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German Pages 476 Year 2015
Susanne Foellmer Am Rand der Körper
T a n z S c r i p t e | hrsg. von Gabriele Brandstetter und Gabriele Klein | Band 18
2009-06-15 11-44-14 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02ef212959648822|(S.
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Susanne Foellmer (Dr. phil.) studierte Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen, promovierte an der Freien Universität Berlin und ist derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin am dortigen Institut für Theaterwissenschaft. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Tanz der 1920er Jahre sowie im Zeitgenössischen, mit Fokus auf Theoremen von Körper und Ästhetik sowie Tanz und die anderen Künste, insbesondere Film, Performance, Body und Visual Art.
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) T00_02 seite 2 - 1089.p 212959648854
Susanne Foellmer
Am Rand der Körper Inventuren des Unabgeschlossenen im zeitgenössischen Tanz
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) T00_03 titel - 1089.p 212959648878
D 188 Die Publikation wurde im Rahmen von Tanzplan Deutschland gefördert. Tanzplan Deutschland ist eine Initiative der Kulturstiftung des Bundes.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung (von links nach rechts): Xavier Le Roy, Self unfinished (1998), Photo: Armin Linke; Saskia Hölbling, other feature (2002), Photo: Nikolaus Hölbling, © DANS.KIAS; John Coplans, Back with Arms Above (1984), © The John Coplans Trust; Wagner Schwartz, wagner ribot pina miranda xavier le schwartz transobjeto, Photo: Gil Grossi Lektorat: Susanne Foellmer, Kirsten Maar Korrektorat & Satz: Christina Schmitt Bildbearbeitung: Andrea Simonis Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1089-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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Inhalt
Einleitung Xavier Le Roy als Label? Sedimente des Oszillierenden im Tanz seit den 1990er Jahren
11
Teil I Theoretische Entwürfe zur Entwicklung von Charakteristika des Unabgeschlossenen im zeitgenössischen Tanz
Kapitel 1 Körper in Zwischen-Räumen
31
1 Visite. Flächen im zeitgenössischen Tanz
31
Erste methodische Annahme
32
2 Körpermaterialien. Widerstand und Entzug oder: What a Body You Have, Honey? 34 2.1
Im Reich der Anti-Materie? Tanz zwischen Präsenz und Abwesenheit
35
3 »Quel corps«: Körper, Leib oder Fleisch?
40
3.1 Das dualistische Dilemma I: ›Natur‹ und Präsenz versus ›Kultur‹ und Absenz 3.2 Das dualistische Dilemma II: Zwischen Materialitäten und Bedeutungen 3.2.1 Im Orbit der Dinge oder: Die Unmöglichkeit des Ding-an-sich Einschub: Merleau-Ponty, Foucault und das Subjekt 3.2.2 Wie kommt der Körper in die Welt? Einschub: Körper-Spüren ohne Hilfe von außen? 3.2.3 Differenzen im Theater: Umraum – Ding – Figur 3.2.4 Ablagerungen – Zwischenszenario – Zweite methodische Annahme
41 45 45 47 51 52 54 58 60 62
4 Grotesk! Erschütterungen in der Kunst oder: Re-Visionen des Grotesken
62
4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.6.1 4.6.2 4.6.3 4.6.4 4.7
Groteskes im Tanz? 64 Menschen, die sich in Höhlen verrenken. Ästhetische Modi des Grotesken 66 Der Körper ist eine Baustelle 69 Kontingente Grenzen. Bachtin trifft Merleau-Ponty 74 Wuchernde Intensitäten oder: Ist der organlose Körper ein Ideal? 76 Groteske Schwankungen. Aspekte fluktuierender Differenzierungen 80 Marginalien oder: Am Rand der Ordnungen 80 Bewegung als Movens des Grotesken 81 Das Groteske als »Stachel des Fremden« 84 Operationen an der Grenze: Rahmen im Übergang 88 Rahmenhandlungen – Randerscheinungen: Goffman und Derrida im Diskurs 92 Dritte methodische Annahme 97 4.8 Ausnahme-Situationen: Temporäre Grotesken 98 4.9 Taxonomien des Unabgeschlossenen 100 4.9.1 Paradoxien grotesker Ordnungen 100 4.9.2 Monster und Monströses. Kippfiguren zwischen Deformation und Ordnung 103 Vierte methodische Annahme 105 4.10 Das Groteske als ästhetische Strategie der Avantgarden: Valeska Gerts ausufernde Tänze 107 5 Methoden des Inventarisierens: Bilder-Fragen
116
5.1 5.2 5.3 5.3.1 5.3.2 5.4 5.5
117 120 122 122 123 125 127 127 128 129 130
Verlangsamungen ins Bild Bilder produzieren Situationsbild 1: Körperbilder Zerstückelter Körper, fluides Bild Pathosformeln: Wandernde Pattern Situationsbild II: Bewegungsbilder Situationsbilder als groteske Zeitlichkeit zwischen Stille und Bewegung – Zwischenszenario – 5.5.1 Nachlebende Bilder 5.5.2 Passagen: Groteske Dialektik 5.6 Einige Anmerkungen zu tanzwissenschaftlichen Methoden und Begriffen
Teil II Inventuren des Unabgeschlossenen
Kapitel 2 »Fleisch wucherte rum«. Von Torsi und Gliederwirren
137
1 Morphing the Body: Self unfinished
138
1.1
Das Stück Grotesk-teratologischer Einschub 1.2 Die Sichtweisen Einschub: Ektoderm Einschub: Bilder-Wanderungen 1.3 Androgyne Evolutionen 1.4 Den Körper bilden. Körperskulpturen im Museum 1.5 Torsi in der bildenden Kunst 1.5.1 Winckelmann und die Romantik des Unfertigen 1.5.2 Rückenansichten
138 142 148 151 154 158 160 165 165 170
2 Karnevalisierungen des Unabgeschlossenen
176
2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.2 2.3
176 180 183 185 189 193
Das Metamorphe degradieren: Wagner Schwartz Karnevaleske Torsionen Tanz fressen Tropische Exotismen, komposite Identitäten Saša Asentić: Ikonisierungen des Fluiden Vexierspiele. Mette Ingvartsens Manual Focus
3 Den Körper bearbeiten
196
3.1 3.2
199 203
Rahmungen I: Lijfstof – Grenzrelationen zu Raum und Objekt Rahmungen II: Körper (be)greift Körper-Raum-Sprache
4 Corps de deux. Diploidchimären und andere Doppelwesen
206
4.1 4.2 4.3 4.4 4.5
208 214 219 222 225
Zentaurische Fusionen. Am Rand: die Körper Körper-Knoten im Ballett Emio Greco Extra Dry: Den Körper klonen Bewegung spiegeln: Rubatos Permanent Dialogues Exaltierte Körper: Jeremy Wade
Kapitel 3 Öffnungen
231
1 Mundhöhlenereignisse. Mund-Stücke im Tanz und in den Visual Arts
232
1.1 1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.1.4 1.1.5 1.2 1.2.1 1.2.2
1.2.3
Mündliche Ausdrücke. Markierungen zwischen Expression und Verneinung Den Expressionismus unterwandern. Valeska Gerts Tod – Zwischenszenario – Mette Ingvartsen: Orale Transformationen Affektierte Körper, groteske Intensitäten Schrei: Francis Bacons Papstportraits Bruce Nauman: Pulling the Mouth Am Rand der Sprache. Stimmen zwischen materiellen Ereignissen und Bedeutsamkeit Sprache als dekonstruiertes Rohmaterial William Forsythe: Laute am Rande des Sinnzusammenbruchs Einschub: Über die Rauheit der Stimme Einschub: Vito Acconcis Open Book Einschub: Medien. Oszillationen zwischen Transport und Undarstellbarkeit Resonatoren. Passagen durch Körper und/als Medium – Zwischenszenario –
235 236 239 240 242 247 252 254 254 258 263 265 268 269 271
2 De-Monstrare. Operationen auf der Bühne
272
2.1 Thomas Lehmen: Tanzkunst als Funktion 2.2 Die Rahmen der Operation 2.2.1 Ouvertüren. Überdeutliches Zeigen oder: Das Spektakel des sezierten Körpers 2.2.2 Der Tanzkörper als De-Monstrationsobjekt Einschub: Durchlässigkeit und Verletzung 2.2.3 Fleischige Oberflächen, schmerzende (Ko-)Präsenzen oder: Operationen am medialen Fragment. Orlan und Thomas Lehmen im Vergleich Eingeschobene Zwischenthese: Dünnhäutige Membrane. Abjekte Bewegungen zwischen Innen und Außen 2.2.4 Zeitgenössische Fragmente 2.3 Grotesk ist, wenn man zu viel sieht 2.3.1 The Better You Look The More You See 2.3.2 Hände hoch! 2.3.3 Den Blick aushöhlen Exkurs: You Made Me a Monster. Vom demonstrierenden zum wuchernden Körper 2.4 Groteske Bühnen: Oszillationen zwischen Szene und ›Realem‹ 2.5 Monströse Flächen: Franko B
274 276 278 283 285 288 289 296 297 300 304 305 309 313 314
Kapitel 4 Bewegungsbilder
325
1 Pendeln. Fragliche Grenzen zwischen Körper und Raum
329
1.1 1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.1.4 1.2 1.2.1
330 330 335 342 344 348 348
Shaking Heads. Übergänge von Bild und Bewegung Francis Bacon: Groteske Bewegungen im Rahmen Meg Stuart, Benoît Lachambre und die Ver-Haltungen des Kopfes Blurring the Screen: Bruce Naumans Raw Material–BRRR, again Fluchtspuren: Rebecca Horns Bleistiftmaske Einverleibungen Körper verschlingt Raum: appetite
2 Torsionen. Bewegungspattern des Grotesken
355
2.1
357 364 367
2.1.1 2.2 2.3 2.3.1 2.3.2 2.4 2.4.1 2.4.2 2.4.3
»Twinkling Feet«. Groteskes im 17. und 18. Jahrhundert Burlesker Einschub Callots springende Zeichnungen Amphibisches in der Kunst oder: Tanzende Frösche – Self unfinished revisited Körper: desintegriert Bewegungsbilder des Grotesken: Meg Stuarts Disfigure Study Fragmentieren: Xavier Le Roys Dekonstruktionen William Forsythe – Körper: dezentralisiert Entgrenzte Zentren: Decreation Dis-Balancen Einschub: Explodieren – Valeska Gert Implodieren: Forsythes Solo
371 377 379 388 396 401 403 404 405
Schlussbetrachtungen Für eine Perspektive des Grotesken im zeitgenössischen Tanz
409
Dank
415
Anhang Verzeichnis der Produktionen Kurzbiographien der besprochenen Künstler/innen Literatur- und Quellenverzeichnis Abbildungsnachweis
417 417 420 434 472
Einleitung Xa vie r Le Ro y als La bel? Sedime nte des Osz illiere nde n im Ta nz se it de n 1990 er Jahre n
Tanz im August 2005, ein Abend im Berliner Theater HAU 2, das Stück heißt Ohne Titel. Ebenso namenlos und unbekannt sind Autor/innen und Protagonist/innen, es gibt keine inhaltlichen Vorabinformationen, der Programmzettel ist leer, vier weiße Blätter Papier, nur mit dem Logo des Festivals, der Sponsoren und den Spieldaten versehen. Beim Eintritt in den Bühnensaal bekommt das Publikum am Eingang kleine Taschenlampen gereicht. Sie sind so notwendig wie nutzlos, da während der gesamten Dauer des Stücks die Bühne in neblige, fast gänzliche Dunkelheit getaucht ist. So gut wie nichts ist zu sehen, und auch die kleinen Lampen helfen nicht viel, reicht ihr Strahl doch kaum bis zur Bühne hinüber. Irrlichternd bewegen sich schwammige Lichtkegel im Publikumsraum, während auf der Bühne grauvermummte, lemurenhafte Gestalten liegen. Sie wirken wie in dickes Sackleinen verpackt, Körperkonturen sind fast nicht auszumachen. Während der nächsten Stunde bewegen sie sich kaum bis gar nicht, ab und zu verschiebt sich eines der Gebilde am hinteren Bühnenrand oder rutscht etwas zur Seite. Unterbrochen wird dieses Szenario von Drum-and-Base-Musik und sehr kurzer, zweimaliger gleißender Helle, blendend weißes Licht, das sogleich wieder dem Obskuren weicht. In diesen kurzen lichten Momenten fällt auf, dass zwei der Figuren an der Decke mit Schnüren aufgehängt sind. Am Schluss blendet die Bühne wieder auf, und nun bewegen sich die Gestalten etwas stärker, besonders jene, die von der Decke hängen. Und man bemerkt, dass wir, die Zuschauenden, die gesamte Zeit einer optischen Täuschung aufgesessen waren, da Menschen und gleich gekleidete, fast gleich schwere Puppen – das waren die vermeintlich von oben baumelnden Figuren – kaum voneinander zu unterscheiden sind. Während die Puppen allerdings – als solche durch übermäßige Beweglichkeit und extreme Schlaffheit in den Gliedern erkennbar – wild und unkoordi-
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niert ›tanzen‹ und mit den Extremitäten schlenkern, verharren die menschlichen Pakete still am Boden. Wer sind die Ausführenden dieses Stücks? Weshalb nennen sie weder Namen noch Titel oder geben Auskunft über ihre Absichten? Bis zum Schluss (und auch Monate später noch) wird nicht verraten, wer sich hinter dieser Produktion verbirgt. Einer der Darstellenden enthüllt am Schluss sein Gesicht und moderiert die nachfolgende Publikumsdiskussion. Niemand aus der einschlägigen Berliner Szene scheint ihn zu kennen. Auch beim üblichen Premierenumtrunk im Anschluss halten sich die übrigen Beteiligten verborgen, holen sich nicht den verdienten Applaus, anerkennende oder kritische Worte ab, nehmen nicht die Gelegenheit wahr, die bei diesem Festival gewöhnlich anwesenden Veranstalter/innen und Produzent/innen zu treffen und ihr Stück gleich weiter zu verkaufen. Zeitgenössischer Tanz hat in den letzten zwei Jahrzehnten forciert Strategien entwickelt, vom Modus des Repräsentierens, des klischierten Körperbildes vom virtuos Tanzenden, von Tänzer/innen als bloßem Bewegungsinstrument Abstand zu nehmen. Betonte das Tanztheater besonders in den 1970er Jahren den Körper in seiner gesellschaftlichen Verfasstheit, als agierendes soziales Subjekt, was sich auch in den Narrationen auf der Bühne niederschlug, so wird seit Beginn der 1990er Jahre vermehrt der Körper selbst in seiner Materialität befragt, wie etwa in Xavier Le Roys mittlerweile schon fast ikonisch ins Gedächtnis des Tanzes eingeschriebenem Solo Self unfinished (1998). Dabei werden subjektorientierte Konzepte häufig abgelehnt, die eine/n Choreograph/in als Urheber/in favorisieren – ein Unternehmen, das in Ohne Titel seinen Gipfel fand, im Rätsel um die Autorschaft und in Anlehnung an Konzeptionen aus der bildenden Kunst, die sich gegen interpretierende Vorerwartungen stellen. Freilich waren hier im Vorfeld Neugier und Erwartung groß, was von einigen Protagonist/innen der Berliner Tanzszene in etwa so artikuliert wurde: »Ich bin ja mal gespannt auf das neue Stück von Xavier Le Roy.« »Wieso, ich denke, die Autor/innen sind unbekannt?« »Ist doch klar, von wem soll es denn sonst sein?« Was also erwartet man bei Xavier Le Roy? Offenbar etwas wie immer geartetes Experimentelles, zumindest ein Stück, auf das für entsprechende Kategoriebedürfnisse eine Wertmarke mit dem Titel »Konzepttanz« geklebt werden kann, einschließlich des dazugehörigen Lamentos, dass hier nicht mehr getanzt werde – was auch immer Tanzen bedeutet (vgl. Foellmer/T’Jonck/Wesemann 2005a: 24). Angenommen, es handelte sich bei dem Initiator des Projekts um Xavier Le Roy, so wäre aus dieser Perspektive das Stück freilich sehr konsequent: Le Roy hat schon lange zu Recht die Dynamik eines Kunstmarktes beklagt, der mit Künstlernamen wie Produktlabels um sich wirft, nach dem Motto: Wo Xavier draufsteht, ist auch Le Roy drin.1 Was liegt also näher, als sich diesen Bedingun1
So gab es im Umfeld des fortlaufenden Projektes E.X.T.E.N.S.I.O.N.S. (1999-2001) Diskussionen mit dem Veranstalter (TanzWerkstatt Berlin), bei dem eine Vorstel-
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gen zu verweigern und unter Aussparung aller Informationen das Publikum einfach nur dem Stück selbst auszusetzen. Die Crux an der Sache ist aber, dass genau solche Aktionen von Xavier Le Roy erwartet werden, spielte er doch beispielsweise gemeinsam mit Jérôme Bel explizit mit der Idee von Name und Autorschaft als Label in der von Bel in Auftrag gegebenen Produktion Xavier Le Roy (2000), die wiederum Le Roy choreographierte, aber nicht selbst auf der Bühne ausführte (vgl. Ploebst 2000: 38). Denn: »Das Publikum will einen Garanten, der Prozess ist ihm egal«, wie Arnd Wesemann konstatiert (Wesemann 2000a: 32). Und dennoch: Wie kann es sein, dass ein Stück wie das eingangs beschriebene, das sich fast vollständig der Repräsentation, ja, gar der Präsentation verweigert und nur noch eine Art Gerippe als Bühnenrahmen übrig lässt, das unnachgiebig über alle Beteiligten schweigt, im laufenden Diskurs sofort mit dem Label eines Autors belegt wird? Wie können Fixierungen in einer Kunst entstehen, die seit den 1990er Jahren nachdrücklich Mechanismen von Repräsentation unterwandert und den Körper selbst als fragmentiertes, oszillierendes, mutierendes oder mit fragwürdigen Referenzen versehenes Material vorschlägt? Eine Tanzkunst, die sich abgeschlossenen Körpervorstellungen verweigert und im Gegenteil den sich bewegenden Körper immer wieder an seine Grenzen und über diese hinaus treibt. Künstler wie Le Roy und Bel sind, wie oben gezeigt, offenbar gerade dadurch erkennbar, dass sie sich der Festlegung auf eine bestimmte Richtung entziehen. So analysiert die Tanztheoretikerin Myriam van Imschoot, dass Xavier Le Roy zwar ironisch mit dem Modus des Branding in der kapitalistischen Gesellschaft spiele, die Verortung über Labels jedoch auch nachhaltig befördere (van Imschoot/Le Roy 2004: 64), und Le Roy bestätigt mit Bezug auf Guy Debord: »I agree that it affirms, or at least, plays with the power of the brand/the name governing the ›society of spectacle‹. It also reveals that we might not be able to escape this.« (Ebd.: 65) Da sich also auch zeitgenössischer Tanz nicht der Gesellschaft des Spektakels und ihrer Diskurse entziehen kann und sogar bereits einen »›contemporary‹ taste« erzeugt habe, fragt die Theoretikerin Bojana Kunst danach, auf welche Weise dennoch Modelle des Widerstandes entwickelt werden könnten (Kunst 2003: 67). Die Choreographin Anne Teresa de Keersmaeker bemerkt in diesem Zusammenhang allerdings etwas desillusioniert: »[W]ie kann Kunst heute noch zu einem politischen Gegendenken anregen, wenn das Denken gegen den Strom längst zum Markenzeichen des [20.] Jahrhunderts geworden ist?« (de Keersmaeker zitiert nach Wittmann 2001: 7) Es ist dabei indessen nicht lung im Dezember 2000 stattfinden sollte, da dieser die Produktion unter Le Roys Namen ankündigen wollte. Der Choreograph wehrte sich dagegen, da E.X.T.E.N.S.I.O.N.S. explizit auf dem Prinzip des Prozesses und der kollektiven Arbeit basierte und sich gerade gegen die übliche Idee einer choreographischen Handschrift aussprach. Ich war seinerzeit Assistentin der künstlerischen Leitung der TanzWerkstatt und konnte die Debatte daher mitverfolgen.
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unwichtig zu erwähnen, dass Vergleichbarkeiten und Brandings in der Regel innerhalb eines tanzgewohnten Rezeptionsfeldes auftreten, eines Publikums, das mit aktuellen Tendenzen im zeitgenössischen Tanz vertraut ist und regelmäßig dessen Vorstellungen besucht. Um welche experimentellen Praktiken aber geht es, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts offenbar schon im nahezu ›stilbildenden‹ künstlerischen Mainstream verortet worden sind? Drei Stücke sind für diese Strategien exemplarisch und stellen wichtige Wegmarken der hier kurz skizzierten Ästhetik dar. Eine Tänzerin steht vorne an der Bühne, vom Publikum abgewandt. Langsam zieht sie einen Arm über den Rücken, versucht, in der Torsion nach hinten, mit ebenfalls verdrehter Hand, ihre Taille zu umgreifen. Der Handrücken wandert auf und ab, ertastet die Wirbelsäule, die sich wegdreht und den Torso immer wieder aus der Achse kippen lässt. 1991 gibt Meg Stuart mit dem Titel ihres Stückes Disfigure Study (Rekonstruktion 2002) einen Hinweis auf Techniken der Erforschung und Befragung des tanzenden Körpers selbst, wie sie ab diesem Zeitpunkt für immer mehr Choreograph/innen wichtig werden sollen. In Disfigure Study sind die drei Tänzer/innen in wiederkehrenden Torsionen um sich selbst gewunden, in der Vertikalen oder Horizontalen, sie be-greifen sich, heben die Haut an ihrer beweglichen Oberfläche ab, kneten und verformen sie oder zeigen beispielsweise nur ihre Unterschenkel in isolierten Ausschnitten. Es gibt keine fließende, synchrone Gruppenchoreographie, eine Mittänzerin wird allenfalls von ihrem Kollegen berührt, um deren Gesicht wie einen Fremdkörper zu bewegen, zu zerreiben, in Grimassen zu verzerren. Vier Jahre später. An einer Stelle des Stücks Jérôme Bel des gleichnamigen Choreographen sitzt eine Frau am Boden. Mit Lippenstift schreibt sie die Worte »CHRISTIAN DIOR« auf die Innenseite ihres linken Beins. Einige Szenen später fährt sie mit ihrer Hand über die Haut und verwischt einzelne Buchstaben: »CH A I R« (Fleisch) ist das Rest-Wort, das übrig bleibt. Dieser Moment in Jérôme Bel ist ein weiterer Merk-Punkt im zeitgenössischen Tanz, in dem der Körper als sich bewegendes Material in den Mittelpunkt choreographischer Recherchen rückt (vgl. Louppe 1997: 37, Brignone 2006: 47). Abgesehen vom aufgezeigten Warencharakter des Körpers, der auch den Tanz nicht unverschont lässt (vgl. Siegmund 2006: 15 ff.), wird nun gefragt: Was ist das für ein Material, das tanzt? Gleichwohl zeigt sich an Bels Beispiel, dass es hier nicht um den Körper als organische Einheit oder Residuum authentischer Erfahrung geht. Dieser Bühnenkörper ist bereits ein im Wortsinn be-schriebener und wird hier in seiner Zeichenhaftigkeit ausgestellt. An der Rückwand des von Neonlicht erhellten, sehr weißen Bühnenraums kauert ein Torso. Ein nackter Rücken ist zu sehen, doch sind die Verhältnisse verdreht: Er sitzt auf den Schultern, den Kopf nach hinten weggeklemmt, und wo eigentlich ›oben‹ sein sollte, sind die Wölbungen zweier Pobacken zu sehen. Bald darauf klappen zwei lange, schmale Arme rechts und links heraus und strecken sich, die Fäuste geballt, nach oben. Für einen kurzen Moment erinnert der
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sich hier umformende Körper an ein blasses Brathuhn. Bald darauf setzen die Arme rechts und links neben dem verkehrten Rücken am Boden auf und mit tappenden, leicht ruckelnden Bewegungen schiebt sich der Torso in Richtung Bühnenmitte. Eigentümliche schmatzende Geräusche sind auf dem Tanzteppich zu vernehmen und das immer noch kopflose Gebilde durchläuft eine weitere Metamorphose: vom Huhn zu einer Art Frosch oder Käfer. Xavier Le Roys Self unfinished (1998) löst Festlegungen auf erkennbare, fixierte Formen auf und zeigt den Körper als kontingentes Potential metamorpher Transformationen. In meiner nun gut fünfzehn Jahre umfassenden Seherfahrung von zeitgenössischem Tanz in Europa ist mir aufgefallen, dass diese so häufig als ungreifbar, im Werden und Oszillieren als »formlos[]«, »organlos[]« (Husemann 2002: 38, Siegmund 2006: 387) oder mit »Zerrüttung der Einheit der Figur« (Brandstetter 2001: 54) beschriebenen Körper und ihre Konzepte allmählich begonnen haben, sich zu verfestigen und Pattern zeitgenössischer Tanzpraktiken und ihrer Diskurse zu bilden. Dies scheint ein Paradoxon, denn wie ließe sich etwas kategorisieren, das beständig in Veränderung begriffen ist, zumal es, anders als etwa im Ballett, für die doch sehr verschiedenen Ästhetiken zumeist kein explizites Bewegungsvokabular gibt.2 Zwei Beispiele sollen meine Vermutung veranschaulichen. Im Herbst 2003 präsentierte die Akademie der Künste in Berlin die Ausstellung Krokodil im Schwanensee. Tanz in Deutschland seit 19453 – ich hatte die Gelegenheit, sie bei der Voraberöffnung für die Presse anzusehen. Nach Bildern, Videos und anderen Dokumenten von Tanz aus Ost- und Westdeutschland, vom Ballett über Tanztheater bis hin zu Contact Improvisation sowie freien Choreograph/innen in der damaligen DDR, schließt die Ausstellung mit einem Raum, der den Titel trägt »Wir sind ein Volk. Die Tanzszene im wieder vereinten Deutschland seit 1990«. Herzstück des Raumes ist ein sehr großer rechteckiger Tisch, auf dem in nicht erkennbarer Systematik Bilder und Postkarten unterschiedlichster Choreograph/innen und Produktionen angeordnet sind. Von der Decke hängen Poster mit vergrößerten Photographien, darunter ein Bild Xavier Le Roys aus Self unfinished, jenem, das seinen Körper in einem Stadium zeigt, welches häufig mit dem eines Huhns oder eines kafkaesken Insekts verglichen wurde (Schlagenwerth 1998, Sieben 1999a: 48, Brandstetter 2001a: 10, Siegmund 2006: 373, 384). Mit einem Mal steht also Le Roys Stück (zumindest jene Sequenz), das sich doch gerade körperlichen Entitäten und eindeutigen Bildern verweigert, als Label für eine ganze Generation von Choreograph/innen, die vielfältiger nicht sein könnte. Le Roys damalige Managerin, Petra Roggel, ist bei 2
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Xavier Le Roy zum Beispiel lehnt es explizit ab, sein Bewegungsmaterial in Self unfinished als Vokabular zu verstehen, und spricht vielmehr von einem »Angebot, einen Augenblick zu erleben«. (Le Roy in Karcher 1999: Onlineressource) Kuratiert wurde die Ausstellung von Hedwig Müller, Ralf Stabel und Patricia Stöckemann, Herausgeber/innen des gleichnamigen Katalogs, 2003.
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dem Pressetermin anwesend und verlangt, dass das Plakat sofort entfernt wird, man sei darüber nicht informiert worden. Ihrem Wunsch wird entsprochen, doch es scheint kaum etwas daran zu ändern, dass der zeitgenössische Tanz der 1990er Jahre offenbar bereits seine Ikonen erhalten hat (vgl. Titelbild links). Ein Jahr später findet in Mailand das Performing Arts Festival Super Uovo statt, dessen Thema in dieser Ausgabe zeitgenössische Choreographien aus Frankreich sind. Spielt der Titel auf Gilles Deleuzes und Félix Guattaris Idee vom Ei als ›idealem‹ organlosen Körper an, als intensive Räumlichkeit ohne Außen (Deleuze/Guattari 1992: 224), so zeigt der Internetauftritt des Festivals den Schattenriss einer Szene aus Self unfinished: Zu sehen ist Xavier Le Roy im Vierfüßerstand, ein langes schwarzes Kleid über den Kopf gezogen, an den Beinen schwarze Hosen, so dass Verwirrung darüber entsteht, wo vorne oder hinten, oben oder unten sein könnte (Abb. 1). Diese auf Changement und Des/Illusionierung angelegte Szene in seinem Solo ist auf der Startseite des Festivals nun zum Piktogramm verdichtet: Hier geht es lang zum zeitgenössischen Tanz.
Abb. 1: Internetstartseite des Festivals Super Ouvo, Mailand 2004
Man könnte jetzt vermuten, dass eben auch zeitgenössischem, experimentellem und mithin avantgardistischem Tanz der Weg in die Etablierung und der Wunsch (der Veranstaltenden, des Publikums) nach Wiedererkennbarkeit nicht erspart bleiben, wie zuvor bereits skizziert wurde. Gerade die Internetseite des Festivals verweist jedoch auf eine bemerkenswerte Kluft: Präsentiert werden Stücke und Performances, die innovative Körperpraktiken zeigen, den sich bewegenden Körper über Grenzen gehen lassen und vorgefertigte Schablonen verwerfen – so deutet es das Ei im Titel sogar im Superlativ an. Zugleich aber besteht der Wunsch, dem Publikum nahezubringen, was denn zu erwarten sei auf einem sol-
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chen Festival. Und so scheint Le Roy bereits zur ›Old School‹ derjenigen zu gehören, die solche Strategien der Entgrenzung mit eingeleitet haben – die Tanztheoretikerin Krassimira Kruschkova spricht anhand der Stücke Stuarts, Bels und Le Roys von »bereits ›klassisch‹ gewordenen Beispiele[n]« (Kruschkova 2006: Onlineressource). Denn, wie auch mit Blick auf die Ausstellung in der Akademie der Künste sichtbar wird: Das Bild Le Roys verweist offenbar recht deutlich auf eine bestimmte Art und Weise grenzenloser, fluider Körperbewegungen.4 Und doch scheitert der Referent, denn wie könnte er als Markenzeichen einer ganzen Tanzszene herhalten? Die Ikone Le Roy verweigert ihren Dienst und dient doch als eine. Die Strategien des Entfliehens vor Etablierung und hierarchischen Autorenkonzepten ziehen sich weiter fort, indem Le Roy in Kollektiven arbeitet, wie etwa bei dem Projekt E.X.T.E.N.S.I.O.N.S. (1999-2001) oder, wenn es denn so ist, indem er seinem Stück keinen Namen, keine erkennbar Beteiligten und keine Urheberschaft mehr gibt. Meine Hypothese geht allerdings weiter: Denn nicht das traurige Schicksal einer Avantgarde, die in die Bahnen des Mainstream geriet, ist hier zu beklagen. Vielmehr sind die beschriebenen Reibungen, die Fixierungsversuche und ihr Scheitern Ausdruck einer Spannung, die insofern als grotesk bezeichnet werden kann und im zeitgenössischen Feld allmählich Sedimente bildet, Verdichtungen, die aufgespürt und verglichen werden können.
I n ve n t u r e n i m z e i t g e n ö s s i s c h e n T a n z Im Jahr 1995 lancierte Marie-Thérèse Allier, Leiterin der Pariser Ménagerie de Verre – einem Ort für zeitgenössische darstellende Künste – das Aufführungsformat Les Inaccoutumés (die Ungewohnten), in dessen Rahmen Künstler/innen wie Jérôme Bel, Xavier Le Roy, Benoît Lachambre oder La Ribot auftraten. Die Reihe wurde damit zu einem regelrechten Inauguralevent, das einen Großteil jener Choreograph/innen präsentierte, die in der Folge wesentlich die zeitgenössische Ästhetik im Tanz, als dann ›gewohnte‹ Erscheinung, mitbestimmten, wie Patricia Brignone in der Rückschau darlegt (Brignone 2006: 40 f.). Ein paar Jahre darauf greift die kanadische Choreographin Lynda Gaudreau einzelne Momente dieser Ästhetik heraus, so etwa Benoît Lachambres mittlerweile sehr bekanntes Kopf-Schüttel-Solo aus Meg Stuarts No Longer Readymade (1993) (vgl. S. 127, 335 ff.) sowie Fragmente aus Stücken von zum Beispiel Vera Mantero, Vincent Dunoyer oder Cristian Duarte und ordnet sie in ihrer Aufführungsserie Encyclopœdia, Document 1-4 (1999-2005) als Teile eines choreographischen Katalogs zeitgenössischer Tanzphänomene an. Die Idee, eine Art In-
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Gerald Siegmund weist Le Roys Self unfinished mittlerweile eine »Ikonizität« zu, die sich besonders durch die ausdrückliche Thematisierung von »Wahrnehmung und […] Körperlichkeit« herstelle (Siegmund 2008: 29).
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ventar experimenteller Tanzpraktiken anzulegen, entwickelt sie in Anspielung an die Enzyklopädie Denis Diderots und Jean d’Alemberts (1751-1772), aus der sie Tafeln an den Bühnenwänden anbringt.5 Einige Zeit später findet im Tanzquartier Wien das Symposium Inventory. Dance and Performance statt (März 2005), bei dem mittlerweile namhafte Künstler/innen wie Xavier Le Roy und Jérôme Bel, zusammen mit Performancekünstler/innen und Wissenschaftler/innen, darunter Gabriele Brandstetter oder Gerald Siegmund, über den Status zeitgenössischer Kunst referieren. Insgesamt sind die Diskussionen von der Überzeugung getragen, dass solche im Titel gewünschten Inventuren nicht vollzogen werden könnten, da sich besonders der Tanz dem Anlegen von Kollektionen allein schon durch seine Ontologie des Transitorischen entziehe (Siegmund 2005: 43, Brandstetter 2006: 75).6 Gleichwohl: Hier sind nahezu alle Protagonist/innen einer experimentellen Tanzästhetik versammelt. Sie debattieren, argumentieren, legen ihre Standpunkte dar, gestützt von (wissenschaftlichen) Diskursen und dabei selbst wieder neue bildend, vieles wird auf Video dokumentiert und in nachfolgenden Rezensionen verarbeitet. Mithin haben sich offenbar Episteme gebildet, innerhalb derer es möglich ist, Züge des Zeitgenössischen zu erörtern und – wenn auch oft über den Modus des Verwerfens – Linien durch seine Praktiken zu ziehen.7 Zwar handelt es sich, wie beschrieben, gerade im Feld des zeitgenössischen Tanzes nicht um ein absteckbares, durch spezifische Bewegungsvokabulare umgrenztes Gebiet, jedoch ist seit Beginn der 1990er Jahre ein gewisser historischer Abstand entstanden, der es, wie ich meine, zulässt, die diversen Praktiken des Kontingenten in Diskurse einzubetten, in denen charakteristische Strukturmerkmale choreographischer Zeitgenossenschaft aufspürbar sind. Dabei zeigt sich, dass auch experimentelle Verfahren allmählich Eingang in symbolische Ordnungen von Tanz finden, als Weisen des Zeitgenössischen, die sich dabei ausdrücklich über Dekonstruktion und Entzug positionieren. Techniken des Oszillierenden und Metamorphen entwickeln sich, die von nachfolgenden Choreograph/innen aufgegriffen, erweitert oder unterwandert und kritisiert werden. Ich schlage mit dieser Arbeit daher eine Perspektive von Inventuren vor, die den Blick auf (fluide) Bild- und Bewegungsrepertoires im zeitgenössischen Tanz richtet. Dabei kommt es mir auf die doppelte Verfasstheit dieser hermeneutischen 5
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Ich habe Encyclopœdia, Document 1 im Berliner Theater am Halleschen Ufer im Rahmen des Festivals Tanz im August 2000 gesehen. Die Bildtafeln dienen allerdings eher einem allgemeinen Hinweis auf taxonomische Verfahren, inhaltliche Relevanz erhalten sie im Stück nicht. An diesem Symposium habe ich als Zuhörerin teilgenommen. Ein ähnliches Projekt verfolgen die beiden Performer Florian Feigl und Ottmar Wagner (Wagner-Feigl-Forschung) mit ihrem Projekt Encyclopaedia of Performance Art (seit 2001), in dem sie einer antihierarchischen Methode des Sammelns und Systematisierens folgen, die jedes Detail zum potentiell wichtigen Element einer Geschichte der Performance ernennt (vgl. Wagner-Feigl-Forschung 2006: 58 ff.).
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Figur an: als Inventare, die es ermöglichen sollen, diverse Praktiken im Tanz seit den 1990er Jahren zueinander ins Verhältnis zu setzen, und im Sinne des inventare, als Modus, in dem sich Inventuren des Zeitgenössischen besonders über das Movens des beständigen Entwerfens und Verwerfens, Erfindens und SichEntziehens bestimmen. In ihnen vereinen sich gleichermaßen das Erfinden (inventio), als Ausdruck einer avantgardistischen Ästhetik, und die Bewegung des Auffindens (invenio),8 mit dem der wissenschaftliche Blick Spuren durch das Gesehene zieht. Dabei schließe ich mich Isa Wortelkamps Entwurf einer findenden Wissenschaft an, die ihren Gegenstand nicht gezielt zu verorten sucht, sondern dessen Bruchstellen und Flüchtigkeiten mit erwägt (Wortelkamp 2006: 236 f.).9 Dabei ist allerdings zu bedenken, dass sich eine Inventur auch auf Seiten des wissenschaftlichen Handelns entwirft, welches Rahmen und Auswahlkriterien setzt, die den Gegenstand als solchen mit erfinden.10 Ich meine allerdings, dass sich solche Parameter bereits im Prozess der Rezeption ergeben, über Erwartungshaltungen und Sehgewohnheiten, mit denen man ins Theater geht und die beispielsweise ein namenloses Stück sogleich mit einer bestimmten ästhetischen Handschrift verbinden. Es gilt also, den Zu-Griff möglichst locker zu halten: Die hier zu entwickelnden Inventuren folgen daher, gemäß ihrem zu untersuchenden Gegenstand, dem Phänomen des Unabgeschlossenen, als un-fertige Ästhetik proliferierender Bewegungsmuster, mit denen sich zeitgenössische Choreograph/innen beständig neu entwerfen im teils aussichtslosen Versuch, einer Stil-Bestimmung und Festsetzung in marktökonomische Zusammenhänge zu entgehen. Dem muss auch die wissenschaftliche Beobachtung folgen, in Kenntnis ihres Gegenstandes, der Zuschreibungen fortgesetzt entgleitet: in der Kontingenz der Bewegungen selbst ebenso wie im Versuch, Labels zu entschlüpfen, sobald sie sich zu etablieren drohen.11 Die Muster, die aus dem skizzierten Bereich herausgehoben sind, orientieren sich dabei an den Phänomenen metamorpher Körperpraktiken, am Beispiel sich transformierender Torsi und Körperverdoppelungen sowie an den Motiven von
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Die lateinischen Übersetzungen folgen Menge-Güthling 1911: 406, 405. In diesen Zusammenhang setzt Wortelkamp auch die Doppelfigur der Inventur, die sie mit Präferenz auf das Finden betont (Wortelkamp 2006a: 87). 10 Gabriele Brandstetter versteht den Begriff der Inventur in seiner doppelten Bedeutung als sowohl archivierende wie auch (sich) neu erfindende (inventare) Aktivität, wobei sich Tanz aufgrund seiner flüchtigen Existenz jedoch per se einer Lagerung und mithin Abrufbarkeit widersetze (Brandstetter 2006a: 75, 78). Gabriele Klein wiederum regt eine »Inventur der Tanzmoderne« an, innerhalb derer das »Wie« des Findens historischer Beispiele aus dem »kulturellen Archivs des Tanzes« als »Geschichtsschreibung« zu problematisieren sei (Klein 2008: 71 ff.). 11 Brandstetter betont entsprechend, dass Tanz und seine Geschichte der letzten Jahrzehnte keine starre »Bestandsaufnahme« sein könne. Vielmehr gelte es zu beachten, dass diese ein »Geflecht von Aufführungen, Diskursen, Bildern, Texten konstituieren [und] selbst stets in Bewegung« sind (Brandstetter 2005b: 14).
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Körperöffnungen, um sodann mögliche Bewegungspattern im zeitgenössischen Tanz zu formulieren. Die entwickelten Inventuren erweisen sich dabei nicht als Systematik zeitgenössischen Tanzes, sondern bilden selbst wuchernde Kategorien, die hier als Momentaufnahmen, im methodischen Modus von Situationsbildern untersucht werden. Dabei ist die Uneinheitlichkeit des beobachteten Feldes zu berücksichtigen, die sich nicht nur durch die Betrachtung unterschiedlicher Kunstgattungen, sondern auch innerhalb der Fülle an Tanzproduktionen ergibt. Um diesen Wucherungen und Verzweigungen angemessen begegnen zu können, bedarf es eines methodischen Ansatzes, der das Mannigfaltige nicht einebnet, sondern ihm im Versuch, Muster zu finden, auf der Spur bleibt. Ich bediene mich daher der Suchformel des Grotesken als Weise, zeitgenössischen Tanz zu beschreiben. Das Groteske selbst ist ein Grenzphänomen (vgl. Oesterle 2004: XXV), das im Rahmen dieser Arbeit anhand seiner prominenten Theorien, entworfen von Wolfgang Kayser und Michail M. Bachtin, entwickelt wird und die Aspekte von Bewegung (Kayser) und Öffnung sowie Körper-WeltÜberschreitung (Bachtin) prononciert. Dabei wird es in seiner Doppelfunktion entfaltet: dem Uneinheitlichen des untersuchten Gegenstandes Rechnung tragend sowie als Analysewerkzeug, das sich präzise an den Kippstellen zwischen Unvertrautem, Fremdem und Gewohntem, Verortbarem aufhält. Es erlaubt eine taxonomische Perspektive, in der vordergründig Unvereinbares miteinander verglichen werden kann. In vielen Kunstformen, besonders in der Literatur, der bildenden Kunst und im Film, hat das Groteske als Forschungsansatz bereits Einzug gehalten – im Tanz, wo sich das live bewegende Körper-Material zunächst einer Öffnung und Überschreitung im Sinne phantastisch wuchernder oder dekomponierter Gebilde zu verweigern scheint, stehen solche Untersuchungen noch weitgehend aus (vgl. S. 65). Im zeitgenössischen Tanz liegt dies besonders darin begründet, dass sich seine Protagonist/innen nicht mehr gegen einen tradierten Formenkanon wenden, den es zu bekämpfen gelte (vgl. Louppe 1997: 110), wie dies etwa noch im Ausdruckstanz und seiner Abwendung vom Ballett der Fall war. Laurence Louppe unterstreicht entsprechend: »L’œuvre chorégraphique contemporaine se doit d’être polymorphe.« (Ebd.: 278) Daher sind innerhalb der Untersuchungen von Unabgeschlossenem Rahmen zu setzen, die sich als Hilfslinien durch die ausgewählten Beispiele ziehen, anhand derer sich Überschreitungen und Öffnungen, Metamorphosen im Modus der Wissenschaftlichkeit beschreiben lassen. Allerdings entwerfen die Choreograph/innen bisweilen selbst solche Kadrierungen, die anschließend aufgedehnt oder gesprengt werden, wie im Lauf diese Buches zu zeigen sein wird.
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Groteskes oder: vom Paradoxon unabgeschlossener Inventare Es gleicht nun nahezu einem Verstoß gegen Schreibweisen des Offenen, gegen Konzepte der Postmoderne – die gerade auch für zeitgenössische Choreograph/innen eine wichtige Rolle spielen –, gegen Phänomene von Kontingenz und Übergang, ein Inventar zeitgenössischer Praktiken des Unabgeschlossenen anlegen zu wollen, so sehr sich dies auch in seinem öffnenden Doppelcharakter ergibt. An Guy Debords Ablehnung einer durch repräsentierte Bilder vermittelten sozialen Wirklichkeit unter anderem anschließend (Debord 1996: 14), entwickeln etwa Pirkko Husemann und Gerald Siegmund die Sichtweisen einer »Negativität« (Husemann 2002: 21 ff.) beziehungsweise »Abwesenheit« (Siegmund 2006) als Signum zeitgenössischen Tanzes. Ohne mit der Figur der Inventuren einem Positivismus das Wort reden zu wollen, ist indessen auffällig, in wie kurzer Zeit sich gerade die Stücke von Xavier Le Roy und Jérôme Bel, aber auch von William Forsythe und Meg Stuart als äußerst diskurs- und anschlussfähig in wissenschaftlichen Kontexten erwiesen haben. Die mittlerweile zahlreichen Publikationen in diesem Feld bieten ein regelrechtes Vokabular des Werdens an. Analysen sprechen von »Defiguration«, »Displacement«, »Deformation«, »Morphing«, »Desorganisation« und »Dekomposition« sowie von »Fragmenten«, von »Patchworktechnik« und »Verschmelzung« etwa am Beispiel Meg Stuarts (Brandstetter 2001: 53, 60, 62, 65, Husemann 2002: 59, 54), vom »anagrammatischen«, »organlosen« oder »Übergangskörper« und von »radical incompleteness« bei Xavier Le Roy (Siegmund 2006: 387, Lepecki 2006: 43) oder von multiplen und hybriden Körpern im zeitgenössischen Tanz generell (Louppe 2007: 62). Kruschkova bietet sogar vier verschiedene Interpretationsmöglichkeiten für Self unfinished an: mit Hans Bellmer, Antonin Artaud, Heinrich von Kleist und Heiner Müller (Kruschkova 2006: Onlinepublikation). Allerdings ist es durchaus nicht so, dass erst der wissenschaftliche Blick die besprochenen Stücke mit den Phänomenen von Kontingenz und Entgrenzung belegt. Die Choreograph/innen selbst arbeiten mit entsprechenden Theorien und äußern sich auch schriftlich hierzu (vgl. Goldberg 2001: 217, Brandstetter/Peters 2002a: 22) – ähnlich, wie dies schon die historische Avantgarde getan hat, wenn auch die Künstler/innen sich heute weniger in Form von Manifesten ausdrücken. So spricht Le Roy in seiner Lecture Performance Self Interview (2000) von der Idee osmotischer Grenzen des Körpers, als Durchlässigkeit zwischen Innen und Außen; der Körper wird zum Austauschort von Diskursen, Gegenständen, Kleidung: »[I]ch frage mich oft, warum unsere Körper mit unserer Haut enden sollen oder bestenfalls andere Wesen, Organismen oder Objekte einschließen, die von der Haut umfasst werden.« (Le Roy 2003: 78) Dabei bezieht sich Le Roy explizit auf Elizabeth Grosz, Deleuze/Guattari und Spinoza (ebd.: 78 f.), die sämtlich fluide Konzepte von Körpern vorschlagen. So sucht Grosz etwa die cartesiani-
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sche Geist-Körper-Dichotomie zugunsten einer ineinander verschlungenen Weise von Körper und Denken zu erfassen – die Möbiusschleife dient ihr hierbei als Modell (Grosz 1994: xii). Le Roy übernimmt ihre Ideen eines osmotischen Körpers, der über seine Hautgrenzen hinausgeht, fast wörtlich: Grosz redet in diesem Zusammenhang von »social extensions of the body« (Grosz 1994: 79).12 Solche Ausdehnungen sind auch bei Jérôme Bel zu finden, der sich selbst als eine Art Sammelkörper versteht, angefüllt mit Zitaten, Referenzen und Diskursen: »Genau in diesem Moment, in dem ich schreibe, könnte ich alle meine Körper aufzählen: Gilles Deleuze, Marie Zorn, Marc Deputter, Antoine Lengo, Madame Bovary […] Xavier Le Roy, Frédéric Seguette und Lila (seine Katze), Ballett Frankfurt, Suzanne Lafont (ich weiß, dass ihre Körper Jean-François Lyotard, Samuel Beckett und Vilma, ihre Adoptivtochter, sind), Myriam Van Imschoot […] Hegel (leider), […] Sie selbst, Myriam Gourfink (sie hat gerade angerufen), David Cronenberg, […] Claude Ramey (eine Erfindung, aber vielleicht existent), […] Peggy Phelan, […], Tom Cruise, […]« (Bel 1999: 36, Hervorhebung ebd.13).
Unter den Aufgezählten gibt es keine Prioritäten, es sind Menschen, die sich gerade in seinen Alltag einmischen, befreundete Choreograph/innen und Darsteller/innen, Veranstalter/innen, Philosophen oder Menschen, die wiederum selbst ein Kollektiv von Körpern bilden. Diese Idee ineinandergeschachtelter Versatzstücke bezeichnet Bel als »Körper-Matrix« und bezieht sich dabei auf Deleuzes »Körper ohne Organe« (ebd.: 37). Eine Konzeption entsteht hier, die offen ist im Sinne wuchernder Diskurse,14 welche sich an den Körper anlagern oder ihn gar durchdringen und Vorstellungen von Originalität und Autorschaft auflösen – der Körper wird zur transitorischen Passage. Die solcherart proliferierende Materie ist allerdings nicht zeichenlos, sondern durchsetzt von fragmentierten Symboliken und Bedeutungen, die sich im Körper aufhalten und in beständige Prozesse des Rekomponierens verwickelt sind – und in endlose Diskursschleifen (vgl. Boenisch 2004: 58). Das Groteske als Werkzeug setzt nun in dem vorliegenden Buch genau an den Schaltstellen zwischen Inventar und Innovation, zwischen Verdichtungen ins Symbolische und ihrem Verwerfen an und ermöglicht, den ›Gegenstand‹ offen zu halten, ohne ihn jedoch diffusen Proliferationen zu überlassen. 12 Pirkko Husemann erläutert diese Idee anhand des Projekts E.X.T.E.N.S.I.O.N.S., in dem auch Objekte wie etwa Stühle als Erweiterungen des Körpers verstanden würden (Husemann 2003: 216). 13 Im weiteren Textverlauf sind Original-Hervorhebungen nicht weiter markiert, Hervorhebungen/Kursivierungen innerhalb von Zitaten durch die Autorin sind mit S.F. vermerkt. 14 In Anlehnung an Michel Foucaults Rede vom »Wuchern des Diskurses«, der durch »Verbote, Schranken, Schwellen und Grenzen« bezwungen werden müsse (Foucault 1974: 34).
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Freilich ist es nicht so, dass Le Roy und Bel die Einzigen sind, die dekonstruktive Konzepte in ihrer experimentellen choreographischen Praxis verfolgen. Im Umfeld etwa von Le Roys Self unfinished forschten seinerzeit auch andere Tanzschaffende an Körpern, deren Ränder sich destabilisieren oder sich in metamorphe Prozesse begeben, so etwa Eric Raeves (1996), Adalisa Menghini (1998) oder Lia Rodrigues (2000). Sasha Waltz zeigt in Körper (2000) chimärische Wesen, denen die Beine direkt aus dem Bauch zu wachsen scheinen, und ähnliche Diploide sind in dem Stück Pression des italienischen Aterballetto in der Choreographie Mauro Bigonzettis zu sehen (1994). Es scheint fast, als liefere zeitgenössischer Tanz Körperbilder, die sogar Eingang in etabliertere Tanzästhetiken wie etwa das Ballett finden. Siegmund beschreibt Le Roys Körper in Self unfinished als »unfertig, weil ihm die Bezeichnung und damit der Ort innerhalb der symbolischen Ordnung fehlt, und wir, die Zuschauer, ihn mit unseren Bildern belegen, die ihn erst zu dem machen, was er nicht ist, weil er immer schon wieder etwas anderes ist.« (Siegmund 2006: 372 f.) Im Jahr 2005 allerdings zeigt der brasilianische Choreograph Wagner Schwartz im Berliner HAU 1 sein Stück wagner ribot pina miranda xavier le schwartz transobjeto. Darin nimmt er Posen ein, die offenbar charakteristisch für die Ästhetiken La Ribots, Pina Bauschs, Carmen Mirandas und Xavier Le Roys sind und seinen eigenen Tänzerkörper durchziehen und durchmischen – ein sehgewohntes Tanzpublikum erkennt die Zitate rasch wieder. Brandstetter wiederum setzt die Stücke Meg Stuarts und William Forsythes in ein Verhältnis zu Konzepten aus der bildenden Kunst, wie etwa den Portraits Cindy Shermans. Dabei werde der Körper »zum Material aus einem Bilder-Inventar« (Brandstetter 2001: 62). Es spielt mit den Repertoires, die das Publikum zur Verfügung hat, das in seinem »Bild-Gedächtnis[] wühlt« (ebd.: 61). Siegmund konstatiert zudem, dass Le Roy Körperbilder produziere, »die sich nicht still stellen, nicht rahmen lassen« (Siegmund 2006: 381). Es ist also selbst zeitgenössischen Bewegungsexperimenten, die sich im ständigen Fluss befinden, sich im »Dazwischen« artikulieren (ebd.: 369), nicht möglich, die Produktion von Bildern zu verhindern. Schwartz’ Stück unterstreicht dieses Dilemma. Hier lässt sich Le Roy nahezu nahtlos an Ikonen aus Tanz und Showbusiness, wie Carmen Miranda, angliedern. Laurence Louppe stellt in ihrem Überblick zum französischen Tanz seit den 1990er Jahren fest, dass sich die Einordnungen in bestimmte Diskurse ohnehin nicht vermeiden ließen: »[L]es différents discours sur le corps des pratiques somatiques génèrent également des représentations de corps.« (Louppe 2007: 63) Meine These ist, dass Ausdrucksformen wie jene von Le Roy, die zum Zeitpunkt ihrer ersten Aufführungen Irritationen und Un-Feststellbarkeiten im gängigen Tanzdiskurs bewirkten, nun selbst symbolische Ordnungen im zeitgenössischen Tanz generiert haben – (Bild-)Repertoires, konzentriert aus Situationen von Defiguration, Verflüssigung und Fragmentierung, die zehn Jahre später im allge-
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meinen Tanzdiskurs nicht nur Europas angekommen sind. Mir geht es aber nicht darum, festzulegen, was sich doch der Fixierung entziehen wollte. Mit der Suchformel des Grotesken soll vielmehr gezeigt werden, dass Ästhetiken wie jene Xavier Le Roys nur für Momente vermögen, eine symbolische Ordnung zu stören. Wie das Groteske sind sie situativ und in den jeweiligen historischen Moment einzubetten. Das bedeutet indessen nicht, dass sich hieraus ein Standardvokabular für zeitgenössischen Tanz ablesen ließe. Nach wie vor verunsichern auch jene Pattern, die sich, wie Wagner Schwartz es zeigt, nachbilden lassen, und entgleiten Kategorisierungen, wie sie etwa die Ausstellung in der Akademie der Künste versucht. Das Groteske ist dabei ein produktives Instrument, um den Spalt zwischen Fixieren und Verwerfen zu beschreiben und die in den letzten zwei Jahrzehnten gebildeten Muster in diesem Buch zu versammeln. Groteske Phänomene tragen in sich die Charakteristika von Figuration und De-Figuration, von Öffnungen und Rahmen, die sogleich wieder überschritten werden, von peripheren Handlungen, die für einen Moment ins Zentrum rücken, um sogleich wieder abzudriften. Das vorliegende Buch folgt diesem Spagat und zeigt, inwieweit sich im zeitgenössischen Tanz Pattern und Charakteristika des Unabgeschlossenen ausgebildet haben, die eine fragmentarische Anordnung über exemplarisch ausgewählte Stücke erlauben. Ein Inventar, das unter anderem auf historische Quellen und Tanzästhetiken zurückgreift, die zeigen, dass bestimmte Praktiken des Körperöffnens und -verschiebens ein bis in die Renaissance zurückreichendes Repertoire fluider Bilder und Bewegungsideen aufgreifen. Inventuren des Unabgeschlossenen, die den wissenschaftlichen Versuch unternehmen, Muster und Ähnlichkeiten zu zeigen, ohne die beschriebenen Stücke in eine für immer geschlossene Schublade zu sortieren.15 Ein Repertoire von Bildern, die das Passepartout, in das sie hier für einen Augenblick geschoben werden, ebenso schnell wieder verlassen können. Aufgrund der vielfältigen Diskurse, die sich im zeitgenössischen Tanz seit etwa zehn Jahren gebildet haben, ist das Buch in zwei Teile gegliedert. Kapitel 1 fokussiert auf die Möglichkeiten und Methoden des Erfassens und Benennens von zeitgenössischem Tanz und widmet sich ausführlich der Problematik des Materials, das hier zu analysieren ist. Dabei wird dem unaufhörlich auftauchenden Zwiespalt zwischen dem Ereignis des Körpers (auf der Bühne) und dem diskursiven Modus des Beschreibens als unüberwindbarer Polarität nachgegangen: die Theorien Maurice Merleau-Pontys und Gilles Deleuzes/Félix Guattaris, die in der Tanzwissenschaft der letzten Jahre einen wichtigen Platz
15 Diese Sorge äußert Xavier le Roy: Inventur zu betreiben komme dem Schaufeln des eigenen Grabes gleich (Le Roy 4.3.2005: Paneldiskussion »Research, Laboratory« im Rahmen des Symposiums Inventory: Dance and Performance im Tanzquartier Wien).
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eingenommen haben, werden einer kritischen Lektüre unterzogen. Eingewoben in diesen Diskurs sowie in den zweiten Teil des Buches sind Inventare tanzwissenschaftlicher Auseinandersetzungen der letzten Jahre. In der Folge wird das Groteske als Möglichkeit etabliert, Motive und Pattern aufzuzeigen, die das Paradoxon unabgeschlossener Inventare in sich tragen können, wobei die leitenden Theorien Wolfgang Kaysers und Michail M. Bachtins einer kritischen Revision unterzogen werden. Dabei ist im Verlauf der Analysen zu überdenken, inwieweit der Begriff des Grotesken, angewendet auf zeitgenössische Praktiken, einer Reformulierung bedarf. Eingeflochten in diese Auseinandersetzungen sind methodische Annahmen einer Denkweise von Inventuren des Unabgeschlossenen, die sich aus der Diskussion mit den jeweiligen Theorien entwickeln und im Anschluss in die Perspektive einer ikonographischen Herangehensweise münden. Da der zeitgenössische Tanz von einer ästhetischen Vielfalt geprägt ist, die es nicht mehr zum prioritären Ziel hat, sich gegen eine bestimmte Art von Tanz abzugrenzen, sind die Rahmen genauer zu bestimmen, die von den anschließend besprochenen Choreograph/innen überschritten werden – als Folie dafür dienen unter anderem die grotesken Strategien der Tänzerin Valeska Gert in den 1920er Jahren. Außerdem ist zu fragen, welche Art von Bildern dabei produziert und verworfen werden. Hierfür wird der Begriff des Situationsbildes eingeführt, eine Verschränkung von Körperbild und Bewegungsbild im Sinne einer prozessualen Ikonik,16 die von Bildspeichern des Grotesken durchflochten ist. Inventuren des Unabgeschlossenen erweisen sich dabei als eine Praxis des Monströsen, der nach diesem ausführlichen Streifzug durch die Theorie anhand von beispielhaften Analysen ausgewählter Choreograph/innen nachgegangen wird, ohne dabei jedoch eine Inventur im Sinne eines Anspruchs auf Vollständigkeit zu gestalten. Vielmehr werden in Teil Zwei gezielt ausgewählte Körperbilder oder Szenen neben ausführlichere Stückbeschreibungen gestellt und bekannte Choreograph/innen neben unbekanntere Vertreter/innen der freien Tanzszene positioniert, wobei die Formate Solo17 und Duett verstärkt in den Blick rücken. Die Auswahlmethode folgt damit in Teilen der Idee von Körperkatalogen des Monströsen, wie sie etwa Ambroise Paré entwickelte – die explizit das Imaginäre in Verbindung mit faktischen Erscheinungen als groteske Enzyklopädie betonen (vgl. Stafford 1997: 276) –, und bietet einen exemplarischen Überblick der im ersten Teil vorformulierten Pattern des Fluiden, als Inventuren, die sich an den Topoi Metamorphose, Öffnung sowie an Bewegungspattern des Grotesken orientieren und einem gestreuten Blick folgen, der gelegentlich näher heranzoomt und Auffälliges ausschneidet. 16 Ich lehne mich hier an Max Imdahls Begriff der Ikonik, als Figur der Überschreitung im Rahmen von Bildbeschreibungen an (Imdahl 1994: bes. 310, 319). 17 Laurence Louppe etabliert das Solo als innovative Ausdrucksform des zeitgenössischen Tanzes (Louppe 1997: 281). Ein breites Spektrum solistischer Arbeitsweisen vom Ausdruckstanz bis heute entfaltet außerdem die Anthologie La danse en solo (Rousier 2002).
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Kapitel 2 widmet sich den Metamorphosen des Körpers. Der Fokus liegt zunächst auf dem Torso als prominentem Körperteil von Verformungen am Beispiel von Choreographien Eric Raeves, Adalisa Menghinis und Saskia Hölblings, die vor der Folie des Solos Self unfinished von Xavier Le Roy untersucht werden, und bringt diese in Verbindung mit Entwürfen des Unfertigen in der bildenden Kunst, exemplarisch dargelegt anhand der Bilder Francisco Goyas und John Coplans’. Dabei wird auf die Romantisierung des Fragmentarischen und Unfertigen, wie sie etwa von Johann Joachim Winckelmann favorisiert wurde, eingegangen und überprüft, inwieweit und mit welchen Verschiebungen sich Idealisierungen des Brüchigen auch im zeitgenössischen Tanz wiederfinden. Aufschluss hierüber geben die karnevalesk parodierenden Stücke von Wagner Schwartz und Saša Asentić, die sich mit Xavier Le Roy und Jérôme Bel und der hierbei scheinbar kaum zu überwindenden Deutungshoheit einer westeuropäischen Tanzavantgarde auseinandersetzen. Im Anschluss wird der Körper als ›Arbeits-Material‹ zum Thema, so bei Ugo Dehaes/Charlotte Vanden Eynde und Cristian Duarte sowie groteske Körperchimären und Körperdoppel, die sich in den Choreographien von Sasha Waltz, Mauro Bigonzetti, der Tanzcompagnie Rubato und Jeremy Wade entdecken lassen. Der von Wade ausgestellte exzentrische Körper, der sich über vulgarisierende Bewegungen und Grenzüberschreitungen in Körperhaltungen und Gesten vermittelt, leitet zum nächsten Kapitel über, das sich mit Öffnungen des Körpers befasst. Dem (expressionistischen) Topos des geöffneten Mundes ist ein Abschnitt gewidmet, der diese Geste von der historischen Avantgarde in der darstellenden Kunst (Valeska Gert) über die bildende Kunst (Francis Bacon) bis hin zum zeitgenössischen Tanz (Mette Ingvartsen, William Forsythe und Meg Stuart) verfolgt und zu den Videoarbeiten Bruce Naumans ins Verhältnis setzt. Anhand von Forsythes Produktionen der letzten Jahre wird außerdem das Augenmerk auf Sprachverstümmelungen und Lautlichkeit im Motiv des aufgerissenen Mundes gerichtet. Daran schließen sich Untersuchungen der Strategien buchstäblicher Körperöffnungen an, wie sie Thomas Lehmen in einer Lecture Performance zeigt und die der Künstler Franko B in einer paradoxen Gegenbewegung als Abdichtung des Körpers betreibt. Anders als in den Analysen zuvor, die ausgewählte Charakteristika des Grotesken anhand verschiedener Choreographien exemplarisch beschreiben, wird Lehmens Projekt zum ausführlich beleuchteten Zentrum unterschiedlichster Diskurse. Den hier analysierten Praktiken des überdeutlichen Zeigens im Sinne von De-Monstrationen des Körpers folgen exkursorische Überlegungen zu William Forsythes Installation You Made Me a Monster, die das Monströse in seiner Doppelheit von Zeigen, Verformen, Wuchern und Verbergen explorieren. Das letzte Kapitel schlüsselt Bewegungspattern des Grotesken auf, wie sie im zeitgenössischen Tanz (wieder)entdeckt werden können. Dazu gehören Sensationen von Auflösungen des Kopfes bei Meg Stuart, die hier noch einmal mit entsprechenden Motionen in der bildenden Kunst verglichen werden, so bei Francis
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Bacon, Bruce Nauman und Rebecca Horn, sowie Verwischungen der Grenzen zwischen Raum und Körper mittels Einverleibungen – auf diese wird nochmals im Rückgriff auf Bachtins groteske Körperkonzeption eingegangen. Verdrehungen und Verkehrungen sind zudem als eine Art Anti-Vokabular bereits in den grotesken Balletten Gennaro Magris im achtzehnten Jahrhundert zu finden. Ferner erweist sich, dass Motive des Flüssigen oder Formlosen durchaus eine gewisse Tradition in der Rezeption von Kunst und Tanz haben, die sich in immer wiederkehrenden Motiven spiegelt, wie anhand von Xavier Le Roys Self unfinished nochmals zu zeigen ist. Schließlich werden am Beispiel Meg Stuarts, Le Roys und William Forsythes und unter Rückgriff auf Valeska Gert zeitgenössische Bewegungsrepertoires erschlossen, Topoi zerstückelter, entstellter und fragmentierter Körper, die sich über die Modi der Torsion und Verfahren des Dezentralisierens, Explodieren und Implodierens herstellen. Die vorliegenden Beispiele werden anhand ikonographischer und motiler Aspekte untersucht, wobei ästhetisch motivierte Bewegungsanalysen mit diskursiven Perspektiven wechseln. Darüber hinaus ist das Buch über Einschübe strukturiert, die angesprochene Themen weiterführen und vertiefen, Zwischenszenarien, die einen zusätzlichen Blick auf das Geschriebene werfen oder zum nächsten Aspekt überleiten, sowie Exkurse, die das sind, was sie sagen: Ausflüge in benachbarte Regionen.
Teil I Theoretische Entwürfe zur Entwicklung von Charakteristika des Unabgeschlossenen im zeitgenössischen Tanz
Ka pitel 1 Körper in Zw ischen-Räumen
»Was ich jetzt tue, ist für manche problematisch. Sie sagen: es tanzt nicht, es gibt nur noch Material.« Xavier Le Roy (in: Sieben 1999a: 48)
1 Visite. Flächen im zeitgenössischen Tanz Angeregt von Michel Serres’ Idee des Visitierens als Weise, (ästhetische) Phänomene zu erfassen (Serres 1999: 315 ff.), begreife ich die Analysen in diesem Buch als Fundstücke meiner Streifzüge durch die letzten zwei Jahrzehnte des zeitgenössischen Tanzes in Europa.1 Serres stellt zwei Weisen des Sammelns und Auswertens von Impressionen dar: In einem bisweilen wehmütigen metaphorischen Vergleich beschreibt er die (ehemals) pagane Landschaft seiner französischen Heimat, wobei das Adjektiv sowohl für das Ländliche als auch für die blattseitenartig angeordnete, sukzessive Struktur der agraren Oberfläche steht (ebd.: 317 ff). Er betont das Komposite dieser Flächigkeit, das auch Körper und Kleidung erfasse: ein »Flickenteppich« zusammengesetzter Eindrücke, über die das Auge wandernd hinwegziehe (ebd.: 320, 364). Dem stellt er die Linearität und das Einheitsbedürfnis des Pariser Architekturbooms um die zwanzigste Jahrhundertwende entgegen, den er auch als »cartesianischen Weg« bezeichnet (ebd.: 342, 367).2 Serres plädiert nun für ein komponierendes Wahrnehmen, das sich 1 2
Zum Visitieren als tänzerische Praxis vgl. Foellmer 2004: 90 ff. Ähnlich urteilt Michel Foucault über das 19. Jahrhundert, das sich durch analytisches Graben in die Tiefe statt Oberflächenschau und Repräsentation auszeichne: »Um den Punkt zu erreichen, an dem sich die sichtbaren Formen der Wesen verknüpfen […], muss man sich jenem Gipfel, jener notwendigen, aber nie zugänglichen Spitze zuwenden, die sich außerhalb unseres Blicks in die Richtung des Herzens der Dinge gräbt.« (Foucault 1980: 295)
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zwischen Lokalem und Globalem, zwischen Einheit und Vielheit bewegt und Erkenntnisse als »fließende Knoten« wahrnimmt, an die sich von Zeit zu Zeit Charakteristika anlagern, welche jedoch nicht von Dauer sind (ebd.: 327). Den Bewegungsmustern des Odysseus folgend, ereignen sich Passagen, die zuweilen an einer Insel halt machen, einer »zeitweilig stabilen Lokalität […], auf der eine andere, lokale Zeit entstünde, welche die alte, gewöhnliche Zeit, die Zeit des Parcours vergäße.« (Ebd.: 353) Die im Titel dieses Buches vermerkten Inventuren sind insofern in ihrer doppelten Lesart zu verstehen: als temporäre Sedimente, die sich in Diskursen über Tanz anlagern, dabei jedoch durchaus flüchtig sind. Sobald womögliche ›Techniken‹ des Metamorphen etwa bei Xavier Le Roy fest-gestellt werden können, versagen sie schon ihren Dienst: als Markierung für ›den‹ zeitgenössischen Tanz ebenso wie als dauerhaftes Emblem des Kontingenten, Experimentellen, denn eine tendenzielle Kategorisierung kann das Versprechen des Oszillierens nicht mehr einlösen. Oder etwa doch? Können auch Bilder weiterhin eine Fluidität behalten und das Paradox durch einen schmalen, bis zum Platzen gespannten Rand zusammenhalten, der Körpermotionen wie jene von Le Roy für den weiteren ›Gebrauch‹ im Tanzgeschehen verfügbar macht? Und was geschieht mit jenen Körperpattern? Bleibt ihnen ihre groteske Erscheinung erhalten oder fließen sie in einen Mainstream sich etablierender ›Stile‹? Der Versuch, Pattern des Kontingenten herauslösen zu wollen, begegnet also einer gleich dreifachen Transitorik: jener des Tanzes, als immer schon vergangener Bewegung, jener der flüchtigen Ästhetik sich transformierender, nicht durch ein Tanzvokabular geprägter zeitgenössischer Körper und jener der Bilder, die erscheinen, jedoch unter dem Widerspruch einer ›fixierten Kontingenz‹ zerfallen.
Erste methodische Annahme Im Folgenden soll versucht werden, im Rahmen dieser Paradoxa Linien durch den zeitgenössischen Tanz seit Beginn der 1990er Jahre zu ziehen. Als Hilfsmittel dient mir dabei unter anderem das taxonomische Verfahren Michel Foucaults, ein »Netz von Analogien«, das es ermöglichen soll, auf einer breiten horizontalen Fläche Affinitäten und Vergleichbares aufzuspüren, ohne es in den Grund der Erkenntnis einzugraben (Foucault 1980: 11). Foucault bedient sich dabei der Theorien von Ähnlichkeit aus der Renaissance, die er auf ein allgemeineres epistemologisches Modell überträgt (ebd.: 24), das sich in vier Ebenen darstellt: Ähnlichkeiten als direkte Nachbarschaft (convenientia), als Reflexion entfernter Dinge (aemulatio), als Analogien (in denen sich die beiden Ersteren überlagerten) und Sympathien (die flüchtigste der vier) (Foucault 1980: 46 ff.). Foucault folgend, werden in diesem Buch einige Zeit- und Genresprünge vollzogen: von den 1990er Jahren in die Renaissance, über den Barock und die 1920er Jahre wieder zurück ins 21. Jahrhundert, vom Tanz in die bildende Kunst sowie Video- und
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Live Art. Ich habe deshalb den Fokus nicht auf zwei oder drei choreographische Einzelpersönlichkeiten gelegt, deren Wirken ausführlich dargestellt wird, sondern einen bewusst breiteren Ansatz gewählt, der auch kleinformatigere Produktionen berücksichtigt, die nicht immer ausgedehnt international präsent sind. Hierbei werden Phänomene oszillierender, difformer Bewegungen aus so disparaten Bereichen wie Ballett und zeitgenössischem Tanz sowie Beispiele aus den benachbarten Genres der bildenden Kunst und der Performance versatzstückartig unter die Lupe des Grotesken geschoben, einzelne Szenen oder Körperbilder herausgeschnitten, über die entstehenden Analogien verglichen und zu choreographischen Beispielen der jüngeren Zeit ins Verhältnis gesetzt. Sie weisen jeweils Merk-Male und Praktiken auf, die es erlauben sollen, sie in den Zusammenhang einer Ästhetik des Unabgeschlossenen zu stellen. Manche der entdeckten ›Inseln‹ sind größer als die anderen, verfügen über vielfältigere Anschlussmöglichkeiten oder Repertoires und erhalten daher mehr Aufmerksamkeit. Eine so breit gestreute Sichtweise kann allerdings eine jeweils ausführliche Behandlung der Ästhetiken und Produktionen der einzelnen Künstler/innen nicht leisten – hier sei auf die in jüngster Zeit erschienenen Publikationen etwa zu William Forsythe, Meg Stuart, Xavier Le Roy, Jérôme Bel und Sasha Waltz verwiesen.3 Mit Serres gesprochen, entsteht ein wuchernder Raum, voller »Knoten«, die sich ablagern und wiederum neue Knoten, Netze und Verkehrswege bilden (Serres 1999: 407). Die Hoffnung dabei ist, zu zeigen, inwieweit die beschriebenen Choreographien als grotesk verstanden werden können: im künstlerischen Sinne als Grenzüberschreitung zwischen Körper und Umraum, performerischer Praxis und Aufführungsrahmen, Bildproduktionen und ihrer Rezeption, in wissenschaftlicher Hinsicht als Changieren zwischen Manifestation und Verwerfung. Auf diesem Weg ist zu erproben, inwieweit eine Lesart grotesker Inventuren einen erkenntnistheoretischen Stau vermeiden kann. Die im Eingangszitat gestellte Frage nach dem Material, das tanzt, und seinen grotesken Verschiebungen macht eine genauere Aufarbeitung von Körperkonzepten, Materialität, Grenzen und Rahmen notwendig und wirft die Frage auf, wie und aus welcher Perspektive diese sich bewegende Körpermaterie beschrieben und analysiert werden könnte. Die folgenden Abschnitte werden die für dieses Feld wesentlichen Körpertheorien kritisch skizzieren sowie die Aspekte des Grotesken einer Revision unterziehen und es als relevantes Werkzeug in Theorie und Ästhetik ausweisen. Eingewoben sind außerdem bis dato publizierte tanzwissenschaftliche Tendenzen, soweit sie um Fragen der Wahrnehmung und Beschreibbarkeit von Bewegung sowie der Gestaltbildung und -auflösung auf der Bühne kreisen.
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Vgl. Schulze 1999, Ploebst 2001, Husemann 2002, Evert 2003, Fontaine 2004, Lepecki 2006, Siegmund 2006, Jochim 2008.
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2 Körpermaterialien. Widerstand und Entzug oder: What a Body You Have, Honey? Auf der weißen Bühne ist ein mit dickem weißem Steppdeckenmaterial vollständig verhüllter Mensch zu sehen. Einem Michelinmännchen ähnlich, schleppt er sich über die Bühne, mit langsamen, teils unkoordiniert wirkenden Schritten, wobei nicht entscheidbar ist, ob sich die Figur vorwärts oder rückwärts bewegt. Da das Verpackungsmaterial auf allen Seiten gleich ist, schwankt die Publikumswahrnehmung beständig zwischen dem, was vorne oder hinten sein könnte (Abb. 2).
Abb. 2: Eszter Salamon, What a Body You Have, Honey (2001), Photo: Katrin Schoof
Abb. 3: Eszter Salamon, What a Body You Have, Honey (2001), Photo: Katrin Schoof
Nach einer ganzen Weile verschwindet die vermummte Figur unter einer ebenso weißen Steppdecke, die sich bald darauf wie ein amöbenartiges Wesen über die Bühne windet und dabei einige ›Hinterlassenschaften‹ verstreut: Offenbar schält sich der Mensch unter der Decke allmählich aus seiner dicken Körperverkleidung (Abb. 3). Die Steppdecke wird nun sehr flach und gleitet über den Bühnenboden, als habe sie ein Eigenleben. Wenig später kommt die Tänzerin Eszter Salamon unter dem Gebilde zum Vorschein. Jedoch findet nun kein Schwenk von Undefi-
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niertem zu Erkennbarem statt. In losen, weißen Trainingskleidern robbt Salamon auf dem Rücken liegend über den Bühnenboden, fast mit dem Weiß des Belags verschmelzend. Die Fortbewegungen erfolgen ausschließlich aus Hüfte und Torso heraus, so dass die Gliedmaßen unkontrolliert über den Boden schlenkern, wenn sie sich nach links oder rechts bewegt. Zusätzlich bedeckt mit einer langen, fransigen Perücke, die das Gesicht verbirgt, entsteht wie zuvor der Eindruck einer oszillierenden Wahrnehmung, da Körpervorder- und -rückseite sich permanent zu vertauschen scheinen. In ihrem Stück What a Body You Have, Honey (2001) zeigt Eszter Salamon einen Körper, der sich nicht auf koordinierte Bewegungen festlegen lässt. In permanentem De- und Re-Shaping wird er zuweilen gar zu einem apersonalen Bewegungsobjekt, dessen unkenntliche Wucherungen das Volumen des Körpers sukzessive auflösen und seine Konturen so weit verflachen lässt, dass er schlussendlich nur noch aus langsamen Bewegungen zu bestehen scheint, die nicht mehr auf auf einen ›dahinterstehenden‹ Menschen rückführbar scheinen.
2.1 Im Reich der Anti-Materie? Tanz zwischen Präsenz und Abwesenheit Wie sind Materialitäten auf der Bühne beschreibbar, besonders wenn es sich nicht um eine Tanzästhetik handelt, die ein benennbares Bewegungsvokabular als Basis hat? Wie ließe sich Fluides, Vor- oder Nicht-Bedeutendes artikulieren, da es doch immer schon durch die Lesebrille der Rezeption erfasst ist, wenn wir darüber schreiben (vgl. Wortelkamp 2006: 7)? Dabei fordert die Nennung des Körpers im Titel des vorliegenden Buches freilich schon dazu auf, nachzufragen, von welchen Körpern denn hier überhaupt die Rede ist. Ich habe mich daher auf eine Wanderung durch Körper- und Materialtheorien der letzten Jahre begeben. Die Faszination, dem Material, dem »Ding an sich« erkenntnistheoretisch nahezukommen, ist immens, wie ich feststellen konnte, jedoch in letzter Konsequenz immer wieder von einem Scheitern geprägt. Diese stetig wiederkehrende Debatte soll hier nachvollzogen werden. Auf Seiten der Theorien des Performativen hat Judith Butler in ihrem Buch Bodies that matter (1993) eine leichte Revision ihres Konzeptes der »Performanz« als subjektbildende Strategie (Butler 1991: 206) vorgenommen. Ihr gehe es nicht um eine Konstruktion von Körpern allein aus sprachlichen Bedingungen heraus (Butler 1993: 14). Vielmehr handele es sich bei der Subjektivierung um Prozesse des Materialisierens, die »im Laufe der Zeit stabil« würden (ebd.: 32). Damit sind nicht unwiderrufbare Identitätsbildungen gemeint, vielmehr zeige sich, dass diese Materialisierungen beständig zu wiederholen sind, man ihnen buchstäblich »Gewicht verleihen« müsse (to matter) (ebd.: 58), um deren Stabilität innerhalb nor-
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mativer Gefüge zu erhalten.4 Wie aber sind dann Widerstand und Veränderung möglich? Butler betont, dass der Prozess des Materialisierens von Anbeginn mit Signifikationen verbunden sei (ebd.: 57), das sogenannte Nicht-Intelligible könne sich also nur in einem Bereich des »konstitutiven Außen« befinden, so ihre Formulierung (ebd.: 66).5 Es ist Bedingung der Materialisierung, aber letztlich nicht darstellbar. Mit anderen Worten: Es gibt zwar etwas wie eine wild wuchernde, de-formierte, noch nicht mit Bedeutungen überzogene Materie, doch kann man nicht darüber sprechen, ohne sie sogleich wieder mit Bedeutung zu beladen und in ein bestimmtes Sichtfenster zu rücken. Bereits 1934/35 problematisiert Michail M. Bachtin dieses Dilemma im Zusammenhang mit seinen Überlegungen zu Kunst und Literatur. Gegen den damaligen Mainstream eines (sowjetischen) Materialismus ankämpfend, der die Materialanalyse zum einzig zulässigen Mittel der Kunstbeschreibung erklärt habe, um Ideologien zu entgehen (mithin aber selbst eine bilde, Bachtin 1979: 101 ff.), verweist er ausdrücklich auf die Unmöglichkeit eines solchen Vorhabens: »[K]ein einziger kulturell schöpferischer Akt hat es mit einer der Wertung gegenüber völlig indifferenten, völlig zufälligen und ungeordneten Materie zu tun – Materie und Chaos sind überhaupt relative Begriffe –, sondern immer mit etwas bereits Bewertetem und Geordnetem […]. So findet der Erkenntnisakt die Wirklichkeit bereits in den Begriffen des vorwissenschaftlichen Denkens bearbeitet […] vor. […] Was von der Erkenntnis vorgefunden wird, ist also kein res nullius, sondern die Wirklichkeit ästhetischen Sehens.« (Bachtin 1979: 112)
Freilich befindet sich Bachtin mit seiner Position noch in der Zeit der sowjetischen »Formalen Schule«; mit der Diskussion von Form und Inhalt versucht er, das Konzept eines künstlerischen Sehens, verflochten mit den Kontexten einer »Lebenspraxis« (Grübel 1979: 26), der strikten linguistischen Semiosis gegenüberzustellen (Bachtin 1979: 128). Allerdings wird hier bereits deutlich, inwieweit kulturelle Akte, die, so Bachtin, immer grenzüberschreitende seien (ebd.: 111), mit dem ›immer schon‹ der Erkenntnis kollidieren. Im Bereich des zeitgenössischen Tanzes verweist André Lepecki auf dieses Spannungsverhältnis am Beispiel von Jérôme Bels The Last Performance (1999). Nicht das Ende der Repräsentation werde hier eingeläutet, sondern vielmehr gezeigt, dass das Ideal des Neuen, Unbeschreibbaren sowohl ein Projekt wie auch eine Unmöglichkeit bleiben müsse (Lepecki 2006: 49). Mit Jacques Derrida argumentiert er, dass Repräsentation »immer schon« begonnen habe und niemals ende (ebd.).
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Birgit Müller betont in Butlers Konzept einer »materialisierende[n] Körperpraxis« die beständigen, notwendigen Grenzziehungen innerhalb repräsentierender Systeme, in denen sich der Körper als Referent situiere (Müller 2002: 356 f.). Den Begriff bezieht Butler an dieser Stelle auf den platonischen Diskurs.
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Das Randständige, das wild materialisierende Außen scheint sich also der Versprachlichung zu entziehen, oder aber: Es ist nicht ohne den Imperativ des »immer schon« zu denken. Diese These der Undarstellbarkeit betont auch der Philosoph Dieter Mersch, wenn auch nicht im Anschluss an Butler (Mersch 2005: 32). Er spricht vom Paradox sowohl der Materialität wie auch des Performativen: Es gehe um eine Setzung, um die Verbindung von Sagen und Zeigen (ebd.: 31), wobei sich jedoch das Sagen selbst nicht thematisieren lasse (ebd.: 32). Es bleibe außen vor, entziehe sich, konstituiere jedoch gleichwohl den Prozess des Bedeutens. Diese Setzungen wiederum seien nicht rekonstruierbar: Sie bringen Zeichen hervor und haften ihnen an, lassen sich jedoch nicht fest-stellen, allenfalls, so Mersch, »remarkieren« (ebd.). Ebenfalls mit Derrida postuliert er daher in Bezug auf die Schrift das Erscheinen einer Gegenwart, einer Ereignishaftigkeit, die der Signifizierung zuvorkomme (Mersch 2002: 371): »Dann ›gibt (es)‹ eine Präsenz, die keiner Inschrift oder Spur folgt, um zu ›erscheinen‹, nicht einmal ein ›Es‹, das erscheint, sondern Augenblick der Erscheinung selbst [sic!], dessen Bekundung geschieht, in dem es gleichsam der Lücke der Zeichen, ihrem Zwischenraum, ent-springt, der zugleich die Unauslöschbarkeit ihrer Setzung bekundet.« (Mersch 2002: 379)
Mersch betont daher den Charakter der Widerständigkeit avantgardistischer Kunst, etwa in den Lautdichtungen Kurt Schwitters’, deren Sinneinheiten so lange zerschnitten und dekonstruiert würden, bis nur noch »die Leiblichkeit des Klangs« im Sinne einer ereignishaften Präsenz übrig bleibe (Mersch 2006: 214). Die Stimme als materieller Zeichenträger selbst betritt also die Bühne. Indessen kann man fragen, inwieweit hier Kunst idealisiert wird als Residuum widerständiger Erfahrung und was mit dieser Kunst und ihrem Leiblich-Sein geschieht, sobald man sie be-spricht. Für den Tanz formuliert Mersch daher die Notwendigkeit einer »präzisen Lektüre« von Körpertechniken und Kompositionsverfahren, die er vorläufig als »dance literacy« bezeichnet – diese habe sich jeweils am spezifischen Gegenstand zu artikulieren und folge den Spuren von Negation, Entzug und Fragmentierung (Mersch 2007: 272). Ähnlich wie in seinen Ausführungen zur Stimme prononciert Mersch am Beispiel der Stücke Pina Bauschs zwar die Unverfügbarkeit schlüssiger Interpretationen, indem er das Erscheinen körperlicher Präsenz hervorhebt, das sich durch Schwitzen und Atmen zeige (ebd.: 271). Er legt jedoch anschließend mit den Kategorien »Raum – Körper – Bewegung – Rhythmus« eine recht genaue Systematik vor, über die er Bauschs Choreographie Le Sacre du Printemps (1975) beispielhaft beschreibt (ebd.: 280). (Bühnen)Tanz sei demnach immer im Wechsel zwischen »Bewegung und Bewegtwerden, Handlung und Widerfahrnis, Körper in actu sowie besetzte[m] oder besessene[m] und enteignete[m] Körper« zu suchen (ebd.: 283). Gerald Siegmund hat sich ebenfalls dem Zwiespalt von Unsagbarem und zu Besprechendem gewidmet. Die verschiedenen Theorien dekonstruierend, dreht er
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das Präsenzparadigma um.6 Mit seiner These von der Abwesenheit im Tanz als kritischem Gegenentwurf zu den Positionen von Präsenz und Sinnlichkeit – als Signum des Performativen – optiert er dafür, dass Bühnenkörper immer schon »ein imaginäres Modell des Körpers« seien (Siegmund 2006: 44). Auf Daniel Sibony Bezug nehmend, schlägt er ein Konzept des »begehrenden Körpers« vor, der sich in der Situation einer Tanzaufführung auffalte in den »tanzende[n] Körper«, den »zuschauenden Körper« und die dritte körperliche Instanz des »Anderen«, die in diesem Entwurf als (kulturelle, symbolische) Folie dient, vor der sich jedwede Tanzaufführung ereigne (Siegmund 2006: 42 f.). Dem zeitgenössischen Tanz komme ein kritisch-künstlerisches Potential zu, da er von der Position des Abwesenden her agiere,7 das Siegmund im Anschluss an Georges Didi-Hubermans Rede vom »le visuell« »das Bewegende« nennt, als eine »Möglichkeitsbedingung der Gestaltung« (ebd.: 101 f.). Das Visuelle ist laut Didi-Huberman das Movens im Prozess des Blickens, der sich nicht als verlustfreie Übersetzung ergebe (Didi-Huberman 2000: 24 ff.). Vielmehr sei das Verhältnis von Betrachtendem und angesehenem Gegenstand durch den »Entzug in der Wahrnehmung« konstituiert, wie Siegmund paraphrasiert (Siegmund 2006: 101). Das Bewegende ist in dieser Lesart ein blinder Fleck, nicht einholbar, jedoch »eröffnet [es] Räume für potentielle Körper, die noch nicht und schon wieder nicht mehr sind.« (Ebd.: 103) Infolgedessen könne die Rede über den Körper immer nur über seine imaginativen Projektionen erfolgen (ebd.: 105). Genau hier tut sich aber ein Widerspruch auf. Denn wenn über das Gesehene im Sinne eines Imaginären gesprochen wird, scheint die Produktion von Bildern unvermeidlich zu sein.8 Oder aber: »Die Artikulation des Dazwischen« gelingt (ebd.: 369), dann aber schiebt sich zuweilen doch eine unvermeidbare Präsenz zwischen die Zeilen. So etwa in Siegmunds Analyse des Le Royschen Stückes Self unfinished und der Frage, inwieweit hier ein organloser Körper (oK) hergestellt werde. Siegmund reflektiert Gilles Deleuzes und Félix Guattaris Lesart des 6
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Ich danke Gabriele Brandstetter für diesen Hinweis. Siegmund kritisiert den Präsenzbegriff u.a. von Martin Seel ausführlich und stellt dessen Ausführungen sein Konzept der Abwesenheit gegenüber (Siegmund 2006: S. 49 ff.). Die Polarisierung von Repräsentation und Präsenz kam nicht zuletzt mit den Aktionen der Protagonist/innen der New Yorker Judson Memorial Church in den 1960er Jahren auf. Sie lehnten repräsentative Körperbilder und Bewegungen mit ihrer »Ästhetik der Verneinung« ab (vgl. Banes 1987: 41 ff.). Franz-Anton Cramer nimmt auf den Topos der Abwesenheit Bezug, indem er nach Utopien im zeitgenössischen Tanz fragt und konstatiert, dass diese offenbar nur noch in der Negation, in der Auslöschung des Körpers formuliert werden könnten (Cramer 2004: 82 f.). Er weist darauf hin, dass eine solche ästhetische Sicht nicht der Weisheit letzter Schluss sein könne und bemerkt: »Vielleicht könnte jenes kokette Spiel vom Verschwinden nur ein Umweg sein, um die ideologischen Körper loszuwerden.« (Ebd.: 86) Darauf weist auch Siegmund hin: Der Blick auf tanzende Körper sei immer verbunden mit der »Tendenz, sie zu Bildern zu machen und festzustellen.« (Siegmund 2006: 307)
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Artaudschen oK kritisch, indem er deren Idealisierung eines Körpers ohne Signifikanz und ohne Spuren mit Antonin Artaud zugunsten »der Unhintergehbarkeit des fleischlichen Körpers an der Schwelle zur Sprache« widerlegt (ebd.: 383). Siegmund negiert nicht, dass auch Le Roy oder Jérôme Bel von einer symbolischen Ordnung tangiert seien, betont aber, dass »zwischen dem Symbolischen das Abwesende« aufscheine (ebd.) – allein, es fehle die »Tanzsprache«, die das Gesehene in ein ordnendes Schema einfügen könne (ebd.: 383 f.). Im Falle von Le Roy sieht nun Siegmund das Um-Gehen von Bedeutung in einem »ungeteilte[n], mobile[n] Körper, der sich ohne Zäsuren permanent im Fluss befindet«, verwirklicht (ebd.: 385). Hier aber, so meine ich, ist die Schwelle zur Präsenz sehr nah, und je nach Perspektive schwankt man zur einen oder zur anderen Seite. Peggy Phelan postuliert die Gegenwart und Unwiederholbarkeit der Performance als Ausdruck des Widerstands gegen die ökonomischen Bedingungen eines kapitalistischen Systems (Phelan 1993: 146). Siegmund zeigt dagegen auf, dass eine solche Weise der Gegenwärtigkeit gerade in den letzten zwei Jahrzehnten problemlos in den Markterfordernissen einer globalisierten Welt aufgegangen ist, in ihrem Streben und der Notwendigkeit nach immer Neuem (Siegmund 2006: 67). Zudem seien die von Phelan besprochenen Performances so spurlos nicht, da häufig Videos und andere Dokumente existierten (ebd.: 65). Siegmund plädiert nun für eine Praxis, die sich nicht nostalgisch auf das Transitorische des Ereignisses beruft, sondern die Abwesenheit selbst auf die Bühne holt (ebd.: 68). Und doch: In der Rede über theatrale Ereignisse, etwa in Self unfinished, tritt bisweilen ein Körper auf, der überpräsent, da unteilbar erscheint – und mithin dennoch wieder einen Grundstein zur Fragmentierung, aber eben auch zur Er-Findung von Bildern legt. Ist also der Versuch, über das Materielle, das Wuchernde, das sich im Aufschub, zwischen den Zeichen Befindende zu reden, zum Scheitern verurteilt? Können Körper auf der Bühne ihrer Belegung durch Bedeutungen und Bilder nicht entrinnen?
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3 »Quel corps«:9 Körper, Leib oder Fleisch? »Die Körper sind vollkommen unantastbar. Jeder ist eine Jungfrau, eine Vestalin auf ihrem Lager: und jene ist nicht Jungfrau, weil sie geschlossen ist, sondern weil sie offen ist. Das ›Offene‹ ist, was jungfräulich ist und es für immer bleibt. Das Überlassen ist, was ohne Zugang das Ausgedehnte ist, was ohne Eingang bleibt. Und damit ist ein zweifaches Scheitern gegeben: Scheitern, vom Körper zu sprechen, Scheitern, ihn zu verschweigen.« Jean-Luc Nancy (2003: 52 f.)
Von welchen Körpern und Materialien ist überhaupt die Rede, die sich entziehen, widerstehen oder doch in Imaginationen und Symbolsystemen wieder erscheinen? Welche Weisen der Beschreibung können es ermöglichen, Körper an ihren Grenzen zu erfassen, ohne sie zum Objekt wissenschaftlich instrumentalisierter Darstellung zu machen, in Zeiten der »›Krise der Repräsentation‹« (Schulz 2002: 3)? Jean-Luc Nancy vertritt, wie das obige Zitat andeutet, eine betont antidiskursive Position, die das Sprechen über den Körper als Figur des Scheiterns ausbreitet und Körperlichkeit in einer anticartesianischen Wende als ontologisches Absolutum setzt, das allerdings nicht frei von Widersprüchen ist, sondern sich selbst als Grenzerfahrung gibt, als »›Schwebe‹ des Sinns« (Nancy 2003: 25 ff., 66). Nancys Vorschläge als Anregung verstehend, jedoch diskursive Formationen mit bedenkend, nehme ich für meine folgenden Betrachtungen eine leibkritische Position ein, die wuchernde Materialitäten nicht als Rückkehr einer authentischen Erfahrung versteht, sondern die Kluft zwischen Sich-Ereignen und Bedeuten offenhält beziehungsweise zwischen solchen Polaritäten schwingt. Im Verlauf dieses Buches wird erprobt, inwieweit das Groteske als Instrumentarium dienen kann, solche Widersprüche aufgespannt zu halten und zugleich Phänomene von Bühnenkörpern als offene, sich beständig um-bauende und doch Bilder ablagernde Matrix zu erfassen. Um die Analysen der Beispiele im zeitgenössischen Tanz zu rahmen, wird im Folgenden ein sehr kurzer Abriss gegeben über biopolitische Implikationen10, die dem Körper seit gut zwanzig Jahren regelrecht epistemologischen Status zugewiesen haben. Daran schließen sich besonders für die Tanzwissenschaft relevante Positionen der Wahrnehmung von Körpern als 9 Zitiert nach dem gleichnamigen Buch von Belting/Kamper/Schulz 2002. 10 Biopolitik umschreibt in diesem Zusammenhang die Frage nach dem Körper als vorgebliche ›Natur‹ versus der Konstruiertheit körperlichen Erscheinens. Die von Giorgio Agamben vertretene Position, wonach mit Foucault biopolitische Strukturen als Machtpotentiale in der »Politik der großen totalitären Staaten des 20. Jahrhunderts« verortet seien und »Entscheidungen über das nackte Leben« etwa in Flüchtlingslagern nicht mehr die Ausnahme, sondern den Regelfall darstellten (Agamben 1995: 127, 130), werden im Kontext des vorliegenden Buches nicht diskutiert.
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sich bewegende Objekte und Subjekte auf der Bühne an, die zumeist über phänomenologische Ansätze erfolgen. An dieser Stelle kann keine umfassende Gesamtschau über die vielfältigen Publikationen im Forschungsfeld Körper geleistet werden, vielmehr verdichtet sich die Diskussion auf jene Gebiete, die um die Materialität und die Frage nach Stabilisierung und Destabilisierung von (diskursiven) Körpergrenzen kreisen.
3.1 Das dualistische Dilemma I: ›Natur‹ und Präsenz versus ›Kultur‹ und Absenz Mit der Wiederkehr des Körpers beschreiben die Herausgeber Dietmar Kamper und Christoph Wulf eine Parabel. Zwar wird ein vermehrtes Wiederauftauchen des Körpers in wissenschaftlichen Diskursen konstatiert, doch sei sein Erscheinen nur ein Gastspiel, ein kurzes Sichtbarwerden vor seinem endgültigen Verschwinden (Kamper/Wulf 1982: 9). Was aber ist das für ein Körper, der hier die Bühne betritt und scheinbar schon gleich wieder auf dem Sprung ist? Kamper und Wulf setzen in ihrer Einleitung bei der Trennung von Geist (Ratio als Existenzversicherung) und Körper (ausführendes Instrument) an (ebd.: 12) – und man kann die hier beschriebene cartesianische Operation geradezu als Urszene einer Spaltung verstehen, die seither, und besonders seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, sämtliche Philosophien und Erkenntnistheorien durchzieht in deren Versuchen, die beiden entzweiten Hälften wieder zusammenzufügen. Davon soll im nächsten Abschnitt ausführlicher gesprochen werden. Die beiden Autoren formulieren einen Körperbegriff, der an Materialität im Sinne von Organik gebunden ist, die durch die Überformung mechanisierter Lebensprozesse zugerichtet werde – dazu gehören etwa die Bevorzugung des Ferngegenüber des Nahsinns und der vermehrte Einsatz von Maschinen (ebd.: 13 f.). Der sich seit Mitte der 1980er Jahre anschließende Diskurs11 bewegt sich im Spannungsfeld einer polaren Dreiheit: der eines obsoleten Körpers und der positiven Bejahung anthropo-mechanischer Verbindungen, die die bloße, defizitäre Organhülle ersetzen sollen – entlang dieser Vorstellungen entwickelt zum Beispiel der australische Künstler Stelarc seine Experimente (vgl. Evert 2003: 197 ff., Ernst 2003: 20, 189 ff.). Daran schließt die Sehnsucht nach einer Rehabilitie-
11 Der Fülle der wissenschaftlichen Publikationen zu diesem Thema kann im Rahmen dieser Arbeit nicht ausführlich nachgegangen werden. Verwiesen sei u.a. auf Maren Lorenz’ Überblicksgeschichte zu Körpertheorien (2000) wie auch auf Publikationen im angloamerikanischen Raum, darunter etwa Barbara Maria Stafford (1997), die eine kritische Geschichte des Körpers als epistemologisches Instrument von Macht, Wissen, Zuschreibungen und Öffnungen in der Aufklärung entwirft, sowie Michel Fehers Anthologie (1989), der den Körper als zu historisierenden Problemgegenstand in den Bereichen Materialität (Teil 1), Geste, (ethische) Haltung und Bewegung (Teil 2) sowie Macht und Biopolitik (Teil 3) verortet.
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rung authentischer Leiberfahrung in einer entfremdeten Welt an (vgl. Lorenz 2000: 33) beziehungsweise drittens der Wunsch nach einer »neue[n] Verschränkung zwischen natürlichem und kulturellem oder künstlichem Körper« (von Samsonow 2002: 178)12 sowie Vermittlungsversuche zwischen Präsenz und Repräsentation, Aisthesis und Semiosis, wie sie im vorherigen Abschnitt skizziert wurden. Donna Haraway zeichnet ein Bild von »lustvoll enge[n] Verkopplungen« und propagiert den/die Cyborg als Modell für eine Überwindung des MenschMaschine-Dilemmas (Haraway 1995: 37). In ihrem feministisch unterfütterten »Manifest« formuliert sie Körper als Austragungsorte hierarchischer Verhältnisse (ebd.: 70) – dabei werden die bedrohlichen Maschinen zu Metaphern der Macht, die es lustvoll zu integrieren gelte: »Das bedeutet zugleich den Aufbau wie die Zerstörung von Maschinen, Identitäten, Kategorien, Verhältnissen, Räumen und Geschichten.« (Ebd.: 72) Haraway spielt damit auf Foucaults Thesen der Zurichtung und Disziplinierung des gelehrigen Körpers durch herrschende Ökonomien an (vgl. Foucault 1977: 36, Foucault 2005: 19 ff.). Anders als der französische Philosoph sieht sie menschliche Praktiken zwar in Diskursfeldern verortet, jedoch formuliert sie, ähnlich wie Butler, ein Handlungspotential, das durch die Vereinnahmung von Machtstrukturen und Entfremdungsmechanismen jene subversiv unterlaufen kann. Der Mensch und sein Körper wird in dieser Lesart zum Mischwesen, einem »Monster« (Haraway 1995: 69), oszillierend zwischen apersonalen Diskursen und Handlungen, die einem Subjekt zuzuschreiben wären. Subjektivierung entsteht also nicht in Butlerscher Weise durch Wiederholungszwang, um Normierungen und Identitätsbildung zu garantieren – oder diese parodierend zu unterwandern (Butler 1991: 91, 208, 203 ff.) –, sondern durch monströse Einverleibung. In der Tanzwissenschaft entspinnt sich die Frage nach dem Körper entlang von Abwehrbewegungen gegenüber Ideologien, die gerade den tanzenden Körper als Garant für Authentizität, Natürlichkeit und eine gewisse Zeichenfreiheit verstanden wissen wollen. So kritisiert etwa Isa Wortelkamp Hans-Thies Lehmanns Idealisierung des Tanzes als sinn-loser, »körperliche[r] Gebärdentaumel«, der als (postdramatisches) Gegenmodell zu einer semiotischen, nach Bedeutung suchenden Theaterwissenschaft angeführt werde. Wortelkamp argumentiert, dass Sinnlichkeit und Präsenz nicht ohne Sinn zu denken seien (Wortelkamp 2006: 177). Janine Schulze betont, dass die Suche nach einem natürlichen, authentischen
12 Von Samsonow setzt dem Körper als Ort authentischer Erfahrung oder purem Techno-Körper die Idee des Wachsens entgegen, im Sinne von beständiger Mutation und Transformation (von Samsonow 2002: 179). Die Pointe dabei ist, Natur selbst als »Technikerin« einzuführen (ebd.: 181). Unklar bleibt allerdings, weshalb sie den Begriff der Natur dann noch benötigt, haftet ihm doch in ihrer Lesart immer noch eine Art essentialistischer Restgedanke an.
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Körper im Ausdruckstanz um die Wende zum 20. Jahrhundert13 einem kulturell überformten Ideal entspreche, innerhalb dessen zum Beispiel Isadora Duncans im Tanz scheinbar dargebotener »Naturkörper« – inspiriert von den Vasenbildern der griechischen Antike14 – »das Produkt einer Hochkultur« sei (Schulze 1999: 53). Sie orientiert sich dabei an Gabriele Brandstetters Ausführungen, wonach die Gleichsetzung natürlicher Körper mit den Idealmaßen der griechischen Antike einem medialisierten Naturbegriff entspreche, der in den Kunstbetrachtungen Johann Joachim Winckelmanns seinen Anfang nehme. Demnach sei »angesichts der griechischen Statuen […] in ihrem Anblick […] die Empfindung von ›Natur‹ überhaupt erst wieder möglich« (Brandstetter 1995: 47).15 Tanzende Körper sind also immer schon durch Körpertechniken überformt – in diesem Sinne optiert Kerstin Evert mit Marcel Mauss für ein technisches Körpermodell: »Das Ausführen von Bewegungsfolgen geschieht auf der Grundlage von im Körpergedächtnis gespeicherten Tanztechniken und ihren jeweils spezifischen Methoden der Bewegungserzeugung« (Evert 2003: 10). Sabine Huschka spricht in diesem Zusammenhang von einer »doppelten Artifizierung des Körpers« im Tanz, die sich aufgliedere in eine »individuelle, physisch strukturierte sowie gesellschaftlich codierte Körperlichkeit der Tänzer und ihre tanztechnisch und choreographisch erwirkte Gestalt.« (Huschka 2002: 24) Infolgedessen ergebe sich eine doppelte Verfasstheit des Tänzerkörpers, der immer zugleich »Objekt und Subjekt« seiner Darstellung sei (ebd.: 26). Einer ähnlichen Argumentation folgt Ann Cooper Albright, die mit Butler den Körper im Tanz als ein Doppel von (kultureller) Repräsentation und (persönlicher) Erfahrung formuliert (Albright 1997: 27). Allerdings ist ihr Entwurf noch durchzogen von Wünschen nach einem vorprädikativen, natürlichen Körper, die sich in der Sorge um das 13 Bojana Kunst hebt hervor, dass es u.a. Friedrich Nietzsches Entwurf eines dionysischen Körperkonzepts gewesen sei, der den Tanz in die Nähe authentischer Entwürfe gerückt habe: »The body of dance is the original body – cleared of intellect, separated from discourse, a metaphor for existing in a Dionysian world.« (Kunst 2003: 62) Zwar mag das vorgeblich Natürliche im Sinne einer Ideologie des Authentischen befördert worden sein, allerdings verkennt Kunst die Tatsache, dass sich gerade Tänzerinnen wie Isadora Duncan, aber auch Mary Wigman oder Valeska Gert explizit als Autorinnen ihrer Tänze selbst ermächtigt haben, was sie mit entsprechenden theoretischen Schriften unterfütterten (vgl. Brandstetter 1995: 37, Foellmer 2006: 201 ff.). Brandstetter betont zudem, dass Nietzsches Ideen vielmehr Eingang gefunden hätten in einer »Fusion aus »Vitalismus und Klassizismus« (Brandstetter 1995: 71). 14 Zu den Einflüssen der griechischen Antike auf Isadora Duncan über Vasenmotive vgl. Brandstetter 1995: 72 ff., 111. 15 Brandstetter positioniert entsprechend Duncans Kampfansage gegen die »Degeneration« des Körpers im Ballett als Paradigmenwechsel hin zum »Charakteristikum des ›Natürlichen‹‚ ›Freien‹« (Brandstetter 1995: 59) – die Betonung liegt damit auf einem Körpermodell, das immer schon von Kulturtechniken überformt ist, auch wenn die Korsettierungen des Balletts gesprengt werden. Vgl. auch Brandstetter 2003: 6 sowie zur Natürlichkeit des Körpers als diskursives Phänomen: Klein 1999a: 27.
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»Schicksal materieller Körper am Ausgang des 20. Jahrhunderts« äußern (ebd.: 155). Albright denkt den Körper zwar als notwendig verzahnt mit kulturellen Diskursen, jedoch setzt sie nach wie vor einen Spalt zwischen einer sogenannten »somatic identity« und der »cultural one« (ebd.: 5). Laurence Louppe wiederum hebt hervor, dass zeitgenössischer Tanz den Objekt-Subjekt-Dichotomien, unter anderem als cartesianische Trennung von Körper und Geist, eine Absage erteile beziehungsweise das Opponierende in einem vernetzenden Gewebe inkorporiere: »[L]e corps pense et produit du sens.« (Louppe 1997: 76) Daraus folge, dass Tanz nicht semiotisch zu fassen sei, sondern entlang seiner »fonction lyrique« analysiert werden solle (ebd.: 77). Ein in dieser Hinsicht wissenschaftspoetisches Projekt entwirft Wortelkamp mit ihrer Arbeit zur Reflexion des Schreibens über (tanzende) Bühnenkörper (Wortelkamp 2006). Wie sich zeigt, ist die Thematisierung des Körpers nicht ohne die Frage nach seinen Repräsentationen und Möglichkeiten der Beschreibung zu denken. Sind die anfangs umrissenen Ansätze in einem abstrakteren Feld von Körperpolitik verortet, das erst im Augenblick von subversiven Gegenstrategien eine kritische Relevanz erfährt, ist die Tanzwissenschaft, besonders bei der Betrachtung zeitgenössischer Produktionen, immer wieder vor die Schwierigkeit des Versprachlichens sowie vor Gefahren der Verabsolutierung von Wissen angesichts eines doch schweifenden und ephemeren Gegenstands gestellt,16 wie Wortelkamp ausführlich darlegt (ebd.: 31 ff.). Da die Problematik der Überwindung rational geleiteter Erkenntnismethoden, die angesichts eines bewegten Bühnenereignisses zu versagen scheinen, in der Analyse von Tanz und besonders der Untersuchung von kontingenten, unabgeschlossenen Körperentwürfen einen großen Raum einnimmt, sollen nachfolgend philosophische Projekte dargelegt werden, die den Versuch unternehmen, den Körper als solchen über das rationale Denken hinaus erfahr- und vermittelbar zu machen.
16 Gabriele Klein sieht die Herausforderung der Tanzwissenschaft besonders in der Schwierigkeit begründet, »für ein dialogisches, nicht-diskursives Phänomen wie den Tanz Diskurse [zu] schaffen, den Tanz diskursfähig zu machen.« (Klein 1999: 38) Brandstetter nähert sich der Beschreibungsproblematik aus einer ästhetischen Perspektive und entwirft den Gedanken eines tanzenden Körpers, der sich, im Wortsinn choreo-graphisch, in den Raum (ein)schreibe (Brandstetter 1999a: 28). Zur Schwierigkeit, das Ephemere zu artikulieren, vgl. außerdem Huschka 2002a.
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3.2 Das dualistische Dilemma II: Zwischen Materialitäten und Bedeutungen Der französische Philosoph Maurice Merleau-Ponty hat in den vergangenen Jahren in der Tanz- und Theaterwissenschaft große Beachtung erhalten, da sich sein phänomenologisches Konzept der Wahrnehmung, das den Leib zum Zentrum von Empfinden und mithin Erkenntnis macht, als anschlussfähig erwiesen hat für tanzwissenschaftliche Körper- und Bewegungsanalysen und die Frage nach der Perspektive des Blicks auf das Gesehene.17 Besonders sein Spätwerk Das Sichtbare und das Unsichtbare (1964) rückt dabei in den Fokus, wenn es um die Ambivalenz von Differenz und Verflechtung von »Sehen und Sichtbarem« geht (Wortelkamp 2006: 199, 202). Ich möchte Merleau-Pontys Positionen zum Leib daher an dieser Stelle nochmals Raum geben und der Beziehung zwischen Körper und Welt und der Frage nach einer möglichen differenzierten (oder verschlingenden) Betrachtung dieser beiden Phänomene nachgehen, im Hinblick auf die Aspekte der Grenzüberschreitung und die Frage, wie diese zu erfassen wären.
3.2.1 Im Orbit der Dinge oder: Die Unmöglichkeit des Ding-an-sich Merleau-Pontys philosophisches Projekt, so formuliert er es 1945 in seiner Schrift Phänomenologie der Wahrnehmung, ist eine im Anschluss an Edmund Husserl verfolgte Perspektive der Erkenntnis, der es gelingen solle, zu den Dingen selbst zu kommen (PdW: 4). Was hier wie ein utopischer Entwurf anmutet, wird von ihm jedoch wenig später wieder demontiert: Eine »Gegenstandskonstitution«, die sich von einem klassischen Wissenschaftsbegriff des Fixierens und Objektivierens verabschieden wolle, müsse sich eingestehen, dass ihr vorbegriffliches Unterfangen immer nur ein unvollendetes sein könne (PdW: 76 f.) – Merleau-Ponty übernimmt hier Husserls Rede von der »Prätention [des] An-sich17 Zu Problemen der Rezeption in diesem Zusammenhang vgl. Siegmund 2006: 198 ff., Berger 2006: 109 f., Wortelkamp 2006: 197 ff. Sabine Sörgel unterstreicht mit Thomas J. Csordas die Abkehr von einem cartesianischen, objektvierenden Weltbild hin zu einer möglichst ideologiefreien Betrachtung von Körpern im Tanz, die durch phänomenologische Ansätze befördert werden könne (Sörgel 2007: 15). Laurence Louppe wiederum betont die phänomenologische Perspektive als spezifische Weise des Zur-Welt-Seins des Tänzerkörpers und seiner Verbindungen, die sich etwa über das Atmen ergäben (Louppe 1997: 61, 84). Ähnlich argumentiert Gabriele Klein, die im »Verhältnis von Körper, Zeit und Raum« eine phänomenologische Sichtweise als kulturanthropologische Dimension des Tanzes ausbreitet (Klein 1995: 27). Jens Roselt postuliert gar eine Phänomenologie des Theaters: Zentral sei das »Erlebnis markanter Momente« in der Aufführung, eine ästhetische Erfahrung, von der aus das Bühnengeschehen zu analysieren sei (Roselt 2008: 20 f.). Die Phänomenologie könne in diesem Zusammenhang dort ansetzen, wo »hermeneutische Theorien und Analyseverfahren angesichts subjektiver und individueller Erfahrung an das Ende ihrer Möglichkeiten stoßen.« (Ebd.: 146)
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Sein des Dinges der Erkenntnis gegenüber«: Man weiß darum, dass es das Ding gibt, jedoch erlaubt der eigene Erfahrungshorizont immer nur eine bestimmte Seite, eine bestimmte »Erscheinung« des Dinges wahrzunehmen (Husserl 1992: 49).18 Die entscheidende, bereits von Husserl eingeleitete Wende im phänomenologischen Denken ist die Positionierung des Leibes als Mittelpunkt der Welt, wie Merleau-Ponty unterstreicht: »Der Leib ist das Vehikel des Zur-Welt-Seins, und einen Leib haben heißt für den Lebenden, sich einem bestimmten Milieu zugesellen, sich mit bestimmten Vorhaben identifizieren und darin beständig sich engagieren.« (PdW.: 106) Der Leib wird also nicht als passives Ding verstanden, sondern ist ein handelnder Leib: er befindet sich im Kontakt zu seiner Außenwelt, mit der er beständig kommuniziert. Es ist ein intentionales Konzept, »eine ganz bestimmte Existenzweise, in die ich gerate«, erläutert der Philosoph Bernhard Waldenfels (Waldenfels 2000: 85). Die Attribuierung des Leibes als »Vehikel« betont außerdem die Abkehr von statuarischen Ontologien zugunsten eines dynamischen Entwurfs. Im Verlauf seines Buches wandert Merleau-Ponty immer wieder zwischen den Polen von leiblicher Erfahrung und Signifikation, im Ansinnen, sowohl dem cartesianischen Logozentrismus wie dem Empirismus einen dritten Weg gegenüberzustellen, jenseits der »klassischen Dichotomie von Körper und Bewusstsein« (PdW: 149, Anm. 56). Arbeitet er sich in seiner ersten Schrift im Wesentlichen noch an diesen Oppositionen ab, so erweitert der Philosoph zwanzig Jahre später seine Perspektive hinsichtlich eines transzendentalen Entwurfs, der die chiasmatische Verbundenheit von Wahrnehmung und Wahrgenommenem ausarbeitet (vgl. SU: 326). Der Begriff des Fleisches (frz.: chair) in seinem Buch Das Sichtbare und das Unsichtbare (1964) dient ihm als sinnlich aufgeladene Metapher, die enge Verbindung zwischen Leib und Welt zu erfassen: »[D]ie Dichte des Fleisches zwischen dem Sehenden und dem Ding ist konstitutiv für die Sichtbarkeit des einen wie für die Leiblichkeit des anderen; sie ist kein Hindernis zwischen beiden, sondern deren Kommunikationsmittel.« (SU: 178) In seinen Arbeitsnotizen bezeichnet Merleau-Ponty dieses kommunizierende Element auch als »Fleisch der Welt« (SU: 339) in dem Sinne, dass das Gesehene immer schon in den sehenden Leib verschlungen ist, »hineinragt bis in die Umfriedung meines Leibes« (SU: 340).
18 Das »an-sich« ist »prinzipiell niemals gegeben in absoluter Weise, seine Meinung ist immerfort nur Meinung in dem Sinn, dass sie immer eines Ausweises bedarf, der niemals endgültig zu geben ist. Und somit ist auch das An-sich-sein des Dinges der Erkenntnis gegenüber immerfort Prätention, sofern wir das Erfahrungsbewusststein doch niemals wirklich loswerden. […] Das Ding ist in der Erfahrung gegeben und doch wieder nicht gegeben, nämlich seine Erfahrung ist Gegebenheit durch Darstellungen, durch ›Erscheinungen‹. Jede einzelne Erfahrung und ebenso jede zusammenhängende endlich geschlossene Erfahrungsreihe gibt den erfahrenen Gegenstand in prinzipiell unvollkommener Erscheinung, einseitig, mehrseitig, nicht aber allseitig, nach allem, was das Ding ›ist‹.« (Husserl 1992: 49 f.)
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Hier stellt sich nun allerdings die Frage, was den Leib unter der allumfassenden Seinsweise des Fleisches noch von der Welt abgrenzt und wie diese »Umfriedung« beschaffen sein könnte, um das Ich von den Anderen und den Gegenständen zu differenzieren. Zudem klafft zwischen der zuweilen noch in Dualismen verfangenen Theorie des Leibes in der Phänomenologie der Wahrnehmung – in welcher Merleau-Ponty etwa versucht, Unterscheidungen zwischen Leib und Welt über die Termini »Natur« und »Kultur« zu treffen (PdW: 221, 229) – und ihrer transzendentalen Lösung in das Sichtbare und das Unsichtbare eine Lücke: Sie betrifft das Ding, zu dem man kommen möchte, eine Operation, an der man aber offenbar nur scheitern kann. In Abwendung sowohl vom cartesianischen Dualismus wie auch von Immanuel Kants empirischer Theorie (PdW: 52, 55) spricht sich Merleau-Ponty in seiner ersten Schrift deutlich gegen die Annahme einer »Existenz-an-sich« (PdW: 149) aus, also eines »Dinges, das eben da ist, was nicht erkennt, was in absoluter Unwissenheit seiner selbst und der Welt ruht« (PdW: 148). Entsprechend sind die Bewegungen des Leibes niemals die eines unbewussten Automaten (PdW: 151) – Waldenfels betont in diesem Zusammenhang, dass eine Gestalt »immer eine Gestalt für jemanden« sei, sich also auf etwas hin entwirft (Waldenfels 2000: 74, Hervorhebung S.F.). Merleau-Ponty ist zudem kein Verfechter des Subjekts als autonom handelnde, psychologische Instanz. Das französische sujet ist vielmehr etwas, das »eine ›Gestaltung‹ erfährt«, also unabgeschlossen ist (PdW: 7, Anm. d).
Einschub: Merleau-Ponty, Foucault und das Subjekt Foucault spricht sich in seinem Vorwort zur Ordnung der Dinge, das zwei Jahre nach Merleau-Pontys Spätwerk erschien, recht vehement gegen die phänomenologische Auffassung aus, die dem handelnden Subjekt oberste Priorität vor aller Historisierung gebe und es mithin in einem transzendentalen Zusammenhang verorte (Foucault 1980: 15). Mag die Kritik vordergründig berechtigt sein, so verkennt sie jedoch, dass es Merleau-Ponty mit seinem Entwurf des Fleisches vielmehr um ein allumfassendes Wahrnehmungskonzept zu tun ist, das eben keine Trennung mehr zwischen Leib und Welt vollzieht. Die Frage ist also, wie dann noch von einem autonomen Subjekt die Rede sein könnte.19 Zwanzig Jahre zuvor gibt Merleau19 Rudi Visker versucht in diesem Sinne eine vorsichtige Annäherung der beiden Philosophen. Er unterstellt Merleau-Pontys Spätwerk die Formulierung einer »indirect ontology« (Visker 1999: 170) und stellt fest: »Just as Foucault tries to account for a ›there is order‹ […] by introducing discourse, so Merleau-Ponty tries to conceive of a ›consciousness‹ which would not be ›too poor‹ (as in empiricism […]) to account for a ›there is meaning‹ […], not already containing everything in itself and hence too rich to accept a meaning already intimating itself before its constitution (as in intellectualism […]).« (Ebd.: 96)
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Ponty bereits entscheidende Hinweise auf seine Seins-Auffassung, die sich vom Primat des cogito als »intellektuellem Bewusstsein« abwendet (PdW: 253). Demnach hat die Wahrnehmung Vorrang vor der logischen Erkenntnis, da man etwa eine Farbe nicht in der gleichen Weise erfasse wie ein Buch oder komplexere abstrakte mathematische Zusammenhänge (ebd.). Wahrnehmen – das immer empfinden bedeutet – heiße, für Eindrücke »empfindlich« zu sein; es sei kein Entscheidungsakt, wie etwa jener, einen bestimmten Beruf zu ergreifen (ebd.). Empfinden trage immer die Tendenz des Apersonalen in sich, das heißt, »dass man in mir wahrnimmt, nicht, dass ich wahrnehme.« (Ebd.) Freilich unterscheidet sich Merleau-Pontys Verabschiedung des Subjekts zugunsten eines empfindenden Leibes-in-der-Welt vom Tod des Menschen in Foucaultscher Lesart. Dieser konstatiert den »anthropologische[n] Schlaf« der Menschheit, insofern, als diese die Motivation ihres Handelns zwar nicht mehr unbedingt als vom menschlichen Willen und Bewusstsein geleitet verstünde, jedoch am Mensch-Sein als »mögliches philosophisches Feld« (sinnlicher) Erkenntnis festhalte (Foucault 1980: 410 f.). Foucault setzt dieser Konstellation das je schon Verflochten-Sein des Menschen in die Diskurse der Sprache (Linguistik), der Arbeit (Ökonomie) und des Lebens (Biologie) entgegen – diese bildeten eigene »Geschichtlichkeit[en]«, in denen sich menschliche Aktionen jeweils eintrügen: »Es verbindet [den Menschen] mit dem, was nicht die gleiche Zeit hat wie er, und es befreit in ihm all das, was ihm nicht zeitgenössisch ist. Es zeigt unaufhörlich und in einer stets erneuten Wucherung an, dass die Dinge lange vor ihm begonnen haben und dass aus diesem selben Grunde keiner ihm, dessen Erfahrung völlig durch diese Dinge gebildet und begrenzt wird, einen Ursprung bestimmen könnte.« (Ebd.: 399 f.)
Wandelt Merleau-Ponty das logische cogito in ein sinnliches um, fordert Foucault mit Friedrich Nietzsche grundsätzlich »das Ende des Menschen« als Ursprungsort von Erkenntnis (ebd.: 412). Plädiert Ersterer für ein »Primat der Wahrnehmung« (2003)20 als erkenntnisbildende Ebene, so betont Foucault die Vernetzung in immer schon vorgängige, historische Diskurse vor der Binnensicht eines erfahrenden Leibes. Das cartesianische cogito hinterfragt er auf der Ebene der nur scheinbar logischen Schlussfolgerung des »Ich denke, also bin ich«, da das Subjekt nie ganz bei sich sei: »In dieser Form wird das Cogito nicht die plötzliche, leuchtende Ent20 Es handelt sich hierbei um die Textfassung der Thesen und anschließende Diskussion der Disputation (1946) von Merleau-Pontys Schrift zur Phänomenologie der Wahrnehmung.
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deckung sein, dass jedes Denken gedacht wird, sondern die stets erneuernde Frage danach, wie das Denken außerhalb von hier, und dennoch sich selbst so sehr nah weilt, und wie es unter den Arten des Nicht-Denkenden sein kann.« (Foucault 1980: 391) Folglich gehe es nicht um diese eine Frage, vielmehr eröffne sich ein ganzer Fächer von Fragen: »Was muss ich sein, der ich denke und der ich mein Denken bin, damit ich das bin, was ich nicht denke, damit mein Denken das ist, was ich nicht bin.«21 (Ebd.: 392) Subjektivierung entsteht demzufolge nicht in der Selbstversicherung durch Denken, sondern als Akt der Entfremdung, der ein »Wesen« entdeckt, das sich dadurch auszeichne, dass »es Denken hat« (ebd., Hervorhebung S.F.). Dieser Selbstentzug entsteht durch die Verknüpfung des Denkens mit den umgebenden Diskursen – zu denen auch der Körper gehört. Philipp Sarasin deutet diese Stelle in Foucaults Denksystem als komplexe Verflechtung der drei wichtigen Repräsentationssysteme, die Foucault benennt (Sprache, Arbeit, Leben): »Wie kann ich meiner selbst gewiss werden, wenn mein Bewusstsein vom System und der Geschichte der Sprache, von der Entfremdung der Arbeit und vom Unfassbaren meines Körpers durchkreuzt wird?« (Sarasin 2005: 87) Dieser sich querstellende Körper wird von Foucault allerdings nicht in seiner Leiblichkeit, als Merleau-Pontysche Erfahrungsinstanz gedacht, sondern ist vielmehr als Diskursformation zu verstehen, als fremdes, objektiviertes Wesen, das aufgeschnitten, unters Mikroskop geschoben und analysiert wird (Foucault 1980: 329 f.).22 Dabei werden Erkenntnisse nicht mehr von einem einzelnen Subjekt hervorgebracht, sondern, innerhalb bestimmter Regelwerke, von Diskursen beziehungsweise diskursiven Praktiken (Foucault 1981: 67 ff.). Blickt man nun nochmals auf das diesem Kapitel vorangestellte Zitat von Xavier Le Roy, wird die Irritation des »es tanzt nicht« angesichts der Le Royschen Körperverformungen in ihrer doppelten Bedeutung sichtbar. Das es meint nicht so sehr die psychologische Instanz eines unheimlichen Körpers, der sich in albtraumhafte Metamorphosen begibt. Vielmehr ergibt sich ein irritierendes Fehlen eines handelnden, raumgreifenden, Musik verwendenden, mit Dramaturgien des Lichts umgehenden, sprich choreographierenden Subjekts – das sich solcherart allerdings zunächst den herrschenden Diskursen von Tanz zu verweigern scheint. Im Verlauf die21 Philipp Sarasin verweist auf Foucaults Kenntnis der Lacanschen Variante des cartesianischen cogito: »›Ich denke, wo ich nicht bin, also bin ich, wo ich nicht denke‹, um damit das Subjekt des Unbewussten anzuzeigen.« (Sarasin 2005: 86) 22 In diesem Zusammenhang bezeichnet Ulrich Raulff Foucaults Diskurse um den Körper, die ihn als »imaginierten und beschriebenen, […] sehenden und gesehenen, untersuchten und zerstückelten, vermessenen und gefolterten« darstellten, als »Leitmotiv« seines Werkes (Raulff 2004: 19, 22).
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ses Buches wird allerdings zu zeigen sein, inwieweit der metamorphe Körper Le Roys selbst einen buchstäblich wuchernden Diskurs mit anregt: es tanzt die Materialität seines Körpers und stößt damit Strategien an, wie sie in der Folge von zahlreichen Künstler/innen erprobt und hinterfragt werden. Die intensivere Recherche wiederum ergibt aber, dass das es nicht von einer originären Einheit namens Xavier Le Roy ausgegangen ist. Metamorphosen und Difformitäten des Körpers finden sich bereits in den Experimenten der brasilianischen Künstlerin Lygia Clark, den Körperphotographien John Coplans und, geht man noch weiter zurück, in den Bildern eines Hieronymus Bosch – ich komme später darauf zurück (vgl. S. 175 f., 200). Das es, das Merleau-Ponty als man formuliert, verweist indessen auf die je schon gegebene Verbundenheit des Körpers als Empfindender mit seiner Um-Welt, die der Philosoph im weiteren Verlauf als chiasmatische Verschränkung darstellt (SU: 172 ff.). Wie aber ist dann eine Distinktion möglich?
Um einen buchstäblichen Ausgangs-Punkt zu gewinnen, muss Merleau-Ponty zu ontologischen Hilfskonstruktionen greifen, die es ermöglichen, Linien zwischen Ding und Erscheinung (SU: 23), zwischen ›Natur‹ und ›Kultur‹ zu ziehen (PdW: 45). Gerade hier aber steht sein Konzept auf dem Prüfstand, denn Merleau-Ponty ist gewiss nicht an einem essentialistischen Naturbegriff interessiert (den er den Empirikern vorwirft, PdW: 45). Vielmehr betont er, dass Natur immer Begriff und Perspektive von Natur bedeute.23 Um jedoch eine Distinktion von Leib und Um-Welt erfahrbar machen zu können, trifft er eine primordiale Annahme, die das sinnstiftende Sein in der Welt voraussetzt: »Auf dem Grunde einer Natur, die ich mit dem Sein gemein habe, bin ich fähig, in bestimmten Anblicken des Seins einen Sinn zu entdecken, ohne ihn ihnen selbst kraft einer konstituierenden Leistung erst verliehen zu haben.« (PdW: 254) Movens dieses Seins in der Welt ist der Leib: Er (und damit ich) ist »zum Raum und zur Zeit«, er »hat seine Welt oder begreift seine Welt, ohne erst den Durchgang durch ›Vorstellungen‹ nehmen oder sich einer ›objektivierenden‹ oder ›Symbolfunktion‹ unterordnen zu müssen.« (PdW: 170) Merleau-Ponty spricht hierbei von einer »magische[n] Erfahrung«, die den Leib in Bewegung und in der Welt weiß (PdW: 121). 23 Auch hier folgt Merleau-Ponty Husserls Ablehnung von scheinbar in der Natur gegebenen Objekten, die vom Verstand (Descartes) oder von den Sinnen (Kant) erkannt würden (Husserl 1992: 52). Um diesen Erkenntniskategorien zu entgehen, macht Husserl den methodischen Vorschlag der »phänomenologischen Reduktion«, die sich auf das »reine Erlebnis als Objekt der phänomenologischen Wahrnehmung« beschränken solle (ebd.: 53 f.). Merleau-Ponty problematisiert eine solche Wahrnehmungsweise, da Erleben immer schon von Erfahrungen und Erinnerungen vorgeprägt sei (PdW: 42).
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Und doch stellt sich Merleau-Ponty die Frage, wie Distinktion – etwa von Farben als (eine bestimmte) Farbe oder von verschiedenen Tönen – als etwas von mir und meinem Leib Unterschiedenes möglich ist (PdW: 266). Hier scheint der Umweg über Descartes fast unausweichlich (vgl. Waldenfels 2000: 112): Eine bestimmte Sinnesqualität, ein Ding muss fixiert, muss in einem bestimmten Moment festgehalten werden, um es als solches erkennen zu können. Merleau-Ponty bietet für dieses Dilemma keine Lösung an, vielmehr geht es ihm darum, einen kritischen Blick auf Urteile zu werfen, die dem Logos entspringen, und fordert einen beweglichen Blick auf die zu untersuchenden Phänomene genauso wie auf den Untersuchenden an sich: »Es genügt nicht, in die reflexive Einstellung überzugehen und sich in einem unangreifbaren cogito zu verschanzen, es bedarf der Reflexion auf diese Reflexion selbst« (PdW: 86).
3.2.2 Wie kommt der Körper in die Welt? »Mein Leib ist jener Bedeutungskern, der sich wie eine allgemeine Funktion verhält, jedoch existiert und der Krankheit zugänglich ist. In ihm lernen wir eine Verknüpfung von Wesen und Existenz kennen, die wir in der Wahrnehmung überhaupt wiederfinden und alsdann vollständiger zu beschreiben haben werden«, so Merleau-Ponty (PdW: 177). Um diesen Leib nun nicht von vorneherein als eine kosmologische Instanz zu verstehen, trennt ihn die Phänomenologie seit Husserl zunächst heuristisch in das »Körperding«, das Objekt und als solches auch etwas Anorganisches sein kann, und in den »fungierenden Leib« (Waldenfels 2000: 15) – nur Letzterer sei mit Merleau-Ponty in der Lage, Erkenntnissynthesen zu vollziehen (PdW: 272), er ist »in der Welt wie das Herz im Organismus« (ebd.: 239). In diesem Sinne ist er aber bereits je schon ein ambivalentes Ding, das sich nicht streng in Innen oder Außen trennen lässt (vgl. Waldenfels 2000: 42), er befindet sich immer schon inmitten des Wahrgenommenen selbst (PdW: 242). Damit jedoch der eigene Leib von anderen Leibern und Sinneseindrücken unterschieden werden kann, führt die Phänomenologie den Selbstbezug ins Feld – die Empfindung von Schmerz dient hierfür als Beispiel: »[D]er Selbstbezug liegt noch vor der Unterscheidung in ein etwas, das wahrgenommen wird, und einen jemand, der wahrnimmt.« (Waldenfels 2000: 43) Merleau-Ponty spricht von der »Ständigkeit des eigenen Leibes«, allerdings könne diese nie in ihrem vollen Umfang erfasst werden. Gerade weil der Leib ständig bei mir ist, bin ich nicht in der Lage, mich von mir selbst zu distanzieren und vor Augen zu stellen, was ich da »eigentlich vor mir habe« (PdW: 115). Mein Leib verbleibt immer nur »am Rand meiner Wahrnehmung« (ebd.), und ebenso haftet meine Wahrnehmung am Rand des Körpers, ist sie doch nie in der Lage, sich gänzlich vom »Körperding« als Teil des »fungierenden [handelnden] Leib[es]« zu lösen (Waldenfels 2000: 42).
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Das solcherart ausgewiesene Selbst ist nun keine fest fixierte Instanz – Merleau-Ponty formuliert in diesem Sinne eine vorläufige Ontologie, die sich gerade durch ihre Temporalität auszeichnet: Der Leib ist »zum Raum und zur Zeit« (ebd.: 170), und das Wahrgenommene vollzieht sich und erscheint als Passage durch den Leib – der Körper verliert dabei sein Ding-Sein und wird zu einem Übergangskörper, der keine festen Grenzen mehr kennt. Waldenfels betont in diesem Zusammenhang die von Merleau-Ponty im Rahmen seines Körperschemas artikulierte »Situationsräumlichkeit« (ebd.: 125 f.), ein Bewegungsprinzip, das den Leib als »Ort« umfasst, von dem aus etwas getan wird (Waldenfels 2000: 115). Insofern ist das, was ich sehe, immer schon eine Bewegung meines Leibes hin zum Wahrgenommenen – die Dinge sind durch meinen Leib kontaminiert (vgl. SU: 27). Damit erschließt sich auch der Selbstbezug des Leibes, der immer nur durch die Fremdwahrnehmung möglich sei – berühmtes Beispiel hierfür ist Merleau-Pontys Versuch des Ergreifens und Spürens der eigenen Hände: Nie ist es möglich, Eigen- und Fremdwahrnehmung zur völligen Deckung zu bringen, sie oszillieren beständig zwischen der Hand, die spürt und jener, die gespürt wird – der Akt des Erkennen als buchstäbliches Ergreifen des ›Jetzt habe ich es‹ ist immer von einem »Misslingen« geprägt (SU: 24). Man kann an dieser Stelle vorläufig resümieren, dass der Leib in der phänomenologischen Denkweise zwar meine Weise des Zur-Welt-Seins ist, aber umgekehrt ist er mir ›dadurch‹ immer auch im Weg. Das Ding-an-sich – etwa als raue Materie eines metamorphen Körpers Le Roys – rückt in weite Ferne und verweist vielmehr auf einen Dualismus, der schon im eigenen Leib beginnt: Ontologie ist nicht mehr Selbstversicherung, sondern bestimmt sich durch den »Weltbezug« des Leibes gerade vom Eintrag des Fremden her – Waldenfels prononciert diese Verfasstheit als »Zwischenleiblichkeit« (Waldenfels 2000: 285). In einer chiasmatischen Verschränkung wird der Leib Umschlagort und vermittelnde Instanz, ein »ontologische[s] Relief« (SU: 121), das zwischen den zwei »Blattseiten« des Leibes (SU: 181) changiert.
Einschub: Körper-Spüren ohne Hilfe von außen? Der Philosoph und Vertreter der Neuen Phänomenologie Hermann Schmitz entgegnet, dass es durchaus einen Leib vor der Erfahrung eines Außen gebe, der sich als leiblicher Eigensinn, im Sich-selbst-Spüren äußere, womit er die Ambiguität des phänomenologischen Leibes als spürender und spürbarem verwirft. Schmitz versucht dort anzusetzen, wo es die Phänomenologie seit Husserl bei der simplen Setzung von ›meinem Leib‹ belässt und kritisiert die von Merleau-Ponty postulierte Magie, das primordiale Wissen um das ›an-sich‹ (Schmitz 1990: 220). Er setzt ihm das »eigenleibliche[] Spüren« entgegen, das er mit einer Räumlichkeit des Leibes verknüpft (ebd.: 117). Der Leib verzweigt sich dabei einerseits in
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sogenannte »Leibesinseln«, Regionen des Körpers, die (etwa im Schmerz) gespürt würden, ohne sich von ihnen sogleich eine visuelle Vorstellung zu machen, womit er sich gegen Merleau-Pontys entfaltete Idee des Körperschemas als gestaltbildendes Prinzip wendet (ebd.: 119). Leibliches Befinden sei »in sich dialogisch« und bedürfe daher keines Außen (ebd.: 135). Als Beispiel dient ihm der Mund, der ein »Leib im Kleinen« sei, in dem sich Zunge, Zähne usw. im beständigen Kontakt zueinander befänden (ebd.: 132). Gerade der Mund erscheint mir hierbei aber als unglücklich gewähltes Beispiel, ist er doch durch Schmecken, Sprechen und Küssen geradezu das Verbindungsorgan zur Welt- und Fremdwahrnehmung.24 Zu fragen ist außerdem, was denn passiert, wenn man einer Empfindung nachgeht? Ist es nicht doch schon jeweils ein Hin-Spüren, wenn mich zum Beispiel an der Fußsohle etwas kitzelt? Darüber hinaus setzt Schmitz eine physische Expansivität voraus, im Sinne von »Engung« (etwa durch Schreck) und »Weitung« (Schlaf, Trance) des Körpers (ebd.: 122 f.). Schmitz propagiert in diesem Sinne eine leibliche Materialität, die sich zunächst selbst genug ist. Jedoch: In welchen Kategorien, welchen Materialisierungen lässt sich über einen solchen Leib reden? Wäre diese Art von Leiblichkeit nur im künstlerischen Schaffensprozess selbst erfahrbar oder im ersten sinnlichen Eindruck eines Theatererlebnisses, noch vor der Versprachlichung? Doch gibt es überhaupt eine solche Erfahrung? Waldenfels kritisiert genau diese Gegenwärtigkeit des Leibes, denn: »Es gibt ein leibliches Erleben, das noch nicht zur Sprache gekommen ist, aber ich kann darüber nur sprechen, indem ich darauf zurückgehe oder zurückblicke.« (Waldenfels 2000: 278)25 Die Tanzwissenschaftlerin Christiane Berger argumentiert sowohl mit Merleau-Ponty als auch mit Schmitz und legt den Schwerpunkt auf die Wahrnehmung von Bewegung als zwischenleiblicher Erfahrung einerseits, die sich im Austausch zwischen den Zuschauenden und den Darstellenden auf der Bühne ereigne, sowie auf ein »Mitschwingen« als »Angestecktwerden des eigenen Leibes« andererseits, das sie von Schmitz und dem Tanztheoretiker John Martin ableitet (Berger 2006: 118). Tanz rege die körperliche Kompetenz des Publikums an und sei, als »leibliche[r] Mitvollzug« über die Instanz des Körperwissens erfahrbar (ebd.).
24 Didier Anzieu bemerkt angesichts der Entwicklung und Individualisierung des Kleinkinds entsprechend: »Der Mund ermöglicht als Ort des Durchgangs und der Einverleibung erste heftige Erfahrungen eines differenzierten Kontakts.« (Anzieu 1996: 55) 25 Waldenfels kritisiert weiterhin, dass Schmitz’ Entwurf von Leiblichkeit »den Leib doch wieder in die cartesianische Tradition einer Subjektphilosophie« stelle (Waldenfels 2006: 280).
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Und doch: Worüber rede ich dann? Ist meine leibliche Erfahrung in der Rede denn überhaupt als ›subjektiv‹ zu bezeichnen? Wie und mit welchen Voraussetzungen besuche ich ein Stück? Inwieweit präformiert mein wissenschaftlicher Blick schon das, was ich auf der Bühne zu sehen erhoffe? Selektiere ich im Vorfeld? Wie »lese« ich den Tanz, um mit Susan Leigh Foster (1986) zu sprechen?
3.2.3 Differenzen im Theater: Umraum – Ding – Figur Wortelkamp entwickelt anhand der Lektüre Merleau-Pontys ein Seh-Modell für das Theater, in dem sie von der Distanz zum Geschehen auf der Bühne eine Wechselwirkung zwischen der Differenz zum Gesehenen und der sich immer wieder ereignenden Selbstvergegenwärtigung als Wahrnehmendem ableitet (Wortelkamp 2006: 210). Nicht der leibliche Mitvollzug – wie Berger ihn beschreibt – sei verantwortlich für das Gewahrwerden des im Zuschauerraum anwesend und zugleich von der Bühne Getrennt-Seins, sondern vielmehr der »Abstand zum Geschehen […], der immer wieder in die Einbindung in das Ereignis übergehen und umschlagen kann.« (Ebd.) Wahrnehmen, so Waldenfels, ist also ein »Unterscheidungsakt« (Waldenfels 2006: 68). Merleau-Ponty formuliert diese Erfahrung von Differenz über die Relation von Figur und Grund, anhand der voneinander verschiedenen Textur der Materialitäten am Beispiel eines weißen Flecks auf einer Wand: »Die Farbe dieser Figur ist dichter und gleichsam widerständiger als die des Untergrundes; die Ränder des weißen Flecks ›gehören‹ zu ihm, und nicht zu dem doch ebenso sie begrenzenden Untergrund; der Fleck erscheint wie auf den Untergrund aufgelegt, ohne diesen zu unterbrechen.« (PdW: 22) Allerdings: So deutlich sind jene Differenzen nicht – sie sind jeweils schon zu kontextualisieren, womit Merleau-Ponty die Idee einer »an sich seienden Außenwelt« verwirft: Das, was ich sehe, ist immer schon »mit Bezügen verknüpft« (PdW: 29). Es wird anhand der untersuchten Stücke zu zeigen sein, inwieweit Charakteristika des Grotesken im zeitgenössischen Tanz Markierungen von Figur und Grund überschreiten, wobei an dieser Stelle wichtig ist, dass sich Grenzüberschreitungen immer in einem dichten Feld von Verweisen und Kontexten verorten: Was gerade noch als Überstieg einer symbolischen Ordnung behauptet wurde, gehört ihr im nächsten Moment schon wieder an oder erscheint, bei genauerer Betrachtung, je schon in diese verknüpft, was im übernächsten Abschnitt anhand der Phänomene des Grotesken elaboriert wird. Brandstetter etabliert die Figur als buchstäbliches Movens von Bewegung. So gehe es im »Umspringen von Figur und Grund« nicht so sehr um das jeweilige Erkennen der einen oder der anderen Darstellungsebene (Brandstetter 2002: 247). Vielmehr sei das »Ereignis des ›Kippens‹ […] schon ein Potential der Figur selbst« (ebd.). Figur ist in diesem Sinne keine fest umrandete Erscheinung, son-
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dern wird in ihrer Beweglichkeit als »Kippfigur« für die Formulierung von Theatralität wichtig (ebd.). Das Differenzieren, und damit das Kippen selbst, um wieder zu Merleau-Ponty zurückzukehren, kann sich aber nicht ohne Versprachlichung ereignen. Im leiblichen Sehen sind bereits Worte wie »über« oder »neben« eingelagert, denn wie ließe sich sonst eine Unterscheidung treffen (PdW: 127)? Erstaunlicherweise liefert der Phänomenologe hier bereits die Vorlage für das, was Foucault später als Diskurs bezeichnet und woran Judith Butler in ihrer Rede von der Materialität anknüpft, von der nichts gesagt werden könne, ohne sie sogleich wieder in ein Netz von Stabilisierungen einzulagern (vgl. S. 35 f.). Merleau-Ponty erörtert diesen Zwiespalt anhand der räumlichen Orientierung innerhalb des Körperschemas: »Sobald ich den leiblichen Raum thematisiere und seinen Sinn entfalte, finde ich nichts in ihm als den intelligiblen Raum. Doch zugleich löst dieser intelligible Raum sich vom orientierten Raum nicht los, er bleibt eben diese Explikation; aus ihm entwurzelt, hat er gar keinen Sinn, so dass der homogene Raum den Sinn des orientierten Raumes nur auszudrücken vermag, sofern er von ihm ihn empfangen hat.« (PdW: 127)
Der Philosoph operiert hier sehr dicht an den Grenzen eines zu verwerfenden Logozentrismus einerseits und einer auf ›bloßer‹ sinnlicher Empfindung basierenden Erkenntnis andererseits. Das eine ist ohne das andere nicht denkbar. Jedoch entsteht der Eindruck, als neige sich die Waage, zumindest in der Phänomenologie der Wahrnehmung, ein wenig mehr zur Seite von Sprache und Erfahrung. Merleau-Ponty betont zunächst, dass das Wahrnehmen eines Gegenstandes allererst ein Akt der Setzung sei, vor jedem Erfahrungshintergrund (ebd.: 94). Gleichwohl ist das Ding als solches nicht ohne ein Netz von erinnerten Erfahrungen möglich – Merleau-Ponty muss diese Wende vollziehen, da es gilt, sich nicht nur vom Rationalismus, sondern auch vom Empirismus zu verabschieden, und kommt zu einem Begriff von Wahrnehmung, die kein Sammelbecken erinnerter Bilder ist, sondern diese als Folien vor einem Horizont aufreiht, die im Akt des Wahrnehmens als leiblich vollzogenes Erkennen jeweils aktualisiert werden (ebd.). Dieser Gedankengang stellt eine entscheidende phänomenologische Wende dar und soll daher ausführlicher zitiert werden: »Wahrnehmen ist nicht das Erleben einer Mannigfaltigkeit von Impressionen, die zu ihrer Ergänzung geeignete Erinnerungen nach sich ziehen, sondern die Erfahrung eines Entspringens eines immanenten Sinnes aus einer Konstellation von Gegebenheiten, ohne den überhaupt ein Verweis auf Erinnerungen nicht möglich wäre. Sich erinnern heißt nicht, das Bild einer an sich vorhandenen Vergangenheit aufs neue [sic!] in den Blick des Bewusstseins bringen, sondern sich in den Horizont der Vergangenheit versenken und Schritt für Schritt die in ihm sich verknüpfenden Perspektiven entfalten, bis die Erfahrungen, die sie enthält, gleichsam neuerlich an ihrem zeitlichen Ort erlebt sind. Wahrnehmung ist nicht Erinnerung.« (ebd.: 42)
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Vergangenheit kann also als solche nur verstanden werden im Moment ihres jeweiligen Aufscheinens als Differenz zum gerade Wahrgenommenen. Es ist diese vorgebliche Geschichtslosigkeit, die Foucault an der Phänomenologie kritisiert. Doch ist dem tatsächlich so? Im Verlauf seines ersten Buches räumt MerleauPonty den Erinnerungsbildern einen größeren Platz ein, denn das wahrgenommene Ding sei nicht nur an das jeweilige Jetzt der Leiblichkeit zu knüpfen, vielmehr sei diese eng mit »meiner individuellen Geschichte« verknüpft (ebd.: 252). Wie zuvor schon dargelegt wurde, ist eine solche Vorstellung von Individualität jedoch nicht mit einem handelnden Subjekt zu verwechseln. Geschichte trägt sich in die Empfindungen ein, die nicht jedes Mal als völlig neue ›Sensation‹ auftauchen. Empfinden sei »Rekonstitution [und] setzt in mir die Sedimente vorangegangener Konstitution voraus […] Ich bin also nicht, mit Hegel zu reden [sic!], ein ›Loch im Sein‹, sondern eine Höhlung, eine Falte, die sich im Sein gebildet hat und auch wieder verschwinden kann.« (Ebd., Hervorhebung S.F.) Dem entspricht die Ästhetik der Figur, wie sie Brandstetter in Anlehnung an Didi-Huberman entwickelt, allerdings in umgekehrter Richtung: Figur impliziere immer schon das Defigurieren und entwerfe sich als Potentialität auf eine Zukunft hin, sie »vermittelt […] zwischen Gestalt und Gestaltlosem, sie schwankt zwischen einer ›unähnlichen Gegenwart und einer ähnlichen Zukunft: Denn sie gleicht nur dem, was es nicht gibt, einst aber geben wird.‹« (Brandstetter 2002a: 226) Merleau-Ponty versucht, den Spalt zwischen dem Sein der Gegenstände im jeweiligen Moment ihrer Wahrnehmung und einer doch nicht wegzudenkenden Vorgängigkeit von Erfahrung zu überwinden – und kreiert eine neuerliche Trennung, indem er den Leib in die »Schichten […] des habituellen und die des aktuellen Leibes« teilt (PdW: 107).26 Damit verschiebt sich allerdings sein Konzept eines Leibes in actio hin zu einem »hantierbar[en]« (ebd.). Denn um den habituellen an den aktuellen Leib anzuschließen, dessen Handlungen und Gegenstände zunächst nicht mehr zur Verfügung stehen, müssen seine Aktionen veräußerlicht werden: »Das Hantierbare kann nicht mehr das sein, womit ich wirklich hantiere, sondern muss zu etwas geworden sein, womit man hantieren kann; es ist nicht mehr hantierbar für mich, es ist hantierbar an sich.« (Ebd.) – der Philosoph leitet diese Überlegungen aus der recht konkreten Erfahrung eines fehlenden, amputierten Gliedes ab: Zwar ist mit diesem, da absent, aktuell nicht mehr zu hantieren, gleichwohl bleibt die Kenntnis einer (leiblichen) Erfahrung, die mit diesem Körperteil (habituell) erlebt werden könne (ebd.: 104 ff.). Hat sich Merleau-Ponty also zunächst gegen das cartesianische ›an sich‹ und das Habhaft-Machen der Dinge gewendet, bleibt ihm nun offenbar nichts anderes
26 Die Rede vom habituellen Leib erinnert an Pierre Bourdieu, der vierzig Jahre später sein Konzept des Habitus als Doppel von Lebensbedingungen und Handlungspraxis entwickelt, das auch auf den Körper Auswirkungen hat (Bourdieu 1982: 171 ff).
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übrig, als eine objektivierende Hilfslinie zu ziehen, auch, um ein »habituelle[s] Wissen von der Welt, diese implizierte oder sedimentierte Wissenschaft« (ebd.: 278), die sich wohl oder übel im Laufe der Zeit anlagert, in seine Konzeption des Leibes mit hineinnehmen zu können. Waldenfels macht deutlich, dass der Leib nicht abgelöst von der je eigenen, »abgelagerten Geschichte« erfasst werden könne: »Der Leib selber muss von dieser Geschichte her gedacht werden, als durchtränkt mit Geschichte.« (Waldenfels 2000: 188) Dabei kommt es regelrecht zu einer kontextverflochtenen Wucherung der Dinge, wenn man so will, Diskurse, die in die Wahrnehmung jeweils eindringen und sie panoptisch überlagern, denn »jedes Ding [ist] Spiegel aller anderen. […] Mein Sehen eines Gegenstandes wiederholt sich gleichsam unmittelbar unter den sämtlichen als koexistent erfassten Gegenständen der Welt, da ein jeder von ihnen das ist, was alle anderen von ihm ›sehen‹.« (PdW: 92 f.) Sehen wird unter dieser Perspektive zu einem Akt der Verzeitlichung, der zugleich »prospektiv«, sich auf den Gegenstand hin bewegend, und »retrospektiv« eingedenk seiner primordialen Seinsweise ist (ebd.: 280). Im Leib sind daher mehrere Zeiten aufgespannt: »In jeder Fixierungsbewegung verschlingt mein Leib eine Gegenwart, eine Vergangenheit und eine Zukunft zu einem einzigen Knoten, scheidet Zeit gleichsam aus, oder wird vielmehr zu dem Ort der Natur, an dem Geschehnisse erst, statt nur einander ins Sein zu stoßen, die Gegenwart mit dem doppelten Horizont von Vergangenheit und Zukunft umgeben und selber geschichtliche Orientierung gewinnen.« (Ebd.)
Das Ding entschwindet dabei immer wieder, »im gleichen Augenblick, in dem wir glaubten, ganz in seinem Besitz zu sein[, hört es] als Ding zu existieren auf.« (Ebd.: 273) Erkenntnis ist also durchgängig situativ (ebd.: 281), ein kurzes Innehalten, ein »bloßer momentaner ›Anhaltspunkt‹«, so Merleau-Ponty (ebd.: 273, Hervorhebung S.F.). Und doch kann es offenbar geschehen, dass die Haltestationen zu lange dauern, die hantierbaren Sedimente sich ablagern, sich überlagern, zu wuchern beginnen und die Möglichkeiten des Aktualisierens einschränken. Anders wäre nicht denkbar, weshalb sich Bewegungserfahrungen von Tänzer/innen in einem sogenannten Körpergedächtnis anlagern und Choreographen wie William Forsythe Bewegungsverfahren entwickeln, die die materialisierten Muster durchbrechen, um Ungewohntes und Überraschendes wieder zu ermöglichen (vgl. Berger 2006: 86, 54) und die feine Balance zwischen körperlicher Technik, Können und dem Generieren neuer Bewegungen zu halten,27 in diesem Sinne also: zu de/figurieren. 27 In diesem Spannungsfeld entwickelt Friederike Lampert ihre Überlegungen zur Tanzimprovisation als geplanter, körpertechnisch ermöglichter Umgang mit dem Zufall, der Emergenz im Moment des Bewegung Entwerfens erzeuge (Lampert 2007: 123, 127 ff., 138).
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3.2.4 Ablagerungen Indem Merleau-Ponty den Leib in den Mittelpunkt der Erfahrung rückt, optiert er für ein materielles Konzept. Wortelkamp führt anhand seines Spätwerks aus, dass Sehen nicht ein Sehen von Dingen ist, sondern den Sehvorgang selbst im Wechselspiel zwischen Auge und Gegenstand als »Sichtbare[s]« materialisiere und in den Vordergrund rücke (Wortelkamp 2006: 201). Das Fleisch ist zu verstehen als das »Einrollen des Sichtbaren in den sehenden Leib, des Berührbaren in den berührenden Leib« (SU: 191) – das Sichtbare kann dabei allerdings zuweilen die Oberhand gewinnen. Merleau-Ponty selbst weist auf den sich immer wieder ›einschleichenden‹ Cartesianismus im täglichen Erkennen hin, da es paradoxerweise leichter sei, Wahrnehmung über den vermittelnden Leib zu ›denken‹, als ihn in der Praxis als solche empfindend zu erfahren (ebd.: 30). In dieser erweist sich der Leib als sperriges Material, das immer wieder dazu verleitet, Erkenntnis in den Geist »auswandern« zu lassen (ebd.: 200). Merleau-Ponty kommt es darauf an, diesen Vorgang bewusst zu machen, eine solche Sekundarität von Erkenntnis zu reflektieren und sie nicht mit primärer Wahrnehmung zu verwechseln (ebd.: 121): »Ist mein Leib Ding, ist er Idee? Er ist weder das eine noch das andere, er ist der Maßstab der Dinge. Es gibt also eine Idealität, die dem Fleisch nicht fremd ist, sondern ihm seine Achsen, seine Tiefe und seine Dimension verleiht.« (Ebd.: 199) Dabei befinde sich der Leib in einem Feld von Sichtbarkeiten, von dem er buchstäblich »umzingelt« sei (ebd.: 339), selbst sehend und gesehen werdend. Diese Sichtbarkeiten bilden eine dünne Haut zwischen dem Leib und der von ihm wahrgenommenen Welt, in der die gesehenen Dinge in bestimmter Perspektive Gestalt annehmen. Die Transitorik dieses Gestaltwerdens betonen wiederum Brandstetter und Sibylle Peters in ihrem Konzept der Figur, das sich zwischen »Dingen und Um-Räumen« und mithin auch in Akten der Wahrnehmung, Erkenntnis oder ihrer Einordnung in Wissenschaft vollziehe (Brandstetter/Peters 2002a: 10). Merleau-Ponty betont, dass es in seinem Konzept vom Fleisch nicht um Materie oder Substanz als Urgrund von Erfahrung gehe (SU: 183), jedoch auch nicht um die cartesianische Polarität von Geist und Körper. Vielmehr versucht Merleau-Ponty im Fleisch eine sinnliche Volte zu schlagen, hin zu einem zeitlichen Begriff des Materials. Materialität ist insofern, als ein Bestandteil des Seins, immer in ihrer Möglichkeitsform vorhanden, sie wird prozessual gedacht. Als Potenz. Als Erfahrung. Als »ontologische[s] Relief« (SU: 121), das sich gegen eine Ästhetik der bloßen Negation wendet. Und doch: In einem solchen Relief kann es zu Ablagerungen kommen. Wortelkamp paraphrasiert die Rede vom Fleisch mit Merleau-Ponty als »Textur« des Sichtbaren, die das Sehen als ein Leibliches im Vorgang des Sehens thematisiere (Wortelkamp 2006: 201). Dabei weist das Prononcieren der Schwere des Leibes, seiner Trägheit, als Träger von Erfahrungsspuren auch auf die Stofflichkeit des Leibes selbst hin – MerleauPonty benutzt mitunter ein Vokabular, das dieser Annahme einen Boden gibt. So
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spricht er vom Fleisch als »Ganggestein meiner Wahrnehmung« (SU: 25), zeichnet ein »Fleisch der Gestalt«, das zwar keine festen Umrisslinien betont, aber deren Materialität, etwa in der »Körnigkeit der Farbe« hervorhebe (ebd.: 263) und damit die Sinnlichkeit der Wahrnehmung vor jedem Logos ausweise (ebd.: 262). Die Dinge folgen keiner geistigen Einsicht, sondern setzten sich wie »Dornen in meinem Fleisch« fest (ebd.: 234), sie stoßen den Betrachtenden zu, können sich dabei aber auch anheften, den Leib mit Ein-Drücken durchlöchern, die nicht so ohne Weiteres zu löschen sind. Sie bilden im Wortsinne schwere Bedeutungen, erhalten Gewicht, um mit Butler zu sprechen, und entwickeln mitunter Verknotungen. Immer aber sind diese Sedimentierungen in Bewegung, das Gestein ist kein Zentralmassiv, das sich nicht von der Stelle rührt. Im Gang-Gestein zeigt sich Verfestigung ebenso wie Dynamik, wenn sie auch in dieser metaphorischen Wendung ein schweres In-Gang-Kommen hervorhebt, Steine, die ein Mahlwerk antreiben, sich langsam in Bewegung setzen, aber fast unaufhörlich rollen, werden sie einmal angestoßen. In dieser Lesart Merleau-Pontys soll es nicht darum gehen, ihn auf fixierbare Kategorien zu reduzieren, sondern die Schwierigkeiten und Ambivalenzen einer Betrachtung (wissenschaftlicher) Gegenstände zwischen Dualismen und des immer schon Verschlungen-Seins von Leib und Welt deutlich zu machen. Denn Merleau-Pontys Rede vom Fleisch ist auch ein transzendentales Ideal, wonach sich Leib und Um-Welt immer schon in einem Austausch befinden, ja der Leib als bloßes materiales Sein gar überwunden werde, hin zu einer Transzendenz der Sinnlichkeit (vgl. ebd.: 326 f.). Inwieweit trenne ich mich aber doch ab von dem, was ich sehe? Waldenfels pointiert in der phänomenologischen Theorie den ontologischen »Selbstbezug« des Leibes, noch bevor eine Unterscheidung getroffen werde – die sich gleichwohl nie ohne das oder den Anderen vollziehen lasse (Waldenfels 2000: 43). Selbstbezug ergibt sich demnach zugleich als Selbst-Entzug (Waldenfels 1997: 27). Wenn Siegmund nun den Körper auf der Bühne als immer schon durch das Publikum projizierten zur Grundlage seiner Analysen von Tanz nimmt (vgl. S. 37 f.), gibt es dann einen Materialkörper vor der Imagination?28 Wie ließe er sich beschreiben? Oder anders gefragt: Wo und wann vermischt sich das Material mit der Imago? Wie mit Merleau-Ponty zu sehen war und weitere Theorien des Poststrukturalismus noch zeigen werden, wird immer wieder die Überwindung von Form-Stoff-Binaritäten oder Innen-Außen-Dualismen angekündigt (vgl. S. 75 ff.). Jedoch scheint man ohne sie nicht auszukommen. Zwar ist der Chiasmus, mit Merleau-Ponty, zurzeit der Topos, der ein Denken von Leib und (Um-)Welt als Gefüge zu gewährleisten scheint, jedoch können auch hier die »zwei Blattseiten« der Erfahrung nicht immer in Deckung gebracht werden. Will man sie den28 Diese Annahme würde Siegmund gemäß seines psychoanalytisch motivierten Ansatzes freilich ablehnen.
