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German Pages XXI, 394 [407] Year 2020
Dortmunder Beiträge zur Entwicklung und Erforschung des Mathematikunterrichts
Laura Korten
Gemeinsame Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht Zieldifferentes Lernen am gemeinsamen Lerngegenstand des flexiblen Rechnens in der Grundschule
Dortmunder Beiträge zur Entwicklung und Erforschung des Mathematikunterrichts Band 44 Reihe herausgegeben von Stephan Hußmann, Dortmund, Deutschland Marcus Nührenbörger, Dortmund, Deutschland Susanne Prediger, Dortmund, Deutschland Christoph Selter, Dortmund, Deutschland
Eines der zentralen Anliegen der Entwicklung und Erforschung des Mathematikunterrichts stellt die Verbindung von konstruktiven Entwicklungsarbeiten und rekonstruktiven empirischen Analysen der Besonderheiten, Voraussetzungen und Strukturen von Lehr- und Lernprozessen dar. Dieses Wechselspiel findet Ausdruck in der sorgsamen Konzeption von mathematischen Aufgabenformaten und Unterrichtsszenarien und der genauen Analyse dadurch initiierter Lernprozesse. Die Reihe „Dortmunder Beiträge zur Entwicklung und Erforschung des Mathe matikunterrichts“ trägt dazu bei, ausgewählte Themen und Charakteristika des Lehrens und Lernens von Mathematik – von der Kita bis zur Hochschule – unter theoretisch vielfältigen Perspektiven besser zu verstehen. Reihe herausgegeben von Prof. Dr. Stephan Hußmann Prof. Dr. Marcus Nührenbörger Prof. Dr. Susanne Prediger Prof. Dr. Christoph Selter Technische Universität Dortmund, Deutschland
Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/12458
Laura Korten
Gemeinsame Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht Zieldifferentes Lernen am gemeinsamen Lerngegenstand des flexiblen Rechnens in der Grundschule Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Christoph Selter
Laura Korten Fakultät für Mathematik, IEEM Technische Universität Dortmund Dortmund, Deutschland Dissertation Technische Universität Dortmund, Fakultät für Mathematik, 2019 Erstgutachter: Prof. Dr. Christoph Selter Zweitgutachter: Prof. Dr. Franz B. Wember Drittgutachterin: Prof. Dr. Karina Höveler Tag der Disputation: 15.07.2019
Dortmunder Beiträge zur Entwicklung und Erforschung des Mathematikunterrichts ISBN 978-3-658-30647-2 ISBN 978-3-658-30648-9 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-30648-9 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer Spektrum ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Geleitwort Menschen sind unterschiedlich. Ausgehend von dieser Prämisse bedeutet Inklusion die Umsetzung von Chancengerechtigkeit für jeden einzelnen Menschen. Mit Blick auf die Schule heißt das: Lernende haben unterschiedliche Lernmöglichkeiten und befinden sich auf unterschiedlichen Lernständen. Und Mathematikunterricht im Sinne der Inklusion bedeutet die Ermöglichung der Teilhabe aller am Unterricht in einer Schule des Gemeinsamen Lernens, unabhängig von Geschlecht, besonderen Lernbedürfnissen, Religion, sozialem Status, usw. Damit dabei jedes Kind erfolgreich lernen kann, ist die Balance zwischen Individualisierung einerseits und die bewusste Anregung gemeinsamer Lernsituationen andererseits ein wesentlicher Aspekt im inklusiven Mathematikunterricht. Doch (wie) kann ein solcher Unterricht realisiert werden? Können dabei alle Lernenden profitieren? Welche Rolle spielt die Lehrperson? Wie wirkt sich die Heterogenität der Lernstände und Lernmöglichkeiten auf Interaktion, Kooperation und Lernerfolg aus? Wäre es nicht besser, ausschließlich individualisierte Arbeitspläne zum Einsatz zu bringen? Können Lernende mit deutlich unterschiedlichen Lernständen überhaupt am sogenannten gemeinsamen Gegenstand lernen? Die Forschungslage im Hinblick auf diese und weitere Fragen im Kontext des inklusiven Mathematikunterrichts ist sowohl aus mathematikdidaktischer als auch aus sonderpädagogischer Perspektive als unbefriedigend, weil bestenfalls in Ansätzen vorhanden, zu bezeichnen. Gleichzeitig sollen Lehrpersonen inklusiven Mathematikunterricht umsetzen. Es wird und wurde also dringend Zeit für (weitere) substanzielle Forschungs- und Entwicklungsarbeiten zu diesem Thema. Eine solche Arbeit legt Laura Korten vor und leistet damit einen fundierten Beitrag zur Schließung der oben identifizierten Lücke. Sie untersucht das Vonund Miteinander-Lernen von Kinderpaaren im Kontext einer mathematischen Lernumgebung. Ihr zentrales Erkenntnisinteresse besteht dabei darin, zu analysieren, wie die im Rahmen der Lernumgebung angeregten interaktivkooperativen Lernsituationen von Kindern mit und ohne Unterstützungsbedarf im Bereich ‚Lernen‘ bezüglich der individuellen Lernprozesse zum flexiblen Rechnen verlaufen und wie sich die interaktiven Strukturen entwickeln, um auf dieser Grundlage potenziell zielführende Gestaltungsprinzipien für die gelingende Anregung interaktiv-kooperativer Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht zu identifizieren. Die dem Paradigma der Entwicklungsforschung folgende Arbeit gliedert sich in vier Teile. In Teil A werden die Rahmentheorien herausgearbeitet, Teil B der vorliegenden Arbeit befasst sich mit der Unterrichtsdesignentwicklung. Der
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Geleitwort
Teil C der Arbeit ist der empirischen Untersuchung gewidmet, und Teil D mit der Generierung von Elementen einer lokalen Theorie. Die Arbeit zeigt eindrucksvoll auf, dass Lernen am gemeinsamen Gegenstand im Arithmetikunterricht gelingen kann. Die von der Autorin herausgearbeiteten Gestaltungsprinzipien können hierzu Orientierungen geben, um das Lernen von- und miteinander auch im inklusiven Mathematikunterricht anzuregen. Frau Korten legt sowohl in den theoretischen als auch den empirischen Ausführungen eine ausgezeichnete Arbeit vor, die wesentliche neue eigenständig entwickelte und bereichernde Aspekte in die aktuelle mathematikdidaktische und sonderpädagogische Forschungsdiskussion einbringt. Christoph Selter
Danksagung An dieser Stelle möchte ich mich bei all denjenigen bedanken, die mich während der Zeit meiner Promotion unterstützt, inspiriert und motiviert haben. Zuerst gebührt mein Dank Prof. Dr. Christoph Selter, der meine Arbeit betreute und begutachtete. Er gab mir die Möglichkeit und brachte mir das Vertrauen entgegen, meinem persönlichen Forschungsinteresse nachzugehen, das ich aus meiner Schulpraxis als Lehrerin mitbrachte. Während unserer zahlreichen Gespräche bereicherte er mein Forschungsprojekt mit seiner wissenschaftlichen und mathematikdidaktischen Expertise. Ebenso begegnete er mir in fordernden Phasen mit Verständnis und Rücksichtnahme. Für diese hervorragende Betreuung, die mir Freiheit und gleichzeitig Halt gab, bin ich sehr dankbar. Bedanken möchte ich mich ebenso bei Prof. Dr. Franz B. Wember für das Zweitgutachten und die würdigenden Worte zu meiner Forschungsarbeit aus Sicht eines Sonderpädagogen. Mein Dank gilt auch Prof. Dr. Karina Höveler für die spontane Übernahme des Drittgutachtens. Besonders bedanke ich mich bei den teilnehmenden Kindern sowie deren Eltern und Lehrkräften für die Mitarbeit an der empirischen Erhebung und für das Interesse an meinem Projekt. Ohne sie hätte die Arbeit nicht entstehen können. Dem funken Forschungs- und Nachwuchskolleg danke ich für den produktiven interdisziplinären Austausch und die finanzielle Unterstützung. Meinen aktuellen und ehemaligen IEEM-Kollegen/innen danke ich für die freundschaftliche und produktive Zusammenarbeit, besonders in der AG-Selter. Hervorheben möchte ich hier Dr. Daniel Walter, Elena Zannetin und Dr. Luise Eichholz, die Teile meiner Arbeit kritisch lasen und mich durch fachliche Rückmeldung und persönliche Gespräche unterstützt und zum Nachdenken angeregt haben. Danke auch an meine Bürokolleginnen Johanna Brandt, Kira Schlund und Kristina Penava, die mit mir durch alle Höhen und Tiefen des Promovierens gingen sowie an meine Hilfskräfte Lena, Svenja und Marlene. Ebenso danke ich geduldigen Begleitern während der Endphase der Promotion. Mein ganz besonderer Dank gilt meinen wunderbaren Freunden für Ablenkung, allzeit offene Ohren, viel Verständnis und Stabilität im Hintergrund, sowie meiner Familie, vor allem Annette, Peter und Janis Korten und Veronika Horst, die immer an mich geglaubt und mich auf vielfältige Weise unterstützt haben. Sie trugen durch stetiges Begleiten, Motivieren, (nächtliches) Korrekturlesen, aber auch durch Phasen der Ablenkung und generelles Interesse maßgeblich zum Entstehen dieser Arbeit bei. Zudem machten ihr kulinarischer Einsatz, das lange Beisammensein mit mir bedeutsamen Menschen sowie die sehr persönliche Rede von Elena meine Disputation zu einem unvergesslichen Tag. DANKE! Laura Korten
Inhaltsverzeichnis Abbildungsverzeichnis ................................................................................... XV Tabellenverzeichnis ...................................................................................... XIX Abkürzungsverzeichnis................................................................................ XXI Einleitung ........................................................................................................... 1
Teil A: Rahmentheorien .................................................................................... 9 1
‚Gemeinsames Lernen‘ im inklusiven Mathematikunterricht.............. 9 1.1 Inklusiver (Mathematik-)Unterricht .....................................................11 1.1.1 Von Integration zu Inklusion ........................................................... 12 1.1.2 Forschungstradition und Forschungslücken.................................... 16 1.1.3 ‚Gemeinsames Lernen‘ im inklusiven Mathematikunterricht ......... 29 1.2 Heterogenität als Grundbegriff ‚Gemeinsamen Mathematiklernens‘ .. 35 1.2.1 Heterogenität und sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf ...... 35 1.2.2 Teilnahme und Teilhabe .................................................................. 37 1.2.3 ‚Gemeinsames Mathematiklernen‘ – Herausforderung und Chance ............................................................................................ 39
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Interaktiv-kooperatives Lernen im inklusiven Mathematikunterricht 43 2.1 Interaktiv-kooperatives Lernen............................................................ 44 2.1.1 Interaktiv-kooperatives Lernen – Begriffsklärung und Konzepte ... 45 2.1.2 Forschungsergebnisse zum interaktiv-kooperativen Lernen ........... 49 2.1.3 Interaktionsprozesse im interaktiv-kooperativ strukturierten Mathematikunterricht...................................................................... 53 2.2 Interaktiv-kooperatives Lernen anregen .............................................. 62 2.2.1 Anregung interaktiv-kooperativen Lernens aus Sicht der Mathematikdidaktik ........................................................................ 63 2.2.2 Anregung interaktiv-kooperativen Lernens aus Sicht der Sonderpädagogik des Lernens ........................................................ 71 2.2.3 Interaktiv-kooperatives und individuell-zieldifferentes Lernen ...... 76 2.3 Entwicklung mathematischer Lernprozesse in der Interaktion ............ 80 2.3.1 Lerntheoretische Annahmen ........................................................... 80
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Inhaltsverzeichnis
2.3.2 Entwicklung mathematischer Lernprozesse in der Interaktion aus interaktionistischer Perspektive ...................................................... 85 2.3.3 Entwicklung mathematischer Lernprozesse in der Interaktion aus epistemologischer Perspektive ........................................................ 88 3
Individuell-zieldifferentes Lernen am gemeinsamen Lerngegenstand des flexiblen Rechnens ............................................................................ 93 3.1 Flexibles Rechnen ............................................................................... 95 3.1.1 Flexibles Rechnen – Begriffsklärung und Modelle......................... 95 3.1.2 Forschungsergebnisse zum flexiblen Rechnen ............................. 103 3.1.3 Indikatoren für flexibles Rechnen ................................................. 106 3.2 Flexibles Rechnen fördern ..................................................................110 3.2.1 Förderung flexiblen Rechnens aus Sicht der Mathematikdidaktik 111 3.2.2 Förderung flexiblen Rechnens aus Sicht der Sonderpädagogik des Lernens ....................................................................................114 3.2.3 Flexibles Rechnen und soziale Interaktion ....................................119 3.3 Individuell-zieldifferente Lernverläufe – ein Modell zum flexiblen Rechnen............................................................................................. 125 3.3.1 Modell zum flexiblen Rechnen ..................................................... 125 3.3.2 Referenzen – Aufbau von Zahlvorstellungen und Wahrnehmen von Aufgabeneigenschaften und -beziehungen ............................. 130 3.3.3 Lösungswerkzeuge – Nutzen von Aufgabeneigenschaften und -beziehungen .......................................................................... 133
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Forschungsmethodische Grundlagen der Untersuchung .................. 137 4.1 Erkenntnisinteresse und Forschungsfragen ....................................... 137 4.1.1 Erkenntnisinteresse der Untersuchung .......................................... 137 4.1.2 Forschungsfragen auf Forschungs- und Entwicklungsebene ........ 141 4.2 Forschungsmethodischer Zugang ...................................................... 143 4.2.1 Qualitativer Forschungsansatz ...................................................... 143 4.2.2 Fachdidaktische Entwicklungsforschung – Das Dortmunder FUNKEN-Modell ......................................................................... 144 4.2.3 Design-Experimente in iterativen Zyklen ..................................... 148
Teil B: Unterrichtsdesignentwicklung ......................................................... 151 5
Zwischenfazit mit Darlegung theoretischer Überlegungen zu einem Lehr-Lern-Arrangement für den inklusiven Mathematikunterricht .......................................................................... 151
Inhaltsverzeichnis
XI
5.1 Theoretisch fundierte Design-Prinzipien ........................................... 152 5.2 Inhaltliche Schwerpunktlegung ......................................................... 155 5.3 Interaktiv-kooperative Lernsituation ................................................. 158 6
Ein Lehr-Lern-Arrangement zur Anregung individuellzieldifferenten Lernens am gemeinsamen Lerngegenstand des flexiblen Rechnens in interaktiv-kooperativen Lernsituationen ......... 161 6.1 Lehr-Lern-Arrangement ‚Wir erforschen Nachbarzahlen und ihre Summen‘ ........................................................................................... 162 6.1.1 Sachstruktur des gemeinsamen Lerngegenstands ......................... 163 6.1.2 Didaktisch-methodische Entscheidungen ..................................... 168 6.1.3 Weitere Möglichkeiten der Unterstützung und Strukturierung ..... 173 6.2 Design-Prinzipien und deren Konkretion .......................................... 178 6.2.1 Gegenstandsreichhaltigkeit ........................................................... 179 6.2.2 Aufgabenbezogene Interaktionsanregung ..................................... 182 6.2.3 Zieldifferente Lernprozess- und Entwicklungsorientierung.......... 185
Teil C: Durchführung und Auswertung der Design-Experimente ............ 189 7
Methoden der Datenerhebung und -auswertung ............................... 189 7.1 Datenerhebung durch iterativ durchgeführte Design-Experimente ... 190 7.1.1 Forschungsschwerpunkte der iterativen Zyklen............................ 190 7.1.2 Aufbau und Ablauf der Design-Experimente ................................ 193 7.1.3 Theoretisches Sample ................................................................... 197 7.2 Methoden der Auswertung ................................................................ 199 7.2.1 Vorstrukturierung der Design-Experimente .................................. 202 7.2.2 Darlegung der Werkzeuge zur Feinanalyse ................................... 207 7.2.3 Gütekriterien interpretativ-qualitativer Forschung........................ 219
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Auswertung und Interpretation gegenstandsspezifischer individuell-zieldifferenter Lern- und Interaktionsprozesse .............. 225 8.1 Rekonstruktion individueller Lernprozesse ....................................... 227 8.1.1 Marina und Miriam erkennen und nutzen Analogie-Beziehungen und das Konstanzgesetz der Summe ............................................. 230 8.1.2 Paul und Anne erkennen und nutzen dekadische Analogien ......... 262 8.1.3 Zusammenfassende Betrachtung: typische Lernverläufe .............. 266 8.2 Rekonstruktion interaktiver Strukturen ............................................. 273 8.2.1 Kategorisierung interaktiver Strukturen ........................................ 274
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Inhaltsverzeichnis
8.2.2 Interaktive Lernprozesse ............................................................... 279 8.2.3 Zusammenfassende Betrachtung: typische Interaktionsmuster .... 281 8.3 ‚Produktive Momente‘ in der Interaktion .......................................... 284 8.3.1 Individuelle Lernprozesse und interaktive Strukturen .................. 285 8.3.2 Zusammenfassende Betrachtung: ‚produktive Momente‘ ............ 291 9
Auswertung und Interpretation gegenstandsspezifischer Lehr-Lernprozesse ................................................................................ 295 9.1 Theoretisch und empirisch fundierte Design-Prinzipien ................... 297 9.2 Gegenstandsreichhaltigkeit ................................................................ 305 9.2.1 ‚Strukturfokussierende Kontexteingrenzung‘ als Voraussetzung .. 308 9.2.2 ‚Darstellungswechsel ermöglichen‘ als Chance............................ 313 9.3 Aufgabenbezogene Interaktionsanregung ......................................... 318 9.3.1 ‚Vorgeschaltete individuelle Phase‘ als potenziell interaktionsförderliches Merkmal ................................................. 319 9.3.2 ‚Extrinsische positive Interdependenz‘ als Beitrag zu einer sinnstiftenden Zusammenarbeit .................................................... 322 9.4 Zieldifferente Lernprozess- und Entwicklungsorientierung .............. 325 9.4.1 ‚Situativität und Allgemeinheit‘ als potenziell lernförderliches Merkmal........................................................................................ 325 9.4.2 ‚Strukturfokussierende adressatengerechte Impulse‘ als potenziell lernförderliche Momente in der Interaktion .................. 328
Teil D: Beiträge zur lokalen Theoriebildung............................................... 331 10 Zusammenfassung und Einordnung der Ergebnisse ......................... 331 10.1 Hürden und Verläufe gegenstandsspezifischer individuellzieldifferenter Lern- und Interaktionsprozesse in interaktivkooperativen Lernsituationen ............................................................ 335 10.2 Zielführende Gestaltungsmerkmale zur Anregung gelingender interaktiv-kooperativer Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht ........................................................................ 346 11 Fazit und Ausblick ................................................................................ 353 11.1 Grenzen der Untersuchung ................................................................ 366 11.2 Konsequenzen für die weitere mathematikdidaktische Forschung .... 368 11.3 Konsequenzen für den Mathematikunterricht.................................... 370 11.4 Konsequenzen für die Lehrerfort- und -weiterbildung ...................... 370
Inhaltsverzeichnis
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Schlussbemerkung......................................................................................... 371 Literaturverzeichnis ...................................................................................... 373 Anhang ........................................................................................................... 391 Transkriptionsregeln........................................................................................ 391 Darlegung der Indikatoren zur Tabelle 8.3 ...................................................... 393
Abbildungsverzeichnis Abbildung 0.1: Aufbau der vorliegenden Arbeit ................................................ 4 Abbildung 1.1: Exklusion (lat. exclusio, Ausschluss) ...................................... 13 Abbildung 1.2: Separation (lat. separatio, Aussonderung/Trennung) .............. 13 Abbildung 1.3: Integration (lat. integration, Wiederherstellung eines Ganzen) ................................................................................... 13 Abbildung 1.4: Inklusion (lat. inclusio, Aufnahme; lat. includere, einschließen). .......................................................................... 15 Abbildung 3.1: Die drei Ebenen eines Lösungsprozesses nach dem ‚Mehrebenenmodell’ von Rathgeb-Schnierer (2011) ............ 100 Abbildung 3.2: Adaption des ‚Mehrebenenmodells’ nach RechtsteinerMerz (2013) .......................................................................... 102 Abbildung 3.3: Modell der Rechenwegsentwicklung nach RathgebSchnierer (2010a) .................................................................. 121 Abbildung 3.4: Modell zur Verknüpfung der individuell-zieldifferenten Lernprozesse und der Interaktion während des mit- und voneinander Lernens ............................................................. 122 Abbildung 3.5: Modell zum flexiblen Rechnen zur Darstellung individuellzieldifferenter Zugänge und Lösungsprozesse ...................... 126 Abbildung 3.6: Interaktion als potenzieller ‚Motor’ der Weiterentwicklung individueller Zugänge und Lösungsprozesse ........................ 130 Abbildung 4.1: Zyklus der Fachdidaktischen Entwicklungsforschung im Dortmunder FUNKEN-Modell ............................................. 146 Abbildung 4.2: Die logische Struktur eines Design-Prinzips nach Prediger (2019) .................................................................................... 147 Abbildung 5.1: Übergeordnete Design-Prinzipien zur Anregung des mitund voneinander Lernens im inklusiven Mathematikunterricht ............................................................................... 154 Abbildung 6.1: Horizontale, vertikale und diagonale Nachbarzahlen auf der 20er-Tafel ........................................................................ 162 Abbildung 6.2: Arithmetische Beziehungen der 20er- und 100er-Tafel......... 163 Abbildung 6.3: Interaktionsfördernde methodische Gestaltung mit den konkreten Arbeitsaufträgen für die vorgeschaltete individuelle Phase und die interaktiv-kooperative Phase ...... 170
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Abbildungsverzeichnis
Abbildung 6.4: Aufgabenkarten zur ikonischen und symbolischen Darstellung der Nachbarzahlen und der dazugehörigen Additionsaufgaben (didaktische Materialien) ....................... 172 Abbildung 6.5: Wechsel zwischen Darstellungen und Darstellungsebenen (i. A. a. ein Modell nach Kuhnke, 2013; vgl. Abb. 9.4) ........ 181 Abbildung 6.6: Die Spannweite zwischen einer konkret-situativen Aufgabenbearbeitung am konkreten Zahlenmaterial bis hin zu allgemeinen Deutungen von arithmetischen Eigenschaften und Beziehungen ........................................... 186 Abbildung 7.1: Die vier Phasen der Design-Experimente ............................. 194 Abbildung 7.2: Epistemologisches Dreieck nach Steinbring (2000).............. 211 Abbildung 7.3: Für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung adaptiertes epistemologisches Dreieck mit Erläuterungen zu möglichen Zeichen, Referenzkontexten und Begriffen in den angeregten interaktiv-kooperativen Lernsituationen, ergänzt durch den IMPULS (adaptiert von Steinbring, 2000, 2015) ........................................................................... 212 Abbildung 7.4: Potenzielle Anzeichen für ein lernförderliches Interaktionsgeschehen ........................................................... 217 Abbildung 7.5: ‚Interaktive Schlüsselaktivitäten‘ (nach Dekker & ElshoutMohr, 1998) als potenzielle Anzeichen für ein lernförderliches Interaktionsgeschehen ........................................................... 218 Abbildung 8.1: Modell zur Verknüpfung der individuellen Lernprozesse mit dem Interaktionsgeschehen ............................................. 227 Abbildung 8.2: Marinas Aufgabenkarten am Ende der vorgeschalteten individuellen Phase ............................................................... 231 Abbildung 8.3: Marinas individuelle Zugänge und Lösungsprozesse in der vorgeschalteten individuellen Phase visualisiert am Modell zum flexiblen Rechnen.......................................................... 232 Abbildung 8.4: Miriams Aufgabenkarten am Ende der vorgeschalteten individuellen Phase ............................................................... 235 Abbildung 8.5: Miriams individuelle Zugänge und Lösungsprozesse in der vorgeschalteten individuellen Phase visualisiert am Modell zum flexiblen Rechnen.......................................................... 236 Abbildung 8.6: Sortierung der Aufgabenkarten in Phase 8 ............................ 238 Abbildung 8.7: Marinas Lernverlauf, visualisiert am Modell zum flexiblen Rechnen ................................................................................ 260 Abbildung 8.8: Miriams Lernverlauf, visualisiert am Modell zum flexiblen Rechnen ................................................................................ 261
Abbildungsverzeichnis
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Abbildung 8.9: Das Konstrukt des ‚produktiven Momentes‘ zur Betrachtung des Zusammenhangs zwischen Impulsen, ‚interaktiven Schlüsselaktivitäten‘ und der Lernförderlichkeit (i. A. a. Dekker und Elshout-Mohr, 1998) ...... 286 Abbildung 8.10: Drei unterschiedliche ‚produktive Momente‘: direktdidaktisch, indirekt-didaktisch und interaktiv ....................... 292 Abbildung 9.1: Design-Prinzipien als empirisch und theoretisch gestütztes Ziel-Mittel-Wissen (adaptiert von Prediger, 2019) ............... 299 Abbildung 9.2: Aus der Theorie hergeleitete übergeordnete DesignPrinzipien zur Anregung des mit- und voneinander Lernens im inklusiven Mathematikunterricht ..................................... 302 Abbildung 9.3: Das Design-Prinzip DP1 ‚strukturfokussierende Kontexteingrenzung‘ als empirisch und theoretisch gestütztes Ziel-Mittel-Wissen ............................................... 309 Abbildung 9.4: ‚Inbeziehungsetzen‘ zwischen Darstellungen und Darstellungsebenen (Modell nach Kuhnke, 2013) ................ 313 Abbildung 9.5: Das Design-Prinzip DP2 ‚Darstellungswechsel ermöglichen‘ als empirisch und theoretisch gestütztes Ziel-Mittel-Wissen 314 Abbildung 9.6: Die Verknüpfung der ikonischen und symbolischen Darstellungsebene ................................................................. 316 Abbildung 9.7: Inbeziehungsetzen der Ebenen der sprachlichen und der mathematischen Symbole sowie der ikonischen Ebene ........ 317 Abbildung 9.8: Das Design-Prinzip DP3 ‚vorgeschaltete individuelle Phase‘ als empirisch und theoretisch gestütztes Ziel-Mittel-Wissen 320 Abbildung 9.9: Das Design-Prinzip DP4 ‚extrinsische positiven Interdependenz‘ als empirisch und theoretisch gestütztes Ziel-Mittel-Wissen ................................................................ 323 Abbildung 9.10: Spannweite zwischen einer Situativität am konkreten Zahlenmaterial bis hin zur allgemeinen Deutung von arithmetischen Eigenschaften und Beziehungen ................... 326 Abbildung 9.11: Das Design-Prinzip DP5 ‚Situativität und Allgemeinheit‘ als empirisch und theoretisch gestütztes Ziel-Mittel-Wissen 327 Abbildung 9.12: Das Design-Prinzip DP6 ‚strukturfokussierende adressatengerechte Impulse‘ als empirisch und theoretisch gestütztes Ziel-Mittel-Wissen ............................................... 329 Abbildung 10.1: ‚Produktive Momente‘ .......................................................... 343 Abbildung 10.2: Zielführende Gestaltungsmerkmale eines Lehr-LernArrangements zur gelingenden Anregung fruchtbarer interaktiv-kooperativer Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht ............................................................ 349
Tabellenverzeichnis Tabelle 1.1: Tabelle 1.2:
Gemeinsame Lernsituationen nach Wocken (1998) ................ 20 Teilnahme und Teilhabe .......................................................... 38
Tabelle 2.1:
Kooperationstypen in der Interaktion von Grundschulkindern nach Naujok (2000) ........................................... 58
Tabelle 3.1: Tabelle 3.2:
Kategorien und Indikatoren bzgl. der Referenzen................. 132 Kategorien und Indikatoren bzgl. der Lösungswerkzeuge .... 134
Tabelle 6.1:
Mögliche Nachbarzahlen und Nachbarsummen auf der 20er-Tafel sowie ihre Eigenschaften und Beziehungen ........ 164 Strukturierte Anschauungs- und Hilfsmittel mit der jeweiligen didaktischen Funktion und Konkretion ............... 174
Tabelle 6.2: Tabelle 7.1: Tabelle 7.2: Tabelle 7.3: Tabelle 7.4:
Tabelle 7.5:
Tabelle 8.1: Tabelle 8.2: Tabelle 8.3: Tabelle 8.4:
Übersicht über die zyklischen Design-Experimente ............. 190 Tabelle zur Grobanalyse der vorgeschalteten individuellen Phase (ICH-Phase) ................................................................ 203 Tabelle zur Grobanalyse der interaktiv-kooperativen Phase (DU-Phase) ........................................................................... 205 Vier Kategorien zur Beschreibung und Einordnung des Interaktionsgeschehens während der interaktiv-kooperativen Lernsituationen (eine Adaption der Kooperationstypen nach Naujok, 2000; vgl. Tab. 2.1).................................................. 215 Merkmale zur Unterscheidung zwischen einer asymmetrischen und einer symmetrischen aufgabenbezogenen Interaktionsstruktur ............................................. 216 Überblick der Kapitel mit den jeweiligen Bezügen zu den Forschungsfragen .................................................................. 226 Typische Lernverläufe in den interaktiv-kooperativen Lernsituationen ..................................................................... 267 Kategorisierung des Interaktionsgeschehens entlang der Phasen mit Bezug zu den individuellen Lernprozessen ........ 280 Vier typische Interaktionsmuster während der interaktivkooperativen Lernsituationen (eine Adaption der Kooperationstypen nach Naujok, 2000; vgl. Tab. 2.1) .......... 282
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Tabellenverzeichnis
Tabelle 8.5:
Zusammenhang zwischen den Impulsen, den ‚Interaktiven Schlüsselaktivitäten‘ und der Lernförderlichkeit ................. 288
Tabelle 9.1:
Überblick der Kapitel mit den jeweiligen Bezügen zu den Forschungsfragen ................................................................. 296
Tabelle 10.1:
Überblick des Kapitels 10 mit den jeweiligen Bezügen zu den Forschungsfragen .......................................................... 333 Interaktionstyp ‚parallele Aktivitäten ohne gemeinsames Ziel‘ (Ausschnitt aus Tab. 8.4 in Kap. 8.2.3) ....................... 337 Die fruchtbaren Interaktionstypen ‚dominante Kooperation‘ und ‚ausgewogene Kooperation‘ (Ausschnitt der Tab. 8.4 in Kap. 8.2.3).......................................................... 342
Tabelle 10.2: Tabelle 10.3:
Abkürzungsverzeichnis a. a. O. Abb. Allg. AO-SF Bzgl. Bsp. Bzw. D. h. Ebd. Ep. D. Et al. Gem. Gegens. / Gleichs. Veränd, I I. A. a. Kap. Lat. LW Min. MSW NRW R S. S. S. o. S/w T. Tab. U. a. V Versch. gleichs. Veränd. Vgl. Vs. Z. Z.B.
am angegebenen Ort Abbildung Allgemein/e/s Ausbildungsordnung sonderpädagogische Förderung Bezüglich Beispiel Beziehungsweise Das heißt Ebenda Epistemologisches Dreieck Et alii Gemeinsam/e/s Gegensinnige / Gleichsinnige Veränderung Interviewer In Anlehnung an Kapitel Lateinisch Lösungswerkzeuge Minute Ministeriums für Schule und Weiterbildung Nordrhein-Westfalen Referenzen Seite Siehe Siehe oben Schwarz-weiß Transkript Tabelle Unter anderem (strategische) Vorgehensweisen Verschiedene gleichsinnige Veränderung Vergleiche Versus Zeile Zum Beispiel
Einleitung „Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderung auf Bildung. Um dieses Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen. [...] Bei der Verwirklichung dieses Rechts stellen die Vertragsstaaten sicher, dass [...] Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen in der Gemeinschaft, in der sie leben, Zugang zu einem integrativen, hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen haben.“ (Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, 2014, S. 21, Artikel 24 (1), 24 (2b))
Auf der Grundlage der zitierten ‚UN-Behindertenrechtskonvention‘ wurde im Jahr 2013 die inklusive Bildung in Nordrhein-Westfalen an allgemeinen Schulen gesetzlich verankert (Ministerium für Inneres und Kommunales des Landes Nordrhein-Westfalen, 2013) und die Diskussion über das ‚Gemeinsame Lernen‘ im inklusiven Unterricht (früher: ‚Gemeinsamer Unterricht‘) erneut angestoßen. Das ‚Gemeinsame Lernen‘ aller Kinder mit und ohne Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung wurde durch das Inkrafttreten der Konvention zum gesetzlichen Regelfall. Die Aufnahme eines Kindes mit festgestelltem sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf an einer allgemeinen Schule muss nicht länger von den Eltern beantragt werden. Die Schulaufsicht ist in der Pflicht, bei Bedarf mindestens eine allgemeine Schule, die für das ‚Gemeinsame Lernen‘ personell und sächlich ausgestattet ist, zu benennen (ebd.). Die daraus entstehende Heterogenität in inklusiven Klassen stellt die Lehrkräfte vor neue Herausforderungen. Die Vielfalt der Lernenden kann aber gleichzeitig auch als Chance für ein anregendes Mit- und Voneinander-Lernen gesehen werden. Häufig findet die Umsetzung inklusiven Mathematikunterrichts jedoch in Form von Separation oder Individualisierung statt, wie Korff (2015) in einer Studie herausstellt. Sie macht auf das Problem aufmerksam, dass in der Schulpraxis gemeinsame Lernsituationen, in denen heterogene Partner mit- und voneinander lernen können, kaum angeregt werden (ebd.). An diese Situation anknüpfend untersucht die vorliegende qualitative Studie das ‚Gemeinsame Lernen‘ von Kindern mit und ohne Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung im inklusiven Mathematikunterricht. Da es sich hierbei um ein weit gefächertes und umfassendes Thema handelt, soll der Fokus der Untersuchung auf der Frage liegen, inwiefern Kinder mit und ohne sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf ‚Lernen‘ in interaktiv-kooperativen Lernsituationen mit- und voneinander lernen können, so dass alle Beteiligten profitieren. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Korten, Gemeinsame Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht, Dortmunder Beiträge zur Entwicklungund Erforschung des Mathematikunterrichts 44, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30648-9_1
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Einleitung
Gemeinsamer mathematischer Lerngegenstand, an dem individuell-zieldifferent gelernt werden soll, ist dabei das flexible Rechnen im Bereich der Addition. Erkenntnisinteresse In der mathematikdidaktischen Forschungslandschaft wird sich bisher nur in einer geringen Anzahl an Untersuchungen mit der konkreten Gestaltung ‚Gemeinsamen Mathematiklernens‘ sowie der Erforschung unterrichtlicher Prozesse entlang eines gemeinsamen mathematischen Lerngegenstandes beschäftigt. An diese Forschungslücke ansetzend ist das Ziel der vorliegenden Untersuchung die Anregung interaktiv-kooperativer Lernsituationen sowie die Erforschung dieser. Zentrales Erkenntnisinteresse ist es, herauszufinden, wie interaktivkooperative Lernsituationen zwischen Kindern mit und ohne Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung im Bereich ‚Lernen‘ bezüglich der individuellzieldifferenten Lernprozesse zum flexiblen Rechnen und der interaktiven Strukturen verlaufen, um daraus mögliche zielführende Gestaltungsprinzipien für die gelingende Anregung interaktiv-kooperativer Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht abzuleiten. Zu diesem Zweck wurde ein Lehr-Lern-Arrangement entwickelt, das in drei Zyklen iterativer Design-Experimente analysiert, beforscht und weiterentwickelt wurde. Das entwickelte Lehr-Lern-Arrangement ‚Wir erforschen Nachbarzahlen und ihre Summen‘ konzentriert sich auf die gezielte Anregung interaktivkooperativer Lernsituationen, in denen individuell-zieldifferent auf unterschiedlichen kognitiven Entwicklungsniveaus am gemeinsamen Lerngegenstand des flexiblen Rechnens gelernt wird. Um diese zieldifferenten heterogenen Lernprozesse einordnen und ihre (Weiter-)Entwicklung rekonstruieren zu können, wird ein theoretisches Modell zum flexiblen Rechnen entwickelt. Auf Grundlage dessen werden – in Kombination mit einer interpretativ-epistemologischen Analyse interaktiver Wissenskonstruktion – individuelle Lernprozesse und interaktive Strukturen analysiert und rekonstruiert. Diese Analysen in Zusammenhang mit dem Lehr-LernArrangement betrachtet, liefern Informationen für die Generierung zielführender Gestaltungsprinzipien zur gelingenden Anregung fruchtbarer interaktivkooperativer Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht. Der Forschungszugang der vorliegenden Untersuchung ist der Fachdidaktischen Entwicklungsforschung nach dem Dortmunder FUNKEN-Modell (Prediger, Link, Hinz, Hußmann, Thiele & Ralle, 2012) zuzuordnen. Damit einhergehend wird sich in der vorliegenden Untersuchung mit Forschungsfragen auf der Ebene des Verstehens der Lern- und Interaktionsprozesse in angeregten interaktiv-kooperativen Lernsituationen sowie auf der Ebene der Entwicklung zur Verbesserung der gezielten Anregung gelingender interaktiv-kooperativer Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht befasst.
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Einleitung
Aufbau der Arbeit Ebenfalls an dem FUNKEN-Modell ausgerichtet ist der Aufbau der vorliegenden Arbeit, der in vier Bereiche (A–D) gegliedert ist: theoretische Grundlagen (A), Unterrichtsdesignentwicklung (B), Durchführung und Auswertung der Design-Experimente (C) und lokale Theoriebildung (D). Abbildung 0.1 gibt einen Überblick über diese vier Bereiche mit der jeweiligen Zuordnung der Kapitel. Im Anschluss wird eine inhaltliche Zusammenfassung der einzelnen Kapitel vorgenommen. Teil A
Theoretische Grundlagen
Kapitel 1 ‚Gemeinsames Lernen‘ im inklusiven Mathematikunterricht Kapitel 2: Interaktiv-kooperatives Lernen im inklusiven Mathematikunterricht
Kapitel 3 Individuell-zieldifferentes Lernen am gemeinsamen Lerngegenstand des flexiblen Rechnens
Kapitel 4: Forschungsmethodische Grundlagen der Untersuchung
Unterrichtsdesignentwicklung
Teil B Kapitel 5: Zwischenfazit mit Darlegung theoretischer Überlegungen zu einem LehrLern-Arrangement für den inklusiven Mathematikunterricht Kapitel 6: Ein Lehr-Lern-Arrangement zur Anregung individuell-zieldifferenten Lernens am gemeinsamen Lerngegenstand des flexiblen Rechnens in interaktiv-kooperativen Lernsituationen
Teil C
Durchführung und Auswertung der Design-Experimente
Kapitel 7: Methoden der Datenerhebung und -auswertung Kapitel 8: Auswertung und Interpretation gegenstandsspezifischer individuellzieldifferenter Lern- und Interaktionsprozesse (Ergebnisse auf Forschungsebene) 8.1 Forschungsfrage FF1
8.2 Forschungsfrage FF2
8.3 Forschungsfrage FF3
Kapitel 9: Auswertung und Interpretation gegenstandsspezifischer Lehr-Lernprozesse (Ergebnisse auf Entwicklungsebene) 9.1 Forschungsfrage EF1
9.2–9.4 Forschungsfrage EF2
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Einleitung
Lokale Theoriebildung
Teil D Kapitel 10: Zusammenfassung und Einordnung der Ergebnisse 10.1 Hürden und Verläufe gegenstandsspezifischer individuell-zieldifferenter Lern- und Interaktionsprozesse in interaktiv-kooperativen Lernsituationen
10.2 Zielführende Gestaltungsmerkmale zur Anregung gelingender interaktiv-kooperativer Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht Forschungsfrage EF3
Kapitel 11: Fazit und Ausblick Abbildung 0.1:
Aufbau der vorliegenden Arbeit
In Teil A der vorliegenden Studie werden die inhaltlich- und forschungsmethodisch-theoretischen Grundlagen dargelegt. Kapitel 1 (‚Gemeinsames Lernen‘ im inklusiven Mathematikunterricht) gibt den thematischen Rahmen vor. Es werden die grundlegenden Begriffe ‚Integration‘, ‚Inklusion‘ und ‚Gemeinsames (Mathematik-)Lernen‘ geklärt und deren Bedeutung für dieses Forschungsprojekt abgeleitet. Damit einhergehend erfolgt die Darstellung des relevanten Forschungsstandes und der Forschungslücke zum inklusiven (Mathematik-)Unterricht (Kap. 1.1), bevor der Fokus auf die Situation der Heterogenität an deutschen Schulen und die Bedeutung dieser für die Teilhabe aller am inklusiven Mathematikunterricht sowie das ‚Gemeinsame Mathematiklernen‘ gelegt wird (Kap. 1.2). Hierbei werden zwei wesentliche Aspekte ‚Gemeinsamen (Mathematik-)Lernens‘ herausgestellt, an denen der weitere Aufbau der vorliegenden Arbeit ausgerichtet ist. Kapitel 2 und 3 bilden die zwei inhaltlich-theoretischen Grundsteine, die die beiden wesentlichen Aspekte ‚Gemeinsamen (Mathematik-)Lernens‘ darstellen: interaktiv-kooperatives Lernen (Kap. 2) und gleichzeitig individuellzieldifferentes Lernen am gemeinsamen Lerngegenstand (Kap. 3). In Kapitel 2 (Interaktiv-kooperatives Lernen im inklusiven Mathematikunterricht) werden zunächst Begriffe, grundlegende Konzepte und Forschungsergebnisse zum interaktiv-kooperativen (Mathematik-)Lernen (Kap. 2.1) beleuchtet, bevor die Anregung dessen aus Sicht der Mathematikdidaktik und aus Sicht der Sonderpädagogik diskutiert und mit dem individuell-zieldifferenten Lernen in Zusammenhang gebracht wird (Kap. 2.2). Abschließend wird die Entwicklung mathematischer Lernprozesse in der Interaktion thematisiert, um die lerntheoretischen Annahmen der vorliegenden Studie grundlegend zu klären. Im Zuge dessen wird die interaktiv-kooperative Lernprozessentwicklung aus interaktionistischer und epistemologischer Perspektive dargelegt und hiermit eine wichtige Grundlage für die späteren Analysen gelegt (Kap. 2.3).
Einleitung
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Kapitel 3 (Individuell-zieldifferentes Lernen am gemeinsamen Lerngegenstand des flexiblen Rechnens) ist daran anknüpfend strukturähnlich aufgebaut. Es werden ebenso zunächst Begriffe und grundlegende Modelle sowie Forschungsergebnisse und Indikatoren zum gemeinsamen Lerngegenstand des flexiblen Rechnens betrachtet (Kap. 3.1), bevor die zieldifferente Förderung dessen aus Sicht der Mathematikdidaktik und aus Sicht der Sonderpädagogik diskutiert und mit der sozialen Interaktion im inklusiven Mathematikunterricht in Zusammenhang gebracht wird (Kap. 3.2). Abschließend wird die Entwicklung eines Modells zum flexiblen Rechnen dargestellt, um im weiteren Verlauf heterogene individuell-zieldifferente Lösungs- und Lernprozesse rekonstruieren zu können (Kap. 3.3). Mit den beiden theoretischen Grundsteinen in Kapitel 2 und 3 wird eine wesentliche Grundlage einerseits für die Entwicklung des LehrLern-Arrangements und andererseits für die späteren Analysen gelegt. Die Verbindung zwischen der inhaltlich-theoretischen Grundlegung und der empirischen Untersuchung stellt Kapitel 4 (Forschungsmethodische Grundlagen der Untersuchung) dar, in dem die forschungsmethodisch-theoretischen Grundlagen der Studie vorgestellt werden. Damit einhergehend werden zunächst das Erkenntnisinteresse und die Forschungsfragen auf Forschungs- und Entwicklungsebene aus den inhaltlich-theoretischen Grundlagen hergeleitet (Kap. 4.1). Anknüpfend daran wird nachfolgend der forschungsmethodische Zugang beschrieben und begründet (Kap. 4.2). In Teil B der vorliegenden Studie wird die Unterrichtsdesignentwicklung eines theoretisch und empirisch fundierten Lehr-Lern-Arrangements dargelegt, das zum Ziel hat, interaktiv-kooperative Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht, in denen mit- und voneinander gelernt wird, gezielt anzuregen. Mathematisch-inhaltliches Ziel ist die individuell-zieldifferente Förderung flexiblen Rechnens im Verlauf der angeregten interaktiv-kooperativen Lernsituationen. In Kapitel 5 (Zwischenfazit mit Darlegung theoretischer Überlegungen zu einem Lehr-Lern-Arrangements für den inklusiven Mathematikunterricht) werden zunächst – als Zwischenfazit aus den vorangegangenen Kapiteln 1 bis 3 – theoretisch fundierte Unterrichtsdesignentscheidungen bezüglich der DesignPrinzipien (Kap. 5.1), der inhaltlichen Schwerpunktlegung (Kap. 5.2) und der interaktiv-kooperativen Lernsituationen (Kap. 5.3) dargestellt und begründet. In Kapitel 6 (Ein Lehr-Lern-Arrangement zur Anregung individuellzieldifferenten Lernens am gemeinsamen Lerngegenstand des flexiblen Rechnens in interaktiv-kooperativen Lernsituationen) werden diese durch empirisch weiterentwickelte Unterrichtsdesignentscheidungen 1 ergänzt und konkretisiert. Im Zuge dessen werden das Lehr-Lern-Arrangement ‚Wir erforschen Nachbar1
Diese empirisch fundierten Unterrichtsdesignentscheidungen basieren auf den Analysen der Pilotierungsphase und des ersten Erhebungszyklus‘ der vorliegenden Untersuchung.
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Einleitung
zahlen und ihre Summen‘ (Kap. 6.1) sowie die zugrunde liegenden DesignPrinzipien und deren Konkretion (Kap. 6.2) beschrieben und begründet. Das theoretisch und (zunehmend) empirisch fundierte Lehr-Lern-Arrangement bietet den Gegenstand für die Durchführung iterativer Design-Experimente, um die es in Teil C der vorliegenden Arbeit geht. In Teil C wird dementsprechend die Durchführung der Untersuchung erläutert und die iterativen Design-Experimente werden ausgewertet. In Kapitel 7 (Methoden der Datenerhebung und -auswertung) wird zunächst der allgemeine Forschungszugang aus Kapitel 4 konkretisiert, indem die projektspezifische Methodenauswahl der Datenerhebung (Kap. 7.1) und -auswertung (Kap. 7.2) erläutert und begründet wird. Damit einhergehend werden Gütekriterien interpretativ-qualitativer Forschung und deren Erfüllung für das vorliegende Forschungsprojekt beleuchtet. In Kapitel 8 und 9 folgt anschließend die Darlegung der Untersuchungsergebnisse und damit einhergehend die Beantwortung von fünf der insgesamt sechs Forschungsfragen. Während in Kapitel 8 (Auswertung und Interpretation gegenstandsspezifischer individuell-zieldifferenter Lern- und Interaktionsprozesse) auf die Forschungsebene eingegangen wird und die Ergebnisse zu den Lernprozessen (Kap. 8.1) und Interaktionsprozessen (Kap. 8.2) sowie deren Zusammenhang (Kap. 8.3) dargestellt werden, sollen im anschließenden Kapitel 9 (Auswertung und Interpretation gegenstandsspezifischer Lehr-Lernprozesse) die Forschungsfragen auf Entwicklungsebene angesprochen und die Ergebnisse zu den Lehr-Lernprozessen und Design-Prinzipien dargelegt werden (Kap. 9.1, 9.2, 9.3 und 9.4). Hierbei ist es das Ziel, Einzelphänomene aus Einzelfallanalysen zunehmend vom konkreten Entstehungskontext zu lösen, um verallgemeinerbare Anteile herauszuarbeiten, die zur lokalen Theoriegenerierung beitragen. Den Abschluss der Arbeit bildet Teil D mit der Darlegung der Beiträge zur lokalen Theoriebildung. In Kapitel 10 (Zusammenfassung und Einordnung der Ergebnisse) werden die zentralen Ergebnisse der vorliegenden Studie mit Blick auf die Generierung lokaler Theorieelemente zusammengefasst und eingeordnet. Dabei geht es zunächst auf Forschungsebene um beschreibende und erklärende Theorieelemente zu Hürden und Verläufen gegenstandsspezifischer individuellzieldifferenter Lern- und Interaktionsprozesse in interaktiv-kooperativen Lernsituationen (Kap. 10.1). Anschließend werden auf Entwicklungsebene Konsequenzen hinsichtlich der Generierung prognostischer Theorieelemente zu zielführenden Gestaltungsmerkmalen für die gelingende Anregung interaktivkooperativer Lernsituationen, in denen alle Beteiligten zieldifferent aber mitund voneinander lernen, dargelegt (Kap. 10.2). Hiermit wird auch die letzte der insgesamt sechs Forschungsfragen beantwortet.
Einleitung
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Am Ende wird in Kapitel 11 (Fazit und Ausblick) ein Fazit gezogen, indem die Ergebnisse zusammenfassend dargestellt und Grenzen der vorliegenden Untersuchung angesprochen werden (Kap. 11.1). Abschließend wird ein Ausblick gegeben, indem Konsequenzen der gewonnenen Erkenntnisse für die zukünftige mathematikdidaktische Forschung (Kap. 11.2), den Mathematikunterricht (Kap. 11.3) sowie für die Lehrerfort- und -weiterbildung (Kap. 11.4) angesprochen werden.
Teil A: Rahmentheorien 1 ‚Gemeinsames Lernen‘ im inklusiven Mathematikunterricht Schreibe eine leichte Aufgabe auf. Kann dir deine leichte Aufgabe helfen, schwierige Aufgaben zu rechnen? Welche? Erkläre deinem Partner, wie dir deine Aufgaben beim Rechnen helfen.
Dieser Arbeitsauftrag wurde Kindern aus einer dritten Klasse im inklusiven Mathematikunterricht gestellt. Ruben2 wählte die Additionsaufgaben 1 + 2 = 3 und 11 + 12 = 23 aus und erklärte seinem Partner Sven seine Wahl wie folgt: Transkript 1.1: Eine Lernsituation aus dem inklusiven Mathematikunterricht – Eingangsbeispiel
Ruben (R)
Sven (SV)
0
1
Weil hier (zeigt auf die Aufgabe 1 + 2 = 3) eins plus zwei ja drei ergibt und hier (zeigt auf die Aufgabe 11 + 12 = 23) ist eigentlich genau das Gleiche, nur ein Zehner (guckt Sven an) ist vor der – vor dem Einer, da muss man eigentlich nur ... (schaut bis zu diesem Moment auf die Aufgaben, schaut nun nach unten)
2
2
3 4
... da muss man eigentlich nur ze– ...
5
I: (tippt S auf die Hand) Ruben erklärt dir etwas.
(spielt mit einem Stift und lässt ihn geräuschvoll auf den Tisch fallen)
Alle in der vorliegenden Arbeit verwendeten Namen von Personen oder Institutionen wurden aus Gründen des Datenschutzes anonymisiert bzw. pseudonymisiert. Für die Analysen wurden die Namen durch die Nutzung der Anfangsbuchstaben abgekürzt. (Kind mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf: zwei Buchstaben; Kind ohne sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf: ein Buchstabe)
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Korten, Gemeinsame Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht, Dortmunder Beiträge zur Entwicklungund Erforschung des Mathematikunterrichts 44, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30648-9_2
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1 ‚Gemeinsames Lernen‘ im inklusiven Mathematikunterricht
(schaut nun Ruben wieder an) ... zehn plus zehn ist ja ganz einfach, weiß ja schon jeder: sind 20, aber weil wenn ja eins plus zwei drei ergibt ... (beginnt damit, ein Blatt, das auf dem Tisch liegt, zu knicken)
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(redet währenddessen weiter) Da muss man ja eigentlich nicht mehr rechnen, man weiß es ja schon. Da müssen wir noch drei dazurechnen.
In dieser Lernsituation begründet Ruben – ein Kind mit durchschnittlichen Mathematikleistungen – seine Aufgabenauswahl mit Hilfe operativer Aufgabenbeziehungen. Sein Partner Sven – ein Kind mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf ‚Lernen‘ – wäre nach Einschätzungen der Lehrerin in der Lage, Rubens Begründungen zu verstehen.3 Jedoch folgt er den Erläuterungen nicht. Das hatte zur Folge, dass es in dieser Situation zu keiner Interaktion und Kommunikation über Mathematik kommt und aufgrund dessen die Kinder nicht mitund voneinander lernen, obwohl die gemeinsame Aufgabe inhaltlich für einen Austausch über unterschiedliche Zugänge und Lösungen geeignet ist und dieser methodisch explizit angeregt wird. Der Transkriptausschnitt zeigt exemplarisch für andere Lernsituationen aus der Pilotierungsphase dieser Untersuchung auf, dass individuelle Lösungs- und Denkprozesse, die zuvor in einer individuellen Phase von beiden Kindern auf der Grundlage individueller Lernvoraussetzungen entwickelt wurden, nicht ausgetauscht werden. Es ist also – trotz einer gemeinsamen Aufgabe, die eine Interaktion anregt – eher ein ‚Nebeneinanderlernen‘ als ein ‚Gemeinsames Lernen‘. Als Fazit lässt sich festhalten, dass durch die alleinige Schaffung vermeintlich geeigneter interaktionsfördernder Rahmenbedingungen sowie einer gemeinsamen Aufgabe, die für alle Beteiligten zugänglich ist und zum Austausch über Mathematik einlädt, die Anregung interaktiv-kooperativer Lernsituationen, in denen mit- und voneinander gelernt wird, nicht zwangsläufig gelingt. Jedoch ist die Anregung des miteinander und voneinander Lernens, bei dem sich alle Beteiligten vor dem Hintergrund ihres individuellen Entwicklungsniveaus einbringen und miteinander interagieren, ein entscheidender Schritt für die Umsetzung der gesetzlich verankerten inklusiven Bildung (vgl. Kap. 1.1.1). Schließlich ist die Sicherung von Aktivität, Teilhabe und Weiterentwicklung eines jeden Kindes das Ziel eines inklusiven Unterrichtes, in dem jeder mit seiner Individualität anerkannt wird, Teil der Gemeinschaft ist und Bildungsprozesse mitgestalten kann (KMK, 2011, S. 5). ‚Gemeinsames Lernen‘ kann also nicht (nur) bedeuten, gemeinsam in einem Raum zu sein, bestimmte interakti3
Diese Einschätzung des Lernstandes beruht auf Gesprächen mit der Klassenlehrerin und bestätigte sich im weiteren Verlauf der Interviews.
1.1 Inklusiver (Mathematik-)Unterricht
11
onsanregende Sozialformen vorzusehen oder Kinder aufzufordern, sich gegenseitig zu helfen. Um Teilhabe (und nicht nur Teilnahme) zu ermöglichen, sollte es das Ziel sein, dass alle Kinder einer heterogenen Lerngruppe so häufig wie möglich in der gemeinsamen Auseinandersetzung mit einem gemeinsamen Lerngegenstand einen individuellen Lernfortschritt erreichen. Es stellen sich also die Fragen, was ‚Gemeinsames Lernen‘ genau ist (vgl. Kap. 1.1.3) und wie es im inklusiven Mathematikunterricht gelingen kann. Wie kann also auch eine gezielte Anregung dieser Lernsituationen gelingen, in denen an einem gemeinsamen Lerngegenstand mit- und voneinander gelernt wird und die für den Lernprozess aller Beteiligten fruchtbar sind? Um in der vorliegenden Arbeit diesen Fragen nachzugehen, werden in Kapitel 1 zunächst wichtige grundlegende Begriffe, Konzepte und schulische Rahmenbedingungen erläutert und deren Bedeutung für dieses Forschungsprojekt festgelegt. Dabei wird geklärt, was Inklusion und inklusiver (Mathematik-)Unterricht intendieren und was ‚Gemeinsames Lernen‘ im inklusiven (Mathematik)Unterricht genau bedeutet. Im Zuge dessen werden darüber hinaus relevante Forschungsergebnisse bezüglich dieser drei Aspekte beleuchtet. Zu diesem Zweck erfolgt in Kapitel 1.1 zunächst ein kurzer einleitender Überblick über die Entwicklung der Begriffe Integration und Inklusion (Kap. 1.1.1), um auf dieser Grundlage den aktuellen Forschungsstand zum inklusiven Unterricht genauer zu betrachten (Kap. 1.1.2). Anschließend wird sich dem Desiderat und dem Ziel von inklusivem Unterricht – dem ‚Gemeinsamen Lernen‘ – zugewendet und eine Begriffsbestimmung vorgenommen, die als Grundlage für dieses Forschungsprojekt dient (Kap.1.1.3). Das daran anschließende Kapitel 1.2 thematisiert den Grundbegriff ‚Gemeinsamen Lernens‘ im inklusiven (Mathematik-)Unterricht: die durch die gemeinsame Beschulung entstehende erhöhte Heterogenität. Nach der diesbezüglichen Darlegung der Situation an Schulen in NRW (Kap. 1.2.1) wird auf die Bedeutung der Teilhabe aller (Kap. 1.2.2) sowie auf die fachdidaktische Konkretisierung mit ihren Herausforderungen und Chancen für den inklusiven Mathematikunterricht eingegangen (Kap. 1.2.3).
1.1
Inklusiver (Mathematik-)Unterricht
Wie die Geschichte der Pädagogik zeigt, ist die gemeinsame Beschulung von Kindern mit und ohne sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf seit über 100 Jahren ein weltweit debattiertes Thema (Lütje-Klose & Miller, 2015; Stanislowski & Nuding, 2013). Ebenso stehen in Deutschland – besonders seit der im Jahre 2013 gesetzlichen Verankerung einer inklusiven Bildung (vgl. Einleitung) – der inklusive Unterricht und das damit intendierte ‚Gemeinsame Lernen‘ im
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1 ‚Gemeinsames Lernen‘ im inklusiven Mathematikunterricht
Mittelpunkt aktueller Schul- und Unterrichtsentwicklungsdebatten. Dabei wird als selbstverständlich angenommen, dass ein qualitativ guter und zieldifferenter Unterricht erforderlich ist, an dem alle Kinder auf der Basis ihrer individuellen Fertigkeiten und Fähigkeiten teilhaben können. In der Kritik und Diskussion stehen dabei jedoch insbesondere die generelle Wirksamkeit und Umsetzbarkeit sowie Prinzipien und Konzepte eines solchen Unterrichtes. Die Diskussion, Erprobung und Erforschung inklusiven Unterrichtes (früher: Integrativer Unterricht) geht zwar viele Jahre zurück, dennoch stellt die theoriegeleitete und empirische Erforschung der sich vollziehenden unterrichtlichen Prozesse, unter Berücksichtigung eines weiten Inklusionsbegriffs, bis heute eine Forschungslücke dar (u. a. Feuser, 2012a; Lütje-Klose & Miller, 2015). Bevor im Folgenden diese historische Entwicklungslinie der Integrations- bzw. Inklusionsforschung, unterteilt in drei chronologische Phasen (i. A. a. Heimlich, 2007; Lütje-Klose & Miller, 2015), umrissen wird (Kap. 1.1.2), geht es zunächst um die Klärung der Begriffe Integration und Inklusion (Kap. 1.1.1). 1.1.1 Von Integration zu Inklusion Die folgende Beleuchtung der Begriffe Integration und Inklusion findet primär aus dem Blickwinkel eines bildungssprachlichen Gebrauches statt, um dem schulischen Kontext dieser Arbeit nachzukommen. Integration Der Begriff Integration kommt aus dem Lateinischen (integratio) und bedeutet die „Wiederherstellung einer Einheit aus Differenziertem“ (DUDEN online, 2017). Durch die Umsetzung von Integration findet folglich eine (Wieder-) Eingliederung von etwas/jemandem statt, was/der/die zuvor ausgeschlossen oder ausgesondert wurde (Abb. 1.1 ‚Exklusion’; Abb. 1.2 ‚Separation’).
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1.1 Inklusiver (Mathematik-)Unterricht
4
4
Abbildung 1.1: Exklusion (lat. exclusio, Ausschluss): Trennung nach Bildungsfähigkeit
Abbildung 1.2: Separation (lat. separatio, Aussonderung/Trennung): Trennung nach Kompetenzen und Eigenschaften
Auf den schulischen Kontext bezogen werden Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigung jeglicher Art nicht mehr aus der Regelschule ausgesondert, um überhaupt nicht oder an spezialisierten Schulen beschult zu werden. Im Sinne einer integrativen Bildung werden sie trotz ihrer Beeinträchtigung in die Regelschulen integriert und dort entsprechend ihrer individuellen Bedürfnisse besonders gefördert (Abb. 1.3 ‚Integration’).
4
Abbildung 1.3:
Integration (lat. integration, Wiederherstellung eines Ganzen): (Wieder-)Vereinigung der Gruppe, räumlich gemeinsam, inhaltlich nebeneinander
Vor diesem allgemeinen Deutungshintergrund wurde der Integrationsbegriff im erziehungswissenschaftlichen Diskurs aus verschiedenen wissenschaftstheoretischen Perspektiven im Detail unterschiedlich interpretiert. Es folgt eine Darstellung in Anlehnung an Lütje-Klose und Miller (2015). 4
Die Bilder wurden in Anlehnung an eine Idee von Aktion Mensch e. V. (Aktion Mensch e.V., 2017) erstellt und durch Begriffsdefinitionen nach dem DUDEN (DUDEN online, 2017) ergänzt.
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1 ‚Gemeinsames Lernen‘ im inklusiven Mathematikunterricht
Aus allgemeinpädagogischer und grundschulpädagogischer Perspektive wurde vertreten, dass die individuellen Voraussetzungen aller in jedem Unterricht zu berücksichtigen sind. Demnach ist auch der Einbezug von Kindern mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf als Aufgabe jeder Fachdidaktik und der allgemeinen Didaktik zu sehen (Schöler, 1993). Aus sonderpädagogischer Perspektive wurden zwei verschiedene inhaltliche Deutungen des Begriffes Integration betont. Auf der einen Seite war dies der materialistische Ansatz der Bremer Behindertenpädagogen, der als zentrales Unterrichtsprinzip die Kooperation am gemeinsamen Gegenstand durch innere Differenzierung in den Mittelpunkt stellt (Feuser, 1995; 2012b; vgl. Kap. 1.1.2). Zum anderen war es der psychoanalytische Ansatz der Frankfurter Arbeitsgruppe um Reiser, der Integration als Prozess versteht, in dem es um Annäherung und Abgrenzung geht (Reiser et al., 1986; vgl. Kap. 1.1.2). Hieran anknüpfend entwickelten Prengel (1993; vgl. Kap. 1.1.2) und Hinz (1993) die Konzeption integrativer Pädagogik ‚Die Pädagogik der Vielfalt’, die – ganz im Sinne des aktuellen Inklusionsbegriffes (vgl. folgender Abschnitt) – alle Heterogenitätsdimensionen einbezieht. Ziel dabei ist eine ‚egalitäre Differenz’ im Sinne eines gleichen Rechts auf Verschiedenheit (Lütje-Klose & Miller, 2015). In den Ausführungen wird deutlich, dass die unterschiedlichen inhaltlichen Deutungen des Begriffes Integration nicht in allen Aspekten eindeutig vom Verständnis des heutigen Inklusionsbegriffes (vgl. folgender Abschnitt) abgrenzbar sind und vielmehr eine Entwicklung hin zum Begriff der Inklusion anzunehmen ist. Ein weiterer Grund für diese inhaltlichen Überschneidungen sind Übersetzungsprozesse. Die in der Einleitung zitierte und aus dem Englischen übersetzte ‚UN-Behindertenrechtskonvention’ zeigt beispielhaft, dass der Inklusionsbegriff im deutschsprachigen Raum lange Zeit mit dem Wort Integration übersetzt und gleichgesetzt wurde. Dieselbe Konvention trug dennoch dazu bei, dass sich der Inklusionsbegriff in den letzten Jahren auch in Deutschland durchsetzte. Inklusion Der Begriff Inklusion wurde in den 1990er Jahren im angloamerikanischen Raum eingeführt und knüpft an Milani-Comparettis Gedanken der ‚Nichtaussonderung’ an (Schöler, 1987). Er sieht Integration als vermeidbar an, wenn erst gar keine Aussonderung stattfindet (Lütje-Klose & Miller, 2015; Schöler, 1993). Der aktuelle Inklusionsbegriff bezieht sich also auf die Idee der Aufhebung einer Integration von Menschen mit Beeinträchtigungen jeglicher Art. Er schließt alle Menschen und die damit verbundene Vielfalt von vorneherein grundsätzlich ein, indem die äußerlichen Bedingungen und Strukturen der Gesamtheit angepasst werden (Abb. 1.4 ‚Inklusion’).
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1.1 Inklusiver (Mathematik-)Unterricht
4
Abbildung 1.4:
Inklusion (lat. inclusio, Aufnahme; lat. includere, einschließen): Alle miteinander. Ausnahmen sind die Regel und Anderssein ist normal. Die Struktur orientiert sich an den individuellen Bedürfnissen.
Lütje-Klose und Miller (2015) unterscheiden zwischen drei Perspektiven: Die bürgerliche Perspektive geht auf das Recht gleichrangiger gesellschaftlicher Partizipation aller Menschen ein. Sie schließt damit auch diejenigen ein, die beeinträchtigt sind und Hilfe benötigen, um am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können. Eine eher bildungsorientierte Perspektive interpretiert den Begriff als einen neuen Schritt Richtung eines nicht-aussondernden Bildungssystems mit dem Ziel eines flächendeckenden inklusiven Unterrichtes. Letzteres kann Inklusion auch als eine Weiterführung und Ausweitung der allgemeinen Integrationsbewegung an Schulen gesehen werden (ebd.). Begriffsklärung für die vorliegende Arbeit In dieser Arbeit findet eine Verknüpfung der drei Perspektiven statt: Es wird eine bildungsorientierte Perspektive eingenommen, die hier jedoch als ein Teil der bürgerlichen Perspektive – nämlich die Ermöglichung der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben – gesehen wird. Zudem werden eine Weiterführung und Ausweitung der allgemeinen Integrationsbewegung an Schulen angenommen. Demzufolge knüpft das vorliegenden Forschungsprojekt an Konzepte und Forschungsergebnisse zum integrativen Unterricht (Kap. 1.1.2) an und zieht diese als theoretische Rahmung heran. Allen drei Perspektiven gemein ist die weit gefasste Interpretation des Inklusionsgedankens, der alle Menschen mit allen Differenzlinien, wie Geschlecht, ethnische oder soziale Herkunft, körperliche oder geistige Behinderungen, anspricht. Dieses weite Verständnis von Inklusion liegt auch der vorliegenden Arbeit zu Grunde, wenn auch ein Forschungsfokus auf die Dimension ‚Behinderung’ gelegt wird. Diese Einschränkung im Rahmen des Forschungsprojektes bedeutet keineswegs, dass andere Heterogenitätsdimensionen keine Rolle spielen oder eine Kategorisierung für konkrete didaktische Entscheidungen geeignet
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1 ‚Gemeinsames Lernen‘ im inklusiven Mathematikunterricht
sei. Vielmehr sollen die Beforschung eines kleinen ‚machbaren’ Teiles von inklusiven Interaktions- und Lernprozessen sowie die Kommunikation darüber ermöglicht werden. Im weiteren Verlauf der Arbeit erfolgt nicht nur ein Bezug auf die Kategorie ‚Behinderung‘, sondern überdies auch eine weitere Eingrenzung auf Grundschulkinder mit ‚Lernbehinderung’ bzw. mit dem Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung im Bereich ‚Lernen’. Diese Eingrenzung ist an dieser Stelle zudem sinnvoll, um auf Benachteiligungen und Chancen einer bestimmten Personengruppe in unserem Regelschulsystem aufmerksam zu machen sowie Ausgrenzungen entgegenzuwirken und mögliche Chancen eines inklusiven Unterrichtes zu beforschen, um den es im folgenden Kapitel geht. 1.1.2 Forschungstradition und Forschungslücken Die Entwicklung des Begriffes ‚Gemeinsamer Unterricht’ (später abgelöst von den Begriffen ‚Gemeinsames Lernen’ und/im ‚inklusiver/n Unterricht’) ist in Deutschland seit Mitte der 1970er Jahre zu beobachten. So liest man ihn beispielsweise nach den Recherchen von Lütje-Klose und Miller (2015) im Gutachten des deutschen Bildungsrates von 1973 (vgl. Deutscher Bildungsrat, 1973). In diesem Gutachten wird erstmalig ein gemeinsames Schulsystem für Kinder und Jugendliche mit und ohne ‚Behinderung‘ verlangt, als ein Widerstand zu einer gesonderten Beschulung an Förderschulen. Von Beginn an stellte die Beforschung des ‚Gemeinsamen Unterrichtes‘ (im weiteren Verlauf integrativer/inklusiver Unterricht genannt) einen wichtigen Bestandteil dar. LütjeKlose und Miller (2015) unterscheiden hierbei drei Phasen der Erforschung inklusiven Unterrichtes, die im Folgenden zusammengefasst und skizziert werden. Die Phasen in Anlehnung an Lütje-Klose und Miller (2015, S. 13 ff.) werden ergänzt durch Heimlich (2007, S. 69 ff.), der sich in einem Text aus dem Jahr 2007 mit der Weiterentwicklung einer integrativen zu einer inklusiven Didaktik auseinandersetzte und dabei Formen und Prinzipien sowie Konzepte und Wirksamkeit integrativen bzw. inklusiven Unterrichts beleuchtete. Phase I: Frühe vereinzelte Schulversuche – Von Praxiserfahrungen zum Konzept des integrativen Unterrichtes Seit Mitte der 1970er Jahre wurde im Rahmen von frühen vereinzelten Schulversuchen die Integration von Kindern mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf (damals ‚Behinderung‘) wissenschaftlich untersucht. Ausgewählte Schulen mit integrativem Unterricht wurden wissenschaftlich begleitet, und die Integration einzelner Kinder mit Unterstützungsbedarf wurde erforscht. Die empirischen Studien aus dieser Zeit standen dabei meist in einem engen Zusammenhang zur didaktischen Konzeptentwicklung für einen integrativen Unterricht (Lütje-Klose & Miller, 2015, S. 13). So entstand derweil Feusers Forderung nach einer „‚Allgemeinen Pädagogik‘ basierend auf einer ‚entwicklungslogischen Didaktik’“ (Feuser, 1985, S. 20; 2012b, S. 1, Original 1984) entlang des
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Theorems des ‚gemeinsamen Gegenstandes’, um der Separation durch Integration zu entkommen (ebd.). Weitere an der Erforschung und Entwicklung beteiligte bedeutende Personen waren im deutschsprachigen Raum u. a. Reiser und Kollegen (Theorem des ‚gemeinsamen Themas’, 1986), Prengel (Begriff der ‚egalitären Differenz’, 1993) und Wocken (Theorie ‚gemeinsamer Lernsituationen’, 1998). (Für weitere Ausführungen dieser theoretischen Ansätze und Begriffe s. u.) Zu Konzepten für die äußere Struktur eines integrativen Unterrichtes trugen besonders nationale und internationale Reformpädagogen bei. Hierzu gehören beispielsweise Peter Petersen (1972; Original 1927, Deutschland) und seine Ideen zum ‚Kleine[n] Jena Plan’, Maria Montessori (2001; Originale u. a. 1901 in Italien und 1913 in Deutschland) und ihre Gedanken zur ‚Selbsttätigkeit’ sowie der ‚vorbereiteten Umgebung’, Ehepaar Freinets (1996; Original 1946, Frankreich) ‚Arbeitsateliers’, Paolo Freire (1996; Original 1968, Brasilien) und seine Konzeption zur ‚Pädagogik der Unterdrückten’ sowie John Dewey (1993; Original 1916, Amerika), der aus der amerikanischen Reformpädagogik den ‚Projektunterricht’ bekannt machte. Detailliertere Ausführungen finden sich in den Zusammenfassungen von Lütje-Klose und Miller (2015), Heimlich (2007) sowie in den jeweils angegebenen Quellenverweisen. Folgend werden ausschließlich die aus dieser Zeit stammenden empirischen Erkenntnisse und die daraus resultierenden Konzeptideen sowie didaktischen Forderungen dargelegt, die für die vorliegende Arbeit bedeutsam sind. Das Theorem des ‚gemeinsamen Gegenstandes’ Nach Verhaltensbeobachtungen von Feuser und Meyer (1987) an einer Grundschule in Bremen kommt Feuser zu dem Ergebnis, dass – um Aussonderung zu vermeiden – jedes pädagogische Handeln an die individuelle Lernvoraussetzung eines jeden Kindes anknüpfen muss, egal ob eine Lernbeeinträchtigung vorliegt oder nicht. Hieraus folgt seine Forderung nach der Zusammenführung allgemeiner Pädagogik und der Sonderpädagogik und die darauf bezogene ‚entwicklungslogische Didaktik’. Des Weiteren formuliert er der Studie zufolge das Theorem des ‚gemeinsamen Gegenstandes’, um die Entstehung isolierter Bedingungen innerhalb eines Klassenraumes zu vermeiden und Gemeinschaft zu ermöglichen (Feuser, 1995; 2012b). Mit dem Begriff ‚gemeinsamer Gegenstand’ wird der gemeinsame Unterrichtsgegenstand bezeichnet. Zu diesem gemeinsamen Inhalt sollen alle Kinder einer Lerngruppe auf ihrem individuellen Niveau einen Zugang finden, und im Unterricht soll darüber gemeinschaftlich kommuniziert werden (ebd.). Bezogen auf einen inklusiven Mathematikunterricht muss sich der gemeinsame Unterrichtsgegenstand im Sinne des ‚Spiralprinzips’ (Bruner, 1973; Krauthausen & Scherer, 2007, S. 138 f.) an den zentralen Ideen der Mathematik sowie an Konzepten ‚innerer Differenzierung‘ und ‚natürlicher Differenzierung‘
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orientieren. So ist es möglich, dass der Gegenstand für alle Lernende gleich ist, die jeweiligen Zugänge und Lernziele aber verschieden sein können (vgl. Kap. 5.2). Der Begriff der ‚egalitären Differenz’ Prengel (1993) leitet aus einer Studie ab, dass die bewusste Anregung von Gemeinsamkeit ein zentraler Aspekt für gelingenden inklusiven Unterricht ist. Sie prägt den Begriff der ‚egalitären Differenz‘. Hiernach wird allen Kindern einer Lerngruppe das Recht auf Verschiedensein eingeräumt. Daraus entstehen Wertschätzung und Anerkennung der individuellen Stärken und Schwächen eines jeden. Dies wiederum eröffnet die Möglichkeit, ohne die Gefahr von Stigmatisierung individuell zu fördern und zu unterstützen. Bezieht man diese Ergebnisse auf den inklusiven Mathematikunterricht, müssen gemeinsame Phasen, in denen über Mathematik geredet wird, bewusst angeregt werden. Hierbei ist es zentral, dass alle Gedanken, Zugänge und Lösungsprozesse Anerkennung und Wertschätzung finden. Das Theorem des ‚gemeinsamen Themas’ Die Gruppe um Reiser (Reiser et al., 1986) untersucht das Spannungsfeld zwischen Individualisierung und der Anregung von Gemeinsamkeit und prägt als Ergebnis das Theorem des ‚gemeinsamen Themas‘, das – im Vergleich zu Feusers ‚gemeinsamem Gegenstand‘ – die Personen einer Lerngruppe mehr in den Mittelpunkt stellt. Reiser findet heraus, dass Gemeinsamkeit nicht nur didaktisch hergestellt wird, sondern in der Interaktion zwischen Kindern und Lehrkräften – also im Prozess – hervorgebracht wird und betont dabei den Stellenwert informeller Gespräche und Situationen im Unterricht, die neben fachbezogenen Gesprächen besonders zu Gemeinsamkeit beitragen. Er plädiert daher dafür, im inklusiven Unterricht Raum für informelle Kommunikation und individuelle Gestaltungsmöglichkeiten zu schaffen. Bezogen auf den inklusiven Mathematikunterricht bedeutet dies, dass nicht nur die Gespräche über Mathematik zur Gemeinsamkeit beitragen, sondern ebenso informelle Gespräche Gemeinschaft hervorbringen. Diese sind jedoch für das gemeinsame Mathematiklernen und die Förderung mathematischer Lernprozesse bedeutungslos und werden daher in der vorliegenden Arbeit nicht betrachtet. Die folgende Theorie von Wocken (1998) ergänzt Reisers Ansatz. Er bezieht diese informellen Gespräche als (nur) einen Teilaspekt in seine Theorie ‚gemeinsamer Lernsituationen’ ein und nennt sie ‚kommunikative Lernsituationen‘ (s. u.).
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Die Theorie ‚gemeinsamer Lernsituationen’ Wocken (1998) greift Reisers Ansatz auf und entwickelt auf Grundlage eigener Forschung die Theorie ‚gemeinsamer Lernsituationen‘. Auch er interpretiert dabei, wie Reiser, Integration/Inklusion als Prozess und stellt dabei die Personen und weniger den Gegenstand in den Mittepunkt. Wocken geht davon aus, dass Gemeinsamkeit in einer (Lern-)Situation durch soziale Gemeinsamkeiten hervorgebracht wird, die unterschiedlicher Natur sein können (vgl. Tab. 1.1: räumliches und zeitliches Dabeisein, gemeinsame Interaktion, gegenseitiges Unterstützen, gemeinsamer Arbeitsinhalt und Arbeitsprozesse; Wocken, 1998). Er hebt sich damit von Feusers materialistischem Ansatz ab und ersetzt diesen, der eher von einer didaktischen Herstellung von Gemeinsamkeit ausgeht, die ausschließlich durch die Kooperation am gemeinsamen Gegenstand erreicht werden kann (s. o.). So ist nach ihm „[d]as Theorem des gemeinsamen Gegenstandes [...] aufzuheben in einer Theorie gemeinsamer Lernsituationen“ (Wocken, 1998, S. 51). Wocken unterscheidet in seinem theoretischen Beschreibungsmodell zwischen sechs verschiedenen Arten gemeinsamer Lernsituationen: koexistente, kommunikative, subsidiär-unterstützende, subsidiär-prosoziale, kooperativkomplementäre und kooperativ-solidarische Lernsituationen. Sie tragen alle durch unterschiedliche Art und Weise zur Gemeinsamkeit bei (vgl. Tab. 1.1) und schaffen in der Gesamtheit eine Balance zwischen individuellen und gemeinsamen Unterrichtssituationen.
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1 ‚Gemeinsames Lernen‘ im inklusiven Mathematikunterricht
Tabelle 1.1: Gemeinsame Lernsituationen nach Wocken (1998)
Eine Lernsituation des gemeinsamen Lernens ist... koexistent, wenn die Gemeinsamkeit über das räumliche und zeitliche Dabeisein einer Lerngruppe besteht. Die Arbeit an inhaltsdifferenten, individuellen Aufgaben dominiert und soziale Interaktion findet nicht/kaum statt. Die individuellen Handlungspläne und Ziele der einzelnen Kinder stehen im Vordergrund.
kommunikativ, wenn die Gemeinsamkeit über informelle Interaktion entsteht, die nicht lernzieloder gegenstandsbezogen ist. Der Unterrichtsinhalt steht folglich im Hintergrund dieser informellen Interaktion.
Didaktische Intention: Die Entfaltung und Im Unterricht sind Förderung individiese Momente dueller Fähigkeiten, pädagogisch nicht Kenntnisse und geplant, aber unKompetenzen. ausweichlich. Durch ihre soziale Atmosphäre und den emotionalen Hintergrund tragen sie dennoch zur Gemeinsamkeit bei. Umsetzungsbeispiele: Individuelle WoInformelle Gesprächen- und Arbeitsche u. a. über Freipläne, Freiarbeit zeit oder Befindlichkeiten
subsidiär, wenn
kooperativ, wenn
die Gemeinsamkeit durch gegenseitiges Unterstützen geprägt ist. Hierbei übernimmt ein Kind die Rolle des Helfers. Sie sind subsidiärunterstützend, wenn sie kurzzeitig sind und auch der Helfer sein Ziel weiterverfolgt. Sie sind subsidiärprosozial, wenn der Helfer eigene Ziele und Tätigkeiten zurückstellt und sich ganz auf den Hilfsbedürftigen einstellt.
die Gemeinsamkeit über den Arbeitsinhalt und die Arbeitsprozesse entsteht, die in einem verbindlichen Zusammenhang stehen. Es findet differenziertes Lernen am gemeinsamen Gegenstand statt. Die Lernsituation ist kooperativkomplementär, wenn die Kinder unterschiedliche Ziele verfolgen. Sie ist kooperativsolidarisch, wenn auf ein gemeinsames Ziel hingearbeitet wird.
Die Anregung bedeutsamer inhaltlicher Entwicklungs- und Interaktionsprozesse, die unsymmetrisch verlaufen.
Die Anregung bedeutsamer inhaltlicher Entwicklungs- und Interaktions-prozesse, die möglichst symmetrisch verlaufen.
Helfersysteme, Expertenarbeiten
Projektarbeit, Arbeitsteiliges Arbeiten, Kooperationsfördernde Aufgaben
(Wocken, 1998, S. 40 ff.)
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Wocken sieht die kooperativen Lernsituationen (insbesondere die kooperativsolidarischen) und das differenzierte Lernen am gemeinsamen Gegenstand als „Sternstunden“ eines integrativen/inklusiven Unterrichtes, die „in höchster Form alle gemeinsamkeitsstiftenden, integrationsförderlichen Faktoren“ vereinigen (Wocken, 1998, S. 50). Er betont aber gleichzeitig in seiner Arbeit, dass es jenseits der Kooperation am gemeinsamen Gegenstand – den Feuser seiner Meinung nach zu dogmatisch sieht – im zieldifferenten Unterricht weitere Elemente geben muss, die gemeinsamkeitsstiftend sind, denn kooperative Lernsituationen sind „nicht in beliebiger Menge didaktisch herstellbar“ (ebd., S. 50). Er betont weiter, dass es zwar bedenklich wäre, „wenn sie in einem integrativen Unterricht gänzlich fehlten“, jedoch sieht er es ebenso als „verfehlt, eine didaktische Idealfigur als alltägliche Minimalnorm eines integrativen Unterrichts einzufordern“ (ebd., S. 50). Als wesentlich realistischer und folglich wichtiger stellt Wocken die Balance zwischen differenzierenden und integrierenden Lernsituationen heraus und hebt hervor, dass ein „integrativer Unterricht mehr ist als die Kooperation am gemeinsamen Gegenstand und eine Vielzahl von gemeinsamen Situationen beinhalten kann, darf und sollte. Das Theorem des gemeinsamen Gegenstandes [(Feuser)] ist nicht falsch, aber doch nur die halbe Wahrheit. [...] Ein integrativer Unterricht ist eine ausgewogene Balance zwischen differenzierenden und integrierenden Lernsituationen“ (Wocken, 1998, S. 50).
Diese Balance zwischen differenzierenden und integrierenden Lernsituationen ist auch in der heutigen Unterrichtspraxis von Bedeutung und auf den inklusiven Mathematikunterricht übertragbar. Daher wird sie in der vorliegenden Untersuchung als wichtige Leitidee zur Umsetzung einer inklusiven Bildung gesehen, wie in Kapitel 1.1.3 – im Kontext der Begriffsklärung zum ‚Gemeinsamen Lernen‘ für das vorliegende Projekt – genauer erläutert wird. Phase II: Erforschung integrativer Regelklassen mit sonderpädagogischer Grundversorgung – Vom Konzept zur empirischen Überprüfung des integrativen Unterrichtes Ab den 1990er Jahren kam es zu einer Ausweitung und Konsolidierung des integrativen Unterrichtes im deutschen Schulsystem. Sonderpädagogische Ressourcen wurden zugeteilt, und es folgte eine Beforschung ganzer Schulen und Regionen, in denen die Förderung in heterogenen Lerngruppen flächendeckend eingeführt wurde (Lütje-Klose & Miller, 2015, S. 16). Zu dieser Zeit war das Forschungsinteresse überwiegend förder- und leistungsentwicklungsdiagnostischer, sozialer sowie professionsorientierter Natur. So wurde folgenden Aspekten – meist in vergleichender Weise zwischen Förderschule und Integration – nachgegangen: Kompetenz- und Leistungsentwicklung aller Kinder mit und ohne Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung; soziale Entwicklung und soziale Integration;
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1 ‚Gemeinsames Lernen‘ im inklusiven Mathematikunterricht
Einstellungen, Rollenwahrnehmung und Kooperation unterschiedlicher Professionen; Formen guten integrativen Unterrichts und förderlicher Rahmenbedingungen (vgl. Graumann, 2002; Klemm & Preuss-Lausitz, 2008; Lütje-Klose & Miller, 2015). Im Folgenden werden zu den jeweiligen Aspekten ausschließlich die aus dieser Zeit stammenden empirischen Erkenntnisse, die für die vorliegende Arbeit bedeutsam sind, dargelegt. Aus diesem Grund wird besonders auf Studien fokussiert, die sich auf die Kompetenz- und Leistungsentwicklung im Unterstützungsbereich ‚Lernen’ konzentrieren. Der Fokus dieser Erkenntnisse liegt – im Gegensatz zu den Forschungsergebnissen aus Phase I – nicht auf einer didaktischen Konkretisierung des inklusiven Unterrichtes. Vielmehr geht es um die wissenschaftliche Begleitung von Integrationsmodellen und um die empirisch fundierte Legitimation, ‚Gemeinsames Lernen‘ in stark heterogenen Lerngruppen zu realisieren. Die Darstellung der Ergebnisse erfolgt in Anlehnung an Zusammenfassungen von Graumann (2002, S. 33 ff.), Klemm und Preuss-Lausitz (2008, S. 9 ff.; 2011, S. 36 ff.), Heimlich (2007, S. 72 ff.) sowie Lütje-Klose und Miller (2015, S. 16 ff.). Forschungsergebnisse bezüglich der Kompetenz- und Leistungsentwicklung5 Zahlreiche Forschungsprojekte haben gezeigt, dass integrativer Unterricht für Kinder mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf ‚Lernen‘ in integrativen leistungsgemischten Klassen lerneffektiver sein kann, als das Lernen in homogenen Lerngruppen (u. a. Bless, 1995; Haeberlin, Bless, Moser, & Klaghofer, 1990). Schon früh stellte Merz (1984) durch den Vergleich von Fördermaßnahmen an Grund- und Lernbehindertenschulen fest, dass bei Kindern mit Unterstützungsbedarf im Bereich ‚Lernen‘ die Beschulung an Förderschulen im Vergleich zur integrativen Beschulung keine positiven Effekte hat. Tent und Kollegen (1991a, 1991b) kommen in einer vergleichenden Untersuchung über die Wirksamkeit von Hauptschule und Sonderschule zu dem gleichen Ergebnis. Das Forschungsprojekt von Haeberlin und seinen Kollegen (Haeberlin, 1989; Haeberlin et al., 1990; Haeberlin et al., 1991) in der Schweiz ergab positivere Lerneffekte bei integrativer Beschulung. Sie verglichen ebenso die Effektivität integrierter und segregierter Förderung. Eine höhere Lerneffektivität konnte besonders bei den Mathematikleistungen festgestellt werden (Haeberlin et al., 1991, S. 277). Unter anderem Wocken (2007) führt dies auf ein anregungsärme5
Die Studien von Tent et al. (1991b; 1991a), Haeberlin (1989), Haeberlin und Kollegen (1990; 1991), Bless (1995) und Wocken (1999, 2000, 2007) konzentrieren sich auf die Entwicklung im Unterstützungsbereich ‚Lernen’. Alle anderen Untersuchungen nehmen meist keine Unterscheidung der Unterstützungsschwerpunkte vor.
1.1 Inklusiver (Mathematik-)Unterricht
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res Entwicklungsumfeld in homogenen Fördergruppen zurück und plädiert für die intensivere Anregung in integrativen Lerngruppen. Für Kinder ohne Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung zeigt sich kein Nachteil hinsichtlich der Kompetenz- und Leistungsentwicklung. So konnten Unterleitner (1990) und Dumke (1991) unabhängig voneinander belegen, dass Kinder ohne sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf in integrativen Klassen keine Leistungseinbußen haben. Bless und Klaghofer (1991) kamen zu dem Schluss, dass die Integration von Kindern mit Unterstützungsbedarf im Bereich ‚Lernen‘ keinen negativen Einfluss auf die Entwicklung hochbegabter Schüler (IQ über 115) hat. Unter Kompetenz- und Leistungsaspekten sprechen diese Daten folglich für die Umsetzung eines integrativen (Mathematik-)Unterrichtes, besonders für Kinder mit Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung im Bereich ‚Lernen‘, denn auf Grundlage der Forschungsergebnisse „können [wir] heute davon ausgehen, dass der Gemeinsame Unterricht für Schüler und Schülerinnen mit dem Förderschwerpunkt Lernen keine Nachteile mit sich bringt, von den Schulleistungen her wenigstens gleichwertige Ergebnisse zeigt, teilwiese sogar bessere Leistungen und darüber hinaus die soziale Ausgrenzung nicht verstärkt“ (Heimlich, 2007, S. 72).
Forschungsergebnisse bezüglich sozialer Integration Der im Zitat zuletzt genannte Aspekt bezieht sich auf die soziale Ausgrenzung von Kindern mit Unterstützungsbedarf ‚Lernen‘. Die Untersuchung dieses Aspektes stellt zwar keinen Fokus der vorliegenden Arbeit dar, wird aber dennoch kurz aufgegriffen, da anzunehmen ist, dass die soziale Integration in einem engen Zusammenhang mit erfolgreichem interaktiv-kooperativen Lernen steht. Die Ergebnisse einer Schülerbefragung zeigen eine hohe Zufriedenheit und eine gute soziale Integration von Kindern mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf auf (Preuss-Lausitz, 1997). Preuss-Lausitz (1990) konnte ebenso in einer früheren Untersuchung belegen, dass sich die soziale Integration bei einer gemeinsamen Beschulung positiv entwickeln kann. Dabei scheint einerseits die Förderung im Klassenraum ein bedeutender Aspekt zu sein, der von einer dauerhaften Förderung in Kleingruppen außerhalb der Lerngruppe abzugrenzen ist. Andererseits ist anzunehmen, dass der Zeitraum der gemeinsamen Beschulung eine Rolle spielt, da die positiven Daten während eines längeren Untersuchungszeitraumes in Klassen mit mehreren Jahren Integrationserfahrung erhoben wurden und im Laufe der Jahre eine zunehmende soziale Integration festgestellt werden konnte (Preuss-Lausitz, 1990). Forschungsergebnisse bezüglich Formen guten integrativen Unterrichtes Der Unterricht in integrativen Klassen ist deutlich häufiger als in nichtintegrativen Klassen durch ‚Merkmale guten Unterrichtes’, wie beispielsweise differenzierende Leistungsansprüche, vielfältigere Sozialformen, zahlreichere
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Medien, individualisierende und zugleich kooperative Übungsformen sowie individuellere Bewertungsformen gekennzeichnet (u. a. Feyerer, 1998; Meijer, 2001). Meyer (2004) und Helmke (2007) arbeiteten internationale Forschungsergebnisse über ‚Merkmale guten Unterrichtes’ (d. h. lernwirksamer, auf individuelle Lernvoraussetzungen bezogener und zugleich sozial anregender Unterricht) für den deutschen Sprachraum auf und bestätigten diese teilweise durch eigene Untersuchungen. So entstanden u. a. folgende allgemeine Kriterien guten Unterrichtes: Klare Strukturierung des Unterrichtsprozesses; Hoher Anteil echter Lernzeit; Lernförderliches Klassenklima, freundlich-anerkennender Lehrerstil; Inhaltliche Klarheit; Sinnstiftendes Kommunizieren zwischen Lehrern und Schülern und zwischen den Schülern; Methodenvielfalt; Beachtung der individuellen Lernausgangslagen („individuelle Passung“) (vgl. Meyer, 2004, S. 23 ff.; ähnlich in Helmke, 2007). Diese allgemeinen Kriterien guten Unterrichtes können ebenso für den inklusiven Unterricht und den inklusiven Mathematikunterricht übernommen werden, sie reichen jedoch nicht aus. So hat Meijer (2001; 2003) auf der Grundlage einer internationalen best-practice Literatur- und Fallstudienanalyse auf folgende effektive Faktoren gelingenden integrativen/inklusiven Unterrichtes verwiesen, die diese ‚Merkmale guten Unterrichtes’ durch den letztgenannten Faktor einschließen und daher ergänzend betrachtet werden können: Kooperation der Lehrkräfte (Teamarbeit); Kooperation der Kinder (Kooperatives Lernen, peer tutoring); individuelle Adaption von Lernplänen für Kinder; Bildung heterogener Gruppen im differenzierten Unterricht; klare Verhaltensnormen und Erwartungen, systemische Stützkonzepte; ‚Merkmale guten Unterrichts‘ (vgl. Meijer, 2001, S. 116 ff.; 2003; hervorgehoben und ergänzt durch Klemm & Preuss-Lausitz, 2008; Korff, 2015). Die Aufzählung verdeutlicht, dass Organisationsformen sowie allgemeine positive Einflussfaktoren auf Grundlage verschiedener Studien zusammengestellt wurden. Es fehlt allerdings an konkreten Ausführungen zu didaktischen (besonders fachdidaktischen!) und methodischen Aspekten. Diese Lücke greifen die Forschungsarbeiten der folgenden Phase III auf, in der inklusive Unterrichtsforschung primär aus (fach-)didaktischer Perspektive stattfand und immer noch stattfindet. Hierzu zählt auch die vorliegende Studie,
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die sich mit mathematikdidaktischen Fragestellungen im inklusiven Unterricht befasst (vgl. Kap. 4.1). Dabei ist zu beachten, dass sich die im vorangegangenen Abschnitt dargestellten positiven Effekte im inklusiven (Mathematik-)Unterricht nur zeigen, wenn der Heterogenität mit einer differenzierenden Didaktik begegnet wird, die auf das Vorhandensein von verschiedenen Lern- und Entwicklungsniveaus eingeht und diese als Chance und Mehrwert sieht. Hierauf wird an späterer Stelle dieser Arbeit genauer eingegangen (u. a. in Kap. 2, 3, 5 und 6). Phase III: Inklusive Unterrichtsforschung aus (fach-)didaktischer Perspektive – Von der integrativen zur inklusiven Didaktik Erst seit den 2010er Jahren kam es zu einer Erforschung von unterrichtlichen Prozessen – u. a. von Lernprozessen und sozialen Prozessen – in inklusiven Klassen. Mikroanalytische Untersuchungen aus bildungswissenschaftlichen und fachdidaktischen Perspektiven nahmen mit unterschiedlichem Fokus Prozesse, die im inklusiven Unterricht stattfinden, in den Blick. Hierbei kam es zum ersten Mal zu einer Verknüpfung von fachlichem, fachdidaktischem und sonderpädagogischem Wissen. Als für die vorliegende Arbeit relevante Untersuchungen aus dem mathematikdidaktischen Bereich sind die folgend aufgelisteten Forschungsprojekte hervorzuheben6. Sie werden hier lediglich kurz vorgestellt. Auf eine Diskussion der Ergebnisse wird an dieser Stelle verzichtet. Diese findet in den Kapiteln 2, 3, 5 und 6 an inhaltsrelevanten Stellen statt, um bedeutende mathematikdidaktische Erkenntnisse über Lern- und Interaktionsprozesse im inklusiven Mathematikunterricht aus diesen Studien in den direkten Bezug mit den inhaltlichen Grundbausteinen der vorliegenden Arbeit setzen zu können. ‚ZebrA – Zusammenhänge erkennen und besprechen – Rechnen ohne Abzählen‘ (Teilprojekt: Ablösung vom zählenden Rechnen) (Häsel-Weide, 2016a; 2016c) Dieses quantitativ-qualitative Forschungsprojekt konzentriert sich nicht ausschließlich auf das ‚Gemeinsame Lernen‘ in inklusiven Lerngruppen. Dennoch ist es durch den inhaltlichen Fokus für die vorliegende Arbeit relevant, denn in den Blick genommen wurde die Zusammenarbeit heterogener Paare. Hierbei lag ein Fokus u. a. auf Kindern mit dem Förderschwerpunkt ‚Lernen’. Im qualitativen Teil des ZebrA-Projektes wurde eine Analyse interaktiver und epistemologischer Bedingungen der Entwicklung mathematischer Deutungen bei Kindern mit verfestigten Zählstrategien durchgeführt. Zum Erhebungszeitpunkt befanden sich die Kinder im zweiten Schuljahr der 6
Bei den angeführten Projekten handelt es sich teilweise um noch laufende bzw. noch nicht veröffentlichte Projekte. Infolgedessen kann hier nur auf Ergebnisse zurückgegriffen werden, die zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Kapitels bereits veröffentlicht waren.
