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German Pages 450 [449] Year 2014
Martina Wernli Schreiben am Rand
Lettre
Martina Wernli (Dr. sc.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg am Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturgeschichte. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Literatur und Psychiatrie, Schreiben und Schreibobjekte sowie Literatur und Wissen.
Martina Wernli
Schreiben am Rand Die »Bernische kantonale Irrenanstalt Waldau« und ihre Narrative (1895–1936)
Diese Studie wurde 2012 an der ETH Zürich als Dissertation angenommen und für den Druck überarbeitet. Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
1 Einleitung | 9 1.1 1.2 1.3 1.4
Methodische Überlegungen | 17 Ort und Zeit: Die Waldau zwischen 1895 und 1936 | 19 Quellenlage und Forschungsstand | 23 Gliederung der Arbeit | 29
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Schreiborte und gesammelte ›Kunst der Geisteskranken‹ Theoretische Überlegungen | 31
2.1 Schreiben und Ort | 31 2.1.1 Ort und Raum in der Folge des spatial turn | 33 2.1.2 Vom physischen Schreibort zur Unbestimmtheitsstelle im Text | 37 2.1.3 ›Schreibszenen‹ | 39 2.1.4 Schreiben bei Freud und Breton als zeitgenössische Konzepte | 41 2.2 Klinik und Musealität | 46 2.2.1 Schlüssel | 51 2.2.2 Landesausstellung 1914 | 53 2.2.3 »Kunst« | 56 2.2.4 Morgenthaler und Wölfli, eine erste Annäherung | 58
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Geschichte, Klinikalltag und Akteure | 69
3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.2
Quellentypus Jahresbericht | 71 Zeitpunkt der Abfassung | 71 Auf bau der Berichte | 73 Stil, Autorschaft, Referenz | 76 »Inn gentzliche Toubsucht gerhatten« – das Berner »Irrenwesen« vor 1855 | 77 Die Waldau zwischen 1855 und 1890 | 82 Der Name Waldau – Ein Narrativ entsteht | 82 Erste Instruktionen für das Personal | 85 Klinik und Anstalt | 91 Der zweite Direktor: Rudolf Schärer und seine Waldauer Zeit | 92 Die Ära Wilhelm von Speyrs als Direktor: 1890–1933 | 96 Umbauten und Umnutzungen – erste Änderungen | 99 Die neue Anstalt Bellelay | 100 Ein ›Neubau‹ in der Waldau | 102 Die Suche nach einem geeigneten Ort für eine vierte Berner Anstalt | 103 Physische Krankheiten: Typhus, Tuberkulose, Blattern und Grippe | 108 Reaktionen auf die Kritik von Hans Steck aus Cery (1924/1925) | 110 Der Jahresbericht von Pfarrer Friedrich Henzi (1927) | 112 Außen und Innen – die Sicht- und Lesbarkeit der Anstalt | 114 Besucher, Spaziergänger, »Gaffer« | 116
3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4 3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.4.4 3.4.5 3.4.6 3.4.7 3.4.8 3.4.9
3.5 3.5.1 3.5.2 3.5.3 3.5.4 3.6 3.6.1 3.6.2
3.7 3.8 3.9 3.10 3.11 3.11.1 3.12
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Die Anstaltshierarchie: Der Direktor | 119 Die Person Wilhelm von Speyr | 119 Von Speyrs Forschung | 123 Autorschaft, Selbstinszenierung, Anstaltspropaganda und »mein Programm« | 128 Wille zur (Post-)Kontrolle und Umgang mit Beschwerden | 133 Ärzte und Ärztinnen | 140 Assistenzärztinnen | 142 Einzelne Oberärzte | 145 3.6.2.1 Ernst Fankhauser (1868–1941) | 145 3.6.2.2 Fritz Walther (1878–1959) und die Malaria-Experimente in der Waldau | 146 3.6.2.3 Walter Morgenthaler (1882–1965) und Hermann Rorschach (1884–1922) | 152 3.6.2.4 Jakob Wyrsch (1892–1990) | 160 In erster Linie kräftig: Die »Wärter« und »Wärterinnen« | 161 Die Patienten | 171 Die Waldau im 1. Weltkrieg | 179 Krankheiten und Begrifflichkeiten | 185 Behandlungsmethoden während von Speyrs Ära | 191 Arbeitstherapie und ›Aktivere Krankenbehandlung‹ | 196 Der Übergang von Wilhelm von Speyr zu Jakob Klaesi | 205
Schreiben (und Lesen) hinter den Sandsteinmauern Ausgewählte Patienten und ihre Texte | 225
Terminologie und Quellen: Krankenakte, Krankengeschichte, Fallgeschichten, Patiententexte | 225 4.1.1 Akten, Krankengeschichten und Patiententexte der Waldau | 229 4.1.2 Exkurs: Wenn Lesen krank macht – Akten schreiben über das Lesen | 234 4.2 »Ich bin ein Pappier=Arbeiter, allerersten Ranges« – Adolf Wölfli | 237 4.2.1 Schreiben am Rand, Schreiben über den Rand hinaus | 242 4.2.2 Schreibort, Signaturen, Adressierungen und ›testamentarisches Schreiben‹ | 244 4.2.3 Material | 253 4.2.4 Wölfli zeitgenössisch medialisiert: eine Teppichgeschichte | 258 4.3 »Habe vielleicht vieles noch vergessen zu schreiben«: Frau Be. | 260 4.3.1 Eine ›infame‹ Frau | 261 4.3.2 Somatisches und Psychisches | 267 4.3.3 Testverfahren | 268 4.3.4 Die Produktion psychiatrischer Tatsachen | 274 4.3.5 Schreibszene auf einer psychiatrischen Bühne | 276 4.4 Die Freibeüter und der Pascha | 277 4.4.1 Materialität | 279 4.4.2 Schrift, Sprache und Orthografie | 280 4.4.3 »Die Psichiatrie ist überhaupt, eine Jlusion, ein crasser Blödsinn.« – Der Inhalt des Textes | 280 4.5 »Da es uns sehr daran liegt, dass Walser […] fortkommt« – Robert Walser in der Waldau | 283 4.1
4.5.1 »Wie dumm, daß ›das‹ so kommen mußte« – der Eintritt in die Waldau | 286 4.5.2 »Denn der Unterhalt unseres Bruders ist eine Familienpflicht« – Finanzielle und soziale Aspekte einer Unterbringung in der Anstalt | 298 4.5.3 »ein Gedichtelchen oder ein Prosastückli« – Walsers Waldauer Texte | 301 4.5.4 »Es handelt sich um einen durchaus ruhigen, umgänglichen Schizophrenen« – Verhandlungen über Robert Walser als Insassen | 319 4.6 Friedrich Glauser – ein dichtendes »mulet« in der Waldau | 326 4.6.1 Schreiben »im Aquarium« | 335 4.6.2 Waldau als Ort der Lektüre | 348 4.6.3 Das Klinische Jahresblatt | 351 4.6.4 Matto regiert – Diskursivierung des Schreibortes | 363 4.6.5 Schreibanfänge und -widerstände | 364 4.6.6 Die unmittelbare Rezeption von Matto regiert | 371
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Schreiben am Rand Schlussbemerkungen | 381
6 Literatur | 387 7 Abbildungsverzeichnis | 409 8 Register | 413 Anhang | 419 Dank | 443
1 Einleitung
Diese Studie beschäftigt sich mit ausgewählten Texten aus der ›Bernischen kantonalen Irren- und Heilanstalt Waldau‹,1 die zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden sind. Die Arbeit an diesen Texten orientiert sich an folgenden Fragestellungen: Was wird in einer bestimmten Klinik, der Waldau, zu dieser Zeit, von wem, unter welchen Bedingungen weshalb und worüber geschrieben? Mit Anklang an die lateinische Wurzel textus, also ›Gewebe‹ oder ›Geflecht‹, werden hier ganz unterschiedliche Arten von Texten und sprachliche Verflechtungen mit Blick auf ihren Inhalt und ihre Form betrachtet. Sie bilden zusammen ein buntes Gewirk, worin der ›Schreibort Waldau‹ ersichtlich wird. Ausgehend davon, dass »Narrative ein wesentliches Element in der Organisation von Wissensordnungen und ihrer Erkenntnisfähigkeit sind«,2 wird hier untersucht, wie in der und über die Waldau geschrieben und erzählt wird. Damit geht die Frage einher, welches Wissen, verstanden als historisch, sozial und geografisch bedingtes, dadurch entsteht, verfestigt und tradiert wird – und wie sich jenes wiederum auf die Waldau als Schreibort auswirkt. Als Narrativ wird in der Folge eine Konstellation zusammen mit den darin entstehenden Texten verstanden. Diese Konstellation besteht aus drei zentralen Bestandteilen: Erstens einem Schreibort mit seinen spezifischen lokal-räumlichen und materiellen Bedingungen, zweitens einem schreibenden Subjekt und drittens den Zeitumständen. Alle drei können in den Texten auch thematisch verhandelt werden. Um die Herangehensweise an diese Texte zu verdeutlichen, setze ich hier zu Beginn kein einzelnes Zitat, keine ›Urszene‹ und kein ausgewähltes ›Fallbeispiel‹. Vielmehr sind es mehrere Texte oder Abbildungen von Texten, die die Vielfalt ausdrücken, mit der an diesem Ort geschrieben wurde. Die als exemplarisch zu betrachtenden fünf Textausschnitte sind Geschriebenes von bekannten und unbekannten Patienten,3 1 | Die 1855 gegründete ›Bernische kantonale Irrenanstalt Waldau‹ heißt heute Universitätsklinik für Psychiatrie Bern und gehört zu den Universitären Psychiatrischen Diensten Bern (UPD). Mit Blick auf die Situation in Deutschland und Österreich soll hier gleich zu Beginn festgehalten werden, dass es sich bei der Waldau sowohl um eine universitäre Klinik wie auch um eine Anstalt handelt. ›Klinik‹ und ›Anstalt‹ werden hier deshalb (wie in den Quellen) synonymisch verwendet. Der Name der Anstalt hat sich zwischen 1855 und 1929 geändert, siehe dazu Kapitel 3.4.8. 2 | Koschorke (2010), S. 89. 3 | Wenn hier von ›Patienten‹, ›Pfleglingen‹ oder ›Kranken‹ die Rede ist, werden zeitgenössische Begriffe übernommen und damit auch gesellschaftliche Rollenzuschreibungen, womit
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Abb. 1a: Robert Walser an Frieda Mermet, Bern, Waldau, 23. Dezember 1929, recte
Ärzten und anderen Angestellten, die sich in unterschiedlichen Textsorten ausdrücken. Die Gemeinsamkeit dieser fünf Textausschnitte, deren Reihenfolge hier willkürlich ist, besteht darin, dass sie zur etwa gleichen Zeit in oder über die Institution Waldau geschrieben wurden. Die Autoren (sofern sie überhaupt bekannt sind) könnten unterschiedlicher nicht sein, ebenso die Gründe, warum sie an diesem Ort schreiben und die Art, wie sie es tun. In späteren Kapiteln werden diese Texte und ihre Produzenten genauer besprochen und kontextualisiert. Hier sollen sie nur kurz vorgestellt werden, um die Bandbreite der Quellen darzulegen, und um an ihnen zu zeigen, worauf der Fokus dieser Studie gerichtet ist. Verglichen werden die Textausschnitte hier in Bezug auf ihre Materialität, die Schrift, die Autorschaft und den Inhalt. nicht gesagt ist, dass die Menschen in der Waldau tatsächlich ›krank‹ waren. Ob die Menschen krank waren oder nicht, ist nicht Gegenstand dieser Untersuchung.
Einleitung
Abb. 1b: Robert Walser an Frieda Mermet, Bern, Waldau, 23. Dezember 1929, verso
Beim ersten Text (Abb. 1a und 1b) handelt es sich um einen Ausschnitt eines handgeschriebenen Briefs von Robert Walser (siehe Kapitel 4.5) an Frieda Mermet, den er im Dezember 1929 schrieb, als er sich seit fast einem Jahr in der Waldau befand.4 Dieser Brief hat Frieda Mermet erreicht, er wurde von ihr auf bewahrt, weitergegeben und in Walsers Gesamtwerk publiziert. Aus dem Briefausschnitt lässt sich 4 | Darin steht: »Ich habe mich immer je einen halben Tag lang im Freien, d.h. im Garten beschäftigt, wodurch ich vielleicht allerlei Geistesarbeit versäumte. Anderseits konnte mich Letztere umso weniger ermüden oder überanstrengen. […] Meine Schriftstellerarbeit, falls mich Solche ans Pult ruft, besorge ich mit Vorliebe früh vormittags. Unter Anderm schrieb ich eine Art Tagebuch in Form von einzelnen, von einander total unabhängigen, Gedichten. Naturgemäß kommt nun in den Anstaltsverhältnissen nicht mehr so viele Prosa zustande wie vorher in der Stadt, die ich übrigens nur noch selten zu sehen bekomme.« Robert Walser an Frieda Mermet, Bern, Waldau, 23. Dezember 1929, in: ders. (1975), S. 341.
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entnehmen, dass Walser in diesen »Anstaltsverhältnissen« (noch) zum Schreiben kommt. Er erwähnt die Arbeit an einer »Art Tagebuch« und an »Gedichten«. Daneben wird deutlich, dass in der Klinik auch körperlich gearbeitet wird: Walser hilft im Garten aus. Dies stellt er übrigens im Gegensatz zur präsentischen Erwähnung des Schreibens in der Vergangenheit dar: »habe mich […] beschäftigt«. Die »Anstaltsverhältnisse« werden in einen Kontrast zur »Stadt« gesetzt, und Walser bezeichnet es als »[n]aturgemäß«, dass er an diesem neuen Ort und innerhalb der Institution, in der er noch weitere rund drei Jahre bleiben wird, nicht mehr so viel Prosa schreiben kann. Walsers Brief thematisiert damit seine schriftstellerische Schreibtätigkeit (nicht aber die des Briefe Schreibens) und die Schreibbedingungen in der Waldau, ohne genauere Gründe für das Nachlassen der schriftstellerischen Tätigkeit anzugeben. Der zweite Text (Abb. 2) stammt von einem Patienten, Adolf Wölfli (siehe Kapitel 4.2), der im Gegensatz zu Walser erst gegen Ende seines 35 Jahre dauernden Anstaltsaufenthalts berühmt wurde, dies vor allem durch seine Bilder.5 Wölfli sah sich selbst aber (auch) als Schriftsteller. Das hier erwähnte »Vohrwort« betont die Absicht eines Autors, ein literarisches Werk mit den dazugehörigen Paratexten zu schreiben. Wölflis Texte sind von besonders eindrucksvoller Materialität; er hat seine Texte handschriftlich verfasst, mit Zeichnungen und Collagen illustriert und in großen, selbst gebundenen Heften stapelweise angesammelt. Dabei sind die auffällige Orthografie und die reichhaltige Bebilderung sein Markenzeichen. Eine Abschrift dieser Texte beinhaltet also immer eine besonders auffällige Reduktion der ästhetischen Ebenen des Originals. Bei der Lektüre von Wölfli-Texten muss also die Materialität der kunstvollen Anordnung von Text und Bild im Hinterkopf behalten werden. Wie bereits der erste Text nennt auch derjenige Wölflis den Ort, an dem er verfasst wurde. Auch Wölflis Erzähler erwähnt die »Anstalt« als Aufenthaltsort und fügt an, er werde dort von »Heimweh« geplagt. In den Rahmen einer größeren ›Verortung‹ gesetzt, könnte man die Stadt, von der Walser spricht, als Makrokosmos bezeichnen. Dieser beinhaltet das gesellschaftliche Leben und ist damit das grundsätzlich Andere, die Außenwelt und damit ein Gegensatz zum Anstalts-Ort als Mikrokosmos. In Wölflis Zitat wird diese Beschreibung der Örtlichkeit jedoch noch differenziert, indem die verschlossene Zelle als Ort der Unterbringung genannt wird. Dadurch wird die Zelle zum Mikrokosmos zweiter Stufe – innerhalb der Klinik als bereits von der Gesellschaft abgetrenntem Raum. Die scheinbare Beschränkung des Blickes auf den Ort Waldau ohne dessen Umwelt wird in der literarischen Welt Wölflis aufgehoben, wenn seine Figuren die Welt oder gar den Kosmos bereisen. Wölfli hat als Autor einerseits also den Mikro-Mikrokosmos der Zelle im Blick, verlässt ihn aber, um die Grenzen des Makrokosmos in seiner Fiktion auszuloten. Der Aufenthalt an diesem, sich durch Begrenzungen auszeichnenden Ort ›Zelle‹ wird im Zitat aus dem »Vohrwort« begründet. Der Erzähler erwähnt einen »Fehler« und gibt damit einen Hinweis auf einen – wenn auch akzidentellen – Grund für den Aufenthalt in der Klinik. Dass er sich an diesem Ort aufhalten muss, wird beklagt, denn das Dasein dort sei ein »kärgliches«. 5 | Abb. 2, Linke Seite: Einleitung in Poesii, rechte Seite: »Vohrwort. Voll Wehmut, Reue, Schmerzen, Heimweh, Angst und Grahm, verbringe ich schon volle 14 Jahre mein kärgliches Dasein hintt’r ver=schloss’ner Zellen=Thüre, in der Irren=An=stalt Waldau: Auss’r Fähigkeit, einen begange=nen Fehler als wirklicher Unglüksfall wied’r guth zu machen«. Wölfli (1985a), S. 7 f.
Einleitung
Abb. 2: Adolf Wölfli: Vorwort aus Von der Wiege bis zum Graab. Oder durch arbeiten und schwitzen, leiden und Drangsal bettend zum Fluch
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Abb. 3: Eintrag in der Krankengeschichte des Herrn F., 15. März 1913
Der dritte Textausschnitt (Abb. 3) entstammt einer mit Schreibmaschine auf große Bögen anonym verfassten Krankenakte.6 Der Satz ist grammatisch subjektlos, er fasst protokollartig in flektierten Prädikaten mit Angabe des Datums zusammen, was der Patient, Herr F., tagsüber macht. Die von der angestellten Person ausgeführte Beobachtung des Patienten knüpft an frühere Beobachtungen an, wie die Bemerkung »in gewohnter Weise« zeigt – die Betätigung des Insassen scheint eine gleichförmige zu sein. Die anonyme Autorenposition beschreibt aber nicht nur, was Herr F. tut, sie wertet auch: Sein Schreiben, Zeichnen und Rechnen wird als »sinnlos« eingestuft. Der Textausschnitt zeigt durch seine spezifische Kombination von Inhalt und Form, dass die Person, welche die Krankenakte führt, einerseits eine Beobachtungs- und damit Kontrollposition innerhalb der Institution innehat, die vermutlich mit einem Schreibauftrag, nämlich der Aufgabe, diese Tätigkeiten mit Datum versehen zu protokollieren, verbunden ist. Andererseits wagt es die schreibende Person über das Protokollieren hinaus, die (ästhetischen) Produkte des Herrn F. zu beurteilen. Die Erwähnung von »Ställen und Kasernen« lässt darauf schließen, dass sich der schreibende Vertreter der Klinik das von Herrn F. Gezeichnete und Beschriebene angeschaut hat, und er oder sie sich also zumindest im beruflichen Rahmen dafür interessiert. Das subsumierende »etc etc« aber weist darauf hin, dass dem Verfasser der Notiz vieles nicht erwähnenswert scheint, was die Wertung dieser Produkte als sinnlos potenziert. Mit Roland Barthes gesprochen handelt es sich bei diesem Text um ein transitives Schreiben,7 ein Schreiben also, das Sprache verwendet, um Objekte zielgerichtet zu fassen (hier den Patienten, sein Schreiben und Zeichnen). Beim vierten Text (Abb. 4a und 4b) handelt es sich um Ausschnitte eines handschriftlich verfassten Briefes eines Patienten, Herrn Sch., an seine Frau.8 Aus heutiger Sicht mag es erstaunen, dass sich dieser Brief (zusammen mit vielen anderen) in der Krankenakte befindet. Er wurde also offensichtlich nicht abgeschickt, jedoch als auf bewahrungswürdig befunden. Im Gegensatz zum Umgang mit den Briefen 6 | Abb. 3, Abschrift: »Schreibt und zeichnet und rechnet in gewohnter Weise, hat mit Ställen und Kasernen etc etc zu tun; alles vollkommen sinnlos.« Eintrag in der unpublizierten Krankengeschichte (in der Folge abgekürzt als Kg – zur begrifflichen Unterscheidung von der Krankenakte siehe Kapitel 4.1) des Herrn F., Kg Nr. 4754, Eintrag vom 15. März 1913, S. 12. Zu den Akten als Textsorte und Textsammlung siehe Kapitel 4.1. 7 | Barthes: Literatur oder Geschichte [1960]. In: ders.: (1982), S. 101–109. 8 | Abschrift: »Ich mag nicht mehr leben[,] die Verantwortung ist zu groß & was vielleicht noch schlimmer ist, als geisteskranker Mensch in irgend einer Anstalt zeitlebens dahin zu vegetieren[,] das bin ich auch nicht im Stande. […] Bitte in Deinem nächsten Brief den Herrn Direktor[,] das[s] er mir deine Antwort zukommen lässt. Brauchst mir nur zu schreiben[,] wie es Euch geht. Es grüßt & küßt euch alle herzl. Euer schlechter Papa.« Herr Sch. an seine Frau, Waldau /Bern 1.12.11, Brief nicht abgeschickt. In: Kg Nr. 6907.
Einleitung
Abb. 4a: Brief von Sch. an seine Frau, überschrieben mit »Waldau /Bern 1.12.[19]11.«
Abb. 4b: Brief von Sch. an seine Frau, überschrieben mit »Waldau /Bern 1.12.[19]11.«
Walsers wurde (zumindest teilweise) verhindert, dass Briefe von Sch. das Gelände der Waldau verlassen konnten – und wie der Briefausschnitt es thematisiert, wurden Sch. auch keine oder zumindest nicht alle Briefe zugestellt. Der Direktor wird als Entscheidungsträger, der diesen Briefverkehr steuert, aufgeführt. Sch. wendet sich in vielen Briefen ohne Umwege an den Direktor der Klinik, Wilhelm von Speyr (1852–1939). Hier aber versucht er, seine Frau dazu zu bringen, beim Direktor einen erleichterten Briefverkehr zu beantragen. Es ist durchaus möglich, dass es Herrn Sch. bewusst war, dass von Speyr auch diesen Brief zu Gesicht bekommen würde, und Sch. sich also damit indirekt auch an den mächtigen Direktor wandte. Der Brief enthält damit zumindest potenziell eine doppelte Adressatenstruktur. Die Frage, welche Interessen dafür sorgten, dass gewisse Briefe zurückgehalten wurden und andere nicht, kann heute nicht schlüssig beantwortet werden, weil Dokumente, die diese Praxis erklären würden, fehlen. Herr Sch. ist ein unbekannt gebliebener Patient, dessen Spuren sich nach dem kurzen Anstaltsaufenthalt verlieren, zumal er nach Deutschland, in seine Heimat, transferiert wurde. Er ist einer, der in der Waldau viel, engagiert und oft am Rande der Verzweiflung Briefe
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schrieb. Ob die Ärzte oder der Direktor diese Briefe vom psychologischen Standpunkt her als zu deprimierend, vom gesellschafts-politischen aus als zu negativ gegenüber der Institution eingestellt oder von der wissenschaftlichen Warte aus als schlicht interessant für die Forschung am Patient als ›Fall‹ fanden, ist im Nachhinein nicht mehr zu entscheiden. Der Brief fand seinen Bestimmungsort und seine Adressatin, Frau Sch., auf jeden Fall nicht. In vielen Krankenakten liegen noch Briefe von Patienten – die Praxis der Kommunikationskontrolle durch die Angestellten war bis weit ins 20. Jahrhundert hinein üblich. Die Texte sind dadurch auch Belege für Anstaltspraktiken und sie zeigen Machtverhältnisse auf. Der fünfte Textausschnitt steht am Anfang eines von Hermann Rorschach 1917 im Correspondenzblatt für Schweizer Ärzte publizierten Aufsatzes mit dem Titel Assoziationsexperiment, Freies Assoziieren und Hypnose im Dienst der Hebung einer Amnesie. Er lautet: »J. N ., Soldat einer Radfahrerabteilung der schweizerischen Armee, kam um Mitte Dezember 1914 zur Begutachtung in die Anstalt Waldau. Er war am 26. November in Urlaub gegangen und nach Ablauf des zehntägigen Urlaubs nicht zur Truppe zurückgekehrt.« 9
Hermann Rorschach war vom Sommer 1914 bis Herbst 1915 als Assistenzarzt in der Waldau tätig.10 Der Text beginnt mit der anonymisierten Nennung des Patienten, seiner Funktion als Soldat und mit dem Zeitpunkt und Grund der Internierung in der Waldau: Es handelt sich um eine sogenannte »Begutachtung«. Im weiteren Verlauf verwendet Rorschach Zitate eines Polizisten, eines Arztes und solche des Patienten, fügt dann Ausschnitte aus der Krankengeschichte an und präsentiert die im Titel des Aufsatzes erwähnten Therapieversuche, ihre Wirkungen und schließlich eine Diagnose. Der Text zeigt damit den Ort Waldau als Aufnahmeort für akut erkrankte Menschen und den Arzt als Behandelnden und Forschenden an diesem Ort. In der collagenartigen Verschränkung von unterschiedlichen Textelementen wird ersichtlich, wie sich das Genre ›Fallgeschichte‹11 weiterentwickelt und verfestigt, und sie zeigt auch, welche Form ein Text haben kann oder muss, um zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einer Fachzeitschrift abgedruckt zu werden. Die zeitliche Verschiebung zwischen der Behandlung des Patienten durch Rorschach und der Publikation des Aufsatzes verdeutlicht, dass es für die besonderen ›Fälle‹ eine Möglichkeit gibt, die Anstaltsgrenzen zu überschreiten, dann nämlich, wenn ein Arzt eine Stelle wechselt und die schriftliche Dokumentation seines wissenschaftlichen ›Falls‹ mitnimmt, während die Patienten meistens innerhalb der Mauern, am Ort bleiben. Der Text gibt auch eine mögliche Erklärung, weshalb gewisse Unterlagen unter Umständen nicht mehr vorhanden sind – die Ärzte haben von ihren Ausbildungs- und Anstellungsstationen in den unterschiedlichen (schweizerischen) Anstalten oft nicht nur ihre Abschriften und Notizen, sondern auch Originalunterlagen besonders interessanter ›Fälle‹ mitgenommen. Damit haben sich auch Lücken in den Beständen der Klinikarchive gebildet, die sich heute nur schwer schließen lassen.
9 | Rorschach (1965b), S. 82. 10 | Siehe Kapitel 3.6.2.3 und die Tabelle V über die Ärzte der Waldau im Anhang. 11 | Siehe Kapitel 4.1.
Einleitung
Diese fünf Texte zeigen im Vergleich von Materialität, Geschichte, Inhalt, Autorschaft und des in den Texten aufgeschriebenen und wirkenden Wissens auf, wie heterogen der Text- und Quellenkorpus ist, der dieser Studie zugrundeliegt. In ihm versammeln sich fiktive Texte sowie Sach- oder Gebrauchstexte, geschrieben von Schriftstellern und Schreibern.12 In dieser Textvielfalt scheinen die Diskurse der Vernunft und des ›Wahnsinns‹ teilweise gut verständlich auf, teilweise sind sie eingeschränkt und nur als »Geräusch«13 wahrnehmbar. Gemeinsam ist den Texten das Be- und Umschreiben des Ortes und der Bedingungen ihrer Entstehung. Damit machen sie, gerade in ihrer Heterogenität, die Waldau zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Schreibort sichtbar. Diese Studie widmet sich Texten aus der Waldau, weil es zu dieser Klinik nur wenige Forschungsarbeiten gibt und weil den Texten bisher, im Gegensatz etwa zu den Bildern, wenig Aufmerksamkeit zukam. Bildnerischen Arbeiten Kranker wurde und wird oft eine einzigartige Unmittelbarkeit attestiert, was zur Folge hat, dass Geschriebenes im Vergleich dazu als Sekundäres empfunden und in der Forschung weniger bearbeitet wird. Um die Fülle an Geschriebenem, das hier bearbeitet wird, für einen ersten Überblick grob zu strukturieren, werden in den folgenden Abschnitten erstens einige methodische Überlegungen erläutert, zweitens der Ort und die Zeit beschrieben, drittens die Quellenlage problematisiert und der Forschungsstand wiedergegeben, bevor viertens die Gliederung der Arbeit aufgeführt wird.
1.1 M e thodische Ü berlegungen Ausgehend von Barthes’ Diktum, es gebe »keine geschriebene Sprache, die nicht auch gleichzeitig etwas zur Schau«14 stelle, kann die These formuliert werden, dass das implizit zur Schau Gestellte bei den als Beispiele ausgewählten Texten die spezifischen Schreibbedingungen sind, denen einzelne Personen innerhalb einer bestimmten schweizerischen Klinik zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit unterschiedlichen Konsequenzen unterworfen sind. Da ein einzelner Text oder eine einzelne Textsorte nur einen Teil dieser spezifischen Schreibbedingungen zur Schau stellen kann, ist es notwendig, die Offenheit und Breite des Textkorpus’ zu erhalten und gleichzeitig exemplarisch einzelne Texte vorzustellen. Ein kulturwissenschaftlicher Ansatz soll der im Korpus und in der sich erst ausdifferenzierenden Disziplin Psychiatrie angelegten Interdisziplinarität Rechnung tragen. In Kapitel 3, das sich mit der Geschichte, dem Klinikalltag und den Akteuren beschäftigt, aber nicht nur dort, kommt eine wissensgeschichtlich orientierte Lesart zur Anwendung, weil sich damit das versprachlichte Wissen von der Anstalt und so auch die Bedingungen für die Entstehung der Texte an diesem Ort analysieren lassen. Eine Institutionsgeschichte der Waldau steht noch aus. Ausgehend von der Überzeugung, dass sich Texte, die in der Waldau geschrieben wurden, nur durch ihre Kontextualisierung und Historisierung sinnvoll in Bezug zu einem Wissen über den Schreibort 12 | Siehe zu dieser Unterscheidung Barthes’ Ausführungen in Schriftsteller und Schreiber von 1960, in: ders. (1982), S. 101–109. 13 | Foucault (1974), S. 12. 14 | Barthes Am Nullpunkt der Literatur. In: ders. (1982), S. 9.
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setzen und analysieren lassen, enthält diese Arbeit ein ausführliches drittes Kapitel zur Geschichte der Anstalt und zu unterschiedlichen Beteiligten. Gestützt auf Michel Foucaults Arbeiten werden Verfahren der Diskursanalyse angewendet, weil sich anhand der in den für die Klinik spezifischen diskursiven Praktiken Verfahren des Ein- und Ausschlusses sowie Machtverhältnisse beschreiben lassen. Den untersuchten Texten wird dabei eine mehr oder weniger starke Verstrickung mit der institutionalisierten Rede über ›Wahnsinn‹ unterstellt. Diese ist einerseits historisch gebunden, andererseits kommt – in der Folge des spatial turn – der Prägung ebendieser Rede durch den Ort ihrer Entstehung eine konstitutive Bedeutung zu. Bei Ersterem wird hier in Abgrenzung zu Foucaults früher Beschäftigung mit dem Thema ›Wahnsinn‹ nicht davon ausgegangen, dass es eine unmittelbare Sprechweise des Wahnsinns gibt, die sich im Schreiben eines Patienten etwa als »Blitz« oder »Schrei«15 manifestieren könnte und zu der vorzudringen einem Rezipienten möglich wäre. Vielmehr zeigen sich in den sprachlichen Produkten die historisch und kulturell bedingte Konstruktion, die mediale Vermittlung und Verbreitung unterschiedlichen Wissens vom ›Wahnsinn‹. Unter so etwas wie Wissen über ›Wahnsinn‹ wird ein Sammel- wie auch ein Grenzbegriff verstanden: Als Sammelbegriff enthält er unterschiedliche nosologische Konzepte und Theorien eines sich differenzierenden Spezialdiskurses Psychiatrie, als Grenzbegriff weist er auf die Lücken und die Bedingtheit ebendieses Wissens hin. Es ist ein Wissen, das in seiner sprachlichen Manifestation produktive Verbindungen zu einem Nicht-Wissen als seinem Gegenstück oder dem Noch-nicht-Wissen als zeitlich Vorgelagertem enthält und diese dialektischen Verbindungen auf verschiedene Weise sprachlich thematisiert.16 Wissen und Nicht-Wissen werden nicht als ontologische Kategorien, sondern als Produkte der Diskursanalyse verstanden. Beide Formen des Wissens sind zudem an das Medium der Schrift gebunden. Als Mittel zur Speicherung, Archivierung und Tradierung von Informationen ist die Schrift – und damit sind es auch ihre materiellen Gegebenheiten – Grundlage für das zur Schau Gestellte und formiert damit auch den Untersuchungsgegenstand. »[Z]ur Schau«17 gestellt im Sinne Barthes’ werden in den obigen Textbeispielen spezifische Schreibanlässe, die (Un-)Möglichkeit, eine Schreibgelegenheit zu finden, aus der Klinik heraus einen Adressaten, ein Publikum anzusprechen und die eigene Situation in einem Brief oder in Fiktion transformiert darzulegen. Der Eintrag in die Krankenakte bildet die Beziehung zwischen einer in der Waldau angestellten Person und dem dort internierten Patienten ab. Der Schreibort Waldau ist Produktionsort und damit Ursprung dieser Texte – darüber hinaus ist er aber als Reflexionsort mit seinen Themen und Motiven auch ein weiteres, die Texte verbindendes Element. Im Fokus stehen also die drei Themenfelder Schreiben, Ort und Wissen sowie ihre Überschneidungen in der Waldau. Dieses Wissen wird von unterschiedlichen Akteuren (wie Ärzte, Behörden, Patienten, Außenstehende) aus verschiedenen Perspektiven sprachlich konstruiert, aufgenommen und weitergetragen. Die Waldau wird somit in den Texten gleichsam konstituiert wie auch präsentiert. Es ist das Schreiben in und über die Waldau und über Krankheit, das im Folgenden analysiert werden soll, und damit nicht die ›wirkliche‹ Waldau oder die ›wirklichen‹ Lebens15 | Foucault (1954), S. 132. 16 | Zur Beziehung von Wissen und Nicht-Wissen siehe Bies/Gamper 2012 und Wernli 2012a. 17 | Barthes (1982), S. 9.
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geschichten und Krankheiten, zu denen nicht vorgedrungen werden kann. Mit der Betrachtung der Schreibweisen und der spezifischen rhetorischen Mittel stehen vielmehr Facetten einer Anstalt und einzelner Leben im Zentrum der Untersuchung –, im Gegensatz zum Nacherzählen einer Geschichte werden die Diskontinuitäten und Brüche der vielen Geschichten dieses Ortes aufgezeigt.
1.2 O rt und Z eit : D ie W aldau zwischen 1895 und 1936 Die skizzierte multilaterale Betrachtung des Schreibortes konzentriert sich auf den Zeitraum zwischen 1895 und 1936: 1895 wird Adolf Wölfli (1864–1930) zur Untersuchung in die Waldau eingeliefert, 1936 kann Friedrich Glauser (1896–1938) diesen Ort verlassen. Die Wahl eines Anfangs- und Endpunktes orientiert sich damit am Lebenslauf berühmter Patienten einer psychiatrischen Institution, die Mitte des 19. Jahrhunderts eine der ersten der Schweiz war.18 Dazwischen verbringen viele andere Patienten einen Teil ihres Lebens in der außerhalb von Bern gelegenen Anstalt. Die Wahl des Zeitraumes lässt sich aber auch an massiven Umbrüchen in der Disziplin Psychiatrie und an der Anstaltsgeschichte festmachen. So deckt der Zeitraum die Direktorenzeit Wilhelm von Speyrs ab und kann den Wechsel zu Jakob Klaesi und die Folgen für die Anstalt sowie für die Patienten aufzeigen. Da die Zeit zwischen der Ankunft Wölflis und dem Austritt Glausers denselben Zeitraum mit dem Übergang zu Klaesi abdeckt, wird die Auswahl der rund vierzig Jahren etwas plakativ an den berühmten Autoren festgemacht – auch wenn es hier nicht nur um sie gehen soll und ihre Anwesenheit nicht der einzige Grund für die Wahl darstellt. Die dokumentierte Geschichte der Waldau beginnt mit administrativen Texten wie dem bereits zitierten Bericht von 1855. Darin schreibt der erste Direktor der Klinik, Albrecht Tribolet, über den Ort, an dem die neue Anstalt zu stehen kommt:
18 | Schott und Tölle setzen mit der Waldau einen Anfangspunkt der helvetischen Anstaltspsychiatrie: »Die psychiatrischen Institutionen entwickelten sich in der Schweiz relativ spät, den Beginn kann man mit der Eröffnung der von F. J. A . Tribolet (1794–1871) geleiteten Anstalt Waldau in Bern 1855 ansetzen.« Schott/ Tölle (2006), S. 263. Weitere psychiatrischen Kliniken wurden gegründet: Im ehemaligen Kloster Rheinau 1867, im Folgejahr eine im aargauischen Königsfelden, in Zürich das Burghölzli 1870, in Basel 1886 die Friedmatt, in Münsingen 1895 eine weitere Bernische kantonale Irrenanstalt, im selben Jahr in Münsterlingen, im ehemaligen Kloster, die Thurgauische Irrenheilanstalt, die dritte Berner Klinik dann in Bellelay 1899, und schließlich etwas später im appenzellischen Herisau die Klinik Krombach (1908). Diese Institutionen haben insofern Verbindungen zur Waldau, als Ärzte-Karrieren mit Aufenthalten an unterschiedlichen Arbeitsorten verbunden sind. Speziell an der Waldau ist, dass auf ihrem Gelände die Geschichte der Versorgung von Kranken bis ins 15. Jahrhundert zurückreicht (siehe Kapitel 3.2). In seiner Darstellung von Hermann Rorschachs Leben und Werk, zitiert Henri Ellenberger ein scheinbar zeitgenössisches »Bonmot«, das die damaligen drei großen deutschschweizerischen universitären Psychiatrien miteinander vergleicht. Es lautet: »›Wenn du gut essen willst, geh in die Friedmatt; wenn du gut schlafen willst, in die Waldau; wenn du etwas lernen willst, ins Burghölzli.‹« Ellenberger (1965), S. 33.
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Schreiben am Rand »Die Lage sei eine freundliche ländliche, an einem leichten Abhange am südlichen Ende des Schermenwaldes und durch diesen gegen die herrschenden Winde geschützt, mit herrlicher Aussicht auf die freundliche Gegend und den größten Theil des Hochgebirges. Der Boden des dazu gehörigen Guts sei leicht zu bearbeiten und abträglich; Wasser und zwar fließendes sei in reichlichem Maße vorhanden; die Entfernung von der Stadt gerade die passendste, um die Nachtheile einer zu großen Nähe nicht zu haben, dagegen die Vortheile von deren Nachbarschaft zu genießen. In der Nähe sei nichts, das störend auf das Leben und die Ordnung der Anstalt einwirken könne.«19
In der indirekten Rede gibt Tribolet die Ausführungen der vom Regierungsrat 1848 für die Planung und Beurteilung des Bauvorhabens eingesetzten Expertenkommission wieder. Neben den geografischen Details wird mit dem angeblich leicht zu bearbeitenden Boden und der Erwähnung des Wassers auch der landwirtschaftliche Kontext dargelegt, in den die Klinik gesetzt wird. Die Abgelegenheit des Ortes wird als »passend[ ]« beschrieben. Aufgrund dieser bewusst gewählten Abgeschiedenheit des Ortes kann von einer Diskursgesellschaft der Waldau gesprochen werden. Dieser Diskursgesellschaft kommt nach Foucault die Aufgabe zu, »Diskurse aufzubewahren oder zu produzieren, um sie in einem geschlossenen Raum zirkulieren zu lassen und sie nur nach bestimmten Regeln zu verteilen«.20 Inwiefern die Anstaltsmauern eine spezifische (Un-)Durchlässigkeit für (psychiatrische) Diskurse haben, und wer wann und wie Zugang zu diesen Diskursen hat, wird im dritten und vierten Kapitel thematisiert. Bezüglich der Größe dieser Gesellschaft rechnete man bei der Anstaltsplanung mit 200 Insassen: »In Betreff der Ausdehnung der Anstalt glaubte man: es können 200 Plätze für das Bedürfniß des Kantons genügen, tiefer dürfe man jedoch nicht gehen, wenn man nicht die Gefahr laufen wolle, in wenigen Jahren Anbaue zu machen, was dem äußern Ansehen und der innern Ordnung jeder Anstalt nachtheilig sei, obige Zahl nicht reduzirt werden.« 21
Dass diese Berechnung dem »Bedürfniß des Kantons« jedoch nicht genügte, zeigen die rasant steigenden Patientenzahlen der folgenden Jahre. Anfang 1895 befanden sich bereits 435 Kranke in der Waldau. Ende des Jahres waren es nur deswegen weniger (nämlich 408), weil in der Zwischenzeit die zweite bernische Irrenanstalt in Münsingen eröffnet worden war, welche Patienten von der Waldau übernommen hatte. Für eine Übersicht über die Patientenzahlen und ähnliche ›Fakten‹ sind die Jahresberichte die zentrale Quelle.22 Gegen Ende des besprochenen Zeitraumes liegt eine besondere Situation vor: Für die Jahre 1935 bis 1939 sind keine publizierten Jahresberichte, sondern nur mit Schreibmaschine verfasste, kurz gehaltene, interne Berichte vorhanden.23 Ende 1936 waren 1115 Patienten in der Waldau – mehr 19 | Bericht von 1855, S. 9. 20 | Foucault (2001), S. 275. 21 | Bericht von 1855, S. 9. Im Organisations-Reglement ist dann von 230 Patienten die Rede. Ebd. S. 16; 18. 22 | Zu den Jahresberichten als Quellen siehe Kapitel 3.1. 23 | Im mit Schreibmaschine verfassten Jahresbericht der bernischen kantonalen Heil- & Pflegeanstalt Waldau von 1939 steht: »Die Anstaltschronik können wir mit Rücksicht auf
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als doppelt so viele wie vierzig Jahre zuvor und über viermal so viel wie zur Gründungszeit der Klinik geplant waren (Abb. 5). Abb. 5: Patientenzahlen der Waldau, 1855 und 1895–1936. Von den anfänglich rund 200 Patienten verfünffachte sich die Zahl bis in die 1930er Jahre.
Dieser Zeitraum zeichnet sich aber nicht nur durch eine stetig steigende Patientenzahl und durch die zwischenzeitliche Anwesenheit berühmter Patienten aus, wie etwa des Schachmeisters Hans Fahrni (1874–1939),24 des Schriftstellers und Alpinisten Hans Morgenthaler (oft nur Hamo genannt; 1890–1928), des Journalisten und Schriftstellers Carl Albert Loosli (1877–1959)25 oder der durch neuere Arbeiten bekanntgemachten Constance Schwartzlin-Berberat,26 sondern es ist auch die Zeit einer auffällig langen, konstanten Leitung der Anstalt. Im untersuchten Zeitraum wird die Heil- und Irrenanstalt zuerst, ab 1890, vom Basler Psychiater Wilhelm von Speyr geführt, der 1933 in hohem Alter und nach über vierzig Jahren als Direk-
die Tatsache, dass sie doch nicht veröffentlicht wird, kurz fassen.« Jahresbericht (in der Folge jeweils abgekürzt mit Jb) 1939, S. 9. Der Grund für den zeitweiligen Publikationsstopp wird nicht angegeben, er dürfte aber mit der Krisenzeit zusammenhängen. In den 1941 publizierten Jahresberichten der bernischen kantonalen Heil- und Pflegeanstalten Waldau, Münsingen und Bellelay und der Aufsichtskommission für das Jahr 1940 findet sich jedoch die Bemerkung: »Auf vielseitigen Wunsch erscheinen die Jahresberichte nach mehrjährigem Unterbruch nun wieder im Druck, diejenigen der kantonalen Heil- und Pflegeanstalten aus Ersparnisgründen in gekürzter Fassung.« (Jb 1940), S. 4. 24 | Fahrni wird in Briefen und anderen Texten Friedrich Glausers erwähnt, siehe Kapitel 4.6.3. Eine Einsicht in die Akten Fahrnis wurde auf Anfrage der Verfasserin im Mai 2009 von PD Dr. Altorfer nicht erlaubt. 25 | Einer Anfrage (2009) nach Einsicht in Looslis Akten wurde von PD Dr. Altorfer nicht stattgegeben. 26 | Siehe den Beitrag von Florence Choquard Ramella (2008) zu Schwartzlin-Berberat und die Transkription aus dem Cahier de Téléphone cuisine in: Luchsinger (2008), S. 75–80 und die dazugehörigen Abbildungen.
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tor von Jakob Klaesi abgelöst wird.27 Die äußerst lange Ära unter von Speyr führte dazu, dass die Waldau nicht gerade als Ort der Erneuerungen und der innovativen Behandlungsmethoden galt. Vielmehr setzte von Speyr auf ein Zusammenleben von Patienten und Angestellten an einem ruhigen Ort und auf eine anzustrebende Genesung durch Bettruhe oder regelmäßiges Arbeiten in der Landwirtschaft.28 Damit schloss er an den schon von seinem Vorgänger, Rudolf Schärer, aufgebauten Mythos des familiären Zusammenlebens in der Anstalt an und baute ihn weiter aus. Schärer schreibt im Jahresbericht von 1880: »Das Schönste aber, was die Waldau besitzt, ist der Geist der Eintracht, der Aufopferung, der Hingabe für das Wohl der ihr Anvertrauten, ist das freundliche Familienleben, in welches alle, die Beamten, die Angestellten und die Kranken eingeschlossen sind«.29 Der wohl unabsichtlich gewählte, doppeldeutige Ausdruck des »eingeschlossen«-Seins dürfte die Situation der Patienten zu Schärers und von Speyrs Zeiten wiedergeben. Während die Insassen positiv verstanden an einem künstlichen Familienleben teilhaben können (die Ärzte und die sogenannten ›Wärter‹30 wohnen zusammen mit den Patienten in der Klinik), sind sie in der negativen Lesart des Zitats an einem Ort des Ausschlusses ständiger moralisierender und pathologisierender Kontrolle unterworfen. Isolation, Ruhe und Arbeit scheinen für lange Zeit die hauptsächlichen ›Therapiemittel‹ gewesen zu sein. Neue Behandlungsmethoden wie etwa Lobotomie, Elektroschock oder Insulintherapie werden in der Waldau erst in den 1930er Jahren angewendet.31 Nichtsdestotrotz verändern sich um die Jahrhundertwende Patientenbild, Behandlungsweise und ihre Beschreibung in wechselseitiger Beeinflussung. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wird (zumindest in der Theorie) vermehrt von Behandlungsarten mit Zwangsmitteln abgeraten, die aktive Beschäftigungstherapie setzt sich Ende der 1920er Jahren durch. Die Psychoanalyse eröffnet neue Deutungsmuster und Behandlungsmethoden – allerdings kann keine Rede davon sein, dass sie das Potenzial zum breitentauglichen Therapiemittel gehabt haben könnte. Dies war aufgrund weitverbreiteter Skepsis und Ablehnung vonseiten der Ärzte und wegen des Zahlenverhältnisses zwischen Ärzten und Patienten, das eine psychoanalytische Behandlung in einer öffentlichen Anstalt in größerem Umfang verhinderte, unmöglich. Betrachtet man beispielsweise das Jahr 1900, so zeigt der Waldauer Jahresbericht ein Verhältnis von drei Ärzten (wovon einer der Direktor ist) und einem Assistenten zur Behandlung von 471 Patienten auf – jeder hatte also über hundert Patienten zu betreuen. Vielleicht aber gerade weil in der Waldau im erwähnten Zeitraum vordergründig keine großen Umbrüche geschahen, ist es dieser Ort, der es dem Berner Psychiater Walter Morgenthaler (1882–1965) ermöglichte, eine besondere und neue Art von Forschung zu betreiben. Er studierte die Schriften und Bilder seiner Patienten, förderte ihre kreativen Arbeiten und legte eine Sammlung an, welche die größte 27 | Zu Wilhelm von Speyr siehe die Kapitel 3.5 bis 3.5.4, zum Übergang zu Klaesi Kapitel 3.12. 28 | Roman Kurzmeyer (1993) erläutert in seinem Aufsatz Adolf Wölfli – Insasse die Besonderheiten der Klinik unter der 43-jährigen Leitung durch Wilhelm von Speyr, der den Neuerungen im Psychiatriewesen ablehnend gesinnt war. 29 | Jb 1880, S. 19. Zu Schärer siehe Kapitel 3.3.4. 30 | In der Folge wird die Berufsbezeichnung nicht mehr in Anführungszeichen gesetzt, sondern als zeitgenössisches Vokabular übernommen. 31 | Zu den Behandlungsmethoden in der Waldau siehe Kapitel 3.11.
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Sammlung in einer psychiatrischen Klinik der Schweiz werden sollte.32 Für seine Habilitationsschrift Übergänge zwischen Zeichnen und Schreiben von 1918 sichtete er nach eigenen Angaben rund 8000 Krankengeschichten der Waldau und untersuchte 77 ›Fälle‹ genauer.33 Bekannt wurden er und einer seiner Patienten aber vor allem durch die 1921 erschienene Monografie Ein Geisteskranker als Künstler. Adolf Wölfli.34 Für den hier zu beschreibenden Zeitraum und Forschungszusammenhang ist Morgenthaler einer der wichtigsten Ärzte – zunächst aufgrund seiner unkonventionellen Arbeitsweise und seiner Publikationen, hauptsächlich jedoch wegen seiner Sammlung. Ihr sind auch viele der Quellen dieser Studie zu verdanken.
1.3 Q uellenl age und F orschungsstand Wie bereits gezeigt wurde, liegen dieser Arbeit unterschiedliche Quellentypen zugrunde; sie lassen sich grob in vier Textkomplexe einordnen, aus deren Analyse Facetten eines Bildes der Waldau gezeigt werden: Erstens sind es die Jahresberichte und offiziellen Schriften der Klinik, zweitens die von den Psychiatern und Angestellten verfassten Krankenakten (die ihrerseits meistens ein Konglomerat unterschiedlicher Textsorten darstellen), drittens Texte von Patienten und viertens die wissenschaftlichen Texte der Ärzte. Nicht zentral thematisiert werden also Zeichnungen, Bilder und Objekte, von denen in der Sammlung Morgenthaler viele vorhanden sind und die selbstverständlich auch zu den Patienten und zum Ort Waldau gehören. Dies geschieht, weil die Objekte in anderen Forschungsprojekten bereits bearbeitet werden35 und weil die Bilder sporadisch ausgestellt und teilweise (jedoch leider nicht immer mit einer Kontextualisierung oder weiterführenden Erklärungen) vom Berner Psychiatrie-Museum in Katalogen publiziert werden.36 Neben diesen Bildbänden hat das Psychiatrie-Museum unter der vormaligen Leitung von Rolf Röthlisberger einen Band zur Künstlerin und Patientin Rosa Marbach publiziert, in dem die Bilder kontextualisiert werden und in dem auch die Krankenge-
32 | Siehe auch Luchsinger: »[…] ist in einer grossen Anzahl von Anstalten ein ungeheures Material angesammelt […]«. Schweizer Psychiater als Sammler, in: dies. (2008), S. 16–34, hier: S. 18. 33 | Morgenthaler (1918b). Zu Morgenthaler siehe Kapitel 2.2 und 3.6.2.3. 34 | Morgenthaler (1985). 35 | Hervorzuheben ist das von der Kunsthistorikerin Katrin Luchsinger geleitete und vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützte Projekt Bewahren besonderer Kulturgüter (http://kulturgueter.ch), dessen Ziel es ist, Werke von Patienten psychiatrischer Anstalten der Schweiz als Kulturgut zu sichern und durch die digitale Erfassung auch einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Das Projektteam hat unter anderem ca. 500 dreidimensionale Objekte aus der Sammlung Morgenthaler erfasst. Ausgewählte Objekte sind zu sehen unter http://www.kulturgueter.ch/SaMoBi/SaMoBi_03.html (abgerufen am 28.3.2014). Die Museumsleitung der Waldau sprach sich bedauerlicherweise gegen eine online-Veröffentlichung der ganzen Datenbank aus. Siehe auch Luchsinger (2008); dies./Blum/Fahrni/ Jagfeld (2010). 36 | Siehe etwa Kataloge der entsprechenden Ausstellungen: Käsermann/Jutzeler (2003); dies. (2004); dies. (2006); Altorfer/Jutzeler/Käsermann (2008).
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schichte Marbachs abgedruckt wurde.37 Es zeigt sich also schon für den Zeitraum der letzten rund zwanzig Jahre ein divergierender Umgang in der Verwendung von Krankenakten in Bezug auf die Nennung von Namen, der (Nicht-)Publikation von Krankengeschichten, und es zeigen sich verschiedene Publikationsstile. Diese sind geprägt von Vorlagen und Vorgaben der Institution, von einzelnen Akteuren und ihrem spezifischen Umgang mit den kantonalen gesetzlichen Richtlinien sowie von ihrer individuellen Vorstellung wissenschaftlicher Forschung. Dass die Sammlung Morgenthaler überhaupt noch (zumindest in ihren Restbeständen) vorhanden ist, verdankt sich Herrn Heinz Feldmann, einem langjährigen Angestellten im technischen Dienst der Klinik.38 Er nahm sich den Objekten an und begann, sie in Zusammenarbeit mit Rolf Röthlisberger zu katalogisieren. Gelagert war der ungeordnete Nachlass in einem Dachstock über dem Vorlesungssaal des 1913 erbauten, sogenannten ›Neubau‹ (heute ›Alte Klinik‹ genannt). In diesem Gebäude hatte etwa Morgenthaler gewohnt und gearbeitet. Nachdem Morgenthaler 1920 die Waldau verlassen hatte, wuchs die von ihm angelegte Sammlung in geringem Maße weiter. Bis in die 1960er Jahre war das Interesse an diesem Bestand klein. Danach wurde eine Art ›Ausfuhrverbot‹ notwendig, das Heinz Feldmann initiiert hat, und das bewirkte, dass die mittlerweile historischen künstlerischen Arbeiten am Ort ihrer Produktion und Sammlung blieben. Damit konnten sie zumindest potenziell einem breiteren Publikum zugänglich gemacht werden. Die Inventur ist allerdings noch nicht abgeschlossen. 1990 wurde die Stiftung Psychiatrie-Museum Bern gegründet und die Sammlung vom ehemaligen ›Neubau‹ in das Pfründerhaus verlegt, wo das Museum seit 1993 öffentlich zugänglich ist.39 Darin befinden sich etwa historische Gegenstände wie Deckelbad und Zwangsjacke, die die Behandlungsweisen der Patienten dokumentieren, Sammlungsstücke aus der vormaligen Ausbildung des Personals, von Adolf Wölfli bemalte Schränke und handschriftliche Texte von Patienten. Viele dieser Gegenstände sind von Morgenthaler gesammelt worden, teilweise für die Landesausstellung von 1914.40 Zu den unpublizierten Quellen der Waldau gibt es zurzeit nur erschwerten Zugang. Die Dokumente sind nicht oder nur unvollständig erfasst und katalogisiert. Ein freier Zugriff zum Material zwecks wissenschaftlicher Arbeit wurde auch für diese Untersuchung von der Klinik- und der Museumsleitung nicht ermöglicht.41 37 | Röthlisberger/Lienert (1996). Ebenfalls zu einem früheren Zeitpunkt publiziert wurde ein »Bilder- und Lesebuch mit Materialien aus dem Waldau-Archiv«: Böker/Beretti/Spoerri/ Röthlisberger/Peiry/Thévoz (1997). Darin wurden jedoch den unbekannten Patienten neue Namen gegeben, ohne dass dieses Verfahren benannt und begründet worden wäre. 38 | Heinz Feldmann wird neben anderen porträtiert im Film Hallelujah! Der Herr ist verrückt (Alfredo Knuchel, CH 2004). 39 | Zum Museum siehe Röthlisberger/Jensen (2000); http://www.puk.unibe.ch/cu/museum/ museumra.html (zuletzt abgerufen am 29.4.2010). 40 | Zur Landesausstellung siehe Kapitel 2.2.2. 41 | Ein Gesuch der Verfasserin vom Dezember 2009 an den Klinikdirektor Prof. Dr. med. Strik blieb unbeantwortet. Auch andere Wissenschaftlerinnen sahen sich in der Waldau am Recherchieren gehindert. In den fundierten, aber noch unpublizierten Dissertationsarbeiten von Anna Lehninger und Katrin Luchsinger werden aus diesen Gründen die (auch für ihre Themen durchaus relevanten) Bestände der Waldau gar nicht erst behandelt.
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Die hier bearbeiteten, unpublizierten Krankenakten unbekannter Patienten bestehen aus einer Auswahl des Museumsleiters, PD Dr. Andreas Altorfer. Archivalien und Archivar sind dadurch in besonderem Maße miteinander verbunden. Es handelt sich bei dieser Auswahl um rund ein Dutzend Krankenakten unterschiedlichen Umfangs, deren ältester Patient, Herr L., 1847 und die jüngste Patientin, Frau Be., 1901 geboren sind. Die Namen der unbekannten Patienten wurden aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes anonymisiert. Da die Publikationen des Psychiatrie-Museums die Patienten teilweise mit vollem Namen nennen, können bei Verweisen auf Bilder in jenen Publikationen die entsprechenden Namen der Patienten nachgeschlagen werden. Nichtsdestotrotz wird hier an der Anonymisierung festgehalten. Den Patienten ist gemeinsam, dass sie im Zeitraum zwischen 1895 und 1936 eine bestimmte Zeit ihres Lebens in der Waldau verbracht und dort geschrieben haben. Die Krankenakten können nicht als repräsentativ bezeichnet werden, da der Aktenbestand besagter 41 Jahre nicht überblickt werden konnte. Eher müssen sie als exemplarisch betrachtet werden, und es bleibt zu hoffen, dass in naher Zukunft auch in der Waldau einmal ein genauerer und wissenschaftlich befriedigender Umgang mit den Krankenakten möglich sein wird. Die Quellenlage ist somit nicht nur materialgebunden, sondern auch institutionell bedingt eine besonders lückenreiche. Die von Jacques Le Goff konstatierten »objektive[n] Gegebenheiten«42 des Archivs, die die Selektion betreffen, sind hier besonders störend, weil z.B. Dokumente von und über weibliche Patienten, die hier ausgewertet werden können, deutlich in der Unterzahl sind. Im untersuchten Zeitraum waren jedoch durchschnittlich ungefähr gleich viele Frauen wie Männer in der Waldau interniert (Abb. 6). Dieses Zahlenverhältnis würde eine ausgeglichene Auswahl der Akten von Patientinnen und Patienten für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung erfordern. Abb. 6: Geschlechterverhältnisse der Insassen in der Waldau. Die Darstellung lässt eine fast immer steigende Patientenzahl bei ungefährer Ausgewogenheit der Geschlechter erkennen.
42 | »Die Verluste und die Auswahl, die diejenigen trafen, die die Quellen zusammentrugen, sowie die Qualität der Belege sind objektive Gegebenheiten […].« Le Goff (1992), S. 225.
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Neben der ungleichen Verteilung der Geschlechter in den zur Verfügung gestellten Quellen entsteht auch bei den Lebensläufen ein Problem: Die Praxis, Patienten ihren Lebenslauf schreiben oder zumindest erzählen zu lassen, war Bestandteil des Aufnahmeverfahrens in die Waldau. Es ist deshalb davon auszugehen, dass viele Krankenakten Lebensläufe beinhalten. Bedauerlicherweise enthalten die von der Waldau zur Verfügung gestellten Akten nur im Ausnahmefall von den Patienten verfasste Lebensläufe. Es wird deshalb auf publizierte Lebensläufe und auf indirekte Lebensschilderungen durch die Ärzte zurückgegriffen. Die Le Goff’sche Forderung, »ein Inventar der Archive des Schweigens zu erstellen und die Geschichte auf der Grundlage der Quellen und fehlenden Quellen zu erarbeiten«,43 wird notgedrungen zum Bestandteil dieser ›Geschichte‹ der Waldau. Dabei wird analysiert, wie Beobachtungen, die in der Klinik stattfinden, sprachlich verfasst, reflektiert und tradiert werden – oder eben unbeachtet bleiben. Ungeachtet dieser problematischen Quellenlage sind aber gerade die bisher unbearbeiteten Dokumente von und über unbekannte Patienten besonders facettenreich und eignen sich dazu, die breite Palette von in der Klinik produzierten Texten aufzuzeigen, was durch eine ausschließliche Beschäftigung mit berühmten Patienten und ihrem Schreiben nicht möglich wäre. Es ist hier also nicht Ziel, etwa die Waldau Wölflis als berühmt gewordenem Patienten zu zeigen, sondern eine Ansicht der Klinik aus den unterschiedlichen, verschriftlichten Perspektiven vieler Beteiligter zusammenzusetzen. Keine dieser Perspektiven kann sich als eine vollständige erweisen, weil erstens, wie beschrieben, viele Akten nicht zugänglich sind, und zweitens das hier zentrale ›Genre‹ der Krankenakte als Text- und Materialsammlung eines ist, das nicht als ›vollständige‹ Dokumentensammlung zu einer Person betrachtet werden kann.44 Die Dokumentensammlungen sind vielmehr Produkt einer auf spezifischen Interessen beruhenden Auswahl von Texten vom und über den Patienten. So bieten diese Texte eine Fülle von Spuren an, denen hier nachgegangen wird, ohne jedoch der Illusion zu verfallen, ein ›wirkliches‹ Leben von Patienten sei dadurch darzustellen. Die Texte der unbekannten Patienten befinden sich mit wenigen Ausnahmen in den Aktenmappen, es werden hier aber auch Texte von Patienten vorgestellt, deren Krankenakten in der Waldau nicht (mehr) auffindbar sind oder zu denen der Zugriff verweigert wurde45 – diese Texte können deshalb nur begrenzt in einen Kontext gestellt werden. Viele der Texte sind in deutscher Kurrent- respektive in Sütterlinschrift verfasst, wurden bislang nicht transkribiert und vermutlich auch nicht gelesen. So bietet die vorliegende Arbeit mit ausgewählten Transkriptionen im Anhang auch die Möglichkeit einer ersten Lektüre unbekannter Texte. Neben der offensichtlich lückenreichen Materialsammlung stehen gut aufgearbeitete Nachlässe und Akten der bekannten Patienten, so etwa die publizierte Krankengeschichte Adolf Wölflis46 und die in den jeweiligen Archiven zugänglichen Akten von Friedrich Glauser und Robert Walser.47 Diese berühmten Patien43 | Le Goff (1992), S. 228. 44 | Zu Krankenakten als Quellen siehe Kapitel 4.1. 45 | Dies betrifft etwa den Pascha-Text, siehe Kapitel 4.4. 46 | In: Hunger u.a. (1993), S. 363–394. 47 | Zu Glauser siehe: http://ead.nb.admin.ch/html/glauser.html, zu Walser: http://robert walser.ch/ und zu Wölfli: http://www.adolfwoelfli.ch/.
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ten der Waldau werden von der Forschungsliteratur in unterschiedlicher Weise mit ihrem Aufenthalt in der Anstalt in Verbindung gebracht. Bei Wölfli bindet die Forschung das Werk an den Ort Waldau und Wölflis 35 Jahre dauernden Aufenthalt, weil Wölfli erst in diesem Rahmen einen nennenswerten Bekanntheitsgrad erreichte. Bei Glauser ist die Waldau nur eine der unterschiedlichen Kliniken, in denen er sich immer wieder aufhalten musste. Die Bedeutung des Burghölzli oder diejenige Münsingens, wo Glauser bei Max Müller in die Analyse ging, werden oft stärker gewichtet als diejenige der Waldau, wo er zwischen 1934 und 1936 war und wo er viele Briefe und Kriminalromane wie Matto regiert (1936) schrieb. Bei Walser ist die Waldau der letzte Schreibort. Ab seiner Transferierung 1933 nach Herisau, wo er bis zu seinem Tod 1956 blieb, schrieb er nicht mehr oder zumindest sind aus diesem Zeitraum keine Schriften überliefert. Die rund vier Jahre, die er in der Waldau verbrachte, werden von der Forschung jedoch eher marginal bearbeitet.48 Die drei berühmten Autoren werden hier als Schreibende in der Klinik betrachtet, ihre literarischen Werke also auf die Bedingungen ihrer Entstehung und nicht als zeitlose ästhetische Werke untersucht. Die europäische psychiatriegeschichtliche Forschung, an die sich die vorliegende Arbeit anlehnt, hat sich in den letzten Jahren stark entwickelt. Waren es lange Zeit ausschließlich geschichtsinteressierte Psychiater, die aus medizinhistorischer Perspektive über die Entwicklungen in ihrem Fach oder über einzelne Patienten schrieben,49 gibt es, ausgelöst durch psychiatriekritische Schriften der 1960er Jahre etwa von Michel Foucault oder Thomas Szasz (The Myth of Mental Illness von 1961), seit den 1980er Jahren vermehrt auch ›Außenstehende‹, also Nicht-Psychiater, die sich mit psychiatriehistorischen Themen befassen. Das Gebiet wird seither meistens von Historikern und Historikerinnen bearbeitet, die sich dem Verhältnis von Gesellschaft und Psychiatrie widmen,50 sich mit einzelnen Themengebieten auseinandersetzen wie der Architektur,51 dem »Alltag« in der Klinik,52 der Beziehungen zu Strafjustiz und Militär,53 Psychiatrie und Eugenik,54 oder einzelnen In48 | Vergleiche für den Forschungsstand zu den einzelnen Autoren die jeweiligen Unterkapitel in Kapitel 4. 49 | Zu erwähnen wären etwa Kraepelins Huntert Jahre Psychiatrie von 1917 (reprint: 2006) oder für den Berner Kontext Morgenthaler (1915), Wyrsch (1955); siehe dazu Kapitel 3. Über die schreibenden Psychiater äußert sich Andrew Cull wie folgt: »Until the last two decades [also bis in die 1960er Jahre, Anm. M.W.], psychiatric history was written primarily by amateurs, and a peculiar group of amateurs at that – psychiatrists themselves.« Scull (1991), S. 239. Die Autoren sehen sich jedoch meistens nicht als Amateure, als die sie Cull bezeichnet, sondern als Experten. Aus diesen unterschiedlichen Rollenverständnissen ergibt sich in der Psychiatriegeschichte ein besonderer Konfliktstoff. 50 | Psychiatrie und Gesellschaft in Deutschland zwischen 1860 und 1980 untersucht etwa Brink (2010). 51 | Fussinger (1998). 52 | Ankele (2009). 53 | Germann (2004); Lengwiler (2000). 54 | Zu Zwangsmaßnahmen und »Eugenik« im Zürcher Umfeld siehe Huonker (2002) und Ritter (2009).
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stitutionen, Psychiatern, Patienten und Krankheiten.55 In der Schweiz ist auch die Psychiatrie vom Föderalismus geprägt, ein Umstand, der, etwas überspitzt formuliert, unterschiedliche »Psychiatriegeschichten« hervorruft.56 Daneben sind in den letzten Jahren im Zusammenhang mit neu ›entdeckten‹ Sammlungen kunsthistorische Projekte und Studien entstanden.57 Einen Überblick über die Forschung zu Krankenakten bietet das Kapitel 4.1. Alle Nicht-Mediziner und Nicht-Psychiater sehen sich in ihren Forschungen mit dem Problem des Zugangs zu den Quellen konfrontiert. Dabei hat sich gezeigt, dass interessierte Vertreter von Institutionen durchaus in der Lage sind, Forschenden (mit den nötigen Auflagen) Zugang zu den Quellen zu schaffen und damit psychiatriehistorische Arbeiten zu unterstützen, dies aber in Bern noch nicht der Fall ist. Noch relativ wenige Untersuchungen gibt es zum psychiatriegeschichtlichen Zeitraum nach 1945, was teilweise durch strenge Datenschutzbestimmungen zu erklären ist. Auch hier zeigen sich in der Schweiz wieder unterschiedliche kantonale oder institutionelle Praktiken.58 Was den Themenkomplex Psychiatrie und Literatur (respektive Schreiben) angeht, gibt es Studien zu einzelnen schreibenden Patienten wie Wölfli, Walser und Glauser, die hier in den entsprechenden Unterkapiteln von Kapitel 4 aufgeführt werden. Um abschließend noch einmal auf die eingangs vorgestellten Zitate zurückzukommen, lässt sich zur Verbreitung und zum Zugang zu diesen Texten Folgendes sagen: Die abgebildeten Manuskriptausschnitte von Walser und Wölfli zeigen ›Originale‹, die später transkribiert (bei Wölfli erst in den 1970er Jahren) und veröffentlicht wurden, von denen es also mehrere Textversionen und mit der Veröffentlichung nach dem Tod der Autoren eine weitere Verbreitung gibt, während es 55 | Zu den Grundlagen dieser Forschung gehört die Bereitstellung von Material, wie es etwa die Kritische Edition des schriftlichen Nachlasses von Emil Kraepelin (1997 ff.) ermöglicht. Die Kraepelin-Forschung hat damit Aufschwung bekommen. Siehe Einzelarbeiten wie Schäfer (2005). Mit einzelnen Krankheiten wie der Schizophrenie setzen sich historische (Bernet, 2013) oder literaturwissenschaftliche Arbeit (Wübben, 2012) auseinander. Zum Forschungsschwerpunkt Krankenakte und ›Fallgeschichte‹ siehe Kapitel 4.1. 56 | So schreiben etwa die Herausgeber eines Traverse-Themenbandes: »Der Föderalismus spiegelt sich zum Beispiel in den spezifischen sozialen und konfessionellen Kontexten der psychiatrischen Institutionen oder in der Vielfalt der kantonalen Gesetzesgrundlagen für den Betrieb psychiatrischer Kliniken. Rechtlich und institutionell besitzt die Schweiz nicht eine nationale, sondern 26 kantonale Psychiatriegeschichten.« Fussinger/Germann/Lengwiler/ Meier: Traverse (2003), S. 17. In diesem Band findet sich ein Überblick zum Stand der schweizerischen psychiatriehistorischen Forschung, darin auch: Ritter zu Irrenstatistik (2003), Meier zu Familienpflege (2003). Für den Zeitraum von 1920–1960 siehe: Ritter (2007). 57 | Luchsinger (2008); dies./Blum/Fahrni/Jagfeld (2010); Lehninger (Diss. unpubl.). 58 | Der Band Zwang zur Ordnung (Meier/Bernet/Dubach/Germann 2007) deckt für den Kanton Zürich den Zeitraum bis 1970 ab. In Zürich sind unter der Leitung von Prof. Dr. Jakob Tanner mehrere Studien mit Blick auf die Nachkriegszeit im Entstehen, so etwa die Dissertation Psychoaktive Stoffe und Persönlichkeitskonzepte (1950–1990) von Magaly Tornay. Siehe auch Katharina Brandenbergers Dissertation Psychiatrie und Psychopharmaka (2012).
Einleitung
sich bei Rorschachs Aufsatz um eine autorisierte Publikation handelt, die ebenfalls eine Leserschaft fand. Im Gegensatz dazu unterliegt der Brief von Patient Sch. einer doppelten Zugangsbeschränkung und Lese-Kontrolle: Damals wurde der Brief von Direktor von Speyr zurückgehalten, heute sorgt die Institution im Namen des Datenschutzes dafür, dass der Zugang zu diesem Brief und damit zum längst vergessenen Patienten Sch. restringiert und unter Kontrolle bleibt. Herr Sch. und seine Briefe bleiben dadurch weiterhin an den Ort Waldau gebunden. Wenn hier einige Ausschnitte seines Schreibens publiziert werden, dann geschieht dies um den Preis der Anonymisierung.
1.4 G liederung der A rbeit Dieser Einleitung folgt ein zweites Kapitel, das sich dem theoretischen Zusammenhang zwischen Schreiben und Ort widmet. Dieser Konnex wird einerseits allgemein untersucht, indem die Bedeutung von Ort und Raum in der Folge des spatial turns beschrieben wird, andererseits bietet die Darstellung von zwei zeitgenössischen Schreibkonzepten (von Freud und Breton) einen Hintergrund, in dessen erweitertem Kontext sich die hier besprochenen Texte einordnen lassen. Aufgrund mehrfacher Überschneidungen werden danach die Felder Klinik und Musealität beschrieben und anhand einzelner Beispiele wie einer Schlüsselsammlung von Walter Morgenthaler oder der Präsentation von Psychiatriegeschichte und aktueller Psychiatrie in der Berner Landesausstellung von 1914 thematisiert. Ein ausführliches drittes Kapitel versucht, die Leerstelle, die durch die noch ausstehende Institutionsgeschichte der Waldau besteht, dahingehend zu überbrücken, dass vor allem anhand von Jahresberichten eine ›Geschichte‹ der Waldau, des Alltags in der Institution und dem der daran Beteiligten rekonstruiert wird. Dabei handelt es sich um eine ›Geschichte‹, wie sie in den Eigendarstellungen der Klinik ausgebreitet wird und damit auch um eine exemplarische Analyse davon, wie Ort und Zeit erschrieben und beschrieben werden können. Ein kurzer Überblick thematisiert die Vorgeschichte der Waldau, danach steht der Zeitraum von 1890 bis 1933 im Zentrum. Geschichte und ›Gegenwart‹, Schreiben am Ort und Akteure können dabei nicht voneinander getrennt werden. Einzelne Akteure wie gewisse Ärzte werden einzeln vorgestellt, andere bleiben auch als Teil der Gruppe der »infamen Menschen« anonym.59 Wenn die Krankheiten und Begrifflichkeiten, die den Krankheiten zugeordnet wurden sowie die in der Waldau gängigen Behandlungsmethoden beschrieben werden, dann einerseits, um die Situation in dieser bestimmten Klinik um 1900 deutlich werden zu lassen, andererseits in Bezug auf den 1933 stattfindenden Direktorenwechsel, mit dem sich nicht nur die Situation der Patienten, sondern auch die Benennung von Krankheiten und die Einteilung von Insassen veränderte. Auch hier sind Brüche innerhalb der Anstalts- und Disziplinengeschichte sowie der Erzählweise dieser Geschichte Thema. Im vierten und letzten Kapitel schließlich werden in einem ersten Teil die Krankenakten als Quellen problematisiert. Es folgen danach fünf Unterkapitel zu schreibenden Patienten und einer Patientin respek59 | Foucault (2003). Siehe auch Kapitel 3.8 allgemein zu den Patienten und zu einer bestimmten Patientin, Frau Be., Kapitel 4.3.1.
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tive zu einem anonymen Text. Dabei steht das Verhältnis der Schreibenden zum Schreibort im Zentrum: Adolf Wölfli, eine unbekannte Frau Be., Robert Walser und Friedrich Glauser werden als Insassen der Waldau betrachtet und ihre Texte auf das in ihnen entwickelte und inszenierte Wissen vom Ort und vom Schreiben untersucht. Literarische Texte spielen dabei auch eine Rolle, sind aber nicht die einzigen Untersuchungsgegenstände. Darüber hinaus wird insbesondere in Betracht gezogen, wie anstaltsintern über die schreibenden Patienten geschrieben wird. Neben den berühmten drei Autoren stehen der Lebenslauf und weitere in der Akte festgehaltene Aussagen Frau Be.s und der anonyme Pascha-Text exemplarisch für Texte ›infamer Menschen‹ der Waldau, deren Stimme aus noch darzustellenden Gründen selten vernommen wurden und immer noch kaum gehört werden. Damit werden auch Fragen nach der Sammlung, Auf bewahrung, Überlieferung und schließlich der Deutung von ›Patiententexten‹ aufgeworfen. Nicht zuletzt in der Herausarbeitung eines ›testamentarischen Schreibens‹ bei Wölfli oder einer ›Poetik des Randes‹ bei Glauser soll der Schreibort Waldau um 1900 in seinen unterschiedlichen Facetten greif bar werden.
2 Schreiborte und gesammelte ›Kunst der Geisteskranken‹ Theoretische Überlegungen
Die hier anschließenden theoretischen Überlegungen widmen sich in einem ersten Unterkapitel dem Zusammenhang zwischen Schreiben und Ort und in einem zweiten demjenigen zwischen Klinik und Musealität. Dreht sich der Abschnitt 2.1 um allgemeine Fragestellungen wie beispielsweise darum, was Schreiben bedeuten kann, wendet sich Abschnitt 2.2 nach generellen Ausführungen der historischen Waldau, einigen ihrer Exponenten und ihrer spezifischen Beziehung zur Musealität zu.
2.1 S chreiben und O rt Als spurenerzeugende Tätigkeit ist das Schreiben maßgeblich vom Zusammenwirken verschiedenartiger Aspekte geprägt: Dazu gehören Materialität, Körper (die stift- oder federführende Hand respektive die tippenden Hände), Schreibwerkzeuge von Feder bis Computer sowie mediale Verbreitung.1 Geschriebenes produziert Wissen, präsentiert und speichert es im Schriftzug selbst – dies geschieht in oder auf so unterschiedlichen Produkten wie Notizzetteln und Protokollen, wissenschaftlichen Aufsätzen und literarischen Texten. Schreiben als epistemisches Verfahren2 und die dazugehörigen Praktiken sind in ihrem Zusammenspiel nicht universell festgelegt, sondern historisch bedingt und müssen als solche untersucht werden. Bevor das Augenmerk auf das Verhältnis zwischen diesem Zusammenspiel und der Örtlichkeit gerichtet wird, soll vorerst die Zeitgebundenheit des Schreibens betrachtet werden: Es ist dem Schriftsteller (als prototypischem Schreibenden) gemäß Roland Barthes »nicht möglich, seine Schreibweise in einer Art zeitlosem Arsenal der literarischen Formen auszusuchen. […] Worte besitzen ein zweites Gedächtnis und Erinnerungen, die sich inmitten neuer Bedeutungen geheimnisvoll
1 | Allgemein dazu siehe Stingelin (2007); zur Bedeutung der Hand beim Schreiben siehe Schäfer (2005). 2 | Zum Schreiben (und Zeichnen) als epistemische Verfahren siehe Hoffmann (2008); ders.: (2010).
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erhalten.«3 Damit ist das Schreiben als Tätigkeit und in seinem formalen Ausdruck zeitgebunden und durch die Semantik der Wörter einer Tradition verpflichtet. Historische Umbrüche und Schwellen im ›modernen‹ Schreiben können um 1850 sowie mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts festgemacht werden und sind politischer, technischer und inhaltlicher Natur. Sie gehen mit dem Untersuchungszeitraum dieser Studie einher: Barthes verknüpft die Folgen der gesellschaftspolitischen Umbrüche von 18504 mit dem Ende einer bürgerlichen Schreibweise und einer Vermehrung der écriture;5 mit dem Aufkommen der Schreibmaschine ändern sich Ende des 19. Jahrhunderts die Möglichkeiten der Schreibwerkzeuge und damit die des Schreibens. Die Handschrift wird als Untersuchungsgegenstand in der Fortsetzung und Umwertung grafologischer Studien zum »Messinstrument und Datensatz«, wie Armin Schäfer anhand von Emil Kraepelins Verwendung der Schriftwaage gezeigt hat.6 Inhaltlich wird eine grundlegende Veränderung des Begriffsfeldes ›Schreiben‹ aus literaturgeschichtlicher Warte betrachtet häufig mit Kafka und mit der Absage an das Postulat des autonomen dichterischen Schaffens verbunden.7 Zur zeitlichen Gebundenheit des Schreibens gehört – so die hier vertretene These – eine weitere, konstitutive Verbindung des Schreibens und des Geschriebenen, nämlich diejenige zum Schreibort, der seinerseits wieder mit einer bestimmten Zeit verbunden ist. Gemeint sind damit auf einer ersten Ebene die materiellen Bedingungen und die ›Verortung‹ des Schreibens, also der Schreibort, Papier, Stift, Schreibmaschine und dergleichen. Auf einer weiteren Ebene geht es um die im Text thematisierten Orte, bei denen es sich um ›wirkliche‹ Orte oder um als Metaphern auftretende und eingesetzte Orte handelt. In der Nomenklatur Hans-Jörg Rheinbergers8 kann man Schreiben und Schrift als technische Dinge bezeichnen, die neue Untersuchungsgegenstände als epistemische Dinge erschaffen, ordnen und festigen – beide können durch den Ort geprägt sein. In erster Linie soll es im Folgenden aber um ›reale‹ Orte gehen und erst in einer sekundären Betrachtung 3 | Barthes (1982), S. 19 f. 4 | Barthes nennt drei Arten des Umbruchs, wovon die ersten beiden für den gesamten europäischen Raum gelten dürften, die dritte Art auf die spezifische historische Situation Frankreichs hinweist: »Nun, die Jahre um 1850 bringen drei große historische Geschehnisse: den Umsturz in der europäischen Demographie, die Entwicklung der Metallindustrie, die an die Stelle der Textilindustrie tritt, das heißt die Geburt des modernen Kapitalismus, die Spaltung der französischen Gesellschaft in drei feindliche Klassen (Spaltung, die in den Junitagen des Jahres 1848 evident wird), das heißt das endgültige Zusammenbrechen der Illusionen des Liberalismus. Das Zusammenwirken dieser Geschehnisse wirft die Bourgeoisie in eine neue historische Situation.« Barthes (1982), S. 50. 5 | Mit der Schreibweise (écriture) bezeichnet Barthes eine dritte »formale Realität« neben Sprache und Stil. Während Sprache und Stil »das natürliche Produkt der Zeit und der biologischen Person« und »Objekte« seien, spricht Barthes bei der Schreibweise von einer »Funktion«. Barthes (1982), S. 18. 6 | Schäfer (2005), S. 241. 7 | So tut dies etwa Campe (2005); Stingelin verknüpft in seinem Eintrag »Schreiben« im Reallexikon der Deutschen Literaturwissenschaft die »Intransivierung des Schreibens« mit Kafka und der Avantgarde. Stingelin (2007), S. 388. 8 | Rheinberger (2002).
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um die metaphorische Rede vom Ort – diese beiden Redeweisen sind jedoch nicht immer trennscharf auseinander zu halten, denn um über ›reale‹ Orte zu sprechen, werden häufig Metaphern des Ortes verwendet. Das topografische Vokabular also kann je nach Anwendung zur Verdichtung oder Verschleierung in der Beschreibung des Komplexes ›Schreiben und Ort‹ führen. Bevor ab Kapitel 2.2 die Aufmerksamkeit auf den Zusammenhang von Schreiben (und Lesen) an einem bestimmten Ort, der Waldau, zu einer bestimmten Zeit gerichtet wird und damit eine exemplarische Analyse folgt, wird hier einleitend den allgemeineren Verflechtungen zwischen Ort und Schreiben (Kapitel 2.1.1 bis 2.1.3) und den Schreibkonzepten Freuds und Bretons (Kapitel 2.1.4) als zeitgenössische Bezugspunkte nachgegangen.
2.1.1 Ort und Raum in der Folge des spatial turn Wenden wir uns zunächst dem Ort und seiner epistemischen Bedeutung zu. Spätestens seit dem Aufkommen des Begriffs spatial turn (in den 1980er Jahren vom nordamerikanischen Geografen und Städteplaner Edward W. Soja erstmals erwähnt)9 ist es in den unterschiedlichsten Disziplinen üblich geworden, den Ort und die Räumlichkeit theoretisch stärker zu gewichten. Im Vergleich mit dem 19. Jahrhundert, dessen zentraler Reflexionsgegenstand die Geschichte war, steht nach Michel Foucaults Ausführungen in Des espaces autres (1967/1984) die Gegenwart des 20. Jahrhunderts im Zeichen des Raumes.10 Foucault betont das Nebeneinander von Ereignissen im Gegensatz zur linearen Sicht des Nacheinander. Aber auch bei ihm hat der Raum eine Komponente des Nacheinander, nämlich eine Geschichte – und damit in seiner Darstellung auch eine Geschichtsschreibung. Diese zeichnet Foucault für drei Epochen nach: Im Mittelalter bilden hierarchisierte Orte einen »Raum der Lokalisierung«,11 mit und in der Folge von Galileis Werk wird die Lokalisierung durch Ausdehnung des Raumes ersetzt, und die Gegenwart ist nach Foucault von der »Lage« und von »Nachbarschaftsbeziehungen«12 unterschiedlicher Elemente geprägt, deren Zirkulation und Verortung der »heutigen Technik«13 Probleme machen, weil die Zirkulation teilweise auf Zufallsverteilung beruht und die Lage einzelner Bestandteile (Foucault nennt als Beispiel die Speicherung von Information oder auch die Steuerung von Autos im Straßenverkehr) schwierig zu berechnen ist. Ort und Raum werden so durch ihre relationalen Bezüge geprägt, sie treten nicht unbedingt in einer konkreten Form auf, deren Beschreibung zutreffen kann oder nicht. Vielmehr sind sie Bezugspunkte, die aus einer bestimmten Perspektive betrachtet sprachlich vermittelt sind und sich erst in der Sprache zeigen. Der Untersuchung des Sprechens vom Ort kommt damit eine wichtige Rolle zu, weil sich erst in ihm der Ort zeigt. Deshalb lässt sich die ›reale‹ Rede vom Ort nicht von der metaphorischen trennen.
9 | Zum spatial turn allgemein siehe auch Bachmann-Medick (2006). 10 | »Unsere Zeit ließe sich dagegen eher als Zeitalter des Raumes begreifen.« Foucault (2006), S. 317. Foucault genehmigte die Veröffentlichung des Vortrages von 1967 erst 1984. 11 | Ebd., S. 318. 12 | Ebd. 13 | Ebd.
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Foucault interessieren im Weiteren besondere Orte, »die in Verbindung und dennoch im Widerspruch zu allen anderen Orten stehen« und sich in »Utopien« als »Orte ohne realen Ort« und »Heterotopien« einteilen lassen.14 Heterotopien sind Orte, »die außerhalb aller Orte«15 liegen. Über das Bild des Spiegels erläutert Foucault die Beziehung der Heterotopie (eben dem Spiegel) zum realen Ort: Letzterer wird als Ort, wo sich das Subjekt befindet, in der Spiegelung repräsentiert, was aber nur dann möglich ist, wenn sich ein irrealer Raum (das Spiegelbild) öffnet, in dem das Subjekt zwar nicht ist, sich aber sieht. Die Heterotopien als »Gegenorte«16 wiederum unterteilt Foucault in »Krisenheterotopien« der sogenannten ›primitiven‹ Gesellschaften und in die sie langsam ersetzenden »Abweichungsheterotopien«.17 Als Beispiele dafür nennt er Sanatorien, psychiatrische Anstalten und Gefängnisse. Diesen Abweichungsheterotopien als Orte der Ausgrenzung kommen nicht nur, wie Foucault fordert, eine eigene Beschreibung, nämliche die »Heterotopologie«18 zu, sondern sie zeichnen sich – so die hier vertretene These – auch durch eigene Schreibverfahren und einer besonderen Affinität dazu aus, Schreiborte zur Schau zu stellen. Die zur Debatte um den spatial turn gehörenden Begriffe ›Raum‹ und ›Ort‹ wie auch die entsprechenden Theorien sind breit gefasst und werden auf unterschiedliche Weise angewendet. Foucault spricht im genannten Text von ›Raum‹, ›Ort‹ und ›Lage‹.19 Sigrid Weigel hat dem spatial turn den topographical turn gegenübergestellt, um mit letzterem die kulturell bedingten, unterschiedlichen Arten der Repräsentation von Raum zu betonen. Mit dem Begriff ›Topografie‹ wird auch die Rolle des (Be-)Schreibens hervorgehoben. Weigel zeigt diesbezüglich auch die Differenz zwischen den anglo-amerikanischen Cultural Studies und den europäischen Kulturwissenschaften auf.20 Mit den beiden Begriffen, die space und topos/ graphein beinhalten, wird aber auch bei Weigel der Unterschied zwischen Raum und Ort nicht geklärt. Michel de Certeau hingegen bemüht sich in Arts de faire (1980) um eine solche definitorische Spezifizierung. Als Ort bezeichnet er »die Ordnung (egal, welcher Art), nach der Elemente in Koexistenzbeziehungen aufgeteilt werden. Damit wird also die Möglichkeit ausgeschlossen, daß sich zwei Dinge an derselben Stelle befinden.«21 Der Raum hingegen »entsteht, wenn man Richtungsvektoren, Geschwindigkeitsgrößen und die Variabilität der Zeit in Verbindung bringt. […] Insgesamt ist der Raum ein Ort, mit dem man etwas macht.«22 Mit Bezug auf Ort/Raum und Erzählungen unterscheidet de Certeau jene Erzählungen, die »etwas Tote[s]«23, einen Ort, enthalten, von denen, die von Handlungen geprägt sind und Räume erzeugen – dazwischen gibt es Übergänge. 14 | Ebd., S. 320. 15 | Ebd. 16 | Ebd. 17 | Ebd., S. 321 f. 18 | Ebd., S. 321. 19 | Im Original sind es die Begriffe »espace«, der auch im Titel vorkommt, »emplacement« und »place«. Foucault (1984), S. 46. 20 | Weigel (2002). 21 | de Certeau (1988), S. 217 f. 22 | Ebd., S. 218. 23 | Ebd., S. 219.
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Versucht man diese Begrifflichkeit auf den hier zu behandelnden Gegenstand zu übertragen, so kann man in einer diachronen Perspektive von unterschiedlichen Orten des Schreibens sprechen, während der synchron betrachtete, einzelne (an einem Ort lokalisierte) Schreibprozess durch den Aspekt der Handlung einen neuen Raum eröffnet. Hans-Jörg Rheinberger spricht von Institutionen als »Orte[n] des Wissens« und ordnet ihrer Beschreibung eine wissenschaftsgeschichtliche Textgattung »Fallstudie« zu – demgegenüber stellt er »Räume des Wissens«, die sich durch dynamische Netzwerke und historische Veränderbarkeit auszeichnen. Als Beispiele dafür nennt er »Laboratorien oder Versuchsgärten«. Die zugehörigen wissenschaftsgeschichtlichen Texte werden gemäß Rheinberger durch den Epistemologen verfasst.24 Ort und Raum haben somit nicht nur unterschiedliche Beziehungen zum Wissen (davon ist eine eher statisch, institutionsgebunden, die andere hingegen dynamisch), sondern sie zeichnen sich auch durch Affinitäten zu spezifischen Textsorten und Autorschaften aus. Verbindet man die Überlegungen von Rheinberger mit denjenigen de Certeaus, so enthält das Schreiben an einem Ort wie etwa der Waldau zugleich diesen ›toten‹, statischen, meist an eine Institution gebundenen Ort des Wissens und Schreibens. Aus diesem wird aber durch den Schreibprozess als Handlung ein belebter Schrift-Raum. Damit lässt sich eine künstliche Differenz der beiden Begriffsfelder ›Ort‹ und ›Raum‹ nicht halten. Sie durchdringen einander vielmehr – etwa, wenn in einem durch Handlung eröffneten Schrift-Raum der Ort als Thema auftaucht und sich damit eine Kette von einem vorsprachlichen Produktionsort, einem durch den Schreibprozess eröffneten Schrift-Raum und einem darin enthaltenen Text-Ort ergibt. In der Tätigkeit des Schreibens und des Lesens ist der Schrift-Raum immer auch ein sozialer Raum, der sozial produziert und von Interaktionen geprägt wird.25 Deswegen muss mit dem Ort auch die Kategorie ›Autor‹ bedacht werden; die Akteure und ihre Produktionsweisen können nicht unbeachtet bleiben. Die Autoren wiederum haben bestimmte Intentionen, die sie mit einem Schreibprozess verbinden und durch die das Schreiben beeinflusst wird; Schriftstücke sollen einen bestimmten Zweck erfüllen, was wiederum den Schreibprozess prägt.26 Eine explizit oder implizit genannte Absicht eines Schreibenden kann dabei die Erarbeitung oder die Präsentation eines Wissensgebietes sein. Als Instrument zur Wissensproduktion ist Schreiben auch deshalb mit dem Ort verbunden, weil, wie die Forschung der letzten zwanzig Jahre vermehrt betont, auch das Wissen und die Wissenschaft eine solche konstitutive Verbindung zum Ort haben. Dies ist in Bezug auf die Entwicklung der Disziplin Psychiatrie besonders einleuchtend, weil sie einhergeht mit der Gründung von Anstalten und Kliniken, dem Auf bau besonderer Orte, und weil sie sich und ihr spezifisches Wissen in diesen geschlossenen Institutionen entwickelt. In The Places of Knowledge (1991) fragen Adi Ophir und Steven Shapin nach der allgemeinen Verbindung zwischen Ort und Wissen:
24 | Alle Zitate: Rheinberger (2003), S. 367. 25 | Siehe dazu Simmel (1995); Lefebvre (2000). 26 | Dazu nochmals Christoph Hoffmann: »Schreibverfahren formieren sich endgültig an dem Zweck, zu dem sie gebraucht werden.« Hoffmann (2010), S. 188.
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Wie eine Orts- und Situationsgebundenheit des Wissens im Text auftritt, muss die Arbeit am Beispiel zeigen. Es wird hier davon ausgegangen, dass die unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen im Ganzen betrachtet »Schreibtischwissenschaften«28 sind und die Verknüpfung mit dem Ort deshalb von allgemeinem Charakter ist. Eine solche Ausrichtung haben auch die Ausführungen von David N. Livingstone, die in Putting Science in its Place. Geographies of Scientific Knowledge (2003) die Wissenschaften betreffen: »Like other elements of human culture, science is located. It takes place in highly specific venues; it shapes and is shaped by regional personality; it circles the globe in minds, on paper, as digitized data. For these reasons alone science is as conspicuous a feature of the world’s geography pattern of settlement, the distribution of resources, or the configuration of cultural landscapes. Yet bringing science within the domain of geographical scrutiny seems disquieting. It disturbs settled assumptions about the kind of enterprise science is supposed to be. It calls into question received wisdom about how scientific knowledge is acquired and stabilized.« 29
Der Ort als Kategorie, der die Wissenschaft prägt, wirkt verunsichernd, weil diese Kategorie traditionell ausgeblendet wird, damit Wissen eine ›universale‹ Gültigkeit bekommen kann. Mit Bruno Latour gesprochen können Reinigungsprozesse dafür verantwortlich gemacht werden, dass der Ort aus der Präsentation des Wissens ausgeschlossen wird. Latour beschreibt die Reinigungstendenzen mit unterschiedlichen Vorzeichen als Bestandteil sowohl der Natur- als auch der Geisteswissenschaften. Die Wissenschaftsforschung wird als ein Drittes als Gegenpol zu diesem Prozess, der die beiden ›Kulturen‹ auseinandertreibt, dargestellt.30 Psychiatriegeschichte als eine solche ideale Wissenschaftsforschung verstanden müsste also frei von solchen Reinigungstendenzen sein. Damit kann die Kategorie Ort und ihre Bedeutung für die Psychiatrie in den Blick genommen werden.
27 | Ophir/Shapin (1991), S. 4. 28 | Hoffmann (2010), S. 182. 29 | Livingstone (2003), S. 179. 30 | »Woher aber stammt die Debatte über die zwei Kulturen? Aus einer Arbeitsteilung zwischen den beiden Seiten des Campus. Das eine Lager hält Wissenschaften nur dann für genau, wenn sie von einer Verunreinigung durch Subjektivität, Politik oder Leidenschaft [und damit, so möchte man ergänzen, auch vom Ort. Anm. M.W.] befreit sind; das andere größere Lager hält Humanität, Moral, Subjektivität oder Rechte nur dann für untersuchungswürdig, wenn sie vor jeder Berührung mit Wissenschaft, Technologie und Objektivität bewahrt werden. In der Wissenschaftsforschung bekämpfen wir gleichzeitig beide Säuberungsbewegungen, und daher gelten wir gleichzeitig in beiden Lagern als Verräter.« Latour (2000), S. 28 f.
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2.1.2 Vom physischen Schreibort zur Unbestimmtheitsstelle im Text Es stellt sich nun die Frage, welche Bedeutung der Ort für die Literatur(-wissenschaft) haben kann. Für das Schreiben als Wissen hervorbringenden und formierenden Prozess, aber auch für literarische Formen von Schreiben ist der Ort zuerst einmal ein geografischer Ort, an dem geschrieben wird und der eine Bedeutung für den Schreibprozess wie auch für das Schreibprodukt hat. Liest man Für eine kleine Literatur (1975) von Gilles Deleuze und Félix Guattari entgegen dem Titel mit Blick auf die Eigenschaften der ›großen‹ Literatur, so wird deutlich, dass sie immer schon territoriale Aspekte enthält. Die ›kleine‹ Literatur hingegen muss sich erst ihren Ort (metaphorisch und wörtlich verstanden) suchen – bei Kafka, dessen Texte sich jene Studie widmet, ist dieser ›Ort‹ das Pragerdeutsch. Das erste Merkmal der ›kleinen‹ Literatur ist nach Deleuze und Guattari »ein starker Deterritorialisierungskoeffizient«. Ex negativo gelesen enthält die ›große‹ Literatur einen ›Territorialisierungskoeffizienten‹, der sie bestimmt. Jede Literatur, die sich innerhalb einer ›großen‹ Literatur befindet, muss sich nach Deleuze/Guattari ihren eigenen Ort suchen, der »Ort der eigenen Unterentwicklung […] das eigene Kauderwelsch, die eigene Dritte Welt, die eigene Wüste.«31 Beide Pole des literarischen Schreibens (also die ›große‹ versus die ›kleine‹ Literatur) sind also mit der eigenen Verortung beschäftigt. Der »enge Raum«32 der ›kleinen‹ Literatur bewirkt die politische Anbindung von individuellen Ereignissen. Im einzelnen Vorgang in diesem engen Raum spielt sich »eine ganze andere Geschichte«33 ab. Der beschränkte Raum der ›kleinen‹ Literatur hat zur Folge, dass alles in ihr über sie hinaus weist. Umgekehrt wird Schreiben und Gelesen-Werden vom Schreibenden, der in der ›kleinen‹ Literatur schreiben muss, aufgrund ihrer Ortlosigkeit als eine Unmöglichkeit, als »Sackgasse« erkannt.34 Verkürzt gesagt ist Schreiben dann eine Sackgasse – wird diese metaphorische Sackgasse jedoch ›betreten‹ und damit also trotz dieser Ausgangslage geschrieben, dann hat das Geschriebene die Möglichkeit, über diese beschränkte Situation der Sackgasse hinauszuweisen. Die ›kleine‹ Literatur tritt also gegen Einschränkungen in der Produktion und Rezeption an, sie erhält ihre Leserschaft paradoxerweise aber gerade durch ihre künstliche, »papierene Sprache«, die in dieser Situation der Beschränkung entsteht.35 In der Bewegung hin zu einem Schreibort, der wissentlich nicht erreicht werden kann, liegt die Kraft der ›kleinen‹ Literatur. Die Idee eines Schreiborts, einer verankerten statt künstlichen Sprache wird so zum Schreib-Motor. Sowohl der vorhandene Ort der ›großen‹ Literatur wie auch der fehlende Ort der ›kleinen‹ Literatur treiben Schreibprozesse an und steuern sie. Allgemein betrachtet mag sich der Schreibort an einem geografischen Ort in einem bestimmten gesellschaftspolitischen Setting befinden, (meist) in einem Gebäude und darin, gebunden an Schreibgerät, beispielweise an einem Schreibtisch. Diese Orte können in einer gewissen Absicht bewusst gewählt werden, zufällig zustande kommen oder durch äußere Umstände erzwungen sein. Klassische 31 | Deleuze/Guattari (1976), S. 24; S. 27. 32 | Ebd., S. 25. 33 | Ebd. 34 | Ebd., S. 24. 35 | Ebd.
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Schreiborte wie Schreibstube, Labor, Schule oder Amt zeigen, dass Schreiben häufig an Institutionen gebunden ist. Der Ort taucht in den klassischen Schreibprodukten dieser Institutionen oft explizit auf – Zeit und Ort sind konventionelle Angaben in Textsorten wie Protokoll, Brief oder Vertrag. Neben dem alltäglichen, funktionalisierten Schreiben von Gebrauchstexten, das von Barthes »transitives Schreiben« genannt und das vom écrivain ausgeführt wird, steht aber auch das literarische, »intransitive« Schreiben des écrivant in einem Zusammenhang mit dem Ort seiner Entstehung.36 Schließlich hat auch die scheinbar am wenigsten mit Orten verknüpfte Gattung der ›Utopie‹ als ›Nicht-Örtlichkeit‹ sehr oft mit Orten zu tun, man denke etwa an das Motiv der Insel als Ort der utopischen (respektive dystopischen) Gesellschaft.37 Bei dieser komplexen Ausgangslage – unterschiedliche Schreibende, unterschiedliches Schreiben, unterschiedliche Produkte – kann der Zusammenhang von Schreiben und Ort nicht allgemein geklärt werden, sondern muss im konkreten Einzelfall untersucht und bestimmt werden. Die Frage nach der Bedeutung des Ortes für das Schreiben ist mehrschichtig, zur produktionsästhetischen Ebene gesellt sich auch die rezeptionsästhetische: Welche Art Spuren vom Ort ihrer Produktion lassen sich in Texten finden? Welche Art von ›Lektüre‹38 – verstanden als ebenfalls ortsgebundenes Lesen und Interpretieren – lässt den Ort im Text aufscheinen? Wie verändert Wissen um den Ort der Produktion eine Lektüre? Mit einer geänderten Reihenfolge kann schließlich auch gefragt werden, welche Schreiborte in Texten durch Verschriftungsprozesse konstruiert werden, wie die Orte also thematisch und auf der Motivebene Gegenstand des Textes sind und dort als Sprach-Orte mit den ›realen‹ Orten in eine Verbindung treten. Zu unterscheiden wäre demzufolge ein ›Schreiben über den Ort‹ von einem ›Schreiben des Ortes‹ und entsprechend müssen sich adäquate Lesarten bilden. Insbesondere muss eine Sensibilität gegenüber dem nur implizit oder nicht genannten Ort aufgebracht werden. Von einem ›Ausgangsort‹, der bewusst gewählt werden kann, wird ein Schreiben noch vor seinem Beginn beeinflusst, was im Produkt sichtbar sein kann, aber nicht muss. Der Schreibort wäre damit, um mit Ingardens lokalisierender Metapher zu sprechen, eine Leer- oder Unbestimmtheitsstelle, die in einer spezifischen Konkretisierung des Textes zutage treten kann, die als Lücke die Lesart aber nicht unbedingt beeinträchtigen muss.39 Für die Texte ist diese Unbestimmtheitsstelle konstitutiv, weil sie Textelemente verbinden, obwohl sie nicht zwingend thematisiert wird. In Bezug auf die Waldau ließe sich damit für alle in ihr produzierten Texte der Schreibort Waldau an einer Scharnierstelle den36 | Siehe dazu Barthes’ Essay Schriftsteller und Schreiber von 1960 in: Barthes (1982), S. 101–109, hier: S. 102. Die Extrempositionen des écrivain und des écrivan werden in »[u]nsere[r] Epoche« durch die Mischform des »Schriftsteller-Schreiber[s]« abgelöst. Ebd., S. 108. 37 | In der Tradition von Thomas Morus’ Utopia (1516) entwerfen etwa die Texte von Bacons Nova Atlantis (1627) über H. G . Wells’ The Island of Doctor Moreau (1896) und Aldous Huxleys Island (1962) abgelegene Orte, an denen unterschiedliche (Sozial-)Versuche unternommen werden. Die als Gegenorte konzipierten Inseln ermöglichen die Darstellung von idealen oder totalitären Staaten und von unbegrenzten Möglichkeiten zu forschen. 38 | Zur Lektüre siehe Rüdiger Campe (2007). 39 | Ingarden (1965), §38, S. 261–270.
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ken, die sich aber nicht in allen Texten lokalisieren und in ihrer Unbestimmtheit beschreiben lässt. Der Schreibort Waldau wäre damit als Unbestimmtheitsstelle in allen besprochenen Texten vorhanden und in den einzelnen schriftlichen Produkten je nach Autor, Text und dessen konkreter Entstehungssituation unterschiedlich realisiert und nachvollziehbar.
2.1.3 ›Schreibszenen‹ Eine neuere, von Rüdiger Campe und Martin Stingelin geprägte Schreibforschung betont mit dramaturgischem Vokabular Komponenten des Schreibens, die zusammen eine ›Schreibszene‹ ergeben sollen.40 »The Scene of Writing« setzt Rodolphe Gasché als Repräsentation einer Szene, in der der Schreibprozess zu einer Figur wird, dessen Produkt sie selbst ist.41 Rüdiger Campe nimmt in Die Schreibszene Gaschés Begriff auf und setzt ihn ausgehend von Barthes Verwendung von écrire und écriture als Beschreibung einer »fundamentale[n] sprachlich-gestische[n] Beziehung«42 ein. Die Schreibszene bezeichnet nach Campe ein »nicht-stabiles Ensemble von Sprache, Instrumentalität und Geste«.43 Martin Stingelin wiederum übernimmt von Campe diese drei »Faktoren« des literarischen Schreibens und unterscheidet sie als ternäre »Rahmung« als »Schreibszene« von einer »SchreibSzene«, die sich in ihren Bestandteilen reflektiert oder thematisiert.44 Mit der Schreibszene respektive der Schreib-Szene könne, so Stingelin, »die Praxis des Schreibens, zumal als literarische Tätigkeit, nicht allgemein definiert, sondern nur historisch und philologisch im Einzelfall nachträglich re-konstruiert werden.«45 Hubert Thüring erweitert in seiner Arbeit an Texten Friedrich Glausers das triadische Modell auf der Körper/Geste-Seite durch die »psychophysisch-existentielle Dimension«, die instrumentelle durch die »technologisch-institutionelle Dimension« und stellt das Dreiecksmodell in den Zusammenhang einer »poetischen« versus »dokumentarischen« Schreibszene.46 Auch Sandro Zanetti ist das Modell zu eng gefasst, er schlägt eine »Verknüpfung des Schreibszenen-Modells mit den Theorien zur Literarizität (bzw. Poetizität)« vor, um in der Betonung der in der Literatur selbst angelegten »analytischen Impulse«, »der Tendenz zur Medien- und Geschichtsblindheit im Rahmen der Erbschaften und Folgeerscheinungen autonomieästhetischer Postulate kritisch zu begegnen«.47
40 | Dieses Vokabular wird beibehalten und weitergeführt, wenn etwa Martin Stingelin von »Rollenzuschreibungen« und »Regie« der Szenen und von »Akteur«, »Bühne«, »Selbstinszenierung« und »Rollenspiel« spricht. Stingelin (2004b), S. 8 f. 41 | Gasché (1977), S. 166. 42 | Campe (1991), S. 759; ders. (2005). 43 | Campe, (1991), S. 760. 44 | Stingelin (2004b), S. 15–18. 45 | Ebd. S. 18. 46 | Thüring (2008). 47 | Zanetti (2009), S. 84. Es stellt sich allerdings die Frage, ob Zanettis Vorschlag die Stärke des Schreibszene-Modells, nämlich die Betonung der beiden in der Forschung bisher eher marginal untersuchten körperlich-gestischen und instrumentell-technischen Seite nicht aushebelt.
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Diese skizzierten Ansätze zeichnen sich durch das ihnen gemeinsame Bestreben aus, dem Schreiben in seiner zeitgebundenen, körperlichen und materiellen Dimension zu begegnen und damit von der Vorstellung einer abstrakt-ätherischen Entstehung eines Textes und von einer einseitigen Betrachtung, die nur auf seine Bedeutung gerichtet ist, wegzukommen. In Bezug auf den Zusammenhang von Ort und Schreiben wäre zu fragen, ob die Rede von der Schreibszene im Allgemeinen und einzelne, konkrete, auf historische und philologische Besonderheiten ausgerichtete Analysen von Schreibszenen auch tatsächlich weiterführend sind. Wie zeigen sich denn Schreibprozesse und Schreibszenen überhaupt? Wie und bis zu welchem Grade lassen sich diese Prozesse beobachten und analysieren? Schließlich zeigen sie sich ja nur vermittelt und treten vor allem in poetologischen Aussagen einer Instanz ›Autor‹ und als Spuren im Text auf.48 Kann das Analyse-Instrument49 ›Schreibszene‹ auch bei einzelnen Textfundstücken, bei denen Kontextualisierung und die Eruierung einer Autorschaft, die über Schreibprozesse Auskunft geben könnten, problematisch sind, angewendet werden? Ist es möglich, das Versprechen einer ›Rekonstruktion‹ einzulösen?50 Das von Christoph Hoffmann konstatierte »Beobachtungsproblem«51 tritt auch hier zutage und bestimmt die Arbeit am Text. Wie lassen sich Schreibprozesse beobachten, wenn nur die Produkte vorliegen? Und wenn in diesen das Schreiben nicht reflektiert wird? Wird die ›Schreibszene‹ als Arbeitsinstrument des Literaturwissenschaftlers eingesetzt, stellen sich konkrete Fragen nach dem Ort: Ist der Schreibort als statischer Hintergrund einer Schreibszene zu denken oder gibt es dynamische Beziehungen zwischen beiden? Ist er in zwei von drei Komponenten der Schreibszene als Verortung erstens der Instrumente und zweitens als ›Bühne‹ (wenn man das Theater-Vokabular beibehalten will) der Gesten enthalten? Stingelin zählt den Ort gemeinsam mit Anlass, Zeitpunkt und Dauer zu den »Schreibgewohnheiten«, die er im Weiteren bei den »Begleitumständen« des Schreibens einordnet.52 Damit ist der Ort hierarchisch den großen drei Bereichen einer Schreibszene untergeordnet – als »Begleitumstand« wird ihm keine prägende Rolle zugestanden, obwohl die Rede von einer Schreibszene immer schon die Kategorie ›Ort‹ als »Ort oder Schauplatz der Handlung«53 enthält, auch wenn der Begriff meist metaphorisch verwendet wird. Um der Verflechtung von Schreiben und Ort auf die Spur zu kommen, müsste das Instrument ›Schreibszene‹ also ausgeweitet und angepasst respektive seine Bezeichnung wörtlich verstanden und damit der Ort mehr gewichtet werden.
48 | Auf diese »Archivproblematik« der Analyse von Schreibprozessen verweist auch Zanetti (2009), S. 76. 49 | Sowohl Gasché (1977), S. 166, wie auch Campe (1991), S. 767; S. 770, betonen ausdrücklich, keine Schreib-Theorie vorzustellen. Campe sieht in der analytischen Beschreibung den Vorteil und die adäquate Beschäftigung mit der Schreibszene. 50 | Stingelin (2004b), S. 18. 51 | Hoffmann (2008b), S. 13. 52 | Stingelin (2004b), S. 16. 53 | Balme (2005), S. 321.
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Die folgenden Kapitel versuchen, exemplarische ›Schreibszenen‹ in den Blick zu bekommen, also die (Un-)Greif barkeit dieses Konzepts im Rahmen der psychiatrischen Anstalt und ihrer speziellen Schreibbedingungen zu prüfen. Vorerst soll anhand zweier zeitgenössischer Schreibkonzepte eine Folie geschaffen werden, vor deren Hintergrund die Texte aus der Waldau, die nicht direkt Bezug auf diese Konzepte nehmen, zu denken sind.
2.1.4 Schreiben bei Freud und Breton als zeitgenössische Konzepte Im folgenden Abschnitt werden als Abschluss dieser theoretischen Überlegungen zu ›Schreiben und Ort‹ zwei Schreib-Konzepte einander gegenübergestellt, von denen der hier zugrunde liegende Zeitraum geprägt ist. Sie finden sich in ausgewählten Schriften Sigmund Freuds und solchen der Surrealisten, hier vertreten durch André Breton. Beide Autoren beschäftigten sich neben anderen gemeinsamen Themen wie dem Traum auch mit Schreiben und Literatur, tun dies aber bekanntlich in sehr unterschiedlicher Weise. Schon die Genres der gewählten Texte – bei Breton ein Manifest, das sich deutlich von anderen zeitgenössischen Manifesten abhebt,54 bei Freud der wissenschaftliche Aufsatz oder die Studie – weisen darauf hin, dass hier der Versuch unternommen wird, Ungleiches von Ungleichen zu vergleichen. Bretons und Freuds gemeinsame Themen wie das freie Assoziieren, die Auseinandersetzung mit Traum- und Wachzuständen sowie ihre persönliche und inhaltliche Distanz in der Handhabung dieser Themen werden hier nicht aufgerollt.55 Vielmehr soll das Zusammenspiel von Schreibprozessen und Orten im jeweiligen Schreiben der beiden Autoren erläutert werden. Damit werden zwei Möglichkeiten gezeigt, wie sich zeitgenössisches Schreiben in Bezug auf den Ort äußert. Seine Kritik am Realismus macht Breton im Ersten Manifest des Surrealismus von 1924 an einer Stelle aus Dostojewskis Schuld und Sühne fest. Zur Demonstration wählt Breton Dostojewskis Beschreibung eines Zimmers, in das der Protagonist tritt. Breton bezeichnet diese Szene als »pedantische Zeichnung« und wirft dem Autor vor, ihn »mit Einzelheiten zu überschütten«.56 Als Leser weigert sich Breton, dem Autor an den beschriebenen Ort zu folgen: »Er [der Autor] vertut trotzdem seine Zeit, denn ich trete nicht in sein Zimmer ein. […] Diese Beschreibung eines Zimmers – man erlaube mir, darüber wie über vieles andere hinwegzuge-
54 | Zur Abgrenzung von surrealistischer Manifesten von Textformen wie etwa dem Pamphlet und zur spezifischen Poetizität von Bretons Erstem Manifest des Surrealismus siehe Bürger (1971), S. 57–75. 55 | Siehe dazu die drei Briefe Freuds vom Dezember 1932 an Breton, abgedruckt in Breton (1973), S. 129–131. Das Unverständnis kann in einem Zitat wiedergegeben werden, wenn Freud zum Abschluss des Briefes vom 26.12.1932 schreibt: »Und nun ein Geständnis, das Sie tolerant aufnehmen wollen! Ich erhalte soviel Zeugnisse dafür, daß Sie und Ihre Freunde meine Forschungen schätzen, aber ich selbst bin nicht im Stande mir klarzumachen, was Ihr Surréalisme ist und will. Vielleicht brauche ich, der ich der Kunst so fern stehe, es gar nicht zu begreifen.« Breton (1973), S. 131. Siehe zum Verhältnis zwischen Freud und Breton Starobinski (1982). 56 | Breton (1986), S. 14.
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hen.«57 Am realistischen Schreiben bemängelt Breton auch die Vorstellung von einem »Held, dessen Aktionen und Reaktionen so fabelhaft präkonzipiert sind«.58 Detailreichtum in der Beschreibung beispielsweise eines Ortes und Voraussehbarkeit von Figurenhandlungen in einer »bloße[n] Schachpartie«59 sind realistischpositivistische Elemente, die Breton als uninteressant einstuft. Dabei geht es nicht um das Zimmer als Ort an sich, der zurückgewiesen wird, sondern um die Art seiner Darstellung. Ist ein Ort (beispielsweise ein Zimmer) als inhaltlicher Bestandteil eines Textes Gegenstand realistischer Beschreibung, kommt ihm in der surrealistischen Polemik vorderhand keine Bedeutung zu. In Bezug auf die Produktion von Geschriebenem spielt der Ort in der écriture automatique jedoch eine bedeutende Rolle.60 Er ist Ausgangslage des Schreibens und Bestandteil der »Geheimnisse der surrealistischen magischen Kunst«.61 Breton gibt dem Schreibwilligen im Abschnitt mit dem Untertitel Surrealistische Niederschrift oder erster und letzter Entwurf folgende Anweisungen: »Faites-vous apporter de quoi écrire, après vous être établi en un lieu aussi favorable que possible à la concentration de votre esprit sur lui-même. Placez-vous dans l’état le plus passif, ou réceptif, que vous pourrez.«62 Breton nennt als Schreibort »un lieu«, der »aussi favorable que possible« sein muss. In der deutschen Übersetzung von Ruth Henry wird dieser Ort zum »irgendwo«, wo es dem Schreibenden »bequem« sein soll.63 Der genannte Schreibort ist zufällig gewählt und doch entscheidend. Nur wenn die Voraussetzung des bequemen Ortes wie die Bedingung einer Experimentalanordnung gewährt ist, kann dort ein surrealistischer Text entstehen. Damit überhaupt automatische Texte entstehen können, braucht es nicht-automatische Texte wie das Manifest, die ihnen vorgelagert sind und als Programmschrift teleologisch auf sie verweisen. Breton sieht mit einem Regelwerk vor, dass der Schreibende als Versuchsperson zum magischen Künstler werden kann: »Écrivez vite sans sujet préconçu, assez vite pour ne pas retenir et ne pas être tente de vous relire. La première phrase viendra toute seule, tant il est vrai qu’à chaque seconde il est une phrase étrangère à notre pensée consciente qui ne demande qu’à s’extérioriser.«64 Es existiert also nach Breton im Bewusstsein ein ›Ort‹, an dem ein erster Satz gespeichert ist, mit dem sich – bei Einhaltung der Regeln – ein sur57 | Ebd. 58 | Ebd. 59 | Ebd. 60 | Zur écriture automatique siehe Bürger (1971), S. 150–165; Zanetti (2005), S. 230. 61 | Breton (1986), S. 29. 62 | Breton (1969), S. 42. 63 | Die Übersetzung von Ruth Henry lautet: »Lassen Sie sich etwas zum Schreiben bringen, nachdem Sie es sich irgendwo bequem gemacht haben, wo Sie Ihren Geist soweit wie möglich auf sich selber konzentrieren können. Versetzen Sie sich in den passivsten oder den rezeptivsten Zustand, dessen Sie fähig sind.« Breton (1986), S. 29. 64 | Breton (1969), S. 42 f. In der Übersetzung Ruth Henrys: »Schreiben Sie schnell, ohne vorgefaßtes Thema, schnell genug, um nichts zu behalten, oder um nicht versucht zu sein, zu überlegen. Der erste Satz wird ganz von allein kommen, denn es stimmt wirklich, daß in jedem Augenblick in unserem Bewußtsein ein unbekannter Satz existiert, der nur darauf wartet, ausgesprochen zu werden.« Breton (1986), S. 30. Der Spur einer möglichen Ironie in Bretons Anleitung kann im Rahmen dieser knappen Ausführungen nicht weiter gefolgt werden.
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realistischer Text beginnen lässt. Neben dem konkreten, zwar als Bestandteil der Schreibanordnung genannten, aber durch das »un lieu« respektive »irgendwo« im Bereich der Kontingenz angesiedelten Ort, gibt es den metaphorischen Speicherort des zentralen ersten Satzes eines Textes. Ist es der schreibenden Person am zufällig gewählten, aber bestimmten Ort »irgendwo« tatsächlich bequem und nimmt sie sich auch kein Thema und keinen ersten Satz vor, so entsteht, suggeriert Breton, der Text von selbst – eben automatiquement. Bretons Schreib-Konzept betont somit die für den Schreibprozess konstitutive Bedeutung des Ortes, der in der konkreten Situation nach individuellem Gutdünken gewählt werden kann und der es erst ermöglicht, dass automatische Texte entstehen. Wenn man so will, braucht die Universalität der écriture automatique die Partikularität des Ortes, an dem sie entsteht. Eine andere Bedeutung hat der Ort im Zusammenhang mit dem Schreiben bei Sigmund Freud. Dazu zwei Beispiele aus zwei unterschiedlichen Texten: In seiner Notiz über den »Wunderblock« (1925) befasst sich Freud mit der Gedächtnisarbeit. Er geht dabei zuerst von den (Un-)Möglichkeiten eines Notizzettels als Sinnbild aus und beschreibt das Dilemma, dass »[u]nbegrenzte Aufnahmsfähigkeit und Erhaltung von Dauerspuren«65 bis zu diesem Zeitpunkt nicht im selben Bild dargestellt werden konnten. Mit dem damals neu vermarkteten ›Wunderblock‹ hingegen kann das, was Freud mit der Verwendung eines Werkzeug-Vokabulars die Arbeit unseres »Wahrnehmungsapparats«66 nennt, erklärt werden. Der Schreiber erzeugt im Zusammenwirken eines zweischichtigen Deckblatts über der »Tafel aus dunkelbräunlicher Harz- oder Wachsmasse« eine von Freud in Anführungszeichen gesetzte »Schrift«.67 Diese Schrift entsteht nur durch »Vermittlung«68 zwischen dem aus einer Zelluloidplatte und einem Wachspapier bestehenden Deckblatt und der darunterliegenden Wachsmasse. Das Zelluloid hält die Schrift fest, ermöglicht aber auch einen Löschvorgang und es fungiert als »›Reizschutz‹«69. Die Wachsfläche hingegen nimmt schriftliche Dauerspuren auf. In ihr werden sie übereinander geschichtet, wodurch sie »bei geeigneter Belichtung« 70 lesbar bleiben. Die von Freud gewählte Metapher für die Funktionsweise des Gedächtnisses beinhaltet sowohl verschiedene Schreibprozesse als Elemente der Einschreibung von Eindrücken, als auch eine Lokalisierung des Geschriebenen im Gegenstand ›Wunderblock‹. Damit erscheint auch das Gedächtnis als metaphorisch ›Verortetes‹, nämlich im Spannungsfeld zwischen Innerem und Äußerem, sozusagen im ›inneren‹ Wunderblock, der die Fähigkeit hat, ›äußere‹ Eindrücke aufzuzeichnen. Gibt Breton Anleitungen zum Schreiben, so verwendet Freud Schreibprozesse hier zur Analogiebildung und als Hilfestellung zur Erklärung psychischer Prozesse. Im Werk Studien über Hysterie von 1895 dagegen gibt Freud weder wie Breton Hinweise, wie geschrieben werden soll, noch erklärt er die Arbeit der Psyche wie im Wunderblock, sondern er äußert sich zum eigenen Schreiben und zur spezifischen Lektüre seiner Texte. Im Vorwort zur zweiten Auflage von 1908 bietet er der Leserschaft seinen, wie er ausführt, mittlerweile überholten Text als Mittel zur 65 | Freud (1999), S. 2. 66 | Ebd., S. 6. 67 | Ebd., S. 5. 68 | Ebd. 69 | Ebd., S. 6. 70 | Ebd., S. 7.
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Erkenntnis an: »Auch weiß ich für jeden, der sich für die Entwicklung der Katharsis zur Psychoanalyse interessiert, keinen besseren Rat als den, mit den ›Studien über Hysterie‹ zu beginnen und so den Weg zu gehen, den ich selbst zurückgelegt habe.« 71 Die Lektüre soll also den Lernprozess, den Freud bereits durchgemacht hat, beim Leser auslösen. Das Vorwort als Paratext gibt ex post eine didaktische Anleitung zur Lektüre und die Aussicht auf ein daraus folgendes Resultat, nämlich die Nachzeichnung seines eigenen Gedankenganges. Freuds Schreiben ist hier ein Weiterschreiben, das sich darum bemüht, die Leser zu führen. In der vielzitierten Epikrise zur Studie Fräulein Elisabeth v. R… im selben Werk zeigt sich Freud wiederum gleichzeitig als Schreiber, Leser und Wissenschaftler, wenn er ausführt: »Ich bin nicht immer Psychotherapeut gewesen, sondern bin bei Lokaldiagnosen und Elektroprognostik erzogen worden wie andere Neuropathologen, und es berührt mich selbst noch eigentümlich, daß die Krankengeschichten, die ich schreibe, wie Novellen zu lesen sind und daß sie sozusagen des ernsten Gepräges der Wissenschaftlichkeit entbehren. Ich muß mich damit trösten, daß für dieses Ergebnis die Natur des Gegenstandes offenbar eher verantwortlich zu machen ist als meine Vorliebe; Lokaldiagnostik und elektrische Reaktionen kommen bei dem Studium der Hysterie eben nicht zur Geltung, während eine eingehende Darstellung der seelischen Vorgänge, wie man sie vom Dichter zu erhalten gewöhnt ist, mir gestattet, bei Anwendung einiger weniger psychologischer Formeln doch eine Art von Einsicht in den Hergang einer Hysterie zu gewinnen. Solche Krankengeschichten wollen beurteilt werden wie psychiatrische, haben aber vor letzteren eines voraus, nämlich die innige Beziehung zwischen Leidensgeschichte und Krankheitssymptomen, nach welcher wir in den Biographien anderer Psychosen noch vergebens suchen.« 72
Diese Stelle enthält Informationen zu Freuds beruflicher Herkunft aus dem Gebiet der »Lokaldiagnosen und Elektroprognostik«, deren »ernstes Gepräge der Wissenschaftlichkeit« Freud in einen Gegensatz zu den »Novellen« stellt, die er selbst nun als Hysteriestudien fortschreibt. Dabei ist gerade die Formulierung, dass die von Freud verfassten Krankengeschichten wie »Novellen zu lesen sind«, zweideutig, sie kann appellativ oder konstativ verstanden werden. Für die konstative Lesart spricht die Tatsache, dass Freud davon spricht, es berühre ihn »noch eigentümlich« und er müsse sich »trösten« (was ein Bedauern voraussetzt), dass diese Lesart keine streng wissenschaftliche sei. Im letzten hier zitierten Satz allegorisiert Freud wiederum Psychosen, gibt sich im Fall der Hysterie als ihr Biograf aus und macht sich dadurch selbst zum Schriftsteller, nicht ohne zu betonen, dass er mit den psychologischen »Formeln« wie ein Wissenschaftler arbeite. Auffallend ist an dieser Stelle auch, dass Schreiben und Lesen als Prozesse auf zwei unterschiedliche Produkte angewendet werden, beziehungsweise diese schaffen. Freud produziert, so schreibt er, »Krankengeschichten«, die im Verfahren der Rezeption (wie sie Freud überblicken mag) zu »Novellen« werden. Geschrieben werden also medizinisch-psychiatrische Texte, gelesen werden literarische.
71 | Freud (2007), S. 26. 72 | Ebd., S. 180. Dieses Zitat wird im Zusammen mit den Genres und den Bezeichnungen Krankenakte, Fallgeschichte und Krankengeschichte in Kapitel 4.1 noch einmal aufgenommen.
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In der Benennung der dichterischen Leistung, der »Darstellung der seelischen Vorgänge«, wird an den angeführten Textbeispielen die Kluft deutlich, die zwischen Freuds und Bretons Auffassung vom Dichter und seinem Schreiben besteht. Bei Breton ist der Fokus gerichtet auf die durch Ort und Zeit bedingte Produktion von Texten. Er beschreibt eine Schreib-Technik, die maßgeblich vom Ort als Ausgangslage geprägt ist. Eine Rezeption des Geschriebenen wird höchstens als Störfaktor der Produktion betrachtet. Breton schreibt: »Sich zuhören, sich lesen bedeutet nichts anderes als Unterbrechung des Okkulten, der herrlichen Hilfsquelle. Ich beeile mich nicht, mich zu verstehen (basta! ich werde mich immer verstehen).« 73 Bei Freud hingegen gibt es klare Angaben dazu, was geschrieben wurde und wie es gelesen werden soll. Schreibprozesse werden von ihm zur Beschreibung und Erklärung eines Gedächtnis-Vorganges, der metaphorisch im Wunderblock verortet ist, verwendet. Wo und wie im eigentlichen Wortsinne (von Freud) geschrieben wurde oder (von andern) geschrieben werden soll, wird ausgeklammert. Freuds Schreiborte lassen diese Texte nur erahnen – etwa die psychotherapeutische Praxis, in der sozusagen neben der Couch Notizen gemacht werden, aus denen ein ›Fall‹ entsteht, in der Klinik, wo in die Akte Beobachtungen eingetragen werden, oder am Schreibtisch, an dem die zitierte Epikrise als Krankengeschichte vermutlich verfasst wurde. Auch die Notiz über den »Wunderblock« enthält keine Spuren eines Schreibortes, keine Angaben darüber, wo der Autor arbeitet, aber er thematisiert und verwendet örtliche Prozesse der Einschreibung. Die Analogie kommt nicht ohne die Beschreibung des Ortes der Schreibprozesse aus. Die hier skizzierten Schreibkonzepte der beiden Autoren zeigen die Spannweite auf, in der sich der Komplex ›Schreiben und Ort‹ zu Beginn des 20. Jahrhunderts bewegt. Davon lassen sich drei Eckpunkte wie folgt zusammenfassen: Es gibt erstens den Ort (und die Zeit) in ›Reinkultur‹, wie er in der écriture automatique zur Geltung kommt. Schreiben heißt damit in erster Linie am Ort sein und dort mit hohem Tempo möglichst ohne bewusste Steuerung Texte in einer intransitiven Schreibweise produzieren; zweitens tritt der Ort in der Verwendung einer Metapher für einen Wissensgegenstand ein, der anders noch nicht beschrieben werden kann, wie es beim Wunderblock der Fall ist, bei dem mit der Metaphorik von Schreibprozessen die Gedächtnisarbeit erklärt werden soll. Der thematisierte Schreibort dient damit als didaktisches Instrument der Erklärung. Drittens findet sich auch der ungenannte Schreibort, der sich höchstens anhand von spezifischen, institutionsbedingten Textsorten (wie der Krankenakte oder dem wissenschaftlichen Aufsatz) und ihrer konkreten Anwendung erraten lässt. In solchen Texten kann das Schreiben als wissensproduzierendes Verfahren thematisiert und damit zum ›Ort‹ der bewussten Leserführung und Lese-Anleitung werden. Für die vorliegende Arbeit ist eine spezifische Verortung von Schreibprozessen in der Klinik einerseits und die Sammlung und Präsentation von Geschriebenem als Quellen andererseits zentral. Es bietet sich deswegen an dieser Stelle an, den fundamentalen Zusammenhang von Klinik und Musealität zu beleuchten, was im folgenden Kapitel getan wird.
73 | Breton (1986), S. 32.
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2.2 K linik und M use alität Wird versprachlichtes Wissen (der Psychiatrie, der Klinik, des Patienten um die Jahrhundertwende an einem bestimmten Ort) als zentraler Gegenstand der Untersuchung angesehen, so lassen sich aus den Ausführungen zu den in der Einleitung angeführten Textbeispielen weitere, hier wichtige Begriffe wie Geschichte, Museum, Archiv und Sammlung/Sammler 74 extrapolieren. Sie bilden zusammen einen Komplex, der sich durch eine dichte Vernetzung auf unterschiedlichen Ebenen auszeichnet. Mit diesen Begriffen lässt sich der Zusammenhalt der hier untersuchten Quellen beschreiben, sie formieren also den Untersuchungsgegenstand und werden in diesen Quellen teilweise auch inhaltlich reflektiert. Psychiatrie zeichnet sich durch ein Interesse gegenüber der eigenen Geschichte aus, vor allem aber durch eine Affinität zum Musealen, verstanden als ein spezifisches Verhalten gegenüber Kulturgütern durch sammeln, auf bewahren, untersuchen, beschreiben und zugänglichmachen. Einerseits bekommt das reale Museum in Kliniken, die Lehre und Pflege respektive Therapie miteinander verbinden, Ende des 19. Jahrhunderts einen Platz, andererseits erlaubt das Museum als Metapher für die Klinik die Beschreibung paralleler Praktiken wie denen des Sammelns, Beobachtens und Präsentierens. So bezeichnet etwa Jean-Martin Charcot 1886 in seiner von Sigmund Freud übersetzten Vorlesung zur Eröffnung des klinischen Lehrstuhls an der Pariser Salpêtrière die Anstalt als »pathologische[s] Museum[ ]«: »Die klinischen Typen bieten sich dem Beobachter in zahlreichen Exemplaren, welche gestatten, das Krankheitsbild mit einem Blick in verschiedenen, gleichsam fixierten Stadien zu überschauen, denn die Lücken, welche die Zeit in diese oder jene Gruppe reißt, werden alsbald wieder aufgefüllt. Wir sind mit anderen Worten im Besitz eines reich ausgestatteten, lebenden pathologischen Museums.« 75
Dem Museum gleich ist die Anstalt voller »Exemplare[ ]«, die sich einem Beobachter zeigen, der sie studiert und der durch sie Wissen gewinnen oder überprüfen kann. Den Patienten kommt die Rolle der Wissensobjekte zu, die Forscher-Subjekte werden durch die Ärzte verkörpert, welche die Patienten als ihre Objekte nach gründlicher Beobachtung in »Typen« einteilen. Da die Pariser Anstalt derart viele Insassen hat (Charcot spricht von »mehr als 5000 Personen«),76 spielt der Faktor Zeit für die Beobachtung des Ablaufs einer Krankheit keine Rolle. Die »gleichsam fixierten Stadien« können wegen ihres zahlreichen Auftretens vom Arzt überblickt werden. Das Merkmal von Musealität, Objekte aus unterschiedlichen Zeiten in eine synchrone Reihe bringen zu können, und es damit erst möglich zu machen, gerade in dieser vermeintlichen Synchronie der musealen Anordnung die Diachronie als Beziehung zwischen den einzelnen Objekten darzustellen, wird hier auf die Klinik und die in ihr lebenden ›Objekte‹ übertragen. Die einzelnen Patienten sind in dieser Ansicht bestenfalls Darsteller eines bestimmten Krankheitsausschnitts, Reprä74 | Die Aktualität des Forschungsgebietes ›Sammeln‹ als kulturwissenschaftlicher Thematik belegen etwa Assmann/Gomille (1998), Sommer (1999) oder te Heesen/Spary (2001). 75 | Charcot (1886), S. 3; zu Charcots Museum siehe auch Mayer (2001). 76 | Charcot (1886), S. 3.
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sentationen eines Zeitpunkts im Verlauf einer Krankheit, von Medizinern zur Beobachtung arrangiert und mit Diagnosen versehen. Die Deutungshoheit und damit auch die Macht liegen beim ärztlichen Kollektiv, das nach Charcot »im Besitz« des Museums ist. Diese Macht zeigt sich auch im Fachjargon, wenn von den Patienten als »Material« gesprochen wird: »Wo anders […] will man ein so reiches, für diese Art von Untersuchungen geeignetes Material finden? Und geringfügige Abänderungen in der inneren Einrichtung der Anstalt […] würden hinreichen, diesem Material die volle Verwerthbarkeit zu geben.« 77 Der Patient als »Material«, über dessen »Verwerthbarkeit« man sich Gedanken macht, wird als Bestandteil einer Masse zum Wissensobjekt, an dem durch genaue Beobachtung am abgesonderten Ort, im geschlossenen Raum der Anstalt der Gegenstand ›Krankheit‹ ersichtlich wird. Mit Foucault gesprochen diszipliniert die Macht, mit der die Klinik dem ›Patientenmaterial‹ begegnet, nicht nur, sondern sie wirkt auch produktiv – in diesem Fall wird Wissen über Krankheiten produziert, der Ort stellt das »Material« erst zur Verfügung. Charcots enthusiastische Rede vom »reiche[n]« »Material« zeugt von der Bedeutung, welche der Masse an Patienten für die Hervorbringung und Repräsentation von Krankheiten zukommt. Als Grundlage für diese Wissensproduktion braucht es also erstens die Masse der Patienten und zweitens sie ordnende Elemente wie etwa die Architektur eines ist (auch Charcot spricht von der Bedeutsamkeit der »inneren Einrichtung der Anstalt«). Nicht von ungefähr hat die historische Architektur der ›Siechen- und Irrenhäuser‹ oft panoptische Züge.78 Das Panopticon als »eine Art Laboratorium der Macht« 79 garantiert durch seine konzentrische Anordnung und die gezielte Steuerung der Lichtverhältnisse die ungestörte Beobachtung des Patienten als Insassen. Anordnung und Beobachtung waren auch wichtige Bestandteile in der Planung der Waldau, wie es im Bericht von 1855 hervorgehoben wird: »Das Hauptgebäude bildet ein geschlossenes Rechteck von 546 Fuß Länge von Osten nach Westen und von 243 Fuß Breite von Süden nach Norden, mit drei innern Höfen, welche den drei Abtheilungen desselben, der Männerabtheilung auf der westlichen, den Administrations- und Oekonomiegebäuden in der Mitte und der Frauenabtheilung auf der östlichen Seite entsprechen. Die Höfe und Gärten zum Aufenthalte der Irren liegen aber alle außen um die Anstalt herum, unmittelbar vor den zugehörigen Abtheilungen. Jede derselben hat ihren bestimmten abgeschlossenen Raum, ihre besondern Säle, Zimmer, Treppen und Abtritte. Alle zum Gebrauche der Kranken dienenden Säle und Zimmer sind nach Außen gerichtet, deren Thüren auf einen breiten Gang – Corridor – sich öffnen, von welchem die Aussicht auf den betreffenden innern Hof beschränkt ist und zwar so, daß das eine Geschlecht nicht in die Abtheilung des andern hinüber sehen kann.« 80
77 | Ebd., S. 1. Hervorhebungen M.W. 78 | Siehe zur Thematik ›Architektur und Psychiatrie‹, bezogen auf die Romandie in der Zeit von 1830–1930, Fussinger (1998); allgemeiner zur Geschichte der Spital-Architektur Thompson/Goldin (1975). 79 | Foucault (1994), S. 263. 80 | (1855c), S. 22. ›Irre‹ und davon abgeleitete Worte werden hier in der Folge mit ›I‹ geschrieben, auch wenn im Original ein ›J‹ gesetzt ist.
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Abb. 7: Das Äußere Kranken- oder Siechen-Haus-Gut vor 1855.
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Die Anordnung zeichnet sich durch eine starke Symmetrie der Anlage von Gebäude, Höfen und Gärten aus. Im Gegensatz zu den historischen Gebäuden des Außerkrankenhauses (Abb. 7)81 besteht der Neubau von 1855 aus einem einzigen Gebäude, das in mehrfacher Hinsicht dem Prinzip der Ordnung folgt. Diese Ordnung zeigt sich in der Architektur, sie wird aber auch explizit sprachlich erwähnt, wenn im Organisationsreglement des Eröffnungsjahres unter den »Mitteln, durch welche die Anstalt heilsam auf den Kranken einzuwirken suchen wird, eine den gesammten Dienst, die häuslichen Einrichtungen und alle innern Bewegungen der Anstalt beherrschende Ordnung«82 erwähnt wird. Die zentrale Zufahrt mit Baumallee betont die repräsentative Funktion des Baus, der auf einem Hügel vor dem ›Schermenwald‹ gebaut wurde. Der Direktor mit seiner Wohnung im ersten Stock hat freie Sicht auf diese Zufahrt und damit eine Kontrolle über die Ankommenden und etwaigen Weggehenden. Die Planung dieses Ortes, der als »Abweichungsheterotopie« 83 bezeichnet werden kann, wird schon optisch geprägt durch den Willen zur Kontrolle und eine übersichtliche Anordnung. Dennoch besteht das Innere dieser vermeintlich geschlossenen Einheit wiederum aus einer Vielzahl an Orten. Hinter der streng und einheitlich wirkenden Fassade des Gebäudes befinden sich die Abteilungen der Frauen und Männer, der sogenannt ›Ruhigen‹ und ›Unruhigen‹, der drei bis vier unterschiedlichen Klassen der Unterbringung, die Wärterwohnungen etc. als unterschiedliche Bestandteile dieses nur vermeintlich einheitlichen »Gegenortes«84 ›Waldau‹. Die Innenhöfe sind jeweils auf einen Mittelpunkt hin ausgerichtet und lassen sich problemlos überblicken. Im Gebäude gibt es hingegen keine zentrale Position, aus der die Patienten unbemerkt beobachtet werden könnten, vielmehr verunmöglicht die Anlage der Korridore und die Lage der Räume der Patienten an den Außenwänden des Rechtecks ebendiese Beobachtungsweise. Die Blicke der weiblichen und männlichen Patienten werden so gesteuert, dass sie einander nicht begegnen. Obwohl also viele Arten der Beobachtung restringiert sind, wurden in dieser Bauweise spezifische Elemente zur gezielten Beobachtung von Insassen angelegt. Das Personal hat immer die Möglichkeit, die Patienten zu beobachten. Es tut dies nicht aus einer zentralen, panoptischen Warte, sondern aus einer erhöhten Position heraus: »Aus den oberhalb den Gängen befindlichen Wärterzimmern führen rechts und links Beobachtungsgänge über den Zellen hin, um die darin enthaltenen Irren, ohne daß diese es gewahr werden, observiren zu können.« 85 Die Klinik ist damit durch ihre Architektur immer schon Beobachtungsort. Die dort produzierten Texte können diese Beobachtungssituation wiedergeben, wie es etwa der eingangs erwähnte Eintrag in die Krankenakte des Herrn F. tut, in dem seine Tätigkeiten beschrieben werden, oder wie Rorschachs Aufsatz, der von einem ›Fall‹ der Begutachtung, einer besonderen Form der institutionellen Beobachtung, spricht. Texte können diese verschiedenen Beobachtungs- und Kontrollsituationen aber auch reflektieren, etwa wenn der ebenfalls zu Beginn erwähnte Patient Sch. 81 | Das Außerkrankenhaus wird auch das äußere Krankenhaus genannt. Auf dem Situationsplan liegt es rechts unten. 82 | (1855a), S. 20. 83 | Foucault (2006), S. 321. 84 | Ebd., S. 320. 85 | (1855c), S. 24.
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seiner Frau eine schriftliche Anweisung zur Nachfrage beim Direktor gibt, von der er vermuten kann, dass sie beim eigentlichen Adressaten, dem seine Patienten und ihr Tun (und insbesondere das Schreiben) beobachtenden Direktor, ankommen wird. Gewisse Texte in der Klinik Behandelter oder Angestellter können deshalb einer Beobachtungsstufe zweiter Ordnung zugerechnet werden, da sie die Beobachtungssituation selbst einer (sprachlichen) Beobachtung unterziehen. Gemeinsam ist dem Patienten und dem Arzt respektive der angestellten Person in Anbetracht der vorliegenden Quellen die Verschriftlichung von Beobachtungen. Sie alle schreiben ihren jeweiligen Rollen gemäß über die Situation vor Ort. Sowohl die Klinik wie das Museum sind Orte, die etwas zur Schau stellen,86 in denen sich etwas betrachten und beobachten lässt und die mit Geschriebenem in unterschiedlichen Formen wie Beschriftungen, Erklärungen, Protokollen oder Berichten arbeiten. Über diese Parallelen hinaus, die oft von einem metaphorisch verstandenen Museum ausgehen, gibt es weitere, vielfältige Bezüge zwischen Klinik und Museum. So finden sich innerhalb der Kliniken als metaphorische Museen häufig auch tatsächlich Museen, wie etwa in Charcots Salpêtrière. Die Musealität des Ortes wird damit verdoppelt. Charcot erwähnt das Museum in der oben bereits genannten Vorlesung: »Auf diese Weise ist zum Siechenhaus zuerst eine Ambulanz und dann eine Klinik hinzugekommen. Das alles bildet ein innig verknüpftes Ganzes, welches durch einige andere Zuthaten vervollständigt wird. Wir besitzen ein pathologisch-anatomisches Museum nebst Ateliers für Photographie und Gypsabgüsse, ein Laboratorium für Anatomie und pathologische Physiologie […] und den Hörsaal […], der wie Sie sehen, mit allen modernen Demonstrationsapparaten ausgerüstet ist.« 87
Mit Charcots Auflistung des Siechenhauses, der Ambulanz und der Klinik werden die zeitgenössischen (sowohl therapeutischen wie auch geografischen) Erweiterungen und Erneuerungen in der Irrenpflege beschrieben. Das pathologischanatomische Museum dient innerhalb der Klinik der Aus- und Weiterbildung des Personals. Der darin vorhandene Bestand kann für die Lehre eingesetzt werden. Die Museumssammlung dokumentiert aber auch die Arbeitsformen sowie die erreichten Resultate. Deren Auf bereitung präsentiert zudem für Außenstehende die Geschichte oder den aktuellen Stand des Faches. Als solche sind die Sammlungen Wissensorte innerhalb des Wissensortes Klinik. Was mit welcher Intention gesammelt wird, unterscheidet sich je nach Ort und Akteuren – in Charcots pathologisch-anatomischen Museum oder, um ein Beispiel aus der Waldau zu nennen, in Ernst Grünthals hirnanatomischer Sammlung steht etwa der menschliche Körper als Untersuchungsobjekt im Zentrum.88 Allein dieser wird befragt, wenn 86 | Dass Musealität nicht nur abstrakt, sondern auch auf einer alltäglichen Ebene mit der Klinik verbunden ist, zeigt die Tatsache, dass die Anstalt auch im 19. Jahrhundert noch ein Ausflugsziel für den Sonntagsspaziergang ist. Dort sind die ›Irren‹ Anschauungsobjekte mit Unterhaltungswert. Siehe zur Erwähnung der »Gaffer« in den Jahresberichten auch Kapitel 3.4.9. 87 | Charcot (1886), S. 4 f., Hervorhebung M.W. 88 | Ernst Grünthal (1894–1972) war 1934 vor den Nationalsozialisten in die Schweiz geflohen und danach über dreißig Jahre in der Waldau tätig, wo er ein hirnanatomisches Institut
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somatische Auslöser einer psychischen Krankheit zur Debatte stehen, und es werden zu Forschungszwecken und zur Dokumentation entsprechende Sammlungen mit Hirnschnitten, Moulagen und Ähnlichem angelegt. Psychiater, die, wie verschiedentlich schon festgestellt wurde, häufig auch als Sammler hervorgetreten und Gründer ganz unterschiedlicher Sammlungen sind, haben sich aber auch mit anderen Gegenständen befasst. Die entsprechenden Sammlungen und ihre Präsentation hatten dadurch auch unterschiedliche Funktionen. In der Folge wird die Verflechtung von Klinik und Musealität anhand konkreter Beispiele aus der Waldau skizziert, zuerst am Beispiel einer Schlüsselsammlung, danach in Bezug auf die Landesausstellung von 1914; später wird der Fokus auf Kunstsammlungen gerichtet, bevor schließlich eine erste Darstellung vom komplexen Verhältnis zwischen Morgenthaler und Wölfli in Bezug auf die gesammelten Werke und die Schaffens- und Sammelorte Zelle und Dachstock erfolgt.
2.2.1 Schlüssel Walter Morgenthaler legte zu pädagogischen Zwecken Schlüsselsammlungen für die Ausbildung der Pfleger an, damit diese sich mit potenziellem Ausbruchswerkzeug ihrer Klientel auseinandersetzen konnten (Abb. 8).89 Die auf einer Kartontafel montierten Schlüssel tragen den Übertitel Nachgemachte Schlüssel und sind aus unterschiedlichen Materialien gefertigt.90 Darunter stehen bei einigen Schlüsseln Nummern, die nicht die Objekte einordnen, sondern diese mit der entsprechenden Patientenakte verbinden; die Objekte sind via Nummern mit den anonymisierten Insassen und deren Geschichten verknüpft. Die Schlüssel werden auf dem Karton in einem dekontextualisierenden Rahmen gezeigt, die Nummern sind aber Indizes, die es Befugten ermöglichen, den narrativen Kontext dieser Schlüssel wieder herzustellen, in dem sie in der Krankengeschichte nachlesen. Ein Schlüssel steht damit für eine Geschichte eines Patienten. Morgenthaler hat hier also neben den Schlüsseln als Objekten indirekt auch Gegründete und leitete, siehe auch Kapitel 3.12. Im Museum der Waldau wird ein kleiner Ausschnitt aus Grünthals Sammlung gezeigt, die Keller der Klinik enthalten mit den von Heinz Feldmann zusammengetragenen Gegenständen noch Unmengen an psychiatriegeschichtlich interessantem Material wie Hirnschnitten und Ähnlichem. 89 | Die Schlüssel wurden von Morgenthaler selbst in seinem Lehrbuch Die Pflege der Gemüts- und Geisteskranken abgedruckt (Morgenthaler, 1930, Tafel 27). Zu Schweizer Psychiatern als Sammlern siehe Luchsinger (2008). Auf Emil Kraepelin, Emil Weygandt und Karl Wilmann als Sammler verweist Bettina Brand-Claussen (2006). Zu Morgenthaler siehe hier Kapitel 2.2.4 und 3.6.2.3. 90 | Nämlich aus Knochen, Holz, Draht, Blech, Besteck, Nägel und Stoff, siehe auch Luchsinger (2008), Tafel 20. In der oberen Reihe ungefähr in der Mitte liegt ein Schlüssel aus Karton (mit Nummer 7504 versehen), über dessen Herkunft und Sinn Anita Rufer (2008), S. 83 f., spekuliert. Neben den Nachgemachten Schlüsseln ist im Band Der letzte Kontinent auch ein Karton Morgenthalers mit dem Titel Gemeingefährliche Instrumente abgebildet, siehe Beretti/Heusser (1997), S. 126 f. Dem Produzenten des »kleinen hölzernen Morgenstern[s]« (Ebd., S. 126) wird in diesem Band der Name ›Julius B.‹ verliehen und ein Teil seiner Lebensgeschichte nacherzählt, die dann allerdings irritierenderweise mitten im Satz abbricht. (Ebd., S. 144–147).
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Abb. 8: Walter Morgenthaler: Schlüsselsammlung
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schichten gesammelt. Nachgemachte Schlüssel und Fluchtversuche sind in unterschiedlichen Krankenakten Thema, sie finden als spannungssteigernde Elemente auch Eingang in die Literatur, so zu lesen beispielsweise in Glausers Matto regiert (siehe Kapitel 4.6). An drei Stellen liest man auf Morgenthalers Tafel auch noch die erklärenden Kommentare: »hat Fenster damit geöffnet«, »Aus der Federmatratze des Bettes« und »Zum Öffnen der Jalousie«. Damit wird sowohl auf die Herkunft des metallenen Rohstoffes wie auch auf die Verwendung des Schlüsselimitats verwiesen. So enthält die Schlüsselübersicht auch Miniatur-Geschichten und Zusammenfassungen von außerordentlichen Zwischenfällen in der Klinik. Morgenthaler gibt mit dieser Tafel das Wissen des Arztes über Ausbruchswerkzeug der Patienten an andere Angestellte weiter. Der Transfer wird über die Sammlung der Schlüssel und ihre Präsentation auf der Kartontafel gemacht. Die Übersicht enthält aber neben dem Psychiater-Wissen auch Wissen der Patienten – nämlich bezüglich der Materialien und ihrer Verwendungsweise. Sowohl die (beinahe) echt aussehenden, metallenen Schlüssel wie auch die aus unterschiedlichen Materialien gebastelten Objekte zeigen auf, dass jemand fähig war, Material zu beschaffen, es mehr oder weniger fachgerecht zu bearbeiten und dies im Wissen darum, welche spezifische Funktion der Gegenstand erfüllen sollte. Morgenthalers Anordnung und der Titel als ordnende und rahmende Elemente machen auch aus denjenigen Objekten, deren Form auf den ersten Blick unspezifisch ist, Schlüssel. Heute ist es möglich die Schlüssel im Psychiatrie-Museum Bern und ihre Abbildung in Büchern zu betrachten. Die pädagogische Sammlung wurde zur historischen. In der Retrospektive kann ein Betrachter aus der Präsentation unterschiedlicher Schlüssel entnehmen, welche Materialien Insassen zur Zeit zur Verfügung standen, sowie Vermutungen darüber anstellen, wie viel Energie und Geduld vonseiten der Patienten in die Nachahmung eines Schlüssels gesteckt wurden und mit wie viel Aufwand die Angestellten versucht haben mussten, der Schlüsselproduktion und -verwendung Herr zu werden. Neben der pädagogischen Sammlung für die Berufsausbildung bilden Objekte der Landesausstellung von 1914 in Bern das Fundament von Morgenthalers Sammlung in der Waldau.
2.2.2 Landesausstellung 1914 Morgenthalers figürliche Modelle (beispielsweise von Zwangsmitteln)91 als Darstellung historischer Behandlungsformen machen die Klinik und ihre Geschichte zum Ausstellungsobjekt an der Landesausstellung von 1914 in Bern. Diese Präsentation verfolgt unterschiedliche Ziele: Einerseits soll ein Laienpublikum über historische Verhältnisse informiert werden, andererseits stellt sich die ›neue‹ Psychiatrie als Verfechterin der no-restraint-Bewegung in ein positives Licht und versucht, sich dadurch zu legitimieren, wie in der Folge anhand einiger Passagen aus Ausstellungskatalogen und Berichten gezeigt werden kann. Die dritte Landesausstellung fand Mitte Mai bis Mitte Oktober 1914 in Bern statt. Von außen gesehen war die Ausstellung an einem Bilderbuchort situiert: »So schrieb z.B. die ›Grazer Tagespost‹: ›Bern, diese Stadt ist selbst eine Ausstel-
91 | Siehe Morgenthaler (1930), Tafel 35.
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lung und veranstaltet dennoch eine.‹92 Unter dem, »was alles Schweizersinn und Schweizerfleiss hier dem Beobachter als Produkte für den Wettbewerb mit den Völkern vor Augen führten«,93 befand sich in der Sektion ›Krankenfürsorge‹ auch ein Krankenzimmer von 1698 als Gegenüberstellung zu einem ›heutigen‹ Krankenzimmer. Dies sollte den »schreienden Gegensatz zwischen ›Einst und Jetzt‹ in der Spitalfürsorge«94 illustrieren. Die Beschreibung des Vergangenen zeigt Spitäler mit »niedrigen, finstern, schwer zu lüftenden Stuben und höchst primitiver Einrichtung«, wohingegen die neuen Zimmer mit »Luft, Licht« und »höchste[r] Sauberkeit« bestechen würden.95 Zwischen dieser Beschreibung der Krankenfürsorge und den jeweiligen Abschnitten über die Schweiz als Kurort,96 findet das »Irrenwesen« jeweils nur eine kurze Erwähnung. In den Fachberichten ist es ein einziger Satz: »Hieran anschliessend finden wir eine Reihe von Modellen und Bildern von Irrenhäusern, welche sehr schön die riesigen Fortschritte veranschaulichen, welche das Irrenwesen der Gegenwart gegenüber früher zu verzeichnen hat.«97 Im Illustrierten Ausstellungs-Album gibt es keine Abbildung der entsprechenden Objekte und im Text ebenfalls nur eine lapidare Bemerkung: »Das Irrenwesen beansprucht ebenfalls stets die Aufmerksamkeit und Fürsorge und fordert jährlich bedeutende Opfer. In der Behandlung der Kranken sind grosse Fortschritte gemacht worden.«98 Die ausführlichste Erwähnung der hier verglichenen Quellen bietet der Katalog A: »Die Abteilung des Irrenwesens zerfällt in zwei Gruppen, in die historische und in jene, die das Irrenwesen der Gegenwart veranschaulicht. Eine Reihe von bildlichen Darstellungen, welche in der ersten Gruppe zu sehen sind, geben uns eine Idee, wie das Wesen der Geisteskrankheit früher aufgefasst wurde, und welcher Behandlung Geisteskranke in früheren Zeiten unter-
92 | (1914a), S. 3. 93 | Ebd., S. 19. 94 | (1916), S. 113. 95 | (1914a), S. 141. Interessant ist an dieser Stelle auch die in Klammer gesetzte Erwähnung des Herkunftsortes von diesem alten Krankenzimmer: »(Das meiste von dem letzteren stammt aus dem Bürgerspital in Sitten, wo selbstverständlich die eigentlichen Krankheitsräume jetzt auch nach modernen Anforderungen eingerichtet sind, wo sich aber in einzelnen, gegenwärtig andern Zwecken gewidmeten Räumen noch etliches Altertümliches erhalten hat, aus dem wir ein Krankenzimmer des 17. Jahrhunderts rekonstruieren konnten, indem uns das dazu Erforderliche von der zuständigen Behörde in Sitten in freundlichster Weise überlassen wurde.).« Ebd. Schon die Tatsache, dass das Bürgerspital in Sitten noch über die Einrichtung eines solch alten Zimmers verfügt, muss in diesem fortschrittsorientierten Kontext erklärt und beinahe entschuldigt werden. 96 | Dazu etwa der von Selbstbewusstsein geprägte Katalogtext: »Die Schweiz ist das Sanatorium der Welt ›par excellence‹ geworden, zu dem nicht nur die Kranken kommen, um ihre Gesundheit zu suchen und zu finden, sondern zu dem auch die Gesunden pilgern, sei es, dass sie nur der Ruhe pflegen wollen, um die im Kampfe mit dem Dasein erlahmten Kräfte wieder zu sammeln, sei es, dass sie durch den Sport im Gebirge – Wandern im Sommer und Schneesport im Winter – ihre Kräfte steigern und ihre Energie stählen wollen.« (1914a), S. 142. 97 | (1916), S. 113 f. 98 | (1914c), S. 523.
Schreibor te und gesammelte ›Kunst der Geisteskranken‹ worfen wurden. Eine Anzahl von Hilfsmitteln und Modellen von solchen, wie sie ehedem bei der Behandlung Geisteskranker im Gebrauche waren, verdeutlichen die Sache. Die zweite Gruppe zeigt, welche Fortschritte auf dem Gebiete des Irrenwesens und im besondern in der Behandlung der Kranken gemacht worden sind. Eine Reihe von Plänen, Maquetten, Modellen und Photographien stellen verschiedene Typen von Irrenhausbauten, von einzelnen Pavillons, von Ueberwachungsabteilungen für ruhige und unruhige Kranke usw. dar, wie sie an verschiedenen Orten der Schweiz im Betriebe sind. Tabellen und graphische Darstellungen zeigen uns, welche enormen Opfer das Irrenwesen in der Schweiz erfordert. Andere Darstellungen sind der Veranschaulichung der Familienpflege, der Arbeitstherapie, dem Hilfsvereinswesen gewidmet und noch andere geben uns Aufschluss und Belehrung über den Betrieb einzelner Anstalten.« 99
Weder aus diesen Angaben, noch aus dem Fundus des Psychiatrie-Museums Bern lässt sich mit Bestimmtheit sagen, welche Objekte aus der Waldau an der Landesausstellung zu sehen waren. Anhand der letzten Beschreibung erfährt man aber, dass in der Präsentation mit unterschiedlichen Medien (»Plänen, Maquetten, Modellen und Photografien« oder »Tabellen und grafische Darstellungen«) gearbeitet wurde, und dass es neben der Darstellung historischer Behandlungsmethoden vor allem um »Fortschritte« ging. Mit der »Familienpflege, der Arbeitstherapie [und] dem Hilfsvereinswesen« werden aktuelle Behandlungs- und Organisationsformen erwähnt, die sich vor dem Hintergrund der unmenschlichen historischen Zwangsmethoden besonders gut ausmachen, deren Umsetzung in der Waldau jedoch noch Zeit brauchte.100 Morgenthalers gesammelte Fundstücke und die eigens hergestellten Objekte werden nicht direkt erwähnt. Sie dürften, so lässt sich vermuten, aufgrund ihrer Thematik kein Publikumsmagnet gewesen sein. Dennoch ermöglicht die ›Abteilung Irrenwesen‹ einen Einblick in ein sonst abgeschlossenes Gebiet: Der Rand-Ort Klinik und seine Praktiken werden an den gesellschaftlichen Treffpunkt des Jahres, in die Ausstellung und in die Stadt, geholt. Die Patienten, ihre Arbeiten und ihr Alltag bleiben weiterhin unsichtbar, aber zumindest ihre Behandlungsweise und die architektonische Anordnung von Kliniken, die selbst museale Züge aufweisen, werden öffentlich inszeniert und dadurch auch in einem bestimmten Grade zugänglich gemacht. Die Sammlung Morgenthalers wurde durch diese Ausstellungsobjekte erweitert, wenn nicht sogar dadurch gegründet. Im Jahresbericht von 1914 findet man folgende Passage: »Im Neubau wurde auch ein kleines Museum der Irrenpflege eingerichtet und dazu Tabellen und Zeichnungen und Gegenstände benützt, die in der Landesaustellung gezeigt worden waren.«101 Die Landesausstellung ist damit einerseits Ort der Repräsentationsmöglichkeit der Klinik gegen außen, andererseits wird durch sie die Sammlungstätigkeit Morgenthalers und damit die Repräsentation der klinikeigenen Geschichte nach innen vorangetrieben. Während von Speyr im Jahresbericht von 1914 schreibt: »Infolge des Kriegsausbruches unterblieben der große Spaziergang, das Erntefest und andere Festlichkeiten«,102 und die Landesausstellung also nicht erwähnt, vermerkt der Münsinger 99 | (1914a), S. 141 f. 100 | Zu den Behandlungsmethoden während der Ära von Speyr siehe hier Kapitel 3.11. 101 | Jb 1914, S. 25. 102 | Ebd., S. 26.
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Direktor Ulrich Brauchli zum selben Zeitpunkt: »Im Oktober besuchten ferner etwa 50 Kranke die Landesausstellung in Bern. Auch diese Veranstaltung gelang in allen Teilen zur besten Zufriedenheit der Teilnehmer.«103 Die Patienten der Waldau durften also – so kann man annehmen – nicht zur Landesausstellung, während einigen aus Münsingen dieser Ausflug möglich war. Im Jahresbericht der Anstalten von 1913 wird des Weiteren erwähnt, dass die drei bernischen Anstalten je einen Kredit zur Vorbereitung der Ausstellungsobjekte beantragt hatten: »Die verschiedenen schweizerischen Irrenanstalten vereinigten sich, um die Irrenpflege in der Schweiz auf der Landesausstellung des nächsten Jahres darzustellen. Die drei bernischen kantonalen Anstalten erbaten sich nun die Ermächtigung zu einem höheren Beitrag; sie sollten je höchstens FR. 500.- verwenden, die Hälfte aus dem laufenden Jahre, die andere aus dem nächsten.«104
Die Präsentation an der Landesausstellung war also ein klinikübergreifendes Projekt. Gründe, weshalb nur die Münsinger Patienten die Ausstellung schließlich besuchen durften, geben die Jahresberichte keine an. Der Auftritt und die Ausstellung im Rahmen der Landesausstellung ist für den Untersuchungszeitraum eine einmalige Erscheinung, die Anstalten sind sonst geschlossen und in sicherer Entfernung von einer breiteren Öffentlichkeit. Auch die dort gesammelten Werke und Objekte finden sich nach Abschluss der Ausstellung Jahrzehnte an einem unzugänglichen Ort. Nach der Thematisierung der psychiatriehistorischen Dimension der Objekte soll es im Folgenden um die mögliche Zuordnung der gesammelten Werke zur Kunst gehen.
2.2.3 »Kunst« Klassische Sammlungsinhalte wie etwa Kunstobjekte sind im Umfeld der Anstalt zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Novum. Man denke an die aufgrund eines Auftrags von Karl Wilmanns entstandene Sammlung des Kunsthistorikers und Mediziners Hans Prinzhorn in Heidelberg und dessen Publikation mit dem Titel Bildnerei der Geisteskranken. Ein Beitrag zur Psychologie und Psychopathologie der Gestaltung von 1922.105 Die Motivation, welche die Psychiater zum Sammeln brachte, dürfte bei den unterschiedlichen Objekten, den Hirnschnitten und Kunstwerken vorerst dieselbe gewesen sein: Die Sammlung sollte helfen, Ursachen einer Krankheit und Instrumente wie Indizien zum Verfassen einer Diagnose zu suchen, sowie Wissen über die Krankheit und die Fähigkeiten der Patienten (etwa im Fall der in Kapitel 2.2.1 beschriebenen Schlüsselsammlung) darzustellen und weiterzugeben. In der Benennung und damit der Einordnung von künstlerischen Produkten der Kranken gehen Morgenthaler und Prinzhorn unterschiedliche Wege: Nennt Morgenthaler Wölfli einen »Künstler«, so wendet sich Prinzhorn in der Einleitung zu seinem Werk gegen den Begriff »Kunst der Geisteskranken« und wählt stellvertretend den Ausdruck »Bildnerei«. Er schreibt: 103 | In der Fortsetzung des Berichtes wird klar, dass auch in Münsingen aufgrund des Kriegsausbruches Festlichkeiten abgesagt wurden: »Dagegen sahen wir mit Rücksicht auf die schweren Zeiten von Heu- und Erntefest ab.« Ebd., S. 52. 104 | Jb 1913, S. 15. 105 | Prinzhorn (1983).
Schreibor te und gesammelte ›Kunst der Geisteskranken‹ »Von ›Irrenkunst‹ hat die Öffentlichkeit in letzter Zeit einige Male gehört, von ›Kunst der Geisteskranken‹, von ›pathologischer Kunst‹ und von ›Kunst und Wahnsinn‹. Wir verwenden alle diese Ausdrücke nicht gern. Das Wort Kunst mit seiner festen affektbeladenen Bedeutung schließt ein Werturteil ein. Es hebt gestaltete Dinge vor ganz ähnlichen heraus, die als ›Nichtkunst‹ abgetan werden. Da nun die Bildwerke, um die es sich handelt, und die Probleme, zu denen sie führen, durchaus nicht wertend gemessen, sondern psychologisch erschaut werden, so schien es passend, den sinnvollen, aber nicht gerade üblichen Ausdruck ›Bildnerei der Geisteskranken‹ für das außerhalb der psychiatrischen Fachwissenschaft bislang fast unbekannte Gebiet festzuhalten.«106
In der Zusammenfassung am Schluss des Werkes schreibt Prinzhorn dann aber: »Die Abgrenzung unserer Bildwerke von bildender Kunst ist heute nur auf Grund einer überlebten Dogmatik möglich. Sonst sind die Übergänge fließend.«107 Die Auseinandersetzung mit den »rund 450 Fällen mit gegen 5000 Nummern aus Deutschland, Österreich, Schweiz, Italien, Holland«108 haben bei Prinzhorn zur Überzeugung geführt, dass was die Patienten malen zumindest in gradueller Abstufung als »Kunst« bezeichnet werden kann. Innerhalb des Buches lässt sich eine Veränderung in Prinzhorns Umgang mit dem Begriff Kunst beobachten. Zum Schluss findet mit den eben genannten »Übergänge[n]« eine Relativierung und damit in der Zuschreibung eine Annäherung der Werke aus den Kliniken an die bildende Kunst statt. Die namenlosen Urheber der Werke werden aber auch noch am Ende des Buches als »Fälle[ ]« bezeichnet, ihre Zeichnungen und Objekte als »Nummern«. Eine Individualisierung oder eine Zuweisung von Autorschaft findet nicht statt – sie kann auch deshalb nicht stattfinden, weil die Objekte und Zeichnungen meist anonym nach Heidelberg gesandt wurden.109 Das Sammeln von Kunstwerken »Geisteskranker« hat seit Prinzhorn und Morgenthaler eine Eigendynamik entwickelt, was einerseits zu einer beachtlichen Verbreitung der Werke, andererseits nach dem Zweiten Weltkrieg mit den Begriffen ›Art Brut‹ (Jean Dubuffet), ›Outsider Art‹ (Roger Cardinal) oder ›Randkunst‹ (Harald Szeemann) zu einem ständigen Ringen um eine Klassifizierung, also um die Abgrenzung oder Annäherung der Kunstformen führte. Analog dazu wurde auch bei den Produzenten das Vokabular angepasst – aus den ›Irren‹ wurden rund hundert Jahre später »Psychiatrieerfahrene«110 oder »Psychiatriebetroffene«.111 Auf das Schreiben übertragene analoge Begriffe zur ›Irrenkunst‹, wie ›Irrenliteratur‹, gibt es nicht. Dieser Befund darf je nach Blickwinkel sowohl als Ursache wie auch als Resultat der Tatsache gesehen werden, dass im Gegensatz zum Zeichnen und Malen das Schreiben erst viel später als therapeutisches Instrument eingesetzt wurde. 106 | Ebd., S. 3. 107 | Ebd., S. 350. 108 | Ebd., S. 4. 109 | Siehe dazu die Ausführungen von Lehninger (2012). 110 | Dieser Ausdruck wird etwa verwendet in: Röske/Brand-Claussen/Dammann (2006). 111 | Viola Balz schreibt dazu in einer Anmerkung: »Der Begriff Psychiatriebetroffenheit wird von den Bewegungen ehemaliger psychiatrischer PatientInnen am häufigsten benutzt, um die Erfahrung zu bezeichnen, selbst Patient in einer psychiatrischen Klinik gewesen zu sein. Der Begriff vermeidet bewusst den Bezug auf einen psychiatrischen Krankheitsbegriff.« Balz (2010), S. 13.
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Anders als das Malen wurde es höchstens marginal gefördert, das Geschriebene nicht gesammelt und wenn (wie etwa bei den zurückbehaltenen Briefe der Patienten) dann nur bedingt dazu, um die Texte zu lesen, sondern eher um zu verhindern, dass sie gelesen wurden.112 Diese Tatsache erstaunt, wenn man bedenkt, wie viele Psychiater selbst mit Anspruch geschrieben haben – in der Waldau etwa Jakob Wyrsch113 oder Jakob Klaesi,114 in Herisau Otto Hinrichsen, der Robert Walser von der Waldau ›übernahm‹.115 Man könnte deshalb annehmen, dass das Schreibmetier, das einigen Psychiatern sehr nahe lag, auch zu therapeutischen Zwecken verwendet worden wäre – was aber nicht der Fall war. Diese Tatsache hängt auch mit dem Verständnis von Literatur um 1900 zusammen: Wird Literatur mit einem hohen Reflexionsgrad und in Zusammenhang mit Bildung betrachtet, dann wird sie den Geisteskranken folglich schlicht nicht zugetraut. Dass beim Schreiben und in den Texten die Grenzen zur ›hohen Kunst‹ fließend sein könnten, wie es Prinzhorn analog für die bildende Kunst beschreibt, wird im Psychiatriekurs der Zeit nicht für möglich gehalten. Erst Ende der 1980er und zu Beginn der 1990er Jahre mehrt sich auch im deutschsprachigen Bereich die Literatur über Creative Writing und Therapie. Damit tritt eine späte Funktionalisierung von Schreiben und Lesen ein. Um 1900 sind gegebenenfalls Schriftzüge Kranker ein Thema, verschriftlichte Inhalte von Texten jedoch werden stets im Zuge von Pathologisierungsbestrebungen betrachtet. Zusammenfassend lässt sich erstens sagen: Zum Sammeln gehört eine »bewahrend-ästhetische«116 Funktion, denn durch die Auf bewahrung von Objekten wird ihre Wahrnehmung ermöglicht und ihr ›Wissen‹ gespeichert. Zweitens können Sammlungen solche Erkenntnisgegenstände sichtbar machen – in der Klinik sind das etwa das menschliche Hirn in Grünthals Sammlung, das von Patienten leicht zu manipulierende Schloss einer Zelle bei Morgenthaler oder die auf Papier gebrachten gestalterischen Vorstellungswelten Kranker bei Prinzhorn und Morgenthaler. Drittens gehören zur Auf bewahrung einer Sammlung aber auch eine bestimmte (An-)Ordnung und eine Regelung des Zugangs. Dieser dritte Punkt soll im Folgenden an einem weiteren Beispiel aus der Waldau erläutert werden, nämlich dem Verhältnis zwischen Walter Morgenthaler und Adolf Wölfli.
2.2.4 Morgenthaler und Wölfli, eine erste Annäherung Im Fall von Morgenthaler wurden Zeichnungen und Texte in den Krankenakten auf bewahrt, deren Ordnung durch Nummerierung der Produkte und Erstellung eines Zettelkatalogs gewährleistet wurde. Seine Sammlung wuchs auch durch gezielte Zurückhaltung von künstlerischen Produkten, was anhand des Ausnah-
112 | Parallel zur spät entwickelten Schreibtherapie passt die Tatsache, dass es zum Berufsbild ›Künstler‹ schon sehr lange einen Ausbildungsweg via Kunsthochschule gibt, während Schreiben lange überhaupt nicht gelehrt wurde und Studiengänge in literarischem Schreiben ein neueres Phänomen sind. 113 | Zu Wyrsch siehe Kapitel 3.6.2.4. 114 | Zu Klaesi siehe Kapitel 3.12. 115 | Zu Walser und Hinrichsen siehe hier Kapitel 4.5.4 und Gisi (2012). 116 | Sommer (1999), S. 9.
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mepatienten und Parade-Produzenten Wölfli gezeigt werden kann.117 Morgenthaler unterteilt in seiner 1921 erschienenen Monografie die Arbeiten Wölflis in zwei Kategorien, und zwar erstens in »Arbeiten, die als ›Brotkunst‹ bezeichnet werden können«, weil Wölfli dafür im Gegenzug Zeichenmaterial oder Tabak bekam, und zweitens in Werke, die zur »Riesen-Autobiografie« und damit zur ›Kunst‹ gehören.118 Während Wölfli seine Autobiografie hütete und immer in seiner Zelle behalten wollte, verkaufte er nach anfänglicher Zurückhaltung119 seine »Brotkunst« großzügig. In der Krankenakte findet man am 12. April 1916 einen Eintrag, in dem auch den zu verkaufenden Werken künstlerische Bedeutung zugeschrieben wird: »Immer in seiner Zelle, wo er fleissig Märsche schreibt u. ›Portraits‹ zeichnet. Letztere finden rasenden Absatz, da sie wirklich oft von künstlerischem Werth sind. Das Stück wird à 3 fr. verkauft. Das Geld bekommt der Oberwärter[,] der daraus die Materialien kauft. Die nicht verkauft. Portraits wandern in die Sammlung.«120
Man darf jedoch annehmen, dass sich auch Leute der Werke Wölflis bemächtigten, die dazu nicht befugt waren – oder zumindest drohte Morgenthaler mit zunehmendem Absatz der Bilder den Überblick über das Tun seines Patienten zu verlieren. Es schien ihm jedenfalls notwendig, diesen Kunstverkehr zu regulieren. Er schreibt in einer Fußnote der Monografie: »Um die Blätter nicht in alle Winde verfliegen zu lassen, haben wir vor 3 Jahren ein Ausfuhrverbot erlassen; dadurch hat die Anstalt eine Sammlung solcher Blätter bekommen, die sich immer mehr vergrössert. Abgegeben werden Zeichnungen nur noch zu gewissen Bedingungen.«121
Im Wortlaut der schriftlichen Regelung mit dem Titel Wölfli Adolf wird die mächtige Stellung Morgenthalers dokumentiert, wenn etwa zu lesen ist: »Will jemand für sich eine Zeichnung machen lassen, so hat er Wölfli zwei gleiche Zeichnungsblätter zu übergeben, dazu genügend Blei- und Farbstifte. Nach Fertigstellung sind beide Blätter demjenigen Arzt, der die Sammlung verwaltet, vorzuweisen. Dieser wählt eine Zeichnung aus für die Sammlung und übergibt die andere dem Auftraggeber.« (Abb. 9)
117 | Siehe zu Wölfli auch Kapitel 4.2. 118 | Morgenthaler (1985), S. 17. Zu Morgenthalers Schreiben über Wölfli siehe Wernli (2013b). 119 | In der Krankengeschichte ist am 11. Oktober 1911 erwähnt: »Zeichnet noch viel und schreibt an seiner Biographie weiter, er will aber seine Produkte nicht verkaufen, um kein Geld, höchstens ausleihen.« Kg Waldau Nr. 4224, zitiert nach Hunger u.a. (1993), S. 375. 120 | Kg Waldau Nr. 4224, zitiert nach Hunger u.a. (1993), S. 376. Sechs Jahre später sind die Preise zumindest in Wölflis Vorstellung gestiegen: »Tut jetzt die [Wände, Anm. M.W.] ›Schränke‹ im Museum bemalen, will seine Sachen in mehreren Exemplaren drucken lassen & jedes Exemplar für 600 Fr. verkaufen, man müsse auch dafür sorgen, dass seine Sachen auch ausserhalb der Schweiz verbreitet werden.« Ebd., S. 383. 121 | Morgenthaler (1985), S. 17.
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Abb. 9: Waldauer Regelung zum Umgang mit Wölflis Werken.
Diese Kontrolle und Regulierung des Handels mit künstlerischen Produkten eines Patienten ermöglicht eine stetige Vergrößerung der Sammlung, deren Besitzer anscheinend wie selbstverständlich die Institution Waldau ist, aus der die Blätter wie ökonomische Gegenstände an einer Zollstation nicht ausgeführt werden dürfen. In der Funktion der Grenzwächter betätigen sich die ›Wärter‹, während Morgenthaler sich als Zöllner präsentiert, an dem kein Weg vorbeiführt. Medizinische, künstlerisch-sammelnde oder rein ökonomische Interessen führen dazu, dass die Produkte der Patienten vor Ort bleiben. Die Grenzen der Anstalt gelten damit nicht nur für die Körper der Insassen und beschränken deren Bewegungsfreiheit, sondern sie betreffen auch das, was aus heutiger Sicht geistiges oder künstlerisches Eigentum der Patienten ist – in Bezug auf Wölfli paradoxerweise auch gerade desjenigen Patienten, dem als einem der ersten von einem Psychiater der Status des »Künstler[s]« zugestanden wird, was eine eklatante Veränderung im Patientenbild und eine ›Humanisierung‹ versprach. Morgenthaler verleiht Wölfli mit der Titel-
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gebung Ein Geisteskranker als Künstler Künstlerstatus, schmälert diesen durch die Konjunktion »als« jedoch gleichzeitig wieder. Trotzdem kann hier von einer ›Geburt‹ der Wahrnehmung eines Kranken als Künstler gesprochen werden – und damit von einer Umkehrung des Mythos von der genialen Person, die angeblich zum Wahnsinn neigt, wie man ihn in der Literaturgeschichte oder der Pathografie nach dem Vorbild von Cesare Lombrosos Genio e follia von 1872 (deutsch Genie und Irrsinn, 1887) beschrieben findet. Eine mögliche Antwort auf die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Künstler und Krankheit lautet bei Friedrich Glauser als einem Insassen der Waldau so: »[O]bwohl es mit dem Unterbewußtsein genauso ist wie mit psychiatrischen Diagnosen bei Künstlern – daß Strindberg und van Gogh schizophren waren, was sagt das aus? – es stimmt, und im Grunde sagt es gar nichts«.122 Während für Glauser wie auch für die vorliegende Studie die Einordnung und Verbindung von Kunst und Krankheit keine entscheidende Rolle spielt, zeigen die Stellen doch auf, dass der Thematik zeitgenössisch große Aufmerksamkeit zukam. Glausers Aussage als Betroffener relativiert die Bestrebungen eindeutige Zuordnungen zu finden. Differenziert setzt sich Walter Morgenthaler mit der Thematik auseinander. In seiner Antrittsvorlesung mit dem Titel Die Grenzen der geistigen Gesundheit, 1918 an der Universität Bern gehalten,123 äußert er sich zum (vermeintlichen) Zusammenhang zwischen Genie und Wahnsinn: »Trotz der grossen Literatur darüber [Morgenthaler hatte vorgängig die Positionen von Schopenhauer, Lombroso, Toulouse und Löwenfeld dargelegt] ist die Frage der Beziehungen zwischen Genie und geistigen Erkrankungen bis jetzt noch nichts weniger als geklärt.«124 In der Folge führt Morgenthaler als Gemeinsamkeit zwischen Genie und kranker Person die »intrapsychischen Hemmungen und die daraus resultierende hohe psychische Spannung«125 an. Kranke und Genies unterscheiden sich nach Morgenthaler im Vermögen, mit dieser Spannung umgehen zu können: »Von vielen Genies wissen wir, dass sie, wenigstens in ihren jüngeren Jahren, unter einer ungemein starken Spannung gestanden sind und dass die Zeiten der Produktion oft von Zeichen starker Erregung begleitet gewesen sind. Ja, man kann geradezu sagen, die hohe psychische Spannung sei – neben verschiedenem anderem – eine Vorbedingung für die Schaffung grosser Werke von bleibendem Wert. Eine ähnliche Spannung aber bewirkt bei andern Zusammenbruch und geistige Umnachtung. Der Unterschied liegt also wohl im Grade der Widerstandsfähigkeit, in der Konstitution.«126
Morgenthaler schließt die Antrittsvorlesung mit der Feststellung, dass Genies nicht zwangsweise auch krank sein müssen: »Ich halte daher die Behauptungen von der krankhaften Anlage des Genies nicht für richtig; das Genie muss im Gegenteil im innersten Kern ganz besonders widerstandsfähig, d.h. ge122 | Friedrich Glauser an Rudolf Jakob Humm, [Waldau], 13. Dezember 1935. In: Glauser (1991), S. 94. 123 | Morgenthaler (1918a). Für den Hinweis auf diesen Text danke ich Prof. Dr. Martin Stingelin. 124 | Ebd., S. 357. 125 | Ebd., S. 357 f. 126 | Ebd., S. 358.
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Schreiben am Rand sund sein, um den hohen Anforderungen, die an seine Psyche gestellt werden, genügen zu können.«127
Ein Pendant zum ›Geisteskranken als Künstler‹, also dem Phänomen, dass ein Patient, der nicht schon vor seinem Klinikaufenthalt geschrieben hatte, neu aus dem Status des Insassen zum ›Autor‹ oder ›Schriftsteller‹ befördert wurde (wie es bei Wölfli theoretisch möglich gewesen wäre), gälte es noch zu suchen – was einmal mehr die zeitgenössische Vernachlässigung der Texte aus Kliniken belegt. Fakt ist: Viele Insassen haben in den Kliniken um die Jahrhundertwende geschrieben. Gerade auch die Handarbeiten, die als ›sinnvolle‹ Arbeiten unterstützt wurden, erweisen sich oft als in einer Art Mischtechnik entstanden und enthalten vielfach Wörter oder Textstücke. Dass diese Texte bislang in der Forschung noch wenig Aufmerksamkeit erhalten haben, lässt sich einerseits mit der aufwändigen Entzifferungsarbeit erklären,128 die sie erst lesbar machen, andererseits mit der damals wie auch heute teilweise noch verbreiteten Auffassung, es handle sich dabei um ein »unverständliche[s] Gekritzel«.129 Die in diesem zweiten Kapitel angestellten Überlegungen zu Schreiben, Ort, Klinik und Musealität können abschließend in einer besonderen Verbindung gezeigt werden, die spezifisch für die Waldau zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist. Diese Verbindung materialisiert sich am historischen Ort von Morgenthalers Sammlung, also im Dachstock des ›Neubaus‹ der Klinik.130 Dieser Ort ist Morgenthalers Arbeitsort, der Aufbewahrungsort für seine künstlerischen und pädagogischen Objekte. Es ist aber auch der Ort, an dem Wölfli neben seiner Arbeit in der Zelle schrieb, zeichnete und komponierte. Dort entstanden also auch Teile von dem, was mit und nach Morgenthaler ein ›Kunstwerk‹ genannt wird. Der Zeichen- und Schreibort ist damit Sammlungs-, Museums- und Wissensort. Für das Gros der Patienten gibt es keinen Zugang zu diesem Ort – ein geschlossener Raum innerhalb einer geschlossenen Klinik. Für einzelne wie Wölfli ist dieser Dachstock aber auch ein von Morgenthaler erschaffener Arbeitsraum, der eine reiche Produktion ermöglicht und in dem die dort geschaffenen und versammelten Werke zumindest zu einem Teil (nämlich diejenigen, die Morgenthalers Geschmack treffen) auch Beachtung finden. Durch diesen Raum öffnet sich für den Patienten die Klinik in einem gewissen Grade nach außen hin, obwohl die Mauern selbstverständlich auch für ihn weiter bestehen. Eine weitere Komponente der Verflechtung von Musealität und Klinik findet sich in einem anderen Eintrag in der Krankenakte Wölflis. Dort steht: »seine Zelle soll als Museum eingerichtet werden, nicht für Pat. Und er, fragte ich ihn, er sei doch jetzt drin? er bleibe nicht lange drin, er müsse bald sterben.«131 Dieser Eintrag zeichnet sich durch eine besondere Beziehung zwischen Arzt und Patient sowie 127 | Ebd., S. 358. 128 | Solche Entzifferungen und Transkriptionen bietet beispielsweise die noch nicht publizierte Dissertation von Lehninger. 129 | So heißt es etwa in der Akte von Herrn F., Nr. 4754, S. 13. 130 | Siehe zum Neubau das Kapitel 3.4.3. 131 | Kg Waldau Nr. 4224, Eintrag vom 24. November 1921, zitiert nach: Hunger u.a. (1993), S. 382.