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kend beschreiben, driften sie auseinander, ohne sich jedoch wiederum trennen lassen zu können. Es scheint, als stünde man vor einem unüberwindbaren Paradox.
– Zwischenszenario – An dieser Stelle möchte ich innehalten und einen Ausschnitt aus der Produktion Jérôme Bel vorstellen, von der schon in der Einleitung die Rede war. Dieses Stück thematisiert unter anderem den Spalt zwischen Signifikation und TanzMaterial (Körper, Haut, Muskeln, Bewegung usw.). Was ist hier zu sehen, welche Materialien, welche Bestandteile werden gezeigt? Wir beobachten zum Beispiel die Hand des Darstellers Frédéric Séguette, auf die (mit Lippenstift) etwas gemalt wird – es ist nicht zu erkennen, worum es sich dabei handelt. Es folgt ein Schlag mit der bemalten Hand auf die linke Seite des Torsos seiner Partnerin (Claire Haenni), wir sehen den Druck von Séguettes Hand auf ihrer Haut und gegen die Rippen. Als er die Hand wieder wegnimmt, gibt die Haut zu erkennen, was sich der Darsteller spiegelverkehrt auf die Hand gezeichnet hatte: In Großbuchstaben leuchtet ein »AIE« auf – AUA (Abb. 4). Eine Bezeichnung des Schmerzes, Zeichnung des Schmerz-Lautes, eine auch zeitlich zu sehende Verschiebung, eine Verzögerung, ein Tattoo, das auf die Haut appliziert wird und eine Weile braucht, um zu haften. Das »AIE« als Abdruck einer Schmerzäußerung erscheint – und das Publikum lacht. Weshalb? Weil hier ein klassisches Theaterparadigma aufgerufen wird, das »Als ob« des Schmerzzufügens, hervorgerufen durch das Ausstellen »schlechten« Timings? Dafür spräche das anschließende Verwischen der Lautmarke: Das Verreiben des Lippenstifts erzeugt eine Rötung, die der Härte des Schlages wiederum »realiter« nicht entsprechen würde, denn so stark und so oft hat Séguette nicht zugehauen. Repräsentationshilfen wie Theaterblut werden angesprochen, allerdings: Ob Ketchup oder ›echtes‹ Blut, hier geht es um Flüssiges, und so könnte man sagen, dass das Als-Ob, das Repräsentierte selbst auch als ein materielles ausgewiesen wird, entstanden durch Bewegung, Druck und Wärme.29 Meine sich anschließende Vermutung ist, dass es hier also nicht um den Körper als ›immer schon‹ seiender Zeichenträger (auf dem Theater) geht. Allerdings scheinen mir auch keine »Phantomschmerzen« als Ausdruck eines Realen bei den Zuschauenden erzeugt zu werden, wie Siegmund feststellt (Siegmund 2006: 333). Vielmehr wird hier der Schmerz als eine performative Äußerung ausgewie-
29 Bemerkenswert dabei ist, dass gerade das Als-Ob einen signifikanten Modus darstellt, um Schmerz zu beschreiben, wie Elaine Scarry betont: Versuche, Schmerzen zu lokalisieren oder in ihrer Qualität zu verorten, ergäben sich häufig über die Rede des »Es fühlt sich so an, als ob […] als träfe ein Hammer mich im Kreuz« (Scarry 1992: 28).
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sen, was im Übrigen der Idee eines Eigenleibes widerspricht, der sich gerade im Schmerz äußere, wie Schmitz dies beschreibt. Das »AIE« erinnert als Markierung an Foucaults Perspektive auf die Entstehung der Sprache, in deren Frühform, als Gebärdensprache, Schrei und Mimik bereits als (An-)Zeichen fungiert hätten (Foucault 1980: 145 f.). Mehr noch aber wird in Jérôme Bel auf die Materialität dieses Zeichens selbst verwiesen. Was im alltäglichen Zeichengebrauch in die Bildung des Signifikanten eingeht und verdeckt wird, also die Materialität des Zeichenträgers selbst, scheint hier zutage gefördert: Die be-schriebene Haut, der rote Lippenstift, der den Laut bildet, die schlagende und drückend verweilende Hand, die dies unterstützt, sie alle zeigen sich als materielle Elemente im Sinngebungsprozess und initiieren ein Oszillieren zwischen Bezeichnen und Materialisieren der Zeichen. Die Körper sind insofern nicht Oberfläche einer Einschreibung, sondern Produzenten, Mit-Hersteller dieser Zeichen. Für Momente wird der Chiasmus getrennt, in seine Bestandteile zerlegt, um sogleich zu zeigen, dass diese unauflösbar miteinander verbunden sind.30
Abb. 4: Jérôme Bel, Jérôme Bel (1995), Photo: Herman Sorgeloos
30 Wäre die Beschreibung dieser Performanz sich materialisierender Zeichen eine Möglichkeit, aus dem Dilemma des Binären oder Nicht-Darstellbaren herauszukommen, wie Georges Didi-Huberman dies mit seinem Konzept des Abdrucks vorschlägt (Didi-Huberman 1999: 194 f.)? Und Materialisierungen im Theater also als Abdrücke wahrzunehmen, als Aufrauen der Oberfläche, die gleichermaßen das Lesen der Zeichen als auch ihr Wiederverlieren im Ungeformten, Fluktuierenden möglich machen könnten?
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Zweite methodische Annahme Um die in dieser Arbeit ausgewählten Beispiele aus dem zeitgenössischen Tanz nun auf ihre Pattern des Unabgeschlossenen hin befragen zu können, ist eine Operation im buchstäblichen Sinn vonnöten. Waldenfels konstatiert, dass sich beschreibbare Erkenntnisse nur anhand von »Zäsuren« gewinnen ließen – wobei die Zäsur nicht festlege, sondern einen Spielraum von Kontingenzen erlaube: »Ablösbare Einheiten lassen sich bloß als Konstrukt oder als Limeswert erfassen.« (Waldenfels 2000: 131) In diesem Sinne werden die vorgelegten Beispiele in diesem Buch in ihre Einzelteile und Fragmente zerlegt, bestimmte Szenen oder Körperbilder herausgeschnitten, auf ihre Öffnungen, Übergangsstellen und bisweilen ihr körperliches Ding-Sein reduziert und auf Charakteristika des Kontingenten hin befragt. Die Paradoxie dieses Unterfangens ist durchweg selbst als grotesk zu formulieren: Nicht nur die betrachteten Gegenstände erweisen sich als groteske im Sinne des Kippens zwischen Formierung und Difformem, auch die wissenschaftliche Annäherung ist eine uneinheitliche und schwankt beständig sowohl zwischen heterogenen Theorieansätzen (etwa Merleau-Ponty und Foucault) als auch zwischen Ordnungs- und mithin Inventurversuchen und der immer wieder hervortretenden Unzulässigkeit einer solchen Unternehmung. Eine Möglichkeit, Unabgeschlossenes aufzuspüren, wird der Eintrag des Fremden in die Rezeption transitorischer, metamorpher Phänomene auf zeitgenössischen Tanzbühnen sein. Das Fremde ist sowohl ein wesentliches Charakteristikum des Grotesken wie auch der Versuch, in einer phänomenologischen Sichtweise des All-eins-Seins von Leib und Welt, Momente der Differenzierung herauslösen zu können (vgl. Waldenfels 1997: 24 ff.), ohne die eine wissenschaftliche Beschreibung nicht möglich sein kann. Der folgende Abschnitt wird daher die ästhetischen Implikationen, Motive und Strategien des Grotesken darstellen und dieses als mögliches Werkzeug etablieren, die Spezifik des Unabgeschlossenen im zeitgenössischen Tanz wissenschaftlich erfahrbar zu machen, ohne sie festzuschreiben.
4 Grotesk! Erschütterungen in der Kunst oder: Re-Visionen des Grotesken Der Prado in Madrid zu Beginn der 1940er Jahre: Im kriegsgeschüttelten Spanien besucht ein deutscher Literaturwissenschaftler das berühmte Museum. Er sieht Bilder von Hieronymus Bosch, von Brueghel, Velázquez und Goya. Viele dieser Bilder beunruhigen ihn zutiefst und lassen ihn mit gemischten Gefühlen zurück, Eindrücke, die Wolfgang Kayser, so sein Name, bald darauf auch bei der Betrachtung der Karikaturen von William Hogarth, den Graphiken Alfred Kubins und James Ensors oder bei der Lektüre von E.T.A. Hoffmanns Nachtstücken erfahren soll (Kayser 2004: 9, Oesterle 2004: VIII). Es sind Sensationen der Orien-
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tierungslosigkeit, des Schwankens und Stürzens in Abgründe, des Befremdens und des Grauens, die er unter dem Attribut des Grotesken zusammenfasst: »[D]as Groteske ist die entfremdete Welt« (Kayser 2004: 198), es ist die zutiefst irritierende Wahrnehmungserfahrung eines Kunstbetrachtenden, ein rezeptives Phänomen. Etwa zehn Jahre zuvor befindet sich der sowjetische Literatur- und Kunstwissenschaftler Michail M. Bachtin im Exil in Paris und Birmingham. Im Rahmen seiner philologischen Studien befasst er sich intensiv mit der Kultur des Karnevals im Mittelalter und der Literatur des Renaissanceschriftstellers François Rabelais,31 genauer mit seinem epochalen Romanwerk Gargantua und Pantagruel.32 Ihn fasziniert die Idee der karnevalesken Körperlichkeit in Rabelais’ Sprache (Bachtin 1995: 68), die Bilder entwirft, in denen wiederum der Körper selbst die Grenzen seiner beschränkenden Hülle überschreitet und sich wuchernd mit der Welt um ihn herum verbindet, und er formuliert ein Körperkonzept des Grotesken: »Der groteske Körper ist […] ein werdender. Er ist nie fertig und abgeschlossen, er ist immer im Entstehen begriffen und erzeugt selbst stets einen weiteren Körper; er verschlingt die Welt und lässt sich von ihr verschlingen.« (Ebd.: 358) Bachtins Theorie zielt tendenziell auf produktionsästhetische Strategien des Grotesken, Handlungsentwürfe, die den Körper als »Volkskörper« protegieren, vom Individuum als unteilbarer, abgeschlossener Einheit Abschied nehmen und die in sich das subversive Potential tragen, herrschende Verhältnisse zu revoltieren (ebd.: 296 f.). Bachtin und Kayser werden in der Forschung als die beiden Hauptvertreter der Beschäftigung mit dem Grotesken wahrgenommen und zumeist antipodisch dargestellt: psychologisch argumentierend und auf das Unheimliche zielend der eine, Subversion durch karnevaleskes Lachen hervorrufend der andere. In der Regel entscheiden sich die jeweiligen Autor/innen für eine der Seiten.33 Unter-
31 Zur Verbannung Bachtins vgl. Falckenberg 2003: 187. Bachtin promovierte zunächst 1932 an der Universität von Cambridge (vgl. Grübel 1979: 9); seine nachfolgende Schrift zum Grotesken und Karnevalesken in Rabelais’ Werk wurde von der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften lange Zeit abgelehnt und konnte erst 1965 veröffentlicht werden (vgl. Lachmann 1995: 11). In der Zwischenzeit war Kaysers Theorie des Grotesken erschienen, die Bachtin in seinem Buch anschließend ausführlich kritisierte (Bachtin 1995: 97 ff.). 32 Rabelais’ Werk erschien in fünf Teilen von 1532 bis1552. 33 So prononciert etwa Mary Russo den Aspekt des Grotesken im Wortsinn (als Höhle) und als Unheimliches in ihrer feministischen Lektüre weiblicher, grotesker Strategien etwa in den Filmen der Regisseurin Ulrike Ottinger (Russo 1995: 2, 93 ff.). Karnevaleske, überbordende Körper werden dabei zumeist in ihrer psychologisch motivierten Bedrohlichkeit für männliche Hierarchien gedeutet (ebd.: 7 ff.). Peter Stallybras und Allon S. White beziehen sich dagegen gerade auf Bachtins GrenzGrenzfunktion des Karnevals als Ausnahme-Zeit innerhalb bestimmter Machtgefüge, die durch Parodie und Lachen von Gruppen am Rande der Gesellschaft, wenn nicht überwunden, so doch zumindest gefährdet würden (Stallybras/White 1986: 11
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zieht man die beiden Theorien einer genaueren Lektüre, so scheint der Kontrast nicht so sehr in der Opposition von psychologischer versus politischer Haltung zu bestehen. Vielmehr entdeckt Kayser, wie oben skizziert, ein rezeptionsästhetisches, durch Befremden ausgelöstes Phänomen der Verunsicherung in der Kunst, wohingegen Bachtin über den Handlungsaspekt hinaus ein nahezu transzendentales Bild einer Verbindung von Leib und Welt zeichnet und hierbei produktionsästhetisch die Perspektive jener einnimmt, die die Verunsicherung hervorrufen. Beide Positionen sind fruchtbar für die Betrachtung und Analyse zeitgenössischen Tanzes – sie werden daher im Verlauf dieses Kapitels nochmals und gegen den Strich bisheriger Auffassungen von Psychologie contra Körperlichkeit gelesen. Dabei wird deutlich, inwieweit Kaysers Eintrag des Fremden und die Betonung von Bewegung als Movens des Grotesken hilfreich sein kann, Bachtins Entwurf einer kosmologisch überbordenden Leib-Welt zu differenzieren und die über seine Idee des Karnevals zu ziehenden temporären wie räumlichen Grenzen genauer zu bestimmen. Da es hierbei unter anderem darum geht, das Groteske als Werkzeug für die Betrachtung von Phänomenen des Unabgeschlossenen im Bühnentanz zu etablieren, werden die Theorien von Carl Friedrich Flögel (Aspekt des Komischen; 1788) sowie Heinrich Schneegans (Satire und Übertreibung; 1894) und Carl Pietzcker (Groteske als soziohistorisches Phänomen; 1971) kaum oder nicht berücksichtigt – hier sei auf die ausführliche Darstellung von Peter Fuß verwiesen (Fuß 2001: 65 ff.).
4.1 Groteskes im Tanz? Seit Beginn dieses Jahrtausends scheint das Groteske eine regelrechte »Renaissance« zu erleben (vgl. Hedinger et al. 2005: 13). In der Ausstellung Grotesk! 130 Jahre Kunst der Frechheit (2003) versammeln sich Bilder von der Moderne bis in die heutige zeitgenössische Kunst, denen sämtlich das Signum des Grotesken zu eigen scheint, indem sie Aspekte wie Dekomposition, Hyperbolisierung, Vergröberung, Degradierung oder Disproportion im Arrangement ihrer Arbeiten anwenden und Sensationen von Verzerrung sowie rezeptiver Desorientierung oder Lachen hervorrufen (Kort 2003). Groteskes ist mittlerweile in nahezu jedem Genre auffindbar, sei es in der bildenden Kunst, in Literatur, Film (vgl. Hedinger et al. 2005: 16 ff.) oder gar in der Mode (Lehnert 2005) und Werbung (Georgi 2003). Umso erstaunlicher, dass dieses »Schlüsselphänomen europäischer Kulturgeschichte« (Hedinger et al. 2005: 16) bislang noch keinen Eingang in die tanzwis-
ff., 23 ff.). Versuche von Transgression operierten daher immer an diskursiven Grenzen (ebd.: 200).
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senschaftliche Forschung gefunden hat34 – sind die erwähnten Attribute doch mit Vokabularen durchsetzt, wie sie auch in der Beschreibung zeitgenössischer Praktiken im Tanz Anwendung finden (vgl. S. 21).35 Das mag einerseits daran liegen, dass sich der live auf der Bühne gezeigte Körper Vermischungsphantasien und Amalgamierungen mit der Außenwelt durch seine konkrete Organik erst einmal zu widersetzen scheint – in Filmen oder auf (gemalten, photographierten) Bildern sind der Phantasie dagegen offenbar keine Grenzen gesetzt. Darüber hinaus fällt gerade im Tanz auf, dass das Attribut des Grotesken zumeist dann benutzt wird, wenn sich das Gesehene als fremd erweist oder eine Beschreibungsunsicherheit ob des Gesehenen entsteht. Auffällig oft sind es die Stücke Xavier Le Roys oder Meg Stuarts, die diesen Zuschreibungen unterliegen. So nehme Le Roys Bewegungsästhetik der »Selbstverstümmelung« in Narcisse Flip (1994-1997) laut Irene Sieben »groteske Formen« an (Sieben 1997: 53), Meg Stuarts Visitors Only (2003) zeige sich, so Siegmund, in »grotesk montierte[n] Körperbilder[n]« (Siegmund 2006: 430), und Benoît Lachambres Solo in Stuarts No Longer Readymade (1993), in dem er die Konturen seines Kopfes durch Verschüttelungen tendenziell auflöst, wird von der Kritik wiederum »groteske[] Formen« attestiert (Rottmann 15.8.2000). Dabei ist jeweils unklar, wie denn nun Formierungen des Grotesken aussehen könnten – grotesk wird vielmehr zum Platzhalter für un-beschreibliche Motionen, die Irritationen und Fremderfahrung auslösen. Sally Banes geht zwar auf Bachtins Entwurf des grotesken Körpers als kollektives Konstrukt ein, spitzt ihn jedoch auf seine politischen Implikationen im Zusammenhang mit der New Yorker Avantgarde der 1960er Jahre zu, die sich gegen die Virtuosität und künstliche Überformung repräsentativer Körper auf der Bühne hin zu einem werdenden, antihierarchischen Präsentationsmodus kollektiver Körper in Tanz und Performance wandte (Banes 1993: 193). Laurence Louppe erwähnt ebenfalls Bachtins groteske Theorie der Verbindung von Körper und Welt im Zusammenhang mit Le Roys Self unfinished, allerdings wird hier das Ideal eines metamorphen, nie abgeschlossenen Körpers schlagwortartig verkürzt und affirmativ auf das gesehene Stück appliziert, ohne die Modi grotesker Strategien weiter auszuführen
34 Eine Ausnahme bildet die historische Forschung, die in den letzten Jahren die grotesken Tänze des italienischen Choreographen Gennaro Magri aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wiederentdeckt hat (vgl. Harris-Warrick 2005) und dem Grotesken in französischen Tänzen aus dieser Zeit nachgeht (Schroedter 2006). Eine kleinere Publikation anlässlich des Wiener Festivals imagetanz 99 befasst sich außerdem mit der Frage nach Ironie und Groteske im Tanz, reduziert Groteskes jedoch weitgehend auf narrative Gehalte (Ploebst 1999: 30). 35 Auch Hans-Thies Lehmann sieht in der »Diskontinuität« und den Phänomenen des Verdrehens und Verformens in den Stücken William Forsythes oder Meg Stuarts ein wichtiges Kriterium des zeitgenössischen Tanzes (Lehmann 1999: 372).
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(Louppe 2007: 65).36 Zu fragen ist also, inwieweit das Groteske, das sich zumeist als Ausdruck einer Wahrnehmungsirritation ergibt, als genaueres Beschreibungsinstrument für fluktuierende Phänomene im zeitgenössischen Tanz einsetzbar ist. Hierfür sind zunächst Begriff und Implikationen des Grotesken ausführlicher zu betrachten. Der Aspekt von Lachen und Subversion als Erscheinung des komischen Körpers im Grotesken bleibt dabei weitgehend außen vor – nicht nur, weil sich die Forschungsliteratur diesem Aspekt bereits eingehend gewidmet hat,37 sondern vor allem, da ich im Zusammenhang mit zeitgenössischen Tanz auf das transformative ästhetische Potential grotesker Phänomene fokussiere.
4.2 Menschen, die sich in Höhlen verrenken. Ästhetische Modi des Grotesken Der Begriff des Grotesken geht etymologisch auf den Terminus grotta (Höhle) zurück und ist durch den Zeitpunkt der Entdeckung verschlungen wuchernder, Pflanzen, Tier- und Menschenkörper verschmelzender antiker Ornamente an den Wänden des Domus Aurea markiert, dem um 1480 wiederentdeckten Palast Neros in Rom (vgl. Kayser 2004: 20 f., Scholl 2004: 65 ff., Harpham 1982: 23 ff.). Auf den angefertigten Kopien Nicolas Ponces (1786) zum Beispiel sind Friese zu sehen, in denen die Oberkörper von Menschen in eine Art Stiel (anstelle von Beinen) mit Blattwerk und Ranken übergehen, die wiederum an einen Löwenkopf anknüpfen und zu beiden Seiten hin weiter mäandern (Abb. 5). Dorothea Scholl spricht hierbei von einer »grotesken Ikonographie«, die sich in folgende Kategorien einteilen lasse, wie sie mit Philippe Morel ausführt: »anthropomorphe Figuren (Sirenen, Satyrn, Kentauren, Tritonen, Sphinxen), zoomorphe Figuren (Pferde, Stiere, Widder), teratomorphe Figuren (monströse Wesen, Drachen), phytomorphe Figuren (häufig geflügelte Wesen mit vegetabilen Komponenten).« (Scholl 2004: 69 f.) Ende des 15. Jahrhunderts setzt eine rege Auseinandersetzung mit diesen phantastischen Malereien ein, viele Renaissancekünstler kopieren und übernehmen sie in ihre eigenen Gestaltungen, so etwa Raffael, der in den Loggien des Vatikan groteske Motive als Randbemalung und Dekoration verwendet (vgl. Scholl 2004: 605, Bildtafel 23). Sind viele Künstler von diesen scheinbar sinnfreien, sich nicht an die Gesetze der Natur haltenden Malereien fasziniert, so regt 36 Arnd Wesemann bezeichnet Le Roys Körperpraxis in Self unfinished ebenfalls als »Groteske«, ohne jedoch näher auf Wesensmerkmale oder Theorie dieser Ästhetik einzugehen (Wesemann 1999: 18 f.). 37 Eine ausführliche Darlegung des komischen Körpers in Literatur und Theater leistet etwa die Anthologie von Eva Erdmann (2003), darin besonders Hans Rudolf Velten zur Performativität des grotesken Körpers in Bachtinscher Lesart, 145 ff. Zur Ironie und Komik im zeitgenössischen Tanz vgl. Ploebst/Stockreiter/Wesemann/Hauser 1999a.
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sich auf Seiten der Ästhetiker und Theoretiker heftiger Widerstand. Es scheint kaum ein Zufall, dass zur Zeit der Entdeckung des Domus Aurea auch das verschollen geglaubte Traktat Vitruvs mit dem Titel De architectura (um 30 v. Chr.) wiedergefunden wird. Hierin bezichtigt Vitruv die grotesken Ornamente des Verstoßes gegen die Wahrscheinlichkeit in der Malerei, nach dem Motto, dass nicht sein darf, was (per Natur) nicht sein kann: »[A]uf den Verputz malt man lieber Ungeheuerlichkeiten (monstra) als naturgetreue Nachbildungen von ganz bestimmten Dingen […] Lampenständer, die die Gebilde kleiner Tempel tragen, über deren Giebeln sich zarte Blumen aus Wurzeln und Voluten erheben, auf denen sinnlose […] kleine Figuren sitzen, ferner Pflanzenstengel mit Halbfiguren, von denen eine Menschen-, andere Tierköpfe haben. […] So etwas aber gibt es nicht, kann es nicht geben, hat es nicht gegeben.« (Zitiert nach Scholl 2004: 154)
In diesem kurzen Abschnitt sind wesentliche Topoi einer grotesken Ästhetik versammelt: monströse Phantasiewesen, die im doppelten Sinne auf das, was realiter nicht sein könne, durch Verschlingung und Vermischung zeigen, Anordnungen von Disproportionalem, etwa ein Tempel, der auf einem Lampenständer ruht, sowie chimärische Verbindungen zwischen Menschen, Fauna und Flora.
Abb. 5: Nicolas Ponce, Detail eines Stichs von Ornamenten des Domus Aurea, in: Descriptions des bains de Titus (1786)
Kayser interessiert an den ornamentalen Verschlingungen besonders das Offene und Unabgeschlossene, das er auch als »Knorpelgroteske« bezeichnet: »Die feste Umrisslinie ist völlig geschwunden. Köpfe und Körperteile phantastisch verzerrter Tiere und Fabelwesen […] quellen ineinander und können an jeder Stelle Ranken oder Wülste oder neue Körperteile hervortreiben.« (Kayser 2004: 24) Sind diese grotesken Gebilde unter anderem durch eine Vermischung biologischer Gattungen gekennzeichnet, hebt Scholl auch den Materialmix selbst hervor, der im Domus Aurea als »Verbindung von Wandmalerei und Stuckgrotesken« hervortrete (ebd.: 69). Jeder der hier genannten Aspekte ist auch als (Bewe-
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gungs-)Motiv im zeitgenössischen Tanz auffindbar, wie die folgenden Kapitel zeigen werden. Scholl betont außerdem die Gleichzeitigkeit der Entdeckung grotesker Motive in Neros Palast und das Wiederauftauchen der antiken Kritik an jenen Schöpfungen (Scholl 2004: 153). So formuliere sich das Groteske weniger als eine Ausnahmeerscheinung denn als Paraästhetik im künstlerischen Diskurs der Renaissance, die diesen wiederum nicht (nur) opponiere, sondern wesentlich mitbestimme: »Die Entdeckung der antiken ›Grottesken‹ in der Domus Aurea führte […] bereits im 15. Jahrhundert zu einer absoluten Neubewertung und Umwertung der ›klassizistischen‹ Ideale.« (Ebd.: 57) Mehr noch: Das Aufspüren der »Grottesken« markiere einen entscheidenden Wendepunkt in der Malerei, sowohl rezeptions- als auch produktionsästhetisch – in beiden Fällen sei dies auf die Entdeckung in den Höhlen rückführbar. So beschreibt ein Zeitgenosse nicht nur die wundersamen Gebilde, die in Neros Domizil an den Wänden rankten, sondern auch die damit einhergehenden Verrenkungen der Maler beim Studium entlegener Ecken, in denen Ornamente zu finden waren (ebd.: 83). Der Bizarrerie phantastischer Gebilde folgen also die physischen Motionen bei der Wahrnehmung und Aufzeichnung derselben. Jahrhunderte später greift Bruce Nauman dieses Zuschauerverhalten in seiner Installation First Hologram Series: Making Faces (K) (1968) auf: Um die Figur in einem holographischen Spiegel sehen und zusammenzusetzen zu können, müssen die Ausstellungsbesucher/innen sich bücken, beugen, den Oberkörper und Nacken verdrehen, was ›von außen‹ betrachtet recht eigenwillig anmutet, ist es doch für das übrige Publikum, das sich diesem Kunstobjekt noch nicht genähert hat, zunächst nicht erkennbar, weshalb diese Torsionen stattfinden (vgl. S. 344). Laut Scholl ereignet sich ein Paradigmenwechsel in der bildenden Kunst, im Sinne einer Aufwertung der Phantasie und der je individuellen, psychologischen Perspektive der Maler – angeregt durch die in den Höhlen entdeckten Ornamente (ebd.: 90). Die Atmosphäre in diesen Grotten, die durch Kerzenschein flackernd erhellten Wände hätten zur Phantasie, die sich allein schon durch die Zeichnungen eingestellt habe, noch verstärkend beigetragen: Es entwickele sich eine Poiesis des Labyrinthischen, Unheimlichen, die den Künstler als Exzentriker ausweise, der seine Inspiration in dunklen, nächtlichen Streifzügen erwerbe – Scholl entwirft hier mithin die Vision einer Romantik avant la lettre (ebd.: 81 f.). Der so angeregte schöpferische Impuls der Künstler verschiebe nun das Paradigma der imitatio hin zur inventio (ebd.: 522): Anhand der beschriebenen Motive und Inventuren werden die Künstler der Renaissance zu Erfindern oder weisen sich durch ihre Fähigkeit, Neues zu schaffen im Sinne eines Dismembering und Remembering von Vorhandenem gar erst als solche aus, wie Michelangelo konstatiere (ebd.: 343). Die oben beschriebene Szene des Domus Aurea als Areal und Nährboden einer neuen künstlerischen Ästhetik – der Groteske – liefert für die Betrachtung von zeitgenössischem Tanz wichtige Hinweise, als:
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Einbruch des Körpers in die Kunst, im Sinne von Wuchern, Verschlingen, Vermischen, Desorganisieren und Öffnen, wobei insgesamt die Materialität des Dargestellten in den Vordergrund rückt
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chimärisches Prinzip, von Mensch-Tier-Pflanzen-Kompositionen oder als Mixtur der künstlerischen Materialien
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Bewegungsmotiv, nicht nur innerhalb der überbordenden figuralen Ornamente, sondern ebenso durch die Betrachtenden dieser Kunst selbst
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Rezeptionsphänomen, in bis dato nicht dagewesenem Kontext, als psychologische Begegnung mit dem Unheimlichen, in Höhlen und schwer zugänglichen Nischen, daher auch als
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Rand-Erfahrung, an der Grenze des Bewusstseins ebenso wie buchstäblich als Ornament, das dann später (zunächst) als Bordüre und Rahmung von Kunstwerken dient, und damit nicht zuletzt als
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Produktionsästhetik, die das Konzept der Mimesis zugunsten des inventare verwirft
Besonders was den letzten Punkt anbetrifft, geht Scholl sogar so weit, das Groteske in einer epistemologischen Dimension zu verorten. Anhand der Literatur des Renaissancemalers und Schriftstellers Giovanni Paolo Lomazzo (1538-1600) zeigt sie, inwieweit Phantasie und Fiktion als Erklärungsmodell für Welt und Wissenschaft fungieren, als Möglichkeit, Disparates innerhalb ordnungsstiftender Bezugsrahmen verstehbar zu machen (Scholl 2004: 520, 518). Die Motive Körper, Grenze, Rand/Rahmen und Bewegung als explizite Novitäten im grotesken Diskurs der bildenden Kunst der Renaissance werden im Folgenden genauer ausgelotet und besonders auf Charakteristika hin untersucht, die sie als Analyseparameter für den zeitgenössischen Tanz nutzbar machen.
4.3 Der Körper ist eine Baustelle Beim Thema offener, überbordender Körperlichkeit drängt sich zuallererst das Konzept des Grotesken beziehungsweise Karnevalesken in der Theorie Bachtins auf. Der Körper wird hier als ein prozessuales, infinites Gebilde gedacht, »er wächst über sich hinaus und überschreitet seine Grenzen.« (Bachtin 1995: 76) Er verweigert sich der Schließung, als solitärer, glatter, hermetischer Körper, wie ihn die klassische Antike vorschreibe und produziere (ebd.: 79) – Vitruv formulierte hierfür die berühmten Maßgaben von regola, ordine, misura, disegno und maniera im Hinblick auf architektonische Gebilde (vgl. Stallybras/White 1986: 22). Dass Bachtin allerdings das Groteske als Paraästhetik (bereits in der Antike) ausblendet, legt Scholl überzeugend dar (Scholl 2004: 24; vgl. S. 74). Bachtins Theorie ist wesentlich auf Dichotomien aufgebaut, die das Unfertige des grotesken Körpers gegen die Individuation eines klassischen »Körperka-
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nons« ausspielt, wie er seit dem 19. Jahrhundert wieder vorherrsche (Bachtin 1995: 361). Der groteske Körper wird als Projekt konzipiert, als Entwurf: ›under construction‹, wie die französische Übersetzung verdeutlicht. Die berühmte Rede vom werdenden Körper lautet hier: »[L]e corps grotesque est un corps en mouvement. Il n’est jamais prêt ni achevé: il est toujours en état de construction« (Bachtin 1970: 315). Der Körper wird also als Baustelle verstanden, als work in progress, der beständig wächst und dabei nie seine Vollendung erlebt. Das Werden wird in der französischen Fassung als Bewegung übersetzt, das heißt, dass Körper-Sein hier nicht nur als ein Wucherndes, in unbestimmter Richtung Quellendes verstanden wird, sondern ausdrücklich als dynamisiertes Konzept38 – der zuvor erwähnte »Volkskörper« (vgl. S. 63) erhält in dieser Übersetzung die Komponente der politischen Bewegung. Bachtin schlüsselt seinen Entwurf des Unfertigen nun in verschiedene Motive des Grotesken auf, die er unter anderem an der Sprache Rabelais’ entwickelt, der später von Victor Hugo »zum größten Poeten des ›Fleisches‹ und des ›Leibes‹ erklärt« wurde (Bachtin 1995: 68). Dabei muss Bachtin zu einem methodischen Paradox greifen: Obgleich »die groteske Körperkonzeption […] nicht-kanonisch« sei, gilt es, einen Modus zu finden, in dem unterschiedliche Pattern des Grotesken systematisch dargestellt werden können. Daher führt er den Begriff des »grotesken […] Kanon[s]« ein, »in einem weiteren Sinn einer bestimmten, jedoch dynamischen und wandelbaren Tendenz bei der Darstellung des Körpers und seiner Aktivitäten«, der dem klassischen Kanon gegenübergestellt wird (ebd.: 80 f.). Die Aspekte des Grotesken gründen dabei in der Betonung des »materiell-leiblichen Prinzips«, wobei es Bachtin hier nicht so sehr um eine Bevorzugung des Körpers gegenüber dem Geist geht. Vielmehr rekurriert er auf die Idee der Verbindung des menschlichen Körpers mit seinen Umkörpern, als Volk einerseits und der Welt als Wachstum und Teilhabe an Fruchtbarkeit und Werdendem andererseits (ebd.: 69). Groteske Motive sind unter anderem auf diesem ›Nähr-Boden‹ entstehende Doppelkörper – Bachtins Idee des Doppels ist allerdings eines im übertragenen Sinn, eine Ambivalenz des Körpers als sterbender und gebärender beziehungsweise als geboren werdender: »Aus jedem Körper tritt in der einen oder anderen Weise ein anderer, neuer heraus.« (Ebd.: 76 f.) Ein chimärischer Körper erscheint hierbei im Spannungsfeld von Geburt und Tod, Leib und Welt und nicht als Mischwesen zwischen Tier, Pflanze und Mensch. Um die Leib-Welt-Verbindung kreist auch die gesamte Körpermetaphorik, die Bachtin in Rabelais’ Werk Gargantua und Pantagruel ausbreitet. Dabei betont er besonders das Motiv des Verschlingens, das sich in zwei Spielarten darbietet: hyperbolisch, etwa als unmäßige Fresserei des Riesen Gargantua, der z.B. »[z]u jeder Mahlzeit […] die Milch 38 Dazu ist allerdings hinzuzufügen, dass die deutsche Übersetzung, als »Werden«, dem russischen Originaltext näher kommt als die französische Übertragung in »mouvement«. Ich danke Natalia Kandinskaja für diesen Hinweis.
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von 4600 Kühen« trinkt (ebd.: 373), und mikrokosmisch, als Welt-Essen: Im zweiten Teil des Romanwerks Rabelais’ unternimmt Alcofribas39 eine Reise in den geöffneten Mund Pantagruels und entdeckt dort Wälder, Städte und gar ganze Königreiche (ebd.: 379). Dabei verschieben und verwischen sich die Grenzen zwischen Körper und Welt – Scholl unterstreicht, dass diese Strategie des nonfinito einen wesentlichen Zug der Renaissanceästhetik darstellt (Scholl 2004: 485). Die Zerstückelung des Körpers ist ein weiteres wichtiges Motiv des grotesken Konzepts, etwa als »anatomisierende Parade von Körperteilen«, mit der Bachtin die anatomisch sehr detail- und bildreichen Schilderungen Rabelais’ von Schlägereien umschreibt (Bachtin 1995: 238). Eine solche »Karnevalsanatomie« zitiert Bachtin aus Pantagruel, wobei die Weise des Zerteilens und Schlagens an Küchenvokabular erinnere: »Den einen zerspellte er das Hirn, andern schlug er Arm und Bein zu Stücken, andern zerspliss er die Halswirbel, manchen verrenkte er das Kreuz, hieb ihnen die Nase ab, bläute Augen, dass sie schwollen, spaltete Kinnbacken, walkte Schulterblätter zu Hackfleisch, drosch Schienbeine, bis sie schwarz anliefen, kugelte Steißbein um Steißbein aus, zerbröselte manch’ einem Arme und Beine.« (Ebd.: 236)
Bachtin führt diese genauen Schilderungen auf Rabelais’ medizinische Kenntnisse zurück (ebd.: 196, 199), die er mit den sogenannten »Marktplatzverwünschungen« kombiniere, die oft auf die buchstäbliche Degradierung von Körperteilen abziele (ebd.: 206 f.). Groteske Verschiebungen lassen sich aber nicht allein am bloßen Zerstückelungscharakter erkennen. Betrachtet man das obige Zitat genauer, wird deutlich, dass Rabelais nicht nur das Prinzip des Fragmentierens anwendet, sondern die Zerstörungsmöglichkeiten der einzelnen Glieder grotesk übertreibt: Das Steißbein etwa ist kein Kugelgelenk, wie es hier nahegelegt wird, sondern starr mit dem Kreuzbein am unteren Ende der Wirbelsäule verbunden. Spricht Rabelais nun vom Auskugeln, so überführt er die menschliche, knöcherne Anatomie hin zu einer dynamisierten Vorstellung des Skeletts, in der die verschiedenen Elemente ein Einzelleben führen beziehungsweise sich aus dem knöchernen Verbund ausdrehen können. William Forsythes Installation You Made Me a Monster (2005) arbeitet mit solchen Fragmentierungen und Isolationen von knöchernen Anteilen entgegen der Dreh-Richtung und wird an entsprechender Stelle Beachtung finden (vgl. Kap. 3). Bachtins Diktum vom unabgeschlossenen Körper sucht schließlich jene Regionen auf, die die Öffnung zur Welt hin betonen, wie schon an Rabelais’ Bild der Welt-im-Mund zu sehen war. Neben Körperöffnungen wie den Nasenlöchern 39 Bei dem Namen handelt es sich um ein Anagramm François Rabelais’, der aus der Perspektive als Pantagruels Reisebegleiter schreibt. Gargantua und Pantagruel erschien 1532 außerdem unter dem Pseudonym Alcofribas Nasier (vgl. Heintze 1974: 12).
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oder dem Anus (Bachtin 1995: 358) ist der Mund das wichtigste Merkmal des Grotesken: »Er ist das sperrangelweit geöffnete Tor ins Körperinnere. […] Im Innern der Welt (wie im Mund Pantagruels) verbergen sich neue, unbekannte Welten. Der Körper nimmt kosmische Ausmaße an, und der Kosmos wird verkörperlicht.« (Ebd.: 381) Es ist kein Zufall, dass Künstler/innen immer wieder dieses Motiv aufgreifen, sei es im aufklaffenden, schreienden Mund als Markierung des kommenden Expressionismus, etwa im berühmten Gemälde Edvard Munchs (Der Schrei, 1893), in der Videoperformance Open Book von Vito Acconci (1974), die ein Close-up des übergroß geöffneten Mundes des Künstlers zeigt, oder den aufgesperrten Mündern in Jeremy Wades Tanzstück …and pulled out their hair (2007). Diesem Motiv wird daher ein längerer Passus gewidmet sein (vgl. Kap. 3, 1). Neben den Körperöffnungen als Schleusen zur Welt betont Bachtin außerdem körperliche Ausstülpungen, besonders Nase, Bauch und Phallus, sprich: alles, was über den Körper hinausragt, ihn erweitert, sich bläht, ausufert und mit anderen Körpern in Kontakt kommt (Bachtin 1995: 358). Sowohl Öffnungen wie Ausstülpungen führen zu einem Körperbegriff, der die tendenzielle Kontingenz und Verflüssigung von Körpergrenzen hervorhebt. Bachtin gibt entsprechende Hinweise etwa in der gargantuesken Urin-Szene, die eine Karnevalisierung der göttlichen Genesis darstellt: »Gargantua [pisst] 3 Monate, 7 Tage, 13¾ Stunden und 2 Minuten am Stück [und erschafft] damit die Rhone samt 700 Schiffen« (ebd.: 191 f.). Abgesehen von dieser parodierenden Degradierung spielt Rabelais hier auch mit der Mystik der Zahlen (das Erschaffen der Welt in sieben Tagen) und profaniert sie zu bloßer akribischer Mathematik. Die Episode zeigt außerdem zwei weitere wichtige Elemente in Bachtins Ausgestaltung des Grotesken: Inversion und Degradierung. Letztere ist einerseits buchstäblich sowie im sozialen Transfer zu verstehen, wenn es darum geht, das Gegenüber durch das Bewerfen mit Exkrementen zu erniedrigen (ebd.: 189). Außerdem ist Degradierung binnenkörperlich relevant, als Verkehrung vom Kopf in den Unterleib – Bachtin erläutert dies an einer Rabelaisschen Szene, in der die Scheinheiligkeit der Mönche und ihre schriftlich annoncierten Wahrheiten als »articulant, […] culletant« oder »diabliculant« bezeichnet werden (ebd.: 214). Die Intellektualität der religiösen Schrift wird damit buchstäblich in den Hintern (cul) geschoben. Der Topos der Inversion wiederum ist ein prominentes Merkmal des Karnevals überhaupt und unterscheidbar in Oben-Unten-Verkehrungen sowie InnenAußen-Vertauschungen. Das Umkehren und »Auf-den-Kopf-Stellen[]« ist ein wiederkehrendes Motiv im Rabelaisschen Werk (ebd.: 59) – Bachtin schildert exemplarisch die Travestie einer (attischen) Kopfgeburt: Gargantuas Mutter isst kurz vor ihrer Geburt zu viele Innereien, welche Blähungen verursachen. Daraufhin tritt ihr Darm aus dem Unterleib, der Fötus aber entwischt dem Uterus, passiert das Zwerchfell (volkstümlich auch der Lachmuskel) und die Brust und wird
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durch das linke Ohr geboren (ebd.: 266).40 Dieses Motiv verkehrt nicht nur die Geburt der Athene aus dem Kopf des Zeus in eine peinliche Notwendigkeit aufgrund von Verdauungsproblemen, sondern verschlingt buchstäblich verschiedenste Motive des Invertierens und Degradierens (das Essen der Gedärme, der anstelle des Kindes austretende Darm und so fort). Die Subversion von oben und unten sei, so Bachtin, topographisch zu verstehen, als Himmel versus Erde, Kopf versus Unterleib (ebd.: 71), wobei er besonders das Motiv der Erde als Aufnehmen des Sterbenden und zugleich Frucht spendendes Prinzip hervorhebt. Das Changieren von Innen und Außen wiederum formuliert Bachtin mit Rabelais anhand von entsprechenden Flüchen, die regelrecht das Innere nach Außen kehrten, »sie krempeln den ganzen Körper um und stülpen den Unterleib vor.« (Ebd.: 207) Bachtins groteske Körpermotivik betont ein im Wortsinne überbordendes Konzept, als kosmisch utopischer Entwurf, den Peter Stallybras und Allon S. White als »cosmic populism« bezeichnen (Stallybras/White 1986: 10). Obgleich er seine Theorie in der Zeit des real existierenden Sozialismus der Stalin-Ära entwickelt hat, geht Bachtin von einer Art vor-kulturellen Ganzheit des Menschen aus, der im »Goldene[n] Zeitalter« »noch nicht individualisiert und von der restlichen Welt noch nicht getrennt« gewesen sei (Bachtin 1995: 100, 69). Argumentiert Bachtin, mit Rabelais, strikt historisch, so scheint hier eine utopisch angelegte Ideologie auf,41 die »das Volk, ein sich stets entwickelndes und erneuerndes« (ebd.: 69), letztlich wieder in diesen Urzustand zurückführen soll. Tod und Erneuerung lesen sich dann weniger metaphorisch als vielmehr politisch, im Sinne von Umwälzung, also Revolution, bei der Einzelne geopfert werden, um die Idee einer gesellschaftlichen Utopie zu verwirklichen: »Der Sieg der Zukunft ist durch die Unsterblichkeit des Volkes gesichert. Die Geburt des Neueren, Größeren, Besseren ist ebenso notwendig und unausweichlich wie der Tod des Alten, eins geht ins andere über, das Bessere macht das Schlechtere lächerlich und tötet es.« (Ebd.: 297) Politisch ist diese Auffassung situiert zwischen einem dialektischen Materialismus marxistischer Provenienz, wonach die Gesellschaftsform des Kapitalismus durch jene des Sozialismus als nächsthöhere, ›bessere‹ Stufe, im Sinne einer klassenlosen Gesellschaft überwunden werden soll (Marx/Engels
40 Diese Szene Rabelais’ erinnert an das Traktat des Hippokrates Von den Krankheiten der Frauen, wonach die Hysterie durch einen den Körper durchstreifenden Uterus (griech.: hystera) ausgelöst werde, wie Elisabeth Bronfen in ihrer Untersuchung zur Hysterie ausführt: Hippokrates »[definiert] die Hysterie als eine Störung […], die durch die pathologischen Wanderungen einer ruhelosen und unbefriedigten Gebärmutter verursacht werden.« (Bronfen 1998: 116) 41 Scholl stellt außerdem fest, dass sich Bachtins strikte Opposition von Volk/ Karneval einerseits und Herrschenden/offizieller Kultur andererseits nicht unbedingt halten lasse, sondern ein »ideologisches Konstrukt« sei, zumal die Dokumente dieser Kultur durchweg offiziellen Quellen entnommen seien (Scholl 2004: 29 f.).
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1966: 112)42, und Leo Trotzkis Ideal der permanenten Revolution, derzufolge eine gerechtere Gesellschaft für alle nur dann entstehen könne, wenn sie letztlich weltumspannend sei (vgl. Trotzki 1990: 201, Remshardt 2004: 199). Solche Expansionen formuliert Bachtin in seinen Schlussfolgerungen über die karnevalesken Festmahlmotive, die die Menschen als sozial engagierte Teile eines Volkes zusammenführten (Bachtin 1995: 344). Womöglich erklärt dieser Ansatz, weshalb Bachtins Schrift erst lange nach dem Tod Josef Stalins veröffentlicht werden konnte. Es sind allerdings weniger die politischen als vielmehr die ästhetischen Implikationen einer Verschlingung von Körper und Welt, die Bachtins Theorie des Grotesken bisweilen problematisch erscheinen lassen – denn wo lässt sich noch die notwendige Grenze ziehen, um das Groteske als Gegenkultur und somit grenzüberschreitendes Phänomen zu etablieren, wenn sich diese Markierungen doch tendenziell auflösen sollen? Scholl spricht Bachtin gar die Entwicklung einer Theorie des Grotesken ab, vielmehr werde das Groteske nur als ein Parameter des Karnevals verstanden (Scholl 2004: 24). Mit der Bachtinschen Perspektive eines weltumspannenden Prinzips trifft man also auf ein Problem, ähnlich jenem, vor das uns auch Merleau-Pontys Idee des Leib und Welt umschlingenden Fleisches stellt, denn um groteske Momente in der Kunst zu entdecken, müssen diese differenzierbar sein.
4.4 Kontingente Grenzen. Bachtin trifft Merleau-Ponty Dass Bachtins Entwurf einer karnevalisierten Gesellschaft die Auflösung von Körpergrenzen befördern soll, wird besonders in der Akkumulation von Aspekten des »Materiell-Leiblichen« deutlich (Bachtin 1995: u.a. 68 f., 193, 413 ff.) sowie in der wiederholten Rede vom Degradieren und Invertieren, im Sinne von Verbindungen des Körpers mit der Erde (ebd.: u.a. 59 f., 70, 131, 203, 214 ff.). Eine solche Perspektive erinnert an Merleau-Pontys transzendentale Auffassung vom »Fleisch der Welt« (SU: 339). Ist es dem Philosophen indessen um ein phänomenologisches Projekt zu tun, das einer cartesianischen Sichtweise der Welt gegenübergestellt wird, so zielt Bachtin in eine politische Richtung. Zwar betont er den Karneval und seine grotesken Strategien als Gegenwelt (Bachtin 1995: 58), diese jedoch zielen darauf ab, die offizielle, herrschende Kultur perspektivisch zu unterwandern. Beiden Theoretikern ist eine transzendentale Sichtweise zu eigen, und die Frage stellt sich, wo phänomenologisch der Eigenleib zu verorten wäre, ist er doch je schon von Welt durchdrungen (vgl. S. 46). Und wann
42 Dialektischer und historischer Materialismus sind auf Prozessualität hin ausgerichtet, wie Karl Marx und Friedrich Engels betonen. Materialismus fasse »die Welt als einen Prozess, als einen in geschichtlicher Fortbildung begriffenen Stoff« (Marx/ Engels, zitiert in Klaus/Buhr 1983: 754).
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kann etwas noch als grotesk bezeichnet werden, wenn sich doch Körper und Welt in beständiger Verschlingung befinden?43 Interessant ist, dass sich Bachtin, trotz dieser offensichtlichen Nähe, recht vehement gegen die Phänomenologie ausspricht und ihren Fokus auf die sinnliche Wahrnehmung, den er als Sinnlichkeit beziehungsweise Ereignishaftigkeit interpretiert, als ahistorisch kritisiert, wobei nicht ganz klar ist, auf wen er sich bezieht: »Bezeichnenderweise werden in der westlichen Philosophie der letzten Jahre, besonders in der philosophischen Anthropologie, Versuche gemacht, eine besondere festliche Erfahrung, einen speziellen Festaspekt der Welt zu entdecken und ihn zur Überwindung des pessimistischen Programms des Existentialismus zu nutzen. Doch kann die philosophische Anthropologie mit ihrer phänomenologischen Methode, der jegliche historischen und sozialen Kategorien fehlen, diese Aufgabe nicht lösen.« (Bachtin 1995: 318 f.)
Sowohl Merleau-Ponty als auch Bachtin optieren jedoch gleichermaßen für kategoriale wie ontologische Verunsicherungen – dies wird deutlich in der Rede vom Relief. Den Körper als vorgängige Entität verwerfend, etabliert der Philosoph den Begriff des ontologischen Reliefs, der die primordiale Seinsweise des Körpers konstatiert, ohne ihn als natürliches Ding zu fixieren (vgl. S. 52). Bachtin wiederum spricht vom »Relief des grotesken Körpers«, allerdings in einem konkreteren Sinne, die Ausstülpungen und Öffnungen des Körpers im Karneval hervorhebend, die sich gegen die glatte Fläche eines bürgerlich-hermetischen Körperkanons richteten – der wiederum einer cartesianischen Sicht auf den Körper als abgeschlossenes Ding geschuldet sei (Bachtin 1995: 359). Bachtins grotesker Entwurf bewegt sich in Richtung eines kontingenten Körpers und wird daher in jüngster Zeit zunehmend als Analysemöglichkeit einer 43 Hier sei noch eine Anmerkung zur Problematik der Differenz von Körper und Leib gemacht, die im Falle der Bachtinschen Terminologie allerdings auch ein Problem der Übertragung ist. Die Übersetzung der Passagen aus Bachtins Rabelais-Buch, die in der Textsammlung Literatur und Karneval 1969 erschienen sind, spricht jeweils vom grotesken »Leib«. Die neuere Ausgabe von 1987 setzt für Leib jedoch jeweils »Körper« ein. Dieser Unterschied wird allerdings an keiner Stelle thematisiert. Das Vorwort Renate Lachmanns spricht die groteske Leib/Körper-Thematik eher folgendermaßen an: »Für Bachtins Argumentation wesentlich ist allerdings die Frage, wie der Körper in diesem Prozess ins Spiel gebracht wird. Denn es ist der Körper, der zur Bühne der Exzentrik wird, der Körper, der seine Grenzen verlässt, seine eigene Übertreibung hervortreibt, der groteske Leib. Bachtin arbeitet das Bild des grotesken Leibes, wie es der Rabelaissche Text entwirft, heraus und rückt es immer stärker in den Mittelpunkt. Es geht um die Wiederkehr des Körpers in der Renaissance, wobei die Neubewertung der Rolle entscheidend ist, die der Körper im Kosmos spielt.« (Lachmann 1995: 35) Gerät hier die Verwendung der Begriffe Leib und Körper etwas durcheinander, fällt allerdings auf, dass im Vorwort (nicht mehr im übersetzten Text) immer dann vom Leib die Rede ist, wenn bestimmte Bedeutungen, die der Körper produziert oder Ordnungen, in die er eingebunden ist, überschritten werden.
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postmodernen Ästhetik angewendet, in Einklang etwa mit Deleuze/Guattari. Peter Fuß etabliert das Groteske zwar als »Grenzphänomen« und Movens historischer und kultureller Veränderungen (Fuß 2001: 12), konstatiert jedoch am Beispiel der Moderne: »Moderne Kunst ist wesentlich grotesk« (ebd.: 54), was er unter anderem am Beispiel des Schriftstellers und »Verkehrungsspezialist[en]« Mynona nachvollzieht (ebd.: 295). Dass eine gesamte Epoche nicht als ausschließlich groteske bezeichnet werden kann, zeigt einerseits am Beispiel des Tanzes die Bevorzugung Mary Wigmans oder Rudolf von Labans im Nationalsozialismus gegenüber etwa Valeska Gert, die als grotesk und »entartet« diffamiert wurde (Foellmer 2006: 110). Andererseits ist zu fragen, wie groteske Differenzierung noch möglich sein kann, wenn einer ganzen Epoche ein solches Attribut unterstellt wird – selbst aus einer historischen Distanz scheinen solche Verallgemeinerungen kaum legitimierbar. Fuß entwirft seine Theorie des Grotesken insofern aus der Perspektive Deleuzes und Guattaris heraus, wonach sich Differenz als Nomadologie erweise, als tendenzielle Kontingenz der Signifikanten (Fuß 2001: 161). Dabei stößt er allerdings, ebenso wie Judith Butler, auf den Begriff der Materialität, der, will man ihn nicht essentialistisch fassen, nur an den Zeichen selbst markierbar sei: »Materialität [ist] immer beides: Substanz der Zeichen und ihre Begrenzung« und insofern »wilde Semiose«, wie er wiederum mit Julia Kristeva ausführt (ebd.: 163). Allerdings ergibt sich dann in letzter Konsequenz abermals das Problem, dass sich das materielle, wuchernde Sein letztlich nicht besprechen lässt (vgl. S. 35 ff.). Dennoch votiert Fuß für eine postmoderne Theorie, die letztlich eine groteske sei – Derridas Verfahren der Dekonstruktion dient ihm hierfür als Beispiel (Fuß 2001: 484 ff.). Bevor ich nun die These entwickle, dass sich groteske Rand- und Grenzphänomene gerade nicht im Flow überbordender Leib-Welt-Konvolute ausmachen lassen, sondern haarscharf an den Rändern, zwischen Ordnungen und Desorganisation operieren, soll noch ein Blick auf Deleuze/Guattaris Projekt des organlosen Körpers geworfen werden, das sich, auch unter der transzendentalen Perspektive Merleau-Pontys und Bachtins, als Beschreibungsweise fluktuierender Phänomene im zeitgenössischen Tanz geradezu anzubieten scheint.
4.5 Wuchernde Intensitäten oder: Ist der organlose Körper ein Ideal? In vielen Fällen wird Gilles Deleuzes und Félix Guattaris Rede vom organlosen Körper (oK) herangezogen, um Motionen und Metamorphosen besonders in den Projekten von Xavier Le Roy, Jérôme Bel und Meg Stuart zu erklären. Die Idee eines Körpers ohne Organe ist Teil einer Philosophie, die sich von Kategorien und Fix-Punkten der Erkenntnis abwendet, und so ist der oK in beständiger Auflösung begriffen, »asignifikant[]« (Deleuze/Guattari 1992: 13) und desorgani-
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siert: »Die Organismen sind die Feinde des Körpers« (ebd.: 218). Organismus ist dabei als sinnstiftendes Doppel von Organisation und Organ zu verstehen, als System oder hierarchisch angeordnete Instanzen, die Handhabe und Verdinglichung den Weg bereiten könnten. Indem sie Binaritäten opponieren, sprechen Deleuze/Guattari von »Mannigfaltigkeiten« und »Schichten«, von »Intensitäten«, die sich rhizomatisch vernetzen und tendenziell unendlich sind44 – sie wuchern (ebd.: 13 ff., 215). Der organlose Körper wendet sich insofern von Innen-AußenDualismen ab, er bewegt sich vielmehr »zwischen zwei Polen«, er ist »azentrisch[]«, desartikulierend (ebd.: 218, 36, 219), und sein Außen, so man davon sprechen kann, ist die »Konsistenzebene«, in der er frei flottierend nomadisch wandelt, sie ist »das Außen aller Mannigfaltigkeiten« (ebd.: 219, 19), befindet sich, in Ermangelung deutlich abgegrenzter Organismen, aber eher in den Zwischenräumen, den Faltungen. Der oK ist sowohl ein dynamisches wie utopisches Gebilde und umschreibt eine Anti-Genealogie, er ist ständig im Werden begriffen (ebd.: 37), unerreichbar, er ist »das, was übrig bleibt, wenn man alles entfernt hat.« (Ebd.: 208) Als unerreichbar bildet er, paradoxerweise, eine »Grenze«, als n-Dimension (ebd.: 206, 224), die gleichermaßen gegen Null und Unendlich geht. Das Ei, als embryonales Gebilde, dient Deleuze/Guattari als eine Art Idealmodell des oK, in sich geschlossen, aber noch nicht fertig, in sich durch Keimblätter gefaltet wachsend, als eigenes, (noch) kontingentes und grenzenloses Universum (ebd.: 210, 224). Abgesehen von der glatten, ebenen Fläche, mit der die Autoren ihre Idee des oK umschreiben, als in sich zirkulierende Zone und nicht als Expansion, ist gerade die Rede vom Werden und Desorganisieren dem Bachtinschen grotesken Körperkonzept recht nahe – aus diesem Grund fügt Fuß die beiden Theorien auch zusammen. Allerdings handelt es sich bei dem oK um ein Idealmodell a-binärer Gestaltung, wie Deleuze/Guattari explizit betonen. Kurze Zeit später präzisiert Gilles Deleuze den Begriff des organlosen Körpers in seinem Essay über Francis Bacon, in dem er den Körper ohne Organe nun als Grenzfigur, durchzogen von »Schwellen oder Ebenen« positioniert (Deleuze 1995: 32) – in einer solchen Wendung ließe sich der oK denn auch im Zuge des Grotesken aufspüren, wie ich meine. Pirkko Husemann überträgt wiederum Deleuze/Guattaris gemeinsamen, utopischen Entwurf des oK auf die Choreographien Meg Stuarts, Jérôme Bels und Xavier Le Roys, da sie Körper im Übergang zeigten, die »grundsätzlich undefinierbar« seien (Husemann 2002: 27). Besonders Jérôme Bels »Ziel« sei es, »einen organlosen Körper zu schaffen […] Zieht man Bedeutung und Identität vom Körper ab, verbleibt dieser als entleertes Zeichen, als reine Einschreibeflä44 Der Begriff der Intensität umschreibt bei Deleuze und Guattari einen Zustand ohne Ausdehnung, eine nicht-intentionale Seinsweise. In diesem Zusammenhang verstehen sie das Plateau als eine »in sich selbst vibrierende Intensitätszone, die sich ohne jede Ausrichtung auf einen Höhepunkt oder ein äußeres Ziel ausbreitet.« (Deleuze/Guattari 1992: 37)
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che.« (Ebd.: 48) Ein solches Körperkonzept im zeitgenössischen Tanz zu formulieren, ist freilich problematisch: Deleuze/Guattaris Theorie des oK lässt sich schwerlich affirmativ übernehmen, formulieren sie den oK doch selbst als unerreichbare Größe. Zudem sind Körper, wie sie die Darsteller/innen in Bels Stücken immer wieder zeigen, gerade nicht bedeutungsleer, sondern immer schon mit Körpertechniken und Bezeichnungen überformt, die etwa in The Last Performance (1999) mittels sich verschiebender Zitate ad absurdum geführt werden (vgl. Stamer 2000: 156, Brandstetter/Peters 2002a: 16 ff., Siegmund 2006: 339). Siegmund versteht die Idee des organlosen Körpers insofern eher als Chance, Körper zu produzieren, die nicht sofort in vorgeformte Bilder und Raster einhaken, was er anhand von Le Roys Self unfinished expliziert (Siegmund 2006: 379). Dabei unterzieht er Deleuze/Guattaris oK einer kritischen Revision, die diesen Begriff von Artaud herleiten (vgl. Deleuze/Guattari, 1992: 206), ihn in der Folge jedoch als ziellosen Entwurf einer fluktuierenden Matrix idealisierten: »Bleibt bei ihnen der organlose Körper ein körperloser Fluchtpunkt, der jeglicher Artikulation vorausgehen muss, insistiert Artaud gerade auf der Unhintergehbarkeit des fleischlichen Körpers an der Schwelle zur Sprache, die ab- und ausgestoßen wird. […] Konsequenterweise entwirft Artaud keine Opposition zwischen organischem und organlosem Körper wie es Deleuze und Guattari tun. Das Abwesende, Undarstellbare bricht in Form sprachlicher Glossolalien in seine Texte ein, deren grammatische Ordnung sie zersetzen, ohne das Symbolische dabei jedoch gänzlich auszublenden.« (Siegmund 2006: 383)
Xavier Le Roy arbeite nun an eben diesen Nahtstellen von symbolischer Ordnung und Repräsentationslosigkeit (ebd.: 383 f.). Und dennoch versteht Siegmund sein Körperkonzept letztlich als ein undarstellbares: »Le Roys Körper ist ein ungeteilter, mobiler Körper, der sich ohne Zäsuren permanent im Fluss befindet.« (Ebd.: 385) Ich meine jedoch, dass sich Darstellungen wie jene Le Roys in Self unfinished nicht ohne Zäsuren denken lassen, Schwellen, wie sie Deleuze auch in seinem Essay über Bacon formuliert. Befindet sich der Körper zwar in einem beständigen Fluss und währen aufkommende Assoziationen mit Bildern eines Huhns, Insekts oder Frosches nicht unbedingt lang, so bilden sie dennoch Einschnitte in der Rezeption,45 kurzzeitige Verfestigungen, Umkehrungen und Rückbezüge, die die Live-Zeit der Aufführung überdauern und letztlich durch entsprechende Bilder in Rezensionen oder Essays mit manifestiert werden (vgl. u.a. Schlagenwerth 1998: 10, Sieben 1999: 15, Bel 2002: 92, 94). Deleuze/Guattari sehen selbst solche Schwierigkeiten, wie sie in ihren Tausend Plateaux darlegen, besonders, wenn es darum geht, das Des-Organische zu 45 Deleuze/Guattari sprechen vom Problem der Signifizierung in der Linguistik – eine Verunsicherung von Identitäten stelle sich hier etwa über »Einschnitt-Figur[en]« her (Deleuze/Guattari 1977: 312), die zwar die Produktion von Signifikanz kritisierten, sie jedoch nie ganz verlassen könnten (ebd.: 311 ff.).
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versprachlichen. Ähnlich wie Merleau-Ponty müssen sie zu dualistischen Hilfskonstruktionen greifen, eine gegnerische Wand, vor der sich das Fluide darstellen soll: »Wir benutzen den Dualismus von Modellen nur, um zu einem Prozess zu gelangen, in dem jedes Modell verworfen wird. Wir brauchen immer wieder geistige Korrektoren, die die Dualismen auflösen, die wir im Übrigen nicht festlegen wollten, durch die wir nur hindurchgehen. Um zu der Zauberformel zu kommen, die wir alle suchen: Pluralismus = Monismus, und dabei durch alle Dualismen hindurchzugehen, die der Feind sind, aber ein unbedingt notwendiger Feind, das Mobiliar, das wir immer wieder verschieben.« (Deleuze/Guattari 1992: 35)
Das Bild der Möbel weist dabei eine ähnliche Potenz auf wie jenes des »Ganggestein[s]« bei Merleau-Ponty (vgl. S. 59). Grundsätzlich mobil, fristen Möbel in Zimmern doch oft ein fixiertes Dasein: Einmal hingestellt, bleibt es dann meist so für die nächsten Jahre. Deleuze/Guattari geben den unfreiwillig zur Immobilie gewordenen Stücken nun wieder ihre eigentliche Bedeutung zurück und bringen sie in Bewegung. Ihr Gegenmodell zu dualistischen Flexibel-UnflexibelPaarungen ist das Rhizom, das nicht oppositionell, sondern akkumulierend aufgebaut ist, »in der Konjunktion [des] ›und… und… und‹«, die das ontologische Verb »sein« überformen solle (Deleuze/Guattari 1992: 41) und an das additive Visitieren bei Serres erinnert. Das Rhizom wuchert entsprechend, ist ortlos, deterritorialisiert (ebd.: 19). Doch gerade durch sein akkumulatives Verhalten kann es zu Verknotungen im Netz kommen, die sich, und auch hier sehen wir wieder Merleau-Ponty, durch die Erinnerung bilden: Falle das Wahrgenommene des »Kurzzeitgedächtnis[ses]« zwar zumeist dem Vergessen anheim, werde die Wahrnehmung jedoch von den Einträgen des »Langzeitgedächtnis[ses] (Familie, Generation, Gesellschaft oder Zivilisation)« beeinflusst, die sie überlagerten (ebd.: 28). So könne es geschehen, dass aus dem ungerichteten Rhizom »baumartige Verknotungen«, also hierarchische Anordnungen entstünden (ebd.: 35) und sich »Zeichenpartikel« ablagerten, »die noch das asignifikanteste Zeichen im deterritorialisiertesten Partikel zum Funktionieren bringen.« (Ebd.: 99) Das heißt, es kann zu »Niederschläge[n], Verdickungen auf einer Konsistenzebene« kommen (ebd.: 98), die plötzlich ein bis dato doch unsagbares Außen artikulieren, also Distanz nehmen. Es ist auch hier nicht mein Bestreben, Deleuze/Guattari Kategorisierungen zu unterstellen, wo diese doch aufgelöst werden sollen – gerade der organlose Körper wird von ihnen explizit als »bilderlose[r] Körper« verstanden (Deleuze/Guattari 1977: 15) –, zugleich wird der oK jedoch auch als ein nicht zu erreichendes Ideal entworfen und »plötzlich [kann] ein Piktogramm« erscheinen (ebd.: 50). Jene Ein-Tragungen aber, die Stockungen im Fluss des Asignifikanten verursachen, Gerinnungen bilden und mithin Bilder zum Erscheinen bringen, können meiner Meinung nach auch in Projekten wie Self unfinished nicht igno-
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riert werden, besonders dann nicht, wenn diese zur Folie für nachfolgende Choreographien werden und als Bildmotive des Unabgeschlossenen bereits etwa in den Bildern Hieronymus Boschs zu finden sind.
4.6 Groteske Schwankungen. Aspekte fluktuierender Differenzierungen Es gilt also, die Zäsuren, Einschnitte und Momentbilder genauer zu beschreiben, die im Meer der Kontingenz plötzlich auftauchen können – das Groteske bietet diese Möglichkeit, da es genau an den Grenzen zwischen Signifizieren und Verflüssigungen, Bildproduktion und Kontingenz operiert und Zäsuren markiert.
4.6.1 Marginalien oder: Am Rand der Ordnungen Obwohl Fuß für sein Modell des Grotesken das Prinzip der Nomadologie favorisiert, stellt er dennoch fest, dass das Groteske immer den Gegenpart einer Ordnung benötige, um sich zu zeigen. Er entwickelt diese These anhand von Kulturen des Marginalen, die einerseits von bestimmten Herrschaftsnormen ausgeschlossen sind, andererseits diese jedoch mit konstituieren: »Eine Kulturordnung formiert sich, indem sie Teile ihrer selbst marginalisiert, d.h. ausgrenzt, und zugleich als Ausgegrenztes in ihrem Inneren repräsentiert. Das Ausgegrenzte, das dabei zum Abnormen und Fremden, zum Unheimlichen und Lächerlichen erklärt wird, muss innerhalb dieser Kultur abgebildet werden, damit sie eine Form erhält, ein Bild von sich gewinnen, damit sie selbst gegenständlich werden kann. Das führt zu jener seltsamen Zwischenposition des Grotesken, das jenseits der kulturellen Ordnung und doch eines ihrer Elemente ist.« (Fuß 2001: 55)
Nun sind groteske Erscheinungen nicht nur als das Fremdartige, aus der Norm Fallende zu verstehen, vielmehr werden sie gezielt als künstlerische Strategien benutzt, um herrschende Kunstdiskurse zu konfrontieren (vgl. Foellmer 2006: 109 f.). Fuß formuliert hier allerdings einen wichtigen Aspekt des Grotesken, das Einschnitte vollzieht und diese schwankend umspielt. Bachtins Modell des Karnevals stellt hierbei eine wichtige zeitliche Zäsur dar, in deren Rahmungen, als erlaubte Revolte innerhalb einer offiziellen Kultur, Verkehrungen und Deformationen möglich sind: »[D]er Karneval [zelebrierte] die zeitweise Befreiung von der herrschenden Wahrheit und der bestehenden Gesellschaftsordnung, die zeitweise Aufhebung der hierarchischen Verhältnisse, Normen und Tabus. […] Das Ideal-Utopische und das Reale fielen zeitweilig in dem einzigartigen Weltgefühl
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des Karnevals zusammen.« (Bachtin 1995: 58 f.)46 Wie mit Scholl bereits gezeigt wurde, kann Karnevaleskes indessen auch die Grenzen seines Ghettos überschreiten und die ›Leit-Kultur‹ beeinflussen – dann allerdings um den Preis seines subversiven Seins, wird es doch sogleich in den Mainstream aufgesaugt. An dieser Stelle weicht Fuß seine Theorie des Grotesken wiederum auf, da er groteske Erscheinungen mit dem Prädikat der »Rezentrierung des Marginalisierten« auszeichnet (Fuß 2001: 310). Jedoch kann meiner Meinung nach dann von Groteskem nicht mehr gesprochen werden, wenn es sich bereits im (politischen oder ästhetischen) Mittelpunkt befindet. Groteskes, so meine These, ergibt sich explizit im Moment der Wanderung, dem Schwanken zwischen Erkennen und Verfremden, zwischen Rand und Zentrum. Anstelle des additiven und kumulativen »und« im rhizomatischen Entwurf von Deleuze/Guattari setzt Jacques Derrida den »Trennungsstrich« in seiner Rede von der Differenz: »Denn das Werden ist vielleicht schon immer als diese Bestimmung der Differenz qua Gegensatz begriffen worden.« (Derrida 1992: 27) Die Groteske im Karneval arbeitet an genau jener Trennung, diesem EntwederOder und pendelt dabei mal zur einen, mal zur anderen Seite, wobei sie sich jederzeit selbst aufs Spiel setzt. Sie verunsichert Kategorien, markiert Grenzen, kann aber jederzeit selbst in eine Ein-Ordnung hineingeraten (Harpham 1982: 38). Sie bedient die Interessen der offiziellen Kultur, die sie doch kritisieren will, oder weiß sich zumindest nicht gänzlich davon freizumachen, so argumentieren Stallybras und White (Stallybras/White 1986: 13, 19). Insofern ist die zeitliche Zäsur, die der Karneval bildet, weniger als Utopie zu verstehen, wie Bachtin es postuliert, denn als Heterotopie,47 jederzeit in Gefahr, den Charakter exklusiver Gegenstrategien zu verlieren (vgl. Fuß 2001: 55). Um das Schwanken an Rändern und die Markierung zwischen Marginalem und (offiziell) Zentriertem wird es in den nächsten beiden Abschnitten gehen, wobei die groteske Theorie Kaysers wesentlich ist, in denen die Aspekte der Bewegung – auch als Dynamisierung von Grenzen – und des Fremden, Unheimlichen als Dorn in der Wahrnehmung genauer betrachtet werden.
4.6.2 Bewegung als Movens des Grotesken Ähnlich wie Bachtin versteht Kayser das Groteske als »Kontrastmittel« gegenüber einer Kunst, die zum Beispiel die Schönheit ebenmäßiger Proportionen betont (Kayser 2004: 60). Anders als Bachtin akzentuiert er jedoch nicht den As46 Eine frühere Übersetzung Bachtins fasst die Temporalität des Karnevals etwas präziser: »Der Feiertag setzte gleichsam das ganze offizielle System mit allen seinen Verboten und hierarchischen Schranken außer Kraft. Für kurze Zeit trat das Leben aus seiner üblichen, gesetzlich festgelegten Bahn und betrat den Bereich der utopischen Freiheit.« (Bachtin 1990: 33) 47 Zu Foucaults Konzept der Heterotopie vgl. S. 96.
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pekt des subversiven Lachens, sondern die Erschütterung der Wahrnehmung als Erfahrung des Fremden (vgl. S. 62 f.). Im Grunde ist Kaysers Rezeption des Grotesken, auch durch die Kritik Bachtins, immer auf diese psychologische Komponente reduziert worden. Bevor das Charakteristikum des Fremden genauer elaboriert werden soll, möchte ich das Augenmerk auf einen Zug legen, der in seinem Text nur als Marginalie erscheint, jedoch ein wichtiges Prinzip ist, mit dem Kayser Bilder oder Texte betrachtet: die Bewegung. Er bemerkt: »Schon in der grotesken Ornamentik war die einzelne, ›widersinnige‹ Figur nur ein Motiv innerhalb eines Zusammenhangs gewesen, der sehr stark als Bewegungszusammenhang empfunden [wurde]« (Kayser 2004: 60).48 In ähnlicher mäandernder Weise durchzieht das Groteske als Bewegungsmotiv Kaysers gesamte Schrift. Er verweist in der Erläuterung der etymologischen Verwendung auf den Dictionnaire français von Pierre Richelet (1680), in dem von der »Action grotesque« die Rede sei (ebd.: 28), und betont im Zusammenhang mit der Commedia dell’Arte und ihrem Bilddokumentaristen Jacques Callot das Primat der Bewegung: »Das Wesen der Commedia dell’Arte ist nicht vom Text her, sondern vom Aufführungsstil oder noch enger: vom Bewegungsstil her zu erfassen.« (Ebd.: 40) Mehr noch: In einer recht langen Fußnote hebt Kayser deutlich den Zusammenhang zwischen dem Ausdruck »grotesk« und dem Tanz hervor, wobei seine Definition von Tanz allerdings etwas verschwommen als »moderne[r]« Tanz beziehungsweise als »bewegte Ornamentik« firmiert (ebd.: 205). Kayser formuliert damit einen performativen Ansatz avant la lettre (vgl. Oesterle 2004: XI).49 Auch in der Literatur betont er die Bewegung als entscheidendes Charakteristikum grotesker Gestaltung, so in den Dramen des Sturm und Drang, die durch ihren »Bewegungsstil« ins Auge fielen (Kayser 2004: 45), in den Gedichten Christian Morgensterns, deren Sprache durch Bewegung erschüttert werde (ebd.: 166) oder, früher noch, in Johann Fischarts Literatur, die er mit jener Rabelais’ vergleicht und für die er exemplarisch einen Text wählt, der von einem Tanz der Riesen handelt und von Vokabeln des Hüpfens, Springens und Tanzens überquillt (ebd.: 167 f.). Es sind Bewegungsmotive des Grotesken, die Kayser hier entdeckt und die sich, so meine Hypothese, zu Bewegungspattern verdichten, wie das letzte Kapitel zeigen wird. Das Entdecken des Grotesken als Motion ist indessen kein originäres Fundstück Kaysers. Karl Rosenkranz bezieht in der Ästhetik des Hässlichen (1853) seine Definition des Grotesken gänzlich auf Bewegung – genauer gesagt: Tanz –, die er unter anderem mit den Ornamenten des Domus Aurea verbindet, deren »Schnörkel und unerwartete Sprünge« die Aufmerksamkeit anregten (Rosenkranz 1996: 181). Schönes versus Hässliches vermitteln sich bei Rosenkranz nicht nur über Bildlichkeit, sondern gerade auch über die Bewegung, die schön 48 Die mäandernden Friese in den Kopien Nicolas Ponces haben hierauf bereits einen Hinweis gegeben (vgl. S. 66). 49 Kaysers Schrift entstand in den späten 1940er und den 50er Jahren.
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zu nennen sei, wenn sie sich in harmonischen Schwüngen ergehe und nach den Gesetzen der »Eurhythmie« richte (ebd.: 21 f.). Das Groteske in seiner stärksten Ausprägung sieht er infolgedessen bei den sogenannten »Grotesktänzer[n]« verwirklicht, die sich in wundersamen »Verrenkungen« und Sprüngen ausdrückten (ebd.: 181 f.). Wilhelm Fraengers in den 1920er Jahren gehaltene Vorträge über das Komische folgen dieser Lesart: Grotesk, das sind die Figuren Callots, deren Bewegungen allen Gesetzen der Anatomie zu spotten scheinen (Fraenger 1995: 11 ff.). Sowohl Fraenger als auch Kayser verweisen zudem auf die ästhetische (Genre-)Nähe von Groteske und Arabeske, als (in Höhlen gefundene) Ornamente und als Tanz (ebd.: 15, Kayser 2004: 205). Darüber hinaus kommt es Kayser beim Aufspüren des Grotesken auf die Dynamisierung von (sprachlichen) Bildern an, so in der Lyrik Charles Baudelaires, die »bewegungshaltige[] Bild[er]« erzeuge (Kayser 2004: 175), oder in den Zeichnungen Alfred Kubins, wobei hier die Rezeption gleichsam von der Produktionsästhetik überwältigt wird: »[Er] entwickelt […] eine ganz eigene, huschende, bündelnde und noch im einzelnen Strich nervös bewegte Technik.« (Ebd.: 190) Der von Kayser betonten grotesken Bewegungsästhetik entspricht das Vokabular, mit dem er die untersuchten Künste beschreibt, etwa die surrealistischen Bilder Salvador Dalís, die sich durch ihre Grenzenlosigkeit und »Verzerrte[s], Verrenkte[s], Zerstückelte[s]« auszeichneten (ebd.: 183 f.). Auf Max Ernsts Gemälde Abendlied entdeckt er »Transmutationen« (ebd.: 185) sowie Fragmentierungen in den Gedichten Morgensterns, wobei er, anhand einer zitierten buchstäblichen Parenthese des Knies, das allein in die Welt spaziert, gerade auf die expliziten Glieder der Bewegung fokussiert (ebd.: 164). An anderen Stellen wird die Nähe Kaysers zu Bachtin sichtbar, wenn es um »Vermischung« von Organischem und Anorganischem bei Wilhelm Busch geht, um Disproportionales (ebd.: 197) oder »Maßlosigkeit« (ebd.: 110), die der Rede vom Hyperbolisierten bei Bachtin ähnelt, das gegen »natürliche[] Proportionen« verstoße und das Volk in seinem Bestreben nach Wandlung und Erneuerung versinnbildliche: »Daher ist hier alles Körperliche so grandios, hyperbolisiert und maßlos.« (Bachtin 1995: 86, 69) Solche Hybridisierungen, die bei Bachtin revoltierendes Lachen evozieren, werden in Kaysers Studie indessen als beunruhigend, unheimlich und verwirrend dargestellt – sie befremden und bringen den wahrnehmenden Leib in eine momentane Distanz zu seiner Umwelt, lösen die Verbindung, die Bachtin propagiert – der nächste Abschnitt widmet sich diesem Thema.
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4.6.3 Das Groteske als »Stachel des Fremden«50 Kaysers These vom Grotesken als Entfremdung (Kayser 2004: 198) soll hier auf ihr Potential überprüft werden, Phänomene des Difformen und Fluktierenden eingrenzen zu können, ohne sie ihrer irritierenden Wirkung zu berauben. Kayser betont die Plötzlichkeit des Fremden – als Einbruch in die eigene, als sicher geglaubte Welt (ebd.: 198 f.) –, die er fast allen Werken, die Groteskes als Attribut trügen, zumisst, so etwa den Gemälden Hieronymus Boschs oder Pieter Brueghels des Älteren, dessen »Eigenart [darin] liegt […], dass bei ihm das Nächtliche, Höllische, Abgründige, dessen Formenschatz er sich aus Bosch angeeignet hatte, in unsere vertraute Welt einbricht und sie aus den Fugen bringt. […] Es ist die Erfahrung einer entfremdeten Welt.« (Ebd.: 36) Besonders prominent in dieser Erfahrung tritt die Literatur E.T.A. Hoffmanns hervor – die Erzählung Der Sandmann verbindet dabei das Abgründige als buchstäblichen Sturz des von grauenerregenden Phantasien geplagten Protagonisten Nathanael von einem Turm in den Abgrund (ebd.: 77). Dabei sei es vielfach die Figur des Künstlers, der das Bindeglied zwischen der Alltagswelt und dem traumhaft aufgeladenen Abdriften ins Unheimliche darstelle (ebd.: 79). Von Angstlust bis hin zum Wahnsinn als höchste Stufe der Entfremdungserfahrung (ebd.: 78) rangiert dabei die Wahrnehmungspalette, wie Kayser am Werk Edgar Allen Poes exploriert: »Die Verzerrung in den Elementen, die Mischung der Bereiche, die Gleichzeitigkeit von Schönem, Bizarrem, Schaurigem und Eklem [sic!], die Verschmelzung zu einem turbulenten Ganzen, die Entfremdung ins Phantastisch-Traumhafte […], alles ist hier in den Begriff des Grotesken eingegangen.« (Ebd.: 84) Hybridisierung findet in diesem Fall nicht auf der Ebene des Materials (vgl. Scholl 2004: 69) oder als Verschlingung von Körper und Welt statt, sondern innerhalb der Emotionen, die von schockartigem Erkennen oder lustvollem Gruseln bis hin zu Unverständnis, Angst und Entsetzen reichen. Dabei ist wichtig, dass sich das als fremd Erlebte immer noch an eine gewohnte Um-Welt ankoppeln kann, andernfalls wird der groteske Effekt nicht erzielt.51 Fremderfahrung ist also Distanznahme von umgebenden Geschehnissen und zugleich tief im Eigenen 50 Zitiert nach dem gleichnamigen Buch von Bernhard Waldenfels Der Stachel des Fremden (Waldenfels 1990). 51 Hans Robert Jauß betont etwa, dass das verzerrte Sujet sich immer noch auf eine »Normalwelt« beziehen müsse, um als grotesk wahrgenommen zu werden: »Von ›Verfremdung der bestehenden Welt‹ kann nicht die Rede sein, wenn das Groteske nicht auf die Realität einer vorher oder daneben bestehenden, durch die groteske Kunst verfremdete Normalwelt verweist, wenn es vielmehr dank der ihm eigenen ›Realität des Irrealen‹, als Gegenbild des Schönen und Guten, die eigentümliche Wirkung erzielt, dass ›einem das Lachen vergeht‹.« (Jauß 1968: 156) Zum Grotesken als Erfahrung des Fremden vgl. auch Fuß 2001: 249, 251; der Autor geht hier allerdings von einem recht linearen Zeitverständnis aus, innerhalb dessen sich (geschichtliche) Umbrüche ereigneten, die das Bekannte verfremdeten.
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verwurzelt. Hat die Beschäftigung mit dem Œuvre Bachtins die Nähe zur Phänomenologie des Fleisches von Merleau-Ponty gezeigt und damit die Problematik aufgeworfen, wie überhaupt Grenzen zwischen Leib und Welt zu ziehen sind, so kann Kaysers Perspektive des Grotesken eine genauere Beschreibung von Differenzierungen und tendenziellen Öffnungen zwischen Körper und Umraum ermöglichen – die Lektüre Bernhard Waldenfels’, der zwischen die Verbindung von Leib und Welt die Erfahrung des Fremdem schiebt, soll hierbei Hilfestellung leisten. Eine Bestimmung des Selbst, so Waldenfels, ist, wie erwähnt, paradoxerweise nur über die Fremderfahrung möglich, als »Fremdbezug[] im Selbstbezug.« (Waldenfels 2006: 28; vgl. S. 59) Insofern versteht er Zwischenleiblichkeit nicht als allgemeine Verflechtung von Leib und Welt, sondern explizit als Fremdes im Eigenen, etwa als Eintrag sozialer Verhältnisse in das Sein-in-der-Welt, eine Annahme, die er mit Merleau-Ponty und Norbert Elias stützt (ebd.: 88 f.). Bereits Husserls ontologische Alternative formuliere Fremdheit als Notwendigkeit, die sich durch »Zugänglichkeit eines Unzugänglichen erweist. Der Ort des Fremden in der Erfahrung ist streng genommen ein Nicht-Ort […], eine[] Art leibhaftige[] Abwesenheit« (Waldenfels 1997: 26). Der Ansatz Siegmunds drängt sich hier auf, zeitgenössischen Tanz über die Abwesenheit als sein kritisches Potential zu verstehen (Siegmund 2006). Meine These ist allerdings, dass sich mithilfe der Theorien des Grotesken entdecken lässt, was im Tanz seit den 1990er Jahren als Verformung, Oszillation und Verschiebung aufscheint. Fremdheit, so Waldenfels, ist ein »Prozess der Ein- und Ausgrenzung […] Fremd ist ein Ort, wo ich nicht bin und sein kann und wo ich dennoch in Form dieser Unmöglichkeit bin.« (Waldenfels 2006: 114) Die Erfahrung von Fremdheit entstehe dabei als »Überschuss«, über Sinn und Ordnungen hinaus, ein »Überstieg[]«, der zu »Beunruhigung, Störung und Verstörung« führe (ebd.: 125).52 Um eine solche Verstörung jedoch als Kontingenz von Sinn wahrzunehmen, bedürfe es – folgt man der vom Logos geleiteten Annahme, etwas als kontingenten Sinn zu sehen – nur einer kleinen Motion hin zu einem Verstehen, um Kontingenz mit dem Attribut des Vagen, Vor-Läufigen zu belegen (ebd.: 36). So schwankt das Wahrnehmen und Erkennen einer beunruhigenden Erfahrung immer zwischen fast unmittelbar einsetzenden Sinnbestrebungen und der sehr kurzen Lebensdauer, die die Verstörung hat. Der Mensch zeichne sich geradezu durch den Zwang, »bestimmte Ordnungen zu finden und zu erfinden« aus (Waldenfels 1997: 44). Ein Anschluss an Kayser über Waldenfels bietet sich nun im Moment der verfremdeten Erfahrung:
52 Für Tanz und Perfomance formuliert André Lepecki ein ähnliches Phänomen, wonach Fremdes durch das Eigene hindurchgehen müsse, um als beunruhigende Erfahrung zu wirken. Fremdes und Unbekanntes ergebe sich dabei nachgerade als Diktum der Postmoderne (Lepecki 2000a: 5).
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»Fremderfahrung besagt […] nicht nur, dass uns Fremdes begegnet; Fremderfahrung gipfelt in einem Fremdwerden der Erfahrung selbst. ›Der Mensch ist nicht Herr im eigenen Hause‹, wäre er es, er könnte sich das Fremde und Unheimliche vom Leibe halten und sich ins Heimische flüchten. Doch das Unheimliche, von dem Freud spricht, nistet sich durchaus im Heim ein, es haust nicht außerhalb der eigenen vier Wände.« (Waldenfels 2006: 120)
Es ist diese Doppelung, der Fremd-Selbst-Bezug, der Emotionen wiederum nicht in klar abgrenzbare Bereiche trennt – Kayser spricht von Mischempfindungen, den gemischten Gefühlen also, die die Erfahrung des Grotesken auslösen können, etwa beim Anblick der Bilder Brueghels d.Ä.: »›Mit kaltem Interesse‹: nicht um zu belehren, zu warnen oder Mitleid zu erregen malt Brueghel die sich verfremdende Welt unseres Alltags, sondern eben das Unfassbare, Undeutbare, als das Lächerlich-Entsetzlich-Grauenvolle.« (Kayser 2004: 36) Der Unterschied zwischen der notwendigen Erfahrung von Fremdheit (selbst zwar Nicht-Ort), um das Selbst in der Um-Welt verorten zu können, und dem Erlebnis des Grotesken erscheint an dieser Stelle als Übergangsphänomen: von einer Hybridisierung der Gefühle, in denen sich Lachen und Grauen überlagern, hin zu einem Schwanken, das die Betrachtenden ver-rückt, vom Ort gesicherter Erkenntnis verschiebt, hinein in Regionen des Undeutbaren. Als vorläufige erste Hypothese sei an dieser Stelle konstatiert, dass das Groteske folglich genau in jenen Passagen zu finden ist, im Zwischenraum von ›bekannter‹, notwendiger Fremdheit und Ortlosigkeit, Desorientierung. Dabei sind Ordnungen als Folie vor einer Fremdheit wesentlich, so Waldenfels: »Ein […] Ausbruch und Einbruch des Fremden setzt […] jene Ordnungen voraus, die er durchbricht.« (Waldenfels 2006: 125, Hervorhebung S.F) – das Eigene wird durch das Fremde »kontaminiert«53 (Waldenfels 1997: 28). Der Prozess der Erfahrung ist dabei keineswegs zielgeleitet, sondern spielt sich in einem Raum von Ereignissen ab, »die uns […] widerfahren, zustoßen, zufallen, uns überkommen, überraschen, überfallen« – Waldenfels nennt dies das Pathische oder »Pathos« der Erfahrung (Waldenfels 2006: 42). Allerdings ist der Mensch keinen willkürlichen Flutwellen des Pathischen ausgesetzt (ebd.: 51) – auch dann ließe sich ja letztlich von einer grotesken, überraschenden und verunsichernden Erfahrung nicht mehr sprechen. Den Widerspruch einer regulierenden und doch plötzlichen Erfahrung fasst Waldenfels in der Responsivität, die im Verhältnis zum Pathos (vorgängig) durch ihre Nachträglichkeit gekennzeichnet sei und ein zeitliches Feld eröffne (ebd.: 49). Antworten hieße, auf einen »fremden Anspruch« zu reagieren, und unterscheide sich insofern von der Intentionali53 Petra Sabisch spricht von einer solchen Kontaminierung als Zuschauerin von Xavier Le Roys Lecture Performance Product of Circumstances (1999), in der sie sich sowohl ergriffen fühlt von den oszillierenden Prozessen zwischen Schrift, Lektüre und der Körperlichkeit des Performers als auch dessen eigene Kontaminierung wiederum durch die Lektüre Deleuzes formuliert (Sabisch 2002: 322 ff.).
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tät: »Der Anspruch ist kein Woraufhin und auch kein Wonach, das der Zielrichtung und der Regelung des Verhaltens entspricht, sondern ein Worauf, das der ›Antwortlichkeit‹ des Verhaltens zuvorkommt. Der Anspruch ist nichts anderes als das, worauf ich antworte, wenn ich etwas Bestimmtes sage oder tue.« (Waldenfels 2000: 368)54 Situiert Waldenfels das Moment der Response als nachträglich, auf einen Anspruch erfolgend, so schiebt sich die Antwort selbst jedoch fast simultan in den Anspruch hinein (Waldenfels 2006: 67). Es bleibt ein winziger Spalt zwischen diesen Zeiten, der sich, so meine zweite Hypothese, dann verschiebt, aufdehnt oder gänzlich kollabiert, wenn eine groteske Erfahrung gemacht wird. Zeitlichkeit ist dabei als Doppel zu verstehen: als ›Reaktionszeit‹ des Antwortens (oder ›Sprachlosbleibens‹) und als historische Zeit, in der etwa ein groteskes Schockerlebnis beim Anblick eines Bildes oder innerhalb einer Aufführung zu bestimmten Zeiten noch als zutiefst irritierend, zehn oder zwanzig Jahre später aber bereits als ein Muster im Mainstream einer bestimmten Aufführungskonvention wahrgenommen werden kann. Waldenfels formuliert im Rahmen der (irritierenden und erstaunten) Wahrnehmung von Kunst – etwa der Kompositionen John Cages – den Husserlschen Begriff der Epoché um: keine intentionales Sichzurück-Nehmen des Subjektes, im Sinne einer »Urteilsenthaltung, sondern ein Aussetzen des normalen Sehens und Hörens.« (Ebd.: 106) Für das Phänomen einer Irritation des Antwortverhaltens kann nun wieder Bachtin herangezogen werden, auf den sich Waldenfels übrigens auch bezieht (ebd.: 57). In seiner Romantheorie entwickelt Bachtin ein nahezu diskursives Verfahren für die Rezeption von Literatur, die er unter dem Prinzip der Dialogizität fasst: »So findet jedes konkrete Wort (die Äußerung) jenen Gegenstand, auf den es gerichtet ist, immer schon sozusagen besprochen, umstritten, bewertet vor […] Der Gegenstand ist umgeben und durchdrungen von allgemeinen Gedanken, Standpunkten, fremden Wertungen und Akzenten.« (Bachtin 1979: 169) Bachtin vertritt hier jedoch nicht die Möglichkeit permanenter Erkennbarkeit und Beurteilung des ›immer schon‹ durch Diskurse imprägnierten Gegenstands (vgl. S. 36). Vielmehr verweist er auf die Kunst – hier den Roman –, die es vermöge, Fremdheit und temporäres Nicht-Wissen hervorzurufen: »[J]eder ›besprochene‹ und ›bestrittene‹ Gegenstand wird von der in der Rede differenzierten sozialen Meinung, vom fremden Wort über ihn einerseits erhellt, andererseits verdunkelt« (ebd.: 170).55 In diesem »Spiel des Helldunkel« fungiere das Wort als Scharnier
54 Vgl. hierzu auch Roselts Paraphrase auf Waldenfels’ Ausführungen (Roselt 2008: 174, 179), wobei er einerseits auf die enge Verzahnung von Eigenem und Fremdem verweist (ebd.: 193), andererseits die Spaltung zwischen Fragen und Antworten für die Figur des Schauspielers als Doppelwesen von Rolle und Körper/Person fruchtbar macht (ebd.: 219). 55 Bezogen auf eine allgemeine Theorie des Romans argumentiert Bachtin hier wesentlich differenzierter, als er dies zehn Jahre später in seinen utopischen Entwür-
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zwischen Verkennen und Bedeuten (ebd.). Dabei entstehen semiotische Differenzen zwischen Wort und Gegenstand (ebd.: 169), die jedoch niemals völlig in Bedeutung aufgehen könnten – der mit Waldenfels gezeigte zeitliche Spalt verweist auf die beständige Möglichkeit des Abgleitens der Antwort auf den Anspruch. Das regulative Als – etwas »als etwas« Bestimmtes wahrzunehmen –, das sich fast augenblicklich in die Erfahrung des Fremden einschiebt (vgl. Waldenfels 2006: 127) und über die Mechanismen von »Ein- und Ausgrenzung« als wiederholende Markierungen funktioniert, kennzeichnet eine Schwelle in der Wahrnehmung und Bestimmung des Eigenen (ebd.: 114, 36). Zwar gebe es einen »nie völlig zu verwertenden Überschuss«, jedoch werde versucht, diesen fast augenblicklich wieder in Netzen von Ordnungen unterzubringen, was Waldenfels mit der Systemtheorie als »Re-entry« bezeichnet (ebd.: 51). Die Phänomenologie denke solche Grenzen mit, »in denen [etwas] erscheint«, wiewohl in der Differenz »zwischen Eigenem und Fremdem immer nur unscharfe Grenzen bestehen« (Waldenfels 1997: 19, 67). Das menschliche Sein könne geradezu über das Ziehen von Grenzen bestimmt werden (Waldenfels 2006: 15 f.), der Mensch als Grenzwesen befinde sich in beständiger Bewegung zwischen Irritationen durch das Fremde und die »Aneignung des Fremden« – Aneignen sei eine Weise des Erkennens und des Versuchs, das Unbestimmte zu verorten (Waldenfels 1997: 48 f.). Das Groteske, so die dritte Hypothese, hält genau diesen Spalt zwischen Irritation und Er-Fassen, zwischen Peripherie und Zentrum offen. Es ist die Passage, ein Über-Gang, immer im Transit begriffen und nur für kurze Zeit erlebbar. Die Phänomene von Schwellen und Grenzen sind eines seiner wesentlichen Topoi, die sich als groteske ergeben, wenn es zu irritierenden, sich nicht schließenden Spaltungen zwischen Anspruch und Antworten kommt – sie werden im folgenden Abschnitt genauer untersucht.
4.6.4 Operationen an der Grenze: Rahmen im Übergang Kayser hebt in seiner Betrachtung der Gemälde Boschs und Brueghels ein wichtiges Merkmal hervor: Beiden sei zu eigen, dass sie »ihren Rahmen und ihre Funktion als Altarbilder schon sprengten.« (Kayser 2004: 35) Die Bilder überschreiten Grenzen in zweifacher Hinsicht: Sie halten sich nicht unbedingt an die konventionellen Vorgaben eines kirchlichen Bildnisses, deren Figuren und Darstellungen zudem – wie es etwa Boschs Garten der Lüste (1480-1490) oder das Triptychon Das Jüngste Gericht (vermutl. 1504/1508) zeigen – über den Bildrahmen hinauszuquellen scheinen. Dabei sind es immer wieder die rechten Bildfen zum Karneval und zur Literatur Rabelais’ tut, die teilweise von politisch ideologischen Erwägungen durchzogen sind (vgl. S. 73 f.).
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seiten, die das Fegefeuer und Höllenqualen symbolisieren, in denen der Bildrand buchstäblich eine Schnittfunktion hat. Im Weltgerichtstriptychon (Abb. 6) ragen am Rand des rechten Flügels eben noch Kopf und rechter Arm eines gänzlich grün gefärbten, gepanzerten Mannes ins Bild, in dessen Mund eine brennende Fackel gestopft wird. Auch der Garten der Lüste lässt am rechten Flügel manche Figuren unvollendet, so etwa die wie Nonnen aussehenden, blassgrünen kleinen Gestalten, die an einem roten Tuch am unteren Drittel des Bildrandes hängen (Abb. 7) und somit im bildlichen wie kirchlichen Sinne zu Randfiguren werden.
Abb. 6: Hieronymus Bosch, Das Jüngste Gericht (vermutl. 1504/1508), Detail des rechten Flügels: Die Hölle und der Höllenfürst
Abb. 7: Hieronymus Bosch, Garten der Lüste (vermutl. um 1503), Detail des rechten Flügels: Hölle
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Groteske Ornamente, wie sie von Raffael als Dekoration in den vatikanischen Loggien verwendet wurden (vgl. S. 66), sind in seiner Zeit ein häufiges Motiv, auch in den Ausgestaltungen von Kirchen in der Toskana und im Umbrien der Renaissance, so etwa in der Libreiria Piccolomini im Dom von Siena, in denen sich Tier-Pflanzen- oder Mensch-Pflanzen-Ornamente sowohl in der Ausgestaltung der Deckengewölbe als auch auf Kandelabern und als Verzierung in den dort ausgestellten Choralbüchern finden.56 Geflügelte Pferde, die über Eingängen und Fenstern zu sehen sind, gehen direkt auf entsprechende Motive des Domus Aurea zurück (Cecchi 1982: 15). Auffällig an den dekorativen Mischwesen ist, dass sie zum Teil ins eigentliche Bild eindringen und mitunter sogar den Blick ablenken (Abb. 8).
Abb. 8: Liberale da Verona, Adorazione dei Magi, Choralbuch-Miniatur, Libreiria Piccolomini im Dom von Siena (um 1470)
Scholl misst diesem Spiel des Marginalen eine entscheidende Bedeutung im Auffinden von Groteskem zu, wobei sie drei Weisen von Verorten und Deplatzieren des Randes vorstellt: Er kann als groteskes Beiwerk das Zentrum der Aufmerksamkeit auf eine karnevaleske Szenerie verstärken, wie sie etwa Benvenuto Cellini häufig gestaltete, sich umgekehrt aber auch vom Zentrum, das er eigentlich einrahmen soll, ablösen und autonom werden, wodurch die Hierarchien verdreht würden (Scholl 2004: 176, 436). Die radikalste Möglichkeit ist darüber hinaus 56 Ich habe den Dom von Siena bei einem Italienaufenthalt im Herbst 2006 besucht.
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das Aufweichen abgrenzbarer Markierungen: »[D]er groteske Rahmen [kann] das Zentrum überwuchern oder auch sich auflösen und den Raum vollständig vereinnahmen.« (Ebd.: 525) Ausgehend von dieser Aufwertung des Randes ist meine These, dass sich groteske Spielarten verstärkt zwischen diesen drei Möglichkeiten abspielen – denn ist eine vollständige Auflösung von Rahmen oder Zentrum erst einmal erreicht und die Kontrastfolie somit zerstört, lassen sich Züge des Grotesken nur noch schwerlich erkennen. Dem Grotesken eignet immer eine Mischung von Splittern des Fremden und des Eigenen, und als einbrechendes Fremdes ist es, um mit Waldenfels zu sprechen, »bemerkbar in Form eines Außer-ordentlichen [sic!], das auf verschiedene Weise an den Rändern und in den Lücken der diversen Ordnungen auftaucht.« (Waldenfels 1997: 10 f.) Fremdheit tritt auch hier als Dreiheit auf: als »normale Fremdheit«, etwa so, wie Fußgänger auf der Straße fremd sein können, als »strukturelle Fremdheit«, beispielsweise einer fremden Sprache oder unbekannter Riten und Gebräuche, und in einer »radikalen Form«: Erscheinungen an der Grenze, die den Interpretationshorizont übersteigen, wofür Waldenfels zum Beispiel Rausch und Tod benennt (ebd.: 35 ff.). Groteskes, so meine These, siedelt sich im Raum zwischen struktureller und radikaler Fremdheit an, zwischen Resten von Erkennen und dem (vollständigen) Verlust der Referenten. Wie erwähnt, sieht Fuß das Groteske nun eher im von Waldenfels elaborierten dritten Faktor von Auflösung und Kontingenz begründet (vgl. S. 76). Dabei gebraucht Fuß das Groteske in seiner Begrifflichkeit zu unscharf und mitunter recht inflationär, seien doch, wie erwähnt, sämtliche Kunstrichtungen der Moderne, etwa Expressionismus, Dada oder Futurismus, als grotesk einzuschätzen (Fuß 2001: 54, 412).57 Das erstaunt, da Fuß zuvor einen sehr präzisen, über die Attribute von Rand, Rahmen und Grenze operierenden Begriff des Grotesken, als »Grenzphänomen« par excellence entwickelt (ebd.: 12). Das Groteske sticht dabei durch seine »Zwischenposition« hervor und befindet sich genau auf der »Grenze, die immer zugleich trennt und verbindet, Schranke und Übergang ist. […] Das Groteske ist die Übertretung der Grenze, die Foucault zufolge im Akt des Übertretens erst entsteht. […] [Es] setzt Grenzen und setzt sich zugleich über sie hinweg.« (Ebd.: 55) Fuß formuliert das Groteske als eine postmoderne Möglichkeit, wobei der Rand ins Zentrum rücke. Nicht mehr nur bloße Marginalie oder »Beiwerk«, sei er »das Zentrum selbst« (ebd.: 59). Wie schon gesagt, ergibt sich dann aber das Problem, in welcher Weise etwas noch als grotesk zu behaupten wäre, wenn es schon im Zentrum angelangt ist. Geoffrey Galt Harpham betont, dass das Groteske nicht allein durch das Einbrechen des Randes ins Zentrum gekennzeichnet sei (und dort verbleibt), sondern
57 So äußert sich auch die Kritik Harald Falckenbergs an Fuß’ Konzeption des Grotesken (Falckenberg 2003: 188). Robert Storr warnt ebenso vor einer uferlosen Expansion des Begriffs, wobei aber gerade auch »das Verschwommene ein Wesenszug des Grotesken« sei (Storr 2003: 259 f.).
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dieses wiederum durchquere und seine Spuren hinterlasse (Harpham 1982: 40). Meiner Meinung nach sind groteske Strategien in der Kunst dann genau zwischen Randständigem und Zentralisiertem angesiedelt, sie sind als dynamische Praxis zu verstehen: Grotesk bedeutet, auf dem Weg zu sein zwischen Rand und Mitte, und dabei gelegentlich die Passage zu kennzeichnen, Wegmarken zu hinterlassen, die Groteskes aufspürbar, aber damit zugleich auch ver-ortbar machen und in einen Hauptstrom lenken, der die Stacheln des Grotesken recht schnell überspült und unkenntlich macht. Rahmungen, die sich mitunter verschieben und als Zwischengebilde, etwa von innen und außen fungieren, sind für die Sichtung des Grotesken in der Kunst wesentlich, wie die kurze Betrachtung der Boschgemälde gezeigt hat. Fuß fasst den Rahmen mit Derridas Begriff vom »Parergon« als Zwitterwesen, das im eigentlichen Sinne keine Begrenzung bilde, sondern vielmehr derer zwei habe: »Zwischen Gestalt und Hintergrund verläuft eine Grenzlinie: Schranke und Übergang. Der Rahmen ist ein Grenzraum: Niemandsland […] [Er] ist ›weder einfach außen, noch einfach innen‹. Er ist weder Gestalt noch Hintergrund.« (Fuß 2001: 58) Der Rahmen steche hervor durch seine »Unentscheidbarkeit« und seine Positionierung im »Dazwischen« (ebd.: 60). Das Konzept des Rahmens ist für die Bestimmung des Grotesken von Bedeutung, etwa im Sinne des Übertretens von Kadrierungen und als methodisches Konzept der Wissenschaft, die ihren Gegenstand einhegt und auf bestimmte Züge hin verdichtet. Im Folgenden wird der Rahmen hinsichtlich dieser Aspekte ausgelotet.
4.7 Rahmenhandlungen – Randerscheinungen: Goffman und Derrida im Diskurs Erving Goffman bietet mit seiner Rahmen-Analyse (1974) ein hermeneutisches und handlungsorientiertes Modell zur Erfassung von Lebenswirklichkeit an. Rahmen sind, so Goffman, »Organisationsprinzipien für Ereignisse« (Goffman 1996: 19). Er geht dabei zunächst von den »primäre[n] Rahmen« aus, die er in »natürliche« und »soziale« unterteilt, wonach Erstere etwa physikalische Erscheinungen wie das Wetter beinhalten, Letztere sich auf den »Verständnishintergrund« gesellschaftlicher Ereignisse bezögen, also prinzipiell von Menschen beeinflussbar seien (ebd.: 31 ff.). Um sich im alltäglichen Handeln und Entscheiden innerhalb verschiedenster Rahmenanordnungen zurechtzufinden, rückten entsprechend des Handlungsziels oft bestimmte Rahmen in den Vordergrund. Goffmans Theorie der Rahmen ist mithin subjektzentriert: »Es wird also eine Entsprechung oder Isomorphie behauptet zwischen der Wahrnehmung und der Organisation des Wahrgenommenen, obwohl es im allgemeinen viele richtige Organisationsgrundsätze gibt, die für die Wahrnehmung bestimmend sein könnten, es aber tatsächlich nicht sind.« (Ebd.: 36 f.)
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Der hier postulierte konstruktivistische Ansatz geht generell von Handlungen, die Bedeutung produzieren, aus. Zwar existieren in Goffmans Modell auch die sogenannten »Modulationen«, die die primären Rahmen transformieren könnten, jedoch setzten diese das Wissen der Beteiligten über die hier veränderten Konventionen voraus (ebd.: 55 ff.). In einer solchen Lesart ließe sich dann auch (karnevalesk) Monströses und Groteskes im Sinne Bachtins denken, dort, wo es um das Überschreiten zuvor gesetzter Rahmen geht. Der Zirkus etwa ist für Goffman die buchstäbliche Arena, deren Funktion es sei, die Grenzen von Rahmen aufzuzeigen (ebd.: 41 f.).58 Die Problematik, dieses Modell auf die Produktionen des zeitgenössischen Tanzes zu beziehen, verschränkt freilich zwei Schwierigkeiten miteinander: Zunächst geht es im zeitgenössischen Tanz häufig gerade nicht darum, intentionale, sinnstiftende Handlungen auszuführen, es sei denn etwa, das Handeln selbst wird zum untersuchten Gegenstand des Stückes und insofern kritisch auf einer Metaebene hinterfragt, wie beispielsweise in Thomas Lehmens Stück Stationen (2003) (vgl. S. 275). Zudem entziehen sich die in dieser Arbeit untersuchten Stücke oft gerade einem Konzept des Verstehens und Einordnens, wie Goffman es darlegt. Zwar gesteht er ein »Verhalten außerhalb des Rahmens« zu, jedoch ist jenes wiederum eingebettet in ein Handlungskonzept, das im Fall des Übertretens allerdings ein von den üblichen Konventionen abweichendes ist (Goffman 1996: 224). Auch den »Theaterrahmen« bestimmt Goffman wesentlich über das Schauspiel und die hier eingebettete Grenzziehung zwischen Schauspieler/in und Rolle im Sinne einer Als-ob-Handlung und den Zuschauer/innen, denen er die bloße »Rolle« der Rezipient/innen zuweist (ebd.: 143 ff.), die, wie oben beschrieben, im Grunde jederzeit ihre Wahrnehmung »organisieren« könnten. Einem Aufspüren grotesker Phänomene im Tanz folgend, bewegen sich solche distinkten, sinnorientierten, konstruktivistischen Erklärungsmodelle, wie sie Goffman nahelegt, allerdings oftmals in Sackgassen, und daraus erklärt sich die zweite Schwierigkeit, die hier in einer vorläufigen These münden soll: Groteskes scheint im zeitgenössischen Tanz gerade an jenen Stellen auf, an denen die Wahrnehmung selbst verunsichert wird und das Sehen sich nicht in einen Prozess des beständigen Wiedererkennens oder leichten Verschiebens des Gekannten zirkulär einschreibt. Mit Waldenfels wird im Abschnitt zu Thomas Lehmens Strategien des Blickes zu zeigen sein, wie gerade hier das überfallartige, »sehende Sehen« aktiviert wird (vgl. Kap. 3, 2.3.3). Dennoch soll Goffmans Prinzip der Rahmung gesellschaftlicher Wahrnehmungsmuster nicht gänzlich verworfen werden, da es Anhalts-Punkte bietet, an denen eine Überschreitung von Rahmen an sich und im je besonderen Fall gezeigt werden kann. Auch formuliert er ein »Ausbrechen aus dem Rahmen«, vor-
58 Goffman bezieht sich dabei auf Victor Turners Beschreibung von »Figuren […] in der Übergangsphase«, wie er sie bei Übergangsriten in seinem Buch The Forest of Symbols (1967) beobachtet.
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allem dann, wenn der Körper ins Spiel komme (ebd.: 376, 378) – offenbar denkt Goffman soziale Handlungen als per se abgekoppelt vom Körper. Gestört oder gar verlassen wird der Rahmen in dieser Denkweise dann, wenn der Körper sich dazwischenschiebt, etwa wenn ein Gesichtsausdruck der sozialen Situation gegenüber als nicht mehr angemessen erscheint (ebd.: 380 ff.). In den Konzeptionen des Grotesken, mit denen sich das vorliegende Buch befasst, ist nun allerdings der Körper das ›Basismaterial‹, das verschoben, dekonstruiert, fragmentiert, deformiert, aufgebrochen und umgewandelt wird. Insofern können die von Goffman formulierten Rahmen als Hilfskonstruktionen dienen, allerdings unter Berücksichtigung eines je schon sozial geprägten, leiblichen Verständnisses des Körpers, wie es die Phänomenologie nahelegt. Körperliche Aktionen sind zudem immer schon von Diskursen durchdrungen, wie später noch mit Foucault ausgeführt wird (vgl. S. 103). Auch Derrida misst in seiner Rede über den Rahmen den Diskursen eine wesentliche Rolle zu, welche die Erfahrung von Kunstwerken immer schon mit prägen. Das Konzept des Parergons entwickelt er anhand der Lektüre Kants in seinem Buch Die Wahrheit in der Malerei (1978). Jener Rahmen erweist sich als widersprüchliches Ding: Wenn auch atopisch, »[w]eder Werk (ergon) noch Beiwerk (hors d’œuvre)«, als Erscheinung des Dazwischen, ist der Rahmen dennoch ein Gegenstand, der das Werk selbst zum Erscheinen bringe (Derrida 1992: 25) – und insofern also doch wieder Beiwerk, das von Außen auf das Innen einwirke (ebd.: 74). Dieses Außen äußere sich sowohl materiell als auch diskursiv, als Schaltstelle zwischen den Dualismen »der Gestalt und dem Hintergrund, der Form und dem Inhalt, dem Signifikanten und dem Signifikat«, als »Trennungsstrich«, der festlegt, was innen oder außen zu sein habe (ebd.: 26 f.). Die Rede über Kunst, so Derrida, sei immer schon von herrschenden Diskursen geprägt, die oft von jenen bestimmt werden, die wüssten, wovon sie sprächen. Dieses Sprechen »setzt einen Diskurs über die Grenze zwischen dem Innen und dem Außen des Kunstgegenstandes voraus, hier einen Diskurs über den Rahmen.« (Ebd.: 65) Die Betrachtung von Kunst ist also ohne die Rede darüber, die sich in bestimmten Rahmen-Bedingungen ereignet, nicht denkbar.59 Derrida betont nun, dass die Frage nicht so sehr sei, welche Trennungslinie gezogen werden, sondern wie dies geschehe (ebd.: 27). Eine Handlung wird also vollführt, die einen Sachverhalt umkreist und eingrenzt (ebd.: 39) – Kunst wandelt sich zum Gegenstand (ebd.: 38), der wiederum durch das Markieren von Grenzen als solcher erzeugt und benannt wird (ebd.: 41). Ein Kunstobjekt realisiert sich insofern im Auge des Betrachters, seien sie Zuschauer/innen oder Wissenschaftler/innen, wobei Letztere die Einhegungen um die gesehene Kunst ver-
59 In diesen Kontext verortet bereits Bachtin seine Betrachtungen über Literatur (Bachtin 1979: 169).
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mutlich fester zurrten als ein ›Laienpublikum‹.60 Derrida wendet sich allerdings nicht gegen eine Interpretation von Kunst, da doch die Perzeption immer schon eine rezeptive Handlung sei und es deshalb kaum möglich, einem gewissen Vorwissen auszuweichen: »[Der] hermeneutische Zirkel hat nur den logischen, formalen und abgeleiteten Anschein eines Teufelskreises. Es geht nicht darum, ihm zu entkommen, sondern im Gegenteil darum, sich auf ihn einzulassen und ihn zu durchlaufen« (ebd.: 50). Eine Setzung bedeute damit immer auch eine »Entgegensetzung«, ein Spiel von »position/opposition« (ebd.: 53) – dem Placement ist das Displacement inhärent, einer Figur immer schon das Moment des Defigurierens, wie bereits mit Brandstetter betont wurde (vgl. S. 54 f.). Stallybrass und White verweisen auf das dekonstruierende Potential des grotesken Körpers, als »intensifier and displacer in the making of identity.« (Stallybrass/White 1986: 25) Dabei sei die Entstehung elaborierter Diskurse immer eng an sogenannte niedrige geknüpft: »[H]igh discourses, with their lofty style, exalted aims and sublime ends, are structured in relation to the debasements and degradations of low discourse.« (Ebd.: 3) In solchen Widerspielen erscheint der Rahmen schließlich auch in seiner Materialität, buchstäblich als hölzerne Begrenzung eines Bildes sowie durch gegenständliche Erscheinungen, die ihm anhängen – Derrida exploriert dies anhand von Lukas Cranachs Gemälde Lukretia (1533) und stellt die Frage, wo sich ein Parergon befindet: Ist es der Dolch, geführt von der rechten Hand der nackt dargestellten Frau, dessen Spitze auf die Grenze zwischen Körper/Inkarnat und Bildhintergrund zeige? Oder werde der Rahmen durch das Beiwerk des Halsschmuckes gebildet, ein Rand, der sich »an den Saum (bordure) des Werkes []heftet sowie an den des vorgestellten Körpers in dem Maße, wie [er] nicht dem Ganzen der Vorstellung angehör[t].« (Derrida 1992: 77, Hervorhebung S.F.) Die Akzentuierung der Bordüre ist eine wesentliche Eigenart des Grotesken als Movens in der Kunst und der bereits mit Jérôme Bel gestellten Frage nach der Materialität von Bühnenkörpern (vgl. S. 60 f.). Materialität scheint im Parergon auf, am Rand, au bord du corps. Ist das Material als solches immer schon diskursiviert und mithin verstellt, kann es am Rand, als ›apart‹, wieder für kurze Momente auftauchen. Es sind wiederum Bordüren, die Scholl erwähnt, die Dekorationen des Randes von Fresken und Gemälden, welche im Laufe der Renaissance an Bedeutung gewinnen, Bildinhalte beeinflussen oder sie überwuchern, ein Rand, der sich auf den Weg ins Zentrum macht und in dieser Passage eine unebene Spur, ein groteskes Relief hinterlässt, in dem sich sowohl Materialitäten wie auch ihre Verdichtungen in Bedeutungen und Bildern ablagern.
60 Isa Wortelkamp thematisiert ein Sehen von Kunst, das auf Aufzeichnung und Erkenntnis hin ausgerichtet ist, als ein fokussiertes Unterfangen, das zielorientiert und wenig offen sei: »Das sehende Auge schaut anders als eines, welches das zu Sehende bereits als Gesehenes verzeichnet, umreißt, skizziert, schreibt.« (Wortelkamp 2006: 7)
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Derrida formuliert diese Rand-Erscheinung als immer im Prozess des Rahmens und Eingrenzens begriffen – oder sich zumindest kurz davor befindend: »Es ist zunächst (d’abord) das An-Bord (l’à-bord).« (Ebd.: 74) Er erwähnt in diesem Zusammenhang das Schiff, das schon Foucault als Metapher für sein Konzept der Heterotopie diente, als ortloses, weil sich ständig bewegendes Gebilde (Foucault 1993: 39 ff.). Im anekdotischen Formulieren der Schwierigkeit, sich seiner selbst über den Körper zu versichern, wendet wiederum Serres dieses metaphorische Modell in ein physisches Bild. Er steckt im Bullauge eines Schiffes fest bei dem Versuch, einem Feuer zu entfliehen, und formuliert den Versuch, der Umklammerung des eisernen Randes zu entkommen, als Geburtsakt: »Ich bin drinnen, verbrannt, verkohlt, nur der Kopf ist draußen, zu Eis geworden, zitternd, geblendet. Ich bin drinnen, ausgestoßen, ausgeschlossen; Kopf und Arm und eine Schulter, die linke voran, sind draußen in dem wütenden Sturm. Während drinnen die Flammen lodern und nach draußen schlagen, kommen der Kopf und die andere Schulter heraus, mit Mühe, das Ganze von einem Halsring aus Angst eingezwängt […] ich komme nicht vorwärts und kann auch nicht zurück; ich werde ersticken. […] Ein Stoß von der einen Seite befreite mich, ein Stoß von der anderen zog mich wieder in mein Gefängnis zurück. / Ich war drinnen, ich war draußen. / Wer, ich?« (Serres 1998: 13 f.)
Die Innen-Außen-Dualismen verdrehen sich und werden verwirrt: ›Drin‹ zu sein bedeutet mit einem Mal, ausgegrenzt zu sein, fern von Zuflucht und Selbstversicherung. Es ist die Schwierigkeit, die sich unter anderem in der Reflexion, im Festhaken am Gegenstand ergibt, das Problem, von sich selbst und den Gegenständen Distanz nehmen zu wollen und doch je immer schon eine von bestimmten Kontexten geprägte Sicht auf die Dinge zu haben – die aber offenbar in den entscheidenden Momenten ihren Dienst versagt: »Wer, ich?« Derrida münzt nun das Bord, die Bordüre, das scheinbar nur schmückende Beiwerk (das sich bei Serres allerdings in eine existentielle Umklammerung verwandelt hat) in eine wesentliche, zum Teil sich materialisierende Erscheinung um. Der rahmende Rand befindet sich »[a]n der Grenze zwischen dem Werk und der Abwesenheit des Werks« (Derrida 1992: 86). In diesem Sinne möchte ich den Fokus von der mit Siegmund postulierten Abwesenheit im zeitgenössischen Tanz hin zur einer Thematisierung des Rahmens in experimentellen Tanzproduktionen seit den 1990er Jahren verschieben: Nicht die Abwesenheit wird hier als solche präsent, sondern es werden vielmehr die Rahmungen hervorgehoben, die sich zwischen Körper und Umraum, zwischen Zuschauenden und Darsteller/innen oder Livekörpern und elektronischen Medien ereignen. Bevor diese in einer weiteren methodischen Annahme gefasst werden, sei auf den Aspekt der Aktanden aufmerksam gemacht, welche Grenzen setzen. Mit der Frage nach dem Ort des Rahmens geraten auch die Kriterien in den Blick, die für Begrenzungen und Einrahmungen herangezogen werden, denn in seinem Wesen als »Mischung aus Außen und Innen«, so Derrida (ebd.: 84), wird
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auch die Setzung eindeutiger Kategorien vereitelt. Im Grunde sei es der einzige Zweck des Parergons, sich überflüssig zu machen, um das Werk selbst hervortreten zu lassen (ebd.: 82). Wie bereits gezeigt, dreht das Groteske dieses Verhältnis um und erhebt den Rahmen selbst zur Priorität – die Frage ist dann aber auch, wer jene Ränder erkennt und somit verortet: Derrida verweist hier auf sowohl den »Gestus« als auch die »Gewalt der Einrahmung« (ebd.: 91). In seiner Lektüre Kants ist das Parergon dann nicht mehr ein Werk-Zeug, das verunsichert, sondern ein Urteilsrahmen, eine Sichtblende, die fokussiert und als Instrumentarium von Einschreibungen fungiert (vgl. ebd.: 116, 119). Aus dem Widerspiel der Polaritäten entsteht – folgt man hier wiederum Goffman – eine RahmenHandlung. Wer sind ihre Agenten? Macht sich der Rahmen selbstständig und lässt Unerwartetes hervortreten? Oder werden Rahmen durch Diskursinhaber/innen61 gezähmt und kategoriefähig gemacht? Wogegen arbeitet dann das Parergon? Gegen den Mangel, die Lücke der Interpretation, indem es einzäunt und fixiert? Oder gerade gegen Festlegungen, in seiner Ambivalenz zwischen Innen und Außen, die je auf die eine oder die andere Seite pendelt und die Objekte aus dem (hermeneutischen) Rahmen fallen lässt (ebd.: 103)? Immer wieder ist eine solche Bewegung auch die Arbeit »gegen die Unmöglichkeit, die Differance in ihrem Umriss festzuhalten, das Heterogene […] in der Haltung zu überprüfen«, wie Derrida schlussfolgert (ebd.).
Dritte methodische Annahme Um Phänomene des Unabgeschlossenen und Operationen am Rand der Körper im zeitgenössischen Tanz sicht- und beschreibbar werden zu lassen, seien anhand des vorherigen Umrisses grotesker Theorieentwürfe folgende Charakteristika formuliert, welche Körper in Bewegung zwischen Materialisierungen und Prozessualem darstellbar machen, und die als Modi für die Analyse der nachfolgenden Beispiele aus Tanz, bildender Kunst und Performance dienen:
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Groteske Erscheinungen zeigen sich im Bruch mit Repräsentationen.
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Groteske Kunst operiert mit Strategien des Dekomponierens, Fragmentierens, Mutierens, des Dis- und Rememberings.
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Groteskes changiert zwischen Eigenem und Fremdem, zwischen Innen und Außen, es ist auf dem Weg – en passant – zwischen Verwerfen und Verfestigen, Kontingenz und Sediment, Verflüssigung und Ordnung.
Das Groteske ist eine Bewegung des Ausdehnens, Expandierens und Wucherns.
61 ›Literaturpäpste‹ wie etwa Marcel Reich-Ranicki würden hier beispielsweise dazu zählen.
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Groteske Praktiken thematisieren explizit
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den Körper als Material in Bewegung das Operieren an den Grenzen von – Wahrnehmung – Um/Raum und Körper – Formungen und ihrer Diskurse – Schönem/Proportioniertem – Zumutbarem Rahmenüberschreitungen, wie – konventionelle62 und – mediale Dispositionen des Sehens.
Insgesamt sind groteske Praktiken außerdem zumeist vom Moment der Inversion durchzogen, als gegenläufige Bewegung, Verdrehung von oben und unten oder Karnevalisierung bestehender (avantgardistischer) Ästhetiken. Aus den obigen methodischen Überlegungen ergeben sich zwei Konsequenzen, denen im Folgenden Aufmerksamkeit zukommen soll. Zum einen ist es wichtig im Blick zu behalten, dass mit solchen Hilfsmitteln Ordnungen gebildet werden, die das Paradoxon in sich tragen, Inventare des Überschreitens zu sein. Als grotesk sind sie zweitens je nur für Momente erkennbar und damit weiterhin durch ihre Situativität und je geschichtliche Situation markiert. Susan Leigh Foster etwa verweist auf den Erwartungshorizont, der ein Stück schon im Vorfeld begleitet, durch Ankündigungen oder den Ort der Aufführung, und jeweils auch die Interpretationshaltung des Publikums tangiere (Foster 1986: 59 f.).
4.8 Ausnahme-Situationen: Temporäre Grotesken Waldenfels prononciert das kurze Aufscheinen des Fremden im Augenblick seines Gewahrwerdens: »Selbstentzug bedeutet, dass Momente des Fremden im Selbst, Momente der Fremdartigkeit innerhalb der jeweiligen Orte virulent sind.« (Waldenfels 2006: 29) Solche Splitter des Fremden, wie oben ausgeführt, werden jedoch rasch in Regelwerke integriert (vgl. S. 85 ff.). Auch das Groteske schwingt an dieser Bruchstelle von Fremdheit, Marginalität und Erkennen, von Ver-Orten und Ver-Ordnen (vgl. S. 80 f.). Situativität ist dabei ein wesentliches Charakteristikum des Grotesken. So hebt Bachtins Konzept des Karnevals das Auftauchen grotesker Phänomene innerhalb einer bestimmten (sich wiederholenden) historischen Ausnahmesituation hervor – Groteskes ist also auch durch zeit62 Ralf Remshardt benennt in seinen Ausführungen zum Grotesken in Theaterstücken das Übertreten von Rahmen als ein wesentliches Movens des Grotesken: »[T]he hypertrophying of the grotesque exhibits the impuls to transcend the frame and spill into realms that are no longer aesthetically regulated or controlled.« (Remshardt 2004: 27)
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liche Rahmungen limitiert. Silvio Vietta spricht in diesem Zusammenhang von grotesken »Geschichtssituation[en]« und nennt hierfür etwa die Umbruchperiode zwischen Erstem Weltkrieg, dem Untergang der Aristokratie in Deutschland und der Weimarer Zeit mit ihrer noch jungen demokratischen Ordnung – jene »Wandlungen« finden dann auch Eingang in die künstlerische Produktion der Avantgarde, etwa in Ernst Tollers gleichnamigem Drama (Vietta 1981: 194, 191, 199 ff.). Auch Fuß verweist auf die Wichtigkeit des soziohistorischen Kontexts, in dem groteske Phänomene erscheinen, und situiert Groteskes gar am Rande von »›Epochenschwelle[n]‹« (Fuß 2001: 124, 96) – erneut wird Foucault für diese Perspektive relevant: »Die Hochkonjunkturphasen des Grotesken sind nicht zufällig im Umfeld der von Foucault analysierten Brüche der ›episteme‹ [sic!] angesiedelt. Diese Brüche sind Effekte jener Karnevalisierung des Bewusstseins, die Bachtin zufolge historischen Umbrüchen vorangeht, genauer: sie begleitet und forciert.« (Ebd.: 93) Mit Bezug auf eine ästhetische Betrachtungsweise formuliert Kayser das transitorische Moment als Spezifikum des Grotesken. So erscheinen die Szenen in Wilhelm Buschs Geschichte Eduards Traum (1891) als »Augenblicksbilder«, völlig disparate Bereiche seines Traums wie Algebra oder Dörfer und Städte flögen als schemenhafte Allegorien am Protagonisten vorüber (Kayser 2004: 129). Anderen Literaturen des Grotesken wiederum bescheinigt Kayser die Unmöglichkeit des zweimaligen Lesens – der Effekt des Grausens in H. H. Ewers Erzählung Die Spinne (1908) stelle sich beim zweiten Mal nicht mehr ein, »das Groteske erweist sich als hohl.« (Ebd.: 153 f.) Die Graphik dagegen – zum Beispiel jene schnell hingeworfenen Zeichnungen Callots oder Kubins – sei ein künstlerisches Medium mit hoher Affinität zum Grotesken, da der rasche Strich des Stiftes Spuren des Flüchtigen in sich trage (ebd.: 191)63 – wiewohl gebannt ins Bild, was den Charakter unabgeschlossener Inventare einmal mehr stützt. Auch Ralf Remshardt prononciert den Charakter des Ephemeren: Groteske Kunst würde sich Stabilisierungen verweigern (Remshardt 2004: 10). Betrachtet man nun jedoch die beiden Befunde Kaysers, der einesteils literarische Texte herausfiltert, denen das Signum des Grotesken nur als Einmaligkeit eigne, zum anderen in graphischen Bildern eine hohe groteske Potentialität entdeckt, so scheint einmal mehr bestätigt, dass das Groteske sich am Rand von Ordnungen aufhält, in die es jederzeit auch eingehen kann. Für den Tanz und Performancebereich gesprochen, können dabei Aufführungen zu bestimmten Zeiten als irritierend und nicht einzuordnend wahrgenommen werden. Im Verlaufe dieses Buches wird aber auch anhand von Kaysers Einordnung deutlich, inwieweit in bestimmten Artefakten des zeitgenössischen Tanzes (Bilder, Videos, Wiederaufnahmen) Spuren des Grotesken erhalten bleiben, etwa
63 Zur Beschleunigung und mithin Verflüchtigung der Schrift im Wechsel der Schrifttechniken vom Ritzen in den Stein hin zum Federstrich vgl. Wortelkamp 2006: 237 f., die hier Vilém Flusser paraphrasiert.
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wenn sich Le Roys Körper, in insektenhafter Metamorphose begriffen, nicht als Bild auf die diversen Ästhetiken einer ganzen Generation von Choreograph/innen reduzieren lässt und seiner ordnenden Bestimmung wieder entgleitet (vgl. S. 15 f.). So verweist gerade Self unfinished auf das doppelte Paradox des Grotesken: In beständiger Wandlung begriffen und zunächst nicht feststellbar, gleitet Le Roys Körper kontinuierlich in Formationen, die vom Publikum als Tier-Bilder gedeutet werden, Bestimmungen, die ihrerseits einem grotesken Repertoire entnommen sind, wie Vergleiche mit den Sprachbildern François Rabelais’ noch zeigen werden (vgl. S. 376 f.). In diesen Kunstformen entsteht ein Fundus des Grotesken, Motive, die an den Rändern von Ordnung und Unordnung operieren und in Diskurse über zeitgenössischen Tanz eingespeist werden.
4.9 Taxonomien des Unabgeschlossenen Die zuvor entwickelten Thesen zum Grotesken einbeziehend, wird nun mit Foucault ein methodischer Zugriff vorgestellt, der es ermöglicht, disparate Phänomene aus Tanz, Performance und bildender Kunst aus der jüngsten Zeit, aber auch aus den 1960er und 70er Jahren sowie weiter in die Historie zurückreichend zueinander in Beziehung zu setzen und im Rahmen unabgeschlossener Inventuren aufzufächern.
4.9.1 Paradoxien grotesker Ordnungen Remshardt verweist in seiner Studie zum Grotesken in der Performance (die sich allerdings in Wesentlichen auf Dramentexte bezieht) auf das Paradox des Grotesken im Theater. Das Groteske sei als »produced disfigurement« immer schon in Figuration begriffen (Remshardt 2004: 261), da es den Binarismen westlicher Denkart nicht ausweichen könne (ebd.: 254). Er zieht hieraus eigenartigerweise die Schlussfolgerung, dass das Groteske im Theater der Versuch sei, den Körper, als »substance of origin« wiederzugewinnen (ebd.: 255). Die vorherigen Ausführungen zu einem phänomenologischen Körperverständnis, das auch in der Analyse des Grotesken zum Tragen kommt, haben indessen gezeigt, dass es keinesfalls um eine ›Re-Authentifizierung des Körpers an sich‹ gehen kann. Immer schon von fremden Ein-Drücken (oder auch Diskursen) durchzogen, dient der Körper keineswegs als vor-apriorisches Refugium menschlicher Selbstversicherung. Dies wundert umso mehr, betont Remshardt doch die Prozessualität des Grotesken, als »act of metamorphosis« (ebd.: 260),64 der sich, so meine Einschätzung, 64 Das Groteske dient in Remshardts Lesart allerdings eher als Hilfsmittel, um zu einer Art überzeitlicher Wahrheit zu finden (Remshardt 2004: 261), wobei das Theater wieder zu seiner Funktion als moralische Anstalt zurückkehren solle: »The
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allerdings nie vollständig im fluiden Strom der Kontingenz befindet. Vielmehr sei hier nochmals mit Waldenfels betont, dass der Körper immer schon ein »Fremdkörper« ist: Der Leib ist dann zu verstehen als »›Umschlagstelle‹ zwischen Sinn und Naturkausalität«, wie dieser mit Husserl ausführt (Waldenfels 2006: 77, Hervorhebung S.F.), und wird insofern zum Scharnier zwischen phänomenologischer Wahrnehmung und den umgebenden, ihn durchziehenden Diskursen, die er wiederum auch selbst mit herstellt. In einer Terminologie des Grotesken wäre die Ontologie des Leibes also eine chimärische – und in dieser Weise reagiert die hier vorgeschlagene Verknüpfung von Theorien darauf, ausgehend von Merleau-Ponty bis hin zu Foucault. Mary Russo verweist auf die Notwendigkeit eines solchen »Carnival of Theory« bei der Analyse postmoderner und feministischer Lektüre und dem Auffinden grotesker Züge etwa in den Performances von Jacqueline Hayden65 (Russo 1994: 53 ff.). Fuß betont ebenfalls die Grenzfunktion der Chimäre, die sowohl Kategorien als auch »Begriffsordnung[en]« sprenge (Fuß 2001: 111). Das Paradox von (zwangsweisen) Ordnungen thematisiert im Grunde auch Foucault. Hervorzuheben in seiner Rede von den Diskursen ist, dass es sich nicht um vorgängige, geschichtlich determinierte Zeichenordnungen handelt, die lediglich aktualisiert werden müssten: »Es gibt keinen den Zeichen äußerlichen oder voraufgehenden [sic!] Sinn, keine implizite Präsenz eines vorher existierenden Diskurses, den man wieder herstellen müsste, um die autochthone Bestimmung der Dinge an den Tag zu bringen. Aber es gibt ebenso wenig einen konstituierenden Akt der Bedeutung oder der Genese innerhalb des Bewusstseins.« (Foucault 1980: 101)66
Sarasin betont den Modus der diskursiven Praxis, die allererst Ordnungen herstelle und in der sich das Subjekt im Zwischenraum von Wiederholung und selbstständigem Hervorbringen von »Aussagemustern«, vom Gestalten der eigenen Welt und sie durchziehenden diskursiven Regulierungen befinde (Sarasin 2005: 105). Interessant daran ist, dass Diskurse in dieser Lesart keine primär normierende Funktion haben (ebd.), sondern sozusagen über weiche Ränder verfügen, innerhalb derer sich Identität als je schon verschobene präsentiert: »Die grotesque theatre is a reaction against that theatre that has betrayed the sanctified mission of the medium to be an agent and a site of revelation« (Ebd.: 257). Dabei wird allerdings nicht recht ersichtlich, welche Arten von Theater er hiermit meint. Er verwirft jedoch die Performanceexperimente etwa Marina Abramovićs oder Chris Burdens, die eher Opferrituale darstellten (die von ihm allerdings nicht weiter analysiert werden): »Carnival is laughter; sacrifice is terror(ism)«, so lautet seine verkürzte Einschätzung (ebd.: 58). 65 Russo belegt die Aktionen der beleibten Performerin mit dem Label »Aging and excess as female performance.« (Russo 1994: 55) 66 Hier freilich besteht ein großer Unterschied zu Merleau-Ponty, im Hinblick auf dessen primordiale Annahme (vgl. S. 50).
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Identität und das, was sie markiert, werden durch das Residuum der Unterschiede definiert.« (Foucault 1980: 188) Ähnlich wie Waldenfels später bemerkt, ist Ontologie bei Foucault über das Ziehen von Grenzen bestimmt (ebd.: 380; vgl. S. 88), und so gelte es, in (kulturellen) Analysen »ihre Brüche, ihre Instabilität und ihre Lücken« aufzufinden (ebd.: 28), womöglich erscheinende Entitäten zu zertrümmern und der »prekären Form« und den »transitorische[n] Gestalten« den Vorrang zu geben (ebd.: 340). Im Geflecht regelnder Diskurse gerät die (wissenschaftliche) Analyse jedoch immer wieder in sedimentierende Gefilde: »Es sind dann nicht die Grenzen selbst, die in ihrer gebieterischen Strenge erscheinen, sondern partielle Totalitäten, Totalitäten, die de facto begrenzt sind, Totalitäten, deren Grenzen man bis zu einem gewissen Punkt in Bewegung bringen kann, die sich aber niemals in den Raum einer definitiven Analyse erstrecken werden und sich ebenso wenig jemals bis zu einer absoluten Totalität erheben werden.« (Ebd.: 446 f.)
In dieser Weise gilt es, mit Foucault Phänomene des Unabgeschlossenen im zeitgenössischen Tanz von den, teils buchstäblichen, Rändern und Rahmungen her zu betrachten (vgl. ebd.: 393) und dabei »ein Inventar der offenen Richtungen herzustellen« (Foucault 1981: 61). André Lepecki verweist auf den Körper, der sich im zeitgenössischen Tanz als offener, als »dynamic system of exchange« darbiete (Lepecki 2006: 5). Gleichwohl, so seine These, seien gerade die Arbeiten Xavier Le Roys und Jérôme Bels ohne ihre theoretische Fundierung, die etwa die Schriften Deleuze/Guattaris oder Elizabeth Groszs einschlösse, nicht denkbar (ebd.: 6). Ich meine nun, dass nicht nur die Stücke der genannten Choreographen von solchen Diskursen durchzogen sind, sondern ihre Produktionen selbst bereits Diskursfelder mit bestimmten Markierungen, Regelzügen und (wieder)erkennbaren Pattern bilden, über die sich mittlerweile, in einer Zeitspanne von knapp zwanzig Jahren, durchaus mit einer gewissen historischen Distanz »etwas sagen« lässt (Foucault 1981: 67). Gleichwohl betont Foucault, das solche Be-Schreibungen nie abgeschlossen sind, vielmehr sind es »präterminale Regelmäßigkeiten, im Verhältnis zu denen der endgültige Zustand sich eher durch seine Varianten definiert« (ebd.: 111). Die Inventuren, die in diesem Buch vorgenommen werden, sind aber nicht nur zu allen Seiten hin offen und erweiterbar, sie inventarisieren das Unabgeschlossene selbst – Foucault bedenkt auch dies in seinem Konzept der Diskurse, indem er die heterogene Figur des Monsters einführt.
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4.9.2 Monster und Monströses. Kippfiguren zwischen Deformation und Ordnung Bemerkenswerterweise beginnt Foucault sein Buch über Die Ordnung der Dinge mit einem Beispiel aus Rabelais’ Gargantua und Pantagruel, das wiederum von Jorge Luis Borges zitiert wird (Foucault 1980: 17 f.). Dabei handelt es sich um eine von Pantagruels Reisen, bei der er die »Hundeinsel« besucht und auf eine seltsame Mischung verschiedenster Lebewesen trifft, die dort wohl üblicherweise verspeist werden, darunter »Afterspinnen, Amphisbenen, Alhartafer, Ammobater, […] Basilisken, Boen, Bupresten, Blindschleichen, Blutegel« und so fort (Rabelais 1974b: 191; Foucault zitiert alle Wesen, die mit A beginnen, Foucault 1980: 18). Foucault benutzt dieses Bild der unterschiedlichsten Wesen, die im »Speichel« der Mundhöhle Pantagruels den »Palast ihrer Koexistenz« finden könnten (so er sie äße) nun als Möglichkeit, unterschiedlichste und unwahrscheinlichste oder zeitlich getrennte Phänomene in unmittelbare Nachbarschaft zu bringen (Foucault 1980: 18 f.). Auf der Basis eines solchen methodischen Zugriffs können nun auch in dieser Studie scheinbar disparate Aufführungen und Arbeiten aus Performanceart, bildender Kunst und dem Ballett, aus dem 17. und 18. Jahrhundert, der historischen Avantgarde und dem zeitgenössischen Tanz nebeneinander gestellt werden. Foucaults taxonomischer Ansatz einer Ordnung der Dinge beruht wiederum bereits von vorneherein auf der Idee des Heterogenen und Disparaten,67 wie er in der Rede über »Monstren« und Monströses weiter ausführt, die im Rahmen seiner Analysen seit dem Zeitalter der Renaissance prominent werden (ebd.: 195 ff.). Monster sind demnach »die Geräuschkulisse, das ununterbrochene Murmeln der Natur«, sie sind »kurzlebig[]« (ebd.: 201), tauchen nur am Rande auf und sind doch unabdingbar für die »Genesis der Unterschiede«, die ein Entstehen von Ordnungen erst möglich machen (ebd.: 203). Im Gegensatz zu Butlers Perspektive eines unnennbaren Außen (vgl. S. 36), führt Foucault die Transitorik des Difformen ein, an dem sich Formales bilde. Seit der Renaissance gibt es immer wieder Versuche, das Monströse und Unwahrscheinliche in Ordnungen zu versetzen, die einerseits ihren Schrecken bannen, andererseits als Folie dienen, vor dem sich Regularien abzeichnen.68 Ein 67 In der Biologie wird der Begriff der Taxonomie explizit als die »Wissenschaft von der Vielfältigkeit der Organismen« verstanden (Sauermost 2004: 372). 68 Vgl. zur Katalogisierung von Monstern im Rahmen einer »Topographie der Wunder« Lorraine Dastons und Katherine Parks Ausführungen, die u.a. die wissenschaftliche Beschreibung von Monstern im Jahr 1512 ansetzen, als der Florentiner Apotheker Luca Landucci in seinem Tagebuch Notizen über das »Monster von Ravenna« anfertigt (Daston/Park 1998: 21 ff., 177). Bereits um 621 n.Chr. legt Isidor von Sevilla einen Katalog an, in dem das Monströse als mögliche Abweichung neben dem Proportionalen, Geordneten im Abschnitt »Vom Menschen und von Monstern« seinen Platz findet (Isidor von Sevilla 2008: 442 f.). Eingebettet ist diese Taxonomie in den umfassenden (und unvollendeten) Versuch, eine globale En-
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Beispiel dafür ist Ambroise Parés Schrift Des Monstres et Prodiges (1573), in der er auf über 70 Bildtafeln das Monströse katalogisiert, von siamesischen – menschlichen wie tierischen – Zwillingen (Paré 1971: 19), über Hermaphroditen (ebd.: 25), mehrköpfige Schafe (ebd.: 67) bis hin zu Mensch-Tier-Chimären (ebd.: 63 ff.) und dergleichen mehr. Georges Canguilhem betont die Normierungsversuche durch Inventare, wie sie Isidore Geoffroy Saint-Hilaire in seiner Histoire des anomalies de l’organisation (1837) anlegte: »[He] completes the domestication of monstrosities – by ranking them among the anomalies, by classifying them according to the rules of natural method, by applying to them a methodical nomenclature that is still in force« (Canguilhem 2005: 190). Wie Foucault betont auch er die Flüchtigkeit des Monströsen (ebd.: 192), das sich im Zitat deutlich zeigt: Ist das Monströse erst einmal gebannt und klassifiziert und somit seiner marginalen Existenz entrissen, ist das Fremde einverleibt, kann von einem grotesken Erlebnis nicht mehr die Rede sein. Waldenfels führt aus, dass die Auslöser für ein Einbrechen in Ordnungen oft schnell wieder diesen selbst einverleibt würden, als bereits erwähnten »Re-entry« von Sinn (Waldenfels 2006: 51; vgl. S. 88): »Gleichwohl rückt das, was eine Ordnung erschüttert, in diese Ordnung ein, indem es benannt, klassifiziert, datiert, lokalisiert und Erklärungen unterworfen wird« – wobei solche Sinnesformationen auch wieder beginnen könnten zu »wuchern« (ebd.). Russo optiert daher für die Notwendigkeit eines »discourse of probability and ›error‹«, der Raum für Zufälle innerhalb eng normierter Räume lasse (Russo 1994: 11). David Williams verweist in seiner Untersuchung zur Religionsphilosophie des Spätmittelalters auf die Möglichkeit eines Deformed Discourse, der monströse Erscheinungen als außerhalb der Ordnung stehend formuliere, als extrakategoriale Ebene, die aber zugleich nicht ohne kategoriale Muster gedacht werden könne (Williams 1996: 13). Die Figurationen des Monströsen sind als symbolische Ebene für die Bildung von Ordnungen wesentlich – wiewohl erfunden (ebd.: 11), dienen sie gerade in dieser Doppelbedeutung als eine Art AntiInventar und werden von Williams als Ausweg aus dem ontologischen Dilemma des ausgehenden Mittelalters genutzt, der zwischen der »via negativa« des Pseudo Dionysos (ebd: 33) und dem affirmativen Positivismus Thomas von Aquins (ebd: 54) die Möglichkeit eines dritten Weges aufzeigen soll: »Monstrosity makes the metaphysics possible at the same time that it undermines it by keeping present the ineffable nature of Being [sic!] and refusing the adequation of the real with intellect.« (Ebd.: 59) Williams hebt dabei allerdings auf eine Polarisierung von Form und De-Formierung ab, von Ordnung und Unordnung: »The monstrous is constituted by the same characteristics inverted and denied: the confusion of categories, the levelling of hierarchy, the synthesis of differentiated phenomena, and dissimilitude.« (Ebd.: 81) zyklopädie anzulegen, die von der Grammatik über Geologie und Rechtswesen bis hin zur Religion disparate Sphären der Welt gleichberechtigt nebeneinanderstellt.
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In meiner Betrachtung grotesker, unabgeschlossener Formen geht es nun weniger um Entgegensetzungen, zumal sich viele der Choreograph/innen nicht unbedingt gegen eine bestimmte tradierte Sicht von Tanz wenden, deren Form zu zertrümmern wäre. Groteskes spielt sich vielmehr im Übergang von Innovation und Inventur ab, als fluide Körperbilder, die sich im Laufe der Zeit verfestigen können. Williams Idee der monströsen Taxonomien soll hierfür aufgegriffen werden, um die Verstreuung von De/Formationen, von Verschiebungen und Metamorphosen umgrenzen zu können (ebd.: 59), die sich im paradoxen Raum einer »deformed form, and form of deformity« befinden (ebd.: 77)69 und sich als »Gestalt […] einer Ungestalt« zeigen, wie Kayser es ausdrückt (Kayser 2004: 11). Inventuren des Unabgeschlossenen im zeitgenössischen Tanz balancieren immer auf einem schmalen Grat und laufen jederzeit Gefahr, Kategorien einzuführen, wo diese doch vermieden werden sollen. Die in den folgenden Kapiteln entfalteten Pattern bedürfen daher einer Perspektive, die immer auch das Vorübergehende ihrer Ergebnisse im Blick haben muss.
Vierte methodische Annahme »Ein Monster existiert nicht an und für sich. Es gibt keine Spezies ›Monster‹. Das Monster kommt nicht aus dem Keller, springt nicht aus dem Wald, sondern tritt in Erscheinung, sobald es als solches beschrieben wird. Mithilfe der Sprache kreieren wir auf der Oberfläche von Körpern Subjekte. Durch jedes Benennen und Beschreiben an und für sich schaffen wir Einschlüsse und Ausschlüsse. Nie habe ich ein Monster von sich sagen hören: ›ich bin eins‹. Ein Monster ist innerhalb seines Kontextes hauptsächlich Subjekt, von sich ebenso als Norm ausgehend wie alle anderen von sich selbst – innerhalb ihrer Kontexte. Erst wenn unsere Daseinsfelder aneinander stoßen oder sich überschneiden, entsteht in der Überlappung oder der Kluft durch eine gegenseitigen Beschreibung des Gegenübers der Unterschied, das Andere.« Stefan Pente (2007, Lecturemanuskript)
Die im zweiten Teil dieses Buches entwickelten Inventuren des Metamorphen, des Offenen und der spezifischen Bewegungsmodi des Grotesken verstehe ich im Anschluss an die obigen Überlegungen, und angeregt durch den Performer Stefan Pente, als Monster in einem zweifachen Sinn. Zunächst erscheinen sie als difforme Gestalten, oft an obskuren Rändern operierend, die das Paradox in sich 69 Williams zitiert hier aus der Schrift Apologia ad Guillem des Zisterziensers Bernhard von Clairvaux (ca. 1090-1153) (Williams 1996: 342, Anm. 24).
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tragen, als Monster erkannt zu werden, obwohl sie vorderhand keiner bekannten Form entsprechen. Andrew Hock-Soon Ng verortet das Monster (in Literatur und Film) im Verborgenen, das seine verstörende Kraft verliere, wenn es dem Blick Anderer ausgesetzt sei und sich zeigen müsse (Hock-Soon Ng 2004: 12).70 Meine Behauptung ist nun – und dies ist die andere Seite des Monsters –, dass sich Monströses und Difformes gerade im Akt des Anblickens erweist. Zwar gleitet das Erblickte für Momente in Bedeutungen, entzieht sich jedoch auch ebenso rasch wieder. Dennoch lässt sich, Williams folgend, ein Repertoire monströser Erscheinungsweisen formulieren (Williams 1996: 107 f.), das an den Kippstellen zwischen Un-Gestaltetem und Zeichenhaftem, zu Zeigendem und zu De-Monstrierendem zu finden ist. Die Definition des Lateinischen monstrum birgt denn auch die Doppelbedeutung von Zeigen, Zeichen und Ungeheuerlichem, von »ungereimte[n] Vorstellung[en]« (nach Menge-Güthling 1911: 483). Williams betont dabei das De-Monstrieren als Gegenbewegung zum Repräsentieren (Williams 1996: 4) – der Strategie zeitgenössischer Choreograph/innen folgend, die sich gegen Repräsentationen auf der Bühne wenden, kann ihre Praxis mithin als eine monströse bezeichnet werden.71 De-Monstrationen und Fremdheit, die sich in die eigene Beobachterposition einträgt,72 bergen somit das Potential einer methodischen Haltung, die Motive des Unabgeschlossenen im zeitgenössischen Tanz auffindet, ohne diese abzuschließen und, mit Foucaults taxonomischem Entwurf, Disparates und Uneinheitliches im Zuge grotesker Pattern in Beziehung setzt. Eine Zeigepraxis des De-Monstrierens verfolgt die Tänzerin und Schauspielerin Valeska Gert, in deren Tanzsoli, besonders in den 1920er Jahren, ein regelrechtes Kaleidoskop grotesker Strategien zu finden ist, die im Folgenden beispielhaft 70 Als Kippfigur zwischen monströsem Zeigen und Verbergen im Sinne grotesker Deformationen liest Brandstetter zum Beispiel eine Verkleidungsszene aus Rainer Maria Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910) (Brandstetter 2000c: 109). 71 Zum Monströsen als »Sichtbarkeit des Körpers«, der sich auf der Tanzbühne explizit zeige, vgl. Siegmund 1999: 121 ff., 132. Mit Bojana Kunst betont außerdem Jeroen Peeters in seinen Ausführungen zu Meg Stuarts Stück Replacement (2006), dass zeitgenössischer Tanz sowie Performance Hybrides im Sinne einer »Monstration« lustvoll verkörperten (Peeters 2006: 17). Remshardt wiederum behauptet, dass das Theater als eine Anstalt des Zeigens per se monströs sei (Remshardt 2004: 66). Hier aber taucht ein ähnliches Problem auf wie in Fuß’ Rede von moderner Kunst, die immer (schon) grotesk sei (Fuß 2001: 295) – und so kann wohl kaum behauptet werden, dass jegliche Theaterproduktionen grotesk oder verstörend sind, nur weil sie sich spezifischer Zeigesysteme bedienen. 72 Waldenfels spricht hier mit dem Ethnologen Karl-Heinz Kohl von Fremdheit »als ›methodische[m] Prinzip‹«, das sich auch im eigenen, üblicherweise bekannten Umfeld ereignen könne (Waldenfels 1997: 102). Scholl führt wiederum Montaignes Essay D’un enfant monstrueux an, in dem der Autor »das Eigene durch den Blick vom Fremden her zum Monströsen« mache (Scholl 2004: 141).
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skizziert werden und als zu erweiternde Grundlage für die Untersuchungen im zweiten Teil dienen sollen.
4.10 Das Groteske als ästhetische Strategie der Avantgarden: Valeska Gerts ausufernde Tänze »Ich schmiss mich mit immer neuer Begeisterung auf die Bühne. Meine Kampflust stieg. Ich wollte über alle Grenzen hinaus, meine Bewegungen streckten sich und wurden übergroß, […] Ich schien ›grotesk‹. Die Leute schrien.« Valeska Gert (1931: 26)
Der Aspekt des Grotesken nimmt eine Schlüsselposition im Bewegungskonzept der Berliner Tänzerin und Schauspielerin Valeska Gert ein, die den Schwerpunkt ihres künstlerischen Wirkens in der europäischen Avantgarde der 1920er Jahre hatte. Als Mittel künstlerischer Grenzüberschreitung, das den bloßen Rahmen der Karikatur verlässt, äußert sich Groteskes – auch derzeit oftmals adjektivisch für das Irritierende, Fremde, nicht Beschreibbare verwendet – in ihren Kurzsoli als wesentliches Element einer ästhetischen Praxis. In einem breiten Spektrum von feinsten Verschiebungen bis hin zur Hyperbolisierung und Vulgarisierung durchziehen die verschiedenen Spielarten des Grotesken ihr Œuvre (Foellmer 2006: 109 ff.) und umfassen Gerts Bewusstsein über groteske historische Situationen,73 Überspitzungen in Texten und Liedern, Doppelungen von damals als grotesk empfundenen künstlerischen Darbietungen oder den kritischen Blick auf die Kolleginnen. Nicht zuletzt erfuhr sie unter den Nationalsozialisten traurige Berühmtheit: In seinem Photopamphlet Das erwachende Berlin diffamiert Josef Goebbels Gert als sogenannte »entartete« Künstlerin und bildet sie, neben anderen wie Josephine Baker und Fritz Kortner, sogar zweimal ab (Peter 1987: 74 ff.). Im Folgenden werden die Aspekte des Grotesken als Verständnis von Bühnenrealismus sowie im Hinblick auf Rahmenüberschreitung, Überhöhungen, Parodie und die tendenzielle Öffnung von Körpergrenzen kurz vorgestellt. Valeska Gert bettet das Groteske in den 1920er Jahren bereits diskursiv als ästhetisches Movens ein: »The dancer felt more than the actor that we are all treading on quaking ground. We try to find a balance. It is as if we were swinging on a trapeze. The old form is not yet gone, the new one is already coming. This, like 73 So ruft ihr Tanz in Orange die Polizei auf den Plan, da in Kriegszeiten »nicht unzüchtig getanzt werden« dürfe. Gert allerdings unterläuft die Skandalerwartung der Gesetzeshüter. Als sie vortanzen soll, gibt sie die brave Schülerin, die jeden Schritt mitzählen muss. Groteske wird hier explizit als Mittel verwendet, über dessen Zeitpunkt der Anwendung die Tänzerin selbst entscheidet (vgl. Gert 1931: 31).