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Grund- sowie im vierten Schuljahr der Förderschule mit dem Förderschwerpunkt ‚Lernen’. Die Deutungen von fünf heterogenen Kinderpaaren wurden im Zuge der Auseinandersetzung mit eigens entwickelten Unterrichtsbausteinen zur Ablösung vom zählenden Rechnen beschrieben und analysiert. Ein besonderer Fokus lag dabei auf den Interaktionsprozessen und darauf, inwiefern sich die mathematischen Lernprozesse – der Ablösungsprozess vom Zählen – im Verlauf der Zusammenarbeit an kooperativ-strukturierten Lernumgebungen entwickeln (Häsel-Weide, 2016a, 2016c). Relevante Ergebnisse dieses Projektes werden in Kapitel 2.1.2, 2.1.3, 3.1.2 und 3.2.1 betrachtet, um sie in einen direkten Bezug mit den inhaltlichen Grundbausteinen der vorliegenden Arbeit setzen zu können. ‚Mathematik inklusive – Lernchancen im inklusiven Anfangsunterricht’ (Häsel-Weide, 2016b) Ziel dieses Projektes war es, inhaltlich mathematisches Lernen im inklusiven Unterricht mit allen Kindern zu realisieren und dabei eine inhaltliche Vielfalt an mathematischen Vorstellungen, Ideen und Kompetenzen zu ermöglichen. Für das erste Schuljahr wurden Lernumgebungen entwickelt, die ergänzend zum Schulbuch eingesetzt werden oder wahlweise dieses auch ersetzen können. Die inhaltlichen Schwerpunkte dieser Lernumgebungen sind u. a. das Zerlegen, die Zahlenreihe oder die Addition. Die individuellen und gemeinsamen Lernprozesse der Erstklässler wurden videografiert, um sie abschließend zu untersuchen. Die zentralen Ergebnisse zeigen, dass es „bereits im Anfangsunterricht möglich ist, kooperative gemeinsame Lernsituationen zu gestalten, in denen Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Kompetenzen am gemeinsamen Gegenstand lernen können“ (Häsel-Weide, 2016b, S. 369). Dabei wurde jedoch ebenso deutlich, dass „nicht jede Lernumgebung für jedes Kinderpaar gleich produktiv“ wirkt (ebd., S. 369). Kooperationsprojekt ‚LUIS-M – Lernumgebungen im inklusiven Mathematikunterricht’ (Häsel-Weide, 2016d) Dieses Forschungsprojekt ist der mathematikdidaktischen Entwicklungsforschung zuzuordnen und fand in Kooperation mit Lehrkräften statt. Im Zentrum stand die Entwicklung, Erprobung und Erforschung von inklusiven Lernumgebungen im Klassensetting des zweiten Schuljahres. Ziel der Lernumgebungen war es, Kindern mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen gemeinsames Lernen im inklusiven Mathematikunterricht zu ermöglichen. Erforscht wurde im Zuge dessen, wie ‚Gemeinsames Lernen‘ unter Berücksichtigung individueller Förderung realisiert werden kann und welche Lernprozesse angeregt wurden. Die relevanten Ergebnisse dieses Projektes werden ebenso in Kapitel 2 und 3 betrachtet, um sie in einen direkten Bezug mit den inhaltlichen Grundbausteinen der vorliegenden Arbeit setzen zu können.
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Projekt ‚DeziMal – Dezimales Verständnis von Lernenden beim inklusiven Mathematiklernen in den Klassen 5 & 6’ (Schöttler, 2017a; 2017b) Im Rahmen dieses Projektes werden Lernumgebungen entwickelt, erprobt und erforscht, in denen Fünft- und Sechstklässler in inklusiven Lerngruppen auf unterschiedlichen Bearbeitungsniveaus ihr Verständnis des Dezimalsystems vertiefen und gleichzeitig kooperativ an einem gemeinsamen Gegenstand miteinander arbeiten. Die Videoanalysen der Interaktions- und mathematischen Aushandlungsprozesse von Paaren in kooperativen Settings zeigen u. a., dass Kinder strukturelle Beziehungen erkennen, jedoch Probleme bei deren Versprachlichung haben. Hinsichtlich der Interaktionsprozesse kann festgehalten werden, dass die Partner aufeinander Bezug nehmen und gemeinschaftlich Ergebnisse erarbeiten (Schöttler, 2017b). ‚Gemeinsame Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht der Grundschule: Analyse von Partnerarbeitsphasen‘ (Hähn, 2016; 2017; 2018) Dieses Projekt hat ebenso zum Ziel, kooperative Lernsituationen am gemeinsamen Gegenstand der Geometrie im inklusiven Mathematikunterricht anzuregen und diese zu beforschen. Die Analysen konzentrieren sich auf die Partizipation und die mathematischen Lernprozesse sowie deren Zusammenspiel. Die zentralen Ergebnisse zeigen, dass in prosozialen Lernsituationen beide Lernpartner, also auch Kinder mit Unterstützungsbedarf im Bereich ‚Lernen‘, als Helfende auftreten. Des Weiteren lassen die bis zu dem Zeitpunkt dieser Niederschrift analysierten Daten vermuten, dass kooperative Lernsituationen auch Lernchancen für Kinder mit Unterstützungsbedarf ‚Lernen‘ sind, selbst wenn sie sich nicht einbringen, d. h., dass Lernen auch in stiller Teilhabe stattzufinden scheint (Hähn, 2018). ‚Inklusiver Mathematikunterricht in der Primarstufe – Erfahrungen, Perspektiven und Herausforderungen‘ (Korff, 2015) Das Forschungsprojekt von Korff unterscheidet sich von den anderen dargestellten Projekten der Phase III, da es nicht die unterrichtlichen Prozesse an sich untersuchte. Dennoch nahm es die Lehrersicht auf diese unterrichtlichen Prozesse im inklusiven Mathematikunterricht aus fachdidaktischer Perspektive in den Blick und befasste sich mit Belief-Systemen von Lehrkräften. Auf diese Weise fand Korff heraus, dass Lernsituationen, in denen ein inhaltsbezogener Austausch über einen gemeinsamen Gegenstand mit heterogenen Partnern stattfindet und in denen mit- und voneinander gelernt werden kann, kaum angeregt werden. Dagegen waren die Beobachtungen der individuellen und lehrerzentrierten Lernsituationen sowie der gemeinsamen Situationen, in denen es nur um einen gemeinsamen Rahmen und einen punktuellen Austausch geht, hinsichtlich der Häufigkeit zufriedenstellend. Die Befragung ergab weiterhin, dass Lehrkräfte die Arbeit am gemeinsamen
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1 ‚Gemeinsames Lernen‘ im inklusiven Mathematikunterricht
Gegenstand im Fach Mathematik als schwieriger betrachten als in anderen Fächern, besonders in der Arithmetik, denn „[a]rithmetische Inhalte bieten nur wenige Möglichkeiten eines ‚handlungs- und materialbezogenen‘ Zugangs oder einer ‚Anbindung an andere Themen‘, die als Ausgangspunkt für gemeinsame Lernsituationen dienen können. Zudem sind die Inhalte der Arithmetik zu ‚abstrakt‘ […] und der entlang des unterschiedlichen Zahlenraums ‚hierarchisch‘ aufgebaut Stoff erschwert es, dass alle Schüler_innen in ihrer Vielfalt an gemeinsamen arithmetischen Themen mit- und voneinander lernen können.“ Korff (2015, S. 205)
Aus diesen Ergebnissen leitete Korff (2015, S. 205) das ‚Arithmetikproblem‘ ab. Sie formuliert als Ausblick in ihrer Studie, dass Lernen an einem (auch arithmetischen) gemeinsamen Gegenstand dennoch möglich sei, und zwar durch eine ausreichende und weite Sachanalyse sowie den Einbezug unterschiedlicher Darstellungsebenen (ebd.). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die ersten fünf dargelegten Studien aus Phase III, unter unterschiedlicher Schwerpunktsetzung darauf hinweisen, dass ‚Gemeinsames Mathematiklernen‘ und das mit- und voneinander Lernen entlang eines gemeinsamen Lerngegenstandes aus Forschungsperspektive generell gelingen kann. Demgegenüber stehen die Erkenntnisse aus dem Unterrichtsalltag aus Korffs zuletzt genannter Studie: Mathematiklehrkräften sehen ein Problem darin, gemeinsame Lernsituationen, in denen mit- und voneinander gelernt wird, anzuregen. Das gilt besonders für den Inhaltsbereich der Arithmetik. An diesem Problem aus der Schulpraxis setzt die hier vorliegende Arbeit an. Forschungslücken Das in dieser Arbeit dargestellte Forschungsprojekt greift das von Korff empirisch belegte ‚Arithmetikproblem‘ sowie die fehlende Anregung von gemeinsamen Lernsituationen auf, in denen ein inhaltsbezogener Austausch über einen gemeinsamen Lerngegenstand mit heterogenen Partnern stattfindet und mit- und voneinander gelernt werden kann (Korff, 2015; s. o.). Welche Herausforderung bei einer solchen Anregung entsteht, wurde zu Beginn von Kapitel 1 an einer beispielhaften Szene verdeutlicht. Sie zeigte auf, dass durch die reine Schaffung vermeintlich geeigneter interaktions- und kooperationsfördernder Rahmenbedingungen sowie einer gemeinsamen Aufgabe, die für alle Beteiligten zugänglich ist, die Anregung interaktiv-kooperativer Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht, in denen mit- und voneinander gelernt wird, nicht zwangsläufig gelingt (vgl. Transkript 1.1). Diese Probleme aus der Schulpraxis werden im vorliegenden Projekt adressiert, indem eine fachdidaktische Perspektive eingenommen wird, die einen inklusiven Arithmetikunterricht und das Mit- und Voneinander-Lernen – also das Interagieren und Lernen an einem gemeinsamen Gegenstand (flexibles Rechnen, vgl. Kap. 3) – gezielt anregt und untersucht.
1.1 Inklusiver (Mathematik-)Unterricht
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Die Studie bewegt sich damit in einem Bereich, in dem es (noch) keine zufriedenstellenden Forschungsergebnisse gibt, denn „[ü]ber die Modalität und Bedingungen der Verknüpfung von fachlichem, fachdidaktischem und sonderpädagogischem Wissen für die Planung und Umsetzung eines qualitativ hochwertigen Mathematikunterrichtes in inklusiven Lerngruppen liegen bisher keine fundierten Forschungsergebnisse vor“ (Heinrich et al., 2013). Die Betrachtung der Forschungsphasen I–III (s. o.) zeigte, dass sich bisher nur eine geringfügige Anzahl an Studien – u. a. die oben genannten laufenden Projekte ‚LUIS-M‘ (Häsel-Weide, 2016d) und ‚DeziMal‘ (Schöttler, 2017a) – auf die konkrete Unterrichtsgestaltung sowie die Erforschung der angeregten unterrichtlichen Prozesse entlang eines mathematischen Gegenstandes richten. Dabei hat die fachdidaktische Perspektive den Vorteil, unterrichtliche gegenstandspezifische Prozesse im Detail zu untersuchen, was jedoch ebenfalls zur Folge hat, dass dabei – wie die Darstellung der Forschungsphase III oben bestätigt – nur ein mathematischer Gegenstand fokussiert wird, um gegenstandsspezifische Theorien zu generieren. Die zieldifferente Förderung flexiblen Rechnens im inklusiven Mathematikunterricht wurde bisher in keiner Studie untersucht. Die vorliegende Forschungsarbeit versucht folglich, einen Beitrag zur Schließung der dargelegten Forschungslücke zu leisten, indem das Mit- und Voneinander-Lernen am gemeinsamen Lerngegenstand des flexiblen Rechnens durch interaktiv-kooperative Lernsituationen gezielt angeregt und untersucht wird. Hierbei werden sowohl Interaktionsprozesse und gegenstandspezifische Lernprozesse als auch deren Zusammenhang in den Blick genommen. Zentrales Erkenntnisinteresse ist es dabei, herauszufinden, wie diese angeregten interaktiv-kooperativen Lernsituationen (zwischen Kindern mit und ohne Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung im Bereich ‚Lernen‘) bezüglich der individuellen Lernprozesse zum flexiblen Rechnen und der interaktiven Strukturen verlaufen, um daraus mögliche zielführende Gestaltungsprinzipien für die gelingende Anregung interaktiv-kooperativer Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht abzuleiten. Die explizite Anregung des Lernens von- und miteinander sowie des produktiven Interagierens am gemeinsamen Lerngegenstand entspricht auch Feusers Definition vom ‚Gemeinsamen Lernen‘ (vgl. Forschungsphase I), die im folgenden Kapitel 1.1.3 aufgegriffen und für das vorliegende Projekt in Anlehnung an Wocken (1998) relativiert und adaptiert wird. 1.1.3 ‚Gemeinsames Lernen‘ im inklusiven Mathematikunterricht Wie im vorherigen Kapitel herausgearbeitet wurde, stellt die empirische und theoriegeleitete Gestaltung und Erforschung unterrichtlicher Prozesse entlang eines mathematischen Lerngegenstandes im inklusiven Mathematikunterricht trotz langer Forschungstradition ein Desiderat dar, das mit dem vorliegenden
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1 ‚Gemeinsames Lernen‘ im inklusiven Mathematikunterricht
Projekt adressiert werden soll. Dabei ist das allgemeine Ziel der Umsetzung von inklusivem Mathematikunterricht das ‚Gemeinsame Lernen‘ aller Kinder, was bereits zu Beginn dieser Forschungsarbeit – durch Rückbezug auf rechtliche Bedingungen – herausgestellt wurde. Für ein grundlegendes Verständnis dieses Begriffes wird an dieser Stelle eine Definition für das vorliegende Projekt aufgestellt und im Anschluss erläutert: ‚Gemeinsames Lernen‘ im Sinne der Inklusion bedeutet, dass alle Kinder •
entsprechend ihrer individuellen Lernvoraussetzungen und mittels ihrer individuellen Denk- und Handlungskompetenzen, • in Orientierung an der ‚nächsten Zone ihrer Entwicklung‘, • so oft wie möglich an einem gemeinsamen Lerngegenstand und • so oft wie möglich in Interaktion miteinander lernen. (Definition i. A. a. Feuser, 2012b; relativiert i. A. a. Wocken, 1998) Die Schlussfolgerung lautet, dass inklusiver Mathematikunterricht stets individuell (vgl. Aufzählungspunkt 1) und zieldifferent (vgl. Aufzählungspunkt 2) sowie zudem so oft wie möglich entlang eines ‚gemeinsamen Lerngegenstandes‘ interaktiv-kooperativ (vgl. Aufzählungspunkte 3 und 4) gestaltet werden sollte. Diese drei Attribute sowie die Interpretation des ‚gemeinsamen Lerngegenstandes‘ werden im folgenden Abschnitt aufgegriffen.7 Mit dem Begriff ‚gemeinsamer Gegenstand‘ bezeichnet Feuser – wie in Kapitel 1.1.2 bereits erläutert – den Unterrichtsinhalt, an dem im Unterricht jeder auf seinem individuellen kognitiven Niveau arbeitet und entlang dessen kommuniziert und kooperiert wird (vgl. Kap. 1.1.2). In der obigen Definition, die für die vorliegende Arbeit genutzt werden soll, ist jedoch nicht ein konkreter gleicher mathematischer (Lern-)Gegenstand für alle gemeint, sondern der Begriff wird eher im Sinne eines vielschichtigen, aber logisch und strukturell zusammenhängenden Themenkomplexes (Wocken, 1998, S. 38) interpretiert. Dementsprechend sollte ein mathematischer Lerngegenstand möglichst so gewählt werden, dass er allen Kindern offen zugänglich ist, um jedem einen optimalen, individuellen Lernerfolg (individuell) nach dem jeweiligen Lern- und Entwicklungsstand (zieldifferent) zu ermöglichen. Darüber hinaus soll auf Grundlage dieser individuellen Zugänge ‚so oft wie möglich‘ (s. o.) gemeinsam über Mathematik kommuniziert sowie kooperiert werden (interaktiv-kooperativ).
7
Auch wenn die drei Attribute für jeden inklusiven Unterricht gelten, wird sich im Folgenden meist nur noch auf den inklusiven Mathematikunterricht bezogen, um dem mathematikdidaktischen Kontext der vorliegenden Arbeit zu entsprechen.
1.1 Inklusiver (Mathematik-)Unterricht
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Das bedeutet nicht, dass ‚Gemeinsames Lernen‘ durchgängig interaktivkooperativ am gemeinsamen mathematischen Gegenstand gestaltet werden soll. Vielmehr sollen die Lehrkräfte den Kindern ebenfalls individuelle Lernsituationen anbieten (Lütje-Klose & Miller, 2015, S. 14). Das kann zum einen entlang des strukturell zusammenhängenden Themenkomplexes geschehen, so dass zu einem späteren Zeitpunkt ein eher punktueller gemeinsamer mathematischer Austausch möglich ist. Zum anderen ist ein gemeinsamer Gegenstand nicht immer zielführend – wie der Ausdruck ‚so oft wie möglich‘ in der obenstehenden Definition hervorhebt –, so dass auch gänzlich individualisierte Phasen, in denen nicht mit- und voneinander gelernt wird, im inklusiven Mathematikunterricht ihre Berechtigung haben. Dieser Aspekt entspricht Wockens (1998) Balance zwischen Individualisierung einerseits und der bewussten Anregung von Lernsituationen, in denen mitund voneinander gelernt wird, andererseits (vgl. Kap. 1.1.2). Diese Balance wird in der vorliegenden Untersuchung als wichtige Leitidee zur Umsetzung einer inklusiven Bildung angesehen, denn es wird – wie oben bereits erläutert – Feusers ‚gemeinsamer Gegenstand‘ zwar als wesentliches didaktisches Bestimmungsstück eines inklusiven Unterrichtens einbezogen, entlang dessen kommuniziert und kooperiert wird, aber von einer ‚krampfhaften Fixierung‘ darauf abgesehen. Demzufolge sollten kooperationsfördernde Lernsituationen zwar so oft wie möglich angeregt werden, aber nur dann, wenn sie im Lernprozess der Kinder sinnvoll sind. Demzufolge haben auch, wie oben bereits erwähnt, individuell unterstützende oder informelle Phasen im inklusiven Unterrichtsgeschehen ihre Berechtigung. Beispielsweise hat jedes Kind individuelle Entwicklungsziele, die für die große Mehrzahl der anderen Kinder der inklusiven Lerngruppe nicht relevant sind bzw. von ihnen schon erreicht wurden. Wember (2013, S. 386) nennt in diesem Zusammenhang die Förderung basaler Kompetenzen oder besonderer kompensatorischer Kompetenzen. Wird sich also an den Lernprozessen aller Kinder orientiert, sind individualisierende Lernsituationen (z. B. koexistente und subsidiäre Lernsituationen, vgl. Tab. 1.1) im inklusiven Unterricht unumgänglich und notwendig. Es darf und muss also auch Situationen geben, die nicht kooperativ entlang eines gemeinsamen Gegenstandes angelegt sind, aber dennoch, wie Reiser und Wocken aufzeigen (vgl. Kap. 1.1.2), zur Gemeinsamkeit beitragen. Diese Balance wird auch vom Ministerium für Schule und Weiterbildung NRW betont. „Lernen am gemeinsamen Gegenstand auf unterschiedlichen Niveaus fordert heraus zum Austausch über unterschiedliche Lern- und Lösungswege [...]. Schulen, an denen gemeinsam gelernt wird, halten ein passgenaues kontextangemessenes Unterrichtsangebot unterschiedlicher Lernarrangements vor, in dem gemeinsame und individualisierende Phasen wechseln. Das ermöglicht Leistungsförderung für alle Schülerinnen und Schüler, die den Standards der allgemeinen Schule entspricht, wie auch die Realisierung sonderpädagogischer Unterstützungsangebote oder Förderung von Hochoder Inselbegabungen. Im Rahmen der zieldifferenten Förderung ist der individuelle Förderplan dieser Schülerinnen und Schüler maßgeblich, der sich gegebenenfalls an den Lehrplänen der allgemeinen Schule orientiert. Auch wenn hier das Gemeinsame Lernen der Regelfall ist, können Formen
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1 ‚Gemeinsames Lernen‘ im inklusiven Mathematikunterricht
der äußeren Differenzierung – auch über mehrere Klassen bzw. Lerngruppen hinweg – sinnvoll und notwendig sein, um die Ziele der individuellen Förderpläne zu realisieren.“ (MSW, 2014, S. 7)
Vor dem Hintergrund des weit gefassten Begriffes ‚Gemeinsamen Lernens‘ soll sich in der vorliegenden Forschungsarbeit dennoch ausschließlich und bewusst mit der gezielten Anregung interaktiv-kooperativer Lernsituationen beschäftigt werden (vgl. Tab. 1.1; Wockens kooperative Lernsituationen). Diese Fokussierung bedeutet den obigen Ausführungen entsprechend jedoch nicht, dass der gesamte Unterricht dementsprechend gestaltet werden sollte. Vielmehr ist dieser Forschungsfokus darin begründet, dass die Anregung dieser interaktivkooperativen Lernsituationen besonders anspruchsvoll ist und von Lehrkräften als problematische Herausforderung angesehen wird (vgl. Korff, 2015). Zudem gibt es ist in diesem Bereich eine Forschungslücke, wie oben an entsprechender Stelle dargelegt wurde (vgl. Kap. 1.1.2 zur Forschungslücke). Des Weiteren muss innerhalb dieser interaktiv-kooperativen Lernsituationen auch die beschriebene Balance berücksichtigt werden, sodass interaktivkooperativ gearbeitet wird und währenddessen alle Beteiligten die Chance haben, sich entsprechend ihrer individuellen Lernvoraussetzungen weiterzuentwickeln. Denkt man an dieser Stelle noch einmal an die Eingangsszene mit den Kindern Ruben und Sven zurück (vgl. Transkript 1.1), lässt sich festhalten, dass dort kein ‚Gemeinsames Lernen‘ nach dieser Definition stattfand, obwohl es angeregt wurde. Nach einer individuellen Phase wurden die Kinder aufgefordert, sich über Denk- und Lösungsprozesse auszutauschen. Die Balance zwischen individuellem und gemeinsamem Lernen wurde folglich angestrebt, dennoch kam es letztlich zu keinem Austausch und dadurch nicht zum mit- und voneinander Lernen. Allgemein ergeben sich aus dieser hervorgehobenen Balance, die auch in interaktiv-kooperativen Lernsituationen umzusetzen ist, zwei bedeutende theoretische Grundsteine für die Struktur dieser Forschungsarbeit: 1) ‚Interaktiv-kooperatives Lernen im inklusiven Mathematikunterricht‘ – Welche Forschungsergebnisse gibt es zum interaktiv-kooperativen Lernen und wie kann es im inklusiven Mathematikunterricht erfolgreich angeregt werden? (Kap. 2) 2) ‚Individuell-zieldifferentes Lernen am gemeinsamen Lerngenstand’ – Welche Forschungsergebnisse gibt es zum gemeinsamen Lerngegenstand der vorliegenden Arbeit, das ‚flexible Rechnen‘? Wie kann dieser für das zieldifferente Lernen strukturiert werden und wie kann das individuellzieldifferentes Lernen am gemeinsamen Lerngenstand erfolgreich angeregt werden? (Kap. 3)
1.1 Inklusiver (Mathematik-)Unterricht
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Zusammenfassung und Konklusion des Kapitels 1.1 für die vorliegende Arbeit8: Aus der Betrachtung der Definitionen sowie der relevanten Forschungsergebnisse zu den Aspekten Integration, Inklusion, inklusiver (Mathematik-)Unterricht und ‚Gemeinsames Lernen‘ können folgende zentrale Aspekte für die vorliegende Arbeit abgeleitet werden: In dieser Arbeit wird eine bildungsorientierte Perspektive eingenommen, die als ein Teil der bürgerlichen Perspektive – nämlich die Ermöglichung der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben – gesehen wird. Zudem wird eine Weiterführung der allgemeinen Integrationsbewegung an Schulen angenommen und somit werden Forschungsergebnisse zum integrativen Unterricht als theoretische Rahmung herangezogen (Kap. 1.1.1). Dabei liegt ein weites Verständnis von Inklusion zu Grunde, das alle Menschen mit allen Differenzlinien einbezieht. Dennoch wird – wie im Text begründet – ein Forschungsfokus auf die Heterogenitätsdimension ‚Behinderung’ und überdies auf Kinder mit Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung in dem Bereich ‚Lernen’ gelegt (Kap. 1.1.1). Im Sinne des ‚gemeinsamen Gegenstandes’ (Feuser, 1995, 2012b) muss sich inklusiver Mathematikunterricht in Anlehnung an das ‚Spiralprinzip’ an den zentralen Ideen der Mathematik orientieren. So ist es möglich, dass der Gegenstand für alle Lernenden gleich ist, die jeweiligen Zugänge und Lernziele aber verschieden sein können (Kap. 1.1.2). Im Sinne der ‚egalitären Differenz’ (Prengel, 1993) müssen gemeinsame Phasen, in denen über Mathematik geredet wird, bewusst angeregt werden. Hierbei ist es zentral, dass alle Gedanken, Zugänge und Lösungsprozesse Anerkennung und Wertschätzung erfahren (Kap. 1.1.2). Im Sinne des ‚gemeinsamen Themas’ (Reiser et al., 1986) wird davon ausgegangen, dass nicht nur Gespräche über Mathematik zur Gemeinsamkeit beitragen, sondern jegliche Art von Interaktion (Kap. 1.1.2). Da das Letztgenannte jedoch für das Mathematiklernen bedeutungslos ist, wird es in der vorliegenden Studie nicht näher betrachtet. Der ‚gemeinsame (Lern-)Gegenstand’ – ein vielschichtiger, logisch und strukturell zusammenhängender Themenkomplex – wird zwar als wesentliches didaktisches Bestimmungsstück einbezogen, aber von einer engen Fixierung wird abgesehen. Als wichtiger wird im Sinne der ‚gemeinsamen Lernsituation’ nach Wocken (1998) die Balance zwischen differenzierenden Lernsituationen einerseits und die bewusste Anregung von interaktiv8
Auf eine erneute Angabe der Ursprungsliteratur wird bei Zusammenfassungen und Konklusionen dieser Art in der gesamten Arbeit meistens verzichtet. Die Verweise zu den einzelnen Unterkapiteln stellen die Bezüge zu dem Ursprung und der Herleitung der einzelnen Aussagen her.
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1 ‚Gemeinsames Lernen‘ im inklusiven Mathematikunterricht
kooperativer Lernsituationen andererseits gesehen (Kap. 1.1.2 und Kap. 1.1.3). Die dargestellten positiven Forschungsergebnisse aus Phase II sprechen für die Umsetzung des ‚Gemeinsamen Lernens‘ im inklusiven Mathematikunterricht und legen eine Orientierung an den allgemeinen ‚Merkmalen guten Unterrichtes’ nahe (Kap. 1.1.2). Die dargestellten Forschungsergebnisse aus Phase III zeigen Probleme hinsichtlich der Umsetzung einer ‚inklusiven Bildung‘ in der Schulpraxis sowie die Forschungslücke aus fachdidaktischer Perspektive auf, denn nur wenige Studien richten sich bisher auf die konkrete Unterrichtsgestaltung sowie die Erforschung der angeregten unterrichtlichen Prozesse entlang eines mathematischen Gegenstandes (Kap. 1.1.2). Um ‚Gemeinsames Lernen‘ umzusetzen, muss jedem ein optimaler individueller Lernerfolg nach dem jeweiligen Lern- und Entwicklungsniveau (individuell-zieldifferent) ermöglicht werden. Das sollte so oft wie möglich an einem gemeinsamen Lerngegenstand umgesetzt werden, damit darüber hinaus auf Grundlage dieser individuellen Zugänge so oft wie möglich gemeinsam über Mathematik kommuniziert sowie kooperiert werden kann (interaktiv-kooperativ) (Kap. 1.1.3). Gefordert wird folglich eine durchgängige Balance zwischen individuellzieldifferentem sowie interaktiv-kooperativem Lernen, sowohl in der Gestaltung des Unterrichts durch variierende Lernsituationen (Wocken, 1998) … … als auch innerhalb gezielt angeregter interaktiv-kooperativ Lernsituationen, damit in diesen jedem Kind die Chance ermöglicht wird, sich auf dem jeweiligen individuellem Lern- und Entwicklungsniveau weiterzuentwickeln (Kap. 1.1.3). Hieraus ergeben sich für die Struktur dieser Forschungsarbeit, die auf die gezielte Anregung interaktiv-kooperativer Lernsituationen fokussiert, zwei bedeutende theoretische Grundsteine, die in den beiden nachfolgenden Kapiteln behandelt werden: Kapitel 2) ‚Interaktiv-kooperatives Lernen im inklusiven Mathematikunterricht‘ Kapitel 3) ‚Individuell-zieldifferentes Lernen am gemeinsamen Lerngegenstand des flexiblen Rechnens’
1.2 Heterogenität als Grundbegriff ‚Gemeinsamen Mathematiklernens‘
1.2
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Heterogenität als Grundbegriff ‚Gemeinsamen Mathematiklernens‘
Im Kapitel 1.1 wurde ein kurzer einleitender Überblick über die Entwicklung der Begriffe Integration und Inklusion gegeben und auf dieser Grundlage die Forschungstradition zum inklusiven Unterricht genauer beleuchtet, um zuletzt den aktuellen Forschungsstand und die Forschungslücke herauszustellen. Vom Allgemeinen wurde sich anschließend im Speziellen dem ‚Gemeinsamen Lernen‘ im inklusiven Mathematikunterricht zugewandt. Die Fokussierung auf das ‚Gemeinsame Mathematiklernen‘ soll in diesem Kapitel intensiviert werden, indem nach der allgemeinen Betrachtung der Themen Heterogenität und sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf an deutschen Schulen (Kap. 1.2.1) deren Bedeutung für das Lernen und für die Teilhabe in heterogenen Lerngruppen (Kap. 1.2.2) sowie die Herausforderungen und Chancen, die sich daraus für einen inklusiven Mathematikunterricht ergeben (Kap. 1.2.3), beleuchtet werden. 1.2.1 Heterogenität und sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf Als Resultat des ‚Gemeinsamen (Mathematik-)Lernens‘ von Schülerinnen und Schülern mit und ohne sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf vergrößern sich die bereits existierende Heterogenitätsspanne und -vielfalt. Heterogenität (aus dem griechischen heterogenḗs, -gen „nicht gleichartig, andersartig, uneinheitlich, verschieden“; DUDEN online, 2017) ist ein vielfach, auch weltweit, verwendeter Begriff (Begriffsgeschichte: Heinzel & Prengel, 2012). Er erfasst Verhältnisse zwischen Verschiedenheit und Vielfältigkeit, die einander nicht untergeordnet sind. In Bezug auf das Bildungswesen hat die Inklusionsbewegung zum Ziel, heterogene Lerngruppen, also Gruppen aus verschiedenen Lernenden, die nicht einander untergeordnet werden, zu verwirklichen (Heinzel & Prengel, 2012). Diese Lerngruppen bestehen aus Kindern mit und ohne sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf. Ein Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung kann generell durch Lern- und Entwicklungsstörungen (Lernbehinderung, Sprachbehinderung, Erziehungsschwierigkeit), geistige Behinderung, Körperbehinderung, Hörschädigungen (Gehörlosigkeit, Schwerhörigkeit), Sehschädigungen (Blindheit, Sehbehinderung) und/oder Autismus-Spektrum-Störungen begründet sein (MSW, 2005, § 3). Gibt es Anhaltspunkte dafür, dass ein Kind aufgrund einer Behinderung oder einer Lern- und Entwicklungsstörung besondere Unterstützung benötigt, kann ein Antrag auf sonderpädagogische Förderung gestellt werden, woraufhin die Schulaufsichtsbehörde über den Bedarf und Schwerpunkt an sonderpädagogischer Unterstützung entscheidet (MSW, 2005, § 10). Unterschieden wird generell zwischen den folgenden sieben Schwerpunkten der sonderpädagogischen Förderung:
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1 ‚Gemeinsames Lernen‘ im inklusiven Mathematikunterricht
Lernen; Sprache; Emotionale und soziale Entwicklung; Hören und Kommunikation; Sehen; Geistige Entwicklung; Körperliche und motorische Entwicklung (MSW, 2005, § 23-30).9 In einem inklusiven Mathematikunterricht, in dem Kinder mit und ohne einen solchen sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf gemeinsam beschult werden, sind die eh schon existierende Heterogenitätsspanne und -vielfalt noch erhöht. Das erleichtert das ‚Gemeinsame Lernen‘ nicht, bietet aber eine Chance, von dieser Vielfalt zu profitieren. In diesem Sinne hält Selter (2004) in Bezug auf das Mathematiklernen in sozialen Kontexten fest, dass „Vielfalt und Gemeinsamkeit [...] keineswegs als Gegensätze zu verstehen [sind], sondern als zwei Seiten einer Medaille“ (Selter, 2004, S. 28). Ein Blick in die Statistik zeigt, dass an vielen Schulen inklusiv unterrichtet wird. Der (zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Kapitels aktuell veröffentlichte) Stand des Ministeriums für Schule und Weiterbildung in NRW (MSW, 2017a; Aktion Mensch e. V., 2018) zeigt, dass im Schuljahr 2016/17 7,1 % aller bundesweit Lernenden einen offiziellen sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf hatten. Von diesen Schülerinnen und Schülern hatten 36,5% den Unterstützungsschwerpunkt ‚Lernen‘, der damit den größten Anteil ausmacht. (Im Vergleich dazu: 16,7% ‚Geistige Entwicklung‘; 16,6% ‚Emotionale und soziale Entwicklung‘; 10,7% ‚Sprache‘; 7,0% ‚Körperliche und motorischen Entwicklung‘; 5,2% ohne Zuordnung; 3,7% ‚Hören‘; 2,1% ‚Kranke‘; 1,6% ‚Sehen‘) In der Grundschule in NRW lag 2016/17 insgesamt ein Inklusionsanteil von 41,1 % vor, der sich seit 2000/01 (16,3 %) deutlich erhöht hat. Der Inklusionsanteil beschreibt den Anteil der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf, der im ‚Gemeinsamen Lernen‘ in der Regelschule unterrichtet wird. Ebenso nahm der inklusive Unterricht in der Sekundarstufe I stark zu und lag im Jahr 2016/17 bei bereits 39,9 %. Der Inklusionsanteil in Abhängigkeit zu den Unterstützungsschwerpunkten zeigt ebenso, dass der Unterstützungsschwerpunkt ‚Lernen‘ am stärksten vertreten ist (MSW, 2017a). Rottmann und Peter-Koop (2015, S. 5) ziehen aus diesen Daten das folgende Fazit: „Da […] der Förderschwerpunkt Lernen den häufigsten Schwerpunkt bei 9
Für genauere Informationen zu den einzelnen Förderschwerpunkten sowie zu den Antragsverfahren auf sonderpädagogische Unterstützung siehe ‚Verordnung über die sonderpädagogische Förderung, den Hausunterricht und die Schule für Kranke – Ausbildungsordnung sonderpädagogische Förderung‘ (kurz: AO-SF; MSW, 2005; zuletzt geändert durch Verordnung vom 1. Juli 2016).
1.2 Heterogenität als Grundbegriff ‚Gemeinsamen Mathematiklernens‘
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festgestelltem sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf darstellt, kommt der Unterstützung von Schülerinnen und Schülern mit deutlichen Lernbeeinträchtigungen im inklusiven (Fach-) Unterricht eine besondere Bedeutung zu.“ Des Weiteren spielen Kinder mit einer kognitiven Lernbeeinträchtigung aus mathematikdidaktischer Sicht eine besondere Rolle, da die Barrieren, die ein Kind am Lernerfolg hindern, aus mathematikdidaktischen Entscheidungen und der Strukturierung des Faches heraus verringert werden können. Die notwendigen Unterstützungsmaßnahmen können folglich auf Grundlage der Mathematikdidaktik entwickelt werden und lassen sich aus der Struktur des Faches heraus begründen. Hingegen benötigen Kinder mit körperlichen Seh- oder Hörbeeinträchtigungen beispielsweise allgemeine Hilfsmittel, um dem Mathematikunterricht folgen zu können. Aus diesen beiden Gründen wird sich das vorliegende Forschungsprojekt auf den sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf ‚Lernen’ fokussieren, um die Vielfalt in den mathematischen Kompetenzen in den Blick zu nehmen.10 1.2.2 Teilnahme und Teilhabe Nach Angaben der Kultusministerkonferenz (KMK, 2010) soll ‚Gemeinsames Lernen‘ stattfinden, dessen Gestaltung sich an den individuellen Lernvoraussetzungen aller Schülerinnen und Schüler orientiert und die Heterogenität der Lernvoraussetzungen im Unterrichtsgeschehen berücksichtigt: „Die Schulorganisation, die Richtlinien, Bildungs- und Lehrpläne, die Pädagogik und nicht zuletzt die Lehrerbildung sind perspektivisch so zu gestalten, dass an den allgemeinen Schulen ein Lernumfeld geschaffen wird, in dem sich auch Kinder und Jugendliche mit Behinderungen bestmöglich entfalten können und ein höchstmögliches Maß an Aktivität und gleichberechtigter Teilhabe für sich erreichen.“ (KMK, 2010, S. 4)
Dieser Begriff der Teilhabe lässt sich klar von dem Begriff der Teilnahme abgrenzen, wie der Tabelle 1.2 zu entnehmen ist.
10 In der vorliegenden Untersuchung wird zumeist die Bezeichnung „sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf im Bereich ‚Lernen’“ verwendet. Synonym werden zum Teil auch die Begriffe ‚Schwierigkeiten/Probleme beim Mathematiklernen’, ‚(kognitive) Lernschwierigkeiten’, ‚Kinder mit Lernbehinderung’ usw. verwendet. Der Grund dafür ist, dass diese Bezeichnungen in der vorliegenden Studie nur schwer voneinander abgrenzbar sind, denn nicht bei allen Probanden ist ein bereits offizieller Unterstützungsbedarf bestätigt. Die Kinder werden nach Aussagen der Pädagogen zieldifferent gefördert und haben entweder ein beendetes, laufendes oder intendiertes AOSF-Verfahren (vgl. Information zur Stichprobe Kap. 7.1.3). Ein weiterer Grund für die synonyme Verwendung ist die unterschiedliche Nutzung dieser Begriffe in zitierten Forschungsarbeiten.
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1 ‚Gemeinsames Lernen‘ im inklusiven Mathematikunterricht
Tabelle 1.2: Teilnahme und Teilhabe
Teilnahme access • • •
passiv barrierefreier Zugang UN-Behindertenrechtskonvention, Artikel 9 (Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, 2014)
Teilhabe participation • • •
aktiv gleichberechtigte Mitbestimmungsund Gestaltungsmöglichkeiten UN-Behindertenrechtskonvention, Artikel 2 und 3 (ebd.)
Heimlich (2007) vertritt diesbezüglich die Ansicht, dass die Teilhabe aller nur dann ermöglicht werden kann, „wenn nicht nur kognitive und soziale, sondern auch die emotionalen und sensomotorischen Aspekte des gemeinsamen Lernens ermöglicht werden“ (Heimlich, 2007, S. 76), und greift bei diesen Überlegungen auf ein ökologisches Modell zur demokratischen Erziehungs- und Schultheorie von John Dewey (1993) zurück. Für Dewey können Gleichheit und Verschiedenheit als grundlegendes Menschenrecht nur dann realisiert werden, „wenn sie von einer Erfahrung getragen werden, die alle teilen können und zu der alle beitragen. Erfahrungen haben damit nach Dewey einen passiven und einen aktiven Teil“ (vgl. Dewey, 1993; zitiert in Heimlich, 2007, S. 76). Diese passiven und aktiven Erfahrungen müssen folglich auch im inklusiven Mathematikunterricht für alle zugelassen werden, was eben nicht nur durch kognitive und soziale Aspekte gewährleistet werden kann, sondern ebenso emotionale und sensomotorische Erfahrungsqualitäten einschließt, denn nur auf diese Weise werden die Teilhabe und das Beitragen aller ermöglicht. Heimlich gelangt hierzu zu folgendem Schluss: „Unter der Perspektive einer didaktischen Strukturierung geht es beim Gemeinsamen Unterricht also nicht nur um die differenzierende und individualisierende Gestaltung der Lernwege von Schüler/innen in ihrer gesamten Heterogenität. Ebenso bedeutsam ist die Gestaltung angemessener Lernumgebungen, um Teilhaben und Beitragen im gemeinsamen Unterricht zu ermöglichen.“ (Heimlich, 2007, S. 76)
Auf Grundlage dieser Schlussfolgerung formuliert er als ein Qualitätskriterium für das ‚Gemeinsame Lernen‘ und die Teilhabe aller „die sensorisch vielfältig gestaltete Lernumgebung, verbunden mit entsprechenden Lernerfahrungen“ (Heimlich, 2007, S. 76). Er kombiniert dieses Kriterium mit zwei weiteren Qualitätskriterien, die er auf bereits zuvor beschriebene Modelle zurückführt: „das entwicklungsorientierte Lernen“ in Anlehnung an Feuser und die Bereithaltung „einer Vielzahl gemeinsamer und individueller Lernsituationen“ in Anlehnung an Wocken (ebd., S. 76; Kap. 1.1.2). Diese drei Qualitätskriterien für erfolgreiches ‚Gemeinsames Lernen‘ und die Teilhabe aller tragen maßgeblich zum Design des Lehr-Lern-Arrangements bei und werden in Kapitel 5 erneut aufgegriffen (vgl. Kap. 5.1).
1.2 Heterogenität als Grundbegriff ‚Gemeinsamen Mathematiklernens‘
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Deutlich wird hier außerdem der klare Fokus auf die aktive Mitgestaltung aller Kinder, der ebenso Schwerpunkt der vorliegenden Forschungsarbeit zum inklusiven Mathematikunterricht ist. Hierin enthalten sind die Anregung (Entwicklungsebene) und die Beforschung (Forschungsebene) dieser aktiven Mitgestaltung aller. Es wird also nicht nur die Teilnahme ermöglicht, vielmehr werden gemeinsame Lernsituationen, in denen mit- und voneinander Mathematik gelernt wird und jeder aktiv miterleben und mitgestalten kann, bewusst und gezielt angeregt und erforscht. 1.2.3 ‚Gemeinsames Mathematiklernen‘ – Herausforderung und Chance In einem inklusiven Mathematikunterricht sollen das ‚Gemeinsame Lernen‘ und die Teilhabe aller Schülerinnen und Schüler mit und ohne sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf zur Normalform werden (vgl. Kap. 1.2.2), was aufgrund der erhöhten Heterogenitätsspanne und -vielfalt (vgl. Kap. 1.2.1) eine große Herausforderung darstellt. Jedoch können viele Materialien und Methoden eines zeitgemäßen Mathematikunterrichtes genutzt werden, um dieser Herausforderung zu begegnen und individualisiertes und gemeinsames Lernen zu verknüpfen. Denn für das ‚Gemeinsame Lernen‘ bedarf es keiner speziellen oder besonderen, neu erfundenen Didaktik, wie u. a. Wember (2013) feststellte. Ebenso betonte Feuser schon früh, dass der Schwerpunkt einer inklusiven Pädagogik und Didaktik nicht im „Besonderen“ liegen muss, sondern im „Allgemeinen“ und in den „Grundlagen menschlicher Entwicklung und menschlichen Lernens“ (Feuser, 1985, S. 20, 2012b, S. 3). Vielmehr begegnen wir spezifischen Anforderungen, die jeden guten Mathematikunterricht auszeichnen, der die Heterogenität und somit die Entwicklung jedes einzelnen Kindes – von kognitiven Einschränkungen bis hin zu besonderen Begabungen – berücksichtigt. Zu dieser Erkenntnis kamen auch die Verfasser des aktuellen Positionspapiers der Gemeinsamen Kommission Lehrerbildung der GDM, DMV und MNU mit dem Titel ‚Fachdidaktik für den inklusiven Mathematikunterricht – Orientierungen und Bemerkungen‘. „Für [diese Herausforderungen] liegen aus der mathematikdidaktischen Forschung und Entwicklung substantielle Vorarbeiten vor, so dass die fachspezifischen Herausforderungen im Mathematikunterricht durch mathematikdidaktisch-fundierte wissenschaftliche Ansätze bearbeitet werden können. Denn entgegen des zuweilen verbreiteten Eindrucks, die Inklusion brächte vollkommen neue Anforderungen mit sich, zu der es noch keinerlei Konzepte gäbe, ist der Umgang mit Heterogenität im Mathematikunterricht ein bereits gut entwickeltes Feld, an das nun angeknüpft werden kann. Dies ermöglicht, die Vielfalt der Diversitätsaspekte im Blick zu behalten, anstatt den Fokus ausschließlich auf die sonderpädagogischen Förderbedarfe zu richten.“ (Positionspapier der Gemeinsamen Kommission Lehrerbildung der GDM, DMV und MNU, 2017)
Diese Anknüpfung an wissenschaftlich fundierte Vorarbeiten der Mathematikdidaktik – u. a. ‚Aktiv-entdeckendes Lernen’ (Winter, 1987; 1991; Wittmann, 1995a; 2006), ‚Beziehungsreiches Üben’ (Wittmann, 2005; 2006), ‚Natürliche Differenzierung’ (Hirt & Wälti, 2010; Krauthausen & Scherer, 2014), ‚Spiral-
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1 ‚Gemeinsames Lernen‘ im inklusiven Mathematikunterricht
prinzip’ (Bruner, 1973; Krauthausen & Scherer, 2007, S. 138 f.), ‚Interaktion und Kooperation im Mathematikunterricht’ (Götze, 2014; Brandt & Nührenbörger, 2009b; Ruf & Gallin, 1995) – findet ebenso in der vorliegenden Forschungsarbeit statt und wird in den Folgekapiteln sowohl implizit als auch explizit einbezogen. Korff hebt in diesem Zusammenhang drei besonders inklusionsrelevante Aspekte guten Mathematikunterrichts hervor: ‚Umgang mit Heterogenität’, ‚Natürliche Differenzierung’ und ‚Material- und Handlungsorientierung’ (Korff, 2015, S. 65 ff.). Diese vorliegenden empirisch fundierten Aspekte werden an späterer Stelle aufgegriffen und ergänzt, indem die erhöhte Heterogenitätsspanne in einem inklusiven Mathematikunterricht einbezogen wird sowie sonderpädagogische Erfahrungen und Erkenntnisse über besondere Unterstützungsbedürfnisse aus der ‚Integrativen Didaktik’ mitbedacht werden (z. B. die Qualitätskriterien von Heimlich aus Kap. 1.2.2). Bei einer zieldifferenten Förderung für Kinder mit besonderem Unterstützungsbedarf müssen diese Methoden und die didaktischen Materialien jedoch modifiziert und ergänzt werden, um das Lernen mit besonderen kognitiven Einschränkungen zu ermöglichen. Die wissenschaftlich fundierten Vorarbeiten der Mathematikdidaktik zu nutzen und diese zu modifizieren, ist also Herausforderung und Chance zugleich. Dabei ist der Einbezug der ‚Sonderpädagogik des Lernens’ unumgänglich und wird unter den beiden folgenden theoretischen Grundbausteinen dieser Forschungsarbeit – ‚Interaktiv-kooperatives Lernen im inklusiven Mathematikunterricht’ (vgl. Kap. 2) und ‚Individuelles und zieldifferentes Lernen am gemeinsamen Lerngegenstand des flexiblen Rechnens’ (vgl. Kap. 3) –, detaillierter beleuchtet. Dieser Einbezug ist nicht zu verwechseln mit einer ausschließlichen Fokussierung auf den sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf. Vielmehr soll die Vielfalt der Diversitätsaspekte im Blick behalten und als Chance gesehen werden. Zusammenfassung und Konklusion des Kapitels 1.2 für die vorliegende Arbeit: Auf Grundlage der Thematisierung der zwei Grundbegriffe ‚sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf‘ und ‚Heterogenität‘ mit Bezug auf die Situation an Schulen in NRW sowie den daraus entstehenden Herausforderungen und Chancen für den inklusiven Mathematikunterricht, können folgende zentrale Aspekte für die vorliegende Arbeit abgeleitet werden: Die aktuelle Situation an den Schulen fordert die Umsetzung inklusiven Mathematikunterrichtes sowie dessen wissenschaftliche Begleitung, besonders für Kinder mit Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung im Bereich ‚Lernen’ (Kap. 1.2.1). Schwerpunkt dieser Forschungsarbeit ist es, die Teilhabe, also die aktive Mitgestaltung durch alle Kinder, im Mathematikunterricht anzuregen und zu beforschen (Kap. 1.2.2).
1.2 Heterogenität als Grundbegriff ‚Gemeinsamen Mathematiklernens‘
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Dabei sind für die Teilhabe aller Kinder folgende drei Qualitätskriterien für das ‚Gemeinsame Mathematiklernen‘ zu beachten: ein entwicklungsorientiertes Lernen für alle, die Bereithaltung einer Vielzahl gemeinsamer, aber auch individueller Lernsituationen sowie eine sensorisch vielfältig gestaltete Lernumgebung (Kap. 1.2.2). Hierbei ist es Chance und Herausforderung zugleich, die wissenschaftlich fundierten Vorarbeiten der allgemeinen Mathematikdidaktik zu nutzen und diese zu modifizieren, indem sie mit Erkenntnissen aus der Sonderpädagogik des Bereichs ‚Lernen‘ und mit der Integrations-/Inklusionsforschung ergänzt werden (Kap. 1.2.3). Als besonders inklusionsrelevant sind die drei Aspekte guten Mathematikunterrichtes ‚Umgang mit Heterogenität’, ‚Natürliche Differenzierung’ sowie ‚Material- und Handlungsorientierung’ zu berücksichtigen (Kap. 1.2.3).
2 Interaktiv-kooperatives Lernen im inklusiven Mathematikunterricht „Inklusion ist kooperative (-»dialogisch-kommunikative) Tätigkeit der Subjekte im Kollektiv (in das die Lehrpersonen als Mitlernende eingebunden sind).“ (Feuser, 2012b, S. 2)
Wie das Zitat aufzeigt, ist für Feuser Kooperation ein zentraler Aspekt von Inklusion, um ein Kollektiv, also Gemeinsamkeit, zu erzielen. Dies geht ebenso aus der Begriffsdefinition und den Annahmen in Kapitel 1 zum ‚Gemeinsamen Lernen‘ im inklusiven Mathematikunterricht hervor. So wird aufgrund dieser Definition für die vorliegende Arbeit geschlussfolgert, dass inklusiver Mathematikunterricht individuell-zieldifferent sowie gleichzeitig interaktiv-kooperativ gestaltet werden muss (vgl. Kap. 1.1.3). Das vom Kultusministerium festgelegte „höchstmögliche[...] Maß an Aktivität und gleichberechtigter Teilhabe“ aller am Schulleben fordert ebenfalls Interaktion aller Beteiligten im Unterricht (KMK, 2010, S. 4; vgl. Kap. 1.2.2). Aus diesen vorangegangenen Überlegungen wird hergeleitet, dass die Anregung interaktiv-kooperativen Lernens für das ‚Gemeinsame Mathematiklernen‘ im Sinne der Inklusion eine Notwendigkeit darstellt. Daher wird mit dem folgenden Kapitel zum ‚Interaktiv-kooperativen Lernen im inklusiven Mathematikunterricht’ der erste theoretische Grundbaustein für die Entwicklung des Lehr-Lern-Arrangements sowie für die Analyse der Daten gelegt. Dazu werden in Kapitel 2.1 (Interaktiv-kooperatives Lernen) zunächst grundlegende Konzepte skizziert und eine Begriffsklärung vorgenommen, um das zugrundeliegende Verständnis für dieses Forschungsprojekt zu klären (Kap. 2.1.1). Vor diesem Hintergrund werden relevante Forschungsergebnisse aufgezeigt (Kap. 2.1.2) und anschließend – primär bezogen auf das Fach Mathematik – Interaktionsprozesse zwischen Kindern im interaktiv-kooperativ strukturierten Unterricht beleuchtet (Kap. 2.1.3). Das zugrundeliegende Verständnis des interaktivkooperativen Lernens sowie die Forschungsergebnisse werden im späteren Verlauf das Design sowohl des Lehr-Lern-Arrangements als auch der Erhebung und zudem die Analyse der Daten sowie die Interpretation der Ergebnisse maßgeblich beeinflussen. Auf dieser Grundlage werden in Kapitel 2.2 (Interaktiv-kooperatives Lernen anregen) Ansätze zur Anregung interaktiv-kooperativen Lernens im Unterricht erörtert. Dabei werden zunächst relevante didaktische Ansätze aus der Mathematikdidaktik (Kap. 2.2.1) sowie der Sonderpädagogik des Lernens (Kap. 2.2.2) angesprochen, bevor daraus eine Konklusion für den inklusiven Mathematikunterricht gezogen wird, die mit der zusammenhängenden Betrachtung der beiden © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Korten, Gemeinsame Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht, Dortmunder Beiträge zur Entwicklungund Erforschung des Mathematikunterrichts 44, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30648-9_3
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2 Interaktiv-kooperatives Lernen im inklusiven Mathematikunterricht
Kernaspekte – interaktiv-kooperatives und individuell-zieldifferentes Lernen – einhergeht (Kap. 2.2.3). Das letzte Kapitel 2.3 des ersten theoretischen Grundbausteines (Entwicklung mathematischer Lernprozesse in der Interaktion) greift diesen Zusammenhang auf und beleuchtet die Entwicklung mathematischen Wissens in der Interaktion. Im Zuge dessen werden die lerntheoretischen Annahmen, die dieser Untersuchung zu Grunde liegen, für den (inklusiven) Mathematikunterricht expliziert (Kap. 2.3.1). Abschließend wird die Entwicklung mathematischer Lernprozesse in der Interaktion aus interaktionistischer (Kap. 2.3.2) und epistemologischer Perspektive (Kap. 2.3.3) beleuchtet, um damit eine Grundlage für die späteren Lernprozessanalysen zu schaffen. Dieser erste theoretische Grundstein zum ‚Interaktiv-kooperativen Lernen im inklusiven Mathematikunterricht‘ wird in Kapitel 3 um den zweiten theoretischen Grundstein zum ‚Individuell-zieldifferenten Lernen am gemeinsamen Lerngegenstand des flexiblen Rechnens‘ ergänzt.
2.1
Interaktiv-kooperatives Lernen
Interaktiv-kooperative Lernformen (auch dialogische, kooperative oder gemeinsame Lernformen genannt) wurden in den letzten Jahren als eine Form der Zusammenarbeit vermehrt eingesetzt und diskutiert, auch für den Mathematikunterricht. Damit einhergehend können eine umfangreiche Konzeptarbeit (u. a. Gallin, 2010; Green & Green, 2005; Johnson, Johnson, & Holubec, 1994; Ruf & Gallin, 1995), zahlreiche praxisorientierte Veröffentlichungen (u. a. Bochmann & Kirchmann, 2006; Fthenakis, 2009; Ranger, Martschinke, & Kopp, 2015) sowie ein wachsendes Forschungsinteresse (u. a. Cobb, Yackel, & Wood, 1992; Dekker & Elshout-Mohr, 1998; Götze, 2014; Häsel-Weide, 2016a; Naujok, 2000; Ranger et al., 2015; Röhr, 1995) verzeichnet werden. Auffällig hierbei ist die unterschiedliche Verwendung des Begriffs ‚kooperatives Lernen’. Naujok (2000) beispielsweise bezeichnet mit Kooperation jede Art von Interaktion, die aufgabenbezogen ist. Feuser (2012b) expliziert im Eingangszitat, dass eine kooperative Tätigkeit eine dialogisch-kommunikative Tätigkeit ist. Andere Definitionen betonen, dass eine aufgabenbezogene Kommunikation nicht ausreicht. Vielmehr ist das zielgerichtete Interagieren essenziell, das auf ein gemeinsames Gruppenergebnis ausgerichtet ist, an dem alle möglichst symmetrisch mitwirken (u. a. Röhr, 1995). Souvignier spricht im Rahmen der Sonderpädagogik „[v]on kooperativem Lernen [...], wenn Lernende sich beim Wissenserwerb gegenseitig unterstützen“ (Souvignier, 2007, S. 138). In anderen Kontexten hingegen wird der Begriff im Sinne einer umfassenden Konzeption mit einem Methodenrepertoire verwendet, das neben dem inhaltlichen
2.1 Interaktiv-kooperatives Lernen
45
auch das soziale Lernen sowie eine Feedback-Kultur fördern soll (Bochmann & Kirchmann, 2006; Green & Green, 2005; Johnson et al., 1994). In der vorliegenden Arbeit wird primär die Wortkonstruktion interaktivkooperatives Lernen verwendet. Um diese Wahl zu begründen und ein einheitliches Begriffsverständnis zu schaffen, wird im folgenden Kapitel zunächst eine Begriffsklärung sowie eine kurze Erläuterung grundlegender Interpretationen vorgenommen (Kap. 2.1.1), bevor im weiteren Verlauf allgemeine Forschungsergebnisse (Kap. 2.1.2) sowie Untersuchungen zu Interaktionsprozessen zwischen Kindern im interaktiv-kooperativ strukturierten (Mathematik-)Unterricht (Kap. 2.1.3) beleuchtet werden. 2.1.1 Interaktiv-kooperatives Lernen – Begriffsklärung und Konzepte Wie bereits angedeutet, werden die Begriffe der Interaktion und Kooperation sowie des kooperativen Lernens in verschiedenen Kontexten unterschiedlich verwendet. Grundlegend für die vorliegende Forschungsarbeit ist das folgende Verständnis der hier verwendeten Begriffe. Interaktion Interaktion bezeichnet das wechselseitig „aufeinander bezogene Handeln zweier oder mehrere Personen“ (DUDEN online, 2017). Es beschreibt demnach eine „Wechselbeziehung zwischen Handlungspartnern“ (ebd.). Interagieren (d. h. Interaktion betreiben) kann sowohl verbal als auch nonverbal geschehen. Dieses wechselseitige Einwirken ist nicht immer intentional oder zielgerichtet und muss daher auch nicht zwangsläufig aufgabenbezogen sein. Im Kontext der vorliegenden Arbeit lassen sich zwei Arten sozialer Interaktion im Schulunterricht unterscheiden: die Interaktion zwischen Kind und Lehrkraft sowie die Interaktionen zwischen den Kindern untereinander. Beide Arten wechselseitiger sozialer Einwirkung können eine Bedeutung für die mathematischen Lernprozesse der Kinder haben, indem die „an der Interaktion Beteiligten während der Bearbeitung einer Aufgabenstellung Sinndeutungen über mathematische Ereignisse kommunizieren und koordinieren oder aber auf den anderen abzustimmen versuchen“ (Steinbring & Nührenbörger, 2010, S. 170, vgl. Kap. 2.3 für eine genauere Ausführung dieses Aspektes). Kooperation Kooperation (lat. cooperatio ‚Mitwirkung‘) ist hingegen das intentionale gemeinsame Handeln zweier oder mehrerer Personen, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen (DUDEN online, 2017). Oft verwendete Synonyme zum zugehörigen Verb kooperieren (d. h. Kooperation betreiben) sind ‚zusammenwirken’, ‚zusammenarbeiten’ oder ‚kollaborieren’ (ebd.). Kooperation ist folglich eine zielgerichtete Art der Interaktion, die daher aufgabenbezogen sein muss. Hier-
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2 Interaktiv-kooperatives Lernen im inklusiven Mathematikunterricht
bei, wie auch bei der Interaktion, spielen die verbale und nonverbale Kommunikation eine entscheidende Rolle. Kommunikation (lat. communicatio ‚Mitteilung‘, ‚Unterredung’) ist in diesem Zusammenhang die Verständigung untereinander mithilfe von Zeichen oder Sprache (DUDEN online, 2017). Es handelt sich also um einen „zwischenmenschlichen Verkehr“ (ebd.), bei dem es verbal oder nonverbal zum Austausch von ‚Informationen’ kommt – im Kontext der vorliegenden Arbeit beispielsweise von mathematischem Wissen oder Entdeckungen –, die durch verbale Äußerungen, Handlungen am Material oder Bild sowie in der Symbolsprache der Mathematik übermittelt werden können. Besonders der Ausdruck kooperatives Lernen wird nicht nur in der Alltagssprache, sondern auch in der Fachliteratur unterschiedlich verwendet. Einigkeit besteht nur darüber, dass nicht jede Form der gemeinsamen Aktivität oder Zusammenarbeit gleich kooperieren oder kooperatives Lernen ist. Mit einem Partner oder in einer Gruppe zusammen zu arbeiten bezeichnet lediglich, dass Kinder in einem bestimmten Zeitraum mit einer räumlichen Nähe etwas zusammen tun oder erledigen, „sie können dabei kooperieren, müssen es aber nicht“ (Woolfolk, 2011, S. 508, zitiert in Scholz 2013). Ob sie kooperieren, ist nach dem hier vorliegenden Verständnis abhängig davon, ob sie aufgabenbezogen und zielgerichtet interagieren. Da der Übergang hierbei fließend ist und in Phasen gemeinsamer Lernaktivitäten zeitweise (nur) interagiert und nicht immer kooperiert wird, wird in dieser Arbeit der Ausdruck interaktiv-kooperatives Lernen genutzt, der im Folgenden auf drei Ebenen betrachtet wird: Eine interaktiv-kooperative Struktur des Unterrichtes ist unabdingbar, die zum Ziel hat, interaktiv-kooperatives Lernen im Sinne von Lernaktivitäten anzuregen, in denen interaktiv-kooperatives Lernen im Sinne von Lernprozessen stattfindet. Diese drei unterschiedlichen Konnotationen werden im Folgenden definiert. Das interaktiv-kooperative Lernen als Unterrichtsstruktur Um interaktiv-kooperative Lernaktivitäten anzuregen, durch die (bei möglichst allen Beteiligten) ein Lernzuwachs stattfindet, bedarf es einer Unterrichtsstruktur, die zum Ziel hat, dieses zu ermöglichen und herauszufordern. Das hier dargelegte Verständnis auf unterrichtsstruktureller Ebene knüpft an eine Definition von Scholz (2013) an, der interaktiv-kooperatives Lernen nicht als umfassende Konzeption oder Unterrichtsmethode versteht, sondern als eine Unterrichtsstruktur. Sie ermöglicht Lernprozesse im Wechsel von individuellen und gemeinsamen Phasen und knüpft somit an das Verständnis vom ‚Gemeinsamen Lernen‘ im Sinne der Inklusion an (vgl. Kap. 1.1.3). Damit einhergehend finden zielgerichtete Interaktionsprozesse statt, in denen die beteiligten Personen gemeinsam und in wechselseitigem Austausch Kenntnisse und Fertigkeiten erwerben, also mit- und voneinander lernen. Dabei sind idealerweise alle gleichberechtigt am Lerngeschehen beteiligt und tragen gemeinsam Verantwortung für das erfolgreiche Arbeiten (Scholz, 2013, S. 1).
2.1 Interaktiv-kooperatives Lernen
47
Dieses Verständnis wird in der vorliegenden Arbeit bei der Entwicklung des Lehr-Lern-Arrangements vorausgesetzt, denn es entspricht, wie bereits erwähnt, der Forderung des ‚Gemeinsamen Lernens‘ im inklusiven Mathematikunterricht; nämlich, dass individuell und zieldifferent sowie gleichzeitig interaktivkooperativ gelernt wird (vgl. Kap. 1.1.3). Dieses bietet folglich für den inklusiven Mathematikunterricht eine Struktur, die es auch stark heterogenen Lerngruppen ermöglicht, individuell-zieldifferente wie auch gemeinsame Ziele in der Verbindung von Einzel-, Partner- oder Gruppenarbeit zu erreichen. Wie diese interaktionsfördernde Unterrichtsstruktur in der Praxis realisiert werden kann, wird in der vorliegenden Arbeit im Zusammenhang mit dem entwickelten LehrLern-Arrangement aufgezeigt (vgl. Kap. 6, besonders Kap. 6.1.2 und Abb. 6.3). Interaktiv-kooperatives Lernen als gemeinsame Lernaktivität Die dargelegte Definition interaktiv-kooperativen Lernens auf struktureller Unterrichtsebene dient zwar als übergeordnete Grundlage für die Planung des Lehr-Lern-Arrangements, muss aber für die detaillierte Unterrichtsdesignentwicklung und die Analyse erweitert werden. Da es hier primär um die Anregung und Erforschung unterrichtlicher Aktivitäten und Prozesse geht, ist die Betrachtung der Unterrichtsstrukturebene nicht weitreichend genug und wird durch das Verständnis vom interaktiv-kooperativen Lernen im Sinne einer gemeinsamen Lernaktivität ergänzt. Die folgende Definition dessen knüpft an Röhrs Verständnis vom „kooperativen Lernen aus der Sache heraus“ an (Röhr, 1995, S. 75). Wird in der vorliegenden Arbeit kurz vom interaktiv-kooperativen Lernen gesprochen, wird stets dieses Verständnis vom interaktiv-kooperativen Lernen als gemeinsame Lernaktivität zugrunde gelegt: Interaktiv-kooperatives Lernen bedeutet, dass die Kinder sich gemeinsam mit einer reichhaltigen Aufgabe auseinandersetzen und dabei möglichst aufgabenbezogen interagieren, dass sie dabei durch Interaktionshandlungen möglichst häufig aufeinander Bezug nehmen, indem sie u. a. eigene Ideen und Entdeckungen äußern und erklären, Fragen stellen, sich gegenseitig helfen, begründen sowie Ideen anderer hinterfragen und ggf. weiterentwickeln, dass die wechselseitige Beziehungsstruktur in der Interaktion so weit wie möglich symmetrisch ist und unter einer gemeinsamen Zielsetzung stattfindet.
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2 Interaktiv-kooperatives Lernen im inklusiven Mathematikunterricht
Interaktiv-kooperatives Lernen als Prozess Die dargelegte Definition nimmt noch nicht in den Blick, ob in der Lernsituation ein tatsächlicher Lernzuwachs, also mit- und voneinander Lernen, stattfindet. In der vorliegenden Arbeit wird jedoch zusätzlich betrachtet, ob mathematische Lernprozesse stattgefunden haben. Nur so kann beurteilt werden, ob das interaktiv-kooperative Lernen lernförderlich für alle Beteiligten war und ‚Gemeinsames Lernen‘ im Sinne der Inklusion stattfand (vgl. Definition in Kap. 1.1.3). Diese in der Interaktion stattfindenden individuellen mathematischen Lernprozesse werden in dieser Untersuchung auch interaktiv-kooperative (mathematische) Lernprozesse (auch kurz: interaktive Lernprozesse) genannt. Synonym hat sich auch der Ausdruck ko-konstruktiver Prozess bzw. KoKonstruktion etabliert. Es handelt sich um einen pädagogischen Ansatz, der bezeichnet, dass Lernen durch die Interaktion in der Zusammenarbeit stattfindet. Hierbei ko-konstruieren Kinder gemeinsam oder Kinder mit Lehrkräften. Der Kernaspekt dieses Ansatzes ist die soziale Interaktion (Fthenakis, 2009). Die Ko-Konstruktion hat sich aus dem Konstruktivismus herausgebildet, nach dem Kinder durch die aktive Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt lernen. Der Sozial-Konstruktivismus teilt diese Ansicht, sieht aber den wesentlichen Aspekt für die Konstruktion des Wissens in der sozialen Interaktion. Demnach lernen Kinder die Welt zu verstehen, indem sie sich mit anderen austauschen und Bedeutungen untereinander aushandeln (eine genauere Ausführung hierzu folgt in Kap. 2.3). Nur in gemeinsamer Interaktion finden Entwicklungs- und Lernprozesse statt. Wissens- und Kompetenzerwerb sowie Sinnkonstruktion sind folglich nicht das Ergebnis individueller Anstrengungen eines Kindes, sondern das Ergebnis der Interaktion, bei deren Gestaltung alle beteiligten Personen eine aktive Rolle spielen und sich gegenseitig anregen (Fthenakis, 2009). Hierbei kommt es mehr auf die gemeinsame Erforschung von Bedeutung, Strukturen und Zusammenhängen an als auf reinen Wissenserwerb. In heterogenen Lerngruppen von Kindern mit unterschiedlichen Fähigkeiten – also beispielsweise im inklusiven Mathematikunterricht – kann Ko-Konstruktion ein Potential darstellen und zu einem bereichernden Prozess werden, wenn den Kindern eine große Bandbreite von Zugängen, Denkwegen und Lernmöglichkeiten angeboten wird und sie sich ihren spezifischen Fähigkeiten entsprechend ausdrücken können (ebd.). Dieser Begriff der Ko-Konstruktion wird in der vorliegenden Arbeit nicht verwendet, dennoch stimmt das beschriebene Verständnis zu ko-konstruktiven Prozessen mit dem hier vorliegenden Verständnis zu interaktiv-kooperativen (mathematischen) Lernprozessen überein, die durch die Interaktion angeregten werden.
2.1 Interaktiv-kooperatives Lernen
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Umfassende Konzeptionen zum interaktiv-kooperativen Lernen Wie in diesem Abschnitt deutlich wurde, ist die hier vorliegende Definition zum interaktiv-kooperativen Lernen im Zusammenhang mit einer dementsprechenden Unterrichtsstruktur zu sehen. Eine interaktionsfördernde Unterrichtsstruktur ist dennoch abzugrenzen von einer umfassenden Konzeption, denn letztere geht über die Struktur des Unterrichtes hinaus und ist umfassender. Sie weist in der Regel eine breite Methodensammlung auf, die dazu dient, Partner- und Gruppenarbeit zu ritualisieren und zu strukturieren. Diese Methoden haben überdies zum Ziel, neben dem inhaltlichen Lernen sowohl das soziale Lernen als auch eine Feedback-Kultur zu fördern. Die zwei am meisten verbreiteten umfassenden Konzeptionen sind das ‚Kooperative Lernen’ nach Johnson et al. (1994), Slavin (1995) und Green & Green (2005) sowie das ‚Peer Tutoring’ (Maheady & Gard, 2010). Beide sind theoretisch gut begründete und durch Studien empirisch hinreichend abgesicherte Konzeptionen zur Anregung interaktivkooperativen Lernens. Daher sind einige Befunde dieser Studien im Rahmen der vorliegenden Untersuchung relevant und werden u. a. im Folgekapitel 2.1.2 mitbetrachtet. 2.1.2 Forschungsergebnisse zum interaktiv-kooperativen Lernen Da interaktiv-kooperative Lernformen in den letzten Jahren als eine Form der Zusammenarbeit vermehrt eingesetzt wurden sowie das Kommunizieren und das Kooperieren in den Mathematiklehrplänen verankert ist (MSW, 2008, S. 58), nahm, wie eingangs bereits erwähnt, auch das Forschungsinteresse in diesem Bereich zu. So wurden in den vergangenen Jahren einige Forschungsarbeiten publiziert, die sich mit Interaktion und Kooperation im Schulkontext auseinandersetzen, um diese zu verstehen und Konzepte zu generieren, die produktives mit- und voneinander Lernen anregen. An dieser Stelle werden einige Erkenntnisse dieser Forschungsarbeiten, die für die vorliegende Untersuchung relevant sind, zusammenfassend dargestellt. Damit einhergehend werden zunächst allgemeine Forschungsergebnisse zum interaktiv-kooperativen Lernen dargelegt, die primär die Lernform und deren Legitimation für den Einsatz im Mathematikunterricht und die Passung für Kinder mit Lernschwierigkeiten in den Mittelpunkt stellen (Kap. 2.1.2), bevor im Anschluss der Fokus auf Erkenntnisse zu den stattfindenden Interaktionsprozessen zwischen den Kindern gelegt wird (Kap. 2.1.3).11
11 Die Forschungsarbeiten, die in Kapitel 2.1.2 und 2.1.3 dargelegt werden, verwenden mitunter differenzierende Begriffsverständnisse (vgl. Kap. 2.1.1), die hier nur noch einmal explizit erwähnt werden, wenn sie für die Interpretation der Befunde essenziell sind.
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2 Interaktiv-kooperatives Lernen im inklusiven Mathematikunterricht
Methodisch strukturiertes interaktiv-kooperatives Lernen zeigt positive Effekte bezüglich des Lernprozesses, des Sozialverhaltens und des Selbstkonzeptes aller Beteiligten: Ansätze und Konzepte, die das mit- und voneinander Lernen von vornherein methodisch strukturieren, um einen aktiven Einbezug aller beteiligten Personen zu ermöglichen, haben sich aufgrund der Erkenntnis entwickelt, dass unstrukturierte gemeinsame Lernaktivitäten nicht zu produktiven Lernprozessen und sozialer Kompetenzentwicklung führen (für eine ausführlichere Argumentation vgl. Häsel-Weide, 2016a, S. 41 ff.). Hingegen haben empirische Untersuchungen zum strukturierten interaktiv-kooperativen Lernen positive Effekte gezeigt. Besonders für lernschwächere Kinder stellen sie eine Chance für das Lernen und die Entwicklung dar. Dahingehend belegt eine Studie von Gilies und Ashman (2000; zitiert in Souvignier, 2007, S. 142) zur Verbesserung der Interaktion in Kleingruppen – u. a. durch Aufgabenteilung und gemeinsame Verantwortungsübernahme –, dass Grundschulkinder „mit Lernschwierigkeiten dann besser miteinander kooperieren, sich mehr Hilfestellungen geben, besser argumentieren und letztlich auch besser verstanden, wenn ihnen zuvor Hinweise zur Strukturierung der Gruppenarbeit gegeben wurden“ (Souvignier, 2007, S. 142). Dies lässt den Schluss zu, dass nicht nur die Strukturierung, sondern auch ihre Transparenz eine entscheidende Rolle spielt. Neben einem besseren Lernerfolg konnten positive Effekte auf das Sozialverhalten und das Selbstkonzept aller Kinder nachgewiesen werden (Ginsburg-Block, Rohrbeck, & Fantuzzo, 2006; Johnson, Johnson, & Stanne, 2000; Slavin, 1996). Auch wenn die Befunde für den Mathematikunterricht nicht so eindeutig sind, belegen diese allgemeinen Ergebnisse positive Effekte eines gezielten und transparenten Einsatzes strukturierter interaktiv-kooperativer Lernaktivitäten für Kinder mit und ohne Lernschwierigkeiten. Folglich legen diese allgemeinen Ergebnisse den Einsatz strukturierter interaktiv-kooperativer Lernsituationen auch im inklusiven (Mathematik-)Unterricht nahe. Die erfolgreiche methodische Anregung interaktiv-kooperativen Lernens als gemeinsame Lernaktivität zeichnet sich durch verschiedene Merkmale aus: Zu den immer wiederkehrenden, empirisch belegten Merkmalen erfolgreicher und für jedes Kind effektiver kooperativer Lernmethoden gehören nach der umfassenden Konzeption ‚Kooperatives Lernen’ von u. a. Green & Green (2005) und Johnson et al. (1994): ‚Individuelle Verantwortlichkeit’ für sich und für die Gruppe; ‚Positive Abhängigkeit’/‚Positive Interdependenz’; ‚Direkte Interaktion’; ‚Soziale Kompetenz’; ‚Prozessevaluation’ (u. a. zusammengefasst und erläutert in Bochmann & Kirchmann, 2006, S. 30 ff.; Green & Green, 2005, S. 28).
2.1 Interaktiv-kooperatives Lernen
51
Diese empirisch belegten Aspekte der erfolgreichen methodischen Anregung interaktiv-kooperativer Lernsituationen werden in Kapitel 2.2 im Zusammenhang mit der Förderung interaktiv-kooperativen Lernens aufgegriffen und genauer betrachtet. Im Kontext der Konzeption des ‚Kooperativen Lernens’ wurden von Green und Green (2005) weitere positive Effekte interaktiv-kooperativen Lernens belegt und zusammengefasst: u. a. Entwicklung von Denkfähigkeit auf höherem Niveau, Erweiterung des Selbstwertgefühls, Entwicklung von Sozial- und Kommunikationskompetenz, positive Lernverantwortung und die Steigerung einer positiven Lernatmosphäre (für weitere Ergebnisse sowie genauere Ausführungen vgl. Green & Green, 2005, S. 33 ff.). Eine individuelle Auseinandersetzung mit dem Lerngegenstand, bevor Kinder in den Austausch treten, wirkt sich positiv im Hinblick auf mathematische Leistungen aus: Tarim und Akdeniz (2008) verglichen in einer türkischen Studie mit Kontrollgruppendesign mit Viertklässlern den regulären Mathematikunterricht mit zwei konkreten Methoden, die zum Ziel haben, strukturiertes interaktivkooperatives Lernen anzuregen (‚Gruppenrallye’ und ‚Kleingruppenarbeit mit Teamunterstützung’). In einem Nachtest konnten sie bei den Kindern, die nach den interaktiv-kooperativen Methoden gearbeitet hatten, bessere mathematische Leistungen nachweisen. Dieses Ergebnis unterstützt die Erkenntnis über die allgemeine Wirksamkeit methodisch strukturierten interaktiv-kooperativen Lernens bezüglich der Lernprozesse (s. o.; u. a. Ginsburg-Block et al., 2006; Johnson et al., 2000; Slavin, 1996) und weist diese auch für den Mathematikunterricht nach. Zusätzlich verglichen Tarim und Akdeniz (2008) die beiden kooperativen Methoden und stellten bei der Kleingruppenarbeit mit Teamunterstützung einen besseren Lernerfolg fest, den sie mit der unterschiedlichen Strukturierung der Methoden erklären. Während die Viertklässler bei der Gruppenrallye direkt in den Austausch treten, erhalten sie bei der Kleingruppenarbeit mit Teamunterstützung zunächst Zeit, sich individuell mit der Aufgabe und dem mathematischen Lerngegenstand auseinanderzusetzen. Tarim und Akdeniz sehen den besseren Erfolg u. a. in der Kombination von Individualisierung und Gruppenarbeit (Tarim & Akdenzi, 2008, S. 87). Folglich weisen diese Ergebnisse darauf hin, dass der Erfolg interaktiv-kooperativen Lernens im Mathematikunterricht der Grundschule von der konkreten Gestaltung des Settings abhängt und sich eine erste Auseinandersetzung mit dem Lerngegenstand auf der Basis individueller Vorkenntnisse und Lernvoraussetzungen positiv auf den anschließenden interaktiv-kooperativen Lernerfolg auszuwirken scheint. Diese Schlussfolgerung wird gestärkt durch die Erkenntnis einer Studie von Peter-Koop (2002) zum Lösen problemhaltiger mathematischer Sachaufgaben in Kleingruppen. Sie konnte belegen, dass Phasen der individuellen Einzelarbeit
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2 Interaktiv-kooperatives Lernen im inklusiven Mathematikunterricht
bedeutsam für eine erfolgreiche soziale Interaktion und einen mathematisch reichhaltigen Austausch der Kinder sind (Peter-Koop, 2002, S. 556). Gezielt angeregte ‚subsidiäre Lernsituationen’ im Mathematikunterricht zeigen hingegen keine signifikanten Effekte im Hinblick auf die Förderung von Kindern mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf ‚Lernen’: Gersten, Chard, Jayanthi, Baker, Morphy und Flojo (2009) untersuchten in einer Metanalyse Unterrichtskomponenten im Unterricht von Kindern mit Lernbehinderungen. Sie nahmen dabei u. a. den Einfluss des Peer Tutoring Programmes12 ‚peer assisted learning’ in den Blick, das mit der gezielten Anregung Wockens (1998) ‚subsidiärer Lernsituationen’ zu vergleichen ist (vgl. Kap. 1.1.2). Hierbei ist die Kooperation durch eher einseitiges Unterstützen geprägt, indem ein leistungsschwächeres mit einem stärkeren Kind zusammenarbeitet, wobei das leistungsstärkere Kind die Rolle des Helfers und Tutors (daher Peer Tutoring) übernimmt. Die Analysen von Gersten et al. (2009) konnten hierbei keine signifikanten Effekte hinsichtlich der Förderung von Kindern mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf ‚Lernen’ nachweisen. Dieses bestätigten Kroesbergen und van Luit (2003) mit ihrem Ergebnis, dass mathematische Interventionen, in denen Peer Tutoring genutzt wird, weniger erfolgreich sind als vergleichbare Interventionen ohne den Einsatz dieses Ansatzes. Sie schlussfolgern daraus, dass die Rolle der Lehrkraft im Unterricht essenziell ist und nicht durch Peers ersetzt werden kann. Eine erfolgreiche Kommunikation innerhalb interaktiv-kooperativer Lernsituationen im Mathematikunterricht leistet einen entscheidenden Beitrag zur Fruchtbarkeit des Lernens; die Art und Weise der Interaktion ist also zentral für ein Gelingen und die Anregung interaktiv-kooperativer Lernprozesse: Gersten et al. (2009) befassten sich in der oben bereits zitierten Studie ebenso mit den Gegebenheiten, die die Effektivität interaktiv-kooperativen Lernens beeinflussen. Auf Grundlage der Metastudie, die Interventionen im Mathematikunterricht in den Blick nahm, vermuteten sie, dass die Kommunikation innerhalb interaktiv-kooperativer Lernsituationen entscheidend dazu beiträgt, ob Lernprozesse für die Beteiligten fruchtbar verlaufen oder nicht. Besonders wenn es in den Interventionen zur Verbalisierung von Gedanken kam, schien dieses zu ‚gelingen‘, sodass sie hier einen Zusammenhang vermuten (Gersten et al., 2009, S. 1230). Häsel-Weide (2016a) bezieht diese Erkenntnisse auf lernschwache Schülerinnen und Schüler, die häufig nicht die Chance haben, sich in den Austausch einzubringen. Sie vermutet, „dass formelle [also gezielt methodisch angeregte und strukturierte] kooperative Lernformen im Mathematikunterricht ihnen die 12 Für weitere Informationen zu Merkmalen von Peer Tutoring Programmen vgl. Büttner, Warwas und Adl-Amini (2012).
2.1 Interaktiv-kooperatives Lernen
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Möglichkeit geben würden, mehr zu verbalisieren. Es ist zu vermuten und zu untersuchen, ob auf diese Weise eine Steigerung auch der mathematischen Kompetenzen erreicht werden kann“ (Häsel-Weide, 2016a, S. 44). Webb (1989) kam einige Jahre zuvor zu einem ähnlichen Ergebnis. Auch er vermutete, dass die erfolgreiche Kommunikation und Interaktion zwischen den beteiligten Kindern ein entscheidender Einflussfaktor für das Lernen der Beteiligten ist. Damit zusammenhängend spielen auch die Gruppenzusammensetzungen sowie die Kompetenzen der einzelnen Beteiligten eine zentrale Rolle beim Gelingen interaktiv-kooperativen Lernens (Webb, 1989, S. 35). Eine australische quantitative Studie von Stacey und Gooding (1998) im Pretest-Posttest-Design belegt ebenfalls den Zusammenhang zwischen dem Interaktionsgeschehen und der Fruchtbarkeit des Lernens und stellt fest: Je weniger die Kinder in der gemeinsamen Arbeitsphase miteinander interagieren, desto geringer ist der Lernzuwachs der jeweiligen Gruppenmitglieder (Stacey & Gooding, 1998, S. 199). Das Gelingen interaktiv-kooperativer Lernsituationen mit einer damit einhergehenden Anregung interaktiv-kooperativer Lernprozesse im Mathematikunterricht scheint also – neben der dargestellten Abhängigkeit von der methodischen Unterrichtsstrukturierung und der methodischen Anregung – abhängig von der Gruppenzusammensetzung und den damit in Zusammenhang stehenden (erfolgreichen) Interaktionsprozessen zu sein. Genau diese Interaktionsprozesse werden im Folgekapitel 2.1.3 in den Blick genommen. 2.1.3 Interaktionsprozesse im interaktiv-kooperativ strukturierten Mathematikunterricht Unter Bezugnahme auf Kapitel 2.1.1 bezeichnet Interaktion das wechselseitige, soziale, aufeinander Einwirken zweier oder mehrere Personen, was sowohl verbal als auch nonverbal geschehen kann. Wenn Kinder interagieren, kooperieren sie nicht zwangsläufig. Das ist nach dem hier vorliegenden Verständnis davon abhängig, ob die Kinder zielgerichtet und aufgabenbezogen interagieren. Wie sie nun im interaktiv-kooperativ strukturierten (Mathematik-)Unterricht miteinander interagieren und ggf. kooperieren, wurde in vielzähligen Studien mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen erforscht. An dieser Stelle werden einige Erkenntnisse dieser Forschungsarbeiten, die für die vorliegende Untersuchung relevant sind, zusammenfassend dargestellt. Hierbei werden primär – aber nicht ausschließlich – Forschungsarbeiten aus dem Mathematikunterricht angeführt. In der verbalen Interaktion getätigte Aussagen können unterschiedlich miteinander verknüpft sein, wobei eine starke inhaltliche und wechselseitige Verknüpfung der Aussagen (‚Exploratory Talk‘) zur Effektivität der Gruppenarbeit
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2 Interaktiv-kooperatives Lernen im inklusiven Mathematikunterricht
beiträgt: Littleton, Mercer, Dawes, Wegerif, Rowe und Sams (2005) untersuchten die inhaltliche Verknüpfung von Aussagen, die während der Kommunikation in Gruppenarbeitsphasen der Grundschule getätigt wurden. Ihr Unterrichtskonzept ‚Thinking Together‘ (Littleton et al., 2005, S. 171 ff.) unterstützt Kinder dabei, ihr Wissen und Verstehen gemeinsam zu entwickeln, mit dem Ziel eine effektive Gruppenarbeit zu fördern. Dabei liegt der Fokus sowohl auf der Entwicklung der Sprachproduktion (‚role of speaking‘) als auch auf der Sprachrezeption (‚role of listening‘) der Grundschulkinder im Alter zwischen fünf und sieben Jahren. Mit diesem soziokulturell orientierten Ansatz einhergehend unterscheiden Littleton et al. in ihrer Interventionsstudie während der Interaktion in Gruppenarbeitsphasen zwischen drei unterschiedlichen Strukturen inhaltlicher Verknüpfung: Mit ‚Disputational Talk‘ bezeichnen sie den Austausch gegensätzlicher Annahmen, ohne dass ein Kommunikationspartner auf den anderen inhaltlich eingeht. Hierbei ist die Interaktion charakterisiert durch gegensätzliche inhaltliche Sichtweisen und daraus resultierende unproduktive Uneinigkeiten und Diskussionen, wie beispielsweise die Auseinandersetzung darüber, wessen Idee als Gruppenlösung präsentiert werden soll (ebd., S. 168 ff.). ‚Cumulative Talk‘ meint die unreflektierte Übernahme von Annahmen einer an der Kommunikation beteiligten Person. Die Interaktion ist dabei beispielsweise charakterisiert durch inhaltliche Wiederholungen und Bestätigungen sowie durch die Akzeptanz von Ideen und Sichtweisen, ohne diese zu hinterfragen oder über diese zu diskutieren (ebd., S. 168 ff.). Zuletzt bezeichnet der ‚Exploratory Talk‘ die gemeinsame aktive Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Ideen und Sichtweisen. Dabei sind die Äußerungen immer inhaltsgebunden und die Interaktionen charakterisiert durch Vorschläge, alternative Vorschläge, Diskussionen verschiedener Ideen, Nachfragen und Begründungen. Durch diese inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Ziel einer Einigung kann der ‚Exploratory Talk‘ ein Fortschritt und eine Weiterentwicklung hervorbringen (ebd., S. 169 ff.), denn „[p]rogress thus emerges from joint acceptance of suggestions [… and] from the eventual joint agreement reached” (ebd., S. 169). Littleton und Kollegen schreiben daher diesem zuletzt genannten Typ der inhaltlichen und wechselseitigen Verknüpfung von Aussagen in der Interaktion eine besondere Lernförderlichkeit (‚educational value‘) zu, die sie in ihrer Untersuchung bestätigen. Sie zeigen nicht nur eine Verbesserung der inhaltlichen Partizipation einzelner Kinder in Gruppengesprächen auf, sondern weisen damit einhergehend eine verbesserte Effektivität der Gruppenarbeit nach, die – wie das nachstehende Zitat zusammenfasst – zum Lernen beiträgt (ebd.): „[T]he work [...] suggests that the social processes that shape learning are powerful in their effects. The harnessing of these processes to support children’s learning holds the key to enabling children to engage sociably and effectively with their classmates, to benefit from reasoned dialogue with
2.1 Interaktiv-kooperatives Lernen
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their teachers and peers, and ultimately, to understand themselves as the essential contributor to their own learning.” (Littleton et al., 2005, S. 181)
In der Interaktion auftretende ‚interaktive Schlüsselaktivitäten’ sind bedeutsam für erfolgreiches Mathematiklernen: Dekker und Elshout-Mohr (1998) erforschten ‚interaktive Schlüsselaktivitäten’ (‚key activities‘) in der mathematischen Interaktion von Sekundarstufenschülern und deren Rolle beim interaktivkooperativen Lösen von Aufgaben. Zu diesen Schlüsselaktivitäten zählen die Autoren das Zeigen, Erklären, Verteidigen und Rekonstruieren eigener Ideen (Dekker & Elshout-Mohr, 1998, S. 305). Sie unterscheiden diese Schlüsselaktivitäten von ‚interaktionsregulierenden Aktivitäten’ (‚regulating activities‘) wie das Fragen, das nur in der Interaktion mit anderen auftritt und das wiederum die interaktiven Schlüsselaktivitäten auf natürliche Art anregt (ebd., S. 306 f.). Folglich kann jeder Partner / jede Partnerin, die Gruppe oder die Lehrkraft als Coach durch interaktionsregulierende Aktivitäten die vier interaktiven Schlüsselaktivitäten stimulieren. Dekker und Elshout-Mohr heben diesbezüglich hervor, dass dieses in Arbeitsgruppen mit heterogenen Lösungszugängen häufiger und auf natürlichere Weise geschieht. Als dritte Art von Aktivität nennen sie die ‚mentalen Aktivitäten’ (‚mental activities‘), die sie wie folgt erklären (ebd., S. 308): “Mental activities involve those activities which ‘go along’ with the key activities. For instance, to show one’s work ‘includes’ the mental activity of becoming aware of one’s own work, and to explain one’s work means that one has to think about one’s own work. A prerequisite to reconstruct one’s work is to criticise one’s own work and that may happen internally too.” (Dekker & ElshoutMohr, 1998, S. 308)
In ihrer Untersuchung gehen Dekker und Elshout-Mohr in den Analysen primär der Frage nach, ob das Auftreten bestimmter Aktivitäten in der Interaktion zu einem besseren mathematischen Verständnis beiträgt („level raising process“; ebd., S. 308 ff.). Sie rekonstruierten zu diesem Zweck mit Hilfe eines Prozessmodells („process model“; ebd., S. 307) das Auftreten der Aktivitäten in der Interaktion von Schülerinnen und Schülern beim gemeinsamen Bearbeiten mathematischer Aufgaben und stellten in ihren Analysen fest, dass eine aktive Ausführung der interaktiven Schlüsselaktivitäten, die meist zirkulär aufeinanderfolgend stattfinden, bedeutsam für das Mathematiklernen ist (ebd., S. 308 f.). Zieht man nun zudem ihre Erkenntnis in Betracht, dass es in heterogenen Gruppen häufiger und auf natürlichere Art und Weise zur Stimulierung dieser Schlüsselaktivitäten kommt, lässt sich schlussfolgern, dass in einem heterogen geprägten inklusiven Mathematikunterricht das Potential der gegenseitigen produktiven Anregung voraussichtlich hoch ist. ‚Fehler‘ können sowohl auf mathematische Interaktionsprozesse als auch auf mathematische Lernprozesse positive Effekte haben: Götze (2014) und HäselWeide (2016a) untersuchen in zwei Studien mit unterschiedlichen Schwerpunk-
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2 Interaktiv-kooperatives Lernen im inklusiven Mathematikunterricht
ten die Interaktionen in Partner- und Gruppenarbeit im Mathematikunterricht der Grundschule sowie die damit zusammenhängenden mathematischen Lernprozesse. Götze (2014) fokussiert dabei auf die Analyse ko-konstruktiver Lerngespräche in Mathekonferenzen. Diese Methode ist so angelegt, dass sich die Kinder nach individueller Bearbeitung einer Aufgabe in Gruppen zusammenfinden, um diese gemeinsam zu besprechen und im Anschluss der Klasse zu präsentieren. In der Studie von Häsel-Weide (2016a) steht bezüglich der Interaktion u. a. die Frage im Fokus, wie Kinder Deutungen in der Interaktion mit anderen konstituieren und diese ausdifferenzieren bzw. verändern. Beide Forscherinnen fanden unabhängig voneinander heraus, dass ‚Fehler‘, die in der Interaktion von den Kindern geäußert werden, positive Effekte haben können, indem sie sich durch das sprechen über inhaltliche Fehler produktiv auf den weiteren Verlauf des mathematischen Interaktionsprozesses auswirken, diesen verdichten und so zu produktiven Lernprozessen führen können (Götze, 2014; Häsel-Weide, 2016a, 2017). Häsel-Weide nutzt daher in ihrer Studie auch den Ausdruck der „Produktivität der Fehler“ (Häsel-Weide, 2016a, S. 110) und stellt in einer späteren internationalen Veröffentlichung heraus, dass Fehler als Auslöser bzw. Trigger fungieren: „[M]istakes function as trigger for a productive interaction process. Therefore, it does not seem to matter whether a mistake was actually made or if this was only suspected. Of central importance is that the children do not agree in their interpretation – meaning, that there is dissent.” (Häsel-Weide, 2017, S. 7)
Es gibt weitere ‚lernprozessauslösende Gesprächsmerkmale’, die auf mathematische Interaktionsprozesse positive Effekte haben können: Neben der ‚Thematisierung von Fehlern‘ (s. o.) beschreibt Götze in ihrer Studie drei weitere typische Gesprächsmerkmale, die eine lernförderliche Interaktionsweise auslösen: ‚Kollaboratives Vervollständigen‘, ‚Interaktiver Einbezug in Erklärungen anderer‘ und ‚Paraphrasieren von Lösungswegen‘ (für weitere Ausführungen vgl. Götze, 2014, S. 105 ff.). Sie nennt diese vier Interaktionsweisen in der Gruppe auch „Lernprozessauslösende Gesprächsmerkmale“ oder „auslösende Momente“ (ebd., S. 105 ff.). „[F]indet ein solcher auslösender Moment statt, kann nicht zwangsläufig darauf geschlossen werden, wie das Gespräch unter den Kindern individuell weiterverläuft. Ihnen ist aber gemeinsam, dass sie zu einer ‚verdichteten Interaktion‘ [Krummheuer & Brandt 2001] führen“ (ebd., S. 105 ff.) und so den weiteren Interaktionsverlauf produktiv beeinflussen. Eine bereichernde mathematische Interaktion zwischen (stark) heterogenen Partnern in interaktiv-kooperativen Lernsituationen ist möglich und kann produktiv für alle Beteiligen verlaufen: Untersuchungen zum jahrgangsübergreifenden Lernen haben gezeigt, dass Kinder unterschiedlichen Alters – also mit unterschiedlichen Einschulungsjahrgängen und heterogenen Entwicklungsständen – anregend und produktiv über mathematische Fragestellungen kommunizieren
2.1 Interaktiv-kooperatives Lernen
57
können (Nührenbörger, 2009b, S. 168). Das gleiche gilt für Kinder mit Lernschwierigkeiten, wie Häsel-Weide (2016a) in der oben bereits angesprochenen Studie herausfand. Sie konnte zeigen, dass heterogene Paare – hier ein zählend rechendes Kind und ein nicht zählend rechnendes Kind – gemeinsam über mathematische Aufgaben kommunizieren können (Häsel-Weide, 2016a, S. 132) und überdies die Interaktion für alle Beteiligten bereichernd sein kann (HäselWeide, 2016c, S. 274 ff.). Sie hebt hervor: „Die Kinder zeigen sich als echte Partner in der Kooperation, indem sie auch Ideen entwickeln und Vorschläge machen und es keineswegs ausschließlich die leistungsstärkeren Kinder sind, die neue Deutungen einbringen“ (Häsel-Weide, 2016a, S. 132). Sämtliche in diesem Absatz angeführten Ergebnisse beziehen sich auf interaktiv-kooperative Lernsituationen, die durch eigens entwickelte Aufgaben gezielt angeregt und methodisch strukturiert wurden. Diese Befunde können mit der zuvor bereits erwähnten Studie von PeterKoop (2002) zum Lösen problemhaltiger mathematischer Sachaufgaben, in der sie leistungshomogene und leistungsheterogene Kleingruppen verglich, nicht untermauert werden. Sie beobachtete hingegen, dass Gruppenarbeitsphasen häufig von den leistungsstärkeren Kindern dominiert wurden, während sich leistungsschwächere Kinder kaum am Interaktionsgeschehen beteiligten (PeterKoop, 2002, S. 565). Insgesamt konnte in ihrer Studie allgemein nur in den wenigsten Gruppen die gewünschte wechselseitige Interaktion beobachtet werden; wenn dies der Fall war, dann nur unter den leistungsstärksten Kindern in den leistungsheterogenen Gruppen (ebd., S. 565). Der Frage, wie man eine produktive Interaktion anregen kann, an der sich alle beteiligen können, und welche Rolle die Aufgabenstellung in diesem Zusammenhang spielt, geht PeterKoop nicht nach. Zudem ist zu bedenken, dass sie Gruppeninteraktionen untersuchte, was an die beteiligten Kinder einen höheren sozialen und kommunikativen Anspruch stellt als die Interaktion mit einem heterogenen Partner, die Häsel-Weide (2016a) und Nührenbörger (2009b) erforschten. Götze (2014) belegte zwar positive Effekte in der Gruppeninteraktion, fokussierte dabei allerdings nicht explizit auf stark heterogene Gruppenzusammensetzungen. In der Interaktion von Grundschulkindern können soziale Regelmäßigkeiten ausgemacht werden: Naujok (2000) untersuchte in ihrer Studie die Kooperation von Grundschulkindern im Rahmen von Wochenplanunterricht und analysierte Unterrichtsausschnitte mit dem Ziel, Kooperationsprozesse zu rekonstruieren. Dieses geschieht vor dem Hintergrund der Auffassung, dass mit Kooperation jedes aufgabenbezogene Handeln gemeint ist. In ihrer Studie identifizierte Naujok sieben Kooperationshandlungen: ‚Erklären‘, ‚Vorsagen‘, ‚Abgucken‘, ‚Vergleichen‘, ‚zur Verfügung stellen von Material‘, ‚Erfragen‘ und ‚Metakooperieren‘ (Naujok, 2000, S. 164 ff.). Diese erlaubten ihr, gemeinsam mit weiteren Kriterien zur Beschreibung des Kooperationsgeschehens (u. a. Themenfokussie-
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2 Interaktiv-kooperatives Lernen im inklusiven Mathematikunterricht
rung, Explizität des Kooperierens, aufgabenbezogene Beziehungsstruktur, Autonomie und Lernförderlichkeit, Intensität; ebd., S. 154 ff.), drei Kooperationstypen voneinander zu unterscheiden: ‚Nebeneinanderher-Arbeiten’, ‚Helfen’ und ‚Kollaborieren’ (ebd., S. 171 ff.). Diese drei Typen beschreiben Regelmäßigkeiten sowie die soziale Struktur in der Interaktion und „werden in engem Zusammenhang mit den identifizierten Handlungen gesehen. Die einzelnen Handlungen scheinen teilweise für bestimmte Typen geradezu prädestiniert zu sein, andere kommen in verschiedenen Sparten vor“ (ebd., S. 174 ff.). Beim ‚Nebeneinanderher-Arbeiten’ findet lediglich ein Austausch von Informationen statt und es gibt keine oder kaum inhaltsgebundene verbale Aushandlungen zwischen den Interaktionspartnern. Der Kooperationstyp ‚Helfen’ zeichnet sich durch Erläuterung, Erklärung, Mitteilung von Wissen und Fakten aus. Hierbei gibt es eine gemeinsame Fokussierung auf die Aufgabe des Lernschwächeren. Beim ‚Kollaborieren‘ kommt es zu Aushandlungen mathematischer Ideen. Hierbei beziehen sich die Interaktionspartner aufeinander, wodurch es zu tieferen Argumentationen kommt (ebd., S. 174 ff.). Die angeführte Tabelle von Naujok (2000, S.174) bietet einen Überblick und fasst einige Eigenschaften und Indikatoren der einzelnen Kooperationstypen zusammen. Tabelle 2.1: Kooperationstypen in der Interaktion von Grundschulkindern nach Naujok (2000, S. 174; inhaltlich unverändert nachgebaut von Korten)
Intensität der Interaktion gering
Aufgabenbezogene Beziehungsstruktur unbedeutend entwickelt/ irrelevant
Helfen
stark
asymmetrisch
Kollaborieren
stark
symmetrisch
NebeneinanderherArbeiten
A/B: : A’/B’: ≈/=:
Themenfokussierung potenziell differierend: A A’ B B’ übereinstimmend: A+B A’ übereinstimmend: A+B A’≈/=B’
InteraktantInnen fokussiert auf Aufgabe bzw. Vorankommen der jeweiligen InteraktantInnen sind etwa gleich
Diese Tabelle wird u. a. als Grundlage für die interaktionistisch orientierte Analyse der vorliegenden Untersuchung genutzt und in Kapitel 7 noch einmal aufgegriffen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Generierung dieser Kooperationstypen vor dem Hintergrund der Auffassung stattgefunden hat, dass Kooperation jedes aufgabenbezogene Handeln einschließt. Diese Begriffsdefinition grenzt sich von dem Kooperationsverständnis dieser Arbeit (vgl. Kap. 2.1.1) ab, was zur Folge hat, dass die Kooperationstypen sowie deren Eigenschaften und Indikatoren für die vorliegende Arbeit adaptiert werden (vgl. Kap. 7.2.2).
