die Gleichberechtigung von Mann und Frau akzeptieren. Wem es nun gar nicht gefällt, dass seine Tochter so aufwächst, wie Frauen hier in Europa aufwachsen, der muss sich fragen, ob er in einem modernen, europäischen Land zu Hause sein will.“345

Bezeichnenderweise sieht Schäuble die Geschlechtergleichheit als quasi territorial verankert an. Die emanzipativ gedachten universellen Menschenrechte werden so zu einem rein europäischen Kulturgut umgedeutet.346 Damit werden Musliminnen und Muslime einmal mehr als „Fremde“ markiert, deren andere, minderwertige Kultur sie von „unserer“ Werteordnung trenne. Implizit unterstellt Schäuble damit, dass die „deutschstämmige“ Bevölkerung diese Werte qua kultureller Zugehörigkeit selbstverständlich verinnerlicht habe, während Musliminnen und Muslime diese erst noch erlernen müssten, weil sie ihnen „wesensfremd“ seien.347 Die „Kultur“ wird damit als Grenze zwischen einem Innen und Außen konstruiert, die das Eigene vom Fremden scheidet. Ein solches Verständnis von Kultur als historisch gewachsene, einander gegenüberstehende Entitäten äußert auch der Schriftsteller Ralph Giordano in einem Streitgespräch mit Wolfgang Schäuble in der FAZ: „Die türkisch dominierte muslimische Gesellschaft in Deutschland ist kollektiv nicht integrierbar. […] Da stößt eine archaisch-patriarchalisch strukturierte Kultur auf die liberalste Gesellschaft der Welt, die Bundesrepublik Deutschland.“348

345 „Nicht aufregen, wenn jemand Kopftuch trägt“, in: DIE WELT vom 4.9.2009. 346 Vgl. Pautz, Die deutsche Leitkultur, S. 74. 347 Diese Annahme wird von vielen Kommentatorinnen und Kommentatoren unkritisch reproduziert. Vgl. beispielsweise „Hitzige Debatten, raffinierte Verhandlungen“, in: FAZ vom 5.3.2008. 348 „Mir macht Angst, dass Sie so viel Verständnis haben“, in: FAZ vom 2.3.2008.

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Auch bei anderen Kommentatorinnen und Kommentatoren gewinnt man den Eindruck, dass der selbstverständlich gebrauchte Ausdruck der „deutschen Werteordnung“, die gelegentlich auch als „christlich geprägte Ordnung“ bezeichnet wird,349 seine Konkretisierung erst in der Abgrenzung zum Islam erfährt. In einem Beitrag der FAZ mit dem Angstgefühle evozierenden Titel „Es geht um alles, was Europas Freiheit ist“ resümiert die Feuilletonredakteurin Regina Mönch: „Es gibt mit doktrinären Funktionären aller Couleur keinen glaubwürdigen Konsens, sondern bestenfalls ein Bekenntnis zum Dissens, zur kulturellen Differenz. Sonst geben wir unsere Identität auf.“350 Auch in dieser Formulierung klingt das Bedürfnis nach einer kulturellen Grenzziehung zur Aufrechterhaltung des Eigenen an. Mit dem Aufweichen von Grenzen einhergehende Irritationen spiegeln sich auch in dem Artikel „Was ist ein deutscher Muslim?“ des FAZRedakteurs Georg Paul Hefty wider.351 Hefty zitiert zunächst den Bundesinnenminister mit den Worten „Muslime in Deutschland sollen sich als deutsche Muslime fühlen können“ und fragt anschließend: „Sind ‚deutsche Muslime‘ Muslime deutscher Staatsangehörigkeit oder deutscher Prägung?“ Damit rekurriert er auf die von Hartwig Pautz beschriebene „Unzulänglichkeit“ des neuen, nicht mehr allein auf dem ius sanguinis basierenden Staatsangehörigkeitsrechts, eine eindeutige Klassifizierung des Eigenen und des Fremden vorzunehmen.352 Eine erfolgreiche Integration, die sich für Hefty offenbar in einer „deutschen Prägung“ ausdrückt, muss also jenseits des Erwerbs der Staatsangehörigkeit vollzogen werden. In der Diskussion um eine „deutsche Werteordnung“ (oder „Leitkultur“), die von den Musliminnen und Muslimen anzuerkennen sei, drückt sich somit gleichzeitig der Wunsch nach Selbstvergewisserung von Angehörigen der Mehrheitsbevölkerung aus. Die Frage nach dem Eigenen mahnte auch der Bundesinnenminister in der FAZ an: „Im Zuge der Deutschen Islamkonferenz werden wir uns auch wieder unserer eigenen Wurzeln gewahr werden müssen.“353

349 „Der Islam ist Teil unserer Zukunft“, in: DIE WELT vom 29.9.2006. 350 FAZ vom 13.3.2008. 351 FAZ vom 28.9.2006. 352 Vgl. Pautz, The Politics of Identity in Germany. 353 „Muslime in Deutschland“, in: FAZ vom 26.9.2006.

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Während die muslimischen Verbandsvertreter in der Deutschen Islam Konferenz in erster Linie eine Chance sahen, ihrem Ziel der rechtlichen Gleichstellung mit den christlichen Kirchen näherzukommen, fanden die verhandelten Fragen nach kultureller Anpassung der muslimischen Minderheit an eine europäisch-westlich konstruierte „deutsche Werteordnung“ ein weitaus größeres Medienecho. Dabei dominierte das Bild, dass die Verinnerlichung dieser Werte von praktizierenden Musliminnen und Muslimen bislang noch nicht vollbracht sei, sie den angenommenen Widerspruch zwischen ihren religiösen Vorstellungen und der Identifikation mit „unseren“ Normen aber überwinden könnten. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Wolfgang Schäubles Initiative zwar als Bemühung um eine Anerkennung von Musliminnen und Muslimen als Mitglieder der deutschen Gesellschaft in der FAZ und der „WELT“ gelobt wurde, dies dennoch mit einer bipolaren Rhetorik einherging, der eine Wir-Sie-Dichotomie zugrunde liegt und die Muslime folglich als Andere festschreibt. Zugleich perpetuierten viele Journalistinnen und Journalisten eine nicht minder binäre und stereotype Einteilung in „gute“ (säkulare/liberale) und „schlechte“ (organisierte/praktizierende/orthodoxe) Musliminnen und Muslime. Zementiert wurde überdies eine Wahrnehmung von Eingewanderten aus Ländern mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit und ihren Nachkommen als ein primär von der Religion determiniertes Kollektiv. Wie die mediale Rezeption der Deutschen Islam Konferenz zudem zeigt, wurde von diesem Gremium nicht nur Minderheitenpolitik, sondern in hohem Maße auch Identitätspolitik für die Mehrheitsgesellschaft betrieben. In den konservativen Meinungseliten drängt man in diesem Zusammenhang darauf, sozialen Wandel unter dem Signum einer „Leitkultur“ im Sinne der „deutschstämmigen“ Mehrheit zu steuern.

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4.2 Z WISCHEN A LLTAGSRASSISMUS UND V ERSCHWÖRUNGSTHEORIEN – I SLAMFEINDLICHKEIT IM I NTERNET Islamfeindlichkeit und antimuslimischer Rassismus äußern sich im Internet in vielfältigen Formen: in Kommentar- und Diskussionsforen etablierter Zeitungen, sozialen Netzwerken wie Facebook oder Twitter, auf Videoportalen wie YouTube und auf Webseiten und Weblogs, die von Individuen oder organisierten Gruppen betrieben werden. Diskriminierende Äußerungen bis hin zu offenem Hass gegenüber Musliminnen und Muslimen werden dabei in verschiedenen politischen Milieus artikuliert. In rechtsextremen Kontexten, wie beispielsweise den Webauftritten der NPD, werden Muslime als Verkörperung des „Fremden“ und des „Ausländers“ schlechthin attackiert.354 Davon abzugrenzen sind islamfeindliche Gruppierungen, die zwar zum Teil eine ähnliche Haltung gegenüber muslimischen Minderheiten in Europa einnehmen, diese aber anders begründen. Im Gegensatz zu Rechtsextremen gerieren sie sich explizit philosemitisch sowie proamerikanisch und berufen sich auf Demokratie und Menschenrechte. Solche eher als rechtspopulistisch einzustufende Gruppen stehen im Fokus dieses Kapitels, das sich, nach einleitenden Bemerkungen zu den Charakteristika des Mediums Internet, mit der ideologischen Ausrichtung islamfeindlicher Internetseiten, den dort vorherrschenden Argumentationsstrategien und dominanten Stereotypen und Topoi auseinandersetzt. Das Kapitel schließt mit Überlegungen zum Mobilisierungspotenzial islamfeindlicher Internetangebote für Aktivitäten jenseits der virtuellen Welt und ihren Auswirkungen auf den breiteren Islam-Diskurs.

354 Vgl. zur Islamfeindlichkeit in rechtsextremen Milieus Thomas Pfeiffer, „Keine Moscheen in Germania“. Islamfeindschaft in der Erlebniswelt Rechtsextremismus, in: Wolfgang Benz/Thomas Pfeiffer (Hrsg.), „WIR oder Scharia“? Islamfeindliche Kampagnen im Rechtsextremismus, Schwalbach/Ts. 2011, S. 110-122.

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4.2.1 Das Internet als Kommunikationsmedium Laut ARD/ZDF-Onlinestudie 2013 bewegen sich 77,2 Prozent der Deutschen inzwischen im World Wide Web, mit einer durchschnittlichen Nutzungsdauer von täglich 169 Minuten.355 Damit liegt das Internet, nach Fernsehen und Hörfunk, auf Platz drei in der Rangfolge der in Deutschland genutzten Medien. Das World Wide Web hat die weltweite Kommunikation stark verändert: Informationen können so schnell und so breitflächig wie nie zuvor weitergegeben werden. Dabei kann sich jeder Nutzer nicht nur als Empfänger, sondern auch als Sender betätigen, weshalb das Internet als besonders basisdemokratisches Kommunikationsmedium gilt. Insbesondere sogenannte Weblogs ermöglichen es Nutzerinnen und Nutzern, ihre Meinung zu bestimmten Themen öffentlich zu äußern. Zugleich folgt aus den fehlenden bzw. geringeren Kontrollmechanismen, die sich aus der Anonymisierung der Kommunikation und dem damit wegfallenden Konformitätsdruck ergeben, eine mögliche Radikalisierung von Diskursen.356 Es gibt

355 Die Zusammenfassung der Ergebnisse ist abrufbar unter http://www.ard-zdfonlinestudie.de/fileadmin/Onlinestudie/PDF/0708-2013_Zusammen.pdf

(zu-

letzt aufgerufen am 1.6.2014). 356 Um sich als Kommentatorin oder Kommentator im Internet zu betätigen, reicht es bei den meisten Internetangeboten aus, sich mit einem fiktiven Nutzernamen anzumelden und den Kommentar über Eingabemasken abzusenden. Aber nicht nur Kommentatoren, auch die Betreiber von Webseiten bleiben oftmals anonym. Laut § 5 des Telemediengesetzes und § 55 (1) des Staatsvertrags über Rundfunk und Telemedien unterliegen Webseitenbetreiber eigentlich einer Impressumspflicht, die sie zur Nennung ihrer bürgerlichen Namen verpflichtet, sofern die online gestellten Inhalte „nicht ausschließlich persönlichen oder familiären Zwecken dienen“. Und obwohl diese rechtlichen Bestimmungen greifen, sobald sich das Angebot einer Webseite auf Deutsch an ein deutschsprachiges Publikum wendet, entziehen sich viele Anbieter dieser Pflicht, indem sie die Webseiten z.B. auf ausländischen Servern schalten und eine Ahndung damit erschweren. Hinzu kommt, dass die Impressumspflicht bei Weblogs, die nicht kommerziell sind, in Deutschland nach Meinung von Juristinnen und Juristen selten durchgesetzt wird. Vgl. z.B. Thomas Schwenke, „Gesetzliche Klarnamenpflicht für Blogs und Google+ einführen? Wozu? Die gibt es bereits!“, http://rechtsanwalt-schwenke.de/gesetzliche-klarnamenpflicht-fuer-blo

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verschiedene sozialpsychologische Theoriemodelle, die sich mit der Frage auseinandersetzen, welche Effekte die weitgehende Anonymität auf die computervermittelte Kommunikation hat. Die Tatsache, dass in der anonymen Kontaktsituation im Internet keine Informationen über den sozialen Hintergrund des Gegenübers vorhanden sind, „baut gemäß dem Filter-Modell soziale Hemmungen, Hürden, Privilegien und Kontrollen ab. Dieser enthemmende Effekt begünstigt sowohl verstärkte Offenheit, Ehrlichkeit, Freundlichkeit, Partizipation und Egalität, als auch – vor allem im Konfliktfall – verstärkte Feindlichkeit, Anomie, normverletzendes und antisoziales Verhalten [Hervorhebung im Original]“,

wie die Medienpsychologin Nicola Döring hervorhebt. Hinzu komme das Gefühl, „sich als Teil einer anonymen Masse wahrzunehmen und nicht persönlich für seine Handlungen verantworten zu müssen“, so Döring weiter.357 Die weitgehend freie Kommunikation, die das Internet bietet, erklärt seine Attraktivität für Individuen und Gruppen, die darin extreme politische Ansichten propagieren können, ohne sofort mit Sanktionen rechnen zu müssen.358 Die Infrastruktur des Internets hilft Gruppen, sich überhaupt erst als solche zu konstituieren, zum Beispiel durch Mitgliederrekrutierung und Öffentlichkeitsarbeit. Während der Druck und das Verteilen von Informationsmaterial auf Flyern aufwendig ist und personelle sowie materielle Ressourcen erfordert, fallen diese Hürden im Internet zum Teil weg. Es ermöglicht Organisationen, sich virtuell zu vernetzen und über nationale Grenzen hinweg auszutauschen und erleichtert damit die Binnenkommunikation er-

gs-und-google-einfuehren-wozu-die-gibt-es-bereits/ (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014). 357 Nicola Döring, Sozialpsychologie des Internet. Die Bedeutung des Internet für Kommunikationsprozesse, Identitäten, soziale Beziehungen und Gruppen, 2. überarb. Auflage, Göttingen u.a. 2003, S. 155. 358 Das Recht auf freie Meinungsäußerung gilt jedoch auch im Internet nicht unbegrenzt. Bestimmte Äußerungen sind strafbar, etwa dann, wenn sie volksverhetzend sind. Vgl. Thomas Günter, Rechtliche Möglichkeiten gegen Rechtsextremismus im Internet, in: Stephan Braun/Alexander Geisler/Martin Gerster (Hrsg.), Strategien der extremen Rechten, Wiesbaden 2009, S. 635 f.

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heblich, mit dem Effekt, dass eigentlich marginale Gruppen gestärkt werden.359 Sie erreichen via Internet ein viel breiteres Publikum als jenseits der virtuellen Welt. Durch diese Charakteristika der Kommunikation bietet sich das Internet als Medium für die Popularisierung ausgrenzender Ideologien an. Unter dem Stichwort „Cyberhate“ werden in der angelsächsischen Forschung die virtuellen Aktivitäten sogenannter Hate Groups analysiert, die auf Webseiten rassistisches und antisemitisches Gedankengut verbreiten.360 4.2.2 Internationale Vernetzung der islamfeindlichen Internetszene Zu den Hate Pages können auch antimuslimische Webseiten gerechnet werden, auf denen die Ausgrenzung und Benachteiligung von muslimischen Minderheiten, die in westlichen Mehrheitsgesellschaften leben, propagiert werden. Eine ideologisch gefestigte Islamfeindlichkeit, die auf ein geschlossenes Weltbild rekurriert, zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass sie rassistische Zuschreibungen gegenüber Musliminnen und Muslimen, im Zuge derer sie als natürliche und homogene Gruppe konstruiert werden und ihnen qua ihrer Religionszugehörigkeit und/oder Herkunft bzw. „Abstammung“ bestimmte Charaktereigenschaften zugeschrieben werden, mit Verschwörungstheorien anreichert. Dabei wird in Verkehrung der realen gesellschaftlichen Machtverhältnisse eine bevorstehende muslimische Vorherrschaft beschworen. Seit einigen Jahren lässt sich im Internet eine islamfeindliche Szene beobachten, die international vernetzt ist und sich dem Kampf gegen den vermeintlichen Untergang des Abendlandes bzw. der westlichen Zivilisation verschrieben hat. Zu den prominentesten Webseiten in den USA, die in Europa breit rezipiert und zum Beispiel in dem „Manifest“ des norwegischen Attentäters Anders Behring Breivik ausführlich zitiert werden, gehören die 2003 online gegangene Seite „Jihad Watch“ und die seit 2005 exis-

359 Vgl. Döring, Sozialpsychologie des Internet, S. 296. 360 Vgl. Barbara Perry/Patrik Olsson, Cyberhate. The globalization of hate, in: Information & Communications Technology Law 18 (2009), H. 2, S. 185-199; Brian Levin, Cyberhate. A Legal and Historical Analysis of Extremists’ Use of Computer Networks in America, in: American Behavioral Scientist 45 (2002), H. 6, S. 958-988.

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tierende Seite „Atlas Shrugs“. Sie werden von Robert Spencer und Pamela Geller, einem Publizisten und einer Aktivistin, die beide eng kooperieren und politisch der republikanischen Tea-Party-Bewegung nahestehen, betrieben.361 Spencer und Geller sind zudem mit verschiedenen politischen Organisationen in Westeuropa vernetzt, unter anderem mit der English Defence League, einer Organisation, die der englischen extremen Rechten zugeordnet werden kann und seit 2009 mit antimuslimischen Kampagnen und teils gewaltsamen Demonstrationen auf sich aufmerksam macht.362 Zu den Grundüberzeugungen der islamfeindlichen Aktivistinnen und Aktivisten zählt die Vorstellung, der Islam sei keine Religion, sondern eine politische Ideologie (Unterscheidungen zwischen Islam und Islamismus werden als naiv zurückgewiesen), woraus die Forderung nach einer Einschränkung der Religionsfreiheit von Musliminnen und Muslimen abgeleitet wird. Muslimischen Minderheiten wird unterstellt, an der Zersetzung westlicher Gesellschaften zu arbeiten und dass ihre Religion ihnen gebiete, zur Durchsetzung ihrer Interessen zu lügen und zu betrügen. Als weiteres Feindbild dienen die politischen und kulturellen Eliten, die als „Kollaborateure“ der „Islamisierung“ Europas und Amerikas angesehen werden. Beliebtes Angriffsziel amerikanischer Islamfeinde ist unter anderem US-Präsident Barack Obama, der als Steigbügelhalter einer islamistischen Verschwörung zur Infiltrierung der USA bzw. als heimlicher Muslim denunziert wird.363

361 Vgl. Nathan Lean, The Islamophobia Industry. How the Right Manufactures Fear of Muslims, London 2012. 362 Vgl. z.B. „Eight arrested after violent clashes at English Defence League protest“, in: The Guardian vom 26.3.2013. 363 Vgl. beispielweise „Spencer: Obama Administration Bans the Truth About Islam and Jihad“, in: Jihad Watch vom 24.10.2011, http://www.jihadwatch.org /2011/10/spencer-obama-administration-bans-the-truth-about-islam-and-jihad. html (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014) oder „Pamela Geller, American Thinker: Report: Obama said ‚I am a Muslim‘“ in: Atlas Shrugs vom 16.6.2010, http://atlasshrugs2000.typepad.com/atlas_shrugs/2010/06/pamela-geller-ameri can-thinker-.html (zuletzt aufgerufen am 1.2.2013). Auf deutschsprachigen islamfeindlichen Webseiten werden solche „Meldungen“ breit rezipiert, siehe beispielsweise „Pamela Geller: ‚Obama ist Moslem‘“ in: Fakten-Fiktionen, http://fakten-fiktionen.net/2012/02/pamela-geller-obama-ist-moslem/

(zuletzt

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Abbildung 8: Screenshot der Webseite „Jihad Watch“ vom 24.10.2011.

Quelle: http://www.jihadwatch.org/2011/10/spencer-obama-administrationbans-the-truth-about-islam-and-jihad.html (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014).

Pamela Geller erlangte 2010 größere Bekanntheit durch ihr Engagement in dem Protest gegen den New Yorker Moscheebau „Park51“. Gemeinsam mit Robert Spencer und weiteren Gesinnungsgenossinnen und -genossen hat sie die Organisation „Stop Islamization of America“ (SIOA) populär gemacht, die von Antidiskriminierungsorganisationen in den USA, wie der AntiDefamation-League und dem Southern Poverty Law Center, als antimuslimische Hate Group gelistet wird.364 Aufsehen erregte die Gruppe unter anderem mit großflächigen Anzeigen in öffentlichen Verkehrsmitteln in New York, Washington D.C. und San Francisco. Im Januar 2012 schloss sich SIOA mit der europäischen Dependance „Stop Islamisation of Europe“ (SIOE), die von dem Dänen Anders Gravers gegründet wurde, zur Dachorganisation „Stop Islamization of Nations“ zusammen. Den Vorsitz über-

aufgerufen am 1.2.2013) oder Open Speech vom 19.6.2010, https://openspeech.com/threads/543215-Pamela-Geller-Obama-ist-Moslem (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014). 364 Vgl. den Report der ADL „Stop Islamization of America (SIOA)“, in: http://www.adl.org/assets/pdf/civil-rights/stop-islamization-of-america-20131-11-v1.pdf und den Eintrag „Pamela Geller“ auf der Webseite des Southern Poverty Law Center, in: http://www.splcenter.org/get-informed/intelligencefiles/profiles/pamela-geller (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014).

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nahm Pamela Geller, Robert Spencer wurde ihr Stellvertreter.365 Dem „Beirat“ (Board of Advisors) der Organisation, die im März 2012 in Aarhus und im August 2012 in Stockholm zu sogenannten Counter-Jihad-Treffen zusammenkam und am 11. September 2012 in New York einen „International Freedom Defense Congress“ ausrichtete, gehört auch Stefan Herre an, der Gründer des deutschen Blogs „Politically Incorrect“.366 Wie an diesen Beispielen bereits erkennbar ist, werden islamfeindliche Organisationen auch jenseits der virtuellen Welt aktiv. Dies trifft ebenfalls auf Gruppierungen zu, die im deutschsprachigen Internet präsent sind. Neben Webauftritten rechtspopulistischer Organisationen wie der „Bürgerbewegung Pax Europa“ oder der Kleinpartei „Die Freiheit“ ist insbesondere die Seite „Politically Incorrect“ hervorzuheben. PI – so die gängige Abkürzung – existiert seit 2004 und gilt mittlerweile als der größte deutschsprachige islamfeindliche Weblog. Die Seite verzeichnet nach eigenen Angaben täglich bis zu knapp 120 000 Besucherinnen und Besucher (Stand: Juni 2014) – wobei nicht gesagt ist, dass diese alle mit den Inhalten sympathisieren. Aber die hohen Zugriffszahlen zeigen die Relevanz des Blogs. Wie der Name bereits verrät, bietet die Seite, die von einer Redaktion sowie einem Kreis von Gastautorinnen und -autoren mit durchschnittlich zehn Beiträgen am Tag versorgt wird, ihrem Selbstverständnis nach eine Plattform für „politisch inkorrekte“ Nachrichten, um damit eine Art Gegenöffentlichkeit zu den etablierten Medien zu bilden. Die Macher des Weblogs bedienen sich dabei einer einfachen Technik: Sogenannte Spürnasen durchforsten die virtuelle Welt nach Berichten, die weltweites Fehlverhalten von Musliminnen und Muslimen akribisch dokumentieren sollen. Neben gewaltsamen Ereignissen und Konflikten im Nahen und Mittleren Osten stehen insbesondere Vorfälle in Deutschland und anderen westeuropäischen Ländern im Zentrum des Interesses, auf deren Grundlage die Mehrheitsbevölkerung

365 Vgl. „SION: Stop Islamization of Nations Forms International Activist Leadership Team, the SION President’s Council“, in: Atlas Shrugs vom 7.8.2012, http://atlasshrugs2000.typepad.com/atlas_shrugs/sion-september-11-2012-free dom-congress-un-plaza/ (zuletzt aufgerufen am 2.9.2013). 366 Vgl. „International Freedom Organizations Unite to Create Stop Islamization of Nations (SION)“, in: Jihad Watch vom 17.1.2012, http://www.jihad watch.org/2012/01/international-freedom-organizations-unite-to-create-stopislamization-of-nations-sion.html (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014).

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zum Opfer ihrer muslimischen Minderheit stilisiert wird. Hierzu werden Meldungen aus der Regionalpresse oder Polizeiberichte ausgewertet. Diese Art der Wirklichkeitsrezeption und -konstruktion läuft auf eine selektive Wahrnehmung hinaus, die Belege für die bereits vorhandene Überzeugung sucht und zuwiderlaufende Informationen entweder ausblendet oder Abweichendes zu Ausnahmen erklärt bzw. mittels Verschwörungstheorien zu deuten versucht. Zum „Herzstück“ der Seite gehören die Kommentare der Leserinnen und Leser, die unter den Artikeln veröffentlicht werden und deren Zahl, je nach Thema, zwischen einigen Dutzend und einigen Hundert schwankt. Sie tragen wesentlich zur Selbstinszenierung des Weblogs als Sprachrohr für „Volkes Stimme“ bei. Das wichtigste Anliegen ist der Kampf gegen die „Islamisierung Europas“. Zugleich versteht sich PI explizit als „proamerikanisch“ und „pro-israelisch“, wobei die Blogger versuchen, durch die positive plakative Bezugnahme auf Juden den Vorwurf des Rassismus oder Rechtsextremismus abzuwehren. Islamfeindliche und rassistische Ansichten – nicht nur gegenüber Musliminnen und Muslimen, sondern vor allem auch gegenüber Sinti und Roma oder gegenüber Schwarzen – werden hingegen offen propagiert. 4.2.3 Das ideologisch geschlossene Weltbild islamfeindlicher Internetaktivisten Zentraler Topos der antimuslimischen Internetseiten ist die Verschwörungs- und Unterwanderungsfantasie einer „Islamisierung Europas“. Politische Parteien werden als ferngesteuert abgelehnt und insbesondere linke Politikerinnen und Politiker als Muslimen gegenüber hörig verspottet. Die etablierten Medien werden einer gezielten Desinformation zum Zwecke der Verschleierung der Islamisierung bezichtigt. Behauptet wird ein angebliches Tabu, das jegliche Kritik an Islam und Muslimen in öffentlichen Diskursen unterbinde. Diese werden, so die Vorstellung, von muslimischen Interessen gelenkt – worin gewisse Parallelen zu antisemitischen Topoi erkennbar sind. Zudem wird ein existenzielles Bedrohungsszenario für die Zukunft Europas entworfen. In den Leitlinien von PI liest man: „Die Ausbreitung des Islam bedeutet folglich, dass unsere Nachkommen – und wahrscheinlich schon wir selbst – […] in zwei, drei Jahrzehnten in einer weitgehend

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islamisch geprägten Gesellschaftsordnung leben müssen, die sich an der Scharia und dem Koran orientiert und nicht mehr am Grundgesetz und an den Menschenrechten.“367

Ein Blogger, der unter dem Alias Michael Mannheimer schreibt und für dessen Prozesskosten im Zusammenhang mit einer Anklage wegen Volksverhetzung auf PI Spenden gesammelt wurden,368 spricht gar von einem geplanten „Genozid am deutschen Volk“: „Absicht und Ausführung sind – was die massive Islamisierung Deutschlands und Europas anbetrifft – bereits seit Jahrzehnten gegeben. Die demografischen Beweise sind erdrückend, ebenso die Absichtserklärungen von Politikern, Kirchenführern, Industriellen, Medien und sonstigen Sprechern desjenigen Spektrums, das ich als das politische Establishment bezeichne. […] Verborgen von der Öffentlichkeit, im Stillen und Geheimen – und ganz klar gegen den Willen der europäischen Bevölkerungen und gegen die Statuten der europäischen Verfassungen – vollzieht sich derzeit der massivste Kultur- und Bevölkerungstransfer der Menschheitsgeschichte. Er ist von den politischen Eliten so gewollt und geplant – und wird von der Industrie unterstützt. Und er wird aus Europa einen Kontinent machen, den wir nicht mehr wiedererkennen werden.“369

367 „Leitlinien“, in: Politically Incorrect, http://www.pi-news.net/leitlinien/ (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014). 368 Vgl. „Strafbefehl gegen Michael Mannheimer“, in: Politically Incorrect vom 26.3.2012, http://www.pi-news.net/2012/03/strafbefehl-gegen-michael-mannh eimer/ (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014). 369 „Die von Linken vorangetriebene Islamisierung ist ein Genozid am deutschen Volk im Sinne der ‚Resolution 260‘ der UN“, in: Michael Mannheimer Blog vom 25.12.2011, http://michael-mannheimer.info/2011/12/25/die-islamisier ung-ist-ein-genozid-am-deutschen-volk-im-sinne-der-resolution-260-der-un/ und „Mannheimer: Islamisierung ist Völkermord“, in: Politically Incorrect vom 28.12.2011, http://www.pi-news.net/2011/12/mannheimer-islamisierungist-volkermord/ (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014). Die Zitate aus den Blogs wurden – ohne dies im Einzelnen entsprechend zu markieren – der geltenden Rechtschreibnorm angepasst.