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sprachlich dadurch aus, dass die in der Krankenakte selten zu findende Form des indirekt wiedergegebenen Dialogs gewählt worden ist. Inhaltlich kommt hier die selbstbewusste Haltung des Autors und Künstlers Wölfli zur Geltung, der weiß, was seine Werke wert sind, es aber doch nötig hat, die Idee eines Museums selbst anzuregen. Dass dieses imaginierte Museum gerade in der Zelle seinen Ort finden soll, dürfte auf die Bedeutung dieses Schaffensortes für Wölfli hinweisen, vielleicht aber auch als Wunsch verstanden werden, die Zelle möge nach außen hin geöffnet werden. Damit könnte Besuchern Zugang zur Zelle, zu Wölflis Wohn- und Arbeitsplatz sowie zu seinem Werk verschafft werden. Der Besuch des Ortes und die Besichtigung seines künstlerischen Schaffens scheint Wölfli der überlieferten und damit vermittelten Aussage gemäß in diesem Moment wichtiger gewesen zu sein als ein Besuch seiner Person – denn das Museum in der Zelle wäre erst nach seinem Tod geschaffen worden. Hätte Wölfli entscheiden können, wäre sein Werk am Schaffensort und die Zelle weiterhin sein persönlicher Ort geblieben, zugängig einer interessierten Öffentlichkeit. Wölflis Privatmuseum blieb unrealisiert, Morgenthalers Museum hingegen bekam auch mediale Beachtung: In zwei Sondernummern der Zeitschrift Der Aufstieg wurde 1936 unter dem Titel Bei unsern Geisteskranken die Waldau porträtiert. Eine mittlerweile von Jakob Klaesi geführte Klinik und der ehrgeizige neue Direktor selbst zeigen sich ganz im Zeichen des Fortschritts (zu diesen Texten mehr in Kapitel 4.2.4). Die letzten beiden Seiten der zweiten Sondernummer sind dem Museum in der Waldau gewidmet und enthalten auch Fotografien des Reporters Paul Senn (Abb. 10, 11, 12 und 24).132 Morgenthalers Sammlung wird in der Bildunterschrift wie folgt beschrieben: »Das kleine Museum der Waldau enthält auch eine Sammlung von Zeichnungen, Malereien, Plastiken usw., die im Laufe der Jahre von Kranken angefertigt worden sind. Diese Arbeiten sind mehr symbolisch als künstlerisch zu werten; dem Aussenstehenden unverständlich, rätselhaft, weiss dagegen der Psychiater daraus doch gewisse Schlüsse zu ziehen, sie zu entziffern.«133
Während die Klinik einer breiten Öffentlichkeit vorgestellt werden soll, macht dieses Zitat 15 Jahre nach Morgenthalers Monografie dem »Aussenstehenden« deutlich, dass er die Arbeiten der Kranken nicht zu verstehen braucht. Sie werden schließlich auch nicht als Kunst eingestuft. Das Waldauer Museum wird in dieser Darstellung vorübergehend zu einer reinen Sammlung historischer Objekte degradiert, die höchstens als Gruselkabinett dienen oder mit denen sich Psychiater abgeben mögen. In der medialen Verbreitung des Wissens über eine geschlossene Anstalt in dieser Zeitschrift wird gerade der Ort Museum, der als Bindeglied zwischen Außen und Innen dienen könnte, dem Bereich des für den Laien Rätselhaften und Unerschließbaren zugeordnet und der alleinigen Deutungshoheit durch die Psychiater unterstellt. Die Chance einer Öffnung wird damit trotz vordergründig anderslautender Aussagen vertan.134
132 | Siehe auch http://www.paulsenn.ch/ (zuletzt abgerufen am 28.2.2011). 133 | (1936b), S. 927. 134 | Das Kapitel 4.2.4 wird auf die Reportage im Aufstieg zurückkommen.
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Abb. 10: Titelseite der Reportage Bei unseren Geisteskranken, Sondernummer der Zeitschrift Der Aufstieg. Illustrierte Familienzeitschrift für das arbeitende Schweizervolk.
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Abb. 11: Eine Teppichgeschichte. Das Museum der Waldau porträtiert in der zweiten Sondernummer der Zeitschrift Der Aufstieg. Illustrierte Familienzeitschrift für das arbeitende Schweizervolk. Bern, 30. Oktober 1936, S. 926.
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Abb. 12: Das Museum der Waldau porträtiert in der zweiten Sondernummer der Zeitschrift Der Aufstieg. Illustrierte Familienzeitschrift für das arbeitende Schweizervolk. Bern, 30. Oktober 1936, S. 927.
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Nachdem sich diese theoretischen Überlegungen zu den Themenkomplexen ›Schreiben und Ort‹ und zur ›Klinik und Musealität‹ der Waldau angenähert haben, stehen im nächsten Kapitel die Geschichte der Waldau und ihre Darstellungsformen im Zentrum. Dabei stützt sich die Untersuchung hauptsächlich auf die Textgattung ›Jahresbericht‹ und ihre spezifischen rhetorischen und inhaltlichen Eigenheiten. Ein Einblick in die Geschichte der Waldau soll die Bedingungen des Schreibens an diesem Ort deutlicher werden lassen.
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Den hier als Quellen benutzen Texten ist gemeinsam, dass sie eine der folgenden Bedingungen erfüllen: Sie wurden entweder am Ort Waldau aus einer Innenperspektive heraus geschrieben oder an einem Ort verfasst, von dem aus für die Autoren (wie etwa dem außerhalb wohnenden Pfarrers) die Möglichkeit eines aktuellen oder vergangenen Einblickes in die Anstalt bestand. Es sind damit auch Texte, die eine mehr oder weniger starke Prägung durch den Ort Waldau auszeichnet, wie im einzelnen zu zeigen sein wird. Umgekehrt konstruieren die Texte auch ein jeweils unterschiedliches Bild der Waldau, indem sie nicht nur aus ihr stammen, sondern sie auch thematisieren und ›ausstellen‹. Es geht in der Folge also um die Analyse einer ›dargestellten‹ und ›erzählten‹ Waldau, deren ›Wirklichkeit‹ Ausgangspunkt für weitere in ihr verfasste Texte ist. Die im vierten Kapitel vorgestellten Texte werden deshalb in einem engen Bezug zur Geschichte des Ortes verstanden. Damit dürfte auch klar sein, dass die hier folgende ›Geschichte‹ der Waldau keine rein geschichtswissenschaftlich verfasste ist oder sein soll. Als Quellen dienen ihr die Jahresberichte der Klinik und Publikationen, die mit der Klinik beschäftigte Personen erstellt haben – so etwa Morgenthalers Bernisches Irrenwesen von 1915 oder Jakob Wyrschs1 Hundert Jahre Waldau von 1955, aber auch Textformen wie Reglements, Dekrete oder Nachrufe.2 Damit kann es nicht Ziel sein, einen möglichst ›objektiven‹ Blick auf die Geschichte der Waldau zu werfen, sondern es geht darum, die Art und Weise zu analysieren, mittels derer Beteiligte über die Waldau geschrieben haben und damit die Anstalt als Schreibort in seinen spezifischen Bedingungen mitbegründeten: durch inhaltliche Gewichtungen, spezifische Betonungen, sprachliche Eigenheiten oder Rituale. Dies taten unterschiedliche Menschen in je spezifischen Funktionen – Beamte und Psychiater mit ihren jeweiligen Blickwinkeln und Motiven (etwa in Bezug auf die Darstellung der eigenen Person und Arbeit oder das Interesse an der Geschichte des eigenen Faches). Die Texte 1 | Zur Vita und Karriere Jakob Wyrschs siehe seine Selbstdarstellung von 1977 (hrsg. von Pongartz). In die Waldau kam Wyrsch 1934 und war dort auch in der Psychiatrischen Poliklinik tätig, siehe auch Kapitel 3.6.2.4. 2 | Als kleinere Werke über die Waldau sind in den letzten dreißig Jahren erschienen: der Museumsführer von Röthlisberger und Jensen (2000), die Festschriften zu den Jubiläen 125 Jahre von Böker (1980) und 150 Jahre den Text von Strik (2005) oder die Broschüre über die Siechenkappelle in der Waldau von Altorfer/Herzog/Zürcher (1993).
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richten sich an verschiedene Zielgruppen, zum Beispiel an Behörden, eine ›Öffentlichkeit‹ oder interessierte Leser. Aufgrund der zeitlichen Distanz können heute keine mündlichen Quellen mehr ausgewertet werden. Die Texte müssen deswegen auch vor diesem Hintergrund, mit diesem ›Mangel‹ an Oralität oder direkten Aussagen betrachtet werden. Überdies haben nicht alle Gruppen von Beteiligten geschrieben, was in einer hierarchisch durchgestuften Anstalt besonders deutliche Folgen für das Gesamtbild hat. Auch die Verbreitung der Texte gestaltet sich unterschiedlich: Während die Ärzte und Beamten ihre Texte durchaus in Umlauf bringen konnten, sind Texte von Wärtern, falls es solche überhaupt gibt, wohl kaum überliefert. In der Folge sind die Stimmen dieser großen Gruppe höchstens vermittelt durch ihre Vorgesetzten, im festen Rahmen von sogenannten Pflegerrapporten zu vernehmen.3 Dass auch die Patiententexte nur schwer zu Gesicht zu bekommen sind, wurde bereits in der einleitenden Beschreibung der Archivsituation erläutert. Es ist also – in der negativen Betrachtungsweise – zwar ein umfangreiches, aber auch ein ziemlich einseitiges Textkonvolut, das hier untersucht wird. Einseitig sind die Quellen deshalb, weil sie vor allem von der Perspektive der Waldau als Institution in ihrer Eigendarstellung zeugen. Mit dem Versuch, die Brüche und Lücken in den Texten aufzuzeigen, soll dieser vermeintlichen Einseitigkeit begegnet werden und ihre – hier kommt die positive Betrachtungsweise der schwierigen Ausgangslage zum Tragen – polyphone Vielschichtigkeit dargelegt werden. Die Einseitigkeit bedeutet hier nämlich keine Einschichtigkeit. Die Selbstdarstellung der Waldau ist eine, die sich aus heterogenen Bestandteilen zusammensetzt, wie die untersuchten Texte zeigen – auch wenn diesen Texten ein Bestreben entnommen werden kann, die Anstalt in einem einheitlichen Licht darzustellen. Einseitigkeit und Polyphonie sind in Bezug auf die Waldauer Quellen also nur vordergründig Gegensätze, die meisten Texte weisen Merkmale beider Komponenten auf. Dieses Kapitel widmet sich zuerst dem Quellentypus Jahresbericht und seiner Form (3.1), dann wird das Berner ›Irrenwesen‹ vor 1855 beschrieben (3.2) und darauf die erste Anstaltszeit von 1855 bis 1890 (3.3). Das folgende Kapitel (3.4) widmet sich überblicksartig der Ära Wilhelm von Speyrs, danach werden einzelne Akteure und Akteurgruppen in anstaltshierarchischer Reihenfolge betrachtet: zuerst der Direktor (3.5) mit seiner Forschung und Selbstäußerungen in Jahresberichten, danach ausgewählte Ärzte, die unter von Speyr gearbeitet haben (3.6), zudem das Pflegepersonal (3.7) und schließlich die Patienten als Gruppe (3.8). Im Weiteren kommt die Waldau im 1. Weltkrieg zur Sprache (3.9), es werden die Krankheiten, Begrifflichkeiten (3.10) und die Veränderungen in den Behandlungsmethoden (3.11) thematisiert. Ein letztes Unterkapitel widmet sich dem Übergang von von Speyr zu seinem Nachfolger Klaesi (3.12). Die solchermaßen vorgenommene Verbindung von Geschichte, Ort und schreibenden Akteuren ist die Grundbedingung für jedes weitere Schreiben in der Anstalt, etwa das einzelner Patienten, die im vierten Kapitel als Autoren zu Wort kommen sollen. Vorerst wird der Fokus aber auf die publizierten Quellen gerichtet:
3 | Siehe zu den Wärtern Kapitel 3.7.
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3.1 Q uellent ypus J ahresbericht Als zentrale Quelle dienen hier die Jahresberichte. Diese haben sich Ende des 19. Jahrhunderts immer stärker zu einer eigenständigen Textgattung entwickelt.4 Dazu gehört eine zunehmend starrer werdende Form, die Festlegung eines bestimmten Umgangs mit Zahlen, die Verwendung eines besonderen Vokabulars, ein rhetorisches Repertoire und ein spezifischer sprachlicher Umgang mit Autorschaft. So einheitlich und geschlossen ein einzelner Jahresbericht schließlich erscheint, so heterogen sind seine Komponenten, wenn man sie mit Blick darauf liest, wie in ihnen erzählt wird. In Darstellungen einer Anstalt werden die Jahresberichte meistens jedoch als Tatsachenberichte zugezogen, ihnen werden statistisches Wissen und Alltagsbeschreibungen als ›Fakten‹ entnommen, ohne dass die Machart dieser Text- und Zahlensammlungen oder mögliche Intentionen der Schreibenden reflektiert werden. Als Auftragsarbeiten und Rechenschaftsberichte sind Jahresberichte aber maßgeblich intentional geprägt. Sie können als Zur-Schau-Stellen der Klinik bezeichnet werden, und sie unterliegen nicht nur persönlichen Vorlieben der Schreibenden, sondern auch dem Einfluss von gesellschaftspolitischen Strömungen und dem jeweiligen Zeit-Wissen: Gerade im Vergleich der einzelnen Jahresberichte lassen sich Veränderungen in der Klinik und im Wissen von der Klinik an der Schreibweise, der Benennung (Nicht-Mehr-Nennung oder der Neubenennung) von Krankheiten oder auch an der Beschreibung von Therapieformen festmachen.5 Die Jahresberichte der Berner Anstalten wurden veröffentlicht als Broschüren, deren Format ungefähr DIN A5 entspricht. Vergleicht man exemplarisch die Berichte von 1900 und 1930, so sieht man, dass sie mit 87 respektive 88 Seiten ungefähr denselben Umfang haben. Unterteilt sind die Hefte in den Bericht der Aufsichtskommission und die Berichte der drei Anstalten Waldau, Münsingen und Bellelay. Im Jahr 1900 sind es 35 Seiten bis und mit dem Bericht der Waldau (zum Vergleich wiederum der Bericht von 1930: 37 Seiten), 28 Seiten für den Bericht Münsingens (1930: 21 Seiten) und 23 Seiten für den Bericht Bellelays (1930: 27 Seiten). Der Umfang bleibt unter von Speyr ziemlich konstant. Für die Jahre 1935 bis 1939 sind, wie bereits erwähnt, keine gedruckten Jahresberichte produziert worden, verfügbar sind lediglich maschinengeschriebene, interne Berichte. Für das Jahr 1935 konnte kein Bericht gefunden werden, es finden sich aber Vergleichszahlen im Bericht von 1936. Aus den Jahresberichten lassen sich zum Beispiel auch Vergleiche der Belegungen in den unterschiedlichen Anstalten ziehen (Abb. 13).
3.1.1 Zeitpunkt der Abfassung Die Berichte enthalten zwar temporale Verweise, trotzdem lässt sich nicht genau festhalten, wann im Jahresverlauf sie jeweils geschrieben wurden: Auf der ersten Seite steht zuoberst das Datum »31. Dezember« mit der jeweiligen Jahreszahl des Berichtsjahres. In den Berichten der Waldau und von Münsingen wird nicht erwähnt, wann sie geschrieben wurden. Es gibt lediglich seltene und unspezifische Hinweise auf den Zeitpunkt der Niederschrift, die in einem Münsinger Bericht 4 | Zur Entwicklung der Berner Jahresberichte um 1900 siehe Wernli (2012b). 5 | Siehe dazu Kapitel 3.10.
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Abb. 13: Vergleich der Patientenzahlen der drei Anstalten Waldau, Münsingen und Bellelay im Zeitraum von 1895–1934.
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beispielsweise so lauten: »Über deren Ergebnis [Prüfung der Abortverhältnisse] sind wir zur Stunde, wo wir dies schreiben, noch nicht orientiert«.6 Aus den Eintrittsdaten der Ärzte kann aber geschlossen werden, dass die Berichte zu Beginn des neuen Jahres verfasst wurden, wird doch teilweise erwähnt, dass ein Arzt zwar im Berichtsjahr gewählt wurde, er die Stelle aber erst im darauffolgenden Frühling antreten konnte.7 Einige der Berichte aus Bellelay hingegen enthalten zusätzlich zur in den anderen Berichten ebenfalls üblichen Signatur des Direktors auch ein konkretes Datum. Direktor Oskar Rothenhäusler etwa unterschreibt den Bericht von 1923 am 30. Mai 1924, den von 1926 am 30. Juni 1927 und auch sein Nachfolger, Hans Knoll, unterschreibt mit einer mehrmonatigen Verschiebung zum Berichtsjahr 1928 am 15. April 1929. Teilweise ergeben sich durch diese zeitliche Verschiebung zwischen Niederschrift und beschriebenem Zeitraum auch Überlappungen von Informationen oder es entstehen Lücken, wenn etwas nicht mehr erwähnt wird, weil es schon nicht mehr aktuell ist. Die zeitgenössische Aktualität der Jahresberichte ist deswegen zu relativieren.
3.1.2 Aufbau der Berichte Bis einschließlich 1915 sind die Berichte der drei Anstalten auf Deutsch und in Frakturschrift verfasst. Die Berichte von Bellelay sind in den Jahren 1916 und 1917 in Französisch gehalten und deswegen in Antiqua verfasst. Die Berichte von 1918 sind wieder ganz auf Deutsch und in Fraktur. Ab 1919 dann sind die Berichte aus Bellelay immer auf Französisch und in Antiqua geschrieben. Der formale Auf bau der Berichte der drei Anstalten sieht wie folgt aus: Ab dem Jahresbericht von 1896 findet sich vor dem Bericht der seit 1884 bestehenden Aufsichtskommission8 eine Auflistung ihrer Mitglieder, darauf folgt die Nennung aller Beamten (also Ärzte, Verwalter und Ökonomen) der Anstalten, danach die der Pfarrer und Seelsorger. Die Aufsichtskommission besteht im Jahr 1896 aus sieben Mitgliedern, darunter aktive und ehemalige Politiker, der Direktor des Inselspitals (Viktor Surbek), ein Amtsnotar und ein Architekt. Mit der Einrichtung der Anstalt Bellelay 1898 wird die Aufsichtskommission um zwei Mitglieder aus dem Jura erweitert.9 Ab 1897 wird in dieser Auflistung sowohl bei den Kommissionsmitgliedern wie auch bei den Beamten der Anstalt der jeweilige Termin aufgeführt, an dem die Amtsdauer abläuft. Bei von Speyr steht 1897 also beispielsweise 1. April 1902. Die Beamten müssen vom Regierungsrat wiedergewählt werden, was aber eher Formsache war, zumindest, was die Kommission und den Direktor betraf, es sind nämlich keine Abwahlen überliefert.10 Die Kommissionsmitglieder werden jeweils auf vier Jahre gewählt, die Beamten auf sechs Jahre. 6 | Jb 1932, S. 49. 7 | Siehe die Ärztetabelle im Anhang, Tab. 2. 8 | Von der Aufsichtskommissionssitzungen finden sich handschriftliche Protokolle, etwa in einem Buch zusammengefasst die Jahre 1884–1897. Staatsarchiv Kanton Bern, St.A.B. BB XI, 862. 9 | Es sind dies »die Herren alt Großrat Jules Brand in Tavannes und Großrat Arthur Gouvernon in Delsberg«. (Jb 1898, S. 5). 10 | Probleme bei der Wiederwahl von ausländischen Assistenzärztinnen werden in den Berichten teilweise thematisiert, siehe dazu Kapitel 3.6.1.
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Die Aufsichtskommission verfügt über einen Sekretär, der die Protokolle der Sitzungen und die Berichte der Kommission verfasst. Bis 1893 war das Sekretariat der Aufsichtskommission bei ihrem Präsidenten angesiedelt gewesen, nach dessen Tod wurde es dem Direktor der Waldau übertragen, womit dieser zu einer Doppelrolle kam: Von Speyr ist als Sekretär schreibendes Subjekt und als Direktor gleichzeitig das zu beaufsichtigende Objekt.11 Das Reglement von 1894 enthält zwar eine Klausel, dass die Direktoren »sofern nicht persönliche Angelegenheiten ihren Ausschluß rechtfertigen«,12 zu den Sitzungen der Aufsichtskommission eingeladen werden dürfen. Da von Speyr Direktor und Sekretär war, darf man aber davon ausgehen, dass er aus praktischen Gründen von keiner Sitzung ausgeschlossen wurde. Von Speyr agiert also bis 1933 als Verfasser der Berichte. In der Verarbeitung der Informationen, die aus ihnen gezogen werden, und in der Betrachtung des Bildes, das darin von der Waldau gezeichnet wird, muss dieser besondere Umstand eines übermächtigen Direktors berücksichtigt werden. Auf den Bericht der Aufsichtskommission folgt jeweils der Bericht der Direktion der Waldau. Der darin unter Punkt A. aufgeführte Ärztliche Teil wird als eine Zusammenstellung des Sekundärarztes, also des zweiten Arztes, dargestellt. Diese »Zusammenstellung« ist mit wenigen Ausnahmen unterteilt in I. Allgemeine Krankenbewegung, II. Krankheitsformen der Aufgenommenen, III. Fälle zur strafgerichtlichen Begutachtung, IV. Heimatverhältnisse, V. Verhältnisse der Entlassenen, sowie VI. die Auflistung der Todesfälle und der dazugehörigen Ursachen, wobei außerordentliche Todesfälle meistens detaillierter geschildert werden.13 Es folgt darauf unter VII. noch die Anstaltschronik, welche unterschiedliche Themen beinhaltet: Sie berichtet etwa vom Wechsel beim Personal (teilweise wird wiederholt, was schon im Bericht der Aufsichtskommission erwähnt wurde), kann einen Nachruf auf einen verstorbenen Mitarbeiter enthalten oder zu Ausführungen über Therapieinhalte und -erneuerungen übergehen. In Teil B. berichtet der Verwalter über das Jahr der Verwaltung und damit auch über bauliche Veränderungen oder Reparaturen; darauf folgen die Betriebs- und die Vermögensrechnungen. Teil C. handelt von der Landwirtschaft. Damit wird der Bericht zur Waldau abgeschlossen, es folgen die Berichte aus Münsingen und Bellelay. Die Berichte der drei Anstalten sind sich in ihrem Auf bau ähnlich, sie unterscheiden sich jedoch in der Gewichtung und der Darstellung von Inhalten. Die Anstalten sind als eigenständige zu betrachten. Institutionell zeichnet sich die Waldau durch ihre zusätzliche Funktion als Universitätsklinik aus, und bei Bellelay liegt die Besonderheit darin, dass es sich bei dieser Anstalt bis 1929 um eine reine Pflegeanstalt gehandelt hat.14 Bellelay ist im Vergleich mit den anderen beiden kantonalen Anstalten auch sonst eher ein ›Sonderfall‹: Sie liegt zwar idyl-
11 | Dem Jahresbericht entnimmt man: »Das Sekretariat fiel mit der Erkrankung und dem Tode des Herrn Dr. Rellstab, der es seit einigen Jahren auch als Präsident geführt hatte, an den Direktor der Waldau.« Georg Rellstab war von 1862–1866 Assistent in der Waldau und von 1884 bis 1893 Präsident der neu geschaffenen Aufsichtskommission gewesen. (Jb 1892–1894, S. 5). 12 | (1894), S. 376. 13 | Siehe dazu das Kapitel 3.8. zu den Patienten. 14 | Siehe zu Bellelay Kapitel 3.4.2.
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lisch, aber doch abgelegen, was immer wieder zu Problemen führte.15 Die Anstalt ist im 1140 gestifteten und 1797 säkularisierten Prämonstratenser-Kloster angesiedelt, was ebenfalls eine andere Ausgangslage für eine Klinik ergibt, und sie liegt im französischsprachigen Gebiet der Schweiz, weshalb auch sprachliche und gesellschaftlich-politische Eigenheiten zum Thema der Berichte werden. Beobachtet (und angestrebt) wird nun, anfangs des 20. Jahrhunderts eine Ausrichtung der Anstalt, die eine Versorgung hauptsächlich der lokalen Patienten gewährleisten kann: »L’augmentation continue des pensionnaires et des employés parlant français tend à transformer peu à peu Bellelay en un asile moitié jurassien.«16 So werden ab 1928 in den Berichten aus Bellelay in der allgemeinen Statistik die Patienten nach ihrer Sprache und Herkunft aufgeführt, eingeteilt in erstens »malades de langue française«, zweitens »malades de langue allemande« und drittens »malades de langue française du Jura«.17 Die statistischen Angaben in den Berichten Bellelays sind, 15 | Als Beispiele für diese Probleme sollen drei Textstellen aus den Berichten aus Bellelay von 1910, 1912 und 1929 zugezogen werden: »Nicht viel besser geht es oft mit der Vorschrift, die heißt: ›Die Überführung des Patienten in die Anstalt soll durch Personen geschehen, welche über ihn Auskunft geben können.‹ In der Hälfte der Fälle übergibt der Begleiter den Kranken einfach dem Fuhrmann, der ihn auf der Station Tavannes abholt. Der hat aber genug mit dem Pferde zu tun und kann sich nicht noch mit dem Patienten abgeben. Auf diese Weise könnte besonders bei schlechter, vereister Straße sehr leicht einmal ein Unglück entstehen, abgesehen davon, daß wir zur Ergänzung der oft ungenügenden Krankenberichte so keinerlei Mitteilungen bekommen können. Wegen ungenügender Zahl können wir nicht immer Wartpersonal nach Tavannes schicken. // Diese Vorkommnisse zeigen wieder einmal, was für Unannehmlichkeiten es mit sich bringt, wenn eine größere Anstalt so weit weg von den Verkehrswegen errichtet wird.« (Jb 1910, S. 80) Die zweite Stelle beschreibt einen konkreten Fall: »Der Transport der Kranken in die abgelegene Anstalt Bellelay führt oft genug zu mehr oder weniger unangenehmen Zwischenfällen. So wurde z.B. die Ankunft eines Kranken auf Station Tavannes für 11 Uhr 32 angemeldet, aber der Fuhrmann wartete mit Pferd und Wagen vergebens bis zum nächsten um 3 Uhr fälligen Zug. Niemand kam. Er kehrte daher allein wieder nach Bellelay zurück. Wir erhielten von den betreffenden Leuten auch keinerlei telephonische oder telegraphische Meldung. Da, um 5 Uhr, als das Gefährte kaum von Tavannes zurück war, verlangte man von dort her ein Fuhrwerk; der Kranke sei nun angekommen! So mußte sofort die Reise nach Tavannes von neuem begonnen werden. Im weitern kommt es recht oft vor, daß die Begleiter der Kranken dieselben in Tavannes einfach dem Kutscher übergeben, sie mögen sich nicht die Mühe geben, bis hinauf nach Bellelay zu kommen.« (Jb 1912, S. 69 f.) Auch die Suche nach Personal erschwerte sich in Bellelay: »[…] à l’isolement dans lequel se trouve situé l’asile de Bellelay«. Die Anforderungen an das Pflegepersonal und die Befriedigung und Anerkennung, die es bei seiner Arbeit erreichen könne, werden deshalb im Bericht besonders beschrieben: »La tâche d’une infirmière dans une maison de santé exige pour ainsi dire les mêmes hautes qualités que celles qui sont demandées au service des hôpitaux. Il ne s’agit pas d’une tâche ingrate, car les malades, dans une maison de santé comme ceux soignés corporellement dans un hôpital, savent être reconnaissants. Le personnel en éprouve une satisfaction. En outre, la profession d’infirmière dans les établissements de l’Etat devient une profession intéressante par le fait qu’elle est relativement bien rétribuée.« (Jb 1929, S. 60). 16 | Jb 1925, S. 59. 17 | Jb 1928, S. 59.
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ohne dass dieser Umstand begründet würde, grundsätzlich ausführlicher als die der andern beiden Anstalten: Es werden auch Zivilstand, Alter und Konfession der neu aufgenommenen Patienten angegeben.18 Zudem hat Bellelay als zunächst einzige der drei Anstalten ab 1903 eine Abteilung für Kinder. In der Waldau wird eine Kinderbeobachtungsstation erst 1937 eingerichtet.19 Trotz dieser Unterschiede lohnt es sich, ab und zu einen Seitenblick in die anderen Anstalten und ihre Berichte zu werfen, damit sich die spezifischen Themen der Waldau und ihre Darstellung konturieren lassen – aber auch schlicht deswegen, weil die Kliniken durch ihre Zugehörigkeit zum Kanton Bern, durch ihr Personal, die Ärztekarrieren mit ihren Ortswechseln und die Patientenverteilung miteinander verbunden sind und ein Vergleich sich daher geradezu aufdrängt.20 In der Benennung der Krankheiten unterscheiden sich die Berichte ebenfalls. Damit kommt das (Nicht-)Wissen der ›Psychiatrie der Zeit‹ zur Geltung und die Gültigkeit einer einzelnen Diagnose wird relativiert.21 Wo es sich aufgrund der Texte anbietet, Verweisen auf andere, außerkantonale Kliniken zu folgen (die Vergleiche werden meist mit dem Zürcher Burghölzli als universitäre Klinik gezogen), wird auch der Stand der Disziplin Psychiatrie und ihre Waldau-spezifische Praxis beschrieben.
3.1.3 Stil, Autorschaft, Referenz Im Weiteren sind die Berichte durch die jeweiligen Verfasser in ihrem Stil geprägt. Es lassen sich Unterschiede zwischen den einzelnen Direktoren festmachen, Ulrich Brauchli in Münsingen etwa verwendet auch einmal eine sarkastische Formulierung.22 Die Waldauer Berichte von Speyrs sind hingegen durchwegs in ernsthaftem Tonfall gehalten. Darüber hinaus lässt sich aber auch eine stilistische Veränderung innerhalb der Ära von Speyr beobachten. Zu Beginn seiner Amtszeit taucht das schreibende »Ich« häufiger auf als in den späteren Berichten. Die weiter unten noch angeführten Beispiele zeigen auch, dass die Jahresberichte nicht nur als einzelne zu betrachten sind, weil sie teilweise einen explizit thematisierten Fortsetzungscharakter haben und dass in ihnen mit Anschlüssen, Verweisen und Andeutungen operiert wird, denen auf Grund von fehlenden Informationen und heutigem Nicht-(Mehr-)Wissen nicht immer gefolgt werden kann. Während der Aspekt der Fortsetzung die Texte in eine Kontinuität stellt, zeigen die Verweise und Andeutungen die ›Brüchigkeit‹ der Gattung respektive die Schwierigkeiten, denen sich Rezipienten stellen müssen. 18 | In früheren Berichten der Waldau, so etwa in dem von 1879, werden in ausführlichen tabellarischen Anhängen ebenfalls Angaben zu beispielsweise Alter, Zivilstand und sogar zu den Berufsverhältnisse der Patienten gemacht. 19 | Siehe dazu das Kapitel 3.12 zum Übergang von Direktor von Speyr zu Jakob Klaesi. 20 | Eine hier weniger zentrale Verbindung besteht von Bellelay zur Waldau auch durch Lisa und Robert Walser – Lisa Walser war Lehrerin in der 1903 eröffneten Schule für die Kinder der Angestellten in Bellelay. 21 | Zu den Krankheitsbezeichnungen und Begrifflichkeiten siehe Kapitel 3.10. Allgemein zu den Umbrüchen in der Psychiatrie 1900 siehe Wernli (2012a). 22 | So schreibt er zum Beispiel zur Platznot, ihr werde begegnet mit der »Anwendung des in der Berner Irrenpflege seit Jahren so beliebten Rezeptes des Ineinanderpferchens von Kranken in den bestehenden Räumlichkeiten«. (Jb 1913, S. 60).
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Eine Autoreferenz auf das Textgenre kommt meines Wissens in den untersuchten über vierzig Berichten nur einmal vor, nämlich wenn die Preise der Jahresberichte erwähnt werden.23 Der Prozess des Schreibens hingegen wird gelegentlich beiläufig und eher floskelhaft erwähnt, wie im bereits angeführten Beispiel eines temporalen Verweises im Münsinger Bericht von 1932. Im Allgemeinen wird weder die Notwendigkeit, Jahresberichte zu schreiben noch die Wahl der Perspektive (beispielsweise in der Darstellung eines Streites zwischen einem Angestellten und dem Direktor) in den Berichten selbst reflektiert oder kritisiert. Eine Parodie auf das Genre Jahresbericht verfassen dann unter dem Titel Klinisches Jahresblatt 1936 zwei Patienten – einer von ihnen ist Friedrich Glauser.24 Eine Ausnahmeerscheinung innerhalb aller hier bearbeiteter Berichte stellt der des Pfarrers Friedrich Henzi in der Ausgabe von 1927 dar.25 Da Henzi im Folgejahr starb, bleibt offen, wie diese Art von Bericht zustande kam respektive ob er der Anfang einer Serie hätte werden sollen. Man kann vermuten, dass er auf einer Einzelinitiative Henzis beruhte, denn kein Nachfolger hat im Untersuchungszeitraum einen Bericht über seine Tätigkeit verfasst oder anders gesagt: Kein eventuell verfasster Bericht eines Pfarrers wird in die offiziellen Jahresberichte mehr aufgenommen. Das Regulativ über die Obliegenheiten des Anstaltsgeistlichen von 1905 hält in Artikel 6 fest, dass der Geistliche alljährlich einen kurzen Bericht an die Direktoren schreibt – sie wurden also durchaus produziert, nicht aber publiziert. Henzis gedruckte Beschreibungen sind auch deshalb sehr interessant, weil sie von einer Figur stammen, die sowohl das Innere der Anstalt kannte, diese also regelmäßig besuchte, sie aber auch verlassen konnte und musste. Damit ist Henzi eine Verbindungsfigur zwischen Innen und Außen, die gerade diesen Umstand auch sprachlich thematisiert, wie noch gezeigt wird. Zunächst aber soll hier auf die Geschichte des Ortes und auf den Umgang mit Kranken vor der Anstaltsgründung 1855 eingegangen werden, weil diese Geschichte die Waldau als Schreibort prägte.
3.2 »I nn gent zliche Toubsucht gerhat ten « 26 – das B erner »I rrenwesen « vor 1855 Dieser Abriss der Zeit vor 1855 stützt sich auf die Darstellung des 1915 erschienenen und bereits erwähnten Werkes Bernisches Irrenwesen. Von den Anfängen bis zur Eröffnung des Tollhauses 1749, dessen Verfasser auf dem Titelblatt angegeben wird als »Dr. W. Morgenthaler, Arzt Waldau bei Bern«. Damit wird (auch) die Perspektive eines geschichtsinteressierten Psychiaters zu Beginn des 20. Jahrhunderts gezeigt.27 Mor23 | 1918 liest man im Bericht: »Trotzdem sind die Auslagen der Kommission um mehr als 400 Franken gestiegen, doch vorläufig weniger wegen der Erhöhung der Sitzungsgelder und der Reiseentschädigungen, die erst spät eintrat, als wegen der Verteuerung des Jahresberichtes.« (Jb 1918, S. 5). 24 | Siehe zum Klinischen Jahresblatt Kapitel 4.6.3. und Wernli (2013a). 25 | Ausführlicher dazu in Kapitel 3.4.7. 26 | Aus dem Gesuch um Versorgung eines Geisteskranken, 1627, Staatsarchiv Bern, Unnütze Papiere, Bd. 28, Nr. 169. Zitiert nach Morgenthaler (1915), S. 121. 27 | Siehe zur Vorgeschichte der Waldau auch den Bericht der Direktion des Innern (1850).
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genthaler verfolgte mit seinem Werk zwei Absichten, wie er im Vorwort erklärt: Es soll erstens »eine Ergänzung zur Geschichte des bernischen Irrenwesens sein.«28 Dafür untersuchte er Quellen aus dem bernischen Staatsarchiv und Berner Chroniken, die er auch ausführlich zitiert. Seine zweite Intention bestand darin, die »gesammelten Fälle von psychischen Anomalien aus früheren Zeiten […] nach psychiatrischen und psychologischen Gesichtspunkten«29 zu bearbeiten. Dieser zweiten Absicht konnte er, wie er ausführt, aus Rücksicht auf den Umfang des Werkes nicht nachkommen. Er hoffe aber, schreibt Morgenthaler, »später gelegentlich einen Beitrag zur ›historischen Psychopathologie‹ liefern zu können.«30 Gegliedert ist das Werk in einen einleitenden Teil zum Medizinal- und Fürsorgewesen bis zur Reformation, einen ersten Teil zu den Geisteskranken vor der Reformation und einen zweiten zu den Geisteskranken von der Reformation bis zur Eröffnung des Tollhauses. Einige Stationen dieser Geschichte sollen hier als Vorspann zum eigentlichen Untersuchungszeitraum zusammengefasst werden, damit dieser besser eingeordnet werden kann: Das Siechenhaus am Haspelgässchen, in dem Lepra-Kranke untergebracht wurden, ist 1284 verbürgt, 1499 wurde es in größere Distanz zur Stadt verlegt, auf das Breitfeld der Gemeinde Bolligen.31 Hierzu setzt Morgenthaler eine Fußnote, die auf die Umwidmung des Siechenhauses und damit auf die Tradition der von der Waldau benutzten Bauten verweist: »Am gleichen Platz steht heute das sogenannte Pfründerhaus, das früher zum Teil auch noch als Siechenhaus gedient hatte, und das jetzt eine Abteilung der Waldau für chronisch Geisteskranke bildet.«32 Der Ort der heutigen Waldau kann deswegen auf eine Jahrhunderte alte Geschichte der Pflege kranker Menschen blicken, wobei physische Leiden und ihre ›Behandlung‹ durch Absonderung anfangs dieser Tradition im Zentrum stand. Nach dem Siechenhaus erfuhr 1601 das sogenannte Blatternhaus für SyphilisKranke, 1498 in Bern an der Aare verbürgt, eine Verschiebung an die Peripherie, auf das Breitfeld. Dort wird 1749 auch das Tollhaus errichtet (Abb. 7), welches zuerst zum sogenannten großen Spital gehört und 1766 an das äußere Krankenhaus geht: »Der Rat habe ›heütigen Morgens erkennt, daß die Taubhaüslin nit mehr in hiesiger Haubtstatt, sondern außert derselben vndt benantlichen beim Siechenhauß seyn sollind‹.«33 Damit entsteht die erste Berner Institution, die sich ausschließlich um Menschen mit psychischen Erkrankungen kümmert, wobei sich die Behandlung der Kranken vor allem auf die Isolation und die Ausführung von Aderlässen beschränkt. Mit der Beschreibung des Tollhauses, das er als »für die damalige Zeit einen ausserordentlichen Fortschritt«34 bezeichnet und mit dem die Geisteskran28 | Morgenthaler (1915), Vorwort [unpag.]. 29 | Ebd. 30 | Ebd. 31 | Morgenthaler (1915), S. 11 f. 32 | Ebd., S. 12. Mit Pfrund- oder Pfründerhaus gemeint ist eine: »Abtheilung für arme Kantonsangehörige, welche an entschieden unheilbaren Krankheiten leiden und fortwährend ärztlicher oder wundärztlicher Pflege oder beider vereinigt bedürfen. Hier können die Resultate natürlich nicht schöne Erfolge liefern, sondern diese Abtheilung dient zur Erleichterung der unglücklich Leidenden.« (1842), S. 26. 33 | Zitiert nach Morgenthaler (1915), S. 100. 34 | Ebd., S. 115.
Geschichte, Klinikalltag und Akteure
ken endlich »ein eigenes Haus bekamen«,35 endet Morgenthalers Werk. Zu seiner Perspektive auf diese Geschichte seien hier bloß noch seine Bezüge zur »heutigen« Situation erwähnt, die den ›Stand der Psychiatrie‹ anfangs des 20. Jahrhunderts wiedergeben, wenn er etwa bei der Eröffnung des Tollhauses anfügt: »Für den Aufenthalt der Kranken im Freien bevorzugt man heute ganz allgemein schöne schattige Gartenanlagen und hat öde, kahle Höfe älterer Anstalten – wo es immer ging – längst mit Bäumen bepflanzt.«36 Oder wenn er in der Beschreibung des Umgangs mit den Bettlern im 16. und 17. Jahrhundert seine Diagnosen anführt: »Alle diese werden ganz allgemein als unverbesserliche Tagediebe und Müssiggänger bezeichnet; doch ist ohne weiteres klar, dass sich darunter eine grosse Anzahl von psychisch Abnormen und Degenerierten befanden, wie man sie heutzutage in Irrenanstalten unterbringt.«37 Aus Morgenthalers Darstellung erfährt man also gleichzeitig etwas über die Geschichte des Bernischen Irrenwesens der frühen Neuzeit wie auch über Morgenthalers eigene zeitgebundene Haltung zu dieser Geschichte und ihrer Darstellung. Psychiatriegeschichtsschreibung findet ihre Form hier in einem Fortschrittsnarrativ, das alten Zuständen die neuen Errungenschaften entgegenhält. Sowohl das Siechen- und das Blatternhaus wie auch die spätere Waldau sind geprägt durch ihre Verbindungen zum und die Trennung vom Inselspital. Dessen Entstehung geht auf das Jahr 1354 zurück, als die Bernburgerin Anna Seiler ein Spital stiftete, das zuerst ›Seilerin(nen) Spital‹ hieß und nach dem Umzug 1531 ins Kloster der Dominikanerinnen, an die Stelle des heutigen Bundehauses, ›St. Michaels Insel‹, und nachfolgend ›Insel‹, genannt wurde. Im Verhältnis zwischen dem Inselspital und dem sogenannten niederen Spital sieht Morgenthaler »bereits eine strikte Trennung in eine Heil- und eine Pflegeanstalt«.38 Wer Aussichten darauf hatte, gesund zu werden, kam in die Insel, die anderen ins niedere Spital, wo man die Menschen im »Thoubhüssli« (in Einzelzellen) verwahrte, oder sie in »Isen« legte, also ankettete.39 Nach einem Brand musste das Inselspital neu aufgebaut werden und wurde 1724 fertiggestellt. Dort waren 1831 zwei Ärzte und zwei Wundärzte, dazu eine Hebamme angestellt. Betten für Patienten gab es 115, und pro Jahr wurden tausend Kranke aufgenommen. In den 1830er Jahren wurden die »Gemüthskranken« von der Insel ins Außerkrankenhaus gebracht.40 Dieses bestand aus den drei Abteilun35 | Ebd., S. 15. 36 | Ebd., S. 111. 37 | Morgenthaler (1915), S. 68. 38 | Ebd., S. 56. 39 | Zitiert nach Morgenthaler (1915), S. 57. Morgenthaler schließt aus den Quellen: »In der Insel scheinen mehr Kranke in Eisen gelegt, in den Pflegeanstalten mehr in Taubhäuschen gesperrt worden zu sein. Bei den damaligen Verhältnissen war das Anketten wohl die humanere Enthaltungsart und sicher für genauere Beobachtung und Behandlung auch zweckmässiger.« (Ebd., S. 62). 40 | Zur Orientierung siehe Abb. 7. »Auch durch die Verlegung der sogenannten Probekurstube in der Insel in das außere Krankenhaus und ihre Vereinigung mit der dortigen Irrenanstalt (1837) wurde wieder eine vermehrte Aufnahme von Kranken in der Insel möglich, da bis dahin in der Insel ein Zimmer mit sechs Betten zugleich für Epileptische und Gemüthskranke bestimmt war, während jetzt nach der Verlegung der Gemüthskranken dieses Zimmer allein
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gen Pfründerhaus, Irrenhaus und Kurhaus. Im Vergleich mit dem Inselspital sah sich das Außerkrankenhaus aus drei Gründen benachteiligt – neben den spärlichen Hilfsmitteln und den zu behandelnden Krankheiten nennt der Bericht von 1842 auch ausdrücklich die Lage der Krankenhauses: »Daß das Außerkrankenhaus früher im Vergleich mit dem Inselspitale etwas stiefmütterlich behandelt worden war, wird wohl nicht in Abrede gestellt werden können. Mochte hiezu die nicht unbedeutende Entfernung dieser Anstalten von der Inseln und von der Stadt überhaupt mitwirken, die öftere Besuche der oberen leitenden Behörde nothwendig sehr erschweren mußte, so daß hier manche Mängel und Mißbräuche fortdauern konnten, die gewiß längst würden abgeschafft worden sein, wären sie den Behörden bekannt gewesen; mochte vielleicht auch die Art der dort behandelten Krankheiten von einigem Einfluße sein und ohne Zweifel endlich die im Vergleiche mit dem Inselspital ungleich beschränktern Hülfsmittel, so daß man schon früher auf außerordentliche Art half […].« 41
Die Lage des Außerkrankenhauses, wo später die Waldau gebaut wurde, erschwerte also dessen Kontrolle und führte, wie der Bericht nahelegt, zu einer weniger guten Versorgung der dort untergebrachten Kranken. So gab es im Irrenhaus während der 1830er Jahre einige Änderungen vorzunehmen: »[D]ie Speiselöcher, durch welche man früher den Irren die Speisen zugeschoben hatte, wurden vermauert«,42 die Pritschen durch Betten ersetzt und einzelne Zellen zu Gemeinschaftsräumen zusammengelegt, wodurch die Isolation der Kranken verringert wurde und, wie der Bericht festhält, eine Beruhigung der Patienten und damit auch eine bessere Arbeitstauglichkeit derselben einkehrte. Bei Tobsuchtanfällen nahm man die Zwangsjacke zu Hilfe und sah sich dadurch imstande, nicht »zu gewaltsamen Maßregeln seine Zuflucht nehmen zu müssen, wie sie früherhin hie und da stattgefunden hatten.«43 1838 wurde im Kanton Bern eine »Irrenzählung« durchgeführt, die ergab, dass 570 Personen geisteskrank seien, davon 484 bei ihren Familien oder Bekannten untergebracht, 67 im Außerkrankenhaus oder im Thorberg und 19 in Privatirrenanstalten. Für 64 Personen werde eine Aufnahme in eine Anstalt gewünscht.44 Die Notwendigkeit einer Irrenanstalt wurde so statistisch begründet. 1841 besiegelte ein Dotationsvertrag die Rechte und Pflichten der Stadt und des Kantons Bern, damals ›Staat‹ Bern genannt. Das Inselspital und das Äußere Krankenhaus wurden dadurch zu selbstständigen Anstalten. Damit übernahm die Insel auch die Ausbildung der Medizinstudenten.45 Mit dieser Loslösung war der Grundden Epileptischen gewiedmet ist, an welchen es gewöhnlich nicht fehlt.« (1842), S. 6. Hervorhebung im Original gesperrt. 41 | (1842), S. 25 f. 42 | Ebd., S. 38. 43 | Ebd., S. 39. 44 | (1850), S. 54 f. 45 | Im Bericht aus dem Jahr 1842 liest man: »Durch den klinischen Unterricht, so eingerichtet, daß er den Kranken vielmehr zur Beruhigung als zur Beschwerde gereichte, wurde auch das wissenschaftliche Interesse berücksichtigt, zum großen Vortheile der Medizin Studirenden an der Akademie.« (1842), S. 2. Der Bericht fasst aus Anlass des Dotationsvertrages neun Jahre Geschichte des Inselspitals und des Außerkrankenhauses zusammen.
Geschichte, Klinikalltag und Akteure
stein gelegt für die Eröffnung der neu errichteten Irren-, Heil- und Pfleganstalt Waldau am 18. November 1855. Diese wie auch andere zeitgenössische Anstaltsgründungen sind Resultat einer Psychiatriereformbewegung, die traditionellerweise mit dem Wirken Philippe Pinels (1745–1826) verbunden wird. Dessen sprichwörtlich gewordene ›Befreiung der Irren von den Ketten‹ aus dem Pariser Hospice des fous de Bicètre wird mittlerweile aber auch mit einem kritischen Blick auf ihre mythologisierende und heroisierende Überlieferungsgeschichte betrachtet.46 Pinels Abhandlung Traité médico-philosophique sur l’aliénation mentale ou la manie und später dann vor allem John Conollys The Treatment of the Insane without Mechanical Restraints von 1856 (1860 auf Deutsch erschienen) und die daraus hervorgehende non-restraint-Bewegung waren wichtige Impulse für eine Veränderung im Umgang mit den ›Irren‹. Die Waldauer Berichterstattung von 1855 schaut vom Zeitpunkt dieser anbrechenden Ära der Anstaltspsychiatrie zurück auf das ›Berner Irrenwesen‹ im Zeichen des Tollhauses: »Obgleich der Kanton Bern schon seit vielen Jahren wegen seiner wohlthätigen Anstalten mancherlei Art […] eine ehrenvolle Stelle unter seinen Mitständen in der Eidgenossenschaft einnimmt, so hatte er doch bis in die jüngste Zeit einer Classe von Kranken, der bedauernswüdigsten und hülfebedürftigsten, mit einem Worte den Seelengestörten zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Es mangelte zwar nicht gänzlich an sogenannter Besorgung und Verpflegung derselben, allein es kam diese scheinbare Wohlthat nur einer sehr geringer Zahl unbemittelter Irren zu, die überdieß in einem Lokale vereinigt wurde, das eben nicht viel mehr gewährte, als einen Aufenthaltsort zur Enthaltung und Ueberwachung der Kranken, aber wenig geeignet war, um günstige Resultate aus den mit ihnen zuweilen unternommenen Heilversuchen hervorgehen zu sehen […]. Bis in die Mitte der Dreißigerjahre nannte man jenes Lokal das Tollhaus, oder in der Landessprache das ›Taubhus‹, was schon hinreichend beweist, welchen Werth und welche Bedeutung man ihm beilegte […], Zellen, in denen die kranken Menschen gleich wilden, vernunftlosen Geschöpfen eingesperrt waren, oder durch die Behandlung derselben, wobei der Ochsenziemer noch eine Hauptrolle spielte, den erbärmlichen Zustand der Irrenpflege näher beschreiben müssen.« 47
Nach 1835 wurden dann einzelne Zellen zu größeren Räumen zusammengelegt, wodurch auch »die furchtbare Vergitterung der kleinen Fenster wegfiel, [und man] die übrigen Zellen aber durch Vergrößerung der Fensteröffnungen und Beseitigung der Schrecken erregenden Eisenstäbe bestmöglich in menschliche Wohnungen zu verwandeln suchte.«48 Mit der Beschreibung der baulichen Veränderungen geht in der Retrospektive des ersten Direktors, Albert Tribolet (Direktor von 1855– 1859),49 auch eine Namensänderung einher: 46 | Siehe dazu Schott/Tölle (2006), S. 244–246 oder Müller (1998). 47 | Da die Waldau noch nicht dem Kanton gehört, lautet der Titel des Berichts: Bericht über die Irren-, Heil- und Pflegeanstalt Waldau im Kanton Bern. In der Folge wird auf ihn aber wie auf die anderen Berichte mit der Sigle Jb verwiesen. 48 | Jb 1855, S. 5. 49 | Die Reihenfolge der Vornamen Tribolets variieren in den unterschiedlichen Quellen. Schott und Tölle nennen die Initialenfolge »F. J. A .« (siehe Schott/Tölle, 2006, S. 263). Wyrsch macht zu Tribolets biografischem Hintergrund folgende Angaben: »J. Fr. A. Tribolet
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Schreiben am Rand »Mit dieser Veränderung, wir möchten sagen Humanisirung des Lokals wurde auch die ärztliche Behandlung und diätetische Verpflegung der Irren eine andere, der praktischen Irrenheilkunde entsprechendere, was dann wieder zur Folge hatte, daß dasselbe seinen übelklingenden Namen ›Tollhaus‹ allmälig verlor und gegen den natürlichen ›Irrenhaus, Irrenanstalt‹ vertauschte.« 50
Diese Zeit der ›Irrenanstalt‹ sollte bis 1929 andauern, als auch dieser Name ersetzt wurde und die Berner Anstalten neu Bernische kantonale Heil- und Pflegeanstalten hießen. Diese erste Phase der Berner Anstaltspsychiatrie wird im folgenden Unterkapitel, das mit der Ernennung von Speyrs zum Direktor endet, beschrieben.
3.3 D ie W aldau zwischen 1855 und 1890 3.3.1 Der Name Waldau – Ein Narrativ entsteht Der erste Bericht der Waldau beginnt mit einer Darlegung der Veranlassung der Schrift, die von der Direktion des Innern, genauer der Abteilung Gesundheitswesen ausgeht. Tribolet als erster Direktor der Anstalt gibt die unterschiedlichen Quellen an, auf denen sein Bericht beruht – diese Art expliziter Verweise auf Prätexte unterschiedlicher Gattungen und Autoren und damit auf die Machart der Texte kommen bei späteren Berichten immer weniger vor.51 Der Bericht zeigt sich so als einer, der mit der Technik der Auswahl und Montage zustande kam, und er wird von seinem Autor explizit in einem intertextuellen Umfeld anderer Texte verortet. Obwohl das Breitfeld eine Tradition der Absonderung und ›Pflege‹ von kranken Menschen hat und diese schriftlich verbürgt ist – es bestehen also durchaus schon Texte –, beginnt mit der Planung und dann vor allem mit diesem Jahresbericht das eigentliche Narrativ der Waldau. Ihr Name ist eine Neuschöpfung.52 In Bezug auf den Namen schreibt Tribolet an die Inselverwaltung: »Nicht nur ist es zweckmäßig die garstigen Titel Siechenhaus, Tollhaus, Taubhaus, Narrenhaus u.a.m. für die Zukunft zu verbannen, sondern den in andern Staaten üblichen Gebrauch zu 1794–1871, aus dem 1928 ausgestorbenen regimentsfähigen Bernburgerzweig der Familie, war Sohn des Samuel Albrecht, Professor der Pathologie an der Akademie; Großsohn des Franz Ludwig, Stadtarzt und Spitalverwalter. 1835–1939 Arzt am Äußern Krankenhaus und zugleich Extraordinarius für Haut- und Gerichtsmedizin (über letztere hat er schon 1819– 1821 an der Akademie gelesen). Bis zum Bau der Waldau hatte er eine Privatanstalt in Bümpliz.« Wyrsch (1955), S. 150. 50 | Jb 1855, S. 5. 51 | Tribolet schreibt zu seinen Quellen: »1) die Protokolle der Inselverwaltung und Direktion; 2) die Korrespondenzen zwischen diesen Behörden und der Direktion des Innern; 3) den Bericht der Direktion des Innern (Abtheilung Gesundheitswesen) an den Regierungsrath zu Handen des Großen Rathes de Kantons Bern, betreffend die Erbauung einer neuen Irren-, Heil- und Pfleganstalt für den Kanton Bern, vom Jahr 1850; 4) die gefälligen Mittheilungen des Herrn Architekt Hebler, und endlich 5) die zu verschiedenen Zeiten selbst verfaßten Berichte, Anträge und Entwürfe zu Handen der Staats- und Inselkorporationsbehörden.« (Jb 1855, S. 4). 52 | Siehe dazu Wyrsch (1955), S. 23–25.
Geschichte, Klinikalltag und Akteure adoptieren und eine den Irren gewiedmete Anstalt mit einem besondern Namen zu belegen, der den Zweck derselben nicht näher kennzeichnet, so z.B. Bethlem, Illenau, St. Lukas, Charité, Solitude usw. Auf diese Weise wird der unangenehme Eindruck, den solche Etablissements gewöhnlich auf die Kranken sowohl, als auf das Publikum hervorrufen, entweder ganz vermieden oder doch vermindert. Nach einigem Nachdenken welcher Name einer so wohltäthigen Anstalt, wie das neue Irrenhaus unserm Kanton hoffentlich in Zukunft sein wird, beigelegt werden dürfe, verfiel man auf den einfachen Namen Waldau.« 53
Tribolet präsentiert den Namen ›Waldau‹ als Vorschlag, der, falls man ihn nicht »poetisch genug«54 fände, noch geändert werden könnte. Mit dem Verweis auf die Namen der anderen Anstalten zeigt sich bereits in diesem ›Gründungsmythos‹, dass die Klinik trotz ihrer Abgelegenheit in loser Verbindung zu anderen Orten der Psychiatrie steht. Für gewisse Themen (hier die Verbindung von Anstalt und Name), Texte, Personen, Anliegen und damit Diskurse sind die Mauern der Anstalt durchaus durchlässig, während sie für andere unüberwindbar bleiben. Die Unbestimmtheit der Wendung »verfiel man auf den einfachen Namen Waldau« in Tribolets Brief regte Wyrsch, der diesen ›Gründungsmythos‹ aufnahm, zur Hypothese an, dass es Frau Professor Tribolet gewesen sein könnte, die den Namen schuf. Wyrsch behauptet: »Nur einer Frau konnte dieser Name, im Stile eines späten, poetischen Biedermeier einfallen«,55 womit die Kategorien Ort und Anstalt über den Namen auch noch mit derjenigen von Gender verknüpft werden. Wyrsch stellt in seiner Geschichte der Waldau aber nicht nur Tribolets Vorschlag und seine eigene Hypothese zur Namensgebung vor, sondern ordnet im gleichen Atemzug auch Jakob Imoberstegs Vorstellung der Waldau ein. Der Notar und Fürsprecher und ehemaliger Regierungsrat hatte in seinem Inselbuch von 1878 das Kapitel zur Waldau mit einem Potpourri von Versatzstücken aus der Lyrik Nikolaus Lenaus begonnen. Nikolaus Lenau (1802–1850) war seinerseits Patient der Wiener ›PrivatIrrenheilanstalt‹ Oberdöbling gewesen.56 Imobersteg beginnt das Kapitel mit dem Ausruf: »Waldau, lieblich klingender, idyllischer Name, aber voll trauriger Gedanken! Wer stimmt da nicht des Dichters Klage bei«. Darauf folgen zwei Strophen aus dem mittleren Teil von Lenaus Gedicht Die Waldkapelle: Da steht der Irre, bleich und stumm, den Blick, Das bitt’re Lächeln auf den Mond gerichtet: Es prallt das Mondlicht scheu von ihm zurück, Und scheu der Wind an ihm vorüberflüchtet. Starrt so des Wahnsinns Auge wild hinauf Zum stillen, klaren, ewiggleichen Frieden, Mit dem die Sterne wandeln ihren Lauf: Ein Anblick ist’s, der traurigsten hienieden!57 53 | Inselverwaltung, Protokolle und Akten Bd. 47, zitiert nach Wyrsch (1955), S. 24. 54 | Ebd., S. 25. 55 | Wyrsch (1955), S. 25. 56 | Siehe dazu Lehninger (2012), hier: S. 178. 57 | Imobersteg (1878), S. 245 f.
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Es folgen darauf Strophen aus vier weiteren Gedichten Lenaus. Die Verse als »Dichters Klage« werden optisch zwar vom Fließtext abgehoben, Lenau wird aber als Autor nicht genannt, auch die Herkunft der einzelnen Strophen aus unterschiedlichen Gedichten kommt nicht zur Sprache. Nach Wyrschs Einschätzung verfiel Imobersteg damit (Lenaus) »trüben Visionen«58 und musste »dem kranken Seelenleben fremd«59 gegenübergestanden haben. Wyrsch rekurriert einerseits auf den Brief Tribolets, andererseits auch auf das zwanzig Jahre später erschienene Inselbuch und präsentiert sich als einen, der weiß, dass »unsere klugen Kranken vielfach [über diese trüben Visionen] lächeln werden«.60 Abb. 14: Betonung der Symmetrie: Situationsplan der kantonalen Irrenanstalt in Bern aus dem Bericht von 1855
Im Bericht von 1855 beschreibt Tribolet die Vorgeschichte der Waldau und ihre Planung, dann die oben bereits erwähnte geografische Lage, er führt die Beamten auf und ein Budget an. Es folgt darauf eine Beschreibung der neuen Anstalt, deren symmetrischer Bau in der Einleitung bereits erwähnt worden ist (Abb. 14). Von der Anlage, vor deren Planung Tribolet zusammen mit dem Architekten Gottlieb 58 | Wyrsch (1955), S. 26. 59 | Ebd., S. 25. 60 | Ebd., S. 26.
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Hebler verschiedene Anstalten im Ausland besucht hatte,61 sind hier noch einige Details zu erwähnen: Sie beinhaltete 169 Zimmer, 24 »Tobzellen (Logen)«,62 und es wurden keine Fenstergitter verwendet.63 Die Illusion, in der Waldau sämtliche Geisteskranke des Kantons unterbringen zu können, hatte Tribolet nicht, trotzdem enthält der besagte Bericht zum Schluss eine Art Eröffnungsangebot für Patienten, »welche in den ersten zwölf Wochen ihrer Krankheit um die Aufnahme nachsuchen, [nämlich:] eine Gratisbesorgung von drei Monaten«.64 Dieses im zweiten Organisationsreglement von 1866 ebenfalls noch erwähnte Angebot, neu Erkrankte umsonst zu behandeln, dürfte dem Versuch der Klinikleitung entsprochen haben, die betroffenen Familien zu überzeugen, erkrankte Menschen in die Anstalt zu geben. Die Plätze waren schnell besetzt, bald prägten Wartelisten das Aufnahmeverfahren.
3.3.2 Erste Instruktionen für das Personal Wie sich das Leben in der neuen Anstalt zugetragen haben konnte, lässt sich indirekt aus den Anweisungen für ihre Angestellten schließen. Im Archiv des Psychiatrie-Museums finden sich kleine (ca. DIN A6), blaue Hefte, in denen von Hand geschrieben die Instruktionen für die unterschiedlichen Berufsgruppen der Klinik festgehalten sind. Diese Instruktionen sind in je separaten Heften dem Direktor, dem Oberwärter, dem Küchenpersonal, dem Geistlichen, der Haushälterin oder dem Schullehrer gewidmet.65 Auf diese Instruktionen hatten sich alle Angestellten »handgelübdlich zu verpflichten«.66 Die Instruktion für den Direktor ist im Namen der Inselverwaltung von deren Präsident, dem Regierungsrat und Pfarrer Albert Bitzius, Sohn Gotthelfs, und ihrem Sekretär, dem Amtsnotar Samuel Ludwig Müller, unterschrieben. Die 61 | Bei den besuchten Anstalten handelt es sich um die Illenau bei Achern im Großherzogthum Baden und die bei Brumath bei Straßburg gelegene Irrenanstalt Stephansfeld. Siehe Jb 1855, S. 6. 62 | Ebd., S. 22. 63 | Zum Ersatz für die fehlenden Fenstergitter erfährt man aus dem Bericht von 1855: »Statt der in vielen Irrenanstalten noch gebräuchlichen Fenstergitter sind hier zur Verhütung von Entweichungen oder Unglücksfällen und zum Schutz der Glasscheiben von innen verschließbare Fensterläden angebracht, die sich sehr bequem vor- und zurücklegen lassen, weßhalb das Gebäude in seinem äußern Aussehen eher einem gewöhnlichen Krankhause als einer Irrenanstalt ähnlich sieht.« Ebd., S. 23. Mit verschlossenen Fensterläden dürften die Innenräume der Klinik ziemlich dunkel gewesen sein. 64 | Ebd., S. 27. 65 | Der Schullehrer bleibt in der Waldau ein hypothetisches Amt, im Gegensatz etwa zu Bellelay, wo Lisa Walser tätig war. Das Organisationsreglement von 1855 enthält eine Option: »Für den Unterricht der dazu fähigen Kranken kann durch Anstellung eines Schullehrers gesorgt werden.« (1855a), S. 9. 66 | (1855a), S. 13. Der vorgegebene Eid, den alle Beamten zu leisten hatten, lautet: »Es schwört (der Direktor, Sekundararzt, Assistenzarzt, Geistliche, Schullehrer, Oekonom) des Irrenhauses Waldau dem Staate und der Insel- und Außerhaus-Corporation Treue und Wahrheit zu leisten, deren aber insbesondere der Anstalt Nutzen zu fördern und Schaden zu wenden; die Aufträge und Weisungen der Inseldirektion und die ihm durch die Instruktion auferlegten Pflichten genau zu erfüllen, überhaupt alles zu leisten, was einem rechtschaffenen, über öffentliche Heilanstalten gesetzten Beamten obliegt.« (1855a), S. 11.
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Abb. 15: Titelseite der Instruktion für das Küchenpersonal, 1855 von Tribolet verfasst.
anderen Hefte wurden von Tribolet geschrieben (Abb. 15 und 16). Den Instruktionen für den Direktor67 lässt sich Folgendes entnehmen: Der Direktor hatte sich immer in der Anstalt aufzuhalten, bereits für eine Abwesenheit von 24 Stunden braucht er die Erlaubnis des Direktors der Inseldirektion 67 | Der Text liegt transkribiert im Anhang, Kap. I, vor. Zitate daraus werden mit der Sigle ›D‹ und dem entsprechenden Paragrafen direkt nachgewiesen.
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Abb. 16: Letzte Seite aus dem Heft Instruktion für den Oberwärter und die Oberwärterin der Anstalt mit der Unterschrift Tribolets von 1855.
(D §1). Die Anstalt soll von ihm nach christlichen Grundsätzen geführt werden (D §2) und zwar durch eine Art ›Team‹ der Ärzte mit dem Geistlichen. In Absprache mit ihnen legt der Direktor einen ›Heilplan‹ fest und verfolgt dessen Umsetzung (D §3). Dazu besucht er die Kranken »täglich wenigstens einmal« (D §5) und geht dabei »mit dem Beispiel der Menschenliebe, Geduld, Ausdauer, Besonnenheit und Vorsicht« (D §8) voran. Der Direktor muss sehr viele unterschiedliche Rollen gleichzeitig erfüllen können: Er hat eine leitende Funktion, ist Arzt, der Kranke und
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Angestellte (D §19) behandelt, Administrator, der Buch über die Behandlungsweise (D §10) und sogenannte Krankenjournale führt (D §13). Er überwacht zudem die Dienstdisziplin (D §14), aber auch den ökonomischen Bereich der Anstalt, und im Besonderen muss er die Rechnungsführung prüfen (D §17), und er hat die Pflicht, über all dies der Inseldirektion zu berichten (D §20). Daneben soll er aber auch noch als Lebensmittelkontrolleur auftreten und »die gekochten sowohl als die rohen Speisen« (D §16) und ihre Auf bewahrung überprüfen. Mit dem Fokus auf Schreibprozesse können aus dieser Instruktion drei Arten von Schreibanleitungen abgeleitet werden, die sich an den Direktor richten. Diese Anleitungen zeichnen sich durch die genaue Angabe der Form und der geforderten Inhalte aus. In §10 wird eine erste Textsorte der Klinik erwähnt, das ›Ordinationenbuch‹, in welches die verordneten Arzneimittel »[…] mit fortlaufenden Nummern nebst Beisetzung des Monath, Tages, Zimmers und Nummer des Patienten eingetragen werden. Diejenigen Arzneien dagegen, welche für viele Kranke gleichförmig gebraucht werden, wie z.B. Ptisanen Pflaster, Salben, u. d.gl. sind bloß mit der Zimmerbezeichnung im Buche anzusetzen.« (D §10)
Die zweite Textsorte wird ›Krankenjournal‹ genannt. Auch dazu gibt die Inselverwaltung eine genaue Anleitung: »Es soll daher ein Krankenjournal geführt und darin für jeden Pflegling eine eigene Nummer eröffnet werden, in welche bei seinem Eintritt in die Anstalt die Geschichte seiner Krankheit, so weit selbe ermittelt werden konnte, die über denselben eingelangten Berichte, so wie alle sonstigen, auf die Krankheit bezüglichen wesentlichen Notizen, die Krankheitsform, der entworfene Heilplan im Allgemeinen, die Zufälle und der Verlauf der Krankheit mit genauer Angabe aller bedeutenden Erscheinungen und Veränderungen, welche auf dieselbe Bezug haben, endlich im Falle der Kranke in der Anstalt stirbt, die Ergebnisse der Leichenöffnung eingetragen werden.« (D §13)
Das Krankenjournal stellt eine Verbindung zum Leben der Kranken vor dem Aufenthalt in der Klinik her und zeigt, indem es explizit »Berichte« und »Notizen« erwähnt, dass diese Textsorte Krankenjournal selbst aus unterschiedlichen Textstücken besteht und damit eine literarische Komposition ist. Das Krankenjournal gibt Überblick über alle eintretenden Patienten und ist damit ein Vorläufer der individualisierten Aktenmappe, die jeweils zu einem einzigen Kranken geführt wird. Die Instruktion für den Direktor gibt aber nicht nur eine Anweisung, wie das Krankenjournal geschrieben werden soll, sondern auch, unter welchen Bedingungen es gelesen werden darf: »Bei Benutzung dieser der Anstalt angehörenden Krankenjournale zu wissenschaftlichen Zwecken und öffentlichen Mitteilungen, ist alles dasjenige wegzulassen, was zur Kenntnißmachung des Individuums beiträgt, oder überhaupt der Kranken oder ihren Angehörigen anstößig sein könnte.« (D §13)
Geschichte, Klinikalltag und Akteure
Damit spricht sich die Inseldirektion für eine Forschung in der Klinik aus, allerdings stellt sie auch die Richtlinien auf, unter deren Einhaltung diese Forschung möglich wird – es ist dies die Anonymisierung, auf die hier schon zu einem frühen Zeitpunkt bestanden wird. Die dritte Schreibanleitung betrifft den Bericht des Direktors. Weil diese Wegleitung für die Jahresberichte der frühen Waldau maßgeblich sind, wird hier der ganze Paragraf 20 zitiert: »Der Bericht, welcher der Direktor alljährlich an die Inseldirektion einzugeben hat, zerfällt in einen ärztlichen, einen administrativen und in einen wissenschaftlichen Theil (§28 Org. Regl.). Der erste hat folgende Punkte zu umfassen. Eine tabellarische Aufzählung aller Kranken in den zwei Abtheilungen der Männer und der Frauen und in den zwei Unterabtheilungen der Heilbaren und Unheilbaren mit folgenden Rubriken: Tauf- und Geschlechts-Name, Alter, Heimath, Religion, Stand, Beruf, Verpflegungsklasse, Tag der Aufnahme, Dauer der Krankheit vor der Aufnahme, Form der Krankheit, vorgefallene Veränderungen in dem Stand der Krankheit während des Berichtsjahres, Art der Behandlung, Austritt ob durch versuchsweise oder definitive Entlassung oder durch Tod, Bemerkungen. Darlegung der Erfahrungen von der allgemeinen Ordnung und der besonderen Einrichtungen des Hauses; von dem Erfolg der ärztlichen und seelsorglischen Behandlung und demjenigen der Beschäftigungen, von der Anwendung der verschiedenen gemischten oder rein psychischen Heilapparate und Heilmittel. Der zweite Theil hat zu berühren die Leistungen und die Amtsführung der Beamten, Angestellten und Dienstboten im Allgemeinen; die Veränderungen welche sich in diesem Personale ergeben und dem Grund derselben. Die Zweckmäßigkeit und Einhaltung der Anstaltsordnung, der verschiedenen Instruktionen und sonstigen Einrichtungen. Der dritte Theil giebt; Eine Uebersicht über die Einnahmen und Ausgaben der Anstalt, über die Erträgnisse der Grundstücke, der Arbeit und Beschäftigung der Verpflegten und berührt den Stand der Gebäulichkeiten, des Vorraths und Geräthschaften Inventars.« (D §20)
Die detaillierten Angaben zu den Patienten sind Bestandteile der im Organisationsreglement von 1855 geforderten Aufnahmegesuche. Als »Belege« für ein solches Gesuch sollen erstens eine schriftliche Erklärung der Verwandten oder des Vormundes, zweitens ein »Zeugniß« mit Personalien, ausgestellt vom Pfarrer und Gemeinderatspräsidenten des Wohnortes, drittens eine »Beschreibung der Seelenstörung nach Anleitung eines zu entwerfenden Formulars (Fragebogens) durch einen patentirten Arzt« und schließlich viertens durch eine schriftliche Beteuerung des Gemeinderates der Heimatgemeinde, für das Kostgeld aufzukommen.68 Von der in der Instruktion für den Direktor geforderten Dreiteilung des Berichtes wird der wissenschaftliche Teil zunehmend an Gewicht verlieren oder ausgelagert werden. Die gewünschte Auflistung der Namen wird zumindest in den publizierten Berichten keine Aufnahme finden. Auch die Angaben von Religion, Stand und Beruf der Kranken werden marginalisiert. Dadurch verlieren die Berichte Informationen, die nicht im direkten Zusammenhang mit der Krankheit und ihrem Verlauf stehen. Der Patient wird, wie die Ausführungen noch zeigen werden, im administrativen Text zunehmend aus der Perspektive der gestellten 68 | (1855a), S. 16 f.
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Diagnose beschrieben. Wenn etwa sein Leben vor dem Eintritt in die Anstalt überhaupt thematisiert wird, dann unter dieser Perspektive. In der Anstaltshierarchie folgen nach dem Direktor, den Ärzten, Geistlichen und dem Ökonomen die Wärter. Sie werden angeführt durch den Oberwärter respektive die Oberwärterin. Aus der von Tribolet für sie verfassten Instruktion,69 die hier neben derjenigen des Direktors als zweites Beispiel vorgestellt wird, kann man entnehmen, dass sie vor allem den »ungestörten Gang und die gehörige Versehung des Krankendienstes« (W §2) gewähren sollen. Sie kontrollieren das Pflegepersonal, besuchen mehrmals täglich ihre Krankenabteilungen, vorzugsweise »zur Zeit des Aufstehens u. Zubettgehens« und mit besonderem Augenmerk auf die »Tobabtheilungen« (W §3). Sie dürfen Bäder als Strafen nicht selber anordnen (W §11), sollen aber »[b]ei Sturz-Regen- und Duchebädern […] jedesmal persönlich anwesend sein.« (W §13) Bei Spaziergängen außerhalb der Anstalt ist es ihre Aufgabe, »dass dabei weder der Anstand noch die öffentliche Sicherheit verletzt und die den Kranken zugedachte Erheiterung durch nichts gestört oder verkümmert werde.« (W §12) Im Weiteren sollen sie beim Essen für Ruhe und Ordnung sorgen und schauen, dass auch in der Nacht Ruhe herrscht (W §4). Sie schlichten Streit (W §6), zählen die Kranken (W §9) und nehmen Anteil an deren nicht weiter definierten »Beschäftigungen« (W §10). Sie sind aber auch »ermächtigt, in Nothfällen, um einen gefahrdrohenden Kranken sich u. Anderen unschädlich zu machen, Zwangsapparate, vermutlich die Anlegung von Zwangskleidern oder Riemen, oder das Setzen in den Zwangstuhl anzuwenden.« (W §11) Über diese Vorgänge müssen sie den Direktor informieren, der normalerweise auch um die Genehmigung solcher Zwangsmethoden anzufragen ist. Auch der Oberwärter und die Oberwärterin haben über ihre Aufgaben in der ›Pflege‹ hinaus noch andere Rollen zu übernehmen, so müssen sie für Beleuchtung und Heizung der Krankenräume sorgen (W §11), das Weißzeug verwahren (W §16), mit dem Ökonomen die Speisetabellen absprechen und auf Anordnung der Ärzte bei einer Sektion helfen (W §20). Das Organisationsreglement desselben Jahres hält als Bedingung für eine Anstellung als Oberwärter oder als Oberwärterin fest, dass sie »für den Dienst der niedern Chirurgie befähigt sein«70 müssen. Diese Instruktionen geben einen Einblick in die Aufgaben des Personals der ›neuen‹ Waldau und sind damit Ausgangspunkt für die weiteren Untersuchungen. Sie sind Beschreibungen von idealen Arbeitsbedingungen und idealen Angestellten. Mit ihnen wird die Waldau und das zukünftige Anstaltsleben zum ersten Mal ›erschrieben‹, indem die Rollen der unterschiedlichen Akteure festgelegt werden, bevor diese darauf einen Eid schwören und ihre Arbeit aufnehmen. Der Text über die Waldau ist hier also vor der Anstalt vorhanden, sie konstituiert sich über ihn. Wie nahe diese Instruktionen allerdings an der ›Anstaltsrealität‹ sind, muss offen bleiben. Indirekt lässt sich aber aus ihnen entnehmen, was mögliche Probleme waren – wenn etwa in Paragraf 6 der Oberwärterinstruktion betont wird, dass eine Vernachlässigung der Kranken gemeldet werden müsse oder dass es nicht erlaubt sei, neben den Zwangsmitteln Methoden wie den Nahrungsmittelentzug einzusetzen, kann man aufgrund ihrer Erwähnung schließen, dass mit diesen Vorfällen auch gerechnet wurde. 69 | Der Text liegt transkribiert im Anhang, Kap. II, vor. Zitate daraus werden mit der Sigle ›W‹ und dem entsprechenden Paragrafen direkt nachgewiesen. 70 | (1855a), S. 12.
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Über die Art und Weise, wie Patienten geheilt werden sollten, geben die Instruktionen wenig Auskunft. Die Heilung ist immerhin eines der erklärten und schriftlich festgehaltenen Ziele der Anstalt, denn im Organisationsreglement von 1855 ist festgehalten: »Der Zweck dieser neuen Irrenanstalt ist Heilung und Verpflegung seelengestörter Menschen beiderlei Geschlechts, wozu die gesammte räumliche Einrichtung derselben in ihren verschiedenen Abtheilungen und Bestandtheilen, sowie die ganze innere Ordnung und Verwaltung dienen soll.« 71 Demgegenüber steht die praktizierte Verwahrung von Patienten, die wenig mit Heilungsbestrebungen zu tun hatte. Aus der Instruktion für den Direktor erschließt sich eine Liste gängiger Heilmittel, die vermutlich auch im Spital Anwendung fanden.72 Die Waldau verfügt jedoch zumindest zu Beginn nur über eine kleine Apotheke.73 Spezifisch für die Anstalt ist also Mitte des 19. Jahrhunderts die ›Verwahrung‹ und die Anwendung von Zwangsmitteln.
3.3.3 Klinik und Anstalt Die Waldau war schon früh ein universitärer Ausbildungsort. Das Organisationsreglement von 1855 hält fest, dass junge Mediziner dort einen Teil ihrer Ausbildung absolvieren können. Mit der Einrichtung einer ›Klinik‹ in der Waldau wird deren doppelte Funktion begründet: »Ueberdieß kann diese Anstalt, jedoch nur so weit es mit dem angegebenen Hauptzweck vereinbar ist, zur Bildung angehender Irren-Aerzte durch klinischen Unterricht sowohl, als durch Aufnahme freiwilliger Assistenten aus der Zahl der Candidaten der Medizin (sogenannten Internes), die zu dem Ende wenigstens einen halbjährigen Aufenthalt in der Anstalt machen müssen, dienen.« 74
Der klinische Unterricht wurde allerdings erst in den 1860er Jahren eingeführt. Dass diese Verbindung von Heil- und Pflegeanstalt mit der Universitätsklinik damals nicht unumstritten war, zeigt eine Bemerkung aus dem Jahresbericht von 1880: »Auch der psychiatrische Unterricht, welcher vor bald 20 Jahren eingeführt und seither ununterbrochen abgehalten wurde, hat sich auf’s Beste bewährt und die Befürchtungen, welche sich zuerst geltend machten, dass dadurch der Kredit der Waldau geschädigt werde, zeigten sich als durchaus unbegründet. Der psychiatrische Lehrer hatte sogar zu öfteren 71 | (1855a), S. 6. 72 | Dort steht: »Die pharmazeutischen Heilmittel werden nach §: 55. des Org: Regl: aus der Staatsapotheke bezogen, die sogenannten mechanischen aber, als Charpie [= Verbandmittel], Compressen, Bandagen, Catheter, Bougies [= weiche Katheder, Sonden], wie auch einige zu Catplasmen [= feucht-heisse Breiumschläge], Fomentationen [= warme Packungen], Bäder u.s.w. erforderlichen Ingredienzen wird die Hausverwaltung liefern. Den zu seinen Verrichtungen nöthigen Instrumentenapparat hat der Direktor selbst anzuschaffen.« (D §10). Alle Anmerkungen in eckigen Klammern von der Verfasserin. 73 | §55 aus dem Organisationsreglement von 1855 erwähnt, dass Arzneimittel aus der Staatsapotheke zu beziehen seien, die Anstalt besitze nur eine »kleine Nothapotheke«. (1855a), S. 22. 74 | (1855a), S. 6.
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Schreiben am Rand Malen die Genugthuung, dass selbst die bessern Kranken sich für die Nothwendigkeit dieser Klinik aussprachen und sich sogar anboten, durch ihre eigene Belehrung den Studirenden nützlich zu werden.« 75
Auch hier ist zu bedenken, dass der Jahresbericht von einem Arzt geschrieben wurde. Die Haltung der Patienten zur ›Klinik‹, also der Vorstellung ihres ›Falles‹ zur Ausbildung der Ärzte, erfährt man nicht respektive nur vermittelt. Es lässt sich aber daraus ablesen, dass auch der psychiatrische Unterricht einer Legitimation bedurfte und dass die Jahresberichte der Ort sind, an dem solche Themen verhandelt werden.
3.3.4 Der zweite Direktor: Rudolf Schärer und seine Waldauer Zeit Der eben erwähnte Jahresbericht fällt bereits in die Zeit des zweiten Direktors und Nachfolger Tribolets, Rudolf Schärer. Er soll hier als Kontrastfolie zu von Speyr und dem eigentlichen Untersuchungszeitraum vorgestellt werden. Seiner Vita ist 1890 ein Nachruf innerhalb eines Jahresberichtes gewidmet. Dort schreibt sein ehemaliger zweiter Arzt und nachfolgender Direktor, Wilhelm von Speyr, über ihn: »Am 16. Februar 1890 starb nach langem Leiden der Direktor, Herr Professor Rudolf Schärer. Geboren im Jahr 1823, war er 1849 als Assistenzarzt an das äußere Krankenhaus gewählt worden, das in einer Abtheilung auch die Geisteskranken des Kantons beherbergte. Als nun im November 1855 die gegenwärtige Anstalt eröffnet wurde, trat er als Sekundararzt an dieselbe über. Bei der Demission ihres ersten Direktors, des Herrn Prof. Tribolet, übernahm er Ende 1859 ihre Leitung. Ueber 30 Jahre hat er, allgemein geliebt und geachtet, die Direktion geführt; die Anstalt ist unter ihm aufgeblüht und gewachsen. Seit 1861 lehrte Herr Schärer auch, zuerst als Privatdozent, dann als außerordentlicher Professor die Psychiatrie an der Universität Bern. Als eine Hauptaufgabe lag ihm ferner die Verbesserung der Irrenpflege des Kantons am Herzen, da ihm das Ungenügende der Fürsorge für die Geisteskranken am besten bekannt war. Er gehörte darum zu den Gründern des gemeinnützigen bernischen Hilfsvereins für Geisteskranke. Ihm verdanken wir es auch, daß der Staat 1877 das Schloßgut von Münsingen mit dem Blick ankaufte, daselbst eine neue Irrenanstalt zu gründen. Für diese arbeitete er mit allen seinen Kräften, aber er durfte sie nicht mehr erleben. Der Schluß seines reichen Lebens wurde gerade auch durch Sorgen um die Erweiterung der Irrenpflege getrübt, um so mehr, als sein Körper schwach und krank wurde. Nach allerlei Vorläufern zeigten sich Ende 1885 Erscheinungen von Herzentartung, die dem Kranken körperlich und gemüthlich viele Leiden brachten, so daß er schließlich den Tod als Erlösung herbeisehnte.« 76
Diesem Nachruf lassen sich neben den biografischen Inhalten auch einige für die Entwicklung der Waldau wichtige Aspekte entnehmen, so die Gründung des gemeinnützigen bernischen Hilfsvereins für Geisteskranke (heute ›Kantonal-Bernischer Hilfsverein für psychisch Kranke‹ genannt) und implizit der Verweis auf die ständige Platznot in der Waldau, die zur Planung und schließlich zur Eröffnung der zweiten kantonalen Anstalt in Münsingen führte. 1880 hatte die Berner Bevölkerung eine Vorlage angenommen, die zur Erweiterung der ›Irrenpflege‹ eine 75 | Jb 1880, S. 19. 76 | Jb 1890, S. 26 f.
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Million Franken einsetzen wollte. Schärer rechnet im Bericht desselben Jahres im Abschnitt Stand der Irrenpflege mit einem ›Irren‹ auf 500 Einwohner, was ungefähr tausend Plätze für den ganzen Kanton erforderlich machte, wovon einige in Kolonien und 300 in der Waldau, die restlichen jedoch in einer zusätzlichen Anstalt untergebracht werden sollten. Eine moderne, »heutige Psychiatrie« und ihre Methoden würden eine Erweiterung unumgänglich machen, schreibt Schärer: »Die sozialen Verhältnisse veranlassen je länger je mehr das Vorkommen rasch entstehender, aber bei richtiger und ganz besonders rechtzeitiger Behandlung und Isolirung von dem unruhigen, aufregenden Getriebe der Außenwelt rasch wieder verschwindender Geistesstörungen. Darauf muß sich die heutige Psychiatrie einrichten und vor allen Dingen genügend Raum schaffen für rasche Aufnahmen, denn hier bringt jeder Verzug Gefahr.« 77
Die 1880er Jahre brachten für die Anstaltspsychiatrie und für die Waldau einige Veränderungen. Zum einen löste sie sich 1883 aus der Insel- und Außerkrankenhauskorporation und gehörte fortan dem Kanton Bern.78 Zum andern setzten sich Außenstehende vermehrt mit der Psychiatrie und den von Schärer konstatierten »sozialen Verhältnisse[n]« auseinander, und so wurde 1880 auch in Bern ein Hilfsverein für Geisteskranke gegründet.79 Mitte der 1880er Jahre war Schärer jedoch bereits so schwer erkrankt, dass er seine Aufgabe nur noch sehr bedingt wahrnehmen konnte. Das Leben in der Anstalt indes blieb nach wie vor ein eher ruhiges und war geprägt durch die Landwirtschaft. Die Waldau besaß eigenes zu bewirtschaftendes Land und pachtete dazu auch noch Gebiete. Wie der Bericht von 1886 festhält, war die Arbeit der Patienten auf dem Feld durchaus auf ökonomischen Nutzen ausgerichtet, sollte aber auch der Gesundheit zuträglich sein: »Die Hauptbeschäftigung der Kranken bestund, wie das sich bei unserer agricolen Bevölkerung von selbst ergibt, in der Landwirthschaft, welche übrigens, wie allgemein bekannt, sowohl des materiellen Nutzens, als noch mehr des sanitarischen Vortheils wegen betrieben wird. Es wurde hiebei dieses Jahr die erfreuliche Wahrnehmung gemacht, daß die Arbeiten besser von Statten gingen, als dieß früher oft der Fall war, und wir haben allen Grund, diese Erscheinung darauf zurückzuführen, daß der Herr Sekundararzt [v. Speyr], dem speziell die 77 | Jb 1887, S. 5. 78 | Der erste Artikel im betreffenden Dekret lautet: »Die Insel-und AusserkrankenhausKorporation tritt dem Staate Bern auf 31. Dezember 1883 die Heil- und Pflegeanstalt Waldau mit allen dermalen dazugehörenden Gebäulichkeiten und Liegenschaften, inbegriffen das sogenannte Neuhaus, das Sieber- und das sogenannte Gässligut, mit Inbegriff des Mobiliars, eigentümlich ab, wogegen der Staat Bern die bisher der Insel- und AusserkrankenhausKorporation obliegende Sorge für die Irren vollständig übernimmt und sämtlich Gebäude und Liegenschaften der Waldau stiftungsgemäss zum Zwecke der Irrenpflege verwendet und besonders verwaltet.« (1883), S. 1. 79 | Zum Vergleich: Der erste solche Verein in der Schweiz wurde im Kanton St. Gallen 1866, der im Kanton Zürich 1875 gegründet. Im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert schuf also fast jeder Kanton einen solchen Verein, die sich allerdings in ihrer Form unterschieden, weshalb ein gesamtschweizerischer Austausch (1934 an einer Tagung erprobt) nicht zustande kommen sollte.
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Schreiben am Rand Männerabtheilung zufällt, mit ebensoviel Eifer als Geschick die passenden Leute zur Thätigkeit anzuspornen wußte.« 80
1877 gehörten zur Waldau 39 Kühe, fünf Rinder, zwei Zugochsen, ein Kalb, fünf Pferde und zehn Schweine. Es waren neun Personen für den landwirtschaftlichen Bereich zuständig, nämlich ein Meisterknecht, ein Karrer, drei Melker, drei Erdknechte und eine Magd.81 Dass die Landwirtschaft über Jahrzehnte zentral für die Anstalten war, belegen die landwirtschaftlichen Berichte in den Jahresberichten wie auch einzelne Diskussionspunkte der Aufsichtskommission, die sich in ihrem eigenen Berichtsteil etwa zu den umstrittenen »Viehprämierungen in Staatsanstalten« äußert.82 Während die Angestellten und Patienten nach Möglichkeiten in der Landwirtschaft arbeiteten, muss man sich die Ärzte in ihren privaten Wohnungen am Schreibtisch arbeitend vorstellen, ein Umstand, der mit der Zeit auf Kritik stieß. So heißt es im Jahresbericht von 1887: »Ein ärztliches Büreau hat nie bestanden, sondern jeder der Herren muß seine Geschäfte getrennt von denen der andern in seiner Privatwohnung besorgen, woraus nicht nur ein großer Zeitverlust, sondern eine ganze Reihe anderer Uebelstände hervorgehen, welche den Dienst der Anstalt beeinträchtigen; erwähnen wir nur den ausgedehnten Zweig der Korrespondenz, die von jedem Arzt besonders geführt wird, und das Fehlen der öffentlichen Auflage der zahlreichen Kontrollen, wodurch das häufig nothwendige Nachschlagen erschwert, in Absenzfällen sogar unmöglich gemacht, in jedem Fall aber sehr störend wird.« 83
Die Schreibenden mussten sich ihren Arbeitsort in ersten Jahrzehnten der Waldau erst erkämpfen, scheint es in der Retrospektive. Im genannten Jahresbericht wird denn auch nicht nur das Fehlen eines adäquaten Schreibortes, sondern auch dasjenige eines Archivs festgehalten – als Stauraum werde der Dachstock verwendet.84 Weil das Fehlen von Schreiborten und Archiv konstatiert wird, darf man annehmen, dass hier bereits von Speyr der Verfasser des Berichts ist. Denn während von Speyr der Administration großes Gewicht beimaß, scheint Schärer in dieser Hinsicht ein anderer Typ gewesen zu sein. Fritz Walther85 beschreibt Schärer im Nachruf über von Speyr wie folgt: 80 | Jb 1886, S. 16. 81 | Jb 1877, S. 42 f. Mit den Jahren wuchs die Landwirtschaft an, zehn Jahre später sind es dann fünfzig Kühe, sieben Rinder, ein Zuchtstier, ein Ochs, vier Kälber, sieben Pferde und 28 Schweine. Danach stieg die Anzahl Nutztiere stetig an, 1929 setzte die Verwaltung neu auf Geflügel und es wurden 300 Hennen gehalten. (Jb 1929, S. 32). 82 | Jb 1901, S. 7. Aus dem landwirtschaftlichen Bericht Bellelays erfährt man auch 1921 noch so zentrale Ereignisse wie die Tatsache, dass die beiden Pferde der Anstalt, ›Kilian‹ und ›Kant‹, ein Preisgeld bekommen hätten. (Jb 1921, S. 67). 83 | Jb 1887, S. 7. 84 | »So fehlt auch ein Archiv. Seit dem 33jährigen Bestehen der Waldau haben sich die Akten, kurz Alles was der große schriftliche Verkehr mit sich bringt, so angehäuft, daß die Sammlung nur noch auf dem Dachboden untergebracht werden kann. Dass Nachschlagungen auf diese Weise erschwert werden, liegt auf der Hand, ebenso die größere Gefahr der Verlustes bei Feuerausbruch.« (Jb 1887, S. 7). 85 | Zu Walther siehe Kapitel 3.6.2.2.
Geschichte, Klinikalltag und Akteure »Direktor Schärer war ein kluger, volkstümlicher und einflussreicher Mann und hatte schon in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts den Wert der Beschäftigung, besonders der landwirtschaftlichen, für die Behandlung der Geisteskranken erkannt; vom bernischen Grossen Rat hatte er den Ankauf eines grossen Landgutes für den Anstaltsbetrieb erwirkt und liess von da an möglichst viele Kranke zur Arbeit aufs Feld hinaus gehen. Als Kenner des Landvolkes und der Landessitten, selber eifriger Schwinger, Turner und Schütze, hatte er in den Anstaltsbetrieb allerlei Feste eingeführt, z.B. am Schluss der Heuernte die Heueten, am Schluss der Getreideernte die Sichleten, an denen besonders diejenigen, die sich an den Erntearbeiten beteiligt hatten, zum Tanz gehen durften; er turnte mit den Kranken an den in den Höfen eingerichteten Geräten, oder kegelte mit ihnen, er veranstaltete mit den sich eignenden Kranken kleine Schützenfeste und dergleichen mehr, und das alles behielt von Speyr als für die Behandlung von hohem Werte bei.« 86
Die regelmäßigen und ausgiebigen Feste der Waldau zeichnen diese aus, sie werden in allen Jahresberichten erwähnt und prägen den Anstaltsalltag. Die Tradition der »Sichleten« und ähnliche Anlässe hat von Speyr von Schärer übernommen. Daneben führte von Speyr auch Schärers Rede von der ›Familie‹ der Anstalt weiter. Die Festlichkeiten im Jahresablauf und die Rede von der ›Familie‹, in der man in der Anstalt zusammenlebe, sind kontinuitätsbildende Elemente, welche die mehr als 70 Jahre umfassende Anstaltsleitung durch Schärer und von Speyr prägen und die mit dem Übergang zu Klaesi 1933 nicht mehr in diesem Sinne weitergeführt werden. Ein einzelner Aspekt, der hier aus der Ära Schärers noch hervorgehoben werden soll, ist die Tatsache, dass die Anstalt schon relativ früh eine Bibliothek besaß. Im Bericht von 1879 findet sich die Erwähnung einer ›Anstaltsbibliothek‹ mit einer Tabelle über deren Benutzung. Die Nennung der Bibliothek im Bericht hat einen appellativen Charakter. Ein »Publikum«, das den Bericht liest, wird um die Gabe von Büchern gebeten: »Leider reicht unsere Bibliothek lange nicht aus, um dem Bedarf zu entsprechen. Außer einer Anzahl Zeitschriften, in erster Linie den beliebten illustrirten (Gartenlaube, illustrirte Welt etc.) können wir nur sehr wenige Bücher anschaffen. Die Reparaturkosten sind bei uns, aus leicht begreiflichen Gründen, sehr stark und verzehren viel von dem Kredite, den wir sonst für Ankauf neuen Lesestoffs verwenden könnten. Es ist deshalb wohl am Platze, in diesem ersten öffentlichen Bericht den Wunsch und die Bitte auszusprechen, daß das wohlthätige Publikum unserer Bibliothek gedenken und uns mit Büchern erfreuen möge, die es selbst nicht mehr gebraucht, die aber uns noch recht nützlich wären. Wir erlauben uns als besonders wünschenswerth zu bezeichnen: Jugendschriften, illustrirte Zeitschriften, gute Novellen und Romane, in deutscher, französischer und englischer Sprache. Wir finden aber auch für populär- und fachwissenschaftliche Lectüre, besonders für Geographie und Geschichte Verwendung.« 87
Dieser Aufruf war erfolgreich, denn es wird im darauffolgenden Bericht erwähnt, dass die Anstalt Bücher bekommen habe – allerdings nicht durch eine unbekannte Person aus dem angeschriebenen »Publikum«, sondern vom ehemaligen Regie86 | Walther (1941), S. 495 f. Zur literarisierten Sichleten siehe Friedrich Glausers Matto regiert. 87 | Jb 1879, S. 5 f.
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rungsrat Samuel Lehmann persönlich.88 Der Jahresbericht ist damit auch ein Ort, an dem Gönner auftreten und Danksagungen platziert werden können. Die Anstalt verfügt noch nicht über eine Stelle des Bibliothekars, es haben Patienten in der Bibliothek mitgearbeitet, wie den Jahresberichten zu entnehmen ist.89 1891 dann verlegte man die Bibliothek an einen weniger zentralen Ort, in den Estrich des Kesselhauses, und 1917 wurde sogar empfohlen, die Bibliothek am Ort des ehemaligen Pferdestalls unterzubringen.90 Das Vorhandensein von verschiedensprachigen Werken in der Anstalt, teilweise illustriert, bedeutet nicht nur eine Möglichkeit der Lektüre und des Zeitvertriebs für die Patienten. Wie an Wölflis Werk gesehen werden kann, sind diese Texte wie etwa aus der Zeitschrift Über Land und Meer auch eine Verbindung zur ›Außenwelt‹ und eine Möglichkeit, an Wissen oder Inspiration für eigenes künstlerisches Schaffen zu gelangen.91
3.4 D ie Ä r a W ilhelm von S pe yrs als D irek tor : 1890–1933 Der nächste Abschnitt der Anstaltsgeschichte ist der Ära Wilhelm von Speyrs gewidmet und umfasst beinahe den ganzen Untersuchungszeitraum dieser Studie. Wie eingangs bereits erwähnt, könnte man den gewählten Zeitraum also auch an von Speyrs Direktorenzeit festmachen. Für die Fragestellung sind aber gerade auch personelle Übergänge zentral, weshalb hier auch Rudolf Schärer vorgestellt wurde und später noch auf Jakob Klaesi eingegangen wird. Zunächst aber soll hier ein Überblick über ganzen Zeitraum der Untersuchung geschaffen werden, worauf in den darauffolgenden Unterkapiteln 3.5 bis 3.13 thematische Aspekte aufgenommen und damit der Einblick vertieft wird. Es geht auch hier darum, das in den Jahresberichten beschriebene Setting der Waldau und damit die Ausgangslage eines besonderen Schreibortes, nämlich den der Anstalt um 1900, in Bezug auf die Bedingungen für die dort Schreibenden zu untersuchen. Im Anschluss an das letzte Kapitel ist als wesentliche Änderung in diesem Zeitraum die Abschaffung der Zwangsmittel zu nennen. Walther schreibt diese Abschaffung Schärer und von Speyr zu:
88 | »Mit Dank erwähnen wir, dass den 6. April unsere Bibliothek von Herrn Alt-Regierungsrath Dr. Lehmann mit einer Anzahl von Büchern aus dem psychiatrischen Gebiet und mit Schriften zur Unterhaltung beschenkt worden ist.« (Jb 1880, S. 15). 89 | »Mit Vergnügen konstatiren wir auch, daß mehrere gebildete Herren der obern zweiten Abtheilung sich der Anstalt sehr nützlich machten; so Einer als Bibliothekar, ein Anderer, ein diplomirter Ingenieur, durch das Anfertigen von Plänen für eine neue Küche und für die neue Irrenanstalt in Münsingen.« (Jb 1887, S. 12). 90 | »Die Anstaltsbibliothek mußte aus dem in jüngerer Zeit dazu verwendeten feuchten Raume im Erdgeschoß des Hintergebäudes, zwischen der Schmiede und den Tobzellen, verlegt werden. Ein, wenn auch etwas abgelegener Platz, fand sich im Kesselhausestrich.« (Jb 1891, S. 21) Und später heißt es bei den Änderungen: »[I]n der Waldau [sei, Anm. M.W.] die Verlegung des Pferdestalles vom Haupteingang zu den übrigen und Einrichtung einer Bibliothek an dessen Stelle« vorgeschlagen worden. (Jb 1917, S. 13). 91 | Siehe zu den von Wölfli verwendeten Zeitschriftenausgaben die Abbildungen in Wölfli (1985b), S. 42–49; 57; 59–61.
Geschichte, Klinikalltag und Akteure »Was er [von Speyr] neu einführte, war die Beseitigung aller Zwangsmittel, der Deckelbäder, wie der Zwangsjacken und anderer Geräte und Einrichtungen. Direktor Schärer hatte zwar die schlimmsten Zwangsmittel selber schon abgeschafft, aber von Speyr verbannte als Schüler von Wille, der die Lehren Conollys vom Non-restreint [sic] übernommen hatte, auch den letzten Rest ins Museum.« 92
Das stetig wiederkehrende Thema der Berner Jahresberichte sind jedoch nicht die Zwangsmittel oder die ›neuen‹ Behandlungsmethoden, sondern die Platznot in allen drei kantonalen Anstalten. Dieses Problem verschärft sich und wird erst mit Klaesi zu einer Lösung gebracht. Davor wurden immer wieder Maßnahmen getroffen, um Platz zu schaffen, aber da nur sehr wenige Patienten entlassen wurden, reichten diese Anstrengungen nicht aus, um eine spürbare Veränderung herbeizuführen. 1895 wird Münsingen eröffnet und dadurch ist »[z]um ersten Mal seit längerer Zeit […] der Schlussbestand des Jahres erfreulich niedriger als der Anfangsbestand. Obwohl die Zahl der Aufnahmen beinahe die maximale Höhe des letzten Jahres erreicht hat, ist sie doch von der Zahl der Entlassungen noch weit überschritten worden. Das ist nur der Eröffnung der neuen Anstalt in Münsingen zu verdanken, die der Waldau im Mai 50 grossenteils unruhige Kranke, 15 Männer und 35 Frauen, abgenommen hat.« 93
Mitte der 1890er Jahre nimmt von Speyr die Initiative Auguste Forels auf, der sich nach Friedrich Brenners Grundzügen eines Irrengesetzes von 1871 und unter Berufung auf die schottische Gesetzgebung für ein schweizerisches ›Irrengesetz‹ einsetzt. Da gewisse Kantone zu arm seien um Irrenanstalten einzurichten und eine Aufsichtsbehörde mit Experten zu besetzen, so argumentiert Forel, würden Geisteskranke in »traurigster Verwahrlosung« 94 in sogenannten Privatanstalten gehalten. Eine rationelle gesamtschweizerische Regelung würde dagegen Abhilfe schaffen. 1893 präsentierte Forel seinen Entwurf eines schweizerischen Irrengesetzes,95 der heute unter anderem deswegen interessant ist, weil er zu definieren versucht, was ›geisteskrank‹ bedeuten könnte.96 Forels wie auch von Speyrs Engagement muss im zeitlichen Kontext eines Umbruchs in der Psych92 | Walther (1941), S. 496. 93 | Jb 1895, S. 17. 94 | Forel (1893), S. 314. 95 | Forel (1893). Dass Forels Entwurf in der Zeitschrift für Schweizer Strafrecht erscheint, verweist auf die zeitgenössische Annäherung zwischen Psychiatrie und Justiz. 96 | Die Definition lautet dort wie folgt: »Als geisteskrank oder geistesschwach im Sinne dieses Gesetzes werden alle Personen betrachtet, welche infolge erheblicher, erworbener oder angeborner Geistesstörungen oder Geistesgebrechen (angeborene Geistesschwäche und dgl.) nicht im stande sind, sich selbst zu leiten oder die Rechte anderer zu achten.« Diese Definition wird von Forel im Pluralis Majestatis kommentiert: »Wir können keinen prinzipiellen, sondern höchstens einen Gradunterschied zwischen geisteskrank und geistesschwach machen. Wir halten es absichtlich für richtig, die Ausdrücke Willensfreiheit und Zurechnungsfähigkeit hier zu vermeiden, da dieselben erfahrungsgemäss nur zu Konfusion mit dem Strafrecht, Wortstreitigkeiten und metaphysischen Begriffsverwirrungen führen.« Forel (1893), S. 319.
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iatrie um 1900 gesehen werden, von dem auch andere Länder betroffen waren. Auch im Deutschen Reich wurde eine einheitliche »Irrengesetzgebung« vermisst.97 Von Speyr hält 1894 einen Vortrag vor dem ›Bernischen Hülfsverein für Geisteskranke‹ zum Thema Neue Aufgaben der Bernischen Irrenpflege. Darin schildert er die Missstände in den Berner Anstalten, den Privatanstalten und der Privatpflege und ruft die Vereinsmitglieder auf, seinen Entwurf für eine Eingabe beim Großen Rat zu unterstützen, was diese dann auch tun. Von Speyrs Vorlage fordert ein kantonales Gesetz, »das die gesammte Irrenpflege unseres Kantons ordnete und ganz besonders eine eigene Behörde zur Beaufsichtigung der Geisteskranken und zur Wahrung ihres Wohles schüfe.«98 Die Kontrolle soll, wie von Speyr in seiner Besprechung der Grundsätze für ein Bundesgesetz zum Schutze der Geisteskranken (1896) ausführt, durch eine »sachverständige[ ] Aufsichtsbehörde«, eine »competente[ ] Commission« gewährleistet werden.99 Als ›Inspektor‹ wünscht sich von Speyr einen ›Irrenarzt‹100 – und damit wird deutlich, dass, wie Urs Germann ausgeführt hat,101 die ›Irrenärzte‹ versuchen, sich als alleinige und unabhängige Verantwortliche im Umgang mit Geisteskranken zu positionieren. Dieser Versuch, der auch als Erweiterung der Kompetenzen und damit als potenzieller Machtgewinn gesehen werden kann, und der im Zusammenhang mit der Etablierung der Psychiatrie als Disziplin steht, stößt jedoch vonseiten der Politiker auf Kritik. Deswegen und weil das Projekt einer interkantonalen Vereinbarung politisch zu wenig gestützt wurde, enden die Bemühungen um ein eidgenössisches Gesetz erfolglos.102
97 | Vergl. dazu Nolte (2003), hier: S. 94. 98 | Eingabe des bernischen Hülfsvereins für Geisteskranke vom 6. Juni 1894 an den Grossen Rat, abgedruckt in von Speyr (1894), S. 17. Von Speyrs Argumentation beruht auf dem Vergleich mit andern Ländern. 99 | von Speyr (1896), S. 2. Die Grundsätze für ein Bundesgesetz zum Schutze der Geisteskranken tragen den Untertitel Eidgenössisches Irrengesetz (eventuell als Vorbild für die Cantone) durchberathen und aufgestellt vom Verein schweizerischer Irrenärzte, für’s Corr.-Blatt besprochen von Prof. v. Speyr, Director der Waldau. 100 | von Speyr schreibt: »Nein, was der Anstaltsdirector über sich wünscht, das ist ein Mann oder eine Behörde, die er sich an Specialkenntnissen ebenbürtig oder noch lieber überlegen weiss. Er wird sich nicht vor ihnen scheuen, sondern ihnen für jeden Rath und Hülfe dankbar sein. Der Nutzen eines solchen wahren Fortschrittes wird nicht nur dem schutzbedürftigen Kranken zu Theil werden, sondern auch dem Irrenarzte selber, und die Vortheile der neuen Einrichtung werden auch für den Anstaltsleiter die damit nothwendig verbundenen Unannehmlichkeiten bedeutend überwiegen.« von Speyr (1896), S. 6. Aus dieser Passage lässt sich einerseits ein Ringen der Irrenärzte um Macht lesen, man kann aber andererseits auch ein Ausdruck der Einsamkeit des Anstaltsdirektoren, der alle Entscheide eigenständig fällen muss, in ihr sehen. 101 | Germann (2004), S. 156–158, hier: S. 156. 102 | Siehe detailliert zu den Grundsätzen für ein Bundesgesetz zum Schutze der Geisteskranken die Dissertation von Schwengeler (1998).
Geschichte, Klinikalltag und Akteure
3.4.1 Umbauten und Umnutzungen – erste Änderungen Die Waldau selbst erfährt viele Umbauten und Umnutzungen der alten Gebäude. Im Frühling 1891 wird ihr das Außerkrankenhaus zur Verfügung gestellt, das anschließend umgebaut und ein Jahr später bezogen wird. Auch das ehemalige Pfründerhaus steht neu Patienten der Waldau zur Verfügung. Im alten Kurhaus entstehen Werkstätte, Getreidespeicher und Wohnungen für Angestellte und das Küherstöckli wird zum Leichenhaus mit Sektionssaal.103 Auch die Zellenabteilung wird umgebaut. Wie man sich die Zellen und ihre Besetzung vor den 1890er Jahren vorstellen muss, zeigen die folgenden Ausführungen von Speyrs ex post: »Um zu zeigen, in welcher Lage ich mich befunden habe, gebe ich hier den Bestand meiner Zellenabteilung auf den 31. Dezember 1892. Ich habe mich bis jetzt geschämt, dies öffentlich zu sagen, heute aber darf ich es thun, da die Zellen umgebaut worden sind, und namentlich durch die Eröffnung von Münsingen, für einige Zeit wenigstens, Abhilfe gebracht worden ist. […] Es liegen zwölf Zellen in einer Reihe neben einander. Davor läuft ein langer Gang, der den Kranken auch am Tage zum Aufenthalte dient, denn das einzige Zimmer, das Tagraum und Eßraum zugleich sein muß, mißt nur 31,5 Quadratmeter und ist für so viele Kranke viel zu klein. Auch auf der andern Seite der Zellen, gegen Norden, geht eigentümlicherweise ein ähnlicher Gang. Dieser ist wegen seiner Lage und seiner vielen Thüren mit der ohnedies dürftigen Heizeinrichtung nicht zu erwärmen. Unter dem Dach befindet sich endlich noch ein für die Wärterin bestimmtes Stübchen. In dieser Zellenabteilung haben sich nun am Tage des 31. Dezember 1892 vierzig Frauen aufgehalten. In der Nacht aber ist von den nur für eine Person bestimmten 9,3–11,5 Quadratmeter großen Zellen eine einzige wirklich nur von einer Kranken besetzt gewesen, in dreien haben je zwei in achten je drei Kranke geschlafen. Außerdem sind das Wärterinnenstübchen und der vordere Gang von je zwei, und der hintere Gang von einer Kranken bewohnt worden; ich konnte diese wegen ihrer Gefährlichkeit sonst nirgends unterbringen.«104
Außer der Schilderung der prekären Platzverhältnisse lässt sich aus dieser Passage auch die Inszenierung des neuen Direktors entnehmen, der hier einen Erfahrungsbericht abgibt, sich mit der Autorität seiner Person, des ›Ich‹ des Berichts, für die Umbauten und mehr Platz einsetzt, aber auch deutlich macht, dass er derjenige ist, der über die Platzierung der Kranken entscheidet. Damit wird der Bericht auch zur Manifestation der Autorität des Direktors. In den 1890er Jahren wurden aber nicht nur die Unterkünfte der Patienten umgebaut, sondern auch vermehrt administrative Räume eingerichtet, so etwa Direktionszimmer, Verwaltungs- und Ärztebüros.105 1901 dann wurden auch im umgebauten alten Irrenhaus Patienten untergebracht. Dort hätten 70 Personen Platz gehabt, allerdings wird im Jahresbericht ohne genauere Angaben erwähnt, dass es nicht einfach gewesen sei, passende Patienten zu finden und das ›alte Haus‹ sei deshalb nur zu einem Teil besetzt worden.106 Weshalb die Umbauarbeiten nicht 103 | Jb 1891, S. 4. 104 | Jb 1892–1894, S. 20 f. Diese Jahresberichte erschienen gemeinsam, als Grund dafür werden bloß »[v]erschiedene Umstände« genannt. Ebd., S. 1. 105 | Siehe Jb 1895, S. 10 und Jb 1896, S. 23 f. 106 | Jb 1901, S. 21.
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so geplant worden waren, dass auch tatsächlich eine größere Anzahl Patienten das Hauptgebäude hätte verlassen können und damit Platz geschaffen worden wäre, bleibt offen. Die Wohn- und Schreiborte der Angestellten und Patienten wurden also um 1900 zu einem zentralen Thema. Die Klinik versuchte einerseits, der erhöhten Zahl Internierter wie auch andererseits den neueren Vorstellungen von Berufstätigkeit nachzukommen. Mit der Schaffung von mehr Raum für Schreibtischarbeiten werden die dokumentierenden Praktiken der Psychiatrie ermöglicht und gefestigt. Die räumlichen Bedingungen prägen damit die Entwicklung der Disziplin.
3.4.2 Die neue Anstalt Bellelay Nach Münsingen wird dann 1898 die dritte kantonale Anstalt in Bellelay errichtet. In ihr finden »unheilbare Geisteskranke, Idioten und Epileptische, sowie außergewöhnlich bösartig veranlagte Personen«107 einen Platz. 1903 wurde in Bellelay eine Kinderstation eingerichtet mit Betten für zwölf Kinder. Auch dort war der Platz knapp.108 Kinder werden in den Jahresberichten selten erwähnt und da Münsingen und die Waldau keine Altersangaben ihrer Patienten machen, ist unklar, wie viele Kinder sich tatsächlich in der Anstalt aufhielten. Dass Kinder auch in den Anstalten waren, zeigen Fotografien, wie sie im Band In der Anstalt (2008) abgedruckt sind. Diese Abbildungen stammen trotz des Untertitels Das Leben in der psychiatrischen Klinik anfangs 20. Jahrhundert. Eine fotografische Dokumentation aus der Kantonalen Irren-, Heil- und Pflegeanstalt Waldau nicht unbedingt aus der Waldau, sondern etwa aus Wil. Dies erfährt jedoch nur, wer Zugang zu den Originalbildern bekommt. Der Band macht dazu keine weiteren Angaben.109 Auch in Münsingen wurden Kinder in die Anstalt gebracht, dabei konnten die ›Krankheiten‹, die zur Einweisung führten, durchaus auch auf Fehleinschätzungen der Erziehungsberechtigten oder gar der Ärzte beruhen, wie die folgende kurze Erwähnung im Jahresbericht zeigt:
107 | (1898), S. 1, §1. Auch die Institutionsgeschichte von Bellelay ist noch nicht geschrieben worden. 108 | Belege für die Platznot auf der Kinderabteilung finden sich etwa in Jb 1905, S. 66 oder Jb 1924, S. 54. 109 | Dort sind Kinder auf S. 23, 64, 70 f ., 76, 77, 91, 92 zu sehen; man kann annehmen, dass einige dieser Kinder Patienten und einige Kinder von Angestellten sind. In welchen Anstalten sie sind, wird nicht thematisiert. Im eigentlichen Kapitel des Bandes zu den Kindern als Patienten (S. 48–52) werden ihnen gerade mal vier Sätze gewidmet. Zu diesem Thema würden eine systematische Untersuchung der Krankenakten und die darin vermerkten Altersangaben Aufschluss geben. Eine der seltenen Erwähnungen von Kindern in der Waldau findet sich im Bericht von 1931: »In der Waldau geriet ein 14jähriger Pflegling, F. Z ., beim Viehhüten mit andern Knaben in Streit. Im Zorn biß er den einen und schlug dem andern einen schmutzigen Eisenrechen in die Hand. Ein anderesmal stieß derselbe Knabe einen andern auf dem Schulweg gegen ein vorbeifahrendes Velo, so daß dieses beschädigt wurde. Die Kommission beantragte, sowohl die Rechnung des Arztes im ersten Falle, Fr. 40, wie die Rechnung des Mechanikers im zweiten, Fr. 4.40, ganz zu ersetzen.« (Jb 1931, S. 9).
Geschichte, Klinikalltag und Akteure »Unter den als ›nicht geisteskrank‹ bezeichneten Pfleglingen befindet sich ein Mädchen von 6 Jahren, das wegen heftiger Neigung zum Onanieren der Anstalt übergeben wurde. Wir hoffen, es im kommenden Frühjahr behufs Eintritt in die Schule entlassen zu können. Wahrscheinlich hat eine sehr reichliche Kolonie von Spulwürmern im Darm den Anlaß zu der üblen Gewohnheit gegeben, die sich in der Anstalt anscheinend dauernd verlor.«110
Gerade in den noch jungen Disziplinen Pädiatrie und Kinderpsychiatrie wird, wie auch bei den Erziehungsberechtigten, die Unsicherheit deutlich, wie ›Krankheit‹ zu definieren und wie mit kranken Kindern umzugehen ist. Diese Unsicherheit tritt in den Jahresberichten deutlicher zutage als diejenige über die Behandlung Erwachsener, bei der die Ärzte Wissen in den Kontext der Akkumulation und des Fortschritts stellen.111 Dieses Beispiel zeigt aber auch, wie die Jahresberichte Schlaglichter auf einzelne Themen oder Schicksale werfen und sie nach ein paar Sätzen wieder verlassen – das Mädchen mit den Spulwürmern taucht auf und verschwindet wieder, seine Geschichte kann nicht weiter verfolgt werden. Unklar bleibt auch, inwiefern sich aufgrund der Darstellung dieses ›Falls‹ im Bericht eine Veränderung in der Praxis der Anstalt ergeben hätte, etwa im Umgang mit dem Thema des (scheinbaren) Onanierens bei Kindern. So präsentieren die Jahresberichte Zeitthemen und Ausschnitte aus Geschichten, ohne diese zu Ende zu erzählen. Erst im Vergleich der Jahresberichte der drei Anstalten wird die Lücke deutlich, die sich in den Berichten der Waldau auftut, wo beinahe keine Kinder erwähnt werden. Über die Gründe für diese Nicht-Erwähnung kann nur spekuliert werden. Bellelay und seine Berichte dienen aber nicht nur betreffend der Kinder als Vergleichsfolie für die Beschreibung der Waldau, vielmehr kann der vergleichenden Auseinandersetzung mit ihr auch Wissen über die zeitgenössische Vorstellung eines idealen Anstalt-Ortes entnommen werden. Bellelay wird diesbezüglich als Negativbeispiel dargestellt. Eine ideale Anstalt zu Beginn des 20. Jahrhunderts findet sich an der Peripherie einer Stadt und damit in Distanz zu gesellschaftspolitischen Zentren – dabei aber durchaus in einer Distanz, die sich überwinden lässt. Eine solche Ortswahl soll vom ›therapeutischen‹ Standpunkt her den Kranken ihre Ruhe gewähren. Zudem ist für das Funktionieren einer Anstalt auch eine gewisse Nähe zu einem größeren Ort nötig. Andernfalls zeigen sich Probleme in der Gewinnung von Arbeitskräften oder in der Versorgung der Anstalt, wie die Erfahrungen mit Bellelay gelehrt haben. Dies kommt in den Jahresberichten in Bezug auf eine neu zu planende vierte Anstalt zur Sprache.112
110 | Jb 1909, S. 51 f. 111 | Als Beispiel für die thematisierte Unsicherheit sei eine Stelle aus dem Bericht Bellelays vor der Eröffnung der Kinderabteilung angefügt, dort heißt es: »Desgleichen wurde die Aufnahme von einem zweijährigen Mädchen verweigert. Die Anstalt beherbergt zwar schon einige Kranke unter 10 Jahren und wird, insofern einmal eine Abteilung für Kinder eingerichtet wird, noch mehr solche annehmen. Es wäre aber auch dann kaum richtig, so junge Pfleglinge aufzunehmen, indem die Entscheidung, ob ein solches Kind dauernd bildungsunfähig oder in der geistigen Entwicklung nur zurückgeblieben ist, meistens sehr schwierig oft unmöglich sein dürfte.« (Jb 1901, S. 66). 112 | Siehe Kapitel 3.4.4.
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3.4.3 Ein ›Neubau‹ in der Waldau Dem akuten Platzmangel in der Waldau wurde schließlich auch mit einem Neubau, den man ebenso nannte, begegnet. 1912 war er fertiggestellt, im Jahr darauf wurde er bezogen. Seine Lage ist von der Zufahrtsstraße her betrachtet etwas vor dem Hauptgebäude auf der linken Seite. Dieser Ort hat nach der Beschreibung von Speyrs den Nachteil, dass er es verunmöglicht, unruhige Kranke aufzunehmen.113 Ursprünglich war der Neubau für 100 Patienten geplant worden, aufgeteilt in zwei Gebäudeflügel für Männer und Frauen. Darin wurden sechs Wachsäle114 mit je etwa 14 Betten angelegt, in denen die Patienten besser beobachtet werden konnten. Im mittleren Stock wurde ein Hörsaal eingerichtet, darüber war auf einem Halbstock der Raum, den Morgenthaler als Arbeitsort und Museum nutzte und der auch heute noch als Auf bewahrungsort von Patientenarbeiten dient. Von den Ärzten waren Walter Morgenthaler, der 1913 als fünfter Arzt wieder in die Waldau eintrat und vorübergehend Ludmilla Rosslakowa115 für die Kranken im Neubau zuständig, ersterer bezog dort 1913 auch eine Wohnung. Finanziert wurde der Neubau mit Mitteln des sogenannten ›Irrenfonds‹, aus dem der Berner Große Rat 600’000 Fr. zur Verfügung gestellt hatte. Aus einem Legat wurden dann der Mittelbau und die Ärztewohnungen bezahlt.116 Die Eröffnung des Neubaus erforderte auch mehr Personal. Bei den Ärzten wurde deshalb eine neue Stellung geschaffen.117 Die Rekrutierung des Wartpersonals gestaltete sich besonders schwierig, weil es wenig Interessenten und auch noch keine Berufslehre gab.118 113 | »Nach seiner Lage, vor der Front der Anstalt, kann der Neubau eben keine unruhigen Kranken aufnehmen, und er ist nie für solche bestimmt worden.« (Jb 1913, S. 10). 114 | Erste Wachsäle waren in der Waldau nach der Vorlage des Burghölzlis 1908 eingerichtet worden: »Im Laufe des Novembers wurden die neuen Wachsäle für Unruhige eröffnet. Diese sind nach dem Muster des Burghölzlis erbaut und bestehen aus einem großen Saal mit 10 (bald 12) Betten und auf der einen Seite 3 Einzelzimmern (Zellen) und einem Wärterzimmer; auf der andern Bädern, Abtritten und Theeküche. Ihre Lage dürfte vielleicht bequemer sein, aber wir mußten uns nach den lokalen Verhältnissen richten. Ein Übelstand aber hätte vermieden werden können: die Säle sind nur durch die Abteilungen der Halbruhigen oder Unruhigen zugänglich, und das ist für viele Besucher recht unangenehm; es hätte mit Leichtigkeit eine Türe angebracht werden können nach hinten auf die Straße, die die Anstalt umgibt.« (Jb 1908, S. 26). 115 | Zu L. Rosslakowa und Morgenthalers Eintritts- und Austrittsdaten siehe die Anmerkungen in der Tabelle über die Ärzte der Waldau im Anhang, Tab. 2. 116 | Jb 1913, S. 30. 117 | Im Bericht aus dem Jahr 1913 liest man: »Die Erweiterung der Waldau durch den Neubau erforderte eine Vermehrung des ärztlichen Stabes. Es wurde deshalb vorgeschlagen, die im Organisationsdekrete längst vorgesehene Stelle eines zweiten Assistenzarztes zu besetzen und dazu eine neue Stelle mit Familienwohnung zu schaffen, die in ihrer Besoldung dem vierten Arzte gleich gestellt würde. Der Regierungsrat entsprach beiden Anträgen, dem zweiten freilich nicht ganz, indem die neue Besoldung niedriger angesetzt wurde.« (Jb 1913, S. 11 f.). 118 | Im gleichen Bericht steht: »Besondere Schwierigkeiten aber bereitete die Werbung des notwendigen Wartpersonals. Schon in gewöhnlichen Zeiten ist die Zahl der Wärter und Wärterinnen oft nicht auf der minimalen Höhe zu erhalten, und nun wollte es trotz allen frühzeitig einsetzenden Bemühungen des Direktors nicht gelingen, diese namentlich für die Frau-
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Abb. 17: Adolf Wölfli: Neubau. 1921, Bleistift und Farbstift auf Papier, 50,5cm × 34,5cm.
Für Morgenthaler und Wölfli, die beide im Neubau wohnten, war dieses Gebäude ein wichtiger Wohn-, Arbeits- und Schreibort (Abb. 17). 1913 markiert deshalb für das Schaffen des Psychiaters wie des Patienten einen Wendepunkt. Für die Anstalt und ihre übervolle Besetzung reichte diese bauliche Erweiterung der Waldau jedoch nicht aus, es wurden andere Lösungen diskutiert, wie der nächste Abschnitt darstellt.
3.4.4 Die Suche nach einem geeigneten Ort für eine vierte Berner Anstalt Der Ausbau der Waldau wie auch die Suche nach einem Standort für eine zusätzliche Berner Anstalt stehen in direktem Zusammenhang mit dem Platzmangel der Waldau. Beide Unterfangen waren aber nicht unproblematisch. In der Beschreibung der Eröffnung des Neubaus zeigen sich im Jahresbericht von 1913 nicht nur die genannten personellen Schwierigkeiten, sondern auch eine Problematik in der Verständigung zwischen dem Direktor von Speyr, dem Hilfsverein und den Politikern in Bezug auf die Finanzierung und die Umsetzung der Behandlung der Geisteskranken. Der Hilfsverein für Geisteskranke hatte im selben Jahr dem Großen Rat einen Antrag zukommen lassen, der von der Bevölkerung eine Extrasteuer über fünf Jahre forderte, um mit den dadurch generierten Finanzen eine vierte enabteilung zu finden. Geschulte Wärter verlassen ihre Stellung, wenn sie wenigstens tüchtig sind, nicht gerne, und dann schreckt sie unser niedriger Anfangslohn ab, der in jedem einzelnen Falle nur durch einen besondern Beschluß des Regierungsrats überschritten werden darf; für unerfahrene Wärter aber war in der ganzen Anstalt kein Platz vorhanden, um sie vor der Eröffnung des Neubaus noch einigermaßen einzuschulen.« (Jb 1913, S. 8).
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kantonale Anstalt einrichten zu können. In der (selbstverständlich alles anderen als neutralen) Berichterstattung von Speyrs heißt es über diese Verhandlungen: »Die Kommission legte alle diese Übelstände [die Verspätung und Unzulänglichkeiten in der Einrichtung des Neubaus, Anm. M.W.] der Sanitätsdirektion zu Handen des Regierungsrates und des Großen Rates vor. Als in letzterem aber die Extrasteuer besprochen wurde, die der Hilfsverein für Geisteskranke beantragt hatte, wurde von einem Mitgliede, ersichtlich ohne Kenntnis dieser Tatsachen, auch das als Grund für die Ablehnung dieser Steuer herbeigezogen, daß der Neubau der Waldau noch nicht einmal völlig besetzt sei.«119
Hier stellt von Speyr das Wissen von Politikern als unzureichend dar. Der betreffende Politiker argumentiert in der Darstellung von Speyrs »ersichtlich ohne Kenntnis« darüber, dass der Neubau noch gar nicht restlos bezugsbereit und deshalb auch noch nicht voll besetzt sei. Es kommen in diesem Bericht aber auch von Speyrs Vorstellungen darüber zur Geltung, wie und wo denn unruhige Kranke versorgt werden könnten – diese sollen für eine Öffentlichkeit möglichst nicht sicht- und hörbar sein. Diese Ansicht wird aus der in diesem Bericht sehr ausführlich geratenen Anstaltschronik deutlich. Dort betont von Speyr, dass der Anstalt auch mit dem Neubau der Platz für unruhige Patienten fehle, weil sie »nicht auf der Vorderseite einer Anstalt, vor den ruhigen Quartieren, untergebracht werden«120 könnten. Auch im Pfrundhaus seien »lärmende Kranke an der öffentlichen Straße und neben andern bewohnten Häusern unmöglich.«121 Aus heutiger Sicht erstaunen diese Probleme in der Unterbringung unruhiger Patienten angesichts der abgelegen Lage und der Weite des Areals. Dass Platz auf dem Gelände durchaus vorhanden war, wird etwa durch Anfragen belegt, darauf einen Flugplatz zu errichten, ein Fest machen zu dürfen oder Land zur Pacht zu bekommen: »Kleinere Geschäfte betrafen […] das Gesuch der ›Avia‹, Passagier- und Reklameflüge Bern, um Verpachtung eines kleinen Landstückes im Wankdorf der Waldau, der Hornussergesellschaft der Stadt Bern um Benützung einer Wiese der Waldau für ihr Fest, des Gemeinderates von Bolligen um weitere Überlassung von Pflanzland in der Waldau für Bedürftige. Dieses letzte Gesuch wurde bewilligt, die beiden andern abgelehnt.«122
Aus dem Bericht von 1913 wird jedoch deutlich, dass sich die Platzprobleme auch mit der Umnutzung alter Bauten und mit der Errichtung des Neubaus nicht auflösten und dass von Speyr sich den Neubau anders gewünscht hätte – warum er jedoch seine Ansprüche an einen Neubau nicht zu gegebener Zeit deutlicher machen konnte, bleibt vom heutigen Standpunkt aus betrachtet ebenfalls unklar.
119 | Jb 1913, S. 9. 120 | Ebd., S. 32. 121 | Ebd., S. 31. 122 | (Jb 1922, S. 8 f.). Die Frage nach der Einrichtung eines Flugplatzes wiederholt sich zwei Jahre später: »Die Finanzdirektion erkundigte sich, welchen Schaden die Anlage eines Flugplatzes für die Zivilaviatik auf dem Boden der Waldau wohl anrichten könnte. Dir. v. Speyr sprach sich wegen der Störung der ganzen Anstalt durch den unruhigen Betrieb dagegen aus, und die Kommission unterstützte seine Einsprache.« (Jb 1924, S. 8).
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Die Folge war die über Jahre hinweg geführte Diskussion einer möglichen vierten Anstalt. Es wurden von der Aufsichtskommission Orte besichtigt, 1907 etwa das in einer ehemalige Kartause angesiedelte Zuchthaus Thorberg, das Schlossgut von Schlosswil, die Kolonie von St. Johannsen und die Zwangsarbeitsanstalt Hindelbank. Schließlich machte man die Suche nach einem geeigneten Ort durch eine Anzeige öffentlich. Gesucht wurde »ein Bestand von wenigstens 200 Jucharten, sonnige Lage, günstige Zufahrtverhältnisse, wenigstens 300 Minutenliter gutes Quellwasser und gute Ableitung der Abwasser.«123 Neben den Land- und Wasserressourcen wurde sozusagen als Lehre aus den Erfahrungen mit Bellelay auf eine relativ zentrale Lage geachtet.124 Es gingen auf diese Anzeigen 41 Angebote ein. Eine Subkommission der Aufsichtskommission besuchte gemeinsam mit Vertretern des Regierungsrates zehn Orte und machte daraufhin der Sanitätsdirektion drei Vorschläge, nämlich Burgdorf als erste Wahl, sowie Diemerswyl und Bremgarten. Danach geschah aber längere Zeit nichts mehr. Der Verwalter aus Münsingen, Fritz Michel, schlug 1917 vor, in Meiringen zwei dort wegen des Kriegs leer stehende Wirtshäuser für die Unterbringung der Geisteskranken zu nutzen. Es folgte wiederum eine Besichtigung durch Kommissionsmitglieder, welche die Lage unter anderem aufgrund der Sonnenverhältnisse nicht geeignet fanden.125 Diese negative Beurteilung kam nicht gut an und löste auch Kritik an den hohen Erwartungen und den Bedingungen aus, welche die Aufsichtskommission stellen würde: »Das Gutachten der Abordnung, dem sich die ganze Aufsichtskommission anschloß, stieß namentlich in Meiringen und beim Urheber des Entwurfes auf ernsten Widerspruch, es sei voreingenommen, einseitig und ungerecht streng. Es wurde sogar gesagt, gerade die Unentschlossenheit der Aufsichtskommission, der kein Platz gut genug erschien, und die sich nicht einigen konnte, sei schuld, daß wir heute noch keine vierte Irrenanstalt haben. Was nützt es, daß sie nachwies, sie hätte im Juni 1908 für die vierte Anstalt Burgdorf einstimmig als geradezu ideal vorgeschlagen?«126
Während der Standort Meiringen als privates Projekt weiterverfolgt wurde und die Waldau dorthin rund 50 Patientinnen abgeben konnte,127 blieb die vierte Anstalt in Burgdorf ein Desiderat, weil der Regierungsrat dieses Unterfangen nicht unterstützte respektive nicht finanzierte.128 123 | Jb 1908, S. 5 f. 124 | Dies wird explizit so formuliert: »Anders als es bei Bellelay geschehen ist, sah die Kommission besonders auch auf zentrale Lage, gute Zugänglichkeit und Nähe von guten Schulen für die Familien der Beamten und Angestellten«. (Jb 1908, S. 6). 125 | Jb 1917, S. 5. 126 | Ebd., S. 6. 127 | Zu Meiringen erfährt man aus dem Bericht von 1918: »In Münsingen trat Verwalter F. Michel auf den 2. August zurück, um die Leitung der Privatanstalt in Meiringen zu übernehmen, der Regierungsrat wählte aus fünf Bewerbern dessen Bruder B. Michel zum Nachfolger.« (Jb 1918, S. 8 f.) Und ein Jahr später heißt es: »Durch die Eröffnung der neuen Anstalt in Meiringen konnten 47 Frauen abgeschoben werden. Leider fand diese Entlastung hauptsächlich auf den ruhigen und halbruhigen Abteilungen, weniger auf der Zellenabteilung und im Wachsaal für Unruhige statt, wo sich die Überfüllung und Platznot am meisten fühlbar machen.« (Jb 1919, S. 17). 128 | Der Jahresbericht von 1910 gibt die Haltung des Regierungsrates in indirekter Rede wieder: »Der Not könne hinreichend abgeholfen werden, wenn in der Waldau ein Doppel-
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Daneben gab es etliche, mehrheitlich ebenfalls erfolglose kleinere Initiativen, um eine Lösung des Problems der Platznot zu erreichen. So wurde versucht, Kranke in ihre Heimat zurückzuschicken129 und in Bellelay überlegte man sich gar, zwei Wachstationen in die Kirche zu legen.130 Georg Glaser, erster Direktor von Münsingen, schlug (erfolglos) eine Dezentralisierung der Irrenanstalten und ihre Verbindung mit lokalen Spitälern vor.131 Und man versuchte, Verträge oder gar einen interkantonalen ›Handel‹ mit anderen Anstalten und Sanatorien zu erzielen, um Patienten versetzen und dadurch Platz schaffen zu können.132 Der Platzmangel hatte Auswirkungen auf die Familien, die ihre Angehörigen nicht unterbringen konnten, er bewirkte aber auch, dass die Anstalt ihre zweite Funktion als Universitätsklinik mit ihrem Auftrag in Forschung und Lehre nur schlecht wahrnehmen konnte, wie es in den Jahresberichten immer wieder betont wird: »[D]er geringe Wechsel und die Unmöglichkeit, auch nur einen Teil der Unheilbaren in eine Pflegeanstalt abzugeben, machen sie [die Anstalt] immer mehr zur Pflegeanstalt. Für die Kranken und ihre Angehörigen, die draußen Wochen und Monate lang auf die Aufnahme warten müssen, ist es höchst bedenklich, daß so wenig neue Plätze sich öffnen, ebenso aber auch für die psychiatrische Klinik, die unter dem Mangel an frischen Fällen schwer leidet. Es sollte nicht bloß durch eine neue Pflegeanstalt mehr Platz geschaffen, sondern auch der Waldau, so lange sie klinische Anstalt ist, das Recht gewährt werden, ihre Unheilbaren allein oder wenigstens vorzugsweise in die Pflegeanstalt zu versetzen, auch die klinisch interes-
pavillon mit Klinik gebaut, Thorberg für verbrecherische geisteskranke Männer und bösartige Charaktere, Hindelbank für verbrecherische geisteskranke Weiber eingerichtet und auf dem erst noch zu kaufenden Gute Schwand bei Münsingen, Pavillons für 200 Nervenkranke gebaut, endlich die Zellenabteilungen der Anstalt Münsingen erweitert werden.« (Jb 1910, S. 5). 129 | »Auf die Bemerkung eines Regierungsstatthalters hin wurde untersucht, wie viel kantons- und landesfremde Insaßen, die ohne Gefahr in ihre Heimat zurückbefördert werden könnten, sich an einem bestimmten Tage in den 3 Anstalten befänden. In der Waldau wurden 10 Kranke erster, 6 zweiter und 6 dritter Klasse gezählt, in Münsingen 2 erster und 5 dritter und in Bellelay einer dritter Klasse. Einzelne der Kranken dritter Klasse waren polizeilich aber gerichtlich versorgt, andere längst im Lande ansäßig.« (Jb 1905, S. 6). 130 | Jb 1908, S. 7. 131 | Die Aufsichtskommission berichtet darüber: »Direktor Glaser beantragte nämlich, es möge der Platznot dadurch abgeholfen werden, daß in einigen Landesteilen mit Staatshilfe Irrenstationen an die bestehenden Bezirksspitäler angeschlossen werden, oder u. U. ein eigener Verein die Errichtung einer eigentlichen Irrenanstalt betreibe, wie dies zur Zeit im Kanton Zürich geschieht. Diese Anregung, deren zweiten Teil Direktor Glaser später zurückzog […]« wurde besprochen. (Jb 1909, S. 6) Die Bezirksspitäler lehnen diesen Vorschlag ab, wie der Bericht von 1910 mitteilt. 132 | Ein Beispiel für den Versuch eines Vertragsabschlusses aus dem Jahr 1912: »In Anbetracht der beständigen Platznot empfahl die Kommission der Sanitätsdirektion den Abschluß eines Vertrages mit der Genossenschaft Sanatorium Kilchberg bei Zürich; diese hatte von dem Platzmangel in den bernischen Irrenanstalten gehört und der Sanitätsdirektion 15 Plätze, allerdings nur für ruhige Kranke, zu drei Franken im Tag, angeboten.« (Jb 1912, S. 6).
Geschichte, Klinikalltag und Akteure santen Kranken aufzunehmen, ähnlich wie das den klinischen Abteilungen des Inselspitals gegenüber den nicht klinischen während des Semesters zusteht.«133
Noch in den 1920er Jahren sind die Platzprobleme dieselben,134 und man bekommt den Eindruck, die Direktoren klagten ständig über diesen Mangel, ohne jedoch genügend an Lösungen interessiert zu sein. So zeichnete sich etwa Anfang der 1930er Jahre eine Möglichkeit ab, dass man in Brienz ein Haus für ruhige Kranke einrichten könnte: »[D]och verhielten sich die Direktoren in der Mehrzahl gegen eine solche Unterbringung gerade der ruhigen, harmlosen Kranken ablehnend, und es wurde einstweilen kein bestimmter Antrag gestellt.«135 Es macht fast den Eindruck, die Direktoren (oder zumindest gewisse Direktoren) würden die Kranken gar nicht ernsthaft abgeben wollen. Dieser Eindruck wird in Bezug auf die Zurückhaltung bei den Entlassungen von Patienten verstärkt, wenn man die Einschätzung Max Müllers in seinen Erinnerungen liest: »[U]nter der patriarchalischen und konservativen Leitung von Speyrs wurden die Entlassungen soweit hinausgezögert als es irgend nur anging. Von Speyr war so sehr davon überzeugt, jedermann müsse sich in seiner Waldau glücklich fühlen, daß er allen Ernstes den Wunsch eines Kranken, nach Hause zurückzukehren, als undankbar und als ein Zeichen dafür wertete, daß er noch krank sei.«136
Da von Speyr die vierte Anstalt als einzige Lösung des Platzproblems propagierte und weil diese vierte Anstalt politisch zu wenig gestützt wurde, blieb der Platz das zentrale Thema in diesem Zeitraum. So sind denn auch die Patiententexte als solche zu lesen, die in einer hoffnungslos überfüllten Anstalt zustande kamen. Die Schreiborte muss man sich deswegen, vielleicht mit Ausnahme der Abteilung der Pensionäre oder der isolierenden Zelle, als ›Orte der Vielen‹ vorstellen. Der ruhige Arbeits- und Schreibort, wie er möglicherweise in Privatkliniken vorkam, existiert in der kantonalen Anstalt um die Jahrhundertwende nicht. Die Bedeutung eines alternativen Schreibortes wie Morgenthalers Museum im Dachstock des Neubaus kann deswegen wohl kaum überschätzt werden. Die Überfüllung der Anstalt hatte nicht nur erschwerende Umstände für die verhältnismäßig wenigen Schreiber zufolge, sondern zog für die breite Maße der Internierten auch physische Krankheiten und teilweise Epidemien nach sich. 133 | Jb 1906, S. 15 f. 134 | So liest man etwa im Bericht von 1922: »Die Zahl der Kranken ist im Berichtsjahr von 853 auf 860 gestiegen. Dieses während Jahren fortgesetzte Hineinstopfen von Kranken in die gleichen Räume erschwert den Dienst besonders der unruhigen Abteilungen bedenklich, und viele ›Zellen‹ sind dauernd mit 3 und 4 Kranken belegt; die für 10–12 Betten berechneten unruhigen Wachsälen müssen dauernd 17–18 Kranke beherbergen.« (Jb 1922, S. 17) Brauchli formuliert das gleiche Problem im selben Jahr wie folgt: »Über die Platzverhältnisse in unserer und in den kantonalen Anstalten überhaupt, ist nichts neues zu sagen. Wir haben dieses Thema in den 25 Jahren, da wir [Brauchli, Anm. M.W.] im bernischen Staatsdienste stehen, schon in allen möglichen Tonarten und Variationen gesungen. Es scheint aber eine Musik zu sein, die nicht gerne gehört wird.« (Jb 1922, S. 39). 135 | Jb 1932, S. 8. 136 | Müller (1982), S. 41.
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3.4.5 Physische Krankheiten: Typhus, Tuberkulose, Blattern und Grippe Ein weiterer fester Bestandteil der Jahresberichte ist die Erwähnung ebendieser physischen Krankheiten, vor allem von Epidemien und rätselhaften Krankheitsfällen. In der Waldau (aber auch in den andern beiden Anstalten, am stärksten in Münsingen) trat etwa Typhus sehr häufig auf. Die Jahresberichte zeugen von der Suche nach den Ursachen der Ansteckungen und sie beschreiben die jeweiligen Maßnahmen wie etwa die Abschaffung der Senkgruben 1885 und die Errichtung eines Tonnensystems – die Typhus-Erkrankungen nahmen deswegen jedoch nicht ab, es tauchten regelmäßig weitere Fälle auf. Darüber schreibt von Speyr auch noch 1935 in der Schweizerischen Medizinischen Wochenschrift.137 Aus den Jahresberichten lässt sich anhand der Typhus-Behandlung auch entnehmen, wie die Waldau mit anderen medizinischen Instituten zusammenarbeitete, so schreibt von Speyr 1907 in der Kategorie Todesfälle von einem Kranken, der dem Typhus erlag und einem, der genas: »[D]as bakteriologische Institut der Universität Bern war so freundlich, die Abgänge der Insaßen von dessen Abteilung zu untersuchen, fand aber keine Bazillenträger. Ich verdanke ihm bestens die große Mühe.«138 Neben dem Nachweis, dass die Ärzte in der Anstalt bei Bedarf auch mit anderen Fachleuten, hier Bakteriologen, zusammenarbeiteten, zeigt sich, dass der Jahresbericht für von Speyr als schreibendes ›Ich‹ ein Ort ist, an dem er Kollegen Dank abstatten kann. Der Typhus blieb auch beim Bezug des Neubaus der Waldau Thema – dorthin wurde die Krankheit eingeschleppt, es kam 1913 zu einer kleineren Typhus-Epidemie und immer wieder zu Neuerkrankungen. Als problematisch erwies sich der (lange unbekannte) Umstand, dass ehemalige Typhus-Kranke noch sehr lange ansteckende Bazillen ausscheiden und dass diese Personen aufgrund unterschiedlicher (psychischer) Krankheiten nicht gemeinsam in Distanz zu den physisch gesunden Patienten gebracht werden konnten. Wegen der Platzverhältnisse konnten sie auch nicht unter Quarantäne gestellt werden. Man überlegte sich, die »Bazillenträger« unterschiedlicher Kliniken zusammenzulegen. Im Jahresbericht von 1913 ist eine Anfrage aus Zürich überliefert, mit der versucht wurde, Zürichs ehemalige (und noch ansteckende) Typhus-Kranke in den Berner Anstalten unterzubringen – eine Idee, die in Bern verständlicherweise weder auf viel Begeisterung noch auf Verständnis stieß.139 Die Jahresberichte zeigen damit 137 | Der dreiseitige Text trägt den Titel Ueber Typhusepidemien in der Heil- und Pflegeanstalt Waldau (von Speyr, 1935). Er fasst einiges über die Typhusepidemien in den 1880er Jahren zusammen. Es handelt sich dabei eher um eine Art Erinnerung als um ein wissenschaftliches Schreiben. Die teilweise etwas sprunghafte Kohärenz mag mit von Speyrs Alter zusammenhängen. 138 | Jb 1907, S. 26. 139 | Im Bericht der Aufsichtskommission steht: »Es ist darum der Gedanke aufgetaucht, ob nicht alle diese zwar wenig zahlreichen doch gefährlichen Bazillenträger der verschiedenen Anstalten in einer einzigen vereinigt werden könnten. Als nun der Direktor des Burghölzli, Prof. Bleuler, im Auftrage der Zürcher Sanitätsdirektion die drei Direktoren anfragte, ob einer von ihnen allenfalls jetzt oder später bereit sein würde, die Bazillenträger aus den schweizerischen Anstalten aufzunehmen, oder ob sie sich an einem Vertragsverhält-
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auch das (aus der Berner Perspektive beschriebene) Verhältnis zwischen den Berner und den Zürcher Anstalten respektive den entsprechenden politischen Vorgesetzten sowie die Art und Weise auf, wie schriftlich über Patienten ›verhandelt‹ wird. In Münsingen begegnete man dem Typhus gar mit operativen Mitteln: »Mit Zustimmung der machthabenden Instanzen wurde diesen 13 Personen [den sogenannten ›Dauerausscheidern‹, Anm. M.W.] auf der Klinik von Prof. Arnd, Bern, die Gallenblase entfernt.«140 Aus der Waldau sind keine solchen Maßnahmen bekannt – sie wurden entweder nicht angeordnet oder fanden keine Erwähnung in den Jahresberichten. In einem einzigen Fall werden der Erkrankung an Typhus auch positive, ja heilende Auswirkungen zugeschrieben: »Ein junges Mädchen, das an einer höchst beschwerlichen Jugendverblödung litt, erholte sich mit ihrem Typhus auch geistig derart, daß sie die Anstalt nach einiger Zeit geheilt verlassen konnte. Die anderen Kranken wurden nicht wesentlich beeinflußt.«141 Dieser Fall wird im Vergleich mit den andern Kranken als Ausnahmeerscheinung dargestellt. Neben Typhus wurde die Waldau auch von Variola (Pocken) heimgesucht. Nachdem eine Blatternepidemie als wissenschaftlicher Gegenstand zentraler Bestandteil des Berichtsjahres 1879 gewesen war, zeigt ein Vergleich der Jahresberichte auf, dass derselben Krankheit 1922 mit einer systematischen Impfung sämtlicher Anstaltsinsassen begegnet wird.142 Im Weiteren sind Erkrankungen an Tuberkulose Thema der Jahresberichte – Ulrich Brauchli schreibt einmal zynisch: »Auch die Tuberkulose ist ein steter Gast bei uns«.143 In der Folge des 1. Weltkrieges stehen dann vor allem die Grippeepidemien im Fokus der Jahresberichte. Zusammengefasst lassen sich aus den Erwähnungen in Bezug auf die physischen Krankheiten also folgende vier Bestandteile des ›Waldauer JahresberichtsWissens‹ entnehmen: Erstens der (veränderliche) Wissensstand über die Verbreitung von physischen Krankheiten, zweitens die Praktiken der Anstalt im Umgang mit anderen medizinischen oder psychiatrischen Institutionen, drittens der divergierende Behandlungsansatz beispielsweise bei Typhus in den Berner Anstalten und schließlich viertens die Präsentation von Zusammenhängen zwischen psychischer und physischer Krankheiten sowie eines einzelnen ›Falles‹, der mit der selten vorkommenden Entlassung einer Patientin endet.
nisse zwischen den Anstalten beteiligen wollten, da erklärte sich die Aufsichtskommission gerne bereit, dem Regierungsrate den Abschluß eines solchen Vertrages zwischen den verschiedenen Anstalten zu empfehlen. An die Aufnahme der genannten Kranken in eine der drei Anstalten aber war bei dem bekannten Platzmangel nicht zu denken.« (Jb 1913, S. 6 f .). 140 | Jb 1917, S. 52. 141 | (Jb 1922, S. 16). Während diese ›Heilung‹ durch Typhus eine spontane ist, wurden in den 1920er Jahren auch in der Waldau Versuche mit künstlicher Malariainfektion gemacht, um eine solche ›Heilung‹ zu erzielen. Siehe dazu Kapitel 3.6.2.2. 142 | Jb 1922, S. 16. 143 | Jb 1926, S. 42.
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3.4.6 Reaktionen auf die Kritik von Hans Steck aus Cer y (1924/1925) Dass Entlassungen in den Berner Anstalten selten vorkamen, wurde 1925 zu einem öffentlich diskutierten Thema und damit auch zum Gegenstand der Jahresberichte. Hans Steck, Sekundärarzt der Waadtländer Anstalt Cery, veröffentlichte im November 1924 einen zweiteiligen Text in der Neuen Berner Zeitung,144 worin er sich auf Artikel Walter Morgenthalers145 aus dem Vorjahr und Fritz Walthers aus dem Jahr 1924 bezog. In dieser »Zeitungsdiskussion«,146 wirft Steck den beiden anderen Psychiatern vor, der einzig diskutierte Vorschlag zur Lösung des Problems der Platznot sei der Bau einer weiteren Anstalt. Er führt weiter aus, dass in anderen schweizerischen Anstalten (und als Beispiel nennt er Cery und das Burghölzli) viel mehr Patienten aufgenommen und entlassen werden konnten als in den Berner Institutionen. Die Entlastung der Anstalten sei jedoch nur durch die Steigerung ihrer Aufnahmefähigkeiten und damit durch Entlassungen zu gewährleisten. Stecks »Reformvorschläge[ ]«147 sind auch als Kritik einer Generation junger Psychiater an den Amtsinhabern zu sehen – und dementsprechend heftig fielen die Reaktionen der entsprechenden Direktoren aus. Der Jahresbericht der Kliniken von 1925 nimmt diese Artikel und die darin erhobenen Vorwürfe auf und gewährt Platz für eine Verteidigung der Berner Direktoren.148 Nach Steck waren die bernischen Anstalten zu reinen Pflegeanstalten geworden. Es sei keine vierte Anstalt notwendig, argumentierte Steck, sondern es müsse die Aufnahmefähigkeit der bestehenden drei erhöht werden, zum Beispiel durch den Ausbau der Familienpflege. Bellelay müsse zur jurassischen Anstalt werden und es solle eine zentrale psychiatrische Klinik und Poliklinik in der Stadt eingerichtet werden. Diese Vorwürfe verfehlten ihr Ziel nicht. Max Müller spricht in seinen Erinnerungen davon, die Berner Direktoren seien persönlich getroffen gewesen und hätten in der Folge Stecks Anregungen »in krasser Weise abgewürgt.«149 Im Jahresbericht heißt es auch tatsächlich eher abschätzig: »Dr. Stecks Anregungen und Vorschläge bestechen durch ihre Einfachheit und Billigkeit, aber was daran gut ist, ist nicht neu.«150 Von Speyr rechtfertigt sich im Text auch persönlich, schließlich habe er sich schon seit 15 Jahren für eine psychiatrische Poliklinik eingesetzt.151 Im Weiteren versuchen die Berner, 144 | Steck (1924a), (1924b). 145 | Morgenthaler (1923a), (1923b), (1923c). Morgenthaler setzt sich darin hauptsächlich mit der Frage auseinander, ob ein Arzt töten dürfe, was er verneint, und er formuliert darin zum wiederholten Male die Notwendigkeit eines verpflichtenden Irrengesetzes. 146 | Steck (1924a), Titelblatt. 147 | Ebd. 148 | Zuerst werden die Umstände referiert: »Indem Dr. Steck die drei großen bernischen Irrenanstalten mit denen der übrigen Schweiz und namentlich der Kantone Waadt und Zürich, mit denen er besonders vertraut ist, verglich, fand er, daß die waadtländische Anstalt Cery, obgleich kleiner, in einem Jahre mehr Kranke aufnimmt, als die drei bernischen Anstalten miteinander und seit 25 Jahren keinen Notfall abgewiesen hat.« (Jb 1925, S. 5). 149 | Müller (1982), S. 55. 150 | Jb 1925, S. 6. 151 | Ebd., S. 6. Zum Vergleich: In Zürich wurde die psychiatrische Poliklinik 1913 errichtet. In Basel wurde die psychiatrische Poliklinik im Jahr 1923 eröffnet, geleitet hat sie Jakob Klaesi, der zugleich Sekundärarzt in der Friedmatt war. Die erfolglose Bemühungen von
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mit Zahlen und Diagnosen zu argumentieren und vergleichen ihre Anstalten mit dem Burghölzli und Cery, deren Patienten viel häufiger Alkoholiker seien, die nicht lange in der Anstalt bleiben müssten.152 Was auch Max Müller hervorhebt, ist der irritierende Umstand, dass die Berner in diesem Kontext anscheinend zu ihrer Verteidigung kantonale Eigenheiten anfügen. Die bernische Bevölkerung würde nämlich ihre Kranken nicht gerne den Anstalten überlassen. Dem Jahresbericht entnimmt man: »Es fällt auf, wie ungern die Berner, im Gegensatz z.B. zu den Zürchern, ihre Kranken einer Anstalt, gar einer staatlichen, übergeben, und wie spät sie das tun, oft erst, wenn es sich nur noch um dauernde Versorgung handeln kann, indem eine solche zu Hause nicht mehr möglich ist. Ein Grund dafür muß im Volkscharakter liegen, und es besteht damit seit längster Zeit im Kanton eine ausgedehnte Familienpflege, freilich vor der Versorgung in einer Anstalt und nicht organisiert. Aus demselben Grunde aber, weil so viele einer ständigen Versorgung Bedürftige den Anstalten übergeben werden, hält es später auch schwerer als anderswo, so manche in Privatpflege zurückzuversetzen.«153
Eine Argumentation, die einen »Volkscharakter« hervorhebt (und damit auch konstruiert und verfestigt), ist bemerkenswert und zeigt zudem, wie das Psychiatriewesen durch die Direktoren auch in seiner kantonalen Verankerung und Einschränkung bestätigt wird. Dass Stecks Überlegungen tatsächlich einen rechnerischen Fehler beinhalteten, führt der Berner Jahresbericht relativ spät und erst nach der Erwähnung des »Volkscharakters« an. Steck legte seinen Berechnungen der Platzverhältnisse die Zahl der Kantonseinwohner zugrunde, nicht aber die der Kantonsbürger. Die Berner Aufsichtskommission schreibt dazu: »Solange aber die verschiedenen Kantone ihre auswärts erkrankten Bürger zur Pflege heimnehmen müssen, darf nicht die Zahl der Einwohner eingesetzt werden, sondern die Zahl Speyrs für die Errichtung einer Poliklinik dokumentiert der Bericht von 1914, unmittelbar nach der Eröffnung der entsprechenden Zürcher Institution: »Die Poliklinik für Gemütskranke und Nervöse, die ich mit meinen Ärzten in der Stadt zu eröffnen beabsichtigte, wurde von der Direktion des Unterrichtswesens abgelehnt, weil sich die finanziellen Folgen nicht übersehen ließen und die Poliklinik zudem vor einer Reorganisation stünde. Sobald die entsprechenden Räumlichkeiten des Neubaues möbliert sind, werden wir diese Poliklinik in der Waldau einzurichten suchen, obschon die Stadt für die Kranken viel günstiger sein würde.« (Jb 1914, S. 25) Unter Klaesi wird die Poliklinik in Bern 1933 bewilligt: »Betreffend die psychiatrische Poliklinik in der Stadt wurde noch im Berichtsjahr dem h. Regierungsrat eine einschlägige Vorlage unterbreitet und von diesem auch gutgeheißen, sodaß der Betrieb schon im nächsten Sommersemester beginnen kann.« (Jb 1933, S. 26). 152 | »Von den Aufgenommenen waren ferner im Burghölzli 21% Alkoholiker, die voraussichtlich nicht lange bleiben müssen, in Cery waren es 17,7% in den bernischen Anstalten nur 5,4% und hiervon waren die wenigsten akut erkrankt, die meisten chronisch und mit ungünstiger Prognose.« (Jb 1925, S. 6) Die Argumentation, in den Berner Anstalten seien prinzipiell weniger Alkoholiker und wenn, dann mit »ungünstiger Prognose« macht einen fadenscheinigen Eindruck. 153 | (Jb 1925, S. 7). Max Müller schreibt dazu: »[W]as dieses Argument mit der ganzen Frage zu tun hat, nachdem immer noch mindestens ein Drittel der Aufnahmegesuche abgewiesen werden mußte, ist unerfindlich«. Müller (1982), S. 55.
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der Kantonsbürger wird maßgeben.«154 Die Kritik von Steck hatte zumindest zur Folge, dass das Problem diskutiert wurde und den Berner Anstalten Kredite zugesprochen wurden (allen voran Münsingen, das beinahe so viel Geld wie die Waldau und Bellelay zusammen bekam), um neue Wachstationen zu bauen oder bestehende auszubauen. Damit sollte innerhalb der vorhandenen Anstalten Platz geschaffen werden, anstatt eine kantonalen Investition in eine vierte Anstalt zu tätigen. Die Auseinandersetzung mit Stecks Vorwürfen zeigt indes einerseits die Unfähigkeit der Berner Anstaltsdirektoren, mit Kritik einer jüngeren Generation umzugehen und auf Anregungen von außen einzugehen. Andererseits bleibt aus der zeitlichen Distanz unklar, wie ernst das Platzproblem zumindest für die Anstaltsleitungen tatsächlich war, wenn mögliche Veränderungen nicht angegangen werden. Der Jahresbericht ist hier das Genre, das die in der Öffentlichkeit geführte Diskussion aus dem Genre des Zeitungsberichtes in einen institutionell-administrativ geprägten Text überträgt. Der Bericht wird vor allem zur Plattform für eine Verteidigungshaltung genutzt. Als ›geschlossenes‹ Medium mit kontrollierter Autorschaft kann die Meinung der Direktoren ausführlich geäußert werden, ohne dass der anderen Partei Platz für eine Replik geboten würde. Dass die Anstaltsdirektoren so defensiv reagieren und dass dieser Diskussion auch im Bericht derart viel Platz eingeräumt wird, zeigt auf, wie fragil das ›System Anstalt‹ zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist, und wie seine Vertreter ständig um die eigene Rechtfertigung bemüht sind.
3.4.7 Der Jahresbericht von Pfarrer Friedrich Henzi (1927) Wie bereits erwähnt, fällt der Jahresbericht von 1927 durch einen Bericht des Pfarrers Henzi auf. Dieser zweiseitige Bericht ist (wie noch gezeigt wird) einerseits inhaltlich interessant, andererseits zeigt er, dass auch die mittlerweile starrer gewordene Form des Jahresberichtes einmal durchbrochen werden konnte. Dass diese Unterbrechung einmalig war, dürfte mit dem Tod Henzis im darauffolgenden Jahr zusammenhängen – denn obwohl die Geistlichen dazu angehalten wurden, den Direktoren jeweils einen Bericht über ihre Tätigkeit zu verfassen, hat kein späterer Bericht mehr Aufnahme in einen publizierten Jahresbericht gefunden. Für die Anstaltsgeistlichen ist die Waldau also auch Ort des Schreibens, allerdings mit einer begrenzten Verbreitungsmöglichkeit ihrer Texte. Henzi wird ab 1918 in den Berner Staatskalendern als Seelsorger erwähnt. Seine Anstellungsdauer in der Waldau lief 1923 aus, für das Jahr 1924 wird er in der Anstalt Münsingen als Seelsorger erwähnt, ab 1926 liefern die Staatskalender für keine Anstalt mehr Angaben zu Pfarrern oder Seelsorgern. Henzi gliedert seinen kurzen Bericht in drei Teile, sie tragen die Untertitel Sonntagspredigt, Beerdigungen und Einzelbesuche bei den Patienten. Daraus werden hier in der Folge drei Ausschnitte zitiert, die einerseits Auskunft über Henzis konkrete Tätigkeit und die Rolle des Geistlichen allgemein, aber auch Aufschluss über den Anstaltsalltag, hier einmal aus der Perspektive eines anderen Autors, geben. Im ersten Teil über die Sonntagspredigt schreibt Henzi: 154 | (Jb 1925, S. 7). Müller formuliert es so: »Das einzige, was Steck in der Tat übersehen hatte, war die Tatsache, daß die Berner Anstalten sehr viel Berner aus andern Kantonen, namentlich der Waadt und aus Zürich übernehmen mußten und daß kein anderer Kanton so viel Bürger außerhalb der Kantonsgrenzen wohnen hatte.« Müller (1982), S. 55 f.
Geschichte, Klinikalltag und Akteure »Jeden Sonntag wird in jeder Anstalt gepredigt, abwechselnd am Morgen und am Nachmittag resp. Abend, und diese Gottesdienste werden von 50–70 Personen besucht, von einem großen Teil sehr regelmäßig; es mag sein, daß nicht nur ein Herzensbedürfnis, sondern auch das Verlangen nach Abwechslung einzelne Zuhörer herbeiführt. Die Gottesdienste verlaufen durchaus würdig und ich weiß in den ganzen zehn Jahren meines Hierseins nur von zwei kurzen Störungen durch einen aufgeregten Patienten. […] Ich darf bezeugen, daß ich zu meinen kranken Zuhöreren mit der gleichen Freundlichkeit rede wie zu einem vollsinnigen Publikum.«155
Indirekt erfährt man von Henzi, dass die Patienten oft Langeweile plagte, weshalb manche wohl auch die Kirche aufsuchten. Henzi stellt sich als Geistlichen dar, der in seiner Predigt keinen Unterschied mache zwischen »krankem« und »vollsinnige[m]« Publikum. In der Beteuerung, es gebe selten Störungen, verteidigt Henzi die Patienten und ihr Auftreten, wie auch die Angemessenheit der Gottesdienste. Er wendet sich im Bericht an die Ärzte, die er dazu aufruft, die Patienten zu einem Predigtbesuch zu ermuntern, weil sich diese Mühe »sicher lohnen«156 würde. Im zweiten Abschnitt zu den Beerdigungen berichtet er: »Deren gibt es durchschnittlich 60 im Jahr in beiden Anstalten zusammen. Ausnahmslos ist der Tod für die Betroffenen eine Erleichterung und die Traurigkeit derer, die ihre Angehörigen zur letzten irdischen Ruhestätte begleiten, gilt eigentlich mehr dem langen, vorangegangenen Leidensweg als der Trennung derselben.«157
Den Beerdigungen innerhalb der Anstalt schreibt Henzi einen anderen Charakter zu, als sie diejenigen außerhalb hätten: Sie seien viel weniger Anlass zur Trauer über den konkreten Todesfall. Henzi spricht von diesen Todesfällen als »Schluß eines so unglücklichen Lebens«158 und widerspricht damit dem sonst in den Jahresberichten konstruierten Bild der Patienten als Mitglieder der glücklichen ›Waldau-Familie‹. Henzis Bericht zeugt von einer anderen Anstaltsrealität, wenn man indirekt von ihm erfährt, wie einsam gewisse Patienten wohl gewesen waren, wenn sogar ihre Beerdigungen ohne Angehörige, nur mit Anstaltsinsassen als ›Publikum‹, stattfanden. Damit wirkt der Text als Korrektiv in der Darstellung der Anstalt. Im Abschnitt Einzelbesuche bei den Patienten bezeugt Henzi auch die Belastung, die die Besuche in der Anstalt für ihn bedeuteten: »Zwei Nachmittage in der Woche bringe ich in der Anstalt Münsingen und den ganzen Donnerstag in der Waldau zu mit Besuchen bei den Kranken: eine ermüdende Arbeit. Freilich ein großer Teil der Patienten fragen solchen Besuchen und Gelegenheit einer Aussprache nichts nach und verschwinden, sobald ich auf der Abteilung erscheine. Andere dagegen warten gerne und ich darf wohl sagen, freuen sich darauf, wieder einmal ihr Herz leeren zu dürfen. Da schaue ich in tiefe Not und nie verlasse ich die Anstalten, ohne ein schweres Herz davon zu tragen. Die Traurigen trösten, die Verzagten aufrichten, die Willensschwachen stärken, wer 155 | Jb 1927, S. 53. 156 | Ebd. 157 | Ebd. 158 | Ebd., S. 54.
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Schreiben am Rand das könnte, der wäre ein glücklicher Mensch und ein Segen für die Anstalt. In das Tun und Wirken der Ärzte einzugreifen, wie es gar oft die Patienten wünschen, halte ich hingegen nicht als in meiner Arbeit liegend, freue mich aber immer, wenn die Anstaltsleitung mein Mitwirken wünscht, um entlassungsfähigen Patienten ein Plätzchen im aktiven Leben zu suchen.«159
Henzi verkehrt regelmäßig in Münsingen und der Waldau, an beiden Orten hält er einen sonntäglichen Gottesdienst und unter der Woche je bis zu zwei Andachten ab. Damit ist der Geistliche eine der wenigen Figuren, die nicht nur die Anstalt von innen sieht und kennt, sondern auch verlassen kann und zudem in der Lage ist, die beiden Anstalten miteinander zu vergleichen. Er ist somit eine Vermittlungsfigur, die Patienten mit dem ›Außerhalb‹ und die Anstalten miteinander verbinden kann. Diese Vermittlung, wenn sie denn eine von Patienten ausgehende Kommunikation bedeutet, wird ihm jedoch von den Vorschriften der Institution untersagt. Im Organisationsreglement von 1905 heißt es dazu etwa: »Der Geistliche soll ohne Wissen und Zustimmung der Anstaltsdirektoren keinerlei Verkehr, Briefe Aufträge oder Nachrichten zwischen Kranken und ihren nahen oder fernen Verwandten und Bekannten vermitteln. Auch die Abgabe von religiösem oder sonstigem Lesestoff an die Kranken, die Bibel oder deren einzelne Teile inbegriffen, soll nur im Einverständnis mit den Direktoren geschehen.«160
Geschriebene Kommunikation in Form von Briefen und ähnlichem, aber auch die Lektüre der Insassen wird in der Anstalt streng kontrolliert. Auch hier wird diese Kontrolle mit der Figur des Direktors verbunden und zwingend an ihn geknüpft. Indirekt kann man dieser Anweisung entnehmen, dass nicht nur die Briefe der Patienten eine Gefahr für die Stabilität und das Ansehen der Anstalt bedeuten können, sondern auch der Geistliche selbst als diejenige Person, die zwischen Außen und Innen vermitteln und die unterschiedlichen Welten miteinander verbinden könnte. Inwiefern sich die Geistlichen tatsächlich derart kontrollieren ließen und wie sie ihre Aufgabe deuteten und ihre Loyalität vergaben, hing bestimmt mit der jeweiligen Persönlichkeit zusammen. Aufgrund fehlender weiterer Berichte und Nachweise von einer durch den Pfarrer ermöglichten Kommunikation in den Akten der Kranken bleiben diese Fragen offen. Der Bericht Henzis hilft jedoch zumindest, sie überhaupt stellen zu können. Damit wird das Bild der Anstalt um eine Facette ergänzt und ihre Fassade etwas angekratzt. Die Singularität von Henzis Beitrag zeigt die Wichtigkeit einer Lektüre der Jahresbericht als Serie und nicht nur als Einzeltexte. Erst im Vergleich der Berichte bekommt ein solcher Ausnahmetext sein Gewicht.
3.4.8 Außen und Innen – die Sicht- und Lesbarkeit der Anstalt Nach der Gründungszeit der Anstalten geriet die Psychiatrie gegen Ende des 19. Jahrhunderts verstärkt in das Blickfeld der Öffentlichkeit und dort im Zuge weitgreifender Umbrüche und allgemeiner Hinterfragung unter Kritik.161 Auf der 159 | Jb 1927, S. 54. 160 | (1905), S. 3. 161 | Siehe dazu ausführlich Meier/Bernet/Dubach/Germann (2007).
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einen Seite versuchten die ›Irrenärzte‹ sich und ihr Fach zu legitimieren, gleichzeitig stieg die Anzahl Internierter und solcher, die sich für sie einsetzten und sich deshalb gegen die Anstalten wandten. Diese Entwicklungen, die hier nicht im Detail nachvollzogen werden, fanden ihren Niederschlag auch in den Jahresberichten, dort jedoch unter umgekehrten Vorzeichen, nämlich denjenigen der Verteidigung der Anstalt durch ihre Repräsentanten. So heißt es etwa 1906 nach der Erwähnung der massiven Platznot: »Es wurde bei dieser Gelegenheit gegen gewisse Vorwürfe protestiert, daß in der Anstalten [sic] nicht bedürftige Kranke, gar Gesunde, unnötiger und unerlaubter Weise darin zurückgehalten würden.«162 Hier ist nun der Umstand interessant, dass nicht genau erwähnt wird, wer diese Vorwürfe bei welcher Gelegenheit vorbrachte. Nicht nur die Urheber fehlen, auch bleibt die Formulierung »gewisse Vorwürfe« reichlich vage. Die Verteidigung (nämlich der Protest gegen die Vorwürfe) und ihre Hintergründe können damit ebenfalls nicht genau verortet werden. Der Jahresbericht zeichnet sich hier durch eine Tendenz zur Nicht-Information aus. Das aktuelle Thema wird zwar angeschnitten, nicht aber ausgeführt. Schaut man sich nun die Entlassungen desselben Jahres an, sieht man, dass von den 123 entlassenen Patienten 30, also gerade mal »4,09%« des »Gesamtbestandes«, als »genesen« aufgeführt sind, 65 als »gebessert oder ungeheilt« entlassen werden, und es sich bei den restlichen ›Entlassungen‹ um Todesfälle handelt.163 Diese Zahlen sprechen für die Anstaltskritiker, denn die als ›geheilt‹ Entlassenen sind eine verschwindend kleine Gruppe. Die Aufsichtskommission und ihr Sekretär von Speyr nutzen also die Plattform des Berichts für eine Verteidigung, nehmen aber die Möglichkeit einer stichhaltigen argumentativen Widerlegung der Vorwürfe, beispielsweise anhand von erhöhten Entlassungen, nicht wahr. Der Jahresbericht ist damit Spiegel eines gesellschaftspolitischen Problems der Zeit und gleichzeitig Sprachrohr der ›Irrenärzte‹, deren verbale Verteidigungsstrategie darin besteht, dass sie außer der Erwähnung des Protests nichts aussagen. Inwiefern Menschen zu Unrecht in der Anstalt zurückbehalten wurden, kann heute nicht beurteilt werden, auffallend sind aber die hohe Anzahl Internierter, die lange Dauer der Anstaltsaufenthalte und die seltenen Entlassungen. Die Kritik von außen führte 1909 auch zum Vorschlag einer Neubenennung der Anstalten. Hier ist wiederum die Art und Weise interessant, wie die Jahresberichte ein Problem darstellen: »Der Hilfsverein für Geisteskranke hatte dem Regierungsrate beantragt, den offiziellen Namen der Irrenanstalten in ›Heil- und Pflegeanstalten‹ umzuwandeln, indem dadurch etwas von dem noch herrschenden Unbehagen mancher Kreise gegenüber den Anstalten vermindert werden könne. Die Kommission beantragte aus praktischen Gründen nicht auf diese Änderung einzutreten. Der an sich unklare neue Name müßte auch Änderungen in allen möglichen Urkunden nach sich ziehen, und der Erfolg dürfte trotzdem zweifelhaft sein.«164
Die Position des Hilfsvereins wird in indirekter Rede wiedergegeben, das »Unbehagen mancher Kreise« nicht weiter ausgeführt. Es müssen auch hier vage Aus162 | Jb 1906, S. 6. 163 | Ebd., S. 15–22. 164 | Jb 1909, S. 14.
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sagen um die Mühen der Urkundenänderung als Begründung für die ablehnende Haltung der Kommission herhalten. Inhaltlich sind die Anstalten, wie schon erwähnt wurde, nach den Reglements längst dazu verpflichtet, sich der Heilung und der Pflege zu widmen, eine Namensänderung der Anstalten wird aber erst zwanzig Jahre später möglich, im Zuge der Neuausrichtung der Anstalt in Bellelay. Ihr war es ab 1929/1930 erlaubt, auch heilbare Kranke aufzunehmen.165 Zu diesem Zeitpunkt ist es nun die Aufsichtskommission (immer noch mit Sekretär von Speyr), die eine Namensänderung fordert: »Sie [die Aufsichtskommission] beantragte nur aus Rücksicht auf das Publikum und die ähnlichen Anstalten den Titel ›kantonale Irrenanstalten‹ in ›kantonale Heil- und Pflegeanstalten‹ für alle drei Anstalten umzuwandeln. Der Große Rat entsprach diesen Anträgen am 26. Februar 1930.«166 Eine nach außen sicht- und erkennbare Veränderung wie diese Namensänderung brauchte im Berner Umfeld viel Zeit. Die Jahresberichte dokumentieren dieses Ringen um Veränderung respektive die Verteidigung des Althergebrachten.
3.4.9 Besucher, Spaziergänger, »Gaffer« Ein direkter Einblick in die Klinik war außerhalb der kurzen Besuchszeiten nicht möglich. Die Anstalten waren aber Orte des öffentlichen Interesses und so führte mancher Sonntagsspaziergang vor ihre Mauern. In den Berner Jahresberichten schlägt sich diese Begegnung von Ein- und Ausgeschlossenen als Problem unterschiedlich nieder – in Münsingen taucht das Problem nicht auf, oder es wird nicht darüber berichtet, in Bellelay ist es sehr häufig Thema und in der Waldau erfährt man eher indirekt aus der Erwähnung von baulichen Maßnahmen von aufdringlichen Spaziergängern – es schreibt zu diesem Thema, im Gegensatz zu den Berichten aus Bellelay, nicht der Direktor, sondern der Verwalter. 1907 schreibt Verwalter Oskar Haller, es seien in der Waldau folgende Arbeiten ausgeführt worden: »Verbottafeln in Cementsockel; die an verschiedenen Stellen unserer Domäne bisher angebrachten Verbote genügten nicht mehr; namentlich an Sonntagen war unsere Anstalt immer mehr von Spaziergängern umlagert; die neuen, deutlich sichtbaren Verbote erfüllen hoffentlich ihren Zweck besser.«167 1910 reichen auch die Ver165 | Der Hilfsverein für Geisteskranke hatte schon 1913 einen Antrag an den Großen Rat gestellt, dass Bellelay von der Pflegeanstalt für den ganzen Kanton zu einer jurassischen Heil- und Pflegeanstalt würde. Die Umsetzung wurde also mit einer Verspätung von 16 Jahren vorgenommen. 166 | (Jb 1929, S. 6). »Die drei Anstalten heißen wie im letzten Jahresbericht bereits gesagt worden ist, nach dem Beschlusse des großen Rates vom 26. Februar 1930 nunmehr Heil- und Pflegeanstalten und stehen einander gleich, also daß Bellelay jetzt auch heilbare Kranke aufnehmen darf.« (Jb 1930, S. 5) Der Kommentar aus Bellelay zur Namensänderung lautet wie folgt: »C’est avec grand plaisir que nous avons pris connaissance que le Grand Conseil du canton de Berne, dans son décret du 26 février 1930, avait changé le nom d’Asile d’aliénés de Bellelay en celui de Maison de Santé et qu’il autorisait en même temps l’admission de malades curables dans notre établissement. Ainsi, dorénavant, Bellelay recevra avant tout les malades du Jura et ceux des districts limitrophes. Cet heureux changement a contribué beaucoup à relever le moral des malades et de leurs parents.« (Jb 1930, S. 69). 167 | Jb 1907, S. 32.
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botsschilder nicht mehr aus und das Areal wird mit Zäunen verstärkt, wie Haller schreibt: »Um namentlich an Sonntagen dem Zudrang von Spaziergängern nach dem Althaus und Hauptgebäude zu steuern, ist der Weg vom Neuhaus nach der Anstalt beim Eingang in den Wald durch ein eisernes Abschlußtürchen versehen worden und zudem dem Waldsaume nach aus Wandstöcken mit Stacheldraht verbunden, eine Umzäumung erstellt worden.« 168
Die Sandsteinmauern der Waldau, die bis in die 1970er Jahre bestanden, wurden also zeitweise mit Stacheldraht ergänzt, um die Grenzziehung zwischen Innen und Außen zu gewährleisten. Dabei ging es weniger um die üblichen Anstrengungen, die Patienten in der Anstalt zu halten und ihnen eine Flucht zu verunmöglichen, sondern im Gegenteil darum, die »Vollsinnigen«, wie sie Pfarrer Henzi in seinem Bericht genannt hatte, fern zu halten. In Bellelay lässt sich in der Erwähnung der »Gaffer« die unterschiedliche Schreibweise und Akzentuierung der aufeinander folgenden Direktoren Brauchli und Hiß beobachten. Brauchli setzt mit rhetorischen Fragen auf die direkte Betroffenheit der Leserschaft und appelliert indirekt an die Behörden, ein Portierhaus einzurichten.169 Hiß berichtet von der Einrichtung einer speziellen »Wache« und beschreibt die Sonntagsspaziergänger als vermeintliche Zoo-Besucher.170 168 | Jb 1910, S. 35. 169 | So schreibt Brauchli im Bericht von 1904: »An schönen Sonntagen hat man oft die größte Mühe, sich des Eindringens neugieriger Gaffer in das Anstaltsgebiet zur erwehren. Mit Hintansetzung jeglichen Taktgefühls und unglaublicher Ungeniertheit, die besser mit einem andern Ausdruck bezeichnet würde, drängen sie sich in die Höfe und an die Krankengärten heran, um ihre Neugierde zu befriedigen, ganz vergessend, daß sie sich in der Nähe eines Krankenhauses befinden. Denken eigentlich solche Leute nicht daran, daß sie oder liebe Angehörige von ihnen auch einmal geisteskrank werden könnten? Wäre es ihnen da angenehm, der Schaulust und vielleicht gelegentlich auch dem Spotte neugieriger Gaffer preisgegeben zu sein? Diesen Übelständen würde natürlich der Bau eines Portierhauses am besten abhelfen.« (Jb 1904, S. 75). 170 | Hiß schreibt 1908 in der Rubrik Verschiedenes: »Es scheint uns, als hätten wir im verflossenen Jahre ganz besonders viel unter dem Zudrang müßiger Zuschauer zu leiden gehabt. Obwohl wir an schönen Sonntagen am Eingangstor zum Hof eine spezielle Wache hinstellten, kam es doch vor, daß ganze Scharen halbwüchsiger Burschen, ja sogar Schulkinder, die sich irgendwo in den Hof eingeschlichen hatte, sich an die Spazierhöfe der Kranken herandrängten und uns noch Grobheiten machten, wenn wir sie hinauswiesen. Ernsthaften Besuchern, die aus Interesse für die Sache die Anstalt zu sehen wünschten, haben wir so viel als möglich den Willen getan, weil wir glauben, es könne dadurch manch einem Vorurteil gegen die Irrenanstalten begegnet werden.« (Jb 1908, S. 84 f.) 1913 schreibt Hiß dann: »Recht unangenehm bemerkbar machten sich dagegen die viele Sonntagsausflügler, die meinen, die Anstalt könne nach Belieben besichtigt werden, etwa wie ein öffentlicher zoologischer Garten, nur mit dem Unterschied, daß bei uns kein Eintrittsgeld verlangt werde. Um diesem Übelstand zu begegnen, mußten wir an schönen Sonntagen eine besondere Torwache organisieren, die den Leuten den Eintritt in den Klosterhof zu verwehren hatte. Wenn man auch manches Vorurteil, manche falsche Ansicht über die Irrenanstalten dadurch korrigieren kann, daß man
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Die Plage der Sonntagsbesucher wird vom Waldauer Verwalter Haller – ganz seiner Funktion entsprechend – als Problem dargestellt, dem mit baulichen Veränderungen beizukommen ist. Die Direktoren aus Bellelay hingegen stellen das Problem in den gesellschaftspolitischen Kontext der Psychiatriekritik und in Bezug zu Vorurteilen, die sie durch ihre Ausführungen im Bericht entkräften möchten. Brauchli appelliert an das Mitgefühl der »Gaffer«. Nicht für diese, jedoch für ein erweitertes Fachpublikum wurden die Tore der Anstalt ab 1920 geöffnet. Dies geschah durchaus in Bezug auf eine möglichst gute Präsentation der Anstalt: »Mehrere Samaritervereine wünschten die Anstalt zu besichtigen. Da wir jedes vorurteilsfreie Interesse an Geisteskrankheiten und ihrer Behandlung begrüßen, kamen wir den Wünschen gerne entgegen, umso mehr als wir damit mancherlei falschen Vorstellungen über das Irrenwesen, die sich im Volke noch vorfinden, entgegentreten zu können hofften. Den Besuchern wurde nach Art des klinischen Unterrichtes Vertreter einzelner Krankheitsformen vorgestellt und besprochen; daran schloß sich jeweilen ein kurzer Rundgang durch die Anstalt.«171
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Anstalt ursprünglich als geschlossene konzipiert, eingerichtet und geführt wurde. Die Jahresberichte sind damit dasjenige Medium, das von der Innenwelt der Anstalt berichtet und das ›Außen‹ erreicht. Im Zuge psychiatriekritischer Bewegungen fand sich auch die Waldau genötigt, ihre eigene Funktionsweise stärker zu offenbaren. Dieser Schritt nach außen geschah etwa in der Repräsentation der Psychiatrie und ihrer Geschichte an der bereits beschriebenen Berner Landesaustellung. Zunehmend interessierte aber die Öffentlichkeit auch der direkte Einblick in die Örtlichkeiten der Anstalt. Dieser Entwicklung wurde dadurch begegnet, dass die Klinik ab den 1920er Jahren zumindest für ausgewählte Fachpersonen geöffnet wurde. Die Jahresberichte dokumentieren diese Entwicklung. Sie zeigen auf, wie die Waldau auf kritische Stimmen reagierte und wie sie diese von außen erzwungene, zeitweilige und kontrollierte Öffnung zur Präsentation der eigenen Fortschrittlichkeit zu nutzen versuchte. In der Folge sollen einzelne Akteure und Gruppen von Akteuren in ihrer Rolle, die sie um die Jahrhundertwende in der Klinik spielten, genauer betrachtet werden. Der Anstaltshierarchie folgend, wendet sich der Blick zuerst dem Direktor, dann den Ärzten und den Wärtern zu, bevor die Patienten als Gruppe im Zentrum stehen. Die Akteure wohnen auf demselben Areal, sie agieren miteinander, schaffen und verfestigen die Bedingungen des Schreibens und sind deshalb nicht isoliert zu betrachten. Gleichwohl lassen sie sich nach ihren Aufgaben, ihrer Macht und nicht zuletzt ihrer Art zu schreiben (oder nicht zu schreiben) und damit in ihren Möglichkeiten, den psychiatrischen Diskurs zu steuern, unterscheiden. Texte, die in der Anstalt entstehen, sind somit durch Einzelpersonen, vor allem aber durch deren Rolle innerhalb der Institution geprägt. Insofern ist ein Verständnis der Texte erst durch ein Verständnis der institutsinternen Rollen möglich.
denjenigen Leuten, die sich wirklich um die Sache interessieren, den Eintritt in die Anstalt gestattet und ihnen die Einrichtungen zeigt, so hat denn doch nicht jeder müßige Gaffer das Recht, hier seine Neugierde zu befriedigen.« (Jb 1913, S. 92). 171 | Jb 1920, S. 18.
Geschichte, Klinikalltag und Akteure
3.5 D ie A nstaltshier archie : D er D irek tor Direktor einer Anstalt wurde man durch eine Wahl. Das Wahlverfahren, dem sich ein ambitionierter Psychiater stellen musste, trug (lokal-)politische, wissenschaftliche und ökonomische Züge.172 Im Berner Fall verlief ein solches Verfahren so, dass die Inselverwaltung dem Staate Bern eine Person vorschlug, die dann vom Regierungsrat gewählt werden konnte. Die Rolle des Direktors mit ihren Rechten und Pflichten wird im Fall der Waldau von den politischen Reglements und Dekreten des Großen Rates und zur Gründerzeit von der Inselverwaltung schriftlich festgelegt. Ihre konkrete Umsetzung findet sich in den Instruktionen, die bereits erwähnt wurden, beschrieben. Die Rolle ist damit eine er- und beschriebene, ihre Umsetzung Gegenstand von Verhandlungen und Anpassungen, die sich in unterschiedlichen Textsorten niederschlagen. Der Direktor ist Leiter der Anstalt und zwar in »allen sanitarischen und administrativen Angelegenheiten« und er ist im Fall der Waldau auch Universitätsprofessor.173 Damit hat er zugleich als Arzt, Wissenschaftler, Lehrender und als leitender Administrator zu agieren. Er schreibt, lässt andere schreiben und sorgt dafür, dass Geschriebenes verbreitet oder zurückbehalten wird. Er kann als Multiplikator von Anstaltstexten amten, er kann aber kraft seines Amtes auch Kommunikationsformen unterbinden, wie konkrete Beispiele noch zeigen werden. Als Arzt entscheidet er über die Aufnahme der Patienten und ist für ihre Behandlung verantwortlich, als verwaltender Vorgesetzter ist er einerseits zuständig für die meist schriftliche Kommunikation der Behörden mit der Anstalt, andererseits für die Kontrolle der anderen Beamten und Angestellten. Im Untersuchungszeitraum ist, wie bereits mehrfach erwähnt, bis 1933 Wilhelm von Speyr Direktor; die Waldau, das Amt des Direktors und – darum geht es hier – das Schreiben in der Anstalt sind durch ihn geprägt worden. Die Rolle des Direktors kann deswegen nicht ohne Bezug auf die Person von Speyr betrachtet werden. In der Folge steht zuerst die Person Wilhelm von Speyr im Zentrum (3.5.1), danach wird seine Forschung beleuchtet (3.5.2), darauf folgt ein Unterkapitel zur Autorschaft und der Selbstinszenierung in den Berichten (3.5.3) und das Kapitel schließt mit einem Abschnitt zur Kontrolle und von Speyrs Umgang mit Beschwerden (3.5.4).