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every birth and death, is grotesque. […] today the grotesque is the typical expression of our time.« (Gert, Textfragment: 3) In Geistesverwandtschaft mit Wsewolod E. Meyerhold formuliert sie groteske Strategien im Sinne eines historischen und ästhetischen Phänomens, als Ausdruck gesellschaftlicher und künstlerischer Praxis. Meyerhold bedient sich des Attributs des Grotesken als »Trennmittel« zwischen der sozialen Wirklichkeit und einer künstlerischen Bühnenrealität, die sich mithin als grotesker Realismus fassen lässt (Meyerhold 1979: 216). Groteske positioniert sich demnach in unwahrscheinlichen Geschehnissen innerhalb einer Bühnensituation, die als Abgrenzung zur Wahrscheinlichkeit der Erfahrungswirklichkeit gedacht sind. Es geht also um das Moment der Verfremdung, mit dem aus der gesellschaftlichen Realität entlehnte Sujets in ein »nach der künstlerischen Vision erstelltes Ganzes integriert« werden: »Das Reale wird verfremdet, der Schauspieler wird Kunstfigur.« (Ebd.) Gert bedient sich dieser Aspekte, indem sie mit den Methoden von Kontrastierung und Pointierung Widersprüche aufeinanderprallen lässt und künstlerische Inhalte gezielt verfremdet, dabei vom Bekannten ausgehend, das sie soweit verzerrt, bis es ins Groteske umschlägt. Gert artikuliert diese Verfahrensweise folgendermaßen: »Ich packe ein Stück aus der geliebten Realität, die keine ist, real ist nur die ewige Verwandlung.« (Gert 1973: 21 f.) Diese beständigen Veränderungen äußern sich auch in ihrer regelrecht chamäleonhaften Gabe, in Sekundenschnelle in die verschiedensten Figuren zu schlüpfen oder die Szenerie zu wechseln, wie sie dies etwa in dem montageartige Tanz Zirkus zeigt, in dem sie unter anderem rasch von der Rolle des Reiters auf die des Pferdes selbst ›umsattelt‹. In einer Rezension anlässlich eines Auftritts im Wiesbadener Kurhaus heißt es: »Wie bringt die Künstlerin diese unheimlichen Wandlungen zustande? Wie ist es ihr möglich, das eine Mal dick und das andere mal spindeldürr zu sein?« (Anonym/W.W.)74 Auch ihre Gebärden selbst sind von ständigen Wechseln der Spannungs- und Formzustände geprägt (Foellmer 2006: 141). In vielen ihrer Stücke bringt Gert Bewegungs- und Darstellungskonventionen buchstäblich ins Wanken – dazu zählt besonders ihr Negertanz.75 In den 1920er Jahren wurde die Darstellung von »Negern« auf der Bühne allein schon als grotesk empfunden aufgrund der als ›wild‹ und archaisch wahrgenommenen Ausdrucksformen einer fremden Kultur (Peter 1987: 44).76 Mit Vorliebe brachten
74 Einige der Dokumente aus dem Valeska-Gert-Archiv der Akademie der Künste Berlin sind ohne Autor/in verzeichnet, daher die Bezeichnung »Anonym«. 75 Für die meisten Tänze Gerts ist kein genaues Entstehungsdatum bekannt, sie sind überwiegend zwischen 1916 und dem Beginn der 1930er Jahre kreiert worden. 76 Es war in dieser Zeit noch üblich, von »Negern« im Bezug auf Afrikaner/innen oder Afroamerikaner/innen zu sprechen, ohne dass damit die negativen Konnotationen aufgerufen waren, wie sie in den USA besonders in den 1960er Jahren aufkamen. Ein anderer Abzug der Photographie des Gertschen Negertanz trägt sogar den Untertitel Niggertanz (Tanzarchiv Köln). Béchie Paul N’guessan betont, dass der Begriff »Neger« im Sprachgebrauch der historischen Avantgarde positiv belegt
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deutsche Künstler/innen solche Grotesken auf die Bühne, bekleidet mit dunklen, engen Trikots und Strohröcken (ebd.). Von dieser archaischen Begeisterung blieben selbst die Vertreter/innen der Avantgarde nicht verschont. Thomas Anz schildert die Sehnsucht nach dem scheinbar ›Natürlichen‹ und Unverbildeten der Angehörigen schwarzafrikanischer Ethnien. So präsentierte etwa der Dadaist Richard Huelsenbeck seine Negergedichte in Begleitung »einer großen Trommel«, und Carl Einstein bevorzugte die Negerplastik (1915) vor der Kunst der europäischen Zivilisation (Anz 1994: 5)77. Über eine Analyse des Formalen plädiert Einstein in seinem Essay für eine möglichst wertfreie Annäherung an die im dann folgenden Bildteil gezeigten Skulpturen, die als Organisationsform besonders vom Moment des Diskontinuierlichen geprägt seien (ebd.: 11, 22). Unter anderem dieser Aspekt, im Einklang mit dem Kubischen und der Fragmentierung der Dimensionen (ebd.: 21 f.), sollte die entsprechende Kunstrichtung und auch Tänze wie jene von Valeska Gert prägen. Im Negertanz deckt Gert die kritiklose Adaption kultureller Chiffren des ›Fremdartigen‹ und Exotischen auf. Die übermäßig rund ausgebreiteten Arme und Beine und das eng anliegende schwarze Kostüm werden von dem europäischen Hut und den Gamaschen kontrastiert (Abb. 9). In ihrer Karikatur der als grotesk wahrgenommenen ›Negertänze‹ gerät Gerts Anwendung grotesker Stilmittel quasi zur Supra-Groteske: groteske Verzerrung des Grotesken selbst. Der hauteng anliegende schwarze Trikotanzug verweist dabei auf Nacktheit und pralle Körperformen und thematisiert den Zwiespalt zwischen kulturell überformten Wahrnehmungen von ›Natürlichkeit‹ sowie den Darstellungen afroamerikanischer, teils als grotesk ausgewiesenen Künstler/innen wie Josephine Baker.78 Zur Ausprägung des Supra-Grotesken zählt auch Gerts Charleston, dessen übermäßig nach innen gedrehte Beine bereits im Entstehen dieses Gesellschaftstanzes zu Beginn der 1920er Jahre in den USA als grotesk beurteilt wurden. Josephine Baker war seinerzeit Tänzerin in der Revue Runnin’ wild, in der 1925 der Charleston erstmals zu sehen war und in welchem der Kritiker Gilbert Seldes »groteske […] Elemente« entdeckt, die er hauptsächlich durch »X-beine« und »kleine Sprünge« charakterisiert (zitiert nach Hammond/O’Connor 1992: 35). war und somit deren »Oppositionshaltung zum Ausdruck bringen« konnte (N’guessan 2002: 19). 77 Einsteins Text über afrikanische Plastiken kommt allerdings das große Verdienst zu, diese Werke als Kunst zu betrachten, wenn auch die Parameter der Beurteilung nur mangelhaft sein könnten, so Einstein, denn bis dato herrsche das klassizistische Ideal von Wohlproportioniertheit noch vor (Einstein 1992: 9 f.). 78 Diese Technik der »Verkehrungen eines bereits verkehrten Objekts« findet sich übrigens auch, so Fuß, in der Literatur Rabelais’. Mit Schlegels Kunsttheorie gerate die »Marginalisierung des Grotesken zur primitiven Kunst archaischer vorkultureller Menschen.« (Fuß 2001: 270, 48 f.) Schlegels Ausführungen waren noch durch die Rezeption von Kunstwerken im Sinne einer klassizistischen Haltung geprägt (die offenbar teilweise noch in das 20. Jahrhundert hineingewirkt hatte).
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Abb. 9: Valeska Gert, Negertanz, Photo: Atlantic Photo-Co., Berlin
Abb. 10: La Argentina, Photo: Transeuropa-Preß, Berlin
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Neben den getanzten Grotesken verfasst Gert bereits früh parodistische Zeitungsartikel, in denen sie mit den Mitteln der »Übergenauigkeit«79 die von ihr kritisch betrachteten Sujets so lange ausreizt, bis sie ins Groteske umkippen. Dieses Verfahren wendet sie später auch bei ihren Tanznummern wie etwa España und Capriziosa an: eine Exotismuskritik, die jene Tänzerinnen trifft, die dem Bedürfnis der (mittel)europäischen Zuschauer/innen nach dem exotisierten Fremden entgegenkommen, in diesem Fall La Argentina. Laut Sergej Eisenstein stößt Gert damit den »Degen ins Herz der ganzen Spanientümelei« (Eisenstein 1987: 121). Auf Bildern, die die spanischen Tänze La Argentinas zeigen, fallen bestimmte Gesten ins Auge, die eher einer vom Ballett überformten Tanzhaltung entspringen. Besonders deutlich wird das in der Stellung der Füße, die der vierten Position im Ballett entspricht, sowie dem sehr gerade aufgerichtete Körper mit nur leicht geneigtem Rücken und den fast geometrisch abgewinkelten Armen (Abb. 10). Hinzu kommen Gebärden, die nicht mit dem Sabateado, dem Ursprungstanz des Flamenco, übereinstimmen. Der Kopf ist zu stark nach hinten überstreckt, der Blick ins Publikum gerichtet, anstatt der Führung der Hände zu folgen. Insgesamt wird hier ein Bild der ›stolzen‹ Spanierin präsentiert, das eher den deutschen Vorstellungen hiervon entgegenkommt, wie auch der Zeitgenosse Bernhard von Brentano schildert: »Sie hat das Aussehen einer Spanierin, aber wenn man sie länger betrachtet, gleicht sie eher einer klassizistischen Zeichnung einer solchen, als einer leibhaftigen Landsmännin. Ihre Bewegungen sind sehr schön, aber sie sind so, wie man sie als ›Anmut‹ vielleicht auf der Hochschule lernt.« (von Brentano 1993: 163 f.) Die Capriziosa Valeska Gerts erkennt die klischierten Posen des überstreckten Kopfes und eine Blick- und Körperhaltung, die eine bestimmte Publikumserwartung bedient. Ihr Kopf ist in dem Solo stark nach hinten überdehnt, der Mund wird dadurch stark hervorgehoben und die leicht verschleierten Augen verdoppeln die Geste der zum Teil geschlossenen Augen La Argentinas. Verstärkt wird dies durch das Kleid, das von Gert mit geziert abgespreizten Fingern hochgerafft wird (Abb. 11). Ihr kurzes Kostüm zeigt, was La Argentinas lange Rockschöße noch verbergen: Bein und vor allem Knie.80 Der deutliche Verweis auf die bei La Argentina eher versteckte Erotik des Flamencos versinnbildlicht sich auch im Oberteil des Kleides, das die Schultern nackt lässt und die Brust exponiert.
79 Nach Holger Sandig ist dies ein Attribut des Grotesken, das die Produktions- und Wirkungsweise des Grotesken genauer erfasse als das zu ungenaue Adjektiv der Verzerrung (Sandig 1980: 35). 80 Auffällig oft tanzte Gert mit kniekurzen Röcken oder Kleidern, was einerseits der damaligen Kleidermode entsprach, andererseits von ihr als eindeutiger Verweis auf Körperteile benutzt wurde, die einen erotischen Reiz auslösten (vgl. Klein 1994: 173).
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Die Betrachtung des Tanzes España, den Gert in verschiedenen Variationen, etwa unter dem Titel Olé tanzte, ist produktiv im Hinblick auf eine weitere Spielart des Grotesken in ihren Stücken. Hier operiert sie mit dem Mittel der Hyperbolisierung, über das sie erotisch Eindeutiges zeigt und etwa ihren Po präsentiert, der fast über den Bildrahmen hinaus zu quellen scheint. Hinzu kommt der extrem überdehnte Nacken, der die Nasenlöcher exponiert und sich damit der Idee des von Bachtin beschriebenen grotesken Leibes annähert: »Als Teile des Gesichts spielen in der grotesken Körperkonzeption […] Mund und Nase eine wesentliche Rolle.« (Bachtin 1995: 358) Ansatzweise Öffnungen der Körpergrenzen betreibt Gert zudem in ihrem Solo Kupplerin um 1925, das als kurzes Filmfragment erhalten geblieben ist (Regie: Suse Byk) (vgl. Foellmer 2006: 137 ff.). Augenfällig sind dabei einerseits die Schläge gegen Brust und Unterleib sowie die fast brustzerstörenden reibenden Bewegungen der Hände. Die übermäßig hochgeworfenen Beine richten die Aufmerksamkeit auf eine Frauengestalt, die den äußeren Schein, die glatte Oberfläche, nicht mehr wahrt, sondern zu rücksichtslosen In nenansichten, in dem Falle unter das Beinkleid, auffordert (Abb. 12).
Abb. 11: Valeska Gert, Capriziosa, Photo: Man Ray
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Abb. 12: Valeska Gert, Kupplerin, Filmstill: Suse Byk (1925)
Gert negiert einen ungebrochenen und harmonischen Tänzerinnenkörper und nähert sich damit dem Aspekt der von Bachtin protegierten Unabgeschlossenheit des grotesken Leibes als Überschreitungen zwischen Körper und (Um-)Welt an (vgl. S. 69 f.). Der sich verdrehende Torso sowie der eingezogene Hals in der Kupplerin wenden sich gezielt gegen die Grazie der Bewegungen ihrer tanzenden Kolleginnen, die auch nach der Abkehr vom klassischen Ballett noch von der, zumeist männlich dominierten, Kritikerwelt erwartet wurde (Foellmer 2006: 138). Hierzu zählt auch das Spiel mit Grimassen: Die Zunge herausstreckend, die Augen rollend und den Mund verziehend, setzt Gert den zumeist fließenden Bewegungen etwa Mary Wigmans synkopierte und verstümmelte Bewegungsfragmente entgegen.81 Das überdimensionierte Zeigen des Körpers mit den Mitteln der Betonung und Isolierung von Körperteilen, wie sie auch Bachtins Theorie benennt, sind also konstitutive Elemente der Gertschen Grotesken. Mithin lässt sich eine »Ästhetik des Hässlichen« konstatieren, die – in Wucht und Gewalt des
81 Brandstetter verweist hierbei auf das Prinzip der »Unterbrechung« im Gegensatz zum Bewegungsvokabular des Fließens: »Die ›Unterbrechung‹ ist gewissermaßen das ›filmische‹, dem Taylorismus verpflichtete Gegenprinzip zur fließenden Bewegung: charakteristisch für eine dem Ausdruckstanz sich entgegensetzende Ästhetik avantgardistischen Tanzes.« (Brandstetter 1995a, 131 f.)
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ausdruckstänzerischen Bewegungsvokabulars – über die so verstandenen Tänze etwa Mary Wigmans hinausweist.82 Groteske Praktiken betreffen in Gerts Tänzen zudem Rahmenüberschreitungen in bildlicher wie konventioneller Hinsicht. Auffällig ist etwa, dass Suse Byk, von der zwei weitere kurze Tanzfilmfragmente stammen, Gerts Tänze immer nur in Ausschnitten filmt: Meist sind lediglich Rumpf und Kopf zu sehen, besonders die Beine erscheinen nur dann, wenn sie über den Bildrahmen hinaus buchstäblich ins Blickfeld hineingeworfen werden. Im Solo Kupplerin werden die Grenzüberschreitungen Gerts auch durch das Hinausgreifen ihrer wuchernden Gebärden über den Bildrand deutlich und das ›Randständige‹, das Überschreiten selbst zum Thema. Als Film dokumentiert, hat freilich die Filmemacherin und Photographin Suse Byk einen wichtigen Anteil an der Hervorhebung grotesker Aspekte der Gertschen Darstellung. Christiane Kuhlmann weist darauf hin, dass sowohl Photographie als auch Film die Vergrößerung der Bewegungen aufnehme und noch mit übersteigere (Kuhlmann 2003: 121, 129). Jean Baudrillard wiederum misst der Nahaufnahme von Film und Video per se eine promiskuitive Prägung bei – die Vergrößerung körperlicher Details, auch die des Gesichtes, beurteilt er als Pornographie, als ein »hautnahe[s] Aneinanderstoßen von Auge und Bild« (Baudrillard 1993: 254). So gesehen tragen die »Pornochoreographien« Valeska Gerts83 diesen wertenden Beinamen nicht nur aufgrund der Wahl gesellschaftlich randständiger Sujets, sondern vermitteln sich auch über die wuchernden Bewegungen der Tänzerin, mit denen sie dem Publikum regelrecht auf den Leib rückt. Speziell der Rumpf ist es, der in Gerts Tänzen häufig exponiert wird und zu dem sie isolierte Körperpartien wie Knie, Arme oder Kopf und Gesicht in Kontrast bringt. Die von ihr gestalteten Hyperbolisierungen finden dabei in der Übergröße der Gestik und gestalteten Fragmentarik der Körperteile ihren Ausdruck – in eben jenen Körperexpositionen, die von Bachtin als Gestaltungsmittel des Grotesken hervorgehoben werden. Besonders Unterleib und Geschlechtsorgane »können sich sogar vom Körper trennen, ein selbstständiges Leben führen, denn sie verdecken den Restkörper als etwas Zweitrangiges« (Bachtin 1995: 358), was Gert in der España eindrucksvoll zeigt und in der Kupplerin bis hin zur Vulgarisierung bestehender Körperbilder steigert. Stellt Jan Kott die (filmische) Nahaufnahme, die auch verliebte Paare in der Überwindung des konventionellen Körperabstandes als erotisches Moment erfahren, in den Mittelpunkt der Verführung, die über das isolierte, fragmentierte Körperstück dessen Inbesitznahme als Höhepunkt der Leidenschaft vermittelt – meist sind dies Augen, Mund oder das gesamte Gesicht (Kott 1990: 345) –, entlarvt
82 Diesen, an die gleichnamige Schrift von Karl Rosenkranz erinnernden Terminus verwendet Brandstetter in der Erarbeitung von Kriterien des Ausdruckstanzes (Brandstetter 1995: 34). 83 So wurden seinerzeit Gerts Tänze denunziert (Schlöndorff 1977, Dokumentarfilm).
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Gert diese Methode bereits in ihren Tänzen. Nicht mehr der wohlgeformte Brustansatz oder die erotisch geschwungenen Wimpern treten in den Fokus der Begehrlichkeiten. Vielmehr brüskiert Gert diese (männlichen) Erwartungen in ihren »erotischen Groteske[n]« (Anonym/O.A.Sch) durch extremes Vorzeigen der Merkmale sinnlicher Reize, deren Konturen sie anschließend wie in der Kupplerin zerstört. Besonders im Hinblick auf die Ästhetik des Grotesken kann Valeska Gert mithin als avancierte Vertreterin der ausdruckstänzerischen Avantgarde gelten. Allerdings ist es wichtig festzustellen, dass sich Gert nicht etwa schon auf den Pfaden postmoderner Tanzkonzepte bewegt. Sie befindet sich mit ihren Stücken und künstlerischen Theorien durchaus noch in Gesellschaft der Avantgarde der 1920er Jahre, wenn sie auch hier unter anderem durch die Einführung einer Art Meta-Tanz84 hervorsticht, der die Themen und Produktionsästhetiken der tänzerischen Avantgarde kritisch beleuchtet. Gert geht jedoch nie so weit, den Tanz selbst als Kunst- und Bewegungsform infrage zu stellen. Allerdings war sie, in ihrer konsequenten Anwendung avantgardistischer Ideen ihrer Zeit offenbar so manches Mal zu weit voraus: Ihre Inszenierung einer radikal gekürzte Version der Wildeschen Salome, sowohl im Hinblick auf den reduzierten Text als auch auf das minimalistische Bühnenbild und einen auf die Essenz zusammengedrängten darstellerischen Ausdruck, kam über die Premiere nicht hinaus (Gert 1989: 48 f.). Weder die Darstellenden noch die Kritiker/innen fanden Zugang zu einer Theaterästhetik, die erst unter Jerzy Grotowski, als Armes Theater, ihr Publikum finden sollte. Im Anschluss an Gerts groteske Körperpraktiken und die zuvor entwickelten methodischen Annahmen und Rahmen-Bedingungen werden in Teil II zeitgenössische Tanzproduktionen seit Beginn der 1990er Jahre auf ihr Arbeiten am Körper85 hin untersucht. Die an Gerts Beispiel skizzierten Körperthemen und grotesken Verfahren sind dabei wiederzuentdecken, so etwa der Modus des SupraGrotesken in der Choreographie Wagner Schwartz’ (vgl. Kap. 2, 2.1) oder die Praktiken von Rahmenüberschreitung und Close-up in Isabelle Schads Tanzperformance The Better You Look The More You See (vgl. Kap. 3, 2.3.1). Dabei ist zu fragen, inwieweit hier groteske Strategien noch behauptet werden können, eignet den meisten Stücken doch längst kein Schockpotential mehr, wie es Gerts Aufführungen oft noch inhärent war, die entsprechende Reaktionen beim Publikum auslösten. Wie erwähnt, gilt es auch nicht mehr, ein bestimmtes Formenvokabular agitatorisch zu zertrümmern, wenn auch viele der Stücke im Gegenzug »Bewegungscodes« eher auflösen (vgl. Brandstetter 2005a: 61). Wer sind also
84 Ich danke Gustav Frank für die terminologische Anregung. 85 Eine ähnliche Praxis formuliert Änne Söll, als Arbeit am Körper in Pipilotti Rists Videoinstallationen (Söll 2004). Siegmund bezeichnet Meg Stuarts Ästhetik außerdem als »Arbeit am Fleisch« (Siegmund 2006: 437).
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die Agenten des Grotesken? Wo wären sie zu finden? Eignet sich das Groteske lediglich als Analysewerkzeug, das den Praxistest der Postmoderne nicht besteht? Im Anschluss an die zuvor über die Theorie entwickelten methodischen Annahmen werden nun konkretere Instrumentarien vorgestellt, mit der sich dieses Buch auf die Suche nach Inventuren des Unabgeschlossenen begibt.
5 M e t h o d e n d e s I n ve n t a r i s i e r e n s : B i l d e r - F r a g e n Der Raum ist dunkel. Nach kurzer Zeit sind Schritte zu hören: Jemand betritt die Bühne. Plötzlich erhellt ein Blitz für Bruchteile von Sekunden die Finsternis, dann wieder: Lichtlosigkeit. Der Vorgang wiederholt sich noch zweimal, und schließlich wird die Bühne beleuchtet. Vor uns steht die nackte Künstlerin La Ribot, beide Brüste und die Scham sind mit je einem Polaroidphoto beklebt, die sie offenbar zuvor geknipst hat, und die, verdoppelnd, jeweils die rechte und die linke Brust sowie das Genital abbilden und die ›eigentlichen‹ Körperteile verdecken (Abb. 13).
Abb. 13: La Ribot, Narcisa, aus: Piezas distinguidas, no 16 (1996), Photo: Jaime Gorospe
Das Stück mit dem Titel Narcisa (no 16, 1996) aus La Ribots fortlaufendem Projekt Piezas distinguidas zeigt den Körper auf der Bühne als immer schon projizierten, aus Bildspeichern bestehenden, flächigen Container von Imaginationen.86 86 Auch Siegmund vermutet in diesem kurzen Stück ein Primat der Bildhaftigkeit, die sich vor den tatsächlichen Körper La Ribots schiebe (Siegmund 2006: 461). Ihre
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Viele ihrer sehr kurzen, oft tableauartig angelegten Stücke arbeiten zudem mit gezielten Rahmungen des Körpers, im Sinne von Posen, die über eine kurze Zeit gehalten werden, oder als buchstäbliche Kadrierungen des Körpers selbst, der mit Photos beklebt oder zwischen zwei Klappstühle gezwängt wird (no 14, 1996). Ihr vordergründig bloß posierender, projektierter Körper wirft den begehrlichen Blick des Publikums zurück, so in Narcisa, wobei sie dem vorgreift, worauf viele im Publikum sicher beim Anblick ihres nackten Körpers zuerst schauen würden: die sekundären Geschlechtsmerkmale, die hier in einer »Bild-Bewegung«87 zu tertiären werden. Folgt man Williams Vorschlag von Taxonomien des Monströsen, eigentlich Ungeformten (vgl. S. 105), so sind also paradoxerweise Rahmungen notwendig, die Difformes als solches erkennbar machen und es, an den Rändern von Ordnungen operierend, zeitweilig verorten. Um Vergleiche ziehen und die unterschiedlichsten Produktionen aus dem zeitgenössischen Tanz zueinander ins Verhältnis setzen zu können, ist zu fragen, welche Lesemuster, welche »Pattern« (Brandstetter 1995: 26) hier zur Anwendung kommen sollen. Mein Vorschlag ist, die in dieser Studie herangezogenen Beispiele unter ikonologischen Aspekten zu betrachten (vgl. Diers 2007: 215 ff.). Dies scheint nun wiederum den kritischen Bestrebungen vieler Choreograph/innen zu widersprechen, die doch unter anderem mit Guy Debords Ablehnung des Spektakels dafür optieren, den Körper gerade nicht unter repräsentativen Vorzeichen auf die Bühne zu bringen.88 Mit welcher Berechtigung also lässt sich zeitgenössischer Tanz als Bilderwerfer behaupten?
5.1 Verlangsamungen ins Bild Ein bedeutsamer Aspekt, der eine ikonologische Herangehensweise unterstützt, ist die Strategie der Verlangsamung, die in vielen Tanzproduktionen der letzten zwanzig Jahre zu finden ist (vgl. Siegmund 1998: 239, Husemann 2002: 21). Die meisten der anschließend untersuchten Beispiele weisen insofern bildhafte Komponenten auf, als die Bewegungen oft am Platz ausgeführt sind und den Körper und seine Umrisse in Verformungen zeigen, die sich nicht umgreifend in den Aktionen liest er mit Walter Benjamin als »Allergorien« des Melancholischen, das die Zuschauenden ob des Verlusts des Körpers im Tanz immer schon befalle (ebd.: 458 ff.). 87 Nach Brandstetters entwickeltem Begriff (Brandstetter 2007c: 257). Der Pose sei dabei die Ambivalenz zu eigen, sich als »Umspring-Zone« […] zwischen Bild und Korporalität, zwischen picture und performance«, zu befinden (ebd.). 88 In seiner Schrift Die Gesellschaft des Spektakels plädiert Debord für die Ablehnung einer illusionären Vorstellungswelt der Bilder, geprägt durch Popkultur und Massenkonsum (Debord 1996: 13 ff., 49). Auf seine Thesen bezieht sich u. a. Xavier Le Roy (Le Roy 2005: 85). Vgl. zum zeitgenössischen Tanz in der Gesellschaft des Spektakels auch Ploebst 2001: 13 f., 215 ff., Siegmund 2006: 13 ff.
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Raum hinein entwerfen, sondern vielmehr stehenden Bildern gleich entwickelt und verflüssigt werden. Am Beispiel von Marcel Duchamps Das große Glas zeigt Brandstetter Phänomene der Verzögerung bereits als Strategien der historischen Avantgarde auf: Bewegungen werden durch den »unendlich verzögerten Prozess« bildhaft, ein Ritardando, mit dem sich Duchamp gegen den »Dynamismus der Avantgarde« wende (Brandstetter 1998: 103). Die Praxis des Verlangsamens und Stillstellens sei außerdem im Postmodern Dance seit den 1960er Jahren wieder zu entdecken (Brandstetter 2005a: 67).89 Das Konzept des Innehaltens gegenüber einem fortwährend strömenden Fluss der Bewegungen ist bereits in der Romantik als »Nicht-Tanz« bezeichnet worden, so wiederum Lepecki (Lepecki 2000: 338). Mit Peter Sloterdijk formuliert er das Phänomen der kontinuierlichen Bewegung als ontologisches Projekt der Moderne, im Sinne eines »being-toward-movement« des Subjekts (Lepecki 2006: 12). Zugleich aber favorisiere auch die Postmoderne diese Praxis: Deleuzes/Guattaris Rede vom Werden und der unendlichen Zirkulation seien dafür maßgebend (ebd.). Zeitgenössische Choreograph/innen übten nun Kritik an der Idee des ungebrochenen, ständigen Voranschreitens, das beständig neue Repräsentationen des Subjekts als fort-schrittlicher Mensch hervorbringe. Am Beispiel von Jérôme Bel postuliert Lepecki eine »slower ontology« (ebd.: 45), die sich äußerlich durch das Stillstellen von Bewegung äußere (ebd.: 57). Eine »deflation of movement« bedeute allerdings keine Absage an den Tanz als Bewegung, vielmehr verlagere sich dieser in die Binnenstruktur des Körpers selbst, so etwa in dem Stück Jérôme Bel (1995): »[H]e deploys stillness and slowness to propose how movement is not only a question of kinetics, but also one of intensities, of generating an intensive field of microperceptions.« (Ebd.) Allerdings zeige gerade Bels Beispiel auch, dass das eingeläutete Ende der Repräsentation letztlich immer eine Unmöglichkeit darstelle (ebd.: 49). Ein fast unüberwindbarer Zwiespalt tut sich auf: Deleuze/Guattari postulieren Bewegungen als Intensitäten, die Sedimentierungen und Kategorisierungen vermeiden sollen. Das bedeutet allerdings, immer in Bewegung zu bleiben, wodurch man zugleich jedoch offenbar die mobilen Bedürfnisse einer hegemonialen Kultur bedient. Beispielhaft dafür ist, wie erwähnt, Peggy Phelans Rede von der einzigartigen Präsenz der künstlerischen Performance als Kritik an herrschenden Verhältnissen (Phelan 1993: 146), die mittlerweile schon längst von den Bedürfnissen der Event-Kultur nach immer Neuem eingeholt worden ist (vgl. Siegmund 2006: 66; vgl. S. 39).90 Einige Choreograph/innen wenden sich nun gegen die 89 Vgl. zur Langsamkeit außerdem Hans-Thies Lehmanns Analysen zur Veränderung von Geschwindigkeit in der Postmoderne, wie etwa die Slow Motion als Technik im zeitgenössischen Theater bei Robert Wilson (Lehmann 1999: 373 f.) sowie Wortelkamps Paraphrase Lehmanns, die auf die Verkörperlichung von Zeit etwa bei Meg Stuart fokussiert (Wortelkamp 2006: 174 ff.). 90 Zur Präsenz im Gegenwartstheater, die sich u.a. als Kopräsenz von Darsteller/innen und Zuschauenden ergibt, vgl. auch Lehmann 1999a: 14 ff.
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repräsentativen Vereinnahmungen selbst des Flüchtigen, indem sie – oft in Soli – mit extremer Verlangsamung der Körperbewegung auf der Bühne arbeiten, so etwa Xavier Le Roy in Self unfinished (1998) oder Myriam Gourfink in Überengelheit (1999). Dadurch allerdings können wiederum Stillstellungen im Sinne von Bildern entstehen, Markierungen des Fluiden, die, wie in Le Roys Fall, zu einer Vermarktung einer als Avantgarde etikettierten Tanzkunst führen. Um den Präsenzbegriff dennoch in eine zeitgenössische Ästhetik hinüberzuretten, spricht Lepecki von Präsenzen, die sich in einer Art »Lust am Rand« der Zeit ergäben, als paradoxale »still-acts« zwischen Erscheinen und Verlust (Lepecki 2006: 130). Wie ich meine, ist es eben jene Randstellung, entlang derer sich zeitgenössischer Tanz im Rahmen grotesker Bedingungen beschreiben lässt. Blickt man auf die Produktionsprozesse einiger Stücke, so ist außerdem interessant, dass manche Choreograph/innen explizit Bilder als Quelle oder Recherchehilfe verwenden. Bereits für sein Stück Blut et Boredom (1996) hat Xavier Le Roy zum Beispiel mit dem Pariser Photographen Laurent Goldring zusammengearbeitet (Le Roy 27.8.2007, Interview; vgl. S. 152 f.). Auch für Self unfinished war die bildliche Recherche wichtig: Goldring photographierte verschiedene, im Probenprozess erarbeitete Bewegungen – Aufnahmen, mit denen Le Roy anschließend sein Stück weiterentwickelte (ebd.). Die Choreographin Meg Stuart nutzt Bilder wiederum als Inspiration für ihre Arbeiten, so die Gemälde von Francis Bacon: »Für mich ist es interessant, auf die Figur zu schauen und zu analysieren, was der Körper ist, bevor er sich bewegt. Der englische Maler Francis Bacon stellte das Leben dar, den Körper in entstellter Bewegung.« (Stuart in Ploebst 1999b: 21) Darüber hinaus sucht Stuart gezielt die Zusammenarbeit mit bildenden Künstler/innen wie Gary Hill oder Ann Hamilton (vgl. Jochim 2008: 15).91 Diese Produktionsweise scheint dem Publikumsbedürfnis teilweise entgegenzukommen, das Gesehene in Bildern festzuhalten, im Augenblick der Aufführung etwas Markantes zu finden, das einen pointierten Eindruck des Stück liefern könnte, wenn man etwa in Rezensionen darüber spricht. Dennoch sind diese Bilder in den Stücken selbst temporär, wie in Self unfinished verfließen sie schnell und der Körper befindet sich schon im nächsten Zustand der Mutation (vgl. Siegmund 2006: 372 f.). Trotz ihres metamorphen Gehalts verdichten sich jene flüchtigen Bilder gleichwohl zu Repertoires, bleiben im Gedächtnis haften, erscheinen als mannigfaltige Repetitionen in Druckwerken, Ausstellungen oder in nachfolgenden Produktionen anderer Künstler/innen. Die Wieder-Holung des Unabgeschlossenen materialisiert sich allmählich in einem Inventar aus fluktuierenden Mustern, trägt, mit Butler gesprochen, zur Identifizierung bestimmter Strategien im zeitgenössischen Tanz bei und erhält Gewicht in den Diskursen über Tanz – nicht zuletzt bei der Auswahl durch die Tanzveranstalter/innen. 91 So in Splayed Mind Out (1997) und appetite (1998). Zur Verbindung von (zeitgenössischem) Tanz und bildender Kunst vgl. auch Wesemann 1999a: 28 ff.
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5.2 Bilder produzieren Noch einmal zurück zum Bildbedürfnis im Moment des Zuschauens. Wie kann es sein, dass eine zunächst unlesbare, da den Konventionen nicht entsprechende Darbietung wie Le Roys Self unfinished Bilder produziert? Auf der Ebene der Rezeption betont Georges Didi-Huberman das Füllen einer Erfahrung von Leere und Irritation mit Bildern, angesichts etwa eines als fremd und beunruhigend wahrgenommenen Kunstwerks, im Sinne einer »Abwehrreaktion«. Bilder sind demnach »Fluchtversuche[]« vor dem Unnennbaren: Ins Bild gebannt und fixiert, schützt sich das wahrnehmende Subjekt vor der Bedrohung der eigenen körperlichen Integrität und einer möglichen Verunsicherung seiner Existenz (DidiHuberman 1999a: 25, 32). Auf der produktionsästhetischen Seite konstatiert Michael Polanyi, dass Kunst grundsätzlich über bestimmte, teils gegenläufige Kadrierungen verfüge: »Die Kunst scheint in Malerei und Schauspiel gleichermaßen in der Darstellung eines Gegenstandes in einem künstlichen Rahmenwerk zu bestehen, das den Darstellungsaspekten widerspricht […] wir finden diese Strukturen in allen darstellenden Künsten.« (Polanyi 1994: 156) Bühnenkunst ist demnach über die Spannung zwischen Darstellung und ihrer Einfassung charakterisiert, wobei ihr Rahmenüberschreitungen innewohnen können (vgl. Schapiro 1994: 259).92 Christopher B. Balme fordert, das Phänomen der »Bildlichkeit« als Paradigma für die Theaterwissenschaft anzuerkennen, indem er auf die Ästhetik eines Bildertheaters verweist, wie es etwa Robert Wilson entwerfe (Balme 2002: 349 f.). Darüber hinaus stellt er fest: »Die Bilderfrage scheint besonders dann virulent zu werden, wenn visuelle Elemente als Fremdkörper wahrgenommen und als nicht medienzugehörig aufgefasst werden.« (Ebd.: 363) Die Kunstwissenschaftlerin Annamira Jochim wiederum entwirft ihre Studie zu Meg Stuart aus der Perspektive einer erweiterten Theorie von Bildlichkeit heraus, unter der Maßgabe eines prozessualen, offenen Ansatzes, der das »image« vor dem traditionelleren Begriff des Bildes als »tableau« favorisiert (Jochim 2008: 24).93 Im Sinne des Eintrags von Fremdem als Erfahrung des Grotesken (vgl. S. 84 ff.) ist meine These nun, dass Bilder metamorpher Körper in zeitgenössischen Tanzstücken gerade durch das Begehren entstehen, das zunächst Ungreifbare ins Bild zu bannen und mithin buchstäblich fest-zu-stellen, was auf der Bühne geschieht. Theater kommt dem Bildbedürfnis insoweit entgegen, als es sich in enger Verkoppelung von »Bild – Medium – Betrachter« befindet, um mit Hans Belting zu sprechen (Belting 2001: 20). Als Apparatur, die sowohl Körper als auch 92 Theater erweist sich dabei als Rahmenwerk schlechthin, das über spezifische Konstellationen des Blicks konstituiert wird, wie Ric Allsopp ausführt (Allsopp 2000: 1). 93 Dabei könne sich Bildlichkeit sowohl imaginativ als auch »real[]« vollziehen und zeige sich im Tanz als »energetisches Feld« zwischen den Konstellationen Tänzer – Raum – Medien (Jochim 2008: 213).
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Bilder einverleibt und produziert, kann die Bühne als Theater-Maschine verstanden werden, die ›Images‹ projiziert.94 Bilder befinden sich in dieser Perspektive außerdem in einem konnektiven Verhältnis zwischen Erscheinen und Erkennen und erlauben einen Zugriff auf die umgebende Welt, wie Wulf ausführt (Wulf 2003: 19). Sie sind dabei keineswegs als statuarische Abstraktionsleistungen zu verstehen, sondern vielmehr als prozessuale Artefakte (ebd.: 29), die nur im Durchgang durch den Körper erfahrbar seien (ebd.: 21).95 Der Mensch ist ein »lebendes Organ für Bilder«, argumentiert wiederum Belting, in ihm werden Bilder hergestellt, und er selbst kann umgekehrt als ein solches erscheinen (Belting 2001: 57). Giorgio Agamben entwirft das Moment der Bildproduktion gar als ontologische Verfasstheit des Menschen: »[D]ie Imagination – nicht der Intellekt – [ist] das Prinzip, das die Spezies Mensch bestimmt.« (Agamben 2005: 42) Bilder zu ent-werfen bedeutet dann auch, sich selbst zu umgebenden Geschehnissen in Distanz zu bringen (ebd.: 94), sich die Bilder, die der Körper doch selbst hervorgebracht hat, vom Leib zu halten, und Ereignisse in eine flachere Dimension zu übersetzen. Das Herstellen von Bildern als Erfahrung von Welt spielt sich außerdem innerhalb historischer Rahmenbedingungen ab, und auch hier ist wieder eine Doppelung Voraussetzung: der geschichtliche Kontext sowohl der Betrachtenden als auch der Bilder, die gesehen werden (Wulf 2003: 26). Vor dieser temporären Folie möchte ich die Analyse der in Teil II zu untersuchenden Choreographien im Modus von Situationsbildern vorschlagen, in denen sich die Aspekte des Körperbildes und des Bewegungsbildes verschränken. Der prozessuale Begriff des Situationsbildes bezieht sich dabei einerseits auf ein Anhalten in der Zeit, als Momentaufnahme spezifischer Bewegungsmuster, die im zeitgenössischen Tanz wiederholt auftreten, sich dann wieder verflüchtigen oder aber auch tendenziell sedimentieren können. Im Situativen spannt sich zudem eine von der Phänomenologie inspirierte Sichtweise auf, die das Bild, in Anklang an die Rede von der »Situationsräumlichkeit« (vgl. S. 52), als dynamischen Entwurf deutet, der sich 94 Hans Belting betont den Zusammenhang von Bild und Körper im Rahmen einer (obsolten) Debatte, die Bild, Blick und Körper trenne: »Bilder, die im Körper entstehen, lassen sich nur sichtbar machen in geeigneten Medien. Diese sind das Milieu der Bilder, in dem sie in die Außenwelt treten.« (Belting 2007: 67) 95 Martin Seel postuliert im Rahmen der konkreten Betrachtung von Kunstwerken deren materiellen Selbstbezug, da sie zunächst auf sich selbst zeigten (vgl. Seel 2000: 177). Er rekurriert dabei, ähnlich wie Gottfried Boehm, auf einen dynamisierten Bildbegriff (vgl. Anm. 104, S. 125): Die Wahrnehmung von Bildern zum Beispiel ergäbe sich insofern als Mitvollzug von Bewegungen, die vom Kunstwerk ausgingen. Für eine solche Perzeption nimmt Seel den Tanz metaphorisch in Dienst (Seel 2000: 247). Siegmund wiederum kritisiert an Seels Konzept dessen Betonung der Gegenwärtigkeit, wie im Theater, da dieses immer schon das Unverfügbare, die »Leerstelle« mit einschließe: »Für das Denken einer Gegenwart, die die Kunstwerke mir ihrer Materialanordnung darbieten, ist nicht die Tatsache ausschlaggebend, dass etwas ›da‹ ist, sondern dass das, was da ist, um eine Abwesenheit gruppiert ist, die ständig wiederholt, umspielt und inszeniert wird.« (Siegmund 2006: 80 f.)
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zwischen (körperlicher) Bildproduktion, Bebilderung und Wahrnehmung abspielt. Situativität umsäumt dabei die historische Bedingtheit von Bewegungsund Körperpattern, die in einem je spezifischen Zeitraum der Rezeption unter Umständen noch als unlesbar gelten, kurze Zeit später aber bereits in ein Symbolsystem zeitgenössischer Tanzpraktiken eingefügt werden können und mithin die zeitliche Begrenzung grotesken Erkennens markieren, als temporärer Anhaltspunkt auf dem Weg vom Marginalen hin zu zentrierenden, fixierenden Setzungen, denen das Moment des Unabgeschlossenen notwendig entgleiten muss.
5.3 Situationsbild 1: Körperbilder Belting setzt den Akzent auf den Körper für die Entwicklung seiner »BildAnthropologie« und differenziert innere und äußere Bilder, die eng miteinander verzahnt seien (Belting 2001: 11). Der Körper ist dabei einerseits das Produktions- und Speichermedium von Bildern im Sinne von Imaginationen, andererseits müssen sich Bilder, ganz materiell, verkörpern, um gesehen zu werden (ebd.: 17). Lepecki problematisiert allerdings die Erscheinungsweise von Körperbildern: Zwar sei das Subjekt der Moderne in ein Bildverhältnis zwischen sich und der Welt eingespannt, mit der es sich nach außen hin zeige, jedoch erweise sich das jeweils entworfene Selbst-Bild als fragile »Maske«, die jederzeit verrutschen könne – zwischen Subjekt und Projektion beginnen verstörende Lücken aufzuklaffen (Lepecki 2000: 336). Vor diesem Hintergrund kann von zwei Aspekten des Körperbildes gesprochen werden,96 die beide als ›Image‹ und Imagination zutage treten: Die psychoanalytische Auffassung von Idealbild und zerstückeltem Körper nach Jacques Lacan sowie die Idee der Pathosformeln, als kollektiver Bildspeicher ästhetischer Erfahrungen.
5.3.1 Zerstückelter Körper, fluides Bild Jacques Lacan entwirft in seinem berühmten Aufsatz über das »Spiegelstadium« als Entwicklungsphase in der Subjektbildung des Kleinkindes das Bild des zerstückelten Körpers. Der Spiegel fungiert als eine Art Schnitt-Stelle, die zwischen »Innenwelt und […] Umwelt« vermittle (Lacan 1975: 66): Erstmals erkennt sich das Kind als Selbst im Spiegel und entdeckt, dass der zuvor als fragmentiert und in Teilansichten wahrgenommene Körper im gegenüberliegenden Blick offensichtlich in Form einer »Gestalt« existiert (ebd.: 64). Gleichwohl ist dieses 96 Da es mir um die äußere Erscheinung von Körperbildern geht, folge ich nicht Lepeckis Ansatz, der mit Paul Schilders Entwurf des »body-image« – als körperschematische Wahrnehmung des Körpers vor dem inneren Auge (Schilder 1978: 11) – den Körper in der Differenz von inneren und äußeren Erscheinungsweisen als oszillierend und rhizomatisch projektiert (Lepecki 2006: 50).
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›Image‹ ein Idealbild des Körpers, ist es doch nur über den veräußerten Blick in den Spiegel erfahrbar (ebd). Von nun an entspinnt sich eine beständige Feedbackschleife, zwischen dem als ›ganz‹ gesehenen Bild und dem als in Bruchstücken vorliegend wahrgenommenen Körper (ebd.: 67). Bezeichnenderweise greift Lacan für die oft in Träumen erscheinenden Vorstellungen eines derart traumatisierten Körpers auf die Bilder Hieronymus Boschs und ihre dargestellten phantasmagorischen Anatomien zurück (ebd.) – mithin kann Lacan als ein Referenzpunkt von grotesken Auflösungen körperlicher Zusammenhänge herangezogen werden.97 Grotesk ist dabei jedoch nicht einfach der in phantasmatischen Fetzen liegende Körper. Vielmehr vollzieht sich das Groteske am Scheitelpunkt zwischen (unnennbaren) Zerstückelungen und Schließungen in ein komplettierendes Bild, in der Spannung zwischen scheinbar vorkulturellem Sein und idealer Projektion. Stefanie Wenner weist in diesem Zusammenhang besonders im Hinblick auf die Referenz Lacans zu Bosch darauf hin, dass es sich beim »Phantasma des zerstückelten Körpers« um eine historisch kontextualisierte »kulturbildende Leistung« des Subjekts handele: Das »Phantasma der Ganzheit« und jenes der Zerstückelung entfalten sich also vor dem Hintergrund eines wechselseitigen, kulturhistorisch bedingten Verhältnisses (Wenner 2001: 376 f.).
5.3.2 Pathosformeln: Wandernde Pattern In ihrem Buch Tanz-Lektüren schlägt Brandstetter das Modell der Pathosformeln als Gebärdenarchiv und Bildspeicher energetisch aufgeladener Motionen vor, mit denen sie Körperbilder der Tanzmoderne liest (Brandstetter 1995: 43 ff.).98 Aby Warburgs Mnemosyneprojekt, ein Bilderatlas gestischer Ausdrucksformen seit der Antike, der nicht nur aus der offiziell anerkannten bildenden Kunst schöpft, sondern beispielsweise auch Werbebilder integriert (ebd.: 45), dient ihr als Fundament für die Ausarbeitung zweier leitender Stränge: »das Modell des ›Griechischen‹« und »das Modell des ›Exotischen‹« (ebd.: 45 f.). Die Pointe, freien Tanz und Ausdruckstanz als energetische Bilder zu betrachten, liegt in Warburgs dy97 Ursula Amrein verortet Lacans Rede vom zerstückelten Körper innerhalb einer grotesken Ästhetik (Amrein 2005: 260 f.). 98 Cornelia Zumbusch betont, dass Warburgs Pathosformeln nicht nur psychophysisch wirksame Engramme seien, sondern eine bewusste Auseinandersetzung mit dem Gesehenen hervorriefen, als »Denkraum der Besonnenheit zwischen sich und dem Objekt«, wie sie aus Warburgs Gesammelten Schriften (1932) zitiert (Zumbusch 2004: 120). Die Bilder riefen also keineswegs nur reflexartige Reaktionen hervor, sondern animierten zu einer gezielten Distanznahme gegenüber dem Gegenstand, in einem »momentane[n] Einhalten zwischen Reiz und Reflex.« (Ebd.: 121) Besonders in Kapitel 4 wird zu zeigen sein, inwieweit Bilder aus grotesken historischen Repertoires geschöpft werden, die das als verstörend Wahrgenommene in einen, wenn auch offenen, Deutungsrahmen versetzen und einen Abstand zum Geschehen ermöglichen (vgl. S. 371 ff.).
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namisiertem Bildkonzept, das sich auf das »bewegte[] Beiwerk[]« konzentriert (Warburg 1998: 16), wie er zum Beispiel anhand der »transitorischen Bewegungen in Haar und Gewand« in Sandro Botticellis Gemälde Geburt der Venus (um 1482) verdeutlicht (ebd.: 10). Freilich kann man fragen, ob ein solches Modell auf zeitgenössischen Tanz anwendbar ist, liegt er doch nicht nur in Bildzeugnissen vor, sondern kann, oft mehrmals, live besucht werden, Videos und DVDs können unterstützend für die Analyse herangezogen und Choreograph/innen befragt werden. Aus zwei Gründen optiere ich dennoch für eine ikonographische Betrachtung. Die hier ausgewählten Stücke zeitgenössischen Tanzes erstrecken sich, wie erwähnt, über einen Zeitraum von knapp zwei Jahrzehnten, und so lässt sich durchaus von einem gewissen historischen Abstand sprechen, mit dem sich auf die Produktionen blicken lässt. Darüber hinaus, und hier kommt wiederum Warburg ins Spiel, speist sich die Idee des Inventarisierens unabgeschlossener Pattern aus dem Vergleichen von teils Unvergleichbarem, von Zufallsoperationen, die Ähnlichkeiten hervorrufen99 und mithin das Beschriebene weniger in Kategorien verorten, sondern als taxonomische Collage100 zur Disposition stellen (vgl. S. 102). Ich gehe dabei mit Warburg von einer Wanderung bestimmter Bildmuster aus (Warburg 2000: 5), die immer wieder den menschlichen Körper in den Mittelpunkt stellen (vgl. Krois 2002: 298).101 Einerseits ist das in einem recht konkreten Sinn zu verstehen, als gegenseitiges Inspirieren, Zitieren und Ironisieren innerhalb einer ›Tanzszene‹ in einem kürzeren Zeitraum. Andererseits vollziehen sich diese Wanderungen in einem größeren geschichtlichen Bogen, in Archiven, die Bilder und Tanzstücke aus dem 17. und 18. Jahrhundert und der historischen Avantgarde mit einbeziehen, sowie in (grotesken) Wahrnehmungsmodi, die immer wieder auf Metaphern des Fluiden und Amphibischen zurückgreifen, wenn Sehgewohnheiten irritiert werden (vgl. Kap. 4). Brandstetter betont, dass sich die Körperbilder heutiger Zeit verschoben hätten, und optiert für eine Ausweitung des Begriffs der Pathosformeln als hybride »Grenzsituationen des Körpers in Bewegung« (Brandstetter 2000a: 130). Die folgenden beiden Kapitel widmen sich im Wesentlichen den hier skizzierten Körperbildern: Kapitel 2 untersucht die verschiedenen Ausprägungen körperlicher Metamorphosen, Kapitel 3 hat die Öffnung des Körpers zum Thema. Mit der Suchformel von Bildern und Pattern des Grotesken im zeitgenössi99 Marianne Schuller spricht bei Warburgs Projekt von flüchtigen Ähnlichkeitsbeziehungen, die sich als lose »Konstellationen« ergäben (Schuller 1993: 121). 100 Werner Hofmann bezeichnet die Collagetechnik des Warburgschen Bilderatlasses als »Instrument einer Methode« (Hofmann 1980: 93). 101 Auch für Annamira Jochim ist Warburgs Konzept der Pathosformel in der Analyse der Stücke Meg Stuarts – besonders Alibi (2001) und Visitors Only (2003) – relevant, die sie allerdings im Sinne eines buchstäblich e-motiven, Bildlichkeit und emotionale Gestimmtheit verbindenden Affekttransfers zwischen Bühnengeschehen und Publikum interpretiert (Jochim 2008: 164 f.).
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schen Tanz lässt sich somit auch die Perspektive auf einen abwesenden Körper als Bild im Modus des Begehrens, das auf einem Mangel basiert (Siegmund 2006: 197), hin zum Changement eines zugleich abwesenden und anwesenden bewegten Körpers-im-Bild verschieben102, der explizit an den Grenzen von Präsentation, Verschwinden und Repräsentation immer wieder neu zu verhandeln ist.103 Der Dynamisierung und Prozessualität von Bildern folgend, wird nun in einem zweiten Schritt der Aspekt des (nicht nur als Engramm) bewegten Bildes aufgegriffen.
5.4 Situationsbild II: Bewegungsbilder Von Bewegungsbildern des Unabgeschlossenen zu sprechen, heißt zunächst ganz pragmatisch, Momente aufzusuchen, in denen Bilder in Bewegung geraten, wie etwa in den experimentellen Anordnungen von Bruce Nauman und Rebecca Horn (vgl. Kap. 3), oder sich umgedreht Bewegungen zum Bild verdichten, so in einer Szene aus Meg Stuarts No Longer Readymade (1993). In den Installationen der Performancekünstler/innen Horn und Nauman wird ferner die Produktion und Rezeption des Tafelbildes beziehungsweise Standbildes auf die Probe gestellt und auf seine Prozessualität104 verwiesen. Die Rede vom Bild in Bewegung verweist außerdem auf Gilles Deleuzes Entwurf des »Bewegungs-Bild[es]« im Film. Wichtig für die Entwicklung grotesker Situationsbilder sind in diesem Konzept die beiden Aspekte Intervall und Kadrierung. Deleuze spricht im zweiten seiner beiden Kommentare zu Henri Bergsons Begriff der Zeit unter anderem von der Bewegung, die durch Schnitte in der Zeit Bilder erzeuge (Deleuze 1997: 88). Deleuze greift dabei auf den Paradigmenwechsel im Ballett zurück, welches das Stellen von Posen in eine freiere Anordnung von »Momente[n]« im Raum überführt habe (ebd.: 20) – Brandstetter situiert die Pose entsprechend als Kippfigur, im Wechselspiel zwischen Stillstand und potentieller Bewegung (Brandstetter 2007c: 257).105 Deleuze unterteilt in »Momentbilder«, die unbewegt seien, »Bewegungs-Bilder«, die sich zwischen Objekten beziehungsweise Schnitten ereigneten und »Zeit-Bilder«, die durch die 102 Hans Belting unterstreicht die Dreiheit von Bild, Körper und Medium und konstatiert: »Im Rätsel des Bildes sind Anwesenheit und Abwesenheit unauflösbar miteinander verschränkt.« (Belting 2001: 29) 103 Boehm formuliert den Topos des »homo pictor« im Wechselspiel zwischen Präsenz und Absenz (Boehm 2001: S. 4 ff.). 104 Boehm bekräftigt: »Bilder sind Prozesse«, die sich nicht auf repräsentative Funktionen zurückzögen, sondern, mit Gadamer, einen »›Zuwachs an Sein‹« produzierten (Boehm 1994a: 33). Dies sieht er besonders in der modernen Kunst und ihrer »Verflüssigung der Gestaltungsmöglichkeiten« bestätigt (ebd.: 12). 105 Mirjam Schaub verdeutlicht allerdings, dass die Ontologie dieser Bilder in der Bewegung liege, es sich also nicht um statische Konstrukte handele, die »einfach nachträglich« bewegt werden (Schaub 2003: 92).
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Dauer geprägt seien (Deleuze 1997: 26). Bewegungs-Bilder erzeugen, so Deleuze, einen temporären »Raum-Zeit-Block« (ebd.: 88), »Intervall[e] […] zwischen Aktion und Reaktion.« (ebd.: 91). Für den Tanz führt Brandstetter wiederum den »Topos des ›Stills‹« ein, der als Gegenfigur zur Bewegung diese jedoch als konstituierende Bedingung benötige (Brandstetter 2005a: 66).106 Dies bedeutet einerseits, dass Schnitte und Objekte nicht als fixierende Einheiten zu begreifen sind, sondern immer die Möglichkeit von Bewegung in sich tragen, andererseits aber erzeugen diese Blöcke wiederum künstliche, situative Schließungen (Deleuze 1997: 25). Der Körper sei in solchen Konstellationen zu verorten, und so ist das Körperbild laut Deleuze ebenfalls ein Bewegungs-Bild, als »ein Ensemble von Aktionen und Reaktionen.« (Ebd.: 87) Der wahrnehmende Mensch ist demnach »der Ort, an dem sich geschlossene Systeme, ›gerahmte Bilder‹, konstituieren können.« (Ebd.: 91) Folglich geht es in der Betrachtung von Bewegungs-Bildern im Tanz um gezielt herbeigeführte, vorübergehende Ansammlungen von Teilen als temporäre Sedimentierungen, die zuweilen in oder durch Erinnerungen und Erfahrungen gerinnen können, wie mit Merleau-Ponty betont worden ist (vgl. S. 58 f.). Insofern tendiert das hier formulierte Situationsbild in der Zweiteilung des Deleuzeschen »Zeit-Bild[es]« zu jenem der »Aspekte«, in dem die Erinnerung prominent sei und jeweils auf Ablagerungen in den »Vergangenheits-Kreise[n]« der unterschiedlichsten (eigenen) Lebenszeitalter zurückgreife (Deleuze 1997a: 136, 133). Demgegenüber steht das »Zeit-Bild« der »Akzente«, in dem Vergangenheit und Zukunft keine Rolle mehr in einem diachronischen Sinne spielen, sondern sich als »Spitzen der Gegenwart« in dieser verdichten (ebd.: 136, 135).107 Kadrierungen erzeugen wiederum zeitliche Verzögerungen, so Deleuze (Deleuze 1997: 91), sie schneiden Körper- oder Bewegungs-Bilder aus und halten sie für Momente fest. Wortelkamp führt aus, dass aber auch dieses Fest-Stellen im Blick ein flüchtiges Geschehen sei: Bilder würden durch die Regung des Auges erzeugt, durch die sie ihre Rahmungen verließen (Wortelkamp 2006: 208). Grotesken Pattern eignet allerdings, wie bereits dargelegt, der anhaltende Augenblick 106 Zur Pose als »Fermate« und Zäsur im Sinne eines notwendigen Kontrasts von Ruhe versus Bewegung und somit einer eigenen Modalität im Tanz vgl. zur Lippe 1974: 165 f. Jochims Ausführungen zu Meg Stuart stützen sich u.a. auf den Bildbegriff Deleuzes, wobei sie Bewegung jedoch übertragen als Regung versteht, im Sinne der »Sensation«, wie Deleuze anhand seiner Überlegungen zu Francis Bacon elaboriert (Jochim 2008: 30). 107 Jochim prononciert in Deleuzes Theorie demgegenüber das »Kristall-Bild« als ein Aspekt des »Zeit-Bildes«, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart überlagerten. Bildlichkeit im Tanz ergebe sich mithin durch Simultaneität: »Das Innehalten der Bewegung in einem Rhythmus und auf einer Stelle provoziert in der Stauung des Fortlaufs eine nahezu bildliche Gleichzeitigkeit. Dadurch entsteht eine ständige Differenz zwischen Stasis und Bewegung sowie zwischen vorangehender und folgender Bewegung«, wie sie am Beispiel von Meg Stuarts Alibi (2001) erläutert (Jochim 2008: 199 ff., 166).
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temporärer Umgrenzungen, die gesetzt, umspielt oder aufgelöst werden (vgl. S. 98 ff.).
5.5 Situationsbilder als groteske Zeitlichkeit zwischen Stille und Bewegung Die mit Warburg einerseits und Deleuze andererseits skizzierten Modelle zum Körper- und Bewegungs-Bild verharren allerdings in einer Reibung, der hier noch nachzugehen ist. Denn während Warburg Dynamisierungen in gemalten oder photographierten Bildern entdeckt, geht es in Deleuzes Entwurf gerade umgekehrt um Zeitschnitte, die Intervalle aus Bewegungen herauslösen und zu temporären Bildern verdichten.108 Kurz gesagt, kann man also von einer Bewegung im Bild versus einer Stillstellung ins Bild sprechen, zwei Motionen, die sich zwar in einem Spannungsverhältnis befinden, jedoch nicht ausschließen, sondern sich vielmehr explizit als Movens grotesker Phänomene ergeben, wie nun zu erörtern ist.
– Zwischenszenario – In Meg Stuarts No Longer Readymade (1993) steht der Tänzer Benoît Lachambre in einem Ausschnitt aus Licht auf der Bühne. Isoliert schüttelt er seinen Kopf von einer Seite zur anderen, der übrige Körper verharrt in Ruhe. Die andauernden, heftigen Bewegungen verzerren allmählich die Gesichtszüge und ihre Bestandteile in alle Richtungen: Augen, Ohren und Mund scheinen sich in verwischenden Hautströmen zu verflüssigen, die Perspektiven von Profil, Halbprofil und en face konfluieren und spalten das Gesicht in ein janusköpfiges. Zugleich entsteht mit fortdauernder Betrachtung des Tänzers der Eindruck, als verdichte sich das Gesicht in der Bewegung zu einem konturlosen Tableau. Lachambres Hände verstärken diese Wahrnehmung. Kontrapunktisch zur Bewegungsintensität des Kopfes suchen sie Haltepunkte im den Körper umgebenden Raum, tasten mit abgespreizten Fingern und in ruckartigen Wechseln den Bereich vor der Brust und um den Kopf herum ab, als suchten sie die Position des Körpers zu markieren, der sich nicht von der Stelle bewegt und doch an Ort und Stelle oszilliert.
108 Ich danke Gabriele Brandstetter für diesen Hinweis.
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5.5.1 Nachlebende Bilder In seinem Essay zu Warburgs Pathosformeln setzt Agamben beim Phänomen der Pause im Tanz an. Zwischen Stillstand und plötzlicher Weiterbewegung entfalte sich der Tanz in aufeinanderfolgenden, dynamisch verdichteten und stillgestellten Bildern. Mithin sei die Ontologie des Tanzes nicht in der Bewegung, sondern vielmehr in der Zeitlichkeit zu suchen, in angehaltenen, dynamischen, jederzeit wieder mobilisierbaren Bildern (Agamben 2005: 10 f., 12). Mit Waldenfels beschreibt Brandstetter wiederum die Pause »als eine Zeitfigur des ›Zwischen‹«, die den Tanz strukturiere und als aufgespannt zwischen ›unpersönlichen‹ Positionen – etwa einer Tänzerin als dekorativer Teil des Corps de ballet – und tendenziell subjektivierenden Posen befördere (Brandstetter 2007b: 58, 63).109 Tanz ergebe sich mithin, so Brandstetter, über die Topoi des Stills und der Passage (Brandstetter 2005a: 70).110 Im Zusammenhang mit der in der tanzenden Pose kondensierten Bewegung liest Agamben nun Warburgs Modell der Pathosformel als Zeit-Figur, die er historisch der Erfindung des Kinos zur Seite stellt – Warburg habe den Begriff erstmals 1905 verwendet (Agamben 2005: 21, 13). Das Phänomen des Nachlebens der Bilder ergibt sich mithin als ein doppeltes, das zwischen Imagination und ›Image‹ oszilliert: ein historischer, im Bildgedächtnis verorteter Speicher von Gebärden ebenso wie eine wahrnehmungstechnische Erscheinung, die sich als »Nachbildwirkung auf der Netzhaut« zeige (ebd.: 21 f.). Mit dieser kinematographischen Wendung, welche Bilder als Bewegungspotentiale formuliert, nähert Agamben die Positionen Warburgs und Deleuzes einander an: dynamisierte Intervalle, die sich, als bewegliche Schnitte aus der Zeit, in vibrierenden Wartepositionen befinden. Im Thaumatrop111 findet Agamben ein mobilisiertes Beispiel für sich überlagernde Bewegungen (ebd.: 22), anamorphotische Schichtungen, wie sie wiederum in Benoît Lachambres Kopf-Solo erscheinen: eine groteske Motion, die die konfluierenden Konturen des Gesichts in einer paradoxen Verhaltung, als stehende Bewegung einfriert. Entgegen Siegmund, der diese Nachbildwirkung in Lachambres Solo als Auflösung des Körpers interpretiert (Siegmund 2006: 437), meine ich, dass Form und De-Form in diesem Spannungsfeld unaufgelöst verharren.112 Mirjam Schaub wiederum betont in ihrer Paraphrase das Potential der Differenz in Deleuzes Bildbegriff, als sich temporär
109 Brandstetter entwickelt diesen Gedanken anhand der Darstellung der Protagonistin Véronique Doisneau in Jérôme Bels gleichnamigem Stück (2004). 110 Zur Zeitlichkeit des Körpers im Theater als Spiel von Geschwindigkeiten und im Schwanken zwischen Präsenz und Absenz vgl. Wortelkamp 2006: 173 ff., 179. 111 Der Thaumatrop ist eine Scheibe, an deren gegenüberliegenden Seiten jeweils ein anderes Bild angebracht ist. Wird die Scheibe mittels eines senkrecht verlaufenden Fadens in schnelle Drehung versetzt, entsteht durch die Überlagerungen der Eindruck eines einzigen Bildes. 112 Zur »Metamorphose der Ruhe in Bewegung« vgl. auch Lepecki 2000: 348.
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visualisierender »(Austausch)Prozeß zwischen aktuellen und virtuellen Komponenten«: das Bild positioniere sich mithin als Interimsfigur zwischen Sichtbarkeit und Möglichkeit (Schaub 2003: 11). Der Begriff des Situationsbildes ist hinsichtlich dieser Betrachtungen genauer einzukreisen: Die zu untersuchenden Beispiele sind nicht als fixierte Bilder zu verstehen, sondern ergeben sich als Tanz-Situationen, die sich in Bildern verdichten und dabei gleichwohl Rahmungen dynamisch in der Schwebe halten. Meine These ist, dass sich im Moment des Betrachtens von Tanz bereits ein nachlebendes Bild einstellt, zum einen auf der Ebene der Wahrnehmung als vibrierendes ›Image‹, wie die Verschüttelungen Lachambres zeigen, auf der anderen Seite im Bereich des Imaginären, als vorgängige, kollektive (metamorphe) Bildspeicher des Grotesken – wie in Kapitel 4 zu zeigen ist – und in den nachfolgenden Bildproduktionen, die aus Tanzstücken Dokumente machen und Eindrücke in der Rezeption nachhaltig werden lassen. Gertrud Koch bemerkt zum Kino: »Das Medium selbst wird zum Ort eines Gedächtnisses, das Körperbilder von Körpern sammelt« (Koch 2000: 276) – ich meine, dass sich solche Kollektionen auch als Bildspeicher im zeitgenössischen Tanz auffinden lassen.
5.5.2 Passagen: Groteske Dialektik Tanz-Situationen kondensieren also in prozessualen Bildern, die dem »Bewegungsgedächtnis« von Tanzenden wie Zuschauenden als Bewegungs- und Erinnerungsbilder entspringen, wie Brandstetter bemerkt (Brandstetter 2000: 110) – zu ergänzen wäre noch: durch fluktuierende, instabile Körperbilder, wie Xavier Le Roy in seiner Lecture Performance Product of Circumstances (1999) mit Elizabeth Grosz betont (Le Roy 2005: 91).113 Zurückkehrend zu Agambens Überlegungen, entfalten sich die temporär entstehenden bildhaften Situationen als dialektische Bilder, die er mit Benjamin als unabgeschlossene Rahmung einer »Dialektik im Stillstand« entwirft:114 »Die sich gegenüberstehenden Termini werden weder voneinander entfernt, noch zu einer Einheit zusammengefügt, sondern verharren in einer unbeweglichen, spannungsgeladenen Koexistenz.« (Agamben 2005: 26) Didi-Huberman argumentiert ebenfalls mit Benjamins Bildbegriff und 113 In diesem Zusammenhang steht Brandstetters These der »Performance im Bild« (Brandstetter 1998: 100; vgl. S. 327). 114 Agamben bezieht sich auf das Fragment N 3,1 aus Benjamins Passagen-Werk, in dem dieser seinen »Begriff des ›dialektischen Bildes‹« am genauesten entfalte (Agamben 2005: 23). Zumbusch betont den Aspekt der Verzeitlichung: Im dialektischen Bild aktualisiere sich die Vergangenheit als Benjaminsches »Jetzt der Erkennbarkeit«, das heißt, es »erschließt die Bedeutung des Vergangenen für die Gegenwart.« (Zumbusch 2004: 305) Die »Dialektik im Stillstand« unterbreche dabei die »Denkbewegung und erzeugt durch die Stillstellung ein Bild« (ebd.: 340). Bilder, so ihre These, seien demnach »Medium der historischen Erkenntnis und ihrer Darstellung.« (Ebd.: 333)
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betont die pendelnde Erscheinungsweise dialektischer Bilder, die zwar Strukturierungen aufwiesen, die jedoch von »Effekte[n] ständiger Deformationen« durchsetzt seien (Didi-Huberman 1999a: 163). Agamben wiederum wählt die Warburgsche Pathosformel der Nymphe als zentrales Motiv seiner Betrachtungen, da sich in ihr die gesamte Idee der Pathosformeln, »an der Schnittstelle zwischen dem Körperlichen und dem Unkörperlichen […] zwischen dem Individuum und dem Kollektiv« versammle (Agamben 2005: 44). Aus den hier skizzierten Bildkonzepten ergeben sich Figurationen des Grotesken, so meine These, die das Difforme und sich beständig Wandelnde im zeitgenössischen Tanz als unabgeschlossene Haltungen zwischen Präsenz und Absenz115, zwischen Fremdem und Eigenem, zwischen Formation und Dekonstruktion als Wanderungsbewegung in gespannten Zuständen, auf dem Weg vom Rand zum Zentrum visualisieren. Agamben entdeckt mit Didi-Huberman hierfür das Bild eines Equilibristen im Nachlass Warburgs, auf einem Seil balancierend, schwebend zwischen Sturz und Haltung (ebd.: 31 f.). In Kapitel 4 wird zu zeigen sein, inwieweit die Balance als verkörperter Ausdruck grotesker Interimsituationen eine zentrale Rolle spielt. »Die Bilder sind der Rest, die Spur dessen, was die Menschen, die uns vorausgegangen sind, erhofft und begehrt, gefürchtet und verdrängt haben«, so Agamben (ebd.: 46) – die nachfolgende Auswahl von Pattern des Grotesken verstehe ich insofern als Muster des Dazwischen, als kondensierte Bildbewegungen, die im gestreuten Blick über Tanzproduktionen seit Beginn der 1990er Jahre und sich anlagernden Kunstaktionen herausgeschnitten sind und angehaltene, doch vibrierende Momente des Unabgeschlossenen im buchstäblichen Sinn musterhaft zeigen. Die Körper- und Bewegungsmotive von Torso, geöffnetem Knie oder Mund folgen dabei dem Diskurs des Fragmentarischen, wie ihn Lucien Dällenbach und Christiaan L. Hart Nibbrig entfalten (1984) (vgl. S. 169, 389), und orientieren sich stellenweise an den Katalogen von Körperteilen, die im 18. Jahrhundert als humanistische Erkenntnisrepertoires oft innerhalb medizinischer Diskurse angelegt wurden (vgl. Stafford 1997: 21 ff.) und zum Beispiel in der Anthologie Körperteile (Benthien/Wulf 2001) wieder aufgegriffen werden.
5.6 Einige Anmerkungen zu tanzwissenschaftlichen Methoden und Begriffen Der Begriff des Inventars wird von Claudia Jeschke als Analyseinstrument der »Inventarisierung von Bewegung (IVB)« eingeführt (Jeschke 1999: 3). Ziel ist das präzise Erfassen von Bewegungen anhand der Kriterien »Mobilisieren«, »Koordinieren«, »Belasten« und »Regulieren« (ebd.: 47), die es ermöglichen sol115 Zur energetisch aufgeladenen Abwesenheit als »präsente Absenz« im zeitgenössischen Tanz und Theater vgl. Kruschkova 2005: 11.
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len, Bühnentanzstücke über historische Zeiträume hinweg zueinander ins Verhältnis zu setzen. Zwar ist der Vergleich von Bewegungsmustern auch in dieser Arbeit relevant (vgl. Kap 4, 2.), jedoch findet sich insgesamt kein umfassend evaluierbares Bewegungsvokabular, das die verschiedensten Stücke in eine adäquate Relation bringen könnte. Inventare stellen sich hier überdies durch angelagerte Diskurse aus Wissenschaft, Kritik sowie Selbstaussagen der Künstler/innen her und generieren sich nicht ausschließlich aus dem Bewegungsmaterial allein. Zudem ist der Zugriff der IVB auf klare Kategorisierungen hin ausgerichtet, die in der vorliegenden Studie gerade umgangen werden soll. Aus diesem Grund wird auch auf die Anwendung der semiotischen Methode, wie sie Peter M. Boenisch vorschlägt, verzichtet, da hier mit einem Konzept von »Figuration« gearbeitet wird (Boenisch 2002: 97), das bereits eine bestimmte Formung im Sinne theatraler Körperzeichen voraussetzt und die Idee einer distanzierten Betrachterperspektive in sich trägt. Eine solche lässt sich aber im (Ent-)Werfen von Körper- und Bewegungsbildern, die auch das wissenschaftliche Subjekt involvieren, nicht aufrechterhalten – das eigene Sehen erzeugt »›Sichtbarkeitsgebilde‹«, wie Wortelkamp betont, und lässt sich nicht bedeutungsgezielt als Wissenschaft von der ästhetischen Wahrnehmung abtrennen (Wortelkamp 2006: 195, 109). Damit argumentiert sie gegen die Semiotik als Analyseverfahren: »Das Auge des Betrachters blickt nicht auf einen Bildgegenstand, sondern ist in den Prozess des Bild-Werdens verwickelt, in dem sich das Sehen und die Sichtbarkeit des Bildes entwickeln.« (Ebd.: 208) Nicht zuletzt muss sich auch das schreibende Subjekt selbst befragen, das Tanztheorie als wissenschaftliche Praxis betreibt – Wortelkamp vertritt hierbei die These, dass auch das Aufschreiben des gesehenen Tanzes ein flüchtiges, mithin unabgeschlossenes Geschehen sei (ebd.: 233 f.).116 Abschließend noch einige Bemerkungen zur Frage, wie denn nun zeitgenössischer Tanz zu bezeichnen sei. In den letzten Jahren hat sich das oft polemisch gebrauchte Begriffspaar »TanzTanz« und »Konzepttanz« etabliert, wonach Ersterer Stücke begreift, in denen »noch« Tanz zu sehen sei, Letzterer sich an Produktionen abarbeitet, in denen »nicht mehr« getanzt werde117 – laut Siegmund war es ein französischer Tanzkritiker, der den Begriff des »Konzepttanzes« prägte, um eine solche Unterscheidung treffen zu können (Siegmund 2005: 42). Besonders die Bezugnahmen Xavier Le Roys oder Jérôme Bels auf die Experimente der
116 Christina Thurner problematisiert das Schreiben über Tanz, dessen zunächst vordergründig erscheinende »Begrifflosigkeit« nicht zuletzt zu »Statusproblemen« in Kunst und Wissenschaft geführt habe, da hier immer noch »Verstehens-Paradigmen« als Maßstab angelegt würden (Thurner 2009: 42, 44). Sie optiert in diesem Zusammenhang für eine diskursive Einbettung des Tanzes, die sie über historische Rückgriffe auf beispielsweise den Topos der Emphase in Tanztexten herleitet (ebd.: 47, 133 ff). 117 So spricht etwa das Teletanzjournal vom »Konzepttanz« (Teletanzjournal, Teil 2, 2006). Vgl außerdem Husemann 2002: 7. Franz Anton Cramer betont, dass es ohnehin kein Tanzstück ohne Konzept gebe (Cramer 2004: 9)
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New Yorker Judson Church und ihre Protagonist/innen wie Yvonne Rainer, die anstelle virtuoser Tanzkunst die alltägliche, unspektakuläre Bewegung setzten (vgl. Banes 1987: 45), haben solche Polarisierungen ausgelöst.118 Die Aktionen Rainers waren eingebettet in die Ästhetik der Konzeptkunst, in deren Projekten die Wahrnehmung von Zeit, Raum und Material das Primat inszenierter Repräsentation ablöste, wie RoseLee Goldberg pointiert darlegt (Goldberg 2001: 152 f.).119 Allerdings wird der Begriff des »Konzepttanz[es]« heutzutage besonders von jenen, die doch anscheinend seine Vertreter/innen sein sollen, vehement abgelehnt. So produzierte Xavier Le Roy im Jahr 2004 das Stück This is not a concept, über das er sagt: »One can say that This is not a concept is the most, if not the only conceptual piece of Xavier Le Roy.« (Le Roy 2004, Onlinepublikation) Da die Bezeichnung »Tanz« allerdings zu sehr einenge, bevorzugt Le Roy den Begriff der »choreographic art« (Le Roy/Odenthal 2005a: 86). Johannes Odenthal zieht in diesem Zusammenhang drei Linien durch den Tanz seit den 1990er Jahren, mit denen er die »Dekonstruktivisten« (wie Jérôme Bel), die »Bilderstürmer« (etwa Jan Fabre) und mit Improvisation arbeitenden »Bewegungsforscher« (Steve Paxton, Mark Tompkins) unterteilt (Odenthal 11.8.1998) – Le Roy allerdings vereint meiner Meinung nach jede dieser Richtungen in seinen Stücken. Mårten Spångberg wiederum bezeichnet den zeitgenössischen Tanz als »dance of discourse«, im Gegensatz zum Modernen Tanz (»dance of flesh«) und Postmodernen Tanz (»dance of the bones«) (Spångberg, zitiert nach Husemann 2002: 95). Allerdings legt er damit eine Entkörperung des Tanzes seit den 1990er Jahren nahe, die so nicht Stand hat, da viele der Akteure aktueller Tanzströmungen explizit die Materialität des Körpers zur Disposition stellen, die sich nicht nur als eine diskursive fassen lässt. Louppe wiederum lehnt eine chronologisch epochale oder stilistische Unterteilung des Tanzes gänzlich ab: »[I]l n’existe qu’une danse contemporaine«, so ihr Credo, mit dem sie zeitgenössischen Tanz ab dem Paradigmenwechsel vom Ballett hin zum Ausdruckstanz situiert, ein historischer Moment, in dem sich Tanz von herrschenden Codes und Symbolsystemen emanzipiert habe (Louppe 1997: 36, 46, 53). Begrifflich schärfer formuliert Brandstetter den Begriff des Konzeptes in der Postmoderne, für die sie die Jud-
118 Vgl. Husemann, wonach sich Tanz, mit Michael Kirby, durch »Regelmäßigkeit, Energiefluss und Formalisierung der Bewegung« auszeichne, »Nichttanz« dagegen u.a. durch Verlangsamung und Reduktion (Husemann 2002: 16 f.). 119 Am Beispiel der Minimal Art, mit ihren Vertretern Donald Judd, Frank Stella, Robert Morris oder Joseph Kosuth, betont Didi-Huberman den Wunsch der ›Reinigung‹ des Kunstobjekts von jeglicher Repräsentation, im Postulat des »what you see is what you see« (Didi-Huberman 1999a: 43 ff.). Diese Zielsetzung sei allerdings utopisch, da an die Stelle des Abbilds die intersubjektive Erfahrung zwischen Betrachtenden und Kunst trete (ebd.: 46 f.). Zur »Concept Art« als »Gedankenkunst« vgl. außerdem Mersch 2001: 76 f.
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son Church anführt, und unterscheidet in »Konzepte des Choreographierens«120 und »charakteristische[] Bewegungscode[s]«, wobei im Falle der Judson Church der Schwerpunkt auf den Konzepten liege und nicht auf einem spezifischen Bewegungsvokabular (Brandstetter 2005a: 60). Die in dieser Arbeit vorgestellten Stücke gehören nach dieser Unterteilung je der einen oder der anderen Richtung an – dennoch sind sie durchgängig als zeitgenössisch zu bezeichnen. Helmut Ploebst führt den Begriff »Neue Choreographie« als historische Kategorie ein, mit der er sich an die alternativen Ästhetiken des »postdramatische[n] Theater[s]« nach Hans-Thies Lehmann anlehnt (Ploebst 2001: 265, 270). In diesem Rahmen sei »Choreographie […] nicht mehr bloß eine Organisationsform zur Vermittlung diverser Tanzästhetiken, sondern tritt als wesentlich umfassenderes Kommunikationsmittel in Erscheinung.« (Ebd.: 266) Spångberg stellt die Frage nach dem Zeitgenössischen in Tanz und Performance, wobei er allerdings das simple Kriterium des Neuen (Spångberg 2003: 123) zugleich als hegemoniales Erfordernis, in einer Ökonomie von Festivalveranstaltungen zu bestehen, kritisiert (ebd.: 127 ff.). Zeitgenossenschaft spiele sich daher vielmehr an den Rändern dominierender ökonomischer Ordnungen ab, wofür er Protagonist/innen wie Emil Hrvatin oder Priit Raud anführt (ebd.: 131). Er plädiert schließlich für die Möglichkeit, Lücken zu lassen, in denen das Publikum selbst kreativ werden könne (ebd.: 149) und entwirft die Utopie einer »[i]mmaterial performance« (ebd.: 151 ff.) – dass auch diese jedoch immer schon bestimmten Erwartungsschablonen unterliegt, habe ich bereits zu Beginn dieser Arbeit verdeutlicht. Der Idee des Randes folgend, verstehe ich die zeitgenössischen Stücke in dieser Arbeit, die sich in einem zeitlichen Rahmen von 1991 bis 2007 bewegen121, als Experimente, die sämtlich – seien sie nun Ballett, Tanz/Performance oder Lecture Demonstration – das sich bewegende Körpermaterial in unterschiedlichsten Versuchsanordnungen befragen und sich dabei häufig an den Grenzen ihrer jeweiligen Darstellungskonventionen bewegen. Der Körper wird oftmals wie in einem Labor unter hellem Licht untersucht, ausgestellt oder seziert, wie besonders die Stücke Xavier Le Roys und Thomas Lehmens zeigen werden.122 Die anschließend besprochenen Aufführungen konnte ich in großen Teilen (mehrmals) live sehen; zusätzlich dienen mir Videomitschnitte und Bildmaterialien als Quellen sowie das diskursive Feld, bestehend aus Selbstaussagen und Texten der Künstler/innen, Rezensionen und Essays von Tanzkritiker/innen und 120 Seit den 1990er Jahren könne von einer Herangehensweise an Choreographie im Sinne eines unbegrenzten, offenen Konzeptes gesprochen werden, erläutert außerdem Bojana Cvejic (Cvejic 4.3.2005, Paneldiskussion »Research, Laboratory« im Rahmen des Symposiums Inventory: Dance and Performance). 121 Mit Ausnahme einiger Videofilme Bruce Naumans, Vito Acconcis und Rebecca Horns sowie den Bildern Francis Bacons und John Coplans’. 122 Von einer solchen Laboratmosphäre spricht auch Peter M. Boenisch in seinem Essay über William Forsythes Decreation (Boenisch 2004: 58).
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-wissenschaftler/innen sowie Vorträge, Konferenzen und Interviews, die den Bewegungsbeschreibungen der einzelnen Beispiele folgend in die Analysen eingebettet werden.
Teil II Inventuren des Unabgeschlossenen
Ka pitel 2 »Fleisch w ucherte rum«. 1 Von Torsi und Glie derw irre n
»Valeska Gerts Tänze wurden im Allgemeinen als ›grotesk‹ bezeichnet. Zuschreibungen kommen über ein Normensystem zustande, ebenso über Kategorisierungen. Aufgrund einer Strategie der Abweichung kam die Zuschreibung grotesk zuwege oder vielleicht auch deshalb, weil niemand so tanzen konnte wie Valeska Gert. Doch sollte man in dieser Denkbewegung Xavier Le Roys Arbeit auch das Groteske zuschreiben? Hat die Zuschreibung ›grotesk‹ heute überhaupt dieselbe Bedeutung wie in den 20er und 30er Jahren?« Susanne Traub (2003: 136)
In diesem Eingangsstatement wird die berechtigte Frage formuliert, inwieweit innerhalb des zeitgenössischen Tanzes noch Phänomene des Grotesken behauptet werden können, sind sie doch im Falle Valeska Gerts vordergründig an Schock und Übertreibung gebunden. Der kurze Abriss über die Ästhetik des Grotesken in Gerts Stücken im vorangegangenen Kapitel hat allerdings bereits gezeigt, dass das Groteske nicht nur an Erscheinungen gekoppelt ist, die sich bestimmten Gewohnheiten und Kategorien entziehen und insofern als ›fremdartig‹ wahrgenommen werden. Vielmehr zeigt Gert mit den tendenziellen Rupturen von Körperkonturen, durch Öffnungen sowie mimetische Verschiebungen auf den Körper selbst als kritisches, sich bewegendes Material – eine Thematik, wie sie auch in zahlreichen Choreographien seit den 1990er Jahren in den Vordergrund 1
Nach der gleichnamigen Performance-Hommage an den Schriftsteller Rolf Dieter Brinkmann, initiiert von Elettra de Salvo, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin, 2000.
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rückt. Interessanterweise sind gerade Xavier Le Roys frühe Arbeiten wie Self unfinished immer wieder mit dem Begriff »grotesk« bezeichnet worden (Sieben 1999: 47, Brandstetter 2001a: 8), als kategoriale Auflösungen oder verdrehte, verfremdete Bewegungen, die die Grenzen von Sehgewohnheiten überschreiten. In diesem Sinne charakterisiert Gerald Siegmund auch Meg Stuarts szenische Anordnungen in Visitors Only (2003) als grotesk (vgl. S. 65). Die Annahme Siegmunds weist darauf hin, dass es sich bei grotesken Phänomenen keineswegs lediglich um irritierende, nicht zuzuordnende Bewegungen handelt, sondern bestimmte Bilder, die mitunter bekannt sind, kontrastierend und verfremdend verknüpft werden. Bevor solche Bilder im Rahmen einer grotesken Motivik beschrieben werden, ist zunächst anhand von Self unfinished zu untersuchen, inwieweit die sich hier vollziehenden Metamorphosen als groteske gedeutet werden können.
1 M o r p h i n g t h e B o d y: S e l f u n f i n i s h e d Dieses Solo, mit dem Xavier Le Roy in einem breiten, internationalen Rahmen bekannt wurde und das auch heute noch auf Tournee ist, wurde in den letzten Jahren Gegenstand vieler (wissenschaftlicher) Publikationen, da sich mit ihm beispielhaft sowohl eine Abwendung von virtuosen Körperformierungen im Tanz als auch von narrativen Kontexten im Sinne des Tanztheaters markieren ließ und sich der Körper als Matrix und mithin das Sagen selbst herauszuschälen schien. Gleichwohl erwies sich Le Roys Stück als sehr anschlussfähig für Diskurse, die kritisch nach einem Körper fern von hermetischen Grenzen fragen (vgl. S. 21 ff.). Bevor die verschiedenen Perspektiven skizziert werden, die ein breites Feld von Interpretationen eröffnet haben, welche Self unfinished nahezu paradigmatisch für nachfolgende Ästhetiken werden ließen, soll zunächst das Solo selbst noch einmal ausführlicher vorgestellt werden.2
1.1 Das Stück Le Roys Körper durchläuft in Self unfinished verschiedene Wandlungen, die auf den ersten Blick das Sehen irritieren und zunächst keiner Choreographie in einem herkömmlichen, rhythmisch oder räumlich strukturierten Sinn zu folgen scheinen.
2
Untersuchungen zu diesem Stück haben sich bislang meist auf die prominenten Bilder, wie etwa die Metamorphose in ein froschähnliches Gebilde beschränkt und diese sogleich in metaphorische oder ästhetisch theoretische Kontexte eingebettet (vgl. z.B. Husemann 2002: 36 ff., Siegmund 2006: 372 ff., 378 ff.). Jérôme Bels Beschreibungen gehen etwas weiter, indem er drei Hauptzüge des Stücks definiert, als »Roboter«, »Monster« und »Tod« (Bel 2003: 19 ff.).
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Untersucht man das Solo genauer,3 entdeckt man jedoch präzise Kompositionsprinzipien, die sich besonders über Tempi, Rhythmen und Zäsuren herstellen. Self unfinished arbeitet mit vier verschiedenen Geschwindigkeiten, die ich provisorisch als normales Alltagstempo, Stakkato, Slow Motion und beschleunigte Slow Motion bezeichnen möchte. Die einzelnen Phasen des Stücks werden dabei immer wieder von unterschiedlich langen Zäsuren, in Form von Pausen unterbrochen: Sitzen am Tisch sowie Liegen, Stehen oder Kauern an der hinteren Bühnenwand. Das Solo ist außerdem von Strategien der Inversion geprägt. Dies betrifft zunächst die Bühne. Le Roy hält die Trennung Bühne – Zuschauerraum aufrecht, jedoch haben wir es nicht mit der üblichen Black Box zu tun: Der Raum ist im Gegenteil vollständig weiß, Wand, Boden und Decke sind hell, und so erscheint die Theatersituation eher als ein White Cube, wie man ihn in Ausstellungshallen vorfindet. In diesem Exhibitions-Raum wird ein sich transformierender Körper ausgestellt, der sich, auch was Tempo und Bewegungsabläufe angeht, in beständigen Inversionen befindet: »Ich beginne rückwärts und ende mit dem, was ich rückwärts mache, aber vorwärts.« (Le Roy, zitiert nach Brandstetter 2001a: 10) Auf der Bühne befinden sich außer Le Roy noch ein Tisch mit Stuhl auf der rechten hinteren Seite sowie ein tragbarer Radio-Kassetten-Player vorne links.4 Der Raum ist komplett mit weißem Neon ausgeleuchtet, das sich während des gesamten Stücks nicht verändert. Auch das Publikum ist dadurch sichtbar. Während des Einlass’ sitzt Le Roy bereits am Tisch. Der Beginn des Stücks wird markiert durch einen Gang zum Kassettenspieler: Le Roy drückt auf einen Knopf, allerdings ist nichts zu hören.5 Der Tisch ist ein Bezugspunkt im Stück, auf den Le Roy wiederholt zurückkommt, mit den immer gleichen Bewegungen, die in unterschiedlichen Tempi, vorwärts oder rückwärts ausgeführt werden und das gesamte Stück rhythmisieren: Er tritt jeweils von vorne oder hinten an den Tisch heran (Abb. 14), vollzieht eine halbe Drehung, mit der er seinen Körper zwischen Tisch und Stuhl positioniert, legt die Hände flach auf die Tischplatte, beugt sich vor, setzt sich hin, richtet den Oberkörper auf. Pause. Warten. Nächste Bewegungsaktion. Das Aufstehen vom Tisch geschieht auf die gleiche Weise, nur in umgekehrter Reihenfolge. Insgesamt ergibt sich dadurch eine Looping-Struktur, wie Le Roy es formuliert (vgl. Siegmund 2006: 372). Den weiteren Szenen, die das Stück thematisch komponieren, habe ich zur Vereinfachung Titel gegeben, die sich teilweise an der Beschreibung Jérôme Bels orientieren (Bel 2003).
3
4 5
Ich habe Self unfinished mehrere Male live sehen können, zuerst in der Probenphase im Podewil, Berlin 1998 anlässlich eines Showings des Choreographen, anschließend 1999 und 2001 (TanzWerkstatt Berlin im Podewil), 2003 (Théâtre de la Ville, Paris) und zuletzt 2007 (Garajistanbul, Istanbul). Für die genauere Analyse lag mir außerdem die Videoaufzeichnung der Aufführung im Podewil vor. Bei den Seitenangaben gehe ich von der Publikumsperspektive aus. Der Choreograph begründet diese Aktion mit der Tatsache, dass die Geste des Knopfdrucks, die eine (nicht eingelöste) Hörerwartung hervorrufe, die Wahrnehmung des Publikums schärfe (Karcher/Le Roy 1999, Onlineressource).
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a. Roboter (Bel 2003: 19) Xavier Le Roy sitzt am Tisch, beugt sich nach vorne und richtet sich langsam auf, begleitet von mechanischen Geräuschen, die an Maschinen erinnern und seinem Mund entspringen. Er bewegt den Kopf zu beiden Seiten, kommt langsam ins Stehen und passiert die Bühne von rechts nach links. Jeder seiner Motionen sind unterschiedliche ›Sounds‹ zugeordnet, je nach Größe der Bewegung oder Gewicht des Körperteils, das bewegt wird. Einem Roboter gleich isoliert Le Roy jedes einzelne seiner Glieder, die sich im Stakkato, in extremer Sukzession bewegen. Diese abgehackten synkopischen Bewegungen rufen beim Publikum Gelächter hervor. Offenbar wirkt das Maschinenhafte der Bewegungen komisch, zum einen auf dem Setting einer Tanzbühne, zum anderen, weil es an ähnlich abrupte Bewegungen erinnert, wie sie etwa Charlie Chaplin im Film Modern Times (1936) vollführt.
Abb. 14: Xavier Le Roy, Self unfinished (1998), Photo: Katrin Schoof
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Abb. 15: Xavier Le Roy, Self unfinished (1998), Photo: Katrin Schoof
Abb. 16: Xavier Le Roy, Self unfinished (1998), Photo: Katrin Schoof
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Zwischensequenz 1 Le Roy bricht ganz unvermittelt mit der aufgebauten Körperspannung des »Roboters«, geht in normalem Tempo ein zweites Mal zum Kassettenspieler und drückt einen Knopf. Wieder ist nichts zu hören, allerdings initiiert der Knopfdruck einen weiteren Tempowechsel: Le Roy bewegt sich nun in Zeitlupe rückwärts zum Tisch zurück, wobei er dem Parcours folgt, den er zuvor als »Roboter« abgeschritten ist. Dabei legt er eine kurze Pause an der Wand ein, stehend und mit dem Rücken zum Publikum. Der nächste Haltepunkt am Tisch ist nur kurz, langsam steht er wieder auf, begibt sich zurück zur Bühnenrückfront, vor die er sich, eng an die Wand geschmiegt, hinlegt. Bel bezeichnet diese insgesamt viermal wiederkehrende Zäsur als »Der Tote« (ebd.: 23).
b. Vierfüßler Wieder von der Wand aufgestanden, läuft Le Roy langsam in die Raummitte zurück, wobei er sein Hemd hochzieht. Er beugt sich vornüber und zum Vorschein kommt, unter dem Hemd getragen, eine Art schwarzes Schlauchkleid, das er über Oberkörper und Kopf zieht, wobei sein nackter Bauch sichtbar wird. Le Roy zieht auch die Schuhe aus und legt seine Handflächen auf dem Boden ab, mit den Fingerspitzen nach innen Richtung Beine gedreht. Es entsteht eine dunkle, vierfüßige Gestalt, evoziert durch seine schwarzen Hosen und das schwarze, umgekrempelte, in der Mitte geschlitzte Kleid, das die Unterarme zum Teil hervorlugen lässt – ein Wesen, dem der Kopf fehlt, das aber vier Beine hat, getrennt durch die Zäsur des nackten Bauches (Abb. 15). Im langsamen Rückwärtsgang bewegt sich das Wesen zum Tisch, kriecht unter ihm hindurch und auf die Rückwand zu, an der es sich im Handstand aufrichtet (Abb. 16). Wieder provoziert die kopflose Gestalt, die nur aus Beinen zu bestehen scheint, ein Lachen – holprig tastet sie suchend die Wand ab, sich dabei langsam zu linken Seite bewegend.
Grotesk-teratologischer Einschub Worüber lachen wir hier? Über die täppischen Bewegungen einer Gestalt, die nichts sehen kann? Über die phantastische anatomische Konstellation vierer Beine an einem Körper? Ein Hinweis, der diese Metamorphose in den Bereich der Groteske rückt, findet sich im Bildrepertoire teratologischer Sammlungen, an die der difforme Vierfüßler erinnert. Jurgis Baltrušaitis hat zahllose Motive aus dem Mittelalter zusammengestellt und sie nach formalen Themen sowie Herkunftsorten unterschieden. Dem Formenkreis der Arabeske – christliche Kunst, die aus orientalischen Ikono-
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graphien Anregungen bezog (Baltrušaitis 1985: 187) – ordnet er chimärische, vielbeinige Gestalten zu, etwa die Närrische Szene auf einem holländischen Kupferstich aus dem 16. Jahrhundert (Abb. 17). In dieser Zeit hat beispielsweise der französische Chirurg Ambroise Paré solche teratologischen Kataloge erstellt, wobei sich ›tatsächliche‹ Missbildungen mit phantastischen Motiven aus Legenden vermischen – eine Abbildung siamesischer Zwillinge erinnert in der Duplizität der Extremitäten an die Gestaltung Le Roys (Abb. 18).
Abb. 17: Närrische Szene, Holländischer Kupferstich (1576)
In den Bereich der Sagen über Völker am Rande der Welt fallen außerdem die Blemmyes, die bereits Plinius der Ältere in seiner Naturalis historia (79 n. Chr.), sowie die Reiseberichte Marco Polos erwähnen, kopflose Wesen, die ihr Gesicht auf der Brust tragen (vgl. Williams 1996: 135, 347) (Abb. 19). Baltrušaitis folgert, dass es die »Verquickung des Konkreten mit dem Abstrakten, des Realen mit dem Irrealen« sei, das den Motiven ihren märchenhaften Anstrich verliehen habe (Baltrušaitis 1985: 189 f.) – in Le Roys Fall ist es die Kombination einer unmöglichen Anatomie mit dem gleichzeitigen Wissen, wie diese hergestellt worden ist. Auffällig im gesamten Bildrepertoire des Mittelalters ist, dass selten auf das Gesicht verzichtet wird, wenn es auch nicht immer auf den Schultern sitzt. Das Monster gibt sich zu erkennen und erfüllt damit die Bedingung, mit der es in von Menschen hergestellte, taxonomische Ordnungen eingepasst werden kann, die ›das Andere‹, das Randständige in eine Systematik bringen. Le Roy allerdings verbirgt die Identifikationsmarke Gesicht: Als vierbeiniges Wesen operiert er am Rand der Bühne und damit an den Rändern unserer gewohnten Wahrnehmung. Erzeugt wird für die Zuschauenden eine in diesem Sinne groteske Orientierungslosigkeit und – Lachen.
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Abb. 18: Ambroise Paré, Portraict de deux enfans bien monstrueux, ausquels un seul sexe féminin se manifeste (1572)
Abb. 19: Group of Blemmyes, aus: Livre des merveilles (1907)
Zwischensequenz 2 Der Vierfüßler sinkt an der Rückwand nieder und begibt sich einmal mehr in die Position des »Toten«, an den Rand der Wand gedrängt liegend. Pause. Bald darauf steht Le Roy auf, er zieht das Kleid über den Kopf und löst die vorherige Figur damit auf, um gleich eine neue entstehen zu lassen: ein schlanker Mann mit einem engen schwarzen Kleid, der sich an den Tisch setzt, aufsteht, rückwärts, in beschleunigter Slow Motion, zur Wand zurückgeht, sich hinlegt. »Der Tote« zum Dritten. Pause. Ausruhen. In der Folge wechselt Le Roy zweimal zum Tisch und zur Bühne vorne, wobei er seine lange schwarze Hose, die sich immer noch unter dem Kleid befindet, auszieht. Er setzt sich im Kleid unter den Tisch, verharrt dort: Wir sehen seinen Rücken.
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c. Gliedertausch Le Roy gleitet nach links unter dem Tisch heraus, wobei er seine Füße mit den Händen festhält. Auf dem Rücken und zu den Seiten rollend, beginnt nun ein Wechselspiel der Gliedmaßen, die, niemals losgelassen, übereinander weg- und untereinander hindurchgeführt werden, verdreht, fast verknotet, verschoben und vertauscht (Abb. 20). In einem kurzen Moment sehen wir den schwarz verkleideten Po Xavier Le Roys, der frontal zum Publikum ausgerichtet ist und über dem die langen Gliedmaßen fast zu schweben scheinen: erneut ein vierbeiniges Wesen, doch der Körper hat sich nun auf einen kompakten, kugeligen Punkt hin verdichtet.
Abb. 20: Xavier Le Roy, Self unfinished (1998), Photo: Katrin Schoof
d. Torso Schwarzer Torso Kurze Zeit später landet Le Roy auf den Schultern, er lässt seine Beine los, die mit lautem Klatschen und Poltern hintenüber zu Boden fallen. Sein Kopf ist nach innen geklappt und nicht zu sehen, so dass der Körper direkt auf den Schultern aufsitzt und das Gesäß in die Höhe ragt. Die Beine sind nach innen vor den Bauch gezogen und der Blick fällt so auf die Rückenansicht eines schwarz gekleideten Torsos. Bald darauf pellt sich der Rumpf aus seiner Hülle, mit kleinen
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verschiebenden Bewegungen, bei denen Kopf und Beine verborgen bleiben. Die Hände tauchen über dem Po auf und zupfen an der Unterhose – wie fremde Glieder wirken sie, als gehörten sie gar nicht zum übrigen Körper dazu. Nun ist der Torso vollständig entkleidet, auf den Schultern ruhend, das Unterste zuoberst gekehrt.
Abb. 21: Xavier Le Roy, Self unfinished (1998), Photo: Armin Linke
Abb. 22: Xavier Le Roy, Self unfinished (1998), Photo: Armin Linke
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Nackter Torso Nach einer kurzen Pause bewegen sich die Arme – oder vielmehr das, was davon übrig geblieben ist: Eng an den Rumpf gelegt, sind nur die Oberarme Le Roys sichtbar, die wie Stummel wirken. Der Torso wackelt mit dem Oberteil – in dem Fall die Pobacken, die in einer isolierten Bewegung, welche das Becken vom Bauch trennt, nach links und nach rechts schwenken. Anschließend verschwinden die Arme vor dem Bauch, tauchen über dem Gesäß wieder auf und strecken sich dicht an den Körper gepresst mit geballten Fäusten gerade in die Höhe: Ein flüchtiges Bild erscheint, das an ein gerupftes Hühnchen erinnert, jedoch rasch wieder aufgelöst wird (vgl. Titelbild links). Le Roy winkelt nun die Arme an und setzt sie links und rechts auf den Boden auf, die Hände flach ausgebreitet: Ein neues Bild wird in der Zuschauerwahrnehmung generiert, das Gedanken an ein amphibisches froschartiges Wesen6 oder ein Insekt aufscheinen lässt, wobei Le Roys Arme zu Beinen mutiert sind (Abb. 21). Kurz darauf breiten sich diese beinernen Arme links und rechts neben dem Rumpf aus und ein fragmentierter Torso entsteht, dem die unteren Gliedmaßen zwar nicht abhanden gekommen sind, die jedoch ihre Proportion zum übrigen Körper verloren haben: flach, dünn, aus den ›Hüftgelenken‹ gedreht und wie geschmolzen liegen sie am Boden (Abb. 22). Die Arme wieder zurück in der angewinkelten, froschartigen Haltung, bewegt sich der Rumpf nun ein wenig von der Wand weg in Richtung Bühnenmitte, um sogleich nach rechts zum Tisch hinüberzuschwenken. Wir sehen nun Le Roy in Seitenansicht, das Bild des Torsos verschiebt sich in ein eingefaltetes Paket aus Armen und Beinen, bei dem allerdings nach wie vor Gesicht und auch Geschlecht verborgen bleiben. Es kriecht unter den Tisch und dreht uns abermals den Rücken zu (oben ist immer noch unten), die Arme wieder links und rechts gebeugt: Eine erneute Mutation zum Frosch oder Käfer vollzieht sich, eingerahmt von den schwarzen Tischbeinen, die so regelrecht einen Passepartout, eine Momentaufnahme des torsierten Körpers zeigen. Ein Bild. Das allerdings rasch zerstört wird. Le Roy streckt das rechte Bein nach oben aus, drückt von unten gegen die Tischplatte und stößt sie mit lautem Knall herunter. Der übrige Tisch, der den Körper nun als schwarzes Gerüst umgrenzt, wird auch gleich umgeworfen: Split frame, das temporäre Körper-Bild wird zerstört. Mit den Armen, die sich nun abwechselnd beugen und strecken, rutscht der Torso Xavier Le Roy zur Rückwand und streckt dort die Beine aus: Für Momente entsteht eine Wiederholung der vierfüßigen Figur, allerdings ist sie auf der einen Seite verkürzt, da Le Roy immer noch auf den Schultern ruht. Erneut begibt er sich zurück in die kauernde Torsohaltung, dann richtet er sich auf, mit dem Gesicht zum Publikum: Vor uns steht ein nackter Mann.
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Le Roy selbst spricht von dieser bildhaften Sequenz als »Frosch« (Karcher/Le Roy 1999, Onlineressource).
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Endsequenz Gemächlich geht Le Roy nun zu den Orten, an denen er seine Kleidung zurückgelassen hat, dabei zuerst jene Stücke anziehend, derer er sich zuletzt entledigte: Bühne hinten, Wand: Unterhose, Kleid. Bühne vorne rechts: lange Hose. Bühne vorne links: Schuhe, Hemd. Er stellt den Tisch wieder auf, legt die Platte darauf, setzt sich auf die gleiche Weise wie die Male zuvor auf den Stuhl, wartend. Pause. Ein letztes Mal geht er zur Wand und schmiegt sich liegend in ihre Kante hinein, der vierte »Tote«. Hinüber zum Tisch: Sitzen, hinüber zur Wand: stehen (mit dem Rücken zum Publikum), nach vorne zum Kassettenspieler, den Knopf drücken. Und nun hören wir einen Hit von Diana Ross: »Upside Down«. Le Roy geht ab und kommt auch zum Applaus nicht wieder. Das Publikum hat aber anschließend die Möglichkeit, sich mit dem Choreographen außerhalb im Foyer zu unterhalten.
1.2 Die Sichtweisen Krassimira Kruschkova deutet Le Roys Self unfinished als anagrammatisches Verfahren, wobei sie auf den sich de-formierenden Torso und konkreter auf die Sequenz der vierfüßigen Gestalt (an der Wand lehnend) Bezug nimmt, die sie mit Abbildungen aus Hans Bellmers Zyklus La Poupée (1935) vergleicht (Abb. 23, 24). Bellmer spricht in Bezug auf den Körper vom Anagramm als einer Möglichkeit, die einzelnen Körperteile wie Lettern zu vermischen und in immer wieder neue Kombinationen zu bringen, analog der literarischen Methode, mit ihren »Wortum- und -entstellungen« (Kruschkova 2006, Onlineressource). Die Schrift selbst, als materieller Träger des Zeigens komme dadurch als Sagen zum Vorschein, und so optiert Kruschkova, ähnlich wie Siegmund, für ein Hervorheben des Materials als solches, gleichwohl oszillierend zwischen Referenz und Undeutbarkeit (ebd.). Eine so buchstäbliche Lektüre des Körpers als Anagramm ist allerdings nicht unproblematisch, wendet Le Roy doch kein (Tanz-)Vokabular an, das es zu deund rekomponieren gelte. Er selbst bekräftigt: »proposer de voir la danse comme langage me semble reducteur […] Je pense au contraire que la danse fait lien.« (Kopp/Le Roy 2002: 100) Tanz umschreibt, kritisiert und verschiebt Orte und Ordnungen – in der Verbindung von Körper und Sprachlichkeit führt er wiederum Deplatzierungen ein und vibriert am Rand von (noch) nicht Zuzuschreibendem und bereits wieder ins Bild Gebrachtem. Es sind monströse Ränder, die Le Roy hier aufsucht und die Jérôme Bel, mit Bezug auf Le Roys Torsomutationen, von einem »Monster« sprechen lassen (Bel 2003: 21).7 7
Bels Verwendung des Begriffs Monster macht sich allerdings eher an albtraumhaften Erfahrungen fest (Bel 2003: 21).
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Abb. 23: Hans Bellmer, La Poupée (1935)
Abb. 24: Hans Bellmer, La Poupée (1935)
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Brandstetter hebt im Zusammenhang mit Le Roys Lecture Performance Product of Circumstances hervor,8 dass die temporalen Anordnungen und Dislokationen des Choreographen als »ver-rückte selbstreferentielle Taxonomie« immer auch das vorgestellte Material kritisch im Blick hätten (Brandstetter 1999: 33). Le Roys Bewegungsexperimente, die auf die Ernüchterung folgten, dass er in keine »reguläre« Tanzcompagnie hineinpassen wollte (Le Roy 2005: 86), lassen ihn schließlich die körperliche Recherche in gleicher Weise befragen wie zuvor seine Forschungen im biologischen Labor, wie er in seiner Lecture Product of Circumstances ausführt: »I begann to use my body for questions about body images, identity, difference. / I worked on creating functions and dis-functions of the body with a quite analytical method, if not to say a scientific one.« (Ebd.: 87) Einige Jahre später präzisiert Le Roy, dass er nicht daran interessiert sei, Konventionen aufzuheben, denn dies sei ohnehin nicht möglich. Vielmehr fordere ihn heraus, die Rahmungen auszuloten und Brüche innerhalb der Vorgaben zu entdecken (Le Roy in Hahn 2007: 49), die sich wiederum im Spannungsfeld von Sprache/Bedeutungen und Tanz abspielten (Le Roy/Leeker 2003a: 103): »Wichtig ist mir dabei zu betonen, dass der Körper sicher nicht jenseits der Sprache liegt. Er ist vielmehr zu jedem Moment ein Körper mit Bedeutung. […] Der Körper konstruiert Zeichen, die er bedeutet und die ihn bedeuten. Das heißt, erst die Tatsache, dass der Körper bezeichnet ist und bezeichnet wird, macht es überhaupt möglich, dass wir ihn wahrnehmen und über ihn sprechen.« (ebd.: 101)
Dabei verfolgt Le Roy keineswegs ein semiotisches Modell, wie es sich hier womöglich andeutet, sondern verschiebt gezielt Wahrnehmungsweisen, die, wie er oben selbst anmerkt, explizit die Ränder von sinnstiftenden Systemen in den Blick nehmen. Besonders die beschriebenen Momente, in denen sich Le Roy als Vierfüßler durch den Raum bewegt, sowie die Situationen als Torso haben in der Rezeption starke Eindrücke hinterlassen – so greift die Tanzkritik immer wieder zu Tiervergleichen (vgl. S. 78). Gabriele Brandstetter bemerkt, dass der Körper zum »fremdartige[n] Material« werde und fragt: »Ein Kopffüßler? Ein Korpus ohne Gliedmaßen? Ein Insekt? Eine merkwürdig eingekerbte Figur? Mann und Frau in einem Körper?« (Brandstetter 2001a: 10) Sabine Huschka wiederum bedient sich eines Oxymorons und beschreibt das Solo als »Gemenge aus fluktuierenden (Nicht-)Formen« (Huschka 2002: 324), Siegmund markiert Self unfinished als Laborsituation, in der sich Le Roy im Selbstversuch den verschiedensten Wandlungen unterwerfe (Siegmund 2006: 372). Die entstehenden Bilder würden erscheinen, weil uns die Muster der Glieder oder deren Bewegungsabläufe an eben jene Tiere erinnerten: »Le Roys Bewegungen sind immer schon von der Biologie 8
In der Wiener Aufführung 1998 begann Le Roy noch mit dem auf den Schultern sitzenden Torso aus Self unfinished.
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souffliert und dem Tänzer gestohlen durch die Kultur, die Bedeutungen erzeugt.« (Ebd.: 384) Siegmund spielt damit auf die Idee des Ektoderms an, das Le Roy als Inspiration für seine Körperverwandlungen gedient habe (ebd.).
Einschub: Ektoderm Der Begriff Ektoderm bezeichnet das Gewebestadium der Gastrulation, eine frühe Stufe der Embryonalphase, in der sich die beiden Keimblätter durch Einstülpung (Invagination) ausbilden. Eines davon ist das Ektoderm, das die äußere, der Gebärmutter zugewandte Zellschicht bildet, aus der sich Haut und Nervensystem entfalten (Scherf 1997: 178). Das innen gelegene Endoderm wiederum entwickelt Atmungsorgane und den Verdauungstrakt, außerdem kommt es zur sogenannten »Einwanderung« von Zellen aus dem Blastoderm, dem Urzellhaufen, der sich einige Zeit nach der Befruchtung bildet (ebd.). Der Psychologe Didier Anzieu betont in seiner Rede vom Haut-Ich – wonach Individuationsprozesse besonders auch taktil geleitet seien (vgl. S. 350) – die Entwicklung des Gehirns aus einer Hauttasche, die im Ektoderm durch Ausstülpung allmählich ausdifferenziert werde, sich also sozusagen in Hirn-Haut umwandelt. Daraus folgert Anzieu, dass Tasten und Denken unlösbar miteinander verknüpft seien und sich das Denken darüber hinaus als Umkehrfigur ergebe: Wird der Ratio zumeist ein zentraler Platz im individuellen Selbstverständnis eingeräumt, ereigne sie sich physiologisch jedoch paradoxerweise am Rand, in der grauen Substanz des Hirns: »Das Zentrum liegt an der Peripherie.« (Anzieu 1996: 20 f.) Die Idee vom »Tanzen ist Denken« (Schulze/Traub 2003: 5) bekommt in Le Roys Solo vor diesem invertierten Hintergrund eine grotesk organische Qualität: In Metamorphosen, die Glieder und Haut wie Wachs in die verschiedensten Zwischenstadien bringen, stülpt Le Roy seinen Korpus nach außen und lässt die Reflexionen über seinen Körper als Material stofflich werden. Die zuvor genannten biologischen Begrifflichkeiten von Einwanderung sowie Ein- und Ausstülpung sind außerdem von Interesse, da sie sich auf Le Roys Wandlungen übertragen lassen und amphibische Eindrücke wie etwa die eines Frosches hinterlassen. Diese entstehenden Bilder, so Siegmund, sind jedoch nur Hilfestellungen des Imaginären in einem Stück, dem die Lesbarkeit fehle (Siegmund 2006: 372 f.). Und doch verfestigen sich eben jene metamorphen Bilder, ihre Photographien tauchen zur Bestätigung des Gesagten in Rezensionen (Sieben 1999a: 15) sowie wissenschaftlichen Publikationen (Brandstetter 1999: 32, Siegmund 2006: 373) auf oder dienen als Titelbild des Buches Transformationen. Theater der neunziger Jahre (Fischer-Lichte et al. 1999).
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Die Fluidität und das Gleiten der Le Royschen Posituren von einer Formung in die nächste haben zudem in der Rezeption den Anschein evoziert, dass hier der organlose Körper Deleuzes/Guattaris auf der Bühne verwirklicht sei, wie Pirkko Husemann konstatiert: »Das unfertige Selbst ist also ein prozessualer, formloser, entindividualisierter Körper, den man mit Deleuze/Guattari als Immanenzfeld bezeichnen kann« (Husemann 2002: 38). Ähnlich argumentiert André Lepecki: »Le Roy proposes an entirely different understanding of what a body is: not a stable, fleshy host for a subject, but a dynamic power, an ongoing experiment ready to achieve unforeseeable planes of immanence and consistency.« (Lepecki 2006: 41 ff.) Dem problematisierten Subjekt als prominentes Projekt der Moderne vollständig eine Absage erteilend (ebd.: 44), wird der organlose Körper an Le Roys Exempel jedoch als ein in die Tat umgesetzter idealisiert (vgl. S. 77 f.),9 was wiederum der Idee eines Körpers ohne Organisation widerspricht. Die vorherige Analyse hat ergeben, dass zwar in der Binnenstruktur jeweils Metamorphosen und Oszillationen entstehen, in denen Le Roy eindeutige Zuschreibungen und Vorstellungen hermetischer Geschlossenheit unterwandert, diese jedoch folgen klar strukturierten, choreographischen Kompositionsprinzipien, unterteilt in Posen, Intervalle, Zäsuren, Rhythmen und Loops. Auch die Entindividualisierung ist nicht von Dauer, denn sowohl zu Beginn wie auch am Ende sehen wir die Person Xavier Le Roy, die uns durch diese Wandlungen geführt hat. Sicher hat Husemann recht, wenn sie von einer »Identität im Prozess« spricht (Husemann 2002: 38), aus heutiger Sicht jedoch ist das sich verflüssigende, unbeendete Selbst zu einem Label geworden, für das Xavier Le Roy eher unfreiwillig steht. Siegmund liest das Phänomen des organlosen Körpers in Le Roys Solo denn auch nicht mit Deleuze/Guattari, die ein utopisches Ideal jenseits von Produktion und Körpern formulierten, sondern präzisiert den Begriff mit dessen Urheber Antonin Artaud und seiner Rede von der Materialität des Körpers, wie in Kapitel 1 ausgeführt (vgl. S. 78). Wie Kruschkova artikuliert er Le Roys Wandlungen als »anagrammatische[n] Körper«, der sich, »permanent im Fluss« (Siegmund 2006: 385), nicht so sehr über Ankopplungen an Netzwerke und (Wunsch-)Maschinen herstelle (ebd.: 381), sondern in sich selbst beständig Differenzen erzeuge, die sich jedweder Belegung mit Bedeutung entzögen (ebd.: 386). Meine These ist allerdings, dass die fluiden Zustände, die Le Roy hervorbringt, durchaus signifikante Bilder evozieren, die sich schwerlich aus dem Gedächtnis löschen lassen. Das ist nicht zuletzt bedingt durch die Arbeitsweise Le Roys (vgl. S. 119). Im Rahmen der Recherchen für das vorhergehende Duo Blut et Boredom (1996) arbeitete er mit dem Bildhauer, Videokünstler und Photographen Laurent Gold-
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Der Philosoph Boris Manchev äußert sich ähnlich euphorisch: In Self unfinished überschreite Le Roy die Grenzen des Humanen und zeige Metamorphosen einer »archaischen Morphologie[]« (Manchev 2006: 106) – die allerdings aus Bildrepertoires des Grotesken gespeist wird, wie in Kapitel 4 noch auszuführen ist.
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ring aus Paris zusammen; es entstanden Photos und später Bewegungssequenzen, in denen Le Roy und seine Partnerin Agathe Pfauvadel sich ineinander verdrehen und Gliederverteilungen komponieren, bei denen nicht mehr unterscheidbar ist, welches Bein zu welchem Körper gehört (vgl. S. 393 f.). Im Zusammenhang mit dem Projekt entstand eine Ausstellungsserie mit Photographien, die den Choreographen und seine Partnerin in chimärischen Verwachsungen verknüpft oder mit isolierten Körperteilen in fragmentierten Posen zeigt (Abb. 25)10 – Goldring bezeichnet diese und nachfolgende Projekte als »Bodymade[s]« (Goldring/Caux 1999: 40), in denen Assemblagen nicht durch technische Bildmontage, sondern in den Bewegungen und Posituren selbst erzeugt werden.11
Abb. 25: Agathe Pfauvadel, Xavier Le Roy (1996), Photo: Laurent Goldring
10 Die Ausstellung, kuratiert von der TanzWerkstatt Berlin, war 1996 im Podewil zu sehen. 11 Der Begriff des »Bodymade[s]« bezieht sich dabei einerseits auf die Kritik der Repräsentation, wie sie Marcel Duchamp in der Kunst mit seinen Readymades artikulierte. Zum anderen formuliert Goldring damit sowohl seine Ablehnung eines essentialistischen Körperkonzepts als auch das vollständige Aufgehen des Körpers im Kunstwerk: »[J]e ne m’attache pas à une nature du corps, mais à une chose complètement informée, manufacturée. Il n’y a pas transformation du corps en œuvre, mais démonstration de ce qui, dans un corps, est en excès sur la manufacture« (Goldring/Caux 1999: 40).
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Die Strategien des Dekomponierens werden hier also durch bildgebende Verfahren im Vorfeld ausgelöst. Für Self unfinished wiederum filmte Le Roy seine Bewegungsrecherchen auf Video, das er sich nach den Proben jeweils ansah (vgl. in Sieben 1999a: 48). Figurationen, die etwa denen eines Frosches ähneln, waren nicht intendiert, jedoch erkannte Le Roy solche Formationen bei der anschließenden Überprüfung im Video, die er als dialogisches Verfahren zwischen Bewegung und Aufzeichnung beschreibt: »Es ist ein Dialog zwischen dem, was ich sehe, und dem, was ich bin. Ich mache und gucke und reflektiere. Nichts ist vorhergeplant. […] Das sind Körperbilder, die durch das Material selbst entstehen.« (Ebd.) Diesen Bildern ist also kaum auszuweichen und Le Roy konstatiert: »We are deeply anthropomorph.« (Le Roy 27.8.2007, Interview) Gleichwohl sind es Bilder, die sich am Rand gängiger Vorstellungen von deutlich konturierten Körpern aufhalten oder die an Repertoires des Grotesken andocken, wie der Vergleich der Vierfüßlersequenz mit Bildern teratologischer Sammlungen gezeigt hat. Das vierte Kapitel wird sich mit diesem Phänomen, das auf groteske Bildspeicher als Bewegungsmuster zurückgreift, näher befassen.
Einschub: Bilder-Wanderungen12 Laurent Goldring hat in der Folgezeit mit einigen anderen Choreograph/innen zusammengearbeitet, die ebenfalls das Thema des Körpers als wandelbare Matrix aufgreifen, so etwa für Maria Donata d’Ursos Produktion Pezzo 0 (due) (2002), in dem diese wie eine verformte, bisweilen eingebuchtete, ausgehöhlte oder fragmentierte Skulptur erscheint. Die zunächst als Video-Loop gemeinsam erarbeiteten Bilder (Abb. 26) wurden anschließend von d’Urso im Bühnenstück weitergeführt (Goldring 7.10. 2008, Interview). Zusammen mit Benoît Lachambre entwickelte Goldring metamorphe Körper-Bilder, die wiederum Eingang in die Kollaboration mit der Choreographin Saskia Hölbling fanden: Unter dem Titel rrr – reading Lachambre reading Hölbling reading Goldring made with/out of Lachambre (2001) bietet Lachambre das Körper-Material an, das sodann die Lektüren Goldrings und Hölblings in Bild und Sprache durchwandert. Ein Jahr später kreiert Hölbling die Gruppenchoreographie other feature (2002), in der abermals der Körper als fluides, depersonalisiertes Gebilde entfaltet wird. Hölbling, die eine ähnliche Biographie wie Le Roy aufzuweisen hat (sie studierte zwei Jahre Biochemie, Weiser 2003: 42), arbeitet
12 Der Begriff impliziert die Idee der geschichtlichen, räumlichen wie zeitlichen Wanderung von Bildmotiven nach Aby Warburg. Vgl. Warnke 1980: 75.
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hier mit vier Tänzerinnen13, deren Körper immer wieder vereinzelt in Posen erscheinen.
Abb. 26: Laurent Goldring, Ohne Titel (2002), Videostill, Tanz: Maria Donata d'Urso
Strukturiert ist das Stück durch die in metamorphen Haltungen angeordneten Tänzerinnen im Bühnenraum, wobei wiederholt tableauartige Situationen entstehen. Zu Beginn ist eine Szenerie mit zwei Torsi zu sehen: hinten rechts ein auf der Seite liegender, vorne links ein sitzender (Gesäß unten, Schultern oben), beide mit dem Rücken zum frontal sitzenden Publikum gewandt. Bei beiden Tänzerinnen sind Kopf und Beine verborgen, so dass der Blick auf den Rumpf konzentriert ist. Der sitzende Torso kommt langsam in Bewegung, verschiebt die Wirbelsäule und nacheinander wandern die Füße, dann die Hände unter den Po und verbergen sich anschließend wieder vor dem Bauch. Die beiden Oberschenkel klappen zur Seite, ähnlich wie die Arme in Le Roys Torso aus Self unfinished, nur dass die Körperstruktur hier proportionierter wirkt, durch die aufrecht sitzende Haltung und die Beine, die dem Maß des Rückens folgen. Disproportionierte Wahrnehmungsverschiebungen finden nur geringfügig statt. Allmählich schiebt sich der Torso zur linken Bühnenseite und geht ab – der Blick richtet sich nun auf den rechts hinten liegenden Rumpf. Eine Weile regungslos, streckt sich langsam das rechte Bein und bringt den Torso in eine sitzende Haltung. Dabei dehnt sich das Bein über den Bauch und den Kopf hinweg, so dass es wie ein Fremdkörper direkt aus den Schultern herauszuwachsen scheint, dort, wo eigentlich der Kopf sitzen müsste (vgl. Titelbild Mitte). Die Tänzerin bricht die Pose ab und kommt ins Stehen, den Zuschauer/innen immer noch den Rücken zuwendend, den Kopf verborgen, so dass sich Erinnerungsbilder an rückwärts gewandte Blemmyes einstellen (Abb. 27). Wieder hebt sie das rechte Bein und winkelt es so an, dass nur der Oberschenkel zu sehen ist, der aus der Ferne als an das linke 13 Getanzt wird das Stück von Anne Juren, Heide Kinzelhofer, Moravia Naranjo und Andrea Stotter, die auch an der Choreographie beteiligt waren.
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Standbein angewachsener, amputierter Stummel erscheint. Szene und Licht wechseln abrupt: Die Bühne ist nun sehr hell, der Boden weiß, und auf ihm ruhen, vorne links und hinten rechts, zwei Torsi, in Rückenansicht, auf den Schultern sitzend, den Po nach oben gekehrt. Nur für einen Moment währt dieses Tableau, kurze Zeit später kippt der linke Torso zur Seite und die Szenerie verändert sich wieder.
Abb. 27: Saskia Hölbling, other feature (2002), Photo: Nikolas Hölbling
Besonders die Situationen, die den Torsomutationen Le Roys ähneln, rücken das Stück in ein Verweissystem von Mustern oszillierender Körperkonzepte, die im Jahr 2002 keine irritierende Ausnahmeerscheinung mehr sind. Hölbling scheint Le Roy zu zitieren, indem sie hier, anders als in den übrigen Szenen, auf eine Bewegungsentwicklung und mikroskopische Verschiebungen der Muskeln verzichtet. Sie befragt den (weiblichen) Körper in seiner bewegten Materialität und zeigt zugleich, dass sich diese Körper auch in zeitgenössischen Kontexten immer schon in diskursiven Feldern des Formwandlerischen positionieren. Goldrings eingangs beschriebenen, metamorphen Körper-Bilder wirken dabei mit als Transporteure für Motive, in denen Körperirritationen, wie sie zunächst mit Xavier Le Roy erprobt wurden, zu einem bildhaften Instrumentarium geraten, zu einer Weise, mit deren Hilfe Tänzer/innenkörper transformiert werden. Interessant ist in dem Zusammenhang, dass die Kritik Hölblings Stück nur selten mit Verwunderung oder Befremden sieht. Sehr oft wird viel-
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mehr das Skulpturale und Bildliche der hier vorgestellten Körperanordnungen betont. Von lebenden Skulpturen ist die Rede (Kientzy 31.3.2002), von »bewegten und doch statisch wirkenden Körperportraits« (Kneiss 4.4.2002) und der hohen pikturalen Qualität des Dargebotenen (Arvers 2002). Es wäre allerdings vorschnell, die hier gezeigten Körperexperimente als etablierte Masche zu bewerten, ein Kniff, mit dem Goldring nun auch andere Choreograph/innen in die Metamorphose bewegt. Denn in other features kommt das Geschlecht ins Spiel, auch wenn die Darstellerinnen so weit wie möglich durch Wegnahme des Gesichts depersonalisiert werden sollen, um den Blick auf die »Substanz« des Weiblichen selbst zu richten (Hölbling in Steinböck 2006, DVD-Portrait). Diese Körpermasse wird in minimalen Motionen mobilisiert, die an flüssige Zellbewegungen erinnerten (Bataillard 28.3.2002), etwa bei den Sequenzen im Stehen, in denen die Wirbelsäule sich bis abwärts zum Steißbein hin und her verschiebt und den Po allmählich in Bewegung bringt: ein angedeutetes Wackeln. Das Gesäß scheint sich dabei auszudehnen, wird übergroß und extra prononciert – eine wuchernde Exposition weiblicher Marker, die den Rahmen überschreitet und Valeska Gerts supra-grotesker Überzeichnung weiblicher Attribuierungen (in Anlehnung an Josephine Baker) ähnelt (vgl. S. 109). Es wundert insofern nicht, dass Hölblings Choreographie nicht nur fasziniert aufgenommen, sondern auch mit chauvinistischer Häme bedacht wurde: »Die Nicht-Bewegung wird zum Trend. […] Verdreht, gestreckt, wie verfremdete Hieroglyphen robbten sie ohne klare Definition durch den Raum. Von der Eintönigkeit lenkte nur die Cellulitis der Tänzerinnen ab.« (stelz 9.4.2002) Für einen Mainstream mit bestimmten Erwartungshaltungen an Tänzerinnen ist also das von Hölbling dargebotene Verformungsspiel immer noch ein ästhetischer Affront (nicht anders erging es Gert). Das Bemerkenswerte dabei ist, dass Le Roy solch genderbezogenen Anfeindungen nie ausgesetzt war. Waren es, laut Klaus Theweleit, bislang Männer, die Frauen gepanzert in ihre Schranken verwiesen (Theweleit 1986, Band I: 343 ff.), so scheint mancher Rezensent die These vom Fluid-Weiblichen als Bedrohung auch heute noch zu bestätigen. Versuche, die die ausgehärteten Grenzen von Männlichkeit aufbrechen und in androgyne Wechsel verwickeln, sind vor solcher Kritik jedoch gefeit. Darf Ungeformtes folglich nur eine Domäne männlicher Choreographen sein?
Die hier skizzierten Diskurse formen also mittlerweile selbst Figurationen des Metamorphen, das sie doch paradoxerweise als Garanten für das Umgehen und Auflösen von Ordnungen heranziehen. Choreographien, denen aufgrund ihres kritischen Bearbeitens von Körpergrenzen subversives Potential zugemessen wird, werden damit fast unweigerlich in einen Diskurs eingebettet, der sich dem
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Fluktuierenden verschreiben soll. Elizabeth Grosz hat sich in ihrer feministischen Studie diesem Widerspruch gewidmet (1994). Ähnlich wie Theweleit (Theweleit 1986, Band I: 315 ff.) erläutert sie die Verortung von Weiblichkeit als das Ungreifbare, Flüssige, Tropfende in der westlichen Kultur. Mit Canetti beschreibt Theweleit Transformation und Wandlung bereits als eine Figur (ebd.: 332) sowie die Zurichtung, Domestizierung und Panzerung der fließenden Frau als männliche, territorialisierende Geste (ebd.: 343 ff.). Allerdings gelingt es Theweleit nicht, die Polarisierung von Frau = flüssig/intuitiv/bedrohend und Mann = fest/rational/beherrschend aufzulösen. Grosz hält solchen Konzepten nun die These entgegen, dass sich auch das Weibliche, vorgeblich Uferlose in bestimmten Formierungen strukturiere, jenseits männlicher Normierungen. Mit Iris Young unterstreicht Grosz, dass gerade das Auftreten metaphorischer Figuren des Flüssigen, als eine Art festes Flüssiges, die cartesianische Ontologie in Verwirrung stürzten: »Fluids, unlike objects, have no definite borders; they are unstable, which does not mean that they are without pattern.« (Young in Grosz 1994: 204) Konsequenterweise trügen dann Männer Fluides ebenso in sich wie Frauen, was die Zuschreibung von Weiblichkeit als Natur/Körper/sinnliche Erfahrung aufhebe (ebd.: 205).14 Die italienische Choreographin Adalisa Menghini offeriert mit ihrem Solo Corpo a Corpo (1998) einen ironischen Seitenhieb auf solche Reduktionen von Weiblichkeit.15
1.3 Androgyne Evolutionen In der Bühnenmitte kauert eine Gestalt in einem Lichtkegel am Boden. Es ist kaum auszumachen, wer oder was sich dort befindet. Die Gliedmaßen sind ineinander verschränkt, und das Auge braucht eine Weile, in dem Knäuel eine Struktur zu entdecken. Die Darstellende befindet sich in Bauchlage, den Kopf vom Publikum abgewandt. Mit den Händen stützt sie sich links und rechts neben dem Rumpf auf, wobei die Arme jeweils einen eckigen Winkel bilden. Ihre Beine sind hinter dem Po verschränkt, in einer Art Lotossitz verkeilt schweben sie, vibrierend durch die Körperspannung, über dem Boden. Von Zeit zu Zeit wird dieses Beinpaket auf dem Boden abgelegt und der Oberkörper rollt nach oben auf, ähn-
14 Entsprechend konstatiert Janine Schulze ein Jenseits von Genderkategorien in Le Roys Solo, bei dem umgedreht jedoch die Rezeptionsebene – Schulze verweist auf eine Kritik Irene Siebens – sehr rasch mit Geschlechterzuschreibungen aufwarte, etwa wenn Le Roy das schwarze Kleid überstreife, obgleich sich solche Einordnungen hier gar nicht anböten (Schulze 2003a: 434). 15 Ich habe das Stück im Februar 1998 im Theater am Halleschen Ufer (THU) Berlin gesehen sowie 2001 in der Tanzfabrik Berlin. Zur Analyse lag mir die Videoaufzeichnung vom 7.2.1998 (THU) vor. Corpo a Corpo ist der erste Teil der gleichnamigen Trilogie, die weiterhin aus dem Solo Geometrico Schmidt (1999) und dem Duo Vasco & Delfina (2001, mit Antje Rose) besteht.
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lich der Kobra-Stellung im Yoga. Er verharrt kurz und gleitet dann wieder zurück zur Ausgangsposition. Begleitet sind diese langsamen Aktionen von Geräuschen, die an tiefe Atemzüge erinnern und aus dem Off eingespielt werden. Plötzlich erfolgt ein schneller Schwenk des gesamten Körpers nach links in die Seitenansicht und wir erkennen die Tänzerin Adalisa Menghini. Sie trägt eine Art weißen Badeanzug und eine weiße Badekappe auf dem Kopf. Mit schlängelnden, raupenförmigen Bewegungen, die durch die Wirbelsäule initiiert werden, robbt sie auf der Bühne entlang und hält immer wieder inne, zitternd, wie ein Blatt im Wind. Allmählich werden die Beine aus ihrer Umklammerung gelöst, weit auseinandergespreizt, und schließlich helfen sie mit, den Körper vorwärts zu schieben. Dabei sind die Füße nach innen verdreht und drücken sich mit ruckartigen Hüpfern ab, so dass der Eindruck eines spinnenartigen Wesens entsteht. Nach einigen kleinen Seitwärtssprüngen kommt Menghini schließlich zum Stehen und blickt das Publikum frontal an. Die Beine überkreuz taumelt sie vorwärts, den Rücken betastend, als sei die Vertikale noch ein Unsicherheitsfaktor. Schließlich macht sie auf der Bühnenmitte Halt, wobei die Hände die Schultern auf der jeweiligen Seite ergreifen, die Ellenbogen dabei im rechten Winkel eckig angehoben. In dieser geometrischen Haltung extrem aufgerichtet, stößt Menghini einen dumpfen, langgezogenen, metallisch klingenden Laut aus, beugt sich nach vorn und wandelt sich mit einem Mal zu einer Läuferin im Endspurt, die Beine nach hinten werfend, Arme und Schultern wuchtig im Rhythmus des Laufens bewegend. Adalisa Menghini hat ihr Stück Corpo a Corpo etwa zur selben Zeit wie Le Roys Self unfinished entwickelt, beschreitet jedoch einen umgekehrten Weg, indem sie einer Art evolutionären Entwicklung von Lebewesen, vom Boden/Kriechen hin zum Stehen/Mechanisieren der Bewegung folgt. Fluides wandelt sich in Festes, in muskulär Geformtes. Le Roy kehrt diesen Prozess, den er als Ektoderm beschreibt, um und dekonstruiert die Entwicklungslinie von roboterhaft, anorganischen Verbindungen hin zu einer sich beständig umbauenden Körpermatrix, die als Torso bisweilen Bilder abwirft. Bemerkenswert ist, dass beide Choreograph/innen Inversionen des Rumpfes und mitunter amphibisch wirkende Bewegungen benutzen (kriechen, hüpfen, rutschen), die den Eindruck des Difformen auslösen. Anders als Le Roy verbirgt Menghini nur zu Beginn ihr Gesicht, jedoch ist die Verfremdung ihrer Erscheinung durch Badeanzug (des ohnehin recht muskulösen Tänzerinnenkörpers) und Badehaube so stark, dass kaum entscheidbar ist, ob wir es hier mit einem Mann oder einer Frau zu tun haben – ähnlich wie in Passagen von Le Roys Solo. Wieder ist die Farbe Weiß ein wichtiger Faktor, womöglich um allzu rasche Bedeutungsproduktionen zu vermeiden: Nutzt Le Roy den White Cube als Laborsituation und Ausstellungsraum, konzentriert Menghini das Weiß auf den Körper selbst. So werden generell Phänomene von Differenz und Verfremdung aufgegriffen, die sich nicht mehr explizit mit Genderfragen befassen, sondern darüber hinaus den eigenen (Bühnen-) Körper als Träger von Fremderfahrung zur Disposition stellen (vgl. Brandstetter
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2001a: 6). Allerdings kann es dabei immer wieder zu Rückschlägen kommen, etwa wenn die Kritik, wie am Beispiel von Saskia Hölbling, sich weigert, weiblichen Tänzern kritische Körperpraktiken zuzugestehen. Alle bislang vorgestellten Beispiele arbeiten mit der Reduktion des Körpers auf den Torso – er ist das Motiv, das auch in Rezensionen immer wieder hervorgehoben wird. Ist nun diese Verdichtung auf den Rumpf als groteske Praxis einzuschätzen? Um sich der Frage anzunähern, wird im Folgenden ein Vergleich gezogen zwischen Xavier Le Roys Self unfinished (1998) und Eric Raeves’ Installation Interesting Bodies (1996).
1.4 Den Körper bilden. Körperskulpturen im Museum Interesting Bodies ist eine temporäre Installation mit Tänzer/innen, die explizit für Ausstellungsräume und Museen konzipiert ist (Borka 1996: 3).16 Das Publikum sitzt nicht auf einer Tribüne wie im Theatersaal, sondern hat die Möglichkeit, sich frei zu bewegen. Was ist zu sehen? In dem Video, das mir vorlag, wird der Gang durch die Ausstellung aus dem Blickwinkel des Publikums begleitet, durch die verschiedenen Räume und Stockwerke, in denen jeweils unterschiedliche Bewegungssituationen anzutreffen sind. Drei davon möchte ich hier beschreiben. Menschliche Körper liegen am Boden. Sie drücken sich gegen Wände oder kriechen, nach Art des Yogahandstands, mit den Füßen an ihnen hoch. Oft verharren sie in Posen, den Oberkörper derart gegen die Wand gedrückt, dass die Beine wirken, als ragten sie direkt aus ihr heraus und gingen mit dem Raum eine kaum lösbare Verbindung ein.17 In einem anderen Raum ist die Rückenansicht eines Torsos auf einem hohen Sockel zu sehen. Ähnlich wie in Saskia Hölblings Stück ist der Kopf eingeklappt, die Beine sind im Schneidersitz gefaltet. Da der Sockel vor einem hohen, hellen Fenster steht, ist die Gestalt ins Gegenlicht gerückt und erhält damit fast scherenschnitthafte Züge – einzelne Muskeln oder Hautpartien sind nicht auszumachen. Der Kopf ist eingezogen, die Beine in der Folge untergeschlagen und die Arme fest an den Körper gepresst. Aus der ruhenden Pose heraus bewegt der Torso seine Beine und bringt sie in einen halben Schneidersitz, bei dem die Oberschenkel den Boden nicht berühren. Das starke Gegenlicht verjüngt dabei die Beine, so dass ähnliche metamorphe Sensationen entstehen wie in Le Roys Torsosequenz, wobei hier der Tänzer ›richtig herum‹ sitzt. Als eine Art Counterpart ist seinem Körper ein am Boden kauernder Rumpf
16 Leider konnte ich die Namen der Beteiligten nicht ermitteln. Raeves arbeitet allerdings häufig mit Student/innen aus den Bereichen Tanz und Performance. 17 Diese Konfiguration erinnert an eine ähnliche Anordnung mit wächsernen Körperfragmenten des Künstlers Robert Gober (Ohne Titel, 1991) (vgl. zu Gober auch Schneede 2002: 82 f.).
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gegenübergestellt, auf den Schultern ruhend, das Gesäß nach oben, eine antipodische Spiegelung seines Gegenübers (Abb. 28). Offenbar befinden wir uns nun ein Stockwerk höher. Vor uns ist eine ganze Gruppe von insgesamt sechs rückseitig ausgerichteten Torsi zu sehen, die den einzelnen Körper aus dem vorhergehenden Saal multipliziert. In geordneter Folge hintereinander versetzter Paarungen ruhen die Torsi auf den Schultern, den Kopf eingeklappt und den Po nach oben gestülpt. Die Arme sind links und rechts ausgebreitet, wie in Le Roys beschriebener Sequenz (Abb. 29). Diese Vervielfachung amphibischer Wesen winkelt nun synchron die Arme an und bewegt das Hinterteil wackelnd von einer Seite zur anderen – der Anschein einer Chorus Line metamorpher Kreaturen entsteht. Nach einem kurzen Moment werden die Arme wieder flach zur Seite auf dem Boden abgelegt. Pause. Still. Aus dieser Haltung erheben sich die Tänzer/innen alle zugleich und gelangen von der invertierten Rumpfpose in ein stehendes Plié. Ende des Bildes.18
Abb. 28: Eric Raeves, Interesting Bodies (1996), Photo: Bart Michielsen
Abb. 29: Eric Raeves, Interesting Bodies (1996), Photo: Bart Michielsen
18 Leider ließ sich weder dem Video noch dem Informationsmaterial entnehmen, wie oft diese kurzen Situationen wiederholt wurden. Die Vermutung liegt allerdings nahe, dass das Publikum keine Reihenfolge einhalten musste, man also zu jeder beliebigen Zeit die verschiedenen Räume betreten konnte – der Choreograph deutet dies in einem Interview an (Raeves 2002: 253).
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Die Installation Interesting Bodies des belgischen Choreographen und Kostümbildners Eric Raeves ist in einer Reihe künstlerischer Projekte situiert, die den Körper als bewegtes Bild (Raeves 2002: 245) in skulpturale Arrangements versetzen (Raeves 1996: 12). Das Stück Solo Man (1995, Tanz: Frank Hoelen)19 erscheint als eine Art Vorstudie zur beschriebenen Installation. Ebenfalls auf einem hohen Podest ist ein liegender Mann zu sehen, in Untersicht blickt das Publikum genau auf seine Füße. Sehr langsam geht er in eine Brücke, setzt auf den Schultern auf, streckt die Beine und führt sie rückwärts, bis sie hinter dem Kopf zum Liegen kommen. Allmählich bewegt er sich so in eine Torsopose, Schultern unten, Kopf verborgen und Gesäß oben, ganz wie in Interesting Bodies oder Le Roys Solo. Allerdings bleibt der illusionierende oder changierende Effekt weitgehend aus, da der Körper kontinuierlich in die Pose hineingeformt wird, die Zuschauenden also sehen können, wie es ›gemacht‹ ist.20 Anders als Le Roy, der es ablehnt, seine Körperexperimente als Skulpturbildungen zu verstehen (vgl. Husemann 2002: 37), geht Raeves gezielt von der visuell gestalteten Umrisslinie des Körpers aus, der von einer »Pose« in die andere wechselt (Raeves 2002: 246 f.). Inspiriert ist diese ästhetische Annäherung an das Körperthema unter anderem durch seine frühere Arbeit als Modell für Maler und das lange Stehen in bestimmten Haltungen, um den Körper abzubilden (Borka 1996: 6). Kopf und Geschlecht verbergend und damit die Darstellenden depersonalisierend, soll der Fokus in Interesting Bodies auf die Materialität des Körpers selbst gerichtet werden (ebd.: 250 f.), ein ähnlicher Ansatz, wie ihn auch Saskia Hölbling verfolgt. Betrachtet man die Körpertransformationen Raeves’, so gewinnt man tatsächlich den Eindruck musealer Plastiken – oszillierende Effekte wie in Le Roys Arbeit wollen sich nicht so recht einstellen (auch wenn man beide Stücke im Video vergleicht). Wie aber kann ein und dieselbe körperliche Transformation zu solch differenten Eindrücken führen? Meines Erachtens spielen hierbei besonders drei Aspekte einer von Le Roy divergierenden künstlerischen Strategie eine wichtige Rolle. Zunächst sind die formwandlerischen Experimente Eric Raeves’, wie beschrieben, auf unterschiedliche Räume und zahlreiche Körper verteilt, die jeweils ein De-Formations-Thema in bestimmten Intervallen wiederholen. Man kann also theoretisch immer wieder dabei zusehen, wie die Verformungen hergestellt werden – Kontinuität und Fluss, wie in Le Roys Solo, sind hier nur in der Binnensituation der jeweiligen Körperverwandlung zu beobachten, in der Gesamtdramaturgie der Räume sind sie jedoch in zeitliche Rupturen und Repetitionen aufge19 Auch dieses Stück lag mir als Video vor. 20 Le Roy argumentiert in diesem Zusammenhang mit den Protagonist/innen der Minimal Art, die Praktiken der Repräsentation ablehnten: Er arbeite »ohne Tricks […] Man kann immer sehen, wie meine Bewegungen zustande kommen, wie sie konstruiert sind. Nichts ist spektakulär, es gibt keinen Raum für Spekulation. What you see, is what you see, hat der amerikanische Künstler Frank Stella gesagt.« (Karcher/Le Roy 1999, Onlineressource)
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teilt. Darüber hinaus nutzt Raeves Langsamkeit nicht im Sinne eines kritischen Tempos gegenüber der Virtuosität tanzender Körper oder aber als Motor ewiger Veränderung. Im Gegenteil: »Slowness does, however, offer you a better opportunity to get a hold of things.« (Raeves 2002: 249) Raeves’ Ziel ist es also, den Körper in der Transformation fest-zu-stellen, die Pose zu halten und Körperbilder des Fluiden zu erzeugen – interessanterweise zwei Jahre vor Le Roys Solo, das solche Fixierungen meidet. Eine wichtige Rolle, und das ist der dritte Aspekt, spielt dabei das Publikum. Wurde zuvor gesagt, dass sich die Besucher/innen der Installation frei bewegen konnten, so schränkt Raeves dies in einem Interview ein: Tatsächlich war es nicht möglich, nahe an die Darsteller/innen heranzugehen oder die Körper zu umkreisen.21 Die Distanzierung auf das Geschehen spielte eine wichtige Rolle, um die erzeugten Körperskulpturen nicht durch den analysierenden Blick zu zerstören: »I deliberately opt for distance. […] I decide what the spectator should see. If I let the spectator come too close, I am no longer in control of what he is going to see. […] When I observe an image, I immediately look for the ideal vantage point.« (Ebd.: 252) Die Betrachterperspektive ist ein entscheidender Punkt, denn was sich zunächst als experimenteller Raum einer site-specific Installation zeigt, wird durch den Choreographen gezielt gelenkt und bestimmt, ähnlich der Blickhierarchien, die das konventionelle Theater vorgibt. Die Wanderungsbewegungen des Publikum dienen dann letztlich nur dazu, von einem Theaterraum in den nächsten zu gelangen – das Objekt des Anblicks bleibt jedoch immer in illusionierender Ferne. Allerdings entstehen dabei keine so grotesk verschiebenden Eindrücke wie in Le Roys Self unfinished, obwohl die gleiche Körpertransformation gezeigt wird. Weshalb? Meine These ist, dass Le Roy gerade durch seine Entscheidung für einen konventionellen Theaterraum dessen Grenzen und die Mittel von Illusionsbildung dehnt und überschreitet. Die ›perfekte‹ Täuschung – Le Roys Körper etwa mit dem eines Frosches zu verwechseln – entsteht nur, wenn man genau in der Mitte des Saales, in klassischer Zentralperspektive sitzt (und das betrifft in der Regel sehr wenige Zuschauer/innen). Befindet man sich nur etwas weiter auf einer der Seiten, so changiert das Bild beständig in einer dialektischen Spannung zwischen Le-Roy-der-auf-den-Schultern-sitzt-und-den-Po-oben-hat und einer amphibischen oder insektenhaften Gestalt. Indem der Choreograph auf das räumlich immobile Publikum setzt, mobilisiert er dessen Blick,22 auch dadurch, dass er sich immer wieder in Seitenpositionen begibt, so dass Le Roy selbst als gefalteter Körper-in-persona wieder zum Vorschein kommt. Gerade weil es nicht um 21 Raeves achtete während der Installation darauf, eine bestimmte Distanz des Publikums aufrechtzuerhalten. Näherten sich Besucher/innen den Darstellenden an, wurden sie vom Aufsichtspersonal konsequent gebeten, den Abstand wieder zu vergrößern (vgl. Raeves 2002: 252). 22 Husemann spricht über Le Roys Arbeit als »Motilität des Sehens und des Denkens« (Husemann 2002: 87).
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das Theater als Illusionsmaschine geht, erzeugt er irritierend flirrende Effekte in der Wahrnehmung, schiebt sich Fremdes in Bekanntes und lässt sich damit als groteskes Phänomen behaupten – im Gegensatz zu Raeves’ Installation. Raeves ist wiederum vereinzelt vorgeworfen worden, Körperskulpturen nach Art der griechischen Antike zu erzeugen (sogar der Ruf nach Leni Riefenstahl wurde laut, was der Choreograph selbst nicht unbedingt ablehnt, Raeves 2002: 248). Max Borka, künstlerischer Berater des Projekts, hebt denn auch die Besonderheit hervor, den lebenden Körper im Museum zu präsentieren und damit die Grenzen zur bildenden Kunst zu überschreiten (Borka 1996: 10). Diese Praxis erinnert wiederum an die plastischen Darstellungen von Tänzerinnen um die 20. Jahrhundertwende, die als lebende Bilder Körperhaltungen und Gesten nachvollzogen, die sie den Motiven griechischer Vasenbilder entnahmen und mit denen sie zum Beispiel in den Antikensammlungen von Museen auftraten (Brandstetter 1995: 58 ff., 63): Olga Desmond präsentierte sich nackt, und Geneviève Stebbins kleidete sich in griechische Tuniken (ebd.: 62, 66).23 Elaboriert Brandstetter die Ästhetik lebender Bilder, in denen Tänzerinnen der Moderne ein jahrhundertealtes Gebärdenrepertoire im Sinne Aby Warburgs und im Zuge des damaligen »Griechenphantasmas« als vorgebliches »natürliches« Körperideal revitalisierten (ebd.: 61), so formt Eric Raeves den eigentlich dekompositorisch gedachten Körper zum musealen Archiv eines de-formierten Körperbildes um. Derart ins Bild gebannt, entzieht sich das Groteske, das doch nur an den Rändern von Verkennen und irritiertem Wiedererkennen existieren kann.
Abb. 30: Lia Rodrigues, Ce dont nous sommes faits (2000), Videostill
23 Die Praxis des Posierens nimmt Vanessa Beecroft in ihren installativen Performances wieder auf, in denen Frauen oft (fast) nackt mehrere Stunden lang in bestimmten Posen stehend verharren (so z.B. in VB55, Neue Nationalgalerie, Berlin 2005). Diesem Posieren wohnt in solcher Überhöhung allerdings explizit sein Scheitern inne: Nach extensivem Dauerstehen ist es den Mitwirkenden ›erlaubt‹, erschöpft zu Boden zu sinken (vgl. Brandstetter 2007b: 63).
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Dennoch bleibt die Faszination für auf den Rumpf verdichtete Körpertransformationen, die, wie zu sehen war, seit Mitte der 1990er Jahre in großer Zahl in den verschiedensten Tanzproduktionen erscheinen – auch die brasilianische Choreographin Lia Rodrigues nutzt diese dekompositorische ›Technik‹: Ihr Stück Ce dont nous sommes faits (2000) greift das Thema der Herkunft des Körpermaterials auf, als ›Stoff‹, aus dem wir gemacht sind: Nebeneinander aufgereiht präsentiert sie auf die Schultern gedrehte Rückenansichten von Rümpfen (Abb. 30).
1.5 Torsi in der bildenden Kunst Die beschriebenen intensiven Beschäftigungen mit deformierten und fragmentierten Körpern nehmen nicht erst in der Postmoderne einen so prominenten Platz ein. Die Ästhetik des non finito findet bereits in der Renaissance ihren Anfang (vgl. S. 71) und erlebt Ende des 18. Jahrhunderts, am Vorabend der Romantik, ihre Wiedergeburt – einer ihrer Beförderer heißt Johann Joachim Winckelmann. Der folgende Abschnitt lädt daher zu einer Exkursion in die Welt antiker Torsi ein, die zeigen wird, dass die Romantisierung des Fragments durchaus auch in zeitgenössischen Kunst- und Tanzästhetiken wieder anzutreffen ist.
1.5.1 Winckelmann und die Romantik des Unfertigen In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zeichnet sich ein Paradigmenwechsel hinsichtlich der bis dahin vorherrschenden Betrachtung von Kunst ab. Nicht mehr das mimetisch Vollständige wird zum Ideal erkoren, vielmehr rückt das Fragment, als Teil einen Hinweis auf das Ganze gebend, in den Vordergrund ästhetischer Urteile (vgl. Brückle 2001: 133 f.). Mit eingeleitet hat diese Wende der Archäologe Johann Joachim Winckelmann, dessen Beschreibung des Torso vom Belvedere (1759) in den vatikanischen Museen zum Ausgangspunkt vielfältiger Betrachtungen über das Unfertige wurde. In diesem Kontext kann nicht die ausführliche Wirkungsgeschichte antiker Torsi seit dem 18. Jahrhundert nachvollzogen werden. Vielmehr möchte ich auf einige ästhetische Aspekte aufmerksam machen, mit denen sich die Faszination für das Unfertige an die Rezeption von zeitgenössischem Tanz und Performance anschließen lässt. Winckelmanns Betrachtung des Torso vom Belvedere (Abb. 31) ist besonders geprägt von den Themen Stillstand versus Bewegung sowie der Imagination, die durch die Bruchstücke im Wunsch nach Ergänzung angeregt wird (Winckelmann 1759: 171; vgl. auch Wedewer 1982: 52 f.). In seinen Entwürfen greift er zunächst noch zu einem rhetorischen Kniff, um den Leser/innen die Einsicht in den Torso als Kunstwerk, das vor der gewohnten Ästhetik durchaus bestehen könne, nahezubringen: Er redet zu Beginn von einem »Stück Statue«, einem »fast unge-
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formten Klumpen Stein«, dessen Schönheit (und insofern Kunst) sich erst bei eingehender Betrachtung erschlösse (Winckelmann 1757: 280 f.).24
Abb. 31: Torso vom Belvedere, Vatikanische Museen, Photo: Susanne Foellmer
In der Folge beschreibt Winckelmann präzise den Verlauf der Muskeln des Torsos nach den Prinzipien von Kraft und Gegenkraft, von Positur und Bewegung (Winckelmann 1759: 171). Noch ausführlicher geht er in seinen Entwürfen auf Anatomie und Bewegungspotentiale ein (Winckelmann 1757: 282 ff.), wobei die Hervorwölbung der Muskeln und die Materialität der Haut im Marmor ein wesentliches Charakteristikum für die »immerwährend veränderten Formen« seien (ebd.: 282).25 Diese dynamisierende Beobachtung zwischen Still und Motion findet auch Ausdruck in der Verwendung von Naturmetaphern: So wird der Torso mit einem Baumstamm verglichen, der die Kraft der Statik versinnbildliche,26 der bewegte Fluss der Muskulatur wiederum mit den Wellen des Meeres (Winckelmann 1759: 170, 171). Solche Überhöhungen in die Sphären der Natur dienen allerdings auch dem Zweck, den Torso als Kunstwerk in einen überzeitlichen Zusammenhang zu transferieren (vgl. Schwinn 1973: 180 ff.), denn Winckelmann ist bestrebt, das rohe Fleisch, das Materielle von Haut, Adern und Muskulatur in den Rang des »Idealischen« zu erheben (Winckelmann 1759: 173) – weshalb sein schließlich veröffentlichter Text im Wesentlichen dieser Perspektive nachgeht. Damit wird freilich der sich fragmentarisch darbietende Torso in einer vorromantisierenden Wende als ideales Totum wieder in die Regionen ›ganzheitlicher‹, harmonischer Kunstwerke versetzt (vgl. Steiner 1984: 22, 24). Als Folie für ›ideale‹ Schönheit dient Winckelmann die Statue des Apollo im Belvedere (Abb. 32), auf die er mit Entrückung reagiert, gerade weil die Struktur des Steins fast blank und rein erscheine und nicht durch die Wölbungen arbeiten24 Diese Einleitung fehlt im 1759 veröffentlichten Text. 25 Barbara Stafford weist auf den biologisch-naturwissenschaftlichen Bezug von Winckelmanns Beschreibungen hin (Stafford 1997: 249). 26 Winckelmann nimmt dabei Bezug auf die etymologische Herkunft des Wortes Torso als Stamm bzw. Strunk.
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der Muskeln kontaminiert werde: »Keine Adern noch Sehnen erhitzen und regen diesen Körper, sondern ein Himmlischer Geist, der sich wie ein sanfter Strohm [sic!] ergossen, hat gleichsam die ganze Umschreibung der Figur erfüllet.« (Winckelmann 1757a: 267) Winfried Menninghaus weist darauf hin, dass es Winckelmann, in Abgrenzung zu einem grotesken Körper, explizit auf die Betonung eines glatten, ebenmäßig geschlossenen Äußeren ankomme: »Die Gestalt muss so aussehen, als ob sie kein Körperinneres habe; oder anders: sie muss so aussehen, dass jeder Gedanke an ein Körperinneres suspendiert wird.« (Menninghaus 2002: 85)
Abb. 32: Apollo im Belvedere, Vatikanische Museen, Photo: Susanne Foellmer
Die Imago verhilft Winckelmann nun, den ›roheren‹ Torso vom Belvedere ebenfalls auf die Ebene eines ›idealen‹ Kunstwerks zu befördern. Die Vorstellungskraft, die er in seinem Entwurf noch bemüht, um dem Verlauf der fehlenden Glieder nachzuspüren, wird hier teilweise schon mit der Idee von Stärke und Erhabenheit verquickt, wonach die Betonung der Muskeln eine Idee davon gebe, wie diese Schultern den »Himmelsglob[us]« getragen hätten (Winckelmann 1757: 281).27 In der späteren Textfassung imaginieren Entwicklung und Proportion der Muskulatur ferne Welten, in denen Herkules wohl seine Heldentaten vollbracht habe: Kraft also, um erhabenere, ›edlere‹ Ziele zu erreichen (Winckelmann 1759: 171).28 So konzentriert sich Winckelmanns Beschreibung aus27 Offenbar vertritt Winckelmann hier noch die Meinung, es handele sich um Atlas. Später spricht er durchweg von der Darstellung eines Herkules (Winckelmann 1759: 170 ff.). 28 Jacques Rancière hingegen sieht in Winckelmanns Betrachtungen eine »Politik der Gleichgültigkeit« eingelöst, die sich besonders dadurch hervorhebe, dass der vermeintliche Herkules in Ermangelung des Kopfes weder über seine Heldentaten berichten noch sie emotional ausdrücken könne. Die muskuläre Gerinnung vergangener Arbeit im Herkules-Rudiment unterstreiche – als Müßiggang – Winckelmanns Verklärung des Fragments als Schönheit (Rancière 2006: 95 f.).