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Abbildung 9: Screenshot der Webseite „Michael Mannheimer Blog“ vom 25.12.2011.

Quelle: http://michael-mannheimer.info/2011/12/25/die-islamisierungist-ein-genozid-am-deutschen-volk-im-sinne-der-resolution-260-der-un/ (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014).

In einem anderen Artikel mit dem Titel „Eurabia: Die geplante Islamisierung Europas“ warnt Mannheimer: „Überall arbeiten Muslime an der Übernahme der Macht. […] Der Einfluss der Muslime auf die europäische Tagespolitik und die politische Macht ist mittlerweile gewaltig.“370 Nicht nur Deutschland, sondern alle europäischen Staaten gelten den Autorinnen und Autoren sowie Sympathisanten islamfeindlicher Webseiten als unterwandert und ihre „autochthonen“ Bevölkerungen als teils wehrlose Opfer, teils

370 „Eurabia: Die geplante Islamisierung Europas“, in: Politically Incorrect vom 15.8.2009, http://www.pi-news.net/2009/08/eurabia-die-geplante-islamisierun g-europas/ (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014). Der Begriff „Eurabia“ im Sinne einer Verschwörung zur Transformation Europas in einen muslimischen Kontinent wurde von der Publizistin Gisèle Littman, die unter dem Pseudonym Bat Ye’or veröffentlicht und auf islamfeindlichen Webseiten rege rezipiert wird, geprägt. Vgl. Matt Carr, You are now entering Eurabia, in: Race & Class 48 (2006), S. 1-22; Yasemin Shooman, Islamfeindschaft im World Wide Web, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 17 (2008), S. 74 ff.

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aktive Kollaborateure dieser Entwicklung. Auch der langjährige Münchner Oberbürgermeister Christian Ude wurde wegen seiner Unterstützung für ein Moscheebauprojekt als zu „muslimfreundlich“ angegriffen: „Ude ist ein gefährlicher Steigbügelhalter für die Moslems, arbeitet an der Zerstörung unserer nationalen Identität und unserer kulturellen Entwurzelung. Damit begeht er Verrat am deutschen Volk“, so der Kommentar eines PI-Nutzers zu einem Artikel über das geplante „Zentrum für Islam in Europa – München e.V.“ (ZIE-M).371 Als Grund für die parteiübergreifende politische Zustimmung zu dem Projekt sieht der PI-Autor und Bundesvorsitzende der rechtspopulistischen Partei „Die Freiheit“, Michael Stürzenberger, „das rasch wachsende moslemische Wählerpotenzial, das von der Presse goutierte Surfen auf der gutmenschlichen ‚Dialog‘-Welle sowie […] sehr viel islamisches Geld & Öl“.372 Der Vorwurf der Käuflichkeit und Bestechlichkeit europäischer Politikerinnen und Politiker, die damit den „Ausverkauf“ ihrer Heimat betrieben, impliziert eine unheimliche Machtfülle von Muslimen. Wie der Politikwissenschaftler Oliver Geden hervorhebt, ist dieser angenommene Komplott von Eliten und Minderheit gegen „das Volk“ ein Kernbestand rechtspopulistischer Argumentation.373 Das Angstszenario einer Ausbreitung des Islams bzw. der Muslime in Europa kennzeichnet eine Wahrnehmungsverschiebung im Vergleich zu herkömmlichen rassistischen Diskursen, in denen Muslime als rückständig und kulturell minderwertig stigmatisiert werden. Denn hier werden sie als „fünfte Kolonne“ imaginiert, die von innen heraus an der Zerstörung westlicher Gesellschaften arbeite. In der Fiktion einer drohenden Dominanz von Musliminnen und Muslimen findet zum einen ein Transfer antisemitischer Argumentationsmuster

371 Kommentar Nr. 2 zum Artikel „Das Münchner Anti-Islamkritiker-Kartell“, in: Politically Incorrect vom 27.11.2011, http://www.pi-news.net/2012/11/dasmunchner-anti-islamkritiker-kartell/ (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014). 372 „Das Münchner Anti-Islamkritiker-Kartell“, in: Politically Incorrect vom 27.11.2011, http://www.pi-news.net/2012/11/das-munchner-anti-islamkritikerkartell/ (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014). 373 Vgl. Oliver Geden, Rechtspopulismus. Funktionslogiken – Gelegenheitsstrukturen – Gegenstrategien. Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin 2007.

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statt.374 Zum anderen fließen in islamfeindlichen Diskursen verschiedene Wahrnehmungstraditionen zusammen, die die Gleichzeitigkeit von zugeschriebener Unterlegenheit und Übermacht bedingen (vgl. Kapitel 2.1). Die Vorstellung einer drohenden „Unterwanderung des Abendlandes“ aktualisiert dabei europäisch-christliche Angstszenarien des Mittelalters und der Frühen Neuzeit.375 Im historischen Diskurs über die „Türkengefahr“ ging man, so die Historikerin Almut Höfert, davon aus, „dass die gesamte Christenheit vom Antichrist in Gestalt der Osmanen überrollt zu werden drohte“.376 Dieses apokalyptische Narrativ findet seinen Widerhall im Topos einer drohenden „Islamisierung Europas“. Neben der Unterwanderungsfantasie ist der Täuschungsvorwurf ein weiterer Kernbestand islamfeindlicher Argumentationen im Internet. Auf „Politically Incorrect“ findet sich dazu eine eigene Rubrik „Taqiyya“, in der Musliminnen und Muslime, die sich nicht extremistisch äußern, als Betrüger „geoutet“ und des Redens mit doppelter Zunge verdächtigt werden. In einem Artikel mit dem Titel „Die Taqiyya-Meister sind die Gefährlichsten“ versucht PI-Autor Michael Stürzenberger beispielsweise, den Professor für Islamische Religionspädagogik an der Westfälischen WilhelmsUniversität Münster, Mouhanad Khorchide, als „Lügner“ und „dreiste[n] Täuscher“ zu überführen, da dieser in einem Zeitungsinterview über sein Islamverständnis von einem barmherzigen Gott spricht. Dahinter vermutet Stürzenberger ein taktisches Manöver zu Verschwörungszwecken: „Dieser gebürtige Libanese hat sein Studium der Islamwissenschaften in Beirut absolviert. Er ist meines Erachtens zu Propagandazwecken ausgebildet und hergeschickt worden, um die Islamisierung zu unterstützen. Die klare Strategie solcher Taqiyya-Spezialisten ist es, die ungläubige Gesellschaft mit dem Märchen vom

374 Vgl. Wolfgang Benz, Antisemitismus und „Islamkritik“. Bilanz und Perspektiven, Berlin 2011. 375 Vgl. Gabriele Haug-Moritz/Ludolf Pelizaeus (Hrsg.), Repräsentationen der islamischen Welt im Europa der Frühen Neuzeit, Münster 2010. 376 Höfert, Alteritätsdiskurse, S. 28.

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‚friedlichen Islam‘ einzulullen, bis Moslems in Mehrheitspositionen sind und dann der wahre Islam an die Macht kommen kann.“377

Abbildung 10: Screenshot der Webseite „Politically Incorrect“ vom 15.10.2012.

Quelle: http://www.pi-news.net/2012/10/die-taqiyya-spezialisten-sind-diegefahrlichsten/ (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014).

Das arabische Wort „taqiyya“, das mit „bei Gefahr verbergen“ übersetzt werden kann, bezeichnet die Verleugnung des Glaubens, sofern das eigene Leben oder das der Angehörigen bedroht ist. Historisch betrachtet wurde die Taqiyya vor allem von Schiiten praktiziert, die von der sunnitischen Orthodoxie immer wieder als Häretiker verfolgt wurden.378 Das TaqiyyaKonzept stützt sich im Wesentlichen auf den Vers 106 der 16. Sure des Korans, in dem es heißt, dass Gott denjenigen die Strafe erlässt, die ihn unter

377 „Die Taqiyya-Meister sind die Gefährlichsten“, in: Politically Incorrect vom 15.10.2012, http://www.pi-news.net/2012/10/die-taqiyya-spezialisten-sind-diegefahrlichsten/ (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014). 378 Vgl. Egbert Meyer, Anlaß und Anwendungsbereich der taqiyya, in: Der Islam. Zeitschrift für Geschichte und Kultur des islamischen Orients 57 (1980), S. 249.

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Zwang verleugnet haben.379 Es handelt sich bei der Taqiyya also keineswegs um ein Täuschungsgebot, sondern lediglich um die Gewähr von Straffreiheit in diesem speziellen Fall von Glaubensleugnung. Das Konzept der Taqiyya wird im Kontext islamfeindlicher Argumentationen bewusst missinterpretiert und verzerrt, um Musliminnen und Muslimen eine spezielle Neigung zur Täuschung ihrer Umwelt zu unterstellen. Der Täuschungsvorwurf funktioniert in der Logik des antimuslimischen Narrativs nicht zuletzt deshalb so gut, weil es für die Betroffenen keine Möglichkeit gibt, ihn zu entkräften. Jedes Abstreiten wird von Islamfeinden nur als weiterer Betrug begriffen und jedes Abweichen von – nach ihrer Vorstellung – typisch „islamischem“ Verhalten als List zur Durchsetzung geheimer Interessen gedeutet. So gibt ein PI-Nutzer zu bedenken, dass letztendlich auch „das Trinken von Alkohol im ‚Haus des Krieges‘ […] als Taqiyya durchgehen [kann], um das Land besser unterwandern zu können“.380 4.2.4 Demografie als Kampfmittel Die wichtigste „Waffe“ der Musliminnen und Muslime ist, so die auf antimuslimischen Internetseiten propagierte Auffassung, ihre vermeintlich planvolle Vermehrung. Die Vorstellung eines demografischen Kampfes gegen die Mehrheitsgesellschaft wird unter dem Schlagwort „GeburtenDjihad“ zusammengefasst. PI-Autor Michael Stürzenberger drückte dies in seiner Rede auf einer Kundgebung in München im September 2012, die in einem Video auf PI und Youtube gepostet wurde, so aus: „Es ist die Demografie. Das ist die gefährliche Entwicklung, die keiner mitbekommt, weil sie schleichend passiert. Von Jahr zu Jahr haben Muslime drei Mal mehr Kinder als Nichtmuslime in Deutschland. Es ist der Geburten-Djihad, ein erklärter Teil ihrer Strategie. Und haben Sie Geduld, das kann Jahrzehnte dauern, das kann 60, 70 Jahre dauern. […] Und dann werden sie, aufgrund der demokrati-

379 Vgl. Ignaz Goldziher, Das Prinzip der Taḳijja im Islam, in: Zeitschrift der deutschen morgenländischen Gesellschaft 60 (1906), S. 214. 380 Kommentar Nr. 46 zum Artikel „Amir I. durfte nicht im Bonner Münster reden“, in: Politically Incorrect vom 16.1.2010, http://www.pi-news.net/2010 /01/amir-i-durfte-nicht-im-bonner-muenster-reden/ (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014).

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schen Verhältnisse, ganz legal an die Macht kommen. Sie werden sich hier die Macht nehmen und dann Gnade Gott unseren Kindern, die das erleben müssen. Und die Enkel werden es noch schlimmer erleben.“381

Dieses Zitat veranschaulicht, wie sehr es sich bei dem wiederholt vorgebrachten Argument, die sich selbst als „Islamkritiker“ Bezeichnenden würden nur den Islam als Religion angreifen und nicht die Muslime als Menschen, um eine Schutzbehauptung handelt. Als Muslimin bzw. Muslim gilt in ihren Augen, wer von muslimischen Eltern abstammt – und das allein macht ihn oder sie bereits zum Problem oder gar zur Gefahr. Abbildung 11: Screenshot der Webseite „Politically Incorrect“ vom 9.12.2013.

Quelle: http://www.pi-news.net/2013/12/geburtendjihad-in-berlin-tuerkischekopftuch-mutter-emine-hat-bis-jetzt-11-kinder/ (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014).

381 Rede von Michael Stürzenberger in München am 1.9.2012, http://www.you tube.com/watch?feature=player_embedded&v=38q4AklodOQ (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014).

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Auf PI und anderen islamfeindlichen Webseiten wird deshalb immer wieder skandalisiert, dass mittlerweile in vielen europäischen Ländern bei männlichen Neugeborenen angeblich der häufigste Vorname „Mohammed“ lautet. Dieser Fokus auf die Fertilität von Musliminnen und Muslimen bettet den Topos des „demografischen Kampfes“ in die Tradition biologistisch-rassistischer Argumentationsweisen ein (vgl. Kapitel 2.2). 4.2.5 Rassistische Zuschreibungen Ein weiteres Kennzeichen islamfeindlicher Webseiten ist die Häufung von rassistischen Zuschreibungen, die sowohl biologistisch als auch kulturell begründet werden. Neben der Wahrnehmung als homogenes Kollektiv lässt sich eine Verwendung der Kategorie „Muslim“ in einem ethnischen Sinne nachweisen. Dies wird insbesondere immer dann deutlich, wenn Personen alleine aufgrund ihres Namens oder Aussehens als Muslime „identifiziert“ und alle ihnen unterstellten Charaktereigenschaften vom Islam abgeleitet werden, bzw. jedes negative Verhalten von als muslimisch markierten Menschen auf den Islam zurückgeführt wird. Ein ständig wiederkehrendes Stereotyp ist das des kriminellen Muslims. Muslime werden einer ausgeprägten Gewaltaffinität – insbesondere auch in Hinblick auf sexuelle Gewalt – bezichtigt, die in ihrer Religion oder Kultur wurzele und ihr Handeln determiniere.382 Immer wieder werden Polizei- und Presseberichte über Vergewaltigungen oder gewalttätige Überfälle zitiert, in denen die Täter als „südländisch“383 aussehend beschrieben werden. Artikel über solche Vorfälle werden mit Überschriften wie „Moslems vergewaltigen 18-Jährige“ versehen und diese Vergehen als „muslimische Taten“ interpretiert.384 Dies zeigt, dass das Muslim-Sein an somatischen – also an körperlichen Faktoren – festgemacht wird. Falls explizite Täterbeschreibungen

382 Vgl. z.B. „Islam begünstigt kriminelles Verhalten“, in: Politically Incorrect vom 29.5.2009, http://www.pi-news.net/2009/05/islam-beguenstigt-kriminelle s-verhalten/ (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014). 383 Gemeint sind in der Regel somatische Merkmale wie eine „dunkle Haut“ und schwarze Haare. 384 Vgl. „Augsburg: Moslems vergewaltigen 18-Jährige“, in: Politically Incorrect vom 14.8.2010, http://www.pi-news.net/2010/08/augsburg-moslems-vergewal tigen-18-jaehrige/ (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014).

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fehlen, liegt für PI-Nutzer der Verdacht nahe, dass die Medien die muslimische Identität der Täter zu verschleiern versuchten. So schreibt ein Kommentator auf PI: „Und obwohl das Opfer überlebt hatte und den Tathergang und den Täter beschrieben hat, keine Personenbeschreibung folgte [sic], kann man daraus schließen, dass der Täter wie üblich mit höchster Wahrscheinlichkeit ein Moslem ist. Jetzt muss man schon wie in einer Diktatur zwischen den Zeilen lesen, um die Wahrheit zu erfahren.“385

Musliminnen und Muslimen wird unterstellt, sich aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit dem deutschen Staat und der deutschen Gesellschaft gegenüber illoyal zu verhalten und qua Herkunft keine „vollwertigen“ Deutschen sein zu können, worin sich ein völkisches Verständnis vom Deutsch-Sein offenbart. Eingebürgerte Migrantinnen und Migranten werden auf PI in den Kommentarspalten beispielsweise als „reinrassige Türken […] mit deutschem Pass“386 diffamiert, der Politiker Cem Özdemir wird als „Wolf im Schafspelz“ und „muslimischer Heuchler und Lügner“387 bezeichnet und der baden-württembergischen Integrationsministerin Bilkay Öney wird in redaktionellen Artikeln vorgeworfen, ein „islamisches U-Boot“388 zu sein. In solchen Formulierungen, in denen als Muslime markierte Politikerinnen und Politiker verdächtigt werden, insgeheim nur „islamische Interessen“ zu vertreten, klingt der Taqiyya-Topos an: „Ich glaube […], sie hat sich ver-

385 Kommentar Nr. 8 zum Artikel „Viktoria Großmann, Süddeutsche, auf DiscoKlo“, in: Politically Incorrect vom 7.1.2013, http://www.pi-news.net/2013 /01/viktoria-grosmann-suddeutsche-auf-disco-klo/

(zuletzt

aufgerufen

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1.6.2014). 386 „BILD: Jeder fünfte Hartz IV-Empfänger Ausländer“, in: Politically Incorrect vom 16.8.2011, http://www.pi-news.net/2011/08/bild-jeder-funfte-hartz-iv-em pfanger-auslander/ (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014). 387 Kommentar Nr. 6 zum Artikel „Braucht Giordano Erziehung?“, in: Politically Incorrect vom 16.8.2007, http://www.pi-news.net/2007/08/braucht-giordano-er ziehung/ (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014). 388 „Türkenministerin Bilkay Öney will Kopftuch“, in: Politically Incorrect vom 9.10.2012, http://www.pi-news.net/2012/10/turkenministerin-bilkay-oney-will -kopftuch/ (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014).

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stellt und uns etwas vorgetäuscht, bis sie an die Macht kam. Also nichts Neues!“389 Und ein anderer Leser meint: „Tja, ihre angebliche sozialdemokratische Erziehung hat sie wohl abgestreift wie eine Schlange die alte Haut. Typisch Moslem eben. Einmal Moslem immer Moslem.“390 Es stellt sich die Frage, welche Schlussfolgerungen aus einer solch feindseligen Wahrnehmung der muslimischen Minderheit gezogen werden. Immer wieder wird betont, dass es für Europas Zukunft besser wäre, wenn keine Musliminnen und Muslime hier leben würden. Der oben zitierte Blogger Michael Mannheimer formuliert seine Vision unmissverständlich: „Das Ziel muss […] die vollständige Repatriierung der Muslime in die Länder sein, aus denen sie zu uns gekommen sind.“391 In eine ähnliche Richtung argumentiert PI-Autor Michael Stürzenberger in seinem „Thesenpapier gegen die Islamisierung“. Er regt an, Musliminnen und Muslime dazu zu verpflichten, sich öffentlich von „der Scharia“ loszusagen und zahlreiche Passagen des Korans zu „streichen“. Sollten sie dem nicht Folge leisten, so sei in einem nächsten Schritt ein Volksentscheid über ein Verbot des Islams einzuleiten: „Wenn der Volksentscheid zu dem Ergebnis führt, dass der Islam verboten werden soll, haben alle Muslime die freie Entscheidung, dieser Ideologie abzuschwören. […] ‚Abschwören oder Abreisen‘ heißt die Konsequenz. Für den zweiten Fall stehen genügend islamische Länder zur Auswahl.“392

389 Kommentar Nr. 8, in: Ebenda. 390 Kommentar Nr. 33, in: Ebenda. 391 „Die von Linken vorangetriebene Islamisierung ist ein Genozid am deutschen Volk im Sinne der ‚Resolution 260‘ der UN“, in: Michael Mannheimer Blog vom 25.12.2011, http://michael-mannheimer.info/2011/12/25/die-islamisierun g-ist-ein-genozid-am-deutschen-volk-im-sinne-der-resolution-260-der-un/ (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014). 392 „Thesenpapier gegen die Islamisierung“, in: Politically Incorrect vom 19.10.2011, http://www.pi-news.net/2011/10/thesenpapier-gegen-die-islamisie rung/ (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014). Stürzenberger, der nach Veröffentlichung dieses Artikels wegen Volksverhetzung angezeigt wurde, hat den Text später überarbeitet und die zitierte Passage gelöscht.

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Von den PI-Leserinnen und -Lesern wurden diese Vorschläge überwiegend mit großer Begeisterung aufgenommen. Zugleich wiesen zahlreiche Kommentatoren Stürzenberger auf einen „Denkfehler“ in seinem Angebot an Muslime, ihrer Religion abzuschwören, hin: „Das Problem ist nur, dass der Prophet Mohamed für solche Fälle die Taqiyya erfunden hat. Die Islamisierung würde also unverdrossen weitergehen, bis es zu spät ist. Meiner Meinung nach hilft nur ein rigoroses Verbot des Islam. Die Ausweisung aller Mohamedaner. […] Und für alle Zeiten keine Mohamedaner mehr ins Land lassen. Dann würde sich das größte Problem der Menschheit, der Islam, von selbst erledigen.“393

Solche Diskussionsbeiträge verdeutlichen, dass auf islamfeindlichen Webseiten nicht nur die Möglichkeit einer gesellschaftlichen Integration von Muslimen als Muslime negiert und stattdessen ihre vollständige Exklusion propagiert werden. Die Analyse der Argumentation zeigt, dass darüber hinaus auch Menschen, die zwar über ihren Namen oder ethnische Herkunft als Muslime markiert sind, den Islam aber nicht praktizieren und/oder sich selbst also möglicherweise gar nicht als Muslimin bzw. Muslim definieren, jegliche Fähigkeit zur Assimilation abgesprochen wird (die auf islamfeindlichen Webseiten als Voraussetzung für eine Akzeptanz der Minderheit durch die Mehrheitsgesellschaft eingefordert wird). Denn qua ihres Muslim-Seins, dem sie dieser Wahrnehmung nach letztendlich nicht entrinnen können, besteht immer die Gefahr, dass die Anpassung nur äußerlich und damit vorgetäuscht sei. 4.2.6 Instrumentalisierung von Menschenrechten Eine wichtige Legitimierungsstrategie auf islamfeindlichen Webseiten stellt das Anknüpfen an egalitäre Argumentationen dar. Die antimuslimische Aversion wird mit dem Engagement für Menschenrechte und dem Schutz von Frauen oder Homosexuellen gerechtfertigt. Die Kritik an patriarchalen Strukturen und sexistischen Einstellungen unter Muslimen ist ein ständig wiederkehrendes Motiv in den Postings der Blogs. Dass solche Argumente lediglich vorgeschoben sind und mit eigenen sexistischen Einstellungen

393 Kommentar Nr. 9, in: Ebenda.

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einhergehen, dokumentieren zahlreiche frauenverachtende Kommentare. Für die Betreiber von Politically Incorrect ist es offenkundig tolerabel, wenn Frauen, deren politische Positionen attackiert werden sollen, als „Quoten-Tussis“ oder „Schlampen“ verunglimpft werden.394 Solche sexistischen Beleidigungen und Diffamierungen lassen sich auch keineswegs, wie von den PI-Machern oft behauptet, nur in den Kommentarbereichen nachweisen. Auch in redaktionell eingestellten Artikeln finden sich Schimpftiraden gegen „alternde kinderlose Emanzen“, „ihr[en] verweichlichte[n] und verweiblichte[n] männliche[n] Anhang“ und die „feministische Ideologie“, die am Aussterben der „autochthonen Deutschen“ schuld sei.395 Dieser explizite Anti-Feminismus belegt, dass in rechtspopulistischen Kontexten auf Frauenrechte offenbar nur dann zurückgegriffen wird, wenn sie sich als rhetorische Waffe zur Diskreditierung von Muslimen einsetzen lassen. Ähnliches gilt für das Thema Homophobie. Die Belange von Homosexuellen scheinen lediglich so lange von Interesse zu sein, wie sie gegenüber Musliminnen und Muslimen geltend gemacht werden. Dies illustriert zum Beispiel der PI-Bericht über eine Protestaktion von Homosexuellen vor einer Moschee in Frankreich. In dem Artikel heißt es: „Man wundert sich in Deutschland immer wieder, dass es unter Frauen und Homosexuellen nicht längst selbstverständlich ist, gegen die Islamisierung unseres Landes aktiv zu werden. Wie auch PI immer wieder berichtet, sind diese beiden Gruppen von der muslimischen Landnahme schließlich am meisten betroffen.“396

Nur drei Tage später erschien auf PI ein Artikel, der die Gleichstellungspolitik der Landesregierung in Baden-Württemberg in Hinblick auf homo-

394 Kommentar Nr. 120 und 124 zum Artikel „Wer einmal lügt...“, in: Politically Incorrect vom 4.9.2010, http://www.pi-news.net/2010/09/wer-einmal-luegt/ (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014). 395 „Desperate feminists“, in: Politically Incorrect vom 16.10.2008, http://www. pi-news.net/2008/10/desperate-feminists/ (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014). 396 „Lyon: Kiss-In gegen muslimische Homophobie“, in: Politically Incorrect vom 27.4.2011, http://www.pi-news.net/2011/04/lyon-kiss-in-gegen-muslimi sche-homophobie/ (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014).