3.5.1 Die Person Wilhelm von Speyr Über die Person Wilhelm von Speyrs geben unterschiedliche Autoren und Textsorten Auskunft. Es sind einerseits Selbstaussagen, wie sie in den Jahresberichten am Rande vorkommen oder aus wissenschaftlichen Texten entnommen werden können, andererseits Bemerkungen von anderen Psychiatern in unterschiedlichen Medien, wie Zeitungsartikeln und Nachrufen. Glaubt man Fritz Walther, der von 1917–1934 in der Waldau tätig war, 16 Jahre davon unter von Speyr, dann habe letzterer »nach seiner reservierten, aristokratischen Basler Art«174 agiert. Dieser an-
172 | So musste der gewählte Direktor etwa eine Bürgschaft von 10’000 Fr. hinterlegen, wie es das Reglement der Anstaltsgründung erforderte. (1855a), S. 8. 173 | (1894), S. 378. 174 | Walther (1941), S. 499.
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geblich »reservierten« Person durch Textfundstücke näher zu kommen, soll hier versucht werden. Von Speyr wurde am 19. September 1852 in Basel geboren. Seine Familie gehörte einer alten Basler Familie an. Walther berichtet von einschneidenden Erlebnissen aus von Speyrs Jugend wie dem frühen Tod der Mutter oder dem Tod des Bruders.175 Eine erste Assistenzstelle hatte von Speyr im Basler Bürgerspital inne (1876–1878). 1882 erschien seine Dissertation mit dem Titel Die alcoholischen Geisteskrankheiten im Basler Irrenhause, aus den Jahren 1876–1878 zusammengestellt, die er unter Ludwig Wille verfasst hatte. Von Oktober 1881 bis Juli 1882 war er unter Auguste Forel Assistenzarzt am Zürcher Burghölzli. Von Forel übernahm von Speyr versuchsweise die Behandlung mit Hypnose, es verband die beiden ihr Engagement in der Abstinenzbewegung und sie pflegten einen Briefwechsel. Nach verschiedenen Studienreisen kam er am 18. April 1882 in die Waldau, wo er Schärers Sekundärarzt und ab 1890 dessen Nachfolger war. Zum Professor für Psychiatrie an der Berner Universität wurde von Speyer 1891 berufen. Diese Doppelfunktion des Anstaltsdirektors und Professors wird bei der Suche nach einem Nachfolger von Speyrs intensiv diskutiert und kritisiert. Nicht zuletzt aus Kostengründen wird die Personalunion schließlich auch noch bei Klaesi beibehalten.176 Nach dem Tod ihrer Eltern kam von Speyrs Halbschwester Johanna in die Waldau und besorgte seinen Haushalt. Mit dem Ende seiner Waldauer Zeit kehrte er gemeinsam mit ihr nach Basel zurück und verstarb dort am 29. August 1939. Den Tagesablauf von Speyrs stellt Walther als sehr geordnet dar. Folgt man seiner Beschreibung, so erfährt man (neben seiner Bewunderung für von Speyr) einiges über die porträtierte Person, aber auch über den von ihr geprägten Alltag in der Anstalt: »Welche Unsumme von Arbeit bewältigte er in diesem halben Jahrhundert! Jahraus, jahrein, Tag für Tag, Sonntags und werktags stand er in den Sielen. Er war ein Frühaufsteher und arbeitete am Morgen früh in seinem privaten Studierzimmer, begab sich dann regelmässig im Sommer um 7 Uhr, im Winter etwas später, in sein Sprech- und Arbeitszimmer in der Anstalt und erledigte die Korrespondenz, klapperte an der Schreibmaschine, diktierte Gutachten, hörte Patienten ab, kam um 10 Uhr in den Ärzterapport, ging am Nachmittag seinen übrigen Geschäften nach, und immer war es spät in der Nacht, wenn die Lampe in seinem Studierzimmer gelöscht wurde. In schlaflosen Nächten füllte er die Zeit mit Lesen. Wenn man ihn so vollständig in der Arbeit und der Erfüllung seiner Pflichten aufgehen sah, musste man seinen Worten glauben, dass er für eine Familie keine Zeit gehabt hätte und hauptsächlich aus diesem Grunde nicht geheiratet habe.«177
175 | Ebd., S. 492; 495. 176 | Siehe Kapitel 3.12. 177 | Walther (1941), S. 495. Im Reglement von 1866 ist schriftlich festgehalten, dass ein verheirateter Arzt Vorrang habe bei der Besetzung der Direktorenstelle: »Die Wahl des Direktors, des Sekundararztes und des Assistenzarztes geschieht, nach Inhalt des großräthlichen Dekrets vom 9. Februar 1850, durch den Regierungsrath auf einen doppelten, aber unverbindlichen Vorschlag der Inselverwaltung, in der Regel aus der Zahl der für die Ausübung der Medizin und Chirurgie im Kanton patentirten, für die beiden ersten Stellen vorzugsweise verheiratheten Aerzte, die ihren Beruf wenigstens 4 Jahre ausgeübt haben.« (1866), S. 10.
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Nach den Angaben Walthers hatte von Speyr mindestens drei Arbeitsorte, diese sind meistens auch Schreiborte: Erstens der geschlossene Mikrokosmos des privaten Studierzimmers, der am Tagesanfang und -ende aufgesucht wurde, und von dem man von außen (nur) das Löschen der Lampe beobachten konnte, zweitens das teilweise für andere geöffnete Sprech- und Arbeitszimmer und dann drittens die Abteilungen der Kranken als Ort der Patientenbesuche und der Ärzterapporte. Schreiben (und schreiben lassen) scheint eine zentrale Beschäftigung von Speyrs gewesen zu sein, erwähnt Walther doch die Tätigkeiten (Korrespondenz erledigen, diktieren) wie auch das Arbeitsinstrument, die Schreibmaschine. Auch Wyrsch hat in seiner Jubiläumsschrift über die Waldau von Speyrs Tagesablauf beschrieben. Darin findet man Übereinstimmungen, aber auch Divergenzen zu Walthers Angaben. Diese Wiederholungen und Verschiebungen zeigen deutlich, dass es unterschiedliche Narrative der Waldau gibt, deren einzelne Bestandteile oft nur Aspekte der Anstalt oder Akteure darstellen, die durch andere Bestandteile in der Wiederholung bestärkt oder in gegensätzlichen Aussagen negiert wird. Die Akteure als handelnde Figuren in diesen Narrativen sind demzufolge nur schwer zu fassen. Einzelne Textstellen scheinen die Personen deutlich zu charakterisieren, im Vergleich mit anderen Texten verschwinden diese Eindrücke teilweise wieder oder werden von anderen Aussagen überlagert. Die Akteure zeigen und entziehen sich in den Texten gleichzeitig. Zum Vergleich mit der Beschreibung von Speyrs durch Walther folgt hier diejenige von Wyrsch: »So war sein Tagesablauf: In jungen Jahren begann er ihn mit einem Morgenritt gemeinsam mit seinen Ärzten; in spätern Zeiten erhob er sich um fünf Uhr und machte sich den Kaffee selbst; bis etwa sieben gab er sich dem Lesen hin, Psychiatrisches, aber auch schöne Literatur; dann stieg er hinab ins Büro und bis nach zwölf Uhr sah man ihn nicht mehr in der Wohnung. Beim Mittagessen liebte er Gäste, die sich lebhaft unterhalten sollten; das Mahl selbst war einfach und selbstverständlich alkoholfrei […]. Es wurde aber nicht lange getafelt. Mit der zweiten Tasse Kaffee in der Hand stand er auf und verschwand, vermutlich um etwa eine halbe Stunde der Ruhe zu pflegen. Etwa um halb zwei sah man ihn schon wieder hinabsteigen und erst gegen sieben erschien er wieder in der Wohnung. Schon frühzeitig nach dem Nachtessen zog er sich zurück, um private Briefe zu schreiben oder zu lesen.«178
Auch Wyrsch betont die Bedeutung von Schreiben und Lesen in von Speyrs Tagesablauf; er spricht vor allem von der Wohnung und dem Büro als Arbeitsorten, daneben unterstreicht er die Bedeutung der Mahlzeiten als Zeit des Austausches. Während Walther kurz den Ärzterapport anführt und damit vom medizinisch-institutionellen Alltag berichtet, ergänzt Wyrschs Beschreibung diese Aussagen mit Informationen zu Eigenheiten von Speyrs, beispielsweise die sonntägliche Visite zeitlich auszudehnen: »Vormittags machte er an jenem Tage [sonntags] seine in der ganzen psychiatrischen Schweiz bekannte Visite in den Außenstationen, die bei den Ärzten ebenso wenig beliebt war wie seinerzeit die Sonntagsvorlesungen Tribolets bei den Studenten. Denn sie hatten es nicht gerne, wenn der ›Herr Direktor‹ – in jener Zeit stand dieser Titel überall in den Anstalten noch höher im Kurs als die Anrede Professor – im Pfrundhaus sich zum Schachspiel bei einem 178 | Wyrsch (1955), S. 137 f.
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Schreiben am Rand Patienten niederließ oder im Möösli179 die Hühner fütterte, und sie mußten warten und zusehen. Nachmittags aber wollte er für die Berner Bauern zu Hause sein, die ihre Angehörigen und Freunde unter den Patienten besuchen kamen.«180
Hier wird nicht nur von Speyr beschrieben, sondern es wird auch etwas über sein Verhältnis zu den anderen Ärzten ausgesagt, und man kann daraus schließen, dass es zumindest sonntags Spannungen zwischen ihm und anderen Ärzten gegeben hat. Als weitere Gruppe von Akteuren, die mit der Anstalt zu tun haben, erwähnt Wyrsch die Angehörigen, die er als »Berner Bauern« bezeichnet. Zumindest gemäß dieser Darstellung soll sich von Speyr für sie jeweils Zeit genommen haben. Walthers davor zitierte, teilweise gar etwas euphorisch gefärbte Darstellung von Speyrs lässt sich an der Erwähnung des Engagements seines Vorgesetzten in Bezug auf die Ausbildung des Personals festmachen.181 Die treibende Kraft in Sachen Ausbildung war jedoch kaum von Speyr, sondern Morgenthaler, der im Nachruf allerdings nicht erwähnt wird.182 In der Darstellung des Charakters seines Chefs zeigt Walther aber auch Ambivalenzen auf, wenn er schreibt, von Speyr sei »[…] die Verkörperung von Fleiss und Pünktlichkeit, von peinlicher Gewissenhaftigkeit und Pflichttreue, von Verantwortungsgefühl und fast ängstlicher, überall misstrauender Vorsicht, von beispielloser, restloser Hingabe an das Amt, von ernster Lebensauffassung, von Strenge im Urteil über andere und von Unerbittlichkeit im Fordern der Pflichterfüllung von seinen Mitarbeitern und Untergegeben, aber gleichzeitig Strenge gegen sich selbst und eiserner Selbstdisziplin.«183
Wyrsch sieht die Probleme von Speyrs vor allem darin, dass »er sich damals einiger Querulanten, die ihn und die Waldau sogar in Broschüren angriffen, zu kaufen in jedem Bahnhofkiosk, nicht zu erwehren verstand.«184 Der Direktor habe sich deswegen zweimal vor dem Großen Rat rechtfertigen müssen. »[E]s wurde ihm vorgeworfen, er sei eigensinnig und unpraktisch und unumgänglich, und die es sagten, schienen sogar recht zu haben.«185 Inwiefern diese Vorwürfe gerechtfertigt sein konnten, führt Wyrsch nicht aus, er tut sie vielmehr als »Oberfläche« ab und wendet sich einer allgemeinen Aussage über von Speyr zu, in dem er sagt, dieser sei »vornehm-zurück179 | Beim »Möösli« handelt es um eine Kolonie für ruhige Kranke, die dort in relativer Freiheit leben und arbeiten konnten. 180 | Wyrsch (1955), S. 138. Als sonntägliche Besonderheit fügt Wyrsch auch an, dass von Speyr seine Wohnung geöffnet habe: »Abends hatten die musikkundigen Patienten freien Zutritt zu seiner Wohnung, um gemeinsam zu musizieren.« (Ebd.) Bei Walther hingegen wird von Speyrs Wohnung als Ort beschrieben, in den man von außen keinen Einblick hatte. 181 | Walther (1941), S. 496. 182 | Morgenthaler publizierte 1930 ein Lehrbuch mit dem Titel Die Pflege der Gemüts- und Geisteskranken und setzte sich auch nach seinem Weggang aus der Waldau für eine zentrale Pflegerschule in der Waldau ein – ein Unterfangen, das nie realisiert wurde, vermutlich weil es durch von Speyr keine Stütze erfuhr. Siehe auch Kapitel 3.6.2.3. 183 | Walther (1941), S. 501. 184 | Wyrsch (1955), S. 139. 185 | Ebd.
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haltend, eher scheu [gewesen], und Entscheidungen fielen ihm schwer.«186 Wyrsch nimmt hier keine klare Stellung zu den Vorwürfen gegen von Speyr. Aus einer dritten Perspektive beschreibt Max Müller von Speyr, zuerst aus derjenigen des ehemaligen Studenten, der sich an seinen damaligen Professor erinnert: »In den späteren Semestern habe ich dann sehr eifrig die theoretische Vorlesung von Speyrs gehört und mitgeschrieben. Der alte Herr kam jeweils im Winter mit seinem Pferdefuhrwerk in die Stadt zu einer einstündigen Vorlesung, während man im Sommer in die Waldau zur klinischen Demonstration ging. Was von Speyr theoretisch vortrug, war vorzüglich, klar, reich an Erfahrung, selbständig, und ich finde mein Kollegheft von damals noch heute lesenswert; bei all seinen Sonderbarkeiten, seinem Eigensinn, seinem Geiz und anderen Merkwürdigkeiten […] war er doch hoch gebildet, in früheren Jahren ein blendender Klavierspieler, Reiter, ein ausgezeichneter Beobachter mit klugem, scharfem Urteil. […] Seine Krankenvorstellungen freilich waren äußerst langweilig, wurden meist geschwänzt und waren keineswegs dazu angetan, mich für das Fach zu begeistern.«187
Müller zeichnet hier das Bild von Speyrs als einem vielseitigen Lehrers. Es scheint, er habe die Theorie besser vermitteln können als die Praxis in Form von Krankenvorstellungen. Diese Krankenvorstellungen sind teilweise protokollartig festgehalten worden und Bestandteile der Krankenakten, die noch zur Sprache kommen werden. Details zu den »Sonderbarkeiten« und »Merkwürdigkeiten« führt Müller hier nicht aus – deutlich wird, dass Müller von Speyr gegenüber skeptischer eingestellt war als Walther, wobei auch in Betracht gezogen werden muss, dass die Aussagen der beiden Autoren in unterschiedlichen Textsorten mit eigener Tradition stehen. Walther schreibt einen Nachruf, dem als Textsorte eine eher positive Haltung zum Leben und zum Verstorbenen als Person vorausgeht, während Müllers Erinnerungen als autobiografischer Text vor allem auch Aussagen über den Autor selbst ausmachen und er darin über seine Erfahrung in diesem Fall mit von Speyr berichtet, was einen kritischeren Blick erlaubt. In der Folge sollen vermehrt wissenschaftliche Texte und solche mit Selbstaussagen von Speyrs betrachtet und damit die Perspektive gewechselt werden – von der Beschreibung eines ›Objekts Direktor‹ zu einer Beobachtung des schreibenden ›Subjekts Direktor‹.
3.5.2 Von Speyrs Forschung Wenn 1952 ein Zeitungsartikel Zum 100. Geburtstag von Professor Wilhelm von Speyr behauptet: »Für die nächsten Jahrzehnte [nach von Speyrs Wahl, Anm. M.W.] haben dann Wilhelm von Speyr in Bern und Eugen Bleuler in Zürich auf die Entwicklung der Schweizerischen Anstaltspsychiatrie einen richtungs- und massgebenden Einfluss ausgeübt«,188 dann mag dies in vielerlei Hinsicht stimmen. In Bezug auf die Forschung jedoch kann diese Aussage nicht bestätigt werden. Denn wie von Speyr selbst wenig zur psychiatrischen Forschung beitrug, so hat er diejenige sei186 | Ebd. 187 | Müller (1982), S. 3 f. Vergl. auch die bereits erwähnte Äußerung Müllers über von Speyr hier in Kapitel 3.4.4. 188 | (1952), S. 9.
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ner Mitarbeiter weder gefördert noch eingefordert.189 Dabei muss eingeräumt werden, dass er in seinen frühen Jahren in der Waldau durchaus forschte und neue Behandlungsmethoden ausprobierte.190 Diese Tätigkeiten stellte er aber nach und nach ein, er publizierte nur noch selten und seine Versuche in der Behandlung der Patienten fanden vermutlich nicht mehr statt, auf jeden Fall finden sich keine Einträge mehr dazu in den Jahresberichten. Als seltene Erscheinungen dokumentierter Therapieversuche in der Waldau sollen hier noch zwei Passagen aus den Jahren 1889–1891 angeführt werden, als der neue Anstaltsdirektor Versuche mit Hypnose machte: offensichtlich unter starkem Einfluss Auguste Forels (1848–1931), der an der Universität Zürich ab 1887 zum Thema Hypnotismus lehrte.191 1889 erschien Forels Werk Der Hypnotismus oder die Suggestion und die Psychotherapie. Ihre psychologische, psychophysiologische und medizinische Bedeutung mit Einschluss der Psychanalyse, sowie der Telepathiefrage. Darin beschreibt und entwickelt er seine bei Hippolyte Bernheim in Nancy erworbenen Fähigkeiten und führt andere in die Technik der Hypnose ein. Von Speyr beschreibt im Jahresbericht von 1889/1890 zwei ›Fälle‹ von Genesungen ausführlich. Eine dieser noch genauer vorzustellenden Genesungen wird in direkte Verbindung gebracht mit der Therapieform Hypnose, mit deren Anwendung er sich wissenschaftlich à jour zeigt. Die Ausführlichkeit mit der der ›Fall‹ beschrieben wird, ist ebenfalls eine Eigenheit der früheren Berichte von Speyrs. Patientenbeobachtungen finden in seinen späteren Berichten nicht mehr so viel Aufmerksamkeit, der Stil verknappt sich deutlich und der Fokus wird seltener auf Einzelschicksale gelenkt. Beim ersten durch von Speyr beschriebenen ›Fall‹ handelt es sich um einen 1849 geborenen Zimmermann, der seit 1882 aufgrund einer Melancholie, über deren Auslöser von Speyr spekuliert, in der Anstalt ist. Dieser Patient sei einer der »beschwerlichsten« und obwohl »viele Arzneimittel an ihm versucht« wurden, veränderte sich seine Krankheit nicht, »doch trat auch keine Verblödung ein.«192 An diesem Punkt setzen von Speyrs Versuche an. Er schreibt: »Endlich hypnotisirte ich ihn im Sommer 1888 mehrmals versuchsweise; er wurde leicht somnambul. Allmälig benützte ich nun die Hypnose, um ihm das Abreißen von Blumen abzugewöhnen; ich verschaffte ihm in seiner Angst ruhige Tage; ich machte ihn, der seit Jahren keinen Brief mehr zu Stande gebracht, nach Hause schreiben und diktirte ihm in der Hypnose recht auffällige Dinge, die er nachher in wachem Zustand, wie er glaubte, aus eigenem Antrieb niederschrieb; als er aber die Antwort von zu Hause erhielt, hatte er seinen Brief wieder 189 | Klaesi hingegen betont auch in den unpublizierten Berichten der 1930er Jahre, wie viele wissenschaftliche Arbeiten in der Anstalt entstanden, so etwa 1937: »Wissenschaftliche Arbeiten grössern und kleinern Umfangs wurden 19 druckfertig.« (Jb 1937, S. 11). 190 | Von Speyrs Forschung und der wissenschaftliche Austausch mit anderen Psychiatern belegt auch eine Stelle aus dem Bericht von 1897: »Vorträge des Herrn Prof. v. Speyr (Waldau) über die Aetiologie der progressiven Paralyse und mikroskopische Demonstrationen der HH. Direktoren Bleuler (Rheinau) und Ris (Mendrisio) über Befunde und Untersuchungsmethoden am centralen Nervensystem boten reichliche und dankbar aufgenommene Gelegenheit zur Belehrung und zu gegenseitigem Gedankenaustausch.« (Jb 1897, S. 61). 191 | Siehe dazu auch Bugmann (2008) und (2012). 192 | Jb 1889/1890, S. 19.
Geschichte, Klinikalltag und Akteure vergessen. Im Februar 1889 gelang es mir leicht, ihn im Schlaf zur Arbeit zu bewegen; bald stellte sich der Muth und das Selbstvertrauen wieder ein, sodaß sich der Kranke, der sich bisher auch von den Schwächsten hatte ungestraft mißhandeln lassen, nun mit Macht zur Wehre setzte. Es bildete sich, wohl durch den ursprünglichen Charakter des Kranken bedingt, ein eigenthümliches Verhältniß zwischen diesem und dem Arzte aus; der Kranke, der mir von jeher viel Zutrauen und Anhänglichkeit bewiesen hatte, that mir nun zuliebe, was er konnte; er holte z.B. sorgfältig Aepfel von einem Baum herunter, zu welchen sich niemand getraute, wenn er sie für mich brechen durfte, und er hätte auch allerlei Unregelmäßigkeiten zu meinen Gunsten begangen.«193
Dieses Beispiel zeigt auf, dass Bestandteile einer kasuistischen Schreibweise zum Jahresbericht gehören und sich in ihn integriert vorfinden. Die Art, wie diese Schreibweise einverleibt wird, verändert sich jedoch mit der Zeit. Sie fügt sich in die Tendenz zur Rationalisierung und Verknappung ein, der ausführlich geschilderte ›Fall‹ verschwindet. Persönliches wird je länger je stärker aus den Jahresberichten ausgeschlossen und dies sowohl auf der Seite der schreibenden Subjekte wie auch auf derjenigen der beschriebenen Objekte. Das schreibende »Ich« tritt hinter unpersönlichere Wendungen und der beschriebene ›Fall‹ in den verkürzten Darstellungen zurück. Man kann damit von einer administrativen Wende in der Schreibweise der Berichte reden, bei der die formale Regelhaftigkeit vor ausführliche Einzelschilderungen gestellt wird. Die Beteiligten geben sich in den Berichten weniger zu erkennen, die kasuistische Schreibweise verändert sich. Diese administrative Wende lässt sich exemplarisch in der Lektüre von von Speyrs Berichten verfolgen und ist als einer der disziplinären Umbrüche um 1900 zu bezeichnen. Wie die Kasuistik – ein Gegenstand, dem sich die Forschung in den letzten Jahren intensiv zu widmen begonnen hat194 – nicht einheitlich zu fassen ist, besteht auch das vorliegende Beispiel aus unterschiedlichen Bestandteilen. Der eigentliche biografische ›Fall‹ wird nämlich in der davorstehenden Beschreibung des Zimmermannes deutlich. Daran angehängt findet sich die hier zitierte Versuchsbeschreibung, in der sich ein Arzt (in diesem Fall: der neue Direktor) als Forscher präsentiert: Er berichtet von mehrfachen Versuchen, über ihre Wirkung (der Patient wird somnambul) und das weitere Vorgehen des Experimentators. Warum von Speyr den Patienten als erstes ausgerechnet keine Blumen mehr abreißen lässt, bleibt unklar. Interessanter ist hingegen für die hier zugrunde liegende Fragestellung, dass darauf die Beschreibung eines Schreibversuchs folgt. Als behandelnder Arzt lässt von Speyr den Zimmermann unter Hypnose Briefe schreiben, über deren Ein- und Ausgang er als Direktor die Kontrolle hat.195 Im Brief lässt er ihn »auffällige Dinge« schreiben und diese Briefe werden anscheinend abgeschickt, denn der Patient 193 | Ebd., S. 19 f. 194 | Siehe zur kasuistischen Schreibweise und ihrer Entwicklung die Arbeiten von Nicolas Pethes, etwa Pethes (2005) und ders. (2007), S. 259–283. Siehe im Weiteren die Beiträge in den Bänden Fallstudien: Theorie – Geschichte – Methode (hrsg. von Süßmann/Scholz/ Engel, 2007); Zum Fall machen, zum Fall werden (hrsg. von Brändli/Lüthi/Spuler, 2009) und das Themenheft Fallgeschichten. Von der Dokumentation zur Fiktion (hrsg. von Alexander Košenina, 2009). Fallgeschichten werden hier in Kapitel 4.1 noch einmal thematisiert. 195 | Siehe zur (Post-)Kontrolle Kapitel 3.5.4.
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(und mit ihm der kontrollierende Direktor) bekommt eine Antwort auf den Brief, den er inzwischen bereits vergessen hat. Damit wird auch das familiäre Umfeld des Patienten in die Versuchsanordnung einbezogen, die Familie bekommt, vermutlich ohne von der neuen Behandlungsmethode von Speyrs zu wissen, einen Brief mit manipuliertem Inhalt, antwortet darauf, und die neuerliche Reaktion des Patienten wird beobachtet. Von Speyr schafft es nicht nur, den Patienten zur Arbeit anzuhalten; die Hypnose-Behandlung bewirkt auch eine Ergebenheit des Patienten gegenüber seinem Arzt und Meister, die von Speyr an der Waghalsigkeit bei der Apfelernte durch den Kranken abliest und die ihm sichtlich schmeichelt. Es verändert sich demnach – gewollt oder als unbeabsichtigte Folge des Versuchs – auch das Verhältnis zwischen Arzt und Patient. Diese ansatzweise erzählte Fallgeschichte hat ein Happy End: Der Patient kann 1889 in eine freie Kolonie versetzt und 1890 nach Hause entlassen werden, wo er nicht nur fleißig arbeitet, sondern– wie von Speyr zu berichten weiß – sogar heiratet. Damit wird seine Entwicklung auch als direkter Erfolg von Speyrs dargestellt, der also auch den entlassenen Patienten nicht aus den Augen zu lassen scheint. Erfolgreich sind: der forschende Arzt, der Versuchsleiter und -protokollant und der Anstaltsdirektor – alles Rollen, die von Speyr hier gleichzeitig verkörpert, von denen er jedoch die ersten drei im Verlaufe seiner Amtszeit weniger oft spielen wird. Beim zweiten, an der gleichen Stelle beschriebenen Fall, bei dem es um eine Frau geht, die gesund wird, wurde hingegen keine Hypnose angewendet. Die Hypnose wird im Text durch von Speyr auch nicht als alleiniges Therapiemittel dargestellt, vielmehr taucht sie im Fall des Zimmermanns einmal auf und spielt sonst keine Rolle in den Jahresberichten – und damit vermutlich auch nicht im Klinikalltag. Der zweite Fall illustriert, wie selten von der Anstaltsleitung beglaubigte Genesungen waren und wie prominent deshalb eine Entlassung einer geheilten Patientin in einem Rechenschaftsbericht ausgestellt werden konnte. Als weitere (und letzte) erzählte Versuchsanordnung soll in der Folge noch ein Experiment aus dem wissenschaftlichen Kerngebiet von Speyrs, der Bekämpfung des Alkoholismus, dargelegt werden. Dies muss in einem Umfeld betrachtet werden, in dem Alkohol auch in Kliniken als Medizin eingesetzt wird.196 Schon in seiner Dissertation Die alcoholischen Geisteskrankheiten im Basler Irrenhause von 1882 hatte von Speyr unterschiedliche »specifisch alcoholische Psychosen« untersucht. Inhaltlich wie methodisch gibt sie wichtige Anhaltspunkte für die Analyse auch seiner späteren Arbeiten. Unter den Psychosen sind bei von Speyr erstens der pathologische Rausch (Alcoholismus acutus); zweitens die alcoholische Verrücktheit, (unterteilt in die acute und die chronische); drittens das Delirium tremens und schließlich viertens der Alcoholismus chronicus vertreten.197 Für den vorliegenden Forschungszusammenhang ist von Speyrs Dissertation in zweierlei Hinsicht interessant: Einerseits bietet sie aufschlussreiche Informationen über die damali-
196 | Dornblüth schreibt etwa in seinem Kompendium der Psychiatrie von 1894: »Ein wertvolles Schlafmittel, zumal bei Nervösen, aber auch bei verblödeten Kranken, ist der Alkohol, zumal in Form von Bier. Die dunklen, würzreichen, sog. schweren Biere (Kulmbacher, Nürnberger, Porter) wirken am besten, gewöhnlich genügt ½ oder 1 Flasche.« Dornblüth (1894b), S. 56. 197 | von Speyr (1882), S. 6. Die Schreibweisen von Speyrs wurden hier übernommen.
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ge (Basler) Behandlung von Alkoholkranken,198 andererseits macht ihr Verfasser gleich zu Beginn klar, dass seine Studie auf Krankenbeobachtungen beruht, »die ich fast ausschliesslich selbst geschrieben habe.«199 Dieser Umstand der sprachlich festgehaltenen Beobachtung ist deshalb interessant, weil er nicht nur eingangs, sondern durch den ganzen Text hindurch immer wieder Erwähnung findet. Von Speyr rekurriert darin nicht etwa direkt auf die Kranken oder die Krankheiten, wie sie sonst oft in der Forschung als scheinbar konkrete Entitäten erwähnt werden, sondern er verweist ausgesprochen oft auf Geschriebenes, Notiertes und damit auf den medial vermittelten Zugang zu den Krankheiten.200 Dadurch dokumentiert und betont der Verfasser beim wissenschaftlichen Arbeiten eine Distanz zu den Patienten und ihren Krankheiten; sie sind zum Zeitpunkt, in dem er dass Werk verfasst, nur noch als schriftliche Notizen greif bar. Auch bei anderen medizinischen Arbeiten dürfte eine solche Distanz herrschen, da die Niederschrift eines wissenschaftlichen Textes oft in zeitlichem und geografischem Abstand zu den Objekten der Beobachtung stattfindet.201 Besonders an der Dissertation von Speyrs ist, dass sie diesen Umstand explizit hervorhebt. Neun Jahre nach dem Erscheinen seiner Promotionsschrift schildert von Speyr eine Versuchsanordnung, aus der deutlich wird, dass die Anregung für das Vorhaben von außen kam: »Ich habe im Jahre 1891 5 Trinker, 4 Männer und 1 Frau, aufgenommen, um sie versuchsweise mit Strychnin zu behandeln. Ein Mann, der sich der Rettung von Trinkern widmet, bat mich, das Mittel, das auch in öffentlichen Zeitungen als Heilmittel der Trunksucht, als Gegengift des Alkohols, gepriesen wurde, bei seinen Schützlingen anzuwenden. Ich trat gerne darauf ein, so wenig ich mir zum Voraus davon versprach. Es handelte sich in allen Fällen um chronischen Alkoholismus, nicht um akute Störungen.« 202 198 | von Speyr fasst die Behandlung wie folgt zusammen: »Die Therapie genügte folgenden Gesichtspunkten: Schutz des Kranken vor Schädigung durch erneuten Alcoholgenuss, Schutz des Kranken und der Umgebung vor Schädigung durch Gewaltthaten durch stetige Bewachung, Hebung der Ernährung, Beförderung der Entleerungen, Beruhigung durch Gesellschaft, Beschäftigung, lange Bäder, allenfalls Tropfbäder, Beförderung des Schlafes durch Morphium oder Chloral und bisweilen Milderung unangenehmer Sensationen durch Narcotica.« von Speyr (1882), S. 26. 199 | Ebd., S. 6. 200 | Um nur einige Beispiele für diese Verweistechnik auf Geschriebenes zu nennen: Von Speyr schreibt die Grundlage seiner Arbeit so: »Es stehen mir 18 reine Beobachtungen von acuter alcoholischer Verrücktheit zu Gebote […].« (S. 15) Von Speyr schreibt nicht, dass die Kranken blass gewesen seien, oder sie schlecht geschlafen hätten, sondern: »Oft ist Blässe des Gesichts angeführt.« (S. 16) »Der Schlaf ist bei drei Kranken als schlecht bezeichnet.« (S. 30) Auch die Unvollständigkeit der verschriftlichten Beobachtung wird thematisiert: »Leider können meine Krankengeschichten gerade für die somatischen Symptome nicht als vollständig gelten, da ich manche Beobachtung nicht eingetragen habe.« (S. 16) Oder: »Zuckungen sind selten aufgeschrieben […].« (S. 17). Alle Zitate stammen aus von Speyr (1882). Alle Hervorhebungen M.W. 201 | Vergleiche dazu etwa die in der Einleitung erwähnte Auseinandersetzung Rorschachs (1965) mit einem Fall aus der Waldau. 202 | Jb 1891, S. 17 f.
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Der Initiant der Versuchsreihe bleibt anonym, von Speyr präsentiert sich als skeptischen, aber gutwilligen Forscher. Es folgt im Jahresbericht die Beschreibung der fünf Fälle und des Ausgangs der Behandlung. Die Resultate fallen bescheiden aus, fast niemand wird abstinent, alle Patienten gewinnen an Gewicht. Von Speyr schreibt den negativen Ausgang des Versuchs der fortgeschrittenen Krankheit, der Anstalt und seinen eigenen mangelhaften Beobachtungen zu: »Es ist schon richtig, daß meine Alkoholiker sittlich so entartet und so tief gesunken waren, daß kaum ein einziger, so willig er kam, die Anstalt mit dem Wunsche aufsuchte, von seiner Trunksucht befreit zu werden. Meine Beobachtungen sind auch viel zu dürftig: sie lehren immerhin wieder, wie schwer, ja unmöglich es ist, den chronischen Alkoholismus in einer großen Irrenanstalt richtig zu behandeln.« 203
Mit dieser resignierten Äußerung endet von Speyrs Dokumentation von Versuchen und damit wohl auch die Durchführung ähnlicher Unterfangen. Die »große[ ] Irrenanstalt« wird noch Jahrzehnte sein Arbeitsort sein und der Alkoholismus die Krankheit, auf die er sein Augenmerk richtet – über eine Abschaffung des Alkohols innerhalb des Anstaltsbetriebes geht sein Engagement allerdings nicht hinaus, Versuche einer neuartigen und damit adäquaten Behandlungsweise gibt er hiermit auf. Die ernüchterte Darstellung der Behandlungsmöglichkeiten in der großen Anstalt steht im Widerspruch zu einer Anstaltspropaganda, die von Speyr sonst in den Berichten betreibt, wie noch ausgeführt wird. Nicht direkt als Beitrag zur Forschung, aber zur Situation der Disziplin Psychiatrie darf von Speyrs Artikel Irrenwesen in Reichesbergs Handwörterbuch der schweizerischen Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung von 1905 bezeichnet werden.204 Von Speyr stellt darin kantonale Gesetzgebungen vor, legt statistische Überblicke dar, vergleicht unterschiedliche Irrenanstalten und widmet den Hilfsvereinen einen Abschnitt. Damit zeigt sich von Speyr als informierter Anstaltsdirektor mit Weitblick, der die bernischen Anstalten durchaus in einem Zusammenhang mit den anderen Anstalten sieht und der Gemeinsamkeiten und Unterschiede gut verständlich darlegen kann.
3.5.3 Autorschaft, Selbstinszenierung, Anstaltspropaganda und »mein Programm« Die Stellung des Direktors innerhalb der institutionellen Hierarchie berechtigt und verpflichtet zum Berichten.205 Zuhanden der Direktion des Innern muss er jährlich einen Bericht abgeben, der die ärztlichen, administrativen und ökonomischen Be203 | Ebd., S. 20. 204 | Von Speyr (1905). 205 | Auch dies ist selbstverständlich reglementarisch festgelegt. Zum Berichten als Recht: »Der Direktor hat das Recht der schriftlichen oder mündlichen Berichterstattung bei der Inseldirektion und kann von der letzteren jeweilen dazu aufgefordert werden.« (1866), S. 10. Und als Pflicht: »Der Direktor ist verpflichtet, alljährlich einen allgemeinen Bericht über den Zustand und die Leistungen der Anstalt in ärztlicher, administrativer und wirthschaftlicher Beziehung sammt allfälligen Vorschlägen zum Nutzen und Gedeihen der Anstalt an die Inseldirektion einzugeben.« (1866, S. 11).
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lange der Anstalt darstellt.206 Diese Jahresberichte müssen von der Direktion des Innern genehmigt werden, was vermutlich eine Formalität war.207 Von Speyr schreibt nicht alles alleine, dies ist aber nur indirekt zu erfahren, beispielsweise durch die Erwähnung Walthers, dass von Speyr diktiere,208 oder durch die Bemerkungen in den Jahresberichten zu Personalwechseln im Sekretariat.209 Als Autor tritt ein »Ich« ab und zu auf: in den früheren Berichten häufiger als in den späteren. Einige Aspekte dieses Hervortretens, die häufig auch miteinander vorkommen, sollen hier genauer betrachtet werden. Es betrifft dies zunächst die Darstellung der eigenen Rolle als Direktor, die selten mit einer Kundgebung von Unsicherheit, oft mit bewusster Selbstinszenierung und dem großspurigen Postulat eines eigenen »Programms« einhergehen. Dass die Rolle des Direktors für von Speyr nicht nur eine einfache war und sich die eigenen Entscheidungen manchmal im Nachhinein auch als offensichtliche Fehler erwiesen, zeigt eine (seltene) Dokumentation seiner Unsicherheit. Es handelt sich um eine Selbstaussage von Speyrs aus der Anfangszeit: »Die gewissenhafte Sichtung der angemeldeten Kranken gehört zu den schwersten und undankbarsten Aufgaben der Direktion. Irrthümer und sogar Ungerechtigkeiten sind vielleicht unvermeidlich. Zuweilen erweisen sich Kranke in der Anstalt nicht so unruhig, als sie geschildert worden sind; öfter zeigt sich freilich, daß angeblich stille und friedfertige Leute alsobald wegen großer Aufregung sollen abgesondert werden.« 210
Die Anstalt wird hier als Ort der ›Wahrheit‹ für einen Patienten geschildert – in ihr zeigt sich, ob die Angehörigen die kranke Person treffend geschildert haben oder nicht. Die Beobachtung und Darstellung der Laien stoßen auf die Beurteilung des Experten, die Meinungen sind nicht immer deckungsgleich. Der noch unerfahrene Anstaltsdirektor zeigt sich als werdender Experte, er muss sich auf diese Beschreibungen verlassen und mit der »Sichtung« des Patienten eine der Krankheit entsprechende Einordnung gewährleisten. Dabei wird die Anstalt auch zum Ort der 206 | »Der Direktor hat jährlich über den Betrieb der Anstalt in ärztlicher, administrativer und ökonomischer Hinsicht einen Bericht an die Aufsichtskommission zu Handen der Direktion des Innern abzugeben.« (1894), S. 378. 207 | Siehe (1894), S. 375. 208 | Walther (1941), S. 495. 209 | 1917 wird eine Sekretärin erwähnt: »Am 8. Juli verließ uns leider die Sekretärin der Direktion, Fräulein Martha Wagner, die am 23. März 1910 eingetreten, in diesen langen Jahren eine große Arbeit geleistet hat.« (Jb 1917, S. 27) Die Stellen scheinen jeweils relativ lange besetzt gewesen zu sein: »Ferner verließ uns am 1. Mai Frl. Luise König, die seit 1917, nach manchem Jahr freiwilligen Wärterinnendienstes, die umsichtige und stets hilfsbereite Sekretärin der Direktion gewesen war. Sie wurde durch Frl. Hedwig Straßer aus Wangen a. A. ersetzt, die seit 1921 als Volontärsekretärin hier gearbeitet hatte.« (Jb 1928, S. 21); »Am 4. November mußte Fräulein Hedwig Straßer, Sekretärin der Direktion, einen Erholungsurlaub antreten, der das Ende des Jahres überdauerte.« (Jb 1931, S. 18); »Leider konnte Frl. Straßer, die während vier Jahren in großer Zuverlässigkeit und Hingabe das Amt einer Sekretärin der Direktion bekleidet hatte, im Berichtsjahre ihre Stelle nicht wieder antreten; ihre Funktionen wurden provisorisch übernommen von Frl. J. Junker aus Rapperswil.« (Jb 1932, S. 21). 210 | Jb 1889/1890, S. 9.
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›Wahrheit‹ über den Direktor, denn es wird für alle schnell ersichtlich, ob seine Einteilung angemessen war oder nicht. Wichtig ist, dass erst mit der Transferierung des Patienten in die Klinik und der dort möglichen Beobachtung ein Vergleich der Laien- und Expertenbeurteilung möglich wird. Neben den seltenen Anzeichen von Unsicherheit gibt es in den Jahresberichten auch Passagen, denen sich eine Betroffenheit des Direktors über das Schicksal eines Patienten entnehmen lässt. Oft ist diese Betroffenheit gepaart mit einem Tonfall der Rechtfertigung, so etwa in der Beschreibung von Suiziden. Als Beispiel soll hier ein Fall aus dem Jahr 1909 Erwähnung finden. Im dazugehörigen Bericht wird von einer schwermütigen Pensionärin berichtet, die sich in Rekonvaleszenz befand und der von Speyr vor dem definitiven Austritt probehalber einen Besuch bei den Verwandten erlaubte. Dort gab sich die Kranke vergnügt, wurde als geheilt betrachtet und trotz von Speyrs Warnungen allein gelassen – und so ergab sich die Gelegenheit zum Suizid. Von Speyr schreibt dazu: »Ich kann mir diesen erschütternden Fall nur schwer erklären, wenn ich alle Umstände und den ganzen Verlauf der Krankheit berücksichtige; die Kranke hielt sich wohl im Grunde noch für unheilbar, doch könnte auch die Furcht vor der nahen Heimkehr bei der früher sehr angesehenen und dessen bewußten Frau mitgewirkt haben.« 211
In dieser Schilderung kommen Erstaunen über die Entschlossenheit der Kranken in der Umsetzung ihre Suizid-Planes, Betroffenheit des Arztes und Menschen über den Todesfall sowie die Rechtfertigung und unbeholfene Erklärungsversuche eines verantwortlichen Direktors zusammen. Während diese Stelle einen berührten und berührbaren Direktoren als mitteilendes »Ich« zeigen, sind andere Passagen in den Berichten ausschließlich der Selbstinszenierung eines selbstsicheren und unnahbaren Direktors gewidmet, so etwa, wenn von Speyr im gleichen Bericht bei der Erwähnung der neuen Zentralheizung und der Einführung von elektrischem Licht über sein »Programm[ ]« referiert: »Seit vielen Jahren standen diese Neuerungen auf meinem Programme, bei meinem Eintritte in die Waldau im Jahre 1882 wurde mir z.B. gesagt, daß man auf die Einführung der Gasbeleuchtung verzichtet hätte, weil in der nächsten Zeit das elektrische Licht kommen würde. Aber sie mußten wegen dringlicherer Geschäfte von den Behörden immer wieder zurückgelegt werden. 212 Sein [Lorys] großes Legat ist bestimmt und geeignet […] wieder einen Teil meines alten Erneuerungs- und Erweiterungsprogrammes durchzuführen.« 213
Dieses »Programm[ ]« wird in seinen Inhalten nicht weiter ausgeführt und auch nicht oft erwähnt. Es scheint von Speyr aber wichtig gewesen zu sein, auf seine Vorreiterrolle in Bezug auf (technische!) Neuerungen hinzuweisen, deren Umsetzung, wie vieles in der Waldau, ihre Zeit forderte. Das persönliche Programm bleibt in seiner Nennung wie auch der fehlenden Ausformulierung eines der ambivalenten Textelemente, mit denen sich der Direktor zeigt und gleichzeitig in seinen Plänen bedeckt hält. 211 | Jb 1909, S. 26. 212 | Ebd., S. 26 f. 213 | Ebd., S. 32.
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Eine andere Art der Selbstinszenierung zeigt sich in der Erwähnung des eigenen Dienstjubiläums 1907. Von Speyr berichtet: »Am Pfingstmontag und -dienstag versammelte sich der Verein der schweizerischen Irrenärzte in der Anstalt. Wie es sich nun herausstellte, war die ehrenvolle Wahl des Ortes im letzten Jahre zum großen Teile darum auf die Waldau gefallen, um, etwas verfrüht, das 25jährige Dienstjubiläum des unterzeichneten Direktors im kollegialen Kreise zu feiern. Das war eine freundliche Aufmerksamkeit, für die ich den zahlreichen Teilnehmern danke. Es würde mich freuen, wenn die Anwesenden eine ebenso freundliche Erinnerung an diese Fest- und Arbeitstage bewahrten wie wir Gastgeber; nicht wenig trugen zum Gelingen unsere Pensionärinnen bei, die u.a. mit Rat und Tat einsprangen, als im letzten Augenblicke die Oberköchin ihren Dienst verließ. Ich benützte die Gelegenheit, der Versammlung einen Überblick über den Gang und die Entwicklung der Anstalt in diesen 25 Jahren zu geben, von denen ich ihr 8 Jahre als Sekundararzt und die übrigen als Direktor gedient habe. Am wirklichen Tage meines Eintrittes in die Waldau, am 22. Juli, überraschten mich viele gegenwärtige und frühere Pensionärinnen in hübschester Form mit einer großen Gabe, während jeder, auch der letzte Kranke von einer befreundeten Familie ein Stück guten Kuchens erhielt. Mit Vergnügen danke ich allen Gebern auch an diesem Orte.« 214
Der erwähnte Überblick über die Anstalt fehlt leider in der sonst sehr weit ausholenden Beschreibung des Jubiläums. Es lässt sich daraus aber lesen, dass sich von Speyr sowohl von den Fachpersonen wie auch von den Angestellten und Patienten gerne feiern ließ.215 Der Schilderung lässt sich auch ein Stück Anstaltsalltag entnehmen, insbesondere was die Rolle von Pensionärinnen betrifft, denen zusätzliche Aufgaben, Verdienste und entsprechende Aufmerksamkeit zukamen. Würde man nur diesen Textausschnitt kennen, würde man wohl aufgrund der Mehrfachnennung der Pensionärinnen eher auf eine Privatklinik schließen, und nicht auf eine überfüllte öffentliche Anstalt. Mit dem diese Passage abschließenden Dank schafft und bewahrt sich von Speyr eine distanzierte und distanzierende Förmlichkeit, die in einem Gegensatz steht zur oben konstatierten unsicheren Haltung in der Einteilung von Patienten. Hier präsentiert sich ein Direktor mit Erfahrung, der seine Anstalt fest im Griff hat. Die Selbstinszenierung des Direktors als erzählendes »Ich« ist eng verbunden mit der Darstellung der Anstalt, sodass in den Texten von einer sprachlich vermittelten Identifikation zwischen dem Direktor und seiner Anstalt gesprochen werden kann. Dabei wird die Klinik von ihrem Leiter als Ort der Transformation beschrieben. Im Gegensatz zu der oben genannten pessimistischen Aussage in Bezug auf die Behandlungsmöglichkeiten von Alkoholkranken gibt es in anderen Jahresberichten plakative Äußerungen, in denen die Anstalt als Ort der Wandlung und Besserung beschrieben wird. So heißt es exemplarisch im Bericht zu den Jahren 1892–1894: »Die Alkoholiker gehören zu den gefährlicheren Kranken! In der Anstalt vom Alkohol entwöhnt, werden diese nämlichen Leute hingegen, 214 | Jb 1907, S. 28 f. 215 | In der Erwähnung von von Speyrs 50-Jahre-Jubiläums 1932 wird hingegen explizit erwähnt, der Direktor wünsche keine Feier. Daher bekommt er nur das Dienstaltersgeschenk – eine silberne Platte. (Jb 1932, S. 7).
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die draußen durch Rohheit und Jähzorn gefährlich geworden sind, vielfach recht harmlose Pfleglinge.«216 Der Aufenthalt im ›Drinnen‹ der Anstalt bewirkt gemäß der Vermittlung durch die Jahresberichte wahre Wunder, so liest man etwa: »Ein Imbeciller, der zuweilen noch gern dem Alkohol huldigt und unter dessen Einfluß ein Sittlichkeitsvergehen begeht oder Branddrohungen ausstößt, kann in der Anstalt völlig geordnet leben.«217 Von diesen wunderbaren Wandlungen profitiert in der Logik der Eigendarstellung der Klinik auch die Gesellschaft, wird ihr doch durch die Anstalt ein potenzieller Krimineller abgenommen. Dass ein Austritt des »Imbecillen« nicht in Frage kommt, versteht sich von selbst, denn nur unter Anstaltsbedingungen wird er in Zukunft »geordnet leben« können. Die Wirkung der Anstalt geht einerseits von ihrer konsequent abstinenten Führung aus und andererseits liegt sie in der Ruhe (die man sich angesichts der überfüllten Abteilungen allerdings nur schwerlich vorstellen kann). Im bereits genannten Bericht wird die Ruhe explizit angeführt: »An dieser Beruhigung, die für viele von unsern Kranken gilt, ist nun freilich zum großen Teile die Ruhe der Anstalt an sich schuld, zum großen Teile aber auch der Entzug aller geistigen Getränke, der bei diesen Kranken doppelt wichtig ist.«218 Dafür sind weder Medikamente noch Therapien notwendig. Die Ruhe des Ganzen wirkt sich also auf den Einzelnen in dieser Institution aus. Die Anstalt generiert und überträgt Ruhe und dies wird neben der Abstinenz als ihr großer Vorteil dargestellt. Trotz der Platznot sieht sich von Speyr als Retter, der Kranke aus der Not aufnimmt: »Ich habe meinen besten Willen hergegeben, um aus Rücksicht auf die stets zunehmende Not im Lande selbst so viel Kranke, als nur möglich schien, in der Anstalt unterzubringen. Ich habe damit das Wohl und, wie ich leider zeigen muß, sogar das Leben der mir anvertrauten Kranken auf’s Spiel gesetzt.«219 Die Gefährdung der Kranken fand, wie von Speyr weiter ausführt, durch die engen Platzverhältnisse statt – ein Umstand, der anscheinend nicht von allen Beteiligten als derart problematisch empfunden wurde. Nach von Speyr sind jedoch alle, die die Platznot nicht als solche anerkennen, Unwissende.220 Dass es gerade von Speyrs Schilderungen sind, die ein äußerst widersprüchliches Bild der Klinik aufzeigen – ein überfüllter Ort, der durch seine Ruhe heilend wirken soll –, wird innerhalb der Jahresberichte nicht reflektiert. Die Darstellung ist derart auf den Handlungsträger und Schreiber von Speyr fokussiert, dass eine korrigierende Außensicht keinen Platz erhalten kann. Von Speyr inszeniert sich in den Texten als (einziger) Exper216 | Jb 1892–1894, S. 27. 217 | Ebd., S. 28. 218 | Ebd., S. 28. 219 | Ebd., S. 18. 220 | Von Speyr spart an dieser Stelle nicht mit Anaphern, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen: »Aber wer die großen Zimmer der ruhigen Abteilungen der Waldau sah, wer sie gar leer fand, wenn die Kranken im Garten oder bei der Arbeit waren, wer vernahm, daß in den vollständig freien Kolonien gewöhnlich noch leere Betten waren, der sah immer noch genug Platz, um wenigstens den einen, nur den einzigen Fall unterzubringen, für den er gerade zu sorgen hatte. Er vergaß, daß aufgeregte Kranke besonders eingerichtete Räume brauchen, er begriff nicht, daß unruhige und gefährliche Kranke oft der Absonderung bedürfen, er übersah, daß am nämlichen Tage von verschiedenen Seiten gerade nur für eine einzige Person der nämliche Raum begehrt wurde.« (Jb 1892–1894, S. 18).
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te, der sich in bester Absicht für das Wohlergehen der Patienten aufopfert, einige jedoch abweisen muss und dafür nur Vorwürfe erntet.221 Dass diese Vorwürfe teilweise Beschwerden nach sich zogen und von Speyr vermehrt den Bericht als Ort seiner eigenen, sprachlichen Verteidigung benutzte, zeigt der nächste Abschnitt.
3.5.4 Wille zur (Post-)Kontrolle und Umgang mit Beschwerden Die in der Anstalt von der Leitung ausgeübte Kontrolle beruht einerseits auf reglementarisch verordneten, also legitimierten Pflichten und sie gehört zum Aufgabenprofil des Direktors, andererseits kann diese Kontrolle durch eine entsprechend disponierte Persönlichkeit auch über das vorgeschriebenen Maß institutionalisiert und erweitert werden. Von einer solchen persönlichen Disposition kann man bei von Speyr ausgehen, wenn sogar der äußerst loyale Fritz Walther über ihn schreibt: »Bis zum Schluss seiner Tätigkeit hielt er auf strenge Ordnung, Zucht und Disziplin in der ganzen Anstalt, auch unter dem Wartpersonal und bei den Ärzten«.222 Für die Ära von Speyr kann man von einer – zeitgenössisch nicht untypischen – ausgeprägten Kontrollkultur sprechen, die sich auch im Umgang mit Geschriebenem abzeichnet und dort bis zur Zensur reicht. Dies lässt sich am besten in von Speyrs Behandlung und Steuerung der gesamten Anstaltspost zeigen. Von Speyr fungierte als Nadelöhr der Kommunikation zwischen Innen und Außen. Er sorgte etwa mit den Anweisungen an seine Angestellten dafür, dass an ihm kein Weg vorbeiging. Das Dienstreglement von 1901 hält ausdrücklich fest, dass die Angestellten sich nicht um die Briefe der Patienten kümmern dürfen: »Die Angestellten dürfen weder Briefe noch Einkäufe, noch überhaupt Aufträge eines Kranken ohne Genehmigung des Direktors besorgen.«223 Mit dieser Regelung versuchte von Speyr, die Kontrolle über den Schriftverkehr von mittlerweile rund 500 Insassen zu behalten. Neben den Jahresberichten sind Briefe eine zentrale Textsorte der Anstalt. Während Erstere als administrative Rechenschaftsmittel einmal jährlich eine Behörde und in Druckform eine anonyme Öffentlichkeit ansprechen, sind Letztere häufig handgeschrieben, an konkrete Empfänger adressiert, können offiziell-administrative oder private Inhalte haben und sind stärker mit Alltagssituationen verbunden, da sie auch viel häufiger geschrieben werden als die Berichte. Beide Textsorten werden in der Waldau durch Direktor von Speyr systematisch kontrolliert. Die Waldau hatte zu Beginn des Jahrhunderts eine Postablage, dann ein eigenes Postbüro, das jedoch 1921 aus Kostengründen geschlossen werden musste.224 Die Briefe von armen Kranken wurden anfänglich unentgeltlich befördert. Als die Post 221 | »Die zahlreichen notgedrungenen Abweisungen hilfsbedürftiger Personen haben mich nun viel Mühe gekostet und mir, von oben wie von unten, manchen Vorwurf zugezogen, den ich nicht verdient habe.« (Jb 1892–94, S. 19). 222 | Walther (1941), S. 498. 223 | (1901), S. 4. 224 | Über diese Schließung wird im Jahresbericht geschrieben: »Allseits schmerzlich empfunden wurde die Aufhebung des Postbureaus der Anstalt. Die Waldau, d.h. damals das äußere Krankenhaus, besaß seit 1897 eine eigene Postablage, die vom Verwalter und seinen Vertretern besorgt wurde. 1918 wurde die Postablage zu einem Postbureau erhöht und bald darauf nach den Weisungen der Post auf Kosten der Anstalt zweckmäßig umgebaut. Da auf einmal, obschon die Waldau mit den Jahren viel größer geworden war, kündete die Post aus
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diese Dienstleistung abschaffen wollte, gab es innerhalb der Berner Anstalten und damit auch in den Jahresberichten Proteste.225 Unabhängig von der tatsächlichen Beförderung und dem institutionellen Post-Ort kontrollierte von Speyr die ganze Anstaltspost, wie unterschiedliche Autoren berichten. Walther schreibt etwa: »Ferner kontrollierte er die ganze ein- und ausgehende Korrespondenz der Kranken selber, bevor er sie an die Abteilungsärzte weitergab, eine Arbeit, die ihm mit den Jahren jeden Tag oft mehrere Stunden raubte und die von vielen Leuten oft als überflüssig und sinnlos belächelt wurde. Aber auf diese Weise hielt er den Kontakt mit den Kranken aufrecht und erfuhr aus ihren Schreibereien oft äusserst wichtige Dinge, Geschehnisse auf den Abteilungen, die dem Personal entgangen waren, sich ankündigende Wandlungen im Krankheitsverlauf der Schreibenden, noch bestehende oder neu auftretende gefährliche Neigungen usw. Wie oft konnte er an Hand der Briefe rechtzeitig noch eine Entlassung verhindern oder sonst eine Anordnung treffen und damit ein eventuelles Unglück verhüten! Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass junge, unerfahrene oder unzuverlässige Ärzte die Briefe oft nicht oder zu wenig aufmerksam lasen und nicht zu deuten verstanden, und deshalb bewältigte er in seiner Ge-
Sparsamkeit auf 1. April den Vertrag, um das Bureau in eine billigere rechnungspflichtige Ablage zurückzuverwandeln. […] Das Postbureau Waldau mußte auf 1. Oktober seine Schalter schließen, und die Post wird seit diesem Tage in das Hauptgebäude gebracht, wo sie eine Angestellte der Anstalt, ohne Entschädigung durch diese oder die Post, verteilt.« (Jb 1921, S. 16). 225 | Zwei Berichtsausschnitte zeugen von diesem Konflikt: »Die Postdirektion beanstandete die Portofreiheit von Briefen notarmer Pfleglinge in Münsingen, während die nämlichen Privatkorrespondenzen in der Waldau, wie auch an einzelnen andern Orten bisher nicht taxpflichtig gewesen waren. Die Kommission wandte sich deshalb auf den Antrag von Direktor Glaser an die Oberpostdirektion, damit künftighin auch in Münsingen die Korrespondenz der armen Kranken freigegeben würde. Die für beide Anstalten ablehnende Antwort dieser Behörde konnte nach gründlicher Untersuchung erst im Berichtsjahr erfolgen.« (Jb 1897, S. 5) »Die Weigerung der Oberpostdirektion, die Briefe der armen Pfleglinge, die sie z.B. an ihre Angehörigen schreiben, als Armensache weiterhin unfrankiert zu befördern, indem nur die Korrespondenz an und für Arme, nicht aber auch die von Armen portofrei sei, führte zu unerquicklichen Verhandlungen mit der Armenbehörde der Stadt Bern. Die Kommission hatte die Anstalten angewiesen, dieses Porto den zahlungspflichtigen Gemeinden auf die Rechnung zu setzen, nachdem sie von sich auch bei der Oberpostdirektion alle Schritte gethan hatte, um den Widerruf des Erlasses zu erreichen. Nun weigerte sich einzig die Armendirektion der Stadt Bern, diese außergewöhnliche Auslage zu bezahlen, so daß die Direktoren der drei Anstalten schließlich beauftragt wurden, alle in Frage kommenden Briefe dem städtischen Armenbureau zur Weiterbeförderung zuzuweisen.« (Jb 1899, S. 9 f.) Wyrsch beschreibt die Problematik im Staccato-Stil und gibt gleich eine gegenüber den Schreibern dieser Briefe zynisch anmutende Erklärung, wo die verschollen Waldau-Briefe sein könnten: »Den kürzern gezogen hatte die Waldau inzwischen nur gegenüber der Oberpostdirektion, die 1897 plötzlich die Briefe notarmer Patienten portopflichtig erklärte, was sie bisher nicht waren. Worauf die Armendirektion der Stadt Bern sich 1899 weigerte, die Porti der von ihr Versorgten zu bezahlen. Worauf die Waldau ganz einfach diese Briefe an die Armendirektion sandte, nachdem auch der Staat Bern nicht Meister über die Oberpostdirektion geworden war. Ob sie wohl jetzt noch dort liegen?« Wyrsch (1955), S. 74.
Geschichte, Klinikalltag und Akteure wissenhaftigkeit und seinem Verantwortungsgefühl jeden Tag die Riesenarbeit der Briefkontrolle selber.« 226
Aus diesem Zitat lässt sich herauslesen, dass Walther für die Notwendigkeit der scheinbar überflüssigen Arbeit seines Vorgesetzten postum einsteht und dass er ihr in gewohnt loyaler Art Gutes abgewinnen mag – etwa dass durch sie ein Kontakt zu den Kranken entstehe und Entlassungen verhindert (!) werden könnten. Ein Briefe kontrollierender Direktor wird von Walther als besonders gewissenhaft dargestellt. Auch Klaesi berichtet, dass von Speyr sämtliche Briefe kontrollierte. In seiner Beschreibung fehlt aber Walthers bewundernder oder zumindest gutwilliger Unterton.227 Auf der Ebene der Textproduktion bedeutet dies, dass die Waldau für die meisten Beteiligten ein äußerst kontrollierter Schreibort ist, ein durch den Direktor und seine Helfer gesteuerter Kommunikationsort, wo auch Zensur ausgeübt wird. Heutige Rezipienten müssen deshalb bei der Lektüre von Texten aus der Waldau diese restringierte Entstehungs- und Verbreitungsmöglichkeiten zu bedenken versuchen. Wie diese Kontrolle aus der Perspektive der Patienten wahrgenommen wurde, war bereits Gegenstand der Einleitung und wird es nochmals im vierten Kapitel. Dass die Postkontrolle ein offenes Geheimnis war, zeigt, dass mit ihr auch Disziplinierungsmaßnahmen einhergingen: Der Schreibende wird den Schreibvorstellungen und -bedingungen des Direktors unterworfen, die Inhalte werden nach seinem Geschmack bewilligt oder eben nicht. Nur eine Anpassung an diese Bestimmungen vonseiten des Schreibenden kann zu einer erfolgreichen Verbindung mit dem ›Außerhalb‹ führen. Die Jahresberichte thematisieren die Briefe der Patienten meist im Zusammenhang mit Beschwerden. Bei solchen ist als erste Anlaufstelle die Aufsichtskommission zuständig (in der von Speyr als prominenter Sekretär vertreten ist), bei weiterführenden Konflikten ist die Direktion des Innern die nächste verantwortliche Instanz.228 In den Jahresberichten ist es wiederum von Speyr, der über diese Beschwerden schreibt. Die Berichte erwähnen oft am Rande, dass ein Kranker behaupte, seine Briefe würden nicht befördert oder er würde zu Unrecht in der Anstalt zurückgehalten. Theoretisch war von Speyr verpflichtet, keinen Patienten länger als notwendig in der Anstalt zu behalten,229 doch er schätzte anscheinend die Notwendigkeit der Behandlung generell als relativ lange ein. Trotzdem scheint sich von Speyr genötigt gefühlt zu haben, sich in Bezug auf die Internierungsdauer schriftlich zu verteidigen. Mit der Darlegung seiner Verteidigung gibt von Speyr den Beschwerden relativ viel Platz im Jahresbericht und lässt sie damit bedeutsam werden. Dies unterscheidet ihn von Klaesi, der solche Reklamationen ganz einfach weglässt respektive sie mit einer Floskel zusammenfasst.230 Bekam die Leserschaft aus Berichten von 226 | Walther (1941), S. 497 f. 227 | (Jb 1933, S. 17). Siehe auch Kapitel 3.12. 228 | (1894), S. 375. 229 | »Die Anstaltsdirektoren sind dafür verantwortlich, daß kein Kranker länger, als zu seinem Wohl erforderlich ist, in den Anstalten zurückgehalten werde.« (1894) S. 383. 230 | Eine solche zusammenfassende Wendung Klaesis ohne inhaltliche Informationen lautet 1933 etwa: »Im weitern behandelte die Aufsichtskommission mehrere Beschwerden, Ent-
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Speyrs seine Sicht auf die Dinge präsentiert, verbietet sich Klaesi jegliche Einsicht von außen in die Beschwerden, die gegen ihn geführt werden. Die Strategie der Verteidigung von Speyrs beruht jeweils auf einer Pathologisierung des Urhebers dieser Beschwerden nach einem argumentativ zirkulären Muster: Weil ein bestimmter Mensch krank ist, beschwert er sich. Weil diese Beschwerden von einem Kranken und Ausdruck der Krankheit sind, müssen sie nicht weiter verfolgt werden. Als Beispiel für diese sprachliche Diskreditierung und generelle Pathologisierung von Patientenäußerungen sei eine Stelle aus dem Vortrag Neue Aufgaben der Bernischen Irrenpflege von 1894 zitiert: »Man erzählt so gerne, daß Kranke, ja Gesunde in den Anstalten ungerecht zurückgehalten, daß sie mißhandelt werden u.s.w. Solche Klagen sind gewiß häufiger und werden mehr geglaubt, als ich nur weiß; wo ich welche vernommen habe, sind sie regelmäßig von ungeheilten Pfleglingen ausgegangen, die Wahn und Wirklichkeit nicht zu unterscheiden vermochten.« 231
Neben von Speyrs Verteidigungsstrategie zeigen die Beschwerden, deren formale Behandlung sich oft über eine längere Zeit erstreckt, auch einen Fortsetzungscharakter der Jahresberichte auf. Häufig finden sich in ihnen zeitliche und intertextuelle Verweise, wie etwa wenn die Aufsichtskommission (und von Speyr) schreiben: »Die im letzten Berichte erwähnten Anklagen des Herrn Großrat Leuenberger gegen die Waldau konnten vom Großen Rate erst mit dem Staatswirtschaftsberichte behandelt werden.«232 Trotz der ausführlichen Beschreibung der einzelnen Beschwerdefälle zeichnen sich die Berichte häufig durch ein hohes Maß an NichtInformation aus. So wird etwa in der Folge des eben Zitierten geschrieben: »Der Präsident der Staatswirtschaftskommission schrieb nachher am 7. November der Sanitätsdirektion, daß trotz der Schwere der Anschuldigungen zu einem Einschreiten von Amtes wegen kein Anlaß vorhanden sei, und er habe persönlich den Eindruck, daß diese Anschuldigungen auf unzuverlässige Angaben einer exaltierten Person hin erhoben worden seien. Sie warfen trotzdem ihre weiteren Wellen, denn ein Pflegling der Waldau, der den Behörden wohl bekannte Querulant E. A . H ., berief sich auf diese Beschwerde, die von der Sanitätsdirektion unterdrückt worden sei, um neuerdings über brutale Behandlung in dieser Anstalt, schlechtes Essen, usw. zu klagen. Es war nicht schwer, die Nichtigkeit auch dieser Klagen nachzuweisen, so daß der Große Rat sie als erledigt betrachtete. Aber der Kranke ließ schon im Januar wieder ähnlich von sich hören.« 233
Unklar bleibt hier, welcher Art die »Anschuldigungen« tatsächlich waren, was unter den »unzuverlässige[n] Angaben« zu verstehen sei oder warum die Person als »exaltiert[ ]« bezeichnet werden kann. Wie die »Nichtigkeit« der Klagen nachgewiesen wurde, bleibt ebenfalls offen. So eröffnen die Textstellen über die Beschwerden gerade auch in von Speyrs Ausführlichkeit des Berichtens, die seine Schreibweise von derjenigen Klaesis unterscheidet, Informationslücken. Hinter einer scheinbar lassungsgesuche, Gesuche um Auszahlung des Lohnes bei Krankheiten, die länger als 8 Wochen andauerten, und Gesuche um Vergütung von Heilungs- und Kurkosten.« (Jb 1933, S. 9). 231 | Von Speyr (1894), S. 10. 232 | Jb 1919, S. 7. 233 | Ebd., S. 8.
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akribischen Auflistung von Vorfällen verbergen sich so die Inhalte ebendieser Vorfälle. Dass nicht nur gegen von Speyr, sondern auch gegen andere Ärzte und gegen das Wartpersonal Klagen eingingen, zeigt eine Ansammlung von Beschwerden, die sich im Bericht aus dem Jahr 1909 finden: »Der Pflegling der Waldau, A. M . von G., schrieb teils aus einem Urlaube, teils auf Umwegen aus der Anstalt allerlei Briefe an die kantonale Sanitätsdirektion, das eidgenössische Justizdepartement und den Untersuchungsrichter. Er verlangte darin seine Entlassung aus der Waldau oder seine Versetzung nach Münsingen, weil ihn der Abteilungsarzt schlecht behandle und bei einem früheren Aufenthalte vor fünf Jahren mit zwei Wärtern sogar mißhandelt habe. Direktor v. Speyr beantragte deshalb eine Untersuchung, und Herr Siegenthaler [Regierungsstatthalter aus Schlosswil] nahm diese im Auftrage der Kommission vor. Er hörte nicht nur den Kläger ab, sonder[n] auch zwei andre unzufriedene Kranke, K. L . S . von G. und F. H . von B., die ähnliche Briefe geschrieben hatten, dann die Beklagten und eine Reihe von Zeugen. Da die Kommission nicht fand, daß eine strafbare Handlung vorläge, so betrachtete sie ihre Aufgabe als erledigt, und die Sanitätsdirektion, die die Akten noch durch auswärtige Verhöre ergänzte, kam zum Schlusse, daß sich nicht der geringste Anhaltspunkt für eine Mißhandlung ergeben habe. Eine Versetzung nach Münsingen fiel dahin, da der Kranke sich unterdessen so weit gebessert hatte, daß er von seinen Angehörigen abgeholt werden konnte. Zur gleichen Zeit wurde noch eine andere Beschwerde [also die hier 4., Anm. M.W.] in ähnlicher Weise untersucht: Der Pflegling der Waldau, O. B. von K., hatte beim Untersuchungsrichter gegen den Direktor und gegen die Aufsichtskommission und deren Präsidenten Klage erhoben, daß er illegaler Weise interniert werde und eine lange Liste gravierender Beschwerden vorzulegen habe. Er nannte namentlich den Direktor einen Maniac, von dem es eine Ehre sei, verrückt erklärt zu werden. Der Fall war klar und gab darum zu keinen weiteren Schritten Anlaß. Auch der Maschinenmeister der Waldau beklagte sich in einem sehr auffälligen Briefe über den Direktor, der ihm gewisse Bemerkungen gemacht hatte. Die Kommission ordnete Herrn Siegenthaler zur Untersuchung ab, und dessen Untersuchung ergab, daß dieser Angestellte nicht in die Waldau paßte; er verließ deshalb die Anstalt auf den 1. Juli.« 234
Diese Stelle ist deshalb interessant, weil sie in ihrem ersten Absatz indirekt ausdrückt, dass es Orte und Wege gibt, an denen die Kommunikation der Patienten durch den Direktor nicht kontrolliert werden kann: Es sind dies der Urlaubsort und »Umwege[ ]« in der Anstalt, womit die Übermittlung von Briefen durch Besucher oder Angestellte gemeint sein dürfte. Die erste Beschwerde richtet sich gegen einen Abteilungsarzt und gegen Pflegepersonal, damit indirekt aber gegen die Anstalt Waldau, die eine schlechte Behandlung zugelassen hat. Die Stelle zeugt im Weiteren von einer der wenigen Untersuchungen, die von Speyr eingeleitet hat, und ihrem Ablauf. Die ›Lösung‹ des Problems wird ebenfalls deutlich: Der unangenehme Patient hat sich, wenn man dem Bericht glauben darf, gebessert und kann deshalb entlassen werden. Die vierte in diesem Zitat genannte Beschwerde des Pfleglings O. B. ist deswegen von Interesse, weil sie eine indirekte Patientenaussage beinhaltet, die sich in der Krankheitszuweisung ausdrückt. Hier übernimmt der Patient die Rolle des Arztes: 234 | Ebd., S. 12 f.
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Einmal wird der Direktor als »Maniac« bezeichnet, dessen Pathologisierung der Insassen von einem von ihnen als »Ehre« aufgefasst wird. Die Krankheitszuschreibung durch den Direktor wird vom ›Objekt‹ der Zuschreibung kommentiert und dessen Verhalten imitiert. Gerade weil diese Patientenaussage vom Direktor sofort als nichtig eingestuft wird, mag es erstaunen, dass ihr in diesem Bericht überhaupt Platz eingeräumt wird. Auch wenn die Ausführungen zu den Beschwerden meist Verteidigungsrhetorik der Direktion sind, erfährt man aus ihnen doch, wie oft sich Patienten beschwert hatten und wie viel Energie sie vermutlich in das Schreiben, Verstecken und Befördern von »allerlei« Briefen gesteckt haben mussten, damit ihr ›Fall‹ überhaupt Thema der Behörden wurde. Mit der Erwähnung im Jahresbericht sind die Beschwerden meist an ihrem narrativen Ende angelangt. Wenn im obigen Beispiel geschrieben wird, der »Fall« sei »klar« gewesen, dann zeigt sich in diesem abschließenden Kommentar eine siegessichere Aufsichtskommission, die es nicht für nötig befindet, der Leserschaft deutlich zu machen, was denn die Klarheit ihres Urteils ausmache. Der ›Fall‹ wird zwar ausgiebig erwähnt, aber ebenso deutlich gemacht, dass die Deutungshoheit unangetastet bleibt. Schreiben heißt hier also auch die eigene Macht festigen. Es werden keine weiteren Schritte unternommen und es wird in diesem Bericht nicht weiter erzählt. Der ›Fall‹ O. B. wird so zur Anekdote, die scheinbar abgeschlossen ist, wenn man nur einen einzelnen Jahresbericht liest. In diesem konkreten Fall folgt aber im übernächsten Jahresbericht eine Weiterführung, der Patient ist nämlich mittlerweile an das Obergericht gelangt. Dieses fällt jedoch keine Entscheidung, sondern gibt die Beschwerde zurück an die Aufsichtskommission, die wie selbstverständlich nicht darauf eingeht.235 Eine Beschwerde weiterzuziehen hat demzufolge für den klagenden Patienten wenig Aussichten, wenn die entsprechenden Behörden keine Entscheidung zu fällen wagen. Mit dieser Wiederaufnahme und der Rückgabe des ›Falls‹ an die Aufsichtskommission endet die offizielle Geschichte von O. B. Die das Zitat abschließende Beschwerde des Maschinenmeisters zeigt schließlich exemplarisch auf, dass sich auch Angestellte über den Direktor beschwert haben. Auch hier läuft die Verteidigung im Bericht wieder über eine Pathologisierung, wenn gesagt wird, die Briefe des betreffenden Angestellten seien »sehr auffällig[ ]«. Während man unliebsamen Patienten eine Genesung attestieren und sie dadurch los werden konnte,236 zeigte die Untersuchung, dass der Maschinen235 | 1911 heißt es: »Der nämliche Pflegling der Waldau, O. B., der im Berichte für 1909, Seite 13 erwähnt ist, reichte bei der 1. Strafkammer des Obergerichts eine gerichtliche Klage ein gegen die Regierung des Kantons Bern wegen illegaler Internierung und gegen die Direktion wegen illegaler, d.h. unmotivierter Detention. Die Kammer erklärte sich für nicht kompetent; im übrigen handle es sich um die Eingabe eines offenbar Geisteskranken, und sie trete auf die Beschwerde nicht ein, sondern übergebe sie der Kommission zur gutfindenden Verwendung.« (Jb 1911, S. 12). 236 | In wichtigen ›Fällen‹, etwa bei reichen Patienten, konnten Kommission und Direktor auch eine Entmündigung bewirken, was den für die Anstalt lästigen Briefverkehr ebenfalls erledigte, wie folgendes Beispiel zeigt: »Eine Pensionärin der Waldau beklagte sich bei der Kommission, daß der Direktor einen unklaren Brief ›an ein hohes Gericht in Bern‹ nicht abgeschickt hätte. Da auch deren Ehemann in der Anstalt verpflegt wurde, und beide Gatten sehr reich, aber nicht entmündigt waren (der Mann hatte einem Verwandten eine Generalvollmacht gegeben), so beauftragte die Kommission ihre beiden juristischen Mitglieder mit
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meister nicht in die Waldau »passte« und er deshalb gehen musste. Unliebsamen Patienten und dem Ärger mit Mitarbeitern wird also vonseiten der Klinik durch Entlassung im doppelten Wortsinn begegnet. Von Speyr hat sich seine Macht über seine Angestellten auch in Sitzungen der Aufsichtskommission via Abstimmungen bestätigen lassen.237 Die vielen Reklamationen von Patienten bewirken aber 1929, also gegen Ende der Ära von Speyr, auf Grund einer Intervention der Sanitätsdirektion, eine Vernehmlassung, der zufolge diese Beschwerden anders gelesen werden sollten – sie sind neu als förmliche Entlassungsgesuche zu verstehen: »Auf die Beschwerde eines durch die Polizei in die Waldau versetzten Pfleglings, daß deren Direktor seine Entlassungsgesuche an den Regierungsrat oder an seine Mutter, mit der er übrigens frei verkehrte, zurückbehalten hätte, verfügte die San.-Dir., daß jedes Schreiben, worin ein Pflegling seine Entlassung begehrt, als förmliches Entlassungsgesuch zu behandeln und unverzüglich an die A.-K. [= Aufsichtskommission] zu leiten sei, falls der Direktor die Entlassung nicht von sich aus bewillige. Auch einer Frau H. S . H . in der Waldau konnte die A. K . nicht entsprechen.« 238
Mit dieser Regelung bekommen die einzelnen Beschwerden ein größeres Gewicht, die Bedeutung der Aufsichtskommission wächst und die Kompetenzen des gealterten Direktors werden eingeschränkt. Seine Zeit neigt sich dem Ende zu. Hier wird aber auch ein Impuls in Richtung einer neuen Lesart von Patiententexten gegeben. Das Argumentationsmuster der Pathologisierung wird durchbrochen, wenn vorgeschrieben wird, dass »jedes Schreiben«, in dem eine Entlassung gefordert wird, als Gesuch gelesen werden soll. Ob auf diese Gesuche dann eingetreten wird (im zitierten Beispiel ist das nicht der Fall), ist eine andere Frage, aber zumindest wird die Lesart reglementarisch vorgeschrieben und die Patiententexte lassen sich deshalb nicht mehr als schlichter Ausdruck von Krankheit abtun. Schreiben und Lesen – und damit auch der Schreibort – verändern sich somit innerhalb der Ära von Speyr. Die Deutungsmacht des Direktors, die auch eine Macht über Schreiben und Lesen ist, verringert sich gegen Ende seiner Direktionszeit. der Prüfung der Frage, ob die Anstalten nicht in jedem Falle zu einer Anzeige an die Vormundschaftsbehörde verpflichtet seien, in dem eine Entmündigung nötig erscheinen möge. Bis dahin solle der Direktor der zuständigen Vormundschaftskommission von der Sachlage Kenntnis geben, und dieser seien die weiteren Maßnahmen zu überlassen. Der Direktor sprach sich gegen diesen Auftrag aus, indem er auf dessen mögliche Folgen hinwies, befolgte ihn aber, und die Vormundschaftsbehörde forderte Gutachten ein und veranlaßte die Entmündigung der beiden Kranken. Ihre Verwandten nahmen diese Maßregeln sehr übel auf und bereiteten der Anstalt allerlei Unannehmlichkeiten.« (Jb 1912, S. 10 f.). 237 | Zur Illustration dieses Umstandes sei hier eine Textstelle aus dem Bericht von 1910 angeführt: »Der Direktor der Waldau hatte die Kommission an der Hand von Beispielen um Aufklärung oder Weisung über die gegenseitigen Rechte und Pflichten von Verwalter ersucht. Die Kommission entschied an der Hand der klaren Bestimmungen des Organisationsdekretes einstimmig, daß alle Beamten und Angestellten dem Direktor untergeordnet seien, dessen Anordnungen von keinem davon umgestoßen werden dürfen, seine Autorität von ihnen gewahrt werden müsse.« (Jb 1910, S. 11). 238 | Jb 1929, S. 7.
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Die Anstaltsleitung steht zwar in den Berichten als exponierte Figur im Vordergrund, den Anstaltsbetrieb jedoch prägen auch andere Akteure entscheidend, von denen als nächstes die Ärzte und danach das Pflegepersonal in ihrem Bezug zum Schreibort thematisiert werden.
3.6 Ä rz te und Ä rz tinnen Die Tabelle über die Ärzte der Waldau im Anhang zeigt die personelle Besetzung auf, das heißt, sie zeigt wie viele respektive wie wenige Ärzte gleichzeitig in der Anstalt gearbeitet haben, woher sie kamen und wie lange sie jeweils an dieser Station einer Ärztekarriere blieben – wohin die Ärzte nach der Waldau jeweils gingen, wird in den Berichten nicht immer ausgeführt. Bei der Herkunft erwähnen die Jahresberichte die unterschiedlichen Nationalitäten: Die meisten ausländischen Ärzte stammten aus Russland, einige kamen auch aus Deutschland oder Österreich-Ungarn. Um 1895 arbeiten in der Waldau nur drei fest angestellte Ärzte, wovon einer der Direktor von Speyr ist, der, wie schon ausgeführt wurde, meist mit Schreibtischarbeiten beschäftigt war. Ab 1908 wird ein vierter Arzt eingestellt, ab 1913 ein fünfter. Diese letztgenannte Stelle wird aber ab 1923 für die restliche Zeit von Speyrs nicht mehr ausgeschrieben und auch nicht mehr besetzt. Müller hält in seinen Erinnerungen bei einem Vergleich der Waldau mit Münsingen fest: »Die Waldau hatte einen Arzt (fünfter Arzt) und einen Assistenten mehr. Der fünfte Arzt wechselte dauernd, und die Stelle blieb dann während langen Jahren unbesetzt; von Speyr gab sich gar keine Mühe, einen Bewerber zu suchen, weil er fand, es gehe auch so.«239 Ab 1924 sind also jeweils (mit dem Direktor) vier Ärzte und einige Assistenzund Volontärärzte für 900 bis zeitweise über tausend Patienten der Waldau zuständig.240 Dabei muss bedacht werden, dass die Ärzte auch immer wieder aufgrund des Militärdienstes fehlten, also häufig noch weniger Ärzte vor Ort waren.241 Der 239 | Müller (1982), S. 42. 240 | Das Verhältnis von einem Arzt auf mehr als 200 Patienten bezeichnet Direktor Glaser im Münsinger Bericht bereits 1902 als unmöglich: »Aber seit Mitte des Jahres waren wir auf 600 Kranke nur 3 Ärzte; das heißt es kam 1 Arzt auf 200 Kranke. Eine andauernd richtige Besorgung der ärztlichen Pflichten ist mit diesem Personal kaum möglich.« (Jb 1902, S. 53) Warum von Speyr zwanzig Jahre später fand, dieses Verhältnis zwischen der Anzahl Ärzte und den Patienten reiche für seinen Anstaltsbetrieb aus, der ja auch noch die universitäre Lehre abdecken musste, bleibt aus heutiger Sicht betrachtet unverständlich. 241 | Interkantonale Initiativen gegen den Militärdienst der Ärzte blieben erfolglos: »Die Aufsichtskommission hat sich einem Gesuch der zürcherischen und waadtländischen Behörden an das schweizerische Militärdepartement angeschlossen, daß die Sekundärärzte der Anstalten Waldau und Münsingen für die Dauer ihres Amtes vom Militärdienste befreit werden möchten, doch ohne Erfolg.« (Jb 1906, S. 10) Auch während des Zweiten Weltkrieges waren die (Schweizer) Ärzte im Aktivdienst und nicht in der Anstalt, was deren Betrieb beeinträchtigte: »Fortbildungskurse und Prüfungen der Schweiz. Gesellschaft für Psychiatrie mußten wir im Berichtsjahr ausfallen lassen, weil alle unsere Ärzte mit nur zwei Ausnahmen militärdienst- oder hilfsdienstpflichtig sind und immer wieder einrücken mußten, diesmal ein Nachteil des lebhaften Zudranges von Schweizerärzten zu unsern Arztstellen.« (Jb 1940, S. 14).
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Militärdienst wurde den Ärzten von den Ferien abgezogen, wogegen sie sich 1919 wehrten, als sie mehr Ferien und die Möglichkeit von Weiterbildungen forderten.242 Bei den Assistenzärzten und Volontären gab es immer regen Wechsel. Diese Stellen zu besetzen, war oft problematisch. Gründe dafür waren die Unpopularität der Disziplin Psychiatrie,243 die befristeten Arbeitsverhältnisse, die relativ schlechte Bezahlung der Arbeit und die Tatsache, dass man in der Klinik wohnen musste, was für Ärzte mit Familie nicht sehr attraktiv war. Bereits der Jahresbericht von 1888 erwähnt die Schwierigkeit, Fachpersonen für die Arbeit in der Klinik zu finden: »Es hatte diesmal noch schwerer als früher gehalten, Bewerber für die Assistenzarztstelle zu finden, weil die Wahl der Psychiatrie als Spezialität vor oder nach dem Examen eine sehr störende Unterbrechung in dem Studiengang der jungen Aerzte verursacht. Im Interesse der Anstalt liegt es, einen nicht zu häufigen Wechsel im Arztpersonal eintreten zu sehen, weil es immer einige Monate dauert, bis ein frisch eingetretener Arzt recht wirksam in den Geschäftsgang eingreifen kann. Auf der andern Seite ist die Stelle finanziell nicht so bedacht, daß ein junger Arzt sich dauernd daran binden kann. Während Assistentenstellen in anderen Spitälern sogar ohne Besoldung gesucht sind, hat man für Irrenanstalten oft Noth, Kandidaten zu erhalten. Es wurde deshalb der Versuch begonnen, außer dem festangestellten Assistenzarzt noch eine Volontärstelle zu schaffen, um Assistenzärzte heranzuziehen und auf ihren zukünftigen Dienst vorzubereiten.« 244
Die Stelle eines Volontärs wurde aber erst zehn Jahre später tatsächlich eingeführt und dies auch noch mit der Auflage, dass der Inhaber der Stelle zusätzlich zu seiner Arbeit für die Anstalt ein Kostgeld zahle: »Im Jahre 1898 wurde, dem Beschluß des Regierungsrates entsprechend, die Stelle eines Volontär-Arztes zum ersten Male besetzt. Diese Stelle war nach dem Muster des Burghölzli geschaffen worden, damit junge Aerzte Gelegenheit hätten, sich mit der Psychiatrie besser vertraut zu machen. Diese, Studenten oder Aerzte, verpflichten sich für 3 Monate und bezahlen der Anstalt ein bescheidenes Kostgeld (1.50–2 Fr.) Dagegen erhalten sie freie Station, und die ganze Anstalt steht ihnen zum Lernen offen.« 245 242 | Im Bericht liest man: »Fast alle Ärzte der drei Anstalten ersuchten die Kommission, es möchten ihnen jährlich 6 Wochen Ferien gewährt werden, – sie würden damit immer noch weniger Freitage haben als die übrigen Beamten des Staates, – – ferner der Militärdienst, den sie nicht freiwillig machten, nicht als Ferien angerechnet werden, wie das auch bei den andern Beamten nicht geschehe, endlich Zeit und Mittel geboten werden, daß sie sich gelegentlich in psychiatrischen Kliniken und Kursen weiter ausbilden könnten. Die Sanitätsdirektion antwortete im ganzen nach den Anträgen der Kommission, sie sei mit 4 Wochen Ferien einverstanden, und in besonderen Fällen können auch 14 Tage für wissenschaftliche Weiterbildung bewilligt werden, sofern der Anstaltsbetrieb nicht leide und kein Ersatzpersonal nötig sei.« (Jb 1919, S. 9). 243 | Ein Münsinger Bericht benennt das Problem wie folgt: »Die Psychiatrie ist die von jungen Ärzten am wenigsten gesuchte Spezialität. Dennoch ist es eine sociale Pflicht, daß die Irrenbehandlung- und Pflege dem Stande der Wissenschaft entsprechend geübt werde.« (Jb 1902, S. 53). 244 | Jb 1888, S. 4. 245 | Jb 1898, S. 26.
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Bereits zwei Jahre darauf wird dem Volontär ein Lohn von Fr. 600.- gegeben, die Variante mit einem zu zahlenden Kostgeld schien nicht praktikabel gewesen zu sein. Über die Löhne der Angestellten gibt eine (allerdings unvollständige) Tabelle im Anhang Auskunft.246 Daraus lässt sich entnehmen, dass ein Assistenzarzt 1889/1890 pro Jahr zweitausend Franken verdiente.247 Im Bericht von 1908 wird eine Betragsspanne von 800 bis 2000.- Fr. für die Assistenzärzte angegeben, deren Stellenanzahl 1903 auf zwei verdoppelt worden war. 1922 zeigt sich, dass Herkunft und Ausbildung der Assistenzärzte maßgeblich die Höhe der Besoldung beeinflussen, so werden zum ersten Mal unterschiedliche Löhne für Assistenzärzte mit oder ohne Schweizer Diplom angegeben.
3.6.1 Assistenzärztinnen In den ersten 45 Jahren der Waldau sind die Ärzte ausschließlich Männer. Was im Jahr 1899 noch nicht möglich erscheint, denn auf »das Gesuch um Anstellung eines zweiten (weiblichen) Assistenten wurde im Berichtsjahre nicht eingetreten«,248 wird 1900 wahr: Ab dann sind auch Frauen als Assistenzärztinnen in der Waldau tätig. Die Waldau spielt auch hier keine Vorreiterrolle, sie schließt sich den Änderungen an, die andernorts früher eingeführt wurden und sich bewährt haben, wie der Bericht betont: »Am 1. Oktober wurde er [Herr Dr. Paravicini] definitiv durch Fräulein Dr. Siglinde Stier aus Dessau ersetzt. Fräulein Stier ist die erste Assistentin der Waldau, in andern Anstalten haben sich Ärztinnen bereits bewährt.«249 Nach Stier sind es dann häufig russischstämmige Assistenzärztinnen, die in der Waldau arbeiten.250 Vergleicht man die ›Karrieren‹, die Ärzte in der Waldau durchlaufen haben, fällt auf, dass die Männer meist eine Stufe in der Hierarchie aufrücken, wenn eine Stelle frei wird, während auch die langjährigen Assistenzärztinnen höchsten einmal vertretungsweise die Stelle eines vierten Arztes einnehmen können. Die Stelle des Assistenzarztes war nicht sehr gut bezahlt und innerhalb der Salärvorschriften gab es einen Handlungsspielraum, was in der Praxis dazu führte, dass Frauen weniger verdienten als ihre männliche Kollegen. So verlangte etwa die langjährige Assistenzärztin Gita Mirkowitsch 1916 ihre Entlassung, weil ihr immer nur der Mindestlohn bezahlt wurde. Die Anstalt litt gerade unter Ärztemangel, unter anderem wegen dem plötzlichen Tod des zweiten Arztes, Robert Walker, und Mirkowitsch ließ sich zum Bleiben überreden, »indem sie endlich das Maximum ihrer Besoldung erhielt.«251 246 | Siehe Anhang, Tab. 1. Die Tabelle beruht auf den (unvollständigen) Angaben der Jahresberichte und soll einen Eindruck davon geben, welche Berufe in der Anstalt vertreten waren und wie die Besoldungsverhältnisse waren. 247 | »Die Schwierigkeit, die Stellen der Assistenten und Volontäre zu besetzen, dauert fort, trotzdem die Stelle des I. Assistenten auf 2000 Fr. erhöht und dem Volontärarzt außer freier Station noch 600 Fr. Baarbesoldung bewilligt worden.« (Jb 1889/1890, S. 3). 248 | Jb 1899, S. 26. 249 | Jb 1900, S. 21. 250 | Siehe zu den russischen Medizinerinnen in Zürich zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Aufsatz von Huser (2008). 251 | Jb 1916, S. 8.
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Man muss annehmen, dass Frauen grundsätzlich weniger Lohn bekommen haben und dass aufgrund ungeschriebener Gesetzte klar war, dass sie keine Anstaltskarrieren machen konnten. Ein weiterer Beleg für die schlechtere Bezahlung findet sich im Bericht von 1904, in dem geschrieben steht, dass die Assistenzärztin Frl. Frieda Kaiser vom Regierungsrat nicht den Maximal-Lohn für ihre Tätigkeit bekomme. Auch Kaiser drohte mit Demission, blieb dann aber noch bis Mitte 1905.252 Marie Ries-Imchanitzky und Gita Mirkowitsch bleiben jahrelang ohne Aufstiegsmöglichkeit auf dem allgemein relativ schlecht bezahlten Posten der Assistenzärzte, und als Ausländerinnen müssen sie zusätzlich eine Lohnverringerung hinnehmen. Darüber hinaus wird die Verlängerung ihrer ohnehin jeweils auf ein Jahr befristeten Anstellungen in einem zunehmend ausländerfeindlichen Umfeld zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch immer wieder Thema der Sitzungen der Aufsichtskommissionen und damit der Jahresberichte, so etwa 1922: »Gegen die Bestätigung der beiden ausländischen Assistenzärztinnen [Ries-Imchanitzky und Mirkowitsch, Anm. M.W.] der Waldau, die jeweilen auf ein Jahr gewählt werden, machte sich mit der Begründung, daß diese Stellen Schweizern gebührten, in Wirklichkeit mehr aus persönlichen Gründen, ein Widerstand geltend. Es bewarb sich tatsächlich eine Schweizerin mit schweizerischem Diplom, aber diese hatte den Nachteil, daß sie verheiratet ist, während die Stellen nur für Ledige gedacht sind. Dir. v. Speyr hielt sich im Interesse der Anstalt für verpflichtet, die beiden bisherigen Inhaberinnen zur Bestätigung zu empfehlen. Er wies nach, daß er von jeher Inländer befürwortete, wenn es möglich war, daß sich aber gerade für diese Stellen nur selten Schweizer meldeten, sogar seit dem Kriege, und daß sich die eine Inhaberin seit 1919, die andere gar seit 1912 bewährte, derart, daß der Regierungsrat sie 1916 zu bleiben ersuchte, als sie in schwerer Zeit um ihre Entlassung einkam. Die Kommission schloß sich dem Antrag des Direktors an, immerhin mit der Bemerkung, daß die beiden Ärztinnen nicht unbedingt auf ihre Wiederwahl rechnen dürften, wenn sich später geeignete schweizerische Kandidaten mit schweizerischem Diplom bewerben sollten. Ebenso der Regierungsrat.« 253
Wer hier aus »persönlichen Gründen« Widerstand geltend macht, bleibt ungenannt. Etwas seltsam mutet im Weiteren von Speyrs Argumentation an, dass diese Stellen für ledige Assistenzärztinnen gedacht waren – Ries-Imchanitzky gehörte (im Gegensatz zu Mirkowitsch) offensichtlich nicht zu den Ledigen, sie arbeitete auch schon früher jeweils kürzere Zeitabschnitte parallel mit ihrem Mann, Julius von Ries, in der Waldau. Obwohl die ausländischen Assistenzärztinnen finanziell und karrieretechnisch schlechter dastanden als ihre Schweizer Kollegen, müssen sie vom Direktor relativ große Aufgabengebiete zugesprochen bekommen haben. Dies erschließt sich einmal mehr indirekt aus der Erwähnung einer Beschwerde eines anderen Arztes: »Der fünfte Arzt der Waldau, Dr. Wolf, beschwerte sich bei der Kommission, daß ihm der Direktor nicht die ihm gebührende Arbeit, speziell die Männerabteilung des Neubaus zuweise, die von der unter ihm stehenden Assistentin [Ries-Imchanitzky, Anm. M.W.], besorgt werde. Die Herren Ernst, Lörtscher und Siegenthaler untersuchten diese Beschwerde als Subkom252 | Jb 1904, S. 10. 253 | Jb 1922, S. 7.
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Schreiben am Rand mission, und die Gesamtkommission kam nach deren Antrag zum Schlusse, daß der Direktor nach dem Organisationsdekrete berechtigt sei, die Diensteinteilung nach seinem Gutfinden vorzunehmen, und daß andere als dienstliche Gründe dabei nicht maßgebend gewesen seien.« 254
Auch hier stützt die Aufsichtskommission von Speyr, und damit ist Ries-Imchanitzky weiterhin für die Männer im Neubau – seit dem Weggang Morgenthalers zum Beispiel für Wölfli – zuständig. Die in den Berichten dokumentierte Diskussion um Machtverhältnisse und Nationalitäten legt sich wieder (sie wird bei der Neubesetzung der psychiatrischen Professur zu Beginn der 1930er Jahre wieder aufflammen). Im Bericht von 1927 wird bloß noch erwähnt, die beiden Assistentinnen seien für ein neues Jahr bestätigt worden. Über die beiden Assistentinnen und ihre Arbeit ist wenig bekannt, sie haben trotz jahrelanger Tätigkeit in der Waldau wenig Spuren hinterlassen – oder vielleicht muss es anders betrachtet werden: Wenn man die Art ihrer Erwähnungen in den Jahresberichten bedenkt, ihre Situation der doppelten Diskriminierung als Frauen und als Ausländerinnen bei großer beruflicher Verantwortung, muss man wohl schließen, dass ihnen bewusst wenig Gelegenheit geboten wurde, Spuren hinterlassen zu können. Marie Ries-Imchanitzky beschäftigte sich mit Epilepsie und Arsen, wie eine 1912 in der Zeitschrift Epilepsia publizierte Arbeit zeigt. Die Arbeit wurde unter dem Namen Imchanitzky-Ries publiziert (1912). In den Jahresberichten wird ihr Name jeweils als entweder nur Imchanitzky oder dann Ries-Imchanitzky wiedergegeben.255 Nach der Waldauer Zeit beschäftigte sie sich auch mit biologischen Themen: Gemeinsam mit ihrem Mann publizierte sie 1940 das Werk Lichttod und Lichtausstrahlung, in dem sie die Resultate ihrer Experimente, die sie im biologischen Laboratorium von Rovigno (Istrien) an Medusen vorgenommen hatten, präsentieren. Julius von Ries war auch Dozent an der Universität Bern und publizierte so unterschiedliche Werke wie Einige okkulte Phänomene und ihre physikalische Deutung (1927) oder eine spätere Schrift zu Wölfli mit dem Titel Über das dämonisch-sinnliche und den Ursprung der ornamentalen Kunst des Geisteskranken Adolf Wölfli (1946), siehe dazu Kapitel 4.2. Die Position der Assistenzärzte wird von Klaesi radikal verändert, die Altersvorsorge gestrichen und die Anstellung damit finanziell noch unattraktiver gemacht. Klaesi spart in der Darstellung seiner Änderungen nicht mit angriffiger Rhetorik gegenüber langjährigen Assistenzärzten und -ärztinnen, wie der Bericht von 1933 zeigt: »Um mehr Ärzte einstellen zu können, ohne in der jetzigen Krisenzeit die Ausgaben für Besoldungen erhöhen zu müssen, wurden die Assistentenstellen in klinische Assistentenstellen umgewandelt, was bedeutet, daß die Inhaber nicht mehr pensionsberechtigt sind, abgesehen davon, daß auch sonst keine Versuchung mehr besteht, die hiesige Anstellung als Le-
254 | Jb 1922, S. 7. Walter Ernst war Oberrichter in Bern, Otto Lörtscher Kantonaler Armeninspektor und J. U.Siegenthaler Regierungsstatthalter in Schlosswil. 255 | Marie Ries-Imchanitzky ist auf den im Museum erhaltenen Glaspositiven und in Altorfers (u.a.) Band In der Anstalt (2008) teilweise publizierten Bildern unbekannter Herkunft auffallend oft porträtiert. Die Aufnahmen müssen in ihrem unmittelbaren Umfeld entstanden sein, möglicherweise wurden sie von ihrem Mann angefertigt.
Geschichte, Klinikalltag und Akteure bensstellung zu betrachten und darin Jahrzehnte zu verharren. Es wird damit auch möglichst vielen jungen Ärzten Gelegenheit zur Ausbildung in Psychiatrie gegeben.« 256
Marie von Ries-Imchanitzky verlässt die Waldau 1933 und ist nicht mehr unter Klaesi tätig. Gründe für ihren Abgang werden im Jahresbericht keine angegeben, aber es dürfte klar sein, dass ihre Arbeit von Klaesi wenig geschätzt wurde. Gita Mirkowitsch bleibt bis zu ihrer Pensionierung 1937, nach der sie aufgrund von Klaesis Änderung vermutlich keine Altersvorsorge erhält, insgesamt 25 Jahre in der Anstalt.
3.6.2 Einzelne Oberärzte Von den Oberärzten sind im Zusammenhang mit dem Schreiben und dem Forschen in der Waldau die langjährigen Vertreter Ernst Fankhauser (1868–1941), Fritz Walther (1878–1959), Walter Morgenthaler (1882–1965) und Jakob Wyrsch (1892–1990) zu erwähnen. Aus Platzgründen können hier nicht alle ausführlich vorgestellt werden. Bevor Walter Morgenthaler in einem Unterkapitel besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird, weil er mit seinen Schriften und seinem Engagement prägend war für den Zeitraum, die Waldau und die hier zugrunde liegende Fragestellung, werden zunächst Fankhauser und Walther kurz vorgestellt, und nach Morgenthaler dann Wyrsch, der erst während der Ära Klaesi in der Waldau war. Dabei geht es abermals um ihre Tätigkeit in der Anstalt und die dort verfassten Texte, Biografisches steht hingegen nicht im Vordergrund. Der Assistenzarzt Hermann Rorschach wird schließlich noch im Kapitel zu Morgenthaler erwähnt, weil seine Wirkungsgeschichte mit ihm verbunden ist.
3.6.2.1 Ernst Fankhauser (1868–1941) Ernst Fankhauser kam aus Münsingen, wo er Assistenzarzt gewesen war, am 16. Juni 1902 als dritter Arzt in die Waldau. Ab 1916 war er zweiter Arzt, stellvertretender Direktor sowie Abteilungsarzt der Frauenseite im Hauptgebäude. Unter Klaesi wurde er Leiter der Heilanstalt. Er blieb auch nach seiner Pensionierung 1938 in der Waldau tätig.257 Fankhauser beschäftigte sich hauptsächlich mit der Bedeutung der Affektivität in seelischen Vorgängen.258 Seine Person und Arbeit finden relativ selten Erwähnung in den Jahresberichten. 1913 wird jedoch berichtet, er wolle sich für eine wissenschaftliche Weiterbildung auf eine Reise begeben.259 Während dieser Weiterbildung widmete er sich der sogenannten Abderhaldenschen Reaktion, einer vom Schweizer Physiologen Emil Abderhalden (1877–1950) praktizierten Technik, die zuerst Schwangerschaft, später im Zuge von Abderhaldens rassenideologischer Orientierung die vermeintliche Rassenzugehörigkeit nachweisen sollte. In der psychiatrischen Adaption der dabei scheinbar ›entdeckten‹, sogenann256 | Jb 1933, S. 21. Zu Klaesis Änderungen in der Anstalt siehe Kapitel 3.12. 257 | Zu Klaesis Würdigung von Fankhausers Arbeit nach dessen Pensionierung im Jahresbericht siehe die entsprechende Anmerkung in der Ärztetabelle im Anhang, Tab. 2. 258 | Henri Ellenberger berichtet in Leben und Werk Hermann Rorschachs, dass Fankhausers Theorie der Affektivität Rorschach stark beeinflusste. Ellenberger (1965), S. 33. Rorschach stellt in der Psychodiagnostik einen Zusammenhang zwischen der Wahrnehmung farbiger Tafeln und Affektivität her. 259 | Jb 1913, S. 18.
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ten Abwehrfermente sollte der organische Nachweis von Geisteskrankheit im Blut erbracht werden. Dem Jahresbericht von 1914 entnimmt man: »Dr. Fankhauser aber versuchte die Abderhaldensche Reaktion einzuführen, von der man sich an der Hand der Literatur eine wertvolle Verbesserung der psychiatrischen Diagnose versprechen durfte; diese soll im Blute von Geisteskranken gewisse, bei Normalen fehlende Stoffe nachweisen. Dr. Fankhauser hat sich mit der recht komplizierten Technik in der Frauenklinik von Bern, in der die Methode gehandhabt wird, dann bei Sanitätsrat Fauser in Stuttgart, der sie in die Psychiatrie eingeführt hat, vertraut gemacht. Leider entsprachen die Resultate den Erwartungen nicht, eine auch an andern Kliniken gemachte Erfahrung. Die Arbeiten wurden im August plötzlich abgebrochen, namentlich weil des Krieges wegen gewisse Materialien nicht mehr erhältlich waren. Ein abschließendes Urteil kann deshalb über den Wert der Methode zur Zeit noch nicht gefällt werden.« 260
Diese kurze Erwähnung von Fankhausers Weiterbildung zeigt in Bezug auf die Waldau zweierlei: Forschungsreisen waren unter bestimmten Umständen auch unter von Speyr möglich und die Entwicklung neuer wissenschaftlichen Ansätze wurde auch von Waldauer Ärzten beobachtet, die gegebenenfalls neue Techniken ins Repertoire aufnahmen. Dass die Forschung abgebrochen wurde, liegt, wie der Bericht belegt, nicht nur an den mangelnden Erfolgen der Technik (die Abderhaldensche Reaktion konnte nie wissenschaftlich nachgewiesen werden), sondern auch am Materialmangel, dem auch die Anstalten im Krieg ausgesetzt waren.261 Fankhauser setzte sich in der Folge für die sogenannte aktivere Therapie ein, seine Erfahrungen in der Umsetzung der Simon’schen Lehre dokumentierte er 1931 auch in einem Vortrag, der später in der Schweizerischen Medizinischen Wochenschrift publiziert wurde.262 Er bewarb sich später für die Nachfolge von Speyrs, musste seine Bewerbung aber aus gesundheitlichen Gründen zurückziehen.
3.6.2.2 Fritz Walther (1878–1959) und die Malaria-E xperimente in der Waldau Nachdem er praktischer Arzt in Schönenwerd gewesen war, trat Fritz Walther am 21. März 1917 als vierter Arzt in die Waldau ein. 1920 wurde er zum dritten Arzt befördert, 1931 habilitierte er sich an der Berner Universität. 1934 berichtet Klaesi, Walther habe die Waldau verlassen, um in Bern eine nervenärztliche Privatpraxis und in seinem elterlichen Hause in Kehrsatz eine private Nervenklinik zu eröffnen. An dieser Stelle soll eine einzelne Publikation Walthers aus der Waldauer Zeit genauer betrachtet werden, die auf einem Vortrag im Medizinischen Bezirksverein Bern beruht und unter dem Titel Die Malariabehandlung der progressiven Paralyse und unsere Resultate in der Waldau 1931 in der Schweizerischen medizinischen Wochenschrift erschienen ist. Dieser Aufsatz zeugt von Walthers Forschungsinteressen, aber auch von der konkreten Behandlung der Geisteskranken in der Waldau und ergänzt damit die Jahresberichte, in denen von Malariaversuchen mit Patienten nie die Rede ist. Der wissenschaftliche Aufsatz zeigt damit einen blinden Fleck 260 | Jb 1914, S. 25. 261 | Zur Anstalt im 1. Weltkrieg siehe Kapitel 3.9. 262 | Zur aktiveren Krankenbehandlung nach Simon siehe 3.11.1, zu Fankhausers Erfahrungen ders. (1931).
Geschichte, Klinikalltag und Akteure
der Jahresberichte auf. Walther beschreibt in einem ersten, historischen Abschnitt frühere Beobachtungen, wonach sich der Zustand von Geisteskranken nach fiebrigen Erkrankungen teilweise gebessert hätten und woraufhin verschiedene Ärzte versucht hatten, ein solches ›heilendes‹ Fieber durch künstliche Infektionen zu erzeugen. Im darauf folgenden Abschnitt beschreibt Walther die Methode, die er auch selbst anwendete. Die »Impfung«, ein Euphemismus für die künstliche Infektion, läuft wie folgt ab: »Dem Kranken werden unter mehrmaligem, auch seitlichem, Vor- und Rückwärtsschieben der Nadel (um das Unterhautzellgewebe und dessen Gefäße etwas zu verletzen) ca. 5 ccm Malariablut zwischen die Schulterblätter unter die Haut gespritzt.«263 Das Blut solle man von einem »andern künstlichen Malariafall«264 beziehen, weil dies die Gefahr der Mischinfektion in Grenzen halte. Wenn kein »Blutspender« in der Nähe sei und man das Blut »von einer psychiatrischen Klinik oder sonst woher«265 beziehen müsse, so könne das Blut mit einer Natriumzitrat-Lösung konserviert werden. Walther bezieht sich in seiner Darstellung mehrmals auf seinen Forschungsort Waldau und die dortigen ›Fälle‹. Mit der Bemerkung, das Blut könne aus anderen Kliniken geholt werden, wird aber deutlich gemacht, dass an unterschiedlichen Orten und in verschiedenen psychiatrischen Institutionen solche Versuche gemacht wurden. Für Walther ist klar, dass die Irrenanstalt im Vergleich mit einem Privathaus oder einem Spital »der einzig richtige Behandlungsort«266 ist. Die geimpften und damit infizierten Patienten können dort je nach Zustand isoliert werden. Walther berichtet freimütig über die ›Haltung‹ seiner Patienten: »Erst in letzter Zeit führe ich die Malariakuren häufig auch ohne Isolierung und Abgitterung durch. Dabei werden die Kranken je nach ihrem psychischen Zustand entweder in einem ruhigen Einer- oder Zweierzimmer gehalten oder bei heftigen psychomotorischen Aufregungszuständen und Zerstörungsanfällen in eine Zelle oder auch (ohne jede Beeinträchtigung der Kur) ins Dauerbad versetzt, gelegentlich, z.B. bei suizidgefährlichen, auch im Wachsaal verpflegt. Während der Inkubationszeit lasse ich die nicht bettlägerigen Kranken unter Umständen noch herumgehen, behalte sie aber doch meist im Zimmer. Sobald die Malaria beginnt, gehören selbstverständlich alle ins Bett.« 267
In der Folge wird häufig Fieber gemessen, der Urin kontrolliert und die Haut auf Verletzungen überprüft. Es müssen acht bis zehn, maximal zwölf »Malariazacken«268 in der Fieberkurve abgewartet werden, bevor das Fieber gesenkt wird. Die ganze Behandlung beruht auf Erfahrungswerten, wie Walther einräumt: »Von allgemeinen Maßnahmen haben sich mir sehr bewährt die regelmäßige Verabreichung von Digitalis [einem Fingerhut-Präparat, das gegen Herzinsuffizienz eingesetzt wird] vom Tage der Impfung an bis zur Chininverabreichung [die das Fieber senkt]; ich habe den Eindruck, daß man damit die Gefahren einer Pneumonie und auch des Herzkollapses während 263 | Walther (1931), S. 681. 264 | Ebd. 265 | Ebd. 266 | Ebd., S. 686. 267 | Ebd., S. 681. 268 | Ebd.
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Schreiben am Rand des Fieberanfalles bedeutend vermindert; jedenfalls habe ich in den letzten Jahren weder das eine noch das andere mehr erlebt.« 269
Walther präsentiert sich einerseits als erfahrener Arzt, der eine Behandlungsmethode gefunden hat, andererseits zeigen Wendungen wie »ich habe den Eindruck«, dass sein Wissen ein unsicheres ist, das sich an jedem Patienten neu erprobt und dessen Resultate immer neu gedeutet werden müssen. Implizit zeugt diese Stelle auch von Misserfolgen. Walther wird im Verlaufe des Textes noch auf die Todesfälle, die es durch die künstliche Malariainfektion in der Anstalt gegeben hat, eingehen. Prophylaktisch werden Walthers mehrfach-Patienten mit Milch statt Kaffee und täglich einem Ei gestärkt. Sollten ernste Gefahren auftreten, bekommt der Patient fiebersenkendes Chinin. Dass sowohl die Malariainfektionen wie auch die entsprechende Behandlung mit Chinin zeitgenössisch verbreitet waren, zeigt eine Werbung, die im selben Jahr ebenfalls in der Schweizerischen medizinischen Wochenschrift abgedruckt ist und die ein Chinin-haltiges Produkt speziell für die Malariabehandlung anpreist (Abb. 18). 1927 hatte der österreichische Psychiater Julius WagnerJauregg für die Resultate seiner Malaria-Behandlung von an progressiver Paralyse Erkrankten den Nobelpreis bekommen. Walthers Experimente und die Berichterstattung darüber knüpfen mit Verspätung an diese ›Erfolgsgeschichte‹ an, was den selbstsicheren Tonfall im Artikel erklärt – Walther kann sich auf vermeintlich gesichertes Wissen stützen. Die Versuchsanordnung mit dem geisteskranken Patienten als Untersuchungsobjekt, dem behandelnden Arzt als Experimentator und der künstlichen Malariainfektion als Auslöser des Versuchs soll Wissen über die psychische Krankheit wie auch über die Heilungschancen produzieren. Im Fall eines Scheiterns, was sich im plötzlichen Abfall des Fiebers ausdrückt, bevor die heilende Wirkung eingetreten ist, kann die Intensität der Einwirkung dadurch verstärkt werden, dass dem Patienten intravenös auch noch Typhusvakzine verabreicht werden. Walther nennt dies »provokatorische Maßnahmen«.270 Im Abschnitt Das künstliche Malariafieber beschreibt er auch die Nebenwirkungen der Kur wie Kopfschmerzen, Herzschwäche oder sinkender Blutdruck. Darüber hinaus bemerkt Walther: »Recht unangenehm sind unter Umständen häufiges Erbrechen, wie es sich besonders in der Zeit des Fieberanstieges und Schüttelfrostes einstellt, ferner Nahrungsverweigerung (z.B. infolge zunehmender hypochondrischer Wahn- und Vergiftungsideen oder Versündigungsideen und Suizidabsichten) und namentlich Einsetzen oder Zunahme von psychomotorischen Erregungszuständen (schwere Delirien mit ängstlichen Halluzinationen oder maniforme Erregungszustände mit zerfahrenen Größenideen, amentiaartige Zustände, verbunden mit Kot- und Urinschmieren, Tobsucht und Zerstörungswut und dergleichen).« 271
Aus diesem Zitat wird ersichtlich, dass die im Experiment zu behandelnde Geisteskrankheit durch die Therapie selbst teilweise verstärkt statt vermindert wird. Das wird von Walther jedoch nicht problematisiert, vielmehr sieht er darin pragmatisch
269 | Ebd. 270 | Walther (1931), S. 681. 271 | Ebd., S. 682.
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Abb. 18: Untere Anzeige: Werbung für ein Chinin-haltiges Medikament für die Malaria-Behandlung.
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die Gefahr von weiteren Infektionen oder von »Selbstbeschädigungen«,272 und er rät deshalb, an ein Unterbrechen der Therapie zu denken. Im Abschnitt Die klinischen Erfolge der Malariabehandlung kommt er dann auf die konkrete Situation in der Waldau zu sprechen und damit auch auf die (Miss-)Erfolge. Er schreibt, er habe im August 1924 mit der Malaria-Impfung begonnen »und bis heute im ganzen 33 Fälle behandelt, alles Männer.«273 In der Folge beschreibt er die Versuchsgruppe mit Alter und Krankheiten detaillierter. Die Resultate der Kuren, die er Erfolge nennt, unterteilt er in vier Gruppen, davon ist die erste »gebessert bis zur Entlassungsfähigkeit«, dazu zählt er 14 Personen, die zweite »gebessert, aber nicht bis zur Entlassungsfähigkeit« (13 Personen). Drei Personen bezeichnet er in einer dritten Kategorie als »ungebessert« und drei starben infolge und während der Kur – der Tod trat also bei 9% der Versuchspatienten ein.274 Die Zahlen werden von Walther mit entsprechenden Werten aus Paris und Zürich verglichen, dabei ist die Entlassungszahl in der Waldau etwas tiefer und die Letalität geringer als in Paris, aber etwa gleich hoch wie in Zürich – man darf also davon ausgehen, dass in zeitgenössischen Versuchsreihen an anderen Orten mindestens 10% der Versuchspatienten starben. Betrachtet man die Waldauer Jahresberichte der Jahre, von denen Walther angibt, dass in diesem Zeitabschnitt Versuchspersonen gestorben seien, so findet man keine Erwähnung der Malariabehandlung in ihnen. Als besondere Todesfälle werden zwar Unfälle und Selbstmorde beschrieben, an Lungenentzündung starben aber beispielsweise im Jahr 1924 elf Männer und drei Frauen – die beiden vorher mit Malaria geimpften Patienten werden dabei nicht speziell hervorgehoben, sie sind wohl zwei der elf Männer mit Lungenentzündung als Todesursache. Im Jahr 1926, in dem ein Patient nach der künstlich ausgelösten, 7. Malariafieberattacke an einem plötzlichen Herztod verschied, wie Walther berichtet, listet der Jahresbericht zehn Fälle von »Erkrankungen des Herzens« und drei Fälle von »Arterienverkalkung; Verkalkung der Kranzarterien des Herzens« auf. Man muss den Malariatoten unter ihnen vermuten, Genaueres erfährt man aus dem Jahresbericht nicht.275 Gerade die scheinbar so exakt geführte Statistik der Jahresberichte weist im Vergleich mit dem wissenschaftlichen Aufsatz deutliche Lücken auf. Das, was ein Jahresbericht etwa über eine Todesursache aussagt, verrät nichts über die Behandlungsweise oder eine Vorerkrankung des Patienten. Walther führt im Aufsatz noch summarische Krankengeschichten der Todesfälle und der »Dauererfolge« an, bei letzteren werden im Gegensatz zu ersteren die Nachnamen der Patienten genannt. Bei der dritten Kategorie – den in der Anstalt verbliebenen Patienten, die 58% der Versuchsgruppe ausmachen – bemerkt Walther als eine Folge der Versuche (die teilweise auch wiederholt wurden) lapidar: »Die Kranken haben ihre frühere Lebhaftigkeit, Spontaneität und Frische eingebüßt, sie sind und bleiben stumpf und interessearm, wenig regsam und wenig unternehmend.«276 Dass die Therapie nicht ganz so erfolgreich wie erhofft war, räumt Walther nicht etwa als Kritik der Behandlung ein, sondern er stellt dies in 272 | Ebd. 273 | Ebd. 274 | Ebd. Später schreibt Walther: »Daß die Malariabehandlung kein ganz harmloser Eingriff ist, beweisen die 9 bis 20% Todesfälle infolge der Kur.« (Ebd., S. 686). 275 | Jb 1926, S. 18. 276 | Walther (1931), S. 684.
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einen Zusammenhang mit der Patientensituation in der Waldau: »Der Grund unseres Rückstandes liegt vielleicht z.T. darin, daß wir häufig erst recht fortgeschrittene Fälle in Behandlung bekommen, z.T. vielleicht auch in dem Umstand, daß wir bei allen unsern frühern Fällen keine Nachbehandlung folgen ließen.«277 Es sind also gemäß Walther die spezifischen Bedingungen der Ortes und die Umsetzung der Therapie, die zu einem gedämpften Erfolg führen, nicht aber die Therapie selbst. Auch in Bezug auf die Auswertung der Gehirne nach der Obduktion stellt Walther Ähnliches fest: »Mangels genügender Assistenz und Einrichtung konnten wir in der Waldau keine eigenen Beobachtungen anstellen.«278 In Bezug auf die in der Anstalt verbliebenen Patienten macht Walther eine mehrdeutige und dadurch fragwürdige Aussage: »Im Hinblick auf unsern beständigen Platzmangel, stellt man mit etwas gemischten Gefühlen fest, daß auch die stark dementen Anstaltsinsassen sich hartnäckig und anhaltend bester vegetativer Gesundheit erfreuen.«279 Ob damit gemeint ist, dass beim akuten Platzmangel ein paar Todesfälle den Anstaltsbetrieb erleichtern würden, oder ob schlicht konstatiert wird, dass bei Platzmangel üblicherweise vegetative Krankheiten verbreitet sind, bleibt offen. Zum Schluss des Textes stellt Walther sich selbst – und rhetorisch auch seinem Publikum – einige ethische Fragen und kommt zur Folgerung, dass die Malariakur fortgeführt werden müsse: »Wenn wir somit wegen des event. tödlichen Ausgangs einer Malariakur vor deren Anwendung nicht zurückschrecken, so verursacht uns andrerseits der Hinblick auf die unvollkommene Heilung weit größere Bedenken und Hemmungen. […] Vermehren wir nicht in zahlreichen Fällen bloß die Zahl der geistigen Krüppel? Auf diese unser ärztliches Gewissen und Verantwortungsgefühl schwer belastenden Fragen kann man nur das eine antworten: Den Teilgeheilten und Krüppeln steht eine schöne Zahl ganz Geheilter gegenüber, und wir sind – wenigstens vorläufig – nicht imstande, von vornherein mit Sicherheit zu beurteilen, ob in einem gegebenen Fall bloß Teilheilung eintreten wird und nicht völlige Wiederherstellung. Deshalb wird man prinzipiell in jedem Fall zur Malariakur raten müssen.« 280
Die wissenschaftliche Publikation Walthers zeigt ein anderes Bild der Waldau als die Jahresberichte auf. Im Aufsatz wird betont, dass Forschung betrieben wird und eine zeitgenössisch übliche, aber doch verlustreiche Versuchsreihe findet darin eine detaillierte Schilderung, auch mit ihren Misserfolgen. Die Jahresberichte hingegen zeichnen eher das Bild einer Anstalt, in der mit Bettruhe und Arbeit in der Landwirtschaft therapiert wird und in der Forschung keine große Rolle spielt – schon gar nicht, wenn mit Todesfällen gerechnet werden muss. Der erschriebene und beschriebene Ort ist somit der gleiche und trotzdem ein anderer: Ein Arztkollege Walthers und Leser des Aufsatzes erhält einen anderen Einblick in die Anstalt als die im Jahresbericht adressierten Behörden einerseits und Angehörige der Patienten andererseits, die nicht unbedingt den Jahresbericht lesen, sondern eventuell nur eine vermeintliche Todesursache mitgeteilt bekommen.
277 | Ebd., S. 685. 278 | Ebd. 279 | Ebd. 280 | Ebd., S. 686.
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3.6.2.3 Walter Morgenthaler (1882–1965) und Hermann Rorschach (1884–1922) Walter Morgenthaler, der schon mehrfach erwähnt wurde, war der Bruder des Bienenforschers Otto Morgenthaler (1886–1973), des Kunstmalers Ernst Morgenthaler (1887–1962) und Onkel des Schriftstellers und Alpinisten Hans Morgenthaler, genannt Hamo (1890–1928). Ab 1902 studierte Walter Morgenthaler in Bern Medizin. In die Zeit des Studiums fällt auch eine Erkrankung – Morgenthaler wurde schwerhörig, was ihm etwa in seiner Bewerbung um die Nachfolge von Speyrs zu Last gelegt wurde.281 1907 arbeitete er als Volontär in der Waldau, 1908 trat er als Assistenzarzt ein und 1909 bekam er einige Monate Urlaub für eine Studienreise und verließ sie deshalb vorübergehend. Sein Studium schloss er 1909 mit einer Dissertation über Blutdruckmessungen an Geisteskranken bei von Speyr ab. Darin kommt er zum Schluss, dass die klinischen Krankheitsbilder sich zwar nicht durch den Blutdruck unterscheiden lassen (was als Untersuchungsergebnis zur Diskussion stand), Morgenthaler gibt aber trotzdem Beobachtungen einzelner Krankheitsbilder in Verbindung mit dem Blutdruck von Patienten an.282 1910 verließ er die Waldau, weil, wie der Jahresbericht als Begründung angibt, sein Lohn nicht dem Maximalbetrag entsprach und er in Basel eine besser bezahlte Anstellung gefunden hatte. Nach einer Zeit in Basel und Münsingen trat Morgenthaler 1913 wieder in die Waldau ein, wo er bis 1920 blieb, zuerst als fünfter Arzt und von 1914 bis 1916 versah er die Stelle des vierten Arztes. Nachdem er sich für die Schweizerische Landesausstellung von 1914 intensiv mit der Geschichte der Psychiatrie auseinandergesetzt hatte, erschien 1915 sein psychiatriehistorisches Werk Bernisches Irrenwesen.283 Von 1916 bis 1920 war er dann als dritter Arzt angestellt. 1918 habilitierte sich Morgenthaler an der Universität Bern mit der bereits genannten Arbeit Übergänge zwischen Zeichnen und Schreiben bei Geisteskranken und hielt seine Antrittsvorlesung am 11. Mai desselben Jahres zum Thema Die Grenzen der geistigen Gesundheit.284 In der Folge war er auch als Privatdozent tätig. 1921 erschien die Monografie Ein Geisteskranker als Künstler. Adolf Wölfli. Von 1920 bis 1925 leitete Morgenthaler eine private Anstalt in Münchenbuchsee und eröffnete danach eine Privatpraxis. Weitere Publikationen zum Gedächtnis (1912), über die Seelische Hygiene (1931) oder die Letzten Aufzeichnungen von Selbstmördern (1945) zeigen die Breite seiner Interessen auf. Obwohl er 1920 die Waldau verlassen hatte, blieb er mit ihr verbunden und versuchte 1925 beispielsweise erfolglos, dort eine Schule für das Pflegepersonal zu schaffen, wie der Jahresbericht belegt: »Dr. Morgenthaler in Münchenbuchsee hatte der Sanitätsdirektion einen Entwurf für die Gründung einer Zentralschule für Wärter im Neubau der Waldau vorgelegt. Verschiedene Kommissionsmitglieder wurden nun von der Direktion zu dessen Beratung einberufen. Diese Subkommission wollte es der Finanzdirektion überlassen, die finanzielle Tragweite dieser Schule 281 | Heinz Balmer (1972, S. 55) zitiert einen Tagebucheintrag Morgenthalers zur Schwerhörigkeit, das Tagebuch ist allerdings nicht überliefert. Zur Nachfolgeregelung von Speyr siehe 3.12. 282 | Morgenthaler (1909), S. 32 f. 283 | Zur Landesausstellung siehe Kapitel 2.2.2, zum Bernischen Irrenwesen siehe Kapitel 3.2, zu Morgenthalers Diskussion der »Irrenpflege« in der Neuen Berner Zeitung Kapitel 3.4.6. 284 | Dazu mehr in Kapitel 3.9 zur Waldau während des Ersten Weltkrieges.
Geschichte, Klinikalltag und Akteure zu berechnen und lehnte mit 3 gegen 2 Stimmen die Hauptfragen ab, ob der Entwurf der Sanitätsdirektion zu empfehlen und diese Schule überhaupt wünschenswert sei.« 285
Sein Engagement für die Ausbildung des Pflegepersonals – 1914 gab er erste Kurse286 – führte zunächst zu regelmäßigen Ausbildungskursen in der Waldau und später zu einer eigentlichen Berufsausbildung mit abschließender Prüfung, basierend auf dem 1930 erschienen Lehrmittel Die Pflege der Gemüts- und Geisteskranken. Ein weiteres besonderes Verdienst Morgenthalers ist es, Hermann Rorschachs Publikation Psychodiagnostik als Herausgeber der Reihe Arbeiten zur angewandten Psychiatrie und als Vermittler zum Verleger Bircher unterstützt und damit maßgeblich zur Verbreitung des Rorschach-Tests beigetragen zu haben.287 Rorschach und Morgenthaler hatten sich in Versammlungen der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie kennengelernt. Nach seiner Rückkehr aus Russland war Rorschach vom 1. Juli 1914 bis 20. Oktober 1915 als fünfter Arzt in der Waldau tätig, mit Morgenthaler pflegte er davor und danach einen Briefwechsel.288 Henri Ellenberger berichtet, dass Rorschach wie Morgenthaler an den künstlerischen Arbeiten der Patienten interessiert war. Denkt man an Rorschachs eigenes zeichnerisches Schaffen, ist dieser Bezug sehr einleuchtend. Ellenberger schreibt: »Dr. Morgenthaler berichtete mir, daß Rorschach größtes Interesse zeigte, als jener die Patienten in der Waldau zum Zeichnen anregte, und daß viele Schöpfungen schizophrener Kunst, die im Museum der Waldau zu sehen sind, aufgrund seiner unablässigen Bemühungen zustande gekommen seien.«289 In seinen Erinnerungen an Hermann Rorschach beschreibt Walter Morgenthaler 1954 gleichsam seine eigene Arbeitstechnik wie auch die Interessensbereiche, die ihn mit Rorschach verbanden: »Als Rorschach in die Waldau kam, war ich daran, eine Sammlung von Patientenzeichnungen zusammenzustellen. Ich suchte sie einerseits aus den alten Krankengeschichten heraus; andererseits ermunterte ich die Patienten, nach Möglichkeit frei zu zeichnen; und drittens versuchte ich sie systematisch zum Zeichnen zu bringen, indem ich ihnen ein Blatt vorlegte, sie erst aufforderte, frei zu zeichnen, und ihnen dann bestimmte Aufgaben stellte (Mann, Frau 285 | Jb 1925, S. 9. 286 | Damit wurden die bis dahin gängigen Samariterkurse spezifiziert: »Die Doktoren Morgenthaler und Chasan gaben ihrem Wartpersonal Unterricht in der Kranken- und besonders Irrenpflege.« (Jb 1914, S. 25). Mehr zu Morgenthalers Engagement in der Pflegerausbildung in Kapitel 3.7. 287 | Morgenthaler fügte der vierten Auflage der Psychodiagnostik auch eine Einführung in die Technik von Rorschachs Psychodiagnostik an. Darin finden sich etwa eine Skizze der Versuchsanordnung, Bemerkungen zur Versuchsvorbereitung oder Tipps, wie mit Zwischenfragen oder Ausweichmanövern seitens der Versuchsperson umgegangen werden kann, aber auch eine Vorlage für ein Protokoll und die Abbildung eines Verrechnungsschemas. Zur Entwicklung von Rorschachs Testverfahren siehe Wernli (2011). 288 | Siehe Rorschach (2004). Dieser Briefwechsel belegt auch, dass und welche Waldauer Ärzte neben Morgenthaler den Rorschach-Test anwendeten, nämlich Fritz Walther und Ernst Fankhauser. Siehe Rorschach (2004), S. 143; 170; 172. Nach der Waldau arbeitete Rorschach bis zu seinem frühen Tod am 2. April 1922 in Herisau. 289 | Ellenberger (1965), S. 41 f.
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Schreiben am Rand und Kind, Haus, Garten usw.). So hatte ich in kurzem eine schöne Zeichnungssammlung beisammen. Rorschach war begeistert davon und erklärte, wenn er nach Herisau komme, werde eines vom ersten sein, dort ebenfalls eine ähnliche Sammlung anzulegen. Als ich ihn später darüber fragte, meinte er lächelnd, ein solches Unterfangen sei in Herisau ganz aussichtslos. Währenddem nämlich der Berner, wenn man ihm ein Blatt hinlegte, nach einiger Zeit, ohne ein Wort zu sagen, anfange zu zeichnen, sitze der Appenzeller vor dem leeren Blatt und schwatze das Blaue vom Himmel herunter, was man da alles drauf zeichnen könnte, zeichne in Wirklichkeit aber überhaupt nicht!« 290
Eine solche Aufforderung Morgenthalers zum Zeichnen und die entsprechenden Resultate sind im Werk Pflege der Gemüts- und Geisteskranken abgedruckt. Auf der Rückseite zu Tafel 14 steht dort der Titel Wie neun Schizophrene auf die Aufgabe: »Mann, Frau und Kind« zu zeichnen reagierten.291 Von den neun abgedruckten Reaktionen ist die fünfte deutlich als Wölflis Werk zu erkennen. Morgenthaler fügt zu allen Blättern eine Erklärung an, zum fünften Blatt schreibt er: »Mann und Frau reichen sich über dem Kopf des Kindes die Hände. Blatt als ganzes aufgefaßt, eingeteilt, umrandet und dekorativ gefüllt. (Die Zeichnung stammt von einem ausgesprochen künstlerisch veranlagten Kranken.)«292 Dass auf dem Blatt auch noch Text vorhanden ist, erwähnt Morgenthaler nicht. Wölflis Bild wird ohne seine Entstehungsgeschichte beschrieben, der Hinweis auf die Begabung des Patienten hebt die Erklärung jedoch von den anderen Beschreibungen ab, die auch auf die Art und Weise, wie der Patient auf die Aufgabe reagierte und wie er die Zeichnung einschätzte, eingehen. So schreibt er etwa: »Der Kranke achtet gar nicht auf die Aufgabe« oder beim letzten Beispiel: »Kümmert sich noch weniger um die Aufgabe«. Der Patient verfasse einen »sinnlosen ›Unterschriftbogen‹«, statt zu zeichnen und ein anderer habe das Vorhaben einen Mitpatienten abzuzeichnen, »nach kurzem aufgegeben«, ein weiterer habe seine Zeichnung als ›sehr schön‹ bezeichnet.293 Wölflis Blatt wird ohne auf seine Produktionsbedingungen einzugehen, nur bildbetrachtend eingeordnet, und damit als Kunstwerk von anderen Produkten wie dem vermeintlichen »Unterschriftbogen« abgehoben. Für die Auszubildenden schreibt Morgenthaler im Kapitel zur Schizophrenie294 einen Abschnitt zum Schreiben und Zeichnen der betroffenen Patienten und schließt damit an die Thematik seiner Habilitationsschrift Übergänge zwischen Zeichnen und Schreiben bei Geisteskranken von 1918 an: »In vielen – nicht in allen – Fällen sind auch die schriftlichen und zeichnerischen Aeusserungen der Kranken in auffallender und charakteristischer Weise verändert. Dabei kann entweder mehr eine Auflösung im Vordergrund stehen, ein unordentlich, schmierig und zerfahren Werden, oder aber mehr eine Erstarrung, eine Neigung zum steif und regelmässig Werden (es kann sogar angegeben werden, die Kranken hätten angefangen, ›schöner‹ zu schreiben). Beim Zeichnen tritt hie und da ein ausgesprochen dekorativer Zug hervor; häufig werden auch
290 | Morgenthaler (1965), S. 98. 291 | Morgenthaler (1930), Tafel 14, verso. 292 | Ebd. 293 | Alle Zitate aus Morgenthaler (1930), Tafel 14, verso. 294 | Zu den Krankheitsbezeichnungen siehe Kapitel 3.10.
Geschichte, Klinikalltag und Akteure Wahnideen, Sinnestäuschungen und andere Erlebnisse mit verarbeitet; gross ist die Neigung zu allen möglichen Symbolen (Herz, Kreuz, Stern, Anker, Dolch oder Selbsterfundenes).« 295
In der Habilitationsschrift geht Morgenthaler zuerst von der Beobachtung aus, dass die grafischen Produkte von Kranken oft sowohl zeichnerische wie auch schriftbildliche Elemente aufweisen – eine Tatsache, der nebenbei bemerkt auch die heutige Forschung mehr Aufmerksamkeit schenken sollte. In den daraus resultierenden Definitionsversuchen, was denn Schreiben und was Zeichnen sein könnte, tut sich auch Morgenthaler schwer. Schreiben bezeichnet er als »Ausdruck von Psychischem durch den Inhalt von Buchstaben (und Zahlen)«, Zeichnen »ganz allgemein als Ausdruck des Psychischen durch Formen (und Farben)«.296 Die Entwicklung vom Zeichnen zum Schreiben erklärt er als phylogenetische wie auch ontogenetische. Mit der umgekehrten Bewegung vom Schreiben zum Zeichnen verbindet Morgenthaler einen »Abbau«.297 Von den angeblich etwa 8000 in der Waldau aufgenommenen Patienten gibt Morgenthaler an, 77 Fälle in Bezug auf diesen »Abbau« genauer bearbeitet zu haben. Abgedruckt sind aber nur 21 Fälle: Welche 56 ebenfalls untersucht wurden und aus welchen Gründen sie wegfielen, bleibt sowohl innerhalb der Publikation wie auch aufgrund der aktuellen Archivsituation respektive dem vermutlich fehlenden Nachlass offen. Morgenthaler selbst beschreibt die Zufälligkeit des bearbeiteten Materials wie folgt: »Natürlich ist auf die Verhältniszahl [77 Fälle aus etwa 8000 Aufnahmen, Anm. M.W.] nichts zu geben, da es oft rein vom Zufall abhängt, ob ein beschriebenes oder gezeichnetes Blatt in die Krankengeschichte kommt oder nicht, ob ein Brief mit Zeichnereien abgeschickt oder zurückbehalten wird usw.« 298
Morgenthalers 21 Fälle werden mit Vornamen, Anfangsbuchstaben des Nachnamens und Nummer der Krankenakte genannt, danach wird ihre Krankengeschichte zusammengefasst, die grafischen Produkte beschrieben und die Reproduktion eines Ausschnittes des Produktes zur Illustration angeführt. Durch verschiedene Publikationen ihrer Schriften lassen sich heute einzelne Patienten identifizieren. So ist etwa in »Fall 5« Constance Schwartzlin-Berberat (1845–1911), die 1884 und dann von 1885–1911 in der Waldau interniert war, zu erkennen. Aus der Krankenakte zitiert Morgenthaler, die Patientin habe zwischendurch ein »wahres Schreibfieber«, sie schreibe in »alter Hieroglyphenschrift« »sehr viel sinnloses Zeug«.299 In ihrem Cahier de cuisine de la Waldau versammelt Schwartzlin-Berberat Rezepte,
295 | Morgenthaler (1930), S. 105. 296 | Morgenthaler (1918b), S. 255, Kursiva im Original gesperrt. 297 | Ebd., S. 256. 298 | Ebd., S. 257. Etwas kryptischer schreibt er zum Geschlechterverhältnis: »Bedeutsamer und mit den Befunden an Kinderzeichnungen übereinstimmend ist das starke Überwiegen des männlichen Geschlechts über das weibliche (59 Männer und 18 Frauen).« Ebd. Im Vergleich mit den 77% männlichen Patienten der 77 Fälle sind die 71% männlichen Patienten in der Auswahl der 21 Fälle etwas weniger stark im Übergewicht. In der Anstalt sind um 1900 ungefähr gleich viele Männer wie Frauen interniert, wie Abb. 6 zeigt. 299 | Morgenthaler (1918b), S. 261.
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Schreiben am Rand
die Morgenthaler als »phantastisch[ ]«300 einstuft. Zu weiteren Heften, dem Cahier de cuisine oder dem Werk Téléphone bemerkt Morgenthaler in einer Klammer, dass der Kranken die Inhalte ihrer Texte im Vergleich immer weniger wichtig würden, was der Arzt aus der Titelsetzung schließt. Zentral sei ihr »die Tatsache, dass es Stimmen sind, die sie niederschreibt«.301 Welches Rezept der Patientin Morgenthaler als Beispiel für seine Habilitationsschrift ausgewählt hat, um welche Art Crème es also gehen könnte, thematisiert der Autor nicht. Hingegen beschreibt er detailliert die Schräglage ihrer Buchstaben, die Veränderung der Schrift hin zur Unleserlichkeit und die Tendenz zu einer »Riesenschrift«,302 Merkmale, die die zwei Schriftproben aufzeigen. Heute setzt die Forschung in der Auseinandersetzung mit Schwartzlin-Berberat andere Akzente, die Inhalte ihrer Texte werden durch Transkriptionen auch zugänglich gemacht.303 Interessant an den Übergängen zwischen Zeichnen und Schreiben bei Geisteskranken ist auch Fall 9, Adémar L., dessen Krankenakte für diese Studie zur Verfügung stand. In jener findet sich auch das von Morgenthaler verwendete Schriftstück, auf dem der Ausschnitt rot markiert wurde, welcher in der Habilitation abgedruckt ist. Damit liegt eine Spur der Arbeitsweise Morgenthalers vor. Der Textausschnitt führt die Bildunterschrift »Mikrographie«,304 was an Walsers Schrift und deren späteren Benennung »Mikrogramm«305 denken lässt. Morgenthaler beschreibt L.s Schrift wie folgt: »Die Briefe sind meist in etwas grösserer Schrift gehalten als die Gedichte. Hin und wieder wird aber auch in Briefen die Schrift auf den folgenden Seiten immer kleiner und der Zeilenabstand immer geringer. Bei der kleinsten Schrift sind die Ober- und Unterlängen je etwa 1,0–1,2 mm, die Kurzbuchstaben etwa 0,5–0,6 mm; auf einer Strecke von 2 cm zähle ich 15–17 Zeilen. Trotzdem ist die Schrift sehr klar und jedes Wort – stellenweise sogar jeder Buchstabe – sofort erkennbar. Jedes Schriftstück ist sorgfältig mit dem Datum und dem Namen, dieser immer mit dem genau gleichen, komplizierten (aus einer langen waagrechten Schleife, zwei konzentrischen Ellipsen, einem wellenförmigen Schlussstrich, einer Senkrechten und vier Punkten bestehenden) Namensunterzug versehen.« 306
Damit schließt Morgenthaler die Beobachtungen zu »Fall 9« ab. Obwohl er zu Beginn seiner Arbeit Schreiben gerade durch den Inhalt der Buchstaben definierte und so vom Zeichnen abgrenzte, wird auch in diesem Beispiel nicht wiedergegeben, was Herr L. auf diesem Ausschnitt denn tatsächlich geschrieben hat. Der Blick in die Krankenakte zeigt, dass es sich um ein Gedicht handelt, welches mit Ort (Waldau/Suisse) und Datum (17. Juli 1894) und der von Morgenthaler zwar beschriebenen, nicht aber abgebildeten Signatur Herrn L.s versehen ist. In Betracht gezogen wird vom Arzt in seiner Qualifikationsschrift lediglich die Schrift als optisches Verfahren, der Gehalt der »Mikrografie« spielt bei Morgenthaler keine Rolle. Der 300 | Ebd. 301 | S. 263. 302 | Ebd. 303 | Siehe Choquard Ramella (2008). 304 | Morgenthaler (1918b), S. 266. 305 | Zu Walser siehe Kapitel 4.5. 306 | Morgenthaler (1918b), S. 266.
Geschichte, Klinikalltag und Akteure
Schrift wird keine Speicherfunktion zugeschrieben und die Umstände, in denen diese Schrift zustande kommt, sowie mögliche Absichten beim Schreiben, Adressierungen und Ähnliches werden von Morgenthaler gänzlich ausgeklammert. In Morgenthalers Fazit zum »Abbau« vom Schreiben zum Zeichnen werden ›Riesenbuchstaben‹ wie auch ›Mikrografien‹ als Stereotypien bezeichnet. In seiner Studie kommt er zum Schluss, es fänden sich bei den grafischen Produkten der Patienten viel häufiger Übergänge vom Schreiben zum Zeichnen als die umgekehrte Bewegung, die »Rückschläge« oder »Erscheinungen des Abbaues« würden die des Auf baues überwiegen.307 Zum Schluss zählt Morgenthaler noch einzelne »typische (nicht zufällige) Abweichung[en] vom Schriftduktus, von den der einzelnen Persönlichkeit eigenen Schriftzügen« auf, die als »Annäherung an das Zeichnen«308 gewertet werden können. Während Morgenthaler in seiner Habilitation also vor allem Schriftzüge und ihre Veränderungen erforschte, teilte er mit Rorschach das Interesse an zeichnerischem Material Kranker. Bei Rorschach lässt sich dieses Interesse etwa an seinen Aufsatztiteln wie etwa Analytische Bemerkungen über das Gemälde eines Schizophrenen von 1913 oder Analyse einer schizophrenen Zeichnung von 1914 zeigen. Morgenthaler berichtet, welcher Art Rorschachs Talent war, Patienten zum Zeichnen zu bringen: »Er [Rorschach], der Sohn eines Zeichnungslehrers und selbst ein sehr guter Zeichner, interessierte sich lebhaft für das Zeichnen der Patienten. Er hatte ein außerordentliches Geschick, Patienten zum Zeichnen zu bringen. Ich erinnere mich noch an einen Katatoniker, der den größten Teil des Tages steif im Bette lag oder saß. Da Rorschach wußte, daß dieser früher ein guter Zeichner gewesen war, legte er ihm einmal einen Zeichenblock mit Farbstiften auf die Bettdecke und daneben ein großes Ahornblatt, auf dem er mit einem Klebstreifen einen krabbelnden Maikäfer befestigt hatte. Strahlend zeigte er uns am nächsten Tage die sehr naturgetreue farbige Zeichnung des Maikäfers auf dem Blatt. Während dieser Patient vorher monatelang kein Glied gerührt hatte, fing er nun langsam immer mehr an zu zeichnen, nahm dann Malstunden, malte immer besser und trat als sozial geheilt aus.« 309
Morgenthaler stellt Rorschach hier in einer Art Heilungsnarrativ fernab von zeitgenössischen Therapien als zeichnerisch interessierten Arzt vor, der ein lebendiges Tier festklebt und damit zu einem Stillstand zwingt, um durch diesen Anblick und die durch ihn ausgelöste kreative Betätigung den Stillstand eines Patienten offenbar erfolgreich zu durchbrechen. Neben solchen Versuchen einer Maltherapie avant la lettre beschäftigte sich Rorschach in seiner kurzen Waldauer Zeit jedoch hauptsächlich mit der Forschung zum schweizerischen Sektenwesen, die zu verschiedenen Vorträgen und Aufsätzen führte.310 Mit den »Klecksographien« hingegen habe sich Rorschach in der Waldauer Zeit überhaupt nicht beschäftigt, schreibt Morgenthaler in seinen Erinnerungen: 307 | Ebd., S. 299 f. 308 | Ebd., S. 300. 309 | Morgenthaler (1965), S. 97 f. 310 | Siehe Rorschachs post mortem erschienenes Werk: Zwei schweizerische Sektenstifter (Binggeli – Unternährer). Nach Vorträgen in der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse von 1927.
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Schreiben am Rand »Er kam dann mit seinen Tafeln einige Male von Herisau her, machte Aufnahmen bei einzelnen Fällen der Waldau, schickte uns die Ausarbeitungen, und wir mußten ihm berichten, was daran stimme und was nicht. Die Sache war sehr interessant, ohne daß sich einer von uns besonders für sie hätte begeistern können.« 311
Damit ist auch gesagt, welchen Stellenwert Rorschachs psychodiagnostischer Test in der Waldau hatte – die Tafeln wurden versuchsweise eingesetzt, die Praxis setzte sich aber nicht durch. Wie der Sektenführer Johannes Binggeli, der in Münsingen Patient war, Rorschach in der Waldau beschäftigte, zeigt auch der in der Einleitung bereits erwähnte Aufsatz Assoziationsexperiment, Freies Assoziieren und Hypnose im Dienst der Hebung einer Amnesie von 1917, dass ein Waldauer ›Fall‹ Rorschach sogar nach seinem Weggang noch zu wissenschaftlicher Tätigkeit anregte. Während viele Patienten ein Leben lang hinter den Anstaltsmauern blieben, reisten ihre Akten mit den Stellen wechselnden Ärzten von Klinik zu Klinik, um weiterverarbeitet und ausgearbeitet zu werden, was etwa am ›Fall‹ Robert Walser deutlich wird. In der Waldau dürfte die unpublizierte Vorlage zu einem Vortrag mit dem Titel Mythologie und Wahnideen entstanden sein, den Rorschach am 30. November 1914 im ›Verein für Volkskunde‹ gehalten hatte.312 Darin werden an unterschiedlichen Patientenbeispielen, die teilweise aus Münsterlingen stammen und somit das eigengesetzliche Fließen von Akten und ›Fällen‹ zwischen Kliniken vor Augen führen, Parallelen zwischen Wahnideen und mythologischen Erzählungen aufgezeigt. Rorschach hatte also ein sehr breites Interessensgebiet. So versuchte er auch, Morgenthaler zu einem Beitritt zum Zürcher psychoanalytischen Verein zu bewegen.313 Morgenthalers Replik soll hier als Beispiel seiner nach Unabhängigkeit strebenden Auffassung von Wissenschaft und als Beleg für die sich regional unterschiedlich weiterentwickelnde Psychoanalyse angefügt werden. Morgenthaler schreibt 1919 an Rorschach: »Was den Psychoanalytischen Verein anbetrifft, so hat Hr. Pfister 314 mir bereits in dieser Richtung zarte Winke gegeben. Was mich hindert, ist weder die Entfernung von Bern – es wäre sicher nicht schwer, in Bern ebenfalls eine Sektion zu gründen – noch die Beteiligung von Nichtmedizinern – sind doch in unserem psychologischen Klübchen hier mehr Nichtmediziner als Mediziner, und gerade Pfister schätze ich in dieser Beziehung höher ein als manchen kritiklosen medizinischen Analytiker. Nein, was mich bisher ferngehalten hat und es auch heute noch tut, ist die Scheu, mich auf eine bestimmte Richtung festzulegen, nicht mehr frei zu sein, zu den einzelnen Problemen und Ergebnissen so Stellung nehmen zu können, wie es der Individualität momentan entspricht. Ich meine dies nicht in erster Linie nach aussen, sondern mir selber gegenüber. Dazu kommt noch etwas anderes: Meiner Ansicht nach sind die Freudschen Lehren über das Erstlingsalter hinaus, wo sie es nötig gehabt 311 | Morgenthaler (1965), S. 99. 312 | Der Text ist als Abschrift im Rorschach-Archiv in Bern vorhanden, teiltranskribiert von Rita Signer und mir. 313 | Siehe Hermann Rorschach an Walter Morgenthaler am 5. November 1919. In: Rorschach (2004), S. 170. 314 | Oskar Pfister (1873–1956) studierte Theologie und Philosophie, war von 1902 bis 1939 in Zürich Pfarrer und befreundet mit Sigmund Freud. 1919 gründete er mit anderen die Gesellschaft für Psychoanalyse.
Geschichte, Klinikalltag und Akteure haben, in Spezialvereinen gepflegt und durchgedrückt zu werden. Die Freudsche Sache ist bereits völlig in die Psychologie und Psychopathologie eingedrungen, und sie ist speziell für mich eine wichtige psychotherapeutische Methode neben allen andern geworden. Nirgends wie in der Psychotherapie muss man sich meiner Ansicht nach in Acht nehmen vor dem Allein-seligmachenden. Dass Ihr gegen die wild wuchernden analytischen kritiklosen Phantasten und die analytischen Sport-Dämchen auftreten wollt, ist höchste Zeit und lebhaft zu begrüssen.« 315
Morgenthaler zeigt sich in diesem Brief als Psychiater und Psychotherapeut, der offen ist für unterschiedliche Methoden und Schulen, der weiß, was in Zürich in diesem Fachbereich läuft und der sich die Wahl seiner eigenen Arbeitsmethoden bewusst offen halten will. Im Vergleich mit Zürich zeigen sich die Berner Ärzte weniger in Vereinen organisiert. Auch die schweizerische Psychiatrie entwickelt sich, wie dieses Beispiel zeigt, kantonsgebunden unterschiedlich. Dass Morgenthaler unbeirrt eigene Wege beschritt, zeigt 1921 die Monografie mit dem Titel Ein Geisteskranker als Künstler. Adolf Wölfli. Schon mit der Titelsetzung betrat Morgenthaler psychiatriehistorisch gesehen Neuland, indem der Patient erstens (auf dessen Wunsch hin) mit vollem Namen und zweitens als »Künstler« bezeichnet wurde. Die psychopathografische Studie soll gemäß ihrem Autor durch die »grösseren Zusammenhänge« zusätzlich zu ihrer Beschäftigung mit dem Kranken auch unbenannte Probleme der »Gesunden« angehen. Wölflis Leben bezeichnet Morgenthaler als »Urwald«, den er »mit den Strassensystemen verschiedener Wissenschaften in Zusammenhang bringen will«; er beruft sich dabei auf die Werke von Kraepelin, Bleuler, Ebbinghaus, Jaspers u.a.; und gleichzeitig möchte er »von einem neuen Standpunkt aus in die Persönlichkeit und die Kunst unseres Kranken ein[ ]dringen.« 316 Morgenthaler bezieht sich auf die zeitgenössischen Wissenschaftler und ihre Ordnungssysteme, schlägt aber seinen eigenen Weg ein, den man mit einem heutigem Vokabular interdisziplinär nennen könnte. Der Mut, einen neuen und eigenen Ansatz im Umgang mit einem Patienten und dessen Werk zu wählen, hatte vermutlich auch negative Konsequenzen für Morgenthaler, zumindest blieb ihm die Krönung einer institutionellen Karriere, das Direktorenamt in einer Klinik, verwehrt. Dies könnte durchaus in einen Zusammenhang mit seiner unkonventionellen Arbeitsweise gestellt werden. Dass Morgenthaler sich Anfang der 1930er Jahre, als er längst nicht mehr in der Waldau arbeitete, Aussichten auf die Stelle als von Speyrs Nachfolger in der Waldau machte, belegen die Erinnerungen von seinem Mitkonkurrenten Müller. Er schreibt darin: »Wie dem auch sei, es wurde Klaesi gewählt. Am 1. April 1933 trat er seine Stelle an. Nach all den Hoffnungen und dem langen Warten war meine Enttäuschung grenzenlos. Erst später habe ich erfahren, daß sie bei einem andern noch größer und auch begründeter war: Morgenthaler. Er hatte noch viel fester als ich daran geglaubt, gewählt zu werden, war mehr als zehn Jahre älter und überzeugt, als führender Kopf der Berner Psychiatrie ein Anrecht auf den Pos-
315 | Walter Morgenthaler an Hermann Rorschach, Bern, 9. November 1919. In: Rorschach (2004), S. 172. 316 | Morgenthaler (1985), Vorwort, S. VII.
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Schreiben am Rand ten zu haben. Er hat den Schock denn auch nie ganz überwunden, Klaesi blieb sein erklärter Feind, und er hat bis 1954 keinen Fuß mehr in die Waldau, an der er so sehr hing, gesetzt.« 317
In den Jahresberichten erwähnt ist nur, es seien »drei bernische Irrenärzte im gleichen Rang«318 vorgeschlagen worden, nachdem klar war, dass an der Personalunion von Anstaltsdirektor und Universitätsprofessor festgehalten werde. Da ein Nachlass Morgenthalers nach heutigem Wissenstand leider fehlt, ist vieles zu ihm und seinem Werk nur fragmentarisch überliefert, es bleibt deshalb einiges offen
3.6.2.4 Jakob Wyrsch (1892–1990) Über seine Berufswahl schreibt der aus dem Kanton Nidwalden stammende Jakob Wyrsch (1892–1980) in einer Selbstdarstellung aus dem Jahr 1977: »In den letzten Generationen beider Familien treten die Ärzte auf, mit oder ohne Ehrenamt im Kanton. Landärzte selbstverständlich, die zu Fuß oder mit Roß und Wagen den Patienten nachgingen und sich nicht getraut hätten Wissenschaft zu treiben. Vier Ärzte und ein Apotheker waren es in meiner Gymnasiastenzeit. Was lag also näher, als daß der einzige Sohn, neben einer Schwester, die es nicht werden konnte, ebenfalls Arzt werde? Aber was sagt ein Junge dazu, der für Naturstimmungen empfänglich ist, auf Bergwanderungen und in Mondnächten schwärmt, liest, was ihm in die Hände kommt, und neben den paar Gedichten, die als Schulaufgabe zur Übung ›gemacht‹ wurden, ernst gemeinte, geheime Verse klimpert, was damals noch Mancher tat? Nichts sagte er dazu. Denn dies schienen keine Berufe, wenigstens im Dorf nicht, sondern dies war für die Feiertage als Steckenpferd, und so stand bei der Anmeldung für die Maturitätsprüfung bei der Frage nach Berufsstudium: ›med.‹« 319
Wyrsch studierte in Zürich, blieb dort, wie er es ausdrückte, als »Innerschweizer am Rande«320 und half nach dem Staatsexamen mit Ende des Ersten Weltkriegs seinem Vater in der Praxis aus, bis sich 1920 Hans W. Maier, damals Oberarzt im Burghölzli, bei ihm meldete und ihm eine Assistentenstelle anbot. Dass der eine Generation ältere Historiker Robert Durrer der einzige war, der Wyrschs Entscheidung für die 317 | Müller (1982), S. 115. Ob Morgenthaler tatsächlich zwischen 1933 und 1954 nie in der Waldau war, lässt sich nicht überprüfen. Morgenthaler hat sich jedoch 1954 für die Wahl Müllers an die Waldau eingesetzt, wie dieser schreibt: »Rührend war das Verhalten Morgenthalers. Er schrieb ohne mein Wissen der Erziehungsdirektion in seiner Eigenschaft als ›Senior der bernischen Psychotherapeuten‹ einen Brief, wonach weder die bernischen Psychiater noch die bernische Ärzteschaft es verstehen würden, wenn man mich nicht wählen sollte.« Ebd., S. 426 f. Geht man hier von einer Allianz zwischen Müller und Morgenthaler aus, so muss zur Gegenseite Klaesis auch Pilleri gezählt werden, der über den späteren Direktor Müller (1954 Nachfolger von Klaesi) schreibt, Müller »war eitel, eingebildet und humorlos. Bei der zweiten Bewerbung um die Waldau liess er wissen, dass er, wenn er die Klinik nicht bekomme, sich umbringe. Da die Gesundheitsdirektion keinen Selbstmörder auf dem Gewissen haben wollte, gab man ihm schliesslich Klinik und Lehrkanzel. Wissenschaftlich war Müller ideenlos.« Pilleri (2010), S. 142. 318 | Jb 1932, S. 7. 319 | Wyrsch (1977), S. 471. Siehe zu Wyrschs Leben und Werk auch Neiger (1985). 320 | Wyrsch (1977), S. 472.
Geschichte, Klinikalltag und Akteure
Psychiatrie unterstützte, dankte dieser ihm später mit einer Biografie (Robert Durrer, 1949). Das restliche Umfeld Wyrschs war – nicht untypisch für die Zeit – der Meinung: »Geisteskranke seien zwar interessant, aber es lasse sich dort nicht helfen, also fast unwürdig eines Arztes.«321 Nach einer Zeit in der luzernischen Klinik St. Urban wurde er dort mit 33 Jahren bereits Anstaltsdirektor. 1934 dann holte ihn Klaesi in die Waldau, Wyrsch wurde Leiter der Aufnahmestation und der in der Stadt eingerichteten Poliklinik. Wie damals in der Schweiz üblich, wohnte auch Wyrsch mit den Patienten unter einem Dach. Die Nähe zu ihnen beschreibt er später wie folgt: »Seine Patienten nicht nur zu untersuchen, sondern auch sonst kennenzulernen, war leicht gemacht. Auf der einen Seite des Korridors in der Wohnung führte die Türe auf die Männerseite, auf der andern auf die Frauenseite. Es brauchte also nicht die Stunde der ärztlichen Visite. Wir gingen rasch, wenn wir gerade neugierig waren. Mit der Zeit kannte man die meisten der 1100 Patienten mit Namen und von manchem wußte man noch mehr. Den einen oder anderen hatte man schon in der Poliklinik gesehen, dann in der Klinik oder bei der ›Gemeinsamen‹, die es natürlich auch gab, und bei vielen wußte man mit der Zeit die ganze Lebensgeschichte.« 322
Schon vor seiner Venia Legendi hielt Wyrsch Vorlesungen in Forensik für Juristen. Nachdem er die Poliklinik abgegeben hatte, war er auch als psychiatrischer Berater in den Berner Strafanstalten Witzwil und Thorberg tätig. Seine Werke Gerichtliche Psychiatrie und Psychopathologie und Verbrechen erschienen 1949. Im gleichen Jahr erschien auch Die Person des Schizophrenen. Wyrsch schrieb neben der Fachliteratur und dem bereits zu Beginn dieses dritten Kapitels erwähnten psychiatriehistorischen Werk Hundert Jahre Waldau (1955) einen Schelmenroman mit dem Titel Cosmas Damian (1957) und porträtierte daneben Kollegen mit der gleichen Herkunft, etwa in Freunde aus der Urschweiz. Weggefährten und ihre Welt (1971). Darin stehen lokalpolitische und biografische Erinnerungen im Vordergrund. Wyrsch gab aber auch die Anthologie Vom Sinn der Melancholie (1980) heraus, die Texte von Seneca, Montaigne, Shakespeare oder Gottfried Benn vereint. Mit Wyrsch kann also ein weiterer Psychiater beobachtet werden, der selbst schrieb und sich mit Literatur befasste. In Bezug auf den hier besprochenen Zeitraum ist mit ihm vor allem ein Anfang einer Institutionsgeschichtsschreibung zu setzen.
3.7 I n erster L inie kr äf tig : D ie »W ärter « und »W ärterinnen « Nach den Ärzten folgen in der Klinikhierarchie – mit beträchtlichem Abstand – die Wärter als zahlenmäßig größte Gruppe von Akteuren (wenn man von den Patienten absieht, die hier eher als Individuen denn als organisierte Gruppe betrachtet werden). Ihren Namen haben sie von ihrer Tätigkeit, »ze warten«.323 Diese Tätigkeit ist 321 | Ebd., S. 476. 322 | Ebd., S. 494. 323 | Morgenthaler (1915, S. 65) zitiert eine Quelle des Inselspitals aus dem Jahre 1559. Das Grimm’sche Wörterbuch gibt für das althochdeutsche ›wartên‹ respektive das mittelhochdeutsche ›warten‹ die Bedeutung ›behüten, bewachen, versorgen, sich hüten‹ an.
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eine handlungsorientierte, die lange nicht mit Schriftlichkeit verbunden wurde, bis man die Ausbildung des Pflegepersonals systematisch aufbaute und das mündliche Rapportieren wie auch die Schreibfähigkeiten gezielt schulte, wie es etwa Morgenthaler 1936 in einem Vortrag über Ausbildungskurse als Desiderat formuliert: »Mehrfach haben wir und andere auch schon darauf hingewiesen, daß dem Rapportwesen noch viel mehr Beachtung geschenkt werden sollte. Es fördert die Beobachtung, aber auch die Formulierung und Wiedergabe. Und zwar sollte sowohl das mündliche wie das schriftliche Rapportieren geübt werden. Dabei sollten auch die Meldungen während der Arztvisite nach der inhaltlichen und formalen Seite hin beachtet, nachher besprochen und wenn nötig korrigiert werden. – Mit den schriftlichen Arbeiten sollte schon im ersten Kurs begonnen werden, am besten so daß ein- bis zweimal im Monat ein kleiner Aufsatz oder Brief, vielleicht abwechselnd über ein gegebenes und ein freies Thema abgeliefert und besprochen wird. Am Ende des ersten Kurses könnten die Leute angehalten werden, Lebensläufe zu schreiben. Im zweiten Kurs aber sollte im Anfang Anleitung zur Abfassung von richtigen Rapporten gegeben und diese dann geübt werden.« 324
Der Untersuchungszeitraum liegt aber vor dieser angestrebten Schreibförderung und schriftliche Spuren von Pflegern sind deshalb rar (Abb. 19).325 Wärter sind in diesem institutionellen Rahmen nicht nur selten Autoren von Texten (und dann fast ausschließlich anonym), sondern sie sind als einzelne Figuren auch nur sporadisch Thema der Anstaltstexte. Wenn sie in Texten vorkommen, werden Wärter entweder als ›Personalmasse‹ beschrieben, die es zu suchen, einzustellen oder bei schlechter Führung zu entlassen gilt, oder sie werden einzeln als Störfälle hervorgehoben, deren Verhalten zu Konflikten geführt hat. Eine positiv konnotierte Erwähnung von Wärtern findet sich nur in der Auflistung von Dienstjubiläen oder wenn sich eine Person auf außergewöhnliche Weise für die Anstalt eingesetzt hat.326 Es gilt hier also, einer aus unterschiedlichen Gründen marginalen Verknüpfung zwischen Ort und Schreiben nachzugehen, die aber sehr aufschlussreich ist, weil sie die Machtverhältnisse in der Klinik, die maßgeblich mit Schreibpraktiken verbunden sind, nachzeichnen lässt. Der Aufgaben- und Verantwortungsbereich der Wärter war groß, wie die bereits zitierten Instruktionen zeigen.327 Das Organisations-Reglement von 1866 etwa hält 324 | Morgenthaler (1936), S. 10 f. 325 | Eine Ausnahme bildet etwa der abgebildete Pflegerrapport über Robert Walser. Dort fällt auf, dass alle Einträge in derselben Handschrift verfasst sind. Es gibt auch keine Signaturen, im Gegensatz zu den Pflegerrapporten über Walser aus der Herisauer Zeit. Letztere Dokumente sind jeweils signiert. Es hat im Waldauer Fall entweder nur eine angestellte Person geschrieben oder es handelt sich beim Dokument um eine Abschrift unterschiedlicher Einträge. In den mir von Herrn PD Dr. Altorfer zur Verfügung gestellten Krankenakten finden sich leider keine weiteren solche Pflegerrapporte. 326 | Im hier besprochenen Zeitraum gibt es meines Wissens eine einzige Erwähnung einer Gratifikation und damit eine positive Hervorhebung einer einzelnen Wärterin, die sich besonders beherzt für die Anstalt eingesetzt hatte: »Der Wärterin des Mööslis in der Waldau wurde eine kleine Gratifikation bewilligt, weil sie mit Hilfe einer Kranken geschickt und tapfer einen durch eine heruntergefallene Petroleumlampe drohenden Brand erstickte.« (Jb 1908, 15 f.). 327 | Siehe Kapitel 3.3.2, Abb. 16 und die Transkription im Anhang, Kap. II.
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Abb. 19: Erste Seite der Pflegerrapporte über Robert Walser.
das angestrebte Verhältnis von Pflegepersonal und Patienten fest: Auf einen Wärter oder eine Wärterin sollen zehn Patienten kommen. Dieses Verhältnis wird dann 1894 auf sieben Patienten pro Pflegeperson verbessert. Die Aufgaben der Wärter bestehen in der »näheren Beobachtung, Wartung und Pflege der Kranken nach ärztlicher Vorschrift«.328 Eine vom Schweizerischen Verein für Psychiatrie koordinierte 328 | Dekret von 1894, §25, S. 381.
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Ausbildung für das Pflegepersonal gab es in der Schweiz erst Ende der 1920er Jahre, davor wurde viel mehr auf die Kräftigkeit und damit auf das Durchsetzungsvermögen des Personals geachtet. Viele Wärter waren ehemalige Knechte oder Mägde, die ihre Arbeitsstelle verloren hatten und notgedrungen in der Anstalt arbeiteten.329 Dass die Wärter oft einen anderen Erstberuf hatten, war vielleicht ein Nachteil in Bezug auf die Pflege der Patienten, zumindest in einzelnen Fällen aber kein Nachteil für die Anstalt als ökonomischen Betrieb. So besorgte ein Wärter, der ursprünglich Schuster war, die Schusterei der Waldau, die weiblichen Handarbeiten wurden von einer Wärterin, die »Nähterin« war, geleitet. Solche Doppelbegabungen wurden oft gezielt gesucht, um die in der Klinik anfallenden Arbeiten bewältigen zu können.330 Von der konkreten Tätigkeit der Wärter erfährt man in den Jahresberichten nur indirekt, und meist dann, wenn sie ihre Aufgaben nicht erfüllt haben. So kann man aus der Beschreibung des Selbstmordes einer Patientin beispielsweise entnehmen, dass es üblich war, suizidgefährdete Patienten von zwei Wärtern betreuen zu lassen.331 Solche indirekten Angaben führen zu einem fragmentarischen Berufsbild und einer ebensolchen Vorstellung des Klinikalltages. 329 | Dass es auch in den 1930er Jahren noch erhebliche Unterschiede bei den auszubildenden Pflegern gibt, zeigt ein Ausschnitt aus einem Vortrag Morgenthalers zum Thema Über Ausbildungskurse des schweizerischen Irrenpflegepersonals: »Es hat sich in den letzten Jahren herausgestellt, daß ganz enorme Niveauunterschiede zwischen den einzelnen Anstalten existieren. So gibt es z.B. einzelne Privatanstalten, die uns reihenweise Kandidatinnen mit der Matura oder ähnlicher ausgezeichneter Vorbildung in die Prüfung schicken, währenddem bei anderen das Hauptkontingent sich aus früheren Knechten und Dienstmädchen rekrutiert.« Morgenthaler (1936), S. 6. 330 | Jb 1896, S. 27. Diese Suche war nicht immer erfolgreich, wie man etwa dem Bericht von 1898 entnehmen kann: »Besondere Mühe machte es, eine tüchtige Wärterin zu bekommen, die zugleich als Schneiderin verwendbar war.« (Jb 1898, S. 28). 331 | In einem entsprechenden Fall hatte sich eine Patientin mit den Scherben eines Glases den Hals aufgeschnitten: »Die eine Wärterin, die immer in der Nähe war, hatte sie [die Patientin, Anm. M.W.] nicht daran hindern können; die andere hatte trotz dem Gebot, daß immer zwei Wärterinnen um die selbstmordsüchtige Kranke sein müßten, eben das Zimmer verlassen, ja der Kranken das verhängnisvolle Glas geschickt. Da der Ehemann auf eine gerichtliche Klage gegen diese Wärterin verzichtete, so fand sich auch die Kommission zu keiner veranlaßt. Der Direktor der Waldau machte dagegen die übliche Anzeige an das Regierungsstatthalteramt, doch hielten auch dieses und die richterlichen Behörden eine weitergehende Klage für unberechtigt und aussichtslos.« (Jb 1909, S. 10) In einer Darstellung eines weiteren Selbstmordes wird der Wärter indirekt zitiert: »Einem an seniler Melancholie leidenden, während einer gewissen Besserung mit Gartenarbeit beschäftigten Kranken wurde von seinem Wärter zu viel Vertrauen entgegengebracht. Der Wärter vermißte ihn auf einmal, nach ›nur zwei Minuten‹, und suchte ihn nun längere Zeit, statt gleich Anzeige zu machen. Unterdessen war der Kranke nach der nahen Bahnlinie gegangen und hatte sich im letzten Augenblick vor einem nahenden Schnellzug zwischen die Schienen gelegt. Der Zug konnte erst über ihm gestellt werden. Der Kranke schien zuerst nur leicht am Kopfe verletzt zu sein; in Wirklichkeit waren ihm aber eine Menge von Rippen gebrochen und die Lunge verletzt worden; er starb am dritten Tage, indem er rasch zusammenbrach.« (Jb 1923, S. 16) Mit der Aussage, er habe den Patienten »nur zwei Minuten« vermisst, findet eine Wärterstimme eine seltene Aufnahme in einen Jahresbericht, freilich nur um wegen Unaufmerksamkeit diskreditiert zu werden.
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Allgemein gesprochen erfreute sich der Wärterberuf keiner besonderen Beliebtheit. Man ergriff ihn, wenn man sonst nichts fand, und oft nur vorübergehend.332 Verständlich wird das, wenn man sich vor Augen hält, dass die Wärter getrennt von ihren Familien in der Anstalt leben mussten und dass sie noch in den 1890er Jahren lediglich jeden dritten Sonntag einen Nachmittag frei hatten.333 Dass den Wärtern in der Anstalt Kost und Logis gewährt wurde, wird ihnen in den Ferien zum Nachteil, denn es fehlt ihnen dann das Geld, sich an einem anderen Ort aufzuhalten. 1910 fordert der Wärterverein von den Direktoren, den Wärtern während der Ferien eine kleine Summe pro Tag zu geben, damit sie ihren Arbeits- und Wohnort auch einmal hätten verlassen können – das Gesuch wurde abgelehnt.334 Sozialleistungen wie Versicherungen gab es keine, wer einen Arbeitsunfall erlitt, war auf den hauseigenen Unfallfonds335 angewiesen und hatte unter Umständen große Mühe, eine neue Stelle zu finden. Im Zuge einer Organisierung 332 | Ausnahmen gibt es selbstverständlich auch. Einzelne Angestellte feierten 25- und gar 50-jährige Dienstjubiläen, wie beispielsweise der Bericht von 1892–1894 bekannt gibt: »So wurde es nun möglich, am 2. September 1894 das seltene Fest eines fünfzig jährigen Dienstjubiläums zu begehen. Mit der nun achtundsechzig jährigen Oberwärterin, Jgf. Anna Müller von Reichenbach, die im Herbste 1873 Vizeoberwärterin und im August 1881 Oberwärterin geworden war, feierte auch der Oberwärter, Herr Chr. Bieri von Schangnau, sein etwas verspätetes fünfundzwanzig jähriges Jubiläum als Wärter der Anstalt, denn er war am 7. Mai 1869 eingetreten und am 8. August 1878 zum Oberwärter befördert worden.« (Jb 1892–1894, S. 51 f.) Bevor Anna Müller 1906 stirbt, vermacht sie ihr Vermögen der Anstalt. Der Bericht desselben Jahres enthält Auszüge aus ihrem Testament. (Jb 1906, S. 27). Klaesi gründet mit dieser Hinterlassenschaft eine Kolonie, siehe dazu Kapitel 3.12 und 4.6. 333 | Das Problem der fehlenden Wohnungen für das Pflegepersonal wurde zwar erkannt und findet auch Erwähnung in den Berichten, es wird aber unter von Speyr relativ wenig für eine Veränderung der Zustände getan. »Der Wechsel ist im Wartpersonal, namentlich bei den Männern, noch immer viel zu groß und dessen Gesamtzahl zu klein. Als Gründe mögen u.a. angeführt werden, daß die Besoldungen trotz unsern Bemühungen noch immer nicht erhöht werden können, dann aber auch, daß wir den Verheirateten keine Wohnungen für ihre Familien anzubieten haben und kleine Wohnungen in der Nähe der Stadt selten und dazu teuer sind. Ich betrachte es als eine wichtige Aufgabe der Anstalt, daß sie bald durch geeignete Wohnungen für diese ihre Angestellten sorgt. Bei dieser Sachlage ist die Pflichttreue und Anhänglichkeit nicht weniger, jüngerer und älterer Angestellter, um so mehr anzuerkennen.« (Jb 1903, S. 24 f.). 334 | Die Forderung wird mit einem interkantonalen Vergleich begründet: »Der Wärterverein stellte an die Direktoren das Gesuch, daß dem Wartpersonal während der Ferien für Kost und Logis Fr. 2.- im Tag vergütet werden sollten. Nicht wenige möchten ihre Ferien mit Vorliebe an einem stillen Ort zubringen, und auch am einfachsten Orte komme der Pensionspreis nicht unter Fr. 2.50 im Tag, während die Anstalten für die Verpflegung entlastet würden. In der genferischen Irrenanstalt bestehe diese Einrichtung seit vielen Jahren. Diese Anstalt wünscht aber, daß das Personal seine Ferien nicht im Hause zubringe, was für die bernischen Anstalten nicht gilt. […] Der Regierungsrat trat auf das Gesuch nicht ein, da es den Wärtern frei stünde, auch während ihrer Ferien in ihrer Anstalt zu bleiben und daselbst Kost und Wohnung zu genießen.« (Jb 1910, S. 11). 335 | Der sogenannte Unfallfonds oder die Unfallkasse wurde in den 1890er Jahren gegründet: »Sie [die Kommission] beriet auch die Versicherung der Beamten und Angestellten der
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der Arbeiter in Vereinen und Gewerkschaften sind in den 1910er und 1920er Jahre Arbeitszeit, Versicherung oder Pensionsgelder Themen, die auch in den Jahresberichten verhandelt werden, welche somit auch deshalb als wichtige Zeitdokumente zu betrachten sind.336 Um ein Beispiel für die Zahlenverhältnisse zu nennen: Es waren zu Beginn des Jahres 1901 in der Waldau 29 Wärter und 27 Wärterinnen für 539 Patienten zuständig, das entspricht also einem Verhältnis von gut 8 Patienten pro Pflegeperson. Von den Wärtern waren im Verlaufe jenes Jahres 16 Männer (also 55%) und 11 Frauen (also 41%) aus- und etwas mehr eingetreten, einige gingen freiwillig, einige mussten entlassen werden. Es gab zu dieser Zeit somit einen erheblichen Personalwechsel, der den Anstaltsalltag entscheidend prägte. Grundsätzlich arbeiteten die Wärterinnen auf den Frauenabteilungen, die Wärter auf den Männerabteilungen. In den 1910er Jahren versuchte von Speyr auch, Wärterinnen auf der Männerabteilung einzusetzen, eine Idee, deren Umsetzung 1915 aufgrund von fehlendem Personal wieder gestoppt werden musste.337 Die Anstellung von Wärtern und Wärterinnen erwies sich als unterschiedlich schwierig. Bis zum Ersten Weltkrieg war es für die Anstalt schwierig, genügend Wartpersonal zu finden, problematisch war vor allem die Besetzung der Wärterinnenstellen. Deshalb mussten dem Personal auch bessere Bedingungen gewährt werden.338 In der Krisenzeit der 1920er und 1930er Jahre waren sehr viele Waldau gegen Unfall. Sie nahm die auf Erfahrungen in andern schweizerischen Irrenanstalten gegründeten Vorschläge der Anstaltsdirektion an, nur die meist gefährdeten Arbeiter im Kessel- und Maschinenhaus bei einer guten Gesellschaft zu versichern, für die übrigen aber durch jährliche Speisung aus der Betriebsrechnung eine eigene Unfallkasse zu gründen.« (Jb 1892–1894, S. 7). 336 | Als Beispiel für die Diskussion der Versicherungsthematik wird hier ein Ausschnitt aus dem Bericht von 1910 angeführt: »Die Kommission beriet wiederholt, ob nicht die Angestellten im ganzen oder in besonders gefährdeten Gruppen bei einer Gesellschaft zu versichern seien, statt auf die Selbstversicherung durch den Unfallfonds angewiesen zu bleiben.« (Jb 1910, S. 10) 1928 erhielt die Aufsichtskommission von der Sanitätsdirektion den Auftrag, sich mit der Verkürzung der Arbeitszeiten auseinanderzusetzen. Der entsprechende Bericht listet unterschiedliche Gründe auf, weshalb dies der Kommission zur Zeit nicht möglich war, womit sich eine Rhetorik des Aufschubs beobachten lässt. (Jb 1928, S. 6) 1930 ist die Einführung der 60-Stundenwoche ein Thema, 1931 argumentiert die Aufsichtskommission mit einer Auflistung der Kosten gegen die Einführung dieser Arbeitszeitreduktion: »Die Einführung der 60-Stundenwoche würde [so habe die Aufsichtskommission geschrieben] in den drei Anstalten für bauliche Arbeiten Franken 645,000 beanspruchen, wobei das Mobiliar noch nicht berechnet wäre. Die jährlichen Mehrausgaben für den Betrieb aber würden durchschnittlich über Fr. 4000,000 ausmachen. […] Daneben habe der Staat noch große Aufwendungen für die Arbeitslosen, die Bekämpfung der Tuberkulose und Hoch- und Tiefbauten zu machen. Das Begehren [des Schweizerischen Verbandes des Personals öffentlicher Dienste, Anm. M.W.] müsse also unbedingt noch etwas zurückgestellt werden.« (Jb 1931, S. 6). 337 | Jb 1915, S. 25. Siehe auch Kapitel 3.9 zur Waldau im Ersten Weltkrieg. 338 | Die gängige Praxis der Aufsichtskommission, auf Forderungen des Wartpersonals gar nicht erst einzugehen, wie es folgende Stelle noch belegt, musste revidiert werden: »Verschiedene Wärter der Waldau wünschten ihre Besoldungen regelmäßig monatlich statt vierteljährlich zu erhalten. Die Kommission trat auf dieses Gesuch nicht weiter ein.« (Jb 1902,
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Menschen arbeitslos und es fiel deshalb leichter, die Wärterstellen zu besetzen.339 Während anderen Beteiligten die Krisensituation und die Folgen für die Arbeitssuchenden klar waren, zeigen zwei Passagen aus den Berichten von 1928 und 1931 einen ziemlich realitätsfremden Waldauer Direktor. Von Speyr schreibt den großen Andrang bei den Wärterstellen nicht etwa der Krise zu, sondern einer angeblich höheren Wertschätzung des Berufs: »Der Wechsel war wie gewohnt beim weiblichen Wartpersonal viel größer als beim männlichen, das Angebot aber viel geringer. Während nur 5 Wärter zu ersetzen waren, liefen über 160 Angebote ein, bei 14 austretenden Wärterinnen dagegen nur 69. Darf man daraus nicht schließen, daß die Wärterstellen vielleicht doch nicht so unbeliebt sind, als es manchmal scheinen könnte?340 Die Tatsache, daß kein Wärter freiwillig den Dienst aufgab, während eine Menge von Anmeldungen einging, die wir nicht berücksichtigen konnten, beweist wohl, wie der Wert einer Wärterstellung nun geschätzt wird; mit Recht, denn sie ist sicher, mit Arbeit trotz der Ablehnung der 60-Stundenwoche nicht überlastet und so bezahlt, daß die Gründunge eines Hausstandes wohl möglich ist, gar wenn die Familie von der Anstalt um billigen Preis eine Wohnung mieten kann (es stehen leider noch zu wenig solcher Wohnungen zur Verfügung). Das alles im Vergleich zum vorhandenen und noch mehr drohenden Arbeitsmangel der Gegenwart!« 341
Eine Eignung für den Beruf als Voraussetzung für eine gut funktionierende Anstalt ist damit im Gegensatz zur Aussage Ulrich Brauchlis342 hier kein Thema für von Speyr, es reicht ihm, wenn genügend Interessenten vorhanden sind. Dass er im letzten Zitat die billigen Wärterwohnungen anpreist, von denen er gleich zugeben
S. 9) Konzessionen wurden in Bezug auf die Freizeit, die Ferien und den Lohn gemacht: »Da alle drei Anstalten die größte Mühe hatten, ihr Wartpersonal zu ergänzen, so beschloß die Kommission auf Antrag der drei Direktoren die folgenden Maßregeln, die in ihrer Kompetenz lagen: Die Freistunden wurden vermehrt, sodaß jeder Wärter nun 52 Ruhetage erhält (alle 8 statt alle 14 Tage einen halben Werktag, jeden 4. statt jeden 6. Sonntag und 14 statt 10 Tage Ferien.) Dazu wurde die Anfangsbesoldung bei der festen Anstellung für den Wärter auf 600 und die Wärterin auf 500 fr. im Jahr erhöht, indem allerdings die Probezeit von 2 auf 3 Monate verlängert wurde. Auch für die übrigen Angestellten wurde die Zahl der Ferientage, außer den Wochenfreitagen, auf 7 und 14 festgesetzt.« (Jb 1908, S. 10) In Münsingen wurde aufgrund von fehlenden weiblichen Angestellten ein Vertrag mit der Diakonissenanstalt ›Siloah‹ in Gümligen abgeschlossen. Es sollten bis zu 18 (ausgebildete) Schwestern in der Anstalt arbeiten. (Jb 1931, S. 44). 339 | Allerdings sind die neuen Wärter eher unfreiwillig in diesem Beruf, wie es Direktor Ulrich Brauchli im Münsinger Bericht von 1925 auf den Punkt bringt: »Die Nachfrage nach Wärterstellen ist ziemlich groß [im Gegensatz zu derjenigen der Stellen für Wärterinnen]. Die wenigsten Bewerber melden sich aber aus innerem Triebe, aus Liebe zur Sache. Die meisten Anmeldungen erfolgen gegenwärtig von Leuten, die auf dem angelernten Berufe keinen dauernden Verdienst bekommen können und in einer Anstalt eine sichere, wenn auch bescheidene Lebensstellung zu finden hoffen.« (Jb 1925, S. 43). 340 | Jb 1928, S. 21. 341 | Jb 1931, S. 18. 342 | Jb 1925, S. 43.