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schließlich auf die Motivation, den Torso vom Belvedere aus den Niederungen der rohen Materie auf das Podest eines vergeistigten Kunstwerkes zu stellen, denn nur so hat es Bestand.29 Im Rahmen des gut zweihundert Jahre später stattfindenden Symposiums Das Unvollendete als künstlerische Form macht es sich André Chastel zur Aufgabe, der Romantisierung des Bruchstückhaften auf den Grund zu gehen und seine ästhetischen Erscheinungsformen genauer zu differenzieren (Chastel 1959: 84). Er unterscheidet in die Aspekte des Unvollendeten, Inkompletten (als »non finito«), des Fragmentarischen und des Hybriden (ebd.: 83 ff.). Für das Unvollendete wählt er exemplarisch die Skulpturen Michelangelos, etwa den Sklaven (1533) (ebd.: 83). Heinrich Wölfflin zitierend, hebt er den Stil der »Rustika« hervor, die den Formwerdungsprozess aus der groben Materie heraus betone: »Für den modernen Geist ist es bezeichnend, dass er gerne in der Architektur die Form sich mühsam aus dem Stoff herausarbeiten lässt, er will nicht das Fertige, sondern das Werdende sehen, den allmählichen Sieg der Form.« (Ebd.: 85) Das Fragmentarische wiederum sei vielmehr dem Zufall geschuldet, es handele sich um ehemals ganze Fundstücke, die der Lauf der Geschichte in ihre ruinierte Form gebracht habe: »Il s’agit là non de la forme impuissante mais de la forme accidentée: elle a été intégralement réalisée, puis altéré, brisée, en partie détruite par un accident extérieur, qui peut être dû à la nature ou à la durée c’est à dire à la histoire. On pourrait la nommer aussi la forme syncopée.« (Ebd.: 86) Der Torso vom Belvedere fällt etwa unter diese Zuordnung. Weiterhin erwähnt Chastel das Hybride, das er auch als Groteskes bezeichnet, handele es sich dabei doch um Mischungen, um Monstrositäten ambivalenten Charakters, wie etwa TierPflanzen-Metamorphosen (ebd.: 87). Insgesamt vereine alle drei Phänomene die Praxis der Desartikulation, die jeweils die »matière brut« zum Vorschein kommen lasse (ebd.: 88). Im Hinblick auf Xavier Le Roy und Eric Raeves wiederum sind Chastels Überlegungen zum Fragment als unfertige Materie sowie Winckelmanns Preisungen des Torsos in seiner idealisierenden Überhöhung des Bruchstückhaften fruchtbar. Besonders anhand der vorhergehenden Betrachtungen von Torsi lässt sich eine weitere Unterscheidung treffen, wird doch der Torso hier freilich – entgegen Winckelmanns Schließung ins ebenmäßige Kunstwerk mit der Betonung der glatten Fläche gegenüber dem Körperinneren – in eine fragmentarische Figur der permanenten Wandlungen umgedeutet. Verweigert sich Le Roy der Arbeit an 29 Stafford unterstreicht diesen hierarchischen Ansatz Winckelmanns, dessen Geschichte der Kunst des Alterthums (1764) sich dem Projekt der Aufklärung im Rahmen eines biologistischen Weltbildes verpflichte, das die Natur wiederum mit metaphysischen Ideen in Kontakt bringe: »Moreover, it outlined a seemingly atemporal and universal plan of development unfolding from the archaic, to the high, to the beautiful, to the mature, to the declining periods of material production. Rational order was visualized as a mathematical trajectory sketching the contours of the idea’s descent into nature.« (Stafford 1997: 251)
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einer bestimmten Form – wobei dann jedoch durchaus temporäre Bilder entstehen können, die mit der Person Le Roy oszillieren –, so wären seine Strategien in diesem Sinne als hybride einzuschätzen. Eric Raeves kommt es im Gegenzug vielmehr darauf an, von spezifischen Körperstrukturen auszugehen und Bilder zu formen, wobei die Verlangsamung den Prozess des Werdens vom Körper zum Bild deutlich machen und sowohl dem Künstler als auch dem Publikum gerade die Möglichkeit des Fest-Stellens geben soll: »The delight at being able to grasp something, the astonishment and fascination with creating, is of central importance« (Raeves 2002: 254). Hat Raeves die Körper-Bildung zum Ziel, kommt es Le Roy darauf an, Formungen so weit wie möglich zu verlassen. Nicht zufällig bezieht sich Raeves dabei auf den Bildhauer Auguste Rodin (ebd.), stand dieser doch für die Etablierung des Torsos als autonomes Prinzip in der Kunst. Nicht mehr der Verlust der Glieder einer antiken Welt ist nun zu beklagen, vielmehr wird gerade die Idee der »membra disjecta« zur leitenden Ästhetik (vgl. Dällenbach/Hart Nibbrig 1984: 15), in der die Künstler/innen den Körper gezielt auf sein vegetatives Zentrum hin verdichten (Elvers-Švamberk 2001: 13 f.). Dabei sind Momente des Werdens und Potentialitäten von Bewegungen die leitenden Motive in der Moderne, so etwa in den assemblierten Körperteilskulpturen Rodins, die mit der Konvention von Ganzheit in der Kunst brechen (ebd.: 16)30, oder in den bewegten Skulpturen Henri Matisses, die als »Emblem des Tanzes« zu fassen seien, so Kathrin Elvers-Švamberk (ebd.: 33). Bemerkenswert ist also, dass in der bildenden Kunst um 1900 der Torso als Möglichkeit dient, das Statuarische in Bewegung zu bringen und die Skulptur zum Raum hin zu öffnen – Tanz und Choreographie nutzen wiederum seit Beginn der 1990er Jahre die Konzentration des Körpers zum Rumpf hin, um sein Material in der Bewegung über Posituren, Intervalle und Verlangsamungen kritisch zu hinterfragen, beziehungsweise das kompakte Zentrum der Bewegung sukzessive zu segmentieren und aufzulösen – die Untersuchungen zu Bewegungspattern des Grotesken in Kapitel 4 werden sich damit genauer befassen. Die gleichzeitige Fragmentierung und Konzentration im Motiv des Rumpfes oszilliert seit der Moderne innerhalb eines Paradoxons, an der Schnittstelle von Dekonstruktion und (romantisierender) vereinheitlichender Übernahme des Fragmentarischen. Max Imdahl thematisiert diesen Konflikt an einem Beispiel der Minimal Art, auf das Bild Jericho von Barnett Newman (1968/69) Bezug nehmend, in dem das Titelmotiv auf zwei gleichschenklige Dreiecke reduziert ist: »Die bildübergreifende Seinsheit kann sich im Fragment des Bildes zur Totalität erfüllen, insofern das Fragment selbst zugleich ein Totum ist.« (Imdahl 1984: 121)
30 Es handelt sich um Rodins Assemblage von Köpfen und Händen der Bürger von Calais (um 1900).
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Die temporär erscheinenden Bilder im zeitgenössischen Tanz wiederum sind bisweilen bereits in den (historischen) Repertoiren der bildenden Kunst zu entdecken – der nächste Abschnitt greift zwei Beispiele heraus.
1.5.2 Rückenansichten Auf dem Bild eines Malers aus dem 19. Jahrhundert ist eine riesenhafte Gestalt zu sehen. Der unter ihr im Dunklen liegenden Welt, komponiert aus Hügeln, Wäldern und Dörfern, die sie um ein Mehrfaches an Größe überragt, dreht sie mit geballten Fäusten den Rücken zu. Es handelt sich um das Gemälde Der Koloss (um 1810-12) – bis vor kurzem noch Francisco Goya zugeschrieben (Abb. 33).31
Abb. 33: Goya irrtümlich zugeschrieben, Der Koloss (um 1808-12)
Im Zusammenhang mit seiner Bestimmung des Grotesken spricht Wilhelm Fraenger anhand einer Radierung ausführlich über das Motiv des Koloss’ in Goyas Malerei (Abb. 34) und vergleicht ihn mit der in ähnlicher Haltung sitzenden antiken Bronzeskulptur eines Faustkämpfers (Abb. 35). Wölbten sich die Muskeln der Skulptur stark hervor und zeigten die Kraft des Kämpfers, so seien bei Goyas Koloss die Körperkonturen ins Diffuse verwischt und gingen tendenziell in das Gewölk des Himmels über (Fraenger 1995: 23 f.). Ist bei Winckelmann das Einebnen der Körpermaterie noch Ausdruck für die Vergeistigung des Kunstwerks, so wird die Glättung und Verwischung der Formen in Goyas Bild nun zur Schreckensvision einer albtraumhaften Welterfahrung (ebd.: 24). Auf diese abgründige Form der Erhabenheit bezieht sich auch Jacques Derrida, ebenfalls anhand der
31 Neueste Forschungen ergaben Zweifel an der Autorschaft des Gemäldes und vermuten den Goya-Schüler Asensio Juliá als Urheber (Kahl 27.1.2009).
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Goyaschen Radierung des Koloss’. Er übersetzt die bei Kant kontrastierenden Begriffe des Schönen und Erhabenen – das dieser als »positive Lust« versus »negative Lust« fasst32 –, mit Harmonie versus Disharmonie und der Angstlust angesichts des Erhabenen (Derrida 1992: 156), aber auch mit der gewaltsamen Erfahrung von »Übermaß« und »Überschuss« (ebd.: 155, 157). In diesem Zusammenhang wird die Betonung des Rahmens wieder relevant (vgl. S. 94 ff.). Unterliege jede Darstellung generell der Endlichkeit einer Rahmung, die ihre Größe und Ausdehnung bestimme (Derrida 1992: 161), so schließe Goyas Koloss das Parergon geradezu aus (ebd.: 155). Übergroß wuchere er in den Bildraum hinein und sei, derart disproportioniert, »in seiner relativen Unbestimmtheit […] beinahe zu groß für den Blick […], der Aufnahme, der Auffassung, unser[] Auffassungsvermögen[] bestimmt.« (Ebd.: 153) Die Übergröße des Koloss attribuiert Derrida als Obszönes, das er als »beinahe-zuviel« definiert (ebd.: 151).
Abb. 34: Francisco Goya, Der Koloss, Radierung
Abb. 35: Faustkämpfer, Bronzestatue, Thermenmuseum Rom
32 Derrida paraphrasiert hier die Kritik der Urteilskraft (1957: 329).
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Hier lässt sich allerdings noch weiter gehen. Blickt man noch einmal auf das zum damaligen Zeitpunkt noch Goya zugewiesene Gemälde Der Koloss (Abb. 33), so erscheint die Gestalt zwar übergroß, hält den Proportionen des Riesenhaften allerdings noch stand, ist als Obszönes über-sichtlich am Horizont der dargestellten Welt verankert, jederzeit bereit, in das Geschehen einzubrechen. Die geballte Faust und der seitlich eingedrehte Blick lassen die Figur in jedem Moment als Präsenz erscheinen, die überproportional vergrößert den Bildraum dominiert und den Vordergrund schrumpfen lässt – womöglich war dies eines der Kriterien, die schließlich an der Autorschaft Goyas zweifeln ließen. Die Radierung hingegen zeigt eine andere Perspektive (Abb. 34). Der Blick der Gestalt, die am Weltenrand sitzt, ist nicht mehr auszumachen. Wohl ist der Kopf noch leicht zurückgedreht, doch das Auge bleibt verborgen. Die Dunkelheit des Gemäldes hat sich hier in ein diffus Opakes verwandelt, Häuser sind nicht mehr zu sehen, die Landschaft ist zur wüsten Ebene verflacht. So sitzt die Gestalt einsam am Rand einer Szene, die selbst kaum noch Konturen aufzuweisen hat – ›ob-scene‹ in einem nicht mehr gefüllten Raum. Derrida deutet die Radierung als »Negativität« der Darstellung (Derrida 1992: 156), jedoch ist diese Auffassung meiner Meinung nach zu ausschließlich. Vielmehr befindet die sich graduell de-figurierende Gestalt des Riesen genau am Rand, in einer Kipp-Position zwischen nochanwesend-in-der-Darstellung und fern-der-Szene-seiend. Der Blick auf die zugewandte Rückseite ergibt sich dabei als grotesker Topos einer Inversion, in welcher dem Ideal der Frontalansicht auch im Tanz der Rücken zugekehrt wird33 – das Stück No One is Watching (1995) der Choreographin Meg Stuart34 erinnert an die Radierung Goyas. Während sich auf der Bühne Tanzszenen ereignen, am Boden, oft solistisch, innerhalb einer Gruppe vereinzelt oder im Duett, sitzt am linken hinteren Bühnenrand eine sehr dicke, nackte Frau auf einem Hocker und dreht dem Publikum den Rücken zu (Abb. 36). Während des gesamten, eine gute Stunde dauernden Stücks bewegt sie sich nicht, und auch zum Schlussapplaus bleibt sie sitzen, so dass schließlich Irritation darüber entsteht, ob wir es hier tatsächlich mit einem Tableau vivant zu tun haben, ob diese Frau lebendig ist. Siegmund deutet die Position der Frau als obszönen Körper, da sie zwar den Blick immer wieder auf sich ziehe, jedoch das zeige, was üblicherweise auf der Bühne nicht zu sehen sei, »ein wucherndes Zuviel an Sichtbarkeit«, eine »Figur als anwesend gemachte Abwesenheit« (Siegmund 2006: 438 f.).
33 Zum Motiv des Rückens als Differenzfigur in der Kunstgeschichte, im Sinne einer »radikalen Kehre«, vgl. auch Weltzien 2001: u.a. 442. Melanie Suchy entfaltet ein Kaleidoskop von Rücken-Stücken im zeitgenössischen Tanz, wonach die Rückseite, etwa in Le Roys Self unfinished, besonders dann betont werde, wenn es um Verborgenes, Verführerisches oder die Thematisierung von »Zwischenwesen« gehe (Suchy 2008: 35 f.). 34 Dieses Stück konnte ich nur auf Video sehen.
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Abb. 36: Meg Stuart/Damaged Goods, No One is Watching (1995), Photo: Patrick de Spiegelaere
Verschiebt Siegmund den Akzent auf die Abwesenheit der Frau, die sich auch dadurch eintrage, dass sie nicht zurückblicke, so meine ich, dass sich das Obszöne hier vielmehr über seine groteske Positionierung am Rand der Szene erweist.35 Analog zu Goyas Radierung rückt die Frau immer wieder aus der Szene und bringt sich doch wieder ins Spiel, zieht die Blicke auf sich, lässt sich nicht wegdenken. In Stuarts No One is Watching kippt die Frau beständig aus dem Bild heraus und wieder hinein. Als Kontrastfolie zu den Bewegungen und Torsionen der Tänzer/innen am Boden, im Raum und an der Wand, bleibt sie statisch abgehoben von der Bildfläche und trägt sich doch immer wieder in sie ein, nicht zuletzt bei den Verbeugungen, die sie verweigert und das Augenmerk dadurch umso mehr auf sich lenkt. Barbara Stafford betont wiederum in ihren Ausführungen zu Goya, dass sich das Groteske seiner Bilder gerade in der Bewegungslosigkeit der Figuren darstelle (Stafford 1997: 273) – Groteskes ereignet sich hier also paradoxerweise nicht als Modus von Bewegung, wie mit Kayser, Rosenkranz und Fraenger ausgeführt (vgl. Kap. 1, 4.6.2), sondern als Still-Stellung, die wiederum den unruhig wandernden Blick der Zuschauenden einfängt und verstört.
35 Gleichwohl verweist Siegmund darauf, dass die Rahmung des Stücks selbst, »unter deren Bedingungen wir Tanz sehen«, hier sichtbar gemacht werde (Siegmund 2006: 440).
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Abb. 37: John Coplans, Torso, Front (1984), ©The John Coplans Trust
Abb. 38: John Coplans, Back View, Upright (1985), ©The John Coplans Trust
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Bildnisse des Überproportionalen kreiert auch der Künstler John Coplans in seinen photographischen Selbststudien, in denen er Teile seines jeweils kopflosen Körpers photographiert, die er Self Portraits nennt. Häufig nähert sich die Kameralinse in fast mikroskopischer Perspektive, so dass etwa Hände oder Füße wie poröses Gewebe aus dem Bild zu bröseln scheinen. Mit seiner Technik der Nahaufnahme sowie photomontierten Collagen unzusammengehöriger Teile seines alternden Körpers36 wendet sich Coplans vom proportionierten, gleichwohl fragmentarisch überlieferten Ideal der griechischen Klassik ab, wie er selbst betont (Coplans 2002: 175). Eines seiner Bilder präsentiert seinen fülligen Bauch in Frontalansicht, der nur noch wenig mit der muskulösen Vorderseite des Torso vom Belvedere zu tun hat (Abb. 37). Coplans ist an einer tendenziellen Auflösung glatter, strukturierter Proportionierungen des Körpers gelegen und bietet verfremdete Ansichten auf seine Figur.37 Er erzielt diese Effekte allerdings überwiegend mit konventionellen Positionen, im Sitzen oder Stehen abgebildet, in denen ausschließlich die fokussierenden Nahsichten irritierende Inversionen von oben und unten oder fraglichen Gliederzugehörigkeiten hervorrufen, die mitunter durch kleine ›Details‹ wieder gerade gerückt werden (Abb. 38). Die Photographie Back with Arms Above (1984) zeigt ein Close-up seines nackten Rückens. Der Kopf ist nach vorne verborgen, zwei Fäuste ragen anstelle des Halses aus dem massigen Körper heraus und wirken klein und unterproportioniert im Vergleich zum flächigen, breiten Rücken (vgl. Titelbild rechts). Im Gegensatz zu Xavier Le Roys Torsosequenzen erscheint Coplans’ Abbildung fast schon abstrakt38 kubisch, die Materialität, besonders jene der Haut, tritt hervor, wird aber, dem Bildrand so stark angenähert, zu einer Quadratur des Fleisches. Gerade diese Nähe, welche die Körperumrisse selbst schon kadriert und im Rahmen des Photos doppelt, verhindert, obgleich Bild, paradoxerweise die Formierung eines Körper-Bildes, im Sinne eines Torsos mit Bein- und Armansätzen oder etwaiger Anspielungen auf Tiermotive. Coplans’ Torso ist buchstäblich ein gigantischer Strunk, der auf die Gliedmaßen weitgehend verzichtet. So immobil, lässt er das Auge nahezu imaginationsfrei vorbeistreifen, anders als Le Roy, der durch seine Arbeit mit dem Photographen Laurent Goldring die zuvor erarbeiteten Bilder in Bewegung bringt und Körper-Images formt39, um sie jedoch gleich darauf wieder zu verflüssigen.
36 Coplans’ Karriere als Photokünstler begann im Alter von 64 Jahren (vgl. Coplans 2002: 166). 37 In einem Interview mit Jean-François Chévrier diskutiert Coplans seine Arbeiten unter der Maßgabe des Grotesken (im Kontrast zum Körperideal der griechischen Antike), verknüpft mit diesem Phänomen jedoch hauptsächlich Erfahrungen des Unheimlichen, im Sinne einer »fear of the unknown« (Chévrier/Coplans 2003: 8). 38 Barbara Zürcher verweist auf den abstrakten Gehalt der Coplansschen »Selbstinszenierungen« (Zürcher 2004: 92). 39 Goldring versteht seine künstlerische Arbeit explizit als Konstruktion von KörperBildern (Goldring 7.10.2008, Interview).
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Dass dabei Spuren von Bildern bleiben, die in laufende Diskurse eingetragen werden und Ästhetiken des zeitgenössischen Tanzes prägen, zeigt zum einen die Reaktion auf das Bild von John Coplans: Verschiedene Personen, denen ich es zum Betrachten gab, bemerkten spontan, dass das doch Xavier Le Roy sei. Solche Fixierungen im Bildgedächtnis werden wiederum in den letzten Jahren von einigen Choreograph/innen kritisch hinterfragt, wie der folgende Abschnitt ausführt.
2 K a r n e va l i s i e r u n g e n d e s U n a b g e s c h l o s s e n e n Dass sich aus Le Roys Körperfluktuationen bereits Bilder abgespalten haben, die eine zeitgenössische Ästhetik nicht zuletzt in der Erwartungshaltung von Tanzveranstalter/innen prägen und deren Suche nach neuen künstlerischen Entdeckungen beeinflussen, zeigt unter anderem die kritische Auseinandersetzung mit Ästhetiken des Tanzes seit den 1990er Jahren, die besonders Le Roys Strategien reflektieren und ironisieren, wie die Soli von Wagner Schwartz und Saša Asentić darlegen.
2.1 Das Metamorphe degradieren: Wagner Schwartz Berlin im April 2005. Das Festival Move Berlim, das zeitgenössischen Tanz aus Brasilien zeigt, steht kurz vor der Eröffnung. In vielen Zeitungen und Veranstaltungsmagazinen ist das Bild eines brasilianischen Künstlers zu sehen, in verdrehter, liegender Pose, dem Betrachter den Rücken zuwendend (Abb. 39). Es handelt sich um ein Standbild des Solos wagner ribot pina miranda xavier le schwartz transobjeto des Choreographen Wagner Miranda Schwartz (2004). Mit der Vorerwartung, anscheinend etwas zeitgenössisch Metamorphes zu sehen, geht man schließlich ins Theater. Bevor die sich bereits im Titel andeutenden Verweissysteme genauer betrachtet werden, welche das gesamte Solo durchziehen, ist zunächst das Stück selbst kurz vorzustellen.40 Die Choreographie ist in fünf sehr unterschiedlich lange Teile untergliedert, die wie Bilder aneinandergereiht sind und sich provisorisch betiteln lassen mit 1. Ankündigung, 2. Torsionen des Körpers, 3. Das rote Kleid, 4. Making Cocktails und 5. Rauchen unterm Sonnenschirm. Wagner Schwartz betritt die Bühne, den Oberkörper wie ein Sandwich zwischen zwei Plakatkartons gesteckt (Abb. 40). Mit einer Art kleinem Fernrohr betrachtet er das Publikum, während er einen Stein in der linken Hand hält. Der Arm hebt sich wie zum Wurf, hält jedoch inne, und Schwartz schlägt stattdessen 40 Hierfür lag mir die Aufzeichnung aus dem Berliner Theater Hebbel am Ufer (HAU 1), April 2005 vor.
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Abb. 39: Wagner Schwartz, wagner ribot pina miranda xavier le schwartz transobjeto (2004), Photo: Gil Grossi
Abb. 40: Wagner Schwartz, wagner ribot pina miranda xavier le schwartz transobjeto (2004), Photo: Gil Grossi
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die Plakatpappe über den Kopf. Zum Vorschein kommt eine rote Stoffbahn, die über seinem Bauch hängt und die Aufschrift trägt: »incorpo a revolta« – das Verkörpern des Revoltierens, von Umwälzungen also, die sich motivisch durch das Stück ziehen werden. Er entledigt sich der Pappe, unter der er nackt ist, und stellt ein Metronom an – das zweite Bild beginnt.
Abb. 41: Wagner Schwartz, wagner ribot pina miranda xavier le schwartz transobjeto (2004), Photo: Gil Grossi
Immer wieder von der gleichen Grundposition ausgehend – die Beine etwas mehr als hüftbreit auseinander gestellt, den Oberkörper nach vorne gebeugt und den Kopf zwischen beide Hände gepresst –, begibt sich Schwartz in unterschiedliche Körpertorsionen und Überstreckungen, die entfernt an Positionen aus dem Yoga erinnern und in denen er jeweils für circa zehn Sekunden verharrt. So dreht er sich etwa langsam ein, zieht das linke Bein nach rechts hinten und schiebt den rechten Arm unter der linken Achsel hindurch, oder er verlagert seinen gesamten Oberkörper inklusive der Arme hinter die stehenden Oberschenkel, den Kopf nach innen gezogen, so dass ein umgekehrter, nahezu kopfloser Rücken mit Beinen zu sehen ist (Abb. 41). Die Posen werden nach kurzer Haltezeit immer sehr rasch aufgelöst, fast wie eine Sprungfeder schnellt Schwartz aus den extremen Verdrehungen in seine Ausgangsstellung zurück. Schließlich ergreift er ein langes rotes Tuch, das er, immer noch den Oberkörper nach unten hängend, um Beine und Hals windet, als wolle er sich strangulieren. Er bittet das Publikum um Hilfe und schließlich betritt eine Frau die Bühne, die dann jedoch lediglich den
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Knotenpunkt des Tuches halten soll, damit Schwartz eine Schleife binden kann. Mit dieser großen roten Verzierung um den Hals singt er kopfunter ein Lied. Es handelt sich um einen Song für Carmen Miranda: They Had Said That I Came Back Americanized.41 Der Halsschmuck wird gelöst und der Choreograph geht zum dritten Bild über: Er zieht ein rotes Kleid an, das allerdings nur die Körpervorderseite bedeckt, rafft es bis über die Knie hoch und dreht die Beine nach innen ein. In dieser ›Mädchenpose‹, den Kopf geneigt, lächelt er das Publikum verschämt an und leitet die vierte Szene ein. Er kniet vor einer Reihe mit fünf leeren Weingläsern und verschiedenen Früchten, wie einem Apfel oder einer Melone, die er dem Publikum mit einer Handbewegung präsentiert, um sich anschließend vor dem Cocktailensemble zu verneigen. Die nun recht lange dauernde Sequenz ist von wiederholten Abläufen gekennzeichnet: Er füllt ein Glas mit Wein, nimmt eine der Früchte, quetscht sie mit bloßen Händen in das Glas aus, hält es hoch, schwenkt es ein paar Mal und trinkt es langsam aus. Von Glas zu Glas werden die Früchte größer, bis er schließlich eine ganze Ananas (mit Schale) in beiden Händen unter großem Kraftaufwand zerdrückt. Als verkleinernder Gegenpart folgt dann zum Abschluss eine Orange. Mit jedem Drink schwankt Schwartz etwas mehr: Sind es zunächst nur minimale Gesten wie ein leichtes Neigen des Kopfes oder ein entgleisender Blick, so steht er schließlich auf und versucht, bemüht um Balance, den Knoten des Kleides am Rücken aufzunesteln.42 Als das misslingt, begibt er sich in den Zuschauerraum, um sich helfen zu lassen und anschließend noch eine Zigarette zu schnorren – Bestandteil des fünften und letzten Bildes, in dem er, zurück auf der Bühne, breitbeinig unter einem Sonnenschirm sitzt, den Rücken zum Publikum gewandt, die Zigarette rauchend. Dabei ist Caetano Velosos Lied Tropicália aus dem Off zu hören. Black. Applaus. Auffällig an Wagner Schwartz’ Solo sind zunächst die beschriebenen Bühnen-Bilder, die das Stück strukturieren und die wiederum von expliziten Posen markiert sind, wie der Ankündigungspose im Plakat, den torsierten Yogahaltungen als Positur des Verdrehens und Verformens, der ›Mädchenpose‹, den Posen des Trinkens und schließlich Rauchens. Unterbrochen werden sie durch Interventionen im Publikum, die gleichfalls Posencharakter haben, so den der Verführung, wenn sich Schwartz das Kleid aufbinden lässt und anschließend um Feuer für seine Zigarette bittet mit den Worten: »Would you please light my fire?« Die Bildstruktur stellt zugleich auch das erste Zitat dar, das der Choreograph aus den Piezas distinguidas der Künstlerin La Ribot entnommen hat43 (vgl. S. 116 f.), auf die er außerdem mit dem ersten Stand-Bild, fixiert in den Plakatkartons, anspielt. Dabei flicht er ein zweites Verweissystem ein: Die Struktur der Nummerierung 41 Text und Musik von Luiz Peixoto/Vicente Paiva (1940). 42 Tatsächlich handelte es sich um eine Flasche mit echtem Wein, den Schwartz mit Früchten mixte und innerhalb von gut zehn Minuten austrank (Schwarz 17.08.2007, Interview). 43 So berichtet Schwartz im Interview (Schwarz 17.08.2007, Interview).
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der Titel von La Ribot übernehmend, kündigt er seine Haltung zweimal unter einem je verschiedenen Künstlernamen an, einmal ist es das Bild Nummer 15 von Hélio Oiticica, dann das Bild Nummer 1 von Lygia Clark – erwähnt sind damit die beiden Künstler/innen, die für den Beginn der Tropicália-Bewegung in Brasilien Mitte der 1960er Jahre stehen.44 Das Stück windet sich anschließend durch komplexe Netze von Bezügen, in denen der Körper Schwartz’ im Mittelpunkt steht – sie werden nun anhand der verschiedenen Motive untersucht.
2.1.1 Karnevaleske Torsionen Das zweite Bild, das ich mit »Torsionen des Körpers« überschrieben habe, erinnert in vereinzelten Haltungen an die Torsosequenzen aus Xavier Le Roys Self unfinished. Doch kann man sich fragen, weshalb, denn betrachtet man die einzelnen Verdrehungen, die Schwartz vornimmt, so gleicht zunächst keine den Köperwandlungen Le Roys. Vielmehr bringt sich Schwartz in leicht überstreckte, immer jedoch vom Yoga abgeleitete Positionen, in die er sich zwar langsam begibt, jedoch längst nicht in der ausgedehnten Zeitlupe wie Le Roy. Auch löst er die Haltungen jedes Mal sehr schnell auf, so dass vielmehr die ›Gemachtheit‹ der Posen und nicht so sehr ihre Mutation im Vordergrund steht. Wie also entsteht der Vergleich? Meine Vermutung ist, dass zunächst die massenhafte Verbreitung von Standbildern aus Schwartz’ Stück in den diversen Printmedien, um das Festival Move Berlim zu bewerben, für diese Kontextualisierung gesorgt hat. Ein zeitgenössischer Tänzer in verdrehter Haltung scheint augenblicklich Bilder des Metamorphen, wie man sie von Le Roy kennt, ins Gedächtnis zu rufen. Darüber hinaus regt die letzte Position, die Schwartz in seinen Torsionen einnimmt und bei der ein verkehrter Rücken ohne Kopf zu sehen ist (Abb. 41), fast augenblicklich Er44 Die Tropicália entstand im Zuge der Militärdiktatur, die seit 1964 in Brasilien herrschte. Der Begriff tauchte erstmals in einer gleichnamigen Installation des Künstlers Hélio Oiticica auf, der u.a. mit Lygia Clark zusammenarbeitete. Seine Konzepte griffen auf Oswald de Andrades Idee der »Antropófagia« zurück, im Sinne eines kulturellen und musikalischen Kannibalismus, der sich alle Genres ohne Unterschied einverleibt. Besonders Musiker wie Gilberto Gil und Caetano Veloso waren die Protagonisten der Bewegung ab 1967, der nur eine kurze Lebensdauer beschieden war. Als politisch bedrohlich empfunden, wurden Gil und Veloso im Dezember 1968 inhaftiert und nach London ins Exil verbannt, aus dem sie 1972 zurückkehrten (vgl. Wangerin 2007: 39 ff.). Dennoch war Tropicália nicht totgesagt und beeinflusste nachfolgende Generationen von Musiker/innen wie David Byrne, Kurt Cobain oder Nelly Furtado (vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/ Tropicalismo). Über die Tropicália ist nur sehr wenig nichtbrasilianische Literatur zu finden. Verwiesen sei auf die entsprechenden Informationen auf der englischen Version der Tropicália-Website (http://tropicalia.uol.com.br/site_english/internas/ index.php) sowie auf Dunn 2001 (musikalischer Fokus) und Wangerin 2007 (antropophages Theater).
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innerungen an Le Roys kopflosen Torso an. So jedenfalls erging es einem französischen Kunstkritiker, der im Jahr 2003 ein Showing aus Schwartz’ bisherigen Proben am Pariser Centre National de la Danse gesehen hatte. Wie mir Schwartz in einem Interview erzählte, hatte er dort ein Stipendium erhalten aufgrund eines Videos, mit dem er sich bewarb: Es waren die Körperrecherchen, die schließlich die Szene der Torsionen im späteren Stück bildeten. Offensichtlich bekam Schwartz das Stipendium aufgrund einer bestimmten, als zeitgenössisch beurteilten Ästhetik, die seine Arbeiten anboten. Vom einem Freund angesprochen, der das Video sah und meinte, dass man solche Körperpraktiken doch heute nicht mehr zeigen könne, weil sie nur das wiederholten, was Le Roy schon vor Jahren gemacht habe, konfrontierte ihn Schwartz mit der Tatsache, noch nie von Xavier Le Roy gehört zu haben – es war sein erster Aufenthalt in Europa. Und ob denn Le Roy seine Arbeit kenne? (Freilich tat er das nicht.)45 Die Ironie dieser Anekdote ist, dass Le Roy zu jener Zeit längst andere Projekte realisierte, die sich nicht mehr mit der Ästhetik des Ektoderms auseinandersetzten – das Image des Körperwandlers jedoch bleibt offenbar an ihm haften. Aus der ersten Frustration heraus, einer europäischen, avantgardistischen Ästhetik scheinbar immer nur hinterherhinken zu können, präzisierte Schwartz seine Recherchen, die seinen Körper als hybride Passage verschiedenster experimenteller Strategien ins Zentrum rücken. Das Metronom etwa ist ein deutlicher Verweis auf die genaue Taktung, mit der Le Roy seine Wandlungen vollzieht (vgl. S. 139): Dauer und Dehnung der Zeit werden bei Schwartz zu rasch eingedrehten Überstreckungen des Körpers, die auf den offenbar mittlerweile als solchen rezipierten Produktcharakter körperlicher Liquidationen verweisen. Anstelle von Fluss und Langsamkeit nimmt Schwartz die jeweiligen Posen gezielt ein. Will man die einzelnen Haltungen aber genauer beschreiben, stößt man auf Probleme. Anders als Le Roys Metamorphosen, deren einzelne Motionen im Wesentlichen auch sprachlich nachvollzogen werden können, misslingt das Unterfangen bei Wagner Schwartz. Umschreibt man die verschiedenen Torsionen, erläutert, wo das Bein nach hinten und der Arm zur Seite geht, endet man in einem ›Gliedersalat‹ und es ist kaum vorstellbar, in welcher Lage sich der Choreograph denn nun befindet. Auch sind die Posituren schwerlich mit Bildern abzugleichen, die man vielleicht schon einmal gesehen hätte. Die performative, parodierende Wiederholung einer Le Royschen Ästhetik, die Schwartz hier vornimmt, entsteht, so meine These, gerade nicht durch ein genaues Kopieren, Überzeichnen und Verschieben seiner situativen Bilder, sondern durch die grotesken Verfahren von Dismembering und Remembering der Körperglieder selbst, die sich als Weise zeitgenössischen Tanzes gebildet haben.46 45 Schwartz im Interview sowie in einem unveröffentlichten Text (Schwartz 2007). Er hatte später die Gelegenheit, mit Le Roy selbst zu sprechen. Dabei stellte sich heraus, dass beide von der brasilianischen Künstlerin Lygia Clark beeinflusst sind (Schwarz 17.8.2007, Interview). 46 Vgl. S. 21 sowie Brandstetter 2000b: 18.
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Wiederholt werden dabei nicht Normierungen, die im Butlerschen Sinn travestiert und somit verstört werden (Butler 1991: 203 f.), sondern gerade die Verstörung selbst, als Phänomen des Metamorphen wie bei Le Roy, die sich mithin als repetierbare Struktur ergibt. Es ist also nicht das Wiedererkennbare von amphibischen oder insektenhaften Formen, die Schwartz’ Stück offenbar nahtlos in die zeitgenössische Ästhetik Le Roys einfügen. Vergleichbarkeit entsteht vielmehr durch das Verfahren des Dekomponierens sowie durch einzelne, charakteristische Elemente, die aus Le Roys Motionen und situativen Bildern ausgeschnitten zu sein scheinen: Beiden Choreographen eignet eine Körperlichkeit mit sehr langen Extremitäten, die sich in Verknotungen und Überstreckungen verstricken – die Überzeichnung von Yogaposen spielt dabei womöglich auf Le Roys Yogatraining an (vgl. Le Roy 2005: 81), durch das er unter anderem die Mutationen seines Körpers im Stück ermöglichen konnte. Die horizontale Haltung Schwartz’, die dieser als zweite Position einnimmt, verweist außerdem auf Le Roys immer wieder an der Wand liegenden, ruhenden Körper des »Toten« (vgl. S. 142) – Schwartz verschiebt das Ruhepotential allerdings zu einer Pose, der die Potentialität von Bewegung inhärent ist: Arme und Beine sind gespannt und wie zum Sprung bereit (Abb. 39). Des Weiteren bringt er immer wieder Inversionen und Degradierungen ins Spiel, mit dem herunterhängenden Oberkörper, der das Gesäß als oben sitzend exponiert – in dieser Haltung wird schließlich auch das Lied über Carmen Miranda gesungen. Geht es in Le Roys Self unfinished um einen werdenden Körper, der sich in permanentem Wandlungsfluss befindet, so setzt Wagner Schwartz da an, wo diese Motionen bereits unfreiwillig zu geronnenen Bildern des zeitgenössischen Tanzes mutiert sind: Er zerlegt sie in ihre typischen Bestandteile und setzt sie wieder neu zusammen, ein Verfahren, das er selbst als Ästhetik von »copy and paste« bezeichnet (Schwartz 17.8.1997, Interview).47 Dabei bedient er sich, ähnlich wie Valeska Gert, der Praktiken des Supra-Grotesken (vgl. S. 109), Überformungen dessen, was selbst schon als groteske Strategie beschrieben werden kann. Schwartz karnevalisiert die unabgeschlossenen Posen Le Roys buchstäblich, in dem er sie sich einverleibt, seinen Körper durchlaufen lässt und als Ikonen des Grotesken ausscheidet – die folgenden Motive geben darauf weitere Hinweise.
47 Helmut Ploebst betont wiederum den Modus der »Überschreitung« als interkulturelle Strategie von Choreographen wie Xavier Le Roy und Jérôme Bel selbst, die sich von »exotistischen« Erwartungshaltungen an virtuose Körper absetzten (Ploebst 2004: 157).
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2.1.2 Tanz fressen Das szenische Bild »Making Cocktails« schließt an mehrere Diskursstränge an. Zunächst erinnert es aus europäischer Sicht an eine ironisierende, auf Cocktailgläser reduzierte Version des Orgien Mysterien Theaters Hermann Nitschs48 (also an eine Handlung mit rituellem, festlichen Charakter) – das Verbeugen vor dem Mixen der Getränke und die repetitive Struktur, mit zunehmender Alkoholisierung des Choreographen, deuten darauf hin. Im Zusammenhang mit den vorherigen Bildern, in denen Schwartz Pina Bausch zitiert – mit dem roten, um den Hals geschlungenen Tuch und dem roten Kleid, das er für diese Szene trägt –, wird außerdem das Opfer in Bauschs Le sacre du Printemps (1975) durch das rituelle Opfern von Obst ironisch aufgegriffen. Darüber hinaus ist das Mixen der Wein-Frucht-Cocktails zunächst eine schlichte Hommage an ein beliebtes Getränk in Brasilien (Schwartz 17.8.2007, Interview), die allerdings durch die Steigerung, was die Menge der Drinks in der Kürze der Zeit und die zunehmende Größe der malträtierten Früchte anbelangt, grotesk hyperbolisiert wird. Quetschen und Trinken bieten zudem einen wichtigen Hinweis auf die Ästhetik des Antropophagen (vgl. Schwartz 2005, Programmheft, Avelar 2.5.2004), die eine zentrale Stellung in Schwartz’ Arbeiten einnimmt. Im Mai 1928 veröffentlichte der brasilianische Schriftsteller Oswald de Andrade in der ersten Ausgabe der Revista de Antropófagia das kannibalistische »Manifesto Antropófago«, in dem Konzepte von Originalität und Autorschaft zugunsten eines Einverleibens von Kulturen aufgegeben werden. »I am only interested in what’s not mine«, postuliert Andrade und wendet sich sowohl gegen die rationalistischen Denkweisen christlicher Provenienz mit ihren Triebverboten und Restriktionen als auch gegen Verknöcherungen im Sinne von »urban scleroses« (Andrade 1928, Onlineressource). Geist und Körper sollen durch Fressen und Einverleiben von Ideen, Menschen und kulturellen Kontexten vereint werden, so Andrade: »I asked a man what Law [sic!] was. He replied it was the guarantee of the exercise of possibility. That man was called Galli Matias. I ate him.« (Ebd.) Andrades polemische Postulate sind in der Folgezeit für ein spezifisches Verständnis brasilianischer Kultur bedeutend geworden, die sich als eine hybride versteht (vgl. Dunn 2001: 4).49 Beschreibt Christopher B. Balme das »synkretische Theater«, in dem Theaterästhetiken (westlicher) Industrienationen etwa auf afrikanische Kulturen treffen, als »Vermischung disparater Kulturtexte« (Balme 1995: 30), so ist bei Wagner Schwartz keine vorsichtige Annäherung mehr auszumachen. Vielmehr 48 Herrmann Nitsch begann mit dieser Aktion 1963 und setzte sie in den darauffolgenden fünfzehn Jahren weiter fort (vgl. Fischer-Lichte 1998a: 25 ff.). Vgl. hierzu auch den Zusammenhang zu Franko Bs Performances (S. 316). 49 Imke Wangerin weist auf Andrades Einfluss auf den Surrealismus hin und erläutert sein utopisches Konzept der Einverleibung als »Kulturtechnik« des Hybriden, in welcher der Körper zum »Erkenntnisorgan« werde (Wangerin 2007: 9, 25 ff., 28, 76 f., 83).
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wird alles, was sich aus den Diskursen (zeitgenössischer) europäischer Tanzästhetiken anlagert, verschlungen und dem Körper einverleibt: Pulp art. Pulp identity. Solche Einverleibungen sind schon im Titel des Solos sichtbar: wagner ribot pina miranda xavier le schwartz transobjeto zeigt ein Sampling von Ikonen kulturellen Allgemeingutes, zu denen gemäß Schwartz Xavier Le Roy mittlerweile ebenso gehört wie Sängerin und Hollywoodstar Carmen Miranda oder Pina Bausch. Sie werden unterschiedslos im Körper des Choreographen angesammelt und implantiert. So entstehen temporäre Repräsentationen vormals fluider Erscheinungen wie jene Le Roys – die brasilianische Tanzwissenschaftlerin Nirvana Marinho bezeichnet ein solches Sampling als charakteristisch für die Art der Aneignung von Tanzdiskursen in Brasilien. Der zeitgenössische Körper sei »traversed by a multitude of information […] It is an ongoing game between the body and the environment as an open structure« (Marinho 2003: 63 f.). Ihrer Meinung nach ist der Körper ein transitorisches Gefüge beständigen Sammelns und Neuverhandelns von Informationen, um die jeweils (momenthafte) Position des Körpers im zeitgenössischen Tanz bestimmen zu können (ebd.: 67). In seinen Erläuterungen zum Stück verortet sich Schwartz selbst an den Rändern tanzender Diskurse, in einer Perspektive des Hybriden: »[T]he margin is not interested in the duration of the center but tries to give back potentiality to the instant« (Schwartz 2005, Programmheft). Damit scheint er sich auf Homi K. Bhabas Skizzierung des Hybriden als »kritischer Diskurs« fortwährender »Verhandlung[en]« von Identität zu beziehen (Bhaba 2000: 38). Bhabas teilweise zu idealistischer Ansatz erhofft sich aus der Position des Marginalen heraus die Überwindung von Dualismen hierarchischer Ordnungen, »von selbst/anderem, von Innen/Außen« (ebd.: 172). Potentiale von Subversion entstünden dabei in den Intervallen, in der »diskontinuierliche[n] Zeit von Übersetzung und Verhandlung« (ebd.: 57), in einer »Zwischen-Zeitlichkeit«, die sich durch das Operieren an Grenzen ergebe (Bhaba 1997: 141) sowie durch das Auftreten von »Zwischenräume[n]«, die durch »Überlappen und De-platzieren« hervorgebracht würden (ebd.: 124). Es ist nun keineswegs so, dass Schwartz mit seinem Solo das Ideal des von Bhaba gewünschten dritten Weges als finites Ziel erreicht hätte. Vielmehr kommt hier eine weitere Dimension des Karnevalesken ins Spiel, das sich über eine zeitliche und temporäre Begrenzung ergibt: In diesem Spalt ereignen sich Umwälzungen und Irritationen, um gleich darauf (oder gar davor, wie die Printankündigungen zeigen) wieder in ein Diskurssystem von Zuschreibungen eingewoben zu werden. Das Phänomen des Karnevals zeigt sich also in Wagner Schwartz’ Stück in seiner doppelten Bestimmung des körperlichen Einverleibens von (Um-)Welt und Kontexten sowie seiner begrenzten raumzeitlichen Verfasstheit, am Rand von Gesellschaftsordnungen, wie sie Bachtin formuliert (vgl. S. 98 f.). Das Hybride brasilianischer Identität ergibt sich dabei nicht zuletzt aus dem zusammengesetzten Namen des Choreographen Wagner Miranda Schwartz, der sich zum
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Teil im Titel des Solos spiegelt und sich aus dem Namen seiner portugiesischen Mutter und seines österreichischen Vaters ergibt – eine Komposition, die in Brasilien häufig anzutreffen ist.50 Gleichwohl verweist »Miranda« auf eine der einverleibten Ikonen des Stücks. An der Person Carmen Miranda macht sich der Konflikt einer als hybrid erscheinenden Identität fest, die dann doch wieder Brasilianisches attribuieren soll, wobei durchweg unklar ist, wie dies zu definieren wäre.
2.1.3 Tropische Exotismen, komposite Identitäten Die Sängerin Carmen Miranda wurde in den 1940er Jahren bekannt durch ihre zahlreichen Hollywoodproduktionen: Mit Plastikobst auf dem Kopf bediente sie in Filmen wie Weekend in Havanna (1941) als All Latinamerican Women die Sehnsüchte und damit verbundenen Stereotypen »einer heißblütigen, sexuell promiskuitiven, rassisch gemischten Mestiza«, so Inge Baxmann (Baxmann 2002: 35). Ihr hybrider Mix aus Darstellungsstilen und Tänzen wie Rumba und Samba, die sie den unterschiedlichen Nationen Lateinamerikas entnahm, wurde ihr, zurück in Brasilien, als »Verrat« an den Traditionen des Landes ausgelegt (ebd.) – wobei dessen gesellschaftliche Konventionen selbst nicht uneinheitlicher sein könnten, was allein schon die regionale Diversität der unterschiedlichsten brasilianischen Volkstänze sowie Einflüsse der Moderne zeigen51, einhergehend mit der Tatsache, dass sich brasilianische Identität gerade durch ihr Sampling als typisch erweist (vgl. Pereira 2000: 29).52 In Hollywood wurde es für Miranda wiederum zunehmend schwerer, dem Bild der ›klassischen Latina‹ zu entsprechen, die »mit schwerem Kunstakzent ihr immer besser werdendes Englisch vertuschen musste, um noch als ›Brasilianerin‹ zu gelten«, so Roberto Pereira (Pereira 2000: 29). Das Beispiel Carmen Mirandas verweist auf das Phänomen einer doppelten, sich verkehrende Exotisierung.53 Denkt man zurück an das Beispiel La Argentinas, deren Tänze als eurozentris50 Sein hybrider Name war eine der Inspirationsquellen für die Erarbeitung des Solos. Ungewöhnliche Vornamen wie Wagner sind durchaus üblich in Brasilien, beliebt ist zum Beispiel auch der Vorname Mozart (Schwarz 17.08.2007, Interview). 51 Vgl. Move Berlim 15.4.2007, Podiumsdiskussion sowie Pereira 2000: 29. Zur Frage von Nationalklischees im Tanz vgl. auch Foellmer 2004: 92 ff. 52 Sabine Sörgel zeigt auf, dass ein hybrides Verständnis von Identität ein wichtiges Charakteristikum lateinamerikanischer Kulturen sei und spricht, auf Homi K. Bhaba verweisend, im Zusammenhang mit der Karibik von einer »anti-essentialist Creole identity«, die die Unmöglichkeit von Festlegungen zeige (Sörgel 2007: 28, 30). 53 Im Rahmen dieser Arbeit kann das Phänomen des Exotismus nicht ausführlich diskutiert werden. Verwiesen sei hier u.a. auf Edward W. Saids Forschungen im Feld der Postcolonial Studies (Said 2003) sowie auf Brandstetters »Modell des Exotismus« in der Rezeption der weiblichen (Tanz-)Avantgarde (Brandstetter 1995: 207 ff.).
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tisch überformte Wunschvorstellungen einer Spanierin von Valeska Gert entlarvt wurden (vgl. S. 111), so geschieht mit Miranda im US-amerikanischen Kontext Ähnliches. In ihrer Heimat Brasilien wiederum wird das Klischee des Exotischen umgedreht und dabei dupliziert: Miranda wird vorgeworfen, keiner originären brasilianischen Kultur mehr anzugehören, die ohnehin nur als Wunschvorstellung existiert. Exotisierungen werden dabei allerdings von Brasilianer/innen selbst herbeigeführt, im Verwerfen dessen, was nicht typisch sei und projiziert durch das transportierte Bild der Kulturindustrie Hollywoods. Indem Wagner Schwartz den Song über Carmen Miranda kopfunter singt, betont er die absurde Suche nach einer fixierten Identität, die er in seinem letzten Bild, unter dem Sonnenschirm wieder aufnimmt: Aus dem Off ist Caetano Velosos Lied Tropicália zu hören, das der politischen Bewegung von Künstler/innen 1967 seinen Namen geben hat. Tropicália machte es sich zur Aufgabe, die über Brasilien noch herrschenden Klischees durch bewusste Integration gezielt zu unterwandern, wozu die Wahl des Namens dieser Strömung und das Spiel mit tropischer Leichtigkeit und Lebenslust gehörten – auch auf sie wird in Schwartz’ Solo mit den zahlreichen Fruchtdrinks verwiesen. Christopher Dunn bemerkt dazu: »Tropicália was an exemplary instance of cultural hybridity that dismantled binaries that maintained neat distinctions between high and low, traditional and modern, national and international cultural production.« (Dunn 2001: 2)54 Frantz Fanon wiederum spricht von einer prekären Ontologie in der Identitätsbildung einer vormals kolonialisierten schwarzen Bevölkerung, da sich eine mögliche Versicherung des Eigenen immer nur durch die Linse des weißen Blicks ereignen könne, »[d]enn der Schwarze ist nicht mehr schwarz, sondern er steht dem Weißen gegenüber.« (Fanon 1985: 79) Ähnlich den präformierten Vorstellungen also, wie eine lateinamerikanische Frau zu sein habe, namentlich Carmen Miranda, sind auch Schwarze »von außen überdeterminiert« (ebd.: 84) und würden mit Sex gleichgesetzt (ebd.: 115).55 Wird die Position der schwarzen Bevölkerung Brasiliens in Wagner Schwartz’ Stück eher als Teil einer hybriden tropischen Kultur miterwähnt, so zeigt der Choreograph Luiz de Abreu, dass sich trotz Kulturmix und Sampling noch immer hartnäckige Klischees über Schwarze halten, selbst oder gerade in Brasilien. In seinem Solo Samba des verrückten Negers (2004)56 tritt er nackt auf die Bühne, nur mit hohen, silbern glänzenden Stiefeln bekleidet. Sämtliche Kli54 Zur Tropicàlia vgl. Anm. 44, S. 180. 55 Vgl. Lepecki, der mit Fanon ähnliche Bezugssysteme am Beispiel von Vera Manteros künstlerischer Auseinandersetzung mit Josephine Baker in ihrem Solo one mysterious Thing said e.e cummings (1996) nachvollzieht (Lepecki 2006: 106 ff., besonders 113, 115). 56 Auf Brasilianisch heißt das Stück O samba do crioulo doido, was wörtlich übersetzt »Samba des verrückten Kreolen« heißt und ein umgangssprachlicher Begriff für Verwirrung ist (Pereira 2005: 69). Für die Analyse lag mir ein Video des Stücks vor (Aufzeichnung vom April 2005, HAU 1, Berlin).
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schee-Erwartungen bedienend, wie mit dem Hintern wackeln oder ein strahlend weißes, die Zähne entblößendes Lächeln zeigen, irritiert die Darbietung doch, da sich de Abreu aus heterosexuell determinierten Zuschreibungen ausklinkt. Pereira beschreibt seine Erfahrungen anhand der Aufführung des Stücks in Brasilien: »Man schaut auf ihn mit dem Blick eines Fremden, der den Reiz dieses Exotischen gierig aufnimmt. Er sieht aus wie ein Brasilianer, aber alles an ihm wirkt diskriminierend und ausgrenzend. Auf den ersten Blick scheint es sich um eine Ästhetik der GayDiskotheken und ihrer Transvestiten-Shows zu handeln. Doch das scheinbar darauf Reduzierte provoziert zugleich. Er scheint diese Blicke auf ihn, fremd oder verwirrt, anzuprangern. Denn was heißt es, heute in einem Land wie Brasilien Schwarzer, Gay und Tänzer zu sein. […] Und die Verwirrung wächst, wenn man versucht, die Bewegungen auf der Bühne zu klassifizieren. Sein Tanz ist Samba, aber durchmischt mit Elementen des Balletts und des zeitgenössischen Tanzes.« (Pereira 2005: 71)
Abb. 42: Luiz de Abreu, Samba des verrückten Negers (2004), Photo: Antoine Tempé
Pereira schildert Hybridisierungen, wie sie schwarze Tänzer/innen schon in früheren Zeiten vollzogen. Wurde Josephine Baker etwa bescheinigt, mit ihrem Danse de sauvage in der Pariser Revue Nègre (1925) ein besonders typisches Beispiel afrikanischer Tanzkultur darzubieten, so waren ihre Auftritte vielmehr ein überformtes Konglomerat aus Musicaltraditionen der USA und ihren Begeg-
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nungen mit George Balanchine, der für sie sogar einige Revuenummern choreographierte, in denen sie auf Spitze tanzte (vgl. Burt 1998: 65).57 Die brasilianische Tanzwissenschaftlerin Helena Katz betont demnach auch: »Kolonisierte haben eine Karikatur von sich selbst zu verbreiten, so dass die Welt eine ethnologisch-volkstümliche Vorstellung vom brasilianischen Tanz haben möge: Sie sieht die Straßen Brasiliens mit fröhlichen, gestikulierenden, energiegeladenen, erotischen, rhythmisch mit dem Hintern wackelnden Menschen bevölkert.« (Katz 2000: 30) Luiz de Abreu spielt nun genau mit diesen Momenten der Karikatur, indem er das Bild des erotischen Schwarzen durch seine Nacktheit, die Stiefel und das Betonen einer sexualisierten Gay-Kultur weiter auflädt: Im Sambarhythmus schwingt sein Penis mit, wobei sein Körper vor einer Hintergrundkulisse aus brasilianischen Landesflaggen ausgestellt ist – ein großes Exemplar der Fahne erscheint nach einer Weile auf der Bühne selbst und wird von Abreu schließlich in seinen Hintern geschoben (Abb. 42). Konnte für Valeska Gert das Prinzip des Supra-Grotesken durch die Überformung schwarzer, damals als grotesk empfundener Nacktheit formuliert werden, und führt Wagner Schwartz diese Strategie in der Übernahme und Verschiebung weißer, grotesker Praktiken eines Xavier Le Roy weiter, so treibt de Abreu das Spiel auf die Spitze. Der exotisierte schwarze Körper, der sich, so Katz, nur als Selbstkarikatur auf die Bühne stellen könne, wird von ihm nochmals als grotesker betont und zur Schau gestellt: durch die homoerotische Überformung seines Körpers, das überdeutliche Zeigen des Geschlechts sowie die, mit Bachtin, groteske Degradierung der Nationalfahne, mit der man sich allenfalls noch den Hintern abwischt. Nebenbei wird auf die Notwendigkeit verwiesen, (exotische) Fremdheit entsprechend der Marktbedürfnisse einsetzen zu müssen, um das ökonomische Überleben als Performer zu sichern (vgl. Lepecki 2000a: 6). Der Körper wird damit einmal mehr zum Austragungsort machtpolitischer Diskurse, wie sie auch Foucault formuliert (Foucault 1977: 175; vgl. auch Balme 1995: 156), deren Thematisierung nicht-europäischen Künstler/innen zuweilen immer noch nicht zugestanden wird. Das zeigt eine Reaktion der Berliner Kritikerin Michaela Schlagenwerth auf Schwartz’ reflektierenden Programmtext zu wagner ribot pina miranda xavier le schwartz transobjeto, die sich als klischierte Erwartungshaltung an schwarze Einfachheit und Unbeschwertheit erweist: »Dann schreibt man komplizierte Texte über sein Stück, viele Choreographen tun das, auch Wagner Schwartz. Er schreibt, warum die Namen zeitgenössischer Choreographen – La Ribot, Xavier Le Roy, Pina Bausch – als ›Metatext‹ und ›kodifizierte
57 Baker erging es ähnlich wie Carmen Miranda, die sich für ihre amerikanischen Filme einen künstlichen Akzent zulegen musste: Bei den Proben zur Revue Nègre wurde Bakers Tanzstil als zu »zivilisiert« kritisiert – daraufhin entstand ihr berühmter Danse de sauvage, der freilich ihren eigenen, eurozentristisch überformten Vorstellungen davon entsprach, was ›afrikanisch-sein‹ bedeuten könnte (vgl. Burt 1998: 64 f.).
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Zeichen‹ ›hybride Räume ohne Autorschaft‹ eröffnen. Doch in Wahrheit ist alles viel einfacher. Sehr einfach sogar.« (Schlagenwerth 2005: 47)58 Wird hier einem brasilianischen Künstler die Berechtigung, das eigene Tun diskursiv zu reflektieren, schlichtweg abgesprochen, problematisiert der serbische Choreograph Saša Asentić das künstlerische Produzieren als immer schon von westlichen Diskursen präformiertes.
2.2 Saša Asentić: Ikonisierungen des Fluiden My Private Biopolitics (2007) ist eine Lecture Performance des aus Bosnien stammenden, in Serbien lebenden Choreographen Saša Asentić, die im Rahmen des Festivals Tanz im August 2007 zu sehen war, eine Plattform, die aktuelle Tendenzen im zeitgenössischen Tanz sowie etablierte Choreograph/innen und Compagnien zeigt und die auch Künstlern wie Xavier Le Roy zu größerer Bekanntheit verhalf. Asentić formuliert in seiner Lecture die Schwierigkeiten, die Künstler/innen aus Osteuropa hätten, sich in einen westlich dominierten Tanzdiskurs einzubetten, und die der Anlass waren, sich mit der Frage von Originalität und Kopie auseinanderzusetzen (Asentić/Vujanović 2008: 73).59 Das Netzwerk wuchernder Diskurse im Tanz spiegelt sich dabei auf mehreren Ebenen seiner Präsentation. Fein säuberlich ist die Bühne unterteilt in einen linken, diskursiven Ort, mit verschiedenen Gegenständen, Büchern und Textpapieren, die der Choreograph später als seine Arbeitsmaterialien vorstellt, und einen ›Dance-Space‹ auf der rechten Seite, der allerdings auch schon von Zitaten und Verweisen durchzogen ist, wofür Asentić zu Beginn eine doppelt bildliche Metapher findet: In einem goldenen Rahmen hängt ein Bild von der Bühnendecke, das eine Tänzerin in weiten Schleiern zeigt. Wiewohl fiktiv, erinnert die Figur körperbildlich an Tänzerinnen wie Isadora Duncan oder Loïe Fuller. Dieses Bild befestigt der Performer nun mit Bindfäden am Boden, die er mit einer Nadel durch das Bild sticht – und so durchwebt bereits der Tanz der Moderne das, was Asentić uns anschließend zeigen wird (Abb. 43). Sodann entkleidet er sich und wir sehen, dass sein Körper an einigen Stellen mit kleinen Stücken aus Kunstfell beklebt ist: Er imitiert Posen des berühmten Tänzers Vaslav Nijinski aus dem Stück L’Après-midi d’un faune (1912). Wieder in Trainingskleidung, bittet Asentić das Publikum um Mithilfe bei einer Bewerbung für das Festival Aerowaves, das seit zehn Jahren an ver58 Schlagenwerth spielt auf die Tatsache an, dass Schwartz auf der Bühne allmählich betrunken wird. 59 Meine Informationen beziehen sich auf das ursprüngliche Manuskript der Lecture Performance vom 19.8.2007, das wiederum im März 2008 in einer grammatikalisch überarbeiteten Fassung im Journal Performance Research erschien und die Dramaturgin Ana Vujanović als Mitautorin nennt. Aus dieser Printversion wird im Folgenden zitiert.
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schiedenen Orten Europas junge, vielversprechende Choreograph/innen präsentiert. Die Frage, was hier wohl gefordert sei und wie Zeitgenossenschaft so verpackt werden könne, dass sie von Veranstalter/innen eingeladen wird, und was man abgesehen davon überhaupt noch zeigen könne, ohne die Ästhetiken von Choreographen wie Jérôme Bel und Xavier Le Roy zu imitieren, zieht sich von nun an thematisch durch die gesamte Lecture Performance. Asentić stellt seine eigene Arbeit als von zeitgenössischen Ästhetiken beeinflusst und buchstäblich durchflochten dar. Ist Wagner Schwartz’ Körper das Trans-Objekt, das als Passage und Abriebstelle für (experimentelle) Strategien von Tanz und Exotik fungiert, so formuliert Asentić die eigene Lähmung angesichts überwältigender Erwartungshaltungen, die mit Klischees über osteuropäischen Tanz einhergingen, der immer als zu tänzerisch, romantisch, narrativ und mithin altmodisch stigmatisiert werde (Asentić/Vujanović 2008: 75). Ähnlich wie Schwartz war er mit dem Problem konfrontiert, der Nachahmung bezichtigt zu werden: Bei einer Vorstellung seines Stücks in Zagreb meinte ein ortsansässiger Kritiker, dass man doch diese autobiographischen Ansätze nicht mehr verfolgen könne – interessanterweise werden hier eher westeuropäische Vorstellungen, wie ein Stück gemäß einer avantgardistischen Ästhetik (die immer Neues fordert) nicht mehr zu sein habe, in osteuropäische Kontexte übernommen. Versatzstücke und Zitate von Jérôme Bel (fingierte Autobiographie und Gegenstände auf der linken Bühnenseite), Vaslav Nijinski (die erwähnten Posen) und Xavier Le Roy (Form der Lecture Performance) benutzend, stellt Asentić die Frage, ob nur Bel das Recht auf eine Autobiographie habe und mehr noch: »Who has the right to contemporaneity?« Und sind nachfolgende Generationen von Choreograph/innen dazu verdammt, herrschende Ästhetiken nur noch kopieren zu können? (Ebd.) Der Choreograph bietet keine Lösung für dieses Dilemma an, sondern bebildert die Tatsache, dass auch zeitgenössische Ästhetiken wie jene Le Roys und Bels bereits in ein Symbolsystem eingegangen sind und mithin ikonischen Charakter haben. Mit der Praxis Isadora Duncans spielend, deren Tanzdarbietungen von Abbildungen auf griechischen Vasen inspiriert waren (vgl. S. 43) und an die das zu Beginn aufgehängte Bild erinnert, appliziert Asentić das ausgeschnittene Emblem Xavier Le Roys als vierfüßiges Wesen auf einer Reihe bauchiger Vasen – es handelt sich um das Bild, das auch schon das Mailänder Festival Super Ouvo piktogrammatisch für seine Website nutzte (vgl. Abb. 1, S. 16). So entsteht ein Ornament vielfach duplizierter Le-Roy-Bilder, die hier nun gänzlich den Charakter des oszillierend Unabgeschlossenen verlieren. Sie werden, paradoxerweise, zur zentralen Randdekoration, die den Diskursraum Asentićs diagonal durchquert (Abb. 44), zu einer Bordüre, in die sich jede Adaption dieser Ästhetiken durch nachfolgende Choreograph/innen zwangsläufig transformiert – so die These Asentićs (ebd.).
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Abb. 43: Saša Asentić, My Private Biopolitics (2007), Photo: Damir Zizic
Abb. 44: Saša Asentić, My Private Biopolitics (2007), Photo: Dieter Hartwig
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Da man den Repräsentationen zeitgenössischen Tanzes ohnehin nicht entfliehen könne (vgl. auch Marinho 2003: 66), zeichnet der Choreograph nun die Spuren all jener Choreograph/innen nach, die vor Ort schon ihre Stücke gezeigt hätten: Mit Klebeband fixiert er deren fiktive Spuren am Boden, darunter Thomas Lehmens Lehmen lernt (2006), Mette Ingvartsens Manual Focus (2003) oder Eszter Salamons Reproduction (2004). Allein serbischer Tanz sei hier nicht zu entdecken und so sei er wohl der Erste, der den Boden westlichen Tanzes in diesem Theater betrete (Asentić 2007, Vortragsmanuskript). Jedoch ist auch das ein Trugschluss: Denn hat man das Festival Tanz im August und das Berliner Podewil, einen seiner Aufführungsorte, über die letzten Jahre hinweg verfolgt,60 so muss man leider sagen, dass Asentić auch hier wieder eine Randstellung einnimmt: Waren die aufgezählten Performances faktisch sämtlich im großen Saal oder dem Tanzstudio zu sehen, landete seine Lecture Performance auf der Probebühne, die längst nicht so vielen Zuschauer/innen Platz bietet. Die Suche nach dem Zeitgenössischen wird damit auch zu einer Frage des (Präsentations-)Ortes und schließt die Überlegung ein, inwieweit es möglich ist, vom Rand etablierter Kulturen her in diese einzubrechen oder sie gar zu unterwandern, und wer, um mit Bhaba zu sprechen, die Deutungshoheit über bestimmte Ästhetiken besitzt (Bhaba 1997: 125). So reflektiert Asentić, warum das Festival Tanz im August ihn eigentlich eingeladen habe, und kommt zu dem Schluss, dass es 1. aus dem Grund sei, dass die Kurator/innen des Festivals eine Empfehlung von Claire Verlet erhalten hätten, Leiterin des Centre National de la Danse in Paris, an dem er einen Stipendienaufenthalt hatte, oder aber dass 2. Tanz im August (TiA), als Teil des Systems, dieses gerne kritisch reflektieren würde, dazu selbst aber nicht in der Lage sei. So führt er in seiner Lecture Performance aus: »Maybe that’s why TiA invited this work […] – as a critic that is outside of the system, and which is a real and not only symbolic outside position, is the very symptom of what it talks about, of the Western monopoly over the contemporary dance scene. Maybe [TiA is] fully aware that their critical potential is weak and in fact benign as it is already adopted and appropriated by the system they belong to. BUT! If it is so, then they made a mistake! Because just thanks to [this] invitation[] this performance becomes also part of the system, adopted by the system and legitimated by the system. And I am, by performing it, loosing the exceptional critical position – the outside position that is material evidence of the criticism that I am performing!« (Asentić/Vujanović 2008: 78)
Als Ausweg versucht Asentić schließlich, nur »reinen Tanz« zu zeigen und steckt alle seine theoretischen Konzept- und Bewerbungspapiere in den Aktenschred-
60 Ich habe seit 1997 kontinuierlich das Programm im Podewil besucht.
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der. Es folgt eine Tanzphrase, doch auch sie ist schon wieder unweigerlich von zeitgenössischen Einflüssen durchzogen: So erkennt man zu Beginn etwa die recht charakteristische Herangehensweise, die Thomas Lehmen an seine Choreographien hat (vgl. auch Weigand 2007, Onlineressource), langsam beginnend oder zunächst etwas ganz anderes zeigend, um dann sehr schnell alle relevanten Bewegungen in einer Art Zeitraffer zusammenzufassen. Asentićs Motionen sind wiederum Wanderungen durch bereits ikonenverdächtige Gebiete – der Künstler verbildlicht dies nicht zuletzt durch eine russisch-orthodoxe Ikone, die beiläufig hinweisend am Rand der Bühne lehnt.61 Ist Saša Asentićs Lecture Performance eine Durchgangszone multipler Verweisgeflechte des zeitgenössischen Tanzes, innerhalb derer er sich selbst, wenn auch vom Rand aus arbeitend, immer schon befindet, die also mithin nur befragt werden können und aus denen es kaum Fluchtmöglichkeiten zu geben scheint, so verdichtet sich in Wagner Schwartz’ Solo die Zitatstruktur in seinem Körper selbst: Sie durchquert ihn und macht den Körper zum von ihm zu Beginn angekündigten Re-Volver, der das Aufgenommene umdreht und grotesk verschoben ausstößt. Die dänische, in Brüssel lebende Choreographin Mette Ingvartsen greift hingegen zu anderen Strategien, um mit der ›Last‹ zeitgenössischer Vorbilder umzugehen.
2.3 Vexierspiele. Mette Ingvartsens Manual Focus Das kurze, zwanzig Minuten dauernde Trio Manual Focus (2003), das Mette Ingvartsen noch in ihrer Zeit als Studentin beim zeitgenössischen Ausbildungszentrum P.A.R.T.S. in Brüssel entwickelte, resümiert gleichsam charakteristische Merkmale metamorpher Körperbilder, wie sie anhand der vorherigen Choreographien untersucht worden sind. Dazu gehören das dauerhafte Zeigen des Rückens, als fragmentierte, oszillierende Fläche – in keinem Moment sind die Vorderseiten der drei Tänzer/innen62 zu sehen – sowie die beständigen Bewegungen auf allen Vieren, der Einsatz von Yogaelementen, Nacktheit und Depersonalisierungsstrategien durch Verbergen des Kopfes.63 Formuliert sich hier beinahe schon eine Art Vokabular zeitgenössischer Körpertechniken, verschiebt und karnevalisiert Ingvartsen dieses allerdings durch un61 In einer doppelten Wendung zeigt die Ikone zudem auf das von Asentić thematisierte Vorurteil des Altbackenen osteuropäischen Tanzes. 62 Getanzt wird das Stück von Mette Ingvartsen, Kajsa Sandstrom und Manon Santkin. 63 Ich habe Manual Focus 2004 im Tanzstudio des Berliner Podewil, im Rahmen von Tanz im August gesehen. Für die Analyse stand mir ein DVD-Mitschnitt zur Verfügung.
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Abb. 45: Mette Ingvartsen, Manual Focus (2003), Photo: Peter Lenaerts
Abb. 46: Mette Ingvartsen, Manual Focus (2003), Photo: Peter Lenaerts
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terschiedliche Inversionspraktiken. Die drei nackten Frauen betreten, den Rücken dem Publikum zugewandt, die Bühne und streifen sich jeweils eine Maske über den Kopf, die das Konterfei alter Männer zeigen – jedoch verkehrt herum, so dass die maskierten Gesichter auf den Hinterköpfen der Tänzerinnen sitzen. Die erste Inversion ereignet sich durch Drehung des Kopfes um 180 Grad: Während das Gesicht scheinbar vorne ist, befindet sich an der Stelle des bauchigen Unterleibs der Hintern. Die drei Protagonistinnen durchlaufen nun verschiedene Stadien der Metamorphose, schachteln die Körper hintereinander, so dass sie wie ein vielgliedriger Multikörper mit sechs Beinen aussehen – eine Strategie, die in Abschnitt 4 dieses Kapitels noch genauer zu betrachten sein wird –, oder lösen sich voneinander, wobei eine Tänzerin an der Bühnenrückwand, halb mit dem bauchseitigen Oberkörper angelehnt und im Hohlkreuz, zum Liegen kommt. Das Gesäß vorne und die Beine dadurch bizarr abgewinkelt, als seien sie aus dem Hüftgelenk gedreht, wirkt der gesamte Körper disproportioniert und verschoben – da sich das Gesicht der Maske dem Publikum zuwendet –, ähnlich einer Gliederpuppe, die in verdrehter Haltung liegen gelassen wurde (Abb. 45). Etwas später kommen alle drei Tänzerinnen auf der Bühnenmitte, nahe der Zuschauertribüne zum Sitzen. Den Rücken zugekehrt, blicken die Masken das seinerseits neugierig starrende Publikum unverwandt an. Eine der Tänzerinnen beginnt, mit dem Kopf leicht zu wackeln, und wölbt den Oberkörper wie einen Rippenbuckel vor – der Eindruck eines alten Mannes entsteht, dessen Motionen zittrig und die Glieder arthritisch verformt erscheinen. Diese Illusion steht aber in eigentümlichem Kontrast zu der sehr jungen Haut der Tanzenden, und so wandert das zuschauende Auge beständig zwischen diesen des/illusionierenden Effekten hin und her, die für Momente die Dualität von alt und jung auflösen (vgl. Husemann 20.8.2004, Festivaltagebuch). Mit dieser Pose erreicht Ingvartsen ihre weiteren inversiven Verschiebungen: Jene von polaren Alterskategorien sowie von Depersonalisierungen, denn die Perspektive verrückt sich vom voyeuristischen Blicken auf nackte, junge Tänzerinnen hin zu einer Irritation der Wahrnehmung durch die Masken alter Männer, die den Blick unablässig ins Publikum richten (Abb. 46).64 Man fühlt sich selbst angestarrt und auf das eigene Sehen zurückgeworfen – wer einen anblickt, ist hingegen nicht auszumachen, obwohl die 64 Ingvartsen scheint mit der maskierten Geschlechterverwirrung außerdem auf das Konzept der »Weiblichkeit als Maskerade«, anzuspielen, das Joan Riviere 1929 entwirft (Riviere 1994: 34 ff.) und von Claudia Benthien und Inge Stephan zur »Männlichkeit als Maskerade« weiterentwickelt wird (Benthien/Stephan 2003). In Manual Focus lösen sich Geschlechterkategorien tendenziell auf, zugleich werden Wanderungen zwischen Normierung und Hybridisierung (vgl. Butler 1991: 204 f.) über den Topos der Maske ironisiert. In diesem Zusammenhang wäre eine eingehendere Analyse metamorpher, nicht-narrativer Strategien des De-Gendering im zeitgenössischen Tanz lohnend. Zur Kritik und Verschiebung von Geschlechterkategorien im Ausdruckstanz sowie in den Produktionen von Sasha Waltz und Lloyd Newson vgl. Schulze 1999 sowie zur Dekonstruktion von Geschlecht bei Xavier Le Roy Schulze 2003a: 435.
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Darstellerinnen sich so offen und bloß darbieten. Anders als bei Eric Raeves oder Xavier Le Roy wird die Anonymisierung des Körpers nicht durch das Wegklappen, sondern gerade durch das Betonen des Kopfes in der Maskierung erzielt. Changements in der Körperlichkeit ereignen sich an den Rändern beständig scheiternder Zuordnungen von möglichen Fest-Stellungen der Protagonistinnen, die sich den Orientierungsmarken Alter, Geschlecht und Person in den fortlaufenden Pendelbewegungen der Wahrnehmung entziehen. Um Arbeits- und Verschiebetechniken am Körper selbst sowie Versuche, an den buchstäblichen Rändern des Körpers zu hantieren und diesen zu invertieren, wird es auch im folgenden Abschnitt gehen.
3 Den Körper bearbeiten Choreographien wie Jérôme Bel (1995) des gleichnamigen Künstlers oder Körper von Sasha Waltz (2000) zeigen zunächst auf den Warencharakter des tanzenden Körpers und dessen Marktwert (vgl. Siegmund 2006: 15 ff.), indem der Körper etwa mit Daten und Preisen für einzelne Organe wie in Waltz’ Stück beschriftet wird. Vor allem aber stellen sie das Material selbst, mit dem hier Kunst produziert wird, in den Vordergrund (vgl. Siegmund 1998: 36, Staude 12.1. 1998).
Abb. 47: Jérôme Bel, Jérôme Bel (1995), Photo: Herman Sorgeloos
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Abb. 48: Stehende Figur, die Unterleibsmuskeln zeigend, aus: Comentaria ... super anatomia Mundini (1521)
Reduziert auf den kargen Einsatz der notwendigen Theatermittel wie Licht (eine Glühbirne), Ton (eine Sängerin) und zwei nackte Tänzer läute Jérôme Bel in seiner gleichnamigen Choreographie (in der er selbst nicht auftritt) das »Ende der Repräsentation« ein, so André Lepecki (Lepecki 2006: 49). Der Körper wird als Basisstoff für Tanz und Choreographie vorgestellt, das Material auf seine Strapazierfähigkeit getestet, gedehnt, von Muskeln und Knochen abgehoben oder über das Geschlecht gestülpt – so vollzieht der Tänzer Frédéric Séguette in Jérôme Bel eine regelrechte Invagination seines männlichen Geschlechts: Er tritt in die Bühnenmitte und stülpt mit einer schnellen Bewegung der Hände seinen Hodensack von unten her über den Penis, der sich, so invertiert, nun nach vorne wölbt und ausbeult, als trage Séguette eine zu enge Hose. Die Anspielung auf die Haut als Kleid betont auch die Kritikerin Edith Boxberger mit Blick auf die Tänzerin Claire Haenni, die die Haut ihres Unterleibs, einer vergrößerten Unterhose ähnlich, nach oben zieht: »Die Frau rutscht in ihrer Haut wie in einem unpassenden Kleid hin und her« (Boxberger 25.4.1996) (Abb. 47). Es scheint kaum ein Zufall, wenn diese Bilder an frühneuzeitliche Bilddarstellungen der Anatomie innerer Organe erinnern, in denen die Bauchhaut wie ein Vorhang gelüftet wird, um den Blick auf die innere Struktur freizugeben. Claudia Benthien verweist auf die Metaphorik des Entkleidens, um die Materialität des Körpers auszustellen: »Die anatomische Enthäutung zur Demonstration
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des Muskelspiels wird hier zu einem Vorgang des Entkleidens stilisiert. Der écorché reißt sich mit einem pathetischen Gestus die Haut ab, um offenzulegen, was den Künstler wie auch den Anatomen interessiert.« (Benthien 2001: 79) (Abb. 48) Das Pathos des Öffnens wird in Jérôme Bel allerdings zu einem pragmatischen Umgang mit der Dehnbarkeit der Hautflächen, welcher sowohl einen narrativen Zugriff oder mit Bedeutungen aufgeladenen Ansatz eines Tanzstücks als auch den erotisierten Blick auf durchtrainierte Körper verwirft65 und diese als immer schon von gesellschaftlichen Codes überformte Studienobjekte am eigenen Leib präsentiert: »Die Körper auf der Bühne sind, was sie sind«, so Siegmund (Siegmund 1998: 35). Wie schon in Kapitel 1 ausgeführt, wird der Körper hier jedoch nicht ausschließlich als Dispositiv biopolitischer Macht ausgestellt (vgl. S. 60 f.). Zwar denkt Bel mit Foucault, wenn er betont, dass auch der »biologische Körper« durch rationalisierende Prozesse strukturiert sei (in Siegmund 1998: 36) und verweist damit auf das Theater als disziplinierende Maschinerie tanzender Körper – eine Zurichtung, wie Foucault sie für Militär und Exekutive als »politische Anatomie« formuliert: »Der menschliche Körper geht in eine Machtmaschinerie ein, die ihn durchdringt, zergliedert und wieder zusammensetzt.« (Foucault 1977: 176) Entgegen Siegmunds Schlussfolgerung (Siegmund 2006: 329) negiert die in Kapitel 1 beschriebene Materialität der Zeichen jedoch den Körper als bloße Einschreibefläche herrschender Diskurse nach Foucault (vgl. S. 61) und ironisiert darüber hinaus die Zurichtung von Körpern durch gesellschaftliche Zwänge und Verbote mit den Mitteln der grotesken Degradierung: Gegen Ende des Stücks steht Frédéric Séguette auf der Bühne und lässt zunächst einen langen Speichelfaden langsam aus seinem Mund tropfen. Anschließend uriniert er auf den Bühnenboden, um kurze Zeit später das ›Wasser‹ zum Abwischen einzelner Buchstaben seines Namens zu benutzen, den er zu Beginn an die Rückwand geschrieben hat. Das von Michail Bachtin für Rabelais formulierte groteske Prinzip der Degradierung durch die »heitere Materie« des Urins (mit der Pantagruel allerdings ein ganzes Soldatenbataillon ertränkt, Bachtin 1995: 376 f.) wird hier als groteskes Spiel noch weitergeführt, dient die Flüssigkeit doch ganz pragmatisch dem Zweck, die Bühnenrückwand zu säubern, in Ermangelung entsprechender Putzmittel.
65 Das von der Sängerin gesummte Sacre du Printemps von Igor Strawinsky indiziert dabei den konsequenten Bruch mit vorhergehenden Ästhetiken von Tanztheater oder Ballett und ist als musikalisches Motiv kaum zufällig gewählt: Das Stück, das mit Vaslav Nijinsky in der Hauptrolle bei der Uraufführung durch die Ballets Russes 1913 in Paris aufgrund seiner konsequenten Abwendung von bis dato vorherrschender Balletttechniken und -repräsentationen einen Skandal provozierte, wurde u.a. 1975 von Pina Bausch zum Auftakt für ihre radikalen tanztheatralen Auseinandersetzungen. Jérôme Bel selbst formuliert seinen Zugang zu dem Stück Jérôme Bel als Versuch, »eine Art ›Nullpunkt der Literatur‹ für den Tanz zu finden.« (in Siegmund 1998: 36)
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So konfrontiert die Viskosität des Körpers immer wieder die im Stück vorgenommenen Überschreibungen der Haut mit Sprache (vgl. Lepecki 2006: 56 f.), dringt zwischen ihre Lettern und öffnet einen Spalt in der Rezeption, der sowohl Verbote und codifizierende Sprachmacht als auch Darstellungen eines vorgeblich natürlichen Körpers irritiert. Zwischen Material und Schrift oszillierend, entziehen sich die Körperdarstellungen der Tänzer/innen in Jérôme Bel schließlich auch einem »expliziten Körper«, wie ihn Rebecca Schneider für die feministische Performance Art formuliert (Schneider 1997: 5).66 Denn hier werden in keinem Moment Inhalte transportiert, die den Körper als materielles Medium zwar keiner natürlichen, jedoch einer authentischen politischen Erfahrung in den Mittelpunkt rücken würden. Allenfalls werden die Bühnenbestandteile explizit ausgestellt und damit schlicht das, was es für eine (Tanz-)Aufführung braucht (vgl. Lepecki 1999: 134). Das Stück Jérôme Bel steht mithin im Kontext einer zeitgenössischen Ästhetik, die Ric Allsopp mit »›how does it work?‹ rather than ›what does it mean?‹« umschreibt (Allsopp 2005: 1) und die die künstlerische Produktion weniger als Tanzstück denn als »Arbeit« ausweist (vgl. Brignone 2006: 42). Diese Arbeit am Körper und die minutiösen Untersuchungen seines Materials stehen auch im Vordergrund der Choreograph/innen Ugo Dehaes/Charlotte Vanden Eynde und Cristian Duarte, die alle in Belgien produzieren und den Körper als Experimentierfeld bereits in den Titeln ihrer Stücke ankündigen.
3.1 Rahmungen I: Lijfstof – Grenzrelationen zu Raum und Objekt Das Stück Lijfstof (zu deutsch: Körpermaterial; 2000), eine Zusammenarbeit von Charlotte Vanden Eynde und Ugo Dehaes, ist durch einzelne, voneinander isolierte Bilder strukturiert, die bisweilen an Tableaux vivants erinnern67 und den eigenen Körper in insgesamt zehn Situationen zum Objekt laborartiger Experimente am Material machen. Obgleich ihr Ansatz eher in Richtung der Conceptual Art zu verorten sei (T’Jonck 2003: 15), benutzen die beiden Darsteller/innen eine ›klassische‹ Theatersituation für ihre Aufführung, mit Zuschauerraum, Guckkastenbühne, Vorhängen und einem Lichtdesign, das den Körper beziehungsweise seine vorgestellten Teile einrahmt und fokussiert. Dabei wird der Körper examiniert, mit verschiedenen Instrumenten vermessen, behandelt, gedrückt oder gespickt, wobei zuweilen ironische Verweise auf die Body Art aufscheinen, etwa wenn Charlotte Vanden Eynde ihre Fingerkuppen mit einer Gemüsereibe bearbeitet, allerdings ohne das Ganze bis zum blutigen Ende zu treiben – vielmehr werden solche Versuche nur »gestellt«, ganz nach dem Prinzip
66 André Lepecki stellt das Stück Jérôme Bel in diesen Zusammenhang (Lepecki 1999: 135). 67 Zum Tableau vivant als Zeit-Figur des Stillstellens vgl. Brandl-Risi 2000: 75.
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einer Theaterprobe kurz vor der Aufführung. Anhand einiger Szenen soll gezeigt werden, inwieweit die Materialität der hier exponierten Körper mit Grenzen und Rahmungen konfrontiert wird, die außerdem Themen wie den Torso oder die Haut als Körper-Kleid aufnehmen.68 Das Licht blendet auf. Auf der Bühne stehen zwei Kisten, die wie geöffnete Umzugskartons aussehen und aus denen hautfarbene, gewölbte Gebilde hervorlugen. Nachdem eine Weile verstrichen ist, setzt sich das Konglomerat aus Haut in Bewegung. Zunächst minimal, fast nur auf einer Mikroebene wahrnehmbar, beginnt die Masse zu zucken und sich leicht zu verschieben, bis schließlich ein Stück Haut über den Kistenrand geschoben wird. Allmählich wird erkennbar, dass es sich um die gebeugten Rücken zweier in Kisten hockender Menschen handelt, von denen einer gerade sein Schulterblatt aus dem Karton hinaus disloziert. Ein Arm folgt, der sich lang nach oben dehnt, und auch in der anderen Box kommen zwei Arme zum Vorschein, die sich weit aus der Öffnung herausstrecken und mit den Händen auf dem Boden landen. Langsam setzen sich die beiden Vehikel aus Armen und Karton in Bewegung und schieben sich über die Bühne. In Verbindung mit der kompakten, rechteckigen Kiste vermittelt die beiden Gebilde den Eindruck von Disproportion und erinnern, durch die Langsamkeit in den muskulären Verschiebungen, an die Körpermutationen Xavier Le Roys ebenso wie an groteske Bildrepertoire aus der Motivik Hieronymus Boschs, in dessen Mittelteil des Triptychons Das jüngste Gericht (um 1504/1508) eine gedrungene Gestalt abgebildet ist, der die Füße direkt aus dem Kopf ragen69 – wobei Vanden Eynde und Dehaes den Kopf verborgen halten und die Füße mit den Armen vertauscht sind (Abb. 49, 50). Disproportionales und Wucherndes wird hier allerdings im Zaum der begrenzenden Kiste gehalten und verweist damit explizit auf Ränder und Rahmungen proportionaler Ordnung, die das Difforme als solches prononcieren, indem sie es als quadriertes, zunächst limitiertes Fleisch über die Kadrierungen quellen lassen. Dabei schiebt sich die umrahmende Box allmählich in die körperliche Sphäre der beiden Akteure hinein und wird, als Mensch-Objekt-Kopplung, zur Prothese materialisiert, deren Funktion sich allerdings nicht so recht erschließen will.70
68 Von dieser Aufführung lag mir ein Video vor. 69 Jurgis Baltrušaitis entdeckt eine Vielzahl solcher Kopffüßler in gotischen Kirchen seit dem 13. Jahrhundert (Baltrušaitis 1985: 18). 70 Mit Verbindungen von Körper und Objekt experimentiert zu Beginn der 1970er Jahre auch Vito Acconci, so in seiner Videoarbeit Filler (1971), in der sein Körper in einem Karton steckt, aus dem lediglich seine Beine herausragen und seine Stimme als Husten zu vernehmen ist. Anja Osswald beurteilt diese Aktion als Verschiebung der Wahrnehmungsebenen, die den Blick auf den Körper verstelle, diesen in Resonanz zum begrenzenden Umraum jedoch als hörbaren erfahrbar werden lasse (Osswald 2003: 132 f.). Fruchtbar wäre in diesem Rahmen eine Untersuchung zu Überschreitungen zwischen Körpern und Objekten oder vielmehr Nachbarschaf-
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Abb. 49: Hieronymus Bosch, Das Jüngste Gericht (vermutl. 1504/1508), Detail der Mitteltafel
Abb. 50: Ugo Dehaes/ Charlotte Vanden Eynde, Lijfstof (2002), Photo: Johan Dehaes
Die Kiste als Frame ist zugleich auch ein Bild im Bild beziehungsweise eine Bühne auf der Bühne – in diesem Fall die kleinstmögliche Bühne, in die sich ein menschlicher Bewegungskörper einpassen lässt. Mutet diese Beschreibung nun allzu objektivierend an, wird eine solche Perspektive durch die unprätentiöse Beendigung des Bildes bestätigt: Der Abgang der Kistenkörper erfolgt mithilfe zweier Bühnentechniker, die die Kartons samt lebendem Inhalt auf zwei Sackkarren verladen und schlicht von der Bühne rollen. Nach kurzer Dunkelheit erhellt sich die Szenerie für eine weitere bildliche Anordnung, die zunächst an den Trick eines Zauberkünstlers erinnert: In der Bühnenmitte befindet sich ein scheinbar frei im Raum schwebender Torso in Seitenansicht, ohne Kopf, Arme und Beine – etwas später und bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass sich der Tänzer Ugo Dehaes mit den Extremitäten auf Podesten aufstützt, die jedoch durch zwei schwarze Seitenschals verborgen sind und die Illusion des horizontalen Schwebens befördern. Im Laufe dieser Situation wird der Torso zur Fläche verschiedener Experimente, die Charlotte Vanden Eynde an ihm verübt. So heftet sie eine Art Namensschild mit einer Klammer auf die Haut, um es kurz darauf durch den Kopf eines kleinen röhrenden Plastikhirschen zu ersetzen, der an die Haut gezwickt wird. Auch er bleibt nicht lange an seinem Ort, und der Torso wird nun erst einmal gründlich abgebürstet. Der ausgestellte Rumpf gerät im Rahmen dieser kurzen Handlungen zum Ausstellungsstück, das im Museum hängt, versehen mit Beschriftungen, ab und ten von Tanz und bildender Kunst sowie Installationen, die an dieser Stelle nicht geleistet werden kann.
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zu gereinigt und durch den Hirsch auf seinen Platz als ausgestellte Jagdtrophäe verwiesen. Doch das Fleisch wehrt sich – in konkaven und konvexen Bewegungen, die von der Wirbelsäule initiiert werden, windet sich der Rumpf innerhalb seiner eingeschränkte Möglichkeiten und wird folgerichtig von Vanden Eynde einem Rollbraten gleich in Schnüre gewickelt und ruhig gestellt (Abb. 51). Gleich darauf jedoch löst die Choreographin die Verschnürung wieder und wischt den Torso mit einem Lappen ab, um ihm sodann entlang des Rückgrats die flexible Plastiknachbildung einer Wirbelsäule in Originalgröße aufzukleben. Wieder stellt sich die Blick-Rahmung des Museums – hier eines naturkundlichen – ein, nun mit dem Zweck, die vorherigen Krümmungen des Torsos in anschauliche Bewegungsstudien zu überführen: Die Wirbelsäule abwechselnd in Hohlkreuz und Katzenbuckel biegend, bewegt sich das Gummirückgrat mit, externalisiert und visualisiert Bewegungsprinzipen und Impulse, die sonst unter der Oberfläche von Haut und Muskeln verborgen bleiben, und auf Basisbewegungen aus dem Yoga ebenso wie auf Merce Cunninghams Isolationstechniken (vgl. S. 379) hindeuten.71
Abb. 51: Ugo Dehaes/ Charlotte Vanden Eynde, Lijfstof (2002), Photo: Johan Dehaes
Dehaes und Vanden Eynde treiben diese Objektivierungen des Körpers, die sich besonders über räumliche Begrenzungen herstellen, in den folgenden Bildern weiter. So hat Dehaes zwei Reihen mit Korsetthaken längs auf die Haut seines Bauches appliziert, die er nacheinander einklinkt, wodurch der Bauch geschlossen wird – ein ironischer Hieb auf die Tendenz, den Körper im zeitgenössischen Tanz als offenes, fluides Kompositum zu zeigen, der dabei jedoch, mit entsprechender, den Nabel einziehender Atemtechnik und Training, zumeist ein virtuoser und gut ›durchgearbeiteter‹ Tänzerkörper ist. Die Metapher der Haut als abdichtende Grenze und bildlicher Ausdruck des »homo clausus« (Benthien 2001: 282 f.) sowie die Trimmung des (weiblichen) Körpers durch enge Kleidung hat 71 Die Veräußerung des Skeletts scheint außerdem ein ironischer Verweis auf die Technik des Body-Mind-Centering von Bonnie Bainbridge Cohen zu sein, die Bewegungsabläufe durch die Verlagerung der Bewegungsimpulse von den Muskeln hin zu Knochen und Gelenken erleichtern soll (vgl. Sieben 2004: 37).
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bereits das Stück Jérôme Bel aufgenommen: Claire Haenni malt mit Lippenstift die Linien eines Korsetts auf ihren Oberkörper, so weit die Hand reicht. Schließlich kommt ihr Frédéric Séguette zu Hilfe und ›schließt‹ das Korsett am Rücken mit dem Stift, als benutze er einen Reißverschluss. Solche begrenzenden Verfahren werden in Lijfstof wiederum von Bild zu Bild gesteigert, in denen die beiden Darstellenden zum Beispiel in schwarz-gelb kontrastierten engen Ganzkörperanzügen stecken, die die Geometrie der Bewegungen ihrer Extremitäten überzeichnen. Puppen ähnlich, mit in den Gelenken steifen Schritten und dabei immer wieder zum Boden hinuntersackend, gehen die beiden Tänzer/innen Hand in Hand über die Bühne, begleitet von einem Soundtrack, der Comicverfilmungen ähnelt und den Eindruck erweckt, als versuchten Vanden Eynde und Dehaes sich dem Kleistschen Ideal der Marionette72 anzunähern. Das Misslingen dieser Versuche zeigt sich im zunehmenden Ausgleiten am Boden. Wie ein Kommentar auf die Unzulänglichkeit perfekt ausgerichteter Körperbewegungen sitzen die Darsteller/innen schließlich im letzten Bild in einem Käfig, den Kreis zur Kistenszene vom Anfang schließend. Werden zunächst noch die Begrenzungen des hölzernen Gefängnisses ausgelotet und der Körper in alle möglichen Stellungen und Faltungen gebracht – wobei Dehaes zu Beginn sogar auf dessen Dach hockt, ohne jedoch von der Reichweite des Raumes Gebrauch zu machen –, verharren die beiden Körper schließlich in der engen Kadrierung des Käfigs: zwei Torsi, die dem Publikum den Rücken zudrehen.
3.2 Rahmungen II: Körper (be)greift Körper-Raum-Sprache Auch der brasilianische, in Belgien arbeitende Choreograph Cristian Duarte untersucht den Körper und seine Bewegungen in einer Reihe von Versuchsanordnungen. In seinem Stück Embodied (2003) arbeitet er ebenfalls mit isolierten, ausschnitthaften Situationen, die den Körper als fragmentiertes, fremdes Objekt in den Fokus der Wahrnehmung rücken.73 Cristian Duarte betritt die Bühne und positioniert sich in deren Mitte, dem Publikum die linke Körperseite zugewandt. Er streckt den linken Arm aus und betrachtet seine Hand. Dann dreht er sie langsam, bewegt lockernd die Finger, krallt sie ein, testet das Greifen, benutzt den Zeigefinger zum Deuten, überdehnt das Handgelenk und streckt den Daumen in einer Thumbs Up!-Geste nach oben. In einem abrupten Wechsel verdichtet sich das Licht zu einem Ausschnitt, der 72 In seinem Essay Über das Marionettentheater (1810/11) propagiert Heinrich von Kleist die Marionette als Bewegungsideal, deren Glieder eine Leichtigkeit und Anmut zuwege brächten, die dem Menschen versagt bliebe. ›Kontaminiert‹ durch das Bewusstsein von sich und seinen Bewegungen sei dieser zu keiner »Grazie« fähig, die nur einem unschuldigen, um seiner selbst nicht wissenden Geschöpf möglich sei (Kleist 1964: 1088 ff., 1094). 73 Die folgenden Beschreibungen beziehen sich auf den DVD-Mitschnitt des Stücks.
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nur noch den ausgestreckten Arm zeigt, wie abgetrennt in der Schwärze schwebend. Den Fokus des Publikums auf sich ziehend, wiederholt sich das Bewegungsrepertoire der Hand im abgezirkelten Lichtrahmen, Daumen hoch am Schluss. Der nackte Oberkörper einer Frau tritt von links hinzu, seitlich zum Publikum gedreht, kopflos, die rechte nackte Brust der körperlosen Hand im Lichtrechteck zugewandt. Die Hand nähert sich der Brust, erst vorsichtig tastend das Material erkundend, als sei es unbekanntes Terrain, um dann heftiger zuzugreifen und daran zu ziehen. Wie ein Fremdkörper wird die Brust angehoben, geknetet, gequetscht, zerdrückt, langsam und schnell, heftig durchgewalkt, geschüttelt, auf und ab geschlenkert und schließlich sogar geboxt, wie um auszuprobieren, was man mit diesem weichen, rundlichen Gebilde alles anstellen kann (Abb. 52). Unvermittelt lässt die Hand los und hebt den Daumen: Thumbs Up! Diese pointierte, (an)erkennende Bestätigung des für offenbar als gut befundenen Brustmaterials liefert zugleich den Schlüssel für die Handbewegungen der vorherigen Szene, deren gestischer Sinn sich nun als vorbereitende Fingerübungen für den »Brust-Test« erschließt.
Abb. 52: Cristian Duarte, Embodied (2003), Photo: Anna Van Kooij
Meiner Einschätzung nach geht es hier weniger um den auf bestimmte Teile der weiblichen Anatomie verengten männlichen Blick oder die Beseitigung eines Hindernis’ aus der männlichen Einflusssphäre (Cvejic 2003, Onlineressource),
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denn der manipulierende Arm hat kein Geschlecht. Isoliert ist er vom Körper des Choreographen abgeschnitten, dessen Anwesenheit während dieser Szene regelrecht in Vergessenheit gerät. Auch die Brust der Tänzerin Shani Granot wird über die Dauer des Traktiertwerdens immer mehr zu einem objekthaften beutelartigen Hautsack – nur wenn die Hand besonders hart zufasst oder die Brust boxt, schiebt sich wieder die Weiblichkeit des ›gebeutelten‹ Körperteils in den Vordergrund. Der Kritiker Gérard Mayen ist entsprechend irritiert und bemerkt, dass diese Szene weder erotisch noch skandalös oder lustig sei. Die Hand scheint die Brust vielmehr auf ihre Materialität hin zu befragen, in dem sie das Gewebe auf seine Substanz reduziert (vgl. Bogéa 25.2.2004) – sinnfällig wird dies in einer späteren Szene, die das Motiv des Brust-(Be-)Greifens spiegelt. Shani Granot bläst einen Luftballon auf und presst ihn zwischen ihre beiden Hände, drückt ihn zusammen, bohrt die Finger hinein, formt kleine Ausstülpungen oder hebt die ›Haut‹ des Ballons ab. Die Reibungen und Verformungen werden immer kräftiger, und nun wird deutlich, dass Granot das gleiche gestische Repertoire nutzt wie jenes, mit dem zuvor ihre Brust bearbeitet wurde: Sie knetet den Ballon, quetscht ihn und boxt in ihn hinein. Mit zunehmender Wucht der Bewegungen steigt die innere Anspannung im Publikum in Erwartung des Knalls – doch der Ballon hält erstaunlich viel aus. Erst nach einer ganzen Weile gibt das Material nach und platzt. Bemerkenswert ist, dass sich in der Ballonszene ein Effekt einstellt, der im »Brust-Test« eigentümlicherweise ausbleibt: der Moment von kontrollierter Balance, von der Beherrschung des Materials, das nur soweit malträtiert wird, dass es gerade eben nicht explodiert. Duarte überführt dieses Spiel von Kontrolle und Macht in ein Duett, in dem er Granot wie eine Puppe mit schlenkernden Gliedern hin- und herbewegt, sie auf den Boden gleiten lässt, die Beine überdehnt und deren Gewicht prüft oder die Tänzerin durchschüttelt. Sie entschlüpft seinem Zugriff immer wieder und sinkt, der Schwerkraft folgend, zu Boden. Duarte gibt nun (Bewegungs-)Anweisungen, zunächst einfache wie »right, left«, »go, keep going«, »just walk … diagonal« und so fort. Versucht die Tänzerin den Anleitungen zunächst noch zu folgen, so entzieht sie sich im Verlauf des Dirigats zunehmend der Kontrolle des Choreographen, indem sie anscheinend die Beherrschung über ihre Glieder verliert: Immer wieder klappt sie zusammen, sackt hinunter, als würden die Beine sie nicht mehr tragen. Hinzu kommt, dass die Aufforderungen des Choreographen immer absurder werden und nicht mehr in Bewegung umsetzbar sind, wenn er verlangt: »spread in space, everywhere«, »small explosions«, »be international«, um mit einer Anspielung auf die Ballonszene zu enden: »give yourself, give everything – and blow«. Körper und Sprache erweisen sich gleichermaßen als Material, das überstrapaziert worden ist. Im gesamten Stück sind immer wieder knisternde, leise knackende Geräusche zu hören, und bei näherem Hinsehen entdeckt man, dass der gesamte Bühnenboden mit Polstermaterial zum Verpacken fragiler Gegenstände ausgelegt ist, das aus kleinen Plastikbläschen besteht, die beim Zusammenpres-
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sen zerplatzen. Sämtliche Bewegungen sind von diesen Mikroexplosionen begleitet – gleich dem Knacken von Gelenken überführen sie die Bewegungen der Knochen und Knorpel in den hörbaren Außenraum des Theatersaals, übersetzen die internen Motionen des tanzenden Körpers in ein akustisches Geschehen. In Embodied balancieren die Reibungen und Widerstände, die das Stück durchziehen (Cvejic 2003), an den Rändern des Ausübens von Kontrolle und Macht über den Körper, die immer wieder in ihre Stofflichkeit selbst zurückkippen: Jener der Gesten, der Bewegungen, der Sprache und des Raumes. Duarte beschreitet damit den umgekehrten Weg Jérôme Bels, indem er nicht nur den Körper (als zu beherrschendes, kontrollierendes und sich immer wieder entziehendes) Gewebe ausweist, sondern auch die Materialität von Raum und Sprache in ihrer theatralen Physikalität hervorhebt. Dabei gehen die Ebenen einen grotesken Rollentausch ein: Der Raum wird akustische, veräußerte Bewegung, die Sprache ziellos umherwanderndes Wortmaterial, der Körper sitzt am Schluss immobil am Boden. Wer sich schließlich noch in Bewegung setzt, ist Peter Fol, der Bühnentechniker, der während des gesamten Stückes vorne links auf der Bühne das Geschehen betrachtet und ab und zu den Lautstärkeregler für die Musik bedient hat: Er steht auf, tritt an den Bühnenrand und formuliert, woran die Tanzenden, im Kleistschen Sinne (vgl. Anm. 72, S. 203), offenbar scheiterten: »I am very smart. Most people know that. […] I didn’t have to work hard or practice to become like this. I think I was born like this.« Wird das theatrale Material in den hier vorgestellten Choreographien in seine Bestandteile zergliedert, verfolgen die Stücke im anschließenden Abschnitt eine andere Strategie, innerhalb derer sich Tänzer/innen in komposite, verschlungene Formationen begeben, die die Einheitlichkeit eines monadischen Körpers zugunsten von Übergangsgebilden und multiplen Chimären verlassen.
4 Corps de deux. D i p l o i d c h i m ä r e n u n d a n d e r e D o p p e lw e s e n Auf dem Boden liegt ein opaker, unförmiger Haufen, überzogen von flackerndem, stroboskopischem Licht. Mit der Zeit erkennt das immer wieder geblendete Auge Assemblagen aus bekleideten Armen, Beinen, Schultern, Rücken, doch die Wahrnehmung wird irritiert, das Abgrenzungsvermögen verunsichert im Versuch, die Glieder zuzuordnen oder auszumachen, wo ein Körper endet und der andere aufhört. Ab und zu zuckt eine Schulter, verschiebt sich eine Hand wie im Schlaf, eine angenehmere Position suchend. In Zeitlupentempo kommt schließlich etwas mehr Bewegung in den Haufen, er wird breiter und flacher, einem Netz ähnlich, aus dem man die Knoten entwirrt. Hier und da löst sich ein Körper heraus, individualisiert sich vom übrigen Konglomerat. Andere schließen sich an, bis sich das Gebilde aufgelöst hat und einzelne Personen im Raum übrig bleiben.
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In Splayed Mind Out (1997) arbeitet die Choreographin Meg Stuart zusammen mit dem Videokünstler Gary Hill an Übergängen von Körper zu Körper, zwischen Körpern und Umraum (Licht) sowie Körper und Bildmedium.74 Im dritten Stück der Serie Insert Skin – eine Zusammenarbeit mit bildenden Künstler/innen wie Lawrence Malstaff, Bruce Mau oder Ann Hamilton (vgl. Ploebst 2001: 21 f.) – überschneiden sich die Ebenen von Körper und Leinwand, lösen sich Bewegungsposituren auf der Bühne ebenso auf wie Konturierungen von Körpern auf der zweidimensionalen Bildebene (vgl. Jochim 2008: 47 f). Siegmund interpretiert den Titel der Serie als programmatisch für Stuarts Auseinandersetzung mit der Frage nach Subjektivierung, die bei der Haut, als erkennendem Tastorgan ansetze und Didier Anzieu folgend das sogenannte »Haut-Ich« bilde (Siegmund 2006: 425). Die Sensationen von unklaren Grenzen und Körperverschmelzungen beträfen dabei nicht nur das Publikum, sondern auch die Tänzer/innen selbst, wie Stuart betont (in Siegmund 2006: 429), und operierten an den Rändern von Identifikation und Entfremdung des Selbst, so Lepecki (Lepecki 1998: 120). Das zu Beginn verknotete »Körperbündel« (Ploebst 2001: 24)75 entwirrt sich nur vorübergehend in voneinander disjunkte Personen. Kurz darauf wird die Wahrnehmung bereits wieder verschoben, in einem Close-upShot, den eine Livekamera vom Rücken einer Tänzerin abgenommen hat und übergroß auf eine Leinwand projiziert.76 Gary Hill kommentiert die Motionen und Aktionen der Tänzerin mit zunehmend entgleisenden verbalen Zuschreibungen – sie verschiebt ihr Schulterblatt, betastet den Rücken, bringt Schriftzeichen an, die gleich wieder verwischt werden, wie auf einer Karte, die eine unbekannte Landschaft zu erfassen sucht. Meg Stuart erzeugt fluide Bilder, die immer wieder aus dem Rahmen auslaufen und sich der Logik einer geschlossenen Komposition widersetzen.77 In Splayed Mind Out wird der Körper als konfluierende, Verbindungen eingehende Matrix zur Disposition gestellt, Chimären, die im zeitgenössischen Tanz auffällig oft im Motiv von Doppelgestalten auftreten, wie anschließend dargelegt wird.
74 Ich habe das Stück 1997 im Rahmen der Theaterskizzen der documenta x in Kassel gesehen. Für die Analyse lag mir außerdem eine Videoaufzeichnung vor. 75 Siegmund spricht von einem »Hyperkörper[]« (Siegmund 2006: 428). 76 Stuart bezeichnet dieses Verfahren der Blickfokussierung auf den Körper als »Zoom in, Zoom out« (in Ploebst 1999b: 22). Rudi Laermans hebt hervor, dass die Kamera in diesem Stück als »Prothese« fungiere, die Intimität und Nähe ersatzweise suggeriere (Laermans 2001/2002: 33), und Jochim konstatiert mit Laurence Louppe eine »close-up spatiality« in diesem Stück, das sich auf körperliche Details konzentriere, und schlussfolgert: »Die Kamera scheint in der Tat das Fleisch zu berühren.« (Jochim 2006: 336, 339, 329) 77 Edith Boxberger bemerkt zu Splayed Mind Out: »Auf der Bühne fügen sich die Teile nicht mehr zu einem Ganzen. Das Koordinatensystem, in dem sie verankert sind, ist außer Kraft gesetzt.« (Boxberger 1997: 26 f.)
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Auch Sasha Waltz arbeitet mit solchen Körperfusionen. Anders als Stuart generiert sie jedoch teils stehende hybride Bilder surrealen Charakters, die einer grotesken Zersetzung tendenziell ausweichen.
4.1 Zentaurische Fusionen. Am Rand: die Körper Die Choreographie Körper von Sasha Waltz (2000) beginnt mit einem buchstäblichen, lebenden Körper-Bild:78 Hinter einer hohen, rechteckigen Glasscheibe sind die Leiber männlicher und weiblicher Tänzer (nackt bis auf die hautfarbenen Unterhosen) auf eine fast zweidimensionale Ebene flachgedrückt. Wie in einer Ausstellungsvitrine79 oder einem »Terrarium« (Wesemann 2000: 51) schieben und winden sich die Körper übereinander und umeinander herum, versuchen, am anderen vorbeizugleiten, sinken nach unten weg oder fallen oben aus dem Rahmen heraus. Das Ganze erinnert an die kompositen Gemälde Giuseppe Arcimboldos,80 wobei hier allerdings keine, in dem Fall aus Einzelkörpern gefertigte Gesamtgestalt zu erkennen ist. Vielmehr bewegen sich die Körper der Tänzer/innen wie Einzeller unter dem Schau-Fenster umher, gehen temporäre Verbindungen mit ihren Nachbarn durch Hautkontakt ein und lösen sich kurz darauf wieder ab (Abb. 53). Die Kritikerin Irene Sieben beschreibt die Szene als Anordnung in einer Laborsituation, in der fremde (Körper-)Elemente erforscht würden: »Träge quellen Körper hinein, quetschen sich aneinander vorbei wie in Gelee – ein Abstrich unterm Mikroskop, Würmer, Mikroben, pulsierende Föten oder Menschen, ums letzte Gramm Luft ringend? Aus der Ursuppe formt sich das Individuum.« (Sieben 2000: 55) Das Tableau steht programmatisch am Beginn eines Stücks, das zugleich den Auftakt von Waltz’ Wirken an der Berliner Schaubühne bildet und den Fokus ihrer bisherigen Arbeit verschiebt: von einer narrativen, mit den Techniken von Tanztheater und Postmodern Dance arbeitenden Ästhetik (vgl. Schulze 1999: 111 ff.) hin zu einem teils abstrahierenden Zugriff auf den Körper als Material. Das Körper-Bild kann dabei als Scharnier zwischen diesen beiden Strategien gesehen werden, sind es doch gerade Bilder, die für Waltz sehr häufig den Probenprozess und die choreographische Kreation anregten und dies auch weiterhin tun (vgl. Waltz in Stöckemann 1994: 4, 6, Widmann 26.7.2000).
78 Ich habe das Stück in den Jahren 2000 und 2006 an der Berliner Schaubühne gesehen. Für die Analyse habe ich außerdem die Filmversion des Stücks zuhilfe genommen (Produktion ZDF/arte). 79 Waltz nennt diese Szene »Vitrine« (im Menü der DVD-Dokumentation, 2005). 80 Zur Hybridität als Groteske in den Gemälden Arcimboldos (1527-1593) vgl. Harpham 1982: 13 f. Bei Arcimboldo sind es pflanzliche oder teils nicht-organische Formen, mit denen er seine anthropomorphen Portraits gestaltet.
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Abb. 53: Sasha Waltz, Körper (2000), Photo: Bernd Uhlig
Abb. 54: Sasha Waltz, Körper (2000), Photo: Sebastian Bolesch
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Eines dieser Bilder erscheint im ersten Drittel des Stücks in Form dreier Doppelwesen, die sich nacheinander langsam auf die Bühne schieben, ein weibliches und zwei männliche.81 Der Oberkörper ist jeweils entblößt, das Hinterteil steckt unter einem unförmigen, groß aufgeblähten und wie ein Schwanzteil herunterhängenden schwarzen Tuch, aus dem vorne die Beine verdreht herausragen, als wären sie falsch herum am Hüftgelenk angebracht, die Fußzehen nach unten weisend und teilweise horizontal aus dem Unterleib herauslugend (Abb. 54). Mit langsam gleitenden, bisweilen schwankenden, ruckartigen Bewegungen und entrücktem Blick begeben sich die Gestalten, Zentauren ähnlich, auf die Bühnenmitte, setzen sich mit Mühe auf den Boden und heben dabei die Beine in einem physiologisch eigentlich unmöglichen, langsamen battement um 90 Grad nach oben. Waltz komponiert dieses surreal anmutende Bild auf der Basis von Körper- und Gelenkvertauschungen, groteske Inversionen, bei denen jeweils zwei Tänzer/innen unter dem Tuch ineinander verhakt sind. Gebannt folgt der Blick diesen zusammengesetzten Körperformationen mit ihren »widerstrebende[n] Gangarten« (Sieben 2000: 55) Woher rührt die Faszination an den deformierenden Kopplungen solcher Menschenkörper, wie sie auch Mette Ingvartsen in Manual Focus zeigt? Giorgio Agamben spricht in seinem Essay über Das Offene von den Grenzen des Humanen, die sich speziell vor der Kontrastfolie des Tierischen verunsichern, aber auch reintegrieren ließen (Agamben 2003: 36; vgl. S. 374 f.). Irritationen durch Mensch-Tier-Chimären ereignen sich allerdings nicht nur als außer-ordentliche Erscheinung. Umberto Eco widmet in seinem enzyklopädischen Buch über Die Geschichte der Schönheit auch den sogenannten Monstern ein Kapitel, wonach sich diese jeweils als Gegenfolie in den Ordnungen von Proportion und Harmonie wiedergefunden hätten82 – bereits Plinius beschrieb in seiner Naturgeschichte Wesen mit nur einem Auge, solche ohne Kopf oder mit verdrehten Beinen, die dann in Enzyklopädien und Reiseberichten des Mittelalters wieder auftauchten und den Reiz des »Wunderbare[n]«, mithin Exotischen in sich bargen (Eco 2006: 139 ff.). Plinius formulierte das Erscheinen von Monstern als Beweis des Göttlichen, wodurch sie allerdings immer schon in eine Ordnung eingebettet seien, wie Augustinus später einwendet (ebd.: 145).83 Eine ähnliche Faszination ist nun im zeitgenössischen Tanz, hier in Waltz’ Körper anzutreffen, die gerade das Ungewöhnliche und Überraschende mit dem Attribut des Schönen belegt, wie das schwelgerische Urteil des Kritikers Arno Widmann zeigt, der die Doppelkörper 81 Die Oberkörper werden von Lisa Densem, Juan Kruz Diaz de Garaio Esnaola und Nicola Mascia gebildet, dessen ›Unterteil‹ Nadia Cusimano darstellt, wie sich später zeigt. Wer unter den beiden anderen steckt, war nicht zu ermitteln. 82 Vgl. hierzu auch die Lektüre von Williams, S. 104. 83 Erst in der frühen Neuzeit und im Zuge der Aufklärung verschob sich die Perspektive auf monströse Wesen vom Anzeichen für Divinität hin zu einem »Fehler« der Natur (vgl. Garland Thomson 1996: 3, 13, Daston/Park 1998: 201 ff.). Zur Doppelnatur des Monsters als Randfigur von Ordnungen vgl. auch S. 104.
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als »Zauberszene« bezeichnet: »Hier entsteht das ganz Seltene einer neuen, nie gesehenen Schönheit.« (Widmann 27.6.2000) Bemerkenswert an dieser Analogie ist, dass eine an sich groteske, komposite Erscheinung als schön betrachtet wird. Wie aber kann das sein? Haben wir es hier mit einer Tendenz zu tun, nach der auch der zeitgenössische Tanz mittlerweile über einen (De-)Formenkanon verfügt, der das Zusammengesetzte, Verschobene oder Fragmentierte als Repertoire einer ästhetischen Ordnung ausweist? Das Disproportionale als Ablösung von Harmonie und Ebenmaß? Angesichts auch im 21. Jahrhundert noch herrschender Schönheitsdiktate84 geht meine Vermutung zunächst eher dahin, dass hier das alte Phänomen der Angstlust, des schaurig-schönen Gruselns85 wiederbelebt wird. Die Faszination der Überraschung angesichts hybrider »unexpected bodies«, die Rosemarie Garland Thomson in ihrer Studie über »freaks« und ihre Zurschaustellung seit dem Mittelalter hervorhebt (Garland Thomson 1996: 1 ff.), präzisiert Elizabeth Grosz als Mischung aus »horror and fascination«, die sich aus sexueller, voyeuristischer Neugier speise (»How do they do it?«), zugleich jedoch auf das eigene, jederzeit versehrbare Selbst verweise, und die in ihrer emotionalen Ambiguität mithin eine groteske wäre: »The perverse pleasure of voyeurism and identification is counterbalanced by horror at the blurring of identities (sexual, corporal, personal) that witness our chaotic and insecure identities.« (Grosz 1996: 64) Widmans Beurteilung schlägt dennoch nicht ganz fehl und hier wäre tatsächlich zu fragen, inwieweit Waltz’ Doppelwesen nicht doch vom grotesken Rand herunterfallen und in Richtung eines ästhetischen Zentrums rücken. Einen Hinweis darauf liefern die wiederholten Vergleiche, welche zwischen Waltz’ Körper und den Strategien Xavier Le Roys, Jérôme Bels und Meg Stuarts gezogen werden,86 die im Spiegel der Kritik anscheinend die Richtung der Formzerstörung vertreten – so Malve Gradinger: »Sasha Waltz […] hat bewiesen, dass sie auch abstrakt arbeiten kann. Ob sie sich tatsächlich auf die Linie von Körper-(De-) Konstruktivisten wie Meg Stuart und Xavier Le Roy begeben kann/soll, wagt man zu bezweifeln.« (Gradinger 2000: 33) Irene Sieben wiederum platziert Waltz als Bilderproduzentin »[z]wischen Meg Stuarts psychophysischer Attacke auf Normalität und Jérôme Bels körperkosmischen Identitätsversprengungen« (Sieben 2000: 55).
84 Dafür sprechen etwa TV-Formate wie Germany’s Next Topmodell (Pro 7, seit 2006). 85 Edmund Burke entwickelt in seiner Theorie Vom Erhabenen und Schönen (1757) die Idee gemischter Empfindungen, in denen sich Schauder und Lust als physiologisches Phänomen verbänden, was er anhand der Erlebnisse von Naturphänomenen sowie am Beispiel der Dichtung darlegt (Burke 1989: 64 ff., 68, 101, 205 ff.). 86 Die Vergleiche basieren u.a. auf der Ankündigung Sasha Waltz’ und ihres Dramaturgen Jochen Sandig, künftig auch Künstler/innen wie Stuart und Bel als Gastchoreograph/innen an die Schaubühne einzuladen (vgl. Sieben 2000: 55).
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Meine Hypothese ist, dass die Darstellungen in Waltz’ Körper eine tendenziell höhere Geschlossenheit und Bildhaftigkeit aufweisen als etwa die Metamorphosen Le Roys in Self unfinished. Dafür spricht, dass Waltz die Doppelkörper zwar vom Prinzip her dekomponiert, sie jedoch als rekomponierte Körper-Bilder im Rahmen hält und mit den ihnen impliziten changierenden Illusionseffekten quasi »fertig« auf die Bühne stellt – der Herstellungsprozess und das Moment der Transformation im ›making‹ bleibt verborgen und ereignet sich vielmehr als illusionärer Shift im Auge der Betrachtenden. Man kann hier also von Monstern sprechen, die sich als Teil einer (teratologischen) Ordnung erweisen:87 Als zwar komposite Zwillingskörper ermöglichen sie indessen immer noch eine Identifizierung (vgl. Grosz 1996: 63), die sich, wie gesehen, mit dem Label des Schönen im zeitgenössischen Tanz belegen lässt. Solche Ordnungen werden besonders dann sinnfällig, wenn Kritiker gar von bestimmten ›Methoden‹ des Fragmentierens und Deformierens sprechen, so Arnd Wesemann in seiner Rezension zu Körper, worin sich Waltz der Technik des »derzeit beliebten skinfolding« bediene (Wesemann 2000: 51). Wesemann spielt auf eine Szene an, in welcher der Tänzer Nicola Mascia ein scheinbar blutiges, kugeliges Gebilde aus seiner rechten Brust quellen lässt – er erzielt diesen vermeintlich körperöffnenden Effekt durch Zusammenpressen der Hautfalten zwischen den Fingern und wendet somit eine Art Filmtrick an. Stehen Desorientierung, Erfahrungen des Fremden oder Verformungen der Haut, wie sie auch Bel, Duarte oder Stuart vollziehen, also bereits als Programm des zeitgenössischen Tanzes fest, so sind sie in der Arbeit von Sasha Waltz produktionsästhetisch zwar noch grotesk, in der Rezeption jedoch bereits zur Form geronnen. Und doch haben wir es hier nicht mit dem Postulat eines virtuosen, geschlossenen oder durchtrainierten Körpers zu tun, wie ihn etwa das klassische Ballett fordert. Für Momente irritieren die zentaurischen Erscheinungen und rühren an gewohnte binäre Prinzipien88 – sie bilden paradoxerweise eine Erscheinung innerhalb einer »taxonom[y] of […] ›in-betweenness‹«, wie Allison Pingree anhand des Phänomens siamesischer Zwillinge feststellt (Pingree 1996: 173). Zudem zeigt Waltz in Körper Szenen, die fast als Parodie auf Ästhetiken des Fluiden und Changierenden erscheinen: Nachdem Mascia allerlei ›Blutiges‹ aus seinem Körper hervorgezogen hat, schüttet ihm der Tänzer Davide Camplani
87 Elizabeth Grosz kritisiert entsprechend die Katalogisierungsbestrebungen Ambroise Parés, der das Monströse in den Rahmungen von Formen, Ordnungen und Bildtafeln zur beherrschbaren Kategorie machen wolle, inklusive ihrer jeweiligen Ausschlussmechanismen (Grozs 1996: 57 f.). 88 Grosz formuliert solche Phänomene etwa für den Anblick siamesischer Zwillinge, die duale Kategorien und die Ideale von monadischer Geschlossenheit des Körpers ins Wanken brächten (Grosz 1996: 57). Janine Schulze betont die gezielte Verschiebung von Dichotomien als wichtiges Prinzip in der Arbeit Sasha Waltz’, so zum Beispiel in ihrer Trilogie Travelogue, in der sie mit den Geschlechtermodellen des Weiblichen und Männlichen spiele (Schulze 1999: 116 ff.).
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buchstäblich das Wasser aus: Er ›dreht‹ am Knie gleich einem Wasserhahn und prompt fließt ein Strahl heraus. Zur selben Zeit packt Sigal Zouk-Harder ihre Kollegin Takako Suzuki, hält sie kopfunter und schüttelt mit kräftigen Bewegungen Flüssiges aus ihrem Körper. Waltz erzielt solche illusionierenden, komischen Effekte und die Irritationen ihrer in der Hüfte um 180 Grad verdrehten Doppelwesen durch die Strategie des Misreading. Werden diese durch das anagrammatische Vertauschen von Körperteilen und sonstiger Substanzen erzielt, entstehen solche Effekte außerdem zwischen Sprache und Geste in Monologen, die sich in der Dramaturgie des Stücks mehrmals wiederholen. Hierbei spricht ein/e Tänzer/in jeweils von einer alltäglichen Begebenheit oder einem Erlebnis aus ihrem Leben. Sigal Zouk-Harder erzählt, wie sie morgens aufsteht und welche Körperteile sie dabei dehnt und streckt, deutet jedoch immer auf die falsche Stelle. So wird der Arm zum Bein, die Nase zur Achselhöhle und der Mund ins Schlüsselbein geredet. Claudia de Serpa Soares stellt ihren Körper vor, jedoch mit ›falschen Angaben‹ – die Daten von Körpergröße (zu groß) und Gewicht (viel zu wenig) passen nicht auf das, was von ihr auf der Bühne zu sehen ist. Gesteigert werden die Fehlbenennungen am Ende des Stücks, als Grayson Millwood von der Begegnung mit einer Frau berichtet und dabei die gesamte Physiognomie im rasenden Tempo ausgesprochener Körperteile und dazugehöriger Fehl-Deutungen durcheinander gerät, hauptsächlich als degradierende Oben-Unten-Vertauschungen von Mund und Bauch oder Stirn und Fuß. Judith Butler interpretiert diese Szene als Scheitern der Benennung des Körpers, die aber mit hoher Kontrolliertheit geschehe: »Es gibt also keine Kontrolle über den Körper, weder durch Benennen, noch durch Berührung, durch Fassen, durch Drücken und Ziehen. Und zugleich gibt es keinen Kontrollverlust, es gibt keinen Moment, von dem man sagen könnte, dass eine Bewegung nicht in die Tanzsequenz hineinpasste, oder in der die Tänzer nicht wüssten, was sie tun. Die Bedeutung von Kontrolle hat sich verändert. Hier wird der Körper nicht einer sprachlichen Handlungsinstanz oder einer stillgestellten Pose des Denkens untergeordnet. Dies ist vielmehr ein Denken und eine Instanz der Handlung, die körperlich und durchdringend ist, und es ist nicht leicht, sie zu erfassen und Hand an sie zu legen, sie zu erkennen und ihrer in Eigenart wahrzunehmen.« (Butler 2007: 73)
Dem Misreading wohnt also eine »in-betweenness« inne, die das Fehlschlagen richtiger Körperzuordnungen als kontrolliertes und virtuos gemeistertes Spiel elaboriert und die sich im Bereich grotesker Körperkomik verorten lässt, wie sie etwa der Commedia dell’Arte zu eigen ist. Otto Driesen betont in seinem Buch über den Harlekin, dass dieser seine Torsionen, Sprünge und Körperverrenkungen nur durch langjährige Übung und Körperbeherrschung vollbringen könne (Driesen 1904: 218). So werden De-Formationen und Gliederverwirrungen paradoxerweise nur durch Training und entsprechende Kontrolle gemeistert, was
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auch die oft sehr hohen Tempi und präzisen Zusammenspiele der Tänzer/innen in Waltz’ Company zeigen (vgl. Schulze 1999: 121). Die Desorientierungen körperlicher Zuordnungen, die wiederum durch das hohe Orientierungs- und Verschiebungsvermögen der Tänzer/innen ermöglicht werden, lassen Sasha Waltz’ Stück an den Rand grotesker Phänomene rücken, den sie zuweilen berühren, um sich sogleich wieder im Zentrum stärker gerahmter, in sich verschobener Bilder zu situieren. Dabei arbeitet die Choreographin weniger am Rand des Körpers und seinen porösen, durchlässigen Grenzen, sondern stellt vielmehr Körper, mit denen man den Rand von Räumen, Bildern, Konventionen erfahren kann, in den Mittelpunkt ihrer Ästhetik. So vermessen die Körper der Tänzer/innen immer wieder den Raum der kaum dekorierten, nackte Betonwände freigebenden Schaubühne, markieren ihre Umrisse und Körpergrößen an der Wand, legen sich in langen Körperketten an die Begrenzung der Bühne oder bilden einen horizontalen, zusammengedrängten Leiberteppich, der über den Boden hinwegrollt. Diese Körperbordüren oszillieren zwischen kompositen Randgebilden, die den Raum der Schaubühne auskleiden, ihn dekorieren, und der Zentralisierung auf den Körper als bestimmendes Thema89 für Waltz’ choreographische Zukunft. Der randständige Körper rückt in gestalteten Bildern in den Fokus ihrer künstlerischen Praxis, die so verortet, keine groteske (mehr) sein kann. Körperfusionen, Verdrehungen und Verknotungen finden seit einigen Jahren auch Eingang in etabliertere oder klassische Tanzstile wie das Ballett, wobei sich Einflüsse zeitgenössischer Praktiken erkennen lassen. Beispielhaft soll nun eine Produktion des italienischen Aterballetto vorgestellt werden.
4.2 Körper-Knoten im Ballett Zwei Männer liegen am Boden, nur mit Unterhosen bekleidet, den Blick auf ihre durchtrainierten Muskeln freigebend. In Bauchlage der eine, auf dem Rücken der andere und die Beine ineinander verschlungen halten sie sich an den Armen gegenseitig fest, durch starken Zug und Anspannung miteinander verknüpft (Abb. 55). Das Stück Pression90 von Mauro Bigonzetti (1994) wird von der Compagnia Aterballetto getanzt (Reggio Emilia, Italien), deren Chefchoreograph
89 Die Motive »Körper und Raum«, Medizin und Geschichte sowie »Body-Systems« waren leitend für ihr Stück, erläutert Waltz im Gespräch mit Michaela Schlagenwerth (Schlagenwerth 2008: 62). 90 Der Titel folgt der gleichnamigen Musik von Helmut Lachenmann, die für das Stück gewählt wurde. Ich habe Pression 2004 im Rahmen einer Ballettgala der Komischen Oper Berlin gesehen, für die Analyse lag mir eine Filmaufzeichnung vor.
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er ist und die einen Tanzstil kultiviert, der im neoklassischen Ballett gründet91 und von zeitgenössischen Einflüssen durchzogen wird (vgl. Saison de la Danse 1999: 27). Dabei sind Kontrastierungen ein wichtiges Element in Pression. Sie werden zu Beginn eingeführt von einem Frauenpaar (Sveva Berti, Stefania Figliossi), das einem geklonten Zwillingspaar ähnlich, hintereinander versetzt im Plié in der zweiten Position die Bühne passiert, die Überlänge der Beine durch knappe Bodies und Spitzenschuhe betont. Die beiden halten einander an Hüfte und Kopf, das rechte Bein jeweils im Hüftgelenk und auf der Fußspitze ausdrehend und weiter zur Seite schiebend, dabei das linke Beine überkreuzend nachgezogen, wobei sich der Körper mit jedem Seitenschritt von der Grundhaltung en face ins ecarté verschiebt und wieder zurück, gleich einem dekorativen, geometrisierten Band, das die gemächlich vorbeiziehende Folie für das verknotete Männerpaar bildet (Abb. 56).
Abb. 55: Mauro Bigonzetti/Compagnia Aterballetto, Pression (1994), Videostill
Abb. 56: Mauro Bigonzetti/Compagnia Aterballetto, Pression (1994), Videostill
Die beiden Tänzer Adrien Boissonnet und Thibaut Cherradi versuchen mit ihren umeinander gewundenen Leibern vom Fleck zu kommen, schieben und ziehen mit den Händen über den Boden und rollen um ihre Körperachse, wobei sich das Gliedergewirr der unteren Extremitäten noch mehr ineinander verkeilt. Schließlich wird die Position aufgelöst, doch die Abhängigkeiten enden damit nicht. So legen sich die Beine gleich wieder in gekreuzter Scherenhaltung um den Hals des anderen und lassen sich durch den Raum schleifen – oder man sitzt in chimärisch verschmolzener Pose aufeinander, der eine rückwärts auf allen Vieren, eine ›Brücke‹ bildend, der andere auf ihm sitzend, die Beine nach hinten umgeschlagen, so dass der Eindruck entsteht, der vorne Hockende habe verkürzte Beine. 91 Als großes Vorbild nennt Bigonzetti George Balanchine (Bigonzetti in Morell 2005, Filmportrait).
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Bigonzetti dreht das Paradigma des Balletts von Leichtigkeit und Schwerelosigkeit in diesem Stück um: Männer, die im klassischen Ballett oftmals die nur die Aufgabe haben, ihre Partnerin durch die Lüfte zu heben, um den Eindruck des Schwebens noch zu verstärken, haften nun mit ihrer Kraft am Grund der Bühne, von dem sie sich kaum zu lösen vermögen. Damit wird zugleich das Paradigma des modernen Tanzes überhöht, der die Arbeit mit Gewicht und Schwere im Bruch mit dem Antigraven des Balletts protegiert (vgl. Brandstetter 1995: 59), denn die beiden Tänzer kleben mit ihrer Muskelmasse derart am Boden fest, dass an raumgreifende Bewegungen nicht mehr zu denken ist. Damit ironisiert Bigonzetti zudem die eigene Ästhetik, die gemeinhin als athletisch beschrieben wird (vgl. etwa Poletti 1999: 78 f.) und sich durch hohen Krafteinsatz sowie die Flexion von Füßen und Knien auszeichnet, wie etwa in der Inszenierung Omaggio a Bach (2000). Die Tanzjournalistin Silvia Poletti versieht das Männerduo in Pression mit dem Attribut des Grotesken (Poletti 1999: 78) – Hinweise dafür gibt die doppelte Degradierung der Ballettästhetik: Die Verortung des Pas de deux am Boden, der außerdem entgegen der Gewohnheit von zwei Männern getanzt oder vielmehr gerungen wird und aufgrund seiner Schrittlosigkeit zu einem corps de deux mutiert, der allenfalls, von den Armen gezogen und gedrückt, über den Boden rutscht oder darüber hinwegrollt. Allerdings wird der Körper hier nicht mit dem Umraum in Verbindung gebracht oder scheint mit der Haut des anderen zu verschmelzen, wie bei Meg Stuart. Vielmehr verdichten sich die beiden Männerkörper zu einem solitären, kompakten, skulpturalen Muskelpaket, das in seiner Hermetik den umgebenden Raum fast völlig ignoriert und so wiederum ein Pas de deux bildet, in der doppelten Wortbedeutung des Französischen als Schritt und (monolithische) Verneinung. Entsteht zunächst der Eindruck des Grotesken aufgrund der die Ballettkonventionen unterlaufenden Körperknoten am Boden, wird dennoch nicht mit den Bedingungen eines durchtrainierten Körpers gebrochen. Hinzu kommt die emotionale Aufladung der Szene, die sich in Gesichtsausdrücken der Anstrengung, des Leidens und verzweifelten Augen-Blicken visualisiert:92 die Verknotung des Männerpaares gerät zur Gefühls-Verstrickung in gegenseitiger (körperlicher) Abhängigkeit. Bigonzetti selbst betont die Wichtigkeit von Emotionen als Ausdruck und Inspiration für seine Stücke und greift den Topos des Tanzkörpers als 92 Die Plastizität der ringenden Muskeln und die emotionalisierte Mimik rufen für Momente die in den Vatikanischen Museen ausgestellte Skulpturengruppe des Laokoon in Erinnerung, die auch Gegenstand der ästhetischen Betrachtungen Winckelmanns war. In dieser Plastik zeige sich »bey allen Leidenschaften eine grosse und gesetzte Seele«, die im (griechischen) Künstler selbst wohne (Winckelmann 1756: 21). Gotthold Ephraim Lessing widerspricht dieser Auffassung: Dass die Laokoongruppe ihr Publikum immer noch zu affizieren vermöge, liege vielmehr im Kunstwerk selbst begründet, das es der Imagination erlaube, sich frei zu entfalten (Lessing 1988: 16, 25).
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Instrument in einer doppelten Lesart auf: Als »Gefäß von Emotionen« sei jeder der Tänzer/innen »anders besaitet« (Bigonzetti in Morell 2005, Filmportrait). Die Körperbewegung selbst trägt mithin zur Regung, zum Bewegt-Werden der Tänzer/innen bei, als Verkörperung von Gefühlen. Postulierte Yvonne Rainer in Abgrenzung von Ballett und Ausdruckstanz das Gehirn als Muskel,93 also Bewegung als Denken und den Denkvorgang als Bewegung (Rainer 1974a: 63), verdreht Bigonzetti diesen Ablauf, indem er Emotionen und Spannungen durch muskuläre Tensionen produziert – ein Vorgang, der zunächst an die Gebärdenkodizes Claude-François Ménéstriers aus dem 17. Jahrhundert94 erinnert, welcher der Darstellung von Gefühlen bestimmte Körperhaltungen zuordnete, »Ausdruckswerte[], die nach Affekten und Gebärden katalogisiert« wurden, wie Sabine Huschka ausführt (Huschka 2006: 115). Sie weist die Produktion von Gefühlen als verkörpertes Repertoire im 17. und 18. Jahrhundert nach und zeichnet folglich den Tanz als ein (körpertechnisches) »Medium von Gefühlen« aus (ebd.: 107). Bigonzetti setzt nun in seiner Choreographie keine klischierten Gesten emotionalen Gehalts ein, sondern bedient sich der zeitgenössischen Praxis von Gliedertransformation und Körperassemblagen, um affektive Regungen zum Ausdruck zu bringen. Entsprechend umschreiben Tanzkritiken das Bewegungsrepertoire Bigonzettis häufig als gewaltsam und archetypisch (vgl. Regitz 1997: 45). So erscheint Bigonzettis Pression als ironisch gewendete Paraphrase auf das Ballett: durch das Verharren am Boden sowie die Aufteilung des Pas de deux auf jeweils ein Männer- und ein Frauenpaar, die das Spiel der Verkehrung und des Zeigens auf die Mechanismen des Balletts weiterführen. An den Corps de deux der beiden Tänzer schließt sich das Eingangsbild der regelrecht geometrisch duplizierten Frauen wieder an und wird mit synchronen, stark angewinkelten Armbewegungen weitergeführt, betont durch die ins Port de bras geführten Arme, die dabei die Handgelenke extrem im 90-Grad-Winkel nach außen überstrecken. Gedoppelt werden die Posen durch die beiden Männer, die sich gegenseitig den Rücken zuwendend, an den nach hinten gestreckten Armen halten und sich so, einem Klecksbild gleich, spiegeln (Abb. 57). Bigonzetti verweist mit dieser Überbetonung auf das Ornamentale im klassischen Ballett, auf lang gehaltene Positionen in Wartestellung, die oftmals dem Corps de ballet am Rande zugewiesen sind, etwa in der Choreographie Schwanensee.95 Der Choreograph verkehrt
93 Vgl. Hardt 2006: 141 ff. In diesem Zusammenhang kann keine ausführliche Aufarbeitung des Themenkreises Emotionalität im Tanz geleistet werden. Zur Frage der Wiederkehr der Gefühle im Sinne eines »emotional turn« im zeitgenössischen Tanz (Brandstetter 2006: 17) vgl. u.a die Diskussion von Tanz als »e–motion« im gleichnamigen Jahrbuch Tanzforschung, 2006 (Bischof/Feest/Rosiny 2006). 94 Es handelt sich dabei um das Traktat Des Ballets anciens et modernes selon le règles du théâtre (1682), vgl. Huschka 2006: 115. 95 Dies zeigt die Protagonistin in Jérôme Bels Stück Véronique Doisneau (2004) in einer eindrücklichen Paraphrase.
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nun die Ebenen, indem er den dekorativen Rand ins Zentrum rückt und ihn von vier, im Programmheft explizit ausgewiesenen, Tanzsolist/innen ausführen lässt.
Abb. 57: Mauro Bigonzetti/ Compagnia Aterballetto, Pression (1994), Videostill
Doppelwesen, die sich ineinander verdrehen und verknoten, erweisen sich als Muster des Grotesken im Tanz und greifen dabei, wie zu zeigen war, auf teratologische Traditionen zurück. Dabei ereignet sich ein Paradigmenwechsel von der Situierung des Monströsen als Teil einer Gesamtordnung im Spätmittelalter hin zu Deformationen als Ausdruck von Aberrationsphänomenen innerhalb klinischer Diskurse des 19. Jahrhunderts (vgl. auch Anm. 83, S. 210 sowie S. 103 f.). Barbara Stafford vollzieht diesen Bruch anhand von Doppelerscheinungen bei Menschen und Tieren nach. Seit der Aufklärung in regelrechten Katalogen gesammelt und sortiert – so etwa von Etienne und Isidore Geoffroy de Saint-Hilaire – entwickelte sich die Teratologie als Wissenschaft (Stafford 1997: 256 ff.; vgl. auch S. 104). Anders als noch bei Plinius wird das Auftreten multipler Körperwesen nun jedoch nicht mehr als Beweis einer göttlichen Ordnung gewertet, sondern zur Kontrastfolie für die (körperliche) Integrität des In-Dividuums96, die alles Hybride auszuschließen wünscht (Stafford 1997 264). Im zeitgenössischen Tanz, so meine These, werden nun solche Doppelungen und Aufspaltungen gezielt im Wechselspiel zwischen Ordnung und Dekonstruktion aufgegriffen. Der Pas de deux als überzeichnende Dopplung des Körpers, wie er in Pression expliziert wurde, ist wiederum ein häufig wiederkehrendes Thema in Produktionen seit den 1990er Jahren, was im Folgenden anhand dreier Beispiele untersucht wird.
96 Ich lehne mich hier an den Sprachgebrauch Bernhard Waldenfels’ an (Waldenfels 2006: 17). Vgl. auch S. 299 f. zur (medizin-)wissenschaftlichen Konstitution des Individuums mit Foucault.
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4.3 Emio Greco Extra Dry: Den Körper klonen Zwei Menschen stehen genau hintereinander auf der Bühne, nahezu gleich groß, gleich kahlköpfig und beide in ein loses, weißes, langärmliges Gewand gekleidet, das bis über die Knie reicht. Langsam heben sie die Arme zu einem Port de bras über den Kopf, in absolutem Gleichklang – wobei nach ein paar Sekunden deutlich wird, dass vorne nur der rechte Arm gehoben wird, während sich hinten der linke in einer komplementären Bewegung hinzufügt (Abb. 58). Diese komposite Armrundung erzeugt Verschmelzungseffekte: So gleichförmig und ›organisch‹ sieht die Armhebung aus, dass die beiden hintereinander stehenden Personen zu einem Wesen verwachsen zu sein scheinen, siamesische Zwillinge, die jeweils nur einen linken beziehungsweise rechten Arm besitzen, die sie aber in perfekter Harmonie aufeinander abgestimmt zugleich benutzen.
Abb. 58: Emio Greco | PC, Fra Cervello e Movimento: Extra Dry (1999), Photo: Erik Lint
Extra Dry (1999) ist der dritte Part der Trilogie Fra Cervello e Movimento (199699) des Künstlerduos Emio Greco (Choreographie/Tanz) und Pieter C. Scholten (Regie). Sind die ersten beiden Teile Bianco (1996) und Rosso (1997) als Soli konzipiert, die sich mit der Selbstbefragung des tanzenden Individuums bezie-
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hungsweise dessen Verortung im (Bühnen-)Raum auseinandersetzen und von der spezifischen Tanzästhetik Grecos geprägt sind – die im Ballett fußend, dessen Balanceakte immer wieder dekomponiert und verzittert –, ist Extra Dry als Duett komponiert und im Wesentlichen durch das von Greco in den ersten beiden Teilen eingeführte Bewegungsvokabular strukturiert, das sich hauptsächlich in der Vertikalen, in Höhe und Breite des Raumes orientiert – anders als beim Aterballetto, wo die Verankerung und Wendung zum Boden hin ein wichtiges Merkmal darstellt. In dem durchweg mit einer goldfarbenen Seitenbespannung verkleideten Raum sind die beiden Tanzenden in der ersten Hälfte des Stückes in für das bloße Auge perfekt wirkender Synchronizität der Bewegungen harmonisiert. Wichtig ist allerdings, zwischen den beiden verschiedenen Versionen des Stückes zu unterscheiden. In der ursprünglichen, nur für kurze Zeit getourten Fassung tanzten Emio Greco und sein männlicher Counterpart Andy Deneys, die beide sogar fast den gleichen Körperbau hatten.97 Mit ihren unzähligen Wiederholungen sehr nah aneinander ausgeführter Hebungen und Senkungen der Arme, leichten Gewichtsverlagerungen seitlich versetzter Körper und dem gemeinsamen Ausschreiten in den Raum – wobei sich die beiden Tänzer häufig nicht mehr als etwa zwanzig Zentimeter voneinander entfernten – entstand der Eindruck eines geklonten Doppelwesens, bei dem kaum zu entscheiden war, wo der eine Körper aufhörte und der andere begann (vgl. auch Schlagenwerth 21.8.1999, Draeger 21.8.1999, Schmidt 20.8.1999, Radiomanuskript). Die Irritationen einer ausdifferenzierenden Wahrnehmung erstreckten sich bisweilen auch auf die Bewegungsansätze und die Frage, von wem der Bewegungsimpuls ausgeht und wer in diesem Diploidkörper ›anführt‹. Die zweite Variation von Extra Dry, die schließlich weltweit tourte und deren Mitschnitt im Repertoire der Compagnie archiviert ist, ersetzte Andy Deneys durch die Tänzerin Barbara Meneses.98 Obgleich Meneses eine sehr männlichmuskulös wirkende Statur hat, auch betont durch den kahl geschorenen Kopf, ist sie deutlich als Frau erkennbar, nicht zuletzt, weil ihre Brüste durch den dünnen Stoff des Kleides hindurchschimmern. Dadurch erscheint das in präziser Synchronizität ausgeführte, die erste halbe Stunde ausfüllende Duett zunächst wie eine besonders ehrgeizige Paraphrase auf den Pas de deux im klassischen Ballett, da sich die fusionierenden Überlagerungen zweier fast identischer Körper nicht
97 Ich habe diese Version im Rahmen von Tanz im August 1999 im Theater am Halleschen Ufer gesehen. 98 Der Weggang Andy Deneys machte die Umbesetzung erforderlich, die sich, bezogen auf die Wahl des Geschlechts, zunächst durch einen Zufall ergab (Scholten 2.1.2008, Emailkonversation). Betonte das männliche Duett noch die Faszination der Zwillingskörper, die sich fast wie Klone glichen, fokussiert der Tanz zwischen Emio Greco und Barbara Meneses nun eher auf die Reibung von Ähnlichkeit und Differenz, die sich zunehmend über das Aufsprengen eines Diktats der Synchronizität abspielt, eine Friktion, die sich nicht zuletzt auch durch die unterschiedliche Körperlichkeit der beiden Geschlechter ergibt.
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einstellen wollen. Mit der Zeit jedoch entstehen Effekte eines Doppeltsehens, denn nicht nur Pliés, Schrittkombinationen, Sprünge und Arabesken werden auf den Punkt genau gemeinsam getanzt: Jeder kleine Wackler, jedes Gegensteuern mit einer Hand, jedes leichte Zittern der Beine im Ringen um Balance ist exakt synchronisiert. So entsteht zwar keine Körperverschmelzung wie in der Ursprungsfassung des Stücks, jedoch sind die beiden Tänzer/innen zu einem gemeinsamen Tanzkörper verfugt, einem Corps de danse, der, wie eine Anspielung auf den Corps de ballet, an die Bewegungsornamente in Aterballettos Pression erinnert. Emio Greco und Pieter C. Scholten beschreiben einen solchen Körper als Surplus des Duetts, das nicht nur additive Aspekte habe, sondern in dem »eins und eins nicht zwei, sondern zwei plus ergibt.« (Greco/Scholten 1999, Programmtext) Helmut Ploebst betont die Profanierung von Virtuosität, mit der das Duett in Extra Dry komponiert und getanzt werde, durch einen Körper, der »zuckt, hampelt, zappelt, stürzt, schüttelt« und sich somit zur »grotesken Karikatur« verforme (Ploebst 2001: 139). Jedoch wird hier der Topos des Grotesken immer noch als Sprachfigur schlussendlich unlesbarer diffuser Bewegungen eingeführt. Groteske Erscheinungen entstehen indessen, so meine These, nicht durch unspezifisches Gliederverrenken, sondern vielmehr durch die Körperverschmelzungen (in der ersten Fassung des Stücks) sowie in der Überhöhung und Übertreibung des Synchronizitätsdiktums im Ballett, das sich in Extra Dry bis in die minimalste Korrektur des Gleichgewichts hinein erstreckt – und die beiden different geschlechtlichen Körper auf diese Weise durch eine technisch genau koordinierte Anpassungsleistung klont, müssten doch Balance und Korrektur an sich schon, durch unterschiedlichen Muskulatur- und Körperbau eigentlich verschieden sein und spezifische Anpassungen erfordern, die kaum in Einklang zu bringen wären. Greco und Meneses verharren allerdings nicht in dieser Transfusion, sondern lösen sich in der zweiten Hälfte des Stücks aus ihrem Doppelgängerdasein (vgl. Regitz 21.8.1999, Ploebst 2001: 129). und überführen das Konzept der Duplizität in den Raum. Gemeinsam werden Raumdiagonalen aufgespannt, wobei die Bewegungen der beiden zunächst noch dem strengen Muster der Gleichheit folgen. Allmählich wird die Struktur aufgelöst und die Bewegungsphrasen individualisieren sich. Synchrones ereignet sich nun aber auf der Ebene von Reiz-ReaktionSchemata, in denen die Tänzer/innen zeitgleich zusammenzucken oder Bewegungsimpulse auslösen, die dann in jeweils unterschiedliche Abfolgen münden, für die Initiation einer neuen Bewegungsskala jedoch immer wieder zusammenkommen. Insgesamt weitet sich das Konzept paralleler Motionen also auf die Synchronisierung von Bewegung, Raum und reaktive Reflexe aus, die gemeinsam das Prinzip des (klassischen) solistischen Startänzers als genuine Quelle von Bewegung hinterfragen und in Körperfusionen sowie rhythmisierte Anordnungen im Raum verlagern.
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4.4 Bewegung spiegeln: Rubatos Permanent Dialogues Die Tanzcompagnie Rubato, bestehend aus dem Choreograph/innenpaar Jutta Hell und Dieter Baumann, lässt den Körper und seine Bewegungsprinzipien in ihrem Duett Permanent Dialogues (2001) zahlreiche Permutationen durchlaufen, die Motive wie den nackten Rücken als Torso sowie Interaktionen durch Körperdopplungen und Vertauschungen aufnehmen.99 Das Stück beginnt mit den Rückenansichten der beiden Tänzer/innen, die sich auf der Bühnenmitte nebeneinander stehend positioniert haben. Zunächst scheinen sie sich gar nicht zu bewegen. Erst nachdem einige Minuten vergangen sind wird dem Blick bewusst, dass sich die Muskulatur am Rücken in winzig kleinen Motionen wölbt, streckt, zusammenzieht und verschiebt, Bewegungen, die sich sukzessive vergrößern, die Schulterblätter mit hinzunehmen, die Hände in die Hüften gestemmt und den ganzen Rumpf buchstäblich durcharbeitend. Mit dieser muskulären Bewegungsstudie des Rückens ist das zentrale Thema des Stücks eingeführt, das um die Fundamente kleinster Bewegungselemente und ihre Variationen und Entwicklungen kreist – ein Prinzip, das generell für die Arbeitsweise der Tanzcompagnie Rubato charakteristisch ist,100 wie es das Duett Bewegung für Bewegung aus dem Jahr 1994 programmatisch entwirft.101 Lepecki verortet solche Mikrobewegungen an den Rändern der Wahrnehmung, wonach auch dem ruhenden (Tanz-)Körper minimalste Bewegungen innewohnten, wie er mit Steve Paxton, dem Begründer der Contact Improvisation, ausführt. Der ruhende oder sich minimal verschiebende Körper erzeuge sowohl eine »sensorische Neuordnung« im Prozess der Bewegungsgenerierung der Tanzenden selbst als auch in der Wahrnehmung des Publikums (Lepecki 2000: 344 ff.). Hell und Baumann wiederum nutzen grundlegende Bewegungselemente wie das Rollen über den Boden, das Ergreifen und Betasten der Hände oder einfache Hebungen des Partners, Praktiken, die die Kritikerin Brigitte Heilmann als »Alphabet zweier bewegter Körper« bezeichnet (Heilmann 4.9.2001). Ich möchte nun eine Situation herausgreifen, in der die beiden Tänzer/innen mit Projektionen, Dopplungen und Verschiebungen des Körpers arbeiten, die sie durch das Motiv des Rollens erreichen. 99 Einige Proben sowie mehrere Aufführungen des Stücks konnte ich im Berliner Theater am Halleschen Ufer sehen. Für die Analyse habe ich außerdem einen Videomitschnitt benutzt. 100 Ich habe diese Art der Bewegungsrecherche und -erzeugung als Dramaturgin für das nachfolgende Stück Duty Free (2002) beobachtet. Beeinflusst ist die Herangehensweise u.a. durch den Choreographen Gerhard Bohner, mit dem Rubato für das Duo SOS (1991) zusammenarbeitete, sowie von der Arbeit an Archetypen, wie sie in der Mime Corporel benutzt werden (vgl. Sieben 1994: 27). Irene Sieben bezeichnet den Bewegungsansatz von Jutta Hell und Dieter Baumann als »mathematisch ausgeklügelt[]« (ebd.). 101 Eine Rekonstruktion dieser Bewegungsrecherche (Bewegung für Bewegung 2) zeigten Baumann und Hell im Jahr 2000 im Berliner Hebbel-Theater.
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Allmählich geraten die Rücken aus der Anfangssituation in Bewegung. Hell und Baumann beugen sich sehr langsam nach vorne und richten sich wieder auf. Die Motionen folgen der Klaviermusik von Lászlo Vidovsky,102 in der ewig aufund abwandernde Tonleitern zu hören sind, hinauf, hinab und wieder von vorne. Der Klaviatur der Tasten gleich verschieben die beiden Tänzer/innen ihr Rückgrat Wirbel für Wirbel, nach unten und wieder hinauf. Der Bewegungsumfang ist dabei so gering, dass erstaunlicherweise ein entgegengesetzter Eindruck in der Wahrnehmung entsteht: Besonders der sehr muskulöse Rücken Baumanns scheint sich mit fortdauernder Ab- und Aufrollbewegung zu den Seiten hin aufzublähen und zu vergrößern – der Koloss Goyas kommt in den Sinn. Immer mehr ziehen die beiden Rücken den Fokus auf sich und lassen das muskulöse Areal mitunter wie Landschaften erscheinen – diesen Eindruck gewinnt auch Heilmann (ebd.). Dabei werden die Körper zu breiten Flächen, die den Umraum vergessen lassen und den Fokus auf sich ziehen, ähnlich wie in Meg Stuarts eingangs erwähnter Szene des Close Ups auf den Rücken einer Tänzerin im Live-Bildschirm von Splayed Mind Out. Anders als Stuart und Gary Hill erzielen Baumann und Hell diese Näherungseffekte jedoch ohne die Hilfe der Kameratechnik, allein durch die gleichförmige, reduzierte Bewegung selbst. Nach einer Weile werden die rollenden Motionen des Rückens gesteigert und die Beine im Plié hinzugenommen bis die beiden Tänzer/innen schließlich ins Sitzen kommen, die Arme rechts und links aufgestützt. Ein eigentümlicher Dopplungseffekts stellt sich nun ein, ausgelöst durch die dunklen Spiegelglasscheiben, mit denen der gesamte Boden ausgelegt ist. Nebeneinander positioniert sind die nackten Rücken Hells und Baumanns als umgekehrtes, antipodisches Doppel multipliziert, ähnlich der Spiegelung an einem See.103 Ein Pas de deux schließt sich nun an, der ähnlich schrittlos wie in Aterballettos Pression, ausschließlich durch Roll- und Faltbewegungen am Boden verläuft. So sehen wir vier Torsi in zwei Duetten, in denen Baumann und Hell jedoch nie miteinander in Kontakt treten, sondern vielmehr ein Duo mit sich selbst tanzen, dauergespiegelt und verdoppelt durch die Reflektion am Boden, die wiederum den Abbildungen eines Rohrschachtests ähnelt. Die Spiegelung verweist dabei auch auf die Benutzung des Spiegels als Hilfsmittel im Ballett, der hier invertiert und auf den Boden verlagert wird – Hell und Baumann verwenden ihn jedoch nicht als Korrekturhilfe, um die eigene Position anzupassen, vielmehr wirft der Spiegel den Blick zurück, den die beiden nicht hineinwerfen, und vervielfältigt die beiden Körper im Auge des Publikums. Aus dem Sitzen gleiten Baumann und Hell langsam ins Liegen, pausieren kurz und bringen den Körper dann ruckartig in schlafähnliche Positionen: auf der 102 Die Komposition trägt den Titel Schroeders Death. 103 Die Idee des Antipodischen beschäftigt auch William Forsythe in seinem gleichlautenden Solo-Video Antipodes I (2006), in dem der Choreograph durch eine um 180 Grad gekippte Kameraperspektive seinen Körper invertiert darbietet: Die Beine ragen nach oben, während Kopf und Schultern am Boden wurzeln.
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Seite liegend, die Beine leicht angezogen, in Embryonalhaltung eingefaltet, auf dem Bauch oder flach auf dem Rücken ausgebreitet. Die Frequenz der Positionswechsel nimmt zu und allmählich geraten die Körper wieder in Rollbewegungen, horizontal am Boden um die Wirbelsäule als Körperachse herum drehend. Das Gewicht wird dabei zum Teil in die Schultern verlagert, die wie eine Unwucht den Körper mal langsamer, mal schneller um die eigene Achse bewegen, immer gedoppelt und im Spiegelboden sich selbst berührend einen horizontalen Pas de deux mit der eigenen Person tanzend. Sind Duette am Boden ein Element im zeitgenössischen Tanz, die unter anderem mithilfe der Contact Improvisation erzeugt werden, über Hautkontakt, Berührungen, Einsatz und Verlagern des Gewichts (vgl. Paxton 1999: 70, 80), so verweisen die rollenden ›SoloDuette‹ Rubatos einerseits, ironisch sich selbst bespiegelnd, auf diese Art der Bodenarbeit. Darüber hinaus rollen sich Hell und Baumann in den (Bühnen-) Raum ein, verwickeln sich in Drehmomente und ent-wickeln den Körper in den Umraum hinein. Die anhaltenden Rollbewegungen lassen den Tanz, die Choreographie als Ein-Faltung und Entfalten des Körpers im Raum hervortreten und plastinieren schlussendlich auch die plane Fläche des Spiegels.