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sexuelle Partnerschaften skandalisierte.397 Die Analyse solcher Beiträge zeigt, dass die Instrumentalisierung des Sexismus- oder auch Homophobievorwurfs gegenüber Muslimen einerseits dazu dient, antimuslimischen Rassismus zu rechtfertigen, während damit zugleich der eigene Sexismus und die eigene Homophobie ausgelagert und verschleiert werden können. 4.2.7 Mobilisierungsfunktion und Auswirkungen der islamfeindlichen Internetdiskurse Unklar ist, welche Auswirkungen der in der virtuellen Welt ausgelebte Hass gegen Musliminnen und Muslime im Alltagsleben der Internet-Nutzer hat. Nachweislich schaffen diese Weblogs ein Forum, um sich gegenseitig in der Feindseligkeit zu bestärken. Die antimuslimischen Blogs dienen aber auch der Mobilisierung für Aktivitäten jenseits des Internets. Die Webseite der rechtspopulistischen und mit PI personell vernetzten „Bürgerbewegung Pax Europa“ bietet beispielsweise „Handreichungen“ zur Verhinderung von Moscheebauvorhaben an und versucht, lokale Antimoscheebau-Initiativen zu initiieren.398 Darüber hinaus wollen die islamfeindlichen Aktivisten „Aufklärungsarbeit“ leisten durch Info-Stände in Fußgängerzonen, organisiertes Auftreten bei Veranstaltungen, Verteilen von Flugblättern und Broschüren oder durch das Sammeln von Unterschriften – wie zurzeit gegen das „Zentrum für Islam in Europa München – ZIE-M“. Gemäß dem Vorbild der Abstimmung über das Minarettverbot in der Schweiz im Jahr 2009 verfolgen sie das Ziel, den künftigen Bau von Moscheen und islamischen Einrichtungen von der Zustimmung der Mehrheitsbevölkerung abhängig zu machen und so zu verhindern.

397 Vgl. „Rot-Grün schafft Vorrang der Ehe ab“, in: Politically Incorrect vom 30.4.2011, http://www.pi-news.net/2011/04/rot-grun-schafft-vorrang-der-eheab/ (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014). 398 Vgl. „Moschee? – Nein danke! Handreichungen für Moscheebau-Verhinderer“, in: Bürgerbewegung Pax Europa, http://bpeinfo.wordpress.com/mo schee-nein-danke/ (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014).

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Abbildung 12: Screenshot der Webseite der „Bürgerbewegung Pax Europa“ vom 12.4.2009.

Quelle: http://bpeinfo.wordpress.com/moschee-nein-danke/ (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014).

Eine weitere Form der Mobilisierung zielt auf die Ausübung politischen Drucks und die Einschüchterung politischer Gegner. Diese werden an eine Art virtuellen Pranger gestellt. Besonders plastisch wird dies auf der Webseite des Projekts „Nürnberg 2.0 Deutschland“ umgesetzt, die sich als „Erfassungsstelle zur Dokumentation der systematischen und rechtswidrigen Islamisierung Deutschlands“ präsentiert. Auf der Seite werden „Steckbriefe“ über missliebige Personen aus Politik, Medien, Wissenschaft usw. angelegt, die „nach dem Muster des Nürnberger Kriegsverbrecher-Tribunals von 1945“ irgendwann einmal für ihre Mitwirkung an der „Islamisierung Deutschlands“ zur Rechenschaft gezogen werden sollen.399 Michael Mannheimer bewirbt das Projekt Nürnberg 2.0 auf seinem Blog mit einer Drohung:

399 Nürnberg 2.0 Deutschland, http://wiki.artikel20.com/index.php?n=Main.Home Page (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014).

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„Den Verantwortlichen sei gesagt: Wir werden die Namen der Verräter erfassen. Ob es sich um kleine Schreiberlinge in irgendwelchen Redaktionsstuben, um Chefredakteure, um Verlagsleitungen, um verlogene, zum Islam konvertierte Islamwissenschaftler, um Politiker oder um Parteien, Verbände und Institute handelt.“400

An anderer Stelle verbindet Mannheimer die Aufforderung zum Handeln gegen die vermeintlich bevorstehende bzw. sich bereits im Gange befindende „Islamisierung“ mit einem Aufruf zur Gewalt: „Organisiert Euch! Erhebt euch von euren Sofas! Geht auf die Straßen! Greift zu den Waffen, wenn es keine anderen Mittel gibt!“401 Dass das hier zutage tretende Weltbild im Extremfall ein hohes Radikalisierungspotenzial birgt, zeigt das Beispiel des norwegischen Attentäters Anders Behring Breivik, der die Wahl seiner Opfer – die Teilnehmenden eines sozialdemokratischen Ferienlagers im Sommer 2011 – mit einer ähnlichen „Gefahr-in-Verzug“-Rhetorik begründete. Auch im Zusammenhang mit Artikeln über politische Feinde, in denen keine unmittelbaren Drohungen artikuliert werden, sind verbale Aggressionen häufig die Folge. Auf PI und anderen islamfeindlichen Blogs werden regelmäßig die E-Mail-Adressen der als „Totengräber des Abendlandes“ Attackierten veröffentlicht, mit der impliziten Aufforderung, die Betreffenden mit E-Mails zu überfluten. Eine andere Form der Mobilisierung lässt sich in den Kommentarforen der online zugänglichen Zeitungen beobachten. Sobald dort ein Artikel zum Thema Islam erscheint, stürmen PI-Nutzer den Kommentarbereich, um das Meinungsbild der Leserinnen und Leser zu ihren Gunsten zu beeinflussen und den Eindruck entstehen zu lassen, ihre Positionen seien mehrheitsfähig. Dies ist unter anderem auch beim „Zukunftsdialog“ der Bundeskanzlerin Angela Merkel im Frühjahr 2012

400 „Leugner und Unterstützer der Islamisierung werden bald zur Verantwortung gezogen werden“, in: Michael Mannheimer Blog vom 5.9.2011, http:// michael-mannheimer.info/2011/09/05/leugner-und-unterstutzer-der-islamisie rung-werden-bald-zur-verantwortung-gezogen-werden/ (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014). 401 „Mein Aufruf zum Widerstand gegen das politische Establishment gemäß Art. 20 Abs. 4 GG“, in: Michael Mannheimer Blog vom 8.4.2011, http://michaelmannheimer.info/2011/04/09/mein-aufruf-zum-widerstand-gegen-das-politi sche-establishment-gemas-art-20-abs-4-gg/ (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014).

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der Fall gewesen, bei dem Bürgerinnen und Bürger im Internet über die aus ihrer Sicht politisch drängendsten Zukunftsfragen abstimmen konnten.402 Auf islamfeindlichen Webseiten wurde dafür geworben, in den Diskussionsforen der Internetplattform „dialog-ueber-deutschland.de“ Präsenz zu zeigen und „islamkritische“ Themen auf die Agenda zu setzen, um so die Islam-Diskurse im Sinne des von ihnen gepflegten Feindbildes zu dominieren. Abgesehen von der Mobilisierungsfunktion islamfeindlicher Webseiten stellt sich die Frage nach den diskursiven Auswirkungen der dort vorherrschenden antimuslimischen Argumentationsmuster. Die Auswertung und der Vergleich des islamfeindlichen Internetdiskurses mit öffentlichen Islam-Diskursen über einen längeren Zeitraum haben gezeigt, dass einige Elemente, die sonst überwiegend in Spezialdiskursen im Internet auszumachen waren, mittlerweile auch in etablierten politischen und medialen Diskursen nachzuweisen sind. Dies lässt sich beispielsweise für den Täuschungstopos Taqiyya beobachten. Der stellvertretende Vorsitzende der hessischen CDU-Landtagsfraktion und schulpolitische Sprecher HansJürgen Irmer begründete in der Diskussion um die Einführung von islamischem Religionsunterricht 2012 seine Ablehnung von muslimischen Verbänden als Partner für einen solchen Unterricht beispielsweise mit dem Taqiyya-Vorwurf. Ihnen sei, so Irmer, nicht zu trauen, denn zum „Wesen“ des Islams gehöre die bewusste Täuschung Andersgläubiger.403 Der Rückgriff eines Politikers einer demokratischen Volkspartei auf eine solche Argumentationsfigur popularisiert ein ideologisches Versatzstück aus islamfeindlichen Narrativen, die auf rechtspopulistischen Webseiten wie Politically Incorrect propagiert werden, und verleiht diesem Legitimität. Auch die Thesen des ehemaligen Berliner Finanzsenators Thilo Sarrazin, der vor einer Gefährdung des kulturellen und zivilisatorischen Gleichgewichts in Europa durch „die enorme Fruchtbarkeit der muslimischen Migranten“

402 Vgl. „Offene Diskussion über den Islam“, https://www.dialog-ueber-deutsch land.de/DE/20-Vorschlaege/10-WieLeben/Einzelansicht/vorschlaege_einzelans icht_node.html?cms_idIdea=309 (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014). Der Vorschlag „Offene Diskussion über den Islam“ war mit über 14 000 Kommentaren der mit Abstand meistkommentierte Vorschlag. 403 Vgl. Interview mit Hans-Jürgen Irmer im Hessischen Rundfunk vom 3.8.2012.

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warnt,404 weisen Überschneidungen mit dem antimuslimischen Rassismus und den Verschwörungstheorien auf, die im World Wide Web Verbreitung finden. Sarrazins Ausführungen wurden wiederum rege auf islamfeindlichen Internetseiten rezipiert und dort als Bestätigung des eigenen Weltbildes aufgenommen. Solche Beispiele deuten auf die Wechselwirkung hin, die zwischen den etablierten öffentlichen Diskursen und dem Internet als einer Art zweiten Öffentlichkeit besteht.

404 Sarrazin, Deutschland schafft sich ab, S. 267.

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4.3 D IE R EZEPTION DES M ORDES AN M ARWA EL -S HERBINI AUF ISLAMFEINDLICHEN W EBSEITEN UND IN O NLINE -K OMMENTARFOREN VON Z EITUNGEN Am 1. Juli 2009 wurde Marwa el-Sherbini im Dresdner Landgericht während einer Gerichtsverhandlung, bei der sie als Zeugin vorgeladen war, niedergestochen.405 Der Mörder der jungen Frau hatte sein Opfer, das ein Kopftuch trug, vor der Tat als „Islamistin“ und „Terroristin“ beschimpft. Dennoch wurde das Verbrechen zunächst lediglich als tragischer Mord im Gerichtssaal bezeichnet und die antimuslimische Dimension von den etablierten Medien und der Politik nicht benannt. Als sich der islamfeindliche Hintergrund der Tat schließlich auch zum Gegenstand einer öffentlichen Debatte entwickelte, wurde die Berichterstattung rund um den Mordfall auf antimuslimischen Webseiten und in den Online-Kommentarforen von Zeitungen ausführlich rezipiert.406 4.3.1 Täter-Opfer-Umkehr Der Weblog „Politically Incorrect“ griff den Mord an Marwa el-Sherbini erstmalig am 8. Juli 2009 ausführlich unter dem Titel „Gerichtsmord politisch instrumentalisiert“ auf.407 Die Islamfeindlichkeit, die im Zusammen-

405 Marwa el-Sherbini war an diesem Tag als Zeugin geladen, um gegen ihren späteren Mörder auszusagen, der sie bei einem Streit auf dem Spielplatz als „Islamistin“ und Terroristin“ beschimpft hatte. Alex W. wurde für den Mord an el-Sherbini am 11.11.2009 zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. 406 Folgende Weblogs/Internetforen wurden für dieses Kapitel auf ihre Rezeption des Mordfalls hin analysiert: Die Achse des Guten, Fakten – Fiktionen, Pax Europa Blog, Politically Incorrect sowie die Diskussionsforen der Zeitungen „DIE WELT“, „die tageszeitung“ und „Der Tagesspiegel“. 407 Zuvor war am 5.7.2009 bereits eine kurze Meldung unter dem Titel „Zentralräte setzen gemeinsames Zeichen“ erschienen. Darin wurde über den Kondolenzbesuch der Generalsekretäre des Zentralrats der Muslime und des Zentralrats der Juden in Deutschland bei dem Witwer von Marwa el-Sherbini berich-

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hang mit der Tat von islamischen Verbänden und einigen Journalistinnen und Journalisten thematisiert wurde, erregte die Aufmerksamkeit der PI-Redaktion: „Schuld an dem tragischen Ereignis sind nicht etwa die Linken, die durch ausufernden Persönlichkeitsschutz von Tätern es überhaupt erst ermöglichten, dass Messer in den Gerichtssaal mitgeschleppt werden können, sondern eine angeblich um sich greifende Islamfeindlichkeit der sich in Wahrheit ständig unterwerfenden Gesellschaft.“408

Dem Bild der sich angeblich „ständig unterwerfenden Gesellschaft“ liegt die Vorstellung zugrunde, Muslime besäßen eine unheimliche Machtfülle, die es ihnen erlaube, die Meinungsführerinnen und -führer der Gesellschaft in Politik und Medien zu manipulieren. Deutlich wird dieses Verschwörungsdenken auch in folgendem Kommentar, der sich, zusammen mit 170 weiteren, unter dem Artikel findet: „Die faschistischen Mohammedaner und die 68er haben sich zusammengetan, um uns Deutsche abzuschaffen, das wird mehr und mehr für mich zur Gewissheit.“409 Und im Kommentarforum zu einem Artikel der Zeitung „DIE WELT“, der Schmerzensgeldforderungen der Familie von Marwa el-Sherbini an den Freistaat Sachsen thematisiert, wird von einem Nutzer die Frage aufgeworfen: „Wie viel Geld bekommen wir denn für die vielen verprügelten und gemobbten Deutschen?“410 Die reflexartige Täter-Opfer-Umkehr bildet ein Leitmotiv in der Rezeption des Mordes an Marwa el-Sherbini auf islamfeindlichen Internetseiten und in den Online-Kommentarforen der Zeitungen. Dabei dominiert die

tet. Vgl. http://www.pi-news.net/2009/07/zentralraete-setzen-gemeinsames-zei chen/ (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014). 408 „Gerichtsmord politisch instrumentalisiert“, in: Politically Incorrect vom 8.7.2009, http://www.pi-news.net/2009/07/gerichtsmord-politisch-instrumenta lisiert/ (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014). 409 Kommentar Nr. 8, in: Ebenda. 410 Kommentarforum zum Artikel „Marwa El-Sherbinis Familie will Schmerzensgeld“, http://www.welt.de/vermischtes/article5016868/Marwa-El-Sherbin is-Familie-will-Schmerzensgeld.html?page=5#article_readcomments aufgerufen am 14.12.2009).

(zuletzt

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Vorstellung, die deutsche Mehrheitsgesellschaft werde in Wirklichkeit durch die muslimische Minderheit bedroht. Häufig wird der Mord zunächst verurteilt, um ihn im darauffolgenden Satz gegen andere Gewalttaten aufzurechnen und zu relativieren: „Ein ungeheuerliches Verbrechen, keine Frage. Der Täter verdient, falls er voll schuldfähig sein sollte, lebenslänglich. Jeden Tag werden auch ‚Scheißdeutsche‘ Opfer muslimischer Rassisten. Ich hoffe, dass auch diese Täter künftig mit härteren Strafen rechnen müssen und nicht mehr (wie bisher nicht selten) mit Bewährung davonkommen, um wenige Tage später den Nächsten zum Krüppel zu schlagen.“411

Andere zeigen ihre Verachtung für Musliminnen und Muslime auch angesichts des Mordfalls unverhohlen. So kommentiert ein Nutzer auf PI: „Ich will das nicht herunterspielen. Man tötet keine Menschen. Er [der Mörder] hat vollkommen überreagiert, nicht zu entschuldigen. Aber ich habe keinen Bock auf dieses ewige Opfergetue dieser ‚Menschen‘.“412 Das Töten von Menschen sei zwar als illegitim anzusehen – nur seien Muslime nun mal keine richtigen Menschen, weshalb er das Wort in Anführungszeichen setzt. Mit der Formulierung, der Täter habe nur „überreagiert“, als er Marwa el-Sherbini im Gerichtssaal niederstach, wird suggeriert, es hätte auch eine angemessene Reaktion geben können – doch worauf? Implizit wird eine Provokation durch das Opfer vorausgesetzt und ihm damit eine Mitschuld an seinem gewaltsamen Tod zugeschrieben. Worin eine solche „Provokation“ liegen könnte, verdeutlicht der Kommentar eines anderen Nutzers zu einem weiteren Artikel, der am Tag des Urteilsspruchs gegen Alex W. erschien: „Zu dem Dresdner Fall kann ich nur sagen, auch ich finde es eine Provokation, wenn hier Frauen mit Kopftüchern auftauchen.“413 Es ist also bereits die bloße Sichtbarkeit als Kopftuch tragende Muslimin, die als Regelverstoß gedeutet wird.

411 Ebenda. 412 Kommentar Nr. 35 zum Artikel „Gerichtsmord politisch instrumentalisiert“, in: Politically Incorrect vom 8.7.2009 (zuletzt aufgerufen am 14.12.2009). 413 Kommentar Nr. 83 zum Artikel „Jetzt sind schon die Juden Schuld an Marwas Tod“, in: Politically Incorrect vom 11.11.2009, http://www.pi-news.net/2009/ 11/jetzt-sind-schon-die-juden-schuld-an-marwas-tod/ (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014).

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Für andere Nutzer ergibt sich aus der muslimischen Identität des Opfers die Gewissheit, dass in der Auseinandersetzung mit dem Angeklagten ein Fehlverhalten von Marwa el-Sherbini habe vorliegen müssen: „Ich würde ja beinah vermuten, dass die 32-jährige Anderekulturfrau nicht unbedingt auf die höflichste Art um den Platz auf der Schaukel gebeten hat“,414 so ein Kommentar im Forum der Zeitung „DIE WELT“. Und auch auf PI meint eine Nutzerin zu wissen, dass „gerade muslimische Frauen Deutschen gegenüber […] mit einem sonderbar barschen, herrischen Gestus auf[treten]“,415 weshalb sie die offizielle Version des Tathergangs infrage stellt. Damit artikuliert sie eine auf PI häufig geäußerte Unterstellung, die auf die Religionszugehörigkeit der Ermordeten rekurriert. So fragt ein anderer Nutzer: „Welche Zeugen hat sie gehabt? Heute braucht ja nur ein Moslem – Muslima Rassismus schreien, glaubt dir kein autochthoner Richter mehr, weil ja das Wort einer Kopftuchtante mehr gilt, wie das eines Einheimischen. Dann weiter, warum war sie nicht mit dem Ersturteil zufrieden, wenn sie nicht in Berufung gegangen wäre, wäre das alles wahrscheinlich nicht passiert.“416

Deutlich wird in diesem Kommentar, wie sehr die muslimische Identität als Antagonismus zum Deutsch-Sein gedacht wird, denn eine Frau mit Kopftuch kann dieser Perspektive folgend offenbar nicht zugleich eine Deutsche sein. Darüber hinaus wird hier das Stereotyp des „beleidigten Muslims“ bemüht (das Opfer hat sich die Beleidigung entweder nur eingebildet oder hätte sie später wenigstens auf sich beruhen lassen können). Der Vorwurf, Musliminnen und Muslime neigten zum Beleidigt-Sein und reagierten per

414 Kommentarforum zum Artikel „Rassismus als Motiv für Bluttat im Gericht vermutet“, http://www.welt.de/vermischtes/article4042891/Rassismus-als-Mo tiv-fuer-Bluttat-im-Gericht-vermutet.html (zuletzt aufgerufen am 14.12.2009). 415 Kommentar Nr. 68 zum Artikel „Medien-Inszenierung beim Marwa-Prozess“, in: Politically Incorrect vom 26.10.2009, http://www.pi-news.net/2009/10/me dien-inszenierung-beim-marwa-prozess/ (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014). 416 Kommentar Nr. 223 zum Artikel „Jetzt sind schon die Juden Schuld an Marwas Tod“, in: Politically Incorrect vom 11.11.2009, http://www.pi-news. net/2009/11/jetzt-sind-schon-die-juden-schuld-an-marwas-tod/ (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014).

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se irrational auf Diskriminierung, unterstellt ihnen einen Kollektivcharakter. Der Glaube an einen solchen liegt auch einem weiteren Leitmotiv der Rezeption des Mordfalls im Internet zugrunde: die Angst vor unkontrollierten, gewaltvollen Reaktionen „der Muslime“ auf den Mord in Dresden, die sich in das Raster der Täter-Opfer-Umkehr einfügt. Dies basiert auf der stereotypen Vorstellung, Muslime seien in besonderem Maße gewaltaffin. So werden die Beileidsbekundungen der Kanzlerin in dem PI-Artikel „Deutschland auf Kriecherkurs“ als Zugeständnis an die „leicht reizbaren Vertreter der Friedensreligion“ interpretiert.417 In einem anderen Beitrag, der einen ZEIT-Artikel rezipiert, in dem die negativen Folgen des Mordes für Deutschland diskutiert werden, heißt es: „Also was wäre denn ‚das Schlimmste‘? Sprecht es doch endlich mal aus! Dass der moslemische Mob wieder mal sein wahres Gesicht zeigt, deutsche Fahnen verbrennt, Botschaften mit Steinen beschmeißt? Laut ‚Deutschland verrecke‘ brüllt? Deutsche Produkte boykottiert? Dass die deutsche Öffentlichkeit endlich aufwacht und erkennt, wen man da zu Besuch im Lande hat?“418

Das „wahre Gesicht“ rekurriert auf wesensimmanente Eigenschaften, die Musliminnen und Muslimen hier einmal mehr in rassistischer Manier zugeschrieben werden. Zudem verweist die Metapher des „Besuchers“ Muslime auf eine nicht-deutsche Identität. Ihre Kultur sei eine von außen eindringende, die wieder externalisiert werden müsse, schließlich ist Besuchern per definitionem ein lediglich temporärer Aufenthalt zu eigen. Dieser bipolaren Weltsicht zufolge stehen Muslime für das Andere und Fremde, von dem das Eigene bedroht werde. Eine Abwehrhaltung erscheint da als logische Konsequenz.

417 „Deutschland auf Kriecherkurs“, in: Politically Incorrect vom 11.7.2009, http://www.pi-news.net/2009/07/deutschland-auf-kriecherkurs/ (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014). 418 „Die Zeit über Schuld und unsere Angst“, in: Politically Incorrect vom 17.7.2009, http://www.pi-news.net/2009/07/die-zeit-ueber-schuld-und-unsereangst/ (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014).

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4.3.2 Leugnung und Relativierung des Tatmotivs Genau wie PI griff auch die rechtspopulistische „Bürgerbewegung Pax Europa“ den Mord an Marwa el-Sherbini erstmalig am 8. Juli 2009 auf. In ihrer „Stellungnahme zum demagogischen Missbrauch einer verabscheuungswürdigen Einzeltat“ folgen die Verfasser dem Muster, das auch auf PI vorherrscht: Die Tat wird zum Anlass genommen, um die weltweiten Verbrechen von Muslimen zu rekapitulieren (beginnend mit Menschenrechtsverletzungen im Iran und Pakistan und endend bei den sogenannten Ehrenmorden in Deutschland) und sie dem Mord in Dresden – der als „Einzeltat“ klassifiziert wird – gegenüberzustellen. Sie bedauern zunächst „diese zweifellos verabscheuungswürdige Tat, die nach den spärlich vorliegenden Informationen das traurige Endglied eines sich buchstäblich hochschaukelnden Spielplatzstreits zwischen muslimischen Zuwanderern und einem nichtmuslimischen Migranten ist“.419

Die Betonung, dass es sich bei allen Beteiligten um Migranten gehandelt habe, zielt darauf ab, die Tat zu einem Problem der Anderen zu machen. Zudem wird durch das sprachliche Bild des sich „hochschaukelnden Spielplatzstreits“ eine Mitschuld des späteren Opfers suggeriert. Der Mord werde „nun auf ebenso dumme wie niederträchtige Weise zum Anlass für einen perfiden Generalverdacht gegen angeblich vorhandene ‚Islamophobie‘ genommen“. Zudem seien die Motive des Täters gar nicht genau bestimmbar: „Wenn er die später Ermordete als ‚Islamistin‘ und ‚Terroristin‘ bezeichnet hat (wofür sie ihn dann vor Gericht wegen Beleidigung verklagte), so ist das zweifellos eine inakzeptable Verunglimpfung, aber das gilt auch für die üblichen aggressiven Beschimpfungen seitens muslimischer Zuwanderer gegen Einheimische wie ‚Nazi‘, ‚ungläubige Hure‘, ‚Schweinefleischfresser‘ […], für die nun auch nicht jedes Mal die Gerichte angerufen werden. Im emotionalisierten Spielplatzstreit geäußerte Beleidigungen sind auch von niedrigerer Qualität als jene Beleidigungen, die von

419 „Warnung vor perfider Hetzkampagne gegen menschenrechtliche Islamkritik“, in: Bürgerbewegung Pax Europa e.V. vom 8.7.2009, http://bpeinfo.wordpress. com/2009/07/08/warnung-vor-perfider-hetzkampagne-gegen-menschenrechtli che-islamkritik/ (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014).

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islamischen Moscheepredigern gegen die deutsche Aufnahmegesellschaft anhand vorgefertigter Reden abgesondert werden.“420

Neben der hier einmal mehr vorgenommenen Täter-Opfer-Umkehr wird in dem Artikel der Versuch unternommen, antimuslimischen Rassismus – der euphemistisch als „begründete Islamkritik“ bezeichnet wird – als quasi natürliche Reaktion „angesichts zunehmender weltweiter Selbstentlarvung der islamischen Herrschaftskultur“ zu präsentieren.421 Dass bereits die Thematisierung des islamfeindlichen Tatmotivs als Instrumentalisierung des Mordfalls verstanden wird – zumal wenn es sich um muslimische Akteure handelt, die die Tat zu Alltagserfahrungen von Musliminnen und Muslimen in Deutschland in Beziehung setzen – zeugt davon, wie sehr ihre Partizipation an gesellschaftlichen Diskursen als Provokation erachtet wird. Dieser Abwehrreflex weist auf mögliche Ursachen islam- und muslimfeindlicher Einstellungen hin: Die aktive gesellschaftliche Teilhabe von Musliminnen und Muslimen deutet einen sozialen Wandel an, der bisherige selbstverständliche Dominanzverhältnisse infrage stellt. Wenn sich muslimische Verbandsvertreter nun, wie nach dem Mordfall in Dresden, in öffentliche Debatten einbringen und Interessen artikulieren, wird dies als illegitime Forderung zurückgewiesen (vgl. Kapitel 5.3). Auch auf der „Achse des Guten“, einem konservativen Weblog prominenter Publizistinnen und Publizisten, die in ihrem Berufsleben unter anderem für „DIE WELT“ oder den „Focus“ tätig sind, findet sich dieser Abwehrreflex in der Rezeption des Mordes an Marwa el-Sherbini – wenngleich sich ihre Rhetorik deutlich von dem auf radikal-islamfeindlichen Webseiten wie PI vorherrschenden Tonfall unterscheidet. In mehreren Artikeln benutzt der Cartoonist Bernd Zeller die Berichterstattung über den Fall, um eine Instrumentalisierung anzuprangern, die er in erster Linie dem Generalsekretär des Zentralrats der Muslime, Aiman Mazyek – von Zeller als „Islamfunktionär“422 bezeichnet –, anlastet. Einer dieser Beiträge beginnt mit dem Satz: „Ich habe Verständnis für Menschen, die den Islam

420 Ebenda. 421 Ebenda. 422 „Das Mazyek-Experiment“, in: Achse des Guten vom 29.7.2009, http://www. achgut.com/dadgdx/index.php/dadgd/article/das_mazyek_experiment/ (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014).