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muss, dass gar nicht genügend vorhanden sind, grenzt an eine zynische Haltung gegenüber dieser großen Angestelltengruppe. Unter diesen unglücklichen Anstellungsbedingungen lassen sich Fälle von Missbrauch vermuten. Immer wieder gibt es in den Jahresberichten Andeutungen, dass das Personal Anteil an Verletzungen von Patienten haben könnte, meistens erbringt aber auch eine angeordnete Sektion der Toten keine Beweise dafür, wie ein Beispiel aus dem Jahr 1907 zeigt: »Auch in der Waldau wurde gegen einen Wärter Strafanzeige erhoben, weil er einen paralytischen Kranken am Vorabend seines Austrittes wegen Störung der Nachtruhe geprügelt hatte. Die Anzeige wurde gemacht, obschon beim Kranken kein bleibender Nachteil zu erkennen war. Der mißhandelte Kranke starb jedoch nach einiger Zeit, aber die gerichtliche Sektion wies keinen Zusammenhang nach zwischen der eingeklagten Mißhandlung und der Lungenentzündung, die ihn wegraffte. Die Untersuchung wegen Mißhandlung mit tödlichem Ausgang wurde aufgehoben, weil der Schuldbeweis fehlte, aber auch die wegen einfacher Mißhandlung, weil kein gesetzlicher Kläger da war.« 343
Die Untersuchungen führen nicht nur aufgrund fehlender Beweise zu nichts, im zitierten Beispiel fehlen auch die nötigen Akteure, nämlich ein Kläger, der den verstorbenen Patienten vertreten würde. Mit der Aufnahme der Thematik bleiben die Wärter in der Darstellung der Berichte wie auch in deren Rezeption einem Moment des Verdachts ausgesetzt. Die Jahresberichte spiegeln Mutmaßungen und Halbwissen, können selbst aber nichts zur Klärung der Fälle beitragen.344 Eine Möglichkeit, etwaigem Missbrauch vorzubeugen, besteht in der Ausbildung des Personals. Um die Jahrhundertwende sind es erste sogenannte »Wärterkurse«, die geschlechtergetrennt durchgeführt werden.345 1917 wird berichtet, dass freiwillige Samariterkurse stattfinden.346 Im darauffolgenden Jahr findet sich die Erwähnung, dass Morgenthaler einen Kurs für Irrenpflege gegeben habe. Die Ausbildung wird auf die spezifische Anforderungen der Anstalt ausgerichtet, der Beruf damit von der allgemeinen Krankenpflege abgetrennt und die Wärter werden dazu angehalten, diese Kurse zu besuchen.347 Damit führt Morgenthaler eine zweiteili343 | Jb 1907, S. 9. 344 | Ein zweites Beispiel aus dem Jahr 1914 lautet: »In einem andern Falle, ebenfalls in der Waldau, verzichtete die Kommission auf eine amtliche Anzeige. Der altersblöde F. V. C . von C. fiel in seiner Schwäche öfters um. Als er nun starb, fanden sich mehrere Rippenbrüche und eine Blutung in der Brusthöhle, und der Direktor konnte sich des Verdachtes nicht erwehren, daß Nachläßigkeit oder gar Rohheit mitspiele, doch ließ sich nichts herausbringen.« (Jb 1914, S. 11). 345 | Jb 1901, S. 23. 346 | »Gegen den Jahresschluß wurde unter der Leitung des IV. Arztes [Walther] und gütiger Mitwirkung einiger Hülfslehrer aus der Stadt für das Wartpersonal ein Samariterkurs abgehalten; er wurde zahlreich und mit großem Interesse besucht.« (Jb 1917, S. 29). 347 | »Im Anschluß an den Krankenpflegekurs des Jahres 1918 wurde vom III. Arzt [Morgenthaler] ein Kurs für Irrenpflege abgehalten, der für die weniger als zwei Jahre im Dienst stehenden Wärter und Wärterinnen obligatorisch erklärt wurde.« (Jb 1919, S. 17). Die Münsinger Berichte sind zu diesem Thema ausführlicher als die der Waldau, so werden etwa die Fächer der Wärterkurse aufgeführt (Jb 1927, S. 38) oder statistische Angaben zur Anzahl
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ge Ausbildung ein, wie sie auch im Berufsbild und Lehrplan, die sich im Anhang seines Lehrbuches Die Pflege der Gemüts- und Geisteskranken befinden, beschrieben wird.348 Während die Ausbildungskurse auch eine Zusammenarbeit zwischen Ärzten und Wärtern fördern sollen und die Erfolge der Kurse in den Berichten dokumentiert sind, scheint das Verhältnis zwischen Wärtern und Direktor in einigen Fällen problematisch gewesen zu sein. In eher seltenen Fällen zeugen jedoch die Berichte auch von jenen Konflikten. Deren Darstellung endet prototypisch damit, dass der (schreibende) Direktor gleich zweifach die Oberhand behält – er entscheidet den Konflikt für sich und berichtet auch selbst davon. Die Jahresberichte bestätigen und festigen somit die herrschende Machtordnung durch eine einseitige Berichterstattung, in der dem Personal nie das Wort gegeben wird, die sich aber mit der unterzeichnenden Aufsichtskommission perfid als scheinbar objektiv und dem Konflikt übergeordnet ausgibt. Es kann und soll hier nicht darum gehen, über Schuld und Unschuld in bestimmten Fällen zu entscheiden oder Komplizenschaft mit den möglicherweise unschuldigen Angestellten einzugehen, vielmehr sollen die Machtstrukturen, wie sie in den Berichten ihren Niederschlag finden und die durch sie auch verstärkt werden, untersucht werden. So etwa wenn es um die Entlassung von zwei Wärtern durch von Speyr geht: »Der Direktor der Waldau sah sich nach langer Geduld genötigt, zwei Wärtern zu künden, als ihnen ein gefährlicher Kranker entwich, so daß sie es merkten und sie keine Schuld haben wollten. Der eine von ihnen schickte sich anständig in sein Los; der andere wehrte sich mit allen Mitteln und manchen Bundesgenossen dagegen; einer von ihnen verwendete sich im gleichen Augenblick beim Direktor, er solle den Mann behalten, weil er ein tüchtiger Wärter sei und er möge seine Pensionierung befürworten, weil der Wärter durch den strengen Dienst zugrunde gerichtet sei. Herr Siegenthaler [alt Regierungsstatthalter, Mitglied der Aufsichtskommission, Anm. M.W.] wurde mit einer genauen Untersuchung beauftragt, und die Kommission lehnte auf dessen Antrag die Beschwerde des Wärters ab und bestätigte die Entlassung.« 349
Von Speyr inszeniert sich hier als geduldiger Vorgesetzter, der sich erst nach einem schweren Vergehen zu einer Entlassung durchringt. Von den Wärtern wird erwartet, dass sie sich »anständig« in ihr Schicksal fügen würden. Das Verhalten des sich wehrenden Wärters, der auch noch Unterstützung von anderen erhält, wird als ungebührlich dargestellt. Indirekt entnimmt man der Berichterstattung, dass der Wärter aufgrund seiner Berufstätigkeit gesundheitlich angeschlagen ist und dass ihm mit der Entlassung keine Pensionsgelder mehr zur Verfügung stehen. Was der Bericht nicht aufdeckt, sind die Argumente, weshalb denn J.U. Siegenthaler zum Schluss kommt, die Beschwerde sei abzulehnen. Das Verhalten des Direktors wird positiv, dasjenige des Wärters negativ dargestellt und das Aufsichtskommissionsmitglied in seinem Verhalten als unantastbar beschrieben.
ausgebildeter Pfleger gemacht. (Jb 1932, S. 49) Die Kurse in Bellelay werden auf Deutsch und Französisch geführt. (Jb 1923, S. 57). 348 | Siehe Morgenthaler (1930), S. 257–263. 349 | Jb 1926, S. 7 f.
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Folgt man den Spuren der Konflikte zwischen Direktor und Personal, so scheinen sich diese gegen Ende der Ära von Speyrs zu verschärfen. Die Auseinandersetzungen werden verstärkt in der Presse ausgetragen und von Speyr sieht sich 1925 gar genötigt, von einem ihm angedrohten Streik sowie von angedrohten Kündigungen zu berichten. Aber auch diese Anekdote wird mit der Absicherung der bestehenden Machtverhältnisse durch die Aufsichtskommission abgeschlossen: »Obschon die von der Kommission genehmigte, neue Ordnung der Abendausgänge dem Personal in manchem entgegenkam, führte sie doch in Zeitungen und persönlichen Zuschriften zu heftigen Angriffen gegen den Direktor der Waldau, der sie dem Personal selber mitgeteilt hatte. Eine von der Kommission beschlossene und vom Präsidenten geleitete, nochmalige Mitteilung der Gründe der neuen Ordnung wurde mit noch schärferen Anklagen gegen den Direktor der Waldau im ›öffentlichen Dienste‹ beantwortet, nachdem ein Teil des Personals mit Streik und allgemeiner Kündigung gedroht hatte. Direktor v. Speyr konnte und wollte nicht auf diese Artikel entgegnen. Da sie aber vom Verbandssekretär beim Regierungspräsidenten zugeschickt wurden, beauftragte die Sanitätsdirektion die Kommission, die Zustände in der Waldau zu untersuchen. Eine Subkommission unterzog sich dieser Untersuchung während mehrerer Tage. Aus ihrem eingehenden Bericht ergab sich, daß die Anklagen im allgemeinen durchaus unbegründet und großenteils aus dem Ärger hervorgegangen waren, daß hier und in andern Fragen den z.T. übertriebenen Wünschen des Personals nicht war entsprochen worden.« 350
Dass die bestehenden Machtverhältnisse von einer scheinbar unabhängigen Aufsichtskommission nicht nur im Fall der Waldau gestärkt werden, zeigt ein Vorfall aus Bellelay. 1928 hatte Oskar Rothenhäusler, der dort von 1923–1928 Direktor war, in der Auseinandersetzung mit einer Wärterin vom Regierungsrat einen Anwalt bewilligt und bezahlt bekommen mit der Begründung, dass Rothenhäusler aufgrund seines Amtes zu diesem Vorgehen gezwungen gewesen sei und ihm deshalb Unterstützung gebühre.351 Dieser Vorfall ergänzt die Darstellungen bezüglich der Konfliktlösung der Aufsichtskommission und des Regierungsrates und zeigt, wo und wie mit Geld, juristischen Mitteln und schließlich sprachlicher Zementierung in Berichten Macht und hierarchische Strukturen erhalten wurden. Vergleicht man indes die Berichterstattung und Darstellung der Wärter über die Jahre hinweg, lässt sich feststellen, dass die große Gruppe der Wärter zwar selten Recht be350 | Jb 1925, S. 9 f. Bei einem weiteren Fall einer Beschwerde unterstützte der Verband des Personals öffentlicher Dienste (V.P.O.D.) den klagenden Wärter. Der Bericht von 1931 dokumentiert eine personalaufwändige Untersuchung, das Resultat bleibt indes das selbe, die Klage wird abgewiesen: »Der Direktor der Waldau entließ Anfang Mai den vor bald 9 Jahren angestellten Wärter E. Ue., weil er einen Kranken roh mißhandelt hatte. Der Wärter wehrte sich gegen diese Entlassung, und der V.P.O.D. Bern beschwerte sich für ihn bei der Sanitätsdirektion, die die Beschwerde der Aufsichtskommission überwies. Diese beschloß zunächst, eine genaue Untersuchung durchzuführen und bestellte zu diesem Zwecke eine Subkommission aus dem Präsidenten [Ernst], dem Vizepräsidenten [Lörtscher] und H. Meer mit einem besondern, vom Präsidenten zu bezeichnenden Sekretär des Obergerichts. Nachdem diese Subkommission die nötigen Abhörungen vorgenommen hatte, kam die Gesamtkommission zum Schlusse, daß der Wärter den Kranken ohne Provokation mißhandelt habe, die Entlassung somit berechtigt gewesen und die Beschwerde abzuweisen sei.« (Jb 1931, S. 6). 351 | Siehe Jb 1928, S. 10.
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kommt, dass sie aber zunehmend versucht, sich Gehör und damit eine Teilnahme am Diskurs zu verschaffen, was seinen schriftlichen Niederschlag in den Berichten findet. Damit zeugen die Berichte auch von Umbrüchen im Selbstverständnis einer Berufsgruppe und ihrer Wahrnehmung von außen.
3.8 D ie Patienten Texte von Patienten und deren Darstellung in den Krankenakten stellt das vierte Kapitel vor. Davor steht hier zunächst die Art und Weise im Zentrum, wie Patienten Eingang in die Jahresberichte finden, wie über sie geschrieben wird und wie ihre Stimmen wiedergegeben werden. In den Berichten werden die Patienten meistens nicht mit Namen genannt, es werden Initialen angegeben oder ganz weggelassen, wenn allgemeinere Wendungen wie »ein Mann« benutzt werden. Diese Praktiken sind institutionellen Veränderungen unterworfen und die Berichte der drei Berner Anstalten handhaben die Namensnennung auch nicht gleich. Während etwa 1895 von Speyr einen ›Fall‹ zur gerichtlichen Begutachtung wie folgt beschreibt: »1 Mann mit konstitutionellem hypochondrischem Verfolgungswahn, wegen unzüchtiger Handlungen mit Kindern. Einstellung des Verfahrens. Versorgung in der Waldau«,352 beschreibt Direktor Glaser im Münsinger Bericht des gleichen Jahres ebenfalls einen gerichtlichen Fall, jedoch mit der Nennung der Initialen und des Geburtsjahres des späteren Patienten: »Ch. D., geb. 1860, angeklagt der Brandstiftung. Hochgradig schwachsinnig. Einstellung des gerichtlichen Verfahrens und Überweisung des Angeklagten wegen Gemeingefährlichkeit in die Anstalt.«353 Die Patienten geraten aus ganz unterschiedlichen Gründen in die Anstalt, sie werden von Ärzten, Gemeinden oder Verwandten eingewiesen oder sie sind zur gerichtlichen Begutachtung dort. Die Patienten kommen alleine, mit Angehörigen oder »per Schub«, mit der Polizei, wie in den Krankenakten jeweils vermerkt wird. Das Merkblatt Vorschriften für die Aufnahme in die bernischen kantonalen Irrenanstalten Waldau u. Münsingen aus den 1920er Jahren belegt die Formalitäten und Bedingungen, die zu einem Eintritt führen – in erster Linie muss abgewartet werden, bis ein Platz frei wird (Abb. 20 und 21).354 Aus den Vorschriften lässt sich etwa entnehmen, dass der Patient beim Eintritt eine Ausrüstung Kleider mitzubringen hatte. Bei den Männern gehörten unter anderem acht weiße Hemden, zwölf »Nastücher«, ein Filzhut und drei Halsbinden oder »Cravatten« zur Ausrüstung, bei den Frauen unter anderem vier Blusen, fünf »Fürtücher« oder Schürzen, vier »Untertaillen (Gstältli)« zur Befestigung der Strümpfe und vier Nachtjacken. Damit wird deutlich, dass Frauen und Männer 352 | Jb 1895, S. 20. Im Vergleich mit der Krankenakte und einem Ausschlussverfahren bei der Lektüre der anderen gerichtlichen Fälle kann man annehmen, dass es sich bei dieser Beschreibung um Wölfli handelt. 353 | Jb 1895, S. 48. 354 | Werden die Bedingungen nicht eingehalten, werden die Patienten unter Umständen abgewiesen. Die Jahresberichte beinhalten die Erwähnung abschreckender Beispiele wie etwa die folgende: »Zwei aufgeregte Kranke wurden unangemeldet von weither vors Haus gebracht und mußten abgewiesen werden. Ich möchte neuerdings dringend von einem solchen Vorgehen abraten.« (Jb 1897, S. 15).
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Abb. 20: Vorschriften für die Aufnahme in die bernischen kantonalen Irrenanstalten Waldau u. Münsingen. Gültig nach 1920. Recte.
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Abb. 21: Vorschriften für die Aufnahme in die bernischen kantonalen Irrenanstalten Waldau u. Münsingen. Gültig nach 1920. Verso.
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auch in der Anstalt unterschiedlich gekleidet sind und man kann aufgrund dieser Aufstellung darauf schließen, dass die Männer, die einen Filzhut und eine Schirmkappe mitnehmen sollen, eher draußen arbeiten als die Frauen. Die Vorschriften geben auch Auskunft über die unterschiedlichen Tarife der Kostgelder, über die Besuchszeiten und die Kommunikationsmöglichkeiten, über die, wie gezeigt wurde, von Speyr wacht. Der Direktor erbat sich an dieser Stelle ausdrücklich eine schriftliche Kommunikation und die Vermeidung der Verwendung des Telefons. Telefonische Verbindungen gab es innerhalb der Waldau seit 1896, sodass die Oberwärter mit dem Arztbüro verbunden werden konnten. Innerhalb des Hauptgebäudes gab es elektrische Läutewerke. Der Anschluss an das öffentliche Netz und damit eine Verbindung mit dem städtischen Telefonnetz kam später. Zu Beginn der 1930er Jahre wurden dann die Freileitungen durch Kabelleitungen zwischen Haupt- und Nebengebäuden ersetzt, wie Verwalter Haller berichtet.355 Abgesehen von den Gesprächen bei Besuchen bleibt die Kommunikation zwischen Anstalt, Angehörigen und Insassen trotz neuer technischen Mittel an das Medium der Schrift gebunden. Die Anstalt ist damit ein Schreib- und Leseort und in dieser medialen Eindimensionalität ist die Klinik leichter zu kontrollieren. Die Erwähnung der Patienten in den Berichten kann grob in zwei Kategorien eingeteilt werden. Es handelt sich dabei entweder um die Einordnung des Einzelnen in die statistischen Angaben und Klassifikationsraster unterschiedlicher Krankheiten und damit in die Ordnung der Institution, oder aber es ist die Hervorhebung einzelner Patienten, wenn etwa Unfälle oder besondere Vorkommnisse Eingang in die Berichte finden. An der Verschriftlichung der Thematik ›Patient‹ in den Jahresberichten lassen sich somit zwei Bewegungsrichtungen festmachen, die sich vorderhand deutlich unterscheiden. Die eine macht aus dem individuellen Patienten den Bestandteil einer Masse, die andere zeichnet ihn in seiner Eigenart und seinem Schicksal aus. Bei genauerem Hinschauen wird aber deutlich, dass diese Bewegungen nicht linear auseinandergehen, sondern von Brüchen und Überschneidungen gekennzeichnet sind. Dann etwa, wenn Patienten oder hier Patientinnen aufgrund von selten erwähnten ›Krankheiten‹ wie »menstruale Störungen«356 auch in den sonst eher einebnenden statistischen Angaben auffallen oder wenn einzelne Patienten oder Patientengruppen zwar speziell erwähnt werden, jedoch keine konkreten Informationen zu ihnen angegeben werden. Als Beispiel dafür sei eine Stelle aus dem Bericht von 1900 beigezogen, worin die abschließende Bemerkung zu den gerichtlichen Fällen wie folgt lautet: »Im übrigen waren noch mehrere Bevogtungsgutachten zu machen, auch zwei Gutachten von Personen, die sich freiwillig stellten.«357 Damit wird eine Geschichte angedeutet, die davon handeln könnte, dass sich Personen aus bestimmten Gründen freiwillig zur Abklärung in die Anstalt begaben und dass offizielle Gutachten verfasst wurden. Welche Konsequenzen diese jedoch für die Betroffenen hatten, spart der Bericht aus. Besondere Erwähnung finden Patienten also einerseits, wenn sie freiwillig in die Anstalt eintreten oder wenn sie andererseits aufgrund einer Besserung ent-
355 | Jb 1896, S. 6; 24; Jb 1933, S. 30. 356 | Jb 1889/1890, S. 11. 357 | Jb 1900, S. 14.
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lassen werden können.358 Beide Situationen kommen eher selten vor, sie sind also innerhalb eines einzelnen Berichtes wie auch im Vergleich der Berichte eine Besonderheit. In der Folge sollen einige Beispiele aus der Fülle der erwähnten Unfälle und Todesfälle aufgeführt werden, weil sie – wenn man von den schwer zugänglichen Krankenakten absieht – erstens oft die einzigen Zeugnisse von Einzelschicksalen sind, zweitens weil sie als Mikronarrative über den Klinikalltag gelesen werden können und drittens weil in ihrer sprachlichen Gestalt eine Dynamik von Wissen und Nicht-Wissen der sich etablierenden Psychiatrie zum Tragen kommt.359 Am Beispiel einer gerichtlichen Begutachtung wird im Jahresbericht die Prozesshaftigkeit der psychiatrischen Entscheidungsfindung durch die Ärzte wie auch die Unsicherheit, die diesen Vorgang prägt, deutlich, wenn es heißt: »1. Unsittlichkeit mit Kindern. Es handelte sich um einen jungen Mann, bei dem wir glaubten, er leide an beginnender Dementia praecox, ohne daß wir das Vorhandensein der Krankheit absolut sicher nachweisen konnten. Wir nahmen an, er sei zur Zeit der Tat vermindert zurechnungsfähig gewesen.«360 Die sprachlichen Merkmale, die auf das unsichere Wissen deuten, finden sich in der Tatsache, dass hier bei der Diagnose einer Dementia praecox nur geglaubt und nicht gewusst wird, dass also die Krankheit nicht nachgewiesen werden kann. Die gerichtliche Begutachtung, so suggeriert diese Zusammenfassung, kommt durch die Arbeit einer vorsichtig vorantastenden Expertengruppe zustande, die sich weder ihrer Verfahren noch ihrer Resultate ganz sicher weiß. Unsicheres Wissen kommt auch in Bezug auf Todesursachen vor. Ein Mikronarrativ mit unterschiedlichen Anstaltsakteuren enthält die folgende Beschreibung eines Todesfalls: »Der Tod durch Darmriß betrifft einen unheilbaren Kranken, der schon mehrere Jahre in der Waldau und ein sehr beschwerlicher Kranker war, da er sich gegen alles wehrte und viel Lärm machte. Der Kranke wurde eines Morgens sterbend gefunden; die Sektion ergab eine Bauchfellentzündung infolge eines Darmrisses, aber unsere Nachforschungen brachten nicht heraus, wie dieser Darmriß entstanden sein mochte. Endlich, nach etwa sechs Wochen, schrieb uns ein verblödeter Pflegling, er hätte damals einen Wärter sich vor Andern rühmen hören, 358 | Die beiden Ausnahmesituationen sollen hier durch Beispiele belegt werden, zuerst ein freiwilliger Eintritt eines ehemaligen ›Untersuchungsfalles‹, der mit der Nennung des Deliktes beginnt: »Diebstahl. Das Mädchen [hier wird ebenfalls wieder auf die Angabe von Initialen oder eines Geburtsjahres verzichtet, Anm. M.W.] leidet an Hysterie bei angebornem Schwachsinn leichten Grades. Sie war zur Zeit der Tat vermindert zurechnungsfähig. Das Gericht verurteilte sie zu 3 Monaten Gefängnis unter bedingtem Straferlaß, sie wurde unter Schutzaufsicht gestellt. Das Mädchen ist seither wieder freiwillig in die Waldau eingetreten.« (Jb 1912, S. 18) Im Gegensatz zu den zu Beginn des Kapitels zitierten Zusammenfassungen gerichtlicher Fälle wird hier das begangene Delikt zuerst genannt, bevor die Patientin beschrieben wird. Eine Entlassung hingegen wird im Bericht von 1931 beschrieben: »Sie [die Kommission, Anm. M.W.] hörte dagegen mit Vergnügen, daß ein Kranker der Waldau, C. H ., der ihr und andern Behörden schon viel zu tun gegeben hatte, sich so besserte, daß er in eine Stelle austreten durfte.« (Jb 1931, S. 8). 359 | Zum Wissen und Nicht-Wissen in der Klinik um 1900 siehe Wernli (Hrsg.) (2012a). 360 | Jb 1913, S. 23.
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Schreiben am Rand daß er diesen Kranken durch einen Stoß habe gehen machen. Die von uns sofort angestellte Untersuchung bestätigte die Wahrheit dieser Angabe, doch wollte der Wärter sich von den Folgen seines Stoßes keine Rechenschaft gegeben haben. Er erklärte sich darauf sofort einverstanden, die Anzeige an das Regierungsstatthalteramt selbst zu unterschreiben. Die gerichtliche Untersuchung wurde durchgeführt, und der Wärter im Beginne des laufenden Jahres von den Assisen der fahrlässigen Tötung mit mildernden Umständen schuldig befunden und zu zwei Monaten Korrektionshaus, umgewandelt in 30 Tage Einzelhaft, verurteilt. Dieses unliebsame Ereignis hatte noch ein Nachspiel, indem die Angehörigen des Verstorbenen die Direktion der Anstalt beschuldigten, daß sie die Sache vertuschen wollte, die Zeugen beeinflußte u.s.w. und zwar in Zeitungsartikeln, die ihr nicht zu Gesichte kamen, wie später in einer Beschwerde an die Polizeidirektion.« 361
Die Beschreibung der Umstände dieses Todesfalls nimmt im Jahresbericht verhältnismäßig viel Platz ein. In der Darstellung des ›Falls‹ fällt auf, dass der Patient zuerst durch sein ungebührliches Verhalten in der Anstalt beschrieben wird, als ob dies die Tat des Wärters erklären würde. Die Todesursache kann von den Ärzten festgestellt werden, nicht aber, wie es zur Darmverletzung gekommen sein konnte. Damit wäre die Angelegenheit für die Klinik abgeschlossen gewesen, wenn nicht ein Patient, der als »verblödet[ ]« bezeichnet wird, sich der schriftlichen Kommunikation bedient und einen Wärter der fährlässigen Tötung angeklagt hätte, worin das Gericht ihm recht gab. Während der Bericht dem betreffenden Wärter vorwirft, er übernehme keine Rechenschaft, kann man gleiches von der Anstaltsleitung behaupten. Diese bezeichnet das Ganze zwar als »unliebsame[s] Ereignis«, unklar ist aber, für wen die Angelegenheit denn so unliebsam ist, und die Übernahme einer Verantwortung ist aus dieser Wendung der Direktion nicht herauszulesen. Vielmehr beklagt diese noch das »Nachspiel« und die Darstellung der Angelegenheit in der Presse. Ein Fall von Misshandlung eines Patienten wird hier also nur per Zufall aufgedeckt, und nicht durch die wissenschaftliche Sektion geklärt, sondern erst dank des Patientenschreiben eines ›Verblödeten‹, der sich für die Aufklärung des Falles und die Bestrafung des Wärters einsetzt. Der Brief des Patienten löst zufällig die Klärung des Falles aus. Die Darstellung im Bericht ist aus einer Verteidigungshaltung der Direktion heraus geschrieben, die zum Schluss auch noch eine Beschwerde bei der Polizeidirektion am Hals hat. Dies bleibt aber scheinbar folgenlos, denn das Narrativ ist damit abgeschlossen und der Leserschaft bleiben weitere Folgen ungenannt – von Speyr wird noch dreißig Jahre unbescholten im Amt bleiben. Zwei weitere Schicksale werden im Bericht von 1920 beschrieben, er zeigt die Sprunghaftigkeit, mit der in dieser Textgattung von einer Tragödie zur nächsten übergegangen wird: »Eine während 8 Monaten bei uns verpflegte 33 jährige, an Dementia praecox leidende Kranke mußte vor Zeiten schon eine Nadel verschluckt haben, ohne daß sie irgendwelche Symptome dargeboten hätte, bis eine plötzliche Blutung aus der Hauptschlagader in die Speiseröhre ihrem Leben ein Ende machte. – Auf traurige Weise kam ein Schwermütiger ums Leben, der 9 Monate in der Anstalt verpflegt worden war. Nach einer gewissen Besserung – die ursprünglich vorhandenen Selbstmordideen waren anscheinend verschwunden – wurde er unerwartet 361 | Jb 1902, S. 21 f.
Geschichte, Klinikalltag und Akteure von der Frau nach Hause genommen, da die Familie den Vater nicht länger entbehren könne. Nach 3 Tagen schon wurde er wieder gebracht; er hatte sich im Jauchekasten ertränken wollen. 12 Tage später erlag er einer Lungenentzündung, die er sich dabei zugezogen hatte.« 362
In der Kategorie Todesfälle werden in den Jahresberichten Katastrophen des Alltags verdichtet aneinandergereiht. Der zweite hier beschriebene Fall zeigt die ambivalente Verbindung zwischen dem Drinnen und dem Draußen auf – dem Patienten geht es dem Ermessen der Ärzte nach in der Anstalt besser, draußen jedoch lebt seine Familie, die auf ihn angewiesen ist. Die Möglichkeit und damit die Gefahr, einen Selbstmord außerhalb der Klinik zu begehen, ist offenbar größer als drinnen. Der Wechsel vom Anstaltsalltag in die Außenwelt funktioniert nicht, der ehemalige Patient kann seine Familie nicht mehr finanziell unterstützen. Umgekehrt kann die Anstalt die Verletzungen, die sich der Patient zugefügt hat, nicht kurieren, bei der Nachbehandlung der Suizidversuchsfolgen ist sie ohne Chancen. In dieser kurz gehaltenen Beschreibung durch die Vertreter der Klinik klingen die Konflikte an, mit denen sich die Angehörigen von Patienten auseinanderzusetzen haben – darin stehen sich die Bedürfnisse einer Gesellschaft in einer Zeit kurz nach dem 1. Weltkrieg und die Bedürfnisse kranker Menschen in ihr oder an ihrem Rand gegenüber. Die Anstalt erscheint hier als eher unbeteiligt und passiv, der Patient wird für sie »unerwartet« aus der Waldau genommen. Es bleibt ihr nur der offizielle Bericht, eine kurze Zusammenfassung einer Schicksalswendung, die sie nicht vermeiden konnte. Wie das Draußen ist auch die Anstalt kein unfallfreier, ›sicherer‹ Ort. Der Fall einer Vergiftung mit Salzsäure beginnt mit der Beschreibung einer amüsant anmutenden Kletterpartie einer Patientin im vermeintlich überwachten Hof der Anstalt: »E. S ., seit 16 Jahren in der Anstalt verpflegt, völlig verblödet, aber körperlich noch ungemein gewandt, kletterte wieder einmal zu ihrem Vergnügen aus dem Anstaltshofe in die Höhe. Die nachfolgenden Wärterinnen wiesen ihr eine Dachluke im niedrigen Nebengebäude, durch die sie auf eine Treppe gelangen könnte. Leider bewahrte der Maschinist unter dieser, den Kranken unzugänglichen Treppe […] Salzsäure auf. Als die Wärterinnern der Kranken die Türe öffneten, hatte diese bereits von der Säure getrunken, natürlich nicht um sich ein Leid anzutun. Sie starb noch vor Mitternacht.« 363
Daraus zu lesen ist zunächst einmal ein fester Bestandteil im Ablauf eines Kliniktages, nämlich der Aufenthalt der Patienten in den Höfen. Dass das Personal in der Betreuung der Patienten, und seien diese auch noch so »verblödet«, gefordert und teilweise überfordert war, zeigt die Verspätung, mit der die Wärterin bei der Patientin ankommt, was indirekt deren Tod zur Folge haben wird. Ausgehend von der Tatsache, dass Salzsäure stark riecht, mutet die scheinbar erklärende Wendung »natürlich nicht um sich ein Leid anzutun« seltsam an.364 Hier wird mit dem Be362 | Jb 1920, S. 16. 363 | Jb 1926, S. 8. 364 | Salzsäure scheint eine Substanz gewesen zu sein, die man im Haushalt führte, wie zwei weitere Unfallmeldungen zeigen: »Die zweite Kranke wurde der Waldau zugeführt, nachdem sie zu Hause in einem akuten Anfall von Schwermut Salzsäure getrunken hatte. Sie
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richt eine Geschichte so erzählt und gedeutet, dass die Lektüre deutlich in die Richtung eines unvermeidlichen Unfalles gesteuert wird und damit alle Vertreter der Institution von Verantwortung frei bleiben. Das letzte Beispiel eines Todesfalls wurde hier stellvertretend für die Schicksale stimmloser Patienten gewählt, weil es indirekt eine Patientenrede wiedergibt und weil es die Ratlosigkeit des Personals bei der Erklärung der Vorkommnisse dokumentiert. Im einleitenden Bericht der Aufsichtskommission findet sich eine Kurzversion des Geschehenen,365 im Waldauer Anstaltsbericht heißt es dann ausführlicher: »Ein geistig schon schwer geschädigter, 57 Jahre alter, zum dritten Mal in der Anstalt internierter, an Dementia praecox leidender Kranker, wurde mit einem andern, ähnlich Kranken zusammen aus einem Wachsaal, da sie sich gut zusammen vertrugen, in eine mit zwei Betten ausgestattete Zelle versetzt. Hier wurde anfangs nichts Besonderes bemerkt. Am dritten Abend hingegen fand der Wärter bei seinem letzten Kontrollgang den erstgenannten an der Bettstatt erhängt; Wiederbelebungsversuche blieben erfolglos. Der jüngere Kamerad hatte ihn, wie er verworren berichtete, erwürgt und dann mit seinem Hemd aufgeknüpft; er hätte sehen wollen, ob der Mensch im Kampf mit einem Affen der stärkere sei oder nicht; im übrigen würde der Tote wieder auferstehen und Oberstleutnant werden, er aber General. Der Untersuchungsrichter nahm einige Abhörungen vor, ordnete aber nichts Weiteres an, da dieses Ereignis nicht vorauszusehen gewesen war. Etwas Derartiges war seit vielen Jahrzehnten nicht vorgekommen.« 366
Der Bericht stellt das Opfer genauer vor, vom Täter erfährt man nur, dass er »ähnlich« krank und jünger sei als sein Opfer. Über den Klinikalltag sagt die Passage aus, dass für die Belegung der Zellen Patienten gesucht wurden, die sich gut vertrugen und dass dort abends von den Wärtern Kontrollgänge durchgeführt wurden. Der »verworren[e]« Bericht des Täters über den Hergang des Mordes wird in indirekter Rede wiedergegeben, aber nicht kommentiert. Die Angelegenheit kommt vor den Untersuchungsrichter, hat aber keine Folgen. Was mit dem Täter geschieht, wird nicht erwähnt. Im Schlusssatz offenbart sich ein erstaunter und ratloser Direktor von Speyr, der in seiner Amtszeit wohl nur selten so etwas erlebt hat. Die Stelle zeichnet sich durch das Fehlen von einordnenden Kommentaren
starb am zweitfolgenden Tage.« (Jb 1923, S. 16) Fünf Jahre später liest man im Bericht: »In dem einen der beiden Fälle von Selbstmord handelte es sich um einen an Rückenmarkschwindsucht leidenden Mann, der zu Hause Salzsäure getrunken hatte und am Tag nach dem Eintritt starb. Der andere betraf eine Pensionärin, die zwar seit 3 Jahren wegen allerlei depressiver Ideen hier verpflegt wurde, der aber niemand so etwas zugetraut hatte; sie war immer frei gehalten worden. Eines Abends wurde sie erhängt im Abort aufgefunden. Mehrere Familienmitglieder hatten ähnlich geendet.« (Jb 1928, S. 20). 365 | Die Aufsichtskommission baut Spannung auf mit der sprachlichen Ankündigung eines Mordes »auf eigentümliche Weise«: »Die Kommission nahm von den Berichten des Direktors der Waldau Kenntnis, wonach der Kranke G. K . einen andern, E. L ., auf eigentümliche Weise in der gemeinsamen Zelle umbrachte und die kranke R. S . sich in der Anstalt erhängte, fand sich aber, wie die andern Behörden, zu keiner weitern Maßnahme veranlaßt.« (Jb 1932, S. 11). 366 | Jb 1932, S. 19.
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und Erklärungsversuchen aus. Allein die Patienten kommen hier zu Wort, die Verantwortlichen schweigen zum Vorgang. Neben den Unfällen und Todesfällen werden Patienten dann erwähnt, wenn sie ihre Entlassung verlangen. Exemplarisch für die Bemühungen einer Patientin um ihre Entlassung, die sogar zu einer freiwilligen Entmündigung führt, stellt folgender ›Fall‹: »Eine Kranke der Waldau, mit Basedowscher Störung behaftet, verlangte mit Hilfe eines Fürsprechers ihre Entlassung aus der Anstalt. Der Bericht des Direktors lautete nicht günstig, und die Kommission beschloß, zuerst die Ansicht der bezahlenden Gemeinde einzuholen, obschon die Kranke nicht als gemeingefährlich erklärt wurde. Sollte freilich die Gemeindebehörde die Entlassung ablehnen, so müßte sie ihre Angehörigen entmündigen lassen, damit die rechtlichen Verhältnisse völlig klar seien. In der nicht unberechtigten Hoffnung, daß sie unter einem verantwortlichen Vormunde die Anstalt eher verlassen könne, schloß sich die Kranke am Ende selber dem Antrage auf Entmündigung an.« 367
Die beteiligten Akteure innerhalb dieser in Ansätzen erzählten Geschichte sind neben der Kranken ihr Fürsprecher, der Direktor, die Aufsichtskommissionsmitglieder, die Gemeindevertreter und die Angehörigen der Kranken. Offen lässt die Beschreibung, warum ein Vormund die Kranke besser vertreten kann als ein Fürsprecher, was die Folgen der Entmündigung sind und ob es schließlich zum Ziel der Kranken, nämlich zu einer Entlassung kam oder nicht. Damit ist ein weiteres Beispiel der fragmentarischen Schreibweise der Jahresberichte gegeben. Nur durch die Identifizierung der Patienten und eine hypothetische Beiziehung der Krankenakte könnten diese Mikronarrative in ausführlichere Geschichten transformiert werden. Nachdem hier einzelnen Akteur-Gruppen, ihrer Sprechweise, ihrem Anteil am Diskurs und ihrer Präsentation in ihm nachgegangen wurde, sollen in der Folge noch einige ausgewählte thematische Aspekte das Bild der Waldau ergänzen. Dazu gehören psychiatrische Begrifflichkeiten und ihre Veränderungen, eine Beschreibung der sogenannten Aktiveren Krankenbehandlung und schließlich wird der Übergang von von Speyr zu Klaesi den Abschluss dieses Kapitels bilden. Zuerst wird jedoch die Situation der Waldau im 1. Weltkrieg skizziert, weil die Kriegsumstände direkte Auswirkungen für den Anstaltsbetrieb und damit den Schreibort hatten.
3.9 D ie W aldau im 1. W eltkrieg Der 1. Weltkrieg hatte auch ohne direkte Kriegsbeteiligung der Schweiz gravierende Folgen für die drei Berner Anstalten: Alle waren sie von abwesenden Ärzten, einquartierten Soldaten und großen Einschränkungen in der Lebensmittelzufuhr betroffen. Bellelay litt aufgrund der abgelegenen Lage am meisten unter den Entbehrungen, die die Mobilisation und der Krieg mit sich brachten.368 In den Berichten 367 | Jb 1917, S. 11. 368 | Die Auswirkungen in Bellelay betrafen Personal, Versorgungslage, Lokalitäten und auch die Anschlüsse des öffentlichen Verkehrs, wie der Bericht von 1914 darlegt: »Besonders zu Anfang der Kriegsmobilisation geriet unsere Anstalt in recht mißliche Verhältnisse. Beide Ärzte wurden für den Militärdienst aufgeboten, allerdings mußte nur der Assistenzarzt
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zeigt sich eine Erweiterung im Aufgabenbereich der Klinik respektive es kommen neue Arbeitgeber und Interessentengruppen hinzu, weil auch noch für das Kriegsgericht (oder Militärgericht, wie es stellenweise auch genannt wird) Gutachten über Personen ausgestellt werden müssen. 1914 etwa werden 15 Männer und eine Frau strafgerichtlich begutachtet, davon 9 im Auftrage des Kriegsgerichts. Auch die Delikte und ihre Bezeichnungen ändern sich in dieser Zeit. So wird eine Person 1914 wegen »ungebührliche[m] Betragen während der Mobilisation« gerichtlich begutachtet.369 Es tauchen zudem neue Patientengruppen auf, die ›Internierten‹, und dadurch wird auch eine internationale Kommunikation mit den entsprechenden Stellen in deren Heimatländern aufgenommen oder verstärkt und teilweise in den Berichten wiedergegeben. Dieser internationale politisch-psychiatrische Austausch intensivierte sich bereits vor dem Krieg und hatte in erster Linie zum Ziel, Wissen über Staatsangehörige in Anstalten anderer Ländern zu erhalten und indirekt die Möglichkeit zu bekommen, staatsfremde Insassen der eigenen Anstalt in ihre Heimatländer abschieben zu können. Dazu wurden Übereinkünfte angestrebt, wie etwa der Berner Bericht von 1910 belegt: »Die Kommission erhielt ferner Kenntnis, daß der schweizerische Bundesrat anfangs 1909 mit der niederländischen Regierung eine Uebereinkunft getroffen hätte, wonach die Aufnahme von Angehörigen des einen Landes in eine Heilanstalt des andern Landes und die Entlassung dem Heimatstaate auf diplomatischen Wege zur Kenntnis gebracht werden sollen. Ein analoges Abkommen werde nun von der deutschen Reichsregierung und von Rußland beantragt.« 370
Nationalitäten werden in den Jahresberichten in der Folge häufiger genannt, so etwa in einem Fall der gerichtlichen Begutachtung: »Diebstahl und Betrug. Ein Oesterreicher, der an Katatonie leidet.«371 Zu den Internierten gibt es Aufzähluneinrücken, verblieb aber dann auch bis November, also volle vier Monate ununterbrochen im Dienst. […] Dazu kam noch, daß längere Zeit relativ größere Truppenkörper in Bellelay untergebracht wurden, so nacheinander die Verpflegungsabteilung 3, das Feldlazaret 15 und eine Parkabteilung. Ferner nächtigten des öftern Truppen auf ihrem Durchmarsch. […] Im Soussol der Anstalt (Kegelbahn, Lingerie, Vorküche) befanden sich Strohlager für die Mannschaft, das Besuchszimmer war mit 16–20 Matratzen oder Warechsäcken belegt, die Wohnung des 2. Arztes diente teils als Krankenzimmer, teils als Schlafzimmer für Offiziere und Unteroffiziere. […] Da die einzige Wirtschaft in Bellelay den großen Andrang bei weitem nicht zu bewältigen imstande war, mußten wir an die Soldaten allerlei Lebensmittel und Getränke abgeben und ihnen bei schlechtem Wetter oder abends Lokalitäten zur Verfügung stellen […]. Daß durch alle diese Verhältnisse eine gewaltige Mehrarbeit entstund, die zudem mit reduziertem Personalbestand, geleistet werden mußte, liegt auf der Hand, aber wir alle haben diese Arbeit mit Freuden geleistet, bekamen wir doch das Gefühl, nicht nur als müßige Zuschauer, sondern als tätige Mitwirkende im Dienste des Vaterlandes zu stehen. […] Eine weitere, recht unangenehme Folge der Mobilisation war die teilweise Einstellung des Postverkehrs. Es blieb uns nur ein einziger Kurs nach Tavannes, der zudem noch sehr ungeschickt lag: Der Wagen fuhr sehr früh, gleich nach 5 Uhr fort und kehrte schon um 9 Uhr wieder zurück. Leider haben sich die Verhältnisse seither kaum wesentlich gebessert.« (Jb 1914, S. 81–84). 369 | Jb 1914, S. 18. 370 | Jb 1910, S. 8. 371 | Jb 1914, S. 17.
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gen der anwesenden und Erwähnungen der in die Heimatländer abgeschobenen: »Unter den männlichen Ausländern befanden sich 22 Internierte. […] In ihr Vaterland (Ausland) rapatriiert: 23.«372 International fallen nun auch die Beschwerden aus, die an von Speyr gerichtet sind: »Die französische Gesandtschaft beschwerte sich beim Bundesrat über die Behandlung einzelner Internierter in der Waldau, es würden welche zurückgehalten, die nicht geisteskrank wären und sich auch über die Kost beklagten. Die schweizerischen Militärbehörden fügten hinzu, daß die Internierten nicht rechtzeitig zur Heimschaffung empfohlen würden und beantragten, daß deshalb keiner mehr in die Waldau gebracht und dem Direktor ein Tadel erteilt werden sollte. Der Direktor widerlegte diese Klagen im Einzelnen. Er hatte die Beschwerdebriefe der Internierten selber der Gesandtschaft geschickt, ohne eine Bemerkung beizufügen. Bei allen besonders Genannten handelte es sich nicht um offensichtlich Geisteskranke, sondern um sogenannte Grenzfälle, Epileptiker, Hysteriker, Trinker, die sich verschiedenes hatten zu schulden kommen lassen und nicht am ersten Tage konnten begutachtet werden, zumal da mit aller Mühe nur in einem Falle eine Krankengeschichte zu erhalten war. Wurden sie nicht rechtzeitig heimgeschickt, so lag der Fehler auch nicht an ihm usw. Er schloß, daß die Waldau ihre Pflicht auch gegen die Internierten voll erfüllt habe. Ein Tadel ist bis jetzt nicht eingelaufen, freilich auch kein Internierter mehr gebracht, noch vom Direktor aufgenommen worden, auch wenn er angemeldet wurde.« 373
Grundsätzlich berichten unterschiedliche Autoren im Auftrag der Anstalten von den Kriegsverhältnissen, wie hier anhand von einigen Textbeispielen gezeigt wird. Zum einen schreibt die Aufsichtskommission über konkrete eigene Forderungen, die mit der Mobilisation einhergehen. Als Sofortmaßnahmen verlangt sie etwa 1914, dass die Löhne unverzüglich ausgerichtet, alle Urlaube suspendiert werden, sowie dass die Anstalten nur die dringendsten Ausgaben machen sollen. Auch der Verzehr von Lebensmitteln müsse beschränkt werden.374 Neben der Kommission schreiben auch die Direktoren, vor allem aber die Verwalter und Ökonomen über die Folgen des Krieges. Die Aufsichtskommission schreibt zu Kriegsbeginn: »In der Waldau wurde das neugekaufte Wankdorf von den Fliegern besetzt, und in der großen Scheuer lag eine Telegraphenkompagnie, aber nur ein Arzt tat während weniger Wochen freiwillig Dienst.«375 Der Ökonom Wilhelm Linder ergänzt im landwirtschaftlichen Teil des Berichts: »Von Anfang August bis Ende Oktober war die Telegraphen-Pionier-Kompagnie 7 bei uns einquartiert, und die Ballonkompagnie und später die Fliegerabteilung lagen im Wankdorfgut; wir konnten deshalb die Gebäulichkeiten nicht beziehen und nur Einzelnes renovieren lassen.«376 Es fehlten neben Männern auch Pferde für die Bewältigung der landwirtschaftlichen Arbeit: »Weil der Krieg fortdauerte, wurden wiederum Mannschaft und Pferde zur Ablösung im Grenzbewachungs-
372 | Jb 1917, S. 23; 25. 373 | Ebd., S. 12. 374 | Siehe den Jahresbericht von 1914, hier: S. 6. Die Urlaube des Anstaltspersonals wurden 1915 wieder eingeführt, allerdings wurden alle Lohnerhöhungen sistiert. (Jb 1915, S. 5). 375 | Jb 1914, S. 6. 376 | Ebd., S. 41.
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dienste einberufen und der so notwendigen produktiven Arbeit entzogen.«377 Die Anstaltsfunktionäre scheinen im zeitlichen Verlauf unterschiedlich betroffen von den Konsequenzen des Krieges – Verwalter und Ökonom kämpfen zuerst darum, bei den stetig steigenden Preisen das Budget nicht zu sprengen, später geht es indes vor allem darum, überhaupt noch Lebensmittel bekommen zu können, der Preis wurde in Zeiten des Mangels weniger wichtig.378 Von Speyr schreibt in den ersten Kriegsjahren noch über die Folgen für die Anstalten, zum Beispiel werden 1914 der traditionelle, sogenannte ›große Spaziergang‹, das Erntefest und ähnliche Anlässe abgesagt.379 Der Direktor und seine Angestellten stellten sich auch auf einen großen Andrang an frisch erkrankten Patienten ein, eine Erwartung, die nicht erfüllt wurde. Es wurden zwar vermehrt Patienten in die Anstalt gebracht, aber nicht solche, die aufgrund des Krieges neu erkrankt waren.380 Die Folgen der Mobilisation beim Personal waren ein Mangel an Wärtern, dafür ein Zustrom an Wärterinnen, weil die Stellenangebote in der Gastronomie und im Tourismus fehlten, wie von Speyr berichtet.381 Anstaltsräumlichkeiten wurden umgenutzt, die Gemüsehütte wurde zum Tagesraum, das Betlokal im Leichenhaus zum Schreibzimmer für die einquartierten Soldaten, und Gottesdienste wurden im Festsaal des Hauptgebäudes abgehalten, damit in der Kirche in Zeiten des
377 | Jb 1917, S. 42. 378 | »Für die Beschaffung von Lebensmitteln und vielen andern Artikeln wurden die Schwierigkeiten immer größer; der Preis ist bald Nebensache, wenn man nur kaufen kann, die Qualität entsprechend und das Notwendige jeweilen auf dem Platze ist, wenn man dessen bedarf.« (Jb 1916, S. 30) »[I]mmer schwieriger gestaltete sich die Beschaffung der Nahrungsmittel für unsere zirka 1100 Personen umfassende Familie, und eine Einschränkung mußte oft der andern folgen.« (Jb 1917, S. 32) Brot wurde rationiert und Teigwaren waren oft Mangelware, wie Linder berichtet. Interessant ist, dass in der Kriegszeit die Rede von der metaphorischen Familie in der Anstalt wieder aufgenommen wird. 379 | (Jb 1914, S. 26). Als symbolisch dafür, dass der Krieg auch nach 1918 noch Auswirkungen auf den Anstaltsalltag hat, kann die Tatsache betrachtet werden, dass der große Spaziergang erst 1922 wieder zu Waldau-Tradition wird: »Im Berichtsjahr wurde endlich nach 8jährigem Unterbruch der große Spaziergang wieder aufgenommen, wenn auch in etwas vereinfachter Form.« (Jb 1922, S. 18). 380 | »Ein Tagraum des Neubaues, der noch nicht möbliert war, wurde gleich nach der Mobilisation mit neuen Betten belegt, um besser für alle Fälle gerüstet zu sein. Es wurden in der Tat bald ziemlich viele Kranke angemeldet, doch im ganzen weniger Patienten, die infolge der Aufregungen des Krieges erkrankt waren, als solche, die nicht mehr daheim gehalten werden könnten, weil ihre Pfleger in den Dienst aufgeboten waren. Außerdem wurden bis zum Ende des Jahres 28 Soldaten aufgenommen, verschiedene erst im Dienst erkrankt, die meisten schon vorher abnorm oder geradezu krank, Dementia praecox, Epilepsie, Alkoholismus u.s.w.« (Jb 1914, S. 24 f.). 381 | »Dafür meldeten sich eine Menge von Mädchen für den Wärterinnendienst, weil so viele Gasthäuser und Kurorte geschlossen wurden. Zum ersten Male konnte ich infolgedessen die Zahl der Wärterinnen auf die richtige Höhe bringen und dazu erst noch einen alten Wunsch erfüllen und weibliches Personal in verschiedenen Männerabteilungen einführen. Ich habe nie daran gezweifelt, daß ein solcher Versuch gelingen könne, und er ist auch hier gelungen, wenn schon einstweilen nur in bescheidenem Maße.« (Jb 1914, S. 24).
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Brennstoffmangels nicht geheizt werden musste.382 Nach den ersten Kriegsjahren betont von Speyr in den Berichten hauptsächlich, dass die Kranken die Einschränkungen bei den Nahrungsmitteln ruhig duldeten.383 Diese Äußerungen wirken beschönigend, denn die Sterblichkeit innerhalb der Anstalten steigt während der Kriegsjahre infolge von mangelnder oder schlechter Ernährung dramatisch. Die Auswirkungen auf die Patienten müssen gravierend gewesen sein. Darüber berichtet von Speyr aber nur am Rand, deutlicher spricht Münsingens Direktor Ulrich Brauchli, der die erhöhte Sterblichkeit auf mangelhafte Ernährung zurückführt.384 Mit und nach dem Krieg wurden auch die Anstalten von Grippeepidemien heimgesucht. Der Platzmangel förderte die Ansteckungsgefahr, und so waren teilweise über zweihundert Personen krank, das Personal zeigte sich als besonders anfällig gegenüber der Grippe, und die Pflege litt entsprechend darunter.385 Der Bericht von 1918 hält fest, dass neun Patienten an »Grippe und lobuläre[r] Lungenentzündung« und zwei an »Grippe und Lungentuberkulose oder Bronchitis« gestorben seien.386 Aus psychiatrischer und weniger aus administrativer Perspektive erhält man aus der bereits erwähnten Antrittsvorlesung Morgenthalers eine Darstellung der erwarteten und tatsächlich eingetretenen Folgen des Krieges. Morgenthaler interessieren daran vor allem etwaige Verschiebungen in der Grenzziehung zwischen ›gesund‹ und ›krank‹ Er selbst war selbst 1916 im Militärdienst als Psychiater tätig 382 | Jb 1914, S. 30 f.; Jb 1917, S. 28. 383 | Von Speyr lobt die Patienten geradezu: »Den durch den Krieg verursachten Einschränkungen in der Ernährung unterzogen sich die Kranken recht ruhig, man darf bei vielen sagen verständig; gemildert wurden sie allerdings durch die durchwegs vorzügliche Ernte.« (Jb 1917, S. 28) Eine ähnliche Formulierung findet sich im Bericht des Folgejahres: »Die durch den Krieg hervorgerufenen Einschränkungen in Nahrung, Heizung usw. wurden allgemein geduldig ertragen.« (Jb 1918, S. 25). 384 | »Die Sterblichkeit unter den Kranken war auch im Berichtsjahre groß, die Zahl der Sterbefälle übertraf noch die der Vorjahre. Wir konnten uns des Eindrucks nicht erwehren, daß die knappe Ernährung zum großen Teil daran schuld war. Anscheinend leichte Lungenerkrankungen, die unter normalen Verhältnissen in Heilung übergingen, verliefen tötlich. Auch starben eine Reihe von Idioten, allem nach infolge von Unterernährung. Bekanntlich sind gerade diese Kranken große Esser und schlechte Verwerter der aufgenommenen Nahrung, so daß sie bei der eingetretenen Lebensmittelknappheit und Rationierung nicht auf ihre Rechnung kommen mochten.« (Jb 1917, S. 51). 385 | »Die Grippe hat die Waldau auch ergriffen. Ein erster Schub von mindestens 50 bis 60 meist leichteren Fällen fiel in die Monate Juli und August; ein zweiter, bedeutend stärkerer von 239 sicheren Fällen in die Zeit von Ende Oktober bis gegen den Jahresschluß. Das Wartund das sonstige Anstaltspersonal erkrankte zahlreicher und gewöhnlich früher als die Kranken, und es gab Zeiten, wo in einzelnen Abteilungen, die übrigens zeitlich recht ungleich befallen wurden, die gute Hälfte des Pflegepersonals krank war […]. Die Besuche wurden völlig untersagt, auch das Verbot der Ausgänge des Personals ergab sich vorübergehend der zahlreichen Erkrankung wegen von selbst.« (Jb 1918, S. 25) Auch 1920 gab es noch Grippekranke: »Außer etwa 100 leichten Grippefällen, die sich als Nachzügler der Epidemie von 1918/19 im Anfang des Jahres einstellten, war der Gesundheitszustand ein guter.« (Jb 1920, S. 17). 386 | Die größte Anzahl an Todesfällen wird 1918 der »Lungen- und Darmtuberkulose« zugeschrieben, daran starben zwanzig Patienten. (Jb 1918, S. 23).
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gewesen und hatte so neben den Erfahrungen in der Anstalt auch solche mit den Soldaten ›draußen‹ gemacht.387 Morgenthaler beschreibt also in der entsprechenden Passage der Antrittsvorlesung zuerst mehrere Arten von »Aufklärung«,388 die der Krieg gebracht habe, nämlich dass Frauen mehr zugemutet werden könne, als bisher gedacht, dass gewisse »minderwertig[e]« Individuen im Kriege zu »Vollwertigen« würden und dass sogenannte »Defektmenschen« oder »Antisoziale« sich im Kriege teilweise wider Erwarten ebenfalls bewähren würden.389 Aus kranken Menschen (wobei die Frauen damit pauschal als nervös und deshalb krank betrachtet werden) macht der Krieg demzufolge zwar nicht gerade gesunde, aber doch zumindest leistungsfähige. Im Weiteren tritt Morgenthaler der Annahme entgegen, dass mit dem Krieg sehr viele Menschen psychisch erkrankt sein würden – dies könne nicht bestätigt werden, die neuen Fälle seien vorher bereits angeschlagene Menschen gewesen, bei denen der Krieg nur noch der letzte Auslöser der Krankheit war.390 Auch eine sogenannte ›Kriegspsychose‹ gibt es nach Ansicht Morgenthalers 387 | An Rorschach schreibt Morgenthaler 1916: »Sie Lebemann sind in den Ferien gewesen? So was gibt’s bei uns überhaupt nicht mehr. Ich habe in der Etappensanitätsanstalt Solothurn sechs Wochen lang dem Vaterland gedient, im Schweisse meines Angesichts mein Bier getrunken und Präcöxler, Epileptiker, Bettnässer, Alkoholiker, usw. geheilt. Meine Frau sass unterdessen in Luzern.« Walter Morgenthaler an Hermann Rorschach (Durchschlag), Waldau, 12. Oktober 1916. In: Rorschach (2004), S. 142. 388 | Morgenthaler (1918a), S. 356. 389 | Morgenthaler schreibt: »Erstens einmal hat sich herausgestellt, dass unser sogenanntes nervöses Geschlecht im Durchschnitt ungeheuer viel mehr zu ertragen vermag, als man vorher geahnt hat, und dass die seelische Anpassungsfähigkeit eine über alles Erwarten grosse ist. Es hat sich ferner gezeigt, dass gewisse Individuen, die wir im Frieden als minderwertig anzusehen gewohnt waren, den erhöhten Anforderungen des Krieges gegenüber plötzlich zu Vollwertigen geworden sind. Es sind das einmal ein Teil jener Neurastheniker, welche sich im Frieden ihre ganze seelische Energie durch die Sorge um die verschiedensten wirklichen und eingebildeten Leiden absorbieren liessen, die dann mit Kriegsbeginn mit einem Schlag gesund wurden und es auch geblieben sind – so lange jedenfalls als viele vorher Normalen; und zweitens sind Fälle von Defektmenschen bekannt, von gewissen Arten von Impulsen, Draufgängernaturen, die im Frieden als störende Elemente, ja direkt als Antisoziale galten und grosse Strafregister aufzuweisen hatten und die nun im Krieg in ihrem Elemente sind und vereinzelt sogar sich besonders bewähren, wenn man versteht, sie an den rechten Platz zu stellen.« Morgenthaler (1918a), S. 356. 390 | »Im Publikum wird auch heute noch viel gesprochen von der grossen Zahl der durch den Krieg verursachten Geisteskrankheiten sowie von der ›Kriegspsychose‹, im Sinne einer ganz neuen Art von Geisteskrankheit, die durch den Krieg hervorgerufen worden sein soll. Beides ist in dieser Verallgemeinerung falsch. Was die Vermehrung der Geisteskrankheiten durch den Krieg anbetrifft, so können gegenwärtig natürlich noch keine genauen Statistiken geliefert werden; doch zeigt die grosse Literatur, die bereits über dieses Thema erschienen ist, dass eine allgemeine auffallender Vermehrung nicht stattgefunden hat. Eine leichte Vermehrung soll vorgekommen sein während der Mobilisation, ferner soll die lange Dauer des Krieges eine ganz unmerkliche Vermehrung der Psychosen verursacht haben; in beiden Fällen waren es wohl grösstenteils disponierte Individuen, die der kolossale Ruck beim Umstellen der Psyche vom Friedens- zum Kriegszustand, die ungeheure Nervenanspannung des Stellungskrieges oder die Sorgen im Hinterland aus dem Geleise geworfen haben. Jedenfalls sind
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nicht. Die bestehenden Krankheiten erhielten lediglich neue Schattierungen, wie eben die »Kriegsfärbung«, als ganz neu seien sie jedoch nicht zu betrachten.391 Morgenthaler bezeichnet seine Resultate noch nicht als definitiv, weil statistische Angaben fehlten, das Thema seiner Antrittsvorlesung hat er aber mit dem aktuellen Zeitgeschehen verknüpft und präsentiert sich so als Experten, dessen Wissen ihn deutlich von den Laien, die er als »Publikum« bezeichnet, abgrenzt. Er stellt gleichzeitig die psychiatrischen Kategorien ›gesund‹ und ›krank‹ in Frage. Während die Jahresberichte die ökonomischen, baulichen Veränderungen und die gesundheitliche Beeinträchtigungen durch den Krieg darlegen, konzentriert sich Morgenthaler in der Beschreibung der Krankheitszustände auf die Erwartungshaltungen einer Masse an die Kriegsauswirkungen und analysiert als Fachmann die in der Folge auftretenden Krankheiten im Vergleich mit sonst durch das »Milieu« geprägten Krankheiten. Während gewisse Krankheitsgruppen durch den Krieg eine veränderte Wahrnehmung und Umwertung erfahren, bleiben die Krankheiten seiner Meinung nach die gleichen. Verändert sich also vieles im Anstaltsalltag während und direkt nach dem Krieg, so werden die Krankheiten selbst nur wenig davon tangiert, wenn man Morgenthaler glauben darf. Innerhalb der Ära von Speyr und dann auch mit dem Wechsel zu Klaesi haben sich die Begrifflichkeiten, mit der die anscheinend konstanten Krankheitsbilder betitelt wurden, verändert, wovon auch die Jahresberichte zeugen, wie im nächsten Kapitel gezeigt wird.
3.10 K r ankheiten und B egrifflichkeiten Um 1900 befinden sich psychiatrische Diagnosen und Kategorisierungen im Umbruch. Wie sich Begrifflichkeiten und der institutionelle Umgang mit ihnen verändert, unterscheidet sich zusätzlich von Anstalt zu Anstalt. Am Begriff der ›Schizoaber ganz wider alles Erwarten die sogenannten Erschöpfungspsychosen und Erschöpfungsneurosen in ganz überraschend geringer Zahl aufgetreten.« Morgenthaler (1918a), S. 356 f. 391 | »Ebenso hat uns der Krieg gelehrt oder vielmehr im grossen neu bestätigt, dass es eine eigentliche Kriegspsychose nicht gibt. Das, was dem Publikum als Kriegspsychose imponiert, sind erstens einmal unsere altbekannten Krankheitsbilder, die im Krieg oder durch den Krieg (genau wie durch körperliche Anstrengung und seelische Erschütterungen im Frieden) bei Disponierten in Erscheinung treten können, und zweitens ist es die besondere Kriegsfärbung dieser bekannten Krankheitsbilder (genau so, wie auch im Frieden die Psychosen die Färbung des Milieus und der besonderen Verhältnisse und Erlebnisse des Einzelindividuums aufweisen). Zwei typische solche Kriegsfärbungen sind z.B. die Granatneurosen, die nach Artilleriefeuer, Minenexplosionen usw. auftreten und die meist nichts anderes sind als eine Fixation von Schreck- und Abwehrreaktionen, und der sogenannte Kriegsknall. Darunter versteht man pathologische Affektreaktionen, sinnlose Zorn- und Wutausbrüche, ausgelöst durch geringfügige Ursachen bei sonst Gesunden, die sich vorher längere oder kürzere Zeit in einer depressiv gefärbten grossen Spannung befunden haben. Doch zeigen, wie gesagt, weder die Granatneurosen noch der Kriegsknall noch all die andern abnormen Erscheinungen, die schon als Kriegspsychosen bezeichnet worden sind, etwas spezifisch Neues. Allen diesen seelischen Reaktionen können wir Gegenstücke aus der Zeit vor dem Kriege an die Seite stellen.« Morgenthaler (1918a), S. 357.
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phrenie‹ lässt sich etwa beobachten, wo und wie schnell Bleulers Konzept rezipiert und sein neuer Begriff aufgenommen wurde.392 In der Waldau bleibt es bis zum Direktorenwechsel 1933 bei Kraepelins ›Dementia praecox‹, ›Schizophrenie‹ wird erst danach nominell eingeführt. Psychiatrische Veränderungen im Wissensgebiet sind damit erstens regional und institutionell geprägt und zweitens sind sie an Führungspersonen gebunden. Krankheitszuschreibungen sind deshalb auch von den spezifischen Schreibregelungen und -verfahren einzelner Institutionen und ihrer Exponenten geprägt. In der Waldau lassen sich aufgrund der Jahresberichte zwei wichtige Änderungen aufzeigen: Erstens verzeichnet der Jahresbericht von 1900 eine revidierte Einteilung von Diagnosen – innert Jahresfrist wurde die gesamte Einordnung von Kranken und Krankheiten auf den Kopf gestellt, und zweitens verändert sich die Anwendung der Begriffe ›Heilung‹ und ›Genesung‹ aufgrund einer ab 1895 dokumentierten Anpassung der Anstalt an wissenschaftliche Standards. Beide Veränderungen werden hier vorgestellt, bevor sie in Kapitel 3.11 mit den entsprechenden zeitgenössischen Behandlungsmethoden thematisiert werden. Die »Formen« der Krankheit um 1900 werden in den Tabellen jeweils am Anfang der Berichte in folgenden Gruppierungen aufgeführt: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Angeborene Störungen Konstitutionelle Störungen Erworbene einfache Störungen Paralytische, senile, organische Störungen Epileptische Störungen Intoxicationspsychosen (alkoholische etc.) Nicht geisteskrank
Wie das Diagramm (Abb. 22) verdeutlicht, sind im Bericht von 1900 nur noch rund ein Sechstel der davor genannten Patienten den konstitutionellen Störungen (2.) zugeordnet. Dagegen verdoppelt sich die Zahl der Insassen mit sogenannten erworbenen Störungen (3.) beinahe. Die Zahl der von angeborenen Störungen (1.) Betroffenen bleibt ungefähr konstant. Die Verschiebung schwächt also vor allem das Konzept der konstitutionellen Störungen und verstärkt die Ansicht, dass psychische Krankheiten – in den meisten Fällen – erworbene Krankheiten sind. Diese Verschiebung, die sich im Krankheitsbegriff manifestiert, und die daraus resultierende Konsequenzen für das Bild der Patienten und den Umgang mit ihnen werden innerhalb der Jahresberichte nicht thematisiert. Es heißt im Bericht von 1900 lediglich: »Die Diagnosen sind sämtlich revidirt und neu geordnet worden; die Einteilung stimmt deshalb nicht mit der letztjährigen [überein].«393 Die Paradigmenwechsel, die in der Wissenschaft stattfinden und die schließlich auch die Anstaltsstatistik prägen, werden für die Leser des Jahresberichts nicht offen gelegt. Ein Laienpublikum dürfte der Wechsel nicht interessieren und Fachleute würden über solche Veränderungen in der Wissensgemeinschaft längst informiert sein. In der Nicht-Kommunikation der Gründe für diese Anpassung weist der Bericht eine seiner Leerstellen auf. Die Einteilung der Neuaufgenommenen zeigt jedoch 392 | Zur Schizophrenie siehe Bernet (2013), zu Dementia praecox Wübben (2012). 393 | Jb 1900, S. 10.
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Abb. 22: Veränderungen in der Diagnose und Einteilung um 1900. Senkrecht wird die Anzahl Patienten (»Summe des Bestandes und der Aufnahmen«, Frauen und Männer) mit der entsprechenden Diagnose angegeben, waagrecht die Bezeichnung der Krankheit.
zumindest, wie die Gruppen neu in Untergruppen unterteilt sind und wo in der Klassifikation die einzelnen Patienten ihren Platz haben. Dabei wird keine neue Darstellungsform gefunden, die sich bei der Beschreibung aller Aufnahmefälle gleichbliebe, vielmehr zeigt die Tabelle auf, wie labil die Zuordnung der Patienten zu Diagnosebegriffen um 1900 ist. Vier Listen von Krankheitsbildern mit der entsprechenden Zahl neuer Fälle werden dort miteinander verglichen. Die Tabellen in den Berichten geben ausschließlich die Neuaufnahmen wieder, mit teilweise auffallend peripheren Krankheitsformen, vor allem bei den organisch bedingten Störungen (als Beispiel erwähnt sei der Fall einer ›tuberkulösen Meningitis‹), aber auch bei den Intoxikationspsychosen (zum Beispiel eine ›Jodoformpsychose‹), bei den konstitutionellen Störungen (zum Beispiel ›krankhafter Charakter‹) oder bei den erworbenen Störungen (zum Beispiel ›Inanitionswahnsinn‹). Auch im psychiatrischen Kernbereich lassen sich unterschiedliche Zuordnungs- und Klassifikationsmuster beobachten. So tritt die Bezeichnung »Dementia praecox« im Bericht von 1900 erstmals auf, also sieben Jahre nach der ›Erfindung‹ durch Emil Kraepelin 1893. Die erworbenen Störungen werden in diesem Bericht in vier Kategorien unterteilt, in erstens die sogenannten manisch-depressiven Formen, zweitens die »Verblödungsformen« (Katatonie, Dementia praecox, Hebephrenie und Dementia paranoides), drittens die Paranoiagruppe und viertens »Andere Formen«.394 Dieses neue, komplexe Einteilungsmuster wird jedoch im nächsten Jahresbericht nicht in extenso weitergeführt, dort findet man die »Verblödungsformen« zusammengefasst in einer Kategorie. Der Bericht von 1902 unterteilt dann wiederum detaillierter in unterschiedliche, erworbene Störungen, die »Verblödungsformen« (Dementia praecox, Katatonie, Hebephrenie und Dementia paranoides) werden einzeln aufgeführt. Überblickt man die Zahlen, die den Krank394 | Ebd., S. 12 f.
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heiten zugewiesen sind, fällt auf, dass im Bericht von 1899 die größte Anzahl der Neuaufgenommenen an konstitutionellen Störungen litt. Dies kann im Jahr darauf deshalb nicht mehr der Fall sein, weil sehr viele Krankheitsformen nominell neu zu den erworbenen Störungen gezählt werden. Die größte Gruppe der Aufgenommenen leidet ›neu‹ an »Verblödungsformen«. Der Bericht von 1901 hält dasselbe Ergebnis fest, im Bericht von 1902 werden dann der als einzelne Kategorie aufgeführten Dementia praecox die meisten Patienten zugeordnet. Die Jahresberichte sind damit Belegstellen des Umbruchs in der Wissenschaft wie auch der nach außen sichtbar gemachten Unsicherheit, mit der die Anstalt auf diesen Umbruch reagiert. Neuerungen werden eingeführt, bald wieder zurückgenommen und in adaptierter Form doch wieder auf- und weitergeführt. Die Labilität der wissenschaftlichen Disziplin und ihrer institutionellen Adaption zeigt sich diesbezüglich symptomatisch in den Jahresberichten. An der offiziellen Verwendung von Krankheitstermini lassen sich neben allgemeinen Veränderungen in der Wissenschaft auch persönliche Vorlieben, Standpunkte und Debatten nachvollziehen. Während in von Speyrs Waldau ›Dementia praecox‹ als Begriff noch nicht von ›Schizophrenie‹ ersetzt wird, verwendet Morgenthaler in seinem Lehrmittel Die Pflege der Gemüts- und Geisteskranken von 1930 diesen Begriff – die Pfleger und Pflegerinnen der Waldau dürften also im Rahmen ihrer Ausbildung über ›Schizophrenie‹ von Morgenthaler gelernt haben. Damit unterscheidet sich die Praxis und das Wissen einer neuen in der Psychiatrie tätigen Generation vom administrativ-institutionellen Zurschaustellen psychiatrischen Wissens, das in der Waldau in Bezug auf die Begriffe Dementia praecox und Schizophrenie sehr lange starr bleibt. In Morgenthalers Lehrmittel wird die Krankheit bei den sogenannten nicht organischen Geisteskrankheiten aufgeführt und als »Spaltungsirresein« wie folgt beschrieben: »Die Schizophrenie ist die häufigste Geisteskrankheit. Nachdem früher schon Kahlbaum das Krankheitsbild der Katatonie beschrieben hatte, hat in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts Kräpelin diejenigen nicht organischen Geisteskrankheiten, die in Verblödung übergehen, unter dem Namen Dementia praecox zusammengefasst. Dadurch hat er diese Krankheitsformen abgetrennt von den wieder in Heilung übergehenden, dem manisch-depressiven Irresein. Erst in den letzten Jahrzehnten sind dann, vor allem durch Bleuler und Kretschmer, die Krankheitsbilder der Dementia praecox psychologisch vertieft und zur Gruppe der Schizophrenien erweitert worden. Aber auch heute ist vieles vom Wesen dieser grossen Krankheitsgruppe noch nicht abgeklärt. Sicher ist jedoch, dass die Schizophrenien weder bloss im frühen Lebensalter auftreten, noch immer zu Verblödung führen müssen.« 395
Das Wesen der Krankheit beschreibt Morgenthaler als eine Art »Selbstvergiftung«: »Das eigentliche Wesen der Schizophrenie kennen wir, wie gesagt, noch nicht. Wir wissen nur, dass es sich nicht um eine bloss auf das Gehirn beschränkte Krankheit handelt, sondern um eine Art von Selbstvergiftung durch Stoffwechselprodukte, die durch Störungen der innern
395 | Morgenthaler (1930), S. 101 f.
Geschichte, Klinikalltag und Akteure Sekretion gebildet worden sind. Wahrscheinlich sind dabei vor allem die Keimdrüsen (Hoden und Eierstöcke) und die Schilddrüse beteiligt.« 396
Im Gegensatz zur tabellarisch festgelegten Krankheitszuordnung wird hier von Morgenthaler viel zeitgenössisches Nicht-Wissen über eine verbreitete Krankheit dargestellt. Die Erscheinungen dieser Krankheit seien mannigfaltig und es sei deshalb »unmöglich, alle Krankheitserscheinungen eingehend zu beschreiben.«397 Als einzelne Merkmale der Krankheit listet Morgenthaler »Steifigkeit«, »Verschrobenheit«, »Zerfahrenheit«, »Zwiespältigkeit«, »Sinnestäuschungen« und »Wahnideen« auf.398 In Bezug auf den Ausgang der Krankheit ist die mittlere Gruppe in Morgenthalers Dreiteilung interessant – zwischen einer Heilung einerseits, die als Täuschung auftreten kann oder zum tatsächlichen Gesundheitszustand führt und dem Misserfolg des Heilungsversuchs andererseits, listet er »[h]albgeheilte Fälle« auf, die mit »mehr oder weniger deutlichen Krankheitserscheinungen«399 und mit Hilfe Anderer relativ eigenständig leben können. Morgenthaler führt hier also die in seiner Antrittsvorlesung400 verfochtene Aufhebung einer scharfen Grenzziehung zwischen Krankheit und Gesundheit auch auf der Ebene der Heilung fort. Nicht nur in Bezug auf die einzelnen Krankheitsbegriffe, sondern auch in Bezug auf die zeitgenössische Zuordnung von Krankheit zu Geschlecht sind die Jahresberichte aufschlussreich. Betrachtet man in den Tabellen der exemplarisch gewählten vier Waldauer Jahresberichte die Verteilung von Krankheitsformen, fällt auf, dass hysterische ebenso wie melancholische Formen hauptsächlich Frauen zugeschrieben werden, während sich bei den unterschiedlichen Krankheiten, die auf übermäßigen Alkoholkonsum zurückzuführen sind, die Männer die Tabelle anführen. Die Tabellen zeigen im Weiteren auch auf, dass immer wieder Menschen in der Waldau waren, die auch im Bericht explizit als ›nicht geisteskrank‹ bezeichnet werden. Es sind meistens Patienten, die zur gerichtlichen Begutachtung eingetreten waren oder dann auch Gäste, wie der Bericht von 1899 zeigt. Dort steht: »Der nicht geisteskranke Mann war in der Kavallerie-Rekrutenschule I Bern und kam zu uns zur Beobachtung. Er spielte im Arrest den ›wilden Mann‹. Er war nicht geisteskrank, wohl aber leicht psychopathisch. Die nicht geisteskranke Frau war die Kammerzofe einer kranken Pensionärin.« 401
Neben den Veränderungen in den Krankheitsbezeichnungen verschiebt sich um 1900 auch die Grenze zwischen dem, was als krank oder gesund gilt respektive zwischen krank und geheilt. Die Berichte der Waldau thematisieren diese oft problematische Benennung mehrfach und die administrativ-psychiatrischen Schreibverfahren scheinen auf eine Klärung ausgerichtet zu sein. Das konkrete Vorgehen beginnt damit, dass der Ausdruck ›heilbar‹ erst einmal problematisiert wird. 1895 396 | Ebd., S. 102. 397 | Ebd., S. 103. 398 | Ebd., S. 104 f. 399 | Morgenthaler (1930), S. 106. 400 | Siehe auch Kapitel 3.6.2.3. 401 | Jb 1899, S. 18.
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liest man: »Prüfen wir den Schlußbestand der Kranken vom 31. Dezember 1895 – strenger als in den letzten Jahren – so dürften wir davon im günstigen Falle noch als ›heilbar‹ ansehen […] 7,1%.«402 Wie die Grenze zwischen ›gesund‹ und ›krank‹ gezogen werden soll, ist an Randstellen der Berichte ein Thema, wenn Unsicherheiten im Lauftext ausgeführt werden: »Von den wiederholt Aufgenommenen werden diesmal keine als ›frisch erkrankt‹ betrachtet, wir nehmen bei allen an, daß sie von ihren frühern Anfällen nicht ganz genesen seien. Darin mag eine gewisse Willkür liegen; wir fassen jedenfalls den Begriff der ›Heilung‹ heute viel strenger und den Begriff der periodischen Störung viel weiter.« 403
Der Begriff der ›Heilung‹ wird also in einem ersten Zug deutlich enger gefasst. Die Thematisierung von »Willkür« und weitere Annahmen im Bericht zeigen andere Facetten der psychiatrischen Notationssysteme auf als die Tabellen, in denen jeder Aufgenommene einen Platz findet und die, zumindest vordergründig, als Speicher gesicherten Wissens erscheinen. Auch grenzt sich die ›neue‹ Psychiatrie durch das »heute« deutlich von alten Deutungsmustern ab – in welche Richtung sich aber Fachwissen, Klassifikation und daran geknüpft die Behandlung entwickeln sollen, bleibt hier offen. Zu dieser generellen Verschiebung, terminologischen Hinterfragung und Öffnung hin zu neuen Wegen tritt der Versuch, den Gebrauch des Vokabulars dadurch zu schärfen, dass er in seiner Verwendungsweise reflektiert wird. Der Bericht von 1897 hält in der Erwähnung von wiederholt Aufgenommenen beispielsweise fest, nur eine einzige Frau werde als »wieder ›frisch erkrankt‹« bezeichnet: »Die übrigen sahen wir als im wissenschaftlichen Sinne ›nicht genesen‹ an.«404 Hier versucht ein Expertenkreis, sein Vokabular neu zu definieren und diese Umdeutung der Leserschaft verständlich zu machen. Die Begriffe werden in Anführungszeichen gesetzt, um eine Fachsprache von einer Alltagssprache abzuheben. Wird der Begriff der ›Heilung‹ respektive ›Genesung‹ neu definiert und strenger gehandhabt, liegt gegenüber einer ohnehin schon skeptischen Öffentlichkeit, die ›Heilung‹ einfordert, Erklärungsnotstand vor. Der Bericht von 1898 versucht dem vorzubeugen: »Es mag auffallen, daß von Jahr zu Jahr weniger Genesene entlassen werden. Der Grund dafür liegt nicht darin, daß die Aufnahmen ungünstiger, oder daß die Resultate des Anstaltaufenthaltes schlechter sind, sondern darin, daß wir mit der Diagnose: ›Geheilt‹ sehr vorsichtig sind. Wissenschaftlich Geheilte kommen eben sehr Wenige vor, und wir rechnen die nicht zu den Geheilten, die nur ›vom Anfall genesen‹ sind, oder bei denen in absehbaren Jahren eine Wiedererkrankung wahrscheinlich ist.« 405
Seelische Erkrankungen werden von den Vertretern der Institution verstärkt als zyklische wahrgenommen, bei denen nach Phasen der Besserung auch wieder mit Rückfällen gerechnet werden muss. Dass mit einer prozentual sehr geringen Hei402 | Jb 1895, S. 29. 403 | Jb 1896, S. 12. 404 | Jb 1897, S. 16. 405 | Jb 1898, S. 22.
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lungschance operiert wird, hat für die weitere Entwicklung der Waldau vor allem hinsichtlich ihres Platzbedarfes ernsthafte Konsequenzen. Mit diesem enger gefassten Heilungsbegriff ist aber wiederum nur eine kurze Periode der Anstaltsgeschichte abgedeckt, 1902 heißt es: »Die Zahl der Genesungen erscheint viel größer als bisher, weil wir uns mit diesem Jahre der Vereinbarung der schweizerischen Irrenärzte angeschlossen haben, die diesen Begriff viel weiter faßt. Ein Anfall von periodischem Irresein oder Dementia praecox gilt nun entgegen unserer bisherigen Praxis als ›geheilt‹, sofern der Kranke in zivilem Sinne als geheilt anzusehen ist.« 406
Mit dieser Neuerung wird die hauseigene Begriffsschärfung rückgängig gemacht, »geheilt« ist derselbe Patient nun wieder schneller, und dem wissenschaftlichen Terminus wird der »zivile[ ]« Sinn gegenüber gestellt. Die Neuerung beruht auf einer Anpassung, deren Begründung der Bericht hier angibt; sie ist im nationalen Austausch unter Fachleuten zustande gekommen und darf durchaus als taktische verstanden werden, denn mit der Erwartungshaltung an eine Anstalt ist auch die Chance auf ›Heilung‹ verbunden. Wie diese ›Heilung‹ oder zumindest eine Besserung der Krankheit erreicht werden soll, ist allerdings eine andere Frage und betrifft unter anderem auch die Behandlungsmethoden, die nach den Zeiten der Zwangsmittel langsam etabliert werden, wie das folgende Kapitel zeigen soll.
3.11 B ehandlungsme thoden während von S pe yrs Ä r a Um es vorwegzunehmen – die bekannten psychiatrischen Kuren wie beispielweise die in Münsingen von Müller praktizierte Insulintherapie,407 die von Klaesi eingeführten Schlafkuren mit Somnifen, die Krampf behandlung mit Cardiazol, die Elektrokrampftherapie oder die Psychochirurgie, die alle in den 1920er und 1930er Jahren ›entdeckt‹ und etabliert wurden, finden in der Waldau von Speyrs noch keine Anwendung (oder falls doch, dann zumindest keine Dokumentation). Mit Ausnahme der in Kapitel 3.6.2.2 geschilderten Malaria-Therapie Fritz Walthers, die vom langjährigen Direktor wohl eher geduldet als gefördert worden war, wurde unter von Speyr in der selbst gewählten Rolle des pater familias vor allem das Zusammenleben in der Anstalt als ›Behandlung‹ betrachtet. Der Einsatz von Zwangsmitteln 406 | Jb 1902, S. 18 f. 407 | Siehe dazu Müllers Kapitel Insulin und Wissenschaft in den Erinnerungen (1982), S. 164–173 und den Münsinger Teil des Jahresberichts von 1940, in dem steht: »Dem weitern Ausbau dieser Behandlungsmethoden, insbesondere der Insulin- und Elektroschocktherapie, wurde auch im vergangenen Jahre auf einer eigenen therapeutischen Abteilung durch speziell eingearbeitete Ärzte alle Aufmerksamkeit geschenkt. Wenn auch der Krieg zahlreiche wissenschaftliche Fäden, die unsere Anstalt als international anerkanntes Zentrum in der Durchführung der modernen körperlichen Behandlungen mit dem Ausland verbanden, durchschnitten hat, so darf es doch als bemerkenswert hervorgehoben werden, daß noch im vergangen Herbst zweimal schwedische Ärzte die weite und in jetzigen Zeiten beschwerliche Reise nicht scheuten, um sich auf Weisung ihrer vorgesetzten Behörde bei uns in die Methode des Elektroschocks einführen zu lassen.« (Jb 1940, S. 31). Zu Müllers psychiatrischen Experimenten siehe auch Thüring (2012b).
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gehörte gemeinhin der Vergangenheit an, sie waren zwar auch in der Waldau noch vorhanden, wurden aber unter von Speyr nicht mehr verwendet. Die Anschaffung einer Grundausstattung an Zwangsapparaten erwähnt der Bericht aus dem Gründungsjahr 1855 in der Übersicht der Kosten der Ausstattung der neuen Anstalt. Insgesamt beliefen sich die Kosten damals auf 100’000.- Fr., davon sind 240.- Franken budgetiert für »Zwangsapparate«.408 Überbleibsel solcher Instrumente sind heute noch im Psychiatrie-Museum Bern ausgestellt, weil Morgenthaler sie aus pädagogischen und psychiatriehistorischen Gründen als auf bewahrungswürdig befand. Die Anwendung solcher Mittel wurde bereits in Kapitel 3.3.2 in den Anweisungen Tribolets für das Wartpersonal thematisiert, unter von Speyr wurde ihr Einsatz auf ein Minimum reduziert. An ihre Stelle trat die Arbeit in der Landwirtschaft, die intensiviert wurde und mit der sowohl betriebsökonomische wie auch beschäftigungstherapeutische Ziele verfolgt wurden. Eine ›Therapie‹ im heutigen Sinne gab es nicht, das heißt jedoch nicht, dass die damaligen Psychiater keine Behandlungsansätze gehabt hätten. Zeitgenössisch ist die ›Behandlung‹ der Insassen erstens durch die Verwahrung und zweitens durch die Arbeit organisiert. Von einem ›therapeutischen Nihilismus‹ zu sprechen, beruht auf anachronistischen Annahmen, weil damit ein heutiger Therapie-Begriff auf die Zeit des beginnenden 20. Jahrhundert projiziert wird. Um 1900 dann werden die Insassen vermehrt als Patienten betrachtet, das heißt als Kranke, und diese Auffassung zeigt sich therapeutisch wie baulich-optisch in der Einführung der Bettbehandlung. Diese geht auf den Basler Psychiater Ludwig Wille (1834–1912) zurück und erfährt in den 1890er Jahren eine weite Verbreitung.409 Um die Bettbehandlung in den großen Anstalten einigermaßen ökonomisch zu gestalten, wurden geräumige Wachsäle eingerichtet, aufgeteilt in solche für ruhigere beziehungsweise unruhigere Patienten, in denen diese wie jene Bett an Bett untergebracht waren. Die Bettbehandlung war also derjenigen der Isolation entgegengesetzt, ersetzte diese aber nicht, sondern wurde gemeinsam mit ihr, als deutlicher Kontrast, angewendet. Die Insassen in den Wachsälen konnten von relativ wenigen Angestellten gut überblickt werden, im Gegensatz zur Verwahrung in abgeschlossenen Zellen wurde jedoch mehr Personal benötigt. Die Wachsäle dienten neben der mehr oder weniger erfolgreichen Beruhigung der Patienten vor allem ihrer Kontrolle und Disziplinierung. Die Bettbehandlung wird denn auch als allgemeines »Anstaltsregime«410 bezeichnet und dient nicht nur der längerfristigen Behandlung der Patienten, sondern markiert in ihrer systematischen Anwendung gemeinsam mit dem Bad den Übergang des Patienten vom Leben in der Außenwelt in das der Anstalt. Dabei wird die routineartige Bettbehandlung auch zur Vorbereitung der therapeutischen Bettbehandlung eingesetzt, wie Clemens Neisser, Psychiater im schlesischen Leubus, es beschreibt: 408 | Jb 1855, S. 19. 409 | Ludwig Wille wurde in Bayern geboren, war dann aber als Arzt vor allem in der Schweiz tätig. 1864 übernahm er die Leitung der Irrenanstalt Münsterlingen, 1867 dann die der Rheinau, 1873 die von St. Urban. 1886 wurde er erster Direktor der 1886 im Pavillonsystem erbauten Heil- und Pflegeanstalt Friedmatt in Basel. Wille kannte und prägte die schweizerische Anstaltslandschaft nachhaltig, vor allem auch durch die Verfechtung der no-restraint-Bewegung. 410 | Neisser (1900), S. 4.
Geschichte, Klinikalltag und Akteure »Unmittelbar nach dem Eintritt in die Anstalt wird der Kranke gebadet und danach zu Bett gebracht. Da auf alle Fälle für die genaue Untersuchung des Arztes bei der Visite der Kranke zu Bett liegen muss, so bedarf es für diese erste Anordnung keiner besonderen therapeutischen Indikation. Das ist die faktische Grundlage für die Forderung, welche die Bettbehandlung zum durchgreifenden Anstaltsregime erhoben wissen will; nicht, dass in einem gegebenen Zeitpunkte alle Kranke[n] oder auch nur die Mehrzahl mit permanenter Bettruhe behandelt werden müssten – das wird kaum je der Fall sein und kann sich naturgemäss lediglich nach der Qualität des jeweiligen Krankenmaterials richten – sondern dass die Bettbehandlung die erste selbstverständliche Massnahme der Hausordnung darstellt, dass nicht ihre erste Anordnung, sondern die Aufhebung oder Modifikation derselben, wie in jedem Hospitale, des besonderen ärztlichen Votums bedarf. Nur auf diese Weise wird jenes Milieu geschaffen, welches für eine zwanglose Durchführung der Bettbehandlung in denjenigen Fällen, in welchen dieselbe aus therapeutischen Rücksichten sich empfiehlt, die Vorbedingung darstellt.« 411
Mit der Bettbehandlung wird also eine »Hausordnung« etabliert und die Rolle des Arztes als entscheidende Instanz eingeführt. Als Ritual schafft sie ein »Milieu«, in dem spätere Maßnahmen leichter durchgeführt werden können. Die Bettbehandlung ist damit viel mehr als nur eine einfache therapeutische Anwendung. Sie verändert für die Angestellten das Bild des Patienten, der der neuen Auffassung gemäß als Kranker gepflegt werden soll und sie zeigt dem Insassen die Regeln des Regimes auf, in dem er nicht isoliert als Fall und Individuum behandelt, sondern in einer Gruppe einem nivellierenden Prozess untergeordnet wird. Als Therapie soll sie »Gehirnruhe« und »physiologische[ ] Organschonung«412 bewirken und Psychosen sollen zudem durch sie verkürzt werden. Neben dem Wachsaal ist das Bad zentraler Ort der Behandlung um 1900. Neben dem ritualartigen ersten Bad, bei dem hygienische Komponenten einerseits, aber auch die Bedeutung von rites de passage andererseits, nämlich als Übergang vom Leben draußen zu dem drinnen, im Vordergrund stehen, findet vor allem das Dauerbad große Verbreitung und Anwendung. Morgenthaler beschreibt es in seinem Lehrbuch wie folgt: »Das Dauerbad ist, wie der Name sagt, ein Bad von längerer Dauer, von einigen Stunden bis zu mehreren Wochen. Das Dauerbad ist ein wichtiges Behandlungsmittel der modernen Irrenpflege. Der Laie glaubt oft, dass Bäder schwächen; dem ist nicht so. Richtig verabreichte Dauerbäder können für gewissen Kranke durch kein anderes Mittel zu ersetzende wohltätige Wirkungen haben.« 413
Das Dauerbad wird nach Morgenthaler angewendet bei Erregungszuständen und zum Verhüten des »Druckbrandes«.414 Es ist als Behandlungsort vor allem aber auch Ort von Unfällen, wovor Morgenthaler die angehenden Pfleger warnt: »Der Dienst im Bad ist fast noch wichtiger, jedenfalls noch schwieriger, als derjenige
411 | Ebd., S. 4 f., Kursiva im Original gesperrt. 412 | Ebd., S. 10. 413 | Morgenthaler (1930), S. 142. 414 | Ebd.
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im Wachsaal. Nirgends kommen so häufig Unfälle vor, wie im Bad.«415 Ein Blick in die Waldauer Jahresberichte zeigt die Spuren dieser Gefahr. Dort werden sie als außergewöhnliche Todesfälle beschrieben, die teilweise Untersuchungen und Gerichtsfälle nach sich ziehen, wie etwa ein ungeklärter Fall aus dem Jahr 1910 zeigt: »Der Todesfall durch Ertrinken ist nicht ganz klar. Ein noch kräftiger Paralytiker, der öfters unreinlich war, mußte gebadet werden. Das geschah in der Badekammer, die unmittelbar an den neuen Waschsaal anstößt. Er verhielt sich ganz ruhig, und nun muß er allem nach im Schlaf allmählich untergesunken und ertrunken sein. Der Wärter merkte es erst, als es zu spät war. Allerdings hatte der eine Wärter, der das Bad beaufsichtigte, dieses gegen seine Instruktion für kurze Zeit verlassen, als zu einem anderen Kranken ein Besuch angemeldet wurde, und er hatte sich im ersten Augenblick nur durch den Wärter vertreten lassen, der nebenan im Wachsaal hütete. Dieser aber, unter der Türe stehend, konnte nicht wohl alle Kranken übersehen, zumal da der Paralytiker erst in der vierten Wanne von ihm aus saß. Aber auch der dritte Wärter, der bald darauf den ersten regelrecht im Bade ablöste, bemerkte das Unglück zu spät. Für einen paralytischen Anfall, an den zuerst gedacht wurde, habe ich keinen Anhaltspunkt. Auch der Befund der amtlichen Sektion spricht für einen langsamen Ertrinkungs- resp. Erstickungstod, denn neben den gewöhnlichen Erscheinungen fanden sich nur ganz wenige verwaschene Blutungen unter der Pleura. Zwei Wärter wurden wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung angeklagt, aber wegen mangelnden Schuldbeweises, freilich ohne Entschädigung, freigesprochen. Die Kosten trug der Staat.« 416
Diese Stelle zeigt auf, welche Angestellten in einen solchen Fall verwickelt sind – mehrere Wärter mit unterschiedlichen Aufgaben, das schreibende Ich (der Arzt), und es wird gezeigt, dass das Bad eine größere Anlage mit mehreren Wannen ist, deren Überwachung über eine lange Zeitspanne hinweg die Angestellten herausfordert. Eine spezielle Variante des Bades ist das »Leintuchbad«,417 über dessen Gefahren ein Todesfall aus dem Jahr 1912 Auskunft gibt: »Der zweite Unfall betrifft ebenfalls eine altersblöde sehr schwache Frau, die gelegentlich Schlaganfälle hatte. Sie war wund gelegen und wurde deshalb auf einem Leintuche in das Dauerbad gelegt. Die Wärterin fand sie schon am zweiten Tage tot, als sie vom Mittagessen zurückkam, indem sie ganz wenig heruntergerutscht war. Dabei trifft die Badewärterin kaum eine Schuld; der ausdrückliche Befehl, diese Kranke beständig zu bewachen, war der (stellvertretenden) Abteilungswärterin gegeben worden, aber diese hatte es im Vertrauen auf das gespannte Leintuch nicht für nötig gefunden, ihn der Badewärterin weiterzugeben und diese anderswo zu entlasten. Der Regierungsstatthalter gab der amtlichen Anzeige keine weitere Folge.« 418
Der Hinweis darauf, dass die Patientin »schon am zweiten Tage« tot war, zeigt auf, wie lange Kranke im Dauerbad gehalten wurden. Direkte Folgen hat dieser Fall, wie auch der erstzitierte, keine. Neben den Fällen mit vernachlässigter Aufsichtspflicht 415 | Ebd., S. 141. Auf Tafel 29 in seinem Lehrbuch ist eine »Armverbrennung durch Verbrühen im Bad« abgebildet. 416 | Jb 1910, S. 26 f. 417 | Morgenthaler (1930), S. 144. 418 | Jb 1912, S. 22.
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des Wartpersonals haben aber auch technische Schwierigkeiten zu Verletzungen und Todesfällen in der Anstalt geführt, dies vor allem auf Grund der mangelhaft funktionierenden Mischapparate und daraus resultierenden Verbrennungen von Patienten mit heißem Wasser. Stellvertretend soll hier ein Fall aus dem Jahr 1914 Erwähnung finden: »Von den verschiedenen Unfällen, z.T. mit tötlichem Ausgange, die der Kommission gemeldet wurden, verdient der eine besonders erwähnt zu werden: Als die Kommission den Neubau besichtigte, klagte ihr Direktor v. Speyr über die Unzuverläßigkeit der Mischapparate in den Bädern, daß diese nicht immer gleichmäßig warmes, sondern bald zu kaltes, bald zu heißes Wasser lieferten. Kaum hatte darauf die Sitzung begonnen, so wurde berichtet, der Kranke S. F. S . sei im Bade an verschiedenen Stellen verbrüht worden. Dieser Kranke, ein durch einen Typhus geschwächter Paralytiker, war so elend, daß er anhaltend auf einem Leintuche im Bade gehalten werden mußte, und da der Mischapparat, wie es scheint, eine Zeit lang nur kaltes Wasser hergab, so ließ der Wärter heißes direkt in die Wanne laufen, ohne genügend Acht zu geben. Der Kranke starb nach fünf Tagen, und es wurde vor allem nicht nur der Kommission, sondern auch dem Regierungsstatthalter und den Angehörigen sofort Anzeige gemacht. Der Regierungsstatthalter ordnete darauf die amtliche Sektion an, und diese wies keinen sichern Zusammenhang zwischen Verbrühung und tötlichem Ausgange nach. Trotzdem beschwerte sich eine Schwester des Verstorbenen bei den Behörden und beantragte eine Untersuchung, und in einer Zeitung stand eine offene Frage, ob wirklich ein Pflegling der Waldau durch Verbrühung sein Leben eingebüßt habe, und weshalb der Vorfall, wenn er wahr sei, verheimlicht werde.« 419
Der Fall belegt das Leiden einzelner Patienten, das hilflose Eingreifen von Politikern und Angehörigen in unterschiedlichen Funktionen und mit unterschiedlichen Zielen, aber vor allem die ungeklärte Todesursache, die im Jahresbericht bestimmt auch deshalb aufgeführt wird, weil die Presse sich eingeschaltet hatte. Mit der Erwähnung der Presse wird der Fall im Jahresbericht aber abgeschlossen, es werden keine Konsequenzen gezogen und es geschehen noch viele weitere Unfälle.420 Unter diesen Umständen lässt sich der in Kapitel 4.4 thematisierte Vorwurf 419 | Jb 1914, S. 10 f. 420 | Als weitere Belege sollen hier vier zusätzliche Stellen aus den Waldauer Berichten verdeutlichen, wie oft Unfälle und Todesfälle im Bad vorkamen, seien sie direkt oder indirekt durch das Dauerbad ausgelöst: »Der im Bad Ertrunkene war ein seit 1903 hier verpflegter, tief verblödeter Katatoniker. Er hatte von seinem wochenlangen Stehen stark geschwollene und gerötete Füße und wurde, da er im Bett nicht ruhig liegen bleiben wollte, zeitweise gebadet. Als ihm der Wärter das Mittagessen bringen wollte, fand er ihn ertrunken in der Wanne. Er war einige Zeit allein gelassen worden, muß einen seiner katatonen (epileptiformen) Anfälle bekommen haben und in diesem untergesunken sein.« (Jb 1918, S. 24) Der zweite Fall stammt aus dem Jahr 1922: »Eine an progressiver Paralyse leidende Kranke, A. Z ., starb im gewöhnlichen Bade, infolge Herzschwäche, nicht durch Ertrinken […].« (Jb 1922, S. 8) Sechs Jahre später steht im Jahresbericht: »E. A . H ., infolge von multipler Sklerose verblödet und hilflos, dem Tode nahe, erlitt im Dauerbade eine Verbrühung der Haut, weil der Mischhahn bei der Erneuerung des Wassers auf einmal versagte und sich nicht schließen ließ. Die Verbrühung war so oberflächlich und so wenig ausgedehnt, daß sie einer Gesunden schwerlich einen bleibenden Nachteil würde gebracht haben; die Kranke erlag ihr, weil sie bereits am
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im anonymen Text Die Freibeüter und der Pascha, es würden in der Waldau Patienten »zutodegebadet« (Abb. 23),421 nicht als reines Hirngespinst abtun. Im Zuge der Etablierung der ›Aktiveren Krankenbehandlung‹ nahm die Bedeutung des Dauerbades ab.422 Diese Art der Beschäftigung geht mit der Arbeit der Patienten in der Landwirtschaft und der Einführung einer Hausindustrie einher, wie das nächste Kapitel zeigt.
3.11.1 Arbeitstherapie und ›Aktivere Krankenbehandlung‹ In der Waldau wurde um die Jahrhundertwende versucht, eine kleine Hausindustrie einzuführen, in der die Kranken beschäftigt werden konnten – wenn möglich auch im Haus, um wetterunabhängig zu sein. Neben der Abdeckung der anstaltsinternen Bedürfnisse wurde nun auch probiert, für die Produkte Abnehmer außerhalb der Anstalt zu finden. Neben der Einführung der Papiertütenfabrikation wurde ein Versuch gemacht, in der Holzindustrie Fuß zu fassen: »Die Fabrikation von Papiersäcken lebt sich immer besser ein; wir beschäftigen damit eine Menge von Männern und leiden darunter, wenn diese Arbeit zeitweilig ausgeht. Wir haben nun auch angefangen, das Holzsägen und -spalten eifriger zu betreiben. Für den eigenen Bedarf wurde das von jeher durch die Kranken besorgt; jetzt aber haben wir uns mit dem Verein für Unterstützung durch Arbeit verbunden. Dieser kauft und verkauft das Brennholz, wir aber sägen und spalten es für ihn und erhalten dafür eine gewisse Entschädigung. Da hieraus auch die Abfuhr in die Stadt, die wegen landwirtschaftlicher und anderer Interessen zuweilen auf Schwierigkeiten stößt, an unsere Ökonomie zu bezahlen ist, so wird die Anstalt voraussichtlich auch mit diesem Arbeitszweige kein großes Geschäft machen. Wir sind trotzdem sehr zufrieden, daß wir damit wieder verschiedene Kranke, namentlich in der Zellenabteilung, anhaltend beschäftigen können, die sonst nichts als Unfug getrieben haben. Wir hoffen, daß auch der Verein für Unterstützung durch Arbeit dabei seine Rechnung für sein Entgegenkommen finde.« 423 Äußersten war.« (Jb 1926, S. 8) Und schließlich steht im Bericht von 1928: »In der Waldau starb eine Frau M. G-K. im Bade; sie ertrank aber nicht, sondern erstickte offenbar in ihrer Erregung an ihrem unter das Brustbein hinunterreichenden Kropf.« (Jb 1928, S. 7) Neben den unterschiedlichen Todesarten im Bad zeigen diese Stelle auch verschiedene Formen des Schreibens darüber auf. In drei Fällen werden hier die Initialen der Patienten angegeben, was in den Berichten eher selten vorkommt, wo sonst nur das Geschlecht oder die Krankheit der betroffenen Person angegeben wird. 421 | Siehe Kapitel 4.4 und die Transkription des Textes im Anhang, Kap. III. 422 | In der Anstalt Bellelay allerdings, die mit einigen Entwicklungen etwas im Hintertreffen lag, wurde noch in den 1920er Jahren das Deckelbad angewendet, eine Mischung aus Zwangsapparat und Dauerbad. Ein weiterer schrecklicher Todesfall führte endlich zu dessen Abschaffung: »In Bellelay aber gelang es einer mikrozephalen Idiotin, O. Ch., im Deckelbad, ihres kleinen Kopfes wegen, durch den Halsausschnitt des Deckels in die Wanne hinunter zu gleiten, so daß sie allem nach ertrank. Eine Reihe von ungünstigen Umständen, Freitag der Oberwärterin, Krankheit der Vizeoberwärterin usw. trugen dazu bei, daß die Kranke ohne Bewachung im Deckelbade war. Die Deckelbäder wurden infolge dieses Unfalles abgeschafft.« (Jb 1923, S. 8). 423 | Jb 1906, S. 25. Aus der Retrospektive widmet Ernst Fankhauser (1931) der aktiveren Therapie der Waldau einen Zeitschriftenartikel.
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Abb. 23: Die Freibeüter und der Pascha (anonym), ausgestellt im Psychiatrie-Museum Bern. Transkription im Anhang.
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Aus dieser Beschreibung wird ersichtlich, dass finanzielle Aspekte nicht an erster Stelle stehen, vielmehr wird eine Beschäftigung der Kranken angestrebt. Darüber hinaus soll eine Verschlimmerung des Zustandes vermieden werden, wenn nicht gar eine Heilung angestrebt wird, wie eine Stelle aus dem Bericht des Jahres 1909 belegt: »Von dem Grundsatz ausgehend, daß die Arbeit eines der besten Mittel ist, Geisteskrankheiten zu heilen oder doch wenigstens die Patienten vor gänzlichem Versinken in ihre kranken Ideen und Angewöhnungen zu bewahren, suchen auch wir unsere Kranken, auch die verblödeten, soweit möglich zu beschäftigen, wenn schon oft wenig materieller Gewinn für die Anstalt dabei herauskommt. In der Frauenabteilung ist dies von vornherein viel leichter, denn die Frauen können sich mit Nähen, Stricken, Flicken etc. gut im Hause beschäftigen. Die Männer werden mehr auf dem Felde und im Garten Arbeit finden, immerhin suchten wir ihnen auch durch kleinere Hausindustrien, wie Papiersäcke machen, Holz spalten für die Arbeitshütte etc. mehr Gelegenheit zur Arbeit zu geben, aber der enorme Waldschaden durch den Maienschnee 1908 reduzierte die Nachfrage nach Holz auch in diesem Jahr noch bedeutend. Bei allen Kranken und besonders bei den aufgeregten und verblödeten, hängt es allerdings hauptsächlich vom Geschick und Eifer und vom guten Willen des Wartpersonals ab, ob sie auch wirklich zur Arbeit angehalten werden und etwas leisten.« 424
Diese Darstellung zeigt, dass das Zusammenspiel zwischen Pflegern und Patienten gut funktionieren muss, wenn eine effektive Beschäftigung organisiert und durchgeführt werden will. Neben den Wärtern spielt auch das Material eine bedeutende Rolle für die Beschäftigung der Patienten. In und nach den Kriegsjahren wurde dieses nämlich knapp, zumindest die Papiersackfabrikation musste vorübergehend eingestellt werden, die 1917 eingeführte Korberei konnte weitergeführt werden. Die Beschäftigung von Männern und Frauen wird unterschiedlich thematisiert. Zum Beispiel wird an obiger Stelle betont, es sei ein leichtes, Frauen mit Stricken etc. zu beschäftigen. Anderswo heißt es hingegen, dass gerade für diese ›weiblichen‹ Arbeiten Vorkenntnisse notwendig seien, was die Beschäftigung der Patientinnen erschwert. An dieser Stelle wird auch der Begriff »Arbeitstherapie« eingeführt und dabei auf die Geschlechterunterschiede eingegangen: »Der Arbeitstherapie der Kranken wurde wie gewohnt ein besonderes Augenmerk zugewandt. Es zeigt sich immer mehr, daß sie bei den Männern leichter durchführbar ist, als bei den Frauen; mit Holzsägen, Erdarbeiten u. dgl. können nämlich auch weit Verblödete noch beschäftigt werden, während die gewöhnlich den Frauen zugewiesenen Näh- und Flickarbeiten, schon das Flicken grober Säcke, eine erheblich größere Konzentrationsfähigkeit verlangen, so daß es schwieriger ist, für die Frauen passende, praktisch verwertbare Beschäftigungen zu finden.« 425
Neben der Beruhigung auf den Abteilungen sind auch die Verantwortlichen von Landwirtschaft und Verwaltung erfreut über die arbeitenden Patienten, wie der Ökonom Max Dällenbach 1923 schreibt:
424 | Jb 1909, S. 30 f. 425 | Jb 1921, S. 16.
Geschichte, Klinikalltag und Akteure »Außer den alljährlich notwendigen Reparaturen war es uns Dank der Hilfe der Patienten und eines Wärters möglich, den schon lange notwendigen Wagenschuppen zu bauen. […] Bei all den vielen Arbeiten, die das ganze Jahr über im landwirtschaftlichen Betriebe verrichtet werden müssen, halfen uns die Patienten in wirklich erfreulicher Weise mit. Wir möchten daher an dieser Stelle all denen, die die schöne Zusammenarbeit förderten und uns mithalten, aufrichtig danken. Unser besonderer Dank gebührt der Direktion, die uns eine größere Zuhilfenahme der Patienten ermöglichte, und uns mit einigen Kranken und einem Wärter im Rothaus eine Kolonie einrichtete.« 426
Für die weniger begabten oder diejenigen Patienten, deren Krankheit schon fortgeschritten ist, werden die Karrenzüge eingeführt, ein Markenzeichen der Berner Anstalten, insbesondere aber der Waldau, das in literarisierter Form auch in Glausers Matto regiert Eingang fand.427 In der Waldau werden Karrenzüge, auch Blitzzüge genannt, zu Beginn der 1920er Jahre erstmals eingesetzt und zwar in erster Linie für Patientinnen als Entsprechung für einfachste landwirtschaftliche Tätigkeiten, die den Männern vorbehalten waren (Abb. 24): »Daher wurde im Herbst ein bereits vor 4 Jahren von uns gemachter Beschäftigungsversuch wieder aufgenommen, der sich in der badischen Anstalt Reichenau eingebürgert hat; aus etwa 20 unruhigen, verblödeten weiblichen Kranken, alles schweren Fällen der hinteren Abteilungen, wurde eine Karrengruppe gebildet, die die Aufgabe hat, Holz, Torf, Gemüse u.a., von einem Gebäude der Anstalt in ein anderes zu verbringen, im Winter Schnee zu räumen und dergleichen. Der Versuch hat sich, wenn auch die von den einzelnen Kranken durchschnittlich geleistete Arbeit eine höchst bescheidene ist, bewährt. Die Kranken gehen gerne hinaus, sind nun einen großen Teil des Tages im Freien, fühlen sich abends etwas müde, schlafen besser und sind ruhiger und reinlicher. Auf unsern überfüllten Abteilungen aber macht sich die Entlastung in vorteilhafter Weise bemerkbar. Es ist klar, daß diese Art der Beschäftigung nur in einer Anstalt mit ausgedehntem Gebiet ausgeführt werden kann; für die Waldau paßt sie daher besonders gut.« 428
Im Jahr 1930 werden die Karrenzüge »erheblich vermehrt, die sich als eines der besten Mittel zum Herausreißen der Verblödeten aus ihrem Stumpfsinn allgemein bewährt haben; ein solcher Zug führt nun z.B. die Schweinetränke, ein anderer Jauche und Mist, bedenklich ist dabei nur, daß die Züge vielfach die öffentlichen Straßen benützen müssen.«429 1932 verfasst ein Patient der Waldau, Herr A., ein Schreiben an den Sanitätsdirektor, in dem er mehr Raum für die Blitzzüge ein426 | Jb 1923, S. 30 f. 427 | Siehe Kapitel 4.6. 428 | (Jb 1926, S. 19 f.). Auch in den anderen Berner Anstalten waren Karrenzüge im Einsatz, in Bellelay hießen die Patietengruppen »groupes des charettes«: »Le nombre des malades qui travaillent va en augmentant de mois en mois. Si l’on constate que les journées de travail ont quelque peu diminué vers la fin de l’année, c’est parce que les groupes des charrettes ne pouvaient plus être envoyés dehors et que l’état de santé de cette catégorie de malades ne permettait pas de les employer tous ailleurs.« (Jb 1930, S. 68) Die optisch medialisierte Variante des Waldauer Blitzzuges findet sich in einer bereits zitierten Ausgabe der Zeitschrift Der Aufstieg, siehe dazu auch Abb. 24. 429 | Jb 1930, S. 21.
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Abb. 24: Der Waldauer »Blitzzug«. In: Der Aufstieg. Illustrierte Familienzeitschrift für das arbeitende Schweizervolk, 17. Jahrgang, Nr. 38. Bern, den 23. Oktober 1936, S. 900.
fordert. In diesem Brief, der sich in der Krankenakte befindet, steht am Schluss: »Dass ihr nicht grosse Herren seit, sieht man daraus, dass Ihr der Direktion hier, wegen einem übertriebenen Konsortium, die Blitzzüge verboten. Ich denke, die Strasse sei da für Alle, nicht nur für Auto.«430 Der Blitzzug war also fester Bestand 430 | Herr A. an den Sanitätsdirektor, Rothaus, den 21. August 1932. Kg Nr. 20996, Einzelblatt. Neben dem Verfassen seiner Beschwerdeschreiben hat Herr A. auch gezeichnet.
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der Waldau und die Bindung an ihn, wie das Beispiel zeigt, teilweise auch emotional geprägt. Ob in der Hausindustrie oder am Karrenzug: Die Arbeit für die Anstalt erfolgte ohne Entgelt, ein Thema, das immer wieder diskutiert wurde und das schon Ende des 19. Jahrhunderts Anlass dazu gab, ein entsprechendes Dekret zu verfassen. Von außen wurde oft der Vorwurf an die Anstalt herangetragen, man zwinge die Patienten zu Arbeit, ohne sie zu entlohnen. Intern war das Problem eher dasjenige, dass einzelne Angestellte versucht waren, Patienten für ihre eigenen Angelegenheiten einzusetzen. Die Arbeit für die Anstalt wurde als selbstverständlich betrachtet. Das erwähnte Dekret lautet infolge: »Die Beamten dürfen keinen Angestellten während dessen Dienstzeit zu ihren Privatarbeiten verwenden und die Kranken nur mit Erlaubnis des Direktors und gegen Entschädigung an die Anstaltskasse, auch letzteres nur dann, wenn die Kranken nicht für die Anstalt in Anspruch genommen sind.« 431
Damit war jedoch das Thema Entlohnung der Patienten nicht vom Tisch, wie Max Müller viel später festhielt: In seinen Augen handelte es sich bei der Patientenarbeit um »Sklavenarbeit«.432 Was also schon länger unter dem Begriff »Arbeitstherapie« praktiziert wurde, fand zu einem Teil in Hermann Simons Werk Aktivere Krankenbehandlung in der Irrenanstalt von 1929 seine theoretische Untermauerung und wissenschaftliche Legitimation. »Der Beschäftigungsgrad«, schreibt Simon, sei »das Barometer für das Wetter, das jeweils in der Anstalt herrscht.«433 Simon (1867–1947) war von 1914 bis 1934 (mit Ausnahme der Kriegsjahre, die er an der Front verbrachte) Direktor der nordrhein-westfälischen Provinzialheilanstalt Gütersloh. Unter dem Motto »Leben ist Tätigkeit«434 beschreibt Simon die positiven Wirkungen der Beschäftigung von Patienten entsprechend ihrer individuellen Leistungsfähigkeit, an erster Stelle im Garten oder der Landwirtschaft, dann in der Hauswirtschaft und in Werkstätten. 1923 wurde ›seine Methode‹ durch einen Vortrag bekannt, eine Zuschreibung, gegen die er sich später wehrte. Am Schluss seines Buches schreibt er dazu: »Man spricht hin und wieder von einem ›Gütersloher System‹ oder hat gar die ›aktivere Krankenbehandlung‹ mit meinem Namen in feste Verbindung gebracht. Gegen beide Benennungen muß ich in aller Deutlichkeit Stellung nehmen; denn es gibt beides nicht und kann es gar nicht geben. In der Therapie sind noch immer alle ›Systeme‹ vom Übel gewesen, weil sie knöchern, starr, tot sind. Was uns in der Psychotherapie not tut, ist im Gegenteil die Beweglichkeit, die Lebendigkeit, die stete Anpassung an die dauernd wechselnden individuellen Be-
Siehe etwa Käsermann/Jutzeler (2006), S. 7: »Neubau I und II«; S. 30: »Zeichnung für einen Distanzmesser« oder S. 36: »Berner Oberland«. 431 | (1894), S. 380. 432 | Müller (1982), S. 440. 433 | Simon (1986), S. 35. Zur »Aktiveren Krankenbehandlung« im Zürcher Kontext zwischen 1930 und 1960 siehe Germann (2007). 434 | Simon (1986), S. 7.
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Schreiben am Rand dürfnisse, also gerade das Freiwerden von jedem System. Not tut uns die Heranziehung aller therapeutischen Möglichkeiten, gleichviel von wem und aus welcher Zeit sie stammen.« 435
Simons Werk ist in der Tat vielfältiger angelegt, als es gemeinhin rezipiert wird. Der Autor zeigt sich als biologisch und pädagogisch interessierter Psychiater, der mit konkreten Fallbeispielen arbeitet und praxisorientiert aufzeigt, wie man sich in den entsprechenden Situationen verhalten könnte. Noch vor der Therapie geht es ihm um »Milieugestaltung«,436 die Therapie selbst ist für ihn »Umweltgestaltung«437 und Aktivität bedeutet für ihn, »daß da, wo etwas krank, häßlich, unsozial, unvollkommen ist, etwas geschieht, um den unerwünschten Zustand zu bessern.«438 In Bezug auf die Bewertung des Schreibens in der Anstalt ist die kritische Haltung Simons zu beachten. Er schreibt über ungeeignete Beschäftigungen: »Ein Fehler ist es m. E. geradezu, einem Kranken eine Beschäftigung in der Richtung seiner krankhaften, abwegigen Gedankengänge oder Verirrungen zuzuweisen, oder eine solche Betätigung auch nur zu dulden oder zu unterstützen. Wir dürfen wohl annehmen, daß es einer vergangenen Zeit angehört, daß ein Paranoia-›König‹ mit einer Goldpapier-Krone und mit Blech- und Papierorden geschmückt im Anstaltsbilde seine angebliche Würde vertritt, oder gar von Mitkranken, Pflegern und Ärzten, ›um ihn nicht zu reizen‹, mit ›Majestät‹ angeredet wird, daß andere paranoisch eingestellte Kranke ihr Zimmer mit den Produkten ihres zerrütteten Geistes ausschmücken. Hierher gehört auch die Produktion schizophrener und paranoider ›Kunstwerke‹, für die man weder Material noch Gelegenheit und Zeit freigeben sollte. Das gilt auch für die Abfassung umfangreicher Querulantenschriften. Widerspricht das Dulden und Unterstützen solcher Betätigung doch dem uralten Grundsatz jeder Psychotherapie, ja jeder Therapie überhaupt: Allem Krankhaften mit zielbewußter Konsequenz und Energie entgegen zu wirken, andererseits über alles, was der Kranke an Betätigungsdrang aufbringt, oder was wir in ihm mehr oder weniger mühsam wecken können, ausschließlich nach einer normalen, gesunden Richtung hinzudrängen.« 439
Simon tritt hier energisch gegen eine schreibende respektive künstlerische Ausdrucksform Internierter ein, er pathologisiert sie und empfiehlt ihre Unterbindung durch einen restriktiven Umgang mit Material. So werden künstlerische Arbeiten zu verhindern versucht, bestehende Produkte pathologisiert und ein Ärztebild vermittelt, das die ständige Überwachung und Wertung von Patientenarbeiten beinhaltet. Das Programm Simons wurde aber nicht nur aufgrund der Lektüre seines Buches verbreitet, vielmehr wurde Gütersloh zu einer Art Mekka der psychiatrischen Fachwelt der Zeit. So kam es, dass einige Berner Repräsentanten und selbst von Speyr im fortgeschrittenen Alter von 67 Jahren 1929 noch eine Studienreise nach Gütersloh unternahmen. Im Jahresbericht heißt es: »Im Anschluß an die Studienreise der Aufsichtskommission und nachdem unabhängig davon der zweite Arzt [Fankhauser, Anm. M.W.] sich einige Tage in der Anstalt Gütersloh in West435 | Ebd., S. 166. Kursiva im Original gesperrt. 436 | Ebd., S. 86. 437 | Ebd., S. 82. 438 | Ebd., S. 84. 439 | Ebd., S. 18. Kursiva im Original gesperrt.
Geschichte, Klinikalltag und Akteure falen zum Studium der aktiveren Therapie aufgehalten hatte, wurde diese nicht in Angriff genommen – wir hatten uns schon längere Zeit damit abgegeben –, sondern weiter ausgebaut. Auf mehreren Frauen- und einzelnen Männerabteilungen wurde z.B. das Federnschleißen eingeführt. Eine bernische Firma liefert uns Gänsefedern, die von den Kranken vom Kiel befreit werden. Viele Kranke, die seit Jahren nie etwas leisteten, haben von Anfang an gerne zugegriffen, andere mußten mit Geduld dazu angehalten werden, noch andere blieben widerspenstig. Auch zu andern Beschäftigungen wurden die Kranken, Männer und Frauen, energischer angehalten. Bei vorübergehenden Erregungen wird rascher eingegriffen, als wir sonst gewohnt waren, z.B. durch ganz kurze Versetzungen oder Isolierungen, auch durch Einspritzungen; es wurde nach dem Grundsatz der aktiveren Therapie den Kranken mehr Verantwortlichkeit für ihr Tun und Lassen zugemessen, als man es in den Irrenanstalten bisher gewohnt war. Der Erfolg war ein nicht zu verkennender; völlig untätige Kranke befinden sich in den halbruhigen Abteilungen nur noch wenige, der Eindruck des ›Narrenhausmäßigen‹ ist erheblich zurückgetreten und auch das Verhalten der ganz Unruhigen hat sich durchschnittlich etwas gehoben.« 440 440 | Jb 1929, S. 17 f. Auch Vertreter aus Münsingen und Bellelay wurden nach Gütersloh geschickt und berichteten darüber. Aus Münsingen erfährt man: »Auf Anregung des Unterzeichneten [Brauchli, Anm. M.W.] hat eine Studienkommission im September verschiedene holländische und deutsche Anstalten (Santpoort, Massord und Brinckgreven in Holland, Gütersloh und Konstanz in Deutschland) besucht, um die von Dir. Simon in Gütersloh propagierte aktivere Beschäftigungstherapie in Anstalten kennen zu lernen, wo sie seit Jahren konsequent durchgeführt wird. […] Sämtliche Teilnehmer kehrten von der Reise sehr befriedigt zurück. Sie waren erstaunt zu sehen, mit welcher Beharrlichkeit und Konsequenz, insbesondere aber mit welchem Erfolg die manchmal recht schwierige Aufgabe in den Anstalten, die besucht worden sind, durchgeführt wird. Es ist erstaunlich, welche Ruhe in diesen Anstalten herrscht, wie geordnet sich fast alle Kranken benehmen, so daß man ruhige und unruhige Abteilungen, welche alle mit Bildern, Blumen und dergleichen freundlich ausgestattet sind, kaum von einander unterscheiden kann. Bäder und Isolierungen von Kranken sind auf ein Minimum beschränkt. Es braucht kaum gesagt zu werden, daß uns das Gesehene einen tiefen Eindruck hinterließ und zur Nachahmung reizte. Bald nach der Rückkehr, machten wir denn auch die ersten Versuche, die ›neue Therapie‹ in unserer Anstalt durchzuführen. Sie haben uns befriedigt und zur Überzeugung gebracht, daß sich die Sache auch bei uns wird machen lassen. Selbstverständlich kann das nicht von heute auf morgen geschehen. Es wird Jahre dauern, bis die Neuerung durchgehend eingeführt ist, es wird aber gehen, wenn alle, Beamte und Angestellte, jeder an seinem Orte mithelfen. Ärzte und Pflegepersonal werden durch die aktivere Therapie in erster Linie mit Mehrarbeit belastet. Sie werden aber auch die Genugtuung haben, bei den ihnen anvertrauten Kranken in therapeutischer Hinsicht mehr zu erreichen als bisher und infolgedessen in ihrer Tätigkeit mehr Befriedigung finden.« (Jb 1929, S. 39 f.) Auch Vertreter des Pflegepersonals durften sich auf die Reise begeben: »Die aktivere Arbeitstherapie, von der im letzten Jahresberichte die Rede war, wurde weiter ausgebaut. Drei Ärzte und je zwei Pfleger und zwei Pflegerinnen wurden im Einverständnis mit der Regierung nach Gütersloh abgeordnet, um dort die Prinzipien dieser Behandlungsart gründlich kennen zu lernen.« (Jb 1930, S. 44) In Bellelay werden auch entsprechende Ausbildungskurse eingeführt: »La nouvelle méthode de traitement des aliénés par le travail créée par M. le Dr. Simon à Gütersloh présente incontestablement de gros avantages. Les résultats heureux dont il nous a été donné de nous rendre compte sont des plus réjouissants. C’est toute une vie nouvelle dans les asiles. Aussi nous sommes-nous efforcés par tous les moyens dont nous disposons à l’heure actuelle de faire quelque chose dans ce domai-
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Mit der systematischen Durchführung der Arbeits- und Beschäftigungstherapie ändert sich das Bild der Anstalt und auch ihr schriftliches Abbild in den Berichten zeigt sich von einer neuen, geradezu enthusiastischen Seite. Die Simon’schen Gartenmöbel mit Blumenbänken werden in Aufenthaltsräumen aufgestellt, die Patienten bekommen neue Arbeiten und es entsteht eine Ruhe in der Anstalt, die sogar das Dauerbad unnötig mache, wie von Speyr im Bericht von 1930 stolz verkündet: »Dabei ist nicht der Wert der Arbeit das Maßgebende, sondern die dadurch entstehende Ruhe: erwähnt sei z.B. eine Frau, die früher jahrelang unter dem Einfluß ihrer schreckhaften Halluzinationen jeden Augenblick die lautesten Schrei- und Tobanfälle bekam und jetzt im Sommer beim Karrenzug als die fleißigste mithilft, im Winter ruhig unter den Federnschleißenden sitzt; sie hält zwar stundenlang die gleiche Feder in der Hand, an der sie nur wertlose Zupfbewegungen macht, gibt aber Tage lang kaum einen Laut mehr von sich. Der verhältnismäßig recht ruhige Charakter des Wachsaals für Aufgeregte und damit seine Aufnahmefähigkeit konnte das ganze Jahr aufrecht erhalten werden; das Dauerbad blieb geschlossen. Überall war die Zahl der Unreinen im Abnehmen. Zu Beginn des Jahres wurde im allgemeinen Bad ein Waschtrog für Handwäscherei nach dem Gütersloher System aufgestellt, an dem nun 8 Schwerkranke, alles erregte Frauen, sich beschäftigen; wenn die Ruhe auch ab und zu zu wünschen übrig läßt, so sind ihre Leistungen doch durchaus befriedigend; auch dadurch wurde eine Entlastung der Abteilungen erwirkt.« 441
Würde man eine Klanggeschichte der Anstalt schreiben wollen, wäre mit der systematischen Einführung der aktiveren Therapie ein erster Rückgang der Schreie und eine Phase der Beruhigung zu konstatieren, bevor dann mit der Einführung der medikamentösen Behandlung in den 1950er Jahren eine definitive Ruhe in die Klinik Einzug erhält. Wie in anderen Anstalten wird auch in der Waldau der 1930er Jahre der Versuch gemacht, die positiven Veränderungen in Zahlen auszudrücken: »Zur Illustration dessen, wie auf sämtlichen Abteilungen der Anstalt die Zahl der Beschäftigten und damit Ruhe und Ordnung sich gehoben haben, seien die Zahlen der völlig Unbeschäftigten (Paralytiker und tiefste Idioten mit inbegriffen) vor der Einführung der aktiveren Therapie und auf Ende des Jahres angeführt: Sie sanken bei den Männern im Hauptgebäude von 94 auf 25, im Neubau von 59 auf 7, im Pfründerhaus von 63 auf 21, bei den Frauen im Hauptgebäude von 56 auf 11, im Neubau von 62 auf 13. Auf der Männerseite des Neubaus konnte ein Wachsaal geschlossen und in einen Aufenthaltsraum verwandelt werden; andere Wachsääle stehen wenigstens nachmittags leer. In der freien Zeit werden die Kranken nach Möglichkeit mit Spielen, zum Teil auch mit allereinfachsten, mit Lektüre und mit Musik, speziell Grammophon unterhalten.« 442 ne. Dès le début de janvier, nous avons donné des cours d’instruction à notre personnel à cet effet. Ces cours de 2 heures par semaine, donnés en langue française et allemande, nous ont permis d’inculquer au personnel les premières notions théoriques et pratiques concernant ces nouvelles méthodes de traitement. […] Il ne peut plus être question d’abandonner les malades à eux-mêmes. Il y a lieu de veiller sur eux et de chercher ainsi constamment à les intéresser. […] Les malades sont plus calmes et beaucoup plus tranquilles.« (Jb 1929, S. 64). 441 | Jb 1930, S. 22. 442 | Ebd., S. 22 f.
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Der Beschäftigungsgrad einer Abteilung oder gar einer Anstalt soll in diesem Berichtsvorhaben – ebenfalls nach Simons Vorlage – quantifiziert werden. Die Arbeitstage werden gezählt, die Berichte führen Listen auf, in welcher Betätigung wie viele Arbeitstage verrichtet wurden und die verschiedenen Kliniken erscheinen plötzlich in einem Wettbewerb um hohe Beschäftigungsfaktoren und Prozentzahlen. Der Austausch zwischen der Waldau und Gütersloh geht so weit, dass 1932, zwei Jahre vor seiner Pensionierung, sogar Hermann Simon selbst die Waldau noch besucht: »Der aktiveren Therapie wurde auch im Berichtsjahre volle Aufmerksamkeit geschenkt. Die Durchführung geschieht weiter nach den Prinzipien Direktor Simons aus Gütersloh, der im Berichtsjahre die Freundlichkeit hatte, die Waldau zu besichtigen. Die verschiedenen Beschäftigungsarten sind in unserer Anstalt die gleichen, wie sie in allen zur Zeit in diesem Sinne und Geist geführten Anstalten zur Anwendung gebracht werden, wobei natürlich jede Anstalt je nach lokalen Verhältnissen und Bedürfnissen ihre kleinen Modifikationen vornimmt. Auch in der Waldau beträgt die Zahl der aus psychischen Gründen nicht arbeitenden Kranken höchstens 10 bis 20 Prozent.« 443
Zu Beginn der 1930er Jahren beginnt in der Waldau die zunächst bedingungslose Begeisterung für die Aktivere Krankenbehandlung allmählich etwas abzuflachen. Es wird von Fällen, etwa von Dementia-praecox-Betroffenen berichtet, bei denen die Behandlung sehr wenig brachte. Mit dem Direktorenwechsel zu Klaesi nimmt die Euphorie ein Ende, letzterer schreibt 1933 zum Thema: »Der Arbeitstherapie wurde wie immer und überall auch im Berichtsjahr die größte Aufmerksamkeit gewidmet, wenngleich wir uns stets energisch dagegen verwahren, daß das, was man jetzt mit dem Schlagwort ›aktivere Therapie‹ bezeichnet, all unser therapeutisches Rüstzeug oder auch nur das hauptsächliche umfasse; es wäre dies doch etwas zu armselig und phantasielos.« 444
Wie sich der Wechsel in der Direktion auf die Waldau auswirkt, zeigt auf einer allgemeinen Ebene das nächste Kapitel, konkreter lassen sich praktische Konsequenzen am ›Fall‹ Robert Walser verfolgen (siehe Kapitel 4.5).
3.12 D er Ü bergang von W ilhelm von S pe yr zu J akob K l aesi Den Abschluss dieses institutionsgeschichtlichen Teils des Buches bildet ein Kapitel, das sich den allgemeinen Veränderungen widmet, denen die Waldau in den 1930er Jahren unterworfen ist. Es fasst das Berufungsverfahren zusammen, stellt die Person Jakob Klaesi vor und geht in einem Exkurs auf den Hirnanatomen Ernst Grünthal ein, der unter Klaesi in der Waldau arbeitete. Das Ende der Ära von Speyrs und der Übergang zu Klaesi fallen in eine Zeit der Krise zwischen den beiden Weltkriegen. Die schwierigen ökonomischen Verhältnisse wirken sich auch auf die psychiatrischen Anstalten aus, die Kosten für die Verpflegung von Angehö443 | Jb 1932, S. 22. 444 | Jb 1933, S. 23.
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rigen können teilweise nicht mehr übernommen werden und in der Folge werden weniger Menschen in die Anstalten gebracht, wie ein Bericht aus Münsingen vermuten lässt: »Die Aufnahmeziffer von Kranken ist im abgelaufenen Jahre etwas zurückgegangen. Es ist das eine Erscheinung, die in den meisten Anstalten beobachtet wird und wohl hauptsächlich auf die bestehende Krise zurückzuführen ist. Wir glauben nicht, daß die Zahl der Geisteskranken abgenommen habe. Aber manche Kranke werden heute zu Hause behalten, weil die bestehende Arbeitslosigkeit es den Angehörigen in vielen Fällen erlaubt, sie daheim zu pflegen, während das vorher, wo die meisten Familienmitglieder dem Verdienste nachgingen, weniger gut möglich war.« 445
In der Waldau neigt sich in dieser Krisenzeit die Amtszeit von Speyrs dem Ende zu. Als Professor hatte er das Pensionsalter bereits erreicht, als Direktor lief seine Amtsdauer im März 1931 aus, allerdings war für die Ausführung dieses Amtes keine Altersgrenze gesetzt. Mit der Nachfolge wurde auch diskutiert, ob die beiden Ämter (an der Universität und in der Anstalt) getrennt werden sollten. Dadurch wurde ein Entscheidungsfindungsprozess angestoßen, der viel Zeit beanspruchte. Von Speyr blieb schließlich länger als geplant, wie der Bericht von 1932 zeigt: »In der Waldau wurde endlich die Amtsdauer von Dr. v. Speyr sowohl als Direktor wie als Professor zuerst bis zum 1. Oktober 1932, dann bis zum 1. April 1933 verlängert. Die Wahl seines Nachfolgers erwies sich nämlich als schwieriger, als zuerst vermutet wurde. Die Professur wurde zwar bis zum 15. Juli 1931 ausgeschrieben, die Direktion aber erst bis zum 31. Dezember des gleichen Jahres. Um die erste bewarben sich 8 Schweizer und 9 Ausländer, um die zweite kam zu den bereits angemeldeten acht Schweizern nachträglich noch ein neunter. Nun schlug die medizinische Fakultät der Universität der Direktion des Unterrichtswesens am 23. Dezember 1931 die Trennung der beiden Beamtungen vor; die Administration der großen Anstalt nehme die Kraft eines Mannes derart in Anspruch, daß dieser unmöglich daneben auch noch die Aufgaben des Lehrers und Forschers erfüllen könne. Die richtige Lösung würde natürlich die seit Jahrzehnten erstrebte Errichtung einer eigenen psychiatrischen Klinik in der Stadt in der Nähe der andern Kliniken sein. Weil dafür aber die Zeit und namentlich das Geld fehlten, müßte man sich mit einem Provisorium begnügen. Dieses Provisorium würde sich verhältnismäßig leicht und billig erreichen lassen, indem der sogenannte Neubau der Waldau zwar noch administrativ mit der übrigen Anstalt verbunden bliebe, sonst aber dem Professor mit seinen Ärzten als selbstständigem Leiter unterstellt würde.« 446
Die Ausschreibungen der Professur wie auch der Direktorenstelle in der Schweizerischen medizinischen Wochenschrift des Jahres 1931 finden sich hier abgebildet (Abb. 25 und 26). In die Nachfolgeregelung waren Regierungsrat, universitäre Fakultät sowie die Aufsichtskommission involviert und die Interessen dieser unterschiedlichen Gremien divergierten. Die Fakultät forderte eine Trennung der Ämter, und bezog sich in ihrer Argumentation auf die ähnlich geführte und – wie sich dann zeigen würde ebenso erfolglose – Diskussion der Jahre 1889–1891. Der Regierungsrat war gegen 445 | Ebd., S. 49. 446 | Jb 1932, S. 5 f.
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Abb. 25: Ausschreibung des Lehrstuhls für Psychiatrie an der Universität Bern, 1931.
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Abb. 26: Ausschreibung Direktorenstelle in der Waldau, 1931.
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die Aufteilung, weil sie mit höheren Lohnkosten verbunden gewesen wäre.447 Um die trotz dieses Disputs getrennt ausgeschriebene Professur bewarben sich neun Ausländer und acht Schweizer. Es handelte sich dabei um Max Müller, Charlot Strasser, Moritz Tramer, Hans Steck, Walter Morgenthaler, Ernst Fankhauser (der die Bewerbung aus gesundheitlichen Gründen wieder zurückzog), Fritz Walther und Jakob Klaesi. Die Schweizer Bewerber genügten den Anforderungen der Fakultät nicht. Im Bericht an den Regierungsrat schreibt die medizinische Fakultät, was gegen die einzelnen Schweizer Bewerber spreche: Klaesi weise zu wenig Forschungsarbeiten vor und »sein Charakter u. sein ganzes Wesen [seien, Anm. M.W.] etwas ungleichmässig«,448 zudem leide er an leichter Schwerhörigkeit. Gegen Tramer spreche, dass er in den letzten Jahren nicht mehr viel geleistet habe. An Steck wurde die monotone Vortagsweise bemängelt, an Morgenthaler die akademischen Fähigkeiten, »denn sein Vortrag ist schwerfällig u. sehr mühsam anzuhören, woran freilich z.T. die erhebliche Schwerhörigkeit des Herrn Morgenthaler schuld sein mag.«449 Strasser sei von den Lehren seiner Frau abhängig, Fankhauser zu alt, Walther wissenschaftlich zu wenig fundiert und auch Müller habe zu wenige Publikationen vorzuweisen. Die Fakultät schlug nach diesem Befund deshalb ein unkonventionelles Verfahren vor, wie von Speyr im Jahresbericht zusammenfasst: »So schlug sie der Erziehungsdirektion am 9. Juni in erster Linie die Berufung eines hervorragenden deutschen Forschers und Lehrers vor, der sich nicht beworben hatte, nämlich des Professors Ernst Kretschmer in Marburg, eventuell auch des Dr. C. G . Jung in KüsnachtZürich, von dem allerdings eine Annahme des Rufes kaum zu erwarten war. Da die Unterhandlungen mit Prof. Kretschmer im Gange waren, konnte die Aufsichtskommission in ihrer Sitzung vom 16. Juli keinen Vorschlag für einen Direktor machen. Sie kam erst dazu, als Prof. Kretschmer Ende Oktober auf seine Berufung verzichtet und der Regierungsrat am 18. November nochmals, namentlich aus finanziellen Gründen, die Beibehaltung der Personalunion der beiden Ämter beschlossen hatte. Da bekannt wurde, daß unter dieser Bedingung ein Ausländer keine Aussicht mehr hätte, gewählt zu werden, fiel auch der nach der Berufung in erster Linie von der Fakultät vorgeschlagene deutsche Privatdozent dahin, und es kamen nur noch die Schweizer in Betracht. Jetzt erst, in ihrer Sitzung vom 16. Dezember, trennte sich die Aufsichtskommission von der Fakultät, nachdem sie sich bis zuletzt mit dieser zu verständigen gesucht hatte. Sie schlug drei bernische Irrenärzte im gleichen Range vor, aber die Regierung wählte am 24. Januar 1933 den Kandidaten der Fakultät, Dr. Jakob Kläsi aus Luchsingen, zur Zeit Leiter der Privatanstalt in Schloß Knonau, Privatdozenten und Titularprofessor in Zürich, zum a.o. Professor und Direktor.« 450
Kretschmer verfasste im Juli 1932 auf die Aufforderung der Berner Regierung und der medizinischen Fakultät hin ein Gutachten, wie der psychiatrische Lehrstuhl in Bern neu geordnet werden sollte. Darin forderte er die vollständige, auch geo-
447 | Siehe dazu auch die Unterlagen im Staatsarchiv des Kantons Bern, St.A.B. BB III b, 564. 448 | Dekanat der medizinischen Fakultät an den Regierungsrat, Bern, 9. Juni 1932, Staatsarchiv des Kantons Bern, St.A.B. BB III b, 564, S. 8. 449 | Ebd., S. 9. 450 | Jb 1932, S. 6 f.
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grafische Trennung von Klinik und Heilanstalt.451 In seinem Berufungsverfahren stellte Kretschmer dann hohe Anforderungen, etwa in Bezug auf Mitarbeiter und Ferien, und lehnte den Ruf schließlich ab, Jung ging gar nicht erst darauf ein. Das Sitzungsprotokoll der Aufsichtskommission vom 16. Juli 1932 referiert die Haltung der Fakultät: Nach der Anfrage an Kretschmer und Jung sollten zunächst Hans Walter Gruhle (Heidelberg) sowie Kurt Kolle (Kiel) und erst danach die drei Schweizer – Jakob Klaesi, Moritz Tramer (Rosegg, Solothurn) und Hans Steck (Cery) – angefragt werden. Max Müllers und Walter Morgenthalers Ambitionen auf diese Stelle wurden bereits erwähnt,452 beide waren aber nicht in der engeren Auswahl der Fakultät. Die drei im oben zitierten Ausschnitt vorgeschlagenen Berner waren Morgenthaler, Müller und Steck. Klaesi, der damals im Schloss Knonau eine Privatnervenheilanstalt leitete, bewarb sich auf die Aufforderung des Dekans Wegelin hin für die Stelle in Bern.453 Damit wurde denjenigen Stimmen Rechnung getragen, die betonten, dass ein Psychiater in der Schweiz Mundart sprechen können müsse. Dass Klaesi und keiner der Berner Irrenärzte Direktor und Professor wurde, war jedoch lokalpolitisch problematisch. Zudem war Klaesi als Person nicht unumstritten und seine Zeit in Basel mit schlechten Erinnerungen verbunden – dies lassen etwa das Gutachten von John Stähelin aus Basel wie auch das insgesamt positivere von Hans W. Maier anklingen.454 Im März 1933 verließ von Speyr die Waldau und Klaesi übernahm die Stelle am 1. April. Über die beiden schreibt Wyrsch später: »Abgesehen davon, daß beide Junggesellen waren und blieben, hatten sie in ihrer Art wenig gemein.«455 Klaesi, der ursprünglich gedacht hatte, er werde Schriftsteller oder Schauspieler,456 studierte bei Kraepelin und Bleuler und schloss 1912 bei C.G. Jung mit einer Doktorarbeit Über das psychogalvanische Phänomen ab. Bereits während des Studiums 451 | Kretschmers 14-seitiges Typoskript Gutachten über die Neuordnung des Psychiatrischen Lehrstuhls in Bern vom 6. Juli 1932 findet sich ebenfalls im Staatsarchiv des Kantons Bern, St.A.B. BB III b. Sowohl die Person Kretschmer wie auch die vorgeschlagene Neuordnung der Waldau fanden ein Interesse in den Medien, wo sich anonyme Stimmen sehr kritisch äußerten, Fachleute wie beispielsweise Oscar Forel jedoch Kretschmer verteidigten. 452 | Kapitel 3.6.2.3. 453 | Klaesis Bewerbungsunterlagen befinden sich im Staatsarchiv des Kantons Bern, St.A.B. BB III b, 564. 454 | Gutachten Stähelin an Prof. Dr. Fritz de Quervain vom 19. November 1932 und Prof. Dr. Hans W. Maier an Prof. Dr. E. Bürgi, 13. November 1932, beide im Staatsarchiv des Kantons Bern, St.A.B. BB III b, 564. 455 | Wyrsch (1977), S. 491 f. 456 | Klaesi (1977), S. 168. In seiner Selbstdarstellung gibt Klaesi auch folgende Anekdote aus seiner Studienzeit in Kiel, der er in einem Gedicht die Zeile »Die deutsche Kraft gibt deutschem Denkgut Raum« (ebd., S. 170) widmet, zum Besten: »Aufs engste und schon am ersten Morgen des neuen Semesters nahm mich der Chirurg Heinrich Helferich ins Auge. ›Da oben sitzt einer, sagte er, der ist kein Mediziner! Künstler! Musiker? Vielleicht Dichter!‹ und deutete auf mich, der ich in der obersten Bankreihe Platz genommen hatte. ›Ich habe nichts dagegen, daß Sie jetzt dableiben und finden, was Sie suchen, aber ich darf Ihnen nicht gestatten, wiederzukommen!‹ Ich antwortete: ›Herr Professor, ich werde mich nach der Klinik ausweisen kommen; ich bin Mediziner und habe Ihre Vorlesungen ordnungsgemäß belegt.‹ ›Na, dann haben Sie halt den Beruf verfehlt. Schade!‹ antwortete der Lehrer.« Ebd. S. 170.
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erhielt er die Diagnose Otosklerose und hatte (wie auch Morgenthaler) Zeit seines Lebens mit der Beeinträchtigung seines Gehörsinns zu kämpfen. Bekannt wurde Klaesi als Psychiater vor allem durch seine Einführung der »Dauernarkose« mit Somnifen. Über die ›Entdeckungsgeschichte‹ schreibt er 1922, er sei von der Annahme ausgegangen, dass eine Unterbrechung schizophrener Aufregungszustände beruhigen und heilsam wirken müssten, sowie dass der Teufelskreis »zwischen Affekterregung und psychomotorischer Erregung« unterbrochen und eine »je nach therapeutischen Erfordernissen beliebig große körperliche Hinfälligkeit und Hilfsbedürftigkeit«457 geschaffen und erhalten werden könnte. Dadurch würde die heilende Wirkung vor allem dem »während der Bettlägerigkeit und Pflegebedürftigkeit wiedergewonnenen besseren Rapportes des Kranken mit dem Arzt«458 zugeschrieben werden. Die Therapie soll also nicht nur die Krankheit in ihren Auswirkungen unterbrechen, sondern hauptsächlich das Verhältnis zwischen Arzt und Krankem neu auf bauen. In der asymmetrischen Situation des künstlich bettlägerig gehaltenen Patienten neben dem pflegenden Arzt wird auch die Machtposition des Arztes gestärkt, ein Sachverhalt, der nach zeitgenössischem Usus keine Reflexion in Klaesis Aufsatz erfährt. Vielmehr wird dort beschrieben, wie die Feindbilder »Mutazismus und Negativismus« beim Kranken bekämpft würden und der Patient durch die Kur und ihre Folgen gezwungen sei, »verständliche Worte und Gesten zu gebrauchen, die Umgebung zu berücksichtigen und sich ihr anzupassen.«459 Mit der Unterbrechung der Symptome durch die Narkose lässt sich auch ein Sprechen des Patienten erzwingen, eine Voraussetzung, die für eine Verbesserung des Zustandes anscheinend von Klaesi vorausgesetzt wird. Ziel soll sein, dass der Patient »dauernd aufgeschlossen bleibt«460 damit eine Psychotherapie gewinnbringend sein kann. Warum von den 26 Kranken, die er 1922 mehrmals mit der neuen Kur behandelte und über deren Erfolgsgeschichten er Auskunft gibt, 23 Frauen und nur 3 Männer waren, wird im Text nicht angegeben. Es seien jedoch alles »sehr schwere Zellen- oder Wachsaalpatienten [gewesen], bei welchen jegliche in diesem Stadium möglichen Beruhigungsversuche (Arbeitstherapie, Zuspruch, Dauerbad, Zelle) versagt hatten«.461 Und an den Frauen lässt sich auch besonders deutlich und symbolträchtig zeigen, dass durch die Kur bei zwei Kranken sogar die Menstruation »zum Zeichen der gänzlichen Umstimmung«462 wieder einsetzte. An der Verordnung von Schlafmitteln hält Klaesi auch in der Waldauer Zeit noch fest. Es kamen aber auch andere Kuren zur Anwendung. Wyrsch beschreibt dies wie folgt: »Daß die Schlafkur nach Klaesi verordnet wurde, die nun den etwas preziösen Titel Dauernarkose erhalten hatte, gehörte sich. Aber nun kam die Welle der medizinischen Behandlung der Schizophrenie, man kann sagen fast eine heroische Zeit: Der Insulinschock nach Sakel von Wien, der Heilkrampf ausgelöst durch Cardiazol und andere Medikamente nach v. Meduna aus Ungarn, der Elektroschock nach Cerletti von Rom, alles innert wenigen Jahren. 457 | Klaesi (1979), S. 137. 458 | Ebd. 459 | Ebd., S. 138. 460 | Ebd. 461 | Ebd., S. 140. 462 | Ebd.
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Schreiben am Rand Die andere große bernische Heilanstalt Münsingen verschrieb sich dem Insulin und Prof. Max Müller, später Nachfolger Klaesis in der Waldau, führte dort 1937 mit Hilfe unserer Gesellschaft für Psychiatrie eine mehrtägige Tagung durch, besucht aus halb Europa, und verhalf damit dieser Behandlung zum Durchbruch. Kein Wunder für den Eingeweihten, daß die Waldau sich nun im Wetteifer der Schockbehandlung zuerst nach v. Meduna und dann nach Cerletti, zuwandte.« 463
Psychiatriehistorisch interessant ist die kritische Einschätzung Wyrschs bezüglich des (scheinbaren) Erfolgs der Kuren, wenn er mit zeitlicher Distanz schreibt: »Manche jüngere Assistenten hatten ihre Freude daran, denn nun konnten sie mit Hand und Instrument tätig sein wie ein Chirurg, und es geschah ein bald sichtbarer Erfolg, wenn auch nicht regelmäßig. Aber anhaltende Erfolge gab es doch auch. Wir, die wir Krankheitsverläufe besser kannten und nicht bloß den akuten Beginn, waren nicht so begeistert. Die Behandlung erschien zunächst etwas grobhölzig. Besonders bei dem durch Medikamente ausgelösten Muskelkrampf erlitten manche Patienten in den vermutlich wenigen Augenblicken vor Bewußtseinsverlust eine echte Todesangst und die Erinnerung daran blieb offenbar bestehen. Sie wehrten sich dann mit Händen und Füßen und Schreien gegen die notwendige Wiederholung, und dies war peinlich.« 464
Ebenfalls ist Wyrsch hoch anzurechnen, dass er als mehr oder weniger beteiligter Psychiater auch von Misserfolgen in der Behandlung berichtet. Die folgende Stelle sei hier nur am Rande zitiert, weil sie den Untersuchungszeitraum überschreitet, sie zeigt aber auf, in welche Richtung sich der therapeutische Alltag der Waldau entwickelt. Wyrsch schreibt im Rückblick mit Bezug auf die Insulinkuren und die damit einhergehenden Risiken: »Mit Insulin hatten wir also wenig Erfahrungen. Bei den Zweien, bei denen eine schlimme Folge eintrat, handelte es sich nicht um Schockbehandlung. Das eine Mal wurde einer nahrungsverweigernden Katatonen eine geringe Dosis Insulin gespritzt zur Appetitanregung, und das andere Mal wurde einer Diabetikerin in einer Internen Klinik die übliche Dosis zur Krankheitsbehandlung gegeben. Beide gerieten in einen nicht beabsichtigten Schock, der durch Zuckergabe nicht gelöst werden konnte. Bei beiden entstand das menschlich Grausigste, was man sich vorstellen kann: Ein Lebewesen, bei dem die vegetativ gesteuerten Funktionen spielten, aber ohne jede psychische oder geistige Äußerung. Erst nach Wochen trat der Tod ein. Apallisches Syndrom hat Ernst Kretschmer diese Zustände genannt. Grünthal hat sie hirnanatomisch beschrieben.« 465
Mit einer Patientin, Nelly G. (1902–1940), setzt sich Grünthal in einem Aufsatz mit dem Titel Über eine ungewöhnliche Schädigung der Großhirnrinde durch Insulin von 1941 auseinander und auf diesen dürfte sich Wyrschs Hinweis beziehen. Die Patientin kann als Beispiel für die Kuren-Hochkonjunktur betrachtet werden, denn an ihr wurden mehrfach Schlaf- und Insulinkuren sowie Cardiazol- und Azomankuren ausprobiert, jedoch erfolglos. Nach der Verabreichung einer Dosis Insulin, das ›nur‹ 463 | Wyrsch (1977), S. 496. 464 | Ebd. 465 | Ebd., S. 497.
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zur Beruhigung der Kranken hätte dienen sollen, verfiel Nelly G. in ein Koma mit besagtem Apallischem Syndrom und verstarb nach 19 Wochen in diesem Zustand.466 Klaesis psychiatrischer Erfolg mit der ›Dauernarkose‹ oder der ›Schlafkur‹ blieb eher mit dem Burghölzli verknüpft, in der Waldauer Zeit gelangen ihm keine großen wissenschaftlichen Arbeiten mehr. Von seinen literarischen Arbeiten seien hier stellvertretend das Stück Christus – dramatische Messe in drei Abschnitten und einem Aufzug von 1944 und der Band Huldigung mit Sonetten, erschienen 1947, erwähnt. Zur unkommentierten Illustration dienen zwei Strophen aus dem ebenfalls als Sonett komponierten Vorwort des Bandes Huldigung. Es beginnt wie folgt: Hinaus aus meiner Werkstatt, unter Leute! Schon lange wollt’ ich euch von hinnen räumen, Platz machen neuem Stoß und Überschäumen Und Schaffensgut, das mir die Stunde beute. Und ist auch deutsches Wort geknebelt heute Und wummert unter zuchtbezweckten Zäumen, Entrindet, ausgehölt Ermannung, Bäumen – Hinaus, hinaus in Opferschaft und Meute!467 Wie Klaesi sich selbst als Autor einschätzte, wird in einer von Giorgio Pilleri überlieferten Anekdote deutlich: Klaesi habe nämlich jeweils von »ich und Goethe« gesprochen.468 Seine dramatischen Werke habe er jeweils den Assistenten in seiner Dienstwohnung mit viel Pathos vorgetragen und die Angestellten seien zu Beifall gezwungen gewesen.469 1933 also kam Klaesi in die Waldau und mit dem Weggang von Speyrs musste dieser auch als Sekretär der Aufsichtskommission ersetzt werden. So wird der Jahresbericht neu vom Kammerschreiber des Obergerichts, Roos, geschrieben. Sein erster Bericht enthält auch eine Würdigung von Speyrs: »In das Berichtsjahr, und zwar auf den 31. März, fällt der Wegzug unseres hochverdienten Direktors der Waldau, Herrn Prof. Dr. von Speyr, der während über 50 Jahren seine volle Kraft in den Dienst der Anstalt gestellt hatte. Im Jahre 1882 war er zum Sekundärarzt ernannt worden; im Jahre 1890 wurde er nach dem Tod des Herrn Direktor Schärer an dessen Stelle gewählt, nachdem er ihn schon vorher längere Zeit während seiner schweren Krankheit vertreten hatte. Die Wahl war eine außerordentlich glückliche. Herr Prof. von Speyr besaß alle Eigenschaften, welche zur Erfüllung einer Aufgabe, wie er sie da auf sich nahm, notwendig sind. Ihm eigneten Arbeitsfreudigkeit, Pflichttreue, Ordnungssinn und weiter Blick. Unter seiner Leitung erfuhr
466 | Siehe Grünthal (1941). 467 | Klaesi (1947), S. 7. 468 | Pilleri (2010), S. 138. Zu Klaesis Selbstverständnis siehe hier auch die Einschätzung Glausers in Kapitel 4.6. 469 | Ebd., S. 140. Pilleri würdigt Klaesi aber als der »originellste und bedeutendste Direktor« der Waldau. Ebd., S. 141.
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Schreiben am Rand die im Anfang zur Aufnahme von 250 Patienten eingerichtete Anstalt bald eine große Entwicklung. Die Patientenzahl stieg vom Jahre 1855 bis zum Jahr 1933 auf rund 1000 Insassen. Herrn Prof. von Speyr ganz beurteilen kann aber nur, wer neben den schon genannten Fähigkeiten seine Innenseiten kennenlernte. Er war in des Wortes bestem Sinn eine Edelnatur. Er hatte ein warmes und fühlsames Herz. Er nahm innigen Anteil am Geschick seiner Mitmenschen, vor allem der ihm anvertrauten Patienten und dann auch seiner Mitarbeiter, der Ärzte und des Personals. Die Kranken fühlten das und waren ihm dankbar und vertrauten sich ihm gerne an. Die Ärzte, die Wärter und überhaupt die Beamten und Angestellten verspürten sein Wohlwollen und stellten sich willig unter seine Leitung und folgten gerne seinem Vorbild. Nicht vergessen sei Herrn Prof. von Speyr seine Tätigkeit als Sekretär der Aufsichtskommission der bernischen Heil- und Pflegeanstalten. Seine Protokolle waren musterhaft, ohne Weitschweifigkeit und doch klar und alles Wesentliche enthaltend. Und dann sein nie versagendes Gedächtnis, das in jeder Frage, die irgendwie Vergangenes oder auch Außenstehendes berührte, ihn zur Auskunft befähigte. Und dazu seine liebenswürdige Art! Wer das Glück hatte, mit ihm zusammenzukommen, mußte ihn liebgewinnen. Am 1. April 1934 ist Herr Prof. von Speyr nach langer, ein halbes Jahrhundert umspannender, treuer und gewissenhaft erfüllter Arbeit aus der Waldau geschieden. Er hat sich bleibende Verdienste nicht nur um die Waldau, sondern um das gesamte Irrenwesen des Kantons Bern erworben. Er darf versichert sein, daß er den Dank aller derer mitnimmt, die ihn an der Arbeit sahen und sein großes Können und seine liebevolle Hingabe erfahren durften. Am 1. April hat der neu gewählte Direktor der Anstalt Waldau und zugleich Inhaber des Lehrstuhles für Psychiatrie an der Universität, Herr Prof. Dr. J. Kläsi, seine Amtstätigkeit aufgenommen.« 470
Während die Würdigung hier eher neutral bis positiv gesinnt verfasst ist, wird in Klaesis erstem Bericht innerhalb desselben Jahresberichtes deutlich, was Klaesi von seinem Vorgänger hielt: »Herr Professor von Speyr, der im Jahresbericht 1932 von der Waldau Abschied nahm, hat mir am 1. April des Berichtsjahres die Leitung der Anstalt übergeben. Ich bin es mir als sein Nachfolger schuldig, mich auch an dieser Stelle vor der Unsumme von Arbeit, Mühen und Sorgen, die er zuerst als Sekundärarzt und dann als Direktor seit 1882 der Waldau gewidmet hat, dankbar und ehrfurchtsvoll zu verneigen. Der Uneingeweihte hat keinen Hochschein von dem ungeheuren Fleiß und der Arbeitskraft, die nötig waren, um eine Anstalt von 1000 Betten und mehr so durch alle Fahrnisse zu führen und zu leiten, wie Herr Prof. von Speyr es getan, hat er doch nicht nur wie ein treubesorgter Hausvater alle ankommenden Kranken selber empfangen und aufgenommen, alle ein- und ausgehende Post, die Briefe der Kranken eingeschlossen, geprüft und weitergeleitet, alle Krankenbesucher beraten und gesprochen, um ja über alle Angelegenheiten seiner Schutzbefohlenen bis in die kleinste Einzelheit unterrichtet zu sein und als Sekretär der Aufsichtskommission zu allen Sitzungen selber eingeladen und alle Protokolle und andern Aktenstücke eigenhändig abgefaßt, sondern er hat auch einen großen Teil der Verwaltungsarbeit geleistet, indem er die Kostengarantien von Gemeinden und Angehörigen selbst eintrieb. Zu ganz besonderm Dank bin ich ihm verpflichtet, weil er in weitblickender und rücksichtsvoller Weise eine Reihe von Geschäften unerledigt ließ, um seinen Nachfolger möglichst in den Stand zu setzen, sich so einzurichten, wie dieser es für gut fand und ihn also nicht noch kurz vor Torschluß vor unliebsame und unabänderliche Tat470 | Jb 1933, S. 5 f.
Geschichte, Klinikalltag und Akteure sachen zu stellen. Wenn die Umstellung der Waldau auf die Aufgaben einer Klinik und einer stets aufnahmefähigen großen Heil- und Pflegeanstalt in der Weise möglich war, wie bis jetzt geschehen, so ist das zu einem wesentlichen Teil auch das Verdienst Herrn von Speyrs, der den Lösungen, obschon sie in der Luft lagen, in keiner Weise vorgegriffen hat.« 471
Vor allem aus dem letzten Satz lässt sich eine bösartige Abrechnung mit von Speyr nicht übersehen, gleichzeitig nimmt eine Eigeninszenierung des modernen, tatkräftigen Psychiaters und Direktors ihren Anfang, die in unterschiedlichsten Bereichen sichtbar wird. Die Waldau wird nicht nur in eine Klinik und eine Anstalt aufgeteilt, sie wird auch straffer hierarchisiert. In den Jahresberichten wird dies etwa dadurch ersichtlich, dass Assistenzärzte neu in unterschiedlichen Klassen aufgeführt werden.472 Wyrsch schreibt später, man habe Ärztetitel wie ›Hilfsärzte‹ oder ›Gastärzte‹ neu erfunden, um Ärzte wie den Hirnanatomen Ernst Grünthal aufnehmen zu können, die wegen des »Rasse-Aberglaubens ihre recht verantwortungsvollen Stellen an deutschen Kliniken verlassen mußten«.473 Ernst Grünthal (1894–1972), dessen Forschen und Wirken in der Waldau Basis einer größeren Untersuchung darstellen würde,474 kann hier nur in einem kleinen Exkurs erwähnt werden: Grünthal stammte aus dem oberschlesischen Beuthen, heute polnisch Bytom, arbeitete nach seinem Studium bei Kraepelin in München, gründete 1925 in Würzburg ein neuropathologisches Labor und habilitierte sich zwei Jahre später ebendort mit seiner Arbeit Klinisch-anatomisch vergleichende Untersuchungen über den Greisenblödsinn. 1934 musste er Deutschland aufgrund seiner jüdischen Abstammung verlassen und kam nach Bern. Ähnlich war es Felix Georgi ergangen, der von Breslau, wo er eine außerplanmäßige Professur inne hatte, in die Schweiz kommend, die Leitung der Heilanstalt Bellevue in Yverdon übernahm. Um dem 1893 in der Schweiz geborenen Georgi den Aufbau eines serologischen Institutes in Yverdon zu ermöglichen, sprach ihm die New Yorker Rockefeller Foundation Geld zu, das aber an eine Universitätsklinik gebunden war.475 Klaesi übernahm formal dieses Geld, Georgi bekam in Yverdon 471 | Jb 1933, S. 17. 472 | Es heißt dann etwa: »Als Assistenzärzte II. Klasse sind im Berichtsjahr gewählt worden: Dr. med. Hedwig Plüß von Zofingen, Dr. med. et phil. Herbert Jancke, Privatdozent in Bern, Dr. med. André Favre von Cormoret und als Assistenzärzte IV. Klasse med. prakt. Juon von Albertini von Chur und Dr. med. Eugen David von Gossau (St. Gallen). Zum Assistenzarzt III. Klasse wurde befördert Dr. med. Yvonne Baumberger von Koppigen und zum Assistenzarzt II. Klasse med. prakt. J. von Albertini. Der vakant gewesene Posten einer Direktionssekretärin wurde von Elly Herzog von Reckingen besetzt.« (Jb 1933, S. 23). 473 | Wyrsch (1977), S. 493. 474 | So schreiben etwa Kalus, Bondzio und Strik (2003), S. 299, über Grünthals Sammlung: »Grünthal hinterließ mit mehr als 2000 auch klinisch gut dokumentierten Fällen in Bern eine der grössten Gehirnsammlungen Europas, die zur Zeit Gegenstand von retrospektiven Untersuchungen mit modernen Methoden ist.« Anscheinend ist Grünthal jedoch so unbekannt, dass die Abbildung seines Porträts auf der Titelseite des Nervenarztes erklärt werden muss. Grünthals Werk psychiatriehistorisch und mit besonderem Fokus auf seine Vermittlungen zwischen Geistes- und Naturwissenschaften zu untersuchen, ist bis heute ein Desiderat geblieben. 475 | Siehe die entsprechende Korrespondenz im Staatsarchiv des Kantons Bern, St.A.B. BB III b, 566. Für den Hinweis auf diese Akten danke ich Kathryn Schoefert.
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die gewünschten Instrumente, die als Eigentum der Waldau galten, und Klaesi ließ gleichzeitig in der Waldau ein hirnanatomisches Institut durch Grünthal einrichten, das dieser 31 Jahre lang leiten sollte. Grünthal erhielt 1944 die Venia Legendi für Psychiatrie und Hirnanatomie an der Berner Universität. Er beschäftigte sich mit dem Aufbau des Gehirns bei Mensch und Tier und im Besonderen beim Delphin, sodass er und sein Nachfolger, Giorgio Pilleri, die Waldau zu einem »bedeutenden Zentrum der Delphinforschung«476 machten. Pilleri führte diese Forschung weiter und arbeitete auch mit Walfischen. In seinem Text Als Hirnanatom auf Walfangexpedition von 1966 schreibt Pilleri: »Das Berner Hirnanatomische Institut besitzt, neben seinen umfangreichen Sammlungen aus der menschlichen Neuroanatomie und Neuropathologie, die größte und bedeutendste Sammlung von Walhirnen und Walaugen der Welt.«477 Auch in seiner Autobiografie Plaudereien aus der medizischen Schule von 2010 blickt er auf die Zeit in der Waldau zurück.478 Grünthal beschäftigte sich außerdem mit Familienforschung, etwa in seinem Werk Albrecht von Haller, Johann Wolfgang Goethe und ihre Nachkommen von 1965. Darin zeichnet sich Grünthal als bemerkenswert sensibel gegenüber Überbewertungen von biologischen und pathologischen Gesichtspunkten in der Familiengeschichtsforschung aus, obwohl dies sein wissenschaftlicher Hintergrund war. Grünthal schreibt über das Schreiben der Ärzte: »Ärzte, die sich mit kulturell hervorragenden Familien befassen, unterliegen dieser Gefahr [nämlich der einseitigen Betrachtungsweise, Anm. M.W.] besonders leicht, weil sie ihre medizinischen Gesichtspunkte meist bevorzugend in den Vordergrund stellen. Sie gehen deshalb an die Familienforschung oft mit mangelnder Kenntnis des gesamten biographischen Materiales, das sie unzulänglich oder unkritisch auslesen, heran. Dazu tritt häufig noch eine voreingenommene medizinische Hypothesenbildung, die abhängt von den gerade in Mode stehenden naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und Krankheiten, denen die Tatsachen dann von vornherein angepaßt werden.« 479
Grünthal selbst forderte, man müsse unterschiedliche Quellen, wie Briefe, Tagebücher und ähnliches Material zuziehen und er ließ in der Arbeit auch eine (nicht von ihm selbst vorgenommene) Schriftanalyse der behandelten Persönlichkeiten einfließen. In vielen kürzeren Beiträgen setzt sich Grünthal auch mit dem Werk Goethes und dem Zusammenhang zwischen Geistes- und Naturwissenschaften auseinander, was den Schreibort Waldau um eine Perspektive bereichert, die allerdings den hier gesetzten Zeitraum überschreitet. Zurück zu Klaesis Umstrukturierungen um 1933, ist zu betonen, dass nun auch die Pfleger stärker in Hierarchien eingebunden werden.480 Das Personal wird von 476 | Kalus/Bondzio/Strik (2003), S. 299. 477 | Pilleri (1966), S. 60. 478 | Siehe insbesondere das Kapitel In der Schweiz mit Unterkapiteln über Jakob Klaesi, Max Müller oder das Rockefeller-Laboratorium. Pilleri (1966), S. 125–156. 479 | Grünthal (1965), S. 8. 480 | »Um die Differenzierung der Klinik und ihre Loslösung vom Betrieb der übrigen Anstalt auch durch die Verselbstständigung des Pflegepersonals auszudrücken, wurden Vize-Oberpfleger und -pflegerin der Klinik betriebstechnisch in den Rang des Oberpflegers und der Schwester-Oberin gesetzt.« (Jb 1933, S. 23).
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Klaesi deutlich aufgestockt.481 Für dessen Auswahl werden gemäß der Darstellung Klaesis höhere Anforderungen gestellt, neuerdings auch hinsichtlich der sprachlichen Fähigkeiten. Die sechsmonatige Probezeit werde zudem stärker kontrolliert, schreibt Klaesi: »Wer sich nicht eindeutig darüber ausweist, daß er das Zeug zu einem ausgezeichneten Pfleger oder Pflegerin hat, wird entlassen. Zum Teil wegen dieser strengeren Handhabung der Probebedingungen, aber auch weil alle Bewerber und Bewerberinnen die deutsche und französische Sprache vollständig beherrschen müssen, was allein schon eine gewisse Auslese bewirkt, haben wir heute ein Pflegepersonal, das allen Anforderungen des Berichtsjahres gewachsen war, und auf das wir stolz sind.« 482
Als optische Markierung der Veränderung wird auch die uniformähnliche Arbeitskleidung bei den Pflegern eingeführt, deren Stoff musste vom Personal geliefert werden.483 Dieser Arbeitskleidung schreibt Klaesi auch eine therapeutische Wirksamkeit zu: »Sie sind in der Klinik nicht ganz gleich wie in der Heil- und Pflegeanstalt, damit auch mit solcher Äußerlichkeit die Besonderheit der Aufnahmestation und Unterrichtsanstalt betont werde. Welche Bedeutung die Tracht für das äußere Bild der Anstalt wie für die Beziehungen zwischen Pflegern und Kranken und für die therapeutische Suggestion hat, brauche ich nicht zu erörtern, da man uns in den meisten Anstalten mit der Einführung derselben vorangegangen ist, und die vorzüglichen Erfahrungen, die man überall machte, bereits bekannt sind.« 484
Neben der Betonung des Neuen, das in diesen ersten Berichten Klaesis so deutlich hervorgehoben wird, geben seine Berichte auch einen Einblick in die Waldau, wie sie ein kritischer Fachmann, der von außen kommt, betrachtete: »Alle Abteilungen waren stark überfüllt, die Behandlung dadurch naturgemäß behindert und die Leitung erschwert. Ruhige Abteilungen waren von unruhigen kaum oder gar nicht zu unterscheiden. Auf den Zellenabteilungen schliefen 3 bis 4 Kranke in einer Zelle. Klar, daß eine Neuordnung in erster Linie hier angreifen mußte, indem eine Durchgangsstation geschaffen wurde, wo alle Neueintretenden aufgenommen, untersucht und von veralteten, chronischen und so oft einen nachteiligen Eindruck machenden Fällen nach Möglichkeit getrennt behandelt werden konnten. Leute, die man schon besser kannte, deren Zustand eine weniger strenge Überwachung gestattete oder gar wünschbar machte, und die in Werkstätten und in der Landwirtschaft beschäftigt werden konnten, durften nicht mit solchen zusammenbleiben, 481 | »Auch die Pfleger und Pflegerinnen wurden, wie die einschlägige Tabelle zeigt, beträchtlich vermehrt, nicht nur zur Bildung von Dreiergruppen für Land- und Gartenarbeiten und zu bessern Führung der Außenkolonien, sondern ganz besonders für die Klinik, wo das heutige Verhältnis des Personalbestandes zum Patientenbestand (1:3 und 2:7) unser Stolz ist und, wie der Erfolg zeigt, alle Gewähr dafür bietet, daß niemand mehr unbemerkt, gelangweilt oder verlassen herumstehen kann, weil überall Pfleger und Schwestern zur Hand sind, um den, der sich absondern will, in sorgsame Einzelhut zu nehmen.« (Jb 1933, S. 21). 482 | Jb 1933, S. 21. 483 | Ebd., S. 8. 484 | Jb 1934, 19 f.
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Schreiben am Rand deren Untersuchung noch nicht abgeschlossen war oder aus andern Gründen noch eine aufmerksame Überwachung und Pflege brauchten. Dazu kamen die Bedürfnisse der Klinik als Unterrichtsanstalt, die erforderten, daß möglichst viele frische Fälle aufgenommen und für die Vorlesung nutzbar gemacht werden konnten. Glücklicherweise bedurfte es nur eines Entschlusses unsererseits, die gewünschte Umlagerung vorzunehmen, denn die notwendigen Gebäulichkeiten waren alle da und dazu noch in zweckmäßigster Form.« 485
Implizit sagt auch dieser Berichtsausschnitt wieder, dass die Änderungen in der Waldau nicht nur längst fällig, sondern zumindest gebäudetechnisch relativ einfach zu bewerkstelligen waren. Es folgen deshalb einige kleinere bauliche Veränderungen und Verschiebungen. Die Korberei wird aus der Klinik ins Hauptgebäude transferiert, die Pensionärabteilung erweitert und mit Wachsaal und Bad versehen, die Zellenabteilung modernisiert und mit »Klosetanlagen«486 versehen. Eine automatische Telefonanlage wird zudem eingeführt sowie eine Renovation und Vergrößerung der Apotheke angestrebt. Die interne Dreiteilung der Waldau ging auch mit neuen Strukturen in der Organisation des Ärztepersonals einher: »Der sogenannte Neubau mit seinen geräumigen lichtvollen Sälen und vielen Zweier- und Dreierzimmern wurde zur Aufnahmestation und Klinik gemacht und die Pensionärabteilung daraus entfernt und in das Hauptgebäude verlegt, das zur Heilanstalt wurde, Althaus, Pfrundhaus und die umliegenden Kolonien samt Familienpflege aber zur Pflegeanstalt. Jede der drei Anstalten wurde einem leitenden Arzt (Oberarzt) unterstellt, der mit weitreichenden Vollmachten und Befugnissen ausgestattet und für die Aufnahmefähigkeit seiner Station verantwortlich gemacht wurde, die Heilanstalt Dr. Fankhauser, die Pflegeanstalt Dr. Walther und die Klinik Dr. Weber. Zur Orientierung über alle Neuaufnahmen und deren Behandlung, sowie zur gegenseitigen wissenschaftlichen und ärztlichen Förderung wurden sogenannte ›Gemeinsame Untersuchungen‹ eingerichtet, an denen alle Anstaltsärzte teilnehmen, und die drei mal wöchentlich in der Klinik stattfinden.« 487 485 | Jb 1933, S. 18. 486 | Ebd., S. 19. 487 | Ebd., S. 18. Dass diese Teilung später auch kritisch betrachtet wurde, zeigt eine Passage aus Müllers Erinnerungen, in der er seinen Antritt in der Waldau 1954 beschreibt: »Da war z.B. die scharfe Trennung zwischen dem Neubau und der Heilanstalt im Hauptgebäude, seinerzeit […] eine gute Idee Klaesis, deren Nachteile nun aber im Laufe der Jahre immer deutlicher zutage traten. Dadurch, daß beide Komplexe je einen gleichgestellten Oberpfleger und eine gleichgestellte Oberschwester hatten, waren sie zu fast völlig unabhängigen Organismen geworden, die einander befehdeten. Der Neubau betrachtete sich als höherrangig. Jede Versetzung einer Schwester oder eines Pflegers in die übrigen Abteilungen wurde als Deklassierung empfunden, so daß es die größten Schwierigkeiten gab, wenn man aus noch so triftigen Gründen einen Tausch vornehmen wollte. Diese Wertverminderung der Heil- und der Pflegeabteilungen in den Augen des Personals wirkte sich naturgemäß auch auf die Patienten aus, so daß auch sie die Verlegung in das Hauptgebäude als Trauma erlebten, sich dagegen bis zum äußersten wehrten und der Neubau als Aufnahmeabteilung, auch abgesehen vom Platzmangel auf den anderen Abteilungen, deshalb eine unmöglich hohe Zahl von chronisch Kranken beherbergte.« Müller (1982), S. 436. So wie Klaesi 1933 hebt hier auch Müller die Vorteile der eigenen Erneuerungen im Gegensatz zu einem als veraltet betrachteten Systems hervor.
Geschichte, Klinikalltag und Akteure
Mit der Übernahme der sogenannten »Gemeinsamen«, wie Bleuler sie im Burghölzli um die Jahrhundertwende berühmt gemacht hatte, zeigt Klaesi auf, dass er die psychiatrische Arbeit auch inhaltlich neu gestalten will. In der »Gemeinsamen« werden Fälle im Kollektiv besprochen, es ist ein Ort des Wissensaustauschs, aber natürlich auch einer der Wissens- und Machtdemonstrationen innerhalb der Ärzterangordnung.488 Der hier aufgrund seiner Bedeutung ausgiebig zitierte Jahresbericht von 1933 enthält, wie ersichtlich wurde, sehr viel Eigeninszenierung und Klinikpropaganda des neuen Direktors. Wie es bei diesen Änderungen, die doch massiv gewesen sein mussten, um das Befinden der Patienten stand, kommt praktisch nicht zur Sprache, es gibt lediglich eine Erwähnung am Rande, dass sich die Patienten angeblich in der neuen Situation wohlfühlten. In diesem Zuge wird noch einmal erwähnt, wie stark sich das Bild der Abteilungen verändert habe: »manches vom alten Cachet ging verloren und ist einem ausgesprochenen Spitalcharakter wie in der Klinik oder einem ebenso deutlich werkstättemäßigen wie in der Heilanstalt gewichen. Die Kranken fühlen sich aber wohl dabei, und das Querulieren ist noch seltener geworden, als es schon war.«489 Wie wohl sich Patienten fühlen, wird hier an der Lautstärke der Abteilungen gemessen. Dass die Umstrukturierung aber noch ganz andere Folgen für viele Patienten hatte, wird in Klaesis Programm zur Platzschaffung erwähnt: »Um alle Abteilungen möglichst rasch zu entlasten und für die Umlagerung der Kranken Platz zu bekommen, wurde der ganze Krankenbestand gesichtet und alsbald eine größere Anzahl von beruhigten und gebesserten Kranken, welche die Irrenanstalt nicht mehr dringend benötigten, entlassen, sei es in Armenanstalten, in Krankenhäuser, in Pflegefamilien oder zu den eigenen Angehörigen. 19 Männer und Frauen nahm uns die städtische Irrenstation Holligen ab, da, sobald wir Platz hatten, die Frischerkrankten aus der Stadt uns zugewiesen und so in der Irrenstation Betten frei wurden. Zudem konnten wir auch in unser eigenen Häusern Platz schaffen, indem wir die Kolonien Röhrswil, Rothaus und Kreuzweg ausbauten und sie stärker besetzten. So kam es, daß wir nie eine Anmeldung zurückweisen mußten, ja sogar während des ganzen Berichtjahres trotz der von 195 auf 419 gestiegenen Aufnahmeziffer sowohl auf der Männer- wie auf der Frauenseite der Klinik täglich noch 10–15 Betten frei hatten. […] Dabei wurden zur Erzielung einer größern Bewegungsfreiheit in Wachsälen und unruhigen Abteilungen viele freigewordene Betten gar nicht mehr besetzt, sondern eingezogen, sodaß 488 | Über die »Gemeinsame« im Burghölzli unter Bleuler schreibt Wyrsch in seiner Selbstdarstellung: »Es war zwar nicht ausdrücklich gewünscht, aber wurde vorausgesetzt, daß jeder Arzt etwas über die rund 400 Patienten wußte, auch über jene, mit denen er ärztlich meist nichts zu tun hatte. Etwas darüber, was ihren Zustand betraf und was man ihnen zutrauen durfte, sollte jeder wissen. Um dies zu erfahren hatten wir den täglichen Rapport und dazu kam mehrmals wöchentlich die ›Gemeinsame‹. In Gegenwart aller Ärzte berichtete zunächst der untersuchende Assistent über seinen Patienten. Dann wurde der Kranke geholt und setzte sich neben Bleuler auf das abgenutzte Ledersofa, fast wie gleich zu gleich. Immer war zu bewundern, wie unbefangen und geschickt in Rede und Widerrede, gar nicht nach Symptomen fahnend und nicht kühn in der Seelentiefe lotend, der ›Chef‹ gerade das ans Licht brachte, was wir mit Fahnden und Loten nicht gefunden. Mit einigen Worten für die Krankengeschichte beurteilte er den Zustand oder ließ die Diagnose einstweilen noch offen, aber nannte was am besten vorkehren.« Wyrsch (1977), S. 478. 489 | Jb 1933, S. 20.
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Schreiben am Rand bei Jahresschluß beispielsweise in den Zellenabteilungen der Heilanstalt nur noch halb soviel Kranke untergebracht waren als früher, und in den Wachsälen die ehemals in den Gängen stehenden Betten, die stets in unangenehmer Weise den Eindruck der Überfüllung erweckten, ganz verschwanden.« 490
Zur hier erwähnten Anzahl leer stehender Betten schreibt Wyrsch später: »Daß jeden Abend, sowohl auf der Männer- wie auf der Frauenseite, jeweils zehn leere Betten für die Ankömmlinge bereit stunden, wie Klaesi in seinem ersten Jahresbericht geschrieben hatte, war zwar nicht so buchstäblich zu nehmen; dies darf man nachträglich wohl bekennen.«491 Die neue Waldau Klaesis ist demzufolge eine abermals erschriebene, eine, die er sich in seinen Berichten zurechtlegte und in der es bestimmt mehr Platz gab als in derjenigen von Speyrs, aber vielleicht auch nicht ganz so viel, wie Klaesi gerne betonte. Wie die Folgen der ›Sichtung‹ der Patienten und Entlassungen bei ihnen selbst und den betroffenen Angehörigen aufgenommen wurde, ist kein Thema des Jahresberichts. Eine auch nach außen spürbare Veränderung war die Kürzung der Besuchszeiten für die Angehörigen durch Klaesi: »Um den Arbeitstag möglichst ergiebig zu gestalten und nebenbei auch die Ärzte zu entlasten, wurden die Besuchszeiten beschränkt: statt dreimal wöchentlich von 9 ½ – 11 ½ und von 14–16 Uhr finden Besuche jetzt noch Dienstags und Donnerstags von 10 ½ – 11 ½ und Sonntags von 14–16 Uhr statt.« 492
Als größere Veränderung wurde die Bewirtschaftung einer Alp im Obersimmental eingeführt. Dort hüteten zwölf Patienten mit zwei Pflegern das Vieh und betätigten sich im Straßenbau. Klaesi schreibt darüber: »Der Versuch gelang so gut, daß auch diejenigen Pfleglinge, welche von den unruhigen Abteilungen gekommen waren, und deren Versetzung unter andern Umständen hätte ein Wagnis bedeuten können, sich so vortrefflich verhielten, daß es einem leid getan hätte, sie wieder zu internieren. Sie wurden ausnahmslos in die neueröffnete Anna Müller-Kolonie in Schönbrunnen verbracht. Die Gründung derselben bedeutet eine zweite Neuheit in unserem Anstaltsbetrieb.« 493
Die Anna-Müller-Kolonie wird hier als Schreibort noch einmal Thema sein, wenn es um Friedrich Glauser als Internierten geht (siehe Kapitel 4.6). Die 1906 verstorbene ehemalige Oberschwester Anna Müller hatte ihr Vermögen der Anstalt überschrieben. Daraus wurde eine Stiftung gegründet und mit dem Geld eine »Parzelle von 25 Jucharten Ödland« gekauft, dazu eine »Baracke, die zuletzt für Eisenbahnarbeiter an der Linie Bellinzona-Rivera gestanden hatte.«494 Diese Baracke wurde renoviert und hatte schließlich Platz für 30 Pfleglinge und drei Pfleger, schreibt Klaesi im Jahresbericht. Die Bewirtschaftung der Kolonie, also die Urbarmachung 490 | Jb 1933, S. 19. 491 | Wyrsch (1855), S. 87. 492 | Jb 1933, 24 f. 493 | Jb 1933, S. 25. 494 | Ebd.
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des Landes und die Viehhaltung, sollte selbsttragend geführt werden. Während des Zweiten Weltkrieges muss sich diese Kolonie sehr gut rentiert haben, eine Tatsache, die Müller in seinen Erinnerungen deshalb kritisiert, weil die dort arbeitenden Patienten für ihre Arbeit nicht entschädigt wurden.495 Veränderungen erfährt mit Klaesi auch die Schreibweise der Jahresberichte, was insbesondere am Vokabular ersichtlich wird. Es sei in der Kolonie so, schreibt er etwa, dass sich »ein ausgesprochener und therapeutisch höchst wertvoller Korpsgeist entwickelt, und die Leute auf ihre Aufgabe als Meliorationstruppe und auf ihre Unabhängigkeit sehr stolz sind.«496 Mit der stärkeren Hierarchisierung in der Anstaltsorganisation geht das militärische Vokabular Klaesis einher, aus dem auf dessen Führungsstil geschlossen werden kann.497 Ein konkretes Bild seines Umgangs mit den Patienten ergibt sich aus den Einzelbetrachtungen in Kapitel 4.5 (Walser) und 4.6 (Glauser). Was die Jahresberichte nicht thematisieren, ist eine deutliche Veränderung in einem zentralen Schreibverfahren der Anstalt, der Aktenführung. Wie sich zum Beispiel an der Akte Glausers zeigen lässt, wurden mit Klaesi neue Aktenumschläge eingeführt, die sich durch eine gezieltere Schreibführung auszeichnen und einen verstärkten Formularcharakter haben. Im Abschnitt Hereditäre Belastung etwa sind Felder zu verschiedenen Familienmitgliedern auszufüllen und auch die Aufnahme des somatischen Zustandes des Patienten wird durch Vorgaben geprägt (Abb. 27).498 Schließlich ist es Klaesis Wille zur Veränderung zu verdanken, dass endlich auch im Umkreis der Waldau die Privat- oder Familienpflege stärker gefördert wurde. Von Speyr hat sie in seinen Berichten und Schriften zwar oft erwähnt, allerdings immer mit einer großen Skepsis, wie ein Ausschnitt aus seinem Vortrag mit dem Titel Neue Aufgaben der Bernischen Irrenpflege von 1894 belegt: »Durch zwei gerichtliche Fälle des letzten Jahres habe ich auch erfahren, wie Geisteskranke hie und da in Privatpflege versorgt werden. Im einen Falle ist seiner Zeit ein Mann vom Schwurgerichte bestraft worden, weil er, ein gefürchteter Säufer, der selber nichts hatte, ein bei ihm verkostgeldetes epileptisches blödsinniges Mädchen mit seiner Frau auf das Roheste mißhandelt hatte. Im andern Fall ist ein Mann, ebenfalls arm und nicht von gutem Rufe, bestraft worden, weil er eine ihm anvertraute Schwachsinnige mißbraucht hatte.« 499
495 | Siehe Müller (1982), S. 440. 496 | Jb 1933, S. 26, Hervorhebungen M. W. 497 | Zur Haltung Klaesis gegenüber den Patienten schreibt Müller, der Klaesi gegenüber allerdings von Ressentiments geprägt war und der in seinen Erinnerungen natürlich auch eine gewisse Selbstinszenierung pflegt: »An innern Reorganisationen [bei Müllers Antritt in der Waldau, 1954, Anm. M.W.] ging es zunächst, wie bereits erwähnt, um eine schrittweise Lockerung der noch ganz in dem Geiste der 20er Jahre, als Klaesi Oberarzt des Burghölzli war, befangenen Haltung den Patienten gegenüber. Die ›Einsperrung‹ der Kranken, die übertriebenen Sicherungsmaßnahmen, die Gewohnheit, Gewalt mit Gewalt zu beantworten, die ›schwarze‹ Apomorphinspritze, der Strafcharakter vieler Maßnahmen mußten abgeschafft werden.« Müller (1982), S. 445. 498 | Siehe dazu auch Kapitel 4.1. 499 | von Speyr (1894), S. 7 f.
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Abb. 27: Titelseite der Akte, wie sie bei Glausers Eintritt im Mai 1936 in Gebrauch war.