2.1 Interaktiv-kooperatives Lernen
59
Regelmäßige Kooperationsmuster, angeregt durch geeignete Aufgaben, belegen, dass interaktiv-kooperatives Mathematiklernen nicht von außen inszeniert werden muss, sondern sich aus der Sache und aus der Notwendigkeit der Zusammenarbeit heraus entwickeln kann: Röhr (1995) hat im Gegensatz zu Naujok ein anderes Verständnis von Kooperation und kooperativem Lernen, das eher der vorliegenden Arbeit entspricht (vgl. Kap. 2.1.1). Sie legt ihrer Studie das Verständnis vom „kooperativen Lernen aus der Sache heraus“ (Röhr, 1995, S. 75) zugrunde und entwickelt erprobte Lernumgebungen, die genau dieses im Mathematikunterricht anregen sollen. Sie nimmt also eine fachdidaktische Perspektive ein und ist daran interessiert, dass sich die Motivation zur Kooperation aus der Sache und dem Fachinhalt sowie aus der Notwendigkeit zur Kooperation heraus ergibt (ebd., S. 74). Sie grenzt sich damit von anderen Konzepten zum kooperativen Lernen ab, in denen es zum Teil darum geht, die Kinder zunächst kooperative Fähigkeiten zu lehren. In ihrer Studie zum kooperativen Lernen von Grundschulkindern konnte Röhr (1995) u. a. belegen, dass innerhalb der Interaktion in Kleingruppen bestimmte Gesprächsmuster als Indiz für kooperatives Arbeiten zu erkennen sind: Kooperationsmuster 1: Vorschläge der Kinder für gemeinsames Vorgehen - von sich aus - aufbauend auf Gedanken und Fragen eines Mitschülers Kooperationsmuster 2: Gemeinsame Entwicklung von Lösungsideen - anknüpfend an Anregungen eines Kooperationspartners - als Reaktion auf Fehler der Mitschüler Kooperationsmuster 3: Argumentatives Vorgehen der Kinder - als Reaktion auf Fragen der Mitschüler oder wenn es zum Verständnis erforderlich erscheint - spontan und zur Erklärung eigener Beiträge - nach der Feststellung eines Fehlers / einer Gegenthese (ebd., S. 255 ff.). Als Fazit dieser beobachteten Gesprächsmuster und als Ergebnis der Erprobung ihrer Lernumgebung zur Anregung kooperativen Lernens hält Röhr fest: „Kooperatives Lernen muss nicht von außen inszeniert, sondern kann von der Sache her durch geeignete Aufgaben entwickelt werden. Die spontanen Fähigkeiten der Kinder zur selbstgesteuerten Kooperation und die dabei erbrachten Leistungen erweisen sich als beachtlich.“ (Röhr, 1995, S. 258)
Wenn die Autorin von äußerer Inszenierung spricht, sind das vorherige Einüben kooperativer Methoden sowie das Lehren kooperativer Fähigkeiten gemeint. Als weitere Ergebnisse dieser Studie konnte Röhr festhalten, dass sich nicht alle Aufgaben zur Anregung mathematisch kooperativen Lernens eignen und dass die Lehrperson eine veränderte Rolle einnehmen muss, damit Kooperation ge-
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2 Interaktiv-kooperatives Lernen im inklusiven Mathematikunterricht
lingen kann (Röhr, 1995). Auf diese beiden Aspekte wird im folgenden Kapitel 2.2 zur Anregung interaktiv-kooperativen Lernens eingegangen. Ob das von ihr angeregte interaktiv-kooperative Arbeiten tatsächlich zu besseren Lernergebnissen führt, nimmt Röhr in ihrer Studie nicht in den Blick. Auch allgemein betrachtet wird deutlich, dass nur eine geringe Anzahl von Studien den Zusammenhang zwischen mathematischen Interaktions- und Lernprozessen betrachten. Einige Untersuchungen belegen zwar, dass eine Wechselbeziehung existiert (u. a. Götze, 2014 und Häsel-Weide, 2016a; s. o.), aber erklären und betrachten diese nicht oder nur ansatzweise. Der Schwerpunkt der meisten Studien liegt auf der Beschreibung der sozialen Interaktions- und Kommunikationsprozesse im Mathematikunterricht. Daher bedarf es weiterer Forschungsprojekte, die die Interaktionsprozesse und die Entwicklung des individuellen mathematischen Wissens der Kinder zusammenhängend in den Blick nehmen. Genau dies geschieht im Rahmen der vorliegenden Studie im Kontext eines inklusiven Mathematikunterrichtes. Zusammenfassung und Konklusion des Kapitels 2.1 für die vorliegende Arbeit: Auf Grundlage der begrifflichen Einordnung sowie der beschriebenen Forschungsergebnisse zum interaktiv-kooperativen Lernen und zu Interaktionsprozessen zwischen Kindern im interaktiv-kooperativ strukturierten (Mathematik-)Unterricht, können folgende zentrale Aspekte abgeleitet werden: Im Sinne einer interaktiv-kooperativen Unterrichtsstruktur muss das LehrLern-Arrangement Lernprozesse im Wechsel von individuellen und gemeinsamen Phasen ermöglichen (Kap. 2.1.1). Wird hier vom interaktiv-kooperativen Lernen gesprochen, wird stets das Verständnis von interaktiv-kooperativem Lernen als gemeinsamer Lernaktivität zugrunde gelegt. Das bedeutet, - dass die Kinder sich gemeinsam mit einer reichhaltigen Aufgabe auseinandersetzen und dabei möglichst aufgabenbezogen interagieren, - dass sie dabei durch Interaktionshandlungen möglichst häufig aufeinander Bezug nehmen, indem sie u. a. eigene Ideen und Entdeckungen äußern und erklären, Fragen stellen, sich gegenseitig helfen, begründen sowie Ideen anderer hinterfragen und ggf. weiterentwickeln, - dass die wechselseitige Beziehungsstruktur in der Interaktion so weit wie möglich symmetrisch ist und unter einer gemeinsamen Zielsetzung stattfindet (Kap. 2.1.1).
2.1 Interaktiv-kooperatives Lernen
61
Ziel dabei ist es, dass bei allen13 Beteiligten ein individueller Lernprozess stattfindet. Wird dieser in der Interaktion angeregt, wird von interaktivkooperativen Lernprozessen gesprochen (Kap. 2.1.1). Die dargelegten Forschungsergebnisse legen die Berücksichtigung folgender Aspekte für die Entwicklung des Lehr-Lern-Arrangements nahe: - Das interaktiv-kooperative Lernen sollte methodisch strukturiert sein, um positive Effekte bezüglich der Lernprozesse, des Sozialverhaltens und des Selbstkonzeptes aller Beteiligten zu ermöglichen. - Die methodische Strukturierung sollte transparent sein, um besonders lernschwachen Kindern Orientierung zu geben. - Eine Phase der individuellen Auseinandersetzung mit dem Lerngegenstand, bevor die Kinder in Interaktion treten, ermöglicht einen ersten Zugang auf der Basis individueller Lernvoraussetzungen, was wiederum bedeutsam für eine mathematisch reichhaltige Interaktion ist, die sich positiv auf mathematische Lernleistungen auswirken kann. - Die Anregung einer regen aufgabenbezogenen Interaktion in interaktivkooperativen Lernsituationen kann einen entscheidenden Beitrag zur Fruchtbarkeit des Lernens leisten. - Der Einsatz geeigneter methodisch strukturierter Lernformen kann dazu beitragen, dass sich alle mit ihren individuellen Gedanken einbringen und an der Interaktion mit einem Partner beteiligen. - Das Gelingen interaktiv-kooperativer Lernsituationen kann von der Gruppenzusammensetzung beeinflusst werden, die im Zusammenhang mit dem Gelingen der Interaktionsprozesse steht. - Empirisch belegte Merkmale wie z. B. direkte Interaktion, individuelle Verantwortlichkeit und positive Abhängigkeit können zum erfolgreichen interaktiv-kooperativen Lernen beitragen. (Kap. 2.1.2) Andere Forschungsarbeiten belegen, dass die Rolle der Lehrkraft im Unterricht essenziell ist und nicht z. B. durch Peers in ‚subsidiären Lernsituationen’ ersetzt werden kann (Kap. 2.1.2). Die dargelegten Forschungsergebnisse legen die Beachtung folgender Aspekte bei der Analyse von Interaktionsprozessen von Kindern nahe: - Wie sind die in der verbalen Interaktion getätigten Aussagen miteinander verknüpft und wie gehen sie aufeinander ein (‚Disputational Talk‘, ‚Cumulative Talk‘, ‚Exploratory Talk‘)? 13 Wenn im Zusammenhang dieser Arbeit von allen, allen Beteiligten oder allen Kindern die Rede ist, schließt dies Kinder mit und ohne sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf ein.
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Lassen sich in den verbalen Interaktionshandlungen ‚interaktive Schlüsselaktivitäten’ beobachten, die bedeutsam für erfolgreiches Mathematiklernen sein können? Oder kommt es zu produktiven ‚interaktionsregulierenden Aktivitäten’? Sind Fehler in der (non)verbalen Interaktion auszumachen, die sowohl positiv auf mathematische Interaktionsprozesse als auch auf mathematische Lernprozesse wirken können? Sind lernprozessauslösende Gesprächsmerkmale zu beobachten, die mathematische Interaktionsprozesse produktiv verdichten (‚Thematisierung von Fehlern’ ‚kollaboratives Vervollständigen’, ‚interaktiver Einbezug in Erklärungen anderer’ und ‚Paraphrasieren von Lösungswegen’)? Naujoks Kooperationshandlungen und Kooperationstypen sowie Röhrs Kooperationsmuster können ebenso zur Strukturierung und Analyse der beobachteten Interaktionsprozesse beitragen. (Kap. 2.1.3)
Forschungsarbeiten zeigen, dass eine bereichernde mathematische Interaktion zwischen (stark) heterogenen Partnern in interaktiv-kooperativen Lernsituationen generell möglich ist und produktiv für alle Beteiligten verlaufen kann (Kap. 2.1.3). Weitere Befunde belegen, dass erfolgreiches interaktiv-kooperatives Mathematiklernen nicht von außen inszeniert werden muss, sondern sich von der Sache und aus der Notwendigkeit der Zusammenarbeit heraus, angeregt durch geeignete Aufgaben, entwickeln kann (Kap. 2.1.3).
2.2
Interaktiv-kooperatives Lernen anregen
Die Anregung interaktiv-kooperativen Lernens im Unterricht und die damit zusammenhängenden (mathematik-)didaktischen Überlegungen werden durch die bisher beschriebenen allgemeinen begrifflichen Annahmen sowie die dargelegten Forschungsergebnisse maßgeblich beeinflusst. Geht man infolgedessen davon aus, dass die Interaktion zwischen (stark) heterogenen Partnern generell mathematisch bereichernd und produktiv für alle Beteiligten verlaufen kann, diese produktiven Interaktionsprozesse und der dadurch angeregte Lernzuwachs aber maßgeblich von dem gezielten und transparenten Einsatz geeigneter strukturierter Lernaktivitäten abhängt (vgl. Kap. 2.1), stellt sich für dieses Kapitel 2.2 die übergeordnete Frage, wie genau diese erfolgreiche Anregung im inklusiven Mathematikunterricht gelingen kann. Wie die Eingangsszene aus Kapitel 1 nämlich zeigt, tragen vermeintlich gute Rahmenbedingungen einhergehend mit einem gezielten und transparenten Einsatz eines interaktiv-kooperativen Aufgabenformats nicht zwangsläufig dazu bei, dass die Kommunikation unter den heterogenen Kindern im inklusiven Mathematikunterricht produktiv angeregt wird. Und selbst wenn Kinder in eine
2.2 Interaktiv-kooperatives Lernen anregen
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aufgabenbezogene Interaktion über mathematische Inhalte treten, bedeutet das nicht zwingend, dass sie ihre Äußerungen reflexiv aufeinander beziehen und dass die Interaktion produktiv verläuft. Dieses Problem wirft wiederum zwei weitere Fragen auf: Welche erfolgreichen und empirisch fundierten Anregungsmöglichkeiten gibt es und inwiefern müssen diese für den inklusiven Mathematikunterricht angepasst werden, um die erhöhte Heterogenitätsspanne und die Besonderheit der Kinder mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf ‚Lernen’ zu berücksichtigen? Um diesen Fragen nachzugehen, geht es hier zunächst darum, welche grundlegenden Erkenntnisse und Ansätze zur Anregung erfolgreichen 14 interaktivkooperativen Lernens aus Sicht der allgemeinen Mathematikdidaktik (Kap. 2.2.1) und der Sonderpädagogik des Lernens (Kap. 2.2.2) bereits existieren, um eine theoretisch fundierte Grundlage für das Lehr-Lern-Arrangement zu schaffen. Dieses soll interaktiv-kooperatives Lernen mit dem Ziel anregen, dass alle Lernenden bei der gemeinsamen Arbeit inhaltlich voneinander profitieren und individuell-zieldifferente mathematische Lernprozesse stattfinden. Genau diese beiden Kernaspekte eines inklusiven Mathematikunterrichtes – interaktivkooperatives und gleichzeitig individuell-zieldifferentes Lernen – werden abschließend im Zusammenhang betrachtet (Kap. 2.2.3). Wie diese Überlegungen konkret im Lehr-Lern-Arrangement umgesetzt werden, wird in Teil B (Unterrichtsdesignentwicklung, Kap. 5 und 6) der vorliegenden Arbeit thematisiert. 2.2.1 Anregung interaktiv-kooperativen Lernens aus Sicht der Mathematikdidaktik Aus den dargestellten Forschungsergebnissen lässt sich ableiten, dass eine Lernaktivität, die Interaktion methodisch strukturiert, Transparenz schafft und es allen Beteiligten ermöglicht, sich mit ihren individuellen Gedanken in die Zusammenarbeit einzubringen, den Mittelpunkt einer Anregung interaktivkooperativen Lernens zu bilden hat. Anknüpfend an die hier vorliegende Definition vom interaktiv-kooperativen Lernen im Sinne einer gemeinsamen Lernaktivität geht es an dieser Stelle nicht um die Diskussion einzelner geeigneter Methoden, sondern vielmehr um Eigenschaften und Merkmale von Aufgaben und Lehr-Lern-Arrangements, die eine Interaktion, die für alle Beteiligten lernförderlich sein kann, erfolgreich anregen. Dabei müssen die „Formen sozialen Lernens und fachmathematischer Lernprozesse sinnvoll aufeinander bezogen werden, um intensive fachliche Verständigungsprozesse zu ermöglichen“ (Brandt & Nührenbörger, 2009b, S. 2). 14 Synonym werden auch die Wörter gelingend, fruchtbar und lernförderlich genutzt. Gemeint ist damit, dass eine aufgabenbezogene Interaktion stattfindet, von der alle Beteiligten profitieren und in der individuell-zieldifferente mathematische Lernprozesse angeregt werden.
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2 Interaktiv-kooperatives Lernen im inklusiven Mathematikunterricht
Eine Grundvoraussetzung interaktiv-kooperativen Lernens ist, dass Kinder ins Gespräch über Mathematik kommen. Ihnen die Möglichkeit zu gegeben, „eigene Ideen zu entwickeln und über diese in den Austausch zu treten, um somit gemeinsame, an der Mathematik orientierte, Gespräche zu initiieren, die nicht alleine durch die Perspektive der Lehrkraft geprägt sind“ (Brandt & Nührenbörger, 2009a, S. 29), ist dafür wesentlich. Zentral für die Anregung mathematischer Gespräche sind nach Brandt und Nührenbörger die drei Aspekte: „diskursive Aufgabenformate“, „strukturierte Kooperationsformen“ und „struktur-fokussierende Anregungen“ (ebd., S. 29). Diese drei praxisorientierten Grundannahmen werden im Folgenden beleuchtet und durch empirische Erkenntnisse ergänzt und fundiert. Diskursive/kooperationsfördernde Aufgabenformate Diskursive Aufgabenformate lassen durch ihre komplexe Struktur – d. h. die Verknüpfung verschiedener zentraler mathematischer Inhalte und Prozesse – heterogene Zugänge und Lösungswege auf unterschiedlichen Niveaus zu. Zudem fordern sie zur Interaktion und zur Auseinandersetzung mit den Gedanken anderer Kinder heraus. Sie bieten aufgrund ihrer strukturellen Beziehungen Anschlussmöglichkeiten zum Weiterdenken und sind übertragbar auf verschiedene Darstellungen (Brandt & Nührenbörger, 2009a, S. 29, 2009b, S. 2). Brandts und Nührenbörgers Definition diskursiver Aufgabenformate ist sinngleich mit Röhrs Verständnis von kooperationsfördernden Aufgaben (Röhr, 1995). Sie generierte in ihrer Studie nicht nur Kooperationsmuster (vgl. dazu Kap. 2.1.3), sondern stellte ebenso die fachdidaktische Analyse der mathematischen Lernumgebungen in den Mittelpunkt, durch die sie die Kooperation anregte. Dabei grenzte sie sich ganz bewusst von pädagogischen Konzeptionen ab, die die Kooperation erst ‚beibringen‘ oder in erster Linie durch extrinsische Motivation, wie Gruppenbelohnungen, anzuregen versuchen (z. B. Green & Green, 2005; Johnson et al., 1994). Röhr hingegen versuchte, die Interaktion von den Fachinhalten aus zu steuern und intrinsische Motivation für einen Austausch aus der Sacher heraus zu schaffen. Durch klinische Unterrichtsversuche konnte sie empirisch nachweisen, dass geeignete Unterrichtsangebote die kooperative Selbststeuerung von Gruppen anregen und aufrechterhalten kann. Sie arbeitete in dem Zusammenhang fünf Kriterien kooperationsfördernder Aufgaben heraus:
2.2 Interaktiv-kooperatives Lernen anregen
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Fünf Kriterien kooperationsfördernder Aufgaben „Die Aufgabe soll beziehungsreich sein. Die Aufgabe soll aktiv-entdeckendes Lernen und mehrere Lösungswege ermöglichen. Die Aufgabe soll komplex sein. Es sollen Lösungsbeiträge auf verschiedenen Niveaus und der Einsatz unterschiedlicher Fertigkeiten und Fähigkeiten möglich sein. Die Lösung der Aufgabe wird durch die Zusammenarbeit mehrerer Schüler erleichtert.“ (Röhr, 1995, S. 57) In diesen empirisch belegten interaktions- und kooperationsfördernden Kriterien sind Überschneidungen zu den diskursiven Aufgabenformaten auszumachen (Brandt & Nührenbörger, 2009a, S. 29, 2009b, S. 2), denn alle zitierten Autoren betonen, dass „eine bestimmte Sicht des FACHs Mathematik erforderlich [ist]. Mathematik muß als ein beziehungsreiches Feld von Aktivitäten gesehen werden, die sich in unterschiedlichen sozialen Kontexten auf unterschiedlichen Niveaus mit je eigenen Ausdrucksmitteln entwickeln können.“ (Röhr, 1995, S. 257)
In der selben Studie setzt sich Röhr mit ‚Lenkungstypen’ kooperationsfördernder Aufgaben auseinander, die sich durch den unterschiedlichen Grad der Lenkung, durch die Aufgabe an sich, durch die Schüler und durch die Lehrkraft unterscheiden (Röhr, 1995, S. 78 ff.): Typ 1) Lenkung gleichermaßen durch die Lehrkraft, die Aufgabe und die Kinder Typ 2) Lenkung vorrangig durch die Aufgabe und die Kinder Typ 3) Lenkung vorrangig durch die Kinder Die Nennung der Lenkungstypen soll an dieser Stelle den Einfluss der Lehrkraft verdeutlichen, den sie nicht nur durch direkte struktur-fokussierende Anregungen (s. u.) während des Unterrichtsgeschehens hat, sondern durch den sie ebenso in der gezielten Planung indirekt lenken kann. Beispielsweise durch die Auswahl der kooperationsfördernden Aufgabe unter Berücksichtigung der ‚Lenkungstypen’. Typ 1) Lenkung gleichermaßen durch die Lehrkraft, die Aufgabe und die Kinder: Zu den Aufgaben dieses Lenkungstyps zählen Lernaktivitäten, bei denen die Kinder phasenweise arbeitsteilig arbeiten. Sie können dabei die Erfahrung machen, dass Zusammenarbeit sinnvoll ist, da durch das anschließende Zusammenfügen der Ergebnisse neue mathematische Strukturen und Muster sichtbar
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werden, die sie selbst in ihrer Arbeit vielleicht noch nicht entdecken konnten. Hierzu „gehören vorrangig Aufgaben, die wegen des großen Umfangs der zu berechnenden oder auszuwertenden Daten nicht von jedem Kind einzeln bearbeitet werden können“ (ebd., S. 80). Nach einer Arbeitsphase in Einzel-, Partner- oder Gruppenarbeit werden die Ergebnisse im Klassenverband zusammengetragen. „Anhand der Gesamtheit der Ergebnisse können die Kinder Lösungswege diskutieren, Muster und Strukturen entdecken und versuchen, die Strukturen zu begründen“ (ebd., S. 80). Die Ausführungen verdeutlichen, dass u. a. die Aufgabe die Kooperation beeinflusst. Sie regt arbeitsteiliges Arbeiten an und ihre mathematische Struktur ermöglicht, dass bei der Sammlung der Ergebnisse (weitere) Muster und Strukturen sichtbarer werden, was wiederum Möglichkeiten für neue Entdeckungen, Diskussionen und Kooperationen bietet. Bei diesem Typ ist die Lenkung der Kooperation durch die Kinder weniger ausgeprägt als bei den anderen beiden Typen. Sie ist jedoch nicht unbedeutend. „Denn der Lehrer soll nur die Arbeit der Kinder anregen, keinesfalls [...] stark belehrend eingreifen“ (ebd., S. 80). Die Kinder müssen demgemäß den Kooperationsprozess im gewissen Umfang selbst in die Hand nehmen, um erfolgreich kooperieren zu können. Trotzdem kommt bei dieser Lenkung des kooperativen Arbeitens der Lehrkraft eine bedeutende Rolle zu. Sie greift lenkend ein, indem sie zur Sammlung und näheren Auseinandersetzung mit den Ergebnissen anregt sowie Äußerungen der Kinder strukturiert, gliedert und zueinander in Beziehung setzt, falls nötig. Die Lehrkraft „trägt so entscheidend dazu bei, daß die Kinder Kooperation als etwas Sinnvolles und Interessantes erfahren können“ (ebd., S. 80). Röhr bezieht diese Ausführungen bezüglich der Lehrkraft auf den Unterricht im Klassenverband, denn nach ihrer Definition des Lenkungstyps 1 findet die Sammlung der Ergebnisse im Unterrichtsgespräch, also im Klassenverband, statt. Typ 2) Lenkung vorrangig durch die Aufgabe und die Kinder: Bei Typ 2 wird die Entstehung kooperativen Arbeitens wesentlich durch die Aufgabe beeinflusst, indem das Lösen der Aufgabe kooperatives Arbeiten erfordert und die Kinder aus der Notwendigkeit der Aufgabenstellung heraus kooperieren. Folglich wächst daraus auch der lenkende Einfluss der Kinder. „Kooperatives Lernen findet dann statt, wenn die Aufgabe geeignet ist und die Kinder intrinsisch motiviert sind, sich kooperativ mit der Aufgabe zu befassen“ (ebd., S. 81). Folglich kommt bei der Lenkung des interaktiv-kooperativen Arbeitens der Lehrkraft eine unbedeutendere Rolle zu, da sie sich in Lösungs- und Diskussionsprozesse möglichst nicht einmischt, sondern lediglich Aufgaben erklärt sowie bei Fragen und Problemen helfend zur Seite steht. Das Eingangsbeispiel aus Kapitel 1 kann diesem Lenkungstyp zugeordnet werden. Die Aufgabe fordert von den Kindern interaktiv-kooperatives Arbeiten
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und macht dieses durch die Balance zwischen inhaltlicher Struktur und Offenheit generell möglich. Was fehlt, ist die intrinsische Motivation der Kinder, sich interaktiv mit der Aufgabe zu befassen. An dieser Stelle greift die Lehrkraft helfend ein und versucht, die Konzentration auf das gemeinsame Arbeiten zu lenken. Typ 3) Lenkung vorrangig durch die Kinder: Nach Röhr liegt Lenkungstyp 3 dann vor, wenn die Aufgabenstellung offen und umfangreich ist, zum Beispiel bei komplexen Forscheraufträgen oder projektorientierten Arbeiten. Zur Art des Vorgehens und der Kooperation erhalten die Kinder durch die Aufgabe kaum Hinweise und sind daher auf ihre eigenen Vorerfahrungen und ihre eigene Kreativität angewiesen. Dieser Typ setzt also kooperative Fähigkeiten und positive Erfahrungen beim interaktiv-kooperativen Lernen voraus, um die Kooperation als Möglichkeiten des produktiven und effizienten Arbeitens nutzen zu können (ebd., S. 81). Eine trennscharfe Zuordnung der Aufgaben und des daraus erwachsenen LehrLern-Arrangements ist bezüglich der Lenkungstypen nach Röhr jedoch nicht möglich. Sie spricht vielmehr von fließenden Übergängen sowie schwerpunktmäßigen oder etappenweisen Zuordnungen (ebd., S. 79). Strukturierte Kooperationsformen Diskursive Aufgabenformate (oder kooperationsfördernde Aufgaben) sind nach Brandt & Nührenbörger einzubinden in methodisch strukturierte Kooperationsformen, die alle Kinder herausfordern, sich verbal und intensiv mit der Aufgabe und den Ideen anderer auseinanderzusetzen. Dabei steht die Struktur der Kooperationsform in Beziehung zu den beabsichtigten Kooperationsprozessen, in denen individuelle Ideen oder Lösungen verhandelt werden, Ideen oder Lösungen gemeinsam produziert werden, oder individuelle (Teil-)Lösungen und Ideen zu einer komplexeren Idee oder Gesamtlösung zusammengeführt werden (Brandt & Nührenbörger, 2009a, S. 29, 2009b, S. 3). In Röhrs Untersuchung wird deutlich, dass eine kooperationsfördernde Aufgabe der wichtigste Bestandteil des daraus erwachsenen Lehr-Lern-Arrangements ist. Wie diese in einem Lehr-Lern-Arrangement konkret methodisch strukturiert und angereichert werden kann, beforscht sie nicht. Brandt und Nührenbörger legen jedoch nahe, dass die Entscheidung über eine geeignete methodische Zusammenarbeit bedeutsam ist (Brandt & Nührenbörger, 2009a, S. 29, 2009b, S. 3). Gestützt wird diese Annahme durch die Erkenntnis infolge der Darlegungen aus
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2 Interaktiv-kooperatives Lernen im inklusiven Mathematikunterricht
Kap. 2.1.2, dass eine gezielt methodisch strukturierte und transparente Anregung interaktiv-kooperativen Lernens zum Gelingen beiträgt. Ebenso wurde bereits im Kapitel 2.1.2 hervorgehoben, dass sich interaktivkooperative Lernmethoden durch folgende empirisch belegte erfolgsversprechende Merkmale auszeichnen: Individuelle Verantwortlichkeit für sich und für die Gruppe, positive Abhängigkeit oder positive Interdependenz15, direkte Interaktion, soziale Kompetenz und Prozessevaluation (Bochmann & Kirchmann, 2006, S. 30 ff.; Green & Green, 2005, S. 28). Green und Green nennen diese Merkmale auch Basiselemente. Bei der Betrachtung dieser Befunde ist zu bedenken, dass sie im Rahmen umfassender Konzeptionen ‚Kooperativen Lernens’ (u. a. Green & Green, 2005) herausgearbeitet wurden und daher im Folgenden vor dem Hintergrund der hier vorliegenden Arbeit interpretiert und angepasst werden. Die direkte Interaktion – also die räumliche Nähe und das Kommunizieren von Angesicht zu Angesicht – wird nach der vorliegenden Definition interaktivkooperativen Lernens vorausgesetzt und daher an dieser Stelle nicht genauer beleuchtet. Dies trifft ebenso auf das Erlernen und Anwenden sozialer Kompetenzen sowie auf die Prozessevaluation hinsichtlich der Interaktions- und Lernprozesse zu. Beide Faktoren haben zwar unfraglich einen bedeutenden Einfluss auf die Anregung und Förderung gemeinsamen Arbeitens, können aber aus Kapazitätsgründen in der vorliegenden Arbeit nicht genauer untersucht werden. Einige Aspekte bezüglich der individuellen Verantwortlichkeit und der positiven Interdependenz spielen jedoch hinsichtlich der methodischen Anregung bei der Entwicklung des Lehr-Lern-Arrangements in der vorliegenden Arbeit eine zentrale Rolle. Darauf weist die Studie von Gilies und Ashman (2000; zitiert in Souvignier, 2007, S. 142) zur Verbesserung der Interaktion in Kleingruppen hin. Diese belegt, dass Grundschulkinder mit Lernschwierigkeiten dann besser miteinander kooperieren, wenn zuvor Transparenz zur Strukturierung der Gruppenarbeit geschaffen wurde. Diese kooperationsfördernde Strukturierung wird ebenfalls durch Aufgabenteilung und gemeinsame Verantwortungsübernahme erreicht (vgl. Kap. 2.1.2). Folglich scheinen beide Aspekte bedeutsam für die erfolgreiche Anregung interaktiv-kooperativen Lernens zu sein. Individuelle Verantwortlichkeit für sich und für die Gruppe zu übernehmen, beinhaltet, dass die einzelnen Beteiligten erfahren, dass man zugleich für das eigene Lernen sowie für das Erreichen des Zieles der Gruppe verantwortlich ist. Das schließt u. a. ein, dass jeder sein Bestes gibt und alle Kinder bestärkt werden, individuelle Ideen und Erfolge zu demonstrieren. Einige Konzeptionen gehen so weit, dass die Beiträge einzelner Mitglieder regelmäßig bewertet werden bzw. jedes Gruppenmitglied in der Lage sein muss, das Gruppenergebnis vorzustellen (u. a. 15 In der Literatur werden beide Begriffe verwendet. Im Folgenden wird hier der Begriff der ‚positiven Interdependenz’ genutzt, denn er hebt die gegenseitige Abhängigkeit stärker hervor.
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Green & Green, 2005; Johnson et al., 1994). Das übt einen gewissen Druck aus, der an unterschiedlichen Stellen in der Forschungslandschaft – besonders mit Blick auf lernschwache Kinder oder Kinder mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf – kritisiert wird: „Dieser Gruppendruck kann [...] auch negative Folgen haben. Vermutlich wird er insbesondere in den Fällen, in denen extrinsische Motivation eine Rolle spielt und in denen die Gruppe für die individuellen Leistungen der Gruppenmitglieder belohnt werden [(Johnson et al., 1994)], dazu führen, daß leistungsschwächere Schüler, deren gutes Abschneiden für den Erfolg der Gruppe wichtig ist, so stark unter Druck gesetzt werden, daß sich die Leistungen aus dem Grund eher verschlechtern als verbessern.“ (Röhr, 1995, S. 18)
Durch die positive Interdependenz fühlen sich alle Gruppenmitglieder in der Erreichung eines Gruppenziels miteinander verbunden. „Gute Teams sind charakterisiert durch gemeinsame Ziele und eine positive Abhängigkeit untereinander, die darin resultiert, dass die Mitglieder zusammenarbeiten, um Ressourcen zu teilen, sich zu unterstützen und zu helfen und gemeinsame Erfolge zu würdigen.“ (Green & Green, 2005, S.76)
Bezüglich der positiven Interdependenz wird zwischen verschiedenen Typen der Abhängigkeit unterschieden: Positive Ziel-, Belohnungs-, Reihenfolge-, Rollen-, Identitäts-, Simulations-, Material- sowie Umgebungsabhängigkeit (für Erläuterungen vgl. Green & Green, 2005, S. 77 ff.). All diese Abhängigkeiten sind entweder in der Aufgabe und Lernumgebung methodisch verankert (z. B. Reihenfolge- und Materialabhängigkeit) oder werden durch die Gruppe selbst hergestellt (z. B. Identitätsabhängigkeit). Ebenso wie bei der individuellen Verantwortlichkeit besteht auch hier bei einigen Abhängigkeiten die Gefahr, dass Druck und Stigmatisierung aufgebaut werden kann. So kann Zielabhängigkeit beispielsweise durch ein Minimalkriterium angelegt werden, das alle Gruppenmitglieder erreichen müssen, damit die gesamte Gruppe erfolgreich ist (ebd., S. 78). Struktur-fokussierende Anregungen Als dritten zentralen Aspekt für die Anregung mathematischer Gespräche nennen Brandt und Nührenbörger struktur-fokussierende Anregungen. Während der Bearbeitung der diskursiven Aufgabenformate zielen struktur-fokussierende Anregungen darauf ab, gemeinsames Lernen zu koordinieren sowie die Entwicklung gemeinsamer mathematischer Denkprozesse zu ermöglichen (Brandt & Nührenbörger, 2009a, S. 29). Gelingt es der Lehrkraft, durch strukturfokussierende Anregungen und Impulse die kindlichen mathematischen Gespräche anzuregen und zu konzentrieren, findet eine aufgabenbezogene Interaktion statt, die Voraussetzung für eine Kooperation ist. Interaktiv-kooperatives Lernen findet infolge der Definition aus Kapitel 2.1.1 ausschließlich statt, wenn sich Kinder gemeinsam mit einer reichhaltigen Aufgabe auseinandersetzen und dabei möglichst aufgabenbezogen interagieren. Die Lehrkraft ist dementsprechend nicht an den Interaktionsprozessen
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beteiligt und greift i. d. R. nicht in die Situation ein. Wie allerdings bereits die Darstellung der Lenkungstypen nach Röhr (1995) andeutete, hat sie dennoch großen Einfluss darauf, wie die Kinder sich austauschen und miteinander arbeiten. Dieser Einfluss entsteht einerseits durch die Aufgaben, die von der Lehrkraft gestellt werden, sowie andererseits durch unterstützendes, strukturierendes, beobachtendes oder überprüfendes Eingreifen. Dadurch interagiert die Lehrkraft mit einzelnen Kindern, Paaren oder Kleingruppen und beeinflusst durch ihre Impulse ggf. die weiteren Interaktions- und Lernprozesse der Kinder. Zudem prägt die Lehrkraft durch ihre Art der Kommunikation im Klassengeschehen ebenso die gesamte Gesprächskultur der Klasse. Häsel-Weide (2016a) beleuchtet im Rahmen ihrer Studie zu struktur-fokussierenden Deutungen in kooperativen Lernumgebungen die Forschungslandschaft bezüglich des Lehrereinflusses genauer und stellt zusammenfassend fest, dass es darauf ankommt, in der Interaktion den inhaltlichen Lernprozess nicht zu sehr zu steuern. Vielmehr ist es essenziell, „offene Fragen zu stellen und Kindern die Gelegenheit zu geben, ihre Einsichten und Deutungen zu zeigen und argumentativ zu entwickeln“ (Häsel-Weide, 2016a, S. 53). Dieses Lehrerverhalten, das eher auf die Anregung der Interaktionsprozesse zwischen den Beteiligten fokussiert (‚process help‘) ist – gemessen an den Lernerfolgen der am Interaktionsgeschehen beteiligten Kinder – erfolgreicher, als wenn die Lehrkraft lösungsprozessunterstützend (‚product help‘) eingreift (Dekker & Elshout-Mohr, 2004, S. 43 f.; Nührenbörger & Steinbring, 2009; diskutiert und zitiert in Häsel-Weide, 2016a, S. 51 ff.). Zurückblickend auf das Eingangsbeispiel in Kapitel 1 wurden die drei zentralen Aspekte für die Anregung mathematischer Gespräche nach Brandt und Nührenbörger (2009a) bei der Entwicklung der Aufgabe berücksichtigt. Jedoch ist es, wie der kurze Szenenausschnitt stellvertretend für weitere Szenen aus der Pilotierungsphase der vorliegenden Arbeit beispielhaft zeigt, zu keinem mathematischen Gespräch zwischen den heterogenen Partnern gekommen. Es ist folglich anzunehmen, dass die Überlegungen nicht ausreichen, um interaktivkooperatives Lernen zwischen Kindern mit großen mathematischen Leistungsunterschieden im Kontext der Inklusion anzuregen. Es stellt sich also die Frage, welche besonderen Bedingungen der inklusive Mathematikunterricht hinsichtlich des interaktiv-kooperativen Lernens mit sich bringt und wie darauf reagiert werden kann, um produktive mathematische Gespräche zwischen Kindern mit und ohne sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf ‚Lernen’ anzuregen. Um dieser Frage nachzugehen, wird im Folgekapitel 2.2.2 zunächst die Anregung interaktiv-kooperativen Lernens aus Sicht der Sonderpädagogik des Lernens beleuchtet, die mit ihrem Blick auf Individualisierung die mathematikdidaktischen Überlegungen um eine weitere Perspektive ergänzt.
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2.2.2 Anregung interaktiv-kooperativen Lernens aus Sicht der Sonderpädagogik des Lernens Bereits als Konklusion von Kapitel 1.2 wurde herausgestellt, dass die wissenschaftlich fundierten Vorarbeiten der allgemeinen Mathematikdidaktik zu nutzen, aber zu modifizieren sind, indem sie u. a. mit Erkenntnissen aus der Sonderpädagogik des Lernens ergänzt werden. Daher wird in diesem Kapitel mit Bezug auf die Forschungsergebnisse (vgl. Kap. 2.1.2 und 2.1.3) sowie auf die herausgearbeiteten mathematikdidaktischen Faktoren (vgl. Kap. 2.2.1) beleuchtet, welche Besonderheiten bezüglich des interaktiv-kooperativen Lernens aus der Sicht der Sonderpädagogik des Lernens zusätzlich beachtet werden sollten. Zu bedenken ist dabei, dass die Zielgruppe der Kinder mit Unterstützungsbedarf ‚Lernen’ in sich ebenfalls sehr heterogen ist. Für die Didaktik des Unterrichts im Förderschwerpunkt Lernen formuliert Wember (2007) sieben Prinzipien, denen eine zentrale These zugrunde liegt, „nämlich die, dass lernbeeinträchtigte Schülerinnen und Schüler ebenso wie alle anderen Lernenden auch bemüht sind, kognitive Probleme aktiv, praxisbezogen und einsichtsvoll zu lösen, weil sie ebenso wie weniger beeinträchtigte Mitschüler zu sinnvoll empfundenen Lernerfahrungen gelangen möchten“ (Wember, 2007, S. 84)
Die sieben Prinzipien sind unterteilt in curriculare und methodische Prinzipien, die sich ergänzen und nicht isoliert zu betrachten sind (ebd., S. 84): Curriculare Prinzipien: Praktischer Problembezug, Sprache des Schülers, entwicklungsgemäße Sequenzierung von Unterrichtsinhalten und Lernzielen Methodische Prinzipien: Aktives und handelndes Lernen, schrittweise Verinnerlichung, sozialkooperative Erarbeitung, operative Übung Aus diesen didaktischen Prinzipien geht u. a. hervor, dass das ‚sozialkooperative Erarbeiten’, also die Anregung interaktiv-kooperativer Lernaktivitäten, in denen möglichst selbständig in Partner- oder Gruppenarbeit gelernt wird, generell eine wichtige Rolle in der Sonderpädagogik des Lernens einnimmt (ebd., S.84).16 Interaktiv-kooperatives Lernen ist jedoch generell voraussetzungsreich bezüglich kognitiver und sozialer Kompetenzen (Souvignier, 2007, S. 138). Im Hinblick auf den sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf ‚Lernen’ stellt die Anregung interaktiv-kooperativen Lernens daher eine große Chance und gleichzeitig eine ebenso große Herausforderung dar. Auf der einen Seite liegen „gerade in diesen Bereichen wesentliche Defizite“ der Kinder mit Förderschwerpunkt ‚Lernen’ (ebd., S. 142), was bedeutet, dass sie gezielte Unterstützung für die soziale Interaktion und die kognitiven Herausforderungen benötigen. Andererseits werden durch interaktiv-kooperative Lernsituationen genau diese unterstützungsbedürftigen Kompetenzen gefördert, denn das 16 Alle weiteren Prinzipien werden im Verlauf dieses Kapitels aufgegriffen und expliziert.
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„selbständige Herangehen an Aufgabenstellungen [...], gegenseitiges Erklären und das Einbringen sozialer Kompetenzen wie Zuhören, Kompromissfähigkeit, Geduld, Hilfsbereitschaft, Perspektivwechsel und Kritikfähigkeit sind zweifellos zentrale Lernziele bei Schülern mit Lernschwierigkeiten [...]. Eine Voraussetzung für den sinnvollen Einsatz kooperativer Unterrichtsmethoden ist daher, dass sie in Verbindung mit gezielten Unterstützungsmaßnahmen durchgeführt werden.“ (Souvignier, 2007, S. 142)
Souvignier ist jedoch der Auffassung, dass diese Unterstützung u. a. darin bestehen sollte, dass die sozialen Kompetenzen zunächst „vermittelt“ und „eingeübt“ werden müssen, bevor interaktives-kooperatives Lernen erfolgreich angeregt werden kann (ebd., S. 144). Diese Ansicht wird in der vorliegenden Arbeit nicht verfolgt, denn interaktiv-kooperatives Lernen ist hier aus der Sache heraus zu verstehen und grenzt sich von pädagogischen Konzeptionen ab, die die Kooperation erst ‚beibringen‘ oder in erster Linie durch extrinsische Motivation, wie Gruppenbelohnungen, anzuregen versuchen (vgl. Kap. 2.2.1). Ebenso wie Souvignier befassen sich Green und Green (2005) mit dem Lernen von Kindern mit Behinderung im Zusammenhang mit ihrer Konzeption zum ‚Kooperativen Lernen’. Sie heben hervor, dass es sich hierbei generell um einen entwicklungsorientierten Ansatz handelt, der also für den Einsatz im Unterricht mit Kindern mit Behinderung geeignet ist. „Die Herausforderung für die Lehrenden besteht [dabei] darin, passende Aufgaben für die jeweiligen [... Kinder] zu finden und vorzustrukturieren“ (Green & Green, 2005, S. 22). Sie sehen also die Strukturierung als einen wesentlichen Aspekt in der Unterstützung. Dieser Aspekt lässt sich unterteilen in mathematisch-inhaltliche Strukturierung hinsichtlich der Unterstützung bei kognitiven Herausforderungen (kognitive Unterstützung) und didaktisch-methodische Strukturierung, die auf die Unterstützung der erfolgreichen sozialen Interaktion abzielt (soziale Unterstützung). Diese beiden Bereiche lassen sich nicht trennscharf voneinander abgrenzen oder isoliert betrachten. Vielmehr ergänzen und bedingen sie sich gegenseitig. So kann beispielsweise die mathematisch-inhaltliche Struktur der Aufgabe einerseits zur kognitiven Unterstützung beitragen. Andererseits ermöglicht die erfolgreiche Auseinandersetzung mit der mathematischen Aufgabe gleichzeitig die Teilhabe an interaktiven Gesprächen, sodass dies ebenso zur sozialen Unterstützung beiträgt. Beide Arten der unterstützenden Strukturierung werden im Folgenden hinsichtlich der drei zentralen Aspekte für die Anregung mathematischer Gespräche (vgl. Kapitel 2.2.1) zusammenhängend betrachtet. Diskursive/kooperationsfördernde Aufgabenformate Bei der Betrachtung der – hier zur Orientierung noch einmal zusammengefassten – Kriterien kooperationsfördernder Aufgaben nach Röhr (1995) wird ersichtlich, dass alle Aspekte im engen Zusammenhang mit dem mathematischen In-
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halt und daher mit kognitiven Herausforderungen für Kinder mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf ‚Lernen’ stehen: Beziehungsreichtum; Ermöglichung aktiv-entdeckenden Lernens und mehrerer Lösungswege; Aufgabenkomplexität; Ermöglichung verschiedener Bearbeitungsniveaus auf Grundlage unterschiedlicher Fertigkeiten und Fähigkeiten; Lösungserleichterung durch Zusammenarbeit (vgl. Kap. 2.2.1). Bezüglich der ersten beiden Kriterien belegt Scherer (1995) in einer Studie, dass Kinder mit Lernbehinderung in der Lage sind, über Beziehungen zwischen Zahlen und Aufgaben nachzudenken und individuelle Lösungswege zu entwickeln sowie sich in der Kommunikation darüber einzubringen (Scherer, 1995, S. 294 f.). Diese Konzeption des aktiv-entdeckenden Lernens ist auch in der Sonderpädagogik mittlerweile wissenschaftlich belegt. Empirische Untersuchungen belegen die Eignung dieses Unterrichtsprinzips für Kinder des gesamten Leistungsspektrums, insbesondere auch für Kinder mit Lernbeeinträchtigungen und besonderem Unterstützungsbedarf (u. a. Leuders, 2012; Moser Opitz, 2008; Ratz, 2009; Scherer, 1995). So belegt beispielsweise Scherer in ihrer Studie, dass gerade Schülerinnen und Schüler mit einer Lernbehinderung von „Selbsttätigkeit“, „aktive[r] Erarbeitung“ und der „Entwicklung eigener Strategien“ profitieren (Scherer, 1995, S. 360). Dieses bedarf jedoch einer aktiven und handelnden Auseinandersetzung mit der mathematischen Aufgabe und den damit zusammenhängenden Beziehungen, damit sie sich auf diese, entsprechend ihrer kognitiven Möglichkeiten, individuell einlassen können. Dies entspricht Wembers didaktischen Prinzipien ‚aktives und handelndes Lernen’17 und ‚operative Übung’ 18 (Wember, 2007, S.84). Essenziell für die Anregung interaktivkooperativen Lernens ist für diese Kinder demzufolge eine Phase der individuellen Auseinandersetzung mit dem Lerngegenstand, bevor sie in den Austausch treten. So wird ein erster individueller aktiv-entdeckender Zugang auf der Basis ihrer individuellen kognitiven Lernvoraussetzungen ermöglicht, was wiederum bedeutsam für eine erfolgreiche soziale Interaktion und einen mathematischen Austausch ist.
17 „Aktives und handelndes Lernen: Die Schüler setzten sich im Unterricht geistig aktiv mit möglichst konkreten Problemen auseinander und erarbeiten Problemlösungen durch zielgerichtete Tätigkeiten“ (Wember, 2007, S. 84). 18 „Operative Übung: Erlernte Problemlöseverfahren werden nicht mechanisch und gleichförmig geübt, sondern in variierenden Aufgabenstellungen gesichert und zu verwandten bzw. gegensätzlichen Operationen in Beziehung gesetzt“ (Wember, 2007, S. 84).
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Hinsichtlich des dritten Kriteriums, der Aufgabenkomplexität, ist anzumerken, dass die Aufgabe inhaltliche (nicht nur methodische) Struktur bieten muss, um Kinder mit Lernschwierigkeiten bei der kognitiven Verarbeitung der mathematischen Inhalte nicht zu überfordern. Aufgabenkomplexität darf hier also nicht gleichgesetzt werden mit zu „[o]ffenen Lernsituationen [, denn diese] wiederum sind für behinderte Kinder manchmal zu wenig strukturiert, um sie angemessen zu fördern und zu fordern (Green & Green, 2005, S. 22). Essenziell für die Anregung interaktiv-kooperativen Lernens ist folglich eine Balance zwischen der Komplexität und der inhaltlichen Struktur einer Aufgabe. Das vierte Kriterium einer kooperationsfördernden Aufgabe – die Ermöglichung verschiedener Bearbeitungsniveaus auf Grundlage unterschiedlicher Fertigkeiten und Fähigkeiten – ermöglicht Kindern mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf durch eine geringe Einstiegsschwelle sowie durch am Material gestützte handlungsorientierte Arbeitsprozesse eine möglichst selbständige Auseinandersetzung mit dem mathematischen Inhalt. Nur auf diese Weise können aktiv-entdeckendes Lernen ermöglicht und die kognitiven Herausforderungen bewältigt werden. Eine Überforderung hat zur Folge, dass es anschließend zu keinem mathematischen Austausch mit anderen Kindern kommen kann, weil sie kognitiv nicht in der Lage sind, sich an inhaltlichen Gesprächen zu beteiligen. Infolgedessen besteht die Gefahr des „soziale[n] Faulenzen[s] [...]. Erst ein enges Passungsverhältnis zwischen einem konkreten Lernziel und einer darauf ausgerichteten kooperativen Lernmethode kann das große Potential abrufen, das kooperative Unterrichtsmethoden bergen“ (Souvignier, 2007, S. 138). Folglich ist auch hinsichtlich dieses Kriteriums für Kinder mit Lernschwierigkeiten bedeutsam, dass die Lernmethode eine Phase der individuellen Auseinandersetzung mit dem Lerngegenstand ermöglicht, bevor sie in den Austausch treten. So werden individuelle Lernziele und Bearbeitungsniveaus zugelassen und einer Überforderung wird entgegengewirkt. Hiermit knüpft dieses Kriterium an Wembers didaktisches Prinzip der ‚entwicklungsgemäßen Sequenzierung von Unterrichtinhalten und Lernzielen’ gemäß individueller Entwicklungsstände an und verweist auf das Prinzip der ‚schrittweisen Verinnerlichung’, indem ermöglicht werden soll, dass sich konkrete Handlungen über bildliche Vorstellungen zu sprachlichen oder abstrakt-symbolischen Vorstellungen entwickeln (Wember, 2007, S. 84). Diese ersten vier Kriterien kooperationsfördernder Aufgaben nach Röhr sind kaum ohne einen konkreten mathematischen Inhalt genauer zu betrachten und werden daher in Kapitel 3.2.2 zur Förderung des flexiblen Rechnens aus der Sicht der Sonderpädagogik erneut aufgegriffen und in Kapitel 5 und 6 für das Lehr-Lern-Arrangement konkretisiert. Das fünfte Kriterium kooperationsfördernder Aufgaben hingegen betrifft die Lösungserleichterung durch Zusammenarbeit. Da die Zusammenarbeit an sich meist eine Herausforderung für Kinder mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf ‚Lernen’ darstellt, muss diese
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durch strukturierte Kooperationsformen (s. folgenden Abschnitt) begünstigt werden, damit eine Lösungserleichterung durch Zusammenarbeit überhaupt erst möglich wird. Strukturierte Kooperationsformen Für die Strukturierung und Unterstützung hinsichtlich der sozialen Herausforderungen beim interaktiv-kooperativen Lernen wird auf Erkenntnisse aus der Forschung verwiesen, die bereits in Kapitel 2.1.2 und 2.1.3 erläutert wurden und daher hier nur noch einmal kurz zusammengefasst werden: Besonders für Kinder mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf stellt die methodische Strukturierung interaktiv-kooperativer Lernsituationen eine Chance für das Lernen und die Entwicklung dar (Häsel-Weide, 2016a, S. 41 ff.). Dabei muss die methodische Strukturierung transparent sein, um besonders lernschwachen Kindern Orientierung zu geben (Souvignier, 2007, S. 142). Bei der Auswahl dieser methodisch strukturierten Lernformen sollte darauf geachtet werden, dass die methodische (aber natürlich auch inhaltliche) Struktur ermöglicht, dass auch Kinder mit Lernbehinderung Gelegenheit erhalten, sich mit ihren individuellen Gedanken einzubringen und diese zu verbalisieren (HäselWeide, 2016a, S. 44). Diese Ermöglichung einer aufgabenbezogenen Interaktion leistet dann wiederum einen entscheidenden Beitrag zur Fruchtbarkeit des Lernens (vgl. Kap. 2.1.3). Ergänzend hebt Souvignier (2007) bezüglich der Didaktik des Unterrichtes im Förderschwerpunkt ‚Lernen‘ für das interaktiv-kooperative Lernen zwei wichtige Prinzipien hervor: 1) Die Kinder müssen ein gemeinsames Ziel haben, das sie nur gemeinsam erreichen können. Souvignier bezeichnet dieses Prinzip als ‚positive Interdependenz’. 2) Des Weiteren muss jedem Kind die ‚individuelle Verantwortung’ des eigenen Beitrages bewusst und transparent sein, um ‚Trittbrettfahrer-Effekte‘ zu vermeiden und Einzelbeiträge und Gruppenprodukte erkennbar zu machen (Souvignier, 2007, S. 143 ff.). Hiermit bezieht er empirisch belegte Merkmale aus der Konzeption des ‚Kooperativen Lernens‘ (Green & Green, 2005; Johnson et al., 1994) auf die Didaktik des Unterrichtes im Unterstützungsschwerpunkt ‚Lernen‘. Strukturfokussierende Anregungen Der Lehrkraft kommt nicht nur bei der Aufgaben- und Interaktionsformenauswahl sowie bei der inhaltlichen und methodischen Strukturierung eine besondere Rolle zu. Ebenso hat sie eine essenzielle unterstützende Rolle während der Gruppen- oder Partnerarbeitsphasen. So ist anzunehmen, dass Kinder mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf ‚Lernen’ häufiger und gezieltere strukturfokussierende unterstützende Impulse benötigen. Häsel-Weide (2016a) hebt in ihrer Studie mit zählend rechnenden Kindern hervor, dass sie mit offenen
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Fragen aufgefordert werden, ihre Ideen, Einsichten und Deutungen in kooperativen Lernsettings zu zeigen und zu verbalisieren (Kap. 2.2.1; Häsel-Weide, 2016a, S. 53). In Anlehnung an Wembers (2007) didaktisches Prinzip ‚Sprache des Schülers’ sollen dabei, anknüpfend an die sprachlichen Vorerfahrungen der Kinder, deren Formulierungen aufgegriffen werden und erst anschließend soll eine zunehmende Verwendung der Fachsprache angeregt werden. In diesem Abschnitt wurde deutlich, dass interaktiv-kooperatives Lernen durch gezielte Strukturierung und unterstützende Impulse mit dem Ziel der kognitiven und sozialen Unterstützung für Kinder mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf ‚Lernen’ zur Chance werden kann, erfolgreich zu lernen. Gleichzeitig bleibt es eine Herausforderung, denn „[gerade] leistungsschwache Schüler scheinen nicht automatisch von einer Öffnung des Unterrichts [beispielsweise durch interaktiv-kooperative Lernsituationen] zu profitieren, insbesondere sie brauchen klar strukturierte und an ihr Leistungsvermögen angepasste Lernmaterialien und eine lernbegleitende Anleitung.“ (Hartke, 2002 und Wember, 2007, zitiert in Koch, 2007, S. 109)
Ferner wurde deutlich, dass sich die Darstellungen aus Sicht der Sonderpädagogik des Lernens nicht wesentlich von den mathematikdidaktischen Ansätzen unterscheiden. Mit der Ergänzung gezielter methodischer und inhaltlicher Strukturierungs- und Unterstützungsmaßnahmen gelten die gleichen Ansprüche. Wie an diese Erkenntnisse nun im inklusiven Mathematikunterricht – in dem eine erhöhte Heterogenitätsspanne die Herausforderung zusätzlich erhöht – angeknüpft werden kann, wird u. a. im folgenden Kapitel 2.2.3 beleuchtet. 2.2.3 Interaktiv-kooperatives und individuell-zieldifferentes Lernen Der inklusive Mathematikunterricht, in dem individuell-zieldifferent gelernt werden soll, stellt die Anregung interaktiv-kooperativen Lernens vor neue Herausforderungen. Diese liegen darin begründet, die wissenschaftlich fundierten Vorarbeiten der Mathematikdidaktik (vgl. Kap. 2.2.1) zu nutzen und diese zu modifizieren, indem sie mit den Erkenntnissen aus der Sonderpädagogik (vgl. Kap. 2.2.2) angereichert werden. Damit einhergehend müssen einerseits die individuellen mathematischen Lernstände und andererseits die stark heterogenen kognitiven Entwicklungsstände sowie die verschiedenen sensorischen, emotionalen, sozialen und sprachlichen Lernvoraussetzungen berücksichtigt werden. Als Folge dessen sind durch gezielte Strukturierungs- und Unterstützungsmaßnahmen Barrierefreiheit zu gewährleisten (barrierefreies Lernen) und der mathematische Inhalt so zu strukturieren, dass Ziele auf verschiedenen Entwicklungsniveaus erreicht werden können (individuell-zieldifferentes Lernen). Dabei ist das übergeordnete Ziel inklusiven Mathematikunterrichtes dieses so häufig wie möglich am gemeinsamen Gegenstand zu tun und das mit- und voneinander Lernen anzuregen (interaktiv-kooperatives Lernen). Betrachtet man jedoch die wesentliche Grundvoraussetzung interaktiv-kooperativer Prozesse,
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nämlich, dass die Kinder ins Gespräch über Mathematik kommen und ihnen die Möglichkeit gegeben wird, „eigene Ideen zu entwickeln und über diese in den Austausch zu treten, um somit gemeinsame, an der Mathematik orientierte, Gespräche zu initiieren, die nicht alleine durch die Perspektive der Lehrkraft geprägt sind“ (Brandt & Nührenbörger, 2009a, S. 29), stellt sich die Frage, wie diese stark heterogenen individuellen Ideen für einen produktiven Austausch zusammengebracht werden können, bei dem möglichst alle beteiligten Kinder individuell und zieldifferent lernen können. Green und Green (2005) heben diesbezüglich hervor, dass die Anregung interaktiv-kooperativen Lernens von Heterogenität ausgeht und es sich um einen entwicklungsorientierten Ansatz handelt, der zieldifferentes Lernen problemlos zulässt (Green & Green, 2005). Dabei ist ihrer Erfahrung nach „[e]ine entsprechende[…] Wertschätzung aller Lernenden – sowohl besonders begabter als auch beeinträchtigter oder durch geistige Behinderungen stark eingeschränkter“ (ebd., S. 22) – eine essenzielle Voraussetzung. Zudem forderten sie schon 2005 – ganz im Sinne des Inklusionsgedankens (vgl. Kap. 1) – „konsequentes Akzeptieren von Heterogenität als Lernchance für alle Schülerinnen und Schüler“ (ebd., S. 22). Hierdurch machen sie darauf aufmerksam, dass interaktivkooperatives Lernen in einer heterogenen (also auch inklusiven) Lerngruppe zwar eine Herausforderung ist, aber gleichzeitig eine Chance mit Potential darstellt. Dieses entspricht den Forschungsergebnissen aus Kapitel 1, die eine höhere Lerneffektivität für Kinder mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf in integrativer/inklusiver Beschulung nachweisen und dieses auf das anregungsreichere Entwicklungsumfeld zurückführen ( Haeberlin et al., 1991, S. 277; Wocken, 2007). Um diese Lernchancen im inklusiven Mathematikunterricht zu nutzen, sind die in Kapitel 2.2.1 und 2.2.2 herausgearbeiteten Aspekte Voraussetzung. Vor dem Hintergrund der erhöhten Heterogenität sind nach den soeben erbrachten Argumenten hinsichtlich mathematischen individuell-zieldifferenten Lernens weitere Aspekte erforderlich: Ermöglichung zieldifferenter Lernprozesse und deren inhaltliche Vernetzung Konsequentes Akzeptieren von Heterogenität als Normalität und gleichzeitig als Lernchance Wertschätzung aller Kinder sowie ihrer Ideen und Beiträge Reduzierung der sozialen und kommunikativen Hürden, z. B. durch Partnerarbeit anstatt Gruppenarbeit Letzteres bezieht sich auf folgende Überlegungen: Eingangs dieses Kapitels wurde angenommen, dass interaktiv-kooperatives Lernen zwischen (stark) heterogenen Partnern generell mathematisch bereichernd und produktiv für alle Beteiligten verlaufen kann. Diese Erkenntnisse wurden im Rahmen von Untersuchungen im heterogenen/inklusiven und jahrgangsgemischten Mathematikun-
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terricht gewonnen, deren Erhebungen in Partnersetting stattfanden (u. a. HäselWeide, 2016a; 2016c; Nührenbörger, 2009a, 2009b). Die Ergebnisse der Studien, die Kleingruppeninteraktion im Mathematikunterricht untersuchten, konnten weniger positive Befunde hinsichtlich der Interaktion und Kooperation zwischen (stark) heterogenen Kindern belegen (Peter-Koop, 2002). Das könnte einerseits an der erfolgreicheren und gezielteren Anregung sowie methodisch besseren Strukturierung der mathematischen Interaktion liegen, andererseits ist anzunehmen, dass auch die Gruppengröße ein entscheidender Gesichtspunkt ist. Mithin wird angenommen, dass die Anregung des produktiven interaktivkooperativen Lernens zwischen stark heterogenen Kindern (also auch im inklusiven Mathematikunterricht) in Partnersettings leichter gelingt als in Kleingruppensettings. Es entlastet die Kinder hinsichtlich der sozialen und kommunikativen Herausforderungen und verringert die Gefahr, dass der Austausch nur zwischen leistungsstarken Kindern der Gruppe entsteht, was Peter-Koop als ein Problem herausstellte (Peter-Koop, 2002, S. 565). Wie genau ‚das Lernen’ jedoch in den interaktiv-kooperativen Lernsituationen und angeregt durch die Interaktion stattfindet, blieb bis jetzt unklar. Um diesen Zusammenhang der beiden Kernaspekte des inklusiven Mathematikunterrichtes – interaktiv-kooperatives Lernen und gleichzeitig individuelles Lernen – konkreter zu beleuchten, widmet sich das folgende Kapitel 2.3. dem Begriff des Lernens und der mathematischen Lernprozessentwicklung in der Interaktion. Zusammenfassung und Konklusion des Kapitels 2.2 für die vorliegende Arbeit: Nachdem die Anregung des interaktiv-kooperativen Lernens aus Sicht der Mathematikdidaktik, der Sonderpädagogik des Lernens sowie der Zusammenhang mit dem individuellen Lernen betrachtet wurden, können folgende zentrale Aspekte für den inklusiven Mathematikunterricht abgeleitet werden: Aus mathematikdidaktischer Sicht sind die Anregung interaktiv-kooperativen Lernens und fachmathematischer Lernprozesse sinnvoll aufeinander zu beziehen, um fachliche Gespräche zu ermöglichen (Kap. 2.2.1). Zentral für die Anregung dieser mathematischen Gespräche sind diskursive Aufgabenformate, strukturierte Kooperationsformen und struktur-fokussierende Anregungen (Kap. 2.2.1). Dabei steht die Struktur der Kooperationsform in Beziehung zu den beabsichtigten Kooperationsprozessen, in denen individuelle Ideen verhandelt werden, Ideen gemeinsam produziert werden oder individuelle (Teil-)Lösungen/Ideen zu einer komplexeren Idee/Gesamtlösung zusammengeführt werden (Kap. 2.2.1). Röhrs Forschungsergebnisse legen für die Aufgabenauswahl des Lehr-LernArrangements folgende Kriterien interaktionsfördernder Aufgaben nahe:
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Beziehungsreichtum, Ermöglichung aktiv-entdeckenden Lernens und mehrerer Lösungswege, Aufgabenkomplexität, Ermöglichung verschiedener Bearbeitungsniveaus auf Grundlage unterschiedlicher Fertigkeiten und Fähigkeiten und Lösungserleichterung durch Zusammenarbeit (Kap. 2.2.1).
Bei der Aufgabenauswahl sind der Lenkungstyp sowie die Merkmale erfolgsversprechender interaktiv-kooperativer Lernmethoden (individuelle Verantwortlichkeit, positive Abhängigkeit) mitzudenken (Kap. 2.2.1). Die Lehrkraft hat durch die Aufgabe und durch unterstützendes, strukturierendes, beobachtendes oder überprüfendes Eingreifen Einfluss darauf, wie sich die Kinder austauschen (Kap. 2.2.1). Sie sollte durch offene Fragen auf die Anregung der Interaktionsprozesse fokussieren und dadurch den Kindern die Gelegenheit geben, ihre Einsichten und Deutungen zu verbalisieren und argumentativ zu entwickeln. Dieses Lehrerverhalten ist erfolgreicher als ein lösungsprozessunterstützendes Eingreifen der Lehrkraft (Kap. 2.2.1). Strukturierung ist ein wesentlicher Aspekt, um Kinder mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf ‚Lernen’ hinsichtlich des interaktiv-kooperativen Lernens zu unterstützen. Der Aspekt der Strukturierung lässt sich unterteilen in mathematisch inhaltliche Strukturierung hinsichtlich der Unterstützung der kognitiven Herausforderungen (kognitive Entlastung) sowie in didaktisch-methodische Strukturierung, die auf die Unterstützung der erfolgreichen sozialen Interaktion (soziale Unterstützung) abzielt (Kap. 2.2.2). Essenziell für die Anregung interaktiv-kooperativen Lernens ist besonders für Kinder mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf eine Phase der individuellen Auseinandersetzung mit dem Lerngegenstand, bevor sie in den Austausch treten (Kap. 2.2.2). Bedeutsam ist ebenfalls eine Balance zwischen der inhaltlichen Komplexität und Struktur, um Kinder mit Lernschwierigkeiten bei der kognitiven Verarbeitung der mathematischen Inhalte nicht zu überfordern (Kap. 2.2.2). Eine kooperationsfördernde Aufgabe muss Kindern mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf eine geringe Einstiegsschwelle sowie am Material gestützte handlungsorientierte Arbeitsprozesse ermöglichen, sodass sie sich selbständig und gemäß individueller Entwicklungsstände mit dem mathematischen Inhalt auseinandersetzen können. Nur so kann es währenddessen oder im Anschluss zu einem mathematischen Gespräch kommen (Kap. 2.2.2).
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2 Interaktiv-kooperatives Lernen im inklusiven Mathematikunterricht
Eine wesentliche Voraussetzung erfolgreichen interaktiv-kooperativen Lernens im inklusiven Mathematikunterricht sind neben allen bereits genannten Aspekten: - das konsequente Akzeptieren von Heterogenität als Normalität und Lernchance, - die Wertschätzung aller Kinder sowie ihrer Ideen und Beiträge und - die inhaltliche Vernetzung stark heterogener Zugänge und (Lösungs-)Ideen in interaktiv-kooperativen Lernsituationen (Kap. 2.2.3). Die erfolgreiche Anregung interaktiv-kooperativen Lernens zwischen stark heterogenen Kindern gelingt in Partnersettings leichter als in Kleingruppensettings und entlastet die Kinder hinsichtlich der sozialen und kommunikativen Herausforderungen (Kap. 2.2.3).
2.3
Entwicklung mathematischer Lernprozesse in der Interaktion
In diesem Kapitel wird auf Grundlage der vorangegangenen Erkenntnisse der offenen Frage nachgegangen, wie genau ‚das Lernen’, angeregt durch die Interaktion, stattfindet. Dazu werden zunächst die lerntheoretischen Annahmen dargelegt und das Lernen im inklusiven Mathematikunterricht aus sozialkonstruktivistischer Sicht erläutert (Kap. 2.3.1), ehe im Anschluss daran auf die Entwicklung mathematischer Lernprozesse in der Interaktion aus interaktionistischer (Kap. 2.3.2) und epistemologischer Perspektive (Kap. 2.3.3) eingegangen wird. Dabei orientiert sich dieses Kapitel an einer Zusammenfassung von Meyer (2018) zum Thema ‚Lernen und Interaktion‘ (vgl. Mayer, 2018, S. 41 ff.). Ihre Zusammenfassung diente als strukturelle und inhaltliche Orientierung und wurde für den Zweck der vorliegenden Arbeit aufgegriffen und angepasst. 2.3.1 Lerntheoretische Annahmen Unter ‚Lernen’ versteht man die Aneignung von Wissen und Kenntnissen sowie den Erwerb von Fertigkeiten und Fähigkeiten, die Veränderungen im Verhalten und bezüglich eigener Einstellungen hervorrufen (DUDEN online, 2017). Im bildungssprachlichen und lernpsychologischen Gebrauch wird dieser Vorgang auch als ein Prozess (Lernprozess) beschrieben, in dem jemand neue Einsichten gewinnt, Zusammenhänge begreift und daraus lernt (DUDEN online, 2017). Dabei sind im lernpsychologischen Diskurs drei grundlegende Lerntheorien von Bedeutung: der Behaviorismus, der Kognitivismus und der Konstruktivismus. Die sozial-konstruktivistische Lehr-Lern-Theorie, die dem Konstruktivismus zugeordnet wird, schreibt der sozialen Interaktion eine besondere Bedeutung zu.
2.3 Entwicklung mathematischer Lernprozesse in der Interaktion
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Der Behaviorismus unterscheidet sich in seinen Grundgedanken deutlich von den anderen beiden Theorien. Wie der Name schon sagt, steht im Zentrum dieser Lerntheorie das menschliche Verhalten (englisches Wort ‚behaviour’), welches von außen beobachtbar ist. Ein Reiz (Stimulus) wird als Auslöser eines bestimmten Verhaltens (Reaktion) betrachtet (Friedrich, 1979). ‚Lernen’ wird im Behaviorismus als Verbindung eines solchen Reizes mit einer folgenden Reaktion verstanden, wobei mentale Verarbeitungsprozesse sowie motivationale Prozesse und Emotionen nicht berücksichtigt werden (Lefrançois, 2006, S. 41; Mietzel, 2007, S. 52). Der ‚Lerner’ ist dabei ein passives Objekt, das u. a. in der Schule durch bestimmte Reize wie Belehrungen, Erklärungen und Wissensvermittlung seitens des Lehrers lernt (ebd.). Wittmann (2006, S. 159 f.) beschreibt aus dieser Perspektive den Mathematikunterricht als einen fragendentwickelnden Unterricht, in dem kleinschrittiges und portioniertes Wissen vermittelt wird sowie Schwierigkeiten isoliert werden. Den Lernenden werden bestimmte ‚Aufgabenreize‘ vorgelegt, auf die sie ‚reagieren‘ sollen, wobei festgelegt ist, wie die Reaktion (Lösung) aussehen soll. Richtige Antworten werden dabei gelobt und falsche kritisiert und korrigiert (ebd., S. 159). Im Kognitivismus dagegen wird – im Gegensatz zur beschriebenen passivistischen Position – eine aktivistische Position eingenommen. ‚Lernende’ werden als aktive Individuen verstanden, die Informationen mental und individuell verarbeiten (Wittmann, 2006, S. 157). Im Zentrum dieser Lerntheorie steht die kognitive Verarbeitung der Reize und nicht ausschließlich das Verhalten bzw. die Reaktion. ‚Lernen’ ist aus kognitivistischer Sicht demnach ein „Wechselspiel“ zwischen der Person und der Umwelt, die auf die Person einwirkt (Konrad, 2014, S. 15 f.). Lernprozesse finden durch aktive Verarbeitung äußerer Einflüsse statt. Für die Informationsverarbeitung spielen mentale Prozesse eine bedeutende Rolle, wozu aus kognitionspsychologischer Sicht auch Emotionen, Gedanken und Meinungen gehören (ebd.). Im Mathematikunterricht ist es folglich von besonderer Bedeutung, anregende Lernumgebungen zu gestalten, die die Auseinandersetzung mit der Umwelt – also mit mathematischen Inhalten und Strukturen – und die damit verbundene aktive Informationsverarbeitung anregen. Es reicht daher aus konstruktivistischer Sicht nicht, Kindern den Lernstoff von außen zuzuführen (Wittmann, 2006, S. 157). Im Gegensatz zum Kognitivismus sind im Konstruktivismus die zu verarbeitenden Informationen aus der Umwelt nicht objektiv, sondern sie werden vom Lerner selbst konstruiert (u. a. Konrad, 2014, S. 18; Mietzel, 2007, S. 46). Folglich ist nach der konstruktivistischen Lerntheorie ‚Lernen’ ein konstruktivneuronaler und subjektiv-selbstgesteuerter Prozess (ebd.). Der ‚Lernende’ ist also aktiv beteiligt und konstruiert sein Wissen selbst, indem er Informationen aus der Umwelt aufnimmt und diese auf der Grundlage seines individuellen Vorwissens deutet und verarbeitet. Wissenskonstruktion ist folglich immer abhängig vom bereits vorhandenen Wissen, von der Umwelt und von der aktiven
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2. Interaktiv-kooperatives Lernen im inklusiven Mathematikunterricht
Beteiligung des Lernenden, wie schon der wohl bekannteste konstruktivistische Wissenschaftler Piaget (1896–1980) herausstellte (ebd.; Wittmann, 2006, S. 157). In diesem Sinne bedarf der Mathematikunterricht also einer aktiven Einbindung aller Kinder unter Berücksichtigung heterogener Lernvoraussetzungen. Denn die Entstehung des Wissens im Lernenden ist „dessen aktive Konstruktion, d. h. das Resultat einer Wechselwirkung zwischen ‚innen‘ und ‚außen‘: Das Kind verfügt von Geburt an über eine biologische Grundausstattung, von der aus es durch ‚Kopf, Herz und Hand‘ mit der natürlichen und sozialen Umwelt in Austausch treten kann. Das jeweilige neu erworbene Wissen ist dabei immer mitbestimmt und persönlich gefärbt durch das bestehende Wissen, mit dem das neue Gegenstandsfeld wie mit ‚Scheinwerfern‘ (K. Popper) abgesucht wird. In dieser Sichtweise muß sich der Lernende also den jeweiligen Unterrichtsgegenstand aktiv erarbeiten.“ (Wittmann, 2006, S. 157)
Lernen als aktiv-entdeckender Prozess im inklusiven Mathematikunterricht Wie beschrieben wird der konstruktivistischen Lerntheorie zufolge – und ebenso in dieser Arbeit – das ‚Lernen’ in der Schule als aktiver Prozess verstanden, in dem der ‚Lerner’ nicht als Objekt, sondern als aktives Subjekt angesehen wird, das Wissen selbständig konstruiert. Kognitives Potential, Vorerfahrungen, Motivation und Interesse spielen dabei eine zentrale Rolle. Infolgedessen verlaufen Lernprozesse individuell und unterschiedlich, sodass in der Schule und besonders in einem inklusiven Unterricht differenzierende Lerngelegenheiten geboten werden müssen, um Inhalte auf individuelle und zieldifferente Weise zu erkunden und zu entdecken. Ausgehend von diesen Grundgedanken entwickelte sich das Prinzip des aktiv-entdeckenden Lernens (u. a. Wittmann, 1995a, 2006), das sowohl in der Primar- und in der Sekundarstufe als auch – wie in Kapitel 2.2.2 bereits dargestellt wurde – in der Sonderpädagogik eine bedeutungsvolle Konzeption darstellt. Im Lehrplan für die Grundschulen in Nordrhein-Westfalen wurde das ‚entdeckende Lernen’, als eine der fünf zentralen Leitideen des Mathematikunterrichtes verankert (MSW, 2008, S. 55) und wie folgt erläutert: „Den Aufgaben und Zielen des Mathematikunterrichts und dem Wesen der Mathematik wird in besonderer Weise eine Konzeption gerecht, in der das Mathematiklernen durchgängig als konstruktiver, entdeckender Prozess verstanden wird. Fehler gehören zum Lernen. Sie sind häufig Konstruktionsversuche auf der Basis vernünftiger Überlegungen und liefern wertvolle Einsichten in die Denkweisen der Schülerinnen und Schüler.“ (MSW, 2008, S. 55)
Dieses Zitat verdeutlicht ebenso den produktiven Umgang mit Fehlern aus konstruktivistischer Sicht. Sie gehören zu einem konstruktiven Lernprozess dazu, bieten Einsicht in die Prozesse sowie sind sie Anknüpfungspunkt zum (weiter)lernen. Diese Einstellung zu Fehlern stellt aber nicht nur eine Chance für einzelne individuelle Lernprozesse dar, sondern auch für einen inklusiven Mathematikunterricht, in dem Stärken und Schwächen zur Normalität gehören und als Chance für das mit- und voneinander Lernen betrachtet werden. Wittmann (2006) beschreibt das ‚Lernen’ im schulischen Mathematikunterricht nach dem Prinzip des aktiv-entdeckenden Lernens wie folgt:
2.3 Entwicklung mathematischer Lernprozesse in der Interaktion
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„Die einzelnen Lernabschnitte sind großzügig bemessen und schaffen Sinnzusammenhänge, aus denen heraus sich für die Schüler vielfältige Aufgaben unterschiedlicher Schwierigkeitsniveaus ergeben. Durch den Lehrer angeregt und auf bestimmte Ziele hingelenkt erarbeiten sich die Schüler bestimmte Fertigkeiten, Wissenselemente und Lösungsstrategien. Die Diskussion der Ideen und Übungen der Schüler in der Klasse wird dabei genutzt, um zunächst unvollkommene Ansätze der Schüler weiterzuentwickeln.“ (Wittmann, 2006, S. 162)
Er hebt hiermit eine grundsätzlich andere Qualität als das kleinschrittige und portionierte Lernen, was der behavioristischen Lerntheorie entspricht, hervor und betont außerdem die Notwendigkeit von Sinnzusammenhängen für einen bewussten und aktiven Konstruktionsprozess. Mathematikunterricht sollte demzufolge das aktive Entdecken, Erforschen, Beschreiben, Darstellen, Erzeugen, Fortsetzen, Begründen und Verallgemeinern von mathematischen Sinnzusammenhängen und Mustern anregen sowie eine aktive Auseinandersetzung mit Mathematik anstoßen (ebd.). Hierbei wird – im Sinne des Spiralprinzips (J. S. Bruner, 1973; Krauthausen & Scherer, 2007, S. 138 f.) – ein ganzheitlicher Blick auf die Mathematik eingenommen, um verschiedene Schwierigkeitsniveaus und verschiedene Entwicklungsstufen anzusprechen. Dieser Ansatz birgt ebenso Potential, verschiedenen Entwicklungsstufen und Unterstützungsbedarfe in einem inklusiven Mathematikunterricht gerecht zu werden. Ebenso wichtig sind die zuvor thematisierten Tätigkeiten in sinnvollen Zusammenhängen für alle Kinder. So formuliert u. a. Scherer eine „ganzheitliche Behandlung“, die „Ausnutzung operativer Beziehungen“ und das „Lernen in Zusammenhängen“ als wesentliche Aspekte für Kinder mit Lernbehinderungen (Scherer, 1995, S. 294 f., S. 361; vgl. auch Kap. 2.2.2). Fasst man das Mathematiklernen als einen aktiv-entdeckenden Prozess auf, in dem der Lerner eine aktive Rolle einnimmt, so muss der ‚Lehrende’ zu einer aktiven Auseinandersetzung mit der Mathematik anregen, individuelle Lernprozesse gezielt fördern sowie gute Strukturen und Voraussetzungen dafür schaffen (Selter & Spiegel, 2003, S. 54; Wittmann, 2006, S. 157 ff.). Dieses gilt im Besonderen auch für einen inklusiven Mathematikunterricht (vgl. Kap. 2.2.2). Lernen als sozial-konstruktiver Prozess im inklusiven Mathematikunterricht Den beiden letztgenannten direkten Zitaten von Wittmann (2006) zufolge nimmt dabei die Interaktion mit anderen Kindern eine zentrale Rolle ein, um unterschiedliche und unvollständige Konstruktionsprozesse im Diskurs weiterzuentwickeln. Von dieser Sichtweise, nach der das ‚Lernen’ in und durch Interaktion stattfindet, geht ebenso Miller (1986) aus. Auch er versteht Lernen als einen konstruktiven Prozess, der sich nach seiner soziologischen Lerntheorie am effektivsten in einem sozialen Kontext, also im Diskurs mit anderen vollzieht. Es kann somit nicht nur von einem konstruktiven, sondern ferner von einem sozial-
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2. Interaktiv-kooperatives Lernen im inklusiven Mathematikunterricht
konstruktiven Prozess gesprochen werden (u. a. Miller, 1986; Steinbring, 2005).19 Nach Miller kann sich Lernen, das über eine bloße Aneignung von anwendungsbezogenem Wissen hinaus geht – er nennt es strukturelles Lernen – ausschließlich dialogisch im diskursiven Kontext von Entdeckungen entwickeln (Miller, 2006, S. 195). Das neue Wissen muss ebenso wie bei der bloßen Aneignung von anwendungsbezogenem Wissen an das Vorwissen anknüpfen und es erweitern. Dabei muss es allerdings strukturell überschritten werden, sodass das bisherige Wissen umstrukturiert wird (ebd.). „Im Zuge des ‚kollektiven Diskurses‘ können Kinder echtes neues Wissen entwickeln, wenn die Grenzen des bereits erworbenen Wissens systematisch überschritten werden“ (Nührenbörger, 2009b, S. 150, i. A. a. Millers Theorie). Hierbei werden grundlegende Basistheorien hinterfragt bzw. neu geschaffen. Der Diskurs ermöglicht über eine ‚Irritation’ bzw. eine ‚Dissens‘ (s. u.) eine neue Entdeckung und somit neues Wissen im Sinne des strukturellen Lernens (Miller, 2006; Nührenbörger, 2009b). Eine produktive Irritation ist in diesem Kontext eine „klärungsbedürftige Abweichung“ von zuvor, auf Grundlage von Vorwissen und Vorerfahrungen, „eingenommenen Erwartungen“ (Schwarzkopf, 2015, S. 39). Hierbei bestehen Ähnlichkeiten zum kognitiven Konflikt, denn beim Lernenden tauchen interne Widersprüche zu ursprünglichen Erwartungen auf, die der Klärung bedürfen sowie Motivation erwecken, diesen nachzugehen (Mayer, 2018, S. 62). Anders als der kognitive Konflikt ist die produktive Irritation jedoch interaktionistisch gedacht, denn die klärungsbedürftigen Abweichungen, die sich aus dem Fach ergeben – beispielsweise hervorgebracht durch eine Aufgabe mit mathematischen Strukturen, die von den Kindern nicht erwartet wurden – sollen zum Argumentieren anregen (Mayer, 2018, S. 62; Nührenbörger & Schwarzkopf, 2015a, 2015b). Nach Miller ist der Diskurs innerhalb einer Gruppe sogar notwendige Bedingung, um altes Wissen durch reichhaltige Beziehungen zu erweitern, denn genau die Entdeckung von unterschiedlichen Ideen, Standpunkten oder Differenzen zwischen Lernenden birgt das Potential eines (er nennt es) ‚rationalen Dissens’. „Ein rationaler Dissens bedeutet, dass die beteiligten Personen sich auf der Grundlage dessen, was kollektiv akzeptiert wird, erfolgreich darüber verständigen, was genau nicht kollektiv akzeptiert ist. [...] Für das Auslösen struktureller Lernprozesse ist es noch nicht einmal erforderlich, einen Konsens über den Dissens zu erzielen. Erforderlich ist lediglich, dass das Verfahren des gegenseitigen Verstehens von Differenzen in Gang kommt; und je komplexer und undurchsichtiger die Differenzen sind, desto radikaler und tiefgehender kann das Lernen sein.“ (Miller, 2006, S. 217 f.)
19 Miller (1986, 2006) unterscheidet in seiner soziologischen Lerntheorie zwischen drei Lernformen: relatives bzw. kumulatives, autonomes und fundamentales bzw. strukturelles Lernen. Für eine weiter ausführende Zusammenfassung vgl. Mayer (2018, S. 46 ff.).