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hassen oder sich davor ängstigen.“423 Zeller nimmt darin Bezug auf die Kolumne „Das reine deutsche Gewissen“ der Autorin Hilal Sezgin, die drei Wochen nach dem Mord in der taz erschienen war. Sezgin, die sich in dem persönlich gefärbten Text als Muslimin positioniert (sie schreibt: „Fassungslos beobachteten wir, wer auf diesen ersten offensichtlich islamfeindlichen Mord in Deutschland reagierte – und vor allem, wer schwieg.“), beklagt den „Umgang mit struktureller Ausgrenzung und gesellschaftlichen Diskriminierungsprozessen“ in Deutschland. Sie fordert, „dass man nicht patzig auf diejenigen reagiert, die eine solche Ausgrenzung beklagen, sondern dass man sich bestürzt fragt, ob die sich ausgegrenzt Fühlenden mit ihrer Wahrnehmung vielleicht Recht haben“.424 Dieses Plädoyer deutet Zeller als Kampf „um Deutungsmacht. Kritiker sollen sich die Schere in den Kopf pflanzen, um sich nicht den Mord im Gericht oder die Kreuzzüge zurechnen lassen zu müssen.“425 Zeller inszeniert auch sich an dieser Stelle als „Islamkritiker“. Dass er damit nicht Kritik meint, die sich an einen konkreten Adressaten, also an einen sozialen Akteur richtet (was „der Islam“ nicht ist), deutet sich in seinen weiteren Ausführungen an: „Ich lehne den Islam intellektuell ab. Solange der Islam das ist, worauf Hamas und Hisbollah sich berufen, was Achmadinedschad an der Macht hält, was die Terroristen leitet, weshalb sich Stadtteiltrottel als Herrenmenschen fühlen, womit Ehrenmorde gerechtfertigt werden, weswegen Vergewaltigungsopfer gesteinigt und hosentragende Frauen ausgepeitscht werden, was die Tötung Ungläubiger verlangt, dann ist nicht zu begründen, warum Angst und Abscheu nicht erlaubt sein sollen, so wie man faschistische Gewaltherrschaft und Sklavenhandel oder Neonazis verabscheut.“426

423 „Folgen mangelnden Anscheins reduzierter Islamophobie“, in: Achse des Guten vom 22.7.2009, http://www.achgut.com/dadgdx/index.php/dadgd/article/ folgen_mangelnden_anscheins_reduzierter_islamophobie/ (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014). 424 „Das reine deutsche Gewissen“, in: taz vom 22.7.2009. 425 „Folgen mangelnden Anscheins reduzierter Islamophobie“, in: Achse des Guten vom 22.7.2009, http://www.achgut.com/dadgdx/index.php/dadgd/article/ folgen_mangelnden_anscheins_reduzierter_islamophobie/ (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014). 426 Ebenda.

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Sein monolithisches Islambild, das von Negativ-Stereotypen durchzogen ist, imaginiert eine islamische Kultur, die sowohl politische Konflikte im Nahen Osten (islamistische Ideologie) als auch soziale Konflikte in Deutschland („Stadtteiltrottel“, die sich als „Herrenmenschen“ fühlen) zu erklären vermag. Entsprechend nennt Zeller den Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Ayyub Axel Köhler, und „die iranischägyptische Welt“ in einem Atemzug als Nutznießer der von ihm diagnostizierten Instrumentalisierung des Mordes an Marwa el-Sherbini.427 Dass es auch Musliminnen und Muslime waren, die von Beginn an die Instrumentalisierung des Mordfalls durch vereinzelte, insbesondere salafitisch geprägte Gruppen öffentlich kritisierten,428 blieb von den Internet-

427 „Vom Islam lernen“, in: Achse des Guten vom 12.7.2009, http://www.achgut. com/dadgdx/index.php/dadgd/article/vom_islam_lernen/ (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014). 428 Der Blogger Omar Abo-Namous warnte beispielsweise nach dem Mord in dem Beitrag „Liebe Muslime, dreht nicht durch!“ auf seinem Weblog „toomuchcookies.de“ vor Überreaktionen: „Ein Mann hat eine Frau getötet. Das ist kein Grund durchzudrehen. Von Predigern, ‚Scheichs‘ und anderen Gemeindevorstehern ist zu erwarten, dass sie angesichts des Mordes an Marwa El-Sherbini in Dresden einen klaren Verstand bewahren und eventuelle Hitzköpfe beruhigen, statt sie noch weiter anzustacheln. […] Die muslimische Gruppe um ‚einladungzumparadies.de‘ lädt nun alle ein, an einer ‚Kundgebung‘ in Berlin teilzunehmen. Gleich mehrere Videos rufen dazu auf. Mit Überschriften wie ‚Jetzt seid ihr gefragt!‘, ‚Wir zählen auf euch!‘ und einem mit Herzklopfen überlagerten Adhan [Gebetsruf] soll die Dringlichkeit des Anliegens vermittelt werden. Nur: wozu eine Kundgebung? In meinen Augen stellt sie einen Aktivismus dar, der weitab von einer positiven Lösungsfindung ist. Marwas Mörder war offensichtlich von Hass gegenüber Muslimen geprägt und – ja – das ist ein generelles Problem, was sich hier in einem Mord niederschlägt. Falsch ist es allerdings, Hass mit Hass zu erwidern und sogar auszuweiten. Das hat keiner nötig. Beruhigt euch also und arbeitet an eurer eigenen Einstellung bzw. eurem eigenen Hass anderen Menschengruppen gegenüber.“ Too

Much

Cookies

Network

vom

4.7.2009,

http://www.toomuch

cookies.net/archives/2713/liebe-muslime-dreht-nicht-durch.htm (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014). Auch die Islamische Zeitung kritisierte in dem Artikel „Abträgliche Instrumentalisierung“ vom 12.11.2009 eine Kundgebung, die am

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Nutzern und -Autoren, die sich als „Islamkritiker“ bezeichnen, unbemerkt. Dies kann allerdings nicht verwundern, da Muslime von ihnen weniger als heterogene Bevölkerungsgruppen mit unterschiedlichen Interessen denn als homogenes Kollektiv wahrgenommen werden. 4.3.3 Dehumanisierung: Musliminnen und Muslime als Hass-Objekte Inwieweit antimuslimische Webseiten wie Politically Incorrect Radikalisierungen der Nutzer Vorschub leisten, muss offen bleiben, da Untersuchungen zur Rezeption solcher Seiten nicht vorliegen. Fakt ist jedoch, dass sie eine Plattform und damit einen geistigen Nährboden bieten für den antimuslimischen Hass, den auch der Mörder von Marwa el-Sherbini als Motiv für seine Tat benannte. Die im Schutze der Anonymität vorgebrachten rassistischen Tiraden und vulgären Beschimpfungen gleichen den Äußerungen des Täters inhaltlich. Auch er hat – so die Zeitungsberichte – der muslimischen Minderheit das Lebensrecht in Deutschland abgesprochen und sie als nicht beleidigungsfähig eingestuft.429 Diese Dehumanisierung und Verachtung kommt in den Bezeichnungen, mit denen Musliminnen und Muslime auf islamfeindlichen Webseiten und zum Teil auch in Kommentarforen von Zeitungen bedacht werden, ebenfalls zum Ausdruck: „Inzuchtgesindel“, „Muselpack“ und „Schleiereule“ oder „Pinguinhirn“ (in Anlehnung an eine von dem Publizisten Ralph Giordano geprägte Formulierung, der verhüllte Musliminnen als „menschliche Pinguine“ bezeichnet hatte, die sein ästhetisches Empfinden verletzten430 ), um nur einige zu nennen. Mit der Abwertung geht auch häufig der Wunsch nach einer generellen Exklusion von Musliminnen und Muslimen einher. Dies wird in folgendem Fazit deutlich, das in einem redaktionellen Artikel (und nicht etwa im

Tag der Urteilsverkündung vor dem Dresdner Landgericht stattfand und bei der etwa 100 Muslime ein Gebet im Freien verrichteten. 429 Vgl. „Blutbad im Gerichtssaal – Polizei ermittelt wegen heimtückischen Mordes“, in: DIE WELT vom 3.7.2009; „Messerattacke in Dresdner Gericht – Mord mit islamfeindlichem Hintergrund?“, in: taz vom 6.7.2009. 430 Vgl. Interview mit Ralph Giordano im Deutschlandfunk vom 23.5.2007, http://www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/627848/ (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014).

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Kommentarbereich) im Kontext der Diskussion um den Mordfall in Dresden auf PI gezogen wird: „Warum geht Ihr nicht weg, wenn es hier so schrecklich ist? Geht, geht in die Länder Eurer Vorfahren, wo Euer Leben nicht in Gefahr ist. Wir wollen Euer Gejammer nicht mehr hören.“431 Das „Gejammer“ meint die Problematisierung des Phänomens Islamfeindlichkeit. Dass solche Stimmen keine Einzelmeinungen widerspiegeln, demonstriert der folgende Kommentar – einer von unzähligen mit dieser Stoßrichtung: „Einfach nur ekelhaft wie das Pack den Mord ausschlachtet. Wem es hier zu gefährlich ist, der kann ja zurück in die Heimat gehen. Gute Heimreise ihr Schmarotzer.“432 Auch dieses Beispiel verdeutlicht, wie die Kategorie „Muslim“ auf islamfeindlichen Webseiten ethnisiert wird und Muslime als „parasitäre“ Fremde konstruiert werden, deren Heimat nicht Deutschland sein kann. Die wiederkehrende Verharmlosung und Relativierung des Mordes an Marwa el-Sherbini deutet auf eine Billigung hin, wenngleich nur wenige dies so offen aussprechen, wie dieser Nutzer mit dem vielsagenden Namen ‚PigMohammed‘, der auf PI unverblümt bekennt: „Mir tut es überhaupt nicht leid um diese verschleierte Kopftuchschlampe. Und noch dazu ein Moslem im Bauch weniger!“433 Auf PI werden die Kommentarforen moderiert und Beiträge, die gegen die sogenannte Policy der Seite verstoßen, gelöscht. Diese Policy besagt jedoch nur, dass „Kommentare, die mit fäkalsprachlichen, blasphemischen, antisemitischen oder vulgären Ausdrücken durchsetzt sind, […] nicht akzeptiert [werden]“434 – offen rassistische Kommentare scheinen die Betreiber also nicht zu stören. Das stellt sich im Kommentarforum der Zeitung

431 „Islamkritik wie Kinderpornographie verbieten“, in: Politically Incorrect vom 4.8.2009, http://www.pi-news.net/2009/08/islamkritik-wie-kinderpornographie -verbieten/ (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014). 432 Kommentar Nr. 97 zum Artikel „Jetzt sind schon die Juden Schuld an Marwas Tod“, in: Politically Incorrect vom 11.11.2009, http://www.pi-news.net/2009/ 11/jetzt-sind-schon-die-juden-schuld-an-marwas-tod/ (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014). 433 Kommentar Nr. 324, in: Ebenda. Die Bemerkung bezieht sich auf die Tatsache, dass el-Sherbini zum Zeitpunkt ihrer Ermordung schwanger war. 434 Vgl. „Leitlinien“, in: Politically Incorrect, http://www.pi-news.net/leitlinien/ (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014).

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„DIE WELT“ theoretisch anders dar. Dort gelten Verhaltensregeln, nach denen „Beleidigungen sowie sexistische und rassistische Äußerungen jeglicher Art untersagt [sind]. Auch die Verbreitung von Inhalten, mit denen zum Hass gegen Teile der Bevölkerung aufgerufen (Volksverhetzung) […] wird, ist verboten.“435 Ähnliches gilt für die taz, die sich vorbehält, „beleidigende, rassistische oder aus ähnlichen Gründen unangemessene Beiträge nicht zu publizieren“. Dennoch werden Kommentare, die diese Kriterien erfüllen, von der Redaktion oftmals nicht entfernt bzw. trotzdem veröffentlicht, wie beispielsweise in einem Kommentar zu dem WELT-Artikel „Islamisten fordern Vergeltung für Mord im Gericht“, in dem unverhohlen Zustimmung zu der Tat geäußert und der Mörder von Marwa el-Sherbini „für das Bundesverdienstkreuz“ vorgeschlagen wird.436 Dagegen wurde folgender rechtsextreme Kommentar, der eine antimuslimische Vernichtungsfantasie artikuliert, gelöscht: „Leute es ist 5 vor 12!!! Die Züge gen Auschwitz müssen wieder rollen!“437 Als größter Unterschied zwischen den Postings auf islamfeindlichen Webseiten und den Diskussionen in Kommentarforen von Zeitungen, die online zugänglich sind, ist das breitere Spektrum der geäußerten Meinungen in Letzteren hervorzuheben. Neben dezidiert antimuslimischen Statements finden sich auch differenzierte Meinungen bis hin zu klaren Zurückweisungen rassistischer Kommentare. Eine solche Diskussion illustriert das folgende Beispiel: Als auf der Kommentarseite des „Tagesspiegels“ zum Auftakt des Prozesses gegen Alex W. ein Artikel von Andrea Dernbach unter dem Titel „Hass auf Muslime – Nicht Kopftücher und fromme Muslime sind das Problem dieses Landes, sondern der ressentiment- bis hassgeladene Blick auf sie“ erschien, antwortete der erste Kommentator:

435 „Nutzungsregeln“, abrufbar unter http://www.welt.de/personalisierung/article 723535/Nutzungsbedingungen_fuer_interaktive_Funktionen.html (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014). 436 Kommentarforum zum Artikel „Islamisten fordern Vergeltung für Mord im Gericht“, http://www.welt.de/politik/deutschland/article4069661/Islamisten-fo rdern-Vergeltung-fuer-Mord-im-Gericht.html?page=1#article_readcomments (zuletzt aufgerufen am 14.12.2009). 437 Ebenda.

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„Falsch, Frau Dernbach. Es war ein schlimmes Verbrechen in Dresden und es muss mit aller Härte bestraft werden – das ist natürlich richtig. Aber die Muslime werden hier nicht gehasst, umgekehrt lehnen viele Muslime uns als ‚Ungläubige‘ ab und nur diese Migrantengruppe hat Integrationsschwierigkeiten. Das dauerhafte Leben in einem Land bringt es auch mit sich, die Gewohnheiten in diesem Land anzunehmen. Aber viele Muslime schotten sich ab und leben in Parallelgesellschaften. Aber schuld sind immer die Anderen, nie ist der Islam schuld.“438

Der Kommentar folgt dem oben bereits beschriebenen Muster: Zuerst wird die Tat verurteilt, um im gleichen Atemzug Islam- oder Muslimfeindlichkeit als gesellschaftliches Phänomen zu leugnen und stattdessen die eigene Ablehnung des Anderen auf die Muslime zu projizieren. Anders als auf PI, wo sich die Nutzer gegenseitig bestärken und zu übertreffen versuchen, stellt der darauffolgende Kommentar die Perspektive seines Vorredners infrage: „Was sind denn die Gewohnheiten in unserem Land? Mir würde schwindeln, sollte ich sie aufzählen. Allerdings habe ich den Verdacht, dass Einwanderer in den Augen vieler Menschen solange nicht als integriert gelten, wie sie am Islam festhalten. […] Anders ausgedrückt: Wenn alle in diesem Land den Satz, es macht den Deutschen nicht weniger deutsch, wenn er Moslem ist, zehnmal hintereinander laut, deutlich, ohne Schluckbeschwerden oder andere Einschränkungen aussprechen könnten, dann wären wir nicht einen Schritt, sondern einen Sprung weiter.“439

Solche widersprechenden Positionen können auf PI und anderen antimuslimischen Webseiten kaum artikuliert werden. Sobald jemand mit seinem Kommentar von der vorherrschenden Meinung abweicht und damit den dort gepflegten Diskurs infrage stellt, wird er verdächtigt, ein Muslim zu sein, auf dessen Argumente man nicht weiter eingehen müsse.

438 Kommentarforum zum Artikel „Hass auf Muslime – Nicht Kopftücher und fromme Muslime sind das Problem dieses Landes, sondern der ressentimentbis hassgeladene Blick auf sie“, http://www.tagesspiegel.de/meinung/kommen tare/Dresden-Marwa-el-Sherbini-Islamophobie;art141,2932803 (zuletzt aufgerufen am 14.12.2009). 439 Ebenda.

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Festzuhalten bleibt, dass nicht der Mord an Marwa el-Sherbini die Gemüter auf antimuslimischen Webseiten und in den Kommentarforen so mancher Zeitungen erregte, sondern seine Skandalisierung durch Musliminnen und Muslime und einige Journalistinnen und Journalisten. Die Tat diente vielen Internetautoren und -kommentatoren lediglich als Aufhänger, um in gewohnter Weise den Ressentiments gegen die muslimische Minderheit im Land freien Lauf zu lassen.

5 Antimuslimischer Rassismus in der nicht-öffentlichen Kommunikation – Zuschriften an muslimische Verbände

Während die Akteure in den bisher behandelten Fallstudien sich in erster Linie an ihre ingroup – die deutsche Mehrheitsgesellschaft – richten und über Muslime sprechen bzw. schreiben, adressieren die Absenderinnen und Absender der Zuschriften, die im Folgenden ausgewertet werden, das Objekt der Ablehnung – die Muslime – direkt. Bei dem Quellenkorpus handelt es sich um 667 E-Mails und Briefe, die an zwei muslimische Organisationen, den Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) und die Islamische Gemeinschaft Mili Görüs (IGMG), sowie an eine säkulare Migrantenselbstorganisation, die Türkische Gemeinde in Deutschland (TGD), geschickt wurden. Für die Analyse berücksichtigt wurden dabei Zuschriften, die einen Kommentar oder Ratschläge enthalten bzw. eine Kritik oder Ablehnung formulieren – diese stellen die deutliche Mehrheit der bei diesen Organisationen eingehenden Post dar.440 Die Überlieferung der Quellen ist als fragmentarisch anzusehen, denn keine der Organisationen archiviert alle eingehenden Briefe lückenlos. Die Zuschriften, die mir zur Auswertung zur

440 Vereinzelt finden sich unter den Zuschriften auch positive bzw. unterstützende Äußerungen, so beispielsweise nach dem Mord an Marwa el-Sherbini im Sommer 2009, als einige Beileidsbekundungen eingingen. Solche Briefe fallen jedoch zahlenmäßig nicht ins Gewicht (in dem Sample von 336 Zuschriften an den ZMD finden sich von dieser Kategorie vier, in dem Sample von 92 Zuschriften an die IGMG ist es eine unterstützende E-Mail).

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Verfügung gestellt wurden,441 stammen überwiegend aus dem Zeitraum 2009 bis 2011, einige wenige Briefe aus dem Bestand des ZMD datieren auch zurück bis ins Jahr 2003. Es geht bei der Auswertung dieser Quellen folglich nicht darum, quantifizierende Aussagen über das exakte Ausmaß von Kritik, Ablehnung und Drohungen gegenüber muslimischen Verbänden zu treffen. Vielmehr sollen Argumentations- und Legitimierungsmuster offengelegt und gefragt werden, wie sich antimuslimisches Wissen, das in öffentlichen Diskursen zirkuliert, in Alltagswissen übersetzt442 und Spuren in den Zuschriften als Form der alltagsweltlichen Kommunikation hinterlässt. Ein besonderes Augenmerk liegt darüber hinaus auf der Frage, inwiefern die Zuschriften als diskriminierende Rede und damit als Akte sprachlicher Gewalt aufzufassen sind. Die Auswahl der Adressaten bildet eine gewisse Heterogenität der muslimischen bzw. als solchen wahrgenommenen Organisationen ab. Beim Zentralrat der Muslime in Deutschland handelt es sich um eine multiethnische und multikonfessionelle Dachorganisation, die etwa 300 Moscheegemeinden repräsentiert – darunter vor allem arabische, aber auch türkische und iranische und damit sunnitische wie auch schiitische. Der ZMD zählt zu den bekanntesten muslimischen Organisationen in Deutschland, nicht zuletzt durch die Präsenz des Vorsitzenden (und ehemals langjährigen Generalsekretärs), Aiman A. Mazyek, in den Medien und bei öffentlichen Veranstaltungen. Mazyek meldete sich zum Beispiel in der Debatte nach dem Mord an Marwa el-Sherbini im Sommer 2009 mehrfach öffentlich zu Wort und forderte eine breite gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema Islamfeindlichkeit. Diese Intervention wird von vielen Absenderinnen und Absendern in den Zuschriften aus diesem Zeitraum als Schreibanlass genannt. Ähnliches gilt für die Zuschriften an die TGD, den größten Dachverband türkischstämmiger Migrantinnen und Migranten in Deutschland, die in großer Zahl persönlich an deren medial ebenfalls sehr präsenten damaligen Bundesvorsitzenden Kenan Kolat adressiert sind. Kolat griff in die Debatte um das Buch „Deutschland schafft sich ab“ ein

441 An dieser Stelle möchte ich mich bei Aiman A. Mazyek, Engin Karahan und Kenan Kolat für ihre Unterstützung bedanken. 442 Vgl. Keller, Wissenssoziologische Diskursanalyse, S. 266 f.

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und warf dem Autor Thilo Sarrazin Rassismus vor –443 auch das eine öffentliche Intervention, die viele Absender im Herbst 2010 zu ihren E-Mails und Briefen veranlasst hat. Die TGD nahm zwar an der vom damaligen Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble ins Leben gerufenen Deutschen Islam Konferenz teil, es handelt sich aber, anders als beim ZMD und der IGMG, um keine religiöse Organisation. Bei der Deutschen Islam Konferenz waren in ihrer ersten Phase (2006-2009) auch der ZMD und der Islamrat vertreten, zu dessen größtem Mitgliedsverband die IGMG gehört. Nach der DITIB, der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion, ist die IGMG der zweitgrößte sunnitische Verband in Deutschland, die Mitglieder sind türkeistämmig. Die IGMG ist politisch umstritten und wird vom Verfassungsschutz als „legalistisch islamistisch“ eingestuft und beobachtet.444 Von Wissenschaftlern, wie dem Ethnologen Werner Schiffauer,

443 Vgl. „Rassismus-Vorwurf. Türkische Gemeinde verlangt Abberufung Sarrazins“, in: DIE WELT online vom 28.8.2010, http://www.welt.de/politik/deut schland/article9246097/Tuerkische-Gemeinde-verlangt-Abberufung-Sarrazins. html?wtmc=RSS.Politik.Deutschland (zuletzt eingesehen am 1.6.2014). 444 Der Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen beispielsweise definiert den legalistischen Islamismus folgendermaßen: „Der zahlenmäßig bei weitem größte Teil der Anhänger islamistischer Organisationen ist weder militant noch befürwortet er die Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung der eigenen Ziele. Terroranschläge islamistischer Terroristen werden von den Vertretern dieser Organisationen öffentlich scharf verurteilt. Andererseits wird bei der Distanzierung von Gewaltaktionen, die von islamistischen Gruppen verübt werden, oft im gleichen Atemzug auch die von westlichen Staaten ausgeübte Gewalt im Kampf gegen den internationalen Terrorismus angeprangert. Mit der kritischen Haltung gegenüber der Gewalt von beiden Seiten stehen diese Organisationen in unserer Gesellschaft keineswegs allein da. Sie kann aber auch als unterschwellige Schuldzuweisung an westliche Staaten gedeutet werden. Das Ziel, die eigenen Vorstellungen vom Islam politisch umzusetzen, wird mit legalen Mitteln innerhalb der bestehenden Rechtsordnung verfolgt. Um die Akzeptanz zunächst möglichst vieler Muslime in Deutschland zu erlangen, nimmt man sich der Migranten an, bietet Hilfestellungen da, wo konkrete Schwierigkeiten die Menschen belasten, betreibt eine zum Teil von deutschen Stellen anerkannte Jugendarbeit und bietet ein breit gefächertes Bildungsangebot an. Gleichzeitig sucht man den Kontakt zu und das Gespräch mit den Kirchen und

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der sich seit vielen Jahren mit der IGMG beschäftigt, wird diese politische Einordnung kritisiert und auf einen generationenbedingten Wandel innerhalb der Organisation hingewiesen.445 Auch die Verfassungsschutzämter bewerten die IGMG in den einzelnen Bundesländern inzwischen unterschiedlich und stellen die Beobachtung zum Teil wieder ein.446 Für die Auswertung der Zuschriften ist an dieser Stelle jedoch lediglich von Bedeutung, dass ein breites Spektrum an Organisationen einbezogen wurde, die in der Öffentlichkeit und im politischen Diskurs sehr unterschiedlich bewertet werden. Das Analyseergebnis zeigt jedoch, dass diese Positionierungen im Diskurs keine Auswirkungen auf die Vehemenz oder inhaltliche Begründung der Ablehnung in den Zuschriften haben.447 Die Adressaten symbolisieren für die Absenderinnen und Absender vielmehr unabhängig von ihrer Heterogenität „den Muslim“ als solchen. Warum stellen die Zuschriften eine interessante Quelle für die Analyse des antimuslimischen Rassismus dar? Ähnliche Studien wurden in Deutsch-

anderen Religionsgemeinschaften, Verbänden und Parteien und beteuert gebetsmühlenhaft, fest auf dem Boden der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu stehen. Auf der anderen Seite haben diese Organisationen sich nach wie vor nicht von den antidemokratischen, totalitären und antisemitischen Programmatiken ihrer Vordenker gelöst. Sie vertreten trotz ihres moderaten Auftretens eine gegen die westliche Gesellschaft und ihre politischen Werte gerichtete Ideologie, oder bieten dieser als Organisation eine Plattform für ihre Verbreitung.“ http://www.mik.nrw.de/verfassungsschutz/islamismus/ legalistische-organisationen.html (zuletzt aufgerufen am 1.6.2014). 445 Vgl. Werner Schiffauer, Nach dem Islamismus. Eine Ethnographie der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs, Frankfurt am Main 2010. 446 So z.B. in Hamburg. Der Leiter des dortigen Verfassungsschutzes, Manfred Murck, gelangte im April 2014 zu folgender Einschätzung: „Wir sehen keine verfassungsfeindlichen Aktivitäten mehr, haben deshalb die Beobachtung heruntergefahren, für die wir auch kaum noch eine Basis hatten.“ „Islamische Gemeinschaft Milli Görüs ist nicht verfassungsfeindlich“, in: Hamburger Abendblatt vom 16.4.2014. 447 Die einzige Auffälligkeit in den Zuschriften an die IGMG ist, dass diese vergleichsweise kürzer ausfallen, was vermutlich damit zusammenhängt, dass auf der Webseite des Verbands eine Eingabemaske für Zuschriften zur Verfügung steht.