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Von Speyrs Argumente dahingehend, weshalb die Familienpflege nicht gut organisiert werden könne, scheinen oft etwas fadenscheinig, so wenn er betont, die Wohnungen in der Umgebung seien zu teuer,500 oder es fehlten die »passenden Kranken«.501 Klaesi nun fand im gleichen Umfeld sowohl geeignete Plätze wie auch Patienten, und er setzte sich für die Einrichtung eines Fürsorgedienstes ein. Was jahrelang gefordert worden war,502 konnte 1937 eingeführt werden: »Eine Neuerung bedeutet für unsere Anstalt auch die Einrichtung des Fürsorgedienstes und der Stellenvermittlung durch eine Fürsorgerin. Als solche wurde Frl. Verena Müller angestellt.«503 Die Stelle der Fürsorgerin war an einem Schnittpunkt zwischen Anstalt und Außenwelt angesiedelt und sorgte für einen regelmäßigen Austausch der beiden ›Welten‹. Dadurch wurde eine gewisse Öffnung der Anstalt vorangetrieben. 1934 wurde von Klaesi auch eine alte Forderung seines Vorgängers umgesetzt und eine psychiatrische Poliklinik in der Stadt eröffnet, deren Leiter Jakob Wyrsch wurde.504 Auch die in der Waldau stattfindende universitäre Lehre erweiterte Klaesi: »Einen Ausbau erfuhr auch der psychiatrische Unterricht. Dank dem Entgegenkommen und der Mitwirkung der Fakultät konnten die studienplanmäßigen Stunden für den klinischen Unterricht von drei auf vier festgesetzt und für den poliklinischen Unterricht zwei Vorlesungsstunden pro Woche anberaumt werden; zudem wurden die Stunden vom Samstagsnachmittag auf einen andern Wochentag verlegt. Zur Erleichterung des Besuches der jetzt ausnahmslos in der Waldau stattfindenden klinischen Vorlesungen wurde mit Erfolg ein Autobusdienst eingerichtet, der die weite Fahrt aus der Stadt nach der Waldau auf 10 Minuten reduziert. An Untersuchungs- und Unterrichtsmaterial wurden verschiedene Instrumentarien und Apparate und ein neues Epidiaskop angeschafft.« 505
1937 konnte dann unter der Leitung von Arnold Weber im Neuhaus eine Kinderbeobachtungsstation eröffnet werden.506 500 | Im Bericht von 1902 liest man: »Da die Wohnungen um die Waldau herum wegen der Nähe der Stadt Bern selten und teuer sind, so haben wir immer noch nicht mehr als 2 Kranke in Privatpflege abgeben können.« (Jb 1902, S. 22). 501 | »Die Familienpflege konnte im Berichtsjahr nicht weiter ausgedehnt werden; auf 31. Dezember befanden sich 17 Frauen, keine Männer, darin. An Angeboten fehlte es uns nicht, wohl aber an passenden Kranken.« (Jb 1925, S. 21). 502 | 1934 etwa heißt es im Bericht »Die Aufsichtskommission hat erneut die Wünschbarkeit der Schaffung von Fürsorgerinnen (Assistance social) in den Anstalten festgestellt; im Hinblick auf die zu gewärtigenden finanziellen Schwierigkeiten und das erst im Anfangsstadium stehende Institut der Familien-Pflege beschloß sie indessen mit der Anhandnahme der Durchführung dieses Postulats noch etwas zuzuwarten.« (Jb 1934, S. 6 f.). 503 | Jb 1937, S. 10. 504 | Siehe dazu auch Stecks und von Speyrs Positionen in Kapitel 3.4.6 und zu Wyrsch Kapitel 3.6.2.4. 505 | Jb 1933, S. 26. 506 | Im Bericht von 1937 liest man: »Anfangs Mai konnte endlich die Kinderbeobachtungsstation Neuhaus eröffnet werden. Im Erdgeschoss des Hauses befinden sich die geräumigen Ess-, Aufenthalts- und Schulzimmer und im 1. Stock die Schlafzimmer samt Wachsaal, Dauerbad und grosser geschlossener Veranda. Im Dachstock ist für Fälle von epidemischen
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Die 1930er Jahre sind durch den Direktorenwechsel für die Waldau die Zeit der größten Veränderungen. Dieser Wechsel markiert nicht nur einen Umbruch auf der Ebene der psychiatrischen Anstaltsgestaltung, eine Anpassung an eine ›moderne‹ Psychiatrie, sondern hat großen Einfluss auf die Patienten in der Anstalt. Zwei solcher ›Fälle‹, Robert Walser und Friedrich Glauser, sind mit ihrem Aufenthalt in der Waldau gut dokumentiert. An Walser und Glauser lässt sich konkreter zeigen, wie sich die Waldau als Schreibort verändert, welche Bedingungen an Schreibende in ihr gestellt wurden und welche Möglichkeiten ihnen gegeben wurden.
Erkrankungen ein Absonderungssaal mit Bad für 6 Kranke eingerichtet; dazu enthält das Haus ein Aufnahme- und Untersuchungszimmer für den diensthabenden Arzt und Schlafzimmer für 5 Schwestern, wovon eine als Oberschwester amtet. Leitender Arzt ist Herr Pd. Dr. A. Weber; als Hausarzt amtet ein Assistenzart. Um während der Dauer der Beobachtung und Behandlung der Kinder im Schulunterricht keine Lücke eintreten zu lassen, wurde eine Lehrerin angestellt, die im Umgang mit Zöglingen, wie sie in der Kinderbeobachtungsstation sich vorfinden, grosse Erfahrung hat. Zur Station gehört eine freistehende, sehr geräumige, lichtvolle, heizbare Spiel- und Turnhalle mit Ankleidezimmern und Baderaum für Dousch- und Fussbäder. Der körperlichen Ertüchtigung und Erholung dienen ferner ein grosser Grüngarten, ein Turn- und Spielplatz und ein Beeren- und Heilpflanzengarten, der von den Kindern besorgt wird.« (Jb 1937, S. 10).
4 Schreiben (und Lesen) hinter den Sandsteinmauern Ausgewählte Patienten und ihre Texte
Die hier vorgestellten Texte sind geprägt von unterschiedlichen Sammlungs- und Überlieferungsarten, im Falle der unbekannten Patienten und Patientinnen sind sie Krankenakten entnommen, bei Wölfli, Walser und Glauser sind auch publizierte Texte hinzugezogen worden. Die Krankenakte als genuin institutionelle Dokumentsammelform soll hier in ihrer Form als Quelle beschrieben werden (Kapitel 4.1), bevor dann in einzelnen Unterkapiteln konkrete Texte und Textkonstellationen untersucht werden. Daran schließen ein Kapitel zu Adolf Wölfli (4.2) und eines zu einer unbekannt gebliebenen Patientin, Frau Be. (4.3) an, bevor ein anonymer Text, der hier Pascha-Text genannt wird, im Zentrum steht (4.4). Danach werden noch zwei weitere, berühmte Insassen in ihrem Bezug zum Schreibort Waldau thematisiert, nämlich Robert Walser (4.5) und Friedrich Glauser (4.6). Aus dieser Auflistung dürfte bereits klar geworden sein, dass in dieser Untersuchung der ›Patiententext‹ als breiter Begriff aufgefasst wird, dass Autoren und ihre Aussagen nicht bei allen Texten in gleichem Masse im Vordergrund stehen können und sollen, und dass innerhalb eines Zeitraumes, in dem tausende Menschen in der Waldau waren, nur eine kleine Auswahl von schreibenden Patienten und Texten in Betracht gezogen werden konnte. Allgemeinere oder gar statistische Aussagen über das Aktenmaterial der Waldau konnten schon allein auf Grund der eingeschränkten Einsicht in das Archiv nicht angestrebt werden, es bleibt hier also bei exemplarischen Analysen.
4.1 Terminologie und Q uellen : K r ankenak te , K r ankengeschichte , F allgeschichten , Patientente x te Krankenakten als ›Aufschreibesysteme‹, Zeugen einer Anstaltspraxis und Wissensspeicher beziehungsweise -generatoren, haben in den letzten Jahren viel Aufmerksamkeit bekommen und sind als Untersuchungsgegenstand zunehmend in den Fokus wissensgeschichtlich orientierter Psychiatriegeschichte gerückt.1 In Be1 | Exemplarisch erwähnt seien an dieser Stelle einige Arbeiten, etwa diejenigen von Volker Hess zur Genese der modernen Krankenakte, (2010a) und (2010b), der Einführung und
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zug auf die Waldau ist die Forschungslage (wie bereits in der Einleitung skizziert wurde) erschwert, sodass es zum wohl sehr reichhaltigen Material wenig wissenschaftliche Arbeiten gibt. Hinsichtlich der Krankenakten ist die Situation besonders prekär, weil nur wenige Akten zugänglich sind und sich nicht alle Akten am selben Ort und im gleichen Bearbeitungszustand befinden. So gibt es neben Originalen, Aktenabschriften und Kopien auch Akten, die nur publiziert vorliegen. Dabei ist unter Krankenakte einerseits materiell eine Mappe zu verstehen, deren Umfang sehr stark variieren kann. Die Mappen beinhalten unterschiedliche Dokumente über einen Patienten wie etwa Untersuchungsprotokolle, ärztliche Gutachten, Assoziationstests, Pflegerprotokolle, Medikationslisten, Gewichtstabellen oder Fieberkurven. Hinzu kommen gegebenenfalls Patientenbriefe und -texte allgemeiner Art sowie Zeichnungen. Damit zeigen die Krankenakten auch auf, was zu einem bestimmten Zeitpunkt innerhalb einer bestimmten Klinik bezüglich eines Patienten als wissens- und auf bewahrenswert befunden wird. Die Akte fungiert dadurch als Speicher, indem in ihr Wissenswertes gesammelt wird, aber auch als Ort der Wissensproduktion, da in sie hineingeschrieben wird. In der Niederschrift von Beobachtungen werden Informationen über den Insassen festgehalten und der Mensch, um den es geht, wird durch dieses Schreibverfahren und seine Dokumentation im Aufschreibesystem Akte als Patient konstruiert und sichtbar. Damit sind auch die Rollen der Schreibenden und der Beschriebenen angesprochen, die als teilweise anonyme Autoren in den Akten auftauchen und die Beschriebenen zu dem machen, als was sie heute noch rezipierbar sind, die aber auch Spuren von sich und der eigenen Arbeit in der Akte hinterlassen. Das Dokumentenensemble konstruiert, zeigt und festigt die Rollen der schreibenden Ärzte wie auch der zu beschreibenden Patienten. In der Akte als Textbündel sind auch die Einträge der Ärzte verfasst, in diesem Fall wird teilweise von der ›Krankengeschichte‹ gesprochen, die in diesem engeren Sinne verstanden ein einzelner Bestandteil der Akte als Mappe ist. Sie besteht meist aus Einträgen verschiedener Länge und unterschiedlicher Autoren, ist handschriftlich oder maschinengeschrieben verfasst und speichert Informationen zum Patienten, gibt aber auch Beobachtungen und Patientenaussagen wieder. Anstaltsintern ist sie Mittel zum Informationsaustausch unter den Angestellten und dient als Hilfestellung zur Formulierung einer Diagnose. Alle erwähnten Dokumente zusammen betrachtet wiederum dienen als Material für die Ausarbeitung von psychiatrischen ›Fallgeschichten‹, die dann in populären Medien oder wissenschaftlichen Zeitschriften publiziert werden. Aus Funktion der Krankenakte als Verwaltungstechnik und Ausbildungsinstrument an der Berliner Charité (Hess gemeinsam mit Sophie Ledebur 2011), der Sammelband Zum Fall machen, zum Fall werden von Brändli, Lüthi und Spuhler (2009), darin insbesondere Brigitta Bernet über die »Eigenlogik« des Formulars in der Akte (2009). Zudem Sophie Ledebur zur epistemischen Funktion von Krankenakten (ein Beitrag, der auch einen aktuellen Forschungsüberblick bietet, siehe 2008 und 2011), im Weiteren der Band von Stefan Nellen, Martin Schaffner und Martin Stingelin zu einem Basler »Fall Ernst B.« (2007), der Themenband Fallgeschichten von Alexander Košenina (2009), oder mit dem Fokus auf Patientenarbeiten, die sich unter Umständen auch in den Akten befanden, der Sammelband von Philipp Osten (2010) zu Patientendokumenten als Selbstzeugnissen. Der Aktenführung als Kulturtechnik widmet sich der Aufsatz von Nellen (2012).
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ihnen werden auch Kurztexte für die Jahresberichte verfasst, von denen einige in Kapitel 3 schon erwähnt wurden. Aber auch der Begriff der ›Fallgeschichte‹ ist nicht immer scharf von der Krankengeschichte abgetrennt, weder in den historischen Quellen noch in der dazugehörigen Forschungsliteratur. Wenn Freud beispielsweise seine »Krankengeschichten« in Bezug zu Novellen setzt, dann sind damit nicht, wie oben beschrieben, einzelne Notizen und Einträge, sondern ausgearbeitete und geglättete Versionen gemeint.2 In der Forschung dagegen spricht beispielsweise Nicolas Pethes in seinen Ausführungen zur Fallgeschichte als Medium der Wissenspopularisierung im Zusammenhang mit Freuds »Novellen« vom zeitweilig auftauchenden Trugbild, »Fallgeschichten« (und eben nicht in Freuds Terminologie »Krankengeschichten«) als »genuin psychoanalytische Textsorte erscheinen«3 zu lassen. Volker Hess wiederum stützt sich in seiner Unterscheidung von ›Fallgeschichte‹ und ›Krankengeschichte‹ auf Pethes’ Aufsatz und versteht erstere als analytischen Begriff, letztere als »empirische Gegenstandsbezeichnung«.4 So werden die historischen Begriffsüberlagerungen in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit ihnen weitergeführt. Dabei ist, wie Pethes ausgeführt hat, bereits der Begriff ›Fall‹ ein mehrdeutiger, er geht zurück auf casus als juristischen Fall, ist aber auch religiös respektive moralisch konnotiert. Als berühmteste Sammlung juristischer Fallgeschichten, die populär wurden, gilt ›der Pitaval‹, die Causes célèbres et interessantes von François Gayot de Pitaval, erschienen zwischen 1734 und 1743 in 22 Bänden. Pethes macht an ihnen und anderen Fallgeschichtensammlungen, wie etwa Johann August Philipp Gesners Samlung von Beobachtungen aus Arzneygelahrtheit und Naturkunde (Teilband von 1776) oder Carl Philipp Moritz’ Magazin der Erfahrungsseelenkunde deutlich, dass Fallgeschichten deshalb populär sind, »[…] weil sie ein Genre bereitstellen, in dem Dilettantismen und Spekulation Raum finden. Sie werden einerseits geschrieben, um bestehendes Wissen anwendungsbezogen zu machen (Recht, Pädagogik), andererseits aber auch, um noch ungewisses Wissen empirisch zu
2 | Freud schreibt (wie schon in Kapitel 2.1.4 mit Fokus auf das Schreibkonzept betrachtet): »Ich bin nicht immer Psychotherapeut gewesen, sondern bin bei Lokaldiagnosen und Elektroprognostik erzogen worden wie andere Neuropathologen, und es berührt mich selbst noch eigentümlich, daß die Krankengeschichten, die ich schreibe, wie Novellen zu lesen sind und daß sie sozusagen des ernsten Gepräges der Wissenschaftlichkeit entbehren. Ich muß mich damit trösten, daß für dieses Ergebnis die Natur des Gegenstandes offenbar eher verantwortlich zu machen ist als meine Vorliebe; Lokaldiagnostik und elektrische Reaktionen kommen bei dem Studium der Hysterie eben nicht zur Geltung, während eine eingehende Darstellung der seelischen Vorgänge, wie man sie vom Dichter zu erhalten gewöhnt ist, mir gestattet, bei Anwendung einiger weniger psychologischer Formeln doch eine Art von Einsicht in den Hergang einer Hysterie zu gewinnen. Solche Krankengeschichten wollen beurteilt werden wie psychiatrische, haben aber vor letzteren eines voraus, nämlich die innige Beziehung zwischen Leidensgeschichte und Krankheitssymptomen, nach welcher wir in den Biographien anderer Psychosen noch vergebens suchen.« Freud /Breuer (2007), S. 180. 3 | Pethes (2005), S. 67. 4 | Hess (2010a), S. 294, Anm. 1.
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Schreiben am Rand dokumentieren (Medizin, Psychiatrie) oder eine noch nicht bestehende Wissenschaft vorzubereiten (Erfahrungsseelenkunde, Psychoanalyse).« 5
Fallgeschichten und Krankenakten ist gemeinsam, dass sie »ungewisses Wissen« dokumentieren, oder auch, dass sie durch ihre Art zu erzählen, Wissen über einen Patienten erst schaffen. Im vorliegenden Quellenkorpus werden ›Krankengeschichte‹ und ›Krankenakte‹ oft als Synonyme verwendet und bezeichnen die materielle Sammlung von Dokumenten zu einem Patienten. Die konkret verwendeten Begriffe für die einzelnen institutionellen Textgattungen können sich auch je nach Klinik, Zeit und Region unterscheiden. Im Schweizer Kontext dominiert die Bezeichnung ›Krankengeschichte‹. Wie bestimmte Aufzeichnungsformen auch ›Krankenjournal‹ heißen,6 werden Jahresberichte auch ›Rechenschaftsberichte‹ oder ›Annalen‹ genannt. Beim Krankenjournal handelt es sich teilweise um Vorläufer der Akten, die noch nicht individualisiert waren, sondern in die täglich die Beobachtungen zu unterschiedlichen Patienten notiert wurden. Es unterscheiden sich damit Praxis und Begrifflichkeiten. Als optisches Beispiel für das in der Waldau verwendete Vokabular dient ein Titelblatt der Zürcher Illustrierten (Abb. 28) mit dem Porträt Friedrich Glausers, über dessen Kopf handschriftlich »Kgsch.« notiert wurde und das sich in seiner Akte in der Waldau befindet. Über Glauser, wie auch über die anderen hier vorgestellten Patienten gibt es keine psychiatrische ›Krankengeschichten‹ im Sinne einer geglätteten und publizierten Erzählung oder einer »Novelle«, sondern nur Dokumentsammlungen und Einzeleinträge. Aus diesen wiederum entstanden kurze ›Fallgeschichten‹, wie sie etwa die Jahresberichte aufführen. Dass auch aus den Waldauer ›Fällen‹ ›Fallgeschichten‹ produziert werden sollten, zeigt das Beispiel Walsers, der in Herisau vom Psychiater Theodor Spoerri besucht wird. Die Publikation einer ›Fallgeschichte‹ wurde damals jedoch verhindert, wie Kapitel 4.5.4 ausführt. Morgenthalers Monografie über Wölfli kann nur bedingt als ›Fallgeschichte‹ bezeichnet werden, weil sie zwar ähnliche Elemente enthält, es aber um mehr als ihre Darstellung und Verknüpfung geht. Morgenthaler will gemäß seinem Vorwort »reiches und interessantes psychiatrisches Material kritisch gesichtet vor[ ]legen«,7 einerseits kann die Studie also als Grundlagenforschung betrachtet werden und andererseits will Morgenthaler von Wölfli als ›Fall‹ dann doch auf das Allgemeine schließen, wenn er schreibt, dass dieser Fall »Licht zu bringen scheint in Probleme, die beim Gesunden noch im Dunklen liegen.« 8 Ungeachtet davon, ob man Morgenthalers Monografie als Fallgeschichte bezeichnen möchte oder nicht, liegt ihre Wirkung in der schriftlichen Bekanntmachung einer besonderen Berner psychiatrischen Konstellation um die Jahrhundertwende, bestehend aus den beiden Hauptdarstellern, dem Psychiater Morgenthaler und dem Patienten Wölfli sowie der Anstalt Waldau als Schauplatz. 5 | Pethes (2005), S. 86. Weitere Forschungsprojekte zur Fallgeschichte werden im Rahmen des Mercur-Forschungsprojektes Fallgeschichten. Text- und Wissensformen exemplarischer Narrative in der Kultur der Moderne seit 2012 mit Beteiligung unterschiedlicher deutscher Universitäten in Angriff genommen. 6 | Siehe etwa hier Kapitel 3.3.2 oder Ledebur 2011, S. 204. 7 | Morgenthaler (1985), S. VII. 8 | Ebd., S. VII.
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Abb. 28: Titelseite der Zürcher Illustrierten, Nr. 49, 3. Dezember 1937, XIII. Jahrgang. Oberhalb von Glausers Kopf ist die Nummer der Waldauer Krankenakte, 11767, vermerkt.
4.1.1 Akten, Krankengeschichten und Patiententexte der Waldau Im hier untersuchten Zeitraum wurden Krankenakten der Waldau in mit Fallnummern versehenen Kartonmappen abgelegt. Darin finden sich unterschiedliche Dokumentensammlungen. Die ›eigentliche‹ Krankengeschichte, verstanden als die Notizen der Ärzte, ist auf Papierbögen geschrieben, deren erste Seite vorgedruckte Felder zum Ausfüllen enthält. Während der Ära von Speyr sind es wenige vorge-
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Abb. 29: Titelseite einer Akte, wie sie unter von Speyr üblich war. Hier anonymisiert.
gebenen Formularfelder, mit deren Ausfüllung ein ›Fall‹ eröffnet wird. Nach dem Titel Irrenanstalt Waldau und der Aufnahmenummer folgen Name, Geburtsdatum, Civilstand, Confession, Beruf, Heimath, Wohnsitz, Wohnort, Adresse der Angehörigen (Abb. 29). Danach sind zwei Felder auszufüllen mit der vorläufigen und der defini-
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tiven Diagnose und je fünf nummerierte Zeilen für Eintritt(e) und Austritt(e) – die Anfertigung des Aktenumschlages ist also bereits darauf ausgerichtet, dass einige Patienten mehrmals in die Anstalt aufgenommen werden. Unter Klaesi wird ein ausführlicheres Formular verwendet, das das Aufnahmegespräch und die erste Untersuchung viel stärker steuert. Dieses Aktenformular wird im Kapitel 4.6 zu Glauser, der als einziger der hier vorkommenden Patienten nur die Waldau nach von Speyr kennen gelernt hatte, noch einmal thematisiert (Abb. 27). Nach diesen ersten Formularbestandteilen beginnen die meist mit Datum versehenen Einträge, angefangen jeweils mit der Schilderung, wie, unter welchen Umständen und mit wem der Patient in die Anstalt gebracht wurde. Die Ankunft des Patienten wird als Übergang vom Draußen zum Drinnen beschrieben, die ersten Sätze in einer Akte lauten etwa: »Kommt in Begleitung eines Kranken[w]ärters aus dem Spital Herzogenbuchsee; die Reise ging gut von statten. Ist bei der Aufnahme ruhig, gibt richtig Bescheid, doch mit leiser Stimme, langsam; ist örtlich und zeitlich orientirt, weiss das[s] er krank ist, will gesund werden. Habe in letzter Zeit viel trübe Gedanken und böse Stimmen g[e]habt. Folgt willig ins Bad und auf die Abteilung.« 9
Weitere Einzelblätter im gleichen Format sind in diesen Bogen gelegt und teilweise nummeriert, jedoch nur in Ausnahmefällen sind die Einträge auch signiert. Sie enthalten Informationen zum status somaticus und teilweise Abschriften von ärztlichen Gutachten. Die Häufigkeit der Einträge variiert bei den unterschiedlichen Patienten, aber auch innerhalb einer Akte je nach Phase der Internierung und Krankheit. Meistens wechseln sich die Schriftarten, in der die Notizen verfasst sind, ab. Es äußern sich damit unterschiedliche Stimmen zu einer internierten Person und die Einträge unterscheiden sich deshalb sowohl in ihrer inhaltlichen Anlage als auch stilistisch. In gewissen Mappen finden sich Briefe der Patienten, oft sind sie an klinikinterne (Direktor und Ärzte) und externe Adressaten (Verwandte, öffentliche Personen, Zeitungen etc.) gerichtet. Diese Briefe sind nicht frankiert. Teilweise steht auf dem Umschlag ein handgeschriebenes »Kg« für Krankengeschichte, was darauf deutet, dass die Psychiater jeweils eine Auswahl der Briefe trafen und diese Briefe der Krankenakte beilegten. Während berühmte Patienten wie beispielsweise Walser funktionierende Briefwechsel pflegen konnten, muss davon ausgegangen werden, dass Briefe der ›gewöhnlichen‹ Patienten nicht unbedingt befördert wurden. Ob die Briefe und ob alle Briefe einer bestimmten Person tatsächlich angekommen sind, lässt sich nur im Ausnahmefall überprüfen, dann etwa, wenn wie bei Walser oder Glauser Briefe von außenstehenden Absendern überliefert sind, die durch ihren Bezug auf vorgängige Briefe bezeugen, dass die Sendungen der Insassen ihren Bestimmungsort gefunden haben. Solche belegten Briefwechsel sind die Ausnahme, in den meisten Fällen muss man annehmen, dass die Briefe nicht befördert worden sind.
9 | Waldauer Kg, Nr. 5570, siehe auch Abb. 29.
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So fragt beispielsweise der in der Einleitung bereits erwähnte Patient Sch. in einem Brief von 1911 seine Frau: »Liebe D[ ]! Warum bekomme ich auf meine Briefe keine Antwort? Bin seid dem 3ten ohne jede Nachricht & in großer Sorge.«10 Nachdem er vermutlich weiterhin vergeblich auf Nachrichten seiner Frau gewartet hatte, wendet er sich direkt an den Direktor und lässt in seiner Nachricht die Vermutung anklingen, dass man ihn die Briefe seiner Frau nicht lesen lässt: »Sehr geehrter Herr Direktor! Ich kann es nicht glauben[,] das[s] meine Frau mich ohne jede Nachricht lässt, warum giebt man mir keinen Aufschluß? […] Herr Direktor[,] wenn ich zu einem Menschen noch Vertrauen habe[,] dann sind Sie’s, helfen Sie mir bitte wieder auf den rechten Weg zurück, ich will alles tun[,] was Sie mir raten, nur verlassen Sie mich nicht ganz, denn das bringt mir immer wieder die Erkenntniß[,] das[s] mein Verbrechen ungeheuer sein muß.«11
Versucht man, die ›Geschichte‹ dieses Briefwechsels zu rekonstruieren, steht im Zentrum der internierte Vielschreiber, Herr Sch., der sich verzweifelt an seine Frau und an den Direktor wendet, der vermutlich aber von beiden keine Antwort bekommt – von Speyr lässt ihn vorläufig in der Anstalt, ohne auf die Bittschriften eingehen zu müssen, und Frau Sch. antwortet nicht, weil ihr seine Briefe gar nicht zugestellt werden. Es handelt sich also um eine nicht explizit gemachte Einwegkommunikation an zwei Adressaten. Als Untersuchungsfall scheint Herrn Sch. der Aufenthalt in der Anstalt schlimmer als eine gerichtliche Verurteilung, weshalb er an den Untersuchungsrichter schreibt: »Bitte Sie höflich. mich von hier abholen zu lassen[,] wünsche verurteilt zu werden. Die verursachten Umstände wollen Sie gütigst entschuldigen. Ich bin nicht geisteskrank, fürchte es aber noch zu werden.«12 Diesen Brief hat aber von Speyr ebenfalls abgefangen. Der Direktor fungiert in diesem Netz von Schreibenden und Lesenden als nicht-schreibende Schaltstelle, deren Rolle nur in den unterwürfig flehenden Briefen des Herrn Sch. schriftlich thematisiert wird. In ihrer Speicherfunktion als Sammelmappe zeigt die Akte aber auf, dass Herrn Sch. mit der Zeit klar wurde, dass seine Briefe nicht abgeschickt und ihm vielleicht auch Briefe seiner Frau vorenthalten wurden. In einem weiteren Schreiben bittet er deshalb seine Frau, sich dafür einzusetzen, dass er ihre Briefe, von denen er annimmt, sie existierten, auch tatsächlich bekommt: »Bitte in Deinem nächsten Brief den Herrn Direktor[,] das[s] er mir deine Antwort zukommen lässt. Brauchst mir nur zu schreiben[,] wie es Euch geht.«13 An den Briefen des Herrn Sch. lässt sich das ›Briefparadox‹ in der Anstalt beschreiben, mit dem die Situation eines Patienten gemeint ist, der sich zu äußern vermag, über die hierarchischen Strukturen der Anstalt Bescheid weiß und der sich höflich an den Direktor wie auch verzweifelt an seine Frau wendet, und letztere dabei zu instrumentalisieren versucht – ohne dass die Briefe je an jemanden anderen gelangen würden als an den, der hier die Entscheidungsmacht besitzt: den Direktor. Die Akten geben in diesem Fall ein spezifisches Patientenwissen wieder und mit der Sammlung der Briefe zeigen sie eine Entwicklung in diesem Wissen auf. Insasse Sch. sieht in der Waldau nicht nur die 10 | Herr Sch. an Frau Sch., Waldau 28./11.11, in: Kg 6907. 11 | Herr Sch. an Direktor von Speyr, Waldau 18.12.11, in: Kg 6907. 12 | Herr Sch. an Untersuchungsrichter »Jäcki«. 9. Oktober 1911. In: Kg 6907. 13 | Herr Sch. an Frau Sch., Waldau/Bern 1.12.11, in: Kg 6907.
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Gefahr für sich selbst, wahnsinnig zu werden, sondern es muss ihm auch immer klarer werden, wie schwierig es ist, an diesem Ort gegen einen mächtigen Direktor anzuschreiben. Von der Rezeptionsseite aus betrachtet wird an den Briefen auch deutlich, wie kontingent einerseits und wie stark historisch bedingt andererseits Einblicke in die Klinik sind. Kontingent wie auch historisch bedingt sind Zensur und Überlieferung sowie die Rezeption: Was zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht lesbar war (etwa die zurückgehaltenen Briefe von Herrn Sch.), ist jetzt unter Einhaltung der Restriktionsbestimmungen des Archivs zugänglich. Gerade die Strategie der Unlesbarkeit und Zurückhaltung von Texten ist mit der gleichzeitigen Auf bewahrung zu einer zumindest theoretischen Möglichkeit der Lesbarkeit gewendet worden. Neben Briefen sind in den Akten unterschiedlicher Insassen auch vereinzelte Texte (z.B. ›wissenschaftliche‹ Abhandlungen oder Notizen), sowie in seltenen Fällen Postkarten oder Fotos zu finden. In einzelnen Mappen liegen Zettel mit dem handschriftlichen Verweis »Zeichnungen in der Sammlung«.14 Man kann sich also vorstellen, dass die Mappen früher möglicherweise auch Zeichnungen der Patienten enthielten, die jetzt separat auf bewahrt werden. Die für diese Arbeit untersuchten Krankenakten zeichnen sich (mit wenigen Ausnahmen) durch eine Stimmen- respektive Autorenvielfalt aus. Auf den ersten Blick fallen die unterschiedlichen Handschriften der Ärzte und des Pflegepersonals auf, die zeigen, dass auch bei einem kürzeren Aufenthalt in der Klinik meistens mehrere Betreuer oder Schreiber an einer Akte mitarbeiten. Daneben sieht man in Patientenarbeiten wie beispielsweise in Briefen die Handschrift des Patienten, oder man ›hört‹ seine Stimme in direkter Rede, die in der Krankengeschichte durch das Fachpersonal direkt oder indirekt wiedergegeben wird. Die Stimme des Patienten kann (sofern die Krankenakte ihr einen Platz einräumt) somit in unterschiedliche Lautstärken wahrgenommen werden: leise und eventuell verfremdet im vermittelten Schreiben des Arztes über den Patienten, lauter in den Briefen und Zeugnissen, die Eingang und einen Auf bewahrungsort in der Krankenakte gefunden haben. Die erhaltenen Schriftstücke einer Akte stammen nicht nur aus dem Zeitraum, in dem der Patient in der Klinik war, sondern wurden teilweise auch danach verfasst – so beispielsweise, wenn ein Patient nach Verlassen der Klinik an den Direktor schreibt oder wenn ein Dokument der Polizei oder des Militärs über das ›Vorleben‹ des Patienten Auskunft gibt und deshalb auch Bestandteil der Krankengeschichte wird. Eine größere ›Lebensgeschichte‹ der Patienten, von der die eigentliche ›Krankheitsgeschichte‹ nur ein Teil ist, kann dadurch angedeutet werden. Keine dieser Geschichtsschreibungen bietet jedoch vollständige Biografien, zu dominant sind unterschiedliche Variablen wie Selektion, Überlieferungsgeschichte und Aufbewahrungsweise der Dokumente. Hier trifft sich gezieltes Beschreiben und Sammeln von Informationen und Beobachtungen mit einer alles durchdringenden Kontingenz. Dies betrifft sowohl (inhaltliche) Informationen als auch das Material: Was die Angestellten in eine Krankenakte schreibend und sammelnd aufnehmen, was sich mit den zeitgenössischen Aufbewahrungstechniken und klinikeigenen Platzverhältnis14 | Wer diese Zettel geschrieben hat, ist unklar. Die Bogen auf den Buchstaben ›U‹ deuten darauf hin, dass der Schreiber auch die deutsche Kurrent- oder Sütterlinschrift beherrschte. Auf Grund eines Handschriftvergleichs lässt sich aber Morgenthaler als Autor ausschließen.
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sen konservieren lässt und was Jahrzehnte danach tatsächlich noch vorhanden und lesbar ist, unterliegt auch zufälligen Gegebenheiten und Entwicklungen. Besteht eine Krankenakte in sich schon aus unterschiedlichen Textsorten, so sind die Akten im Vergleich zwischen Patienten heterogen in Umfang und Inhalt. Über darin enthaltene Patiententexte lässt sich unterschiedlich viel erfahren, je nachdem ob sich neben der Akte auch ein Kontext aus anderen Quellen schaffen lässt oder nicht. Stehen die Akten als einzige Quellen über eine ›infame‹ Person zur Verfügung, wie es etwa bei der Patientin Frau Be. der Fall ist (siehe Kapitel 4.3), so gibt bestenfalls ein in dieser Akte enthaltener Lebenslauf Aufschluss über das Leben der Patientin vor der Internierung. Kann die Person die Klinik wieder verlassen, so verliert sich damit meistens ihre Spur. Ist jedoch über die internierte Person einiges aus anderen verschriftlichten Spuren (an oder von Institutionen, von Beamten, von Freunden etc.) bekannt, wie dies etwa bei Walser und Glauser der Fall ist, vermag der Blick in die Akte das Bild eines Lebensabschnittes aus einer Perspektive zu ergänzen, die nicht diejenige der Insassen ist. Das Verhältnis zwischen beschriebenem Leben und überlieferten Aussagen aus unterschiedlichen Lebenssituationen einerseits und die die ›Krankheit‹ dokumentierende Akte andererseits divergieren als sowohl hinsichtlich der Quantität wie auch der Qualität und natürlich in Bezug auf die Anzahl der Stimmen, die zu Wort kommen. Ein zentraler Aspekt des Inhalts der Akten ist die Kooperation des Patienten. Der Arzt ist in seinem Zugang zu Patienten und zur ›Krankheit‹ darauf angewiesen, dass der Patient spricht. Deutlich wird dies in der bereits zitierten Aussage Klaesis, der mit seiner Dauernarkose vor allem auch ein Gespräch zwischen Patient und Arzt ermöglichen wollte.15 Kommt dieses Gespräch zustande, so ist die Akte Zeugnis der Transformation, die dieses Sprechen des Patienten durch das schriftliche Festhalten erfährt. Dem Sprechen der Patienten meint man im Wiedergeben in der direkter Rede am nächsten zu kommen, aber auch diese Äußerungen sind ausgewählte, bereits arrangierte und sie können Verschiebungen oder Verfälschungen unterliegen.
4.1.2 Exkurs: Wenn Lesen krank macht – Akten schreiben über das Lesen Die Akten sind nicht nur ›Zeugen‹ des Sprechens in der Anstalt, sie sind auch Dokumente des Lesens und sie thematisieren das Lesen der Patienten. Dieses wird oft in einen pathologischen Zusammenhang gebracht. In der Anstalt kommen deshalb ›gesundes‹ und ›krankes‹ Schreiben und Lesen zusammen, wobei die ›Gesunden‹ sowohl die Texte der Kranken lesen, wie auch ihr Schreiben und Lesen beurteilen. Die Anstalt ist damit auch der Ort des Lesens und lesen-Lassens, wie des Schreibens und schreiben-Lassens. Wie zeitgenössisches Deuten das Lesen in einen pathologischen Kontext stellt, zeigt das folgende Beispiel: Herr L. stammte aus dem Berner Jura, wo er am 16. Februar 1847 zur Welt kam. Als Wohnort gibt die Waldauer Akte »Amerika« an.16 Von Beruf ist Herr L. Graveur, was seine sichere Hand auch bei kleinen Bewegungen, wie sie für seine »Mikrografie«-Schrift notwendig sein mussten, erklärt. Als Graveur verdiente er allerdings zu wenig, ver15 | Siehe Über die therapeutische Anwendung der »Dauernarkose« mittels Somnifens bei Schizophrenen von 1922 (Klaesi 1979) und hier Kapitel 3.12. 16 | Kg 3400.
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suchte sich deshalb als Wirt, wanderte nach Amerika aus, reiste mehrmals nach Europa zurück und versuchte sich auch in Südamerika. Zu seinen Angaben ist in der Akte vermerkt: »Doch vermischt er hier seine wahrscheinlich erscheinenden Angaben mit so vielen verrückten Phrasen, dass es unmöglich ist, das thatsächliche vom Produkt seines kranken Sinns zu trennen.«17 Seine Vorläufige Diagnose lautet »Verrücktheit«, als er am 6. Februar 1890 in die Waldau eingewiesen wird, wo er 9 ½ Jahre bleiben wird, bevor er nach Bellelay versetzt wird. Eine Begründung dieser Versetzung fehlt in der Akte, vermutlich wurde Herrn L.s Krankheit keine Heilungschance gegeben. Im Einweisungszeugnis seines Arztes steht: »Pat. besuchte die Primarschule in C[ ], hat nie eine schwere Krankheit durchgemacht, auch von andern aetiolog. Momenten wie Trinksucht, Verletzungen, vorausgegangenen Neurosen etc. ist nichts bekannt. L. hat eine ordentliche Erziehung genossen, in der Schule war er einer der begabtesten Schüler, er hatte stets einen besonderen Drang & besondere Vorliebe zum ›Lesen‹ (Romane etc.), war immer eine ziemlich nervös angelegte Natur. Wurde nie strafrechtlich verfolgt.«18
Im knappen Protokollstil werden hier Krankheitsgeschichte, Kindheit, Bildung und Angaben zum Strafregister preisgegeben. Aus der Schulzeit wird nicht nur die Begabung des Schülers hervorgehoben, sondern auch sein Drang zum Lesen, wobei die Gattung ›Roman‹ als besonders verfänglich angegeben wird. Während des weiteren Aufenthalts in der Anstalt treten der Akte gemäß Größenwahn, Verfolgungs- und Vergiftungsideen auf. Herr L. fällt durch langes Predigen und seltenes Arbeiten auf. Er wird gereizt, wenn man ihn zur Arbeit auffordert, schließlich sei er Gottes Sohn, manchmal auch Gott selbst. Durch das Predigen stört er andere Patienten und man versetzt ihn in die III. Abteilung zu den »anderen revolutionären Elementen«.19 Auch gegenüber den Ärzten zeichnet sich Herr L. mit »weithinschallender, wortreicher Rede«20 aus. Herr L. drückt sich in einem »überschwänglichen, affectiven, schwer verständlichen Französisch« aus und »gibt oft den Wörtern einen ganz anderen Sinn als sie eigentlich haben«.21 Herr L. schreibt und zeichnet in der Anstalt, wie ein Eintrag aus dem Jahr 1894 belegt: »Confuser, blöder Grössenwahn; Vergiftungsideen; eigene Sprache; schreibt sehr viel & ganz klein; zeichnet immer dieselben Köpfe, die er für […] werthvoll hält.«22 Hier machen die Einträge deutlich, dass für die Akte ein minimales Sprechen zwar notwendig ist, dass ein Zuviel dieses Sprechens, wenn es auch noch als sinnlos eingestuft wird, für den Patienten verhängnisvoll sein kann. Es droht die Diagnose »Verrücktheit«. Die Zeichnungen sind nicht mehr in der Krankenakte vorhanden, ein Zettel informiert, sie seien »in der Sammlung«. Die Akte enthält hingegen viele Gewichtstabellen und vom Patienten verfasste Briefe an seine Schwester, neben knappen Einträgen der Ärzte in der eigentlichen Krankengeschichte. Das Zeichnen wird mit der Zeit zugunsten des Schreibens aufgegeben, wie ein weiterer 17 | Ebd., unpag., Eintrag vom 5. Februar 1890 18 | Ebd., Eintrag vom 5. Februar 1890. 19 | Ebd., Eintrag vom 10. März 1890. 20 | Ebd. 21 | Ebd., S. 1, recte, Eintrag vom November, vermutlich Jahr 1891. 22 | Ebd., S. 1, verso, Eintrag vom August, vermutlich 1894.
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Eintrag festhält: »Zeichnet jetzt nur noch selten, sucht dagegen möglichst klein zu schreiben.«23 L. beklagt sich in einem Brief vom 23.2.1892 an seine Schwester über die Bedingungen in der Waldau, hauptsächlich über das Essen: »Constates toi-méme le ravages que le manque de nourriture véritable, le souffrances ainsi que les douleurs on fait sur moi! Depuis deux ans dans ces placement où chacun travaille dans sa propre abso[lution] – où l’éffet miraculeux ne peut plus sur moi, qu’a de dures circonstances: malgré les beaux et tristes rêves dans les-quels je vois sans cesse les anges de Dieu déployer leurs ailes, sur les hauteurs de ma destinér.« 24
Dass die Ernährung in der Waldau tatsächlich mangelhaft sein konnte, belegt ein sarkastischer Eintrag in L.s Akte aus dem Jahre 1891: »Pat. nimmt an der allgemeinen Fleischvergiftung mit Erbrechen Theil, am 16. Vormittags wieder wohl.«25 Im Juni 1893 schreibt L. verzweifelt aus der Waldauer ›Hölle‹ an seine Schwester: »Ma vie mon corps mon âme se perdent ici pour rien. […] Va s’il te plaît trouver que tu viendras pour moi je veux sortir d’ici; ou je souffre depuis plus de vingt-neuf mois, le dûr enfer d’un crucifiment«.26 Die Briefe bleiben in der Akte, auch die schön beschrifteten Briefumschläge, teilweise mit getrockneten Blumen geschmückt, sind noch vorhanden, die Schwester konnte den Hilfeschrei jedoch nicht hören. 1894 verfertigt Angelo Sciolli, der vermutlich Assistenzarzt in der Waldau ist, den die Jahresberichte aber nicht erwähnen, einen fünfseitigen Bericht über Patient L. Darin werden noch einmal explizite Bezüge zwischen Schreiben, Lesen und Krankheit hergestellt. So liest man unter dem Untertitel Alluzinationen & Illusionen: »Diese [Wahn-]Vorstellungen seines psichopatischen Gedächtnisses zeigen oft an, dass Erinnerungsbilder seiner Jugend od. auch von Gelesenem an seinem Geiste vorüberziehn.«27 Darüber, was Herr L. tagsüber macht, wenn er in der Anstalt nicht arbeitet, gibt Sciolli ebenfalls Auskunft: »Der Patient unterhält sich ganze Tage mit schreiben von Poesien, und zwar in ganz feiner, fast unleserlicher Schrift, jedoch der Inhalt zeugt deutlich von Geistesstörung, doch glaubt er sich ein grosser Dichter zu sein.«28 Im Abschnitt zur Diagnose legt Sciolli sein Wissen zur Paranoia dar, die durch eine »Gelegenheitsursache« ausgelöst werde. Im Falle des Patienten L. bringt Sciolli diesen Auslöser mit dem Lesen zusammen: »Unser Patient hat sich vielleicht die Gelegenheitsursache beim Romanlesen geholt und
23 | Ebd., Eintrag vom Dezember, vermutlich 1894. 24 | L. an seine Schwester, Waldau, 23. Februar 1892. Brief nicht abgeschickt. In: Kg 3400. 25 | Kg 3400, unpag., Eintrag vom 15. August 1891. Rund vierzig Jahre später schreibt Glauser in seinem Klinischen Jahresblatt über das Essen in der Waldau: »Der Grossmetzgerei Pulver & Söhne ist es gelungen einen Posten gebrauchter Michelin- und Kontinental-Autoreifen zu erwerben. Versuche ergaben, dass zerschnittene Pneumatiks als fast vollwertiger Kuhfleischersatz zu betrachten sind. Sie sind ebenso zäh und geben eine ebenso augenlose Fleischsuppe.« Glauser [1936], S. 8, Kursiva im Original gesperrt. Siehe zum Klinischen Jahresblatt auch Kapitel 4.6.3. 26 | L. an seine Schwester, Waldau, 1. Juni 1893. Brief nicht abgeschickt. In: Kg 3400. 27 | Bericht von Sciolli, S. 3, in: Waldauer Kg Nr. 3400. 28 | Ebd.
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hat sich dadurch die Phantasie verdorben.«29 Das Schreiben über das Lesen zeigt hier unsicheres Wissen auf, eine Ätiologie kann nur mithilfe einer Vermutung, mit dem Ausdruck ›vielleicht‹ generiert werden. Deutlich wird hingegen, dass Verfahren des Schreibens und Lesens, des Suchens nach Krankheitsursachen und ihre Beschreibung eng miteinander verknüpft sind. Nun soll die Seite gewechselt werden: Im Zentrum stehen in der Folge nicht mehr hauptsächlich die schreibenden Ärzte, sondern Texte von Patienten. Letztere waren meistens natürlich auch Leser und ihre Texte wurden in unterschiedlichem Ausmaß und auf unterschiedliche Weise gelesen – was wiederum direkt mit den Bedingungen der Anstalt zu tun hat, in der sie entstanden. Der Fokus in der Untersuchung dieser Texte liegt auf der Thematisierung und der Bedeutung des Schreibortes Waldau für die einzelnen Verfasser der Texte.
4.2 »I ch bin ein Pappier =A rbeiter , allerersten R anges « 30 – A dolf W ölfli Adolf Wölfli ist der mittlerweile wohl bekannteste ehemalige Patient der Waldau. Das Werk des zeichnenden, schreibenden und komponierenden »Pappier=Arbeiter[s]« ist in seinem enormen Umfang kaum zu überblicken und fordert Editionstechnologie und unterschiedliche Disziplinen wie Kunstgeschichte, Musikwissenschaft, Sprach- und Literaturwissenschaft gleichermaßen heraus. Die Rezeptionsgeschichte, auf einzelne Schlaglichter verkürzt, beginnt mit Morgenthalers Monografie von 1921, Ein Geisteskranker als Künstler. Adolf Wölfli, worauf mit einigem zeitlichen Abstand die Arbeit eines weiteren Psychiaters, Julius von Ries, folgt, der Wölfli auch noch als Patient gekannt hatte und die den Titel Über das Dämonisch-Sinnliche und den Ursprung der ornamentalen Kunst des Geisteskranken Adolf Wölfli (1946) trägt.31 Die 1940er Jahre sind auch die Zeit, in der das Werk Wölflis die 29 | Ebd., S. 5, in: Waldauer Kg Nr. 3400. 30 | Adolf Wölfli an Emma Beutler, Waldau=Neubau, Dienstag den 5. November 1,929. In: Wölfli (1985b), S. 193. Wölflis besondere Orthografie zeigt sich etwa bei verkehrten Fragezeichen und Kolonzeichen, die eher aus Strichen als aus Punkten bestehen. Zur einfachen Lektüre werden diese beiden Zeichenarten hier normiert wiedergegeben. 31 | Von Ries macht es sich darin zur Aufgabe, diejenigen Bilder Wölflis zusammenzustellen, die sich »auf die sexuelle Sphäre des Patienten bezogen«, damit soll ein »speziell krankhaftes Gebiet der Künstlerpersönlichkeit Adolf Wölflis« beleuchtet werden. Von Ries (1946), S. 21 f. In dieser spezifischen Betrachtungsweise werden dann beispielsweise Ovale als Vagina-Symbole betrachtet und Uhren mit ›Huren‹ in Verbindung gebracht. Ebd., S. 33. Von der im zeitgenössischen Diskurs nicht unüblichen pathologisierend-kriminalisierenden Haltung des Arztes von Ries gegenüber Wölfli zeugt folgende Aussage aus seinem Werk: »Ich bin überzeugt, daß es weder der Polizei noch dem Gerichte trotz peinlicher Untersuchung gelungen war, auf alle seine begangenen Notzuchtversuche und Kinderschändungen zu kommen. Er war ein verstockter Sünder und die Behörden mußten sich mit der Abklärung der ihm nur sicher nachgewiesenen Fälle begnügen. In den 6 Jahren meiner Waldau-Tätigkeit hatte ich fast täglich Gelegenheit, mit Wölfli zu sprechen und ihn bei seiner Arbeit zu beobachten. Nie ist es mir aber gelungen, von ihm auch nur die geringsten diesbezüglichen Angaben zu erhalten. Direkte Fragen beantwortete er entweder mit schamlosen Zoten oder wurde zornig,
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bis dahin hauptsächlich von Psychiatern beanspruchte Sphäre der Deutungsmacht verließ und in diejenige des Kunstdiskurs trat. 1948 stellte Jean Dubuffet Werke Wölflis in Paris aus und nahm sie dadurch in das Reich der neu postulierten Art brut auf. 1963 zeigte Harald Szeemann Werke Wölflis in der Berner Kunsthalle unter dem Ausstellungstitel Bildnerei der Geisteskranken – Art brut – Insania pingens, bevor Wölfli dann in der Ausstellung Outsider Art 1972 in London und im selben Jahr an der Kasseler documenta 5 zu sehen war und seine Werke damit zum festen Bestandteil der – je nach Vokabular – Art-brut- oder Outsider-Art-Kunstszene wurden. Das Kunstmuseum Bern wiederum zeigte 1976 eine große Einzelausstellung zu Wölfli, die bis 1980 auch in anderen europäischen und US-amerikanischen Städten zu sehen war. Während Wölfli seine Werke zuerst nicht verkaufen wollte, dann einzelne Blätter für beispielsweise 3 Franken verkaufte, führte die Erfolgsgeschichte von Wölflis Werk im Laufe eines Jahrhunderts zu hohen Handelspreisen, die mittlerweile schon fast die vom Zeichner, Schreiber und Komponisten zu Lebzeiten in seinen Texten geforderten und damals als astronomisch hoch bezeichneten Beträge erreichen. Während die Zeichnungen Wölflis also schon viel Beachtung fanden, wurde das erzählerische Werk erst Mitte der 1970er Jahre langsam erschlossen. Nach jahrelanger Entzifferungs- und Editionsarbeit von Elka Spoerri, Dieter Schwarz, Max Wechsler und weiteren Mitarbeitern wurden der Band Von der Wiege bis zum Graab. Oder, Durch arbeiten und schwitzen, leiden, und Drangsal bettend zum Fluch (1985) mit den Schriften von 1908–1912 und das Geographische Heft Nr.° 11 (1991) publiziert. Dadurch wurde Wölfli auch als Autor rezipierbar, obwohl bis heute weder sämtliche Schriften transkribiert noch publiziert sind. Wenn Wölflis Werke nicht faksimiliert vorliegen, müssen sie für eine Publikation als Transkription reduziert werden. Für Von der Wiege bis zum Graab macht der von Dieter Schwarz verfasste Editionsbericht32 deutlich, welche Entscheidungen in der Wiedergabe oder Weglassung von Text im Grenzbereich zum Bild oder der Illustration gefällt wurden: »Textzeilen, die in Zeichnungen stehen, werden nur berücksichtigt, sofern sie den vorübergehenden Text unmittelbar fortsetzen. Alle übrigen Wörter oder Sätze, die Teile der Zeichnungen benennen oder sie ornamental ausfüllen, werden nicht transkribiert. Die durch eine Zeichnung entstehende Unterbrechung des Texts wird durch einen Querstrich markiert.« 33 kehrte einem den Rücken und begann zu schimpfen. Ähnlich erging es ja, wie Morgenthaler in seinem Buche berichtet, auch ihm.« Ebd., S. 57. Der behandelnde Arzt ist hier auch der beobachtende und verhörende Arzt, der sich durch die Verweigerung eines Geständnisses des Patienten ihm gegenüber irritiert zeigt. Auch andere Psychiater wie Theodor Spoerri haben beispielsweise in Wölflis gezeichneten Orangen Vulven erkennen wollen und einer »Realbiographie« Wölflis eine »Wahnbiographie« an die Seite gestellt – an die Möglichkeit, dass es sich bei Wölflis Werk um Fiktion und damit um Kunst beziehungsweise Literatur und nicht nur um Krankheitssymptome handeln könnte, wurde lange nicht gedacht. Spoerri (1972), S. 74; 76. 32 | Schwarz (1985b). 33 | Ebd., S. 36. Ebenfalls nicht deutlich gemacht werden konnten in der Transkription die von Wölfli beispielsweise in der Mitte der Seite gesetzten Wörter oder Hervorhebungen einzelner Wörter mit Farbstiftumrandung.
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Damit wird deutlich, dass in den Textausgaben nicht nur die Bilder, sondern auch Wörter und Sätze weggelassen wurden, wenn man sie als »ornamental« einstufte. Was bei Wölfli Text, was Bild, was ›Inhalt‹ und was Ornament ist, dürfte jedoch schwerlich definitiv zu beantworten sein. Man hat es bei der Präsentation von Wölflis Werk in Museen wie auch in Publikationen meistens also entweder mit ›Bildern‹ zu tun, deren Einschreibungen in Sütterlinschrift nicht auf den ersten Blick entzifferbar sind, oder mit Texttranskriptionen, über deren bildnerisches Umfeld man nur mit Archivmaterial oder durch die Anmerkungen der Herausgeber Bescheid weiß.34 So ist es denn nicht ganz erstaunlich, dass Kunsthistoriker und Literaturwissenschaftler sich Wölfli in den Rollen eines Künstlers respektive eines Autors aufteilen und umfassendere Ansätze, die selbstverständlich besonders anspruchsvoll sind, bisher noch selten sind, obwohl schon oft konstatiert wurde, dass Wölflis Werke ein Mehrfaches beinhalten, oder wie es Daniel Baumann einmal formuliert hat, dass sich ihre Intensität aus der »Beziehung zwischen Ornament, Sinnbild und Erzählung«35 ergibt. Schon Morgenthaler schrieb, die Unterteilung von Wölflis Werk in Prosa, Gedichte, Kompositionen und Zeichnungen sei nicht trennscharf zu vollziehen: »Diese vier Gruppen können allerdings nicht ganz voneinander getrennt werden, indem die Prosa z.B. hin und wieder allmählich in Rhythmus übergeht; vor allem aber gehen Zeichnungen und Kompositionen vielfach ineinander über und durcheinander.«36 Die Forschung zu Wölflis literarischem Werk ist marginal, ein wichtiger Impuls war der 1993 erschienene Band Porträt eines produktiven Unfalls. Adolf Wölfli, der Dokumente wie die von Michael Kohlenbach transkribierte Krankengeschichte und das ärztliche Gutachten über Wölfli, Recherchen, Abbildungen und Aufsätze enthält, die Wölfli etwa ins Setting der Moderne stellen (Martin Stingelin), ihn als Leser (Ralph Schröder), als Insassen der Waldau (Roman Kurzmeyer) darstellen oder das »Experiment des Lebens« anhand von Wölflis Lebensbefragungen untersuchen (Hubert Thüring).37 Darüber hinaus gibt es wenige literaturwissenschaftliche Auseinandersetzungen mit Wölfli. Hier soll nun eine Lektüre vorgenommen werden, die sich auf vier Aspekte konzentriert. Im Zusammenhang mit Wölflis ›Schreibort Waldau‹ kommt erstens das Schreiben am Rand und über den Rand hinaus zur Sprache (4.2.1), es folgt zweitens eine knappe Darstellung von Schreibort, Signaturen, Adressierungen und Testamenten (4.2.2), darauf wird drittens Wölflis Zugang zum Schreib- und Malmaterial thematisiert (4.2.3), bevor viertens das Kapitel mit einer Teppichgeschichte abgeschlossen wird (4.2.4). Wölflis Waldauer Geschichtsschreibung beginnt am 3. Juni 1895. Zu diesem Zeitpunkt wird er nach sogenannten ›Notzuchtversuchen‹ an Kindern als Untersuchungsfall in die Waldau gebracht. Es liegen bereits einige Untersuchungsakten, Rapporte und ärztliche Atteste über ihn vor.38 Wölfli schreibt in den ersten Tagen 34 | Das Verzeichnis der illustrierten Seiten in den Heften »Von der Wiege bis zum Graab« gibt an, wo Zeichnungen, Kompositionen oder Seiten mit »zeichnerischen Akzentuierungen im Schriftbild« vorkommen. Wölfli (1985b), S. 223 f. 35 | Baumann (2000), unpag., S. 1. 36 | Morgenthaler (1985), S. 17. 37 | Alle Beiträge in: Hunger u.a. (1993). Eine linguistisch orientierte Untersuchung von Wölflis Texten hat Ursula Gehbauer Tichler (1999) unternommen. 38 | Zur Familien- und Lebensgeschichte siehe Hunger in dies. u.a. (1993), S. 33–151.
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Schreiben am Rand
einen ausführlichen Lebenslauf, den die Akte mit »[hat g]ut seine Lebensgeschichte geschrieben«39 einordnet, die Erwartungen an den ehemaligen Verdingbuben wurden mit diesem Schreiben also erfüllt, wenn nicht übertroffen. 1899 wird erstmals erwähnt, dass Wölfli zum Zeitvertreib zeichne, im Jahr 1900, dass er komponiere. Mit der künstlerischen Tätigkeit und dem dazu notwendigen Material vermag sich Wölfli zu beruhigen, in der Akte steht: »Ist aber, seitdem er zeichnen darf & jede Woche ein Bleistift bekommt, ordentlich; die Arbeit lenkt ihn ab.«40 Der Inhalt dieser Zeichnungen wird von den Buch führenden Ärzten zuerst negativ gewertet, man entnimmt einem Eintrag aus dem Jahr 1902: »[S]eine Zeichnereien sind ganz blödes Zeug, ein wirres durcheinander von Noten, Worten & Figuren«,41 vier Jahre später verändert sich diese Einschätzung, zumindest, was Wölflis Technik anbelangt. Man liest: »Seine Zeichnungen sind immer das gleiche phantastische Durcheinander; zu bewundern ist seine Fertigkeit im ziehen gerader Linien od. einfacher Kurven ohne Hilfsmittel.«42 Wiederum ein Jahr später wird Wölfli »ein[ ] gute[r] Farbensinn & technisches Talent«43 zugeschrieben, bevor dann 1916 sogar mit einer positiveren Wertung festgehalten wird: »zeichnet jetzt recht schön, hat mehr Abwechselung; seine Zeichnungen werden von Künstlern als künstlerisch eingeschätzt.«44 1908 findet sich eine erste Erwähnung, dass Wölfli »Gedichte«, »Geschichten« und »allerlei konfabulierte Selbst[e]biographien«45 schreibe. In die Akte aufgenommen werden auch inhaltliche Bestandteile von Wölflis »Biographie«, der schreibende Arzt las demnach entweder Texte Wölflis oder der Autor erzählte ihm von deren Handlung. Wie bei den Zeichnungen bemüht sich die Akte auch bei den Texten um eine Einordnung, so liest man etwa: »Die geographischen Daten sind in der Regel ziemlich korrekt & aus einem Atlas zusammengestellt, als weitere Quellen dienen ihm Kalender, illustrierte Makulatur & dgl.«46 Neben einer Pathologisierung und einem Staunen47 über Wölflis Texte kommt als dritte Reaktionsmöglichkeit innerhalb des Psychiatriediskurses auch die rationale Überprüfung aus ›objektiver‹ Warte zur Geltung: In der Einschreibung von Wölflis Literatur und deren Quellen in die Akte werden die Texte auch beglaubigt. Von 1908 bis zu seinem Tod 1930 schreibt Wölfli in der Waldau, und es sind 45 Bände und 16 Schulhefte mit insgesamt über 25’000 dicht beschriebenen Seiten erhalten.48 Weil er oft gewalttätig war und sich mit anderen Patienten anlegte, was 39 | Kg Waldau Nr. 4224, Eintrag vom 19. Juni 1895, zitiert nach Hunger u.a. (1993), S. 368. 40 | Ebd., Eintrag vom 27. Januar 1902, zitiert nach Hunger u.a. (1993), S. 372. Zu Wölfli und dem (nicht) vorhandenen Zeichen- und Schreibmaterial siehe Kapitel 4.2.3. 41 | Kg Waldau Nr. 4224, Eintrag vom 19. Oktober 1902, zitiert nach Hunger u.a. (1993), S. 372. 42 | Ebd., Eintrag vom 28. März 1906, zitiert nach Hunger u.a. (1993), S. 373. 43 | Ebd., Eintrag vom 23. Oktober 1907, zitiert nach Hunger u.a. (1993), S. 374. 44 | Ebd., Eintrag vom 11. März 1916, zitiert nach Hunger u.a. (1993), S. 376. 45 | Ebd., Eintrag vom 25. September 1908, zitiert nach Hunger u.a. (1993), S. 374. 46 | Ebd., Eintrag vom 25. September 1908, zitiert nach Hunger u.a. (1993), S. 374. 47 | Auf das »Staunen der Psychiatrie über die Rätselhaftigkeit, das Phantastisch-Kreative und ungeheure Produktive des schizophrenen Künstlers Adolf Wölfli« hat Martin Stingelin hingewiesen, nicht ohne zu bemerken, dass dieses Staunen die »Strategien, mit denen sie [die Psychiatrie, Anm. M.W.] sich dieser ›Wahrheit‹ bemächtigt« hat, verdunkele. Stingelin (1993b), S. 23. 48 | Siehe detailliert zu Wölflis Schriften die beiden gleichbetitelten, aber nicht ganz identischen Texte Elka Spoerris (1985a und 1985b).
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beispielsweise zu einem abgebissenen Stück Oberlippe eines Opfers und in einem anderen Konflikt zu einem Schenkelhalsbruch führte, musste sich Wölfli meistens in der Zelle aufhalten, zwischendurch durfte er auch im Museum arbeiten. Die Pflegerberichte halten etwa fest: »Geht jetzt immer in das Museum hinauf, um dort zu Schreiben.«49 Gewisse Arbeiten fertigt Wölfli in der Zelle an, andere, wie etwa die Bemalung eines Schrankes oder dann eines Paravents für den Arzt Oscar Forel erledigt er im Museum.50 Nicht ins Museum arbeiten gehen zu können wird als eine Drohung von Ärzteseite ausgesprochen, wenn Wölfli sich wieder einmal weigert, das Messer, das er zum Spitzen seiner Bleistifte benötigt, abends an die Wärter abzugeben. Die Akten schreibende Ärztin, vermutlich Marie Ries-Imchanitzky, beschreibt 1922 diesen Konflikt, worauf sie Wölfli auf die »Hausordnung« ansprach und er ihr mitteilte, er wolle nicht mehr zeichnen, wenn er kein Messer habe. Darauf erhält Wölfli folgende Replik: »Gut, sagte ich ihm, dann brauche er auch nicht ins Museum zu gehen & er soll auf der Abt. bleiben.«51 Dies tut Wölfli in der Folge des Disputs auch drei Tage lang, schaut sich anscheinend Bilder an, bis er Ries-Imchanitzky schließlich mitteilt, »er habe genug vom Faulenzen« und verspricht, das Messer jeweils zurückzugeben. Im Anschluss daran soll Wölfli ins Museum gegangen sein, um am Paravent weiterzuarbeiten. Nachdem es Wölfli ab 1929 gesundheitlich schlechter geht, er unter Magenproblemen leidet und regelmäßig erbrechen muss, untersucht ihn Julius von Ries 1930 im Berner Engeriedspital und schlägt eine Operation vor. Gegen diese Operation wehrt sich Wölfli noch aus dem Spital heraus schriftlich. An seine Ärztin Ries-Imchanitzky schreibt er am 13. März 1930: »Ich will mich absolutt nicht operieren lassen. Das kann nach und nach, sonst wid’r besser werden. Im Neubau kan ich an dem Trauer=Marsch, weiter arbeiten: Hier kann ich nichts thun und habe stehts, Langeweile. Im Neubau ist eher Hoffnung vorhanden, zu meiner Besserung, als Hier in der Insel.« 52
Der Neubau als Aufenthaltsort in der Anstalt wird in diesem Brief als Ort der Hoffnung bezeichnet, weil dort eine Weiterarbeit für Wölfli möglich ist, was anfänglich im Spital nicht der Fall war. Die Operation wird dann zwei Tage nach Wölflis Brief im Beisein von RiesImchanitzky durchgeführt. Es wird allerdings nur eine Gastroenterostomie gemacht, da der vorgefundene Tumor schon zu weit fortgeschritten ist. Trotz sich verschlechternder Gesundheit legt die Krankenakte Zeugnis davon ab, dass Wölfli unermüdlich an seinem Trauermarsch weiter arbeitet, den er zu Weihnachten fertig gestellt haben will, was er aber nicht mehr erreichen kann, da er am 6. November 1930 stirbt. 49 | Kg Waldau Nr. 4224, Pflegerberichte, 2. Mai [vermutlich 1922], zitiert nach Hunger u.a. (1993), S. 396. 50 | Eine Aufnahme von Wölfli neben seinem Paravent findet sich etwa in Spoerri/Glaesemer (1976), S. 126. 51 | Kg Waldau Nr. 4224, Eintrag vom 12. November 1922, zitiert nach Hunger u.a. (1993), S. 385. 52 | Adolf Wölfli an Frau Dr. Marie von Ries, Bern, den 13. März, 1,930. In: Wölfli (1985b), S. 194.
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Schreiben am Rand
4.2.1 Schreiben am Rand, Schreiben über den Rand hinaus Wölflis Schreiben ist eng verknüpft mit Orten, Landschaften, Geografie und Sphären. Seine Figuren bereisen in immer größeren Radien die Schweiz, Europa, die Welt und schließlich das Universum. Autobiografie und Fiktion überlagern sich in Wölflis Werken, der Erzähler verweist oft auf eine Übereinstimmung zwischen Autor und Figur und fügt auch in Erklärungen zu seinem Werk an, dass er selbst der literarisierte Doufi (Adolf) sei. In einem Brief an die Druckerei, die auf seinen Wunsch das Manuskript Von der Wiege bis zum Graab veröffentlichen soll, schreibt Wölfli 1912 etwa erklärend: »Ich bin Der, Darin unzählige mal genanntte, Doufi. Und somit Heutte noch, Das jüngste Mitglieder der, in den Jahren 1864 bis 1870 Die gantze Eerde Durchreisende, schweizerischen Jäger und, Natuhrvorscher=Gaarde. Getz. Hoch=achtungsvollst Adolf Wölfli. Bern.«53 Danach fährt er mit der fantastischen Reisebeschreibung fort und überschreitet damit alle geografischen, biografischen und institutionellen Einschränkungen. In den Geographischen und allgebräischen Heften wird die Reise fortgeführt und ausgedehnt. Mit dem Geographischen Heft N.° 11, datiert mit den Jahreszahlen 1912 und 1913, verlässt Wölflis »Natuhrvorschende Gesellschaft« mit ihrem Anführer Skt. Adolf, der gleichzeitig auch das Kind Doufi ist, den Erdball und bereist den Kosmos. Das 854-seitige Werk enthält 16 ganzseitige Zeichnungen, verhältnismäßig wenige, vergleicht man etwa mit Heft Nr.°15, das denselben Seitenumfang besitzt und in dem sich 154 Zeichnungen finden. Die Erde ist darin Ort der Rückkehr, und das Motiv der Heimkehr zieht sich ebenso durch das Werk wie dasjenige des Auf bruchs, der Entdeckung und Neugründung. Damit auf diesen Rückwegen nicht viel Zeit und Platz benötigt wird, benutzt die Gesellschaft um Doufi »riesenhaft maijestätische Transport und Last=Vögel«,54 einen »riesenhaften Kolang=Transport=Luxus=Vogel, (oh wie schön.)«55 oder in einer Variation der Wiederholung »riesenhafte[ ] Transport=Blitz=Vögel[ ]«.56 Die fantastischen Vögel stellen die Verbindung her zwischen Erde und Universum, sie ermöglichen aber auch Zeitreisen und Rettungsaktionen, denn klein Doufi ist immer wieder Gefahren ausgesetzt und bedarf der Rettung. Damit ist neben der Rückkehr auf die Erde eine weitere Erzählschlaufe, die Rettung, benannt, die gleichzeitig als Abschluss und Anfang von Textbausteinen und damit als Gliederungselement fungiert. Schreiben ist bei Wölfli ein konstruktives Bauen: Fiktive Städte, Brücken und Ländereien entstehen unter Wölflis Bleistift; auch die in Heften zusammengebundenen Seiten wachsen bis zur Mannshöhe heran und sie füllen Wölflis Zelle aus, wie verschiedene Porträtbilder zeigen. Mit der Leserschaft zeigt sich Wölfli geduldig, er nimmt sie erzählend an der Hand und verspricht: »Ich führe Dich nun, lieber Leser, in Gedanken, in meinen höchst eigenen, Skt. Adolf=Steern=Riesen=Eßkurial bei Santta=Maria=Steern=Hall: Riesen=Stadt, auf dem Weranntt, Santta=Maria=Steern.«57 Mit solchen metafiktionalen Erzählelementen thematisiert ein Ich den Erzählprozess und legt dessen 53 | Adolf Wölfli an die Buchdruckerei Wyss, Bern, 7. 4. 1912. In: Wölfli (1985b), S. 190. 54 | Wölfli (1991), S. 35. 55 | Ebd., S. 33. 56 | Ebd., S. 51. 57 | Ebd., S. 132.
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imaginäre Anlage (wie oben genannt: »in Gedanken«) offen. Wölfli wird nicht müde, in bandwurmartigen Satzanlagen Erklärungen anzubieten, er baut gleichzeitig am sprachlichen Labyrinth und legt den Faden zur Orientierung auf dem Weg durch das Gebilde auch gleich selber: »Und nun nochmals. Sämtliche Skt. Adolf=Gross und Riesen=Brüken, welche ich mit höchst eigener Hand in diesem Büchlein baufondiert habe, welcher Ahrt und Gatung Letztere auch sein mögen […] sollen [...] konstruktioniert und erstellt werden«.58 Abb. 30: Adolf Wölfli: »auf meinem heerben Schmertzens=Laager«
58 | Ebd., S. 27.
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Das Buch ist also Grundlage und Anleitung zum Bau. Für Unklarheiten in der Rezeption seiner Baufondierungsarbeit entschuldigt sich Wölfli schon im Voraus mit dem Hinweis auf sein Krankenlager, das eine andere Arbeit nicht erlaube (Abb. 30): »Sollte im Baufondierungs und Eisenbahnsubventtionierungs=Heft des hiesigen Büchleins, Irgendwoh eine derahrtige Angabe zu schwach oder zu gering, event. möglicherweise auch zu hoch inszeniert worden sein, so bitte ich dehmühtigst, ergebendst und untterthänigst das freuntliche Publikum zu Stadt und Land, wie auch meinen höchst eigenen Enkel und Nichte, den bemerkten Fehler zu korigieren und, gut zu machen. Denn, auf meinem heerben Schmertzens=Laager, kann ich doch, inmitten dieses teuflischen Gezischels und schnurrens, unmöglich Alles auf’s genaueste wißen.« 59
Mit der ›baufondierenden Schreibweise‹ wird das konstruierende Erzähler-Ich mit seinem Werkzeug, der schreibenden und dadurch bauenden Hand, und dem Produkt, dem Buch, vorgeführt und somit gleichzeitig weiter am Buch als Lebenswerk geschrieben, wie auch an der imaginären Landschaft weitergebaut. Ein solches Schreiben dehnt sich in zwei Richtungen aus. Die Wortkreation ›Baufondierung‹ beinhaltet die beiden Komponenten dieser ›Schreibszene‹, also sowohl den Auf bau im Sinne des Brücken- und Manuskriptbergbaus, wie auch die Anlage eines Fundamentes im Sinne eines Unterbaus, bei dem der materielle Unterbau des »Büchlein[s]« im Auf bau gigantischer Städte und ähnlichem immer mitbedacht wird. Die von Wölfli sprachlich geschaffene Architektur zeichnet sich damit durch ihr genuines Zusammenspiel von einem ›Unterbau‹ mit einem ›Überbau‹ aus, das im Schreibmaterial seine Verknüpfung und Verortung erfährt. Neben der Beschreibung der großartigen Bauten findet sich in Wölflis Werk immer auch in leiseren Tönen die Thematisierung des Nicht-Schreiben-Könnens. Dabei wird einerseits das auf den imaginären Reisen Gesehene als Unbeschreibbares dargestellt und damit überhöht gezeichnet und andererseits werden die Grenzen der Schreibens im Akt des Schreibens selbstreferentiell thematisiert, so etwa, wenn zu lesen ist: »[W]as Wihr Untterwegs Alles gesehen haben, vermag Die geübteste Schreiber=Hand mit Ihrer gediegenen Feder, absolut nicht zu beschreiben. Sakra, nochamal«.60 Der Schreibende setzt sich in Bezug mit den Geübtesten seines Fachs, die auch noch über besonders geeignete Schreibinstrumente verfügen und verstärkt seine Aussage abschließend mit einem Fluch im Dialekt.61
4.2.2 Schreibort, Signaturen, Adressierungen und ›testamentarisches Schreiben‹ Wölflis Werk ist aber nicht nur durchdrungen von Orten, die der Erzähler bereist und beschreibt, sondern auch von vielschichtigen Nennungen des Schreibenden selbst und von Orten, an denen geschrieben wird. Wie die inhaltlichen Elemente der Rückkehr zur Erde, zurück in die Kindheit oder Fall und Rettung des kleinen Doufis Säulen der Texte sind, so stützen die Signaturen das sprachliche Gefüge. Sie sind damit 59 | Ebd., S. 30. 60 | Wölfli (1991), S. 58. 61 | Zu Wölflis Verwendung der Mundart und anderer Dialekte siehe Wernli (2014).
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Abb. 31: Adolf Wölfli: »in hiesiger Irrn=Anstalts=Zelle«
konstitutive Textbausteine und nicht nur Zeichen von »Ermüdungseinflüsse[n]«,62 wie sie Morgenthaler nennt. Die Signaturen variieren in Namensgebung, Ortsangabe und der Nennung von Jahreszahlen oder ihrer Weglassung: Sie festigen die Erzählinstanz, verweisen auf den Autor und sichern Textpassagen gleichsam ab, bevor Neues aufgebaut wird. Dadurch wird der Text gleichzeitig geordnet und in seiner Form stabilisiert. 62 | Morgenhaler (1985), S. 37.
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Schreiben am Rand
Betrachtet man in den Manuskripten den materiellen Ort, wo die »Irren=Anstalts= Zelle«, die Waldau, das »Schmertzens-Laager« oder die »V. Männer=Abtheilung« bei Wölfli erwähnt werden, fällt auf, dass die Ortserwähnungen auf den jeweiligen Blättern oft einen Randplatz einnehmen, wie sich exemplarisch an den drei Abb. 30, 31 und 32 zeigen lässt. Abb. 32: Adolf Wölfli: »in Zelle N.° 2 der V. Männer=Abtheilung Der kantonaalen Irren=Anstalt. Waldau bei Bern«
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Die Ortsangaben des schreibenden Ichs, die Signaturen und damit die Verortung des Schreibens nehmen oft eine Randstellung ein. Ob es sich dabei um Zufallsfunde handelt, muss bei der Menge, die Wölfli geschrieben hat, offen bleiben, es sollen hier auch keine quantitativen Aussagen gemacht werden. Es fällt aber zumindest an den vorliegenden Stellen auf, dass die Ortsangaben wie Unterschriften und Textabschlüsse zuunterst auf der Seite ihren Platz finden. Mit dem Blatt endet damit häufig auch eine Erzählpassage. Dort werden die Angaben teilweise schon in die Bindung der Werke aufgenommen und vernäht. Die materiellen Schreiborte sind so an Scharnierstellen der Texte angesiedelt, sie schließen Seiten ab, halten aber auch die Textbündel zusammen und leiten zur nächsten Seite über. ›Schreiben am Rand‹ bekommt damit zu den bereits in anderen Kapiteln beschriebenen historischen, geografischen oder gesellschaftspolitischen Konnotationen mit Wölflis Werk eine zusätzliche materielle Bedeutung. Wölfli schreibt nicht nur am Rand der Gesellschaft, in seiner Zelle, auf einen Rand Papier, er beschreibt auch den Rand, und dies im metaphorischen, thematischen und materiellen Sinne. Mit dem Versuch, Ordnung zu schaffen, Regelungen zu treffen, die über den eigenen Tod hinaus Bestand haben, hat auch das zu tun, wofür ich bei Wölfli die Bezeichnung ›testamentarisches Schreiben‹ vorschlagen möchte. Dieser Bezug zum Testament vollzieht sich in dreifacher Weise: erstens legt Wölflis Erzähler immer wieder Zeugnis ab, ist also testis von den Reisen und Erlebnissen, zweitens testiert er seine Texte laufend mit Unterschriften und drittens verfasst Wölfli daneben verschiedene Testamente, verstanden als Textsorte, mit deren Hilfe sein Nachlass geregelt werden soll. Darin werden innerhalb der Großerzählung, als die man seine Texte lesen kann, Anweisungen gegeben, Listen über Vermögen geführt und Erben eingesetzt – meist handelt es sich beim Begünstigten um Wölflis Neffen Rudolph Wölfli. Diese Textstellen sind auf besondere Weise mit Wölflis Aufenthaltsort verbunden, sie verorten den Schreibenden immer wieder in der Anstalt und sie zeigen das Geschriebene als unter institutionellen Bedingungen Entstandenes. Mit dem Bemühen, in fingierten oder realen Finanzsituationen Ordnung zu schaffen, wird nicht nur das eigene Vermögen anderen versprochen, sondern auch versucht, den Forderungen der Anstalt gerecht zu werden und Schulden zu begleichen. Damit erhält eine solche Textstelle als Versprechen eine performative Komponente und überschreitet die deskriptive Ebene. Die Anstalt als Schreibort wird dadurch zum Handlungsträger, in ihr wird geschrieben, überschrieben und versprochen. Eine entsprechende Eröffnungsstelle im vierten Buch in Von der Wiege bis zum Graab lautet: »Achtung: Obacht. Der letzte Wille des Endsuntterzeichnetten, auf seinem Steerbe=Bett in Zelle No. 2, der V. Männer=Abtheilung, in der kantonaalen Irren=Anstalt Waldau bei Bern, lautet nun Dahihn.«63 In der Folge setzt Wölfli seinen Neffen als Erben ein, will Geld für ein Grabmal überwiesen haben und fügt an, es seien »[…] event. 20,000 Fr. an die Titt. Direktion oder, Verwalltung hiesiger Irren=Anstalt Waldau, das heißt, meine gantze, gesammtte Zeche zu bezahlen und, zu entrichten hat. I bi itz V’rrükt: U. vögla ma n i Miitühri=Gottseehl nit meh. Aproppo: Sollte es mihr gegönnt sein, noch bis nächsten Herbst oder Wintter, leben zu können, so würde ich dann von den rund: 400,000 Fr. welche mein Enkel Rudolph hiesiger Anstalt zu erhaben hat, 50,000 Fr. Das heißt, 35,000 Fr. 63 | Wölfli (1985a), S. 583, 4. Heft.
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Schreiben am Rand vom, an Zins liegenden Kapital beim Kranken=Wärter Stäehli: Und, die, bei Herrn von Spei’r deponierten 15,000 Fr. von der Langnauer=Bank hehr, den 1. Septem’r 1,912, auf irgend einer Bank in Bern, auf meinen höchst eigenen Namen hihnlautend, zu möglist hohem Zins an Zins legen und, den 3. Jänner, 1913, Dafon die Spesen beziehen, um hernach das gantze Kapital auf der Bank liegen zu lassen, bis zum 3. Jänner, 2000.« 64
Aus dieser Stelle lässt sich ein Versuch des Abschlusses lesen; das Erbe soll ausgezahlt respektive überwiesen werden und ein Teil davon geht an die Anstalt, deren Exponenten, Direktor und Verwalter als Zuständige in Sachen Finanzen, Wölfli bekannt sind. Direktor von Speyr behält in Wölflis Version lautmalerisch seinen Namen, gerät optisch allerdings als »von Spei’r« in auffällige Nähe zum Spucken und Speien. In einem berndeutsch gehaltenen Einwurf in diesem Zitat (»I bi itz V’rrükt […]«) kommt direkt nach der Erwähnung der Waldau die Verrücktheit und mit dem ›Vögeln‹ die Sexualität kurz zur Sprache, bis dann – mittlerweile wieder auf Hochdeutsch – neben einem Krankenwärter der Direktor von Speyr namentlich erwähnt wird, als Verwalter von Wölflis Vermögen, aus dem noch eine »Zeche« zu zahlen sei. Es kann also nicht abgeschlossen werden. Mit der Partikel »Aproppo« wird der Reigen der Anweisungen wieder aufgenommen und fortgeführt. Wölfli plant hier nicht nur neunzig Jahre in die Zukunft, sondern zeigt in seinem Testament spezifisches Anstaltswissen, das sich auch auf die Verwaltung von Patientenvermögen und auf Regelungen beim Ableben von Insassen bezieht. Er ordnet sich damit als Person mit seinem Vermögen in den Arbeitsalltag der Angestellten ein und macht sich sogleich daran, diesen zu regeln und zu regulieren. Darin kann bezüglich des Klinikregimes eine Art Unterwerfung gesehen werden, aber auch eine gleichzeitige Übernahme des Zepters, was im Fall der Figur Skt. Adolf im wörtlichen und ansonsten im metaphorischen Sinne zu verstehen ist. Denn Wölfli denkt über sein Schicksal nach, organisiert seinen Nachruf und versucht den Blick der Nachwelt auf sich zu lenken – ein Unterfangen, dem je nach Betrachtungsweise nicht nur Erfolg beschieden war, wie die Rezeptionsgeschichte zeigt. Nicht nur das Vermögen, sondern auch die Bedingungen der Buchpublikation werden von Wölfli schriftlich geregelt. Schreiben ist bei Wölfli immer auch mit der Adressierung eines breiten Publikums verbunden und damit auf eine entsprechende Publikation, Medialisierung und Verbreitung hin ausgerichtet. Dazu ist zuerst ein Abschluss der Werke zu vollbringen. Die Planung des Drucks treibt aber die Erzählung weiter, anstatt sie zu beschließen. Wölfli zählt bei den Angaben zur Umsetzung der Publikation erstaunlicherweise (wenn man seine Biografie bedenkt) auf die Hilfe der Polizei, die bei der Vollstreckung von Wölflis letztem Willen behilflich sein soll. Die etwas längere Passage führt vom Schreibort zum versuchten Text-Abschluss und weiter zur Berner Stadtpolizei: »Und nun, lieber Leser, finde ich mich veranlaßt, infolge Unglüks-Falles vor Gott dem heil. Geist, sowie infolge körperlicher Überahnstrengung, grentzenloser Schmertzen, Angst und Pein auf meinem herben Schmertzens=Lager, den gantzen Text und Wortlaut dieses, gewiß nicht zu verachtenden und sehr Untterhaltsungsreichen, mit über 700, größtentheils schönen Kupferstich, Stahlstich und Holtzschnitt=Handzeichnungen, mannigfalltigen Gebetten, 64 | Ebd.
Schreiben (und Lesen) hinter den Sandsteinmauern testamenttahrischen Vermächtnißen, Schenkungen und Trinkgeldern, Zinsrechnungen, Eisenbahnsubventtionierungen und Baufondierungen, sowie mit dem mannigfalltigsten, geographischen Text ausgestattetes Büchlein zu schließen und, den Schluß, nebst einer respektablen Zins, u. Zinses=Zins=Rechnung, betreffend, mein, schon zu’r Stunde des 1. Januahr 1869, höchst eigenen rechtmäßigen Vermögens=Kapitals im Gesamt=Betrage von rund: 1, 880, 700, 202, 000, 000, 000 Fr. welches Kapital in zahlreichen, kleinern und größern Beträgen, auf ditto, zahlreichen Banken und Bankinstituts, auf dem gantzen Eerd=Ball herumm, durchwegs auf meinen, Des Endsuntterzeichnetten höchst eigenen Namen hihnlautend, zu jeh, ungleichhohen Zinsahnsätzen an Zins u. Zinseszins gelegt worden sind: He jah: […] Den Schluß der gantzen Geschichte bilden eine Anzahl schöne Musik=Lieder, hauptsächlich als Text in Versen, sowie noch einmal eine Anzahl fromme Gebette und Sinnsprüche, etzettera. Und, wie schon weiter vohrnen bemerkt, Das Büchlein, bestehend aus 10 nummeriertten, rohen Heftern, sowie aus 12 blauen Heftern, soll in Bern auf einer guhtbeleumdetten Drukerei, in 100,000, Exemplahren gedrukt, hübsch und elegannt eingebunden und, Das eintzelne Exemp=lahr a. 1 Fr. 20 Rp. im Preis, in den Gross und Wellthandel gebracht werden. […] Die wohllöbliche Stadt=Polizei Bern, welcher somit alle meine, aus höchst eigener Hand entstandenen Werthschriften, zur grüntlichen und korrekten Inspitzierung, Durchforschung, und Beguhtachtung, eingelifert werden sollen, hat Daführ zu sohrgen, Daß Die obgenannten, rund: 100,000 Fr. zu’r rechten Zeit, post restantt und korrekt, untt’r meinem höchst eigenen Namen, an Den rechten Mann [gemeint ist der Neffe und Erbe, Rudolph Wölfli] gelangen.« 65
Die Stelle vereinigt die Thematisierung erstens der Schreibsituation auf dem Schmerzenslager in der Anstalt, zweitens des eigenen Schicksals als viel schreibender und vielbeschriebener Unglücksfall, der immer wieder Katastrophen ausgesetzt ist, der aber drittens immerhin fähig ist, in konstanter und unermüdlicher Arbeit, ein großes literarisches Werk zu »baufondieren«, um mit Wölflis Vokabular zu sprechen. Kontakte zur Außenwelt, wie sie hier durch die literarisierte Polizei repräsentiert werden, hatte Wölfli kaum. Wie eng und beschränkt der Schaffensraum für Wölfli ist, wird vor allem dann ersichtlich, wenn erzählt wird, wie er nach 25 Jahren in der Anstalt zum ersten Mal mit Oscar Forel und dessen Frau einen Ausflug in die Stadt Bern machen darf. In der Akte steht darüber: »Zur Belohnung für seine an den Schränken des Museums angebrachten Verzierungen ging Wölfli heute mit Herrn u. Frau Dr. Forel und mit dem Referenten in die Stadt, – zum ersten Mal seit 25 Jahren. Er kannte sich in der Stadt gut wieder aus: ›Hier ist die Amtshausgasse, dort die Gurtengasse; da ist der Bärenplatz. In jenem Haus habe ich als Bauhandlanger gewohnt.‹ Er erkannte wieder den Altenberg. In dieser Gegend suchte er vergebens das Sankt-AdolfGrand-Hôtel, und war erstaunt, es nicht zu finden. Von der Bundesterrasse aus deutete er auf ein auf dem Kirchenfeld stehendes rotes Backsteinhaus: das ist das St. Adolfs-Elysium, auch die Münze genannt. Wölfli war in hohem Maasse selbstbewusst. Er fuchtelte beständig mit seinem Stocke in der Luft herum, geriet mehrmals beinahe den Vorbeigehenden mit dem Stocke in’s Gesicht; er fand sich auch im
65 | Wölfli (1991), S. 74 f.
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Schreiben am Rand Getriebe der Stadt schwer zurecht, hatte oft grosse Not wenn es galt, mit seiner selbstsichern Schwerfälligkeit der Strassenbahn auszuweichen.« 66
Dieser Orientierungslosigkeit ist Wölfli innerhalb der Sandsteinmauern nicht ausgesetzt. Späht Wölfli über die »Sandstein=Mauer«67 hinaus, wird das Bauen innerhalb der Anstaltsgrenzen in eine Beziehung gesetzt zur anthropomorphisierten Stadt Bern, die in der Vorstellung bereits bis zum Breitfeld reicht – eine Imagination, die mittlerweile zur Realität geworden ist: »Es wirt Hier in der Waldau viel gebaut: Der Teufel weiß, was Das noch werden soll. Wahrscheinlich ist die Stadt Bern schon bis an Uns heran=gewachsen.«68 Innerhalb der Sandsteinmauern vergewissert Wölfli sich in seinem Schreiben mit regelmäßigen Signaturen seiner selbst, schließt Textteile ab, schreibt weiter, und er erfindet sich dabei immer wieder neu. Oft wird unterschrieben mit »Adolf Wölfli. Patiennt, Waldau«,69 oder abgekürzt: »A.W.P. Irr. Waldau«,70 an anderen Stellen sind die Signaturen ausführlicher und lauten beispielsweise: »Von Skt. Adolf II., Zeichner und Vervasser, Unfall=Patientt der Irren=Anstalt Waldau bei Bern, Schweiz. 1924.« 71 In einem späteren Heft ohne Titel heißt es: »Skt. Adolf II., Seit dem 5. Juni, 1,895, Als Unfall vohr Gott dem heilig Geist, in der kantonaalen Irren=Anstalt, Waldau bei Bern, Schweiz Europpa, Planeet, Erde, in der alten, Schöpfung. Den 9. November, 1,929. Frrrrrt.« 72 Aus diesen wenigen Beispielen dürfte klar werden, warum die Forschung sich schwer damit tut, Erzählinstanz und Autor, fiktive Figur und Patient strikte auseinander zu halten. Wölfli spielt in der Tat gekonnt mit Identitäten, Verfremdung, Anspielungen auf Eigenes und Erlebtes und mit der Möglichkeit, das eben Gesagte gleich auch wieder zurücknehmen zu können. Die eigene Person, ihr Schicksal und Aufenthaltsort werden auch in den groß angelegten Explorationsreisen immer mit- und angeführt. Dabei wird der Schreibort oft erzählstrategisch mit einem kausalen Erklärungsmuster in Verbindung gebracht. So wird das schreibende Ich beschrieben, aber auch der Ort, wie es beispielsweise in einem Brief Wölflis an seine Schwägerin 1905 der Fall ist: »Seither [seit 1895] lig ich auf das abscheulichste krank darnider inmitten des gräulichsten Lärms und Gebrülls, und kann nicht mehr zu kräften gelangen. Ich denke ich werde bald sterben.« 73 Das eigene Leben wird als unabänderliche Unfallgeschichte beschrieben, die zu einer Isolation in der Zelle der Waldau geführt hat. Die in den fiktionalten Texten imaginierte Rettung bleibt hier aus. An den Basler Künstler Fritz Baumann (1886–1942) schreibt Wölfli 1922:
66 | Kg Waldau Nr. 4224, Eintrag vom 7. April 1921, zitiert nach Hunger u.a. (1993), S. 380. Streichungen wurden hier weggelassen. 67 | Adolf Wölfli an die Schwägerin Maria Anna Wölfli-Stebler, Waldau bei Bern, 5. September 1907. In: Wölfli (1985b), S. 187. 68 | Ebd. 69 | Etwa in Wölfli (1985a), S. 11, Heft Nr. 1. 70 | Ebd., S. 602, Heft Nr. 5. 71 | Wölfli (1985b), S. 216, erste Seite des »Portrait=Bilder=Allbumm N.°1«. 72 | Ebd., S. 218. 73 | Adolf Wölfli an die Schwägerin Maria Anna Wölfli-Stebler, Waldau bei Bern den 22. April 1905. In: Wölfli (1985b), S. 182.
Schreiben (und Lesen) hinter den Sandsteinmauern »Seit dem 5. Juni, 1,895, befinde ich mich als erschrekter und überhaupt, ahngeschwindelter Unfall vohr meinem einstigen Schatz’l, als Geistes=Kranker, in hiesiger Irren=Anstalt, mit dem immerwährenden Wunsch: Ach:: Wenn doch nuhr bald der Teufel käme und mich erlöhsen wollte. Die Letztern sind Alle Dah, Aab’r, jeh, im gleichen Spittel krank, wie ich sälber.« 74
Die »Irren=Anstalt« ist in dieser Darstellung also auch ein »Spittel«, wie es in der historischen Waldau der Fall war. In einem Brief an seinen Bruder Johannes betreibt Wölfli sogar unbewusst eine Geschichtsschreibung der Waldau, wenn er sie mit dem Ausschluss von Aussätzigen in Verbindung bringt, eine Bemerkung, die in Bezug auf die eigene Person metaphorisch zu verstehen ist: »Als Aussätziger, fern von meiner lieben Heimath und zwar als Unglücksfall in hiesiger Anstalt unttergebracht, füele ich mich so angegriffen, daß ich oft heulen und zähneklappern möchte.« 75 Die Anstalt und das Leben in ihr werden von Wölfli an unterschiedlichen Orten eher beiläufig erwähnt, am direktesten kommen solche Bemerkungen in den wenigen erhaltenen Briefen vor. An seine Schwägerin schreibt er etwa: »Es geht bei Uns in der Anstalt soh hehr und zuh: Als ob das gantze Takelwerk eines Seefahrers über Uns zusammengebrochen wäre. Adee mein Lieb, mein Heimathland: Du bist mihr lang schon, nicht verwandt.« 76 Die Anstalt wird hier mit einer geografischen Metapher und einem Reisebild beschrieben. Adressiert werden zugleich die Schwägerin und das Heimatland, und der Verlust einer Verwandtschaft wird beklagt. Wie bereits gesehen, wird aber nicht nur die Anstalt als Ort thematisiert, sondern es werden auch ihre Exponenten wie etwa Direktor von Speyr genannt. Es sind zwei Briefe Wölflis überliefert, die an den Direktor gerichtet sind. Der erste enthält ein weiteres Testament, im zweiten geht es um einen Teppich, der in Kapitel 4.2.4 noch Thema wird. Im ersten Brief aus dem Jahr 1918 bemüht sich Wölfli einmal mehr, seine Vermögenssituation über seinen Tod hinaus zu klären. Dabei formuliert er auffallend vorsichtig und höflich einen Brief an von Speyr. Wölfli zeigt sich darin von Anfang an als derjenige, der zwar klare Pläne zur Verteilung seines Geldes hätte, der sich in seinem Schreiben aber durchaus bewusst ist, dass er im asymmetrischen Machtverhältnis der Anstalt der Schwächere ist und sich deshalb fügen muss. In diesem Brief verteilt er seine »[…] Vermögens=Kapital=Beträge […] zweks, sofortiger Vertestamenttierung, Übermittlung und Vertheilung Desselben, zu jeh, ungleichgroßen und doch, glaube ich, tadellos ausgedaachten Beträgen, an die gantze und gesamtte Anstalts oder, Pattienten=Bedienung, Der Waldau, bei Bern: Wie auch, an sämtliche Pattientten und Pattienttinnen, etzettera, in derselben. Das rahtsamste würde sein, mich, mittelst einem Wärtter, nach dem Mittel=Bau, vohr Audientz zu verlangen, um gegenseitig, müntlich, Darüber zu verhandeln, erwäägen, überlegen, und Eröhrtern zu können; ?Denn warumm: Ich finde, es währe absoluttes Bedürfniss, vom sämtlichen Bedienungs=Personal, Direktohr, Ärtzte, Ober=Wärter, Pörtner, Gärt74 | Wölfli (1985b), S. 239. 75 | Adolf Wölfli an Johann[es] Wölfli, Melker bei Herrn Johann Sigenthaler-Wüthrich, in Schönisei, Bumbach, Schangnau. Kt. Bern. Waldau, 30. Dezember 1906. In: Wölfli (1985b), S. 183. 76 | Adolf Wölfli an die Schwägerin Maria Anna Wölfli-Stebler, Waldau bei Bern den 2. April 1907. In: Wölfli (1985b), S. 185.
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Schreiben am Rand ner, Heizer Magahziner, andere Berufs=Ahrten und Doktohrinnen, etzettera, etzettera, eine Liist, das heißt, sogleich, ein tadellohses Verzeichniss, aufzunemen, zweks des, Testamenttes, welches ich selbst zu verfertigen gedenke und, welches in hiesiger Anstalt, sogleich besiegelt und gestemppelt werden muß. Und nun, Organisattion, Der Kapital=Vertheilung. I. Serie. Dem Herrn Direktohr, 1,450,000, Fr. Den Herren Ärtzten, jeh, 1,150,000, Fr. Den Doktohrinnen, 800,000, Fr. Iro, großherzoglicher Gnaden, Der Roht=Kreutz=Schwester, Santta Ida vom Waldau=Fäld, 5,000,000, Fr. Iro Majestät, Der Groß=Königin und Roht=Kreutz=Schwester, Santta Ida von, Santta=Ida=Wald: Mutter der Vohrgenanntten, 5,500,000, Fr. Dem Ober=Wärter, Moser, 650,000, Fr. Dem Gärtner, 600,000 Fr. Dem Heizer, 550,000, Fr. Dem Pörtner, 500,000 Fr. Den sämtlichen Wärtern, jeh, 250,000 Fr. Den sämtlichen Wärterinnen, jeh, 225,000 Fr. Den Drei Knaben, Fritz Zahrli, Walter Hiltbrunner und Fritz, Burkhalter, Hier, im Stok, jeh, 150,000 Fr. Führ die sämtlichen, armengenössigen oder nuhr, mangelhaft bemittelten Pattientten und Pattienttinnen, Beiderlei Geschlechts, Alt und Jung, gantz egahl, Woher Sie auch kommen mögen, Die nicht ein bahres Guthaben von wenigstens, Fünzigtausend Fr. besitzen, 55,000,000, Fr. Etzettera. Von wegen Städuntten und Studenttinnen, Cham a ja de zwäkentsprächend v’rhandla, wenn i pärsöhnlich bi Euch, vohr Audientz bih. Aproppo: ich bin, obschon ich in Wirklichkeit und Warheit ein Unfall bin, denn i ha die heilandsdonn’r Güllotina ja nit g’seh, bis Sie m’r a d’Nasa g’sprunga ist, zu’r jetzigen Stunde kein unmündiges Kind: Und habe keine Vohrmundschaft, Die mich an meinem, nicht zu verachtenden Vohrhaben, hindern köntte.« 77
Wölfli inszeniert sich hier als Wohltäter, der keine Gruppen der Waldauer ›Familie‹, wie sie von Speyr gerne bezeichnete, vergisst und der allen etwas zuspricht. Mit einem Wechsel in den Dialekt im unteren Drittel der Passage wendet sich Wölfli an die »Städuntten« und Studentinnen und verspricht ihnen ebenfalls eine Berücksichtigung. Diese wird pikanterweise als ›Verhandlung‹ bezeichnet, eine Handlungsweise, die die gängigen Erwartungen an eine klinische Vorstellung vor Studenten, über die Wölfli hier augenscheinlich sein Wissen präsentiert, normalerweise nicht zum Tragen kommt. Zumindest können sie kaum vom Patienten gesteuert werden. Der Ort in der Signatur wird hier wie folgt angegeben: »Schwern, Beiz. 1,918.« 78 Die Seriosität, mit der Wölfli sein Testament verfasst, wird zum Schluss mit diesem Sprachspiel gebrochen, wenn er den Ort in der Signatur verfremdet und dafür eine »Beiz«, eine Kneipe, aus der Anstalt schustert, was gerade in einem Brief an den Abstinenzler von Speyr als Element der Komik wirkt. Wölflis Anstaltswissen und die Aufnahme sowie das Weiterschreiben von Anstaltstraditionen zeigten sich auch in der schriftlich dokumentierten Anleitung zu einer Weihnachtsbescherung. Wölfli wendet sich angeblich 1929 an Oberpfleger Jakob Nobs mit einer Liste, an wen seine Bilder verteilt werden sollen. Dabei wird der Anstaltshierarchie Rechnung getragen, die Auflistung führt vom Direktor bis zum Koch und von der Assistenzärztin bis zum Nachtwächter. Damit inszeniert Wölfli einen Rollenwechsel, er wird zum pater familias, der an alle denkt und sie beschenkt. Die Liste lautet: 77 | Adolf Wölfli an Direktor Wilhelm von Speyr, Waldau bei Bern, den 8. August, 1,1919. In: Wölfli (1985b), S. 191. 78 | Ebd.
Schreiben (und Lesen) hinter den Sandsteinmauern Weihnachts=Geschenk=Bilder 1 Stük führ Herrn Dirkt. Von Spei’r. 1 Stük führ Herrn Dokt’r Fankhauser. 1 Stük führ Herrn Dokt’r Walter. 1 Stük führ Herrn Gärtner Hoffmann. 1 Stük führ die Neubau=Ober=Währterinn. 1 Stük führ Frl. Rammseier, Möösli. 1 Stük führ Herrn Egger, Koch.79 1 Stük führ Herrn Schertenleib, Hier. 1 Stük führt Frl. Dokt’r Mirkovitsch. 1 Stük führ Frl. Rätz, im Althaus. 1 Stük führ Frl. Wagner. 1 Stük führ Herrn Messer. 1 Stük führ Herrn Bigler, Nacht=Wächter. Bite Herrn Nops, vertheilen Sie Dise Bild’r, jeh, als Geschenke. Skt. Adolf II. 80
In der Krankenakte findet sich nach Weihnachten 1926 (und nicht 1929) ein Hinweis darauf, dass Wölfli Bilder für die Waldauer Angestellten und Insassen verfertigt und verteilt: »Hat zu Weihnachten Dutzende [Bilder] gezeichnet & verschenkt, Patienten, dem Wartepersonal, den Aerzten, den Gärtnergehülfen, bei der Oekonomie & s. w. Während er sonst kein Bild abgab ohne sich bezahlen zu lassen.« 81 Auch hier ist Wölfli spendabel, denkt an unterschiedliche Exponenten der Waldau und zeigt damit seinen Überblick über den Ort, die Personalbesetzung und spezifische Hierarchie. Wölfli setzt sich mit dem realen Schreibort und seinen Bedingungen auseinander, er transferiert ihn zum literarischen Ort, tritt somit in der Waldau mit dem Bewusstsein des Künstlers auf, der sich auf sicherem Terrain bewegt.
4.2.3 Material Wölflis Schaffen zeichnet sich durch seine spezifische Materialität aus. Diese Materialität ist zu einem großen Teil an die institutionellen Bedingungen und Wölflis Rolle als Patient, nicht als Künstler gebunden. Es ist ebenso müßig wie verlockend, sich auszudenken, wie Wölflis Werk entstanden wäre und wie es sich heute präsentieren würde, wenn Wölfli unbegrenzt Zeichen- und Schreibmaterial zur Verfügung gehabt hätte.82 Stattdessen kann nur den Erwähnungen in der Akte, Morgenthalers Aussagen in der Monografie oder Wölflis Bemerkungen in Briefen 79 | Ende Manuskriptseite. 80 | Adolf Wölfli an Oberpfleger Jakob Nobs, ohne Datum [Weihnachten 1929]. In: Wölfli (1985b), S. 193 f. 81 | Kg Waldau Nr. 4224, Eintrag vom 17. Mai 1926, zitiert nach Hunger u.a. (1993), S. 387. 82 | Morgenthaler bestreitet, dass Wölfli mit anderen Techniken habe malen wollen: »Wölfli arbeitet mit Farbstiften und lehnt es ab, Versuche mit Aquarell- und Oelfarben zu machen. Auch Pastellstifte will er, nach einmaligem Versuch, nicht mehr benützen, da sie sich so leicht zerreiben.« Morgenthaler (1985), S. 49.
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gefolgt werden, die vor allem von Materialmangel und den Entzugserscheinungen beim Patienten zeugen, der sich aufgrund des fehlenden Materials nicht künstlerisch betätigen konnte. In den literarisierten Werken wird Materialität immer wieder zum Thema, die Texte präsentieren und reflektieren ihre eigene Materialität. In Von der Wiege bis zum Graab wird etwa erzählt, wie die Reisegruppe mit dem Kind Doufi von Jamestown auf der Insel St. Helena noch einmal zurück nach Bern reisen möchte. Kaum auf See, kommt ihnen eine Barke entgegen, die sinkt. Darauf folgt ein Gedicht mit der ›Unterschrift‹ »Adolf Wölfli Jamestown, 1,867« In einem Nachtrag liest man daran anschließend: »Dihr Chönnet de die Barcha mit dena Lütt sälb’r zeichna: I ha keini Fahrbstift meh. Adolf Wölfli, Irrenanstalt Wa[l]dau. Bern.« 83 Während die vorletzte Unterschrift Wölfli als Autoren noch in Jamestown wähnt, katapultiert ihn die Materialnot von Jamestown in die Waldau. Die Reise hat vorübergehend ein Ende, die Materialknappheit verortet den Schreiber wieder in seinem Institutionsalltag. Materialität, Macht, Fiktion und Alltag kommen hier zusammen und Wölfli zeigt, wie er sich als Künstler sicher zwischen den Welten bewegt. Auch die Einträge in die Akte liefern regelmäßig Hinweise auf Wölflis Materialverbrauch. So liest man etwa: »Zeichnet noch immer viel, verbraucht oft in 2–3 Tagen einen Bleistift.«84 Oder: »Erhält fast jede Woche einen Bleistift; lässt wenigstens die andern in Ruhe, so lang er zeichnet.« 85 Im Weiteren: »Zeichnet wenn er B[e]leistifte hat«,86 »braucht einen Bleistift in einem Tag auf« 87 und »Erhält jeden Montag einen Bleistift, der aber meist schon am Mittwoch abend aufgebraucht ist, ist dann unglücklich & geht überall Bleistifte betteln.« 88 Eine weitere Stelle belegt die Unruhe Wölflis bei Materialmangel: »Wenn er kein Papier hat zum Zeichnen, so ist er sehr unglücklich, läuft im Saal hin & her & jammert, was das für ein Elend sei, dass man nicht einmal Papier habe, steigt auch im ganzen Hause herum & klopft an alle erreichbaren Türen um Papier zu betteln.« 89 Auch in fortgeschrittenem Alter arbeitet Wölfli noch unentwegt: »Er arbeitet sehr viel, den ganzen Tag sitzt er über seinen Bildern & zeichnet, nur wenn er kein Papier hat geht er hinaus zur Arbeit.«90 Wölfli selbst bittet in frühen Briefen seine Verwandten, ihm Schreib- oder Zeichenmaterial zu bringen, so schreibt er 1905 an seine Schwägerin: »Ersuche Sie noch einmal liibe Schwäägerin, mich so bald wie möglich zu besuchen und wenn möglich ein Päckchen Tabak und 1 oder 2 Bleistift zu bringen. Ich bin beständig am zeichnen.«91 An seinen Bruder berichtet er im Jahr darauf, wie er in der Anstalt 83 | Wölfli (1985a), S. 66, abgebildet in Wernli (2014) 84 | Kg Waldau Nr. 4224, Eintrag vom 11. März 1904, zitiert nach Hunger u.a. (1993), S. 373. 85 | Ebd., Eintrag vom 12. März 1905, zitiert nach Hunger u.a. (1993), S. 373. 86 | Ebd., Eintrag vom 9. Oktober 1912, zitiert nach Hunger u.a. (1993), S. 375. 87 | Ebd., Eintrag vom 15. März 1913, zitiert nach Hunger u.a. (1993), S. 376. 88 | Ebd., Eintrag vom 13. Juni 1918, signiert mit »mo«, zitiert nach Hunger u.a. (1993), S. 377. 89 | Ebd., Eintrag vom 5. Juli 1919, signiert mit »mo«, zitiert nach Hunger u.a. (1993), S. 377 f. 90 | Ebd., Eintrag vom 5. Dezember 1928, zitiert nach Hunger u.a. (1993), S. 389. 91 | Adolf Wölfli an die Schwägerin Maria Anna Wölfli-Stebler, Waldau bei Bern den 22. April 1905. In: Wölfli (1985b), S. 182.
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zu Papier komme und deshalb schreiben könne: »Soh und jetzt erhalte ich noch einen zerschnittenen Bogen von einem Krankenwärther. Das schreiben hat kein Ende mehr.«92 In einem anderen Brief an seine Schwägerin beschreibt Wölfli seine materielle Situation wie folgt: »Nun aber, um mihr die peinliche Langeweile zu vertreiben, arbeitte ich an einer Zeichnung, die wenigstens 48 Zeittungsbogen erfordert. Das Papier bekomme ich von der Anstalts=Direktion, jedoch die Farbenstifte nicht, wesshalb ich Sie ersuchen möchte, mihr eine oder wenn möglich zwei Schachteln zu=zuschiken. Wohltun trägt Zinsen.« 93
In einem Brief ohne Adressaten reimt Wölfli jammernd: »O hätte ich doch Farbenstift, wie würde ich jetzt Zeichnen. D’r Rantzen ist ja voller Gift, und Alles will mir weichen.«94 Auf der Rückseite der Postkarte, die er an seinen Bruder schickte und mit der Ortsangabe, »Irrenanstalt Waldau. Bern«, beschriftete, schreibt Wölfli: »Lieb’er Bruder. Sende mihr noch einmal eine Schachtel Farbstift wänn’s möglich ist. Adolf Wölfli. Herzlicher Glük=Wunsch zum neuen Jahr. 1907.« 95
Dass Schreib- und Zeichenmaterial für Wölfli viel mehr bedeuten als nur die Möglichkeit zur Beschäftigung, zeigt folgendes Zitat: »Würden Sie liebe Schwägerin, nicht so freundlich sein und einem fom Himmel gestürtzten, eine unendlich lange Strikleitter zuschiken, damit Er daran wied’r emporsteigen könntte. Maffoi, ich wollte sagen eine Schachtel Farbenstifte zuschiken, damit ich meine Herzens=Angelegenheitten besser Zeichnen kann.« 96
Die Farbstifte werden hier als Strickleiter bezeichnet, die einen metaphorischen Fluchtweg aus der Anstalt bieten könnte. Im wörtlichen Sinne ist die Flucht ins Zeichnen für Wölfli eine der wenigen Möglichkeiten, seine »Herzens=Angelegenheitten« darstellen zu können und damit eventuell sogar dem Himmel ein Stück näher zu kommen. Ein später Brief an Emma Beutler 1929 zeugt von der Veränderung, die Wölfli in der Waldau durchgemacht hat. Er schreibt: 92 | Adolf Wölfli an Johann[es] Wölfli, Melker bei Herrn Johann Sigenthaler-Wüthrich, in Schönisei, Bumbach, Schangnau. Kt. Bern. Waldau, 30. Dezember 1906. In: Wölfli (1985b), S. 183. 93 | Adolf Wölfli an die Schwägerin Maria Anna Wölfli-Stebler, Waldau bei Bern den 2. Mai 1907. In: Wölfli (1985b), S. 185. 94 | Brief Adolf Wölflis ohne Adressat und ohne Datum, Fragment, verfasst vermutlich Ende 1906. In: Wölfli (1985b), S. 185. 95 | Adolf Wölfli an den Bruder Johann[es] Wölfli, Postkarte ohne Datum, [Januar 1907]. Fotografische Ansicht der Waldau, handschriftlich bezeichnet: »Irrenanstalt Waldau. Bern.« Siehe Titelbild dieses Bandes. Text zitiert nach Wölfli (1985b), S. 1985. 96 | Adolf Wölfli an die Schwägerin Maria Anna Wölfli-Stebler, Waldau den 5. September 1907. In: Wölfli (1985b), S. 187.
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Schreiben am Rand »Trotzdeem, finde ich mich genöhtigt, bei Ihnen nochmals eine Bestellung zu mach=chen; und zwahr, 50 Bogen, schönes, weißes, ab’r nicht zerrissenes, Zeitungs=Bogen=Pappier, führ zum schreiben und zeichnen; Datzuh, noch eine gantze Schachtel a 12 Stük, guhte Farben=Stifte. Ich habe im hiesigen Anstalts=Mittelbau, bei der Frl. Strasser, ein eisernes Kassen=Fach, in welches, meine Zeitweiligen, Einnahmen, von sälbst gezeichneten, Portree=Bilder, jeh, sogleich, abgegeben werden.« 97
Den dort vorliegenden Betrag schätzt Wölfli auf rund 500 Franken. Ob es dieses Fach so gegeben hat und ob sich darin tatsächlich mehrere hundert Franken befanden, muss hier offen bleiben. In diesem Brief zeigt sich ein Absender, der nicht mehr bei Verwandten um Material bettelt, sondern dieses als Künstler bestellt, der über ein gewisses Vermögen verfügt und der weiß, wo er die Bestellung machen muss. In Anbetracht der prekären materiellen Lage Wölflis kann die Darstellung der Situation durch Jakob Wyrsch in Hundert Jahre Waldau nur als zynisch aufgefasst werden. Wyrsch behauptet über Wölfli, Morgenthaler und die Waldau: »Hätte die Waldau nicht bereitwillig, sobald sie das Talent bemerkte, Raum und Zeit, Buntstifte und Papier immer zur Verfügung gestellt, und hätte Walter Morgenthaler später nicht ein Buch darüber geschrieben, so wäre das Werk des Pfleglings, denn genau dies war er [Wölfli, Anm. M.W.], nicht entstanden und nicht bekannt geworden. Wölfli war ein Verdingbub und ein Bauernknecht; nicht viel mehr als Lesen und Schreiben konnte er, und vielleicht hat er nicht einmal je ans Zeichnen gedacht.« 98
Wyrsch beschönigt in obigem Zitat Wölflis Zugangsmöglichkeiten zu Zeichenund Schreibmaterial. Wie wenig Material Wölfli zur Verfügung stand, hat schon Morgenthaler in seiner Monografie beschrieben: »Wölfli erhält jeden Montagmorgen einen neuen Bleistift und zwei grosse Bogen unbedrucktes Zeitungspapier. Den Bleistift hat er oft schon nach zwei Tagen aufgebraucht; er muss sich dann mit Restchen behelfen, die er sich aufgespart hat, oder die er da und dort zusammenbettelt. […] Auch Pack- und andere Papiere sammelt er bei Wärtern und Kranken seiner Umgebung sorgfältig, da ihm sonst das Papier bei weitem nicht ausreichen würde bis zum nächsten Sonntagabend. Zu Weihnachten erhält er von der Anstalt eine Schachtel Farbstifte, die er in höchstens 2–3 Wochen verbraucht […].« 99
Auch Julius von Ries bestätigt in seiner Studie Wölflis Materialmangel.100 Statt wie Wyrsch Wölflis Kunst (und ihn selbst als Künstler) als Produkt der Waldau zu sehen, könnte man auch seine Unruhe und damit einen Teil seiner Krankheit als 97 | Adolf Wölfli an Emma Beutler, Waldau=Neubau, Dienstag den 5. November 1,929. In: Wölfli (1985b), S. 193 98 | Wyrsch (1955), S. 127 f. 99 | Morgenthaler (1985), S. 13. 100 | Er schreibt: »Im Sommer 1906 war ich zum ersten Mal einige Monate an der Waldau tätig und hatte hierbei öfters Gelegenheit, Wölfli bei seiner Arbeit zu beobachten. Zu jener Zeit standen ihm Buntstifte nur ganz selten zur Verfügung, und er verwendete hauptsächlich gewöhnliche Bleistifte, die ihm von Ärzten, Wärtern und Besuchern geschenkt wurden. Ich entsinne mich noch gut, daß schon damals bedeutende Maler und Bildhauer auf Wölflis
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hausgemacht betrachten. Ohne die Institution mit ihren Restriktionen ist der Patient nicht denkbar. Wyrschs Haltung als Experte gegenüber ›Laien‹ kommt auch zum Ausdruck, wenn er Rilkes weiter unten noch ausgeführte Reaktion auf die Monografie zitiert und schreibt: »Rilke war kein Psychiater, und hätte man ihm die Diagnose Wölflis genannt, so würde das Wort ihm kaum viel bedeutet haben.«101 Aus der Sicht des Psychiaters dient das Verständnis einer Diagnose zur Eigen legitimation und zur Abhebung der eigenen Position von derjenigen von ›Laien‹. Dass Wyrsch kein Historiker oder dass Morgenthaler weder Kunsthistoriker noch Literaturwissenschaftler war, obwohl die beiden genau in diesen Bereich publizierten, wird in solchen Aussagen nicht reflektiert. Vielmehr scheint den Psychiatern im zeitgenössischen Diskurs ein ästhetisches Werturteil zuzustehen, während die Nicht-Psychiater generell als Laien abgestempelt werden. Kunst wird damit zu einer Art positivem Symptom der Krankheit gemacht und als solches bleibt sie Gegenstand der Psychiatrie. Rilke hatte 1921 Lou Andreas-Salomé die Lektüre der Monografie empfohlen: »Meine liebe Lou, es wäre, seit wie lange!, Zeit für einen Brief, aber dies wird keiner, noch nicht, - vielmehr liegt mir daran, Dir heute nur, möglichst schnell, ein Buch zukommen zu lassen, das mich während der letzten Woche fast ausschließlich beschäftigt hat […]. Der Fall Wölfli’s wird dazu helfen, einmal über die Ursprünge des Produktiven neue Aufschlüsse zu gewinnen und er bringt Beiträge zu dem merkwürdigen, offenbar zunehmenden Erkennen, wieviele Krankheitssymptome (wie Morgenthaler ›vermuthtet‹) zu unterstützen wären, weil sie den Rhythmus heraufbringen, durch den die Natur das ihr Entfremdete wieder für sich zu gewinnen und zu einem neuen Einklang zu melodisieren versucht. Enfin: lies, lies –«102
In einer weniger oft zitierten Anmerkung schreibt Rilke auch noch, dass der Verleger der Monografie, Ernst Bircher, ihm eine Originalzeichnung Wölflis geschickt habe. Rilke war sich unschlüssig, ob er die Zeichnung behalten dürfe – der weitere Verlauf dieser Geschichte bleibt offen, die Anekdote zeigt aber den Umgang mit Wölflis Werk. Einerseits sind Umgang, Handel und Verwendungsweise von Wölflis Bildern durch Anstaltsvorschriften restringiert, wie etwa das bereits erwähnte Dokument Adolf Wölfli (Abb. 9) es zeigt, andererseits können gewisse Exponenten wie Morgenthaler oder vermutlich über ihn dann auch Bircher sehr frei mit dem Eigentum des Künstlerpatienten umgehen. Wie die Verlagswerbung in Morgenthalers Beschreibung von Wölfli eine »ewige[ ] Urkraft«, »ein Stück schöpferischer Gottesgabe« in einem Menschen erkennen will,103 so möchte Rilke das der Natur »Entfremdete« im »Fall« Wölfli Zeichnungen aufmerksam wurden und ihre Bewunderung für seinen eigenartigen Stil aussprachen.« von Ries (1946), S. 20. 101 | Wyrsch (1955), S. 129. 102 | Rainer Maria Rilke an Lou Andreas-Salomé, Château de Muzot sur Sierre, Valais. In: Rilke (1989), S. 430 f. 103 | Die Verlagswerbung lautet wie folgt: »Dieses Buch liest sich interessanter als irgend ein erfundener Roman: es bietet ein Stück Leben, das in seiner Verworrenheit und Niedrigkeit durch ein unbewusstes Künstlertum geadelt wird[,] und es gibt uns Gelegenheit darüber nachzudenken, wie gering unser Wissen von uns selbst ist und wie gering leider auch die Ein-
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hervorgebracht sehen. Die Tatsache des Materialmangels wird aber in dieser Auseinandersetzung zum Verhältnis zwischen Experten und Laien nicht thematisiert. Die Spuren, die das fehlende Material bei Wölfli und in seinem Verhalten hinterließen, gehören ebenso zu seinem Werk wie die erstaunliche Fülle an beschriebenem und gezeichnetem Material, die trotz aller Widerstände sein Werk ausmacht.
4.2.4 Wölfli zeitgenössisch medialisiert: eine Teppichgeschichte 1921 taucht in der Akte Wölflis ein exotisches Element auf: Wölfli wolle, so wird berichtet, einen Teppich nach seinen Zeichnungen anfertigen lassen. Die Bestellung sollen die Angestellten für ihn übernehmen und zwar soll der Teppich in »Konstantinopel« hergestellt werden. Man liest also folgende Notiz: »Möchte noch einen Teppich für die Zelle bestellen nach seiner Zeichnung gemacht, Geld habe er genug, sagte er mir, wir sollen unbedingt in Konstantinopel bestellen.«104 Nachdem die Bestellung nicht ausgeführt wurde, insistiert Wölfli noch einmal und beschränkt sich in diesem zweiten Anlauf dem Eintrag gemäß auf einen ortsansässigen Fabrikanten: »Heute verlangte er unbedingt in Verbindung zu treten mit dem Bodenteppichfabrikanten, er habe ein Muster gezeichnet & nach diesem Muster muss unbedingt ein Teppich für die Zelle angefertigt werden, wenn er auch 1000 Fr. kosten sollte, seine Zelle soll als Museum eingerichtet werden, nicht für Pat. Und er, fragte ich ihn, er sei doch jetzt drin? er bleibe nicht lange drin, er müsse bald sterben.«105
Über die Bestellung hinaus enthält dieser dialogisch wiedergegebene Eintrag auch die inhaltliche Verknüpfung von psychiatrischem Ort und Museum durch einen Patienten. Wölfli schreibt hier kein Testament, er vergibt kein Vermögen und keine Bilder, sondern plant, seinen Wohn- und Schaffensort, das »Schmertzens-Laager« zu einem Ausstellungsort zu machen. Damit versucht er, für die Zeit nach seinem Ableben den verschlossenen Mikrokosmos der Zelle, der sich innerhalb der Anstaltsmauern befindet, zu einem öffentlichen Ort zu machen. Abgesehen von dieser nicht realisierten Öffnung des Schaffensortes am Ort des Einschlusses wird auch das Teppichprojekt nicht weiter verfolgt, der Teppich nie fabriziert. Dies ist aber noch nicht das Ende einer hier zu erzählenden Teppichgeschichte, die von ganz anderer Seite weitergewoben wird: 1926 erhält Wölfli nämlich von der Anstalt den Auftrag, ein Werk für einen Aufenthaltsraum zu zeichnen. In der Akte findet sich folgender Eintrag: »[E]r zeichnet ein grosses Bild für den Aufenthaltsraum, breitete das Papier im Saal auf den Boden aus, legte eine lange Bank schätzung des einzelnen Menschenlebens, wie gross die Verantwortung unser Aller und wie oft, bewusst oder unbewusst, Menschen niedergetreten werden, in denen, wenn auch oft tief und geheim verborgen, ein Stück von der allgegenwärtigen und ewigen Urkraft ruht, ein Stück schöpferischer Gottesgabe.« Zitiert nach dem Buchumschlag von Morgenthalers Werk Über seelische Bereitstellung. Untersuchungen zur Psychologie und Politik in Personalfragen von 1929. 104 | Kg Waldau Nr. 4224, Eintrag vom 3. November 1921, zitiert nach Hunger u.a. (1993), S. 382. 105 | Ebd., Eintrag vom 24. November 1921, zitiert nach Hunger u.a. (1993), S. 382.
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drauf, um die Linien zu machen & zeichnet von morgens bis abends.«106 Rund eine Woche später liest man: »Das letzte Bild, das[ ] er für den Neubau gezeichnet hat, heisst: Memorandum. Erinnerung an die sämmtliche 10 je von einander getrennte[n] Schöpfungsreisen mit der Allmächtigen Familie.«107 Der Titel Memorandumm ist doppelt lesbar: Mit ihm werden einerseits die »Schöpfungsreisen« erinnert und zusammengefasst, andererseits schafft sich Wölfli damit auch selbst ein Denkmal, denn schon die Maße der Zeichnung übersteigen seine anderen Arbeiten deutlich. Wölfli ist sich zudem bewusst, gerade mit diesem Werk in der Anstalt repräsentiert zu sein, sogar über sein Ableben hinaus. Nachdem er bereits die Decke seiner Zelle bemalt hatte, ist dies eine weitere Arbeit, die man als Kunst am Bau bezeichnen könnte. In der bereits erwähnten zweiteiligen Reportage in der Zeitschrift Der Aufstieg von 1936 mit dem Titel Bei unsern Geisteskranken wird nach Wölflis Tod das Werk Memorandumm abgebildet. Zwei Pflegerinnen halten es vor einer Hausmauer in die Höhe. Darunter steht die Bildunterschrift: »Dieser Teppich wurde von einem Kranken der Anstalt Waldau hergestellt. Ueber das Mass von Arbeit bekommt man erst einen richtigen Ueberblick, wenn man sich den Teppich näher betrachtet.« (Abb. 11)108 Der Autor der Bildunterschrift hat anscheinend seinen eigenen Ratschlag nicht befolgt und den »Teppich« nicht näher betrachtet, sonst hätte er gemerkt, dass es sich um eine Zeichnung handelt und nicht um Gewobenes. Als mehrfache Ironie des Schicksals könnte man diese Koinzidenz bezeichnen – Wölfli, der schon einmal in einer Publikation als Künstler namentlich erwähnt worden war, gerät hier wieder in die Anonymität, ihm wird aber ein Teppich zugeschrieben, wie er ihn einst wohl bestellt hätte. Der Teppich ist allerdings in Wahrheit ein Bild und liegt nicht, wie Wölfli es gewollt hätte, in der zum Museum umfunktionierten Zelle. Heute jedoch nehmen einige Besucher den Weg in die Waldau eigens wegen Wölfli auf sich, um beispielsweise von ihm bemalte Schränke, die dort ausgestellt sind, zu sehen. Als Ironie könnte man weiter auch den Umstand bezeichnen, dass die von Aufklärungsgedanken geprägte Reportage, deren formuliertes Ziel es ist, »unsern Lesern einmal einen Einblick in eine neuzeitlich geführte Irrenanstalt zu bieten«,109 und damit Vorurteile abzubauen, diese Verwechslung von Bild und Teppich macht. Damit wird zumindest in Bezug auf dieses Werk keine Transparenz geschaffen. Der Artikel, an dessen Entstehung Klaesi anscheinend maßgeblich beteiligt war und in dem eine ›neue‹ Waldau gefeiert wird, präsentiert eine Anstalt, die sich denn auch gegenüber der Waldau, die Wölfli gekannt hatte, stark veränderte. Das Narrativ, das Wölfli und sein Werk umgibt, bleibt auch in der Folgezeit mit diesem Zeitschriftenartikel ein verwobenes. Auch Julius von Ries stellt zehn Jahre nach der Reportage im Aufstieg einen allgemein gehaltenen, assoziativen Bezug zwischen Zeichnung und Teppich her: »Nach der plausiblen Meinung vieler Künstler wirken seine Zeichnungen aufs Auge des Betrachters wie Meisterstücke persischer Teppichkunst.«110 Damit hat sich Wölfli mit seinem Memorandumm nicht nur einen Erinnerungsort in der Psychiatrie und seinen Platz in der Kunstwelt 106 | Ebd., Eintrag vom 17. Mai 1926, zitiert nach Hunger u.a. (1993), S. 388. 107 | Ebd., Eintrag vom 25. Mai 1926, zitiert nach Hunger u.a. (1993), S. 388. 108 | (1936b) S. 926. 109 | (1936a), Titelseite. 110 | von Ries (1946), S. 10.
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gefestigt, sondern auch einen imaginären Teppich geschaffen, der bestellt, aber nicht gewoben, und fotografiert, aber nicht ertastet wurde. Skt. Adolf II., der auf der Rückseite von Memorandumm eine »Erklährung des frontseitigen Bildes« abgibt, würde diese Verwebungen wohl mit einem Fluch kommentieren und »Sakre di Tonere nochamal«111 ausrufen oder einen Teil der Reise- und Eroberungsgeschichte unterbrechen mit der Bemerkung: »und sihe, es wahr alles sehr gut. J’tzt ab’r muss i no ga schissa und nachhähr, üb’rsetza, zu na no andara Täxt. Hochachtend grüsst, meine untt’rzeichnete Wenigkeit, gegenwärtig g’grangg, im Chrotten=Loch, und soh weiter. 1,926. Frrrt.«112
Die hier präsentierte Teppichgeschichte belegt die Fruchtbarkeit einer mehrschichtigen Lesart von Wölflis Werk: Literarische Texte, Krankenakte und journalistische Texte ergeben zusammen mit der Bildbetrachtung einen Gesamteindruck von Wölflis Werk. In diesem kreuzen sich zentrale Motiv-Paare (wie Fall und Rettung oder Internierung und Weltreise), eine Materialität, die von Restriktionen durch die Klinik geprägt ist, die Deutung und Wertung durch Ärzte, Kunsthistoriker sowie Journalisten und eine Selbstreflexion eines schreibenden Künstlers in der Anstalt.
4.3 »H abe vielleicht vieles noch vergessen zu schreiben «: F r au B e . Von Frau Be., geboren 1901, finden sich in der Krankenakte der Waldau mit der Aufnahmenummer 8991 rund zwanzig Seiten Krankengeschichte ihres Aufenthaltes vom November 1921 bis Januar 1925. Die Einträge stammen von unterschiedlichen Ärzten, meist sind sie vom vierten Arzt, Oscar Forel,113 mit dem Kürzel »Fo« signiert, teils sind sie ohne Signatur, teilweise hand- und teils maschinengeschrieben. Zusätzlich liegt dieser Akte ein von der Patientin geschriebener Lebenslauf bei. Ein separates Blatt hält Auszüge aus den Akten unterschiedlicher Institutionen wie einem Mädchenerziehungsheim, aber auch von Einzelpersonen, eines Arztes und eines Pfarrers, fest. Daneben liegen kleinere Textstücke vor, sie sind an Psychiater adressiert und teilweise in die Akten eingeklebt. Oberhalb des Aufnahmeformulars steht handschriftlich: »Briefe im Briefschrank des Wartzimmers«. In dieser Akte sind Kopien von Briefen der Patientin wie auch solche der Anstalt an die Armendirektion und zurück auf bewahrt worden. Neben der eigentlichen Krankengeschichte finden sich einzelne Blätter mit Wärterprotokollen und eine im Jahr 1921 angelegte Gewichtstabelle. Aus der Akte von Frau Be. lassen sich unterschiedliche Stimmen vernehmen. Ihre eigene wurde verschriftlicht im Lebenslauf und in den Briefen an ihre Bekannten, auf die jedoch keine Antworten vorliegen, ansonsten werden Be.s Angaben indirekt zitiert oder in Texte eingearbeitet. Daneben schreiben Vertreter der 111 | Baumann (2000), unpag., S. 6. 112 | Ebd. 113 | Oscar Forel kam 1891 in Zürich zur Welt .Von 1925 bis 1929 war er Chefarzt der Privatklinik La Métairie in Nyon, danach Privatdozent in Genf. 1934 gründete Forel die Privatklinik Les Rives de Prangins. Er starb 1982 in Saint-Prex.
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Institution, also von Speyr, die Ärzte, die Wärter und die Armendirektion, die gemeinsam den ›Fall‹ Be. bearbeiten, die Patientin behandeln und über ihre Zukunft entscheiden, bis sich mit dem letzten Akteneintrag vom 31. Januar 1925, mit dem der vierte Arzt, Alfred E. Glaus, festhält, Frau Be. solle »als Abwaschmädchen im Militärgarten für 70 fr. angestellt werden«,114 die Waldauer Spur von Frau Be. verliert. Auch diese Akte zeichnet sich durch ihre Lückenhaftigkeit aus, die beispielsweise das Schreiben und den Schreibort Waldau betreffen, wenn am 6. März 1923 etwa der Eintrag zu lesen ist: »Schrieb vorzügliche Aufsätze über verschiedene Themen[,] die sie vom Arzt erhalten hatte.«115 Zwar sind weder die hier erwähnten Themen des Arztes noch die Aufsätze der Patientin erhalten, es wird jedoch deutlich, dass Schreiben ein Verfahren ist, das alle Beteiligten verbindet. Bereits erwähnt wurde das Schreiben der Akten, der Briefe und des Lebenslaufs, weitere Schreibverfahren werden noch thematisiert. In der Folge soll diesen Schreibverfahren und ihren Wirkungen nachgegangen werden, und damit eine Annäherung an die sprachliche Konstituierung des ›Falles‹ Frau Be. in einem close reading versucht werden. In einem ersten Abschnitt (4.3.1) wird Frau Be. als ›infame‹ Frau beschrieben, deren ›Fall‹ nur durch mehrfache Zufälle überhaupt hier Thema sein kann. Ein zweiter Abschnitt (4.3.2) widmet sich der Erwähnung des Körpers und der Seele in der Akte, ein dritter (4.3.3) den Testverfahren, die sich darin manifestieren, ein vierter Teil (4.3.4) beschäftigt sich mit der Art und Weise, wie psychiatrische Tatsachen im Schreibakt entstehen und zum Schluss steht eine Schreibszene auf einer psychiatrischen Bühne im Zentrum (4.3.5).
4.3.1 Eine ›infame‹ Frau Da die Akte von Frau Be. die einzigen Dokumente eines weiblichen, unbekannt gebliebenen Insassen beinhaltet, die für diese Studie zur Verfügung stehen und weil sie auch einen Lebenslauf enthält, werden hier längere Ausschnitte aus der Krankenakte zitiert und analysiert. Damit lässt sich den Zusammenhängen zwischen den Kategorien Geschlecht und Psychiatrie, die andernorts allgemeiner und theoretisch ausgeleuchtet werden, an einem konkreten Beispiel nachgehen.116 In den Notizen unterschiedlicher Beteiligter zu einem Lebensabschnitt eines »infamen Menschen«117 sollen die Spuren aufgenommen werden, die Frau Be. im Zusammentreffen mit der Institution Waldau hinterlassen hat. Wie ihre Lebensgeschichte zeigen wird, hat Frau Be. bereits ausgiebige Erfahrungen mit Institutionen wie Er114 | Kg 8991, S. 21. 115 | Ebd., S. 22. 116 | Aus dem Band Irre ist weiblich. Künstlerische Interventionen von Frauen in der Psychiatrie um 1900, hrsg. von Brand-Claussen und Michely (2004), sind mehrere Aufsätze zu erwähnen: Der Beitrag von Meier und Bernet (2004) fokussiert auf die geschlechtsspezifische Behandlung in der Psychiatrie und enthält auch einen Forschungsüberblick zum Komplex »Frau und Wahnsinn«. »Spezifisch Weibliches« in psychiatrischen Krankengeschichten versuchen Rotzoll u.a. (2004) in ihrem Beitrag zu preußischen Irrenanstalten herauszuarbeiten und mit der diskursiven Verknüpfung von Hysterie und Weiblichkeit um 1900 setzt sich Karen Nolte (2003; 2004) auseinander. 117 | Foucault (2003).
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ziehungsanstalten und Gefängnissen gemacht, in den Wirkungsbereich der Psychiatrie gerät sie allerdings erst in der Waldau. Bei Frau Be. lautet die auf dem Umschlagformular der Akte verzeichnete vorläufige Diagnose »Psychopathie (Heboid) mit moral Defekt« und daneben die definitive Diagnose »Psychopathie mit moral Defekt« (beides mit Schreibmaschine verfasst) plus darunter handschriftlich ergänzt »Schizophrenie mit hyst. Charakter«. Eine Berufsangabe fehlt auf dem Formular, obwohl gerade von ihrem Beruf als Prostituierte, den ihr die Ärzte trotz ihres Dementis zuschreiben, in der Akte viel die Rede sein wird. Frau Be. hat in Bern eine »Vormünderin«.118 Mit zwanzig Jahren kommt sie in die Waldau und bleibt dort bis zum 31. Januar 1925. Die erste Begegnung der institutionellen Macht ›Waldau‹ mit dem Individuum ›Be.‹ mündete in der Verschriftlichung eines Aufnahmegesprächs, das daraus resultierende Protokoll beginnt ohne Signatur eines Arztes. Über die Anzahl am Gespräch Beteiligter gibt es keine Auskunft, in der üblichen Minimalbesetzung schreibt der fragende Arzt selbst, denkbar ist aber auch die Anwesenheit einer dritten Person in der Funktion der Schreibkraft. Mit Schreibmaschine geschrieben steht dort: »Kommt aus dem Bezirksgefängnis in Begleitung eines in Civil gekleideten Polizisten, wo sie 14 Tage auf die Aufnahme wartete. Sitzt still da, etwas prätenziös gekleidet, zynotische Hände, etwas verdrossener Gesichtsausdruck, als ob ihr Unrecht widerfahre. Eintönige Stimme, leise aber deutlich, gibt nicht immer klaren Bescheid. Sei viel herumgekommen. Die Schule in S.[ ]119 absolviert, bei den Eltern gewohnt. Waren die Eltern recht? ›Vater, ich weiss nicht was sagen, er ist viel in der Nacht fortgewesen, hat getrunken und ist schlecht mit der Mutter gewesen. Er war Teilhaben in einem Hafnergeschäft.‹ Wie war die Mutter zu Ihnen? Patientin stockt, schlägt die Augen nieder… ›Niemand hat mich halt verstanden und es gab ja nur Zwist zu hause.‹ Habe Primar-Real- und Handelsschule absolviert; nie verblieben, aber oftmals krank gewesen. (Herz). Vater 1918 gestorben; Mutter erkrankte an einem Schlaganfall und sei jetzt in S.[ ] versorgt. Nach S.[ ] kam sie nach W.[ ] als Volontärin ins Café National.120 Lebte damals bei einem Onkel in T.[ ] bei W.[ ]. Kam von da nach H.[ ] zu einem Onkel, der dort Arzt war;121 waltete da als Thüröffnerin für die Clienten. Diese Verwandten kamen aber nicht gut mit einander aus, so dass Pat. nach der Schweiz zurückkehrte, wo sie ein Vierteljahr lang im Spital wegen Herzkrankheit verpflegt wurde. In B.[ ] auch eine zeitlang als Kellnerin im Restaurant zum ›Stab‹ gewesen. Ging dann zu einer Freundin (?) auf längere Zeit zu Besuch. – Erzählt von einem Verhältnis mit einem Studenten (Jurist), der ihr eine Gonorrhoe anhängte. – Kam später nach D.[ ], in die Anstalt Emmenhof; man wollte sie aber nicht behalten, da man fand, sie müsse arbeiten. In einer Fabrik ging es aber nicht, sie litt an Mandelentzündung, an Depression, sodass sie einen Selbstmordversuch machte. (Sublimatpastillen?) Man habe ihr den Magen ausgespült; es seien rosarote 118 | Alle Zitate Kg 8991, S. 1. 119 | Orte werden aus Datenschutzgründen nicht ausgeschrieben, außer es handelt sich um Institutionsorte. 120 | Seitenwechsel auf Seite 2. 121 | Handschriftlich steht oberhalb von »Arzt« »Bordellarzt«. Kleinere handschriftliche Ergänzungen der Akten ohne zusätzliche inhaltliche Bedeutung werden ohne Markierung in den Text aufgenommen.
Schreiben (und Lesen) hinter den Sandsteinmauern Pastillen gewesen. Sie habe dies zum Teil deshalb gemacht, weil der Armeninspector Lörtscher ungerecht mit ihr gewesen sei. Niemand verstehe sie eben, nur der Arzt, der sie untersucht habe und der Regierungsrat (?? Statthalter?) hätten sie verstanden. Vor 14 Tagen sei sie ins Amthaus gekommen, in eine Zelle mit einem sehr netten Fräulein, das sie lieb gewonnen habe. Wisse nicht, warum sie dort habe weilen müssen. Wo hier? Spital. Wissen Sie was die Waldau ist? Fängt an zu weinen, sie sei doch nicht verrückt. Man verstehe sie eben nur nicht. – Weint. Man habe sie einmal in W.[ ] überwältigt. Damals war sie eine Zeit lang arbeitslos; traf dann einen Herren, der ihr half. Pat. spricht hemmungslos von ihren sexuellen Erlebnissen. Pat. geht willig auf die Abteilung, schon etwas weniger mürrisch als bei der Aufnahme. Verspricht sich gut zu halten und über ihre persönlichen Angelegenheiten schweigen zu wollen. – Kommt ins Bad, das sie sehr nötig hat, soll ihr curriculum schreiben, bevor sie mit andern Pat. in122 Berührung kommt. Zum Schlafen ins Zimmer 35.«123
Dieses Protokoll beginnt mit der Beschreibung des Eindrucks, den Frau Be.s Äußeres macht und dem Schluss auf eine mögliche Verfassung, wenn ihr Gesichtsausdruck so gedeutet wird, »als ob ihr Unrecht widerfahre.« Die Positionen des Schreibenden und der Beschriebenen sind damit klar, Letztere ist das Untersuchungsobjekt, Ersterer hat den Überblick über die Person Be. und der irreale Vergleichssatz (»als ob«) wird so eingesetzt, dass klar ist, Frau Be. geschehe nach Ansicht des Schreibers kein Unrecht. Die Patientenrede wird indirekt wiedergegeben oder direkt zitiert, nonverbale Kommunikationszeichen teilweise notiert, so etwa das Stocken der Patientin oder der Augenniederschlag. Einzelne Fragen des Angestellten sind notiert worden, es geht dabei um die Familie und Kindheit der Neuangekommenen und um das Wissen vom Ort, das mit »Wo hier« und »Wissen Sie was die Waldau ist« abgefragt wird. Ausgelassen wird, was Frau Be. auch später mehrmals mit der ›Überwältigung‹ als zentrales Ereignis in ihrem Leben bezeichnet und was sie über ihre sexuellen Erlebnisse erzählt: Festgehalten wird nur, dass dieses Erzählen »hemmungslos« sei, womit eine Verhaltensnorm eingeführt und ein Verstoß dagegen festgehalten wird. An zwei Stellen sind Unsicherheitszeichen im Textausschnitt durch Fragezeichen markiert, nach der Tätigkeit als Kellnerin wird bei der Freundin Be.s ein Fragezeichen und bei der Erwähnung des Regierungsrates in Klammer »Statthalter« mit insgesamt drei Fragezeichen gesetzt. Diese Fragezeichen sind mehrdeutig, sie können auf eine unklare Aussage der Patientin sowie auf ein Unverständnis vonseiten des schreibenden Arztes hinweisen oder sie sind Erinnerungshilfen für den Arzt, der bestimmte Details zu einem späteren Zeitpunkt genauer nachfragen möchte. Die Brüche im Text zeigen sich damit inhaltlich in den teilweise abrupten thematischen Übergängen, in der verknappten Syntax, aber auch in der Setzung von Klammern und Fragezeichen und damit auf der Textoberfläche, die nicht zu einem linearen Narrativ geglättet wird. Der Schluss dieses ersten Protokolls verdeutlicht das Aufnahmeritual der Klinik: Nach einem Gespräch kommt die Patientin ins Bad, soll danach ihren Lebenslauf schreiben und wird in ein Zimmer gebracht. Mit diesem hygiene-orientierten 122 | Seitenwechsel auf Seite 3. 123 | Kg 8991, S. 1–3.
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und einerseits lokal georteten sowie andererseits einordnenden Prozess in die Anstaltsräumlichkeiten wird der Wechsel vollzogen und äußerlich sichtbar gemacht, den die Patientin von ihrer Rolle der Außenstehenden zur Insassin durchmacht. Der Schreibprozess hat dabei in Bezug auf den schreibenden Arzt die Bedeutung der Aufnahme eines ›Falles‹ und damit einer zu schreibenden ›Geschichte‹. Das Schreiben der Patientin hingegen bedeutet mit der Abfassung des Lebenslaufs ein Ende des Abschnitts ihrer Geschichte vor der Anstalt. Diese beiden performativen Wirkungen des Schreibens beim Eintritt in die Klinik, nämlich das Anfangen und das Beenden einer Geschichte, gehen ineinander über, allerdings dürfte dieser Umstand den Schreibenden im Akt des Schreibens weniger bewusst gewesen sein, er wird als solcher zumindest nicht reflektiert. Der Arzt schließt mit der Übernahme des ›Falls‹ auch die Zeit ab, in der sich andere Institutionen und ihre Vertreter für Frau Be. zuständig sahen und Frau Be. liefert in der vermeintlich ausschließlich retrospektiven Darstellung ihres Lebens Material für die zukünftige Diagnose sowie die Behandlungsart. Über die Vorgeschichte Frau Be.s gibt nicht nur sie selbst, sondern geben auch Auszüge aus den Akten Auskunft. Ein Vertreter des Mädchenheims Emmenhof schreibt dort etwa, »[d]as Mädchen sei so bodenlos frech und arbeitsscheu«, dass man für eine »anderweitige Placierung« besorgt sein solle, denn »diese Tochter [lasse, Anm. M.W.] an Dreistigkeiten nichts zu wünschen übrig«.124 Es werden sowohl Aussagen eines Exponenten des Mädchenheims wie auch des Pfarrers, kantonalen Armeninspektors und Mitglieds der Aufsichtskommission, Otto Lörtscher, zitiert: Die beiden bedauern, dass die »Rute« im Fall von Frau Be. nicht mehr angewendet werden dürfe. Obwohl körperliche Strafen nicht mehr erlaubt sind, scheint ihre Erwähnung durchaus noch üblich und Frau Be. eine Patientin, die durch ihr Verhalten Züchtigungsfantasien auslöst. Lörtschers überlieferte Aussage lautet: »Die Rute wäre da ganz sicher angebracht und höchst wahrscheinlich nutzbringend. Aber auch diese ›Institution‹ gibt’s nicht, resp. sie ist nicht zulässig.«125 Diese Bemerkung verstärkt Lörtschers Darstellung durch Frau Be. im Aufnahmeprotokoll, wo sie ihn als ungerechte Instanz bezeichnet. Der Vergleich der beiden Aussagen lässt aus heutiger Perspektive die Bemerkung der Patientin glaubwürdiger erscheinen. Im zeitgenössischen Diskurs hingegen ist Be. eine Verkörperung der Infamie, auf deren Stimme nicht gehört wird, Lörtscher ist hingegen ein Vertreter der institutionellen Macht, dessen Bemerkungen Gehör finden. Gerade weil Frau Be. Lörtscher zu dieser Aussage provozierte und weil sie sich nicht rollenkonform verhielt, ist ein Teil ihres Lebens überliefert, oder allgemeiner, in den Worten Foucaults ausgedrückt: »Es sind Leben, so als ob sie nicht existiert hätten, Leben, die nur durch den Zusammenstoß mit einer Macht überleben, die sie einzig hatte vernichten oder zumindest entfernen wollen, Leben, die nur durch die Wirkung mannigfaltiger Zufälle auf uns zurückkommen, das sind die Infamien […].«126 Eine Potenzierung der kontingenten Überlieferung von Infamien stellt der Umstand dar, dass die Akten der »infamen Menschen«, wie bereits erwähnt wurde, für diese Studie nicht von der Verfasserin ausgewählt werden konnten, sondern die Auswahl einer heutigen Vertretung der Institution Waldau sind, sodass nur eine 124 | Separatblatt: Aktenauszug. In: Kg 8991, recte. 125 | Ebd., verso. 126 | Foucault (2003), S. 318.
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einzige Akte einer internierten Frau verwendet werden konnte. Welche Personen in den Metadiskurs über »infame Menschen« der Waldau, deren Leben »unterhalb jedes Diskurses«127 verliefen, aufgenommen werden, wird also auch heute noch von der Macht der Institution aus gesteuert. Es bleibt im Bewusstsein dieser Situation nichts anderes übrig, als zu diesem einzelnen Beispiel zurückzukehren und damit zumindest den Metadiskurs weiter zu beschreiben. Den undatierten Lebenslauf verfasste Frau Be. vermutlich noch am Tag ihrer Ankunft, dem 28. November 1921. Er lautet wie folgt: »Waldau von [Vor- und Nachname] Mein Lebenslauf Geboren wurde ich am 12. Sept. 1901, im Kantonsspital, zu S.[ ]. Die Familie bestand damals mit der Dienstmagd aus 5 Personen. Meine Eltern lebten damals schon nicht in guter Eintracht. Selbst konnte ich es nicht wissen, aber es würde mir von früh bekannten Personen meiner Eltern zugetragen. Meine Grossmutter lebte bis ich 6 Jahre alt war, und starb infolge einer bösen Krankheit (Leberkrebs). Als ich 3 Jahre alt war, gebahr meine Mutter Zwilinge, ein Knabe u. ein Mädchen. Eines starb an Brustkathar, das andere an einem Schläglein. Das Mädchen wurde 7 Wochen u. 6 Tage, das andere Kind 9 Wochen alt. Nun verblieb ich einziges Kind128 meinen Eltern. Nun besuchte ich die Primarschule in S.[ ], in der Blumenau, bis zu meinem 9. Lebensjahr. Unter Familienverhältnissen hatte ich schwer zu leiden, und musste oft vieles mitansehen, was mir für mein jugendliches Alter sehr zu denken veranlasste. Zum Beispiel: Mein Vater kam oft in einem bedenklichen Zustand nach Hause, betrunken jähzornig u. ec. Der Vater drohte der Mutter129 oft mit furchtbaren Dingen, wenn sie ein nicht passendes Wort sagte. Zu anderen Kindern wurde ich nicht gelassen, meine Mutter überliess mich mir gewöhnlich selbst, also in unserer Wohnung. Mit einem Wort: Erziehung genoss ich von meiner Mutter nicht, des[s] gleichen auch vom Vater nicht.130 Als ich mein 9. Altersjahr zurückgelegt hatte, wurde meine Mutter schwer krank, und in den Spital verbracht. Mein Vater kam oft nicht vor 12 Uhr Nacht’s nach Hause, und ich war mir immer selbst übergeben. Nun machten die Leute eine Eingabe an das Schulgericht, und ich wurde als 9-jährige versorgt in die Erziehungsanstalt Schloss Kehrsatz bei Bern.131 Durch schweres Geldopfer konnten mich die Eltern wieder hinaus lösen, und nach 2 ½ Jahren wurde ich Ihnen wieder zugestellt. Damals hatte ich also die 12. Altersstufe erreicht.132 Von dort an besuchte ich die Realschule in S.[ ],133 bis zu meinem 16. Jahre. Das Familienverhältnis verhielt sich immer noch gleich, wie in den vorangehenden Jahren. 1917 wurde mein Vater zum Militärdienst gerufen. Nachdem Er wieder nach Hause kam, klagte Er über arge Schmerzen im Bein. Er dokterte viel, aber die Herrn Dökter konnten keine eigentliche Krankheit konstatieren. Die Situation der Krankheit verschlimmerte sich derart, bis Er den 9. Juni 1918 seiner Krankheit unterlag, im Kantonsspital in S.[ ]. Abtl, bei Herrn Prof. Hendschen, chirurgische Abteilung)[.] Im Monat Januar bekam meine Mutter einen 127 | Ebd., S. 315. 128 | Von Hand unterstrichen. 129 | Von Hand unterstrichen. 130 | Von Hand unterstrichen. 131 | Von Hand unterstrichen. 132 | Seitenwechsel auf S. 2. 133 | Von Hand unterstrichen.
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Schreiben am Rand Schlag u. war auf der rechten Seite gelähmt. Zugleich hat Sie die Besinnung u. die Sprache verloren. Sie wurde in das Krankenhaus S.[ ] befördert, wo auch ich ungefähr ¼ Jahr betreffs dem Herzen war. Meine Mutter hütete 10 Wochen das Bett wegen der Grippe. Auch ich hatte die (Gehirngrippe134). Auch litt ich sehr viel an Gelenkreumatismus135 [Wort unlesbar] vom Juli 1918. Nach dem bei meiner Krankheit Besserung eingetreten war, übersiedelte ich zu meiner Tante nach H.[ ]. Kreis 36, grosse Theaterstrasse 31, H.[ ]. Jetzt sind sie noch weiter fort aber wohin, weiss ich nicht. Mein Onkel war früher Student und studierter Dr. der Medizin. Führte aber seine Praxis nicht weiter, und wurde ein höherer Angestellter auf einem Schiff. Erst vor einigen Jahren lernte mein Onkel Herr Prof. [ ] kennen, und wurde bei Diesem Verwalter über einige Pordell in Hamburg.136 Die Ehegatten lebten in [zwischbaltem?] Streit. Beide schweifen immer aus u. ich wollte lieber in die Schweiz zurück und selber mein Brot verdienen, den[n] ich fühlte mich nicht wohl bei meinen Verwan[d]ten. Einige Wochen war ich noch auf der Insel H.[ ] im Schloss D.[ ]. Von Dort kam ich wieder in die Schweiz. Nun ging ich als Volontärin in Stellung, in W.[ ] (Im Caffee National). Nun lernte ich allerlei Herren kennen, und wurde eines schönen Tages überwältigt, und habe die Ehre verl137oren. Einige Zeit musste ich die Stellung aufgeben, und in den Spital betreffs (Gelenkreumatismus u. Herz.) Von W.[ ] aus, begab ich mich nach B.[ ] zu einer Freundin. Goldwarengeschäft Späth Eisengasse. Nun fand ich eine Stelle im Caffe Singer [unlesbar]. Nun war es zu streng für mich von Morgens 6–12 Uhr arbeiten, von Mittag bis 11–12 Uhr Aben[d]s. Nun nahm ich Aushilfestellen an in Weinstuben. u. [unlesbar]. Ein Vierteljahr versah ich eine Stelle in N.[ ]. Nun als ich keine Stelle fand, ging ich nach B.[ ], wo ich in verschiedenen Hotels Zimmer mit[e]tete. Mein erspartes Geld minderte immer, und ich hoffte in Z.[ ] würde ich etwas finden, was mich aber sehr enttäuschte. Leben musste ich, aber was anfangen? Ich verkaufte Kleider von mir mit Mittel zum Leben. Nun hatte ich Bekanntschaft mit einem Studenten, der mich ins Unglü[c]k brachte, den[n] ich wurde geschlechtskrank aber nur leichte Conorö. Nun gefiel es mir sehr gut, und ich liebte die Abendschwester sehr, den[n] sie war der einzige Mensch, der mich noch ein wenig verstand. Von dort aus wurde ich in das Mädchenheim Em[m]enhof versorgt, wo mich kein Mensch verstand. Herrn Inspektor Lörtscher verstand mich auch nicht. Alle sagen ich sei verrü[c]kt, aber ich bin doch nicht so.138 Herrn Dr. Schneller sagte man solle mich in eine Familie tun, wo keine Kinder sind. Aber nicht in ein Heim, wo ich doch kein Heimatsgefühl spühre. Ja ich weiss nicht, ich kann oft Stunden lang sein u. studieren aber wenn man mich fragt, ich kann nicht sagen wo ich mit den Gedanken gewesen bin.139 nein. Das beste Mittel ist für mich, zu einem Kinderlosen Ehepaar wo ich wieder eine Heimat finde. Ein Leben in der Welt um herzu irren (verlassen), nein lieber sterben. Ich glaube Sie werden meine Gedanken verstehen und kommt eine Seele 134 | Zum Aufkommen der »Gehirngrippe« seien Jakob Wyrschs Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg und seine Folgen zitiert, in denen er schreibt: »Gleichzeitig kam noch die böse Grippe, die spanische wurde sie damals genannt, ins Land, und überfiel fast alle und die Jungen besonders schwer und oft tödlich. Mit ihr kam die rätselhafte Krankheit, die aus Verlegenheit den Namen Kopfgrippe oder auch Schlafkrankheit erhielt, bis Jahre später Economo sie als eine andere noch gefährlichere Krankheit erkannte und sie Enzephalitis lethargica oder epidemica nannte.« Wyrsch (1977), 475. 135 | Von Hand unterstrichen. 136 | Von Hand unterstrichen. 137 | Seitenwechsel auf S. 3. 138 | Von Hand unterstrichen. Im Original »Lötscher« statt Lörtscher. 139 | Von Hand unterstrichen.
Schreiben (und Lesen) hinter den Sandsteinmauern die mir hilft. Habe vielleicht vieles noch vergessen zu140 schreiben, bitte verzeihen Sie es mir. Mit meinen Krankheiten wird es hoffentlich noch einmal besser. Habe nur 2. (Herzkrankheit und Lebernkrank). Habe wieder Stiche, und es kommt mir nichts mehr in den Sinn. ♦ Schluss ♦«141
Die Narration Frau Be.s über ihre schwere Kindheit, ihre Krankheiten und verschiedenen Anstellungen ist gut lesbar, sie ist mehr oder weniger linear und stringent gehalten, die Orthografie nicht auffallend schlecht und inhaltlich werden Überschneidungen mit den Angaben im Aufnahmeprotokoll ersichtlich. Das Motiv, nicht verstanden zu werden, zieht sich auch hier durch den Text. Zum Schluss des Textes scheint Frau Be. einen Lösungsvorschlag und gleichzeitig eine Möglichkeit, die Waldau bald wieder zu verlassen, zu unterbreiten. Ein kinderloses Ehepaar soll sie nach ihrer Vorstellung aufnehmen und ihr eine »Heimat« bieten. Die physischen Krankheiten, die immerhin Herz und Leber betreffen, werden am Ende des Textes als »nur 2« Krankheiten in ihrem Gewicht vermindert, gleichzeitig werden »Stiche« erwähnt, die neben den ihr ausgehenden Ideen zum Abschluss des Textes führen. Die Aussage »Habe vielleicht vieles noch vergessen zu schreiben, bitte verzeihen Sie es mir« zeugt von einem Überdenken des Geschriebenen, die direkte Adressierung vom bewussten Umgang Be.s mit dem Zielpublikum, den lesenden Ärzten. Während die neue Patientin im Gespräch anscheinend hemmungslos von ihren sexuellen Erlebnissen erzählt, sind diese hier kein Gegenstand. Sowohl die sexuellen Ereignisse wie auch die direkte Sprechweise sind nicht von Be. überliefert, sondern von Ärzten, die dieses Sprechen einordnen. Hingegen kommt im Lebenslauf noch einmal der Umstand zur Sprache, dass Frau Be. »überwältigt« worden sei. Ein Tatbestand, der nicht weiter ausgeführt wird und damit rätselhaft bleibt.
4.3.2 Somatisches und Psychisches Auf das Aufnahmeprotokoll folgt am nächsten Tag, dem 29. November 1921, ein Eintrag zum »Status somaticus«, in dem eine Beschreibung des Körpers vorgenommen wird: Von allgemeinen Beobachtungen über Gesicht und Kopf wird der Körper der neuen Patientin von oben nach unten erschrieben. Die schriftliche Darstellung des Herzens findet größere Aufmerksamkeit. Der Befund wird mit den Aussagen der Patientin, sie bekomme starkes Herzklopfen bei großen Anstrengungen, verglichen. Das Fazit lautet: »Bei dem schweren objekt. Herzbefund scheint dies sehr glaubhaft.«142 Nicht nur der von Frau Be. verfasste Lebenslauf als Ganzes, sondern auch die einzelnen Angaben zum Gesundheitszustand werden mit ›objektiven‹ Informationen, hier dem Untersuchungsresultat der Ärzte, verglichen. Daraus folgt eine Bewertung der Glaubhaftigkeit der Patientin und damit auch indirekt eine Beurteilung ihres Geisteszustandes. Der medizinische Bericht hält aber auch das teilweise Scheitern der Untersuchung fest, wenn etwa der Kniereflex nicht geprüft werden könne, »da die Kranke bald zusammenzuckt, bald sich steif macht.« Bei willentlicher oder gewollter 140 | Seitenwechsel auf S. 4. 141 | Von Hand doppelt unterstrichen. 142 | Alle Zitate in diesem Abschnitt: Kg 8991, S. 3.
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Verweigerung der Kooperation durch die Patientin fehlen den Ärzten gewisse Resultate, wie die Akte belegt und damit eine Wissenslücke offen hält. Die weitere Untersuchung beinhaltet im Bereich der Reiz-Reaktionsprüfung auch »[l]eichte Nadelstiche«, die die Patientin lokalisieren und angeben muss, was Frau Be. gelingt. Die Resultate der Urinuntersuchung werden handschriftlich angefügt, es wurde kein Eiweiß und kein Zucker gefunden. Die Behandlung von Frau Be. findet ihre Dokumentation in den Einträgen der Ärzte, aber auch in denjenigen der Wärter, wo die Medikation etwa mit Salizil, also Aspirin, Hydrastis oder herzwirksamem Digitalis vermerkt ist. Die Behandlung mittels Versetzung ins Dauerbad wird in der Akte dort erwähnt, wo ungebührliches Verhalten der Patientin dokumentiert ist. Im Juni 1923 wird etwa festgehalten, sie habe ein Messer entwendet: »9. Juni – Die Kranke hat ein Messer an sich genommen. Sie bedürfe dessen zur Anstellung einer (abergläubischen) Probe. Für 2 Tage in’s Bad. 12. Juni – Es fehlt wieder ein Messer. Die Kranke beteuert, sie habe das Messer nicht. Bad. 14. Juni - Das Messer wurde nicht gefunden. Kommt vom Bad in’s Bett. Wachsaal 2. Stock.«143
Das Bad wird hier nicht therapeutisch für eine Besserung der Kranken, sondern als Druckmittel für die Herausgabe des entwendeten Messers eingesetzt, allerdings erfolglos. Das Pflegepersonal hält außerdem fest, von wann bis wann Frau Be. jeweils die Periode hatte. Damit wird eine Kontrolle der Hygiene, aber aus der Zeit der Menstruation auch ex negativo eine Kontrolle über die Fruchtbarkeit der Patientin erreicht. Schließlich wird schriftlich fixiert, dass sie immer noch eine sogenannte ›Nulligravida‹ und zurzeit nicht schwanger sei. Zwischen den Wärterprotokollen und den Arzteinträgen in der Akte finden demzufolge Austauschprozesse statt. Das Wissen über die Patientin wird ergänzt und eine Zusammenarbeit der Angestellten auch in der Übernahme von verschriftlichter Beobachtung manifest. Ist die direkte Kontrolle der Patientin durch die Ärzte nicht möglich, wird auf verschriftlichte Beobachtungen der Wärter zurückgegriffen und damit der ›Fall‹ weitergeschrieben. Gemeinsam bemächtigen sich Ärzte und Pflegepersonal mit Praktiken wie dem Dauerbad und Schreibverfahren wie Gewichtstabellen und Menstruationsprotokoll des Körpers der Patientin.
4.3.3 Testverfahren Im Anschluss an die erste medizinische Untersuchung findet ein weiteres Gespräch statt, in dessen Verschriftlichung die Mischung aus kontrolliertem Befragen, freiem Erzählen und genormten Testverfahren zur Geltung kommt. Die Patientin berichtet von Träumen. Der protokollierende Arzt schreibt auf, sie träume von Fröschen und Schlangen. Dann wechselt die Notation abrupt in den Bereich des Tests, aus dessen mathematischem und geografischem Teil er festhält:
143 | Kg 8991, unpag., S. 18, handschriftliche, unsignierte Einträge vom Juni 1923.
Schreiben (und Lesen) hinter den Sandsteinmauern »9 mal 7: 63. 83 weniger 14 sei 69. 15978 wird richtig nachgesprochen. – Gibt die grössten Schweizerseen richtig an. Die Hauptstadt vom Kanton Tessin wisse sie nicht mehr, denn ihr Gedächtnis sei ganz nach der ›Gehirngrippe‹ verschwunden; so habe sie sich das Ein mal Eins wieder aneignen müssen.«144
Von der üblichen Wiedergabe der Patientenaussage in der indirekten Rede ist der Begriff »Gehirngrippe« durch Anführungszeichen abgehoben. Aus der indirekten Sprechweise tritt er als direktes Zitat hervor, und der Schreiber macht dadurch deutlich, dass dieser Ausdruck nicht von ihm stammt. Der Arzt geht sodann weiter zur »Unterscheidg. zwischen Verleumdung & Lüge«, er stellt der Patientin also eine Frage, deren Beantwortung er wiederum festhält. Nicht immer sind diese Fragen auch in der Akte notiert, so folgt auf die Begriffserklärung von Frau Be., Verleumdung und Lüge seien eigentlich dasselbe, ein thematischer Wechsel zu Wahrnehmungsstörungen und dem spontanen oder durch eine Frage des Arztes provozierten Bericht der Patientin, dass sie Stimmen höre. Im traditionellen Erklärungsmuster, das sowohl Patientin wie auch Arzt benutzen, um die Entwicklung und schließlich die Person, Frau Be., zu erklären, werden die Wurzeln aller späteren Verhaltensweisen in der Kindheit gesucht. Bei Frau Be. spielt auch ungeeignete Lektüre eine Rolle für ihre negative Entwicklung. Der Arzt hält dazu fest: »Sei als Kind von der Mutter viel in ihrem Zimmer eingeschlossen worden; las daher vie[l], allerlei Schundlitteratur, sodass sie früh über alles aufgeklärt war & nicht mehr mit den Altersgenossen s[p]ielen mochte.«145 Von den Notaten zur kindlichen Lektüre der Patientin wechselt das Gesprächsthema ohne ersichtlichen Auslöser, und das Protokoll berichtet von der Sexualität der erwachsenen Person. In der Begrifflichkeit der Gesprächslinguistik ist hier »aufgeklärt« das Rhema, das danach zum Thema, nämlich der »Sexualität« wird: »Der Geschlechtsverkehr mit Ausnahme des Studenten sei ihr sehr schmerzhaft gewesen, sie habe nie Freude daran gehabt. Die Männer versprachen ihr schöne Stellen[,] wenn sie sich ihnen hergebe & da sie das eben suchte, fiel [sic] sie mehrmals auf den Leim. Niemand meinte es aufrichtig mit ihr. So gab sie ihr Geld einem Unbekannten, dem sie Vertrauen schenkte & sich als Geheimpolizist ausgab & der sie gewarnt hatte, sie solle doch nicht so viel mit sich tragen. – Klagt noch[,] dass man sie als Dirne ansehe; sie habe durch Ueberwältigung ihre Ehre verloren & dann sei ihr halt alles gleichgültig geworden.«146
Die Et-Zeichen und die Katachrese (auf den Leim fallen) zeugen von einem schnellen Schreibtempo. Inhaltlich wird die Erzählung der Patientin verkürzt wiedergegeben und die Aussagen werden gleichzeitig eingeordnet, was die Anfügung des »noch«, wenn das Adverb nicht temporal, sondern als Zusatz im Sinne von ›sogar noch‹ gelesen wird, aufzeigt. Darin wird im letzten Satz das Unverständnis gegenüber der Patientin manifest, die sich nicht als »Dirne« betrachtet, während die gegenteilige Überzeugung des Arztes im Wort »noch« seinen Ausdruck findet. 144 | Ebd., S. 4. Blätter, auf denen keine Seitenzahlen markiert sind, die aber von der Verfasserin abgezählt wurden, werden hier mit dem Vermerk unpaginiert und der Seitenzahl aufgeführt. 145 | Kg 8991, unpag., S. 4. 146 | Ebd., S. 4.
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Den Teilsatz könnte man wie folgt ergänzen: Obwohl die Patientin angibt, viele Herren kennen gelernt zu haben und damit für den Arzt feststeht, dass sie sich prostituierte, wagt sie es »noch«, sich zu beklagen, dass man sie als Dirne betrachte. Liest man das »noch« hingegen temporal, wird die Haltung des Schreibenden neutraler: Er listet einfach auf, was die Patientin erzählt. Die verknappte Sprache der Akte lässt beide Lesemöglichkeiten zu, die Diagnose ›moralischer Defekt‹ legt jedoch die wertende Schreibweise des Arztes näher. Auch hier wird noch einmal von der »Ueberwältigung« gesprochen, aber erneut nicht ausgeführt, welcher Art dieses Erlebnis war und welche Konsequenzen sich daraus ergaben. Die Gleichgültigkeit, von der die Patientin spricht, wird durch den Arzt nicht gedeutet, der Eintrag endet und zwei Tage darauf folgt der nächste, der ein neues thematisches Feld eröffnet. Im ersten von Oscar Forel signierten Eintrag vom 1. Dezember 1921 werden die Verwandten von Frau Be. und ihre Rollen besprochen. Forel ist zehn Jahre älter als Be. und hat ein Jahr vor ihrem Eintritt seinen Titel Dr. med. erlangt. In der psychiatrischen Praxis ist er also relativ neu. Bei dieser Befragung gibt die Patientin an, der Vater sei Trinker und brutal gewesen, der Großvater väterlicherseits ebenfalls. Die Mutter von Frau Be. habe ungarische Eltern gehabt, die Großmutter habe Frau Be. sehr gerne gemocht. Von der Mutter, einer abergläubischen »Kartenschlägerin«, hatte sie sich vernachlässigt gefühlt. Forel zitiert Frau Be., die über ihre Vorfahren sagt: »Grosseltern, so hörte sie, seien Zigeuner gewesen, handelten mit Vieh«147 – diese Erwähnung der Abstammung von Zigeunern, die hier als Vermutung geäußert und festgehalten wird, mutiert zu einer Tatsache, wenn von Speyr diese Information etwa an die Armendirektion weiterleitet, wie noch zu lesen sein wird.148 Es folgen weitere Fragen zum Verhältnis Be.s zu Tieren, zu Toten, zu ihrer Berufswahl, als ob es eine freie gegeben hätte, und wiederum zu Träumen. Fragen und Antworten folgen meist unmittelbar aufeinander, selten sind temporale Indikatoren gesetzt wie »[s]innt etwas, dann:«,149 die die Fragen und Antworten in einen zeitlichen Rahmen stellen. Konkrete Hinweise zum Ort, an dem die Befragung stattfindet, gibt es keine. Die Befragung wird im Weiteren von Forel mit einigen Kurztests zu einer Testserie ausgebaut. Die Patientin (und hier nennt Forel erstaunlicherweise Vor- und Nachname Be.s und nicht nur etwa die Abkürzung »Pat.«) wird etwa aufgefordert, die »Fabel vom Salzesel« nachzuerzählen, was diese rasch und »richtig« ausführt, wie der Arzt festhält. Forel ergänzt: »zieht auch richtige moral. Schlüsse.«150 Es folgen Zinsberechnungen, mit deren Bewältigung sich die Patientin zu bewähren hat. Damit steht die Untersuchung im Zusammenhang mit der Entwicklung von Tests, die parallel zur Hochkonjunktur der experimentellen Psychologie im frühen 20. Jahrhundert einen Aufschwung erlebte. Diese Entwicklung begann mit physiologisch orientierten Reiz-Reaktionszeitstudien, in denen der zeitliche Ablauf von psychischen Reaktionen per Chronoskop gemessen wurde, so etwa in James McKeen Cattells (1860–1944) Psychometrischen Untersuchungen von 1886 oder in den inter-individuell ausgerichteten Intelligenzstudien Alfred Binets (1857–1911), 147 | Kg 8991, S. 5. 148 | Siehe Kapitel 4.3.4. 149 | Kg 8991, S. 7. 150 | Ebd.
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die dann 1905 in Zusammenarbeit mit Théodore Simon (1873–1961) zu einem ersten Intelligenztest für Kinder führten.151 Bei den Tests standen auch Charaktereigenschaften, wie hier die Einteilung von Individuen in die Kategorien ›krank‹ und ›gesund‹ und die Kategorisierung von Krankheiten auf dem Prüfstand. Dabei gelangten unterschiedliche Methoden zur Anwendung: Einige der Tests verlangen Kombinationen von verschiedenen Fertigkeiten, einige beruhen auf mathematischen Aufgaben, andere auf der Wiedergabe von Texten und wieder andere auf der Interpretation von Bildern oder Klecksen.152 Bereits in den 1910er Jahren werden die Testverfahren ausdifferenziert. Es gibt dann auch solche, die ausschließlich auf Texten basieren, nachzulesen etwa in Max Köppens und Arnold Kutzinskis Systematische Beobachtungen über die Wiedergabe kleiner Erzählungen durch Geisteskranke. Ein Beitrag zu den Methoden der Intelligenzprüfungen von 1910. 1912 prägte William Stern den Begriff ›Intelligenzquotient‹ und widmet in seinem Werk Die Intelligenz der Kinder und Jugendlichen und die Methoden ihrer Untersuchung von 1920 (zurückgehend auf einen Vortrag aus dem Jahre 1912) ein knappes Unterkapitel den Intelligenzprüfungen sittlich Minderwertiger, zu denen nach zeitgenössischer Vorstellung wohl auch Frau Be. zu zählen ist. Darin schreibt er: »Besonderes Interesse verdienen IP. [Intelligenzprüfungen] bei solchen Jugendlichen, die sich als moralisch minderwertig erwiesen haben. Gelegenheiten zu ihrer Untersuchung bieten einerseits die Jugendgerichte, anderseits Schwachsinnigen- und Fürsorgeanstalten. Es zeigte sich nun durchweg, daß starker sittlicher Defekt nicht mit gleich starkem intellektuellem Defekt verbunden ist. Die moralische Haltlosigkeit kann in den Formen der Ungehemmtheit des Trieblebens, der Willensschwäche und der Gefühlsstumpfheit als offenkundig pathologische Erscheinung auftreten, während die I.[ntelligenz] nur wenig – oder überhaupt nicht merklich – im Rückstand zu sein braucht.«153
In der Folge bringt Stern seine Forschungsresultate auch mit der psychiatrischen Diagnose ›moral insanity‹ in Verbindung, wenn er zusammenfasst: »Als Gesamtergebnis bleibt bestehen, daß sittliche Minderwertigkeit in relativer Unabhängigkeit vom I.-Grad bestehen kann und daß insofern die alte Bezeichnung ›moral insanity‹ nicht ganz unrichtig gewesen ist.«154 Der Intelligenzquotient als Zahl ist in der Akte Frau Be.s kein Thema, die Testverfahren verfolgen trotzdem das Ziel der Intelligenzmessung, was deutlich wird, wenn unterschiedliche Fähigkeiten immer wieder geprüft werden.155 Nachdem Forel seine Patientin ausführlich über ihr »Ge151 | Allgemein zur Psychometrie siehe Lamberti (2006). Zur Konstruktion der ›Eignung‹ des Menschen siehe Horn (2002). 152 | Die Intelligenztests von Binet und Simon beinhalten reichhaltiges Aufgabenmaterial, unter anderem wird auch mit zwei Bildern gearbeitet, auf denen die Kinder Gegenstände erkennen und darauf zeigen können sollten. Binet/Simon (2004), hier: S. 205; 207. Mit Klecksen prüfen Hens (1917) und Rorschach mit seiner Psychodiagnostik von 1921 (1962). 153 | Stern (1928), S. 190. 154 | Stern (1928), S. 192. 155 | Auch im Februar 1922, nachdem Frau Be. bereits über zwei Monate in der Waldau ist, werden ihr mathematische Aufgaben gestellt und Wissen über Kantone und Parteien abgefragt. Frau Be. muss auch Redewendungen und Begriffe erklären. Die Tests ziehen sich damit über eine längere zeitliche Periode hin. Kg 8991, unpag., S. 14 f.
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schlechtsleben« und die Erfahrungen mit unterschiedlichen Männern und deren Bezahlung befragt hat, schreibt er am 6.12.1921 eine Zusammenfassung, aufgeteilt in den somatischen und psychischen Zustand der Patientin: »Körperlich fällt die untersetzte Gestalt auf, zu klein, breit gebaut, wozu der kindliche Kopf nicht recht passen will. Sehr ausgesprochener Herzfehler, der nur knapp kompensiert ist. – Psychisch: mittlere Intelligenz; Schulkenntnisse in Anbetracht der genossenen Ausbildung sehr mangelhaft; in manchen Antworten aber wieder besonnen & altklug. Gedächtnis soweit kontrollierbar gut erhalten. Affekt adäquat. Ganz amoralisch in allem was die übliche Moral betrifft. Vollkommen schamlos gegenüber allem sexuellen; offenbar Arbeitsscheu. Typus einer Puella publica.«156
Unter der letzten Zeile findet sich ein handschriftlicher Zusatz »mit hyster. Einschlag« und damit ist die Paradekrankheit weiblicher Anstaltsinsassen um die Jahrhundertwende, die Hysterie, genannt. Frau Be. wird damit in den Bereich der durchschnittlichen Kranken gebracht. Die Messmethoden führen, wie der zitierte Ausschnitt zeigt, zum Resultat »mittlere Intelligenz«, wie genau diese Feststellung jedoch zustande kommt, bleibt offen. Im ›psychischen‹ Bereich, der hier so unterschiedliche Komponenten wie Intelligenz, Schulwissen, Gedächtnis und ›Moralität‹ umfasst, wird aber auch Widersprüchliches und damit Unsicheres notiert: Frau Be. scheint ihr Gegenüber zu irritieren, wenn sie teilweise mangelhaftes Wissen präsentiert und dann plötzlich wieder »besonnen & altklug« antwortet. Klar eingeordnet werden kann lediglich ihr Verhältnis zur ›Moral‹, das im Vergleich zum normierten Verhalten eine deutliche Abweichung zeigt. Versucht man zu rekonstruieren, wie die Diagnose des moralischen Defekts zustande kommt, fällt auf, dass die ›Schamlosigkeit‹ der Patientin in einer zielgerichteten Befragung geradezu produziert wird. Forel notiert in der Akte auch seine eigenen Fragen, beispielsweise, ob Frau Be. »Perversitäten« kenne, worauf Frau Be. von Homosexualität spricht und die Namen sexueller Stellungen nennt, die sie aber nicht praktiziert habe.157 Die Befragung steuert zwar den Inhalt der Antworten deutlich in den Bereich der Sexualität, in deren Notation deuten aber mehrere Auslassungszeichen darauf hin, dass nicht mit expliziten Antworten, die zudem noch »mit der selbstverständlichsten Miene«158 erzählt werden, gerechnet wird. Ein Zuviel an Antworten und Inhalten wirkt sich im thematischen Bereich der Sexualität negativ auf die Wahrnehmung der Person aus, da dies als Normüberschreitung interpretiert wird. Im Februar 1922 wird die Patientin im Psychologischen Verein vorgestellt. Forel schreibt darüber: »Sie ben[a]hm sich etwas timid, sprach aber doch hemmungslos über sehr intimes das man sie gar nicht fragte. Kein adäquater Affekt. Es wurde das okkulte Milieu, die Erziehung unter Kartenschlägerinnen & hauptsächlich die Zigeunerheredität mütterlicherseits betont: mittlere Intelligenz, Hang zum Mystischen, Aberglauben, viel Phantasie & ausgesprochene Infantilismen, auch in sexueller Hinsicht. Die Frage ob die angegeben[e] Halluzinat. & Wahnideen 156 | Kg 8991, unpag., S. 10. 157 | Kg 8991, unpag., S. 8. 158 | Ebd.
Schreiben (und Lesen) hinter den Sandsteinmauern als solche aufgefasst werden müssen, wurde offen gelassen. Die Diagnose Dem. Praec. ergibt sich nicht ohne weiteres. Am wiederholten Ausspruch der Kranken, sie werde v. niemandem verstanden stimmt das dass wir uns schwer in die phantastisch-abergläubische Mentalität einfühlen können.«159
Dieser Ausschnitt gibt in seiner verknappten sprachlichen Form Auskunft über die präsentierte Person, die Verfahren der Vorstellung, und der psychiatrischen Wissensproduktion. Frau Be. entspricht nicht der Erwartung, nur dann und darüber zu reden, wenn und worüber sie gefragt wird – sie erzählt auch Ungefragtes. Der Arzt »betont« die Herkunft der Patientin und ihre Eigenart. Inwiefern im Psychologischen Verein die Einordnung von Frau Be.s »Wahnideen« besprochen wird, ist unklar. Ein Problem scheint zu sein, dass sich nicht einfach eine Diagnose ergibt. Der Text lässt vermuten, dass Dementia praecox als Zieldiagnose angestrebt wurde, sich aber nicht »ohne weiteres« festgemacht ließ. Psychiatrisches Wissen wird hier in seiner Unsicherheit zur Schau gestellt, es wird deutlich, dass eine Diagnose in einem Prozess entsteht, der teilweise auch im Kollektiv wie hier in der Besprechung verläuft. Die Ziele des Prozesses werden zwar anvisiert, können aber nicht immer erreicht werden. Die Dementia praecox wird in der Beurteilung von Frau Be.s Zustand kein Thema mehr sein. Der Textausschnitt schließt mit einem bemerkenswerten Teil-Eingeständnis des psychiatrischen Unverständnisses gegenüber dieser Patientin: In ihre »phantastisch-abergläubische Mentalität« könne sich der Arzt in der Tat nur schwerlich einfühlen, Frau Be.s Klage, niemand verstehe sie, wird damit indirekt bestätigt. Ob diese Einsicht aus der ›Vorstellung‹ der Patientin und damit im kollektiven Austausch unter Experten oder aus zeitlicher Distanz in der Niederschrift hervorgeht, bleibt offen. Mit den Begriffen Ludwik Flecks lässt sich aber sagen, dass hier ein Denkkollektiv und der von ihm beauftragte Schreibende die Grenzen des eigenen Denkstils ansprechen. Diese Grenzen befinden sich dort, wo das Verständnis für die Patientin aufhört und ihr mit dieser Feststellung indirekt recht gegeben wird.160 Die Beobachtungssituation dreht Frau Be. einige Tage später um, als sie an einem Studentenball teilnehmen darf. Forel notiert: »Neulich am Studentenball teilgenommen. Weigerte sich hartnäckig zu tanzen; sie müsse ihre Beobachtungen aufzeichnen … beschrieb dann beiliegendes Blatt das der Arzt ihr unerwarteter weise wegnehmen musste. Gab auf die Fragen der Studenten gerne Bescheid.«161 Frau Be. weigert sich an diesem Anlass, die ihr zugedachte Rolle zu spielen, indem sie nicht tanzt. Vielmehr versetzt sie sich in eine beobachtende und schreibende Position, über die gewöhnlich die Ärzte verfügen. Zur Aufgabe dieser Haltung kann sie der Arzt nur durch einen konkreten Eingriff, durch die Wegnahme des Papiers, bewegen. Auf diesem Blatt, das in die Akte eingeklebt ist, findet sich das Datum (24. Feb. 1922), der Titel »Studentenball« und eine leer gehaltene Tabellenvorlage mit Frau Be.s bevorzugter Einteilung der Menschen in »Alltagsmenschen« und »Übermenschen«. Etwas weniger gut lesbar wird auf der dritten Zeile das Wort »Kunstköpfe« und dahinter auch noch Forels Name erkennbar. Der Name der Patientin ist ebenfalls angefügt. Wer als »Alltagsmensch« und wer als »Übermensch« 159 | Ebd., S. 16, Eintrag vom 22. Februar 1922, signiert mit »Fo«. 160 | Fleck (1980). 161 | Kg 8991, unpag., S. 16.
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taxiert worden wäre, wenn Frau Be. mehr Zeit zum Schreiben und Ausfüllen der Tabelle geblieben wäre, muss offen bleiben. Aus dieser Szene wird jedoch deutlich, dass Patienten und Patientinnen, die sich nicht an ihre Rollenvorgabe hielten und es zusätzlich auch noch wagten, zu schreiben, in gewissen Situationen nicht gerne gesehen wurden. Der Eintrag in der Akte berichtet zwar vom unangemessenen Schreibakt der Patientin, der Inhalt des Zettels, der immerhin auf bewahrt wird, steht aber nicht zur Diskussion. Ob und welche Verweise Frau Be. auf Nietzsche macht, wird hier nicht thematisiert, ebenfalls nicht, weshalb Frau Be. solche Anspielungen in dieser Situation einsetzt. Der Schreibakt ist dadurch ohne Bezug auf einen Inhalt des Schreibens lediglich als weiterer Normverstoß erwähnenswert.
4.3.4 Die Produktion psychiatrischer Tatsachen Dass und wie von verschiedenen Instituten über Frau Be. als ›gefallenes Mädchen‹ verhandelt wurde, berichtet ein Brief der Direktion des Armenwesens »An die Jrrenanstalt« vom 16. März 1922, in dem nach dem »Resultat« der bisherigen »Beobachtung« Frau Be.s gefragt wird. Dieser Brief enthält auch den Hinweis auf die Möglichkeit, dass beim Verhalten der »Tochter« »höchstens Simulation« vorliege und Frau Be. deshalb in eine andere Institution versetzt werden sollte. Zwischen den Zeilen lässt sich eine ökonomische Motivation des Schreibens herauslesen: Sollte Frau Be. versetzt werden, würde »von der Anschaffung der in Jhrem Verzeichnis aufgeführten Wäsche und Kleider abgesehen werden.«162 Bliebe Frau Be. in der Waldau, müsste sie von der Armenfürsorge mit Kleidern ausgestattet werden. Dass Frau Be. überhaupt in einer Institution untergebracht sein soll, scheint allen Beteiligten klar. Deutlich fällt von Speyrs Plädoyer für einen Verbleib Be.s in der Waldau aus: In seiner Antwort an die Armendirektion vom 29. März 1922 erwähnt er zuerst den schweren Herzfehler Frau Be.s, der jede anstrengende Arbeit verunmögliche. Ferner sei die Patientin »geistig & gemütlich abnorm veranlagt.« Dies wird in direkte genealogische Verbindung gebracht, der Vater sei ausschweifend gewesen und die Vorfahren »Kartenschlägerinnen & eingewanderte[ ] Zigeuner[ ].« Hier zeigt sich, dass von Speyr die hauptsächlich von Forel geführte Akte aufmerksam gelesen hatte, bevor er diesen Brief verfasste. Die Abstammung von Zigeunern, von Frau Be. ursprünglich einmal als Vermutung geäußert, wird in der Aufnahme durch den Direktor und in seinem institutionell geprägten Schreibakt zur Tatsache. In der Beschreibung von Frau Be. greift von Speyr dreimal auf den Vergleich mit einem Kind zurück: Frau Be. sei ein »kindlich-primitives Wesen«, sie handle »nach Kinderart« und habe sich »im Grunde als kindlich-gutmütig« erwiesen. Trotz dem Hang zum Kokettieren könne der »Verdacht auf Simulation« nicht aufrecht erhalten werden.163 Die Patientin, die sich nicht verstanden fühle, »sei in gewissem Sinne Uebermensch«, berichtet von Speyr und nimmt damit eine weitere in der Akte notierte Aussage Be.s auf, um damit ihren Krankheitszustand zu be162 | Brief der Direktion des Armenwesens des Kanton Berns an die Irrenanstalt Waldau, Bern, den 16. März 1922. In: Kg 8991. 163 | Waldau bei Bern, Direktion an die kantonale Armendirektion, Bern, Waldau, 29. März 1922. In: Kg 8991, alle Zitate bis hierher auf der Vorderseite des Briefes. Zur Simulation als Ausschlussdiagnose siehe Ledebur (2012).