2.3 Entwicklung mathematischer Lernprozesse in der Interaktion
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In dem angeführten Zitat spricht Miller außerdem an, dass es für das Auslösen struktureller Lernprozesse nicht erforderlich ist, einen Konsens über den Dissens zu erzielen, sondern dass sich die Kinder inhaltlich lediglich über Differenzen verständigen müssen. Folglich ist strukturelles zieldifferentes Mathematiklernen in interaktiv-kooperativen Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht generell realisierbar. Durch die erhöhte Heterogenitätsspanne ist mit vielen und komplexen Differenzen und Irritationen zu rechnen, die im gemeinsamen Austausch auftreten können und im Sinne des Zitates zu ‚tiefgehendem Lernen’ führen können. Hierin liegt das Potential, Heterogenität als Chance zu sehen und wahrzunehmen. Mit Blick auf die dargelegten Annahmen zum Lernen steht im Fokus der vorliegenden Arbeit die gezielte Anregung interaktiv-kooperativer Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht, um durch die Konfrontation mit Deutungen anderer, über Irritationen, die Entwicklung individueller mathematischer Lernprozesse im Sinne des strukturellen Lernens aller Beteiligten anzuregen. Diese Entwicklung mathematischer interaktiv-kooperativer Lernprozesse in der Interaktion wird in den folgenden Kapiteln 2.3.2 und 2.3.3 aus interaktionistischer und epistemologischer Perspektive in den Blick genommen. 2.3.2 Entwicklung mathematischer Lernprozesse in der Interaktion aus interaktionistischer Perspektive Anknüpfend an die lehr-lerntheoretischen Ausführungen in Kapitel 2.3.1 wird in der vorliegenden Arbeit Lernen als sozial-konstruktiver Prozess gesehen, der sich am effektivsten im Diskurs mit anderen vollzieht. Auf interaktivkooperative Lernsituationen bezogen, wie sie in Kapitel 2.1 und 2.2 beleuchtet wurden, bedeutet das, dass sich Kinder durch soziale bzw. kommunikative Handlungen auf dynamische und wechselseitige Weise beeinflussen, wodurch mathematische interaktiv-kooperative Lernprozesse angeregt und (weiter-) entwickelt werden (Krummheuer & Voigt, 1991; Nührenbörger, 2009b; Schwarzkopf, 2003; Steinbring, 2000, 2005). „Nur von solchen sozialen bzw. kommunikativen Handlungen, deren primäres Ziel und deren Funktion genau darin besteht, interpersonale Koordinationsprobleme zu identifizieren und eine gemeinsame Erfahrungsbasis für eine Lösung jener Koordinationsprobleme zu entwickeln, kann (wenn überhaupt) sinnvollerweise angenommen werden, dass durch sie jene Prozesse eines fundamentalen Lernens ausgelöst werden. Nur ein sozialer bzw. kommunikativer Handlungstyp scheint diese Bedingungen zu erfüllen, und dies ist der Diskurs.“ (Miller, 2006, S. 74)
Miller hebt mit diesem Zitat noch einmal die Bedeutung des Diskurses hervor, denn erst durch ihn können Schülerinnen und Schüler strukturelles Wissen entwickeln, wenn in der Interaktion die Grenzen des bereits erworbenen Wissens systematisch überschritten werden. Erst durch die Interaktion werden Kinder mit anderen Deutungen und weiterführenden Sichtweisen konfrontiert, wodurch
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2. Interaktiv-kooperatives Lernen im inklusiven Mathematikunterricht
eigene Deutungen reflektiert, ausdifferenziert und modifiziert werden können. Da sowohl diese Grenzen als auch die Konstruktionsprozesse individuell sind, sind auch die durch die Interaktion angeregten Lernprozesse unterschiedlich. Mietzel erläutert diese Individualität der heterogenen Lernprozesse und betont gleichwohl den bedeutenden Zusammenhang mit den Informationen, die beispielsweise durch Kommunikation weitergegeben werden: „Was der eine Schüler lernt, unterscheidet sich höchstwahrscheinlich von dem, was ein anderer Schüler lernt, auch wenn beide die gleiche Aktivität ausführen, weil Lernende vor dem Hintergrund ihres Vorwissens die Informationen verändern, die auf sie einwirken.“ (Mietzel, 2007, S. 47)
Folglich kann festgehalten werden, dass nur in der Interaktion mit Anderen fundamentale mathematische Lernprozesse angeregt werden können, die hoch individuell sind und vom Vorwissen abhängen. Diese Sichtweise auf mathematische Lernprozesse ist so natürlicherweise an individuellen Entwicklungen orientiert und ermöglicht zieldifferentes mathematisches Lernen. Der Frage, wie genau (mathematische) Lernprozesse in der und durch die Interaktion (weiter)entwickelt werden, wird in den folgenden Abschnitten nachgegangen. Dabei wird zunächst eine interaktionistische Perspektive (Krummheuer, 1984; Krummheuer & Voigt, 1991) eingenommen. Die interaktionistische Perspektive basiert auf der bereits geschilderten Auffassung, dass jeder Mensch die Umwelt anders wahrnimmt und jede Situation für sich subjektiv deutet. Dadurch gibt der Mensch dem aktuellen Geschehen einen Sinn und wird ‚handlungsfähig‘. Diesen Prozess nennt Krummheuer „Situationsdefinition“ (Krummheuer, 1984, S. 286). Dabei ist „eine Situationsdefinition [...] prozeßhaft organisiert. Sie ist immer unabgeschlossen und vorläufig. Sie wird im Handlungsprozeß von einem Individuum erzeugt und ständig in der Auseinandersetzung mit den wahrgenommenen Situationsdefinitionen der anderen Beteiligten weiterentwickelt.“ (Krummheuer, 1984, S. 286)
Auf den Mathematikunterricht bezogen bedeutet das, dass jeder – sowohl Kinder als auch Lehrkräfte und andere beteiligte Personen – das Unterrichtsgeschehen und die in dem Zusammenhang stattfindende Interaktion subjektiv wahrnimmt und interpretiert. Daraus folgt, dass diese individuellen Sinnzuschreibungen einer identischen Situation heterogen ausfallen können. Grundlage bei einer solchen Situationsdefinition sind die jeweiligen Vorerfahrungen und Vorkenntnisse jedes Einzelnen, die im Laufe des Lebens gesammelt und entwickelt wurden (ebd., S. 286 f.). Nach Krummheuer legt der Erfahrungsreichtum eines Lernenden die (Primär-)„Rahmung“ (grundlegendes Handlungs- und Deutungsschema) fest, unter der eine (Unterrichts-)Situation gedeutet wird (ebd., S. 287). Anzunehmen ist, dass dieser Erfahrungsreichtum der Kinder und somit die Deutungen derselben Unterrichtssituation in einer inklusiven Klasse aufgrund der hohen Heterogenitätsspanne besonders unterschiedlich ausfallen. Treten die am Unterrichtsgeschehen beteiligten Personen nun in Interaktion, kommt es zu
2.3 Entwicklung mathematischer Lernprozesse in der Interaktion
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einem gegenseitigen Austausch dieser heterogenen Situationsdefinitionen. So werden alternative Handlungs- und Deutungsschemata (auch als Deutungsmuster sinnzusammenhängend zusammengefasst) erfahren, die den eigenen ähneln, diese ergänzen, erweitern und/oder konträr dazu stehen (auch Rahmungsdifferenzen genannt). In der Auseinandersetzung mit diesen werden eigene Situationsdefinitionen, also eigene Deutungsmuster weiterentwickelt (vgl. obiges Zitat). Diese auf sozial geteilte und auf Konventionen beruhende Transformation des Primärrahmens nennt Krummheuer „Modulation“ (ebd. S. 287; auch Rahmungsmodulation). „Das Ergebnis einer Modulation läßt sich [...] wieder als ein Deutungsmuster verstehen und wird als ‚Rahmen‘ bzw. zur Hervorhebung als ‚abgeleiteter Rahmen‘ bezeichnet“ (ebd., S. 287). Erneut auf den Mathematikunterricht bezogen „lassen sich die Vorgänge des ‚Veranschaulichens‘, ‚Vereinfachens‘, ‚Konkretisierens‘, ‚Abstrahierens‘, ‚Übertragens‘, ‚Analogiebildens‘, ‚Querverweisens‘, ‚sprachlichen Umschreibens‘ usw. in den dazugehörigen Kommunikationsprozessen als Modulationen beschreiben [...]. Sie alle stellen u. a. Transformationen dar, die bereits (primär-)gerahmte Begriffe oder Operationen gemäß gemeinsam erarbeiteter Verabredungen und Vereinbarungen (Modulationen) in einem neuen Lichte, unter einem neuen Blickwinkel (Rahmung) erscheinen lassen.“ (Krummheuer, 1984, S. 287)
Voneinander verschiedene Situationsdefinitionen entwickeln sich aber nicht nur, weil die Personen auf Grundlage ihrer heterogenen Rahmung individuelle Interpretationen einer Situation vollziehen. Vielmehr ist ebenso jede Situation, jedes Geschehen, jedes Objekt nicht eindeutig, sondern mehrdeutig. Folglich können in der Interaktion im Mathematikunterricht mathematische Objekte wie Bilder, Darstellungen und Terme auf unterschiedliche Weise interpretiert werden, da sie mehrdeutig sind (Mayer, 2018; Voigt, 1990, 1994). Kommt es nun in der Interaktion zu einer gemeinsamen Bedeutungsaushandlung mit dem Ziel, dass die Interaktion nicht abbricht, sondern fortgeführt werden kann, spricht Krummheuer von der Herstellung eines „Arbeitsinterims“ (Krummheuer, 1984, S. 288 ff.). Kennzeichnend für ein Arbeitsinterim sind eine gemeinsame Ausdrucksweise, eine äußere Übereinstimmung der Handlungsschritte, eine Einigung auf Erfahrungsbereiche, eine jederzeitige Auflösbarkeit oder Kündbarkeit der bis auf weiteres geltenden Übereinkunft sowie eine leichte Herstellbarkeit der Übereinkunft (für genaue Erklärungen der einzelnen Aspekte vgl. ebd., S. 289 f.). Durch diese Kennzeichen wird deutlich, dass ein Arbeitsinterim nicht zwangsläufig bedeutet, dass die Interaktionsteilnehmer die Situation und die mathematischen Inhalte gleich interpretieren müssen. Vielmehr geht es darum, dass es eine gemeinsame Grundlage gibt – beispielsweise eine gemeinsame Ausdrucksweise oder eine äußere Übereinstimmung der Handlungsschritte –, auf der interagiert und gemeinsam gearbeitet werden kann (ebd. S. 289). Sowohl die heterogenen Rahmungen der Beteiligten als auch die Mehrdeutigkeit der Situation und Objekte können als Anlass gesehen werden, über Mathematik ins Gespräch zu kommen. Dies sieht Nührenbörger als Chance für den
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2. Interaktiv-kooperatives Lernen im inklusiven Mathematikunterricht
Diskurs über Mathematik von Kindern im (jahrgangsgemischten) Anfangsunterricht (Nührenbörger, 2009a; 2009b) und kann für diese Arbeit auf den inklusiven Mathematikunterricht übertragen werden: Durch das gemeinsame Arbeiten und den Austausch über mathematische Inhalte können Rahmungsdifferenzen wahrgenommen werden, woraufhin individuelle Rahmungen modifiziert werden müssen, damit die Interaktion fortgeführt werden kann. Es kommt zu einer Rahmungsmodulation, die die Herstellung eines Arbeitsinterims und somit weitere Interaktion ermöglicht. Wird kein gemeinsames Arbeitsinterim hergestellt, findet also keine gemeinsame Bedeutungsaushandlung statt, dann bricht die Interaktion und somit auch das Gespräch über Mathematik ab (s. o.; Krummheuer, 1984). In Anlehnung an Krummheuer kann infolge dieser Ausführungen zur interaktionistischen Perspektive von Lernen gesprochen werden, wenn eine Bedeutungsaushandlung und somit eine Rahmungsmodulation stattfindet, denn es ist ein Anzeichen dafür, dass gewohnte Deutungs- und Handlungsschemata bzw. Deutungsmuster ausdifferenziert und/oder um neue Gesichtspunkte ergänzt wurden (ebd., S. 287 ff.). Da die Herstellung eines Arbeitsinterims nicht gleichzusetzen ist mit der geteilten Interpretation mathematischer Inhalte (s. o.), ist eine erfolgreiche und fortlaufende Interaktion über einen gemeinsamen Gegenstand sowie individuelle Rahmungsprozesse – also individuelles und zieldifferentes Lernen – auch im inklusiven Mathematikunterricht generell möglich. Es ist jedoch anzunehmen, dass die Herstellung eines Arbeitsinterims aufgrund der erhöhten Heterogenitätsspanne möglicherweise erschwert wird und somit der Interaktionsprozess besonderer Unterstützung und Struktur bedarf, wie bereits in Kapitel 2.2 herausgestellt wurde. 2.3.3 Entwicklung mathematischer Lernprozesse in der Interaktion aus epistemologischer Perspektive Die epistemologische Perspektive ist nicht klar von der interaktionistischen Perspektive abzugrenzen. Vielmehr finden eine Erweiterung und Ergänzung statt, indem der Fokus mehr auf die Besonderheit der Entwicklung mathematischen Wissens in der Interaktion gelegt wird, während bei der interaktionistischen Perspektive die Analyse der sozialen Interaktions- und Austauschprozesse im Fokus steht. Steinbring (2005) knüpft an Millers Theorie (vgl. Kap. 2.3.1) an und überträgt diese auf mathematische Lernprozesse. Er beschreibt sozialkommunikative Prozesse, bei denen es um mehr geht als (nur) Faktenwissen auszutauschen. Vielmehr wird durch Be- und Verarbeitung, Kontrastierungen, Widersprüche und/oder Umdeutungen neues mathematisches Wissen entwickelt (ebd.).
2.3 Entwicklung mathematischer Lernprozesse in der Interaktion
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„The subject matter of ‚mathematics’ is [...] not understood as a pregiven finished product, but interpreted according to epistemological conditions of the dynamic, interactive development.“ (Steinbring, 2005, S. 34)
Mathematik ist folglich kein fertiges Produkt, sondern wird in der Interaktion (re)konstruiert. Die Besonderheit der Mathematik ist, dass zur Erfassung und Kodierung bestimmte Zeichen und Symbole (sign or symbol systems) erforderlich sind, denen Bedeutungen zugeschrieben werden müssen: “Every mathematical knowledge requires certain sign or symbol systems to gasp and code the knowledge. [...] These signs, on their own, do not have a meaning. The meaning of a mathematical sign has to be constructed by the student. [...] In order to obtain meaning, mathematical sign systems require suitable reference contexts. Meaning for mathematical concepts are actively constructed [...] as interrelationships between sign/symbol system and reference context/objects fields.” (Steinbring, 2005, S. 21)
Obwohl die Zeichen und Symbole konkret erfassbare und konventionelle Einheiten darstellen, muss jeder Lernende deren Bedeutung neu herstellen sowie sie auf das bereits vorhandene Wissen hin einordnen und reflektieren. Vor dem Hintergrund geeigneter Referenzkontexte (refernce contexts) werden sie individuell interpretiert. Das bedeutet, das gleiche Zeichen/Symbole unterschiedlich gedeutet werden können. Mathematische Begriffe und Konzepte werden dem Zitat zufolge in einer Wechselbeziehung zwischen Zeichen/Symbole-System und Referenzkontext konstruiert (Steinbring, 2000; 2005). Nührenbörger fasst den besonderen epistemologischen Charakter mathematischer Zeichen wie folgt zusammen und hebt dabei deren Kombination miteinander hervor: „[Er] besteht zum einen darin, dass diese miteinander zu neuen Zeichen kombiniert werden können. Zum anderen beziehen sich die Zeichen letztlich immer auf eine universelle begriffliche Idee und nicht ‚semiotisch‘ auf konkrete, empirische Objekte.“ (Nührenbörger, 2009b, S. 151)
Beispielsweise stehen die mathematischen Zeichen, wie etwa die Ziffern ‚2‘ und ‚3‘ für die Zahlen ‚zwei‘ und ‚drei‘. Sie stellen also von Beginn an eine abstrakte Begriffsidee dar und sind durch strukturelle Bezüge gekennzeichnet. Die Zeichen können vor dem Hintergrund verschiedener Referenzkontexte (z. B. zwei und drei Plättchen auf dem 20er-Feld, Nachbarzahlen auf der 20er-Tafel, ihre Differenz ist 1, 2+3=5, 2Z und 3E im Stellenwertsystem also die Zahl ‚dreiundzwanzig‘ usw.) gedeutet werden, die ihrerseits nicht gezwungenermaßen die Zeichen ‚2‘ und ‚3‘ im eigentlichen Sinne klären (ebd., S. 151). Die Interaktion ermöglicht es dem Lernenden, eigene Deutungen in Bezug zu anderen Sichtweisen zu setzen und diese auszudifferenzieren. Dabei werden sowohl die Zeichen/Symbole als auch der zunächst herangezogene Referenzkontext reflektiert, modifiziert, differenziert, weiterentwickelt und verallgemeinert. So löst sich der Lernende allmählich von den zunächst rein empirisch, an der konkreten Situation gedeuteten, Zeichen/Symbolen und gelangt zunehmend
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2. Interaktiv-kooperatives Lernen im inklusiven Mathematikunterricht
zu einem strukturellen Verständnis mathematischen Wissens (Nührenbörger & Schwarzkopf, 2010; Steinbring, 2000, 2005; vgl. auch Kap. 7.2.2). Lernen findet folglich nach epistemologischer Perspektive in einem „Spannung[sfeld] zwischen einer anfänglich empirischen Deutung elementarer mathematischer Begriffe und einem Verständnis, daß mathematische Beziehungen und Strukturen in symbolisierter und operativer Weise verkörpert“, statt (Steinbring, 2000, S. 45). Dass dieselben Zeichen und Symbole vor dem Hintergrund heterogener Referenzkontexte individuell gedeutet werden können, ermöglicht nach dieser Sichtweise ‚Gemeinsames Mathematiklernen‘ an einem gemeinsamen Gegenstand. Es ist jedoch anzunehmen, dass die individuellen Deutungen derselben Zeichen und Symbole aufgrund der erhöhten Heterogenitätsspanne divergieren, sodass eine Interaktion erschwert wird und ggf. besonderer Unterstützung und Struktur bedarf, wie bereits im Zusammenhang mit der interaktionistischen Perspektive herausgestellt wurde. Die dargestellte interaktionistische und epistemologische Perspektive auf die Entwicklung mathematischer interaktiv-kooperativer Lernprozesse bietet eine theoretische Grundlage für die Analysen in der vorliegenden Arbeit, um sowohl Interaktions- als auch mathematische Lernprozesse rekonstruieren zu können. Sie werden daher in Kapitel 7.2.2 wieder aufgegriffen, in dem die Methoden der Auswertung dargelegt werden. Zusammenfassung und Konklusion des Kapitels 2.3 für die vorliegende Arbeit: Aus den theoretischen Ausführungen dieses Kapitels lassen sich folgende Konsequenzen mit Bezug auf die Eingangsfrage, wie überhaupt (gemeinsam) gelernt wird und was dies für das Lehren im inklusiven Kontext bedeutet, zusammenfassen: In Anlehnung an die konstruktivistische Lerntheorie bedarf es einer aktiven Einbindung aller Kinder unter Berücksichtigung heterogener Lernvoraussetzungen im Sinne des aktiv-entdeckenden Lernens (Kap. 2.3.1). Dabei muss Lernen in Sinnzusammenhängen durch mathematische Tätigkeiten wie beispielsweise das Entdecken und Begründen von Beziehungen und Lösungsstrategien angeregt werden (Kap. 2.3.1). Im Sinne des Spiralprinzips müssen Fertigkeiten und Strategien sowie Lerngegenstände und Aufgabenformate für verschiedene Entwicklungsniveaus und Unterstützungsbedürfnisse aufgegriffen und adaptiert werden, sodass sich differenzierende Lerngelegenheiten bieten, die heterogene Konstruktionsprozesse anregen (Kap. 2.3.1). Dabei müssen gezielt diskursive und interaktiv-kooperative Lernaktivitäten eingesetzt werden, um durch die individuellen Deutungen anderer, über
2.3 Entwicklung mathematischer Lernprozesse in der Interaktion
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‚produktive Irritationen’, individuelle strukturelle Lernprozesse anzuregen (Kap. 2.3.1). Sowohl die heterogenen Voraussetzungen der Kinder als auch die Mehrdeutigkeit der Mathematik sind ein Anlass, um über Mathematik ins Gespräch zu kommen (Kap. 2.3.2). Hierfür muss der gemeinsame Lerngegenstand unterschiedliche Zugänge sowie Handlungs- und Deutungsmuster zulassen (Mehrdeutigkeit), sodass es in der Interaktion zu einer Aushandlung mathematischer Handlungs- und Deutungsmuster kommen kann (Kap. 2.3.2). Zudem bedarf die Interaktion einer unterstützenden Struktur, die es möglich macht, (stark) divergierende Handlungs- und Deutungsmuster zusammenzubringen und eine gemeinsame Interaktionsgrundlage (Arbeitsinterim) herzustellen (Kap. 2.3.2). Dabei ist die Herstellung eines Arbeitsinterims nicht gleichzusetzen mit der geteilten Interpretation mathematischer Inhalte. Daher ist eine erfolgreiche und fortlaufende Interaktion über einen gemeinsamen Gegenstand sowie individuelles und zieldifferentes Lernen im inklusiven Mathematikunterricht aus interaktionistischer Perspektive möglich (Kap. 2.3.2). Dieser Schluss wird durch die epistemologische Perspektive gestützt und ergänzt, die annimmt, dass dieselben Zeichen und Symbole vor dem Hintergrund heterogener Referenzkontexte individuell gedeutet werden können. Diese Perspektive ermöglicht ebenfalls ‚Gemeinsames Mathematiklernen‘ an einem gemeinsamen Lerngegenstand (Kap. 2.3.3). Die dargestellte interaktionistische und epistemologische Perspektive auf die Entwicklung mathematischer interaktiv-kooperativer Lernprozesse bietet eine theoretische Grundlage für die Analysen in der vorliegenden Arbeit, um sowohl Interaktions- als auch mathematische Lernprozesse rekonstruieren zu können (Kap. 2.3.3).
3 Individuell-zieldifferentes Lernen am gemeinsamen Lerngegenstand des flexiblen Rechnens „Die Tatsache, dass Kinder mit Rechenstörungen ‚anders‘ sind als andere Kinder, bedeutet nicht, dass auch die auf sie bezogenen mathematikdidaktischen Überlegungen ‚anders‘ sein müssen. Wir brauchen für sie keine ‚besondere‘ Mathematikdidaktik, sondern eine Mathematikdidaktik, die sich besonders intensiv auf mathematische Lösungs- und Lernprozesse konzentriert.“ (Schipper, 2009, S. 329)
Internationale Vergleichsstudien wie TIMSS (Trends in International Mathematics and Science Study) stellten wiederholt nicht mehr als basale mathematische Fähigkeiten und Fertigkeiten bei Kindern am Ende der vierten Jahrgangsstufe fest (Selter, Walter, Walther, & Wendt, 2016, S. 120 f.). Angesichts dieser Ergebnisse stellt sich die Frage, wie Kinder schon in der Grundschule unterstützt werden können und wie Unterricht gestaltet werden kann, um möglichst allen Kindern – über basale mathematische Fähigkeiten und Fertigkeiten hinaus – die Entwicklung sicherer und flexibler Rechenkompetenzen zu ermöglichen, die eine wesentliche Grundlage für erfolgreiches Weiterlernen in vielen Bereichen sowie für das alltägliche Leben darstellen. In diesem Sinne gilt das flexible Rechnen inzwischen als eines der zentralen Ziele des Mathematikunterrichtes in der Grundschule nicht nur für Kinder mit guten und durchschnittlichen Mathematikleistungen, sondern auch für Kinder mit eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten. Das Eingangszitat von Schipper deutet an, dass sich mathematikdidaktische Überlegungen für die beiden genannten Zielgruppen nicht voneinander unterscheiden müssen. Er fordert vielmehr allgemein einen Unterricht, der sich besonders intensiv auf mathematische Lösungs- und Lernprozesse konzentriert. So wurde das flexible Rechnen als eines der zentralen Ziele des Mathematikunterrichtes in der Grundschule im Bereich ‚Zahlen und Operationen’ im Mathematiklehrplan in Nordrhein-Westfahlen verankert (MSW, 2008, S. 63) und auch das Forschungsinteresse in diesem Bereich nahm zu (für eine Zusammenfassung vgl. auch Selter, 2003; Rathgeb-Schnierer, 2014a). Wenn man jedoch die verschiedenen Forschungsprojekte genauer betrachtet, wird deutlich, dass es neben unterschiedlichen Fragestellungen und Zielen ebenso ein differierendes Verständnis von flexiblem Rechnen und der daraus resultierenden Förderung dessen gibt (Rathgeb-Schnierer, 2014c; Star & Newton, 2009). Das Ziel dieses Kapitels besteht daher darin, den Lerngegenstand flexibles Rechnen für das vorliegende Projekt theoriebasiert zu spezifizieren und zu strukturieren. Die Besonderheit hierbei liegt auf dem individuell-zieldifferenten © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Korten, Gemeinsame Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht, Dortmunder Beiträge zur Entwicklungund Erforschung des Mathematikunterrichts 44, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30648-9_4
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3 Individuell-zieldifferentes Lernen am gemeinsamen Lerngegenstand des flexiblen Rechnens
Lernen im inklusiven Mathematikunterricht an diesem gemeinsamen Lerngegenstand. Des Weiteren wird in Kapitel 3 eine Grundlage für die spätere Operationalisierung und Kategorisierung dieser zieldifferenten Lernprozesse geschaffen. In Kapitel 3.1 ‚Flexibles Rechnen‘ werden hierfür zunächst die verschiedenen grundlegenden Modelle und Definitionen zur Entwicklung flexiblen Rechnens skizziert, um im Anschluss das dieser empirischen Studie zugrunde liegende Verständnis detailliert darzustellen (Kap. 3.1.1). Auf dieser Grundlage werden relevante Forschungsergebnisse (Kap. 3.1.2) und Indikatoren für flexibles Rechnen (Kap. 3.1.3) aufgezeigt. Dieses zugrundeliegende Verständnis wird im späteren Verlauf sowohl das Design des Lehr-Lern-Arrangements als auch das der Erhebung sowie die Analyse der Daten und die Interpretation der Ergebnisse maßgeblich beeinflussen. Ebenso bedingt das Verständnis die Ansätze zur Förderung flexibler Rechenkompetenzen, die Thema des darauffolgenden Kapitels 3.2 ‚Flexibles Rechnen fördern’ sind. Dabei werden zunächst relevante didaktische Ideen aus der Mathematikdidaktik (Kap. 3.2.1) sowie der Sonderpädagogik des Lernens (Kap. 3.2.2) erörtert. In diesem Zusammenhang wird die Auswahl des Lerngegenstandes für den inklusiven Mathematikunterricht und somit für die vorliegende empirische Forschungsarbeit begründet. Hierfür wird u. a. auf die Entwicklung und Förderung flexiblen Rechnens in der sozialen Interaktion und Kooperation eingegangen (Kap. 3.2.3), bevor anschließend, aus den Vorüberlegungen abgeleitet, in Kapitel 3.3 ein Modell entwickelt wird, das es später ermöglichen soll, stark heterogene Lernprozesse im inklusiven Mathematikunterricht zu rekonstruieren (Kap. 3.3.1). Das Kapitel schließt mit einer tabellarischen Zusammenfassung von Referenzen und Lösungswerkzeugen, die bei Lösungsprozessen im Bereich der Addition eine Rolle spielen und in der Studie zur Operationalisierung von Lösungs- und Lernprozessen herangezogen werden (Kap. 3.3.2 und 3.3.3). Diesbezüglich sei an dieser Stelle betont, dass sich die folgenden Ausführungen und Analysen zum flexiblen Rechnen hauptsächlich auf die Addition beziehen, da das Lehr-Lern-Arrangement dieses Projektes die zieldifferente Förderung des flexiblen Rechnens im Bereich der Addition ermöglichen soll. Das vorliegende Kapitel ‚Individuell-zieldifferentes Lernen am gemeinsamen Lerngegenstand des flexiblen Rechnens’ stellt den zweiten theoretischen Grundbaustein der Untersuchung dar. Er ergänzt den ersten theoretischen Grundbaustein ‚Interaktiv-kooperatives Lernen im inklusiven Mathematikunterricht’ (vgl. Kap. 2). Gemeinsam bilden sie die Grundlage für die Entwicklung des Lehr-Lern-Arrangements im Rahmen der vorliegenden Arbeit sowie für die anschließende Analyse und Interpretation der Daten. Diese doppelte theoretische Perspektive ist für das vorliegende Forschungsprojekt zielführend, denn aus dem Eingangskapitel ließ sich schlussfolgern, dass die gezielte Anregung von Lernsituationen, in denen interaktiv-kooperativ, aber gleichzeitig auch indi-
3.1 Flexibles Rechnen
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viduell-zieldifferent gelernt wird, für das ‚Gemeinsame Mathematiklernen‘ im Sinne der Inklusion eine Notwendigkeit darstellt (vgl. Kap. 1). Um folglich ‚Gemeinsames Mathematiklernen‘ am gemeinsamen Gegenstand anzuregen und dieses zu beforschen, sind beide theoretischen Grundbausteine bei der Entwicklung des Lehr-Lern-Arrangements sowie bei der Analyse und Interpretation der angeregten Prozesse einzubeziehen.
3.1
Flexibles Rechnen
Die Bedeutung der Förderung und Entwicklung flexibler Rechenkompetenzen und die damit zusammenhängende Nutzung operativer Beziehungen gilt, wie bereits erwähnt, als zentrales Ziel im Arithmetikunterricht der Grundschule (Gaidoschik, 2010; Lorenz, 1997; Rathgeb-Schnierer, 2006; 2011; Schütte, 2004; Selter, 2000; 2009; Threlfall, 2002; 2009). Auch für Kinder mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf im Bereich ‚Lernen‘ und anderen kognitiven Einschränkungen ist dieses Ziel von Bedeutung, um sich vom zählenden Rechnen zu lösen (Gaidoschik, 2009; Häsel-Weide, 2016a; 2016b; Häsel-Weide, et al., 2013; Rechtsteiner-Merz, 2011; Scherer & Moser Opitz, 2010). Zwar betonen Lehrkräfte besonders die Schwierigkeit, das ‚Gemeinsame Lernen‘ im Arithmetikunterricht der Schulpraxis zu implementieren (Korff, 2015), dennoch gibt es kaum empirische Erkenntnisse über Lehransätze oder Lehr- und Lernprozesse zur Entwicklung und Förderung des flexiblen Rechnens im inklusiven Mathematikunterricht. Aufbauend auf diesem Problem aus der Schulpraxis konzentriert sich diese Studie auf die individuell-zieldifferente Förderung des flexiblen Rechnens in einem inklusiven Klassenzimmer, während mit- und voneinander gelernt wird. 3.1.1 Flexibles Rechnen – Begriffsklärung und Modelle Begriffsklärung Die Entwicklung flexibler Rechenkompetenzen ist nicht nur ein zentrales Ziel, sondern auch eine ‚kritische Stelle’ in jedem Lernprozess (Häsel-Weide & Nührenbörger, 2012, S. 16 ff.; Verschaffel, Luwel, Torbeyns, & van Dooren, 2009, S. 535). Dies gilt besonders für Kinder mit Lernschwierigkeiten und sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf, da sie den damit verbundenen Blick auf strukturelle Zusammenhänge und operative Beziehungen häufig nicht von sich aus automatisch einnehmen (Scherer & Moser Opitz, 2010, S. 69). Im Entwicklungsprozess flexibler Rechenkompetenzen sollen fehleranfällige und somit nicht tragfähige Zählstrategien durch vorteilhaftere Rechenstrategien ersetzt werden. Gaidoschik fordert in diesem Zusammenhang eine Fokussierung auf strukturelle Zusammenhänge und operative Beziehungen von Anfang an, um dem verfestigten zählenden Rechnen möglichst früh entgegenzuwirken (Gai-
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3 Individuell-zieldifferentes Lernen am gemeinsamen Lerngegenstand des flexiblen Rechnens
doschik, 2014b, S. 120). Allgemein handelt es sich hierbei um einen komplexen kognitiven Prozess, wie Heinze, Star und Verschaffel (2009) erläutern: “The flexible and adaptive use of strategies and representations is part of a cognitive variability, which enables individuals to solve problems quickly and accurately. The development of these abilities is not simply based on growing experience; instead, we can assume that their acquisition is based on complex cognitive processes.” (Heinze, Star, & Verschaffel, 2009, S. 535)
Zudem ist es heutzutage unumstritten, dass in diesem komplexen kognitiven Prozess mathematische Aufgaben nicht nur schnell und richtig gelöst werden sollen, sondern auch zunehmend flexibel und adaptiv (Heinze et al., 2009; Rechtsteiner-Merz & Rathgeb-Schnierer, 2016; Threlfall, 2009): “There is a broad consensus in mathematics education that individuals should be able to solve mathematical tasks not only quickly and accurately, but also adaptively, i.e., individuals should acquire the ability to solve mathematical tasks flexibly by a diversity of meaningfully acquired strategies and representations, taking into account the subject, task and/or context characteristics.” (Heinze et al., 2009, S. 535)
Die aktuelle Literatur bietet jedoch verschiedene Definitionen zum flexiblen Rechnen, die die beiden Aspekte der Flexibilität und Adaptivität unterschiedlich interpretieren. In den meisten Fällen wird Flexibilität als die Möglichkeit verstanden, zwischen verschiedenen Lösungswerkzeugen zu wechseln, während im Zusammenhang mit dem Begriff Adaptivität die Auswahl der am besten geeigneten Strategie, also eines möglichst aufgabenadäquaten Handelns, stärker betont wird (u. a. Rathgeb-Schnierer & Green, 2013; Selter, 2009; Verschaffel et al., 2009). Aber was genau mit Adaptivität gemeint ist und woran die Adäquatheit eines Lösungsweges gemessen wird, wird unterschiedlich verstanden (u. a. auch diskutiert in Rathgeb-Schnierer, 2010a; 2011; 2014c; Rechtsteiner-Merz, 2013; Rechtsteiner-Merz & Rathgeb-Schnierer, 2016; Verschaffel et al., 2009). Blöte, van der Burg und Klein (2001) sprechen beispielsweise von der Adaptivität und Adäquatheit des gewählten Lösungsweges und der Aufgabencharakteristik. Sie rücken damit die Frage nach der Eignung einer Strategie zu den jeweiligen Merkmalen einer zu lösenden Aufgabe in den Fokus. Verschaffels et al. (2009) Interpretation hingegen fokussiert eher die Adaptivität der Lösungsmethode im Zusammenhang mit der Lösungsrichtigkeit und der Lösungsgeschwindigkeit. Selter (2009) erweitert die Konnotation Adaptivität um den Begriff Kreativität und ergänzt damit das Erfinden neuer oder das Erweitern bestehender Strategien, um eine Rechenaufgabe zu lösen. Demnach bedeutet für ihn Adaptivität die Fähigkeit, aus bekannten Strategien entweder flexibel auszuwählen oder diese kreativ neu zu entwickeln. Rathgeb-Schnierer (2011), Rathgeb-Schnierer und Green (2013) sowie auch Threlfall (2002; 2009) sprechen von der Adaptivität in Zusammenhang mit kognitiven Elementen, wie beispielsweise die Fähigkeit des Erkennens und
3.1 Flexibles Rechnen
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Nutzens von Zahl- und Aufgabeneigenschaften und -beziehungen, die einem Lösungsprozess zugrunde liegen. Es steht also die Frage im Vordergrund, auf welchen Referenzrahmen beim Lösen einer Aufgabe zurückgegriffen wird und ob dieser auf erlernte Verfahren oder im Lösungskontext wahrgenommene Beziehungen basiert (Rechtsteiner-Merz, 2013, S. 76, f.).20 Angesichts der Fokussierung auf Zahl- und Aufgabeneigenschaften und beziehungen wird in diesem Projekt unter Bezugnahme auf Rathgeb-Schnierer und Green (u. a. Rathgeb-Schnierer, 2011; Rathgeb-Schnierer und Green, 2013) flexibles Rechnen wie folgt interpretiert: Flexibilität ist, wie oben beschrieben, die Möglichkeit, zwischen verschiedenen Lösungswerkzeugen flexibel zu wechseln. Adaptivität steht in engem Bezug zur Erkennung und Nutzung von Eigenschaften und Beziehungen von Zahlen und Aufgaben. In diesem Sinne, sowie in Bezug auf Selters (2009) Ergänzung der Kreativität, ist Adaptivität in jeder neuen Situation eine kreative Entwicklung eines Lösungsprozesses, immer abhängig von erkannten Eigenschaften und Beziehungen von Zahlen und Aufgaben. Nach diesem Verständnis steckt hinter flexiblem Rechnen mehr als die bloße flexible und möglichst adaptive Auswahl aus einem Repertoire bekannter Strategien. Folglich ist flexibles Rechnen im Sinne eines aufgabenadäquaten Handelns eine situationsabhängige und individuelle Reaktion auf spezifische Eigenschaften und Beziehungen von Zahlen und Aufgaben und die entsprechende Konstruktion eines Lösungsprozesses mit strategischen (Lösungs-)Werkzeugen. Es steht daher stets in Abhängigkeit von spezifischen Aufgabenmerkmalen und den kognitiven Mitteln und Vorerfahrungen des Lernenden (Rathgeb-Schnierer, 2011; Rathgeb-Schnierer & Green, 2013; Threlfall, 2002).
Die Adäquatheit eines Lösungsprozesses ist daher – obwohl sie von den kognitiven Mitteln und Vorerfahrungen des Lernenden abhängig ist – nicht beliebig, sondern die arithmetischen Eigenschaften und Beziehungen der zu lösenden Aufgabe geben adäquate Wege vor. Die zunehmende Wahrnehmung und Nutzung dieser Eigenschaften und Beziehungen ermöglicht zunehmende Adäquatheit und Flexibilität beim Rechnen (ebd.). Dieses breite Verständnis ermöglicht vielfältige Zugänge und Lernprozesse sowie eine zieldifferente Förderung, indem nicht nur der Erwerb und die Nutzung von Lösungswerkzeugen unterstützt, sondern insbesondere ein Schwer20 Für eine detailliertere Diskussion dieser unterschiedlichen Ansätze wird ebenso auf Rechtsteiner-Merz (2013, S. 74, f.) verwiesen.
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3 Individuell-zieldifferentes Lernen am gemeinsamen Lerngegenstand des flexiblen Rechnens
punkt auf die Wahrnehmung von Aufgabeneigenschaften, Zahlenmustern und arithmetischen Beziehungen gelegt wird. Grundlegende Modelle Grundlegend wird im Zusammenhang mit den dargestellten differierenden – jedoch nicht immer klar voneinander abgrenzbaren – Definitionen zum flexiblen Rechnen zwischen drei Modellen unterschieden, die den Blick auf die Entwicklung, Beforschung und Förderung flexiblen Rechnens beeinflussen (i. A. a. Rathgeb-Schnierer, 2010a; 2011): Das ‚Modell der Strategiewahl’ Das ‚Modell der Emergenz’ Das ‚Mehrebenenmodell’ Die soeben kontrastierten Definitionen zum flexiblen Rechnen lassen sich meist einem dieser Modelle zuordnen. Sie werden daher im Folgenden kurz erläutert und ihre Gemeinsamkeiten, Unterschiede und die daraus resultierenden unterschiedlichen Forschungsansätze herausgearbeitet, deren Ergebnisse dann im darauffolgenden Kapitel 3.1.2 zusammengefasst werden. Das ‚Modell der Strategiewahl’ Im Modell der Strategiewahl (Ausführungen erfolgen i. A. a. Rathgeb-Schnierer, 2010a, S. 262; 2011, S. 18) steht die Fähigkeit im Mittelpunkt, für eine Aufgabe eine möglichst passende Lösungsstrategie auszuwählen. Dies kann bewusst oder unbewusst geschehen. Flexibilität beschreibt in diesem Modell demnach die Fähigkeit, zwischen verschiedenen Strategien eine Auswahl zu treffen. Diese Strategien werden im Laufe der Zeit erworben und gelten als ein Repertoire, aus dem gewählt werden kann. Adäquatheit ist in diesem Zusammenhang dann die Fähigkeit, eine möglichst passende und geschickte Strategie aus diesem Strategierepertoire zu wählen. Dabei findet die Betrachtung des Lösungsprozesses nur auf der Ebene der gewählten Strategie statt und ist eher produktorientiert (Rathgeb-Schnierer & Green, 2013). Demnach kann ein flexibler Rechner für eine bestimmte Aufgabe eine für die Aufgabencharakteristika adäquate Lösungsstrategie auswählen. Der Fokus der Forschungsarbeiten, die dieses Modell zugrunde legen, liegt auf der Untersuchung des Strategierepertoires sowie der Häufigkeit, Effektivität und Adäquatheit der Strategiewahl aus einem solchen Strategierepertoire. Diese bedienen sich überwiegend quantitativer Methoden (u. a. Heinze et al., 2009; Siegler & Lemaire, 1997; Torbeyns, Verschaffel & Ghesquière, 2005). Die Definitionen von Verschaffel et al. (2009) und Selter (2009) lassen sich überwiegend dem ‚Modell der Strategiewahl’ zuordnen. Jedoch ergänzen beide neue Gesichtspunkte, die den Blick überdies für einen situationsbedingten Lö-
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sungsprozess und das Individuum öffnen und somit ebenso Aspekte des Emergenzmodells enthalten, das im weiteren Verlauf beschrieben wird. Verschaffel et al. (2009, S. 339 ff.) argumentieren beispielsweise, dass die Adäquatheit und Adaptivität eines Lösungsweges nicht nur von Aufgabencharakteristika abhängen, sondern ebenso das Individuum und der (soziokulturelle) Kontext, in dem die Aufgabe gelöst wird, eine Rolle spielen. „[W]e consider two groups of factors that need to be incorporated into a comprehensive concept of adaptivity, besides task variables, namely subject and context variables.“ (Verschaffel et al., 2009, S. 339)
Selter (2009, S. 620 ff.) betont den Unterschied zwischen der Wahl einer bekannten Strategie aus einem Strategierepertoire und der kreativen Erfindung einer unbekannten Strategie. Er erweitert somit den Begriff der Adaptivität um den der Kreativität (s. o.) und legt dadurch einen Fokus auf die Erarbeitung neuer oder die Modifizierung bestehender Strategien. Das ‚Modell der Emergenz’ In diesem Modell (Ausführungen erfolgen i. A. a. Rathgeb-Schnierer, 2010a, S. 262 f.; 2011, S. 18) wird davon ausgegangen, dass eine Strategie, im Sinne eines kompletten Lösungsweges, nicht ausgewählt wird, sondern emergiert (Threlfall, 2002). „Flexibles Rechnen kann dementsprechend als situationsbedingtes, individuelles Reagieren auf spezifische Aufgabenmerkmale und die entsprechende Konstruktion eines Lösungsvorgehens unter Nutzung strategischer Werkzeuge beschrieben werden“ (Rathgeb-Schnierer, 2011, S. 18). Emergenz beschreibt in diesem Sinne die situationsbedingte spontane Herausbildung eines Lösungsvorgehens infolge des Zusammenspiels wahrgenommener mathematischer Strukturen und Eigenschaften sowie individueller Erfahrungen und kognitiver Elemente. Ein flexibler Rechner stützt sich demnach nicht auf gelernte Verfahren, sondern auf erkannte Aufgabenmerkmale und Zahlbeziehungen (vgl. Rathgeb-Schnierer, 2010a; 2011; Threlfall, 2002; 2009). Der Fokus der Forschungsarbeiten, die dieses Modell zugrunde legen, bezieht sich auf die Untersuchung von Zahl- und Operationswissen, auf das Erkennen von Zahlenund Aufgabenmerkmalen sowie auf die Nutzung und Kombination strategischer Werkzeuge (u. a. Rathgeb-Schnierer, 2006; Rechtsteiner-Merz, 2013; Threlfall, 2002). Um diesen eher prozessorientierten Blick (Rathgeb-Schnierer & Green, 2013) einzunehmen, werden bei diesem Modell vorwiegend qualitative Methoden eingesetzt. In Abgrenzung zu dem im Folgenden dargestellten ‚Mehrebenenmodell’, das drei Ebenen integriert, findet der Lösungsprozess im Sinne des Emergenzmodells auf zwei Ebenen statt: auf der Ebene der Lösungswerkzeuge und der Ebene der den Lösungswerkzeugen zugrunde liegenden Referenzen (RathgebSchnierer, 2011, S. 16 ff.; für eine Erläuterung dieser Begriffe s. u.). Diese beiden Ebenen stehen in einer engen Verbindung, denn es wird davon ausgegangen,
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3 Individuell-zieldifferentes Lernen am gemeinsamen Lerngegenstand des flexiblen Rechnens
dass der Lösungsweg abhängig von den im Prozess erkannten Aufgabenmerkmalen und Zahlbeziehungen, also den Referenzen, ist (ebd.). Aus der Sicht des ‚Modells der Strategiewahl’ hingegen findet ein Lösungsprozess ausschließlich auf der Ebene der Lösungswerkzeuge statt. Das ‚Mehrebenenmodell’ Das ‚Mehrebenenmodell’ greift das ‚Modell der Emergenz’ auf und erweitert es um eine dritte Ebene und zwar um die Formen eines Lösungsprozesses (Rathgeb-Schnierer, 2011, S. 16 ff.; Abb. 3.1). Ebenen des Lösungsprozesses
Formen
Referenzen
Lösungs‐ werkzeuge
Abbildung 3.1:
Schriftliches Rechnen
Halbschriftliches Rechnen
Kopfrechnen
Hilfsmittel
Verfahren
Aufgabenmerkmale Zahlbeziehungen
Zählen
Rückgriff auf Basisfakten
Strategische Werkzeuge
Die drei Ebenen eines Lösungsprozesses nach dem ‚Mehrebenenmodell’ von Rathgeb-Schnierer (2011, S. 16; s/w und inhaltlich unverändert nachgebaut von Korten)
Gemäß diesem Modell findet ein Lösungsprozess immer auf drei Ebenen statt: Formen und Lösungswerkzeuge sind verknüpft mit der Referenzebene, die sich auf kognitive, den Lösungsprozess stützende Elemente bezieht (ebd.). Dabei ist das „Lösen einer Aufgabe [...] ein komplexes Zusammenspiel von verschiedenen Elementen, denen unterschiedliche Rollen zukommen und die einen unterschiedlichen Explikationsgrad aufweisen“ (ebd., S. 16), auf die im Folgenden kurz eingegangen wird. Die Erläuterungen erfolgen in Anlehnung an RathgebSchnierer (2011) und Rechtsteiner-Merz (2013): Formen: Beim Lösen einer Aufgabe kann auf drei unterschiedliche Formen des Rechnens zurückgegriffen werden: auf das ‚Kopfrechnen‘, das ‚schriftliche Rechnen‘ und das ‚halbschriftliche Rechnen‘ (Rathgeb-Schnierer, 2011, S. 16, Abb. 3.1). Diese Formen reichen zum Lösen einer Aufgabe sowie zu einer detaillierten Rekonstruktion eines Lösungsprozesses nicht aus, sind aber für einen Beobachter deutlich sichtbar (ebd.).
3.1 Flexibles Rechnen
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Referenzen: Die Referenzebene fokussiert die kognitiven, den Lösungsprozess stützenden Elemente. Referenzen sind demnach individuelle Erfahrungen und kognitive Elemente, auf die sich die Kinder beim Lösen einer Aufgabe stützen. Einem Lösungsprozess können mehrere Referenzen gleichzeitig zugrunde liegen. Auf dieser Ebene unterscheidet Rathgeb-Schnierer (2011, S. 16) zwischen ‚Hilfsmitteln‘, u. a. auch Finger, die zur Lösung einer Aufgabe genutzt werden können, ‚Verfahren‘ im Sinne von fertigen Lösungsrezepten sowie erkannten ‚Aufgabenmerkmalen und Zahlbeziehungen‘, die Referenzkontext eines Lösungsprozesses sein können (Abb. 3.1). Rechsteiner-Merz (2013, S. 78) adaptiert, dieses Modell für ihr Forschungsprojekt über flexibles Rechnen und Zahlenblickschulung und erweitert den Aspekt ‚Aufgabenmerkmale und Zahlbeziehungen‘, indem sie die Begriffe ‚Zahl-, Term- und Aufgabenbeziehungen‘ nutzt (Abb. 3.2). Außerdem arbeitet sie heraus, dass „[a]uf ein Hilfsmittel [...] nicht singulär zurückgegriffen werden [kann], da in jedem Fall der Rückgriff auf Verfahren oder auf Beziehungen vollzogen wird – formal oder durch Anschauungsmittel gestützt“ (Rechtsteiner-Merz, 2013, S. 78). So wird nur noch zwischen zwei möglichen Referenzen unterschieden: ‚Verfahren‘ und ‚Zahl-, Term- und Aufgabenbeziehungen‘, die jeweils ‚gestützt‘ oder ‚formal‘ einem Lösungsprozess zugrunde liegen können (ebd., S. 78; Abb. 3.2). In diesem adaptierten Modell in Abbildung 3.2 ist auf der Ebene der Formen lediglich das ‚Kopfrechnen‘ abgebildet, da die Studie von Rechtsteiner-Merz (2013) – ebenso wie die vorliegende Studie – das Kopfrechnen fokussiert. Es dient als Grundlage für das im Rahmen dieser Forschungsarbeit eigens entwickelte Modell, das in Kapitel 3.3 vorgestellt wird. Lösungswerkzeuge: Im Gegensatz zur Referenzebene beziehen sich die Lösungswerkzeuge auf die Ebene der konkreten Lösung. Sie umfassen also Handlungen wie das ‚Zählen‘, den ‚Rückgriff auf Basisfakten‘ und die Nutzung ‚strategischer Werkzeuge‘, die auf der Ebene der konkreten Lösung durchgeführt werden (Rathgeb-Schnierer, 2011, S. 17; Abb. 3.1 und Abb. 3.2). Zudem stehen sie in enger Verbindung mit den Referenzen, denn es wird davon ausgegangen, dass der konkrete adäquate Lösungsprozess abhängig von den im Prozess erkannten Aufgabenmerkmalen und Zahlbeziehungen ist. Rathgeb-Schnierer (2011, S. 17) grenzt den Begriff ‚strategische Werkzeuge’ bewusst vom Begriff ‚Strategien’ ab, da dieser in der mathematikdidaktischen Literatur häufig im Sinne fertiger Lösungswege oder Handlungspläne, wie beispielsweise die Hauptstrategien des Zahlenrechnens (Selter, 2000, S. 231 ff.), gebraucht wird. Die strategischen Werkzeuge hingegen sprechen eher Handlungen an, durch die Aufgaben verändert und vereinfacht werden können. Rathgeb-Schnierer (2011) differenziert zwischen: Zerlegen und Zusammensetzen von Zahlen; gleich- oder gegensinnige Verändern; Nutzen von Hilfsaufgaben und Analogien (Rathgeb-Schnierer, 2011, S. 17).
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3 Individuell-zieldifferentes Lernen am gemeinsamen Lerngegenstand des flexiblen Rechnens
In diesem Sinne ist der Lösungsweg keine fertige Handlungsstrategie. Vielmehr bildet er sich in der Situation spontan und individuell aus und ist abhängig von den im Prozess erkannten Zahl-, Term- und Aufgabenbeziehungen. Ein flexibler Rechner stützt sich auch hier nicht auf gelernte Verfahren, sondern auf erkannte Beziehungen (Rathgeb-Schnierer, 2011; Rechtsteiner-Merz, 2013). Ebenen des Lösungsprozesses
Formen
Referenzen
Kopfrechnen
formal
Lösungs‐ werkzeuge
Abbildung 3.2:
Zahl‐, Term‐ und Aufgabenbeziehungen formal gestützt
Verfahren
Zählen
gestützt
Rückgriff auf Basisfakten
Strategische Werkzeuge
Adaption des ‚Mehrebenenmodells’ nach Rechtsteiner-Merz (2013, S. 78; s/w und inhaltlich unverändert nachgebaut von Korten; für das Original nach Rathgeb-Schnierer 2011, vgl. Abb. 3.1)
An das ‚Mehrebenenmodell’ und an dieses zuletzt erläuterte Verständnis strategischer Werkzeuge knüpft das vorliegende Projekt an (s. o. Begriffsklärung), was in einem zweiten Schritt den Förderansatz zum flexiblen Rechnen, der in Kapitel 3.2 dargestellt wird, beeinflusst. Dabei spielt vorwiegend die Form des Kopfrechnens (Abb. 3.2) eine Rolle, wie in Teil B dieser Arbeit zur Unterrichtsdesignentwicklung konkretisiert wird (Kap. 5 und 6). Die Fokussierung auf das Kopfrechnen ermöglicht es, den Lerngegenstand des flexiblen Rechnens für eine stark heterogene Schülerschaft im gemeinsamen Mathematikunterricht zugänglich zu machen, denn dadurch kann der Schwerpunkt auf einen verständnisbasierenden Zugang gelegt werden. Schriftliches Rechnen hingegen würde eher auf verfahrensorientierte Vorgehensweisen fokussieren und setzt ein gefestigtes tragfähiges Operations- und Zahlenbegriffsverständnis voraus, das besonders Kinder mit Rechenschwierigkeiten und sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf (noch) nicht entwickelt haben. Des Weiteren ist das halbschriftliche Rechnen erst in höheren Zahlenräumen sinnvoll und stellt daher für einige Kinder ebenso eine Überforderung dar. Das Kopfrechnen hingegen ist für alle relevant: Wahrgenommene Zusammenhänge und Beziehungen sowie die daraus
3.1 Flexibles Rechnen
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abgeleiteten strategischen Lösungswerkzeuge können von kleine auf große Zahlenräume übertragen, begründet und verallgemeinert werden. Diese breite Relevanz sowie die flexible Übertragbarkeit auf verschiedene Zahlenräume und Anforderungsbereiche (Walther, van den Heuvel-Panhuizen, Granzer, & Köller, 2008, S. 21) ermöglicht gleichzeitig eine gemeinsame Kommunikationsgrundlage und ein zieldifferentes Lernen mit- und voneinander. Bringt man diesen Fokus auf das Kopfrechnen in Zusammenhang mit den zuvor beschriebenen Vorstellungen zum flexiblen Rechnen, kann die rechte Seites des in Abbildung 3.2 dargestellten Modells, nämlich die Verbindung des ‚Kopfrechnens‘ mit ‚Zahl-, Term- und Aufgabenbeziehungen‘ sowie mit den ‚strategischen Werkzeugen‘ und dem ‚Rückgriff auf Basisfakten‘ als aufgabenadäquates Lösen verstanden werden an der eine Förderung flexibler Rechenkompetenzen ansetzen muss (Rechtsteiner-Merz, 2013, S. 77 f.). 3.1.2 Forschungsergebnisse zum flexiblen Rechnen Da das flexible Rechnen ein Ziel des Mathematikunterrichtes in der Grundschule ist, ist auch das Forschungsinteresse in diesem Bereich hoch. So wurden in den vergangenen Jahren einige Forschungsarbeiten publiziert, die sich mit dem flexiblen Rechnen auseinandersetzten, um dieses zu verstehen und Förderansätze zu generieren. An dieser Stelle werden einige Erkenntnisse dieser Forschungsarbeiten, die für die vorliegende Arbeit relevant sind, kurz dargelegt. Dies erfolgt in Anlehnung an eine Zusammenfassung von Rathgeb-Schnierer (2011, S. 20), die an dieser Stelle als Grundlage dient und detaillierter ausgeführt sowie durch weitere Forschungsergebnisse ergänzt wird. Schülerinnen und Schüler präferieren die Nutzung einer Standardrechenmethode und schriftliche Algorithmen: Selter (2000) untersuchte die Vorgehensweisen von 298 Grundschulkindern bei der Bearbeitung von Additions- und Subtraktionsaufgaben im Zahlenraum bis 1000. Er stellte heraus, dass die Kinder schriftliche Algorithmen nach deren Einführung präferieren (Selter, 2000, S. 249). Dabei ist die Strategiewahl unabhängig davon, ob diese zum Lösen einer Aufgabe unter Berücksichtigung ihrer Zahl- und Aufgabeneigenschaften adäquat ist. Auch vor der Einführung der schriftlichen Rechenverfahren zeigte sich ein stabiles Bild der Wahl der Rechenmethode, unabhängig davon, welche Aufgabe vorlag. So lösten drei Viertel aller Kinder alle Aufgaben mit derselben Methode. Wenn die Kinder eingeschlossen werden, die bei den insgesamt zwölf Aufgaben nur einmal abwichen, sind es sogar über 83 % aller Schülerinnen und Schüler (ebd., S. 250). Diese ‚Stabilitätstendenz‘ (ebd., S. 239) lässt auf mangelnde Flexibilität schließen. Auch Benz (2007) kam in einer Untersuchung über die Entwicklung von Rechenstrategien bei Aufgaben des Typs ZE+ZE bzw. ZE-ZE in einem zweiten Schuljahr zu ähnlichen Ergebnissen. Sie wies eine Fokussierung auf das stel-
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lenweise Rechnen nach, unabhängig davon, welche Aufgabe vorlag. Diese Fokussierung nahm nach der Einführung der schriftlichen Algorithmen weiterhin zu. Folglich weisen diese beiden Studien kaum aufgabenadäquates Handeln und eine Bevorzugung stellenweisen Rechnens und schriftlicher Algorithmen, unabhängig von deren Effektivität, nach. Die Vorgabe fester Lösungswege unterstützt die Förderung des flexiblen Rechnen nicht: Weitere Studien belegen, dass sich vorgegeben Lösungsstrategien negativ auf die Entwicklung flexibler Rechenkompetenzen auswirken können, da diese in Form von gelernten Prozeduren, meist ohne zugrunde liegendes Verständnis, genutzt werden (Klein & Beishuizen, 1998; Schütte, 2004; Torbeyns, De Smedt, Ghesquiere, & Verschaffel, 2009). Zudem tendieren Schülerinnen und Schüler dazu, den zuerst gelernten Lösungsweg vorwiegend anzuwenden, wie beispielsweise Klein und Beishuizen (1998, S. 460) in einer Studie feststellten, in der sie einen traditionellen Unterricht, in dem nur ein Rechenweg eingeführt wurde, mit einem offeneren Unterrichtsansatz verglichen, der verschiedene Rechenwege anbot. Torbeyns und Kollegen (Torbeyns et al., 2009, S. 8 ff.) bestätigten diese Erkenntnis, indem sie untersuchten, ob Kinder, die einen traditionellen Unterricht genossen hatten, nach Aufforderung oder spontan Strategien flexibel nutzen oder selbst entwickeln. Diese Forschungsprojekte verdeutlichen, dass erlernte ‚Musterlösungen’ oder ‚Hauptlösungswege’ nicht zur Nutzung verschiedener Rechenwege führen, selbst wenn Alternativen im Anschluss diskutiert werden und zu deren Nutzung aufgefordert wird. Sie wirken sich folglich negativ auf die Entwicklung flexibler Rechenkompetenzen aus. Scherer (1995) fasst im Rahmen ihrer Untersuchung über das ‚entdeckende Lernen‘ im Mathematikunterricht an der Schule für Kinder mit Unterstützungsbedarf im Bereich ‚Lernen‘ zusammen, dass die Vorgabe fester Lösungswege ausschließlich das Reproduzieren von Verfahren fördert, was dem zuvor beschriebenen konstruktivistischen Grundannahmen des Lernens widerspricht. Besonders berücksichtigt diese Art des didaktischen Vorgehens die mangelnde Transferfähigkeit von Kindern mit kognitiven Einschränkungen (vgl. Kap. 3.2.2) nicht. Sie lernen dabei ausschließlich, sich zu merken, wie es geht und dieses anschließend genau auf diese Weise umzusetzen (Scherer, 1995, S. 80). Die Wahl des Lösungsweges hängt von verschiedenen Faktoren ab: Vielfältige Studien zum flexiblen Gebrauch von Rechenstrategien beschäftigten sich mit den Einflussfaktoren auf die Nutzung unterschiedlicher Lösungswege: Zusammenfassend kann herausgestellt werden, dass die Art und Weise des Lösens einer Aufgabe von verschiedenen Faktoren abhängt, wie der Rechenoperation (Torbeyns et al., 2009), bestimmten aufgabeninhärenten Merkmalen (Blöte,
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Klein, & Beishuizen, 2000; Torbeyns et al., 2009) und dem Erkennen dieser Merkmale im Lösungskontext (Rathgeb-Schnierer, 2006, 2010a). Schülerinnen und Schüler, die flexibles Rechnen zeigen, zeichnen sich durch verschiedene Merkmale aus: Verschiedene Untersuchungen zeigen, dass sich flexible Rechner beim Lösen von Aufgaben auf erkannte Aufgabenmerkmale und Zahlbeziehungen stützen (Rathgeb-Schnierer, 2006, 2010a; Schütte, 2004; Threlfall, 2009). Dieser Aspekt der Merkmale flexibler Rechner bzw. der Indikatoren für flexibles Rechnen wird im Kapitel 3.1.3 genauer erörtert. Weitere Merkmale sind ein tragfähiges Zahl- und Operationsverständnis, ein verstehensbasiertes Beherrschen von Basisfakten, ebenso wie eine positive Einstellung zum Fach und zur Selbstwirksamkeit (u. a. Heirdsfield & Cooper, 2002; Threlfall, 2002). Die Entwicklung eigener Lösungswege und zunehmender Flexibilität kann gezielt gefördert werden: Rathgeb-Schnierer (2011, S. 20) fast zusammen: „Die Entwicklung eigener Lösungswege sowie die Entwicklung von Flexibilität kann durch entsprechende Unterrichtsansätze, z. B. das Lernen auf eigenen Wegen anhand komplexer Aufgabenstellungen, gefördert werden“ und bezieht sich dabei u. a. auf Heinze et al. (2009) sowie auf ihre Untersuchung zur Entwicklung von Rechenwegen bei Grundschulkindern auf der Grundlage offener Lernangebote und eigenständiger Lösungsansätze (Rathgeb-Schnierer, 2006). Detailliert zeigt sich, dass den Aktivitäten zur Schulung des Zahlenblicks hierbei eine zentrale Rolle zukommt (Rathgeb-Schnierer, 2006; Rechtsteiner-Merz, 2013; Schütte, 2004). Dies ist insbesondere bei Kindern, die Schwierigkeiten beim Rechnenlernen zeigen, der Fall (Rechtsteiner-Merz, 2013; Rechtsteiner-Merz & Rathgeb-Schnierer, 2016). Dieser Aspekt der Förderung wird in Kapitel 3.2 detaillierter fokussiert. Aktivitäten wie das Vergleichen und Sortieren regen das Nachdenken und die Interaktion über Zahl- und Aufgabeneigenschaften und -beziehungen an: Eine qualitative Studie von Häsel-Weide (2016a) untersuchte das Ablösen vom verfestigt zählenden Rechnen von fünf Grundschulkindern in kooperativen Lernumgebungen und belegt, dass sich besonders Aktivitäten wie das ‚Vergleichen’ und ‚Sortieren’ eignen, um Kinder zur Interaktion und Kommunikation über mathematische Strukturen und Beziehungen anzuregen (Häsel-Weide, 2016c, S. 279). Dieses beinhaltet gleichzeitig das Wahrnehmen und Verbalisieren dieser Strukturen. Der Aspekt der Rolle der Interaktion und Kooperation wird in Kapitel 3.2.3 genauer erörtert. Das Wahrnehmen von Beziehungen ist eine absolute Voraussetzung für die Entwicklung von strategischen Werkzeugen, die über das Zählen hinausgehen:
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Rechtsteiner-Merz (2013) konnte in ihrer Studie über flexibles Rechnen und Zahlenblickschulung bei Erstklässlerinnen und Erstklässlern, die Schwierigkeiten beim Rechnenlernen zeigten, belegen, dass „[r]elying on numerical relationships is an absolute condition for developing calculation strategies that go beyond counting. […] all students who were predominantly counting relying on procedures remained in this stage and could not progress. This […] seems to be like a dead-end road.” (Rechtsteiner-Merz & Rathgeb-Schnierer, 2016, S. 356 f.)
Sie generierte verschiedene Typen von flexiblen Rechnern und deren Entwicklungsverläufen und stellte dabei fest, dass sich ‚Der Zähler‘, der sich auf mechanisch orientierte Verfahren stützt und nicht auf wahrgenommene Beziehungen, zwar vom zählenden Rechnen lösen kann, aber niemals ‚Der flexible Rechner‘ wird, sondern stets ‚Der mechanische Rechner‘ bleibt (RechtsteinerMerz, 2013, S. 264 ff.). Das zunehmende Wahrnehmen von und das Stützen auf arithmetische Beziehungen ist also unumgänglich auf dem Weg, ein flexibler Rechner zu werden, wohingegen das Stützen auf Zählstrategien und auf erlernte Verfahren in eine ‚Sackgasse’ führt.21 Die aufgezeigten Studien nutzen (implizit oder explizit) je eines der drei, in Kapitel 3.1.1 dargestellten, theoretischen Erklärungsmodelle zum flexiblen Rechnen. Auf welches sie sich im Detail beziehen, ist an dieser Stelle unerheblich. Vielmehr bilden die Modelle und Forschungsergebnisse in der Gesamtheit die Grundlage dieser Forschungsarbeit bezüglich der Auswahl von Indikatoren für flexibles Rechnen (vgl. Kap. 3.1.3) und deren Operationalisierung (vgl. Kap. 3.3) sowie bezüglich des Förderansatzes (vgl. Kap. 3.2) und dessen Umsetzung im Design des Lehr-Lern-Arrangements (Kap. 5 und 6). 3.1.3 Indikatoren für flexibles Rechnen Auf der Grundlage dieses zuvor definierten Verständnisses vom flexiblen Rechnen für diese Arbeit sowie der zusammengefassten Forschungserkenntnisse lassen sich Indikatoren ableiten, die Hinweise für flexible Rechenkompetenzen sein können. An dieser Stelle werden diese, ergänzend durch weitere empirische Erkenntnisse und in Anlehnung an einen Überblick von Rechtsteiner-Merz (2013, S. 80 f.), zusammengefasst. Hierbei steht die Frage im Mittelpunkt, wie und woran flexibles Rechnen bzw. Kompetenzen auf dem Weg zum flexiblen Rechnen beobachtet werden können. Diese Indikatoren werden im Verlauf der Arbeit bei der Entwicklung des Lehr-Lern-Arrangements zur zieldifferenten Förderung flexiblen Rechnens sowie bei der Rekonstruktion von Lernprozessen eine tragende Rolle spielen.
21 Für eine detailliertere Beschreibung dieser Typen sowie für die Diskussion dieser Forschungsergebnisse vgl. Rechtsteiner-Merz (2013).
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Ein flexibler Rechner zeichnet sich durch folgende Merkmale aus, die in mathematisch-inhaltliche, affektive und metakognitive Kompetenzen unterteilt und aus verschiedenen Studien zusammengefasst werden (ebd.). Mathematisch-inhaltliche Indikatoren Heirdsfield & Cooper (2002) arbeiteten im Rahmen einer Fallstudie mit zwei Drittklässlerinnen die folgenden mathematisch-inhaltlichen Merkmale heraus, durch die sich flexible Rechner auszeichnen. Rathgeb-Schnierer (2006) übersetzte diese Merkmale im Rahmen ihrer Studie über die Entwicklung von Rechenwegen bei Grundschulkindern ins Deutsche: Zahlwissen (Number facts), Schätzkompetenz und Zahlgefühl (Estimation), Zahlverständnis (Numeration) und Wissen um den Umgang mit Zahlen bei Rechenoperationen (Number and operation) (englische Begriffe nach Heirdsfield & Cooper, 2002, S. 66; deutsche Begriffe nach Rathgeb-Schnierer, 2006, S. 80). Als ein Ergebnis der Studie von Rathgeb-Schnierer (2006) wurde diese Liste ausdifferenziert. Infolgedessen schrieb sie einem flexiblen Rechner folgende Kompetenzen zu: „[D]ie Abweichung von bevorzugten Rechenwegen bei prägnanten Aufgaben, das Erkennen von Aufgabenunterschieden, das Erkennen von Zahleigenschaften und Zahlbeziehungen, das Nutzen von Zahl- und Aufgabeneigenschaften sowie Zahlbeziehungen beim Lösen von Aufgaben, das Kennen und Verstehen von strategischen Werkzeugen, der bewegliche Umgang mit strategischen Werkzeugen, das Kennen von alternativen Rechenwegen, das Begründen von Rechenwegen […]“ (ebd., S. 270 f.). Diese Liste spiegelt die tragende Rolle wider, die Zahl- und Aufgabeneigenschaften und -beziehungen sowie strategische Werkzeuge in diesem Zusammenhang spielen. Metakognitive Indikatoren Ebenso beschreibt Rathgeb-Schnierer (2006) „das Verfügen über metakognitive Kompetenzen“ (ebd., S. 270 f.) als ein prägnantes Merkmal, das flexible Rechner auszeichnet. Auch die von ihr herausgearbeitete Kompetenz „die Einschät-
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zung der Passung eines Lösungsweges“ (ebd., S. 270 f.) hat metakognitiven Charakter, denn hierbei geht es um das Reflektieren und Evaluieren von Lösungswegen. Vergleichbar nennen Heirdsfield & Cooper (2002) metakognitive Kompetenz zusammenfassend ‚Metacognition strategies‘ und unterscheiden zwischen zwei Indikatoren: ‚Metacognition beliefs‘, die sich auf die realistische Wahrnehmung und Einschätzung der eigenen Fähigkeiten beziehen und ‚Metacognition strategies‘, die die metakognitive Evaluation und Reflektion einer Lösungsmethode bzw. eines Lösungsweges beschreiben (ebd., S. 66). Affektive Indikatoren Heirdsfield & Cooper (2002) zeigen zudem in ihrer Fallstudie, dass flexibles Rechnen nicht ausschließlich von Kompetenzen im Bereich der Arithmetik und der Metakognition abhängig ist. Die Zuschreibung eigener mathematischer Fähigkeiten, Selbstvertrauen und eine positive Einstellung zum Fach Mathematik (Heirdsfield & Cooper, 2002; Hope, 1987; Threlfall, 2002) sind überdies wichtige Einflussfaktoren. Heirdsfield & Cooper (2002) arbeiteten in diesem Bereich folgende Aspekte heraus: Zuschreibung und Erklärung eigener Fähigkeiten (Attribution); Haltungen und Einstellungen gegenüber der Mathematik, dem Lernen und dem Selbst (Beliefs); Vorstellungen über das Ziel des Rechnens und das Erreichen des Zieles (Achievement goal) (englische Begriffe nach Heirdsfield & Cooper, 2002, S. 66; deutsche Übersetzungen nach Rathgeb-Schnierer, 2006, S. 80 & Rechtsteiner-Merz, 2013, S. 81). Im Hinblick auf die zieldifferente Förderung des flexiblen Rechnens ist besonders die folgende Erkenntnis aus Rathgeb-Schnierers Studie (2006), in der sie Grundschulkinder bei der Entwicklung ihrer Rechenwege beobachtete und Hypothesen zur Rechenwegsentwicklung formulierte, besonders bedeutsam. Sie stellt heraus: Flexibles Rechnen ist kein „Alles-oder-Nichts-Phänomen“ (Rathgeb-Schnierer, 2006, S. 271). Es ist vielmehr ein individueller Entwicklungsprozess, der sich durch verschiedene Ausprägungen flexiblen Rechnens skizieren lässt, die sich durch unterschiedliches Lösungsverhalten äußern (ebd. S. 271)22. Rechtsteiner-Merz (2013) differenzierte diese unterschiedlichen Ent22 Rathgeb-Schnierer (2006) beschreibt im Rahmen ihrer hier bereits häufig erwähnten Studie zur Entwicklung von Rechenwegen im zweiten Schuljahr bei additiven Aufgaben im Zahlenraum bis 100 außerhalb des Bereiches der Grundaufgaben diese verschiedenen Ausprägungen von flexiblen Rechenkompetenzen in einem Modell (Rathgeb-Schnierer, 2006, S. 271) und setzt die verschiedenen Varianten im Lö-
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wicklungsverläufe aus, indem sie ein Schaubild zur Typologie entwickelte, um die Entwicklungsverläufe von Kinder mit Problemen beim Rechnenlernen genauer zu beschreiben. Sie stellte ebenso wie Rathgeb-Schnierer verschiedene Ausprägungen und große Unterschiede bei der Rechenkompetenzentwicklung heraus, hebt aber zugleich auch eine Gemeinsamkeit hervor: „Trotz aller Unterschiede in den Entwicklungsprozessen, die zum flexiblen Rechnen führen, wird [jedoch] eine Gemeinsamkeit sichtbar: das Erkennen und Nutzen von Zahlen-, Term- und Aufgabeneigenschaften verbunden mit dem Verbalisieren als ein wesentlicher Schritt bei der Entwicklung flexibler Rechenkompetenzen.“ (Rechtsteiner-Merz, 2013, S. 272)
Diese wesentliche Gemeinsamkeit sowie die weiteren, oben aufgezählten Kompetenzen im Bereich der Arithmetik und der Metakognition, die flexible Rechner aufweisen, sind Indikatoren für flexibles Rechnen: Je mehr Merkmale davon auf ein Kind zutreffen, desto eher kann von flexiblen Rechenkompetenzen gesprochen werden (Rathgeb-Schnierer, 2006, S. 271). Folglich trägt die Förderung jeder dieser Kompetenzen zur Entwicklung flexiblen Rechnens bei. Eben genau diese verschiedenen Ausprägungen und die vielschichtigen zu fördernden Kompetenzen ermöglichen eine individuelle Entwicklung und eine zieldifferente Förderung am gemeinsamen Lerngegenstand im inklusiven Mathematikunterricht. Zusammenfassung und Konklusion des Kapitels 3.1 für die vorliegende Arbeit: Auf Grundlage der begrifflichen Einordnung sowie der beschriebenen Forschungsergebnisse zur Entwicklung und zu Indikatoren flexiblen Rechnens, können folgende zentrale Aspekte abgeleitet werden: Flexibles Rechnen ist im Sinne eines aufgabenadäquaten Handelns eine situationsabhängige und individuelle Reaktion auf spezifische Eigenschaften und Beziehungen von Zahlen und Aufgaben und die entsprechende Konstruktion eines Lösungsprozesses mit strategischen Werkzeugen. Es steht daher stets in Abhängigkeit von spezifischen Aufgabenmerkmalen und den kognitiven Mitteln und Vorerfahrungen des Lernenden (Kap. 3.1.1). Forschungsarbeiten bestätigen, dass die Wahrnehmung und Nutzung von Zahl- und Aufgabeneigenschaften und -beziehungen sowie das Kennen, Nutzen und Reflektieren strategischer Werkzeuge eine besondere Rolle beim flexiblen Rechnen einnehmen und daher eine Förderung an u. a. diesen Aspekten ansetzen muss (Kap. 3.1.2). sungsverhalten in Beziehung zueinander. In diesem Zusammenhang arbeitet sie den Übergang vom unflexiblen zum zunehmend flexiblen Handeln heraus und zeigt auf, dass mit zunehmendem Verstehen, Aufgaben- und Zahlbeziehungen häufiger wahrgenommen und genutzt werden. Für eine detailliertere Beschreibung dieser unterschiedlichen Ausprägungen von Rechenwegsentwicklungen sowie die Erläuterung des dazugehörigen Modells vgl. Rathgeb-Schnierer (2006).
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Weitere Forschungsarbeiten zeigen, dass die Kommunikation über Zahl- und Aufgabeneigenschaften und -beziehungen und über eigene Lösungswege sowie die Entwicklung zunehmender Flexibilität durch entsprechende Unterrichtsansätze und -aktivitäten gezielt gefördert werden kann (Kap. 3.1.2; Details dazu im Folgekapitel). Diese gezielte Förderung ist notwendig, da Studien bei Kindern kaum aufgabenadäquates Handeln und eine Bevorzugung stellenweisen Rechnens und schriftlicher Algorithmen, unabhängig von deren Effektivität, nachwiesen (Kap. 3.1.2). Die Vorgabe fester Lösungswege unterstützt die Förderung des flexiblen Rechnens, wie Studien zeigen, dabei nicht und kann sich sogar negativ auf die Entwicklung flexibler Rechenkompetenzen auswirken (Kap. 3.1.2). Es gibt eine Vielzahl von mathematisch-inhaltlichen Indikatoren, die auf flexible Rechenkompetenzen schließen lassen (u. a. Wahrnehmung und Nutzung von Zahl- und Aufgabeneigenschaften und -beziehungen sowie Kennen, Nutzen und Reflektieren strategischer Werkzeuge), die wiederum eine Vielzahl von individuellen Ausprägungen zulassen und eine große Spannbreite an zieldifferenten Fördermöglichkeiten bieten (Kap. 3.1.3). Ebenso spielen metakognitive und affektive Indikatoren eine Rolle, die zu berücksichtigen sind, besonders bei der Zielgruppe dieser Arbeit, die Kinder mit Unterstützungsbedarf im Bereich ‚Lernen‘ umfasst (Kap. 3.1.3). Diese Indikatoren sind eine wichtige Grundlage für die Planung des LehrLern-Arrangements mit dem Ziel, flexibles Rechnen zieldifferent zu fördern. Außerdem werden sie zur Operationalisierung und Rekonstruktion von Lernprozessen herangezogen (Kap. 3.1.3).
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Flexibles Rechnen fördern
Die Förderung flexiblen Rechnens wird durch die bisher beschriebenen allgemeinen Annahmen maßgeblich beeinflusst. Nach der dieser Arbeit zugrunde liegenden Lerntheorie werden Kinder als aktive Lernende gesehen, die ihr Verständnis von Mathematik im sozialen Kontext selbst konstruieren (vgl. Kap. 2.3). Im Mittelpunkt der Förderung flexibler Rechenkompetenzen sollten folglich Aufgaben stehen, die zum aktiven Forschen sowie gleichzeitig zum Austausch anregen. Wenn, wie oben erörtert, flexibles Rechnen mit Zahlund Aufgabeneigenschaften sowie arithmetischen Beziehungen zusammenhängt, müssen Aktivitäten ausgewählt werden, die Kinder unterstützen, sich auf diese Aspekte zu konzentrieren. Das entscheidende Ziel ist es also, die Kompetenz zur Wahrnehmung von Zahl- und Aufgabeneigenschaften sowie arithmetischen Beziehungen zu entwickeln und sie zur Lösung von Aufgaben zu nutzen.
3.2 Flexibles Rechnen fördern
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Wie dieses konkret im Lehr-Lern-Arrangement dieses Projektes umgesetzt wurde, wird in Kapitel 5 und 6 thematisiert. In diesem Teil der Arbeit geht es zunächst darum, welche grundlegenden Erkenntnisse und Konzepte zur Förderung aus Sicht der allgemeinen Mathematikdidaktik (Kap. 3.2.1) und der Sonderpädagogik des Lernens (Kap. 3.2.2) bereits existieren, um eine theoretisch fundierte Grundlage für das Lehr-Lern-Arrangement zu schaffen. Des Weiteren wird in diesem Zusammenhang auf die Rolle der Interaktion bei der Entwicklung flexiblen Rechnens eingegangen (Kap. 3.2.3). 3.2.1 Förderung flexiblen Rechnens aus Sicht der Mathematikdidaktik Aus dem dargestellten Verständnis von sowie den Indikatoren für flexibles Rechnen lässt sich ableiten, dass Aufgaben den Mittelpunkt einer Förderung bilden müssen, die zum aktiven Forschen über Zahl- und Aufgabeneigenschaften sowie arithmetischen Beziehungen und gleichzeitig zum Austausch darüber anregen. Hierbei wird an wissenschaftlich fundierte Konzepte und Prinzipien ‚guten Mathematikunterrichts’ angeknüpft‚ wie beispielsweise dem ‚aktiventdeckenden Lernen‘ (Winter, 1987; 1991; Wittmann, 1995a; 2006), dem ‚beziehungsreichen Üben‘ (Wittmann, 2005; 2006), der ‚natürlichen Differenzierung durch substantielle Aufgaben und Lernumgebungen‘ (Hirt & Wälti, 2010; Krauthausen & Scherer, 2014; Wittmann, 1995a) sowie dem ‚Spiralprinzip‘ (J. S. Bruner, 1973; Krauthausen & Scherer, 2007, S. 138 f.).23 Von Rathgeb-Schnierer (2014b) zusammengefasste Forschungsarbeiten, die sich mit der Frage beschäftigten, welche Voraussetzungen Kinder benötigen, um flexible Rechenkompetenzen zu entwickeln, belegen folgende Ergebnisse: „Flexibles Rechnen erfordert ein fundiertes Wissen über Zahlen und Rechenoperationen (vgl. Heirdsfield / Cooper 2002 […]; Threlfall, 2002), die Automatisierung der Basisfakten, d. h. das Auswendigwissen möglichst vieler Grundaufgaben […], das Verfügen über strategische Werkzeuge (vgl. Threlfall, 2002; RathgebSchnierer, 2010[a]), das Erkennen von Aufgabenmerkmalen und Zahlbeziehungen (RathgebSchnierer, 2010[a]; Schütte, 2004; Threlfall, 2009)“ (Rathgeb-Schnierer 2014b, S. 31). Grundsätzlich sind folglich alle vier Bereiche beim Rechnenlernen zu unterstützen. Richtet man jedoch den Blick auf den Kernaspekt des flexiblen Rechnens, nämlich, wie in Kapitel 3.1 herausgestellt, die „spezifischen Merkmale einer 23 Auf diese allgemein mathematikdidaktischen Konzepte und Prinzipien kann an dieser Stelle aus Kapazitätsgründen lediglich verwiesen und auf ausführliche Literatur hingewiesen werden.
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Aufgabe, d. h. ihre Zahleigenschaften und -beziehungen, zu erkennen und für den Lösungsprozess zu nutzen, kommt dem Bereich der Aufgabeneigenschaften und Zahlbeziehungen eine besondere Bedeutung zu“ (Rathgeb-Schnierer, 2014b, S. 31). Hieraus ergeben sich die zwei folgenden fachlichen Förderschwerpunkte, die für eine verstehensorientierte Förderung insbesondere bedeutsam sind und als Förderansatz dem Lehr-Lern-Arrangement der vorliegenden Untersuchung (Teil B) zugrunde liegen. Zwei fachliche Förderschwerpunkte für eine verstehensorientierte Förderung des flexiblen Rechnens: I. Aufbau von umfangreichen Zahlvorstellungen (u. a. Zahleigenschaften und -beziehungen (er-)kennen), auf deren Basis Beziehungen beim Rechnen genutzt werden können II. Entwicklung des Wahrnehmens und Nutzens von Aufgabeneigenschaften und -beziehungen Schütte (2004), Rechtsteiner-Merz (2013), Rathgeb-Schnierer (2014b) sowie Rechtsteiner-Merz und Rathgeb-Schnierer (2016) nennen die Fähigkeit, Zahleigenschaften und -beziehungen zu erkennen und in einem weiteren Schritt für den Lösungsprozess zu nutzen, „Zahlenblick“. Er „soll helfen, verallgemeinerbare Aspekte in Situationen zu erkennen, Strukturähnlichkeiten zwischen bereits gelösten und neuen Aufgaben zu entdecken und strategische Vorgehensweisen zu übertragen.“ (Schütte, 2008, S. 103)
Die Forscherinnen entwickelten und untersuchten den damit verbundenen Lehransatz „Zahlenblickschulung“ als ein wesentliches Prinzip des Arithmetikunterrichts und legen damit den Schwerpunkt genau auf diese Fähigkeiten. In eigenen Untersuchungen stellten sie heraus, dass die „Zahlenblickschulung“ ein Vehikel für die Entwicklung flexibler Rechenkompetenzen sein kann (RechtsteinerMerz, 2013; Schütte, 2004), wie bereits in Kapitel 3.1 erörtert wurde. Dieser Ansatz der Förderung flexibler Rechenkompetenzen verfolgt zwei Grundprinzipien: Aufgaben werden nicht zwangsläufig sofort gerechnet, sondern hinsichtlich ihrer inhärenten Merkmale, auf ihre Struktur und Beziehungen zu anderen Aufgaben betrachtet. Durch gezielte Fragestellungen und Impulse wird der Aufbau metakognitiver Kompetenzen gefördert, indem hierdurch zum Nachdenken über mathematische Strukturen sowie eigene Denk- und Lösungsprozesse angeregt werden. (Rathgeb-Schnierer, 2014b, S. 32; Rechtsteiner-Merz, 2013; Schütte, 2004)
3.2 Flexibles Rechnen fördern
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Gute Aktivitäten im Unterricht Es lassen sich u. a. aus dieser empirisch untersuchten Konzeption zur Schulung des Zahlenblicks gute Aktivitäten für einen Unterricht ableiten, die die Entwicklung flexiblen Rechnens fördern. Hierzu gehören Tätigkeiten zum Sehen, Sortieren und Strukturieren von Anzahlen und Aufgaben, immer verbunden mit der Auseinandersetzung mit Eigenschaften und Beziehungen (Rechtsteiner-Merz, 2013, S. 103). Ebenso stellte Häsel-Weide (2016a; 2016c) Aktivitäten wie das gemeinsame Vergleichen und Sortieren als besonders geeignet heraus, um Kinder zur Interaktion und Kommunikation über mathematische Strukturen und Beziehungen anzuregen und somit gleichzeitig die Wahrnehmung dieser zu unterstützen (Häsel-Weide, 2016c, S. 279). Ferner bekräftigt ihre Untersuchung zu operativen Veränderungen von Additionsaufgaben die Erkenntnis, dass das ‚Sehen’, aber auch das eigenständige Nutzen von Aufgabenbeziehungen unabdingbare Voraussetzung für das flexible Rechnen sind, weil die Kinder auf diese Weise lernen, Aufgaben zu vereinfachen. Sie zeigt beispielhaft für die Additionsaufgaben und deren operative Veränderungen auf, wie Kinder ganz konkret angeregt werden können, Beziehungen zwischen Aufgaben wahrzunehmen. An Punktefeldern erforschen die Kinder, was passiert, wenn bestimmte Veränderungen vorgenommen werden. Hierbei wird, wie auch bei der Zahlenblickschulung, der Fokus auf Strukturen und Beziehungen gelegt, wodurch eine wichtige Kompetenz für die Entwicklung flexiblen Rechnens gefördert wird (Häsel-Weide, 2014, 2016c, 2016a). Gaidoschik (2014a) geht der Frage nach, wie Kinder unterstützt werden können, das Einspluseins als verstehensbasiertes Faktenwissen im Langzeitgedächtnis zu speichern. Er setzt hierbei einen besonderen Schwerpunkt auf die Automatisierung von Beziehungswissen durch die Fokussierung auf operative Zusammenhänge und das Verstehen dieser. Es wird so der Gefahr eines verfrühten Mechanisierens sowie Nutzens ohne Verstehen entgegengewirkt (Gaidoschik, 2014a). Hierbei wird folglich der verständnisorientierte ‚Rückgriff auf Basisfakten‘ (Kap. 3.1.1) gefördert, wodurch eine weitere wichtige Kompetenz für die Entwicklung flexiblen Rechnens angesprochen wird.
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3.2.2 Förderung flexiblen Rechnens aus Sicht der Sonderpädagogik des Lernens In Bezugnahme auf die herausgearbeiteten Indikatoren (Kap. 3.1.3) sowie die Darstellungen aus Kap. 3.2.1 zur Förderung des flexiblen Rechnens aus Sicht der Mathematikdidaktik werden an dieser Stelle die Besonderheiten der Lerngruppe Kinder mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf im Bereich ‚Lernen‘ beleuchtet. Hierbei werden die drei Kompetenzbereiche mathematischinhaltliche, affektive und metakognitive Kompetenzen erneut aufgegriffen. Nicht zu vergessen ist bei den folgenden Darlegungen, dass diese Zielgruppe in sich ebenfalls sehr heterogen ist und es sich hierbei um empirische Ergebnisse und Erfahrungen handelt, die vermehrt festgestellt wurden, aber nicht auf alle Kinder dieser Gruppe zutreffen müssen. Mathematisch-inhaltliche Kompetenzen Torbeyns et al. (2005) belegen in ihrer Untersuchung zu Rechenkompetenzen von mittel- bis hochbegabten Erstklässlern, dass sie wesentlich flexibler mit Zahlen umgehen als ihre weniger begabten Klassenkameraden. Weitere Studien zeigen jedoch, dass auch Kinder mit Schwierigkeiten beim Rechnenlernen flexible Rechenkompetenzen entwickeln können (vgl. beispielsweise RechtsteinerMerz, 2013; Verschaffel et al., 2009). Darüber hinaus ist nachgewiesen, dass der Fokus auf die Entwicklung des Zahlenblicks und somit die explizite Auseinandersetzung mit Zahleigenschaften und Aufgabenbeziehungen vor allem Kinder mit Rechenschwierigkeiten bei der Entwicklung von Flexibilität unterstützt (Rechtsteiner-Merz, 2013; Rechtsteiner-Merz & Rathgeb-Schnierer, 2016). „[S]tudents who have difficulties in learning arithmetic benefit from the ‘Zahlenblickschulung’ approach; first to overcome counting, and second to develop an appropriate degree of flexibility in mental calculation.” (Rechtsteiner-Merz & Rathgeb-Schnierer, 2016, S. 359)
Allerdings zeigt Rechtsteiner-Merz (2013) in ihrer Forschungsarbeit auf, dass besonders Kinder mit Lernschwierigkeiten und kognitiven Einschränkungen ohne das Wahrnehmen und Nutzen von Zahlbeziehungen und Aufgabenmerkmalen die Ablösung vom zählenden Rechnen nicht schaffen können und somit keine flexiblen Rechenkompetenzen entwickeln. Für sie ist eine Förderung dieser Kompetenzen, wie sie in Kapitel 3.2.1 beschrieben wurde, folglich ganz besonders wichtig (ebd.). Diese eigenständige aktive Auseinandersetzung mit Zahl- und Aufgabeneigenschaften und -beziehungen entspricht der auch in der Sonderpädagogik mittlerweile wissenschaftlich belegten ‚Konzeption des aktiv-entdeckenden Lernens auf eigenem Wege‘. Kinder mit kognitiven Lernschwierigkeiten lernen ebenfalls auf individuellem Wege, sodass man ihr Lernen nur anregen und nicht steuern kann (Lorenz, 2005, S. 96). Sowohl ältere Werke aus der Psychologie von Aebli
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(1963; zitiert in Scherer, 1995, S. 111) und Wittoch (1976; zitiert in Scherer, 1995, S. 111) als auch aktuellere mathematikdidaktische empirische Untersuchungen und praktische Erfahrungen (u. a. Gaidoschik, 2009; Heimlich & Wember, 2015; Moser Opitz, 2001; Scherer, 1995) stützen heutzutage die Annahme, dass aktiv-entdeckendes Lernen insbesondere für Kinder mit Lernbehinderung Möglichkeiten bietet, erfolgreich Rechnen zu lernen. Hingegen führt ein Lernen durch wiederholtes Vor- und Nachmachen nicht zur Erkenntnis, denn „Mathematik lernen heißt, Zahlbeziehungen und arithmetische Operationen zu verstehen, denn Einsichten sind auch für rechenschwache Schüler wichtiger als Automatismen“ (Lorenz, 2005, S. 95). Gleichermaßen zitiert Scherer (1995) im Rahmen ihrer evaluierten unterrichtspraktischen Erprobungen zum ‚Entdeckenden Lernen’ im Mathematikunterricht der Schule für Lernbehinderte: „Die Vorgabe fester Lösungswege, das fast ausschließliche Reproduzieren von Verfahren, widerspricht der Auffassung, Mathematik zur Denkschulung zu nutzen (vgl. HOLT 1979, 7; SCHOENFELD 1982, 33) und trägt nicht der mangelnden Transferfähigkeit [dieser] Schüler Rechnung. ‚[...] Sie lernen dabei nichts, außer sich zu merken, wie’s geht und das dann nachzumachen [...]‘ (ANDRESEN 1985, 209).“ (zitiert in Scherer, 1995, S. 80).
Diese Kritik an traditionellen sonderpädagogischen Prinzipien stützt Scherer (1995) anhand ihrer Studie. Diese belegt, dass Kinder mit Lernbehinderung in der Lage sind, individuelle Strategien zu entwickeln und über Beziehungen zwischen Zahlen und Aufgaben nachzudenken sowie sich in der Kommunikation darüber einzubringen (Scherer, 1995, S. 294 f.). Sie zeigt weiterhin die Chance für diese Kinder auf, die sich durch die Ausnutzung operativer Beziehungen ergibt, und konnte belegen, dass „erst durch die Thematisierung verschiedenster Beziehungen bei den Kindern Einsicht ermöglicht wurde. Es gab natürlich bei der Schülergruppe auch Kinder, die Schwierigkeiten hatten, operative Beziehungen zu erfassen. Dennoch sollten aber nach den Erfahrungen dieses Unterrichtsversuchs möglichst häufig Übungsformate angeboten werden, die ein solches Nachdenken anregen.“ (Scherer, 1995, S. 295)
Hiermit plädiert sie für operatives Üben um Kinder mit kognitiven Einschränkungen beim Rechnenlernen zu unterstützen. Hierzu können beispielweise Aktivitäten dienen, wie sie in Kap. 3.2.1 herausgearbeitet wurden (u. a. Tätigkeiten zum ‚Sehen’ von Eigenschaften und operativen Beziehungen, ‚Sortieren’, ‚Strukturieren von Anzahlen und Aufgaben’, ‚Vergleichen und Sortieren’). Hierbei darf die Komplexität des Lerngegenstandes nicht zu sehr eingeschränkt werden, denn „Komplexität ist auch für (vermeintlich) leistungsschwache Schüler keineswegs hinderlich, sondern hilfreich, da in der Gesamtsituation mehr Bedeutung enthalten ist“ (Lorenz, 2005, S. 96). Lorenz nimmt sogar an, dass eine gewisse Überforderung für rechenschwache Kinder, die im Rahmen der ‚Zone der nächsten Entwicklung’ liegt, nützlich ist, solange sie genau „ausgelotet“ wird (ebd., S. 96).
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3 Individuell-zieldifferentes Lernen am gemeinsamen Lerngegenstand des flexiblen Rechnens
Dieser verständnisorientiere Mathematikunterricht, der dazu beiträgt, operative Beziehungen wahrzunehmen und zu nutzen, kommt auch der meist mangelnden Merkfähigkeit entgegen, die es den Kindern erschwert, viele Aufgaben zu automatisieren und Fakten abzurufen. Nach der Theorie der Informationsverarbeitung werden diese spezifischen kognitiven Schwierigkeiten wie folgt erklärt: eine Information muss „mehrere Speicherstrukturen (sensorisches Register, Kurzzeit- und Arbeitsgedächtnis, Langzeitgedächtnis) mit unterschiedlicher Speicherkapazität und Speicherdauer durchlaufen [...], bevor sie langfristig als Wissen abgespeichert werden kann“ (Büttner & Hasselhorn, 2007, S. 280). Dabei finden „automatisierte und kontrollierte Verarbeitungsprozesse [statt], die im unterschiedlichen Ausmaß kognitive Ressourcen beanspruchen“ (ebd., S. 280), wodurch es zu geringeren Lern- und Gedächtnisleistungen kommen kann (ebd., S. 280). Kindern mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf muss daher vor allem ausreichend Zeit sowie ausreichende Gelegenheiten zum Verstehen und zum mehrfachen Wiederholen gegeben werden, sodass sie Handlungen, die arithmetischen Operationen und Zusammenhängen unterliegen, durchführen und darüber nachdenken können (Lorenz, 2005, S. 94). Nur so kann eine verständnisorientierte Automatisierung von Grundaufgaben angebahnt werden. Zahlreiche Studien und Erfahrungsberichte aus der Praxis heben diese besondere Chance des Handelns und den damit zusammenhängenden Einsatz von Anschauungsmitteln hervor (Gaidoschik, 2006, S. 73 ff.; Lorenz, 2005, S. 28 ff.; Scherer, 1995, S. 99 ff.; Wartha & Schulz, 2014, S. 76 ff.; Wember, 1988, S. 158). In evaluierten Förderkonzepten nimmt die Handlung am Material sowie das schrittweise Ablösen von diesen Handlungen bis hin zu verinnerlichten Vorstellungen von beispielsweise Zahlen, Operationen und strategischen Werkzeugen, eine besondere Stellung ein (u. a. Lorenz, 2005, S. 94; Wartha & Schulz, 2014, S. 62 ff.). Auch wenn es sich bei den hier untersuchten gemeinsamen Lernsituationen nicht um einen klassischen Förderunterricht handelt, müssen diese Erkenntnisse über den Einsatz von Anschauungsmitteln und der damit zusammenhängende Schritt der Anbahnung des mentalen Operierens mit Zahlen, der gerade für lernschwache Kinder wichtig ist (Wember, 1988, S. 158), mitgedacht und angeregt werden, um eine Förderung des flexiblen Rechnens zu ermöglichen. Hierbei darf nicht vergessen werden, dass die Nutzung von Material auch zusätzlicher Lernstoff ist und sie weder unmittelbar noch für alle Kinder auf die gleiche Art hilfreich ist und zum Verständnis beiträgt (Schipper, 1982, S. 109). Allgemein ist deren Einsatz jedoch förderlicher, wenn sie an das Vorwissen der Kinder anknüpfen und langfristig nutzbar sind (ebd., S. 106 ff.). Für den Arithmetikunterricht und somit auch für die Förderung flexiblen Rechnens sind folglich Veranschaulichungen und Arbeitsmittel auszuwählen, die über viele Schuljahre fortsetzbar sowie für verschiedene Operationen einsetzbar sind, also fundamentale Ideen, Beziehungen und Strukturen der Mathematik gut und strukturiert abbilden (Wittmann & Müller, 2005, S. 10 ff.; 2006, S. 10 ff.). Zu-
3.2 Flexibles Rechnen fördern
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dem belegte Scherer (1995) in ihrer Studie über das Entdeckende Lernen von Kindern mit Lernbehinderung, dass es von Vorteil ist, wenn die Kinder Anschauungsmittel eigenständig wählen dürfen, um einen bewussten Einsatz zu fördern (Scherer, 1995, S. 295). Dennoch zeigen Untersuchungen immer wieder, „dass die leistungsstarken Kinder die Veranschaulichungsmittel nicht mehr benötigen und die Übersetzung ihrer Lösungswege an diese Materialien eher als lästig und als zusätzliche Aufgabe ansehen, und dass die leistungsschwachen Schüler vom Umgang mit den Materialien auch nach häufigem Gebrauch nicht profitieren“ (Lorenz, 2005, S. 94).
Folglich spricht auch dieses für eine freiwillige Wahl des Materialeinsatzes. Des Weiteren lässt sich aus dem Zitat schlussfolgern, dass Kinder dafür zu sensibilisieren sind, dass Anschauungsmittel nicht nur eine Lösungshilfe darstellen, sondern ebenso als Lernhilfe und Kommunikationshilfe beim Begründen, Beweisen und Argumentieren fungieren können (Wartha & Schulz, 2014, S. 76 f.; Schipper, 2009). Metakognitive Kompetenzen Kinder mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf im Bereich ‚Lernen‘ „weisen im Vergleich mit durchschnittlichen Kindern eklatante Schwächen im Bereich der Metakognition [...] auf“ (diese Erkenntnis wurde auf Grundlage verschiedener nationaler und internationaler Studien in Schröder, 2007, S. 273 zusammengefasst). Schröder weist besonders auf ihre Probleme bei der Nutzung von Strategien hin: Auch wenn sie einige Strategien kennen, können sie sie oft nicht anpassen und nutzen (ebd., S. 273). Diese Erkenntnis schließt flexible Rechenstrategien ein. Folglich ist das Reflektieren und Sprechen über Aufgabenmerkmale und operative Beziehungen sowie strategisches Vorgehen besonders wichtig für Kinder mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf ‚Lernen‘, denn die Anwendung bekannter oder die Entwicklung neuer Strategien „bedarf oft äußerer Anstöße, vor allem, wenn diese nicht in dem Kontext, in dem sie erworben wurden, eingesetzt [...], sondern flexibel und generalisiert [verwendet werden]“ (ebd., S. 273). Bezüglich der „Metacognition strategies“ (Heirdsfield & Cooper, 2002, S. 66), also die metakognitive Evaluation, Reflektion und Passung einer Lösungsmethode bzw. eines Lösungsweges, müssen sie ebenfalls von anderen Impulse erhalten und ggf. von der Lehrkraft gezielt unterstützt werden, da es „im Laufe der Lösungs- und Lernprozesse [...] generell an Selbst-Regulation [...] des eigenen Vorgehens [mangelt]“, und „erforderliche Modifizierung oder Revidierung gelingt kaum“ (Schröder, 2007, S. 274). Dieser Aspekt spricht demnach ebenso dafür, dass das Reflektieren und Sprechen über Aufgabenmerkmale, operative Beziehungen und strategisches Vorgehen bei der Förderung flexibler Rechenkompetenzen besonders wichtig für Kinder mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf ‚Lernen‘ ist.