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land bislang im Rahmen der Antisemitismusforschung durchgeführt.448 Für Wolfgang Benz, der als erster Zuschriften an den Zentralrat der Juden in Deutschland analysiert hat, besteht der Wert solcher Quellen in der Alltagsdimension ausgrenzenden Denkens, das sich darin offenbart und sich unterhalb der Schwelle von strafbaren Handlungen (wie tätlichen Übergriffen oder auch der justiziablen Beleidigung) bewegt.449 Monika SchwarzFriesel, die in einem mehrjährigen Forschungsprojekt mit ihrem Team ein umfangreiches Korpus von etwa 14 000 Briefen und E-Mails an den Zentralrat der Juden in Deutschland und die Israelische Botschaft ausgewertet hat,450 sieht in den Zuschriften „eine echte Dokumentation natürlicher, unbeobachteter und weitgehend spontaner Kommunikation“,451 die deshalb einen deutlichen Vorteil gegenüber quantitativen Meinungserhebungen besitze: „Es handelt sich bei den Zuschriften um selbstmotivierte Äußerungen und damit Versprachlichungen eigens gebildeter Bewusstseinsinhalte und nicht um Antworten auf vorformulierte Fragen, welche bestimmte Inhalte fokussieren oder auf einzelne Aspekte einschränken. […] Auch entfallen eventuell unerwünschte Effekte, die bei Befragungen als reaktive Methode auftreten, wie z.B. Tendenzen der sozialen Erwünschtheit.“452

Wie selbstmotiviert Zuschriften an Repräsentanten von Minderheiten im Einzelnen sind oder ob es auch Hinweise auf Mobilisierung durch Dritte (zum Beispiel Internetportale) gibt, wird bei der Analyse noch zu fragen sein. Hinweise darauf kann die Nennung des Schreibanlasses liefern oder

448 Vgl. Wolfgang Benz, Was ist Antisemitismus, München 2004; Monika Schwarz-Friesel/Jehuda Reinharz, Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert, Berlin/Boston 2013. 449 Vgl. Benz, Was ist Antisemitismus, S. 7. 450 Dabei handelt es sich um eine korpuslinguistische Untersuchung, die – anders als qualitative Diskursanalysen – auf quantifizierbare Ergebnisse zielt. 451 Monika Schwarz-Friesel, „Ich habe gar nichts gegen Juden!“ Der „legitime“ Antisemitismus der Mitte, in: Dies./Evyatar Friesel/Jehuda Reinharz (Hrsg.), Aktueller Antisemitismus – ein Phänomen der Mitte, Berlin/Boston 2010, S. 28. 452 Schwarz-Friesel/Reinharz, Die Sprache der Judenfeindschaft, S. 12.

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aber auch Verlinkungen zu einschlägigen Internetseiten in den E-Mails. In jedem Falle stellen „sprachliche Äußerungen in Form einer adressierten Zuschrift Handlungen“ dar,453 die gewaltvoll wirken können. In gewisser Weise setzen die Absenderinnen und Absender also Diskriminierungsabsichten, wie sie im Internet auf Webseiten wie Politically Incorrect artikuliert werden (vgl. Kapitel 4.2), in die Tat um.

5.1 G EWALT DURCH S PRACHE UND VERBALE D ISKRIMINIERUNG : S PRACHPHILOSOPHISCHE UND RASSISMUSTHEORETISCHE Ü BERLEGUNGEN Die Sprachwissenschaft hat zur Erfassung von Taten mittels Worten die Theorie der Sprechakte entwickelt, die die Dichotomie von Handeln und Sprechen auflöst.454 Als Sprechakt wird, kurz gefasst, ein Sprechen eingeordnet, das zugleich die Handlung, die es beschreibt, auch vollzieht, wie beispielsweise ein Versprechen oder eine Kündigung. Auf diesem Verständnis von Sprachhandlungen aufbauend hat sich die Philosophin Sybille Krämer mit dem Verhältnis von Sprache und Gewalt und dem Phänomen der gewaltvollen Sprachhandlungen beschäftigt: „Wir können mit Worten Gewalt beschreiben, sie mimetisch und rituell darstellen und zu Gewalt auch auffordern – doch diese Formen des Sprachgebrauches sind hier nicht gemeint. Vielmehr geht es in einem engeren – einem performativen – Sinne um ein Sprechen, das in seinem Vollzug zugleich eine Form der Gewaltausübung ist. […] In den Termini der Sprechakttheorie ausgedrückt: Das Gewalttätige liegt in der illokutionären Rolle, die eine Äußerung erfüllt. Unsere Sprache hält eine Fülle von Verben bereit, mit denen diese illokutionäre Rolle verbaler Aggression beschrieben werden kann: wir kränken, verleumden, diskriminieren, beschimpfen, hänseln, ver-

453 Ebenda. 454 Vgl. John L. Austen, How to do things with words, Oxford 1962; John Searle, Speech Acts. An Essay in the Philosophy of Language, Cambridge 1969.

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spotten, demütigen, missachten, diskreditieren, tadeln, stellen bloß, verfluchen, hetzen auf, beleidigen [Hervorhebung im Original].“455

Die verletzende Rede könne dabei, so Krämer, ein weites Spektrum von einer „taktlosen Äußerung bis zur aggressiven Feindseligkeit der demütigenden Rede“ umfassen.456 Sprachliche Handlungen als Akte der Gewalt einzuordnen, ist nicht unumstritten, wie Steffen Kitty Herrmann und Hannes Kuch darlegen. Enge Definitionen des Gewaltbegriffs gehen davon aus, „dass sowohl das Medium wie auch der Effekt der Gewalt körperlich ist. Mit ‚Gewalt‘ verbindet die Gewaltforschung meist eine physische Einwirkung auf einen anderen Körper. […] Da sprachliche Gewalt ohne die körperliche Verletzung ihrer Adressatin auskommt, wird sie in dieser Perspektive oftmals nicht als solche anerkannt.“457

Dieser Gewaltdefinition widersprechen Herrmann und Kuch und weisen auf die Performanz sprachlicher Gewalt hin, da „symbolische Handlungen wie das performative Sprechen […] in die Welt eingreifen und etwas mit einer Person tun [können]. […] Zwar macht es einen elementaren Unterschied, ob Gewalt brutal-blutig oder verbal-demütigend ist, doch sprachliche Gewalt ist alles andere als harmlos: Der Intensität des peinigenden physischen Schmerzes etwa steht die zehrende Qual durch eine erlittene Demütigung gegenüber […] und den klaffenden Wunden die langfristige Stigmatisierung.“458

Bei der Beantwortung der Frage, warum Personen durch Worte verletzbar sind, führt Sybille Krämer das Konzept der „Doppelkörperlichkeit“ an. Demnach verfügen Menschen über einen „zweifachen Körper“, der gleich-

455 Sybille Krämer, Sprache als Gewalt oder: Warum verletzen Worte?, in: Dies./Steffen Kitty Herrmann/Hannes Kuch (Hrsg.), Verletzende Worte. Die Grammatik sprachlicher Missachtung, Bielefeld 2007, S. 35. 456 Ebenda, S. 36. 457 Steffen Kitty Herrmann/Hannes Kuch, Verletzende Worte. Eine Einleitung, in: Dies./Sybille Krämer (Hrsg.), Verletzende Worte. Die Grammatik sprachlicher Missachtung, Bielefeld 2007, S. 11. 458 Herrmann/Kuch, Verletzende Worte, S. 12.

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ermaßen physisch-leiblich wie auch sozial-symbolisch konstituiert sei. Sie seien deshalb auch in zweifacher Hinsicht angreifbar und „können sowohl leiblich wie auch symbolisch verdrängt, verrückt und vertrieben werden“.459 Letztere Gewaltform zielt also auf die soziale Identität des Individuums ab. Krämer macht darauf aufmerksam, dass es – jenseits von Beschimpfungen oder bestimmten Ausdrücken – nicht die Worte an sich sind, die verletzend wirken, sondern dass es immer auf den spezifischen Kontext ankomme, in dem diese geäußert werden: „Erst die Pragmatik einer Äußerung, wer also zu wem unter welchen Umständen was und vor allem: wie gesagt hat, kann die Verletzungsdimension einer Rede enthüllen [Hervorhebung im Original].“460 An dieser Stelle weist Krämer auf eine Analyseebene hin, die in Hinblick auf die besondere Verletzbarkeit gesellschaftlicher Minoritäten relevant ist – nämlich auf die Frage nach den gesellschaftlichen Machtverhältnissen und der Hegemonie ausgrenzender Diskurse. Auch Herrmann und Kuch betonen, dass „sprachliche Gewalt […] sich nicht einfach durch ihre Semantik [entfaltet], sondern ebenso durch die Kraft, die mit ihr kommuniziert wird. Es ist beispielsweise entscheidend, ob ich jemanden als Individuum missachte oder im Namen einer gesellschaftlich legitimierten Instanz. Insofern sich das Sprechen also in machtvolle Diskurse einzuschreiben vermag, ist es nicht allein Träger von Bedeutung, sondern vielmehr in der Lage, die ganze hierarchische Kraft einer Gesellschaft und ihrer Geschichte aufzurufen und gegen seine Adressatin zu wenden.“461

Für die Auswertung der Zuschriften leitet sich daraus die Frage ab, inwiefern die Absenderinnen und Absender darin auf einen hegemonialen Diskurs Bezug nehmen, indem sie Argumentationsmuster aufgreifen, die auch innerhalb der politischen Elite (Beispiel Sarrazin) sagbar sind und damit als legitime Position erscheinen. Der Aspekt der gesellschaftlichen Machtverhältnisse zwischen einzelnen Bevölkerungsgruppen ist auch für die seit den späten 1970er-Jahren in den USA entwickelte Critical Race Theory (CRT) in ihrer Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Hate Speech – der Hassrede – zentral. Die

459 Krämer, Sprache als Gewalt, S. 36 f. 460 Ebenda, S. 35. 461 Herrmann/Kuch, Verletzende Worte, S. 12.

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Einordnung als Hassrede wird dabei weniger von den Motiven der Sprecherinnen und Sprecher als vielmehr vom Effekt der Sprachhandlung her gedacht.462 Für die CRT, die aus den Rechtswissenschaften entstanden ist, geht es darum auszuloten, inwiefern bestimmte Sprachhandlungen als diskriminierend eingeordnet werden können und ab wann sie juristisch nicht mehr von dem Recht auf freie Meinungsäußerung (wie es in den USA im ersten Verfassungszusatz verankert ist) gedeckt sind bzw. sein sollten.463 Der Fokus liegt dabei auf der Beschäftigung mit der rassistisch motivierten Hassrede, die die CRT-Anhänger gegenüber anderen Formen beleidigender Rede abgrenzen. Richard Delgado und Jean Stefancic datieren den Beginn der juristischen Auseinandersetzung mit diesem Phänomen in den USA auf das Jahr 1977, als ein Gericht zum ersten Mal den spezifischen Gehalt „rassischer“ Beschimpfungen und Beleidigungen anerkannte.464 Für Delgado und Stefancic wiegen rassistische Beleidigungen unter anderem deshalb ungleich schwerer als zum Beispiel solche, die auf das Gewicht oder die Altersgruppe einer Person abzielen, da „racial insults and name-calling evoke and call up a specific history – including violence, lynching, Indian Wars, and signs barring Latinos and blacks – that ones based on fatness or clumsiness do not. The recipient of a racial epithet is likely to know of this history and recognize the cultural weight – and maybe the veiled threat – behind it.“465

Auch für Mari J. Matsuda ist die historisch gewachsene gesellschaftliche Machtasymmetrie zwischen Gruppen ein konstitutives Element der rassistischen Hassrede: „Racist speech is particularly harmful because it is a mechanism of subordination, reinforcing a historical vertical relationship.“466 Sie plädiert deshalb dafür, als eine der Voraussetzungen für die Strafbarkeit von Hate Speech das Kriterium anzusetzen, dass diese sich gegen eine his-

462 Vgl. Jeremy Waldron, The Harm in Hate Speech, Cambridge 2012, S. 35. 463 Vgl. Mari J. Matsuda u.a., Words That Wound. Critical Race Theory, Assaultive Speech, and the First Amendment, Boulder/Oxford 1993. 464 Vgl. Richard Delgado/Jean Stefancic, Understanding words that wound, Boulder/Oxford 2004, S. 1. 465 Ebenda, S. 16. 466 Matsuda u.a., Words That Wound, S. 36.

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torisch unterdrückte Gruppe wendet.467 Aus Sicht der CRT wird der Adressat oder die Adressatin von Hate Speech durch den Sprechakt also auf eine gesellschaftlich untergeordnete Position verwiesen, die die Gruppe, der er oder sie angehört, in der Vergangenheit eingenommen hat oder auch immer noch einnimmt. Solche Überlegungen veranschaulichen, dass auch für die CRT die Verletzungsmacht der diskriminierenden Rede sich nicht allein aus dem Gesagten ergibt, sondern sich erst aus dem spezifischen Kontext, in dem sie artikuliert wird – wer also zu wem unter welchen Bedingungen spricht – erschließt. Für die Sozialpsychologen Carl-Friedrich Graumann und Margret Wintermantel zielen diskriminierende Sprechakte ebenfalls in erster Linie auf die Aufrechterhaltung von Machtbeziehungen zwischen In- und Outgroup bzw. Mehrheits- und Minderheitengruppe ab.468 Da in westlichen Demokratien die „mit dem Gefühl der eigenen (Gruppen-)Überlegenheit zusammenhängenden Individual- oder Gruppeninteressen“ mit dem Glauben an liberale Gleichheitsideale kollidierten und deshalb als sozial unerwünscht gelten, seien insbesondere subtile Formen der Diskriminierung verbreitet.469 Davon ausgehend machen Graumann und Wintermantel darauf aufmerksam, „dass nicht nur denjenigen Äußerungen eine diskriminierende Funktion zugeschrieben werden kann, die auf einer einfach zu entschlüsselnden Oberflächenebene negative Bewertungen enthalten“.470 Sprachliche Äußerungen könnten, je nach Kontext, verschiedene Funktionen erfüllen – weshalb es neben der Analyse des semantischen Gehalts einer Berücksichtigung weiterer Faktoren bedürfe.471 Graumann und Wintermantel unterscheiden daher zwischen explizitem und implizitem diskriminierenden Sprechen:

467 Von der Strafverfolgung explizit auszunehmen seien daher Beleidigungen gegen Weiße, da diese die gesellschaftlich dominante Gruppe in den USA darstellen. Vgl. ebenda. 468 Carl Friedrich Graumann/Margret Wintermantel, Diskriminierende Sprechakte. Ein funktionaler Ansatz, in: Steffen Kitty Herrmann/Sybille Krämer/ Hannes Kuch (Hrsg.), Verletzende Worte. Die Grammatik sprachlicher Missachtung, Bielefeld 2007, S. 148. 469 Ebenda, S. 153. 470 Ebenda, S. 164. 471 Vgl. ebenda, S. 170.

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„Bei explizitem diskriminierenden Sprechen schreibt die Annahme, die der tatsächlichen Äußerung zugrunde liegt, einer Person als Mitglied einer sozialen Gruppe oder einer Outgroup als ganzer ein negatives Prädikat zu. Das heißt, dass bei expliziter sprachlicher Diskriminierung die diskriminierende Funktion in der Regel mit der Äußerung auch dann übereinstimmt, wenn diese unabhängig von der Sprechsituation betrachtet wird. Bei implizitem diskriminierenden Sprechen dagegen kann die diskriminierende Funktion nicht verstanden werden, wenn die Umstände der Situation, die Vorannahmen und die kontextabhängigen Implikationen nicht bekannt sind.“472

Um die Erscheinungsformen und die Funktionen diskriminierender Rede, die darauf abzielt, „andere ausschließlich aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit auf sozialen Abstand zu halten oder auf eine niedrigere soziale Position zu verweisen“473 zu erfassen, haben Graumann und Wintermantel ein mehrstufiges Analyseschema entwickelt. Als wichtige Elemente identifizieren sie:474 1.

2. 3.

4. 5.

Trennen in In- und Outgroup bzw. „Wir“ und „Sie“ – Diese Unterscheidung greift dabei nicht notwendigerweise auf bestehende Gruppeneinteilungen zurück, sie ist also nicht als „natürlich“ anzusehen. Distanzieren – Hierbei wird ein semantischer (und damit sozialer) Abstand zwischen In- und Outgroup geschaffen. Akzentuieren – Die Akzentuierung vollzieht sich über die Hervorhebung von Unterschieden bei gleichzeitiger Ausblendung von Ähnlichkeiten und läuft auf eine Dichotomisierung hinaus. Abwerten – Die Herabsetzung der Anderen dient zugleich der Aufwertung der Eigengruppe. Festschreiben – Mittels der Zuschreibung von Eigenschaften werden die Anderen „dauerhaft identifizierbar gemacht“.475 Eine Person wird dann

„nicht als Individuum mit verschiedenen Seinsweisen und Handlungen, sondern als […] ein Beispiel für eine Kategorie oder als typisches Mitglied einer Outgroup [be-

472 Ebenda, S. 170 f. 473 Ebenda, S. 148. 474 Vgl. ebenda, S. 151 und 159 ff. 475 Ebenda, S. 161.

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handelt]. Eine Person wird generisch, d.h. als Vertreter ihrer ‚Gattung‘ und damit als austauschbar behandelt, wenn ihr entweder (typische) Eigenschaften zugeschrieben werden oder sie einem Typus (Stereotyp) zugeordnet wird. In beiden Fällen wird der Empfänger endgültig gekennzeichnet und festgeschrieben.“476

Die Festschreibung ist, wie es Graumann an anderer Stelle formuliert, ein wesentliches Element der diskriminierenden Rede: „When social discrimination is defined as the derogatory treatment of others ‚on categorial grounds‘, then this categorialness is achieved by fixation: by typing or stereotyping others. The economy of such fixation ‚for once and for all‘ is evident: Once typed or stereotyped we ‚know‘ who somebody is and how to treat him or her.“477

Ähnlich wie Teun van Dijk, der zwischen rassistischen Diskursen, die an ethnische Andere gerichtet sind und rassistischen Diskursen über ethnisch Andere unterscheidet,478 unterteilen auch Graumann und Wintermantel diskriminierende Sprechakte in direkte und indirekte, je nachdem, ob die diskriminierte Person an der Kommunikation beteiligt ist oder ob sich der Sprechakt auf eine abwesende Person oder Personengruppe bezieht und damit ein „Ingroup-internes ‚Sprechen über andere‘“ darstellt.479 Dabei sei indirekter diskriminierender Sprachgebrauch einfacher nachzuweisen, da für Beispiele direkten diskriminierenden Sprechens zumeist auf die Aussagen des Opfers zurückgegriffen werden müsse, es sei denn, die Sprechakte würden zufällig mitgehört oder mitgeschnitten. Anknüpfend an diese theoretischen Überlegungen, ist der Wert der Zuschriften an die muslimischen Verbände als Quelle für die Analyse direkter antimuslimisch-diskriminierender Sprechakte noch einmal hervorzuheben.

476 Ebenda, S. 151. 477 Carl Friedrich Graumann, Verbal Discrimination. A Neglected Chapter in the Social Psychology of Aggression, in: Journal for the Theory of Social Behaviour 28 (1998), H. 1, S. 51. 478 Vgl. van Dijk, Racist Discourse, S. 351. 479 Graumann/Wintermantel, Diskriminierende Sprechakte, S. 170.

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5.2 S PRECHERPOSITIONEN

UND

S CHREIBANLÄSSE

Um die Zuschriften besser einordnen zu können, sollen zunächst die Aussagen untersucht werden, die die Absenderinnen und Absender über sich selbst machen, wie sie also ihre eigene Sprecherposition beschreiben. Die meisten setzen unter die E-Mail oder den Brief ihren vollen Namen, zum Teil sogar unter Nennung ihrer Privatanschrift oder Dienstadresse. Dies deutet darauf hin, dass in Bezug auf das Geschriebene kein Unrechtsbewusstsein existiert bzw. dass in dieser Kommunikationssituation, in der die Objekte der Ablehnung direkt adressiert werden, kein sozialer Druck in Richtung Tabuisierung wirkt, der zu einem Ausweichen in die Anonymität führen würde. Einige Verfasserinnen und Verfasser thematisieren dies sogar explizit, wie in dieser an Kenan Kolat gerichteten E-Mail: „Sie zeigen sich verwundert über die mit vollem Namen unterzeichneten Mails. Gehen Sie armer Kerl tatsächlich davon aus, wir hätten Angst vor Ihnen und Ihren Glaubensbrüdern?“480 Anders verhält es sich bei den Zuschriften, die besonders drastische Drohungen und Beleidigungen enthalten; diese werden zumeist anonym verschickt. Auch die wenigen Zuschriften, die auf eine offen rechtsextreme Haltung schließen lassen, zum Beispiel durch Grußformeln wie „Sieg Heil“, gehen in der Regel anonym ein. Die überwiegende Zahl der Absenderinnen und Absender distanziert sich in ihrer Selbstdarstellung jedoch explizit vom Rechtsextremismus. Um dies zu unterstreichen, verweisen einige auf „viele Freunde und Bekannte […] aus anderen Kulturkreisen“,481 weshalb sie nicht rassistisch sein könnten, oder heben hervor, dass sie sich „seit Jahrzehnten […] für Menschenrechte engagier[en]“.482 Andere geben Auskunft über ihr Wahlverhalten und ihre politischen Präferenzen. So fügt der Absender einer E-Mail an den ZMD in seinem P.S. an: „Übrigens habe ich Links gewählt, weil ich von den rechten Parolen nichts halte!“483 Ein

480 E-Mail an die TGD vom 25.11.2010. 481 E-Mail an die TGD vom 11.10.2010. 482 E-Mail an die TGD vom 12.10.2010. 483 E-Mail an den ZMD vom 10.10.2009. Die Rechtschreibfehler, die viele Zuschriften aufweisen, wurden in den Zitaten bewusst nicht korrigiert. Sie stehen in einem auffälligen Kontrast zu der darin wiederholt vorgebrachten Forderung an Musliminnen und Muslime, richtig Deutsch zu lernen.

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Herr, der an die TGD schreibt, stellt sich als „SPD-Wähler seit über 30 Jahren“ vor,484 der Nächste hebt seine Mitgliedschaft in einem Bündnis gegen Rechtsextremismus hervor,485 und ein anderer betont: „Ich bin kein Nazi, oder sonstwas in der Richtung.“486 In solchen Distanzierungsformeln gegenüber dem politisch rechten Rand ist implizit auch das Von-sichweisen des Rassismusvorwurfs enthalten, da in Deutschland der Rassismus im öffentlichen Diskurs häufig mit Rechtsextremismus gleichgesetzt wird487 und davon auszugehen ist, dass die Absender ihre Aussagen als wohl begründete und nicht ressentimentgeleitete Meinung verstanden wissen wollen: „Das alles sind keine Vorurteile sondern Tatsachen, die mit Daten belegt werden können“,488 so ein Verfasser. Auch andere verweisen auf „zig statistische Erhebungen“ und „harte Fakten“,489 mit denen sie ihre Ausführungen zu untermauern versuchen. Viele Absenderinnen und Absender legen Wert darauf, sich als sozial nicht randständig bzw. im bürgerlichen Milieu zu verorten, wie das Beispiel eines Herrn illustriert, der mitteilt, dass er „zur sog. Elite“ gehöre.490 Andere weisen auf ihren seriösen Beruf, etwa „staatlich geprüfter Betriebswirt“, hin.491 Über die Altersstruktur der Absenderinnen und Absender lässt sich keine Aussage treffen, da die wenigsten von ihnen diesbezügliche Angaben machen. Einige bezeichnen sich als Rentner, andere wiederum nennen ihre Zugehörigkeit zu einer politischen Jugendorganisation wie den Jusos und geben damit einen Hinweis auf ihr Alter. Somit scheinen Menschen aller Altersgruppen – von jungen Erwachsenen bis zu Seniorinnen und Senioren – unter den Absendern vertreten zu sein.

484 E-Mail an die TGD vom 17.10.2010. 485 Vgl. E-Mail an den ZMD vom 8.7.2009. 486 E-Mail an den ZMD vom 4.8.2009. 487 Vgl. z.B. den 5. Bericht der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) über Deutschland, in dem es heißt: „The notion of racism is often interpreted too narrowly in Germany and is linked to organised groups.“ (S. 10). 488 E-Mail an die TGD vom 28.8.2010. 489 E-Mail an die TGD vom 11.10.2010. 490 E-Mail an den ZMD vom 4.8.2009. 491 E-Mail an die TGD vom 11.10.2010.

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Die Briefeschreiber nehmen häufig Bezug auf Medienberichte und benutzen diese als empirische Grundlage für ihr Urteil über Musliminnen und Muslime. Der explizite Verweis auf medial vermittelte Informationen verdeutlicht die Relevanz der Medien als Opinion-Leaders, insbesondere wenn persönliche Erfahrungen und die soziale Interaktion mit Minderheitenangehörigen fehlen.492 Neben Diskursereignissen, die eine große mediale Aufmerksamkeit finden und in denen Musliminnen und Muslime als Akteure vorkommen – zum Beispiel in der Debatte um den Mord an Marwa el-Sherbini – oder die die muslimische Minderheit und den Islam zum Thema haben – etwa die Sarrazin-Debatte –, dienen öffentliche Auftritte oder Aussagen muslimischer Verbandsvertreter bzw. des Bundesvorsitzenden der Türkischen Gemeinde in Deutschland häufig als Schreibanlässe. Exemplarisch sei aus der E-Mail einer Dame zitiert, die den Betreff „Herr Sarrazin“ hat und in der die Absenderin Kenan Kolat für seine Kritik an Thilo Sarrazins Thesen angreift: „Es ist schon sehr empörend, wie sie sich wieder ereifern […]. Herr Sarrazin hat ohne WENN UND ABER Recht.“493 Die Absenderinnen und Absender nehmen jedoch in den allermeisten Fällen nur kurz zu Beginn oder in der Betreffzeile Bezug auf den konkreten Anlass ihres Schreibens und gehen dann schnell dazu über, Aussagen über Muslime als ganze Bevölkerungsgruppe zu treffen. In diesem Zusammenhang ist es relevant, dass dieselbe E-Mail häufig an mehrere Verbände verschickt wird. Damit wird deutlich, dass der Adressat nicht ein spezifischer Verband ist und die formulierte Kritik oder Ablehnung nicht einer bestimmten Verbandspolitik gilt, sondern „dem Muslim“ als solchem. In den Zuschriften, deren Länge zwischen einigen Zeilen und mehreren Seiten variiert, drückt sich zudem häufig eine hohe Emotionalität aus. Diese wird entweder explizit thematisiert („Ich – genauso wie Millionen anderer, sagen wir mal schlicht ‚Nicht-Muslime‘ – weiß schon gar nicht mehr, wohin mit meinem Zorn“494 oder einfach „Ich hasse euch alle“495) oder in

492 Vgl. Myria Georgiou, Media representations of diversity. The power of the mediated image, in: Alice Bloch/John Solomos (Hrsg.), Race and Ethnicity in the 21st Century, Hampshire 2010, S. 166-185; van Dijk, Discourse and Racism, S. 152. 493 E-Mail an die TGD vom 28.8.2010. Die Hervorhebungen durch Großbuchstaben, Ausrufezeichen etc. wurden in den Zitaten beibehalten. 494 E-Mail an den ZMD vom 4.8.2009.