Abb. 59: Tanzcompagnie Rubato, Permanent Dialogues (2001), Photo: Sebastian Greuner
Drehen sich die beiden Tänzer/innen im ersten Drittel des Stücks ausschließlich um sich selbst, so finden sie gegen Ende der Roll-Situation zu einem kurzen gemeinsamen Kontakt: Lang am Boden ausgestreckt und in Seitenansicht berühren
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sich ihre Köpfe, die sich übereinanderschieben und wie zu einem Haupt verschmelzen, das sie, ebenso wie die Beine, in der Horizontale schwebend halten (Abb. 59).104 Gespiegelt im Glas entsteht der Eindruck eines Diploidgebildes, das die Form eines Chromosoms zu haben scheint und auf dieser genotypischen Ebene als Zellbaustein wiederum die Praxis kleinster (Bewegungs-)Einheiten im Stück aufgreift. Der Boden als Fundament der Tanzbewegungen erscheint somit als Bild-Fläche, die den Körper in den Raum hineinprojiziert und mit ihm in beständigem Dialog steht, wie es der Titel indiziert. Mit Parallelbewegungen solistischer Körper und Verbindungen über minimalste Kontaktpunkte im Duett arbeitet auch der Choreograph Jeremy Wade, dessen ästhetischer Ansatz nun dargestellt wird.
4.5 Exaltierte Körper: Jeremy Wade Der in Berlin lebende New Yorker Choreograph und Tänzer Jeremy Wade stellt in seinen Stücken Körper vor, die sich an den Grenzen von Kontrollverlust und Orientierung aufhalten. Die Tänzer/innen entblößen sich äußerlich wie innerlich und schwanken zwischen extremer, fast zwanghafter Selbstbeherrschung sowie uferlosen, überbordenden, bisweilen hysterischen E/Motionen. Wade bezieht seine Inspirationen oft aus Bildern mit hohem emotionalen Gehalt, die Menschen in Extremsituationen zeigen, so etwa Photographien von Menschenansammlungen in spiritueller Ekstase105 oder den Bildern des Jonestown Massakers, bei dem 921 Angehörige der amerikanischen Volkstemplersekte in Guyana Massen(selbst)mord begingen106 – die bild- und bewegungsmotivische Grundlage für sein Duett Glory (2006) (Luzina 2007: 21), von dem später die Rede sein wird. Wade setzt sich in seiner choreographischen Recherche und den daraus entwickelten Stücken mit dem Grotesken auseinander, das er allerdings den Befindlichkeiten einer Gefühlswelt zuordnet, die sich im Körper visualisiert: »Das Groteske resultiert daraus, dass ich unterschiedliche emotionale Zustände einander gegenüberstelle.« (Wade in Luzina 2007: 21) Diese psychischen Verfasstheiten durchläuft Wade in seinen Stücken in nicht enden wollenden körperlichen Exaltationen, die, im Wortsinne, von hektischen und fiebrigen Überspannungen in Pathosgesten der Freude und Verherrlichung umschlagen – Glory steht hierfür als ambivalentes nomen est omen. Seine Körperforschungen sind zudem von der Lektüre Deleuze/Guattaris und deren Entwurf des organlosen Körpers beeinflusst
104 Hell und Baumann verstehen in diesem Zusammenhang ihre Körperrecherche in Anlehnung an Michel Serres als »Gemenge und Gemisch von Bewegungen« (Baumann/Hell 2001, Programmtext). 105 Diese Informationen beziehe ich aus meiner Zusammenarbeit mit Jeremy Wade als Dramaturgin für das Stück …and pulled out their hair (2007). 106 Vgl. Dokumentation und Debatte auf http://www.agpf.de/Jonestown.htm.
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(ebd.: 20) sowie durch künstlerische Impulse, darunter Le Roys Self unfinished, das er seinerzeit in New York gesehen hat.107 Allerdings präsentiert Wade keinen von bloßen pathetischen Gesten aufgeladenen mimetischen Nachvollzug körperlicher Metamorphosen in Le Royscher Ästhetik. Sein Ansatz ist vielmehr durch Collagen unterschiedlichster körperlicher und emotionaler Zustände geprägt, die oft in rascher Folge von einem Extrem ins andere wechseln und Proben, Aufführungen sowie Textproduktion durchziehen, wie der von ihm verfasste Text zu seinem Solo Feed (2006) zeigt: »You’d be surprised how many uncoordinated hopefuls show up for these dance auditions clumsy jerking movements in the arms and legs, awkward, blundering, hysteric homosexuals, bumbling, lumbering, flat-footed, fried neurotransmitters, heavy-handed, graceless, gawky, ungainly, ungraceful; inept, rubber, unhandy, hyperactive, unskillful, inexpert, flamboyant, loss of bladder control, smoking crystal metamphetamine on a Monday morning while you go to work, maladroit, dyslexic, bungling; informal klutzy, butterfingered, ham-fisted, all thumbs, antonym dexterous.« (Wade 2006, Programmtext)
Die wuchernde Ansammlung der Adjektive findet sich in analoger Weise in seinen Stücken wieder, in denen die Tänzer/innen, von einem Übermaß an Zuschreibungen und Attribuierungen überzogen, in einen Taumel von Körperlagen der Desorientierung fallen. Entsprechend bezeichnet Wade seine Körperdekonstrukte als »[d]esiring machines«, Deleuze/Guattari paraphrasierend (ebd.). Sandra Luzina beurteilt Wades Ästhetik als prekären Körper, »der zittert, schwankt, strauchelt, stürzt oder kriecht. Einen Körper der Bedürfnisse und des Begehrens, der sich den Zwängen der Repräsentation entzieht.« (Luzina 2007: 21) In Glory zeigen Jeremy Wade und Jessica Hill108 ein Duett, in dem sich die Körper ihrer Vertikalität nicht mehr versichern können, jedoch auch der Boden oder der Partner keinen greifbaren Halt mehr bieten. Ähnlich wie Rubatos Duo Permanent Dialogues ist das Stück unter anderem von den parallelen Bewegungen der beiden Tänzer/innen bestimmt, die fast immer synchron und meist auf allen Vieren ausgeführt werden und damit eine der wenigen Konstanten in einem Dickicht ansonsten scheinbar zielloser Motionen bilden. Begeben sich die beiden für kurze Zeit in eine etwas aufgerichtetere oder stehende Position, straucheln sie im nächsten Moment wieder und stürzen zum Boden zurück. Nebeneinander auf dem Bauch liegend, robben Wade und Hill über den Tanzteppich, verschieben die Glieder, winden sich hin und her, exponieren das Gesäß und vermitteln den 107 So äußerte sich Wade anlässlich eines Publikumsgesprächs mit Xavier Le Roy und Yvonne Rainer im Rahmen des Festivals Tanz im August am 23.8.2007 im HAU 2 in Berlin. 108 Seit 2007 wird das Duett von Jeremy Wade und Marysia Stokłosa getanzt. Ich habe das Stück 2007 in den Sophiensælen, Berlin gesehen. Für die Analyse lag mir die DVD der ersten, New Yorker Version von 2006 vor.
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Eindruck zweier raupenähnlicher, nahezu gliederloser Geschöpfe. Wiederholt ziehen sie sich in Konvulsionen zusammen, wobei der Bewegungsimpuls von Becken, unterer Wirbelsäule und den Schultern ausgeht, und lassen den Körper ruckartig über den Boden gleiten, als seien die Knochen eher zufällig in einer Art Hauthülle verteilt. Nach einer Weile allerdings findet das Duo in seinen Krümmungen und Zuckungen zu einem nahezu gleichen Rhythmus, auf den es sich, nun auf allen Vieren vorwärts kriechend, einpendelt. Tatsächlich erreicht Wade die Desintegration von Körper und Bewegung durch ein gezielt strukturiertes Verfahren. Ausgebildet in Methoden wie Authentic Movement109 und Release Technik (vgl. Luzina 2007: 21), nutzt er deren Potential zur Bewegungserzeugung, die er aber umdreht: »[B]ei mir erfolgt eine Dekonstruktion. Ich trenne den Impuls von der Aktion. Ich bin nicht interessiert an einem continous flow, sondern an einem hyper-segmented body.« (Wade in Luzina 2007: 21) So entstehen grotesk kreatürliche Eindrücke, wie die Kritikerin Isabella Lanz über Glory schreibt (Lanz 24.4.2006), die Wade einerseits durch grimassierend entgleisende Mutationen des Gesichts und hypermobiles, schleuderndes Schlenkern des Kopfes, andererseits durch minimale Motionen in Knochen und Gelenken hervorbringt (vgl. Luzina 2007: 21). Pendeln Wade und Hill über weite Strecken nebeneinander her, gehen sie zum Ende des Duetts in Körperkontakt: Aus einer plötzlichen Bewegung heraus docken die Münder der beiden aneinander an und saugen sich fest, um sich für die nächsten Minuten nicht mehr loszulassen, von Luzina als »wahrscheinlich längsten Kuss, der je auf einer Bühne getauscht wurde« bezeichnet (ebd.: 20) – indessen ist dies nur die vordergründige Erscheinung. In einem tiefen Kuss ineinander verschlungen winden sich Hill und Wade umeinander herum, erkunden und probieren alle Stellungen und Positionen, die in dieser Haltung möglich sind, klettern übereinander hinweg, rollen durch den Raum oder versuchen es einfach im Sitzen (Abb. 60). Anders als etwa Cristian Duarte, der die Manipulationen der Brust in Experimenten an einer objektivierten, ›fremden‹ Substanz erprobt (vgl. S. 203 ff.), ist die Szene in Glory zunächst eindeutig sexuell aufgeladen, was sie auch von Körperrecherchen unterscheidet wie sie Xavier Le Roy, Ugo Dehaes/Charlotte Vanden Eynde oder die Tanzcompagnie Rubato unternehmen. Mit zunehmender Dauer und sich steigernden Körperverdrehungen entstehen Oszillationen:110 zwischen dem Mund als offenbar einzig möglichem und zugleich kleinstem Berührungspunkt im Rahmen einer Contact Improvisation, um die sich die beiden Körper herum formen und bewegen müssen, und Eindrücken von Kontrollverlust, Gewalt und Macht. Denn bald 109 Die US-amerikanische Tänzerin und Choreographin Anna Halprin ist Begründerin einer expliziten Suche nach authentischer Bewegung im Tanz seit den 1950er Jahren, in der sich Leben und Kunst miteinander verbinden sollen (vgl. Lampert 2007: 59 ff.). 110 Sandra Luzina bezeichnet Wade und Hill in dieser Situation als »zwei oszillierende Systeme« (Luzina 2007: 20).
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ist nicht mehr klar zu erkennen, wer wen in diesem Duett verschmelzender Doppelköpfe führt – der Kuss als Annäherung und sinnlicher Austausch wandelt sich zum Festbeißen und Aussaugen des Anderen, zum punktuell verdichteten Ankerversuch, den eigenen Körper noch unter Kontrolle zu bringen, indem man ihn mit seinem Partner verschweißt.
Abb. 60: Jeremy Wade, Glory (2006), Photo: Dieter Hartwig
Diese Verbindung zweier Körper über den Mund, die wiederum Bachtin in Rabelais’ groteskem Körperrepertoire als Überschreitung der eigenen Leibgrenzen im Sinne eines »Tor ins Körperinnere« beschreibt (Bachtin 1995: 381), wird noch durch den Einsatz von versuchter Sprache gesteigert. Murmelt Jessica Hill zunächst leise etwas in Wades Kuss hinein, werden die Artikulationen, welche die (nicht verständlichen) Worte rhythmisch zu repetieren scheinen, immer nachdrücklicher und lauter, und enden, als die Münder sich schließlich doch voneinander losreißen, in einem lauten, lang anhaltenden Schrei, der von Wade gedoppelt wird und den Mund der beiden Protagonist/innen offen stehen lässt – die Bilder Francis Bacons geraten in die Wahrnehmung, wie einige Kritikerinnen bemerken (Lanz 24.4.2006, van der Linden 20.4.2006). Belegt Mirjam van der Linden die Körperzustände in Glory mit dem Etikett des Instinktiven (van der Linden 20.4.2006), was die Idee der Contact Improvisation als intuitive, nichtrationale Möglichkeit, um Bewegungen zu finden, stützen würde (vgl. Paxton 1999: 70, 72), zeigt Wade in seinem Stück jedoch gerade auf das Gegenteil: Die
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Stürze und Desintegrationen des Körpers folgen einer gezielt hergestellten Desartikulation, die Körperteile und Bewegungsimpulse voneinander abtrennt und die sich auch auf den Partner als Unterstützung in der Bewegung im Raum nicht mehr verlassen kann. Der Mund wird nicht gesucht, um den Körper mithilfe seiner sinnlichen Kontaktpunkte um neue Bewegungsqualitäten zu erweitern, sondern als letzte Klammer, um die eigenen Motionen nicht vollständig entgleiten zu lassen. Im Paradox von permanenter Bewegung und dem Ringen der Darstellenden um Haltepunkte, lässt sich dem Dargebotenen kein rezeptives Bild mehr abgewinnen. Anders als bei Sasha Waltz, der Compagnia Aterballetto, Dehaes/ Vanden Eynde oder Duarte wird der Körper nicht in Positionen stillgestellt. Auch wenn bisweilen Langsamkeit als Element genutzt wird, folgen die Körper in Jeremy Wades Ästhetik doch beständigen Arrangements des e/motional Verschobenen, Verkrampften, Innegehaltenen und zugleich Verzitterten, welche die Materialität des Körpers im erinnerten Nachleben des Gesehenen in Intensitäten fluktuierender Fleischzustände auflösen und entgrenzen. Phänomene des Grotesken zeigen sich bei der Untersuchung der in diesem Kapitel vorgestellten Choreographien innerhalb eines sehr schmalen, oszillierenden Bereichs, der unbedingt als temporär zu betrachten ist und jederzeit vom Rand ins (etablierte) Zentrum rücken kann. Sie ereignen sich als Metamorphosen zwischen Produziertem und Gesehenem (Le Roy), anhand der Verwendung von Motiven aus grotesken, teratologischen Bildspeichern, die sich unter anderem in Doppelwesen darstellen, welche allerdings in geschlossene und damit konventionelle Systeme geraten können (Le Roy, Waltz, Aterballetto) oder als supragroteske Überformungen grotesk wahrgenommener Bewegungsbilder, die karnevalesk einverleibt werden (Schwartz, de Abreu). Groteskes ergibt sich auch durch Inversion von Konventionen (Aterballetto, Greco) oder die Externalisierung des Körperinneren und Randüberschreitungen bestimmter Rahmungen (Dehaes/Vanden Eynde, Duarte) sowie Hyperbolisierung und Körperverschmelzung (Rubato, Wade). Die Idee der Duplizität und Konfusion von Körpern betont auch Bachtin in seinem Entwurf grotesker Motive, deren wesentliches Charakteristikum es sei, »zwei Körper in einem zu zeigen« (Bachtin 1995: 76) – allerdings denkt er hier eher in kosmologischen Dimensionen, im Sinne von Gleichzeitigkeit eines sterbenden und gebärenden Körpers als hybrides Phänomen (vgl. S. 70). Was in den Beispielen des letzten Abschnitts in diesem Zusammenhang als verkörpertes, materielles Spiel mit dem Multiplen zu zeigen war, erweist sich exemplarisch als chimärischer Aspekt einer grotesken Ästhetik, die kategoriale Zuordnungen einerseits in der Schwebe hält und sich doch bereits zu einem ›Stil‹ des Metamorphen entwickelt. Im Wechselspiel zwischen Verunsichern und Ver-ordnen werden Wahrnehmungsweisen auf die Probe gestellt, andererseits wird das Verfremden selbst mittlerweile zu einem Charakteristikum im zeitgenössischen
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Tanz, das wiederum bei Sasha Waltz nahezu didaktische Züge annehme, wie Arnd Wesemann anlässlich ihres Stücks Körper bemerkt: »Die Feier dieses Fremdwerdens, die Jan Fabre, Jérôme Bel, Meg Stuart, die meisten der 1990er, gemeinsam haben, wäre auch Sasha Waltz’ Sache […] Aber sie […] kehrt zurück zum Propädeutischen« (Wesemann 2000: 51). Zu fragen ist jedoch, ob sich gerade am Beispiel von Waltz’ Körper und ihren chimärischen Figuren nicht vielmehr zeigt, inwieweit Bild-Effekte des Difformen sowohl produktionsästhetisch als auch im Rezeptionsfeld eines (professionellen) zeitgenössischen Publikums zur Methode beziehungsweise Sichtweise geraten sind und sich mithin Erscheinungen des Grotesken nur in der historischen Rückschau behaupten lassen. Peter Fuß betont den Begriff des Grotesken selbst als eine Chimäre, die sich Kategorien entziehe und als »Weder-Noch« »die Grenze der Begriffsordnung« markiere (Fuß 2001: 148 f., 111). Ich meine jedoch, dass sich das Groteske nicht ordnungslos vollzieht, sondern genau an jener hauchdünnen Membran des »Weder-Noch« situativ aufspannt – und dabei mitunter in (schon) Bekanntes kippt. Wie das Beispiel Jeremy Wades zum Schluss gezeigt hat, eröffnet das Arbeiten an Grenzflächen von Körpern und ihren Rahmen einen weiteren Aspekt des Grotesken, der mit Bachtin die Leibgrenzen als poröse, durchlässige Membran hervorhebt und den Körper als einen offenen zeigt, welcher Verbindungen mit anderen Körpern oder dem Umraum eingeht. Um solche Öffnungen, sowohl physiologische wie auch buchstäblich einschneidende, wird es im folgenden Kapitel gehen.
Ka pitel 3 Öffnunge n
»So ignoriert die künstlerische Logik des grotesken Motivs die geschlossene, gleichmäßige und glatte (Ober-) Fläche des Körpers und fixiert nur seine Auswölbungen und Öffnungen, das, was über die Grenze des Körpers hinaus-, und das, was in sein Inneres führt. […] Daher zeigt das groteske Motiv […] auch das Innere des Körpers: Blut, Därme, das Herz und die anderen inneren Organe.« Michail. M. Bachtin (1995: 359)
Das Konzept des grotesken Körpers eröffnet sich wesentlich über seine Unabgeschlossenheit, mit der er sich von einem Körperkanon des Hermetischen abgrenzt, der besonders mit dem bürgerlichen Zeitalter verfestigt wurde (Bachtin 1995: 361 ff.; vgl. S. 69 f.). De-Formationen und Oszillationen als Signum zeitgenössischer Kunstpraktiken äußern sich zumeist in Wandlungen körperlicher Außenansichten, wie das vorherige Kapitel gezeigt hat. Im Folgenden werden Strategien vorgestellt, die den Körper selbst als geöffneten zeigen: in physiologischer Hinsicht durch das Betonen seiner organischen Öffnungen, wobei der Mund zum zentralen Motiv wird, sowie in buchstäblicher Weise, als Schnitte und Einblicke in das Fleisch und seine Höhlungen.
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1 Mundhöhlenereignisse. M u n d - S t ü c k e i m T a n z u n d i n d e n V i s u a l Ar t s »[I]m Grunde reduziert sich das groteske Gesicht auf den Mund, den aufgerissenen Mund, alles andere ist nur Umrahmung dieses Mundes, Umrahmung der klaffenden und verschlingenden Bodenlosigkeit des Körpers.« Michail. M. Bachtin (1995: 358)
An der Wand hängt, an unzähligen Kordeln befestigt, eine Assemblage von Körperteilen in Einzelbildern. Sie zeigen Fragmente von Händen, Füßen, Beinen, Brustwarzen und die Körperöffnungen von Nasenlöchern, Ohren, Augen und: aufgesperrten Mündern. Annette Messagers Collage Mes Voeux (1989) (Abb. 61) zeigt den Körper als vielstimmiges Gebilde hybrid verschachtelter Ausdrucksformen, eine fragmentierte Ästhetik, mit der sie gleichermaßen Texte wie Figuren zerhackt und in sich überlagernden Arrangements rekomponiert (vgl. Cueff 2007: 47 f.).
Abb. 61: Annette Messager, Mes Voeux (1989), Ausschnitt der Wandinstallation
Bildwechsel: Gary Hills Videoinstallation Mouthpiece (1978) besteht aus einer wie ein Filmstreifen senkrecht den Bildschirm hinunterlaufenden Schablone, die mit stilisierten Kussmündern à la Warhol bestückt ist. Dahinter befindet sich ein menschlicher Mund im Close-up, dessen ›Aufgabe‹ es ist, jede der vorbeistreifenden Lippen zu küssen. Dabei wird ein genau getakteter Rhythmus eingehalten: Nach jeweils vier Küssen prustet der Mund mit den Lippen, wobei die Kussmünder verzittern und flimmern. Anschließend streckt der Mund die Zunge mit einem »bäääh« heraus – der Filmstreifen hängt kurz, dann geht es, Kuss für Kuss, in einer Endlosschleife weiter. Mouthpiece gehört zu einer Serie von Vi-
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deo-›Mundstücken‹, die Gary Hill in den siebziger Jahren kreiert hat und die das Verwischen und Dekonstruieren von Sprache (wie auch in Primary, 1978) oder Oszillieren zwischen vermeintlicher authentischer Organik und reproduzierender Mechanik zum Thema haben. Auffällig ist insgesamt die Häufigkeit, mit der sich bildende Künstler/innen dem Thema Mund widmen, der oft aus der Nahperspektive gezeigt wird, so bei den Videokünstlern Bruce Nauman (Pinchneck, 1968) oder Vito Acconci (Open Book, 1974)1, und auf den auch im Tanz immer wieder der Fokus gerichtet wird, wie das Beispiel von Jeremy Wades Glory im vorherigen Kapitel gezeigt hat. Die Faszination für das Motiv des Mundes liegt meiner Meinung nach in seinem Charakteristikum als Grenzorgan begründet. Mit seinen pluralen, perzeptiven wie exekutiven Funktionen von Essen/Schmecken, Sprechen/Tönen und Lieben/Küssen (vgl. Gibson 2001: 101, Bussagli 2006: 281) bildet er multiple Schwellen am Körper: zwischen Innen und Außen (vgl. Benthien 2001a: 122 f.), als Verschluss und Eintrittspforte sowie zwischen Desartikulation und Sprache. In der Kunst wird der Mund mit all diesen Aspekten zum Transformer2, zum hybriden Organ zwischen Einverleiben, Austauschen, Verschmelzen und Ausstoßen.3 Es ist daher kaum ein Zufall, dass Oswald de Andrade in seinem »Manifesto Antropófago« das Menschenfressen zur Metapher einer an Grenzen und Verschlingungen operierenden künstlerischen Avantgarde erkoren hat (vgl. S. 183). Auch in der postmodernen Theorie ist der Mund wiederholt Ausgangspunkt hybrider Entwürfe, so etwa in Michel Foucaults Konzept heterogener Taxonomien, die er im Bild des Mund-Palastes visualisiert, in dem verschiedenste Erscheinungen Seite an Seite wohnen und mithin über grotesk paradoxe Rahmen-
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Die Liste nah aufgenommener Münder als Motiv grotesker Öffnungen ließe sich beliebig weiterführen, etwa mit der Videoarbeit Mutaflor (1996) von Pipilotti Rist, in der eine Kamera in den Mund eindringt, um kurz darauf, in grotesker Inversion, im Gegenschnitt den Anus zu zeigen (vgl. Söll 2004: 123 ff.), oder mit Aïda Ruilovas Film The Stun (2000), der den Mund, welcher im Schrei von fremden Händen mit aufgerissen wird, in stroboskopischen Bildern ver-rückt abbildet, die von Horrorfilmen inspiriert sind (vgl. Kea 2007: 73). Diese Arbeiten waren u.a. in der Ausstellung Into Me/Out Of Me zu sehen (Kunst-Werke Berlin, 26.11.2006-4.3.2007). Zur Nahaufnahme schreiender Münder in Comic und Film vgl. auch Döring 2005/2006, Onlineressource. Brandstetter wendet diesen Begriff – der aus der Spielzeugwelt kommt und auf die Funktion verweist, aus einem Roboter durch einige Handgriffe zum Beispiel ein Fahrzeug werden zu lassen – wiederum auf defigurative Prozesse in William Forsythes Choreographien an, wie etwa Alie/NA(c)Tion (1992): »Forsythes Stücke arbeiten an der Öffnung solch einfacher Klapp-Strukturen. Choreograph und Tänzer werden zu Transformern offener Figuren, zu Transformern ihrer selbst.« (Brandstetter 1997: 601) Winfried Menninghaus positioniert den Mund, im Sinne eines Bachtinschen grotesken Reliefs, als eingebuchtete Störstelle in der glatten, geschlossenen Plastik im Klassizismus, als Pforte zum Körperinneren, die einen »Ekel-Effekt« hervorrufe (Menninghaus 2002: 93).
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setzungen vergleichbar werden (vgl. S. 103). Der Mund als Ort von Grenzerfahrungen liegt indessen bereits in der Etymologie seines lateinischen Pendants begründet. Ora bedeutet hier »das Äußerste einer Sache«, das, was am Rande liegt, in Grenzgebieten (Menge-Güthling 1911: 529). Die mündliche Rede, die Sprache (»oratio«) entsteht mithin am Saum des Körpers, befindet sich als Äußerung also immer schon an der Schwelle zwischen Körper und Welt, zwischen Artikulation und Verkörperung, im Grunde noch vor dem Eintrag des Performativen als Sprachhandlung zwischen Subjekten, im Bereich des »Phem«, das, laut John L. Austin, als vokabuläre Äußerung eine der Grundlagen für Sprache bildet (Austin 2002: 111). Ähnlich wie Austin bindet Michail Bachtin Sprache an das Sprechen als kommunikative Struktur, die abhängig ist von Subjekten und der potentiellen Möglichkeit der Response, die auch Austin formuliert (Bachtin 1986a: 76, Austin 2002: 133) – ein Entwurf, mit dem sich Bachtin von der abstrakten, monologischen Auffassung von Sprache als autonomes, selbstreferentielles Zeichensystem in der Perspektive Ferdinand de Saussures abwendet (Bachtin 1986b: 118) und bereits 1934/35 für ein dialogisches Konzept der vielstimmigen Rede optiert (Bachtin 1979: 169 ff.). In diese Auffassung fügen sich Bachtins Rede vom grotesken Körper und die Betonung von Öffnungen wie dem Mund als einen Sammelort von Grenzbegegnungen zwischen Außenwelt und körperlicher Innenwelt, wie er mit einer Rabelaisschen Anekdote der Reise des Alcofribas illustriert. Dieser ist ein halbes Jahr im »aufgesperrten« Mund des Pantagruel zu Gast, unternimmt dort Exkursionen in verschiedene Königreiche, ernährt sich von dem, was Pantagruel zu sich nimmt und gibt dabei allerdings auch seine Ausscheidungen in dessen Mund ab (Bachtin 1995: 379; vgl. S. 70 f.) – es ist ein ähnliches Beispiel, wie es Foucault für seinen Entwurf taxonomischer Analogien wählt. Bachtin erläutert weiterhin: »Der Körper verschlingt und gebiert, nimmt und gibt. / Ein solcher Körper ist nie exakt von der Welt abzugrenzen. Er geht in sie über, vermischt sich mit ihr, verschmilzt mit ihr. Im Innern der Welt (wie im Mund Pantagruels) verbergen sich neue, unbekannte Welten. Der Körper nimmt kosmische Ausmaße an, und der Kosmos wird verkörperlicht. Die kosmischen Elemente werden zu heiteren leiblichen Elementen des wachsenden, produzierenden und triumphierenden Körpers.« (Bachtin 1995: 381)
Bachtins Thesen sind von einer anticartesianischen wie auch antieschatologischen Haltung geprägt, die metaphysische Entwürfe allerdings nicht negiert, sondern körperlich überformt und von einer Theologie der Angst ins KosmischKomische umdeutet – eine Strategie, die er Rabelais’ Romanen zumisst. Dessen Motive kreisen immer wieder um den Mund als essender, verschlingender und Welt-erfahrender, ähnlich den Überlegungen, die de Andrade später formuliert hat. Bachtin betont:
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»[D]er Körper geht hier über seine Grenzen hinaus, er schluckt, verschlingt, zerteilt die Welt, nimmt sie in sich auf, bereichert sich und wächst auf ihre Kosten. Das im geöffneten, zubeißenden, kauenden Mund vollzogene Treffen von Welt und Mensch ist eines der ältesten und wichtigsten Sujets des menschlichen Denkens […] Hier erfährt der Mensch die Welt, spürt ihren Geschmack, führt sie in seinen Körper ein und macht sie zum Teil seiner selbst.« (Ebd.: 323)
Dabei ist ein Bildmotiv auffällig oft vertreten: das des weit aufgesperrten Mundes, welches Bachtin in vielen Textstellen des Rabelaisschen Gargantua und Pantagruel aufspürt, so etwa bei der Geburt Pantagruels zu einer Zeit großer Dürre, in der sich die Menschen »mit klaffenden Mäulern« durch den Tag geschleppt hätten (Rabelais in Bachtin 1995: 371). Neben der Körper-Welt-Verbindung betont Bachtin auch das degradierende Moment von Motiven des Öffnens, die »in der grotesken Topographie« dem Bauch und dem Uterus als Eingangsund Austrittspforte, als Loch für das Leben entsprächen (ebd.). Abgesehen vom Mund als Kontaktstelle zwischen sich bewegenden Subjekten, wie in der Kuss-Szene aus Jeremy Wades Glory (vgl. S. 227 f.), wird im Anschluss der geöffnete Mund als ein prominentes Sujet von Grenzwanderungen in der bildenden Kunst sowie in der Performanceart und im zeitgenössischen Tanz ausgewiesen.4 Die jeweils kurzen Analysen folgen dabei den beiden Zügen des offenen Mundes als Topos von Expression und Anti-Expression sowie als Schwelle zwischen Artikulation und Sich-Ereignen.
1.1 Mündliche Ausdrücke. Markierungen zwischen Expression und Verneinung »[D]as Gesicht ist Teil eines Systems Löcher-Oberfläche, durchlöcherte Oberfläche. Aber dieses System darf keineswegs mit dem System Aushöhlung-Volumen verwechselt werden, das zum (propriozeptiven) Körper gehört. Der Kopf gehört zum Körper, aber nicht das Gesicht.« Gilles Deleuze/Félix Guattari (1997: 233)
Gilles Deleuze und Félix Guattari weisen dem Gesicht zunächst eine Oberflächenfunktion zu, die mit Identifizierungsprozessen einhergehen kann. Anders als Bachtin – der innerhalb des Gesichts differenziert und zum Beispiel den Augen groteskes Potential abspricht, da sie dem Gesicht persönliche Züge verleihen,
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Sally Banes betont im Anschluss an Bachtins groteskes Körperkonzept das Motiv des Essens und Einverleibens in der Avantgarde der 1960er Jahre als Ausdruck eines fleischlichen und geistigen Kollektivismus, so in Allan Kaprows Environment-Aktion Eat (1964) oder in Robert Whitmans Happening Mouth (1965) (Banes 1993: 196 f.).
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welche das Groteske vereitelten (Bachtin 1995: 358) – reden Deleuze/Guattari vom Gesicht insgesamt als einer Loch-Maske der Identität, ein »[s]chwarzes Loch« (Deleuze/Guattari 1997: 233).5 Das Gesicht ist somit apriorisch eine wüste Fläche, die sich erst dann ausdifferenziere, wenn etwa Mund und Nase als Löcher sich verkörperten (ebd.). Besonders in der Kunst erhalte das gesamte Gesicht Grenzfunktion,6 zwischen Erkennen und Auflösen, zwischen »abstrakte[r] Maschine« und Verkörperung (ebd.: 257, 260). Die folgenden Beispiele aus Tanz und bildender Kunst zeigen solche Operationen zwischen Gesten des Expressiven und deren Verwerfungen.
1.1.1 Den Expressionismus unterwandern. Valeska Gerts Tod Im Fragment des Tanzes Tod, den Suse Byk 1925 gefilmt hat, arbeitet Valeska Gert mit extremer Reduzierung und Verlangsamung von Bewegung. Gekleidet in ein schwarzes, gerade geschnittenes Kleid, das die weiblichen Körperformen fast vollständig verhüllt, wird der Fokus auf Gesicht und Arme der Tänzerin gerichtet. Das Solo konzentriert sich auf ein bloßes Anspannen und Abschlaffen in der Bewegung. Die Arme leicht angehoben, die Hände zu Fäusten geballt, steigen sie langsam empor, um gleich darauf hinabzufallen, den Kopf in einer seitlich geneigten Bewegung mit sich nach unten ziehend. Gerts Mund, zu Beginn in großer Anspannung zu einem stummen Schrei geöffnet, der an Edvard Munchs Gemälde Der Schrei (1893) denken lässt, erschlafft kurz darauf ein wenig und verharrt für einige Momente: Erinnerung an einen Schrei, der in verzerrter, ironisierender Form auch in ihrem Tanz Trauer zum Blickpunkt wird (Abb. 62). Ihr gerundeter Mund, der der physischen Anstrengung des Schreiens nun nicht mehr entspricht, erscheint als Hohlstelle, als ironische Markierung für die Gebärde des Expressionismus – ein Hieb gegen das von Gert kritisierte »expressionistische Kunstgewerbe« ihrer Zeit (Gert 1922: 489). Allerdings inszeniert sich die Tänzerin durchaus im Rahmen einer expressionistischen Ästhetik, wie zeitgenössische Beschreibungen zeigen, die ihre Soli als plakativ oder holzschnittartig beurteilen, eine Zuschreibung, welche die Techniken expressionistischer Maler spiegelt (Foellmer 2006: 29).
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Nicola Suthor erläutert das Konzept des Gesichts als Maske in Deleuzes/Guattaris Perspektive im Sinne einer ontologischen Bedingung, als Maske, durch die die »Persona« hindurchtöne. Das Gesicht sei in dieser Lesart nicht a priori gegeben, sondern realisiere sich »immer erst interaktiv im Verhältnis zu einem weiteren.« (Suthor 1999: 469 f.) Deleuze/Guattari beziehen sich zumeist auf Beispiele aus der Literatur, so Marcel Proust, D. H. Lawrence und Henry Miller (Deleuze/Guattari 1997: 255 ff.).
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Abb. 62: Valeska Gert, Trauer, Photo: Jaro von Tucholka
Das Moment der Bewegung an sich sei dabei die zentrale Vokabel des Expressionismus, so Wolfgang Rothe (Rothe 1979: 50).7 Bewegung meint hierbei nicht nur den buchstäblich körperlichen Zustand, sondern ebenso geistige Motionen, die als »Gegenpol zu Erstarrung, Verfall, Zerstörung, Absterben« als Markierung von künstlerischer Bewegung im Aufbruch nicht nur im Tanz anzutreffen seien (ebd.: 59 f.). Diese begriffliche Doppelung ist für Gert als Tänzerin und nach ständiger Erneuerung strebende Künstlerin wichtig. Rothe führt verschiedene Merkmale tänzerischer Bewegung an, darunter das »Eckig-Scharfe« und »Exzentrisch-Groteske« (ebd.: 69 ff.). Dabei äußert sich die Ausformulierung des Expressionistischen als Bewegung auch im Ungeordneten und Elementaren entfesselter Gefühle, wie Corona Hepp in ihrer Begriffsklärung des Expressionismus aufzeigt: »›Sturz und Schrei‹ heißt eine Grundformel der Epoche« (Hepp 1992: 90), die auch auf Gert zuzutreffen scheint, wie Walter Suhr bemerkt: »Der Schrei ist ein Signum des Expressionismus: sein Ausdruck fordert höchste Konzentration. […] Mir ist keine Tänzerin bekannt, welche den Schrei der Bewegung heute so beherrscht wie Valeska Gert« (Suhr 1927, zitiert nach Peter 1987: 44).8 Dianne S. Howe vertritt die Auffassung, dass der Expressionismus nicht auf eine ästhetische Grundrichtung festlegbar sei, sondern sich etwa im Tanz verschiedenste Protagonist/innen des Ausdruckstanzes unter diesem Begriff versammelten, da7
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In seiner Lesart des Expressionismus verbindet der Autor die zwischen etwa 1908 und 1924 entstandene Lyrik mit dem beginnenden Ausdruckstanz (Rothe 1979: 11 ff.). Der Schrei als Signum expressionistischer Kunst ist bei Gert allerdings auch wörtlich zu nehmen, worauf sie in einer Anekdote verweist. Sie hat eine Rolle in Ernst Tollers expressionistischem Stück Die Wandlung: »Ich spielte ein Kinderskelett, […] Ich schrie durchdringend. Der Schrei muss gut gewesen sein, denn viele Jahre später schrieb Walter [sic!] Kiaulehn in seinem Berlin-Buch von noch nie zuvor gehörten Schreien in dieser Vorstellung.« (Gert 1989: 38)
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runter auch Valeska Gert. Das Bewegungsmerkmal der Distorsion und die Intensität des Ausdrucks, symbolisiert im »Schrei« zählt sie zu den markanten Aspekten expressionistischer Kunst (Howe 1996: 16 f.).
Abb. 63: Valeska Gert, Tod (Anfang 1940er Jahre), Photo: Lisette Model
Wie zu Beginn angedeutet, unterminiert Gert die Idee des Expressionismus auch als Ausdruck individuellen, von psychologischen Beweggründen inspirierten Schöpfertums (vgl. Rothe 1979: 111). Ihr Tanz Tod ist nicht mit metaphysisch inspirierten Gebärden aufgeladen, wie sie zum Beispiel Mary Wigmans Darstellung des Themas in ihrem Abschluss-Solo der Aufführung Totenmal (1930) zeigt, die von Gebetshaltungen und der Ausrichtung nach oben geprägt ist (Foellmer 2006: 187). Gert »tut nichts. Sie steht und stirbt«, beobachtet seinerzeit der Tanzkritiker Fred Hildenbrandt (Hildenbrandt 1928: 129). Sie tanzt damit die Kontradiktion klassischer theatraler Konventionen des Sterbens wie etwa bei Vorstellungen in der Oper, das sich damals zumeist in einem langen Hin und Her und langsamen Niedersinken des/der Held/in auf den Bühnenboden entwickelte (vgl. Foellmer 2006: 186, 197). Allerdings liefert Gert auch keine ›authentische‹ Fassung des Sterbevorgangs: Sie überspitzt ›Lebensechtes‹ und stirbt im Stehen. Der zum stummen Schrei aufgerissene Mund spielt dabei eine wichtige Rolle: an der Grenze zwischen ›Wirklichkeit‹ und Theatralität, zwischen Schreckensszenario und künstlerischer Überhöhung, wie sie auch Sergej Eisenstein in seiner berühmten Einstellung einer schreienden Frau im Film Panzerkreuzer Potemkin (1925) zeigt.9 Gert wandelt ihr Ausdrucksrepertoire im Verlaufe des Tanzes Tod vom Leidensgestus zu einer stehenden, typisierten Figur, die auf die angehobenen Arme und den geöffneten Mund als explizit theatrale Markierung von Schrei und Schmerz konzentriert ist (Abb. 63). Parodiert sie in Tänzen wie Trauer oder 9
Zur Inspiration Gerts durch Eisenstein vgl. Brandstetter 1995: 452 sowie Foellmer 2006: 66 ff.
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Klagelied pathetische Adaptionen der Themen Unglück und Verzweiflung, so arbeitet sie hier zudem an den verkörperten (oralen) Rändern von Materialität und Inszenierung.
– Zwischenszenario – Eröffnungsabend des Tanzkongress Deutschland im Berliner Haus der Kulturen der Welt 2006. Zu sehen ist ein kurzes Solo des Tänzers und Intendanten des Staatsballett Berlin, Vladimir Malakhov – das Besondere daran: Sasha Waltz hat das Stück für ihn choreographiert.10 Es geht um den Alltag des berühmten Balletttänzers, um Training, Proben und Besprechungen – Anekdoten, die immer wieder durch kurze Bewegungsphrasen aus Solopartien unterbrochen werden, welche er getanzt oder noch im Repertoire hat und die sich durch Virtuosität und Sprungkraft auszeichnen. Diese Sequenzen werden meist abrupt unterbrochen und die Haltung Malakhovs sackt ein wenig zusammen in eine Art AlltagsSpannung des Körpers. Etwa in der Mitte der Aufführung demonstriert der Tänzer die Art und Weise, wie im Ballett pantomimische Liebeserklärungen gemacht werden und verharrt inmitten der Erläuterungen mit weit aufgerissenem Mund, frontal zum Publikum stehend, eine Hand nach oben gestreckt, als wolle er etwas oder jemandem Einhalt gebieten. Zunächst wirkt diese Geste wie ein Ausdruck von Erschöpfung und Verzweiflung angesichts der kräftezehrenden Routine eines Primoballerinos (wovon er zuvor berichtet hat), die sich nur noch in einem stummen Schrei Luft verschaffen kann (vgl. Schlagenwerth 13.4.2006). Die Interpretation dieses Moments als Expression des Leidens greift jedoch zu kurz. Denn Malakhovs ballettgewohnter Körper scheint sich nicht in die aus dem Fundus des Tanztheaters und Contemporary Dance schöpfenden und Bilder kreierenden Praxis Sasha Waltz’ einfügen zu wollen. Immer wieder kommt es zu ästhetischen Störungen, wenn der Protagonist mit zu leiser Stimme aus seinem Leben erzählt oder sich die Tanzsequenzen nicht in bleibende Bilder fügen wollen. Der Ausweg scheint die Öffnung des Mundes, eher Ratlosigkeit vermittelnd denn Schmerz angesichts zweier aufeinanderprallender künstlerischer Ansätze, die sich am Körper Malakhovs reiben und nicht veräußern wollen. Sein geöffneter Mund steht für den Wunsch, mit zeitgenössischen Tanzpraktiken in Kontakt zu kommen, den eigenen Körper als Passage anzubieten – allein das ›Material‹ verweigert sich, einzig der Mund ist nicht durch klassische Balletttechnik überformt und klafft fragend auf, vorsichtig über den Rand zeitgenössischer Tanzästhetiken lugend.11
10 Es handelt sich um Solo für Vladimir Malakhov, Uraufführung 20.4.2006. Ich habe das Stück zur Kongresseröffnung im Haus der Kulturen der Welt gesehen. 11 Eine Geste, die allerdings wiederum als eine gezielt inszenierte gedeutet werden kann. Ich danke Kirsten Maar für diesen Hinweis.
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1.1.2 Mette Ingvartsen: Orale Transformationen In ihrem Solo 50/50 (2004) befasst sich die dänische, in Brüssel lebende Choreographin Mette Ingvartsen mit theatralen Gesten von Sänger/innen aus Oper und Rockbusiness, die sie ironisch überhöht.12 Nackt, nur mit einer orangefarbenen Perücke und Turnschuhen bekleidet, wackelt sie zu Beginn des Stücks mit dem Po – dessen Rückseite sie dem Publikum präsentiert –, genau passend zu einem Trommelwirbel, um sich dann, die Perücke wegreißend, mit Bewegungen des Head Bangings und von gleißenden Scheinwerfern angestrahlt zu den verzerrten Sounds eines Rockkonzertes zu bewegen, als sei sie die Frontfrau der Band, der frenetisch zugejubelt wird (aus dem Off ist Applaus zu hören). Wie in vielen ihrer Stücke verfolgt Ingvartsen in 50/50 das Prinzip des Wörtlichnehmens von Bewegungspattern – ihre Strategie kündigt sie im Vorfeld der Aufführung als »YES-Manifest« an, eine gezielte Antithese zu Yvonne Rainers »NO«Manifest13 (Ingvartsen 2007, Programmankündigung). Der Gestus des Rockstars wird illustrativ nachvollzogen, verschoben jedoch durch die nackte Erscheinung Ingvartsens und die Tatsache, dass sie dem anwesenden Theaterpublikum ihre Kehrseite präsentiert. Das Wackeln des Pos wird zu einer rhythmisierten, monotonen Phrase, die den Blick von der vordergründigen Erotik der Szene weglenkt und die Konturen des Gesäß’ nahezu auflöst.
Abb. 64: Mette Ingvartsen, 50/50 (2004), Videostill
Kernstück des Solos ist eine lange Sequenz oraler Metamorphosen des Expressiven. Ingvartsen ›singt‹ im Playback ein Lied, das in einem sehr hohen Ton mündet, und endet mit aufgesperrtem, die Zähne zeigenden Mund, wobei ihr gesamter Körper die Spannung des Singens eines so weit oben auf der Tonleiter ange-
12 Ich habe eine Wiederaufnahme von 50/50 im Rahmen von Tanz im August 2007 (Sommerbar) im Podewil, Berlin gesehen. Für die Analyse lag mir außerdem die DVD-Fassung vor. 13 Mit dem »NO«-Manifest (1965) erteilte Rainer theatralen Attributen wie Illusionsbildung, Virtuosität oder Spektakel eine Absage (Rainer 1974b: 51).
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siedelten Lautes darstellt: Die Augen sind fest zugekniffen, das Gesicht zusammengepresst, die Schultern angespannt und dicht am Torso fixiert (Abb. 64). Langsam löst sich diese Position und Ingvartsen durchläuft nun eine Fülle von Mutationen, die sich allesamt durch Ausdrucksformen des offenen Mundes bewegen, als Schrei, Gesang und (clowneske) Grimasse, als Maske des Schreckens, Geste von Halbstarken oder schlicht: Lächeln. Dabei vollzieht immer der ganze Körper die Wandlung mit, bläht sich zusammen mit den Wangen auf, wird von Muskelmassen regelrecht durchwälzt, wirkt wuchernd und überproportioniert oder zieht sich, den übergroßen Augen und dem gerundeten Mund folgend, im gespielten Schrecken zusammen, die Arme abwehrend nach vorne geworfen. Ingvartsen durchwandert hier nahezu exemplarisch das Repertoire oraler Gebärden aus Oper, Film und Theater. Die mutierenden Gesten der Stimme werden in ihren Adaptionen auf die körperliche Äußerung übertragen, verdichtet und karnevalisiert, da sich der Fokus jenseits des Hörbaren sowohl auf den Mund als Formel der Äußerung richtet als auch auf den Körper, der den Aus-Druck mit seinen muskulären Kompressionen buchstäblich unterstützt. 50/50 reduziert klischierte stimmliche Gesten auf ihr körperliches Extrakt, die gerade dadurch als groteske, nackt ausgeführte Ganzkörperfratze ausgestellt werden. Solchermaßen gedoppelt, fügt Ingvartsen auch auf der akustischen Ebene Karnevalistisches im Wortsinne ein: Das Gesicht zur Maske eines traurigen Clowns verziehend, setzt sie die zwischenzeitlich abgelegte orangefarbene Perücke wieder auf und markiert ›typische‹, pantomimische Operngesten, wie das Schauen in die Ferne oder das Heranwinken einer Menschenmenge – aus dem Off erklingt prompt der Refrain der Arie »Lache, Bajazzo« aus Ruggiero Leoncavallos Oper I Pagliacci (1892).14 Mette Ingvartsens Morphing-Praktiken verharren indessen nicht auf der körperlich grotesken Ebene allein, sondern vollziehen sich auch im BewegungsTransfer zwischen Psyche und Physis: Gebärden emotionalen Gehalts verwandeln sich in physische Motionen (vgl. Ingvartsen 2007, Programmankündigung), in wackelnde Körperteile und verzerrte Münder, womit – und darin liegt die groteske Pointe – sowohl dem Theatersystem der Repräsentation als auch Vertreter/innen des »Konzeptualismus«15 eine Absage erteilt wird.
14 Die Arie des Bajazzo erklingt im ersten Akt der Oper und lautet vollständig »Hüll dich in Tand und schminke dein Antlitz, man hat bezahlt ja, will lachen für sein Geld! Lache, Bajazzo.« (Vgl. Regler-Bellinger/Schenck/Winking 1983: 225) 15 Helmut Ploebst urteilt: »Ihr Solo ›50/50‹ sprengt die Ernsthaftigkeit des Konzeptualismus noch einmal auf, nachdem sie bereits von Jérôme Bel und Mårten Spångberg gebrochen worden war.« (Ploebst 2.8.2006)
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1.1.3 Affektierte Körper, groteske Intensitäten Einen ähnlich physischen Ansatz verfolgt auch Jeremy Wade in seiner ersten Gruppenchoreographie …and pulled out their hair (2007). Fünf Tänzer/innen16 durchleben in diesem Stück Extreme des Verhaltens, von Retention bis hin zu ausufernder Ekstase. Das Bewegungsrepertoire ist insgesamt vom Schwanken zwischen Kontrolle und Entgleisung geprägt: Fortwährend versuchen die Tanzenden, sich im wahrsten Sinne des Wortes zusammenzureißen, doch da verselbstständigen sich schon wieder die Glieder, rutschen regelrecht aus ihren Verankerungen, die Beine knicken weg, die Arme schleudern zur Seite – Haltung kann nur durch Versteifung der Gelenke und entsprechend unsicheres Gehen erreicht werden. Sich blähende Bäuche wechseln mit konvulsivisch zuckenden, oft hochgezogenen Schultern und grimassierenden Gesichtern, starke Anspannungen des Körpers entladen sich in plötzlichen, überbordenden Relaxierungen. In …and pulled out their hair gestaltet Wade apokalyptische, desorientierte Körper (Wade in Buck 2007: 15), die gewohnte Verhaltensschablonen durch rapide Übergänge in ihr Gegenteil durchbrechen, indem amorphe fluide Bewegungen auf Überrepräsentiertes treffen. Wade setzt zur Bewegungserzeugung im Probenprozess gezielt Affekte wie Wut, Trauer, Verzweiflung, Glücksgefühle oder spirituelle Verehrung ein, die nicht klar abgegrenzt sind, sondern sich ineinander verschieben und überlagern.17 Die Inspiration zu diesen exaltierten, mit Körperbildern der Hysterie spielenden Motionen bezieht Wade unter anderem aus seiner Faszination für die Gottesdienste der schwarzen Kirchengemeinden Nordamerikas, in denen rhythmisierte Körperbewegungen, Gesang und Rezitation religiöser Texte bisweilen in ekstatischem Taumel enden (Wade 20.2.2007, Interview). Hin und wieder reißen die Tänzer/innen im Stück die Arme hoch und verdrehen den Blick nach oben, bringen den Rücken dabei in eine sehr gerade aufgerichtete Position oder werfen Kopf und Oberkörper nach hinten. Gabriele Brandstetter markiert solche Bewegungsmuster im Tanz als Codierung weiblicher Hysterie, wie sie – als bacchantische, aus dem Formenrepertoire der griechischen Antike schöpfende Körperbilder – etwa von Jean-Martin Charcot in seiner psychiatrischen Klinik zumeist bei Frauen beschrieben wurden (Brandstetter 1995: 187 ff.).18 Das im Ausdruckstanz fließende Bewegungsspiel mit der bewusst gefährdeten Balance (ebd.: 191 ff.) wird bei Wade allerdings in ein Stakkato abgehackter, steifer, unkontrollierter Bewegungen überführt, die sich gänzlich 16 Beteiligt sind Zackes Brustik, Joris Camelin, Leo Renneke, Anja Sielaff, Marysia Stokłosa. 17 Meine Beobachtungen beziehen sich sowohl auf den Probenprozess des Stücks als auch auf zahlreiche Aufführungsbesuche im Februar und Mai 2007 (Hebbel am Ufer: HAU 3 und HAU 2). 18 Zu Charcots Untersuchungen in der Pariser Salpêtrière sowie dieser Institution als (pathologische) Bilder produzierende Anstalt vgl. auch Didi-Huberman 1997: u.a. 89 ff., 55 ff.
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von den Prinzipien des Flow absetzen. So stolpernd und unbeholfen die Bewegungen der Tänzer/innen jedoch erscheinen, ist dafür eine immense Körperbeherrschung notwendig, die den Körper ausufern lässt und ihn bisweilen gar zu Fall bringt – mit Otto Driesen wurde bereits auf die langjährig zu trainierenden Gliederverwirrungen des Harlekin im Vergleich mit Sasha Waltz’ Körper hingewiesen (vgl. S. 213 f.). Anders als in jenem Stück, wo die Vertauschungen von Körperteilen in eine virtuose Komposition überführt werden, ist Wade an solchen Neuzusammensetzungen jedoch nicht gelegen: »I am interested in a body, that is physical intense and virtuos in a kind of fucked up, virtuosic way. I don’t think there are any rules for choreography. I need to be able to enter the body through intensity and through emotion, exhaustion and desperation, reverence, surrender.« (Wade 20.2.2007, Interview) Sind dies die Impulse, mit denen Wade tänzerische Desartikulationen vorantreibt, die auch beim Publikum den Eindruck aufgeladener, unter Spannung stehender Körper erzielen, so folgt seine Choreographie, anders als er behauptet, jedoch durchaus Kompositionsprinzipien, die mit Kontrasten arbeiten, welche sich – eher ungewohnt im zeitgenössischen Tanz – verstärkt über klare Polarisierungen herstellen. Das beginnt bereits bei den Kostümen, die den wuchernden Motionen der Körperglieder entgegengesetzt sind: Die Tänzer/innen tragen akkurat gebügelte schwarze Hosen oder knielange Röcke, blütenweiße Hemden und Hosenträger oder Krawatte. Die Haare glatt gescheitelt, wirken sie wie Büroangestellte oder Angehörige einer baptistischen Kirchengemeinde am Sonntag. Freilich hält die mit Sorgfalt gewählte Bekleidung nicht lange ihre Form und ist bald, in den Wirren des Gliederwerfens, reichlich derangiert. Weitere Dichotomien erzeugt Wade in der Choreographie selbst, in der ähnlich wie in Glory beispielsweise ein Duett getanzt wird (Zackes Brustik, Marysia Stokłosa), das auf der exakten Synchronizität von Bewegungen basiert (vgl. S. 226). Im letzten Drittel des Stücks schlägt das desorientierte Taumeln der Darstellenden in die präzisen, maschinenhaften Rhythmen einer Cheerleading-Sequenz um, die überdeutlich die Bewegungsschemata einer All American Youth vorführt.19 Solche gezielt eingesetzten Kontrastierungen zwischen Entgleisendem und Überrepräsentiertem verfolgen letztendlich den Zweck einer »exhaustion of representation« (Wade 5.2.2007, Probennotate), die in der Szene »Serving the turkey«20 kulminiert: Um Aufmerksamkeit heischend, stehen die Tänzer/innen frontal vor dem Publikum, die Arme weit ausgebreitet. Nacheinander oder gemeinsam werfen sie die Arme wieder und wieder nach vorne, heben sie einladend oder reißen sie in Siegerpose nach oben, das Publikum zu Reaktionen auffor-
19 Wade spielt damit auf den Fitness-Diskurs in den USA an, der sich, beginnend in den 1920er Jahren, über die Exklusion behinderter Menschen dem Ideal des gesunden Geistes in einem gesunden Körper verschrieb (vgl. Pernick 1997: 91 ff.; das Buch war Gegenstand der Recherche für …and pulled out their hair). 20 Im Probenverlauf erhielt die Szene diese Bezeichnung.
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dernd, die sich nicht einstellen.21 Die expressiven Gesten wandeln sich, von Selbstbewusstsein und Egotrip in Aggression, Wut, Verzweiflung, Desillusionierung und Frustration. Wade gestaltet solche Szenen aus existentiellen Überlegungen heraus, die das Individuum als ein in der Welt verlorenes herausstellen, desorientiert auch im Bühnenraum (Wade 20.2.2007, Interview). Das Kollabieren von Repräsentation und der Expressivität des Ausdrucks konzentriert sich besonders in einem das Stück dominierenden Motiv: dem weit geöffneten Mund der Tänzer/innen, den sie im ersten Drittel des Stückes öffnen und bis zum Schluss nicht mehr schließen. Übereinandergeworfen am Boden liegend, lösen sich die Darsteller/innen aus einem Körperhaufen heraus und beginnen zu lachen. Die glucksenden Geräusche und zuckenden Schultern sind allerdings rasch nicht mehr eindeutigen Gefühlsausbrüchen zuzuordnen und durchlaufen Metamorphosen: vom gurgelnden Lachen in schluchzendes Weinen und wütendes Kreischen (Abb. 65). Sukzessive nähern sich die Tänzer/innen der Bühnenkante, wo sie, nebeneinander aufgereiht, das entstandene Lärmen abrupt beenden: Schlagartig bleibt ihnen der Mund offen stehen, stillgestellt in einem expressiven Tableau. Der für die gesamte übrige Zeit weit aufgerissene Mund in einem immerhin noch eine knappe Dreiviertelstunde dauernden Stück durchläuft nun die ganze Bandbreite von Repertoiren oraler Ausdrücke. Die Münder weiten sich im Horror vor einer unbekannten Gefahr, mit aufgerissenen Augen, in einem Bild des Schreckens eingefroren, oder öffnen sich im Gegenzug bedrohlich, ein imaginäres Gegenüber beeindruckend. Sie runden sich im namenlosen Entsetzen oder in stummer Trauer, ziehen sich erotisch zusammen, einen Blow Job simulierend, oder verzerren sich zu einem sarkastischen, dann zynischen Grinsen.
Abb. 65: Jeremy Wade, ...and pulled out their hair (2007), Photo: Dieter Hartwig
21 In der dritten Aufführung des Stücks (5.2.2007, HAU 3) erbarmt sich schließlich jemand und klatscht, was die Tänzer/innen allerdings nicht davon abhält, weiterzumachen.
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Die aufgesperrten Münder werden außerdem zur Kontaktstelle, um miteinander in Austausch zu kommen: In einem Quintett sind die Tänzer/innen über imaginäre Energiebahnen verknüpft, die aus ihrem Mund herauszustrahlen scheinen und mit denen sie sich, so untereinander verkettet, durch den Raum bewegen. In einer anderen Szene wird direkt Verbindung aufgenommen: An Ellenbogen und Knien von Marysia Stokłosa dockt jeweils ein Tänzer/innen-Mund an, beißt sich fest und zieht Stokłosa, mit verdrehten Augen der bizarren Ausführung einer indischen Shiva-Figurine ähnelnd,22 über die Bühne. Der geöffnete Rachen bleibt dabei nicht stumm. Die Bluse über den Kopf gezogen und das Gesicht dadurch verdeckt, steht Anja Sielaff am Bühnenrand über ein Mikrofon gebeugt, in das sie hineinatmet, das Duett von Zackes Brustik und Marysia Stokłosa akustisch begleitend. Die zunächst gleichmäßigen In- und Expirationen steigern sich allmählich, werden lauter und gehen in ein Stöhnen über, das sich weiter in Schlürfen, Röcheln, Schluchzen, Heulen, Spucken, Brüllen und Schreien transformiert und die synchronen Bewegungen von Brustik und Stokłosa kommentiert – ohne selbst zu sehen, was diese tun. Wird das Duett damit expressiv aufgeladen, verschiebt sich der Eindruck der akustischen Synchronisation ihrer Bewegungen jedoch rasch wieder, da Stimme und tanzende Körper voneinander getrennt sind. Die dauerhaft aufgerissenen Münder erzielen im Durchgang durch das Expressive, mit den bis zur Erschöpfung inszenierten Mitteln des Ausdrücklichen, paradoxerweise die Auflösung einer emotionalisierten, individualisierenden Mimik – ein Verfahren, das bereits Valeska Gert angewendet hat. Das Gesicht windet sich um die Hohlstelle des Mundes herum, ein schwarzes Loch, das den Blick anzieht und zugleich ihn sich verlieren lässt in der Suche nach Identifizierbarem. Anders als in den Torso-Experimenten Xavier Le Roys oder Eric Raeves wird die Depersonalisierung des darstellenden Körpers nicht durch das Wegklappen des Kopfes, sondern durch das ausdrückliche Verformen des Gesichts zur hohlen Loch-Maske erreicht. Die so entstehenden pathetischen Körper bilden »emotionale Skulpturen« (Wade 2007, Programmtext), die gerade im Durchgang durch Pathosgebärden und Gefühle23 den Fokus von theatralen Gesten weg hin zum Körper selbst als Trägermedium e/motionaler Affekte lenken.24 Groteske Mo-
22 In den Proben hat diese Szene entsprechend den Titel »Shiva« erhalten. 23 Brandstetter verweist auf die Wiederkehr pathetischer Gebärden im zeitgenössischen Tanz anhand des Solos Pigg in Hell von Astrid Endruweit/Michel Laub (1999). In »Bilder[n] der Ekstase« rufe die Tänzerin Assoziationen sowohl an Gemälde von Hieronymus Boschs wie auch an die Hysterikerinnen der Salpêtrière wach (Brandstetter 2003: 9 f.) – Brandstetter bringt damit das Pathetische tendenziell mit dem Grotesken in Zusammenhang. 24 Der belgische Choreograph Wim Vandekeybus arbeitet mit seiner Compagnie Ultima Vez an ähnlichen Zuständen, die Alena Alexandrova als »image from within« bezeichnet (Alexandrova 2003: 21). Mit Jean-Luc Nancy betont sie das Erscheinen affektaufgeladener Sensationen, die durch die tänzerische Erforschung von Grund-
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mente ergeben sich dabei durch die Metamorphosen expressiver Zustände, die in die Physis des Körpers überführt werden, sowie durch die Kontrastierungen zwischen überbordendem Zeigen und verbergendem Innehalten, zwischen Kontraktionen und explosionsartigen Ausbrüchen der Tänzerkörper. Die Tanzkritikerin Mirjam van der Linden schlussfolgert: »The bodies, in black and white uniforms, tense and forced, move nearly spastic, between timidity and hysterical overenthusiasm. Staggering and trembling, grilling and barking, crying and choking they are searching for a moment of pure exaltation, wherever it can be found… in sex, religion, beauty, vulnerability […] The mouth cannot be filled.« (van der Linden 21.4.2007) In seinen Stücken …and pulled out their hair und Glory zeigt Jeremy Wade tanzende Körper, die sich dem Bildbedürfnis der Zuschauer/innen entziehen. Im beständigen Wechsel mutierender emotionaler Zustände entstehen proliferierende Körper oder, um es mit Deleuze/Guattari zu formulieren: affektgeladene Intensitäten, die immer wieder ins Leere laufen, multiple »in sich selbst vibrierende Intensitätszone[n], die sich ohne Ausrichtung auf einen Höhepunkt oder ein äußeres Ziel ausbreite[n]« (Deleuze/Guattari 1997: 37). Gerade weil Wade den Körper nicht verlangsamt, um in einem kritischen Tempo geläufige Repräsentationen des Körpers zu unterwandern und in Präsenzen aufzulösen (vgl. Lepecki 2006: 15; vgl. S. 119), sondern seine Tänzer/innen repräsentationale Zustände durchrasen und diese mutieren lässt, kollabiert ein System möglicher Zuschreibungen und eindeutiger Gefühle, das Pathosgesten als theatrale Zeichen festlegt. Was bleibt, sind wuchernde, bis zur Erschöpfung aus-gedrückte Körper an den Rändern beschränkender Ordnungen.25 Die über lange Strecken geöffneten Münder der Tänzer/innen, die im Ringen der Körperteile zuweilen die einzige Konstante bilden, erinnern an Gemälde aus der Serie der Papst-Portraits Francis Bacons, sowohl im Pinselstrich auflösender Körperkonturen als auch in der affektiven Aufladung der Bilder von Mündern, die im Schrei aufklaffen. Der folgende Abschnitt gibt daher einen kurzen Einblick in das Motiv des aufgerissenen Mundes in Bacons Bildern – dabei kann die Vielzahl von Interpretationen und Analyseansätzen des Baconschen Œuvres nicht erfasst werden, sondern reduziert es auf die gezielte Befragung des ikonographischen Themas Mund, insoweit es an ähnliche Topoi im zeitgenössischen Tanz anschließt.
bedürfnissen wie Schlaf oder Begehren initiiert würden und den Körper in seiner materiellen Präsenz, als Erfahrung des »jetzt« akzentuierten (ebd.: 23 f.). 25 In diesem Kontext wäre eine Lektüre exzessiver Körper im zeitgenössischen Tanz mit Antonin Artauds 1932 erschienener Schrift Theater der Grausamkeit lohnend (Artaud 1979), die in diesem Rahmen jedoch nicht geleistet werden kann.
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1.1.4 Schrei: Francis Bacons Papstportraits In der viele Studien und Portraits umfassenden Serie setzt sich der Maler Francis Bacon mit Diego Rodriguez de Silva y Velázquez’ Darstellung des sitzenden Papst Innozenz X. (1650) auseinander (vgl. van Alphen 2003: 61) (Abb. 66). Die zahlreichen adaptiven Variationen des Velázquez-Bildes verfolgen eine Technik des Entschälens, welche, so meine These, die Expressivität des Motivs in Inkarnation und Performanz umwandelt. Ich möchte hierfür besonders drei Bilder näher betrachten: Study for the Head of a Screaming Pope (1952), Head VI (1949) sowie Study after Velázquez’s Portrait of Pope Innocent X (1953).
Abb. 66: Diego Rodriguez de Silva y Velázquez, Papst Innozenz X. (1650)
Michel Leiris bezeichnet Bacons Behandlung der Leinwand als »théâtre d’opérations« (Leiris 1987: 244), ein anatomisches Theater also, in dem der Künstler Vorhandenes in seine Einzelteile zerlegt, um den aufgebrochenen Körper auf seine Gewebestrukturen hin zu untersuchen. In einigen Bildern greift Bacon dieses Thema sogar wörtlich auf, etwa in Figur with Meat (1954) (Abb. 67), das zwei wie bei einem Schlachter aufgehängte Tierhälften zeigt, in deren Mitte wiederum der Papst als Bildmotiv platziert ist. Norman Bryson bewertet diesen Umgang Bacons mit einer künstlerischen (und auch politisch-religiösen) Vergangenheit als anatomische Handlung, »etwa so, wie ein Chirurg die Haut von einem Gesicht entfernen würde.« (Bryson 2003: 46) In Study for the Head of a Screaming Pope scheint dieses Verfahren zunächst nicht zuzutreffen (Abb. 68). Der Kopf ist vielmehr noch (zusätzlich) mit einer weißen, pastosen Kuvertüre überzogen, welche die Gesichtszüge vergröbert. Die
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Abb. 67: Francis Bacon, Figur with Meat (1954)
Abb. 68: Francis Bacon, Study for the Head of a Screaming Pope (1952)
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Büste der Figur ist nur angedeutet und das Bild wie im filmischen Close-upVerfahren nah an den Kopf herangerückt und auf den schreienden Mund fokussiert, dessen rote Lippen nahezu sinnlich und fleischig gegenüber der hellen Fläche des Antlitzes hervortreten. Allerdings ist das Haupt weniger kompakt, als es auf den ersten Blick erscheint: Die Nasenlöcher sind verwischt, rechte Wange und Jochbein von dunklen, schattigen Flächen durchzogen, die das Auge umfassen und es zum Teil aus der rechten Gesichtshälfte entweichen lassen, die sich, nur noch von einer brüchigen weißen Kontur begrenzt, partiell auflöst, wobei sich zugleich der dunkle Bildhintergrund in das Antlitz hineinzudrücken scheint. Einige Jahre zuvor hat Bacon in Head VI eine ähnliche ›Nahaufnahme‹ einer sitzenden Papstfigur gemalt, in der sich die Auflösungserscheinungen umgekehrt darbieten: Auf dem in den päpstlichen Farben violett gekleideten Oberkörper sitzt ein Kopf, der sich nach oben hin verflüchtigt (Abb. 69). Nur die Nase ist in Ansätzen noch vorhanden, Augen (Fernsinn) und Hirnschale, als Sitz der Ratio, sind entfernt worden – ihre Überreste amalgamieren mit der sie umgebenden Farbfläche. Ist in Study for the Head of a Screaming Pope der Mund durch übermalendes Verflachen des Gesichtes prononciert, wird er hier nun zum einzigen Merk-Mal des Kopfes, der um diese Körperöffnung herum in den Raum diffundiert. Der freie Fluss von Körpermolekülen und Farben ist allerdings teilweise limitiert durch die scharfen Begrenzungen um die sitzende Figur herum, die diese wie in einer musealen Glasvitrine ausstellen.
Abb. 69: Francis Bacon, Head VI (1949)
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Solche Beschränkungen sind in Study after Velázquez’s Portrait of Pope Innocent X partiell aufgehoben – das Gewand der Figur schiebt sich in die Absperrung hinein (Abb. 70). Dieses Bild ist bestimmt durch die horizontale und vertikale Linienführung, von querenden geländerartigen Strukturen und längs ausgerichteten Streifen, die die ganze Figur wie in göttlicher Emanation in eine sogartige Aufwärtsbewegung bringen. Der schreiende Mund rückt in den Hintergrund und macht wiederum Platz für Unterarme und Hände, die sich am Stuhl regelrecht festkrallen. Bemerkenswert ist der Wechsel der Lippenfarbe in den Portraits. Betont Bacon in Study for the Head of a Screaming Pope die Sinnlichkeit der Figur durch rote Lippen, sind diese in Head VI lila gefärbt und spiegeln das gleichfarbige Gewand der Figur, Sinnbild für kirchliche Autorität, die sich im über die Lippen gehenden Wort veräußert. In Study after Velázquez’s Portrait of Pope Innocent X sind die Ränder des Mundes ins Graue entfärbt und befördern Tod und Auflösung der Person.26
Abb. 70: Francis Bacon, Study after Velázquez’s Portrait of Pope Innocent X (1953)
26 In der Farbsymbolik des Katholizismus steht Rot für Blut und Leiden Christi und wird vom Pfarrer etwa beim Gottesdienst zum Pfingstfest getragen; Violett dagegen bestimmt die Fastenzeit vor Ostern. Ich danke Maximilian Stelzl für diesen Hinweis. Die Verwendung dieser Farben in Bacons Papstportraits verbindet sich insofern mit den Erscheinungen von Entbehrung, Zerfall und Tod.
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Ist von einer Chirurgie des Malens in Bacons Gemälden die Rede, so eignet den drei beschriebenen Bildern eine Reduktion auf die Materialität des Fleisches. Die Figur des sitzenden Papst Innozenz X in Velázquez’ Portrait verdichtet sich bei neuerlicher Betrachtung besonders auf die Haltung der Arme, die fest auf dem Stuhl aufliegen, die seitlich blickenden Augen und die fest zugepressten Lippen (Abb. 66), die in Bacons Bilderwanderungen zum gewaltsamen Schrei geöffnet und zur buchstäblichen Inkarnation des Wort Gottes werden – das allerdings, im Motiv des Schreis visualisiert, nur noch als Hohlform existiert. Bryson entdeckt bereits in Velázquez’ Gemälden die Verschmelzung von Körper und Kleidung (als Prothese der Macht), etwa in Infantin Margarita Teresa in blauem Kleid (1659) (Bryson 2003: 46), und deutet Bacons Bilder als Betonung des Aspekts der Fleischlichkeit von Herrschaft (ebd.: 48). Gilles Deleuze geht in seiner Deutung der Baconschen Bilder noch einen Schritt weiter und zeigt, dass es sich nicht nur um die Bloßlegung von Gewaltstrukturen handelt, die etwa ein Papst verkörpert, sondern dieser selbst in den verbildlichten Zugkräften und den betonten Löchern im Kopf dem Verfall und der Degradierung der Geistlichkeit anheim gestellt ist: »Schließlich ist das Fleisch selbst Kopf, der Kopf ist zur entgrenzten Macht des Fleisches geworden […] der Mund erlangt dann jene Macht der Entgrenzung, die aus der ganzen Fleischmasse einen Kopf ohne Gesicht macht. Er ist kein besonderes Organ mehr, sondern das Loch, durch das der Körper insgesamt entweicht und das Fleisch herabrutscht.« (Deleuze 1995: 22) Mit dem Körper entweicht auch die Reduktion des Schreis auf Schrecken, Schmerz27 oder die Praxis künstlerischer Expression. Die päpstliche Wortgewalt als autoritativer Schrei wird von Bacon in einer doppelt performativen Operation zerlegt, die mit Austin als perlokutionäres Handeln einer Befehlsmacht bezeichnet werden kann (Austin 2002: 126), die sich jedoch im Schrei als entäußerter, prä-lokutionärer Geräusch-Akt auflöst (ebd.: 110) und mithin die Möglichkeit eines erfolgreichen (performativen) Handlungsvollzugs verliert.28 In der Trias 27 Im Verlauf seiner Beschreibung geht Deleuze hier seltsamerweise einen Schritt zurück und deutet den Schrei, der als Motiv in vielen Bildern Bacons erscheint, als verkörperte Darstellung des Entsetzens (Deleuze 1995: 41). Barbara Steffen argumentiert gänzlich psychologisch und urteilt: »Der Mund wurde zu Bacons Urbild, zu einer Metapher für Schmerz, Leid, Gier und Schrecken.« (Steffen 2003: 147) 28 John L. Austins Sprechakttheorie (1955) basiert auf der Annahme, dass Äußerungen Handlungen vollziehen (Austin 2002: 29), die unter konventionellen Bedingungen stattfinden (ebd.: 122). Der Satz »Ich taufe Dich auf den Namen xy« vollzieht in der Aussage zugleich den Akt der Taufe und Namensgebung (vgl. ebd.: 35 f.). Diese Äußerungen unterscheidet Austin weiterhin in »lokutionäre[] Akt[e]«, einfache Aussagen, die »etwas Bestimmtes über etwas Bestimmtes« sagen und mithin Bedeutung produzieren (ebd.: 126) und insofern lediglich heuristisch zu den »illokutionären Akte[n]« unterschieden seien, eine Handlung, die sich »vollzieht, indem man etwas sagt«, wie »berufen, appellieren, beurteilen« (ebd.: 116 f.). Diese Akte haben die lokutionären zur Bedingung, welche wiederum mit Intonation, Geräusch, also körperlichen Regungen verbunden seien (ebd.: 130). »Perlokutionäre Akte« sind dagegen Folgen von Aussagen, wie etwa Befehle oder Überredung
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Macht – Körper/Fleisch – Außenwelt wird aus dem Schrei als expressionistischer ästhetischer Eindruck eine ausdrückliche Performance der Verflüchtigung des die Macht verkörpernden Subjekts. Dazu trägt besonders die Fokussierung auf den Mund als Höhlung im Fleisch bei, der personalisierte Gesichtszüge demontiert (vgl. van Alphen 64 f.) – einzig den Kleidern ist noch eine halbwegs feste Struktur gegeben: Sie werden zu Insignien der Macht, die, mit Foucault gesprochen, in diskursiven Strukturen verankert sind und nicht vom Subjekt ausgeübt werden, sondern dieses normierend durchziehen (Foucault 1977: 237). Als Zwischenbetrachtung kann resümiert werden, dass die Depersonalisierung darstellender oder dargestellter Personen in mindestens dreifacher Weise geschehen kann: über die Wegnahme des Kopfes und Reduktion des Körpers auf den Rumpf einerseits (Xavier Le Roy, Eric Raeves, Charlotte Vanden Ende/Ugo Dehaes) sowie durch die gezielte Betonung des Kopfes andererseits, als Überbetonung mittels Maskierung (Mette Ingvartsen) oder im Fokus auf den Mund, als Loch in der mimischen Identifizierung (Jeremy Wade, Francis Bacon). Der Künstler Bruce Nauman arbeitet mit solchen De-Formationen in seinen Videoarbeiten, in denen er den eigenen Körper als Kunstobjekt ins Spiel bringt, das fragmentiert oder verzerrt wird, wie die nun folgende Betrachtung der MundProjekte Naumans zeigt.
1.1.5 Bruce Nauman: Pulling the Mouth29 Auf dem Videoscreen ist die Nahaufnahme eines Gesichtsauschnittes zu sehen: Nur Unterlippe, Kinn und Vorderpartie des Halses sind im Bild. Die Unterlippe, direkt unter dem oberen Bildrand hängend, wird vom Zeigefinger einer ins Bild geschobenen Hand heruntergezogen und quillt die Screenoberfläche hinab. Pinch Neck (1968) ist eine der Videoarbeiten Bruce Naumans aus den 1960er Jahren, in welchen er seinen Körper in Bewegungsfragmente zerlegt, analysiert und verschoben wieder zusammensetzt.30 Im genannten Video manipuliert er seinen (ebd.: 126), die unter Umständen zusätzlich mit außersprachlichen Mittel vollzogen würden (ebd.: 135). In diesem Zusammenhang kann Austins Sprechakttheorie nicht ausführlich kritisch reflektiert werden, allerdings tauchen in seinem Konzept Widersprüche an jenen Stellen auf, an denen er die Produktion von Bedeutung vom körperlichen Akt (wie Intonation, Stimmgeräusch) trennt (ebd.: 131) – Theoretiker nach Austin wie Roland Barthes betonen hier gerade den Eintrag einer »Rauheit der Stimme«, die Vorstellungen von reibungsloser Bedeutungsproduktion entgegensteht (Barthes 1990; vgl. S. 263). 29 In Anklang an Naumans Video Pulling Mouth (1969). 30 Diese und die folgenden Videoarbeiten Naumans habe ich größtenteils im Rahmen der Ausstellung Bruce Nauman. Theaters of Experience (Berlin, Deutsche Guggenheim, 2003), im Dokumentarfilm Make Me Think (Regie: Heinz Peter Schwerfel, BRD, 1997) oder auf dem Internetportal You Tube (Pinch Neck) gesehen.
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Mund mit den Fingern, zieht die Mundwinkel nach oben, drückt die Lippen zu einem dicken, wulstigen Knutschmund zusammen, verschiebt die Ecken des Mundes in entgegengesetzter Richtung, reißt die Ränder auf, zeigt die Zähne und wandert schließlich hinab zum Hals, quetscht die Haut hoch, so dass ein Doppelkinn entsteht, drückt den Kehlkopf nach innen und zieht die Halsfalten auseinander, wodurch sich der Nacken übergroß aufbläht. Naumans Körperverformungen am eigenen Leib erzeugen Verschiebungen in den Betrachtungsweisen, wie Anja Osswald analysiert: »Der Künstler tritt als Vor-Bild in Erscheinung, er ist derjenige, der das irritierende Spiel mit Wahrnehmungsgewohnheiten inszeniert« (Osswald 2003: 103). Seine Ästhetik generiert sich über Versuchsanordnungen, die den eigenen Körper, meist in den Räumlichkeiten seines Studios, auf dessen Funktionen hin untersucht und zum Kunstgegenstand macht, indem er ihn aus ungewohnten Blickwinkeln betrachtet und mithin zum »Fremd-Körper« werden lässt (ebd.: 96). Der Fokus liegt dabei – ähnlich wie in Experimenten zeitgenössischer Choreograph/innen seit den 1990er Jahren – auf der Frage nach dem Material der Kunst. Die Nähe zum Tanz zeigt sich dabei schon in den 1960er Jahren, in denen Nauman Kontakt zur Judson Memorial Church hatte (vgl. Cross 2003: 14), weshalb André Lepecki die Konstellation des sich bewegenden, ausprobierenden Körpers im Raum auch als »parachoreographic experiments« bezeichnet (Lepecki 2006: 19). Videofilme wie Bouncing Balls (1969), in denen Nauman seine Hoden schüttelt und diesen Vorgang in extremer Zeitlupe zerdehnt, so dass die Bewegung an sich nahezu abwesend ist, verweisen auf eine körperliche Präsenz, die in einer »hyperbolischen Qualität« resultiere, so Lepecki (ebd.: 23). Die These der überbordenden Präsenz erweist sich als buchstäbliche Rahmenüberschreitungen in Videofilmen,31 in denen Nauman mit Dis-Torsionen des Körpers spielt – Kapitel 4 wird sich damit genauer befassen (vgl. Kap. 4, 1.1.3). In dem Video Lip Sync (1969) sind solche Überschreitungen als Strategie degradierender Inversionen zu sehen.32 Wieder ist Naumans untere Gesichtspartie im Close-up gefilmt, ähnlich wie in Pinch Neck, wobei hier der gesamte Mund inklusive Oberlippe im Bildrahmen sitzt. Allerdings ist das ganze Bild auf den Kopf gestellt, eine Praxis der Inversion, die Nauman häufig einsetzt.33 Der Mund 31 Im Rahmen dieser Arbeit kann auf die spezifische Ästhetik sowie Aspekte von Präsenz und Kopräsenz in der Videokunst nicht ausführlich eingegangen werden. Verwiesen sei hier beispielhaft auf Johannes Birringers Ausführungen zur Video Art und Performance (Birringer 1991) sowie auf Anja Osswalds Dissertation über »Selbstinszenierung« im Video (Osswald 2003). 32 Osswald misst Naumans Körperexperimenten eine groteske Qualität zu, versteht Groteskes allerdings eher im Sinne von Komik (Osswald 2003: 73). 33 So etwa in Revolving Upside Down (1969), ein Video, in dem Nauman auf einem Bein balanciert bei um 180 Grad gedrehter Kameraperspektive, oder in Double No (1988), zwei Videomonitore, die jeweils eine hüpfende Clownsfigur zeigen, die sich (aufeinandergestapelt, der eine auf den Kopf gedreht) wie in einem Vexierbild spiegeln. Coosje van Bruggen bestimmt das Prinzip der verdrehten Kamera als ein
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öffnet sich und Naumans Zunge quillt hervor, im Zusammenspiel mit den Lippen die Worte »Lip Sync« flüsternd. Allerdings wirkt die Synchronisation verschoben: Tonspur und Mund scheinen nicht simultan zu laufen, da der verkehrte Mund und die gegenläufig schlagende Zunge das Zusammenspiel von Auge und Ohr täuschen.34 Nauman visualisiert zunächst das Hören, indem er das Auge als prominentes Organ der Erkenntnis austrickst. Nach einer Weile verschieben sich allerdings auch die Wörter und zunehmend klingt »Lip Sync« wie »Lip Sink«. Osswald beurteilt diese Verschiebung als »Entsemantisierung des Dargestellten« (Osswald 2003: 72), jedoch greift eine solche Einschätzung zu kurz. Denn hat Nauman zuerst den Mechanismus der Synchronisation von Hören und Sehen aufgelöst, kommt diese nun in einer performativen Pointe wieder zum Tragen: Diese Lippen sagen, was sie tun – sie sinken nach unten und bringen die Materialität des Ausgesprochenen zum Vorschein.
1.2 Am Rand der Sprache.35 Stimmen zwischen materiellen Ereignissen und Bedeutsamkeit Naumans Videoarbeiten ereignen sich fortgesetzt an der Grenze von Stimme und Sprache, als groteske Oszillationen, die sich zwischen Signifikationen und ihren Verschiebungen oder zwischen Artikulation und der Viskosität des Sagens ereignen. Der Einsatz der Stimme befindet sich dabei genau im Widerspiel zwischen Sinnlichkeit und Sinnhaftem, ein Charakteristikum, mit dem das Phänomen der Stimme grundsätzlich gefasst werden könne, so Doris Kolesch und Sybille Krämer (Kolesch/Krämer 2006a: 12). Um die Stimme als »Schwellenphänomen« (ebd.) wird es daher in den folgenden Beispielen aus Tanz und Videokunst gehen.
1.2.1 Sprache als dekonstruiertes Rohmaterial Nachdem Bruce Nauman in den 1980er Jahren vorwiegend Neonarbeiten kreierte oder Videotapes mit anderen Personen besetzte, zeigt er sich ab den 1990er Jahren wieder selbst auf dem Bildschirm (vgl. Cross 2003: 19). Die Installation Raw
wichtiges Charakteristikum in Naumans Arbeiten (van Bruggen 2002: 59) – Inversion und Revolte erweisen sich in seiner künstlerischen Praxis mithin buchstäblich als Züge des Grotesken. 34 Der verschiebende Effekt stelle sich außerdem dadurch ein, dass Nauman Kopfhörer trage, über die er die Worte »Lip Sink« höre, die er dann nachspreche, so van Bruggen (van Bruggen 2002: 60). Allerdings ist nicht ganz klar, ob Tonspur und Bild nachbearbeitet wurden, um die Verschiebung zu erzielen, denn das Nachsprechen des Gehörten allein erzielt noch keine Retardierung der oralen Artikulation. 35 In Anlehnung an Bernhard Waldenfels 2006a: 193.
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Material–BRRR (1990) ist Teil einer Videoserie dreier ›Rohmaterialien‹36 und besteht aus zwei aufeinander gestapelten Fernsehmonitoren, in denen jeweils Naumans komplettes Gesicht in Nahaufnahme zu sehen ist, im unteren Bildschirm um neunzig Grad nach rechts, im oberen nach links gekippt. Der Künstler schüttelt den Kopf während der gesamten Dauer des Videos von links nach rechts und lässt seinem Mund schwer verständliche Silben und Laute entströmen. Allerdings ist diese Arbeit nicht auf Ausdauer und Erschöpfung angelegt, wie manch andere Aktionen der Performancekunst:37 Die Videos sind geloopt und in Sequenzen von je zweieinhalb Minuten aufgeteilt, die mit unterschiedlichen Farben (blassblau, grün, rot, gelbrot) unterlegt und für die Gesamtdauer von einer Stunde hintereinander geschnitten sind (Abb. 71).38 Ich möchte meine Betrachtungen hier nun zunächst auf Mund und Sprachlaute konzentrieren – die Schwankungen und daraus resultierenden Oszillationen der Körpergrenzen in dieser Installation werden im letzten Kapitel relevant sein und dort genauer untersucht (vgl. S. 342 ff.). Die Konturen von Naumans Mund verschwimmen durch die schnellen Hinund Herbewegungen des Kopfes. Mal zieht er sich zusammen und wird zu einer schmalen Linie, dann wieder bläht er sich übergroß auf, besonders die Unterlippe schwillt stark an. Wie in einem Windkanal verziehen sich Mundwinkel und Lippen gleich einer unförmigen, sackartigen Tasche und scheinen über die Begrenzungen des Gesichts hinauszuwachsen. Nauman benutzt die beiden ersten Buchstaben seines Vornamens (Br) sowie die Wortsilbe »mini«, die in schnellem Stakkato und im Wechsel mit den Konsonanten des Namens ausgestoßen werden. Amalgamierungen bilden sich, welche nach einer Weile zu Lauten führen, die den Worten »minimal« und »bla, bla, bla« ähneln. So entstehen Tautologien wie in Lip Sync (vgl. Morgan 2002a: 7), die die Kondensierung des Namens in die Anfangsbuchstaben doppeln und zugleich den Künstler im konfluierenden Wortsinn als Vertreter der Minimal Art hervorheben. Durch die Reduktion der Bewegung (nur der Kopf wird isoliert hin- und hergeschüttelt) und der Wortlaute erzielt Nauman fluktuierende Dehnungen, die auch die Sprache als Motion im Raum ausweisen. Anhand von Naumans Experimenten werde sinnfällig, dass Bewegung als Choreographie keine Sprache sein könne, so Lepecki, der damit
36 Die beiden anderen Arbeiten tragen die Titel Raw Material–MMMM und Raw Material–OK, OK, OK (beide 1990) (vgl. Benezra 2002: 90). 37 So etwa die Performance Freeing the Voice von Marina Abramović (1975/76), in der die Performerin so lange schreit, bis ihr die Stimme wegbleibt. Zur Performancekunst als Inszenierung authentischer Erfahrung an den Grenzen des Physischen am Beispiel von Abramovićs Freeing the Voice vgl. Bormann/Brandstetter/ Malkiewicz/Reher 2000. 38 Ich habe die Videoinstallation im Rahmen der Ausstellung Bruce Nauman. Theaters of Experience (Deutsche Guggenheim, Berlin) gesehen. Für die genauere Analyse konnte ich die Videos in der Mediathek des Zentrum für Kommunikation und Medien (ZKM) in Karlsruhe einsehen.
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einer entsprechenden Vereinfachung durch Janet Kraynak widerspricht.39 Vielmehr gehe es um »choreographic experiments [that] disclose language acting on and through the body; they display how language mobilizes.« (Lepecki 2006: 24)
Abb. 71: Bruce Nauman, Raw Material–BRRR (1990)
In seinen Arbeiten beschäftigt sich Nauman wiederholt mit Expansionen von Sprache, vorzugsweise in Form von ›Name-Stretchings‹ in denen der Name oder Buchstaben vervielfacht werden40 wie in der Neoninstallation My Name As Though It Were Written on the Surface of the Moon (1968), die den Schriftzug Bbbbbbbbbbrrrrrrrrrruuuuuuuuuucccccccccceeeeeeeeee zeigt. Einerseits erzielt Nauman damit Depersonalisierungen des eigenen Namens als Label für Kunst, andererseits wird Sprache selbst zum Material, das de- und rekomponiert werden kann oder sich, als Buchstabenkette Bbbbbbbbbbrrrrrrrrrruuuuuuuuuucccccccccceeeeeeeeee, in einem lautlich zerdehnten Text-Körper transformiert. Insgesamt sind solche Wechsel-Wirkungen charakteristisch für Naumans Œuvre, die den Körper, oft als Fragment dargeboten, entpersönlichen oder die Sprache verkör-
39 Um Bewegung nicht auf/als Sprache zu reduzieren, bietet José Gil wiederum den Begriff der »quasi-articulation« des Körpers durch die tänzerische Geste an (Gil 2000: 63). Zur Ablehnung von Tanz als Sprache vgl. auch Xavier Le Roy, Kap. 2, S. 148. 40 Dehnungen des Namens vollzieht Nauman zuvor in der Arbeit My Last Name Extended Vertically Fourteen Times und der Fotoversion von My Name As Though It Were Written on the Surface of the Moon (beide 1967, vgl. van Bruggen 2002: 44 f.).
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pern. Susan Cross spielt in ihrer Interpretation von Raw Material–BRRR auf Körperteile der Antike an und urteilt: »Anstatt des kopflosen Torsos erscheint jetzt jedoch ein körperloser ›Schwatzkopf‹, der Unverständliches von sich gibt und die ersten Buchstaben seines Namens ausspricht – ›BRRR‹.« (Cross 2003: 20) Kraynak betrachtet Naumans gesamtes Werk in der Perspektive von Sprachlichkeit und verortet besonders sein Spiel mit dem Namen und Worten im Feld der Performativität, wofür sie Austins und Bachtins Sprechtheorien anführt und hierbei besonders den Aspekt der Materialität des Aussagens betont (Kraynak 2005: 13 f.) sowie die soziale, kommunikative Funktion von Sprache, die sich immer in Erwartung eines Gegenübers, als Response in einer relationalen Beziehung von Subjekten entfalte (ebd.: 4, 26). Diese Einschätzung setzt allerdings das grundsätzliche Gelingen von Kommunikation voraus, auch wenn sich das Antworten verzögert ereignen könne, wie sie mit Bachtin weiter ausführt (ebd.: 19), und vernachlässigt das Materielle sowohl von Zeichen wie auch von Sprechakten, die, so meine ich, in Naumans Aktionen relevant werden.
Abb. 72: Bruce Nauman, Eating My Words (1967)
Ein Beispiel für das Verwenden sprachlicher Zeichen als Spielmaterial, das auch von Kraynak angeführt wird, ist die Photographie Eating My Words (1967) (Kraynak 2005: 10). Zu sehen ist Nauman, der an einem Tisch vor einem Teller sitzt, auf dem aus Weißbrot ausgeschnittene Buchstaben liegen, die zusammengesetzt das Wort »words« ergeben. Das Photo zeigt einen stillgestellten Moment, in dem der Künstler, ein Glas mit roter Marmelade in der linken Hand, gerade nach dem »w« greift, um es zu verspeisen (Abb. 72). Die Zeichen erhalten hier materielle Züge durch eine groteske Umkehrbewegung: Anstatt die Worte auszusprechen, verleibt sie sich der Künstler ein. In Raw Material–BRRR geschieht das Materialisieren von Sprache genau entgegengesetzt, als Auswerfen verkürzter, durch das Schleudern des Kopfes verstümmelter und sich durch diese Bewegung neu zusammensetzender Sprachlaute: Mithin konstruiert Naumans Körper Wortfragmente. Claire MacDonald
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beschreibt diese Rohmaterialien als »Roar Materials« (MacDonald 2005: 96) und deutet damit auf ein groteskes Verfahren hin, das sich im Brüllen und Gurgeln äußert. Im Mittelalter waren (gotische) Kirchen oft mit Wasserspeiern bestückt, die aufgrund des starken Geräusches bei Regen auch als »Gurgler« (»gargoyles«) bezeichnet wurden (vgl. Harpham 1982: 81). Als Randornamente an Kirchtürmen platziert, hatten sie eine doppelte Funktion: jene buchstäbliche des Wasserlassens und, auf mythologischer Ebene, als sowohl belustigende wie beunruhigende repräsentative Elemente, die Degradierung und Unordnung im göttlichen Gesamtkosmos indizierten, welcher sich in der Höhe und mithin Erhabenheit der Kirchen visualisierte (ebd.: 81, 37). Aufschlussreich ist an diesen Gurglern in grotesker Hinsicht ihre Marginalisierung, als ornamentale Figuren am Rande der Gotteshäuser, aber auch als buchstäbliche visuelle und akustische Repräsentation des Grotesken, dessen Wortbedeutung von Grotte (Höhle) herrührt. In den Mund-Höhlen der Gurgler bilden sich Laute, die als unheimlich, unverständlich und prä-artikulatorisch wahrgenommen werden. Überträgt man die Idee des Ausstoßens oraler Materialien auf Naumans Installation Raw Material–BRRR, zeigen sich die fluktuierenden Sprachlaute als groteske Randformationen, als HöhlenEreignisse, die sich am Rand des Mundes, zwischen Innen und Außen, zwischen Prä- und Desartikulation verselbstständigen. Bruce Nauman selbst bezieht sich auf Roland Barthes’ Idee der Reibung zwischen Grammatik und Asyntaktischem und sagt: »When language begins to break down a little bit […] you are forced to be aware of the sounds and the poetic parts of the words.« (Nauman in Cordes 2002: 293) Mit Silben und Buchstaben-Fragmenten, die in den Umraum geschleudert werden, zeigt Nauman allerdings nicht nur auf die Materialität von Sprache und ihre körperliche Hervorbringung im Sinne einer »Aisthetik der Stimme« (Mersch 2006: 220), sondern lässt die Zeichen beständig zwischen nicht mehr, beinahe und noch nicht Bedeuten hin- und herpendeln, kreiert Zufallssignifikationen und wörtliche Inkarnationen, die Tautologien und groteske Überhöhungen bilden und sogleich wieder auflösen.
1.2.2 William Forsythe: Laute am Rande des Sinnzusammenbruchs Seit einigen Jahren überschreitet der Choreograph William Forsythe zunehmend die Grenzen der Tanzbühne und hält sich mit seiner Compagnie in Zwischenräumen von Choreographie, Installation und Performance auf (Primavesi 2007: 56), in denen er sich unter anderem mit der De- und Rekonstruktion der Stimme als Körper- und Zeichenmaterial auseinandersetzt – so etwa in der Produktion Heterotopia (2006), die auf Foucaults gleichnamigen Begriff als temporäre oder spatiale Zwischen-Orte anspielt (Foucault 1993: 39 ff.). Heterotopia ist in zwei Räume aufgeteilt, die frei begangen werden können: Der erste Raum ist fast vollständig mit einer etwa einen Meter hohen Plattform
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ausgefüllt, die aus einer Vielzahl von Podesten zusammengesetzt und von einigen Aussparungen labyrinthartig durchzogen ist und die das Publikum wie in einer Arena umrunden kann. Der zweite Raum dagegen, ein schwarzer Kubus, stellt die Frontalsituation einer Bühne her, auf der links ein Klavier steht und an deren Kante sich die Zuschauer/innen meist stehend aufhalten. Es ist nicht möglich, beide Räume gleichzeitig zu sehen, so dass man immer etwas versäumt, je nachdem, wo man sich gerade aufhält, denn beide Bühnenorte werden zeitgleich bespielt41 – die Situation einer Topik der Ungleichzeitigkeit des eigenen Rezeptionsvermögens wird hergestellt,42 eine der Heterotopien, die Foucault als »System von Öffnungen und Schließungen« umschreibt, Orte, an denen man nie gänzlich anwesend sein kann: »Jeder kann diese heterotopischen Plätze betreten, aber in Wahrheit ist es nur eine Illusion: man glaubt einzutreten und ist damit ausgeschlossen.« (ebd.: 44)43 Zu Beginn der Vorstellung ist der Darsteller David Kern am Rande des Podests damit beschäftigt, Buchstaben zu sortieren. Er stellt sie nebeneinander in kleineren Gruppen auf und ordnet sie immer wieder um, vertauscht ein paar, so dass Kombinationen entstehen, die meist wort-los sind und nur selten einen Sinn erkennen lassen. Bisweilen taucht ein Begriff auf, wie etwa »usine« (Fabrik), der jedoch schnell wieder dekomponiert wird. Das System dieser (Des-)Organisation erschließt sich nicht, vielmehr scheint es sich um ein freies Spiel fragmentierter A/Signifikanten zu handeln (Abb. 73). Forsythes Ästhetik ist insgesamt von linguistischen Prinzipien durchzogen, wie Gerald Siegmund betont. Sie finden ihren Ansatzpunkt in der Auseinandersetzung mit dem Ballett als syntaktische Struktur, welche dekonstruiert und wieder anders, neu zusammengesetzt werde (Siegmund 2006: 235)44 oder gesprochene und getanzte Vokabulare miteinander konfrontiere, wobei sich durch Reduktion eine Vielzahl von möglichen Wort- und Bewegungskombinationen ergäben wie zum Beispiel in dem Stück Artifact (1984) (ebd.: 243). Einflüsse aus Alltags- und Popkultur werden dabei ebenso in ihrer sprachlichen Qualität integriert wie Elemente aus der künstlerischen ›Hochkultur‹ (vgl. Seitz 1996: 249).
41 Ich habe das Stück 2007 im Festspielhaus Hellerau, Dresden gesehen. 42 Bereits in Endless House (1999) spielt Forsythe mit der Unmöglichkeit einer Gesamtschau und überlässt es den Zuschauer/innen, die Entscheidung zu treffen, was gesehen werden will (vgl. Siegmund 2003: 421 f.). 43 Foucault verweist hier in einem allerdings symbolischen Bezug auf das islamische Hammam, das man zwar als Badender betreten könne, auch ohne der Religion anzugehören, jedoch von der spirituellen Bedeutung des Reinigungsritus’ ausgeschlossen bleibe (Foucault 1993: 44). 44 Zum Einsatz von Sprache als Tabubruch auf der Ballettbühne vgl. Forsythe/Sulcas 2004: 47. Forsythe übernimmt damit Praktiken, wie sie etwa Pina Bausch für das Tanztheater eingeführt hat (vgl. Schlicher 1992: 140, Louppe 1997: 310).
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Abb. 73: William Forsythe, Heterotopia (2006), Photo: Sylvio Dittrich, Tanz: Elizabeth Waterhouse, Francesca Caroti, David Kern, Amancio Gonzalez
In Heterotopia wiederum treibt Forsythe das Spiel mit sprachlichen Visualisierungen weiter, die er schon in dem Stück Kammer/Kammer (2000) begonnen hat, das im Übrigen ebenso vom Prinzip der räumlichen Unüberschaubarkeit geprägt ist. Auch hier befinden sich Buchstaben am Bühnenrand, die allerdings (noch) als Worte erkennbar sind und die Situation des Stücks doppeln, etwa in der wörtlichen Handlung »je traduis« (ich übersetze) (vgl. Siegmund 2006: 313). Die Idee des Übersetzens tritt auch in Heterotopia in Erscheinung: Die Tänzer/innen im Podest-Raum benutzen immer wieder ein Objekt, das einer Salatschüssel aus transparentem Plastik ähnelt und in der ein Mikrofon befestigt ist. Von Zeit zu Zeit ergreifen die Tänzer/innen die Schüssel, in die sie stammelnde Laute und gestotterte Wortfragmente hineinwürgen. Erst nach einer Weile erschließt sich, dass das optische Gegenstück der Klangschale im schwarzen Kubus einen Empfänger darstellt, der die Wortstörungen aus dem angrenzenden Nebenraum überträgt. Bisweilen scheint es, als versuchten die sich im Kubus auf der Bühne bewegenden, die einzelnen Körperteile immer wieder in extreme Verdrehungen bringenden Tänzer/innen an den Lautfragmenten zu orientieren, doch die Synchronisationsversuche scheitern. Bewegung und Sprache befinden sich in fortwährenden, voneinander abweichenden Torsionen, unterstrichen durch die räumliche Entkopplung von Wortfetzen und Körpergliedern. In einer späteren Situation nimmt ein Tänzer einzelne Buchstaben und steckt sie unter sein T-Shirt, wobei er etwa ein »i« senkrecht auf seinem Bauch aufsetzt
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und das Hemd damit ausbeult, als gehe er mit den Lettern schwanger. Buchstabe auf Buchstabe folgt, der ihm jeweils durch einen anderen Akteur, dem ZeichenTräger die Hosen herunterziehend, wieder entrissen wird. Diese Konstellation erinnert an eine Szene aus der Commedia dell’Arte, die Bachtin in Anlehnung an Heinrich Schneegans erzählt und in der Harlekin einem Stotterer hilft:45 »Dem Stotterer will es in einem Gespräch mit dem Harlekin einfach nicht gelingen, ein schwieriges Wort auszusprechen; er macht ungewöhnliche Anstrengungen, erstickt fast an diesem Wort, der Schweiß tritt ihm aus allen Poren, das Gesicht bläst sich auf, die Augen treten aus den Höhlen, ›es scheint bis zu Krämpfen und Geburtswehen zu kommen‹ […] Schließlich kommt der Harlekin, der es leid ist, auf das Wort zu warten, dem Stotterer auf unerwartete Art zu Hilfe: er nimmt Anlauf, stößt ihm den Kopf in den Bauch, und das schwierige Wort wird endlich geboren.« (Bachtin 1995: 346)
Bachtin beurteilt diese Episode als groteske, da sie der »Logik der Umkehrung« folge, die Kopf und Geist in ein »Drama des Körpers« umwandle und den »geistige[n] Akt« zu einer Wort-Geburt degradiere (ebd.: 351, 350). Meg Stuart greift in ihrem Stück Alibi (2001) scheinbar fast analog auf diese Anekdote zurück. Der Tänzer Valéry Volf spricht im Duktus eines plaudernden Telefonats den Liedtext von Frank Sinatras berühmtem I Did It My Way. Als er geendet hat, schließt sich Joséphine Evrard an, kommt jedoch über das »I« nicht hinaus. Sie würgt und spuckt, keucht und hustet, stottert immer wieder das »I« hervor, das ihr im Halse stecken bleibt (vgl. Wortelkamp 2006: 25), hält sich mit den Händen an der Gurgel fest und versucht, die übrigen Worte herauszuzwingen. Anders als in Bachtins Erzählung hilft sie sich jedoch selbst und verfällt in ein Geburtshecheln, das schließlich in einem gellenden Schrei mündet und den Satz »I’ve got five points« hinaus schleudert. Evrard zählt nun unter anderem die Aspekte Freundschaft und Liebe auf, jedoch sind es nur vier Punkte statt der angekündigten fünf: Sozialer Austausch und Kommunikation sind genauso zersetzt und gestört wie die Selbstversicherung des eigenen Ichs als artikulierendes Subjekt. In Heterotopia werden Worte ebenfalls unter großen Anstrengungen ausgestoßen, sind jedoch selbst dann nur als akustisches Kauderwelsch vernehmbar, als wörtliche Bruchstücke des hervorstoßenden und sich in sich selbst einrollenden, das Ich/»I« als Identitätsmarke unter der Kleiderhülle einverleibenden Subjekts. Diese grotesken Situationen überziehen die von Bachtin formulierte Umkehrung von Geist und Körper allerdings noch. Ist das geborene Wort für Harle45 Die Episode wird häufig als Beispiel in der Literatur zur grotesken Theorie angeführt, angefangen bei Carl Friedrich Flögel (1784), der diese wiederum nach G. W. Moores Abriss des Lebens und der Sitten in Italien zitiert (Flögel 1784, vgl. Fraenger 1995: 220). Auch Wilhelm Fraenger nimmt auf diese Situation aus der Commedia dell’Arte Bezug, mit der er seine Überlegungen zum Grotesken als Bewegung einführt (ebd.: 8 ff.).
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kin schlussendlich verstehbar und zeugt von einem, wenn auch unter langem Ringen und mittels eines Gewaltaktes herbeigeführten Gelingen der Kommunikation, verschließt sich dieser Zugang in Forsythes Stück, denn was zum Vorschein kommt, sind nur Fragmente einer Artikulation, die sich nicht mehr zusammenfügen und die Übertragungen und Übersetzungen ins Leere laufen lassen. Solchermaßen enthüllt zeigt sich jedoch die Haptik von Sprache und Sprechen selbst – Linguistisches schreibt sich nicht mehr als System den Körpern der Tänzer/innen ein, wie Patrick Primavesi es postuliert (Primavesi 2007: 56), sondern entwindet sich den Körpern und dreht sich in den (Bühnen-)Raum hinein, um dort ein verkörpertes, gleichwohl amorphes Eigenleben zu führen. Anja Lachmann bezeichnet diesen Vorgang in ihrer Kritik zu Heterotopia als grotesk, da er mit dem Fremden konfrontiere (Lachmann 2006: 38). Wie schon betont, erscheint Groteskes jedoch nicht einfach nur aufgrund einer kategorialen Unerkennbarkeit. Fremdheit entsteht bereits im Moment des Hervorbringens selbst, der die eigene Stimme und die verstotterten Worte in eine unfassliche Erscheinung flüchten lässt: Die Fremdheit wohnt der eigenen Stimme immer schon ein, wie Bernhard Waldenfels betont – etwa wenn man die eigene Stimme als Tonaufnahme hört und beinahe nicht wiedererkennt (Waldenfels 2006: 198 f.). Forsythe bringt nun, so meine These, nicht nur das Aisthetische der Stimme, sondern auch ihre Selbst-Fremdheit ins Spiel, setzt bereits in der Produktionsebene an und verwebt groteske Erfahrungen in den (improvisierten) Kreationsprozess der Tänzer/innen selbst, an dem die Zuschauenden und -hörenden als zweite Instanz einer verfremdeten Erfahrung beteiligt sind. So sind nicht nur linguistische Materialien ein fortwährendes Thema in William Forsythes Arbeiten, sondern auch die Effekte des Fremden, die das Zerlegen und Rekomponieren oder Destruieren mit sich bringen. Anhand seiner Choreographie Alie/NA(c)Tion (1992) bemerkt Brandstetter: »Es geht hier […] wie auch in den anderen Choreographien Forsythes um diesen Akt der Fremdheit ›desselben‹, als Modus des Nicht-Wissens, um die Erfahrung der Andersheit, Fremdheit und Entfremdung, als Performanz: als ›Action‹ und als Prozess.« (Brandstetter 1997: 601) Verwendet Forsythe Methoden der Entfremdung, um den Körperspeicher von festsitzenden Gewohnheiten zu entleeren und Platz für neu zu komponierendes Bewegungsmaterial zu schaffen (vgl. Berger 2006: 86, 54), verlagert sich diese Strategie in Heterotopia ins Material selbst, das sich jedoch nicht mehr als formbare Matrix bereithält. Das Podest im ersten Raum ist von Lücken und großen Abständen durchzogen, in denen die Tänzer/innen immer wieder verschwinden, und so erweisen sich Körper, Stimme und Raum selbst als löchriges choreographisches Gewebe, durch das scheinbar nur noch Forsythe selbst, am Rand ste-
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hend und die Ablaufskizze für den Abend in der Hand haltend,46 ab und zu einen Faden schlingen kann. Dekonstruierte Forsythe in seiner früheren Arbeiten die Ästhetik des Balletts als tanzsprachliches System, wird in dieser Installation die verbale Sprache selbst verstümmelt und verdreht. Bevor nun mit Forsythes Stück Decreation (2003) der Aspekt der fremd werdenden Verkörperung von Stimme und Sprache nochmals anhand des Motivs des geöffneten Mundes untersucht wird, sei hier mit Roland Barthes eine Zwischenbemerkung zum Phänomen der Stimme eingefügt.
Einschub: Über die Rauheit der Stimme In seinem bekannten Essay fordert Barthes, den Fokus auf die Materialität von Gesten zu richten: »Die ›Rauheit‹ ist der Körper in der singenden Stimme, in der schreibenden Hand, im ausführenden Körperteil.« (Barthes 1990: 277) Das Phänomen dieser Reibung, eine Art Knirschen im Gebälk zwischen Sagen und Zeigen, ist ein Versuch, den scheinbar sonst unauflösbaren Dualismus zwischen »Prädikation oder Unsagbarkeit« aufzurauen (ebd.: 270) und auf das zu achten, was sich jenseits von Bedeutungen ereignet – Barthes nennt es den »Körper hören« (ebd.: 271). Dazu bedient er sich einer erneuten Dichotomie, der er mit Julia Kristeva als »Phänogesang« und »Genogesang« ausformuliert (ebd.: 272). Demnach unterliegen dem Phänogesang all jene Anteile, die die Stimme als Kommunikationsmittel tauglich machen und »woraus der Stoff der kulturellen Werte gewebt ist« (ebd.). Unter diese Einordnung fallen die Rückbindung von Zeichenproduktion und ästhetischem Ausdruck an ein Subjekt (ebd.) – mithin die Interpretierbarkeit als Eingrenzung des Gehörten. Demgegenüber entziehe sich der Genogesang der Erkennbarkeit einer stimmlichen, autoritativen Signatur: Er bearbeite die Worte selbst und lasse das Stoffliche des Gehörten hervortreten (ebd.). Forsythes Stück Decreation operiert nun genau an solchen Übergängen von der Phäno- zur Genostimme, indem es mit Sprachverformungen und Entkopplungen von Stimme und Urheberschaft spielt. Dabei rutscht Forsythe jedoch nicht in vorbegriffliche Sphären, die sprachliches Material in eine Art naturalisierte Körperlichkeit rückbinden, sondern entfaltet vielmehr, um mit Kristeva zu sprechen, den artikulierenden Spalt einer chora zwischen Ereignen und (Vor-)Bedeutendem (Kristeva 1978: 35 ff.).
46 Forsythe steht mit den Tänzer/innen über portable Mikrofone in Kontakt, über die er ab und zu Anweisungen für Auftritte, Abgänge oder Raumwechsel gibt, die den ansonsten durchweg improvisierten Abend strukturieren.
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In Decreation (2003), der letzten Produktion aus Forsythes Frankfurter Zeit, setzt der Choreograph gezielt die Streuung des Publikumsblicks ein. Auf der weiten Fläche der Bühne ist ein großer ovaler Tisch einer der wenigen Fixpunkte, an dem die Tänzer/innen ab und zu Halt machen, um sich ansonsten im Raum zu verteilen – viele Bewegungsphrasen, Dialoge oder Soli finden parallel statt, und das Auge muss sich entscheiden, welcher Sequenz es folgen will.47 Da im Folgenden der Fokus weiterhin auf der Arbeit mit und an der Stimme liegen soll, wird auf eine ausführliche Beschreibung des Stücks an dieser Stelle verzichtet. Einzelne Bewegungssituationen werden allerdings im letzten Kapitel relevant und dort untersucht (vgl. Kap. 4, 2.4.1). Decreation entstand auf Textgrundlage der gleichnamigen Oper von Anne Carson (2001), in der drei unterschiedliche biographische Erzählstränge ineinander verwoben sind (vgl. Boenisch 2004: 58). Forsythe entscheidet sich gegen die Narration des Librettos und schneidet einzelne Elemente heraus, die auf der inhaltlichen Ebene Emotionen wie Liebe und Eifersucht thematisieren (vgl. Siegmund 2007, Programmheft: 16), auf der strukturellen den Gesang der Oper und das Hervorbringen von Stimme als ein zentrales Motiv ausbreiten. Insgesamt fällt der veränderte ästhetische Ansatz auf, der sich, ähnlich wie bei Jeremy Wade, über psychische, aus Gefühlsregungen schöpfenden Zuständen generiert (vgl. Siegmund 2003a: 41). Im Probenprozess hat Forsythe mit Seilen gearbeitet, in denen die Tänzer/innen sich, zu Paketen verschnürt und in ihrer Reichweite stark eingeschränkt, bewegen sollten. Verstärkt wurde das Ganze durch Ziehen an den Stricken, die so am Körper angebracht waren, dass sie ihn in unterschiedliche, horizontal querende Segmente isolierten, also Kopf, Hals, Schultern, Brustkorb und so weiter, die dann in gegenläufige Richtungen ›auseinandergetrieben‹ wurden. Forsythe nennt dieses Prinzip »shearing«, das sich, später dann ohne Seil weitergeführt, auch auf einer Mikroebene fortsetzt: So gehen die Augen in eine andere Richtung als der Mund, die Schultern oder die Hüften (Forsythe 2007, Publikumsgespräch; vgl. S. 368, 401). Diese äußerlichen, physischen Verzerrungen, denen Siegmund das Adjektiv des Grotesken gibt (Siegmund 2003a: 41), setzen sich in Decreation auch im Einsatz der Stimme fort, mit der teils unter großer Anstrengung Worte, Schreie oder stöhnende Laute aus dem Mund herausgepresst werden. An einem Rednerpult hält Dana Caspersen eine Art Ansprache auf Englisch, in der sie Worte wie »hypocrite«, »traitor«, »liar« mit leicht lispelnder Stimme und die Endkonsonanten betonend in den Raum hinein spuckt – Worte des Falschen und im doppelten Sinn Verkehrten. Plötzlich taucht sie hinter dem Pult ab und an ihre Stelle tritt Georg Reischl, der die Rede weiterzuführen scheint. Aus dem Off hört man Caspersens Stimme, die von Reischl ins Deutsche übersetzt 47 Ich habe Decreation im Jahr 2007 in Brüssel im Rahmen des KunstenFestivalDesArts gesehen.
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wird, allerdings ohne dabei die Lippen zu schließen. Mit weit geöffnetem Mund schleudert er Worte in einer hohlen, kehligen Tonlage heraus, die nur durch die zeitlich verschobenen englischen Einschübe der verborgenen Akteurin in Bruchstücken zu verstehen sind.48 Forsythe bezeichnet diese Verschiebungen und Fragmentierungen als Dilemma der Übersetzung, die immer zum Scheitern verurteilt sei (Forsythe 2007, Publikumsgespräch); Peter M. Boenisch spricht von »sinnentleerten Phrasen«, die sich auch an anderen Stellen des Stückes, etwa in dialogischen Endlosschleifen, wiederfänden und die »die gewohnte Wort-Sprache entschöpf[en] statt Sinn zu schaffen.« (Boenisch 2004: 60) Dieses Fehlgehen, so meine ich, geht allerdings über die bloße Dekonstruktion von sinntragenden Einheiten hinaus, gerade weil es sich in einer (physischen) Konfrontation, im Randbezirk zwischen Kehlkopf und Lippen, an der Schwelle zur Artikulation ereignet. Das sinnhafte Schwingen der Stimme, welches Bedeutungen zum Ausdruck bringt, wird, so Kolesch und Krämer, durch die »Grundoperation [der] consonantia« erreicht (Kolesch/Krämer 2006: 18). In Decreation bleibt die Stimme, als prälinguales Phänomen, regelrecht in der Kehle, im Vokal-Stadium stecken und kann sich nicht in Sinneinheiten veräußern. Dort, wo Bedeutungen durch Schließung der Lippen erzeugt werden könnten, die den Vokalen die nötigen, sinnbringenden Konsonanten hinzufügen, bleibt der Mund, als Außengrenze zur Welt, offen stehen. In dieser fragmentierenden Bewegung, die die Vokale von den Konsonanten abschneidet, ent-äußert sich die Stimme als proliferierendes Material, das zwischen den vokalisierenden Stimm-Lippen des Kehlkopfes und den konsonantischen Lippen der Mund-Höhle oszilliert und in das zuweilen einzelne Wortfragmente als Bruchstücke von Sinn hineinschwappen.
Einschub: Vito Acconcis Open Book Die Idee des Körpers als »Resonanzraum« (Osswald 2003: 133) zwischen Ereignen und Artikulieren verfolgt auch der Videokünstler Vito Acconci in seinem Video Open Book (1974), das zur Serie der »language pieces« gehört (ebd.: 126).49 Auch er hat, wie Gary Hill und Bruce Nauman, eine
48 Reischl bedient sich dabei einer Art verfremdetem Grammelot. Das Grammelot, eine Unsinnssprache aus der Commedia dell’Arte, benutzt onomatopoetische Laute, mit denen eine Rede simuliert wird, etwa so, als spräche man Französisch, wobei prägnante Laute und melodische Versatzstücke dieser Sprache gewählt werden (vgl. Fo 1989: 85). In Decreation wiederum wird selbst das Grammelot grotesk überzeichnet: Der Konsonanten ermangelnd erinnern nur noch Haltung und Gestus an einen versuchten, gleichwohl entgleitenden Monolog. 49 In diesem Zusammenhang kann die Breite der ästhetischen Strategien Acconcis, die zumeist auf der Trennung von live agierendem Künstlerkörper und (für das Publikum ausschließlich sichtbare) Videobild basiert, nicht ausführlich diskutiert
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Nahperspektive gewählt, in der sein Mund, die sich bewegende Zunge und die Zähne zu sehen sind (Abb. 74).50 Nur zum Schlucken schließt er den Mund, der ansonsten, ohne die Lippen in Berührung zu bringen, in diskonsonanten Bewegungen die Worte »I’ll accept you, I won’t shut down, I won’t shut you out…. I’m open to you, I’m open to everything…. This is not a trap, we can go inside, yes, come inside….« äußert, die allerdings nur nach langem Hinhören bruchstückhaft zu entschlüsseln sind.51
Abb. 74: Vito Acconci, Open Book (1974), Videostill
Der Künstler formuliert hier die bereits in seinem gewählten Titel anklingende Einladung, ihn wie ein offenes Buch zu lesen – doch misslingt diese Lektüre in doppelter Hinsicht. Zunächst erzeugt der nah herangezoomte Mund eher eine distanzierende Haltung, denn die röchelnd ausgestoßenen, schwer verständlichen Worte und das Ringen der Zunge um Artikulation verleiten nicht unbedingt dazu, näher heranzutreten und in das Innerste des Körpers zu blicken. Zudem erschwert die Reduktion auf Vokale den Zugang zu Acconcis dargebotenem Text. Neben der Entsemantisierung der Sprache, die durch die Wortverstümmelungen entsteht (Osswald 2003: 129), verkehrt Acconci die Einladung zur ungehinderten Lektüre und die Versicherungen, niemanden ausschließen zu wollen, in ihr Gegenteil, da sie das Lesen verhindert und Zuschauende und Zuhörende in einer Exklusionsbewegung vom Körper des Künstlers fernhält, der sich somit nur vordergründig weit geöffnet darbietet, seine Worte jedoch Lügen straft. Die von Acconci ausgestoßenen Laute sind außerdem von schleifenden Atemzügen begleitet, die durch den Kehlkopf hindurchknarren und der Stimme einen metallischen, maschinellen Klang verleihen, der durch die leicht verzerrte Tonaufnahme noch verstärkt wird und den Körper des Künstlers als Durchgangsmedium einer entfremdeten Stimme darbietet. werden. Hier sei auf Amelia Jones’ Beitrag verwiesen (Jones 1998: 103 ff.) sowie auf Osswalds Analysen (Osswald 2003: 121 ff.). 50 Ausschnitte des Videos können auf Acconcis Website eingesehen werden: http://www.vdb.org/smackn.acgi$tapedetail?OPENBOOK 51 Der Text ist unter http://www.vdb.org/smackn.acgi$tapedetail?OPENBOOK zu finden.
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Forsythe dekonstruiert in Decreation außerdem die Idee der lautlichen Markierung des Subjekts, das sich durch eine besonders wohltönende, buchstäblich ›markante‹ Stimme hervorhebt, indem die Tänzer/innen, etwa Jone San Martin, ihr persönliches Klangbild im Röcheln, Quietschen, kehligen Stöhnen oder Schreien verzerren. Doch auch die individualisierende Ebene, die etwa Opernsänger/innen einen Erkennungswert in der Modulation der Stimme zumisst, wird demontiert. In einer Szene durchspielt Ander Zabala gesanglich das Thema Liebe. Von emotional aufgeladenen Armgebärden begleitet, singt er sich durch alle Genres, beginnend bei einer Opernarie, die er mit Inbrunst wohlklingend zu Gehör bringt. Allmählich verändern sich jedoch Klangqualität, Rhythmus und Melodie und die Stimme schwenkt in einen Popsong, um anschließend durch ein Medley verschiedener Stilrichtungen zu morphen, von Soul, Gospel über Jazz hin zum Musical. Immer mehr wird die Aufmerksamkeit vom erzeugenden Körper auf die Stimmlichkeit selbst gelenkt, die fast autonom im Raum zu schweben scheint und den Sänger auf einen Klang-Körper reduziert, der nur noch ein Auswurfmedium für die gesampelten Liedfragmente ist. In Decreation verweben sich Körper, Stimme und Bühnenraum zu einer permeablen Membran, Überlegungen nach der Erzeugerschaft von Bewegung und Lauten provozierend. Postuliert Dieter Mersch die Stimme »als leibliche[n] Ort des Sozialen« (Mersch 2006: 233), so stellt sich in Forsythes Stück jedoch die Frage, wer hier die Stimme erhebt. Forsythes Strategie zielt auf eine Dezentralisierung der Subjekte ab beziehungsweise, wie er es formuliert, auf den Versuch »[to] loose track of yourself, to get rid of yourself« (Forsythe 2007, Publikumsgespräch). Die Tänzer/innen erscheinen in diesem Konzept nicht mehr als (persönliche) Urheber/innen ihrer Laute, sondern sind in ein Gewebe von Tönen verflochten, in dem sie selbst als klingendes Durchgangsmedium fungieren, von gesampelten, fragmentierten Bedeutungsbrocken durchzogen, die, anders als Foucault es in Anlehnung an die Psychoanalyse formuliert, nicht mehr im Geflecht der »Sprache-als-Gesetz« verwoben sind (Foucault 1980: 449), sondern sich vielmehr in einem zeitgenössischen Diskurs des Entgleitens und Zerstückelns von Bedeutungen befinden. Dabei werden die Körper nicht zu bloßen Instrumenten bewegungs- oder klanggenerierender Ereignisse. Im Scheitern des Übersetzens, im Fehlgehen von Kommunikation entfaltet sich die Rauheit des Medialen, materialisiert sich die Stimmlichkeit als Medium selbst. Bevor nun eine ähnliche Strategie in Meg Stuarts Choreographie Visitors Only am Beispiel einer ausgewählten Szene vorgestellt wird, sei kurz mit Mersch die Frage der Medialität kritisch thematisiert.52
52 In diesem Rahmen kann das Forschungsfeld zur Medialität, besonders im Kontext von Theatralität, nicht erschöpfend diskutiert werden. Verwiesen sei auf die entsprechenden Debatten u.a. in Fischer-Lichte et al. 2001, Krämer 2004 sowie Schoenmakers et al. 2008.
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Einschub: Medien. Oszillationen zwischen Transport und Undarstellbarkeit In seiner Entwicklung einer »›negative[n]‹ Medientheorie« (Mersch 2004: 75) wendet sich Mersch zunächst gegen eine verbreitete Vorstellung vom Medium als bloßem Transformator, der per se immer schon Sinn vermittele (ebd.: 78) und sich mithin unabhängig vom Subjekt als »Medienapriori« gebe (ebd.: 76). Auch der Körper könne in dieser Hinsicht nicht als »bespielbares Instrument« gesehen werden, da hierdurch die alte cartesianische Trennung von denkendem Geist und gelenktem Körper wieder ins Werk gesetzt werde (ebd.: 79). Medien, so die These, seien daher »wesentlich undarstellbar« (ebd.). Sie treten allerdings immer dann in Erscheinung, wenn sie nicht reibungslos funktionieren: »Folglich zeigt sich die Materialität des Mediums, sein Ex-sistenz als Spur im Augenblick des Ausfalls, anhand von Bruchstellen, Friktionen oder Verwerfungen […] es macht sich sichtbar, zeigt sich, wo es zerbricht. Sein Zeigen ist an seine Negativität geknüpft.« (ebd.: 83) Gleichwohl sei das Medium ohne seine materielle Bedingung nicht denkbar, die sich aber nur »von der Grenze her«, im Blick auf seine Rahmen erschließen lasse (ebd.: 82). Wir treffen hier wieder auf die Überlegungen Butlers, die allerdings ein Hervortreten und Benennen des Außen als Bedingung von Normierungen verwirft (vgl. S. 36). Mersch lässt dagegen einen Spalt offen: Medialität zeige sich im Moment des Dysfunktionalen, in dem der reibungslose Vermittlungsverkehr nicht mehr gelingt und das Transponieren einem »Ent-Stellen« weiche (Mersch 2001a: 281).53 Er plädiert daher für eine Perspektive des Ungewohnten, die das »Fremdwerden einer Sache« hervorhebt und es ermöglicht, am Rande von kategorialen Beschränkungen zu denken (ebd.: 278). Besonders der Kunst eigne das Potential solcher »Widerständigkeit«, da sie immer mit ihren materiellen Bedingungen ringe und dies »eigens auch mit aus[stellt]« (Mersch 2004: 93 f.). Die Betrachtung von zeitgenössischen Ästhetiken im Modus des Grotesken schließt sich hier, so meine ich, an. Kunst fordere ein Antwortverhalten heraus (Mersch 2001a: 295 f.) – eine Wahrnehmung, die sich das Dargebotene nicht mehr problemlos ›einverleiben‹ kann, sondern sich am Gesehenen und Gehörten ›verschluckt‹, wie am Beispiel der zuvor beschriebenen ›Mund-Stücke‹ zu sehen war. Mersch argumentiert ähnlich wie Bachtin (vgl. S. 234), wenn er das freie Spiel der Signifikanten innerhalb einer geglätteten Medialität zurückweist und auf der Interrelation wahrnehmender Subjekte und den zwi53 Mersch argumentiert hier im Rahmen poststrukturalistischer Theorien (besonders mit Lacan), für die das »trans-ponare« im Sinne eines Versetzens und Umstellens wesentlich sei (Mersch 2001: 281, Anm. 35).
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schen ihnen fluktuierenden, aufgerauten und aufstörenden Materialitäten beharrt. Allerdings ist Merschs Schlussfolgerung ein wenig idealistisch, wenn er postuliert: »An Kunst gewinnt eine negative Medientheorie ihr besonderes Vorbild und Modell.« (Mersch 2004: 94) An dieser Stelle wird Kunst generalisiert und auf einen Sockel gehoben, und angesichts solcher Über-Höhung kann man sich fragen, wie Kunst dann noch von den Rändern her betrachtet werden kann. Auch teile ich Merschs ethische Forderung nicht durchweg, die die Wahrnehmung als ver-antwortliches Verhalten auf die Subjekt-Ebene zu verlagern wünscht (Mersch 2001a: 296). Zu betonen ist mit Waldenfels vielmehr der Eintrag des Fremden, der wie in Decreation die Darstellenden gerade in der Zwischenebene von (scheiternder) subjektiver Selbstversicherung und medial durchwobener, materialisierter Fremderfahrung oszillieren lässt.
1.2.3 Resonatoren. Passagen durch Körper und/als Medium Der Zusammenprall sich materialisierender Medien als Erfahrung des Fremdseins im eigenen Körper, wie er in Decreation erprobt wird, beschäftigt auch die Choreographin Meg Stuart in ihrem Stück Visitors Only (2003).54 In einem Bühnenbild von Anna Viebrock, das aus zwei Stockwerken eines vorne offenen, roh zusammengezimmerten und teils durchlöcherten Hauses besteht, irren die Tänzer/innen umher, immer wieder von lähmender Stasis befallen oder in transparente Regenmäntel gekleidet und in kollektivem Zittern (vgl. Siegmund 2006: 430) eine »Choreographie von Verhaltensmustern« ausführend (Ploebst 2003: 43). Stuarts Ansatz für dieses Stück war die Beschäftigung mit Störungen der Wahrnehmung, wofür sie unter anderem in Medizin und Hirnforschung recherchiert hat (Weber 2003: 9). Da der Bewegungsaspekt in Meg Stuarts Choreographien im nächsten Kapitel genauer untersucht wird, soll an dieser Stelle das Augenmerk auf eine einzelne Situation gerichtet werden, in welcher der Körper als Transponder der Stimme in den Mittelpunkt rückt, wobei einmal mehr das Motiv des geöffneten, verzerrten Mundes erscheint.
54 Beide Stücke erlebten im Jahr 2003 fast zeitgleich ihre Premiere (vgl. S. 325 f.). Lilo Weber betont im Vergleich der Produktionen »das ganze Repertoire von Fremdsein, Obsession, Desorientierung, Verlorenheit, Gedächtnisverlust«, das sich in Forsythes Perspektive als Leiden darstelle, während in Stuarts Choreographie der »Verlust« eher in lakonischen Bildern erscheine (Weber 2003: 9). Ich habe Visitors Only im März 2003 an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin sowie im Mai 2004 im Théâtre National de Bretagne in Rennes gesehen. Für die Analyse lag mir außerdem eine DVD-Aufzeichnung vor.
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Abb. 75: Meg Stuart/Damaged Goods, Visitors Only (2003), Videostill © Damaged Goods
Die Tänzerin Joséphine Evrard steht im oberen Stockwerk, genau in der Mitte am Abgrund der Hausfassade, gekleidet in einen weißen Arbeitsoverall. Es ertönt eine sich in Schleifen wiederholende, von einem Cello live gespielte und akustisch verzerrte Musik,55 zu der sich hinter und unter Evrard die übrigen Tänzer/innen mit fortwährend kreiselnden Bewegungen drehen. Sie blickt ins Leere und spricht einzelne Worte, die sich allmählich zu einer Frage zusammensetzen: »Will you …, will you or won’t you …, will you or won’t you … joy, will you or won’t you joy?« Sie wiederholt die Worte, wobei aus »joy« »join … the dance« wird, und kombiniert sie in immer weiteren Satzzerstückelungen: »dance« transformiert sich in »join the dead«. Zunächst in einer mittleren, unangestrengten Tonlage transformiert sich die Stimme der Tänzerin in immer tiefere, rauere, grollendere Bereiche. Die Satzteile drücken sich aus der Bruststimme heraus und reiben an den Stimmlippen vorbei, bis sich das »will«, zunächst einer hängenden Schallplatte gleich im Stakkato ausgestoßen, schließlich zum Gebrüll steigert. Zuweilen stockt die Stimme und Evrards Mund verzieht sich, der Hals zuckt und lässt den Kopf zur Seite rucken, wie in einem stotternden Tick, bis endlich Worte herausquellen (Abb. 75). Dabei ist der übrige Körper stillgestellt, die Arme hängen schlaff herab und der sich konvulsivisch bewegende Kopf wirkt wie von außen ferngesteuert. Die Worte zerfließen nun in kleine, hohe, quietschende Schreie, welche aus der obersten Ecke der Kopfstimme zu entspringen scheinen und mit weit aufklaffendem, grinsendem Mund die Tiefe der Bruststimme kontrastieren. Die bruchstückhaft erkennbaren Vokabeln klingen, als kämen sie nicht mehr aus dem Sprachzentrum, sondern entstünden in den Faltungen des sich verzerrenden Mundes selbst. Der ganze Körper der Tänzerin wird zur grotesken Mund-Höhle, deren stimmliche Mündung sich in den Umraum entleert. Die im Aufhorchen erscheinende Materialität der Stimme ist allerdings offenbar nur unter Preisgabe tänzerischer Eigen-Bewegungen zu haben – Jeroen Peeters bemerkt: »Stuart conceives of the body literally as a ›container‹: the body as an empty shell, tunnel or recipient. What it receives and transmits are signals,
55 Die Musiker sind Paul Lemp und Bo Wiget.
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energy, concepts, images, identities and archetypes. These bodies are moved from the outside, as if visited, inhabited and controlled by a flow of alien energies and fluid identities: the language and movements they produce are like a side-effect.« (Peeters 2004: 64) Meg Stuart konzipiert jedoch den Körper nicht als leeres Gefäß oder blanke Einschreibefläche von Bedeutungen. Vielmehr zeigt sich die Materialität von Tanz und Stimme als mikroperforiertes, Sinn verlierendes, oszillierendes Gewebe. Mit Bachtin gesprochen, verwandelt sich der Körper zur »Durchgangsstation« (Bachtin 1995: 359), zur Passage einer sich verkörpernden, sinnvernichtenden Stimme. Als Verfremdung körpereigener Erfahrungen, die das Unheimliche als »nicht [mehr] Herr im eigenen Haus«-Sein betonen,56 trifft Bachtins groteske Theorie an dieser Stelle auf jene von Wolfgang Kayser, der etwa für die Dramen Frank Wedekinds ein Fremdwerden der Protagonist/innen, als »mechanisch bewegte Marionetten« konstatiert: »Diese […] Verzerrung bestimmt das Äußere der Gestalten wie ihre Bewegungen, ihre Gedanken wie ihre Sprache« (Kayser 2004: 141). Der Mundraum wird dabei zum Ort einer grotesken, fremd gewordenen Erfahrung, die sich im Medium der materialisierten Stimme entäußert, ein Phänomen, das im Übrigen nachdrücklich Hermann Schmitz’ Postulat vom Mund als Paradeorgan eigenleiblichen, vom Außen unbeeinflussten Spürens widerlegt (vgl. S. 53).
– Zwischenszenario – Der Mund als Austauschorgan ist auch ein Motiv grotesker Inversionen in der Installation Deep Throat (1996) der bildenden Künstlerin Mona Hatoum:57 Auf einem Tisch steht ein Teller, auf dessen Oberfläche die Projektion des Inneren einer Speiseröhre in Funktion zu sehen ist, die das Motiv von Schlucken und Verschlingen bis in die Tiefen des Körpers hineinführt, den Zuschauenden sein Innerstes darbietend – jedoch den Blick auch auf Distanz hält, mit der Ekel verursachenden Wendung vom Essen als Genuss hin zur Betrachtung potentieller Mageninhalte.58 Sowohl bildende Kunst als auch Theater experimentieren in der jüngeren Vergangenheit mit Möglichkeiten, den Körper als hermetisches Gebilde zu dekonstruieren, wobei in der Livesituation der Bühne zum Beispiel bildgebende 56 Diese Einschätzung formuliert Lilo Weber in Anklang an Siegmund Freud (Weber 2003: 9). 57 Deep Throat ist u.a. eine ironische Replik auf den gleichnamigen Pornofilm mit Linda Lovelace, die eine ›unersättliche‹ Frau spielt, deren Klitoris im Hals sitzt (vgl. Söll 2004: 120). Zur Endoskopie als künstlerische Strategie, Körpertrennungen von innen/außen zu durchbrechen oder zu vertauschen, vgl. Söll 2004: 117 ff. 58 Änne Söll bezeichnet die auf dem Teller dargebotenen endoskopischen Bilder als »surreale Speise« (Söll 2004: 121).
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medizinische Verfahren mit der Darstellung gekoppelt werden, die oftmals den Mund als Eintrittspforte ins Körperinnere hervorheben. Romeo Castellucci zeigt mit seiner Socìetas Raffaello Sanzio solche Öffnungen. In seinem Stück Giulio Cesare (1997) arbeitet der Regisseur mit einem Darsteller, dessen Kehlkopf durch Krebs zerstört worden ist.59 Über die zugeschaltete Videoschnittstelle, die mit einem Endoskop gekoppelt ist, das sich der Schauspieler in den Hals geführt hat, wird das Innere des Kehlkopfes und somit die Produktionsstätte seiner Töne übergroß auf eine Leinwand projiziert. Anders als bei Forsythe sind Klänge und Worte hier zwar zu entziffern, jedoch entspringen sie einem defekten Organ, hören sich metallisch an und ermangeln der modulierten Intonation. Der Kehlkopf wird zur fleischigen, un-heimlichen Höhle, einer Grotte,60 in der Castellucci das Spiel mit dem offenen Mund als Tor zur Welt auf die Spitze treibt: Tief im Inneren des Körpers befördert er die prothetische Stimmritze aus verbliebenen Kehlfalten als nun fusionierter, gemeinsamer Entstehungsort von Vokalen und Konsonanten und mithin Kommunikation ins bildliche Außen – das Oratorium wird als Orales durch die medizinische Öffnung des Körpers ausgestellt und zugleich verdreht.61 Von solchen Vivisektionen am eigenen Leib als buchstäblich groteske Körperöffnungen handelt der nächste Teil. Stand im ersten Abschnitt dieses Kapitels die ästhetische Analyse oraler Motive im Vordergrund, verweben die nun folgenden Untersuchungen operativer, medizinischer Öffnungen und Umbauten des Körpers die ausgewählten Beispiele mit soziologischen, medizinhistorischen, tänzerisch-theatralen und (medien)philosophischen Diskursen und nehmen die Perspektive der Zuschauer/innen verstärkt in den Blick. Im Mittelpunkt steht dabei eine Lecture Performance von Thomas Lehmen.
2 De-Monstrare. Operationen auf der Bühne Der Unterschenkel auf der Videoleinwand wirkt wie ein Einzelteil, nicht zum Körper gehörend. Auf grüne Tücher gebettet, mit Desinfektionsmittel orange eingefärbt und vom Knie an abgebunden, hängt das Bein fast schwebend am linken Bildrand (Abb. 76). Das Video erscheint seltsam deplatziert im Rahmen des Tanztrailers (2003) am Berliner HAU 2, der als Auftaktveranstaltung der Vor-
59 Weiterhin sind in diesem Stück magersüchtige Menschen zu sehen – laut Erika Fischer-Lichte trage diese Strategie den Charakter des Liminalen, da Krankheit und Todesahnung nicht nur gespielt, sondern tatsächlich erfahrbar seien und das Publikum zutiefst verstörten (Fischer-Lichte 2004: 310). 60 Romeo Castellucci selbst sagt über diesen Anblick: »[I]t looks like a tunnel, a grotto, a trajectory.« (Castellucci 2002: 229) 61 Vgl. zum Motiv der endoskopisch veräußerten Schauspielerstimme auch Kolesch 1999: 66 f. sowie Bouchard 2005: 28 f.
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stellung zukünftiger Tanzprojekte dient. Innerhalb der ersten fünf Minuten verlässt etwa ein Drittel des Publikums den Saal. Was ist zuvor passiert?
Abb. 76: Thomas Lehmen, Operation (2003), Videostill
Ein Mann kommt auf die Bühne, hinkend und unter Zuhilfenahme von Krücken. Er setzt sich an einen mit Videogerät, Mischpult und Mikrofon bestückten Tisch und stellt sich als der Choreograph Thomas Lehmen vor. Er könne leider aufgrund einer Verletzung an diesem Abend nicht selbst tanzen und zeige daher das Video seiner kürzlich erfolgten Knieoperation. Gleichzeitig sehen wir über eine große Leinwand Thomas Lehmen auf einer Trage liegend, in Grün gekleidet: Er wird gerade in den Operationssaal gefahren. Als dann der erste Einstich mit dem Endoskop in das Knie erfolgt, stöhnt das Publikum kollektiv auf. Wer bis jetzt noch nicht die Flucht ergriffen hat, tut es spätestens an dieser Stelle des Videos. Nur die Hartgesottenen oder jene, die glauben, dies unbedingt sehen zu müssen, bleiben sitzen, darunter auch ich, wobei ich meine Finger als ›Filter‹ vor dem Gesicht im Wechselspiel zwischen Sehenwollen und Verbergen benutze. In einem betont sachlichen Stil erläutert der Choreograph nun den Ablauf der Operation, von der Narkose über die Knieöffnung bis hin zum Vernähen. Die Lecture Performance mit dem Titel Operation (2003) markiert den Beginn einer Reihe von Tanzperformances Lehmens, die sich unter dem Oberbegriff Funktionen fassen lassen.62 Operation, entstanden aus der Verlegenheitsgeste heraus, etwas auf der Bühne zu präsentieren, obgleich man dazu tänzerisch derzeit nicht in der Lage ist, zeigt vermutlich gerade wegen ihres improvisierten AusnahmeCharakters wichtige Topoi im Bezug auf einen grotesken und de-monstrierenden Körper auf. Der mit Bachtin beschriebene Aspekt der Körper-Welt-Verbindung
62 Ich habe die Lecture Performance am 29.11.2003 im HAU 2, Berlin gesehen. Sie war als einmaliges Ereignis gedacht, wurde von Lehmen allerdings noch einmal im November 2006, im Rahmen des Symposiums Spuren der Avantgarde: Theatrum Anatomicum des Sonderforschungsbereichs Kulturen des Performativen (FU Berlin) im Sektionssaal der Berliner Charité gezeigt. In meinen Ausführungen beziehe ich mich auf die erste Version.
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wird hier zunächst wörtlich genommen: Das Material Tänzerkörper wird aufgeschnitten und in seinen Funktionen offen gelegt – eine systematische Vorgehensweise, wie sie im Übrigen auch für Lehmens choreographische Praxis insgesamt prägend ist. In Operation spielt zudem die Fragmentierung des Körpers ebenso eine Rolle wie der Verweis auf den verletzten Körper im Tanz, begleitet von einer ironischen Brechung des Diktums der Durchlässigkeit von Tänzer/innen im Sinne einer ›ganzheitlichen‹ Tanztechnik. Der Schock als Signum des grotesken Bruchs mit konventionellen Rahmen, der im zeitgenössischen Tanz nicht mehr unbedingt prominent scheint, erhält hier eine neuerliche Bedeutung, besonders in der Blicklenkung und -abwendung der Zuschauenden durch das offene Zeigen der Knieoperation. Das Überschreiten theatraler Gewohnheiten und medialer Rahmen ist ein weiterer Punkt, der mit Erving Goffmans Rahmen-Analyse bereits im ersten Kapitel angesprochen wurde – anhand von Lehmens Aufführung wird zu untersuchen sein, um welche Rahmungen es sich hier handelt. Insgesamt erinnert die Lecture Performance Operation an die Praxis des Anatomischen Theaters, das seinen Beginn in der Renaissance erlebte und einen wichtigen Paradigmenwechsel in der Vorstellungswelt bis dato geschlossener Körpersysteme darstellt. In Verbindung mit Lehmens Performance wird sich ein Abschnitt daher dem Setting des Anatomischen Theaters widmen und das Konstrukt von Durchlässigkeitsdiktum im Tanz einerseits und am verletzten Tänzerkörper andererseits analysieren. Daran anschließend werden Lehmens Strategien der Blicklenkung und -überforderung im Vergleich mit Isabelle Schads Performance The Better You Look The More You See (2002) genauer betrachtet. Dabei ist zu zeigen, inwiefern Lehmens Konfrontation mit seinem geöffneten Körper den Zuschauer/innenblick explizit thematisiert und zugleich verändert. Der Fokus wird daher ergänzend auf die Künstlerin Orlan gerichtet, die sich der Strategie der operativen Körperöffnung bedient. Lehmens Lecture Performance verweist beispielhaft auf eine Praxis des überdeutlichen Zeigens im Sinne eines wuchernden De-Monstrierens, die unter anderem anhand von ausgewählten Arbeiten William Forsythes und des Künstlers Franko B expliziert wird.
2.1 Thomas Lehmen: Tanzkunst als Funktion Besonders seit dem Stück distanzlos (1999) stehen zunehmend seine Rolle als Tänzerchoreograph sowie Fragen nach der eigenen künstlerischen Praxis im Vordergrund von Thomas Lehmens Produktionen. Das 2002 entstandene Schreibstück basiert auf einer in wörtlichen Beschreibungen verfassten Partitur mit Kanonstruktur, die räumliche und zeitliche Anweisungen für drei Gruppen mit je drei Darsteller/innen beinhaltet und von sehr genauen Angaben bis zu freieren Wahlmöglichkeiten im Rahmen von Themengebieten wie »Arbeiten«, »Ficken«, »Denken«, »Ich existiere«, »Drei Gefühle«, »Liebesgeschichte« oder
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»Stück erklären«, »Themen markieren« und »Gemeinsame Choreographie« reicht und in Form eines Arbeitsbuches (Lehmen 2002) an interessierte Choreograph/innen weitergegeben wird. Die Idee von Autorschaft wird hier tendenziell aufs Spiel gesetzt – mittlerweile existieren weltweit 23 verschiedene Versionen von Schreibstück. Die Idee des Zerlegens einer Choreographie in einzelne operative Abschnitte, über die sich dann das Stück selbst generiert, führt Lehmen in dem Projekt Funktionen (2004) weiter. Angeregt von der Idee sozialer Systeme in dem Stück Stationen, das im Jahr 2003 Menschen aus verschiedenen Berufs- und Gesellschaftsgruppen an einem Tisch versammelte, sowie durch die Auseinandersetzung mit den Schriften Niklas Luhmanns entstand die sogenannte Tool Box Funktionen (Lehmen 2004). Aufgeteilt in verschiedene »choreographische Systeme«, die die Kategorien Raum, Relation und Bewegung, das System »It’s better to …« und die Funktionen »Material«, »Observation«, »Interpretation«, »Mediation« und »Manipulation« enthalten, steht den Darsteller/innen ein Reservoir an Aspekten und Fragen zur Verfügung, um choreographische Strukturen zu kreieren. Ergänzt ist die Box durch Begriffe und Themen aus Luhmanns Systemtheorie, wobei besonders der Gesichtspunkt der Autopoiesis für Lehmens Idee prozessualer Stückentwicklung wichtig ist (Lehmen 4.5.2005, Interview).63 Anders als in der recht festgelegten Struktur von Schreibstück ist in Funktionen die Idee leitend, über die angebotenen kombinatorischen Systeme selbst und in nichthierarchischen Gefügen zu künstlerischer Kreation zu gelangen. Zentrale Fragen dabei sind: Wie ist künstlerische Produktion/Choreographie denkbar, die etwas Neues hervorbringt und nicht nur Variationen und Reproduktionen einer einmal entwickelten choreographischen ›Handschrift‹ schafft? (Ebd.) Und wie kann man mit dem Ordnungssystem Theater umgehen, es zugleich in seine Arbeit einbeziehen und kritisieren – und womöglich erneuern? Lehmens Arbeiten drehen sich vor allem seit distanzlos immer wieder um die Kombination von Sagen – Zeigen – Tun, von Kreation und distanzierender Reflexion, die Choreographie (auch) als Schreibprozess befragt. Siegmund erläutert dies in dessen Arbeitsbuch Schreibstück: »Eine Choreographie, die das Doppel, Skript und Tanz, ausführt, strebt somit spielerisch danach, die ältesten Gegensätze unserer alphabetischen Zivilisation auszuradieren: zu zeigen und zu benennen, zu formen und zu sagen, zu reproduzieren und zu artikulieren, zu imitieren und zu lesen.« (Siegmund 2002: ohne Seitenangaben)64
63 Mit dem Begriff der Autopoiesis bezeichnet Luhman Systeme, die sich als »[e]reignishafte […] Operationen« ergeben (Luhmann 2004: 110 f.). Lehmen bezieht sich auf solche emergenten Prozesse innerhalb seines Stückes Funktionen, die mithilfe der Tool Box als Auslöser für eine »multizentrische Kommunikation« erzielt würden (Lehmen 2004, Booklet zur Tool Box: ohne Seitenangaben). 64 Siegmund bezieht sich in seinen Ausführungen auf Foucaults Schrift: This Is Not a Pipe, London, 1992.
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Vor dieser Folie ist die Lecture Performance Operation nun nicht, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag, als notfallartige Aushilfsmaßnahme angesichts der Bewegungsunfähigkeit des Tänzers zu verstehen. Vielmehr wird das ›Material Tänzerkörper‹ und das ›System Choreographie‹ im Verbund mit dem Rahmensystem Theater ausgestellt, vorgeführt und bis an die Grenzen des Erträglichen ausgereizt, wie im Folgenden zu erörtern ist.
2.2 Die Rahmen der Operation Zunächst können in Lehmens Lecture Performance Operation fünf verschiedene szenische Rahmen benannt werden: die übergroße Leinwand, welche die rechte Bühnenhälfte bedeckt und auf der die filmische Dokumentation der Knieoperation zu sehen ist, dazu die Kommentarebene, die sich über den daneben, am Tisch sitzenden Choreographen herstellt. Des Weiteren die ›Szene des KnieInneren‹, hergestellt über den endoskopischen Einblick in das Gelenk, das mithin – dargeboten im Video – als ein Bild im Bild fungiert. Als vierter Rahmen kommt jener des Publikums hinzu, das im Wortsinne in Bewegung gebracht und – entgegen Goffmans Einordnung (vgl. S. 93) – zum Handeln regelrecht aufgefordert wird, indem es sich teilweise entscheidet, den Zuschauerraum zu verlassen. Diese Mobilisierung des Publikums wird anhand der Überlegungen zum Blick noch genauer zu entwickeln sein (vgl. Kap. 3, 2.3). Fünfter und vorläufig letzter Rahmen ist die Einbettung der Lehmenschen Performance in den Tanztrailer des HAU 2, der ansonsten kurze Ausschnitte aus bestehenden, choreographierten Stücken zeigt.65 Rahmen eins und zwei erinnern in ihrem Zusammenspiel an Demonstrationen, wie sie Ärzte zur Weiterbildung oder auf Kongressen darbieten. Hier ergibt sich eine interessante Schnittfläche zu Goffmans Theaterrahmen, der ebendiese Demonstrationen als »Arbeits-Aufführungen« bezeichnet (Goffman 1996: 145): Entsprechend präsentiert Lehmen sein Knie als ein defektes Arbeitsinstrument, das reparaturbedürftig ist. Der Unterschied zum fiktionalen Theaterrahmen, so Goffman, sei nun, dass das Publikum in der Regel bei Letzterem das Ende der Geschichte nicht kenne (hier wird allerdings von einer narrativen Stringenz ausgegangen, die das Theatrale bestimmt) oder, beim wiederholten Vorstellungsbesuch, zumindest die Konvention der Unkenntnis einhält (ebd.: 154 ff.) – ein Rahmenbruch wäre dann, als ›Kenner/in‹ den Erstbesucher/innen sozusagen das Spiel zu verderben. Nimmt man diesen sehr restriktiven Theaterbegriff als Vorlage, so kann man im Falle Lehmens eine signifikante Wendung feststellen, denn der Choreograph 65 So etwa Christina Ciupkes rissumriss (2001) oder Eva Meyer-Kellers Death is Certain (2002), in der Kirschen in vielfältigen Variationen symbolisch ›ermordet‹ werden.
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bestimmt in den ersten Minuten seiner Performance das Ende voraus: Man weiß, was kommt, in dem Moment, in dem man Lehmen im Video, grün gekleidet, auf der Operationsliege sieht. Zusammen mit der Ankündigung des Choreographen, seine Knieoperation zu zeigen, und dem entsprechenden ›Opening‹ – der Einfahrt in den Operationssaal – ahnt das Publikum, dass er tatsächlich die gesamte Operation präsentieren wird, gerade weil Lehmen hierbei einer chronologischen Erzählweise folgt. Dass diese stattgefunden hat und man sie auf dem Video in Gänze zu sehen bekommt, ist durch den live am Tisch mit Krücken sitzenden Künstler belegt, der sich dem Publikum im postoperativen Stadium präsentiert. Die Tatsache, dass Lehmen zu Beginn der Performance zum Tisch hinkt, verstärkt die Gewissheit. Wusste man zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht genau, was kommt (das Video schaltet sich erst ein, als er am Tisch sitzt), und könnte das Hinken noch als tänzerisch-zeitgenössischer ›Kunstgriff‹ interpretiert werden, erkennt man spätestens durch die Verbindung Video und OperationsAnkündigung, dass es sich hier um ein ›reales‹, vergangenes Geschehen handelt, das nun, post-OP, auf der Bühne filmisch unterstützt nacherzählt wird. Insofern wird das »Als ob«, nach Goffman konstitutiv für den Theaterrahmen, überschritten (ebd.: 143 ff.). Mehr noch: Spricht Goffman der Theaterbühne die Fähigkeit zu, »Innenräume aufzuschneiden«, Einblicke zu gewähren in eine scheinbar abgeschlossene, durch die vierte Wand aufrechterhaltene Situation zwischen Menschen, bei der quasi vorne und oben der ›Deckel‹ entfernt wurde (ebd.: 159), so nimmt Lehmen ein solches Aufschneiden wörtlich und zeigt über das – als dritten szenischen Rahmen behauptete – endoskopisch eröffnete Knie sein Innenleben. Vorläufig lässt sich konstatieren, dass in Lehmens Operation Bühnensituation und persönlich Erlebtes zusammenfallen und mithin die aufrechtzuerhaltenden Grenzen des Theaters kollabieren – ein Ausbrechen aus dem gesetzten Rahmen des Tanztrailers, der viele Zuschauer/innen dazu veranlasst, zu gehen. Die »Rahmungsgrenzen«, in der Terminologie Goffmans (ebd.: 66), werden von Thomas Lehmen also überfordert. Erweitert man jedoch den Theaterbegriff um die Aufführungsexperimente seit den 1960er Jahren, in denen die Zuschauer/innen etwa zu Zeugen ritualisierter Handlungen werden, wie etwa bei Marina Abramovićs The Lips of St. Thomas (1975) (vgl. Fischer-Lichte 1998a: 32 ff.), ist Thomas Lehmens Aktion vielmehr als Handlung zu verstehen, welche die Brüskierung des Publikums einkalkuliert. Der Rahmenbruch findet also auf einer anderen Ebene statt, auf jener des Tanztrailer, der leicht anzusehende Häppchen versprach und hier nun mit einem schwer verdaulichen Brocken aufwartet – auf diesen Aspekt wird später noch genauer eingegangen (vgl. S. 304). Da die gewählte Form der Lecture Performance unter anderem an die frühen Experimente des Anatomischen Theaters erinnert, gibt der folgende Abschnitt einen Überblick über diese medizinisch-wissenschaftliche Darstellungsform und rückt das Phänomen des geöffneten Körpers und seine möglichen grotesken Implikationen in den Vordergrund (vgl. auch Foellmer 2005: 16 ff.).
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2.2.1 Ouvertüren. Überdeutliches Zeigen oder: Das Spektakel des sezierten Körpers Das Innenblatt der De Humanis Corporis Fabrica des Anatomen Andreas Vesalius (1568) zeigt die Vignette einer Frauengestalt.66 In einem mit Ranken, Gesichtern, Löwenköpfen und Rundbögen verzierten ovalen Rahmen platziert, ist sie in ein Tuch gehüllt, das auf der rechten Körperseite Schulter, Brust sowie den Unterkörper verdeckt, die linke Brust aber frei lässt. Der linke Arm ruht auf einer mit Früchten gefüllten Vase, der rechte ist vom Körper weggestreckt und hält einen Zweig in der Hand. Ihr Blick geht zum Betrachter, wobei das rechte Auge diesen von unten her anzublicken scheint. Der rechte Fuß ruht auf dem unteren Rand des Rahmens und tritt leicht aus dem Bild. Diese dezente Übertretung markiert buchstäblich die Schwelle, die der Anatom Vesalius mit seinem Buch im Begriff ist zu überschreiten: Die Öffnung des menschlichen Körpers zum Zweck der Darstellung seiner inneren Struktur. Gewonnen wurden die Erkenntnisse darüber unter anderem im sogenannten Anatomischen Theater. Vesalius’ Anatomiebuch bezeichnet eine Zäsur in der Kenntnis von Bau und Funktion des menschlichen Körpers und räumt mit bis dato mystischen Vorstellung vom Innenleben des Menschen auf (vgl. Sawday 1996: viii f., Buschhaus 2005: 9). Erstmals sind innere Organe, Muskeln, Knochen und Sehnen säuberlich geordnet auf sieben Kapitel verteilt und am Beispiel von abgedruckten Holzschnitten zu sehen.67 Vesalius’ Arbeit hat dabei einen doppelten Charakter: Fragmentiert und schematisch dargestellt, wird der Mensch zum objektivierbaren Material68 und sogleich in die Speichermedien Zeichnung und sprachliche Be-
66 Vesalius’ Buch erschien erstmals 1543 (vgl. Buschhaus 2005: 38). Für die nachfolgenden Ausführungen und zusätzlichen Bildbeispiele beziehe ich mich auf den Nachdruck der Ausgabe (Vesalius 2004). Er bezieht sich auf Vesalius’ in Nürnberg erschienene Buchausgabe von 1551. Ähnliche Rahmenüberschreitungen wie in der beschriebenen Vignette entsprechen dabei durchaus bildlichen Konventionen von medizinischen Körperdarstellungen, wenn sie Grenzen übertreten und das Körperinnere zu zeigen versuchen, so zum Beispiel im 13. Jahrhundert (vgl. Sawday1996: 133 f. und dort Abb. 8). 67 Der/die Künstler/in der im Holzschnittverfahren hergestellten Drucke ist bisher unbekannt (vgl. Buschhaus 2005: 140 ff.) – James J. Norman nimmt an, die Schnitte stammten von Tizian (Norman 2006, Onlineressource). Die Zäsur, die Vesalius seinerzeit vollzog, war offenbar so einschneidend, dass in der Anatomie rückblickend sogar von einer Zeit vor und nach Vesalius gesprochen wird (vgl. Buschhaus 2005: 40). Hartmut Böhme verweist außerdem auf das Anlegen sogenannter »Körperkatalog[e]« im Barock, denen er, als zunächst wissenschaftliche Praxis, den Status von »poetischen Verfahren der Körperfragmentierung« zuweist (Böhme 2001: 241 ff., 231). Zur Systematisierung des Menschen als anatomisches Kompendium von Wissen im »age of encyclopedism« vgl. auch Stafford 1997: 12. 68 Markus Buschhaus spricht davon, dass der Körper im Zuge des 16. Jahrhunderts als Wissensquelle an »Sachautorität« gewinne (Buschhaus 2005: 99).