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legen. Sie brauche deshalb »Anschluss«, der Aufenthalt in der Waldau habe ihr »nur gut getan & die Irrenanstalt wird ihre Zuflucht bleiben«, wenn nicht ein entsprechender Platz in Familienpflege gefunden werden könne. Weder eine Arbeitsanstalt noch eine Armenanstalt sieht von Speyr als geeigneten Ort für Frau Be. an, und für sich selbst könne sie nicht sorgen. Dies begründet von Speyr wiederum mit der fehlenden ›Moral‹ der Patientin: »Ihre moralische Haltlosigkeit setzt sie der Gefahr aus, jeder Versuchung zum Opfer zu fallen. Sie ist nicht im gewöhnlichen Sinne erotisch, aber sie wird von jedem Abenteuer mitgenommen, da sie kein sexuell-moralisches Werturteil besitzt.«164 Von Speyr verweist auf die schützende Funktion der Anstalt für Frau Be., hier sei sie keiner »Versuchung« ausgesetzt. In der Folge verbleibt Frau Be. tatsächlich weiterhin in der Waldau, eine mögliche Antwort der Armendirektion ist nicht erhalten. Aus den Jahren 1922 und 1923 sind drei Kopien von Briefen Be.s in der Akte vorhanden. Zwei sind an Bekannte gerichtet, eine an eine mögliche Patronin, mit deren Hilfe Be. hofft, aus der Waldau austreten zu können. Von den drei Kopien sind zwei maschinengeschrieben, eine ist handschriftlich verfasst. Diese Handschrift stammt nicht von der Patientin, was vermuten lässt, dass alle drei Abschriften im Rahmen der Zensur von Angestellten oder möglicherweise damit beauftragten Patienten stammen. Es sind Blitzlichter, in denen das Schreiben von Be. und die dokumentarischen Schreibverfahren der Zensur sichtbar werden, im Dunkeln verbleiben die auf dem Umschlag der Akte erwähnten weiteren Briefe im Briefschrank des Wärterzimmers. Die Inhalte der überlieferten Briefe zeugen davon, dass die Patientin, die nach dem Tod ihrer Mutter keine Verwandten mehr hat, versucht, in Verbindung mit Bekannten zu treten. Sie äußert in allen Briefen die Hoffnung, bald gesund genug zu sein, um die Klinik verlassen zu können. Aus einem dieser Briefe lässt sich der Tagesablauf weiblicher Patienten, die nähen können, entnehmen. Be. schreibt am 1. März 1923 an »Schwester Elisli«: »Sie haben mich im Briefe gefragt, was ich den ganzen Tag treibe: Also die gewohnte Tageseinteilung ist so: Morgens um ½7 Uhr steht man auf, um ½8 nehmen wir das Morgenessen ein, dann hilft man in den Hausarbeiten, von 9–11 Uhr näht man, in der Zwischenzeit von 11 bis 12 vertreibt man die Zeit mit eigenen Arbeiten, dann kommt das Mittagessen, bis Nachmittags 2 Uhr haben wir wieder freie Zeit, nachher wird wieder genäht bis 5 Uhr, & dies Zeit von 5 – ½8 Uhr ist wieder Unsere. Dann ist wieder Zeit für ins Bett. Das ist das Alltägliche, wenn man den ganzen Tag aufstehen darf. Bei schönem Wetter dürfen wir auch in der Mittagszeit in den Garten, überhaupt im Sommer sind wir den ganzen Tag im Garten, & nähen.«165
Damit wird beschrieben, in welchem Rahmen sich ein ›infames‹ weibliches Leben in der Klinik abspielte. Unbekannte Patienten hatten im Vergleich mit Insassen wie Walser166 oder Glauser167 strikt geregelte Tagesabläufe, in denen wenig ›Freizeit‹ zur individuellen Gestaltung blieb. Schreiben als Beschäftigung war für weibliche Patienten nicht eingeplant. Mit Bettruhe und Dauerbad werden sie diszipliniert, mit Näharbeiten beschäftigt und in die Anstaltsarbeiten eingebunden. 164 | Alle Zitate seit der letzten Anmerkung ebenda, auf der Rückseite. 165 | Frau Be. an Schwester Elisli, Neubau, den 1. März 1923. Kopie in Kg 8991. 166 | Siehe Kapitel 4.5. 167 | Siehe Kapitel 4.6.
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4.3.5 Schreibszene auf einer psychiatrischen Bühne Frau Be. wird 1924 ein weiteres Mal ›vorgestellt‹, dieses Mal handelt es sich um eine klinische Vorstellung, über die der Volontärarzt Julius von Ries in einem handschriftlichen Eintrag schreibt. Daraus ist besonders eine Passage hervorzuheben, in der eine Frage des Direktors von Speyr und die entsprechende Antwort der Patientin notiert werden: »Als d. Hr. Dir. behauptet, Pat. woll[e] gar nicht aus der Waldau, da es ihr gut dort gefalle, springt sie auf ergreift die Feder & schreibt auf ein Löschpapier sie gebe es hiermit schriftlich, dass sie fort in die Welt wolle um ihr Brot allein zu verdienen. Verteilt Chocolade & sagt dem Pract. Er habe nun sein Examen gut bestanden.«168
Ob von Speyr hier die Patientin bewusst provozierte oder ob diese Szene ein weiterer Beweis seiner Überzeugung war, dass die Waldau der beste Aufenthaltsort für sämtliche seiner Patienten sei, bleibt offen. Hingegen wird deutlich, dass sich Frau Be. zum Erstaunen der Ärzte auch in der Inszenierung der klinischen Vorstellung vor Studenten eine eigene Rolle zuweist und sich traut, dem Direktor zu widersprechen. Sie tut dies nicht mündlich, sondern in einem performativen Schreibakt auf der ›Bühne‹ des Inselspitals. Hier wird eine Schreibszene beschrieben, die sich an einem Ort mit klarer Rollenverteilung, der medizinisch-psychiatrisch orchestrierten klinischen Vorstellung abspielt. Die Rollen beinhalten Mündlichkeit, die den Fragenden und das antwortende ›Untersuchungsobjekt‹ und Schriftlichkeit, was den Protokollierenden betrifft. Der Medienwechsel durch die Patientin ist nicht geplant und erstaunt deshalb, weil er auch einen Rollenwechsel und ein Verlassen der Versuchsobjekt-Position impliziert. Das konkrete Schreiben der Patientin, die ihren Willen zum Austritt bekundet, ist nicht überliefert, hingegen die sprachliche Vermittlung durch Ries als Dritten. In seinem Bericht erwähnt er, dass die Patientin »ihre Rolle immer gut«169 spiele und verfestigt damit den szenischen Charakter dieser psychiatrischen Wissensgenerierung und -verbreitung am Vorstellungsobjekt Patientin. Aus der Rolle des passiven Untersuchungs- oder Demonstrationsobjektes windet sich Frau Be., indem sie aktiv wird und die Prüfung des Praktikanten als bestandenen bekannt gibt. Forel scheint sich sehr ausgiebig mit Frau Be. auseinandergesetzt zu haben. Ihr Zustand verbessert sich und sie bekommt dadurch auch mehr Aufmerksamkeit. So schreibt Forel: »Glaubt sich neuerdings verstanden vom Arzt. Ist sehr auf diesen eingestellt, darauf bedacht, solange als möglich Privatgespräche zu haben. […] Schätzt es sehr[,] dass man ihr doch eine gewisse individual Behandlung angedeihen lässt. Sie hat sie deshalb verdient, weil sie tatsächlich nie mit anderen zankt, sondern stets ausweicht.«170
In der Folge dieser Spezialbetreuung bindet sich die Patientin stärker an den Arzt, sie schreibt ihm kleine Briefe, die sie mit »Die Zigeunerin« signiert. Forel hält diese Entwicklung mit Blick auf seinen bevorstehenden Weggang fest: »Hat sich 168 | Kg 8991, unpag., S. 20. 169 | Ebd. 170 | Ebd., S. 22.
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zu stark an den Arzt gebunden, sodass sie der Abschied stark hernimmt.«171 Forel verlässt am 25. August 1923 die Waldau, »um eine Privatpflege zu übernehmen«,172 wie es der Jahresbericht ausdrückt. Bevor Glaus und Ries die Betreuung von Frau Be. übernehmen, notiert Forel einen optimistischen Eintrag betreffend der Entwicklung der Patientin in die Akte, der wie ein Abschiedsgeschenk wirkt: »Hat bedeutende Fortschritte gemacht. Viel natürlicher, ungezwungener. – Entpuppt sich als viel kluger und anpassungsfähiger als wir je dachten.«173 Und so gelingt es Frau Be. nach langem Drängen, die Anstalt, die sie in der klinischen Vorstellung einmal dem Praktikanten gegenüber »Hotel Waldau«174 genannt hatte, verlassen zu können. Frau Be. entspricht in mehreren Punkten nicht den zeitgenössischen Erwartungen an eine junge Frau. Ihre ungeklärte Herkunft, ihre mögliche Abstammung von ungarischen Zigeunern, ihre mangelhafte Erziehung, ihr sexuelles Verhalten und ungehemmtes Sprechen darüber sowie ihr angeblich niedriger Bildungsstand bei relativ guter Schulbildung entsprechen nicht den gesellschaftlichen und geschlechtsspezifischen Normen. Diese Verletzungen der Rollenkonformität manifestieren sich in Texten, sie werden in institutionellen Schreibverfahren in internen Dokumenten und Briefen nach außen verfestigt. Darin werden auch die ›Auftritte‹ Be.s beschrieben, bei denen sie sich jeweils Rollen anmaßte, die ihr nach gängiger Vorstellung nicht gebührten. In der Ausstellung einer ›infamen‹ Frau, die durch ihre Regelverstöße zu Aufmerksamkeit kommt, zeigt die Waldau ihre Verfahren. Es wird lesbar, wie psychiatrisches Wissen generiert und verfestigt wird und wo Unsicherheiten und Nicht-Wissen ihren Platz finden. In der Kombination eines jungen, engagierten Arztes und einer mitteilungsfreudigen und zwischenzeitlich sehr aktiven Patientin werden die institutionellen Settings mit ihren Bestandteilen Beobachten, Fragen und Antworten, sowie Schreiben, Strafen, Zensur und Nähen sichtbar. In der Rolle der Schreibenden in der Anstalt findet ein Lebensausschnitt von Frau Be. als ›infamer‹ Mensch und mit ihm zeitgenössische Vorurteile über Frauen oder etwa Zigeuner vorübergehend Aufnahme in den zeitgenössischen psychiatrischen Diskurs, sie werden für kurze Zeit sicht- und lesbar.
4.4 D ie F reibeüter und der Pascha Im Psychiatrie-Museum Bern hängt ein Plakat mit einem handschriftlich verfassten Text, der den Titel Die Freibeüter und der Pascha trägt.175 Der Text schließt mit einer Klammer, die zwar die Berufsbezeichnung »Ein langjähriger Waldauwärter« beinhaltet, jedoch keine Namensnennung. Das Plakat ist im Museum ohne erklärenden Paratext ausgestellt, offen sind also Angaben zur Autorschaft, der Zeit der Abfassung des Textes und zu seiner Überlieferung. Ein Schriftvergleich durch den
171 | Ebd., Eintrag vom 19. Juli 1923, Handschrift Forels. 172 | Jb 1923, S. 6. 173 | Kg 8991, unpag., S. 22., Eintrag vom 19. Juli 1923, Handschrift Forels. 174 | Ebd., S. 19. 175 | Siehe Abb. 23 und die Transkription, Kap. III, im Anhang.
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ehemaligen Museumsleiter Rolf Röthlisberger176 hat die Vermutung ergeben, der Text könnte von Johann Lang, einem Patienten, stammen. Eine Verifizierung dieser These hätte Einsicht in die Krankenakte verlangt – die Akte ist jedoch nach der Aussage von PD Dr. Altorfer im Archiv des Psychiatrie-Museums nicht auffindbar.177 Zeichnungen von Johann Lang sind teilweise publiziert, so im Ausstellungskatalog Der Himmel ist blau & Nackt sein178 oder in Der letzte Kontinent,179 wo Lang den Namen »Friedrich K.« zugewiesen bekommt. Im letzterwähnten Band finden sich einige Informationen, die, wenn sie wahr sein sollen, auf Angaben aus einer Krankenakte beruhen müssen.180 Man entnimmt ihnen etwa den Hinweis, »Friedrich K.« sei in einem Streit mit Wölfli ein Stück der Oberlippe abgebissen worden. In der Krankenakte von Wölfli steht am 25. September 1907: »Hat heute im Streit Pat. Lang ein grosses Stück der Oberlippe abgebissen.«181 Eine Verbindung von Johann Lang zum Pascha-Text wird aber in keinem der Bände gezogen, weshalb es müßig ist, der Frage nach der Autorschaft des Textes weiter nachzugehen, solange die Akte nicht einsehbar ist. Offen bleibt also auch die Frage danach, ob die Arbeit von einem Patienten stammt, von einem Wärter oder möglicherweise von einem ehemaligen Wärter, der später als Patient in der Waldau war. Solche ›Rollenwechsel‹ sind sowohl in den Krankenakten wie auch in den Jahresberichten verbürgt. Von Patient St.182 etwa erfährt man durch die Akte, sein Beruf sei Coiffeur gewesen, an anderer Stelle steht, er sei Schneider gewesen. Es ist auch vermerkt, dass er sowohl in Königsfelden wie auch in der Waldau als Wärter gearbeitet hatte und jeweils entlassen wurde. In der Waldau, wohin er als »Untersuchungsfall« kam, war er als Patient zwischen 1894 und 1901 viermal interniert. Umgekehrt erfährt man aus dem Münsinger Bericht des Jahres 1897 von einem anderen Patienten, dessen epileptischen Anfälle verringert werden konnten. Der Betreffende war danach fähig, als Wärter in der Waldau zu arbeiten. Georg Glaser beschreibt den ›Fall‹ im Bericht der Direktion ausführlich: »Unter den epileptischen Störungen befindet sich ein 22jähriger Landarbeiter, der seiner Angabe nach infolge eines Schreckens den ersten epileptischen Anfall im Alter von 8 Jahren bekommen hatte. Zwei Wochen vor dem Eintritt in die Anstalt hatte er zu Hause einen Anfall von Verwirrtheit von fünf- bis sechsstündiger Dauer durchgemacht. Die Erinnerung an denselben fehlte ihm. Seither wiederholten sich die früher spärlichen Anfälle Tag für Tag, und in 176 | Ich danke Rolf Röthlisberger für die Bereitschaft, diesen Schriftvergleich zu unternehmen und für das Treffen mit ihm im Sommer 2009 in der Waldau. 177 | Aussage vom 13.8.2009. 178 | Jutzeler/Käsermann/Altorfer (2008), S. 16–25. Da der Patientenname in dieser Publikation nicht anonymisiert ist, wird er hier ebenfalls ausgeschrieben. 179 | Beretti/Heusser (1997), S. 39–41. 180 | Auch bei Jutzeler/Käsermann/Altorfer (2008) finden sich biografische Angaben, die einer Krankenakte entstammen müssen. So steht dort auf S. 16, Lang habe von 1886–1921 gelebt, sei Schirmmacher und Schausteller, geschieden und von 1901 bis 1921 in der Anstalt interniert gewesen. Falls diese Angaben auf den Autor des Pascha-Textes zutreffen, wäre damit der Entstehungszeitraum innerhalb der ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts gegeben. 181 | Hunger u.a. (1993), S. 374. 182 | Die Akte ist unter der Nummer 5180 in der Waldau abgelegt.
Schreiben (und Lesen) hinter den Sandsteinmauern den letzten Tagen vor der Aufnahme hatte er deren täglich vier bis fünf. Abgesehen von einer leichten Klappenstörung am Herzen waren körperliche Störungen an dem Patienten nicht nachweisbar. Während der ersten Tage seines Hierseins wurden einige typische epileptische Anfälle beobachtet. Der Kranke erhielt nun während der drei Monate seines Aufenthaltes täglich ein Gramm Herb. Adonis vernal. als Infus mit 3 Gr. Kal. brom. Mit dem Beginn dieser Medikation blieb er von Anfällen frei und verließ die Anstalt scheinbar geheilt, um einige Zeit später als Wärter in die Waldau einzutreten. Wir wagen nicht zu sagen, ob die Besserung eine Folge der angewandten Medikation oder ein zufälliges Zusammentreffen mit ihr war. Weitere Erfahrungen bleiben abzuwarten.«183
Der hier beschriebene Patient wechselt mit der Institution auch die Rolle, als Patient ist er in Münsingen interniert, als Wärter arbeitet er in der Waldau. Mit der vom Psychiater formulierten Unsicherheit über den Auslöser des verbesserten Gesundheitszustandes wird angedeutet, dass der ehemalige Patient als Wärter immer noch unter Beobachtung steht. Schließlich ist es wissenschaftlich interessant zu erfahren, ob die scheinbare Heilung von Dauer ist. »Weitere Erfahrungen« sollen zeigen, inwiefern Behandlung oder Zufall zu einer Heilung führen und ob es Rückfälle gibt. Die Psychiatrie zeigt sich in der Darstellung Glasers explizit als Erfahrungswissenschaft, deren Verfahren der Wissensproduktion mit offenen Versuchsanlagen operiert. Der Verfasser des Pascha-Textes ist, sollte er einen solchen Rollenwechsel selbst durchgemacht haben, damit nicht alleine im institutionellen Umfeld. Für die Analyse des Textes hat aber die an seinem Schluss in Klammer angefügte Berufsbezeichnung, die anstelle einer Unterschrift gesetzt ist, hauptsächlich die Funktion einer Verstärkung der Glaubwürdigkeit und dies unabhängig davon, ob der Autor tatsächlich Wärter war oder nicht. Wie die »rein verbürgte Tatsache« die Wahrheit des Beschriebenen betont, so unterstreicht die Berufsbezeichnung das Fachwissen des Autors und den Einblick des Schreibenden in die Anstalt. Eine Erwähnung des Autors in der Ich-Form lässt sich gegen Schluss erahnen, wenn grafisch etwas undeutlich geschrieben steht: »I[ch] hätte dann noch Aussagen zu machen über …«, die Ankündigung aber nicht eingelöst wird, und man deshalb nicht erfährt, über welche zwei Ärzte der Autor noch kritische Aussagen machen wollen würde, wäre dieses Unterfangen nicht zu gefährlich. Das »Ich« zeigt sich also im Text, ohne jedoch direkt seine Meinung kund zu tun.
4.4.1 Materialität Der Text ist auf ein dünnes, zeitungsbogenartiges Papier mit Bleistift geschrieben. An der linken oberen Ecke lässt sich erkennen, dass dieses dünne Manuskript auf eine farbige Unterlage aufgezogen ist, die linke obere Ecke ist gefaltet und lässt darunter eine weitere Schicht Papier erahnen. Oben rechts sieht man ein Loch, das von einer Reißzwecke oder einem Nagel stammen könnte. Das jetzt weiß gerahmte Text-Bild wird also vermutlich bereits einmal ohne Rahmen und Glas gehangen haben. Wie Heinz Feldmann bei einem Treffen erklärte, hing das Bild in Morgenthalers Dachstock. Wie dieser Dachstock zu Morgenthalers Zeiten genau eingerichtet war, lässt sich nicht mehr rekonstruieren, einzelne Abbildungen (etwa 183 | Jb 1897, S. 50. Kursiva im Original durch Antiqua von der Frakturschrift abgesetzt.
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in seinem Lehrbuch) zeigen Ausschnitte davon. Aus welchen Gründen Morgenthaler den Pascha-Text aufgehängt haben mag, bleibt offen – möglich sind mehrere Teilantworten oder ihre Verbindung: Morgenthalers Interesse an der Schrift, an der Bildhaftigkeit des Textes oder dem Inhalt des Geschriebenen.
4.4.2 Schrift, Sprache und Orthografie Bei der Schrift handelt es sich um Druckbuchstaben, die im Verlaufe des Textes, vermutlich aus Platznot, kleiner werden. Das Papier wird bis an die Ränder beschrieben. Einige Wörter oder Satzteile sind unterstrichen. Einzelne Buchstaben sind auffallend, dazu gehört die Überkreuzung der Linien im Buchstaben ›W‹ und die Ausstattung des Buchstaben ›l‹ mit einer Art Serife am oberen Ende. Das kleine ›a‹ gleicht teilweise einem α-Zeichen und das große ›N‹ ist an zwei Stellen spiegelverkehrt gesetzt. Die Orthografie zeichnet sich durch einige kleinere Fehler aus, es fehlen meist Konsonantenverdoppelungen und Trennregeln werden nicht angewandt. Bei Diphtongen wie in »Freibeüter«, »Zeügen« oder »Leüte« wird der im Diphtong bereits enthaltene »ü«-Laut durch Umlaut-Punkte gesetzt und dadurch sichtbar gemacht. Bei den fremdsprachigen Ausdrücken fällt auf, dass »Cleveland« richtig, »Neujork« hingegen lautsprachlich geschrieben ist. Ebenfalls auffällig ist, dass »krank« im Zusammenhang mit »gesund« (kurz vor der Erwähnung des Direktors) und in »geisteskrank« im Zusammenhang mit der Polizei sowie in der Wiedergabe der Drohung, wer nicht arbeite, werde als »geisteskrank« betrachtet, korrekt geschrieben ist, während die Schreibweise in der Bezeichnung des Direktors als »geistesgrang« weder lautmalerisch dem Dialekt noch den Konventionen der Schriftsprache entspricht. In unmittelbarer schriftlicher Nähe zum Direktor auf Papier verändert sich damit die Schreibweise eines zentralen Begriffs: Der velare Verschlusslaut »k« wird zweimal, aber nur an dieser Stelle, abgeschwächt zum stimmhaften »g«. Damit ändert sich nicht nur das Schriftbild, sondern auch die Aussprache des Begriffs. Teilweise sind die Formulierungen nahe am Schweizerdeutschen gehalten, etwa wenn es heißt »die wo entlassen werden« und damit ein falscher Relativ anschluss verwendet wird.
4.4.3 »Die Psichiatrie ist überhaupt, eine Jlusion, ein crasser Blödsinn.« – Der Inhalt des Textes Der Text beginnt mit einer Frage, deren Beantwortung noch im selben Satz folgt: Weil niemand entlassen werde, seien die Anstalten so überfüllt. Die »rein verbürgte Tatsache«, die hier beschrieben wird, verwendet eine verdichtete Darstellung von Orten, Akteuren, institutionellen Beteiligten und Ausschnitten von ›Fallgeschichten‹. Übergänge zwischen diesen einzelnen inhaltlichen Bereichen sind schwer auszumachen, es reiht sich eine Mikro-Erzählung an die nächste, die Übergänge sind fließend und die Zusammenhänge sind nicht immer ganz offensichtlich. Der Bezug zwischen Titel und restlichem Text ist offen, sowohl die Freibeuter wie auch der Pascha sind negativ konnotierte Begriffe, die Freibeuter als Seeräuber sind nur schwerlich in den Anstaltszusammenhang einzuordnen, außer sie werden als Vollstrecker eines Unrechts und in diesem Text generell als Anzuklagende verstanden. Ein Pascha ist umgangssprachlich eine faule Person, die andere für sich arbeiten
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lässt und die im Kontext des Textes mit dem Direktor verbunden werden kann – allerdings bleibt auch diese Zuordnung spekulativ. Als Orte werden erwähnt: die Anstalten (im Plural), das Arbeitshaus, wo Unschuldige Frondienst leisten müssen und viermal die Waldau, zweimal im Zusammenhang mit Entweichungen, dann als Ort, an dem »vol[l]ständig normale Leute« interniert sind und letztlich auch in der Signatur, der Erwähnung des Waldauwärters als Autor. Als Ort im Ort kommt das »Frauenbad« zur Sprache, wo der Direktor anscheinend seiner voyeuristischen Neigung nachgeht. Die im Text genannten Orte außerhalb des institutionellen Kosmos’ sind New York, Cleveland und Metz als Fluchtorte im Ausland. Sie stehen im Gegensatz zum Ort des Schreibens, der »Mordhöhle«. Bei den Akteuren gibt es zwei Kategorien, die einzeln erwähnten Personen und die unpersönliche Verwendung des Pronomens »man«, mit dem nicht weiter identifizierbare Vertreter von Institutionen und Macht gemeint sind, wie es beispielsweise die zweite Zeile zeigt, mit dem Satzanfang: »Man nimt die Leute ganz einfach ohne Ursache […]«, »man« hält Vorträge, oder »man« verweigert Rechte. In dieser unpersönlichen Formulierung zeigt sich, wie der Schreibende einer »Mikrophysik der Macht«, wie sie Foucault in Überwachen und Strafen genannt hat, ausgesetzt ist, einer Macht, die also eher eine »Gesamtwirkung ihrer strategischen Positionen« als der Besitz einzelner ist, die genannt werden könnten.184 Die diffuse Macht spiegelt sich in der sprachlichen Formulierung des Autors. Als Akteurgruppe treten die Polizisten im Text auf, dazu gehört auch ein »Polizeiarzt«, die »Polizeidirektion« und ein »Polizeifeldwe[i]bel«. Damit ist der »Vorraum der Psychiatrie«,185 wie ihn Stefan Nellen und Robert Suter einmal genannt haben, angesprochen. Die Polizei, die eine »infinitesimale[ ] Kontrolle«186 eingerichtet hat, arbeitet gemeinsam mit der Psychiatrie an der Überwachung und leistet Vorarbeit, indem sie der Psychiatrie die Untersuchungs- und Straffälle liefert. In diesem »Vorraum« der Psychiatrie werden Texte geschrieben, wie die erwähnten »Raporte« und es wird ein »Signalement« aufgenommen respektive verbreitet. Die Texte geben Auskunft über staatliche Überwachung, über Zugriffe, Urteile und Einweisungen. In den Berichten schreiben sie aber stets auch reale Personen als Objekte des staatlichen Kontrollapparates fest. Schließlich sind es diese Texte, welche die späteren Insassen ihren künftigen Ärzten vorstellen. Der Autor des Pascha-Textes unterstellt den Polizisten, die Rapporte wissentlich zu verfälschen und gibt in einem etwas verworrenen Beispiel an, wie ein einzelner Polizist namens »Hugler« Personenbeschreibungen auf andere und damit nicht entsprechenden Altersgruppen anwende. Ein weiterer einzeln erwähnter Polizist, »Born«, begeht nach Ansicht des Autors ebenfalls Fehler: Er bedroht einen entflohenen Patienten, der nur über ein Stück Draht als vermeintliche Waffe verfügt, mit einer Schusswaffe. Der Autor gibt an, Born habe gewusst, dass der Entflohene gar nicht geisteskrank sei. Die unglückliche Geschichte wird verstärkt durch ihre Medialisierung. Der Draht des scheinbar wehr- und harmlosen Patienten wird in der Presse zum Dolch, wie der Schreibende empört erzählt. Der Autor verfügt demnach über Wissen bezüglich des Polizeiwesens, des Verlaufs einzelner ›Fälle‹, des 184 | Foucault (1994), S. 38. 185 | Nellen/Schaffner/Stingelin (2007), S. 49. 186 | Foucault (1994), S. 274.
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Wissens einzelner Polizisten sowie der Übersetzung und Verfälschung, die solche ›Fälle‹ durch ihr Medialisierung erfahren können. Die Passage mit dem Stadtvagant ist mehrdeutig, eine Lesemöglichkeit ist diejenige, dass der »Jost Chrigu« – heute Polizeifeldweibel und Verfolger einfacher Leute – früher »Stadtvagant«, »Schnapser« und Betrüger gewesen war. Hier findet sich ein weiterer Übergang von der Nennung allgemeiner Zustände zur konkreten Situation der Waldau, wo, wie der Autor wiederholt, gesunde Insassen zur Arbeit gezwungen, ihre Körper damit unterworfen und in eine politische Ökonomie eingegliedert würden.187 Durch die Drohung, sie würden bei Ungehorsam als »geisteskrank« diagnostiziert und damit definitiv in der Anstalt versorgt, werden gemäß dem Pamphlet die Insassen in der Anstalt gehalten. Damit würde für die Betroffenen das eintreten, was Brigitta Bernet unter dem Stichwort des ›Lebendig-Begraben-Werdens‹ und dem ›Bürgerlichen Tod‹ im Bezug auf die Psychiatriekritik um 1900 beschreibt.188 Hier zeigt sich eine inhaltliche Überschneidung mit der zeitgenössischen Diskussion des schweizerischen Irrenrechts im Zusammenhang mit der Irrenrechtsreformbewegung, und es fällt auch eine Anlehnung an die Form und Materialität auf, mit der sich diese Bewegung äußerte, wenn man an die Flugblätter und Plakate denkt, derer sich die psychiatriekritischen Kreise bedienten.189 Die Perspektive, aus der der Autor des Pascha-Textes schreibt, verfügt über Insiderwissen. Als ehemaliger Wärter (oder möglicher Patient) zeichnet sich die schreibende Instanz als Kenner der Umstände und Praktiken der Experten aus, so etwa wenn die Paradetherapiemethode der Zeit, das Dauerbad, mit seinen schlimmsten Folgen, mit dem »zutodegebadet«, erwähnt wird.190 Diese schriftliche Psychiatriekritik eines Betroffenen hat schon durch Morgenthaler einen Platz innerhalb der Anstalt erhalten und sie ist auch heute noch dort zu lesen. Welche Folgen die Aufmerksamkeit gegenüber dem Text damals für den Autor hatte, lässt sich nur erraten – aus Angst vor der Nähe zur »Zuchthaustüre« fügt er weder die konkreten Anschuldigungen gegenüber von zwei Ärzten an noch zeichnet er das Werk mit seinem Namen. Die emotional gefärbte Schrift mit Ausrufen wie »dieser Lausbub«, »ein solcher Vötzel«191 oder die bereits genannte »Mordhöhle« zeugen von der Betroffenheit des Autors. Den größten Feind stellt für ihn neben Polizisten, die ihre Arbeit falsch machen, einer Kommission, die ihre Aufgaben nicht wahrnimmt und Ärzten, über die man noch einiges erzählen könnte, der Direktor dar: Er repräsentiert nicht nur die Institution und vertritt ihre Macht, sondern ist (im Kontext der Waldau erstaunlicherweise) Ausländer und ein »Weibernarr«. Er nimmt sich gemäß dieser Darstellung das Recht auf »Schäferstündchen« mit Patientinnen (und damit ist die Rolle der Frauen in diesem Text erschöpft: Der »Jost Chrigu« stiehlt einer Frau Geld und eine andere, Frl. Flüh187 | Siehe Foucault (1994), S. 37. 188 | Bernet (2007); den »Bürgerlichen Tod« zeigt Hans Jakob Ritter (2007b) am konkreten Beispiel von Ernst B. auf und Cornelia Brink widmet ein Kapitel ihrer Arbeit den Irrenbroschüren für die Öffentlichkeit und der Diskussion der Norm im deutschen Kontext um die Jahrhundertwende. Brink (2010), S. 165–192. 189 | Bernet (2007), S. 116 zeigt ein solches Flugblatt, verfasst von Ludwig Fliegel, vermutlich um 1902, mit dem Titel Für die lebendig Begrabenen. 190 | Siehe zum Dauerbad als Behandlungsmethode auch Kapitel 3.11. 191 | Schweizerdeutsch für Taugenichts.
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mann, erreicht trotz ihrer angeblichen Unheilbarkeit durch eine Liaison mit dem Direktor ihre Entlassung aus der Anstalt), besucht oft das Frauenbad und vergreift sich auch in der Öffentlichkeit an Frauen. Damit verkörpert der Direktor neben der ärztlichen und institutionell-administrativen Macht auch noch Potenz und sexuelle Macht. Das alles sei, so der Autor, »kein Hirngespinnst« und damit erscheint die Psychiatrie gerade nicht als »Jlusion«, wie sie hier genannt wird, sondern als Wirklichkeit gewordener Alptraum und als Umfeld, in dem selbst Gesunde krank werden können. Innerhalb des für diese Studie bearbeiteten Textkorpus zeichnet sich dieser Text durch seine auf die Waldau bezogene Innenperspektive und seine Haltung gegenüber dem Polizei- und Medienwesen, aber auch durch seine emotional-verdichtete Schreibweise und durch viele Lücken aus, was das Wissen über seine Entstehung, seinen Verfasser und die Überlieferung betreffen. Die Stimme, die in Die Freibeüter und der Pascha erklingt, steht deshalb in ihrer Singularität für die vielen Stimmen, deren Sprecher sich nicht mehr eruieren lassen, deren Rollen innerhalb der Waldau ungeklärt bleiben und die nur einzelne Notate wie dieses hinterlassen haben.
4.5 »D a es uns sehr dar an liegt, dass W alser […] fortkommt « 192 – R obert W alser in der W aldau Robert Walsers Waldauer Zeit dauerte rund viereinhalb Jahre, vom 24. Januar 1929 bis 19. Juni 1933 war er dort untergebracht, bevor er in die Appenzeller Heil- und Pflegeanstalt Herisau versetzt wurde. Die Waldau war seine erste Anstalts-Station, davor lebte er selbstständig, was ihm danach nicht mehr möglich war. Die Gründe dafür sind komplex und beruhen auf einem Zusammenspiel von Persönlichkeit und Familiensituation, aber auch auf Bedingungen von Institution und Gesellschaft sowie schließlich, aufgrund des Zweiten Weltkrieges, auch auf politischen Umständen. Am Patienten Walser lassen sich Veränderungen aufzeigen, die beim Leitungswechsel und damit dem Übergang der Ära von Speyrs zu Klaesi in der Waldau vollzogen wurden. Die Diskussion, ob Walser tatsächlich in irgendeiner Form krank gewesen sei oder nicht, wird hier nicht weitergeführt.193 Walser als ›Fall‹ in einer institutionellen Umbruchzeit zu betrachten, ist aus den zeitlichen Umständen seines Aufenthalts und aus archivtechnischen Gründen besonders ergiebig. Erstens trat Walser während von Speyrs Schlussphase in die Klinik ein und erlebte den Wechsel zu Klaesi und zweitens sind die fraglichen Akten aufgrund seiner Berühmtheit gut 192 | Jakob Klaesi an Otto Hinrichsen, Waldau-Bern, 29. Mai 1933, unpubliziert. 193 | Die Zeiten, als in biografischen Werken Überschriften »Der Wahnsinnige« lauteten, und Aussagen gemacht wurden wie: als »das Urteil des Wahnsinns fällt« oder Walser ziehe sich in »das Geviert seines Wahns« zurück, zählen in der Bestimmtheit ihrer Krankheitszuschreibung zur Vergangenheit. Die ersten beiden Zitate stammen von Sauvat (1995), S. 146, das letzte von Amann (1995), S. 155. Josef Wehrle, ehemaliger Pfleger in Herisau antwortet an anderer Stelle auf die Frage Catherine Sauvats, ob die Diagnose Schizophrenie bei Walser zugetroffen habe: »Ich würde sagen, ein Typ wie er wäre heute ohne weiteres ›in der freien Bahn‹, unter den Menschen draussen.« Wehrle (2002), S. 54.
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dokumentiert und im Robert Walser-Zentrum in Bern auch zugänglich.194 Klaesis Bestrebungen, die Anstalt zu modernisieren und damit auch Platz zu schaffen, hatten letztlich die Konsequenz für Walser, dass er nach Herisau musste. Mit Otto Hinrichsen (1870–1941), Direktor in Herisau, tritt ein dritter Psychiater neben von Speyr und Klaesi auf. Er ist ein weiterer Schriftsteller-Psychiater, der sich auch in seiner Forschung mit Dichtern und Krankheit auseinandergesetzt hat, wie sein Werk Zur Psychologie und Psychopathologie des Dichters von 1911 zeigt. Wie bei Klaesi195 wird das Schreiben der Patienten von Hinrichsen oft in Verbindung und Abgrenzung zum eigenen dichterischen Schaffen gebracht. Mit Hinrichsen beteiligt sich auch eine weitere Anstalt neben der Waldau an den Verhandlungen des ›Falls Walser‹. Hinrichsen und Herisau werden hier thematisiert, wenn sich Kontinuitäten zeigen oder Vergleiche anstellen lassen.196 Wie dieser Transfer nach Herisau von Klaesi eingefädelt wurde und ablief, und welche psychiatrischen, ökonomischen sowie familiären Komponenten überhaupt dazu geführt hatten, soll hier anhand der schriftlichen Produkte, die diesen Transfer einleiteten und begleiteten, genauer untersucht werden. Daraus lassen sich Informationen über die lokalen Änderungen in der Waldau, aber auch über die Art der Zusammenarbeit schweizerischer psychiatrischer Anstalten der Zeit, die administrativen Abläufe und die Konsequenzen für eine Einzelperson entnehmen – sei diese Person auch eine zeitgenössisch zumindest in bestimmten Kreisen bekannte Schriftstellerpersönlichkeit und somit kein durchschnittlicher Patient. Damit steht Walser als Insasse und als ›Objekt‹ der Verhandlungen im Zentrum. Daneben wird auch ein Blick auf seine in der Waldau verfassten Texte geworfen. In Walsers ›Schreibort Waldau‹ geben zu einem bestimmten Grade seine Briefe Einblick, diese sind allerdings weder zahlreich noch ausführlich. Über Walsers Waldauer Briefe schreibt Robert Mächler in seiner Biografie von 1966: »Hinter den Mauern der Irrenanstalt gab sich der Briefschreiber Walser ›normaler‹ als in gesunden Jahren.«197
194 | Walsers Krankenakte liegt zur Zeit noch in der Waldau. Ein Einblick wurde mir von Herrn PD Dr. Altorfer erst im Frühjahr 2013 gewährt, warum dies davor nicht möglich war, ist unklar geblieben. Im Vergleich mit der kopierten Kg der Waldauer Zeit, die via Herisau bereits im Robert Walser-Zentrum liegt, verfügt das Aktenbündel in der Waldau noch über zahlreiche bisher unbekannte Briefe Seeligs, in denen er sich an unterschiedliche Exponenten der Waldau wendet, um sich postum über Walsers Verhalten zu erkundigen. 195 | Zu Klaesis Aussagen über das Schaffen Friedrich Glausers siehe Kapitel 4.6. 196 | Zum Verstummen Walsers in Herisau und damit einher gehenden Pathologisierungsstrategien seitens der Institution siehe Gisi (2012). 197 | Mächler (1992), S. 221. Die Briefausgabe von Jörg Schäfer (Walser, 1975), ist schon relativ alt. Im Rahmen der sogenannten Berner Ausgabe, also der im Entstehen begriffenen Leseausgabe von Walsers Werken, ist eine neue Edition der Briefe zurzeit in Bearbeitung. Diese Ausgabe wird zusätzlich zu den aus Schäfers Ausgabe bekannten Briefen sechs bisher unpublizierte Texte aus der Waldauer Zeit enthalten. Davon sind zwei an Frieda Mermet gerichtet, vier sind der Kommunikation mit den Verlagen zuzuordnen. Die Kritische Robert Walser-Ausgabe hat in ihrer Abteilung sieben die Briefe eingeplant, allerdings noch ohne Angabe eines Zeitfensters.
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Abgesehen von der unterschiedlichen inhaltlichen Erwähnung des Schreibortes zeigt schon die Ortsangabe des Absenders einen bewussten Umgang mit der Nennung respektive der Nicht-Nennung der Anstalt als Aufenthaltsort. Ähnlich wie Glauser198 handhabt Walser die Ortsangabe in den Briefen je nach Adressat unterschiedlich. Während die Datierung in den Briefen an Lisa Walser und an Walsers Freundin Frieda Mermet mit »Bern, Waldau« ergänzt wird, verwendet er in den meisten anderen Briefen eine alte Adresse, nämlich »Bern, Luisenstrasse 14 III«. Damit wird gesellschaftlichen Vorurteilen gegenüber Anstalten und ihren Insassen begegnet und versucht, eventuellem Schaden vorzubeugen. Diese scheinbar strikte Aufteilung der Bekanntgabe und Nicht-Bekanntgabe seines Aufenthaltsortes wird unterlaufen, wenn Walser an Therese Breitbach einen Brief vermeintlich von der Luisenstraße aus abschickt, darin aber schreibt, er halte sich »jetzt außerhalb der Stadt in einer schöngelegenen Heilanstalt«199 auf. Auch an Otto Pick von der Prager Presse schreibt er von der angeblichen Luisenstraße aus, und erzählt dabei zwar nicht von einer Heilanstalt, doch aber, dass er sich »vor der Stadt in einer Pflegeanstalt« befinde, worauf er erklärend hinzufügt: »obschon mir nicht viel fehlt, ich meine, obgleich ich sonst, d.h. im Allgemeinen gesund bin.«200 Briefe an das Berliner Tageblatt, den Rascher Verlag, an die Neue Rundschau und ein späterer Brief an Otto Pick und die Redaktion der Prager Presse sind mit Luisenstraße als Absenderadresse bezeichnet und thematisieren die Anstalt als Aufenthaltsort nicht, in ihnen fehlt damit jeglicher Hinweis darauf, dass sich Walser in einer Klinik befindet. Bei einem einzigen, bisher unpublizierten Brief Walsers an Otto Pick ist eine Auswahl an Absenderadressen gegeben. Im kurzen Brief vom 1. Juli 1929, in dem Walser Pick bittet, ihm die Belege für zwei veröffentlichte Beiträge zu schicken, wird als Adresse »Bern, Waldau, oder Luisenstr. 14«201 genannt. Weshalb hier eine Auswahl an Adressen geboten wird, bleibt rätselhaft. Im Vergleich der verschiedenen Briefe zeigt Walser einen differenzierten Umgang mit der (Nicht-) Erwähnung seines Aufenthalts- und damit Schreiborts. Zwischen den Polen ›Nennung‹ und ›Verschweigen‹ gibt es die einmalige Doppelnennung und eine kokettierend wirkende Mischform, die Walser vage von einer Anstalt schreiben lässt, ohne dass er dazu genauere Angaben machen würde, wie es in den Briefen an Breitbach zu beobachten ist. Die Erzählstrategie eines Nennens und einer gleichzeitigen Bewegung des unkenntlich Machens von Inhalten lässt sich auch an den literarischen Texten zeigen, wie in Kapitel 4.5.3 ausgeführt wird. Einige Äußerungen Walsers zu seiner Waldauer Zeit hat der Schriftsteller und Journalist Carl Seelig (1894–1962), der ab 1936, also bereits in Herisau, nicht nur regelmäßig Begleiter Walsers auf Spaziergängen, sondern ab 1944 auch sein Vormund und später der Herausgeber seiner Werke war, in Wanderungen mit Robert Walser von 1957 überliefert. Dadurch kann das Bild, das die Akten von Walser ergeben, ergänzt werden durch eine nicht-psychiatrische Perspektive, allerdings bleibt 198 | Siehe Kapitel 4.6. 199 | Robert Walser an Therese Breitbach, Bern, Luisenstrasse 14 III [Waldau], 23. Dezember 1929. In: Walser (1975), S. 342. 200 | Robert Walser an Otto Pick, Bern, Luisenstrasse 14 III [Waldau], 3. März 1930. In: Walser (1975), S. 343. 201 | Robert Walser an Otto Pick, Bern, Waldau, oder Luisenstr. 14, 1. Juli 1929, unpubliziert, Archivtranskription Robert Walser-Zentrum, Nr. 647000, S. 742.
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das Werk Seeligs auch bei direkter Zitierung Walsers eine Auswahl und eine Collage von Seelig, wie weiter unten auch an auffallenden Unstimmigkeiten aufgezeigt werden kann. Die Waldau ist für Walser der letzte Schreibort. Nach einer anfänglichen Krise schreibt er dort wieder und versucht, seine Texte zu publizieren und sich dadurch zu finanzieren, was zunehmend schwieriger wird. Über die Gründe, warum Walser immer weniger schreibt, ist an vielen Orten spekuliert worden, hier jedoch wird dafür keine Erklärung angestrebt.202 Wem die Krise und schließlich das Verstummen Walsers geschuldet ist, sei mit einer Walser’schen Tautologie dahingestellt – an Lisa schreibt er 1929 scheinbar erklärend, »daß die Angst […] aus einer Schaffenskrisis und aus dem kontinuierlichen Mit-mir-Alleinsein stammte, wobei ich mich ebenso gut täuschen als womit ich recht haben kann.«203 In einem ersten Unterkapitel (4.5.1) werden hier die Umstände von Walsers Eintritt in die Waldau beleuchtet, in einem weiteren (4.5.2) die finanziellen und familiären Auswirkungen dieser Internierung angesprochen, bevor in 4.5.3 einige ausgewählte Texte, von denen man annehmen darf, sie stammten aus Walsers Waldauer Zeit, betrachtet werden. Daran schließt ein letztes Unterkapitel (4.5.4) an zu Walser als psychiatrischem ›Verhandlungsfall‹ zwischen der Waldau und Herisau.
4.5.1 »Wie dumm, daß ›das‹ so kommen mußte« 204 – der Eintritt in die Waldau Die Waldauer Ära Walsers beginnt im Januar 1929 mit einem Besuch Lisa Walsers bei Walter Morgenthaler, der auf ihre Bitte hin über Robert Walser einen Ärztlichen Bericht verfasst. Darin steht: »Fräulein Walser, Lehrerin in Bellelay[,] erschien am 24. Januar 1929 in meiner Sprechstunde und gab an, der Bruder sei seit längerer Zeit immer deprimierter und gehemmter geworden, habe Angst, höre Stimmen und sei nachts unruhig. Ein Bruder sei lange in der Waldau gewesen und dort gestorben, ein anderer habe Selbstmord begangen. Ich fand Herrn Walser ausgesprochen deprimiert und schwer gehemmt. Er hatte Krankheitseinsicht, klagte über die Unmöglichkeit arbeiten zu können, über zeitweise Angst usw. Auf Fragen nach Lebensüberdruss antwortet er ausweichend. Er möchte sich wohl helfen lassen, möchte aber nicht in eine Anstalt, sondern zur Schwester nach Bellelay. Da dies aus äussern Gründen nicht angezeigt war, und da ich zudem nach kurzem zur Ueberzeugung kam, 202 | Auch Seelig beschäftigte die Frage nach dem Verstummen Walsers. In dieser Hinsicht schrieb er 1957 auch Max Müller an. Müller antwortet auf die Frage Seeligs: »Die völlige dichterische Sterilität des Patienten vom Augenblick der Internierung an ist wirklich aussergewöhnlich und ich glaube, dass man darüber höchstens spekulative Vermutungen anstellen kann. Hat er sich Ihnen gegenüber nie dazu geäussert? Dass es sich lediglich um eine negativistische Trotzeinstellung infolge des Freiheitsentzuges gehandelt hat, kann ich mir nicht recht vorstellen.« Max Müller an Carl Seelig, Waldau-Bern, den 14. Mai 1957, unpubliziert. Müller stellt die Vermutung an, dass die erschwerte Abnahme der Texte und damit finanzielle Probleme hemmend auf Walsers Schreiben wirkten, womit vermutlich einer von unterschiedlichen Gründen genannt ist. 203 | Robert Walser an Lisa Walser, Bern, Waldau, 11. Februar 1929. In: Walser (1975), S. 338. 204 | Robert Walser an Frieda Mermet, Bern, Waldau, 14. Mai 1929. In: Walser (1975), S. 340.
Schreiben (und Lesen) hinter den Sandsteinmauern dass Herr Walser in seinem gegenwärtigen Zustand die geschlossene Anstalt dringend und so rasch als möglich nötig hat, wird er an die Waldau gewiesen. Mit Hochachtung, Morgenthaler« 205
Am Tag nach dem Gespräch bei Morgenthaler tritt Walser in die Waldau ein. Das Kondensat des Eintrittsgesprächs wird handschriftlich erfasst, die darauf folgenden Einträge sind mit Schreibmaschine geschrieben, keiner der Waldauer Einträge ist, im Gegensatz zu den späteren Akteneinträgen aus Herisau, signiert.206 In den Herisauer Akten findet sich eine maschinengeschriebene Abschrift der Waldauer Krankengeschichte, verfasst auf einem Herisauer Aktenformular. Die Akte reist somit mit dem Patienten in die Ostschweiz, von wo sie nach dessen Tod wieder in die Waldau geschickt wird.207 Nachdem seit dem 14. September 1953 drei Jahre lang kein Eintrag mehr in die Herisauer Akte vorgenommen wurde, wird am 25. Dezember 1956 ein längerer Abschnitt mit einem kurzen Rückblick und dann der Beschreibung des Todestages des Patienten angefügt. Mit diesem Eintrag wird der Anfang der oft ins Mythische reichenden Erzählung von Walsers Tod gesetzt: »Robert Walser starb einen Tod, wie er ihn sich wohl gewünscht hätte: am Rande des verschneiten Waldes, in der freien Natur, rasch und wohl ohne Todeskampf, am Weihnachtstag, im Angesicht des sonnenbeschienenen Alpsteins.«208 Nach diesem Eintrag werden administrative Informationen angeführt, man erfährt, dass die Krankengeschichte am 28. August 1957 an die Waldau geschickt wurde. Dort hatte die institutionelle Berichterstattung über den »Sonderling[ ]«209 Walser mehr als 28 Jahre früher wie folgt begonnen: »Kommt mit seiner Schwester, der Lehrerin von Bellelay in die Anstalt, um sich beraten zu lassen. Spricht langsam, eher leise, monoton, periodenweise gut – fliessend, dann wieder ansetzend, gehemmt, horcht zur Seite. Komme von Dr. Morgenthaler; dieser habe nicht Zeit ihn in Behandlung zu nehmen, wies ihn an die Waldau. Er sei seit mehreren Wochen arbeitsunfähig, könne sich nicht mehr conzentrieren, leide an Schlaflosigkeit; gibt schliesslich zu, in der letzten Zeit Stimmen zu hören. Sei gemütlich deprimiert, habe gelegentlich flüchtig an Selbstmord gedacht, doch sei das nicht ernst zu nehmen. Er lebe seit 7 Jahren als Schriftsteller in Bern, bewohne auf dem Kirchenfeld ein Zimmer bei zwei Damen. Sei 51 Jahre alt, Bruder des Ernst Walser, der als (Katatoniker) in der Waldau gestorben sei, Bruder auch von Prof. [Hermann, Anm. M.W.] Walser, der vor einigen Jahren durch Selbstmord endete. Sei in Biel geboren – aufgewachsen, besuchte dort das Progymnasium, machte nachher eine Banklehrzeit und war bis zum 30. Lebensjahr auf Banken tätig. Von da an wurde er frei erwerbender Schriftsteller. Kam viel in der Welt herum, lebte lange in Berlin, führte jetzt ein sehr kümmerliches Dasein. Habe schon früher an Depressionen gelitten.
205 | Aerztlicher Bericht über Herrn Robert Walser, Schriftsteller, von Walter Morgenthaler. Bern, den 26. Januar 1929, unpubliziert, aber abgebildet in Echte (2008) S. 409. 206 | Die ersten beiden Seite der Waldauer Kg sind in Echte (2008), S. 413, abgebildet. 207 | In der Herisauer Akte (Kg 3561, S. 28) ist der Versand der Kg in die Waldau vermerkt. 208 | Herisauer Kg 3561, S. 28. Die kursivierten Wörter sind in der Akte handschriftlich hinzugefügt. Der letzte Eintrag in Walsers Akte ist mit »Stei« (Hans Steiner) signiert. 209 | Kg 10.428, S. 5, Eintrag vom 9. Februar 1929.
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Schreiben am Rand Man rät Pat. gerade in der Waldau zu bleiben. Er willigt zuerst rasch ein, krebst dann zurück, wie er die freiwillige Eintrittserklärung geben soll, nörgelt am Texte herum, hat Angst, er werde nie mehr entlassen werden, es schade seinem Schriftstellernamen; bringt schliesslich die Unterschrift doch zustande –. Geht in den N.B. [Neubau, Anm. M.W.], nachdem er sich gerührt von der Schwester verabschiedet hat.« 210
Was in der Akte nicht vermerkt ist, ist die Aufforderung, Walser solle – wie alle anderen Patienten nach Möglichkeiten auch – einen Lebenslauf für die Anstalt verfassen. Für die Katz, Band 20 der von Jochen Greven herausgegebenen Sämtlichen Werke in Einzelausgaben, enthält vier Lebensläufe, wobei von einem angenommen wird, er sei 1929 verfasst worden.211 Von diesem Text, der die Eingliederung Walsers in die Anstalt markiert, existiert im Robert Walser-Zentrum Bern eine Kopie der Handschrift, diese dürfte über Walter Vogt und Greven dorthin gelangt sein. Die Waldauer Krankenakte verfügt über keine Handschriften Walsers. Die von Greven gedruckte Version des Lebenslaufs lautet: »Ich wurde in Biel, Kanton Bern, geboren, wo ich das Progymnasium besuchte, das ich mit vierzehn Jahren verließ. Die Lehrzeit auf der Kantonalbank in besagter Stadt nahm drei Jahre in Anspruch. Bis zum dreißigsten Jahre blieb ich als kaufmännischer Angestellter in diversen Handelsinstituten tätig, wonach ich in Berlin ernsthaft zu schriftstellern begann, indem ich Bücher schrieb, die von einem Verleger zur Veröffentlichung angenommen wurden, der mir Vorschüsse zahlte, damit ich fortfahre, mich literarisch zu beschäftigen. In Berlin blieb ich so lange, bis ich zur Einsicht gelangte, daß es für mich vielleicht vorteilhaft sein könne, in die Schweiz, das heißt nach Biel zurückzukehren, wo ich angenehme Erfahrungen mit Spazierengehen machte, indem ich jeweilen über diese Art von Lebensweise so poetisch wie möglich Bericht ablegte. Seit etwa sieben Jahren bewohne ich Bern. Ich bin nicht sehr in der Stimmung, mich schreibend zu äußern, glaubte jedoch dem Wunsch der Anstaltsleitung, einen Lebenslauf zu verfassen, Folge leisten zu sollen, was ich hiemit tat.« 212
Walser gibt hier nicht nur über seine Lebensstationen Auskunft, sondern äußert sich auch zu seiner »Stimmung«, die ihn eben gerade nicht zum Schreiben veranlasse. In der Thematisierung der Aufforderung von Speyrs, einen Lebenslauf zu verfassen, verfolgt Walser hier eine doppelte Strategie: Es wird im Text deut210 | Kg 10.428, S. 1 f., Eintrag vom 24. Januar 1929. Ernst Walser war ab dem 16. Dezember 1898 mit der Diagnose Dementia praecox in der Waldau untergebracht und starb am 17. November 1916 dort. Die erste Seite seiner Akte findet sich bei Echte (2008), S. 83 abgebildet. Der zweite erwähnte Bruder, Geografieprofessor Hermann Walser, beging am 1. Mai 1919 Suizid. 211 | Die anderen ebenfalls titellosen Lebensläufe stammen aus den Jahren 1920, 1925 und 1946. Der erste und der letzte Lebenslauf sind in der dritten Person Singular verfasst, die beiden mittleren in der ersten Person Singular. Im Lebenslauf von 1946 wird die Waldau auch im letzten Satz erwähnt, als Teil einer großen Zusammenfassung: »Inzwischen hatte er begonnen zu dichten und widmete sich mit der Zeit dem Beruf der freien Schriftstellerei, lebte sieben Jahre in der deutschen Reichshauptstadt, siedelte nach Biel und Bern über und trat 1929 krankheitshalber in die ›Waldau‹ und von da in die Heilanstalt Herisau ein.« Walser (1986/20), S. 436. 212 | Walser (1986/20), S. 435 f.
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lich, dass Walser der Anstaltsordnung entgegenkommt und sich mit der Teilnahme am Ritual der Aufnahme einordnet, gleichzeitig äußert er in der Erwähnung der Schreibunlust eine Art Protest gegen diesen Zwang zum Schreiben. So hat denn der Text auch – trotz tadelloser Pflichterfüllung – dort die große Lücke, wo zu erklären wäre, wie es zum Eintritt in die Anstalt kommt. Den Anforderungen an die Textgattung Lebenslauf, die ja auch explizit genannt wird, kommt Walser auch im letzten Textteil durch die Erwähnung der sieben Jahre Aufenthalt in Bern nach, die Lebensstationen werden vollständig aufgeführt. Allerdings bleiben die aus psychologisch-psychiatrischer Sicht bedeutenden Themen, seine Kindheit und die Krise, die zur Internierung führte, ausgespart. Walser schreibt hier gekonnt von seinem Leben, ohne Zentrales preiszugeben und der Text schließt mit einer Absicherung gegenüber möglichen Nachfragen vonseiten der Ärzte: Walser sei, wie er schriftlich betont, dem Wunsch der Anstaltsleitung nachgekommen, der Auftrag damit erfüllt und der Lebenslauf wird mit der Äußerung »was ich hiemit tat« abgeschlossen, mehr ist nicht zu erwarten. Nachdem Walser in jenem Januar in den Neubau gebracht wurde, wird seine Schwester noch zu den Umständen befragt, die sie dazu bewegte, mit ihm in die Anstalt zu kommen. Von diesem Gespräch wird in der Akte Folgendes festgehalten: »Die Schwester berichtet noch, Pat. hat mir ihr nach Bellelay kommen sollen, sie könne ihn aber dort nicht verpflegen wegen ihres Berufes. Pat. sei immer merkwürdig gewesen, besond. auch sexuell, habe immer sich masturbiert. Als er früher zeitweise bei ihr war, habe er sich ihr gegenüber unanständig betragen. Kürzlich habe er nun den beiden Zimmervermieterinnen einen Heiratsantrag gemacht und gleich nachher sie gebeten, sie sollen ihn erstechen. Einmal habe er so geschrien, dass die Damen Angst kriegten und ihn jetzt kaum mehr im Zimmer aufgenommen hätten. – Früher habe Pat. längere Zeit auch arg getrunken, – sei dann freilich auch zeitlang Abstitent gewesen.« 213
Diese Aussagen beinhalten Informationen über die angeblichen Eigenheiten der Person Robert Walser und sein auffälliges Verhalten in der davorliegenden Zeit, sie thematisieren aber auch eine Alternative zur Einweisung in die Anstalt, nämlich den Umzug zu Lisa Walser nach Bellelay. Es wird hier jedoch deutlich, dass Lisa Walser mehrere Gründe dafür hat, diese Alternative nicht umzusetzen. Es sind dies das Verhalten ihres Bruders und ihre berufliche und finanzielle Situation. Die anderen Geschwister – es leben von den sieben Geschwistern Roberts 1929 in der Reihenfolge ihres Ablebens noch Karl (1877–1943), Lisa (1874–1944), Oscar (1872–1959) und Fanny (1882–1973) – und ihre Verantwortung respektive ihre möglichen Lösungsvorschläge für die problematische Situation des Bruders werden an dieser Stelle der Akte nicht thematisiert. Wie den Akten jedoch zu entnehmen ist, wird auch in den folgenden Jahren Lisa die einzige der Geschwister Walser sein, die sich dauerhaft um Robert kümmert. Fanny ist ab und zu anwesend, tritt aber in der Korrespondenz mit den Institutionen nicht so aktiv auf wie Lisa Walser respektive Fanny übernimmt die Fürsorge und Korrespondenz erst nach Lisas Tod.214 213 | Kg 10.428, S. 2, Eintrag vom 24. Januar 1929. 214 | Briefe von Fanny Hegi-Walser an Herisaus Direktor Heinrich Künzler und entsprechende Antworten liegen im Robert Walser-Zentrum Bern und auch im Staatsarchiv Appenzell Ausserrhoden vor. Es geht darin meist um die Kleider Robert Walsers. In einem Brief vom 30.
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Am ›Fall‹ Robert Walser lässt sich so auch beobachten, wie zeitgenössische Vorstellungen von geschlechterspezifischem Rollenverhalten vor allem Frauen in die Pflicht nehmen, sich um kranke und finanziell schwache Familienmitglieder zu kümmern, unabhängig davon, wie die finanzielle Situation dieser Frauen aussieht. Lisa Walser hat, wie ihre Briefe dokumentieren, immer versucht, ihre Brüder zur Übernahme von Verantwortung zu bringen, jedoch ohne Erfolg.215 In den von Seelig überlieferten Aussagen Walsers findet sich auch eine Beschreibung, wie es zum Eintritt in die Waldau kam. Seelig zitiert Walser, der erzählt, wie er über Berlin und Biel nach Bern kam und dort an einer akuten Schreibkrise litt: »Schließlich, als ich alle Motive abgegrast hatte wie eine Kuh ihre Weide, verzog ich mich nach Bern. Auch dort ist es mir anfangs gut gegangen. Aber stellen Sie sich meinen Schrecken vor, als ich eines Tages von der Feuilletonredaktion des ›Berliner Tageblatts‹ einen Brief bekam, in dem mir angeraten wurde, ein halbes Jahr lang nichts mehr zu produzieren! Ich war verzweifelt. Ja, es stimmte, ich war total ausgeschrieben. Totgebrannt wie ein Ofen. Ich habe mich zwar angestrengt, trotz dieser Warnung weiterzuschreiben. Aber es waren läppische Dinge, die ich mir abquälte. Immer ist mir nur das geglückt, was ruhig aus mir selbst wachsen konnte und was irgendwie erlebt war. Damals habe ich ein paar stümperhafte Versuche unternommen, mir das Leben zu nehmen. Ich konnte aber nicht einmal eine rechte Schlinge machen. Schließlich war es so weit, daß mich meine Schwester Lisa in die Anstalt Waldau brachte. Noch vor dem Eingangstor habe ich sie gefragt: ›Tun wir auch das Richtige?‹ Ihr Schweigen sagte mir genug. Was blieb mir übrig, als einzutreten?« 216
Die Wendung »[s]chließlich war es so weit« – sollte sie denn tatsächlich von Walser stammen – gibt keine genauen Angaben, wie es zum folgenreichen Schritt kam. Auch Lisa schweigt in dieser Beschreibung, und was dieses Schweigen Robert gesagt haben könnte, bleibt ebenfalls der Interpretation überlassen. Walser wird bei seiner Ankunft in der Waldau im 2. Wachsaal untergebracht, weil kein freies Zimmer vorhanden ist. Auf der Station scheint noch ein zweites Eintrittsgespräch stattgefunden zu haben, denn in den Akten wird notiert, dass Walser »Visionen« habe. Und wie bereits im ersten Gespräch, wo festgehalten wird: »gibt schliesslich zu, in der letzten Zeit Stimmen zu hören«,217 wird auch hier in der Wendung eines Geständnisses des Patienten von den Stimmen gesprochen,
Dezember 1944 etwa wird Fanny gedankt, dass sie Robert warme Kleidung geschickt habe und ihr über den Zustand Walsers berichtet, einem zweiten vom 31. Dezember 1956 kondoliert Künzler Fanny schriftlich, da sie aus gesundheitlichen Gründen nicht an der Beerdigung teilnehmen konnte, bei einem weiteren vom 25. Januar 1957 listet Künzler Walsers Hinterlassenschaften auf. Es sind dies drei Bücher – Walsers Gehülfe und von Max Ulrich Schoop Aus dem Leben eines schweizer. Erfinders, einmal gebunden und einmal broschiert – herausgegeben von Carl Seelig. Daneben hinterließ Walser rund 17.- Franken in bar. Die in Bern befindlichen Briefe tragen die Signatur: E-03-B-02-Her, die im Herisauer Staatsarchiv die Signatur StAAR Pa.057-10. 215 | Siehe Kapitel 4.5.2. 216 | Seelig (1977), S. 24. 217 | Kg 10.428, S. 1, Eintrag vom 24. Januar 1929.
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die Walser hört: »Gibt zu, dass er Stimmen hört.«218 Beide Gespräche und ihre Verschriftlichung als Protokoll rücken so in den Kontext einer Verhörsituation. Die dazugehörigen Fragen sind nicht überliefert, scheinen aber auf die Thematik Sinnestäuschungen zu steuern, deren Vorhandensein der Patient »schliesslich« bezeugt. Damit wird eine bloße Vermutung der Ärzte bestätigt. Psychiatrisches Wissen basiert mangels Introspektion auf der ›wahren‹ Aussage des Patienten über seinen Zustand, diese Aussage hat der Fragende in der Gesprächssituation aufgrund einer Annahme aber bereits suggeriert: Er wird ihren Wahrheitsgehalt im Weiteren am Verhalten des Patienten überprüfen und ihn deshalb beobachten. Das Gespräch provoziert und produziert damit das Geständnis über eine pathologische Erscheinung. Es wird in der Verschriftlichung im Protokoll in der Akte zu einer Tatsache, die wiederum Tests und neue Befragungen des Patienten zur Folge hat. Die Befragungen Walsers fokussieren nicht nur auf die Stimmen, die Notate dazu bilden aber das Leitmotiv in seinen Akten. Zwischendurch wird notiert, die Stimmen würden abnehmen, in unterschiedlichen Einträgen der Akte wird betont, Walser »höre sie nur in der Ferne, sie seien nicht mehr so laut, wie früher«.219 Aber auch in den Herisauer Akten sind die Stimmen noch Thema und lassen eine Kontinuität über all die Jahre hinweg vermuten. In einem längeren Eintrag aus dem Jahr 1939 ist eine Art Dialog zwischen dem Arzt und Walser wiedergegeben. Walser resümiert im psychiatrischen Interview zehn Jahre Leben mit Stimmen: »Bezüglich Stimmen gibt er an, er habe sie beständig, manchmal seien sie störend, meistens drohend. Sie beziehen sich auf alles mögliche, was irgend wie um ihn herum geht. Das so ungefähr 10 Jahre, seitdem er in Bern gewesen. – Laut? – Je nachdem. Verschieden. Manchmal kann man sich ganz gut verständigen, manchmal können sie plötzlich kommen. Beim Lesen geht’s noch am besten, manchmal nehmen sie Anstoss daran und tun mich dann stören. – Wie viele Stimmen? – Könnte ich nicht sagen. Hie und da sehr störend, sonst nicht. Sehr launisch kommanderisch, herrisch. Sie schimpfen mit ihm, ganz aufs Gerate wohl, ohne sich lange um einen Grund zu bekümmern. – Ob er sich nicht freimachen könnte? – Denkbar, vorübergehend. Sie befehlen mir, auf Erfolg zu sinnen, und wenn ich irgend wie nicht ihrer Meinung bin, fangen sie an zu fluchen und zu schimpfen. Die Stimmen wissen alles und sind sehr übermütig. Sie wissen auch was daheim gegangen ist. Sie sind ganz fremd, sie sind plötzlich da und mischen sich in alles hinein. Sie beherrschen ihn. Schauen ihn zu drücken, zu deprimieren, stören ihn im Nachdenk. Neigen zur Brutalität und Rücksichtslosigkeit. Er könne sich nicht konzentrieren. Alles interessiert sie, auch das Kleinste. Ob er sich unglücklich fühle? – Er müsse manchmal kämpfen mit sich und Geduld haben mit den Stimmen. Sie verlangen in einem Moment das Ungeheuerlichste, was Menschen nicht leisten können. Es hagelt und wimmelt von Bemerkungen, und sie wollen nicht, dass er lustig sei. Sie wollen immer aus ihm etwas herauspressen[,] verlangen sehr viel, wollen ihn nicht freilassen. Zuerst seien sie in der Waldau gekommen, zart und fein, dann seien sie immer frecher geworden. Wenn er mit jemandem rede, schweigen sie vollständig. Wenn er anfange zu schreiben, schweigen sie auch. [A]ber nachher fangen sie an böse zu tun, wenn ihrer Meinung nicht recht sei, was er geschrieben. In der Waldau habe er täglich Billard gespielt, da haben sie ihn immer geneckt. Sie verlangen alles Unmögliche, schöne Eigenschaften, was nach aussen imponiere[.] Sie seien durchaus weltlich gesinnt. Wenn er einen bescheidenen Gedanken habe, kommen sie 218 | Ebd., S. 2, Eintrag vom 25. Januar 1929. 219 | Ebd., S. 6, Eintrag vom 4. April 1929.
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Schreiben am Rand sofort geringschätzend und nennen ihn ›Stündelipigger‹. Sie wollen immer, dass er hervorragend sei. Alles tiefere Denken ist ihn[en] etwas Dummes. [M]a[n] soll sich immer geltend machen, Hans oben im Korb sein, an erster Stelle, sonst ist man ein dummer Chaib [= Kerl, Anm. M.W.]. Die Stimmen sind materialistisch, auf einem ganz brutalen Standpunkt. Andere bodigen und sich als Sieger aufstellen. Sie sind sehr widersprechend. Auf der einen Seite wollen sie, dass ich eine beherrschende Stellung innehabe, auf der anderen Seite soll ich armen Teufeln helfen und Gutes tun. Was man nicht gut vereinigen könne. Entweder schaut man für sich oder für andere. – Ob er keine Lust habe zum Schreiben[?] Nein, es geht nicht, kann mich nicht konzentrieren. – Pat. gibt bereitwillig Auskunft über seine Stimmen und hat anscheinend da[s] Bedürfnis, mit jemandem darüber zu sprechen. Mit den anderen Pat. kaum Kontakt.« 220
Dieser Eintrag gibt nicht nur über die Stimmen Auskunft, die Walser angeblich hört, sondern er zeigt auch den Versuch, dieses Gespräch – oder, wenn man es negativ ausdrücken will, dieses Verhör – in eine sprachliche Form zu bringen. Dieser Versuch mündet in einer Mischform zwischen direkter und indirekter Rede, zwischen Subjekt- und Objektdarstellung mit sprechendem Ich und Er. Die Leserschaft hört bei der Lektüre auch Stimmen, den Arzt, den Patienten, den Arzt in der Rolle des Patienten oder auch das unpersönliche »man« und dabei vor allem das undurchsichtige Wechseln der Position im Text. Die schweizerdeutschen Ausdrücke »bodigen« oder »dummer Chaib« sind auch in den Passagen, in denen von Walser in dritter Person gesprochen werden, Zeichen von scheinbar unmittelbarem Sprechen und Notieren. Die Akte vermittelt mit diesen Wendungen aus dem Dialekt eine Nähe und gleichzeitig, mit der außenstehenden Erzählhaltung, eine Distanz zum Patienten Walser. Geht man in der Aktengeschichte Walsers wieder zur Waldau zurück, folgen im weiteren Verlauf des zweiten Waldauer Gesprächs Fragen nach seinem Beruf, nach seinen Geschwistern, seinen Wohnorten und Spaziergewohnheiten. Nach beendeter Befragung wird Walser in den Klinikalltag eingegliedert, er übernimmt Arbeiten in Haus und Garten, daneben liest und schreibt er. Vermutlich als Antwort auf eine Frage Lisa Walsers nach dem Zustand ihres Bruders schreibt von Speyr am 5. Februar 1929: »Was das Befinden Jhres Bruders Robert anbelangt, kann ich Sie beruhigen: er fühlt sich vom ersten Tag an wohl, geborgen, wie er sich selber ausdrückt. Weil wir kein Einzelzimmer frei hatten, ist er vorläufig im ruhigen Wachsaal untergebracht. Er steht schon vormittags auf, geht in den Aufenthaltsraum, wo er die Zeit mit Lesen, Billardspielen & Radiohören verbringt. Nachmittags geht er in Begleitung eines Wärters spazieren. Der Schlaf lässt zu wünschen übrig.« 221
Nun beginnt die Beobachtung des Patienten Walsers auch außerhalb von face-toface-Gesprächssituationen mit dem Arzt, zum Beispiel bei Walsers (Nicht-)Interaktionen mit den Mitpatienten. Auch diese Beobachtungen finden ihre schriftliche Fassung in der Akte. 220 | Herisauer Kg 3561, S. 19. 221 | Wilhelm von Speyr an Fräulein Lisa Walser. Lehrerin. Bellelay. Waldau, 5. Februar [19]29, unpubliziert.
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Eine gewisse Spezialbehandlung kommt Walser in der Waldau zu. Wie ein Brief Lisa Walsers an Hinrichsen zeigt, machte von Speyr in der Waldau für einige Patienten durchaus Ausnahmen in der Unterbringung, und so kam Walser in den Genuss eines Klassenwechsels. Lisa schreibt Hinrichsen: »Herr Prof. v. Speyr hatte ihm eine Verfügung zu Gute kommen lassen, laut welcher in der Waldau unbemittelte Intellektuelle in die II. Klasse aufgenommen werden konnten zum Preis der III. Klasse.«222 Diese Möglichkeit bestand in Herisau nicht mehr.223 Die Waldauer Pflegerrapporte (Abb. 19) legen auch nahe, dass Walser sich nicht an die von der Anstalt sonst vorgeschriebenen Zeiten zu halten brauchte: »Hat Erlaubnis bis 8 ¾ Uhr abends im Aufenthaltsaal zu bleiben.«224 In der Unterbringung hätte Walser durchaus mit einem Einzel- oder Zweierzimmer rechnen dürfen, ein Angebot, das er immer wieder ausschlug und so war er auch nach Monaten noch in einem Wachsaal untergebracht, was aufseiten der Ärzte Erstaunen auslöste, wie ein Eintrag vom September 1929 zeigt: »Merkwürdig, dass Pat. immer noch nicht aus dem Wachsaal in ein Zimmer gehen will, fühlt sich dort geborgener, trotzdem er im Saal in der Freiheit eingeschränkt ist.«225 Ein halbes Jahr später wird der Versuch angestellt, Walser in einem Einzelzimmer unterzubringen, allerdings erfolglos: »Pat. hat endlich eingewilligt gestern in ein Einzelzimmer zu gehen & hat schon letzte Nacht dort geschlafen (19.) 20. März [19]30. Es geht nicht im Zimmer, Pat. klagte, dass er allein in einem Zimmer fürchterliche Angst hat & kann nicht schlafen, hat auch geklagt über den Kunz, der laut mit sich selber gesprochen hat & ihn aufgeregt. Bittet ihn unbedingt wieder in den Wachsaal zu versetzen, wo der Nachtwärter über ihn wacht & er schlafen kann. Sein Wunsch ist erfüllt worden.« 226
Zurück im Wachsaal gibt Walsers Verhalten allerdings Anlass zu Reklamationen. Im Mai 1930 beklagt sich die Wachsaalwärterin über Walser, in der Akte steht, er »lag entblös[s]t im Bett & machte merkwürdige Bewegungen. (Onanie?)«227 Das Fragezeichen nach »Onanie« wird in der Herisauer Abschrift der Akte zu einem Punkt verändert und die Onanie deshalb zur Tatsache. An diesem Beispiel lässt sich zeigen, wie aus Fehlern in inter-institutionellen Abschreibeprozessen Informationen über Patienten ihren Status verändern. Onanie wird im zeitgenössischen Diskurs mit einer krankhaften Neigung in Verbindung gebracht. Dornblüth schreibt in seinem Wörterbuch der Klinischen Kunstausdrücke von 1894, die »Selbst222 | Lisa Walser an Otto Hinrichsen, Bellelay, 22. Juni 1933, unpubliziert, aber abgebildet in Echte (2008), S. 429. 223 | Hinrichsen antwortet: »Eine Bestimmung, wonach Patienten 3. Klasse die Vorteile der 2. zugewendet werden können, haben wir nicht. Sie sehen aber, ich hätte Herrn Walser schon Vergünstigungen gegeben.« Otto Hinrichsen an Lisa Walser. [Herisau], 26. 6. 1933. Als sich Carl Seelig später für einen Klassenwechsel Walsers einsetzt, reagiert dieser nur empört: »Warum soll ich in eine höhere Abteilung wollen? […] Ich will mit dem Volk leben und in ihm verschwinden. Das ist das Passendste für mich.« Seelig (1977), S. 91. Datiert mit 9. April 1945. 224 | Pflegerrapporte aus der Kg 10.428, Walser, Eintrag vom 15. Februar 1929, siehe Abb. 19. 225 | Kg 10.428, S. 8, Eintrag vom 4. September 1929. 226 | Ebd., Eintrag vom 18. März 1930. 227 | Ebd., Eintrag vom 28. Mai 1930. Vergleiche die Herisauer Abschrift, S. 9.
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befleckung [sei] nicht so sehr die Ursache geistiger Störungen als häufige Neigung bei erblich abnormen Menschen.«228 Im Kompendium der Psychiatrie für Studierende und Ärzte, das im selben Jahr erschien, beschreibt Dornblüth die ›Behandlung‹ der Onanie wie folgt: »Die Onanie bekämpft man, wo sie selbständige Bedeutung hat und nicht als Begleiterin von Angst oder Bewußseinstrübung auftritt, mit kühlen Sitzbädern (25° C., am besten vormittags) und mit kleinen Bromgaben.«229 Ob bei Walser tatsächlich Onanie nachgewiesen werden kann oder nicht, spielt für die zeitgenössische Beurteilung des Patienten eine gewichtige Rolle – dem Satzzeichen kann eine entsprechende Bedeutung zugemessen werden.230 Ob aufgrund dieser Reklamationen oder anderer Beweggründe, Walser wird in der Waldau weiterhin bearbeitet, seine Unterkunft zu wechseln, was schließlich Ende 1931 zum Erfolg eines Arztes führt, der in der Krankengeschichte schreibt: »Es ist mir endlich gelungen den Pat. zu überreden in ein Zweierzimmer zu gehen & also den Wachsaal zu verlassen.«231 Über sein Verhalten zum Schluss der ›freien‹ Berner Zeit ist sich Walser bewusst, er entschuldigt sich deshalb bei der ehemaligen Vermieterin, Martha Häberlin, in einem Brief aus der Anstalt in gewohnt freundlicher Manier: »Ich begreife sehr gut, daß Sie sich auf mein Sie beunruhigendes Benehmen hin, genötigt sahen, meine Schwester zu benachrichtigen, und ich gehorchte Letzterer aus Rücksicht auf Sie. Wie bedaure ich, Sie enerviert zu haben […].«232 Die Schlüssel der Wohnung lässt er in der Berner Drogerie Girard-Scheidegger beim Zeitglockenturm deponieren. In der Briefausgabe von 1975 schreibt der Herausgeber, Jörg Schäfer, dazu: »Die Drogerie Girard-Scheidegger beim Zeitglockenturm in Bern unterhielt einen – von der heutigen Nachfolgefirma, der Apotheke und Drogerie Scheidegger, fortgeführten – Ablagedienst für Sendungen von und nach der Waldau. Ein von dieser angestellter Mann mit Pferdefuhrwerk brachte und holte die Sachen.« 233
Damit wird gezeigt, wie der Kontakt der Anstalt und einzelner Insassen zur Stadt in der Praxis geregelt wurde und inwiefern die Anstaltsmauern auch überwunden werden konnten – allerdings ließ sich im Zuge der Nachforschungen über die konkreten Dienstleistungen der Drogerie nichts herausfinden. Im April 1929 wird Lisa entweder noch einmal befragt, oder sie schreibt oder gibt den Ärzten während eines Besuchs weitere Auskunft über ihren Bruder. Die genauen Umstände, wie die folgenden Aussagen zustande kommen, sind nicht überliefert: »Die Schwester des Pat. berichtet: Jhr Bruder sei nie ausdauernd bei der Arbeit gewesen, beständig Stellen gewechselt. […] Er sei ein grosser Egoist, hat 228 | Dornblüth (1894a), S. 91. 229 | Dornblüth (1894b), S. 59. Bromsalze werden als »beruhigendes und schlafmachendes Mittel« eingesetzt. Ebd., S. 55. 230 | Ebenfalls eine Rolle spielt die Onanie in der Krankengeschichte Adolf Wölflis, siehe Hunger u.a. (1993), S. 363–394. 231 | Kg 10.428, S. 9, Eintrag vom 8. Dezember 1931. In Herisau wird Walser erneut um ein Bett im Wachsaal bitten, siehe Kapitel 4.5.4. 232 | Robert Walser an Martha Häberlin, Bern, Waldau, 15. Februar 1929. In: Walser (1975), S. 339. 233 | Jörg Schäfer: Anmerkung 359. In: Walser (1975), S. 421.
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keine andere Arbeit gemacht nur als Schriftsteller. War immer fort, grosse Spaziergänge gemacht hat ihr immer gesagt, es sei nötig.«234 Die knappe Wiedergabe des Gesagten mäandert zwischen Indikativ und Konjunktiv, es lässt sich bei dieser Notation auf mangelnde Zeit oder Deutschkenntnisse schließen. Auch inhaltlich wirft die Stelle Fragen auf, hat Walser doch nicht nur als Schriftsteller gearbeitet. Trotz ihrer beeindruckenden Ausführlichkeit weist Walsers Akte und damit das psychiatrische Schreiben eine Unzuverlässigkeit bezüglich der Vollständigkeit der vorgetragenen Informationen aus. An der gleichen Stelle wird vermerkt, Robert habe Lisa und auch »die Lingiere, Fr. M. geplagt.« Damit wird Frieda Mermet in der Akte erstmals erwähnt und das so, wie sie sich selbst auch teilweise darstellt, in der Rolle des ›Opfers‹ von Robert Walser. Aus den Waldauer Jahren sind neben der wenigen Verlagskorrespondenz elf Briefe Walsers an Frieda Mermet erhalten, vier weitere sind an Therese Breitbach gerichtet und zwei an Lisa Walser, letztere stammen aus den ersten beiden Monaten des Aufenthalts in der Waldau. Sie sind bezüglich ihres Umfangs eher knapp gehalten, was Walser einmal explizit thematisiert. Er halte sich kurz, »indem bei uns nichts eigentlich Neues vorliegt«.235 Frieda Mermet und Roberts Schwestern Lisa, seltener auch Fanny haben Walser ab und zu in der Waldau und später auch in Herisau besucht, Therese Breitbach und Robert Walser sind einander gemäß den Angaben Jörg Schäfers nie begegnet. Zunächst gelingt es Walser in der Waldau nicht, literarisch produktiv zu sein, wie er in einem Brief an Lisa schreibt. Dort erwähnt er auch den Schreibort, an dem der Brief entsteht: »Hier in der Anstalt halte ich mich in einem schönen Saal auf. Die Nächte verbringe ich verhältnismäßig gut. Bis jetzt las ich viel und kam noch nicht zum Fortführen meiner schriftstellerischen Arbeit.«236 Was zunächst nach einer eingewöhnungsbedingten Unterbrechung des Schreibens aussieht, wird in einem nächsten Brief als Absicht deklariert: »Angstzustände habe ich hier in der Anstalt keine, was ich sehr gut zu begreifen vermag, denn hier schriftstellere ich vorläufig nicht mehr […]«.237 Die Schreibunterbrechung wird in einen Zusammenhang mit der angestrebten Genesung gebracht. Bereits im Februar 1929 wird in der Akte erwähnt, dass Walser von der Entlassung aus der Waldau spreche. Er wolle Geld verdienen: »[E]r müsse was verdienen & hier habe er Angst verwöhnt zu werden, weil er es so schön habe. Er sollte seine Arbeit, Schriftstel[l]erei, wieder aufnehmen, hier, meint er, werde er nicht arbeiten können, er müsse frei sein, draussen sein[.] Dann habe er noch Angst, wenn er aus der Anstalt kommt, werde es ihm so schwer sein eine Stelle zu finden, wegen den Vorurteilen draussen gegen die Jrrenanstalten, man werde ihn als verrückt ansehen.« 238
Auch Carl Seelig kolportiert (spätere) Aussagen Walser zum Verhältnis von Schreiben und Anstaltsleben respektive Freiheit. So soll Walser einmal gesagt haben: »Für mich steht fest, daß das Geschäft der Dichter nur in der Freiheit blühen 234 | Kg 10.428, S. 7, Eintrag vom 9. April 1929. 235 | Robert Walser an Lisa Walser, Bern, Waldau, 21. April 1930. In: Walser (1975), S. 344. 236 | Robert Walser an Lisa Walser, Bern, Waldau, 30. Januar 1929. In: Walser (1975), S. 337. 237 | Robert Walser an Lisa Walser, Bern, Waldau, 11. Februar 1929. In: Walser (1975), S. 338. 238 | Kg 10.428, S. 5, Eintrag vom 24. Februar 1929.
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kann.«239 Eine Aussage, der die literarische Produktion in der Waldau entgegensteht. Später einmal wehrt sich Walser gegen die an ihn gestellte Forderung, auch in der Herisauer Anstalt zu schreiben: »Es ist ein Unsinn und eine Rohheit, an mich den Anspruch zu stellen, auch in der Anstalt zu schriftstellern. Der einzige Boden, auf dem ein Dichter produzieren kann, ist die Freiheit. Solange diese Bedingung unerfüllt bleibt, weigre ich mich, je wieder zu schreiben. Damit, daß man mir ein Zimmer, Papier und Feder zur Verfügung stellt, ist es nicht getan.« 240
Eine ›Schreibszene‹ wäre dieser Aussage zufolge nicht nur von der Räumlichkeit und der Materialität geprägt, sondern auch vom ›Grad‹ der Freiheit, die der schreibenden Person zukommt. In der Waldau ist es Walser aber selbst in der Unfreiheit noch möglich, zu schreiben, allerdings nicht mehr viel und nur um seine »Kundschaft weiter zu bedienen«,241 wie er sich gegenüber Seelig geäußert haben soll. Spätestens im Sommer 1929 beginnt Walser also wieder zu schreiben, eine genaue Datierung ist jedoch nicht möglich. An Otto Pick von der Prager Presse schreibt er: »Nach ziemlich langer Zeit hatte ich wieder einmal Anlaß, ein Gelegenheitsgedicht zu schreiben […]«242 und bittet um eine Veröffentlichung. Im Dezember des gleichen Jahres schreibt er an Frieda Mermet jenen Brief, aus dem bereits in der Einleitung zitiert wurde. Darin legt er seinen Tagesablauf dar, der aus vormittäglichem Schreiben und nachmittags aus Gartenarbeit besteht. Die Verminderung der Schreibproduktion wird mit dem Aufenthalt in der Anstalt erklärt und damit argumentativ als orts- und institutionsgebunden bezeichnet: »Naturgemäß kommt nun in den Anstaltsverhältnissen nicht mehr so viele Prosa zustande wie vorher in der Stadt, die ich übrigens nur noch selten zu sehen bekomme.« 243 Walser schreibt, arbeitet im Garten, liest, etwa »Molière, Rousseau, Tolstoi,244 Gottfried Keller, Ferdinand Meyer« 245 und spielt Schach sowie Billard, Letzteres meist alleine. Seine Distanz zu anderen Patienten fällt den Ärzten auf. Walser erfüllt ihre Erwartungshaltung im Bereich des Sozialen nicht, weil er sich auch auf besondere Mitpatienten nicht einlässt, wie in der Akte festgehalten wird:
239 | Seelig (1977), S. 11, datiert mit 3. Januar 1937. 240 | Ebd., S. 24, datiert mit 23. April 1939. 241 | Ebd., S. 74. Mit der »Kundschaft« meint Walser hier das Berliner Tageblatt und die Prager Presse. 242 | Robert Walser an Otto Pick (Prager Presse), Bern, Luisenstr. 14 III [Waldau], 17. Juni 1929. In: Walser (1975), S. 340. 243 | Robert Walser an Frieda Mermet, Bern, Waldau, 23. Dezember 1929. In: Walser (1975), S. 341. 244 | Zur Tolstoi-Lektüre schreibt Walser an seine Schwester: »Ich las ein par seltsame, zum Teil sehr schöne Novellen von Tolstoi. ›Der lebendige Leichnam‹ dieses Dichters kam mir eher zart-westeuropäisch, als großartig-russisch vor. Ich erwartete Erschreckendes und machte mit etwas Feinem, Salonhaftem Bekanntschaft.« Robert Walser an Lisa Walser, Bern, Waldau, 11. Februar 1929. In: Walser (1975), S. 338. 245 | Kg 10.428, S. 6, Eintrag vom 4. April 1929.
Schreiben (und Lesen) hinter den Sandsteinmauern »Unter den Kranken sind gegenwärtig sehr interessante, gebildete Männer, er lässt sich aber nie in ein Gespräch mit ihnen ein. Macht den Eindruck eines grossen Sonderlings, sieht auch nicht gerade einnehmend aus. Man merkt ihm auch sein Misstrauen an, hat etwas spötisches im Gesicht.« 246
Walser lebt in einer Isolation innerhalb der Anstalt, ist aber in Bezug auf die ihm aufgetragene Arbeit sehr verlässlich: »Machte den grossen Spaziergang mit, hatte Freude. Macht regelmässig seine Arbeit, lebt für sich, bekümmert sich weder um seine Umgebung noch um seine Angehörigen. Seine Schwester besuch[t] ihn hie & da, dann machen sie zusammen einen Spaziergang, essen in der Stadt & er kehrt wieder zur versprochenen Zeit zurück.« 247
Die Einträge in der Akte gleichen sich inhaltlich, bald wird notiert: »Pat. hält sich ordentlich, ist hier zufrieden, spielt einwenig den grossen Herren«,248 bald wird monatelang überhaupt nichts eingetragen, weil sich am Verhalten Walsers nichts Auffälliges zeigt. Eine Notiz vom Juni 1932, nachdem ein halbes Jahr keine Einträge mehr verfasst wurden, zeigt, dass sich andere Patienten über Walsers Verhalten beschwert haben: »Pat. hat sich nicht viel verändert. Macht immer noch seine gewohnte[n] Arbeiten, vormittags den Aufenthaltsraum[,] liest etwas & nachmittags arbeitet er in der Gärtnerei, regelmässig[.] Sieht sehr gut aus, überarbeitet sich nicht, hat sehr guten Appetit[,] isst für zwei, nimmt wenig Rücksicht, ob seine Tischnachbarn auch was bekommen, ist nicht gerade sozial. Man hört hie & da den einen oder anderen Kranken über den W. klagen, [a]uch wegen dem Ab[ort,] er bleibt dort sehr lange sitzen, eine ½ St. manchesmal auch länger & wenn es am Morgen so lange dauert, werden die andern direkt wütend. Jch musste mit ihm deswegen eine Unterredung haben & er versprach auf die anderen mehr Rücksicht zu nehmen.« 249
Wiederum Monate nach dem letzten Eintrag wird Walser egoistisch genannt: »Macht immer noch seine schon obligatorisch gewordene Arbeit, auf der Abteilung & in der Gärtnerei. Die anderen Kranken haben ihn nicht gern, halten ihn für einen grossen Egoisten[.] Rücksichtslos. Er fühlt sich wohl dabei.«250 Und drei Monate später vernimmt man über Walser: »Jn der freien Zeit liest er oder macht ein Billardspiel, aber allein & die anderen Pat. können noch mit so grossem Jnteresse beim Radioapparat sitzen & die Ohren möglichst na[ ]he dem Apparat anstrengen & er stosst die Kugeln, ohne eine Spur auf die anderen Rücksicht zu nehmen.«251 In dieser Beschreibung des distanzierten und eher rücksichtslos agierenden Patienten Walser werden auch die örtlichen Konfliktherde der Anstalt indirekt beschrieben: Dort, wo Billard gespielt werden kann, befindet sich auch der Radioapparat. Damit sind dort verschiedene Interessensgruppen situiert und entsprechende Konflikte 246 | Ebd., S. 5, Eintrag vom 9. Februar 1929. 247 | Ebd., S. 9, Eintrag vom 3. Juli 1931. 248 | Ebd., S. 8, Eintrag vom 19. September 1930. 249 | Ebd., S. 9, Eintrag vom 23. Juni 1932. 250 | Ebd., S. 10, Eintrag vom 23. Dezember 1932. 251 | Ebd., S. 10, Eintrag vom 21. März 1933.
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vorprogrammiert. Von Walser hätte man sich aber – so lassen die Einträge einmal mehr vermuten – ein anderes Verhalten erwünscht. Dies ist die Sicht der Angestellten und die indirekte Wiedergabe von Beschwerden der Mitpatienten. Walser selbst stellt in Briefen die Sachlage anders dar, an Lisa Walser etwa schreibt er, dass er durchaus ab und zu mit anderen in Kontakt trete: »Auch versuchte ich mich schon ein erstes Mal im Schachspiel, und hie und da sage ich etwas zu einem der hier wohnenden Herren, als erzählte ich mit der Schriftstellerfeder irgend eine Geschichte.«252 Sprechen und Schreiben werden hier mit dem Werkzeug der »Schriftstellerfeder« enggeführt. Wenn diese schriftlich eine »Geschichte« erzählen hilft, ist die Kommunikation einseitig, wie es die mündliche Kommunikation mit den »Herren« auch ist; Walser sagt etwas zu ihnen, spricht aber nicht mit ihnen. Eigen- und Fremdwahrnehmung gehen hier auseinander, die Verschriftlichung der Ansichten hat unterschiedliche Formen, verschiedene Verbreitungsgrade und damit sind auch asymmetrische Machtpotenziale verbunden: In der Akte wird das Verhalten des Patienten festgeschrieben – die Beobachtungen werden als objektive Tatsachen gewertet und beispielsweise in der Überprüfung der Diagnose oder in der Weitergabe der Aufzeichnungen nach Herisau zum Wissen über den Patienten verfestigt. Walsers Medium Brief, in dem er sich zu seinem Verhalten äußert, ist grundsätzlich ein rein privates, das eher durch Zufall und durch seine Bekanntheit überhaupt als auf bewahrungswürdig befunden wurde, das aber auch innerhalb einer Anstalt durch die Zensur eine gewisse Öffentlichkeit erreicht. Als ursprüngliche Adressatin wäre Lisa Walser die einzige gewesen, die von den ›tatsächlichen‹ oder von Robert zumindest beschriebenen Begegnungen mit den »hier wohnenden Herren« erfahren hätte. Unabhängig von den Adressaten und den Zielen, die mit dem Schreiben jeweils verfolgt wurden, wird das Bild Walsers in der Anstalt durch zwei Restriktionen unterworfenen Textsorten bestimmt: durch die persönlichen Briefe, die publiziert oder zugänglich gemacht werden müssen, um überhaupt gelesen werden zu können, und von der Akte, in die die Institutionen und politischen Instanzen Einblick gewähren müssen. Beide Textsorten können nur unter besonderen Bedingungen der Waldau überhaupt rezipiert werden: Hier werden die Grenzen von Öffentlichkeit und Privatheit, von Patient und Person, von Subjekt und Objekt verwischt, die gängigen Vorzeichen umgedeutet.
4.5.2 »Denn der Unterhalt unseres Bruders ist eine Familienpflicht« 253 – Finanzielle und soziale Aspekte einer Unterbringung in der Anstalt Am 1. Juli 1933 berichtet Lisa Walser ihren Brüdern Oscar und Karl schriftlich, dass sich Robert nun in Herisau befinde.254 Sie betont darin, dass Robert nach Ansicht der Ärzte tatsächlich geisteskrank sei und dass sie unter diesen Umständen »notgedrungen, die durch die Anstalt geforderte Gutsprache für ihn unterzeichnen«255 musste. Der Brief endet mit der Feststellung: »Denn der Unterhalt unseres Bru252 | Robert Walser an Lisa Walser, Bern, Waldau, 11. Februar 1929. In: Walser (1975), S. 338. 253 | Abschrift eines Briefes von Lisa Walser an ihre Brüder Oscar und Karl Walser, Bellelay, 1. Juli 1933, unpubliziert. 254 | Wie es dazu kam, wird ausgeführt in Kapitel 4.5.4. 255 | Ebd.
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ders ist eine Familienpflicht, die ebenso gut Euch beide, wie mich betrifft weshalb die daherigen Lasten naturgemäss zu gleichen Teilen unter uns getragen werden müssen.«256 Damit versucht Lisa Walser ein weiteres Mal, ihre Brüder an ihre familiären und damit auch finanziellen Pflichten zu erinnern. Vorausgegangen war diesem Schreiben die Weigerung Oscars und Karls, sich an den Kosten von Walsers Unterbringung zu beteiligen, da sie Robert Simulation vorwarfen. Im Juni 1930 sagte sich Oscar brieflich jeglicher Verpflichtungen frei, indem er einwilligte, dass Lisa Robert Walsers kleines Vermögen der Waldau zur Verfügung stellt. Er schreibt: »Wenn ich nun aber Robert’s Guthaben der Waldau, ›behelfs Bezahlung eventueller Rückstände der Pensionsrechnungen‹ übergebe, so geschieht dies mit der ausdrücklichen Erklärung meinerseits, dass ich in Anbetracht der Weigerung Roberts, mir die Vollmachten zu unterschreiben, die es mir ermöglicht hätten, seine Interessen, sowie auch die Interessen von uns allen bestmöglich zu wahren, des Bestimmtesten erkläre, in Zukunft jede weitere Unterstützung für Robert abzulehnen. Du kannst diesen Passus der Dir. der Waldau wortgenau weitergeben, damit sie für alle Fälle orientiert ist.« 257
Die Heftigkeit, mit der familienintern der ›Fall‹ Robert Walser und die finanzielle Situation in der Waldau diskutiert wird, zeigt noch ein zweiter Ausschnitt aus einem Brief Oscars, in dem er im Juni 1933 definitiv alle Verantwortung an Lisa übergibt: »Du trägst daher einen grossen Teil an der Verantwortung für die heutige Sachlage. Es ist daher nur gerecht, wenn Du auch deren finanzielle Folgen trägst und das Formular für Herisau allein unterzeichnest. Du bist in gesicherter staatlicher Stellung, hast keine Familie und hast, was bei mir nicht der Fall ist, später eine Pension zu erwarten, mit der Dein Alter gesichert ist. Du brauchst ja nur auf die seit Jahren für kostspielige Kuren und Reisen aufgewendeten Auslagen zu verzichten, um das für R. erforderliche Pensionsgeld und noch etliches mehr auf die Seite zu legen.« 258
Die Familienquerelen, die eine Internierung eines Angehörigen auslösen kann, sind im ›Fall‹ Walser zufällig gut dokumentiert, weil die Geschwister brieflich miteinander verkehrt haben und weil auf Grund von Robert Walsers Berühmtheit diese Briefe als auf bewahrungswürdig empfunden wurden. Sie beleuchten einen konfliktreichen Bereich, der wohl aber auch bei vielen anderen Patienten und ihren Angehörigen vorhanden, allerdings wohl selten in einer schriftlichen Dokumentation nachvollziehbar ist. Lisa Walser beschreibt die familiäre Situation in einem Brief an Seelig 1936, der ihr eine Herausgabe ausgewählter Werke Walsers vorschlug, folgendermaßen: »Was meine anderen Geschwister anbelangt, so muss ich Ihnen leider sagen, dass die zwei Brüder jede Verbindung mit Robert abgebrochen haben. Sie erachten ihn nicht als krank und verlangen von ihm, dass er arbeite u. sich entweder durch seine Schriftstellerei oder durch 256 | Ebd. 257 | Oscar Walser an Lisa Walser, Theodorsgraben [Basel], 6. Juni 1930, unpubliziert. 258 | Oscar Walser an Lisa Walser, Ciona die Carona, 8. Juni 1933, unpubliziert.
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Schreiben am Rand irgend eine andere Arbeit seinen Lebensunterhalt verdiene. Bruder Karl hat sich auch von mir abgewendet, weil ich seine Mitunterschrift verlangt habe, als es sich darum handelte, Robert in der Anstalt Herisau unterzubringen.« 259
Als Konsequenz dieser zerstrittenen Familiensituation waren die Finanzen im Zusammenhang mit dem Anstaltsaufenthalt immer ein Thema. Walser wird schon zu Beginn der Waldauer Zeit dazu angehalten, seinen Unterhalt nach Möglichkeit selbst zu bestreiten. Die Akte hält dazu fest: »Seine Artikel bringen ihm noch was ein & er hat sich einverstanden erklärt für seinen Aufenthalt hier selbst zu zahlen aus dem Geld, das[ ] er hier verdient hat.«260 In der Waldau verwaltet Walser sein Geld selbst, in Herisau bekommt er einen Vormund, der diese Aufgabe übernimmt.261 In den Briefen von Speyrs an Lisa geht es ebenfalls um Finanzen, der Direktor gibt die Sicht Walsers wieder, der davon ausgeht, dass seine Geschwister gegen ihn »komplottieren«262 würden. Walser bereue, dass er in die Bezahlung des Kostgeldes eingewilligt habe, berichtet von Speyr. Der Direktor versucht zu vermitteln zwischen dem Patienten, den Familienangehörigen und den Verwaltern der Anstalt. Es erstaunt nicht, dass von Speyr aber auch in Bezug auf Walser der Ansicht war, er sei am besten in der Waldau untergebracht. Gegenüber Lisa kritisiert von Speyr auch Oscar Walser (und meint damit wohl auch Karl): »Es kommt mir vor, als ob die Brüder sich von dem wahren Zustand Herrn Roberts keine Rechenschaft geben & ihn für viel weniger krank halten, als er tatsächlich ist, ja vielleicht überhaupt nicht für krank. Es ist leicht von einem Verdienst in der Stadt zu reden, gar für einen Kranken, wo der Gesunde kaum unterkommt? Nebenbei könnte Herr Robert in der Stadt nirgends so gut & billig leben wie in der Waldau.« 263
Schließlich schreibt von Speyr im Dezember 1930, die Wertschriften Robert Walsers seien nun in seiner Hand. Er listet die genauen Beträge jedes Sparbuchs auf und verweist darauf, dass er eines an Robert zurückgegeben habe, der selber die Zinsen nachtragen werde. Bereits hier erscheint der Bruder Oscar nicht als kons259 | Lisa Walser an Carl Seelig, Bellelay, 1. März 1936, unpubliziert. 260 | Kg 10.428, S. 8, Eintrag vom 23. Dezember 1929. 261 | Dazu Lisa Walser an Carl Seelig: »Solange mein Bruder in der Waldau-Bern versorgt war, d.h. von 1929–33 konnte er sein kleines Restvermögen selber verwalten. Seit er in Herisau ist, hat er einen Vormund, da die Direktion die Verantwortung nicht übernehmen konnte.« Lisa Walser an Carl Seelig, Bellelay, 1. März 1936, recte, unpubliziert. Hinrichsens entsprechender Brief an Lisa von 1933 lautet in Auszügen: »Der hiesige Verwalter, der die Wertpapiere von Herrn Robert Walser in Händen hat, findet, und ich kann ihm darin nicht unrecht geben, dass er zu irgend welchem Disponieren, in bezug auf welches man natürlich auf den Patienten selbst nicht abstellen kann, juristisch nicht befugt sei, und damit die Sache doch eigentlich nicht bleiben könne, wie sie heute liegt in pekuniärer Beziehung. […] So tritt die Frage der Bevormundung Jhres Herrn Bruders, was ich für das Richtigste auf jeden Fall hielte, an uns heran. Oder wenigstens der Verbeiständigung.« Gegen beide Vorschläge wehrte sich Walser entschieden, aber erfolglos. Otto Hinrichsen an Lisa Walser, Herisau, den 21. November 1933, unpubliziert. 262 | Wilhelm von Speyr an Lisa Walser, Waldau, 31. Mai 1930, unpubliziert. 263 | Ebd.
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truktiver Akteur, sondern nur als Störfaktor in der Aushandlung der finanziellen Situation Roberts. Von Speyr schreibt dazu: »Wie der Bruder Oskar verlangen kann, dass wir nicht auf das Kapital greifen dürfen, wenn es nötig wird, verstehe ich nicht.«264 Robert Walser scheint von den Verhandlungen Kenntnis zu nehmen, sich aber vordergründig passiv zu verhalten. 1933 handelt er jedoch einen Vertrag mit dem Rascher-Verlag über eine Neuauflage der Geschwister Tanner aus, wovon die Krankenakte jedoch nicht berichtet.265 Ob es Walser gelang, die institutionelle Zensur zu umgehen, die sich bestimmt für das Dokument interessiert hätte, oder ob der Vertrag von Klaesi geduldet respektive ignoriert wurde, bleibt offen. Es zeigt jedoch, dass Walser auch noch in der Waldauer Zeit eine Initiative über- oder angenommen hat und seine in den Akten festgehaltene Passivität durchaus als einseitiges Bild des Patienten betrachtet werden kann.
4.5.3 »ein Gedichtelchen oder ein Prosastückli« 266 – Walsers Waldauer Texte Möchte man gezielt jene Textes Walsers lesen, die er in der Waldau geschrieben hat, muss man sie aus verschiedenen Bänden unterschiedlicher Ausgaben zusammensuchen und auf Datierungen vertrauen, die sich schwerlich überprüfen lassen. Der Schreib-Ort scheint in der Walser-Editionsphilologie bislang nur indirekt eine Rolle gespielt zu haben, Vorrang hatten (vermutete) Chronologie, Textgattung oder das Kriterium des Textstadiums, ob der Text also als Manuskript, Abschrift oder veröffentlicht vorliegt oder nicht. Zwar tragen mehrere Bände in Jochen Grevens Sämtliche Werke in Einzelausgaben Untertitel mit Ortsangaben, also etwa Prosa aus der Berner Zeit – sie sind damit nach Gattung, Ort und Zeit geordnet – die sogenannte Berner Zeit umfasst allerdings die zwölf Jahre von 1921 bis 1933, in der Walser an vielen unterschiedlichen Stadtberner Adressen wohnte und er eben auch in der Waldau untergebracht war. Grevens Band Die Gedichte, der sich in Teilen auf vorherig erschienene Gedichtbände stützt, enthält einen Teil Gedichte aus der Berner Zeit 1924–1933, der allerdings noch einmal thematisch in sechs Unterkapitel unterteilt wird und dadurch mögliche weitere Ordnungskategorien wie Chronologie und Schreiborte unterläuft.267 Die Sämtlichen Werke beschränken sich auf die von Walser für eine Publikation bearbeiteten, das heißt auch abgeschriebenen Texte. Diese sind dann in den jeweiligen Bänden nach Gattung aufgeteilt, es finden sich also Texte aus der Waldauer Zeit im Band Die Gedichte,268 und vor allem in Für die Katz.269 Bernhard Echte und Werner Morlangs Ausgabe Aus dem Bleistiftgebiet geht hingegen nach dem Schriftträgerprinzip vor. Da die Abfolge der Manuskripte alles andere als ein264 | Wilhelm von Speyr an Lisa Walser, Waldau, 2. Dezember 1930, unpubliziert. 265 | Der Vertrag ist abgebildet in Echte (2008), S. 423. 266 | Robert Walser an Frieda Mermet, Bern, Waldau, 10. September 1931. In: Walser (1975), S. 346. 267 | Die thematischen Unterkapitel sind nach einzelnen Texten Walsers benannt und lauten Kann sie mich anders als glücklich wünschen, Das Kind sinnt, Frauen, Literatur, Selbstschau und Wer darf sagen, er kenne das Dasein!. Walser (1986/13). 268 | Walser (1986/13). 269 | Walser (1986/20).
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deutig ist, wurde die Prosa thematisch unterteilt und die Lyrik in eine ungefähre chronologische Reihenfolge gebracht und abgedruckt.270 Im Abdruck der einzelnen Texte werden wiederum Kriterien der Gattung verwendet, um eine Ordnung zu schaffen, es sind darum weder die Anordnung auf dem Papierstück noch die unmittelbare Nachbarschaft der Texte wiedergegeben. Das Mikrogramm als (Schrift-) Bild kann lediglich in Abbildungen oder einer Faksimile-Ausgabe gezeigt werden, ein Umstand, dem die begonnene und auf viele Jahre angelegte Kritische Robert Walser-Ausgabe zu einem Teil Rechnung trägt. Die abenteuerliche Fund- und Editionsgeschichte von Walsers späten Texten lässt sich wie folgt zusammenfassen: Die insgesamt 526 von Jochen Greven Mikrogramme genannten Papiere waren – so das reichlich verschachtelte Entdeckungsnarrativ – in einer Schuhschachtel liegend gefunden und 1937 an Carl Seelig übergeben worden.271 Neben dieser ersten Schuhschachtel tauchte zwanzig Jahre später noch eine weitere auf. Hans Steiner, Sekundärarzt in Herisau, schreibt am 11. August 1957 an Carl Seelig: »Lieber Herr Seelig, Ich hoffe Ihnen durch diese Sendung eine Freude zu bereiten. Schwester Sophie überbrachte mir heute, mit vielen Entschuldigungen dafür, dass sie erst jetzt auf diesen Fund gestossen sei, in einer alten Schuhschachtel diese Dinge aus dem Nachlass von Robert Walser. Ich nehme zwar an, es werde sich kaum etwas Ihnen Unbekanntes darunter finden. Aber auch so werden Ihnen namentlich die Manuskripte zu Textvergleichungen wertvol[l] sein, ganz abgesehen vom Pietätswert. Ich weiss nicht, ob diese Dinge rechtlich den Angehörigen zukämen und überlasse es vertrauensvoll Ihnen, das Richtige zu finden. Da Sie der Freund und Herausgeber sind werden ja Sie berufen sein sie auszuwerten. Ich verzichte darauf, ein Verzeichnis anzufertigen. Mit Vergnügen und Schmunzeln habe ich heute meinen Dienstsonntag mit dem Durchlesen der gedruckten Ausschnitte verkürzt. Die Manuskripte waren mir zu mühsam und so warte ich, bis sie einmal gedruckt zu lesen sein werden, insoweit sie nicht bereits gedruckt sein sollten.« 272
Was sich in den beiden Schachteln befunden hat, lässt sich heute nicht mehr eruieren. Gemäß Steiner war in der zweiten Schachtel Gedrucktes und Handgeschriebenes, mehr lässt sich darüber nicht sagen – auch nicht, wann diese Texte wohl entstanden sein mögen. In diesen rudimentär erzählten Schachtelgeschichten manifestiert sich die Zufälligkeit und Fragilität der Überlieferung von Walsers Texten im Kontext von Familie, psychiatrischer Institution und rechtlicher Instanz in Person des Vormundes. Im selben Jahr, in dem die zweite Schachtel gefunden wurde, erschien eine Seite aus diesen Fundstücken als Faksimile in der Zeitschrift Du, wo Seelig von Walsers »Geheimschrift«273 schrieb. Ab 1980 entzifferten Morlang und Echte die 270 | Siehe die Editorischen Vorbemerkungen (1985/1), S. 5–8 und der Editorische Bericht von Echte und Morlang in Walser (2000/6), S. 701–711. 271 | Siehe Groddecks Überlegungen zu einem Editionsproblem (2002). 272 | Hans Steiner an Carl Seelig, Herisau den 11. August 1957, unpubliziert. 273 | Carl Seelig schrieb neben die Abbildung eines Mikrogrammes in Originalgröße und einer Vergrößerung: »Die selbsterfundene, nicht entzifferbare Geheimschrift, die der Dichter
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Texte, die im Jahr 2000 mit Band 6 der Ausgabe Aus dem Bleistiftgebiet abgeschlossen wurde, wodurch die bis dahin unbekannten Texte Walsers erstmals zugänglich wurden. Was Walser aus dem Bleistiftkonvolut selbst publizierte, hatte er davor noch mit der Feder abgeschrieben. Diesen umständlichen Schreibweg ging Walser ab ungefähr 1917, wenn man einem in der Walser-Forschung viel zitierten Brief an Max Rychner von der Neuen Schweizer Rundschau Glauben schenken will. Mit dem »Bleistiftweg«, dem »Bleistiftsystem« und dem »büreauhaften Abschreibesystem« lernte Walser, wie er sich 1927 im Brief ausdrückt, »knabenhaft« wieder schreiben.274 Dieses System behielt er bei, allerdings veränderte sich die Bleistiftschrift, sie wurde immer kleiner bis zur »Winzigschrift«,275 wie sie Bernhard Echte einmal nannte, eine Schrift, die zuletzt »eine durchschnittliche Buchstabengröße von etwa einem Millimeter aufweist«,276 wie ihre ersten Entzifferer, Echte und Morlang, schreiben. In der Editionsgeschichte von Walsers Texten hat die Waldau bisher keinen besonderen Platz eingenommen, sie ist als Schreibort Teil von den vielen Stationen, an denen Walser schrieb und von wo aus er die Möglichkeit zur Veröffentlichung suchte. Inwiefern die Waldau inhaltlich in den Texten eine Rolle spielt, wird weiter unten in einer Sammlung von Motiven und Textausschnitten thematisiert. Allerdings kann vorweggenommen werden, dass die Anstalt und das Leben in ihr – anders als etwa in Texten Friedrich Glausers277 – in Walsers Texten kein explizites Thema darstellen. Verschiedene Bekannte haben Walser jedoch vorgeschlagen, darüber zu schreiben. Seelig hält einen solchen Dialog fest, dessen Inhalt wohl nicht nur für das Herisauer Umfeld zutrifft, sondern auch auf die Waldauer Situation übertragen werden kann: »Ich [= Seelig, Anm. M.W.]: ›Vielleicht liefert Ihnen das Milieu der Anstalt und seine Insassen einmal einen originellen Romanstoff?‹ – Robert: ›Ich glaube kaum. Jedenfalls wäre ich unfähig, ihn auszubauen, solange ich selbst darin sitze. Dr. Hinrichsen hat mir zwar zum Schreiben ein Zimmer zur Verfügung gestellt. Aber ich hocke wie vernagelt darin und bringe nichts in den 1920er Jahren und später zu Beginn seiner Gemütskrankheit anwandte, muß wohl als scheue Flucht vor den Augen der Oeffentlichkeit und als kalligraphisch bezauberndes Tarnungsmittel, um seine Gedanken vor ihr zu verbergen, gedeutet werden. In späteren Jahren wurde diese Geheimschrift wieder zugunsten der Normalschrift aufgegeben, ohne daß Robert Walser in ihr künstlerisch Neues hervorgebracht hätte.« Seelig in: Du (1957), S. 46. Noch unbeachtet blieb bisher in der Forschung, dass Seelig bereits in einem Brief vom 22. Mai 1957 an Max Müller von einer ›Geheimschrift‹ Walsers schrieb und sie mit Misstrauen begründete: »Es gab eine kurze Periode, in der er sich, sicher aus Misstrauen, eine ›Geheimschrift‹ zulegte, anscheinend noch in der Waldau, aus der sich aber kein Jnhalt herausdestillieren lässt.« Waldauer Kg. Nr. 10428. 274 | Robert Walser an Max Rychner, Bern, Luisenstrasse 14, 20. Juni 1927. In: Walser (1975), S. 300 f. Zu Walsers Text Bleistiftskizze und dem Brief an Rychner siehe Groddeck (2002). Dass dieses »Abschreibesystem« durchaus auch die Überarbeitung der Entwürfe beinhaltete, zeigt der Vergleich von Textentwürfen mit ihren publizierten Versionen. 275 | Echte (1997), S. 8. 276 | Walser (1985/1), S. 5. Mit dieser Erwähnung der Schriftgröße sei noch einmal zurückverwiesen auf den in Kapitel 4.1 erwähnten Patienten, Herrn L. 277 | Siehe Kapitel 4.6.
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Schreiben am Rand zustande. Vielleicht, wenn ich zwei, drei Jahre außerhalb der Anstalt in der Freiheit leben würde, käme der große Durchbruch. –‹« 278
Obwohl das Schreibzimmer in Herisau zur Verfügung steht, kann Walser dort nicht mehr schreiben, der Schreibort Anstalt Herisau und die dort erfahrene Unfreiheit – vermutlich in Kombination mit anderen Gründen – verunmöglicht ihm das Schreiben. In der Waldau jedoch ist die schriftstellerische Tätigkeit für Walser noch in einem reduzierten Maße möglich. Dort bringt er vermutlich über hundert Gedichte zu Papier, deren Entwürfe er auch abschreibt. In dieser Form fanden sie in den Band Die Gedichte. Jochen Greven schreibt im Nachwort des eben genannten Bandes, man habe mit Walser »den seltenen Fall einer lyrischen Spätblüte nach jahrzehntelangem fast ausschließlichem Prosaschaffen«279 vorliegen. Seelig zitiert Walser, der sagt, er habe in der Waldau »fast hundert Gedichte fabriziert«.280 Etwas großspuriger schreibt Walser bereits 1930 an Therese Breitbach, nachdem er rund anderthalb Jahre in der Waldau ist: »Über hundert neue Gedichte sind mir hier nach und nach entstanden.«281 Davon sind damals vermutlich rund achtzig unveröffentlicht geblieben, allerdings sind weitere zirka zwanzig Gedichte, die Walser früher geschrieben hatte, während der Waldauer Zeit hauptsächlich in der Prager Presse und im Prager Tagblatt veröffentlicht worden.282 Die Zeit zwischen Niederschrift, Abschrift und Publikation erstreckt sich teilweise also über Jahre hinweg, die wenigsten Texte lassen sich genau datieren. Zusätzlich zu den aufgelisteten Werken sind in Band fünf und sechs von Aus dem Bleistiftgebiet rund sechzehn Texte versammelt, die Walser nicht abgeschrieben hat und die aus der Waldauer Zeit stammen dürften. Diese Texte sind auf unterschiedliche Papiersorten geschrieben, sie stehen teilweise alleine oder sind mit anderen Texten, von denen Walser nicht immer alle abschrieb, gemeinsam auf einem Schriftträger. So hat er etwa auf die mittlerweile berühmte Karte des Feuilletonredaktors der Neuen Zürcher Zeitung, Eduard Korrodi, vorder- und rückseitig zehn Texte geschrieben, von denen er fünf abschrieb. Die Karte ist in Originalgröße abgedruckt in Band 6 von Aus dem Bleistiftgebiet.283 Korrodi bedankt sich darauf, dass Walser nach fünfjähri278 | Seelig (1977), S. 12. Datiert mit 3. Januar 1937. 279 | Greven, Nachwort. In: Walser (1986/13), S. 268–279, hier: S. 274. 280 | Seelig (1977), S. 56. 281 | Robert Walser an Therese Breitbach, Bern, Luisenstrasse 14 III [Waldau], 10. Juni 1930. In: Walser (1975), S. 344. 282 | Diese Zahlen beruhen auf meinen eigenen, groben Nachzählungen, gestützt auf der Ausgabe und die Datierung Grevens, deren Grundlagen in den Gesamtwerken nicht diskutiert werden und die ich nicht überprüfen kann. Die Zahlen dienen lediglich einer groben Übersicht über die Anzahl der Texte, die Walser in der Waldau noch schrieb und auch publizierte. Für den größeren Zeitraum von 1925–1933 gibt Jochen Greven folgende Auskunft: »Es war fast ausschließlich dem Verständnis und Wohlwollen Otto Picks und Max Brods zu verdanken, daß er [Walser] doch noch eine größere Zahl der Gedichte gedruckt sah und honoriert bekam. Pick brachte in der ›Prager Presse‹ von 1925 bis 1933 mehr als achtzig, Brod im ›Prager Tagblatt‹ von 1925 bis 1931 der Mißbilligung des Chefredakteurs die Stirn bietend, mehr als dreißig Gedichte von Walser. (Pick nahm daneben noch viele Prosastücke auf.)« Greven: Nachwort. In: Walser (1986/13), S. 268–279, hier: S. 276. 283 | Walser (2000/6), unpag.
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gem Unterbruch (aufgrund einer persönlichen Verstimmung gegenüber Korrodi) wieder einmal etwas an die »Firma«, also die NZZ, schickte.284 Walser schreibt auf der rechtwinklig gedrehten Karte gegen deren Botschaft an, indem er um Korrodis Zeilen herum schreibt. Wie Echte und Morlang festgestellt haben, stammen viele der benutzen Papiere aus der beruflichen Korrespondenz Walsers, sie dokumentieren das Schreiben und Honoriertwerden und wurden von ihm zum Hintergrund weiterer Texte gemacht.285 Dass die Waldau als Ort auch ein Schreibort ist, wird doppelt belegt: Erstens mit der Verlagskorrespondenz und anderen bereits beschriebenen Papieren und zweitens mit der erneuten Beschriftung des bereits beschriebenen Dokuments in der Anstalt. Die Materialwahl verbindet damit Walsers Arbeiten in der Anstalt mit dem davor von ihm oder anderen über sein Schreiben Geschriebenen. Mit dem Verfertigen neuer Texte in der Waldau geht die optische Versicherung einher, dass zuvor Produziertes publiziert wurde und also erfolgreich war – ein Schicksal, das auch für die neuen Texte gewünscht wird. Einige der von Walser benutzten Papiere sind von den ursprünglichen Schreibern datiert worden, Walsers Texte müssen also nach diesen Daten entstanden sein. Viele Texte haben aber keine Datierung und sind deswegen schwierig einzuordnen, wenn keine Abschrift oder zeitgenössische Publikation vorliegt. Zur Datierung der Mikrogramm-Texte dienten Echte und Morlang auch Hinweise auf tagespolitische Geschehnisse, welche jedoch in den Waldauer Jahren in den Hintergrund rücken. Aus der Waldauer Zeit stamme nur etwa ein gutes Dutzend Textblätter des Mikrogramme-Konvolutes, halten die Herausgeber fest: »[Diese können] nur etwa 10% dessen abdecken, was Walser in dieser Zeit geschrieben haben muß, während für den Zeitraum vor Januar 1929 zu fast allen veröffentlichten oder ins Reine geschriebenen Texten auch mikrographische Entwürfe vorliegen. Dass der Bestand aus den Waldau-Jahren fragmentarisch ist, wird allein schon an den Blättern 3 und 15 deutlich, zu denen textliche Anschlüsse fehlen, was im gesamten übrigen Material sonst nur an einer einzigen Stelle vorkommt (Blatt 363).« 286
Unter der Verwendung einer topografischen Metapher beschreibt Groddeck die Anziehung von Walsers Textblättern wie folgt: »Die Mikrogramme stellen in ihrer Gesamtheit eine Werkstatt oder einen in sich wohlorganisierten und zugleich labyrinthischen Textspeicher dar, dessen visuelle Winzigkeit sich umgekehrt proportional zum Ausmaß der darin verwahrten Textmenge verhält.«287 Ein Teil, aber nur ein kleiner Teil von Walsers Waldauer Texten findet sich also nur in dieser »Werkstatt«, andere sind daraus abgeschrieben worden oder die Überlieferung entbehrt zumindest der Bleistiftentwürfe. Der Band Für die Katz versammelt denn auch 284 | Korrodi schreibt: »Lieber Herr Walser! Es ist nett von Ihnen, daß Sie wieder einmal an unsere ›Firma‹ denken. Ich bringe die sehr schöne See-Skizze u. ›Zwei Lebenswege‹ gerne im Verlauf der nächsten zwei Wochen. // Indem ich meinerseits hoffe u. es aus Ihren Schriftzügen lese, daß es Ihnen gut geht, bin ich Ihr ergebener E. Korrodi.« Eduard Korrodi an Robert Walser, [Anfang Juli 1932]. In: Walser (1975), S. 349. 285 | Siehe Echtes und Morlangs Editorischer Bericht. In: Walser (2000/6), S. 701–711. 286 | Ebd., S 708 f. 287 | Groddeck (2002), S. 545.
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Prosatexte aus den Jahren 1928 bis 1933, von denen meist kein Mikrogrammentwurf vorhanden ist und die in der Mehrzahl unpubliziert geblieben waren. Die von Walser verwendeten unterschiedlichen Papiersorten sind oft mangelhafter Qualität und erschweren in der Kombination mit der kleinen Schrift die Entzifferung. Dadurch behalten die Mikrogramm-Texte eine Offenheit, da sich nicht immer alle Zeichen eindeutig lesen lassen. Zusammenfassend lässt sich also sagen: Papiersorte, Schreibmittel und Textstufe sind in der Waldauer Zeit äußerst heterogen. Auffallend ist auch, dass einige Texte Walsers aus der Waldauer Zeit unvermittelt abbrechen – es gibt in der Lektüre auffallend viele Lücken, die mitzulesen sind: diese betreffen mögliche Textvorstufen, Textübergänge und Fortsetzungen, Les- und Entzifferbarkeit sowie Datierungsmöglichkeiten. In Bezug auf Walsers finanzielle Situation darf, auf den Bereich der Lyrikproduktion beschränkt, davon ausgegangen werden, dass er während seiner Waldauer Internierung für die Publikation von rund fünfzig Gedichten Lohn bekam. Allerdings konnte die Prager Presse kein großes Gehalt bezahlen. Seelig zitiert Walser, der, wie oben schon erwähnt, ausführt, wie viel und für wen er in der Berner Zeit geschrieben habe: »[N]icht viel, nur, um meine Kundschaft weiter zu bedienen. Meine Kundschaft; das war in der Berner Zeit vor allem das ›Berliner Tageblatt‹, das mich fürstlich zahlte, und die ›Prager Presse‹, die mich schlecht zahlte. Aber sie brachte immer alles von mir, und dieses Vertrauen war mir mehr wert als die besseren Honorare der schweizerischen Zeitungen, die so oft an meinen Arbeiten herumzunörgeln hatten.« 288
Walsers Texte aus der Waldau lassen sich weder von der Gattung her noch aufgrund der Schrift und schon gar nicht inhaltlich kurzfassen. Er hat sich literarisch nie direkt zur Waldau geäußert und seine Ich-Erzähler und Figuren weisen zwar teilweise Parallelen mit ihm auf, werden aber gleichsam in derselben Bewegung als Andere kenntlich gemacht. Trotzdem gibt es – so die These – Spuren, die mit Bezug auf die Waldau und der Situation in ihr gelesen werden können. Es sind Andeutungen, kurze Nennungen, die an die Internierung denken lassen, deren Spuren aber sofort wieder erlöschen. Walser soll im Folgenden als ein Autor gelesen werden, dessen Texte inhaltlich beinahe unberührt bleiben von der Internierung: Die Anstalt taucht an wenigen Stellen auf, höchstens wie ein Irrlicht, nur um sofort wieder zu verschwinden. Diese ›Irrlichter‹ können grob in vier Gruppen geteilt werden. Die Verbindung zwischen Text und dem Schreibenden in der Waldau beruht auf Spekulation, die mit den Problemen einer biografischen Interpretation verbunden ist, und deshalb nicht über die Feststellung von Parallelen und jeweiligen Zurücknahmen hinaus gehen kann. Es lassen sich folgende Gruppen ausmachen: Erstens sind es konkrete Motive, die im Zusammenhang mit der Waldau stehen und die höchst selten sind, zweitens sind es Beschreibungen von Orten, von Versetzungen der Figuren in neue Situationen, die am Rand angesiedelt sind, drittens ist es die Erwähnung von Krankheit im Allgemeinen und viertens die Thematisierung von Schreiben, literarisch-ökonomi-
288 | Seelig (1977), S. 74. Datiert mit 2. Januar 1944.
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schem (Miss-)Erfolg und Schweigen. Diese Einteilung orientiert sich am Aufscheinen einzelner Irrlichter und mag Täuschungen ebendieser unterliegen. Beginnend mit der ersten und kleinsten Gruppe, den konkreten Hinweisen, kann die Nennung von Billard im unveröffentlichten 289 Prosatext Die Näherin aufgeführt werden. Im Text aus den frühen 1930er Jahren stellt ein ›sehender‹ Erzähler eine Näherin, das Mädchen, vor, und ihr wird ein Mann gegenübergestellt, der unter anderem Billard spielen kann. Der Text beginnt im Modus der Imagination: »Was sehe ich vor mir? Ein in ihrem schlicht möblierten Zimmerchen emsig nähendes Mädchen! […] Er dagegen ist eine Art Abkömmling aus feiner fremder Familie, vielleicht der Sohn eines Diplomaten. Er hält sich in der Stadt, worin die Geschichte spielt, die ich hier unumständlich erzähle, studienhalber, will sagen vorübergehend auf. Er will Literat werden und kann reiten, turnen, billardspielen. […] Ich zeichne seine Figur skizzenhaft.« 290
Während die feine fremde Familie des vermuteten Diplomatensprösslings wie auch sein Studienaufenthalt und nicht zuletzt die personale Distanz zwischen der Figur und dem erzählenden Ich keinerlei Hinweise auf Walser geben, ist einzig das Billard eine Spur, die zu ihm und zur Waldau führt – und die im Kontext mit den anderen Eigenschaften der Figur aber auch sofort wieder von Autor und Schreibort Abstand nimmt. Damit wäre ein Auf blitzen eines solchen Irrlichtes erwähnt, das sich selbst als mögliche Täuschung zu erkennen gibt, weil es in einem Kontext auftritt, der nicht mit der Waldau in eine Verbindung gebracht werden kann. Als zweite Spur zur Waldau soll hier das ebenfalls unveröffentlichte Gedicht Ein Glas Bier betrachtet werden. Das Gedicht lautet: Hier in dieses Wäldchens Zier denke ich an ein Glas Bier, leise gehe ich dann weiter wie auf einer dünnen Leiter. Jugendschöne Mädchen ziehn Freundlich durch das Dickicht hin, hin und wieder steh’ ich still, weil mir solches passen will. Das Glas Bier ist überwunden, das mir hätte können munden. 291
289 | Unveröffentlicht heißt hier im Zusammenhang mit Walsers Texten, dass sie nicht von Walser selbst publiziert worden waren. 290 | Walser (1986/20), S. 134. Die Näherin steht auf dem Mikrogrammblatt 052, dessen Papier ein Teil aus Sport im Bild ist, gemeinsam mit dem Fragment Ein Ausübender, der in einem Buch existierte und wird mit den Jahren 1930–1933 datiert. Ebenfalls deutlich von der konkreten Waldau weg führt Grevens Hinweis, dass der Schauplatz der Näherin Biel sei. Greven in: Walser (1986/20), S. 452, Anm. zu S. 134. 291 | Walser (1986/13), S. 112 [1930].
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Im »Hier« des Schreibortes, in der alkoholfrei geführten und im Gedicht ungenannten Waldau, auf die man mit etwas Phantasie durch den Klang des genannten »Wäldchens«292 kommen kann, denkt das lyrische Ich an ein Bier. Der Gang auf der »dünnen Leiter« wird von Trochäen rhythmisiert, leicht plätschert das Gedicht vor sich hin. Neben dem Verlangen nach Bier tauchen auch noch »[j]ugendschöne Mädchen« auf, ziehen durch nicht weiter gekennzeichnetes, örtliches »Dickicht« und das Ich lässt sich durch sie ablenken. Schließlich wird mit einer Futur II-Wendung im Konjunktiv (»das mir hätte können munden«) die Versuchung durch das imaginierte Bier »überwunden«. Der Gedanke an das Bier verschwindet, das Gedicht endet. Die mager erscheinenden zwei Belegstellen – Billardspiel und unerreichbares Bier – bei einem doch ansehnlichen Textkonvolut mögen als Hinweise darauf gelesen werden, dass die Waldau, ihre Akteure und Objekte keinen direkten Eingang in die Texte Walsers gefunden haben. Wenn man diesen Befund über Walsers mögliche Intention erklären wollte, hieße das, dass Walser sie sorgsam ›draußen‹ gelassen hat, die Texte wurden gewissermaßen von Einwirkungen der Anstalt freigehalten. Die zweite Gruppe der Hinweise auf die Waldau beinhaltet örtliche Angaben, Verschiebungen und Versetzungen von Figuren in neue Lebenssituationen an Rändern unterschiedlicher Arten. So wird das Gedicht Im Wald mit folgenden Zeilen eröffnet: »Wie Gitterstäb’ an einem Tor / ragen die Tannen hoch empor.«293 Der Nadelwald wird mit einer Situation des Aus- oder Einschlusses verglichen. Hinzu kommt der Titel Im Wald, der wiederum an die Waldau anklingt. Das lyrische Ich begibt sich vor Einbruch der Dunkelheit »durch die Tannen« und geht danach »still von dannen«, nur um sich in der dritten Strophe zu fragen: »Wohin mich führt mein Lebensstern, / wüßte ich manchmal nur zu gern«. Scheinbar versöhnlich wird das Motiv der bereits in der ersten Strophe genannten »schlanken Bäume«, die Gitterstäben gleichen, zum Schluss nochmals aufgenommen mit den zwei Zeilen »doch schön ist’s, zwischen schlanken Bäumen / auf angenehme Art zu träumen.«294 Innerhalb des Waldes gibt es eine Möglichkeit für das Lyrische Ich, sich zu bewegen, die Orientierung, wohin es mit dem Leben weitergehen soll, fehlt jedoch und es bleibt einzig zu träumen, um den Leerraum zwischen »schlanken Bäumen« respektive den Gitterstäben mit Eigenem zu füllen. Als Ort an der Peripherie wird der Aufenthaltsort des Lyrischen Ichs im Gedicht Im Grünen beschrieben, das mit der Zeile beginnt: »Ich lebe hier im Grünen«.295 Auch hier wird der Gegensatz zwischen einem Ich und einer weiblichen Figur eröffnet, die sich in fremde Länder als »sonderbare Bühnen« des Lebens begibt. Gleichsam im Erstaunen über diese unterschiedlichen Bühnen des Lebens ge292 | Der Wald ist ein Motiv Walsers, das sich durch sein ganzes Werk hindurchzieht, es kommt sehr eindrücklich etwa im Gedicht Der Wald (I) vor, das aus dem Heft Saite und Sehnsucht stammt, welches aufgrund von Walsers Handschrift mit 1899/1900 datiert wird. Das Gedicht beginnt mit den Versen: »Ich kam in diesen Wald hinein / und kann nun nicht aus ihm heraus. / Mit meiner Ruhe ist es aus. / Ich kam in diesen Wald hinein. / Ich starre: Ist der Wald so schön!« Walser (1986/13), S. 43 f., hier: S. 43. 293 | Walser (1986/13), S. 108 [1930]. 294 | Ebd. 295 | Ebd., S. 232 [1930], unveröffentlicht.
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raten das Metrum und die Syntax des Gedichts etwas aus den Fugen, die Schlussverse lauten: »Zu denken an ihr goldnes Haar / wie hübsch das ist im Grünen.«296 Mit diesen rhythmisch zwar regelmäßigen, syntaktisch aber zumindest auffälligen Ausgangszeilen wird die scheinbare Hübschheit des grünen Ortes relativiert, die Zufriedenheit des Lyrischen Ichs scheint gerade noch in das Versmaß gezwängt, syntaktische Form und Inhalt divergieren. Ein neuer Ort wird auch im Gedicht Er war nicht nett thematisiert: Er darf jetzt nicht mehr so wie früher Beliebig durch die schöne Welt spazieren gehen, […] nun lebt er in einer Art von Kloster Die Herrin hat ihn hingetan, wo er nur noch in Bücher blicken kann, damit er sich allmählich bessre […] 297
Hier wird eine Situation der Isolation und der Einschränkungen beschrieben, die durchaus Parallelen mit der Situation in der Anstalt aufweist, nur geht es hier nicht um eine konkrete Anstalt, sondern um ein »Kloster«, wenn auch nicht um ein richtiges. Dorthin hat in der bekannten Walser’schen Topik des Dieners und der Herrin die Letztgenannte den Mann versetzt – damit werden die Parallelen soweit entkräftet, dass hier keine direkten Bezüge zur Internierung gemacht werden können, außer man würde in der Herrin an Lisa Walser und die Ankunft in der Waldau denken. An die Waldau denken lässt aber auch die Erwähnung von Mauern im Prosatext Die Stadt (III). Der junge Mann, der dort beschrieben wird, geht durch ein Gässchen zwischen Gärten hindurch, der Erzähler schließt daran die Frage an: »Schritt er hier zwischen den anderthalb bis zwei Meter hohen Mauern, um irgend etwas zu erleben? Allem Anschein nach verhielt es sich, obschon man fragen muß, was dies hätte sein können. […] Die obenerwähnten, mauerumgürteten Gärten hatten an sich gewiß etwas Anziehendes, weil Vergangenheitliches, das aus einstigen Zeiten herrührte. Vielleicht sah dies aber nur so nach etwas Merkwürdigem aus, während es sich in Wirklichkeit um nützliche, brauchbare Anlagen handelte. Alte, schlanke, kerzengerade in eine erkleckliche Höhe hinaufgewachsene Tannen gaben dem stillen Winkel, ich meine Stadtteil, worin sie gediehen, etwas in der Tag beinahe Romantisches, mindestens Interessantes.« 298
Parallelen zur Waldau können in den zweckmäßigen historischen Bauten, den Gärten und der Mauer gesehen werden, aber auch in der Erwähnung der Tannen im direkten Anschluss an die Beschreibung der »Anlagen«. Wie auch im bereits zitierten Gedicht Im Wald sind die Tannen schlank und erinnern deshalb auch
296 | Ebd., S. 232. 297 | Ebd., S. 237 f. [1930], unveröffentlicht. 298 | Walser (1986/20), S. 117. In den Mikrogrammen: Blatt Nr. 003, 5. Text: Fortsetzung von Die Stadt (III), (unveröff. Manuskript), 1930–1933.
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wieder an die dort erwähnten Gitterstäbe, als zweites Element der Grenzziehung neben den hier doppelt erwähnten Mauern. Einer weiteren Versetzung einer Figur an einen neuen Ort begegnet man im Prosatext, der nach seiner ersten Zeile Fahrten eleganter Art lagen schon hinter dem Sorgenvollen genannt wird: »Fahrten eleganter Art lagen schon hinter dem Sorgenvollen, der sich im Arme Verschränken und nachdenklich vor sich Hinschauen im Lauf der Zeit eine sehenswerte Übung angeeignet haben mochte. […] In einem fort schwebte ihm die Erwerbung des täglichen Brotes vor den Augen, das als etwas Rares nicht leicht zu gewinnen war. Er lernte Nächte kennen, die er sich veranlaßt sah, ohne Schlaf zuzubringen. […] Infolgedessen befreundete er sich mit der Einsamkeit, die von manchem gesucht, begehrt wurde, den sie nicht beachtete. Er ging unter anderem eines Tages dorthin, wo es wenig zu hoffen, anderseits jedoch viel, wenn nicht alles einzubüßen gab.« 299
In der Thematisierung des erschwerten Broterwerbes und der schlaflosen Nächte sind literarisierte Überschneidungen mit Walsers Lebenssituation zu finden. Nachdem die literarische Figur nicht mehr vorwärts kam (»Wo ich vorwärts gehen wollte, stemmte sich ihm zunächst ein Hindernis entgegen.«300) und der Mann vereinsamte, wird der Ortswechsel erwähnt. Der Ort, an dem es nur wenig Hoffnung für ihn gibt, ist insofern eine Gefahr für ihn, weil es dort vieles zu verlieren gibt – Genaueres gibt der Text weder über den Ort noch die Art des möglichen Verlusts bekannt. Inhaltlich wird mit diesem Ortswechsel eine Wende erreicht, denn »[b]ei dieser Gelegenheit bevorzugte ihn das Glück«.301 Welche konkreten Auswirkungen dies haben wird, bleibt unklar. Im Text taucht jedoch kurz darauf eine »junge schöne Frau«302 auf. Aber das an dieser Stelle mögliche Happy End stellt sich nicht ein, der Sorgenvolle bleibt weiterhin an seine Sorgen gebunden und der Text zieht eine eigenreferentielle Schlaufe mit der Aussage des Erzählers: »Hier scheine ich den ersten Teil meines Aufsatzes beendigt zu haben«,303 nur um dann vom Sohn des Sorgenvollen zu erzählen, ein Textteil, der unter dem Titel Der Kostbare von Walser bearbeitet und abgeschrieben wurde, aber ebenfalls unveröffentlicht bleibt. So sind denn auch die Parallelen wieder durch den Textfortgang durchkreuzt, die vermeintlichen Spuren, die in Richtung Waldau als Ort ohne Hoffnung und der Gefahr großer Verluste verwiesen, wieder verwischt. Wohl am deutlichsten mit der Situation in der Waldau korrespondieren die fragmentarisch und titellos gebliebenen Gedichtzeilen:
299 | Walser (2000/5), S. 221–223, hier: S. 221 f. In den Mikrogrammen: Blatt Nr. 009, Briefkarte von Korrodi, Vorderseite, 1. Fahrten eleganter Art lagen schon hinter dem Sorgenvollen (enthält Der Kostbare, unveröff. Manuskript), Juni–Juli 1932, teilweise abgeschrieben. 300 | Walser (2000/5), S. 222. 301 | Ebd. 302 | Ebd. 303 | Ebd.
Schreiben (und Lesen) hinter den Sandsteinmauern Auf dem Lande hat man mir eine Zuflucht angewiesen, Ländchen fein mit reicher Zier Auf dem Lande leb’ ich nun Früher wohnte ich in netten müßiggängerischen Städten hatte weiter nichts zu tun, als zu träumen und zu ruh’n. Bücher und Gemälde haben ohne Zweifel ihren Wert Früher wohnte ich in netten eleganten feinen Städten, jedoch hier im weiten Land bin ich tätig mit der Hand. Bücher und Gemälde geben sogar einem Simpel Leben. Aus der Koketterie hole ich ihr bißchen Poesie. Doch im Feld […] [bricht hier ab] 304
Hier finden sich Hinweise auf die Internierung im geografischen Sinne, also auf dem Lande, auf den Ort als Zufluchtsort, in den das lyrische Ich von Außenstehenden gewiesen wurde, wohin es nicht freiwillig ging. Bei der Arbeit »mit der Hand« lässt sich im Weiteren an die Gartenarbeit in der Anstalt denken. Was dort »im Feld« weiter geschieht, ist, da das Gedicht abbricht, offen. Das »Doch« eröffnet einen hypothetischen Raum der Wende oder des Einspruchs, wie auch einzelne Entzifferungsschwierigkeiten die spezifische Lückenhaftigkeit des Gedichts aufzeigen und die »Poesie« sich im Umfeld von editorischen Leseproblemen und Textabbruch befindet. Die Brüchigkeit von Walsers später Lyrik wird also der Leserschaft im Kontext des Zufluchtsortes auf dem Lande geradezu bildlich vor Augen geführt. Die Fragmentzeilen finden sich auf einem rückseitigen Deckel eines Groschenheftes mit dem Jahrgang 1930, was die Datierung einer frühestmöglichen Schreibzeit erlaubt, also eine Waldauer Herkunft des Textes sicherstellt. Neben diesen Gedichtzeilen finden sich auch noch der Text Ein Dichter (II), die Gedichte Im Walde und Der Unternehmer wie auch die Fortsetzung des Prosatextes Die Stadt, woraus aufgrund der darin erwähnten Mauern bereits zitiert wurde, auf diesem Blatt, das Greven mit der Nummer 003 versah. Der Text Ein Dichter (II) wird weiter 304 | Walser (2000/6), S. 507 f. Rückseitiger Deckel eines Groschenhefts, Blatt Nr. 003/ II. Die Kursiva sind in der Ausgabe von Echte und Morlang serifenlose Buchstaben, die eine hypothetische Lesart der Herausgeber anzeigen.
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unten noch einmal thematisiert. Geht man davon aus, dass die Texte auf diesem Blatt zeitlich relativ kurz nacheinander entstanden sind, ergibt sich die Thematisierung von Schreiben, Misserfolg, erzwungenem Aufenthalt auf dem Lande, landwirtschaftlicher Tätigkeit und von Mauern umschlossenen Gärten auf einem Mikrogrammblatt, das in der Waldauer Zeit entstanden ist. Die Hinweise auf die Internierung in der Waldau finden sich hier auch im Schriftbild des Mikrogrammes verdichtet, allerdings ist es bemerkenswert, dass Walser von diesen Texten alle außer den Gedichtzeilen Auf dem Lande hat man mir abgeschrieben hat. Gerade derjenige Text mit den meisten Verweisen auf die Waldau wird, vielleicht gerade wegen dieser augenscheinlichen Nähe zum unfreiwilligen Arbeitsort, nicht weiter bearbeitet. Er bleibt damit auf dem Schriftträger isoliert im »Bleistiftsystem« verhaftet. Das »bisschen Poesie«, das noch zu holen war, ist extrahiert, es bleibt nur noch das »weite[ ] Land« und der Abbruch des Schreibens »im Feld«. Das Gedicht Die Frau mit dem Gefieder, dessen im Manuskript durchgestrichene Titel Jetzt ist es anders, Es wurde anders und Noch seh’ ich sie lauten, scheint in den ersten fünf Versen einen literarisierten Tagesablauf zu beinhalten, wie ihn, allerdings im nüchternen Protokollstil, auch die Krankenakte Walsers überliefert: Die Frau mit dem Gefieder Am Vormittage dichte ich, dann lese ich vergnügliche Romane, spiele danach mit Karten, nach Tisch begebe ich mich in den Garten oder spaziere durch ein zierliches Gehölz. Die Zeit verbringe ich im Wahn, daß ich ein ems’ger Bürger sei. Einst spielte ich mit Mädchen und mit Knaben, benahm ein bißchen töricht mich dabei, benützte meine Gaben, zum es bisweil’n zu gut nur haben. Nun geh’ ich schon um neun ins Bett, bewege mich gediegen und adrett. Manches kam anders, aber hin und wieder seh’ ich im Geiste der Geliebten prächtiges Gefieder, die lieben, schönen, sanften Augenlider. 305
Der angesprochene »Wahn« des Lyrischen Ichs bezieht sich auf die eigene Beflissenheit und die Vorstellung, ein produktiver Mensch zu sein. Das Leben »im Wahn« könnte auch auf das Umfeld in der Klinik bezogen werden, in der das sprechende Ich, das morgens schreibt und liest und sich am Nachmittag im Garten aufhält, vergleichsweise »ein ems’ger Bürger« ist. Das Ich blickt zurück, vergleicht das »Einst« mit dem »Nun« und stellt fest: »Manches kam anders« – ein weiteres Beispiel für eine folgenreiche Wende im Leben einer Figur. Aus dieser präsentischen Position nun kann zumindest in einer inneren Schau die Geliebte gesehen werden – ihr Äußeres, die Augenlider und deren »Gefieder«, in denen man die 305 | Walser (1986/13), S. 236 [1930], (unveröffentlicht).
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Wimpern erkennen könnte. Diese imaginäre Begegnung wird gleichsam ermöglicht durch einen geordneten Tagesablauf, das Ich geht nämlich »schon um neun ins Bett« und so bleibt Zeit für Träumereien. Die Angabe einer Uhrzeit für das Zubettgehen erinnert an den in Kapitel 4.5.1 bereits zitierten Auszug aus dem Pflegerrapport, in dem Walser ausnahmsweise zugestanden wird, dass er bis viertel vor neun im Aufenthaltsraum bleiben dürfe. Das Gedicht zeigt hier Parallelen zu den psychiatrischen Akten auf. Eine dritte Gruppe von Texten erwähnt Krankheit, dies geschieht nicht ausschließlich während der literarischen Produktion in der Waldau, dort aber gehäuft. Die Rede ist etwa von plötzlichen Veränderungen bei den Figuren und von unerwarteten Erkrankungen, wie sie im Prosastück Der Bürgermeister thematisiert werden: »Auf der Höhe der Jahre, ich meine, im besten Mannesalter stehend, vollzog sich jedoch nach und nach in seinem Innenleben eine verhängnisvolle Veränderung. Er wurde schwermütig, und wenn einer dies wird, hat er entweder nicht die geringste oder nur eine spärliche Ahnung davon, indem sich irgend etwas, das nicht vorteilhaft ist, mit ihm und in ihm zuträgt, ohne daß er’s weiß, ohne daß er Notiz davon nehmen zu können in der Lage sein kann. Über Nacht besuchte es ihn und bemächtigte sich seiner, und das Glück begann aus seiner Laufbahn zu entfliehen.« 306
Folgt man dieser Spur und den möglichen Zügen, die Walsers Situation mit der Figur des Bürgermeisters verbinden könnten, wird man mit dem nächsten Satz eines Besseren belehrt. Dieser beginnt so: »Um mich zu spezialisieren und ihn zu zergliedern, mache ich bekannt, daß er insofern hochfahrend wurde […]«.307 Die Erzählinstanz grenzt sich deutlich von der Figur, die es zu »zergliedern« gilt, ab, und damit wird die Literarizität des Textes beschworen, die Lebenswelt ausgeschlossen und die Erkrankung einer Figur auf die Motivebene beschränkt. Aus dieser Distanz wird die Veränderung und der Niedergang einer männlichen Figur »im besten Mannesalter« deutlich. Eine weitere Veränderung einer Person thematisiert das Gedicht Das Krankhafte: Das Krankhafte Als ihn die Kränklichkeit gefangennahm, belebte ihn ein amüsanter Gram. Indem jedoch Gesundung zu ihm kam, stützte er nicht den Kopf mehr in die Hände, damit er sich von Trau’r umschmeichelt fände und sich ein Seufzer seinem Mund entwände. Wie wenn ihm wenig nun am Leben läge, das Spannende in ihm sich nicht mehr rege, ging er wie eine Puppe seine Wege. 306 | Walser (1986/20), S. 157–160, hier: S. 158. In den Mikrogrammen: Blatt Nr. 001, (unveröff. Manuskript), Herbst 1930–1933. 307 | Walser (1986/20), S. 159.
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Schreiben am Rand Mit seinem ritterschauspielhaften Schnäuzchen glich er gewissermaßen einem Käuzchen und saß von nun an täglich irgendwo in denkbar unromantischem Büro. 308
Was das titelgebende »Krankhafte« bedeuten könnte, wird im Gedicht nicht ausgeführt. Dort ist auch nicht von der Krankheit, sondern bloß von der »Kränklichkeit« die Rede, die sowohl tatsächliche Krankheit wie auch Simulation beinhalten kann. Vielmehr lebt es von Rhythmus und Klang, was dann zum Ausdruck kommt, wenn etwa die beschriebene Er-Figur mit einem Tier verglichen wird, und dies aufgrund eines Schnäuzchens, das nicht gerade als prototypisches Merkmal eines Käuzchens bezeichnet werden kann, der Bezug also über den Klang hergestellt wird. Das Verhalten der Er-Figur wird in Vergleichen dargestellt, er benimmt sich »wie wenn« das Leben ihm nichts mehr bedeuten würde und er bewegt sich »wie eine Puppe«. Hier zeigt sich eine Parallele zum oben erwähnten Gedicht Die Frau mit dem Gefieder, in dem beschrieben wird, das Ich bewege sich nun »gediegen und adrett«.309 Nimmt man den dort beschriebenen Tagesablauf mit der Thematik der Krankheit zusammen, fällt das veränderte Verhalten der beschriebenen Subjekte auf, die sich hinter puppenhaftem, unauffälligem Verhalten gleichsam zurückziehen oder verstecken. Wie sich die Figuren dabei fühlen, wird in Das Krankhafte mit der Verwendung eines Oxymorons dahingestellt: Die Figur befällt ein »amüsanter Gram«, mehr erfährt man nicht. Ebenso offen bleibt der Aufenthalts- oder Arbeitsort des puppenhaft agierenden Käuzchens, er ist schlicht mit »irgendwo« bezeichnet. Dieses Untergehen einer Figur an einem unbekannten Ort wird trotz der kinderreimartigen Leichtfüßigkeit des Gedichts in seiner Dramatik ersichtlich, wenn die von Walser gestrichenen Schlusszeilen in die Interpretation einbezogen werden. Dort heißt es: »Wär’ er in seiner Mißlichkeit gestorben, / so hätte er sich nicht sein Bild verdorben. / Wir leben, um nach einem Klang zu streben, / eine Bedeutung unserem Sein zu geben.«310 Über das allgemeine Motiv der Krankheit hinaus, das in unterschiedlichen Texten und Spielarten vorliegt, kann die Thematisierung von Verstörtheit und Krankheitsäußerungen beispielsweise im Gedicht Von einem Knaben gefunden werden. Der titelgebende Knabe wird nicht als krank bezeichnet, doch legt die vierte Zeile nahe, dass hier eine Erfahrung des Stimmen-Hörens beschrieben wird: Von einem Knaben Diesem aus gutem Hause komm’nden Knaben fehlte es nicht an Willenskraft und Gaben, er blickte hier und da vielleicht verstört, wie einer, der sein Wesen reden hört, so, als erschrecke ihn, was er vernähme, er wegen seines Feingefühls sich schäme. […] 308 | Walser (1986/13), S. 223 [1930], (unveröffentlicht). 309 | Walser (1986/13), S. 236. 310 | Anmerkung von Greven in Walser (1986/13), S. 292 f.
Schreiben (und Lesen) hinter den Sandsteinmauern und bildete zum Diener sich heran, und die ihn Cigaretten rauchen sahn, hielten ihn für erfreulich und gediegen, in mancherlei Beziehung durft’ er siegen, wie solche, die’s verstehn, zu unterliegen. 311
Dieses Gedicht ist ein weiterer Beleg für Walsers Spiel mit Andeutungen auf seine eigene Vita (hier sind es die Dienerschule und das Rauchen) und der sofortigen Zurücknahme respektive der Verfremdung dieser Hinweise (die Herkunft aus gutem Haus und der hier ausgelassene Mittelteil, bei dem die Figur in einem exotischen Umfeld Palmen und ein Herrschaftshaus sieht). Das Hören von Stimmen als Krankheitssymptom dient hier nur als Vergleichsfolie, es wird nicht als Tatsache beschrieben. Der Knabe verhält sich, wie einer, der sein Wesen, sich selbst, reden hört und er ist auch nur mutmaßlich, »vielleicht«, verstört. Der Konjunktiv (»vernähme«) hat eine doppelte Wirkung, erstens betont er die Unsicherheit, mit der über die Stimmen in der Figur geredet werden kann und zweitens wird damit eine mögliche Täuschung der Sinne sprachlich vorweggenommen – dass der Knabe etwas hört, ist eine Vermutung, die in einem Vergleich angestellt wird, und was er potenziell hören könnte, lässt sich nicht sagen. Einer Täuschung unterliegen könnte also sowohl der Knabe als Figur wie auch die Leserschaft, die nur über einen distanzierten Erzähler vermittelt überhaupt etwas von der möglichen Verstörung erfährt. Die späte Lyrik weist überhaupt eine Affinität zum Motiv der Krankheit auf; und das auf unterschiedlichen Ebenen, ohne dass sich damit eine Lektüre mit Blick auf den Autor und seine Situation aufdrängen würde – abgesehen davon, dass damit ein literaturwissenschaftlicher Fauxpas begangen würde. Im Gegenteil werden Krankheiten zwar mit dem Wissen über einzelne Symptome, aber insgesamt durchaus in einem universal gültigen thematischen Bereich auf distanzierte Weise abgehandelt. Die Figur des Knaben im vorliegenden Gedicht bleibt in seinem Wesen für den Leser deshalb unnahbar, weil der auktoriale Erzähler keine Introspektion in die Figur ermöglicht, und für die ungenannten anderen literarischen Figuren geschieht das dadurch, dass sein Rauchen von Zigaretten zwar eine Wahrnehmung des Knaben ermöglicht, jedoch eine, die sich auf die äußere Wirkung beschränken muss – man »hielt[ ]« ihn für »erfreulich«, doch damit könnte eine Täuschung vorliegen, wie der das Gedicht abschließende Vergleich des scheinbar Siegenden mit dem Unterliegenden vermuten lässt. Das Krankheitssymptom als Motiv wie auch die literarische Figur im Gedicht entziehen sich gleichzeitig mit ihrem Auftreten im Text wieder. Als vierte und letzte Gruppe von Motiven, die auch während der Internierung oder dort besonders gewichtig auftreten, sollen hier noch ein paar ausgewählte Stellen aufgeführt werden, die das Schreiben, den schriftstellerischen (Miss-)Erfolg und das Schweigen beinhalten. Dazu gehören Texte, deren Entstehung vermutlich kurz vor der Internierungszeit anzusetzen ist und welche die Thematik einer Schreibkrise beinhalten. Das Gedicht mit dem Titel Ich wollt’, ich hätte, das 1928 in der Literarischen Welt veröffentlicht wurde, beginnt wie folgt: 311 | Walser (1986/13), S. 206 [1930], (unveröffentlicht).
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Schreiben am Rand Ich wollt’, ich hätte allerlei noch nicht geschrieben, mir ist zu sagen nichts mehr übrig fast geblieben. Ich wollt’, es hülf’ mir jemand witzig hier zu werden, bisweilen komm’ ich mißgestimmt mir vor auf Erden. 312
Bevor im weiteren Verlauf des Gedichts ein Seitenhieb gegen Hermann Hesse gesetzt und rhetorisch zurückgenommen wird, verhandelt das Gedicht in gewohnter Mischung von spaß- und ernsthafter Klage den Verlust der Schreibfähigkeit und des Sagen-Könnens. Gleichsam das wenige, was noch zu sagen ist, ausdrückend, erforderte der Reimzwang die Streichung etlicher Vokale. Fehlende Buchstaben und unsichere Inhalte, kurzum Leerstellen, betonen die Metrik und damit eine Formentscheidung mit Folgen. Auf eine konkrete Gattung und ihre Wirkung bezieht sich das ebenfalls noch von Walser veröffentlichte Gedicht Der Briefeschreiber, das vermutlich 1928 oder 1929 entstanden ist. Der Briefschreiber Hat jemand beispielsweise das Talent, Briefe zu schreiben, die sich jeweils lesen, als schaue man in eine Bilderreihenfolge, so wird vermutet, er hör’ nimmer auf. Keinem fällt ein, ein’s Tages könnt’ es ihm am inneren und äußern Anlaß fehlen, geistreich und mitteilsam zu sein. Man wundert sich, wenn sich der Briefverfasser stillhält, nicht fortfährt, wie ein Brünnlein zu rauschen, plätschern und zu plaudern. Man möchte immer nichts als von dem Wackern aufs wackerste und aufs gediegenste bedient, belustigt, unterhalten sein. Er aber, der die Briefe schrieb, womit er sich und andre amüsierte, hat vielleicht plötzlich das Bedürfnis, im Schweigen sein Vergnügen zu entdecken, und er entdeckt es in der Tat und schweigt jetzt, wo er früher schwatzte, munter drauflos, weil die Zurückhaltung für ihn ein anderes und Neues ist, das ihn belebt, ihm Abwechslung verschafft. Er findet, daß das tagelange denkend im Zimmer Auf-und-nieder-Wandern von einer unbekannten und aparten Annehmlichkeit und Schönheit sei, und unter andrem denkt er ans Entstehen seines ersten Briefs, und etwas 312 | Walser (1986/13), S. 213, publiziert in Die literarische Welt, Jg. IV, Nr. 46, 16.11.1928.
Schreiben (und Lesen) hinter den Sandsteinmauern Einfaches kommt ihm seltsam vor; der Anfang, das Beginnen int’ressieren ihn, und die Empfänger seiner Briefe können dies nicht verstehn, sind nicht imstande, zu begreifen, aus welch sonderlichem Grunde er die Gesprächigkeit nicht fortsetzt … 313
In diesem Gedicht wird eine Opposition zwischen der lesenden Menge, unbestimmt »man« genannt, und dem Briefschreiber als zentraler Figur in der dritten Person beschrieben. Dem Briefschreiber wird das Talent zugewiesen, geistreiche und amüsante Briefe zu schreiben und die Leseerwartung ist die, dass dieses »Brünnlein« nie zu »plätschern« auf höre. In der 14. Zeile wird dieser Leserhaltung die neue Situation des Schreibenden mit der Wende »Er aber« vorgeführt. Der Schreiber habe nämlich »plötzlich das Bedürfnis« zu schweigen. Das Schweigen und Denken wird nun zur Hauptbeschäftigung des ehemals Schreibenden und damit stößt er auf Unverständnis bei seinen ehemaligen Lesern. Bezeichnenderweise wird das Gedicht mit Auslassungspunkten beendet. Wie der Briefeschreiber nicht mehr schreibt, tut es auch der Autor des Gedichts nicht mehr. Damit wird auch die Erwartungshaltung der Gedichtlesenden durchkreuzt, auch sie werden mit einem Schreibabbruch konfrontiert und einer Auseinandersetzung mit der eigenen Leseerwartung überlassen, Erklärungen für den plötzlichen Schreibabbruch gibt es nicht. Der Abbruch lässt sich als verschobene Figur der Mise en abyme beschreiben, die Verschiebung gründet im Wechsel der literarischen Gattung vom behandelten Brief, der als abbrechender beschrieben wird, zur Form des Geschriebenen, dem Gedicht, das diesen Abbruch aufzeigt. Zusätzlich zum Abbruch werden in den Texten auch die Risiken beschrieben, auf die sich ein Schreibender einzulassen habe. Die bereits erwähnte Karte Korrodis zeigt im Prosatext Die Damen (II) eine derartige Risikowarnung, die sich zwar nicht auf Briefe-, sondern auf Porträtverfasser bezieht: »Übrigens riskiert ja jeder, der die Schreibfeder zur Hand nimmt und mit Worten ein Porträt zeichnen will, viel oder wenigstens etwas, nämlich das Ausbleiben des Beifalls, das Entweichen der Anerkennung.«314 Und so wird jedes Schreiben, jeder Text mit dem Wunsch bedacht, er möge dieses Risiko gefahrlos umgehen und zu Erfolg gelangen, wie es etwa in einem weiteren Prosatext heißt: »Siegreiches Manuskript, das mich heute beschäftigt, flattere fort und finde Beifall.«315 Derartige Beschwörungen treten in den späten Texten vermehrt auf, gemeinsam mit resignierend-erklärenden Textpassagen, die schreibend das Nicht-Schreiben thematisieren, wie abschließend anhand des Gedichts Das Leben gezeigt werden soll. Es lautet:
313 | Walser (1986/13), S. 225 f. Publiziert in der Prager Presse, Jg. 11, Nr. unbekannt, März 1931. 314 | Walser (1986/20), S. 271. In den Mikrogrammen: Blatt Nr. 009, Briefkarte von Korrodi, Rückseite, 2. Die Dame (II) (unveröff. Manuskript), Juni–Juli 1932. 315 | Walser (2000/5), S. 293. Blatt Nr. 050 1. Ich habe es hier mit einem Sieger zu tun, 1930–1933.
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Schreiben am Rand Das Leben Nicht nur zuweilen auf das Dichten man hübsch und artig muß verzichten; noch viel wicht’gere Dinge gehn fort. Die teuersten Gestalten vermagst du nicht am Zipfelchen zu halten, bis endlich auch sogar das Leben, als ob ein Vöglein in die Höh’ sich schwinge, und ob man noch so kräftig ringe, man willig hin muß geben. 316
Leben, Schreiben, Nicht-Schreiben und Sterben werden hier als Phasen und Umstände beschrieben, in die »man« sich fügen muss. Die vier vorgestellten Gruppen der Texte zeigen folgendes auf: Konkrete Hinweise auf die Waldau gibt es im Werk Walsers (praktisch) nicht, er setzt sich literarisch nicht explizit mit der Anstalt und seiner Situation darin auseinander. Das Motiv einer Dislokation einer Figur an den Rand, respektive in eine neue Umgebung, in der sie Einschränkungen erlebt, kommt hingegen ebenso vor wie das Motiv der Krankheit und der Schreibkrise. Darin lassen sich Parallelen zu Walsers Situation in der Anstalt lesen, oder präziser: Motive und Lebensumstände laufen immer wieder parallel nebeneinander und lassen sich auch ebenso lesen; derart sind sie verbunden, ohne sich je eindeutig zu berühren. Es bleibt bei sehr wenig konkreten und auf diese Weise literarischen Spuren der Internalisierung. Wenn Walser also in einem Brief vom Dezember 1929 an Mermet, der bereits in der Einleitung zitiert wurde, schreibt, er habe in der Waldau unter anderem »eine Art Tagebuch in Form von einzelnen, von einander total unabhängigen, Gedichten«317 geschrieben, so mag das je nachdem, was unter »Tagebuch« verstanden wird, einsichtig sein oder auch nicht. Private Einträge in ein Buch macht Walser auch in der Waldau nicht. Seine Situation wird höchstens in Briefen beschrieben, aber auch dort operiert Walser mit Andeutungen und distanzschaffenden Formulierungen. In der Menge der in der Waldau entstandenen Texte kann aber ein Tagebuch im Sinne von regelmäßigem, vielleicht täglichem Schreiben erkannt werden. Dabei versucht sich Walser nicht als Person zu offenbaren: In die Gedichte fließen aber – und seien sie vom Autor als »total unabhängig[ ]« bezeichnet – Kontextelemente aus der Waldau ein, die teilweise ausgestellt und teilweise durch den weiteren Textverlauf zurückgenommen oder in eine andere Richtung gelenkt werden. Die Waldau ist in Walsers Texten nicht substanziell eingegangen, höchstens als Substrat, das sich bei genauerer Untersuchung jedoch als flüchtig erweist.
316 | Walser (1986/13), S. 260 [1930], unveröffentlicht. 317 | Robert Walser an Frieda Mermet, Bern, Waldau, 23. Dezember 1929. In: Walser (1975), S. 341.
Schreiben (und Lesen) hinter den Sandsteinmauern
4.5.4 »Es handelt sich um einen durchaus ruhigen, umgänglichen Schizophrenen« – Verhandlungen über Robert Walser als Insassen Als sogenannter ›leichter Fall‹ wurde Walser im Zuge der Reorganisation der Waldau zum Verhandlungsobjekt. Es stellte sich die Frage, wohin man mit Menschen wie Walser sollte, wenn die Familien nicht für sie sorgen konnten? Unter von Speyr wäre Walser wohl einfach in der Waldau behalten worden, Klaesi hingegen hatte andere Pläne, doch Walser war nicht bereit, mitzuspielen, war für ihn der Einsatz im Institutionen-Poker doch eindeutig zu groß – doch eine Wahl sollte er nicht haben. Zum Wechsel von von Speyr zu Klaesi gibt es eine kurze Erwähnung bei Seelig. Dieser gibt Walsers Rede indirekt wieder: »Nach dem Tod von Professor Wilhelm von Speyr, mit dem er sich gut vertragen habe, sei es mit dem neuen Direktor, Professor Jakob Klaesi, bald zu Differenzen gekommen, so daß er im Sommer 1933 unter Begleitung eines Wärters nach Herisau transportiert worden sei.«318 Die Tatsache, dass von Speyr nicht, wie in diesem Zitat nahegelegt wird, während Walsers Aufenthalt in der Waldau, sondern erst 1939 starb, ist ein Hinweis darauf, dass die Angaben Seeligs respektive das, was als Walsers Aussage dargestellt wird, mit Vorsicht gelesen werden soll. Auch der Verweis darauf, dass es allein persönliche Differenzen zwischen Klaesi und Walser gewesen wären, die den Ausschlag für eine Verlegung Walsers gegeben hätten, ist im Gegensatz zu Argumenten wie der institutionell bedingten Umwälzungen und ihrer Konsequenzen für einen ›leichteren Fall‹ wie Walser eher als unrealistisch einzuschätzen. Die Anführung persönlicher Gründe mutet vor allem auch deshalb seltsam an, weil Lisa Walser 1936 in einem Brief an Seelig, der ihr zuvor sein Vorhaben geschildert hatte, Robert besuchen zu wollen, sehr deutliche Worte an ihn gerichtet hatte: »Seit er [Robert] aber nach Herisau gebracht werden musste – der neue Direktor hat alle chronisch Kranken nach Möglichkeit abgeschoben – ist mein Bruder recht verlassen.«319 Aus der erwähnten Abschiebung und der daraus resultierenden Verlassenheit des Bruders wird auch deutlich, was Lisa Walser vom Institutionswechsel hält. Seeligs Wiedergabe lässt sich hier schwerlich nachvollziehen. Auch in Bezug auf die Waldau bestätigt sich die von Karl Wagner formulierte »Faustregel für die Wanderungen […]: je direkter die Rede, desto weniger ist sie von Walser«.320 Auf Spuren zu Robert Walsers Sichtweise auf die Verlegung lässt sich also nicht (mehr) direkt zugreifen, es bleiben neben Seeligs Buch noch die Akte und andere institutionell-administrative Schreiben wie etwa die Briefe der Direktion. Einer dieser Briefe soll hier zugezogen werden, der aufzeigt, wie Klaesi Lisa Walser in der Verhandlung über die Verlegung ihres Bruders nach Herisau unterstützte respektive versuchte, den administrativen Prozess durch ein direktorales Machtwort zu beschleunigen. Am 29. Mai 1933 schreibt er an seinen Berufskollegen Hinrichsen: »Sehr geehrter Herr Kollege! Eine Lehrerin, Fräulein Walser aus Bellelay, hat scheint’s vor einigen Wochen ihren kranken Bruder, Herrn Robert Walser, zur Aufnahme in Ihre Anstalt angemeldet und darauf einen abschlägigen Bescheid erhalten. Da es uns sehr daran liegt, dass Walser, der sich auf unserer 318 | Seelig (1977), S. 80. 319 | Lisa Walser an Carl Seelig, Bellelay, 1. März 1936, verso, unpubliziert. 320 | Wagner (2007), S. 99.
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Schreiben am Rand Pensionärabteilung eingelebt hat, welche nun in der Klinik aufgehoben werden soll, fortkommt möchte ich es doch nicht unterlassen, selbst Ihnen den Fall noch zu schildern und Sie um dessen Aufnahme zu bitten. Es handelt sich um einen durchaus ruhigen, umgänglichen Schizophrenen, der die Hälfte des Tages seinen Dichterträumen lebt [sic] und etwas schreibt, um in der anderen Hälfte leichte Gartenarbeit zu tun. Da er ursprünglich Appenzeller ist und vielleicht in Teufen immer noch heimatberechtigt, und ich mir überdies nicht vorstellen kann, dass bei Ihnen auch die ruhige Abteilung überfüllt sei, weil es ja sonst überall nur die unruhigen sind, welche Platznot haben, hoffe ich, dass Sie ihn doch noch aufnehmen können, womit uns ein grosser Dienst erwiesen wäre. Wird dann wieder einmal ein Berner im Kanton Appenzell geisteskrank, so werden wir Ihnen einen Gegendienst erweisen und ihn von einer Stunde zur andern aufnehmen, auch wenn er ins Dauerbad zu sitzen käme. Mit besten Grüssen Ihr sehr ergebener Klaesi« 321
Klaesis entwaffnende Argumentationsweise wird hier noch einmal besonders deutlich, wenn er gegenüber Hinrichsen das mögliche Gegenargument einer überfüllten Anstalt dadurch entkräftet, dass ja »sonst überall« nur die unruhigen Abteilungen überfüllt wären. Klaesi meint also, über die Zustände in Herisau durchaus unterrichtet zu sein und die entsprechende Formulierung erlaubt Hinrichsen keine Widerrede. Der Patient, der hier zufällig ein Autor ist, wird als Gegenstand bezeichnet, den man im Tauschhandel mit einem eventuellen »Gegendienst« hin und her schieben kann, wenn es die Institution und die ›moderne Psychiatrie‹ als erforderlich ansehen. Klaesis Erwähnung des Dauerbades sollte wohl humoristisch verstanden werden – im Kontext der Behandlung in der Anstalt, in der das Dauerbad durchaus auch zur Bestrafung der Patienten benutzt wurde,322 kann diese Bemerkung jedoch nur als zynisch aufgefasst werden. Dass Klaesi despektierlich von Walsers »Dichterträumen« schreibt, ist aus der Position des nach eigener Einschätzung zu Unrecht verkannten Schreiber-Psychiaters als Geste der Arroganz zu lesen: Ähnliches ist auch gegenüber Glauser dokumentiert. Klaesis interkantonale und interinstitutionelle Verhandlungsstrategie ist erfolgreich, rund zwei Wochen nach seinem Schreiben an Hinrichsen ist in der Akte Folgendes vermerkt: »Da Pat. sehr ruhig ist und keiner besondern Behandlung bedarf, wird ihm vorgeschlagen, in eine unserer Kolonien zu gehen. Er weigert sich aber. Spricht davon, aus der Anstalt entlassen zu werden und sich draussen eine Stelle zu suchen, macht aber keine Anstrengungen dazu, obgleich man ihm volle Freiheit lässt, zu tun, was ihm beliebt in dieser Hinsicht. Wie man auf eine Transferierung nach Herisau zu sprechen kommt, verhält sich Pat. völlig passiv, wie wenn es ihm gleich wäre, hinzugehen oder hier zu bleiben. Wie alles abgemacht ist, weigert er sich plötzlich, abzureisen. Er sei wohl hier, er sehe den Grund nicht ein, dass er nun in eine andere Anstalt hingehen müsse. Er habe doch seine eigene Freiheit zu tun, was ihm beliebe, er wolle überhaupt entlassen werden, aber nicht wieder in eine neue Anstalt. Will aber
321 | Jakob Klaesi an Otto Hinrichsen, Waldau-Bern, 29. Mai 1933, unpubliziert. 322 | Siehe Kapitel 4.3 zu Frau Be.
Schreiben (und Lesen) hinter den Sandsteinmauern doch wieder nicht fort, bleibt trotz allem Reden stets passiv und lässt mit sich geschehen, was die andern wollen.« 323
Während Klaesi hier von der Kolonie als Alternative zur Anstalt spricht, wenn Walser keine Arbeit draußen bekomme, findet sich in der Sekundärliteratur irritierend oft die Nennung einer »Heimpflege auf Bauernhöfe[n]«,324 die Walser abgelehnt habe. Dass Klaesi Walser nicht darin unterstützte, eine geeignete Arbeit und Wohnsituation zu finden, zeigt wieder die Akte auf, in der bereits zwei Tage nach der Erwähnung von Walsers Widerstand gegen die Versetzung nach Herisau diese bereits vollzogen wird. Dort steht: »Pat. reiste gestern mit einem Wärter nach Herisau. Wollte morgens nicht aufstehen, erst als einige Wärter kamen, und er sah, dass er der Uebermacht doch weichen musste, gab er nach und tat nun freiwillig, was man ihm sagte. Auf der Reise ruhig, gesprächig, gut aufgelegt, sagte zum Abschied dem Wärter, das sei eine schöne Reise gewesen, es gefalle ihm in Herisau.« 325
Das institutionell geprägte Narrativ über den Patienten Walser wird so einem vermeintlichen Happy End zugeführt, indem die mutmaßliche Patientenmeinung zur Reise und dem neuen Ort als Schluss des Eintrags gesetzt wird. Dass dieser Wechsel aber nicht nur für Walser selbst etwas abrupt gewesen sein dürfte, zeigt auch ein Brief Lisa Walsers vom 22. Juni 1933 an Otto Hinrichsen, aus dem hervorgeht, dass sie über den genauen Zeitplan der Versetzung nicht informiert war: »Von der Waldau habe ich keine weiteren Nachrichten erhalten und nehme an, dass mein Bruder Robert W. nun als Patient in Ihrer Anstalt aufgenommen worden ist.«326 Im selben Brief informiert Lisa Walser Hinrichsen über die Einkommensmöglichkeiten ihres Bruders und bittet den Direktor, er möge Walser die Gelegenheit zum Schreiben geben: »Mein Bruder hat in seiner freien Zeit in der Waldau 327 sich mit schriftstellerischen Arbeiten beschäftigt und hat damit doch so viel verdient, dass er seine Pension selbst bezahlen und zu seinem Guthaben noch etwas zufügen konnte. Das hat ihm Befriedigung verschafft und ich möchte mir hiermit die Bitte erlauben, dem Patienten auch in Herisau die Möglichkeit zu gewähren, neben der täglichen Arbeit, die er für die Anstalt zu leisten hat, sich etwas mit dem Schreiben zu beschäftigen.« 328 323 | Kg 10.428, S. 10, Eintrag vom 18. Juni 1933. 324 | Siehe etwa Grevens Zeittafel zur Biographie Robert Walsers in Walser (1986/13), unpag., Eintrag zum Jahr 1933. Mächler war da in seiner Biografie von 1966 genauer, er schreibt, Klaesi bringe die leichteren ›Fälle‹ »in den bäuerlichen Außenstationen der Anstalt unter. Für Robert Walser ergaben sich dabei Schwierigkeiten, deren subjektive und objektive Anteile nicht mehr genau zu ermitteln sind.« Mächler (1992), S. 223. 325 | Kg 10.428, S. 10, Eintrag vom 20. Juni 1933. 326 | Lisa Walser an Otto Hinrichsen, Bellelay, 22. Juni 1933, unpubliziert, aber abgebildet in Echte (2008), S. 429. 327 | Seitenwechsel. 328 | Lisa Walser an Otto Hinrichsen, Bellelay, 22. Juni 1933, unpubliziert, aber abgebildet in Echte (2008), S. 429.
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Schreiben am Rand
Hinrichsen antwortet am 26. Juni 1933: »Geehrtes Fräulein. Herrn Robert Walser ist hier. Jch bot ihm ein eigenes Zimmer an, in dem er auch 1 Nacht zu schlafen wünschte, dann aber wieder im allgemeinen Saal zu schlafen wünschte, weil er sich nachts allein fürchte. […] Jch sagte ihm, er könne in jenem Zimmer auch schreiben, worauf er auch ablehnend antwortete, als ob er dazu keine Lust mehr habe bezw. wie er meinte, doch für Geschriebenes keine Abnehmer mehr, da hauptsächlich deutsche Zeitungen ihm noch etwas abgenommen hätten, was nun allerdings tatsächlich heut kaum noch geschehen dürfte. […] Bisher hat Herr Walser sich freundlich-gleichgültig gegen mich gezeigt, schien sich auf frühere flüchtige Bekanntschaft mit mir – um 1897 herum in Zürich – wohl noch zu erinnern, trat aber auf die Erwähnung meinerseits, dass wir damals etwas in Verkehr gestanden hätten, nicht weiter ein. Bisher hat er mir weitere Wünsche überhaupt nicht geäussert, scheint mit der Situation hier zufrieden zu sein. Seien Sie versichert, dass ich für den Patienten gern tue, was ich tuen kann, bis jetzt hat es nicht den Anschein, als ob Herr Walser den Wechsel irgendwie empfindet. Jch werde berichten, sowie irgend etwas Besonderes ist, antworte sonst auf jede Anfrage. Jn Hochachtung grüssend« 329
Walser hatte im Sommer 1898 Franz Blei kennengelernt, der ihn und sein Werk förderte. Über Blei ergab sich auch die Bekanntschaft mit Otto Hinrichsen, der sich in einem Tagebucheintrag von 1933 dazu äußert und sich als eigentlicher Entdecker Walsers sieht. In diesem Eintrag wird Walsers Schreiben einmal mehr pathologisiert: »R. Walser: ›Mutter Natur‹, N. Z . Z . Naivität = Schwachsinn. Und warum soll von vornherein nicht dies das Prae eines [Dichters?] sein? Er bleibt von so manchem, was den Norm. normal macht, unberührt. Ein bischen Feinfühligkeit, Sensitivität, dasjenige was die ersten Gedichte W’s im Bund hatten, auf die ich Blei aufmerksam machte, der daraufhin mit W. anknüpfte: – das Letzte doch eigentl. Bloss noch ›Naivität‹. Talent entspringt nicht nur dem Plus; warum soll, was in starker Ausbildung sich als entschiedener Ichverlust + Minus darstellt, nicht beim 1. Auftreten in bestimmter Richtung als Plus erscheinen oder ein Plus mit sich bringen. Ich bin mir immer als Dichter zu verständig, nüchtern, phantasielos vorgekommen. Starker Gestalter war R. W. jedenfalls nie (Schizophr. Dichtung), was in bezug auf den Produkt. aber auch eine Sache für sich ist gegenüber jenem Gelösten der Persönlichkeit, wie sie im Wesen der Schizophr. von vornherein liegt.« 330
Auch hier wird das Schaffen eines Schriftsteller-Patienten mit demjenigen eines Psychiater-Schriftstellers verglichen und mit Bezug auf die Krankheit eingeordnet respektive gewertet. Walser soll einmal gegenüber Seelig gesagt haben, Hinrichsen sei ihm »immer wie ein Destillat aus einem Höfling und einem Zirkusartisten vorgekommen.«331 Während Hinrichsen Lisa von diesem Bekanntwerden mit Robert Walser schreibt, 329 | Otto Hinrichsen an Lisa Walser. [Herisau], 26. 6. 1933, unpubliziert, aber abgebildet in Echte (2008), S. 429. 330 | Zitiert nach Echte (2008), S. 433, wo auch die entsprechende Tagebuchseite abgebildet ist. 331 | Seelig (1977), S. 33.
Schreiben (und Lesen) hinter den Sandsteinmauern
scheint letzterer sich nicht zu erinnern oder erinnern zu wollen, bleibt weiterhin »freundlich-gleichgültig« und lässt sich auch nicht auf die von Hinrichsen forcierten Literaturdiskussionen ein. Hinrichsen hat sich anscheinend auch bemüßigt gefühlt, Walser gegenüber dessen Werke zu kritisieren, so zitiert zumindest Seelig Walser: »[›]Mein hochwohllöblicher Chefarzt Dr. Hinrichsen, der sich selber als bedeutender Dichter vorkam, sagte mir einmal von diesem Roman [Geschwister Tanner, Anm. M.W.]: ›Die ersten Seiten sind gut – aber der Rest: unmöglich!‹ Das sagte er so, als wäre er daran erstickt, wenn er ihn hätte zu Ende lesen müssen.‹ Bei dieser Schilderung lacht Robert herzlich.« 332
In Herisau arbeitet Walser nicht mehr in der Gärtnerei, die er in der Waldau derart zu schätzen begann, dass in der Akte steht, er sei nervös geworden, als 1931 wegen der Maul- und Klauenseuche nicht draußen gearbeitet werden konnte. In Herisau beteiligt Walser sich am Papier-333 und Staniol verlesen,334 Wolle zupfen335 und klebt gewissenhaft Papiersäcke, Letzteres jahrelang. Daneben liest er zeitweise, die Akte hält fest, Walser lese »Familienzeitschriften«336, Zschokke,337 oder gar nichts, (»Wünscht keine Bücher, keine Zeitungen«338). Während in der Waldau keine vorläufige Diagnose im Aktenformular steht und die definitive Diagnose »Schizophrenie«339 lautet, wird in Herisau die Diagnose verfeinert, die vorläufige lautet auf dem Umschlag der Akte »Hebephrenie« und die definitive Diagnose »chron. Katatonie«. Für die Waldau ist die Diagnose der Schizophrenie an sich schon erstaunlich, da sich dieser Begriff unter von Speyr nicht 332 | Ebd., S. 49. 333 | »Einsilbig interesselos beim Papierverlesen. Man hat den Eindruck, als ob man Wort für Wort aus ihm herausziehen müsste, alles was er von sich gibt, zerfällt in nichtssagende Bröckel. Nur eine oberflächliche Schicht wird sichtbar, ob ihn drunter was bewegt, kann man weder aus den Aeusserungen, noch aus der ausdrucksarmen Mimik erfahren.« Herisauer Kg 3561, S. 13. Eintrag vom 20. Dezember 1934, signiert mit »Pf.«, vermutlich also geschrieben von Hans Oscar Pfister, der von 1941–1943 Direktor in Herisau war. 334 | »[N]iemals fängt er von sich aus eine unterhaltung an, sprach auch von dem brief [von Seelig, Anm. M.W.], der er erhalten hatte, nicht spontan, zeigte ihn dann aber dem schreibenden auf dessen wunsch. bei den visiten findet man ihn bei der arbeit – staniol verlesen – oder ausser der arbeitszeit mit der cigarette vor einer zeitschrift sitzend. auf die bibliothek hingewiesen, hat er doch anderes noch niemals verlangt. äussert auch keine wünsche, sprach nur einmal leichthin von entlassung, ob er denn immer hier bleiben müsse. nie erregungen oder anstände mit umgebung, nimmt von den mitpatienten kaum notiz.« Herisauer Kg 3561, S. 14. Eintrag vom 9. Juli 1935, unsigniert. 335 | Herisauer Kg 3561, S. 19. Eintrag vom 10. Januar 1939, unsigniert. 336 | Ebd., S. 14. Eintrag vom 9. Juli 1935, unsigniert. 337 | Ebd., S. 16. Eintrag vom 17. April 1938, unsigniert. 338 | Ebd., S. 26. Eintrag vom 12. Januar 1944. 339 | Zur Diagnose schreibt Max Müller 1957 auf Anfrage Seeligs: »In der Waldau stand die Diagnose einer Schizophrenie von Anfang an fest. Auch nach der heutigen Auffassung kann an dieser Krankheit nicht gezweifelt werden, wobei höchstens fraglich bleibt, wie weit der Beginn des Leidens zurückliegt, ob wirklich nur wenige Wochen vor dem Eintritt in die Anstalt oder länger.« Max Müller an Carl Seelig, Waldau-Bern, den 10. Mai 1957, unpubliziert.