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dem emphatischen Gebrauch von Satzzeichen wie Ausrufe- und Fragezeichen sowie der Nutzung von fettgedruckten Buchstaben, Unterstreichungen, Großschreibung ganzer Wörter usw. zum Ausdruck gebracht. Diese Stilmittel werden vor allem eingesetzt, um den eigenen Aussagen Nachdruck zu verleihen, wie zum Beispiel in einer E-Mail, in dem der Absender das Possessivpronomen „mein“ in „MEINEM Vaterland“ in Großbuchstaben setzt und damit betont, im Gegensatz zu den muslimischen Adressaten einen Anspruch darauf zu besitzen, als „rechtmäßiger“ Deutscher angesehen zu werden.496

5.3 D OMINANTE T OPOI UND A RGUMENTATIONSSTRATEGIEN In den Zuschriften lässt sich ein begrenztes Repertoire an Topoi ausmachen. Wenngleich sich der Tonfall zum Teil erheblich unterscheidet, weisen die Argumentationsfiguren bis in die Formulierungen hinein Ähnlichkeiten auf, was darauf hindeutet, dass ein antimuslimischer „Wissensbestand“ existiert, der den Absenderinnen und Absendern als Alltagswissen zur Verfügung steht. Der Dreischritt Trennen-Distanzieren-Akzentuieren, den Carl-Friedrich Graumann und Margret Wintermantel als wichtige Elemente diskriminierender Rede definiert haben, wird unter anderem durch die scharfe Einteilung in Wir- und Sie-Gruppen vollzogen. Eine solche Rhetorik findet sich in der Mehrzahl der ausgewerteten Zuschriften. Sie tritt besonders deutlich zutage, wenn Muslime und Deutsche einander komplementär gegenübergestellt werden. Darin drückt sich eine Vermengung der Kategorien Ethnizität und Religion aus, die den Effekt der Ethnisierung der muslimischen Religionszugehörigkeit zur Folge hat, wie er auch im öffentlichen Diskurs beobachtbar ist (vgl. Kapitel 2.2 und 4.1). Diese Wahrnehmung kommt zum Beispiel in der E-Mail eines Herrn zum Ausdruck, die sowohl an die TGD als auch an den ZMD verschickt wurde und in der es heißt: „Nennen Sie mir ein Volk, welches in Deutschland so negativ auffällt wie Moslems

495 E-Mail an den ZMD vom 15.5.2009. 496 E-Mail an den ZMD vom 28.8.2010.

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[Hervorhebung von mir, Y.S.].“497 Muslime werden dabei ganz selbstverständlich zu Nicht-Deutschen erklärt – dies stellt eine fast durchgängige Wahrnehmung dar: „Warum gehen Sie nicht in Ihr Heimatland zurück? Erzählen Sie mir nicht, dass Sie auch Deutscher sind, für mich werden Sie das niemals sein“,498 so ein Herr in einer namentlich unterzeichneten E-Mail an den TGD-Vorsitzenden Kenan Kolat. Das Beharren darauf, Musliminnen und Muslime bzw. als muslimisch markierte Menschen könnten per definitionem keine Deutschen sein, deutet auf ein offenbar tief verwurzeltes völkisches, auf gemeinsamer „Abstammung“ basierendes Verständnis von Deutsch-Sein hin, das zuweilen auch explizit formuliert wird: „Selbst wenn Sie 1000 deutsche Pässe hätten, würden Ihnen nicht automatisch auch noch deutsche Gene zuwachsen! Dies schreibt Ihnen ein echter deutscher, dessen Vorfahren deutschen Blutes nachweislich seit Jahrhunderten auf deutschem Gebiet ansässig waren.“499

Auch in dem ständigen Verweis auf die Verantwortung der Muslime in Deutschland für die Situation von Nicht-Muslimen in Ländern mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit500 drückt sich eine geografische Verortung der deutschen Musliminnen und Muslime als zum Ausland zugehörig aus, die dann nicht selten in der Aufforderung, Deutschland zu verlassen, gipfelt.501 Eine weitere Strategie, den größtmöglichen Abstand zwischen der konstruierten Selbst- und Fremdgruppe herzustellen, besteht darin, besonders extreme Beispiele aus den jeweiligen Gruppen einander als repräsentativ gegenüberzustellen. Norbert Elias hat in seiner Theorie der Etablierten-Außenseiter-Beziehungen dargelegt, dass

497 E-Mail an die TGD und den ZMD vom 2.1.2011. 498 E-Mail an die TGD vom 6.1.2011. 499 E-Mail an die TGD vom 22.10.2010. 500 Vgl. z.B. E-Mail an die IGMG vom 29.1.2009, in der es heißt: „Sie sollten wenn sie hier in deutschland toleranz einfordern, auch dafür eintreten das Christen in muslischen ländern auch Ihren Glauben mit gleichen Chancen ausleben können. Es kann nicht sein das ein Christ noch nicht einmal eine Bibel in Saudi Arabien einführen darf.“ Der Verweis auf Saudi-Arabien ist umso aufschlussreicher als die IGMG ein muslimischer Verband mit Türkei-Bezug ist. 501 Vgl. z.B. E-Mail an die IGMG vom 16.1.2010.

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„eine Etabliertengruppe dazu [neigt], der Außenseitergruppe insgesamt die ‚schlechten‘ Eigenschaften der ‚schlechtesten‘ ihrer Teilgruppen, ihrer anomischen Minorität, zuzuschreiben. Und umgekehrt wird das Selbstbild der Etabliertengruppe eher durch die Minorität ihrer ‚besten‘ Mitglieder, durch ihre beispielhafteste oder ‚nomischste‘ Teilgruppe geprägt. Diese pars-pro-toto-Verzerrung in entgegengesetzter Richtung erlaubt den Etablierten, ihre Glaubensaxiome vor sich und anderen als begründet zu erweisen: sie haben immer Belege dafür parat, daß die eigene Gruppe ‚gut‘ ist und die andere ‚schlecht‘.“502

Solche spiegelbildlich angeordneten Selbst- und Fremdbilder dominieren auch die Zuschriften an Muslime bzw. muslimisch markierte Migranten. Diese werden dabei vielfach als kulturell minderwertig adressiert bei gleichzeitiger Überhöhung der Eigengruppe. So schreibt ein Absender an den ZMD: „Die moslemische Welt ist eine von Primitivlingen […] geführte und Religiös verblendete Scheinwelt […] (der Bildungsgrad in vielen Ländern geht gegen null). Die gebildeten Menschen des Westens haben es schwer, diesen ‚Abschaum‘ […] zu ertragen.“503 Ein anderer führt aus: „Ich bin deutscher Christ. Ich will mein Land weiterhin in der modernen, fortschrittlichen abendländischen Kultur eingebettet sehen – auch im Interesse meiner Nachkommen. Der intolerante, rückständige (Vorschriften von vor 1400 Jahren gelten heute noch) und menschenverachtende (Nichtgläubige laut Koran die Kehle durchschneiden, Unterdrückung von Frauen) Islam hat hier nichts zu suchen.“504

Das Konstrukt einer abendländischen Kultur wird als exklusiv christlich gedacht und mit Attributen des Fortschritts und der Zivilisation versehen. Damit werden Selbstbilder vom Christentum als „aufgeklärte Religion“ aufgerufen und mit einem seit der Kolonialzeit bestehenden Wahrnehmungsmuster des Islams als rückständige und primitive Religion kontrastiert (vgl. Kapitel 2.1). Diese Denkfigur findet sich in vielen Zuschriften, unter anderem bei einem Absender, der sich als „stolzer Westler“ bezeichnet: „Auch wenn sie intellektuell minderbegabt sind, muß ihnen auffallen,

502 Norbert Elias/John L. Scotson, Etablierte und Außenseiter, Frankfurt am Main 1993, S. 13. 503 E-Mail an den ZMD vom 9.1.2010. 504 E-Mail an den ZMD vom 19.9.2010.

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dass wir deutschen/europäer und alle nicht-muslimischen migranten euch nicht in diesem land haben wollen.“ Der Islam sei „eine asoziale, faschistische kultur/religion“, die Muslime „ins liberale europa gebracht“ hätten. Der Verfasser schließt mit einem Appell an Musliminnen und Muslime: „Gehen sie in ein morgenland ihrer wahl und belästigt uns nicht mit euren mittelalterlichen sitten.“ Mit „uns“ meint der Absender „das europäische westliche atheistisch-christliche-jüdische volk“.505 Der Bezug auf das Mittelalter oder die Steinzeit ist ein häufig gebrauchter Topos in den Zuschriften.506 Er umschreibt metaphorisch ein evolutionäres Gefälle zwischen dem Eigenen und dem vermeintlich Fremden, demzufolge „der Westen“ „den Muslimen“ in der menschlichen Entwicklung mehrere Jahrhunderte und damit Entwicklungsstufen voraus sei (vgl. Kapitel 2.2). Auffällig ist, dass Europa hier zugleich als atheistisch, christlich und jüdisch definiert wird. Die Inkorporierung des Jüdischen in das Konstrukt des christlichen Abendlandes, die als eine Strategie zur Abwehr des Rassismusvorwurfs verstanden werden kann,507 spiegelt dabei einen

505 E-Mail an die IGMG vom 10.1.2010. 506 So z.B. auch in einer E-Mail vom 11.4.2009 an den ZMD, in der Muslime als „schwarzhaarige Mittelalterbrut“ bezeichnet werden, oder in einer E-Mail vom 2.1.2011 an die TGD, in der es heißt: „Diese im Mittelalter stehen gebliebene Unmenschen müssen zurückgeführt werden.“ An anderer Stelle fordert ein Absender „alle Moslems in Europa“ dazu auf, „in Euer Steinzeit-Anatolien“ zurückzugehen. E-Mail an die TGD vom 27.11.2010. 507 Dieser Topos lässt sich jedoch nicht auf eine Alibi-Funktion reduzieren, denn andererseits fällt in zahlreichen Zuschriften auf, dass Juden der Ingroup zugerechnet werden und als Feinde der Muslime wahrgenommen werden. Die häufig formulierte positive Bezugnahme auf Israel verdeutlicht, dass dieses in den Augen vieler Absender als „Bollwerk“ gegen den Islam und Teil des Westens gesehen wird. In anderen Zuschriften zeigt sich wiederum, dass Juden und Muslime gleichermaßen als nicht zugehörig zur deutschen Gesellschaft angesehen werden: „Und keine sonderreglung fuer euch! Als D[eutscher] mag ich euren scheiss verein nicht – wir haben schon mit dem ZDJ [Zentralrat der Juden] genug.“ E-Mail an den ZMD vom 4.12.2008. In rechtsextremen Zuschriften tritt diese Verknüpfung besonders offen zutage: „Was für unsere Ahnen der Jud, ist für uns die Moslembrut“, E-Mail an den ZMD vom 21.2.2009. Mit

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neueren Diskurs wider, wie er sich auch in der Debatte um die Aussagen des ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff hinsichtlich der Zugehörigkeit des Islams zu Europa manifestierte (vgl. Kapitel 2.1). In Abgrenzung zu Muslimen und zum Islam werden also nicht nur die deutsche Nation, sondern auch die übernationale europäische Identität angerufen und stabilisiert. In ihr finden aus Sicht des Absenders interessanterweise ausdrücklich „alle anderen nicht-muslimischen migranten“ Platz.508 Eine solche Hierarchisierung in „gute“ und „schlechte“ Migrantinnen und Migranten dient als Legitimierung der rassistischen Argumentation und soll die Ablehnung, Abwertung und Ausgrenzung der muslimischen Minderheit als begründete und differenzierte Position erscheinen lassen.509 Diese Argumentationsstrategie findet sich in den Zuschriften in einer solchen Regelmäßigkeit, dass sich von einem Muster sprechen lässt. In einer E-Mail, die sowohl an den ZMD als auch an die TGD verschickt wurde, heißt es beispielsweise:

einem ähnlichen Schriftzug schändeten Unbekannte 2009 die Mauer der KZGedenkstätte Mauthausen. 508 E-Mail an die IGMG vom 10.1.2010. 509 Einige Vorurteilsforscher, wie Teun van Dijk, erklären sich diese Hierarchisierung mit dem Grad an kultureller Differenz zwischen den hierarchisierten Outgroups und der Ingroup: „People also differentiate among several outgroups: discrimination against certain outgroups is reduced if more ‚extreme‘ (more different) outgroups become salient. This finding seems to have its correlate also in the perception of minority groups in the Netherlands. Due to the salience of Turks, Moroccans, and Surinamese, earlier groups of immigrants, such as Spaniards and Italians, have become less focused upon as targets for special attention, discrimination, and racism (also because they are ethnically and culturally less ‚different‘ from the Dutch majority group).” Van Dijk, Prejudice in Discourse, S. 20. Solche Erklärungsansätze, die kulturelle Differenzen implizit als gegeben und nicht als konstruiert verstehen, greifen meiner Ansicht nach zu kurz, denn sie können nicht erklären, warum beispielsweise Buddhisten, die keine Monotheisten sind und Christen dieser These folgend nicht näher stehen dürften, im Diskurs weitaus positiver bewertet werden als Muslime.

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„Leider ist das Verhalten der Moslems in Deutschland so verabscheuungswürdig, dass sie im Gegensatz zu allen anderen Ethnien die hier einwandern, die nicht so kriminell, aggresiv und anpassungsfeindlich sind, immer mehr Ablehnung, ja Hass im Gastland erzeugen.“510

Die unterstellten Eigenschaften, mit denen Muslime hier einer speziellen Neigung zur Gewalt und Kriminalität beschuldigt werden, tauchen immer wieder auf. So diagnostiziert ein Herr ein „islam-spezifische[s] Gewaltpotential“,511 ein anderer Absender ist „überzeugt das von den 14 bis 30 jahrigen muslimen 70 prozent Radikale sind die nach kurzer Einstimmung auch zum Töten bereit sind“512 und ein dritter E-Mail-Verfasser schätzt, dass „in berlin […] jeder zweite ausländer kriminell“ ist.513 Diese Zuschreibungen reflektieren klassische rassistische Stereotype, wie sie etwa auch in dem Diskurs über Sinti und Roma514 oder Schwarze515 zu finden sind. Zugleich geht aus den Zuschriften deutlich hervor, dass sich der darin zutage tretende Rassismus spezifisch gegen Musliminnen und Muslime bzw. als solche markierte Menschen richtet. So schreibt ein Absender an die TGD: „Ich habe neulich die Patenschaft über 2 Kinder aus Indien übernommen. Die Voraussetzung war, keine Moslems!“516 Und ein anderer „stellt sich die Frage, warum integrieren sich Zuwanderer aus dem ostasiatischen Raum (z.B. Indien, China, Korea) besser bei uns […]. Hat

510 E-Mail an den ZMD und die TGD vom 2.1.2011. 511 E-Mail an den ZMD vom 8.7.2009. 512 E-Mail an den ZMD vom 17.7.2009. 513 E-Mail an den ZMD vom 26.10.2009. 514 Vgl. Brigitte Mihok/Peter Widmann, Sinti und Roma als Feindbilder, in: Informationen zur politischen Bildung 271 (2005), S. 56-61; Markus End, Antiziganismus in der deutschen Öffentlichkeit. Strategien und Mechanismen medialer Kommunikation, Heidelberg 2014. Der Aussage „Sinti und Roma neigen zur Kriminalität“ stimmen in aktuellen repräsentativen Umfragen knapp 45 % der deutschen Bevölkerung „eher“ oder „voll ganz“ zu. Vgl. Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände, Bd. 10, Frankfurt am Main 2012, S. 40. 515 Vgl. Hill Collins, Black sexual politics, S. 152 ff. 516 E-Mail an die TGD vom 25.11.2010.

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das doch etwas damit zu tun, dass diese nicht aus islamischen Ländern kommen?“517 Neben der verbreiteten Hierarchisierung von Muslimen versus anderen Minderheiten finden sich in den Zuschriften weitere Strategien der Legitimierung rassistischer Argumentationsweisen, die auch im etablierten Diskurs sowie auf islamfeindlichen Webseiten im Internet auszumachen sind (vgl. Kapitel 2.2 und 4.2). Hierzu gehört in erster Linie die Instrumentalisierung des Sexismus- Antisemitismus- und Homophobievorwurfs: „Wann gehen Sie endlich in Ihre Heimat zurück? Wir wissen doch alle, […] dass der Islamfaschismus und ein mittelalterlicher, antisemitischer, homophober, frauenverachtender, antiliberaler, krimineller, aggressiver türkisch-arabischer Kulturkreis nicht willkommen ist. […] Daher fordere ich Sie auf Europa zu verlassen.“518

Und in einer E-Mail an den TGD-Vorsitzenden legitimiert ein Absender seine vorherigen diskriminierenden Ausführungen über „alte Kopftuchweib[er]“ mit einem Antisemitismusvorwurf: „Kolat, sind Sie auch ein dreckiger Antisemit? Then shame on you. Im heiligen Land haben nur Christen und Juden etwas verloren, andere nicht.“519 Solche zusammenhangslosen Verknüpfungen verdeutlichen in besonderer Weise den instrumentellen Charakter der Argumentationsfigur. Ebenso häufig sticht in den Zuschriften die Aussage hervor, Musliminnen und Muslime hätten die Ablehnung, die sie erfahren, selbst verschuldet. So schreibt ein Herr nach dem Mord an Marwa el-Sherbini an den ZMD: „So wie Sie argumentieren erzeugen Sie doch erst das wovor Sie Angst haben – Islamophobie!“520 Und ein anderer Absender, der versichert, dass er Gewalt ablehne, schreibt: „Wenn die dickbäuchige ägypterin521 und ihr kind und ihr mann nicht hier wären, sondern in ägypten, wären sie noch am leben!“522 Dies ist durchaus keine Einzelmeinung: „Um die Ägypterin und ihrer Familie tut es mir sehr leid. Fragt man sich anderer sei’s, warum sind

517 E-Mail an die TGD vom 11.10.2010. 518 E-Mail an den ZMD vom 11.10.2009. 519 E-Mail an die TGD vom 13.10.2010. 520 E-Mail an den ZMD vom 13.7.2009. 521 Diese Anspielung bezieht sich auf die Schwangerschaft el-Sherbinis. 522 E-Mail an den ZMD vom 14.7.2009.

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die hier?“523 Für einige ist es also die bloße Anwesenheit von Musliminnen und Muslimen, die schon als Provokation verstanden wird und Aggressionen gegen sie zu erklären vermag. Anderen dienen von Muslimen verübte Terroranschläge als Legitimation für einen Generalverdacht: „Leider muss ich feststellen, dass man […] erwartet, dass wir erkennen, wer guter Muslim ist und wer terroristische Ambitionen hat. Damit fühle ich mich überfordert und komme deshalb dorthin, dass ich jeden Muslim als potentiellen Feind ansehen muss, solange er mich nicht eines besseren belehrt.“524

Die Weigerung, Muslimen vorurteilsfrei zu begegnen, wird hier selbstbewusst als intentionale und zugleich rationale Haltung präsentiert. Musliminnen und Muslime werden – auch das eine Parallele zur rassistischen Stereotypisierung anderer Gruppen, wie den Sinti und Roma – in einem großen Teil der Zuschriften eines parasitären Daseins in Deutschland beschuldigt. Eine Dame meint zu wissen, dass „die Hälfte der Moslems […] von unserer harterarbeiteten Sozialhilfe“ lebt,525 ein Herr ist sich sicher, „dass gerade Mosleme in den Parallelgesellschaften mehr kosten als sie bringen“,526 ein weiterer meint, dass Muslime „größtenteils ungebildet und auf dem Arbeitsmarkt unbrauchbar sind“527 und ein anderer Absender betont, dass wir „Fachkräfte als Zuwanderer [brauchen], aber nicht Immigranten, die unser Sozialsystem noch mehr belasten“,528 während der Nächste überzeugt ist, dass es keine „türkische[n] Leistungsträger gibt“.529 Wieder andere bezeichnen Musliminnen und Muslime, die „nur unnötig viel Geld“ kosteten,530 als „Schnorrer“,531 „Asoziale“532 und „Parasiten“,533

523 E-Mail an den ZMD vom 26.10.2009. 524 E-Mail an den ZMD vom 23.11.2010. 525 Brief an die IGMG vom 24.1.2008. 526 E-Mail an die TGD vom 1.1.2011. 527 E-Mail an die TGD vom 16.10.2010. 528 E-Mail an die TGD vom 11.10.2010. 529 E-Mail an die TGD vom 1.1.2011. 530 E-Mail an die TGD vom 25.11.2010. 531 Brief an den ZMD vom 14.10.2003. 532 E-Mail an die IGMG vom 18.7.2010. 533 E-Mail an den ZMD vom 2.8.2009.

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die „auf Kosten der Allgemeinheit“534 und „wie die Ratten“535 lebten bzw. „wie die Maden im Speck auf Steuerzahlers Kosten und Gesundheit“536 – eine Metaphorik, die Assoziationen von der Schwächung des „gesunden Volkskörpers“ weckt. Insgesamt fällt auf, dass viele Absenderinnen und Absender in ihren Zuschriften auf eine entmenschlichende Rhetorik zurückgreifen. Der Islam und die Muslime werden zum Beispiel mit Krankheiten („Krebsgeschwür“)537 bzw. Tieren538 verglichen oder als „Unmenschen“539 bezeichnet, die „zurückgeführt“ werden müssten. Diese Forderung nach Vertreibung bzw. Ausweisung der muslimischen Minderheit erscheint angesichts dieser dehumanisierten Wahrnehmung als logische Konsequenz und stellt einen ständig wiederkehrenden Topos in den Zuschriften dar. Der in dem Stereotyp des sozialschmarotzenden Muslims zutage tretende Nützlichkeitstopos hat, wie Martin Wengeler zeigen konnte, eine lange Tradition im bundesdeutschen Migrationsdiskurs, in dem die Abwägung von volkswirtschaftlichem Nutzen und Schaden der Arbeitsmigrantinnen und -migranten die Debatten um Einwanderung jahrzehntelang prägte.540 Verknüpft mit dem Vorwurf des parasitären Daseins, der veranschaulicht, welche Bedeutung den Kategorien Klassenzugehörigkeit bzw. soziale Schicht im antimuslimischen Rassismus zukommt (vgl. Kapitel 2.2), ist die häufige Aufforderung zur Dankbarkeit gegenüber Deutschland und den Deutschen. Darin drückt sich der Wunsch nach Festschreibung eines hierarchischen Verhältnisses und dem eigenen privilegierten Status aus. Dieses Verhältnis hebt auf die Machtasymmetrie zwischen der Mehrheitsgesellschaft – der sich die Absenderinnen und Absender zuordnen – und der muslimischen Minderheit ab. So appelliert ein Herr, der seine E-Mails mit vollem Namen unterzeichnet, gleich zwei Mal hintereinander an einem Tag an die TGD: „Seien Sie froh, dass Sie in einem solch schönen Land leben dürfen. Seien Sie dankbar, dass Ihren Landsleuten hier sehr viele Möglichkeiten gegeben

534 E-Mail an die TGD vom 25.11.2010. 535 E-Mail an den ZMD vom 17.12.2008. 536 E-Mail an die TGD vom 27.12.2010. 537 E-Mail an den ZMD vom 15.7.2009. 538 Vgl. z.B. E-Mail an die IGMG vom 21.3.2010. 539 E-Mail an die TGD vom 2.1.2011. 540 Vgl. Wengeler, Topos und Diskurs, S. 346 ff. und 429 ff.

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werden.“541 Und dreieinhalb Stunden später legt der Verfasser nach: „Sie leben doch in UNSEREM LAND und vielleicht wäre es besser von Ihnen, einmal DEUTSCHLAND und dem deutschen Volk zu danken, dass man Ihnen jahrelang die Hand geöffnet hat.“542 Das Bedürfnis nach Unterordnung, das hier artikuliert wird, wurde ausgelöst durch die als Anmaßung empfundene Kritik543 des Bundesvorsitzenden der TGD, Kenan Kolat, an den Äußerungen des bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer, der drei Tage zuvor gegenüber dem Magazin „Focus“ vor einem Zuzug von „Zuwanderer[n] aus anderen Kulturkreisen wie aus der Türkei und arabischen Ländern“ gewarnt hatte.544 Diese Einmischung in den politischen Diskurs seitens der TGD wird vom Verfasser der eben zitierten E-Mails als unrechtmäßig zurückgewiesen: „Ich frage mich immer wieder, wie Sie eigentlich das Recht haben sollten, sich gegen Äußerungen wie z.B. von Herrn Seehofer, zu beschweren.“545 Zum einen wird an diesem Beispiel die Wechselwirkung zwischen dem medial vermittelten Diskurs der politischen Eliten und dem Alltagsdiskurs in Form der Zuschriften deutlich. Zum anderen zieht die Beteiligung am Diskurs und Artikulation eigener Interessen durch Musliminnen und Muslime bzw. muslimisch markierte Migranten offenbar einen Dominanzkonflikt nach sich, der eine mögliche Ursache des hier zutage tretenden antimuslimischen Rassismus darstellt. Auf ihre gesellschaftliche Partizipation wird mit dem Verlangen reagiert, Musliminnen und Muslime auf einen niedrigeren Platz in der Gesellschaft – den sie durch die selbstbewusste Teilnahme am Diskurs in den Augen der Absenderinnen und Absender zu verlassen drohen – zu verweisen. Besonders anschaulich wird dies in einer E-Mail, die sowohl an den ZMD als auch die TGD geschickt wurde und in der Muslimen angeraten wird, sie sollten „in Zukunft in Bittstellung gehen, oder brav in den Ghettos bleiben“.546 Und in einer anderen E-Mail heißt es: „An alle Türken und sonstige Muslime, da-

541 E-Mail an die TGD vom 12.10.2010. 542 E-Mail an die TGD vom 12.10.2010. 543 Vgl. „Seehofer empört Türkische Gemeinde – CSU legt nach“, in: DIE WELT vom 11.10.2010. 544 „Horst Seehofer – Kampfansage an Schmarotzer und Zuwanderer“, in: Focus vom 9.10.2010. 545 E-Mail an die TGD vom 12.10.2010. 546 E-Mail an die TGD und den ZMD vom 16.10.2010.