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3 Individuell-zieldifferentes Lernen am gemeinsamen Lerngegenstand des flexiblen Rechnens
Die ‚Metacognition beliefs‘ (Heirdsfield & Cooper, 2002, S. 66), die sich auf die realistische Wahrnehmung und Einschätzung der eigenen Fähigkeiten beziehen, sind ebenfalls weniger ausgeprägt. „Kinder mit Lernschwierigkeiten machen sich ihr Wissensniveau, d. h. was sie wissen und was sie nicht wissen, nicht bewusst“ (Butler, 1998, S. 291). Sie können ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten meist nur schwer einschätzen und fragen daher diese meist nur im geringen Maße ab (Schröder, 2007, S. 274). Darum müssen „Lernsituationen […] Strukturierung anbieten, dürfen also nicht zu komplex, aber auch nicht zu simpel und schon gar nicht routinemäßig zu bewältigen sein“ (ebd., S. 274). Eine erfolgreiche Förderung flexiblen Rechnens muss den Kindern folglich Orientierung und Struktur anbieten, ohne sie zu sehr einzuschränken und den Lerngegenstand zu sehr zu reduzieren, damit eine Komplexität des Inhaltes weiterhin gewährleistet ist, die, wie zuvor herausgestellt, zum Verständnis beiträgt. Affektive Kompetenzen Die Zuschreibung eigener mathematischer Fähigkeiten, Selbstvertrauen und eine positive Einstellung zum Fach Mathematik sind überdies wichtige Einflussfaktoren (Heirdsfield & Cooper, 2002; Hope, 1987; Threlfall, 2002; vgl. Kap. 3.1.3). Scherer (1995) beschreibt jedoch ein oftmals negatives Selbstbild und eine negative Einstellung zum Fach Mathematik und fasst diesbezüglich zusammen: „Mißerfolgserlebnisse oder ein unzureichendes Anspruchsniveau bewirken, daß lernbehinderte Schüler dem Unterricht häufig gleichgültig oder ablehnend gegenüberstehen: Sie lassen spontanes Interesse, Neugierverhalten, Wissensbedürfnis und Lernbereitschaft vermissen (vgl. KANTER 1994, 689; KLEIN 1980, 21; KM 1977a, 16). Da die Fächer Mathematik und Deutsch am meisten von Versagenserlebnissen aus der Grundschule belastet sind (vgl. BAIER 1983, 17), ist hier mit erheblichen Motivationsschwierigkeiten zu rechnen.“ (Scherer, 1995, S. 41)
Folglich sind in einem inklusiven Mathematikunterricht und in die Förderung flexibler Rechenkompetenzen geeignete Maßnahmen und Organisationsformen zu integrieren, die zur Veränderung eines negativen Selbstbildes sowie zur Motivation und Freude am Fach Mathematik beitragen. Dafür scheint es wichtig, dass Kinder an für sie bedeutsamen mathematischen Problemen lernen (Lorenz, 2005, S. 95) und dass man sie im Unterricht „in ihren individuellen, auch fehlerbehafteten Lösungsversuchen unterstützt, auch ihre Lösungsversuche ernst nimmt und nicht nur die leistungsstärkeren Kinder sich vordrängen lässt“ (ebd., S. 94). So zeigte Wittoch (1976) in einer älteren Studie, dass „ein sozialintegrativer Unterrichtsstil (realisiert durch [...] Anerkennung, Verständnis, Ermutigung) die Mißerfolgsängstlichkeit entscheidend reduzieren“ (zitiert in Scherer, 1995, S. 43) und somit die Motivation steigern kann. In diesem Kapitel wurden einige charakteristische Lernvoraussetzungen der Kinder mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf bei der Entwicklung
3.2 Flexibles Rechnen fördern
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von Flexibilität herausgearbeitet. 24 Gleichzeitig ist die Förderung flexiblen Rechnens unterstützend und präventiv für jeden Lernprozess, denn im Allgemeinen zeigen alle Kinder bei der Lösung von Problemen wenig aufgabenadäquates Handeln (Kap. 3.1.2, u. a. Selter, 2000). Der Inhalt bietet zudem Chancen und Reichhaltigkeit für hochbegabte Schülerinnen und Schüler, mathematische Strukturen zu entdecken, zu verallgemeinern und auf größere Zahlenräume zu übertragen. Folglich erfüllt flexibles Rechnen die Anforderungen an einen gemeinsamen Lerngegenstand für einen inklusiven Mathematikunterricht, um der Vielfalt der kognitiven Fähigkeiten und Fähigkeiten zu begegnen und ein zieldifferenziertes Lernen mit verschiedenen kognitiven Voraussetzungen zu ermöglichen. 3.2.3 Flexibles Rechnen und soziale Interaktion In Kapitel 2 wurde der erste theoretische Grundstein ‚Interaktiv-kooperatives Lernen im inklusiven Mathematikunterricht’ im Detail diskutiert, der hier noch einmal aufgegriffen wird, um ihn in Beziehung mit dem zweiten theoretischen Grundstein ‚Individuell-zieldifferentes Lernen am gemeinsamen Lerngegenstand des flexiblen Rechnens‘ zu setzen. Es wird auf die Frage eingegangen, welche Rolle der Interaktion bei der Entwicklung flexiblen Rechnens zukommt. Von der Definition vom ‚Gemeinsamen Lernen’ (vgl. Kap. 1.1.3), von der sozialkonstruktivistischen Lerntheorie (vgl. Kap. 2.3) sowie von den Darlegungen in diesem Kapitel 3 zum flexiblen Rechnen ausgehend, kann festgehalten werden, dass dem sozialen Austausch bei der Entwicklung von flexiblen Rechenkompetenzen eine zentrale Rolle zugeschrieben werden kann. Bezogen auf den inklusiven Unterricht und die Besonderheit der Kinder mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf ist insbesondere dieser Austausch und die Verbalisierung der eigenen Gedanken eine Herausforderung, da es die metakognitiven Fähigkeiten des Bewusstmachens und Reflektierens der eigenen Gedankengänge voraussetzt (vgl. Kap. 3.2.2). Des Weiteren kann die kognitive Heterogenitätsspanne ggf. ein Hindernis für einen produktiven Austausch darstellen, denn es kann in heterogenen Gruppen zu dem Problem kommen, die Gedankengänge der anderen nachzuvollziehen und mit den eigenen zu verknüpfen. Bezogen auf das flexible Rechnen – so wurde bereits in den vorangegangenen Kapitel deutlich – besteht jedoch weitgehende Einigkeit darüber, dass dem Austausch über arithmetische Beziehungen und Lösungswege bei der Entwicklung flexibler Rechenkompetenzen eine besondere Rolle zukommt (u. a. Cobb et al., 1992, S. 117; Gaidoschik, 2010, S. 517; Hess, 2012, S. 198 ff.; Winter, 24 Diese zu verallgemeinern ist unmöglich, da die Zielgruppe in sich heterogen ist und folglich individuell unterschiedliche Lernvoraussetzungen mitbringt. Jedoch stellen die hier dargestellten Merkmale Charakteristika dar, die häufig auftreten.
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3 Individuell-zieldifferentes Lernen am gemeinsamen Lerngegenstand des flexiblen Rechnens
1987, S. 20 f.). Eine „Vernachlässigung der Kommunikation über Rechenwege erschwert [sogar] die Verallgemeinerung operativer Einsichten“ (Gaidoschik, 2010, S. 517). Dies gilt insbesondere für Kinder mit Schwierigkeiten beim Rechnenlernen (Lorenz, 2005, S. 94, 96). Unterricht wird für diese Zielgruppe dadurch besser, „dass er die vorurteilsfreie Kommunikation zwischen Kindern über die individuellen Lösungswege [...] anregt, [...], denn hierdurch werden die Kinder [wiederum] angeregt, über Denkwege nachzudenken, schon alleine indem sie diese zu verstehen versuchen“ (ebd., S. 94). Des Weiteren lernen sie besser von- und miteinander, da sie „argumentieren, begründen, vergleichen, nachvollziehen und Hypothesen bilden müssen“ (ebd., S. 96). Es lässt sich aus den letzten beiden Abschnitten zusammenfassen, dass die Anregung von Interaktion und Kooperation bei der Förderung flexibler Rechenkompetenzen im inklusiven Mathematikunterricht Notwendigkeit und Herausforderung zugleich ist. Rathgeb-Schnierers Modell in Abbildung 3.3 legt einen Fokus auf den sozialen Austausch und gleichzeitig auf die (Weiter-)Entwicklung von zunehmend flexiblen Rechenwegen (Rathgeb-Schnierer, 2006, S. 88 ff.; 2010a, S. 264). Dem Modell liegt die Annahme zugrunde, dass individuelle, „kindereigene[n] Rechenwege eine bedeutende Rolle im Prozess der Rechenwegsentwicklung einnehmen“ (Rathgeb-Schnierer, 2006, S. 89). Darauf aufbauend integriert sie drei zentrale Aspekte in das Modell: 1) Rechenwege als Erkenntnisbedingung und Erkenntnismittel, 2) die Artikulation dieser Rechenwege im sozialen Kontext und 3) eine Lernumgebung, die die individuellen Entwicklungsprozesse fördert (ebd., S. 89). Den ersten Aspekt unterteilt Rathgeb-Schnierer (2006) in interne und externe Rechenwege: Interne Rechenwege als Erkenntnisbedingung sind die vom Kind individuell konstruierten Lösungswege, die Voraussetzung und Ausgangspunkt für den weiteren Lernprozess sind und diesen ermöglichen aber auch begrenzen (ebd., S. 89). Sie können sich also weiterentwickeln, u. a. durch den Austausch mit anderen Kindern oder der Lehrkraft. Durch die Artikulation in eben diesem sozialen Austausch (zweitgenannter Aspekt) werden die internen Wege zu externen Rechenwegen, wodurch ein mathematischer Austausch stattfinden kann. Die externen Rechenwege fungieren als Erkenntnismittel. „Zentrale Erkenntnismittel sind sie deshalb, weil ich davon ausgehe, dass die Auseinandersetzung mit ihnen im sozialen Kontext die Weiterentwicklung der internen „Rechenwege“ (Erkenntnisbedingungen) bewirken kann“, erläutert Rathgeb-Schnierer (2006, S. 89). So kann folgender Kreislauf entsteht. Durch eigenständige Konstruktionen, Reflexion und sozialen Austausch werden Lösungsprozesse und -wege weiterentwickelt. Diese Weiterentwicklungen werden dann erneut wieder zu internen Rechenwegen (ebd., S. 89).
3.2 Flexibles Rechnen fördern
Abbildung 3.3:
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Modell der Rechenwegsentwicklung nach Rathgeb-Schnierer (2010a, S. 264; s/w abgebildet; für das Original vgl. Rathgeb-Schnierer, 2006, S. 88 ff.)
Der dritte genannte Aspekt im Modell, die Lernumgebung, bildet eine essenzielle Grundlage für eine produktive Kommunikation über Rechenwege und wird von der Autorin implizit mitgedacht. Eine geeignete Lernumgebung muss arithmetische Zusammenhänge und Beziehungen deutlich machen und dazu anregen, diese wahrzunehmen und sich darüber auszutauschen (RathgebSchnierer, 2006, S. 94). Rathgeb-Schnierer hält als ein wesentliches Ergebnis in ihrem Modell der Rechenwegsentwicklung zusammenfassend fest: „Die Rechenwegsentwicklung vollzieht sich in einem spiraligen Prozess von eigenständiger Konstruktion, Reflexion und Austausch. Dieser Prozess erfordert eine Lernumgebung, in der die eigenständige Auseinandersetzung mit geeigneten Aufgaben und die Kommunikation über Lösungsideen und Rechenwege zentrale Rollen einnehmen.“ (Rathgeb-Schnierer, 2006, S. 297 f.)
Hinsichtlich des Erkenntnisinteresses der vorliegenden Arbeit (vgl. Kap. 4.1) wurde das vorgestellte Modell der Rechenwegsentwicklung adaptiert. Die Adaption in Abbildung 3.4 fokussiert in Anlehnung an das Original von RathgebSchnierer (Abb. 3.3) drei zentrale Aspekte: 1) individuelle Zugänge und Lösungsprozesse als Interaktions- und Erkenntnisbedingung und -voraussetzung, sie selbst ermöglichen aber auch begrenzen die Interaktion und die Erkenntnis / Weiterentwicklung (Abb. 3.4, oben); 2) Interaktion (verbal oder nonverbal) auf Basis dieser individuellen Zugänge und Lösungsprozesse (Abb. 3.4, Mitte); 3) verbalisierte Zugänge und Lösungsprozesse als Erkenntnismittel durch Reflexion und Weiterentwicklung auf Grundlage der Auseinandersetzung mit
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3 Individuell-zieldifferentes Lernen am gemeinsamen Lerngegenstand des flexiblen Rechnens
eigenen und fremden Zugängen und Lösungsprozessen in der Interaktion (Abb. 3.4, unten).
Individuelle Zugänge und Lösungsprozesse Auseinandersetzung mit dem gemeinsamen mathematischen Lerngegenstand auf der Basis individueller Lernvoraussetzungen.
Mit‐ und voneinander Lernen Verbale und non‐verbale Interaktion über Entdeckungen, Lösungsprodukte, Lösungsideen und Lösungswege mit dem Ziel des wechselseitigen Verstehens.
Bewusstmachung eigener Gedanken
Auseinandersetzung mit Gedanken anderer
Eigene Gedanken klären, ordnen und verständlich darstellen.
Gedanken anderer nachvollziehen und mit den eigenen verknüpfen.
Ziel: verstanden werden
Ziel: andere verstehen
Weiterentwickelte Zugänge und Lösungsprozesse Weiterentwicklung eigener Zugänge und Lösungsprozesse durch die Bewusstmachung eigener Gedanken sowie durch die Auseinandersetzung mit den Gedanken der anderen.
Abbildung 3.4:
Modell zur Verknüpfung der individuell-zieldifferenten Lernprozesse und der Interaktion während des mit- und voneinander Lernens (inhaltliche Idee i. A. a. das ‚Modell der Rechenwegsentwicklung‘ nach Rathgeb-Schnierer, 2006, S. 88, vgl. Abb. 3.3; Vokabular teilweise entnommen aus einem weiteren Modell ‚Lernprozesse als Balance zwischen Eigenkonstruktion und sozialem Austausch‘ nach Rathgeb-Schnierer, 2010b, S. 4)
Während der Interaktion werden auf Grundlage der individuellen Lernvoraussetzungen – Rathgeb-Schnierer nennt diese „interne Rechenwege als Erkenntnisbedingung“ (Rathgeb-Schnierer, 2006, S. 88 ff.) – einerseits eigene Gedanken geklärt, geordnet und verständlich dargestellt (‚Bewusstmachung eigener Gedanken‘). Andererseits werden Gedanken anderer nachvollzogen und mit den
3.2 Flexibles Rechnen fördern
123
eigenen verknüpft, sodass auf Basis der individuellen Zugänge und Lösungsprozesse eine ‚Auseinandersetzung mit Gedanken anderer‘ angeregt wird. Durch diese Bewusstmachung eigener Gedanken sowie durch die Auseinandersetzung mit den Gedanken der anderen während der Interaktion wird eine Weiterentwicklung von individuellen Zugängen und Lösungsprozessen ermöglicht. Diese beeinflusst dann wiederum die eigene individuelle Auseinandersetzung mit dem mathematischen Lerngegenstand. Es handelt sich folglich um einen Kreislauf von eigenständigen Konstruktionen, Interaktion, Reflexion, und Weiterentwicklung. Dabei kann die Interaktion mit den getätigten Äußerungen und Handlungen als potenzieller ‚Motor’ der individuellen Lernprozesse betrachtet werden. Voraussetzung dafür ist ein geeignetes Lehr-Lern-Arrangement. Der Aspekt des Lehr-Lern-Arrangements wird ebenso wie bei Rathgeb-Schnierer (vgl. Abb. 3.3) mitgedacht, jedoch nicht im Modell explizit dargestellt. Ein geeignetes LehrLern-Arrangements hat zum Ziel, Eigenschaften und Beziehungen von Zahlen und Aufgaben deutlichzumachen und anzuregen, diese wahrzunehmen und zu nutzten (Lernförderlichkeit) sowie sich darüber auszutauschen (Interaktionsförderlichkeit). Das Modell in Abbildung 3.4 wird im Laufe der vorliegenden Arbeit weiter ausdifferenziert, mit dem Ziel, die Verknüpfung und den Zusammenhang der individuell-zieldifferenten Lernprozesse und der Interaktion genauer zu betrachten. Dabei fokussiert die Untersuchung darauf, wie die Interaktion im inklusiven Mathematikunterricht zwischen Kindern mit und ohne sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf ‚Lernen‘ stattfindet und strukturiert ist (Rekonstruktion interaktiver Strukturen, mittlere Ebene des Modells in Abb. 3.4) sowie inwiefern dieser eine Weiterentwicklung der Lernprozesse bezüglich des flexiblen Rechnens bei den am Austausch Beteiligten bewirkt (Rekonstruktion individueller Lernprozesse, erste und dritte Ebene des Modells in Abb. 3.4). Hierfür kommt in der Interaktion getätigten Äußerungen und Handlungen eine weitere wichtige Rolle zu. Sie sind nicht nur ‚Motor’ der individuellen Lernprozesse, sondern ermöglichen ebenso deren Rekonstruktion, indem sie als ‚Informationsträger’ fungieren. Zugänge und Lösungsprozesse der Kinder werden auf Grundlage der Interpretation der Äußerungen und Handlungen rekonstruiert. Veränderungen dieser geäußerten Gedanken über Entdeckungen, Lösungsprodukte, -ideen und -wege sind Indikatoren für eine (Weiter-)Entwicklung. Auf die Rolle der Äußerungen und Handlungen als ‚Informationsträger’ und somit als Teil der Operationalisierung der Forschungsfragen wird in Kapitel 7 ‚Methoden der Datenerhebung und -auswertung’ detaillierter eingegangen.
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3 Individuell-zieldifferentes Lernen am gemeinsamen Lerngegenstand des flexiblen Rechnens
Zusammenfassung und Konklusion des Kapitels 3.2 für die vorliegende Arbeit Auf Grundlage der Betrachtung des mathematischen Lerngegenstandes aus Sicht der allgemeinen Mathematikdidaktik, aus Sicht der Sonderpädagogik des Lernens sowie in Zusammenhang mit dem Aspekt der sozialen Interaktion können folgende zentrale Aspekte abgeleitet werden: Es gibt zwei zentrale fachliche Förderschwerpunkte für eine verstehensorientierte Förderung des flexiblen Rechnens: I) Der Aufbau von Zahlvorstellungen (u. a. Zahleigenschaften und -beziehungen (er-)kennen), auf deren Basis Beziehungen beim Rechnen genutzt werden können. II) Die Entwicklung des Wahrnehmens und Nutzens von Aufgabeneigenschaften und -beziehungen (Kap. 3.2.1). Bedeutend für eine Förderung flexiblen Rechnens sind Aufgaben, die zum eigenaktiven Forschen über Zahl- und Aufgabeneigenschaften, operative Beziehungen und strategische Werkzeuge (individuell-zieldifferent) sowie gleichzeitig zum Austausch darüber (interaktiv-kooperativ) anregen (Kap. 3.2.1). Zu den geeigneten Aufgaben gehören Tätigkeiten zum ‚Sehen’ von Eigenschaften und Beziehungen, das ‚Sortieren’, das ‚Strukturieren von Anzahlen und Aufgaben’, ‚gemeinsames Vergleichen und Sortieren’, das ‚Nutzen von Aufgabenbeziehungen’ sowie das verständnisbasierte ‚Automatisieren von Beziehungswissen’ (Kap. 3.2.1). Diese Tätigkeiten und der Austausch darüber sind insbesondere für Kinder mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf ‚Lernen‘ bedeutend, um flexible Rechenkompetenzen anzubahnen (Kap. 3.2.2). Weitere wichtige Aspekte für diese Zielgruppe und somit für den inklusiven Unterricht allgemein sind: die aktive Auseinandersetzung mit Zahl- und Aufgabeneigenschaften und -beziehungen, das Entdeckende Lernen auf eigenen Wegen (inbegriffen ist hier die Ermöglichung individueller Zugänge und Lernprozesse), das operative Üben, die Komplexität des Lerngegenstandes, ausreichend Zeit und ausreichend Gelegenheiten zum Verstehen sowie mehrfaches Wiederholen, die verständnisorientierte Automatisierung von Grundaufgaben, der Einsatz von Anschauungsmitteln, das gemeinsame Reflektieren und Sprechen über Aufgabenmerkmale/-beziehungen und Strategien, das Angebot an Orientierung und Struktur, die Schaffung bedeutsamer Situationen sowie allgemeine Anerkennung, Verständnis und Ermutigung (Kap. 3.2.2). Die Anregung von Interaktion bei der Entwicklung und Förderung flexibler Rechenkompetenzen im inklusiven Mathematikunterricht ist sowohl Notwendigkeit als auch eine besondere Herausforderung zugleich. Beide Aspek-
3.2 Flexibles Rechnen fördern
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te müssen bei der Planung des Lehr-Lern-Arrangements berücksichtigt werden (Kap. 3.2.3). Der Kreislauf von eigenständigen Konstruktionen, Interaktion, Reflexion und Weiterentwicklung erfordert ein Lehr-Lern-Arrangement, in dem die eigenständige Auseinandersetzung mit arithmetischen Eigenschaften und Beziehungen und deren strategische Nutzung (Lernförderlichkeit) sowie geleichzeitig die Interaktion und Kommunikation darüber (Interaktionsförderlichkeit) eine zentrale Rolle einnehmen (Kap. 3.2.3). Die in der Interaktion stattfindenden Äußerungen und Handlungen zu Entdeckungen, Lösungsprodukten, -ideen und -wege sind ‚Motor’ der Lernprozesse sowie ‚Informationsträger’ zur Rekonstruktion von Lernprozessen zugleich (Kap. 3.2.3).
3.3
Individuell-zieldifferente Lernverläufe – ein Modell zum flexiblen Rechnen
Im vorangegangenen Kapitel 3.2 wurde u. a. herausgearbeitet, dass die in der Interaktion getätigten Äußerungen und Handlungen die Funktion des ‚Informationsträgers’ zur Rekonstruktion von Lernprozessen einnehmen. Damit in Verbindung stehend wird in diesem Kapitel die theoretische Grundlage geschaffen, um die beobachtbaren Äußerungen und Handlungen auf einer mathematischen Ebene zu interpretieren. Hierfür wird zunächst ein Modell zum flexiblen Rechnen entworfen, das besonders individuell-zieldifferente Lernverläufe in einem inklusiven Mathematikunterricht in Betracht zieht (Kap. 3.3.1). Das Modell schließt an die theoretischen Vorüberlegungen aus Kapitel 3.1 und 3.2 zur Entwicklung und Förderung flexiblen Rechnens an und konkretisiert verschiedene Kategorien allgemeiner mathematischer Ideen bezüglich der Referenzen (Kap. 3.3.2) und der Lösungswerkzeuge (Kap. 3.3.3), die bei der Entwicklung und Förderung flexibler Rechenkompetenzen im Kontext des vorliegenden Forschungsprojektes eine Rolle spielen. Des Weiteren wird in diesem Kapitel das entwickelte Modell zum flexiblen Rechnen mit der Rolle der Interaktion während des mit- und voneinander Lernens in Beziehung gesetzt. 3.3.1 Modell zum flexiblen Rechnen Um die (Weiter-)Entwicklung individuell-zieldifferenter Lernprozesse in Bezug auf den gemeinsamen Lerngegenstand – das flexible Rechnen und dessen Förderung – zu rekonstruieren, wurde auf der Grundlage zuvor dargestellter Definitionen, Modelle und Forschungsergebnisse (u. a. Heirdsfield & Cooper, 2002; Rathgeb-Schnierer, 2006; 2011; Rathgeb-Schnierer & Green, 2013; Rechtsteiner-Merz, 2013; Threlfall, 2002) ein eigenes Modell entworfen, das insbesonde-
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3 Individuell-zieldifferentes Lernen am gemeinsamen Lerngegenstand des flexiblen Rechnens
re die Darstellung der Veränderungen und Weiterentwicklungen individuellzieldifferenter Zugänge und Lösungsprozesse in Betracht zieht (Abb. 3.5) 25. Situationsbedingter und individueller Lösungsprozess
Referenzen Standard‐ verfahren
Eigenschaften & Beziehungen von Zahlen & Aufgaben
Hilfsmittel
Abbildung 3.5:
Lösungswerkzeuge Nutzen Reflektieren
Strategische Werkzeuge (Rechnen)
Faktenabruf (Wissen)
Zählstrategien (Zählen)
Modell zum flexiblen Rechnen zur Darstellung individuell-zieldifferenter Zugänge und Lösungsprozesse (entwickelt i. A. a. das in Kap. 3.1.1 erläuterte ‚Mehrebenenmodell‘ nach Rathgeb-Schnierer 2011 und Rechtsteiner-Merz 2013; vgl. Abb. 3.1 und Abb. 3.2)
Im Vergleich zu den dargestellten Modellen in Kapitel 3.1.1 fokussiert dieses stärker auf den Zusammenhang und die Wechselbeziehung zwischen Referenzen und Lösungswerkzeugen (Begriffe aus Rathgeb-Schnierer, 2011, S. 16 ff. hervorgehoben durch Rechtsteiner-Merz, 2013; vgl. Kap. 3.1.1), um Veränderungen und (Weiter-)Entwicklungen durch beispielsweise neue Einsichten oder Reflexion darstellen zu können. Aus diesem Grund sind die Referenzen und Lösungswerkzeuge in diesem Modell auf einer Ebene dargestellt und durch Wechselpfeile verbunden, die die Wechselbeziehung und die damit einhergehende Möglichkeit des Nutzens und Reflektierens hervorheben (Abb. 3.5, Mitte). Wenn beispielsweise auf der Referenzebene neue Aufgabenbeziehungen entdeckt werden, kann dies einen Einfluss auf die Ebene der Lösungswerkzeuge haben, indem die neuen Einsichten genutzt werden. Ebenso können Lösungswerkzeuge reflektiert und zu vorteilhafteren Lösungswerkzeugen weiterentwickelt werden. Die dem Modell zugehörigen Tabellen 3.1 und 3.2 legen dar, was der Kontext des Lehr-Lern-Arrangements (vgl. Kap. 6) auf mathematischer Ebene ermöglicht, um Lösungsprozesse kategorisieren und zieldifferente Lernpfade aufzeigen zu können. Wie bereits in Kapitel 3.1.1 herausgestellt, ist ein Lösungsprozess eine situationsabhängige und individuelle Reaktion auf eine spezifische Aufgabe mit Rückgriff auf Referenzen (Abb. 3.5, links) und die entspre25 Für Informationen zu der sukzessiven Entwicklung dieses Modells vgl. frühere Veröffentlichungen der Autorin der vorliegenden Arbeit (Korten, 2017a; 2017b; 2017d).
3.3 Individuell-zieldifferente Lernverläufe – ein Modell zum flexiblen Rechnen
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chende Konstruktion des eigentlichen Lösungsprozesses mit Hilfe von Lösungswerkzeugen, denen die Referenzen zugrunde liegenden (Abb. 3.5, rechts). Auf diese beiden Hauptaspekte des Modells wird im Folgenden genauer eingegangen. Referenzen In Anlehnung an das in Kapitel 3.1.1 vorgestellte ‚Mehrebenenmodell‘ (Rathgeb-Schnierer, 2011; adaptiert von Rechtsteiner-Merz, 2013) sind Referenzen individuelle Erfahrungen und kognitive Elemente, auf die sich die Kinder im Lösungsprozess stützen. Dieses beinhaltet Hintergrundwissen und Hintergrundkompetenzen für den individuellen Lösungsprozess. Hierzu gehören erlernte Standardverfahren, die Wahrnehmung von und das Wissen über Eigenschaften und Beziehungen von Zahlen und Aufgaben sowie Hilfsmittel, zu denen Finger oder andere Anschauungsmittel wie beispielsweise Plättchen gehören. Einem Lösungsprozess können mehrere Referenzen zugrunde liegen, wie die Überlappungen im Modell (Abb. 3.5) aufzeigen. Die Referenzebene bezieht sich also auf die kognitiven, den Lösungsprozess stützenden Elemente (ebd.). Hilfsmitteln (Abb. 3.5, gestrichelt) kommt hierbei eine besondere Rolle zu. Auf sie kann nicht isoliert zurückgegriffen werden, da in jedem Fall der Rückgriff auf ein Standardverfahren (verfahrensorientiert) oder auf Aufgabenmerkmale und Zahlbeziehungen (beziehungsorientiert) vollzogen wird – jeweils entweder formal oder durch Finger bzw. andere Anschauungsmittel gestützt (RechtsteinerMerz, 2013, S. 78). Lösungswerkzeuge In Anlehnung an das in Kapitel 3.1.1 vorgestellte ‚Mehrebenenmodell‘ (Rathgeb-Schnierer, 2011; adaptiert von Rechtsteiner-Merz, 2013) sind Lösungswerkzeuge Werkzeuge, die auf der Ebene der konkreten Lösung genutzt werden. Hierzu gehören strategische Werkzeuge (Rechnen), die auf operativen Eigenschaften und Beziehungen beruhen, wie beispielsweise das Zerlegen und Zusammensetzen, die Nutzung von Hilfsaufgaben und Analogien sowie das gleichsinnige und gegensinnige Verändern. Sie sind also mentale Handlungen, die zum operativen und regelgeleiteten Verändern sowie Vereinfachen von Aufgaben beitragen können und immer dann genutzt werden, wenn eine Aufgabe nicht auswendig gewusst bzw. zählend gelöst wird (Rathgeb-Schnierer, 2014b, S. 33). Beim Nutzen strategischer Werkzeuge wird das Ziel verfolgt, eine Aufgabe so zu verändern, dass man sie auf bekannte und auswendig verfügbare Aufgaben zurückführen kann (ebd., S. 33). Des Weiteren wird bezüglich der Lösungswerkzeuge zwischen Faktenabruf (Wissen) und Zählstrategien (Zählen) unterschieden. Es können mehrere Lösungswerkzeuge kombiniert werden, was durch die Überlappungen im Modell (Abb. 3.5) veranschaulicht wird. Sie stehen je-
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3 Individuell-zieldifferentes Lernen am gemeinsamen Lerngegenstand des flexiblen Rechnens
doch stets in Verbindung mit den Referenzen, denn es wird davon ausgegangen, dass der Lösungsprozess immer abhängig von den im Prozess erkannten Aufgabenmerkmalen und Zahlbeziehungen ist (beziehungsorientiert) bzw. von erlernten Standardverfahren beeinflusst wird (verfahrensorientiert). Folglich liegen einem Lösungsprozess immer beide Aspekte, sowohl Referenzen als auch Lösungswerkzeuge, zugrunde. Es handelt sich also um ein Zusammenspiel mit gegenseitiger Beeinflussung, wie die Pfeile im Modell verdeutlichen. So beeinflussen beispielsweise die zugrunde liegenden Referenzen die Nutzungsweise der Lösungswerkzeuge (Nutzen). Andersherum können ebenso in einem Lösungsprozess während der Nutzung und Reflexion von spezifischen Lösungswerkzeugen neue Einsichten in Zahl- und Aufgabenbeziehungen gewonnen werden (Reflektieren). Diese neuen Erkenntnisse beeinflussen voraussichtlich den weiteren Verlauf des Lösungsprozesses, da auf der Referenzebene neue Einsichten gewonnen wurden. Individuelle Lern- und Entwicklungsprozesse rekonstruieren Unter Bezugnahme auf den theoretischen Hintergrund (vgl. Kap. 3.1) sind die Aspekte in den grauen Feldern (Abb. 3.5) Anzeichen für flexible Rechenkompetenzen. Threlfall (2009) beispielsweise spricht nur dann von flexiblem Rechnen, wenn auf der Grundlage von erkannten Aufgabeneigenschaften sowie Zahl- und Aufgabenbeziehungen auf strategische Werkzeuge oder Faktenabruf zurückgegriffen wird. Demzufolge sind beobachtete Veränderungen bezüglich der Aspekte in den grauen Feldern prägnante Anzeichen für eine situative Weiterentwicklung des flexiblen Rechnens. Folglich muss eine Förderung flexibler Rechenkompetenzen genau an diese Aspekte (Abb. 3.5, graue Felder) anknüpfen. Bezieht man die Überlegungen auf die in Kapitel 3.2 herausgearbeiteten fachlichen Förderschwerpunkte für eine verstehensorientierte Förderung des flexiblen Rechnens, spricht der Schwerpunkt I die Referenzebene und der Schwerpunkt II die Referenz- sowie die Lösungswerkzeugebene an: Referenzen – Fachliche Förderschwerpunkte I & II: Der Aufbau von umfangreichen Zahlvorstellungen (u. a. Zahleigenschaften und -beziehungen (er-)kennen), auf deren Basis Beziehungen beim Rechnen genutzt werden können (I) sowie die Entwicklung des Wahrnehmens von Aufgabeneigenschaften und -beziehungen (II). Lösungswerkzeuge – Fachlicher Förderschwerpunkt II: Die Entwicklung des Nutzens von Aufgabeneigenschaften und -beziehungen (II).
3.3 Individuell-zieldifferente Lernverläufe – ein Modell zum flexiblen Rechnen
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Demzufolge kann eine Förderung sowohl auf der Ebene der Referenzen als auch auf der Ebene der Lösungswerkzeuge ansetzen. Letzteres setzt die Reflexionsfähigkeit voraus, eigene Lösungsprozesse zu reflektieren und diese weiterzuentwickeln. Ziel des im Rahmen dieser Forschungsarbeit entwickelten LehrLern-Arrangements ist es also, über genau diese Aspekte in den grauen Feldern zum aktiv-endeckenden Forschen anzuregen. Vor dem Hintergrund des zieldifferenten Lernens im inklusiven Mathematikunterricht bietet genau diese Fördermöglichkeit auf unterschiedlichen Ebenen die Chance, verschiedene kognitive Voraussetzungen anzusprechen, um allen einen Zugang sowie Lösungs- und Entwicklungsprozesse zu ermöglichen. Um welche zu fördernden allgemeinen mathematischen Ideen auf Referenz- und Lösungswerkzeugebene es jeweils konkret geht, wird in den nächsten beiden Abschnitten mit Hilfe der Tabellen 3.1 und 3.2 erläutert. Die Tabellen enthalten Indikatoren bezüglich der Handlungen am Material und Bild sowie bezüglich der Äußerungen auf der Sprach- und Symbolebene, die bei Beobachtung auf die jeweilige allgemeine mathematische Idee (Kategorien) schließen lassen. Auf dieser Grundlage werden Lern- und Förderchancen aufgezeigt, indem in der Analyse (vgl. Kap. 8) Lernpfade verschiedener Ausprägungen mit Hilfe des Modells und der dazugehörigen Tabellen kategorisiert und rekonstruiert werden. (Eine ausführlichere Darlegung der Datenerhebung und -auswertung wird in Kapitel 7 vorgenommen.) In den Blick genommen werden in den Analysen die individuellen Lern- und Entwicklungsprozesse bezüglich des flexiblen Rechnens, die in der interaktivkooperativen Phase des ‚Gemeinsamen Mathematiklernens‘ angeregt werden, u. a. ‚angetrieben‘ durch die Interaktion mit einem Partnerkind. Abbildung 3.6 (‚Interaktion als potenzieller ‚Motor’ der Weiterentwicklung individueller Zugänge und Lösungsprozesse‘) veranschaulicht genau diese Abhängigkeit von individuellen Lernprozessen und der interaktiven Struktur. Eine Veränderung von der oberen zur unteren Ebene der Grafik lässt auf Veränderungen und – wenn diese bezüglich der grauen Felder zu beobachten sind – folglich auf erfolgreiche Lern- und Weiterentwicklungsprozesse schließen. Dazwischen steht das mit- und voneinander Lernen, also die gemeinsame Auseinandersetzung mit dem Lerngegenstand und die damit zusammenhängende Interaktion, die beispielsweise durch neue Impulse in Form von fremden Gedanken und Sichtweisen zur Weiterentwicklung anregen kann.
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3 Individuell-zieldifferentes Lernen am gemeinsamen Lerngegenstand des flexiblen Rechnens
Abbildung 3.6:
Interaktion als potenzieller ‚Motor’ der Weiterentwicklung individueller Zugänge und Lösungsprozesse (eine Verknüpfung von Abb. 3.4 und Abb. 3.5)
3.3.2 Referenzen – Aufbau von Zahlvorstellungen und Wahrnehmen von Aufgabeneigenschaften und -beziehungen Tabelle 3.1 gibt einen Überblick darüber, welche allgemeinen mathematischen Ideen bezüglich der Referenzen unterschieden werden können. An dieser Stelle werden nur die allgemeinen mathematischen Ideen genannt, die im Kontext der Förderung des flexiblen Rechnens sowie im Zusammenhang mit dem für diese
3.3 Individuell-zieldifferente Lernverläufe – ein Modell zum flexiblen Rechnen
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Forschungsarbeit entwickelten Lehr-Lern-Arrangement eine Rolle spielen. Sie beziehen sich auf die Voraussetzungen, die Kinder benötigen, um flexibel zu rechnen und Flexibilität zu entwickeln. Diese wurden bereits im Kapitel 3.2 zur Förderung flexibler Rechenkompetenzen herausgearbeitet. Die Kategorien in der ersten Spalte werden unter zwei übergeordneten Kategorien zusammengefasst: ‚Eigenschaften und Beziehungen von Zahlen’ (fachlicher Förderschwerpunkt I) und ‚Eigenschaften und Beziehungen von Aufgaben’ (fachlicher Förderschwerpunkt II). Die Indikatoren26 in Form von ‚Handlungen’ auf enaktiver und ikonischer Ebene sowie bezüglich beobachtbarer ‚Äußerungen’ sprachlicher und symbolischer Natur ermöglichen die Zuordnung zu den jeweiligen Kategorien und somit die Rekonstruktion der allgemeinen mathematischen Ideen bezüglich der Referenzen, die einem Lösungsprozess zugrunde liegen. In der Tabelle werden bewusst nicht nur die prägnanten Anzeichen für flexibles Rechnen (vgl. Kap. 3.3.1) angesprochen, sondern ebenso die Standardverfahren und Hilfsmittel integriert, da es das Ziel ist, auch unflexible Lösungsprozesse zu erfassen, um ggf. eine Weiterentwicklung aufzeigen zu können. (Diese beiden Aspekte sind in der Tabelle abgesetzt und ausgegraut, da sie strenggenommen nicht zur Spaltenüberschrift ‚allgemeine mathematische Idee‘ passen, denn es handelt sich bei den Standardverfahren und Hilfsmitteln um keine allgemeinen mathematischen Ideen.)
26 Die Indikatoren erfüllen nicht den Anspruch der Vollständigkeit. Vielmehr sind sie prägnante Beispiele aus den Design-Experimenten der vorliegenden Untersuchung. (Weitere Ankerbeispiel sind im digitalen Anhang der vorliegenden Arbeit zu finden. Bei Interesse am digitalen Anhang wende man sich an die Autorin.)
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3 Individuell-zieldifferentes Lernen am gemeinsamen Lerngegenstand des flexiblen Rechnens
Tabelle 3.1: Kategorien und Indikatoren bzgl. der Referenzen
3.3 Individuell-zieldifferente Lernverläufe – ein Modell zum flexiblen Rechnen
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3.3.3 Lösungswerkzeuge – Nutzen von Aufgabeneigenschaften und -beziehungen Tabelle 3.2 gibt einen Überblick darüber, welche allgemeinen mathematischen Ideen bezüglich der Lösungswerkzeuge unterschieden werden können. An dieser Stelle werden ebenso wie in Kapitel 3.3.2 nur die mathematischen Ideen genannt, die im Kontext der Förderung des flexiblen Rechnens sowie im Zusammenhang mit dem für diese Forschungsarbeit entwickelten LehrLernarrangement eine Rolle spielen. Sie beziehen sich auf die Werkzeuge, die Kinder nutzen und benötigen, um Additionsaufgaben zu lösen. Die Kategorien in Spalte eins werden hier ebenfalls unter drei übergeordneten Kategorien zusammengefasst, die den Feldern im Modell entsprechen. Die übergeordnete Kategorie ‚Zählen – Zählstrategien’ ist unterteilt in alleszählen und weiterzählen vom ersten bzw. größeren Summanden aus. Die übergeordnete Kategorie ‚Rechnen – Strategische Werkzeuge’ fasst Handlungen zusammen, durch die Aufgaben verändert und vereinfacht werden können, wie in Kapitel 3.1 bereits herausgearbeitet wurde. Sie wird noch einmal unterteilt in das Zerlegen und Zusammensetzen von Zahlen, das gleich- oder gegensinnige Verändern sowie das Nutzen von Hilfsaufgaben und Analogien (Unterteilung i. A. a. RathgebSchnierer, 2006; Rechtsteiner-Merz, 2013). Die abschließende übergeordnete Kategorie ‚Wissen – Faktenabruf’ wird unterteilt in verdoppeln und andere Fakten, die auswendig abgerufen werden. In der Tabelle werden ebenso wie bei den Referenzen bewusst nicht nur die prägnanten Anzeichen für flexibles Rechnen (vgl. Kap. 3.3.1) angesprochen, sondern auch die Zählstrategien integriert, da es das Ziel ist, auch unflexible Lösungsprozesse zu erfassen, um ggf. eine Weiterentwicklung aufzeigen zu können. Die zunehmende Wahrnehmung und Nutzung von Eigenschaften und Beziehungen ermöglichen es, zunehmende Adäquatheit und Flexibilität beim Rechnen zu rekonstruieren. Die Indikatoren27 in Form von ‚Handlungen’ auf enaktiver und ikonischer Ebene sowie bezüglich beobachtbarer ‚Äußerungen’ sprachlicher und symbolischer Natur ermöglichen auch hier die Zuordnung zu den jeweiligen Kategorien und somit die Rekonstruktion der allgemeinen mathematischen Ideen bezüglich der Lösungswerkzeuge, die in einem Lösungsprozess genutzt werden. Hier sei noch einmal hervorzuheben, dass es bei den Kategorien der Lösungswerkzeuge 27 Die Indikatoren erfüllen auch bei den Lösungswerkzeugen nicht den Anspruch der Vollständigkeit. Vielmehr sind sie prägnante Beispiele aus den Design-Experimenten der vorliegenden Untersuchung. (Weitere Ankerbeispiel sind im digitalen Anhang der vorliegenden Arbeit zu finden. Bei Interesse am digitalen Anhang wende man sich an die Autorin.)
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nicht um fertige Lösungswege oder Handlungspläne geht, sondern um Handlungen, durch die Aufgaben verändert und vereinfacht werden können. Tabelle 3.2: Kategorien und Indikatoren bzgl. der Lösungswerkzeuge
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* Im Sinne von Handlungen, durch die Aufgaben verändert und vereinfacht werden können. (Nicht im Sinne fertiger Lösungswege oder Handlungspläne.)
Zusammenfassung und Konklusion des Kapitels 3.3 für die vorliegende Arbeit: Auf Grundlage des entwickelten Modells zum flexiblen Rechnen für den inklusiven Mathematikunterricht können folgende zentrale Aspekte abgeleitet werden: Die Vielschichtigkeit und Reichhaltigkeit des Lerngegenstandes ‚flexibles Rechnen‘ bietet vor dem Hintergrund des individuell-zieldifferenten Lernens
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im inklusiven Mathematikunterricht die Chance, allen einen Zugang sowie Lösungs- und Entwicklungsprozesse zu ermöglichen (Kap. 3.3.1, 3.3.2, 3.3.3). Mit Hilfe des Modells (Kap. 3.3.1, Abb. 3.5) und den dazugehörigen Tabellen (Kap. 3.3.2 und 3.3.3) ist es möglich, verschiedene Ausprägungen individueller Lösungsprozesse zu kategorisieren und so zieldifferente Lernpfade zu rekonstruieren. Hierdurch können individuelle Lern- und Entwicklungschancen aufgezeigt werden, die in der interaktiv-kooperativen Phase des ‚Gemeinsamen Mathematiklernens‘ angeregt werden. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Abhängigkeit von individuellen Lernprozessen und der interaktiven Struktur (Abb. 3.8). Die jeweiligen Lösungsprozesse (Zusammenspiel von Referenzen und Lösungswerkzeugen) können durch Beobachtungen der Interaktion und durch das damit zusammenhängende Kommunizieren, Interagieren, Beschreiben, Begründen, Sortieren sowie durch Materialhandlungen und gezieltes Nachfragen erfasst werden. Dabei fungieren die Äußerungen und Handlungen als Informationsträger (Kap. 3.3.1, 3.3.2, 3.3.3).
4 Forschungsmethodische Grundlagen der Untersuchung „Design experiments have both a pragmatic bent – ‘engineering’ particular forms of learning – and a theoretical orientation – developing domain-specific theories by systematically studying those forms of learning and the means of supporting them.” (P. Cobb, Confrey, diSessa, Lehrer, & Schauble, 2003, S. 9)
Dieses Kapitel verbindet die bisher aufgezeigten theoretischen Grundlagen mit dem empirischen Teil der vorliegenden Arbeit. Zunächst werden, anknüpfend an die dargelegte Forschungslücke, das Erkenntnisinteresse der Untersuchung (Kap. 4.1.1) sowie die Forschungsfragen auf Forschungs- und Entwicklungsebene (Kap. 4.1.2) dargelegt. Das anschließende Kapitel 4.2 ist dem forschungsmethodischen Zugang gewidmet. Dieser wird beschrieben und begründet, indem sowohl der qualitative Forschungsansatz (Kap. 4.2.1) als auch der Zugang der Fachdidaktischen Entwicklungsforschung (Kap. 4.2.2) skizziert werden. Anschließend wird die Durchführung von Design-Experimenten in iterativen Zyklen (Kap. 4.2.3) beschrieben. Der konkrete Ablauf dieser Design-Experimente mit den jeweiligen Forschungsschwerpunkten der einzelnen Zyklen sowie die Darlegung der theoretischen Stichprobe und der Analyseinstrumente werden in Kapitel 7 (Methoden der Datenerhebung und -auswertung) thematisiert. Ziele des vorliegenden vierten Kapitels sind zunächst die Darlegung der Generierung und die Konkretisierung der Forschungsfragen sowie die daraus abgeleitete Begründung des methodischen Zugangs.
4.1
Erkenntnisinteresse und Forschungsfragen
Zu Beginn wird das primäre Erkenntnisinteresse dieser Untersuchung beschrieben (Kap. 4.1.1), das im Anschluss mittels zweier übergeordneter Forschungsfragen auf Forschungs- und Entwicklungsebene genauer ausgeführt wird. Diese zwei Forschungsschwerpunkte werden wiederum durch untergeordnete Forschungsfragen weiter ausdifferenziert (Kap. 4.1.2). 4.1.1 Erkenntnisinteresse der Untersuchung Als Konsequenz der in den vorangegangenen Kapiteln dargestellten theoretischen und empirischen Befunde zum ‚Gemeinsamen Mathematiklernen‘ in der Grundschule ergibt sich die Forderung nach einer detaillierteren Beforschung dieses Themenfeldes. Hierbei ist ein besonderer Schwerpunkt auf didaktische Fragestellungen zu legen (vgl. dazu Kap. 1.1.2 Forschungstradition und Forschungslücken). © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Korten, Gemeinsame Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht, Dortmunder Beiträge zur Entwicklungund Erforschung des Mathematikunterrichts 44, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30648-9_5
138
4 Forschungsmethodische Grundlagen der Untersuchung
Zahlreiche Wissenschaftler betonen diese Notwendigkeit weiterer Forschung zum inklusiven (Mathematik-)Unterricht und beziehen sich dabei besonders auf derartige didaktische Fragestellungen (u. a. Feuser, 2012a; Korff, 2015; LütjeKlose & Miller, 2015). Die konkreten Forschungslücken aus mathematikdidaktischer Sicht wurden bereits in Kapitel 1.1.2 thematisiert. Daher werden die Gründe für diese Forderung bzw. Notwendigkeit an dieser Stelle lediglich zusammenfassend dargestellt, um das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit abzuleiten. Die Gründe sind auf unterschiedlichen Ebenen auszumachen: Politische Ebene: Das Schulgesetz fordert eine inklusive Bildung. Nach enttäuschenden Ergebnissen in Vergleichsstudien (z. B. TIMSS, PISA) ist das deutsche Schulsystem in die Kritik geraten. Wenn man das Förderschulsystem hinzuzieht, existiert eine Viergliedrigkeit, durch die schon ab dem ersten Schuljahr soziale Auslese und Homogenisierung stattfinden (für NRW vgl. MSW, 2017a; 2017b). Trotz der Erkenntnis, dass viele Erfolgsländer der Vergleichsstudien inklusiv arbeiten, besteht in Deutschland weitgehend weiterhin eine Homogenisierungsstrategie (zu diesem Absatz vgl. Stanislowski & Nuding, 2013, S. IX). Im Zuge der laufenden Schulreform, die zum Ziel hat, diese Homogenisierung zu verringern und der gesetzlichen Forderung nach einer inklusiven Bildung (vgl. Einleitung und Kap. 1) gerecht zu werden, werden verschiedene Modelle inklusiver Schule erprobt und Förderschulen wurden geschlossen. Es ist hierbei nicht ausreichend, strukturelle Veränderungen auf schulorganisatorischer Ebene zu schaffen (Stanislowski & Nuding, 2013, S. IX ff.). Vielmehr ist es unaufschiebbar, die Schulreform durch eine Fachdidaktische Entwicklungsforschung auf unterrichtlicher Ebene in allen Fächern zu begleiten, so auch im Fach Mathematik. Praxisebene: Nicht alle Lehrkräfte schätzen das ‚Gemeinsame Mathematiklernen‘. Sowohl aus dem Schulumfeld als auch aus den Medien sind kritische Stimmen zum Thema Inklusion zu hören. Demzufolge muss davon ausgegangen werden, dass derzeit nicht alle Lehrkräfte vom ‚Gemeinsamen Lernen‘ überzeugt sind, wie Korff (2015) in ihrer Interviewstudie zu Belief-Systemen zum inklusiven Mathematikunterricht in der Primarstufe empirisch belegt (vgl. Kap. 1.1.2 für mehr Details zu dieser Studie). Sie fand heraus, dass Lehrkräfte besonders in der Arithmetik eine „besondere Barriere für das mit- und voneinander Lernen in einer heterogenen Lerngruppe sehen“ und diese eng mit „symbol- und arbeitsblattorientierten Arbeitsphasen“ verknüpfen (Korff, 2015, S. 249). Die allgemeinen Zweifel sind nicht verwunderlich, da es an guten Unterrichtsbeispielen mangelt, die Mut machen, Barrieren abbauen, Anregung zur Umsetzung geben und Lehrkräften helfen, Heterogenität als Chance wahrzunehmen. Erste wissen-
4.1 Erkenntnisinteresse und Forschungsfragen
139
schaftlich fundierte Projekte – beispielsweise ‚Mathe inklusiv mit PIKAS’ (o. J.), das ‚LUIS-M-Projekt’ (Häsel-Weide, 2016d; vgl. Kap. 1.1.2), das ‚DeziMal-Projekt‘ (Schöttler, 2017a, 2017b; vgl. Kap. 1.1.2), andere Projekte zu ‚Gemeinsamen Lernsituationen‘ (u. a. Hähn, 2016, 2017, 2018, vgl. Kap. 1.1.2; Scherer, Hähn, Rütten, & Weskamp, 2017) und das ‚GLUE-Projekt – Gemeinsame LernUmgebungen Entwickeln‘ (Korten, Nührenbörger, Selter, Wember, & Wollenweber, 2019) – haben sich zum Ziel gesetzt, diesem Problem entgegenzuwirken, indem sie sich konkret mit Lernumgebungen für den inklusiven Mathematikunterricht auseinandersetzen. Dennoch ist zu vermuten, dass die politisch verankerte Inklusion in der Unterrichtspraxis weiterhin (nur) ansatzweise umgesetzt wird, jedoch durch die steigende Anzahl guter Unterrichtsbeispiele vermehrt zunimmt. Häufig findet die Umsetzung jedoch in Form von Separation oder Individualisierung statt, wie Korff (2015) am Beispiel des Bundeslands Bremen herausstellt. „In der Gemeinsamkeit der Beschreibungen [aller befragten Lehrkräfte28] von typischem Unterricht ebenso wie vom Umgang mit Heterogenität finden sich überwiegend individuelle Lernsituationen“ (Korff, 2015, S. 190). Mit dem ‚Gemeinsamen Lernen‘ im Sinne der Inklusion ist hingegen keine übersteigerte Individualisierung gemeint (vgl. Kap. 1.1). Ist der Unterricht zu speziell auf jedes einzelne Kind ausgerichtet, kann kein inhaltlicher Austausch mehr erfolgen, was dazu führt, dass mit- und voneinander Lernen nicht stattfinden kann. Brügelmann spricht in diesem Zusammenhang von der „Individualisierungsfalle“ (Brügelmann, 2011, S. 355 ff.). Um diesem Problem entgegenzuwirken, sind vor allem fachdidaktische Entwicklungsforschungsprojekte geeignet, die unterrichtliche Prozesse des mit- und voneinander Lernens und das ‚Gemeinsame Mathematiklernen‘ gezielt anregen und untersuchen. Fachliche Ebene: Lehrkräfte sehen im Fach Mathematik eine besondere Herausforderung für das ‚Gemeinsame Lernen‘. Der hierarchische und symbolorientierte Aufbau des Faches Mathematik erweckt bei vielen Lehrkräften den Eindruck, dass das mit- und voneinander Lernen in einer heterogenen Schülerschaft, die von lernschwachen bis hochbegabten Kindern reicht, an einem gemeinsamen Lerngegenstand nicht möglich ist (Korff, 2015). Dementsprechend sehen sie besonders im Fach Mathematik und vor allem im Bereich der Arithmetik ein Problem in der Umsetzung von Inklu28 Korff (2015) unterscheidet in ihrer Studie für die spezielle Situation im Bundesland Bremen zwischen Grundschul- und Sonderpädagogen in Integrations- und Kooperationsklassen. Die hier angeführten Ergebnisse beziehen sich ausschließlich auf alle Befragten, da es diese schulorganisatorischen Unterscheidungen in anderen Bundesländern nicht gibt.
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4 Forschungsmethodische Grundlagen der Untersuchung
sion (ebd.). Gleichwohl ist das Fach durch immer wiederkehrende Muster und Strukturen durchaus für das ‚Gemeinsame Lernen‘ geeignet. Das ‚Spiralprinzip’ (u. a. Bruner, 1973; Krauthausen & Scherer, 2007, S. 139) und das ‚Prinzip der fortschreitenden Schematisierung’ (u. a. Götze & Schwätzer, 2010) sind hierbei von besonderer Bedeutung. Um die Heterogenität und Vielfältigkeit der Lerngruppe auch im Fach Mathematik als Chance zu nutzen, bedarf es einer differenzierenden Didaktik sowie die Beforschung eben dieser im Rahmen von fachdidaktischen Entwicklungsforschungsprojekten. In diesem Sinne stellte Feuser in einer Rede zum Rückblick auf 25 Jahre Integrations-/Inklusionsforschung fest: „Didaktik als zentraler Aspekt pädagogischen Denkens, Planens, Handelns, Analysierens, Evaluierens und fortgesetzten Revidierens hätte den Mittelpunkt zu bilden, wovon die Forschung bis heute, von wenigen ernst zu nehmenden Ausnahmen abgesehen, noch meilenweit entfernt ist.“ (Feuser, 2012a, S. 290)
Forschungsebene: Es existiert keine fundierte empirische Basis. Im zweiten Teil des Zitats macht Feuser ebenso auf die Forschungslücke im Bereich Didaktik des ‚Gemeinsamen (Mathematik-)Lernens‘ aufmerksam. Besonders in der Mathematikdidaktik fehlt eine fundierte empirische Basis auf der Ebene unterrichtlicher Prozesse (u. a. Interaktions-, Lernprozesse und LehrLernprozesse), wie bereits in Kapitel 1 herausgestellt wurde (vgl. dazu Kap. 1.1.2 Forschungstradition und Forschungslücken). Aus diesen hier angeführten Gründen wird die Differenz zwischen der gesetzlich verankerten, theoretischen Umsetzung von Inklusion einerseits (vgl. politische Ebene) und der tatsächlichen Umsetzung in der Schulpraxis andererseits (vgl. Praxisebene und fachliche Ebene) deutlich. Ebenso besteht eine Forschungslücke (vgl. Forschungsebene und Kap.1.1.2), aus der sich die Forderung nach Forschungsprojekten ableiten lässt, die gegenstandsorientierte fachdidaktische Fragestellungen untersuchen. Auf diese Weise kann ein Beitrag zur Schließung dieser Forschungslücke geleistet werden. Gleichzeitig können dadurch Chancen einer inklusiven Bildung aufgezeigt werden, wodurch der dargelegten Differenz zwischen der (gesetzlich verankerten) theoretischen und praktischen Umsetzung entgegengewirkt wird. Für das vorliegende Projekt ergibt sich damit die Notwendigkeit einer Beforschung inklusiven Mathematikunterrichts mit besonderem Schwerpunkt auf mathematikdidaktischen Fragestellungen, die individuell-zieldifferente Lernprozesse am gemeinsamen Lerngegenstand in den Blick nehmen. Ergänzt durch die abgeleiteten Konsequenzen aus den dargestellten theoretischen und empirischen Befunden in vorangegangenen Kapiteln werden dabei gezielt interaktivkooperative Lernsituationen angeregt und untersucht, um das mit- und voneinander Lernen am gemeinsamen Lerngegenstand (flexibles Rechnen) zu fokus-
4.1 Erkenntnisinteresse und Forschungsfragen
141
sieren. Hierbei werden sowohl Interaktions-, Lern- und Lehr-Lernprozesse als auch deren Zusammenhang in den Blick genommen. Damit einhergehend ergibt sich für die vorliegende Untersuchung das übergeordnete Erkenntnisinteresse, einen Beitrag zur Fachdidaktischen Entwicklungsforschung von Interaktions-, Lern- und Lehr-Lernprozessen im Kontext des ‚Gemeinsamen Mathematiklernens‘ zu leisten und somit Einsichten zu generieren, die die Weiterentwicklung und Verbesserung der Unterrichtspraxis unterstützen können. Durch zyklische Entwicklungsarbeit, die Durchführung von Design-Experimenten sowie die Auswertung und Weiterentwicklung eines exemplarischen Lehr-Lern-Arrangements sollen Erkenntnisse darüber gesammelt werden, wie interaktiv-kooperative Lernsituationen zwischen Kindern mit und ohne Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung im Bereich ‚Lernen‘29 bezüglich der individuellen Lernprozesse zum flexiblen Rechnen und der interaktiven Strukturen verlaufen. Anschließend sollen daraus zielführende Gestaltungsprinzipien für die gelingende Anregung interaktiv-kooperativer Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht abgeleitet werden. Folglich werden – wie auch das Eingangszitat dieses Kapitels hervorhebt – Interessen und Ziele auf zwei Ebenen verfolgt: Auf der Ebene der Forschung, um etwas über Lern- und Interaktionsprozesse während des mit- und voneinander Lernens heterogener Partner in interaktiv-kooperativen Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht zu erfahren und diese zu verstehen sowie auf der Ebene der Entwicklung, um ein Lehr-Lern-Arrangement zu designen, das ‚Gemeinsames Mathematiklernen‘ am gemeinsamen Gegenstand des flexiblen Rechnens durch die gelingende Anregung interaktiv-kooperativer Lernsituationen unterstützt und verbessern kann. 4.1.2 Forschungsfragen auf Forschungs- und Entwicklungsebene Um das dargelegte übergeordnete Erkenntnisinteresse der vorliegenden Untersuchung zu verfolgen, werden die im vorhergehenden Abschnitt angesprochenen Aspekte systematisch mittels der Formulierung zweier Forschungsschwerpunkte auf Forschungs- (F) und auf Entwicklungsebene (E) sowie insgesamt sechs Forschungsfragen ausdifferenziert.
29 Für eine Begründung zur Beschränkung auf den sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf im Bereich ‚Lernen‘ vgl. Kapitel 1.
142
4 Forschungsmethodische Grundlagen der Untersuchung
Forschungsschwerpunkt Forschungsebene: (F) Wie verlaufen interaktiv-kooperative Lernsituationen zwischen Kindern mit und ohne Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung im Bereich ‚Lernen’ bezüglich der individuellen Lernprozesse zum flexiblen Rechnen und der interaktiven Strukturen? Welche zielführenden Aspekte lassen sich aus dem Zusammenhang der interaktiven Strukturen und der individuellen Lernprozesse für gelingende interaktiv-kooperative Lernsituationen ableiten, in denen sich alle Beteiligten bezüglich des flexiblen Rechnens individuell-zieldifferent weiterentwickeln? Ziel dieses Forschungsschwerpunktes auf Forschungsebene ist es, zum Verstehen der Lern- und Interaktionsprozesse in angeregten interaktiv-kooperativen Lernsituationen entlang eines mathematischen Gegenstandes beizutragen. Dies geschieht im Hinblick auf die Rekonstruktion zielführender Aspekte für die gelingende Anregung der interaktiv-kooperativen Lernsituationen. Hierdurch wird die enge Verknüpfung zwischen Forschungs- und Entwicklungsebene realisiert. Aus der Ausdifferenzierung dieses Forschungsschwerepunktes resultierten drei Forschungsfragen auf Forschungsebene: (FF1) Wie entwickeln sich individuelle Zugänge und Lösungsprozesse hinsichtlich flexibler Rechenkompetenzen in den angeregten interaktivkooperativen Lernsituationen weiter? (FF2) Welche interaktiven Strukturen lassen sich während der interaktivkooperativen Lernsituationen rekonstruieren? (FF3) Inwiefern gibt es einen Zusammenhang zwischen den interaktiven Strukturen und der Weiterentwicklung individueller Zugänge und Lösungsprozesse? Forschungsschwerpunkt Entwicklungsebene: (E) Wie kann ein theoretisch und empirisch fundiertes Lehr-LernArrangement gestaltet sein, um fruchtbare interaktiv-kooperative Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht anzuregen, in denen sich alle Beteiligten bezüglich des flexiblen Rechnens individuell-zieldifferent weiterentwickeln? Welche zielführenden Gestaltungsmerkmale zur gelingenden Anregung interaktiv-kooperativer Lernsituationen lassen sich daraus für den inklusiven Mathematikunterricht ableiten? Ziel dieses Forschungsschwerpunktes auf Entwicklungsebene ist es, zur Verbesserung der gezielten Anregung interaktiv-kooperativer Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht beizutragen, die für alle Beteiligten fruchtbar sind. Dabei sind die Lern- und Interaktionsprozesse – also die Ergebnisse der
4.1 Erkenntnisinteresse und Forschungsfragen
143
Forschungsebene (F) – wichtige Indikatoren für die Fruchtbarkeit und das Gelingen der angeregten interaktiv-kooperativen Lernsituationen. Hierdurch wird ebenfalls die enge Verknüpfung zwischen Forschungs- und Entwicklungsebene akzentuiert und realisiert. Aus der Ausdifferenzierung dieses Forschungsschwerepunktes resultierten drei Forschungsfragen auf Entwicklungseben: (EF1) Welche Design-Prinzipien lassen sich für das Lehr- Lern-Arrangement auf Grundlage der Theorie formulieren? (EF2) Wie lassen sich die theoretisch fundierten Design-Prinzipien für das Lehr-Lern-Arrangement durch empirische Erkenntnisse ausschärfen? (EF3) Welche zielführenden Gestaltungsmerkmale zur gelingenden Anregung fruchtbarer interaktiv-kooperativer Lernsituationen lassen sich aus den Erkenntnissen zu EF1, EF2 und F für den inklusiven Mathematikunterricht ableiten? Ist im Rahmen dieser vorliegenden Untersuchung von individuellen Lernprozessen bezüglich des flexiblen Rechnens die Rede, dann sind jene Prozesse hinsichtlich individueller Zugänge und Lösungsprozesse gemeint, die während der Auseinandersetzung der Kinder mit dem gemeinsamen Lerngegenstand und dem Interaktionspartner ablaufen und untersucht werden. Veränderungen in den Handlungen und Äußerungen der Kinder lassen auf (Weiter-)Entwicklungen dieser individuellen Zugänge und Lösungsprozesse schließen, die in diesem Forschungsprojekt ausschließlich lokal – also in der bestimmten Situation, situations- und gegenstandsspezifisch – rekonstruiert werden können. Hier liegt eine klare Abgrenzung zur Wirkungsforschung vor. Untersucht werden folglich keine langfristigen (Lern-)Effekte. Vielmehr geht es um die Generierung lokaler Theorien zu gegenstandspezifischen Interaktions-, Lern- und Lehr-Lernprozessen (Prediger et al., 2012). In der vorliegenden Studie beziehen sich diese lokalen Theorien auf Verläufe und Zusammenhänge von Lern- und Interaktionsprozessen sowie Bedingungen und Wirkungsweisen von Lehr-Lernprozessen mit dem Fokus auf der Rekonstruktion zielführender Gestaltungsmerkmale zur gelingenden Anregung fruchtbarer interaktiv-kooperativer Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht.
4.2
Forschungsmethodischer Zugang
4.2.1 Qualitativer Forschungsansatz Für die Beantwortung der dargelegten Forschungsfragen (Kap. 4.1.2), wurde ein qualitativer Forschungszugang gewählt, um eine prozessorientierte Analyse des Datenmaterials zu ermöglichen (dazu vgl. Brüsemeister, 2008, S. 19 ff.). Dieser Ansatz erlaubt es, Lern- und Interaktionsprozesse zu erfassen, denn qualitative
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4 Forschungsmethodische Grundlagen der Untersuchung
Methoden nutzen einen interpretativen und sinnverstehenden Zugang (ebd., S. 16), der die „bewusste Wahrnehmung und Einbeziehung des Forschers und der Kommunikation mit den ‚Beforschten‘ als konstitutives Element des Erkenntnisprozesses“ (von Kardoff, 1995, S. 4) erlaubt. Ein quantitativer Forschungsansatz hingegen fokussiert auf eine rein produktorientierte Analyse von Daten (Brüsemeister, 2008, S. 19 ff.), die für das vorliegende Forschungsprojekt nicht hinreichend wäre. Vielmehr geht es darum, Prozesse zu rekonstruieren und den kognitiven Deutungen, die einem Produkt zugrunde liegen, auf die Spur zu kommen. In Bezug auf das flexible Rechnen wird beispielsweise nicht ausschließlich bewertet, ob eine Additionsaufgabe richtig gelöst ist oder welche Strategie angewandt wurde. Überdies werden die Lösungsprozesse an sich, also die dahinterliegenden Referenzen und Lösungswerkzeuge sowie deren Weiterentwicklung in den Blick genommen (vgl. Kap. 3). Bei qualitativen Forschungsansätzen kommen unterschiedliche Erhebungstechniken (u. a. Beobachtungen, Befragungen und Interviews, Dokumentenanalyse) und Hintergrundtheorien zur Analyse der Daten (u. a. Interaktionismus, Grounded Theory) zum Tragen. Das Erkenntnisinteresse und die Forschungsfragen einer Studie bedingen deren Wahl. Für das vorliegende Forschungsprojekt liegt eine teilnehmende Beobachtung (ebd., S. 71 ff.) nahe, in der die Forscherin bei Bedarf direkt nachfragen und mit den Kindern über Denkwege und Vorgehensweisen sprechen kann (vgl. Erläuterungen in Kap. 4.2.3 zur Rolle der Forscherin). Erneut bezogen auf das flexible Rechnen ist es so möglich, nicht nur Lösungsprozesse (Lösungswerkzeuge) zu beobachten, sondern die dahinterliegenden Zugänge, also das Lösungsverhalten (Referenzen), durch gezieltes Nachfragen zu erfassen. Als ‚Objekt der Beobachtung’ und ‚Informationsträger’ dienen Äußerungen von Gedanken, Lösungswegen und Entdeckungen sowie Handlungen (dazu vgl. Kap. 3.2.3, Kap. 3.3 und Kap. 7.2), die während der interaktiv-kooperativen Lernsituationen in der Interaktion mit anderen Kindern oder auf Nachfragen der Forscherin getätigt werden. Diese Beobachtungen und das bedarfsweise Nachfragen finden im Rahmen von Design-Experimenten (vgl. Kap. 4.2.3) statt, die im Sinne der Fachdidaktischen Entwicklungsforschung (vgl. Kap. 4.2.2) iterativ durchgeführt und in den beiden Folgekapiteln detaillierter beschrieben werden. 4.2.2 Fachdidaktische Entwicklungsforschung – Das Dortmunder FUNKEN-Modell Das zuvor dargelegte Erkenntnisinteresse (vgl. Kap. 4.1.1) sowie die Forschungsfragen (vgl. Kap. 4.1.2) mit den beiden Zielen – einerseits zu verstehen, wie interaktiv-kooperative Lernsituationen zwischen Kindern mit und ohne Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung im Bereich ‚Lernen‘ verlaufen und andererseits die Unterrichtspraxis zu verbessern, indem zielführende Gestaltungsprinzipien für die gelingende Anregung dieser interaktiv-kooperativen
4.2 Forschungsmethodischer Zugang
145
Lernsituationen abgeleitet werden – legen die Orientierung am Forschungsprogramm der Fachdidaktischen Entwicklungsforschung nahe. Hierdurch können beide Aspekte betrachtet und in eine „produktive Verbindung“ (Prediger & Link, 2012, S. 29) gebracht werden. Dies ermöglicht folglich die Untersuchung und Beantwortung von Forschungsfragen auf beiden erwähnten Ebenen: auf der Ebene der Entwicklung (Verbessern) und auf der Ebene der Forschung (Verstehen). Im Forschungsprozess nehmen beide eine wichtige Rolle ein, denn „Fachdidaktiken sollten ihrer Verantwortung für die Weiterentwicklung des Unterrichts gerecht werden, daher ist Entwicklungsarbeit als wichtiger Teil der Wissenschaft zu betrachten. Eine fundierte Entwicklungsarbeit kommt dabei nicht ohne Forschung aus, denn sie basiert auf einer stetig weiter auszudifferenzierenden Theorie und auf stets auszuweitenden empirischen Erkenntnissen über die initiierten Lehr-Lernprozesse.“ (Prediger & Link, 2012, S. 29)
Empirisches Forschen und Entwicklungsarbeit bedingen sich also gegenseitig und können nicht separat voneinander betrachtet werden. Aus diesem Grund wurde für die vorliegende Untersuchung mit dem Dortmunder FUNKENModell (Prediger et al., 2012; Abb. 4.1) ein iteratives Forschungsvorgehen als methodische Grundlage gewählt. Dieses Modell legt den Schwerpunkt auf eine lernprozessfokussierende Fachdidaktische Entwicklungsforschung. Damit grenzt es sich von anderen etablierten Ansätzen mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen, wie beispielsweise dem ‚Design-Based Research‘ (Barab & Squire, 2004), dem ‚Educational Design Research‘ (van den Akker, Gravemeijer, McKenney, & Nieveen, 2006) und dem ‚Design Experiment‘ (Schoenfeld, 2006) ab30. Abbildung 4.1 visualisiert die zentralen Prozessschritte des FUNKENModells, das die „iterativ aufeinander bezogene Gestaltung und Beforschung von Lehr-Lernprozessen“ umfasst und als „zentrale Produkte die lokale Theorie sowie das Design (Lehr-Lern-Arrangement und Design-Prinzipien)“ anstrebt (Prediger & Link, 2012, S. 30).
30 Für einen Überblick sowie eine vergleichende Zusammenfassung der unterschiedlichen Ansätze vgl. Link (2012, S. 45 ff.) und Prediger, Gravemeijer und Confrey (2015).
146
Abbildung 4.1:
4 Forschungsmethodische Grundlagen der Untersuchung
Zyklus der Fachdidaktischen Entwicklungsforschung im Dortmunder FUNKENModell (Prediger et al., 2012, S. 453; s/w abgebildet)
Auf der Basis einer stoffdidaktischen-epistemologischen Analyse des gewählten Lerngegenstandes ‚flexibles Rechnen‘ für den besonderen Kontext des inklusiven Unterrichtes (Abb. 4.1: Lerngegenstände spezifizieren und strukturieren; vgl. Kap. 3) wird ein Lehr-Lern-Arrangement entwickelt (Abb. 4.1: Design (weiter) entwickeln; vgl. Kap. 5 und 6), das in Form von Design-Experimenten erprobt wird (Abb. 4.1: Design-Experimente durchführen und auswerten; vgl. Kap. 7, 8 und 9). Die Erforschung der durch das Lehr-Lern-Arrangement initiierten Prozesse findet „im Zyklus von iterativen, eng miteinander vernetzten Schritten“ statt (Prediger et al., 2012, S. 453), in denen lokale Theorien über Interaktions-, Lern- und Lehr-Lernprozesse generiert werden (Abb. 4.1: Lokale Theorien (weiter) entwickeln; vgl. Kapitel 8, 9 und 10). Diese Theorien tragen dann wiederum zur weiteren Spezifizierung und Strukturierung des Lerngegenstandes sowie zur Weiterentwicklung des Lehr-Lern-Arrangements bei. Der Dortmunder Ansatz knüpft dabei „einerseits – prozessorientiert – an Gravemeijers & Cobbs (2006) Konzept einer auf Lernprozesse fokussierten Entwicklungsforschung an, andererseits – gegenstandsorientiert – an Wittmanns Vorstellung von Fachdidaktik als einer von der Strukturierung der Fachinhalte aus
4.2 Forschungsmethodischer Zugang
147
Sicht der Lernenden ausgehenden ‚Design Science’ (Wittmann, 1995[b])“ (Prediger et al., 2012, S. 453). Für eine detaillierte Erläuterung dieser charakteristischen Merkmale sowie der einzelnen vier Arbeitsbereiche wird an dieser Stelle auf Prediger et al. (2012) verwiesen. Neben den angestrebten Forschungsprodukten in Form von lokalen gegenstandsspezifischen Theorien (vgl. Kapitel 8, 9 und 10), strebt das FUNKENModell als zentrale Entwicklungsprodukte ein iterativ entwickeltes Lehr-LernArrangement und überdies die theoretisch und empirisch fundierte Entwicklung von Design-Prinzipien an. Design-Prinzipien sind „heuristic statements in the meaning of experience-based suggestions for addressing problems (such as the ones in design research)“ (Plomp, 2013, S. 24).
Für die vorliegende Forschungsarbeit wurde dieses ‚adressierte Problem‘ (s. Zitat) u. a. anhand des Eingangsbeispiels in Kapitel 1 herausgestellt. Im Fokus des adressierten Problems steht die Frage, wie mit- und voneinander Lernen am gemeinsamen mathematischen Lerngegenstand des flexiblen Rechnens im inklusiven Mathematikunterricht gelingen kann. Design-Prinzipien sind in diesem Sinn während des Forschungsprozesses entwickelte, heuristische, auf empirische Erfahrungen beruhende Aussagen und Vorschläge dafür, wie man dieses Problem adressieren, also die gezielte Anregung fruchtbarer interaktivkooperativer Lernsituationen unterstützen kann. Van den Akker beschreibt Design-Prinzipien als empirisch und theoretisch gestütztes Ziel-Mittel-Wissen: „If you want to design intervention X [for the purpose/function Y in context Z], then you are best advised to give that intervention the characteristics A, B, and C [substantive emphasis], and to do that via procedures K, L, and M [procedural emphasis] because of arguments P, Q, and R“ (van den Akker, 1999, S. 9).
Prediger (2019) greift in einem aktuellen Artikel die Definition van den Akkers auf und visualisiert sie – wie in Abbildung 4.2 dargestellt – in Anlehnung an das Argumentationsschema von Toulmin (u. a. Toulmin, 2003).
Abbildung 4.2:
Die logische Struktur eines Design-Prinzips nach Prediger (2019, S. 10)
148
4 Forschungsmethodische Grundlagen der Untersuchung
Mit diesem Modell31 hebt Prediger (2019) die logische Struktur von DesignPrinzipien in Form von prognostischen Theorieelementen (Um-zu-Struktur oder Wenn-dann-Struktur) hervor und erklärt diese. Des Weiteren ergänzt sie van den Akkers Definition um den Aspekt „Qualifier: conditions of success G, H“ (ebd., S. 10), um auch die Bedingungen für den Erfolg in das Modell zu integrieren. Dieses Modell zur logischen Struktur eines Design-Prinzips (Abb. 4.2) wird in Kapitel 9.1 erneut aufgegriffen und für den Zweck der vorliegenden Arbeit zur Beantwortung der Forschungsfragen auf Entwicklungsebene (E) sowie zur Darlegung der Entwicklungsprodukte adaptiert. Grundlage für die Forschungs- und Entwicklungsprodukte sind die Daten, die in den Design-Experimente erhoben werden. Um diesen zentralen Prozessschritt der Durchführung der Design-Experimente in iterativen Zyklen (vgl. Abb. 4.1) wird es – vor dem konkreten Hintergrund des vorliegenden Forschungsprojektes – im Folgekapitel gehen. 4.2.3 Design-Experimente in iterativen Zyklen Wie soeben ausgeführt wurde, trägt die Durchführung von DesignExperimenten in iterativen Zyklen zur Beantwortung der Forschungsfragen auf der Entwicklungs- und Forschungsebene bei. Die Datenerhebung findet durch Videoaufnahmen der Design-Experimente statt. Unter Design-Experimenten versteht man generell „die (meist mehrfache) exemplarische Erprobung des Lehr-Lernarrangements mit Lernenden, um zu untersuchen, welche [Interaktions- und] Lernprozesse tatsächlich durch sie initiiert werden und inwieweit diese mit den zuvor angenommenen Lernpfaden übereinstimmen“ (Prediger et al., 2012, S. 455). Hierbei nimmt die Verfasserin dieser Arbeit durch das Beobachten und das gezielte Nachfragen die Rolle der Forscherin ein, um mehr über Vorgehensweisen, Denk- und Lernprozesse herauszufinden (Cobb et al., 2003). Folglich werden die Lern- und Interaktionsprozesse untersucht, indem die Äußerungen seitens der Kinder – also die Beschreibungen und Begründungen zu Entdeckungen und Lösungswegen – durch Beobachten und gezieltes Nachfragen genauer betrachtet werden. Im Zuge dessen werden die Indikatoren für bestimmte Lernprozesse ausgeschärft und operationalisiert (vgl. Kap. 3.3). Gleichzeitig gibt die Verfasserin auch Impulse in der Rolle der Lehrerin, um Interaktions- und Lernprozesse anzuregen sowie Hilfestellung zu geben (Cobb et al., 2003). Hierdurch wird in den Laborsettings eine Lernsituation im Klassenunterricht simuliert.
31 Originaltitel des Modells: „Logical structure of a design principle as predictive theory elements (adapted from van den Akker, 1999, visualized in Toulmin’s 1969 scheme of argumentation and complemented by quantifiers)” (Prediger, 2019, S. 10)
4.2 Forschungsmethodischer Zugang
149
Für das vorliegende Projekt wurden, nach einer Phase der Aufgabenpilotierung, in drei – jeweils in Laborsettings stattfindenden – Zyklen Daten erhoben (vgl. Kap. 7.1 für den Aufbau und Ablauf sowie die jeweiligen Forschungsschwerpunkte der einzelnen Zyklen). Die Wahl der Laborsituation, bestehend aus zwei Kindern – ein Kind mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf ‚Lernen’ und ein Kind mit durchschnittlichen Mathematikleistungen – sowie der Forscherin, ist in Anlehnung an Prediger et al. (2012) wie folgt zu begründen: (1) Das Forschungsprojekt ist explorativ ausgelegt, was bedeutet, dass der bereits gut beforschte Lerngegenstand des flexiblen Rechnens im neuen Kontext der Inklusion und des zieldifferenten ‚Gemeinsamen Lernens‘ von Kindern mit und ohne sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf erschlossen werden soll. Um herauszufinden, ob und wie diese gemeinsamen Lernsituationen für alle Beteiligten fruchtbar gestaltet werden können, sollte zunächst eine erfolgreiche Erprobung im überschaubaren Rahmen sicher gestellt werden, bevor eine Erprobung im Klassenunterricht erfolgt (Prediger et al., 2012, S. 455). (2) Wie oben bereits dargestellt, liegt der Fokus der vorliegenden Studie auf der Untersuchung von Lern- und Interaktionsprozessen und entspricht somit dem Forschungszugang einer lernprozessfokussierenden Fachdidaktischen Entwicklungsforschung. Diese Prozesse lassen sich in den Laborsettings besser beobachten, dokumentieren und auswerten als im Klassenunterricht (ebd., S. 455 f.). Die Wahl des Laborsettings liegt folglich den Forschungs- und Entwicklungsfragen zugrunde und trägt zu deren detaillierter Beantwortung bei. Innerhalb jedes Zyklus der Durchführung der Design-Experimente werden die individuellen Lernprozesse hinsichtlich der (Weiter-)Entwicklung flexibler Rechenkompetenzen, die Interaktionsprozesse sowie deren Zusammenhang rekonstruiert, um Aussagen über das ‚Gemeinsame Mathematiklernen‘ in interaktiv-kooperativen Lernsituationen treffen zu können und um daraus zielführende Gestaltungsmerkmale für die gelingende Anregung des mit- und voneinander Lernen abzuleiten. In Kapitel 7 werden die damit zusammenhängenden Methoden der Datenerhebung und -auswertung detailliert ausgeführt. Dort werden u. a. die Forschungsschwerpunkte der einzelnen Zyklen sowie der konkrete Aufbau und Ablauf der Design-Experimente erläutert. In diesem Zusammenhang wird außerdem die theoretische Stichprobe begründet. Des Weiteren findet die Darlegung der Analysewerkzeuge statt und die Gütekriterien interpretativ qualitativer Datenanalyse sowie deren Erfüllung werden thematisiert. Der Forschungsansatz, der hier allgemein begründet wurde, wird folglich in Kapitel 7 für das vorliegende Forschungsprojekt konkretisiert und ausführlicher erklärt. Zunächst wird jedoch im Teil B – Kapitel 5 und Kapitel 6 – dieser Arbeit mit der Darlegung der Unterrichtsdesignentwicklung die Grundlage dafür geschaffen.
Teil B: Unterrichtsdesignentwicklung In Teil B erfolgt die Darlegung der Unterrichtsdesignentwicklung eines theoretisch und empirisch fundierten Lehr-Lern-Arrangements, das zum Ziel hat, interaktiv-kooperative Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht zur zieldifferenten Förderung des flexiblen Rechnens gezielt anzuregen. Hierzu werden zunächst in Kapitel 5 (Zwischenfazit mit Darlegung theoretischer Überlegungen zu einem Lehr-Lern-Arrangement für den inklusiven Mathematikunterricht) theoretisch fundierte Unterrichtsdesignentscheidungen bezüglich der Design-Prinzipien (Kap. 5.1), der inhaltlichen Schwerpunktlegung (Kap. 5.2) und der interaktiv-kooperativen Lernsituation (Kap. 5.3) dargelegt und begründet. Dieses erfolgt als Zwischenfazit auf Grundlage des vorangegangenen Teiles A – bestehend aus Kapitel 1 bis 3 – zu den theoretischen Grundlagen der vorliegenden Untersuchung. Anschließend werden in Kapitel 6 (Ein Lehr-Lern-Arrangement zur Anregung individuell-zieldifferenten Lernens am gemeinsamen Lerngegenstand des flexiblen Rechnens in interaktiv-kooperativen Lernsituationen) diese theoretischen Überlegungen durch empirisch fundierte Unterrichtsdesignentscheidungen weiterentwickelt, ergänzt und konkretisiert. Damit einhergehend wird das Lehr-Lern-Arrangement ‚Wir erforschen Nachbarzahlen und ihre Summen‘ (Kap. 6.1) sowie die Konkretion der zugrundeliegenden DesignPrinzipien (Kap. 6.2) dargestellt und begründet. Ziel des Teils B ist es, die theoretisch und empirisch fundierte Entwicklung des Lehr-Lern-Arrangement aufzuzeigen, das Gegenstand für die Durchführung der iterativen Design-Experimente ist (Teil C).
5 Zwischenfazit mit Darlegung theoretischer Überlegungen zu einem Lehr-Lern-Arrangement für den inklusiven Mathematikunterricht „Design „TAI [Team Assisted Individualisation] could be more successful [than other cooperative methods] because it […] combines group work and individuality.” (Tarim & Akdenzi, 2008, S. 87)
Diese empirisch begründete Vermutung von Tarim und Akdenzi (2008) zum Erfolg der strukturierten Kooperationsform TAI, die ‚individuality‘ und ‚group work‘ kombiniert, führte in Kapitel 2 zu folgender Konklusion: Ein Wechsel von individuellen und gemeinsamen Phasen, wodurch eine individuelle Auseinandersetzung mit dem gemeinsamen Lerngegenstand ermöglicht wird, kann © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Korten, Gemeinsame Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht, Dortmunder Beiträge zur Entwicklungund Erforschung des Mathematikunterrichts 44, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30648-9_6
152
5 Darlegung theoretischer Überlegungen zu einem Lehr-Lern-Arrangement
bedeutsam für eine mathematisch reichhaltige Interaktion in der Gruppe oder mit dem Partner sein (vgl. Kap. 2.1.2). Diese und andere Annahmen aus den theoretischen Grundlagen dieser Arbeit werden in dem vorliegenden Kapitel aufgegriffen, um daraus grundsätzliche Überlegungen für theoretisch fundierte Unterrichtsdesignentscheidungen für das Lehr-Lern-Arrangement abzuleiten. Zu diesem Zweck werden die theoretischen Folgerungen bezüglich der DesignPrinzipien (Kap. 5.1), der inhaltlichen Schwerpunktlegung (Kap. 5.2) und der interaktiv-kooperative Lernsituation (Kap. 5.3) zusammenfassend dargelegt.
5.1
Theoretisch fundierte Design-Prinzipien
Das Ziel der Umsetzung von inklusivem Mathematikunterricht ist das ‚Gemeinsame Lernen‘ aller Kinder. In der vorliegenden Arbeit bedeutet ‚Gemeinsames Mathematiklernen‘, dass alle Kinder entsprechend ihrer individuellen Lernvoraussetzungen und mittels ihrer individuellen Denk- und Handlungskompetenzen (individuell), in Orientierung an die ‚nächste Zone ihrer Entwicklung‘ (zieldifferent), so oft wie möglich an einem gemeinsamen Lerngegenstand und so oft wie möglich in Interaktion miteinander (interaktiv-kooperativ) lernen (Definition i. A. a. Feuser, 2012b; relativiert i. A. a. Wocken, 1998; vgl. Kap. 1.1.3). Hieraus ergab sich in Kapitel 1 die Schlussfolgerung, dass inklusiver Mathematikunterricht stets individuell-zieldifferent sowie so oft wie möglich entlang eines gemeinsamen Lerngegenstandes interaktiv-kooperativ gestaltet werden sollte. Ebenso wurde herausgestellt, dass das nicht bedeuten darf, dass ‚Gemeinsames Lernen‘ durchgängig interaktiv-kooperativ am gemeinsamen Lerngegenstand gestaltet wird. Vielmehr ist eine Balance zwischen Individualisierung einerseits und der Anregung von Phasen, in denen am gemeinsamen Lerngegenstand mit- und voneinander gelernt wird, andererseits zu beachten, mit dem Anspruch zweitgenanntes ‚so oft wie möglich‘ (s. o.) zu realisieren. Diese Balance ist auf der Ebene der Lernsituationen (Wocken, 1998) und innerhalb interaktionsfördernder Lernsituationen zu berücksichtigen, damit in diesen jedem Kind die Chance ermöglicht wird, sich auf dem jeweiligen individuellem Lern- und Entwicklungsniveau weiterzuentwickeln (vgl. Kap. 1.1.3). Als Fazit aus den theoretischen Darlegungen ergeben sich zwei übergeordnete Ziele für Lehr-Lern-Arrangements im inklusiven Mathematikunterricht: (1) die Interaktionsförderlichkeit, beispielsweise durch die gezielte Anregung interaktiv-kooperativer Lernsituationen und (2) die individuell-zieldifferente Lernförderlichkeit (im Folgenden kurz: Lernförderlichkeit), beispielsweise am gemeinsamen Lerngegenstand des flexiblen Rechnens.
5.1 Theoretisch fundierte Design-Prinzipien
153
Anknüpfend an die Definition vom ‚Gemeinsamen Lernen‘ lässt sich – im Zusammenhang mit bewährten Ansätzen aus der ‚Integrativen Didaktik’ – noch ein weiterer Schluss ableiten, der im Folgenden dargelegt wird: Aktuell werden die besagten bewährten Ansätze aus der ‚Integrativen Didaktik’ in den neuen Kontext der ‚Inklusiven Didaktik’ gestellt. Heimlich (2007) hebt diesbezüglich drei einflussreiche Modelle hervor, die in Kapitel 1.2.2 bereits thematisiert wurden. Er überträgt sie auf den heutigen Inklusionsgedanken und leitet von ihnen drei Qualitätskriterien für das ‚Gemeinsame Lernen‘ ab: „[D]as entwicklungsorientierte Lernen“ (nach dem materialistischen Modell i. A. a. Feuser 2012b; vgl. Kap. 1.1.1), „eine Vielzahl gemeinsamer und individueller Lernsituationen bereithalten“ (nach dem interaktionistischen Modell i. A. a. Wocken 1998; vgl. Kap. 1.1.1) und „die sensorisch vielfältig gestaltete Lernumgebung, verbunden mit entsprechenden Lernerfahrungen“ (nach einem ökologischen Modell i. A. a. Dewey 1993; vgl. Kap. 1.2.2) (Heimlich, 2007, S. 76). Kombiniert man diese drei einflussreichen Modelle, wie auch Heimlich das in Form von Qualitätskriterien getan hat, können – anknüpfend an die Definition vom ‚Gemeinsamen Lernen‘, die eine individuell-zieldifferente sowie gleichzeitig interaktiv-kooperative Unterrichtsgestaltung fordert – die drei folgenden übergeordnete Prinzipien für einen erfolgreichen inklusiven (Mathematik)Unterricht abgeleitet werden. Diese Prinzipien stehen nicht nur für einen potenziell erfolgreichen inklusiven Unterricht, sondern stellen gleichzeitig drei übergeordnete Design-Prinzipen bei der Entwicklung von Lehr-LernArrangements für den inklusiven Mathematikunterricht dar (Korten, 2016). (Für eine Definition zu ‚Design-Prinzipien‘ vgl. Kapitel 4.2.2.) Zieldifferente Prozess- und Entwicklungsorientierung, um für alle Kinder auf ihren verschiedenen Entwicklungsniveaus ein entwicklungsorientiertes, individuell-zieldifferentes Lernen in inklusiven Lerngruppen zu gewährleisten (i. A. a. Feuser 2012b und Heimlich 2007; s. o.). Damit strebt dieses übergeordnete Design-Prinzip primär das Ziel der Lernförderlichkeit an. Aufgabenbezogene Interaktionsanregung, um interaktiv-kooperative Lernsituationen gezielt anzuregen, in denen aufgabenbezogen – also über Mathematik – interagiert wird (i. A. a. Wocken 1998 und Heimlich 2007; s. o.). Damit wird primär das übergeordnete Ziel der Interaktionsförderlichkeit angesprochen. Gegenstandsreichhaltigkeit, um über die individuellen mathematischen Lernstände der Kinder hinaus auch die verschiedenen kognitiven, wahrnehmungssensorischen, körperlichen und sprachlichen Lernvoraussetzungen zu berücksichtigen und durch
154
5 Darlegung theoretischer Überlegungen zu einem Lehr-Lern-Arrangement
sensorisch vielfältig gestaltete Lernumgebungen mit gezielten inhaltlichen, methodischen und medialen Unterstützungsmaßnahmen heterogene Zugänge und barrierefreies Lernen sowie ebenso die Interaktion entlang eines gemeinsamen Lerngegenstand überhaupt erst zu ermöglichen (i. A. a. Dewey 1993, Feuser 2012b und Heimlich 2007; s. o.). Das Design-Prinzip der Gegenstandsreichhaltigkeit zielt folglich darauf ab, eine allgemein gute Voraussetzung dafür zu schaffen, um die große Heterogenität anzusprechen und diese möglichst als Chance zu nutzen. Es spricht daher beide übergeordneten Ziele – Lernförderlichkeit und Interaktionsförderlichkeit – an. Die Dreiecksanordnung in Abbildung 5.1 visualisiert den Zusammenhang der Prinzipien. Sie lassen sich nicht trennscharf voneinander abgrenzen und beeinflussen sich gegenseitig32. Aus theoretischer Sicht können diese drei übergeordneten Design-Prinzipien in ihrer Gesamtheit potenziell zur Anregung interaktivkooperativer Lernsituationen, in denen am gemeinsamen Lerngegenstand individuell-zieldifferent mit- und voneinander gelernt werden soll, beitragen.
Mit‐ und voneinander Lernen im inklusiven Mathematikunterricht
Gegenstandsreichhaltigkeit Abbildung 5.1:
Übergeordnete Design-Prinzipien zur Anregung des mit- und voneinander Lernens im inklusiven Mathematikunterricht
32 Für konkretere Erläuterungen dieser Zusammenhänge vgl. Kapitel 9.1.
5.1 Theoretisch fundierte Design-Prinzipien
155
Wie diese übergeordneten Design-Prinzipien durch konkrete Design-Prinzipien empirisch ausgeschärft sowie durch Design-Elemente im Lehr-LernArrangement anwendungsbezogen umgesetzt werden, wird – ergänzt durch empirische Erkenntnisse aus dieser Untersuchung – in Kapitel 6, 9 und 10 dargestellt.