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schreibung übertragen und katalogisiert (vgl. Buschhaus 2005: 122 f., 126).69 Als ›Beigabe‹ liegt den enthäuteten Muskel- und Knochenmenschen bisweilen noch ein Einzelteil, etwa ein Unterschenkel mit Sehnenstrukturen als zusätzliche Darstellungsebene bei (Abb. 77).70
Abb. 77: Andreas Vesalius, Die dreizehnte Figur der Muskeln (1543)
Abb. 78: Andreas Vesalius, Die siebte Figur der Muskeln (1543)
Die Abbildung Die dreizehnte Figur der Muskeln zeigt exemplarisch die Aufzeichnungsweise der von Vesalius sezierten Körper. Je nach fokussiertem Körperteil sind die Figuren bis auf die Muskeln, Knochen oder Nervenstränge in einer Art Zwiebelprinzip entblättert. Die ›überflüssige‹, weil sonst sichtbehindernde Haut beziehungsweise die Muskulatur ist zur Seite gelegt und hängt an 69 Jonathan Sawday wiederum erklärt diese Praxis über das Verständnis des Körpers als Text, als von Gott geschriebenes Buch in der Renaissance (Sawday 1996: 134 f.). 70 Vesalius hat das Bein mit der Kennung Ω versehen und bemerkt dazu: »Mit diesem Buchstaben wollte ich die Figur anzeigen, welche neben dem rechten Schienbein des ganzen Menschen […] liegt und an einen Stein gestützt ist, damit endlich das untere Teil des Fußes vor Augen geführt werden kann.« (Vesalius 2004: 84)
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den Gliedmaßen zu Boden herab. Laut Markus Buschhaus sind die Graphiken in der Absicht gestaltet, die Schneide- und Freilegungspraktiken des Anatomen zu verbildlichen (Buschhaus 2005: 111) – dieser mithin performative Ansatz lässt jedoch seltsam verflüssigende Körperkonturen entstehen, durch die regelrecht abblätternde Haut und die wie dicke Tropfen herabhängenden Muskulaturen beispielsweise auf der Tafel Die siebte Figur der Muskeln (Abb. 78). Zwar ist den abgelösten Körperbestandteilen jeweils per Buchstaben eine Funktion zugeordnet, an der linken Hand etwa »c«, wozu Vesalius bemerkt: »Der Muskel, der der erste ist, damit das dritte Glied der vier Finger gebogen werden kann. Ihn musst Du gründlich betrachten, denn seine Sehnen werden jenen Muskeln zugestreckt, welche die vier Finger zum Daumen ziehen.« (Vesalius 2004: 68) Es fällt jedoch schwer, in diesen teigartig anmutenden Gebilden noch eine Funktionalität zu entdecken oder sich das entsprechende Körperteil in bewegter Aktion vorzustellen. Der Körper wird durch die Anatomie und seine Transposition ins erläuternde Schnitt-Bild zum fragmentarischen Bild-vom-Körper (Buschhaus 2005: 292), das als medizinisches Anschauungsobjekt jedoch wiederum den Status einer Ganzheit behaupte, so Buschhaus: »Das Präparat ist komplett fragmentarisiert, und es ist in dieser fragmentarisierten Form komplett.« (Ebd.: 280) Der Körper biete sich zerschnitten und stillgestellt dar, gerate aber durch seine Übertragungen ins Bild in Bewegungen, die zwischen Sektion und (Re-)Komposition pendelten (ebd.: 275). Mit Mersch wurde allerdings bereits betont, dass solche Medienwechsel immer auch das Moment des Ent-Stellens in sich tragen (vgl. S. 268). So ist der hermeneutische Gestus von Erklären und Erkenntnis durch die sezierten und abgebildeten Figuren zugleich vom Dysfunktionalen begleitet. Aufgeschnitten, gehäutet und entblättert, taugen die Muskeln und Sehnen nur noch als regelrechtes De-Monstrationsobjekt. An einer Funktionalität von Bewegungen des lebenden Subjekts aber gleiten sie haarscharf vorbei, ein Aspekt, den auch Thomas Lehmens Operation aufgreift, wie später noch zu erläutern sein wird. Die eigentümlich metamorphen anatomischen Figuren Vesalius’ und die dadurch provozierte Perspektive der Dysfunktion im sonst funktionalen Erklärungsmodell zeigen mit Bachtin einen grotesken Körper, der über die bloße buchstäbliche Idee des Öffnens hinausgeht. Vielmehr wirkt im ordnenden Ideal des Aufklärens gleichzeitig auch dessen Scheitern mit. Wie sich im Folgenden zeigt, ist dies auch im Sinne zeitlich begrenzter Rahmen zu verstehen. Die zu dieser Zeit noch umstrittene und immer wieder durch Tabuisierung gefährdete Praxis des Sezierens erlangte ihre Ergebnisse anfangs noch illegal. Musste sich Vesalius zu Beginn seiner Forschung noch heimlich auf Friedhöfen sein ›Material‹ beschaffen,71 setzte allerdings bald darauf das öffentliche Interesse an dessen Arbeit ein, zunächst durch die wissenschaftliche Fachwelt, später in 71 Laut Gunther von Hagens habe sich Vesalius sogar öffentlich dazu bekannt, Leichen vom Galgen abzunehmen und seine Studenten zu veranlassen, eine gerade beerdigte Leiche wieder auszugraben (von Hagens 2004: 5).
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Sälen, zu denen auch ein breites Publikum Zutritt hatte.72 Ende des 16. Jahrhunderts entwickelten sich daraus besonders in Italien die ersten Anatomischen Theater, in denen die öffentliche Sektion allerdings nur zur Zeit des Karnevals erlaubt war. Giovanna Ferrari widerlegt die Ansicht, dies habe den damals jahreszeitlich bedingten besseren Konservierungsmöglichkeiten der Leichen gedient (Ferrari 1987: 96 f.).73 Vielmehr sieht sie in der Verbindung von Anatomischem Theater und Karneval die Möglichkeit der Etablierung einer jungen Wissenschaft, die immer noch durch Verbote bedroht war. Erst die groteske Gegenwelt des Karnevals ermögliche das Öffnen der Leiber. Ferrari argumentiert mit Bachtins Theorie des unabgeschlossenen Körpers und betont die Synchronizität des Rabelaisschen Pantagruel mit den damals einsetzenden anatomischen Studien (ebd.: 103 ff.). Bachtin verweist zudem explizit auf den Karneval als zeitlich gerahmte Ausnahmesituation (vgl. S. 80 f.). Mit dem Anatomischen Theater entstanden sozusagen die ersten Lecture Performances avant la lettre, die aus einem theatralen Gestenrepertoire schöpften. Tatsächlich erlernten die Ärzte für dieses ›Theater‹ eine entsprechende Form der Darstellung im Akt des Sezierens, welche bestimmte rhetorische Wendungen sowie Körperhaltungen zum Verdeutlichen der Tätigkeit beinhaltete – etwa die Neigung von Torso und Gesicht –, die, immer dem Publikum zugewandt, eine freie Sicht auf den sezierten Körper gewähren sollte. Ferrari weist außerdem auf den engen Zusammenhang zwischen Theater und Sektionssaal hin; die Gebäude wurden oftmals für beiderlei Veranstaltungen genutzt (Ferrari 1987: 86). Im Zusammenhang mit solchen Ebenenwechseln allgemein bedient sich Hans-Georg Soeffner wiederum in Anlehnung an Goffman des Begriffs der Inszenierung im Sinne fiktionaler Handlungen, die den Fundus an alltäglichen Aktionen und deren Bedeutungen auf mögliche »Relevanzsysteme« reduzieren, welche allerdings flexible Grenzen haben könnten: »Hier werden in einem sichtbaren und unmittelbar wahrnehmbaren Darstellungsraum einerseits ›abstrakt‹ typisierte Zeichen, Gesten, Handlungszüge, Routinen mit Deutungsvorzeichen und Regieanweisungen versehen und auf eine eingegrenzte, konkrete Bedeutung hin organisiert. […] Für jemanden, der ›neu‹ in eine solche Szene eintritt, steht dementsprechend […] die möglichst rasche Identifizierung des Arrangements [im Vordergrund], dessen Entschlüsselung ihm allein helfen kann, die folgenden Szenen zu bewältigen.« (Soeffner 1986: 83 f.)
72 So ist etwa überliefert, dass der Saal sehr gut gefüllt war, als Vesalius Geschlechtsteile sezierte (vgl. Ferrari 1987: 98). Mit zunehmendem Interesse an dieser Forschung wurden öffentliche Sektionen schließlich auch durch den Klerus legitimiert. 73 Vielmehr habe man, als entsprechende Verbote aufgehoben wurden, auch versucht, die Sektionen zu anderen Zeiten im Winter anzubieten. Das Publikumsinteresse war aber eklatant geringer als in der Periode des Karnevals. Zu diesem Anlass fanden sich die Zuschauer/innen oftmals in Kostümierung zum ›Ereignis Sektion‹ ein (Ferrari 1987: 96 f.).
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Im Falle des Anatomischen Theaters nähern sich mit Goffman also zwei bestehende Rahmensysteme einander an: Zur Versicherung einer neuen Perspektive auf das ›Objekt Mensch‹ bedient sich die Institution Wissenschaft des öffentlichen Ereignisses Karneval als einem Vorrat an Konventionen, der – zunächst noch als inszenierte Ausnahmesituation gestaltet – den allmählichen Rahmenwechsel hin zu einer gesellschaftlichen Akzeptanz des Sezierens einleitet. Öffentliche Eingriffe in den Körper, etwa bei Hinrichtungen, waren damals freilich keineswegs ungewöhnlich, es galt jedoch, die Praxis des Sezierens als ernst zu nehmende Wissenschaft zu behaupten. Der Karneval hatte hierfür eine Brückenfunktion.74 Jonathan Sawday weist dem Anatomischen Theater außerdem eine rituelle Funktion zu: Im hier gezeigten Drama des Wissens werde der sezierte Körper zum Symbol einer neuen, vom Menschen ausgehenden Weltsicht. Nahezu emblematisch stehe hierfür der geöffnete weibliche Körper auf dem Titelbild der Erstausgabe Vesalius’ (1543): Der sichtbar werdende Uterus befindet sich genau im Zentrum der Abbildung, stehe also für die Geburt des anthropozentrischen Weltbildes (Sawday 1996: 67, 70). Häufig wurden für diese neuen Einsichten Körper von Kriminellen als Demonstrationsobjekte verwendet, wie Sawday ausführlich erläutert. Die dabei von im aufgezeigten Übergänge vom menschlichen, gesellschaftlich ausgestoßenen Subjekt hin zum posthum sakralisierten Objekt der Erkenntnis75 markieren jedoch nicht allein die Initiation der Anatomie als »würdige Wissenschaft« (ebd.: 98 ff., 113). Vielmehr schiebt sich eine Zwischenebene ein, die er nicht ausdrücklich benennt, jedoch im »Horror« andeutet: der Körper als Abjekt – eine Perspektive, die Julia Kristeva entwirft. Dem kriminellen Körper kommt für kurze Zeit der Status des Abjekten zu, dessen, was nicht Ich, nicht Subjekt ist, was sich mithin als oppositionell darstellt und doch nicht vollständig objektivierbar ist, immer noch Spuren des Eigenen trägt, die sich in Ekel und Grauen äußern: »It is thus not lack of cleanliness or health that causes abjection but what disturbs identity, system, order. What does not respect borders, positions, rules. The in-between, the ambiguous, the composite. The traitor, the liar, the criminal with a good conscience, the shameless rapist, the killer who claims he is a savior …« (Kristeva 1982: 4). 74 Mit der ›Verwendung‹ der Körper von Straftätern deutet sich außerdem noch ein drittes, juristisches Rahmensystem an, das im Paradigmenwechsel anthropologischen Wissens Relevanz erhält: der Aspekt von Bestrafung und Disziplinierung des menschlichen Körpers. Jonathan Sawday weist auf den engen Zusammenhang zwischen Exekution und Sektion im Anatomischen Theater hin, auf die auch eine Abbildung Vesalius’ hindeutet (Sawday 1996: 62; vgl. Abb. 78). So galt es als besonders schwere Strafe, nicht ›nur getötet‹, sondern posthum auch noch durch öffentliche Zerlegung des Körpers gedemütigt zu werden (ebd.: 54 f.). 75 Die Sektion hat insofern doppelten Charakter: Neben Bestrafung und Entwürdigung wird der kriminelle tote Körper in ein Objekt wissenschaftlicher Anschauung transformiert und mithin in ein doch noch nützliches, weil nutzbares Mitglied für die Gemeinschaft.
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Auf psychoanalytischer Ebene zeigt Kristeva hier ein Spiel mit der Grenze wie sie auch im Karneval ausagiert wird. Weder gesellschaftliche Ordnung noch blanke Anarchie, schiebt sich der Karneval zwischen Vorstellungen von Geschlossenheit und Chaos und ermöglicht eine Zeitspanne des Wucherns und Fleischöffnens, die im Anatomischen Theater wiederum in ›geordnete‹ Verhältnisse überführt wird: Mit chirurgischer Präzision re-konstruiert der Anatom den kurzzeitig zum abjekten gewordenen Körper und weist ihm objektivierbare Funktionen zu. Joan B. Landes betont zudem mit Kristeva, dass die Sektion toter Körper zu anatomischen Zwecken dem Individuum letztlich die (Wieder-)Eingliederung in die soziale Gemeinschaft ermögliche: »the self only becomes social by expunging the elements that society deems impure, among which are excrements, menstrual blood, urine, and semen; though she holds that the goal of expulsion is never wholly achieved.« (Landes 2004: 166) Diese Reinigung könne also niemals vollständig gelingen, und Kristeva bekräftigt selbst: »We may call it a border; abjection is above all ambiguity. Because, while releasing a hold, it does not radically cut off the subject from what treatens [sic!] it – on the contrary, abjection acknowledges it to be in perpetual danger.« (Kristeva 1982: 9) Wie oben ausgeführt und an den eigentümlich dysfunktionalen Zeichnungen aus Vesalius’ Anatomiebuch entwickelt, ist das durch Sektion gewonnene Wissen mithin nicht bruchlos objektivierbar, sondern trägt in sich den Kern von Auflösung scheinbar gesicherter Körperkonturen und -formierungen ebenso wie das Kippen aus offenbar doch immer wieder fragilen sozialen und körperlichen Rahmungen.
2.2.2 Der Tanzkörper als De-Monstrationsobjekt Die eingangs in diesem Kapitel beschriebene Lecture Performance Operation verweist also zunächst auf die Praktiken des Anatomischen Theaters. Thomas Lehmens Erläuterungen sind dabei von einem sachlichen Duktus geleitet – bisweilen scheint es, als werde die Reparatur eines defekten Motors erklärt. Der Gestus von Erklären und Zeigen lässt die zuvor als Lecture Performance betitelte Darbietung zu einer Lecture Demonstration im Wortsinn werden, ein Begriff, der üblicherweise für die Veranschaulichung bestimmter (Tanz-)Techniken oder choreographischer Prinzipien verwendet wird und die gelegentlich von kurzen Tanzsequenzen oder Filmausschnitten begleitet ist (vgl. Ernst 2003a: 195). Allerdings ist Lehmens Darbietung zwischen den Darstellungspraktiken des Anatomischen Theaters und jenen der Lecture Performance angesiedelt. Sibylle Peters betrachtet den Vortrag als »Szene« wissenschaftlichen Sagens und Zeigens, im Sinne einer »Kunst der Demonstration«, und führt aus, dass »hier wissenschaftliche Figurationen von Evidenz nahtlos in andere, nicht-wissenschaftliche Evidenztechniken übergehen, so dass Wissenschaft einerseits performativ beglaubigt wird
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[…] andererseits gerade in und aus diesen Übergängen neue wissenschaftliche Figurationen von Evidenz entstehen können.« (Peters 2005: 205) Mit Sawday hebt Claudia Benthien hervor, dass die Mediziner des Anatomischen Theaters erstmals Wissenschaftler und ›Handwerker‹ in einer Person waren – sie sezierten selbst: »Bis dahin zeichnete sich die medizinische Lehrsektion noch durch eine Trias aus, die auf zeitgenössischen Abbildungen deutlich sichtbar ist: des Gelehrten, der von einer erhöhten Position herab aus dem anatomischen Traktat vorträgt, des demonstrator, der den Leichnam zerschneidet, und des ostensor, der auf die jeweils benannten Organe zeigt« (Benthien 2001: 56).76 In den heutigen Lecture Performances, so Peters, werden Elemente der »Evidenztechnik […] der Selbstexemplifikation« noch weiter geführt, wie etwa in Xavier Le Roys Product of Circumstances (1999), in dem der Choreograph sich selbst als Gegenstand der Wissensproduktion ins Gespräch bringt (Peters 2005: 209 f.). Mit Mersch formuliert, kann Lehmens ›Körper-in-demonstratio‹ wiederum als Zeigender selbst bezeichnet werden. Die sonst getrennten Aspekte von »Sichzeigen« und »Etwas-zeigen« treffen in der Person Thomas Lehmen aufeinander und verbinden sich: »Damit ist der Körper nicht nur Material oder Mittel, sondern selbst Durchgang.« (Mersch 2001: 84, 79) Mersch bezieht sich hierbei allerdings auf die Kunst der 1960er Jahre, speziell auf das Action Painting, in dem der Körper als Produzent von Kunst selbst materiell in Erscheinung trete (ebd.: 78). In Lehmens Lecture Performance jedoch zerfällt die Personalunion zwischen Zeigen und Tun sogleich wieder, in diesem Fall in die Ebenen: Videodokumentation der eigenen Operation und kommentierender Choreograph. Zunächst thematisiert Lehmen wiederholt das Dilemma des verletzten Tänzerkörpers. Bereits in der Produktion distanzlos verarbeitet er seinen Sturz auf der Bühne, der sich bei einer der Aufführungen des Stücks in Hongkong ereignete und den er in späteren Vorstellungen jeweils rekonstruiert. In Operation ist Lehmen nun gänzlich ›stillgestellt‹ – der Sturz und seine Folgen können nur noch verbal und mithilfe des Operationsvideos vermittelt werden. Der Choreograph kontrastiert damit das Konzept eines ganzen, virtuos geschlossenen Tänzerkörpers: Hier werden die Verletzlichkeiten und Achillesfersen des Tanzes – in dem Fall das Knie – buchstäblich offengelegt.77 Geht es im Anatomischen Theater der frühen Neuzeit (und entsprechenden Veranstaltungen an Universitäten heute) darum, die Funktionsweisen des menschlichen Körpers aufzudecken, so präsentiert Lehmen eine Performance des Dysfunktionalen, des unbewegten Tänzerkörpers. Die Verweisstruktur geht dabei über das Gezeigte (Funktionsweise und Ablauf
76 Besonders Vesalius brach mit dieser Tradition – das Titelbild der Erstausgabe der De Humanis Corporis Fabrica zeigt den Anatomen, der Sezieren, Demonstrieren und Erläutern selbst vollzieht (Buschhaus 2005: 75). 77 Marjorie Garber wiederum verweist auf die Kontextualisierung des Knies als Motiv des tragischen Sturzes in Literatur und Kunst (Garber 1997: 30).
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der Knie-Operation) hinaus und visualisiert Kontexte von Mitleiden, SchmerzMitempfinden sowie den fragilen Tänzerkörper selbst. Besonders zwei Topoi des Tanzes werden dabei aufgerufen und durch die Lecture Demonstration ironisiert: das immer wieder geforderte Vermögen der »Durchlässigkeit« von Tänzer/innen sowie die Rede vom Leiden beim Tanzen. Der Choreograph Felix Ruckert äußert sich zum ersten Aspekt: »Ein durchlässiger Tänzer ist gleichzeitig ganz innen und ganz außen. Es geht darum, mit der Bewegung im Jetzt zu sein und zwar als Folge von Jetzt, Jetzt, Jetzt … Das ist Voraussetzung für gutes Performen. Man könnte das auch als Präsenz bezeichnen.« (Ruckert in Nachbar 2004: 32) Lehmen überhöht diese Forderung: Er zeigt die Durchlässigkeit seines äußerlich sichtbar versehrten Körpers über den filmischen Einblick in diesen hinein. Gleichzeitig greift er das hier aufscheinende Diktum des präsenten, sich in der Jetztzeit empfindenden und darbietenden Tänzerkörpers ironisch auf: Präsenz und mitfühlendes Erleben stellt sich für das Publikum nur durch den Zugriff über das Video her. Tänzerische Emphase konterkariert der Choreograph zudem mit seinem nüchtern beschreibenden Erzählstil und wendet sich damit gegen den verbreiteten Mythos, dass professionelles Tanzen mit Leiden gleichzusetzen sei, was sich besonders oft in Knieverletzungen ausdrückt (vgl. Sieben 2004: 37).78 In Lehmens Video wird vielmehr das cartesianische Klischee des/der Tänzer/in als funktionierende Körpermaschine thematisiert, die in diesem Fall einen Defekt hat und repariert werden muss.
Einschub: Durchlässigkeit und Verletzung Der Topos des Durchlässigen ist im zeitgenössischen Tanz von nahezu paradigmatischer Bedeutung. Zunächst meint Durchlässigkeit den Bewegungsfluss im Körper, das Vermögen, etwa in der Contact Improvisation auf Umgebung, Außenreize oder andere Tänzer/innen flexibel zu reagieren.79 Eng verbunden damit ist die Vorstellung eines ganzheitlichen Konzeptes, das den Körper nicht nur als mechanischen Bewegungsausführenden (besonders über Arme und Beine) versteht, sondern gesellschaftliche Bedingungen, persönliche Biographie und Verhaltens- sowie Bewegungsmuster mit bedenkt, um zu einer besseren Ausrichtung (alignment) des Körpers zu kommen. Das Body-Mind Centering (BMC) Bonnie Bainbridge Cohens etwa verfolgt solche Ansätze (vgl. Sieben 2004: 37). Durchlässigkeit geht aber über die bloße Gebundenheit an den Körper hi-
78 Das Knie steht in der Statistik der Tanzverletzungen nach dem Sprunggelenk an zweiter Stelle (vgl. Wanke 2004: 52). 79 Vgl. etwa die Kursankündigungen von Bewegungsart, Freiburg zum Neuen Tanz (2006) oder der Tanzfabrik Berlin für Tanz & BMC (2006) sowie Heitkamp 2003: 144.
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naus: Häufig taucht der Terminus in Zusammenhang mit der Fusion verschiedener Tanzstile auf, beispielsweise in multiethnischen Kontexten, ein Phänomen, mit dem sich etwa die Tanzcompagnie Rubato in ihrer langjährigen Arbeit mit chinesischen Tänzer/innen oder Jérôme Bel in seiner Begegnung mit dem thailändischen Khon-Tänzer Pichet Klunchun auseinandersetzen.80 Darüber hinaus ist mit Durchlässigkeit auf einer anderen Ebene im Produktionsprozess die »Transparenz […] zwischen Zuschauer und Publikum« angesprochen,81 ein Bedürfnis, das zeitgenössische Tanzstücke oftmals über vorherige Showings oder Öffnungen des Probenprozesses als work in progress erfüllen. Im vorgeblichen Ideal der Durchlässigkeit der Tanzenden ist indessen auch sein Scheitern implementiert, immer an der Grenze dessen, wie durchlässig der Körper letztendlich sein muss, um geschmeidig, beweglich und fließend zu sein, und in welchem Moment man sich besser ›abschließen‹ sollte, um sich nicht zu verlieren und zu verletzen, auch gegenüber einem Publikum. Befragt vom Tänzerchoreographen Martin Nachbar, bemerkt die Tänzerin und Choreographin Angela Schubot dazu: »Eigentlich ist dieser Moment, in dem die Bewegung wie von allein zu dir kommt, ein sehr durchlässiger Moment. ›Ja, du bist durchlässig und dadurch viel sensibler, aber wenn du da die Kontrolle verlierst, wirst du größenwahnsinnig, verlierst du dich.‹ […] Kennst du dieses Gefühl von der Bühne auch? ›Ja, aber anders, weil Bühne eine Kommunikation nach außen ist und dadurch eine Richtung hat […] Auf der Bühne tauche ich nicht so total ab, weil dieses Gegenüber des Zuschauers einfach zu bewusst ist.‹« (Nachbar 2004: 33)
Der Übergang von Durchlässigkeit zu Verwundbarkeit erscheint als schmale Gratwanderung, auch und besonders in Gegenwart des Publikums. Stefanie Wenner spricht in diesem Sinne von der Verletzlichkeit der Zuschauenden als einem Berührtwerden vom Geschehen auf der Bühne (Wenner in Nachbar 2004: 32). So gesehen ließe sich konstatieren, dass der zeitgenössische Tanz nicht nur den/die durchlässige Tänzer/in, sondern ebenso den/die empfindsame/n Zuschauer/in benötigt. Erika Fischer-Lichte betont das Konzept der Kopräsenz von Darstellenden und Publikum als ein Austauschverhältnis zwischen den anwesenden Körpern, das etwa im 18. Jahrhundert noch 80 Über diesen Aspekt wurde beim Tanzkongress Deutschland. Wissen in Bewegung, im Rahmen des Panels »Interkulturalität und Körperwissen« am 22.4.2006 im Berliner Haus der Kulturen der Welt diskutiert (vgl. Staude 2006, Onlineressource). 81 Ein neues Programm der Fabrik Potsdam etwa bietet Choreograph/innen seit 2006 die Möglichkeit, sich für mehrwöchige Probenresidenzen zu bewerben, um Projekte zu entwickeln, die u.a. mit einem interessierten Publikum diskutiert werden können (vgl. Fabrik Potsdam 2006, Onlineressource).
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unter der Perspektive der Veränderung der Zuschauer/innen im Sinne einer kathartischen Heilung gesehen wurde (Fischer-Lichte 2004: 59 f., 162 f.). Kommt hier die Forderung nach einer Affektkompetenz des Publikums zum Tragen, so wird diese allerdings durch Thomas Lehmen brutal überschritten: Die Zuschauer/innen werden durch die offen bloßgelegten Videobilder des Knies so überreizt, dass sie nicht mehr in der Lage sind, aufmerksam entspannt, wach oder ›still zu genießen‹. Der Begriff des Verletzlichen weist mithin eine ebensolche Bedeutungsbreite auf wie jener der Durchlässigkeit. Der verletzte Körper wird allerdings zuweilen noch zum Ideal von Sensibilität qua ›Natürlichkeit‹ erhoben, in antipodischer Abgrenzung zur Überformung der Welt mit Technologie, wie eine Ankündigung des Festivals TANZ Bremen TANZeuropa (2005) zeigt, wobei die Versehrbarkeit des performenden Körpers als Garant dienen soll: »Auch wenn es im Zeitalter der Digitalisierung und der globalen Datenströme oft vergessen zu werden droht: der menschliche Körper auf einer Theaterbühne ist in seiner Verletzlichkeit und unmittelbaren Sinnlichkeit noch immer das faszinierendste Medium.« (TANZ Bremen 2005, Onlineressource) Abgesehen davon, dass sich hier die Verwendung des Medienbegriffs munter durcheinander mischt, kann gerade der tanzende Körper kaum frei von (Tanz)Technologie gedacht werden, wie Kerstin Evert pointiert darlegt: »Auf der Bühne gibt es keinen unbearbeiteten Körper.« (Evert 2003: 9) Im Rahmen (oft falsch) erlernter Tanztechnik sieht Bainbridge Cohen wiederum Verletzung als Chance an, eingeschliffene Bewegungsmuster zu überdenken und zu verändern: »Wenn wir verletzlich sind und in der Verletzlichkeit selbst leben, können wir sehen, welche Türen sich öffnen, während andere sich schließen. Das ist wahr für jede Art von Verletzlichkeit. Etwas funktioniert nicht, aber etwas anderes wird beseitigt.« (in Sieben 2004: 37) Hierbei zeigt sich eine doppelte Dialektik zwischen Verletzlichkeit und Durchlässigkeit im Tanz, bei der zunächst das eine ohne das andere für die Tanzenden nicht denkbar ist und jederzeit zu kippen droht, in die dann aber auch die Zuschauer/innen involviert sind, im Oszillieren zwischen Offen-Sein für das Gesehene und Sich-Verschließen, wenn die je eigene Grenze des Gewollten oder Zumutbaren überschritten wird. So überträgt sich die Verletzung der Tänzer/innen auf der Ebene der Wahrnehmung in eine Verletzung der Zuschauer/innen – der kommende Abschnitt wird unter anderem darauf eingehen.82
82 Zur Verletzung des Blicks vgl. S. 306.
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2.2.3 Fleischige Oberflächen, schmerzende (Ko-)Präsenzen oder: Operationen am medialen Fragment. Orlan und Thomas Lehmen im Vergleich Der aufgeschnittene und verletzte Körper ist auch das Basismaterial der französischen Künstlerin Orlan, wobei es hier, ähnlich wie bei Lehmen, nicht um einen Diskurs des Leidens, sondern vielmehr des Machbaren geht. Schlagartige Berühmtheit erlangte Orlan mit ihren spektakulären sieben opérations chirurgicale-performance (1990-93), in denen sie ihr Gesicht nach kunsthistorischen Vorbildfragmenten von Leonardo da Vincis Mona Lisa, Sandro Botticellis Venus, der Europa Gustave Moreaus oder der Diana aus der Schule Fontainebleaus umgestalten ließ (vgl. Busca 2002: 12). Mittels solcher kunstgeschichtlicher Zitate, die dem eigenen Körper zugefügt werden, markiert Orlan Grenzüberschreitungen und dehnt mit ihren Bricolagen konventionelle Betrachtungsmuster von Kunst auf, die über den bloßen Schock angesichts der radikal erscheinenden Operation-Performances hinausgehen. Ihr Körper als beliebig formbares Material reiht sich ein in den Diskurs über die »nicht mehr schönen Künste« (Jauß 1968): Aus dem Ringen nach Schönheit, wie dies Doku-Soaps nach dem Muster The Swan bilderreich nahebringen,83 wird die Selbstermächtigung über den eigenen Körper als Feld von inkarnierten Machbarkeiten. Ein Nebenaspekt der Selbstrepräsentationen Orlans ist das Changieren zwischen einem abjekten, mit Verwerfungen arbeitenden, und einem obszönen, überdeutlich zeigenden Körperbild.84 Geht es in The Swan um die plastische Bearbeitung hin zu einem perfekten Körper, so ist dieser jedoch nur unter körperlichen Mühen und Qualen sowie den Unsicherheiten des »Wie werde ich nachher aussehen?« erreichbar. Den abjekten Zwischenzustand von Selbst-Ekel ob des ungewollten, weil ›unschönen‹ Körpers und die Selbstmodellierung des Körpers hin zu einem allgemeinen, ›objektivierten‹ Ideal greift Orlan ironisch auf: Die eingebauten Fragmente historischer Schönheitsideale stehen einem gesellschaftlich akzeptierten zeitgenössischen Modell von Schönheit entgegen. Verwunderung und Abgestoßen-Sein provozierend, enthält der Körper Orlans als Gegenstand ihrer Kunst immer noch die Spur des Abjekten für das Publikum, ist widerständig und geht nicht vollständig im angenommenen Rahmen Schönheitsobjekt auf.
83 Produziert vom TV-Sender Pro 7, 2004. 84 Dieses Spannungsfeld entfaltet Anja Zimmermann über die Lektüre Julia Kristevas und Judith Butlers. Sie beschreibt Praktiken, die seit dem Surrealismus beobachtbar seien, vertreten besonders durch Künstlerinnen ab den 1960er Jahren wie Carolee Schneemann (z.B. Meat Joy, 1964) oder Jo Spence (Monster, 1982) (Zimmermann 2001: bes. S. 30 ff., 99 ff. und 114 ff.).
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Eingeschobene Zwischenthese: Dünnhäutige Membrane. Abjekte Bewegungen zwischen Innen und Außen Bereits Karl Rosenkranz spricht über das Widrige, »Ekelhafte« als »Unform«, die sich im Prozess der Auflösung befinde.85 Ekelerregendes verbindet er explizit mit der Vermischung von Totem und Lebendem, als Prozess des »Entwerden[s]« (Rosenkranz 1996: 252) – ein Phänomen, das sich mithin den Metamorphosen des Werdens, in dem Fall als Leben, gegenüberstellt (vgl. auch S. 355 f.). Diese Auflösungserscheinungen verletzten das ästhetische Empfinden (ebd.) – und ich meine, dass ähnliche Reaktionen auch bei den Aktionen Orlans oder Thomas Lehmens zum Tragen kommen, die sich in einer vitalisierten Version der Sektion von Leichen, deren verborgenes Wissen wiederum für die Lebenden habhaft gemacht wird, an die Praktiken des Anatomischen Theaters anschließen. Groteskes ergibt sich dabei weniger über den Moment des bloßen Abstoßens und Verwerfens, sondern vielmehr an den Übergangsstellen von Tod und Leben, Funktion und Dysfunktion. Dabei zeigt sich Abjektes explizit an der ambivalenten Schwelle zwischen Innen und Außen, zwischen körperlicher Integrität und seiner Zerstörung, wie Kristeva ausführt. Dieser Schwellen-Raum, der auch als ein grotesker zu bezeichnen wäre, ist äußerst dünn und situativ begrenzt, jederzeit in Gefahr, in Binaritäten eines ›absoluten‹ Da oder Dort umzukippen. Für diese fragile Membran findet Kristeva das Bild der Haut auf der Milch, die beim Trinken Ekel hervorruft (Kristeva 1982: 2 f.) und als eine Initiationsszene der Subjektbildung verstanden wird, die sich über das Verworfene konstituiert: Nicht Ich, nicht Teil des Körpers, legt sich die Haut auf Zunge und Gaumen, ein schlüpfriges Etwas, das in den Körper einzudringen droht. Das Subjekt wehrt den Eindringling ab, der, als Grenze, zur Erfahrung eines Objektes im Prozess der Abjektion werde, so Kristeva, einer Ver-Äußerung, ohne die wiederum das Subjekt sich als solches nicht definieren könne (ebd.: 4). Insofern entspricht diese Szene einer Inversion des Lacanschen Spiegelstadiums, in dem sich das Subjekt in einer »jubilatorische[n] Aufnahme« als ›Ganzes‹ erkennt, wiewohl es sich selbst doch zuvor als ein fragmentiertes erfahren hat. »Gestalt« wird also als ein exzentrisches Phänomen wahrgenommen, als außerhalb des Selbst seiend (Lacan 1975: 64). Damit allerdings ist das Fremde per se Bestandteil des Eigenen und lässt sich nicht ohne weiteres in ein Ich – Nicht-Ich aufspalten, wie Kristeva es
85 Eine ausführliche Theorie und Kulturgeschichte des Ekels bietet Menninghaus 2002.
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vorschlägt.86 Vielmehr spielt sich Subjektvierung als beständiger Prozess des Verwerfens und Entwerfens ab, als hybride Figuration, in der das Fremde dem Eigenen immer schon einwohnt. Abjektes kann dann als Movens des Grotesken bezeichnet werden, wenn der Fokus auf den Moment des Ausstoßens selbst gerichtet ist (und nicht auf das bereits Verworfene), auf den Augenblick von noch-nicht-draußen und nicht-mehr-ganz-drin.
Das überdeutliche Zeigen des Körperinneren beziehungsweise korporaler Schnittflächen, wie Lehmen und Orlan es praktizieren, kann mit der Konzeption des grotesken Körpers Bachtins gelesen werden:87 Aus dem Demonstrierten wird ein Monströses. Zwar geschieht die Öffnung nicht durch Wuchern, Aufplatzen oder übermäßiges Aufweiten der physiologischen Körperlöcher, sondern einen präzisen chirurgischen Eingriff. Grotesk wird das Gezeigte jedoch durch die Ablösung von Körperteilen aus ihrem eigentlichen (tänzerischen) Funktionszusammenhang sowie durch die Einrahmung in die spezifische Aufführungssituation: Die Lecture Demonstration Lehmens ist eingebettet in den erwähnten Tanzabend mit etwa zehn verschiedenen Produktionen ästhetisch unterschiedlichster Choreographen. Nach virtuosen, minimalistischen, ironischen oder abstrakten kurzen Stücken kollidiert sein Operationsvideo mit der bisherigen Erwartungshaltung des Publikums. Es trifft wie ein Schock. Das Schockieren des Publikums scheint zwar nicht unbedingt die primäre Absicht von Operation gewesen zu sein. Ohne Frage fühlt sich das Publikum jedoch provoziert, reagiert mit großer Emphase, stöhnt und seufzt mit, ist entsetzt oder verlässt den Theaterraum, als Lehmen tatsächlich ›ernst macht‹ und der erste Einstich ins Knie zu sehen ist. Peter Bürger stellt fest, dass die Mittel der historischen Avantgarde, gezielte Schockwirkungen hervorzurufen, längst im heutigen Kanon der Darstellungskonventionen aufgegangen seien: »Nichts verliert seine Wirkung schneller als der Schock, weil er seinem Wesen nach eine einmalige Erfahrung ist« (Bürger 1974: 108). Ist nun in der Medienlandschaft, etwa durch entsprechende schönheitschirurgische Dokusoaps, unter Umständen schon eine Gewöhnung an solche Bilder eingetreten, wird diese Wahrnehmungshaltung wiederum provoziert durch das Zeigen und Kommentieren des Ereignisses im theatralen Rahmen, dem man sich nicht so leicht wie einem Fernsehbild – durch Zapping oder Ausschalten – entziehen kann.88 Die im medizinischen Kontext alltägliche Vorgehensweise der Operation erhält zudem eine narrative Komponente, 86 Menninghaus wendet ein, dass Kristeva noch dem Dualismen von »eigen vs. nichteigen bzw. rein vs. unrein« verhaftet sei (Menninghaus 2002: 527). Die »Lust am ›Abjekt‹« wiederum trage tendenziell zu einer »Wiederkehr des ›Realen‹« im Sinne von Wahrheit und Emphase bei (ebd.: 544, 556). 87 Carey Lovelace betont den Aspekt des Grotesken in Orlans Arbeiten (Lovelace 1995: 18). 88 Ich danke Elke Köpping für diesen Hinweis.
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ein Geschehen hinter den Bildern, ein Vorgängiges in der dazugehörenden Erzählung, wie die Verletzung geschah. Das Video-Ereignis Operation rückt den Zuschauenden regelrecht auf den Leib, über das Spüren der Verletzlichkeit des eigenen Körpers (Schmerz, der durch die Narkose allerdings nicht artikuliert wird) und dem Anblick des üblicherweise funktionierenden Tänzerkörpers.89 Vivian Sobchack erläutert dieses Phänomen folgendermaßen: »Der Film macht also nicht allein die objektive Welt sichtbar, sondern darüber hinaus die Struktur und den Prozess subjektiven Sehens durch einen Körper – wie es zuvor nur jedem Menschen in für andere nicht zugängliche Weise als ›seine eigene Erfahrung‹ gegeben war.« (Sobchack 1988: 422) Elaine Scarry betont in ihren Ausführungen zum Schmerz, dass dieser immer nur als eigener gespürt werden könne, im Grunde aber nicht kommunizierbar sei: »Für den anderen ist […] dieselbe Erfahrung so schwer fassbar, dass ›von Schmerzen hören‹ als Paradebeispiel für Zweifel gelten kann.« (Scarry 1992: 12) In Lehmens Lecture Demonstration wird Schmerz nun nicht explizit zum Thema gemacht – er schiebt sich vielmehr vermittelt in die Situation, durch das geschiente Bein und die Krücken sowie die zustoßende Brutalität der Videobilder, die buchstäblich Augen-Schmerzen erzeugen. Wiewohl als Erzählung des Leidens nicht präsent, entsteht jedoch eine Schmerzerfahrung in der Imagination der Zuschauenden – mit Scarry beschreibt Fischer-Lichte ähnliche Phänomene in der Performance The Lips of St. Thomas von Marina Abramović. Werde auch hier die Erfahrung von Schmerzen nicht speziell betont, so materialisiere sich diese jedoch in der Vorstellung des Publikums: »[S]eine Einbildungskraft hat seinen Körper an die Stelle ihres Körpers gesetzt und ist so zum absolut Unkommunizierbaren vorgedrungen: zum Schmerz des anderen, der nun in einer körperlichen Empfindung, einem körperlichen Impuls, einer körperlichen Reaktion, einer Handlung des Zuschauers manifest wird.« (Fischer-Lichte 1998a: 37) Lehmen überhöht den mit Fischer-Lichte erwähnten Aspekt der Kopräsenz zwischen Bühne und Publikum und strapaziert ihn bis an seine äußersten Grenzen, so dass viele der Anwesenden sich gezwungen sehen, diese Art von gemeinsamer Präsenz mit dem Verlassen des Raumes zu durchbrechen – an späterer Stelle wird hierauf noch genauer einzugehen sein (vgl. S. 305 ff.). Diese aufgekündigte Beziehung zwischen Performer und Zuschauenden wird, wie gesagt, durch die filmische Ebene, als zweiter Aspekt von Kopräsenz, befördert: jener des kommentierenden Choreographen und des Videobildes. Nach Philip Auslanders Theorie der Liveness ist die Bildwelt des Fernsehens immer mit dem Eindruck der Live-Sendung verbunden: Man ist direkt dabei (Auslander 1999: 12 ff.).90 Im Umkehrschluss bedeute dies aber auch, dass sich 89 Auch wenn Lehmens Kunst darauf nicht unbedingt abhebt, steht sein verletzter Körper im Zusammenhang mit den vorher gesehenen Tanzstücken doch als pars pro toto in der Rezeption des Publikums. 90 Anfangs entsprach dies auch den Tatsachen, Fernsehen war zunächst der Bühnensituation im Theater nachempfunden. Heute sind solche Sendungen eher selten ge-
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Performance nicht (mehr) von den Bedingungen des Medialen abgelöst denken lasse,91 sei es nun durch die Verwendung von Medien wie Soundverstärkung und Video auf der Bühne oder die kompatible Formatierung von Live-Events, um sie später auch im Fernsehen zeigen zu können. Darüber hinaus sei der Blick des Publikums immer schon medial vorgeprägt (ebd.: 158 ff.). Im Hinblick auf Thomas Lehmens Lecture Demonstration muss dieser Ansatz noch weiter gedacht werden, im Sinne einer Doppelung der Liveness, die sich über die Kopräsenz von Choreograph und Video herstellt: Der (verletzte) Tänzer kommentiert live, gleichzeitig empfindet das Publikum die retardierte Öffnung in der gefilmten Operation, durch die Dramatisierung des Geschehens über den Bildrahmen Video, in der Realzeit der Aufführung mit. Das geöffnete Bein kommt den Zuschauenden nah und rührt an Wahrnehmungen, die sich unter die Ebene eines distanzierten Beobachterblicks schieben. Die Ontologie einer Präsenz, in der zwischen Liveerlebnis und Aufzeichnung nicht mehr zu unterscheiden ist, wird hier sinnfällig. Auslander zitiert Sean Cubitt, der dem Fernsehen den Charakter des Flüchtigen unterstellt: »[T]he broadcast flow is […] a vanishing, a constant disapperaring of what has just been shown.« (Ebd.: 43) Entsprechend postuliert Auslander den Modus der Präsenz als Ontologie sowohl für Aufzeichnung als auch Live-Erleben und erteilt damit dem Unwiederholbaren als alleiniges Privileg der Performance, wie es Peggy Phelan entwirft, eine Absage (ebd.: 39 ff.) – wobei er dem Televisionären gar eine höhere Verschwindensrate bescheinigt als der Liveperformance selbst: »[D]isappearance may be even more fundamental to television than it is to live performance – the televisual image is always simoultaneously coming into being and vanishing; there is no point at which it is fully present.« (Ebd.: 44) Walter Benjamins Ansatz, dass dem Reproduzierten, etwa dem Kino, das Signum des Flüchtigen als »Einmaligkeit« ebenso wie dem Kunstwerk innewohne, da sich die Bilder, einmal gesehen und vergangen, nicht wieder zurückholen ließen (Benjamin 1977: 15), wird hier insofern weitergeführt. Wichtig im Zusammenhang mit Lehmens Operation ist nun, dass sich die Rahmen ›live kommentierender Choreograph‹ und ›Bildschirm mit Videodokumentation Knieoperation‹ fortwährend verschieben oder gar kollabieren: Das Operationsgeschehen rückt nahe und kippt immer wieder in scheinbar ›jetzt‹ erlebte Momente, die beim Publikum Schock, Schmerz, Abwehr oder eine Faszination am ›Grausigen‹ verursachen. Auch Wolf-Dieter Ernst verweist in seinen Ausführungen zur Performance auf die doppelte Komponente von Kopräsenz, die sich einmal im Wechselspiel zwischen »Künstler-Körper« und »Betrachterworden, der Live-Eindruck aber wohne der Ontologie des Fernsehens inne (Auslander 1999: 12). 91 Im Kontext der Debatte um die Virtualisierung durch Medien und die Frage nach der Zukunft des Theater plädiert Samuel Weber für ein »Theater am Rande des Virtuellen«, das an den Grenzen von Medialem (virtuell) und Theatralem (live) operiere (Weber 1998: 35, 49).
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Körper« ergäbe sowie, im Falle der Liveübertragung von Orlans OperationsPerformance, auf die Closed-Circuit-Schaltung, die eine Gleichzeitigkeit von Präsenz (Orlan im Operationssaal) und Telepräsenz (Publikum an den Bildschirmen) garantiere (Ernst 2003: 88, 148). Bei Lehmens Operation ist der Kreis der beiden Ebenen Choreographenkörper und Video nun so eng gezogen, dass diese beiden Weisen von Präsenz auf engstem (Theater-)Raum miteinander kollidieren. Orlans und Thomas Lehmens Performances weisen mit der Überschreitung gesellschaftlicher und theatraler Konventionen also einen Rahmenwechsel auf, durch die Expansion von Sehgewohnheiten oder Erweiterung bildlicher Grenzen. Lehmens aus seinem tänzerischen Funktionszusammenhang abgelöstes Bein zeigt sich als Sinnbild der Funktion des Körpers als Tänzer, der aber zurzeit ›außer Betrieb‹ ist.92 Die Sektionen des Anatomischen Theaters übertraten wie erwähnt wiederum eine wissenschaftliche Grenze zur Erklärbarkeit des menschlichen Körpers, wobei die hier agierenden Chirurgen das Theater sowie daran anschließend die Medien Bild und Schrift als Legitimationsfelder ihrer Wissenschaft nutzten. Der Körper wird zur »Bühne des Anatomen« (vgl. Sawday 1996: 131) und verschiebt so den sozialen und medialen Rahmen in der Anschauung menschlicher Verfasstheit im Sinne einer beginnenden Bildwissenschaft (vgl. Buschhaus 2005: 8, 31). Bei Orlan und Thomas Lehmen geraten diese Operationen zum Spiel mit den medialen Rahmen selbst. Die Körperöffnung ist nun nicht mehr als Live-Akt erlebbar, Lehmens Performance betreibt jedoch die Grenzüberschreitung durch Einbeziehen des Publikums über die Gleichzeitigkeit von Live- und Telepräsenz am selben Ort. Das Videokörperfragment Bein, als Objekt auf dem OP-Tisch, wird durch die Rückbindung an den live neben der Leinwand sitzenden und sprechenden Choreographen auf eine oszillierende, abjekte Zwischenebene verrückt: vom Publikum nicht zu distanzieren, aber auch nicht als Subjekt zu fassen. Als Nebenprodukt entspringt dabei eine Provokation der Imagination, quasi über eine Verlängerung der Videobilder ins Schmerz-Erinnerungs-Zentrum der Zuschauergehirne: In einem kurzgeschlossenen Close-up stoßen die Bilder der Operation den Betrachtenden zu.93 Lehmen zeigt seinen Tänzerkörper als versehrten Apparat und stellt die Frage: Wie funktioniert das? Anders als im Anatomischen Theater der Renaissance, das sich toter Körper bedient, wird der Choreograph über die Videoprojektion 92 Die Symbolsetzung des Beines hat ihren Ursprung bereits in alttestamentarischen Überlieferungen, wie Anne Fleig ausführt: »Fleisch und Bein« werden in der Schöpfungsgeschichte zu Synonymen (Fleig 2001: 486). Sie betont überdies: »Möglicherweise sind die Beine als Paar bzw. als Einzelgänger sogar der Körperteil, der die Dialektik von Körperganzem und Fragmentierung am deutlichsten zu machen vermag.« (Ebd.: 485) 93 Peter Moeschl verweist mit Slavoj Žižek auf das Potential von Ekel angesichts körperlicher Eröffnungen und den ausgelösten Vorstellungen über das, was »unter der Oberfläche eines schönen nackten Körpers vor sich geht – Muskeln, Lymphdrüsen, Venen« (Moeschl 2000: 288).
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zum Vivisektor am eigenen Leib.94 Orlans Operation-Performances zielen dagegen auf neue Ermöglichungsräume des Körpers und fragen: Was ist machbar?95 Die Artikulation von Schmerz und das Durchhaltevermögen der Performerin ist dabei ebenso wenig wie bei Lehmen ein Thema und wird durch das Rezitieren literarischer Texte während der Operation sogar bewusst überdeckt. Offenbar geht es auch nicht so sehr darum, einen Einblick in das Innenleben der Künstlerin zu erhalten, in einem erkenntnisleitenden Sinn, wie dies im Anatomischen Theater der Fall war. Vielmehr erscheint das Gesicht der Performerin auf den Photographien der Septième opération chirugicale-performance à New York, dites Omniprésence wie in Zwiebelschichten aufgeblättert, etwa dort, wo ein Einschnitt zwischen Kinn und Hals erfolgt, der vermutlich der Straffung der Haut dienen soll und einem »zweiten Mund« ähnelt (Abb. 79). Ernst sieht in diesem beständigen Umbau der Oberfläche Orlans den Entzug der Künstlerin als verfügbarer Körper. Obwohl »omnipräsent« medial vermittelt – die siebte Operation wurde weltweit live übertragen –, sei der Zugriff auf die Künstlerin verstellt, da der eigentliche Referent Körper in der Medialisierung aufgehe: »Man sieht den Körper dermaßen offensichtlich, dass man nichts mehr sieht, was noch unter der Vorstellung ›Körper‹ zu fassen wäre.« (Ernst 2003: 154)
Abb. 79: Orlan, 21 novembre 1993. La deuxième bouche aus der Serie Septième opération chirugicale-performance à New York, dites Omniprésence (1990-1993), Photo: Vladimir Sichov
In den Operation-Performances wird zudem deren inszenatorischer Charakter deutlich (etwa in der Wahl der ›Kostüme‹ des medizinischen Personals), und die Haut Orlans selbst gerät zum »Vorhang« (ebd.: 145): Dargeboten wird die von der Performerin autorisierte Rekonfiguration des eigenen Körpers zum Kunst-
94 Sawday beschreibt die Vivisektion als Praxis zum Beispiel in Bagdad gegen Ende des 10. Jahrhunderts, die eine Art von Strafe darstellte (Sawday 1996: 79.f.). 95 Ernst betont, dass »die Medialisierung des Körpers immer schon begonnen hat« – der Körper Orlans werde in diesem Sinne zur Modelliermasse, »die man schneiden, umformen oder anders behandeln kann.« (Ernst 2003: 82, 132)
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produkt Orlan.96 Selbstdemonstrationen des geöffneten Körpers sind auch im anatomischen Bildprogramm der Renaissance zu finden, etwa in der Darstellung des Spigelius, der seine Gedärme durch Hochziehen der Bauchhaut offen legt. Solche Zeichnungen sollten die Selbstverständlichkeit anatomischer Verfahren unterstützen, im Bestreben, die wissenschaftlichen Analysen als etwas »ganz Natürliches« im gesellschaftlichen Bewusstsein zu verankern, so Benthien (Benthien 2001: 77).97 Entsprechend waren die Körper mitunter auch in Landschaftsdarstellungen eingebettet (vgl. Sawday 1996: 110 ff.).98 Es ist zu vermuten, dass Orlan die Bildzitate aufgreift und den Vorhangscharakter der Haut in diesen Abbildungen wörtlich nimmt: Gezeigt wird allerdings ihr Körper als rekombinierbares Konstrukt, der weniger Einblicke in die Künstlerin ermöglicht als vielmehr transformierende Oberflächen derselben produziert. Gerade Bilder wie die der siebten Operation-Performance offenbaren aber auch, dass der Körper Orlans durchaus nicht vollständig in einem Konvolut indexikalischer Zeichen aufgeht, wie Ernst dies postuliert. Der »zweite« Mund, der auf einem der Photos zu sehen ist, erscheint vielmehr als Relief einer Störstelle, als grotesker, temporärer Riss in der scheinbar vollkommenen Oberfläche mit Namen ›Orlan‹. Das Aufweiten medialer Rahmen macht insgesamt nicht an den vom Körper gezeigten Photographien Orlans oder Videobildern Lehmens halt. Es wird sichtbar, dass der Körper zunächst selbst Medium ist, als Träger und Kritik weiblicher Repräsentationen oder als ›tanzende Maschine‹. In der Regel durch das verdeckt, was er darstellt, als Tanz, Performance oder bildende Kunst, gibt er sich jedoch auch selbst über seine Aufschneidungen und Defekte als Ausdrucksmaterial zu erkennen. Es bleibt ein materieller Rest, der den Körper nicht auf seine medialen Darstellungen allein reduziert, wie Mersch dies für die Kunst seit den 1960er Jahren postuliert (vgl. Mersch 2004: 78; vgl. S. 284). Bei Lehmen ist er etwa im provozierten Aufstöhnen des Publikums artikuliert, dem der Mund angesichts dieser Darbietung offen stehen bleibt,99 im geahnten Schmerz des operierten Video-Knies: Trotz abgeklärter Erzählhaltung weigert sich der Verstand, den hier gezeigten Körper als bloße reparaturfähige Maschine anzuerkennen. Orlan wiederum verwahrt die Reste des abgesaugten Fetts, die sorgsam abgefüllt und ausgestellt werden und solcherart abgetrennt eigentlich keine mediale Botschaft
96 Silvia Eiblmayr sieht hierin eine Strategie der »Suture«, die Anbringung von Nähten, die einerseits auf die Affirmation des selbst erschaffenen Artefakts Orlan verweisen, andererseits aber auch die Kritik am Ideal vollkommener Oberflächen formulieren (Eiblmayr 1994: 12). 97 Zum Hochziehen der Bauchhaut als Metapher der Sichtbarkeit im Bild des Entkleidens vgl. S. 197 f. 98 Es handelt sich dabei um eine Zeichnung in Vesalius’ De Humanis Corporis Fabrica in der Ausgabe von 1627 (Sawday 1996: Abb. 14, Abbildungsteil). 99 Ich danke Gabriele Brandstetter für diesen Hinweis.
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mehr vermitteln als jene, einmal Teil eines Ganzen gewesen zu sein100 – allerdings eines Ganzen, das sich beständig umformt, Abtrennungen vornimmt und an den Grenzen operiert. Wurde zu Beginn dieser Arbeit festgestellt, dass zeitgenössischer Tanz seit den 1990er Jahren die Materialität des Körpers thematisiert, so zeigt Thomas Lehmen Körperbilder seines Inneren in Dys/Funktion. Allerdings geht es hier nicht um die Präsentation des Körpers als Baukasten, der sich beliebig ummontieren und den Bedürfnissen einer Technogesellschaft anpassen lässt (vgl. Bergelt in Odenthal 1995: 47). Vielmehr wirft Lehmen mit der Fragmentierung seines Beines nebenbei einen ironischen Blick auf zeitgenössische Verfahren, wie nun noch darzulegen ist.
2.2.4 Zeitgenössische Fragmente Wie erwähnt hebt Buschhaus den Wandel des sezierten, abgetrennten KörperTeils in ein komplettiertes Präparat medizinischer Anschauung hervor (vgl. S. 280). Durch »Zerstörung und Nacherschaffung« des Körpers in der Anatomie entstehe ein intelligibles Bild vom Körper (Buschhaus 2005: 275, 272), das seinerseits gerade durch die Aufspaltung in Fragmente als eine Art Ganzheit fungiere – als Ansammlung von Teilen, die im Funktionszusammenhang des körperlichen Organismus gedacht werden müssten (ebd.: 288 f.). Dem medizinischen Fragment als pars pro toto wohne mithin eine Ambiguität inne: Zwar werde es als Teil einer Organisationsform mit Namen ›menschlicher Körper‹ gedacht, jedoch stehe es als Objekt medizinischer Betrachtung durchaus auch für sich selbst (ebd.: 280). Philippe Lacoue-Labarthe und Jean Luc-Nancy betonen in ihrer Rede über das Fragment die Wechselbeziehung zwischen Teil und Ganzem, indem sie Maurice Blanchot zitieren: »Das Fragment – und dies ist immer eines unter Fragmenten – führt zur Auflösung der Totalität, welche es voraussetzt.« (Lacoue-Labarthe/Nancy 1984: 64) Getrennt aus seinem Zusammenhang, verleibe die Rede über das Fragment dieses jedoch sogleich wieder einer Organisationsform ein: dem Diskurs. Allerdings kann dieser niemals zum Ursprung der Bruchstelle zurückkehren – sie verschiebt sich beständig und hält eine Kluft zwischen Fragmentarischem und ›Ganzem‹ offen (ebd.: 68 ff.). Die Rede über das Fragmentarische muss sich also zunächst eingestehen, dass sie selbst wieder Zusammenhänge und Komplexe bildet, die das Fragment zu verorten wünschen (vgl. Foellmer 2006: 21 ff.). Buschhaus’ These des Fragments als präparierte Einheit, die immer schon in funktionalen Relationen zu situieren sei, verkennt allerdings die Anarchie frag100 So erkennt auch Ernst: »Es ist geradezu lächerlich: Dieses Häufchen Fett, eine Art Schinkenrest, verweigert sich, für Orlan zu stehen.« (Ernst/Foellmer 2000: 222)
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mentierender Aktionen, wie sie etwa in der Kunst vollzogen werden: So ist Lehmens Bein zwar Teil seiner persönlichen, tänzerischen und medizinischen Narration, jedoch präsentiert es sich als im Kontext des Abends deplatziertes Organ, das schließlich den Rahmen des Theaters aufsprengt. Damit verweist Lehmen allerdings auf eine längst Konvention gewordene Strategie im zeitgenössischen Tanz, die den Körper und seine Glieder isoliert und fragmentiert in Verdrehungen bringt und gerade kein Bild eines ganzen Körpers mehr zu präsentieren wünscht. Im Gegenteil sind Bilder des zerstückelten Körpers weniger Grauen erregendes Phantasma als vielmehr Forderung im Zuge einer experimentellen Tanzpraxis. Das Fragmentarische selbst geht also bereits als Pattern in eine Beschreibungskultur zeitgenössischer Tanzpraktiken ein, die wiederum vom Publikum auch erwartet werden – das letzte Kapitel widmet sich ausführlicher diesen Verfahren. Lehmen wiederum zeigt insofern grotesk überzeichnend auf die Techniken des Dekomponierens in zeitgenössischen Tanzästhetiken, indem er sie übertreibt und seinen Körper tatsächlich als zerstückelten, als isoliertes, aufgeschnittenes und durchlässiges Organ dem Publikum darbietet und somit dessen eigenen Wunsch nach körperlicher Integrität bedroht.101 Lehmens Operation thematisiert darüber hinaus den Publikumsblick, der nicht mehr geschützt und gelassen das Geschehen verfolgen kann. Der folgende Abschnitt untersucht, inwieweit der Choreograph dabei unter anderem mit dem Zitieren medizinischer Diskurse dem Diktum von Sehen und Sichtbarkeit als Instrumente von Evidenzerzeugung einen Riegel vorschiebt.
2.3 Grotesk ist, wenn man zu viel sieht Der zunächst so trockene und lakonische Kommentarstil in Lehmens Lecture Demonstration ist in der professionellen Tanzwelt tatsächlich nicht ungewöhnlich.102 Angela Schubot erzählt von ihrer Knieverletzung: »Ich […] habe mich
101 Die Phantasie des zerstückelten Körpers in der Formulierung Lacans (Lacan 1975: 67) trägt insofern auch zum Fluchtreflex beziehungsweise Verbergen der Augen des Publikums bei, Schutzmechanismen, ohne die die eigene körperliche Unversehrtheit sonst nicht mehr gewahrt bliebe (vgl. auch S. 307 f.). Mit Freud und Benjamin sieht Maaike Bleeker die gesamte Entwicklung des Bewusstseins wesentlich als Ausdruck solcher Schutzfunktionen: »To protect itself against the constant bombardement of shocks, the ego employs consciousness as a shield, blocking the openness of the synaesthetic system of the body« (Bleeker 2002: 157). 102 Auch Vesalius war eine professionelle Abgeklärtheit in seinem Anatomischen Theater zu eigen, hervorgerufen durch einen Wissensvorsprung gegenüber einer aufgeregten, angespannten oder erschrockenen Menschenmenge, wie Buschhaus ausführt: »Dieser Aufregung des Publikums stehen die eigentümliche Ruhe, der unerschütterliche Ernst und die sachkundige Besonnenheit Vesals gegenüber, welcher offenbar schon gesehen und das unmittelbar Gesehene jenem anatomischen
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von einem Arzt operieren lassen, der meinte, er gucke mal ’rein, ob das Knie noch stabil genug ist oder nicht. Als ich dann aufgewacht bin, hatte er mir ein neues Kreuzband gebastelt.« (Schubot in Nachbar 2004: 33) Ein solcher Pragmatismus, der von einem recht mechanistisch fragmentarisierten Selbstverständnis gegenüber dem eigenen Tanzkörper zeugt, ist ebenso im Ballett zu finden. Die Primaballerina Margaret Illmann berichtet über eine Nachuntersuchung beim Arzt, der ihr die Videodokumentation ihrer Knieoperation zeigt. Illmann ist geradezu fasziniert: »Amazing technique. The ›freckle‹ incision above my patella guided the athroscopy instruments to the hamstring. The two eye holes on my knee are for the instruments to work through and the 2 cm cut by the shin bone was used to harvest these hamstring fibres.« (Illman 2004: 59) Ähnlich detailliert erläutert Lehmen das neue medizinische Verfahren, mit dem eine Sehne am Knie eingesetzt wird. Hier scheint der Topos des Tänzers als geformter und trainierter Körper auf. Evert verdeutlicht diese Idee einer Körpertechnologie am Beispiel von William Forsythes Ballettabend Six Counter Points (1996): »Die einzelnen Körperteile werden fast als vom Körper getrennte Objekte isoliert vorgeführt. Nicht nur in den Bewegungen des (Nach-)Zeichnens von Körperteilen […], sondern auch in diesem Vorgang des Vorzeigens erweisen sich die Körper der Tänzer als Material. Der Körper ist nicht mehr nur das perfekt trainierte Medium der tänzerischen Bewegung, sondern wird zur inhaltlichen, selbstreflexiven Grundlage. […]. Der Tänzer liefert und ist zugleich sein eigenes, zu analysierendes Material.« (Evert 2003: 141)
Den Akt des Zeigens greift Thomas Lehmen auf, nimmt ihn wörtlich und übersteigert ihn: Auf einer groß dimensionierten Leinwand hat das Publikum das defekte Innenleben seines Tänzerknies direkt vor Augen. Das Zeigen und Hineinsehen ist ein wichtiger Topos im Diskurs um das versehrte Tanz-Innenleben, wie auch die Aussagen der beiden Tänzerinnen Schubot und Illmann verdeutlichen, die ein visualisierendes, bisweilen gar an Hieronymus Bosch erinnerndes Vokabular verwenden, vom »’reingucken« sprechen und von am Knie befindlichen Augenhöhlen (»eye holes«, die hier tatsächlich den Löchern der Incision durch das Endoskop entsprechen). Nicht zuletzt ziehen sich diese Visualisierungen auch durch die Sprache der Medizin, wie Lehmen in seiner Lecture Performance ausführt. Um bei der Operation am Knie etwas sehen zu können, müssen die Ärzte, so der Choreograph, »alles wegnehmen, was die Sicht versperrt« – ähnlich wie dies Vesalius auf seinen Zeichnungen zeigt. Wird das erreicht, spricht man von der Darstellung des zu
Körperwissen anverwandelt hat, welches er nun demonstriert und doziert.« (Buschhaus 2005: 76)
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operierenden Organs, es heißt: »Das Knie stellt sich dar«.103 Der zuvor erwähnte Aufführungscharakter des anatomischen Theaters setzt sich in der Rede über den Körper also bis heute fort. Dabei ist besonders der Diskurs des Sichtbaren von prominenter Bedeutung, ein Movens in der Entdeckung des Körpers, das auch schon Vesalius antrieb. Barbara Stafford interpretiert die Praxis der Körperöffnung in der Medizin als Wahrheitssuche, wobei man etwas auseinanderreißen müsse, um Verstecktes aufzufinden (Stafford 1997: 7, 47). Sie schließt damit an Foucaults Perspektive an, die er mit der Geburt der Klinik für den medizinischen Blick seit dem Ende des 18. Jahrhunderts entwirft, welcher den Körper als dunkles, dichtes und verschlossenes Territorium voraussetzt, das durchdrungen und durchbohrt werden muss, um seiner Wahrheit auf den Grund zu gehen (Foucault 2005: 11). Dabei handelt es sich um eine doppelte Bewegung, die zwischen den Prozessen des Verbergens und Entbergens verläuft: »Die Figur des Sichtbar-Unsichtbaren organisiert die anatomisch-pathologische Wahrnehmung. Aber die Figur ist umkehrbar. Einmal handelt es sich um das Sichtbare, welches von der lebendigen Individualität, von der Überschneidung der Symptome und der Tiefe der Organe für eine Zeit unsichtbar gemacht wird, bis es dann von der Souveränität des anatomischen Blicks freigesetzt wird. Es handelt sich aber auch um jenes Unsichtbare der individuellen Modulationen […], das schließlich von der geduldigen Arbeit einer einschneidenden und geduldig nagenden Sprache für alle sichtbar gemacht wird.« (Foucault 2005: 183 f.)
Foucault spielt hier auf das Ideal des medizinischen Blicks an, in dem »alles Sichtbare aussagbar« sein solle (ebd.: 130),104 ein Blick, der das Individuum als geschlossene, opake, im Wortsinn ungeteilte Einheit allererst konstituiert (ebd.: 12)105 und die infolgedessen gewaltsam geöffnet werden muss: mit vertikalen, in die Tiefe gehenden Bohr- und Schneideverfahren klinisch vollzogener EinSichten (ebd.: 149 f.). Der ärztliche Blick, so Foucault, generiere sich in diesem Diskurs zum »Mythos vom […] gereinigte[n]«, objektivierenden und zugleich 103 So Lehmen in seinem Kommentar während der Lecture Demonstration. Der Topos der Darstellung verweist nochmals auf den inszenatorischen Charakter bildgebender Verfahren, die Einblicke in Regionen des Körpers gewähren, welche üblicherweise dem Blick verschlossen blieben, wie auch Gottfried Boehm ausführt (Boehm 1999: 224 f.) 104 Die Auffassung von der Sichtbarkeit und Darstellbarkeit des Körpers ist bis heute prominent, wie in der Einleitung der Erstausgabe der seit 2004 erscheinenden Zeitschrift Leib & Leben zu lesen ist, die den Titel Blicke in den Körper trägt und die Medizingeschichte als eine »Visualisierungsgeschichte des Körpers« versteht (Leib & Leben, ohne Autor/in, 2004: 14). Der Medizin-Anthropologe Arthur Kleinman konstatiert, »dass in der westlichen Kultur das Sichtbare […] darüber bestimmt, was als (Krankheits-)Realität akzeptiert wird und was nicht.« (Ebd.: 15) 105 Waldenfels fasst entsprechend die Oppositionierung des »In-Dividuum« als unteilbare Einheit gegenüber dem »All« als äußerste Grenze (Waldenfels 2006: 17).
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»reinigende[n]« Mechanismus (ebd.: 68), wodurch sowohl die Körper der Kranken wie auch jene der Behandelnden zum Instrument transformiert werden. Mit Kristeva ist bereits gezeigt worden, dass ein solch objektivierender Blick, wie ihn Lehmen auf seinen Körper zu haben scheint, vom Publikum allerdings nicht mehr geleistet werden kann. Der Blick ver-klärt sich und wird kontaminiert106, angesteckt und überwältigt durch die Wucht der Bilder aus dem Inneren des Knies. Schreibt Fischer-Lichte solche Ansteckungsprozesse im Theater dem »semiotische[n] Körper« zu, sinnliche Anziehung hingegen dem »phänomenale[n] Leib« (Fischer-Lichte 2004: 163), so brechen in Lehmens Operation die vorgenannt distinkten Ebenen zusammen: Mögliche Zeichen, die in der Öffnung noch eine Orientierung geben könnten, versagen ihren Dienst und Lehmens Innenansichten treten so nahe, dass sie das Publikum buchstäblich an sich abprallen lassen. Meine These ist, dass es sich in Thomas Lehmens Operation um groteske Phänomene handelt, die sich unter anderem über das Feld des Sichtbaren und die Blicklenkung im Besonderen herstellen. Die Aus-Richtung des Blicks ist ein häufig anzutreffendes Thema in zeitgenössische Tanzperformances und wird zunächst am Beispiel von Isabelle Schads Performance The Better You Look The More You See (TBYLTMYS) betrachtet, um anschließend Lehmens Strategien des ›Überfalls durch Blicke‹ genauer zu untersuchen.
2.3.1 The Better You Look The More You See Das 2002 entstandene Stück positioniert sich thematisch über die Kritik an massenmedialen Bildern, mit denen man tagtäglich konfrontiert ist. Konsum und Glücksversprechen als Ausdruck eines ubiquitären Sehens schöner, ebenmäßiger und gut gekleideter Körper und das beständige Sich-selbst-Darstellen im Lichte jederzeit möglicher Augen- und Kamerablicke ist von den Akteur/innen um Isabelle Schad formal eingebettet in eine nicht-hierarchische Struktur der Bewegungsentwicklung.107 Lediglich übergeordnete Themen und choreographische Eckpunkte des Stückes sind festgelegt, die als »Real-Time-Composition« im Moment der jeweiligen Aufführung umgesetzt werden, ohne dem Diktum einer vor-schreibenden Choreographin zu folgen. Auf einer weiteren Ebene kommen Objekte des bildenden Künstlers Jim Whiting ins Spiel, darunter ein sogenanntes Camera Car, das von den Performer/innen ferngesteuert werden kann.
106 Vgl. zur Figur der Kontaminierung Kap. 1, Anm. 53, S. 86. 107 Ich habe für das Stück als dramaturgische Beraterin gearbeitet und es mehrmals im Podewil, Berlin (2002) sowie im LOFFT, Leipzig (2003) gesehen. Beteiligt sind in der von mir besprochenen Version: Nabih Amaraoui, Anne Delahaye, Kim Lien Desault, Bruno Pocheron und Isabelle Schad.
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Das gesamte Stück sowie der Bühnenaufbau sind geprägt von unterschiedlichen Konstellationen des Sehens, wie der Titel bereits nahelegt, und vor allem von vertikalen und horizontalen Blickachsen durchzogen. Das Publikum sitzt auf zwei extrem erhöhten, sich gegenüberliegenden Tribünen und blickt somit von oben auf die unten fast wie in einer Arena agierenden Darstellenden herab.108 Gleichzeitig können die Reaktionen der gegenübersitzenden Zuschauer/innen beobachtet werden. Eine Leinwand, die knapp unterhalb der Saaldecke angebracht ist und wechselnd Bilder zwischen vorproduzierter Einspielung (die Portraits der Performer/innen zeigen), Textpassagen oder das Live-Umschalten auf die Bühnensituation anbietet, verlangt wiederum den beständigen Blick des Publikums nach oben. Durchkreuzt werden diese Blickwechsel zwischen den Richtungen oben – unten – geradeaus durch die Darstellenden selbst, die bisweilen so nah an der Tribünenwand agieren, dass sie auf der jeweiligen Seite vom Publikum gar nicht mehr zu sehen sind und, will man dennoch etwas erblicken, ein Verrenken des Halses oder das Erheben vom Sitz erfordern. Zu diesen Blicklenkungen, die durch die Raumrichtungen provoziert werden, gesellen sich die Videoleinwand und das Camera Car. Nachdem sich die Darsteller/innen in einer Szene völliger Dunkelheit ihrer Kleidung entledigt haben, nur durchbrochen von kurzen, auf der Leinwand zu sehenden Polaroidaufnahmen (die scheinbar orgiastische Entkleidungsszenen zu dritt und zu fünft suggerieren, Abb. 80), liegen sie nun nackt und vereinzelt angeordnet bei voller Beleuchtung auf dem Bühnenboden. Das Kameraauto, bedient vom Tänzer Nabih Amaraoui, saust über den Bühnenboden hinweg, nähert sich den einzelnen, regungslos verharrenden Körpern an und gewährt Nah-Aufnahmen, die auf die Leinwand live übertragen werden. Immer wieder ändert das Kameraauto die Blickrichtung, fährt zu einer Hand, zu einem Gesicht, zoomt das Auge heran, kehrt um und wendet sich der nächsten Person zu. Bisweilen beenden die Darstellenden selbst den Blick der Kamera, indem sie aufstehen und weggehen. Oder sie werfen den Blick gezielt in die Kamera zurück, der damit, auf dem Bildschirm erscheinend, auch das Publikum trifft. Das Kameraauto wagt sich außerdem an Stellen vor, die die Schamgrenze übertreten. So fährt es plötzlich zwischen die Beine der Tänzerin Anne Delahaye und hält zielsicher auf ihr Geschlecht zu. Nur eine kurze Sekunde jedoch erlaubt die Kamera diesen detaillierten Nahblick auf den Körper. Dann schwenkt sie weg und zoomt so dicht an den Oberschenkel der Liegenden heran, dass nur noch die fast mikroskopisch wirkende Haut und damit im Grunde ›nichts‹ mehr zu sehen ist.
108 Konzept von TBYLTMYS ist die Anpassung an den jeweiligen Aufführungsort. Die Vorstellung, die hier als Beschreibungsgrundlage dient, ist die Premierenfassung im Berliner Podewil, die mit den zwei erhöhten Tribünen arbeitete.
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Abb. 80: Compagnie Isabelle Schad, The Better You Look The More You See (TBYLTMYS, 2002), Photo: Bruno Pocheron
Der Vergleich mit Annie Sprinkles Performance-Aktion Public Cervix Announcement, die in den Rahmen der Show Post-Porn Modernist (1990-95) eingebettet ist, liegt hier nahe, in der die Künstlerin ›reale‹, direkte Einblicke in ihre Vagina gewährt und damit den voyeuristischen, pornographischen Blick auf weibliche Geschlechtsmerkmale subversiv unterwandert,109 der – so nah herangeholt – überhöht und in einer karnevalesken Wende demontiert wird (vgl. Foellmer 2006: 244 ff.).110 Maaike Bleeker betont mit Jean-Paul Sarte den Modus des Voyeurs, der sich in verborgener Position am Rande des Sichtfeldes befindet, das er zu überblicken glaubt. Fühle sich der Voyeur nun ertappt, so rücke er selbst wieder in das Seh-Feld ein und werde Teil von ihm (Bleeker 2002: 145 f.), verwickelt ins Bild, was er, so Jacques Lacan wiederum, ohnehin schon immer war: »Das Bild ist sicher in meinem Auge. Aber ich, ich bin im Tableau.« (Lacan 1994: 65)111 Die Beherrschung des Sichtfeldes als transzendentale Fähigkeit des Subjekts erweist sich mithin als Konstrukt, wie Bleeker weiter ausführt: »His mastery is unmasked as an illusion, as he suddenly realizes that he himself is also 109 Zu Annie Sprinkles Aktion vgl. u.a. Sprinkle 1998: 160 ff., Schneider 1997: 53, 65 ff., 82, 150, Zimmermann 2001: 202 ff., Cody 2003, Cody/Schechner 2003a: 177 f. 110 Überdies entfaltet sich hier ein multiples Verweissystem aus dem kunst- und performancehistorischen Wissen. So erinnert die ›Schenkelfahrt‹ auch an Gustave Courbets Gemälde L’Origin du Monde (1866). 111 In Anlehnung an Merleau-Ponty formuliert Isa Wortelkamp das Phänomen des Eingewickelt-Seins in das Sehen als ein Pendeln zwischen der Distanz zum und der Fusion mit dem Gesehenen im Theater: »Die Sicht im Theater geschieht, wenn auch nicht immer in Trennung von Zuschauer- und Bühnenraum, aus einer Distanz zum Geschehen, die sich durch den Standpunkt des wahrnehmenden Körpers zu den Körpern und den Dingen des Gezeigten definiert. Dabei ist das Auge umschlossen von der Augenhöhle, die den Blick umrahmt und den eigenen Körper einschließt. Im Blick auf das Geschehen wird die eigene Anwesenheit gegenwärtig, die sich in einem Abstand zum Geschehen erfährt, der immer wieder in die Einbindung in das Ereignis übergehen und umschlagen kann. Aus der Differenz (nicht aus der Koinzidenz) vollzieht sich die Verflechtung des Sichtbaren mit dem Sehen, die im Ereignis des Theaters die Wahrnehmung zu prägen scheint.« (Wortelkamp 2006: 210; vgl. auch S. 131)
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›on view‹.« (Bleeeker 2002: 146) Das Ertappt-Sein wird von Sprinkle indessen von vorneherein vereitelt: Der Blick in ihre Vagina ist als ein öffentlicher inszeniert, wobei Scham oder Peinlichkeit, haben sich erst einmal ein paar Freiwillige gefunden, in einem gemeinsamen, fröhlichen Späh-Event aufgelöst werden. Anders als bei Sprinkle entfaltet sich in Isabelle Schads Stück eine zweite Blickebene, die eine mediale Vermittlung der Tänzerkörper erzeugt. Im Gegensatz zu Lehmen, dessen gezeigte Bilder der Operation auf dem überdimensionalen Screen eine nahezu überwältigende Wirkung haben, ist den Zuschauenden in TBYLTMYS aber immer noch eine Wahlmöglichkeit gegeben, wenn sie sich auch jeweils entscheiden müssen, was nun ›schamhafter‹ ist: die nackten Darsteller/innen auf der Bühne live, aber immerhin etwas entfernt, zu beobachten, oder sie medial über Camera Car und Screen vermittelt zu sehen, dafür aus nächster, nahezu promisker Nähe, die bis in die Tabuzonen öffentlicher Intimität im Theater vordringt. Blickschranken entstehen hier also durch das Spiel von Neugierde, Voyeurismus und die Konventionen dessen, was sich im Theater ›gehört‹ oder besser: zu sehen erlaubt ist. Jean Baudrillard proklamiert für das verstärkte Auftauchen des Videos Ende der 1970er Jahre das »Ende der ästhetischen Distanz des Blickes« (Baudrillard 1993: 257; vgl. auch S. 114) und führt weiter aus: »Wir nähern uns immer mehr der Oberfläche des Bildschirms, unsere Augen sind gleichsam verstreut. Wir halten nicht mehr die Distanz des Zuschauers zur Bühne, die Konventionen der Szene sind vergangen. Und wenn wir so leicht in diese Art imaginäres Koma des Bildschirms verfallen, so liegt es daran, dass der Bildschirm eine unendliche Leere erzeugt, die auszufüllen wir beansprucht sind: Proxemik der Bilder, Promiskuität der Bilder, taktile Pornographie der Bilder. Und doch ist das Bild, das auf dem Bildschirm erscheint, paradoxerweise immer Lichtjahre entfernt, es ist immer ein TeleBild. Es befindet sich in einer ganz eigentümlichen Entfernung, die man als für den Körper unüberwindbar bezeichnen kann.« (Baudrillard 1993: 257 f.)
Wie betont wird allerdings in Schads Performance TBYLTMYS diese Nähe verunmöglicht, die eine scheinbar ungehinderte Schau auf das Sexuelle bieten soll: Die Kamera fährt (im wörtlichen Sinne als Fahrzeug) so nahe heran, dass das begehrte Objekt dem Blick verstellt bleibt. Nähe und Ferne beginnen im Wechselspiel zwischen live performenden und live gefilmten Körpern zu oszillieren. Zwar ist eine Distinktion zwischen Abgebildetem und Gegenstand durchaus noch erhalten, jedoch sind die Kategorien – hier nah, dort fern – infrage gestellt. Wird hier ein Wechselspiel zwischen Sehen und Verbergen betrieben, so demonstriert Thomas Lehmen seinen geöffneten, operierten Körper im Wortsinn und lässt die erzeugten Bilder den Betrachtenden direkt zustoßen, die ihnen allenfalls noch durch Entzug des eigenen, wahrnehmenden Körpers entgehen können. Inwieweit dabei groteske Momente im Sehen zum Tragen kommen, wird nun zu entfalten sein.
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2.3.2 Hände hoch! Noch einmal zurück zum Anfang. Als der erste Einstich in Lehmens Knie auf dem Bildschirm erfolgt, stöhnt das Publikum kollektiv auf. Einige gehen, manche lachen überrascht auf und geben ihrer Ungläubigkeit ein Ventil ob dem, was der Choreograph hier präsentiert und kommentiert, als sei es nichts weiter als der Probenauszug eines neuen Stücks. Ich selbst halte meine linke Hand als ›BlickFilter‹ vor meine Augen, im Versuch, mich vor der Wucht der Bilder, die die bohrende Öffnung der Körpergrenze durch die Haut zeigen, zu schützen – Bilder, die ich andererseits doch gerne sehen möchte. Immer wieder blinzele ich zwischen den Fingern hervor. Was veranlasst mich also zu dieser doch eigentlich sinnlosen Geste? Schließlich filtert sie ja nicht wirklich meinen Blick, entweder sehe ich oder ich sehe nicht, was sich dort auf der Leinwand abspielt. Ein bloßes Blinzeln oder Augenschließen scheint aber angesichts der Gewalt dieser Bilder nicht angemessen, die Hände legen sich zusätzlich schützend vor den Kopf, um den Gesichtssinn vor dem Zuviel, dem Zu-viel-Sehen, Zu-viel-Wahrnehmen zu bewahren. Die vor die Augen gelegten Hände sind aber auch eine Geste der Ungläubigkeit, und so ist auch die Reaktion des Publikums zu Beginn zu verstehen: Thomas Lehmen erklärt sich, erläutert, weshalb er an diesem Abend nicht tanzen kann. Und doch etwas zeigen möchte. Mit dem zeitgleich eingespielten Video, das Lehmen auf seinem Weg in den Operationssaal zeigt, und der Ankündigung des Choreographen – »Und da habe ich mir gedacht, ich zeige meine Operation« – wissen wir: Er tut es wirklich. Er wird uns diese Operation zeigen. So wehren die Hände schützend diesen Einbruch des Lebens ab, dessen, was auf der Bühne doch zumeist nicht gezeigt wird – oder zumindest nicht an einem Abend, der sich eher als informativer Tanztrailer versteht. Lehmens Operationsbilder überfallen das Publikum regelrecht und werden, mit Baudrillard gesprochen, »zu nah, um wahr zu sein.« (Baudrillard 1992: 46)112 Lehmens überdeutliches Zeigen seines Körpers im Stadium des Verletzt- und Durchdrungen-Werdens lässt eine ästhetische Distanz zum Geschehen auf der Bühne kollabieren: Man will es einfach nicht wahr-haben, dass der Choreograph tatsächlich die Operation seines Knies zeigt.113 Benennt Fischer-Lichte die Zuschauer/innen als kreative Instanz im zeitgenössischen Theater, als MitProduzent/innen von Sinn (Fischer-Lichte 1997: 14 f.), entzieht sich das Publikum in Operation dieser Aufgabe, ist doch die »Verkörperung des Sehens«, wie 112 Baudrillard formuliert hier die Illusion des (rationalisierenden) Sehens durch ein Zu-viel und Zu-nah von Bildern, die Georges Didi-Huberman hingegen als »Übung des Glaubens« akzentuiert: ein Blick, der glaubt zu sehen, was er sieht, und sonst nichts (Didi-Huberman 1999a: 23 f.). 113 Hans-Thies Lehmann fordert eine solche Strategie als wichtigen Zug zeitgenössischen Theaters ein: »Moment für Moment muss Theater dem Risiko ausgesetzt bleiben, dass die ästhetische Distanz zusammenbricht.« (Lehmann 2005: 37)
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Siegmund es mit Jonathan Crary postuliert (Siegmund 2003: 425) hier allzu wörtlich geraten und schlägt in die Verletzung des zuschauenden Blicks um. Lehmen tritt uns zu nahe, er geht uns an und vertauscht die Rollen des Sehens.
2.3.3 Den Blick aushöhlen Georges Didi-Huberman entwirft eine Konzeption des Sehens, die vom Betroffen-Sein ausgeht: »Was wir sehen, gewinnt in unseren Augen Leben und Bedeutung nur durch das, was uns anblickt, uns betrifft.« (Didi-Huberman 1999a: 11) Er paraphrasiert dabei Lacans Perspektive des Sehens, die sich an dem auf-hält, was uns an-geht, wie dieser betont: »[D]ie Dinge blicken mich/gehen mich an und ich wiederum sehe sie.« (Lacan 1994a: 78 f.)114 An Maurice Merleau-Ponty anknüpfend, bestimmt Didi-Huberman Körper als besondere Dinge, deren Sichtbarkeit unhintergehbar, da an ihre Volumina gebunden sei – das Sehen stößt sich an ihrer Dichte (vgl. auch S. 46). Anders als die Phänomenologie, die die Leiblichkeit des Sehens in der Metapher des Fleisches pointiert, argumentiert er jedoch psychoanalytisch und entwickelt den Vorgang des Sehens als Verlusterfahrung, den er am Beispiel der Betrachtung eines Grabmals veranschaulicht. Der Blick erfährt im Ansichtig-Werden des Grabsteins eine doppelte Wendung, die sich zunächst als »Evidenz eines Volumens« darstelle, als Größe und Fülle des Gegenstands (Didi-Huberman 1999a: 19). Zugleich wird dem wahrnehmenden Blick jedoch gewahr, dass der Stein nur einen Hohlraum verdeckt, denn was zurückblickt, ist leer: »[D]as, was mich in einer solchen Situation anblickt (und betrifft), besitzt keinerlei Evidenz, denn es handelt sich im Gegenteil um eine Art Höhlung [évidement]. Eine Höhlung, die überhaupt nicht mehr die Welt des Artefakts oder des Abbilds betrifft, eine Höhlung, die da vor mir an das Unausweichliche schlechthin rührt: nämlich an das Schicksal jenes Körpers, der dem meinem gleicht, dem aber Leben, Sprache, Bewegungen, sein Vermögen, mich anzublicken, fehlen [vidé de]. Und der mich dennoch in einem bestimmten Sinne anblickt – im unausweichlichen Sinne des Verlusts, der hier am Werk ist.« (Didi-Huberman 1999a: 19 ff.)115
Der Anblick des als leer gewussten, tote Materie beherbergenden Grabmals lässt eine Höhlung im Blick entstehen, in die sich das Auge verliert. Evidenz ist nun nicht mehr die Erfahrung gesicherter Erkenntnis, sondern zeigt sich vielmehr in der erschreckenden Leere dessen, was man zu wissen glaubt. Ein solches Scheitern des Evidenten situiert Didi-Huberman in der Kunst, genauer: der Minimal 114 Das französische »me regarde« ist hier in seiner doppelten Auslegung als »sehen« und »angehen« zu verstehen (vgl. Lacan 1994: 65). 115 »Évidement« heißt im Französischen »aushöhlen« und trägt in sich die Wortbedeutung von (aus)leeren (vgl. Didi-Huberman 1999a: 19, Anm. 1).
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Art der 1960er Jahre und ihre Versuche um Referenzlosigkeit. Mit Lacans Rede vom Blick, der sich aus dem »Begehren nach dem Anderen« als »Zu-sehenGeben« speise (Lacan 1994a: 85), betont er, dass sich Sehen in der Kunst als Beunruhigung des Blicks ergebe, als eine »gespaltene, unruhige, bewegte, offene Operation«, die an das Subjekt gebunden sei (Didi-Huberman 1999a: 62). Die benjaminsche Ferne des Kunstwerks umdeutend, die in der »Aura« desselben begründet ist (vgl. auch Benjamin 1977: 15), hebe Kunst dann die illusionäre Erfahrung einer Selbstversicherung ob des Gesehenen auf, indem sie selbst aufdringlich werde und die Betrachtenden wiederum auf Distanz halte (DidiHuberman 1999a: 155). Formuliert nun Lacan den Blick im Sinne eines Mangels, als Begehren nach dem, was sich entzieht, vollführt Thomas Lehmens Lecture Demonstration die umgekehrte Operation: Er zeigt uns mehr, als wir zu sehen wünschen. Das aufdringliche Fleisch seines Knies provoziert einen Sturz ins Bodenlose – die Höhlung des Knies, das Loch in Lehmens Körper, lässt unseren Blick zurückprallen, schmettert ihn ab und zeigt sich als obszönes Gebilde im doppelten Sinn116: Es zeigt zu viel117 in seiner bestürzend leeren Höhlung, dargeboten in der endoskopischen Linse, die sich als Szene inmitten der Szene der Lecture formiert und eine Leerstelle markiert – ein Loch im Bein, das, immobil und funktionslos, diese Bühne tanzend nicht betreten kann. Dabei wird die Lenkung des Blicks in Operation komplett umgedreht: Das Knie, als zubeißendes Auge, schaut auf das blickende Publikum zurück. Das begehrende Auge, so Lacan, ist ein gefräßiges Organ, es zeige sich als »Appetit des Auges, den es zu speisen gilt« (Lacan 1994a: 85). Vergeht den Augen des Publikums angesichts des durchstochenen Lehmenschen Knies solcher Appetit, so transformieren sich Höhlung im Bein und endoskopisches Kameraauge in sehende Organe, groteske Grotten118, die den Betrachtenden zu-stoßen und ihren Blick verletzen, der sich nur noch mit hochgerissener Hand zu schützen vermag.119 Bleeker betont mit dem Tanzwissenschaftler John Martin die Körperlichkeit in der Wahrnehmung des Bühnengeschehens, die aus visuellen und propriozepti116 Krassimira Kruschkova formuliert das Obszöne in seiner doppelten Bedeutung als »das Allzu-Sichtbare«, das sich jedoch »nur ›ob-scaena‹, außerhalb der Bühne« befinden dürfe (Kruschkova 2005: 9). 117 Gerald Siegmund bezeichnet das Obszöne als »Mehr an Sichtbarkeit« am Beispiel der Produktion Excessories des amerikanischen Choreographen John Jasperse (1995), in welcher die nackten Geschlechtsteile der Tänzer/innen exponiert würden, die doch sonst üblicherweise unter dem Kostüm verborgen blieben (Siegmund 1999: 127). 118 Zur Etymologie des Grotesken als Höhle vgl. S. 66. 119 Mit Bernd Hüppauf kann die mit den Fingern erzeugte Filterung des Blicks auch als ein Versuch gedeutet werden, die »optische Wunde der visuellen Subjektbildung«, die mir in Operation als ein Abjekt entgegentritt, durch die Verunklarung mit den Fingern als Unschärfe abzumildern, als »Schutz des Auges vor der Schärfe des Schnitts« (Hüppauf 2004: 218).
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ven Anteilen bestehe und den Blick mithin als kinästhetischen formiere. Als Wortzusammensetzung von »proprius« (persönlich, individuell) und »capere« (greifen, fangen) sei der eigene Blick immer auch ein er-greifender, der seine Territorien im Raum markiert (Bleeker 2002: 139, 158).120 Lehmen verunmöglicht einen solchen Blick und lässt ihn in einen umkippen, der das seinerseits zugreifende Knie abwehrt. Ist es mit Foucault üblicherweise der »erspähende Blick« des in die Tiefe arbeitenden Chirurgen, der den Körper zum Objekt der Anschauung macht (Foucault 2005: 178) und dessen opake Dichte er in Fusion von Auge und Skalpell121 durchdringt (Buschhaus 2005: 82), schlägt Lehmens Objekt zurück. Im Verschmelzen von Knie, Kamerablick, Leinwand und endoskopischem Instrument werden die Bilder, die der Choreograph präsentiert, zu schneidenden, verletzenden Blickmaschinen und hebeln den Wunsch aus, im Theater möglichst alles gut sehen zu können.122 Der Blick wird punktiert123 und windet sich in Mischempfindungen zwischen Abwehr des Schmerzes und vergeblichem Sehen-Wollen, zwischen Faszination und Grausen. Meine erhobene Hand, deren Finger sich schützend vor die Augen legen, ist also auch die Reaktion auf ein Geblendet-Werden, der Versuch, die Augen zu beschatten vor dem, was sich auf der Leinwand allzu deutlich zeigt. In seinen Ausführungen zum Sehen spricht Waldenfels vom »beunruhigten Blick«, der sich nicht bequem in ein Wiedererkennen einrichte (Waldenfels 1999: 124 ff.). Grundsätzlich sei das Sehen immer schon ein depersonalisiertes: »es sieht«, es stößt mir zu, es fällt mir ein (ebd.: 126). Dinge, die schon gesehen worden sind, könnten aber durch ein »sehendes Sehen« noch weiter verunsichert und »aus der Bahn geworfen« werden (Waldenfels 1999: 124). Es gibt ein »Sehen, das den Rahmen sprengt«, so Waldenfels, und darunter fasst er auch die »Blendung« (ebd.: 139 f.): »Dem weit geöffneten Auge, etwa dem erschreckenden Anblick der Gorgo, steht der abgeschirmte Blick gegenüber.« (Ebd.: 143) Nun reicht bei Lehmens Darbietungen das bloße Abschatten durch das Senken des Blicks, das Herabzucken des Lides nicht aus: Die Hand muss als zweite 120 Misst Bleeker dem zeitgenössischen Theater das Potential zu, die Betrachtenden aus ihrer als sicher geglaubten Blickperspektive zu kippen (Bleeker 2006: 43), radikalisiert Lehmen solche Praktiken der Desorientierung und vertreibt das Publikum größtenteils gleich ganz aus dem Theater. 121 Elaine Scarry betont die Nähe von Werkzeug und Waffe, wobei oftmals nur eine geringe Bewegungsverschiebung nötig sei, um die Auswirkung stark zu verändern: »Das Objekt – Waffe oder das Werkzeug – ist also ein Hebel, durch den eine relativ kleine Veränderung in dem Körper an dem einen Ende zu einer sehr großen Veränderung an dem – lebenden oder toten – Objekt am anderen Ende wird.« (Scarry 1992: 261) 122 Die Anatomischen Theater waren ebenfalls nach Vorgaben gebaut, möglichst vielen Zuschauer/innen den Einblick in größtmögliche Evidenz zu gewähren (Buschhaus 2005: 91 ff.). 123 Susanne Stemmler verweist mit Merleau-Ponty sowie Roland Barthes’ Idee des punctum auf die Möglichkeit von Verletzung und Verwundung des Blicks, etwa beim Betrachten eines Bildes (Stemmler 2004: 87).
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Schwelle zu Hilfe genommen werden. Goffman spricht in diesem Zusammenhang vom Bedecken des Gesichts mit den Händen als einer Reaktion im Moment des »Aushaken[s]« (Goffman 1996: 383). Das Aushaken bezeichnet er als den Augen-Blick, in dem der gewohnte Rahmen nicht mehr stimmt oder man selbst aus zuvor bekannten Mustern ausbricht. Am Körper, zum Beispiel am Gesichtsfeld, macht Goffman diese Reaktionen fest, wobei der Schutz durch die Hände hier das Entgleisen der Gesichtszüge verbergen solle (ebd.: 376 ff.). So ist der Geste der Hand als Blickfilter eine weitere Dimension hinzuzufügen: nicht nur als Schutz vor dem Wahrgenommenen, Schutz des Gesichtes und der Augen vor dem, was mich von dort verletzend anblickt, sondern auch als Abschirmung des eigenen, entsetzten Blicks, des Grauens, das sich im Gesicht abmalt und von den anderen nicht gesehen werden soll – anders ist eine zumindest noch rudimentär distanzierte Zuschauer/innenposition offenbar nicht mehr aufrechtzuerhalten. Lehmens Operation ruft somit groteske Kippmomente hervor, die sich gleichermaßen über den Gestus des überdeutlichen Zeigens und die Aus-Höhlung des Gesehenen herstellen. Ist es in Isabelle Schads TBYLTMYS das Spiel mit Neugier, Voyeurismus und Verweigerung, das die Beinahe-›Einfahrt‹ in den Körper der Performerin durch die Kamera und das Pendeln zwischen Live-Körpern und Live-Screen provoziert, so lässt Thomas Lehmen die bei Schad noch existente ikonische Differenz zeitweise kollabieren.124 Folgt man Auslanders Idee von der durch das Primat der Präsenz bestimmten Ontologie sowohl des Bildsschirms als auch des live Dargebotenen (vgl. S. 291 f.), so kommt es zu momenthaften Einstürzen der doch eigentlich schon beendeten, vergangenen Operation ins tatsächliche Jetzt-Erleben dieser Lecture Performance, zu Einbrüchen eines mit Lacan buchstäblich traumatisierten Realen.125 Die Bilder rücken den Zuschauenden auf den Leib und sind von diesem nur noch durch das Erheben der Hand oder das Verlassen des Theatersaales fernzuhalten. Waldenfels beschreibt eine solche Reaktion mit dem »antwortenden Sehen«: »Was unseren Blick beunruhigt, ist nicht etwas, das wir nach Belieben sehen können, sondern etwas, das uns zu sehen gibt. […] Selbst das Wegsehen und Übersehen ist eine Form des Antwortens. Im antwortenden Sehen verkörpert sich ein Blick, der hier stattfindet, indem er anderswo beginnt, der also nie völlig an seinem Platz ist.« (Waldenfels 1999: 131) Dem schockierten sehenden Sehen stellt sich ein zeigendes Zeigen gegenüber, ein überschießendes und wucherndes De-Monstrieren des ›Körperinneren Thomas Lehmen‹, ein überdeutliches Zeigen des verletzten Tänzerinstruments, das mithin zu einem Monströsen wird und durch das Lehmen zudem das panopti124 Mit Platon weist Waldenfels auf die Notwendigkeit dieser Differenz hin, will man ein Bild als ein solches – distinkt vom Abgebildeten – unterscheiden können (Waldenfels 1999: S. 132 f.). Zur ikonischen Differenz vgl. auch Boehm 1994a: 30. 125 Zum Realen als traumatische Erfahrung nach Lacan, etwa bei Lehmens Bühnenunfall während der Aufführung von Distanzlos in Hongkong, vgl. Siegmund 2006: 213, 226 f.
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sche Ideal des medizinischen Blicks mit seinen eigenen Mitteln schlägt. Baudrillard konstatiert angesichts des Pornographischen ein »Wuchern der Zeichen«, deren Nähe den Körper »auf monströse Weise sichtbar« werden ließen (Baudrillard 1992: 45, 53). Lehmens zum Einblick geöffnetes Knie überführt wiederum den bloßen Gestus des Vorführens in eine Lecture Demonstration, die im Wortsinne ihren Gegenstand offen-sichtlich und monströs werden lässt.
Exkurs: You Made Me a Monster. Vom demonstrierenden zum wuchernden Körper Wir betreten die Bühne im Haus der Berliner Festspiele. Über den gesamten Raum verteilen sich große, etwa ein Meter hohe tischartige Podeste, auf denen bizarre, filigrane Gebilde stehen, die ein wenig an Dinosaurierskelette aus dem Naturkundemuseum erinnern, nur dass der Aufbau keiner bekannten GelenkStruktur zu folgen scheint. Wir treten näher heran und stellen fest, dass es sich um regellos assemblierte Fragmente aus Bastelbögen für menschliche Pappskelette handelt, die von einigen bereits anwesenden Personen herausgetrennt und an beliebige Stellen angeheftet worden sind. Hinweise legen nahe, dass auch das Publikum zur Bricolage eingeladen ist, und so sind bald alle in schweigendes oder munter schwatzendes Basteln vertieft, die unterschiedlichen Knochenteile an den absurdesten Stellen anbringend: Ein Wirbelkörper steckt am Oberschenkelknochen, Fingerglieder zwecken sich an dünne Rippenbögen und verlängern diese zu spinnenartigen Formationen. Wuchernde Objekte entstehen, die an die monströsen Kollektionen Ambroise Parés erinnern. Arnd Wesemann berichtet von seinen Erfahrungen in William Forsythes Installation You Made Me a Monster (2005): »Mit spielerischem Vergnügen knicken wir dreikrallige Pfoten […], pinnen Gehirnteile eines Sauriers an dessen Hinterteil. Skulpturen entstehen, die die Evolution mit Hohn überziehen. Die ausgestorbene Spezies wird zu Monstren zufälliger Montagen der Glieder und Extremitäten.« (Wesemann 2005: 43) Groteske Inversionen finden also statt, die zum Beispiel das Haupt zum Hinterteil verlagern – allerdings in Montagen, die auch sonst keiner bekannten Organisation von Körpern mehr ähneln, und so ist im Grunde nicht einmal bestimmbar, was denn hier nun Oben und Unten, Hinten oder Vorn wäre (Abb. 81). Nach einiger Zeit schiebt sich ein Display in die Wahrnehmung, angebracht am vorderen Bühnenrand, über das Versatzstücke von Sätzen ziehen, die in ihrer scheinbaren Bruchstückhaftigkeit von Aliens und fremden Wesen erzählen. Unterdessen zwängen sich die Tänzer/innen David Kern, Nicole Peisl und Christopher Roman zwischen uns und die Podeste, die Körper in beständige Verdrehungen bringend, in denen kein Gelenk mehr seinem vorgezeichneten Verlauf folgt, sondern die Bewegungsimpulse vielmehr aus den ent-stellten Verrenkungen der pappknöchernen Konstruktionen bezogen scheinen. Wesemann bemerkt über Peisl: »Ihr Körper tanzt die Dysfunktion des Knochenbaus, die sich vor uns auf
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dem Tisch türmt.« (Wesemann 2005: 43) Zeigt Lehmen das Dysfunktionale anhand seines stillgelegten Beins, wird es hier in die Asynchronizität der sich drehenden und verschiebenden Gelenke übersetzt. An einem Mikrofon angelangt, quellen Töne aus Christopher Romans Mund hervor, laute, röchelnde, stöhnende Schreie, die das Innere gleichsam nach außen entleeren, den Veräußerungen der wuchernden Skelette auf den Podesten folgend.126
Abb. 81: William Forsythe, You Made Me a Monster (2005), Photo: Marion Rossi, Tanz: Nicole Peisl
Erst jetzt bemerke ich die ausgelegten Zettel am Rand der Podeste und realisiere, dass sie nicht nur die Partitur der Satzfragmente des Displays, sondern auch der gesamten Installation bilden: Es ist die Geschichte von Forsythes vor vielen Jahren verstorbener Frau, die einem Krebsleiden erlag und den Anlass für You Made Me a Monster gab. In kurzen Absätzen erzählt Forsythe über die Entdeckung der Krankheit, ihren Verlauf und den Tod seiner Frau, Ereignisse, die in geradezu unheimlicher Nähe zu dem Stück stehen, an dem der Choreograph damals arbeitete: Alie/NA(c)Tion. Im Probenprozess hatte seine Frau gar, dem Thema des
126 Michaela Schlagenwerth nimmt diese Situation folgendermaßen wahr: »Ein schreckliches, nicht enden wollendes Grollen. Das Innere des Körpers stülpt sich nach außen, setzt sich in Atmosphäre um.« (Schlagenwerth 27.8.2005) Die Verlagerung des Skeletts nach außen ist auch ein Element in Charlotte Vanden Eyndes Stück Lijfstof (vgl. S. 202), die sich dort jedoch noch als ›ordentlich‹ aufgereihte Gliederung von Wirbelkörpern ergibt.
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Fremden im Eigenen folgend, eine Bewegungsimprovisation mit dem Namen »Krebs« entwickelt – kurz darauf wurde die Krankheit bei ihr diagnostiziert (Forsythe 2005, Aufführungstext). Die heitere Unsinns-Collage der Skelettmonster wandelt sich nun schlagartig als wir realisieren, dass wir die ganze Zeit über an der Wucherung der Geschwüre mitgebastelt haben, eine Erfahrung, die auch Forsythe machte. Er berichtet, dass die Familie kurz vor dem Tod seiner Frau von einem Freund ein Weihnachtsgeschenk erhielt: Zum Vorschein kam ein Pappskelett zum SelbstZusammenbauen. Erst Jahre später fiel Forsythe das makabre Präsent wieder in die Hände. Ohne die Montageanleitung zu benutzen »bog, faltete und verband ich die verschiedenen filigranen Teile, bis ich ein Modell hatte, das ich verstand. Es war ein Modell der Trauer.« (Ebd.) Der Choreograph nennt die wuchernden Pappskulpturen entsprechend »groteske, skelettartige Gebilde« (Forsythe 2005a, Programmtext), wobei die These, dass sich das Groteske als Eintrag des Fremden im Bekannten verbildlicht, hier auf seine wörtlichste und zugleich un-heimlichste Ebene gesteigert wird (vgl. S. 86). Forsythe vergleicht das schockierende, lebensbedrohende Erlebnis der Krankheit entsprechend mit dem Auftauchen eines Fremd-Körpers im eigenen, als ein ›Feind im Inneren‹: »Xenophobie bezeichnet die Angst, dass die Saat der eigenen inneren Vernichtung in einem fremden Körper haust. Einem Körper, der in das eigene Territorium eingedrungen ist. Es beschleicht einen der Verdacht, man könnte in den Hinterhalt unsichtbarer, latenter Kräfte geraten oder von ihnen sabotiert werden, Kräfte, die im Inneren wohnen. So werden die Aliens im Film dargestellt. Ekelerregend, verborgen, tödlich.« (Forsythe 2005, Aufführungstext)
Die Fähigkeit des tanzenden Körpers, fremde Formen zu produzieren und motile Gewohnheiten zu verlassen, »mit der Physis der Überraschung [zu] spielen« – ein Talent, das, wie Forsythe betont, seiner Frau besonders zu eigen gewesen sei (Forsythe 2005, Aufführungstext) und das mittlerweile zu den Charakteristika im zeitgenössischen Tanz gehört, mit denen etwa Meg Stuart häufig arbeitet –, wird hierbei zur existentiellen, den Körper schlussendlich zerstörenden Erfahrung. Das Groteske, monströs Wuchernde gerät zum An-Zeichen eines »Subhumane[n]« (Gurk 2006: 6), das seine Infiltration des Eigenen de-monstrierend ausstellt und den Status des Subjekts gefährdet. Jeroen Peeters sieht hierin ein grundsätzliches Problem zwischen künstlerischer Fiktion und Wirklichkeit, das er wiederum anhand von Stuarts Stück Replacement (2006) benennt: »Am Rande der Sichtbarkeit operierend ist das Monströse ein Symptom, das über sich selbst hinausweist und eine latente und dunkle innere Realität zum Vorschein bringt. In ein verstecktes Reich verbannt, besteht das Monströse hartnäckig als Riss in der schönen, glatten Oberfläche des ›Normalen‹. Hier gibt es einen Ansatz für Künstler: Wie kann man dem Monströsen eine fiktionale Form geben und gleichzeitig anerkennen,
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dass es auf eine widerspenstige, Schwierigkeiten bereitende und übergriffige Realität verweist, die der Macht der Metapher widersteht?« (Peeters 2006, Programmheft: 14 f.)
Peeters verweist auf einen entscheidenden Punkt in jeder künstlerischen Kreation mit der Frage, inwieweit Künstler/innen das tangiert, was sie erdenken und erproben, und ob sich die körperliche Erfahrung des Fremden vom Er-Leben abtrennen lässt. Bojana Kunst bezeichnet gerade diese Nähe, das Umspielen einer gefährlichen Balance, als Prozess der »Monstration«, »ein[en] Weg der Verkörperung, eine notwendige Positionierungstaktik zeitgenössischer Subjektivität, die ihrerseits aus einer Anzahl unmöglicher und gefährlicher Verbindungen hervorgeht.« (Zitiert nach Peeters 2006, Programmheft: 17) In You Made Me a Monster schlägt die zu Beginn dieses Buches phänomenologisch behauptete Durchdringung von Fremdem und Eigenem in ein Fremdes um, als reale Lebens-Gefährdung, die zur Löschung des körperlichen Subjekts führt – und damit zur Frage, inwieweit diese Erfahrung auf der Bühne dann noch eine groteske auf rein ästhetischem Niveau sein kann, sind doch die Ebenen Kunst und Leben hier unauflöslich miteinander verwoben, ineinander verkeilt in den wuchernden Pappgebilden und den Schreien der Tanzenden, die den hier ausgedrückten Existentialismus im Tod der Tänzerin zur unabwendbaren Tatsache werden lassen.127 Die Wucherungen verlängern sich dabei in den Zuschauerraum hinein: Wir basteln an der Verfremdung mit, bauen, verdrehen und zerlegen die monströsen Teile zu deplatzierten Gebilden. Das Publikum wird, in FischerLichtes Perspektive des kreativen Zuschauers, tatsächlich zum Mitproduzenten und schafft hybride Kreationen der Demontage.128 Thomas Lehmens Demonstrationen haben zwar auch den erkrankten, funktionslosen Körper zum Gegenstand, jedoch nicht in dieser existentiellen Endlichkeit. Groteske Momente entstehen in Operation vielmehr durch das Überschreiten besonders von Rahmen der Konvention und Erwartung sowie durch Aushöhlungen und Verletzungen des konfrontierten Zuschauer/innenblicks. Dabei kommt es allerdings auch zu Überlagerungen der Ebenen von Inszenierung und ›realen‹ Ereignissen. Zum Abschluss soll der Fokus daher noch einmal auf die Bühne selbst gerichtet werden, die sich in multiple Szenen aufspaltet.
127 Nicht zuletzt stellt sich die Frage, inwieweit über solche Erfahrungen noch in wissenschaftlicher Manier geschrieben werden kann, ohne dabei auch das eigene Sehen und ›distanzierte‹ Analysieren ins Wanken zu bringen. 128 Wesemann stellt fest: »Das von Forsythes offenherzig Biographischem gebenedeite Publikum findet sich auf der Spielwiese des Monsterbastelns als Teilhaber dieser Zerstörung wieder.« (Wesemann 2005: 43)
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2.4 Groteske Bühnen: Oszillationen zwischen Szene und ›Realem‹ In Operation schieben sich mehrere Ebenen der Inszenierung ineinander. Zunächst nutzt Lehmen die frontale Bühnensituation des HAU 2 mit schräg ansteigender Tribüne und Black Box für seine Vortragssituation, wobei er der theatralen Anordnung die Dimension des Anatomischen Theaters, einem Hörsaal gleich, zufügt. Als zweite Ebene kommt die Videoleinwand hinzu, die den Verlauf der Operation zeigt, welche einer alltäglichen, chirurgischen Dramaturgie folgt:129 Präparation (Betäubung Lehmens und Desinfektion des Beins), Ouvertüre (Stich in das Knie mit dem Endoskop, um die verletzte Stelle aufzufinden), Handlung und Klimax (Untersuchen des Knieinneren, Spannung, ob das neu eingesetzte künstliche Sehnenmaterial haften wird) und Finale (Vernähen der Einschnittstelle). Der im Videobild gezeigte Operationssaal wird also ebenfalls zur Bühne, theatral aufgeladen auch dadurch, dass Lehmen im Vorfeld entschieden hat, die Operation von einem befreundeten Techniker (Andreas Harder) filmen zu lassen.130 In die theatrale Situation des Videobildes fügt sich nun noch eine vierte Bühne ein: Das Kameraauge des Endoskops, welches das Innenleben des Lehmenschen Knies zur Szene werden lässt, auf der sich das Drama des zurückgeworfenen, abjekten und ausgehöhlten Sehens inszeniert und die das Publikum brüskiert.131 Durch die Erzählungen Lehmens und die Sichtbarkeit seines bandagierten Knies schiebt sich die Ebene des traumatisierenden Realen immer wieder in die inszenierten Situationen der Lecture Performance ein, führt zu Überlagerungen, durch die das Theatrale und das Reale zu oszillieren beginnen132 und groteske Verschiebungen erzeugen durch eine Praxis der Überspitzung, die Lehmen auch in anderen Stücken bereits eingesetzt hat. Siegmund erwähnt Lehmens tatsächlichen Sturz bei einer Aufführung in Hongkong – in der die Zuschauer/innen dachten, dies gehöre zum Spiel – und seine Re-Inszenierung in der nachfolgenden Produktion Mono Subjects (2001) und konstatiert für Lehmens Stücke generell die Befragung von Theatralität, in die sich Elemente des Alltäglichen einfügten und zeitweise den inszenierten Rahmen außer Kraft setzten (Siegmund 2006: 227 f.). 129 Ich beziehe dieses Wissen aus meiner Ausbildung zur Krankenschwester, in deren Rahmen ich drei Monate im Operationssaal gearbeitet habe (1985). 130 Ein solches Verfahren ist im Übrigen nicht ungewöhnlich: Chirurgen filmen häufig neuartige Operationsmethoden, um die eigene Technik zu verbessern oder Fehler zu analysieren – das Video wird mithin zum Anatomischen Theater der zeitgenössischen Medizin, als Demonstrations- und Lehrinstanz am Bildschirm. 131 Das teilweise Verlassen des Theatersaals ist dabei nicht zuletzt durch das Phänomen bedingt, dass die gewohnte räumlich-situative Anordnung in Lehmens Lecture Demonstration in die verschiedenen Ebenen zersplittert wird, die sich ineinander verschieben. Dabei kollabiert der Raum der Bühne regelrecht in die Szene des Knies. 132 Zur »Mixed-Reality« in Filmen und (theatralen) Installationen vgl. Fleischmann/ Strauss 2001.
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Dabei betont er jedoch: »Das Reale kann sich in der Aufführung nicht ereignen, ohne diese aufzulösen.« (Ebd.: 227) Diese Einschätzung trifft für die Lecture Demonstration sicher dann zu, wenn Zuschauer/innen das Präsentieren von Operation und Körperöffnung in Verbindung mit dem danebensitzenden, wie zum Beweis angetretenen Choreographen nicht mehr ertragen können und sich dem Geschehen entziehen. Bleibt man jedoch sitzen, Blick-Filter nutzend oder nicht, erzeugt die Situation groteske Irritationen gerade dadurch, dass sich die Ebenen des sogenannten Realen als bereits medial und inszeniert überformte zeigen, ein Reales, eine Verletzung präsentierend, die doch bereits auf der Bühne der medizinischen Welt stattgefunden hat und nun, am lebenden Objekt, auf einer zeitgenössischen Tanzbühne nacherzählt wird. Der Spalt zwischen Realität und Fiktion bleibt in Operation offen, er lässt sich nicht schließen und verbildlicht seine Lücke nicht zuletzt im Blinzeln durch die Finger, als fleischige Begrenzungen des eigenen, zuschauenden Körpers. Die ausgewählten Beispiele in diesem Kapitel haben insgesamt Öffnungsversuche des Körpers gezeigt, welche in die obskure Dichte des Materials einzudringen versuchen. Der nachstehende Abschnitt beleuchtet die Strategien des Künstlers Franko B, der seinem Körper in Live-Situationen tatsächliche Einstiche und Schnitte zufügt, dabei jedoch die Haut als den Körper umschließende und verdeckende Fläche betont und re-inszeniert. In diesem Zusammenhang wird kurz auf bisher nur angedeutete Aspekte wie Nacktheit sowie die Liminalität angesichts einer theatralen Erfahrung eingegangen, wie sie von den Zuschauenden auch in Lehmens Operation erlebt worden ist.
2.5 Monströse Flächen: Franko B Eine umfunktionierte Kirche im Südosten Englands, das Colchester Arts Center. Im Vorraum des dunklen, durch Kerzen und gedämpftes Licht erhellten gotischen Baus drängen sich die Zuschauer/innen in Erwartung einer der seltenen Performances des italienischen, in London lebenden Künstlers Franko B, die an diesem Abend den Titel Still Life trägt.133 Schließlich werden wir ins Innere des durch dunkle Tücher abgeteilten Kirchenschiffs eingelassen. In der Mitte des Raumes befindet sich ein Tisch, bedeckt mit einem weißen Tuch, auf dem der 133 Ich habe die Performance am 18.2.2006 im Colchester Arts Center, England gesehen. Aufgrund des hohen Blutverlusts zeigt der Künstler jeweils nur drei Performances pro Jahr (vgl. Morgan 1998: ohne Seitenangabe), die in der Regel mit einer Lecture am darauffolgenden Tag verbunden sind, in der er über seine künstlerischen Ansätze erzählt und Videos anderer Aktionen zeigt und erläutert. Ich habe Lectures von Franko B im Februar 1999 in Braunschweig gesehen in Verbindung mit der Action 398, sowie im Berliner HAU 2, Januar 2005, wo er nur für den Vortrag anwesend war.
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nackte Künstler sitzt, eine Kanüle im rechten Arm, aus der beständig Blut sickert. Von Zeit zu Zeit hilft Franko B dem Blutstrom nach, indem er mit der Faust pumpende Bewegungen macht. Allmählich verteilt sich die rote Flüssigkeit um seinen Körper, benetzt das Tuch und malt fleckige, rote Muster auf das flächig ausgebreitete Gewebe. Nach einer Weile des Stillsitzens und Pumpens löst der Künstler die tableauartige Situation auf und wechselt seine Position, so dass er von allen vier Seiten zu sehen ist (wobei man jedoch auch selbst um den Tisch herumgehen kann). Anders als in den meisten seiner bisherigen Performances hat Franko B diesmal seinen Körper nicht mit weißer Farbe bemalt,134 so dass die vielen Tattoos sichtbar sind, die Bauch, Rücken und Arme bedecken. Viele Motive zeigen Kreuze oder kleine Monster mit weit aufgerissenen Rachen und Zähnen – eines davon ist direkt am Nabel platziert, der somit ein körper-bildliches Loch im eingeritzten Monstermund formt, ein anderes umrahmt die rechte Brust, deren Warze die Zunge des Monstermauls bildet (Abb. 82).
Abb. 82: Franko B, Photo: Nicholas Sinclair
Eine Weile vergeht, wobei schwer zu sagen ist, wie lange die Aktion im Ganzen dauert – in der sakral aufgeladenen Atmosphäre des Ortes scheint die Zeit zu schmelzen. Während der gesamten Performance sitzt Franko B in eher lockerer Haltung da, fast heiter seinen Körper zeigend, und kontrastiert dadurch die räumlich assoziative Verknüpfung mit Opferriten. Im weiteren Verlauf benetzt er seine Hände mit dem ausgeflossenen Blut und reibt sich damit den Körper ein, wo134 In Still Life 2005 in Glasgow hatte Franko B seinen Körper komplett mit weißer Farbe bedeckt (vgl. Franko B 19.2.2006, Lecture). Die Art und Weise der Ganzkörperbemalung erinnert dabei an Aktionen von Günter Brus (z.B. in Transfusion, 1965), die Franko B als Inspiration für seine eigenen Arbeiten erwähnt.
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bei seine Gesten pragmatisch und alltäglich wirken, als sitze er im Bad und wasche seinen Körper mit flüssiger Seife. Ein dumpfer Schlag ist zu hören: Jemand aus dem Publikum ist in Ohnmacht gefallen. Er wird nach seiner kurzer Absenz von Freunden nach draußen begleitet – das übrige Publikum hat den Vorfall kaum bemerkt. Nach einiger Zeit beendet Franko B seine Waschung, klettert rasch vom Tisch und verlässt den Raum – wir Zuschauenden können noch bleiben und das Tuch betrachten, dass die Spuren des Ereignisses zeigt, eine weiße Leinwand, bedeckt mit roten, glänzenden Flecken, die teilweise festere Bestandteile enthalten, Blutklümpchen, die langsam gerinnen. Aufgrund der Materialität der Blutkleckse, der Faltungen, die der Stoff durch die vorherigen Bewegungen aufgeworfen hat, wirkt das Ensemble einerseits wie ein autarkes Gemälde, den Titel der Performance als abstrakte Variation veranschaulichend (Abb. 83). Das fleckige Tuch als Überbleibsel des eben Erlebten ruft darüber hinaus zahlreiche Assoziationen hervor: Opferung, heidnische oder christliche symbolische Riten, Erinnerungen an ein Grabtuch oder an die Klecksbilder eines Rohrschachtests. Es drängen sich aber auch durch seinen künstlerisch dargebotenen Kontext Vergleiche mit den Performances der Vertreter/innen des Action Painting oder den Wiener Aktionisten sowie mit den ritualistischen Happenings des Wiener Künstlers Hermann Nitsch auf.
Abb. 83: Franko B, Still Life (2006), Photo: Susanne Foellmer
Während viele der Anwesenden, einschließlich mir, noch in die Betrachtung des Tuches versunken sind oder sich leise am Rand unterhalten, kehrt Franko B zurück, nun in Alltagskleidung und bereit, über das Gesehene und Erlebte mit den Anwesenden zu sprechen oder einfach einen Drink zu nehmen. Die hier beschriebene Aktion pendelt zwischen den Genres Performancekunst und Body Art. RoseLee Goldberg verortet unter Body Art generell den Fokus auf den Künstlerkörper als Material, unter anderem bei den Wiener Aktionisten in den 1960er Jahren (Goldberg 2001: 153, 164) – auch Franko B nennt Protagonist/innen aus dieser Zeit als Einfluss auf seine Arbeit, so Hermann Nitsch, Günther Brus, die Performancekünstlerinnen Gina Pane und Marina Abramović, aber auch Annie Sprinkle sowie Jackson Pollock (Franko B 19.2.2006, Lecture). Goldberg differenziert in ihren Ausführungen noch weiter in den Bereich »Live Art«, den sie allerdings auf den Körper als lebendes Bild oder
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stillgestellte Skulptur wie in den Aktionen von Stephen Taylor Woodrow konzentriert (Goldberg 2001: 207 ff.). Der Begriff Live Art ist allerdings wesentlich breiter gefächert und bezeichnet eine besonders aus Großbritannien kommende Kunstform, die seit den späten 1980er Jahren theatrale Elemente mit jenen aus bildender Kunst und neuen Medien verquickt (vgl. Keidan 1998: ohne Seitenangabe) – Gruppen wie Gob Squad oder Forced Entertainment zählen dazu.135 Franko B selbst lehnt den Begriff Theater für seine Arbeit ab – in Anspielung auf Stelarc postuliert er »Theatre is obsolet«136 und bezeichnet seine Aktionen entsprechend als »solo exhibition« (Franko B 1999, Programmtext). Allerdings folgen die Anordnungen seiner Darbietungen oft den Rahmenbedingungen des Theaters, zuweilen durch die Separation zwischen Darstellungs- und Zuschauerraum sowie klare Zeitgrenzen (etwa zwanzig bis dreißig Minuten), innerhalb derer er jeweils selbst bestimmt, wann eine »Ausstellung« beendet ist. Insofern bewegen sich Franko Bs Arbeiten zwischen den Markierungen von (theatralen) Performances und der Ausstellung des Körpers als Bild. Fischer-Lichte definiert Performancekunst in Abgrenzung zur historischen Avantgarde sowie zum Schauspieltheater durch die Fokusverschiebung auf den »energetischen Körper« (anstelle eines semiotischen), die Verwendung von Körper und Sprache als Material137 sowie die Wahrnehmung des Publikums, die sich als »performativer Akt« vollziehe, welcher eine »transformierende Kraft« entwickele (Fischer-Lichte 1998: 87). Aktionen, wie sie Hermann Nitsch in seinem Orgien Mysterien Theater gestalte, erinnerten an Opferrituale, die ihre Elemente sowohl aus christlichen (katholischen) als auch aus »archaisch-mythischen« Kontexten bezögen, was sie an der Opferung eines Lamms erläutert, das nicht nur symbolisch getötet, sondern tatsächlich geschlachtet und auseinandergerissen werde (ebd.: 26 ff.). Rituale seien (außerhalb des Theaters), als Übergangsrituale zum Beispiel, in der Regel mit der gesellschaftlichen Transformation des Individuums verbunden, so bei Initiationsriten (Fischer-Lichte 2004: 305). Mit Victor Turner formuliert sie den Moment des Übergangs als Interimssituation zwischen zwei gesellschaftlichen Ebenen, die Turner in der Wendung »betwixt and between« fasst (ebd.). Zwar sei der Ereignischarakter des Rituals auch in den künstlerischen Aktionen von Hermann Nitsch oder Marina Abramović gegeben,138 doch führten diese zu keiner Veränderung im Sinne eines gesellschaftlichen Übergangs, da der soziale Status der Zuschauenden derselbe bleibe (ebd.: 307).
135 Vgl. zur Live Art: www.thisisliveart.co.uk. 136 Dieser propagiert »The Body is obsolete«. Vgl. S. 41. 137 Amelia Jones und Andrew Stephenson sprechen darüber hinaus von einem »aggressive resurfacing of the artist’s persona through the enactment of her or his body in or as the work of art«, das sich seit den 1960er Jahren ereigne (Jones/Stephenson 1999a: 4). 138 Fischer-Lichte beschreibt hierbei ausführlicher die zweite Aktion Nitschs in Wien 1963 (Fischer-Lichte 1998: 25 ff.) sowie Abramovićs Performance The Lips of St. Thomas (1957) (ebd.: 32 ff.).
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Schwellenerfahrungen stellten sich gleichwohl an der Grenze von Kunst und Leben ein, besonders in »Selbstverletzungsperformances« wie sie etwa Abramović ausführe, und die das Publikum als Krisenerfahrung erlebe, da die theatralen Rahmen für Momente zusammenbrächen (ebd.: 307 f.). Dabei spielt die Erfahrung von Schmerz eine wichtige Rolle, wie zuvor schon ausgeführt wurde (vgl. S. 291) – Goldberg bezeichnet in diesem Zusammenhang Gina Panes Schmerzperformances als Aktionen, die kathartische Effekte durch eine direkte, sinnliche Erfahrung herbeiführten139 oder das Publikum zum Übertreten der konventionellen Rahmen des Theaters provozierten und zum aktiven Handeln aufriefen, so in Abramovićs Performance Rhythm 0 (1974) (Goldberg 2001: 165). Prononciert nun Fischer-Lichte das Primat sinnlicher Eindrücke in der Performancekunst – im Kontrast zu symbolischen oder zeichenhaften Systemen des (Schauspiel-)Theaters –, die sich in Nitschs Aktionen über das Zerreißen und Ausschütten von Fleisch und Blut herstellten und die Zuschauer/innen des Ereignisses in Grenzerfahrungen stürzten (Fischer-Lichte 1998: 28 ff.), so wirkt die Anordnung in Franko Bs Still Life bemerkenswert unaufgeregt und klinisch.140 Blut wird nicht verspritzt, sondern sickert langsam und gleichmäßig in einem gelenkten Strom aus der Kanüle im Arm nach außen. Zwar erleidet einer der Zuschauenden einen Kreislaufkollaps, doch fragt man sich, ob es nicht eher daran liegt, dass derjenige generell kein Blut sehen kann, denn alle übrigen Anwesenden stehen andächtig um den Tisch herum und begutachten das Still-Leben des Künstlers. Auffallend ist, dass Thomas Lehmens Lecture Demonstration, die das Knie doch »nur« auf der virtuellen Ebene des Videobildes zeigt, die Zuschauer/innen ob der Kopräsenz des live kommentierenden Lehmens offensichtlich wesentlich stärker an die Grenzen des Erträglichen bringt, als es in Franko Bs Aktion der Fall ist. Woran liegt das? Zum einen wissen die meisten, was sie bei einer Performance mit Franko B zu erwarten haben, er ist in Insiderkreisen bekannt und vermittelt darüber hinaus seine Kunst in zahlreichen Vorträgen. Anlässlich Lehmens Darbietung hingegen reagiert das Publikum schockiert, da seine Lecture Performance gänzlich aus dem Rahmen des Formats Tanztrailer heraus fällt und Schwellenerfahrungen im buchstäblichsten Sinn provoziert, die die Zuschauer/innen dazu bringt, aus dem Theater hinauszutreten oder veranlasst, die Finger als »Sinnes-Schwellen« zu benutzen.141 So kann Franko Bs Still Life als Life Art zwar im Bereich der Performancekunst angesiedelt werden, jedoch ist die Erfah139 Zum Wechsel von Schmerzerfahrungen zwischen Authentifizierungsstrategien und Inszenierung etwa bei Gina Pane oder Günter Brus vgl. auch Brandstetter 2001: 60 sowie Osswald 2003: 73. 140 In der Serie von Aktionen mit dem Titel I Miss You (seit 1999) widmet sich Franko B ähnlich lakonisch den Zeichen des Leidens in der christlichen Tradition, indem er sich zum Beispiel mit aus den Armbeugen rinnenden Blutströmen an ein Kreuz hängt. 141 In Anklang an Bernhard Waldenfels’ gleichnamiges Buch (Waldenfels 1999).
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rung von Liminalität begrenzt. Ist in der Body Art und vergleichbaren Aktionen also schon eine Gewöhnung, eine gewisse Erwartbarkeit eingetreten? Lehmens Beispiel zeigt, dass dem offenbar nicht so ist, und meine Vermutung geht dahin, dass Überlegungen in diese Richtung vielmehr in Franko Bs Ästhetik selbst aufzusuchen sind, in der er seinen Körper präsentiert. Zunächst ist die Anordnung in Still Life durchaus von Aspekten des Rituellen durchzogen: Die Performance findet in einer (ehemaligen) Kirche statt, vor den Augen einer Gemeinschaft von Zuschauer/innen, die Franko Bs Blutungen und Waschungen bezeugt – Stuart Morgan betont solche Merkmale ebenfalls für seine anderen Aktionen, in denen er sich mit geweißter Haut in religiösen Sitzhaltungen präsentiert: »Franko adopts a pose which has long been commonplace in the religous art of the West. With palms held upward, a powerful spotlight shining from above and an artificial mist hanging around his naked body, he seems to be imitating an accepted posture of the risen Christ of the New Testament.« (Morgan 1998: ohne Seitenangaben) Allerdings bedient sich Franko B hier durchaus eines religiösen Eklektizismus: In einer Aktion aus der Serie I Miss You (seit 1999) wechselt er zum Beispiel von Positionen im Schneidersitz, mit auf die Knie gelegten Händen, wie man sie aus dem Buddhismus kennt, in eine kniende Haltung, wie im katholischen Gebet. Mit zunehmendem Blutverlust wandeln sich die Stellungen in ein Verharren auf allen Vieren, da der schwächer werdende Kreislauf die Vertikale nicht mehr erlaubt.142 Hinzu kommen Elemente, die Franko Bs Aktionen dramatisch aufladen, wie der Einsatz von Musikstücken Richard Wagners oder eine gezielte Lichtdramaturgie, komponiert aus fokussierenden Spots, Scheinwerfern, die von unten her den Performer anstrahlen, sowie Nebelschwaden, die den Raum durchziehen (vgl. ebd.). Angesichts solcher theatralisch aufgeladenen Entwürfe eines blutenden, sich erschöpfenden Körpers hebt Lois Keidan wiederum die Aspekte von Schmerz und Erleiden hervor, die typisch für einige Aktionen der Performancekunst der 1970er Jahre seien und wiederum in der Live Art als Strömung der späten 1980er Jahre ihre Entsprechung fänden, nun zum Beispiel Themen wie AIDS mit einbeziehend (Keidan 1998, ohne Seitenangaben). Franko B riskiere seinen Körper, indem er an der Grenze von »›lived‹ and ›performed‹ experience« operiere (ebd.). Ich meine allerdings, dass sich Franko Bs Performances in einem wesentlichen Punkt von Aktionen wie jenen Marina Abramovićs oder Gina Panes unterscheiden: Der Aspekt des Leidens wird ausgeblendet oder spielt zumindest eine nur untergeordnete Rolle und äußert sich vielmehr im Kampf mit dem Kreislauf und der Frage, wie lange der Künstler auf der Bühne bleiben kann, ohne ohnmächtig zu werden. Das Risiko ist ein kalkuliertes: In Franko Bs Performances ist immer ein Arzt anwesend, der die Aktion von der Hinterbühne aus überwacht (vgl. Morgan 1998: ohne Seitenangabe) – anders als etwa in Abra142 Über die Bedeutung des Blutes im christlichen Kontext, etwa als Herzblut Jesu in kirchlichen Darstellungen, vgl. Ammicht Quinn 2007: 45 ff.
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movićs Aktion Rhythm 0, eine Anordnung verschiedener Wahlmöglichkeiten, von Federn für Streicheleinheiten bis hin zu Rasierklingen, mit denen die Performerin ›behandelt‹ werden konnte (vgl. Goldberg 2001: 165), und die in einer neapolitanischen Galerie mit dem Einschreiten des Publikums endete, als ein Zuschauer eine geladene Waffe an ihren Kopf hielt.143 Auch eine Verletzung des eigenen Körpers, die Kathy O’Dell als masochistische Variante der Body Art einordnet (O’Dell 1998: 2),144 scheint nicht in Franko Bs Interesse zu liegen: Er selbst betont, dass das Erdulden von Schmerzen und Leiden nicht Zweck und Ziel seiner Aktionen seien, vielmehr gehe es ihm darum, in Anwesenheit eines Publikums ein Bild zu kreieren, das er im Übrigen mit dem ästhetischen Wert des Schönen belegt (Franko B 7.1.2005, Lecture) und wofür er seinen Körper als künstlerisches Material benutze (Franko B 3.2.1999, Lecture). Dieser Hinweis des Künstlers ist entscheidend, markiert er doch eine wichtige Differenz gegenüber den Arbeiten der Performer/innen der 1960er und 1970er Jahre: Ging es seinerzeit darum, die Wahrnehmung von Kunst selbst in den Vordergrund zu stellen, als »experience of time, space and material«, anstatt ein repräsentatives Objekt zu schaffen, wie Goldberg betont (Goldberg 2001: 153), benötigt Franko B die Anwesenheit eines bezeugenden Publikums gerade, um den Prozess der Bildwerdung seines explizit dargebotenen, nackt exponierten Körpers hervorzuheben.145 Mögliche Erfahrungen von Schmerz und Leiden werden mithin zu einer medialen Begleiterscheinung, um das Material, mit dem gemalt wird, also das Blut, per Aderlass herstellen zu können. Konkretisierten Künstler/innen der Performance Art mitunter »imaginäre[] Bilder[] vom Blut«, wie Christoph Wulf betont (Wulf 2007: 25),146 werden solche Prozesse durch das Blut als Malutensil Franko Bs verdinglicht und profaniert. Ernst unterstreicht angesichts der »Körperhängungen« des australischen Medienkünstlers Stelarc (1979-1984) und der im Bild präsentierten Beiß-Performance Trademarks von Vito Acconci (1972), dass es sich hierbei nicht um »Selbstverletzung« handele oder das Ertragen des an in die eigene Haut gebohrten Haken hängenden Körpers, sondern diese Schnitt-Stellen immer schon mediale seien, die ein essentialistisches Denken des Körpers verhinderten (Ernst 2003: 181 f., 50 f.) und vielmehr danach fragten, was mit diesem Körper alles machbar sei (ebd.: 164). Allerdings unterscheidet sich Franko Bs Ansatz meines 143 Zum Risiko als Gefährdung des Subjekts, etwa in Performances von Chris Burden, Günter Brus, Stelarc oder Orlan, vgl. außerdem Warr 1996: bes. 4 ff. 144 Vgl. auch Ernst 2003: 177 ff.. 145 Betont Osswald am Beispiel Bruce Naumans die Objektwerdung des eigenen Körpers (Osswald 2003: 83), so wäre Franko Bs Aktionen allerdings eine Interimsstellung zwischen dem Körper als Kunst-Material und als Erfahrungsort von Öffnungen und Grenzverletzungen zuzuweisen, da er, anders als Nauman, seinen Körper durchaus als verletzbaren präsentiert, wenn auch der Schmerz dabei keine bedeutende Rolle spielt. 146 Wulf zieht dafür u.a. das Theater Hermann Nitschs als Beispiel heran (Wulf 2007: 26).
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Erachtens von Stelarc insofern, als es nicht um einen obsoleten Körper geht (vgl. ebd.: 34), sondern um die Transformation desselben in einen Träger von Kunst. Schmerz ist dann wieder ein Thema, allerdings in ikonographischer Form: So treten in seinen Photoprojekten immer wieder symbolische Hinweise auf Schmerz in Erscheinung, meist in Form eines gleichseitigen Kreuzes,147 wie man es von Rettungsorganisationen oder Pflasterpackungen kennt, oder als schreiende Monster148 – beide Motive sind entsprechend auch auf den Körper des Performers, als Oberfläche seiner Inszenierung tätowiert. Blut und Haut Franko Bs gerinnen zum Zeichen-Material – tätowiert und mit Motiven bedeckt oder sich als weiße Leinwand darbietend. Das Verteilen des Blutes auf Körper und weißem Tuch oder einem mit weißen Pigmenten bedeckten Boden (wie in der Reihe von Aktionen mit dem Titel I Miss You) assoziiert einen wörtlich genommenen Nachvollzug des Action Paintings (vgl. Morgan 1998: ohne Seitenangabe): Nicht nur wird der Körper über die Hand hinaus zur Produktion von Bildern eingesetzt, wie bei Yves Klein oder Jackson Pollock,149 sondern sogar bis aufs Blut der erforderlichen Kreation geopfert – allerdings folgen Franko Bs Darbietungen nicht den von Amelia Jones konstatierten normativen, hyperbolisierten Männlichkeitsinszenierungen Pollocks im ›Abspritzen‹ der Farbe auf die weiße Leinwand (Jones 1998: 77), vielmehr lässt er seine Körperflüssigkeit in einer zumeist passiven Geste auf das Laken rinnen.150 Auf diese Weise wird das Rituelle nun wieder in die Performance eingeführt, allerdings nicht als blutiges Menschenopfer,151 sondern im von Fischer-Lichte betonten Sinne der Verwandlung, die in diesem Fall dem Künstler selbst widerfährt: Das bezeugende Publikum erlebt die Wandlung des Performers Franko B vom Material produzierenden Körper hin zu einem künstlerischen Körper-Bild.152
147 Scarry weist dem Kreuz die Symbolfunktion für Schmerz im Rahmen einer »visuelle[n] Ikonographie« zu (Scarry 1992: 34). 148 Die Monster entstammen laut Franko B dem tibetanischen Bildprogramm und stellen Dämonen dar, die den Tod vertreiben sollen (Franko B 18.2.2006, Interview). 149 Vgl. Brandstetter 1998: 101. Morgan bemerkt, dass Franko B den Tachismus und die Schüttbilder Nitschs in eine dreidimensionale Perspektive ausweite (Morgan 1998: ohne Seitenangabe). 150 Weiterführende Überlegungen zur Frage des invertierten Engenderings in Franko Bs Performances müssen an dieser Stelle leider außen vor bleiben. Vgl. zu Feminsierungsstrategien männlicher Performer am Beispiel Vito Acconcis Jones 1998: 107 ff. und Osswald 2003: 138 ff. 151 Markierte Le Sacre du Printemps, das Blutopfer des Ballets Russes in der Choreographie Vaslav Nijinskis, 1913 einen Bruch mit einer bis dahin tradierten Ballettästhetik (vgl. Brandstetter/Klein 2007a: 17), so scheint Franko Bs Adaption einer blutigen Opferhandlung ein gleichsam überhöhter Verweis auf jene Schlüsselszene einer theatralen Avantgarde zu sein, mit der er die Praktiken des Action Paintings als Körper-Technik ironisiert. 152 Die gezielte Arbeit am Körper-Bild lässt sich auch aus seinem Hinweis herauslesen, durch die Künstlerin La Ribot inspiriert worden zu sein (Franko B 7.1.2005, Lecture).
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Denn obgleich er seinen Körper nackt und versehrt, mit medizinischem Gerät versehen präsentiert, wirkt das gesamte Ensemble relativ geschlossen. Phelan formuliert angesichts des Phänomens omnipräsenter femininer Nacktheit, dass Sichtbarkeit eine Falle im Regime der Bilder sei, die Frauen unter das Diktat der Repräsentation stelle (Phelan 1993: 7).153 Auch Morgan betont den Aspekt des Nackten in Franko Bs Darbietungen, in denen er allenfalls (in Photoserien) den Oberkörper bedeckt (Morgan 1998: ohne Seitenangaben). Brandstetter verweist mit François Jullien allerdings auf das Nackte als explizite Pose – etwa als »nude-Look« in Mode und Kunst –, welche Nacktheit als »westliches Kulturmuster« ausstelle (Brandstetter 2007c: 251).154 Franko Bs Körper rekurriert insofern nicht auf authentische Nacktheit im Sinne des Verwerfens einer zusätzlichen Zeichenebene durch ein Kostüm. Vielmehr zeigt sich die nackte Haut selbst als inszenierte und wandelt sich zur Couverture: durch Tattoos, die als Dekor den Körper mit teils grotesken Ornamenten verzieren, oder mithilfe der weißen Farbe und des auf ihr verteilten Blutes. Der Künstler selbst betont, dass die Tätowierung eine Schicht von Motiven darstelle, die seinen Körper bedecke (Franko B 19.2.2006, Lecture), womit er Nacktheit im Sinne von Blöße negiert. Die Haut des Künstlers erscheint in Still Life als dichte, opake Fläche, die, obgleich punktiert, keine Einblicke in den Körper zulässt: Die Haut wird zum Kleid.155 Diese Vermutung wird durch andere Performances Franko Bs gestützt. Eine Aktion aus der Serie I Miss You (2000) etwa ist als Laufstegsituation konzipiert, mit einem langen weißen Steg, an dessen Seiten links und rechts das Publikum Platz findet: Der Körper des Künstlers ist weiß bemalt, und wieder stecken Kanülen in seinen Armbeugen, aus denen langsam das Blut heraustropft. Er defiliert den Steg entlang, wobei er jeweils am Ende, auf einer rechteckigen weißen Fläche stehend, pausiert. Allmählich formieren sich Tropfbilder auf den Rechtecken oben und unten sowie als Spur entlang des gesamten Parcours’ (Abb. 84).156 Franko B spielt hier explizit mit dem Sich-Zeigen in der Modewelt, indem er das Bewegungskonzept von Fashion Shows aufgreift. Dabei wird deutlich, dass sich
153 Meiling Cheng führt im Zusammenhang des visuell Überrepräsentierten die Performances der kalifornischen Gruppe Sacred Naked Nature Girls (SNNG) als Beispiel feministischer Gegenstrategien an, die ihre nackten Körper explizit u.a. in gestellten Gruppenphotos präsentieren (Cheng 1999: 199 ff.). 154 Yvonne Hardt bezeichnet Nacktheit in Tanzstücken wiederum als ein »mit Bedeutungen beladenes ›Kostüm‹« (Hardt 2001: 26). Als Alternative zur Verwicklung in gesellschaftliche Bedeutungsrahmen versteht Roland Huesca hingegen etwas affirmativ nackte Körper im zeitgenössischen Tanz – in Anlehnung an Deleuze/Guattari – als »Öffnung und Fließen« (Huesca 2004: 51, 59). In Jérôme Bel etwa zeige sich die nackte Haut als Träger kontingenter Zeichen (ebd.: 54). 155 Ernst versteht die Haut in den Operation-Perfomances Orlans als »Sichtgrenze«, die wie ein »Vorhang« fungiere (Ernst 2003: 140, 145; vgl. S. 294). Zur Haut als Kleid vgl. auch S. 197. 156 Diese Performance war mir als Video im Rahmen einer Lecture des Künstlers zugänglich (Franko B 19.2.2006).
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Nacktheit auch und besonders im Blick des Publikums generiert und der bloße Körper mithin als gesellschaftlich codierter ausgewiesen ist.157 Die nackte Haut des Künstlers gerät jedoch keineswegs zur Einschreibefläche voyeuristischer Phantasien: Sein Körper selbst ist Produzent von (blutig geklecksten) Bildern und weist in der Opazität seiner Haut neu-gierige Blicke zurück.
Abb. 84: Franko B, I Miss You (2000), Photo: Manuel Vason
Das Motiv der Kleidung erscheint etwas später wieder in den zwei Installationen Haute Couture (die die befleckten Reste des Laufstegs recyceln) und The Last Few Years (1995-2001), die Franko B in den Zimmern eines Londoner Hotels gestaltete.158 Das Motiv der blutigen Haut als Kleid wird hier nun umgedreht: Sämtliche Gegenstände in den Zimmer sind weiß eingewickelt, Betten, Lampen, Kommoden und Bügel mit daran hängender Kleidung bieten sich als weiße Flächen dar, die in unregelmäßigen Abständen mit dem getrockneten Blut des Künstlers befleckt sind. Das Thema von Haut und Bedeckung als kompakte Körpergrenze findet ihren pointierten Ausdruck in einer Photographie, die Franko B mit vernähtem Mund zeigt (Abb. 85). Anstelle einer potentiellen (grotesken) Körper-Welt-Verbindung, wie sie die Punktierung des Körpers mit Kanülen und das austretende, sich mit dem Unraum vermischende Blut vermuten ließe, geht es 157 Brandstetter erörtert die Thematisierung der »Nacktheit als Maskerade« in Tanzperformances, so etwa in Maguy Marins Inszenierung Groosland (1988), in der Nacktsein und Schlankheitswahn mit schaumstoff-quellenden Körperverkleidungen vorgeführt werde (Brandstetter 2001: 8). 158 Über die Installation berichtete Franko B anhand von Bildmaterial in seiner Lecture vom 19.2.2006.
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in seinen Performances vielmehr um ein Abdichten des Körpers, das auch dem Mund keinen Raum zur Kontaktaufnahme nach außen lässt.159 Findet das Groteske im Motiv der Mund-Höhle seinen oralen Ausdruck als offenes, bewegtes Bild, wie die Beispiele im ersten Teil des Kapitels gezeigt haben, so wird Franko Bs exponierter Körper vielmehr in eine Schließung ins Bild überführt.
Abb. 85: Franko B, Photo: Nicholas Sinclair
Mit der hier konstatierten Schließbewegung am Ende dieses Kapitels, das mit der Eröffnung von Körpern begann, sei noch einmal das Phänomen des Grotesken als Austausch zwischen Körper und Welt resümiert. Erfahrungen des Fremden ergeben sich als Movens des Grotesken, in dem das Monströse als Strategie von Zeigen, Öffnen und Transferieren das Fremde zum Vorschein bringt, das je im Eigenen/Inneren wohnt. Der Körper wird dem Umraum offeriert, zeigt sich dabei in der Höhle des Mundes als immer schon von Welt tangierter und bisweilen von der Um-Welt als unheimlich erfasster, im Gang durch e/motionale Sensationen überwältigter Organismus. An dieser Stelle treffen sich Bachtins und Kaysers Theoreme des Grotesken, im Motiv der geöffneten Höhlung als Grotte, die zum Erfahrungsort von Eigenbewegung und Fremdwahrnehmung wird. Die Praktiken im zeitgenössischen Tanz, die sich über das Brechen von Verhaltens- und Bewegungsmustern in immer neue, überraschende Konstellationen von Torsion und Distorsion, Verzerrung und Fragmentierung, Zergliederung als De- und Rekomposition sowie Grenzabtastungen der Haut als Kontaktfläche begeben, erweisen sich mithin als groteske, unabgeschlossene Pattern einer experimentellen Ästhetik, die im nun folgenden, letzten Kapitel untersucht wird.
159 Ähnliche Zwangsschließungen des Subjekts beschreibt Brandstetter in Natascha Fialas Performance Perfo 3 (1985), in der die Künstlerin, einen Pinsel im Mund, Äußerungen nur mit zusammengepressten Lippen vollziehen könne (Brandstetter 1998: 94 f.).
Ka pitel 4 Bew egungsbilder
»Nun wurden auch die Tänzer, die in Verrenkungen wunderlichster Art uns vergessen machen, dass sie wie wir Knochen haben, Grotesktänzer genannt. […] Der schöpferische Übermut muss mit seinem tollen Sprudelgeist diese unbeschreiblichen Gesten, Beugungen, Sprünge, Faxen, Grimassen hervorbringen, die nur im Moment ihrer Bewegung und im Kontrast mit ihrer Umgebung ein Interesse haben.« Karl Rosenkranz (1996: 181 ff.)
Im Jahr 2003 hatten Meg Stuarts Visitors Only und William Forsythes Decreation fast zur gleichen Zeit Premiere. Schrieb Stuart 1991 mit ihrem Stück Disfigure Study das Programm für einen »antivirtuosen […] Körper« (Stuart in Kästner 1999: 30), mit dem sich ihre Stücke seither auseinandersetzen, wird die Praxis in Visitors Only, die Tänzer/innen zu isolieren und ihre Körper fortwährend unvorhersehbaren Situationen zwischen Kontrollverlust, Disbalance und Aufrichtung auszuliefern, von der Kritik als Ästhetik beurteilt, die mittlerweile schon so viele Nachahmer/innen gefunden habe, dass das »Original« selbst mit keiner Innovation mehr aufwarten könne (Brug 23.5.2003). Umgedreht fragten sich die Rezensent/innen, was denn Forsythe dazu gebracht habe, ähnlich wie Stuart, mit »deformierten Körpern, […] verzogenen Münder[n] und stammelnde[n] Worten« zu arbeiten, eine Vorgehensweise, die als »unüblich[]« für Forsythe und infolgedessen teilweise zunächst als Scheitern beurteilt wurde (Schlagenwerth 30.4.2003) – Katrin Bettina Müller wiederum überlegt im Vergleich der beiden Stücke: »Woher […] kommt dieses große Interesse der Choreographen an dem Zerfall?« (Müller 23.5.2003) In dieser kurzen Rezeptionsschau zeichnet sich ein bemerkenswertes Paradoxon ab: Einerseits ist Meg Stuart gerade durch ihre Strategie des Verdrehens und
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De-Formierens zu einer der Protagonist/innen einer »Neuen Choreographie« geworden, deren Ästhetik sich laut Helmut Ploebst dadurch auszeichne, dass sie »die Grundmuster der Postmoderne in sich« trage, in Bezug auf die kritische Befragung und wiederholte Dekonstruktion des Subjekts, die Idee der Erweiterung des Körpers in den Umraum hinein sowie die Aktivierung der Zuschauenden über Kontemplation und distanziertes Blicken hinaus (Ploebst 2001: 265 ff.). Andererseits weist die Kritik eben jenen Praktiken des Desorganisierens mittlerweile ein Muster zu, das offenbar beginnt zu langweilen, wünscht umgekehrt jedoch von William Forsythe die Fortführung seiner Ästhetik des De- und Rekomponierens syntaktischer Ebenen von Sprache und Tanz. Ungewohnte Strategien wie das Ausloten von Verzerrung als Bewegungsverfahren werden als Ausgleiten beurteilt, das künstlerisch nicht den Erwartungen entspricht, die man an den Choreographen hat. Verdichtungen experimenteller choreographischer Ansätze hin zur Stil- und Merkmalbildung sind in der Kritik immer wieder anzutreffen und schwanken zwischen Wiedererkennungswunsch und -unwillen – die Kritikerin Ursula Pellaton etwa konstatiert angesichts der Premiere von Stuarts Alibi in Zürich (2001): »Wie Petipa im 19. Jahrhundert seine klassische Ballerina immer als gut gekleidet und makellos frisiert, mit sich und der Welt im Einklang, souverän und selbstbeherrscht auf die Bühne schickt, lässt Meg Stuart ihre Figur stets gemein und hässlich, wie eine Verwahrloste kostümiert und ungekämmt, mit allem zerstritten, irr, verladen und unkontrolliert erscheinen. Und wie die Ballerina mit ihrer Virtuosität im Spitzentanz und der Parforceleistung von 32 Fouettés triumphiert, brilliert die Meg-Stuart-Figur mit der Energie, mit der sie sich zu Boden schleudert, und mit der Ausdauer, mit der sie ganze 10 Minuten ununterbrochen vor sich hin zittert.« (Pellaton 19.11.2001)
Selbst Zeitgenössisches kann sich offenbar nicht der Festlegung auf bestimmte Formen entziehen. Die Verkürzung der Stuartschen Tänzer/innen auf eine singuläre, auktoriale »Figur« entspricht dabei den reduktionistischen Wünschen nach Wiedererkennbarkeit entlang eines Markenwertes – ob durch ein explizites Tanzvokabular geprägt oder unspezifischere »Stuartsche[] Psychosen-Manier« (Schlagenwerth 23.5.2003 zu Visitors Only). In der Beschreibung Pellatons zeigt sich indessen ein zusätzlicher wichtiger Aspekt: Eine Ästhetik des Dekonstruktiven benötigt gerade im Hervorbringen von Un-Ordnungen präzise, schlüssige Techniken und Körperbeherrschung – mit Sasha Waltz wurde hierauf bereits in Kapitel 2 hingewiesen (vgl. S. 213). Noch einmal pointierter: Werden Stuarts De-Strukturierungen mittlerweile in einer paradoxen Wendung als Masche entweder diffamiert oder favorisiert, soll sich Forsythe von den gewohnten Pattern nicht entfernen dürfen – das Metamorphe, Unbestimmte unterliegt zu Beginn des 21. Jahrhunderts mithin dem Widerspruch, entweder zu alt zu sein, um noch künstlerische Überraschungen hervorrufen zu können, oder zu ›abseitig‹, als dass es die offenbar doch notwendigen Me-
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chanismen des Fremden oder Neuen im Bekannten erkennen ließe – so dies überhaupt gewollt ist. Auf Grundlage dieser grotesken Situation sind im Folgenden Bewegungsrepertoires des Unabgeschlossenen auszuarbeiten, die einerseits Merk-Male für eine zeitgenössische Ästhetik im Tanz bilden, sich andererseits jedoch gerade durch ihre Offenheit und das Überschreiten von Rahmungen charakterisieren lassen, die – folgt man der Rezeption – immer wieder auch vom Scheitern begleitet sind. Den Motiven des Unabgeschlossenen wohnt insofern eine doppelte Transitorik inne: In ihrem Oszillieren zwischen Figuration und Defigurieren, der Rahmensetzung und ihrer Überschreitung weisen sie sich als fluktuierende aus, die darüber hinaus, als Muster erkannt, ihren Status als beunruhigende, schwebende1 Verfahren recht bald wieder verlieren. Die folgenden Analysen orientieren sich im Wesentlichen an den mit Michail M. Bachtin aufgestellten Aspekten der Vermischung von Grenzen zwischen Körper und Umraum sowie Wolfgangs Kaysers Hinweisen auf das Groteske als Bewegungsphänomen, das hier nun in Bewegungsbildern betrachtet wird. Die beiden vorherigen Kapitel haben freilich gezeigt, dass es sich bei den dort formulierten Körperbildern keineswegs um statische Erscheinungen handelt – allerdings waren hier unter anderem Grenzüberschreitungen im Fokus auf spezifische Körperpartien und De-Formierungen nachzuvollziehen, während dieses Kapitel nun genauer danach fragt, wie die Bilder in Bewegung gebracht werden und Repertoires des Fragmentierens, Dislozierens und Verdrehens entwerfen. Dabei sind es häufig die Stücke Meg Stuarts und ihrer Compagnie Damaged Goods, die diesen Bewegungsästhetiken neue Impulse verliehen haben und hier genauer untersucht werden.2 Dem Entwurf von Bewegungs-Bildern aus Kapitel 1 nachgehend, orientieren sich die folgenden Ausführungen an der Idee einer »Performance im Bild«, wie sie Gabriele Brandstetter unter anderem anhand der Arbeiten Rebecca Horns und Cindy Shermans entwickelt (Brandstetter 1998: 92). Sie setzt bei der extremen Verzögerung in Marcel Duchamps Arbeit Das große Glas an (1915-1922), in der Bewegungen so stark verlangsamt werden, dass sie bis zum optisch wahrnehmbaren Stillstand im Bild gerinnen (ebd.: 102 f.). Dabei zeige sich die »Aktion einer paradoxen Struktur von Bewegung und Fixierung im Bild […] oder einer Aktion, die in das Bild transportiert wurde und – im Akt des betrachtenden Blicks – performativ wird.« (Ebd: 101) Sind hier Bewegungen in Bildrahmungen aufzuspüren, wie sie im nächsten Abschnitt anhand einiger Beispiele aus Francis Bacons Œuvre sowie Rebecca Horns Arbeiten nachvollzogen werden sollen, werden darüber hinaus Bildentwürfe untersucht, die ihre Kadrierung tendenziell verlassen – so bei Bruce Nau1 2
Schwebend meint in diesem Zusammenhang den Akt der Passage, als (noch) nicht beendeter Moment. Pirkko Husemann bezeichnet u.a. Stuarts Choreographien als »Reflexion über Bilder«, argumentiert allerdings im Modus einer Abwesenheit von Tanzbewegungen, dem ich mich hier nicht anschließe (Husemann 2002: 8).