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mit es ein für allemal klar ist: Wir DEUTSCHE haben eure unverschämten Forderungen bis obenhin satt. […] Nur echte DEUTSCHE haben das Recht Forderungen zu stellen!!!!!“547 Diese Botschaft – Muslime seien keine „echten“ Deutschen und sollten sich deshalb unterordnen – ist ein zentrales Motiv in einem Großteil der Zuschriften: „Sie haben überhaupt rein gar nichts zu fordern! In Deutschland gibt der Deutsche den Ton an und Fremde haben nach unserer Pfeife zu tanzen!“548 oder „Sie leben in Deutschland und hier werden die Regeln von Deutschen gemacht“.549 Und ein anderer Absender meint: „Sarrazin hat doch vollkommen Recht. Noch handelt es sich um unser Heimatland. Solange wir in der Türkei z.B. keine eigenen Gotteshäuser für unseren Glauben errichten dürfen, haben Sie in UNSEREM Land keinerlei Rechte, Forderungen zu stellen. Sie sind willkommen, so Sie sich nach unseren Gepflogenheiten, Rechten und Traditionen richten.“550

Die E-Mails dokumentieren die Verweigerung, Musliminnen und Muslime als zur deutschen und europäischen Gesellschaft zugehörig anzuerkennen, woraus der Anspruch auf Dominanz ihnen gegenüber abgeleitet wird. Entsprechend heißt es in einer E-Mail an die IGMG: „Europa ist nicht EURE ursprüngliche Heimat, aber es ist MEINE Heimat...MEIN Heim! JEDER Moslem, unabhängig ob hier geboren oder nicht ist nur GAST! Also benehmt Euch wie Gäste!“551 Die häufig gebrauchte Gast-Metapher dient der Zementierung eines hierarchischen Verhältnisses zwischen Mehrheit und Minderheit: „Sie sind hier Gäste und jeder Gast sollte sich auch so Betragen. Sie aber benehmen sich als wären Sie hier die Herren sind Unverschämt und Unmäßig“,552 so die Zurechtweisung eines Absenders an den ZMD. Auch ein anderer Herr hält „etwas mehr Bescheidenheit in Hinblick

547 E-Mail an den ZMD und die TGD sowie einige türkeistämmige Bundestagsabgeordnete vom 28.8.2010. 548 E-Mail an die TGD vom 15.10.2010. 549 E-Mail an die TGD vom 11.10.2010. 550 E-Mail an die TGD vom 28.8.2010. 551 E-Mail an die IGMG vom 15.12.2009. 552 E-Mail an den ZMD vom 17.10.2010.

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auf die Größe ihrer Moscheen“ für angebracht,553 eine Dame maßregelt den ZMD „seien Sie also bitte demnächst etwas zurückhaltender“554 und eine andere Absenderin erteilt dem TGD-Vorsitzenden Kenan Kolat den Ratschlag: „Also, wenn Sie nicht wollen, dass die Deutschen sich immer mehr gegen die Muslime stellen, überlegen Sie doch einmal, wie man das Wort Bescheidenheit, für alle Muslime, übersetzt!“555 Um die verbalen Angriffe als gerechtfertigt erscheinen zu lassen, wird in den Zuschriften häufig auf die Strategie der Täter-Opfer-Umkehr zurückgegriffen und eine Viktimisierung der Mehrheitsgesellschaft betrieben, die die realen Machtverhältnisse leugnet. So moniert eine Dame: „Als Deutsche fühlt man sich fremd im eigenen Land, man fühlt sich von der Minderheit gemobbt und denunziert. Wer spricht eigentlich einmal von Deutschenfeindlichkeit hier im Land ausgehend von ausländischen Mitbürgern?“556 Die Angst vor „Überfremdung“ kann auch als Angst vor Macht- und Statusverlust der Mehrheitsgesellschaft gedeutet werden. So spricht der Verfasser einer E-Mail an den ZMD Muslimen zunächst die Daseinsberechtigung in Deutschland und ihre Staatsbürgerrechte ab („Sie und ihre islamischen Brüder haben hier nichts zu suchen. […] Wenn sie sagen, dass sie ein Deutscher Staatsbürger sind, macht einen das nur Noch wütend.“) und legitimiert seine Einstellung im Anschluss mit den vermeintlich gebotenen Ängsten der Mehrheitsbevölkerung: „Ihr aggressives Verhalten und ihre Uneinsicht zu den Ängsten der Deutschen […] ist nur noch widerlich.“557 Und eine Dame mahnt die TGD: „Vergessen Sie [nicht] wo Sie sich befinden – in Deutschland, hier ist kein islamisches Protektorat.“558 Für einen anderen Absender „befinden sich bereits eine große Anzahl Eurer Kolonisten in unseren Ländern“,559 eine Lehrerin beschwert sich einige Tage nach dem Mord an Marwa el-Sherbini über „die grundsätzlich im-

553 E-Mail an den ZMD vom 14.7.2009. 554 E-Mail an den ZMD vom 12.7.2009. 555 E-Mail an die TGD vom 28.8.2010. 556 E-Mail an die TGD vom 11.10.2010. 557 E-Mail an den ZMD vom 17.10.2010. 558 E-Mail an die TGD vom 13.10.2009. 559 E-Mail an die IGMG vom 13.1.2009.

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perialistische Einstellung“ des Islams,560 und ein Herr teilt der IGMG mit: „Ihr werdet Eure Ziele, die Welt zu beherrschen und alles, was nicht islamisch ist, auszurotten, nicht erreichen!“561 Mit einer ähnlichen Begründung – „Ihr wollt uns vernichten“562 – versieht auch ein anderer Absender seine Aufforderung an deutsche Musliminnen und Muslime, in die Türkei „zurückzukehren“. Dieses Selbstbild der von einer Minderheit bedrohten Mehrheit ist ein ständig wiederkehrendes Motiv in den Zuschriften. Muslime werden als machtvolle Eindringlinge imaginiert, gegen die sich die autochthone deutsche Bevölkerung zur Wehr setzen müsse. So schreibt eine Absenderin an den TGD-Vorsitzenden Kolat: „Anstatt lächerliche Forderungen zu stellen und auf der Klaviatur der ‚Schuld der Deutschen‘ zu spielen sollten sie ‚werter‘ Herr Kolat, sich doch mal lieber ihr eigenes Verhalten veranschaulichen und etwas Selbstkritik zu Tage legen. Aber genau das ist ihnen, als Angehörigem der Moslem-Herrenrasse, ja anscheinend nicht möglich. Verlassen Sie bitte unser Land […]. In Deutschland gab es eine faschistische Diktatur, und die hat gereicht...wir brauchen keine zweite, islamische.“563

Die Bezeichnung „Moslem-Herrenrasse“ gehört zum Vokabular, das auf islamfeindlichen Webseiten Verbreitung findet und den eigenen Rassismus durch die Verwendung des „Rasse“-Begriffs auf Muslime projiziert.564 Unter Verkehrung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse impliziert diese Wortschöpfung, Musliminnen und Muslime würden danach streben, nichtmuslimische Deutsche zu unterjochen. Die Anspielung auf eine drohende „islamische Diktatur“ ruft wiederum den Topos der „schleichenden Islamisierung“ Deutschlands bzw. Europas auf, wie er auf Internetseiten wie Politically Incorrect popularisiert wird (vgl. Kapitel 4.2). Die Täter-Opfer-Umkehr tritt als Legitimierungsstrategie auch in den zahlreichen Zuschriften, die im Zusammenhang mit der Debatte um den

560 E-Mail an den ZMD vom 12.7.2009. 561 E-Mail an die IGMG vom 3.12.2009. 562 E-Mail an die IGMG vom 18.5.2010. 563 E-Mail an die TGD vom 25.11.2010. 564 Auch dies ist ein wiederkehrender Topos, vgl. beispielsweise E-Mail an die TGD vom 25.11.2010 und vom 27.12.2010.

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Mord an Marwa el-Sherbini bei den Verbänden eingingen, zutage. So schreibt ein anonymer Absender: „Diese verwerfliche Tat wurde [von] einer einzelnen Person begangen und ist auf gar keinen Fall im allgemeinen für Deutschland gültig. Berichte wie dieser werden von der allgemeinen Deutschen Bevölkerung als Beweis gesehen, dass Muslime kein Interesse haben sich in Deutschland zu integrieren und nur probieren sich in einer Opferrolle darzustellen.“565

Und eine bereits weiter oben zitierte Lehrerin kommentiert den Fall folgendermaßen: „Bestürzt bin ich nicht nur über die grausame und verachtenswerte Tat von Dresden, für die den Täter die Höchststrafe erwarten sollte – bestürzt bin ich ebenso über Ihre Art und Weise der Berichterstattung. Sie sprechen pauschalisierend über eine ‚Islamophobie‘ in Deutschland. Nun muss ich Ihnen ehrlich sagen, dass ich tagtäglich beruflich in Kontakt mit Muslimen stehe sowie auch beim harmlosen Gang durch die Innenstädte von Gelsenkirchen und Recklinghausen in der Mehrzahl unerfreuliche Begegnungen mit Angehörigen des Islams habe.“566

Diese Argumentationsstruktur – den Mord erst einmal zu verurteilen, um ihn im nächsten Moment zu relativieren und Muslime als Schuldige bzw. Täter gegenüber der deutschen Mehrheitsgesellschaft zu thematisieren – ist ein wiederkehrendes Muster in den Zuschriften, die in der Zeit nach dem Mord an Marwa el-Sherbini eingingen.567 So schreibt auch ein anderer Absender an den ZMD: „Da wird eine Muselmanin von einem getötet und was kommt, ein riesenaufschrei... hat ihr zentralrat überhaupt ne ahnung wie viele deutsche von muslimen in deutschland kaltgemacht werden...wie viele verletzt und überfallen werden?“568 Und ein weiterer Verfasser moniert:

565 E-Mail an den ZMD vom 8.7.2009. 566 E-Mail an den ZMD vom 12.7.2009. 567 Dieser Befund findet sich nicht nur in den Zuschriften, sondern ebenso als Analyseergebnis der Rezeption des Mordfalls im Internet (vgl. Kapitel 4.3). 568 E-Mail an den ZMD vom 26.10.2009.

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„Ein Migrant ersticht eine andere Migrantin – und da fällt euch nichts besseres ein, als alle Deutschen als islamfeindlich zu verunglimpfen? Wenn man so etwas hört, dann wird man tatsächlich zu einem Feind des Islam. Antisemitismus, Frauenunterdrückung, Terrorismus (nein, das sind keine EINZELFÄLLE, und ja, DAS HAT ETWAS MIT DEM ISLAM ZU TUN) und einen Kinderficker und Massenmörder zum Propheten, was soll man davon halten? […] Nehmt eure Drecksreligion und VERPISST EUCH! […] Wir haben nicht den Faschismus überwunden, nur um ihn in Form des Islam zurückzubekommen, nein danke! Jeder, der Demokratie, Freiheit und Gleichberechtigung der Geschlechter für wichtig hält, wird euch die Stirn bieten. Ihr seid die Nazis des 21. Jahrhunderts, da braucht ihr gar nicht mit dem Finger auf andere zeigen!“569

Zunächst wird der Mord als eine Tat zwischen einer Migrantin und einem Migranten eingeordnet und eine gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem islamfeindlichen Hintergrund abgelehnt. Die Thematisierung des Tatmotivs durch Musliminnen und Muslime dient zudem als Auslöser, um antimuslimischen Ressentiments freien Lauf zu lassen. Neben der auch im öffentlichen Diskurs häufig anzutreffenden Instrumentalisierung emanzipativer Argumente zur Begründung der eigenen Aggression (wie die Kritik an der im Islam fehlenden Geschlechtergleichheit, vgl. Kapitel 2.2, 3.1 und 3.2) fällt an dieser Stelle insbesondere die Gleichsetzung des Islams mit dem Nationalsozialismus auf.570 Die Ablehnung von Musliminnen und Muslimen und die Aufforderung an sie, das Land zu verlassen, können in dieser Argumentationskette als zutiefst demokratische Haltung inszeniert werden und geradezu als antifaschistische Konsequenz aus der NSVergangenheit präsentiert werden. Insgesamt fällt auf, dass viele Absenderinnen und Absender in ihren Zuschriften explizit oder implizit Bezug auf die deutsche NS-Vergangenheit nehmen. Einige beklagen in einer Art Schuld-Abwehr-Reflex, dass die Deutschen auch heute noch „erpressbar“ seien wegen ihrer historischen Verantwortung für den Nationalsozialismus. So schreibt eine Dame, die mit

569 E-Mail an den ZMD vom 9.7.2009. 570 Diese Gleichsetzung stellt einen wiederkehrenden Topos dar. So z.B. auch in einer E-Mail an die TGD vom 25.11.2010, in der Muslime als „Anhänger dieser NAZI-Sympathisierenden, verfassungsfeindlichen und verlogenen Ideologie ‚Islam‘“ bezeichnet werden.

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ihrer E-Mail an die TGD ihre Unterstützung für Thilo Sarrazin und sein Buch „Deutschland schafft sich ab“ kundtun möchte: „In Frankreich oder ein anderes Europäisches Land würde überhauptnicht so ein Wirbel um ein solches Buch gemacht. Aber leider haben wir die leidige Hitlergeschichte bei uns immer noch zu verarbeiten.“571 Und ein Herr, der keinen besonderen Schreibanlass nennt, sondern seine generelle Meinung bezüglich des „Verhalten[s] der Türken gegenüber ihren christlichen Gastgebern“ in Deutschland äußern möchte, macht den Bundesvorsitzenden der TGD in seiner Mail darauf aufmerksam, dass „durch die verheerende Niederlage im 2. Weltkrieg […] das deutsche Volk derartig kleingemacht worden [ist], dass es sich gegen die dauernde Bevormundung durch unsere sog. Freunde und die letztlich auch darauf basierende lasche Haltung in Bezug auf die Aufnahme vieler Muslime (vor allem Türken) ohne Ausbildung und Sprachkenntnisse nicht mehr wehren konnte“.572

Die Anwerbung von Arbeitsmigrantinnen und -migranten wird dieser Wahrnehmung nach zu einer den Deutschen von außen aufoktroyierten Maßnahme. Entsprechend wird die Tatsache, dass Deutschland zu einem Einwanderungsland geworden ist, als „Buße“ für die historische Schuld gedeutet, die aus den Deutschen ein „schwache[s] Volk“ gemacht habe, das nun von Musliminnen und Muslimen ausgenutzt werde.573 Diese Viktimisierung der deutschen Mehrheitsbevölkerung mittels der Bezugnahme auf den Nationalsozialismus ist ein ständig wiederkehrendes Motiv. So beklagt ein Herr, der Wert darauf legt, seine Zugehörigkeit zum Katholizismus hervorzuheben, dass sich „der generell Schuldbewußte Deutsche […] in oft erprobter Manier bei allen entschuldigen“ müsse.574 Das aus den Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus resultierende, vermeintlich allgegenwärtige Schuldbewusstsein der Deutschen wird als Hemmnis gedeutet, gegen unliebsame Minderheiten wie die muslimische hart durchzugreifen:

571 E-Mail an die TGD vom 3.9.2010. 572 E-Mail an die TGD vom 6.1.2011. 573 Vgl. E-Mail an die TGD vom 6.1.2011. 574 E-Mail an den ZMD vom 4.8.2009.

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„Warum verschwindet Ihr nicht einfach wieder […]!? Noch ist es eine Aufforderung zu gehen, ich hoffe wirklich, dass bald Zwang daraus wird. Nicht politisch, denn das wird aufgrund unserer Vergangenheit nie geschehen, doch hoffentlich durch die Wut und den Zorn meines Volkes, den Ihr mehr und mehr schürt.“575

Anderen dient der Hinweis auf die Aufarbeitung des Nationalsozialismus dazu, daraus die Legitimation abzuleiten, türkische Migranten in Bezug auf den Umgang mit dem Völkermord an den Armeniern zu belehren: „Im Übrigen können sie von Deutschland sehr viel lernen. Wir haben unsere Hausaufgaben in Sachen Vergangenheitsbewältigung gemacht.“576 Der Verweis auf den Genozid an den Armeniern steht in keinem Zusammenhang mit dem Schreibanlass dieser E-Mail, nämlich der Forderung des Bundesvorsitzenden der TGD, Kenan Kolat, nach einer gesonderten Erfassung muslimfeindlicher Straftaten in der Polizeilichen Kriminalstatistik. Dies legt nahe, dass die Armenier-Frage hier lediglich als vorgeschobenes Argument zur Diskreditierung türkischer Migrantinnen und Migranten eingesetzt wird, um ihnen die Legitimität zu öffentlichen bzw. politischen Interventionen abzusprechen und die eigene Ablehnung zu rechtfertigen. Untermauert wird dieser Eindruck von der Aufforderung, Deutschland zu verlassen: „Ich wünsche ihnen eine gute Rückreise an den Bosporus, aber bitte mit ‚One-way-Ticket‘!“577 Die Überzeugung, das Recht dazu zu haben, Musliminnen und Muslime des Landes zu verweisen, offenbart ein Superioritätsdenken, das in zahlreichen Zuschriften deutlich zum Ausdruck kommt. Die rhetorische Ausbürgerung imaginiert sie als rechtlose Subjekte, die sich dem Willen der Mehrheitsgesellschaft zu unterwerfen hätten: „Ihr seit hier nur Gäste und diese schmeißt man raus wenn Sie sich nicht benehmen können.“578 Wenn Minderheitenangehörigen ihre Bürgerrechte von Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft abgesprochen werden, so hat dies eine besondere Verletzungsmacht.579 Denn implizit ist in solchen Botschaften auch immer die Drohung

575 Ebenda. 576 E-Mail an die TGD vom 25.11.2010. 577 Ebenda. 578 E-Mail an den ZMD vom 23.11.2010. 579 Der Jurist Jeremy Waldron, der für eine Hate Speech Gesetzgebung in den USA plädiert, argumentiert, dass diese die Würde von Minoritäten angreift –

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der Umsetzung der formulierten Absichten enthalten, was den Effekt der Einschüchterung auf die Adressaten haben soll. So schreibt ein Absender an den ZMD: „Ich würde an der Stelle der Moslems auf gepackten Koffern sitzen.“580 Das Bild der gepackten Koffer legt Angehörigen der muslimischen Minderheit nahe, sich auf eine bevorstehende Ausweisung gefasst zu machen. Ein anderer Absender, der seine E-Mail an die TGD mit vollem Namen und Anschrift unterzeichnet, warnt: „Das ist doch erst das laue Lüftchen! Der Hurrikan, der euch wie gefallenes Laub aus unserem Land hinfort fegt, der kommt erst noch!“581 Andere drücken ihre Drohbotschaft durch Gewalt- und Vernichtungsfantasien aus: „Hoffentlich fliegt bald eine Atombombe auf Mekka; am besten wenn alle Moslems der Welt dort hingepilgert sind!“ Diese Aggression gipfelt schließlich in der Formel „NUR EIN TOTER MOSLEM IST EIN GUTER MOSLEM!“582 Verbale Attacken wie diese zielen darauf ab, das Sicherheitsgefühl von Musliminnen und Muslimen bzw. muslimisch markierten Menschen zu beeinträchtigen: „Das leben hier wird für euch so unerträglich, dass Ihr freiwillig und ohne gewalt zu erfahren, freiwillig zurück nach hause geht.“583 Drohungen werden auch durch die Verwendung eines Vokabulars erzeugt, das Assoziationen zu NS-Verbrechen auslöst: „Es ist nur zu hoffen, dass in Deutschland der Zug noch nicht endgültig abgefahren ist, und dass auch der letzte blauäugige Multi-Kulti-Freak, Ostermarschierer und Lichterkettenbildner endlich begreift, dass Muslime aufgrund ihrer Idiosynkrasie weder integrationsfähig noch -willig sind, damit Deutschland nicht in wenigen Generationen, ähnlich wie gehabt, diesmal dann aber vor der Endlösung der Muslimfrage steht.“584

„‚dignity‘ in the sense of their basic social standing, the basis of their recognition as social equals and as bearers of human rights and constitutional entitlements“. Waldron, The Harm in Hate Speech, S. 59. 580 E-Mail an den ZMD vom 25.11.2010. 581 E-Mail an die TGD vom 25.11.2010. 582 E-Mail an den ZMD vom 14.7.2009. 583 Ebenda. 584 E-Mail an die TGD vom 22.10.2010. Der Absender, der mit Klarnamen unterzeichnet hat, will, wie er schreibt, seine E-Mail als Unterstützung für die Thesen Thilo Sarrazins verstanden wissen.

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Eine solch unverhohlene Drohgebärde, die Musliminnen und Muslimen suggerieren soll, sie hätten das gleiche Schicksal zu erwarten wie einst die Juden in Deutschland, bildet die Ausnahme. Häufig werden die Drohungen diffuser formuliert: „Wenn sich nichts ändert, insbesondere von ihrer Seite, dann wird es böse enden.“585 Oder aber: „Wir werden dem Islam schon zeigen, wo es für ihn lang zu gehen hat.“586 Ein anderer Absender, der ebenfalls mit vollem Namen unterzeichnet, meint: „Türken und Islamisten haben uns schon genügend strapaziert und im überwiegenden Teil der deutschen Bevölkerung regt sich immer mehr Widerstand gegen diese Menschen. Wenn unsere Regierung nicht bald reagiert, dann wird das Volk reagieren.“587 Muslime seien daher – auch dies ein regelmäßig wiederkehrender Topos – gut beraten, „wieder zurück in die Türkei zu gehen“.588 Die beabsichtigte Demütigung und Verletzung offenbart sich in zynischen Formulierungen wie „gute Heimfahrt“,589 aber auch in zahlreichen Beschimpfungen und Beleidigungen. Diese nehmen sehr häufig Bezug auf den islamischen Glauben, der unter anderem mittels historisch tradierter islamfeindlicher Topoi herabgewürdigt wird. Ein wiederkehrendes Motiv ist dabei die Auffassung, der Islam sei keine „richtige“ oder „vollwertige“ Religion. Anders als Christen glaubten Muslime an einen „Gott, den Mohammed erfunden hat“.590 Dieser, auf christlich-mittelalterliche Vorstellungen zurückgehende Vorwurf, Musliminnen und Muslime folgten einem falschen Propheten (vgl. Kapitel 2.1), wird als Argument genutzt, um ihnen das Recht auf Religionsfreiheit abzusprechen: „Rücksicht auf den Islam zu nehmen brauchen wir nicht, denn der Islam ist keine Religion und ist mit unserem Grundgesetz und deren demokratischen Spielregeln nicht vereinbar.“591 Bei vielen Attacken, in denen auf den Islam Bezug genommen wird, dienen die Verunglimpfung des Propheten Mohammed als Folie, vor deren Hintergrund rassistische Zuschreibungen gegenüber Muslimen bzw. als

585 E-Mail an die TGD vom 25.11.2010. 586 E-Mail an den ZMD vom 12.7.2009. 587 E-Mail an die TGD vom 11.10.2010. 588 E-Mail an die TGD vom 25.11.2010. 589 E-Mail an die TGD vom 25.11.2010. 590 E-Mail an den ZMD vom 17.1.2010. 591 E-Mail an die TGD vom 13.10.2009.

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muslimisch markierten Menschen vorgenommen werden. So beschuldigt ein Absender Muslime der besonderen Kriminalitätsaffinität, die schon den Propheten, den fromme Musliminnen und Muslime als Vorbild ansehen, gekennzeichnet habe: „Seid ihr Muslims euch in meinem Land breitgemacht habt, ist die Kriminalitätsrate sprunghaft gestiegen! Da folgt ihr wieder einmal eurem ‚Propheten‘ Muhammad, der seine Karriere als Mörder und Karawanenräuber begann.“592 Die scharfen Angriffe auf die Religion und den Religionsstifter aktualisieren historische Feindbilder mit neuen Funktionen. Der Rückgriff auf die Religion wird genutzt, um deutschen bzw. europäischen Musliminnen und Muslimen ihre Bürgerrechte zu verweigern und sie aus der Gesellschaft auszuschließen. Eine der religiös hergeleiteten Eigenschaften, mit denen sie bedacht werden, ist ihre angebliche Unehrlichkeit als Verhaltensmuster zur „Islamisierung“ der Gesellschaft und Erlangung von Macht. So schreibt ein Absender an den ZMD: „Ein Moslem hat mir mal gestanden das Ihr Heuchler seit, Ihr schleimt euch ein, versucht Positionen einzunehmen und die Politik zu bestimmen […] man kann euch nicht trauen.“593 Auffällig ist jedoch, dass in den Zuschriften der Täuschungsvorwurf – Taqiyya – nicht so häufig geäußert wird, wie auf islamfeindlichen Webseiten (vgl. Kapitel 4.2). Wenn er auftaucht, ist er meist eingebettet in ein ganzes Set an islamfeindlichen Topoi, wie die Vorstellung einer Verschwörung zur „Islamisierung“ Europas bzw. Deutschlands. So beklagt der Verfasser einer E-Mail an den ZMD: „Ich habe schon lange und viele Kontakte zu Muslimen, ich suche immer noch die Ehrlichkeit der Leute. Leider bisher ohne Erfolg. Ich habe aber eine Entschuldigung dafür: In Ihren Schriften heißt es ja: Belügt, betrügt, ermordet alle Ungläubige.“594 Der Täuschungsvorwurf geht hier mit dem Unterwanderungstopos einher, denn der Absender ist zugleich überzeugt, dass Muslime „von den ausländischen Mächten dirigiert [werden] um Deutschland zu islamisieren“.595 Absender, die den Taqiyya-Topos bemühen, verweisen – zum Beispiel durch Verlinkungen – häufig auf einschlägige antimuslimische Webseiten

592 E-Mail an den ZMD vom 8.1.2010. 593 E-Mail an den ZMD vom 18.9.2010. 594 E-Mail an den ZMD vom 26.10.2009. 595 Ebenda.

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wie Politically Incorrect.596 Diese dienen offenbar sowohl als Informationsquelle wie auch zur Mobilisierung. Dies deutet darauf hin, dass der Taqiyya-Topos zu den Glaubensgrundsätzen einer ideologisch verbrämten Islamfeindlichkeit gehört, deren Elemente nicht in demselben Maße Teil des Alltagswissens sind, wie beispielsweise die antimuslimischrassistischen Stereotype von der vermeintlichen Kriminalitätsaffinität und dem sozialen Schmarotzertum. In der Analyse der Zuschriften, die – soweit sich das an den Namen ablesen lässt – mehrheitlich von Männern verfasst werden – fällt die Häufung von Geschlechterstereotypen ins Auge. Dies hebt noch einmal die Relevanz der Kategorie Geschlecht für die Analyse des antimuslimischen Rassismus hervor. Muslimische Männer werden als besonders aggressiv und gewaltaffin beschrieben, sie würden „zuschlagen, rauben, schlagen, überfallen“ und stellten deshalb eine physische Gefahr dar.597 Mindestens ebenso dominant ist der Topos des übersexualisierten muslimischen Mannes, dessen unkontrollierte Triebhaftigkeit insbesondere die weiße deutsche Frau bedrohe: So ist eine Dame überzeugt, dass „deutsche Frauen und Mädchen […] den türkischen Jugendlichen machtlos ausgeliefert“ seien.598 Der Vorwurf, Muslime würden „sich an deutchen frauen […] vergreifen“ 599 bzw. „vergewaltig[en] unsere Frauen“600 wird in zahlreichen Zuschriften erhoben, entsprechend warnen einige Absender: „Lasst unsere frauen in ruhe!“601 oder auch in der rechtsextremen Variante: „Pfoten weg von unseren arischen weißen Frauen“.602 Die Figur des hypersexuellen muslimischen Mannes weist einerseits sowohl Parallelen zur rassistischen Imagination Schwarzer Männlichkeit603

596 Vgl. z.B. E-Mail an die IGMG vom 13.1.2009. 597 E-Mail an die TGD vom 25.11.2010. 598 E-Mail an die TGD vom 11.10.2010. 599 E-Mail an den ZMD vom 21.9.2008. 600 E-Mail an den ZMD vom 23.11.2010. 601 E-Mail an den ZMD vom 14.7.2009. 602 E-Mail an den ZMD vom 14.7.2009. 603 Die Imagination hypersexualisierter Schwarzer Männlichkeit umfasst dabei sowohl exotisierendes Begehren als auch Furcht. Vgl. Hill Collins, Black sexual politics, S. 158; Abby L. Ferber, The Construction of Black Masculinity.