5.2
Inhaltliche Schwerpunktlegung
In der vorliegenden Arbeit liegt die inhaltliche Schwerpunktsetzung auf dem flexiblen Rechnen, denn wie auf Grundlage der theoretischen Überlegungen in Kapitel 3 als Fazit festgehalten werden kann, sind das flexible Rechnen und die Förderung flexibler Rechenkompetenten als gemeinsamer Lerngegenstand für den inklusiven Mathematikunterricht geeignet. Durch seine Vielschichtigkeit und Reichhaltigkeit bietet er allen die Chance für individuell-zieldifferente mathematische Zugänge, Lösungs- und Entwicklungsprozesse (Kap. 3.3.1). Hier sei noch einmal hervorgehoben, dass sich die vorliegende Untersuchung auf das flexible Rechnen im Bereich der Addition und das Kopfrechnen bezieht. Der Zahlenraum kann je nach individuellem Vermögen der Kinder beliebig erweitert werden und wird folglich nicht eingeschränkt. In Kapitel 3.2.1 wurden zwei zentrale fachliche Förderschwerpunkte für eine verstehensorientierte Förderung des flexiblen Rechnens herausgearbeitet: I. Der Aufbau von Zahlvorstellungen (u. a. Zahleigenschaften und -beziehungen (er)kennen), auf deren Basis Beziehungen beim Rechnen genutzt werden können II. Die Entwicklung des Wahrnehmens und Nutzens von Aufgabeneigenschaften und -beziehungen Aus fachdidaktischer Sicht lässt sich, den Förderschwerpunkten zur Folge, das flexible Rechnen primär folgend genannten Schwerpunkten aus dem Bereich Zahlen und Operationen des Mathematiklehrplanes NRW zuordnen. Diese inhaltsbezogenen Kompetenzen stellen gleichzeitig das breite zieldifferente Spektrum an mathematisch-inhaltlichen Zielen des Lehr-Lern-Arrangements dar. Zahlvorstellungen, Kompetenzerwartungen am Ende der Schuleingangsphasen: - „Die Schülerinnen und Schüler [...] orientieren sich im Zahlenraum bis 100 durch Zählen (in Schritten) sowie durch Ordnen und Vergleichen von Zahlen, - entdecken und beschreiben Beziehungen zwischen Zahlen mit eigenen Worten (z. B. ist Vorgänger/Nachfolger von, ist die Hälfte/das Doppelte von, ist um 3 größer).“ (MSW, 2008, S. 61) Kompetenzerwartungen am Ende der Klasse 4: - „Die Schülerinnen und Schüler [...] orientieren sich im Zahlenraum bis 1 000 000 durch Zählen in Schritten sowie durch Ordnen und Vergleichen von Zahlen nach vielfältigen Merkmalen [und]
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5 Darlegung theoretischer Überlegungen zu einem Lehr-Lern-Arrangement - entdecken Beziehungen zwischen einzelnen Zahlen und in komplexen Zahlenfolgen und beschreiben diese unter Verwendung von Fachbegriffen (z. B. ist Vorgänger/Nachfolger von, ist Nachbarzehner/Nachbarhunderter von, ist die Hälfte/das Doppelte von, ist Vielfaches/Teiler von).“ (MSW, 2008, S. 61)
Zahlenrechnen Kompetenzerwartungen am Ende der Schuleingangsphasen: - „Die Schülerinnen und Schüler lösen Additions[...]aufgaben im Zahlenraum bis 100 unter Ausnutzung von Rechengesetzen und Zerlegungsstrategien [...,] - nutzen Zahlbeziehungen (z. B. Nachbarzahlen) und Rechengesetze (z. B. Kommutativgesetz) für vorteilhaftes Rechnen [und] - beschreiben (eigene) Rechenwege für andere nachvollziehbar mündlich oder in schriftlicher Form.“ (MSW, 2008, S. 62) Kompetenzerwartungen am Ende der Klasse 4: - „Die Schülerinnen und Schüler lösen Aufgaben [...] unter Ausnutzung von Rechengesetzen und Zerlegungsstrategien mündlich oder halbschriftlich [...,] - nutzen Zahlbeziehungen und Rechengesetze [...] für vorteilhaftes Rechnen (z. B. Distributivgesetz, Gesetz von der Konstanz der Summe) [und] - beschreiben und bewerten unterschiedliche Rechenwege unter dem Aspekt des vorteilhaften Rechnens [...].“ (MSW, 2008, S. 62)
Flexibles Rechnen Kompetenzerwartungen am Ende der Schuleingangsphasen sowie Klasse 4: - „Die Schülerinnen und Schüler nutzen aufgabenbezogen oder nach eigenen Präferenzen eine Strategie des Zahlenrechnens (z. B. stellenweise, schrittweise, Hilfsaufgabe).“ (MSW, 2008, S. 63) Kompetenzerwartungen am Ende der Klasse 4: - „Die Schülerinnen und Schüler nutzen aufgabenbezogen oder nach eigenen Präferenzen eine Strategie des Zahlenrechnens, ein schriftliches Normalverfahren oder den Taschenrechner (z. B. als Rechenwerkzeug beim Erforschen von Zusammenhängen).“ (MSW, 2008, S. 63)
Die Kompetenzerwartungen zum Schwerpunkt Zahlvorstellung beziehen sich dabei auf den Förderschwerpunkt I. Die Kompetenzen zum Zahlenrechnen und Flexiblen Rechnen knüpfen hingegen an den Förderschwerpunkt II an. Diese fachlichen Förderschwerpunkte – und somit auch die Lehrplankompetenzerwartungen – lassen sich wiederum mit den Referenzen und Lösungswerkzeugen des im Rahmen dieser Studie entwickelten Modells zum flexiblen Rechnen (Kap. 3.3) in Beziehung setzten. Schwerpunkt I spricht die Referenzebene und der Schwerpunkt II die Referenz- sowie Lösungswerkzeugebene an. Diese Verbindung zwischen den zu fördernden Kompetenzen und dem Modell werden in Kapitel 6 bezüglich des Lehr-Lern-Arrangements konkretisiert. Es steht außer Zweifel, dass noch weitere inhaltliche Kompetenzerwartungen aus dem Bereich Zahlen und Operationen implizit (mit-)gefördert werdet. Die Schwerpunkte
5.2 Inhaltliche Schwerpunktlegung
157
Operationsvorstellungen und Schnelles Kopfrechen (MSW, 2008, S. 61 ff.) sowie weitere Kompetenzerwartungen zu Zahlvorstellungen werden bei dem hier vorliegenden Verständnis vom flexiblen Rechnen ebenfalls angesprochen. Sie stehen jedoch nicht im Mittelpunkt der vorliegenden Förderschwerpunkte, die sich aus dem Begriffsverständnis zum flexiblen Rechnen ergaben (vgl. Kap. 3.2). Des Weiteren geht es nicht ausschließlich um die Förderung inhaltsbezogener Kompetenzen, sondern vor allem auch um prozessbezogenen Kompetenzen (Problemlösen/kreativ sein, Modellieren, Argumentieren und Darstellen/Kommunizieren; MSW, 2008, S. 59 f.) , die auf vielfältige Art mit allen genannten inhaltsbezogenen Kompetenzen verwoben sind. Sie „werden bei der aktiven Auseinandersetzung mit konkreten Lerninhalten, also unter Nutzung inhaltsbezogener Kompetenzen, erworben und weiterentwickelt. Zugleich unterstützen prozessbezogene Kompetenzen den verständigen Erwerb inhaltsbezogener Fertigkeiten und Fähigkeiten.“ (MSW, 2008, S. 56)
Durch den Kontext dieser Arbeit, in dem es um die gezielte Anregung interaktiv-kooperativer Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht geht, kommt jedoch den folgenden prozessbezogenen Kompetenzen aus den Bereichen Darstellen/Kommunizieren und Argumentieren eine besondere Bedeutung zu: Die Schülerinnen und Schüler -
„bearbeiten komplexere Aufgabenstellungen gemeinsam, treffen dabei Verabredungen und setzen eigene und fremde Standpunkte in Beziehung (kooperieren und kommunizieren)“,
-
„verwenden bei der Darstellung mathematischer Sachverhalte geeignete Fachbegriffe, mathematische Zeichen und Konventionen (Fachsprache verwenden)“,
-
„übertragen eine Darstellung in eine andere (zwischen Darstellungen wechseln)“,
-
„stellen Vermutungen über mathematische Zusammenhänge oder Auffälligkeiten an (vermuten)“,
-
„testen Vermutungen anhand von Beispielen und hinterfragen, ob ihre Vermutungen, Lösungen, Aussagen etc. zutreffend sind (überprüfen)“,
-
„bestätigen oder widerlegen ihre Vermutungen anhand von Beispielen und entwickeln – ausgehend von Beispielen – ansatzweise allgemeine Überlegungen oder vollziehen diese nach (folgern)“,
-
„erklären Beziehungen und Gesetzmäßigkeiten an Beispielen und vollziehen Begründungen anderer nach (begründen)“ (MSW, 2008, S. 60).
Die Darstellung dieser inhalts- und prozessbezogenen Kompetenzbereiche und Schwerpunkte ist allerdings nicht damit gleichzusetzen, dass all diese Kompetenzen zeitgleich als Lernziel verfolgt werden sollen. Vielmehr beschreibt diese
158
5 Darlegung theoretischer Überlegungen zu einem Lehr-Lern-Arrangement
Aufführung die vielfältigen Möglichkeiten des inhaltlichen Kontextes – also des gemeinsamen Lerngegenstandes – in denen sich die Kinder je nach Lernvoraussetzungen und zieldifferenten Lernzielen bewegen können. Dieser Gedanke schließt ferner an die theoretische Konklusion aus Kapitel 1.1 an, nämlich, dass sich – im Sinne des ‚gemeinsamen Gegenstands’ (Feuser, 1995, 2012b) – inklusiver Mathematikunterricht gemäß dem ‚Spiralprinzip’ an den zentralen Inhalten der Mathematik orientieren muss. So ist es möglich, dass der Lerngegenstand für alle Lernende gleich ist, die jeweiligen Zugänge und Lernziele aber verschieden sein können (Kap. 1.1.2). Ziel des im Rahmen dieser Forschungsarbeit entwickelten Lehr-LernArrangements ist es also, alle Kinder zum aktiv-endeckenden Forschen und Lernen (vgl. Kapitel 2.3.1, 3.2.1 und 3.2.2) über genau diese mathematischen Aspekte anzuregen. Es müssen folglich Lernaktivitäten ausgewählt werden, die Kinder unterstützen, sich auf diese inhaltlichen Aspekte zu konzentrieren sowie einen Austausch darüber ermöglichen. Wie diese theoretischen Überlegungen – ergänzt durch empirische Erkenntnisse aus dieser Untersuchung – konkret umgesetzt werden, wird ebenfalls in Kapitel 6 dargestellt.
5.3
Interaktiv-kooperative Lernsituation
Wie im Theorieteil A herausgestellt und u. a. durch die Darlegung der Forschungslücke sowie Problemen aus der Schulpraxis begründet wurde, geht es in der vorliegenden Arbeit um die gezielte Anregung und Erforschung interaktivkooperativer Lernsituationen. Diesbezüglich kann als Fazit aus Kapitel 1 festgehalten werden, dass die Balance zwischen interaktiv-kooperativen und individuell-zieldifferentem Lernen nicht nur auf der Ebene der Lernsituationen zu berücksichtigen ist. Ebenso muss innerhalb interaktionsfördernder Lernsituationen individuell-zieldifferentes und gleichzeitig interaktiv-kooperatives Lernen ermöglicht werden, sodass gemeinsam gearbeitet wird und währenddessen alle Beteiligten die Chance haben, sich entsprechend ihrer individuellen Lernvoraussetzungen weiterzuentwickeln. Um diese interaktiv-kooperativen Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht gezielt und erfolgreich (d. h. für alle Beteiligten fruchtbar) anzuregen, wurden, anknüpfend an die theoretischen Überlegungen aus Teil A, in jedem Kapitel Konklusionen abgeleitet (vgl. Kap. 1, 2 und 3). An dieser Stelle werden diese Konklusionen hinsichtlich der Interaktionsförderlichkeit stichpunktartig in Form von Merkmalen, die zum Gelingen beitragen können, komprimiert zusammengefasst, um im folgenden Kapitel nahtlos daran anknüpfen zu können. Ziel und gleichzeitig Voraussetzung einer gelingenden Anregung ist eine rege aufgabenbezogene Interaktion über Mathematik, in der die Beteiligten aufeinander Bezug nehmen, denn eine Interaktion dieser Art kann – wie empi-
5.3 Interaktiv-kooperative Lernsituation
159
risch belegt (vgl. Kap 2.1.2) – einen entscheidenden Beitrag zur Fruchtbarkeit des Lernens aller Beteiligten leisten.33 Interaktionsförderliche Gestaltungsmerkmale für ein Gelingen auf der ... ... Ebene einer interaktionsanregenden Aufgabe: Einsatz interaktionsfördernder Aufgabenformate34 Balance zwischen inhaltlicher Komplexität und inhaltlicher Struktur Gewährleistung einer niedrigen Einstiegsschwelle Ermöglichung materialgestützter, sensorisch vielfältiger, handlungsorientierter Arbeitsprozesse ... Ebene einer interaktionsanregenden methodischen Gestaltung: Gewährleistung einer direkten Interaktion Einsatz methodisch strukturierter Interaktionsformen Transparenz der methodischen Strukturierung Wechsel von individuellen und gemeinsamen Phasen Gewährleistung einer individuellen Auseinandersetzung mit dem gemeinsamen Lerngegenstand Schaffung einer Verantwortlichkeit für sich und die Gruppe Schaffung einer Verbundenheit/Abhängigkeit ... Ebene weiterer interaktionsanregender Unterstützungsmaßnahmen: Partner-/Gruppenzusammensetzung mit förderlicher Sozialstruktur Gewährleistung der Anerkennung und Wertschätzung aller Einsatz verbaler und nonverbaler strukturfokussierender Unterstützung Schaffung inhaltlicher Anknüpfungspunkte und Vernetzung heterogener Zugänge und Lösungswege
33 Bei der folgenden komprimierten Zusammenfassung der Konklusionen aus den Kapitel 1, 2 und 3 wird auf eine erneute Angabe der Ursprungsliteratur verzichtet. Der Verweis auf die Kapitel 1, 2 und 3 stellt die Bezüge zu dem Ursprung und der Herleitung der Aussagen her. 34 Kriterien interaktionsfördernder Aufgabenformate: Beziehungsreichtum, Ermöglichung aktiv-entdeckenden Lernens und mehrerer Lösungswege, Aufgabenkomplexität, Ermöglichung verschiedener Bearbeitungsniveaus auf Grundlage unterschiedlicher Fertigkeiten und Fähigkeiten und Lösungserleichterung durch Zusammenarbeit.
160
5 Darlegung theoretischer Überlegungen zu einem Lehr-Lern-Arrangement
Ermöglichung zusätzlicher sozialen Unterstützung durch didaktischmethodische Strukturierung Ermöglichung zusätzlicher kognitiver Entlastung durch mathematischinhaltliche Strukturierung (Für die Definition sowie Herkunft einzelner Begriffe oder ganzer Konklusionen vgl. Kapitel 1, 2 und 3.) Eine trennscharfe Abgrenzung der Merkmale, die die soziale Interaktion (Interaktionsförderlichkeit) oder die inhaltlichen kognitiven Herausforderungen (Lernförderlichkeit) unterstützen, ist nicht möglich. Das ist einerseits darin begründet, dass eine erfolgreiche kognitive Verarbeitung im nächsten Schritt natürlicherweise auch zu einer guten Voraussetzung für eine aufgabenbezogene und mathematisch reichhaltige Kommunikation und Interaktion beiträgt. Andererseits besteht umgekehrt ebenso eine Abhängigkeit: Der Austausch über mathematische Strukturen und Muster ist bei der Entwicklung und Förderung flexibler Rechenkompetenzen im inklusiven Mathematikunterricht zugleich eine notwendige Voraussetzung – besonders für Kinder mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf ‚Lernen’ (vgl. Kap. 3.2.2) –, denn erst dadurch wird ein Kreislauf von eigenständigen Konstruktionen, Interaktion, Reflexion und Weiterentwicklung angeregt und ermöglicht (vgl. Kap. 3.2.3). Dabei können durch die Auseinandersetzung mit individuellen Gedanken, Deutungen, Lösungsideen und Entdeckungen anderer inhaltliche Lernprozesse angeregt werden (Kap. 2.3.2). Folglich unterstützt diese Überlegung zur wechselseitigen Abhängigkeit von Interaktion und inhaltlichem Lernen, dass aus mathematikdidaktischer Sicht die Anregung interaktiv-kooperativen Lernens und fachmathematischer Lernprozesse sinnvoll aufeinander zu beziehen sind, um mathematische und aufgabenbezogene Gespräche zu ermöglichen (vgl. Kap. 2.2.1). Im folgenden Kapitel 6 werden die grundsätzlichen theoretischen Überlegungen aus diesem Kapitel aufgegriffen und durch empirisch fundierte Unterrichtsdesignentscheidungen basierend auf den Design-Experimenten weiterentwickelt und durch das Lehr-Lern-Arrangement ‚Wir erforschen Nachbarzahlen und ihre Summen‘ (veröffentlicht in Korten, 2018a) konkretisiert.
6 Ein Lehr-Lern-Arrangement zur Anregung individuellzieldifferenten Lernens am gemeinsamen Lerngegenstand des flexiblen Rechnens in interaktivkooperativen Lernsituationen „Inklusion erfordert keinen besonderen Mathematikunterricht, sondern einen, der die individuellen Stärken und Schwächen eines jeden Kindes zu berücksichtigen und zugleich die Heterogenität einer Lerngruppe für gemeinsames Lernen zu nutzen weiß.“ (Häsel-Weide & Nührenbörger, 2017, S. 4)
Dieses Zitat hebt einmal mehr hervor, dass ‚Gemeinsames Mathematiklernen‘ im Sinne der Inklusion grundsätzlich keinen besonderen Unterricht und keine neue Didaktik erfordert. Diese Annahme wird durch die dargestellten positiven Forschungsergebnisse zur Umsetzung des Gemeinsamen Lernens gestützt, die eine Orientierung an den allgemeinen Merkmalen guten Unterrichts nahelegen (vgl. Kap. 1.1.2; Phase II). Die Herausforderung – aber auch gleichzeitig die Chance – liegt vielmehr darin, die wissenschaftlich fundierten Vorarbeiten der Mathematikdidaktik zu nutzen und diese zu modifizieren, indem sie mit Erkenntnissen aus der Sonderpädagogik des Lernens und der Integrations/Inklusionsforschung ergänzt werden (vgl. Kap. 1.2.3). Damit einhergehend müssen nicht nur die individuellen mathematischen Lernstände (individuelles Lernen), sondern auch die unterschiedlichen kognitiven Entwicklungsstände (zieldifferentes Lernen) sowie die verschiedenen sensorischen, sprachlichen und emotionalen Lernvoraussetzungen (barrierefreies Lernen) berücksichtigt werden. Folglich ist durch mediale und methodische Unterstützungsmaßnahmen Barrierefreiheit sicherzustellen und der mathematische Inhalt so zu strukturieren, dass Ziele auf verschiedenen Entwicklungsständen erreicht werden können. Dabei ist das übergeordnete Ziel, dieses so häufig wie möglich am gemeinsamen Lerngegenstand zu tun und gezielt das mit- und voneinander Lernen (interaktiv-kooperatives Lernen) anzuregen (vgl. Kap. 1.1.3). Anknüpfend an dieses übergeordnete Ziel soll das für diese Arbeit entwickelte Lehr-Lern-Arrangement ‚Wir erforschen Nachbarzahlen und ihre Summen‘ interaktiv-kooperative Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht anregen, in denen sich alle Beteiligten bezüglich des flexiblen Rechnens individuell-zieldifferent weiterentwickeln. Dieses Lehr-Lern-Arrangement steht im Zentrum des vorliegenden Kapitels. Hier werden die theoretischen Überlegungen aus Kapitel 5 durch empirisch fundierte Unterrichtsdesignentscheidungen aus den ersten Erhebungszyklen weiterentwickelt. Damit einhergehend wird das Lehr-Lern-Arrangement bezüglich der allgemeinen Planung © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Korten, Gemeinsame Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht, Dortmunder Beiträge zur Entwicklungund Erforschung des Mathematikunterrichts 44, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30648-9_7
162
6 Ein Lehr-Lern-Arrangement
(Kap. 6.1) und der zugrundeliegenden Design-Prinzipien mit deren Konkretion (Kap. 6.2) vorgestellt35.
6.1
Lehr-Lern-Arrangement ‚Wir erforschen Nachbarzahlen und ihre Summen‘
Das Lehr-Lern-Arrangement ‚Wir erforschen Nachbarzahlen und ihre Summen‘ (i. A. a. eine Idee von Hirt & Wälti, 2010, S. 40 ff.; Korten, 2018a) konzentriert sich auf die Förderung flexiblen Rechnens im Bereich der Addition (individuellzieldifferente Lernförderlichkeit) und regt gleichzeitig das mit- und voneinander Lernen an (Interaktionsförderlichkeit). Mittelpunkt des Lehr-LernArrangements bildet die (Basis-)Aufgabe, möglichst viele Nachbarzahlen (horizontal, vertikal und diagonal; s. Abb. 6.1) und ihre Summen auf einer 20er-Tafel (mögliche Differenzierung: 100er-Tafel) zu finden. horizontal
vertikal
diagonal
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
Abbildung 6.1:
Horizontale, vertikale und diagonale Nachbarzahlen auf der 20er-Tafel
Der Zusatz, hierbei ‚geschickt’ vorzugehen, fordert heraus, Zahl- und Aufgabeneigenschaften und -beziehungen zu entdecken und diese zum Ausrechnen der Nachbarsummen zu nutzen. Diese aktive Erkundung der Nachbarzahlen und ihrer Summen auf der 20er-Tafel (und je nach individuellem Vermögen auch darüber hinaus) entspricht der Forderung nach aktiv-entdeckendem Lernen im inklusiven Mathematikunterricht, die seitens der allgemeinen Mathematikdidaktik (vgl. Kap. 2.2.1, 3.2.1), der Sonderpädagogik des Lernens (vgl. Kap. 2.2.2, 3.2.2) sowie aus den lerntheoretischen Annahmen und der Sache heraus (vgl. Kap. 2.3, 3) begründet wurde.
35 Die konkreten Materialien sowie weitere Informationen für den Einsatz im Unterricht sind veröffentlicht im Praxisband Alle zusammen! Offene, substanzielle Problemfelder als Gestaltungsbaustein für inklusiven Mathematikunterricht (Korten, 2018a).
163
6.1 Lehr-Lern-Arrangement ‚Wir erforschen Nachbarzahlen und ihre Summen‘
6.1.1 Sachstruktur des gemeinsamen Lerngegenstands Analyse der Sachstruktur Im Rahmen des gemeinsamen Lerngegenstands des flexiblen Rechnens geht es in diesem Lehr-Lern-Arrangement speziell um Eigenschaften und Beziehungen von, am 20er-Feld benachbarten, Zahlen und Aufgaben, die entdeckt und zum geschickten bzw. flexiblen Rechnen genutzt werden können. Die Konzentration auf die Nachbarzahlen und ihre Summen ermöglicht eine Fokussierung auf die Verteilung und die kardinale Bedeutung der Zahlen (vgl. Abb. 6.2). Somit wird der Blick der Kinder auf ein reichhaltiges Spektrum an Zahl- und Aufgabeneigenschaften und -beziehungen gerichtet (Referenzen, vgl. Kap. 3.3.2) und die Nutzung strategischer Werkzeuge angeregt (Lösungswerkzeuge, vgl. Kap. 3.3.3). Die Abbildung 6.2 und die folgenden Beispiele 1-3 stellen dar, dass diese arithmetischen Eigenschaften und Beziehungen sowie die damit zusammenhängende Nutzung strategischer Werkzeuge auch über die 20er-Tafel hinaus gelten. Folglich ist eine zieldifferente Bearbeitung der Aufgabe denkbar, ohne dass der mathematische Kern, über den man sich gemeinsam austauschen kann – nämlich die arithmetischen Eigenschaften und Beziehungen – verloren geht.
diagonal
horizontal
vertikal
100a +2
100a +3
100a +4
100a +5
100a +6
100a +7
100a +8
100a +9
100a +10
100a +10+1
100a +10+2
100a +10+3
100a +10+4
100a +10+5
100a +10+6
100a +10+7
100a +10+8
100a +10+9
100a +20
100a +20+1
100a +20+2
100a +20+3
100a +20+4
100a +20+5
100a +20+6
100a +20+7
100a +20+8
100a +20+9
100a +30
100a +30+1
100a +30+2
100a +30+3
100a +30+4
100a +30+5
100a +30+6
100a +30+7
100a +30+8
100a +30+9
100a +40
100a +40+1
100a +40+2
100a +40+3
100a +40+4
100a +40+5
100a +40+6
100a +40+7
100a +40+8
100a +40+9
100a +50
100a +50+1
100a +50+2
100a +50+3
100a +50+4
100a +50+5
100a +50+6
100a +50+7
100a +50+8
100a +50+9
100a +60
100a +60+1
100a +60+2
100a +60+3
100a +60+4
100a +60+5
100a +60+6
100a +60+7
100a +60+8
100a +60+9
100a +70
100a +70+1
100a +70+2
100a +70+3
100a +70+4
100a +70+5
100a +70+6
100a +70+7
100a +70+8
100a +70+9
100a +80
100a +80+1
100a +80+2
100a +80+3
100a +80+4
100a +80+5
100a +80+6
100a +80+7
100a +80+8
100a +80+9
100a +90
100a +90+1
100a +90+2
100a +90+3
100a +90+4
100a +90+5
100a +90+6
100a +90+7
100a +90+8
100a +90+9
100a +100
Abbildung 6.2:
Arithmetische Beziehungen der 20er- und 100er-Tafel mit a ∈ N
diagonal
100a +1
164
6 Ein Lehr-Lern-Arrangement
Auf der 20er-Tafel gibt es insgesamt 18 horizontale Additionsaufgaben mit 18 verschiedenen Summen, 10 vertikale Aufgaben mit 10 Summen sowie 18 diagonale Aufgaben mit 9 unterschiedlichen Summen. Tabelle 6.1 zeigt diese auf und konkretisiert deren arithmetische Eigenschaften und Beziehungen, die im Rahmen des Lehr-Lern-Arrangements entdeckt/wahrgenommen, beschrieben, genutzt, begründet sowie verallgemeinert werden können (Anforderungsbereiche I-II vgl. Walther et al., 2008, S. 21). Tabelle 6.1: Mögliche Nachbarzahlen und Nachbarsummen auf der 20er-Tafel sowie ihre Eigenschaften und Beziehungen
horizontal (+/-1)
vertikal (+/-10)
diagonal (+/-9 oder 11)
Mögliche Nachbarzahlen und deren Nachbarsummen: 01 + 02 = 03 11 + 12 = 23 02 + 03 = 05 12 + 13 = 25 03 + 04 = 07 +2 13 + 14 = 27 04 + 05 = 09 14 + 15 = 29 05 + 06 = 11 15 + 16 = 31 06 + 07 = 13 16 + 17 = 33 07 + 08 = 15 17 + 18 = 35 08 + 09 = 17 18 + 19 = 37 09 + 10 = 19 19 + 20 = 39 +20
01 + 11 = 12 02 + 12 = 14 03 + 13 = 16 04 + 14 = 18 05 + 15 = 20 06 + 16 = 22 07 + 17 = 24 08 + 18 = 26 09 + 19 = 28 10 + 20 = 30
+2
01 + 12 = 13 11 + 02 =13 02 + 13 = 15 12 + 03 =15 03 + 14 = 17 +2 13 + 04 =17 04 + 15 = 19 14 + 05 =19 05 + 16 = 21 15 + 06 =21 06 + 17 = 23 16 + 07 =23 07 + 18 = 25 17 + 08 =25 08 + 19 = 27 18 + 09 =27 09 + 20 = 29 19 + 10 =29 =
Arithmetische Eigenschaften und Beziehungen, die entdeckt/wahrgenommen, beschrieben, genutzt, begründet und/oder verallgemeinert werden können: Die Summe ist immer ungerade, denn36
Die Summe ist immer gerade, denn36
Die Summe ist immer ungerade, denn36
(2n-1) + 2n = 2(2n)-1 oder
2n+ (2n+10) = 4n+10 = 2(2n+5) oder
(2n-1) + (2n+10)= 2(2n+5)-1 oder
(2n+1) + (2n+1+10) = 2(2n+5+1).
2n + (2n+1+10) = 2(2n+5)+1.
Analogie-Beziehungen (s. Pfeile): Immer +/-2 durch gleichsinnige Veränderung beider Summanden um 1.
Analogie-Beziehungen (s. Pfeile): Immer +/-2 durch gleichsinnige Veränderung beider Summanden um 1.
2n + (2n+1) = 2(2n)+1.
Analogie-Beziehungen (s. Pfeile): Immer +/-2 durch gleichsinnige Veränderung beider Summanden um 1.
36 für alle n ∈ N, folglich ist 2n eine gerade Zahl und 2n+1 eine ungerade Zahl
6.1 Lehr-Lern-Arrangement ‚Wir erforschen Nachbarzahlen und ihre Summen‘
165
Dekadische AnalogieBeziehungen (s. Pfeile): +/-20 durch gleichsinnige Veränderung beider Summanden um 10. Die Summen sind alle verschieden durch gleichsinnige Veränderung beider Summanden.
Die Summe ist immer um eins größer als das Doppelte des kleineren Summanden, denn36 2n + (2n+1) = 2(2n)+1 oder (2n-1) + 2n = 2(2n-1)+1. Die Summe ist immer um eins kleiner als das Doppelte des größeren Summanden, denn36 2n + (2n+1) = 2(2n+1)- 1 oder (2n-1) + 2n = 2(2n)-1. Es kommen alle ungeraden Zahlen von 3 bis 39 vor, mit Ausnahme der 21.
Gleichheit zweier Summen durch gegensinnige Veränderung der Summanden (Gesetz der Konstanz der Summe).
Die Summe ist immer um zehn größer als das Doppelte des kleineren Summanden, denn36 2n+(2n+10) = 2(2n)+10 oder (2n+1) + (2n+1+10) = 2(2n+1)+10. Es kommen ohne Ausnahme alle geraden Zahlen von 12 bis 30 vor.
Wenn man die Nachbarn vertauscht, bleibt die Summe gleich (Kommutativgesetz) ...
...
...
Die Fokussierung auf die Nachbarzahlen ermöglicht es, dass die dargestellten arithmetischen Eigenschaften und Beziehungen auf die 100er-Tafel sowie darüber hinaus übertragen werden können (vgl. Abb. 6.2). So gilt beispielsweise das Gesetzt der Konstanz der Summe durch die gegensinnige Veränderung der Summanden bei den (auf der Tafel) im Kreuz liegenden diagonalen Nachbarn sowohl im Zahlenraum bis 20 als auch bis 100 und darüber hinaus, wie an folgenden Beispielen aufgezeigt wird: +1 Beispiel 1) 3+14 = 4+13 = 17 -1 Die diagonalen Nachbarzahlen 3 und 14 sowie 4 und 13 (vgl. Abb. 6.2) haben die gemeinsame Nachbarsumme 17, denn durch die entsprechende gegensinnige Veränderung der Summanden (+1/-1) gilt das Gesetzt der Konstanz der Summe bei den im Kreuz liegenden diagonalen Nachbarsummen.
166
6 Ein Lehr-Lern-Arrangement +1
Beispiel 2) 33+44 = 34+43 = 77 -1 Die gleichen arithmetischen Eigenschaften und Beziehungen – hier die entsprechende gegensinnige Veränderung der Summanden (+1/-1) und die daraus folgende Summenkonstanz – können im Zahlenraum bis 100 auf der 100er-Tafel entdeckt und zum geschickten Rechnen genutzt werden, wie das Beispiel 2 der diagonalen Nachbarzahlen 33 und 44 sowie 34 und 43 aufzeigt. +1 Beispiel 3) (100a +30+3) + (100a+40+4) = (100a +30+4) + (100a+40+3) = 200a+77 -1 Diese Gleichung zeigt für alle a ∈ N (vgl. Abb. 6.2) auf, dass sich die beschriebenen arithmetischen Eigenschaften und Beziehungen ebenso auf das 1000er-Buch und größere Zahlenräume übertragen und verallgemeinern lassen. Für alle beliebigen a (mit a ∈ N) gilt, dass für die im Kreuz liegenden diagonalen Nachbarzahlen das Gesetz der Konstanz der Summe durch gegensinnige Veränderung der Summanden gilt. Mit a=0 entsprecht die Gleichung dem Beispiel 2.
Durch eine systematische Suche nach möglichst vielen Nachbarzahlen und ihrer Summen könnte ebenso eine kombinatorische Fragestellung (z. B. Wie viel verschiedene horizontale/vertikale/diagonale Nachbarzahlen und -summen gibt es auf der 20er-Tafel? Warum?) thematisiert werden, die in der vorliegenden Arbeit jedoch nicht berücksichtigt wird. Interaktionsanregende Aufgabe Das Ziel, möglichst viele Nachbarzahlen (horizontal, vertikal und diagonal) und ihre Summen auf einer 20er-Tafel zu finden, ist zwar bekannt und eindeutig, aber der Weg dorthin ist flexibel. Durch die Forderung nach einem ‚geschickten’ Vorgehen erhält die Aufgabe den zusätzlichen Anspruch, mögliche Wege zu reflektieren und arithmetisches Wissen zu nutzen. Wie die Tabelle 6.1 aufzeigt, bietet die substantielle Aufgabe aus mathematikdidaktischer Perspektive ein reichhaltiges Repertoire an Entdeckungen von Zahl- und Aufgabeneigenschaften und -beziehungen sowie für die Nutzung dieser arithmetischen Muster und Strukturen. Somit sind Zugänge und Lösungsstrategien auf unterschiedlichen Niveaus denkbar: Die Suche nach diesen Nachbarzahlen und den dazugehörigen Additionsaufgaben kann beispielsweise durch verschiedene (strategische) Vorgehensweisen bei der Suche (später auch mit V abgekürzt) erfolgen: unsystematisches Suchen;
6.1 Lehr-Lern-Arrangement ‚Wir erforschen Nachbarzahlen und ihre Summen‘
167
unterschiedliche systematisch-sukzessive Vorgehensweisen beim Suchen; die Auswahl auswendig gekannter / leichter Additionsaufgaben (z. B. 1+2, 2+3, 9+10); ganz ohne die Summe zu bestimmen. Ebenso bietet die möglichst vorteilhafte Bestimmung der Nachbarsummen zahlreiche Möglichkeiten an Zugangsweisen und Strategien: Reproduzieren – auswendig gekannte Aufgaben und / oder routinierte Standardstrategien abrufen; Zusammenhänge herstellen – Zahl- und Aufgabeneigenschaften und -beziehungen zum möglichst vorteilhaften Rechnen nutzen; Verallgemeinern und Reflektieren – durch die Einsicht in neue Zahl- und Aufgabeneigenschaften und -beziehungen Lösungsprozesse und Lösungsstrategien reflektieren und weiterentwickeln sowie diese auf größere Zahlenräume übertragen und verallgemeinern (vgl. Anforderungsbereiche I-III in Walther et al., 2008, S. 21). Diese verschiedenen Zugangsweisen und Lösungsprozesse sind unter Nutzung unterschiedlicher Hilfs- und Darstellungsmittel möglich, durch die eine mediale Unterstützungsstruktur erreicht wird, die u. a. barrierefreies Lernen ermöglicht: enaktiv (gestützt); ikonisch (gestützt); symbolisch (formal); verbal-symbolisch (formal) (vgl. J. Bruner, 1974)37. Durch diese vielfältigen Möglichkeiten an individuellen Zugängen, Vorgehensweisen und Lösungsstrategien wird die zieldifferente Förderung flexiblen Rechnens für Kinder mit heterogenen Lernvoraussetzungen – sowohl auf der Ebene der Referenzen (später auch mit R abgekürzt) als auch auf der Ebene der Lösungswerkzeuge (später auch mit L abgekürzt) – ermöglicht (vgl. Kap. 3.3). Grundlegend wird dabei davon ausgegangen, dass flexibles Rechnen ein situationsbedingtes, individuelles Reagieren auf spezifische Aufgabenmerkmale ist. Ein flexibler und adäquater Lösungsprozess38 beim Kopfrechnen ist daher ab37 Bruner machte darauf aufmerksam, dass mathematische Inhalte mittels verschiedener Darstellungsebenen visualisiert werden können. Er differenziert dabei zwischen enaktiven (handelnden), ikonischen (bildhaften) und symbolischen (mathematischen oder sprachlichen) Darstellungen (für weitere Informationen vgl. Bruner, 1974). 38 Ist in der vorliegenden Arbeit von Lösungsprozessen die Rede, dann geht es um die (flexible und adäquate) Lösung der Additionsaufgaben, also um die Bestimmung der Nachbarsummen (vgl. dazu auch Kap. 3). Dieses ist nicht zu verwechseln mit der Lösung des allgemeinen Arbeitsauftrages, also der Suche nach den Nachbarzahlen.
168
6 Ein Lehr-Lern-Arrangement
hängig von erkannten Zahl- und Aufgabeneigenschaften und -beziehungen (vgl. Kap. 3.1). Bezieht man die vorangegangenen Darstellungen auf die Forschungsergebnisse von Röhr (1995), kann gefolgert werden, dass die hier vorliegende substantielle Aufgabe folgende Kriterien interaktionsfördernder Aufgaben erfüllt: Beziehungsreichtum; Ermöglichung aktiv-entdeckenden Lernens und mehrerer Lösungswege; Aufgabenkomplexität; Ermöglichung verschiedener Bearbeitungsniveaus auf Grundlage unterschiedlicher Fertigkeiten und Fähigkeiten (vgl. Kap. 2.2.1; Röhr, 1995). Das noch fehlenden Kriterium Lösungserleichterung durch Zusammenarbeit wird im folgenden Unterkapitel 6.1.2 zu den didaktisch-methodischen Entscheidungen thematisiert. Damit einhergehend werden ebenso die Entscheidungen hinsichtlich der methodisch strukturierten Interaktionsform sowie der konkreten Aufgabenstellungen beleuchtet, in deren Rahmen die hier vorgestellte Basisaufgabe zum Einsatz kommt. Röhrs Kriterien tragen nicht nur zur Interaktions- und Kooperationsförderung bei, sondern sie unterstützen gleichzeitig die Förderung flexibler Rechenkompetenzen. Denn bedeutend für eine Förderung flexiblen Rechnens sind Aufgaben, die zum eigenaktiven Forschen über Zahl- und Aufgabeneigenschaften, über operative Beziehungen und strategische Werkzeuge (individuell) sowie gleichzeitig zum Austausch darüber (interaktiv-kooperativ) anregen (vgl. Kap. 3.2). 6.1.2 Didaktisch-methodische Entscheidungen Die didaktisch-methodischen Entscheidungen für das Lehr-Lern-Arrangement sind ebenso durch Forderungen seitens der Mathematikdidaktik (vgl. Kap. 2.2.1, 3.2.1), der Sonderpädagogik des Lernens (vgl. Kap. 2.2.2, 3.2.2) sowie aus den lerntheoretischen Annahmen und dem gemeinsamen Lerngegenstand heraus (vgl. Kap 2.3, 3) zu begründen. Zugunsten des Leseflusses wird jedoch in den meisten Fällen auf direkte Kapitelverweise im Text verzichtet und die einzelnen Aspekte durch Kursivschreibung kenntlich gemacht. Die grundlegenden, theoretisch begründeten Unterrichtsdesignentscheidungen aus Kapitel 5 werden durch empirische Erkenntnisse aus der Pilotierung sowie dem ersten Zyklus der Design-Experimente ergänzt und weiterentwickelt (vgl. Kap. 7, Tab. 7.1: Übersicht über die zyklischen Design-Experimente mit deren Forschungs- und Entwicklungsinteressen sowie daraus resultierende Schwerpunkte der Analyse).
6.1 Lehr-Lern-Arrangement ‚Wir erforschen Nachbarzahlen und ihre Summen‘
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Inhaltlicher Schwerpunkt und Lehrplanbezug Die Festlegung des inhaltlichen Schwerpunktes sowie der Lehrplanbezug wurden bereits ausführlich in Kapitel 5.2 vorgenommen. An dieser Stelle kommen aus diesem Grund (nur) die schwerpunktmäßig geförderten Kompetenzerwartungen im konkreten Bezug zu der vorliegenden substantiellen Aufgabe zur Sprache. Diese können sehr wohl durch die in Kapitel 5.2 dargelegten inhaltlichen und prozessbezogenen Kompetenzen ergänzt werden: Zahlen und Operationen: Zahlvorstellungen Die Kinder entdecken und beschreiben Beziehungen zwischen Zahlen, Additionsaufgaben und innerhalb komplexer Zahlenfolgen (u. a. Teil-Ganzes-Beziehungen, Relationen, AnalogieBeziehungen, Gleichheiten) und beschreiben diese unter der zunehmenden Verwendung von Fachbegriffen (u. a. ist Vorgänger/Nachfolger von, ist die Hälfte/das Doppelte von, Summe, Nachbarzahl/-zehner/-hunderter, ist um 2 größer als) Zahlen und Operationen: Zahlenrechnen Die Kinder nutzen Zahl- und Aufgabenbeziehungen, Zerlegungsstrategien (u. a. Teil-GanzesBeziehungen, Relationen, Analogie-Beziehungen, Gleichheiten) und Rechengesetze (u. a. Kommutativgesetz, Assoziativgesetz, Konstanz der Summe) für vorteilhaftes Rechnen beim Bestimmen der Nachbarsummen. Zahlen und Operationen: Flexibles Rechnen Die Kinder nutzen aufgabenbezogen oder nach eigenen Präferenzen Strategien des Zahlenrechnens (z. B. stellenweise rechnen, schrittweise rechnen, ergänzen, gleich-/gegensinnig verändern, vertauschen, verdoppeln). Darstellen/Kommunizieren und Argumentieren: Die Kinder bearbeiten die komplexen Aufgabenstellungen zu den Nachbarzahlen und deren Summen gemeinsam, treffen dabei Verabredungen und setzen eigene und fremde Standpunkte in Beziehung (kooperieren und kommunizieren). Dabei nutzen sie die angebotenen verschiedenen Darstellungen (zwischen Darstellungen wechseln) und stellen Vermutungen über mathematische Zusammenhänge oder Auffälligkeiten an (vermuten). Gegebenenfalls werden diese Vermutungen anhand von Beispielen getestet (überprüfen), bestätigt und widerlegt. Außerdem entwickeln sie – ebenfalls ausgehend von Beispielen – ansatzweise allgemeine Überlegungen (folgern). In der Interaktion mit einem Partner erklären sie dabei Beziehungen und Gesetzmäßigkeiten an Beispielen und vollziehen Begründungen anderer nach (begründen). (MSW, 2008)
Diese schwerpunktmäßig geförderten inhaltlichen Kompetenzerwartungen lassen sich in Bezug zu den Kategorien und Indikatoren zum flexiblen Rechnen setzen, die in Kapitel 3 herausgearbeitet wurden, um in der Analyse (Kap. 8 und 9) Lernpfade verschiedener Ausprägungen kategorisieren und rekonstruieren zu können. Tabelle 3.1 bezieht sich auf die Kompetenz, die die Kinder als Voraussetzung benötigen, um flexibel zu rechnen und Flexibilität zu entwickeln. Hier besteht ein enger Zusammenhang zu dem inhaltlichen Schwerpunkt ‚Zahlen und Operationen: Zahlvorstellungen’. Tabelle 3.2 gibt einen Überblick darüber, welche allgemeinen mathematischen Ideen bezüglich der Lösungswerkzeuge unterschieden werden können und bezieht sich auf die Kompetenzen bezüglich der Werkzeuge, die Kinder nutzen und benötigen, um Additionsaufgaben zu
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lösen. Diesbezüglich kann eine Verbindung zu den inhaltlichen Schwerpunkten ‚Zahlen und Operationen: Zahlenrechnen’ und ‚Zahlen und Operationen: Flexibles Rechnen’ hergestellt werden. Durch den Kontext dieser Arbeit, in dem es um die gezielte Anregung interaktiv-kooperativer Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht geht, kommt überdies den prozessbezogenen Kompetenzen aus den Bereichen Darstellen/Kommunizieren und Argumentieren eine besondere Bedeutung zu (Ausführungen s. o.). Interaktionsfördernde methodische Gestaltung Als strukturierte Interaktionsform, die zur interaktionsfördernden methodischen Gestaltung beiträgt, wurde die ICH-DU-WIR-Methode gewählt. Durch die ICHDU-WIR-Methode wird nicht nur das interaktiv-kooperative Lernen angeregt (vgl. Kap. 2.2), sondern ebenso das Durchdringen des komplexen Lerngegenstandes unterstützt, indem der Kreislauf von eigenständigen Konstruktionen, Austausch, Reflexion und Weiterentwicklung individueller Entdeckungen und Lösungsprozesse ermöglicht wird (vgl. Modell Kap. 3.2.3). Dabei ist die ICHDU-WIR-Methode eingebettet in eine übergeordnete Struktur (i. A. a. Mathe inklusiv mit PIKAS, o. J.), die sich auszeichnet durch einen gemeinsamen Einstieg, interaktionsanregende Arbeitsphase(n) und eine gemeinsame Reflexion: Gemeinsamer Einstieg
Interaktionsanregende Arbeitsphase(n)
Gemeinsamer Einstieg Einführung in das Thema des Lehr-LernArrangements Kennenlernen der Materialien und des Wortschatzes
Vorgeschaltete individuelle Phase (ICH) Finde möglichst viele Nachbarzahlen und ihre Summen. Gehe geschickt vor. Fällt dir etwas auf? Vertiefender ICHForscherauftrag
Gemeinsame Reflexion
Interaktiv‐kooperative Phase (DU)
Gemeinsame Reflexion (WIR)
Wählt Nachbarzahlen aus, die ihr genauer erforschen möchtet.
Sammlung der Ergebnisse
1. Welche Nachbarzahlen und Summen habt ihr gefunden? Sammelt und ordnet sie. Sind das alle? 2. Welche Entdeckungen habt ihr gemacht? Helfen euch eure Entdeckungen beim geschickten Rechnen?
Reflexion der Entdeckungen hinsichtlich des ‚geschickten‘ Vorgehens und Rechnens
Haltet eure Entdeckungen fest.
Abbildung 6.3:
Interaktionsfördernde methodische Gestaltung mit den konkreten Arbeitsaufträgen für die vorgeschaltete individuelle Phase (ICH-Phase) und die interaktivkooperative Phase (DU-Phase)
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Abbildung 6.3 visualisiert diesen methodischen Ablauf und die konkreten Arbeitsaufträge der vorgeschalteten individuellen Phase (ICH-Phase) und der interaktiv-kooperativen Phase (DU-Phase). Dabei ist der Ablauf der Phasen transparent und die Gestaltung der Übergänge – je nach den Bedürfnissen der Kinder – flexibel. Die Verwendung gestrichelter Linien sowie die fließenden Übergänge der übergeordneten Struktur visualisieren diese Flexibilität. Dementsprechend können einige Kinder beispielsweise schon in die Arbeitsphase starten, während andere noch in der Phase des gemeinsamen Einstiegs verweilen, indem sie wiederholt probehandeln oder Fragen stellen können. Ebenso können gemeinsame Reflexionen auch Bestandteil der Arbeitsphasen sein, indem es individuelle Zwischenreflexionen mit einzelnen Kindern oder Kinderpaaren gibt. Diese Flexibilität wurde auch in den Design-Experimenten der vorliegenden Studie als eine Form der Differenzierung genutzt, um allen Kindern ausreichend Zeit, Gelegenheit und Wiederholung zu geben, sich mit dem mathematischen Lerngegenstand auseinanderzusetzen. Die ICH-DU-WIR-Methode strukturiert die intendierte interaktiv-kooperative Lernsituation. Zunächst ermöglicht die ICH-Phase jedem Kind – durch eine individuelle Arbeitsphase vor dem gemeinsamen Austausch –, eigene Zugänge, Entdeckungen und Lösungsprozesse zu entwickeln. Dabei halten die Kinder ihre Nachbarzahlen (wahlweise ikonisch oder symbolisch sowie wahlweise mit oder ohne Summe) auf Aufgabenkarten (vgl. Abb. 6.4) fest, um sie in der DU-Phase weiterverwenden zu können. Um bei der Weiterverwendung der Aufgabenkarten Überschneidungen zu vermeiden und gleichzeitig von außen eine ‚extrinsische positive Interdependenz’ umgesetzt durch eine Zielabhängigkeit (vgl. Kap. 6.2.2 und Kap. 9.3.2) zwischen den späteren Partnern zu schaffen, untersuchen einige Partnerkinder die linke und andere Kinder die rechte Seite der 20er-Tafel. In der vorliegenden Studie erhielt das Kind mit Unterstützungsbedarf ‚Lernen‘ den Auftrag, die linke Seite zu untersuchen, um eine kognitive Entlastung beim Addieren der Nachbarzahlen zu gewährleisten und die Entdeckung von mathematischen Mustern und Strukturen zu erleichtern. Die linke Seite weist weniger Hürden beim Addieren der Nachbarzahlen auf, denn die Additionsaufgaben sind u. a. durch die kleineren Zahlen und den fehlenden Zehnerübergang weniger komplex. Die Suche nach den Nachbarzahlen und den dazugehörigen Additionsaufgaben sowie die Bestimmung der Nachbarsummen kann im Sinne der natürlichen Differenzierung heterogen verlaufen (vgl. Kap. 6.1.3). Mögliche Vorgehensweisen sowie Lösungsstrategien beim Addieren wurden in Kapitel 6.1.1 im Zusammenhang mit der Sachstruktur des gemeinsamen Lerngegenstandes antizipiert und aufgeführt. Zur weiteren Differenzierung können sich die Kinder in der ICH-Phase eigenständig einen vertiefenden Arbeitsauftrag (vgl. Kap. 6.1.3) nehmen.
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Abbildung 6.4:
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Aufgabenkarten zur ikonischen und symbolischen Darstellung der Nachbarzahlen und der dazugehörigen Additionsaufgaben (didaktische Materialien)
Die abgebildeten Aufgabenkarten (vgl. Abb. 6.4) sind farblich gekennzeichnet, um zwischen den verschiedenen Nachbararten (horizontal/neben, vertikal/über und diagonal/schräg) leichter differenzieren zu können. Die unterschiedlichen Farben erleichtern besonders in der DU-Phase die Fokussierung auf eine Nachbarart. Diese können die Kinder eigenständig auswählen (vgl. Arbeitsauftrag der DU-Phase, Abb. 6.3). Die individuellen Lösungsansätze und Arbeitsergebnisse der ICH-Phase können durch die Bearbeitung der weiterführenden gemeinsamen Aufgaben im Austausch – während der direkten Interaktion mit einem Partner – weiterentwickelt sowie bezüglich des ‚geschickten’ Vorgehens reflektiert und optimiert werden. Diese strukturierte Interaktionsform trägt dazu bei, dass alle aktiv sind und Gelegenheit bekommen, anknüpfend an individuelle Lernausgangslage und auf Grundlage unterschiedlicher Fertigkeiten und Fähigkeiten, mit ihrem Partner in den Austausch zu treten und zu interagieren. Durch die ‚Weiterverwendung‘ der Eigenproduktionen aus der ICH-Phase wird das Einbringen in die Interaktion überdies erleichtert und alle Kinder erfahren Anerkennung und Würdigung. Des Weiteren werden mit den ausgewählten Aufgabenstellungen gezielt Tätigkeiten angeregt, die die Entwicklung flexibler Rechenkompetenzen fördern können (vgl. Kap. 3.2.1 und 3.2.2): Das ‚Sehen’, ‚Sortieren’ und ‚Strukturieren von Anzahl und Aufgaben’, verbunden mit der Auseinandersetzung mit Eigenschaften und Beziehungen (Rechtsteiner-Merz, 2013, S. 103) Das eigenständige ‚Nutzen von Aufgabenbeziehungen’ (Häsel-Weide, 2016c, S. 279 ff.) Das ‚gemeinsame Vergleichen und Sortieren’ (ebd., S.279 ff.) Letztes ist besonders geeignet, um Kinder zur Kommunikation über mathematische Strukturen und Beziehungen anzuregen und somit gleichzeitig die Wahrnehmung dieser zu unterstützen (ebd., S. 279). Der mathematisch inhaltliche Austausch über arithmetische Muster und Strukturen ist insbesondere für Kinder
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mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf ‚Lernen‘ wichtig, um flexible Rechenkompetenzen anzubahnen (vgl. Kap. 3.2.2). Aufgrund der großen Anzahl der Nachbarsummen trägt das gemeinsame Sammeln und Ordnen durch die Zusammenarbeit zur Lösungserleichterung bei (vgl. Röhr, 1995, s. o.). Die Struktur der Interaktionsform steht dabei in Beziehung zu den beabsichtigten Kooperationsprozessen, in denen individuelle Arbeitsergebnisse, Entdeckungen und Vorgehensweisen zu einer komplexeren Gesamtlösung zusammengeführt werden (vgl. Kap. 2.2.1). Weiterhin ist gegenseitiges Helfen und Unterstützen möglich und die dargelegten prozessbezogenen Kompetenzen (Darstellen und Kommunizieren) werden gefördert. Die DU-Phase ist zeitlich nicht auf eine Einheit zu begrenzen. Dadurch erhalten die Kinderpaare die Möglichkeit, alle Nachbararten (horizontal/neben, vertikal/über und diagonal/schräg) hinsichtlich arithmetischer Eigenschaften und Beziehungen genauer zu erforschen. Im Mittelpunkt der WIR-Phase stehen die Eigenproduktionen der Kinder. Abbildung 6.3 zeigt beispielhaft ein Plakat zu den horizontalen Nachbarzahlen, das in einer DU-Phase der vorliegenden Untersuchung entstanden ist. Die abschließende WIR-Phase zielt auf die Sammlung und Würdigung der Ergebnisse aus der Partnerarbeit sowie auf die Reflexion der gemachten Entdeckungen. Hierbei wird durch die Lehrkraft angeregt, auf die entdeckten Muster und Strukturen zu fokussieren und diese hinsichtlich des ‚geschickten’ Vorgehens und Rechnens zu reflektieren. Auch in dieser Phase ermöglichen der gemeinsame Austausch und diese strukturfokussierenden Anregungen seitens der Lehrkraft während des Reflexionsgespräches, individuelle Zugänge, Entdeckungen und Lösungsprozesse erneut zu reflektieren und weiterzuentwickeln. 6.1.3 Weitere Möglichkeiten der Unterstützung und Strukturierung Auch in diesem Kapitel sind die didaktischen Entscheidungen ebenso durch Forderungen seitens der Mathematikdidaktik (vgl. Kap. 2.2.1, 3.2.1), der Sonderpädagogik des Lernens (vgl. Kap. 2.2.2, 3.2.2) sowie aus den lerntheoretischen Annahmen und dem gemeinsamen Lerngegenstand heraus (vgl. Kap 2.3, 3) begründet. Zugunsten des Leseflusses wird weiterhin in den meisten Fällen auf direkte Kapitelverweise im Text verzichtet und die einzelnen Aspekte durch Kursivschreibung kenntlich gemacht. Mediale Unterstützungsmaßnahmen Um eine niedrige Einstiegsschwelle zu gewährleisten wurde die Basisaufgabe zunächst auf die 20er-Tafel beschränkt. Jedoch müssen nicht nur die individuellen mathematischen Lernstände, sondern auch die unterschiedlichen sensorischen, emotionalen und sprachlichen Lernvoraussetzungen berücksichtigt wer-
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den. Folglich ist nicht nur der mathematische Inhalt so zu strukturieren, dass Ziele auf verschiedenen Entwicklungsniveaus erreicht werden können (zieldifferentes Lernen). Ferner bedarf es gezielter methodischer und medialer Unterstützungsmaßnahmen, um Barrierefreiheit sicherzustellen (barrierefreies Lernen). Diesbezüglich werden verschiedene didaktisch strukturierte Anschauungs- und Hilfsmittel angeboten, um inhaltliche Zugänge und die Entwicklung individueller Lösungswege auf handlungsorientierte und sensorisch vielfältige Art und Weise zu ermöglichen. Hierbei werden vor allem die enaktive und ikonische Darstellungsebene angesprochen. Die folgende Tabelle 6.2 stellt diese Anschauungs- und Hilfsmittel dar und gibt Hinweise auf die jeweilige didaktische Funktion. Tabelle 6.2: Strukturierte Anschauungs- und Hilfsmittel mit der jeweiligen didaktischen Funktion und Konkretion
Anschauungs-/ Hilfsmittel
didaktische Funktion Visualisierungshilfe zur Visualisierung der Nachbarzahlen
20er-Tafel (ggf. 100er-Tafel) mit Doppellupe
Fokussierungshilfe zur Fokussierung auf die Nachbarzahlen Argumentations- und Kommunikationshilfe während des interaktivkooperativen Lernens durch die Visualisierung und Fokussierung Fixierungshilfe der Nachbarzahlen mit der dazugehörigen Additionsaufgabe auf ikonischer und symbolischer Ebene
Aufgabenkarten (vgl. auch Abb. 6.4)
Visualisierungshilfe zur Erleichterung von Entdeckungen arithmetischer Muster und Strukturen durch die Darstellungsvernetzung und die Möglichkeit flexibler Sortierungen
Konkretisierung
6.1 Lehr-Lern-Arrangement ‚Wir erforschen Nachbarzahlen und ihre Summen‘
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Lösungshilfe beim Lösen der Additionsaufgaben durch die leeren 20erFelder Lernhilfe durch die gezielte Vernetzung von ikonischer und symbolischer Darstellungseben sowie durch die Erleichterung von Entdeckungen arithmetischer Muster und Strukturen (Darstellungsvernetzung, Möglichkeit flexibler Sortierungen) Argumentations- und Kommunikationshilfe während des interaktivkooperativen Lernens durch die Fixierung und Visualisierung auf unterschiedlichen Darstellungsebenen Lösungshilfe beim Lösen der Additionsaufgaben durch die Ermöglichung der enaktiven Darstellungsebene Plättchen, 10er-/5er-Streifen, 20er-Feld (ggf. 100er-Feld)
Lernhilfe durch die Möglichkeit der Vernetzung verschiedener Darstellungseben Argumentations- und Kommunikationshilfe während des interaktivkooperativen Lernens
Abschließend sei hervorgehoben, dass die Materialien jeweils in unterschiedlichen Größen bereitgestellt werden, um auch Kindern mit visuellen Wahrnehmungsproblemen und motorischen Schwierigkeiten im Sinne einer sensorisch vielfältig gestalteten Lernumgebung, verbunden mit entsprechenden Lernerfah-
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rungen, einen Zugang zu ermöglichen (vgl. ökologisches Modell i. A. a. Dewey in Heimlich, 2007, S. 76; Kap. 1.2.2 und 5.1). Die größeren Ausführungen, die gleichzeitig auf einem magnetischen Untergrund genutzt werden können, ermöglichen motorische und wahrnehmungsorientierte Unterstützung und dadurch einen barrierefreien Zugang. Die in der Tabelle dargestellten didaktischen Funktionen der jeweiligen Medien verdeutlichen, dass deren Einsatz nicht nur zur motorischen und wahrnehmungsorientierten Unterstützung, sondern ebenso zur kognitiven sowie sozialen und kommunikativen Unterstützung beiträgt. Durch gezielte mediale Maßnahmen kann so Barrierefreiheit gewährleistet werden, indem vielfältige Zugangsweisen, eine niedrige Einstiegsschwelle und am Material gestützte handlungsorientierte Arbeits- und Interaktionsprozesse ermöglicht werden. Methodische Unterstützungsmaßnahmen Hinsichtlich der methodischen Reduktion trägt die Wahl des Partnersettings und die damit einhergehende Entscheidung gegen den Austausch in Kleingruppen zur Entlastung der Kinder hinsichtlich der sozialen und kommunikativen Herausforderungen bei (vgl. Kap. 2.2.3). Weiterhin wird bei der Partnerzusammensetzung auf eine lernförderliche Sozialstruktur geachtet, sodass eine positive Ausgangslage für eine erfolgreiche Interaktion besteht, denn, wie empirische Belege zeigen, ist das Gelingen interaktiv-kooperativer Lernsituation abhängig von der Gruppenzusammensetzung und der damit in Zusammenhang stehenden (erfolgreichen) Interaktionsprozesse (vgl. Kap. 2.1.2). (Für alle weiteren methodischen Maßnahmen s. o.) Natürliche Differenzierung durch mathematische Strukturierung Die substantiellen Aufgaben ermöglichen durch ihre mathematische Struktur eine natürliche Differenzierung vom Kind aus. Dieses geschieht beispielsweise durch die unterschiedlich gewählten Vorgehensweisen beim Suchen der Nachbarzahlen sowie durch die heterogenen Zugänge und Lösungsprozesse beim Lösen der Additionsaufgaben (vgl. Kap. 6.1.1). Weitere Differenzierung erlaubt die individuelle Nutzung von Anschauungs- und Hilfsmitteln durch die Nutzung unterschiedlicher Darstellungsebenen (s. o.). Außerdem trägt die mathematische Reichhaltigkeit im Zusammenhang mit der inhaltlichen Strukturfokussierung auf die Nachbarzahlen und deren Eigenschaften und Beziehungen zur Differenzierung bei. Hierdurch findet eine Fokussierung auf gemeinsame Inhalte statt, ohne den Kontext für leistungsstarke Kinder zu sehr einzugrenzen, indem gemachte Entdeckungen und Strategien auch auf größere Zahlenräume übertragen werden können, da Muster und Strukturen durch die Konzentration auf die arithmetischen Muster der Nachbarzahlen gleichbleiben (vgl. auch Kap. 6.1.1). Diesbezüglich liegt ein vertiefender ICH-
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Forscherauftrag für die ICH-Phase bereit: Was ist dir aufgefallen? Gelten deine Entdeckungen auch auf der 100er-Tafel? Diese vertiefende Aufgabe spricht besonders den Anforderungsbereich III an, indem sie dazu anregt, Entdeckungen, Vorgehensweisen und Lösungsstrategien zu verallgemeinern und auf größere Zahlenräume zu übertragen. Auf diese Weise können sich die Kinder in unterschiedlicher Tiefe, auf ihrem individuellen Niveau und mittels ihrer individuellen Denk- und Handlungskompetenzen mit dem gemeinsamen mathematischen Lerngegenstand auseinandersetzen, gleichzeitig ist die Arbeit an einem gemeinsamen Inhalt gewährleistet. Besondere Herausforderung im Bedingungsfeld inklusiver Mathematikunterricht hinsichtlich des mit- und voneinander Lernens Das Bedingungsfeld inklusiver Mathematikunterricht bringt, durch die erhöhte Heterogenitätsspanne, zwei besondere Herausforderungen hinsichtlich der Anregung interaktiv-kooperativer Lernsituationen mit sich, in denen erfolgreich mit- und voneinander gelernt wird: Durch die heterogenen Zugangsweisen in der ICH-Phase ist zu erwarten, dass die Kinder mit (stark) heterogenen Lösungsprodukten in den Austausch starten. Die Heterogenität besteht einerseits hinsichtlich der mathematischen Zugangsweisen und andererseits hinsichtlich der Anzahl der gefundenen Nachbarn und Nachbarsummen. Die damit einhergehende Herausforderung besteht darin, dass alle Kinder gleichermaßen Anerkennung und Würdigung erfahren. Sie müssen folglich dazu gebracht werden, die Quantität ihrer Produkte nicht zu vergleichen und auf-/abzuwerten, sondern sie gegenseitig wertzuschätzen und sich bei dem Vergleich ausschließlich auf die mathematischen Inhalte und Muster zu konzentrieren. Die besondere Herausforderung im inklusiven Mathematikunterricht liegt ferner darin, die (stark) heterogenen Zugänge und Lösungsprozesse für einen produktiven mathematischen Austausch inhaltlich zusammenzubringen und diese zu vernetzen. Das Eingangsbeispiel aus Kapitel 1, das aus der Pilotierungsphase der vorliegenden Untersuchung stammt, zeigt exemplarisch auf, dass die ‚reine’ Umsetzung der theoretischen Überlegungen aus Kapitel 2 zur Anregung erfolgreicher interaktiv-kooperativer Lernsituationen, in denen mitund voneinander gelernt wird, nicht ausreicht. Die Kinder müssen folglich überdies dazu gebracht werden, einen Nutzen und Sinn in der Zusammenarbeit zu sehen, um infolgedessen intrinsische Motivation zu entwickeln. Die Anregung von Interaktion ist aber nicht nur Herausforderung, sondern ebenso eine Notwendigkeit, um ‚Gemeinsames Mathematiklernen‘ im Sinne der Inklusion umzusetzen (vgl. Kap. 1.1.2) und um flexibles Rechnen zu entwickeln (vgl. Kap. 3.2). Unter anderem hinsichtlich dieser besonderen Herausforderungen bzw. Notwendigkeit wurden die theoretisch fundierten Design-Prinzipien aus Kapitel 5.1 ausgeschärft, um das Lehr-Lern-Arrangement mit Hilfe empiri-
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6 Ein Lehr-Lern-Arrangement
scher Erkenntnisse zu optimieren. Im Folgenden wird deren Konkretion thematisiert.
6.2
Design-Prinzipien und deren Konkretion
Anknüpfend an die Definition vom ‚Gemeinsamen Lernen‘ (vgl. Kap. 1.1.3) und an Ansätze zur ‚Integrativen Didaktik’ (vgl. Kap. 1.1.2, 1.2.2) wurden in Kapitel 5.1 drei übergeordnete Design-Prinzipien 39 abgeleitet, die in der Gesamtheit zur Anregung interaktiv-kooperativer Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht beitragen können, in denen alle Beteiligten individuell und zieldifferent lernen: ‚Gegenstandsreichhaltigkeit’, ‚Aufgabenbezogene Interaktionsanregung’ und ‚Zieldifferente Prozess- und Entwicklungsorientierung’. Diese drei übergeordneten Design-Prinzipien wurden im Laufe der Pilotierung und des ersten Erhebungszyklus empirisch ausgeschärft. Die daraus resultierenden sechs ausgeschärften Design-Prinzipien werden in diesem Kapitel genannt, da sie bei der Entwicklung des Lehr-Lern-Arrangements ‚Wir erforschen Nachbezahlen und ihre Summen‘ leitend waren. Jeweils zwei lassen sich einem übergeordneten Prinzip zuordnen: ‚Gegenstandsreichhaltigkeit‘: Design-Prinzip 1) ‚Strukturfokussierende Kontexteingrenzung‘ (DP1) Design-Prinzip 2) ‚Darstellungswechsel ermöglichen (DP2) ‚Aufgabenbezogene Interaktionsanregung‘: Design-Prinzip 3) ‚Vorgeschaltete individuelle Phase‘ (DP3) Design-Prinzip 4) ‚Extrinsische positive Interdependenz’ (DP4) ‚Zieldifferente Prozess- und Entwicklungsorientierung‘: Design-Prinzip 5) ‚Situativität und Allgemeinheit’ (DP5) Design-Prinzip 6) ‚Strukturfokussierende adressatengerechte Impulse’ (DP6) Die empirische Generierung dieser sechs Design-Prinzipien ist Gegenstand des Ergebniskapitels 9, in dem die empirische Auswertung und Interpretation gegenstandsspezifischer Lehr-Lernprozesse betrachtet wird. In den folgenden Kapiteln geht es zunächst allein um die Darlegung der Konkretion der DesignPrinzipien in Form von Design-Elementen. Durch die konkreten DesignElemente werden die Prinzipien im Lehr-Lern-Arrangement realisiert. Bei den folgenden Darlegungen ist das primäre Ziel, die Planung und Planungsziele des entwickelten Lehr-Lern-Arrangement weiterhin zu erläutert, indem die ausge-
39 Für allgemeine Informationen zu Design-Prinzipien (u. a. zur Definition und Funktion) vgl. Kapitel 4.2.2 und 9.1.
6.2 Design-Prinzipien und deren Konkretion
179
schärften Design-Prinzipien kurz definiert und deren Ziele sowie die Umsetzung im Lehr-Lern-Arrangement konkretisiert werden. 6.2.1 Gegenstandsreichhaltigkeit Design-Prinzip 1: ‚Strukturfokussierende Kontexteingrenzung’ Das Design-Prinzip ‚strukturfokussierende Kontexteingrenzung‘ intendiert, dass innerhalb einer mathematisch-inhaltlichen Komplexität der kontextuelle Rahmen eingegrenzt wird und dabei auf übergreifende mathematische Strukturen fokussiert wird, ohne die mathematische Komplexität einzuschränken. Ziel ist es, einerseits individuell-zieldifferente Zugänge und Lösungsprozesse innerhalb der mathematischen Komplexität zu ermöglichen und andererseits durch die Kontexteingrenzung inhaltliche Anknüpfungspunkte für eine mathematische Interaktion zu schaffen. Im Lehr-Lern-Arrangement der vorliegenden Arbeit wird das Design-Prinzip der ‚strukturfokussierenden Kontexteingrenzung’ durch die Fokussierung auf die Wahrnehmung und Nutzung komplexer Zahl- und Aufgabeneigenschaften und -beziehungen im Kontext der Nachbarzahlen realisiert. In diesem Fall bilden die arithmetischen Eigenschaften und Beziehungen (u. a. Teil-GanzesBeziehungen, Analogie-Beziehungen, Konstanzgesetze, Kommutativgesetz), die wahrgenommen und zum flexiblen Rechnen genutzt werden können, die mathematisch-inhaltliche Komplexität. Durch die Fokussierung auf die Nachbarzahlen und deren Summen wird innerhalb dieses Inhaltes wiederum auf bestimmte mathematische Strukturen fokussiert (vgl. Kap. 3.3), die den kontextuellen Rahmen eingrenzen. Die inhaltliche Komplexität der mathematischen Strukturen – also die mathematischen Eigenschaften, Beziehungen, Gesetze usw. – wird dadurch nicht eingeschränkt. Das soll einerseits eine Erkundung dieser mathematischen Strukturen unabhängig vom Zahlenraum, von Anforderungsbereich und Darstellungsebene ermöglichen (vgl. Kap. 6.1). Andererseits soll der Anknüpfungspunkt für einen erfolgreichen Austausch bei heterogenen Zugängen und Deutungen durch die strukturfokussierende Eingrenzung des Kontextes ‚Nachbarzahlen/-summen‘ bestehen bleiben, denn die zu entdeckenden und zu nutzenden arithmetischen Eigenschaften und Beziehungen bleiben gleich, unabhängig davon, welchen Zahlenraum und Zugang die Kinder wählen. Beispielsweise ermöglicht die Fokussierung auf die Nachbarzahlen auf der 20er-Tafel, dass die dargestellten arithmetischen Eigenschaften und Beziehungen auf die 100er-Tafel sowie darüber hinaus übertragen werden können. So gilt die Konstanz der Summe bei den diagonalen Nachbarn sowohl im Zahlenraum bis 20 als auch bis 100 und darüber hinaus (vgl. Kap. 6.1.1, Abb. 6.2 und Beispiele 1-3). Ebenso trägt die Beschränkung auf eine Nachbarart in der DU-Phase (horizontal, vertikal oder diagonal) als ein weiteres Design-Element zur Fokussie-
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6 Ein Lehr-Lern-Arrangement
rung bei. Dieser Fokus auf eine Nachbarart schließt nicht aus, dass die anderen Arten in einem nächsten Schritt ebenfalls erforscht werden können. Vielmehr macht sie die arithmetischen Eigenschaften und Beziehungen erst sichtbar. Die Doppellupe/Schablone unterstützt dabei sowohl die Wahrnehmung der mathematischen Muster und Strukturen als auch den Austausch, indem sie das Gesagte visuell unterstützt (vgl. Kap. 6.1.3). Die ausgeschnittenen Aufgabenkarten (vgl. Abb. 6.4) erlauben es, Sortierungen vorzunehmen, wodurch ebenso arithmetische Muster und Strukturen leichter wahrgenommen werden können. Außerdem tragen sie dazu bei, verschiedene Darstellungen zu verknüpfen (enaktiv, ikonisch, symbolisch, verbal-symbolisch). Durch die Aufforderung, die verschiedenen Nachbarn in unterschiedlichen Farben bzw. auf unterschiedlich gefärbte Karten (gedruckte Graustufen oder farbiges Papier) zu schreiben, entsteht bei der Auswahl kein großer Zeitverlust. Design-Prinzip 2: ‚Darstellungswechsel ermöglichen‘ Das Design-Prinzip ‚Darstellungswechsel ermöglichen‘ intendiert, dass das ‚Inbeziehungsetzen‘ verschiedener Darstellungen und Darstellungsebenen (Darstellungswechsel) ermöglicht wird. Die Ermöglichung und Anregung des Darstellungswechsels hat zum Ziel einerseits im Sinne einer ‚natürlichen Differenzierung‘ die Funktion der ‚Rechenhilfe‘, und ‚Lernhilfe‘ (individuellzieldifferent) sowie der ‚Kommunikationshilfe‘ (interaktiv-kooperativ) einzunehmen (vgl. u. a. Krauthausen, 2018; Schipper, 2009; Wartha & Schulz, 2014). Darüber hinaus soll das ‚Inbeziehungsetzen‘ andererseits – im Hinblick auf die Interaktionsanregung im inklusiven Partnersetting –‚Interaktionshilfe‘ sein, indem nicht nur die verschiedenen Darstellungen und Darstellungsebenen in Beziehung gesetzt werden, sondern dadurch ebenso inhaltlicher Bezug zwischen den heterogenen Zugängen, Deutungen und Lösungsprozessen hergestellt werden kann. Dies soll unterstützen, dass die Kinder in Interaktion treten können. Der Darstellungswechsel ist also Mittel, um heterogene Zugänge und Deutungen in Beziehung zu setzen und soll – neben den Funktionen als ‚Rechenhilfe‘, ‚Lernhilfe‘ und ‚Kommunikationshilfe‘ – ebenso die Funktion einer ‚Interaktionshilfe‘ erfüllen. In dem Lehr-Lern-Arrangement der vorliegenden Arbeit wird das DesignPrinzip ‚Darstellungswechsel ermöglichen’ durch die in Abbildung 6.5 dargestellten Design-Elemente konkretisiert. Durch diese Elemente (für eine genauere Erläuterung vgl. Kap. 6.1.3) wird der Übersetzungsprozess zwischen den Ebenen ermöglicht und herausgefordert. Die Aufgabenkarten (Abb. 6.4) tragen beispielsweise einerseits zur ‚natürlichen Differenzierung‘ bei und können als ‚Rechenhilfe‘ fungieren. Durch sie können die gefundenen Nachbarzahlen und die dazugehörigen Additionsaufgaben in der individuellen Arbeitsphase wahlweise enaktiv, ikonisch oder symbolisch gelöst und anschließend ikonisch und/oder symbolisch festgehalten werden. Die Karten dienen ebenso als ‚Lern-
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6.2 Design-Prinzipien und deren Konkretion
hilfe‘, da durch die angeregten Übersetzungsprozesse der Grundvorstellungsaufbau unterstützt werden kann. Die Sammlung dieser Aufgabenkarten in der gemeinsamen Arbeitsphase kann zur Verknüpfung der heterogenen inhaltlichen Zugänge, Deutungen und Lösungsprozesse aus der ICH-Phase beitragen. Die Aufgabenkarten bieten folglich durch das ‚Inbeziehungsetzen‘ verschiedener Darstellungen/Darstellungsebenen einen Anknüpfungspunkt für einen mathematisch inhaltlichen Austausch, wodurch – trotz ‚Gegenstandsreichhaltigkeit’ – ein produktives mit- und voneinander Lernen von heterogenen Partnern begünstigt wird. Die verschiedenen Visualisierungen unterstützen im Zuge dessen das gegenseitige inhaltliche Verstehen und Folgen der Äußerungen (‚Argumentations- und Kommunikationshilfe‘). Was hier beispielhaft am Design-Element der Aufgabenkarten erläutert wurde, ist ebenso auf die weiteren Design-Elemente aus Abbildung 6.5 zu übertragen. Sie stellen im Lehr-Lern-Arrangement allesamt Darstellungsmittel dar, die den Darstellungswechsel ermöglichen und so das Lernen, Rechnen, Argumentieren und Kommunizieren unterstützen sowie Mittel sind, um heterogene Zugänge und Deutungen in Beziehung zu setzen. Bilder (ikonisch)
sprachliche Symbole
mathematische Symbole (symbolisch)
(verbal‐symbolisch)
Handlungen mit Material (enaktiv)
Abbildung 6.5:
Wechsel zwischen Darstellungen und Darstellungsebenen (i. A. a. ein Modell nach Kuhnke, 2013, S. 32; vgl. Abb. 9.4)
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6 Ein Lehr-Lern-Arrangement
6.2.2 Aufgabenbezogene Interaktionsanregung Anknüpfend an die Definition vom interaktiv-kooperativen Lernen (vgl. Kap. 2.1.1) zielt die Anregung dessen darauf, dass die Kinder sich gemeinsam mit einer reichhaltigen Aufgabe auseinandersetzen und dabei möglichst aufgabenbezogen interagieren, dass sie dabei durch Interaktionshandlungen möglichst häufig aufeinander Bezug nehmen, indem sie u. a. eigene Ideen und Eindeckungen äußern und erklären, Fragen stellen, sich gegenseitig helfen, begründen sowie Ideen anderer hinterfragen und ggf. weiterentwickeln, dass die wechselseitige Beziehungsstruktur in der Interaktion so weit wie möglich symmetrisch ist und unter einer gemeinsamen Zielsetzung stattfindet. Diese Aspekte hat das übergeordnete Prinzip ‚aufgabenbezogene Interaktionsanregung’ zum Ziel, das durch zwei konkretere Design-Prinzipien ausgeschärft und ausdifferenziert wird – die ‚vorgeschaltete individuelle Phase’ und die ‚extrinsische positive Interdependenz’. Design-Prinzip 3: ‚Vorgeschaltete individuelle Phase‘ Das Design-Prinzip ‚vorgeschaltete individuelle Phase‘ intendiert, dass eine individuelle Auseinandersetzung mit dem gemeinsamen mathematischen Inhalt vor der interaktiv-kooperativen Phase angeregt wird. Das Design-Prinzip 3 soll dazu beitragen, dass – anknüpfend an die jeweilige Lernausgangslage – allen die Entwicklung individueller Zugänge und Lösungsprozesse ermöglicht wird, die für ein Sich-Einbringen in die Interaktion und folglich für eine aufgabenbezogene und phasenweise symmetrische Interaktion unabdingbar sind. Das SichEinbringen-Können soll in weiterer Folge zur Anerkennung und Wertschätzung beitragen. Im Lehr-Lern-Arrangement der vorliegenden Arbeit wird das Design-Prinzip der ‚vorgeschaltete individuelle Phase‘ durch das Design-Element der ICH-DUWIR-Methode umgesetzt. Durch die strukturierte Interaktionsform erhalten die Kinder – entlang transparenter Arbeitsschritte – zunächst Gelegenheit, sich individuell mit der substantiellen und natürlich-differenzierenden Aufgabe zu den Nachbarzahlen und deren Summen auseinanderzusetzen (vgl. ICHForscherauftrag in Abb. 6.3), bevor sie in den Austausch treten. So erhalten sie die Chance, anknüpfend an ihre jeweiligen Lernausgangslagen, individuelle Zugänge und Lösungsprozesse zu entwickeln, die für ein späteres Einbringen in die Interaktion und folglich für einen aufgabenbezogenen Austausch unabdingbar sind. Jedes Kind erhält die Chance, gefundene Nachbarn – mit oder ohne der zugehörigen Nachbarsumme – in die DU-Phase zu bringen. Es können so folglich alle einen Beitrag leisten, indem Gedanken und Ergebnisse aus der ICH-
6.2 Design-Prinzipien und deren Konkretion
183
Phase mitgebracht werden. Eine zusätzliche ‚extrinsische positive Interdependenz’ (s. u., Design-Prinzip 4) unterstützt, dass diese individuellen und heterogenen Zugänge und Lösungsprozesse anschließend für einen sinnstiftenden und produktiven Austausch in der DU-Phase zusammengebracht werden können. Durch diesen didaktischen Zusatz soll unterstützt werden, dass alle mitgebrachten Gedanken und Ergebnisse aus der ICH-Phase Würdigung erfahren. Das Sich-Einbringen-Können kann folglich weiterhin zur Anerkennung und Wertschätzung aller Beteiligten beitragen. Durch die ICH-DU-WIR-Methode wird jedoch nicht nur eine aufgabenbezogene Interaktion über die Zahl- und Aufgabeneigenschaften und -beziehungen im Kontext der Nachbarzahlen ermöglicht und strukturiert. Vielmehr unterstützt der mathematische Austausch über einen gemeinsamen Gegenstand ebenso das Durchdringen dieser komplexen arithmetischen Eigenschaften und Beziehungen, indem sich die Kinder durch eine fruchtbare Interaktion gegenseitig anregen können, sich Dinge erklären können, Fehler gegenseitig korrigieren können. Design-Prinzip 4: ‚Extrinsische positive Interdependenz‘ Das Design-Prinzip ‚extrinsischen positive Interdependenz‘ intendiert, dass durch ein gemeinsames transparentes Ziel, das nur gemeinsame erreicht werden kann (hier: Zielabhängigkeit mit Reihenfolge- und Materialabhängigkeit), von außen eine didaktisch geplante positive Interdependenz angeregt wird. Diese ‚extrinsische positive Interdependenz‘ soll ausschlaggebend dafür sein, dass sich eine emotionale und inhaltliche Verbundenheit zwischen den heterogenen Partnern entwickelt. Diese Verbundenheit soll dazu führen, dass die Kinder einen emotionalen Nutzen und eine Sinnstiftung in der Interaktion sehen und infolgedessen intrinsische Motivation zur Zusammenarbeit entwickeln, um das gemeinsame Ziel zu erreichen. Eine Zusammenarbeit mit einer aufgabenbezogenen und möglichst symmetrischen Interaktion über die unterschiedlichen Produkte und Gedanken aus der ICH-Phase kann in weiterer Folge zur Anerkennung und Wertschätzung der beteiligten Kinder beitragen. Im Lehr-Lern-Arrangement der vorliegenden Arbeit wird das Design-Prinzip der ‚extrinsische positive Interdependenz‘ durch die drei Abhängigkeitsarten – Ziel-, Reihenfolge-, Materialabhängigkeit – realisiert. Diese drei Möglichkeiten der Abhängigkeit hängen eng miteinander zusammen und sollen in Kombination zur extrinsischen positiven Interdependenz beitragen: Das gemeinsame Ziel besteht darin, dass in der DU-Phase möglichst alle Nachbarzahlen und ihre Summen auf der 20er-Tafel gefunden werden sollen. Die Aufgabe aus der vorgeschalteten individuellen ICH-Phase, dass jedes Kind einen (unterschiedlichen) Teil der 20er-Tafel erforschen soll, trägt zur Abhängigkeit bei (Zielabhängigkeit). Um gemeinsame erfolgreich zu sein und das Ziel der DU-Phase zu erreichen, leisten folglich die individuellen Produkte beider Partner einen essenziellen Beitrag, da sie unterschiedlich und daher beide zur
184
6 Ein Lehr-Lern-Arrangement
Zielerreichung wichtig sind. Durch die Transparenz der Arbeitsschritte ist den Partnern bewusst, dass nur gemeinsam ein zufriedenstellendes Ergebnis erreicht werden kann, was zur Folge hat, dass ein Verbundenheits- und Verantwortungsgefühl entstehen kann und alle motiviert werden, einen Beitrag zum Gesamtergebnis zu leisten. Hierdurch soll bei den Kindern das Gefühl eines emotionalen Nutzens und einer sinnstiftenden Zusammenarbeit angeregt werden. Darüber hinaus sollen die Partner durch die gewichtige Bedeutung ihrer jeweiligen Beträge in der interaktiv-kooperativen Lernsituation Anerkennung und Würdigung erfahren. Im engen Zusammenhang damit steht die Reihenfolgeabhängigkeit, die durch die ICH-DU-WIR-Methode und die transparente Reihenfolge der Arbeitsschritte hergestellt wird. Die Gesamtaufgabe ist so strukturiert, dass sie in einzelnen Schritten gelöst wird. Jeder Partner übernimmt einen Teil – einen Teil der 20er-Tafel – und bereitet damit eine Grundlage vor, auf der anschließend gemeinsam weitergearbeitet werden kann. Durch die Transparenz dieser Reihenfolge soll zum Verbundenheits- und Verantwortungsgefühl sowie zur Motivation beigetragen werden. So stellen die Strukturierung und Transparenz des Ablaufes zwei unterstützende Aspekte bei der erfolgreichen Anregung interaktivkooperativen Lernens dar, besonders für Kinder mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf ‚Lernen’ (vgl. Kap. 2.2.1 und 2.2.2). Die Materialabhängigkeit ergibt sich aus der Ziel- und Reihenfolgeabhängigkeit und besteht durch die gemeinsame Nutzung der Materialien in der DUPhase. Jeder Partner besitzt einen Teil des notwendigen Materials, hier ein Teil der notwendigen Aufgabenkarten mit den gefundenen Nachbarzahlen und Summen. Erst das Zusammenspiel dieses Materials ermöglicht das Erreichen eines zufriedenstellenden Ergebnisses. Die Kinder sollen dadurch die Erfahrung machen können, dass Zusammenarbeit sinnvoll ist, da durch das anschließende Zusammenfügen der Ergebnisse neue mathematische Strukturen und Muster sichtbar werden, die sie selbst zuvor vielleicht noch nicht entdecken konnten. Die Ausführungen verdeutlichen, dass die drei Abhängigkeitsarten eng miteinander verbunden und nicht trennscharf zu betrachten sind. Im Zusammenspiel sollen sie eine ‚extrinsische positive Interdependenz’ schaffen, die es ermöglicht, dass die Kinder dazu gebracht werden, einen emotionalen Nutzen und eine Sinnstiftung in der Zusammenarbeit zu sehen, um infolgedessen intrinsische Motivation zu entwickeln. Darüber hinaus sollen die Partner durch die gewichtige Bedeutung ihrer jeweiligen Beträge in der interaktiv-kooperativen Lernsituation Anerkennung und Würdigung erfahren. So soll erreicht werden, dass die heterogenen inhaltlichen Zugänge und Lösungsprozesse für einen produktiven mathematischen Austausch zusammengebracht werden und es zu einer aufgabenbezogenen Interaktionsanregung kommen kann.
6.2 Design-Prinzipien und deren Konkretion
185
6.2.3 Zieldifferente Lernprozess- und Entwicklungsorientierung Zur Realisierung einer ‚zieldifferenten Lernprozess- und Entwicklungsorientierung’, nicht nur in Phasen der Individualisierung, sondern auch in interaktiv-kooperativen Phasen, wurde dieses übergeordnete Prinzip ebenfalls in zwei konkretere Design-Prinzipien ausdifferenziert: Design-Prinzip 5: ‚Situativität und Allgemeinheit‘ Das Design-Prinzip ‚Situativität und Allgemeinheit‘ (i. A. a. Mayer, 2018; vgl. dazu Kap. 9.4.1) intendiert, dass eine konkret-situative und gleichzeitig eine zunehmend allgemeine Auseinandersetzung mit der gemeinsamen Aufgabenstellung ermöglicht wird. Ziel dabei ist es, allen Kindern individuelle-zieldifferente Zugänge und Deutungen im Kontext der gemeinsamen Aufgabenstellung zu gewähren, sowie deren Weiterentwicklung zu unterstützen. Die individuellzieldifferenten Zugänge und Deutungen – entlang einer Spannweite zwischen einer Situativität am konkreten Zahlenmaterial bis hin zur allgemeinen Deutung von arithmetischen Eigenschaften und Beziehungen – sollen in weiterer Folge dazu beitragen, dass sich alle Kinder in die aufgabenbezogene Interaktion einbringen sowie sich entlang dieser Spannweite weiterentwickeln können. Im Lehr-Lern-Arrangement der vorliegenden Arbeit soll eine substantielle Aufgabenstellung konkret-situative Bearbeitungsmöglichkeiten nah an der Aufgabenstellung und am konkreten Zahlenmaterial (u. a. suchen, ausrechnen, sammeln, ordnen) ermöglichen, um eine niedrige Einstiegsschwelle zu gewährleisten. Gleichzeitig werden durch die Aufgabe ebenso allgemeine Bearbeitungsmöglichkeiten herausgefordert (u. a. wahrnehmen und nutzen arithmetischer Beziehungen, reflektieren, begründen, verallgemeinern). Besonders der optionale vertiefende ICH-Forscherauftrag regt Letzteres an (vgl. Kap. 6.1.3). Hierdurch ergeben sich beispielsweise folgende Aspekte bezüglich der ‚Situativität und Allgemeinheit’ für das Lehr-Lern-Arrangement ‚Wir erforschen Nachbarzahlen und ihre Summen‘:
186
Situativität
6 Ein Lehr-Lern-Arrangement
konkret-situativ konkretes Zahlenmaterial
zunehmend allgemein zunehmendes Ablösen vom konkreten Zahlenmaterial
Allgemeinheit
zunehmend allgemeine Deutungen
suchen wahrnehmen arithmetische Ordnungssysteme ausrechen arithmetischer Eigenschaften und reflektieren sammeln Eigenschaften und Beziehungen ordnen Lösungswerkzeuge Beziehungen begründen und nutzen reflektieren verallgemeinern isolierte arithmetischer Lösungswerkzeuge auf Betrachtung Eigenschaften und größere Zahlenräume einzelner Aufgaben Beziehungen übertagen
Abbildung 6.6:
Die Spannweite zwischen einer konkret-situativen Aufgabenbearbeitung am konkreten Zahlenmaterial bis hin zu allgemeinen Deutungen von arithmetischen Eigenschaften und Beziehungen (vgl. auch Korten, 2018b)
Entlang dieser Spannweite zwischen einer konkret-situativen Bearbeitung am konkreten Zahlenmaterial bis hin zur allgemeinen Deutung von arithmetischen Eigenschaften und Beziehungen können die Kinder die substantielle Aufgabe bearbeiten und sich individuell weiterentwickeln sowie sich in die Interaktion einbringen. Design-Prinzip 6: ‚Strukturfokussierende adressatengerechte Impulse‘ Das Design-Prinzip ‚strukturfokussierende adressatengerechte Impulse‘ intendiert, dass verbale oder nonverbale didaktische Impulse seitens der Lehrkraft situationsangemessen und adressatengerecht sowie auf mathematische Strukturen und Muster fokussierend gegeben werden, indem u. a. zum genauen Hinschauen, Erklären und Hinterfragen aufgefordert wird. Diese verbalen oder nonverbalen ‚strukturfokussierenden adressatengerechten Impulse‘ sollen seitens der Kinder ‚Mentale Aktivitäten‘ anregen (u. a. Beginn des Fokussierens, Nachdenkens und Reflektierens sowie das Wecken einer Fragehaltung hinsichtlich der Eigenschaften und Beziehungen der Zahlen und Aufgaben), auf die ‚interaktive Schlüsselaktivitäten‘ (u. a. mathematische Beschreibungen, Erklärungen, Begründungen und Argumentationen) folgen können, die Anzeichen für eine fruchtbare Interaktion und einen Lernprozess sein können (vgl. Kap. 7.2.2). Im Lehr-Lern-Arrangement der vorliegenden Arbeit wird zwischen nonverbalen Impulsen durch die Aufgabenstellung und verbalen Impulsen durch situatives Eingreifen der Lehrkraft unterschieden: Die nonverbalen Impulsen seitens der Lehrkraft ergeben sich indirekt durch die didaktische Planung und die Ver-
6.2 Design-Prinzipien und deren Konkretion
187
ankerung der Impulse in der Aufgabenstellung. Durch die Art der Aufgabenstellungen – „Gehe möglichst geschickt vor.“, „Fällt dir etwas auf?“, „Sammelt und ordnet... ergänzt“, „Welche Entdeckungen habt ihr gemacht?“, „Helfen euch eure Entdeckungen beim geschickten Rechnen?“ (vgl. Abb. 6.3) – werden strukturfokussierende Impulse gegeben, auf die individuell reagiert werden kann (‚natürliche Differenzierung‘). Der vertiefende Arbeitsauftrag „Gelten deine Entdeckungen auch auf der 100er-Tafel?“ (vgl. Kap. 6.1.3) enthält einen zusätzlichen Impuls, der an leistungsstärkere Kinder adressiert ist und auf die Begründung und Verallgemeinerung der Strukturen fokussieren. Des Weiteren regt die Lehrkraft durch verbale Impulse in Form von fragendem, unterstützendem, aufforderndem, herausforderndem und überprüfendem sowie strukturierendem Eingreifen zur näheren Auseinandersetzung mit mathematischen Strukturen an. Diese können sich auf beide Partner beziehen oder an einzelne Kinder adressiert sein. Durch andere verbale Impulse strukturiert sie Äußerungen der Kinder, gliedert diese und setzt sie zueinander in Beziehung. Diese verbalen ‚strukturfokussierenden adressatengerechten Impulse‘ sind charakterisiert durch situatives, gezieltes Handeln der Lehrkraft. Als besonders interaktions- und lernprozessanregend können im Rahmen des Lehr-LernArrangements folgende Impulse wirken (vgl. auch Kap. 7 ‚Impulse aus Sicht der Lehrkraft’): Fragend-unterstützende und auffordernd-unterstützende Impulse überwiegend bei Kindern mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf ‚Lernen’ Beispiele: Schau noch einmal genau hin!, Was verändert sich an Stelle x?, Welche Aufgabe hilft?, Lege/male/schreibe die Aufgabe auf!, Kannst du das auf einen Blick sehen?, Versuch es, ohne einzeln zu zählen! Fragend-herausfordernde und auffordernd-herausfordernde Impulse überwiegend bei Kindern ohne sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf ‚Lernen’ Beispiele: Hilft dir das beim Rechnen?, Was fällt dir auf? Beschreibe!, Warum ist das so? Begründe!, Ist das immer so? War das geschickt? Warum?, Wie geht es weiter? Impulse, die aufgabenbezogene Äußerungen und mathematische Darstellungen in Beziehung setzen Beispiele: Passt das zusammen?, Was hat „a“ mit „b“ zu tun?
188
6 Ein Lehr-Lern-Arrangement
Diese verbalen und nonverbalen Impulse sind allesamt nicht direkt lösungsprozessunterstützend. Vielmehr sind es offene Fragen, die Kindern die Gelegenheit geben sollen, „ihre Einsichten und Deutungen zu zeigen und argumentativ zu entwickeln“ (Häsel-Weide, 2016a, S. 53). Sie sollen folglich eher interaktionsprozessunterstützend sein. Die Impulse der Lehrkraft können zwar unterstützen, trotzdem müssen die Kinder den Interaktionsprozess selbst aktiv mitgestalten, um erfolgreich interaktiv-kooperativ lernen zu können. Der hiermit abschließende Teil B (‚Unterrichtsdesignentwicklung‘) der vorliegenden Arbeit hatte zum Ziel, die theoretisch und empirisch fundierte Entwicklung des Lehr-Lern-Arrangement ‚Wir erforschen Nachbarzahlen und ihre Summen‘ aufzuzeigen und zu begründen. Damit einhergehend wurden die Design-Prinzipien zur Anregung erfolgreicher interaktiv-kooperativer Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht kurz vorgestellt und durch DesignElemente konkretisiert. Dieses Lehr-Lern-Arrangement bildet den Gegenstand für die Durchführung und Auswertung der iterativen Design-Experimente, um die es im folgenden Teil C (‚Durchführung und Auswertung der DesignExperimente‘) gehen wird.
Teil C: Durchführung und Auswertung der Design-Experimente 7
Methoden der Datenerhebung und -auswertung „Die Dokumentation der in den Design-Experimenten beobachteten Lernprozesse und deren Auswertung vor dem Hintergrund der im LehrLernarrangement intendierten Lernprozesse und anvisierten Lernziele bilden eine erste Schicht einer empirisch gestützten lokalen Lehr-Lern-Theorie zu dem in den Blick genommenen Lerngegenstand. [...] In jedem folgenden Zyklus der Entwicklung und Erforschung wird diese lokale Lehr-Lern-Theorie den Ergebnissen der Design-Experimente folgend verändert, weiter ausdifferenziert und zunehmend empirisch abgesichert.“ (Prediger et al., 2012, S. 455)
Das Kapitel 7 greift die forschungsmethodischen Grundlagen aus Kapitel 4 auf, in dem es zunächst um die Generierung der Forschungsfragen sowie die daraus abgeleitete Begründung des allgemeinen methodischen Forschungszugangs ging. Eine diesbezügliche Konkretisierung soll an dieser Stelle erfolgen, indem die projektspezifische Methodenauswahl der Datenerhebung und -auswertung erläutert und begründet wird. Hierfür wird in Kapitel 7.1 zunächst die Datenerhebung mittels iterativ durchgeführter Design-Experimente für dieses Projekt dargelegt. Zu diesem Zweck werden die Forschungsschwerpunkte der einzelnen iterativen Zyklen beleuchtet (Kap. 7.1.1), bevor der konkrete Aufbau und Ablauf der Design-Experimente beschrieben (Kap. 7.1.2) und das theoretische Sample begründet werden (Kap. 7.1.3). Das Kapitel 7.2 widmet sich im Anschluss daran der Auswertung der in den Design-Experimenten erhobenen Daten, indem zunächst auf die Grobanalyse eingegangen wird (Kap. 7.2.1), bevor die Werkzeuge der Feinanalyse im Detail erläutert werden (Kap. 7.2.2). Ziel hierbei ist u. a. die Begründung und Erläuterung des interpretativ-epistemologisch orientierten Analyseansatzes interaktiver Wissenskonstruktion. Zuletzt geht es um die Gütekriterien interpretativ-qualitativer Datenanalysen und deren Erfüllung im Rahmen dieser Arbeit (Kap. 7.2.3).