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man –, die zwischen Bewegungen im Bild und Auflösung von Konturen changieren wie in Meg Stuarts No Longer Readymade oder auf teratologische Bildgehalte zurückgreifen und Tanzfiguren in Spannungen von Dis-Balancen bringen, was unter anderem im Blick auf groteske Tänze des 17. und 18. Jahrhunderts im zweiten Teil dieses Kapitels zu zeigen ist. Bewegungsweisen des Grotesken entstehen darüber hinaus durch die bereits in Kapitel 2 und 3 skizzierten Verbindungen zwischen Körper und umgebendem Raum (vgl. S. 201, 249 f.), besonders im Modus des Einverleibens – beispielhaft dafür ist Stuarts appetite (1998) – durch Verdrehungen und Metamorphosen, die wiederholt Assoziationen mit der Metaphernwelt des Amphibischen hervorrufen, so in Xavier Le Roys Self unfinished, sowie den Strategien der Torsion, als Fragmentieren, Dezentralisieren und als Destruktion bei Le Roy, Valeska Gert und William Forsythe. Zeichneten sich die Beispiele der ersten beiden Kapitel häufig durch die starke Verlangsamung der Bewegung aus, sind es besonders bei Forsythe und Stuart oft gerade das hohe Tempo der Motionen oder unspezifischere Modi wie Schütteln und Zittern, die den Tanzkörper in am Platz ausgeführten Bewegungen in eine bildliche Stasis geraten lassen (vgl. Kap. 1, Anm. 107, S. 126) und momenthafte, situative Bilder generieren. Ein signifikanter Unterschied in der Betrachtung von Körper- und Bewegungsbildern der nachstehenden Beispiele kann bereits jetzt formuliert werden: Fokussierten die Stücke und Aktionen in den ersten beiden Kapiteln fast immer auf den nackten Körper als zu transformierendes Arbeits-Material, rückt hier nun zumeist die Bewegung im Kostüm in den Vordergrund der Untersuchung. Nacktheit ist in den zuvor analysierten Situationen weniger ein Motiv erotischer Attraktion, sondern lenkt den Blick auf die stoffliche Verfasstheit des tanzenden Körpers.3 Demgegenüber sind in den folgenden Beispielen die Akteure häufig bekleidet, um, so meine ich, den Blick auf die prozessualen Rahmenverschiebungen gerade nicht durch einen nackten Körper abzulenken. Eine formale Bemerkung noch vorab: Besonders über Meg Stuarts Praktiken des Deformierens und Dekonstruierens des sich bewegenden Subjekts sowie über William Forsythes Techniken der Dezentralisierung und Verflüssigung von Körpern im Raum ist in der tanzwissenschaftlichen Literatur der letzten Jahre sehr viel und ausführlich geschrieben worden, weshalb ihre Ästhetiken und Innovationen an dieser Stelle nicht noch einmal ausführlich dargelegt, sondern vielmehr an prägnanten, herausgeschnittenen Beispielen untersucht werden. Um den Lesefluss in diesem Kapitel kompakt zu halten, wurden Hinweise auf relevante tanztheoretische Erkenntnisse zu den entsprechenden Choreograph/innen in die Fuß-
3
Über Nacktheit als körperliche Architektur vgl. Ginot 1998: 30 ff. In dieser Arbeit kann nicht ausführlicher auf den Aspekt des Nackten wie auch Materialität im Sinne eines Formbegriffs in zeitgenössischem Tanz eingegangen werden – ein Topos, der ein lohnendes Projekt intensiverer Forschung wäre. Zur Nacktheit als Pose vgl. S. 322 f.
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noten verlagert, soweit sie nicht Gegenstand einer ausführlicheren Auseinandersetzung sind.
1 Pendeln. Fragliche Grenzen zwischen Körper und Raum »If the classical and the modernist traditions of Western aesthetics can be summarized as looking to art for a reflection of the body and an illumination of the body, in other words, the ›reflected body‹ and the ›illuminated body‹, then the metaphor of Bacon’s post/modernist aesthetics would be ›the body unbound‹.« Ernst van Alphen (1992: 60)
Die folgenden Analysen befassen sich mit Beispielen aus der bildenden Kunst, der Performanceart und dem Tanz, denen allen zu eigen ist, rahmende Grenzen zu bearbeiten, sie zu berühren oder zu übertreten, wobei es zu Wechselbewegungen besonders zwischen Körper und umgebendem Bildrahmen oder Körper und Bühnenraum kommt. Darüber hinaus dienten Meg Stuart beispielsweise die bewegungsdynamischen Bilder Francis Bacons als Anregung (Stuart 1995, Programmtext),4 mit denen wiederum ihre Stücke Disfigure Study und No Longer Readymade oftmals in Verbindung gebracht werden.5 Gerald Siegmund urteilt im Zusammenhang mit Stuarts Ästhetik: »Bacons Figuren sind immer auch Bewegungsbilder.« (Siegmund 2006: 437) Der erste Abschnitt untersucht das Motiv des Kopfes, das damit sowohl an das Phänomen kopfloser Torsi (Kapitel 2) sowie die Idee des geöffneten Mundes als Depersonalisierung des Gesichtes (Kapitel 3) anknüpft. Die anschließenden Passagen dehnen die Analysen auf den gesamten Körper aus, der sich zu Bühnen- und Objektgrenzen ins Verhältnis setzt. Entgegen Ernst van Alphens Annahme im Eingangszitat zeigt sich dabei, dass der Körper nicht als ein schrankenlos flottierender überhöht wird, sondern sich jeweils an Grenzen abreibt und deformiert.
4 5
In ihrer New Yorker Zeit hat Meg Stuart regelmäßig Galerien und Ausstellungen der dortigen Kunstszene besucht (Siegmund/Stuart 1999a: 36). Vgl. Laermans 2006: 7, Luzina 14.9.1993, Brandstetter 1998a: 17, Siegmund 2006: 409 f.
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1.1 Shaking Heads. Übergänge von Bild und Bewegung »Ich wollte einen Kopf malen, als ob er in sich selbst gefaltet wäre, wie die Falte eines Vorhangs.« Francis Bacon (in Steffen 2003a: 133)
So äußert sich Francis Bacon zu dem Bild Study after Velázquez’s Portrait of Pope Innocent X und deutet auf zwei wichtige Aspekte hin, die in den kommenden Betrachtungen leitend sein werden: die Verwischung der Konturen von Kopf und Gesicht in Bewegungen, die Bacon, in Warburgscher Diktion, teils mithilfe des »bewegten Beiwerks« von Schleiern und Vorhängen bewirkt (Warburg 1998: 10; vgl. auch Steffen 2003a: 134), sowie die Dekonstruktion des Gesichts als identifikatorische Fläche des Subjekts, wie sie die Portraitmalerei im Nachvollzug einer repräsentativen Mimesis noch erforderte (vgl. Suthor 1999a: 444, Hennig 2003: 216 f.). Der folgende Vergleich von Praktiken Francis Bacons, Meg Stuarts, Bruce Naumans und Rebecca Horns zeigt Eingriffe an den Grenzen zwischen Kopf und Umraum, die Zweidimensionales in Plastizität überführen beziehungsweise identifizierbare Fix-Punkte in sich überlagernden Schlieren auflösen. Lag im vorherigen Kapitel der Fokus in Naumans und Bacons Ästhetiken zunächst auf dem Motiv von Mundöffnungen als Dekonstruktion von Sprache und Macht, werden dieselben Arbeiten nun nochmals unter dem Aspekt von Rahmenüberschreitungen genauer befragt und auf ähnliche Situationen im Tanz bezogen.
1.1.1 Francis Bacon: Groteske Bewegungen im Rahmen Auf einer Art Thron, der aus einem goldenen Gestänge besteht, sitzt ein Geistlicher, gekleidet in eine lilafarbene Robe sowie ein weißes Unterkleid mit hellen Ärmeln. Das Kleid ragt durch Farbverwischungen in das goldene Gestänge hinein, das die Figur wie eine Absperrung umgibt. Durchzogen ist das gesamte Bild von hellen, längs verlaufenden Streifen, die die sitzende Figur mobilisieren und strecken. Kontrapunktisch dazu halten sich die Hände an den Lehnen des Thrones krampfhaft fest. In Study after Velázquez’s Portrait of Pope Innocent X (1953) (vgl. Abb. 70, S. 250) zeigt sich exemplarisch, wie Bacon seine Figuren mobilisiert und ihre Konturen sukzessive auflöst, nicht ohne jedoch immer wieder Rahmungen und Gitterstrukturen einzuführen, an denen sich Bewegung und De-Formierung allererst abdrücken und zeigen kann. Gilles Deleuze betont diese opponierende Strategie als ein wichtiges Signum in Bacons Bildern, die er als »motorische Hypothese« formuliert: »Die Sensationsebenen wären gleichsam Haltepunkte oder Momentaufnahmen der Bewegung, die die Bewegung auf synthetische Weise in ihrer Kontinuität, Geschwindigkeit und Gewalt wieder zusammensetzten« (De-
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leuze 1995: 30). Deleuze verweist auf den Einfluss der Chronophotographien Eadweard Muybridges auf Bacons Kunst, und so erscheint der Papst auf dem Thron fast wie in einem Lift auf dem Weg nach oben, ein Schnappschuss, den eine Kamera im Moment des Abhebens eingefangen hat. Diese Bewegung im Bild, die die dargestellte Figur mit dem Umraum in Überlagerungen und Verwischungen verfließen lässt,6 verweist auf ein groteskes Verfahren, da es die Materialität des Figürlichen einerseits im verflüssigenden Pinselstrich aufzeigt, jedoch anhand der Rahmungen eine vollständige Auflösung vermeidet – Bacons Papst hält sich buchstäblich in der Schwebe. Zur Dehnung und Verlängerung der Figur (vgl. Steffen 2003a: 133) kommen Verfahren hinzu wie das Nutzen und Verschieben der Zentralperspektive durch den Einsatz von käfigartigen Strukturen oder den Körper rahmende Rechtecke (van Alphen 1992: 157). In einem psychoanalytischen Zugriff interpretiert van Alphen diese die Gestalt begrenzenden, eingezogenen Linien als Rudimente von Räumen, die dem Individuum jedoch nicht mehr den entsprechenden Platz in einer Ordnung böten (ebd.: 159). Stattdessen werde der Blick des Anderen auf ein in seiner Ganzheit zu konstituierendes Subjekt verhindert – dieses präsentiere sich vielmehr so, wie es sich selbst wahrnehme, in Lacans formulierter Perspektive als ein zerstückeltes, das van Alphen weiterführend als gänzlichen »loss of self« diagnostiziert (ebd.: 117, 76). Dieser Selbstverlust, der sich in der Flüchtigkeit des Körpers, als »bodyscapes« offenbare, zeige sich in der Diffusion seiner Umrisse: »Lack of self is represented by a lack of shape […] The body is thus deprived of substance, boundaries and form: of subjectivity.« (Ebd.: 162) Ich meine jedoch, dass Bacon in seinen Gemälden nicht die völlige Zerstörung von Subjekt und Körper vorführt. Vielmehr gibt er An-Halts-Punkte, zeigt groteske Zwischenstadien, die das Verflüssigen der Körperkonturen als eine DeFiguration im Prozess verbildlichen, als ein Anhalten des Moments vor dem zerfallenden Zerfließen der Figur. Van Alphen selbst betont, dass Bacons Malerei als figürlich einzuschätzen sei (van Alphen 1992: 163), und so zeigen viele Bilder Bacons just auf den Moment des Kippens zwischen Figur und De-Formation, der laut Brandstetter auch dem Figur-Werden selbst innewohne (vgl. S. 54).7 Das Gesicht, im französischen auch figure genannt (vgl. Brandstetter/Peters 2002a: 9), nimmt dabei eine wesentliche Stellung in Bacons Arbeiten ein, als markierende Fläche zwischen Identifikation und Depersonalisierung, als Ort, der von dünnen, begrenzenden und immer wieder gefährdeten, fragilen Linien durchzogen 6
7
Die Strategien von Defiguration sowie Mobilisierung in Bacons Œuvre können in diesem Zusammenhang nur gestreift werden. Ausführlich befassen sich damit u.a. Deleuze (1995), Cappock (2003), Berggruen (2003), Steffen (2003b) sowie van Alphen (1992: 82, 154). Das explizit dekonstruierende Arbeiten an Form und Figur lässt sich nicht zuletzt auch an Bacons Auseinandersetzung mit den Vor-Bildern aus den Werken Velázquez’, Picassos oder Tizians ablesen (vgl. Bryson 2003, Berggruen 2003a, Steffen 2003a).
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ist. Das Moment des Defigurierens vollzieht sich laut Deleuze in eben jenen Konturierungen: »Denn die Kontur als Schauplatz ist der Ort eines Austausches in beide Richtungen, zwischen der materiellen Struktur und der Figur, zwischen der Figur und der Farbfläche. Die Kontur ist gleichsam eine Membran, die von einem doppelten Austausch durchlaufen wird.« (Deleuze 1995: 15) Neben der Bewegung führt Deleuze dafür außerdem die Motive des Schattens sowie die häufig wiederkehrende Struktur kreisförmiger oder gebogener Flächen und Hintergründe in Bacons Bildern an (ebd.: 16).
Abb. 86: Francis Bacon, Study for Portrait (1971)
Mit solch konturierenden Grenzen arbeitet Bacon zum einen in der Multiplikation von Rahmungen, die er seinen Figuren verschiebend überstreift, wie in Study for Portrait (1971) (Abb. 86). Diese Einziehungen fixieren die sitzende Figur jedoch nicht, halten sie nicht in der Fassung, sondern verrücken sie vielmehr disproportional und heben damit die Methode Albrecht Dürers auf, der das Maßnehmen mithilfe von aufgespannten fensterähnlichen Rahmen entwickelte, um die menschliche Figur oder Gegenstände sowie Landschaftsdarstellungen proportional auf die Leinwand übertragen zu können (1525) (vgl. Baltrušaitis 1996: 110).8 Darüber hinaus spielen die erwähnten Rundungen eine wichtige Rolle, um 8
Einen ähnlichen Apparat baute Emmanuel Maignan im Jahr 1648, allerdings um den gegenteiligen Effekt einer Anamorphose zu erzielen. Baltrušaitis bemerkt hierzu: »[I]l sert à déformer et non à mettre au point la perspective.« (Baltrušaitis 1996: 74)
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die Figur im Bild zu mobilisieren (vgl. Cappock 2003: 187, 190) und an die Grenzen der Leinwand zu dislozieren (vgl. Berggruen 2003: 236). In Portrait of George Dyer Riding a Bicycle (1966) (Abb. 87) dienen verschiedene gekrümmte Elemente der Dynamisierung des abgebildeten Freundes Bacons: die Reifen des Rades, wobei der vordere gleich dreifach zu sehen ist, sowie grüne Striche, die sich einem Netz ähnlich unter der radelnden Figur aufspannen, mit zwei Variationen des Vorderreifens in Kontakt kommen und die Komposition insgesamt in der Schwebe halten, was zunächst an ein in Malerei überführtes, chronophotographisches Experiment erinnert. Jedoch folgen die multiplizierten Räder nicht der Sukzession einer Vorwärtsbewegung, sondern sind parallel angeordnet, splittern die Rotationen zu den Seiten hin auf und lassen sie in einer Vibration verharren. Ähnliches widerfährt dem Radler selbst, dessen Gesicht sowohl im Profil als auch en face zu sehen ist,9 wie auf einer Photographie, die doppelt belichtet wurde und die Person in ihren körperlichen Wendungen mehrfach einfängt. Doch auch hier folgt das Gemalte nicht der Fahrtechnik, denn wie könnten die unterschiedlichen Perspektiven des Gesichts an der gleichen Stelle zu sehen sein, wenn sich das Rad fortbewegte. Vielmehr scheint Bacon hier einer Art Tanzpose zu folgen, die sich, sur place, mal von der Seite, mal frontal zeigt.10
Abb. 87: Francis Bacon, Portrait of George Dyer Riding a Bicycle (1966)
9
Olivier Berggruen macht hierfür u.a. den Einfluss Picassos auf Bacons Malerei verantwortlich (Berggruen 2003: 234). 10 Vgl. auch die Ausführungen zum Stück Pression, Aterballetto, S. 215.
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Überlagerungen von Umrissen und die Gleichzeitigkeit disproportionaler Perspektiven sind in der Beschäftigung mit Portraits wiederholt präsent, die Deleuze als Bacons »besonderes Projekt« bezeichnet: »das Gesicht auflösen, den Kopf unter dem Gesicht wiederfinden oder auftauchen lassen […] das Gesicht hat seine Form verloren, indem es mit den Techniken der Verwischung und des Abbürstens behandelt wurde, die es desorganisieren« (Deleuze 1995: 19). Bacon bezeichne den so defigurierten Kopf auch als »Diagramm«, da sich die Fläche hierbei ausdehne und die Körperpartie buchstäblich verwüstet werde (ebd.: 62).
Abb. 88: Francis Bacon, Three Studies for Portrait of Isabel Rawsthorne (1965)
Das Gesicht als Fassade der Identität wird von Bacon beispielsweise in dem Triptychon Three Studies for Portrait of Isabel Rawsthorne (1965) nahezu systematisch dekomponiert (Abb. 88).11 Das rechte Bild zeigt ihren Kopf im Profil, leicht ins Halbprofil driftend. Bis auf den ausgiebigen Schwung des Pinsels am linken Wangenknochen, der die Höhlung des Auges betont, sowie am Hals und an der Kinnlinie, die eingedrückt und tendenziell aufgelöst wird, erscheinen die Konturen des Gesichts relativ gefügt und geschlossen, besonders an Lippen und Nase. Die Haut ist flächig, pastos und leicht gerötet. Das Gesicht in der Bildmitte gleitet dagegen stärker aus der hier angebotenen Frontalansicht, die Lippen quellen über und schieben den Mund zusammen, der linke Wangenknochen ist in Wellenlinien verformt, und es kommt zu Überlagerungen in der Nasenpartie sowie zwischen Stirn und Augen, die im linken Bild weitergeführt werden. Die Bewegung, mit der sich das Gesicht ins Halbprofil dreht, ist vermittelt über den groben Strich des Pinsels, der das auf der rechten Wangenseite rosige Inkarnat der Haut vergröbert und verschmiert. Jedoch ist nicht ganz klar, woher die Be-
11 Alexandra Hennig verweist auf das für Bacon zu dieser Zeit typische Format von Polizeiphotos, die den Kopf einer verdächtigen Person von jeder Seite zeigten, wobei Bacon nicht so sehr an der Serialität der Darstellung als vielmehr an der Gleichzeitigkeit der unterschiedlichen Perspektiven interessiert sei (Hennig 2003: 218).
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wegung, mit der das Bild gestaltet wurde, tatsächlich kommt – fast scheint es, als habe das gemalte Objekt die Verwischung selbst hervorgerufen, wie ein Modell, das beim Schminken nicht stillgehalten hat und in einer ruckartigen Seitenbewegung den Pinsel ausgleiten ließ.12 Kräftige Striche schieben sich über das rechte Auge und lassen es mit dem Nasenrücken verschmelzen, die Nasenspitze selbst tropft auf die Oberlippe herab und zieht ihre Spur bis zum Kinn hinunter. Das linke Auge ist in dieser Seitwärtsbewegung nach oben gerutscht und hebt sich leicht vom Grund des Gesichts ab. Die scheinbaren Überblendtechniken, mit denen Bacon das Gesicht des Rad fahrenden George Dyers dupliziert, sowie die oben beschriebenen Bewegungsverschiebungen zwischen Pinsel und gemalter Figur, die sich als im Moment festgehaltene Nachbilder ergeben, nutzt Meg Stuart in ihrem Stück No Longer Readymade (1993), aus dem nun ein solistischer Ausschnitt genauer untersucht wird.
1.1.2 Meg Stuart, Benoît Lachambre und die Ver-Haltungen des Kopfes »My choreographic work revolves around the ideas and images of distorsion, privateness, memories and exposure. I usually associate this elements with simple human physical tasks: a hug, a chase, walking, running, falling.« Meg Stuart (1995a: 3)
In No Longer Readymade gehen Meg Stuart und ihre Compagnie Damaged Goods den Vereinzelungen des Subjekts in großstädtischen Kontexten nach, wobei unter anderem der damalige Wohnort New York eine Inspirationsquelle ist (Stuart 1995, Programmtext).13 Die in den 1960er Jahren dort ansässige Tanzavantgarde aus dem Umfeld der Judson Church zeigte in Anlehnung an die Readymades Duchamps Bewegungen als einfache Handlungen, welche nicht so sehr von einem auktorialen Subjekt abhingen, sondern sich im jeweiligen Kontext oder in den verschiedenen Betrachterperspektiven mit Bedeutung aufluden. Demgegenüber optiere Stuart mit ihrem Stück für ein »no longer readymade«, als Rückbindung der Tänzer/innen an die gesellschaftliche Verfasstheit ihrer Kunst, die damit über den Ort der Bühne hinausweise, so Siegmund (Siegmund 2006: 421 ff.). 12 Zu einer ähnlichen Schlussfolgerung gelangt Siegmund und bemerkt: »Als hätte der Pinsel des Malers die Figuren beim Drehen erwischt, erscheinen sie perspektivisch verzerrt«. Über die Lektüre Didier Anzieus (zu Bacon) optiert er allerdings für eine Auflösung der Körper im Bild (Siegmund 2006: 437). 13 Von der US-amerikanischen Kritik wurde das Stück stellenweise explizit als humaner Verfall der New Yorker Umstände gedeutet (Littler 21.1.1994).
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Strukturiert ist die Choreographie durch sich meist nebeneinander bewegende Tänzer/innen:14 In den seltenen Momenten der Kontaktaufnahme gelingt Berührung nur als Entfremdung, so in einem Duett, in dem Stuart von Benoît Lachambres Füßen über den Boden getragen, geschoben und geschleift wird, ein Pas de deux ohne Arme, der auch die sonst übliche, meist gleichberechtigte Raumebene des Miteinander in der Vertikalen auflöst.15 Nur in kurzen Momenten finden die Tänzer/innen, an einer anderen Stelle des Stücks, zu einer Umarmung zusammen und kommen in ihren Bewegungen zur Ruhe, die in der übrigen Zeit der Aufführung von Rastlosigkeit oder lähmender Enge geprägt sind.16 Die im Eingangszitat erwähnten einfachen Bewegungsmotive durchziehen das Stück als wiederkehrendes Gleiten oder Fallen auf den Boden, Zittern des gesamten Körpers und der beständigen Verhinderung oder Verfremdung gegenseitiger Berührungen, die sich durch eine verunsicherte Taktilität der Hände äußern: So benutzt Meg Stuart in einem Solo ein Paar Schuhe, das sie über die Hände stülpt, um sich damit über Gesicht und Kopf zu reiben, die Linien des Mundes nachzuziehen oder Bewegungen wie Waschen und Bürsten mit den Hand-Schuhen zu vergrößern und in ein tendenzielles Aufrauen und Zerreiben der Hautfläche ausufern zu lassen – es entsteht ein »fractal space of self«, in dem das Subjekt seiner Selbst-Gewissheit entzogen ist, so André Lepecki, der für dieses Stück als Dramaturg verantwortlich war (Lepecki in Stuart 1995, Programmtext).17 Siegmund beschreibt das Stück insgesamt als prägend für Stuarts choreographische Praxis: »Die Erfahrung des ›Displacements‹, eines Körpers, der sich auflöst, Einheit und Zusammenhalt verliert, dessen Glieder ver-rückt werden, ist ein Grundzug von Meg Stuarts Arbeiten.« (Siegmund 2006: 418) Solche Auflösungen der begrenzenden Umrisse des Körpers werden als Motiv bereits zu Beginn in einem Solo des Tänzers Benoît Lachambre eingeführt, das sich für Assoziationen mit den zerfalteten und defigurierten Kopfbildern Francis Bacons geradezu anzubieten scheint.18 Zwar beschreibt Siegmund dieses 14 Ich habe No Longer Readymade im Frühjahr 1994 im Rahmen des Springdance Festivals in Utrecht gesehen. Für die genauere Analyse diente mir außerdem ein Videomitschnitt. 15 Siegmund misst diesem Duett zudem eine gewaltsame Komponente zu, die sich vom spielerischen Tanz der Contact Improvisation durch theatralische Überhöhung einerseits und das körperlich kräftezehrende Spiel der Tänzer/innen andererseits abwende (Siegmund 2006: 417). 16 Irene Sieben beurteilt das Stück im Sinne einer kritischen Erfahrung des SubjektSeins, als »Alptraumwelt menschlicher Vereinsamung und physischer Verformung« (Sieben 14.8.1993). Auch auf dieser Ebene ergibt sich eine Nähe zu Bacon, der, so Alexandra Hennig, »das zeitgenössische, krisenhafte Subjekt im Bewusstsein seiner Verletzlichkeit und Vergänglichkeit« darstelle (Hennig 2003: 215). 17 Siegmund deutet die Schuh-Szene als Löschung der Bühnenidentität Stuarts (Siegmund 2006: 420). 18 Husemann beschreibt das Solo als Auflösung der Körperkonturen in eine »unbegrenzte, homogene Farbfläche«, die an Bacon denken lasse (Husemann 2002: 30). Siegmund spricht mit Bacon von einer »Verflüssigung des Körperbildes« und be-
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Solo als einen Körper im Zwischenzustand von Diffusion und Formung (Siegmund 2006: 409), er optiert jedoch generell für eine Verflüssigung des Körpers in Stuarts Stücken. Ich meine hingegen, dass Stuarts Strategien vielmehr von einer Spannung zwischen Formlosem und Gehaltenem getragen sind, die sich nicht auflöst. Diese Hypothese soll anhand Lachambres Solo genauer entwickelt werden und ist im Verlaufe dieses Kapitels immer wieder als Grundzug in Stuarts Stücken zu entdecken. Bei genauerer Betrachtung stellt sich heraus, dass die zunächst so fluid und unkoordiniert wirkenden Bewegungen einem genau durchkomponierten Muster folgen,19 das sich an die dekonstruierenden Prinzipien Francis Bacons anlehnt. Das Solo wird an dieser Stelle daher ausführlicher beschrieben und analysiert. Am vorderen Rand eines Lichtquadrats steht Benoît Lachambre, den Kopf isoliert von rechts nach links schüttelnd, während der übrige Körper fast regungslos verharrt. Die beständigen Motionen des Kopfes lassen allmählich die Gesichtszüge verschwimmen: Ein Auge scheint ins Ohr zu zerfließen und die Perspektiven von Profil, Halbprofil und en face konfluieren in verwischenden Hautströmen, die dem verzerrten Organ die Duplizität eines Januskopfes verleihen und an die beschriebenen Portraits Bacons erinnern. Zur Rastlosigkeit des Gesichts gesellen sich die Hände des Tänzers, die, entgegen der Bewegungsintensität des Kopfes, Haltepunkte im Raum zu markieren versuchen. Drei Finger der beiden Hände abgespreizt, tasten sie, immer ruckartig die Position wechselnd, den Bereich vor dem Oberkörper ab, orientieren sich an den Fixpunkten von Schultern und Hüften und beschreiben zunächst eine Art viereckigen Rahmen, welcher die Kinesphäre Lachambres20 auf den Torso verkürzt und den Raum auf seinen Körper zu hin verdichten scheint. Schließlich klinken sich jedoch auch die Hände in das verflüssigende Spiel des Kopfes ein und wedeln rasch und hektisch vor diesem hin und her, die Zeigefinger nach oben weisend und die Verformungen der Gesichtszüge mit unterstützend, indem sich die wirbelnden Motionen der Finger einem Schleier gleich vor das Gesicht legen. Nach einer Weile vermag sich der Tänzer in seinen Isolationsbemühungen nicht mehr starr und aufrecht zu halten: Der Oberkörper schwingt nach vorne aus und reißt die Arme mit, deren zuvor noch pointierte Bewegungen nun fahriger werden und aus der zuvor in die Luft gezeichneten Rahmung ausbrechen – der Kopf scheint nun gänzlich zum Impulsgeber für die zunehmend unkoordinierte-
urteilt Lachambres Solo als Stadium »zwischen Kontrollverlust und Selbstbeherrschung« (Siegmund 2006: 437, 410). 19 Lachambres Solo ist außerdem im Rahmen des Stückes Encyclopoedia der kanadischen Choreographin Lynda Gaudreau (1999) als von ihm selbst getanztes Zitat zu sehen (vgl. Einleitung, S. 17 f.). Der Videomitschnitt der Aufführung ergab die gleiche Struktur des Solos, wie sie für No Longer Readymade entwickelt worden ist, Lachambre improvisierte also offensichtlich nicht. 20 Zu Rudolf von Labans Konzeption der Kinesphäre als Raum-Bewegungs-Modell des Körpers vgl. S. 398.
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ren Schleuderungen geworden zu sein. Immer wieder versuchen die Hände, den Verschüttelungen Kontrapunkte entgegenzusetzen, schiebt sich eine Handfläche vor den Mund oder vollziehen die Arme Umrissmotionen des Kopfes nach, zeichnen Bögen in den Raum ein und umkreisen das Gesicht im Versuch, es in einer gewissen Führung zu halten. Jedoch reißen die lenkenden Handgesten immer wieder aus, schießt eine deutende Hand über das Ziel hinaus oder wird von der Wucht des ausweichenden Rumpfes mitgerissen.21 Bisweilen verlangsamen sich die Motionen, und erschöpft auspendelnd kommt Lachambre schließlich abrupt zu einem Halt, um dann jedoch sogleich wieder vom Kontrollverlust der fliegenden Glieder hinweggeschleudert zu werden. Diese Bewegungen wiederholen sich mehrmals und folgen einem allmählich erkennbaren, phrasierten Muster: nach rechts zeigender, ausreißender, überschießender Arm – Hand vor den Mund halten – mit erhobenen Zeigefingern die Hände vor dem Gesicht hin- und herbewegen – einen den Körper umzeichnenden Halbkreis mit der rechten Hand vor der Brust beschreiben – Kopfkonturen mit rudernden Armen nachvollziehen. Die beiden Bewegungsphrasen zwischen Kontrollverlust und Wiederherstellen der Haltungen gehen in der dritten Phase des Stücks in ein Ganzkörperzittern über. Die Arme sinken nach unten und Lachambre wird von einem Schütteln erfasst, das sich in Wellen durch den Körper bewegt, wobei kaum auszumachen ist, wo der Impulsgeber für diese Bewegungen sitzt: Mal scheint die Quelle des Zitterns in der Brust, dann wieder in den Oberschenkeln oder im Becken zu sitzen. Das kurzärmelige, weiße Hemd des Tänzers schlägt wellige Falten und lässt nun auch die Konturen des Oberkörpers verschwimmen, während der übrige Körper relativ stabil in der Vertikalen steht und der Kopf zu Ruhe gekommen ist – lediglich die Wangen sind vom Zittern erfasst und flattern leise mit. Abgelöst wird das Körperbeben durch die wieder einsetzende Schleuderbewegung des Kopfes (Abb. 89), unterstützt von den Händen in den oben ausgeführten Phrasierungen, die nun allerdings variiert werden, etwa in verdoppelnden Umrissbewegungen des Kopfes mit den Händen, die im Übrigen den Raum nicht mehr nur punktieren, sondern in ihn ausgreifen, als suchten sie nach Haltegriffen in der Luft. Das Solo schließt mit der Anfangssequenz des schüttelnden Kopfes und den fixierenden, drei Finger ausstreckenden Händen und endet abrupt mit dem plötzlichen Ende der Klaviermusik, die sich während des gesamten Solos beschleunigend gesteigert hat und den Tänzer nun, im Verstummen, regelrecht ausbremst. 21 Alina Gildiner beschreibt diese Bewegungssequenz als veitstanzartig, da sie weniger choreographiert, sondern vielmehr wie von der Krankheit Chorea Huntington inspiriert wirke (Gildiner 24.1.1994). Siegmund bezeichnet die Bewegungsweisen in Stuarts Stücken als von »Tics« und »Handicaps« durchzogen, die somit »auffällige[] Verhaltensweisen« auf die Bühne übertrügen und sich im Aufgeben körperlicher Kontrolle üblichen Bewegungscodes und »Sinngebungsprozesse[n]« im Tanz entzögen (Siegmund 2006: 413).
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Abb. 89: Meg Stuart/Damaged Goods, No Longer Readymade (1993), Videostill: Tine van Aerschot
Wirken die Bewegungen Lachambres insgesamt wie eine Verflüssigung und Auflösung seines Körpers im Raum und verschieben sich die Proportionen seiner Gesichtszüge in Baconscher Manier, zeigt die Aufgliederung des Solos, dass diese Fluktuationen mit einer präzisen Kompositionstechnik erzielt werden, die sich in ihren fünf Phasen als eine a – b – c – b – a-Struktur zeigt: a. Kopf verschütteln und den Raum mit den Händen fixieren – b. überschießende Arm- und Oberkörpermotionen bei schleuderndem Kopf – c. Ganzkörperzittern – b. überschießende Arm- und Oberkörpermotionen mit schleuderndem Kopf – a. Kopf verschütteln, Raum mit Händen fixieren. Die beiden letzten Phasen ergeben sich dabei wie ein Nachhall der beiden ersten, variieren und erweitern deren Bewegungsthemen und sind insgesamt kürzer. Brandstetter hat Lachambres Solo in No Longer Readymade als »SchüttelMonologe« bezeichnet, Siegmund nennt es das »Drama« der Finger (Brandstetter 1998a: 17, Siegmund 2006: 409) – die oben entfaltete Struktur zeigt, dass diese tatsächlich einer gut strukturierten Rede oder einem Drama in fünf Akten folgt, das einen fast klassischen fünfstufigen Aufbau aufzuweisen hat, mit der Krise des Schüttelns in der Mitte. Jedoch kommt es zu keiner Lösung des Körperdramas, Katharsis ist nicht möglich, ein Zusammenbruch findet nicht statt. Vielmehr ist Lachambres beständig stehenbleibender Körper in einen Kreislauf von Aufrichtungen, Verschleuderungen, Wiederholungen und Variationen eingebunden, die nur im abrupten Verklingen der Musik schlagartig unterbrochen werden können. Folgt das (klassische) Drama einer linear narrativen Anordnung, so ist das Solo hingegen wie eine Spiegelung aufgebaut, gleich einem verschobenen Rohrschachtest, dessen Gelenkstelle in der Mitte durch die Endlosschleife des zitternden Körpers gebildet wird.
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Meines Erachtens ergibt sich aus diesen Beobachtungen der groteske Gehalt des Solos in No Longer Readymade, da es den Körper nicht einer völligen Auslöschung anheim stellt, sondern in seiner Gratwanderung zwischen De-Formierung und Ver-Haltung auf organisierende, komponierende Prinzipien zurückgreift, die eben jene diffundierenden Sensationen ermöglichen und sie etwa von einem psychologischen (tanztheatralen) Ansatz des Selbst-Verlustes weg in eine Materialisierung von Entgrenzungserfahrungen überführen.22 Stuarts Praktiken des Dekonturierens und Verschüttelns von Körpergrenzen sind dabei ein explizit aus der bildenden Kunst übernommenes Verfahren – Bernd Hüppauf geht dem Paradigmenwechsel des aufgeklärten, cartesianischen Blicks hin zum Primat der Unschärfe anhand der Malerei der Moderne und der heutigen Zeit, wie etwa bei Gerhard Richter, nach und betont die »Defokussierung« als dialogische Aufforderung an die mitschöpfende Wahrnehmung der Betrachtenden (Hüppauf 2004: 216 f.). Insofern verliert nicht nur Lachambre tendenziell das Gesicht, auch den Zuschauenden schwinden zunehmend die Sinne, vermag das Auge den verwischenden Nachbildern des sich verlierenden und doch verhaltenden Kopfes kaum zu folgen. Bacons Bilder erweisen sich in Stuarts Arbeit mithin nicht nur als optische Inspiration, sondern auch als Fundus einer genau die Kippstellen aufspürenden, sezierenden Technik, die sich sowohl auf der Mikroebene der zitternden, sich verflüssigenden Körperbewegungen ergeben sowie in der Übernahme bestimmter Formen, etwa des Rundbogens, den Lachambre mit der Hand vor dem Oberkörper beschreibt, als auch in der Klappstruktur der Gesamtanordnung des Solos. Deleuze betont dieses Konstrukt zwischen Diffusion und Konturierung der Figur als Spannung einer Kontingenz in den Bildern Francis Bacons, die er unter anderem an der Verwendung der Motive des Runds und der Kontur entwickelt, Schnitt-Flächen, die die Figuren in einem beständigen Zwischenzustand von nicht-mehr und noch-nicht halten: »Wenn man sich ans Einfachste hält, an die Kontur, die mit einem einfachen Rund beginnt, so bemerkt man die Vielfalt ihrer Funktionen und zugleich die Entfaltung ihrer Form: Sie ist zunächst isolierend, letztes Gebiet der Figur; damit aber ist sie bereits der ›Verwaiser‹ oder ›Deterritorialisierer‹, da sie die Struktur zum Einrollen zwingt und dabei die Figur von jedem natürlichen Milieu abschneidet; sie ist noch Vehikel, da sie den kleinen Spaziergang der Figur auf dem ihr verbleibenden Gebiet leitet […] sie wirkt sodann deformierend, wenn die Figur durch sie, durch ein Loch, durch eine Spitze hindurchkommt; und sie wird in einem anderen Sinn wieder zum Turngerät und zur Prothese für die Akrobatik des Fleisches; sie ist schließlich Vorhang, hinter dem sich die Figur auflöst, indem sie sich mit der Struktur vereint: kurz, sie ist Membran […] und 22 Siegmund betont entsprechend, dass sich Stuart zwar wieder gesellschaftlichen Themen zuwende, diese jedoch nicht psychologisch, im Sinne des Tanztheaters einer Pina Bausch verhandle, sondern die Materialität des Körpers in den Vordergrund rücke (Siegmund 2006: 418).
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gewährleistet die Kommunikation zwischen Figur und materieller Struktur in beiden Richtungen.« (Deleuze 1995: 26, Hervorhebung S.F.)
Die grotesken Körper-Konfusionen entstehen in Stuarts Stück explizit durch ihren Interimsstatus, zwischen überbordender Bewegung und statischem, stehendem Tableau. Franz-Anton Cramer betont, dass Stuarts inszenierte Körper weder das autonome Subjekt noch dessen vollständige Zerrüttung beförderten. Vielmehr zeigten sich die Tänzer/innen in ihren Stücken als »Träger verschwommener Befindlichkeiten« (Cramer 1995: 56). Ähnlich der zwischen Dynamisierung und Stasis vibrierenden Study after Velázquez’s Portrait of Pope Innocent X ist in Lachambres Solo eine Figur in Momentaufnahme zu sehen, zwischen Auflösungen in den Raum hinein und Festhalten der Hände an umgebenden Fixpunkten, ein minutenlang dauerndes Körperstretching, das sich bis in die kleinsten Moleküle hinein ausdehnt. Lachambres ›spontane‹ Bewegungen generieren sich mithin als kalkulierte, genau entwickelte Ekstase. In diesem Spannungsfeld zwischen Unkontrolliertheit und (Körper-)Beherrschung, zwischen Vertikale und Sturz entfalten sich zwei Phänomene, die Stuarts Arbeit sowie den Tanz generell betreffen: die Frage nach einer Ontologie der Bewegung als Tanz sowie nach dem Ort des Subjekts. Mit Foucault können Stuarts Praktiken als Bewegungen heterotoper Krisenkörper gelesen werden, die sich in prekären Zuständen des Liminalen, zwischen Sturz und Stabilität befinden. Brandstetter betont mit Waldenfels das Moment des Labilen als anthropologische Grundkonstante und zitiert: »Nur wer oder was stehen kann, kann umfallen. Dabei bedeutet das Fallen eine extreme Möglichkeit. Fallend berühren wir die Grenzen unseres Daseins. Im Umfallen oder Herabfallen geraten wir in eine Bewegung, die unserer Kontrolle entgleitet. Der Körper entschlüpft sich selbst.« (Brandstetter 2000a: 124 ff.) Aus diesem Potential des Kontrollverlusts entsteht das Movens zeitgenössischer Tanzbewegung wie etwa in der Improvisation, so Brandstetter, die mit dem »Gedanke[n] der Überraschung durch eine Bewegung, die sich nicht einer Wiederholung des Bekannten oder einem vorhersehbaren Verlauf […] verdankt«, spiele (ebd.: 126). In der Kontradiktion zwischen einem in No Longer Readymade allerdings präzise choreographierten schleudernden Stehen und Beinahe-Fallen als unentschiedener, an der Grenze von Ordnungen arbeitender Schwebezustand trägt sich Tanz in seinem Dazwischen-Sein wiederum in eine zeitgenössische Ästhetik ein, die (rezensionsfähige) Muster bilden kann. Auch in Bruce Naumans Arbeiten sind Praktiken der Kontingenz, im Verwischen und Übertreten von Konturen und Rahmungen relevant, die sich am Körper als Bild und hier wiederum in der Mobilisierung von Bildern zeigen, die beispielsweise das projektierte Gesicht in seine Mikrostrukturen verschleifen, wie der folgende Abschnitt vorstellt, der – in einem Rück-Schritt – nochmals den Kopf in seiner Kadrierung im Bild betrachtet.
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1.1.3 Blurring the Screen: Bruce Naumans Raw Material–BRRR, again Die Installation Raw Material–BRRR (1990) zeigt zwei aufeinander gestapelte Fernsehmonitore, in denen jeweils Naumans Kopf in Nahaufnahme zu sehen ist, den er die ganze Zeit über hin- und herschüttelt. Durch die gegeneinander versetzte Kippung der Bildschirme um 90 Grad ist jeweils die rechte oder linke Gesichtshälfte am oberen Bildrand gelegen (vgl. Abb. 71, S. 256). Strukturiert ist das geloopte Videobild durch Farbwechsel, die den Kopf blassblau, grün, rot oder gelbrot unterlegen. Stand in Kapitel 3 die Verformung von Mund und Sprache als Lautlichkeit im Mittelpunkt der Untersuchung von Naumans Installation (vgl. S. 255 ff.), soll hier nun das Augenmerk auf den Kopf und die Bewegungen im Bild gerichtet werden. Während Nauman den Kopf hin- und herbewegt, bleibt der Hals immobil – eine Konstante im Bild, zusammen mit der weißlichen Linie des Kinns sowie der Stirn, die vom schütteren Haar umrahmt ist und Fixpunkte im Bild erzeugt. Stirn, Kinn, Hals und Naumans Geheimratsecken bilden Kadrierungen, innerhalb derer sich die Gesichts-Züge bewegen. Nauman hält die Augen abwechselnd geschlossen und offen, wodurch sie sich, ähnlich wie der Mund, beständig zu Linien und schmalen Strichen verformen, die sich längs über den Bildschirm ziehen. Sind sie geöffnet richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Nase, die zum Anhaltspunkt wird, während die Augen sich zeitweise zu einem zyklopischen reduzieren – das in den Wangenknochen hineinzuwachsen scheint – oder sich in drei Augäpfel aufspalten, eine Verfahrensweise, die wiederum an Bacons Desintegrationen des Gesichts erinnert. Blickt man die Augenpartie längere Zeit an, entstehen kurze Momente, in denen die Motionen fast stillzustehen scheinen, um sich dann wieder in Doppel- und Dreifachbilder zu multiplizieren. Die Verwischung der Gesichtsteile ist nicht vollständig, immer wieder sind die einzelnen Organe klarer umgrenzt zu erkennen und dabei besonders die geöffneten Augen. Zuweilen scheint es, als schwappe der Kopf über den oberen Bildrand hinaus und lasse den Mund über die Begrenzung des Bildschirms hinauswachsen oder kippe samt dem Auge im unteren Bereich aus dem Bild heraus. Dabei wird der Rahmen nie ganz überwölbt, sondern bietet sich hier sogar als doppelter dar, der im Spiel der Oszillationen verstärkt zutage tritt: in der Kadrierung des Fernsehmonitors sowie der Rahmung des Gesichts, das sich in einer gekippten figure über die Merk-Punkte Hals, Kinn und Stirn als erkennbares, da bekanntes Schema erweist und innerhalb dieser Bedingungen verflüssigt. Nauman ist nicht an einer Auflösung des TV-Rahmens als mediale Grenze gelegen – was überschritten oder ausgedehnt wird, ist vielmehr das Gesicht selbst als körperliche Schwelle. Die Farbspiele lassen die Verwischungen im Bild dabei in unterschiedlichen Gradierungen erscheinen: Blau hebt Unschärfe sowie Körnung hervor und weist dem Gesicht eine fast papierne, photographische Materialität zu. Grün löst die Kontraste zunehmend auf und verstärkt den Eindruck von Fluidem und Verschwimmendem, während die Farbe Rot das Gesicht pixelig er-
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scheinen lässt und das Gelbrot Naumans Kopf wie in einer Darstellung Andy Warhols typisiert zurechtschneidet. Versucht man, den eigenen Gesichtssinn nicht in permanenten Such- und Fokussierungsbewegungen auf Nase, Augen oder Mund einzustellen, und lässt den Blick stattdessen schweifen, so stellen sich verschiebende Sensationen ein, die den Kopf Naumans mit einem Mal in einer Vorwärts-rückwärts-Bewegung erscheinen lassen, obgleich er doch nach rechts und links geschlagen wird. Die Motionen des Gesichtes verdichten sich allmählich in einer Art FernsehFlackern, was besonders durch die rote Farbphase noch verstärkt wird. Die längs verlaufenden Striche des geschlossenen schmalen Mundes und der Augen kontrastieren dabei mit den quer verlaufenden Kehlfalten am Hals und bewirken in ihrer Musterung eine Graphisierung des Gesichts, in die jedoch immer wieder die sackartig aufgeblähte Höhlung des offenen Mundes einbricht. Raw Material–BRRR operiert präzise an den Schnittstellen zwischen fleischlichem Gesicht des Performers und dem Medium, in dem es dargestellt wird, zwischen der Medialisierung des Körpers und der Verkörperlichung des zweidimensionalen Screens. Mit Lacan gesprochen, offeriert Nauman sein Gesicht als Bild-Schirm (Lacan 1994a: 77), als Projektionsfläche, die zwischen der die drei Fernsehfarben Blau, Rot und Grün aufgreifenden Digitalisierung des Gesichts und der Materialisierung des Mediums Fern-Sehen oszilliert.23 Die Tele-Präsenz des Mediums schwenkt dabei immer wieder in das Close-up des Gesichts um, das sich wiederum selbst als ein mediales und das Mediale überschreitende Ding darbietet und bei den Betrachtenden, hat man einmal eine halbe Stunde davorgestanden, Schwindelgefühle erzeugt. Die sichere Erfahrung eines als fern wahrgenommenen Erkannten wird von Nauman in seinen Kopfverrüttelungen aus der Balance gebracht24 – ein Thema, dem sich auch einige andere seiner Installationen und frühen Videos widmen.25 Lepeckis These der überbordenden Präsenz in Naumans künstlerischen Experimenten (vgl. S. 253) muss also um die Perspektive des immer wieder einbre23 Ernst van Alphen betont in Francis Bacons Arbeit u.a. das Motiv des Fensters, das Bacon parodierend einsetze, um die tradierte Perspektivierung des Blicks, wie sie etwa Leon Baptista Alberti in Della Pittura (1436) einforderte, zu unterwandern und Illusionierungen zu vermeiden (van Alphen 1992: 156 f.). Analog zu Bacons Strategie ließe sich konstatieren, dass Nauman den Bildschirm als Rahmung nutzt und ihn als telepräsente Illusionsmaschine dekonstruiert. Zum prekären Subjekt in der Moderne, dessen Körper als bildschirmartige Oberfläche fungiert, vgl. auch Lepecki 2000: 336. 24 Rolf-Peter Janz, Fabian Stoermer und Andreas Hiepko betonen die Irritation kultureller Gegebenheiten in der Erfahrung des Schwindels, der sich als »Übergangsphänomen« zwischen Stehen und Fallen generiere, in welchem sich »zwei Wirklichkeiten« überlagerten (Janz/Stoermer/Hiepko 2003: 31, 16 f.). 25 So zum Beispiel in der Videoinstallation Walk with Contrapposto (1968), in der sich Naumans prononcierte Hüftbewegungen im steifen Stakkato an einem engem, hölzernen Korridor reiben, wodurch die Darstellungskonventionen zur Dynamisierung antiker Skulpturen in ihr unelegantes Gegenteil verkehrt werden.
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chenden Telepräsenten erweitert werden, als groteskes Pendeln zwischen Körper und Medium. Ausdehnungen des (Video-)Bildes zeigen außerdem Naumans Versuche mit dem Verfahren der Holographie. In First Hologram Series: Making Faces (K) (1968) verschiebt und verzerrt der Künstler seine Gesichtszüge, kneift die Augen zusammen, zieht die Mundwinkel nach oben und lässt das Gesicht wie eine zusammengedrückte, grünlich überzogene Maske erscheinen. In den Second Hologram Series: Full Figure Poses (A) (1969) überträgt Nauman das Prinzip auf den gesamten Körper, den er in Torsionen versetzt, wobei die Technik des Holographierens dem Körper weitere Verdrehungen zufügt und einzelne Körperteile in ungewohnten Positionen erscheinen lässt – so tritt der Fuß nahezu über den Bildrand.26 Barbara Engelbach bezeichnet die Serie als »groteske Verzerrungen« (Engelbach 1998: 41), allerdings entsteht Groteskes nicht allein aus den Verdrehungen und Vertauschungen der Körperglieder. Zu betonen ist der mediale Rahmen des Hologramms, der dem sonst zweidimensionalen Körper Plastizität verleiht und ihn reliefartig in den Raum hinauswuchern lässt. Und eine dritte Ebene kommt hinzu, die die Gesamtsituation zu einer supra-grotesken werden lässt: Will man als Zuschauer/in Naumans Körperdrehungen nachvollziehen, ist man gezwungen, die ›richtige‹ Position einzunehmen, um etwas in dem recht niedrig im Raum angebrachten Hologramm sehen zu können. Der eigene Körper begibt sich in hockende, meist den Po herausstreckende, den Rücken verdrehende Haltungen, die von außen betrachtet für andere Ausstellungsbesucher/innen recht unkonventionell anmuten, da ihnen der Auslöser dieser Motionen zunächst verborgen bleibt (vgl. auch S. 68). Zurückdenkend an die beschriebene Graphisierung und mediale Überschreitung des Gesichts soll nun noch ein analoges Verfahren vorgestellt werden, mit dem die Künstlerin Rebecca Horn Gesichtszüge in den Raum hineinschreibt.
1.1.4 Fluchtspuren: Rebecca Horns Bleistiftmaske In Rebecca Horns Performance Bleistiftmaske (1972) versammeln sich in einem Live-Akt erdachtes Bild, Bewegung und bemalte Fläche, ähnlich wie in Bacons Arbeiten, indem sie allerdings die einzelnen Vorgänge konkret visualisiert. Die Künstlerin beschreibt die Versuchsanordnung, die als in einem 16mm-Film dokumentierte Kunst-Aktion in Ausstellungen gezeigt wird:27 »Um meinen Kopf sind zwei Bänder senkrecht und sechs Bänder waagrecht verschnürt. Auf jeder Überkreuzung der Bänder ist ein Bleistift befestigt. Alle Bleistifte sind 5 cm
26 Ich habe die Installation innerhalb der Ausstellung Bruce Nauman. Theaters of Experience (Berlin, Deutsche Guggenheim, 2003) gesehen. 27 Bleistiftmaske wurde u.a. im Rahmen der Werkschau Bodylandscapes im MartinGropius-Bau, Berlin präsentiert, die ich im Januar 2007 besucht habe.
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lang und bilden das Profil meines Gesichtes räumlich ab. Vor einer weißen Wand bewege ich meinen Kopf rhythmisch hin und her. Die Bleistifte zeichnen an der Wand den Bewegungsablauf in sich immer mehr verdichtenden Linien auf.« (Horn 1977: 93)
Die rhythmischen Motionen von Horns hin- und herschwingendem Kopf28 nutzen wie Nauman ebenfalls Seitwärtsbewegungen, um Fluktuationen in Bild und Körperumriss zu erzeugen, in diesem Fall über die Verlängerungen des Kopfes als prothetisches Zeichengerät (vgl. Brandstetter 1998: 93). Die malende Hand wird hierbei übersprungen und zugunsten des Kopfes ausgetauscht, jedoch ist dieser ungelenker und nicht in der Lage, die Feinmotorik der Hand in seine Motionen zu übertragen. Das Gesicht ist zwar über die an den Stoffbändern fixierten Stifte punktuell nachgebildet, jedoch vermag der Kopf nur einen groben Abrieb der Umrisse auf die Wand zu übertragen. Profil und en face des Gesichts verschwimmen zu sukzessiv breiter werdenden Linien, graphieren die im Blickfeld liegende Fläche und können lediglich die Höhlungen und Wölbungen des Gesichtes in helleren oder dunkleren Abschattungen nachvollziehen. So verflacht das dreidimensionale Profil Horns auf der verwischten Fläche – im Gegensatz zu Naumans oder Bacons teils Rahmen überwölbenden Dynamisierungen des Gesichtes im Bild. Dabei überträgt sie die Flüchtigkeit der Kopfbewegungen als bleibende, gleichwohl unentzifferbare Spur auf dem weißen Feld (Abb. 90).
Abb. 90: Rebecca Horn, Bleistiftmaske (1972)
28 Doris von Drathen betont das Pendeln des Kopfes, dessen Rhythmus einen »Strom der Striche« an der Wand produziere (von Drathen 2004: 129 f.).
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Rebecca Horn schaltet in dieser Aktion den imaginierenden Kopf mit der ausführenden Motion kurz, indem sie sich die Bleistifte, die ein Selbstportrait zeichnen sollen, vor das Antlitz heftet.29 Ist der Kopf üblicherweise der Ort für ausdifferenziertes Denken, vermag er die Idee des Bildes jedoch nicht mimetisch auf der Leinwand abzudrücken und die Gesichtszüge in ihren Feinheiten zu bezeichnen. Brandstetter betont in diesem Zusammenhang die von Horn aufgezeigte Unmöglichkeit des Selbstportraitierens als fehlgehender Akt einer selbst konstruierten »Schreibmaschine«: »Wenn das Gesicht schreibt, fehlt das Gesichtsfeld der Einschreibung. Das Ich, das sich selbst schreibt, kann sich und seine Schreibbewegung nicht sehen. Die Selbst-(be)schreibung ist – sehenden Auges – blind.« (Brandstetter 1998: 93) Den mit Bleistiften bestückten Kopf deutet sie als »bizarres Visier«, das die »Zurüstungen und Zurechtbindungen des Körpers« ausstelle, es jedoch dem weiblichen, maskierten Subjekt nicht ermögliche, sich in eine symbolische Ordnung einzuschreiben, da diese einen distanzierten Blick erfordere, der hier kollabiert (ebd.: 92 f.). Das Selbst zeige sich mithin in seiner Positionierung am Rand, eine Stellung, die sie auch den Arbeiten Meg Stuarts zuweist (ebd.: 107). Horn zeichnet den mit Brandstetter erwähnten Rand explizit in den Raum ein – als Nahtstelle zwischen dem Rand des Körpers, dem schreibenden Instrument als Körpermaschine und der Ab-Bildfläche des Raumes, vor dessen Wand sie sich befindet. Subjekt- und Objekt-Zuweisungen, Körper und Umraum verschmelzen für Momente in den grotesken Überlagerungen eines oszillierenden Close-up, durch die Nähe der Wand, die ein Flimmern von Strichen und Pixeln als Aus-Druck des pendelnden Kopfes erzeugt. Folgt man einer Dramaturgie der allmählich bewegten Aus-Lösung von Bildern aus ihren beschränkenden Rahmen, kann eine Linie gezogen werden von Bacons Portraits, die Gesicht und Kopf durch Strategien der Bewegungen im Bild tendenziell liquidieren, über Bruce Naumans potentielle Überschreitungen medialer Rahmen des Videos, wie in Raw Material–BRRR, und Rebecca Horns KopfBewegungen im Raum, die in Bleistiftmaske die Konturen des Gesichts als Schraffur auf die Wand zeichnen, bis hin zu Benoît Lachambres Kopf-Solo in Meg Stuarts No Longer Readymade, das die tendenzielle Auflösung des Kopfes innerhalb der ausufernden Körperbewegungen befördert und der dabei immer wieder nach beständig entgleitenden Halte-Punkten im Raum sucht. Allen vorgestellten Arbeiten ist die Reduktion der Bewegungen auf das einfache Motiv der Seitwärtsschwingung des Kopfes zu eigen, eine motile Linie, auf der Umraum und Körper wie in einem grotesken Pendel kollidieren. Die De-Figurationen sind explizit Thema der besprochenen Arbeiten und ereignen sich daher kaum zufällig 29 Lucy R. Lippard bezeichnet diese Kopplung als typisch für Horns Arbeiten, die sich dem »Verhältnis von innerem und äußerem Raum« widmeten (Lippard 1977: 70).
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in der figure, dem Gesicht als Umschlagstelle zwischen persona und Depersonalisierung auf der Bühne. Dabei tragen sie groteske Züge, die sich in der Mobilisierung des Pinselstrichs als Wuchern über den Bildrand oder Einfaltung der Figur beziehungsweise als Balance zwischen Linierung und Verflüssigung von Körpermotionen ergeben.30 Umfassender auf den Tanz übertragen, ist gerade der Paradigmenwechsel im Ausdruck des Gesichtes von Bedeutung. War im Ballett noch das Gesicht als lächelnde Larve gefragt, das die Virtuosität der Bewegungen unterstreichen, aber keinesfalls von ihr ablenken sollte, wird im Tanztheater der Gesichtsausdruck mit zum Träger einer Narration des gesellschaftlich verfassten, Biographisches einbeziehenden, tanzenden Subjekts (vgl. Schlicher 1992: 123, 126). Zeitgenössischen Tanzexperimenten, das haben bereits Kapitel 2 und 3 gezeigt, ist nun zumeist an Depersonalisierungen gelegen, die durch das Wegklappen des Kopfes, Maskierung, Aushöhlen des Gesichtes im geöffneten Mund oder, wie in diesem Abschnitt entwickelt, durch die Dekonstruktion der identifikationsstiftenden Konturen von Gesicht und Kopf erzielt werden. Statt um die Hohlmarke des geöffneten Mundes zu kreisen (vgl. Kap. 3), fallen die Vertiefungen des Gesichts hier nun in sich zusammen, werden zu schwarzen Löchern und zeigen sich als »Grenz-Gesichter«, wie Deleuze/Guattari es formulieren (Deleuze/Guattari 1992: 250). Hebt Bachtin in seiner Konzeption des grotesken Körpers die Löcher und Öffnungen besonders von Mund und Nase hervor (Bachtin 1995: 360), ergibt sich Groteskes hier nun gerade in einer paradoxen Gegenbewegung, die die Öffnungen am Rand der Körper verwischt und verschließt.31 Die Augen, Öffnungen, die laut Bachtin als groteske Organe nicht herhielten, da sie sowohl als Symbole eines distanzierten Blicks wie auch als Identifikatoren von Persönlichkeit fungierten (ebd.), werden in diesen Bildern, Aktionen und Tanzsoli gleichermaßen deformiert, eingedrückt oder aus ihren Höhlen durch andere Gesichtsbestandteile ausgewischt, die sich in ihr Sehfeld schieben und eine differenzierende Sicht auch der Betrachtenden verstören.
30 Kayser hebt im Übrigen solche Verfahren gerade in der Graphik hervor und betont etwa die »neue Strichführung der Zerfaserung und ständigen Brechung« in den Bildern James Ensors (1860-1949) (Kayser 2004: 188). 31 Ähnliche Schließbewegungen sind bereits in Kapitel 3 mit den Performances Franko Bs diagnostiziert worden (vgl. S. 324). In seinen Aktionen geht es allerdings um die Abdichtung des Körpers hin zu einem Kunst-Bild, während in den obigen Beispielen Konturierungen aufs Spiel gesetzt werden.
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1.2 Einverleibungen Dieser Abschnitt bewegt sich ein wenig weg von konkreteren Fragen nach Bewegungsmustern im zeitgenössischen Tanz, soll hier jedoch seinen Platz erhalten, da er eine weitere Facette der Verunsicherung von Grenzen zwischen Körper und Raum aufwirft: im Motiv des Verschlingens und Durchdringens von Tanzkörper und Bühnenbild, das nun in einer gegenläufigen Wendung anhand eines Stückes von Meg Stuart ausgearbeitet wird. Die Episode des die Welt in seinem Mund tragenden Pantagruel (vgl. S. 234) ist ein leitendes Bild für die folgenden Untersuchungen, die außerdem nochmals prononcierter auf das Phänomen der Inversion abstellen, wie es in Kapitel 2 bereits in den Oben-Unten-Vertauschungen etwa Xavier Le Roys entwickelt wurde (vgl. S. 145 ff.) und sich als groteske Motion des Kippens und Umkehrens in vielen der bereits besprochenen Aufführungen und Kunstprojekte ergeben hat.
1.2.1 Körper verschlingt Raum: appetite appetite (1998), Teil 4 der Tetralogie insert skin (vgl. S. 207) ist eine Zusammenarbeit zwischen Meg Stuart und der US-amerikanischen bildenden Künstlerin Ann Hamilton. Der gesamte Bühnenboden ist mit einer braunen Schicht Tonerde bedeckt, der im Laufe des Stückes brüchig und bröselig wird32 und die Abdrücke des getanzten Geschehens konserviert, wie Stuart beschreibt: »Ann Hamilton hat eine Haut aus Ton entworfen, die sich über die ganze Bühne zieht. Sie zerbricht und trocknet während der Vorstellung und hält die Spuren der Tänzer fest. Diese Haut ist wie ein Gedächtnis.« (Stuart in Müller 12.8.1999) Die Metapher der Haut als vieldeutige Membran durchwebt das Stück wie ein roter Faden, etwa im weißen Tuch, das den Boden und den Unterkörper eines Tänzers zu Beginn hauchdünn bedeckt, ähnlich einem Vorhang, der in die Horizontale verlagert wurde (vgl. Lepecki 1998/1999: 54) und auf dem sich, gleich einem Präludium, ein grotesker Striptease abspielt: Auf einem Stuhl sitzt die Tänzerin Yukiko Shinozaki, deren Körper unförmig dick und aufgequollen aussieht. Der Tänzer Rachid Ouramdane tritt hinzu und zieht langsam Tücher und Kleidungsstücke aus ihrem Oberkörper heraus, zunächst aus dem Rücken, dann aus den Armen, der Brust, dem Bauch. Nach und nach ›speckt‹ die Tänzerin ab und enthüllt einen schmächtigen blassen Körper, der nur noch mit grünlicher Unterwäsche bekleidet ist. In einer Gegenbewegung beginnt Heine R. Avdal das die Bühne bedeckende weiße Tuch allmählich unter sein Hemd zu ziehen, erst langsam, dann immer schneller, als sauge er den Bühnenboden auf, der mit hastig 32 Ich habe das Stück im August 1999 im Rahmen des Festivals Tanz im August im Theater am Halleschen Ufer, Berlin gesehen. Für die Analyse lag mir außerdem eine Videoaufzeichnung vor.
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stopfender Hand unter seiner Oberbekleidung verschwindet und den Tänzer unförmig aufbläht, wobei die Knöpfe fast vom Hemd des nun Dickleibigen springen.
Kleidung als prekäre Grenze Meg Stuart stellt mit diesem Stückbeginn die Stofflichkeit des Materiellen geradezu buchstäblich aus, die als sinnliches Thema im Wechsel transformatorischer Verschlankungen und Aufblähungen das Stück bestimmt.33 Dabei ist die Idee der Haut als Hülle oft versinnbildlicht im Einsatz von Kostümen und Requisiten. Das riesige Tuch, das sich Heine R. Avdal unter die eigene Kleidung quetscht, bis sie zu platzen droht, lässt einige Szenen später die aufgedunsene Körperhülle des Tänzers tatsächlich bersten, quillt hervor und verteilt sich nun einem weißlichen See aus imitiertem Körperfett gleich über den vorderen Teil der Bühne. Ein ähnliches Motiv ist bereits in No Longer Readymade präsent: Stuart steht allein inmitten der Bühne und trägt ein übergroßes Sakko, in dessen ausgebeulten Taschen sie gräbt und wühlt, als sei sie auf der Suche nach etwas Bestimmtem. Zerknitterte Zettel tauchen auf, werden kurz begutachtet und in die andere Jackentasche hinübergestopft. Ein Brief wird geöffnet, kurz überflogen, doch auch er scheint nicht das Gesuchte zu enthalten. Immer hastiger werden Stuarts Bewegungen, mit denen sie weitere Zettel, Medikamentenbüchsen und allerlei Unrat zutage fördert, die im hektischen Versuch des Umräumens von einer Tasche in die andere zu Boden fallen, auf dem sich langsam ein kleiner Berg an schnipseligen Habseligkeiten bildet. Die Räumbewegungen der Hände pflanzen sich in die Arme, die Schultern und schließlich den Oberkörper fort, der die Suchbewegungen abstrahiert und ruckartig vor- und zurückgeschleudert wird, die Arme um sich schlingend, die nun weder in Taschen noch im Raum mehr Anhalts-Punkte finden. Abrupt kommt Stuart zu einem Halt und zieht die Jacke aus, faltet sie in den Händen und weiß nicht wohin damit. Das Kleid folgt und die Choreographin steht schließlich nur noch mit Slip und BH bekleidet da. Der Tänzer David Hernandez geht ihr zur Hand und reicht ihr zwei Kleiderbügel, doch auch für diese findet Stuart keinen Ort, bis sie sich schließlich selbst zum Kleiderständer wählt und die Bügel an die ausgebreiteten Arme hängt, in einem Tableau verharrend. Brandstetter interpretiert diese Szene mit dem Fehlgehen des Versuchs, das Ich als Subjekt zusammenzusetzen: »Die ›Standfigur‹ […] gewinnt aus dem Abfall der Ereignisse, im augenblicks-bestimmten ›Fädeln‹ der Dinge keinen Bezug zu sich selbst; der ausgestellte Körper ist zuletzt nicht mehr als ein leerer Kleiderständer. Die Spuren der Erinnerung finden kein Subjekt.« (Brandstetter 1995:
33 Husemann betont die »choreographische Textur« von Stuarts Stücken wie in appetite, in der sie »heterogene[] Elemente« miteinander kombiniere und Reibungen erzeuge (Husemann 2002: 77).
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472) Die Kleidung, die als Schutzhülle dienen sollte, wird in der nächsten Situation gar gegen den Körper gewendet, in der Stuart ihre Hände in ein Paar Schuhe steckt und mit den Sohlen die Konturen des Gesichts zerreibt (vgl. S. 336). Als sie am Schluss die Szene verlässt, bleibt ein Stillleben von Überresten am Bühnenboden zurück:34 Abfall, Papierfetzen, abgelegte Kleidung und Schuhe – Hüllen und Fragmente des Selbst, die ausrangiert worden sind. Im zehn Jahre später entstandenen Visitors Only wiederum wechseln die Darsteller/innen permanent ihre Kostüme, erscheinen im braven Matrosenlook, als Cowboy, im Partystil mit Leopardenmuster oder im Arbeiterdress. Die Kleidung gerät hier zur Hülle einer ausgehöhlten Identität, die sich auch im beständigen Kleidertausch nicht wiederherstellen lässt, sondern als kostümierte Maskerade beständig suchend fortbewegt. Die Verhüllung kumuliert im Abschlussbild, in dem die Darsteller/innen zu einer improvisierten Teeparty zusammentreffen, alle dick in Mäntel, Jacken, Schals und Handschuhe gewickelt und sich an den Teetassen wärmend. Die mangelnde Versicherung des eigenen Selbst, in der Anfangsszene in transparenten Regenmänteln kollektiv zitternd dargeboten, enthüllt sich im Versuch, den Körper durch das Einwickeln in vielfältige Schichten vor dem Zerfall zu schützen. Doch je stärker die Akteure sich einpacken, desto offener und verletzlicher erscheint ihr Bemühen, die Selbst-losen Überreste zu bewahren. Didier Anzieu entwirft in seiner Arbeit über das Haut-Ich die Theorie, dass der Prozess der Individualisierung des Kleinkindes sowie die Entwicklung von Bewusstsein und Denken wesentlich über die Haut und ihre Kontakte bestimmt seien (Anzieu 1996: 13, 15; vgl. S. 151), was die Erfahrung der Integrität des Subjekts befördere: »Durch den Körperkontakt mit der Mutter und durch eine Sicherheit gewährende Beziehung zu ihr lernt das Kind, die Haut als Oberfläche wahrzunehmen. Dadurch kommt es nicht nur zu der Vorstellung einer Grenze zwischen Innen und Außen, sondern es erwirbt auch das notwendige Vertrauen zur allmählichen Beherrschung der (Körper-)Öffnungen.« (Ebd.: 58) Störungen in der Entwicklungsphase könnten bewirken, dass die Schwellen zwischen der eigenen Person und dem Umfeld brüchig würden: »Depersonalisierungsängste sind verbunden mit dem Bild einer Hülle, die durchlöchert werden kann, sowie mit der Angst […] dass eine lebenswichtige Substanz durch diese Löcher abfließt. Es handelt sich also nicht um die Angst vor Zerstückelung, sondern vor der Entleerung« (ebd.). Stuarts Choreographien durchzieht fast durchgängig die Befragung der vermeintlichen Geschlossenheit und Abgrenzungsfähigkeit des In-Dividuums (vgl. Anm. 105, S. 299), in denen die Tänzer/innen häufig von Öffnungen überwältigt werden und ihr Körper in Entgrenzungserfahrungen geworfen wird. Siegmund 34 Auch hier wird Stuarts Auseinandersetzung mit Bacon evident, erinnert das Bild doch stark an Photographien aus dem recht wüsten Atelier des Malers (vgl. Cappock 2003: Abb. S. 84).
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argumentiert hierbei mit Anzieus Axiom der drei Funktionen der Haut: als »Tasche«, die Fülle und Wohltat aus der Erfahrung des Kontaktes mit der Mutter im Stillen versinnbildliche, als »Grenzfläche [interface]«, über die sich das Kleinkind individualisiere, sowie als Ort von Austausch und Kommunikation (ebd.: 60 f.). Visitors Only, so Siegmunds These, löse nun die Grenzen des Körpers auf und es komme zu einer »Entleerung der Tasche.« (Siegmund 2006: 429) Anna Viebrocks Bühnenbild sei nur noch ein »Geisterhaus«, das einen hohlen, gleichwohl nicht mehr haltbaren Rahmen für die Aktionen der Darsteller/innen böte, die sich in »grotesk montierte[n] Körperbilder[n]« zeigten (ebd.: 429 f.). Das Groteske wird in diesem Zusammenhang mit einem Selbstverlust und der Unfähigkeit, an Erfahrungen oder Haltepunkte anzuschließen, interpretiert und mithin zum Attribut absoluter Entfremdung, als Moment, in dem Interpretation zu versagen scheint. Meiner Ansicht nach schiebt eine solche Argumentation das Groteske jedoch wieder in die Nische des Seltsamen, Unsagbaren und Unverortbaren. Wo Stuart jedoch mit grotesken Zügen spielt, zeigen sich diese gerade als Bewegung auf einer balancierenden, im Kippen schwebenden, da inszenierten Ebene von Rahmung und Ausfallen, wie mit Benoît Lachambres Solo in No Longer Readymade gezeigt wurde (vgl. S. 340 f.) – eine Praxis, an die Stuart in Visitors Only anschließt, wobei Kleidung als vermeintliche Schutzhülle in der Durchsichtigkeit der transparenten Futterale zu Beginn des Stücks bereits buchstäblich bloßgelegt wird. So kommt es zu paradoxen Fluktuationen zwischen verhüllenden Schließungsversuchen und öffnenden Grenzüberschreitungen auch im Schütteln der Tanzenden – Brandstetter formuliert im Anschluss an ihr Modell der Pathosformeln, das sie für den Ausdruckstanz entwickelte, die Zittersequenzen in Alibi und Visitors Only als Selbst-Unzugänglichkeit des Subjekts, das sich zwar verorten, jedoch den Zugang nicht finden könne: »Mediale ReFigurationen eines Körper-Pathos’ und von Leidens-Affekt-Gebärden, die doch den Körper allein als in sich verschlossenes Heterotop ausweisen.« (Brandstetter 2003: 11)35
Poröse Schwellen: Raum und Haut In appetite hat das Thema von Bekleiden, Verhüllen und Enthüllen, von Ausfließen und grenzüberschreitenden Öffnungen zwischen innen und außen eine haptischere und zugleich spielerischere Komponente. Raum und Körper verbinden sich in permanenten Inversionen über ihre sinnliche Hautseite, verpuppen sich ineinander und entflechten sich wieder, wie Hamilton und Stuart in ihren Arbeitsnotizen erläutern: »[N]ous creons une œuvre haptique dans laquelle l’espace et le corps sont considerés comme des membranes qui pèlent, fuient et 35 Zur Ästhetik »vibrierende[r] Körper« in Alibi und Visitors Only vgl. außerdem Jochim 2008: 190 ff.
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se perdent lors d’une mue.« (Hamilton/Stuart in Lepecki 1998/1999: 55) Nicht nur der Körper ist beständigen Metamorphosen zwischen Aufquellen und Entschlacken unterworfen, auch der Raum wird geknetet, verformt, traktiert und in Bewegung gebracht: zu sehen am Boden, der Risse bekommt und buchstäblich aufspringt, oder im Tuch, das den Körper von Heine R. Avdal auftreibt. Schließlich beginnt der Raum gar, sich zu verflüssigen, als man im Laufe der Zeit erkennt, dass an der aufgespannten hellen textilen Rückwand nasse, feuchte Streifen herunterrinnen und in das Gewebe einsickern, als schwitze der Raum die verbrauchte Bewegungsenergie der Tänzer/innen mit aus – der »Raum wird Haut«.36 Dieter Heitkamp rekurriert in seinen Ausführungen zur Contact Improvisation ebenfalls auf Anzieu und formuliert eine solch haptische Aufladung des Umraums mit Nancy Stark Smith als »Skinesphäre« (Heitkamp 2003: 127, 130). Anzieu selbst betont, dass sich der Kontakt und die Ausbildung des Ichs über die Haut nicht nur durch Flächigkeit ereigne, sondern in der Erfahrung der Haut (der Mutter) als »Behälter«, die das Kleinkind zugleich »das Gefühl eines umgebenden Raums« erleben lasse (Anzieu 1996: 56). In der Contact Improvisation wiederum ist die »Skinesphäre« von großer Bedeutung, als Kontaktstelle zwischen den Tänzer/innen und im fluiden Austausch zwischen Körper und Umraum – Heitkamp entwickelt dafür zum Beispiel eine Übung, mit der sich die Bewegenden wie eine »Amöbe« im Raum verhalten sollen und als Einzelwesen zu einem Organismus konfluieren (Heitkamp 2003: 132 ff.) – solche fließenden Übergänge zwischen Körpern zeigt Meg Stuart etwa in der Eingangsszene von Splayed Mind Out (vgl. S. 206). Die Haut erscheint in appetite als Membran (vgl. Siegmund 2006: 433 f.),37 die sich in Raum, Kleidung, Boden und Wände übersetzt. Das groteske Motiv der Inversion ist insgesamt prägend für dieses Stück, in der beständigen Durchdringung von Körper und Raum, der von den Tänzer/innen geschluckt und einverleibt wird (vgl. Husemann 2002: 56)38 – Stuart und Hamilton formulieren dies sogar programmatisch: »L’espace et le corps se marquent et s’absorbent mutuellement dans une œuvre où tout est question de degré.« (Stuart/Hamilton in Lepecki 1998/1999: 55) Der Raum selbst erhält personalisierende Qualitäten, die laut Lepecki, Dramaturg des Stücks, im Motiv des Atmens als Dehnung und Konstriktion von Körper und Raum erfahrbar würden (Lepecki 1998/1999: 56).
36 Ein Stück Christina Ciupkes trägt den gleichen Titel (1996/97). In diesem setzt sie sich mit dem Verhältnis von Körper und Umraum im Spiel zwischen Licht und Spiegelungen auseinander. 37 Zur Haut als »Körpergrenze« und »Schnittstelle« in Stuarts Stücken vgl. auch Jochim 2006: 340. 38 Ploebst entdeckt hierin eine generelle Qualität in Stuarts Ästhetik: »Es gelingt Stuart und ihren Gastkünstlern, den Raum einzukörpern und den Körper auszuräumen« (Ploebst 2001: 35).
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Zwischen Erde und Höhe Degradierende Momente ergeben sich in Stuarts Stück immer wieder über häufig am erdigen Boden stattfindende Bewegungsphrasen – Bachtin weist das Motiv der Erde in Rabelais’ Schriften explizit als ein groteskes aus, das von der beständigen Umwälzung zwischen Leben und Tod, vom Einverleiben und Ausscheiden erzähle: »Degradierung heißt Annäherung an die Erde als dem verschlingenden und zugleich lebensspendenden Prinzip« (Bachtin 1995: 71). Die Verdrehung von oben und unten folge dabei, gemäß einer karnevalesken Ordnung, der Topographie von Himmel und Erde (ebd.). Stuart greift solche Elemente in appetite auf, wenn zum Beispiel Rachid Ouramdane in einer Szene versucht, den liegenden Avdal mit einem Spaten vom Boden wegzuschaufeln. Mit schwankenden und torkelnden Bewegungen werden die Tänzer/innen außerdem immer wieder zu Boden gezogen, an dem sie regelrecht festzukleben scheinen und sich in der Folge kaum mehr von ihm zu lösen vermögen. Die Erdanziehung hält sie immer wieder zurück und selbst kleinere Sprünge fallen schwerfällig aus, im Kampf mit der Gravitation. Allerdings zeichnet Stuart hier kein Psychogramm depressiver Motilitätsstörungen, in denen sich das leidende Individuum kaum mehr vom Platz bewegen kann. Vielmehr gerät die Klebrigkeit der Körper zum Spiel, das den bodenbezogenen Flow der Modern-Dance-Technik ironisch ausstellt, als Stuart ebenfalls hinabsinkt und im gleichen Moment alle anderen Tänzer/innen in die Höhe schnellen. Steht Stuart wiederum auf, fallen alle wieder zu Boden. Schließlich bläst der Tänzer Ugo Dehaes einen Luftballon auf und drückt ihn seinem unten liegenden Kollegen Ouramdane in die Hand, dessen Arm nach oben schwebt, gleich einer Parodie auf das Diktat der Leichtigkeit im Ballett. In dieser Weise setzt Stuart in appetite fortgesetzt Objekte ein, die ein groteskes Eigenleben erhalten und durch die Begrenzungen des Körpers schlüpfen, wie eine weitere Szene aus appetite nun zeigt.
Körperfresser Der ›dickleibige‹ Tänzer Heine R. Avdal, das Bodentuch noch vor den Bauch unters Hemd gedrückt, schickt sich an, einen großen runden Brotlaib auszuweiden. Mit rupfenden Bewegungen pflückt er das weichere Innere heraus und wirft es zu Boden, um sich sodann den ausgehöhlten Laib über das Gesicht zu stülpen, gleich einer Maske aus Backkruste (Abb. 91). Das Lebensmittel, eigentlich zum Essen gedacht, erscheint nun, als fresse es das essende Gesicht selbst auf, und initiiert ein invertierendes Spiel von Fressen-und-Gefressen-Werden. Rachid Ouramdane tritt hinzu und beginnt, den am Boden Liegenden mit dem Mund zu traktieren, als wolle er das brotbehelmte Gesicht verspeisen. Mit festen, ruckartigen Bissen reißt er Stücke aus der Brotmaske heraus und spuckt sie auf den Boden, bis die Schutzhülle aus Teig zerfällt und das Gesicht des Tänzers wieder
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freigelegt ist.39 Das Fressen der Maske wird zu einem die ›aufgesetzte‹, jedoch unkenntlich gemachte Identität verschluckenden Festessen40, das mit Bachtin als grotesker Akt der Depersonalisierung bezeichnet werden kann, in der sich die Motive von Festmahl und »Gelage« als »materiell-leibliche Prinzip[ien]« darbieten, die das In-Dividuum in eine karnevalisierte Kosmologie einspeisen: »Als Universales und das ganze Volk Umfassendes wirk[en sie] vielmehr der Abgrenzung von den materiell-leiblichen Wurzeln der Welt entgegen, verhinder[n] Absonderung und Sich-Verschließen, abstrakte Idealität und alle Ansprüche auf eine von Körper und Erde befreite, unabhängige Bedeutsamkeit.« (Bachtin 1995: 69)
Abb. 91: Meg Stuart/Ann Hamilton/ Damaged Goods, appetite (1998), Photo: Chris Van der Burght
Die körperfressende Szene erinnert an das Prinzip der Antropophagie, das in Kapitel 2 bereits als Ästhetiken und Stile verschlingende Strategie des Samplings erläutert wurde und hier nun in einer gegenständlicheren Wendung erscheint
39 Siegmund interpretiert diese Szene als kannibalische Aktion: »[D]er Eindruck entsteht, er bisse in ihr Gesicht und spucke Haut und Fleisch aus.« (Siegmund 2006: 434) Siegmund spricht hier von einer Tänzerin, jedoch handelt es sich um Heine R. Avdal. 40 Brandstetter bettet appetite in den Kontext des Essens als sozialer Veranstaltung und theatraler Verhandlungen von »Gier und Völlerei« ein und nennt Performances oder Stücke, die explizit die »Körper-Formierung« zum Thema haben, wie etwa auch Maguy Marins Groosland (1988), in der eine »Parade der Fetten« dargeboten werde (Brandstetter 2001b: 61. 69). Mit dem Aspekt des Essens verknüpft sie einen ausführlichen Diskurs über die Disziplinierung des Körpers der Ballerina hin zu einem asketischen Ideal, besonders in der Compagnie George Balanchines (ebd.: 62 f.). Zu ergänzen wäre Romeo Castelluccis Theaterinszenierung Giulio Cesare (1997), in der er das Motiv des Essens und Verschlingens in der Verbindung magersüchtiger Menschen auf der Bühne mit dem endoskopischen Bild von Innenansichten des Schlunds koppelt (vgl. S. 272). Motive von Verschlingen und Verdauen sind auch in den Installationen Eindrücke verdauen (1993) und Mutaflor (1996) von Pipilotti Rist präsent, die endoskopische Einblicke in Speiseröhre und Magen gewähren (vgl. Söll 2004: 115 ff., 123 ff.; vgl. S. 271).
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(vgl. S. 183).41 Stuart nimmt die kannibalische Metapher des Assemblierens schon im Titel des Stückes appetite wörtlich, jedoch ist es ihr nicht um eine permanente Auflösung des Subjekts in einen revoltierenden Volkskörper zu tun, wie es Bachtins Thesen nahelegen. Sie optiert vielmehr für einen beständigen, lustvoll ausagierten Shift zwischen Identifizieren/Schließen und Überlagern/Öffnen. So gibt das Fressen der Maske das Gesicht des Tänzers wieder frei, während die restlichen Fetzen des Brotes etwas später, zu Kugeln geformt und mit Federn bestückt, Pfeilen gleich in das Publikum fliegen und dort das Spiel mit Identität und Maskerade in einem beständigen De-Figurieren weiterführen – als Operation, die nun auch die Zuschauer/innen, im Wahrnehmen der Aktionen, projektiert, deren Blicke wie Pfeile in der zerpflückten und gekneteten Materialität der Maske von der Bühne aus zurückgeschossen werden. In appetite steht die sinnliche, mitunter erotische Komponente von Grenzüberschreitungen zwischen Körper und Umraum im Vordergrund, die auch Bachtin in den Motiven von Körperöffnungen und -ausstülpungen wie Mund, Nase oder Phallus als groteske Übertretung der Körpergrenzen im Karneval hervorhebt: »Der groteske Körper besteht aus Einbrüchen und Erhebungen, die schon den Keim eines anderen Körpers darstellen, er ist eine Durchgangsstation für das sich ewig erneuernde Leben, ein unausschöpfbares Gefäß von Tod und Befruchtung.« (Bachtin 1995: 359) Der fragmentierte oder verschlingende Körper wird zu einer lustvollen Erfahrung – und so sind in appetite die Tänzer/innen auffallend häufiger in Körperkontakt als in anderen Stücken Stuarts,42 welche Grenzverletzungen als Identitätszersprengung inszenieren. Isolierungen, Zerstückelungen und das Segmentieren von Körperteilen sowie Praktiken des Dezentralisierens sind wichtige Aspekte einer grotesken Ästhetik, die im nächsten Abschnitt ausführlich vorgestellt wird.
2 T o r s i o n e n . B ew e g u n g s p a t t e r n d e s G r o t e s k e n Im Jahr 1853 formuliert Karl Rosenkranz in seiner Ästhetik des Hässlichen Prinzipien, mit denen er das sogenannte Hässliche in der Kunst dem sonst eintönig werdenden Schönen zur Seite, wenn auch nicht auf die gleiche Stufe stellt (Rosenkranz 1996: 38, 64 f.). Die glatte Einfassung und »Abgeschlossenheit der Gestalt« (ebd.: 50, 65) konfrontiert er mit Phänomenen des Amorphen, des Schwankens und der »Unsicherheit der Begrenzung«, als ein »Werdendes« (ebd.: 62, 65, 141), und verwendet Termini wie »Defiguration« sowie Zerstückelung 41 Den Vergleich mit antropophagen Praktiken führt auch Marie-Christien Vernay in einer Rezension des Stücks an (Vernay 5.3.1999). 42 Die Kritikerin Sabine Loeprick bezeichnet appetite als Stuarts »bisher ›heiterstes‹ Stück« (Loeprick 14.8.1999), und die Choreographin selbst konstatiert: »Ich habe eine Komödie gemacht« (Stuart in Siegmund 3.2.1999).
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und »Dekomposition« (ebd.: 138, 226, 353). Freilich löst sich Rosenkranz in seiner Zeit noch nicht vom Diktum des Kunstschönen, das es als oberstes Ziel zu erreichen gelte (ebd.: 15), jedoch: »Sollen […] Natur und Geist nach ihrer ganzen dramatischen Tiefe zur Darstellung kommen, so darf natürlich das Hässliche, darf das Böse und Teuflische nicht fehlen.« (Ebd.: 38) Allerdings gilt ihm Hässliches in der Kunst nicht mehr ausschließlich als Kontrastfolie, um die Schönheit und Harmonie eines Kunstwerks noch klarer hervortreten zu lassen, sondern bereits als Argument für den paradigmatischen Wechsel hin zu einem Realismus in der Kunst, der nicht nur Idealbilder produziert43 und mit dem er sich gegen Hegels Negation einer Darstellbarkeit des Hässlichen im Rahmen einer Ästhetik des Harmonischen ausspricht (ebd.: 287): »Aus diesem Grunde also, die Erscheinung der Idee nach ihrer Totalität zu schildern, kann die Kunst die Bildung des Hässlichen nicht umgehen.« (Ebd.: 38) Allerdings habe sich das Hässliche als Kunst wieder den Strukturmerkmalen von »Symmetrie und Harmonie« unterzuordnen, um im Geltungsbereich Kunst Bestand zu haben (ebd.: 42), und wird mithin doch wieder für das Ideal eines proportionierenden und gereinigten Blicks in Dienst genommen. Das Novum an Rosenkranz’ Schrift ist allerdings der antithetische Aufbau, der das gesamte Buch durchzieht. Den Prinzipien von Harmonie und Proportionalität in der Kunst folgend, erläutert er das Hässliche gemäß Kategorien wie etwa »Formlosigkeit«, »Asymmetrie«, »Disharmonie« oder »Inkorrektheit« (ebd.: 62 ff., 100 ff.).44 Die zu Beginn erwähnten Attribute von Unentschiedenheit und Werden sind zwar Motoren, um Hässliches hervorzubringen, jedoch müssen sie domestiziert werden, da sie andernfalls das Kunstwerk aus dem Rahmen der herrschenden Ästhetik herausfallen ließen, die solchermaßen ihren Status als Kunst einbüßen würde. Fast ungewollt bereitet Rosenkranz, besonders mit dem eingangs etablierten Begriffsrepertoire, den Boden für eine radikale ästhetische Wende, die (erst) in der Avantgarde seit den 1910er Jahre zur Entfaltung kommt und bis in die Postmoderne hineinwirkt, in der nun gerade das Difforme und Unbestimmte zur gleichsam kanonischen Voraussetzung für Kunst geworden ist, an die sich entsprechende wissenschaftliche Weisen der Beschreibung anlagern. Anhand dieser Folie sind im Folgenden Bewegungspattern des Grotesken zu erörtern, die sich an den Topoi der Torsion und Inversion, des Fragmentierens und Dezentralisierens orientieren, wie sie bereits in den Grotesktänzen des 18. 43 So fragt Rosenkranz »Müssen wir nicht alle essen und trinken, schlafen und verdauen? Müssen wir nicht alle arbeiten, wenigstens an unserm Nichtstun? Müssen die Kinder nicht geboren werden? Kann eine Kaiserin sich die Wehen der Geburt wegdekretieren lassen?« (Rosenkranz 1996: 172) 44 Historisch einschränkend muss allerdings gesagt werden, dass Rosenkranz’ Etablierung des Hässlichen in der Kunst von moralischen Werturteilen und den Verknüpfungen von Physiognomie mit Charakter durchzogen ist, etwa wenn (äußere) Hässlichkeit mit »dem Bösen« oder mit Geisteskrankheit in kolonialistisch gefärbter Ausprägung gleichgesetzt wird (Rosenkranz 1996: 31 ff., 262).
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Jahrhunderts zu entdecken sind und sich im Durchgang der Rezeption unabgeschlossener Bewegungsphänomene bis ins 21. Jahrhundert als Modi der Verfremdung herausheben lassen – ein übergreifender, historischer Vergleich zwischen Xavier Le Roy und anderweitigen Tänzen am Beispiel amorpher Tierzuschreibungen wird dies später verdeutlichen.
2.1 »Twinkling Feet«.45 Groteskes im 17. und 18. Jahrhundert »Such a beautiful opera is cut up by two ballets, to which all the spectators remain most attentive and silent, as though they had to see it with their ears; and the performer who leaps more, who contorts his feet and torso more, wins the greater applause.« Francesco Milizia (in Kuzmick Hansell 2005: 21)
So äußert sich der italienische Theatertheoretiker Francesco Milizia 1794 über den seiner Meinung nach desolaten Zustand der Oper in seinem Land. Seine Kritik ist Teil einer Debatte, die die konträren Stilrichtungen der Opera Seria mit ihren Tanzeinlagen des Ballet d’action Jean-Georges Noverres, der Danza Parlante Gasparo Angiolinis und Gennaro Magris weitergeführte Tradition der Ballerini Grotteschi untereinander austragen und die den Hintergrund bildet für die Publikation von Magris Trattato teorico-prattico di ballo (Neapel, 1779) (vgl. Harris-Warrick 2005a: 6). Magri ist es um eine Gleichstellung des grotesken mit dem offiziell legitimierten Tanz zu tun, und so schreibt er zunächst eine allgemeine Abhandlung über Grundbewegungen und -positionen sowie die verschiedenen Tanzfiguren, in der jedoch immer wieder Verweise auf das Groteske mit seinen besonderen Bewegungsmodi eingeflochten sind. Seinen Vorstoß bekräftigt er mit einer einleitenden Legitimationsadresse an seinen Gegner Francesco Sgai (vgl. ebd.: 5) sowie im Abschnitt zur Benutzung der Arme, die ein besonderes Charakteristikum im Grotesktanz seien und an deren Beschreibung er ein Plädoyer anfügt: »Should the Grotesco be less skilled in the art of expressing through gestures the Pantomime and the comic Action [sic!] than the Serio to express the same in tragedy? […] Each one is worthy of applause, each is skillful if he expresses his Action well, if he portrays his character well.« (Magri 1988: 153 f.)46 Magri rechtfertigt das Groteske unter anderem über seinen Aufmerksamkeitswert, der den Besucher/innen beim Anblick der Ballante Seri doch rasch abhanden käme und gähnende Langeweile hervorrufe (ebd.: 154) – Rosenkranz ar-
45 So lautet eine Beschreibung Charles Burneys, der 1770 ein von Onorato Viganò choreographiertes Ballett in Neapel sieht (in Kuzmick Hansell 2005: 21). 46 Die Textpassagen aus Magris Trattato folgen der englischen Übersetzung von Mary Skeaping.
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gumentiert ähnlich, wenn er von nur schönen Kunstwerken und ihrer tristen »Eintönigkeit« spricht (Rosenkranz 1996: 64). Magri formuliert sein Anliegen, das Groteske als Kunstgattung zu etablieren, mit einer ähnlich antithetischen Strategie, wie sie Rosenkranz entfaltet, indem er groteske Bewegungen explizit in eine Systematik von kodifizierten Ballettpositionen und Figuren einflicht,47 und folgt damit den Praktiken deutscher Protagonisten des komischen Bühnentanzes, die, wie Stephanie Schroedter feststellt, bereits gut fünfzig Jahre zuvor mit ihren emanzipatorischen Bestrebungen erfolgreich waren: In ihren Tanzpoetiken etabliere sich das »›Ballet comique‹ bzw. ›Crotesques‹ [sic!] als eine vollgültige Theatergattung neben dem ›Ballet serieux‹ bzw. ›Ballet tragique‹.« (Schroedter 2004: 416) Wie in Rosenkranz’ Entwürfen zum Hässlichen geht es auch hier darum, groteske, komische Bewegungen zu domestizieren, um sie sozusagen ›hoffähig‹ zu machen, ein Ziel, das besonders der englische Choreograph John Weaver zu Beginn des 18. Jahrhunderts verfolgt (vgl. ebd.: 180 sowie Goff 2005: 211 f.). Magri vermeidet eine Regulierung der überbordenden athletischen Bewegungen des grotesken Tanzes, platziert sie jedoch explizit als technisch anspruchsvollen Bewegungsmodus innerhalb des Rahmensystems Ballett, das im grotesken Bewegungsduktus invertiert und vergrößert wird. Linda J. Tomko resümiert: »In the course of analyzing the dance vocabulary of his day, then, Magri specifies some key lexical dimensions of grotteschi as a category of movers. Wrapping steps, sprung steps (frequently with beats), steps of multiple turns, and myriad airborne steps interweaving and beating the legs particularly characterize the grotteschi’s traversal of space.« (Tomko 2005: 158) Die grotesken Bewegungen sind also kein Resultat zufallsgenerierter amorpher Motionen, sondern basieren auf einem fast streng zu nennenden System, das Technik, Athletik und Training inkorporiert (vgl. Kuzmick Hansell 2005: 26). Wie stellen sich nun diese Bewegungen dar? Magri orientiert sich am System der französischen Ballettstellungen, wie er anmerkt, ohne jedoch explizit auf diesen Einfluss zu verweisen (Magri 1988: 44).48 Nachdem er zunächst diese »richtigen«, da allgemein anerkannten Positionen beschrieben hat (Magri 1988: 63 f.) – die im Wesentlichen auch den heute bekannten entsprechen –, legt er als Kontrastfolie die Körperhaltungen des Grotesken dar, wie sie auch im englischen Tanz zu sehen seien: 47 Bereits 1711 versucht der Tanzmeister und Autor Louis Bonin eine Systematisierung komischer Tanzdarbietungen, die auf das Können der Tänzer/innen abhebt: eine »anspruchsvolle[] Technik tänzerischer Komik, die insofern mittlerweile nicht nur Kodifizierungen unterworfen wurde, sondern auch durch ebenso ausdrucksstarke wie virtuose Bewegungsmomente erheblich dynamisiert wurde«, wie Stephanie Schroedter konstatiert (Schroedter 2006: 388). 48 Sandra Noll Hammond belegt, dass es sich dabei um das Vokabular Pierre Rameaus handelt, das dieser 1725 schriftlich niederlegte (Noll Hammond 2005: 119). Ein weiterer Hinweis auf die Übernahme des französischen Ballettsystems ist Magris Italianisierung mancher Begriffe wie etwa »tordichamp« anstelle von »tour de jambe« (Harris-Warrick 2005a: 7).
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»The false first position is quite opposite to the true one. The toes are turned in, touching each other at the tips. / The second one is also done with the toes turned in; the only difference from the first, in which the toes are touching each other, is that in this one there is a distance of one foot between them. / The third: where in the true position the heel of one foot is placed beside the anklebone of the other, here the toe of one touches the anklebone of the other. / The fourth keeps the toe of one foot on the same line as the anklebone of the other. / The fifth turns the toe of one foot inwards, touching the back of the heel of the other foot, which has its toes turned towards the heel of the other, forming an acute angle.« (Ebd.: 64)
Dass es dabei nicht um »falsche« Positionen geht, die als Fehler gegenüber den »richtigen« im Ballett zu werten wären, wird deutlich, wenn man »false« wörtlich als »verkehrt« übersetzt: Groteske Positionen ergeben sich aus dem Prinzip der Inversion, als Verkehrung und Verdrehung der stilistischen Ballettvorlage – Eindrehungen der Beine in der zweiten, verkehrten Position verwendet später zum Beispiel Valeska Gert in ihrem Tanz Charleston (Abb. 92), der gerade aufgrund dieser Beinstellung von der Kritik als grotesk wahrgenommen wurde (vgl. S. 109). Solche Verdrehungen (als Verwachsungen) listet im Übrigen bereits Ambroise Paré im Rahmen einer monströsen Taxonomie auf, wie Abbildung 93 zeigt.
Abb. 92: Valeska Gert, Charleston, Photo: Erna Lendvai-Dircksen
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Abb. 93: Ambroise Paré, Figure d’un Enfant qui a esté pressé au ventre de sa mere, ayant les mains et pieds tortus (1572)
Zu diesen Positionen kommen spezielle Drehschritte hinzu, die Magri als tortigliè bezeichnet, welche die Füße einwärts oder auswärts bewegen und zur Seite, in einer Drehbewegung oder vorwärts ausgeführt werden können: »To do it forwards, place yourself with the right in the true third position in front, then turn lifting the heels; the feet are placed in the third Spanish position and, turning again lifting the heels, the toes are turned out, the left leg should be in front in true third lightly touching the other.« (Ebd.: 85)49 In den Beschreibungen zeigt sich bereits ein wesentliches Moment grotesker Bewegungen: die Torsion von Gelenken und Körperteilen (denn auch Beine und Knie werden bei diesen Haltungen gegeneinander verdreht) sowie die Praxis der Inversion etablierten Vokabulars, das sich hier nachgerade als erlernbare Methode anbietet. Dieser Umkehrung unterliegen auch die forced indeterminate pirouettes, welche beispielsweise, im Gegensatz zum Ballett, in niedriger Haltung im Plié oder retiré ausgeführt werden, da es hier auf Schnelligkeit und eine hohe Anzahl von Drehungen ankomme (Magri 1988: 127). Des Weiteren spielen die Arme der grotesken Ballerini eine wichtige Rolle – Magri teilt sie in die Ebenen »niedrig«, »halbhoch«, »hoch« und »übertrieben« ein (ebd.: 151 f.). Während die ersten drei Posen die Arme seitlich am Körper hängen lassen oder sie auf die Höhe der Ellenbogen beziehungsweise der Schulter bringen, überschreiten die »grands bras« oder »exaggerated arms«, wie Mag49 Diese dritte »spanische« Position ähnelt der dritten Position im Ballett und wird so gesetzt: »The third will be done by carrying the right foot to a position so that its instep is resting against the lateral part of the heel of the left foot.« (Magri 1988: 65)
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ri sie bezeichnet, das Niveau der Schultern und breiten sich über dem Kopf aus. Sie sind spezifisch für groteske Tänzer/innen,50 besonders, weil sie sich an keinem genauen Maß orientieren, sondern dem Gusto und Können der Tanzenden überlassen sind und eine Expansion des Körpers in den Raum hinein ermöglichen (ebd.: 152). Die überbordenden Arme und invertierten Fußstellungen können zudem kombiniert werden, womit Magri die Attitude in ein komposites Gebilde umformuliert: Nicht eine Pose folgt der anderen, sondern der tanzende Körper entwirft sich in einem Konglomerat von Haltungen, die allerdings noch den Ansprüchen wiedererkennbarer, zum Ausdruck gebrachter emotionaler Gebärden genügen müssten, als mögliche »union of several poses, being an accompaniment of the arms, the legs, the head, the eyes, which must express in which emotional state the person is found.« (Ebd.: 148; vgl. auch Tomko 2005: 160) Sämtlichen Posen ist zu eigen, dass sie, im Gegensatz zur gemessenen Haltung des ballo grave, die getanzten Figuren vergrößern: »[I]n the Grotesco it is done on a grand scale.« (Magri 1988: 76) Die eigentlichen Balletthaltungen und ihre grotesken Verkehrungen ereignen sich insgesamt auf dem Fundament der Balance, die Magri an den Anfang seines Tanztraktates stellt. Er nennt sechs Arten, das Gleichgewicht zu halten: unter anderem auf dem Standbein, während vom Spielbein nur die Spitze den Boden berührt, mit einem Bein in der Luft, wobei das Standbein auf halber Spitze angehoben ist, generell auf den Fersen oder den Fußballen sowie entlang einer imaginäreren senkrechten Linie, die das Brustbein tangiert (Magri 1988: 56 f.). Groteske Tänzer/innen setzten sich wiederum einer Gefährdung dieses Equilibriums aus: »[I]n the case of the Grotesco, when he lands from the caprioles he staggers and sometimes falls«, da der Körper nicht im perfekten Gleichgewicht sei (ebd.: 57) beziehungsweise es auch gar nicht unbedingt sein soll. Vielmehr zeichnen sich die grotesken Tänzer/innen durch das perfekt beherrschte Spiel im Zwischenraum von Balance und Sturz aus,51 das eine präzise, virtuose und athletische Technik voraussetzt (vgl. Harris-Warrick 2005a: 6, Kuzmick Hansell 2005: 31) – mit Otto Driesens Beschreibung der akrobatischen Fertigkeiten des Harlekin wurde darauf bereits hingewiesen (vgl. S. 213). Wilhelm Fraenger verweist in diesem Sinne auf die skizzenhaften Zeichnungen Jacques Callots, in denen dieser tänzerische Szenen der Commedia dell’Arte festgehalten hat und bemerkt: »Callots Komik ist die eines exzentrischen Equilibristen, der sich auf dem Trapez oder dem Drahtseil produziert: Er gibt dabei den komischen Elastik-Akt.« (Fra50 Tatsächlich gab es damals eine mindestens gleich große Anzahl grotesker Tänzerinnen wie Tänzer, was Kathleen Kuzmick Hansells Zusammenstellung bekannter Grotteschi [sic!] in Italien zeigt (vgl. Kuzmick Hansell 2005 a: 286 ff.). 51 Im Ausdruckstanz der zwanzigsten Jahrhundertwende ist dieses Motiv wieder relevant. Brandstetter entdeckt es im Tanz der Mänade, deren Motionen »das ekstatische Moment der Gesamtbewegungen an der Grenze der Balance betonen« und von Tänzerinnen wie Ruth St. Denis, Mary Wigman oder Grete Wiesenthal wieder aufgegriffen werden (Brandstetter 1995: 187, 192).
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enger 1995: 64) Im Rückblick auf die Arbeiten Meg Stuarts wird hier das Spiel an den Grenzen von Kontrolle wiederholt deutlich, das eine präzise entwickelte Technik zur Voraussetzung des Verschleuderten und Unbestimmten macht und dieses als ein Inszeniertes versus einem psychomotorisch Akzidentiellen betont. Zur Balance kommen die Sprünge hinzu, mit denen Grotesktänzer im 18. Jahrhundert – bezeichnet als Ballerini groteschi sbalzante oder auch Groteschi saltatori (Magri 1988: 61, 106) – zumeist identifiziert und dabei oft mit den Charakteren der Commedia dell’Arte verknüpft wurden. Magri gibt hier ein Beispiel für eine Bewegungsanweisung: »The salto dell’impiccato called saut empendu is performed by the character of Pulcinella or a Drunkard or other Dullard, and sometimes it is done for eccentricity, this being a difficult jump. It […] is taken with legs and knees together: bend and in taking the jump, straighten the whole body with the legs together, let the extended arm fall with the hands touching the thighs, and the head lolling towards one side, then coming down, just before touching the ground, detach one leg well into the air as much as possible, landing obliquely on the other foot. / The difficulty of this jump consists in the great height that it needs to draw the spectators’ attention to this figure, otherwise it would be reduced to nothing, and he who has no ability to reach this height must on no account do this capriole.« (Ebd.: 165)
Die Kapriole zeigt in einer grotesken Inversion, was ihr Name, »impiccato«, andeutet: Die gesprungene Figur soll einem Menschen im Moment des Erhängtwerdens ähneln. Damit wird die Idee der Elevation allerdings konterkariert: Der Sprung, so Magri, muss besonders hoch ausgeführt werden – freilich gerade deshalb, um die Fallhöhe des die Schwerkraft nach unten ziehenden Körpers im (tödlichen) Sturz einer ver-kehrten Erhöhung noch zu vergrößern. Das Publikum und die damaligen Tanzkritiker schwankten entsprechend zwischen Begeisterung oder Ablehnung des danza alta (Kuzmick Hansell 2005: 22), wie das Eingangszitat verdeutlicht. Bereits 1715 bewundert Pier Jacopo Martello die Sprungkraft der Grotesktänzer, die er mit dem Fliegen vergleicht: »The Italian, no matter on what part of the stage, displays his spirited dance with great precision: he jumps in the air and there performs nimble caprioles. He comes down to the boards very lightly, on the points of his feet and barely touching the planks he reascends […] this type of dancing, which is displayed more in the air, is similar to flying.« (Martello zitiert nach Kuzmick Hansell 2005: 20) Carlo Blasis bewertet die Kapriolen grotesker Tänzer in der Rückschau negativer: »Dieser Tanz flößte oft nur Staunen und Furcht ein und wurde mit gewaltigen Sätzen, Luftsprüngen und Forcetouren executirt [sic!], daher er auch bald von den italienischen Theatern verbannt wurde« (Blasis zitiert nach Woitas 2004: 61). Blasis betont die Physis der Bewegungen als schweißtreibende, energetische, bis zur Erschöpfung getriebene Aktionen, was auch in vielen der zeitgenössischen Beschreibungen deutlich wird (vgl. Kuzmick Hansell 2005: 20, 31). Die Bewegun-
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gen der meist aus Frankreich kommenden ballerini seri waren hingegen von einem im Wortsinne gravitätischen Schreiten geprägt, das ihrem Tanz das Etikett des »terre-à-terre« gab (ebd.: 17, 27). Bemerkenswert erscheint mir hier der Paradigmenwechsel, den das Handlungsballett nachfolgend im 19. Jahrhundert in einer Umkehrbewegung erfuhr. Ist das seriöse Ballett im 18. Jahrhundert noch von Bodenhaftung und gemessenen Schritten im Raum geprägt, wird gut hundert Jahre später die schwebende, antigrave Ballerina gleichsam zum Ideal erhoben. Allerdings ist es nicht das Bild fliegender, wilde Sprünge vollführender, sich körperlich verausgabender Tänzer: Vielmehr wird die Tänzerin zu einem ätherischen, fast körperlosen Wesen – Kraft und Schweiß sind in die Hebeebene der am Boden stehenden männlichen Tänzerarme verlagert, die der Ballerina die Leichtigkeit der Elevation ermöglichen.52 Zu den sehr genauen Anweisungen Magris bezüglich der Positionen und Figuren kommen nun allerdings auch unspezifischere Bewegungsimpulse hinzu, um neben der athletischen Präsenz auch den emotionalen Ausdruck der Tänzer/innen zu steigern, was Moira Goff anhand einer Chaconne53 erläutert, für die sich der Choreograph assoziativer Bilder bediene, die er mit dem Einsatz von Musik verknüpfe, um Extreme zwischen wilden, gewalttätigen und trägen, schwächeren Impressionen als Bewegungsanregung und visuellen Anreiz sowohl für die Darsteller/innen wie auch für das Publikum hervorzurufen (Goff 2005: 210). Zu den übrigen Ballettstilen im prägnanten Kontrast steht die hohe physische Energie und Dynamik der Grotesktänzer/innen, die allerdings innerhalb der Positionen und Bewegungsanweisungen kanalisiert werden und mithin kein bloßes veitstanzartiges Springen und Hüpfen sind, wie Tomko hervorhebt: »These are bodies that cycle again and again, that focus and forcefully release their energy as a consistent hallmark of their activity. At the same time […] the movement lexicon in Magri’s treatise includes devices that endeavour to harmonize and balance dancing bodies.« (Tomko 2005: 159 f.) Mit Verweis auf Bachtins Theorie des Grotesken beurteilt Tomko die Tänzer/innen in Magris Choreographien als werdende, offene Körper gegenüber einem klassischen geschlossenen Körperkonzept, da sie sich in den Raum hinein ausbreiten würden und im energetischen Schwitzen buchstäblich die Poren der Haut zum Motor von Verflüssigungen zwischen innen und außen machten (ebd.: 159 ff.). Anhand der obigen Beschreibungen der Techniken Magris erscheint mir eine solche Einschätzung allerdings problematisch, da sich Überbordendes und Kontrollverlust als präzise kalkuliert im Rahmen einer inszenierten Akrobatik ergeben, die mit dem Kippen und Fallen virtuos spielt und insofern nicht den Kör-
52 Zum Ideal der Elevation im klassischen Ballett vgl. Brandstetter 1995: 386. 53 Die Chaconne ist ursprünglich ein spanischer Volkstanz aus dem 16. Jahrhundert.
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per als sich vollständig liquidierenden propagiert.54 In seiner Darlegung burlesker Tänze im Rahmen der Ästhetik des Barock betont Mark Franko wiederum die Synchronizität beider Körperkonzepte, die er mit Norbert Elias als selbstbeherrschten, sich ver-haltenden homo clausus einerseits und Bachtins im freien körperlichen Spiel sich verlierenden homo ludens andererseits zuspitzt. Burlesker Tanz, im Sinne der Ästhetik eines homo strategicus, befinde sich nun genau im Zwischenraum dieser beiden Phänomene, als »intermediate figure who shares the class attributes of Elias’ construct and the transgressive attitude of Bakhtin’s.« (Franko 1993: 10) Burleske und die Tänze des Grotesken weisen einige aufschlussreiche Parallelen auf, die wiederum auf Erscheinungen im zeitgenössischen Tanz appliziert werden können und hier kurz dargestellt werden sollen.
Burlesker Einschub Fraenger unterscheidet in seinen Vorlesungen über die Formen des Komischen die Züge des Grotesken und Burlesken, wobei er Ersteres in der Kontrastierung hauptsächlich über seine chimärische Erscheinung erklärt: »Wir definieren das Groteske als die ›formale Verflechtung artfremder Daseinsformen zu einer Einheit von monströsem Charakter‹. Demnach handelt es sich bei der Groteske um eine Zusammenschau verschiedener Elemente.« (Fraenger 1995: 52) Das Burleske, dessen etymologische Herkunft aus dem Italienischen »scherzen« und »necken« bedeute (»burlare«, ebd.: 34), zeichne sich hingegen im Wesentlichen über seine possenhafte Komik aus, die in typisierenden Charakterisierungen bestehe, wie sie in der bildenden Kunst die Karikatur, im Theater etwa die Commedia dell’Arte oder das Kaspertheater hervorbrächten (ebd.: 36 f., 41 ff.).55 Es sei besonders durch eine repetitive Struktur und die grob reduzierte, zugespitzte Zeichnung der Protagonist/innen markiert, worin es sich vom Grotesken und seinen bisweilen schockhaften Effekten des Unbekannten absetze: »Die Wiederkehr des altvertrauten Gleichen ermüdet im Burlesken keineswegs. Immer erneut sind wir bereit zu lachen. Die ständige Wiederholung, das scherzhafte Einerlei scheint manchmal ein besonderes Mittel
54 Tomko ergänzt denn auch, dass die Oppositionen von Offenem und Geschlossenem keineswegs chronologisch klar abgegrenzten Polaritäten folgten, sondern diese Konzepte lange Zeit parallel existiert hätten (Tomko 2005: 165). In dieser zeitweisen Überlagerung muss man aber, so meine ich, auch die Tanzästhetik Magris situieren. 55 Christina Thurner setzt die komischen Szenen in Meg Stuarts Visitors Only zu den groben, körperlichen Späßen der Commedia dell’Arte ins Verhältnis (Thurner 2006: 331 ff.). Zum Vergleich zwischen den Charakteren der Commedia dell’Arte und den Comedies der Stummfilmzeit (Chaplin, Keaton) siehe außerdem Roesner 2006.
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für eine burlesk-komische Wirkung zu sein.« (Ebd.: 44) Allerdings könne das Burleske in die Bereiche des Grotesken übertreten – Fraenger sieht dies etwa in den sich zum Monströsen steigernden Karikaturen Honoré Daumiers verwirklicht (ebd.: 58). Was der Autor hier allerdings begrifflich eher unscharf herleitet, wird deutlicher anhand seiner Beschreibungen der Zeichnungen Brueghels, in denen er die Überfülle und das tendenzielle Übertreten des begrenzenden Rahmens betont (ebd.: 38 f.). Abkürzend lässt sich resümieren, dass Groteskes häufig gerade die Depersonalisierung als Strategie nutzt, wie in Kapitel 2 ausführlich behandelt wurde, das Burleske hingegen auf Typisierung und Charakterisierung setzt. Franko beschreibt nun allerdings eine Sonderform des Burlesken, das er als kurze Interimsphase zwischen die geometrisierten Ballette unter dem französischen Regime Louis XIII und ihrer baldigen Domestizierung in die komischen Ballette Jean-Baptiste Molières situiert (Franko 1993: 5 ff., 94 f.). In Verbindung mit Bachtins Konzept des Grotesken postuliert er das »burlesque ballet« als politische Strategie, die für eine begrenzte Zeit den tanzenden Körper von Textualität und Geometrisierung befreit habe (ebd.: 6).56 Schroedter betont die Umkehrstrategien des Burlesken, die in der Aufnahme des Diktums der Symmetrie bestanden hätten, welches, gute Kenntnisse der Technik des »›hohen‹ Stils« vorausgesetzt, invertiert oder grotesk überhöht worden sei, wofür sie treffende Bildzeugnisse findet (Schroedter 2006: 378, 387) (Abb. 94).
Abb. 94: Anonyme Zeichnung, Frankreich; Nationalmuseum Stockholm
Franko wiederum hebt den Burlesktanz als selbstreflexive, mithin avantgardistische Praxis hervor, die sich über das Moment der Dekonstruktion von Körperkonturen ergebe, die zuweilen groteske Züge trage: »Reflexivity was signaled by the distorsion and dehumanization of bodily shape«. Hierbei wird besonders das Moment der Inversion betont, wie etwa das Ballet du monde renversé (1625) bereits im Titel anzeigt (Franko 1993: 78, 81). Dabei unterstreicht Franko den formalen Charakter der Kostüme,
56 Zur »Geometrisierung im Barock« und der Instrumentalisierung des Körpers bemerkt Monika Woitas: »Die Unberechenbarkeit des Individuums sollte durch […] messbare und zählbare Regelsysteme gebändigt werden.« (Woitas 2004: 23, 26 ff.) Zum Ballett als »Naturbeherrschung am Menschen«, etwa im Barock, vgl. auch zur Lippe 1974: 11 ff., 159 ff.
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die das Thema der Bändigung des Menschen in beherrschbare Formen aufgriffen und extensiv überhöhten: »The organic body was segmented from within or overwhelmed from without by triangular, spherical or conical distorsions.« (Ebd.: 80) Die Kostüme führten unter anderem zu Bewegungseinschränkungen und Mechanisierungen der Motionen, die sich von einem »natürlichen« Körper abwendeten, was Franko zu der Einschätzung veranlasst, diese Praxis als Vorläufer der historischen Avantgarde zu positionieren – die Experimente Edward Gordon Craigs oder Oskar Schlemmers schlössen an diese Ästhetik an (ebd.: 80, 13 f.).57
Abb. 95: Anonyme Zeichnung, Victoria and Albert Museum, London
Die Bildbeispiele, in denen das Aussehen der Tänzer/innen durch übergroße Kostüme etwa auf einen Kopf mit Beinen reduziert ist (Abb. 95) oder deren Verhältnis von Ober- und Unterkörper extrem verbreitert und disproportional erscheint, erinnern bisweilen an die teratologischen Kataloge von Ambroise Paré oder die Kopffüßler, von denen Baltrušaitis spricht und die ein auffälliges Motiv in Boschs Weltgerichtstriptychon sind (vgl. Abb. 49, S. 201). Molière übernahm diese Autonomiebestrebungen ver-rückter Körper und ihre scheinbar spontan erfundenen, ausufernden Bewegungen und band sie in seine Theaterästhetik ein, die einmal mehr das Changement grotesker beziehungsweise hier burlesker Ästhetiken am Rand von Rahmen-Haltung und -Übertretung als ausgewiesenes Pattern zeigt, welches allerdings bereits den Burlesktänzen selbst in-
57 Auch die Idee der Marionette, wie sie Kleist favorisiert, oder das Bild der Puppe in romantischen Balletten seien hierunter zu verorten (Franko 1993: 13f.).
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newohne, wie Franko unterstreicht: »Molière employed the ›lack of control‹ trope frequently to characterize the production of his own court performances. […] Burlesque ballets rehabilitated the transgressive aspects of earlier social dance by integrating them into theatrical representations of madness. They cultivated an ›official‹ grotesque style, which was above moral approach.« (Ebd.: 94 f.)
Die Vermischung von Burleskem und Groteskem entwickelte sich unter anderem aus der Commedia dell’Arte, deren Charaktere auch in Gennaro Magris Balletten oft eine Rolle spielten (vgl. Bongivanni 2005: 96, 101). Besonders in den Zeichnungen Jacques Callots, die mit Fraenger bereits kurz erwähnt wurden – und auf deren »exzentrischen Bewegungsstil« sich Kayser im Hinweis auf Bewegungsmotive des Grotesken bezieht (Kayser 2004: 41, 75) –, lassen sich weitere Hinweise auf das Spiel mit Kontrolle und Entgrenzung in der Bewegung finden, die auf Magris Ästhetik wichtige Impulse ausübten und daher kurz betrachtet werden sollen.
2.1.1 Callots springende Zeichnungen Im Bilderzyklus Balli di Sfessania (um 1622), der 24 Radierungen enthält, greift Jacques Callot die Bewegungsprinzipien einiger Charaktere der Commedia dell’Arte in grotesken Motionen und Torsionen auf, wie sie auch Magri schildert. Das Blatt mit der Untertitelung Cucorogna und Pernoualla zeigt sowohl das Motiv der »exaggerated arms« wie auch die Einwärtsdrehung der Beine, in der die Oberschenkel eng zusammengeschlossen sind und die Knie sich berühren (Abb. 96, vgl. auch Abb. 97). Dabei wird deutlich, dass die Arme Cucorognas nicht einfach nur überbreit oder extrem verlängert nach oben gehoben sind, sondern, entgegen einem leicht geführten Port de bras, mit Kraft gebogen werden, die an das protzige Präsentieren der Bizepsmuskeln erinnert und obendrein, in der Nacktheit der Darsteller und dem betonten Geschlecht, deren Männlichkeit überhöht ausstellen.58 Magri formuliert in diesem Zusammenhang die Haltung der »exaggerated rounded arms«: »[They] are used by the Groteschi in Scaramuccia, in Masked Characters, and in Truffaldino.« (Magri 1988: 153) Dennoch erschöpft sich die Darstellung nicht im halbstarken Muskelspiel, sondern verschiebt sich ins Groteske, in der starken Winkelung der Gelenke, die die Haltung des Kopfes kontrastiert, welcher fast halslos auf den Schultern zu sitzen scheint, 58 Interessant ist in diesem Zusammenhang die Wortkombination aus »pern(a)«, das im Altitalienischen »Bein« heißt und »oualla«, ein umgangssprachlicher Ausdruck für »Penis« aus dem neapolitanischen Dialekt. So wird der hervorgehobene Phallus zusätzlich noch grotesk in das tanzende Bein hinein verlängert. Ich danke Giuliano Modarelli für diesen linguistischen Hinweis.
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und die linke Hüfte opponiert, die in einen extremen Kontrapost hinausgeschoben ist – so wirkt der Arm fast wie das Fragment eines Insekts, einem Skorpionstachel ähnlich.
Abb. 96: Jacques Callot, Balli di Sfessania: Cucorogna und Pernoualla (um 1622)
Abb. 97: Jacques Callot, Balli di Sfessania: Smaraolo und Rarsa di Boio (um 1622)
Auffällig ist außerdem die Segmentierung der linken Figur in sich gegeneinander verschiebende Ebenen, in denen der Kopf sich in die entgegengesetzte Richtung des Brustkorbs bewegt, der wiederum die Hüfte opponiert, die sich gegen die Stellung der Beine verrückt – William Forsythe arbeitet in Decreation mit eben jener Praxis der Segmentierung und Verzerrung der Körperlevel, die er als »shearing« bezeichnet (vgl. S. 264, 401). Das Prinzip des Kontrapost ist in der Zeichnung des Cucorogna invertiert:59 Ist dieses in der Regel mit der Kippung der Hüfte des Standbeins verbunden, wird nun die Hüfte des Spielbeins prononciert. Das Standbein selbst ist jedoch lediglich schräg ausgestellt und nicht in vollem Bodenkontakt, es schiebt das Gewicht tendenziell in Richtung Körpermitte, jeden 59 Auch in der (darstellenden) Kunst des 20. Jahrhunderts sind solche Kritiken am Motiv des Kontrapost zu entdecken, etwa in Bruce Naumans Walk with Contrapposto (vgl. Anm. 25, S. 343) oder in Christina Ciupkes Tanzstück rissumriss (2001).
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Moment bereit, zum Sprung abzuheben.60 Viele der Zeichnungen zeigen zudem das Spiel mit der prekären Balance, so in der Figur des Pernoualla (Abb. 96) wie auch auf dem Blatt mit den Capitani Escangarato und Cocodrillo (Abb. 98), die im Moment der Landung eines Sprungs zu Papier gebracht sind.
Abb. 98: Jacques Callot, Balli di Sfessania: Escangarato und Cocodrillo (um 1622)
Dis-Torsionen der Figuren – in Verdrehungen und Überdehnungen der Gelenke wichtige Charakteristika grotesker Bewegungen, wie sie etwa auf Abbildung 97 bei Rarsa di Boio in Anwendung einer weit ausgespreizten »verkehrten« zweiten Position zu sehen sind – formuliert Fraenger wiederum als ein prägendes Moment in Callots Arbeiten: »Hervorstechendstes Merkmal bei allen Radierungen Jacques Callots sind die geschmeidigen Umrisse, die in einer schneidenden Präzision die elastisch gebeugten Körperformen umfassen, jene gertenhaften Biegungen der Kontur, die wie von innerer Federkraft gespannt erscheint.« (Fraenger 1995: 62) Die Torsion als Motiv greift auch E.T.A. Hoffmann in seinem Capriccio Prinzessin Brambilla (1820) auf, in dem er sich explizit auf die Zeichnungen Callots bezieht.61 Gilio, der Protagonist der Geschichte, führt mit dem Dramatiker Antonio Chiari ein Gespräch über das Schauspiel und die Physis seiner eigenen Darbietungen. Dieser kommentiert:
60 Das Motiv des überzogenen Kontrapost ist ein wiederkehrendes Attribut in Callots Zeichnungen, so auch in der Radierung Zwei tanzende Hanswurste aus der Serie der Capricci (1617), die ein Portrait der Stadt Florenz und ihrer Einwohner/innen darstellt (vgl. Callot 1971: 976). 61 Vgl. Gerhard Neumann 2003: 64. Neumann deutet Hoffmanns literarische Adaption der Skizzen als »›Verflüssigungs‹-Experimente« und hebt u.a. die Bewegungspattern »des Schwindels, des Rausches [und] des Wirbels« hervor (ebd.: 65 f.). Andreas Hiepko betont in seinen Ausführungen zum Motiv des Karnevals bei Hoffmann ebenfalls den Sog des Schwindels, in den die Lesenden durch die Erzählung gezogen würden, und referiert auf eine Szene, in der Hoffmann auf Callots Radierung des Tanzes von Fracischina (mit Tambourin) und Gian Farina aus den Balli de Sfessania Bezug nehme (Hiepko 2003: 74, 76).
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»Lasst es Euch bei dieser Gelegenheit sagen, Signor Gilio, dass, was Eure Gebärden, vorzüglich aber Eure Stellungen betrifft, Ihr noch etwas zurück seid. Signor Zechielli, mein damaliger Tragiker, vermochte mit voneinandergespreizten Beinen, Füße in den Boden gewurzelt, feststehend, Arme in die Lüfte erhoben, den Leib so nach und nach herumzudrehen, dass er mit dem Gesicht über den Rücken hinwegschaute und so in Gebärde und Mienenspiel den Zuschauern ein doppelt wirkender Janus erschien.« (Hoffmann 1986: 532 f.)
E.T.A. Hoffmann bringt hier verbal in Bewegung, was sich in Callots Zeichnungen andeutet und mit Magri als groteske Körperästhetik erweist, welche sich weit ins 21. Jahrhundert hinein verlängert – die Distorsionen, durch die Meg Stuart in Disfigure Study neue Impulse für eine zeitgenössische Tanzästhetik gab, sind hierfür ein Beispiel und werden im nächsten Abschnitt genauer untersucht. Gänzlich neu und unerwartet kam diese Praxis allerdings nicht, wie Magri und Callot zeigen und Theoretiker wie Fraenger und Rosenkranz nachdrücklich belegen. Wie zu Beginn erwähnt, operiert Rosenkranz bereits 1830 mit einem entsprechenden Bewegungsvokabular und setzt groteske Phänomene mit Tanzbewegungen gleich (vgl. S. 82 f.), die er allerdings abschätzig beurteilt. In einer Fußnote zitiert er Taxile Delord, welcher den damaligen Modetanz Chicard, der die polizeiliche Sitte parodiere, als »Gipfel« des Obszönen, da Pornographischen beschreibt (Rosenkranz 1995: 194 f.): »Das ist gar kein Tanz, es ist eher eine Parodie: Parodie der Liebe, der Anmut, der alten französischen Höflichkeit und […] Parodie der Wollust. […] der Tänzer […] bewegt sich hin und her, er stampft, alle seine Bewegungen haben einen Sinn, alle seine Verrenkungen sind Zeichen; was die Arme angedeutet haben, vollenden die Augen: die Hüften und Lenden haben ebenfalls ihre rhetorischen Figuren, ihre Beredtsamkeit. Es ist eine erschreckende Vereinigung von durchdringendem Schreien, krampfhaftem Gelächter, kehligen Dissonanzen, unvorstellbaren Verrücktheiten. Es ist ein lärmender, zügelloser, satanischer Tanz, mit all seinem Händeklatschen, Armeschwenken, Hüftenwackeln, Lendenzucken, Füßestampfen, mit seinen Attacken von Geste und Stimme; er springt, gleitet, schmiegt sich an, biegt sich, bäumt sich; schamlos, rasend, Schweiß auf der Stirne, die Augen feurig, der Wahnsinn im Gesicht.« (Delord zitiert nach Rosenkranz 1995: 362)
Delord beschreibt den Tanz zunächst als eine Pantomime, in der der Körper zum Gesicht wird62 – auch die Grotesktänzer zu Magris Zeit nahmen Einflüsse aus der Pantomime in ihre narrativen Tänze auf, wobei sie Mimisches in sämtliche Regionen des Körpers ausbreiteten, wie Kuzmick Hansell ausführt (Kuzmick Hansell 2005: 21). Delord behauptet anfangs, es handele sich bei dem gesehenen Tanz um eine nachvollziehbare, mit konkreten Körperzeichen spielende Panto62 Die Idee einer (grotesken) Mimisierung des Körpers greift Katrin Kröll im Titel des Sammelbandes Mein ganzer Körper ist Gesicht auf (Kröll 1994).
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mime. Je weiter seine Beschreibung voranschreitet, umso mehr entgleitet ihm jedoch die Möglichkeit, das Gesehene zu entziffern: Es kippt ins Groteske um. Nicht jedoch das wild wuchernde Bewegungsmaterial ist als grotesk zu bezeichnen – vielmehr ergibt sich das Groteske als Kippphänomen in der Perspektive des Betrachters, der den Verlust referentieller Zeichen erleben muss und das ihm Zustoßende in Bewegungsvokabeln auflöst, die sich seinem Zugriff entziehen und schließlich nur noch als »Wahnsinn« wahrnehmbar sind. Auch Fraenger entdeckt solche Verschiebungen, die eine akrobatische Technik in Überwältigungen der Tanzenden durch den Körper hervorrufe, wie er im Anschluss an Callots Bilder anhand einer verwandten japanischen Zeichnung erläutert: »Der Muskelschwulst und die Gliederverrenkungen dieser Tänzer wirkt [sic!] keineswegs als freiwillig erzeugt. Diese Tänzer wirken nicht als Akrobaten, die souverän mit ihrem durchgeschulten Körper spielen. Sie wirken vielmehr wie Besessene. Es ist, als habe ihr Körper seine Struktur vertauscht, als trügen sie statt des stabilen Skeletts mächtige Kautschukkugeln in ihrem Leib, die sich – unabhängig von dem Willen des Tänzers – in ihrem Innern wölben und wälzen.« (Fraenger 1995: 12)
Besonders Delords kurzer Text legt die Hypothese nahe, dass die Rezeption grotesker Bewegungen häufig mit einer Beschreibungsunsicherheit einhergeht, die den Tanz entweder als Psychogramm ungeordneter, chaotischer Motionen diagnostiziert63 oder in einer paradoxen Wendung mit Pattern des Ungeformten und Fluiden in Verbindung bringt – Self unfinished von Xavier Le Roy steht hierfür nahezu paradigmatisch. Gleichwohl speisen sich die Beobachtungen, mit denen seine Metamorphosen geschildert oder zuweilen gar etikettiert werden, aus einem Bildspeicher des Amorphen, wie nun darzulegen ist.
2.2 Amphibisches in der Kunst oder: Tanzende Frösche – Self unfinished revisited Auf der Bühne ist ein kopfloser, das Gesäß nach oben weisender Torso zu sehen, den Rücken zum Publikum gewendet – wir befinden uns noch einmal inmitten des Stück Self unfinished. Le Roy winkelt die Arme an und setzt sie mit flachen Händen neben seinem Körper am Boden auf – eine temporäre Formierung entsteht, die den Performer in ein amphibisches, an einen Frosch erinnerndes Wesen mutiert zu haben scheint, verstärkt durch den Eindruck von Le Roys Armen, die durch die Inversion in Beine verwechselt sind (vgl. Abb. 21, S. 146; S. 147). Etwas später bewegt sich das Gebilde mit ruckelnden Bewegungen von der Wand weg. Dabei reibt und klebt die nackte Haut Le Roys am Tanzboden, wodurch
63 So etwa Michaela Schlagenwerth über Meg Stuarts Ästhetik (Schlagenwerth 23.5.2003; vgl. S. 326).
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saugende und schmatzende Geräusche entstehen, die die Einbildung, man habe es hier mit einem Wassertier zu tun, noch verstärken. Dass es sich bei diesen Erscheinungen offenbar um groteske Phänomene handelt, konstatiert Arnd Wesemann: »Man sieht seinen Rücken, er selbst liegt auf dem Nacken, sein Kopf ist nicht zu sehen. Er streckt seine überlangen Arme links und rechts, zuckt. Man assoziiert erst ein Huhn, bei nur geringster Abweichung der Handstellung bereits einen Frosch. Er hält seinen Körper unter die Lupe und lässt einen in die semiotische Falle tappen: So erscheint dieser schweigende Tänzer prompt unheimlich, in seiner grotesken Verrenkung wie ein Wesen von einem anderen Stern.« (Wesemann 1999: 18 f.)
Drei wichtige Markierungen des Grotesken sind hier benannt: das Verdrehen des Körpers, der Effekt des Fremden und die Belegung mit einem Tierbild aus der Welt des Feuchten und Schleimigen. Le Roy selbst geht relativ unprätentiös mit diesen assoziativen Bildern um. In einem Interview beschreibt er das Solo und seine verschiedenen Stadien der Metamorphose: »Kurz darauf bin ich ein Frosch, dann ein Torso … Die Verwandlung geht immer weiter.« (Karcher/Le Roy 1999, Onlineressource) Wesemann beurteilt Le Roys Körper als einen grotesken, weil er ihm fremd erscheint, wie er im Bild des Frosches veranschaulicht. Allerdings sind solche Motive kein Produkt spontaner Assoziationen, die sich aus einem Pool asignifikanter Attribute des Unspezifischen zufällig ergeben, sondern bilden sich meiner Meinung nach aus einem Bildspeicher,64 der explizit visuell groteskes Material beherbergt, das mitunter sogar ›in Serie‹ geht, wie etwa bei Lia Rodrigues zu sehen war (vgl. Abb. 30, S. 164). Ploebst erklärt, dass sich Groteskes im Theater nur über mimetisch Erkennbares und mithin narrativ oder typologisch Nachvollziehbares herstellen könne, so etwa im Tanztheater: »Je abstrakter die verwendeten Körperzeichen werden und je weiter sie sich von den Zeichencodes entfernen, die uns aus dem Alltag bekannt sind, desto weniger Platz hat die Groteske.« (Ploebst 1999: 30) Er verwechselt hier allerdings das Groteske mit Komik beziehungsweise reduziert es auf seine burlesken Gehalte. Groteske Irritationen und referentielle Ablösungen ereignen sich jedoch gerade im Difformen und Nicht-Narrativen, das allerdings schwammige Bilder generiert.65 Wie das Zitat zu Beginn dieses Kapitels zeigt, artikuliert etwa Rosenkranz die Motionen grotesker Tänzer/innen im Rahmen
64 Dass Le Roys Stücke von »wiedererkennbare[n] Körperkulturbilder[n]« durchzogen seien, bemerkt Huschka anhand des Stücks Xavier Le Roy (2000, Auftraggeber: Jérôme Bel), das mit zitathaften Versatzstücken aus Kunst, Film und Popkultur arbeitet (Huschka 2002: 321). Self unfinished wiederum ruft groteske ›Kulturmuster‹ auf, die im Gedächtnis der Zuschauenden gespeichert sind. 65 Allerdings wäre in diesem Kontext eine ausführlichere Untersuchung von zeitgenössischem Tanz und (Körper-)Komik lohnend, die bislang nur in Ansätzen geschehen ist (vgl. u.a. Ploebst 1999, Thurner 2006).
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seiner Überlegungen zum Hässlichen als Nicht-Schönes, in einer Mischung aus Deformierungen und Tiervergleichen, die sämtlich mit der Verflüssigung eines stabilen Körperbildes einhergehen: »Ihr Beinausspreizen, ihr Wippen, Wiegen, Drehen, Froschhüpfen, Bauchkriechen ist wahrlich nichts weniger als schön; es ist auch nicht komisch; aber es ist als eine Willkür, die aller Gesetze zu spotten scheint, grotesk.« (Rosenkranz 1996: 181 f., Hervorhebung S.F.) Auch Fraenger bedient sich dieser Tiermetaphorik für die Beschreibung einer Zeichnung Callots, die zwei Harlekine in Tanzposition zeigt: »So zettelt sich über mannigfache Verhalte und künstlich geschaffene Ritardandos [sic!] allmählich der groteske Tanz der beiden an. Doch nicht in stetigem Crescendo, sondern mit verblüffenden Sprüngen und Überraschungen. Denn auf einmal durchbricht der eine Spieler den sich anbahnenden Dialog. Schnurrt zusammen wie ein verteufelter Frosch und faucht den Partner hämisch an, der ob solcher Verwandlungen zu einer Salzsäule zu erstarren scheint. Nach diesem tollen Quersprung ist der Bann gebrochen. Während sich der verdrillte Clown aus seiner Froschhaltung herausschraubt, wippt auch der zweite Harlekin empor, und dann beginnt ein kapriolenbuntes Tanzen.« (Fraenger 1995: 62 f., Hervorhebung S.F.)
Benutzt Fraenger Tierassoziationen als formales Element, um die extremen Bewegungen der Tänzer im Bild des Frosches zuzuspitzen, zielt Rosenkranz’ Zuschreibung auf das Tierhafte als ein Ungreifbares in die Bereiche des Unbewussten, des sich verlierenden Menschen als nicht mehr (gänzlich) selbstbeherrschtes Wesen. Diese Annahme wird gestützt durch Abbildungen barocker Tänze, die gelegentlich mit Tierdarstellungen in Verbindung gebracht werden, so der Stich eines Ballet Italienne um 1800, auf dem ein tanzendes Paar gemeinsam mit einem kleinen Hund abgebildet ist (Abb. 99).66 Bewegt sich die Ballerina im Rahmen der offiziellen Ballettästhetik, hat ihr Partner das linke Bein in einem physisch fast unmöglichen Winkel abgespreizt. Der Hund hebt sich, den Tanzenden gleich, in die Höhe und macht ›Männchen‹, solchermaßen anthromorph das Tanzpaar reflektierend und die anscheinend anmutigen Bewegungen besonders der Tänzerin konterkarierend. In einer Wechselwirkung wird die Verwandtschaft der grotesk Tanzenden mit tierhaften Bewegungen paraphrasiert. Das barocke Pariser Ballett Les Fées des forests [sic!] de Saint Germain (1625) wiederum arbeitete mit Tieren auf der Bühne selbst, so zum Beispiel Affen, die auf den Schultern zweier Tourniquetspieler saßen – Franko widmet dem Ballett eine ausführlichere Betrachtung und sieht in dieser Kombination den tierhaft verdeutlichten Sinn des Spiels, das durch »turning (tour) with gestures (niquets)« ausgeführt und von den Affen überhöht werde: »twisting their bodies into strange configurations in the act of playing« (Franko 1993: 89). Franko betont 66 Die Zeichnung ist zur Veranschaulichung in Woitas’ Erläuterung über groteske Tänze im 18. Jahrhundert abgebildet (Woitas 2004: 65).
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neben dieser grotesken Konfiguration den symbolischen Gehalt der Szene. Die beiden Spieler, die bedienstete Lakaien seien, würden durch die Affen, die im Barock für das »Edle« stünden, zunächst in ihrem Status erhöht, durch die Verdrehung der Bewegungen jedoch wiederum degradiert (ebd.: 89 ff.). Erika Fischer-Lichte wiederum betont sowohl die »emblematisch-symbolische Bedeutung« der Tiere im höfischen Theater des 16. und 17. Jahrhunderts als auch den »Ereignischarakter« von Tieren auf der Bühne, der sich über die »Unverfügbarkeit« und Unberechenbarkeit dieser ›Darsteller‹ ergebe und die »menschliche Ordnung« mit dem Einbruch der Natur bedrohe (Fischer-Lichte 2004: 177, 184 f.).67 Die Einschätzungen Frankos zeigen überdies, dass Tierauftritten auch ein Bewegungsmoment innewohnt, das die grotesken Motionen der Torsion offenbar ins Supra-Groteske überhöht.
Abb. 99: Ballet Italienne, kolorierter Stich (um 1800)
Zurückblickend auf Rosenkranz’ Einschätzung froschartig springender Tänzer/innen, die er als subjektiven Selbstverlust in der Willkür animalischer Regungen deutet, kommt neben Symbolik und Bewegungsironie als dritte Komponente des Vergleichs zwischen Tieren und Tanzenden das beständig drohende Abgleiten des Menschlichen ins Tierhafte ins Spiel – Giorgio Agamben entwi67 Im 19. Jahrhunderts habe es sogar »Hunde-Dramen« mit Hunden als Darstellern gegeben (Fischer-Lichte 2004: 177). Die Ereignishaftigkeit durch Tiere auf der Bühne erläutert Fischer-Lichte u.a. anhand der »Coyote-Aktion« von Joseph Beuys (1974), in der sich die Präsenz der beiden ›Performer‹ in einem »Energiedialog« entspinne, wie sie mit Caroline Tisdall ausführt (ebd.: 177 f.).
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ckelt in diesem Spannungsfeld zwischen Humanem und Animalischem seinen Entwurf des Offenen, ein prekäres Verhältnis, das beständiger Aushandlung bedarf und jederzeit gefährdet ist: »Die Teilung des Lebens in vegetatives und relationales, organisches und animalisches, animalisches und humanes Leben durchzieht […] wie eine bewegliche Grenze das Innere des Menschen, und ohne diese innerste Zäsur wäre die Entscheidung darüber, was menschlich und was nicht menschlich ist, wahrscheinlich nicht möglich. Nur weil so etwas wie das animalische Leben im Innern des Menschen abgetrennt worden ist, nur weil Distanz und Nähe zum Tier im Innersten und Unmittelbarsten ermessen und erkannt worden sind, ist es möglich, den Menschen den anderen Lebewesen entgegenzusetzen und zugleich die komplexe […] Ökonomie der Beziehungen zwischen Menschen und Tieren zu organisieren.« (Agamben 2003: 26)
Die Distanzierung vom Tierischen werde immer durch eine gezielt selektierende, ver-äußernde Handlung vollzogen, die jedoch nur auf der Basis eines Bereichs des Unbestimmten funktionieren könne, in dem die beiden getrennten Welten sich in einer klaffenden Lücke begegneten: eine heterotopische Handels-Zone, in der sich das Humane beständig neu entscheiden und entwerfen müsse (ebd.: 47 f.). Agamben unterscheidet in einer Paraphrase Heideggers Menschliches und Tierisches über den Modus des Offenen: Das Tier sei zwar offen, jedoch »nicht offenbar«, da es sich seiner Offenheit nicht bewusst sei – dieses Privileg bleibe dem Menschen vorbehalten (ebd.: 63). Dadurch ergebe sich die Paradoxie, dass das Tier »gleichzeitig […] offen und nicht-offen« sei (ebd.: 67). Werden nun groteske Tanzbewegungen mit bestimmten Tiermotiven kurzgeschlossen, erscheint mir dies als Versuch, ein irritierend Offenes in der Reduktion auf das Animalische ins Bildhafte zu überführen. Dadurch wird dem Unverfügbaren eine zuordnende, wenngleich nicht rational kategoriale, da animalisch assoziierte Einfassung verliehen.68 Offensichtlich erzeugen der Anblick ungewohnter Ver/Drehungen von Grotesktänzen im Barock ebenso wie die Darbietungen etwa Xavier Le Roys in Self unfinished eine Irritationszone, ein schlüpfriges Unbestimmtes als Erfahrung des Fremden, das Imaginationen amöbenhafter Bilder als Formwandler provoziert, um das Unbekannte in eine bestimmtunbestimmte Form zu bannen, die dem sonst Unverfügbaren des Gesehenen noch Rechnung tragen kann. Im Bild des Frosches kommt es zu Fluktuationen und Fusionen, die dem Bühnengeschehen einen losen, wenn auch ungeordneten Rahmen 68 Brandstetter entfaltet ein Spektrum von »Tiertänze[n]« über Zeugnisse aus dem Paläolithikum bis hin zum zeitgenössischen Tanz und bemerkt unter Verweis auf Agamben, dass die Animalisierung des Menschen im Tanz auf paradoxe Weise in einer Abgrenzbewegung wiederum dessen »(Über-)Leben« sichere (Brandstetter 2008: 17). Vladimir Malakhov wiederum reduziert tierhafte Gestalten wie in L’après-midi d’un faune (1912) auf das Instinkthafte als Kontrastfolie gegenüber dem (menschlichen) Verstand, der domestizierbar sei (Malakhov/Wesemann 2008: 13).
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geben, der sich allerdings als ein typisches Reaktionsmuster zeigt, wie die Häufigkeit der immer gleichen Assoziationen ausschnitthaft dargelegt hat. Darüber hinaus liegt dieses geformt Formlose bereits in der Ästhetik des Grotesken selbst begründet, wie ein kurzer Blick auf Rabelais’ Gargantua und Pantagruel unterstreicht. Auf einer seiner Reisen passiert Pantagruel die »Insel der Heimlichen«, auf der der sogenannte »Fastennarr« regiert (Rabelais 1974a: 103) – Pantagruel lässt sich sein Aussehen beschreiben, eine Anatomie metamorpher Transformationen vom flüssig Bewegten ins tierhaft Feste, wie die lange Aufzählung zeigt, in denen die Tiere allerdings immobil, als zubereitete Mahlzeiten auftauchen, welche die Regungen des Körpers vulgärmetaphorisch veranschaulichen: »wenn er sich schnäuzte, waren’s gesalzene Aale, / wenn er weinte, waren’s Enten mit Zwiebelsoße, / wenn er zitterte, waren’s große Hasenpasteten, / wenn er schwitzte, war’s Stockfisch mit frischer Butter, / wenn er rülpste, waren’s Austern in der Schale« (ebd.: 110). Neben diesen Tierkatalogen tritt auch das Bild des Frosches in Erscheinung, als Pointierung einer Bewegungshandlung, ähnlich wie Fraenger es später verwendet. Pantagruel kämpft auf seiner Reise gegen »dreihundert Riesen«, die er mitsamt ihrem Befehlshaber »Werwolf« besiegt (ebd.: 294): »Als Pantagruel zuletzt sah, dass sie alle tot waren, warf er Werwolfs Leichnam mit großer Gewalt in die Stadt hinein, wo er auf dem Marktplatz wie ein Frosch platt auf dem Bauch zur Erde fiel und im Fallen noch einen verbrannten Kater, eine nasse Katze, ein förzelndes Entlein und ein aufgezäumtes Gänschen totschlug.« (Rabelais 1974: 298, Hervorhebung S.F.) Darüber hinaus erweist sich das Froschmotiv als Übergangsbild zwischen Form und Flüssigem, wie eine Trinkszene69 zeigt, in der Rabelais über mehrere Seiten ausschließlich den Vorgang des Trinkens und Betrunkenwerdens als buchstäblichen Strom aus Ver-Satz-Stücken schildert, aus dem hier ein Auszug zitiert werden soll: »Ich Sünder trinke nie ohne Durst, ist’s nicht für jetzt, ist’s für künftig; man sieht sich vor, so gut man kann. Ich trinke für den kommenden Durst, trinke ewig. Trinkewigkeit, Ewigkeitstrinken! – Holla! Gesungen, getrunken! Einen Rundgesang, stimmt an! – Wo ist mein Anstimmer? Ei was, ich trinke nur per procuram. – Begießt ihr euch, um wieder trocken zu werden, oder werdet ihr wieder trocken, um euch zu begießen? – Bah! Von der Theorie versteh’ ich nichts, von der Praxis ein wenig. – Wer immer trinkt, stirbt nie. – Wenn ich nicht trinke, verdorr’ ich, bin ich tot! Meine Seele wird in einen Froschteich fahren, denn im Trockenen wohnt Seele nicht. – O ihr Schenken! Umschöpfer! Machet aus einem Durstenden einen Trinkenden! – Dass doch diese zähen, trockenen Gedärme ewig begossen wären! – Wer’s nicht spürt, trinkt umsonst! – Das 69 Beteiligt daran ist u.a. Gargamella, die mit Gargantua, dem Vater Pantagruels, schwanger ist (Rabelais 1974: 47 f.). Pantagruels Namen wiederum erläutert Rabelais in einer halb fiktiven Etymologie als Zusammensetzung aus »ganz und gar« (panta) und »durstig« (gruel) (ebd.: 197).
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geht alles ins Blut, die Blase bekommt keinen Tropfen davon.« (ebd.: 49, Hervorhebung S.F.)
Die Verbindung von Frosch und Teich stellt eine doppelte Verflüssigung von Grenzen dar, die sich in Rabelais’ Schilderung als Pattern des Grotesken zeigt. Bachtin verweist auf das beständig auftretende Motiv des Urinvergießens in Rabelais’ Romanwerk, als tendenzielle Verflüssigung von Körpergrenzen hin zur Um-Welt (Bachtin 1995: 354; vgl. S. 72). Beispielhaft ist dafür ist eine Episode, in der Pantagruel die Ströme seines Wasserlassens dafür einsetzt, ein feindliches Lager zu überschwemmen, um den Gegnern den Garaus zu machen: »[E]r ließ es also in ihr Lager laufen, und zwar in so ungeheuren Massen, dass er alle unter Wasser setzte und das Land zehn Meilen in der Runde davon überschwemmt wurde.« (Rabelais 1974: 293) Die beschriebenen Beispiele weisen das Amorphe als ein diffus Formiertes, sich in Bildern des Amphibischen und Fluiden Zeigendes aus und können mithin als Topoi grotesker Ästhetik angeführt werden. Das Motiv des Frosches wird dabei nachgerade zur grotesken Pathosformel des Kontingenten, die im Bildgedächtnis der Betrachtenden ruht und in Momenten der Irritation und Verunsicherung von Grenzen und gewohnten Wahrnehmungsweisen aufgerufen wird. Rosenkranz hat dabei ein Vokabular entwickelt, das sowohl Unbestimmtes und Schwankendes, das Dekomponieren wie auch das Fragmentieren berücksichtigt – Letzteres wird nun Gegenstand der folgenden Untersuchungen sein.
2.3 Körper: desintegriert Die beiden Zentauren ähnelnden Wesen in Sasha Waltz’ Körper bewegen sich langsam auf der Bühne nach vorne (vgl. S. 210), gefolgt von den übrigen Tänzer/innen der Compagnie, die weiße Untertassen in der Hand tragen. Die Doppelkörper umringend, richten sie die Untertassen gestapelt entlang der vertikalen Linie der Wirbelsäule der beiden Gestalten aus – eine Externalisierung der einzelnen, übereinander angeordneten Wirbel in Porzellan. Zwei Tänzer/innen packen jeweils den Kopf der Figuren und kippen ihn ruckartig zur Seite, als wollten sie das Genick brechen. Scheppernd und klappernd fahren die Untertassen auseinander, dislozieren die Wirbel, um sich in der nächsten Motion wieder zu einer Säule zusammenzufügen (Abb. 100, Juan Kruz Diaz de Garaio Esnaola). Mehrmals wird das Rückgrat noch in dieser Weise dekonstruiert und wieder zusammengesetzt und erinnert an Bachtins Umschreibungen der Rabelaisschen »Karnevalsanatomie«, eine »anatomisierende Parade von Körperteilen«, die den Körper als zerstückelten darbietet und den Bewegungsradius der fragmentierten Gelenke grotesk übertreibt (Bachtin 1995: 236 ff.; vgl. S. 71). Teile des Körpers und
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seiner Achsen werden dezentralisiert und zerlegt, in schwebende, zerspleißte Moleküle, die Waltz’ stehende Bilder zersplittern und wieder rekomponieren.
Abb. 100: Sasha Waltz, Körper (2000), Photo: Bernd Uhlig
Neben dem Segmentieren und Isolieren der Körperteile ist dabei das Motiv der DisTorsion von entscheidender Bedeutung. Wurde im zweiten Kapitel die Perspektive auf den Torso als metamorphe Figur gerichtet, sind nun seine Drehungen als Bewegungsprinzip zu betrachten. Anschließend an die kurzen Ausführungen zu Auguste Rodin, der den Torso als fragmentarisches Signum der Moderne etablierte (vgl. S. 169), ist auch die Torsion selbst ein wesentlicher Zug moderner Kunst.70 Laurence Louppe betont die Prominenz des Torsos im zeitgenössischen Tanz, als Motor von Bewegung, der besonders den Motionen des Segmentierens Vorschub leiste (Louppe 1997: 54). Allerdings bezeichnet sie den Torso als per se asignifikantes Organ (ebd.: 54 f.), eine Annahme, die mit den amorphen Körperbildern, wie sie anhand von Xavier Le Roys Self unfinished aufgezeigt wurden, nicht mehr unbedingt aufrechterhalten werden kann. Kattrin Deufert und Kerstin Evert bieten eine detaillierte Analyse des Torsos im Wandel der Tanzepochen, der sich von der »Stabilisierung […] im höfischen Tanz« (Deufert/Evert 2001: 425) über seine Vernachlässigung im Ballett und Wiederent70 So etwa in den verdrehten Puppenkörpern Hans Bellmers (vgl. Weltzien 2001: 457).
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deckung als Zentrum im Ausdruckstanz bis hin zu seiner nachfolgenden Destabilisierung und tendenziellen Auflösung bewegt (ebd.: 427 ff.). Dabei vollziehen sie die Wanderungen des Bewegungszentrums nach, das sich im Ballett etwa in Höhe des Brustbeins befunden habe (ebd.: 427), im Ausdruckstanz im Bereich des Solarplexus angesiedelt war (ebd.: 428) und im Postmodern Dance, so bei Merce Cunningham, noch weiter nach unten gerutscht sei, in den Verbindungsansatz von Wirbelsäule und Beinen (ebd.: 430 f.). Cunninghams Mobilisierungen der Wirbelsäule werden für die folgenden Beispiele relevant sein – Evert teilt sie in vier Positionen ein, welche von Martha Grahams Technik der Kontraktion abgeleitet seien: »curves (leichte Vorbeuge), arches (leichte Rückbeuge), tilts (Neigung zur Seite) und twists (Drehung zur Seite)« (Evert 2003: 48).71 Dabei komme es zu einer expliziten Isolation von Oberkörper und Hüfte, die die Bewegungen des Torsos nicht mitvollziehe (ebd.). Insgesamt zeichne den Tanz seit der Postmoderne die Verlagerung beziehungsweise dekonstruierende Vervielfachung eines Zentrums aus, das in der Körpermitte zu verankern wäre, wofür William Forsythes Ästhetik beispielhaft sei (Deufert/Evert 2001: 432 f.). Die Verfahren des Fragmentierens und Dezentralisierens, die Körperteile als fremde, aus der Achse gedrehte Glieder erscheinen lassen, bilden seit den frühen 1990er Jahren ein häufig anzutreffendes Muster, dessen Bestandteile im Folgenden zerlegt und genauer betrachtet werden. Exemplarisch wird zunächst Meg Stuarts erste Choreographie Disfigure Study (1991) ausführlicher besprochen, da sie die vielfältigen Bewegungsaspekte entwirft, welche im Rahmen einer grotesken Ästhetik situiert werden können und die anschließend vorgestellten Bewegungscharakteristika gleichsam resümieren. Damit nähert sich der Kreis allmählich seinem offenen Ende, und wir kommen an den Anfang dieser Arbeit zurück, der die Phänomene grotesker Züge zu Beginn der 1990er Jahre in Stuarts erstem Bühnenstück aufspürte.
2.3.1 Bewegungsbilder des Grotesken: Meg Stuarts Disfigure Study Ihre choreographische Arbeit drehe sich um Bilder der Distorsion, der (privaten) Erinnerung und des Bloßstellens – so äußert sich Meg Stuart 1995 in einem Portfolio zu ihren bisherigen Stücken (Stuart 1995b: 3; vgl. S. 335). Sieben Jahre später nimmt sie ihre Choreographie Disfigure Study, die bereits viele der Bewegungsprinzipien ihrer nachfolgend entwickelten Ästhetik wie Fragmentierung, Zerstückelung und Entstellung enthält,72 in veränderter Besetzung wieder
71 Hinzu kommt noch die ›neutrale‹ Position des Aufrechtstehens (Deufert/Evert 2001: 430). Cunninghams Stück Torse (1975) zeige diese neuen Bewegungstechniken exemplarisch auf (ebd.: 431). 72 Rudi Laermans konstatiert: »This initial impulse to disfigure the human body and change it into an uneasy subject/object continues to smoulder in Stuart’s more recent work as a sort of prevailing theme that just will be not extinguished.« Stuart
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auf.73 Rudi Laermans hat die Rekonstruktion in einem Programmtext kommentiert, wobei er feststellt, dass Stuart die für die Moderne prägende Praxis einer »›Wahrheit des Hässlichen‹, des verdrehten, des verstümmelten Körpers« in ihre physischen Studien übertrage (Laermans 2006: 7) – mit Rosenkranz wurde bereits ausgeführt, inwiefern die Ästhetik des Hässlichen einen künstlerischen Realismus favorisiert, der unter anderem Züge des Grotesken als Aspekt des nicht mehr Schönen explizit über den Modus der Bewegung rezipiert. Brandstetter wiederum positioniert den deformierten Körper als wichtiges Phänomen einer neuen Bewegungs- und Darstellungsweise: »Das vielleicht dominierende Körperkonzept im zeitgenössischen Bewegungstheater […] besteht in der Inszenierung von De- oder Disfigurationen des Körpers, [der] demontiert und fragmentiert, dezentriert und deplatziert« werde (Brandstetter 2001: 59). Erstaunlich oft werden die Praktiken Meg Stuarts, aber auch jene Xavier Le Roys in Zusammenhang mit Valeska Gerts Tänzen genannt (vgl. auch S. 137). So erwähnt Patricia Brignone Antonin Artaud und Gert im Zusammenhang mit autobiographischen Performances, unter denen sie auch Le Roys Soli verhandelt, und Jean-Marc Adolphe schreibt anlässlich der Aufführung von Disfigure Study in Paris 1993: »On rêvera un peu en dénichant dans son visage quelques uns des traits d’une Valeska Gert; danseuse grotesque allemande« (Adolphe 1993, Programmtext). Der Vergleich mit Gerts Gesicht ist zunächst etwas irritierend, zielt aber, so meine ich, auf die Mimisierung des Körpers, die wiederum Laermans in Stuarts Arbeiten betont: »Gestures, poses, attitudes, limbs… modelled and viewed as faces: these are the first principles behind all portraiture.« (Laermans 2001/2002: 29) Gert, Stuart und Le Roy verdrehen also nicht nur ihre Körper gegen die geschlossene, glatte Fläche harmonischer Körper oder »den ›Power Dance‹ der Achtziger« (Laermans 2006: 7), sondern bewegen sich auch am Rande des Subjektiven, in der Mechanisierung körperlicher Motionen etwa bei Le Roy (vgl. S. 140) oder den Torsionen und Vereinzelungen der Akteure in Stuarts Stücken. Anschließend werden prägnante Bewegungsaspekte und bildliche Motive aus Disfigure Study herausgegriffen und extensiver dargestellt, die als Züge des Grotesken zu resümieren sind: Fragmentierung,74 Torsionen am Platz, der Kopf als labile Instanz, Vergröberungen von Bewegung sowie das Motiv des Fremd-
generiere mithin einen »polymorphen« Körper, der sich kanonischen Einordnungen entziehe (Laermans 2001/2002: 29, 30 f.). 73 Die Originalbesetzung von 1991 waren Francisco Camacho, Carlota Lagido und Meg Stuart. 2002 tanzten Simone Aughterlony (Stuarts Part), Joséphine Evrard (später ersetzt durch Sigal Zouk-Harder) und Michael Rüegg. 74 Robert Ayers hebt das Prinzip des Fragmentierens als grundsätzliches Verfahren in Disfigure Study hervor: »the idea of breaking down the body, just deconstructing it to see the parts of the body« (Ayers 1999: 9). Laut Husemann zielten Stuarts Praktiken generell auf einen »deformierten und fragmentierten Körper« (Husemann 2002: 8).