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als auch zu antisemitischen Bildern abnormer jüdischer Sexualität auf604 und knüpft andererseits an eine Tradition der Sexualisierung des Orients aus der Zeit des Kolonialismus an.605 Diese drückte sich unter anderem in Haremsfantasien und dem Begehren nach „Enthüllung“ des durch den Schleier vor dem westlichen Blick verborgenen weiblichen muslimischen Körpers aus.606 Ein solcher Drang kommt auch in einem Teil der Zuschriften zum Ausdruck: „Sie sollten daher derartige Veranstaltungen [gemeint ist der Tag der offenen Moschee] etwas ‚aufpeppen‘ z.B. durch den ‚Tag der offenen Muschi‘, an dem ihre Mütter, Frauen und Töchter die deutschen Gäste in die Geheimnisse des Orients einweihen.“607 Das hier formulierte Verlangen nach der sexuellen Verfügbarkeit der „fremden Frau“ kontrastiert in auffälliger Weise mit dem in den Zuschriften immer wieder artikulierten Bedürfnis nach dem „Schutz deutscher Frauen vor den leider immer wieder vorkommenden Übergriffen durch ‚Migranten‘“.608 Die Zuschreibung eines primitiven und ungehemmten Sexualtriebs bis hin zu sexueller Perversion erstreckt sich dabei nicht nur auf hypersexuelle Heterosexualität, sondern auch auf Homosexualität und den Vorwurf der Pädophilie und Sodomie. Besonders häufig werden diese Zuschreibungen in Zusammenhang mit der Diffamierung des Propheten Mohammed vorgenommen, der als „schwuler Straßenräuber“,609 „Schwule SAU“,610 „kamelvergewaltigende[r], pädophile[r] Mohammed“611 und „Kinderschänder“612

White Supremacy Now and Then, in: Journal of Sport and Social Issues 31 (2007), H. 1, S. 12. 604 Vgl. George L. Mosse, Nationalismus und Sexualität. Bürgerliche Moral und sexuelle Normen, München 1985, S. 170 ff. In der antisemitischen Imagination zielt der zugeschriebene unkontrollierte Sexualtrieb jüdischer Männer ebenfalls in erster Linie auf nicht-jüdische Frauen. 605 Vgl. Christina von Braun/Bettina Mathes, Verschleierte Wirklichkeit. Die Frau, der Islam und der Westen, Berlin 2007, S. 23 ff. und 194. 606 Vgl. Malek Alloula, The Colonial Harem, Minneapolis 1986. 607 E-Mail an den ZMD vom 12.12.2009. 608 E-Mail an den ZMD vom 12.12.2009. 609 Undatierter Brief an die IGMG. 610 E-Mail an den ZMD vom 3.8.2009. 611 E-Mail an die IGMG vom 14.1.2009. 612 E-Mail an den ZMD vom 17.5.2009 und an die IGMG vom 1.8.2010.

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bezeichnet wird, dessen Prophetie von den in Medina lebenden Juden „wegen seiner ‚fleischlichen Gelüste‘“613 abgelehnt worden sei. Einigen E-Mails bzw. Briefen sind auch Zeichnungen beigefügt, auf denen Männer, die durch Turban oder Kufiya als Muslime markiert sind, beim Geschlechtsverkehr mit anderen Männern bzw. Tieren oder beim Masturbieren abgebildet sind. Diese Hypersexualisierung muslimischer Männer steht also einerseits in der Tradition der engen Verknüpfung von Rassismus und pathologisierter Sexualität. Denn der Mangel an Triebbeherrschung und Überbetonung des Körperlichen gegenüber dem Geist charakterisiert in rassistischen Diskursen die Minderwertigkeit und Unterlegenheit des Anderen.614 Jedoch werden in den Zuschreibungen auch Topoi aufgerufen, die ihren Ursprung in christlich-mittelalterlichen Polemiken gegen den Propheten Mohammed haben, in denen dieser als promiskuitiver, lüsterner und amoralischer Religionsstifter attackiert wurde.615 Die Verunglimpfung des von ihnen verehrten Propheten soll Musliminnen und Muslime als Adressaten der Zuschriften einerseits demütigen und verletzen. Andererseits wird der Prophet in den Zuschriften – wie auch beim Kriminalitätstopos – stellvertretend für die Anhänger des Islams angegriffen, wodurch die in Deutschland lebende muslimische Minderheit moralisch diskreditiert werden soll.

5.4 F AZIT Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Zuschriften Musliminnen und Muslime bzw. als Muslime markierte Migranten und ihre Nachkommen nicht als Individuen und die Verbände nicht als konkrete Akteure adressieren, sondern als homogen konstruiertes Kollektiv. Ebenso begreifen die Absenderinnen und Absender die eigenen Sprachhandlungen nicht als individuelle Meinungsäußerung, sondern inszenieren sich als Sprachrohr für eine „schweigende Mehrheit“, was in der häufigen Verwendung von Personal- und Possessivpronomen im Plural zum Ausdruck kommt oder auch

613 Fax an den ZMD vom 15.1.2010. 614 Vgl. Mosse, Nationalismus und Sexualität, S. 171. 615 Vgl. Daniel, Islam and the West, S. 79; Schmeisser, „Mohammed, der Erzbetrüger“, S. 80.

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explizit ausformuliert wird: „So denken alle die ich kenne“616 oder „Glauben Sie ja nicht, daß dies die Meinung eines Einzelnen ist. Es ist die vorherrschende Meinung der ganzen Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland.“617 Und ein anderer prophezeit, dass „der haß gegen euch in der bevölkerung immer größer [wird], und dabei ist es egal, ob man links, liberal oder konservativ eingestellt ist – alle lehnen euch ab“.618 Die Absenderinnen und Absender verschicken die E-Mails und Briefe an Muslime in dem Bewusstsein, Teil der weißen deutschen Mehrheitsgesellschaft zu sein. Die nationale Identitätskonstruktion wird stabilisiert durch ein hermetisch geschlossenes Verständnis von ethnischen, kulturellen und religiösen Identitäten, die als Antithesen – „deutsch“ versus „muslimisch“ bzw. „türkisch“ oder „arabisch“ – konzipiert werden. Vor diesem Hintergrund vermag auch die deutsche Staatsangehörigkeit nichts an der Wahrnehmung von Muslimen als Nichtdeutsche zu ändern: „Vergesst eure deutschen Pässe – ihr seid keine Deutschen, ihr seid keine Europäer!“619 Zwar dienen bestimmte Diskursereignisse als Schreibanlässe, die Botschaften sind in den meisten Fällen aber von diesen Kontexten unabhängig und genereller Natur. Sie vermitteln Musliminnen und Muslimen, ein unerwünschter Bevölkerungsteil zu sein, häufig gekoppelt mit der Aufforderung, das Land zu verlassen oder sich wenigstens in der Rolle als Gäste der Aufnahmegesellschaft unterzuordnen. Insgesamt zeugen die Zuschriften von einem Dominanzbedürfnis und dem Wunsch, eine Hierarchie zwischen der Mehrheitsgesellschaft und der muslimischen Minderheit in Deutschland festzuschreiben. Wo diese ins Wanken zu geraten droht, zum Beispiel durch die aktive Beteiligung von Musliminnen und Muslimen bzw. muslimisch markierten Menschen am öffentlichen Diskurs, löst dies bei den Verfassern der Zuschriften häufig Aggression aus, die sich in der hohen Emotionalität vieler E-Mails und Briefe ausdrückt. Die diskriminierenden Ansichten werden als sagbar eingestuft, Angst vor Sanktionen oder juristischen Konsequenzen besteht überwiegend nicht, wie die Verwendung von Klarnamen und identifizierbaren E-Mail-Adressen zeigt. Dies hängt sicherlich auch damit zusammen, dass die Absenderinnen und Absender vielfach

616 E-Mail an die TGD vom 25.11.2010. 617 E-Mail an den ZMD vom 19.10.2010. 618 E-Mail an den ZMD vom 23.11.2010. 619 E-Mail an die TGD vom 3.9.2010.

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Topoi reproduzieren, die auch im etablierten öffentlichen Diskurs über Islam und Muslime existieren, wie der häufige Verweis auf Autoritäten und Gewährsleute, zum Beispiel den ehemaligen Berliner Finanzsenator und SPD-Mitglied Thilo Sarrazin, illustriert.620 Das diskursiv erzeugte antimuslimische Wissen wird mittels der Zuschriften in diskriminierendes Handeln in Form von Hate Speech umgesetzt. Musliminnen und Muslime werden in einem paternalistischen Habitus zurechtgewiesen und gemaßregelt, herabgewürdigt und verunglimpft, bedroht und beschuldigt, die Ablehnung, die sie erfahren, selbst provoziert zu haben – womit eine Täter-Opfer-Umkehr stattfindet, die zum festen Bestand rassistischer Argumentationen gehört.

620 Vgl. beispielsweise E-Mails an die TGD vom 28.8.2010, 30.8.2010, 1.9.2010 und 4.9.2010.

6 Schlussbemerkung

Wie die Analysen der Fallbeispiele gezeigt haben, lässt sich der diskursiv hervorgebrachte antimuslimische Rassismus als ein Ausgrenzungsmechanismus begreifen, für den die Religion oftmals nur die Folie bietet, vor deren Hintergrund Kollektivzuschreibungen vorgenommen werden. Dies bedeutet nicht, dass der antimuslimische Rassismus als Chiffre für eine generelle Abwertung und Ausgrenzung all jener verstanden werden kann, die vormals als „Ausländer“ konstruiert wurden.621 Diejenigen, die in solche rassistischen Diskurse verstrickt sind, betonen vielmehr, dass sie Muslime eben als Muslime ablehnen. Die Rassifizierung von Musliminnen und Muslimen verknüpft das Muslim-Sein mit ethnischer Herkunft und leitet religiöse und kulturelle Zugehörigkeit genealogisch über die „Abstammung“ her. Was wir sehen können, so Étienne Balibar, ist „daß ein biologischer oder genetischer ‚Naturalismus‘ keineswegs den einzigen möglichen Modus einer Naturalisierung menschlicher Verhaltensweisen und Gesellschaftlichkeit darstellt. […] Auch die Kultur [kann] durchaus als eine solche Natur fungieren, ganz besonders als eine Art und Weise, Individuen und Gruppen a priori in eine Ursprungsgeschichte, eine Genealogie einzuschließen, in ein unveränderliches und unberührbares Bestimmtsein durch den Ursprung.“622

621 Vgl. Bram Spruyt/Mark Elchardus, Are anti-Muslim feelings more widespread than anti-foreigner feelings? Evidence from two split-sample experiments, in: Ethnicities 12 (2012), H. 6, S. 800-820. 622 Balibar, Gibt es einen „Neo-Rassismus“?, S. 29 f.

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Eine Folge dieser Naturalisierung von kultureller Zugehörigkeit ist, dass das Individuum jederzeit auf seine Gruppenzugehörigkeit zurückgeworfen werden kann. So sind letztendlich auch Menschen, die eine Distanz zu den zugeschriebenen kulturellen Praktiken ihrer „Herkunftsgruppe“ wahren, nie ganz frei von dem Verdacht, wieder „rückfällig“ werden zu können. Dieser Topos findet sich im etablierten Diskurs unter anderem in auflagenstarken Büchern, wie Bettys Mahmoodys „Nicht ohne meine Tochter“, in dem sich Bettys Ehemann nach einer Phase der Assimilation in den USA wieder zum „tyrannischen Orientalen“ zurückentwickelt (vgl. Kapitel 3.2). Der Verdacht der reversiblen kulturellen Anpassung kommt auch in anderen Formen zum Ausdruck, sowohl in der Figur des „Schläfers“ – des oberflächlich angepassten Muslims, der jederzeit als Bedrohung aktiviert werden kann – als auch in besonders drastischer Form im Taqiyya-Topos. Dieser kursiert bislang vorrangig im Internet, wo eine ideologisch gefestigte Islamfeindlichkeit propagiert wird, die sich in erster Linie an der islamischen Religion abarbeitet und rassistische Zuschreibungen gegenüber Musliminnen und Muslimen mit Verschwörungsdenken verknüpft (vgl. Kapitel 4.2). Die betrachteten Fallbeispiele lassen ein Set an antimuslimischen Topoi erkennbar werden, die in unterschiedlicher Ausdrucksweise auf allen drei Diskursebenen – im etablierten öffentlichen Diskurs wie auch im Internet als „zweiter Öffentlichkeit“ und in den nicht-öffentlichen Zuschriften an muslimische Verbände bzw. die Türkische Gemeinde in Deutschland –, auftreten. Dies deutet darauf hin, dass inzwischen ein sozial geteilter antimuslimischer Wissensbestand existiert. Wie in der Untersuchung der Diskursfragmente gezeigt werden konnte, bauen antimuslimische Argumentationsweisen auf einer Dichotomisierung von „Islam“ und „Westen“ auf und gehen mit Selbst- und Fremdbildern einher, die oftmals spiegelbildlich zueinander angeordnet sind. In Kapitel 3.1 und 3.2 wurde deutlich, dass Geschlechterbilder eine zentrale Rolle bei der Untermauerung der behaupteten Ungleichwertigkeit, Unvereinbarkeit und Unveränderlichkeit von Kulturen spielen. Der weibliche Körper dient in der Vorstellung vom „Kampf der Kulturen“ als wichtiges Aushandlungsobjekt „westlich-abendländischer“ versus „islamisch-orientalischer“ Identitäten. Die Analyse der dominanten antimuslimischen Stereotype und Topoi zeigt, welch hohen Stellenwert vergeschlechtlichte Symboliken einnehmen bei der Konstruktion einer „islamischen Inferiorität“ – versinnbildlicht unter anderem durch die Figur der unterdrückten Muslimin – und einer

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„islamischen Bedrohung“ – symbolisiert unter anderem durch die Figur der permanent gebärenden Muslimin, durch die sich Muslime als unerwünschter Bevölkerungsteil ausbreiteten. Diese Gleichzeitigkeit von zugeschriebener Rückständigkeit bzw. Unterlegenheit und drohender Dominanz von Muslimen, wie sie insbesondere in der im Internet artikulierten Angst vor einer „schleichenden Islamisierung“ Europas zum Ausdruck kommt, reflektiert verschiedene Traditionslinien europäischer Islam- und Orientbilder (vgl. Kapitel 2.1). Allerdings besteht eine gewisse Gefahr der Simplifizierung, wenn aktuelle Stereotype über Musliminnen und Muslime als Kontinuitäten historischer Islambilder begriffen werden. Wollte man einen geradlinigen Verlauf in der europäischen Wahrnehmung des Islams und der Muslime durch die Jahrhunderte ausmachen, so wäre dies reduktionistisch. Brüche und Widersprüche würden dadurch eingeebnet und unsichtbar gemacht. Gleichwohl fällt in gegenwärtigen antimuslimischen Argumentationen ein häufiger Rückgriff auf historische Topoi auf. Wie Fred Halliday treffend bemerkt, sind solche Verweise jedoch nicht als einfache Fortschreibung einer konfliktreichen Beziehungsgeschichte zu verstehen: „The past provides a reserve of reference and symbol for the present, it does not explain it. The Ottoman siege of Vienna in 1683 or the crusades do not explain current politics, they are used by them.“623 Im christlichen Mittelalter wurden der Islam als Religion des Schwertes wahrgenommen und Muslime zunächst als äußerer Feind identifiziert. Mit dem Kolonialismus ging jedoch ein Wandel in der europäischen Wahrnehmung einher, der – vereinfacht gesprochen – aus starken Gegnern schwache und primitive Zivilisierungsobjekte machte. In heutigen antimuslimischen Diskursen, die im Kontext europäischer Migrationsgesellschaften nicht länger nur einen äußeren Feind, sondern nun auch das Andere im Inneren adressieren, fließen diese ambivalenten Wahrnehmungstraditionen christlich-islamfeindlicher und kolonialistisch-orientalistischer Bilder zusammen und verbinden sich mit neuen Topoi. Dazu gehören in Westeuropa insbesondere Vorstellungen über Klassen- bzw. Schichtzugehörigkeit und Bildungsferne. Das Narrativ eines bildungshemmenden Islams, der für die angenommene Rückständigkeit von Musliminnen und Muslimen verantwortlich sei, findet sich bereits in kolonialistischen Diskursen. Diese

623 Halliday, „Islamophobia“ reconsidered, S. 895.

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vermeintliche Kausalität von islamischem Glauben und Unfähigkeit zu geistiger Leistung und damit Produktivität wird in gegenwärtigen Diskursen mit neuer Funktion aktualisiert, wenn es darum geht, die sozioökonomische Marginalisierung von als Muslimen markierten Menschen in westeuropäischen Einwanderungsgesellschaften der Minderheit selbst anzulasten. Wie andere Formen des Rassismus auch, erfüllt der antimuslimische Rassismus so unter anderem die Funktion, gesellschaftliche Ungleichheiten zu erklären und zu rechtfertigen. Ein Teil der Konflikte, die sich in den untersuchten Diskursfragmenten artikulieren, lässt sich jedoch auch durch eine voranschreitende gesellschaftliche Partizipation von Musliminnen und Muslimen erklären. Dies erscheint zunächst paradox, da einer der Hauptvorwürfe an Muslime ihr vermeintlicher Mangel an Integration ist. Doch Integration im Sinne einer Partizipation zieht auch Dominanzkonflikte nach sich. Antimuslimische Diskurse sind daher durchzogen von dem Bedürfnis, Musliminnen und Muslime auf einen gesellschaftlich untergeordneten Rang zu verweisen sowie ihre Zugehörigkeit zur deutschen und europäischen Gesellschaft zu negieren. In der Abgrenzung von ihnen werden daher nicht zuletzt auch Identitätsfragen der nicht-muslimischen Mehrheitsgesellschaft verhandelt. Der antimuslimische Rassismus dient dabei sowohl der Stabilisierung einer nationalen Gemeinschaftskonstruktion (Stichwort „deutsche Leitkultur“) wie auch der Anrufung einer übernationalen „abendländischen“ Identität, die im Zuge der europäischen Integration an Bedeutung gewinnt. Diese Transnationalisierung des Rassismus, dem Europa bzw. „das Abendland“ als Referenzpunkt dienen, spiegelt sich auch in einer Verschiebung in der Benennungspraxis wider: Nun sind es nicht mehr vorrangig „die Türken“ in Deutschland, „die Pakistaner“ in Großbritannien, „die Marokkaner und Algerier“ in Frankreich oder „die Bosnier“ in Österreich, sondern „die Muslime“, die als transnationales Kollektiv als „Andere im Inneren“ Europas exkludiert werden. Es ist daher wichtig festzuhalten, dass der gegenwärtige antimuslimische Rassismus sich im Kontext der Migrationsgesellschaften nicht gegen eine neue Zielgruppe richtet, sondern sich lediglich verstärkt solcher Begründungszusammenhänge bedient, die auf das Merkmal der Religion rekurrieren. Wie die Analyse gezeigt hat, verschränken sich im antimuslimischen Rassismus verschiedene Differenzlinien – Kultur, Religion, Ethnizität, Geschlecht und Klasse – zu einem komplexen Geflecht. Welchen Stellen-

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wert die jeweiligen Kategorien darin genau einnehmen, lässt sich nicht pauschal beantworten, da einzelne Diskriminierungsmerkmale in der Praxis nur schwer zu filtern sind und je nach Kontext unterschiedlich miteinander interagieren.624 Zukünftige Forschung wird daher unter anderem der Frage nachgehen müssen, wie sich die diskursiv erzeugten Markierungen und Stigmata im Alltag der Betroffenen auswirken.

624 Untersuchungen in Großbritannien deuten z.B. darauf hin, dass sich dort das Merkmal der zugeschriebenen islamischen Religionszugehörigkeit bei Männern in Korrelation mit bestimmten ethnischen Markierungen besonders negativ auswirken kann in Diskriminierungssituationen auf dem Arbeitsmarkt. Studien haben Belege gefunden für „a substantial disadvantage to Muslims compared to other non-white groups that could not be attributed to other characteristics likely to affect labour market outcomes. However, […] the Muslim ‚effect‘ on unemployment varied considerably between the different ethnic groups, being much higher for Pakistani Muslim men than for other Muslim men.“ Bei Frauen wiederum, so die Annahme, „religion is more important than ethnicity for predicting employment penalties, while among men both religion and ethnicity are important.“ Anthony Heath/Jean Martin, Can religious affiliation explain ‚ethnic‘ inequalities in the labour market?, in: Ethnic and Racial Studies 36 (2013), H. 6, S. 1007.

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Anhang

Die Kapitel 2, 3 und 4 dieses Buches basieren auf der überarbeiteten Fassung folgender veröffentlichter Aufsätze: 1.

2.

3.

4.

Muslimisch, weiblich, unterdrückt und gefährlich. Stereotypisierungen muslimischer Frauen in aktuellen Islam-Diskursen, in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Ressentiment und Konflikt. Vorurteile und Feindbilder im Wandel, Schwalbach/Ts. 2014, S. 86-98. Zwischen Alltagsrassismus und Verschwörungstheorien. Islamfeindlichkeit im Internet, in: Muslimfeindlichkeit – Phänomen und Gegenstrategien. Beiträge der Fachtagung der Deutschen Islam Konferenz am 4. und 5. Dezember 2012 in Berlin, Berlin 2013, S. 68-85. Vom äußeren Feind zum Anderen im Inneren. Antimuslimischer Rassismus im Kontext europäischer Migrationsgesellschaften, in: Kien Nghi Ha (Hrsg.), Asiatische Deutsche. Vietnamesische Diaspora and Beyond, Berlin 2012, S. 305-320. Keine Frage des Glaubens. Zur Rassifizierung von „Kultur“ und „Religion“ im antimuslimischen Rassismus, in: Sebastian Friedrich (Hrsg.), Rassismus in der Leistungsgesellschaft. Analysen und kritische Perspektiven zu den rassistischen Normalisierungsprozessen der „Sarrazindebatte“, Münster 2011, S. 59-76.

256 | „... WEIL IHRE K ULTUR SO IST “

5.

6.

7.

Kronzeuginnen der Anklage? Zur Rolle muslimischer Sprecherinnen in aktuellen Islam-Debatten, in: Sibylle Schmidt/Sybille Krämer/ Ramon Voges (Hrsg.), Politik der Zeugenschaft. Zur Kritik einer Wissenspraxis, Bielefeld 2011, S. 331-352. Selbst- und Fremdbilder in der medialen Rezeption der Deutschen Islam Konferenz. Eine Fallstudie zu den Tageszeitungen FAZ und DIE WELT, in: Bülent Uçar (Hrsg.), Die Rolle der Religion im Integrationsprozess. Die deutsche Islamdebatte, Frankfurt am Main 2010, S. 247-260. „Aus blankem Hass auf Muslime“. Zur Rezeption des Mordes an Marwa el-Sherbini in deutschen Printmedien und im deutschsprachigen Internet, in: Jahrbuch für Islamophobieforschung Deutschland – Österreich – Schweiz 1 (2010), S. 23-46 (zusammen mit Iman Attia).

Kultur und soziale Praxis Naime Cakir Islamfeindlichkeit Anatomie eines Feindbildes in Deutschland August 2014, 274 Seiten, kart., 27,99 €, ISBN 978-3-8376-2661-2

Gesine Drews-Sylla, Renata Makarska (Hg.) Neue alte Rassismen? Differenz und Exklusion in Europa nach 1989 Januar 2015, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2364-2

Jörg Gertel, Rachid Ouaissa (Hg.) Jugendbewegungen Städtischer Widerstand und Umbrüche in der arabischen Welt Juli 2014, 400 Seiten, Hardcover, zahlr. z.T. farb. Abb., 19,99 €, ISBN 978-3-8376-2130-3

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Kultur und soziale Praxis Marion Schulze Hardcore & Gender Soziologische Einblicke in eine globale Subkultur Februar 2015, ca. 400 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2732-9

Tatjana Thelen Care/Sorge Konstruktion, Reproduktion und Auflösung bedeutsamer Bindungen September 2014, 298 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2562-2

Nadja Thoma, Magdalena Knappik (Hg.) Sprache und Bildung in Migrationsgesellschaften Machtkritische Perspektiven auf ein prekarisiertes Verhältnis Februar 2015, ca. 300 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2707-7

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Kultur und soziale Praxis Jens Adam, Asta Vonderau (Hg.) Formationen des Politischen Anthropologie politischer Felder Mai 2014, 392 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2263-8

Jonas Bens, Susanne Kleinfeld, Karoline Noack (Hg.) Fußball. Macht. Politik. Interdisziplinäre Perspektiven auf Fußball und Gesellschaft

Christa Markom Rassismus aus der Mitte Die soziale Konstruktion der »Anderen« in Österreich Januar 2014, 228 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2634-6

Anne Menzel Was vom Krieg übrig bleibt Unfriedliche Beziehungen in Sierra Leone

Februar 2014, 192 Seiten, kart., 27,99 €, ISBN 978-3-8376-2558-5

Januar 2015, ca. 430 Seiten, kart., ca. 42,99 €, ISBN 978-3-8376-2779-4

Anamaria Depner Dinge in Bewegung – zum Rollenwandel materieller Objekte Eine ethnographische Studie über den Umzug ins Altenheim

Kristin Pfeifer »Wir sind keine Araber!« Amazighische Identitätskonstruktion in Marokko

Januar 2015, ca. 250 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2765-7

Forschungsgruppe »Staatsprojekt Europa« (Hg.) Kämpfe um Migrationspolitik Theorie, Methode und Analysen kritischer Europaforschung Januar 2014, 304 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2402-1

Heidrun Friese Grenzen der Gastfreundschaft Die Bootsflüchtlinge von Lampedusa und die europäische Frage Juli 2014, 250 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2447-2

Jacqueline Grigo Religiöse Kleidung Vestimentäre Praxis zwischen Identität und Differenz Januar 2015, ca. 330 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2839-5

Februar 2015, ca. 320 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 36,99 €, ISBN 978-3-8376-2781-7

Wiebke Scharathow Risiken des Widerstandes Jugendliche und ihre Rassismuserfahrungen Juli 2014, 478 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2795-4

Henrike Terhart Körper und Migration Eine Studie zu Körperinszenierungen junger Frauen in Text und Bild Januar 2014, 460 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2618-6

Yeliz Yildirim-Krannig Kultur zwischen Nationalstaatlichkeit und Migration Plädoyer für einen Paradigmenwechsel Mai 2014, 260 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2726-8

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