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Korten, Gemeinsame Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht, Dortmunder Beiträge zur Entwicklungund Erforschung des Mathematikunterrichts 44, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30648-9_8
190
7.1
7 Methoden der Datenerhebung und -auswertung
Datenerhebung durch iterativ durchgeführte Design-Experimente
7.1.1 Forschungsschwerpunkte der iterativen Zyklen Der zyklische Forschungsprozess umfasste eine Pilotierungsphase und DesignExperimente in drei Zyklen, die in den Jahren 2015 und 2016 durchgeführt wurden. Wie aus Tabelle 7.1 ersichtlich wird, gab es in jedem Zyklus unterschiedliche Schwerpunkte hinsichtlich des Forschungs- und Entwicklungsinteresses. Durch die grau gefärbten Klammern wird jeweils ein direkter Bezug zu den einzelnen Forschungsfragen auf Forschungs- und Entwicklungseben aus Kap. 4.1.2 hergestellt. Während zunächst der Schwerpunkt der Analyse auf der Weiterentwicklung des Lehr-Lern-Arrangements und der Ausschärfung der Design-Prinzipien lag, wurde zu einem späteren Zeitpunkt auf die lokalen Lern-Theorien zu den initiierten Lern- und Interaktionsprozessen fokussiert. Diese wurden anschließend zusammen mit den Lehrprozessen als Gesamtheit betrachtet, um lokale Lehr-Lern-Theorien zu generieren. Hierbei ging es zu keinem Zeitpunkt um eine ausschließliche Fokussierung. Vielmehr wurde jederzeit ein ganzheitlicher Blick eingenommen, da sich die Ebenen gegenseitig bedingten, sodass sich in jedem folgenden Zyklus der Entwicklung und Erforschung erste lokale Lehr-LernTheorien veränderten, weiter ausdifferenzierten und zunehmend empirisch abgesichert wurden (vgl. Eingangszitat). Jedoch wurden dabei die Daten zu unterschiedlichen Zeitpunkten an verschiedenen Stellen bis in die Tiefe beleuchtet, woraus sich die angesprochenen Schwerpunkte ergaben. Tabelle 7.1: Übersicht über die zyklischen Design-Experimente mit deren Forschungs- und Entwicklungsinteressen sowie daraus resultierende Schwerpunkte der Analyse
DesignExperimente in Zyklus
Stichprobe
Forschungsinteresse
Entwicklungsinteresse
Pilotierung geeigneter Aufgaben (Klasse 2, 2 Paare) Design des Lehr-Lern-Arrangements ‚Wir erforschen Nachbarn und ihre Summen‘ 1 Mai 2015
Klasse 2, 4 (6) Paare40
Ausschärfung des Forschungsinteresses (F)
Ausschärfung der Design-Prinzipien (EF1, EF2)
Erste Einsichten in die individuellen Zugänge und
Kritische Reflexion der Realisierung der Design-
40 Aufgrund von Krankheitsfällen haben nicht alle Kinderpaare an der kompletten Ergebung teilnehmen können, sodass sich an einigen Stellen in dieser Tabelle die Anzahlen der Probanden reduzieren.
7.1 Datenerhebung durch iterativ durchgeführte Design-Experimente
Lösungsprozesse sowie die Interaktionen der heterogenen Partner gewinnen, um 1. Aussagen über die Wirksamkeit des Lehr-LernArrangement machen zu können und 2. um aus der Literatur bekannte Theorien und Kategorien für ein Analyseinstrument ausschärfen zu können (FF1) (FF2)
191 Prinzipien in Form von Design-Elementen: Welche Design-Elemente sind zielführend und welche begrenzen die Interaktion und die interaktiven Lernprozesse? Wie können die individuell-zieldifferenter Lernprozesse produktiv zusammengebracht werden? (EF2)
Analyseschwerpunkt: Grobanalyse der Design-Experimente mit darauffolgender Weiterentwicklung des Lehr-Lern-Arrangements durch Ausschärfung der Design-Prinzipien (vgl. Kap.6). Weiterentwicklung und Festlegung der endgültigen Analyseinstrumente für die Grobund Feinanalyse (vgl. 7.2.1 und 7.2.2). Erforschung individuellzieldifferenter Lernprozesse: Welche individuellen Zugänge und Lösungsprozesse entwickeln die Kinder (ICHPhase)? Wie entwickeln sich diese in der interaktivenkooperativ Phase (DUPhase) weiter? (FF1)
2(a) Oktober 2015
Klasse 3, 4 Paare
Erforschung der Interaktionsprozesse: Welche interaktiven Strukturen lassen sich in der interaktivenkooperativ Phase (DU) rekonstruieren? (FF2) Inwiefern gibt es einen Zusammenhang zwischen den interaktiven Strukturen und der Weiterentwicklung individueller Zugänge und Lösungsprozesse? Wie beeinflussen diese interaktiven Strukturen die individuellen Lernprozesse? (FF3)
Detailliertere Betrachtung der Wirkung der Design-Elemente als Realisierung der DesignPrinzipien: Welche Wirkungen zeigen bestimmte Design-Elemente in den Design-Experimenten? Wie tragen die DesignElemente dazu bei, die intendierten Ziele des Lehr-Lern-Arrangements zu erreichen? Welche theoretischen Argumente liegen dem Design-Element zu Grunde und stützen es? Wie lassen sich daraus empirisch und theoretisch gestütztes DesignPrinzipien ableiten? (EF2)
192
7 Methoden der Datenerhebung und -auswertung
Analyseschwerpunkt: Grobanalyse der Design-Experimente mit Auswahl interessanter Szenen für die Feinanalyse (vgl. 7.2.1 und 7.2.2). Ziel: erste lokale Theoriebildung zu Lern-, Interaktions- und Lehr-Lernprozessen s. 2(a) für weitere Fälle einer anderen Herkunftsschule (Erprobung im anderen Kontext) 2(b) Januar 2016
Klasse 3, 1 Paar
Klasse 2, 3 (4) PaareFehler! Textmarke nicht definiert.
Wie lassen sich aus den bisherigen Erkenntnissen zielführenden Gestaltungsmerkmale in Form von prognostischen Theorieelemente formulieren? (EF3)
Analyseschwerpunkt: Grobanalyse der Design-Experimente mit Auswahl interessanter Szenen für die Feinanalyse (vgl. 7.2.1 und 7.2.2). Ziel: Ausschärfung der ersten lokalen Theorien zu Lern-, Interaktions- und LehrLern-prozessen für weiter Fälle in anderem Kontext (u. a. vergleichende und kontrastierende Analysen).
3 Juni 2016
s. 2(a) für weitere Fälle einer anderen Herkunftsschule (Erprobung im anderen Kontext)
s. 2(b) für weiter Fälle einer anderen Herkunftsschule (Erprobung im anderen Kontext)
s. 2(b) für weiter Fälle einer anderen Herkunftsschule (Erprobung im anderen Kontext)
Analyseschwerpunkt: Grobanalyse der Design-Experimente mit Auswahl interessanter Szenen für die Feinanalyse (vgl. 7.2.1 und 7.2.2). Ziel: Testung der Übertragbarkeit der lokalen Theorien zu Lern-, Interaktions- und Lehr-Lern-prozessen auf weitere Fälle in anderem Kontext (u. a. vergleichende und kontrastierende Analysen).
Die Design-Experimente in jedem Zyklus wurden videographiert und die in der Grobanalyse (vgl. Kap. 7.2.1) ausgewählten potenziell interessanten Sequenzen wurden transkribiert. Das gesamte Datenmaterial – insgesamt bestehend aus diesen Videos und den transkribierten Videosequenzen – dient als Grundlage der
7.1 Datenerhebung durch iterativ durchgeführte Design-Experimente
193
Auswertung, die aus zwei Perspektiven vorgenommen wird: aus einer epistemologischen Perspektive sowie aus einer interaktionistischen Perspektive (vgl. Kap. 7.2.2). Die Design-Experimente wurden in einem separaten Raum außerhalb des jeweiligen Klassenzimmers durchgeführt und aus zwei Blickrichtungen videographiert. So konnte gewährleistet werden, dass eine Videokamera die Mimik und Gestik der Kinder fokussierte. Gleichzeitig war eine zweite Kamera auf den Tisch gerichtet, um das Material und die Handlungen der Kinder festzuhalten. Der inhaltliche Aufbau sowie der Ablauf der Design-Experimente werden nachfolgend beschrieben und begründet. 7.1.2 Aufbau und Ablauf der Design-Experimente Jedes der Design-Experimente besteht aus vier Phasen (vgl. Abb. 7.1), in denen die Kinder die Aufgaben des Lehr-Lern-Arrangements ‚Wir erforschen Nachbarzahlen und ihre Summen‘ (vgl. Kap. 5, 6; Korten, 2018a) weitgehend selbständig bearbeiten. Die Phasen finden in aufeinanderfolgenden Mathematikstunden statt, da sie wie eine Unterrichtsreihe im Schulalltag aufeinander aufbauen41. Die Verfasserin dieser Arbeit fungiert in den Design-Experimenten einerseits als Lehrerin, um den Kindern den Lernanlass, Anreize und Impulse sowie Hilfestellung zu geben. Andererseits fungiert sie als Forscherin, um durch Beobachten und gezieltes Nachfragen mehr über die Zugänge sowie die Denk- und Lösungsprozesse zu erfahren (vgl. Kap. 4.2.3). Nach einem gemeinsamen Einstieg in das Thema erforschen die Kinder die Nachbarzahlen und ihre Summen zunächst individuell, um eigene Zugänge und Lösungsprozesse zu entwickeln. Diese vorgeschaltete individuelle Phase (ICHPhase) bildet gemeinsam mit den folgenden interaktiv-kooperativen Lernsituationen (DU-Phase) die interaktionsanregende Arbeitsphase. Abschließend erfolgt eine gemeinsame Reflexion (WIR-Phase). Im Folgenden werden diese einzelnen Phasen der Design-Experimente dargestellt. Dabei wird jeweils auf die in der Phase verfolgten Ziele auf Entwicklungs- und auf Forschungsebene eingegangen.
41 In einigen Klassen standen für die Umsetzung aus schulorganisatorischen Gründen 60 oder 90 Minuten für den Mathematikunterricht zur Verfügung, sodass zwei Phasen an einem Tag stattfanden.
194
7 Methoden der Datenerhebung und -auswertung
Gemeinsamer Einstieg
Interaktionsanregende Arbeitsphase(n)
1. Gemeinsamer Einstieg Einführung in das Thema des Lehr-LernArrangements Kennenlernen der Materialien und des Wortschatzes
2. Vorgeschaltete individuelle Phase (ICH)
3. Interaktiv‐kooperative Phase (DU)
4. Gemeinsame Reflexion (WIR)
Bearbeitung einer substantiellen Aufgabe
Bearbeitung einer weiterführenden gemeinsamen Aufgabe
Sammlung und Reflexion der Ergebnisse
Individuelle Zugänge, Entdeckungen und Lösungsprozesse Vertiefender Arbeitsauftrag
(stark) heterogenes Kinderpaar
Abbildung 7.1:
Gemeinsame Reflexion
Kinder einzeln
Individuelle Zugänge, Entdeckungen und Lösungsprozesse reflektieren und weiterentwickeln
(stark) heterogenes Kinderpaar
Individuelle Zugänge, Entdeckungen und Lösungsprozesse reflektieren und weiterentwickeln
(stark) heterogenes Kinderpaar
Die vier Phasen der Design-Experimente
Gemeinsamer Einstieg Zu Beginn erfolgt eine ca. fünfzehnminütige gemeinsame Einführung in das Thema des Lehr-Lern-Arrangements ‚Wir erforschen Nachbarzahlen und ihre Summen‘ (vgl. Kap. 5, 6; Korten, 2018a). Hierbei steht besonders das Kennenlernen der Nachbarn (horizontal, vertikal, diagonal) sowie die Arbeit mit den zur Verfügung stehenden Arbeitsmitteln und dem themenspezifischen Wortschatz im Mittelpunkt (vgl. Kap. 5). In Form eines Rätsels, das zunächst die Verfasserin und anschließend die Kinder sich gegenseitig stellen, machen sich die Kinder mit den Nachbarn vertraut (Rätsel: ‚Meine Zahl ist die X. Welche Nachbarn hat meine Zahl?‘). Die Bearbeitung des Rätsels erfolgt zunächst mit Sicht auf das Material und im Anschluss ohne. Weitere Impulse seitens der Verfasserin sollen die Kinder für Regelmäßigkeiten und arithmetische Strukturen sensibilisieren: Sind das alle? Wie viele Nachbarn hat jede Zahl? Welche Nachbarzahl ist größer? Um wie viel? Ziel aus der Perspektive der Entwicklungsebene ist es, die Kinder für Entdeckungen von arithmetischen Beziehungen zu sensibilisieren und die Voraussetzungen für die folgende eigenständige Erforschung der Nachbarzahlen und deren Summen zu schaffen. Das Ziel aus der Forschungsperspektive besteht darin, einen ersten Eindruck der arithmetischen Zugänge und der kommunikativen Kompetenzen der Kinder zu gewinnen. Die Einstiegsphase endet mit einem Ausblick auf die anschließenden Phasen, in der die Nachbarzahlen und Nachbarsummen genauer erforscht werden sollen.
7.1 Datenerhebung durch iterativ durchgeführte Design-Experimente
195
Vorgeschaltete individuelle Phase (ICH-Phase) In der zweiten, ca. dreißigminütigen Phase bearbeiten die Kinder den ICHForscherauftrag ‚Finde möglichst viele Nachbarzahlen und ihre Summen. Gehe geschickt vor. Fällt dir etwas auf?‘. (Vertiefender Forscherauftrag zur Differenzierung: ‚Was ist dir aufgefallen? Gelten deine Entdeckungen auch auf der 100er-Tafel?‘)42 Die Bearbeitung erfolgt zeitlich und räumlich getrennt, sodass die Verfasserin beide Kinder in der Rolle der Forscherin und Lehrerin teilnehmend beobachten kann (vgl. Kap. 4.2.1). Das teilnehmende Beobachten sowie das gezielte Nachfragen anhand folgender Impulse aus Sicht der Forscherin tragen dazu bei, mehr über Zugänge, Vorgehensweisen, Denk- und Lernprozesse herauszufinden: Wie bist du vorgegangen?, Hattest du einen Trick?, Kannst du die Aufgabe auch legen/aufmalen?, Kannst du die Aufgabe dazu aufschreiben?, Was fällt dir auf? Beschreibe!, Hilft dir das beim Rechnen?, Warum ist das so? Begründe! Gleichzeitig zielen die nachfolgend angeführten Impulse aus Sicht der Lehrerin darauf ab, Lernprozesse anzuregen sowie Hilfestellung zu geben: Was verändert sich?, War das geschickt?, Kannst du aus ‚a‘ ‚b‘ machen?, Wie geht es weiter?, Was hat ‚a‘ mit ‚b‘ zu tun?, Kannst du das auf einen Blick sehen?, Versuch es, ohne einzeln zu zählen!, Welche Aufgabe ist leicht/hilft? Die beispielhaft angeführten Impulse sind nicht immer eindeutig der Rolle als Forscherin bzw. Lehrerin zuzuordnen. Sie überschneiden sich häufig und sind situationsbedingt zu betrachten. Des Weiteren kommen sie in den DesignExperimenten zielgerichtet und daher situationsabhängig zum Einsatz. Das bedeutet, dass die angeführten Fragen und Aufforderungen als mögliche – nicht als bindende – Impulse zu verstehen sind. Ziel der vorgeschalteten individuellen Phase aus der Perspektive der Entwicklungsebene ist es, dass sich die Kinder mit dem gemeinsamen mathematischen Gegenstand auf der Basis individueller Vorkenntnisse und Lernvoraussetzungen auseinandersetzen und dadurch individuelle Zugänge und Lösungsprozesse entwickeln43. Die dabei angeregte individuelle Wahrnehmung und Nutzung arithmetischer Zahl- und Aufgabeneigenschaften und -beziehungen kann zur Förderung flexibler Rechenkompetenzen beitragen (vgl. Kap. 3.2). Des Weiteren wird durch diesen ersten individuellen Zugang jedem die Chance gegeben, sich an der folgenden Phase des Austausches zu beteiligen. Das Ziel aus der Forschungsperspektive ist die Diagnose und Kategorisierung der individuellen Zugänge und Lösungsprozesse, um auf dieser Basis die Weiterentwicklung in der interaktiv-kooperativen Lernsituation rekonstruieren 42 Für die Analyse dieser substantiellen Aufgabe sowie des methodischen Vorgehens vgl. Kapitel 5 und 6. 43 Für eine detaillierte Darstellung möglicher individueller Zugänge und Lösungsprozesse vgl. Kapitel 5 und 6.
196
7 Methoden der Datenerhebung und -auswertung
zu können. Folglich wird ein Beitrag zur Beantwortung der Forschungsfrage FF1 geleistet. Interaktiv-kooperative Phase/Lernsituation (DU-Phase) Mit der dritten Phase soll gezielt das mit- und voneinander Lernen der heterogenen Kinderpaare angeregt werden. Durch den DU-Forscherauftrag wird der Austausch von eigenen Gedanken, Lösungsideen, Lösungswegen und Entdeckungen mit dem Ziel des wechselseitigen Verstehens angeregt (‚Wählt Nachbarzahlen aus, die ihr genauer erforschen möchtet. 1. Welche Nachbarzahlen und Summen habt ihr gefunden? Sammelt und ordnet sie. Sind das alle? 2. Welche Entdeckungen habt ihr gemacht? Helfen euch eure Entdeckungen beim geschickten Rechnen?‘). Auch in dieser Phase nimmt die Verfasserin wieder die Rolle der teilnehmenden Beobachterin ein und nutzt gezielte Impulse. Aufgrund des Partnersettings wird die obige Auflistung durch folgende Impulse aus Sicht der Forscherin ergänzt: Hast du verstanden, was ‚x‘ gesagt hat?, Kannst du das noch einmal mit deinen eigenen Worten erklären?, Was meint ‚x‘ wohl damit? Weiterhin zielen die nachfolgenden Impulse aus Sicht der Lehrerin darauf ab, Interaktionsprozesse anzuregen: Kannst du ‚x‘ dabei weiterhelfen?, Rechnet ihr das gleich/verschieden?, Was meinst du dazu?, Denkst du darüber genauso? Ziel aus der Perspektive der Entwicklungsebene ist es, einen produktiven Austausch anzuregen, durch den sich beide Kinder auf ihrem individuellen Niveau zieldifferent weiterentwickeln können. Einerseits sollen eigene Gedanken geklärt, geordnet und verständlich formuliert werden (Bewusstmachung eigener Gedanken, vgl. Kap. 3.2.3, Abb. 3.4). Andererseits müssen die Gedanken anderer nachvollzogen und mit den eigenen verknüpft werden (Auseinandersetzung mit Gedanken anderer, vgl. Kap. 3.2.3, Abb. 3.4). Herausgefordert werden soll dadurch die Weiterentwicklung der individuellen Zugänge und Lösungsprozesse, indem Impulse von außen zur Reflexion, zum Nachdenken und zur Entwicklung einer Fragehaltung anregen. Das Ziel aus der Forschungsperspektive besteht darin, diese Weiterentwicklung der individuellen Zugänge und Lösungsprozesse zu analysieren und zu rekonstruieren. Dabei wird folgenden Fragen nachgegangen: Wie entwickeln sich die individuellen Zugänge und Lösungsprozesse aus der vorgeschalteten individuellen Phase hinsichtlich flexibler Rechenkompetenzen in den angeregten interaktiv-kooperativen Lernsituationen weiter (FF1) und welche interaktiven Strukturen lassen sich währenddessen rekonstruieren (FF2)? Wie beeinflussen diese interaktiven Strukturen die individuellen Lernprozesse? Inwiefern gibt es also einen Zusammenhang zwischen den interaktiven Strukturen und der Weiterentwicklung individueller Zugänge und Lösungsprozesse (FF3)? Die zusammenhängende Betrachtung der Entwicklungs- und Forschungsebene ermöglicht wiederum, Aussagen über den Beitrag des entwickelten Lehr-
7.1 Datenerhebung durch iterativ durchgeführte Design-Experimente
197
Lern-Arrangements und der zugrunde liegenden Design-Prinzipien zur gelingenden Anregung interaktiv-kooperativer Lernsituationen zu treffen (E). Dabei steht ebenso die Forschungsfrage FF3 im Fokus, deren Bearbeitung den folgenden zweiten Teil des Forschungsinteresses auf Forschungsebene realisiert: Welche zielführenden Aspekte lassen sich aus dem Zusammenhang der interaktiven Strukturen und der individuellen Lernprozesse für gelingende interaktivkooperative Lernsituationen ableiten, in denen sich alle Beteiligten bezüglich des flexiblen Rechnens individuell-zieldifferent weiterentwickeln (F)? (Vgl. Tab. 7.1 für eine Übersicht über die Schwerpunkte in den einzelnen Zyklen.) Eine Besonderheit dieser dritten Phase ist, dass sie – je nach Arbeitstempo – pro Kinderpaar zwei- bis dreimal stattfinden kann, sodass die Kinder die Möglichkeit haben, alle Nachbararten (horizontal, vertikal und diagonal) zu erforschen. Gemeinsame Reflexion (WIR-Phase) In der ca. fünfzehnminütigen letzten Phase geht es um das gemeinsame Sammeln und Reflektieren der arithmetischen Entdeckungen. Die Reflexion fokussiert auf die Fragestellung, inwiefern die Entdeckungen hinsichtlich des geschickten Rechnens helfen. Diese letzte Phase steht ebenso wie die gemeinsame Einstiegsphase nicht im Mittelpunkt der Analysen. Die Konzentration auf die Analyse der interaktionsanregenden Arbeitsphase – bestehend aus der vorgeschalteten individuellen Phase (ICH-Phase) und der interaktiv-kooperativen Lernsituation (DU-Phase) – ist durch die Forschungsfragen dieses Projektes zu begründen, die auf die gezielte Anregung und Beforschung interaktiv-kooperativer Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht fokussiert, in denen möglichst alle Beteiligten individuell-zieldifferent am gemeinsamen Lerngegenstand des flexiblen Rechnens lernen sollen. 7.1.3 Theoretisches Sample Information zur Stichprobe Die Stichprobe setzt sich aus insgesamt 14 heterogenen Kinderpaaren zusammen, die die Erhebung komplett durchlaufen haben (für die Verteilung auf die Zyklen vgl. Tabelle 7.1). Ein Paar besteht jeweils aus einem Kind mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf ‚Lernen‘ und einem Kind mit durchschnittlichen Schulleistungen. Die Kinder befanden sich zum Durchführungszeitpunkt der Design-Experimente im zweiten Halbjahr der zweiten Klasse bzw. im ersten Halbjahr der dritten Klasse. Vom Einzugsgebiet her unterscheiden sich die Schulen nicht. Es handelt sich um innerstädtische Grundschulen in einem gemischten Einzugsgebiet; das heißt, dass sie sowohl von Kindern aus bildungs-
198
7 Methoden der Datenerhebung und -auswertung
nahen Familien als auch von Kindern, die eher aus sozialen Brennpunkten stammen, besucht werden. An allen betreffenden Grundschulen wird die Inklusion bereits seit einigen Jahren umgesetzt. Die Auswahl der einzelnen Kinder erfolgte auf Grundlage von Einschätzungen und Gesprächen mit der jeweiligen Klassenlehrerin und der zuständigen Sonderpädagogin. Die Kinder mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf ‚Lernen‘ wurden nach Aussagen der Pädagogen zieldifferent gefördert und hatten entweder ein beendetes, laufendes oder intendiertes AOSF-Verfahren aufzuweisen (Ausbildungsordnung sonderpädagogischer Förderung, vgl. MSW, 2005). Ein Kind mit festgestelltem Unterstützungsbedarf ‚Lernen‘ befand sich zum Erhebungszeitpunkt in einem laufenden Verfahren für den Unterstützungsbedarf ‚Geistige Entwicklung‘. Bei der Partnerzuordnung wurde darauf geachtet, dass Kinder, die sich gut verstehen, ein Paar bildeten, sodass eine positive Kommunikationsgrundlage besteht. Diese Entscheidung wurde auf Grundlage der in Kapitel 2.1.2 dargelegten Forschungserkenntnis getroffen, dass das Gelingen interaktivkooperativer Lernsituationen von der positiven Gruppenzusammensetzung und den damit in Zusammenhang stehenden (erfolgreichen) Interaktionsprozessen abhängig ist. Des Weiteren wurde auf eine Gleichverteilung von männlichen, weiblichen und gemischten Paaren geachtet. Theoretische Sättigung Die Art des in dieser Untersuchung gewählten theoretischen Samplings zielt nicht auf Theorietests und auf eine in statistischen Samplingverfahren angestrebte Repräsentativität der gesamten Stichprobe (Strübing, 2001). Vielmehr wird hier eine lokale Theoriegenese angestrebt (vgl. Kap. 4.2), die eine eher konzeptuelle Repräsentativität verfolgt. Das bedeutet für das vorliegende Projekt, dass hinsichtlich der Fragestellungen eine möglichst vollständige analytische Entwicklung sämtlicher Eigenschaften und Kategorien der untersuchten interaktiv-kooperativen Lernsituationen intendiert wird. Ziel ist dabei die Generierung neuer bzw. abgewandelter lokaler und gegenstandsspezifischer Lernund Lehr-Lern-Theorien. Ausgewählt wurden aus diesem Grund auch nicht einzelne Kinder, sondern Ereignisse/Fälle, also spezifisch zusammengestellte Lernsituationen, die nach dem Kontext unterschieden wurden (ebd.). Diese Art des theoretischen Samplings stammt ursprünglich aus der Grounded Theory (Corbin & Strauss, 1996). Hierbei handelt es sich um ein Auswahlverfahren für Fälle mit dem zentralen Merkmal einer schrittweisen, theoretischen Entwicklung des Samples, orientiert am Forschungsprozess, bis die Theorien durch eine komparative Analyse ausreichend stark bestätigt werden. Dies nennt man theoretische Sättigung (Corbin & Strauss, 1996, S. 24; hervorgehoben in Strübing, 2001).
7.1 Datenerhebung durch iterativ durchgeführte Design-Experimente
199
Das vorliegende Projekt weist allerdings Grenzen hinsichtlich der Möglichkeit einer solchen theoretischen Sättigung auf. Die Verschiedenheit der einzelnen Kinder sowie die unterschiedlichen Umstände in den jeweiligen Herkunftsklassen und den familiären Hintergründen machen eine theoretische Sättigung nicht erreichbar. Außerdem konnten im vorliegenden Projekt aufgrund begrenzter zeitlicher Kapazitäten nur wenige Fälle in den Blick genommen werden. Daher wird durch gezielte Fallkontrastierungen und komparative Analysen (vgl. Kap. 7.2.3, analytische Induktion und Limitation) eine theoretische Sättigung annäherungsweise realisiert (Steinke, 2000, S. 329). Das bedeutet, es werden lokale Theorien generiert, indem verschiedenartige Fälle ausgewählt und analysiert werden, um kontrastierende Fallvergleiche zwischen ihnen zu ermöglichen. Denn „[zur] Theorie werden die empirischen Befunde [...] erst, wenn es gelingt, die beobachteten Phänomene und Muster von ihrem ganz konkreten Entstehungskontext zu lösen und durch sorgfältige Fallvergleiche die verallgemeinerbaren Anteile herauszuarbeiten.“ (Kelle & Kluge, 1999, hervorgehoben durch Prediger et al., 2012, S. 455)
Lokal bleiben die Theorien nach Prediger et al. (2012) dabei in doppelter Hinsicht – einerseits weil der Entstehungskontext und die Erhebungsbedingungen der Fallstudien nie in Gänze transzendiert werden können, und andererseits weil sie ganz bewusst gegenstandsspezifisch und folglich nur begrenzt auf andere Lerngegenstände übertragbar sind (u. a. Prediger et al., 2012, S. 455 ff.). Das lokale Theoriewissen kann jedoch durch Anschlussstudien in neuen Kontexten weiter generalisiert werden und zielt damit auf den Geltungsanspruch der ‚Verallgemeinerbarkeit‘, der nicht mit demjenigen der ‚Allgemeingültigkeit‘ zu verwechseln ist (Yin, 2003). Die Verallgemeinerbarkeit kann durch theoretische Replizierbarkeit bei kontrastierenden Bedingungen – erzeugt durch das theoretische Sample – gestützt werden (ebd., S. 50).
7.2
Methoden der Auswertung
Die Auswertung der in den Design-Experimenten erhobenen Daten wird auf Grundlage der Videos und Transkriptausschnitte vorgenommen. Dieser Datenkorpus bildet sowohl die Handlungen als auch die Äußerungen der Kinder ab, die ‚Objekt der Beobachtung‘ und ‚Informationsträger‘ sind. Individuelle Zugänge und Lösungsprozesse der Kinder werden auf Grundlage der Interpretation der Äußerungen und Handlungen rekonstruiert. Veränderungen und Entwicklungen dieser, die durch veränderte Äußerungen und Handlungen sichtbar werden, können Anzeichen für eine situative Weiterentwicklung im Lernprozess ( FF1)44 und folglich für eine erfolgreiche Förderung flexiblen Rechnens (vgl. 44 Übergeordnetes Forschungsinteresse auf Forschungs- und Entwicklungsebene ausdifferenziert in sechs Forschungsfragen (vgl. Kap. 4.1.2):
200
7 Methoden der Datenerhebung und -auswertung
Kap. 3.2) sein. Aus einer Förderung bzw. Weiterentwicklung beider an der interaktiv-kooperativen Lernsituation beteiligten Kinder lässt sich wiederum erfolgreiches ‚Gemeinsames Mathematiklernen‘ im Sinne der Inklusion schlussfolgern (vgl. Definition in Kap. 1.1.3), was nachfolgend Schlüsse über die Qualität der Design-Prinzipien und Design-Elemente des entwickelten Lehr-LernArrangements ( EF1, EF2, EF3) zulässt. Welche Rolle genau die Interaktion zwischen den Kindern bei der Weiterentwicklung dieser individuellen Zugänge, Entdeckungen und Lösungsprozesse spielt, wird mithilfe der Rekonstruktion von interaktiven Strukturen ( FF2) und deren Zusammenhang mit der Weiterentwicklung der individuellen Zugänge und Lösungsprozesse ( FF3) beleuchtet. Folglich – fußend auf diesen Grundüberlegungen sowie dem in Teil A dargelegten Theorierahmen – sind zwei Analyseperspektiven einzunehmen, um die einzelnen Forschungsfragen (vgl. Kap. 4.1.2) zu beantworten: Forschungsebene: Wie verlaufen interaktiv-kooperative Lernsituationen zwischen Kindern mit und ohne Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung im Bereich ‚Lernen‘ bezüglich der individuellen Lernprozesse zum flexiblen Rechnen und der interaktiven Strukturen? Welche zielführenden Aspekte lassen sich aus dem Zusammenhang der interaktiven Strukturen und der individuellen Lernprozesse für gelingende interaktiv-kooperative Lernsituationen ableiten, in denen sich alle Beteiligten bezüglich des flexiblen Rechnens individuell-zieldifferent weiterentwickeln? (F) (FF1) Wie entwickeln sich individuelle Zugänge und Lösungsprozesse hinsichtlich flexibler Rechenkompetenzen in den angeregten interaktiv-kooperativen Lernsituationen weiter? (FF2) Welche interaktiven Strukturen lassen sich während der interaktiv-kooperativen Lernsituationen rekonstruieren? (FF3) Inwiefern gibt es einen Zusammenhang zwischen den interaktiven Strukturen und der Weiterentwicklung individueller Zugänge und Lösungsprozesse? Entwicklungsebene: Wie kann ein theoretisch und empirisch fundiertes Lehr-Lern-Arrangement gestaltet sein, um fruchtbare interaktiv-kooperative Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht anzuregen, in denen sich alle Beteiligten bezüglich des flexiblen Rechnens individuell-zieldifferent weiterentwickeln? Welche zielführenden Gestaltungsmerkmale zur gelingenden Anregung interaktiv-kooperativer Lernsituationen lassen sich daraus für den inklusiven Mathematikunterricht ableiten? (E) (EF1) Welche Design-Prinzipien lassen sich für das Lehr-Lern-Arrangement auf Grundlage der Theorie formulieren? (EF2) Wie lassen sich die theoretisch fundierten Design-Prinzipien für das Lehr-LernArrangement durch empirische Erkenntnisse ausschärfen? (EF3) Welche zielführenden Gestaltungsmerkmale zur gelingenden Anregung fruchtbarer interaktiv-kooperativer Lernsituationen lassen sich aus den Erkenntnissen zu EF1, EF2 und F für den inklusiven Mathematikunterricht ableiten?
7.2 Methoden der Auswertung
201
eine epistemologische Perspektive, um die individuellen Zugänge, Entdeckungen und Lösungsprozesse sowie deren situative Weiterentwicklung (individueller Lernprozess) im Hinblick auf den gemeinsamen Inhalt des flexiblen Rechnens zu rekonstruieren, sowie eine interaktionistische Perspektive, um die interaktiven Strukturen während der interaktiv-kooperativen Lernsituation zwischen Kindern mit und ohne sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf sowie den Einfluss dieser Interaktionsprozesse auf die individuellen Lernprozesse zu rekonstruieren. Diese beiden Perspektiven werden nicht getrennt voneinander betrachtet. Vielmehr ergänzen sie sich und ermöglichen darüber hinaus überhaupt erst Schlüsse über Zusammenhänge (vgl. Kap. 7.2.2). Gleichzeitig sind sie stark angelehnt an die beiden theoretischen Grundbausteine dieser Arbeit: Die zwei Grundbaustein ‚Individuell-zieldifferentes Lernen am gemeinsamen Lerngegenstand des flexiblen Rechnens‘ (Kap. 3) und ‚Interaktiv-kooperatives Lernen im inklusiven Mathematikunterricht‘ (Kap. 2) bilden gemeinsam mit den lerntheoretischen Annahmen (Kap. 2.3) die theoretische Grundlage für diesen interpretativepistemologisch orientierten Analysezugang interaktiver Wissenskonstruktion (Krummheuer, 2010; Krummheuer & Naujok, 1999; Steinbring, 2000; 2015). Im gesamten Auswertungsprozess werden dabei verschiedene Auswertungsmethoden kombiniert, um die beiden geschilderten Perspektiven einnehmen zu können. Neben dem in Kapitel 3.3 entwickelten Modell zum flexiblen Rechnen zur Operationalisierung individueller Lösungsprozesse aus epistemologischer Perspektive kamen ergänzend vier weitere Analyseinstrumente zum Einsatz, die für das vorliegende Forschungsvorhaben angepasst wurden: einerseits (1) die adaptierte Interaktionsanalyse nach Krummheuer (2010) sowie (2) die adaptierte epistemologisch orientierte Analyse nach Steinbring (2000; 2015). Des Weiteren sind (3) die weiterentwickelten Kooperationstypen nach Naujok (2000) und (4) die Betrachtung ‚interaktiver Schlüsselaktivitäten‘ nach Dekker und Elshout-Mohr (1998) zur genaueren Analyse und Kategorisierung der untersuchten Prozesse von Bedeutung. Diese Analyseinstrumente werden nicht in Gänze und im Original angewandt, sondern für den Zweck der vorliegenden Untersuchung adaptiert. Daher werden im folgenden Abschnitt ausschließlich grundlegende und im gegebenen Kontext relevante Aspekte dieser Analysewerkzeuge angesprochen.
202
7 Methoden der Datenerhebung und -auswertung
7.2.1 Vorstrukturierung der Design-Experimente In der vorliegenden Forschungsarbeit wird zunächst eine Grobanalyse der Videos vorgenommen, um die Daten der Design-Experimente vorzustrukturieren, bevor ausgewählte Szenen transkribiert und feiner analysiert werden (vgl. Kap. 7.2.2). Hierbei unterscheiden sich die Grobanalysen der ICH- und der DUPhase hinsichtlich der Betrachtung der interaktiven Strukturen, wie die folgenden Erläuterungen darlegen: Grobanalyse der vorgeschalteten individuellen Phase (FF1) Zur Grobanalyse der vorgeschalteten individuellen Phase (ICH-Phase) werden mithilfe einer Tabelle (Tab. 7.2) die individuellen Zugänge und Lösungsprozesse der Kinder vor der interaktiv-kooperativen Lernsituation dokumentiert. Diese individuellen Prozesse sind durch die Äußerungen und Handlungen der Kinder beobachtbar und werden mithilfe des in Kapitel 3.3 entwickelten Modells zum flexiblen Rechnen für den inklusiven Mathematikunterricht operationalisiert. Die zum Modell gehörenden Tabellen (Kap. 3.3.2, 3.3.3) liefern die Kategorien für die Analyse und Interpretation der Äußerungen und Handlungen. Sie beinhalten die relevanten allgemeinen mathematischen Ideen im Hinblick auf die Referenzen (Tab. 3.1) und Lösungswerkzeuge (Tab. 3.2) sowie mögliche diesbezügliche Beobachtungsindikatoren auf enaktiver, ikonischer, symbolischer und sprachlich-symbolischer Ebene45. Durch die Kategorisierung der beobachteten Prozesse hinsichtlich der Referenzen und Lösungswerkzeuge werden die in der ICH-Phase entwickelten individuellen Zugänge und Lösungsprozesse der Kinder rekonstruiert und dargestellt (FF1). Die linke Spalte der Tabelle 7.2 (‚Nachbarsummen‘) setzt die Additionsaufgaben in Zusammenhang mit den Lösungsprozessen. In der rechten Spalte ist Platz für ‚Notizen‘ zu weiteren Beobachtungen. In der folgenden Tabelle 7.2 wird die beschriebene Grobanalyse beispielhaft an der Einführungsaufgabe 1 + 2 und den Aufgaben 5 + 15 und 3 + 14 aufgezeigt:
45 Der digitale Anhang illustriert jeweils ein Ankerbeispiel für die einzelnen Kategorien, indem die Tabellen 3.1 und 3.2 um eine Spalte mit jeweils einem Beispiel aus den Design-Experimenten erweitert wurden. Bei Interesse am digitalen Anhang wende man sich an die Autorin.
203
7.2 Methoden der Auswertung Tabelle 7.2: Tabelle zur Grobanalyse der vorgeschalteten individuellen Phase (ICH-Phase)
Individuelle Zugänge und Lösungsprozesse (epistemologische Perspektive) Objekt der Beobachtung: Äußerungen und Handlungen
Nachbarsummen (Zeit)
Referenzen (R) -
Lösungswerkzeuge (L)
Eigenschaften & Beziehungen Standardverfahren Hilfsmittel
-
Strategische Werkzeuge Zählstrategien Faktenabruf
Notizen
Kind PH; ICH-Phase Einführung am Beispiel 1 + 2 1 + 2 = 3 (2:00)
5 + 15 = 20 (2:35)
3 + 14 = 17 (5:20)
Nimmt Eigenschaften und Beziehungen von Zahlen wahr. Teil-Ganzes-Beziehung: dekadische Beziehungen (15 zerlegen in 10 + 5)
Nimmt Eigenschaften und Beziehungen von Zahlen wahr. Teil-Ganzes-Beziehung: dekadische Beziehungen (14 zerlegen in 10 + 4)
Nutzt auf Grundlage der (R) strategische Werkzeuge kombiniert mit Faktenabruf. Zerlegen/Zusammensetzen: stellenweises Rechnen: „Erst die E und dann die Z“ Faktenabruf: Verdoppeln (5 + 5 = 10 = 2 x 5, 10 + 10 = 20) Nutzt auf Grundlage der (R) strategische Werkzeuge kombiniert mit dem Zählen. Hilfsaufgabe: Vertauschen Zerlegen/Zusammensetzen: stellenweises Rechnen Zählen: 4 + 3 durch Weiterzählen vom größeren Summanden
Liest ICHForscherauftrag. Benötigt Hilfe beim Lesen. Stellt keine Fragen. Zeigt Sicherheit im Stellenwertsystem. Malt Bild nach Impuls. Erklärt Rechenweg verständlich.
Suche: willkürlich Malt Aufgabe ohne Impuls. Malt alle Plättchen einzeln.
...
Im fortlaufenden Forschungsprozess wird anhand der Analyse und Interpretation der interaktiv-kooperativen Phase (DU-Phase) erhoben, ob sich die individuellen Zugänge und Lösungsprozesse aus der ICH-Phase in der gemeinsamen Phase durch den Austausch mit einem heterogenen Partner weiterentwickeln. An dieser Stelle wird die für diese Arbeit formulierte Definition – und somit die
204
7 Methoden der Datenerhebung und -auswertung
Operationalisierung – der Weiterentwicklung von Lernprozessen erneut hervorgehoben: Eine beobachtete Veränderung und Entwicklung bezüglich der Wahrnehmung von Eigenschaften und Beziehungen sowie bezüglich der Nutzung strategischer Werkzeuge (prägnante Anzeichen flexiblen Rechnens, vgl. Kap. 3.3.1) steht für eine Weiterentwicklung in der lokalen Situation, also für ein Voranschreiten. Somit wird angenommen, dass eine erfolgreiche situative Förderung flexibler Rechenkompetenzen stattgefunden hat. Grobanalyse der interaktiv-kooperativen Phase (FF1, FF2, FF3) Für die Grobanalyse der interaktiv-kooperativen Phase (DU-Phase) wurde die Tabelle 7.2 um eine Spalte für die Dokumentation der interaktiven Strukturen erweitert (Tab. 7.3). So wird ermöglicht, beide Perspektiven gegenüberzustellen, um erste Zusammenhänge zu eruieren. Die Analyse, Interpretation und Dokumentation hinsichtlich ‚Individueller Zugänge und Lösungsprozesse‘ verläuft wie oben beschrieben (vgl. Grobanalyse der vorgeschalteten individuellen Phase). In der Spalte ‚Interaktive Strukturen‘ wird das Interaktionsgeschehen skizziert und in Interaktionseinheiten (Krummheuer, 2010) unterteilt. Hierfür dienen wiederum die Äußerungen und Handlungen der Kinder als Informationsträger. In dieser Phase der Analyse wird darüber hinaus ein erster Bezug zu Naujoks (2000) Kooperationstypen hergestellt. Aus der Adaption dieser Typen resultierten vier Kategorien des Interaktionsgeschehens mit jeweils drei Indikatoren (Original vgl. Kap. 2.1.3, Tab. 2.1; Weiterentwicklung vgl. Kap. 7.2.2, Tab. 7.4), die eine Beschreibung und Einordnung des Interaktionsgeschehens ermöglichen. In der folgenden Tabelle 7.3 wird die Grobanalyse der DU-Phase beispielhaft aufgezeigt. Die rechte Spalte verdeutlicht exemplarisch die Unterteilung in Interaktionseinheiten (kursiv und unterstrichen: ‚Ordnen der eigenen Nachbarsummen‘, ‚Vertrautmachen mit dem Arbeitsauftrag‘ und ‚Ergänzen fehlender Nachbarsummen‘) und das Interaktionsgeschehen. Des Weiteren wird der Verweis auf die Indikatoren (Intensität der Interaktion, Themen-/ Zielfokussierung, aufgabenbezogene Interaktionsstruktur) der vier Kategorien des Interaktionsgeschehens (blau und kursiv: ‚parallele Aktivitäten ohne gemeinsames Ziel‘, ‚arbeitsteilige Kooperation‘ bzw. ‚parallele Aktivitäten mit gemeinsamen Ziel‘, ‚dominante Kooperation‘ und ‚ausgewogene Kooperation‘; vgl. Kap. 7.2.2, Tab. 7.4) ersichtlich.
205
7.2 Methoden der Auswertung Tabelle 7.3: Tabelle zur Grobanalyse der interaktiv-kooperativen Phase (DU-Phase)
Nachbarsummen (Kind)
Individuelle Zugänge und Lösungsprozesse (epistemologische Perspektive)
Interaktive Strukturen (interaktionistische Perspektive)
Objekt der Beobachtung: Äußerungen und Handlungen
Objekt der Beobachtung: Äußerungen und Handlungen
Referenzen -
Eigenschaften & Beziehungen Standardverfahren Hilfsmittel
Lösungswerkzeuge -
Strategische Werkzeuge Zählstrategien Faktenabruf
Interaktionseinheiten & Interaktionsgeschehen
Kind A & Kind PH; DU-Phase I Ordnen der eigenen Nachbarsummen (00:01 – 01:00) Beide sortieren nach Farben (nicht mathematische Sortierung). Intensität der Interaktion: gering Themen-/Zielfokussierung: different Aufgabenbezogene Interaktionsstruktur: nicht vorhanden Parallele Aktivitäten ohne gem. Ziel
Vertrautmachen mit dem Arbeitsauftrag (01:00 – 05:20) A liest vor. Gemeinsam wählen sie die horizontalen Nachbarzahlen aus. Intensität der Interaktion: stark Themen-/Zielfokussierung: übereinstimmend Aufgabenbezogene Interaktionsstruktur: symmetrisch Ausgewogene Kooperation
Sammeln (05:20 – 06:40) ... Ordnen nach der Größe der Summe (06:40 – 08:00) ... Ergänzen fehlender Nachbarsummen (08:00 – 21:40)
2 + 3 = 5 (PH)
Abwechselndes Suchen und Schreiben 5 + 6 = 11 (A) 11 + 12 = 23 (PH) 6 + 7 = 13 (A) 19 + 20 = 39 (PH)
A entdeckt neue Aufgabenbeziehungen AnalogieBeziehungen: Veränderung beider Summanden um 1 schlägt sukzessive Suche der Aufgaben vor
A hat Idee nach Entdeckung: Sie schlägt ein sukzessives Vorgehen vor und setzt es um; PH wählt weiterhin seine eigenen Aufgaben (Vermutung: Aufgaben, die er leicht findet). Beide lösen neue Aufgaben und sprechen sich dabei ab, um Dopplungen zu vermeiden. Intensität der Interaktion: eher gering Themen-/Zielfokussierung: potenziell different Aufgabenbezogene Interaktionsstruktur:
206
7 Methoden der Datenerhebung und -auswertung symmetrisch Arbeitsteilige Kooperation (parallele Aktivitäten mit gem. Ziel)
7 + 8 = 15 (A) 13 + 14 = 27 (PH)
...
PH entdeckt neue Aufgabenbeziehungen AnalogieBeziehungen: Veränderung beider Summanden um 10 (13 + 14 und 3 + 4)
PH nutzt auf Grundlage der (R) ein neues strategisches Werkzeug Gleichsinniges Verändern (20 mehr/weniger)
Frage der Interviewerin: „PH, wie hast du das (zeigt auf 13 + 14 = 27) gerechnet?“ PH: „So wie das hier“ (zeigt auf 3 + 4 = 7).
In dieser Tabelle zur Grobanalyse der DU-Phase sind diejenigen Momente in der Interaktion von besonderem Interesse, in denen nach einer Veränderung oder einem Impuls im Interaktionsgeschehen (eine Äußerung, Handlung, ein Aufgabenauftrag oder eine neuen Entdeckung) eine Veränderung auf der Lösungsprozessebene zu beobachten ist (hier gekennzeichnet durch blaue Pfeile), da diese oft mit ‚interaktiven Schlüsselaktivitäten‘ (Dekker & Elshout-Mohr, 1998) einhergehen und daher Anzeichen für potenziell lernförderliche Momente in der Interaktion sein können (für weitere Ausführungen vgl. Kap. 7.2.2 zur Feinanalyse: (4) Rekonstruktion ‚produktiver Momente‘ in der Interaktion in Anlehnung an Dekkers und Elshout-Mohrs (1998) ‚interaktive Schlüsselaktivitäten‘). Im vorliegenden Beispiel (Tab. 7.3) sind während der Phase des gemeinsamen Ergänzens fehlender Nachbarsummen bei beiden Kindern Entdeckungen neuer Aufgabenbeziehungen zu beobachten: Kind A nimmt die Veränderung beider Summanden um 1 wahr, beschreibt diese und schlägt daraufhin ein sukzessives Vorgehen bei der Ergänzung der fehlenden Aufgaben vor. Kind PH entdeckt ebenfalls neue Analogie-Beziehungen zwischen den Aufgaben (Veränderung beider Summanden um 10). Dies führt wiederum zu einer Weiterentwicklung auf der Ebene der Lösungswerkzeuge, denn PH nutzt anschließend auf Grundlage der neu entdeckten arithmetischen Beziehungen das gleichsinnige Verändern, um Summen zu bestimmen. In beiden Fällen wurden vermutlich durch das interaktive Handeln im Rahmen des Arbeitsauftrages Veränderungen auf der Lösungsprozessebene ausgelöst. Was genau diese Veränderungen hervorruft, bleibt an dieser Stelle noch unklar. Um diese potenziell lernförderlichen Momente in der Interaktion jedoch genauer zu untersuchen, werden die entsprechenden Stellen der Videos transkri-
7.2 Methoden der Auswertung
207
biert. Diese Transkripte bilden die Datengrundlage der Feinanalyse, die im Folgenden erläutert wird.46 7.2.2 Darlegung der Werkzeuge zur Feinanalyse Entsprechend dem interpretativ-epistemologisch orientierten Analysezugang interaktiver Wissenskonstruktion (Krummheuer, 2010; Krummheuer & Naujok, 1999; Steinbring, 2000; 2015) werden in der Feinanalyse zwei Perspektiven eingenommen: eine interaktionistisch und eine epistemologisch orientierte Perspektive. Interaktionistische Perspektiven auf mathematische Unterrichtsprozesse entwickelten sich ab Mitte der 1970er Jahre aus der Kritik an der Denkweise der traditionellen Stoffdidaktik47. Sie nehmen allgemein sowohl das lernende Kind als auch die Interaktion von Kindern mit anderen Kindern oder Pädagogen in den Blick (Schülke, 2013). Die in dieser Arbeit in Teilen verwendete (1) Interaktionsanalyse nach Krummheuer (2010) bezieht – anders als andere interaktionistische Forschungsansätze, die meist einen Schwerpunkt setzen – beide Sichtweisen gleichermaßen ein: die individualpsychologische Sicht auf den einzelnen Lerner sowie die kollektivistische Sichtweise auf die Interaktion, in der Lernen stattfindet (Schülke, 2013, S.47 ff.). Dieser Analyseansatz wird adaptiert und ergänzt durch die ebenfalls in der vorliegenden Arbeit eingesetzte und für deren Zwecke angepasste (2) epistemologisch orientierte Analyse nach Steinbring (2000, 2015), denn Letztere nimmt nicht nur die individuellen und die sozialen Prozesse in den Blick, sondern berücksichtigt gleichzeitig die Besonderheit des Interaktionsgegenstandes, nämlich das mathematische Wissen. Dieses mathematische Wissen mit dem Charakteristikum der zu deutenden Symbole, Zeichen, Strukturen und Beziehungen wird nicht als ein fertiges Produkt gesehen, sondern unter Einbezug der epistemologischen Bedingungen seiner dynamischen Entwicklung in der Interaktion (Kind-Kind- und KindPädagoge-Interaktion) verstanden (Schülke, 2013, S. 47 ff.; Kap. 1.1.3). Beide Analyseansätze werden hier überblicksartig dargelegt. Das Unterkapitel schließt mit der Erläuterung der erweiterten (3) Kooperationstypen nach Naujok (2000; Kap. 2.1.3), die in den ersten beiden Erhebungszyklen für die vorliegende Untersuchung weiterentwickelt und ausgeschärft wurden, sowie mit einer Explikation Dekkers und Elshout-Mohrs (4) ‚interaktiver Schlüsselaktivitäten‘ in der mathematischen Interaktion (Dekker & Elshout-Mohrs, 1998; Kap. 2.1.3). Beide Aspekte tragen ebenfalls zur Feinanalyse und zur Beantwortung der Forschungsfragen bei, wie im Folgenden verdeutlicht wird. 46 Die Tabellen 7.2 und 7.3 – wie hier im Beispiel gezeigt – wurden im Laufe der Analyse des ersten Zyklus sukzessiv entwickelt und ab dem zweiten Zyklus in dieser Form zur Grobanalyse verwendet. 47 Für eine Darstellung der Entwicklung vgl. Schülke (2013, S. 100 f.).
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7 Methoden der Datenerhebung und -auswertung
(1) Interaktionsanalyse nach Krummheuer (2010) zur Rekonstruktion interaktiver Strukturen und Wissenskonstruktionen Die Interaktionsanalyse basiert auf der in Kapitel 2.3.3 geschilderten interaktionistischen Perspektive und der damit einhergehenden Auffassung, dass jeder Mensch die Umwelt anders wahrnimmt und folglich jedes Kind den Mathematikunterricht und die mehrdeutigen mathematischen Objekte (Symbole, Zeichen, Strukturen und Beziehungen) subjektiv interpretiert und individuelle, heterogene Sinnzuschreibungen vornimmt. Nach Krummheuer (1984) legt der Erfahrungsreichtum eines Lernenden die ‚Rahmung‘ fest, unter der eine (Unterrichts-)Situation gedeutet wird. Treten die Kinder nun in der DU-Phase in die Interaktion, kommt es zu einem gegenseitigen Austausch dieser heterogenen Situationsdefinitionen und zu einer gemeinsamen Bedeutungsaushandlung, mit dem Ziel, dass die Interaktion nicht abbricht. Krummheuer spricht hierbei von der Herstellung eines ‚Arbeitsinterims‘ (Krummheuer, 1984, S. 288; Kap. 2.3.3). Nur wenn dieses hergestellt wird, kann erfolgreiches ‚Gemeinsames Mathematiklernen‘ stattfinden, was nicht bedeutet, dass die Kinder die Situation und die mathematischen Inhalte in gleicher Weise interpretieren müssen. Vielmehr geht es um eine gemeinsame Grundlage, auf der interagiert und gemeinsam gearbeitet werden kann, die aber gleichzeitig individuelle Lernprozesse zulässt. In diesem Zusammenhang spricht Krummheuer von Lernen, wenn eine Bedeutungsaushandlung und somit eine ‚Rahmungsmodulation‘ stattfindet, denn dies ist ein Anzeichen dafür, dass gewohnte Zugänge, Interpretationen und Handlungsschemata verändert, weiterentwickelt und ausdifferenziert wurden (ebd., S. 287; Kap. 2.3.3). Diese „Entwicklungen emergieren in dem Wechselprozess von aufeinander bezogenen Rede- und Handlungszügen in der Interaktion“ (Krummheuer, 2010, S. 1). „Die Interaktionsanalyse ist ein Verfahren zur Rekonstruktion dieser Aushandlungsprozesse und der dabei mit hervorgebrachten thematischen Entwicklungen [Rahmungsmodulationen]“ (ebd., S. 1; Krummheuer & Fetzer, 2005, S. 16 ff.). Generell gelten dabei folgende Analyseschritte: 1) Gliederung der Interaktionseinheit 2) allgemeine Beschreibung 3) ausführliche Analyse der Einzeläußerungen – Interpretationsalternativen (re-)konstruieren 4) Turn-by-Turn-Analyse 5) zusammenfassende Interpretation.48 „[Diese ...] Beschreibung der Analyseschritte ist nicht als statisch festes Schema zu verstehen, sondern dient als Gerüst“ (Krummheuer, 2010, S. 2). So werden 48 Für eine detaillierte Beschreibung der einzelnen Analyseschritte sowie eine beispielhafte Analyse vgl. Krummheuer (2010).
7.2 Methoden der Auswertung
209
die Schritte für den spezifischen Gebrauch in der vorliegenden Untersuchung angepasst: Die Analyseschritte eins und zwei (vgl. Grobanalyse, Kap. 7.2.1) werden am Videomaterial vorgenommen und beruhen nicht – wie sonst in der Interaktionsanalyse üblich – auf der Analyse von Transkripten. Von den Stellen im Video, an denen auf Grundlage der Grobanalyse anzunehmen ist, dass ein potenziell lernförderlicher Moment vorliegt (vgl. Kap. 7.2.1; ausgewählt nach Dekkers und Elshout-Mohrs ‚interaktiven Schlüsselaktivitäten‘ (1998); vgl. (4)), werden anschließend Transkripte angefertigt. Diese Transkriptausschnitte stellen das Datenmaterial der Analyseschritte drei und vier dar, die in diesem Forschungsprojekt jedoch nicht im Detail, sondern in Verbindung mit der epistemologisch orientierten Analyse vorgenommen werden. Die Analyseschritte werden hier dennoch kurz erläutert, da sie implizit mitgedacht, jedoch nicht explizit dargelegt werden. Bei der ‚ausführlichen Analyse der Einzeläußerungen‘ geht es um die Erzeugung möglichst vieler plausibler Deutungen der Aussagen und Handlungen (Krummheuer, 2010). Dafür werden erstens die Äußerungen und Handlungen in der Reihenfolge ihres Vorkommens interpretiert, womit die Interpretationen nach vorne offenbleiben. Zweitens dürfen und können Plausibilisierungen nur rückwärtsgewandt erfolgen, und drittens müssen sich Interpretationen im Verlauf der Interaktion bewähren (ebd., S. 3). Bei der integrierten ‚Turn-by-TurnAnalyse‘ geht es um die Fragen, wie das andere Kind auf eine Äußerung reagiert, wie es diese zu interpretieren scheint und was gemeinsam aus der Situation gemacht wird. „Indem man diese Beziehung rekonstruiert, rekonstruiert man die gemeinsame, Zug um Zug erfolgende Themenentwicklung in der Interaktion“ (ebd., S. 3). Analyseschritt fünf, die ‚zusammenfassende Interpretation‘, erfolgt ebenso gemeinsam mit der Interpretation aus der epistemologisch orientierten Analyse. (2) Epistemologisch orientierte Analyse nach Steinbring (2000, 2015) zur Rekonstruktion individueller Lernprozesse und interaktiver Impulse Wie bereits deutlich wurde, geht es bei der interaktionistischen Perspektive vor allem darum, herauszufinden, wie das Interaktionsgeschehen grob verläuft, sowie darum, interessante Stellen hinsichtlich folgender Fragen zu beleuchten: Auf welche Weise bringen sich die Kinder in die Interaktion ein (z. B. durch Beschreiben, Erklären, Fragen, Vorschlagen, Argumentieren usw.)? Auf welche Weise nehmen sie dabei Bezug aufeinander? An welchen Stellen und auf welche Weise finden dadurch Veränderungen bzw. (Weiter-)Entwicklungen statt (interaktive Lernprozesse). Bei der ergänzenden epistemologischen Perspektive geht es hingegen fokussierter um den mathematischen Lerngegenstand und um die Fragen:
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7 Methoden der Datenerhebung und -auswertung
Wie bringen die Kinder ihre Deutungen mathematischer Symbole, Zeichen, Strukturen und Beziehungen ein? Wie reflektieren sie diese mit Bezug auf eigene und fremde Interpretationen und konstruieren dabei neue Deutungen (interaktive Lernprozesse)? Hierbei wird deutlich, dass die beiden Perspektiven nicht voneinander abzugrenzen sind, sondern sich eher ergänzen. Bei beiden geht es um die Rekonstruktion von – in der Interaktion ausgelösten – Weiterentwicklungen, also um die Untersuchung interaktiver Lernprozesse hinsichtlich der Forschungsfragen FF1 bis FF3 (Kap. 4.1.2). Durch die epistemologische Perspektive findet jedoch eine Erweiterung statt, indem der Fokus stärker auf die Besonderheit des mathematischen Lerngegenstandes gelegt wird (FF1), während die interaktionistische Perspektive eher die interaktiven Strukturen in den Mittelpunkt stellt (FF2). Daraus lässt sich schlussfolgern, dass beide Perspektiven zur Beantwortung der Forschungsfragen essenziell sind. Die epistemologisch orientierte Analyse nach Steinbring (2005) basiert auf der in Kapitel 2.3.3 geschilderten epistemologischen Perspektive und knüpft an Millers Theorien an, die besagen, dass strukturelles Lernen sozialer Interaktion bedarf (Kap. 2.3.2). Steinbring (2005) überträgt sie auf mathematische Lernprozesse und beschreibt sozial-kommunikative Prozesse, bei denen es um mehr geht als (nur) den Austausch mathematischen Faktenwissens. Vielmehr wird durch Be- und Verarbeitung, Kontrastierungen, Widersprüche und/oder Umdeutungen neues mathematisches Wissen entwickelt, wie in den Ausführungen in Kapitel 2.3.3 erläutert wurde. Die Besonderheit der Mathematik ist, dass zur Erfassung und Kodierung mathematischer Objekte und Phänomene bestimmte Zeichen und Symbole erforderlich sind, denen Bedeutung zugeschrieben werden muss. Obwohl die ‚Zeichen‘ und ‚Symbole‘ (Abb. 7.2 rechts) konkret erfassbare und konventionelle Einheiten darstellen, muss jeder Lernende deren Bedeutung neu herstellen sowie sie in Bezug auf das bereits vorhandene Wissen einordnen und reflektieren. Vor dem Hintergrund geeigneter ‚Referenzkontexte‘ (Abb. 7.2 links) werden sie individuell gedeutet. Das heißt, dass gleiche Zeichen/Symbole unterschiedlich interpretiert werden können. Mathematische Begriffe und Konzepte (Abb. 7.2 unten) werden folglich in einer Wechselbeziehung zwischen dem Zeichen/Symbol-System und dem Referenzkontext konstruiert (Steinbring, 2000; 2005). Lernen findet demnach in einem „Spannung[sfeld] zwischen einer anfänglich empirischen Deutung elementarer mathematischer Begriffe und einem Verständnis, daß mathematische Beziehungen und Strukturen in symbolisierter und operativer Weise verkörpert“ werden, statt (Steinbring, 2000, S. 45). Mithilfe des von Steinbring entwickelten epistemologischen Dreiecks (2000, 2015; vgl. Abb. 7.2) können genau diese mathematischen Entwicklungen und Lernprozesse analysiert und dargestellt werden. Es zeigt die Wechselbeziehung zwischen Zeichen/Symbol-System und Referenzkontext auf, durch die mathe-
211
7.2 Methoden der Auswertung
matische Begriffe und Konzepte konstruiert werden. In Abbildung 7.2 werden die unterschiedlichen Felder genauer erläutert. Gegenstand/Referenzkontext
Zeichen/Symbol
Ein erklärungsbedürftiges mathematisches Zeichen/Symbol
Ein partiell bekannter und Erklärung gebender Referenzkontext
Dazu gehören visualisierte und/oder artikulierte Zahlen, Rechenzeichen, Veranschaulichungen, arithmetische Muster usw., die in einigen Aspekten in Frage stehen. Ihnen muss daher Bedeutung zugeschrieben werden.
Vor dem Hintergrund geeigneter und verschiedener Referenzkontexte wird das Zeichen/Symbol individuell gedeutet. Dadurch wird ihnen Bedeutung zugeschrieben.
Eine allg. mathematische ‚Idee‘ oder allg. mathematische Begriffe und Konzepte Die Vermittlung zwischen Zeichen/Symbol und Referenzkontext wird durch diese begrifflichen Bedingungen reguliert. Begriff
Abbildung 7.2:
Epistemologisches Dreieck nach Steinbring (2000, S. 34 ff.) ergänzt durch Erläuterungen der einzelnen Felder auf Grundlage von Steinbring (2000, 2015)
Für die Analysen der vorliegenden Untersuchung werden die Bedeutungen der einzelnen Felder, wie sie in Abbildung 7.249 beschrieben sind, übernommen und das Analyseinstrument zum Zweck der Beantwortung der Forschungsfragen adaptiert angewandt (vgl. dazu Abb. 7.3). Eine bedeutende Adaption des in Abbildung 7.3 dargestellten epistemologischen Dreiecks im Vergleich zum Original (Abb. 7.2), ist die Integration des IMPULSES50, der auslöst, dass das jeweilige Zeichen fokussiert und der Referenzkontext infolgedessen verändert wird. Diese IMPULSE aus der Interaktion, die lernförderlich sein können, werden im Feld ‚Zeichen‘ grau abgebildet, um sie mit den fokussierten Zeichen und den Veränderungen des Referenzkontextes sowie des Begriffs in Beziehung setzten zu können.
49 Für eine detailliertere Erklärung des epistemologischen Dreiecks sowie dessen Entstehungsgeschichte vgl. Steinbring (2000). 50 Die Impulse werden im weiteren Verlauf an ausgewählten Stellen durch den Effekt KAPITÄLCHEN hervorgehoben.
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7 Methoden der Datenerhebung und -auswertung Referenzkontext
Zeichen
Mögliche Referenzkontexte vgl. Tabelle 3.1. und 3.2 rechte Spalte „INDIKATOREN“
Mögliche Zeichen (visualisiert und/oder artikuliert), die in einigen Aspekten in Frage stehen ‐ ‐ ‐ ‐ ‐ ‐ ‐ ‐
Implizit oder explizit Referenz herstellen zu: ‐ isolierte Zahlen (Summen oder Summanden) ‐ Zahlwortreihe der natürlichen Zahlen ‐ arithmetische Muster und Strukturen ‐ Zahleigenschaften ‐ Zahlbeziehungen ‐ Aufgabeneigenschaften ‐ Aufgabenbeziehungen ‐ Konstanzgesetze ‐ andere Rechengesetze ‐ ...
Zahlsymbole/Zahlwörter Additionszeichen Gleichheitszeichen additive Gleichungen arithmetische Muster von Zahlen arithmetische Muster von Aufgaben Sortierungen/ Ordnungssysteme ... (Ergänzt durch den IMPULS, der auslöst, dass das (neue) Zeichen fokussiert und der Referenzkontext verändert wird.)
Mögliche Begriffe vgl. Tabelle 3.1 und 3.2 linke Spalte „KATEGORIEN“ ‐ arithmetische Eigenschaften und Beziehungen von Zahlen und Aufgaben ((R) Referenzen) ‐ deren Nutzung bei der Bestimmung der Nachbarsummen ((L) Lösungswerkzeuge), ‐ deren Nutzung bei der Suche nach Nachbarzahlen und ‐ summen hinsichtlich eines strategischen Vorgehens (V). Begriff
Abbildung 7.3:
Für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung adaptiertes epistemologisches Dreieck mit Erläuterungen zu möglichen Zeichen, Referenzkontexten und Begriffen in den angeregten interaktiv-kooperativen Lernsituationen, ergänzt durch den IMPULS (adaptiert von Steinbring, 2000, 2015, für das Original vgl. Abb. 7.2)
Das adaptierte epistemologische Dreieck und die Rekonstruktion der Weiterentwicklung individueller Zugänge und Lösungsprozesse (FF1): Wird auf ein (neues) Zeichen fokussiert, dass in einigen Aspekten in Frage steht und dem Bedeutung zugeschrieben werden muss, kann es zu einer Veränderung im linken Feld des ‚Referenzkontextes‘ kommen. Dieses kann infolgedessen zu einer Veränderung im unteren Feld der mathematischen ‚Begriffe‘ führen. Geht der neue Erklärung gebende Referenzkontext mit einer Veränderung des Begriffs einher, und ist dieser Begriff bei dem betreffenden Kind so zuvor noch nicht aufgetreten, wird dies als eine situationsbezogene Veränderung bzw. Entwicklung interpretiert. Findet diese begriffliche Entwicklung bezüglich der Wahrnehmung von Eigenschaften und Beziehungen sowie bezüglich der Nutzung strategischer Werkzeuge statt (prägnante Anzeichen flexiblen Rechnens, vgl. Kap. 3.3.1), wird dies als eine Weiterentwicklung, also ein Voranschreiten im Lernprozess in der konkreten Situation gedeutet (s. o. zur Definition bzw. zur Operationalisierung der Weiterentwicklung von Lernprozessen). Dieser Weiter-
7.2 Methoden der Auswertung
213
entwicklung kann – muss aber nicht – einer Veränderung im Feld ‚Zeichen‘ zugrunde liegen. Verändert sich das Zeichen nicht, dann ist es kein neu fokussiertes Zeichen und derselben erklärungsbedürftigen Situation wird eine neue Bedeutung zugeschrieben (mehr zur Veränderung des ‚Zeichens‘ s. u.). Diese Veränderungen der Referenzkontexte sowie der Begriffe werden durch veränderte Äußerungen und Handlungen der Kinder beobachtbar und mithilfe des in Kapitel 3.3 entwickelten Modells zum flexiblen Rechnen operationalisiert. Die zum Modell gehörenden Tabellen (Tab. 3.1, Tab. 3.2) liefern die Indikatoren und Kategorien für die Analyse und Interpretation der Äußerungen und Handlungen (für eine genauere Erläuterung vgl. Kap. 7.2.1). Das adaptierte epistemologische Dreieck und die Rekonstruktion interaktiver Strukturen (FF2): Die Analysen mithilfe des epistemologischen Dreiecks lassen in der hier genutzten Adaption ebenso Aussagen über interaktive Strukturen zu. Hierfür werden in der vorliegenden Arbeit besonders das erklärungsbedürftige, visualisierte und/oder artikulierte ‚Zeichen‘ und der individuelle, Erklärung gebende ‚Referenzkontext‘ betrachtet. Im Folgenden werden mögliche Ereignisse hinsichtlich dieser Felder erläutert. Wenn der Referenzkontext des Kindes A zum Zeichen von Kind B wird, wird deutlich, dass Kind B auf die in der Interaktion getätigten Äußerungen und Handlungen des Partners eingeht, diese vor dem Hintergrund eigener Referenzkontexte reflektiert und dabei/dadurch ggf. neue eigene Deutungen konstruiert. Kommt es zu einer neuen Deutung, die mit einer Änderung des Begriffes einhergeht (s. o. zur Weiterentwicklung), kann davon ausgegangen werden, dass der Erklärung gebende Referenzkontext von Kind A ein Impuls für neue Deutungen bei Kind B war. (Weiterentwicklung individueller Zugänge und Lösungsprozesse infolge eines Impulses durch die Interaktionshandlung eines anderen Kindes.) Gleichermaßen kann sich dies infolge von getätigten Äußerungen und/oder Handlungen seitens der Lehrkraft (vgl. dazu auch Impulse in der Rolle der Lehrkraft, Kap. 4.2.3 und Kap. 7.1.2) ereignen, die zum Zeichen eines Kindes werden. In diesem Fall kann angenommen werden, dass die didaktisch geplanten oder didaktisch spontanen Äußerungen und/oder Handlungen seitens der Lehrkraft ein Impuls für neue Deutungen bei dem jeweiligen Kind waren, sofern sich diese verändern. (Weiterentwicklung individueller Zugänge und Lösungsprozesse infolge eines Impulses der Lehrkraft.) Werden hingegen eigene Referenzkontexte eines Kindes zum eigenen neuen Zeichen, das neu gedeutet wird und ggf. den zugrunde liegenden Begriff verändert, ist dies vermutlich auf die eigentätige Auseinandersetzung mit dem mathematischen Lerngegenstand im Kontext des Lehr-Lern-Arrangements zurückzuführen. In diesem speziellen Moment spielt folglich die Interaktion mit dem
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7 Methoden der Datenerhebung und -auswertung
Partnerkind eine eher untergeordnete Rolle – wobei die vorangegangene Interaktion natürlicherweise jede (neue) Deutung implizit mit beeinflusst. Verändert sich das Zeichen nicht, jedoch der Referenzkontext und der Begriff, wird derselben erklärungsbedürftigen Situation eine neue Bedeutung zugeschrieben. Auch hierbei ist anzunehmen, dass die eigentätige Auseinandersetzung mit dem mathematischen Lerngegenstand im Kontext des Lehr-LernArrangements zur neuen Deutung beiträgt. (Weiterentwicklung individueller Zugänge und Lösungsprozesse infolge der eigenen Auseinandersetzung mit der Struktur des mathematischen Lerngegenstands) (3) Kategorisierung interaktiver Strukturen in Anlehnung an Naujoks (2000) Kooperationstypen Die Kooperationstypen nach Naujok (2000) dienen dazu, das beobachtete Interaktionsgeschehen detaillierter zu beschreiben, einzuordnen und zu kategorisieren. Naujoks Interpretation des Begriffes ‚Kooperation‘ grenzt sich vom Kooperationsverständnis dieser Arbeit (vgl. Kap. 2.1.1, für Erläuterungen dazu s. den nächsten Absatz) ab, was zur Folge hatte, dass die in Kapitel 2.1.3 dargestellten Kooperationstypen sowie deren Eigenschaften und Indikatoren adaptiert wurden (vgl. Kap. 7.2.2). So wurden sie für die vorliegende Arbeit in den ersten beiden Erhebungszyklen empirisch weiterentwickelt und ausgeschärft. Tabelle 7.4 bildet diese Weiterentwicklung und Ausschärfung ab. Es wird zwischen vier Kategorien unterschieden: ‚parallele Aktivitäten ohne gem. Ziel‘, ‚arbeitsteilige Kooperation‘ (oder ‚parallele Aktivitäten mit gem. Ziel‘), ‚dominante Kooperation‘ und ‚ausgewogene Kooperation‘. Es handelt sich hierbei nicht mehr um ‚Kooperationstypen‘, wie Naujok sie nennt, sondern vielmehr um Kategorien, die zur Beschreibung und Einordnung des Interaktionsgeschehens während der angeregten interaktiv-kooperativen Lernsituationen beitragen. Von dem Begriff ‚Kooperationstypen‘ wird bewusst Abstand genommen, da es sich bei nur dreien der vier Kategorien um zielgerichtete Interaktionen – also Kooperation – handelt. Nach dem hier vorliegenden Kooperationsverständnis (vgl. Kap. 2.1.1) kann man folglich bei allen Kategorien von Interaktion sprechen, jedoch nicht von Kooperation. Die Ausprägungen der Aspekte ‚Intensität der Interaktion‘, ‚Themen- bzw. Zielfokussierung‘ und ‚aufgabenbezogene Interaktionsstruktur‘ gelten als Indikatoren der vier Kategorien des Interaktionsgeschehens. Sie werden im Folgenden genauer erläutert.
215
7.2 Methoden der Auswertung
Tabelle 7.4: Vier Kategorien zur Beschreibung und Einordnung des Interaktionsgeschehens während der interaktiv-kooperativen Lernsituationen (eine Adaption der Kooperationstypen nach Naujok, 2000; für das Original vgl. Tab. 2.1)
INDIKATOREN Intensität der Interaktion (verbal, nonverbal)
KATEGORIEN
Parallele Aktivitäten ohne gem. Ziel Parallele Aktivitäten mit gem. Ziel
gar nicht – gering
gering
Themen- und Zielfokussierung
Aufgabenbezogene Interaktionsstruktur
(aufgabenbezogen: fachlich, materiell, methodisch) different
nicht vorhanden
A A’ und B B’ (A’ kann ≈ B’) potenziell different
symmetrisch
(fachlich)
A A’ C und B B’ C
oder
Arbeitsteilige Kooperation
Dominante Kooperation
Ausgewogene Kooperation A/B: A: B: : A’/B’: ≈:
stark
übereinstimmend
asymmetrisch
stark
B helfend: A + B A’ übereinstimmend
asymmetrisch
stark
B prädominant: A + B B’ übereinstimmend
symmetrisch
A + B A’ ≈ B’ oder A + B (AB)’
Kinder, die in Interaktion treten Kind mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf ‚Lernen‘ Kind mit durchschnittlichen Mathematikleistungen fokussiert auf Thema bzw. Ziel im Arbeits- und Interaktionsprozess des jeweiligen Kindes sind etwa gleich
Intensität der Interaktion: Ist allgemein von Interaktion die Rede, ist ein wechselseitiges aufeinander bezogenes Handeln gemeint, das sowohl verbal als auch nonverbal geschehen kann (Definition in Kap. 2.1.1). Hinsichtlich der Intensität der Interaktion wird unterschieden, ob gar keine, eine geringe oder eine starke Interaktion zwischen den Kindern zu beobachten ist. Eine geringe Interaktion ist im Vergleich zu einer starken eher punktuell ausgeprägt. Es kommt zu keinem fortlaufenden wechselseitig aufeinander bezogenen Handeln, sondern zu einem vereinzelten Austausch, der die sonst eher individuellen Arbeitsprozesse der Kinder kurzzeitig unterbricht bzw. diesen vorangeht oder folgt.
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7 Methoden der Datenerhebung und -auswertung
Themen- bzw. Zielfokussierung: Hinsichtlich der aufgabenbezogenen Themen- bzw. Zielfokussierung wird unterschieden, ob die beiden Kinder (A/B) konzentriert auf ein gemeinsames Thema bzw. Ziel handeln (übereinstimmend) oder eher individuelle Themen und Ziele im Arbeitsprozess fokussieren (different). Während einer übereinstimmenden Themen- bzw. Zielfokussierung kann sich entweder ein Kind anpassen (A + B A’ mit B helfend oder A + B B’ mit B prädominant) oder es können gemeinsame und von vorneherein ähnliche (A + B A’ ≈ B’) bzw. in der Interaktion gemeinsam hervorgebrachte (A + B (AB)’) Themen und Ziele anvisiert werden. Aufgabenbezogene Interaktionsstruktur: Im Hinblick auf die aufgabenbezogene Interaktionsstruktur wird zwischen einer nicht vorhandenen fachlichinhaltlichen Interaktion und einer asymmetrischen oder symmetrischen Struktur dieser unterschieden. Die beiden zuletzt genannten Strukturen lassen sich wie folgt differenzieren: Tabelle 7.5: Merkmale zur Unterscheidung zwischen einer asymmetrischen und einer symmetrischen aufgabenbezogenen Interaktionsstruktur
asymmetrisch - Allgemeiner Redeanteil kann gleichverteilt oder dominant sein. - Fachlich-inhaltlicher Redeanteil ist dominant. - Bei einem gleichverteilten allgemeinen Redeanteil ist die fachlichinhaltliche Interaktion charakterisiert durch inhaltliche Wiederholungen, Nachmachen und -sprechen, Bestätigungen sowie die Akzeptanz von Ideen und Sichtweisen, ohne diese zu verstehen oder zu hinterfragen.
symmetrisch - Allgemeiner Redeanteil ist gleichverteilt. - Fachlich-inhaltlicher Redeanteil ist gleichverteilt. - Die fachlich-inhaltlichen Interaktionsbeiträge (verbal oder nonverbal) können auf unterschiedlichen Niveaus stattfinden, sind jedoch wechselseitig aufeinander bezogen (inhaltliche Verknüpfung).
Die Tabelle 7.5 verdeutlicht, dass die Unterscheidung zwischen einer asymmetrischen und einer symmetrischen Beziehungsstruktur nicht mit der Verteilung des allgemeinen Redeanteiles gleichzusetzen ist. Vielmehr geht es darum, ob sich beide Kinder mit ihren individuellen fachlich-inhaltlichen Ideen in die Interaktion einbringen und verständnisbasiert in Interaktion treten. Theoretische Grundlage für diese Abgrenzung ist die Differenzierung von Littleton et al. (2005, S. 168 ff.) hinsichtlich unterschiedlicher Strukturen der inhaltlichen Verknüpfung von Aussagen während der Interaktion zwischen Grundschulkindern (vgl. Kap. 2.1.3). Die hier beschriebene Asymmetrie ist angelehnt an den ‚Cumulative Talk‘. Er bezeichnet die unreflektierte Übernahme von Annahmen einer an der Kommunikation beteiligten Person. Die Interaktion ist außerdem charakterisiert durch inhaltliche Wiederholungen und Bestätigungen sowie die Akzeptanz von Ideen und Sichtweisen, ohne diese zu hinterfragen oder über
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7.2 Methoden der Auswertung
diese zu diskutieren. Die hier beschriebene Symmetrie ist hingegen angelehnt an den ‚Exploratory Talk‘. Er bezeichnet die gemeinsame aktive Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Ideen und Sichtweisen. Dabei sind die Äußerungen immer inhaltsgebunden und die Interaktion charakterisiert durch verschiedene Vorschläge, das Einbringen individueller Ideen, Nachfragen, Antworten und Begründungen (für nähere Informationen vgl. Kap. 2.1.3). Auf Grundlage der weiterentwickelten Tabelle 7.4 nach Naujok (2000; für das Original vgl. Tab. 2.1) wird das in den Design-Experimenten beobachtete Interaktionsgeschehen in Kapitel 8.2 detaillierter beschrieben, eingeordnet und kategorisiert. (4) Rekonstruktion ‚produktiver Momente‘ in der Interaktion in Anlehnung an Dekkers und Elshout-Mohrs ‚interaktive Schlüsselaktivitäten‘ (1998) Um potenziell lernförderliche Momente im aufeinander bezogenen Handeln auszumachen, wird bereits in der Grobanalyse (vgl. Kap. 7.2.1) nach Impulsen im Interaktionsgeschehen gesucht, nach denen eine Veränderung auf der Lösungsprozessebene zu beobachten ist. Solche Impulse gehen oftmals mit ‚interaktiven Schlüsselaktivitäten‘ (ebd.) einher. Diese Suche wird in der Feinanalyse entlang der Transkripte intensiviert. Nach Dekker und Elshout-Mohr (1998) sind interaktive Schlüsselaktivitäten („key activities“, ebd., S. 305; vgl. Kap.2.1.3) bedeutsam für erfolgreiches Mathematiklernen in der Interaktion. Sie dienen in dieser Arbeit daher als Anzeichen für ein lernförderliches Interaktionsgeschehen und als Hinweis auf interaktive Lernprozesse. Interaktive Schlüsselaktivitäten werden durch die Interaktion auf natürliche Weise angeregt und gehen einher mit ‚mentalen Aktivitäten‘ („mental activities“, ebd., S. 308), wie das Nachdenken und Reflektieren. Impuls in der Interaktion (verbal oder nonverbal), der ein lernförderliches Interaktionsgeschehen auslösen kann. Abbildung 7.4:
‚Mentale Aktivitäten‘
‚Interaktive Schlüsselaktivitäten‘
Potenzielle Anzeichen für ein lernförderliches Interaktionsgeschehen
Dekker und Elshout-Mohr (1998) arbeiteten in einem Forschungsprojekt (vgl. Kap. 2.1.3) vier verschiedene ‚interaktive Schlüsselaktivitäten‘ heraus: „to show one’s work, to explain one’s work,
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7 Methoden der Datenerhebung und -auswertung
to justify one’s work, to reconstruct one’s work.“ (ebd., S. 305) Für das vorliegende Forschungsprojekt wurden diese sinngemäß übersetzt und hinsichtlich des mathematischen Inhaltes, der in der Interaktion zwischen den Kindern im Fokus steht, angepasst: Zeigen/Beschreiben, Erklären/Begründen, Argumentieren (Vermuten, Überprüfen, Folgern, Begründen) /Rechtfertigen, Rekonstruieren/Modifizieren/Weiterentwickeln. Abbildung 7.5 zeigt die vier ‚interaktiven Schlüsselaktivitäten‘ auf und setzt sie in direkten Bezug zum mathematischen Inhalt dieses Forschungsprojektes, dem flexiblen Rechnen (Referenzen (R), Lösungswerkzeuge (L) und strategische Vorgehensweisen (V)). ‚Interaktive Schlüsselaktivitäten‘ sind bedeutend für ein lernförderliches Interaktionsgeschehen (vgl. Dekker & Elshout-Mohr, 1998, „key activities“) und können auf interaktive Lernprozesse hinweisen: •
Impuls
•
in der Interaktion ‚Mentale (verbal oder nonverbal), der ein lernförderliches Aktivitäten‘ Interaktionsgeschehen auslösen kann.
Abbildung 7.5:
Zeigen/ Beschreiben
Erklären/ Begründen
neuer Eigenschaften und Beziehungen (R) neuer strategischer Vorgehensweisen beim Rechnen (L) neuer strategischer Vorgehensweisen beim Suchen (V) neuer Eigenschaften und Beziehungen (R) neuer strategischer Vorgehensweisen beim Rechnen (L) neuer strategischer Vorgehensweisen beim Suchen (V)
•
Argumentieren (Vermuten, Überprüfen, Folgern, Begründen)/ Rechtfertigen mit Hilfe von Eigenschaften und Beziehungen (R) strategischen Vorgehensweisen beim Rechnen (L) strategischen Vorgehensweisen beim Suchen (V)
•
Rekonstruieren/ Modifizieren/ Weiterentwickeln von Eigenschaften und Beziehungen (R) strategischen Vorgehensweisen beim Rechnen (L) strategischen Vorgehensweisen beim Suchen (V)
‚Interaktive Schlüsselaktivitäten‘ (nach Dekker & Elshout-Mohr, 1998) als potenzielle Anzeichen für ein lernförderliches Interaktionsgeschehen
7.2 Methoden der Auswertung
219
Die Stellen, an denen in der Interaktion ein Impuls51 (Anstoß, Anregung; vgl. DUDEN online, 2017) und darauf folgend eine ‚interaktive Schlüsselaktivität‘ auszumachen ist, die mit einer Veränderung auf der Lösungsprozessebene hinsichtlich der Referenzen (R), Lösungswerkzeuge (L) und/oder strategischen Vorgehensweisen (V) einhergeht, weisen auf potenziell lernförderliche Momente in der Interaktion hin (für Informationen zum daraus abgeleiteten Konstrukt des ‚produktiven Momentes‘ in der Interaktion vgl. Kap. 8.3). Es wird angenommen, dass an diesen Stellen die Interaktion die Lösungs- und Lernprozesse produktiv beeinflusst, indem durch die Impulse eine Konfrontation mit etwas Neuem, Andersartigen, Irritierenden oder Unerwarteten stattfindet (vgl. auch ‚produktive Irritationen‘ von Nührenbörger & Schwarzkopf, 2013; 2015a; 2015b). Dadurch können mentale Aktivitäten („mental activities“, Dekker & Elshout-Mohr, 1998, S. 308) wie das Nachdenken oder das Reflektieren angestoßen werden und eigene Zugangsweisen und Lösungsprozesse werden gegebenenfalls neu entwickelt, weiterentwickelt oder modifiziert. Um diese Vermutung zu stützen, wird an genau diesen Stellen der potenziell lernförderlichen Momente eine epistemologische Analyse in Anlehnung an Steinbring (2000, 2015; s. o.) vorgenommen, um die Lernchancen beider beteiligten Kinder genauer zu untersuchen und aufzuzeigen. Es erfolgt auf diese Weise eine Rekonstruktion der Weiterentwicklung individueller Zugänge und Lösungsprozesse (vgl. Kapitel 8.1 für eine Analyse an beispielhaften Szenen). Zudem lässt die Analyse mit dem adaptierten epistemologischen Dreieck genauere Aussagen über die Impulse in diesen potenziell lernförderlichen Momenten zu, wie im Abschnitt (2) zur epistemologisch orientierten Analyse bereits erläutert wurde. Auf diese Weise wird in Kapitel 8.3 und 10.1 genauer betrachtet, wie sich Lernchancen durch Impulse in der Interaktion ergeben können und das daraus abgeleitete Konstrukt des ‚produktiven Momentes‘ wird vorgestellt. 7.2.3 Gütekriterien interpretativ-qualitativer Forschung Ebenso wie quantitative Forschung kann qualitative Forschung nicht ohne Gütekriterien bestehen. Jedoch sind quantitative Kriterien nicht für die Bewertung qualitativer Studien geeignet, sondern müssen an deren spezifische Kennzeichen angepasst werden (Steinke, 2000, S. 322). Diese können je nach Ziel, Fragestellung, Gegenstand und verwendeter Methode der jeweiligen qualitativen Studie
51 Für das vorliegende Verständnis des Ausdrucks ‚Impuls‘ vgl. Abbildung 7.4 und 7.5 sowie den DUDEN (Anstoß, Anregung; DUDEN online, 2017). Für eine Unterscheidung verschiedener Impulse vgl. Abschnitt ‚(2) Epistemologisch orientierte Analyse nach Steinbring (2000, 2015) zur Rekonstruktion individueller Lernprozesse und interaktiver Impulse‘.
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7 Methoden der Datenerhebung und -auswertung
unterschiedlich sein und müssen daher untersuchungsspezifisch konkretisiert und modifiziert werden52 (ebd., S. 324). Für die vorliegende Untersuchung kommt den Kriterien ‚Intersubjektive Nachvollziehbarkeit‘, ‚Indikation des Forschungsprozesses‘, ‚Empirische Verankerung‘, ‚Limitation‘, ‚Relevanz und Reflektierte Subjektivität‘ (Steinke, 2000, S. 324 ff.) eine besondere Bedeutung zu. Sie werden daher im Folgenden konkretisiert und untersuchungsspezifisch modifiziert sowie durch das Kriterium ‚Ökologische Validität‘ (Gravemeijer & Cobb, 2013, S. 103; Prediger et al., 2015, S. 886) ergänzt. Intersubjektive Nachvollziehbarkeit In dieser qualitativen Studie ist eine identische Replikation (intersubjektive Überprüfbarkeit) aufgrund der eingeschränkten Standardisierbarkeit des Forschungsvorgehens in den einzelnen Design-Experimenten (exploratives Vorgehen, nichtstandardisierte teilnehmende Beobachtungen, vgl. Kap. 4.2 und 7.1) unmöglich. Angestrebt wird daher eine intersubjektive Nachvollziehbarkeit des Forschungsprozesses, auf deren Basis die Bewertung der Ergebnisse erfolgen soll (Steinke, 2000, S. 324 ff.). Die Umsetzung dieses Bestrebens geschieht auf drei Wegen: anhand der Dokumentation des Forschungsprozesses, der Interpretation in Gruppen sowie der Entwicklung und Anwendung eines kategoriengeleiteten Verfahrens. Durch die Dokumentation des Forschungsprozesses wird einem „[...] externen Publikum die Möglichkeit gegeben, die Untersuchung Schritt für Schritt zu verfolgen und den Forschungsprozess und die daraus hervorgehenden Ergebnisse zu bewerten. Mit diesem Kriterium kann der für jede qualitative Studie einmaligen Dynamik zwischen Gegenstand, Fragestellung und methodischem Konzept Rechnung getragen werden.“ (Steinke, 2000, S. 324)
Diesbezüglich wird in dieser Arbeit zum einen das Vorverständnis des Forschers mit den zugrunde liegenden theoretischen Annahmen dargelegt (vgl. Kap. 1, 2 und 3). Des Weiteren schafft die Dokumentation der Erhebungsmethoden, des Erhebungskontextes, der Daten, der Auswertungsmethoden sowie weiterer Entscheidungen (z. B. Überlegungen zum Sampling) intersubjektive Nachvollziehbarkeit (vgl. Kap. 4 und 7). Einheitliche Transkriptionsregeln (vgl. Anhang) und präzise Verweise auf Informationsquellen bei der Analyse – in diesem Fall Verweise zu Aussagen aus den Transkripten – tragen dazu bei, dass der Leser nachvollziehen kann, auf welchen Daten die Interpretationen basieren (vgl. Kap. 8 und 9). Zu guter Letzt werden die Gütekriterien, denen dieses Projekt entsprechen soll, im vorliegenden Kapitel dokumentiert (Steinke, 2000).
52 Für eine Diskussion verschiedener Perspektiven und eine begründete Entwicklung eines Kriterienkataloges mit Gütekriterien qualitativer Forschung vgl. Steinke (2000).
221
7.2 Methoden der Auswertung
Die Interpretation in Gruppen erlaubte einen expliziten Umgang mit den erhobenen Daten und trug durch den Diskurs zur Herstellung von Nachvollziehbarkeit und Intersubjektivität bei (ebd.). Für das vorliegende Projekt wurde im Rahmen des FUNKEN-Forschungskollegs, in verschiedenen Arbeitsgruppen mit Kollegen und Experten sowie in Workshops und Diskussionen auf Tagungen über die Interpretation der Daten gemeinsam diskutiert. Außerdem gab es einen regelmäßigen Austausch mit zwei wissenschaftlichen Hilfskräften (Masterstudierende). Die Entwicklung und Anwendung eines kategoriengeleiteten Verfahrens trägt zu einer annähernden Vereinheitlichung des methodischen Vorgehens bei (ebd.). Im vorliegenden Projekt wurden deduktiv Kategorien aus der Theorie abgeleitet, die durch die Empirie weiterentwickelt wurden (vgl. u. a. Kap. 2, 3 und 7.2). Dies gewährleistete eine hinreichend erscheinende Regelgeleitetheit während der Analysen sowie eine Explikation der beobachteten Interaktions-, Lern- und Lehr-Lernprozesse, um auch dadurch den Nachvollzug und eine gewisse Kontrolle für den Leser zu ermöglichen. Indikation des Forschungsprozesses Um in diesem Projekt der Forderung nach der Angemessenheit (Indikation) des gesamten Forschungsprozesses nachzukommen, wurden alle Entscheidungen bewusst und begründet getroffen. Nach Steinke (2000) umfasst die Indikation des gesamten Forschungsprozesses folgende Aspekte, die hier mit den Kapitelverweisen auf die jeweiligen begründeten Entscheidungen bezüglich dieser Aspekte für die vorliegende Arbeit genannt werden: Indikation des qualitativen Vorgehens (vgl. Kap. 4.2.1, 4.2.2) Indikation der Methodenwahl: Erhebungsmethode (vgl. Kap. 4.2.3, 7.1.1 und 7.1.2) und Auswertungsmethoden (vgl. Kap. 7.2) Indikation von Transkriptionsregeln (s. Anhang) Indikation der (vgl. Kap. 7.1.3)
Samplingstrategie:
Begründetheit
des
Samplings
Indikation der methodischen Einzelentscheidungen im Kontext der gesamten Untersuchung: Frage nach der Passung von Methode und Auswertung Indikation der Bewertungskriterien Die letzten zwei Aspekte beziehen sich auf den Kontext der gesamten Untersuchung; daher ist hier eine gezielte Kapitelzuweisung nicht möglich. Vielmehr geht es um die gesamte und übergreifende Passung von Fragestellung, Methoden der Erhebung, Auswertung und den damit zusammenhängenden Qualitätskriterien, die in diesem Kapitel beleuchtet werden.