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Schreiben am Rand
eingebürgert hatte.340 Im Jahresbericht von 1929 wird in der Auflistung der Krankheiten der Neuaufgenommenen neben den sogenannten Verblödungsformen, zu denen Dementia praecox, Dementia paranoides und Katatonie gezählt werden, noch die Pfropfschizophrenie genannt, allerdings wird dieses Krankheitsbild mit Minderbegabung in Verbindung gebracht, was bei Walser diese Diagnose verunmöglicht. Näher liegt also die Vermutung, dass unter von Speyr, also in Walsers anfänglichen Waldauer Jahren, gar keine Diagnose in der Akte stand und diese »definitive« Diagnose erst unter Klaesi eingefügt wurde. Da der tabellarische Kopf der Akte mit Schreibmaschine ausgefüllt wurde, führt auch kein Schriftvergleich weiter. In den Akteneinträgen von Herisau wird Walsers ›Krankheit‹ auch wiederholt in Verbindung mit Autismus gebracht, ein Eintrag lautet beispielsweise: »Pat. ist ausgesprochener Autist, zu keiner dichterischen Leistung anzuspornen, sitzt stets über alten Bänden der ›Gartenlaube‹, sieht bei der Visite kaum auf.«341 An der Schizophrenie wird bis zum Schluss festgehalten, ein Eintrag von 1953 bestätigt und verfestigt die alte Diagnose noch einmal: »Pat. bietet unverändert dasselbe Zustandsbild des affektiv nivellierten, kühl-abweisenden Schizophrenen.«342 Jahre später gibt der ›Fall‹ Walser noch einmal Anlass für Verhandlungen zwischen der Anstalt in Herisau, der Waldau und den Angehörigen Walsers, die aus dem Vormund und Walsers Schwester Fanny bestehen. Am 4. September 1953 nämlich schreibt der damalige Assistenzarzt der Waldau und spätere Direktor Theodor Spoerri an den Direktor Herisaus, Heinrich Künzler: »Sehr geehrter Herr Direktor, Unser früherer Patient, der bekannte Dichter Robert Walser, 1878, von Teufen, soll sich, wenn wir recht unterrichtet sind, in Ihrer Anstalt befinden. Da ich mich in letzter Zeit eingehend mit der Untersuchung psychiatrisch interessanter genialer Persönlichkeiten befasst habe, wäre es für mich von grossem Interesse, in diesem Falle einmal mit einem lebenden schizophrenen Dichter sprechen zu können. Wenn Sie mir freundlicherweise die Erlaubnis geben würden, so möchte ich gerne in den nächsten Wochen einmal nach Herisau kommen, um Herrn Walser sprechen und untersuchen zu können. Mit vorzüglicher kollegialer Hochachtung Dr. Dr. Th. Spoerri« 343
Der Topos des »schizophrenen Dichter[s]«, der erstens noch lebt und zweitens einmal »unser« Patient war, wird hier unter dem Vorwand von wissenschaftlichem Interesse bemüht. Spoerri bekommt in der Folge zur Vorbereitung seines ambitionierten Projekts, das einen 75-Jährigen, der sich schon beinahe ein Vierteljahrhundert in psychiatrischen Anstalten befindet, »untersuchen« will, Walsers Akte. 340 | Siehe Kapitel 3.10. 341 | Herisauer Kg 3561, S. 20. Eintrag vom 28. Mai 1942. Siehe auch die Einträge in der Herisauer KG 3561 vom 2. Juni 1942, 17. März 1943 oder 26. Februar 1944. 342 | Herisauer Kg 3561, S. 27. Eintrag vom 14. September 1953, signiert mit »St«. 343 | Theodor Spoerri an Heinrich Künzler, ohne Ortsangabe, 4. September 1953, unpubliziert. Theodor Spoerri heiratete 1955 Elka Spoerri, die später lang jährige Kuratorin der Adolf Wölfli-Stiftung war und sich massgeblich für Wölflis Werk und dessen Verbreitung einsetzte. Siehe Kapitel 4.2.
Schreiben (und Lesen) hinter den Sandsteinmauern
Er wird davor gewarnt, dass das Treffen nicht erfolgreich sein könnte. Ein schriftliches Resultat dieses Besuchs ist nach heutigem Wissensstand nicht vorhanden. Rund ein Jahr später schreibt Carl Seelig jedoch empört an den Herisauer Sekundärarzt Hans Steiner: »Vor einem Vortragsabend sagte mir nämlich gestern ein Mitglied der Familie Walser, diese habe vernommen, dass Hr. Robert Walser durch einen – auswärtigen – Arzt psychoanalysiert worden sei, wahrscheinlich zum Zweck von ›wissenschaftlichen‹ Veröffentlichungen. Herrn Walsers Schwester habe sich über diese Nachricht dermassen aufgeregt, dass ich die Anstaltsdirektion in meiner Eigenschaft als Vormund anfragen möge, was daran Wahres sei. Sollte es stimmen, so möge sie bitte [handschriftlicher Einschub: energisch, Anm. M.W.] dafür sorgen, dass jede Publikation unterbleibe und überhaupt keine Erlaubnis mehr für fremde Besucher erteilt werde. Soviel wir wissen, will Herr Walser nur eine Frau Mermet aus Basel, mich und natürlich seine Schwester, die aber selber leidend ist, empfangen.« 344
Steiner antwortet am 22. Oktober 1954 in zwei Briefen, einem offiziellen und einem privaten, auf Seeligs mehrfach protektionistisches Schreiben. Im offiziellen Brief schreibt Steiner: »Zunächst möchte ich unserm Bedauern Ausdruck geben, dass die Familie Walser beunruhigt worden ist und zugleich richtigstellen, dass es natürlich nicht stimmt, dass Herr Walser durch einen auswärtigen Arzt ›psychoanalysiert‹ worden ist.«345 Man sei einfach von Spoerri um einen Besuchstermin angefragt worden, habe sich bei Klaesi über Spoerri informiert, dabei die Auskunft bekommen, er handle sich »um den ersten Assistenten der Waldau, einen wissenschaftlichen Kopf, der sich nächstens habilitieren werde«346 und sei zu folgendem Schluss gekommen: »Wir glaubten darnach den Besuch Dr. Spoerris nicht abweisen zu dürfen, da es durchaus üblich ist, dass Heilanstalten katamnestische Erhebungen anderer Anstalten bei deren ehemaligen Patienten gestatten und einander dabei behülflich sind. Die Anstalt Waldau hatte uns in entsprechender Weise bei Gelegenheit ihre Krankengeschichte über Herrn Walser ebenfalls, wie es üblich ist, zur Verfügung gestellt. Herr Dr. Spoerri hat einen Besuch im Frühling dieses Jahres gemacht, nachdem ich Herrn Walser vorher gefragt hatte, ob er bereit sei, ihn zu empfangen, und er eingewilligt hatte. Ich war während der etwa halbstündigen Unterredung die meiste Zeit anwesend und erstaunt, dass Herr Walser gegenüber dem Besucher eher freier aus sich herausging als den hiesigen Aerzten gegenüber. Seine Grundhaltung blieb dabei aber die bekannte: Er war im ganzen doch recht einsilbig. Ich hoffe, unsere Erklärungen werden zur Beruhigung der Angehörigen beitragen. Selbstverständlich werden wir künftig Ihre Weisungen als Vormund und den Wunsch der Angehörigen respektieren und ausser den in Ihrem Briefe angeführten Personen keine Besucher zu Herrn Walser lassen.« 347
344 | Carl Seelig an Hans Steiner, Zürich 8, Mühlebachstrasse 17, 21. Oktober 1954, unpubliziert. 345 | Hans Steiner an Carl Seelig, Herisau, 22. Oktober 1954, [o], unpubliziert. 346 | Ebd. 347 | Ebd.
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Schreiben am Rand
Im privaten Schreiben bedankt Steiner sich bei Seelig in einer anderen Angelegenheit, kündigt eine Reise nach Zürich an und bietet an, bei dieser Gelegenheit »falls Ihnen dies wünschenswert erscheinen sollte, nochmals auf die Angelegenheit des Besuches von Dr. Spoerri zu sprechen kommen.«348 Seelig bekommt von Steiner auch eine Kopie eines am selben Tag an Spoerri geschickten Briefes. So schreibt denn Steiner am 22. Oktober 1954 an Spoerri in die Waldau: »Sehr geehrter Herr Kollege Wir möchten Ihnen mitteilen, dass die Angehörigen unseres Patienten, Herrn Robert Walser, von Ihrem Besuch bei dem Dichter im Frühling dieses Jahres vernommen haben und den Vormund, Herrn Carl Seelig […] ersucht haben, bei uns energisch zu intervenieren, dass künftig ausser bestimmten, namentlich den angeführten Personen keine Besucher beim Pat. zugelassen werden dürfen. Wir haben Herrn Seelig darüber orientiert, wie Ihr Besuch zustandegekommen und verlaufen ist und hoffen damit das Missverständnis, Herr Walser sei hier durch einen auswärtigen Arzt ›psychoanalysiert‹ worden, aufgeklärt zu haben. Immerhin müssen wir uns an die Weisungen des Vormundes und an die Wünsche der Angehörigen unseres Patienten halten. Da die Angehörigen die Verwendung der anlässlich Ihres Besuches gemachten Erfahrungen auch zu wissenschaftlichen Veröffentlichungen nicht wünschen, ersuchen wir Sie höflich, von solchen abzusehen, damit wir keine Schwierigkeiten wegen Verletzung des Berufsgeheimnisses bekommen. Für den Fall, dass Sie daran denken sollten, Ihren Besuch bei Herrn Walser in Herisau publizistisch zu verwerten, möchten wir Sie bitten, vorher die Bewilligung des Vormundes einzuholen.« 349
Damit endet die Korrespondenz zwischen Herisau und der Waldau, der inter-institutionelle ›Fall‹ Walser wird nicht zum wissenschaftlichen ›Fall‹, er bleibt der literarische ›Fall‹, dessen Wahrnehmung Seelig weiterhin zu orchestrieren versucht – und Walser selbst wird wohl auch dazu geschwiegen haben.
4.6 F riedrich G l auser – ein dichtendes » mule t « 350 in der W aldau Wie in der Einleitung bereits erwähnt wurde, ist die Waldau in Friedrich Glausers Anstalts-Karriere nur eine einzelne Station. Er blieb dort vom Frühling 1934 bis Mai 1936 –, die Waldau war also nicht diejenige Institution, in der er am meisten Zeit verbrachte. Allerdings schließt diese Internierungszeit direkt an einen Aufent348 | Ebd. 349 | Hans Steiner an Theodor Spoerri, Herisau, den 22. Oktober 1954, unpubliziert. 350 | Glauser bezeichnet das »mulet« als sein Lieblingstier, etwa in einem Brief an Martha Ringier als Reaktion auf ihr nicht Maulesel-konformes Geschenk: Sie hatte ihm ein gestreiftes Hemd schenken wollen, Glauser weist es zurück mit der Erklärung: »[M]eine Lieblingstiere sind Maulesel, sie sind genauso störrisch wie ich, sie grinsen genauso unverschämt und sie haben Fell, daß uni in der Farbe ist.« Friedrich Glauser an Martha Ringier, [Waldau], 19. Februar 1936. In: Glauser (1991), S. 155. Der Glauser’sche Maulesel kann auch schreiben: »Sie sehen, maman Marthe, das mulet hat den Größenwahn, das mulet tut dichten.« Friedrich Glauser an Martha Ringier, [Waldau], 17. März 1936. In: Glauser (1991), S. 193.
Schreiben (und Lesen) hinter den Sandsteinmauern
halt in Münsingen an, Glauser musste somit ganze vier Jahre am Stück in Anstalten verbringen. In der Waldau sind viele und bedeutende Texte Glausers entstanden, obwohl dieser immer wieder Mühe bekundete, an diesem Ort zu schreiben. Das vorliegende Kapitel fokussiert Glauser in Bezug auf den Schreibort Waldau, wo er neben vielen Briefen351 an vier Kriminalromanen schreibt: Im Herbst 1934 schließt er in der zur Waldau gehörenden Kolonie Anna Müller352 in Schönbrunn den Tee der drei alten Damen ab, der im Sommer 1939 post mortem in der Zürcher Illustrierten erscheint. In der Waldau selbst respektive der Kolonie schreibt er ab Anfang 1935 Schlumpf Erwin Mord, der im Sommer 1936 ebenfalls in der Zürcher Illustrierten unter dem Titel Wachtmeister Studer erscheint.353 Im Dezember 1935 schreibt Glauser Die Fieberkurve, die ab Dezember 1937 als Wachtmeister Studers neuer Fall in der Zürcher Illustrierten erscheint. Das in Kapitel 4.1 bereits erwähnte Titelblatt der entsprechenden Ausgabe wurde auch in der Waldauer Krankenakte auf bewahrt, (siehe Abb. 28). An Matto regiert arbeitet Glauser von Januar 1936 bis zu seiner Entlassung im Mai desselben Jahres. In den Romanen und den darin vorkommenden Motiven verarbeitete Glauser frühere und an andern Orten entstandene Vorstufen und Entwürfe, die Waldau ist der Ort der Weiterführung und des Abschlusses dieser literarischen Arbeiten.354
351 | Zentral für die Waldauer Zeit ist der oft vor allem biografisch-psychologisierend betrachtete Briefwechsel Glausers mit Martha Ringier (1874–1967). Bei der Beschreibung dieses Briefwechsels durch Papst (2011) wird die Waldau in einem außerordentlich positiven Licht beschrieben – dort sei Glauser problemlos an Opiate gekommen, nie »so heillos« abgestürzt »wie davor und danach in Freiheit« und damit »im doppelten Wortsinn ›versorgt‹« gewesen, kurz: in der Waldau habe Glauser in einer »geschützten Atmosphäre« gelebt und geschrieben. Papst (2011), S. 35. Dieser Darstellung der Waldau als Aufenthalts- und Schreibort sollen hier noch weitere Facetten hinzugefügt werden. 352 | Siehe dazu auch Glausers Text Die Kolonie Anna Müller von 1935. In: Glauser (2001), S. 110 f., erschienen in Der Bund 86 (1935), Nr. 453 am 29. September. Saner schreibt in der Werkübersicht seiner zweiteiligen Biografie Glausers über diesen Text: »Ich wurde den Eindruck nicht los, daß Glauser mit dem kleinen Ding beim Waldau-Direktor Punkte schinden, seine Entlassung fördern wollte, insbesondere mit dem Satz: ›Denn, wie Professor Kläsi seine kurze Ansprache auf dem Friedhof beschloß: »Nicht das, was wir tun, ist letzterdings das Entscheidende, sondern wie wir es tun.«‹ Nun, helfen tat’s nicht viel, und nach der Flucht aus Schönbrunn, gleich nach Erscheinen des Feuilletons, hatte das Zuckerpapier ohnehin ganz abgeschlagen.« Saner (1981b), S. 68. Die Waldau und die Kolonie waren zwei unterschiedliche Schreiborte für Glauser, wie er es in Briefen mehrfach thematisierte. Gleichwohl gehört die Kolonie neben dem zentralen Gebäudekomplex zur Institution ›Waldau‹ dazu und wird hier deswegen zu ihr, die Zeit zu zwei Jahren ›Waldauer Zeit‹, gezählt. Welche Unterschiede die beiden Schreiborte für Glauser beinhalten, wird weiter unten noch deutlich. 353 | Schlumpf Erwin Mord wird auch Glausers erstveröffentlichtes Buch sein, es erscheint noch 1936. 354 | Detailliert zu den jeweiligen Entstehungsgeschichten der Romane siehe Saner (1981b), S. 101–155. Mit Bezug auf die Geschichte des Titels Matto regiert und auf den ›Wahnsinn‹ ist vor allem der Text Mattos Puppentheater aus dem Jahr 1919 interessant. Siehe Glauser (1992a).
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Glausers Texte sind für eine Betrachtung der Waldau als Schreibort von fundamentaler Bedeutung, erstens weil er dort sehr viel und in unterschiedlichen Gattungen und Textsorten geschrieben hat,355 hauptsächlich Prosa (Kriminalromane) und Briefe, die überliefert und relativ gut dokumentiert 356 sind, und weil er, zweitens, sein Schreiben, die Situation in der geschlossenen Anstalt im Vergleich mit anderen Anstalten und dem Leben ›draußen‹, aber auch die Psychiatrie und ihre (Un-) Möglichkeiten in den Briefen differenziert thematisiert und reflektiert. Aus seinen Briefen lassen sich einige poetologische Aussagen entnehmen, die sich als eine Poetik des Randes umreißen lassen, und damit eine ›protokollarische Poetik‹,357 wie sie Hubert Thüring entwickelt hat, durch einen topografisch-orientierten Ansatz ergänzen, wie noch ausgeführt wird. Zudem kommen, drittens, in Matto regiert einige Anstaltsmotive wie etwa der sogenannte ›Blitzzug‹ vor, die das Leben in der Waldau prägten und die in ihrer literarischen Umsetzung auch einen Teil des Anstaltslebens fiktionalisiert wiedergeben.358 Derjenige Text Glausers, der direkt auf die Waldau Bezug nimmt, ist das Klinische Jahresblatt, eine Satire in der und auf die Form der Jahresberichte und auf Elemente aus Zeitschriften, inhaltlich berichtet es über das Leben und einzelne Personen in der Waldau. Glauser ist damit einer der wenigen Insassen der, auch dank seiner Lektüre von Fachliteratur, den psychiatrischen Betrieb in seinen Mechanismen durchschaut, der sich kritisch damit auseinandersetzt und der auch fähig ist, darüber zu schreiben. Die neuere Glauser-Forschung hat sich daran gemacht, Dokumente aus dem Nachlass aufzuarbeiten und Glausers Texte auch philologisch zu untersuchen, so etwa im Projekt Textgenese und Schreibprozess, das vom Schweizerischen Nationalfonds gefördert wurde. Leitender Mitarbeiter und Bearbeiter des Teilprojektes zu Glauser war Hubert Thüring. Aus diesem Projekt und in seiner Folge hat Thüring wegweisend zu Glauser publiziert.359 Neben Arbeiten zu Glausers »(Text-)Welten« 355 | Dazu mehr in Kapitel 4.6.1. 356 | In den Editorischen Notizen fügt Bernhard Echte, Herausgeber der Briefe, an, dass es sich auch bei diesem Band um eine Auswahl handele: »Sie berücksichtigt ca. 75% der Briefe, die sich von Glauser aus dieser Zeit [1935–1938] erhalten haben. Die Auswahlpraxis entspricht der des ersten Bandes, d.h. weggelassen wurden kürzere Mitteilungen, die sich ausschließlich auf Termin- und Geldfragen beziehen, sowie gewisse Teile der Pflichtkorrespondenz mit der Amtsvormundschaft. Gleiches gilt auch für Schreiben an Verlage, die lediglich Organisatorisches behandeln. Von der an Glauser gerichteten Korrespondenz konnten ca. 15% als integrale Texte aufgenommen werden.« Echte in Glauser (1991), S. 999. Obwohl vergleichsweise viele Briefe publiziert sind, ist das von Hubert Thüring formulierte Desiderat, neben (digitalen) Faksimiles der Akten auch eine neue und vollständigere Briefwechselausgabe anzustreben, um etwa die »Stimmen der Institution« genauer analysieren zu können, zu unterstützen. Thüring (2011), S. 41. 357 | Siehe dazu Thüring (2005a; 2005b; 2006, 2012a). 358 | Dieser Umstand bringt es mit sich, dass Glauser-Zitate häufig als Mottos und in Einleitungen von Werken, die mit Psychiatrie oder Psychiatriegeschichte zu tun haben, verwendet werden, sie werden dabei jedoch meistens nur als Illustrationen verwendet (siehe etwa Meier/Bernet/Dubach/Germann 2007). Zum Waldauer Blitzzug siehe Kapitel 3.11. 359 | So sind etwa in Thürings Aufsatz »… denn das Schreiben ist doch gerade das Gegenteil von Leben« (2005c) Typoskripte und ein Durchschlag der Akten, aus dem Glauser in Matto regiert den ›Fall‹ Pieterlen generierte, abgebildet. In Friedrich Glausers Poetik der (Kriminal-)
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und zur Publikations- und Übersetzungsgeschichte360 sind auch Arbeiten zu Glauser und Psychiatrie respektive ›Wahnsinn‹ erschienen.361 Hier geht es nun um die Frage, wie Glauser in der Waldau, die er einmal ein »Aquarium« nannte (Kapitel 4.6.1), schreibt und was er dort liest (Kapitel 4.6.2). Kapitel 4.6.3 widmet sich dem Klinischen Jahresblatt und 4.6.4 untersucht vor allem Briefstellen Glausers auf die Diskursivierung des Schreibortes in der Arbeit an Matto regiert, dazu gehört auch die Thematisierung von Schreibanfängen und -widerständen (Kapitel 4.6.5). In Kapitel 4.6.6 geht es schließlich noch um die unmittelbare Rezeption des Matto und die Weiterwirkung der Waldau auf Glauser, nachdem er diese verlassen hatte. In die Waldau kam Glauser mit 38 Jahren deswegen, weil er sich vor einer geplanten Entlassung aus Münsingen, aus der Perspektive der Anstalt betrachtet, ungebührlich verhalten hatte. Die Waldauer Akte übernimmt einen Eintrag aus derjenigen Münsingens, wo 1932 notiert wurde: »Sollte als Gärtner nach Frankreich, war aber zuletzt sehr reizbar. Im Jan. entwich er ins Dorf und kam nach einer halben Stunde betrunken zurück. Will eine frühere Pflegerin nach Frankreich mitnehmen. Wird deshalb nicht entlassen. Wird deprimiert, stumpf, sieht nicht ein, warum er nicht entlassen wird.«362 Zu den entsprechenden Vorfällen gibt es über diesen Akteneintrag hinaus Berichte aus unterschiedlichen Perspektiven.363 Ein Literatur (2006) finden sich neben einem Brief auch Dokumente aus der Strafuntersuchung von 1927, die heute im Staatsarchiv Baselland in Liestal liegen. In Der späte Anfänger Friedrich Glauser (2009) sind weitere Typoskripte und auch Handschriften abdruckt, Thüring spürt darin Glausers Schreibpraktiken nach und verknüpft sie mit literarischen Schreibmotiven respektive im Falle der Figur Wachtmeister Studer mit dessen Fahndungstechnik. 360 | »Glausers (Text-Welten)« und Übersetzungen von Glauser-Texten sind die Beiträge in Quarto, der Zeitschrift des Schweizerischen Literaturarchivs (Nr. 32/2011) gewidmet. 361 | Zu Matto und dem ›Wahnsinn‹ siehe Stingelin (1993a) und Gigerl (2001). 362 | Waldauer Kg, Nr. 11767, Umschlag, unpag., vierte Seite. 363 | 1936 schreibt Glauser in einem Brief darüber: »Ende 1933 war ich in Münsingen, ich sollte eine Stelle in Frankreich antreten als eine Art Hüter eines kleinen Gutes; der Besitzer, ein Schweizer Bankdirektor in Paris, der seine économies in Boden angelegt hatte, hatte in der Nähe von Chartres ein kleines Gut erworben, Haus, Obstgarten und ein wenig Land. Ich sollte dort wohnen, ihm Gemüse liefern (ich weiß nicht, ob Sie wissen, daß ich nebenbei diplomierter Gärtner bin, Oeschberg), dafür hätte ich freie Wohnung gehabt und 100 frs. (französisch) gewissermaßen als Taschengeld. Die Möglichkeit zu schreiben und etwas zu verdienen. Ich wollt mit meiner Freundin, die früher Pflegerin in Münsingen gewesen ist, dorthin gehen. Am Tage vor meiner Abreise ging ich noch ins Dorf und vertilgte zwei Whiskys. Dies wurde mir so übel genommen (auch die Tatsache, daß ich mit einer ehemaligen Pflegerin fortwollte, spielte da eine Rolle, Ressentiment war wohl auch im Spiel), kurz, von einem Tag auf den anderen wurde mir die Abreise verboten, ich wurde wieder eingekapselt, und da die Herren fanden, es gehe nach diesen Ereignissen in Münsingen nicht mehr, wurde ich in die Waldau versetzt.« Friedrich Glauser an Josef Halperin, [Waldau], den 20. März 1936. In: Briefe (1991), S. 200. Max Müller erinnert sich wie folgt an die Vorkommnisse: »Gegen Frühjahr 1934, als es körperlich wieder besser ging, zeigte sich die Möglichkeit einer beschränkten Mitarbeit bei einem Gärtner in der Nähe von Paris. Alles war gut vorbereitet. Im letzten Augenblick vergab sich aber Glauser selbst wieder jede Chance, indem er sich am Vorabend der Abreise im Dorf sinnlos betrank; gleichzeitig wurde ruchbar, daß er eine unserer besten
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Grund für die Verlegung war auch, dass Glauser das Vertrauen seines Münsinger Arztes, Analytikers und Briefpartners, Max Müller, der ihn seit 1925 kannte, damit aufs Spiel gesetzt hatte, dass er Anfang August 1933 in Zürich ein Rezept auf dessen Namen fälschte.364 In der Folge schlug Müller eine Versetzung Glausers in die Waldau vor, was dieser unterstützte. Als Grund für das Einverständnis gibt Glauser an, weiterschreiben zu wollen, wie er seinem Vormund, Robert Schneider, in einem Brief schreibt: »Sehr geehrter Herr Doktor, es tut mir leid, daß der Beginn der Vormundschaft, die Sie übernommen haben, mit einer derartigen Komplikation begonnen hat. […] Ich möchte Sie nur bitten, der Anregung, die von Dr. Müller ausgegangen ist (meine Versetzung in die Waldau), möglichst bald Folge zu geben. Sie müssen begreifen, daß meine verschiedenen Internierungen in Münsingen, die Entwöhnungskuren, der ganze Analysekomplex eine Atmosphäre geschaffen haben, die langsam unerträglich wird. Nicht, daß ich über die Behandlung hier zu klagen hätte. Im Gegenteil, die Ärzte sind mir immer so weit entgegengekommen, als es ihnen möglich war. Daß die kleineren Freiheiten, die man mir bewilligt hatte, nun aufgehoben sind, habe ich mir selbst zuzuschreiben. Ich möchte nur gerade jetzt nicht die begonnenen literarischen Arbeiten fallenlassen, gerade jetzt, wo ein kleinerer Schimmer von Erfolg sich zu zeigen scheint. Auch glaube ich, daß ein vollständiger Milieuwechsel doch einigen Einfluß auf die Gereiztheit ausüben könnte, mit der ich ständig zu kämpfen habe. Ich glaube, daß die Versetzung in die Waldau keine großen Schwierigkeiten machen wird, da ja alle daran interessierten Teile einverstanden sind. Hochachtungsvoll F. Glauser« 365
Aus dieser Passage lassen sich unterschiedliche Themen Glausers herauslesen. Zum einen kommt eine wachsende Skepsis gegenüber der Psychoanalyse zum Ausdruck, wenn er von einem »Analysekomplex« spricht.366 Dieser Skepsis wird Schwestern, Frl. G. als Freundin mit nach Paris nehmen wollte, wobei es, nach allen Erfahrungen, Pflicht schien, das Mädchen nicht diesem völlig ungewissen Schicksal zu überliefern. Da inzwischen die Anstalt wie der Patient aufeinander allergisch geworden waren und man sich nur mehr schwer verständigen konnte, wurde ein Schritt in die Wege geleitet, den man schon mehrmals erwogen hatte und den auch Glauser wünschte: die Verlegung in die Waldau.« Müller (1984), S. 67. 364 | Zu Müllers Perspektive auf Glauser siehe auch sein Kapitel Friedrich Glauser in den Erinnerungen. Müller (1984), S. 60–68. 365 | Friedrich Glauser an Robert Schneider, Münsingen, 11. Januar 1934. In: Glauser (1988), S. 485 f. Über Schneider wird Glauser später einmal unter Verwendung von Bleulers Ambivalenz-Begriff schreiben, er sei »ambivalent wie Kaugummi. Man, das heißt die Behörden, kann ihn ziehen und biegen und formen, er ist immer ihrer Meinung.« Friedrich Glauser an Josef Halperin, [Waldau], den 20. März 1936. In: Glauser (1991), S. 202. 366 | Eine weitere Briefstelle belegt die zunehmende Distanzierung Glausers zur Psychoanalyse: »Der Abteilungsarzt ist ein Deutscher und der Analyse durchaus abhold, was erquickend ist. Ich hab lang gebraucht, um zu merken, was es eigentlich ist, was mich bei M.[üller] und sonst bei den Analytikern, die ich kennengelernt habe, immer so irritiert hat; du hast’s eigentlich schnell herausgehabt, aber nie so richtig formulieren können; ihre absolute Humorlosigkeit, die sich eigentlich genau wie bei den überzeugten Anthroposophen,
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noch in weiteren Briefen Raum gegeben. Zum andern schreibt Glauser von einer Gereiztheit, der er mittels »Milieuwechsel« zu entkommen suchte. Die Anstalt – hier Münsingen – wird als Umfeld mit eigenen Regeln beschrieben, die Waldau als Ersatzort wäre demzufolge ein anderes Milieu. Wie sich noch zeigen wird, kann Glauser in diesem Umfeld zwischendurch verhältnismäßig gut schreiben. Der dritte Punkt, der aus diesem Briefzitat hervorgehoben werden soll, ist der Umstand, dass Glauser seinem Vormund mitteilt, die »Versetzung« werde wohl keine großen Probleme machen. Damit zeigt sich Glauser als Patient, der angibt, über institutionelle Verfahren Bescheid zu wissen, und der durchaus willens ist, die Behandlung seines eigenen ›Falls‹ aktiv mitzugestalten. Wie viele andere Briefstellen auch, zeigt diese Passage einen Anstaltsinsassen, der informiert ist über die üblichen administrativen Abläufe, der sein Wissen auch ausstellt und damit versucht, teilweise die Steuerung der Verfahren zu übernehmen. Damit leistet es sich Glauser, als »Laie«, eine »Meinung« über die Psychiatrie zu haben – jene Gegebenheit, vor der Psychiater am meisten Angst hätten, wie Glauser 1938 im Prosafragment Insulin schreibt: »Die Psychiater, die man Seelenärzte nennen müßte, wollte man ihnen den bekannten fremdsprachigen Titel übersetzen, leiden am meisten unter der Furcht, ein Laie könne sich über sie ein Urteil, vielleicht nur eine Meinung anmaßen. Sie haben Grund zu dieser Angst, zu diesem Unmut. Ihre Stellung ist schwierig. In vielen Fällen ist ihre Macht größer als die eines Richters, denn ihre Entscheide sind unanfechtbar. Das Gutachten eines Psychiaters kann einem Menschen die bürgerlichen Rechte absprechen, ihn unter Vormundschaft stellen, ohne seine bürgerlichen Pflichten aufzuheben, vermag die Freiheit zu nehmen, indem es jahrelange, sogar lebenslange Internierung in einer Heil- und Pflegeanstalt, Versorgung im Arbeitshaus verlangt, es kann weiter gehen und einen Menschen zwingen, auf sein Liebesleben zu verzichten und ein Leben weiterzuleben, das keines mehr ist.« 367
Am 5. März 1934 wird der »Milieuwechsel« vollzogen, Glauser von Münsingen in die Waldau überführt. Dort schreibt er am 13. März einen Lebenslauf, den Saner in seiner Biografie veröffentlichen konnte.368 Im Gegensatz zur vielzitierten Briefhinter einem überlegen-sonnigen Lächeln verbirgt.« Friedrich Glauser an Beatrix Gutekunst, Waldau, 15. Juni [19]34. In: Glauser (1988), S. 493. Ausführlich zur Psychiatrie und Psychoanalyse in Leben und Werk Glausers siehe Stingelin (1993a), der das Problem Glausers, »die Psychoanalyse zu ›verarbeiten‹« darin sieht, dass Glauser »lange Zeit in ihrer Theorie befangen bleibt.« Ebd., S. 91. Siehe auch Thüring (2005c), S. 313 f. 367 | Glauser (1993), S. 241 f. Diese Haltung gegenüber der Psychiatrie, die hier negativ konnotiert ist, ist in anderen Äußerungen Glausers aber durchaus von Verständnis geprägt, in einer Passage über die Verdienste Max Müllers etwa schreibt Glauser an Martha Ringier allgemein über den Beruf der Psychiater: »Aber ich bitte Sie, der Beruf bringt den besten Menschen um. Und wie einer sich Menschlichkeit bewahren soll und Differenziertheit, wenn er Psychiater ist! Das müßte ein Riese sein.« Friedrich Glauser an Martha Ringier [Waldau], 17. Januar 1936 [recte: Februar]. In: Glauser (1991), S. 152. 368 | Zu Glausers Zeit in der Waldau siehe Saner (1981a), S. 272–300. Auszüge aus der Krankenakte der Waldau mit dem Lebenslauf, den Glauser am 13. März 1934 schrieb, finden sich ebd., S. 272 f. Der ganze Lebenslauf findet sich in König Zucker publiziert (Glauser, 2001, S. 347 f.) ebenfalls mit dem Datum des 13. März, in den Anmerkungen dazu (ebd.,
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stelle, in der Glauser 1937 an den Journalisten und Herausgeber Josef Halperin369 eine Lebensbeschreibung beginnt mit »Daten wollen Sie? Also 1896 geboren in Wien […]«,370 liefert der Waldauer Text, der bei Saner den Titel Lebenslauf trägt, im Original aber titellos ist, gerade keine Lebensdaten, sondern einen Überblick darüber, »was ich noch erhoffe.«371 Ein Ausschnitt daraus ist geprägt von der Präsentation eines poetologischen Konzepts und einer Überzeugung, »etwas zu sagen« zu haben: »Es ist mir, auch wenn es mir ganz schlecht gegangen ist, immer gewesen, als hätte ich etwas zu sagen, etwas was außer mir keiner imstande wäre auf diese Art zu sagen. Es ist gleichgültig, ob diese Überzeugung beweisbar ist oder nicht, ob sie in die Kathegorie der Lebenslügen einzureihen – oder ob sie echt ist. Genug, sie war immer da, sogar, wenn auch sehr schwach, in den Perioden des Nihilismus.« 372
Im Umfeld der Anstalt hatten aber vor allem die Ärzte »etwas zu sagen«. Die Einschätzung Glausers durch Direktor Klaesi ein paar Tage nach dem Verfassen des Lebenslaufs ist vor allem in Bezug auf Klaesi selbst aussagekräftig. Nachdem das Waldauer Aktenformular als vorläufige Diagnose bei Glauser »Morphinismus« festhielt und die definitive Diagnose »Toxikomanie bei moral. Defekt« festhält, schreibt Klaesi am Schluss einer ›Gemeinsamen‹ über Glauser: »Moralischer Defekt. – Masslose Ueberheblichkeit bei so geringer Intelligenz, dass sie gerade für eine schriftstellerische Tätigkeit seiner Gattung noch ausreicht.«373 Auf wen die »[m]asslose Ueberheblichkeit« schließlich zurückfallen wird, kann ein Vergleich S. 405) ist jedoch vom 14. März die Rede. Am Rande bemerkt sei hier, wie Max Müller auch noch 1971 über die Darstellung Glausers Macht ausübt. Auf die Anfrage Saners schreibt er den Anstaltsdirektoren in Zürich, Basel und Bern und bittet sie um die Akten Glausers, die Saner dann bei ihm einsehen darf – Müller schreibt, er könne Saner aus den Akten »ohne sie aus den Händen zu geben, jene Fakten mitteile[n], die für seine Arbeit wesentlich sind. Als weitere Sicherung habe ich mir ausbedungen, dass das Manuskript nicht ohne meine Ueberprüfung in Druck gehen darf.« Max Müller an Prof. Dr. Ernst, Zürich, Prof. Dr. Kielholz, Basel und Prof. Dr. Walther, Bern. Rüfenacht, den 27. Oktober 1971. Unpubliziert; in der Waldauer Akte Nr. 11767. Wie sich der Umgang mit den Akten änderte, zeigt die Tatsache, dass Bernhard Echte und Manfred Papst 1987, als Professor Wolfgang Böker die Leitung der Waldau inne hatte, die Akten Glausers fotokopiert zugeschickt bekamen. Entsprechende Briefbelege liegen in der Waldauer Akte Glausers vor. 369 | Halperin war Journalist bei der NZZ und Gewerkschaftssekretär beim VPOD. 1937 trat er in die Wochenschrift ABC ein und setzte sich erfolgreich dafür ein, dass dort Glausers Gourrama erschien. 370 | Friedrich Glauser an Josef Halperin, Route de Pornic, La Bernerie, den 15. Juni 1937. In: Glauser (1991), S. 623. 371 | Kg Waldau, Nr. 11767. [Lebenslauf] vom 13. März 1934, recte. 372 | Ebd. 373 | Kg Waldau, Nr. 11767, S. 8, Eintrag vom 19. März 1934. Die Diagnose in der genferischen Anstalt Bel-Air war Dementia praecox gewesen, wie Glauser auch in Morphium schreibt: »Ich bekam den Stempel: ›Dementia praecox‹ (jetzt nennt man dies Schizophrenie).« Glauser, 1992b, S. 180. Stingelin hat zu Recht festgehalten, »Glauser [verkörpere, Anm. M.W.] im Verlauf seiner Anstaltskarriere einen beträchtlichen Teil der psychotischen
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der Werke Klaesis mit denjenigen Glausers zeigen, oder auch Klaesis Aussage gegenüber Saner, der für seine Glauser-Biografie Menschen, die Glauser gekannt hatten, befragte und der festhält: »Aber Klaesis Schriftstellerei hat eine höhere Berufung, wie seine späteren dramatischen Messen zeigen sollen und seine ökumenische Trilogie, die man in 50 Jahren erst lesen und verstehen werde, wie mir deren Autor prophezeite.«374 Im Rahmen der Psychiatrie behielt Klaesi die Deutungshoheit über ›krank‹ und ›gesund‹ wie auch über die Bewertung von literarischem Talent – erinnert sei hier an die abschätzige Bemerkung Klaesis zu Walsers »Dichterträumen« (siehe Kapitel 4.5.4) –, die Literaturwissenschaft hingegen hat, mit einiger Verspätung, Glausers Schreiben bekanntlich deutlich mehr Aufmerksamkeit gewidmet. Die von Klaesi indirekt angesprochene, einseitige Autorenrivalität muss man sich vor dem Hintergrund von Glausers Aufenthalt in der Waldau als Klaesis neu organisiertem Reich vorstellen, wo Glauser nach wenigen Tagen verzweifelt an seine Freundin und ehemalige Pflegerin in Münsingen, Berthe Bendel, schreibt: »Wenn mir nur jemand raten könnte, was ich tun soll, um hier herauszukommen. Seit der M.Geschichte trau ich mich gar nicht mehr, etwas von Entlassung zu sagen. Denn ich kenn ja die Antworten schon im voraus. Ich hab meine Etikette u. meine Krankengeschichte. Es ist so schwer, gegen Papier aufzukommen.« 375
Glausers eigener Versuch, sich zu wehren, nutzt seinerseits Papier, um »gegen Papier aufzukommen«, er verfasst dementsprechend viele und lange Briefe an unterschiedliche Adressaten. Nach ein paar Wochen in der Waldau findet Glauser den Mut, eine befristete Entlassung zu fordern, um zu Berthe Bendel nach Heiden gehen zu können. In dieser Angelegenheit wendet er sich auch an Direktor Klaesi: »Ich weiß wohl, daß sehr viel gegen meine Entlassung spricht. Ich bin erst seit sieben Wochen in der Waldau, nach den Akten und der Krankengeschichte werden Sie über meinen Fall wohl sehr pessimistisch denken. Doch möchte ich Sie bitten, das, was zu meinen Gunsten sprechen könnte, Ihnen darlegen zu dürfen. Es werden übrigens jetzt bald zwei Jahre um sein, seit ich interniert bin. Mit Beteuerungen und Klagen möchte ich Sie verschonen. Betonen möchte ich nur noch, daß es mir immer schwerer fällt, auch die leichteste literarische Arbeit fertigzustellen. Ich glaube nicht, daß es sich in diesem Falle um ein Versiegen der (kurz gesagt) schöpferischen Fähigkeit handelt, sondern um ein Aufhören jeglicher Spannung, an dem die lange Internierung sicher mitgewirkt hat.« 376 Nosologie seiner Zeit: Dementia praecox, Hebephrenie, konstitutionelle Psychopathie, (angeborene) moral insanity.« Stingelin (1993a), S. 91. 374 | Saner (1981a), S. 273. 375 | Friedrich Glauser an Berthe Bendel, [Waldau], 20. III. [19]34. In: Glauser (1988), S. 488. 376 | Friedrich Glauser an Jakob Klaesi, Waldau, den 18. April 1934. In: Glauser (1988), S. 490. In Briefen an andere schreibt Glauser selten über Klaesi, und wenn, dann ohne etwas Genaueres über ihn sagen zu müssen, wie folgendes Beispiel zeigt: »Die Lösung der medizinischen Frage aber hängt vom hiesigen Direktor ab: Prof. Dr. Klaesi. Muß ich vorstellen? Ich tue es lieber nicht und beschränke mich auf die Feststellung, daß ihm der Glauser im Grunde verdammt unsympathisch ist, daß er ihn für einen hoffnungslosen Fall hält, daß er findet,
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Eine Audienz bei Klaesi, den Glauser später einmal als »eine Gleichung mit so vielen Unbekannten, daß sie jeder Differentiallösung spottet«377 bezeichnet, bekam er jedoch nicht. An seinen behandelnden Arzt, Arnold Weber,378 schreibt Glauser, er habe einige Male »vergeblich versucht, mit Professor Klaesi zu sprechen«.379 Im selben Brief beruft sich Glauser auf seine eigenen »Akten«, wie er es auch in anderen Briefen immer wieder tut: »Sie wissen aus meinen Akten, daß ich es bis jetzt immer vermieden habe, zu quengeln und zu querulieren.«380 Glauser zeigt einerseits auf, dass er sein eigenes Verhalten reflektiert, es gekonnt in ein gutes Licht zu rücken weiß, und dass er weiß oder zumindest vermutet, was in seiner Akte steht. Andererseits lässt sich dieser Stelle entnehmen, dass Glauser vertraut ist mit den in der Anstalt von den Ärzten angewandten Wissenstechniken, wie denen der Informationsdeposition und -entnahme aus Krankenakten. Glauser fordert Weber dazu auf, den für Psychiater üblichen Weg der Aktenlektüre bei der Vorbereitung einer Patientenbeurteilung einzuhalten, stellt damit klar, dass er über die institutionellen Abläufe Bescheid weiß, und versucht, Webers Entscheidung zu beeinflussen. Die Erwähnung der eigenen Akte kommt noch ein weiteres Mal im gleichen Brief vor, wie zur Verstärkung des Gesagten. Glauser erinnert Weber darin nämlich an dessen Aussage, wenn er schreibt: »Ich möchte Sie nur noch auf eins aufmerksam machen: Sie werden sich, wie Sie mir gesagt haben, aus meinen Akten ein nicht ganz ungünstiges Bild gemacht haben.«381 Die grammatische Form der vollendeten Zukunft, die Glauser hier verwendet, wird üblicherweise dazu gebraucht, um einer Vermutung Ausdruck zu geben. In der von Glauser angefügten, beinahe schulmeisterlichen Mahnung an Webers Adresse wird aus der Vermutung ein Beschwörungsversuch; der 1918 bereits entmündigte Internierte versucht damit, in der bürokratischen Behandlung seines eigenen ›Falls‹ eine aktive Rolle zu übernehmen.
Strafe für das Ausbrechen müsse sein, daß er eine Internierung für notwendig hält: ›weil der Glauser daher lebt, als ob es kein Opiumgesetz gebe‹, daß er mich für ein weibisches Subjekt mit einem aufreizend höhnischen Lachen hält, das den Ernst der Psychotherapie nicht zu würdigen weiß, kurz, für einen Menschen, der hier wohl aufgehoben ist.« Friedrich Glauser an Josef Halperin, [Waldau], den 20. März 1936. In: Glauser (1991), S. 202 f. Dass Glauser wenig über Klaesi schreibt, mag mit der Briefzensur und der Furcht vor Konsequenzen zu tun haben oder kann darin begründet liegen, dass er es nicht nötig fand, über ihn zu schreiben. 377 | Friedrich Glauser an Martha Ringier, Waldau, 27. März 1936. In: Glauser (1991), S. 221. 378 | Im ersten Band der Briefe Glausers ist von »Arnold« Weber die Rede, im zweiten Band wird der Vorname auf »Ernst« korrigiert (Glauser, 1991, S. 1000). Aus den Jahresberichten der Waldau ist allerdings nur Arnold Weber bekannt, der 1931 in die Waldau kam und unter Klaesi Leiter der Pflegeanstalt war. In Glausers Klinischem Jahresblatt hingegen wird ein »Erny Webbs« (Glauser [1936], S. 6, siehe auch Kapitel 4.6.3) erwähnt, der wiederum auf »Ernst« Weber deutet. Im Glausers Briefnachlass des Schweizer Literaturarchivs Bern ist Weber nicht verzeichnet. 379 | Friedrich Glauser an Arnold Weber, Waldau, Bern, 29. April 1934. In: Glauser (1988), S. 491. 380 | Ebd. 381 | Friedrich Glauser an Arnold Weber, Waldau, Bern, 29. April 1934. In: Glauser (1988), S. 491.
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4.6.1 Schreiben »im Aquarium« Im Tagebuch aus dem Jahr 1920, das Glauser im Burghölzli schrieb, verbindet er emphatisch sein eigenes Schreiben mit der Abwendung des drohenden Wahnsinns: »Solange ich noch mein Unbewusstes lyrisch expektorieren kann[,] droht mir der Wahnsinn nicht.«382 Schreiben wird hier, in einem frühen Anstaltstext also, als Form der Verteidigung geistiger Integrität und als autonomer Vorgang eines Individuums dargestellt. Dass auch Glausers Schreiben Einflüssen von außen ausgesetzt war, ist unbestritten. Bei Pauschalisierungen dazu scheint mir besondere Vorsicht geboten, gerade wenn sie die Rolle der Psychiater betreffen: Die Herausgeber der Briefe, Bernhard Echte und Manfred Papst, behaupten beispielsweise, Glauser wäre vielleicht ohne Müller nie »ein wirklicher Autor«383 geworden. Auch haben bestimmt einige Psychiater Glauser »den Zugang zur Welt« durch Bücher und Briefe ermöglicht, wie Christa Baumberger behauptet, nicht allen behandelnden Psychiatern jedoch kommt diese »Schlüsselrolle«384 zu. Gerade die Bücherwelt der Anstalt ist eine, die einer rigiden Kontrolle unterliegt, so wird in der bereits erwähnten ›Gemeinsamen‹ 1934 von Klaesi festgehalten: »Pat. hat sich inzwischen von Bibliotheken Bücher zukommen lassen, er soll sie, weil er sie auch verleiht, unter Zensur stellen.«385 Klar ist, dass sich Glausers Schreiben nach dem Burghölzli-Tagebuch weiterentwickelte und dass die Orte der Internierung und die Personen, denen er begegnete, dieses Schreiben, wie auch das Lesen, geprägt haben. Die Voraussetzungen jedoch, dass er in der Anstalt überhaupt schreiben konnte, waren für Glauser nicht immer gegeben, wie die Briefe aus der Waldau zeigen. Ähnlich wie an seinen Vormund Schneider und an Direktor Klaesi, schreibt Glauser auch an Arnold Weber von seinen Mühen, in der Waldau zu schreiben: »Ich kann nicht mehr schreiben und nur mit den größten Schwierigkeiten etwas arbei382 | Glauser [1920], S. 18–20. Siehe auch Saner (1981b), S. 184 f. 383 | »So mögen die schlagartigen Veränderungen, die sich an Glausers Prosastil im Frühjahr 1925 vollzogen, nicht zuletzt mit der Person und dem literarischen Geschmack Max Müllers zusammenhängen; die spätexpressionistische Manier von Glausers frühen Texten hätte ihn wohl kaum überzeugt. Ohne Müllers nachhaltigen Einfluß, seine Kritik wie seinen Zuspruch, wäre Glauser sicher nicht zu dem lakonisch und unprätentiös erzählenden Autor geworden, als den man ihn heute kennt, ja, vielleicht wäre er überhaupt nie ein wirklicher Autor geworden.« Glauser (1988), Nachwort, S. 547. Diese Setzung einer Abhängigkeit des Schreibens eines Insassen vom behandelnden Psychiater erinnert an die in 4.2.3 bereits zitierte (und dreißig Jahre ältere) Aussage Wyrschs, ohne Morgenthaler wäre Wölfli nicht Künstler geworden: »Hätte die Waldau nicht bereitwillig, sobald sie das Talent bemerkte, Raum und Zeit, Buntstifte und Papier immer zur Verfügung gestellt, und hätte Walter Morgenthaler später nicht ein Buch darüber geschrieben, so wäre das Werk des Pfleglings, denn genau dies war er [Wölfli], nicht entstanden und nicht bekannt geworden. Wölfli war ein Verdingbub und ein Bauernknecht; nicht viel mehr als Lesen und Schreiben konnte er, und vielleicht hat er nicht einmal je ans Zeichnen gedacht.« Wyrsch (1955), S. 127 f. 384 | Baumberger (2010, S. 76) ist in Bezug auf die Rolle von Max Müller oder Oskar Rothenhäusler zuzustimmen, und für die Waldauer Zeit wäre Otto Briner zu ergänzen. Auf andere Psychiater wie etwa Weber oder Klaesi trifft die Zuschreibung einer »Schlüsselrolle« sicher nicht zu. 385 | Kg Waldau, Nr. 11767, S. 8, Eintrag vom 19. März 1934.
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ten.«386 Das Nicht-Schreiben-Können in der Anstalt zieht sich als Motiv durch Glausers Briefe und dieses Motiv scheint teilweise argumentativ für bestimmte Zwecke eingesetzt zu werden. So soll die Unmöglichkeit des Schreibens in der Anstalt als Grund für eine vorzeitige Entlassung gelten.387 Dieser Darstellung des Ortes, der Schreiben verunmöglicht, diametral gegenüber steht die Beschreibung der Waldau als Ort der Ruhe, an dem sich durchaus schreiben lässt, wie Glauser in einem Brief an Beatrix Gutekunst, anderthalb Monate nach der Abfassung des Briefes an Weber, ausführt: »[E]s ist wohl nicht das ungünstigste, daß ich noch eine Zeitlang interniert bleibe; ich komme zu einer gewissen Ruhe, die ich damals nicht hatte, und ich muss offen sagen, daß die Atmosphäre hier in der Waldau entschieden zuträglicher ist als die in Münsingen. Ich hab mehr Ruhe und kann jetzt, nachdem ich mich akklimatisiert habe, ganz ordentlich schreiben.« 388
Glauser kann, wie auch dieses Zitat zeigt, unterschiedliche Anstalten miteinander vergleichen und in diesem Vergleich scheint die Waldau zumindest zeitweise und in der Darstellung, die Glauser gewissen Adressaten wie hier Gutekunst zukommen lässt, nicht so schlecht abzuschneiden. Auch in einem wütenden Brief an Schneider muss Glauser zugeben, dass er in der Waldau zumindest arbeiten kann: »Sie schreiben von den Anstrengungen, die ich zu machen hätte, um im Frühling entlassen zu werden… Lieber Herr Doktor! Das kommt mir so vor, wie wenn man einem an beiden Händen von starken Leuten gehaltenen Violinspieler sagen würde; ›So mein lieber Herr, jetzt spielen sie uns einmal die Teufelstriller … Sie können nicht? Machen Sie eine Anstrengung! Es ist nur Einbildung, daß Sie gehalten werden. Geben Sie sich ein wenig Mühe, es wird sicher gehen, auch ohne Geige …‹ Nein, im Ernst, wie stellen Sie sich diese Anstrengung vor? Ich kann nicht mehr tun als schreiben, still sein und versuchen, den Protest, der immer wieder wachsen will, mit vernünftigen Argumenten abzubauen. Mehr kann ich, weiß Gott, nicht. […] Gewiß, ich will gerne zugeben, daß die Waldau nicht mit einem Konzentrationslager oder mit [der kantonal-bernischen Strafvollzugsanstalt, Anm. M.W.] Witzwil zu vergleichen ist, aber immerhin … Einmal möchte man doch wieder ein wenig anders leben. Nun, allzusehr klagen will ich nicht. Ich habe arbeiten können, das ist viel. Das habe ich vor allem Dr. Briner zu verdanken. Er hat sich meiner freundlich angenommen, man kann mit ihm reden, ohne fürchten zu müssen, daß man plötzlich wieder etwas ›mißverstanden‹ hat.« 389
Damit wird kein Einverständnis mit den Einschränkungen im Klinikalltag ausgedrückt, jedoch zumindest ein pragmatisches Auskommen mit den Gegebenheiten der Anstalt. Glauser weiß sich in der Waldau zu arrangieren, wie er Gutekunst
386 | Friedrich Glauser an Arnold Weber, Waldau, Bern, 29. April 1934. In: Glauser (1988), S. 491. 387 | Ebd. 388 | Friedrich Glauser an Beatrix Gutekunst, Waldau, 15. Juni [19]34. In: Glauser (1988), S. 492. 389 | Friedrich Glauser an Robert Schneider, Waldau, 31. Dezember 1935. In: Glauser (1991), S. 108 f.
Schreiben (und Lesen) hinter den Sandsteinmauern
schreibt: »[H]ier ist es eigentlich leichter, das, was ja an jedem Anstaltsbetrieb unsympathisch ist, zu verdauen und von sich abzustoßen.«390 In der Waldau war auch Glauser in der Landwirtschaft tätig, teilweise übernahm er auch Schreibarbeiten für die Ärzte. Schon einige Tage nach seiner Ankunft in der Waldau ist in der Akte vermerkt: »will auch für uns abschreiben.«391 Wieder ein paar Tage später heißt es: »Arbeitet für die Ärzte, welche ihm Gutachten und Akten etc. diktieren, was er ordentlich macht.«392 Daneben schreibt er für sich: Briefe sowie Prosa und kleine Gedichte, die er in die Briefe einflechtet. Die Waldau ist damit Arbeits- und Schreibort und diese Doppelung beeinträchtigt das Schreiben von Zeit zu Zeit. So beklagt sich Glauser einmal gegenüber Berthe Bendel, neben dem Arbeiten und dem Schreiben eines Romans würden ihm die Ideen für Briefe fehlen: »Weißt du, wenn man hier nur so drei Nachmittage in der Woche für sich hat u. den Rest auf dem Feld schaffen muß, fällt einem gar nichts mehr ein, was man so einem kleinen Mädchen erzählen könnte. Was einem einfällt, langt gerade für den Roman oder was man sonst daneben schreibt.« 393
In den Briefen reflektiert Glauser diese auch als Medium, das er verwendet, so betont Glauser häufig, sie aus Mangel an Gesprächsmöglichkeiten zu schreiben. In einem Brief an Martha Ringier bringt er es auf den Punkt: »Ich seh so wenig Leute, darum schreib ich gern Briefe.«394 Briefe sind für Glauser eine Abwechslung, wie er an den Schweizer Schriftsteller Rudolf Jakob Humm schreibt und sich damit indirekt für die Länge des Briefes entschuldigt: »Für mich ist es zwar immer lustig, ein wenig langfädig in Briefen zu plaudern – es ist so eine Entspannung und Abwechslung.«395 An Ringier gibt Glauser in einer ironischen Selbstanalyse an, aus »reinste[r] Graphomanie«396 sei der sechsseitige Brief entstanden. Ihr berichtet er 390 | Friedrich Glauser an Beatrix Gutekunst, Waldau, 15. Juni [19]34. In: Glauser (1988), S. 492 f. 391 | Kg Waldau, Nr. 11767, Umschlag, unpag., S. 4, Eintrag vom 10. März 1934. 392 | Ebd., S. 10, Eintrag vom 21. März 1935, signiert mit »Fv«. Aus einer solchen Schreibtätigkeit für die Anstalt Münsingen nahm Glauser auch Material, das er literarisch verwertete: 1931 tippte er dort Akten ab und machte sich einen Durchschlag der Akte eines Patienten »R. P.«, der in Matto regiert als ›Fall Pieterlen‹ vorkommt. Die Klinik war für Glauser nicht nur Ort der Erfahrung, sondern auch des Auffindens von Material und Erfahrungen, die ihn nicht direkt betrafen. Die administrativen und psychiatrischen Schreibpraktiken der Anstalt werden durch Glauser potenziert und in literarisches Schreiben transformiert. Siehe zur Herkunft des ›Falls Pieterlen‹ die Anmerkungen Bernhard Echtes in Glauser (1998) und Thüring (2005c). 393 | Friedrich Glauser an Berthe Bendel, [Münchenbuchsee, ca. 20. Mai 1935]. In: Glauser (1991), S. 16. 394 | Friedrich Glauser an Martha Ringier, Bolligenstraße 117, Ostermundigen [= Waldau], 3. April [19]35. In: Glauser (1991), S. 10. 395 | Friedrich Glauser an Rudolf Jakob Humm, [Waldau], 6. Januar [19]36. In: Glauser (1991), S. 118. 396 | Friedrich Glauser an Martha Ringier, [Waldau], 2. März [19]36. In: Glauser (1991), S. 188.
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auch, dass das Schreiben der Briefe ihn erleichtern würde: »Ach, maman Marthe, es ist gut, daß Sie auf der Welt sind, ich kann da hin und wieder mal brieflich das Kalb machen, und das tut so wohl.«397 An Josef Halperin gerichtet bedauert er aber die einseitige Kommunikationsmöglichkeit, die Briefe bieten, und mahnt ihn: »Und legen Sie nicht alles, was ich sage, auf die Goldwaage. Es ist so schwer, ohne Gegenrede Monologe zu halten.«398 Briefe zu schreiben ist also in der Waldau vor allem ein schriftlicher Versuch Glausers, fehlende Gespräche zu kompensieren, und in der Erkenntnis, dass dies nur teilweise gelingen kann, sind sie vor allem auch Ausdruck seiner Einsamkeit. Zynisch und ignorant mutet in diesem Zusammenhang der knappe Eintrag in der Akte an, in dem zum Briefe schreiben vermerkt ist: »Viel kindische Korrespondenz mit allerlei psychopathischen Damen.«399 Zusätzlich zur gattungsspezifischen Beschränktheit des Mediums ›Brief‹, das zu einem bestimmten Zeitpunkt (bis nämlich eine Antwort eintrifft) nur eine Einwegkommunikation ermöglicht, ist in der Waldau der Briefverkehr allgemein, wie bereits beschrieben,400 und damit auch für den mittlerweile bekannten Autor Restriktionen unterworfen. Diesen Umstand thematisiert Glauser auch: Einerseits ist die Zustellung Willkür ausgesetzt, wie Glauser in einem Brief an Gutekunst entschuldigend anfügt: »Deinen Brief hab ich erst gestern abend bekommen, sonst hätt ich dir früher geschrieben. Aber die Postbestellung ist ein wenig kompliziert hier. Dafür ist ja niemand verantwortlich, und man nimmt es als Fatum hin.« 401 Andererseits werden auch die Briefe aus der Waldau unter Klaesi weiterhin zensiert, wie Glauser etwa an Martha Ringier klagt: »Es ist immer so kompliziert mit Fortschicken und der Briefzensur, und ich bin faul, und am Morgen tu ich Kompost umgraben und Herdöpfel setzen«.402 Schreiben ist durch die Zensur auch ein Lesen und (durch die Zensurierenden) Gelesen werden, manchmal sogar ein Weitergeschrieben-Werden, wenn man sich zum Beispiel die an einen Brief an Robert Schneider angehängte Nachschrift von Otto Briner, Glausers behandelndem Arzt, vom April 1936, also kurz vor Glausers Austritt, ansieht. Otto Briner (1904–1989) wird vom Herausgeber der Briefe 2, Bernhard Echte, als »Glausers wichtigster Gesprächspartner«403 in der Waldau bezeichnet.404 Vermutlich hat Briner nach der Lektüre von Glausers Brief die besagte Nachschrift noch angefügt. Ob Glauser darüber informiert war, ist anzuzweifeln, immerhin äußert sich Briner offen und sehr kritisch über Glausers Zukunft nach dem Leben in der Waldau, wenn er lakonisch schreibt: 397 | Friedrich Glauser an Martha Ringier, [Waldau], 17. März 1936. In: Glauser (1991), S. 196. 398 | Friedrich Glauser an Josef Halperin, [Waldau], 19. Februar 1936. In: Glauser (1991), S. 166. 399 | Kg Waldau, Nr. 11767, S. 8, Eintrag vom 18. September 1934. 400 | Siehe Kapitel 3.5.4. 401 | Friedrich Glauser an Beatrix Gutekunst, [Waldau], Donnerstag, 20. Sept. [19]34. In: Glauser (1988), S. 500. 402 | Friedrich Glauser an Martha Ringier, [Waldau], 9. April 1936. In: Glauser (1991), S. 245. 403 | Bernhard Echte in: Glauser (1991), S. 106, Anm. 4. 404 | Briner wurde 1938 vom Zürcher Regierungsrat zum Oberarzt ans Burghölzli gewählt und verließ deshalb die Waldau. (Jb 1938, S. 9 f.).
Schreiben (und Lesen) hinter den Sandsteinmauern »Zu Ihrer Orientierung teilen wir Ihnen mit, daß wir damit einverstanden sind, wenn Herr Glauser in Frankreich die Stelle bei Herrn Jucker antritt, sofern der betreffende Herr wirklich damit einverstanden ist. Selbstverständlich ist die Prognose schlecht. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird Herr Glauser früher oder später wieder interniert werden müssen.« 405
Ein solches Weiterschreiben von Glausers Briefen durch Ärzte ist jedoch unüblich – oder die entsprechenden Dokumente sind nicht überliefert. Dieses Beispiel zeigt aber, welche Bedeutung Briefe für den Insassen Glauser und welche sie für die Ärzte haben können. Briner war Glauser wohlgesonnen, trotzdem ist er an der Lektüre von Patientenbriefen beteiligt, vertritt die Institution und führt ihre Kontrollaufträge aus. Briefe aus der Anstalt können deswegen stets nur bedingt als ›private‹ Texte gelesen werden. Komplexe Adressatenstrukturen oder, wie hier, mehrfache Absender sind durchaus möglich. Dass Glauser sich dieser Tatsache bewusst war, zeigt ein Brief an Briner von März 1937, also beinahe ein Jahr nach Verlassen der Waldau. Glauser schreibt dort: »Sie haben vielleicht einmal den Brief gelesen, den ich Halperin schrieb.« 406 Glauser will zu diesem Zeitpunkt seine Ausführungen über den Kriminalroman nicht noch einmal wiederholen, denn er weiß auch beinahe ein Jahr nach dem Verfassen des Briefes an Halperin noch, was er dort geschrieben hat und dass Briner als Verantwortlicher und Ausführender der Zensur diesen Brief wohl auch gelesen hat.407 Glauser zeigt mit dieser Bemerkung auch auf, dass er Briner diese Kontrolltätigkeit nicht vergessen hat. Der in diesem Gefüge der systematischen Kontrolle von Schriftlichem schreibende Glauser zeigt in seinen Briefen die eigene Einsamkeit, die diese Texte auch zu Dokumenten der Wut werden lassen: »Ach, Berthe, ich hab so furchtbar Lust, dir etwas vorzuklagen, es geht mir mies, ich komm mir ganz allein vor, und überhaupt niemand kümmert sich um mich, und es ist alles zum Kotzen. Man kann mit keinem Menschen reden, du hockst irgendwo in einem Laden u. bedienst deine Kunden mit Würsten und Laffli, 408 und der Friedel sitzt zwischen katatonen Endzuständen u. verblödenden Paralytikern, jätet Rübli oder tut heuen u. möchte – ja, was möcht er eigentlich? Er hat eine so ungewisse Sehnsucht im Herzen […].« 409
405 | Nachschrift von Otto Briner, angefügt an den Brief Friedrich Glausers an Robert Schneider, Waldau, 13. April 1936. In: Glauser (1991), S. 249. 406 | Friedrich Glauser an Otto Briner, Route de Pornic, La Bernerie, Loire Inférieure den 9. März 1937. In : Glauser (1991), S. 560. 407 | Im Brief, auf den Glauser hier Bezug nimmt, präsentierte er Halperin eine interessante »kleine Theorie« zum Kriminalroman, die seinen Inhalt in den Bestandteilen »Handlung« und »Füllsel« analysiert: »Nicht wahr, die Handlung eines Kriminalromanes kann man gewöhnlich in drei Seiten erzählen, wenn es sein muß. Der Rest ist also Füllsel. Eigentlich ist das Problem nun das, wie man das Füllsel gestaltet.« Friedrich Glauser an Josef Halperin, [Waldau], 27. IV. [19]36. In: Glauser (1991), S. 267. 408 | Ein Laffli ist ein Stück Fleisch von der Schulter des Schweins. 409 | Friedrich Glauser an Berthe Bendel, [Münchenbuchsee, Ende Mai/Anf. Juni 1935]. In: Glauser (1991), S. 19.
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Mit den »katatonen Endzuständen« und den »verblödenden Paralytikern« stellt Glauser hier seine Kenntnisse in der Verwendung von psychiatrischem Vokabular aus. Die Stelle zeigt auch, dass er seine Mitpatienten beobachtet, vielleicht auch, weil er Gesprächspartner oder Schreibstoff sucht. Glauser sitzt in der Waldau zwischen diesen anderen Patienten fest, verrichtet seine Arbeit in der Landwirtschaft und schreibt nebenbei. Dieses literarische Schreiben scheint teilweise aber auch zur Belastung zu werden, nicht immer läuft es so, wie Glauser möchte. So schildert er Martha Ringier gegenüber mit einer Prise Ironie die Schwierigkeiten in der Umsetzung seines Plans, die Zeit nach seiner Rückkehr aus der Legion beschreiben zu wollen: »Aber das braucht Zeit, und ich schreibe so schwer, immer mit Ächzen und Stöhnen und würde viel lieber Stauden züchten oder Hunde oder Salat pflanzen als schreiben.«410 Die Schreib-Unlust richtet sich auch direkt gegen das Schreibinstrument, die Schreibmaschine, derer sich Glauser zwischendurch am liebsten entledigen möchte: »Ich schreibe also vorläufig Kriminalromane und werde den Tag preisen, wo ich die Schreibmaschine auf den Küderhaufen werde schmeißen können und dafür eine Hunde-, Salat-, Rittersporn- oder Entenvarietät werde züchten können.«411 Glauser thematisiert auch Schreibhindernisse und Materialprobleme, so dass in seinen Texten von den in Kapitel 2.1.3 vorgestellten Schreibszenen (oder SchreibSzenen) gesprochen werden kann. Auch hier können sie jedoch nicht direkt beobachtet werden, die Briefe geben lediglich Einblick in beschriebene Schreibszenen, sie sind also vom Schreibenden arrangiert, durch den Brief bereits medialisiert und an Adressaten gerichtet. Exemplarisch soll eine Stelle aus einem Brief an Glausers Vormund Schneider zitiert werden, in dem Glauser Schreibmaterial thematisiert und gleichzeitig auch die Probleme mit seiner Schreibmaschine darlegt: »Ich sage das nicht, um Sie anzupumpen, aber ich brauche notwendig Schreibmaterial. Und zwar: 1000 Bogen Foliopapier und ein Heft Pelikan-Durchschlagpapier (womöglich schwarz). Auch ein Farbband, Normalgröße, Muster lege ich Ihnen bei. Wären Sie so freundlich, mir das besorgen zu lassen, ich bin sicher, Ihre Sekretärin kennt billige Bezugsquellen. […] Das Papier sollte nur ja nicht zu dünn sein, denn ich habe eine kleine Walze an meiner Maschine, die das Papier immer verrumpfelt.« 412
Indirekt ist mit der Materialbestellung, die Glauser an Schneiders Sekretärin weitergeleitet haben möchte, natürlich auch das Problem der Finanzen angesprochen. Glauser hat einen großen Bedarf an Papier, und er ist einerseits auf kostengünstiges Material angewiesen, das aber andererseits eine gewisse Qualität aufweisen soll. Instrumentalität als eine Komponente von Schreibszenen kommt hier in Form von Papier, Farbband und Schreibmaschine vor, deren ›Widerstand‹ sich in der Walze zeigt, die zu dünnes Papier zerknittert, das mechanische Zusammenspiel und damit den Schreibprozess verunmöglicht. Fasst man den Begriff der Instrumentalität etwas weiter, wäre im Falle Glausers nicht nur Schreibmaschine, Farbband 410 | Friedrich Glauser an Martha Ringier, Bolligenstraße 117, Ostermundigen [= Waldau], 3. April [19]35. In: Glauser (1991), S. 9. 411 | Friedrich Glauser an Martha Ringier, [Waldau, 28. 4. 1936]. In: Glauser (1991), S. 271. 412 | Friedrich Glauser an Robert Schneider, Schönbrunnen, 8. September 1935. In: Glauser (1991), S. 36.
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und Papier aufzuzählen, sondern – und das mag erstaunen – auch ein Kartenspiel. Denn gerade beim Kartenspiel, so Glauser an Bendel, kommen ihm gute Einfälle. Diese Bestellung geht hier über den privaten Weg: »Willst du so lieb sein und mir ein paar Sachen mitbringen: 1 Stück Palmolive-Seife und zwei Kartenspiele. Grins jetzt nicht. Es ist komisch, wenn ich hin und wieder jasse, fallen mir beim Spielen die schönsten Kombinationen zum Schreiben ein.«413 Das Kartenspiel ist nicht konkretes Schreibmittel, ermöglicht aber indirekt das Schreiben, indem dabei Ideen generiert werden können. Folgt man Hubert Thürings Erweiterung des Schreibszene-Modells auf der Seite der Instrumentalität und sucht in der zitierten Passage technologisch-institutionelle Aspekte,414 so sieht man hier eine thematische Verschränkung einer Schreibtechnologie einerseits, die für ein reibungsloses Funktionieren ein bestimmtes Material benötigt und andererseits einer Institution, die dieses Material nicht zur Verfügung stellt und die es für den Autor notwendig macht, es im Fall des Papiers über den vorgeschriebenen Weg der Instanzen bei seinem Vormund zu bestellen. Schreiben wird damit nicht nur an den Ort und die Zeit, also die zur Verfügung gestellte ›Freizeit‹ gebunden, sondern auch an das Vorhandensein ökonomischer Ressourcen und das Funktionieren der technischen Mittel sowie die Auftragserfüllung durch den Vormund, seine Angestellte respektive im Falle des Kartenspiels durch die Freundin Berthe Bendel. Den Schreibort bezeichnet Glauser in einem Bild als »Klausur«415 oder als »Aquarium« – beides abgeschlossene Orte, wobei sich an ersterem üblicherweise Menschen freiwillig aufhalten. Im Bild des Aquariums hingegen wird Glauser selbst zum stummen Fisch in tierischer Gefangenschaft. Schreiben ist dabei nicht nur ein Beschreiben des Aquariums und der Isolation in ihm, sondern vor allem ein Anschreiben gegen die Vertierung, das Aquarium und den Aufenthalt darin. Glauser wendet sich im Dezember 1935 an Humm: »Ich war so unlustig, habe mich mit meinem Schundroman 416 herumgeplagt (man plagt sich nämlich wirklich dabei, denn man hat ein schlechtes Gewissen, solche Sachen zu schreiben, aber die Kraft zu nichts anderem, hier im Aquarium), er läuft jetzt ein wenig besser[,] aber ich habe trotzdem das große Kotzen. 417 […] also, daß mein Unterbewußtsein, oder etwas in mir, ganz zufrieden ist, verantwortungslos in den Tag hineinzuleben. Das war bis jetzt so. Aber jetzt ist etwas Neues hinzugekommen: ›Es‹ will nicht mehr interniert sein, ›es‹ möchte wieder einmal wie ein Mensch leben und 413 | Friedrich Glauser an Berthe Bendel, [Waldau, ca. 20. Dezember 1935]. In: Glauser (1991), S. 101. 414 | Von Thüring am stärksten ausgeführt in Interventionen zwischen Körper und Seele, Thüring (2005b), in dem das »biopolitische Dispositiv der Psychiatrie« in Matto regiert unter Bezugnahme auf die Studien Foucaults und Agambens dargestellt wird. 415 | »Ich habe es hier in meiner Klausur fertig gebracht (Sie wissen doch, daß ich wieder in der Waldau bin), für einen Wettbewerb einen Kurzroman zu schreiben.« Beim genannten Kurzroman handelt es sich um Die Fieberkurve. Friedrich Glauser an Josef Halperin, Bolligenstraße 117, Ostermundigen, den 31. Dezember [19]35. In: Glauser (1991), S. 111. 416 | Gemeint ist die Fieberkurve. 417 | Friedrich Glauser an Rudolf Jakob Humm, [Waldau], 13. Dezember 1935. In: Glauser (1991), S. 91.
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Schreiben am Rand nicht wie ein Goldfisch im Aquarium sich stets die Nase am Glas anstoßen, wenn auch das Aquarium noch so wohl temperiert ist. Verstehen Sie? Und das macht die ganze Sache so widerlich, so unfruchtbar, so unnötig. 418 Ja, es hat mir sehr wohl getan, Ihnen so lang zu schreiben, ich komm mir dann plötzlich wieder ganz menschlich vor und nicht mehr als der bewußte stumme Goldfisch im Aquarium. Und darum lassen Sie den Platzregen der kleinen Buchstaben über sich ergehen.« 419
Auch hier zeigt Glauser seine Kenntnisse des Fachjargons und wendet Freuds Vokabular spöttisch auf den Goldfisch, der er selbst ist, an. Im Brief analysiert der Autor sich also ironisch als Fisch, der ganz so stumm nicht ist, denn zumindest kann er aus Buchstaben »Platzregen« machen und damit wird bereits eine Therapie angewendet: Schreiben als Selbsttherapie des Insassen. Auch dieser Goldfisch-Brief wird im gläsernen »wohl temperiert[en]« Glaskäfig namens Waldau von Ärzten gelesen, die schriftliche Selbstanalyse des Patienten, der sich zum wissenden Tier macht, nolens volens den Fachpersonen vorgelegt und erst danach erreicht die große Ansammlung der »kleinen Buchstaben« ihren eigentlichen Adressaten, Humm. Die Bürde der Briefzensur belastet Glauser nicht mehr, als es ihm möglich wird, die Waldau zugunsten der freien Kolonie Anna Müller in Münchenbuchsee zu verlassen. Der Schreibort wird damit nicht nur geografisch ein anderer. Aus den Briefen aus der Kolonie erfährt man, dass die Briefzensur in der Waldau beinahe zum Verstummen Glausers geführt hätte, wie er Bendel schreibt: »Weißt du, die Sache ist die: Sie haben mich endlich in eine Colonie getan. Da hab ich freien Ausgang und kann am Sonntag kommen u. gehen, wie’s mir paßt. Auch die Briefe werden nicht gelesen. Das war ja zum Kotzen in der Waldau, darum hab ich auch nicht mehr geschrieben.« 420
Der neue Ort wird, wie hier aus der Quellenangabe ersichtlich ist, auch in die Ortsangabe im Brief aufgenommen, während die Waldau als Entstehungsort der Briefe und als Aufenthaltsort Glausers sonst häufig keine Erwähnung findet und deshalb für die Publikation von den Herausgebern ergänzt werden musste. Die neue Freiheit im Kommunizieren in der Kolonie führt auch zu Missverständnissen, so meinte anscheinend Berthe Bendel, ihre Briefe würden nach wie vor von Ärzten gelesen und schrieb deshalb vermutlich eher belanglose Inhalte. Bendels Briefe hat Glauser vernichtet, deswegen muss man aus seinen Reaktionen Vermutungen über ihren Inhalt anstellen. Im folgenden Fall zeigt sich Glauser nach einem erzürnten Schreiben reumütig: »Ach, Berthe, du mußt einfach verschiedenes verzeihen. Meinen wüsten Brief (ich bin gar nicht auf den Gedanken gekommen, daß du gemeint hast, es sei hier noch Censur, u. darum 418 | Ebd., S. 94. 419 | Ebd., S. 99. 420 | Friedrich Glauser an Berthe Bendel, Colonie Schönbrunn, Münchenbuchsee, 2. Okt. 1934. In: Glauser (1988), S. 504. In der Akte steht »Kommt in die Freie Kolonie Schönbrunnen.« Und etwas später »Hielt sich bis jetzt in Schönbrunnen gut.« Waldauer Kg Nr. 11767, S. 8, Einträge vom 29. September 1934, signiert mit »Dv.« Und 26. Oktober 1934, signiert mit »Wbr.«
Schreiben (und Lesen) hinter den Sandsteinmauern so verkrampft geschrieben hast) u. dann, daß ich so lang nicht geschrieben hab. Aber ich hab wenig Zeit, arbeite am Tag draußen, u. wenn ich einen Nachmittag frei hab, so schreib ich. Ich muß schauen, Geld zu machen u. den Roman fertigzubringen.« 421
Vielleicht auch um solche Missverständnisse zu verhindern, versucht Glauser, seine Briefpartnerinnen zu Besuchen in der Waldau zu bewegen. Dort gab es ein spezielles Besucherzimmer, wie sich einem Brief an Berthe Bendel entnehmen lässt, in dem Glauser schreibt: »Kannst du nicht einmal kommen? Ich weiß schon, es ist langweilig und trostlos hier im Besucherzimmer, aber es würd mich doch freuen, dich zu sehen.«422 Auch an Beatrix Gutekunst schrieb Glauser, dass ein ungestörtes Treffen in der Waldau nicht möglich sei: »Vielleicht wagst du dich mal in die Waldau? Wir werden zwar nicht allein sprechen können, aber über die Störung kann man schon hinwegkommen. Weißt du, es ist manchmal sehr anstrengend, die ganze Zeit mit Leuten reden zu müssen, die im Grunde eine fremde Sprache reden, die man gelernt hat. Aber manchmal möchte man ganz gerne die alte Sprache wieder sprechen, die gewohnte.« 423
Die Versuche, die Glauser unternimmt, um seine Bekannten von Besuch zu überzeugen, zeigen einerseits seine Schwierigkeit, mit der Isolation umzugehen, andererseits betonen die Briefe auch immer wieder die beinahe chiffrenartige Verwendung der »Sprache«, des Sprechens durch Glauser. So wird, wie er schreibt, in der Anstalt eine »fremde Sprache« gesprochen, die Glauser zwar kennt, die er aber tauschen möchte gegen die »alte Sprache«. Die seitenlangen Briefe Glausers dokumentieren so in ihrem Überfluss an Sprachmaterial gerade auch die Unfähigkeit, in der Anstalt zu »reden«.424 Es handelt sich bei dieser von der Institution bewirkten Unfähigkeit, in der eigenen Sprache sprechen zu können, um eine Unmöglichkeit, die in Briefen wortgewaltig ausgedrückt und reflektiert wird. Damit bleibt die »alte Sprache« auch in der Anstalt zumindest thematisch erhalten, auch wenn sie im Alltag nicht angewendet werden kann, wie Glauser bedauernd feststellt. Während in der Waldau die Besuche und Gespräche mit Besuchern von Angestellten überwacht wurden, bot die Kolonie auch in diesem Bezug eine vergrößerte Freiheit, mit deren Erwähnung Glauser erneut versucht, Bendel zu einem Besuch in die Kolonie zu bewegen: »Aber willst du mich nicht einmal besuchen kommen? Es ging gut hier, ich bin wieder in ›buchsi‹, wie sie hier sagen. Adresse: Kolonie Schönbrunn, Münchenbuchsee. Und wir können uns wenigstens ohne Wärterbegleitung sehen und ein wenig zusammen reden.«425 421 | Friedrich Glauser an Berthe Bendel, [Münchenbuchsee, ca. 12. Mai 1935]. In: Glauser (1991), S. 12. 422 | Friedrich Glauser an Berthe Bendel, Waldau, 10. Dez. 1935. In: Glauser (1991), S. 90. 423 | Friedrich Glauser an Beatrix Gutekunst, Waldau, 15. Juni [19]34. In: Glauser (1988), S. 493. 424 | Der Annahme, dass Glauser über die Briefe vor allem auch ein Dialog gelingt, wie es beispielsweise Baumberger (2010, S. 76) darstellt, ist deswegen nur teilweise zuzustimmen: Der Dialog mittels Briefen aus der Anstalt gelingt eben nur bedingt, wie Glauser betont. 425 | Friedrich Glauser an Berthe Bendel, [Münchenbuchsee, ca. 8. Mai 1935]. In: Glauser (1991), S. 10.
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Darüber, wo und wie Glauser wohnen solle, ob in der Anstalt, der Kolonie oder in einer privaten Unterkunft mit regelmäßigen Untersuchungen in einer psychiatrischen Poliklinik, wird auch während der Waldauer Zeit immer wieder diskutiert. Die von Glauser präferierte Variante wäre die private Unterkunft mit poliklinischen Untersuchungsterminen gewesen.426 Zwischen 1934 und 1936 war Glauser denn auch in allen drei Varianten versuchsweise oder gezwungenermaßen untergebracht, allerdings musste er immer wieder in die Waldau zurückkehren. Die Akteneinträge dokumentieren diese Versuche, sie sind aber auch Belege des Misstrauens, Glauser mache einen »ganz unzuverlässigen Eindruck«,427 heißt es etwa, man verdächtigt ihn, einem anderen Patienten bei einem Fluchtversuch behilflich gewesen zu sein und man könne ihm »nicht und in nichts trauen.« 428 Es waren mit und neben den Rezeptfälschungen429 und seiner Opiumabhängigkeit immer auch ökonomische Gründe, die gegen eine Selbstständigkeit Glausers sprachen. Das Kostgeld für seinen Aufenthalt in der Waldau bezahlte Glausers Vater.430 Friedrich Glauser versuchte auch in der Waldau mit der Veröffentlichung von Texten Geld zu verdienen, um nach Möglichkeiten auf eigenen Beinen stehen zu können. Briefe etwa an den Journalisten und Verleger Friedrich Witz, Redakteur bei der Zürcher Illustrierten, an Martha Ringier, die sich ursprünglich als Autorin und Redakteurin 426 | Weihnachten 1934 verbrachte Glauser in Bern: »Über die Festtage bin ich mit Dr. Webers Erlaubnis in Bern geblieben. Falls zu Anfang des Monats genügend Geld eingeht, werde ich voraussichtlich hier bleiben können. Ich habe selbst vorgeschlagen, mich allwöchentlich einmal in der psychiatrischen Poliklinik vorzustellen, um dadurch eine Kontrolle über mein Verhalten zu ermöglichen.« Friedrich Glauser an Robert Schneider, [Bern], 28. Dezember 1934. In: Glauser (1988), S. 506. Ein knappes Jahr später versucht Glauser, eine Variante mit Unterkunft in Basel und poliklinischen Untersuchungen in der Friedmatt zu erreichen. Wie er an Berthe Bendel schreibt, versucht er für dieses Vorhaben auch Außenstehende, etwa John E. Staehlin aus der Friedmatt, zu gewinnen: »Ich war heut bei Staehlin in der Friedmatt, weißt, er ist Professor u. Direktor, u. er hat mir versprochen, er wird mit Klaesi schon alles ins reine bringen.« Friedrich Glauser an Berthe Bendel, [Basel, 18. Oktober 1935]. In: Glauser (1991), S. 52. 427 | Kg Waldau, Nr. 11767, S. 8, Eintrag vom 26. Oktober 1934, signiert mit »Wbr.«. Der gleiche Wortlaut findet sich auch auf Seite 9 im Eintrag vom 1. Dezember desselben Jahres, ebenfalls von Weber signiert. 428 | Kg Waldau, Nr. 11767, S. 8. Eintrag vom 18. September 1934. 429 | Als Mitte Januar 1935 überlegt wurde, Glauser, der damals Pläne hatte, nach Dalmatien zu ziehen, zu entlassen, fälschte er wiederum ein Rezept, nahm Opium und wurde deswegen neuerlich interniert. Zu Dalmatien geben die Herausgeber der Briefe 1, Echte und Papst, einen Eintrag vom 1.12.1934 aus der Krankengeschichte wieder, der wie folgt lautet: »Möchte gern nach Dalmatien, wo es so billig sei, um dort mit seinem Geld – er hofft, seinen Detektivroman bei der ›Neuen Zürcher Zeitung‹ anzubringen – ein kleines Häuschen zu erwerben oder zu mieten und dort von seiner Schriftstellerei leben zu können, da ihm einige Zeitungen regelmäßige Abnahme seiner Produkte versprochen haben.« Glauser (1988), S. 509, Anm. 1. Zur Rezept-Fälschung vom Januar 1935 wird ein weiterer Auszug aus der Krankenakte wiedergegeben, siehe Glauser (1988), S. 531. 430 | Glauser Junior dazu an Schneider: »Die 75.- frs. im Monat, die meine Internierung kostet, bekommen Sie ja von meinem Vater«. Friedrich Glauser an Robert Schneider, Waldau, 16. April 1936. In: Glauser (1991), S. 257.
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der Guten Schriften und des Schweizer Tierschutzkalenders gewandt hatte oder an Ella Picard, Inhaberin einer Literaturagentur, belegen diese Versuche. Um daraus nur ein Beispiel zu nennen für Glausers stetiges Bemühen um Publikationsmöglichkeiten und damit um ein Einkommen, sei hier ein Ausschnitt aus einem Brief von 1934 an Friedrich Witz zitiert: »Wäre es Ihnen möglich, eine oder zwei von den kleineren Sachen so bald als möglich zu bringen, denn… Sie werden wohl das ›denn‹ erraten, ich brauche Geld. Es ginge wohl nicht mehr im November? Bitte nehmen Sie mir diese Zumutung nicht übel, Sie wissen ja, wie es heutzutage zugeht, man muß so ›luegen‹, wie man mit dem Geld zu Schlag kommt.« 431
Die Briefe Glausers dokumentieren sein aktives Verhandeln in eigener Sache. Neben dem literarisch-ökonomischen Hauptgegenstand, dem Verkauf seiner Texte, setzt er sich auch dafür ein, die Zukunft des eigenen ›Falls‹ zu steuern. Die Informationsvermittlung durch Briefe zwischen dem Insassen, dem Vormund als Vertreter der rechtlichen Behörde und den Exponenten der Anstalt als psychiatrischen Experten übernimmt damit gerade derjenige in der schwächsten Position – nämlich Glauser als Insasse. Damit bemüht sich der nahezu Machtlose, aber Sprachgewandte, in der Aufnahme von Verhandlungen um die Stärkung der eigenen Position und eine Verbesserung seiner Chancen. Wie er diese Fäden zusammenhält und seine Pläne in den Briefen überzeugend darzustellen versucht, sei hier an zwei Briefausschnitten aus der zweiten Hälfte des Jahres 1935 gezeigt. Der erste ist an den Vormund Schneider gerichtet. Glauser schreibt von seinem Plan, für den Bankier Ernst Jucker ein kleines Gut in Frankreich zu bewirtschaften: »In der Waldau hab ich noch nichts gesagt. Wenn ich etwas Sicheres, sowohl von Ihnen – wie Sie sich prinzipiell zur Sache stellen – u. von Herrn Jucker weiß, werd ich eine Audienz bei Herrn Professor Dr. Jakob Klaesi verlangen (Gott, ist es schön, so viele Titel zu haben!). Sie müssen schon entschuldigen, aber mit Weber verhandle ich nicht. Es schaut nichts dabei heraus. Man ist am Ende so klug wie am Anfang. Das ist übrigens kein Ressentiment, nur eine Tatsache.« 432
Glauser zeigt hier gegenüber seinem Vormund, dass er durch seinen Briefwechsel sowohl die Fäden nach außen, zu Jucker, in den Händen hält, wie auch innerhalb der Anstalt, wo er angibt, nicht mit seinem Arzt Weber sprechen zu wollen, hingegen bei Klaesi einen Gesprächstermin anzustreben. Glauser spricht dann aber doch mit Weber, wie er im Brief an Schneider vom 8. September 1935 schreibt.433 Nachdem Glauser am 8. Oktober 1935 aus der Kolonie zum Kabarettisten und Erzähler Charles Ferdinand Vaucher nach Basel geflohen war, rechtfertigt Glauser sein Verhalten in einem Brief an Klaesi:
431 | Friedrich Glauser an Friedrich Witz, Schönbrunnen bei Münchenbuchsee, den 9. November 1934. In: Glauser (1988), S. 505. 432 | Friedrich Glauser an Robert Schneider, Münchenbuchsee, Colonie Schönbrunnen, 30. Juli [19]35. In: Glauser (1991), S. 27. 433 | Friedrich Glauser an Robert Schneider, Schönbrunnen, den 8. September 1935. In: Glauser (1991), S. 36.
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Schreiben am Rand »Sie müssen auch verstehen, dass ich eine neuerliche Internierung mit gar keiner Aussicht auf Entlassung, dass ich den Gedanken an eine derartige Lösung einfach nicht mehr habe ertragen können, dass ich in einer Art Panik nach Bern gefahren bin und von dort weiter. Ich hätte, einmal wieder in der Waldau interniert, überhaupt keine Möglichkeiten mehr gehabt, mich gegen diese administrative Anordnung zu wehren. Vielleicht wird es mir gelingen, es von hier aus zu tun. […] Ich weiss ja gut genug, dass meine Ansicht über die Hoffnungslosigkeit einer noch längeren Internierung nicht die Ihre ist, aber es wäre doch immerhin möglich[,] sie noch einmal zu diskutieren. Schliesslich ist ja die grosse Gefahr einzig die, dass ich wieder Rezepte fälsche und dadurch mit der Polizei in Konflikt gerate. Aber ich werde mir die größte Mühe geben, [Streichung von zwei Wörtern, Anm. M.W.] was diese Sache betrifft, keine Angriffspunkte zu geben.« 434
Hier wird Glausers Verhandlungsstrategie in eigener Sache deutlich in der Art und Weise, wie er Klaesi anschreibt. Glauser verfasst den Brief in Basel, in Distanz zur Waldau und zu Klaesi, versucht aber mit diesem in Dialog zu treten, seine Flucht zu erklären und ihn zu überzeugen, mit ihm »zu diskutieren«. Scheinbar oder tatsächlich selbsteinsichtig berichtet er über die Gefahren, denen er sich und damit indirekt auch seinen Vormund ausgesetzt sieht und verspricht dem Direktor gegenüber Besserung. Glausers Plan geht nicht auf, am 8. November 1935 muss er wieder in die Waldau zurückkehren, nachdem Verhandlungen zwischen dem Vormund Schneider, Prof. Staehelin, dem Arzt Weber und schließlich ein Treffen von Schneider mit Friedrich und Charles Glauser in Basel scheitern.435 Schneider überredet Glauser zur Rückkehr, weil man, wie er meint, eine Anstalt nicht durch eine Flucht verlassen könne. Briner notiert dazu in der Akte: »Pat. kommt heute abend aus eigenem Antriebe zurück, d.h. auf Befehl seines Vormundes, aber ohne Begleitung. Hat in der Zwischenzeit in Basel einige ›Vorträge‹ gehalten, ist dann nach Zürich gezogen, wurde von der Polizei nie gefunden, obwohl er ausgeschrieben war!! Riecht ziemlich intensiv nach Alkohol, entschuldigt sich, dass er noch einen Becher genommen habe, bevor er sich hier wied[e]r gestellt habe. Uebertrieben höflich, zeigt aber doch seine Ent[t]äuschung, dass er in den Parterre-Wachsaal gesteckt wird.« 436
Diese Rückkehr fällt Glauser schwer und er beteuert Schneider gegenüber in einem Brief, dass die Waldau als Ort vor allem das »[S]prechen« und damit indirekt das »[S]chreiben« verhindere: »Offiziell werden Sie meine Rückkehr in die Waldau wohl schon erfahren haben. Es war nicht leicht, das dürfen Sie mir glauben. […] Manchmal hat man eine große Sehnsucht, wieder mit Leuten zusammen zu sein, mit denen man einfach sprechen kann, auf gleichem Niveau sozusagen, die in einem nicht zu jeder Zeit den Patienten sehen, mit denen man über seine Arbeit sprechen kann. Nur so ist es eigentlich möglich, irgend etwas zu schreiben.« 437 434 | Kg Waldau Nr. 11767, Friedrich Glauser an Jakob Klaesi, [Basel], 11. Oktober 1935. Mit kleinen orthografischen Veränderungen auch in: Glauser (1991), S. 47–49. 435 | Genaueres dazu siehe Saner (1981a), S. 285 f. 436 | Kg Waldau Nr. 11767, Eintrag vom 8. November 1935, signiert mit »Bri«. 437 | Friedrich Glauser an Robert Schneider, Basel, den 13. November 1935. In: Glauser (1991), S. 60.
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Im selben Monat des Jahres 1935 hegt Glauser bereits wieder den Plan, nach Basel zu gehen und sich dort jeweils in der Poliklinik zu regelmäßigen Untersuchungen einzufinden. In dieser Sache wendet er sich an Weber, Stähelin und Schneider – mit letzterem gilt es auch wieder, die finanziellen Möglichkeiten zu klären. Im gleichen Brief beschreibt er noch einmal die Unmöglichkeit, in der Waldau zu schreiben: »Noch eines müssen Sie begreifen. Ich habe doch jetzt immerhin einige Freunde gefunden, mein Name ist nicht mehr ganz unbekannt – aber es ist mir einfach unmöglich, hier zu schreiben. Und auf dies kommt es doch an. Ich bin jetzt vierzig Jahre alt, ich habe mein Leben ziemlich verpfuscht, ist es da nicht begreiflich, daß ich, sozusagen noch vor Torschluß, versuchen möchte, mir noch eine Existenz zu schaffen?« 438
Trotz Glausers Beteuerungen, er könne in der Waldau nicht schreiben, ist gerade die Zeit von Ende 1935 bis im Frühjahr 1936 äußerst produktionsreich. Die Arbeit an den Kriminalromanen scheint, wie weitere Briefstellen bezeugen, nicht linear vorwärts gegangen zu sein und Glauser äußert gegenüber seinen Bekannten immer wieder Selbstzweifel beim Schreiben. Trotzdem können die Krimis schließlich abgeschlossen werden. Ob die Unmöglichkeit des Schreibens daher vor allem gegenüber Vormund und Repräsentanten der Psychiatrie als ausschließlich rhetorisch verwendetes Argument für eine frühzeitige Entlassung eingesetzt wurde, sei dahingestellt. Bevor sich weitere Unterkapitel der Waldau als Ort der Lektüre und dem Schreiben an Matto regiert in ihr widmen, soll hier zunächst Glausers eigener zusammenfassender Überblick in der Retrospektive über seine Waldauer Zeit bis zum März 1936 Platz finden. In einem Brief an Halperin bezeichnet Glauser den Text Morphium, der die Zeit vor der Waldau sozusagen als Vorspann beschreibt, und 1932 im Schweizer Spiegel erschienen ist, als autobiografisch.439 Den Text, der in Münsingen einen großen Wirbel auslöste, verteilte Glauser als, wie die Herausgeber Echte und Papst es nennen, »Visitenkarte«440 – als solche bekam sie auch Halperin zugeschickt. Der umfangreiche Brief mündet in der Bitte an Halperin, er möge sich mit seinem Vormund treffen und sich für Glauser einsetzen. Dies ist auch der Grund, weshalb Glauser sein Leben und seine Situation an dieser Stelle so ausführlich schildert. In Ergänzung zur »Visitenkarte« setzt Glauser in diesem Brief die Beschreibung seines Lebens mit der Versetzung in die Waldau fort, darauf folgt die Berner Episode: »Ende 34 wurde ich probeweise entlassen, ich blieb in Bern, hatte ziemlich le cafard und begann wieder Opium zu nehmen. Eine Anzeige wegen eines falschen Rezepts führte mich wieder in die Waldau. Im Mai 35 wurde ich in eine freie Kolonie versetzt. Dort habe ich den ›Schlumpf‹ geschrieben, und zwar in zwei Monaten. Sie müssen sich nun die Sache so vorstellen: vier Tage in der Woche, manchmal fünf, mußte ich auf dem Feld arbeiten, der Rest gehörte mir zum Schreiben. Ich weiß nicht, ob Sie sich vorstellen können, daß es ziemlich 438 | Friedrich Glauser an Robert Schneider, Basel, den 19. November 1935. In: Glauser (1991), S. 63. 439 | Friedrich Glauser an Josef Halperin, [Waldau], den 20. März 1936. In: Glauser (1991), S. 199. Siehe auch 1992 b, S. 177–185. 440 | Glauser (1992b), S. 403, Anm. zu S. 177.
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Schreiben am Rand schwer ist, so von einer Arbeit zur anderen zu springen, manchmal ist man mißmutig, es fällt einem nichts ein, man ist auch körperlich müde, kurz, ich ging hin und wieder zu einem Arzt, unter anderem um mir kleine Quantitäten Opium zu verschaffen. Ohne gefälschte Rezepte. Einmal war ein Arzt nicht daheim, seine Frau bediente mich, es gab große Geschichten, die Frau behauptete, ich sei massiv geworden, was zufälligerweise nicht stimmte, aber ihr Mann hatte sie wohl angebrollen, und da brauchte sie mich als Ausrede. Als ich das nächste Mal bei dem Bruder dieses Arztes Opium holen wollte, war ein Landjäger da. Untersuchung, ich wußte[,] was mir blühen würde, Rückkehr in die Waldau – kurz, ich zog es vor, unauffällig zu verschwinden. […] Ich habe damals mit Staehelin in Basel verhandelt, der eigentlich auch der Ansicht war, daß eine weitere Internierung nicht viel Sinn habe, daß die Möglichkeit vorhanden sei, von der Sucht loszukommen, aber daß eine dauernde Internierung diesen Zweck wohl kaum erreichen würde. Er hätte nichts dagegen gehabt, wenn ich in Basel geblieben wäre und mich in der Poliklinik dort ambulatorisch hätte behandeln lassen. Die Waldau aber war wie weiland Shylock und beharrte auf ihrem Pfunde Fleisch, in diesem Falle dem dénommé Glauser. Auch mein Vormund […] konnte nicht viel machen, und da zog ich es vor, freiwillig zurückzukehren, statt zwischen zwei Polizisten (vielleicht hätte auch einer genügt). Dies die Situation.« 441
Die genaue Beschreibung der »Situation« wird hier nicht nur zur Selbstdarstellung, sondern dazu verwendet, Halperin dahingehend zu informieren, dass er Glausers Auftrag, sich für ihn einzusetzen, ausführen kann. Details zur Internierung sollen vor allem eines bewirken: ihr Ende. In der Zwischenzeit bleibt es Glauser, zu warten, zu schreiben oder dann zu lesen.
4.6.2 Waldau als Ort der Lektüre Neben der Thematisierung des Schreibens am Ort schreibt Glauser auch vom Lesen, davon zeugen vor allem die Briefe an Humm, so etwa, wenn Glauser Humms Werk Die Inseln ausführlich kritisiert.442 Davon, dass Glauser über keine Autorenbibliothek verfügt und Bücher oft als »Tauschgaben« betrachtet hat, hat Christa Baumberger geschrieben.443 Es gibt also keinen größeren festen Bestand an Büchern, den Glauser mit sich führte oder den er hinterlassen hätte. In den Briefen zeigt sich dies dadurch, dass er auswendig zitiert und sich bei den Adressaten für mögliche Ungenauigkeiten entschuldigt. Bei einer Zitation eines Ausschnitts von Morgensterns Droschkengaul fügt Glauser stolz oder selbst-ironisch an: »Ja, Citatenschatz Glauser.«444 Glauser liest in der Waldau beispielsweise Proust,445 daneben einiges Historisches, vor allem über die Französische Revolution. »Das ist«, schreibt er an Ringier, »neben Kriminalromanen, augenblicklich mein Steckenpferd.«446 Nicht im441 | Friedrich Glauser an Josef Halperin, [Waldau], den 20. März 1936. In: Glauser (1991), S. 200 f. 442 | Vergleiche die Briefe Nr. 362, Nr. 364 oder Nr. 370 in: Glauser (1991). 443 | Baumberger (2010). 444 | Friedrich Glauser an Martha Ringier, [Waldau], 17. März 1936. In: Glauser (1991), S. 197. 445 | Friedrich Glauser an Martha Ringier, [Waldau], 24. II. [19]36. In: Glauser (1991), S. 172. 446 | Friedrich Glauser an Martha Ringier [Waldau], 22. Dezember 1935. In: Glauser (1991), S.105. In einem späteren Brief an Ringier erklärt er die Faszination historischer Werke: »Und
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mer kann Glauser in der Anstalt lesen, in Zeiten allgemeiner Verzweiflung fehlen Gespräche und die Muße zum Lesen. So schreibt Glauser an Humm, dass trotz der Versuche der Angestellten, Glauser ein Arbeitsumfeld zu ermöglichen, die Verzweiflung gerade aufgrund der großen Abhängigkeit lähmend wirke: »Abhängig zu sein von so vielen Menschen: Vormund, Ärzten, jeder hat eine andere Meinung, bei dem einen ist man ob seiner Ambivalenz Neurotiker, der andere hält einen für leicht moralisch debil, der andere für schwer, der eine spricht von einer hoffnungslosen Sache und der andere [sagt], man solle sich vorstellen, man sei tuberkulös und in einem Sanatorium und müsse sich ausheilen. […] Ich muss gestehen, daß ich schon lange nicht mehr so verzweifelt war wie in letzter Zeit. Glauben Sie nicht, daß ich Ihnen etwas vorklagen will, es sieht so aus, gewiß, aber manchmal ersticke ich fast an mir selbst. […] Sie müssen nicht denken, daß man mich schlecht behandelt, das ist es nicht. Ich kann für mich arbeiten, habe ein Zimmer, in dem ich den ganzen Tag sein kann. Nein, wirklich, man tut alles, was man kann, um mir das Leben erträglich zu machen. Aber das nützt nicht viel. Ich bin so ausgelaugt, es kommt mir vor, als zerrinne mir das Leben unter den Hängen, ich habe niemanden, mit dem ich sprechen kann, lesen kann man auch nicht immer …« 447
Die Waldau als Leseort ist denn auch in besseren Zeiten nur ein Ersatz für andere Orte, an denen er Menschen beobachten wollte, wie er gegenüber Ringier bekennt: »Und so lese ich wild durcheinander: Geschichte und Kriminalromane, Proust und Frank Heller, Psychologie und Klages. Vieles verstehe ich nicht, vieles vergesse ich sofort wieder. Manchmal bleibe ich an einem Satz kleben, und dann geht es weiter. Draußen würde ich in kleine Beizen hocken und in Bahnhofbuffets (die sind sehr ergiebig), ich würde an politische Versammlungen gehen und Schauen, Schauen, Schauen. Und nie das ›Erstaunen‹ vergessen. Wir sind nicht da, um zu richten. Wir sind da, um zu erzählen. Wir sind nicht da, Rätsel zu erklären, wir müssen Rätsel erfinden. Die Lösung ist immer irrelevant. Sie muß da sein, weil ein Buch nun einmal nicht ad finitum weitergehen kann. Hier lese ich eben.« 448
Lesen scheint damit eine Art Ersatzhandlung zu sein, für das »Erstaunen«, das ›draußen‹ in der Beobachtung zustande käme. Das »Schauen« kommt in der Anstalt zu kurz und das Erzählen dadurch ebenfalls. Obwohl Glauser auch in der Anstalt andere Patienten und Angestellte aufmerksam beobachtet, ist diese Bewenn ich Wissenschaftliches lese, ist es mir komplett gleichgültig, zu welchen Schlüssen der gute Mann kommt, ich versuche so zwischen den Zeilen zu erraten, was das nun für ein Mensch war und warum er sich für das und das interessiert hat. Manchmal, bei historischen Büchern besonders (und da sind ja die Franzosen wirklich ganz große Kerle), findet man so schöne Parallelen zu unserer heutigen Zeit, man versteht ein wenig und ist ganz glücklich festzustellen, daß die Menschen eigentlich immer gleich waren, daß sie immer wieder neue Worte finden müssen, um alte Sachen zu erklären, und daß sie diese Spielerei ernst nehmen und ihre Freude daran haben. Nicht wahr?« Friedrich Glauser an Martha Ringier, [Waldau], 2. März [19]36. In: Glauser (1991), S. 183. 447 | Friedrich Glauser an Rudolf Jakob Humm, [Waldau], 13. Dezember 1935. In: Glauser (1991), S. 91 f. 448 | Friedrich Glauser an Martha Ringier, [Waldau], 2. März [19]36. In: Glauser (1991), S. 183.
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obachtungssituation zu wenig von ihm selbst gesteuert. Glausers Position beim »Schauen« kann im Setting der Anstalt nicht frei gewählt werden und diese Beschränkung hat unmittelbare Auswirkungen auf das Erzählen. Die »Rätsel«, die Glauser in der Waldau erfindet, sind in Studers Fällen zu suchen. Für die Betrachtung Glausers als ›Fall‹ in den unterschiedlichen Institutionen ist besonders erwähnenswert, dass Glauser seine Auseinandersetzung mit dem Genre Kriminalroman neben dem Verweis auf berühmte Autoren mit dem Hinweis auf seine Lektüreerlebnisse, die den Pitaval miteinbeziehen, begründet: »Es ist billig, über Kriminalromane die Nase zu rümpfen. Das Genre ist so uralt, ich bin nicht der erste, der es feststellt. Schiller hat schließlich auch den ›Pitaval‹ übersetzt, 449 und Balzac hat sich nicht gescheut, den Polizisten Corentin und den Verbrecher Vautrin zu gestalten. Kennen Sie ›Grandeur et misère des courtisanes‹? – Wirklich, ich gebe den gesamten Heyse und die Maria Waser sowie die ›Jostensippe‹ und den Felix Moeschlin für zwei kriminologische Gutachten des alten Feuerbach. Es ist mehr Menschlichkeit, mehr Schauen, mehr Ehrfurcht, mehr ›Erstaunen‹, um das Goethesche Wort zu gebrauchen, darin als in der gesamten contemporainen Schweizer Literatur.« 450
Die Erwähnung des Pitaval und von Feuerbachs Merkwürdige Kriminalfälle zeigt Glauser als Leser eines Stoffes und einer sich noch entwickelnden Form der Fallgeschichte,451 die er als Subjekt, als Autor literarisch vorantreibt: Andererseits drängt sich aber durch die Eckdaten seiner Biografie, die Drogensucht und das, was heute Beschaffungskriminalität genannt wird, wie auch durch die Tatsache der Internierung in psychiatrischen Anstalten auch auf, Glauser als Darsteller, als ›Objekt‹ einer solchen ›Fallgeschichte‹ zu positionieren. Für die Leserschaft sind die Akten über Glauser wie auch seine Briefe Bestandteile eines institutionell hervorgebrachten ›Falls‹ eines schreibenden Patienten. Glauser, so kann man verknappt festhalten, liest und produziert auf seiner Schreibmaschine das, als was ihn die Psychiatrie einordnet: einen ›Fall‹. Wie der ›Fall‹ immer im Spannungsfeld zwischen Einzigartigkeit und Verallgemeinerbarkeit steht, lässt sich auch am Patienten Glauser zeigen. Für seine Einzigartigkeit spricht die literarische Produktion, die einen speziellen Waldau-Text hervorgebracht hat, nämlich das sogenannte Klinische Jahresblatt, um das es in der Folge gehen soll.
449 | François Gayot de Pitaval: Causes célèbres et interessantes (22 Bde., erschienen 1734–1743) wurden im Deutschen als Merkwürdige Rechtsfälle als ein Beitrag zur Geschichte der Menschheit. Nach dem französischen Werk des Pitaval 1792 herausgegeben. Schiller übersetzte nicht, sondern steuerte ein Vorwort bei. 450 | Friedrich Glauser an Martha Ringier, [Waldau], 2. März [19]36. In: Glauser (1991), S. 181 f. Bei der Erwähnung Feuerbachs handelt es sich gemäß einer Anmerkung von Bernhard Echte um eine Anspielung auf Feuerbachs Merkwürdige Kriminalrechtsfälle von 1808. Die rund zwanzig Jahre später erschienene zweite Auflage hatte den Titel Aktenmäßige Darstellung merkwürdiger Verbrechen. Siehe Glauser (1991), S. 189, Anm. 8. 451 | Siehe zur Entwicklung der Fallgeschichte Kapitel 4.1.
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4.6.3 Das Klinische Jahresblatt 1936 verfasst Glauser »mit einem Patienten«,452 wie es von anonymer Hand angefügt heißt, ein zwölfseitiges, maschinengeschriebenes Klinisches Jahresblatt.453 Darin werden in unterschiedlichen Rubriken wie den Auslandnachrichten, der Bücherschau, unter dem Schlagwort Wissenschaftliches oder Für die Frau das Leben in der Waldau und verschiedene ihrer Exponenten auf die Schippe genommen. Die im Inventar mit Preisangabe aufgelisteten Rubriken, beginnend mit einem Jahresbericht, sind die Folgenden: 1 Jahresblatt 454 1 Auslandsnachrichten 1 Für Herz & Gemüt 1 Bücherschau 1 Theater & Kunst 1 Wissenschaftliches 1 Unfälle & Verbrechen 1 Ackerzucht & Viehbau 1 Für die Frau 1 Börsenbericht 1 Wetterbericht
Frs. 0.05 0.05 0.05 0.05 0.05 0.05 0.05 0.05 0.05 0.05 0.025
Uebertrag (mit der Rechenmaschine ermittelt)
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Diese Rubriken werden noch weiter unterteilt, Für Herz & Gemüt etwa besteht aus einem Pflegerlied, in dem Anstaltsessen, die Ausbildung und Ärger mit dem Chef thematisiert werden, dann dem Feuilleton, der Rubrik Nachdenkliches und einem Preisausschreiben. Im Jahresbericht innerhalb des Jahresblattes wird unter Verwen-
452 | Das Motto darin lautet: »Dem Autorpaare Egglau / Dem wurden die Haare grau: / Aus Furcht vor Bad und Spritze, / Die Strafe für freche Witze // Dann dacht es aber: Wenns jemanden beisst, / So weiss der am besten, was Solches heisst; / Und will er gar in Entrüstung machen / So tu’ ers: Die Andern, die werden lachen …. // Er bedenke dieses, kapiere es ganz! / Nur einmal im Jahre ist Mummenschanz / Und Tanz.« Glauser [1936], unnummeriertes Titelblatt. Im Namen des Mitautors müssen die Buchstaben »Eg« vorkommen, die Person ließ sich jedoch bisher nicht eruieren. Das hektografierte Typoskript im Nachlass wurde im dritten Band des Erzählerischen Werks von Echte und Papst publiziert (Glauser, 2001, S. 327–343). Da die Herausgeber aber etliche, nicht gekennzeichnete orthografische und inhaltliche Änderungen vorgenommen haben, wird hier aus der Version im Nachlass zitiert. 453 | Glauser [1936]. 454 | Als Beispiel für die Veränderungen sei hier bemerkt, dass Echte und Papst aus dem »Jahresblatt« im Inventar einen »Jahresbericht« machten, wie er dann, sowohl im Typoskript wie auch in der Druckversion auf der folgenden Seite ebenfalls genannt wird. Glauser (2001), S. 327 f. respektive Glauser [1936], Titelseite und S. 1. 455 | Glauser [1936], Titelblatt.
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dung einer Hundezucht-Metaphorik vom »Assistentenzwinger«456 gesprochen, im Jargon der Naturwissenschaften das gefährliche »Hochvakuum«457 in den Studentenköpfen beschrieben, und Ärzte wie Patienten werden mit leicht veränderten Namen aufs Korn genommen. Dieser Text kann der Schreibweise der Parodie zugeordnet werden, die ihrerseits im Spannungsfeld zwischen Gattung und Schreibweise steht.458 Das Jahresblatt wurde, soweit sich das heute rekonstruieren lässt, einigen wenigen Patienten, vor allem aber Angestellten der Klinik vorgelegt.459 Neben dem Unterhaltungswert, den das Jahresblatt auch heute noch besitzt, zeichnet sich Glausers Parodie ihrerseits als Reflexionsmedium für andere Gattungen aus: Darin wird einerseits die Gattung des Jahresberichts, das Institutions-Genre par excellence, an das sich das Jahresblatt anlehnt, als Vorlage genommen und mit ironischen Verschiebungen versehen in einer Kurzfassung nachgeahmt. Die parodierende Schreibweise eignet sich dabei vorzüglich für eine distanzierte Darstellung bekannter Gegenstände, hier der verfremdeten Darstellung einer ›Anstalts-Wirklichkeit‹, und für eine humoristische Kritik. Von einer ›Wirklichkeit‹ ist hier nur in Anführungszeichen die Rede, weil es für Glauser gerade zum Ort der Anstalt, der zweifelsohne eine eigene ›Wirklichkeit‹ besitzt, gehört, dass ihm »die Wirklichkeit« abhanden kommt, wie er in einem Brief an Ringier ausführt: »Ich habe gar kein Talent zum Robinson. Auf einer einsamen Insel würd ich mich aufhängen und in einer Klosterzelle … nun, ich bin ja im Kloster – und da kommt einem die Wirklichkeit abhanden. Das ist unangenehm. Denn Romane sind ja nur ein faute de mieux …«460 In der Gattung Satire wird zu einer ›Wirklichkeit‹ immer Distanz gehalten, was sich in einer vom Leser erkennbaren Technik der Verfremdung ausdrückt. Über den Umweg der satirischen Darstellung wird ›Wirklichkeit‹ als Abwesendes präsent gemacht, der Text stellt ›Wirklichkeit‹ aus und mit der Distanz performativ her. So wird die 456 | Über den Zuwachs an Assistenten berichtet das Autorenpaar: »Der Ausbau unseres Assistentenzwingers hat weitere Fortschritte gemacht. Es ist seinem Leiter gelungen, Absatzgebiete im In- und Auslande zu finden. Rüden und kräftiger weiblicher Nachwuchs sind vielbegehrt. Die gelieferte Ware ist garantiert stubenrein, an frühes Bellen gewöhnt; läuft ohne Pfiff in schlankem Trabe zu dem einmal festgesetzten Rapporttermin, ist anspruchslos und gegen ungeheizte Zimmer widerstandsfähig. Sie kann auf ramponierten Schreibmaschinen ergötzliche Krankengeschichtenlieder nach vorgeschriebener Melodie komponieren. Unser Nachwuchs ist daher besonders Direktoren warm zu empfehlen. Rassenpsychologisch interessant ist es, dass auch mit artfremdem Zuchtmaterial befriedigende Ergebnisse erzielt wurden.« Glauser [1936], S. 1. Zu den Assistenzärzten allgemein siehe Kapitel 3.6, zu Klaesis Erweiterungen in diesem Bereich Kapitel 3.12. 457 | Glauser [1936], S. 1. 458 | Siehe zum Klinischen Jahresblatt in Bezug auf Parodie und Wissen Wernli (2013a). 459 | Unglücklicherweise ist der Jahresbericht der Waldau von 1936, wie schon erwähnt, nicht publiziert. Die interne Fassung weist keine Übersicht über die angestellten Ärzte auf, es werden nur Personaländerungen vermerkt. In die Berner Staatskalender fanden Assistenz- oder Voluntärärzte, die nur kurze Zeit in der Waldau waren, keinen Eingang. Es lassen sich deshalb nicht alle von Glauser erwähnten Personen eindeutig mit realen Personen in Verbindung bringen. 460 | Friedrich Glauser an Martha Ringier, [Waldau], 2. März [19]36. In: Glauser (1991), S. 177.
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Herstellbarkeit von Wirklichkeit gezeigt und gleichzeit ein emphatischer, machtbestimmter Wirklichkeits-Begriff unsicher gemacht. Der Text zeichnet sich im Weiteren durch das Wissen über die Gattung Jahresbericht, aber auch innerhalb der Großform Epik über die Kombination weiterer (Unter-)Gattungen in der Schreibweise der Parodie aus. Der Begriff Gattung wird hier als rezeptionsästhetische Kategorie deskriptiv verwendet. Das Jahresblatt ist nur mit einem erweiterten und mehrschichtigen Literaturbegriff zu fassen, weil sich darin auch ›Textsorten‹ und Gebrauchstexte finden, die allerdings durch die parodisierende Schreibweise transformiert wurden.461 Wie weiter unten ausgeführt wird, sind diese Untergattungen einerseits historisch als Teil der Zeitschriftenkultur zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu situieren, andererseits referieren sie auch auf die Form der institutionellen Jahresberichte. In ihrer Materialität erhält die Hektografie als Flugblatt und dessen zu Beginn des 20. Jahrhunderts meist politischer Verwendung ein implizites politisches Konnotat, mit dem die darin formulierte inhaltliche Anstaltskritik verbunden werden kann. Diese für das Verständnis des Jahresblattes wichtige Komponente entfällt mit der Transkription und Publikation in einem Erzählband, in dem es zurzeit vorliegt. Im Jahresblatt findet sich im Feuilleton auch ein Fortsetzungsroman mit der Überschrift »Der blutgefleckte Mantel (Krim. Rom. v. Gred Flauser)«462 – womit sich Autor Glauser im Text selbstironisch als Verfasser von Kriminalromanen zeigt, mit deren Image er zusehends Mühe hatte, wie Briefauszüge belegen.463 Im Blutgefleckten Mantel erzittert die Figur Erika, wirft sich an die Brust des berühmten Psychiaters »Horst von Blauensee«, und bittet ihn: »Küsse mich, Liebster, denn ich will von dir …«.464 Mit diesem Ausspruch wird ein gattungstypisches Element des Fortsetzungsromans, der Cliff hanger, persifliert, denn damit ist der Romanausschnitt beendet, eine Fortsetzung wird angekündigt, wobei die Gattung Jahresblatt sich gerade durch ihre Singularität auszeichnet, die angebliche Fortsetzung also nur als Stilmittel zu betrachten ist. Während hier Küssen Thema ist, kommt ein solcher Romanbestandteil in Matto regiert nicht vor. Es handelt sich dabei um einen bewussten Verzicht Glausers, wie er in einem Brief an Martha Ringier schreibt: »Soll ich mir nun etwas darauf einbilden, daß keine Liebesscene in meinem Roman vorkommt, daß keine warmen Lippen sich auf andere warme Lippen pressen – vielleicht ist das ein Manko, wenn man das nicht kann. Beim Schweizer Publikum sicher.«465 Im Fortsetzungsroman im Jahresblatt hingegen kommt dieses »Manko« 461 | Zum erweiterten Literaturbegriff siehe Zymner (2003), S. 151 f. 462 | Glauser [1936], S. 4. 463 | Diese Unzufriedenheit drückt Glauser beispielsweise in einem Brief an Ringier aus, in dem das Schreiben von Krimis vor allem als technische Übung bezeichnet wird: »Jetzt such ich Entschuldigungen, um Kriminalromane schreiben zu können, man gibt sich Mühe, das alte Genre aufzubügeln und tröstet sich damit, daß schließlich die ›Karamasoffs‹ und die ›Caves du Vatican‹ von Gide auch nichts anderes sind als gute Kriminalromane. Auf alle Fälle ist es eine ausgezeichnete Übung. Ich lerne konstruieren, und das hat mir immer gefehlt, dann kann ich hin und wieder ein wenig Anarchismus einschmuggeln, und das tut meiner chaotischen Seele wohl.« Friedrich Glauser an Martha Ringier, Waldau, 4. Januar 1935. In: Glauser (1991), S. 114. 464 | Glauser [1936], S. 4. 465 | Friedrich Glauser an Martha Ringier, [Waldau], 9. April 1936. In: Glauser (1991), S. 243.
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nicht zum Tragen, das Textformat wird vielmehr zur Erprobung und Präsentation von Schreibweisen genutzt, deren Verwendung sich Glauser üblicherweise verbat. Formal knüpft Glauser mit der Collage der unterschiedlichen Elemente im Jahresblatt an die Blütezeit der (satirischen) Zeitschriften in den 1920er Jahren an, eine Zeit, die mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten fast zeitgleich mit der Entstehung von Glausers Text auf ihr sicheres Ende zugeht. Damit stellt das Klinische Jahresblatt auch sein Wissen über das Format ›Zeitschrift‹ aus. Während die satirische Schreibweise übernommen wird, erfährt das Format der Zeitschrift mit ihren Bestandteilen nur Andeutungen, die strengen Formvorgaben des psychiatriepolitischen und administrativen Jahresberichts hingegen wird dadurch deutlich überschritten. Über die Entstehung des Jahresblattes im Februar 1936, er nennt es »Faschingszeitung«, gibt Glauser in Briefen Auskunft. So schreibt er an Martha Ringier: »Und nun lese ich wieder Proust, denn ich mag Proust gern. Daneben krüpple ich mit einem Kameraden an einer Faschingszeitung, sie gibt uns viel Arbeit, denn wir möchten gern etwas nicht allzu Blödes zusammenbringen, nicht allzu sehr Bierzeitungsniveau, es wird uns ja unter den Händen kaputt gehen, aber das macht nichts.« 466
Bendels Frage, was er denn schreibe, beantwortet Glauser wie folgt: »Was ich schreib? Zusammen mit einem Leidensgenossen haben wir eine Woche lang an einer Fastnachtszeitung gekrüppelt. Und dann bin ich tief im Irrenhausroman. Da wird dir eine schöne Arbeit blühen. Du mußt ihn mir dann abschreiben. Also bis Mitte April mußt du schreibmaschinlen können.« 467
Das Klinische Jahresblatt scheint also innerhalb einer Woche entstanden zu sein und die Arbeit Mühe bereitet zu haben, verwendet Glauser doch wie bereits im Brief an Ringier den Ausdruck des ›Krüppelns‹. Daneben schreibt Glauser auch noch an Matto weiter. Davon zeugt nicht nur diese Briefstelle, darauf verweisen auch inhaltliche Übereinstimmungen, die noch thematisiert werden. Bendels Zukunft als Schreibkraft wird von Glauser auf jeden Fall schon einberechnet für die Zeit nach der Waldau, das Jahresblatt aber wird noch dort getippt. Die Krankenakte Glausers verzeichnet am 11. November 1935 einen Eintrag, den nächsten dann erst wieder am 16. April 1936. In der Zeit dazwischen, in der das Jahresblatt entstanden ist, fehlen Bemerkungen der Ärzte. Lediglich eine lose in der Akte liegende Liste der Medikation belegt, dass Glauser in jener Zeit in regelmäßigen Abständen das Schlafmittel Somnifen bekam. Es bleiben als Quelle über die Entstehung und Wirkung des Textes also nur die Briefe des Autors. In einem weiteren Brief an Ringier äußerte sich Glauser darüber, dass die Initiative zum Jahresblatt-Text von seinem Mitautoren ausging:
466 | Friedrich Glauser an Martha Ringier, [Waldau], 24. II. [19]36. In: Glauser (1991), S. 172. 467 | Friedrich Glauser an Berthe Bendel, [Waldau, Ende Februar 1936]. In: Glauser (1991), S. 174. Zu Glausers Verhältnis zu Handschrift und Typoskripten und zum vorhandenen Material im Nachlass siehe Thüring (2009).
Schreiben (und Lesen) hinter den Sandsteinmauern »Ich habe, wie ich Ihnen schrieb, eine Art Fasnachtszeitung verfaßt, d.h. der Kamerad, der sie verfaßt hatte, der kam zu mir, wie man das machen solle und so fort. Und da habe ich es wie Sie mit Ihren Kommissionen gehabt, wenn man schon einmal etwas macht, so soll man es so halbwegs anständig machen, nach bestem Wissen und Gewissen, wie es in den Gutachten heißt. Und da hab ich mich eben dahintergesetzt, Grobheiten herausgeschmissen, Jagd auf faule Witze gemacht, gekürzt (meine augenblickliche Spezialität), Matrizen geschrieben, abgezogen, bis ich Blattern hatte, und jetzt liegt das Machwerk also vor, und ich habe (pardonnez-moi l’expression) das große Kotzen.« 468
Mit der Anfertigung von Matrizen thematisiert Glauser in diesem Briefausschnitt auch das Verfahren der Reproduktion, die er eigenhändig übernahm. Über die Höhe der Auflage erfährt man allerdings nichts, ebenso wenig wie über den Anlass der Verteilung und die Verbreitung. Aus der Schreibweise des Blattes darf angenommen werden, dass sowohl die Ärzte und andere Angestellte wie auch die Patienten als Rezipienten eingeplant waren. In der psychiatrie-politischen Aufregung, die die Publikation von Matto regiert auch in der Waldau mit sich brachte, wird das Klinische Jahresblatt als Beweismittel dafür eingesetzt, dass man Glauser in der Waldau auch spöttische Texte schreiben ließ, dieses Schreiben aber durchaus kontrollierte. Über die Distribution des Textes erfährt man aus einem Brief Klaesis vom 10. Januar 1937 an die Sanitätsdirektion: »Desgleichen lege ich eine Fasnachtszeitung Glausers und seiner Mitkranken in unserer Klinik zu den Akten, die er zur letzten Fasnacht beigesteuert und mit unserer Erlaubnis, das Stück für einen Franken, an uns Aerzte, und Studenten der Medizin, die hier Vorlesungen kommen hören und an Angehörige des Personals verkauft hat.« 469
Einige inhaltliche Bestandteile dieser »Fasnachtszeitung« sollen hier noch vorgestellt werden, weil dieser Text sich durch seine besondere Machart auszeichnet und weil sein Inhalt einen einzigartigen Einblick in die Klinik gibt. Am Anfang steht der bereits erwähnte Jahresbericht, in dem auch die Kolonie »Schönbrunnen« erwähnt wird, zu der die Verfasser »Egglau« den Bau einer direkten Bahnverbindung 468 | Friedrich Glauser an Martha Ringier, [Waldau], 2. März [19]36. In: Glauser (1991), S. 177 f. Über seinen Mitautoren schreibt Glauser in der Folge: »Mein Kamerad ist ein guter Kerl, aber er redet wie ein Wasserfall mit tausend Sekundenlitern, daneben gehört er zur Michael Kohlhaasschen Art und möchte die Gerechtigkeit in die Welt einführen – das ist immer eine brenzlige Sache, das mit der Gerechtigkeit. Er versucht sie nämlich mit Hilfe von Behörden zu erlangen – Sie werden zugeben, daß das ein ausgefallener Standpunkt ist. Ich mag ihn aber gern, und es tut ihm wohl, seine diversen Scharmützel mit Schroterei, Regierungsstatthaltern und sonstigen nützlichen Amtspersonen zu erzählen, und hin und wieder wage ich einen schüchternen Einwand und hoffe dann, daß er vielleicht einmal keimt wie ein Weizenkorn (mein Einwand nämlich) und daß der Mann den Wert eines guten Kompromisses einsehen lernt. Aber ich habe wenig Hoffnung. Ich könnte Ihnen eigentlich stundenlang von den Leuten hier erzählen, es hat manchmal viel ulkigere Kerle darunter als draußen unter den sogenannten Normalen, und man lernt viel bei ihnen, wenn man nicht mit einer vorgefaßten Meinung an sie herantritt, sondern sie quatschen läßt.« Ebd., S. 178. 469 | Jakob Klaesi an die Sanitätsdirektion des Kantons Bern, Waldau-Bern, den 10. Januar 1937, zitiert nach Käsermann (2013), S. 43.
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vorschlagen. Die »Meliorierung des Moosbodens« wird thematisiert, und es folgt darauf ein weiterer Vorschlag: »Vielleicht könnte sich der tonnenweis vorrätige Abfall aus Gutachten, Gemeinsamen, Kollegs und Seminarien fruchtbringend verwerten lassen. Der Abfall ist, was den Phosphorgehalt betrifft, dem Stadtmist um 20% überlegen.«470 Der Klinikalltag mit der landwirtschaftlichen Arbeit in der Kolonie wird hier ebenso thematisiert wie das durch psychiatrische Arbeit entstehende Material als »Abfall« bezeichnet wird. Angestellten- und Patientenarbeit werden hier einander gegenübergestellt und im Fall der Ärzte von den Autoren negativ gewertet. Mit der Erwähnung von institutionell-administrativ produzierten und verwendeten Schriftstücken wie den Gutachten oder von wissenschaftlichen Anlässen wie der unter Klaesi nach dem Vorbild von Bleulers Burghölzli eingeführten ›Gemeinsamen‹471 präsentiert sich im Text ein Patientenwissen über den Anstaltsbetrieb, der mit dem Abfallprodukt eines urbanen und freien Lebens, dem »Stadtmist«, verglichen wird. Die prägnante Darstellung kommt über unterschiedliche Einblicke und eine Zusammenführung von Perspektiven zutage: Anstalt, Ärzteund Patientenarbeit und das ›Draußen‹ werden hier alle aus einem humoristischen Blickwinkel dargestellt, hierarchische und geografisch-institutionelle Unterschiede für einmal eingeebnet. Es folgt darauf eine Parodie auf die anscheinend rekordverdächtigen »Blitzvisiten« eines ehemaligen Arztes, André Neuville, dessen Nachfolger für die Patientenbesuche viel mehr Zeit beanspruchen würde.472 Dieser Arzt kommt auch in den Auslandsnachrichten vor. Dort wird er mittels eines Steckbriefes gesucht, der im medizinischen Jargon gehalten ist: »[…] angeklagt der Urkundenfälschung (Datum in Krankengeschichten), Misshandlung von Schreibmaschinen, Verbalinjurien an Telephonapparaten, Bedrohung mit Jodelinjektionen, Nachtlärm etc. etc. Signalement: Lang und elegant, Schädel dolichocephal; reichlich behaart. Denkerstirne ohne Schnurrbart. Nasolabialfalten deutlich. Herz liebevoll mit Spitzenstoss im 25. Intercostalraum. Abdomen abwesend. Kein Eiweiss, kein Zucker, Urobilinspuren.« 473
Mit dem Steckbrief wird eine weitere Textsorte, die Polizei- und Anstaltswesen miteinander verbindet, und die auch den Waldauer Alltag prägte, im Jahresblatt aufgenommen und persifliert. In den darauf folgenden Auslandsnachrichten wird in einem »Funkspruch« aus New York berichtet, zwei Studenten, die in »Ualdo Jurop« studiert hätten, seien beim Versuch, »europäische Psychotherapieen« in die Vereinigten Staaten einschmuggeln zu wollen, verhaftet worden. Die Psychotherapien hätten sich aber als »simple 470 | Glauser [1936], S. 1. 471 | Siehe Kapitel 3.6.2.4 und 3.12. 472 | Glauser [1936], S. 1. Auf wen hier mit Neuville angespielt wird, konnte nicht geklärt werden. Bernhard Echte schreibt im Nachwort von Matto regiert, in dem auch ein »Neuville« vorkommt (Glauser, 1998, S. 276, Anm. 37), es hätte in der Waldau einen Assistenzarzt mit Namen »Neuveville« gegeben, in den Jahresberichten taucht dieser Name allerdings nicht auf. Auch in den Berner Staatskalendern findet sich dieser Name nicht. 473 | Glauser [1936], S. 2. Die Schreibweise »Zukcer« im Original wurde von der Verfasserin korrigiert.
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Schlafmittel« entpuppt und ein »mysteriöses Bündel« als »gekleisterte Papiersäcke«.474 Hier wird der Ort in einer lautmalerisch amerikanisierten Version genannt, die Schreibweise des Funkspruches durch eingestreute »stop«-Meldungen sprachlich nachgeahmt und mit der Erwähnung von Psychotherapien und Papiersäcken werden auch wieder Patienten- und Ärztearbeiten miteinander verbunden. Während die Ärzte Psychotherapien entwickeln und anwenden, kleistern die Patienten im Namen der ›aktiveren Behandlung‹ Papiersäcke, beide Produkte dieser Arbeit aus der »Ualdo Jurop« sind beim imaginären Grenzübertritt verdächtig. Die Pointe des kurzen Eintrages besteht in der Vertauschung der Rollen, werden die medizinischen Studenten doch in die »Irrenanstalt des Staates Pensilvanien eingeliefert«,475 was die Patienten unter den Lesern belustigt haben dürfte. In einer weiteren Meldung wird der Ort der Waldau noch einmal in Variation genannt, nämlich als ein scheinbar in der Tschechoslowakei liegender Ort »Bollischen«,476 für Bolligen. Einer einzelnen Krankheit in anthropomorphisierter Form kommt im Jahresblatt besondere Aufmerksamkeit zu, es ist die »bekannte Schweizerin Veronika Schütz«, die unter dem Namen »›Schütz vrenie‹ zur Miss Universum gekrönt«477 worden sei. Die Schizophrenie als Krankheit der Zeit wird damit von Glauser in dem, was man durch Bleulers Begriffsprägung478 ›Schweizer Herkunft‹ nennen könnte und in ihrer weltweiten Bedeutung gewürdigt. Auch hier zeigt Glauser Kenntnisse über eine Krankheit, ihre Benennung und Verbreitung der Diagnose. »Schütz vrenie« wurde nominal allerdings in der Waldau trotz ihres bereits beachtlichen Alters von beinahe dreißig Jahren erst mit Klaesi eingeführt – sie ist zu Glausers Zeit im Waldauer Umfeld dementsprechend neu respektive jung. »Eine Schützovrenie« kommt auch in Matto regiert vor, Pfleger Gilgen erwähnt sie dort, und die Erzählinstanz fügt in indirekter Rede hinzu, sie »hätten das im Kurs gelernt.«479 Im Weiteren kommen auch Therapieformen zur Sprache, im Börsenbericht kann sich Glauser einen Rundumschlag mit der Erwähnung der drei Berner Anstalten nicht verkneifen, wenn er »Devisenkurse« wie folgt beschreibt: »Waldau-Schlafkure[n]: bleiben stabil und jeweils mit 300 Brief und 301 Geld honoriert. MünsingenInsulin hat eine Einbusse von 2 Punkten erlitten, während Bellelay-Autounfälle in unwahrscheinlicher Weise auf 1050 schnellten.«480 Mit der rhetorischen Figur des 474 | Ebd. 475 | Glauser [1936], S. 2. 476 | Ebd., S. 3. 477 | Ebd. 478 | Bleuler stellte den Begriff Schizophrenie erstmals 1908 vor, 1911 erschien dann Dementia praecox oder die Gruppe der Schizophrenien. 479 | Glauser (1998), S. 59. 480 | Glauser [1936], S. 10. Zu diesen Vorfällen schreibt Glauser 1937 an Oprecht: »[…] Ende 35 oder Anfang 36 (genau weiß ich das Datum nicht mehr) [wurde] Dr. Knoll, der langjährige Direktor von Bellelay, Knall und Fall entlassen und in den Ruhestand versetzt […] weil er ein nicht ganz reguläres Automobilunglück inszeniert hatte.« Friedrich Glauser an Hans Oprecht, Angles, Gué de Longroi, Eure de Loir, 9. Februar 1937. In: Glauser (1991), S. 520. Rund vierzehn Tage später schreibt Glauser an Oprecht, zu Hans Knoll »falsch informiert worden zu sein.« Friedrich Glauser an Hans Oprecht, Angles, Gué de Longroi, Eure de Loir, 24. Februar 1937. In: Glauser (1991), S. 542. Abgesehen von dieser Geschichte hat Bellelay
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totum pro parte erwähnt Glauser hier mit den Waldauer Schlafkuren indirekt Klaesi und mit dem Münsinger Insulin Müller. Formal wird mit dem Börsenbericht auch deutlich, dass Glauser das Format Jahresbericht, wie es in der Anstalt üblich ist, und von dem er einige Bestandteile, wie etwa die hier nicht weiter ausgeführte Rubrik Ackerzucht & Viehbau übernimmt, deutlich übersteigt und mit traditionellen Elementen aus Tagespresse und Zeitschrift vermengt. Es handelt sich beim Jahresblatt also um ein Textsortenkonglomerat, das in seiner spezifischen Zusammensetzung den Ort seiner Entstehung und seine Schreibbedingungen zeigt: Dies sowohl inhaltlich wie auch formal in der Kombination der unterschiedlichen Rubriken. In einem Preisausschreiben werden einzelne Oberärzte mit lächerlichen Preisfragen genannt, die ihre Themen wiedergeben sollen. Der große »Läsipreis« (Klaesi) geht beispielsweise an denjenigen, der die Frage »›In welche Kathegorie der Geisteskrankheiten ist das Bettnässen einzureihen?‹ […] Auch Pfleger, soweit sie gestillt sind, dürfen sich beteiligen«481 beantworten kann. Daneben gibt es den »Fankhauserpokal« und den kleinen »Woyrschpreis« (Wyrsch) zu gewinnen, bei dem derjenige eine Wasserpfeife bekommen soll, der die Frage »›Was heisst: Nicht voll vollsinnig sein?‹«482 beantworten kann. Einzelne fingierte Neuerscheinungen von Ärzten werden ebenfalls aufgezählt, so etwa diejenigen von »Dr. E. Blauberg«, womit Ernst Grünthal gemeint sein dürfte, zum Beispiel mit dem Titel »Sind Frösche moralisch debil«.483
bereits 1927 einen seltsamen Autounfall mit Anstaltsprotagonisten erlebt, wie der Jahresbericht andeutet: »Der Ökonom von Bellelay hatte das Unglück, am 9. August einen Wärter und eine Wärterin in der Nähe der Anstalt mit seinem Auto zu überfahren. Der Regierungsrat stellte ihn sofort bis zur Erledigung des gerichtlichen Verfahrens in seinen Funktionen ein und übertrug diese seinem Sohne Johann.« (Jb 1927, S. 5) »Le deuxième accident, par son ensemble de circonstances fatales, eut des conséquences beaucoup plus graves. Le [soir] du 9 août, l’infirmier Louis Jerusalem et sa fiancée Bethly Mo[ ] furent renversées par l’automobile de notre économe, [J.C.] Gerber.« (Jb 1927, S. 58). 481 | Glauser [1936], S. 4. 482 | Ebd. 483 | Blaubergs weitere Neuerscheinungen werden angegeben mit »Klinisch-anatomische Untersuchungen über den therapeutischen Wert von Schuhwichse«, »100 Untersuchungen an Hirnarteriosklerotikerpsychiaterehegatten« und »Senile Demenz und postencephalitischer Parkinsonismus bei incestuösen Hechtzwillingen und ihre Wirkung auf die Descendenz«. Glauser [1936], S. 5. Grünthal kommt später noch als »Athanasius Feldgrün« vor. Ebd., S. 8. Die ›moralische Debilität‹ der Frösche, der sich Blauberg gemäß Glauser widmet, ist eine Diagnose, die Glauser selbst betraf. An seinen Vormund Schneider schreibt er dazu 1935: »Wahrscheinlich wird man in der Waldau noch versuchen, mir aus meiner Freundschaft mit Fräulein Bendel und mit Fräulein Senn einen Strick zu drehen. Ich finde jedoch, daß ein Einmischen in solche privaten Angelegenheiten, auch wenn es sich, psychiatrisch gesprochen, um einen moralisch debilen Psychopathen handelt, eine Taktlosigkeit ist. Überhaupt moralisch debil! Ich kann mit dieser Diagnose wirklich nicht viel anfangen. Frauen gegenüber habe ich mich immer anständig benommen, und wenn diese Anständigkeit vielleicht auch nicht vom bürgerlichen Standpunkt sanktioniert ist, so kann ich nicht viel dagegen machen. Von meinem Standpunkt aus kann ich mein Verhalten wirklich restlos verantworten – auf alle Fälle scheint mir mein Verhalten immer noch anständiger als das verschiedener Ehe-
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Neben den porträtierten Ärzten wird ein einzelner Patient, der Glauser sichtlich beeindruckt hat, ausgiebiger zitiert, es handelt sich um den Schachmeister Hans Fahrni,484 der im Jahresblatt »Giov.[anni] Farini« genannt wird. Die Autoren zitieren einige seiner Aphorismen zur Lebensweisheit, die wie folgt lauten: »›Den, wenn ich erwisch, der die Welt erschaffen hat!‹ ›Was versteht der Mensch!?!?.. Fragt er mich: das Schach ist wohl eine brotlose Kunst? Natürlich! Wenn Puffli-Muffli mit dem Kinderwagen spazieren gehen und Bananen kaufen können! Ist vielleicht eine Wissenschaft? Oder eine Kunst? … Ich bitte! …« ›Schach ist Philosophie! Hab ich nicht Recht?‹« 485
Kurze Zeit nach der Fertigstellung des Jahresblattes erwähnt Glauser Fahrni auch in einem Brief an Ringier und beschreibt die Begegnungen mit ihm als »Lichtblicke«: »Wir haben da zum Beispiel einen Schachmeister, ein kleines Männchen mit einem ganz, ganz glatten Haupt und eckigen Bewegungen – kennen Sie des E. T. A . Hoffmann Nußknacker und Mäusekönig? – nun, er sieht wie der Nußknacker im Märchen aus, hat ganz steife Bewegungen und einen steifen Gang und versteht sehr viel von Schach. Er war einmal internationaler Meister und hat an Turnieren mit allen großen Kanonen gespielt, Euwe und Aljechin, und er erzählt sehr fidel von Nimzowitsch, mit dem er einmal in Nürnberg, glaube ich, die Stube geteilt hat. Besagter Nimzowitsch, der eine neue Strategie in die Schachkunst eingeführt hat, analysierte tagsüber so viel, daß er nachts im Traum plötzlich aufschrie und brüllte: ›Haltet den Freibauern! Haltet den Freibauern!‹ Sie müssen sich das vorstellen. Und ein Freibauer ist ein Bauer, der mit Leichtigkeit zur Dame werden kann, weil ihn nichts mehr aufhält. Ja, also dieser Schachmeister hat manchmal wunderschöne Ausdrücke: ›Den, wenn ich erwisch, der die Welt erschaffen hat …‹ sagt er z.B., und der alte Schopenhauer könnte sich begraben lassen, wenn er es nicht schon wäre. Welt als Wille und Vorstellung oder der Pessimismus in Taschenformat! Nicht? Manchmal spielt er mir berühmte Partien nach, und die sind genaumänner …«. Friedrich Glauser an Robert Schneider, Basel, den 29. Oktober 1935. In: Glauser (1991), S. 58. 484 | Dass Fahrni nicht nur Schach spielte, sondern auch zeichnete, belegt der Ausstellungskatalog Der Himmel ist blau & Nackt sein von Käsermann/Jutzeler/Altorfer (2008), S. 39–57; S. 98–105. Dort heißt es lapidar, Zeichnungen seien »für den in sich gekehrten Spötter wohl vor allem Mittel der Kommunikation« gewesen. Ebd., S. 39. Auch in Käsermann/ Jutzeler (2006) sind diverse Zeichnungen Fahrnis, die teilweise mit Texten verbunden sind, kommentarlos abgedruckt. Zu weiteren Angaben über Fahrni siehe Buntschu (2006). Darin werden biografische Angaben zu Fahrni gemacht, die teilweise der Krankenakte entstammen. Dazu werden auch berühmte Schachpartien Fahrnis beschrieben. Seine größten Erfolge hatte Fahrni gemäß Buntschu 1909 in München und 1911 in San Remo. Eine noch ausstehende, vertiefende Auseinandersetzung mit Fahrnis Zeichnungen müsste auch die Orte, die er erwähnt, in Betracht ziehen, so gibt es im Katalog von Käsermann/Jutzeler/Altorfer (2008) zwei Erwähnungen von Mü[n]chen auf Fahrnis Zeichnungen Oktoberfest in München (1911) und Gussi Goll im Hosen-Rock (S. 57; S. 104). Damit wäre in zukünftigen Studien wie bei anderen ›Patientenarbeiten‹ auch bei Fahrni die Kombination von zeichnerischen und schriftbildlichen Elementen zu thematisieren. 485 | Glauser [1936], S. 5.
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Schreiben am Rand so schön wie eine Kellersche Novelle. Es gibt da eine sogenannte ›unsterbliche Partie‹ von einem Mathematiklehrer Anderssen (nicht der Märchenerzähler), die ist wirklich so schön wie die Beschreibung der Schlacht von Austerlitz in ›Krieg und Frieden‹. Ja, das sind also die Lichtblicke in dieser unwirklichen Welt.« 486
Dieser Briefausschnitt zeigt in seinem Anfang und Ende eine Spanne zwischen Identifikation Glausers mit der Anstaltsumgebung, wenn er, sich in ein Kollektiv fügend, schreibt: »Wir haben da […]« und einer grossen Distanz zur selben Umgebung, die er als »unwirkliche[ ] Welt« beschreibt. Fahrnis Ausspruch: »Den, wenn ich erwisch, der die Welt erschaffen hat!« wird von Glauser in unterschiedlichen Textgattungen aufgenommen, im Jahresblatt, im Brief an Ringier und schließlich im Roman, wenn er Schül in Matto regiert den in seiner syntaktischen Anordnung auffälligen und rätselhaften Satz übernehmen und weiterwirken lässt.487 Fahrni wird im Brief als Patient erwähnt, im Jahresblatt wird sein Name ins Italienische übertragen und er damit als Farini/Fahrni erkennbar getarnt. Im Roman kommt Schül, »mit Suppentellern«488 beladen vorbei und spricht den Satz zu Gilgen und Studer. Während die Aussage dreimal dieselbe bleibt, wird der Name des Sprechenden ein anderer. Zuerst ist es Fahrni, der spricht, und im Brief als Mitpatient beschrieben und zitiert wird, dann Farini im Jahresblatt, von dem die Leserschaft ohne Vergleich mit der Briefstelle nicht wissen kann, ob seine Aussagen wie sein Name bereits karikiert oder noch unverändert sind, und dann wird der Satz im Roman der literarischen Figur Schül in den Mund gelegt. Glauser porträtiert und transformiert den Sprecher, bis er in der Literatur nicht mehr als Schachmeister Fahrni/Farini vorkommt und dadurch der Urheber der Äußerung im Arrangement des Krimiautors hinter der Aussage verschwindet. In der Rubrik Wissenschaftliches im Jahresblatt schreibt Glauser über Hermann Rorschachs psychodiagnostischen Testverfahren und dessen vermeintliche Anwendung mit Tieren: »Dem berühmten Forscher, Dr. Erny Webbs 489 ist es in letzter Zeit gelungen, den Rorschachschen Deutungsversuch auch an Tieren durchzuführen. Wie man wissen wird[,] besteht dieser Versuch im Vorzeigen sogenannter Klexographieen. Aus den Umrissen der durch das Zusammenfalten eines mit Tinte bespritzten Papieres entstandenen Formen muss das Versuchsobjekt Gegenstände heraus 490 deuten. Ein Appenzeller Sennenhund, der als erster dem Versuche 491 unterworfen wurde, glotzte die Tafel an, begab sich nachher schleunigst zu einem in der Nähe stehenden Baume und hob dort die linke Hinterpfote. Der Forscher schloss aus der Geste ganz richtig mit HP hl DN+ auf eine Durchlässigkeit der Nieren (psychischer Affekt). Der bei einer graviden Muttersau unternommene zweite Versuch ergab ein erstaunliches Resultat: nachdem diesem Tiere die
486 | Friedrich Glauser an Martha Ringier, [Waldau], 2. März [19]36. In: Glauser (1991), S. 178 f. 487 | Glauser (1998), S. 58. 488 | Ebd. 489 | Im Original gesperrt. 490 | Im Original gesperrt. 491 | Die Originalschreibweise »Verusche« wurde von der Verfasserin korrigiert.
Schreiben (und Lesen) hinter den Sandsteinmauern farbige Tafel V vorgezeigt worden war, erlitt es einen derart heftigen Farbenchoc, dass es zwei rote, zwei grüne, zwei blaue und zwei schwarze Ferkel zur Welt brachte.« 492
Auch hier zeigt die Erwähnung einzelner Begriffe wie des »Farbenchoc[s]« oder die Kürzel in der Verrechnung des Tests das Wissen des Autors und Patienten über ein zeitgenössisches psychiatrisches Verfahren. Wie mit dem ganzen Jahresblatt wird hier mit der einzelnen Erwähnung von Rorschach493 und seinem Verfahren ein Stück Waldauer Geschichte geschrieben und dies aus einer Perspektive, die nicht die übliche der historisch interessierten Psychiater der Zeit ist. Auch anderen nicht mehr anwesenden Berühmtheiten der Waldau wird in der Fasnachtszeitung ein Denkmal gesetzt, oder sie bemühen sich gar selbst mittels einer fiktiven Annonce um ein Denkmal, wie folgendes Beispiel zeigt: »Gesucht bescheidener Bildhauer, der klassischen Millionärspsychiaterkopf in Sandstein oder in Gips hauen könnte. Alte Kleider werden in Bezahlung gegeben. Offerten an: Professor Basel in Speyer (Germany).«494 Neben dem ehemaligen Direktor von Speyr wird auch Morgenthaler erwähnt, der zu diesem Zeitpunkt schon 16 Jahre nicht mehr in der Waldau arbeitet.495 An sein Werk Die Pflege der Gemüts- und Geisteskrankheiten 496 erinnert der dritte Preis eines Wettbewerbes: »1 Krankenthaler: Morgen der Geistes & Gemütspflege«.497 Glauser nimmt damit auch Persönlichkeiten, Forschungsthemen und Epochen der Waldau auf und karikiert sie, ohne ihre Funktionen in der Waldau gekannt zu haben. Der Inhalt des Jahresblatts ist damit nicht nur eine Bestandsaufnahme und gewährt einen Einblick in die momentane Situation in der Anstalt, wie sie im Winter 1936 durch zwei Insassen wahrgenommen und in eine Parodie transformiert wird, sondern sie weist über sich hinaus und deutet in Ansätzen eine Geschichte der Waldau an. Die in Kapitel 3 präsentierten Ausführungen zur Geschichte, dem Alltag und den Akteuren der Waldau sind in ihrem Zusammenspiel gleichzeitig Bedingung für die Entstehung von Glausers Text und sie werden in diesem Text auch inhaltlich thematisiert. Diese Engführungen und Überlagerungen machen das Jahresblatt so bedeutsam, sie zeigen die persiflierende Schreibweise, aber auch ihre historische Gebundenheit. 492 | Glauser [1936], S. 6. 493 | Rorschach hätte schon einmal Gegenstand eines Textes von Glausers werden sollen, allerdings empfahl Max Müller eine Streichung, mit der Begründung: »Denn erstens ist das, was Sie darin sagen, unrichtig, was nicht sein darf, wenn Sie schon einmal den Autor nennen, und zweitens fällt diese Stelle m. A. aus dem andern heraus, sie wirkt lehrhaft und kann weggelassen werden, ohne daß Sie sonst etwas zu ändern brauchen.« Max Müller an Friedrich Glauser, [Münsingen], 15. August 1928. In: Glauser (1988), S. 234. 494 | Glauser [1936], S. 11. Die »Waldau unter Speyr«, die Glauser so nicht von innen gekannt hat, in einem offenen Brief an den Regierungsrat zu beschreiben, schlug er 1937 Oprecht vor, als eine der Taktiken, die bewirken sollten von Matto regiert, »den Vorwurf des Schlüsselromans abzuwenden.« Friedrich Glauser an Hans Oprecht, [ohne Ortsangabe], 28. Januar 1937. In: Glauser (1991), S. 495. 495 | In späteren Briefen Glausers wird Morgenthaler im Zusammenhang mit der Rezeptionsgeschichte von Matto regiert erwähnt. Im Nachlass Glausers im Schweizerischen Literaturarchiv in Bern sind keine Briefe Morgenthalers oder an Morgenthaler verzeichnet. 496 | Siehe Kapitel 3.6.2.3. 497 | Glauser [1936], S. 12.
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Als Waldauer Motiv, das ebenfalls Eingang in Glausers Matto regiert gefunden hat, wird auch im Jahresblatt der sogenannte Blitzzug erwähnt: »Der neue Waldauer / Kursbuch für Blitzzüge und Hafermotoren. Gültig ab 1. April. Unentbehrlich für Oekonomen und solche die es werden wollen.«498 Als »sonderbares Gefährt«499 fällt der Blitzzug in Matto Wachtmeister Studer auf. Im Roman wird die Form des Blitzzuges und seine Funktion in der Arbeitstherapie beschrieben, die Figur Studer unterbricht dafür sogar sein Pfeifen: »Denn ein sonderbares Gefährt fuhr vorbei. Ein Zweiräderkarren, eine Benne, und zwischen Stangen tanzte ein Mann. Am anderen Ende der Benne aber war eine lange Kette befestigt, mit vier Querhölzern. Jedes dieser Querhölzer wurde von zwei Mannen gehalten, so daß also acht Mann an der Kette die zweirädrige Benne zogen. Neben dem sonderbaren Gefährt schritt ein Mann in blauem Überkleid. Er grüßte lächelnd, rief: ›Ahalten! Ahalten han i gseit!‹ Der Mann zwischen den Stangen hörte auf zu tanzen, die acht Mann an der Kette standen still. Studer fragte mit einer Stimme, die vor Verwunderung ganz heiser war: ›Was isch denn das?‹ ›Der Randlinger Blitzzug!‹ lachte der Mann. Und erklärte dann zutraulich, das gehöre zur Arbeitstherapie, das sei, damit die Patienten mehr Bewegung hätten … Natürlich, nur die ganz Verblödeten brauche man dazu. Aber sie seien dann viel ruhiger … Und adjö wohl!« 500
Die Karrenzüge, wie die Blitzzüge offiziell hießen, wurden, wie in Kapitel 3.11.1 bereits ausgeführt, in der Waldau 1926 im Rahmen der Arbeitstherapie eingeführt, es gab sie aber auch in anderen Berner Anstalten. Der Einsatz von Blitzzügen eignete sich in der Waldau deshalb am besten, weil das Gelände weitläufig genug und die Witterung weniger rau war als beispielsweise in Bellelay. In der knapp gehaltenen Version des Jahresblattes tritt der Blitzzug nur in einer zwei Sätze umfassende Annonce auf, er wird hier eindeutig der Waldau zugeordnet, deren ›Markenzeichen‹ er war. Zusammengefasst lässt sich sagen: Das (in die Parodie eingebrachte) Porträt einer Institution und ihrer Repräsentanten ist unter der Bezeichnung »Fasnachtszeitung« und mit einer vermutlich geringen Verbreitung möglich. Ein Porträt in Form eines Kriminalromans hingegen kann, wie die Reaktionen auf Matto regiert zeigen, viel Ärger bedeuten, weil sich reale Personen in den Romanfiguren erkennen. In Unverständnis und persönlicher Betroffenheit über die negativen Reaktionen, die Matto auslöste, schreibt Glauser 1937 an Otto Briner: »Es ist überhaupt merkwürdig auf dieser Welt. Und ich studiere dem nach: Ein Zeichner darf Karikaturen anfertigen, ein Maler Portraits. […] Und wir Schreiber dürfen also nicht tun, was die Maler ohne Gewissenbisse machen? Wir dürfen uns keine Portraits erlauben?«501 Die Akzeptanz eines solchen Porträts hängt damit von der Gattung ab, in der es verfasst wird und von der Verbreitung des Textes, wobei letztere auch mit der Gattung zusammenhängen kann, denn Kriminalromane finden in der Regel ein breites Publikum. 498 | Ebd. 499 | Glauser (1998), S. 34. 500 | Glauser (1998), S. 34. 501 | Friedrich Glauser an Otto Briner, Angles, den 2. Februar 1937. In: Glauser (1991), S. 507.
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4.6.4 Matto regiert – Diskursivierung des Schreibortes Mit Glausers Schreiben an Matto regiert kam ein lange geplantes Unterfangen zu seinem Vollendung502 und gleichzeitig war dieser Prozess von vielen Schreibwiderständen geprägt. In der Folge werden die unterschiedlichen Thematisierungen des Schreibens an diesem Kriminalroman als eine Diskursivierung des Schreibortes durch Glauser zusammengefasst. Dabei geht es weniger um die chronologische und detailreiche Entwicklung des Romans, sondern um Glausers Schreiben über das Schreiben am Roman und damit um die Verortung seines Schreibens in der Waldau. Damit wird auch die Problematik des Schreibens in der Anstalt über die Anstalt angeschnitten und versucht, eine ›Poetik des Randes‹, nämlich diejenige des in der Psychiatrie Geschriebenen zu bestimmen.503 Geht Thüring davon aus, dass Glauser kein »versierter Poetologe«504 war, wird hier die Meinung vertreten, dass er als schreibender Patient mit seinen Texten durchaus einer Poetik zur Emergenz verhilft, die über die persönliche Schreibweise und ihre Reflexion hinausreicht und die, weil sie ›am Rand‹ unter erschwerten Bedingungen entsteht und teilweise auch vom Rand handelt, oft übersehen wird. Glausers Schreiben lässt sich für die Jahre 1934 bis 1936 als gleichermaßen ortsgebunden wie auch ortsüberschreitend charakterisieren. Er merkt in seinen Briefen an, dass er immer für ein Publikum schreibe. Dieses Publikum ist im Draußen angesiedelt. So teilt er etwa Bendel mit: »Hin und wieder hab ich auch hier ein wenig Spaß, besonders, wenn 502 | Glauser zur Dauer des Projektes an Halperin: »Das mit dem Roman ist lustig. Glauben Sie mir, daß ich ihn schon fünf Jahre herumschleppe? Drum habe ich ihn so herunterhauen können. Und Matto ist exakt – warten Sie einmal – 16 Jahre alt. Das Gedicht, das Schül schreibt, hat votre serviteur damals verbrochen, und er ist geehrt, daß Sie es schön und verrückt finden … Wissen Sie, ich habe immer wieder probiert – ernst, und in der Ichform … Das geht alles nicht. Dann werden »Inseln« daraus, und dann liest es kein Mensch.« Friedrich Glauser an Josef Halperin, [Waldau], 2. Mai 1936. In: Glauser (1991), S. 279. Wie Bernhard Echte in den Anmerkungen zu diesem Brief schon schreibt, stammt Mattos Puppentheater aus dem Jahr 1919, Glauser hat sich, wie Echte meint, also verrechnet. Da aber nur eine handschriftliche Version des Textes und damit vermutlich eine Abschrift vorhanden ist, lässt sich die genaue Entstehungszeit nicht mehr eruieren. Im Erzählerischen Werk vermuten Echte und Papst, dass das Stück im Frühjahr 1919 in Münsingen entstanden sei. Siehe auch Glauser (1992a), S. 124–131; S. 389. 503 | Zu Glausers Poetik der (Kriminal-)Literatur siehe Thüring (2006). In Bezug auf Münsingen enthält der gleichzeitig ablaufende Prozess des Schreibens und Lebens in der Anstalt auch eine Nachzeitigkeit, wenn aus der Waldau über die Münsinger Zeit, die zurückliegt, geschrieben wird. Matto regiert und Randlingen auf ein Porträt Münsingens zu reduzieren, würde dem Werk jedoch nicht gerecht. 504 | Thüring (2006), S. 61. Thüring analysiert in besagtem Artikel die »einschlägig poetologisch[en]« Äußerungen Glausers im Offenen Brief, den er 1937 in Reaktion auf die Zehn Gebote für den Kriminalroman des Krimiautors Stefan Brockhoff verfasste, und beschreibt die Textsorten Verhör und Protokoll als »diskursiv-poetische Mechanismen von Literatur und Wirklichkeit«. Ebd., S. 61; 64. Thüring ist zuzustimmen, dass es mit Ausnahme des Offenen Briefes keine längeren poetologischen Arbeiten Glausers gibt; die in diverse Briefe eingestreuten Aussagen geben zusammengenommen aber durchaus den Eindruck einer zusammenhängenden und durchdachten Poetik.
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mir ein paar Seiten so halb und halb gelungen sind und ich mir dann vorstelle, daß du Spaß beim Lesen haben wirst. Es ist ja so, daß man sich beim Schreiben immer einen ganz bestimmten Menschen vorstellt.«505 Und zu einem späteren Zeitpunkt schreibt er an Halperin: »Glauben Sie mir, daß ich während des Schreibens oft an Sie gedacht habe? In der Art etwa: Da wird der Josef grinsen, oder das wird ihm Spaß machen. Vielleicht hab ich mich wüscht trompiert, aber das macht ja nichts.«506 Glausers Schreiben ist stark mit dem Entstehungsort verbunden, wie weitere Stellen noch belegen werden, es ist aber immer gerichtet auf ein Überschreiten von Ortsgrenzen und steht, auch in der Abgeschlossenheit der Anstalt, in einer virtuellen Verbindung mit Außenstehenden und einer Außenwelt, die mittels Briefen teilweise erreicht werden kann.
4.6.5 Schreibanfänge und -widerstände Die Entstehung von Matto regiert ist geprägt von Ankündigungen unterschiedlicher Art – so schreibt Glauser, um nur einige Beispiele zu nennen, von seinem »Irrenhausroman«,507 einem »Münsinger Roman«,508 der »Kharlakani weiß alles«509 heißen und in einer »Serie Schweizer Kriminalromane« stehen soll, wovon einer »in einer Irrenanstalt […], einer in Ascona, einer in Paris«510 angesiedelt sein werde. Bereits der Anfang des Schreibens511 ist geprägt von Glausers Selbstzweifeln, von der Angst, den falschen Ton zu erwischen und von einem Kampf mit dem Genre Kriminalroman: »Meinen Irrenhausroman hab ich bis jetzt sechs Mal angefangen. Ich hab den Ton noch nicht erwischt. Das ist immer das schwerste. Aber ich glaub, ich bin auf der Spur. Nur wollt ich ihn zuerst viel zu kompliziert und humoristisch zugleich. Das geht nicht. Ich muß den ganzen Plan umwerfen. Vielleicht wird ihn kein Verleger wollen, und wenn er gedruckt ist, wird die Elite sagen: ›Es ist ja nur ein Kriminalroman.‹ Das ist ja wurscht.« 512 505 | Friedrich Glauser an Berthe Bendel, [Waldau, ca. 20. Dezember 1935]. In: Glauser (1991), S. 101. 506 | Friedrich Glauser an Josef Halperin, [Waldau], 27. IV. [19]36. In: Glauser (1991), S. 269. 507 | Friedrich Glauser an Josef Halperin, [Waldau], 29. II. [19]36. In: Glauser (1991), S. 175. 508 | Friedrich Glauser an Berthe Bendel, [Waldau, ca. 6./7. April 1936]. In: Glauser (1991), S. 241. 509 | Friedrich Glauser an Friedrich Witz, Bolligenstraße 117, Ostermundigen, 8. Januar 1936 [recte: Febuar]. In: Glauser (1991), S. 149. 510 | Friedrich Glauser an Ella Picard, Bolligenstraße 117, Ostermundigen (Bern), den 8. Januar 1936. In: Glauser (1991), S. 126. Im gleichen Brief an die Literaturagentin rechtfertigt Glauser den Ausdruck »Schweizer« Kriminalroman, der durch die unterschiedlichen Spielorte also »doch nicht nur Scholle und Hämoglobin« sein sollen. Ebd. 511 | Allgemein zu Glausers Schreibanfängen siehe Thüring (2009). 512 | Friedrich Glauser an Martha Ringier [Waldau], 17. Januar 1936 [recte: Februar]. In: Glauser (1991), S. 153. Zuvor klang es in einem Brief an Humm noch optimistischer, was das Unterfangen, »spannende Bücher« zu schreiben, betraf: »Eigentlich möchte ich etwas gerne wissen: ob man es nicht möglich machen könnte, sogenannte spannende Bücher zu schreiben, die den intelligenteren Teil der Masse erreichen könnten und zugleich auch künst-
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Als dann Ende Januar 1936 eine Seite geschrieben ist, vermeldet Glauser dies euphorisch Bendel513 und Ringier.514 Nach dem bereits erwähnten Aquarium, dem Goldfisch und dem Maulesel, fügt Glauser einen weiteren Vergleich mit der Tierwelt an, indem er die Anstalt als »Ameisenhaufen« bezeichnet: »Warum, ich bitte Sie, warum soll man nicht einmal versuchen, eine Art Spiegelbild der Menschheit zu geben, indem man eine ›geschlossene Anstalt‹ zeigt, diesen Ameisenhaufen, in dem sich die menschlichen Ameisen mit Gift bespritzen, beißen, neidisch aufeinander sind, hin und wieder auch ganz anständig handeln […]. Es wird ein Kriminalroman, aber ich sehe keine andere Möglichkeit, daß die Leute Sachen schlucken, die sie sonst trocken nicht schlucken würden. Ist das sehr dumm?« 515
Bei diesen »menschlichen Ameisen« in der Anstalt als »Ameisenhaufen« handelt es sich jedoch, und das ist das Bemerkenswerte an dieser Stelle, nicht um eine Beschreibung des Anderen, der Ausgeschlossenen, im Gegenteil will Glauser damit »der Menschheit« einen Spiegel vorhalten. Damit ist das Leben in der Klinik, um das sich der »Irrenhausroman« dreht, gerade nicht ein ganz anderes als dasjenige außerhalb, nur lassen sich die »menschlichen Ameisen« gerade hier genauer beobachten, wo sie mit »Gift« spritzen. Die Position des Autors Glauser im Bild der Ameisen ist unklar, einerseits ist er als Insasse eine der beißenden, Gift spritzenden Ameisen, andererseits ist er als Schreibender sowohl des Romans wie auch des Briefs der große Arrangeur im Außerhalb, der Spiegel und Spiegelbild einrichten und das sprachliche Ergebnis zeigen kann. In diesem literarischen Spiegelbild werden sich die Betroffenen nicht gerne erkennen wollen, das ist Glauser schon zu Beginn der Arbeit klar, weshalb er auch die Form des Kriminalromans wählt, in die eingepackt er die Anstalts- und damit Menschheitsbeschreibung am besten lesbar findet. Stoff und literarische Form sind damit für den Autor untrennbar miteinander verbunden, auch wenn Glauser immer wieder an den Möglichkeiten des Kriminalromans zweifelte.516 Dass einige Leser lerisch nicht ganz wertlos wären. […] Wissen Sie übrigens, daß es höchst amüsant ist, eine spannende Handlung zu erfinden? Ich hab das bis jetzt nie gekonnt, aber technisch ist es so reizvoll, daß ich meinen Spaß dran habe.« Friedrich Glauser an Rudolf Jakob Humm, [Waldau], 6. Januar [19]36. In: Glauser (1991), S. 118 f. 513 | »Die Leute reden schon alle von meinem Irrenhausroman, u. ich hab glücklich eine Seite geschrieben. Du mußt unbedingt Schreibmaschine lernen, damit ich dir diktieren kann. Wenn du willst, wasch ich dann ab, während du abschreibst.« Friedrich Glauser an Berthe Bendel, [Waldau, Ende Januar 1936]. In: Glauser (1991), S. 238. 514 | »Außerdem will Oprecht den Irrenhausroman, von dem augenblicklich eine Seite existiert, aber er wird wachsen, nach dem schönen Sprichwort: ›Petit poisson deviendra grand, si Dieu lui prête vie …‹ Und der wird mir Spaß machen zum Schreiben.« Friedrich Glauser an Martha Ringier, Waldau, den 6. Februar 1936. In: Glauser (1991), S. 141. 515 | Friedrich Glauser an Martha Ringier, Waldau, den 6. Februar 1936. In: Glauser (1991), S. 141. 516 | Einmal mehr schreibt Glauser über seine Zweifel an Ringier: »Mein Roman macht mir Sorgen, gerade weil ich in der Kritik der anderen immer das Maul so voll nehme. Da haben Sie ganz recht, und Sie müssen hin und wieder dämpfen. Denn mit den Kriminalromanen ist es eben so bestellt: Entweder sind sie rein spannend, wie die amerikanischen und die guten englischen, eine algebraische Gleichung mit einer Unbekannten und mit einer sauberen Lö-
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von Matto regiert nicht bereit waren, das, was Glauser ihnen servierte, zu »schlucken«, zeigen die Anmerkungen zur unmittelbaren Rezeption in Kapitel 4.6.6. Ungeachtet dieses euphorischen Anfangs stellen sich die Widerstände beim Schreiben schnell ein, Glauser schlägt sich mit einem Stoff herum,517 der eine Eigendynamik angenommen zu haben scheint, wie Glauser an Ringier schreibt: »Mir geht es komisch mit dem Buch. Es sollte ein anspruchsloses, ein bißchen boshaftes Buch über die heilige Psychiatrie werden, ein Kriminalroman, wie es deren viele gibt, und plötzlich biegt sich mir das Ganze um, es wird poetisch (pötisch! bitte sehr!) sehr zu meinem Verdruß, die Leute darin fangen an zu leben und sind gar nicht damit einverstanden, nur so ein Marionettendasein zu führen, es geht mir wie dem Regisseur in Pirandellos Stegreif: die Akteure wollen gar nicht Figuren sein, sondern sie wollen plötzlich leben. Scheußliche Sache. Es nützt nichts mehr zu sagen, Besen, Besen sei’s gewesen! Der Besen proklamiert den Generalstreik. Es wird kein Kriminalroman, es wird eine andere Angelegenheit. Und dem Glauser grauset’s. Er brütet manchmal eine halbe Stunde über einem Satz und stellt dann kopfschüttelnd fest, daß die Leute, die es lesen, gar nicht merken werden, daß es so besser klingt als anders. Und ich freue mich direkt, daß sie es wie einen Kriminalroman von der ein wenig langweiligen Sorte lesen werden, und lache mir ins Fäustchen, weil es doch etwas anderes wird und es niemand merken tut. Sie sehen, maman Marthe, das mulet hat den Größenwahn, das mulet tut dichten.« 518
Der Stoff »biegt sich«, eine »poetisch[e]« Schreibweise bietet sich ungefragt an und die Figuren wehren sich gegen ein »Marionettendasein«. Nun »grauset’s« dem Autor – oder zumindest mimt er gegenüber der Adressatin den Schriftsteller, der sich seinem Stoff und seinen Figuren ausgeliefert sieht. sung, wie van Dine oder Ellery Queen, oder dann sind sie, wie die der französischen Schule von Arsène Lupin bis und mit Simenon, ein wenig Psychologie, viel Atmosphäre und, wie bei Simenon besonders, mit einem merkwürdigen menschlichen Hintergrund – oder dann sind sie reiner Mist, weder spannend noch gut geschrieben, sondern Genre Himbeersyrupersatz, wie Arthur von Felten. […] Ach maman Marthe, wenn Sie nur ume Weg wären. Ich weiß manchmal nicht, ob ich daneben gehauen habe oder nicht. Ich sehe vor lauter Details die ganze Handlung nicht mehr, wissen Sie, vielleicht kennen Sie mich jetzt doch ein bißchen, ich nehme nicht gern das Maul voll, aber so abgeplagt wie mit diesem Roman hab ich mich nicht einmal mit meinem Legionsroman. Und doch ist er noch immer voller flottements, es wird so impressionistisch das Ganze, wirklich, man sollte nicht so hybride Dinge versuchen – Kriminalromane mit Niveau sind hoffnungslose Angelegenheiten, man ist eben weder Stevenson noch Conrad, sondern ein selbstüberhobenes mulet. Peinliche Sache, ich wollte, mein Dr. Purkolter [Laduner, Anm. M.W.] käme richtig heraus. Das Thema an sich wäre nicht dumm, aber die guten Leute werden es überspannt finden, obwohl ich da gar nicht einverstanden bin, es ist eigentlich gar nicht überspannt.« Friedrich Glauser an Martha Ringier, [Waldau], 9. April 1936. In: Glauser (1991), S. 243 f. 517 | An Halperin schreibt Glauser: »Es ist sonst nicht viel los. Ich schlage mich mit meinem Irrenhausroman herum und habe, nur damit ich ihn überhaupt fertig schreibe (ich bin nämlich sehr faul), Oprecht geschrieben, ich würde ihn auf 1. Mai liefern.« Friedrich Glauser an Josef Halperin, [Waldau], 29. II. [19]36. In: Glauser (1991), S. 175. 518 | Friedrich Glauser an Martha Ringier, [Waldau], 17. März 1936. In: Glauser (1991), S. 194 f.
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Einige Tage später scheinen sich die Schreibmühen noch nicht gelegt zu haben, Glauser schreibt erneut an Ringier: »Meinem Roman geht es schlecht. Ich arbeite so verkrampft daran, und das ist ein schlechtes Zeichen. Ich will zuviel hineintun, und dann erinnere ich mich plötzlich, daß ich ja Spannung hineintun muß, und dann lasse ich einen Mord entdecken, und dann kommt wieder etwas dazwischen, ein Kind, das am Klavier spielt, und eine Frau, die singt, und dann träumt mein Wachtmeister wieder, und verzweifelt muß er wieder entdecken. Es wird reichlich unruhig. Ich werd es niemandem zum Abschreiben geben können, sondern werd es selber machen müssen. Denn es stimmt noch nichts drin. Und es darf nicht so etwas Zerfasertes werden wie die ›Fieberkurve‹. Das Beste drin wird wahrscheinlich die Geschichte des Pieterlen sein. Aber auch die zerrinnt mir unter den Händen.« 519
Glauser problematisiert hier Unplanbares beim Schreibprozess, wenn ihm »etwas dazwischen« kommt und er sich an genrespezifische Vorgaben wie der Zugabe von Spannung erinnern muss. An Bendel schreibt Glauser auch, dass er sich mit dem Roman abplage, vor allem auch was die Figurenzeichnung anbelange. Glauser schien zwischen mimetischen Verfahren und Fiktionalisierungsprozessen hin und her gerissen zu sein: »Ich hab keine Ahnung, ob der Münsinger Roman etwas wird. Auf alle Fälle wird er merkwürdig. Du mußt nicht ungeduldig werden, wenn ich immer davon spreche, aber es hat mich noch selten etwas so geplagt wie dieser Roman. Man kann doch die Leute nicht abphotographieren, sonst leben sie nicht, und wenn man hin und wieder etwas dazudichtet, so ist’s immer gefährlich, daß man verzeichnet. Und dann ist’s langweilig, weil ich mit niemandem drüber sprechen kann und so ganz allein urteilen muß: geht das, geht das nicht, aber es kommt mir vor, als ob er jetzt doch ein wenig Zug überkommt.« 520
Das Schreiben als »[H]erunterhauen«,521 wie Glauser es im Mai desselben Jahres in einem Brief an Halperin beschreibt, ist als Euphemismus zu betrachten, wenn man die Widerstände beachtet, denen sich Glauser beim Schreiben immer wieder ausgesetzt sah. An Martha Ringier schreibt Glauser auch, dass er von Studer träume, der ihn festnehmen wolle und dem Glauser im Traum klarzumachen versucht habe, dass er eine fiktive Figur sei, die er, Glauser, geschaffen habe.522 Neben dem Unplanbaren beim Schreiben und dem Spannungsfeld zwischen Mimesis und Fiktionalisierung thematisiert Glauser in den Briefen auch weitere technische Schwierigkeiten, etwa bei der Umsetzung des Planes, im Krimi »das Atmosphärische herausarbeiten […]«523 zu wollen. So schreibt er an Ringier vom Problem, ein Gefühl einer Figur nur durch die »Redensart« auszudrücken: 519 | Friedrich Glauser an Martha Ringier, [Waldau], 23. März 1936. In: Glauser (1991), S. 212 f. 520 | Friedrich Glauser an Berthe Bendel, [Waldau, ca. 6./7. April 1936]. In: Glauser (1991), S. 241 f. 521 | Friedrich Glauser an Josef Halperin, [Waldau], 2. Mai 1936. In: Glauser (1991), S. 279. 522 | Friedrich Glauser an Martha Ringier, [Waldau], 17. März 1936. In: Glauser (1991), S. 197. 523 | Friedrich Glauser an Josef Halperin, Bolligenstraße 117, Ostermundigen, den 31. Dezember [19]35. In: Glauser (1991), S. 111.
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Schreiben am Rand »So! Jetzt sollte ich wieder zu der großen Rede des Dr. Kurt Purkholter [später heißt die Figur Laduner, Anm. M.W.] zurückkehren. Er hat sich vorläufig ganz schweigsam verhalten. Nun muß er ein Kapitel lang reden, vielleicht braucht er auch zwei, er trägt weiße Tennishosen und von seinem Hinterkopf steht eine Haarsträhne ab wie die Feder vom Kopfe eines Reihers, und ich bin froh über diese Trouvaille gewesen, aber vielleicht schmeiß ich sie wieder raus. Was kann man wissen? Den alten Direktor hat Studer glücklich endlich in der Heizung gefunden, er sah nicht schön aus, der alte Mann, seine Beine lehnten an der eisernen Leiter, und die Hosen waren ihm bis in die Mitte der Wade gerutscht, so daß man seine grauwollenen Socken sehen konnte, die mit den weißen Bändeln seiner Unterhosen befestigt waren … Soweit wären wir nun endlich. Es ist doch einer gestorben. Dann wird die ganze Sache doch gleich palpitanter und Dr. Purkholter hat vor irgend etwas Angst. Man weiß noch nicht wovor. Und die Angst soll sich nur in seiner Redensart ausdrücken. Wie macht man das technisch, maman Marthe?« 524
Neben der Ausarbeitung der Figur Purkholter/Laduner schreibt Glauser an Ringier auch über die Figur Studer und wie er ihr und damit der Leserschaft psychiatrisches Wissen beibringt: »Verzeihen Sie, wenn ich heute nicht lange schreibe. Ich muß meinem Fahnderwachtmeister Psychiatriekurse geben und ihn in die Grundprobleme der Freudschen Analyse einführen. Das ist eine schwere Sache, denn mein Fahnderwachtmeister ist zwar kein ganz dummer Kerl, aber er hat es wie Anton Karlowitsch Ferge, der stille Dulder mit dem farbigen Pleurachoc aus dem ›Zauberberg‹, ihm ist alles Höhere fremd.« 525
Nach hundert Seiten scheint Glauser mit Matto regiert über den Berg zu sein, wie er wiederum an Ringier schreibt: »So, jetzt muß ich wieder hinter meinen Roman, der bald die Klippe der hundertsten Seite umschifft hat. Das ist nämlich so bei mir: Bis Seite hundert harzt es, dann geht es leichter.«526 Besonders stolz ist Glauser auf die »Geschichte vom Demonstrationsobjekt Pieterlen«, wie er unterschiedlichen Adressaten gegenüber anmerkt.527 524 | Friedrich Glauser an Martha Ringier, [Waldau], 17. März 1936. In: Glauser (1991), S. 196 f. 525 | Friedrich Glauser an Martha Ringier, [Waldau], 24. II. [19]36. In: Glauser (1991), S. 167 f. Im selben Brief schreibt Glauser: »Und nun in einem großen Bogen zurück zu Strindberg, dem Lieblingsdemonstrationsobjekt der Psychiater. Strindberg, madame, war nämlich schizophren. Sie wissen nicht, was schizophren ist? Spaltungsirresein nennt es Herr Prof. Dr. Bleuler, oder wenigstens übersetzt er es mit diesem Wort. Keine Angst, chère madame, ich habe mit Studer genug, meinem Fahnderwachtmeister. Ihnen werde ich kein Privatissimum über angewandte Seelenforschung halten, und auch die Analyse wollen wir beiseite lassen. Man hat nämlich herausgefunden, daß eine Analyse, um wirksam zu sein, sich über mindestens acht Jahre erstrecken müsse. Können Sie sich das vorstellen? Acht Jahre jeden Tag eine Stunde auf einem Kanapee oder einer Kautsch (wie die Berner das Wort orthographieren) liegen und assoziieren. Sowas hält nicht einmal ein Maulesel aus. Ich habe mich immer gefragt, ob man nicht beispielsweise auch Hunde analysieren könnte.« Friedrich Glauser an Martha Ringier, [Waldau], 24. II. [19]36. In: Glauser (1991), S. 170 f. 526 | Friedrich Glauser an Martha Ringier, [Waldau], 1. April 1936. In: Glauser (1991), S. 237 f. 527 | An Ringier: »Was aber das Lustigste ist, ist, daß die Sabotagestimmung den Irrenhausroman gar nicht tangiert. Der steht so außerhalb. Die Geschichte vom Demonstrations-
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An Robert Schneider schreibt Glauser am 2. Mai 1936, die ersten 120 Seiten des Matto seien bei Hans Oprecht, die folgenden 50 bis 60 Seiten würde er in der darauffolgenden Woche noch schicken. Im Weiteren erläutert Glauser den Wunsch, am 8. Mai die Waldau verlassen zu können und listet auf, wen er danach besuchen möchte. Tatsächlich wurde Glauser aber erst am 18. Mai entlassen. In den ersten Maitagen versucht Glauser, den Roman abzuschließen, was er aber erst nach der Entlassung umsetzen kann. An Martha Ringier schreibt er: »Ich muß noch den Caplaun umbringen, in meinem Roman, und weiß nicht, soll er ersaufen oder sich eine Kugel in den Gring jagen. Aber fertig werden muß er, nicht der Caplaun, sondern der Roman.«528 Der Entlassung schaute Glauser mit gemischten Gefühlen entgegen, wie er wiederum Martha Ringier schreibt – er sei »froh und ein wenig ängstlich«.529 Den Schluss des Romans zu schreiben, bereitete Glauser aber noch ziemlich Mühe.530 Hans Oprecht willigt in einem Brief vom 11. Mai 1936 ein, den Roman im Öffentlichen Dienst zu publizieren, was dann zwischen dem 22. Mai und 13. November desselben Jahres tatsächlich der Fall war. objekt Pieterlen habe ich fertig, wenn man noch ein bißchen feilt, wird sie ziemlich sitzen, und eigentlich in kaum 15 Seiten ist es mir so halbwegs gelungen (Sie sehen, ich bin nicht bescheiden), eine Darstellung eines Kindsmordfalles zu geben, die nicht peinlich wirkt (hauen wird sie die Leute schon, aber das ist ganz richtig), eine Erklärung der Schizophrenie, aber ganz ins Gleichnishafte transponiert, so daß jeder Mensch, der ein wenig Gefühl hat, es verstehen muß, eine Ehrenrettung der Psychiatrie (es ist kein Wort Protest drin, und der Gerechtigkeitsfanatiker Mulet kommt zu Wort, merkwürdig eigentlich, daß man diesen Fimmel in sich entdeckt), kurz, ich habe ein wenig den Größenwahn, aber ich möchte sagen, daß ich mir relativ wenig darauf einbilde, es hätte ganz gut anders kommen können.« Friedrich Glauser an Martha Ringier, Waldau, 27. März 1936. In: Glauser (1991), S. 220. An Halperin: »Und am meisten freut mich, daß Sie mir einen Heidenkrach machen wollen, wenn ich den Pieterlen streiche. Ich find nämlich auch, es ist die ›pièce de résistance‹ vom Ganzen, aber ich habe nicht recht gewagt, mit meiner Meinung herauszurücken, denn die Kollegen vom Fach haben leichter oder schwerer die Stirne gerunzelt und mannigfache Bedenken geäußert.« Friedrich Glauser an Josef Halperin, [Waldau], 2. Mai 1936. In: Glauser (1991), S. 277 f. 528 | Friedrich Glauser an Martha Ringier, [Waldau], den 4. Mai 1936. In: Glauser (1991), S. 283. 529 | Friedrich Glauser an Martha Ringier, Waldau, 8. Mai 1936. In: Glauser (1991), S. 284. 530 | Er schreibt im gleichen Brief: »Mit meinem Romanschluß geht es nicht vorwärts, ich knorze daran herum, einen hatte ich schon, aber der war zu kolportagemäßig, und jetzt probiere ich einen anderen. Weißt du, ich kann dir ganz genau sagen, was gut ist in dem Roman. Es sind ein paar kleine Scenen. Der Rest ist Stuß, und da mußt du nicht nach Rhythmus suchen. […] Was mich an meinem Roman am meisten gefreut hat, sind die paar Seiten über den Tod vom Pfleger Gilgen. Ich glaub, ich lern mit der Zeit eine gewisse Sparsamkeit in den Mitteln. Und da bin ich ein wenig stolz, daß es mir nicht ausgerutscht ist. Denn die Trauer liegt ja nur in ganz kleinen Andeutungen. […] Überhaupt, man kann nur Sachen gut schreiben, die man erlebt hat. Und diese Gilgengeschichte, mit der grotesken Beschuldigung des Schuhestehlens und so weiter, die ist wirklich passiert, ich habe da gar nichts erfunden. Nur daß er sich nicht umgebracht hat, der Pfleger, sondern auf eine andere Abteilung versetzt worden ist und dann prompt eine sehr schwere Form von Lungentuberkulose produziert hat. Man kann ja da wirklich von psychogen reden, wenn man will.« Friedrich Glauser an Martha Ringier, Waldau, 8. Mai 1936. In: Glauser (1991), S. 285–287.