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Körpers. Der Titel des Stücks referiert auf die Idee der (Portrait-)Studie in der Malerei, die den Körper in den verschiedensten Bewegungen skizziert und an manchen Stellen unvollständig lässt (vgl. Laermans 2001/2002: 29).75 Viele der szenischen Bilder ereignen sich »sur place«, ein Prinzip, das bereits Etienne Decroux in seiner Mime corporel als »Bewegtheit ohne Fortbewegung« artikuliert (Cramer 2001: 16).76 Das »Displacement«77 als charakteristisches Merk-Mal zeitgenössischer Ästhetiken (Brandstetter 2001: 53, Hervorhebung S.F.) ereignet sich also im Zuge einer grotesken Kehre am Ort, an dem Stuart ihre »physischen Paradoxe« und De-Formierungen ausagiert (Stuart 1995b: 3), die sich über Techniken der Limitierung eines »begrenzten Körper[s]« ergeben (Stuart in Masuch/Stuart 2005: 82). Zudem sind die drei Tänzer/innen meist in Einzelaktionen zu erleben, gemeinsame Auftritte finden kaum statt, Duette nur im berührungslosen Nebeneinander oder in prekären Kontaktverhältnissen, in denen der/die Andere als fremd erfahren wird. Das Stück ist dramaturgisch über sechs szenische Bildstudien strukturiert, die sich lose aneinanderreihen und meist durch lange, dunkle Pausen getrennt sind.78
Körperteile Zu Beginn erhellt nur ein Scheinwerferspot die ansonsten nahezu dunkle Bühne. In den Lichtkreis schiebt sich ein Beinpaar hinein, von dem lediglich die untere Hälfte von den Knien abwärts sichtbar ist. Der übrige Körper fehlt, und so schweben die Glieder, fast wie auf der Illusionsbühne des Schwarzen Theaters, lose und verbindungslos im Raum (Abb. 101). Aus der Ferne wirken die Beine zuerst wie Arme,79 da sie sich mit Gesten aneinander reiben und ineinander ver-
75 Isabella Lanz und Katie Verstockt assoziieren die Torsionen in Stuarts Stück zudem mit »anatomische[n] Studien in der Malerei«, die Stuart auch programmatisch äußere, da sie nicht an der dramatischen Umsetzung von Ideen, sondern an der »bühnenmäßigen Aufführung Bildender Kunst [sic!]« interessiert sei (Lanz/ Verstockt 2003: 114 f.) – allerdings geht es hierbei nicht um das ›Stellen‹ von Bildern, sondern es sind die explizit dynamisierenden Körperzerspleißungen Francis Bacons und dessen Fragmentierungen organischer Zusammenhänge, die in bewegte Bilder umgesetzt werden (vgl. S. 340). 76 Brandstetter betont anhand des Stücks: »[D]er Körper ist am Platz fixiert: keine Bewegung in den Raum.« (Brandstetter 2001: 54) 77 Laut Arnd Wesemann bezeichne Stuart selbst den Körper als »landscape of displacement«, wie er angesichts einer Aufführung von No Longer Readymade bemerkt (Wesemann 1995: 35). 78 Die ersten Eindrücke habe ich beim Besuch der Rekonstruktion im Dezember 2006 in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin gewonnen. Für die folgende Analyse orientiere ich mich an der Videofassung des Stücks in Originalbesetzung – die hier ausgeführten Bewegungsaspekte folgen dabei weitgehend der Chronologie des Stücks (Aufführung The Kitchen, New York, vgl. Anm. 73, S. 380). 79 Die fragmentierten Beine gehören zu Francisco Camacho.
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schränken, die man gewohntermaßen eher den Händen zuordnen würde: Sie winden sich umeinander und schütteln sich gegenseitig, mit extrem flexibel nach innen verdrehten Füßen, ›die Hand‹. Die Formen der langen, dünnen Glieder fluktuieren, und es dauert eine Weile, bis man erkennt, dass es sich um Beine handelt. Stuart bezeichnet dieses Verfahren der Irritation von Wahrnehmung als »Zoom in, Zoom out«, das allerdings in ihren späteren Stücken nicht nur das Fragment betont,80 sondern sich als synchrones Spiel zwischen Fokussierung und Defokussierung, im Parallelblick zwischen Fragment und ›ganzem Körper‹ ereignet (Stuart in Ploebst 1999b: 22). Die Eingangsszene macht nahezu programmatisch deutlich, dass in diesem Stück keine harmonisch gefügten Körper präsentiert werden. Die am Boden sitzende Carlota Lagido hängt sich an die unteren Gliedmaßen und zieht sich an ihnen hoch, gleitet jedoch immer wieder ab.
Abb. 101: Meg Stuart/Damaged Goods, Disfigure Study (Rekonstruktion 2002), Photo: Chris Van der Burght
Torsionen sur place Meg Stuart schiebt sich in ein schmales, nur trübe erhelltes Lichtfeld, das wiederum von Schwärze umhüllt ist. In Gegenbewegung zum vorherigen Bild sind nun zunächst lediglich die sich langsam bewegenden Arme und tastenden Hände zu sehen, dann dreht sich ihr Rücken in den Fokus, von dem jedoch ebenfalls nur die fragmentarische Hälfte sichtbar ist.81 Mit einer Hand tastet Stuart ihren Rücken ab, die Wirbelsäule hi80 Jochim urteilt, dass die vereinzelt schwebenden Knie in Disfigure Study wie eine »Detailaufnahme« wirkten (Jochim 2006: 334). 81 Mit ähnlichen Unvollständigkeiten arbeitet Christina Ciupke zehn Jahre später in ihrem Stück rissumriss weiter (vgl. Foellmer 2008: 63).
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nauf- und hinunterwandernd, doch nur der Handrücken kann die dorsale Fläche, mit extrem eingedrehtem und nach hinten gekugeltem Arm, erspüren. Die Bewegungen werden härter und ruppiger, als wolle Stuart die Haut aufreiben – plötzlich hält eine Hand die andere fest und stoppt deren raue Erkundungen. Die Zäsur dauert nur kurz, und das Tasten geht langsam weiter. Unterbrochen werden diese gedrosselten Motionen immer wieder durch plötzliche Ausbrüche des Körpers, in denen Stuart ihren Oberkörper nach vorne wirft und den Kopf lose hinterherbaumeln lässt. Kurz Halt suchend, lehnt sich der Kopf an die Schulter, doch der Körper kippt unter ihm weg und bietet keine Stütze.
Abb. 102: Meg Stuart/Damaged Goods, Disfigure Study (1991), Photo: Don Rodenbach
Allmählich verdichten sich diese Bewegungen zu einem Muster: Fortwährend sucht der Kopf Unterstützung, doch Stuarts Körper driftet immer schneller und heftiger aus der Bahn, so dass das Haupt fragil hinterherschwingt, als könne die zuvor erforschte Wirbelsäule die Stabilität nicht mehr gewährleisten. Durch die vermeintliche Unkoordiniertheit der Motionen webt sich nach und nach eine repetitive Phrase, die Stuarts Eruptionen als choreographische Struktur hervortreten lassen, in der das Körperzentrum kollabiert: im wiederholten Wegklappen des
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Oberkörpers, dem lose herunterhängenden Kopf und dem nachfolgenden Wiederaufrichten des Rumpfes – verdreht abgestützt auf dem Knie (Abb. 102) –, der in der nächsten Bewegung, in welcher die Arme den Torso umwirbeln, wieder aus der Balance kippt. Die oberen Gliedmaßen verschleudern nun immer schneller, halten sich zeitweise an Taille und Brustkorb fast, der ebenso aus der Achse gleitet wie zuvor der Rücken: Stückweise wird die Choreographin in ihre Einzelteile zerlegt, die Arme rudern ausufernd und finden nur für Momente Halt, fest um den Rumpf gewickelt und in die Achseln eingeklemmt. Einer Reprise gleich klappt der Oberkörper erneut nach vorn und katapultiert den Kopf Richtung Boden. Wie bei Benoît Lachambres Solo in No Longer Readymade kommt es hier zu keinem endgültigen Zusammenbruch im Sturz, vielmehr hält Stuart den Körper in einer dialektischen Spannung zwischen Kollaps und Kontrolle. Das Solo ist dabei insgesamt von der Bewegungsdynamik eines ›move‹ und ›suspense‹ geprägt: Kurz gehaltene Posen, in denen sich etwa die Wirbelsäule stark nach hinten überstreckt und die nackte Kehle bloßlegt, werden von plötzlichen Bewegungsausbrüchen durchstoßen, die an die überfallartigen Motionen der Erkrankung Chorea Huntington erinnern und die balancierende Stabilität des Körpers gefährden. Brandstetter bezeichnet dieses Solo als »Zerrüttung der Einheit der Figur«, wobei aus der »Torsion« eine »Tortur« werde (Brandstetter 2001: 54).82 Inwieweit gerade das Motiv der Verdrehungen als ein Pattern im zeitgenössischen Tanz gekennzeichnet werden kann, zeigen zum einen die anschließend exemplarisch untersuchten Choreographien Le Roys und Forsythes. Darüber hinaus unternimmt Stuart einige Jahre später in appetite ein karnevaleskes Experiment, in dem sie die eigene, groteske Ästhetik ironisiert. Am Rand der Bühne, zunächst unbemerkt, schaufelt sich der Tänzer Heine R. Avdal Erde in die Hosen. Allmählich entstehen Beulen und Wülste an verschiedenen Stellen der Beine, die Knie schwellen an, und schließlich wankt er mit unsicheren Schritten nach vorne, die (Hosen-)Beine so verformt und verdreht, als drohten sie jeden Moment zu zerfließen (Abb. 103). Claire Diez beschreibt für Disfigure Study ähnliche Sensationen: Besonders Stuarts Glieder sähen aus, als befänden sie sich in einem Stadium des Zerfalls und präsentierten einen »corps démusclé« (Diez 26./27.10.1991). Es sind explizit groteske Bewegungen, die auch Fraenger am Beispiel der japanischen Grotesktänzer und Figuren Callots beschreibt (vgl. S. 371), Motionen des Difformen, welche in Stuarts Motiven wieder auftauchen und die die Choreographin in appetite mit einem Augenzwinkern selbstreflektiert ins Supra-Groteske überhöht.
82 Der schmerzhafte Eindruck ergibt sich nicht zuletzt aus den Bildern und Eindrücken, mit denen Stuart gearbeitet hat, zu denen auch die Erfahrungen mit AIDSPatienten zählen (vgl. T’Jonck 18.10.1991).
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Abb. 103: Meg Stuart/Ann Hamilton/ Damaged Goods, appetite (1998), Videostill © Damaged Goods
Prekäre Balance, rollende Köpfe Der Kopf, in Stuarts Stücken immer wieder im Fokus von Verschwimmen und Verschütteln (vgl. S. 335 ff.), wird in Disfigure Study zum unsicheren, labilen Organ, wie schon das vorab beschriebene Solo gezeigt hat. Im Duett mit Carlota Lagido ist er der einzige Haltepunkt einer immerfort in die Vereinzelung abdriftende Contact Improvisation. Stuart hält Lagidos Kopf zunächst im Schoß, doch diese Geborgenheit währt nicht lange. Bald entspinnt sich ein Duett, in dem der Kopf am seidenen Faden hängt und die beiden Tänzerinnen in ein prekäres Verhältnis zueinander bringt. Stuart zieht Lagidos Stirn heran, streicht zart über ihre Haare, um im nächsten Moment die Halswirbelsäule zu verbiegen, an sich heranzuziehen, im Aufstehen die Partnerin daran hochzureißen und dabei beinahe fallen zu lasen. Lagido bleibt während der ganzen Zeit des Duetts zwischen Halten und Fallen passiv und wird, oft nur am schmalen Nacken gehalten, von Stuart über die Bühne geschleift. Zuweilen unternimmt sie Stabilisierungsversuche der Partnerin, legt den Kopf der sitzenden Lagido an ihr Bein, rückt ihn zurecht, doch immer wieder rutscht die Tänzerin an Stuarts Konturen herunter, die Stabilität und Ausrichtung der Figur riskierend. Die Bewegungen finden kein Ziel, lösen sich jedoch, ebenso wie das Solo, nicht in einem endgültigen Fallen auf, sondern werden wiederholt kurz vor dem Bodenkontakt abgefangen, verharren im Zwischenraum. Nach zahlreichen erfolglosen Versuchen, der Partnerin Stabilität und Balance einzutrimmen, endet das Duett im Black.
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Grobe Motoriken In Disfigure Study ist außerdem die Reduktion der Bewegung auf körpernahe Gelenke auffällig, besonders im Duett zwischen Francisco Camacho und Meg Stuart, in dem die beiden allerdings aneinander vorbeitanzen und nie in physischen Kontakt treten. Am Boden auf dem Bauch liegend, beginnt Stuart zunächst mit Carlota Lagido ein Roll-Duo, in dem sie ihre Körper synchron um die eigene Achse werfen und dabei beständig dem gleichen Schema folgen: aufstützen des Oberkörpers auf die Hände, am Boden aufklatschen, den linken Arm unter dem rechten hindurch zur Seite ziehen und in einer ganzen Drehung wieder zurück in die Bauchlage gelangen. Die Bauchlandungen werden immer schneller und erreichen eine exzessive Geschwindigkeit, als wollten die beiden Tänzerinnen die eigene Körperhülle zum Platzen bringen, so vehement schlagen sie auf den Boden auf. Plötzlich kippt das Geschehen um: Lagido erhebt sich abrupt und verlässt die Bühne. Stuart kriecht nun zum rechts vorne stehenden Camacho, doch die beiden kommen nicht zusammen, permanent wechselt der Tänzer seine Position, sobald sich Stuart zu ihm hinbewegt hat. Schließlich nähern sich die beiden doch an und schlängeln Reptilien gleich auf dem Bauch über den Boden, ohne die Arme oder Beine zu Hilfe zu nehmen, die schwer und relaxiert hinterherschleifen. Die Bewegungsimpulse werden dabei wechselnd von den Schultern oder Hüften initiiert und vermitteln einen grobmotorischen, schwerfälligen Eindruck des sich am Boden windenden Duetts – Decroux betont in seinem Konzept der Bewegungsreduktion die »schweren Körperpartien […] Kopf, Rumpf und Becken« gegenüber den eher ausdrucksleitenden Gliedern wie Hände und Arme, wodurch der Körper in seiner Masse und Materialität betont werde (Cramer 2001: 17). Vergröberung sind wiederum anfangs mit Valeska Gert als Züge des Grotesken ausfindig gemacht worden (vgl. S. 107) – Stuart treibt diese Strategien nun weiter und lässt den Körper und seine Teile am Boden regelrecht verklumpen, Feingliedriges ebenso zerstörend wie Ideen vom tanzenden Körper als ausdrucksvolles Organ. Indem die Hüften nicht mehr im ironischen Kontrapost pointiert und überzeichnend herausgeschoben werden – wie bei den Callotschen Grotesktänzern –, sondern unliebsamen Gewichten gleich den Körper am Boden festhalten,83 wird der Körper zum widerständigen, lästigen Fleischbrocken.84
83 Zugleich wird damit die Betonung der Gewichtsverlagerung durch den Einsatz der Hüften, wie er in Forsythes Technik relevant ist, konterkariert (vgl. Siegmund 2006: 258). 84 Claire Diez betont die Transformation des Körpers in eine »masse résistante, chair inerte qu’il faut guider comme un corps étranger.« (Diez 26./27.10.1991)
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Fremd-Körper Auch die abschließende Szene des Stücks betont die Widersetzlichkeit des Fleisches, durch das sich der Körper entfremdet. Carlota Lagido steht vorne an der Bühne und betastet ihr Gesicht, als gehöre es nicht zu ihr. Mit fremder Hand fährt sie über ihre Züge, verzerrt den Mund in verschobene Linien, lässt die Hand weiter zum Brustkorb wandern, dessen Konturen sie zerreibt, ähnlich wie Gert es in ihrem Solo Kupplerin zeigt (vgl. S. 112). Francisco Camacho tritt hinzu und stellt sich neben Lagido, jedoch den Rücken zum Publikum gewandt. Ohne sie anzusehen, tastet seine Hand über ihre Körperformen, über Füße, Bauch und Arme und erreicht das Gesicht, in das er grob hineinlangt, die Miene zerdrückend und quetschend und den Kopf der Tänzerin ruckartig bewegend, bis diese seine Hand packt, um den Zerreibungen Einhalt zu gebieten (Abb. 104). Das Spiel wiederholt sich mehrere Male, immer schneller stoppt Lagido die grobe, zerstörende Klaue, bis sie schließlich Camachos Hand nimmt, um sich damit selbst das Gesicht zu bearbeiten, de-figurierend die figure auflösend. Nun jedoch rutscht das Manual ab und gleitet an ihrem Körper herunter. Lagido holt den Arm zurück, der unentwegt nach unten sackt und sich nun nicht mehr am Körper verankern will. Immer heftiger und schneller werden die Rückholaktionen, bis es schließlich aussieht, als schlage sie sich mit der Hand ihres Partners selbst. Mit einem Ruck entweicht die Hand ihrem Griff, und nun beginnt das Betasten des Körpers von vorn, über den Bauch, hinauf zum Dekolleté, auf dem die Bewegungen endlich zarter und intimer werden – doch nun verlöscht das Licht. Das Stück ist zu Ende. In Disfigure Study kreiert Meg Stuart brüchige Situationsbilder eines widerständigen, in Spannungen zwischen Stürzen und Halten zerlegten Körpers,85 der, wie bereits dargelegt wurde, im Kontext einer präzisen Körpertechnik erzeugt wird. Ihr Stück zeigt in komprimierter Form Pattern des Unabgeschlossenen im zeitgenössischen Tanz, Bewegungsrepertoires, die sich in Bildern verdichten und diese vom Körper aus überdehnen und kollabieren lassen. Solche Bilder entstehen unter anderem über den Modus der Langsamkeit und der Ver-Haltung des Körpers an Ort und Stelle, der mit abrupten Beschleunigungen wechselt, sowie durch das Aufreiben von Körperrahmungen, Dis-Torsionen und Gefährdungen der Balance, welche glatt gefügte Tanzkörper zerlegen, zertrümmern und zerquetschen – eine Hyperbolisierung postmoderner Dekonstruktionsverfahren, die den Körper in einer grotesken Verfassung hinterlässt, wie auch die anschließenden Beispiele deutlich machen.
85 Brandstetter betont denn auch den Körper in Stuarts Stücken als je schon inszenierten im Rahmen eines »Bild-Inventar[s]« (Brandstetter 2001: 62).
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Abb. 104: Meg Stuart/Damaged Goods, Disfigure Study (Rekonstruktion 2002), Photo: Chris Van der Burght
2.3.2 Fragmentieren: Xavier Le Roys Dekonstruktionen Anfang der 1990er Jahre erarbeitet Xavier Le Roy seine ersten Soli, Körperstudien, die er in der Trilogie Narcisse Flip (1997) zusammenfasst.86 Recht schnell geriet er damals mit seinen Verformungen disproportionierter Glieder in eine ästhetische Nische, die an die Desartikulationen von Protagonist/innen der Commedia dell’Arte erinnerten. Michaela Schlagenwerth bezeichnet Le Roy als »Gliederakrobat« (Schlagenwerth 5.4.1997) und Brignone deutet seine Praktiken als »corps burlesque«, da sie komische Gegensätze in sich vereinten: »Un corps qui serait la somme de toutes les antinomies, de propriétés contraires dont la complexité se trouve augmentée par l’exploration d’une dimension kinesthésique sidérante« (Brignone 2006: 53). Anders jedoch als Waltz in ihrer Choreographie Körper, die sich durch bildhafte Topoi des Dislozierens auszeichnet, verfolgt Le Roy keine Typisierung bizarr zerlegter Körperdarbietungen, die das Fragment jeweils an das ›Ganze‹ rückbinden. Vielmehr durchwandert er in seinen physischen Isolations-Studien Momente und Möglichkeiten, den Körper als Material
86 Ich konnte die ersten beiden Teile Things I hate to admit und Zonder Fact 1995 beim Gießener Festival Diskurs sehen. Die gesamte Trilogie lag mir als DVD vor.
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unter die Lupe zu schieben und die verschiedenen Körperteile auf ihre DisFunktionen hin zu überprüfen. Lucien Dällenbach und Christiaan L. Hart Nibbrig betonen in ihrer Konzeption des Fragments dessen Zwischenstatus und wenden sich gegen eine Retotalisierung des Teils als pars pro toto ebenso wie gegen eine bezugslose, gleichwohl re-essentialisierende Autonomie desselben: »Es geht dabei nicht nur darum, jede Ontologisierung von Totalität zu vermeiden, sondern auch jegliche Substantialisierung des Fragments, das in jedem begrifflichen Kategorisierungsversuch als totales Fragment erneut zum Teil eines übergeordneten Ganzen wird und so verschwindet.« (Dällenbach/Hart Nibbrig 1984a: 15) Der Anspruch ist also, die Lücken zu betonen und die Spannung zwischen den Polen des Geschlossenen und des Unvollendeten offen zu halten.87
Desorganisierter Körper: Narcisse Flip In Le Roys Narcisse Flip ist immer wieder der ›übrige‹ Körper des Tänzerchoreographen im Blick, der aber in einem disproportionierten Verhältnis zu seinen Teilen, mit zeitweise abgekoppelten Gliedern dargeboten wird, die eine buchstäbliche Un-Ruhe im Körper hervorrufen und die Wahrnehmung der Zuschauenden verschieben. Das Stück besteht aus drei jeweils fünfzehn- bis zwanzigminütigen Teilen, die Le Roy von 1994 bis 1997 entwickelte: Things I Hate to Admit (1994), Zonder Fact (1995) und Burke (1997). Le Roy nennt das Stück im Untertitel ein »Triptychon« und spielt damit auf die Erforschung des Körpers als Bild an – solche Einflüsse aus der bildenden Kunst wurden in Meg Stuarts Arbeiten bereits aufgezeigt (vgl. S. 336). Die Raumanordnung der Bühne ist über eine Kontrastierung von Obskurem und Hellem strukturiert: Ein in der Mitte im diffusen Licht stehender Stuhl beziehungsweise zwei Sessel werden im Hintergrund von mehreren scharf umrissenen, hellen Lichtquadraten opponiert, die einem Filmstreifen gleich in einer Reihe hintereinander auf den Boden projiziert sind – zwei Ebenen, die eine Rahmen-Spannung erzeugen und zwischen denen Le Roy im Verlauf des Solos mehrmals wechselt.88 An der rechten Seite der Bühne befindet sich ein Klavier, das live von Alexander Birntraum gespielt wird,89 der mit rhythmischen Sequenzen und Bögen arbeitet, die das musikalische Tempo bisweilen stark erhöhen und in ihrer Perkussivität an die akustisch gestützte, dramatische Aufladung von Stummfilmen erinnern.90
87 George Steiner postuliert dies wiederum mit Blick auf überlieferte Texte oder fragmentarische Kunstwerke (Steiner 1984: 23). 88 Das Lichtkonzept stammt von Sylvie Garot. 89 Alexander Birntraum ist ein Pseudonym des Pianisten Steffen Schmidt. 90 Es mag u.a. an der Musik liegen, aber auch am stets gleichen, lethargischen Gesichtsausdruck Le Roys, dass seine solistischen Darstellungen seinerzeit oft mit je-
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Spät zum Tanz gekommen, wollte sich Le Roys Körper nicht in die Schemata idealer Proportionierungen im Tanz einfügen (vgl. Le Roy 2005: 86). So war sein Ausgangspunkt der Trilogie, seinen Körper durch Limitierungen, die ihm dieser selbst auferlegt, sowie durch zusätzliche Bewegungseinschränkungen zu dekomponieren und scheinbare (körperliche) Nachteile in künstlerische »Vorteile« umzuwandeln (Le Roy 27.8.2007, Interview; vgl. auch Ploebst 2001: 71 f.). Jeder der drei Stück-Teile fokussiert auf ein bestimmtes Körpermotiv: In Things, I hate to admit sind es die Arme, Zonder Fact nimmt die Beine in den Blick und Burke lenkt die Aufmerksamkeit auf den Oberkörper und die Verdrehung der Figur (vgl. Siegmund 2006: 369). Diese Motive sperren sich zunächst gegen eine Verdichtung ins Bild und arbeiten an Konturierungen des Körpers wie an Grenzen von Wahrnehmung, können jedoch durch Wechsel zwischen Verlangsamung und Beschleunigung sowie Reduktion der Bewegungen in räumlicher Konzentration auf den Körper als bildhaft beschrieben werden, visuelle Themen, die Muster fragmentierter Unzusammengehörigkeiten generieren und nun anhand der drei Teile detailliert vorgestellt werden. Teil 1 der Trilogie zeigt Le Roy auf dem Stuhl stehend, das Gesicht unbewegt. Er trägt lange Hosen und ein bis zu den Ellenbogen hochgekrempeltes Hemd, die Füße sind nackt. Zunächst langsam, lässt er den rechten Unterarm isoliert entgegen dem Uhrzeigersinn nach außen rotieren, während der übrige Körper bewegungslos verharrt. Immer schneller wird das Kreisen, das den Ellenbogen fast aus dem Gelenk zu drehen scheint und den Verwirbelungen eines Propellers gleicht (vgl. Siegmund 2006: 369). Plötzlich greift die linke Hand zu und beendet die zentrifugalen Motionen in einem abrupten Stopp. Le Roy setzt sich auf den Stuhl und lässt die Arme zu den Seiten herunterhängen, die weit über die Sitzfläche hinaus Richtung Boden ragen, sich in einem Knick an den Ellbogen nach außen drehen und zum übrigen Körper disproportional verlängert wirken. Hier und da winkeln sich die Unterarme scharf isoliert an den Ellenbogen um neunzig Grad ab, machen kleine, flatternde Bewegungen, als wollten sie sich jeden Moment aus dem Körperverbund des einem sitzenden Block ähnelnden Choreographen herauslösen. Wie fremde Organe klappen sie nach einer Weile im Ellenbogen-Scharnier nach oben und wandern mit krabbelnden Händen über den Oberkörper hinweg, betreten das Gesicht wie kleine Insekten und betasten die Schultern, als seien sie unbekanntes, zu erforschendes Terrain. Schließlich docken die Hände wie die Greifarme einer Maschine an den Schulter an und ziehen den gesamten Körper aus seiner Sitzposition ins Stehen – ein ähnliches Bewegungsmotiv taucht in den roboterartigen Bewegungen in Self unfinished wieder auf. Wieder im Sitzen, führen die Unterarme ihr Eigenleben fort, kreuzen übereinander, zerschneiden dem Raum vor dem Bauch, schlagen über die Beine, verwirbeln und zerflattern. Schließlich kommt Le Roy erneut ins Stehen und bewegt nen Buster Keatons in Verbindung gebracht wurden (vgl. Le Roy 27.8.2007, Interview).
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die Unterarme in Zeitlupe auf und ab, wobei er ein Bein anhebt, einem Flamingo ähnlich. Der Vogeleindruck verstärkt sich durch steife, ruckartig staksende Bewegungen, mit denen er anschließend durch den Raum schreitet und sich in die filmisch angeordneten Quadrate begibt – die Figur des Tänzers und seine Durchwegungen des Raums werden dadurch zugleich zerschnitten und remontiert, ein Prinzip, wie es Valeska Gert bereits angewendet hat und das Brandstetter als »›Filmisierung‹ der Bewegung« bezeichnet (Brandstetter 1995: 449).91 In Zonder Fact, das sich nach einem kurzen Black anschließt, ist der Stuhl einem Sessel gewichen, in dem Le Roy Platz genommen hat. Ein zweiter leerer Sessel steht daneben. Gelegentlich hebt Le Roy einem Arm, um sich am Kopf oder an der Schulter zu kratzen, und verharrt sonst still, nur die Beine bewegen sich hin und wieder nach links oder rechts. Allmählich wird aus dem beiläufigen Jucken eine rhythmische Kratzchoreographie, zu der sich die unteren Extremitäten kontrapunktisch verselbstständigen und in seitliche Richtungen rennen, als seien sie vom Oberkörper abgelöst. Plötzlich enden die Motionen und Le Roys Arme verschwinden hinter der Sessellehne – das Bild eines armlosen Torsos schiebt sich in die Wahrnehmung. Gleich darauf erscheinen die Arme wieder zu beiden Seiten des Sessels, allerdings ohne die Verbindung der Oberarme zu den Schultern zu zeigen. Als seien sie nun völlig vom Rumpf abgetrennt, schweben Unterarme und Hände in der Luft oder finden an verschiedenen Stellen des Sitzmöbels einen Halt. In geometrischen Verschiebungen bewegen sie sich im Kontrast zu den Beinen, die wie die Rolle einer Schreibmaschine von einer Seite zur anderen wandern. Die Extremitäten lösen sich vom Torso und lassen Le Roys Körper einem zerstückelten Gliederbild gleich im Raum schweben, das in seiner losen Anordnung frei flottierender Gelenke eher die Sitzgelegenheit denn das Körperzentrum zum Fixpunkt nimmt. Le Roy lehnt sich nun, die Arme wieder nach vorne genommen, lässig in seinem Fauteuil zurück und lässt die Beine ›machen‹, als hätten sie sich gänzlich aus der körperlichen Organisation ausgeklinkt und würden jeden Moment davonlaufen. In gelangweilter, abwartender Haltung stützt er schließlich das Kinn mit dem Arm auf das Knie, als warte er, bis die Glieder da unten endlich fertig sind mit ihren rastlosen Bewegungen. Schließlich bereitet Le Roy dem Treiben ein Ende und tanzt mit discoartigen Schritten, Schultern und Hüften kreisend zwischen den Sesseln hin und her, deutet einen Moonwalk an,92 twistet die Beine, mobilisiert die Wirbelsäule und scheint sich ganz dem Rausch der Bewegung hinzugeben. Allmählich vertaumeln die Motionen und der Choreograph gerät ins
91 Gert bezieht sich sogar wörtlich auf dieses Prinzip, das sie in ihrem kurzen Solotanz Kino umsetzt, in dem sie die flackernden und zitternden Bewegungen der frühen Filme inkorporiert (Foellmer 2006: 65). 92 Dieser Moonwalk – berühmt geworden durch Michael Jackson musikalische Inszenierungen – wird im Jahr 2000 in Jérôme Bels Stück Xavier Le Roy als Zitat wieder aufgenommen.
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Stolpern, an der Lehne des Sessels Halt suchend. Es entspinnt sich nun ein Spiel zwischen den beiden Sitz-Orten, an denen Le Roy, von ausufernden Armschwüngen vorangeschoben, nie wirklich ankommt. Halt findet er immer nur am Rand der Möbel, jedoch kann sich der Körper in keinem Zentrum niederlassen. Mit den Händen reißt er seine geschlossenen Beine auseinander, die prompt in ein autonomes ›Schüttelduett‹ ausbrechen und von Le Roy schließlich festgehalten werden, um sie in die ›richtige‹ Position zurückzuversetzen, aus der sie jedoch gleich wieder ausbrechen. In den entgleisenden Bewegungen im ZwischenRaum der Ruheorte driften seine Glieder immer wieder aus der für sie vorgesehenen Formation, entgleitet der Körper sich selbst. Permanent knicken die Beine unter ihm weg und werfen den Tänzer in Extensionen, die die Lücke zur Orientierung nehmen und den Körper in einem Interimsstadium halten.93 Schlussendlich landet Le Roy doch in einem der Sessel, versinkt aber so tief darin, dass seine Gestalt einem Kopffüßler gleicht, dem der Oberkörper komplett abhanden gekommen ist. Xavier Le Roys im Schlussbild des zweiten Teils fehlender Torso wird im letzen Part von Narcisse Flip unter die Lupe genommen. Burke, so der Titel, referiert auf den Namen eines englischen Mediziners, der im 19. Jahrhundert, ähnlich wie Vesalius, anatomische Studien anhand von Sektionen unternahm und als Namenspatron für diesen Solopart firmiert (Le Roy 27.8.2007, Interview), in dem der Choreograph den Körper weiter zerlegt, zurechtschneidet und verdreht. Im Zwielicht betritt er abermals die Bühne und kommt hinter einem Stuhl zum Stehen, den Rücken zum Publikum. Er schlingt die Arme so um seinen Oberkörper, dass die Illusion eines sich eng umarmenden Paares entsteht, eine Bewegungssequenz, die als Leitmotiv dieses Stückteils eingeführt wird. Le Roy kommt auf dem Stuhl zum Sitzen und löst die Arme aus ihrer Verbindung, abwechselnd einen der nackten Ellenbogen auf der Stuhllehne abstützend. Im obskuren Zwielicht der Bühne taucht ein aus dem Zusammenhang gelöster Fuß auf, schwebt kurz im Raum und verschwindet wieder. Den Kopf nach vorne gebeugt, wirken die Arme nun wie kleine Stummel, die an einen kopflosen Torso geheftet sind – ein Bild, das in ähnlicher Weise in Self unfinished wieder erscheint: Sind hier jedoch die Mutationen des Performers in jedem Moment auf der neonbeleuchteten, weiß ausgekleideten Bühne sichtbar, spielt Le Roy im Dunkel von Narcisse Flip noch mit der Illusion materieller Verwandlungen, die den Körper des Tänzers sukzessive dekomponieren. Die Unterarme nach innen gefaltet, die Ellenbogen bloßgelegt, bewegt der Choreograph seine Glieder, als wären sie an den Armbeugen abgeschnitten, in einen amputierten Port de bras. Sich langsam steigernd, beginnen die optisch verkürzten Oberarme im Schultergelenk zu kreisen und greifen das PropellerMotiv der Unterarme aus dem ersten Teil wieder auf. Abwechselnd mit schwin93 Siegmund bezeichnet solche Sequenzen in Le Roys Stücken wiederum als »Artikulation des Dazwischen« (Siegmund 2006: 369).
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genden Hüftbewegungen im Stehen oder im Sitzen entsteht wiederholt der Eindruck eines disproportionalen Körpers, dessen Glieder sich autonom verhalten. Plötzlich entfalten sich die Arme und umgreifen in einer schleudernden Bewegung den Oberkörper, wodurch erneut die Illusion eines imaginären Partners entsteht. Le Roys Hände packen die Schulterblätter, als wollten sie den Rücken auseinanderzerren, der Rumpf biegt und krümmt sich wie in eine wilde Umarmung verstrickt und die Hüften bewegen sich erotisch wackelnd zu den Seiten. Bisweilen löst Le Roy die Illusion auf und dreht sich nach vorne zum Publikum, wobei er den Kopf in die Gegenrichtung zum von den Armen gepackten Oberkörper rotieren lässt, als versuche er den Körper um die stehende Achse der Wirbelsäule herumzuwinden. Aus den Biegungen und Windungen wird ein ›Pas de solo‹, ein eng an den Körper geknüpftes, fiktives Gegenüber, mit dem er sich tanzend über die Bühne dreht. Langsam transformieren sich die spielerischen Drehungen und Le Roys Hände packen im beständigen Nachfassen den Torso immer fester, als drohe er, gleich den zuvor verselbstständigten Gliedern, die Fassung zu verlieren. Nach vorne geneigt, beginnt er den Oberkörper in seinem Armgefängnis hin- und herzuschütteln, schwenkt und schleudert ihn wie ein Gefäß, in dem der dieser Trilogie den Titel gebende Cocktail zu mixen wäre. Ähnlich wie in Benoît Lachambres Schüttel-Solo verschwimmen dabei die Umrisslinien des Körpers (vgl. S. 337 ff.). Schließlich trennen sich die verdrillten Arme aus ihrem Verbund und schlenkern lose überkreuz hin und her, den Oberkörper in überbordenden, zentrifugalen Bewegungen mit sich nehmend und durch den Raum treibend, wodurch die strikten Isolationen aus den ersten beiden Stück-Teilen aufgelöst werden. In symmetrischer Verkehrung streichen die Hände die Haare des Choreographen zurück, der sich mit übereinandergekreuzten Beinen wieder auf dem Stuhl niederlässt, das Publikum im Blick. Auf den Boden gleitend, faltet sich Le Roy nun ganz zusammen: Die Beine untergeschlagen und die Arme zu Stummeln eingeklappt, den Kopf nach hinten überstreckt, kommt er auf dem Rücken zum Liegen, ein horizontaler Torso, der als klumpige, angekleidete Masse zur Erde geglitten ist. Es ist ein Motiv, das Le Roy in Self unfinished wieder aufgreift und weiterentwickelt.94
Blut et Boredom: Dekompositionen im Bild Erste Studien körperlicher Dekompositionen am Rand von Bildlichkeit stellt Le Roy 1996 in seinem Duett Blut et Boredom gemeinsam mit Agathe Pfauvadel und in Zusammenarbeit mit Laurent Goldring an. Wie bereits in Kapitel 2 ausgeführt, entstehen Le Roys Bilder des Metamorphen unter anderem auch aufgrund 94 Le Roy befrage insofern bereits in Narcisse Flip »l’organisation des mutations«, wie Geisha Fontaine bemerkt (Fontaine 2004: 117).
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dieses künstlerisch-technischen Hintergrunds. Für das Duett hat Goldring Photographien anfänglicher Bewegungsstudien der beiden Tänzer/innen angefertigt, mit denen anschließend weitergearbeitet wurde (Le Roy 27.8.2007, Interview; vgl. Abb. 25, S. 153; S. 152 f.). Pfauvadel und Le Roy operieren hier gezielt an den Umsäumungen des Körpers, der in bildhafte Ausschnitte gleitet und sich wieder aus ihnen herausschiebt, symbolisiert unter anderem durch ein helles Lichtquadrat am Boden, das zunächst abgeschritten, ausgemessen, ausgelotet und ausprobiert wird, die Limitierungen der Licht-Schranke so weit wie möglich ausreizend. Etwas später wird sie systematisch übertreten, indem man Beine heraushängen lässt oder die Ränder überrollt, um sich anschließend wieder ins LichtBild zu bringen. Das Duett greift außerdem die Fragmentierungen aus Le Roys Triptychon wieder auf: Am Boden sitzend, haben die beiden Tänzer/innen die nackten Beine aufgestellt – ein Gliederbild aus vier isolierten Unterschenkeln entsteht, die im nächsten Moment mit den Händen gepackt werden, so dass sich die beiden Körper in einem Gewirr aus Extremitäten ineinander verdrehen und zu einem an ein Insekt erinnerndes Wesen mit vier aneinandergewachsenen Armen und Beinen mutieren. Ein wenig später kommen Le Roy und Pfauvadel jeweils auf einem Sessel zum Sitzen – das Spiel mit den Transformationen setzt sich fort. Pfauvadel streckt ihr rechtes Bein aus und setzt den nackten rechten Am so darauf, dass das Bein, in ironischer Anspielung auf das Ballett, wie extrem nach oben verlängert erscheint. Le Roy wiederum streift ein großes schwarzes T-Shirt über, aus dem nur die nackten Ellenbogen und die Kniescheiben herausragen – das Bild eines schemenhaften Rumpfes entsteht, an dem vier externe Hautpunkte angebracht sind. Plötzlich taucht der Kopf ins Hemd ab und wird ersetzt durch die hervorschießenden Hände. Auch sie verschwinden jedoch bald, und zurück bleibt eine dunkle, vollständig im schwarzen Stoff verborgene Masse, die nichts mehr zeigt, auch keine Torsionen.
Inventuren körpertechnischer Fragmente Die detaillierten Beschreibungen der obigen Stücke zeigen abermals, dass sich Phänomene des Grotesken aus dem Umspielen und Überschreiten von Grenzen ergeben, die körpertechnisch hervorgebracht sind. Das Segmentieren des Körpers in einzelne Bewegungseinheiten und die Reduktion auf Basismotionen spielen schon in Etienne Decroux’ Mime corporel eine Rolle, wie Franz Anton Cramer darlegt: »Mögliche Bewegungarten sind Drehung (rotation), Neigung (inclinaison), horizontale Verschiebung (translation) sowie jeweils Kombinationen aus diesen (dessin simple, double und triple).« (Cramer 2001: 13) Le Roy bezieht sich zwar nicht auf die Decrouxsche Methode, wendet jedoch ein ähnliches Verfahren an, mit dem er den Körper zum Beispiel in vier Teile zerlegt: in Kopf, Schulter-Brustbereich, Bauchregion und Lendenwirbelgegend (Le Roy 27.8.
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2007, Interview). Die Bewegungsweisen der Mime corporel entfalten innerhalb des Körpers wiederum ein Spiel von Balancen und Disbalancen, die Decroux als »Drama der Muskulatur« bezeichne: In ihm entwickele sich die Bewegung aus dem Körperinneren heraus, als beständig prekäres Gleichgewicht zwischen Gelingen und Stürzen (Cramer 2001: 15). Gesicht und Arme seien dabei als »Ausdrucksorgane« immer schon an eine »vorgängige Wirklichkeit« gebunden, ohne dass diese explizit schauspielerisch noch hinzugefügt werde, so Cramer (ebd.: 17). In Le Roys frühen Stücken vermischen sich nun die Ebenen der (disproportionalen) körperlichen Befindlichkeit des Choreographen und der tänzerischen Trainingsmethoden, die seinen Körper durchwandert haben. Besonders in Cunningham-Technik hat Le Roy seinerzeit viele Unterrichtsstunden absolviert (Le Roy 27.8.2007, Interview) – sie wird erkennbar in der Fähigkeit, einzelne Körperteile extrem zu isolieren, ohne den übrigen Körper einzusetzen, so dass der Eindruck fliehender, sich loslösender Extremitäten entsteht. Zugleich wird in Narcisse Flip das Cunninghamsche Prinzip der Isolation ausgestellt und verformt – die fast unmöglichen Bewegungen, die Cunningham bisweilen seinen Tänzer/innen abverlangt (vgl. Evert 2003: 70), werden hier in der Zerstückelung und Verselbstständigung der verdrehten Glieder hyperbolisiert – Isolation gilt nicht mehr einem perfekt beherrschten Körper, sondern der Virtuosität physischer Deformierungen. Le Roys in Segmente zertrennter Körper wird als Cocktail gereicht, ein flip, der in seiner doppelten Wortbedeutung Tanztechniken und Wahrnehmungsweisen gleichermaßen umkehrt und gewohnte Bewegungsmuster kippen lässt.95 Der Körper ist sich dabei selbst fremd – es ist nicht Narziss, der sein Spiegelbild erstmals sieht und sich darin verliebt, sondern ein Narziss, der eine Erst-Begehung seines Körpers vornimmt, der tastend sich erfährt und nur auf Fremdes stößt, auf leibliche Regionen, die ins Auswärts driften. Irene Sieben bezeichnet Le Roys »Gelenkmutationen« in Narcisse Flip als »Solo-Experimente der Zersplitterung« (Sieben 1997: 51, 53) – allerdings ist Le Roys Körper nicht einer völligen Zerstückelung unterworfen, wie ich meine. Vielmehr ist der beständige Rückbezug auf den Körper des Choreographen notwendig, gerade um die sich aus den Gelenken drehenden Teile und Verformungen als disproportionale und vor dem Hintergrund eines Körpers de- und reorganisierende Partikel erkennen zu können.96 Es ist die Spannung zwischen Veräußerung und Setzung ins Bild, die sich am Szenario des Rahmens abspielt und Le Roys Fragmente im Zwischenraum historischer Inventare und eigener inventiver Impulse situiert, die eine zeitlang Irritationen hervorrufen, um sodann im Bildgedächtnis zeitgenössischer Pattern des Unabgeschlossenen gespeichert zu werden.
95 Le Roy betont die Idee des »to flip« als Umdrehen von Bewegungen (Le Roy 27.8.2007, Interview). 96 Siegmund konstatiert, dass Le Roy seinen Körper atomisiere, um ihn sodann zu reorganisieren (Siegmund 2006: 370 f.).
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Diese wiederum beeinflussen die Arbeiten nachfolgender Choreograph/innen, die solche eingelagerten Bilder aufgreifen und innovativ verformen.97
2.4 William Forsythe – Körper: dezentralisiert William Forsythe arbeitet schon seit Anfang der 1990er Jahre an einer Defokussierung des Körpers und der Fragmentierung als Autonomie seiner Teile im Rahmen eigens entwickelter Techniken (vgl. Forsythe/Siegmund 1999: 16, Sulcas 2003: 40, Evert 2003: 127). Dabei spielt das Motiv des Dezentralisierens eine wichtige Rolle für die Tänzer/innen ebenso wie für die Choreographie, im Bestreben, den Körper aus seiner Achse zu lenken und von den eigenen Bewegungen überraschen zu lassen.98 Roslyn Sulcas verweist in diesem Zusammenhang auf Limb’s Theorem (1990) und The Loss of Small Detail (1991) als SchlüsselStücke einer neuen Herangehensweise an Bewegung. In Ersterem ereigne sich Dissemination auf choreographischer Ebene, wobei die Tänzer/innen »wie vielgliedrige Geschöpfe« wirkten: »Der Tanz – die sich beständig ausbreitenden und zerstreuenden Pas de deux, Solos, Trios und Gruppenensembles – erscheint als dezentralisierte Choreographie mit unvorhersehbarem Ablauf, da die Ereignisse oft gleichzeitig und ohne erkennbare Beziehung zueinander stattfinden.« (Sulcas 2003: 38) Auf struktureller Ebene geschieht also eine Aufsplitterung von Choreographie und Wahrnehmung, im Sinne einer »Polyphonie« des Tanzes (Brandstetter 1997: 620; vgl. auch Sulcas 2003: 37)99 beziehungsweise Multifokalität des Bühnengeschehens (Siegmund 2006: 262). Zudem ist der Tänzerkörper selbst Ort der Fragmentierung in vielerlei Zentren, die Forsythe, an Rudolf von Labans Modell der Kinesphäre anschließend, in den Körper selbst verlagert und dort verteilt, wie Heidi Gilpin und Patricia Baudoin ausführen (Gilpin/Baudoin 2004: 119).100 97 Das Choreographenkollektiv Sidi Larbi Cherkaoui, Juan Kruz Diaz de Garaio Esnaola, Luc Dunberry und Damien Jalet zum Beispiel verwendet in dem Stück d’avant (Schaubühne, Berlin 2002) den an der Wand aufgerichteten Vierfüßler aus Le Roys Self unfinished als metamorph-spielerisches Körperbild-Zitat. 98 Im Zusammenhang mit seinen Betrachtungen über Meg Stuart verortet Siegmund das Moment des Dezentralisierens in der Contact Improvisation, die den Körper aus der Achse kippe und zum Beispiel auch Bewegungen am Boden oder kopfüber ermögliche (Siegmund 2006: 415). 99 Norbert Servos spricht außerdem mit Roland Barthes von der »Polyphonie der Zeichen« im Stück, Roslyn Sulcas wiederum charakterisiert die Tänzer/innen als »polyphone Instrumente« (Servos 1998: 4 f., Sulcas 2003: 38). 100 Vgl. zur Multizentrik des tanzenden Körpers auch Brandstetter 1997: 619, Evert 2003: 124, Siegmund 2006: 261. Im Zusammenhang mit ihren Untersuchungen zum Torso betonen Kattrin Deufert und Kerstin Evert das Explodieren des Torsos in Forsythes Technik (Deufert/Evert 2001: 436) – anhand seiner Choreographie Solo wird zu zeigen sein, inwieweit der Torso hier vielmehr dem Phänomen der Implosion unterworfen ist (vgl. Kap. 4, 2.4.3).
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Forsythes Körper- und Tanzkonzeption geht dabei sowohl von den Strukturen des klassischen Balletts als auch von Labans Raummodell aus:101 Das Ballett dient ihm als Grundlage hinsichtlich der Genauigkeit der Bewegungen, um Motionen präzise in den Raum zu setzen und »deutlich zu schreiben« (Forsythe/Haffner 2003: 117). Labans Entwurf adaptierend und sein Raumkonzept des Kristalls in den Körper der Tänzer/innen selbst verlagernd,102 entsteht nun paradoxerweise mit der Präzision des Balletts eine Verflüssigung der tanzenden Figur, wie Evert beschreibt: »[E]ine einheitliche Körperkontur [scheint] zugunsten eines komplexen, ›amöbenartigen‹ Bewegungsflusses aller Körperteile in die unterschiedlichsten Raumrichtungen aufgegeben« (Evert 2003: 124). Ähnlich wie zuvor in den Motiven des Amphibischen aufgezeigt, gerät der Vergleich mit einer ungeformten Amöbe zum Inventar einer Ästhetik des Unabgeschlossenen. Siegmund etwa konstatiert: »Der Körper wird zu einem asymmetrischen, gedrehten und verwinkelten Gebilde, das sich amöbenartig in verschiedene Richtungen gleichzeitig ausdehnt.« (Siegmund 2006: 261) Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt Jochen Schmidt, der wiederum die fluiden und weichen Bewegungen Saburo Teshigawaras beschreibt, wie Christiane Berger in ihrer Arbeit zu Forsythe und Teshigawara bemerkt: »Sein Torso verliert beim Tanz seine kompakte Form. An Schultern und Hüften wuchert er ins Amöbenhafte.« (Schmidt zitiert in Berger 2006: 106) Um den Zustand des Formwandlerischen zu erreichen, formuliert Forsythe Praktiken des Invertierens, die in der Grobstruktur an Gennaro Magris Verkehrungen erinnern (vgl. S. 359): »Die Hüfte kann z. B. mit der Hand verbunden sein. Es ist wie das klassische épaulement, bei dem es eine Koordination zwischen den Winkeln der Hand, des Fußes und der Kopfhaltung gibt. Wir stellten fest, dass das Gegenteil dieses épaulement eine Umkehroperation ist, die wir als Entfokussierung bezeichnen.« (Forsythe zitiert in Sulcas 2003: 40, Hervorhebung S.F.) Magri stellt eine zentrale Ausrichtung des Körpers allerdings nicht infrage, reizt jedoch ihre Stabilitätsgrenzen aus. Forsythe erweitert die Möglichkeiten des Körpers um die Labansche Perspektive, deren Raumidee er aufnimmt und umdeutet und welche daher kurz umrissen werden soll.103 101 Mit Forsythe bezeichnet Brandstetter das Ballett als »operative Einheit«, die als Grundlage dekonstruktiver Verfahren genutzt werde (Brandstetter 1997: 613). Zum Ballett als Matrix vgl. auch Forsythe/Haffner 2003: 19 und Siegmund 2006: 234 ff. Evert deutet Labans Raummodell, das von Forsythe umgedacht wird, als Mobilisierung der »Körperkontur« in seinem Tanzstil (Evert 2003: 124 ff.). 102 Forsythe erklärt: »Laut traditioneller Auffassung gehen im Ballett Bewegungen vom Körperzentrum aus in einen hypothetischen Raum. Ich hingegen setze eine körpereigene, interne, kristalline Geometrie voraus, die wiederum die Bewegung im Raum beeinflusst.« (Forsythe in Fischer 1987, zitiert nach Siegmund 2006: 263 f.) 103 Ausführliche Darlegungen der Labanschen Praxis in Zusammenhang mit Forsythes Innovationen unternehmen u.a. Brandstetter 1997: 617 ff., Servos 1998: 4 ff., Evert 2003: 125 ff., Gilpin/Baudoin 2004: 117 ff. und Siegmund 2006: 256 ff.
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Ausgehend von der spatialen Orientierung des Körpers, entwirft Laban das Modell der Kinesphäre, die den Körper umgibt, so weit die Extremitäten in ihrer jeweiligen Ausbreitung reichen, und die immer mit dem Körper ›mitwandert‹ (Laban 1991: 21 ff.). Dabei bezeichnet der mittlere Punkt die Hauptachse, die sich jeweils im Körperzentrum, auf der Höhe des Solarplexus, befindet und von dort, in Labans Konzeption, auch nicht verrückt wird (Abb. 105). Die kubische Struktur in der Abbildung zeigt die möglichen Raumrichtungen von Körperbewegung, die sich wie folgt aufgliedern: 1. »das dreidimensionale Kreuz«, mit den Ebenen hoch – tief, rechts – links und vor – rück (ebd.: 24), 2. »das vier-diagonale [sic!] Kreuz«, das die jeweiligen diagonalen Möglichkeiten von Armen und Beinen beschreibt (ebd.: 25), sowie das 3. »sechs-diametrale [sic!] Kreuz«, das die zwölf diametralen »Neigungen« in der hohen, mittleren und tiefen Ebene anzeigt (ebd.: 26). Abbildung 106 zeigt eine mögliche körperliche Ausrichtung in diesem Raummodell: das Balancieren in Bewegung. Motionen sind also auch ›auf der Stelle‹ möglich, in den Dimensionen vertikal, horizontal und vor – rück (etwa mit den Armen). Übersetzt in eine geometrische Figur wird dieses Raumrichtungsmodell zu einem Ikosaeder, der, so Laban, Orientierung und Vorstellungsvermögen der jeweiligen Bewegungsabfolgen (Skalen) detaillierter transportiere als der in den vorigen Abbildungen dargestellte Würfel (ebd.: 144) (Abb. 107). Forsythe hat das System Labans nun unter anderem um eine wesentliche Komponente erweitert beziehungsweise transponiert: Die Achse, um die sich alle Bewegung dreht, ist nicht mehr notwendigerweise in der Körpermitte angesiedelt, vielmehr vermag sie sich an jede Stelle des Körpers zu verlagern und nimmt dabei die Kinesphäre jeweils mit, wobei diese sich nach oben, unten, rechts oder links verschieben, in beliebige Körperregionen expandieren oder auch schrumpfen kann, wenn sich das Zentrum beispielsweise im Ellenbogen befindet, von dem dann die Bewegung ausgeht. Die CD-Rom Improvisation Technologies (2003), auf der Forsythe seine Ansätze zu Bewegungsfindung und -komposition erläutert, ist Theorie und praktisches Anleitungsinstrument zugleich und übersetzt die Raumrichtungen Labans in »Isometrien«, die sich auch vom ausführenden Körperteil ablösen und etwa als Bewegungen auf dem Boden ›landen‹ können. So ist zum Beispiel ein um neunzig Grad angewinkelter Arm die ›Schablone‹ für vielfältige Bewegungsvariationen des so entstehenden Dreiecks, das auf den Boden übertragen wird, etwa durch Schrittkombinationen, welche die trianguläre Struktur nachzeichnen, eine entsprechend gegrätschte Beinhaltung oder durch die in der zweiten Ballettposition ausgerichteten Füße (Forsythe 2003).104 Das Verschieben von Bewegungs104 Diese Verfahren betonen besonders die Abschnitte »Different Scales« und »As Floor Pattern« im Menüpunkt »Reorganizing,«, Kapitel »Isometries«.
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Abb. 105: Rudolf von Laban, Orientierung im Raum
Abb. 106: Rudolf von Laban, Natürlich ausbalancierte Haltung
Abb. 107: Rudolf von Laban, Ikosaeder
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kombinationen bedeutet neben der Auslagerung der Achse auch eine Absage an die Bühnenfrontalausrichtung des Balletts, Ansätze, die sich zwar innerhalb von Labans Modell schon denken lassen (Laban 1991: 41), die Forsythe jedoch um die Einbeziehung und Gleichsetzung des Rück-Raums erweitert, der auch im Moment der Vorwärtsausrichtung geöffnet und bewegt wird (Forsythe 2003).105 Siegmund wiederum fasst Forsythes Anverwandlung des Labanschen Systems als anamorphotische Praxis: »Indem Forsythe jeden Punkt im Körper zu einem potentiellen Bewegungszentrum werden lässt, gibt es auch eine Fülle von Ikosaedern, die Labans ›Original‹ anamorphotisch verzerren.« (Siegmund 2000: 152) Er vergleicht eine solche Tanzpraxis unter anderem mit den Gemälden des Manierismus, wobei er etwa auf die Verlängerung der Hand in Parmigianinos Gemälde Selbstbildnis im Konvexspiegel (ca. 1523-24) Bezug nimmt. Die eigentümlich im Vordergrund liegende und verzerrte Hand des Künstlers ziehe den Blick auf die »Nahtstellen der Konstruktion« der Figur in dieser Epoche der bildenden Kunst (ebd.: 142), ein Verfahren, das auch in den Konzepten von Ausdrucks- und zeitgenössischem Tanz angewendet werde:106 »Mit charakteristischen Merkmalen wie der Auflösung und Staffelung von perspektivischen Räumen, der Verkürzung und Elongation von Körperteilen und ihren Linien, sowie der tänzerischen Bewegtheit seiner Figuren und ihrer auf Biegen und Brechen gedrehten Körper stellt [der Manierismus] eine Abkehr vom Renaissance-Ideal der Harmonie der Komposition dar. Deformation und Defiguration verweisen auf ein verändertes Verhältnis des Kunstwerks und des Künstlers zur Welt, die er doch ab- und nachbilden soll.« (Ebd.: 138)
In diesem Zusammenhang hebt Siegmund Forsythes Stück Alie/n A(c)tion (1992) hervor, in dem sich der Choreograph ausdrücklich auf Labans Ikosaedermodell beziehe. Nicht nur würden hier die Körperachsen deplatziert und in verzerrte Bewegungen überführt, gleichzeitig sei das Gittermuster der Kinesphäre verschoben »auf den Bühnenboden projiziert« (ebd.: 150) – eine Übertragung, wie sie in den Improvisation Technologies oben bereits beschrieben wurde. Das Verfahren, das Forsythe hier anwendet, erinnert wiederum an das »Fenster« Albrecht Dürers (1525), mit dem sich die harmonischen Proportionen etwa einer menschlichen Figur nicht nur ideal darstellen, sondern auch verzerren lassen (vgl. S.
105 Siehe Improvisation Technologies, Menüpunkt »Lines«, Kapitel »Complex Operations«, Abschnitt »In General«, Unterpunkt »back approach«. Vgl. auch Siegmund 2006: 259. Brandstetter beschreibt die Tanztechnik Forsythes als eine Ansammlung verstreuter Zentren: »Wenn jeder Punkt der kinesphärischen Figur des Körpers zum Mittelpunkt von Bewegung werden kann, so entsteht ein Netz interferierender Systeme.« (Brandstetter 1997: 619) 106 Auch in einigen von Meg Stuarts Stücken werden solche anamorphotischen, mithin grotesken Praktiken evident, so zum Beispiel in ihrem Stück Alibi (Foellmer 2008: 59 ff.).
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332). In diesem Sinne benutzt Forsythe Labans System als einen Deformationsapparat, als gesteuerte Verzerrung von Bewegungen.
2.4.1 Entgrenzte Zentren: Decreation In seinem Stück Decreation treibt Forsythe das Spiel von Achsen- und Zentrenzersplitterungen auf verschiedenen Ebenen weiter – über die linguistische wurde bereits gesprochen (vgl. Kap. 3, 1.2.2). Distorsionen ereignen sich etwa im Bereich des Medialen. So ist zu Beginn, in Dana Caspersens Rede nur ihr über das Rednerpult ragender Oberkörper zusehen. Der Unterleib ist durch einen Videomonitor verdeckt, welcher Bilder der auf der Bühne eingesetzten Live-Kamera zeigt, die teilweise in extremer Nahaufnahme filmt, wodurch die Bilderzeugnisse kaum erkennbar sind (vgl. Boenisch 2004: 60). Das Ganze ähnelt dem segmentierenden Buch-Spiel mit einer Ankleidepuppe, deren Figur durch drei horizontale Schnittflächen unterteilt ist, womit die unterschiedlichen Körperebenen in disproportionalen Kombinationen komponiert werden können. Mit den Verstümmelungen und Verfremdungen der Stimme, die das Stück durchziehen, korrespondieren zeitweise auch die Torsionen des Körpers, in die sich besonders die Tänzerinnen immer wieder begeben. Auffällig ist, dass die Arme oft sehr eng am Oberkörper anliegen, die Figur begrenzen und in diesem ›An-sich-Halten‹ eine Expansion in den Raum vermeiden. Dabei verschrauben sie sich in allen nur drehmöglichen Gelenk-Bereichen des Körpers: Bis in die Fußzehen gehen die Distorsionen etwa bei Jone San Martin, die Füße klappen nach innen ein (Abb. 108), zugleich zwirbeln sich die Hände und Arme um den Rücken, als wolle die Tänzerin ihre Körperseiten vertauschen – es sind wohl diese Bilder, die unter anderem Schlagenwerth zum Vergleich mit Meg Stuart animiert haben (vgl. S. 325), ähneln sie doch tatsächlich den Motionen aus Disfigure Study. Fixiert steht San Martin am Platz und dreht den Oberkörper so weit herum, dass die Achse zu zerbrechen droht und der Torso zur Torsion transmutiert. Yoko Ando wiederum schnürt immer wieder Hände und Arme mit reibenden Bewegungen um ihren Körper, als wolle sie die Fläche ihrer umhüllenden Haut aufrauen. Dana Caspersen erläutert das Verfahren des »Shearing« (vgl. S. 264), mit dem die extremen Verdrehungen sowie absichtsvoll herbeigeführte Zustände einer mental-physischen Desorientierung in den Proben erzeugt wurden und das wiederum einen »Stückkörper[]« produzierte: »Der Begriff definiert einen Zustand, in dem der Körper sich weder stimmlich noch körperlich jemals direkt artikuliert. Nähern wir uns zum Beispiel einem Mikrofon oder einer Person an, mögen unsere Gedanken in diese Richtung wandern, aber unsere Körper prallen rückwärts an diesem Gedanken ab und schlagen in viele Richtungen quer. Der Körper wird zu einer Vielzahl durcheinander wirbelnder Strömungen, ein Zustand komplexer, fragmentierter Reaktion.« (Caspersen 2004: 114)
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Abb. 108: William Forsythe, Decreation (2003), Photo: Dieter Schwer, Tanz: Jone San Martin, Richard Siegal
In Caspersens ›Ansprache‹ zu Beginn wird diese Herangehensweise bereits deutlich. Zwar erklingen ihre Worte noch artikuliert, als gesetzte, rhetorisch durchkomponierte Rede, die mit ihrer Ablösung durch Georg Reischl dann dekomponiert wird, jedoch driftet Caspersens Körper bereits in andere Richtungen ab und deckt den Hinter-Sinn der ›verkehrten‹ Worte auf (vgl. S. 264 f.). Während des Sprechens zupft sie immerfort mit den Händen an ihrem weiten T-Shirt, zieht etwa den rechten Ärmel nach oben oder zerrt am Ausschnitt, der nach links ruckt und den Hals einschnürt. Mit zunehmendem Reißen und Ziehen folgen die entsprechenden, die Kleidung berührenden Bereiche des Körpers nach und Caspersen gerät in Bewegung, den Ausweichungen ihres Körpers nachfolgend, die sich um den Mund als körperlich verbale Achse winden. Reischl übernimmt dieses Bewegungsmotiv, doch ist sein Mund nun nicht mehr selbst-redend sicher, sondern verliert die bedeutenden Konsonanten. Nahezu leitmotivisch ereignen sich die Zug- und Reiß-Sequenzen an der Oberbekleidung noch mehrere Male im Verlauf der Aufführung – so sitzt etwa Christopher Roman mit einer Gruppe Männer zusammen und gerät in die destabilisierenden Motionen der Garderobe, zu denen nun auch Torsionen des Mundes hinzukommen, der sich zur Seite verzieht, den Kopf mit einem Ruck nach hinten dreht und den Oberkörper mitreißt, als gehe der Impuls von den Lippen aus. Forsythe arbeitete bislang mit Verschiebungen von Gelenken und Körpergeraden, die sich verlängerten, stark verkürzten oder verdrehten und verformten. Laut den Improvisation Technologies kann der Körper Linien innerhalb des Körpers konstruieren oder solche in den Raum zeichnen und als Anhaltspunkte der Bewegung nehmen, die die Linien verfolgen, umspielen, verformen, in den Körper ein- oder auslagern (Forsythe 2003).107 Diese Variationen werden in Decreation in die Muskulatur und in teils gelenklose Mikroebenen des Körpers wie Zehen oder Mund transferiert – ein ähnliches Bewegungsmuster zeigt allerdings bereits The The (1995), eine gemeinsame Choreographie von Forsythe und Casper-
107 Vgl. Improvisation Technologies, Menüpunkt »Lines«, Kapitel Kapitel »Complex Operations«, Abschnitt »approaches«.
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sen, in der sich Christine Bürkle und Jone San Martin am Boden sitzend verrenken und ineinander verdrehen, ohne sich vom Platz zu rühren.108 Der Flow der tanzenden Körper im Raum, der die Silhouetten verflüssigt und die Bewegungen verschwimmen lässt109 und mithin als charakteristisch für Forsythes Ästhetik angesehen wird – so spricht Siegmund etwa von »forsythetypische[n] Bewegungen« (Siegmund 2006: 310) –, weicht gespannten und gehaltenen Muskelkontraktionen, die den Körper am Platz verdrehen und in sich verdichten. Die vielfach multiplizierten Zentren, welche sonst der tanzende Körper in den Raum hinein entwirft, scheinen in das umgebende Beiwerk der Kleidung verlagert zu sein, wobei die Bewegungsimpulse vom sich verziehenden, dehnenden Stoff initiiert wirken, der den Körper in Torsionen zwingt. Forsythe formuliert mit seiner Improvisationsmethode ein Ideal reaktiver Tänzer/innen, die ihre Bewegungen nicht mehr gezielt formen, »sondern es dem Körper überlassen, dich zu tanzen.« (Forsythe/Haffner 2003: 27) In Decreation überhöht und dekonstruiert Forsythe dieses Prinzip: Die Körper haben ihre verstreuten Zentren an die Kleidung veräußert. Nicht der Körper bewegt die Tanzenden, sondern das Rahmenwerk die Körper, die in diesem Szenario am Rande außer sich sind. Verweben sich Forsythes Protagonist/innen sonst in »einer oszillierenden ›dis- and re-orientation‹«, wie Brandstetter ausführt (Brandstetter 1997: 616), scheinen sich nun die Körper in den verdrehten Tensionen in sich selbst abzudichten und dabei ihr Zentrum an den Umraum abzugeben.
2.4.2 Dis-Balancen Blickt man auf die früheren Stücke Forsythes, ergeben sich Achsenverschiebungen auch über das prekäre Spiel mit der Balance, das die statischen Haltungen aus dem klassischen Ballett beunruhigt. Forsythe selbst formuliert die neue Herangehensweise als »Paradigma« seiner Arbeit (Forsythe/Kaiser 1999a: 65): »One aspect of classical ballet is the constant folding and unfurling of just the leg, which the dancer always brings back to one of the prescribed positions. Our fold differs in that it is not just in the knee but also in the hips, thus affecting the torso as well. This means that instead of remaining a 90-degree angle to the floor, the torso begins to fold down and become parallel with it. An entirely new set of mechanics then takes over, since the body has achieved a new state of balance.« (Ebd.: 66) 108 Ich habe das Duett 2004 im P.A.C.T Zollverein, Essen gesehen. 109 Christiane Berger betont explizit die Unmöglichkeit, die gesehenen Bewegungen festzuhalten oder en detail zu erinnern. Der Blick werde gezielt überfordert und könne nur einzelnen Situationen oder Bewegungselementen der Stücke folgen (Berger 2006: 29, 112). Diese Diffusionen ordnet Berger in den Kontext postmoderner Tanzpraktiken ein, in denen es nicht mehr so sehr um das Placement des Körpers gehe, sondern um den »Übergang, die Passage zwischen zwei Positionen.« (Ebd.: 94, Hervorhebung S.F.)
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Evert bestimmt diese Umkehrung des Ideals der Balance im Ballett, die trotz prekärer Positionen aufrechterhalten werde, als zentrales Prinzip des »desequilibre« (Evert 2003: 126). Wurde mit Meg Stuart zuvor die Balance als SturzGefahr des Körpers hervorgehoben, die aber im grotesken Dazwischen von Haltung und Kontrollverlust verbleibt (vgl. S. 341), und wahren auch die Grotesktänzer Magris zumeist das Equilibrium, das allerdings in waghalsigen Sprungformationen riskiert wird (vgl. S. 361), erlaubt Forsythes Technik den Tänzer/innen, zu Boden zu gehen. Brandstetter betont, dass diese Bewegung in »Lücken«, in »Sturz und Riss«, nicht nur die Tänzer/innen aus dem Gleichgewicht bringe, sondern gleichsam auch die Wahrnehmung des Publikums ins Schwanken geraten lasse (Brandstetter 1997: 620 f.).110 Innerhalb des Labanschen Raummodells ergeben sich ungewöhnliche Bewegungskombinationen, so zum Beispiel »collapsing points«, wie Sabine Huschka hervorhebt (Huschka 2004: 102). Laut Siegmund entstehen diese auf der Basis des Öffnens und Schließens des Körpers, als Bezug zum Körperzentrum hin oder von diesem wegleitend in den Raum hinein, wie er mit Laban erläutert (Siegmund 2006: 258). Ich meine nun, dass sich bereits Mitte der 1990er Jahre nicht nur die Vervielfältigung und (räumliche) Expansion als Mobilisierungen von Körperzentren in Forsythes Arbeiten zeigen, sondern auch die Bewegungen selbst Züge des Implodierens in sich tragen. Bevor dies an dem kurzen Stück Solo ausgeführt wird, sei zunächst eine groteske ›Gegenbewegung‹ eingeschoben.
Einschub: Explodieren – Valeska Gert In ihrem Solo Kupplerin (1925) konfrontiert Gert in überbordenden Bewegungen gewohnte Muster von Ausdruckstanz und Weiblichkeit (vgl. S. 111 ff.). Nach anfänglichem Schwanken in de-stabilisierender Irritation der Vertikalen, schlägt sie die Arme wiederholt gegen den Unterleib, um von dort mit schleudernden Bewegungen zu explodieren, die Arme weit ausgestreckt, die Beine über die Hüften hinaus hochgerissen, die Zunge herausgestreckt und die Augen weit geöffnet, wodurch ihr Körper nahezu über den Bildrand hinaustritt. Im nächsten Moment fahren die Glieder wieder zurück und schlagen gegen die Brust, die Augen in den Höhlen verdrehend. Schließlich schnüren sich ihre Arme zusammen und reiben grob über die Brust, den Oberkörper dabei leicht verrenkt. Die Techniken von Contract und Release, wie sie später Martha Graham etabliert, scheinen hier in einem berstenden Zeitraffer vorweggenommen zu sein. Sind Gerts Bewegungsphänomene als grotesk zu bezeichnen, so fällt hier allerdings auf, dass sie die Idee der Körpermitte als 110 In Bergers Seherfahrung wiederum generiert sich das Bewegungsgeschehen als »flächig[er] […] Strom«, der am Auge vorüberziehe (Berger 2006: 30).
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Ausgangspunkt und Zentrum der Bewegung noch nicht aufgibt. Die Verschleuderungen der Extremitäten provozieren zwar gleichermaßen die Bildkadrierung wie die Wahrnehmungsgewohnheiten des damaligen Publikums und reißen Masken anmutiger Weiblichkeit herunter, jedoch agiert Gert hierfür aus einer weitgehend stabilen Haltung heraus, die nur im anfänglichen Schwanken kurz gefährdet wird. Die Schläge gegen den eigenen Leib und hier besonders die Zonen des Femininen zerstören insofern nicht das Labansche Modell der Kinesphäre, sondern bewegen sich durchaus in dessen Strukturzusammenhang, und im Grunde sogar innerhalb der von Laban formulierten »Antriebsaktionen«. Diese bilden ein opponierendes System von nicht positions- und schrittgebundenen Bewegungsqualitäten im Ausdruckstanz, in Polarisierung von zum Beispiel allmählich – plötzlich, direkt – indirekt oder fest – zart (Laban 2001: 71 ff.). Gerts Bewegungen wäre in diesem Zusammenhang die Eigenschaft des »Peitschen[s]« zuzuweisen, plötzliche, feste und flexibel geführte Bewegungen mit Armen oder Beinen, die sowohl vom Körper weg als auch zu ihm hin gerichtet sein können (ebd.: 86 f.). Gleichwohl verformt Gert Labans System, dem sie das grimassierende Gesicht und das tendenzielle Aufreiben der Körperkonturen entgegensetzt. Sie vermeidet die Bewegung im Raum – sämtliche Explosionen ereignen sich am Platz, was allerdings auch der damals noch statischen Kamera geschuldet ist, die das Solo aufzeichnete. Über die Aufführungspraxis des Stücks ist wenig bekannt und so bleibt unklar, ob Gert sich damals auf der Bühne weiträumiger bewegt hat, um die Wucht ihrer Motionen zu vergrößern. Im vorliegenden Filmfragment zumindest nutzt die Regisseurin Suse Byk die Nahaufnahme der Figur, welche die unteren Extremitäten nur im Moment des Hochreißens sichtbar werden und mithin buchstäblich ins Bild treten lässt – Valeska Gert macht dem Filmbild Beine.
2.4.3 Implodieren: Forsythes Solo In seinem siebenminütigen Solo (1995), das im Rahmen des Programms Evidentia (Konzept: Sylvie Guillem) erarbeitet wurde und auf der CD-Rom Improvisation Technologies dokumentiert ist, sind Forsythes Tanzerfahrung der letzten Jahrzehnte und die wesentlichen Elemente seiner Methode komprimiert zusammengefasst, wie er im Gespräch erläutert (Forsythe/Haffner 2003: 21). Das gesamte Stück ist extrem schnell getanzt, so dass das Auge kaum den sich rasend verändernden, ausbreitenden und einfaltenden Bewegungen zu folgen vermag – Forsythe selbst ist sich dessen bewusst und bietet daher auf der CD-Rom eine Zeitlupenversion des Solos an. An dieser Version orientieren sich die nachfol-
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genden Betrachtungen, die nicht das gesamte Stück analysieren,111 sondern einige prägnante Bewegungsaspekte herausgreifen. Solo ist durchzogen von Faltungen, Ausdrehungen und Einwicklungen des Körpers, die sich besonders an den Armen zeigen sowie am Kopf, der immer wieder umspielt, weggeknickt und verdreht wird. Die Bewegungen werden häufig vom Becken initiiert, wobei Hüfte und Rücken oftmals nach hinten ausweichen (arch), während sich der übrige Körper in einer Gegenbewegung nach vorne und zum Zentrum hin einzieht (curve) – eine Anordnung, die soweit noch Labans Entwürfen folgt (Laban 1991: 41).112 Sprünge ereignen sich dabei vielfach mit nach vorne eingeknicktem Oberkörper, was der Torsion und Mobilisierung der Hüften geschuldet ist, welche Forsythe entgegen der Ballettpraxis einsetzt und die Bewegungen aus einem vorgezeichneten Pfad herausdrehen, den Körper überraschen und im Spiel mit der Balance gelegentlich auch zu Fall bringen (vgl. Forsythe 2003).113 Gemäß seinem Prinzip »from simple to complex« (Forsythe 2003)114 zeigt ein Close-up zu Beginn auf Forsythes Füße, die sich in die erste Position ausund wieder zurückdrehen, gefolgt von einigen kleinen, schnellen ronde de jambes und entrechats. In der Folge verwickelt sich sein Tanz in verzweigte Motionen, in denen die Motive des umkreisten Kopfes und sich eindrehender Arme zwei der Merk-Bahnen durch das Solo sind. Der Kopf wird wiederholt mit den Händen oder Armen umfahren, entweicht aus dieser geometrisch vorgezeichneten Form, knickt darunter weg, klappt im Sprung zur Seite, windet sich aus der Armkurve heraus oder wird umgedreht von den Händen bewegt und nach links und rechts geschlagen. Die Konturen des Gesichts verziehen sich dabei an manchen Stellen, besonders, wenn sie von den oberen Gliedmaßen umwirbelt werden. Eine prägnante Spur bilden die Extensionen und Einziehungen der Arme, die in vielfachen Kombinationen den Torso sukzessive in sich einschrauben. Kaum sind sie in einem port de bras geöffnet, knicken sie sogleich wieder in den Schultern ein und führen die Hände mit, die sich in die Brust einfalten. Ausgebreitete Arme, im Ansatz einer Pirouette zur Stabilisierung des Körpers gehalten, werden in der nächsten Sekunde schon wieder in ihr Gegenteil verkehrt und schnurren in sich zusammen. Der Oberkörper verdreht sich, die Glieder mitnehmend, und
111 Eine detaillierte Analyse mithilfe der Methode des IVB bietet Wibke Hartewig, die Solo als regelrecht tänzerisch visualisiertes Alphabet der Improvisation Technologies liest (Hartewig 2007: 229). 112 Diese Bewegungen zeigt Forsythe in den Improvisation Technologies, Menüpunkt »Lines«, Kapitel »Complex Operations«, Abschnitt »In General«, Unterpunkt »back approach«. 113 Vgl. Improvisation Technologies, Menüpunkt »Lines, Kapitel »Complex Operations«, Abschnitt »Avoidance«, Unterpunkt »movement«. 114 Improvisation Technologies, Menüpunkt »Lines«, Kapitel »Complex Operations«, Abschnitt »In General«, Unterpunkt »from simple to complex«.
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kurbelt sich um die eigene Achse.115 Dabei segmentiert Forsythe den Oberkörper oft in horizontale Ebenen, lässt die Schultern nach rechts, das Becken aber nach links ziehen, schiebt die Hüfte auf einer Seite heraus und biegt die Arme in der Gegenrichtung ein.116 Häufig rollen die Schultern nach innen, lassen die Ellenbogen in die Brust einknicken und drücken sich gegen den Körper, gefolgt von den Knien, die sich ineinander verzwirbeln, nachgebend zu Boden gehen, den Körper im Fall auf der rechten Hüfte landen lassen und die Arme um den Oberkörper winden, als wollten sie ihn einwickeln. So entstehen dialektische Thesen und Antithesen von Bewegungen, die den Körper wie einen Blasebalg ausdehnen und gleich wieder zusammenschrumpfen lassen. Zunehmend werden jedoch die oberen Glieder in den Rumpf eingebogen und um ihn geschnürt oder umschleudern den Oberkörper als Volumen, der gemäß Forsythes Bewegungsprinzipien, in denen zum Beispiel imaginäre Rauminhalte in der Kinesphäre erzeugt werden können (Forsythe 2003),117 nun selbst zum Hohlraum wird. Immer mehr entsteht der Eindruck, der Körper falle in sich ein, eine Wahrnehmung, die durch zunehmende Stürze zum Boden verstärkt wird. Ähnlich zu Valeska Gert ereignen sich die Bewegungen dabei vielfach am Platz, ohne den umgebenden Raum zu nutzen – der Rahmen dieses bewegten Standbildes wird jedoch nach innen gezogen statt nach außen gesprengt118 wie in Gerts Explosionen. Vorgezeichnete Körperbilder einer Ballettästhetik oder Labanscher Ausdehnungen beginnen zu kollabieren, implodieren in einem in sich einklappenden, zerfallenden Bild. Zeigt sich der Körper zunächst in einem überschäumenden »Sprudeln« – ein Bewegungseindruck, den Sulcas etwa beim Ansehen des Stücks Alie/NA(c)Tion formuliert (Sulcas 2003: 41) und den Huschka als Dissemination von Körperkonturen im Raum wahrnimmt, deren Gestaltverbünde »auseinander […] driften« (Huschka 2001: 27) –, so klappt er sich in Solo zunehmend in sich selbst ein, lässt die Bewegungen einstürzen und die Umsäumung der Tanzfigur zerbröseln. Forsythe selbst spricht davon, dass es ihm darum gehe, »Choreographie zu überwinden […] und es dem Körper zu überlassen, wie er sich bewegt.« (Forsythe/Haffner 2003: 27) Der Körper nimmt den Choreographen nun beim Wort und löst die Bindungen eingesickerter Tanztechniken gerade mithilfe komplex erlernter Bewegungsmodalitäten, die er anarchistisch unterwandert,119 um, wie Kirsten Maar es formuliert, »Momente des in-between herbeizuführen.« (Maar 2005: 103 f.)
115 Eine ähnliche Bewegung nutzt Xavier Le Roy im dritten Teil seines Triptychons Narcisse Flip (vgl. S. 393). 116 Zur Weiterentwicklung des Prinzips als »shearing« vgl. S. 401. 117 Vgl. Improvisation Technologies, Menüpunkt »Lines«, Kapitel »Complex Operations«, Abschnitt »Avoidance«, Unterpunkt »volumes«. 118 Hartewig entdeckt in Solo allerdings lediglich explodierende Bewegungen (Hartwig 2007: 223). 119 Forsythe folge in seinem kurzen Stück einer Imprägnierung des Körpers durch erlernte Techniken, die durch seine spezifischen Improvisationsverfahren jedoch
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Der Idee des Implodierens gewohnter Muster gerade durch ein virtuos beherrschtes System folgend – das, so Forsythe, aus einem »non-balletic vocabulary of 135 movements« bestehe (Forsythe/Kaiser 1999: 67) – und gemäß seiner Arbeiten mit und an verbaler wie tänzerischer Sprache, gliedert er in Solo die Vokabulare seiner Bewegungsästhetik auf, die den Körper schlussendlich mit hoher Geschwindigkeit zer-gliedert. Der Körper ergibt sich in Forsythes Sphäre dem virtuos vorangetriebenen Kollaps, am Rand von Körpern als Musterungen und Gliederungen von Unabgeschlossenheiten. Zwar sind im Verlauf dieses Kapitels ›Techniken‹ des Grotesken evident geworden, dennoch entziehen sich die Bewegungen signifikanten Zuschreibungen, wie zu sehen war. In der Rezeption wird das Gesehene trotz einer gewissen Ermüdung angesichts scheinbar bereits vertrauter Muster von Verzerrung und Torsion dennoch immer wieder auch als verstörend, befremdend und mithin grotesk angesehen. Dass sich manche Kritiker/innen bei Meg Stuarts Stücken mittlerweile langweilen, scheint mir eher ein Indiz dafür zu sein, dass die entwickelte Ästhetik der Tics, Fragmente und Verdrehungen nicht als ›Technik‹ im herkömmlichen Sinn verstanden wird beziehungsweise sich solchen Kategorisierungen radikal entzieht. Dabei weisen William Forsythes Improvisation Technologies bereits Mitte der 1990er Jahre Torsionen und Verknotungen explizit als Module eines neuen Bewegungsverfahrens aus (Forsythe 2003).120 Warum also wird etwa ein Stück wie Decreation mit solcher Verwunderung aufgenommen, wie anfangs erörtert? Meiner Ansicht nach liegt dies im Wechsel von Forsythes Technik begründet, die, wie am Beispiel von Decreation gezeigt wurde, nicht mehr den sich als oszillierendes Konstrukt in den Raum hinein entfaltenden Körper favorisiert, sondern diesen als in Verdrehungen verschraubten zeigt und ihn zu einer kompakten, jedoch tendenziell implodierenden Masse geraten lässt. Die Vergleiche mit Stuarts Strategien, die Laermans als eine Ästhetik am Rande des Kollaps beschreibt (Laermans 1995: 56), ergeben sich dabei besonders aus den Bewegungen am Platz, die nicht mehr raum-greifende, sondern körper-umfassende sind, die dialektische Spannungen zwischen Kontrolle und Sturz aufbauen und den Körper in inneren Tensionen verdichten und damit paradoxerweise zu einem ungreifbaren, da unzugänglichen und wiederum ungeformt offenen Konvolut von Bewegungsenergien werden lassen.
auch »individuelle Züge« tragen könnten, so die einschränkende Auffassung Hartewigs (ebd.: 223). 120 Vgl. Improvisation Technologies, Menüpunkt »Lines«, z.B. Kapitel »Complex Operations«, Abschnitt »Approaches«, Unterpunkte »knotting exercise« und »torsions«.
Sc hluss be trachtunge n Für eine Pe rspek tive des Groteske n im ze itge nössische n Ta nz
»Um zwei extreme Beispiele zu geben: Wenn man ein klassisches Ballett mit einem Stück von Pina Bausch vergleicht, dann spürt und sieht man in erster Linie, wie diese Personen arbeiten, zum Beispiel, ob sie improvisieren. […] Und für mich persönlich heißt das, so oft wie möglich die Arbeitsweise zu wechseln.« Xavier Le Roy (in Hahn 2007: 51)
Die vorliegende Arbeit hat ein breites Spektrum von Inventuren im zeitgenössischen Tanz aufgefächert, wobei sich die Suchformel des Grotesken als Interimsfigur erwiesen hat, in einer Sichtweise auf experimentelle Tanzstücke wie auch als Produktionspraxis innerhalb choreographischer Ästhetiken. Der dabei angelegte Inventarbegriff ist insofern als ein grotesker zu verstehen, im Sinne von Musterungen des Dazwischen. Diese folgen einer heterotopischen Perspektive, welche sowohl die hier entfalteten Charakteristika von Tanz seit den 1990er Jahren umfasst als auch die eingenommene Haltung des Beobachtens – als KippPhänomen zwischen Sichtungen experimenteller Kunst-Ereignisse und ihrer Verschriftlichung. Die ausgewählten Aspekte im Tanz situieren sich innerhalb einer monströsen, Kategorien beunruhigenden, offenen Taxonomie, die Momentaufnahmen zwischen oszillierenden sowie de-figurierenden Bewegungen als temporäre Sedimente abspaltet, wie mit der Formel des Situationsbildes verdeutlicht wurde. Die hierbei aufscheinenden ›Monstren‹ sind als temporäre Anti-Inventare grotesker Ordnungen zu verstehen, zwischen Verbergen und Zeigen, Undarstellbarem und Be-Deuten – marginale Geschehnisse, die wiederum die Bedingungen für Diskursivierungen ausmachen und difforme Phänomene ins Zentrum einer Ästhetik rücken, in der das Fluktuierende tendenziell zur Direktive wird.
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In solche Normierungen schiebt sich dann erneut die Sichtweise des Grotesken ein, welche die aufgezeigten Ästhetiken als balancierende, austarierende Bewegungen genau zwischen Sturz und Stabilität, zwischen Präsenz und Abwesenheit ausweist, verknüpft in einer dialektischen Schwebe von Fluidem und Verfestigtem, an den Umsäumungen von Innen und Außen. Im Verlauf dieses Buches haben sich die im ersten Teil geäußerten Annahmen verdichtet und Züge des Grotesken als ein prominentes Attribut im zeitgenössischen Tanz entfaltet, die formuliert werden können als: 1. groteske Inventuren, zwischen Verfremden und Ordnen, als Diffusionen von Eigenem und Verunsichertem 2. groteske Situationen, welche die untersuchten Beispiele innerhalb eines schmalen Zeitrahmens denken, temporäre Abdrücke zwischen Erfahrungen des Fremden und Erkennen/Be-Deuten 3. groteske Passagen, die den Spalt zwischen Rand und Zentrum, im Übergang von Körpern zum Umraum oder Marginalem zum Mainstream offenhalten. Mit der Wendung ins Supra-Groteske war außerdem zu zeigen, dass Formwandlerisches zum Inventar aktueller Ästhetiken im Tanz geraten kann, indem es parodiert und karnevalisiert wird – Wagner Schwartz und Saša Asentić geben hierfür ein Beispiel. Metamorphes ergibt sich mithin als Weise zeitgenössischen Tanzes: Als Dis- und Remembering rückt es vom Rand tendenziell ins Zentrum, entgegen einer Auffassung von Unlesbarkeit oszillierender Phänomene in diesem Feld. Die hier vorgestellten Stücke sind dabei nicht als groteske zu verstehen, innerhalb eines Ansatzes, der die Charakteristika des Grotesken an die Momente von Schock oder Subversion durch destruierendes Lachen rückbindet – wie partiell mit Valeska Gert exploriert wurde oder wie es, noch früher, die Romane Rabelais’ als karnevaleske Kosmologie ausbreiten –, spontane Reaktionen, die nicht mehr primäre Impulse experimenteller Tanzaufführungen ist. Vielmehr sind Ästhetiken des Zeitgenössischen, wie sie hier etabliert wurden, zumeist von Zügen des Grotesken durchwandert, die im Kontext der Postmoderne einer Reformulierung bedürfen und sich in einer dreifachen Phänomenalität offenbaren: zunächst als Produktionsweise im präzisen Operieren an Rahmungen und Kipp-Figuren, die in einer dialektischen, unabgeschlossenen Spannung zwischen Bildlichkeit und ihrer prozessualen Auflösung oszilliert und Markierungen, als Situationsbilder, selbst in Bewegung bringt. An eine solche Praxis ist notwendig der zweite Zug grotesker Erscheinungen angebunden: das Wechsel-Spiel zwischen Dargebotenem und den Betrachtenden, als Herausforderung, Irritation und Verschiebung der Wahrnehmung oder Einbrüche in konventionelle Ordnungen. Schließlich folgt die dritte Ebene des Grotesken, das als Attribut immer noch dann zum Tragen kommt, wenn es an einem Vokabular für die Bewegungsbeschreibung mangelt, wodurch sich die Ambivalenz einer unaufgelösten Spannung von
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Fremdheit zeigt: Das Groteske trägt in sich den »Stachel des Fremden«, der Verunsicherung hervorruft, diese jedoch nur erzeugen kann, wenn die gezeigte Kunst noch Fragmente von Erkanntem in sich trägt, die verformt und überlagert werden. Das als fremd Erfahrene irritiert und fasziniert zugleich, entzieht sich herkömmlichen Mustern und wird gerade deshalb – etwa in Pauschalisierungen des zeitgenössischen Tanzes, wie die Ausstellung in der Akademie der Künste 2003 zeigte – mit einem Label belegt, um das Gesehene ins Bild zu bannen. Viele der analysierten Beispiele entziehen sich jedoch gerade diesen Normierungsversuchen, lassen sich nicht über Genregebiete plakatieren und sind selbst nach mehrmaligem Ansehen als Formierung nicht zu fassen, so Xavier Le Roys Self unfinished, das sich der Schließung in einen Stil widersetzt, wie dieser im obigen Zitat betont – und doch zur Stilistik gerät, in Körper-Bildern des Amorphen, die für explizit zeitgenössische Körperpraktiken ›stehen‹. Meine Absicht war, das Groteske zunächst als ein Such-Werkzeug einzusetzen, das die Rede vom werdenden, permanent changierenden, fluiden Körper durch den Vorschlag unabgeschlossener Inventuren präzisiert. Diese erlauben es, Tanz seit den 1990er Jahren ein Feld von Pattern durchstreifen zu lassen, anhand derer Vergleiche zwischen den divergierenden Ästhetiken gezogen werden können, die zugleich in der ausgeführten, erweiterten Perspektive anschlussfähig an groteske Phänomene aus der Tanzgeschichte sind. Jene Musterungen ermöglichen es, den Körper am Rand von De-Figurationsprozessen zu beobachten, ihn beschreibbar zu machen, ohne jedoch kategoriale Formen festzulegen. Zugleich bedient sich experimenteller Tanz selbst der Strategien des Grotesken, um Veränderungen der Publikumsperspektive herauszufordern, die sich immer in der fragilen Dis-Balance des Umspielens von Grenzen, dem Halten, Aufdehnen und Übertreten von Rahmen zeigen. Groteskes ergibt sich dabei vielmehr als Praxis denn als Methode – als technisches ›System‹ gerinnt es zur Form, wie am Beispiel Eric Raeves’ zu sehen war. Zugleich ergibt sich das Paradox, dass difforme Erscheinungen mit einer oft präzise kalkulierenden, dekonstruierenden Körpertechnik erzielt werden, im virtuosen Schwanken zwischen Kontrollverlust und Ver-Haltung, wie anhand der Beispiele von Sasha Waltz, Meg Stuart und William Forsythe ermittelt werden konnte. Das Groteske ist im zeitgenössischen Tanz mithin neu zu formulieren: als Abjekt, als dünne Membran. Ein Häutchen, das als Fremdes/zu Verwerfendes zugleich dem eigenen Körper anhaftet und sich nicht vollständig veräußern, jedoch auch nicht restlos vereinnahmen lässt. Es bleibt an den Lippen, im artikulatorischen Dazwischen hängen und bildet paradoxe Wahrnehmungsfiguren des Fremden im Amorphen, imaginative Bilder der Verstörung, wie sie etwa anhand Le Roys Self unfinished erscheinen, um die Irritation in ein situatives, defigurierendes Bild zu wenden. Somit bilden sich Inventuren des Unabgeschlossenen, zwischen Invention und Inventar, die Dichotomien nicht auflösen, sondern vielmehr an ihren materiellen, subjektiven oder diskursiven Rändern arbeiten und
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Binäres in dialektischen Bewegungen aufgespannt halten. Groteskes befragt die Ontologie des Tanzes mit den Mitteln des Körpers als Schaltstelle zwischen Ruhe und Bewegung, als Zeitlichkeit, die sich in Situationsbildern ereignet und ausdrückt. In diesem Zusammenhang sind verschiedene Motive grotesker Inventare ausgebreitet worden, die sich als Züge der Metamorphose, des Öffnens und des damit häufig verbundenen Depersonalisierens in Negationen, Aufsplitterungen oder verzerrten Nachbildern von Kopf und Gesicht ergeben haben. In diesem Kontext wurde besonders der Mund als Grenzorgan zwischen Körper und Welt, Innen und Außen, Ereignen und Artikulieren prononciert. Insbesondere über den Torso als Figur von Torsion und Inversion konnten mögliche Vokabulare des zeitgenössischen Tanzes entwickelt werden. Sie favorisieren die Strategien des Dekomponierens, De- und Reintegrierens sowie Fragmentierens als Attribute und Bewegungsprinzipien einer experimentellen Praxis und positionieren den Körper im Tanz an Umsäumungen, dezentralisiert zwischen multiplen Körpermitten und Umraum sowie in Pendelbewegungen. Diese ergeben sich als buchstäbliche, im seitlichen Ausschwingen, Schütteln oder Schleudern von Kopf und Extremitäten, sowie als Gleiten zwischen Körperlichem und Medialem, im Close-up überdeutlichen Zeigens, so in Thomas Lehmens und Bruce Naumans Performances. Betont wurden Dekompositionstechniken des Unabgeschlossenen, etwa im »shearing« William Forsythes, sowie fluide Pattern, die in Le Roys Stücken entstehen und fixen Formierungen zwar entschlüpfen, als solche jedoch bereits in einem Symbolsystem dekonstruierender, chimärischer Kulturtechniken als Paradoxie unabgeschlossener Muster Eingang gefunden haben. Um die Wanderungen difformer Motive nachzuvollziehen, konnte unter anderem aus einem historischen Fundus grotesker Bildspeicher geschöpft werden, der anhand der Inversionsbewegungen Gennaro Magris sowie den metamorphen Sprachbildern Rabelais’ dargelegt wurde und mithin Repertoires grotesker Motionen dokumentiert, die wiederum auf Verfahren und Rezeption der untersuchten zeitgenössischen Tanzstücke übertragbar sind. Zwar ergeben sich die herausgelösten Pattern hier zunächst über die empirische Sammlung, werden aber im Moment des Sehens offenbar als irritierend, befremdend oder gar schockhaft erlebt. Nicht zuletzt war es auch Anliegen dieser Arbeit, die Groteske-Forschung um die Perspektive des Tanzes zu erweitern und besonders die Aspekte der Bewegung als Torsion von Körper und Beobachterposition, im Vibrieren an der Schwelle von Rand und (resignifizierendem) Zentrum sowie im Spiel um Rahmen und Begrenzungen hervorzuheben. In dieser Fokussierung kann es dann gelingen, das Groteske jenseits von Schock und Revolution als ein ästhetisches Merk-Mal des zeitgenössischen Tanzes zwischen Inventur und inventio, zwischen Resümee und Entzug neu zu positionieren. Damit kommt schließlich wieder die im ersten Teil geäußerte Frage nach dem Agens der Inventuren ins Spiel und mithin danach, wer oder was Rahmen setzt, aufdehnt und sprengt. Groteske Agenten sind nicht die hier entfalteten pro-
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zessualen Bilder, auch nicht die Stücke oder Aktionen, ihre Autor/innen oder die Zuschauenden, die das Gesehene verortend verstört. Agententum erscheint in der dialektischen Textur, die sich zwischen diesen Ebenen aufspannt, im Gewebe transformierender Bewegungen, ihrer Wahrnehmung und den entstehenden Bildern, in den Zwischen-Räumen von subjektivierenden Handlungen, symbolisierenden Diskursen und Fremderfahrungen im Eigenen. Groteske Agenten offenbaren sich im Beziehungsgeflecht eines zeigenden Zeigens – anstatt zu re-/ präsentieren, gehen sie de-monstrieren.
Da nk
Das vorliegende Buch ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation und ein Ergebnis langjähriger Beobachtungen und Recherchen im zeitgenössischen Tanz, in der bildenden Kunst und der Performanceart. Auf diesem Weg durfte ich viele wunderbare Menschen kennenlernen, die mich durchweg inspiriert, unterstützt und begleitet haben. Dafür danke ich: Prof. Dr. Gabriele Brandstetter, die mich seit Jahren fachlich wie menschlich unterstützt und ermuntert hat und jede Wegbiegung sowie manche Umwege mitgegangen ist: Was kann man sich mehr wünschen? Prof. Dr. Christoph Wulf, für das große Interesse am Thema, die nützlichen Hinweise und immer wieder motivierenden Worte. Den vielen Künstler/innen und ihren Manager/innen, die mir ausnahmslos großes Vertrauen entgegengebracht haben und mir ihre Materialien bereitwillig zukommen ließen: Luiz de Abreu und Wagner Carvalho, Vito Acconci und Ned Kihn, Saša Asentić und Stella Cristofolini, Jérôme Bel (Sandro Grando), Christina Ciupke, Cristian Duarte, Ugo Dehaes und Charlotte Vanden Eynde, William Forsythe (Julian Richter, Mechthild Rühl, Melanie Zimmermann), Franko B, Laurent Goldring, Emio Greco, Pieter C. Scholten, Bertha Bermudez und Francien Eppens, Saskia Hölbling (Elisabeth Drucker, Simon Hajós), Mette Ingvartsen (Kerstin Schroth), La Ribot (Grégory Ysewyn), Xavier Le Roy, Eszter Salamon und Alexandra Wellensiek, Thomas Lehmen, Adalisa Menghini, Lia Rodrigues (Colette de Turville), Tanzcompagnie Rubato (Dieter Baumann und Jutta Hell), Isabelle Schad und Bruno Pocheron, Wagner Schwartz, Meg Stuart, John Zwaenepoel, Diana Raspoet und Ellen De Bin, Jeremy Wade, Gabi Beier und Barbara Greiner, Sasha Waltz, Jochen Sandig, Yoreme Waltz und Anne Wagner. Dem Tanzarchiv Leipzig e.V. (Gabriele Ruiz), dem Deutschen Tanzarchiv Köln (Frank-Manuel Peter), dem Team der Médiathèque des Centre national de la Danse, Paris, dem Vlaams Theater Instituut, Brüssel (Robin d’Hoge, Christel de Brandt), dem ZKM – Zentrum für Kommunikation und Medien, Karlsruhe (Frau Gehrig, Frau Strasser) sowie dem mime centrum berlin (Thilo Wittenbe-
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cher), Pirkko Husemann und der TanzWerkstatt Berlin (Ulrike Becker, André Thériault, Cécile Buclin, Jule Wocke) für die großzügige Hilfe bei der Recherche. Dank gebührt außerdem sämtlichen Photograph/innen, die die Abbildungen in diesem Buch überhaupt erst ermöglicht haben und durchweg spontan und hilfsbereit ihr Material zur Verfügung stellten, sowie dem John Coplans Trust, New York (Elizabeth Cline, Amanda Means) und der Lisette Model Foundation, New York (Stan Ackert) für die großzügige Überlassung der Rechte an den Bildern. Die Promotion wurde unterstützt durch ein DFG-Forschungsstipendium im Rahmen des Graduiertenkollegs Körper-Inszenierungen der Freien Universität Berlin: Ich bedanke mich bei Prof. Dr. Dr. h. c. Erika Fischer-Lichte und allen Professor/innen und Mitgliedern, die mir in den Kolloquien viele nützliche Hinweise und Ratschläge gegeben haben sowie bei den Teilnehmer/innen der Kolloquien von Prof. Dr. Brandstetter und Prof. Dr. Wulf. Die Abschlussphase dieser Arbeit wurde außerdem gefördert durch ein Aufenthaltsstipendium der Denkmalschmiede Höfgen e.V.: Ein herzlicher Dank geht an Dr. Kurt Uwe Andrich und sein wunderbares, umsorgendes Team. Drei Helferinnen haben bei der Veröffentlichung des Buches phantastische Hilfe geleistet. Mein herzlichster Dank geht an Kirsten Maar, kompetente und unermüdliche Lektorin mit der Bereitschaft, jedes noch so kleine Detail jederzeit zu diskutieren, Christina Schmitt, für unkompliziertes, mitdenkendes Korrekturlesen und Layout sowie Andrea Simonis, für die fähige und geduldige Bearbeitung der Abbildungen. Allen Freundinnen und Freunden sei gedankt, die mich auf diesem Weg begleitet haben, besonders Elettra de Salvo, Yvonne Hardt, Karin Karn und Karin Kirchhoff. Meiner Familie gebührt großer Dank: Monika Foellmer, für die unschätzbare Unterstützung, sowie Daniela Lörler und ihrer Familie, Sabine und Ingo Völkner, Helene Sokoly und Wilma Stelzl, für die guten Worte und die lebensnotwendigen süßen Care-Pakete in der Endphase. Zum Schluss und am allermeisten: Max, in tiefer Liebe. Mit Dir an meiner Seite würde ich das Ganze glatt noch mal schreiben.
An hang
Verzeichnis der Produktionen
Choreographien, Theaterstücke Abreu, Luiz de: Samba des verrückten Negers (2004) Asentiü, Saša: My Private Biopolitics (2007) Bel, Jérôme: Jérôme Bel (995) Bigonzetti, Mauro/Compagnia Aterballetto: Pression (994) Dies.: Omaggio a Bach (2000) Castellucci, Romeo/Socìetas Raffaello Sanzio: Giulio Cesare (997) Duarte, Cristian: Embodied (2003) Dehaes, Ugo/Vanden Eynde, Charlotte: Lijfstof (2000) D’Urso, Maria Donata: Pezzo 0 (due) (2002) Forsythe, William: Solo (995) Ders.: Decreation (2003) Ders.: You Made Me a Monster (2005) Ders.: Heterotopia (2006) Gaudreau, Lynda/Compagnie de Brune: Encyclopœdia, Document (999) Gert, Valeska: Capriziosa Dies.: España Dies.: Kupplerin (925) Dies.: Negertanz Dies.: Olé Dies.: Tod (925) Dies.: Trauer Goldring, Laurent: Photo Agathe Pfauvadel, Xavier Le Roy (996) Ders.: Ohne Titel, Tanz: Maria Donata d’Urso (2002) Greco, Emio | PC: Fra Cervello e Movimento: Extra Dry (999)
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Hölbling, Saskia: other feature (2002) Ingvartsen, Mette: Manual Focus (2003) Dies.: 50/50 (2004) La Argentina: Spanische Tänze La Ribot: Piezas distinguidas (996) Le Roy, Xavier: Narcisse Flip (Triptychon, 994-997) Ders.: Blut et Boredom (996) Ders.: Self unfinished (998) Ders.: E.X.T.E.N.S.I.O.N.S. (2000) Lehmen, Thomas: Schreibstück (2002) Ders.: Operation (2003) Ders.: Funktionen (2004) Menghini, Adalisa: Corpo a Corpo (998) Raeves, Eric: Interesting Bodies (996) Rodrigues, Lia: Ce dont nous sommes faits (2000) Rubato: Permanent Dialogues (200) Salamon, Eszter: What a Body You have, Honey (200) Schad, Isabelle: The Better You Look The More You See (TBYLTMYS) (2002) Schwartz, Wagner: wagner ribot pina miranda xavier le schwartz transobjeto (2004) Stuart, Meg/Damaged Goods: Disfigure Study (99, Rekonstruktion 2002) Dies.: No Longer Readymade (993) Dies.: No One is Watching (995) Dies./Hill, Gary: Splayed Mind Out (997) Dies./Ann Hamilton: appetite (998) Dies.: Alibi (200) Dies.: Visitors Only (2003) Wade, Jeremy: Glory (2006) Ders.: ...and pulled out their hair (2007) Waltz, Sasha: Körper (2000) Dies.: Solo für Vladimir Malakhov (2006) Wigman, Mary: Totenmal (930)
Installationen, Videoarbeiten, Performances, Photographien und Gemälde Abramoviü, Marina: Rhythm 0 (974) Acconci, Vito: Open Book (974) Bacon, Francis: Head VI (949) Ders.: Study for the Head of a Screaming Pope (952) Ders.: Study after Velázquez’s Portrait of Pope Innocent X (953) Ders.: Figur with Meat (954)
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Ders.: Three Studies for Protrait of Isabel Rawsthorne (965) Ders.: Portrait of George Dyer Riding a Bicycle (966) Ders.: Study for Portrait (97) Bosch, Hieronymus: Der Garten der Lüste (480-490) Ders.: Das jüngste Gericht (vermutl. 504/508) Coplans, John: Self Portraits: Back with Arms above (984) Ders.: Self Portraits: Torso, Front (984) Ders.: Self Portraits: Back View, Upright (985) Franko B: The Last Few Years (995-200) Ders.: I Miss You (seit 999) Ders.: Haute Couture (200) Ders.: Still Life (seit 2005) Goya, Francisco: Der Koloss (Radierung) Goya, Francisco irrtümlich zugesprochen: Der Koloss (um 80-2) Hatoum, Mona: Deep Throat (996) Hill, Gary: Mouthpiece (978) Horn, Rebecca: Bleistiftmaske (972) Messager, Annette: Mes Voeux (989) Naumann, Bruce: Eating My Words (967) Ders.: Pinchneck (968) Ders.: Lip Sync (969) Ders.: First Hologram Series: Making Faces (K) (968) Ders.: Second Hologram Series: Full Figure Poses (A) (969) Ders.: RAW Material–BRRRR (990) Orlan: opérations chirurgicale-performance, dites Omniprésence (990-93) Sprinkle, Annie: Public Cervix Announcement (990-95) Unbekannt: Apollo im Belvedere Unbekannt: Torso vom Belvedere
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Kurzbiographien der besprochenen Künstler/innen
Die biographischen Angaben beschränken sich auf (zeitgenössische) Choreograph/innen sowie (Performance-)Künstler/innen.
Luiz de Abreu wurde in Araguarí/Brasilien geboren und hatte seine erste Begegnung mit Tanz im Zusammenhang mit dem afrikanisch-indigenen Umbanda-Kult. Sein Tanzstudium absolvierte er in Uberlândia, bevor er 986 nach Belo Horizonte zog, um hier u.a. mit der Compagnie Primeiro Ato zu arbeiten und international zu touren. In São Paulo begann er Anfang der 990er Jahre, eigene Stücke zu entwickeln – es entstanden Samba des verrückten Negers (2004) sowie Menschenzermürbende Maschine (2006), die beide im Rahmen des Festivals Move Berlim zu sehen waren. Er arbeitet als Tänzer außerdem in großen brasilianischen Compagnien, etwa bei º Ato e Cisne Negro, wie auch für Theater und Fernsehen. Quelle: www.moveberlim.de/htdocs2005/index_dt.html
Vito Acconci wurde in der Bronx/New York geboren, wo er heute noch lebt, und studierte bis 962 Literatur am College of the Holy Cross. An der University of Iowa erhielt er seinen Master in Literatur und Poesie. Anschließend verfasste Acconci Poesie, orientierte sich jedoch in den 970er Jahren in Richtung Video- und Performancekunst und gestaltete außerdem Rauminstallationen. Bekannt wurde seine Aktion Seedbed (972), in der er unter einem eigens angelegten Holzboden masturbierte, während die darüber befindlichen Galeriebesucher/innen seine Gedanken und Phantasien live über Lautsprecher hörten. Das Motiv des Mundes als körperliche Grenzerfahrung zwischen Anziehung und Abstoßen ist neben Open Book (974) auch in seinem Video Waterways: 4 Saliva Studies (97) präsent. Seit den 980er Jahren arbeitet Acconci im Bereich Architektur und Design und entwickelt Interventionen im öffentlichen Raum. Quelle: www.acconci.com
Saša Asentiü wurde in Derventa/Bosnien-Herzegovina geboren und studierte Landwirtschaft und Pädagogik an der Universität in Novi Sad/Serbien. Zu den darstellenden Künsten kam er als Autodidakt und arbeitet seit dem Jahr 2000 im Bereich Performancekunst als Solist sowie in Zusammenarbeit mit Künstlerkolleg/innen. Es entstanden Arbeiten wie Die Deutschen sterben aus? (2004), 8mm-art (2006) oder Tiger’s jump into the history (evacuated genealogy) (2007, gemeinsam mit
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Ana Vujanoviü). Im Jahr 2004 initiierte und kuratierte er das Projekt City Stage und ist außerdem Gründer der Kunstorganisation Per.Art. Quelle: Saša Asentiü (2007): My Private Biopolitics, Programmtext zur Aufführung im Rahmen von Tanz im August, 8.-9.8.2007
Jérôme Bel lebt in Paris und Berlin. Er erhielt seine Tanzausbildung am Centre National de la Danse Contemporaine d’Angers. Von 985 bis 99 arbeitete er als Tänzer in verschiedenen Compagnien, so bei Angelin Preljocaj, Daniel Larrieu und Caterina Sagna. 992 assistierte er Philippe Découflé bei der Choreographie für die Eröffnungszeremonie der 6. Olympischen Winterspiele in Albertville. Seit 994 entwickelt er eigene Stücke, darunter Nom donné par l’auteur (994), Jérôme Bel (995), Shirtology (997), Le dernier spectacle (998), Xavier Le Roy (2000) und The Show must go on (200). 2004 eröffnete sein Stück Véronique Doisneau die Ballettsaison an der Opéra National de Paris. Bels jüngste Produktion ist Pichet Klunchun and Myself (2005). Seine Stücke touren international. Quelle: www.jeromebel.fr
Mauro Bigonzetti/Aterballetto Mauro Bigonzetti erhielt seinen Ballettabschluss an der Opernschule in Rom und tanzte bis 983 in der Compagnie der hiesigen Oper. 983 kam er zum Aterballetto, seinerzeit noch unter der Leitung von Amedeo Amodio. Hier hatte er Gelegenheit, mit Choreographen wie Alvin Ailey und William Forsythe zusammenzuarbeiten und tanzte außerdem in zahlreichen Repertoirestücken von George Balanchine und Leonide Massine. 990 entwickelte er seine erste eigene choreographische Arbeit Sei in movimento zur Musik von Johann Sebastian Bach. Ab 993 arbeitete er als freischaffender Choreograph, darunter für das Balletto di Toscana, das Stuttgarter Ballett, die Deutsche Oper Berlin sowie das Ballet Gulbenkian in Lissabon und das New York City Ballet. Prägend war dabei auch die Zusammenarbeit mit Künstlern außerhalb des Tanzes wie Elvis Costello oder Fabrizio Plessi. 997 wurde er künstlerischer Leiter und Hauschoreograph der Compagnia Aterballetto in Reggio Emilia, für die er seither über fünfzig Stücke kreiert hat. Quelle: www.aterballetto.it
Romeo Castellucci/Socìetas Raffaello Sanzio Romeo Castellucci studierte Bühnenbild und Malerei an der Accademia di Belle Arti in Bologna. 98 gründete er die Socìetas Raffaello Sanzio in Cesena, für deren Produktionen er als Autor und Regisseur verantwortlich zeichnet sowie Bühnenbild, Licht, Ton und Kostüme kreiert. 986 indizierte die Compagnie mit
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Santa Sofia – Teatro Khmer ihre nachfolgende bilderreiche bsthetik. In den 990er Jahren setzte sich Castellucci verstärkt mit klassischen Bühnenwerken und dem Musiktheater auseinander, es entstanden Stücke wie Amleto. La veemente esteriorità della morte di un mollusco (992), Giulio Cesare (997) sowie das elfteilige Theaterprojekt Tragedia Endogonidia, das von 2002 bis 2004 in zehn verschiedenen Städten erarbeitet und aufgeführt wurde. Quelle: www.raffaellosanzio.org
John Coplans wurde im London der 920er Jahre geboren. Er emigrierte 960 nach Nordamerika, wo er in New York, später in San Francisco lebte. Seine Karriere war sehr weitläufig, er arbeitete als bildender Künstler, kuratierte Ausstellungen, etwa im Pasadena Art Museum, war Direktor am Akron Art Museum in Ohio (978980) und Kunstkritiker. 962 gründete er die Zeitschrift Art Forum, als deren Herausgeber er bis 980 fungierte. 984 wendete er sich der Photographie zu und entwickelte bis zu seinem Tod 2003 Serien von Selbstportraits, die sich jeweils durch eine extreme Nahsicht auf den Körper auszeichnen. Quelle: www.getty.edu/art/gettyguide/artMakerDetails?maker=3602
Ugo Dehaes/Charlotte Vanden Eynde Ugo Dehaes lebt und arbeitet in Brüssel. Seine Tanzkarriere startete im Alter von 8 Jahren, als er begann, an Workshops u.a. von David Hernandez, Benoît Lachambre und Saburo Teshigawara teilzunehmen. 996 studierte er bei P.A.R.T.S. (Performing Arts, Research and Training Studios), einer Schule für zeitgenössischen Tanz, geleitet von Anne Teresa de Keersmaeker. Von 998 bis 200 wirkte er mit in den Stücken appetite (998) und Highway 0 (2000) von Meg Stuart/Damaged Goods. Im Jahr 2000 gründete er gemeinsam mit Charlotte Vanden Eynde die Compagnie Kwaadbloed, es entstanden Stücke wie Lijfstof (mit Charlotte Vanden Eynde, 2000), Coupure (Dauerskulptur, 2002), ROEST (2002), Rozenblad (2004) und Couple-like (mit Keren Levi, 2006). Er tanzte in dieser Zeit außerdem für andere Choreograph/innen, darunter Gisèle Vienne und Emil Hrvatin und arbeitete für Installationen und Filme, u.a. bei Salva Sanches und Michel Couturier. Derzeit entwickelt er eigene Stücke, darunter die Produktion Forces (2008). Charlotte Vanden Eynde studierte klassischen Tanz, Modern und Jazz Dance sowie spanischen und afrikanischen Tanz. Von 996-999 absolvierte sie ebenfalls ihre Ausbildung bei P.A.R.T.S. und choreographierte erste eigene Solostücke. 200 entwickelte sie zwei Installationsperformances: Ligging (Kaaitheater, Brüssel) sowie Stand for de Brakke Grond (Amsterdam), 2003 hatte das Stück MAP ME, ein Duett mit Kurt Vandendriessche, Premiere. Daneben absolvierte sie eine Ausbildung in Film und Video an der Royal Academy of Fine Arts in
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Antwerpen und arbeitet für Film und Schauspiel, unter anderem zusammen mit Jan Decorte. Quelle: www. kwaadbloed.com
Cristian Duarte studierte zunächst am Communication and Arts Department der Mackenzie University in São Paulo/Brasilien. Seit 995 arbeitet er im Bereich des zeitgenössischen Tanzes, u.a. mit dem Projektstudio Nova Dança in São Paulo. 2002 machte er seinen Abschluss bei P.A.R.T.S. in Brüssel, 200 entstand dort bereits das Stück non-fiction sowie später embodied, from this moment on… (beide 2003) und Médelei (2006). Seine Produktionen wurden auf vielen Festivals gezeigt, darunter Springdance/Utrecht, Panorama Festival/Rio de Janeiro und International Dance Forum (FID)/Belo Horizonte, Brasilien. Derzeit arbeitet er wieder kontinuierlich in Brasilien; sein neuestes Stück Tombo hatte in São Paulo Premiere. Quelle: www.non-place.org
William Forsythe wuchs in New York auf, wo er auch den größten Teil seiner Ausbildung absolvierte. Mit Anfang zwanzig kam er als Tänzer an das Stuttgarter Ballett, wo er bald auch eigene Stücke choreographierte, so die Arbeit Gänge (982). 984 wurde er Direktor des Ballett Frankfurt, mit dem er Stücke schuf wie The Loss of Small Detail (987/99), eine Zusammenarbeit mit dem Komponisten Thom Willems und dem Designer Issey Miyake, sowie Artifact (984), Impressing the Czar (988), Limb’s Theorem (990), Alie/NA(c)Tion (992), Eidos:Telos (995), Endless House (999) und Kammer/Kammer (2000). Mit seinen Choreographien gewann er zahlreiche Preise und erhielt Auszeichnungen, darunter den Bessie Award (988, 998, 2004), den Laurence Olivier Award (992, 999), den Commandeur des Arts et Lettres (999), das Bundesverdienstkreuz (997), den Wexner Prize (2002) und den Deutschen Tanzpreis (2004). Im Jahr 2004 wurde das Ballett Frankfurt aufgelöst und Forsythe gründete ein neues, unabhängiges Ensemble mit festen Spielstätten in Dresden/Hellerau und Frankfurt a.M. sowie als Gast am Schauspielhaus Zürich. 2006 präsentierte die Pinakothek der Moderne in München eine umfassende Ausstellung seiner Performance-, Filmund Installations-Arbeiten. Forsythe entwickelte außerdem die CD-ROM Improvisation Technologies: A Tool for the Analytical Dance Eye (994), ein Instrumentarium zur Vermittlung von Tanzimprovisation. Sein aktuelles Internetprojekt Synchronous Objects for One Flat Thing, reproduced startete im April 2009. Seit 2004 ist er außerdem Ehrendoktor der Juilliard School in New York. Quelle: www.theforsythecompany.de
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Franko B wurde in Mailand geboren und lebt seit 979 in London. Seine Arbeiten entwickeln sich seit 990 im Crossover zwischen Performance, Video, Photographie, Malerei, Skulptur und Installation. In London zeigte er seine Aktionen und Ausstellungen u.a. im Tate Modern, im Institute of Contemporary Arts (ICA) und in der South London Gallery. Er präsentiert seine Arbeit außerdem international, darunter in Zagreb, Mexico City, Mailand, Amsterdam, Brüssel, Kopenhagen, Madrid, Wien und Berlin. Franko Bs Performances sind meist mit Lectures verbunden, er gibt außerdem Workshops, so an der New York University oder bei DasArts, Amsterdam. Sein neuestes Buchprojekt trägt den Titel Blinded by Love (2007). Quelle: www.franko-b.com
Lynda Gaudreau arbeitet seit 99 als Choreographin und gründete die 992 Compagnie De Brune in Montréal. Von 999 bis 2005 entwickelte sie ihr Projekt Encyclopœdia, eine Serie mit vier DOCUMENT(S), in denen Tanz, Video, Text und bildende Kunst eine Verbindung eingehen. Als Gastkuratorin des Festivals FIND initiierte sie 2003 das Lucky Bastard Laboratory, eine Serie von Abenden, an denen circa dreißig Künstler/innen aus Montréal zu Performances und Improvisationen zusammentrafen. 2004 entstand die Installation Time flies, eine Auftragsarbeit des TanzQuartier Wien. Ihr neuestes Stück 00 hatte Premiere beim ImPulsTanz Festival in Wien (2006). Gaudreau unterrichtet außerdem international in Workshops, darunter bei P.A.R.T.S. in Brüssel. Quelle: www.lyndagaudreau.com
Valeska Gert wurde 892 in Berlin geboren und errang 96 schlagartige Berühmtheit durch ihren Tanz in Orange. In den darauffolgenden Jahren trat sie in ganz Deutschland, in der damaligen UDSSR sowie in Frankreich mit ihren tänzerischen Minutensoli auf; sie entwickelte Kabarettstücke mit Bertolt Brecht und hatte in Paris Kontakt zu den surrealistischen Kreisen um André Breton. Als Schauspielerin war sie engagiert bei Max Reinhardt sowie im Film bei G. W. Pabst, später bei Federico Fellini und Volker Schlöndorff. Daneben war Gert im Kabarett wie dem Berliner Schall und Rauch und dem selbst geleiteten Kohlkopp zu sehen und führte mit ihrer Inszenierung von Oscar Wildes Salome auch Regie. Nach 933 hatte sie, als linksgerichtete Jüdin, kaum noch eine Chance, in Deutschland aufzutreten und emigrierte 939 in die USA, wo sie in New York die Beggar’s Bar, einen kabarettistischen Nachtklub, unterhielt. Wieder zurück im Deutschland der 950er Jahre konnte sie nicht mehr an ihre Erfolge der Vorkriegszeit anknüpfen.
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Sie zog sich schließlich nach Kampen auf Sylt zurück, wo sie bis zu ihrem Tod 978 das Kabarett Ziegenstall unterhielt.
Laurent Goldring beschäftigt sich seit 995 mit der Befragung der Repräsentation des Körpers innerhalb analoger Bildmedien wie Photographie und Video. Sein körperkritischer Ansatz hat zu Kooperationen mit Choreograph/innen wie Xavier Le Roy, Benoît Lachambre und Maria Donata d’Urso geführt. Goldrings Arbeiten wurden vielfach ausgestellt, darunter im Centre Georges Pompidou, Paris und der Fondation Gulbenkian, Lissabon. Zurzeit befasst er sich mit Portraitaufnahmen und arbeitet mit der Choreographin Isabelle Schad zusammen. Quelle: www.cnd.fr/saison/artistes/laurent-goldring
Emio Greco | PC Der Tänzer und Choreograph Emio Greco und der Regisseur Pieter C. Scholten arbeiten seit 995 zusammen. 996 gründeten sie die Compagnie Emio Greco | PC in Amsterdam und kreierten die auf mehrere Stücke angelegten Serien Fra Cervello e Movimento (996-999) und Double Points (998-2002) sowie die Choreographien Conjunto di Nero (200), Rimasto Orfano (2002) und Hell (2006). Ihre Produktionen sind international auf Tournee und haben zahlreiche Preise gewonnen, darunter den Philip Morris Arts Prize, den Sonia Gaskell Prize und den Time Out London Live Award für die beste Liveperformance. Daneben veranstalten Greco und Scholten regelmäßig stattfindende Salons zu Tanz und seinen Diskursen und haben ein Bildungsprogramm unter dem Namen Accademia Mobile entwickelt, mit dem sie in Workshops und Lectures international präsent sind. Seit 2008 leiten sie das internationale choreographische Zentrum ICKamsterdam. Quelle: www.emiogrecopc.nl
Mona Hatoum wurde in Beirut geboren und besuchte nach einem Studium am Beirut University College die Byam Shaw School of Art in London sowie die dortige Slade School of Art. Mit ihren Photo- und Videoarbeiten ist sie auf internationalen Ausstellungen vertreten, darunter in Sensation: Young British Artists from the Saatchi Collection (997-999, London, Berlin, New York) sowie Into Me/Out Of Me (2007, Berlin, New York). 2004 wurde ihre Einzelausstellung Mona Hatoum – A Major Survey in der Hamburger Kunsthalle, im Kunstmuseum Bonn und im Magasin 3 der Stockholm Konsthall gezeigt. Quelle: www.artnet.de/Artists/ArtistHomePage.aspx?artist_id=686275& page_tab=Bio_and_links
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Saskia Hölbling gründete 995 die Compagnie DANS.KIAS. und arbeitete daneben als Tänzerin bei Robert Wilson, der Compagnie Willi Dorner in Wien und Laurent Pichaud, Montpellier. Mit other feature (2002) erhielt sie den österreichischen Tanzproduktionspreis, es folgten die Stücke exposition corps (2003), superposition corps (2004) und Your body is the shoreline (2005), die sich jeweils mit der körperlichen Verfassung zwischen Abstraktion und Intimität auseinandersetzen. Sie choreographierte außerdem für das Wiener Staatsopernballett sowie das TanzTheaterWien. Für das Projekt rrr… (200) kollaborierte sie mit Benoît Lachambre und Laurent Goldring. Ihre aktuellen Arbeiten Jours Blancs (2006) und Cat in a deep freeze (2007) touren europaweit. Quelle: www.dans.kias.at
Rebecca Horn arbeitet seit den 970er Jahren an Performances, Videos und Installationen. Zu Beginn stand besonders die Auseinandersetzung mit dem Körper und seinen Erweiterungen im Mittelpunkt ihrer Arbeit, etwa in den kinetischen Skulpturen Die sanfte Gefangene (978) oder Die Pfauenmaschine (979/82). In den achtziger und neunziger Jahren entstanden große Raumarbeiten, die einen historisch und politisch aufgeladenen Ort als Ausgangspunkt haben, darunter Das gegenläufige Konzert (997) in Münster oder der Turm der Namenlosen (994), Wien. In letzter Zeit beschäftigt sich Horn u.a. mit Lichtinstallationen, so in Licht gefangen im Bauch des Wales (2002). Ihre Arbeiten werden international ausgestellt, darunter im Guggenheim Museum New York (993) oder der Tate Gallery London (994). In Berlin war zuletzt im Jahr 2006 die Ausstellung Bodylandscapes zu sehen, die sich vorrangig mit ihren Zeichnungen befasst. Für ihr Werk erhielt Horn zahlreiche Würdigungen und Preise, darunter den documenta-Preis (986). Quelle: www.rebecca-horn.de
Mette Ingvartsen absolvierte ihr Studium bei P.A.R.T.S. (2000-2004) und entwickelt seither Choreographien, die gängige Sehgewohnheiten und Geschlechterzuschreibungen unterwandern, so in Manual Focus (2003), 50/50 (2004) und Out of Order (2005). In den Gruppenstücken To Come (2006) und Why We Love Action (2007) werden körperliches Begehren sowie theatrale und filmische Mittel des ›Als ob‹ ironisch hinterfragt. Ingvartsen Stücke wie etwa die aktuelle Produktion It’s in the Air (2008) sind international präsent, so in Berlin, Brüssel, Aarhus, Montpellier oder Peking. Quelle: www.aisikl.net/mette/
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La Ribot Die in Madrid geboren Künstlerin Maria Ribot lebte und arbeitete von 997-2004 in London. Unter dem Namen La Ribot kreiert sie Arbeiten an der Schnittstelle von zeitgenössischem Tanz, Live Art, Performance und Video, besonders in der Reihe Piezas distinguidas, die sie sowohl auf Tanz-, Performance- und Live ArtFestivals als auch in Galerien international zeigte. Zurzeit arbeitet sie an der Performanceinstallation Laughing Hole und an Treintaycuatro Pièces Distinguées & One Striptease, eine Dokumentation der Piezas distinguidas. Quelle: www.laribot.com
Xavier Le Roy studierte Biochemie an der Universität Montpellier und hatte während des Studiums Unterricht in Modern Dance bei Véronique Larcher. 990 promovierte er in Molekular- und Zellularbiologie, zugleich nahm er in Paris Tanzunterricht bei Ruth Barnes und Anne Koren. Von 99 bis 995 tanzte er in der Compagnie de l’Alambic in Paris (Choreograph Christian Bourrigault), 993 gründete er zusammen mit Alexander Birntraum und Sylvie Garot die Gruppe Le Kwatt. In der Folge entstanden u.a. die Trilogie Narcisse Flip (994-97), Self unfinished (998), die Lecture Performance Product of Circumstances (999) sowie die Projekte E.X.T.E.N.S.I.O.N.S. (2000), Xavier Le Roy (von Jérôme Bel, 2000) und Projekt (2003), an dem u.a. Pirkko Husemann und Mårten Spångberg beteiligt waren. Seit einigen Jahren befasst sich Le Roy verstärkt mit musikalischen Konzepten und entwickelte die Stücke Mouvements für Lachenmann (2005) sowie Le Sacre du Printemps (2007). Im Jahr 2007 und 2008 war er Associated Artist am Centre chorégraphique national de Montpellier. Quelle: www.insituproductions.net
Thomas Lehmen erhielt seine Ausbildung an der School for New Dance Developement (SNDO) in Amsterdam. Nach Kooperationen u.a. mit Sasha Waltz und Mark Tompkins begann er ab 995 in Berlin eigene Arbeiten, zunächst als Soli, zu präsentieren, darunter friendly fire, No Fear (beide 998) und distanzlos (999). Gruppenarbeiten wie mono subjects (200), Schreibstück (2002) und Stationen (2003) folgten. Mit Funktionen (2004) entwickelte Lehmen seinen systemtheoretischen Ansatz, der in Stationen bereits in Ansätzen zum Tragen kam, als choreographische Struktur weiter. Die folgenden Stücke wie Lehmen lernt (2006) sind entsprechend an Fragen nach Verhaltensmustern und gesellschaftlichen Funktionsweisen orientiert. Seine Produktionen touren weltweit, 2006 war er zur Tanzplattform Stuttgart eingeladen. Quelle: www.thomaslehmen.de
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Adalisa Menghini wuchs in Venedig auf und lebt heute in Berlin. Von 982 bis 988 studierte sie in Rotterdam, später an der School For New Dance Development (SNDO) in Amsterdam. Ihre Lehrer/innen waren u.a. Steve Paxton, Nancy Stark Smith und Pauline de Groot. In Paris tanzte sie in der Compagnie Transeurope, nachfolgend in Projekten von Yoshiko Chuma, Julian Hamilton und Be van Vark. Ihre eigenen Stücke, darunter die Trilogie Corpo a Corpo (998-200), wurden europaweit gezeigt. Für insgesamt drei Jahre war sie gemeinsam mit Antonio Utili für die choreographische Leitung des Theaterprojekts Giocabridga in Ferrara verantwortlich. Seit 994 unterrichtet sie außerdem Contact Improvisation, u.a. in der Tanzfabrik Berlin. Quelle: Adalisa Menghini, Pressematerial
Annette Messager wurde 943 in Berck sur Mer/Frankreich geboren und arbeitet seit den 970er Jahren mit unterschiedlichsten Materialien, so etwa mit Handarbeiten als künstlerisches Medium, aus dem buchstäblich vernetzte Rauminstallationen entstehen. In Proverbes (Sprichwörter, 974) etwa ironisiert sie Vorurteile gegen Frauen, indem sie diese auf Stoff stickt. Ein weiterer Fokus ihrer Kunst sind Ansammlungen von Körperfragmenten in Photographien oder als ›stoffliche‹ Nachbildungen. Im Jahr 2007 war die umfangreiche Ausstellung Annette Messagers – les messagers im Pariser Centre Pompidou zu sehen. Ihre Biographie verschwimmt zwischen Fakten und Fiktion – über sich selbst sagt sie: »Ce qu’elle aime: collectionner, peindre, dessiner, faire des photos, exposer. Ce qu’elle n’aime pas: les biographies.« Quelle: Beaux Arts Magazine, Annette Messagers, 2007: 64 f.
Bruce Nauman studierte Mathematik, Physik und Kunst an den Universitäten in Wisconsin und Kalifornien. Ab 966 beschäftigt er sich mit den Stücken Samuel Becketts und trifft zwei Jahre später auf Meredith Monk und Steve Reich. Zu den Einflüssen auf seine Medien- und Performancearbeiten zählen außerdem Merce Cunningham, John Cage und Karlheinz Stockhausen – 970 entwirft er für Cunninghams Choreographie Tread das Bühnenbild. 967 wird er erstmals zur documenta 4 eingeladen, auf der er anschließend jeweils bis 992 vertreten ist. Nach seinen Atelierfilmen in den 960er Jahren wendet sich Nauman in den Siebzigern Rauminstallationen zu, darunter den Korridoren, die u.a. von der Gestalttheorie inspiriert sind. Ab den 980er Jahren kommen seine Neonarbeiten hinzu. 994 widmet ihm das Walker Art Center in Minneapolis eine umfangreiche Retrospektive, die anschließend auch in Los Angeles und New York zu sehen ist. Nauman
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erhielt zahlreiche Preise, darunter den Goldenen Löwen der Biennale di Venezia (999). Derzeit lebt und arbeitet er in Galisteo, New Mexiko. Quelle: Cross, 2003: 63 f.
Orlan entwickelt ihre Kunstprojekte seit 965 im Bereich Photographie, Video, Installation und Performance, in denen sie selbst ihr eigenes Material ist, so etwa in den Aktionen MesuRage d’institutions (979-983) oder Se vendre sur les marchés en petits morceaux (976-977). 982 gründete sie Art-Accs-Revue, das erste Onlinemagazin für Kunst auf dem französischen Minitel, einem Vorläufer des Internets. Sie schrieb das Carnal Art Manifesto und führte von 990 bis 993 ihre neun opération chirurgicale-performances aus, die gefilmt und weltweit gesendet wurden, mitzuverfolgen u.a. im Centre Georges Pompidou Paris sowie in der Sandra Gering Gallery New York. Eine Retrospektive ihrer Arbeiten war u.a. 2004 im Centre national de la Photographie in Paris zu sehen. Seit 998 arbeitet sie an dem photographischen Montage-Projekt Self-Hybridizations sowie am Harlequin Coat, für den ihre eigenen Hautzellen sowie jene von Menschen unterschiedlicher Hautfarbe zu einem Gewebe verknüpft werden. Quellen: Thompson 2004: 248 f., www.orlan.net
Eric Raeves ist belgischer Tänzer, Choreograph und Kostümbildner und hat seine Fähigkeiten autodidaktisch erworben. Er arbeitete u.a. mit dem Choreograph Marc Vanrunxt und mit Jan Fabre zusammen und entwickelt seit 988 eigene Projekte, die sich zwischen Choreographie und bildender, skulpturaler Kunst bewegen. Zu seinen performativen Installationen gehören Solo Man (995), Interesting Bodies (996), I Werled (I World, 997) und Kast – Tafel – Hoge Tafel (999). Quelle: Raeves 2002: 245, 255
Lia Rodrigues studierte klassisches Ballett in São Paulo und arbeitete als Tänzerin in den 980er Jahren u.a bei Maguy Marin in Frankreich. 990 gründete sie die Lia Rodrigues Companhia de Danças in Rio de Janeiro, mit der sie Stücke wie Ce dont nous sommes faits (2000), Formas Breves (2003) und Incarnat (2005) kreierte, die international tourten und auch in Berlin und Potsdam zu Gast waren (Haus der Kulturen der Welt, Fabrik Potsdam). In Brasilien initiierte sie das Festival Panorama Rio Arte de Dança, dessen Leiterin sie seit 992 ist. Vor einiger Zeit hat sie eine Tanzcompagnie in der Favela de la Maré in Rio de Janeiro ins Leben gerufen, mit der sie das Projekt Residència Resistència entwickelt hat. Quelle: www.tensdansa.org/2007/catala/programa/30incarnat.htm
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Tanzcompagnie Rubato: Jutta Hell, Dieter Baumann Jutta Hell erhielt eine Ausbildung in Gymnastik und Tanz, die an Mary Wigman orientiert war, und arbeitete anschließend u.a. im Ensemble von Tadashi Endo. Dieter Baumann lernte zunächst Kunstradfahren und Akrobatik, bevor er die private Tanzschule Herzig besuchte und Pädagogik und Theaterwissenschaft in Berlin studierte. 985 gründeten Hell und Baumann die Tanzcompagnie Rubato, gemeinsame Studien führten sie nach Paris (mime corporel), London (LabanBewegungslehre), Tokio (Butoh) und New York. Von 990 bis 992 arbeiteten sie mit Gerhard Bohner zusammen, der für sie das Stück SOS (99) choreographierte; 992 erhielten sie den Förderpreis Darstellende Kunst der Akademie der Künste, Berlin. Seit 985 entstanden über 40 Stücke, die auf zahlreichen Tourneen rund um die Welt gezeigt wurden. Hell und Baumann arbeiten dabei vielfach vor Ort, darunter seit 995 kontinuierlich in China (Peking, Hongkong, Guangzhou, Shanghai) – es entstanden Stücke wie Person to Person (2002), ein Duett mit Dieter Baumann und der chinesischen Tänzerin Jin Xing, sowie 2005 Shangahi Beauty und Eidos–Tao, zwei Auftragsarbeiten in Koproduktion mit dem Jin Xing Dance Theatre, Shanghai und dem Haus der Kulturen der Welt, Berlin. Die aktuelle Produktion 3 men running (2009) befasst sich mit dem Thema Tod, Trauer und Erinnerung. Quelle: Tanzcompagnie Rubato, Pressematerial
Eszter Salamon studierte klassischen Tanz an der nationalen Tanzakademie in Budapest und ging 992 nach Frankreich, wo sie mit u.a. in den Compagnien von Mathilde Monnier und François Verret tanzte. Im Jahr 2000 zeigte sie ihr erstes Duo Où Sont Les Femmes, gemeinsam mit Brenda Edwards im Rahmen des Festivals Montpellier Danse, 200 folgte das Solo What A Body You Have, Honey, das auch in Berlin gezeigt wurde (TanzWerkstatt Berlin im Podewil). Im gleichen Jahr folgte die Zusammenarbeit mit Xavier Le Roy, aus der das Solostück Giszelle entstand. 2003 war Salamon choreographische Assistentin der Oper Theater der Wiederholungen von Bernhard Lang, das beim Steirischen Herbst in Graz Premiere hatte. Es folgten wiederum eigene Gruppenproduktionen, darunter das genderthematische Stück Reproduction (2004), Magyar Tancok (2005), das sich mit ungarischem Volkstanz auseinandersetzt, sowie And Then (2007). Quelle: www.eszter-salamon.com
Isabelle Schad erhielt von 98 bis 990 eine Ausbildung in klassischem Tanz in Stuttgart. Von 990 bis 996 tanzte sie in verschiedenen klassischen Ensembles und begann, ihre eigenen choreographischen Arbeiten zu entwickeln sowie ihr tänzerisches Repertoire zu erweitern. Sie war Mitglied der Compagnie Ultima Vez/Wim Van-
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dekeybus in Brüssel und arbeitete daneben mit Olga Mesa, Angela Guerreiro, Felix Ruckert und Eszter Salamon. Seit 999 kreiert sie Tanzperformances in enger Zusammenarbeit mit bildenden Künstlern und Musikern, darunter SwitchPositionFreezeControl (200), The Better You Look The More You See (2002) und Put Your Head Off (2003), die international tourten. Gemeinsam dem Architekten Ben Anderson und dem Künstler Bruno Pocheron initiierte sie das Projekt Good Work, in dessen Rahmen Kooperationen stattfanden u.a. mit Benoît Lachambre, Martin Belanger, Nuno Bizarro, Manuel Pelmus, Frédéric Gies und Hanna Hedman. Es entstanden Arbeiten wie California Roll (2004), White Trash (2005) und Still Lives (2006). 2006 entwickelte sie das Stück Vue imprenable, eine Zusammenarbeit mit Germana Civera und Laurent Goldring. Mit Goldring entstand außerdem die neueste Produktion unter dem Titel unturtled (2009). Quelle: www.isabelle-schad.net
Wagner Schwartz studierte Lateinamerikanistik und Anglistik an der staatlichen Universität Uberlândia in Minas Gerais, wo er auch begann, zu tanzen. In den Jahren 200 und 2003 erhielt er ein Stipendium von Rumos Itaú Cultural Dança, in dessen Rahmen sein Solo wagner ribot pina miranda xavier le schwartz transobjeto (2004) entstand. Die Reaktionen auf dieses Stück führten zu seiner nächsten Arbeit Transobjeto 2: Placebo (2005), das vom International Dance Forum of Belo Horizonte in Auftrag gegeben wurde. Schwartz koordinierte außerdem das Internationale Choreographentreffen in Brasilien 2005, ist Mitglied des Kollektivs für künstlerischen Austausch bei Red Sudamericana de Danza (Südamerikanisches Tanznetzwerk) und Gründungsmitglied des Netzwerks REDE – Arte em Colaboração (Kunst in Zusammenarbeit). Quelle: http://wagnerschwartz.spaces.live.com/
Annie Sprinkle wurde in den 970er Jahren als Pornostar und Performerin bekannt. Sie entwickelte seit den 980er Jahren Performances wie Deep Inside Porn Stars (984) und trat 985 in Richard Schechners The Prometheus Project auf (Performing Garage, New York). Besonders bekannt wurde sie mit ihrer Aktion Public Cervix Announcement, die in den Rahmen der Show Post-Porn Modernist (990-95) eingebettet war. Sie wirkte in zahlreichen Filmen mit, darunter Deep Inside Annie Sprinkle (982) und Female Misbehaviour (992). Im Jahr 2002 promovierte sie im Fachbereich Human Sexuality. Sie ist Autorin zahlreicher Bücher und arbeitet seit 2005 gemeinsam mit Elizabeth M. Stephens an dem kontinuierlichen Performanceprojekt Love Art Lab. Quelle: www.anniesprinkle.org
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Meg Stuart/Damaged Goods Meg Stuart erhielt ihre Tanzausbildung an der New York University und erweiterte anschließend ihre Bewegungsrecherche in Release Technik und Contact Improvisation. Von 986 bis 992 war sie Mitglied der Randy Warshaw Dance Company und entwickelte 99 ihre erste Choreographie Disfigure Study. Es folgten zahlreiche Stücke mit ihrer Compagnie Damaged Goods, darunter No Longer Readymade (993), No One is Watching (995), Splayed Mind Out (mit Gary Hill, 997), das u.a. auf der documenta X gezeigt wurde, sowie appetite (998, mit Ann Hamilton), Alibi (200), Visitors Only (2003), Forgeries, Love and Other Matters (ein Duo mit Benoît Lachambre), Replacement (2005) und Maybe Forever (2007, Duo mit Philipp Gehmacher). Zusammen mit Christine de Smedt und David Hernandez initiierte sie von 996 bis 999 das Improvisationsprojekt Crash Landing, das in Leuven, Wien, Paris, Lissabon und Moskau gezeigt wurde, 2005 folgte die Improvisationsreihe Auf den Tisch!. Meg Stuart war von 200 bis 2004 Gastchoreographin am Schauspielhaus Zürich, seit 2003 arbeitet sie mit der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin zusammen. Quelle: www.damagedgoods.be
Jeremy Wade schloss im Jahr 2000 seine Ausbildung an der School for New Dance Development (SNDO) in Amsterdam ab und arbeitete anschließend in New York, wo als aktiver Teil des New Yorker Nachtlebens und der Downtown Dance Community agierte. Er war Gründungsmitglied von Chez Bushwick, eine Lebens- und Arbeitsgemeinschaft für Performancekunst im Industriepark von Bushwick, Brooklyn. Für die Kreation seines ersten abendfüllenden Stücks Glory (2006) erhielt er den Bessie Award, New York. 2006 zog er nach Berlin, wo er u.a. das Solo Feed (2006) sowie sein erstes Gruppenstück ...and pulled out their hair (2007) erarbeitete, das u.a. in Berlin, Utrecht (Springdance Festival) und New York zu sehen war. Gemeinsam mit dem Musiker Brendan Dougherty gründete er das Bandprojekt Speller und kuratierte 2009 das Festival Politics of Ecstasy im Berliner HAU. Quelle: www.jeremywade.de
Sasha Waltz erhielt ihre Ausbildung an der School for New Dance Development (SNDO) in Amsterdam und gründete 993 gemeinsam mit Jochen Sandig in Berlin die Compagnie Sasha Waltz & Guests. Zwischen 993 und 995 entstand die Trilogie Travelogue mit wechselnden Gästen, darunter Thomas Lehmen, Nasser Martin-Gousset und Takako Suzuki, mit der sie in über dreißig Ländern auf Tournee war. 996 eröffneten Waltz und Sandig die gemeinsame Spielstätte sophiensæle und produzierten dort das Stück Allee der Kosmonauten, das 997 zum 34. Thea-
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tertreffen eingeladen wurde. Stücke wie Zweiland (997) und Na Zemlje (998), schlossen sich an sowie im Jahr 2000 Körper, mit dem sie ihre Zeit an der Schaubühne Berlin einleitete, wo sie in den folgenden Jahren u.a. S (2000), noBody (200) und Gezeiten (2005) choreographierte. Seit 2004 ist die Compagnie wieder eigenständig und hat u.a. im Radialsystem Berlin eine feste Spielstätte. Seit 993 entwickelt Waltz außerdem kontinuierlich die Dialoge-Projekte, in denen sich Künstler/innen in unterschiedlichen Konstellationen u.a. mit Tanz und Architektur auseinandersetzen, so zum Beispiel 999 im seinerzeit noch leeren Jüdischen Museum oder 2009 im restaurierten Neuen Museum Berlin. In den letzten Jahren arbeitet Waltz außerdem vermehrt im Bereich Musiktheater: In Kooperation mit der Akademie für Alte Musik Berlin entstand die Oper Dido & Aeneas (2005), die u.a. an der Berliner Staatsoper zu sehen war. 2006 choreographierte sie Solo für Vladimir Malakhov, das beim Kongress Wissen in Bewegung Premiere hatte; 2007 wurde der erste Teil von Travelogue: Twenty to Eight in neuer Besetzung wieder aufgenommen. Quelle: www.sashawaltz.de
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468 | AM RAND DER KÖRPER
Borka, Max (996): »Interesting Bodies. An exhibition«, in: Eric Raeves, Interesting Bodies, Informationsbroschüre hg. von De Beweeging, Antwerpen, Quelle: Vlaams Theater Institut, Brüssel, S. 3-2 Etchells, Tim (200): »Unfertige Wahrheiten«, Text im Programmheft zu Meg Stuart/Damaged Goods: Alibi, Uraufführung 7..200, Schauspielhaus Zürich Forsythe, William (2005): Aufführungstext zur Installation You made Me a Monster, 25.-28.8.2005, Haus der Berliner Festspiele/Tanz im August, Berlin Ders. (2005a): Text im Programmheft zur Installation von You made Me a Monster, 25.-28.8.2005, Haus der Berliner Festspiele/Tanz im August, Berlin Franko B (999): »Theatre is obsolete«, Programmtext zur Aktion 398, 2.2.999, im Rahmen von upgrade +3. Zwischen Club und Cyber. Symposium zum Theater des 2. Jahrhunderts, LOT Theater Braunschweig Greco, Emio/Scholten, Pieter C. (999): Text im Programmheft zur Aufführung von Extra Dry, 9.-2.8.999, Theater am Halleschen Ufer/Tanz im August, Berlin Gurk, Christoph (2006): »Normale Monster«, in: Volksbühne am RosaLuxemburg-Platz (Hg.), Normal, S. 5-7 Ingvartsen, Mette (2007): Programmankündigung anlässlich der Aufführung 50/50, im Rahmen der Sommerbar/Tanz im August, Podewil, Berlin, 6.8.2007 Laermans, Rudi (2006): »Rückblickend auf ›Disfigure Study‹«, Erstveröffentlicht im November 2002, Dans in Limburg, in: Programmheft zu Meg Stuarts Aufführungsreihe Intimate Strangers, 2.-7.2.2006, Volksbühne am RosaLuxemburg-Platz Berlin, S. 6-0 Peeters, Jeroen (2006): »Das Monströse ersetzen«, in: Volksbühne am RosaLuxemburg-Platz, Normal, S. 3-30 Raeves, Eric (996): Works 988-997, Informationsbroschüre hg. von De Beweeging, Antwerpen, Quelle: Vlaams Theater Institut, Brüssel Siegmund, Gerald (2007): »Decreation & Human Writes, Making the impossible possible«, in: Programmheft zur Aufführung von Decreation, 26.5.2007, KunstenFestivalDesArts, Brüssel, S. 6-9 Stuart, Meg (995): Text im Programmheft zur Aufführung von No Longer Readymade, 3.-6.0.995, Klapstuk Festival, Leuven/Belgien, Quelle: Vlaams Theater Instituut, Brüssel Dies. (995a): Portfolio zur Aufführung von No One is Watching, Brüssel: Colophon, Quelle: Vlaams Theater Instituut, Brüssel Dies.: (995b): »Artistic vision«, in: Dies., Portfolio zur Aufführung von No One is Watching, S. 3 Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz (2006) (Hg.): Normal, Programmheft zu Meg Stuarts Replacement, Berlin: Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Wade, Jeremy (2006): Text im Programmheft zur Aufführung des Solos Feed, ./2..2006, Tanzfabrik Berlin
ANHANG | 469
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Onlinepublikationen Acconci, Vito, Informationen zur Videoarbeit Open Book: www.vdb.org/smackn. acgi $tapedetail?OPENBOOK Andrade, Oswald de (928): »Manifesto Antropófago«, englische Übersetzung aus dem Brasilianischen in: www.perdigiorno.net/manifesto/cannibalmani festo928.pdf (der brasilianische Originaltext ist veröffentlicht in: Oswald de Andrade (990), A Utopia Antropofágica, São Paulo: Globa, S. 47-52) Bewegungsart (2006): Kursankündigung »Neuer Tanz«, in: www.bewegungsart.de/files/tanz.html, Freiburg Buschhaus, Markus (2000): Der Körper ist eine Baustelle: Anatomisches Theater und Art Charnel, in: www.gradnet.de/papers Cvejic, Bojana (2003): »Some notes after the first run-through«, Text anlässlich des ersten Durchlaufs von Cristian Duartes Embodied, 7.4.2003, www.nonplace.org/works.php?l=eng&a=&w=32&ti=2 Döring, Alexander (2005/2006): »Die Präsenz des Geschreis«, in: Puntocero, Über-Setzen/Rotieren, Onlinemagazin, Berlin, No. , 2005/2006: www.pun tocero.de/content/presenciageschreis.html Fabrik Potsdam (2006): Residenzprogramm des Tanzplan Potsdam im Rahmen des Tanzplan Deutschland, eine Initiative der Kulturstiftung des Bundes, in: www.fabrikpotsdam.de/index.php?p=residenz_konzept&lang=DE Karcher, Eva (999): »Bin ich ein Insekt, bin ich ein Mensch?«, Interview mit Xavier Le Roy, in: Die Zeit, No. 36/999, www.zeit.de/999/36/Bin_ich_ein _Insekt_Bin_ich_ein_Mensch?page=all Kruschkova, Krassimira (2006): »Defigurationen. Zur Szene des Anagramms in zeitgenössischem Tanz und Performance«, in: Corpus, Internetmagazin für Tanz, Choreographie, Performance, www.corpusweb.net/index.php?option= com_content&task=view&id=256&Itemid=32 Le Roy, Xavier (2004), Informationstext zur Performance This is not a concept, 9.3.2004, Stockholm, www.insituproductions.net/_deu/frameset.html Liveart: www.thisisliveart.co.uk Mayen, Gérard (2004): »Cristian Duarte. Le champ de forces des palpe-sansrire«, in: Mouvement online, 28.4.2004, www.mouvement.net/html/fiche.php ?doc_to_load=6000 Norman, James J. (2006): »Andreas Vesalius ›De humani corporis fabrica libri septem‹ (543)«, in: Lane Medical Library & Knowledge Management Center, Stanford School of Medicine, lane.stanford.edu/portals/history/vesalius. html
470 | AM RAND DER KÖRPER
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Audio-visuelle Medien Forsythe, William (2003): Improvisation Technologies. A Tool for the Analytical Dance Eye, produziert in Zusammenarbeit mit ZKM Karlsruhe und Deutsches Tanzarchiv Köln/SK Stiftung Kultur, Ostfildern: Hatje Cantz Morell, Andreas (2005): Tanz ist der Spiegel der Seele, Filmportrait über Mauro Bigonzetti und die Compagnie Aterballetto, ZDF/3Sat, Sendetermine: 5., 0., 5., 25.2.2006 Pro 7 (2004): The Swan, TV-Doku-Soap über einen Zeitraum von mehreren Wochen Schlöndorff, Volker (977): Nur zum Spaß, nur zum Spiel. Kaleidoskop Valeska Gert, Dokumentarfilm, München: Bioskop Schmidt, Frank (20.8.999): »Frühkritik: Tanz im August: Emio Greco«, Radiomanuskript, InfoRadio Berlin Schwerfel, Heinz Peter (997): Make Me Think, Dokumentarfilm über Bruce Naumans Arbeit, WDR Köln: Artcore Film & Communication Steinböck, Georg (2006): DANS.KIAS.DOC. insights in a contemporary dance company’s work and living, Dokumentation, DVD, Wien: DANS.KIAS Teletanzjournal (2006), Teil 2, ZDF Theaterkanal, Redaktion: Heide-Marie Härtel, Sendetermine: 3., 8., 20., 25., 30.2.2006
Sonstige Quellen, Interviews Cvejic, Bojana (4.3.2005): Paneldiskussion »Research, Laboratory«, im Rahmen des Symposiums Inventory: Dance and Performance Forsythe, William (2007): Publikumsgespräch anlässlich der Aufführung von Decreation, 26.5.2007, KunstenFestivalDesArts, Brüssel
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472 | AM RAND DER KÖRPER
Ab b i l d u n g s n a c hw e i s Nachgewiesen sind Abbildungen, die nicht bereits durch Photograph/innen bzw. als Videostill in der Bildunterschrift direkt belegt wurden. Bibliographische Kurzangaben befinden sich im Literaturnachweis. Da einige Rechteinhaber/innen trotz aller Bemühungen nicht feststellbar oder erreichbar waren, bittet die Autorin um Kontaktaufnahme soweit die Abbildungen nicht der gesetzlichen Zitationsregelung unterliegen. Abb.:
http://www.bymed.org/superuovo/SuperUovo_ Fr/index.html
Abb. 5:
Harpham 982: 24
Abb. 6:
Gemäldegalerie der Akademie der Bildenden Künste Wien, Katalog, Vernissage Meisterwerke, Heidelberg, ohne Datum, S. 0
Abb. 7:
Museo del Prado; Belting, Hans: Hieronymus Bosch ›Garten der Lüste‹, München: Prestel, 2002, S. 34
Abb. 8:
Cecchi 982: 25, 55
Abb. 9, 2, 92:
Tanzarchiv Köln
Abb. 0:
Hermann und Marianne Aubel: Der künstlerische Tanz unserer Zeit, Königstein,Taunus/ Leipzig: Karl Robert Langewiesche, 928, S. 63
Abb. :
Tanzarchiv Köln, © VG Bild-Kunst, Bonn 2008
Abb. 7:
Bibliothèque nationale Paris; aus: Baltrusaitis 985: 88
Abb. 8, 93:
Paré 97: 9, 4
Abb. 9:
McGill University, Blackader Library: Livre des merveilles (Marco Polo, Odoric de Pordone, Mandeville, Hayton, etc.), Paris: Berthaud, 907; aus: Williams 996: 36
Abb. 23, 24:
© VG Bild-Kunst, Bonn 2008
Abb. 27:
© DANS.KIAS.
Abb. 28:
Steven de Belder/Ilse Vandesande/Herbert Reymer: De Beweeging 984-200, Antwerpen: De Beweeging, 200, S. 90
Abb. 29:
Raeves 2002: 244
ANHANG | 473
Abb. 33:
Hughes 2004: 302
Abb. 34, 35:
Fraenger 995: 22
Abb. 47:
Benthien 200: 78
Abb. 49:
Gemäldegalerie der Akademie der Bildenden Künste Wien, Katalog, Vernissage Meisterwerke, S. 9
Abb. 6:
© VG Bild-Kunst, Bonn 2008
Abb. 62:
Hildenbrandt 928: 96
Abb. 63:
Tanzarchiv Köln, © The Lisette Model Foundation, New York
Abb. 66:
Seipel et al. 2003: 6
Abb. 67, 68, 69, 70, 86, 87, 88: © The Estate of Francis Bacon/VG Bild-Kunst, Bonn 2008 Abb. 7, 72:
© VG Bild-Kunst, Bonn 2008
Abb. 77, 78:
Vesalius 2004: 83, 67
Abb. 79:
© VG Bild-Kunst, Bonn 2008
Abb. 90:
© VG Bild-Kunst, Bonn 2008
Abb. 94:
Nationalmuseum Stockholm, Inventarnr.: 84/874; aus: Schroedter 2006: 379
Abb. 95:
Franko 993: 83
Abb. 96, 97, 98:
Callot 97: 082, 083, 088
Abb. 99:
Woitas 2004: 65
Abb. 05:
Laban 200: 5
Abb. 06, 07:
Laban 99: 94, 45
TanzScripte Gabriele Brandstetter, Gabriele Klein (Hg.) Methoden der Tanzwissenschaft Modellanalysen zu Pina Bauschs »Le Sacre du Printemps« 2007, 302 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., inkl. Begleit-DVD, 28,80 €, ISBN 978-3-89942-558-1
Sabine Gehm, Pirkko Husemann, Katharina von Wilcke (Hg.) Wissen in Bewegung Perspektiven der künstlerischen und wissenschaftlichen Forschung im Tanz 2007, 360 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., 14,80 €, ISBN 978-3-89942-808-7
Sabine Huschka (Hg.) Wissenskultur Tanz Historische und zeitgenössische Vermittlungsakte zwischen Praktiken und Diskursen Juni 2009, 246 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1053-6
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Laurence Louppe Poetik des zeitgenössischen Tanzes Juli 2009, 340 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1068-0
Arnd Wesemann IMMER FESTE TANZEN ein feierabend! 2008, 96 Seiten, kart., 9,80 €, ISBN 978-3-89942-911-4
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3) ANZ1089.p 212619090118
TanzScripte Christiane Berger Körper denken in Bewegung Zur Wahrnehmung tänzerischen Sinns bei William Forsythe und Saburo Teshigawara 2006, 180 Seiten, kart., 20,80 €, ISBN 978-3-89942-554-3
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2006, 504 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-89942-478-2
Susanne Foellmer Valeska Gert Fragmente einer Avantgardistin in Tanz und Schauspiel der 1920er Jahre
Natalia Stüdemann Dionysos in Sparta Isadora Duncan in Russland. Eine Geschichte von Tanz und Körper
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Pirkko Husemann Choreographie als kritische Praxis Arbeitsweisen bei Xavier Le Roy und Thomas Lehmen Juli 2009, 280 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-973-2
Gabriele Klein (Hg.) Tango in Translation Tanz zwischen Medien, Kulturen, Kunst und Politik Juni 2009, 306 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1204-2
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Susanne Vincenz (Hg.) Letters from Tentland Zelte im Blick: Helena Waldmanns Performance in Iran/ Looking at Tents: Helena Waldmanns Performance in Iran 2005, 122 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 14,80 €, ISBN 978-3-89942-405-8
Gabriele Klein, Wolfgang Sting (Hg.) Performance Positionen zur zeitgenössischen szenischen Kunst 2005, 226 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-379-2
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