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Die Entlassung Glausers wird also in die Wege geleitet, allerdings stellt die Vormundschaftsbehörde die Bedingung, dass er schriftlich seine Eheunfähigkeit und die Verpflichtung zur freiwilligen Rückkehr in die Heilanstalt bei einem eventuellen Rückfall bezeugt. Dies tut Glauser am 21. April 1936.531 Der letzte Brief aus der Waldau stammt vom 17. Mai 1936 und ist einmal mehr an Martha Ringier gerichtet, gegen Schluss schreibt Glauser darin: »Und das ist hoffentlich der letzte Sonntag in der Waldau,«532 was tatsächlich der Fall war. Am Tag der Entlassung Glausers aus der Waldau notiert Briner in der Krankengeschichte: »Hat eben einen ›Irrenhausroman‹ beendet, in welchem der Direktor von einem Pat. ermordet wird, damit der von diesem Pat. verehrte Oberarzt Direktor werden kann! Scheint damit Erfolg gehabt zu haben, indem er vom Verlage Oprecht sofort angenommen wurde. Ist voll Zuversicht, meint, dass er reifer geworden sei und dass es ihn jetzt, nachdem er solche literarische Erfolge erzielt habe, nicht mehr nach Opiaten gelüste.« 533
Der subjektlose erste Satz Briners, den er mit einem Ausrufezeichen beendet, mag die Irritation des Psychiaters über den Verlauf des Krimi-Plots wiedergeben. Gleichzeitig zeigt die Wendung »[s]cheint damit Erfolg zu haben« eine gewisse Ratlosigkeit in der Bewertung des Gelesenen, das dann auch keine weitere Ausführung mehr findet. Die Entlassung Glausers ins Offene zeigt auch ein einzelnes Zeichen in der Akte: Auf dem Umschlag hält die Formularvorlage beim Feld »Entlassen« einen Platz für das Datum und einen für den Zustand des Patienten, übertitelt mit »als« frei, wohinein gesetzt etwa ›geheilt‹ stehen könnte. In der Akte Glausers wird dort mit einem Fragezeichen eine Leerstelle markiert, was Glausers Zustand und die Prognosen für seine Zukunft betrifft. Eine Aussage Briners wurde zum Romanmaterial, wie Glauser gegenüber Ringier erklärt: »Dr. Briner schaut mich immer mit einem Laduner-Lächeln an, wenn ich mich über die Bonzen ereifere, so als wolle er sagen: Aber mein lieber Glauser, wollen Sie mir die Schuld geben, daß es auf der Welt unlogisch zugeht? Ich glaub, er hat’s mir schon einmal gesagt, und ich habe es dann prompt für meinen Roman verwertet. Es ist wirklich ein trostreiches Wort.« 534
531 | Das Schreiben ist an den Amtsvormund Robert Schneider gerichtet und lautet: »Der Unterzeichnete, Friedrich Glauser, geb. 6. 2. 1896 v. Muri-Bern, bestätigt hiermit, zur Kenntnis genommen zu haben, dass er nach den gesetzlichen Vorschriften nicht ehefähig ist. // Er verpflichtet sich, [Streichung, Anm. M.W.] unverzüglich aus eigenem Antriebe in die Heilanstalt zurück zu kehren, falls er wieder rückfällig werden sollte.« Friedrich Glauser an Robert Schneider, Waldau-Bern, den 21. April 1936. Eine Kopie des Zettels findet sich in der Kg Waldau Nr. 11767. Publiziert ist das Schreiben mit den üblichen, geringfügigen orthografischen Anpassungen in: Glauser (1991), S. 265. 532 | Friedrich Glauser an Martha Ringier, [Waldau, 17. 5. 1936]. In: Glauser (1991), S. 306. 533 | Kg Waldau Nr. 11767, Eintrag vom 18. Mai 1936, signiert mit »Bri«. 534 | Friedrich Glauser an Martha Ringier, [Waldau], den 12. Mai 1936. In: Glauser (1991), S. 295 f.
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Der in der Sekundärliteratur oft vorkommende Hinweis auf Max Müller als einschlägige ›Vorlage‹ Glausers in der Konzeption der Figur Purkholter/Laduner wird durch diesen Verweis auf Briner entkräftet. Vielmehr lassen sich dadurch Verschiebungen und Überlagerungen in der Figurenzeichnung erahnen, die es auch in Beschreibung der Anstalt Randlingen gibt, die »weder Münsingen, noch die Waldau, noch Bellelay«535 sein soll und die doch Züge von Münsingen und der Waldau aufweist. Deutlich wird aus dem Namen ›Randlingen‹, dass der Ort durch seine Lokalisierung ›am Rand‹ gekennzeichnet wird, er sich also in einem relationalen Verhältnis zu einem Zentrum befindet. Dieses Verhältnis bestimmt ihn – und nicht die geografische Lokalisation. Auch hier hat Glauser die unterschiedlichen Verfahren der Abbildung mit Fiktionalisierung vermischt. Letztere ging einigen Rezipienten zu wenig weit, wie ein Blick auf die unmittelbaren Reaktionen zeigt.
4.6.6 Die unmittelbare Rezeption von Matto regiert In diesem Abschnitt steht im Zentrum, wie erste Leser auf den teilweise noch im Entstehen begriffenen Roman reagiert haben und wie Glauser auf Reaktionen von außen schriftlich geantwortet hat, es wird jedoch keine umfassende Rezeptionsgeschichte von Matto regiert angestrebt.536 In einem unpublizierten Text Glausers von 1937, den Echte und Papst mit dem Titel Selbstanzeige bedachten, schreibt Glauser über Matto regiert: »Ich weiß nicht, warum sich so viele Leute über das Buch geärgert haben«.537 Glauser hatte einzelne Teile des Romans vor der Publikation probehalber zum Lesen weggegeben, dabei ging es ihm auch darum, die Verständlichkeit des Werkes zu überprüfen. Auch Halperin fragt er um eine Meinung an: »Ist es für einfache Gemüter nicht zu schwer? Ich habe eingestellt auf Niveau Pfleger, und das geht gerade noch, es geht sogar gut.«538 Autor Glauser stellt mit seinem Text richtige Lese-Test-Experimente an, die anscheinend erfolgreich verlaufen: »Ich habe hier an einigen Pflegern Experimente angestellt. Sie lesen’s. Und der Pieterlen passioniert sie – also stimmt er.«539 Matto regiert wurde also für das »Niveau Pfleger«, eine institutionsspezifische Lesergruppe mit einem berufseigenen Wissen geschrieben. Der »Irrenhausroman« wendet sich damit auch an eine spezifische ›Irrenhausleserschaft‹. Auch Briner las Teile von Matto regiert, bevor der Roman fertig war. An Martha Ringier schreibt Glauser dazu: »Ja, du fragst, was Dr. Briner über den Roman denkt. Er hat den Anfang gelesen, teilweise, und dann den Pieterlen. Und er hat etwas anderes von mir erwartet. Warum erwarten die
535 | Siehe dazu die Notwendige Vorrede in Matto regiert. Glauser (1998), S. 7. 536 | Erste Reaktionen von Seiten der Klinik kombiniert Käsermann (2013) mit einem Essay. Dabei werden Glausers Briefe jedoch nicht mit einbezogen. Käsermann bezieht sich hauptsächlich auf das Dossier BBXI 823 im Staatsarchiv Bern. 537 | Glauser (1993), S. 238. 538 | Friedrich Glauser an Josef Halperin, [Waldau], 27. IV. [19]36. In: Glauser (1991), S. 266 f. 539 | Friedrich Glauser an Martha Ringier, [Waldau], den 12. Mai 1936. In: Glauser (1991), S. 298.
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Schreiben am Rand Leute nur immer anderes von mir? Er fand, es sei schade, ein gutes Thema in einem Kriminalroman zu verwurschten (er hat nicht ›verwurschten‹ gesagt, aber gemeint hat er es wohl).« 540
Matto regiert ist also bereits in der Waldau gelesen worden und die unterschiedlichen Leser wurden dazu angehalten, Glauser Rückmeldungen zu geben. Das Setting, bestehend aus Anstalt, schreibendem Insassen und lesenden Angestellten, in dem der Roman geschrieben wurde und das wiederum in ihm thematisch verhandelt wird, dient mit angeleiteten Leseversuchen auch der Erprobung einer Wirksamkeit, die Glauser – wie wohl mancher Autor – zu steuern versucht. Mit der Entlassung Glausers aus der Waldau geht auch der Beginn der Veröffentlichung von Matto regiert einher, vom 22. Mai bis 13. November 1936 erscheint er im Öffentlichen Dienst. Ende August fragt Glauser, mittlerweile in Angles, Hans Oprecht in einem Brief an, ob er wisse, wie Matto aufgenommen worden sei.541 Auf eine Antwort muss er lange warten, fertigt dafür aber die Vorlage für die Buchausgabe an. Mitte September schreibt Glauser an Ringier, er habe »die letzten Tage den ›Matto‹ durchkorrigiert. Eine Hundearbeit.«542 Matto liegt Glauser mehr am Herzen als Schlumpf Erwin Mord. An Ringier schreibt er, »[…] den ›Schlumpf‹ kann mir, mit einiger Technik, immerhin der eine oder der andere nachmachen. Aber den ›Matto‹ nicht. Da steckt zuviel Erlebtes darin, das nur ich so hab erleben können. Drum würd es mich gar nicht wundern, wenn der ›Matto‹ ein ›four‹ würde, wie die Franzosen sagen, eine Niete. Aber ich bin froh, ihn geschrieben zu haben.« 543
Matto ist für Glauser unmittelbar an seine Erlebnisse gebunden und deshalb ist es für ihn auch entscheidend, wie der Roman aufgefasst wird. Auch im Dezember weiß er noch nicht mehr und fragt Ringier an, ob sie etwas über die Reaktionen gehört habe.544 Als der Roman schließlich im Januar 1937 auch Glauser vorliegt, ist dieser außer sich vor Wut über die »Hornochsen vom Jean Christophe-Verlag«, die schließlich Verschiedenes am Roman »versaut« hätten.545 Ein Brief an Briner aus dem selben Monat blieb leider nicht erhalten,546 die Antwort des Arztes ist jedoch 540 | Friedrich Glauser an Martha Ringier, [Waldau, 28. 4. 1936]. In: Glauser (1991), S. 274. 541 | Friedrich Glauser an Hans Oprecht, Angles, Gué de Longroi, Eure et Loir, 31. August 1936. In : Glauser (1991), S. 352. 542 | Friedrich Glauser an Martha Ringier, [Angles], 14. Sept. 1936. In: Glauser (1991), S. 364. 543 | Friedrich Glauser an Martha Ringier, Angles, 10. Oktober 1936. In: Glauser (1991), S. 398. 544 | Friedrich Glauser an Martha Ringier, [Angles], 12. Dez. 1936. In: Glauser (1991), S. 451. 545 | Friedrich Glauser an Robert Schneider, Angles, den 12. Januar 1937. In: Glauser (1991), S. 469. In der Folge erhält Hans Oprecht von Glauser eine Auflistung, was der Verlag alles verbrochen habe. 546 | Der Briefkontakt mit Briner ging über die Waldauer Zeit hinaus, so erwähnt Glauser ihn einmal gegenüber Martha Ringier: »Von Briner habe ich einen netten Brief bekommen und einen noch netteren von einem Wärter in der Waldau, wo er mich bald ihrt, bald siezt.« Friedrich Glauser an Martha Ringier, Angles près Gué de Longroi, Eure et Loire, France, den 15. August 1936. In: Glauser (1991), S. 341.
Schreiben (und Lesen) hinter den Sandsteinmauern
interessant mit Blick auf die Reaktionen auf Matto, vor allem denjenigen aus dem Waldauer Umkreis, die sonst wenig Beachtung finden. Meist wird der Fokus auf den Umgang mit dem Roman in Münsingen und auf Müllers Reaktion auf das Werk gelegt. In der Figur des Direktors der »Spinnwinde«547 in Randlingen, Ulrich Borstli, der zuerst verschwunden ist und dann tot aufgefunden wird, erkannten einige Leser einen realen Träger desselben Vornamens – Münsingens Direktor Ulrich Brauchli. Aus Angst vor Brauchlis Reaktion, die gemäß Müller »lebensbedrohlich«548 hätte sein können, wird die Post des Direktors kontrolliert und so versucht, ihm das Werk vorzuenthalten.549 Außergewöhnlich ist die dadurch entstandene Tatsache, dass Matto regiert eine Umkehrung der Postkontrolle in der Anstalt bewirkte. Nun ist es plötzlich der Direktor, der unwissentlich von ihr betroffen ist. Das Kontrollmonopol der Anstalt wird von den Ausführenden gegen dessen Auftraggeber gewendet – im Gegensatz zu Glauser als Insasse ist es bei Brauchli zumindest in der Darstellung der Angelegenheit durch Müller unklar geblieben, ob er von dieser Kontrolle wusste oder nicht.550 Briner schreibt an Glauser am 23. Januar 1937 vom »›ungewöhnlichen Erfolg‹« des Matto: »Die Aufmachung desselben, das etwas unglückliche Vorwort und vor allem der blöde Waschzettel 551 dazu haben bewirkt, daß der Unterhaltungsroman zu einem Sensationsstück gestempelt worden ist und bei der hiesigen Regierung sehr böses Blut verursacht hat. Ich habe erst nachträglich erfahren, daß es sich entgegen Ihren Äußerungen doch um einen Schlüsselroman handelt und daß man die einzelnen Personen bis in alle Details hinein erkennt. Unglückseligerweise hat sich Herr Nationalrat Oprecht sofort beeilt, der Regierung gegenüber zu erklären, daß der Roman unter unserer (d.h. meiner) Zensur und Zustimmung geschrieben worden sei. Und nun müssen die Direktion und ich die Suppe ausfressen. Die Angelegenheit ist momentan vor dem Regierungsrat, und ich weiß noch nicht, welches die Folgen für mich sein werden; voraussichtlich wird es nicht nur mit einem scharfen Tadel sein Bewenden haben. So unangenehm die Sache für mich ist, so sehe ich nicht ein, warum ich Schuldgefühle haben sollte, ich würde auch in Zukunft in der speziellen Situation, in welcher der Roman entstanden ist, wohl kaum anders handeln. Ich bitte Sie deshalb, sich meinetwegen keine Gedanken zu machen und es vor allem zu unterlassen, mich der Regierung gegenüber zu verteidigen, falls Ihnen zufällig eine solche Regung aufsteigen sollte.« 552 547 | Glauser (1998), S. 9. 548 | Müller (1984), S. 159. 549 | Müller beschreibt die Situation so: »In Münsingen war unterdessen der Teufel los. Mit Kaisers zusammen baten wir die getreue Rosa Maurer, die sich schon seit Jahren Brauchlis angenommen hatte, seine Post zu kontrollieren und ein eventuelles auf ›Matto‹ verdächtiges Paket zu unterschlagen. Unterdessen standen die Leute, nicht nur die Anstaltsangestellten, sondern die ganze Münsinger Bevölkerung – es lagen Listen aus – am Bahnhofskiosk Schlange, um das Buch zu erhalten; wirklich eine groteske Situation!« Müller (1984), S. 159. 550 | Müller schreibt dazu: »Ob Brauchli doch etwas davon wußte und sich nur nichts anmerken ließ, ist ungewiß; jedenfalls hat er nie jemandem gegenüber eine entsprechende Bemerkung gemacht.« Müller (1984), S. 159 f. 551 | Auf dem Klappentext war vermerkt, der Dichter Mattos müsse zugleich ein »hervorragender Psychoanalytiker sein«. Glauser (1991), S. 471, Anm. 2. 552 | Otto Briner an Friedrich Glauser, Waldau, 23. 1. 1937. In: Glauser (1991), S. 473 f.
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Was Glauser so nicht wissen konnte, ist, dass sich Klaesi anfangs Januar desselben Jahres verpflichtet fühlte, der Sanitätsdirektion eine Sammlung von Stellungnahmen der Ärzte als »Zeugenaussagen« 553 zu schicken. Neben Klaesi mussten darin Weber, Wyrsch und Briner ihr Verhältnis zu Glausers Schreiben darlegen. Klaesi versucht darin die Argumentation umzudrehen und betont, es sei ihm klar gewesen, »dass der fantasiearme Schreiber Glauser, wenn er Vorbilder brauchte, sie aus unserer Anstalt und aus unserer Mitte nehme«,554 Wyrsch verteidigt Glauser als Autor und Briner beschreibt seine Zensurtätigkeit wie folgt: »Ich habe mich bemüht, alle diese Produkte, die übrigens nur teilweise einen Verleger fanden, gewissenhaft vor Absendung der Manuskripte durchzulesen, wobei ich manche Nachtstunde opfern musste, denn bei seiner Produktivität reichte die mir sonst zur Verfügung stehende Zeit nicht aus, um den Stoff bewältigen zu können. Bei dieser Gelegenheit sei erwähnt, dass ich nie Anlass hatte, gegen die Absendung der Manuskripte einzuschreiten.« 555
Matto regiert hatte also in erster Linie ein politisches Nachspiel. Hans Oprecht, der einerseits sozialdemokratischer Nationalrat, andererseits auch Vorsitzender des VPODs war, ist es, der Matto regiert im Öffentlichen Dienst publizierte. Oprecht war auch Mitbegründer des Jean Christophe-Verlags,556 der die Buchvariante von Matto herausgab. In dem von Briner erwähnten Beschwichtigungsversuch wies er in einem politischen Umfeld darauf hin, dass der Inhalt von der Institution Waldau genehmigt worden sei, was die Angelegenheit nicht besser machte. Max Müller berichtet, er sei von Morgenthaler über den Roman informiert worden, darauf sofort zum Regierungsrat und Direktor des Gesundheitswesens, Henri Mouttet, und dieser habe wie folgt reagiert: »Schließlich riet er mir, den Rummel ruhig vorübergehen zu lassen und nur, wenn es möglich sei, dafür zu sorgen, daß Brauchli das Buch nicht zu Gesicht bekäme. Von sich aus äußerte er dann den Gedanken, ob nicht eine gewollte Fahrlässigkeit der Waldau vorliege, weil das Manuskript die dortige Zensur passiert hatte. Er ließ darüber eine eingehende Disziplinaruntersuchung durchführen, die, wie zu erwarten war, im Sande verlief; lediglich Briner (der jetzige Direktor der Rosegg), damals Assistent und unmittelbarer Betreuer Glausers, bekam einen Rüffel.« 557
Die drei Bereiche Politik, Literaturbetrieb und Psychiatrie treffen sich hier in der Beurteilung von Glausers Text, Matto regiert, der gemäß Autor kein Schlüsselroman sein soll. In diesem Gefüge ist Glauser als Autor, aber vor allem als entmündigter ehemaliger Insasse der Waldau, der sozusagen nur auf Bewährung aus ihr entlassen wurde, in hohem Masse abhängig von den Reaktionen der entmündigen-
553 | Jakob Klaesi an die Sanitätsdirektion des Kantons Bern, Waldau-Bern, den 10. Januar 1937, zitiert nach Käsermann (2013), S. 42. 554 | Ebd. 555 | Ebd., S. 50. 556 | Die Angaben zu Oprecht stammen aus Glauser (1991), S. 112), Anmerkung 2. 557 | Müller (1984), S. 159.
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den und verwahrenden Instanzen.558 Oprechts Versuch, die Lage zu entspannen, hat eine gegenteilige Wirkung: Der Roman wird verstärkt in direkten Bezug zu den bernischen Anstalten gesetzt und an sie zurückgebunden, Randlingen wird als Münsingen gelesen, die Figurenzeichnung als von der Waldau autorisiert. Der »Sturm«,559 den Matto in den Worten Briners auslöste, betrifft die Kliniken Waldau und Münsingen und einzelne Exponenten in ihnen, er steuert aber auch die Leserichtung hin zu einer genauen Verortung in diesen beiden Institutionen. Es entsteht somit das eher seltene Phänomen, dass der Schreibort und die Schreibsituation des Autors von einem breiten Publikum als Thema erkannt werden, dass versucht wird, literarische und wirkliche Orte in Verbindung treten zu lassen und sich damit die unmittelbare Interpretation verstärkt auch auf Örtlichkeiten beruft. Dieser Effekt ist zeitlich gebunden, er wirkt dann, wenn die Orte als unzugängliche Orte des Ausschlusses als blinder Flecken der Gesellschaft fungieren und die ›Figuren‹, also die Exponenten noch in den jeweiligen Institutionen tätig und einer politisch und gesellschaftlich interessierten Leserschaft bekannt sind. In der Fortsetzung des bereits genannten Briefes vom Januar 1937 lobt Briner den Wachtmeister Studer, kritisiert aber Matto regiert: »Dafür hat mich der ›Matto‹, den ich kürzlich auf Befehl ›von oben her‹ lesen mußte, etwas enttäuscht. So vieles ist derart unwahrscheinlich, daß ich das Werk nicht mit reinem Genuß aufnehmen konnte. Man merkt etwas zu deutlich, daß es Ihnen in erster Linie auf ein ›Abreagieren‹ ankam, was Ihnen subjektiv ausgezeichnet bekommen ist, was aber nicht gerade zu einer objektiven Werterhöhung beigetragen hat. Ich zweifle nicht, daß Sie diese Mängel selber schon längst entdeckt und daraus die entsprechenden Lehren gezogen haben.« 560
Der Roman wird also auch innerhalb der Klinik als diese betreffend gelesen und Klaesi scheint es notwendig gefunden zu haben, Matto zu lesen oder zumindest lesen zu lassen. Briner berichtet im ersten Ausschnitt aus dem Brief mit einer gewissen Distanz, bei der Erwähnung des »Abreagieren[s]« im zweiten Teil wird hingegen deutlich, dass er den Roman als Arzt gelesen hat, der seinen ehemaligen Patienten immer noch analysieren kann. Gleichwohl bleibt er Glauser gegenüber freundlich, wenn er ihm zutraut, dass Glauser diese »Mängel« schon selbst entdeckt habe, ein Umstand, den dieser umgehend dementiert, wenn er zurückschreibt, Matto sei besser als der Wachtmeister, »[g]erade weil er im Grunde sehr wenig Ressentiment und Abreagieren enthält.«561 Dass sich Briners Argumentation widerspricht, wenn 558 | Glauser selbst hat es einmal so formuliert: »Sie müssen eben eines begreifen, daß ich gerade wegen der verschiedenen Abenteuer, die meine ›irdische Pilgerfahrt‹ für Schweizer Begriffe etwas zu farbig gestaltet haben, nicht so auftreten kann, wie ich gerne möchte.« Friedrich Glauser an den Jean Christophe-Verlag (Frau M. Bürgi), Angles, Gué de Longroi, Eure et Loir, 26. Januar 1937. In: Glauser (1991), S. 487. Gegenüber Ringier bekundet er seine Bedenken, in Bern wieder interniert zu werden: »Wenn mich die Herren hätten, würde ich wahrscheinlich für ein paar Jahre spurlos in Witzwil verschwinden – und dazu bin ich mir doch zu schade.« Friedrich Glauser an Martha Ringier, Angles, 28. Januar 1937. In: Glauser (1991), S. 498. 559 | Otto Briner an Friedrich Glauser, Waldau, 23. 1. 1937. In: Glauser (1991), S. 474. 560 | Otto Briner an Friedrich Glauser, Waldau, 23. 1. 1937. In: Glauser (1991), S. 475. 561 | Friedrich Glauser an Otto Briner, Angles, 26 janvier 1937. In: Glauser (1991), S. 477 f.
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er von einem »Abreagieren« spricht, das auf reale Vorkommnisse und Personen deutet, und er gleichzeitig dem Romankonzept vorwirft, es sei »derart unwahrscheinlich«, entgeht Glauser nicht, er nutzt die Kritik vielmehr als geschenktes Argument in einem Brief an seinen Vormund, um einer zu starken Wirkung des Romans vorzubeugen. Dort schreibt er: »Man wirft ihm [dem Roman] vor, er sei ein Schlüsselroman – und dabei ist die Fabel gerade so gewollt unwahrscheinlich angelegt, daß ich gehofft hatte, man würde mir diesen Vorwurf ersparen.«562 Die Gattung Schlüsselroman in ihrer klassischen Tradition erlaubt es, »Sachverhalte zur Sprache zu bringen und Personen in Erinnerung zu rufen, über die ›eigentlich‹ nicht gesprochen werden soll (oder darf).«563 Der informierte Leser kann in einem Rückbezug mittels decodierenden Verfahren auf das ›Gemeinte‹ schließen und damit wird es möglich, dass Personen erkannt werden. Die defensive Argumentation Glausers, die Briners Verdikt, »unwahrscheinlich«, aufnimmt, bezieht sich vor allem auf die Handlung, weil Figuren nur schwerlich in Verbindung mit Wahrscheinlichkeit gebracht werden, sie werden eher mit Begriffen wie ›Glaubhaftigkeit‹ gefasst. In der »Fabel«, wie Glauser den Roman im Brief an Schneider nennt, können die handelnden Tiere mittels ihrer Attribute, hauptsächlich aber aufgrund ihres Verhaltens mit menschlichen Vorbildern in Verbindung gebracht werden. Glausers Kriminalroman nimmt aber diese Verfremdungstechniken nicht in Anspruch, im Gegenteil werden die Figuren teilweise sogar mit ihren Namen nahe an reale Vorbilder herangebracht. Mit dem Argument, die Handlung des Krimis sei »unwahrscheinlich«, umgeht Glauser in seiner Abwehrreaktion eine Stellungnahme zu den Figuren des Romans und zu möglichen realen Vorbilder. An Otto Kellerhals, Anstaltsdirektor in Witzwil, den er schätzte, schreibt Glauser ebenfalls mit vorbeugender Tendenz von den Berner Wirren, die der Roman ausgelöst habe und fügt an: »Merkwürdig kommt es mir nur vor, daß man da über Nacht plötzlich zum Sensationsschriftsteller gestempelt wird – und Sensation lag mir wirklich fern. Es hat mich nur gereizt, einmal das Innere einer Irrenanstalt unkonventionell dazustellen, und wenn ich die Form eines Kriminalromanes gewählt habe, so doch nur, damit die Leute das Buch lesen. Sonst, wenn es ›literarisch‹ gewesen wäre, hätten es ein oder zwei Feuilletonredakteure gelesen.« 564
In der Folge nimmt Hans Oprecht den Dialog mit Walter Morgenthaler und Max Müller auf, Morgenthaler verspricht den Angaben Oprechts zufolge, sich für den Matto einzusetzen, er wolle es »sogar benützen, um den Kampf gegen die Zustände im bernischen Irrenwesen zu führen.«565 Die Folgen dieses angekündigten Engagements sind allerdings nicht dokumentiert. Im Februar 1937 berichtet Briner dann aber, die Regierung habe sich damit »begnügt, Ihr lebhaftes Bedauern aus562 | Friedrich Glauser an Robert Schneider, Angles, 26 janvier 1937. In: Glauser (1991), S. 481. 563 | Klaus Kanzog: Art. »Schlüsselliteratur«. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. III, S. 380–383, hier: S. 380. 564 | Friedrich Glauser an Otto Kellerhals, Angles, Gué de Longroi, Eure et Loir, 29. Januar 1937. In: Glauser (1991), S. 501. 565 | Hans Oprecht an Friedrich Glauser, Zürich, den 30. Januar 1937. In: Glauser (1991), S. 506.
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zusprechen, daß solche ›Nachlässigkeiten‹ vorgekommen sind, und damit ist die Angelegenheit auch äußerlich erledigt«.566 Briner gibt an, er habe den Matto noch einmal gelesen und sein Urteil revidiert: »Sie haben recht, viele Partien sind Ihnen ausgezeichnet gelungen; ich habe ja während der Abfassung des Romans Gelegenheit gehabt, mich über einzelne Eindrücke zu äußern, und nach wie vor schätze ich Ihre Gaben sehr.«567 Auch berichtet Briner vom Erfolg, den das Buch gerade auch in der Anstalt habe: »Soviel ich sehe, zirkuliert der ›Matto‹ in zahlreichen Exemplaren unter Pflegern und Patienten; wenn Sie überall einen solchen Absatz finden, werden Sie die Auflagezahl rasch erhöhen müssen.«568 Nachdem Glauser mit Bendel überstürzt Angles verließ, ans Meer zog, sich vorübergehend mit seinem Vormund überworfen hatte und in einem Brief an Briner auch noch ankündigt, der Matto erscheine nun in der Tagwacht als Feuilleton,569 schreibt Briner einen erzürnten Brief zurück,570 Glauser rechtfertigt sich und danach versandet der Briefkontakt der beiden. Die direkten Kontakte Glausers zur Waldau nehmen damit ab, die Wirkung der Internierung hingegen prägt Glauser weiterhin. Zum einen nimmt er schon während der Waldauer Zeit eine Veränderung an sich selbst wahr, wie er an Ringier schreibt: »Das Bedenkliche an der ganzen Sache ist aber etwas anderes. Daß ich feststelle, was mir schon lange dunkel bewußt war, aber nicht recht an die Oberfläche gelangt ist, daß ich einfach die Sicherheit im Verkehr mit anderen Leuten verliere, daß eine Verkrampftheit in alle Verhandlungen hineinkommt, sagen wir ruhig etwas Infantiles, und das erfüllt mich ein wenig mit Schrecken. Verwunderung darüber wäre deplaciert. Es ist eine Folge der allzu langen Internierung, eine gewisse Instinktsicherheit geht ganz zum Teufel, denn man überlegt und überlegt so lange, bis alles zerfasert ist und die Linie nicht mehr deutlich ist.« 571
Neben dem Problem des fehlenden Geldes und noch nicht unterschriebenen Vertrags für die Buchveröffentlichung stellt sich eine soziale Unsicherheit ein, die Glauser der langen Internierung zuschreibt und die ihn erschreckt. Die eigene Person, die Glauser hier wie einen Fremden beschreibt, wird zum unsicheren Verhandlungspartner in eigener Sache. Instinktgesteuertes Verhalten wird zugunsten von langen Überlegungen aufgegeben und damit werden nicht nur die Verhandlungen im Literaturbetrieb, sondern auch das Ich »zerfasert«. Die Selbstwahrnehmung, aber auch die Wahrnehmung der Außenwelt verändert sich durch den Aufenthalt in der Anstalt. Wiederum an Ringier äußert sich Glauser auch zum Zeitgeschehen und dessen Wahrnehmung durch Zeitungslektüre: »Ich muß immer an 1914 denken, an die paar Monate vor dem großen Kladderadatsch. Die Stimmung ist so ähnlich. Ich lese Zeitungen und zwinge mich dazu, obwohl ich dann immer 566 | Otto Briner an Friedrich Glauser, Waldau, 11.2. 1937. In: Glauser (1991), S. 522. 567 | Ebd. 568 | Ebd. 569 | Friedrich Glauser an Otto Briner, Route de Pornic, La Bernerie, Loire Inférieure den 9. März 1937. In: Glauser (1991), S. 556 f. 570 | Otto Briner an Friedrich Glauser, Waldau, 18. 3. 1937. In: Glauser (1991), S. 573 f. 571 | Friedrich Glauser an Martha Ringier, Waldau, 27. März 1936. In: Glauser (1991), S. 218.
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Schreiben am Rand zwei, drei Stunden brauche, um mich von so einer Lektüre zu erholen. Ihr draußen merkt das gar nicht. Wir haben feinere Organe, wahrscheinlich, gerade weil wir nicht im Trubel drinstecken.« 572
Hier unterscheidet Glauser deutlich zwischen dem Drinnen und Draußen und nimmt an sich eine weitere Veränderung wahr: Die »Organe« der Wahrnehmung verfeinern sich, die Anstalt als Ort außerhalb des »Trubel[s]« ermöglicht, wie Glauser meint, eine genauere Einordnung der Geschehnisse, aber mit dem Zeitgeschehen der 1930er Jahre auch eine längere Zeit, die es braucht, mit diesen Wahrnehmungen klarzukommen. Nach dem Austritt Glausers aus der Waldau scheinen ihn aber nicht nur Veränderungen des Selbst, sondern auch einzelne Äußerungen von Ärzten, gerade wenn es um das Schreiben ging, beschäftigt zu haben. Aus Angles schreibt er an Maman Marthe: »Aber denk dir, es gibt auch manchmal dumme Ärzte. Der Oberarzt in der Waldau, Wirz 573 hieß er, sonst ein sehr lieber Mensch, hat mir einmal gesagt, es war letzten Herbst nach meinem ›Ausflug‹ nach Basel, im Grund hätte ich doch draußen nie etwas Anständiges geschrieben, alle meine guten Sachen hätte ich im Irrenhaus geschrieben. Und nun stell dir vor, mit so einem Ausspruch geht es mir wie mit dem Ausspruch meines Herrn Papa, der mir, als ich klein war, auch immer sagte, ich werde noch im Zuchthaus enden. Solche Worte wirken weiter, ganz unter der Oberfläche – bis man in Witzwil sitzt. Und auch der Ausspruch des Herrn Doktor schwärt weiter unter der Oberfläche, bis ich ihn endlich die letzten Tage doch erwischt habe und mit Berthe darüber hab reden können. Das hat gut getan. Und ich hoff, ich werde doch beweisen können, daß ich auch ohne Irrenhaus etwas zuwege bringe. Dabei ist es nicht einmal wahr, denn den ganzen Legionsroman und viele Sachen für den ›Bund‹ (den ›Hellseherkorporal‹ z.B.), auch Artikel für den ›Schw. Sp.‹ [= Schweizer Spiegel] habe ich draußen geschrieben. Ich habe also gar keinen Grund zu glauben, der Herr Psychiater habe recht. Aber was willst du. Das mulet scheint erst zufrieden zu sein, wenn es sich innerlich recht plagen kann.« 574
In Angles müssen Glauser und Bendel ein Haus auf Vordermann bringen, sie versuchen, Tiere zu züchten und daneben das Gut zu bestellen, dazu ist Glauser häufig krank – das Schreiben findet hier andere Bedingungen, es ist wiederum an fehlendes Einkommen gebunden und stellt eine von unterschiedlichen Arten zu arbeiten dar. Die wertende Aussage des Psychiaters über Literatur, die nicht sein Fachgebiet ist, »schwärt« weiter im Autor, der sich wohl selbst fragt, was er nach einer intensiven Schreibzeit in der Waldau nun in Angles unter veränderten Bedingungen produzieren kann. In Zeiten des Selbstzweifels wirken die Anstalt und ihre Exponenten weiterhin auf Glauser ein, das Leben draußen ist nicht einfach, und die schlechten Prognosen, die ihm in Bezug auf sein ›freies‹ Leben, seine 572 | Friedrich Glauser an Martha Ringier, [Waldau], 23. März 1936. In: Glauser (1991), S. 209. 573 | Aus den Jahresberichten der Anstalt ist kein Oberarzt namens Wirz bekannt, es lässt sich höchstens die Vermutung anstellen, dass Glauser hier über Wyrsch schreibt und dessen Namen leicht abgeändert hat. Dazu passen würde, dass sich der erwähnte Arzt Urteile über Literatur anmaßt, was (auch) bei Wyrsch gut vorstellbar ist. 574 | Friedrich Glauser an Martha Ringier, [Angles], 1. Oktober 1936. In: Glauser (1991), S. 377.
Schreiben (und Lesen) hinter den Sandsteinmauern
Drogensucht und sogar auf sein Kerngebiet, die Literatur, gestellt wurden, wirken nach. Die Waldau geht also zu einem Stück mit Glauser mit und lässt ihn nicht los. Das Narrativ der Waldau wird mit Glausers Texten deutlich erweitert. Glauser bringt in den Briefen, dem Klinischen Jahresblatt und in Matto regiert unterschiedliche Perspektiven zusammen, diejenige des Insassen und die des Autors in einer Anstalt. Er reflektiert die eigene Situation, aber auch diejenige der Ärzte und anderer Patienten, und er beschreibt, wie es sich in der Waldau (nicht) schreiben lässt – mit einer Poetik des Randes, an dem er sich geografisch, sozial und literarisch bewegt. Mit einer Poetik des Randes ist in Bezug auf den Rand die geografische Lage der Anstalt gemeint, es sind also Texte, die nicht in Städten oder Zentren, sondern an abgesonderten Orten und dort innerhalb von Mauern geschrieben werden. Die Internierung am geografischen Rand geht einher mit einer sozialen Ausgrenzung, einem sozialen Randdasein der Akteure. Wie Robert Castel es einmal beschrieben hat, produzierte das 19. Jahrhundert »eine wachsende Zahl von ›Randgruppen‹«, und die Anstalt »reterritorialisiert«575 sie am geografischen Rand. In dieser Isolation ändert sich die Wahrnehmung und zwar sowohl diejenige von außen wie die von innen: Während die internierte Person eine Diagnose bekommt und damit in ein Ordnungssystem aufgenommen wird, sich selbst als Internierte sehen, betrachten Außenstehende die internierte Person aufgrund des Anstaltsaufenthalts als ›verrückt‹. Es ändert sich aber auch der Blick von innen auf das Selbst wie auf die Außenwelt, wie sich schriftlichen Zeugnissen entnehmen lässt. Eine Verteidigung der eigenen Integrität und des (als gut empfundenen) Geisteszustandes, eine Sensibilisierung in der Wahrnehmung von dem, was drinnen und draußen geschieht, ein Ringen um Selbstbestimmung in einer Position, die oft als Außenseitertum576 beschrieben wird und aus der heraus allgemeines Unverständnis Außenstehender beklagt wird, oder ein durch die Institution erzwungener kritischer Umgang mit gängigen Kommunikationsmitteln wie Briefen werden Themen im unterschiedlichen Schreiben von Autoren am Rand. Eine Poetik des Randes umfasst das Schreiben in unterschiedlichen Textgattungen und mit unterschiedlichen Absichten und sie verbindet Internierte, deren Lebensgeschichte, Bildungsstand oder gesellschaftliche Schicht und deren Zukunftsaussichten stark divergieren können. Das Schreiben der Verschiedenen macht die Ausgestaltung des ›Randes‹ komplexer, zeigt ihn etwa mit seinen Machtverhältnissen, dem Aus- und Eingesperrtsein, den Rollen der ›Irren‹ und Ärzte und seinen Schreib(un-)möglichkeiten in einem Umfeld von Zensur.
575 | Auf das 19. Jahrhundert bezogen schreibt Castel: »Die Asyl-Institution (ebenso das Gefängnis hinsichtlich einer anderen Bevölkerungskategorie) reterritorialisiert die ›Migranten‹, die in der neuen Gesellschaft keinen ›natürlichen‹ Platz mehr haben. Die Entwicklung dieses Interventionsmodus ist gleichzeitig Anzeichen für und Antwort auf eine wachsende Zahl von ›Randgruppen‹. (Die ist die Erklärung für die paradoxale Gleichzeitigkeit des Entstehens der ›liberalen‹ Gesellschaft und der Ausbreitung ›totalitärer‹ Institutionen; und es ist auch kein Zufall, daß in derselben Epoche die Gleichsetzung Arbeiterklassen = gefährliche Klassen entsteht.).« Castel (1973), S. 171. 576 | Die Auseinandersetzung mit der Thematik ›Außenseiter‹ muss nicht nur autobiografisch, sondern kann selbstverständlich auch thematisch ausgeführt werden wie etwa in Glausers Erzählung Außenseiter von ca. 1932. Glauser (1992b), S. 186–194.
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5 Schreiben am Rand Schlussbemerkungen
Die unterschiedlichen hier verwendeten Texte über die und aus der Waldau eröffnen am Ort und über dem Ort einen diegetischen Raum. Der Schreibort Waldau verbindet den lokalen, geografischen und ›realen‹ Ort mit einem sprachlich konzipierten Raum, der, wie gezeigt wurde, sich in reziproker Verbindung an der Konstitution eben dieses Schreibortes beteiligt. Im performativen Akt des Schreibens in der Klinik wird die Klinik in Teilen erst ›geschaffen‹, sichtbar – und zwar durch eine Performanz, die sich einerseits synchron, also zu einem gewissen Zeitpunkt, in der Konzeption der Anstalt zeigt und ihre Realität prägt, die aber andererseits auch in der diachronen Perspektive eine Performanz als eine ›Erscheinung‹ der Klinik, ein ›Aufscheinen‹ ermöglicht, das durch die Lektüre der Texte, die dort geschrieben wurden, geschieht. Dies bedeutet, dass die ›reale‹ Waldau maßgeblich durch die in ihr und über sie geschriebenen Texte geprägt ist, sie lässt sich in ihrer historischen Dimension aber vor allem auch über die Sammlung von Texten erfahren, die das Bild einer Heterotopie und je nach Fokus einer Abweichungs heterotopie ergänzen und schaffen, indem sie das Ausgeschlossensein zum Thema machen. Dies geschieht auch deshalb, weil ganz unterschiedliche Individuen und Berufsgruppen in der und über die Waldau geschrieben haben. Im Gegensatz zu den ebenfalls aufschlussreichen Zeichnungen und Bildern, die heute noch einen Einblick in die Anstalt geben können, sind die hier untersuchten Texte nicht nur von Patienten verfasst, sie spiegeln deshalb multiperspektivische Blicke auf die Anstalt und unterschiedliche Möglichkeiten, über sie und in ihr zu schreiben. Der Schreibort ist ein durch die konkrete historische Situation und vom schreibenden Individuum geprägter, in seinen Grundzügen aber ein ›gegebener‹ und verbindlicher. Im zeitgenössischen Umgang mit diesen Texten zeigen sich die Machtstrukturen in einer Gesellschaft und im speziellen die der Anstalt. Die Texte erfuhren und erfahren verschiedene Arten der Verbreitung und zeichnen sich durch unterschiedliche Wirkungsmächtigkeit aus – schon aufgrund ihrer Materialität, ihrer Adressiertheit an ein Zielpublikum, ihres spezifischen Grades an Literarizität und ihrer möglichen Medialisierung. Texte aus der Anstalt sind häufiger Restriktionen ausgesetzt als andere Texte. Dies geschieht im untersuchten Zeitraum durch die Kontrolle und Zensur, durch deren Ausübung Machtträger entscheiden können, welche Texte der Patienten verschickt und welche zurückbehalten werden. Schreiben in der Klinik beinhaltet deswegen, zumindest was die Patienten betrifft, einen
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Schreiben am Rand
großen Unsicherheitsfaktor. Benennen, fragen, sich beschweren, berichten und andere Funktionen des Schreibens verstanden als gerichtetes und epistemisches Verfahren (im Gegensatz zu Schreiben als Selbstzweck) sind an diesem Schreibort einer Unsicherheit ausgesetzt, weil etwa der einzelne Insasse die konkreten Auswirkungen der Kontrolle oder gar der Zensur nur bedingt einschätzen kann. Mögen die Interessen, die hinter der Zensur stecken, unterschiedliche sein, so sind die verunsichernde Wirkungen die gleichen, egal ob der unbekannte Patient, Herr Sch., sich Sorgen darüber macht, warum ihm seine Familie nicht zurückschreibt (auf Briefe, die sie wohlverstanden nie bekommen haben konnte) oder ob ein professioneller Schreiber wie Glauser sich mit einem nichtssagenden Brief seiner Freundin konfrontiert sieht, die sich aufgrund der Zensur mit Aussagekräftigem zurückhielt. Schreib-Kontrolle und Zensur in der Anstalt sind mit Auswirkungen auf das Schreiben der Insassen verbunden, unabhängig davon, ob darüber ein Wissen vorhanden ist oder nicht. In dieser Ausgangslage ist der Schreibort für alle Insassen ein ähnlicher, nicht jedoch, wenn der konkrete Umgang mit diesem Schreibort betrachtet wird. Heutzutage werden Restriktionen im Zusammenhang mit Texten aus der Klinik durch kantonale oder staatliche Stellen im Namen des Persönlichkeits- und Datenschutzes durchgesetzt. Eher zufällige Restriktionen bilden sich durch finanzielle oder personelle Engpässe im Archiv, durch fehlende Inventarisierung und Ähnliches. Die Texte und der Umgang mit ihnen machen deutlich, wer zu einer bestimmten Zeit die Macht über das Schreiben in und über die Anstalt hat. Damit lassen sich in der Handhabung schriftlicher Dokumente auch Verfahren des Einund Ausschlusses in der Gesellschaft allgemein, konkret aber auch im Mikrokosmos der Anstalt selbst beobachten. Die überlieferten Dokumente zeigen nicht nur inhaltlich ›Fakten‹ über eine bestimmte Anstalt zu einer bestimmten Zeit, sie machen vielmehr deutlich, wer zu einer bestimmten Zeit was über eine Anstalt und das Leben in ihr schreiben konnte und sagen durfte. Der psychiatrische Diskurs zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist geprägt von einer besonders strengen Regulierung der Sprache und des Geschriebenen. Nicht nur wird in der Formierung der Psychiatrie und ihrer Ausdifferenzierung reguliert, was ihr Gegenstand ist sowie was inhaltlich über ihn ausgesagt werden kann, sondern auch, wer diese Aussagen treffen soll. Eine erstarkende Expertengruppe beansprucht Unabhängigkeit und das Wort – eine Schreib- beziehungsweise Definitionsmacht. Und sie entscheidet, wer den Diskurs prägen darf. In diesem Macht- und Redeanspruch grenzen sich die Psychiater auch von anderen Medizinern ab, von denen sie lange belächelt wurden. In der Etablierung und Ausdifferenzierung eines spezifischen ›Psychiaterwissens‹ versuchen dessen Exponenten, ihrer Disziplin zu Ansehen zu verhelfen. (Schriftliche) Verfahren der Ausgrenzung richten sich deshalb nicht nur gegen Patienten als die ›andere‹ Gruppe und als ›Kranke‹, sondern auch gegen Mediziner anderer Fachrichtungen, gegen Juristen und Politiker als ›Laien‹. Dabei tritt dieses schillernde ›Psychiaterwissen‹ in unterschiedlichen Erscheinungen zutage, wie schon die verschiedenen in der Waldau vertretenen Ansätze zeigen. Psychiatrisches Wissen um 1900 zeichnet sich durch individuelle Prägungen, aber auch durch lokale und institutionelle Besonderheiten aus. In der Betrachtung von schriftlich manifest gewordenen Ausschlussverfahren muss bedacht werden, dass sich die Psychiater als Akteure in ihrem Bestreben nach Abgrenzung und als Schreibende von Akten, Gutachten, Berichten, wissen-
Schlussbemerkungen
schaftlichen Beiträgen und möglicherweise auch von ›schöner‹ Literatur selbst in einem Außerhalb (der Gesellschaft) oder – je nach Perspektive – einem Innerhalb (der Anstaltsmauern) befinden. Schließlich sind sie doch nicht nur beruflich mit einer enormen Anzahl Arbeitsstunden pro Woche in der Klinik anwesend, sondern auch durch ihre private Unterkunft zumindest räumlich-örtlich nicht von den Patienten getrennt. Dadurch wird die Waldau auf Grund ihrer institutionellen Anlage zu einem umfassenden Schreibort, der die unterschiedlichsten Schreiber und Schreiberinnen beherbergt und sie unter diesen spezifischen Bedingungen schreiben lässt – oder auch nicht. Gleichzeitig zeugen sowohl die wissenschaftlichen Arbeiten und administrative Texte wie die Jahresberichte davon, dass Schreiben in der Anstalt auch für die Experten ein unsicheres ist. Dies zeigt sich in der Art und Weise, wie einzelne ›Fälle‹ dargestellt werden, wie Krankheiten benannt und über andere in der Klinik Beteiligte geschrieben wird. Dabei wird gerade anhand der Gattung ›Jahresbericht‹ überdeutlich, wie groß an diesem Schreibort die Gruppe der ›infamen Menschen‹ ist. Mit der Überfüllung der Anstalt und der Verwahrung von in manchen Belangen sprachlosen Subjekten in ihr werden die ›Infamen‹ meist nicht durch eigenes Schreiben, sondern als statistisch erhobenes Segment der Bevölkerung sichtbar, auch wenn sie selbst an einem Ort des Ausschlusses gerade von einer tatsächlichen Beobachtung und Wahrnehmung durch Außenstehende ferngehalten werden. Dass die Gruppierungen dieser Insassen über die hier diskutierten vierzig Jahre hinweg keine stabilen sind, zeigen die Wechsel in der Benennung von Krankheiten und in der Zuschreibungen von Krankheiten zu gewissen Patientengruppen. Das Aufscheinen der Insassen und damit die Möglichkeit ihrer Wahrnehmung zeigen sich damit auch in ihrer Kontingenz. Die Erfassung einer Gruppe von ›Infamen‹, deren Schicksal neben ihrer als Zahl erwähnten Existenz höchstens kurze ›Fallgeschichten‹ erwähnen, wenn Außerordentliches geschah, ist damit eine, die auf den anonymen Diapositiven sichtbar oder eben in den Jahresberichten nachlesbar ihre Erscheinung findet. Ihr potenzielles eigenes Schreiben wird jedoch nur noch durch eine Einsicht in die Akten oder in einzelnen, zufälligen Fundstücken, zu denen der PaschaText zählt, lesbar. Dass der Ort als Bestandteil von Schreibszenen prägend ist, zeigen auch die Texte von Autoren wie Walser und Glauser, deren Briefe sich durch einen bewussten Umgang mit der (Nicht-)Erwähnung des Schreibortes auszeichnen. Ein Ignorieren des Schreibortes, wie es sich bei Walser beobachten lässt, eine ›Poetik des Randes‹, wie sie bei Glauser herausgearbeitet werden konnte, die Anwendung einer ›testamentarischen Schreibweise‹, die hier in Bezug auf Wölfli behauptet wird oder ein Anschreiben gegen eine Diagnose, das die Texte vieler Insassen prägt, zeigen die Vielfalt des Schreibens an diesem geschichtsträchtigen Ort Waldau zu einer bestimmten Zeit auf. Alle diese Schreibweisen sind gleichzeitig singulär und miteinander verbunden, haben sie doch den Ort gemeinsam, an dem sie ausgeübt werden und mit dem sie sich auseinander setzen. Das vielschichtige Erzählen in der Waldau und über die Waldau gründet auch auf Ungesagtem, auf Ungelesenem und Nicht-Zugänglichem. Diese poröse Erzählweise aufzuzeigen wurde in dieser Studie versucht. Sie mündet in unterschiedliche Narrativen der Waldau, bricht die Einzelsichtweise einer schreibenden Instanz auf und summiert Unterschiedliches, an einem Ort Produziertes zu einem hete-
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Schreiben am Rand
rogenen Ganzen. Das Nicht-Gesagte ist etwa zu finden in unerwähnten Autorennamen anonymer Texte, in abbrechenden (literarischen) Texten, in erschwerten Datierungs- und Zuschreibungsmöglichkeiten von Texten, in der Verweigerung der Beantwortung von Fragen durch die Ärzte, in verknapptem Protokoll- und Aktenstil, aber auch in nicht zugänglichen Akten und fehlenden Nachlässen. Einige dieser Leerstellen könnten mit einer anderen Archivpolitik verändert werden, andere sind vermutlich unveränderbar und damit in ihrer Unberechenbarkeit und Offenheit feste Bestandteile der narrativen Anlage. Dadurch ist die Festlegung, was der ›Schreibort Waldau um 1900‹ ist, von Einzeluntersuchungen abhängig. Das Schlusswort dieser Arbeit, die hoffentlich nur am Anfang einer Reihe von Arbeiten zur Waldau steht, soll gleichsam aufgeteilt werden zwischen einem Patienten, Herrn A., und dem Direktor von Speyr respektive einem seiner Praktikanten. Der hier unkommentiert bleibende Dialog ist ein Ausschnitt eines Klinischen Vorstellungsgesprächs vom Februar 1933, das der Direktor in Bern mit dem Patienten vor Studenten hielt und das von unbekannter Hand protokolliert wurde. In Klammern gesetzt sind die Fragen des Arztes zu lesen. Das Setting dieses Gesprächs ist zwar außerhalb der Anstaltsmauern angesiedelt, nämlich im Inselspital, es ist damit jedoch immer noch ein institutionell gebundenes. Die Rollen sind hier besondere, der Direktor tritt auch als Professor auf, der Patient wird vor Publikum befragt, seine Antworten werden festgehalten. Dem Gespräch geht die Reise in die Stadt voran, die Akte berichtet dazu: »[Herr A.] Freut sich, mit dem Herrn Dir. mit dem Auto in die Insel ins Kolleg fahren zu dürfen. Sitzt im Hörsaal ruhig an seinem Platz, blickt ›überlegen‹ und listig auf den Prakt[ikanten].«1 Das Gespräch nimmt seinen Verlauf, und es taucht folgende Frage auf: »(›Was würden Sie machen, wenn Sie ausserhalb der Anstalt wären?‹) ›Meint ihr etwa, ich sei auf den Kopf gefallen? Habe mich für die Nachfolge von Prof. v. Speyr gemeldet. Der Klaesi ist jetzt 50, ledig[,] hat wohl 4 od. 5 Uneheliche, wie alle die andern grossen Herrn.‹ (Auf eine Bemerkung des Herrn Dir. hin): ›Seid Ihr der Herr oder bin ich es? Seid Ihr Millionär oder ich? Wer ist gescheiter, Ihr oder ich? […] Ich bin Weltkönig. Ich bilde mir nichts ein, ich bilde mir nur ein, was ich weiss, und das ist so. (Wie steht es mit der Militärversicherung, warum will Pat. Geld davon?): ›Es hat keinen grossen Wert mit euch darüber zu reden, ihr seid ja doch streng nach dem Buchstaben.‹ (Als Weltkönig doch nicht auf Geld angewiesen, habe sicher so schon genug): ›Hatte der Heiland Geld?‹ (Vergleicht sich mit dem Heiland?): ›Nein, denn der ist gekreuzigt worden, und ich werde reich, wenn ich aus der Anstalt entlassen werde. Aber um reich zu werden, dazu war der Heiland doch etwas zu dumm.‹ (Herr Dir. liest aus den Akten vor, unter anderem auch, Pat. wäre gern Lehrer geworden, und der Pfarrer vom Dorf habe ihn unterstützt, aus finanziellen Rücksichten habe es aber nichts daraus gegeben,) Pat[.] lässt los: ›Solcher verfluchter Chabis. Das ist Blödsinn, was sie da schreiben. Pfarrer hin, Pfarrer her. Ich muss auf mich hören.‹ (Lacht, während Herr Dir. aus den Akten liest, unterbricht): ›So, was die zusammenspinnen! Cheibe Lügnerhund! Wer schreibt solche cheibe Chabis?‹ Herr Dir. erklärt, das habe er geschrieben. Amstutz fährt fort: ›Eh du verflucht! Wieso könnt Ihr so reden und schreiben? - - - Ich sage vielleicht noch etwas anderes, Herr Dir. Das sind Sachen, die Euch gar nichts an1 | Kg Waldau, Nr. 20996, Herr A., S. 25, Eintrag vom 16. Februar 1933.
Schlussbemerkungen gehen. Ihr habt der Militärversicherung nichts mitzuteilen. Eure Rede sei ja[,] ja, nein, nein, was darüber ist, ist vom Uebel. Wenn ich eine Millionärin heiraten will, kann ich tun, was ich will. Ich komme nicht mit Ihnen aus. Sie mit Ihrer Aristokratie können sein, wo Sie wollen. Ich will ruhig und friedlich sterben können. Du hast mir nichts zu befehlen.‹ Verabschiedet sich sehr freundlich vom Herrn Dir., und kommt ruhig und allein aus der Stadt in die Waldau zurück, da er nach dem Kolleg noch in der chirurgischen Klinik vorzusprechen hat.« 2
2 | Ebd., S. 25–27, Eintrag vom 16. Februar 1933.
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6 Literatur A bkürzungen und S iglen Jb Jahresbericht D Instruktion für den Direktor (Bitzius/Müller 1855) W Instruktion für den Oberwärter und die Oberwärterin der Anstalt (Tribolet 1855) Kg Krankengeschichte/Krankenakte. Wenn nicht anders vermerkt, handelt es sich um Akten aus der Waldau, die untenstehend bei den ungedruckten Quellen angegeben sind.
I. U ngedruck te Q uellen a) Instruktion für den Direktor (Bitzius/Müller 1855)1 [D], Psychiatrie-Museum Bern Instruktion für den Oberwärter und die Oberwärterin der Anstalt (Tribolet 1855)2 [W], Psychiatrie-Museum Bern Glauser, Friedrich [1920]: Tagebuch, SLA Glauser, Signatur: C-1-j/1-20 Glauser, Friedrich [1936]: Klinisches Jahresblatt, SLA Glauser, Signatur: FG C-1-j/4 Der Freibeüter und der Pascha, Psychiatrie-Museum Bern Zum Berufungsverfahren Klaesis siehe: Staatsarchiv des Kantons Bern, St.A.B. BB III b, 564
b) Krankenakten/Krankengeschichten (Kg) Krankenakte Waldau, Nr. 3400, Herr L., Psychiatrie-Museum Bern Krankenakte Waldau, Nr. 4754, Herr F., Psychiatrie-Museum Bern Krankenakte Waldau, Nr. 5570, Herr B., Psychiatrie-Museum Bern Krankenakte Waldau, Nr. 6907, Herr Sch., Psychiatrie-Museum Bern Krankenakte Waldau, Nr. 8991, Frau Be., Psychiatrie-Museum Bern Krankenakte Waldau, Nr. 20996, Herr A., Psychiatrie-Museum Bern Krankenakte Waldau, Nr. 10.428, Robert Walser, Psychiatrie-Museum Bern
1 | Liegt transkribiert im Anhang vor. 2 | Liegt transkribiert im Anhang vor.
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Schreiben am Rand
Krankenakte Waldau, Nr. 10.428, Robert Walser, Kopie im Robert Walser-Zentrum Bern. Signatur: RW BIO-28 Krankenakte Waldau, Nr. 11767, Friedrich Glauser, Psychiatrie-Museum Bern Herisauer Abschrift der Krankengeschichte Robert Walsers aus der Waldau, ohne Aufnahmenummer. Robert Walser-Zentrum Bern. Signatur: RW BIO-29 Krankengeschichte aus Herisau, Nr. 3561, Robert Walser. Robert Walser-Zentrum Bern. Signatur: RW BIO-29. Original im Staatsarchiv Appenzell, Signatur: StAAR Pa. 057-7: Krankengeschichte
c) Unpublizierte Dokumente zu Robert Walser Aerztlicher Bericht über Herrn Robert Walser, Schriftsteller, von Walter Morgenthaler. Bern, den 26. Januar 1929. Robert Walser-Zentrum Bern. Sammlung Robert Walser. Signatur: RW BIO-28, Abschrift Krankenakte Waldau, Nr. 10.428, Robert Walser, Psychiatrie-Museum Bern Wilhelm von Speyr an Lisa Walser. Bellelay. Waldau, 5. Februar [19]29. Signatur: »mr«. Robert Walser-Zentrum Bern. Sammlung Robert Walser. Signatur: RW E-02-B-02-WALD Robert Walser an Otto Pick, Bern, Waldau, oder Luisenstr. 14, 1. Juli 1929, Arbeitstranskription Robert Walser-Zentrum Bern Wilhelm von Speyr an Lisa Walser, Waldau, 31. Mai 1930, Robert Walser-Zentrum Bern, Sammlung Robert Walser. Signatur: RW E-02-B-02-WALD Oscar Walser an Lisa Walser, Theodorsgraben , 6. Juni 1930, Robert Walser-Zentrum Bern, Sammlung Robert Walser. Signatur: RW E-02-B-02-WAOS Robert Walser an Otto Pick, Bern, Luisenstr. 14 III, 10. Juni 1930, Arbeitstranskription Robert Walser-Zentrum Bern Wilhelm von Speyr an Lisa Walser, Waldau, 2. Dezember 1930, Robert Walser-Zentrum Bern, Sammlung Robert Walser. Signatur: RW E-02-B-02-WALD Robert Walser an Frieda Mermet, Bern, Waldau, 5.I.31, Arbeitstranskription Robert Walser-Zentrum Bern Robert Walser an die Redaktion des Prager Tagblatts in Prag, Bern, Luisenstrasse 14 III, 15.1.31, Arbeitstranskription Robert Walser-Zentrum Bern Robert Walser an Otto Pick, Bern. Luisenstr. 14 III, 18. April 1931, Arbeitstranskription Robert Walser-Zentrum Bern Robert Walser an Frieda Mermet, Bern, Waldau, 22.4.33, Arbeitstranskription Robert Walser-Zentrum Bern Jakob Klaesi an Otto Hinrichsen, Waldau-Bern, 29. Mai 1933. StAAR, Signatur: Pa. 057-10 Oscar Walser an Lisa Walser, Ciona di Carona, 8. Juni 1933, Robert Walser-Zentrum Bern, Sammlung Robert Walser. Signatur: RW E-02-B-02-WAOS Lisa Walser an Otto Hinrichsen, Bellelay, 22. Juni 1933. StAAR, Signatur: Pa. 057-10 Otto Hinrichsen an Lisa Walser. [Herisau], 26.6.1933. Robert Walser-Zentrum Bern. Signatur: RW E-02-B-02-HIN Otto Hinrichsen an Lisa Walser, Herisau, den 21. November 1933, Robert WalserZentrum Bern. Signatur: RW E-02-B-02-HIN. Abschrift eines Briefes von Lisa Walser an ihre Brüder Oscar und Karl Walser, Bellelay, 1. Juli 1933. Robert Walser-Zentrum Bern, Sammlung Robert Walser. Signatur: RW E-02-B-01-HIN
Literatur
Lisa Walser an Carl Seelig, Bellelay, 1. März, 1936, Robert Walser-Zentrum Bern, Sammlung Robert Walser. Signatur: RW E-02-B-01-SEEL Theodor Spoerri an Heinrich Künzler, ohne Ortsangabe, 4. September 1953, Robert Walser-Zentrum Bern, Sammlung Robert Walser. Signatur: RW BIO-29, Kopie Carl Seelig an Hans Steiner, Zürich 8, Mühlebachstrasse 17, 21. Oktober 1954, StAAR, Signatur: Pa. 057-10 Hans Steiner an Carl Seelig, Herisau, 22. Oktober 1954, Robert Walser-Zentrum Bern, Nachlass Carl Seelig. Signatur: SEELIG B-4-WALS-a-65 [o = offizieller Brief] Hans Steiner an Carl Seelig, Herisau, 22. Oktober 1954, Robert Walser-Zentrum Bern, Nachlass Carl Seelig. Signatur: SEELIG B-4-WALS-a-65 [p = privater Brief] Hans Steiner an Theodor Spoerri, Herisau, den 22. Oktober 1954 Robert WalserZentrum Bern, Nachlass Carl Seelig. Signatur: SEELIG B-4-WALS-a-65, signierte Kopie an Seelig Max Müller an Carl Seelig, Waldau-Bern den 10. Mai 1957, Robert Walser-Zentrum Bern, Sammlung Robert Walser. Signatur: RW BIO-28, Kopie Max Müller an Carl Seelig, Waldau-Bern, den 14. Mai 1957, Robert Walser-Zentrum Bern, Sammlung Robert Walser. Signatur: RW BIO-28, Kopie Hans Steiner an Carl Seelig, Herisau den 11. August 1957, Robert Walser-Zentrum Bern, Nachlass Carl Seelig. Signatur: SEELIG B-4-WALS-a-65
d) Unpublizierte Dokumente zu Glauser aus der Waldauer Akte Nr. 11767 Max Müller an Prof. Dr. Ernst, Zürich, Prof. Dr. Kielholz, Basel und Prof. Dr. Walther, Bern. Rüfenacht, den 27. Oktober 1971. Unpubliziert; in der Waldauer Akte Nr. 11767.
II. G edruck te Q uellen Jahresberichte [Jb] der bernischen kantonalen Irrenanstalt Waldau Berner Staatskalender (1842) Bericht über die Leistungen des Inselspitals und des Ausserkrankenhauses von 1832 bis und mit 1841, Bern (1850) Bericht der Direktion des Innern (Abtheilung Gesundheitswesen) an den Regierungsrath zu Handen des Großen Rates des Kantons Bern, betreffend die Erbauung einer neuen Irren=, Heil=, und Pflege=Anstalt für den Kanton Bern. Bern (1855a) Organisations-Reglement für die neue Kantons-Irren-, Heil- und Pfleganstalt Waldau, Bern 1855 (1855b) Die Eröffnung der Irrenanstalt Waldau. In: Berner Zeitung, Nr. 322, 22. November; Abschrift von 1980, in: Böker (1980) (1855c) Bericht über die neue Jrren-, Heil- und Pfleganstalt Waldau im Kanton Bern (1866) Organisationsreglement für die kantonale Irrenheil- u. Pflegeanstalt Waldau. Bern (1883) Dekret betreffend die Ablösung der Heil- und Pflegeanstalt Waldau von der Insel- und Ausserkrankenhaus-Korporation (30. Januar 1883) (1894) Dekret über die Organisation der kantonalen Irrenanstalten Waldau und Münsingen. Bern 9. Oktober 1894
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(1895) Verpflegungsregulativ für Kranke, Beamte und Angestellte der bernischen kantonalen Irrenanstalten Waldau und Münsingen vom 12. Februar 1895 (1898) Dekret über die Errichtung und Organisation der kantonalen Irren- und Pfleganstalt Bellelay vom 4. März 1898 (1901) Allgemeines Dienstreglement für die Angestellten der bernischen kantonalen Irrenanstalten, August 1901, neue Ausgabe März 1913 (1905) Regulativ über die Obliegenheiten des Anstaltsgeistlichen an den Irrenanstalten Waldau und Münsingen, 18. Januar 1905 (1908) Regulativ über die Kostgelder in den kantonalen Irrenanstalten, 15. April 1908 (1914a) Katalog A: Urproduktion. Schweizerische Landesausstellung Bern, 15.05.– 15.10. 1914. Hrsg. Zentralkomitee der schweizerischen Landesausstellung. Bern. 3. Aufl. (1914b) Die 3. Schweiz. Landesausstellung in Bern im Kriegsjahr 1914. Ein Rückblick. Hrsg. von der Kantonalen Bernischen Handels- und Gewerbekammer. Bern: Ferd. Wyss (Sonderdruck aus: Mitteilungen Nr. 6, 1914) (1914c) Illustriertes Ausstellungs-Album. Schweizerische Landesausstellung in Bern. Hrsg. mit Genehmigung und Unterstützung des Zentralkomitees der Schweizerischen Landesausstellung. (Red.: A. Mösch). Bern: Phototechnik (1916): Schweizerische Landesausstellung in Bern, (1914): Fachberichte = Exposition nationale Suisse à Berne; rapports techniques = Esposizione nazionale svizzera a Berna; relazioni recniche-amministrative. Hrsg. vom Zentralkomitee der schweizerischen Landesausstellung in Bern. Zürich: Orell Füssli (Bd. 8) (1936a) »Bei unsern Geisteskranken«. In: Der Aufstieg. Illustrierte Familienzeitschrift für das arbeitende Schweizervolk. Bern, Nr. 38, 23. Oktober 1936, S. 892–903. Online unter http://www.paulsenn.ch (1936b) »Bei unsern Geisteskranken«. In: Der Aufstieg. Illustrierte Familienzeitschrift für das arbeitende Schweizervolk. Bern, Nr. 39, 30. Oktober 1936, S. 915– 927. Online unter http://www.paulsenn.ch (1952) Zum 100. Geburtstag von Professor Wilhelm von Speyr. In: Basler Nachrichten, Abendblatt, Nr. 400, 19.9. 1952, S. 9. (Autor: A. G.)
III. P rimär - und S ekundärliter atur Ackerknecht, Erwin Heinz (1957): Kurze Geschichte der Psychiatrie. Stuttgart: F. Enke Altorfer, Andreas, Jutzeler, Werner, Käsermann, Marie-Louise (2008): In der Anstalt. Das Leben in der psychiatrischen Klinik anfangs 20. Jahrhundert. Eine fotografische Dokumentation aus der Kantonalen Irren-, Heil- und Pflegeanstalt Waldau. Bern (= Katalog zur Ausstellung im Psychiatrie-Museum Bern vom 22. September 2007 bis 23. August 2008) Amann, Jürg (1995): Robert Walser. Eine literarische Biographie in Texten und Bildern. Zürich/Hamburg: Arche Ankele, Monika (2009): Alltag und Aneignung in Psychiatrien um 1900: Selbstzeugnisse von Frauen aus der Sammlung Prinzhorn. Wien: Böhlau Assmann, Aleida, Gomille, Monika, Rippl, Gabriele (1998): Sammler, Bibliophile, Exzentriker. Tübingen: Gunter Narr (= Literatur und Anthropologie; Bd. 1) Altorfer, Andreas (1993): Die Siechenkapelle in der Waldau. Bern
Literatur
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Walser, Robert (2000/5): Aus dem Bleistiftgebiet. Mikrogramme 1925/33. Bd. 5: Prosa. In: Aus dem Bleistiftgebiet, 6. Bde. (1985–2000). Hrsg. von Bernhard Echte, Entzifferung in Zusammenarbeit mit Werner Morlang, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Walser, Robert (2000/6): Aus dem Bleistiftgebiet. Mikrogramme 1925/33. Bd. 6: Gedichte und Dramatische Szenen. In: Aus dem Bleistiftgebiet, 6. Bde. (1985– 2000). Hrsg. von Bernhard Echte, Entzifferung in Zusammenarbeit mit Werner Morlang, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Walther, Fritz (1931): Die Malariabehandlung der progressiven Paralyse und unsere Resultate in der Waldau. (= Schweizerische medizinische Wochenschrift, Nr. 29, 18. Juli) Walther, Fritz (1941): Wilhelm von Speyr 1852–1939. In: Verhandlungen der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft, 120. Jahresversammlung vom 28.– 30. September 1940 in Locarno. Aarau. S. 494–502 Wechsler, Max (1991): Welt-Schreiben. Schreib-Welten: Adolf Wölfli als Sprachmeister. In: Wölfli, Adolf: Geographisches Heft. N°.11. Hrsg. von der Adolf-Wölfli-Stiftung, Kunstmuseum Bern. Bearbeitet von Elka Spoerri und Max Wechsler. Stuttgart: Gerd Hatje, S. 249–258 Wehrle, Josef (2002): Alle Rätsel gelöst. Ein Gespräch zwischen Catherine Sauvat und Josef Wehrle. In: Du, Zeitschrift der Kultur, Oktober 2002, Nr. 730: Robert Walser. Aus dem Bleistiftgebiet. S. 54 f. Wernli, Martina (2011): Fledermäuse, tadellose Rindviehbären und allerlei Konfabulatorisches – Test, Experiment und Sprache im Umfeld von Hermann Rorschachs Psychodiagnostik, in: Michael Gamper, Michael Bies (Hrsg.): »Es ist ein Laboratorium, ein Laboratorium für Worte«. Experiment und Literatur III: 1890–2010, Göttingen: Wallstein, 2011, S. 112–136. Wernli, Martina (Hrsg.) (2012a): Wissen und Nicht-Wissen in der Klinik. Dynamiken der Psychiatrie um 1900. Bielefeld: transcript Wernli, Martina (2012b): Zahlen, Krankheiten und eine neue Limonademaschine. Wissensformen in den Jahresberichten der ›Bernischen kantonalen Irrenanstalt Waldau‹. In: dies. (Hrsg.): Wissen und Nicht-Wissen in der Klinik. Dynamiken der Psychiatrie um 1900. Bielefeld: transcript, S. 209–230 Wernli, Martina (2013a): Parodie und Wissen. Friedrich Glausers Klinisches Jahresblatt. In: Michael Bies, Michael Gamper, Ingrid Kleeberg (Hrsg.): Gattungs-Wissen. Wissenspoetologie und literarische Form. Göttingen: Wallstein, S. 313–337 Wernli, Martina (2013b): »Die ganze Biographie hat bis jetzt eine Höhe von ungefähr zwei Metern!« Zu den unterschiedlichen Rollen Walter Morgenthalers beim Schreiben über Adolf Wölfli, in: Melanie Unseld, Christian von Zimmermann (Hrsg.): Anekdote – Biographie – Kanon. Zur Geschichtsschreibung in den Schönen Künsten. Wien u.a.: Böhlau Wernli, Martina (2014): »Sakra, nochamal: Wie geht Doch Die Zeit dahihn.« Dialekt(e) bei Adolf Wölfli. In: Simon Aeberhard, Caspar Battegay, Stefanie Leuenberger (Hrsg.): DialÄktik. Deutschschweizer Literatur zwischen Mundart und Hochsprache. Zürich: Chronos. S. 79–103 Weigel, Sigrid (2002): Zum ›topographical turn‹. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften, in: KulturPoetik, 2/2, S. 152–165.
Literatur
Wölfli, Adolf (1985a): Von der Wiege bis zum Graab. Oder Durch arbeiten und schwitzen, leiden und Drangsal bettend zum Fluch. Schriften 1908–1912. Bd. 1. Hrsg. von Dieter Schwarz und Elka Spoerri, Frankfurt a.M.: S. Fischer Wölfli, Adolf (1985b): Von der Wiege bis zum Graab. Oder Durch arbeiten und schwitzen, leiden und Drangsal bettend zum Fluch. Schriften 1908–1912. Bd. 2. Hrsg. von Dieter Schwarz und Elka Spoerri, Frankfurt a.M.: S. Fischer Wölfli, Adolf (1991): Geographisches Heft. N°.11. Hrsg. von der Adolf-Wölfli-Stiftung, Kunstmuseum Bern. Bearbeitet von Elka Spoerri und Max Wechsler. Stuttgart: Gerd Hatje Wübben, Yvonne (2009): Ordnen und Erzählen. Emil Kraepelins Beispielgeschichten. In: Kosenina, Alexander (Hrsg.): Fallgeschichten. Von der Dokumentation zur Fiktion. Bern u.a.: Peter Lang (= Zeitschrift für Germanistik. Neue Folge XIX, 2), Bern u.a.: Peter Lang, S. 381–395 Wübben, Yvonne (2012): Verrückte Sprache. Psychiater und Dichter in der Anstalt des 19. Jahrhunderts. Konstanz: Konstanz University Press Wyrsch, Jakob (1946): Gerichtliche Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Juristen und Mediziner. Bern: Paul Haupt Wyrsch, Jakob (1955): Hundert Jahre Waldau. Geschichte der kantonalen Heil- und Pflegeanstalt und psychiatrischen Universitätsklinik Waldau-Bern. Bern/Stuttgart: Medizinischer Verlag Hans Huber (Verfasst im Auftrag der Sanitätsdirektion des Kantons Bern) Wyrsch, Jakob, (1971): Freunde aus der Urschweiz. Weggefährten und ihre Welt. Stans: von Matt Wyrsch, Jakob (1977): Jakob Wyrsch. In: Pongratz, Ludwig J.: Psychiatrie in Selbstdarstellungen. Bern: Huber, S. 470–503 Wyrsch, Jakob (1980): Vom Sinn der Melancholie. Zürich: Die Arche Zanetti, Sandro (2005): Techniken des Einfalls und der Niederschrift. Schreibkonzepte und Schreibpraktiken im Dadaismus und im Surrealismus. In: Giuriato, Davide, Stingelin, Martin, Zanetti, Sandro (Hrsg.): »Schreibkugel ist ein Ding gleich mir: von Eisen«. Schreibszenen im Zeitalter der Typoskripte, München: Wilhelm Fink Verlag, S. 205–234 Zanetti, Sandro (2009): Logiken und Praktiken der Schreibkultur. Zum analytischen Potential der Literatur. In: Wirth, Uwe, Azzouni, Safia (Hrsg.): Logiken und Praktiken der Kulturforschung, Berlin: Kulturverlag Kadmos, S. 75–88 Zymner, Rüdiger (2003): Gattungstheorie. Probleme und Positionen der Literaturwissenschaft. Paderborn: mentis Zymner, Rüdiger (Hrsg.) (2010): Handbuch Gattungstheorie. Stuttgart: Metzler
IV. F ilm Hallelujah! Der Herr ist verrückt (Alfredo Knuchel, CH 2004)
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7 Abbildungsverzeichnis Titelbild 0a) Postkarte »Irrenanstalt Waldau. Bern«, Postkarte von Adolf Wölfli an seinen Bruder, 1907, recte Quelle: © Adolf Wölfli-Stiftung, Kunstmuseum Bern 0b) Rückseite der Postkarte »Lieber Bruder. Sende mihr noch einmal eine Schachtel Farbstift wenn’s möglich ist. Herzlicher Glückwunsch zum neuen Jahr. 1907. Adolf Wölfli« Postkarte von Adolf Wölfli an seinen Bruder, 1907, verso Quelle: © Adolf Wölfli-Stiftung, Kunstmuseum Bern Abb. 1a Robert Walser an Frieda Mermet, Bern, Waldau, 23. Dezember 1929, recte Quelle: Robert Walser-Zentrum, Sammlung Robert Walser, Signatur: RW MSB1MER-160. © Keystone/Robert Walser-Stiftung Bern Abb. 1b Robert Walser an Frieda Mermet, Bern, Waldau, 23. Dezember 1929, verso Quelle: Robert Walser-Zentrum, Sammlung Robert Walser, Signatur: RW MSB1MER-160. © Keystone/Robert Walser-Stiftung Bern Abb. 2 Adolf Wölfli: Vorwort aus Von der Wiege bis zum Graab. Oder durch arbeiten und schwitzen, leiden und Drangsal bettend zum Fluch Quelle: Original unpag., S. h; i (Paginierung von E. Spoerri), 50cm × 76cm, © Adolf Wölfli-Stiftung, Kunstmuseum Bern Abb. 3 Eintrag in der Krankengeschichte des Herrn F., 15. März 1913 Quelle: Krankenakte Waldau, Nr. 4754, © Psychiatrie-Museum Bern Abb. 4a Brief von Sch. an seine Frau, überschrieben mit »Waldau /Bern 1.12.[19]11.« Quelle: Krankenakte Waldau, Nr. 6907, © Psychiatrie-Museum Bern
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Abb. 4b Brief von Sch. an seine Frau, überschrieben mit »Waldau /Bern 1.12.[19]11.« Quelle: Krankenakte Waldau, Nr. 6907, © Psychiatrie-Museum Bern Abb. 5 Patientenzahlen der Waldau, 1855 und 1895–1936. Von den anfänglich rund 200 Patienten verfünffachte sich die Zahl bis in die 1930er Jahre. Quelle: Jahresberichte der Waldau (Zahlen für das Jahr 1935 sind dem Bericht von 1936 entnommen) Abb. 6 Geschlechterverhältnisse der Insassen in der Waldau. Die Darstellung lässt eine fast immer steigende Patientenzahl bei ungefährer Ausgewogenheit der Geschlechter erkennen. Quelle: Jahresberichte der Waldau (Zahlen für das Jahr 1935 sind dem Bericht von 1936 entnommen) Abb. 7 Das Äußere Kranken- oder Siechen-Haus-Gut vor 1855. Quelle: © Psychiatrie-Museum Bern Abb. 8 Walter Morgenthaler: Schlüsselsammlung Quelle: © Psychiatrie-Museum Bern Abb. 9 Waldauer Regelung zum Umgang mit Wölflis Werken. Quelle: © Adolf Wölfli-Stiftung, Kunstmuseum Bern, Dokument D-8 Abb. 10 Titelseite der Reportage Bei unseren Geisteskranken, Sondernummer der Zeitschrift Der Aufstieg. Illustrierte Familienzeitschrift für das arbeitende Schweizervolk. Bern, 23. Oktober 1936. Quelle: (1936a) Abb. 11 Eine Teppichgeschichte. Das Museum der Waldau porträtiert in der zweiten Sondernummer der Zeitschrift Der Aufstieg. Illustrierte Familienzeitschrift für das arbeitende Schweizervolk. Bern, 30. Oktober 1936, S. 926. Quelle: (1936b) Abb. 12 Das Museum der Waldau porträtiert in der zweiten Sondernummer der Zeitschrift Der Aufstieg. Illustrierte Familienzeitschrift für das arbeitende Schweizervolk. Bern, 30. Oktober 1936, S. 927. Quelle: (1936b)
Abbildungsverzeichnis
Abb. 13 Vergleich der Patientenzahlen der drei Anstalten Waldau, Münsingen und Bellelay im Zeitraum von 1895–1934. Quelle: Jahresberichte der Waldau Abb. 14 Betonung der Symmetrie: Situationsplan der kantonalen Irrenanstalt in Bern aus dem Bericht von 1855 Quelle: Jahresbericht der Waldau von 1855 Abb. 15 Titelseite der Instruktion für das Küchenpersonal, 1855 von Tribolet verfasst. Quelle: © Psychiatrie-Museum Bern, Inv. Nr. 9402. Abb. 16 Letzte Seite aus dem Heft Instruktion für den Oberwärter und die Oberwärterin der Anstalt mit der Unterschrift Tribolets von 1855. Quelle: © Psychiatrie-Museum Bern, Inv. Nr. 9404 Abb. 17 Adolf Wölfli: Neubau. 1921, Bleistift und Farbstift auf Papier, 50,5cm × 34,5cm. Quelle: ©Privatsammlung Wyrsch-Guyer Abb. 18 Untere Anzeige: Werbung für ein Chinin-haltiges Medikament für die MalariaBehandlung. Quelle: Schweizerische Medizinische Wochenschrift, 1931, Nr. 11, S. 151. Abb. 19 Erste Seite der Pflegerrapporte über Robert Walser. Quelle: Waldauer Krankenakte Nr. 10428, © Psychiatrie-Museum Bern Abb. 20 Vorschriften für die Aufnahme in die bernischen kantonalen Irrenanstalten Waldau u. Münsingen. Gültig nach 1920. Recte. Quelle: © Psychiatrie-Museum Bern Abb. 21 Vorschriften für die Aufnahme in die bernischen kantonalen Irrenanstalten Waldau u. Münsingen. Gültig nach 1920. Verso. Quelle: © Psychiatrie-Museum Bern Abb. 22 Veränderungen in der Diagnose und Einteilung um 1900. Senkrecht wird die Anzahl Patienten (»Summe des Bestandes und der Aufnahmen«, Frauen und Männer) mit der entsprechenden Diagnose angegeben, waagrecht die Bezeichnung der Krankheit. Quelle: Jahresberichte der Waldau
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Abb. 23 Die Freibeüter und der Pascha (anonym), ausgestellt im Psychiatrie-Museum Bern. Transkription im Anhang. Quelle: © Psychiatrie-Museum Bern Abb. 24 Der Waldauer »Blitzzug«. In: Der Aufstieg. Illustrierte Familienzeitschrift für das arbeitende Schweizervolk, 17. Jahrgang, Nr. 38. Bern, den 23. Oktober 1936, S. 900. Quelle: (1936a) Abb. 25 Ausschreibung des Lehrstuhls für Psychiatrie an der Universität Bern. Quelle: Schweizerische Medizinische Wochenschrift, 1931, Nr. 25, S. 347. Abb. 26 Ausschreibung Direktorenstelle in der Waldau. Quelle: Schweizerische Medizinische Wochenschrift, 1931, Nr. 51, S. 669 Abb. 27 Titelseite der Akte, wie sie bei Glausers Eintritt im Mai 1936 in Gebrauch war. Quelle: Krankenakte der Waldau Nr. 11767, © Psychiatrie-Museum Bern Abb. 28 Titelseite der Zürcher Illustrierten, Nr. 49, 3. Dezember 1937, XIII. Jahrgang. Oberhalb von Glausers Kopf ist die Nummer der Waldauer Krankenakte, 11767, vermerkt. Quelle: Krankenakte der Waldau Nr. 11767, © Psychiatrie-Museum Bern Abb. 29 Titelseite einer Akte, wie sie unter von Speyr üblich war. Hier anonymisiert. Quelle: Krankenakte der Waldau Nr. 5570, © Psychiatrie-Museum Bern Abb. 30 Adolf Wölfli: »auf meinem heerben Schmertzens=Laager« Quelle: Adolf Wölfli: Geographisches Heft N.°11, S. 248. © Adolf Wölfli-Stiftung, Kunstmuseum Bern, transkribiert publiziert in: Wölfli (1991), S. 30 Abb. 31 Adolf Wölfli: »in hiesiger Irrn=Anstalts=Zelle« Quelle: Adolf Wölfli: Geographisches Heft N.°11, S. 296. © Adolf Wölfli-Stiftung, Kunstmuseum Bern, transkribiert publiziert in: Wölfli (1991), S. 37 Abb. 32 Adolf Wölfli: »in Zelle N.° 2 der V. Männer=Abtheilung Der kantonaalen Irren= Anstalt. Waldau bei Bern« Quelle: Adolf Wölfli: Geographisches Heft N.°11, S. 422. © Adolf Wölfli-Stiftung, Kunstmuseum Bern, transkribiert publiziert in: Wölfli 1991, S. 64
8 Register
Die unterschiedliche Nennung der Personen mit Initialen oder ausgeführtem Vornamen zeigt die bis heute unterschiedliche Praxis des institutionellen Umgangs mit Patientennamen auf.
A. (Herr) 384 f. Abderhalden, Emil 145 f. Albertini, Juon von 215, 436, 441 Altorfer, Andreas 21, 23, 25, 69, 144, 162, 278, 284, 359, 443 Anderssen, Adolf 360 Andreas-Salomé, Lou 257 B., O. (Herr) 137 f. Bacon, Francis 38 Bärtschi, Herr und Frau 436 Balzac, Honoré de 350 Barthes, Roland 14, 17 f., 31 f. Baumann, Daniel 239, 260, 443 Baumann, Fritz 250 Baumberger, Christa 335, 343, 348, 443 Baumberger, Yvonne 215, 436, 441 Be., (Frau) 25, 29 f., 225, 234, 260-277, 320 Berger, Berta 435 f., 441 Bernet, Brigitta 28, 114, 186, 226, 261, 282, 328 Bernheim, Hippolyte 124 Bendel, Berthe 333, 337, 339, 341-344, 354, 358, 363-365, 367, 377, 378 Bieri, Chr. (Herr) 165 Binet, Alfred 270 f. Bircher, Ernst 153, 257 Binggeli, Johannes 157 f. Bitzius, Albert 85
Blei, Franz 322 Bleuler, Eugen 108, 123 f., 159, 186, 188, 210, 219, 330, 356, 368 Bloch, Fanny 434, 439 Böker, Wolfgang 24, 69, 332 Bosshard (Boßhard), Louis 435, 440 f. Brand-Claussen, Bettina 51, 57, 261 Brauchli, Ulrich 56, 76, 107, 109, 117 f., 167, 183, 203, 373 f., 432, 437 Bresci, C. 432f., 438 Breitbach, Therese 285, 295, 304 Brenner, Friedrich 97 Breton, André 29, 33, 41-43, 45 Breuer, Josef 227 Briner, Otto 335-339, 346, 362, 370-377, 436 Beutler, Emma 237, 255 f. Burtolf, Jakob 435, 440 C., F.V., (Herr) 168 Campe, Rüdiger 32, 38-40 Cardinal, Roger 57 Castel, Robert 379 Chasan, Moissi 153, 433 f., 439 Châtelain, Numa 433, 439 Cerletti, Ugo 210, 212 de Certeau, Michel 34 f. Ch., O. (Frau) 196 Charcot, Jean-Martin 46 f., 50 Conolly, John 81, 97
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Dällenbach, Max 198 David, Eugen 215, 436, 441 Durrer, Robert 160 f. Deleuze, Gilles 37 Dubuffet, Jean 57, 238 Ebbinghaus, Hermann 159 Echte, Bernhard 287 f., 293, 301-303, 305, 311, 321, 328, 332, 335, 337 f., 344, 347, 350 f., 356, 363, 371 von Economo, Constantin 266 Ellenberger, Henri 19, 145, 153 Ernst, Walter 143 f., 170 F., (Herr) 14, 49, 62 Fahrni, Hans 21, 359 f. Fankhauser, Ernst 145 f., 153, 196, 202, 209, 218, 253, 358, 432-437, 441 f. Favre, André 215, 436, 441 Feldmann, Heinz 24, 51, 279, 443 Felten, Arthur von 366 Feuerbach, Ludwig 350 Forel, Auguste 97, 120, 124 Forel, Oscar 210, 241, 249, 260, 270277, 434 f., 440 Foucault, Michel 17 f., 20, 27, 29, 33 f., 47, 49, 261, 264, 281 f., 341 Frankenstein, Camille 435, 441 Freud, Sigmund 29, 33, 41, 43-46, 158 f., 227, 342, 368 Frösch, H. 432, 438 G., Nelly 212 f. Gasché, Rodolphe 39 f. Gehbauer Tichler, Ursula 239 Gelis, Moses 432, 437 Georgi, Felix 215, 436, 442 Gerber, J.C. 358 Germann, Urs 27 f., 98, 114, 201, 328 Gesner, Johann August Philipp 227 Gide, André 353 Glaser, Georg 106, 134, 140, 171, 278 f. Glaus, Alfred E. 261, 277, 435, 440 Glauser, Charles 346 Glauser, Friedrich 19, 21, 26-28, 30, 39, 53, 61, 77, 95, 199, 213, 220-225, 228 f., 231, 234, 236, 275, 284 f., 303, 320, 326-380, 382 f. Glaus-Waldberg, Lia 435,440 Gogh, Vincent van 61 Goldblatt, Rosa 435, 440 f.
Greven, Jochen 288, 301 f., 304, 307, 311, 314, 321 Grünberg, Karl 433, 439 Grünthal, Ernst 50 f., 58, 205, 212 f., 215 f., 358, 436, 441 Gruhle, Hans Walter 210 Guattari, Félix 37 Gurewitsch, Ch. 432 f., 438 Gutekunst, Beatrix 331, 336-338, 343 H., C. (Herr) 175 H., E. A. (Herr) 136, 195 H., F. 137 H., H. S. (Frau) 139 Hagen, Richard 432, 437 Haller, Oskar 116-118, 174 Halperin, Josef 329 f., 332, 334, 338 f., 341, 347 f., 363 f., 366 f., 369, 371 Hausherr, Otto 435, 440 Hebler, Gottlieb 82, 85 Helferich, Heinrich 210 Henry, Ruth 42 Henzi, Friedrich 77, 112-114, 117 Herzog, Elly 215 Hess, Volker 225-227 Hesse, Hermann 316 Heyse, Paul 350 Hinrichsen, Otto 58, 283 f., 293, 300, 303, 319-323 Hiß, Hugo 117 Hoffmann, Christoph 31, 35 f., 40 Hoffmann, E.T.A. 359 Horwitz, Kamilla 434, 440 Humbert, Frédéric 436, 441 f. Humm, Rudolf Jakob 61, 337, 341 f., 348 f., 364 f. Huxley, Aldous 38 Imboden 432, 438 Imchanitzky, (Ries-Imchanitzky, Imchanitzky-Ries), Marie 143-145, 241, 433-436, 438-441 Imfeld, L. 433, 438 Imobersteg, Jakob 83 f. Ingarden, Roman 38 Isenschmid, R. 433, 438 Jancke, Herbert 215, 436, 441 Jannosol, Auguste 433, 438 f. Jaspers, Karl 159 Jenny, F. 436
Register
Jost, Chrigu 282, 428 K., Friedrich 278 K., G. (Herr) 178 Käsermann, Marie-Louise 23, 201, 278, 355, 359, 371, 374 Kahlbaum, Karl Ludwig 188 Kaiser, Frieda/Frida 143, 432, 438 Keller, Gottfried 296, 360 Kellerhals, Otto 376 Kielholz, Arthur 332 Klaesi (Kläsi), Jakob 19, 22, 58, 63, 70, 76, 95-97, 110 f., 120, 124, 135 f., 144146, 159-161, 165, 179, 185, 191, 205224, 231, 234, 259, 283 f., 301, 319-321, 324 f., 327, 332-335, 338, 344-346, 352, 355-358, 374 f., 384, 436, 441 Knoll, Hans 73, 357 Kohlenbach, Michael 239 Kolle, Kurt 210 Köppens, Max 271 Korrodi, Eduard 304 f., 310, 317 Kosenina, Alexander 125, 226 Kraepelin (Kräpelin), Emil 27 f., 32, 51, 159, 186-188, 210, 215 Kretschmer, Ernst 188, 209 f., 212 Künzler, Heinrich 289 f., 324 Kurzmeyer, Roman 22, 239 Kutzinski, Arnold 271 L., Adémar 156 L., E. (Herr) 178 Ladame, H. 432 437 f. Lang, Johann 26, 30, 196 f., 225, 277282, 427 Lang, Josef 433, 438 Latour, Bruno 36 Lauper, J. 432, 437 Leeb, Hermann 435, 441 Le Goff, Jacques 25 f. Lehmann, Samuel 96 Lenau, Nikolaus 83 f. Linder, Wilhelm 181 f. Lombroso, Cesare 61 Loosli, Carl Albert 21 Lörtscher, Otto 143 f., 170, 263 f., 266 Luchsinger, Katrin 21, 23 f., 28, 51, 443 M., A. (Herr) 137 Mächler, Robert 284, 321 Maier, Hans W. 160, 210
Maurer, Rosa 373 McKeen Cattels, James 270 Meduna, Ladislas J. 211 f. Meer, H. 170 Mermet, Frieda 10 f., 284-286, 295 f., 301, 318, 325 Meyer, Ferdinand 296 Michel, Fritz 105 Mirkowitsch, Gita oder Gitel 142 f., 145, 433-436, 439-442 Moeschlin, Felix 350 Morgenthaler, Hans (Hamo) 21, 152 Morgenthaler, Walter 22-24, 27, 29, 51-53, 55-67, 69, 77-79, 102 f., 107, 110, 122, 144 f., 152-162, 164, 168 f., 183-185, 188 f., 192-194, 209, 211, 228, 233, 237-239, 245, 253, 256-258, 279282, 286 f., 335, 361, 374, 376, 433, 436-440 Morlang, Werner 301-303, 305, 311 Morus, Thomas 38 Mouttet, Henri 374 Müller, Anna 165, 220, 327, 342 Müller, E. Herm. 433, 438 Müller, Max 27, 107, 110-112, 123, 140, 159 f., 165, 191, 201, 209 f., 212, 216, 218, 221, 286, 303, 323, 329-332, 335, 358, 361, 371, 373, 376 Müller, Samuel Ludwig 85 Müller, Verena 223 Nellen, Stefan 226, 281 Neisser, Clemens 192 Nimzowitsch, Aron 359 Nobs, Jakob 252 f. Nunberg, Hirsch 433, 438 Ophir, Adi 35 f. Oprecht, Hans 357, 361, 365 f., 369 f., 372-376 Palézieux, Guido de Papst, Manfred 327, 332, 335, 344, 347, 351, 363, 371 Paravicini, Fritz 142, 432, 437 Perregaux, E. 432, 437 Pethes, Nicolas 125, 227 f. Pfister, Oskar 158 Pfister, Hans Oscar 323 Pflüger, Ernst 432, 438 Picard, Ella 345, 364
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Schreiben am Rand
Pick, Otto 285, 296, 304 Pilleri, Giorgio (oder Georg) 160, 213, 216 Pinel, Philippe 81 de Pitaval, François Gayot 227, 350 Plüß, Hedwig 215, 436, 441 Popow, Marie 433, 438 f., Prinzhorn, Hans 56-58 Proust, Marcel 348 f., 354 Prussak, Gustava 434, 439 Quervain, Fritz de 210 Raikin-Fleiß, Ella 433, 439 Ramberg, Marie 433, 438 f. Rast, Hugo 434, 440 Rheinberger, Hans-Jörg 32, 37 Rellstab, Georg 74 Ries-Imchanitzky, Marie 143-145, 241, 433-436, 438-441 von Ries, Julius 143f., 237, 241, 256 f., 259, 276 f., 434 f., 438-440 Rilke, Rainer Maria 257 Ringier, Martha (= Maman Marthe) 326, 331, 334, 337 f., 340, 344, 348355, 359 f., 364-372, 375, 377 f. Ritter, Hildegard 433, 438 Rütte, Eugen von 432, 437 de Ruyter, L. 433, 438f. Rychner, Max 303 Rosslakowa (Roßlakowa), Ludmilla 102, 433 f., 439 Rothenhäusler, Oskar 73, 170, 335 Röthlisberger, Rolf 23 f., 69, 278, 443 Rorschach, Hermann 16, 19, 29, 49, 127, 145, 152-160, 184, 271, 360 f., 434, 439 Rubin, Hanna 433, 439 S., E. (Frau) 177 S., S.F. (Herr) 195 S., K.L. 137 S., R. (Frau) 178 Sachs, Frl. 436 von Salis, Georg 432, 437 Sakel, Manfred 211 Sauvat, Catherine 283 Sch., (Herr) 14 f., 29, 232, 382 Schäfer, Armin 28, 31 f., Schäfer, Jörg 284, 294 f., Schärer, Rudolf 22, 92-97, 120, 213, 437
Scheider, Robert 330, 335-339, 340, 344-359, 369 f., 372, 376 Schiller, Friedrich 350 Schmidt, Martha 434 f., 440 Schoch, Egon 432, 437 Schopenhauer, Arthur 61, 359 Schröder, Ralph 239 Schwartz, Leonhard 433, 439 Schwartzlin-Berberat, Constance 21, 155 f. Schwarz, Dieter 238 Schwarzwald, B. 433, 438 Sciolli, Angelo 236 Seelig, Carl 284-286, 290, 293, 295 f., 299 f., 302-304, 306, 319, 322, 325 f. Segalewitsch, Zalel 434, 440 Seiler, Anna 79 Siegenthaler, J. U. 137, 143 f., 169 Simenon, Georges 336 Simon, Hermann 146, 201-205 Simon, Théodore 271 Shapin, Steven 35 f. Soja, Edward W. 33 Sophie, Schwester 302 von Speyr, Wilhelm 15, 19, 21 f., 29, 55, 70-76, 82, 92, 94-99, 102-104, 107 f., 110, 115 f., 119-146, 152, 159, 165171, 174, 176, 178 f., 181, 185, 188, 191225, 229-232, 248, 251 f., 261, 270, 274-276, 283, 288, 292 f., 300 f., 319, 323 f., 361, 384, 432-437, 441 Spoerri, Elka 24, 238 Spoerri, Theodor 228, 238, 324-326 Stähli, Rudolf 436 Stähelin (Staehlin, Staehelin), John 210, 346-348, 344 Steck, Hans 110-112, 209 f., Steiner, Hans 287, 302, 325 f. Stern, William 271 Stiefel, Fritz 435, 440 Stier, Siglinde 142, 432, 437 Stingelin, Martin 31 f., 39 f., 61, 226, 239 f., 281, 329, 331-333 Strauss, R. 436 Strik, Werner 24, 69, 215 f. Strindberg, August 61, 368 Suter, Robert 281 Szasz, Thomas 27
Register
Szeemann, Harald 57, 238 Tolstoi, Leo 296 Tomarkin, Percy Henry 434, 440 Tramer, Moritz 209 f. Tribolet, Albert 19 f., 81-87, 90, 92, 121, 192 Thüring, Hubert 39, 191, 239, 328 f., 331, 337, 341, 354, 363 f., 443 Tschikste, Anastasia 433, 439 Ue., E. (Herr) 170 Vaucher, Charles Ferdinand 345 Wagner, Karl 319, 443 Wagner, Martha 129, 253 Wagner-Jauregg, Julius 148 Walker, Robert 142, 432-434, 437, 439 Walser (Hegi-Walser), Fanny 289 f., 295, 324 Walser, Karl 289, 298-306 Walser, Lisa 76, 85, 285 f., 289 f., 292296, 298-301, 309, 319, 321 f. Walser, Hermann 288 f. Walser, Robert 10 f., 26, 30, 58, 76, 158, 162 f., 205, 224 f., 283-325, 333, 383 Walther, Fritz 94-97, 110, 119-123, 129, 133-135, 145-153, 168, 191, 209, 218, 332, 434-437, 440 f. Waser, Maria 350 Weber, Arnold 218, 223 f., 334-336, 344347, 374, 435 f., 441 Wechsler, Max 238 Wehrle, Josef 283 Weigel, Sigrid 34 Wells, H.G. 38 Wenger, O. 436 Wille, Ludwig 120, 192 Witz, Friedrich 334 f., 364 Wolf, Walter 434 f., 440 Wölfli, Adolf 12 f., 19, 22-30, 51, 56, 5869, 96, 103, 144, 152, 154, 159, 171, 225, 228, 237-260, 278, 294, 324, 335, 383 Wölfli, Johannes 251 Wölfli, Rudolph 247, 249 Wölfli-Stebler, Maria Anna 250 f., 254 f. Wyrsch, Jakob 27, 58, 69, 81-84, 121123, 134, 145, 160 f., 210-212, 215, 219 f., 223, 256 f., 266, 335, 358, 374, 378, 436, 441
Z., A. (Frau) 195 Zanetti, Sandro 39 f., 42 Zuckerstein, Caja 433, 439
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Anhang A nhang Ü berblick I. II. III. IV. V.
Instruktionen für den Direktor (Transkription M.W.) Instruktionen für den Oberwärter (Transkription M.W.) Der Freibeüter und der Pascha (Transkription M.W.) Tabelle 1: Personal und Besoldung (Quelle: Jahresberichte) Tabelle 2: Überblick der Ärzte (Quelle: Jahresberichte und Berner Staatskalender)
I. Tr anskrip tion der I nstruktion für den D irektor
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Instruktion für den Direktor [Seite 1] Instruktion für den ersten Arzt oder Direktor der Anstalt: Mit Berücksichtigung derjenigen Artikel des Organisations-Reglements für die IrrenHeil- und Pflegeanstalt Waldau vom 14. März 1855, welche auf die Stellung, Befugnisse und Pflichten des Direktors derselben Bezug haben, wird ihm noch die Beachtung und Befolgung nachstehender Instruktion zur Pflicht gemacht. I. Allgemeine Bestimmungen §1. Da es Aufgabe des Direktors ist, das Institut in allen seinen sanitarischen und administrativen Angelegenheiten zu leiten, so soll er die Anstalt nur selten verlassen und im Fall von Entfernung dafür sorgen, dass ein anderer Arzt im Hause zurückbleibe indem zu jeder Zeit ein ärztlicher Beamter daselbst anwesend und zu finden sein muss. Der Direktor hat darum auch mit seinen Collegen die nöthige [S. 2] Verabredung zu treffen, damit diesem Erforderniß Folge gegeben wird. Ohne Erlaubniß darf er nie außerhalb seiner Amtswohnung übernachten. Für eine Entfernung von 24 Stunden bis 4 Tagen hat er bei dem Präsidenten der Inseldirektion, für eine längere Entfernung oder einen Urlaub bei dieser selbst Bewilligung einzuholen und im letzteren Falle, wie auch im Falle von dauernder Krankheit zu sorgen, daß der ärztliche dienst in keinerlei Weise vernachlässigt werde.
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Schreiben am Rand §2. Die Grundsätze einer allgemeinen und ächt christliche Menschenliebe sich zur Richtschnur nehmend, soll er die ihm anvertrauten Pfleglinge mit Milde und Freundlichkeit neben dem nothwendigen Ernste und der von ihrem Unglück geforderten Schonung mit aller Gewissenhaftigkeit behandeln und verpflegen demnach alle Kranken von welchem Stande, von welcher Bildung und Gesinnung sie seien, mit gleicher Aufmerksamkeit und Anteilnahme besorgen. Gegen die ihm untergeordneten Beamten soll er sich wie es einem gebildeten Manne geziemt freundlich und collegialisch benehmen, gegenüber den Angestellten und Dienstboten aber ein würdes und leutseliges Betragen zeigen. [ ] soll er es sich zur Pflicht machen durch sein gewöhnliches Benehmen und Auftreten in der ganzen Anstalt einen ächt humanen Geist, einen regen Eifer, II. Anordnung und Leitung der Krankenbehandlung in physischer und psychischer Beziehung §3. Die wichtigsten sanitarische Obliegenheit des Direktors ist die sorgfältige und in jeder Hinsicht geeignete Behandlung der Kranken, an ihm ist es allein den Heilplan zu entwerfen, wozu er die Indikationen aus der ganzen Geschichte des Individuums in somatischer und psychischer Richtung und an seinem damaligen Gemütszustande schöpfen muß. Den zweiten und dritten Arzt, sowie die Geistlichen wird er, soweit es ihm thunlich erscheint, an der Berathung des Heilplans Antheil nehmen lassen; insbesondere die Geistlichen über den Zustand der Kranken für ihre Einwirkung unterrichten. §4. Die Angestellten und Dienstboten hat er besonders in Betreff der Krankenbehandlung und Pflege in ihrem Dienst einzuführen, darin zu unterweisen und zu überwachen. §5. Der Direktor ist verpflichtet, die Kranken täglich wenigstens einmal zu besuchen, in wichtigen Fällen so oft als es die Umstände gebieten oder ihn der Oberwärter (die Oberwärterin) oder ein wichtiger Kranker, sei es bei Tag oder bei Nacht, besonders rufen läßt. Er soll auch öfters zu unbestimmten Zeiten die verschiedenen Abtheilungen und Zimmer besuchen, um sich von dem Zustande der Krankenpflege zu unterrichten. Die ordinären Krankenbesuche sollen Vor- [S. 5] mittags beendigt werden. §6. Die Behandlung der Kranken durch den ersten und zweiten Arzt soll eine collegialische sein, doch so, daß die Stimme des Direktors, auf dem die Verantwortlichkeit hinsichtlich der Behandlung lastet, bei stattfindenden Meinungsverschiedenheit allemal entscheidet. Nach dieser Bestimmung kann der Direktor entweder sämtliche Kranke mit dem zweiten Arzte in solcher Art besorgen, daß sie die Krankenbesuche gemeinschaftlich machen, oder daß er dem zweiten Arzte in unbestimmten Wechsel den Besuch einzelner Abtheilungen der Anstalt überläßt, oder daß er ihm auch für einige Zeit die mehr alleinige Besorgung mancher Kranken anvertraut, wobei er jedoch auch diesem Theile der Kranken niemals seine fortwährende ärztliche Obsorge ganz entziehen darf. §7. Wenigstens zweimal in der Woche soll der Direktor mit den anderen Anstaltsbeamten und wenn erforderlich mit Zuziehung des Oberwärterpersonals, [S. 6] eine Conferenz abhalten, um gemeinschaftlich über allgemeine und spezielle Anstaltsangelegenheiten zu berathschlagen. §8. Bei der Krankenbehandlung muß er den Angestellten mit dem Beispiel der Menschenliebe, Geduld, Ausdauer, Besonnenheit und Vorsicht vorangehen. Er soll nicht nur
Anhang als leiblicher Arzt, sondern zugleich als Freund, Berather, Tröster, Erzieher bei und unter den Kranken verweilen. Ihm liegt namentlich ob, das Wartpersonal über das bei jedem einzelnen Kranken einzuhaltende Benehmen gehörig zu unterrichten, ihm die mit besonderer Aufmerksamkeit zu besorgenden Kranken zu bezeichnen und die Verwendung der Wärter in jeden Fällen zu bestimmen, wo Zwangsmaßregeln nothwendig werden. §9. Zur ärztlichen Behandlung der Kranken stehen ihm alle Hülfsmittel der Kunst zu Gebote, wobei er jedoch auf zweckmäßige Erspar-[S. 7] niß, ohne Beeinträchtigung der Kranken und des Heilzweckes möglichst Bedacht nehmen und ebenso auf die richtige Darreichung und Verwahrung der Arzneien durch das Wartpersonal immerfort seine Aufmerksamkeit richten wird. §10. Die den einzelnen Kranken zu verordneten innern oder äußern Arzneimittel sollen genau spezifizirt in ein eigenes Buch (Ordinationenbuch) welches jährlich erneuert wird, mit fortlaufenden Nummern nebst Beisetzung des Monath, Tages, Zimmers und Nummer des Patienten eingetragen werden. Diejenigen Arzneien dagegen, welche für viele Kranke gleichförmig gebraucht werden, wie z.B. Ptisanen Pflaster, Salben, u. d.gl. sind bloß mit der Zimmerbezeichnung im Buche anzusetzen. Der Direktor wird der regelmäßigen und genauen Lieferung der verordneten Medikamente in Qualität und Quantität seine Aufmerksamkeit schenken, allfällige Irrungen oder Auslassungen dem Apotheker sogleich anzeigen und wenn deßhalb Anstände eintreten sollten, den Fall der Inseldirektion zur Kenntniß bringen. [S. 8] Die pharmazeutischen Heilmittel werden nach §: 55. des Org: Regl: aus der Staatsapotheke bezogen, die sogenannten mechanischen aber, als Charpie,1 Compressen, Bandagen, Catheter, Bougies,2 wie auch einige zu Catplasmen,3 Fomentationen,4 Bäder u.s.w. erforderlichen Ingredienzen wird die Hausverwaltung liefern. Den zu seinen Verrichtungen nöthigen Instrumentenapparat hat der Direktor selbst anzuschaffen. §11. Die Beschäftigungen, Vergnügungen u. der Zeitvertrieb der Kranken hat er mit Umsicht und sorgfältiger Wahl in der dem Zustand jedes Kranken angemessener Weise und Aufeinanderfolge zu reguliren und zu leiten. Bei der Wahl der Beschäftigungsgegenstände soll der therapeutische Zweck und Gesichtspunkt der erste und hauptsächlichste sein, doch wird er mit demselben das Nützliche und zweckmäßige zu verbinden streben. §12. Bezüglich der Beköstigung der Kranken soll ihm die Speiseordnung der Anstalt als Norm dienen, nichts desto weniger ist er aber doch befugt nach den [S. 9.] Forderungen des Heilzweckes bei einzelnen Kranken eine demselben entsprechende Modifikation der Diät anzuordnen. Die nach seiner Weisung gefertigten Speisezettel hat der Direktor mit seiner Namensunterschrift zu versehen und dem Oekonomen rechtzeitig zustellen zu lassen.
1 | Verbandmittel. 2 | Weiche Katheder, Sonden. 3 | Feucht-heisse Breiumschläge. 4 | Warme Packung.
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Schreiben am Rand §13. Insbesondere liegt dem dirigirenden Arzt die sorgfältige Aufnahme und Verzeichnung der zur Behandlung kommenden Krankheitsfälle ob. Es soll daher ein Krankenjournal geführt und darin für jeden Pflegling eine eigene Nummer eröffnet werden, in welche bei seinem Eintritt in die Anstalt die Geschichte seiner Krankheit, so weit selbe ermittelt werden konnte, die über denselben eingelangten Berichte, so wie alle sonstigen, auf die Krankheit bezüglichen wesentlichen Notizen, die Krankheitsform, der entworfene Heilplan im Allgemeinen, die Zufälle und der Verlauf der Krankheit mit genauer Angabe aller bedeutenden Erscheinungen und Veränderungen, welche auf dieselbe [S. 10] Bezug haben, endlich im Falle der Kranke in der Anstalt stirbt, die Ergebnisse der Leichenöffnung eingetragen werden. Bei Benutzung dieser der Anstalt angehörenden Krankenjournale zu wissenschaftlichen Zwecken und öffentlichen Mitteilungen, ist alles dasjenige wegzulassen, was zur Kenntnißmachung des Individuums beiträgt, oder überhaupt der Kranken oder ihren Angehörigen anstößig sein könnte. III Ueberwachung der gesamten Polizei der Anstalt, mit Inbegriff der Dienstdisciplin §14 Der Direktor überwacht mit der nothwendigen Strenge die Einhaltung der Hausordnung und die einem jeden Angestellten und Dienstboden gegebene Dienstanweisung (Instruktion.) Gewahrt er Ueberschreitung der Instruktionen und Pflichtordnungen durch dieselben, so ist er verpflichtet, die Fehlbaren zu rügen und in wichtigeren oder Wiederholungsfällen sofort zu entlassen. [S. 11] Pflichtvernachläßigungen der Anstalts-Beamten wird er, besonders nach vorangegangenen fruchtlosen Ermahnungen und Rügen von seiner Seite, an die Inseldirektion einberichten. §15 Der Direktor hat allein das Recht, den Angestellten und Dienstboten der Anstalt, mit steter Berücksichtigung der Forderungen des Dienstes, Ausgangserlaubniß und Urlaub bis auf 8 Tage zu ertheilen. IV. Beaufsichtigung des ökonomischen Dienstes, des Comptabilitäts- und Cassawesens der Anstalt §16 Der Direktor soll sich angelegen sein lassen dafür zu sorgen, daß in der ganzen Anstalt die größte Reinlichkeit herrscht, daß mit Bett und Weißzeug etc. mit Geräthschaften und der sonstigen Ausrüstung des Hauses möglichst schonlich und sparsam umgegangen und nach allen Beziehungen das ökonomische [S. 12] Interesse derselben bestens gewahrt werde. Er ist auch verpflichtet, genau zu wachen, daß den Kranken wie dem übrigen Hauspersonal, das auf Rechnung der Anstalt verköstigt wird, Speise und Trank in der gehörigen Quantität und Qualität zukomme, zu diesem Behufe wird er von Zeit zu Zeit die gekochten sowohl als die rohen Speisen untersuchen und die Art ihrer Auf bewahrung besichtigen. Ueberdieß liegt ihm ob: die von dem Oekonomen zu besorgenden Lieferungen jeder Art zu controlliren und nach Gutfinden zu genehmigen. §17 Er beaufsichtigt und controllirt ferner das vom Oekonomen besorgte Cassa- und Rechnungswesen der Anstalt und nimmt zu diesen Zwecken öfter Einsicht in die Bücher und in die Buchführung, auch läßt er sich , wann es ihm beliebt, namentlich aber am Ende jedes Monats, eine Uebersicht über den Zustand der Casse geben und nimmt öftere Cassa- [S.
Anhang 13]stürze, wenigstens alle Vierteljahre einen vor. Er prüft und unterzeichnet die Schluß- und Jahresrechnung der Anstalt, bescheinigt auch die am Schlusse des Rechnungsjahres mit dem Oekonomen vorgenommene Kontrollirung der noch vorhandenen Viktualien und Materialien. Sämtliche Rechnungsbelange müssen mit seinem Versehen sein. §18 Zu gehöriger Zeit wird er für das kommende Rechnungsjahr in Verbindung mit dem Oekonomen das Budget der Einnahmen und Ausgaben der Anstalt entwerfen und an die Inseldirektion einsenden. Er überwacht auch die möglichst genaue Einhaltung der durch das Budget veranschlagten Einnahmen und Ausgaben der Anstalt. V. Unentgeltliche ärztliche Behandlung der erkrankten Beamten, Angestellten und Dienstboten des Hauses und Besorgung der Hausapotheke [S. 14] §19 Dem Direktor liegt bei Erkrankung der Beamten, Angestellten und Dienstboten, welche im Hause wohnen, deren unentgeldliche ärztliche Behandlung ob. Die Beamten sind jedoch befugt, sich durch einen anderen Arzt behandeln zu lassen. Für den guten Zustand der kleinen Hausapotheke wird er stets Sorge tragen. VI. Berichterstattung. §20. Der Bericht, welcher der Direktor alljährlich an die Inseldirektion einzugeben hat, zerfällt in einen ärztlichen, einen administrativen und in einen wissenschaftlichen Theil (§28 Org. Regl.). Der erste hat folgende Punkte zu umfassen. Eine tabellarische Aufzählung aller Kranken in den zwei Abtheilungen der Männer und der Frauen und in den zwei Unterabtheilungen der Heilbaren und Unheilbaren mit folgenden Rubriken: Tauf- und Geschlechts-Name, Alter, Heimath, Religion, Stand, Beruf, Verpflegungsklasse, Tag [S. 15] der Aufnahme, Dauer der Krankheit vor der Aufnahme, Form der Krankheit, vorgefallene Veränderungen in dem Stand der Krankheit während des Berichtsjahres, Art der Behandlung, Austritt ob durch versuchsweise oder definitive Entlassung oder durch Tod, Bemerkungen. Darlegung der Erfahrungen von der allgemeinen Ordnung und der besonderen Einrichtungen des Hauses; von dem Erfolg der ärztlichen und seelsorglischen Behandlung und demjenigen der Beschäftigungen, von der Anwendung der verschiedenen gemischten oder rein psychischen Heilapparate und Heilmittel. Der zweite Theil hat zu berühren die Leistungen und die Amtsführung der Beamten, Angestellten und Dienstboten im Allgemeinen; die Veränderungen welche sich in diesem Personale ergeben und dem Grund derselben. Die Zweckmäßigkeit und Einhaltung der Anstaltsordnung, der verschiedenen Instruktionen und [S. 16] sonstigen Einrichtungen. Der dritte Theil giebt; Eine Uebersicht über die Einnahmen und Ausgaben der Anstalt, über die Erträgnisse der Grundstücke, der Arbeit und Beschäftigung der Verpflegten und berührt den Stand der Gebäulichkeiten, des Vorraths und Geräthschaften Inventars. §21 Der Direktor hat sich künftigen von kompetenter Behörde beschlossenen Weisungen, Verordnungen und neuen Einrichtungen zu unterziehen. Diese Instruktion tritt provisorisch bis Ende 1857 in Kraft. Bern den 22ten September 1855.
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Schreiben am Rand Namens der Inselverwaltung Der Präsident Sig.: C. Bitzius Der Sekretär Sig: Müller Not
II. Tr anskrip tion der I nstruktion für den O berwärter und die O berwärterin der A nstalt
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Instruktion für den Ober wärter und die Ober wärterin der Anstalt Die Obliegenheiten eines Oberwärters oder einer Oberwärterin ergeben sich schon aus der allg. Hausordnung, aus der Anleitung zum Krankenwartdienst, und aus der Wärter-Instrukion. Es ist ihre Aufgabe, daß alles was hierin als Forderung aufgestellt wird, verwirklicht werde, daher sie ihren Inhalt gründlich studiren und sich zu eigen machen müssen. Ins besondere wird dem Oberwärter und der Oberwärterin folgendes vorgeschrieben: [S. 2] §1. Ihren Vorgesetzten, wozu der Direktor, die angestellten Aerzte, die Geistlichen, der Oekonom gehören und von denen sie eine ihrer Stellung als Vorgesetzte der Wärter entsprechende Behandlung zu gewärtigen, sind sie Gehorsam schuldig; gegen die übrigen Angestellten haben sie ein freundliches den Dienst beförderndes Benehmen zu beobachten. §2. Der Oberwärter ist in der männlichen Abtheilung der nächste Vorgesetzte der Wärter, die Oberwärterin in der weiblichen Abtheilung die nächste Vorgesetzte der Wärterinnen, und ihnen ist die Sorge für den ungestörten Gang und die gehörige Versehung des Krankendienstes anvertraut. [S. 3] §3. Hinsichtlich der Controlirung des Wärterpersonals haben der Oberwärter (die Oberwärterin) sämtliche Kranke der ihnen anvertrauten Krankenabtheilung mehrmal des Tages, zuweilen auch des Nachts zu besuchen und über ihr Befinden, sowie über die ihnen von Seiten des Wartpersonals zu Theil werdende Pflege u. Fürsorge nach zu suchen und sich zu erkundigen. Besonders sollen sie zur Zeit des Aufstehens u. Zubettgehens eine Runde machen, weil hier ungehörige Behandlung am schnellsten in die Augen springt u. namentlich auf den Tobabtheilungen ihre Aufmerksamkeit schenken. §4. Durch eigene Aufsicht werden sich der Oberwärter und die Oberwärterin überzeu[S.4]gen, ob die Haus- und Tagesordnung in ihren Krankenabtheilungen gehörig innegehalten wurden, besonders ob das Wartpersonal seine Geschäfte in der vorgeschriebenen Ordnung verrichte, ob es die Kranken mit der nöthigen Um- und Aufsicht besorgen; ob die Beschäftigung der Kranken in- und außer dem Hause gehörig von statten gehen, ob bei den Mahlzeiten Ruhe und Ordnung gehandhabt und auch das Speisen der, nicht an den
Anhang gemeinsamen Mahlzeiten theilnehmenden Kranken vorschriftsmässig vollzogen wurde; ob die Wärter und Wärterinnen ihre Kranken Nachts gehörig zur Ruhe bringen und die Vorschriften hinsichtlich der Durchsuchung und Abschließung der ausgezogenen Kleidungsstücke und Entfernung jedes gefähr[S. 5]lichen Gegenstandes, pünktlich erfüllen. §5. Der Oberwärter und die Oberwärterin haben auf ihren Krankenabtheilungen die Morgen und Abendandachten auf eine würde Weise zu halten. §6. Nehmen sie von Seiten des Wärterpersonals Mängel in der Behandlung u. Pflege der Kranken wahr, so haben sie dieselbe zu belehren u. zurechtzuweisen. Wichtigere Fälle, namentlich Uebertretungen der Dienstordnung und Vernachlässigung der Kranken, müssen sofort dem Direktor angezeigt werden. Bei Streitigkeiten zwischen den Kranken und dem Wärterpersonal, werden sie die [S. 6] Ruhe und den Frieden mit Güte oder Strenge wieder herzustellen suchen, bedeutende Vorfälle sind sogleich dem Direktor mitzuteilen. §7. Das Wartpersonal einerseits zu Zucht, Ordnung und Diensteifer anhaltend, werden sie anderseits auch dafür sorgen, dass ihm die nöthige Ruhe und Erholung nach Massgabe seiner Leistungen zu Theil werden. §8. In gewöhnlichen Fällen sollen der Oberwärter u. die Oberwärterin an der durch den Direktor getroffenen Vertheilung der Kranken unter die Wärter nichts ändern; in dringenden und ausserordentlichen Fällen aber dürfen sie eine provisorische augen[S. 7]blickliche Versetzung eines Kranken unter einen anderen Wärter verfügen, wovon jedoch sofortige Anzeige an den Direktor zu machen ist. §9. Um Entweichungen der Kranken theils zu verhüten, theils in Erfahrung zu bringen, wenn solche statt gehabt haben sollten, werden der Oberwärter und die Oberwärterin sich von Zeit zu Zeit von der Anwesenheit sämtlicher Kranken ihrer Abtheilung durch Nachzählung überzeugen. Von der Vermissung eines Kranken ist behufs Ergreifung der erforderliche Massregeln zu seiner Wiedereinbringung dem Direktor unverzüglich Kenntiss zu geben. §10. Im Umgang mit den Kranken haben [S. 8] sie sich die Instruktion der Wärter zur Richtschnur zu nehmen. Namentlich werden sie auch, wo es thunlich ist, selbst thätigen Antheil nehmen an der Beschäftigungen u. Vergnügungen oder sonstigen Zeitvertrieben der Pfleglinge u. theils durch Worte, theils durch ihr Beispiel Andere zur Theilnahme ermuntern. Auch dafür sorgen, dass die durch den Direktor bestimmte Beschäftigung u. Erholung in einen richtigen Mass zwischen beiden ausgeführt werde. §11. Die persönliche Einwirkung der Oberwärter und der Oberwärterin ist besonders in Fällen von heftigen Ausbrüchen, hartnäckigem Widerstand oder ruhestörenden Benehmen der Kranken erforderlich, in welchen sie dem Wartpersonal mit ihrem Ansehen und ihrer Erfahrung zu Hül[S.9]fe eilen müssen. Sie sind ermächtigt, in Nothfällen, um einen gefahrdrohenden Kranken sich u. Anderen unschädlich zu machen, Zwangsapparate, vermutlich die Anlegung von Zwangskleidern oder Riemen, oder das Setzen in den Zwangstuhl anzuwenden. Sie haben jedoch hiervon dem Direktor sogleich Kentniss zu geben. In minder wichtigen Fällen werden sie die Zwangsapparate erst nach eingeholter Genehmigung des Direktors in Anwendung bringen. Unruhige Kranke, die störend auf ihre
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Schreiben am Rand Mitkranken einwirken, können sie in ein abgesondertes Zimmer versetzen. Ueber die angegebenen Zwangsmassregeln sollen sie ohne Genehmigung des Direktors nicht hinausgehen und nie andere als die genannten Mittel, wie z. B. Entziehung von Speisen [S. 10] oder Entziehung der den Kranken sonst gestatteten Genüsse, oder Einsperrung als Strafmittel, oder Sturzbäder u. d.gl. von sich aus anordnen; dagegen aber jeder Anordnung von Zwangs- u. Strafmitteln selbst beiwohnen und sie nie den Wärtern oder Wärterinnen allein überlassen. §12. Der Oberwärter und die Oberwärterin begleiten in der Regel ihre Kranken bei Spaziergängen ausserhalb der Anstalt u. lassen sich von einer entsprechenden Anzahl Wärter unterstützen. Die Sorgen dass dabei weder der Anstand noch die öffentliche Sicherheit verletzt und die den Kranken zugedachte Erheiterung durch nichts gestört oder verkümmert werde. §13. Besondere Aufmerksamkeit haben sie [S. 11] darauf zu verwenden, dass die Kranken die verordneten Arzneien und sonstigen Heilmittel namentlich die Bäder genau nach der ärztlichen Vorschrift erhalten. Bei Sturz-Regen- und Duchebädern sollen sie jedesmal persönlich anwesend sein. §14. Während der gewöhnlichen Krankenbesuche der Aerzte und überdies so oft als es von denselben verlangt wird, sollen der Oberwärter und die Oberwärterin in ihren Abtheilungen jene begleiten, um über den Zustand der Kranken Auskunft zu geben. Von bedenklichen und auffallenden Erscheinungen haben sie indessen dem Direktor ohne Abwartung seines Besuchs unverweilte Anzeige zu machen. [S. 12] §15. Ein Gegenstand der Aufmerksamkeit des Oberwärters und der Oberwärterin bildet ferner die gehörige Beleuchtung und Wärmung der Krankenräume, die Erhaltung der Reinlichkeit in den Zimmern, Gängen, auf den Abtritten, wie an den Körpern der Kranken, die säuberliche u. ordentliche Bekleidung derselben, die geordnete Verwahrung und Instandehaltung aller ihrer Kleidungsstücke, die sorgfältige Verwahrung von Feuer und Licht. Die hierin wahrgenommenen Mängel oder Vernachlässigungen haben sie dem Direktor anzuzeigen. §16. Sie verwalten das Weisszeug in ihren Abtheilungen und sind dafür verantwortlich. Ihnen liegt es ob: Die festgesetzte Verthei[S.13]lung gehörig einzuhalten, die gebrauchten Stücke in die Wasche zu fördern und aus der Lingerie wieder rechtzeitig zurückzuerhalten. Schadhaftes Zeug sollen sie ohne Verzug zum Ausbessern abgeben. §17. Sie nehmen auch alle Gegenstände, welche die Verwaltung zum Dienst und Gebrauch der Kranken abliefert in Empfang, sorgen für die erforderliche Vertheilung, den zweckmässigen Gebrauch und die schonende Behandlung derselben. Ueber die Zurückgabe an die Verwaltung, oder über den Abgang und Verbrauch solcher Gegenstände werden sie sich auszuweisen haben. [S. 14]
Anhang §18. Bei den von ihnen aus der Verwaltung zu übernehmenden Gegenständen, so wie bei der Speisung der Kranken sollen sie die Beschaffenheit, die Mass- und Zahlrichtigkeit der Lieferung genau prüfen u. für die Verbesserung wahrgenommener Mängel und Fehler durch sofortige Benachrichtigung des Oekonomen, so wie nach Umständen des Direktors, besorget sein. §19. Der Oberwärter und die Oberwärterin haben sich hinsichtlich der zu fertigenden Speisetabellen mit dem Oekonomen zu verständigen. §20. Den Dienst in der niederen Chirurgie werden beide nur auf Anordnung der Aerz[S. 15]te ausüben. Bei Leichenöffnungen hat der Oberwärter, wenn nöthige, Hilfe zu leisten und für die Reinhaltung des Sektionszimmers u. der Leichenkammer Sorge zu tragen. §21. Der Oberwärter und die Oberwärterin sind verpflichtet ihre Zeit und Kräfte gänzlich dem Dienst der Anstalt zu widmen. Es ist ihnen gestattet, ersterem sich des Hausknechts, letzterer sich der Hausmagd, zu Besorgungen ihrer Zimmer zu bedienen. §22. Für jeden Ausgang sollen sie bei dem Direktor um Erlaubniss ansuchen. Dieser kann ihnen auch einen Urlaub bis auf 8 Tage bewilligen, für längere Zeit müssen sie sich an die Inseldirektion wenden. [S. 16] §23. Endlich haben sie sich künftigen, von kompetenter Behörde beschlossene Verordnungen, Weisungen und neuen Einrichtungen zu unterziehen. Diese Instruktion tritt provisorisch bis Ende 1857 in Kraft. Bern den 22 September 1855. Der Direktor der Anstalt Sig. Prof. Tribolet
III. Tr anskrip tion D ie F reibeüter und der Pascha
A nonym [vermutlich J ohann L ang] © P sychiatrie -M useum B ern A bb . 23
»Die Freibeüter und der Pascha Wie komt es, dass die Anstalten überfüllt sind, weil man niemand herauslässt. Man nimt die Leute ganz einfach ohne Ursache, oder auf falsche Angaben, von Zeügen, die man sich einfach kauft, aus den Arbeitsstellen, und schmeist sie ins Arbeitshaus, wo sie, durch Frohndienste, das goldene Kalbe mästen müssen und wer sich erlaubt, über den nachweisbaren Gesetzesmisbrauch etwas zu sagen, der wird einfach verhaftet, und dem Nasen, u. Ohrenverpfuscher Polizeiarzt – [ ]Ost zugeführt, mit dem Befehl, er soll ihn, als geisteskrank erklären. Die Polizeidirektion ist damit einverstanden. Die Polizisten machen wissentliche fal[s]che Raporte; So einer war Hugler, der auch
427
428
Schreiben am Rand Ein Signalemet eines. 15. jährigen, einen 45. jährigen, und einmal sogar einen 40 jährigen, Für einen, 12 jährigen verhaftete, (dieser Lausbub) Polizist Born hat ein, der Waldau entsprungenr, der nach Borns wissen nicht geisteskrank war, angehalten, u. ihm den Revolver auf die Brust gesetzt, Als der Mann ein Stük Draht aus der Tasche zog, wurde in der Zeitung geschrieben[ ] Ein Jrrsinniger mit dem Dolch-Ha[ ] (ein solcher Vötzel). Ein Früherer Stadtvagant [u.] Schnapser, der seinem Bruder noch paar hundert Fr. schuldet. u. mit einer Frau nach Neujork gieng, ihr das Geld stahl, u. nach Cleveland flüchtete, ist der Jost Chrigu. Polizeifeldwe[i]bel. der die armen Leüte jetzt so verfolgt! Jn der Waldau sind massenhaft geistig vol[l]ständig normale Leute, interat[?] die man zur Arbeit, zwingt mit der vorgabe wenn ihr nicht arbeitet, mus[s] man euch für geisteskrank betrachten. Jm Jahresbericht steht die grös[s]t[e] Lüge – über. 200. Geheilte entlassen. Ein gros[s]er Teil wird zutodegebadet und, ein Teil stirbt aus Ku. mmer in dieser Mordhöhle; die wo entlassen werden, waren überhaupt nie krank, die mus[s]te manmit Gewalt herausnehmen. Wer Geld hat wirt nicht heraus gelassen bis er nichts mehr hat. Die Psichiatrie ist überhaupt, eine Jlusion, ein crasser Blödsinn. Man haltet Vorträge, über die Erfolge, indem man tobsüchtige. u. gesunde zusammen tut, wo dann die gesunden krank werden. (Der Direktor, der ausländische Schurk, dieser Weibernarr) ist eben geistesgrang, wie die lan[g]jährige[n] Wärter sagen. Tag u. Nacht er bei Weiber, auch viel im Frauenbad, zum Glusten. Sogar an öffentl. Plätzen greift er ihnen in die na[c]kte Brust. Ein Frl. Flühmann, welche er als unheilbar erklärte, wurde plötzlich entlassen, wegen einem Schäferstündchen Da ist ein Man, der nach der entweichen aus der Waldau 4. Jahr in Metz, einen tadellosen Lebenswandel führt immer noch von der brave[n] Bernerjustiz verfolgt auf lügenhafte Anschuldigung! Da man ihm die staatsrechtliche Verteidigung verweigert, wirt er nach dem Strafgesetzbuch handeln. Wem sein Gut, seine Freiheit und sein Leben bedroht ist, hat das Recht, sich mit den Waffen zu verteidigen, die ihm zu gebote stehn. I[ch?] hätte dann noch Aussagen zu machen über. 2 Doktoren, die jedenfalls nahe an die Zuchthaustüre führen werden. Wo ist die Kom[m]ission, seit 7. Jahr hat man keine dieser Tagediebe gesehn, auf unser Abtei[lun]g, den Direktor auch nicht. Aber eine Krähe, hakt der Andern Kein Auge aus; -. Was hier geschrieben5 steht, ist kein Hirngespinnst. Er ist rein verbürgte Tatsache. (Ein langjähriger Waldauwärter)«
Erklärung editorischer Zeichen [ ]: unlesbar [Buchstaben]: hinzugefügt von M.W. Kursiva: Buchstabengemination im Original durch Überstreichung gekennzeichnet Fette Markierung: Buchstabe im Original spiegelverkehrt geschrieben
5 | Im Original: »gesrchieben«.
450
350
Oberwärterin
1.800
Oberwärter 7
Verwalter
Oekonom
600
Schullehrer 5
6
1.750
Geistlicher 4
600
2.000
Assistenzärzte ohne CH-Diplom
Volontärarzt/ Unterassistent
2.000
Assistenzärzte mit CH-Diplom
5. Arzt
4. Arzt
8
3000–4000
1500–2500
800–2000
800–2000
3000–4000
4000–5000
1.500
3
3. Arzt
4500–6000
2.500
2. Arzt 2
1908 6000–8000
1889/1890
4.000
1855
Direktor 1
Personal und Besoldung in CHR
Q uelle : J ahresberichte
IV. Tabelle 1: P ersonal und B esoldung
850–1200
1000–1500
1910
2500–3500
1913
6600–8600
5600–7600
3400–5800
4000–5800
6000–7500
7000–8500
8000–9500
9000–10500
10500–13000
1922
1923
2100–3300
2400–3900
1932
Anhang
429
150
250
200
Krankenwärterinnen
Oberköchin
Unterköchin
130
200
180
180
Hausmagd
Portier
Gärtner
Ausläufer
Schreiner-, Schlosser-, Maurer- und andere Handwerksmeister
180
Hausknecht
700–1200
400–800
700–1200
600–1000
240–480
300–600
240–480
Näherin
130
500–700
Oberwäscherin
Küchenmagd
500–800
500–700
600–1000
500–800
Lingère
Oberkoch
200
Krankenwärter
600–1000
600–1000
350
Haushälterin
1910
700–1000
1908
Sekretärin
1889/1890 700–1000
1855
Gesellschafterin
Personal und Besoldung in CHR 1913
1922
2500–3400
1923
1620–2640
3510–5310
1620–2640
1380–2280
1500–2400
1500–2400
1320–2400
1800–2910
1500–2400
1320–2400
1500–2610
1932
430 Schreiben am Rand
Anhang 1 | 1855: »nebst freier Wohnung und Befeuerung in der für den Direktor bestimmten Lokalität im ersten Stock des Mittelgebäudes, freier Benutzung der Stallung, Remise, Heuboden und Bedientenkammern in dem dazu eingerichteten klinen Gebäude neben der Einfahrt zum Irrenhause und eines Gartens« (1855a), S. 13 2 | 1855: »nebst freier Wohnung und Befeuerung in der für ihn bestimmten Lokalität im ersten Stock des Mittelgebäudes, und Benutzung des Stallgebäudes zu 1 Pferd, 1 Wagen sammt Bedienten und eines Gartens« (1855a), S. 13 f. 3 | nebst freier Wohnung und Befeuerung 4 | 1855 ist es noch unklar, ob man einen eigenen Geistlichen anstellen soll. 5 | nebst freier Station 6 | 1855: nebst freier Wohnung und Befeuerung in der für ihn bestimmten Lokalität im Rezde-chaussée des Mittelgebäudes und eines Gartens 7 | Alle weiteren genannten Angestellten haben freie Station, das heisst: freie Wohnung, Kost, Befeuerung, Beleuchtung und Wäsche. 8 | 1913 wird die Stelle des 5. Arztes geschaffen. Er erhält nebst Wohnung, Befeuerung, Beleuchtung und Garten mit Obst-und Gemüsebau, eventuell Obst und Gemüse vom Ertrage der Anstalt. 1933 werden die Löhne der Beamten, Angestellten und Arbeiter des Staates Bern um 7% herabgesetzt.
V. Tabelle 2: Ü berblick der Ä rz te
Q uelle : J ahresberichte und B erner S taatsk alender
Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die zwischen 1895 und 1936 angestellten Ärzte, wie sie in den Jahresberichten teils in Tabellen aufgeführt teils im Fließtext erwähnt werden. Volontärärzte werden meistens in der Anstaltschronik, nicht aber in der Übersichtstabelle zu Beginn des jeweiligen Jahresberichtes erwähnt. Die jeweiligen Titel der Personen entsprechen der Schreibweise in den Jahresberichten, unterschiedliche Nennungen wie »med. pract.« und »prakt. Arzt« wurden unverändert übernommen. Wo kein Geschlecht angegeben ist, handelt es sich um männliche Ärzte. Die Angaben der Jahresberichte erwiesen sich im Vergleich mit anderen Quellen (etwa Friedrich Glausers Briefwechsel) als nicht vollständig. Die Liste wurde deshalb mit den entsprechenden Bernischen Staatskalendern abgeglichen, Letztere erwähnen allerdings kürzere Anstellungen oder etwa Volontäre nicht.
431
Dr. R. Walker
Dr. R. Hagen6
Prof. Dr. W. von Dr. U. Brauchli Speyr
Prof. Dr. W. von Dr. U. Brauchli Speyr
Prof. Dr. W. von Dr. R. Walker Speyr5
Prof. Dr. W. von Dr. R. Walker Speyr
Prof. Dr. W. von Dr. R. Walker Speyr
Prof. Dr. W. von Dr. R. Walker Speyr
Prof. Dr. W. von Dr. R. Walker Speyr
Prof. Dr. W. von Dr. R. Walker Speyr
Prof. Dr. W. von Dr. R. Walker Speyr
Prof. Dr. W. von Dr. R. Walker Speyr
1897
1898
1899
1900
1901
1902
1903
1904
1905
Dr. E. Fankhauser
Dr. E. Fankhauser
Dr. E. Fankhauser
Dr. E. Fank hauser 14
Dr. R. Hagen12
Dr. R. Hagen
Dr. R. Hagen
Dr. R. Walker
3
1896
Dr. R. Walker
3. Arzt
Prof. Dr. W. von Dr. U. Brauchli Speyr 1
2
1895
2. Arzt
Direktor
Jahr
4. Arzt
5. Arzt
2. Assistenzarzt
Frl. Fr. Kaiser, prakt. Arzt 22 Dr. C. Bresci23
H. Ladame, prakt. Arzt 20; Frl. Fr. Kaiser, prakt. Arzt med. pract. E. Pflüger 24 cand. med. Frl. Ch. Gurewitsch25
H. Ladame, prakt. Arzt Frl. Fr. Kaiser, prakt. Arzt 19
Frl. Dr. S. Stier 15; Dr. E. Perregaux 16; H. La dame, prakt. Arzt 17
Frl. Dr. S. Stier
med. pract. J. Lauper 10 Frl. Dr. S. Stier 11
cand. med. E. von Rütte Dr. F. Paravicini9
Dr. M. Gelis7
cand. med. M. Gelis 4
cand. med. M. Gelis
cand. med. M. Gelis
1. Assistenzarzt
med. pract. Imboden21
med. pract. H. Frösch18
cand. med. G. von Salis13
med. pract. E. Schoch8
Volontärarzt
432 Schreiben am Rand
Dr. L. de Ruyter
Dr. L. de Ruyter, vertreten durch med. pract. N. B. Châtelain46
Dr. E. Fankhauser
Prof. Dr. W. von Dr. R. Walker Speyr
Prof. Dr. W. von Dr. R. Walker Speyr
Prof. Dr. W. von Dr. R. Walker Speyr
Dr. E. FankProf. Dr. W. von Dr. R. Walker Speyr Dr. M. Ries-Im- hauser chanitzky45
Prof. Dr. W. von Dr. R. Walker Speyr
Prof. Dr. W. von Dr. R. Walker Speyr
1908
1909
1910
1911
1912
1913
Dr. E. Fankhauser
Dr. E. Fankhauser
Dr. E. Fankhauser
5. Arzt
2. Assistenzarzt
Frl. G. Mirkowitsch52
Frl. Dr. M. Ramberg47 Dr. L. Schwartz 48
W. Morgenthaler, Arzt42; Frl. Dr. M. Ramberg43
W. Morgenthaler, Arzt40; Dr. H. Nunberg
W. Morgenthaler, Arzt 39
Frl. Dr. M. Imchanitzky31; med. pract. L. Imfeld32; E. Herm. Müller33; cand. med. J. Lang34; Dr. B. Schwarzwald 35
Frl. L. Rosslakowa
Frl. M. Popow44 Frl. Auguste Jannosol
med. pract. R. Isenschmid36
Frl. Dr. M. Imchanitz- cand. med. Frl. Ch. Gurewitsch29 ky 26; Dr. C. Bresci27 med. pract. L. Imfeld 28
1. Assistenzarzt
Dr. L. de Ruyter Dr. W. Morgen- Frl. G. Mirkowitsch thaler58 (beurlaubt)56 M. Chasan57
Dr. L. de Ruyter, vertreten durch Frl. L. Rosslakowa51
Dr. L. de Ruyter
Dr. L. de Ruyter38
Dr. E. Fankhauser
Prof. Dr. W. von Dr. R. Walker Speyr
1907
Dr. E. Fankhauser
Dr. E. Fankhauser
4. Arzt
Prof. Dr. W. von Dr. R. Walker Speyr
3. Arzt
1906
2. Arzt
Direktor
Jahr
Dr. med. K. Grünberg53 Frau E. RaikinFleiß54; Frau Dr. C. Zuckerstein55
Frl. H. Rubin49 Frl. A. Tschikste50
Frl. Dr. H. Ritter41
Walter Morgenthaler37
Dr. J. Ries30
Volontärarzt
Anhang
433
Prof. Dr. W. von Dr. R. Walker Speyr
Prof. Dr. W. von Dr. R. Walker62 Speyr
Prof. Dr. W. von Dr. E. FankSpeyr hauser
Prof. Dr. W. von Dr. E. FankSpeyr hauser
Prof. Dr. W. von Dr. E. Fankhauser Speyr
Prof. Dr. W. von Dr. E. FankSpeyr hauser
Prof. Dr. W. von Dr. E. FankSpeyr hauser
Prof. Dr. W. von Dr. E. FankSpeyr hauser
1914
1915
1916
1917
1918
1919
1920
1921
2. Arzt
Direktor
Jahr
5. Arzt
Dr. F. Walther
W. Wolf
W. Wolf 77
O. Forel
O. Forel
O. Forel 74
Dr. F. Walther
vertrt. durch Dr. Kamilla Horwitz
Dr. F. Walther
Dr. W. Morgenthaler 76 Dr. F. Walther
Frl. G. Mirkowitsch
Frl. G. Mirkowitsch
Frl. G. Mirkowitsch
Frl. G. Mirkowitsch
Frl. G. Mirkowitsch
Frl. G. Mirkowitsch
vertr. durch Frl. Frl. G. Mirkowitsch68 G. Prussak67
Dr. W. Morgenthaler
Dr. A. von Muralt66
Dr. W. Morgen- Dr. H. Rorthaler schach63 vertr. durch Frl. G. Prussak64
Dr. F. Walther 72 vertrt. durch Dr. Kamilla Horwitz
Dr. W. Morgenthaler
1. Assistenzarzt
Dr. W. Morgen- M. Chasan; Dr. Frl. G. Mirkowitsch thaler H. Rorschach59
4. Arzt
Dr. W. Morgenthaler
Dr. W. Morgenthaler
Dr. E. Fankhauser
Dr. E. Fankhauser
3. Arzt 60
Volontärarzt
Frau. Dr. M. RiesImchanitzky
Frau. Dr. M. RiesImchanitzky
Frau. Dr. M. RiesImchanitzky 75
Dr. H. Rast
Dr. H. Rast
Dr. de Palézieux 79 Frl. Dr. Schmidt 80 Dr. J. von Ries
Dr. de Palé zieux 78; Dr. J. von Ries
Dr. J. von Ries
cand. med. P. H. Tomarkin73
Frau Dr. K. Horwitz69 Dr. Z. Segalewitsch 70 med. pract. H. Rast 71
Dr. Fanny Bloch65
Frl. L. Rosslakowa, vertreten durch Dr. M. Chasan61
2. Assistenzarzt
434 Schreiben am Rand
Prof. Dr. W. von Dr. E. FankSpeyr hauser
Prof. Dr. W. von Dr. E. FankSpeyr hauser
Prof. Dr. W. von Dr. E. FankSpeyr hauser
Prof. Dr. W. von Dr. E. FankSpeyr hauser
Prof. Dr. W. von Dr. E. FankSpeyr hauser
Prof. Dr. W. von Dr. E. FankSpeyr hauser
Prof. Dr. W. von Dr. E. FankSpeyr hauser
Prof. Dr. W. von Dr. E. Fankhau- Dr. F. WalSpeyr ther 100 ser99
1923
1924
1925
1926
1927
1928
1929
1930
Dr. F. Walther
Dr. F. Walther
Dr. F. Walther
Dr. F. Walther
Dr. F. Walther
Dr. F. Walther
Dr. F. Walther
Dr. F. Walther
Prof. Dr. W. von Dr. E. FankSpeyr hauser
3. Arzt
1922
2. Arzt
Direktor
Jahr 81
med. pract. L. Boßard101 Dr. A. Weber 102
med. pract. L. Boßard
Dr. F. Stiefel93 med. pract. L. Boßard94
Dr. F. Stiefel
Dr. F. Stiefel 89
Dr. A. E. Glaus 87 Dr. med. Lia Glaus-Waldberg
Dr. A. E. Glaus
Dr. A. E. Glaus85
O. Forel
4. Arzt W. Wolf
5. Arzt 82
Frau. Dr. M. RiesImchanitzky Frau. Dr. M. RiesImchanitzky
Frl. G. Mirkowitsch
Frau. Dr. M. RiesImchanitzky
Frl. G. Mirkowitsch
Frl. G. Mirkowitsch
Frau. Dr. M. RiesImchanitzky
Frl. G. Mirkowitsch
Frau. Dr. M. RiesImchanitzky
Frau. Dr. M. RiesImchanitzky
Frl. G. Mirkowitsch
Frl. G. Mirkowitsch
Frau. Dr. M. RiesImchanitzky
Frl. G. Mirkowitsch
Frau. Dr. M. RiesImchanitzky
Frau. Dr. M. RiesImchanitzky
Frl. G. Mirkowitsch
Frl. G. Mirkowitsch
2. Assistenzarzt
1. Assistenzarzt
Frl. Dr. B. Berger
Frl. Dr. B. Berger
Frl. Dr. R. Goldblatt 95; Frl. Dr. B. Berger96; C. Frankenstein97 Cand. med. H. Leeb98
Frl. Dr. R. Goldblatt 91 O. Hausherr 92
J. Burtolf 90
Dr. J. von Ries 88
Dr. J. von Ries
Dr. J. Mensch 86 Dr. J. von Ries
Frl. Dr. Schmidt 83; Dr. J. Mensch 86 Dr. J. von Ries
Volontärarzt
Anhang
435
Dr. F. Walther 105 Dr. A. Weber
Prof. Dr. W. von Dr. E. Fankhauser Speyr 104 Prof. Dr. J. Kläsi
Prof. Dr. J. Kläsi Dr. E. Fankhau- Dr. A. Weber 109 ser 108
1933
1934
Dr. J. Wyrsch
Dr. J. Wyrsch
1936116 Prof. Dr. J. Kläsi Dr. E. Fankhau- Dr. A. Weber ser 117
Dr. J. Wyrsch110
Dr. A. Weber
Dr. A. Weber
1935115 Prof. Dr. J. Kläsi Dr. E. Fankhauser
Dr. F. Walther
Prof. Dr. W. von Dr. E. FankSpeyr hauser
Dr. A. Weber
1932
Dr. F. Walther
4. Arzt
Prof. Dr. W. von Dr. E. FankSpeyr hauser
3. Arzt
1931
2. Arzt
Direktor
Jahr
5. Arzt
Frl. G. Mirkowitsch118
Frl. G. Mirkowitsch
Frl. G. Mirkowitsch111
Frl. G. Mirkowitsch
Frl. G. Mirkowitsch
Frl. G. Mirkowitsch
1. Assistenzarzt
Dr. F. Humbert 119; Dr. Rudolf Stähli; med. prakt. O. Wenger; Dr. R. Strauss; Dr. F. Jenny; Dr. F. Georgi 120; Dr. Briner, Otto
Dr. F. Humbert Herr und Frau Dr. Bärtschi; Frl. Sachs Dr. Otto Briner
Dr. med. et phil. H. Jancke, PD; Dr. A. Favre; Dr. F. Humbert; Dr. E. Grünthal 112
Frau. Dr. M. RiesImchanitzky 106 II. Frl. Dr. H. Plüß107 II. Dr. med. et phil. H. Jancke, PD III. Frl. Dr. Y. Baumberger; II. Dr. A. Favre; II. med. prakt. J. von Albertini IV. Dr. E. David
Frau. Dr. M. RiesImchanitzky
Frau. Dr. M. RiesImchanitzky
2. Assistenzarzt
cand. med. Siff 113 cand. med. Werner 114
Frl. Dr. B. Berger 103
Volontärarzt
436 Schreiben am Rand
Anhang 1 | Wilhelm von Speyr trat 1882 als Sekundärarzt in die Waldau ein, vertrat längere Zeit Direktor Schärer und wurde nach dessen Tod 1890 Direktor der Anstalt. 2 | Ulrich Brauchli aus Andelfingen wurde 1890 zum Sekundararzt der Waldau gewählt. Zuvor war er Assistenzarzt in der Rheinau gewesen. (Jb 1889/1890, S. 4). 3 | Robert Walker aus Solothurn wurde am 25. Januar 1895 zum dritten Arzt der Waldau gewählt. (Jb 1895, S. 8). Er trat seine Stelle am 25. März 1895 an. (Jb 1895, S. 29). 4 | »Der Assistenzarzt, Herr M. Gelis, verlangte und erhielt seine Entlassung in kürzester Frist auf 21. November, damit er sich während des Semesters auf sein Doktor-Examen vorbereiten könnte.« (Jb 1897, S. 8). 5 | »Anfang August ist der Direktor von einer Pleuritis [Brustfellentzündung] befallen worden, und er hat erst im Frühjahr 1899 in seine Arbeit zurückkehren können.« (Jb 1898, S. 25 f.). Fritz Walther schreibt in seinem Nachruf auf von Speyr, wegen dieser Erkrankung sei von Speyr für mehrere Monate nach Ospedaletti geschickt worden, ansonsten sei der Direktor weder jemals ernsthaft krank noch längere Zeit von »seiner Anstalt« getrennt gewesen. Walther, (1941), S. 501. 6 | Richard Hagen aus Biel, davor in Aarberg tätig, wurde für die Stelle des dritten Arztes gewählt, obwohl die Kommission Walther Steinbiß vorgeschlagen hatte. Dieser blieb daher in Münsingen. (Jb 1898, S. 8). 7 | Moses Gelis, inzwischen mit Doktortitel, wurde am 6. April 1898 wieder zum Assistenzarzt gewählt. (Jb 1898, S. 8). Gelis starb im Frühjahr 1899, wie der Jahresbericht vom Vorjahr, 1898, berichtet. (Jb 1898, S. 26). Im Bericht seines Todesjahres findet sich ein kleiner Nachruf: »Am 8. März starb Herr Dr. M. Gelis nach schwerem Krankenlager. Er war aus Rußland gebürtig, hatte sich aber bei uns zu Hause gefühlt. Edeln Sinne hatte er sich aus innerm Wunsche der Psychiatrie ergeben. Die Anstalt hat in ihm einen Assistenzarzt verloren, der ihr mehrere Jahre auf das treueste diente und bei allen Kranken beliebt war.« (Jb 1899, S. 25). 8 | Am 2. Mai trat Egon Schoch aus Schaffhausen als Unterassistent/Volontär in die Waldau an, aufgrund der schweren Erkrankung von Gelis wurde Schoch auf den 1. September zum provisorischen Assistenten. (Jb 1898, S. 8). Er trat am 14. Januar 1899 aus. (Jb 1899, S. 25). 9 | Nachdem Eugen von Rütte drei Monate im Einsatz gewesen war, und die Stelle danach ein halbes Jahr nicht besetzt war, trat Fritz Paravicini aus Glarus am 9. Oktober 1899 ein. (Jb 1899, S. 26). Er blieb bis zum 9. Juli 1900. (Jb 1900, S. 21). 10 | J. Lauper von Seedorf bei Aarberg amtete vom 13. August bis 18. Oktober 1900 als Aushilfe. (Jb 1900, S. 21). 11 | Nachdem es 1899 noch heißt: »Auf das Gesuch um Anstellung eines zweiten (weiblichen) Assistenten wurde im Berichtsjahre nicht eingetreten.« (Jb 1899, S. 26), konnte dann 1900 die erste Frau, Siglinde Stier aus Dessau, eingestellt werden. (Jb 1900, S. 12). 12 | Richard Hagen trat am 14. Juni 1902 aus, »[…] um in Ins eine Privatanstalt für Gemütskranke zu eröffnen und daneben die Privatpraxis der Umgebung zu übernehmen.« (Jb 1902, S. 22). 13 | Vom 29. Juli bis 23. Oktober 1901 war Georg von Salis Volontär der Waldau. (Jb 1901, S. 22). 14 | Ernst Fankhauser kam aus Münsingen, wo er Assistenzarzt gewesen war, am 16. Juni 1902 als dritter Arzt in die Waldau. (Jb 1902, S. 22). 15 | Siglinde Stier, »[…] die sich sehr beliebt gemacht hatte«, trat am 12. April 1902 aus. (Jb 1902, S. 22). 16 | E. Perregaux aus Locle war nach Stier zwischen dem 1. April und dem 22. August 1902 als Assistent in der Waldau tätig. (Jb 1902, S. 8). 17 | Ladame wurde 1902 als Assistenzarzt gewählt (Jb 1902, S. 8), trat aber erst am 2. Januar 1903 ein.
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Schreiben am Rand 18 | H. Frösch war vom 2. bis 22. September 1902 als Hilfsassistent in der Waldau. (Jb 1902, S. 23). 19 | Frida Kaiser von Biberist in St. Gallen trat am 24. September 1903 als zweite Assistentin ein. (Jb 1903, S. 9). 20 | H. Ladame verließ die Anstalt am 18. September 1904, »[…] um sich im Ausland weiter auszubilden […].« (Jb 1904, S. 10; 26). 21 | Imboden war vom 25. April bis zum 4. Juni 1904 Volontärarzt. (Jb 1904, S. 26). 22 | Frida Kaiser trat am 28. Juni 1905 aus. (Jb 1905, S. 8). 23 | Carlo Bresci wurde am 15. September 1905 Assistenzarzt. (Jb 1905, S. 9). 24 | Ernst Pflüger war vom 3. April bis 23. September 1905 zweiter Assistent. (Jb 1905, S. 8; 27). 25 | Ch. Gurewitsch trat am 23. Oktober 1905 ein. Sie wird sowohl als Volontärin als auch als Assistenzärztin bezeichnet. (Jb 1905, S. 8). 26 | Marie Imchanitzky »aus Rußland« tritt am 28. April 1906 als Assistentin ein. (Jb 1906, S. 8). 27 | C. Bresci wurde zum 3. Arzt in Wyl befördert und verließ die Anstalt zum 19. November 1906. (Jb 1906, S. 8). 28 | L. Imfeld aus Sarnen trat erst zu Beginn des Jahres 1907 ein, wird aber im Bericht von 1906 bereits erwähnt. (Jb 1906, S. 8). 29 | Ch. Gurewitsch verlässt die Anstalt zum 19. April 1906. (Jb 1906, S. 8). 30 | Julius Ries aus Budapest war vom 7. August bis Mitte Oktober Volontärarzt. (Jb 1906, S. 8). 31 | Marie Imchanitzky demissionierte auf den 1. September 1907. (Jb 1907, S. 10). 32 | L. Imfeld trat Ende April 1907 aus. (Jb 1907, S. 10). 33 | E. Herm. Müller war vom 1. Juli bis 21. November 1907 in der Waldau. (Jb 1907, S. 10). 34 | Josef Lang trat am 1. Oktober 1907 ein. (Jb 1907, S. 10). 35 | B. Schwarzwald aus Lemberg trat am 29. Oktober 1907 ein. (Jb 1907, S. 10). Er blieb bis zum 1. Mai 1908. (Jb 1908, S. 12). 36 | R. Isenschmid aus Bern trat am 19. Dezember 1907 ein. (Jb 1907, S. 10). Er blieb bis zum 10. Juni 1908. (Jb 1908, S. 12). 37 | Im Jahresbericht 1907 findet sich die Bemerkung, der Volontär Walter Morgenthaler sei im April ausgetreten. (Jb 1907, S. 27). 38 | L. de Ruyter »aus Holland« trat am 13. Juni 1908 ein. Er wurde »[…] zunächst provisorisch nach dem Vorbilde von Münsingen als vierter Arzt gewählt […]« (Jb 1908, S. 12). 39 | Walter Morgenthaler, »[…] pract. Arzt von Ursenbach […]« trat am 5. August 1908 wieder in die Waldau ein, dieses Mal als Assistenzarzt. (JB 1908, S. 12). 40 | »Der Assistenzarzt, Dr. W. Morgenthaler, verlangte zu einer Studienreise einige Monate Urlaub; er stellte während seiner Abwesenheit einen Vertreter in der Person des Herrn Dr. Hirsch Nunberg aus Rußland; dieser trat am 16. September ein.« (Jb 1909, S. 29) 41 | »An 15. März trat Frl. Dr. Hildegard Ritter aus Rußland als Volontärarzt ein; sie war hier rasch sehr beliebt, verließ uns aber schon am 25. Juni wieder.« (Jb 1909, S. 29). 42 | »Den 27. September verließ uns unser Assistenzarzt, Dr. W. Morgenthaler, um eine bessere Stellung in Basel anzutreten; seine Besoldung war leider trotz meinem Antrag nicht auf das Maximum erhöht worden. Wir ließen den allgemein beliebten Assistenzarzt nur ungern fortziehen.« (Jb 1910, S. 29) 43 | Marie Ramberg trat am 2. Dezember 1910 ein. (Jb 1910, S. 29). 44 | »Den 18. Juli traten Frl. Marie Popow und den 20. Juli Frl. Auguste Jannosol, beide aus Rußland, als Volontäre ein. Beide waren bei den Kranken und Angestellten rasch beliebt. Frl.
Anhang Jannosol verließ uns den 1. November wieder, Frl. Popow erst den 2. Dezember, da sie nun Dr. Morgenthalers Stelle versah, der nur unter dieser Bedingung rechtzeitig in Basel antreten konnte.« (Jb 1910, S. 29). 45 | Marie Ries-Imchanitzky vertrat Robert Walker vom 1. Juli bis 30. September 1911. (Jb 1911, S. 28). Ab 1919 war sie wieder als Assistenzärztin angestellt. 46 | Numa Châtelain war am 17. Juli 1911 als Volontär eingetreten und vertrat ab dem 1. Dezember den vierten Arzt, de Ruyter. (Jb 1911, S. 28). 47 | Marie Ramberg verlässt die Waldau zum 13. August 1911. (Jb 1911, S. 28). 48 | Leonhard Schwartz trat am 15. September 1911 seine Stelle an. (Jb 1911, S. 28). Er verließ die Waldau am 27. April 1912. (Jb 1912, S. 23). 49 | Hanna Rubin trat am 7. August 1911 als Volontärin ein, vertrat dann aber die Assistentenstelle. (Jb 1911, S. 28). 1912 wechselt sie als Assistenzärztin nach Münsingen. 50 | Anastasia Tschikste war vom 8. Februar bis 10. Mai 1911 Volontärin. (Jb 1911, S. 28). 51 | Teilweise auch ›Roßlakowa‹ geschrieben. Ludmilla Rosslakowa »aus Stawroprol im Kaukasus« trat am 7. Mai 1912 als Volontärin ein und vertrat nach dem Abgang Numa Châtelains die Stelle des vierten Arztes, de Ruyter. (Jb 1912, S. 23). 52 | Gitel Mirkowitsch »aus Jekaterinoslaw« (heute ukrainisch Dnipropetrowsk) trat am 1. Juli 1912 in die Waldau ein. (Jb 1912, S. 23). 53 | Karl Grünberg trat am 1. Oktober 1912 als Volontär ein und wechselte zum 6. Dezember nach Königsfelden, wo er Assistenzarzt wurde. (Jb 1912, S. 23). 54 | Ella Raikin-Fleiß aus Riga trat am 17. Dezember 1912 ein. (Jb 1912, S. 23). Sie verließ die Waldau am 16. Juli 1913. (Jb 1913, S. 35). 55 | Caja Zuckerstein habe vorübergehend als externe Volontärin in der Anstalt gearbeitet, steht ihm Jahresbericht 1912. (Jb 1912, S. 23). 56 | »L. de Ruyter endlich verließ die Anstalt am 22. Dezember, wenn er auf sein Gesuch hin auch erst auf den 31. März 1913 entlassen wurde.« (Jb 1913, S. 35). 57 | »Herr Moissi Chasan aus Wilna [heute litauisch Vilnius] ersetzte sie [Raikin-Fleiß]. Herr Chasan vertrat auch den vierten Arzt, Dr. L. de Ruyter, während dessen längerer Abwesenheit.« (JB 1913, 35). 58 | Walter Morgenthaler wird nach seiner Zeit in Basel und Münsingen am 10. Mai 1913 fünfter Arzt der Waldau. (Jb 1913, S. 35). 59 | Hermann Rorschach trat seine Stelle als 5. Arzt der Waldau am 1. Juli 1914 an. Davor vertrat Chasan diese Stelle. (Jb 1914, S. 26). 60 | »Am 20. Juni ging der II. Assistenzarzt, Frl. L. Roßlakowa, in die Ferien und längeren Urlaub, um in Rußland ihre Examen zu bestehen; sie blieb infolge des Ausbruches des Weltkrieges in Rußland.« (JB 1914, 26). 61 | Moissi Chasan wird im JB 1915 mit ›cand. med.‹ betitelt. Er kehrte am 8. März 1915 nach Rußland (vermutlich Litauen) zurück. (Jb 1915, S. 26). 62 | Robert Walker starb am 11. Februar 1916. (Jb 1916, S. 24). 63 | Hermann Rorschach trat am 20. Oktober 1915 aus um in Herisau die Stelle des zweiten Arztes anzunehmen. (Jb 1915, S. 26). 64 | Frl. Dr. Gustava Prussak aus Lodz trat am 14. September 1915 als Volontärin ein, ab dem 20. Oktober 1915 vertrat sie den 5. Arzt. (Jb 1915, S. 9; 26). 65 | Fanny Bloch wird im Berner Staatskalender, nicht jedoch im Jahresbericht erwähnt. 66 | Alexander von Muralt verließ die Anstalt auf den 23. April 1917. (Jb 1917, S. 9). 67 | Frl. Dr. Gustava Prussak verließ die Anstalt auf den 1. März 1917. (Jb 1917, S. 9). 68 | Gitel Mirkowitsch war vom 16. Mai bis 17. August 1916 im Urlaub, sie wurde vertreten von Frl. Dr. Mira Lurje aus Dwinsk (heute Daugavpils, Lettland). (Jb 1916, S. 24).
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Schreiben am Rand 69 | Frau Dr. Kamilla Horwitz aus Wien trat am 25. November 1916 als Assistentin ein. 70 | Vom 5. September bis 2. November 1916 war Zalel Segalewitsch als Volontärarzt in der Waldau. (Jb 1916, S. 24). 71 | Hugo Rast trat am 17. November 1916 als Volontärarzt in die Waldau ein. (Jb 1916, S. 24) 72 | Fritz Walther trat am 21. März 1917 ein, davor war er praktischer Arzt in Schönewerd gewesen. (Jb 1917, S. 9). 73 | Percy Henry Tomarkin war vom 9. September bis 9. Dezember Volontärarzt in der Waldau. (Jb 1918, S. 24). 74 | Oscar Forel aus Morges trat am 15. März 1919 in die Waldau ein. (Jb 1919, S. 16). 75 | »Am 31. März traten Frau Dr. M. von Ries-Imchanitzky als Assistentin und ihr Mann, Dr. J. von Ries, als Volontär ein. Beide waren uns nicht unbekannt, indem sie schon vor Jahren in der Anstalt in ähnlichen Stellungen gearbeitet und seither ihre Beziehungen zu uns unterhalten hatten.« (Jb 1919, S. 16). 76 | Walter Morgenthaler verließ die Waldau zum 1. November 1920. (Jb 1920, S. 17). 77 | Walter Wolf wird schon aufgeführt, tritt aber erst am 5. Januar 1921 ein. (Jb 1921, S. 15). 78 | Guido de Palézieux trat am 11. Oktober 1920 in den Dienst des Volontärs. (Jb 1920, S. 17). 79 | Guido de Palézieux trat am 17. Februar 1921 aus. (Jb 1921, S. 15). 80 | Martha Schmidt war vom 2. April bis 8. Oktober 1921 Volontärin in der Waldau. (Jb 1921, S. 15). 81 | Oscar Forel trat am 25. August 1923 aus. (Jb 1923, S. 6). 82 | Walter Wolf trat am 16. Juni 1923 aus. (Jb 1923, S. 6). 83 | 1922 war Martha Schmidt vom 1. Februar bis 19. April Volontärin. (Jb 1922, S. 17). 84 | Jakob Mensch trat am 1. November 1922 als Volontär ein. (Jb 1922, S. 17). 85 | Alfred E. Glaus aus Basel trat am 15. Oktober 1923 ein. (Jb 1923, S. 17). 86 | Jakob Mensch trat auf den 1. Mai 1923 aus. (Jb 1923, S. 17). 87 | Alfred E. Glaus trat am 1. März 1925 aus, seine Frau, Lia Glaus-Waldberg, vertrat ihn, bis er am 8. Juni wieder eintrat. Da Frau Glaus-Waldberg nicht gemäß dem Antrag der Aufsichtskommission zumindest als Volontärin gewählt wurde, verließ auch Herr Glaus die Anstalt am 20. Dezember 1925 definitiv. (Jb 1925, S. 8; 20). 88 | Ries trat am 1. April aus, er hatte »[…] der Waldau schon in früheren Jahren, nun wieder seit 1. November 1920 in steter Hilfsbereitschaft gedient […]« (Jb 1925, S. 20). Der Austritt steht im Zusammenhang mit den Unannehmlichkeiten, die seine Frau in der Anstalt hinnehmen musste: »Da die beiden Assistentinnen der Waldau [Ries-Imchamnitzky und Mirkowitsch], dem Antrag der Kommission entgegen, nur provisorisch auf das übliche Jahr bestätigt wurden und ihnen damit auch die gebührende Alterszulage entgehen sollte, stellte die eine von ihnen ihren Rücktritt in Aussicht, und ihr Mann gab seine Volontärstelle tatsächlich auf. Die Anstalt kam in Verlegenheit […].« (Jb 1925, S. 8). 89 | Fritz Stiefel von Illnau trat seinen Dienst am 27. Februar 1926 an. (Jb 1926, S. 19). 90 | Jakob Burtolf verließ die Waldau am 6. Mai 1926 um Sekundarzt in der luzernischen Anstalt St. Urban zu werden. (Jb 1926, S. 19). 91 | Rosa Goldblatt aus Russland trat am 4. Januar 1927 ein. (Jb 1927, S. 16). 92 | Otto Hausherr aus Rottenschwil, Aargau, war vom 11. bis 23. April in der Waldau. (Jb 1927, S. 16). 93 | Fritz Stiefel wurde Sekundararzt in der solothurnischen Rosegg und verließ deshalb die Waldau am 30. Juli 1928. (Jb 1928, S. 20). 94 | Louis Boßhard trat am 1. September 1928 ein. (Jb 1928, S. 20).
Anhang 95 | Rosa Goldblatt wurde Assistentin in Wyl und verließ deswegen die Waldau am 13. Oktober 1928. (Jb 1928, S. 20). 96 | Berta Berger aus Zürich trat am 22. Oktober 1928 ein. (Jb 1928, S. 20). 97 | Camille Frankenstein aus Tramelan wirkte vom 1. Februar bis 24. März 1928 als Volontärarzt. (Jb 1928, S. 20). 98 | Hermann Leeb aus Linz war vom 10. August bis 11. Oktober 1928 Volontärarzt. (Jb 1928, S. 20). 99 | Neu wird der Titel ›Privat-Dozent‹ in der Übersichtsdarstellung aufgeführt. 100 | Neu wird der Titel ›Privat-Dozent‹ in der Übersichtsdarstellung aufgeführt. 101 | Louis Boßhard verließ die Anstalt am 28. November 1920 um als Sekundärarzt in der Anstalt St. Urban zu arbeiten. (Jb 1930, S. 20). 102 | Arnold Weber aus Zürich wird im Jahresbericht von 1930 als 4. Arzt aufgeführt, gemäß Jahresbericht von 1931 trat er seine Stelle aber erst am 1. Januar 1931 an. Dort wird als Vorname statt Arnold Heinrich aufgeführt. (Jb 1931, S. 18). 103 | Zum 29. März 1931 wurde Berta Berger an die neurologische Poliklinik in Zürich gewählt und verließ die Waldau. (Jb 1931, S. 18). 104 | Wilhelm von Speyr verließ die Waldau am 31. März 1933. (Jb 1933, S. 5). 105 | »[…] Dr. F. Walther, der im Jahre 1917 als vierter Arzt in die Waldau eingetreten war, 1920 zum dritten Arzt vorrückte und sich 1931 an unserer Universität für Psychiatrie habilitierte. Er verließ uns, um in unserer Stadt, Monbijoustraße 39, eine nervenärztliche Privatpraxis und in seinem elterlichen Hause in Kehrsatz eine private Nervenklinik zu eröffnen.« (Jb 1934, S. 17). 106 | Marie von Ries-Imchanitzky verlässt die Waldau 1933. Gründe dafür werden im Jahresbericht keine angegeben. (Jb 1933, S. 22). 107 | Die Assistenzärzte werden hier in der Reihenfolge ihrer Nennung im Jahresbericht (Jb 1933, S. 16) aufgelistet. Zu ihren Herkunftsorten: »Als Assistenzärzte II. Klasse sind im Berichtsjahr gewählt worden: Dr. med. Hedwig Plüß von Zofingen, Dr. med. et phil. Herbert Jancke, Privatdozent in Bern, Dr. med. André Favre von Cormoret und als Assistenzärzte IV. Klasse med. prakt. Juon von Albertini von Chur und Dr. med. Eugen David von Gossau (St. Gallen). Zum Assistenzarzt III. Klasse wurde befördert Dr. med. Yvonne Baumberger von Koppigen und zum Assistenzarzt II. Klasse med. prakt. J. von Albertini.« (Jb 1933, S. 23). 108 | Die Ärzte werden fortan nach ihrer Funktion als Oberarzt und nicht mehr nach numerischem Rang (2. oder 3. Arzt) aufgeführt. Ernst Fankhauser ist leitender Arzt der Heilanstalt. Im maschinengeschriebenen, unpublizierten Bericht von 1936 wird im Ärztlichen Teil (wie bis anhin üblich) darauf verwiesen, dass die Zusammenstellung vom Sekundärarzt sei – zumindest hier wird also diese sprachliche Form der Ärztehierarchie beibehalten. 109 | Arnold Weber ist leitender Arzt der Pflegeanstalt. 110 | Jakob Wyrsch tritt im August 1934 ein und wird leitender Arzt der Poliklinik. 111 | Die Assistenten werden unter Jakob Klaesi in den Berichten nicht mehr in I. und II., sondern Assistenten und Unterassistenten eingeteilt. Der besseren Übersichtlichkeit wegen ist hier Mirkowitsch in ihrem angestammten Tabellenfeld belassen worden. 112 | Grünthal trat 1934 ein: »Eingetreten sind die Herren Dr. E. Grünthal und Dr. F. Humbert. Als Unterassistenzärzte haben gewirkt die Herren cand. Med. Dr. Siff und cand. med. Werren.« (Jb 1934, S. 19) Mit Hilfe der Rockefeller-Stiftung konnte er in einem Gartenpavillon der Anstalt ein Hirnanatomisches Institut einrichten. 113 | Unterassistent. 114 | Unterassistent. 115 | Jahresbericht maschinengeschrieben, unveröffentlicht.
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Schreiben am Rand 116 | Jahresbericht maschinengeschrieben, unveröffentlicht. 117 | Ernst Fankhauser bleibt bis zu seiner Pensionierung 1938 respektive bis ein Nachfolger gefunden worden war in der Waldau. Klaesi schreibt im unpublizierten Jahresbericht über ihn: »Wieder ist das Berichtsjahr eines, in welchem ein vieljähriger, treuer, verdienstvoller Beamter unserer Anstalt den Staatsdienst verlassen hat, nämlich Herr Privatdozent Dr. Ernst Fankhauser, der am 15. Juli 1902 bis zum Tag seiner wegen Erreichung der Altersgrenze nachgesuchten Pensionierung (1. November 1938) als Sekundärarzt und stellvertretender Direktor gewirkt hat. Ich kann es mir ersparen, hier seine ärztlichen Begabungen und Verdienste zu feiern, denn sie waren Antrieb und Erfolg seines Tagewerks und machten die Eigenart und Bedeutung seiner Persönlichkeit nicht aus; nur seiner wissenschaftlichen Arbeiten und Veröffentlichungen, von denen die beiden über »Wesen und Bedeutung der Affektivität« und »Die Affektivität als Faktor des seelischen Geschehens« als Monographien erschienen sind, sei Erwähnung getan, nicht nur weil sie durch die Geradlinigkeit, Unbeirrbarkeit und Nüchternheit in Methodik und Darstellung charakteristische Wesenszüge des Verfassers widerspiegeln, sondern auch weil sie der aus tiefgründiger Zusammenfassung von Erfahrung und Intuition stammenden Problemstellungen und Hypothesen so viele enthalten, dass sie auch jetzt noch nach 10 und 20 Jahren an Anreiz zur Nachprüfung und Fortentwicklung nichts eingebüsst haben. Kein Wunder, dass der durch und durch wissenschaftlich eingestellte und handelnde Sucher und Arbeiter gegenüber allen Neuerungen seines Forschungsgebiets und Wirkungskreises dauernd so aufgeschlossen und gefolgschaftsbereit blieb, dass ihn, angehenden Siebziger, von seinen jugendlichen Mitarbeitern, wäre nicht die Verehrung gewesen, welche diese ihm entgegenbrachten, eigentlich kaum etwas unterschied. Am grössten und bezwingendsten zeigte sich aber seine Persönlichkeit von der Seite des Beamten und Staatsbürgers. Sie gemahnte an ihrer ausgesprochenen Bernhaftigkeit an berühmte Vorbilder, so man ermass, wie er den Vorteil des Staates und die Ehre, diesem dienen zu dürfen, über alles stellte und eigene Wohlfahrt und Bequemlichkeit geringachtete. Die tiefe Dankbarkeit, welche wir ihm darbringen, gipfelt in dem Wunsche, Bern und Waldau möchten ihm auch weiterhin so sehr am Herzen liegen, dass sie für ihn als Jungbrunnen wirken und uns seine teilnehmende Freundschaft dauernd erhalten.« (Jb 1938, S. 9). Der Bericht von 1939 fügt an, dass Fankhauser eigentlich 1938 pensioniert worden war, »[…] aber dann doch noch uneigennützigst und treu auf seinem Posten ausharrte, bis ein Nachfolger [Dr. med. Ernst Blum] gefunden war.« (Jb 1939, S. 9). 118 | Gita Mirkowitsch bleibt bis zu ihrer Pensionierung 1937 in der Waldau. Klaesi zählt im unpublizierten Bericht des Jahres alle Abgänge auf »[…] endlich Frl. med. prakt., die pensioniert wurde. Ihnen allen, besonders aber Frl. Dr. Mirkowitsch, welche während 25 Jahren in unserer Anstalt tätig war und ihre mannigfachen Obliegenheiten mit restloser Hingabe und Treue ausführte, danken wir auch an dieser Stelle für ihre vorbildliche Pflichterfüllung bestens.« (Jb 1937, S. 10). 119 | Frédéric Humbert wurde 1936 zum Direktor von Bellelay gewählt. (Jb 1936, S. 10). 120 | Georgi war wissenschaftlicher Assistenzarzt und Leiter des serologischen Laboratoriums in Yverdon.
Dank
Diese Studie wurde 2012 an der ETH Zürich als Dissertation angenommen und für den Druck überarbeitet. Beim Erstbetreuer der Arbeit, Michael Gamper, möchte ich mich für die Begleitung und Unterstützung der Arbeit und die generelle Einführung in den Wissenschaftsbetrieb, die von Tagungsorganisation über Herausgeberschaft bis zu theoretischer Radrennkunde und praktisch-Kulinarischem reichte, bedanken. Meinem Zweitgutachter, Karl Wagner, danke ich für das stetige und wohlwollende Interesse an der Entwicklung der Arbeit, auf das ich immer zählen konnte, Andreas Kilcher für die Ermöglichung eines verhältnismäßig ruhigen Abschlusses der Arbeit an der ETH, Hubert Steinke für das Interesse an der Arbeit und Roland Borgards für eine Perspektive für die Zeit nach der Dissertation. Diesem Buch sind einige Archivbesuche voran- und mit ihm einhergegangen, ich danke in diesem Zusammenhang Jakob Tanner für die Vorbesprechung von spezifischen Problemen im Umgang mit psychiatrischen Akten, Andreas Altorfer vom Psychiatrie-Museum Bern für die Bereitstellung von Akten und Abbildungen aus der Waldau, Heinz Feldmann für die kenntnisreiche Führung durch das unterirdische Waldauer Labyrinth, Rolf Röthlisberger für den anregenden Austausch zum Pascha-Text und Barbara Kühne von der Fachbibliothek UPD der Waldau für das Interesse an der Arbeit und die Bereitstellung von Dokumenten. Christa Baumberger vom Schweizerischen Literaturarchiv sei für den Zugang zu Texten Friedrich Glausers gedankt, Daniel Baumann und Monika Schäfer für das unkomplizierte Arbeiten im Adolf Wölfli-Archiv, Monika Schäfer speziell auch für das mehrmalige Fotografieren und zur Verfügung Stellen von Manuskriptseiten; Margit Gigerl vom ehemaligen Robert Walser-Archiv in Zürich und Lucas Marco Gisi vom Robert Walser-Zentrum in Bern danke ich für weitreichende Unterstützung und Informationen zu Robert Walser, Rita Signer vom Rorschach-Archiv Bern für die freundliche Bereitstellung von Materialien sowie der Hilfe bei der Transkription von Rorschach-Texten und den Mitarbeitern des Staatsarchivs des Kantons Bern für den Zugang zu Akten. Unverzichtbar war mir der Austausch mit Katrin Luchsinger, der ich für viele Informationen zum (psychiatriehistorischen) Umgang mit Menschen und Akten zu großem Dank verpflichtet bin. Daneben danke ich für ihre fachliche Unterstützung und den kollegialen Austausch Hubert Thüring, Anna Lehninger und Sophie Ledebur, für die Lektüre und Kritik von Teilen der Arbeit Susanne Reichlin, Michael Bies und Mirjam Bugmann sowie Mariana Prusák und Christine Weder für eine äußerst angenehme Bürogesellschaft. Jens Christian Deeg hat das Korrektorat
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Schreiben am Rand
der Arbeit übernommen und Carolin Bierschenk vom transcript-Verlag den Band betreut, auch dafür möchte ich mich hier bedanken. Zudem sei Pamam, Großvati, Nonna und Neni für sehr viel tolles Enkel-Programm während der Dissertationszeit sowie meinen Brüdern Jonas, Raphael und Dominik für Ablenkung, Reiseberichte aus aller Welt und Neffen- und NichtenUnterhaltung gedankt. Bei meinen Eltern möchte ich mich für die unentwegte Unterstützung sowie für ihr Interesse an meiner Arbeit ganz herzlich danken. Schließlich geht ein großes Dankeschön von Herzen an Philippe Wampfler und Jan, Luis und Hannah, ohne die gar nichts ginge. Das Schicksal einiger Internierter um 1900 hat mich immer wieder erschüttert und beschäftigt. Ihrem Andenken ist diese Arbeit gewidmet.
Zürich, im Sommer 2014 Martina Wernli
Lettre Thomas Assheuer Tragik der Freiheit Von Remscheid nach Ithaka. Radikalisierte Sprachkritik bei Botho Strauß Juli 2014, 274 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2759-6
Susanne Hochreiter, Ursula Klingenböck (Hg.) Bild ist Text ist Bild Narration und Ästhetik in der Graphic Novel November 2014, 284 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2636-0
Rudolf Käser, Beate Schappach (Hg.) Krank geschrieben Gesundheit und Krankheit im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin Oktober 2014, 430 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-1760-3
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Lettre Gregor Schuhen (Hg.) Der verfasste Mann Männlichkeiten in der Literatur und Kultur um 1900 Juni 2014, 324 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2793-0
Heinz Sieburg (Hg.) ›Geschlecht‹ in Literatur und Geschichte Bilder – Identitäten – Konstruktionen Dezember 2014, ca. 280 Seiten, kart., ca. 33,99 €, ISBN 978-3-8376-2502-8
Hans Stauffacher, Marie-Christin Wilm (Hg.) Wahnsinn und Methode Zur Funktion von Geniefiguren in Literatur und Philosophie Juni 2015, ca. 320 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2339-0
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Lettre Angela Bandeili Ästhetische Erfahrung in der Literatur der 1970er Jahre Zur Poetologie des Raumes bei Rolf Dieter Brinkmann, Alexander Kluge und Peter Handke November 2014, 376 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2823-4
Paul Fleming, Uwe Schütte (Hg.) Die Gegenwart erzählen Ulrich Peltzer und die Ästhetik des Politischen November 2014, 240 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2489-2
Leonhard Fuest Poetopharmaka Heilmittel und Gifte der Literatur Februar 2015, ca. 150 Seiten, kart., ca. 27,99 €, ISBN 978-3-8376-2830-2
Christoph Grube Warum werden Autoren vergessen? Mechanismen literarischer Kanonisierung am Beispiel von Paul Heyse und Wilhelm Raabe Oktober 2014, 280 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2852-4
Carola Gruber Ereignisse in aller Kürze Narratologische Untersuchungen zur Ereignishaftigkeit in Kürzestprosa von Thomas Bernhard, Ror Wolf und Helmut Heißenbüttel Juli 2014, 340 Seiten, kart., 35,99 €, ISBN 978-3-8376-2433-5
Teresa Hiergeist Erlesene Erlebnisse Formen der Partizipation an narrativen Texten
Zoltán Kulcsár-Szabó, Csongor Lörincz (Hg.) Signaturen des Geschehens Ereignisse zwischen Öffentlichkeit und Latenz Juni 2014, 508 Seiten, kart., 49,99 €, ISBN 978-3-8376-2606-3
Claudia Liebrand, Rainer J. Kaus (Hg.) Interpretieren nach den »turns« Literaturtheoretische Revisionen August 2014, 246 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2514-1
Caroline Roeder (Hg.) Topographien der Kindheit Literarische, mediale und interdisziplinäre Perspektiven auf Orts- und Raumkonstruktionen August 2014, 402 Seiten, kart., zahlr. Abb., 44,99 €, ISBN 978-3-8376-2564-6
Armin Schäfer, Karin Kröger (Hg.) Null, Nichts und Negation Becketts No-Thing April 2015, ca. 290 Seiten, kart., ca. 35,99 €, ISBN 978-3-8376-2704-6
Sarina Schnatwinkel Das Nichts und der Schmerz Erzählen bei Bret Easton Ellis August 2014, 376 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2791-6
Natascha Ueckmann Ästhetik des Chaos in der Karibik »Créolisation« und »Neobarroco« in franko- und hispanophonen Literaturen September 2014, 584 Seiten, kart., 49,99 €, ISBN 978-3-8376-2508-0
Juli 2014, 422 Seiten, kart., 43,99 €, ISBN 978-3-8376-2820-3
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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Gudrun Rath(Hg.)
Zombies Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2014
Mai 2014, 120 Seiten, kart., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-2689-6 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Wenn die Toten zum Leben erwachen: Die Figur des Zombie ist nach wie vor populär. Aber was genau ist ein Zombie und woher rührt seine Faszinationskraft? Das aktuelle Heft der ZfK geht dem auf den Grund. Lust auf mehr? Die ZfK erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 15 Ausgaben vor. Die ZfK kann auch im Jahresabonnement für den Preis von 25,00 € (international 30,00 €) bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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Zeitschrif t für interkulturelle Germanistik Dieter Heimböckel, Ernest W.B. Hess-Lüttich, Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.)
Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 4. Jahrgang, 2013, Heft 2
Dezember 2013, ca. 200 S., kart., 12,80 €, ISBN 978-3-8376-2375-8 Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik (ZiG) trägt dem Umstand Rechnung, dass sich in der nationalen und internationalen Germanistik Interkulturalität als eine leitende und innovative Forschungskategorie etabliert hat. Sie greift aktuelle Fragestellungen im Bereich der germanistischen Literatur-, Kultur- und Sprachwissenschaft auf und versammelt aktuelle Beiträge, die das zentrale Konzept der Interkulturalität weiterdenken. Die Zeitschrift versteht sich bewusst als ein interdisziplinär und komparatistisch offenes Organ, das sich im internationalen Wissenschaftskontext verortet sieht.
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