222
7 Methoden der Datenerhebung und -auswertung
Empirische Verankerung Die zentralen Produkte der in dieser Untersuchung iterativ aufeinander bezogenen Gestaltung und Beforschung von Interaktions-, Lern- und Lehr-Lernprozessen sind lokale Theorien über diese Prozesse sowie das Design der entsprechenden Lernumgebungen mit Design-Prinzipien (vgl. Kap. 4.2.2). Die Theoriegenerierung sowie die Designprodukte wurden empirisch verankert, indem sie auf der Basis systematisch entwickelter Datenanalysen entwickelt und unter Bezug auf die Daten begründet wurden. Folgende Wege der empirischen Verankerung nach Steinke (2000) wurden in diesem Projekt genutzt: Verwendung adaptierter und modifizierter Methoden: u. a. interpretativepistemologisch orientierte Analyse interaktiver Wissenskonstruktion (vgl. Kap. 7.2.2) hinreichende Textbelege zur Stützung der Theorie (vgl. u. a. Kap. 1, 2, 3, 8 und 9) Nutzung analytischer Induktion als Methode der Theoriegenerierung: Bereits entwickelte Theorien werden anhand weiterer Fälle – mithilfe einer komparativen Analyse – überprüft und bei neuen Erkenntnissen (Nichtzutreffen der Theorie) weiterentwickelt (vgl. auch Erläuterung der theoretischen Sättigung, Kap. 7.1.3) Limitation Im Sinne eines „testing the limits“ werden die Grenzen des Geltungsbereiches einer im Forschungsprozess entwickelten Theorie herausgefunden und geprüft (Steinke, 2000, S. 329 f.). Durch die Verschiedenheit der einzelnen Kinder sowie die unterschiedlichen Umstände in den jeweiligen Herkunftsklassen war eine generelle Verallgemeinerbarkeit in diesem Projekt nicht erreichbar. Dennoch wurde diese durch die Technik der gezielten Fallkontrastierungen (vgl. auch Kap. 7.1.3) zumindest annäherungsweise erwirkt, um lokale Theorien zu generieren. Hierbei wurden Fälle ausgewählt und analysiert, die im Vergleich zur Theorie verschieden waren, um vergleichenden und kontrastierende Gegenüberstellungen der Fälle zu ermöglichen. Dies „ermöglicht [einerseits] die Identifikation von Elementen, Ursachen, Bedingungen etc. [beispielsweise von Design-Prinzipien], die gleichartige Fälle miteinander teilen“ (Steinke, 2000, S. 330), und andererseits die Überprüfung bereits entwickelter Theorien für verschiedenartige Fälle, um diese – bei Nichtzutreffen der Theorie für andere Fälle – weiterentwickeln zu können (vgl. auch Ausführungen zur analytischen Induktion s. o. und zur theoretischen Sättigung in Kap. 7.1.3). Die Fälle der vorliegenden Untersuchung sind u. a. verschieden hinsichtlich der Herkunftsklassen der Kinder, der Geschlechterverteilung in den Paarkonstellationen,
7.2 Methoden der Auswertung
223
der Heterogenitätsspanne zwischen den Kindern in den Paarkonstellationen und der Realisierung und Konkretisierung der Design-Elemente und DesignPrinzipien. Die Fallkontrastierungen und komparativen Analysen in Bezug auf die ersten drei Aspekte tragen zur Beantwortung der Forschungsfragen auf Forschungsebene bei (FF 1–3, vgl. Kap. 4.1.2). Der letzte Punkt unterstützt die Identifikation von Elementen, Ursachen und Bedingungen hinsichtlich des Lehr-LernArrangements und trägt folglich zur Beantwortung der Forschungsfragen auf Entwicklungsebene bei (EF 1–3, vgl. Kap. 4.1.2). Natürlicherweise sind die Fälle zudem im Hinblick auf weitere Aspekte verschieden, beispielsweise bezüglich der familiären Herkunft, der schulischen Vorerfahrungen, der affektiven und sozialen Gesichtspunkte usw. Diese Aspekte lassen sich teilweise nur schwer überprüfen und würden – selbst wenn sie sich überprüfen ließen – den Rahmen der vorliegenden Arbeit übersteigen bzw. nicht zur Beantwortung der hier fokussierten Forschungsfragen beitragen. Aus diesen Gründen werden sie in der vorliegenden Arbeit nicht explizit berücksichtigt. Relevanz Ein weiteres hier relevantes Kriterium betrifft die Notwendigkeit, die lokalen Theorien hinsichtlich ihres pragmatischen Nutzens zu beurteilen (Steinke, 2000, S. 330) Hierfür wurde in vorangegangenen Kapiteln die Relevanz der Fragestellung aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet (vgl. Kap. 1, 2, 3 und 4.1.1). Des Weiteren wird in Folgekapiteln explizit auf die Relevanz der entwickelten lokalen Theorien eingegangen, indem implizit und explizit erörtert wird, welchen relevanten Beitrag die entwickelten Theorien – u. a. für die Unterrichtspraxis und die weitere mathematikdidaktische Forschung – leisten können (vgl. Kap. 8, 9, 10 und 11). Reflektierte Subjektivität Das Kriterium der Reflektierten Subjektivität „prüft, inwiefern die konstituierende Rolle des Forschers als Subjekt (mit seinen Forschungsinteressen, Vorannahmen, [...] etc.) und als Teil der Sozialen Welt, die er erforscht, möglichst weitgehend methodisch reflektiert in der Theoriebildung einbezogen wird“ (Steinke, 2000, S. 330 f.). Dies wurde im vorliegenden Projekt gewährleistet, indem die Verfasserin einerseits bewusst die Rolle der Forscherin einnahm, um mehr über Vorgehensweisen, Denk- und Lernprozesse herauszufinden. Gleichzeitig gab die Verfasserin ebenso bewusst Impulse in der Rolle der Lehrerin, um Interaktions- und Lernprozesse anzuregen sowie Hilfestellung zu geben (vgl. Kap. 4.2.3 und 7.1.2). Um eine reflektierte Subjektivität herzustellen, wurden diese Lehrerimpulse sowie das forschende Nachfragen der Verfasserin in den
224
7 Methoden der Datenerhebung und -auswertung
Analysen mitberücksichtigt (vgl. Kap. 8 und 9). Dies spiegelt sich auch in den Ergebnissen zu den ‚produktiven Momenten‘ (vgl. Kap. 8.3.2) und den DesignPrinzipien (vgl. Kap. 9.4.2) wider, in denen die Impulse seitens der Lehrerin eine zentrale Rolle einnehmen. Ökologische Validität „Design research aims for ecological validity, […] (the description of) the results should provide a basis for adaptation to other situations“ (Gravemeijer & Cobb, 2013, S. 101). Dem Zitat folgend ist dieses Kriterium eng mit demjenigen der Intersubjektiven Nachvollziehbarkeit verknüpft. Eine detaillierte und nachvollziehbare Beschreibung des theoretischen Kontextes (vgl. Kap. 1, 2 und 3), des Forschungsprozesses (vgl. Kap. 4, 5, 6 und 7) sowie besonders der Ergebnisse (Kap. 8, 9, 10 und 11) erhöht die Ökologische Validität, sodass Außenstehende abschätzen können, inwieweit und in welchem Umfang eine Übertragung der lokalen Theorien zu den Interaktions-, Lern- und Lehr-Lernprozessen sowie der Design-Prinzipien auf ihren eigenen alltäglichen Unterrichtskontext möglich ist, denn „[b]y describing details of the participating students, of the teaching-learning process, and so forth, together with an analysis of how these elements may have influenced the whole process, outsiders will have a basis for deliberating adjustments to other situations.“ (Gravemeijer & Cobb, 2013, S. 101)
Das Kriterium ‚Ökologische Validität‘ erfordert daher, dass die lokalen Theorien und die daraus resultierenden theoretischen Beiträge eine ganzheitliche Kontextbetrachtung berücksichtigen (Prediger et al., 2015, S. 886; s. o.). Für die Forschung hat das oft zur Folge, dass eine Erfüllung des Kriteriums zunächst ausschließlich an wenigen Fällen realisierbar ist (ebd.). Auch in der vorliegenden Studie wurde aus diesem Grund die gegebene Komplexität – und damit einhergehend die Situation einer Klasse – in den Laborsettings nachgestellt, um zuerst eine erfolgreiche Erprobung des Lehr-Lern-Arrangements sowie eine Erforschung der angeregten komplexen Prozesse im überschaubaren Rahmen sicherzustellen, bevor eine Untersuchung im Klassenunterricht erfolgen kann (für eine ausführliche Begründung der Laborsettings vgl. Kap. 4.2.3). Auf Grundlage der in diesem Kapitel dargelegten und begründeten Methodenwahl zur Datenerhebung und -auswertung werden in den folgenden Kapiteln die in den Design-Experimenten erhobenen Daten ausgewertet. Kapitel 8 (‚Auswertung und Interpretation gegenstandsspezifischer individuell-zieldifferenter Lernund Interaktionsprozesse‘) widmet sich dabei dem Forschungsinteresse (F) und Kapitel 9 (‚Auswertung und Interpretation gegenstandsspezifischer LehrLernprozesse‘) dem Entwicklungsinteresse (E) der vorliegenden Arbeit.
8 Auswertung und Interpretation gegenstandsspezifischer individuell-zieldifferenter Lern- und Interaktionsprozesse „However, within design research with a focus on learning processes, theorizing is not restricted to validating theories formulated in hypotheses but about emergent theorizing in an evolutionary sense of refining and revising categories and conjectures.“ (Prediger et al., 2015, S. 886)
Das übergeordnete Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit ist es, zu beforschen, wie interaktiv-kooperative Lernsituationen zwischen Kindern mit und ohne Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung bezüglich der individuellen Lernprozesse zum flexiblen Rechnen und der interaktiven Strukturen verlaufen (Forschungsebene), um zielführende Gestaltungsmerkmale eines Lehr-LernArrangements zur gelingenden Anregung fruchtbarer interaktiv-kooperativer Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht zur zieldifferenten Förderung des flexiblen Rechnens abzuleiten (Entwicklungsebene). Von diesem Erkenntnisinteresse geleitet wurden in Kapitel 4.1.2 die zentralen Forschungsfragen auf Forschungs- und Entwicklungsebene aufgefächert. Auf Grundlage der empirischen Daten aus den durchgeführten Design-Experimenten (vgl. Kap. 7) wird im Verlauf dieses Kapitels zunächst der Forschungsschwerpunkt auf Forschungsebene beleuchtet: (F) Wie verlaufen interaktiv-kooperative Lernsituationen zwischen Kindern mit und ohne Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung im Bereich ‚Lernen‘ bezüglich der individuellen Lernprozesse zum flexiblen Rechnen und der interaktiven Strukturen? Welche zielführenden Aspekte lassen sich aus dem Zusammenhang der interaktiven Strukturen und der individuellen Lernprozesse für gelingende interaktiv-kooperative Lernsituationen ableiten, in denen sich alle Beteiligten bezüglich des flexiblen Rechnens individuell-zieldifferent weiterentwickeln? (vgl. Kap. 4.1.2) Der Fokus liegt folglich auf der Analyse, Auswertung und Interpretation gegenstandsspezifischer individueller Lernprozesse der an den interaktiv-kooperativen Lernsituationen beteiligten Kinder sowie der interaktiven Strukturen. Wie das Eingangszitat verdeutlicht, ist das Ziel dabei die Generierung lokaler Theorien im entwickelnden Sinne, nicht im Sinne einer Hypothesenvalidierung (vgl. Kap. 4.2.2). Damit einhergehend werden u. a. Annahmen und Kategorien zu Lern- und Interaktionsprozessen (weiter-)entwickelt. Die Darstellung der Forschungsergebnisse orientiert sich dabei an den drei Forschungsfragen, die den Forschungsschwerpunkt ausdifferenzieren. Die fol© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Korten, Gemeinsame Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht, Dortmunder Beiträge zur Entwicklungund Erforschung des Mathematikunterrichts 44, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30648-9_9
226
8 Auswertung und Interpretation individuell-zieldifferenter Lern- und Interaktionsprozesse
gende Tabelle gibt einen Überblick über die Kapitel mit den jeweiligen Bezügen zu den Forschungsfragen. Tabelle 8.1: Überblick der Kapitel mit den jeweiligen Bezügen zu den Forschungsfragen
Kapitel Kap. 8.1 Rekonstruktion individueller Lernprozesse Kap. 8.2 Rekonstruktion interaktiver Strukturen Kap. 8.3 Rekonstruktion ‚produktiver Momente‘ in der Interaktion
Forschungsfrage(n) (FF1) Wie entwickeln sich individuelle Zugänge und Lösungsprozesse hinsichtlich flexibler Rechenkompetenzen in den angeregten interaktiv-kooperativen Lernsituationen weiter? (FF2) Welche interaktiven Strukturen lassen sich während der interaktiv-kooperativen Lernsituationen rekonstruieren? (FF3) Inwiefern gibt es einen Zusammenhang zwischen den interaktiven Strukturen und der Weiterentwicklung individueller Zugänge und Lösungsprozesse?
Kap. 10.1 Hürden und Verläufe gegenstandsspezifischer individuell-zieldifferenter Lern- und Interaktionsprozesse in interaktiv-kooperativen Lernsituationen
Mit Blick auf das in Kapitel 3.3.1 entwickelte Modell zur Verknüpfung der individuellen Lernprozesse mit dem Interaktionsgeschehen während des mitund voneinander Lernens (Abb. 8.1) stehen in Kapitel 8.1 zunächst der obere und untere Teil des Modells im Fokus: Ziel ist es, auf Basis einer ersten grundlegenden Analyse der individuellen Zugänge und Lösungsprozesse (Abb. 8.1 oben) die Weiterentwicklung dieser (Abb. 8.1 unten) darzulegen (FF1). In Kapitel 8.2 wird anschließend die Mitte der Grafik – die interaktivkooperativen Lernsituationen des mit- und voneinander Lernens (Abb. 8.1 Mitte) – genauer beleuchtet (FF2). Damit einhergehend wird der deduktiv-induktive Prozess der Kategorisierung interaktiver Strukturen dargelegt und diese in einen ersten Bezug mit den individuellen Lernprozessen gebracht. Ziel des Kapitels 8.3 ist es, darauffolgend den Zusammenhang zwischen dem Interaktionsgeschehen und der Weiterentwicklung der Lernpfade genauer zu untersuchen (FF3). In diesem Kontext steht die Frage im Fokus, welche Momente in der Interaktion potenziell förderlich für die Lernprozesse der interagierenden Kinder sind. In Teil D (‚Beiträge zur lokalen Theoriebildung‘) werden in Kapitel 10.1 die Ergebnisse aus dem vorliegenden Kapitel noch einmal aufgegriffen, zusammengefasst und eingeordnet, um Konsequenzen bezüglich der Weiterentwicklung lokaler Theorien zu gegenstandsspezifischen Lern- und Interaktionsprozessen im inklusiven Mathematikunterricht abzuleiten.
8.1 Rekonstruktion individueller Lernprozesse
Abbildung 8.1:
8.1
227
Modell zur Verknüpfung der individuellen Lernprozesse mit dem Interaktionsgeschehen (vgl. Kap. 3.3.1, Abb. 3.6)
Rekonstruktion individueller Lernprozesse
In diesem Kapitel werden die individuellen Zugänge und Lösungsprozesse der Kinder im Hinblick auf die Förderung flexibler Rechenkompetenzen zur Beantwortung der Forschungsfrage FF1 beschrieben und analysiert.
228
8 Auswertung und Interpretation individuell-zieldifferenter Lern- und Interaktionsprozesse
(FF1) Wie entwickeln sich individuelle Zugänge und Lösungsprozesse hinsichtlich flexibler Rechenkompetenzen in den angeregten interaktivkooperativen Lernsituationen weiter? Das Ziel besteht folglich darin, eine Weiterentwicklung dieser Prozesse in der interaktiv-kooperativen Lernsituation zu rekonstruieren. Um dies zu ermöglichen, werden zunächst die individuellen Zugänge und Lösungsprozesse aus der vorgeschalteten individuellen Phase aus diagnostischer Sicht betrachtet, um auf deren Grundlage eine Aussage über eine mögliche Förderung und Weiterentwicklung ableiten zu können. Das angewandte Analysevorgehen, auf dem die Darstellungen in diesem Kapitel basieren, knüpft an die Ausführungen zum interpretativ-epistemologisch orientierten Analysezugang interaktiver Wissenskonstruktion an (für eine detaillierte Darlegung vgl. Kap. 7.2.1 und 7.2.2). Zur Beantwortung der Forschungsfrage FF1 werden folgende Analyseinstrumente herangezogen: Das entwickelte Modell zum flexiblen Rechnen trägt zur Operationalisierung der Zugänge und Lösungsprozesse bei (vgl. Kap. 3.3, 7.2.1, 7.2.2). Aspekte der Interaktionsanalyse nach Krummheuer (2010) tragen zu einer Gliederung des Interaktionsgeschehens in Phasen sowie zu einer ersten Analyse exemplarischer Äußerungen und Handlungen bei (vgl. Kap. 7.2.1 und 7.2.2). Die damit einhergehende Suche nach ‚Interaktiven Schlüsselaktivitäten‘ nach Dekker und Elshout-Mohr (1998) ermöglicht es, potenziell lernförderliche Momente in der Interaktion auszumachen, um die individuellen Zugänge und Lösungsprozesse an diesen Stellen anschließend genauer zu untersuchen (vgl. Kap. 7.2.1 und 7.2.2). Hierfür kommt an diesen Stellen ergänzend die adaptierte epistemologisch orientierte Analyse nach Steinbring (2000; 2015) zum Tragen, welche die Konstruktion neuer und unterschiedlicher Deutungen mathematischer Symbole, Zeichen, Strukturen, Eigenschaften und Beziehungen der einzelnen Kinder während der Interaktion stärker in den Fokus rückt (vgl. Kap. 7.2.1 und 7.2.2). Dabei bildet der in Kapitel 3 dargelegte zweite Grundbaustein dieser Arbeit – ‚Individuell-zieldifferentes Lernen am gemeinsamen Lerngegenstand des flexiblen Rechnens‘ – zusammen mit den lerntheoretischen Annahmen und der epistemologischen Sicht auf Interaktion (Kap. 2.3) sowie den Grundannahmen der interpretativen Unterrichtsforschung (Kap. 7.2) die theoretische Grundlage. Während in den Kapiteln 8.1.1 und 8.1.2 zwei Fallbeispiele betrachtet und damit einhergehend prototypische Szenen analysiert werden, erfolgen in Kapi-
8.1 Rekonstruktion individueller Lernprozesse
229
tel 8.1.3 eine zusammenfassende Auswertung und die Darlegung der aufgetretenen typischen Lernverläufe. Bei den analysierten Fallbeispielen handelt es sich um Szenen, die exemplarisch Prozesse individueller Ausprägung aufzeigen. Sie haben nicht den Anspruch, als quantifizierbare Prototypen zu fungieren. Dennoch gehen sie über arbiträre Einzelfälle hinaus, weil an ihnen beispielhaft deutlich wird, wie sich individuelle Zugänge und Lösungsprozesse in interaktivkooperativen Lernsituationen des ‚Gemeinsamen Mathematiklernens‘ weiterentwickeln können, indem der Austausch zum Weiter- und Überdenken anregt. Durch die Heterogenität der einzelnen Kinder und die unterschiedlichen Hintergründe der jeweiligen Herkunftsklassen ist eine generelle Verallgemeinerbarkeit im Sinne einer empirisch-statistischen Theoriebildung in diesem Projekt nicht erreichbar. Dennoch wird mittels der analytischen Induktion im Sinne einer komparativen Analyse die Theoriegenerierung begründet, indem bereits entwickelte Theorien anhand weiterer Fälle überprüft und bei neuen Erkenntnissen weiterentwickelt werden. Durch diese gezielten vergleichenden und kontrastierenden Analysen wird eine theoretische Sättigung angenähert (vgl. Kap. 7.1.3 und Kap. 7.2.3). Aufbau des Kapitels 8.1.1 (erstes Fallbeispiel) Um Weiterentwicklungen der individuellen Zugänge und Lösungsprozesse in den interaktiv-kooperativen Lernsituationen rekonstruieren zu können, ist das Kapitel zum ersten Fallbeispiel zweistufig aufgebaut: Überblick über die individuellen Zugänge und Lösungsprozesse der Kinder während der vorgeschalteten individuellen Phase (ICH-Phase) Rekonstruktion der Weiterentwicklung individueller Zugänge und Lösungsprozesse in der interaktiv-kooperativen Lernsituation (DU-Phase) Diese Zweigliedrigkeit ermöglicht auf Basis einer ersten grundlegenden Analyse der individuellen Zugänge und Lösungsprozesse (Abb. 8.1 oben) anschließend, die Weiterentwicklung dieser (Abb. 8.1 unten) darzulegen. Im Zuge der Rekonstruktion dieser Weiterentwicklung werden im Folgenden drei Aspekte beleuchtet: (Weiter-)Entwicklung der Wahrnehmung von arithmetischen Eigenschaften und Beziehungen hinsichtlich der Referenzen (KIND_R) (Weiter-)Entwicklung des Vorgehens bei der Bestimmung der Nachbarsummen hinsichtlich der Lösungswerkzeuge (KIND_L) (Weiter-)Entwicklung des Vorgehens bei der Suche nach den Nachbarzahlen und -summen hinsichtlich zunehmend strategischer Vorgehensweisen (KIND_V)
230
8 Auswertung und Interpretation individuell-zieldifferenter Lern- und Interaktionsprozesse
Auf die hier eingeführten Abkürzungen KIND_R(eferenzen), KIND_L(ösungswerkzeuge) und KIND_V(orgehensweisen), für die (Weiter-)Entwicklung hinsichtlich der drei unterschiedenen Aspekte, wird in den folgenden Analysen zurückgegriffen. Zur Hervorhebung werden sie jeweils fett markiert sowie in GROßBUCHSTABEN geschrieben. 53
8.1.1 Marina und Miriam54 erkennen und nutzen Analogie-Beziehungen und das Konstanzgesetz der Summe Überblick über die individuellen Zugänge und Lösungsprozesse der Kinder während der vorgeschalteten individuellen Phase (ICH-Phase) Die Kinder Marina (8 Jahre alt) und Miriam (9 Jahre alt) besuchen zum Erhebungszeitpunkt die dritte Klasse im ersten Schulhalbjahr. Nach den Aussagen der Klassenlehrerin besteht zwischen den beiden Kindern keine große Freundschaft, jedoch eine harmonische Beziehung, die eine gute Kommunikationsgrundlage darstellt. MARINA, ein Kind mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf im Bereich ‚Lernen‘, orientiert sich in der ICH-Phase bei der Suche nach den Nachbarzahlen mit den dazugehörigen Additionsaufgaben an der farblichen Kennzeichnung55 der verschiedenen Nachbararten. Sie zielt dabei auf die Erzeugung eines farblichen Musters (vgl. Abb. 8.2) und orientiert sich nicht an der Lage der Zahlen auf der 20er-Tafel oder an mathematischen Beziehungen zwischen den Zahlen und Aufgaben. Aus mathematikdidaktischer Sicht kann ihr Vorgehen folglich primär als unsystematisches Probieren eingestuft werden. Dabei wählt sie zuerst leichte Additionsaufgaben, die sie auswendig kennt (u. a. 5 + 15 und 1 + 2 = 3, ab Min. 1:30). (Hinweis zu den Minutenangaben, die als Beleg und zum Nachvollzug der Interpretationen dienen: Die Minutenangaben im folgenden Abschnitt beziehen sich jeweils auf die Angaben in den ausführlichen Grobanalysen, die auf Anfrage bei der Autorin eingesehen werden können. Die 53 Für eine detaillierte Erläuterung der Begriffe Referenzen und Lösungswerkzeuge vgl. Kapitel 3.3, 7.2.1 und 7.2.2. Denkbare strategische Vorgehensweisen sowie Referenzen und Lösungswerkzeuge im Kontext des entwickelten Lehr-Lern-Arrangements werden in Kapitel 6.1 und 3.3 antizipiert. 54 Alle in der vorliegenden Arbeit verwendeten Namen von Personen oder Institutionen wurden aus Gründen des Datenschutzes anonymisiert bzw. pseudonymisiert. 55 In den Design-Experimenten wurden die unterschiedlichen Nachbararten durch verschiedenfarbige Aufgabenkarten (orange für horizontal, gelb für vertikal, grün für diagonal) gekennzeichnet. In der vorliegenden Arbeit wurden diese durch unterschiedliche Graustufen ersetzt.
8.1 Rekonstruktion individueller Lernprozesse
231
Minutenangaben aus den Grobanalysen entsprechen wiederum den Videominuten.)
Abbildung 8.2:
Marinas Aufgabenkarten am Ende der vorgeschalteten individuellen Phase
Bei der Betrachtung der situationsbedingten und individuellen Lösungsprozesse zur Bestimmung der Nachbarsummen ist stets ein gestütztes verfahrensorientiertes Vorgehen zu beobachten. Marina wendet bekanntes Wissen über die Zahlwortreihe und Tauschaufgaben (Gleichheit durch das Kommutativgesetz) sowie ein erlerntes Standardverfahren verfahrensorientiert an (z. B. ab Min. 7:20). Beides ist ihr aus dem Unterricht bekannt. Bei dem erlernten Standardverfahren handelt es sich um eine Zählstrategie, wobei sie stets vom größeren Summanden ausgehend weiterzählt (z. B. 4 + 14, ab Min. 7:20). Die Ausnahme bildet dabei die Aufgabe 3 + 4 (ab Min. 23:00), bei der sie vom ersten Summanden aus weiterzählt. Für leichte Aufgaben sowie Verdopplungsaufgaben ruft sie Faktenwissen ab. Beispielsweise verdoppelt sie die Zahl 3 für die Aufgabe 3 + 13 = 16 (ab Min. 26:00). Die Frage nach dem Zehner im Ergebnis und wie dieser erzeugt wurde, beantwortet sie nicht. Stattdessen nutzt sie erneut ihre bekannte Zählstrategie, um das Ergebnis zu kontrollieren. Der Rückgriff auf diese – für Marina erfolgversprechende – Strategie lässt Unsicherheiten vermuten. Des Weiteren unterstützt dies die Hypothese, dass Marina ihr Wissen über Eigenschaften und Beziehungen von Zahlen und Aufgaben verfahrensorientiert und nicht verständnisbasiert nutzt. Auf den ersten Blick verwendet sie zwar strategische Werkzeuge (Vertauschen und Verdoppeln), jedoch lassen verschiedene Szenen – wie beispielsweise die soeben beschriebenen – darauf schließen, dass sie hier erlernte Fakten verfahrensorientiert anwendet und keine verständ-
232
8 Auswertung und Interpretation individuell-zieldifferenter Lern- und Interaktionsprozesse
nisbasierte Beziehungsorientierung zugrunde liegt. Darüber hinaus gibt Marina bei Fragen, die eine Erklärung ihrer Vorgehensweisen herausfordern, nichtmathematische Begründungen (z. B.: „Weil unsere Lehrerin hat das mit uns [so] gerechnet ...“, ab Min. 13:00). Es handelt sich folglich eher um Faktenabruf über Additionsaufgaben als um ein strategisches Werkzeug, denn sie reproduziert auswendig gewusste Aufgaben und Wissen, kombiniert mit routinierten Standardverfahren (Anforderungsbereich I; vgl. Walther et al., 2008, S. 21). Gestützt ist das Vorgehen, weil Marina zum Zählen stets ihre Finger als Hilfsmittel nutzt (z. B.: „Also habe ich mit meinen Fingern jetzt“, ab Min. 8:04). Anschließend schreibt sie die gelösten Aufgaben symbolisch auf (vgl. Abb. 8.2). Ausschließlich nach Impulsen seitens der Interviewerin nutzt sie die bereitliegenden Plättchen mit dem 20er-Feld. Hierbei sind Schwierigkeiten beim Darstellungswechsel zu beobachten, was auf ein mangelndes tragfähiges Zahl- und Operationsverständnis hindeutet (z. B. ab Min. 7:20). Nach gezielten Frageimpulsen wird jedoch deutlich, dass ihr die Strukturen des 20er-Feldes – auch wenn sie diese nicht nutzt – bewusst sind (z. B. ab Min. 10:55). Marinas unsichere Äußerungen über die Stellenwerte einer zweistelligen Zahl sowie ihre Handlungen mit Ziffern anstatt mit Zahlen weisen zudem auf ein mangelndes tragfähiges Stellenwertverständnis hin (z. B. ab Min. 19:00). Bezüglich des Modells aus Abbildung 8.1 lassen sich Marinas individuelle Zugänge und Lösungsprozesse in der vorgeschalteten individuellen Phase wie folgt kategorisieren und darstellen (für die Darlegung der Kategorien und der dazugehörigen Indikatoren vgl. Kap. 3.3): Individuelle Zugänge und Lösungsprozesse Referenzen
Situationsbedingter und individueller Lösungsprozess
Lösungswerkzeuge
Standardverfahren Rückgriff auf Wissen über ... ... Eigenschaften von Zahlen: Folge der N, Ordinalzahlaspekt ... Eigenschaften von Aufgaben: Gleichheit durch Kommutativgesetz, Vereinfachen durch ziffernweises Rechnen ... ein erlerntes Verfahren (s. L ‚Zählen‘)
Hilfsmittel Finger
Abbildung 8.3:
Faktenabruf Verdoppeln Vertauschen andere: leichte Aufgaben Nutzen
Zählstrategien Weiterzählen vom ersten Summanden Weiterzählen vom größeren Summanden
Marinas individuelle Zugänge und Lösungsprozesse in der vorgeschalteten individuellen Phase visualisiert am Modell zum flexiblen Rechnen (vgl. Kap. 3.3.1)
8.1 Rekonstruktion individueller Lernprozesse
233
Zusammenfassend kann dementsprechend hinsichtlich des flexiblen Rechnens in Anlehnung an Kapitel 3 festgehalten werden, dass in Marinas Lösungsprozessen folgende mathematische Ideen bezüglich der Referenzen (Kap. 3.3.2) und der Lösungswerkzeuge (Kap. 3.3.3) eine Rolle spielen56. Sie stützt ihre Lösungsprozesse auf die nachstehenden (R) Referenzen (individuelle Erfahrungen und kognitive Elemente): Standardverfahren (verfahrensorientiert): Wissen über Eigenschaften von Zahlen – Zahlwortreihe (Folge der natürlichen Zahlen), Ordinalzahlaspekt Wissen über Eigenschaften von Aufgaben – Gleichheit durch Kommutativgesetz (mit Blick auf die Position der Zahlen, nicht auf die dahinterliegende Beziehung der Mengen, um leichter weiterzählen zu können), Vereinfachen durch ziffernweises Rechnen Wissen über ein erlerntes Verfahren (siehe Lösungswerkzeuge) Hilfsmittel (gestützt): Finger Auf der Ebene der konkreten Lösung nutzt sie folgende (L) Lösungswerkzeuge: Zählen – Zählstrategie: Weiterzählen ausgehend vom ersten Summanden (bei 3 + 4) Weiterzählen ausgehend vom größeren Summanden (bei allen weiteren Aufgaben) Wissen – Faktenabruf: Verdoppeln (5 + 5, 3 + 3 und 4 + 4) Vertauschen (bei allen Aufgaben, die zählend ausgehend vom größeren Summanden gelöst werden) andere (u. a. bei einfachen Aufgaben wie 5 + 15 und 1 + 2) Während des gesamten Design-Experimentes ist Marina sehr motiviert und positiv gestimmt, obwohl sie äußert, ein Problem beim Rechnen zu haben und sich manchmal wie „die Doofe“ (ab Min. 26:18) zu fühlen. Ihr ist es besonders wichtig, zu gefallen und zu zeigen, was sie kann. Daher hat sie den Ansporn, Neues (z. B. die Nutzung des 10er-Streifens) oder im Unterricht Gelerntes (z. B. Tauschaufgaben, Malreihen) anzuwenden und korrekt umzusetzen. Sie zählt beispielsweise Malreihen auf, obwohl diese keinen Zusammenhang zu der ge56 An dieser Stelle sei für die gesamten Analysen und Interpretationen der vorliegenden Arbeit darauf hingewiesen, dass es sich um lokale Aussagen über Beobachtungen handelt, die in der Situation der Design-Experimente gemacht wurden. Sie erfüllen nicht den Anspruch einer umfassenden Diagnose oder einer Allgemeingültigkeit.
234
8 Auswertung und Interpretation individuell-zieldifferenter Lern- und Interaktionsprozesse
stellten Aufgabe aufweisen und nicht zur Lösung beitragen (z. B. ab Min. 10:10). Zwischendurch zeigt Marina unkonzentriertes Verhalten, was sich durch konzentrationsbedingte Flüchtigkeitsfehler (z. B. 2 + 3 = 4, ab Min. 14:10) oder leichtes Abgelenktsein (z. B. ab Min. 4:57) äußert. MIRIAM, nach Aussagen der Lehrerin ein Kind mit durchschnittlichen Mathematikleistungen, entwickelt während der Suche nach den Nachbarzahlen und den dazugehörigen Additionsaufgaben eine zunehmend systematisch-sukzessive Vorgehensweise, indem sie schrittweise Verschiebungen der Lupe auf umliegende Nachbarzahlen vornimmt. Am Ende kontrolliert sie auf die gleiche Art und Weise noch einmal, ob sie alle Nachbarsummen gefunden hat, und stellt korrekt fest, dass es alle sind (ab Min. 19:10). Bei der Betrachtung der situationsbedingten und individuellen Lösungsprozesse zur Bestimmung der Nachbarsummen ist stets ein formales beziehungsorientiertes Vorgehen zu beobachten, indem Miriam Eigenschaften und Beziehungen von Zahlen wahrnimmt und für den Lösungsprozess nutzt. Dabei kombiniert sie verschiedene strategische Werkzeuge (schrittweises Rechnen, stellenweises Rechnen, Ergänzen, Vertauschen, Verdoppeln), die auf den erkannten Eigenschaften und Beziehungen basieren, und kombiniert diese mit auswendig gelernten Fakten (z. B. ab Min. 4:20). Hiermit sind einerseits auswendig gewusste Ergebnisse gemeint, andererseits wendet sie bekanntes Wissen über Aufgaben flexibel und adäquat an (z. B.: Gleichheit durch Assoziativgesetz vgl. ab Min. 4:20, Gleichheit durch Kommutativgesetz vgl. ab Min. 5:20). Insgesamt ist die Wahl der Lösungswerkzeuge zwar meist gleich, denn sie kombiniert primär schrittweises oder stellenweises Rechnen mit ergänzendem Vorgehen, jedoch ist der gesamte Lösungsprozess in sich flexibel und beziehungsorientiert, da ein flexibler Umgang mit den Zahlen und Referenzen zu beobachten ist. Dies zeigt Miriam, indem sie die Zusammenhänge der Zahlen bei jeder Additionsaufgabe neu betrachtet und diese zum vorteilhaften Rechnen verständnisbasiert nutzt (Anforderungsbereiche II; vgl. Walther et al., 2008, S. 21). Bei der Frage nach anderen Lösungswerkzeugen – beispielsweise bei der Aufgabe 6 + 7 (ab Min. 20:05) – fallen ihr in der Situation aber keine alternativen Lösungswege ein. Dabei fällt auf, dass sie zwar mit Beziehungen zwischen Zahlen sehr flexibel umgeht, jedoch Beziehungen zwischen Aufgaben nicht wahrnimmt und nutzt, selbst wenn sie Aufgaben, die Analogien aufweisen, direkt hintereinander löst (z. B.: 9 + 19 = 28 und 8 + 18 = 26, ab Min. 11:30). Formal ist dieses beziehungsorientierte Vorgehen, weil Miriam auf der rein symbolischen Ebene arbeitet und keine Hilfsmittel nutzt, um die Additionsaufgaben zu lösen. Der flexible Umgang mit den Zahlen und deren Eigenschaften und Beziehungen findet ausschließlich im Kopf und durch die Interaktion mit der Interviewerin auf der sprachlich-symbolischen Ebene statt.
8.1 Rekonstruktion individueller Lernprozesse
235
Nach einem Impuls seitens der Interviewerin (ab Min. 22:00), der an den letzten Teil des Forscherauftrages erinnert (‚Was kannst du entdecken? Was hilft dir beim geschickten Rechnen?‘), beschreibt Miriam Beziehungen zwischen Aufgaben und nimmt eigeninitiativ Sortierungen vor (Abb. 8.4). Anhand dieser beschreibt sie die wahrgenommenen Muster und Strukturen. Folgende Beziehungen zwischen den Aufgaben nimmt Miriam am Ende des Interviews wahr: Gleichheit zweier diagonaler Nachbarsummen: Sie gruppiert die gleichen Summen zusammen (Abb. 8.4 links) und begründet nach einem Frageimpuls der Interviewerin die Gleichheit über die Analogie der Aufgaben am Beispiel („Weil wenn ich die [Einer] jetzt tauschen würde, dann wäre das die gleiche Aufgabe. ...“, ab Min. 22:50). Analogie-Beziehungen der vertikalen Nachbarn durch gleiche gleichsinnige Veränderung beider Summanden um + 1 (Summen + 2): Sie sortiert die Aufgaben, um die Veränderungen am Beispiel zu zeigen (vgl. Abb. 8.4 Mitte). Analogie-Beziehungen der horizontalen Nachbarn durch gleiche gleichsinnige Veränderung beider Summanden um + 1 (Summen + 2): Sie sortiert hier ebenfalls die Aufgaben, um die Veränderungen am Beispiel zu zeigen. Bei ihrer Sortierung beachtet sie überdies die dekadischen Analogien jeweils zweier Aufgaben (+ 10 beider Summanden, + 20 der Summen) und legt diese nebeneinander (vgl. Abb. 8.4 rechts).
Abbildung 8.4:
Miriams Aufgabenkarten am Ende der vorgeschalteten individuellen Phase
An dieser Stelle bleibt die Frage offen, ob Miriam diese Aufgabenbeziehungen vorher auch schon wahrgenommen hatte oder ob sie ihr erst nach dem Impuls der Interviewerin aufgefallen sind. Fest steht jedoch, dass sie die Strukturen, die sie nach dem Impuls seitens der Interviewerin (ab Min. 22:00) beschreibt, (noch) nicht zum vorteilhaften Rechnen nutzt. Bezüglich des Modells aus Abbildung 8.1 lassen sich Miriams individuelle Zugänge und Lösungsprozesse in der vorgeschalteten individuellen Phase wie folgt darstellen:
236
8 Auswertung und Interpretation individuell-zieldifferenter Lern- und Interaktionsprozesse Individuelle Zugänge und Lösungsprozesse Referenzen
Situationsbedingter und individueller Lösungsprozess
Eigenschaften & Beziehungen ...
... von Zahlen: Teil-Ganzes-Beziehungen: dekadische B. Teil-Ganzes-Beziehungen: operativ B. ... von Aufgaben: Gleichheit durch Kommutativgesetzt Gleichheit durch Assoziativgesetz
Abbildung 8.5:
Lösungswerkzeuge
Strategische Werkzeuge
Nutzen
Zerlegen und Zusammensetzen: Ergänzen, schrittweise Rechnen, stellenweise Rechnen Hilfsaufgaben und Analogien nutzen: Vertauschen
Faktenabruf Verdoppeln andere: Zehnerergänzungen
Miriams individuelle Zugänge und Lösungsprozesse in der vorgeschalteten individuellen Phase visualisiert am Modell zum flexiblen Rechnen (vgl. Kap. 3.3.1)
Zusammenfassend kann dementsprechend hinsichtlich des flexiblen Rechnens – in Anlehnung an Kapitel 3 – festgehalten werden, dass bei Miriams Lösungsprozessen die im Folgenden aufgelisteten allgemeinen mathematischen Ideen von Bedeutung sind (vgl. für Referenzen Kap. 3.3.2 und für Lösungswerkzeuge Kap. 3.3.3). Sie stützt ihre Lösungsprozesse auf die nachstehenden (R) Referenzen: Eigenschaften und Beziehungen von Zahlen (beziehungsorientiert): Teil-Ganzes-Beziehung (Zahlen zerlegen) – dekadische Beziehungen Teil-Ganzes-Beziehung (Zahlen zerlegen) – operative Beziehungen Eigenschaften und Beziehungen von Aufgaben (beziehungsorientiert): flexibles und verständnisbasiertes Wissen über Eigenschaften von Aufgaben – Gleichheit durch Kommutativgesetz flexibles und verständnisbasiertes Wissen über Eigenschaften von Aufgaben – Gleichheit durch Assoziativgesetz keine Hilfsmittel (formal) Auf der Ebene der konkreten Lösung nutzt und kombiniert sie – auf der Grundlage dieser Referenzen – folgende (L) Lösungswerkzeuge: Rechnen – strategische Werkzeuge: Zerlegen und Zusammensetzen Ergänzen (u. a. bei 9 + 18, 6 + 17, 7 + 17, stets kombiniert mit schrittweisem Rechnen) schrittweises Rechnen (u. a. bei 9 + 18, 6 + 17, 7 + 17) stellenweises Rechnen (bei 19 + 20, 19 + 10, 9 + 20)
8.1 Rekonstruktion individueller Lernprozesse
237
Rechnen – strategische Werkzeuge: Hilfsaufgaben und Analogien nutzen Vertauschen (u. a. bei 9 + 18, 6 + 17, 7 + 17, stets kombiniert mit schrittweisem Rechnen und Ergänzen) Wissen – Faktenabruf: Verdoppeln andere (u. a. Zehnerergänzungen) BEIDE MÄDCHEN entwickelten – wie die vorangegangenen Ausführungen zeigen – individuelle Zugänge und Lösungsprozesse in der vorgeschalteten individuellen Phase. Vergleichend stellt man fest, dass diese sehr unterschiedlich ausgeprägt sind. Die Heterogenität hinsichtlich der flexiblen Rechenkompetenzen wird durch die Abbildungen 8.3 und 8.5 auf einen Blick erkennbar. Wenn man in Betracht zieht, dass die grau gefärbten Felder Anzeichen für flexibles Rechnen sind (vgl. Definitionen in Kap. 3), wird deutlich, dass Miriams Lösungsprozesse als flexibel eingestuft werden können. Marinas Vorgehen hingegen ist verfahrensorientiert und daher weniger von Flexibilität und Adäquatheit geprägt. Rekonstruktion der Weiterentwicklung individueller Zugänge und Lösungsprozesse in der interaktiv-kooperativen Lernsituation (DU-Phase) Die hier beispielhaft betrachtete interaktiv-kooperative Lernsituation von Marina und Miriam lässt sich in folgende Interaktionseinheiten57 gliedern, die verschiedene inhaltliche Phasen im Interaktionsgeschehen darlegen und dadurch den groben Verlauf der interaktiv-kooperativen Lernsituation skizzieren: Phase 1: Phase 2: Phase 3: Phase 4:
Einstieg Vertrautmachen mit dem Arbeitsauftrag Ordnen der eigenen Aufgaben nach der Größe des 1. Summanden Erste Entdeckungen an den eigenen Aufgaben orientiert an der Größe des 1. Summanden
57 Einhergehend mit der Grobanalyse der DU-Phase – wie in Kapitel 7.2.1 erläutert – werden einerseits interaktive Strukturen beschrieben und andererseits individuelle Lernprozesse rekonstruiert. Ersteres wird u. a. realisiert, indem – in Anlehnung an Krummheuer (2010, vgl. Kap. 7.2.2) – eine Gliederung in Interaktionseinheiten (ebd. , Analyseschritt 1) sowie eine stichpunktartige allgemeine Beschreibung des Interaktionsgeschehens (ebd. , Analyseschritt 2) vorgenommen wird. An dieser Stelle werden die Interaktionseinheiten lediglich benannt. Für eine ausführlichere Beschreibung dieser sowie für eine Darlegung der Videominutenangaben, die Abschnitt und Länge der Interaktionseinheiten festlegen, wird auf den digitalen Anhang verwiesen. Bei Interesse am digitalen Anhang wende man sich an die Autorin.
238
8 Auswertung und Interpretation individuell-zieldifferenter Lern- und Interaktionsprozesse
Phase 5: Phase 6: Phase 7: Phase 8: Phase 9: Phase 10: Phase 11: Phase 12: Phase 13: Phase 14:
Kontrollieren der Vollständigkeit der eigenen Aufgaben Gemeinsames Ordnen aller Aufgaben nach der Größe des 1. Summanden Gemeinsames Kontrollieren und Ergänzen aller Aufgaben orientiert an der Größe des 1. Summanden Neue Entdeckungen u. a. hinsichtlich der Gleichheit je zweier Summen Neues gemeinsames Ergänzen orientiert an der Gleichheit je zweier Summen Kognitiver Konflikt durch die Nachbarsumme 16 Weiteres gemeinsames Ergänzen orientiert an der Gleichheit der Summen Kognitiver Konflikt durch die Nachbarsumme 24 Vervollständigen der Aufgaben Gemeinsames Aufkleben und Festhalten der Entdeckungen
Im Interaktionsgeschehen konnten u. a. in den Phasen 8, 9 und 12 IMPULSE wahrgenommen werden, auf die ‚interaktive Schlüsselaktivitäten‘ folgten, die auf ein potenziell lernförderliches Interaktionsgeschehen hinweisen (Dekker & Elshout-Mohr, 1998, S. 305; vgl. Kap. 7.2.2). Exemplarisch werden daher diese drei Phasen nachstehend detaillierter betrachtet. Phase 8: Neue Entdeckungen u. a. hinsichtlich der Gleichheit je zweier Summen Nach erneutem Lesen des Arbeitsauftrages 2 (‚Welche Entdeckungen habt ihr gemacht? Helfen euch eure Entdeckungen beim geschickten Rechnen?‘) findet folgender Dialog statt, in dem sich die beiden Mädchen auf die bisherige Sortierung der Aufgabenkarten (vgl. Abb. 8.6) beziehen:
Abbildung 8.6:
Sortierung der Aufgabenkarten in Phase 8
239
8.1 Rekonstruktion individueller Lernprozesse Transkript 8.1: Marina und Miriam in Phase 8 – ausgewählte Szenen
Marina (MA) 1 2 3
4
17
18 19 20
29
30 31
Miriam (M) Dass man - zum Beispiel … #
# Von 1 bis 20 rechnen kann … # # Nein, guck mal. Wenn man hier (zeigt auf die Aufgabe 7 + 18 = 25) - Wenn du 7 plus 18 gleich 25 ... Dann guckt man hier (zeigt auf die Aufgabenkarte 18 + 7 = 25) sind 18 plus 7 gleich 25. Das ist die gleiche Aufgabe nur andersherum, ne (schaut Marina an)? Ja. ... Dass wir hier hinten (zeigt auf die Summen) - Das ist ja auch fast gleich, hier (zeigt nacheinander auf die beiden Summen 23) drei[undzwanzig], dann fehlt die … (zeigt zwischen die Summen 23 und 25). Auf Miriams Initiative hin fokussieren beide auf die 2. Summanden und suchen gemeinsam nach weiteren arithmetischen Mustern, bis Miriam wieder den Fokus auf die Summen richtet: Guck mal. Guck mal (zeigt gleichzeitig auf die Summen der Aufgaben 9 + 20 = 29 und 10 + 19 = 29 sowie 8 + 19 = 27 und 9 + 18 = 27). Hier sind die Ergebnisse immer gleich. Fast ja. Ja. Aber das hier nicht (zeigt auf die Summe der Aufgabe 7 + 18 = 25). Abwechselnd zeigen sie, welche Summen zweimal vorkommen und welche nicht. Bis die Interviewerin fragt, WARUM nur einige doppelt sind. Weil da hm - Weil man die aufteilen kann (zeigt auf die Aufgabe 6 + 17 = 23). Also - aber nicht alle. 6 kann man. Also die kann man zum Beispiel (zeigt auf den ersten Summanden von 6 + 17 = 23) - Da ist immer eine Zahl bei, die man aufteilen kann (zeigt auf den ersten Summanden von 8 + 19 = 27) und die man nicht aufteilen kann (zeigt auf den ersten Summanden von 9 + 18 = 27). Die kann man zum Beispiel nicht (zeigt auf den ersten Summanden von 9 + 20 = 29).
240
8 Auswertung und Interpretation individuell-zieldifferenter Lern- und Interaktionsprozesse
Analyse des Transkriptausschnitts zu Phase 8 Nach Erinnerung an den ARBEITSAUFTRAG 258 (‚Welche Entdeckungen habt ihr gemacht? Helfen euch eure Entdeckungen beim geschickten Rechnen?‘) deutet MARINA (MA) unmittelbar das erhaltene Muster. Ausgangslage ihrer Deutung sind die bisherigen Sortierungen der Aufgabenkarten und die bereits gemachten Entdeckungen der Kinder im Kontext der Problemstellung und der Struktur des mathematischen Gegenstandes (vgl. Epistemologisches Dreieck – im Folgenden ‚Ep. D.‘ 8.1, Zeichen). Durch ihre Äußerung in Zeile 2 wird ersichtlich, dass sie die Folge der natürlichen Zahlen in die Musterfolge der ersten Summanden hineindeutet (vgl. Ep. D. – 8.1, Referenzkontext). Hiermit reproduziert und beschreibt59 sie eine Entdeckung, über die sich die beiden Mädchen in der bisherigen INTERAKTION bereits unterhalten haben. Eine Reflexion hinsichtlich des geschickten Rechnens ist nicht zu beobachten. Jedoch verdeutlicht die Analyse, dass Marina die Aufgaben nicht länger ausschließlich isoliert betrachtet und beginnt, erste arithmetische Muster wahrzunehmen und nachzuvollziehen. Folglich ist bei ihr in dieser Situation eine Entwicklung hinsichtlich der Referenzen zu beobachten, denn die allgemeinen mathematischen Begriffe und Konzepte, welche die Vermittlung zwischen Zeichen und Referenzkontext regulieren, zeigen sich in dieser Situation verändert (vgl. Ep. D. 8.1, Begriff: Arithmetisches Muster der ersten Summanden mit Blick auf die Position der Zahlen – Ordinalzahlaspekt; MA_R).60, 61
58 Fortan werde IMPULSE, auf die ‚interaktive Schlüsselaktivitäten‘ (Dekker & ElshoutMohr, 1998; vgl. Kap. 2.1.3 und Kap. 7.2.2) folgen, im Fließtext und in den epistemologischen Dreiecken mittels KAPITÄLCHEN markiert und hervorgehoben. Dies dient u. a. dem Zweck der Wiedererkennung. 59 Fortan werden interaktive Schlüsselaktivitäten, die nach Dekker und Elshout-Mohr (1998) bedeutsam für erfolgreiches Mathematiklernen in der Interaktion sind (vgl. Kap. 2.1.3 und Kap. 7.2.2), in den Analysen kursiv und unterstrichen markiert und hervorgehoben. Dies dient u. a. dem Zweck der Widererkennung. 60 Die Farben (in der Printversion Grautöne) in den epistemologischen Dreiecken stellen Bezüge zwischen den Aspekten im Referenzkontext und den dazugehörigen mathematischen Begriffen her. (Die Grautöne in der Printversion sind nur schwer voneinander zu unterscheiden. Für eine leichtere Zuordnung wird hier auf die digitale Version und den SpringerLink verwiesen. Alternativ wende man sich bei Interesse an den farbigen epistemologischen Dreiecken an die Autorin.) 61 Größere Abbildungen der epistemologischen Dreiecke können aus Platzgründen hier nicht abgebildet werden. Bei Interesse an größeren epistemologischen Dreiecken wende man sich ebenso an die Autorin. Sofern die Abbildungen innerhalb der Dreiecke zu klein sind vgl. größere Abbildungen in den dazugehörigen Transkripten.
241
8.1 Rekonstruktion individueller Lernprozesse
Epistemologisches Dreieck 8.1: Marinas Deutung – Marina reproduziert und beschreibt das bereits thematisierte arithmetische Muster der 1. Summanden mit Blick auf die Position der Zahlen (Folge der natürlichen Zahlen) 58, 59, 60 61 Zeichen
Referenzkontext
Dass man „von 1 bis 20 rechnen kann ...“ (Z. 2)
Welche Entdeckungen habt ihr gemacht? Helfen euch eure Entdeckungen beim geschickten Rechnen? (Impuls: ARBEITSAUFTRAG 2 vor dem Hintergrund der bisherigen INTERAKTION über Sortierungen und Entdeckungen)
Die ersten Summanden 1, 2 ,3 ..., 20 als Folge der natürlichen Zahlen.
Wissen über Eigenschaften von Zahlen – Folge der natürlichen Zahlen (R): • Arithmetisches Muster der ersten Summanden mit Blick auf die Position der Zahlen (Ordinalzahlaspekt) (MA_R) Begriff
MIRIAM (M) unterbricht Marina und deutet dieselbe Ausgangslage (ARBEITSAUFTRAG 2, vgl. Ep. D. 8.2, Zeichen) auf eine andere und neue Art. Sie deutet und beschreibt die Kommutativität der Aufgaben 7 + 18 = 25 und 18 + 7 = 25 (T. 8.1, Z. 3) und bezieht sich dabei auf zwei Karten, die im Ordnungssystem (vgl. Abb. 8.6) weit auseinanderliegen. Im Gegensatz zu Marina reflektiert sie ihre Entdeckung als hilfreich hinsichtlich des geschickten Rechnens. Die beschriebene Gleichheit (T. 8.1, Z. 3: „gleiche Aufgabe“; Betonung des gleichen Ergebnisses in Z. 3: „25“) durch die Vertauschung der Summanden (T. 8.1, Z. 3: „nur andersherum“) zieht sie als Erläuterung dafür heran, dass sie die Aufgaben als Hilfsaufgaben nutzen kann, und erklärt so, dass sie das Ergebnis einfach ‚abgucken‘ muss (T. 8.1, Z. 3: „Dann guckt man hier…“; vgl. Ep. D. 8.2, Referenzkontext). Ähnliche Eigenschaften und Beziehungen von Aufgaben nutzte Miriam bereits in der ICH-Phase aus (s. o.), sodass hier von keiner neuen Entwicklung hinsichtlich der Referenzen oder Lösungswerkzeuge gesprochen werden kann, denn die allgemeinen mathematischen Begriffe und Konzepte, welche die Vermittlung zwischen Zeichen und Referenzkontext regulieren, zeigen sich im Vergleich zu vorherigen Situationen unverändert.
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8 Auswertung und Interpretation individuell-zieldifferenter Lern- und Interaktionsprozesse
Epistemologisches Dreieck 8.2: Miriams Deutung – Miriam beschreibt die Kommutativität zweier Aufgaben und erklärt damit den Vorteil für geschicktes Rechnen (Hilfsaufgaben nutzen) 58, 59, 60 61 Referenzkontext
Zeichen
„Wenn du 7 plus 18 gleich 25 … Dann guckt man hier (zeigt auf die Aufgabenkarte 18+7=25, Marina schaut ihr zu) sind 18 plus 7 gleich 25. Das ist die gleiche Aufgabe nur andersherum ... " (Z. 3)
Welche Entdeckungen habt ihr gemacht? Helfen euch eure Entdeckungen beim geschickten Rechnen? Gleichheit der Summe 25 als Resultat aus Analogien der Aufgaben 7+18 und 18+7 (Vertauschung der Summanden).
(Impuls: ARBEITSAUFTRAG 2)
Eigenschaften und Beziehungen der Zahlen und Aufgaben (R): • Vertauschung von Summanden • Gleichheit durch Kommutativgesetz Hilfsaufgaben und Analogien nutzen (L) : • vertauschen Begriff
MIRIAMS BESCHREIBUNGEN und ERKLÄRUNGEN zur Gleichheit der Summe 25 und zu den Aufgabenanalogien sind weiterhin ein bedeutender Impuls für das darauffolgende lernförderliche Interaktionsgeschehen, da sie nämlich für ihre Partnerin MARINA (MA) zum erklärungsbedürftigen Zeichen werden, dem Bedeutung zugeschrieben werden muss (vgl. Ep. D. 8.3, Zeichen). Daraus resultierend nimmt Marina nun ebenfalls die Ergebnisse in den Blick und zeigt, dass sie beispielsweise die Summe 23 zweimal wahrnimmt (T. 8.1, Z. 4; Ep. D. 8.3, Referenzkontext). Sie deutet folglich zweimal vorkommende Ergebnisse als weitere gleiche Zahlen. Darüber hinaus erkennt sie, dass nicht alle Ergebnisse zweimal vorkommen (T. 8.1, Z. 18: „Fast [immer]“; T. 8.1, Z. 20: „Aber das hier nicht“). Marina fokussiert dabei jedoch stets die Summen als isolierte Zahlen und setzt sie nicht wie ihre Partnerin in Beziehung zu der Additionsaufgabe (Ep. D. 8.3, Begriff: Gleichheit zweier Zahlen; MA_R). Außerdem ist anzunehmen, dass sie die Musterfolge der Summen ebenso als Folge der natürlichen Zahlen wahrnimmt, denn sie deutet an, dass die 24 „fehlt“ (T. 8.1, Z. 4; Ep. D. 8.3, Begriff: Arithmetisches Muster der Summen mit Blick auf die Position der Zahlen – Ordinalzahlaspekt; MA_R). An dieser Stelle bleibt zwar zunächst unklar, ob sie auf das Fehlen der Summe 24 oder auf das der zweiten Summe 25 aufmerksam machen möchte, jedoch zeigt Marina zwischen die Summen 23 und
243
8.1 Rekonstruktion individueller Lernprozesse
25 und nicht auf bzw. unter die 25, sodass Ersteres eher anzunehmen ist. Zudem bestätigt der weitere Interaktionsverlauf (vgl. Phase 12) diese Hypothese. Die fehlerhafte Vermutung zur fehlenden Summe 24, die bei den diagonalen Nachbarn nicht existiert, wird von Miriam zunächst nicht wahrgenommen oder übergangen. Sie fokussiert weiterhin ihre eigenen Entdeckungen hinsichtlich der Gleichheit der Summen, wie der weitere Verlauf zeigt. Epistemologisches Dreieck 8.3: Marinas weiterführende Deutung – Marina zeigt die Gleichheit zwei weiterer Zahlen (die Summen 23) und das arithmetische Muster der Summen mit Blick auf die Position der Zahlen (Folge der natürlichen Zahlen) 58, 59, 60 61 Referenzkontext
Zeichen
„Ja [...] hier hinten [...] ‐ Das ist ja auch fast gleich, hier (zeigt nacheinander auf die beiden Summen 23) drei[undzwanzig], dann fehlt die … (zeigt zwischen die Summen 23 und 25).“ (Z. 4)
Gleichheit der Summe 25. (Impuls: MIRIAMS BESCHREIBUNGEN und ERKLÄRUNGEN zur Gleichheit der Summe 25; vgl. Ep. D. 8.2)
Die beiden Summen 23 als weitere gleiche Zahlen. Die Summen 23, ..., 25 als Folge der nat. Zahlen.
Wissen über Eigenschaften und Beziehungen von Zahlen (R): • Gleichheit zweier Zahlen (MA_R) • Arithmetisches Muster der Summen mit Blick auf die Position der Zahlen (Ordinalzahlaspekt) (MA_R) Begriff
Im Folgenden verallgemeinert MIRIAM (M) ihre EIGENEN ENTDECKUNGEN zur Summenkonstanz weiter, indem sie nun die Gleichheit zweier Summen betrachtet, die nicht aus dem Kommutativgesetzt resultiert. Zunächst benennt und zeigt sie die Gleichheit weiterer Summen (T. 8.1, Z. 17: „Guck mal (zeigt gleichzeitig auf die Summen der Aufgaben 9 + 20 = 29 und 10 + 19 = 29 sowie 8 + 19 = 27 und 9 + 18 = 27). Hier sind die Ergebnisse immer gleich“). Auf die FRAGE DER INTERVIEWERIN hin, warum das nicht bei allen Summen zu beobachten ist, betrachtet Miriam die jeweils ergebnisgleichen Aufgaben genauer (Ep. D. 8.4, Zeichen) und deutet aus der Betrachtung der ersten Summanden ein weiteres, neues arithmetisches Muster: Sie nimmt wahr und beschreibt, dass der erste Summand aller ergebnisgleichen Aufgaben einmal gerade und einmal ungerade ist (T. 8.1, Z. 29 und 31; vgl. Ep. D. 8.4, Referenzkontext). Folglich ist bei Miriam in dieser Situation eine Entwicklung hinsichtlich der Referenzen zu
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8 Auswertung und Interpretation individuell-zieldifferenter Lern- und Interaktionsprozesse
beobachten, denn die allgemeinen mathematischen Begriffe und Konzepte, welche die Vermittlung zwischen Zeichen und Referenzkontext regulieren, zeigen sich in dieser Situation weiterentwickelt im Vergleich zu vorherigen (vgl. Ep. D. 8.4, Begriff: Muster gerader und ungerader 1. Summanden der ergebnisgleichen Aufgaben; M_R). In Phase 9 wird sie diese Deutung wieder aufgreifen und in ihren Erklärung gebenden Referenzkontext integrieren, um einer neuen erklärungsbedürftigen Situation Bedeutung zuzuschreiben. Epistemologisches Dreieck 8.4: Miriams weiterführende Deutung – Miriam beschreibt neue arithmetische Muster der ergebnisgleichen Aufgaben hinsichtlich gerader und ungerader 1. Summanden 58, 59, 60 61 Referenzkontext
Zeichen
„Weil man die aufteilen kann [...]. Also ‐ aber nicht alle. [...] Da ist immer eine Zahl bei, die man aufteilen kann (zeigt auf den ersten Summanden von 8+19=27) und die man nicht aufteilen kann (zeigt auf den ersten Summanden von 9+18=27).“ (Z. 29, 31)
Warum kommen nicht alle Summen zweimal vor? (Impuls: FRAGE DER INTERVIEWERIN vor dem Hintergrund der EIGENEN ENTDECKUNGEN zur Summenkonstanz; vgl. Ep. D. 8.2)
Die 1. Summanden 6 und 7, 8 und 9, 9 und 10 als gerade bzw. ungerade Summanden der ergebnisgleichen Aufgaben.
Eigenschaften und Beziehungen der Zahlen und Aufgaben (R): • Gleichheit zweier Summen (verschieden vom Kommutativgesetz) • Muster gerader und ungerader 1. Summanden der ergebnisgleichen Aufgaben (M_R) Begriff
Phase 9: Neues gemeinsames Ergänzen orientiert an der Gleichheit je zweier Summen Transkript 8.2: Marina und Miriam in Phase 9 – ausgewählte Szenen
Marina (MA) 1
Miriam (M) Damit die Ergebnisse gleich sind. Dann müsste es hier jetzt (zeigt zwischen die ersten Aufgaben 1 + 12 = 13 und 2 + 13 = 15) noch eine Aufgabe geben, die man - aufteilen kann.
8.1 Rekonstruktion individueller Lernprozesse
2
(lacht und rückt den Stuhl heran) Ja hier brauchen wir eine (deutet zwischen 1 + 12 = 13 und 2 + 13 = 15), die man aufteilen kann. Und noch 13 [ergibt] - das ist 13, aber … #
6
7
8
9
245
# Ja 2 (deutet auf den ersten Summanden der Aufgaben 2 + 13 = 15) kann man aufteilen, 3 nicht (tippt auf die Aufgabe 3 + 14 = 17). 4 (deutet auf die Aufgabe 4 + 13 = 16), 5 nicht (deutet auf die Aufgabe 5 + 14 = 19), aber 6 (deutet auf die Aufgabe 6 + 17 = 23), # 7 nicht (deutet auf die Aufgabenkarte 7 + 16 = 23), aber 8 (tippt erst auf die Aufgabenkarte 7 + 18 = 25, dann schnell auf die Aufgabenkarte 8 + 19 = 27). # Ah! (legt die Doppellupe auf dem Zwanzigerfeld auf 2 und 11) Guck mal, guck mal, guck mal. 2 [...] plus 11 [...]. Die erste Zahl, wenn man die jetzt vorne hinschreibt, kann man aufteilen. [...] also ergibt es auch immer noch 13. Ja komm, dann schreiben wir das noch schnell auf (nimmt eine leere Aufgabenkarte). (Die beiden Mädchen schreiben die Aufgabe 2 + 11 = 13 auf und sortieren sie unter die Aufgabe 1 + 12 = 13 ein.)
246 17
8 Auswertung und Interpretation individuell-zieldifferenter Lern- und Interaktionsprozesse
1, 2 wir brauchen für die Eins noch eins eine (zeigt auf den ersten Summanden der ersten Aufgabenkarte 1 + 12 = 13).
18
19
Nein. Das ist doch jetzt hier (deutet auf die Summen der beiden obersten Aufgabenkarten 1 + 12 = 13 und 2 + 11 = 13). Die sind doch beide gleich. Ach so … Aber hier nicht (deutet auf die Summe 15).
20
[...] Ja da sind - da bin ich - da sind wir ja gerade dabei. Jetzt müssen wir [...] noch eine Aufgabe finden, die 15 ergibt, wo hier (deutet auf den ersten Summanden der Aufgabe 2 + 13 = 15) eine ungerade Zahl ist.
21
Ja 3. (Die beiden Mädchen finden die fehlende Aufgabe 12 + 3 = 15, platzieren diese unter der Aufgabe 2 + 13 = 15 in ihrer Sortierung und suchen weiter.) I: Was sucht ihr eigentlich? Wir brauchen eine Zahl, die … # # … 17 ergibt. Ja und die eine gerade Zahl vorne hat (deutet auf den ersten Summanden der Aufgabe 3 + 14 = 17). Also einen geraden Einer. 17 Also 4 plus 13 (deutet mit der Lupe auf die diagonalen Nachbarzahlen 4 und 13 auf dem Zwanzigerfeld). Dann guck mal 4 plus 13.
73 74 75 76
77 78
79 80 81
Ja.
Ja. Ja (beginnt die Aufgabe zu notieren).
Und 4 plus 3 (legt die Lupe auf die horizontalen Nachbarzahlen 4 und 3 auf dem Zwanzigerfeld) sind auch 17 - äh 7.
Analyse des Transkriptausschnitts zu Phase 9 In dieser Szene sucht MIRIAM (M) – auf Grundlage ihrer zuvor EIGENS GEMACHTEN ENTDECKUNGEN – nach noch fehlenden Additionsaufgaben (ARBEITSAUFTRAG 1; vgl. Ep. D. 8.5, Zeichen). Sie beginnt oben und fokussiert die ersten beiden Aufgabenkarten 1 + 12 = 13 und 2 + 13 = 15 der Sortierung (T. 8.2, Z. 1). Miriam nimmt im Zuge dessen aufgrund ihrer vorherigen neuen
247
8.1 Rekonstruktion individueller Lernprozesse
Deutungen der vorliegenden arithmetischen Muster eine Umstrukturierung ihres Vorgehens vor, modifiziert ihre strategische Vorgehensweise und erklärt diese (vgl. Ep. D. 8.5, Begriff: Nutzen des Musters gerader und ungerader 1. Summanden der ergebnisgleichen Aufgaben; M_V). Sie orientiert sich dabei an der Gleichheit der Summen (u. a. T. 8.2, Z. 1: „Damit die Ergebnisse gleich sind [...]“) und daran, ob der erste Summand gerade oder ungerade ist (u. a. T. 8.2, Z. 1: „die man aufteilen kann“; vgl. Ep. D. 8.5, Referenzkontext). So deutet sie eine Additionsaufgabe mit der Summe 13 und einem geraden ersten Summanden als noch fehlende Aufgabe. Diese Deutung wird für Marina im weiteren Verlauf zum erklärungsbedürftigen Zeichen, dem Bedeutung zugeschrieben werden muss (vgl. Ep. D. 8.7 für Marinas Deutungen). Epistemologisches Dreieck 8.5: Miriams Deutung – Miriam modifiziert ihr strategisches Vorgehen bei der Suche nach noch fehlenden Aufgaben und erklärt ihr modifiziertes Vorgehen 58, 59, 60 61
Zeichen
Referenzkontext
„Damit die Ergebnisse gleich sind. Dann müsste es hier jetzt (zeigt zwischen die ersten Aufgaben 1+12=13 und 2+13=15) noch eine Aufgabe geben die man ‐ aufteilen kann. [...] Und noch 13 [ergibt]“ (Z. 1, 6)
Sind das alle? (Impuls: ARBEITSAUFTRAGE 1 vor dem Hintergrund Miriams EIGENER DEUTUNGEN in Bezug auf das Muster der ergebnisgleichen Aufgaben hinsichtlich gerader und ungerader 1. Summanden; vgl. Ep. D. 8.4)
Eine Aufgabe mit der Summe 13 und einem geraden 1. Summanden als noch fehlende Aufgabe.
Eigenschaften und Beziehungen von Zahlen und Aufgaben (R): • Gleichheit zweier Summen (verschieden vom Kommutativgesetz) • Muster gerader und ungerader 1. Summanden der ergebnisgleichen Aufgaben Nutzen dieser Eigenschaften und Beziehungen (V): Nutzen des Musters gerader und ungerader 1. Summanden der ergebnisgleichen Aufgaben (M_V) Begriff
Anknüpfend an die zuvor hervorgebrachten EIGENEN DEUTUNGEN hinsichtlich eines neuen strategischen Vorgehens (vgl. Ep. D. 8.5) vermutet, überprüft, folgert und begründet62 MIRIAM (M) mithilfe dieser neuen Vorgehensweise, dass 62 Nach dem Lehrplan Mathematik Grundschule NRW gehört das Vermuten, Überprüfen, Folgern und Begründen zu der prozessbezogenen Kompetenz des Argumentierens (MSW, 2008, S. 60), sodass die Aktivitäten Vermuten, Überprüfen, Folgern und
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8 Auswertung und Interpretation individuell-zieldifferenter Lern- und Interaktionsprozesse
die Aufgabe 2 + 11 = 13 als noch fehlende Additionsaufgabe mit der Summe 13 und einem geraden 1. Summanden in das arithmetische Muster der diagonalen Nachbarsummen passt (vgl. Ep. D. 8.6, Referenzkontext). Folglich bestätigt sich hier für Miriam, dass – auf Grundlage der Entwicklung hinsichtlich der Referenzen (vgl. Ep. D. 8.4) – ebenso eine Entwicklung hinsichtlich des strategischen Vorgehens bei der Suche nach noch fehlenden Additionsaufgaben zu beobachten ist, denn die allgemeinen mathematischen Begriffe und Konzepte, welche die Vermittlung zwischen Zeichen und Referenzkontext regulieren, zeigen sich auf der Ebene der Nutzung von Eigenschaften und Beziehungen weiterentwickelt (vgl. Ep. D. 8.5 und Ep. D. 8.6, Begriffe: Nutzen des Musters gerader und ungerader 1. Summanden der ergebnisgleichen Aufgaben; M_V). Epistemologisches Dreieck 8.6: Miriams weiterführende Deutung – Miriam vermutet, überprüft, folgert und begründet (argumentiert), dass Aufgabe 2 + 11 fehlt 58, 59, 60 61 Zeichen
Referenzkontext
„Ah! (legt die Doppellupe auf dem Zwanzigerfeld auf 2 und 11) Guck mal, guck mal, guck mal. 2 [...] plus 11 [...]. Die erste Zahl, wenn man die jetzt vorne hinschreibt, kann man aufteilen. [...] also ergibt es auch immer noch 13.“ (Z. 8)
Eine Aufgabe mit der Summe 13 und einem geraden 1. Summanden als noch fehlende Aufgabe.
Die Additionsaufgabe 2+11=13 der diagonalen Nachbarzahlen 2 und 11 als noch fehlende Aufgabe mit der Summe 13 und einem geraden 1. Summanden.
(Impuls: Miriams EIGENE DEUTUNGEN hinsichtlich eines strategischen Vorgehens; vgl. Ep. D. 8.5)
Eigenschaften und Beziehungen von Zahlen und Aufgaben (R): • Gleichheit zweier Summen (nicht durch Kommutativgesetz) • Muster gerader und ungerader 1. Summanden der ergebnisgleichen Nachbarsummen Nutzen dieser Eigenschaften und Beziehungen (V): Nutzen des Musters gerader und ungerader 1. Summanden der ergebnisgleichen Aufgaben (M_V) Begriff
MARINA (MA) beteiligt sich ebenfalls am inhaltlichen Austausch. Sie ruft bekanntes Wissen über Eigenschaften von geraden und ungeraden Zahlen ab (T. 8.2, Z. 7 und 21) und knüpft damit an Miriams vorherige Deutungen und Begründen auch unter der ‚interaktiven Schlüsselaktivität‘ Argumentieren zusammengefasst werden können.
8.1 Rekonstruktion individueller Lernprozesse
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Ausführungen (vgl. Ep. D. 8.4–8.6) an. Auf der Basis von MIRIAMS BESCHREIBUNGEN UND ERKLÄRUNGEN zu ihrem strategischen Vorgehen, das sich an Gleichheiten zweier Zahlen (der Summen) orientiert (vgl. Ep. D. 8.5, 8.6), beginnt nun auch Marina auf Grundlage der Gleichheit zweier Zahlen ihre Suche nach noch fehlenden Aufgaben (ARBEITSAUFTRAG 1, vgl. Ep. D. 8.7, Zeichen) zu modifizieren und nicht mehr willkürlich zu suchen, wie sie es bis hierhin getan hat. Ihre Deutung des arithmetischen Musters hinsichtlich der Gleichheit mit Bezug auf die ersten Summanden (nicht wie Miriam mit Bezug auf die Summen) lässt sie vermuten, dass sie eine Additionsaufgabe mit einer Eins als ersten Summanden als noch fehlende Aufgabe benötigen (vgl. Ep. D. 8.7, Begriff: Gleichheit zweier Zahlen mit Blick auf die 1. Summanden; MA_R / Nutzen der Gleichheit zweier Zahlen mit Blick auf die 1. Summanden; MA_V). Aufgrund des fehlenden Bezuges zur Summenkonstanz wird sie von Miriam unterbrochen, die sie auf die Gleichheit der Summen der Aufgaben 1 + 12 = 13 und 2 + 11 = 13 hinweist und gegen Marinas Vermutung argumentiert (T. 8.2, Z. 18). Mit Marinas folgender Reaktion bezüglich der zweiten fehlenden Summe 15 (T. 8.2, Z. 19: „Ach so… Aber hier nicht (deutet auf die Summe 15)“) zeigt sie, dass sie nach Miriams Hinweis in der konkreten Situation – „mit Verweis auf direkt sichtbare, konkrete Merkmale der Zahlzeichen“ (Nührenbörger, 2009b, S. 168) – die Gleichheit der Summe (T. 8.2, Z. 19) sowie Überlegungen zu ungeraden Zahlen (T. 8.2, Z. 21) in ihre weiteren Deutungen einbezieht. Nührenbörger (2009b) bezeichnet diese situativen Deutungen, die an konkrete Situationen, Zahlen und Muster gebunden sind, auch als „empirisch-situiert“ (ebd., S. 168, vgl. auch Kap. 9.4.1). Der weitere Verlauf des Interaktionsgeschehens (hier nicht vollständig abgebildet) belegt, dass Marina fortan die Gleichheit der Summen immer öfter – aber nicht durchgehend – in anderen Situationen wahrnimmt, fokussiert und in ihre Überlegungen integriert.
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8 Auswertung und Interpretation individuell-zieldifferenter Lern- und Interaktionsprozesse
Epistemologisches Dreieck 8.7: Marinas Deutung – Marina modifiziert ihr strategisches Vorgehen ebenso und vermutet eine Additionsaufgabe mit der Zahl Eins als 1. Summanden als noch fehlende Aufgabe 58, 59, 60 61 Referenzkontext
Zeichen
„1, 2... wir brauchen für die Eins noch eins ‐ eine. (zeigt auf den ersten Summanden der ersten Aufgabenkarte 1+12=13)“ (Z. 17)
Sind das alle? (Impuls: ARBEITSAUFTRAGE 1 vor dem Hintergrund MIRIAMS BESCHREIBUNGEN UND ERKLÄRUNGEN zu ihrem strategischen Vorgehen, das sich an Gleichheiten zweier Zahlen orientiert; vgl. Ep. D. 8.5 und 8.6)
Eine Additionsaufgabe mit der Zahl Eins als 1. Summanden als noch fehlende Aufgabe.
Wissen über Eigenschaften von Zahlen (R): • Gleichheit zweier Zahlen mit Blick auf die 1. Summanden (MA_R) Nutzen dieser Eigenschaften (V): Nutzen der Gleichheit zweier Zahlen mit Blick auf die 1. Summanden (MA_V) Begriff
Im weiteren Verlauf der Phase 9 suchen die BEIDEN MÄDCHEN – entsprechend dem Konstanzgesetz zweier diagonaler Nachbarsummen – die 17 als Summe, da sie in der bisherigen Sortierung nur einmal vorkommt. Die Zeilen 73 bis 77 im Transkript 8.2 belegen, dass beide Mädchen das gleiche Ziel verfolgen und eine Additionsaufgabe mit der Summe 17 als noch fehlende Aufgabe deuten. MIRIAMS Deutungen beinhalten zusätzlich das Kriterium eines geraden ersten Summanden, da die bereits vorhandene Aufgabe mit der Summe 17 (3 + 14 = 17) einen ungeraden ersten Summanden aufweist (T. 8.2, Z. 76). Sie vermutet und schlägt – ihrem modifizierten strategischen Vorgehen bei der Suche nach fehlenden Additionsaufgaben (vgl. Ep. D. 8.5 und 8.6) folgend – die Aufgabe 4 + 13 vor, ohne die Summe dabei zu bestätigen (T. 8.2, Z. 78). Diese Vermutung wird für Marina daraufhin zum Zeichen, das gedeutet werden muss (vgl. Ep. D. 8.8, Zeichen). MARINA (MA) reagiert – vor dem Hintergrund MIRIAMS BISHERIGER BESCHREIBUNGEN UND ERKLÄRUNGEN von Zahl- und Aufgabenbeziehungen während des gesamten Interaktionsgeschehens – auf MIRIAMS VERMUTUNG und setzt die vorgeschlagene Aufgabe 4 + 13 (diagonale Nachbarn auf dem Zwanzi-
251
8.1 Rekonstruktion individueller Lernprozesse
gerfeld) in Beziehung zur strukturähnlichen Aufgabe 4 + 3 (horizontale Nachbarn auf dem Zwanzigerfeld). Sie deutet 4 + 13 = 17 als Aufgabe mit dekadischer Analogie-Beziehung zur Aufgabe 4 + 3 = 7 (vgl. Ep. D. 8.8, Referenzkontext). Folglich ist bei Marina in dieser Situation eine Weiterentwicklung hinsichtlich der Referenzen zu beobachten, denn dieser Deutung liegt eine Entwicklung der allgemeinen mathematischen Begriffe und Konzepte auf Zahl- und Aufgabenebene zugrunde: Sie nimmt dekadische Teil-Ganzes-Beziehungen auf Zahlenebene (13 = 3 + 10) sowie dekadische Analogie-Beziehungen auf Aufgabenebene neu wahr (vgl. Ep. D. 8.8, Begriff: Teil-Ganzes-Beziehungen (Zahlen zerlegen): dekadische Beziehungen (13 = 3 + 10); MA_R / Dekadische Analogie-Beziehungen: Veränderung eines Summanden um 10, Summe +/−10; MA_R). Wie die Szene zeigt, beginnt Marina ab dieser Stelle im Interaktionsgeschehen, ebenso über arithmetische Beziehungen von Aufgaben (nicht nur von Zahlen) nachzudenken und diese von sich aus wahrzunehmen und zu beschreiben. Sie betrachtet Zahlen und Aufgaben nicht mehr ausschließlich isoliert, sondern setzt sie in Beziehungen (hier dekadische Teil-Ganzes-Beziehungen und Analogie-Beziehungen zwischen Additionsaufgaben). Zu einer Nutzung der Referenzen kommt es nicht. Epistemologisches Dreieck 8.8: Marinas weiterführende Deutung – Marina beschreibt neue Eigenschaften und Beziehungen von Zahlen und (jetzt auch) von Aufgaben 58, 59, 60 61 Zeichen
Referenzkontext
„Und 4 plus 3 (legt die Lupe auf die horizontalen Nachbarzahlen 4 und 3 auf dem Zwanzigerfeld) sind auch 17 – äh 7“ (Z. 81)
Vermutung: 4+13 als fehlende Aufgabe mit der Summe 17 (Z. 78) (Impuls: MIRIAMS VERMUTUNG sowie vor dem Hintergrund MIRIAMS BISHERIGER BESCHREIBUNGEN UND ERKLÄRUNGEN zu arithmetischen Beziehungen)
4+13=17 als Aufgabe mit dekadischen Analogie‐Beziehungen zur Aufgabe 4+3=7.
Eigenschaften und Beziehungen von Zahlen (R): • Teil‐Ganzes‐Beziehungen (Zahlen zerlegen): dekadische Beziehungen (13=3+10) (MA_R) Eigenschaften und Beziehungen von Aufgaben (R): • Dekadische Analogie‐Beziehungen: Veränderung eines Summanden um 10, Summe +/‐10 (MA_R) Begriff
252
8 Auswertung und Interpretation individuell-zieldifferenter Lern- und Interaktionsprozesse
Phase 12: Kognitiver Konflikt durch die Nachbarsumme 24 Nachdem die beiden Mädchen die zweite Summe 25 gefunden haben, schreibt Miriam die neue Aufgabe 8 + 17 = 25 auf und Marina sucht weiter nach fehlenden Aufgaben und diagonalen Nachbarsummen. Sie vermutet: Transkript 8.3: Marina und Miriam in Phase 12 – ausgewählte Szenen
1 2 3
Marina (MA) Wir müssen da 24 zwischen haben …
(notiert 8 + 17) 24 Miriam (deutet zwischen die Aufgaben 7 + 16 = 23 und 7 + 18 = 25).
4 5
6
Miriam (M)
Warte! (notiert das Ergebnis 25; legt die neue Karte unter 7 + 18 = 25) (zählt) 23 (tippt auf die Summe 23), 24 (tippt erneut in die Lücke zwischen den Summen 23 und 25), 25 (tippt auf die Summe 25). Nein, das ist - Nein das muss nicht. Hier ist das ja auch nicht (deutet auf die Aufgabe 4 + 13 = 17). Wird ja auch immer eine - (deutet auf die Aufgabe 3 + 12 = 15) Siehste - Da fehlt immer 16 (deutet zwischen die Aufgaben 3 + 12 = 15 und 3 + 14 = 17; schaut zu M). Zum Beispiel hier fehlt 16, hier fehlt 14 (deutet zwischen die Aufgaben 2 + 11 = 13 und 2 + 13 = 15). Da fehlt 18 (deutet zwischen die Aufgaben 4 + 13 = 17 und 4 + 15 = 19). Hier (deutet zwischen die Aufgaben 5 + 14 = 19 und 6 + 17 = 23) fehlen zwei Zahlen sogar.
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8.1 Rekonstruktion individueller Lernprozesse
7
8 9 10 11 12 13 14 15 16
(stützt zeitgleich den Kopf auf den Händen ab; dreht sich auf dem Stuhl hin und her; schaut dabei zu Miriam und den sortierten Aufgabenkarten) … nee, 3 … ja, 3 (nickt). Was? Jetzt bin ich durcheinander. ... Ah! Guck mal, mir fällt noch etwas auf (zeigt auf den ersten Summanden der Aufgabe 8 + 17 = 25). (nimmt die Lupe; legt sie vor die Augen; schaut hindurch) (schaut zu Marina) (legt die Lupe zurück) Wenn du - Guck mal (zeigt weiterhin auf den ersten Summanden der Aufgabe 8 + 17 = 25). Hm? (schaut, was Miriam zeigt) Ja. Du musst doch hier - Guck mal 8 und 17 (zeigt gleichzeitig auf die Ziffer 8 der Aufgabe 7 + 18 = 25 und auf die Zahl 17 der Aufgabe 8 + 17 = 25). Und guck mal - wenn du hier guckst (deutet auf die Aufgaben 6 + 17 = 23 und 7 + 16 = 23), dann musst du ja einfach hier nur einen Zehner dazu tun (deutet schräg von dem ersten Summanden 6 der Aufgabe 6 + 17 = 23 auf den zweiten Summanden 16 der Aufgabe 7 + 16 = 23) und da auch (deutet schräg von dem ersten Summanden 7 der Aufgabe 7 + 16 = 23 auf den zweiten Summanden 17 der Aufgabe 6 + 17 = 23).
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8 Auswertung und Interpretation individuell-zieldifferenter Lern- und Interaktionsprozesse
17 18
Ja. Mhm! (lächelt)
27 28 29
I: Und was hat das dann mit dem Ergebnis zu tun? Hilft euch das beim Rechnen? Ja. Ja.
Das ist mir noch gar nicht aufgefallen (lacht; schaut zu Marina).
32 33
Hier (schiebt die Aufgaben 8 + 19 = 27 und 9 + 18 = 27 etwas hoch). Ja, da da (lehnt sich zurück; lacht; schaut zu den Aufgaben).
34
35 36
Und hier ist das ja auch (schiebt die nächsten Aufgaben 9 + 20 = 29 und 10 + 19 = 29 etwas hoch). Hier ist das ja auch (deutet auf die Summen 29 und 29). Also - Aber hier ist halt ein Zehner (deutet von dem ersten Summanden 10 der Aufgabe 10 + 19 = 29, auf den zweiten Summanden 20 der Aufgabe 9 + 20 = 29) dann mehr #, weil da ist ja kein Einer. Das hilft mir dann auch beim Rechnen, weil wenn ich dann da (zeigt auf den ersten Summanden 10 der Aufgabe 10 + 19 = 29) weiß, hier (deutet auf den zweiten Summanden 20 der Aufgabe 9 + 20 = 29) ist 20, dann muss ich einfach nur ein paar abziehen … oder plus rechnen, dann weiß ich das Ergebnis. # Ja. Oder hier (zeigt auf die 19 der Aufgabe 10 + 19 = 29) einen Zehner dazu tun.
40
41 42 43 44
Jetzt brauchen wir [die Summe] 16 (zeigt auf die Summe 16 der Aufgabe 13 + 4 = 16). Dann würde ich jetzt hier 14 (…) # # (bewegt vier Finger an der linken Hand) Das ist 17 (zeigt auf die Aufgabe 13 + 4 = 16; schaut zu M). 4 - 16 (schüttelt den Kopf). Das Ergebnis ist 17. (zeigt erneut auf die Summe der Aufgabe 13 + 4 = 16) Nein, 16 [...]
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8.1 Rekonstruktion individueller Lernprozesse
45
46 47
48
13, (streckt den Daumen der linken Hand aus) 14, (streckt den Zeigefinger aus) 15, (streckt den Mittelfinger aus) 16, (streckt den Ringfinger aus) 17. Nein, das geht aber nicht. (streckt erneut nacheinander die gleichen Finger aus und zählt) 13, 14, 15, 16, 17. Doch, ist 17 (legt ihren Kopf auf dem Tisch ab). Und da kommt jetzt ne 14 zum Beispiel hin (zeigt dorthin, wo der 1. Summand stehen würde). Und da eine drei (zeigt dorthin, wo der 2. Summand stehen würde). (Spricht leise) Würde ich jetzt sagen.
Analyse des Transkriptausschnitts zu Phase 12 In Phase 12 suchen die Mädchen weiter nach fehlenden Aufgaben (ARBEITSAUFTRAG 1). Hierbei verändert nun auch MARINA (MA) – vermutlich beeinflusst durch MIRIAMS BESCHREIBUNGEN UND ERKLÄRUNGEN zu ihrem strategischen Vorgehen, das sich an den Summen orientiert (vgl. Ep. D. 8.5 und 8.6) – ihr Vorgehen und orientiert sich jetzt ebenso an den Summen. Dabei deutet Marina das Muster der Summen jedoch erneut als Folge der natürlichen Zahlen und nimmt nicht wie ihre Partnerin die Gleichheit je zweier Summen in den Blick. So kommt sie zu der fehlerhaften Vermutung, dass die Summe 24 fehlt (vgl. Ep. D. 8.9, Referenzkontext), die bei den diagonalen Nachbarn auf der Zwanzigertafel gar nicht existiert. Obwohl Marina hier von einer fehlerhaften Vermutung ausgeht, entwickelt sich ihr Vorgehen dennoch weiter, indem sie nicht mehr willkürlich sucht, sondern ihr Wissen auf Referenzebene nutzt, um Ordnungssysteme in Frage zu stellen (vgl. Ep. D. 8.9, Begriff: Nutzen des Wissens zur Folge der natürlichen Zahlen für ein zunehmend strategisches Vorgehen bei der Suche nach fehlenden Aufgaben; MA_V).
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8 Auswertung und Interpretation individuell-zieldifferenter Lern- und Interaktionsprozesse
Epistemologisches Dreieck 8.9: Marinas Deutung – Marina vermutet fehlerhaft, dass die Summe 24 fehlt 58, 59, 60 61
Zeichen
Referenzkontext
„Wir müssen da 24 zwischen haben [...] 24, Miriam. (deutet zwischen die Aufgabenkarten 7+16=23 und 7+18=25) [...] (zählt) 23 (tippt auf die Summe 23), 24 (tippt erneut in die Lücke zwischen den Summen 23 und 25), 25 (tippt auf die Summe 25)“ (Z. 1, 3, 5)
Sind das alle? (Impuls: ARBEITSAUFTRAGE 1 vor dem Hintergrund MIRIAMS BESCHREIBUNGEN UND ERKLÄRUNGEN zu ihrem strategischen Vorgehen, das sich an den Summen orientiert; vgl. Ep. D. 8.5 und 8.6)
Die Summe 24 als noch fehlende Summe, auf der Position zwischen den Summen 23 (Vorgänger) und 25 (Nachfolger).
Wissen über Eigenschaften von Zahlen (R): • Folge der natürlichen Zahlen • Ordinalzahlaspekt (Verweis auf die Positionen einzelner Summen) Nutzen dieser Eigenschaften (V): Nutzen des Wissens zur Folge der natürlichen Zahlen (MA_V) Begriff
MARINAS FEHLERHAFTE VERMUTUNG zur fehlenden Nachbarsumme 24 wird nun für MIRIAM (M) zur erklärungsbedürftigen Aussage, die in einigen Aspekten in Frage steht und der Bedeutung zugeschrieben werden muss (vgl. Ep. D. 8.10, Zeichen). Sie bezieht sich dabei auf die Summen aller Aufgaben und argumentiert gegen Marinas Aussage, indem sie auf fehlende Zahlen in der Folge der natürlichen Zahlen verweist (vgl. Ep. D. 8.10, Referenzkontext). Sie greift folglich Marinas Deutung, die Summen als Folge der natürlichen Zahlen zu betrachten, auf. Sie stützt ihre Argumentation jedoch auf die arithmetischen Muster der Summen und stellt fest, dass hinter dem Fehlen einiger natürlicher Zahlen eine Regelmäßigkeit liegt. Hierbei handelt es sich um Beziehungen zwischen Zahlen (den Summen), die Miriam neu wahrnimmt (vgl. Ep. D. 8.10, Begriff: Arithmetisches Muster der Summen mit Blick auf die Positionen sowie fehlende Positionen der Zahlen; M_R). Röhr (1995) bezeichnet dieses argumentative Vorgehen nach einem Fehler auch als ein Indiz für kooperatives Lernen (vgl. Kap. 2.1.3).
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8.1 Rekonstruktion individueller Lernprozesse
Epistemologisches Dreieck 8.10: Miriams Deutung – Miriam argumentiert mit einem regelmäßigen arithmetischen Muster der Summen (Fokus auf Summen) 58, 59, 60 61 Referenzkontext
Zeichen
„Nein, […] muss nicht. Hier ist das ja auch nicht. (deutet auf die Aufgabe 4+13=17) Wird ja auch immer eine ‐ (deutet auf die Aufgabe 3+12=15) Siehste ‐ Da fehlt immer 16. (deutet zwischen die Aufgaben 3+12=15 und 3+14=17; schaut zu M) Zum Beispiel hier fehlt 16, hier fehlt 14. (deutet zwischen die Aufgaben 2+11=13 und 2+13=15) Da fehlt 18. (deutet zwischen die Aufgaben 4+13=17 und 4+15=19) Hier (deutet zwischen die Aufgaben 5+14=19 und 6+17=23) fehlen zwei Zahlen sogar.“ (Z. 6)
Vermutung: Die Summe 24 als noch fehlende Summe, auf der Position zwischen den Summen 23 und 25 (Z. 1, 3, 5)
Die Summe 24 als nicht fehlende Summe in einem regelmäßigen arithmetischen Muster.
(Impuls: MARINAS FEHLERHAFTE VERMUTUNG; vgl. Ep. D. 8.9)
Beziehungen zwischen Zahlen (R): • Folge der natürlichen Zahlen • Arithmetisches Muster der Summen mit Blick auf die Positionen sowie fehlende Positionen der Zahlen (Ordinalzahlaspekt, Verweis auf fehlende Zahlen in der Folge der natürlichen Zahlen) (M_R) Begriff
MIRIAM (M) richtet – während ihrer EIGENEN ARGUMENTATION – den Blick auf die gesamten Aufgaben und betrachtet jetzt nicht mehr nur die arithmetischen Muster und Beziehungen der Ergebnisse (vgl. Ep. D. 8.11, Zeichen). Dadurch verändern sich ihre Bedeutungszuschreibungen, was daran zu erkennen ist, dass sie neue arithmetische Beziehungen zwischen den Aufgaben mit gleicher Summe wahrnimmt und verbalisiert. Sie beschreibt an verschiedenen Aufgaben und auf unterschiedliche Art und Weise die gegensinnige Veränderung der Summanden um +/−10 (vgl. Ep. D. 8.11, Referenzkontext). Zwar verbalisiert sie den Bezug zu der Gleichheit der Summen nicht konkret, aber das Zeigen und Verweisen auf die Summen sowie ihre Aussage darüber, dass ihr die Gleichheit beim Ausrechnen hilft, legt die Vermutung nahe, dass sie verstanden hat, dass die gegensinnige Veränderung der Summanden an der Gesamtmenge nichts ändert. Bei der Betrachtung der Aufgaben 9 + 20 = 29 und 10 + 19 = 29 durchschaut und erklärt sie ebenso, dass es sich um genau die gleiche gegensinnige Veränderung der Summanden um 10 handelt, es jedoch dabei bei einer Zahl „kein[en] Einer“ (T. 8.3, Z. 34) gibt. Zum Schluss verbalisiert sie mit ihren Worten noch einmal die gegensinnige Veränderung sowie den Bezug zum Ergebnis: „ich [muss] einfach nur ein paar abziehen … oder plus rechnen, dann weiß ich das Ergebnis.“ (T. 8.3, Z. 34). Für ihren individuellen Lernprozess bedeutet das, dass sie sich hinsichtlich der Referenzen entwickelt. Sie nimmt
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8 Auswertung und Interpretation individuell-zieldifferenter Lern- und Interaktionsprozesse
hier als neue Beziehung und Eigenschaft von Additionsaufgaben die Gleichheit durch gegensinniges Verändern der Summanden wahr (vgl. Ep. D. 8.11, Begriff: Gleichheit durch gegensinniges Verändern der Summanden; M_R) und nutzt diese im weiteren Verlauf der Szene ebenso als neue Referenz zum vorteilhaften Rechnen (vgl. Ep. D. 8.12). Epistemologisches Dreieck 8.11: Miriams weiterführende Deutung I – Miriam beschreibt in ihrer Argumentation die gegensinnige Veränderung der Summanden um +/−10 und stellt Bezug zur Auswirkung auf das Ergebnis her (Fokus auf ganze Aufgaben) 58, 59, 60 61
Referenzkontext
Zeichen
„... Ah! Guck mal, mir fällt noch etwas auf. [...] 8 und 17. [... ] wenn du hier guckst (deutet auf die Aufgaben 6+17=23 und 7+16=23), dann musst du ja einfach hier nur einen Zehner dazu tun (deutet schräg von dem ersten Summanden 6 der Aufgabe 6+17=23 auf den zweiten Summanden 16 der Aufgabe 7+16=23) und da auch. (deutet schräg von dem ersten Summanden 7 der Aufgabe 7+16=23 auf den zweiten Summanden 17 der Aufgabe 6+17=23) [...] dann muss ich einfach nur ein paar abziehen … oder plus rechnen, dann weiß ich das Ergebnis.“ (Z. 10, 16, 34)
(Impuls: MIRIAMS EIGENE ARGUMENTATION mit dem Fokus auf arithmetische Muster; vgl. Ep. D. 8.10)
Die gegensinnige Veränderung der Summanden um +/‐10 als regelmäßiges arithmetisches Muster der ergebnisgleichen Aufgaben.
Beziehungen zwischen Aufgaben (R): • Gleichheit durch gegensinniges Verändern der Summanden (M_R) Begriff
Im weiteren Fortgang der interaktiv-kooperativen Lernsituation knüpft MIRIAM (M) an ihre EIGENEN ENTDECKUNGEN zur Gleichheit durch gegensinniges Verändern der Summanden an (vgl. Ep. D. 8.12, Zeichen). Sie beschreibt und erklärt, wie sie diese neu entdeckten Beziehungen zur weiteren strategischen Suche nach fehlenden Additionsaufgaben (ARBEITSAUFTRAG 1) nutzt. Dass sie die Beziehungen ebenso zum Rechnen – also zum Bestimmen des Ergebnisses – ausnutzt, wird in dieser Szene besonders deutlich, da Miriam sich so sehr auf die Beziehungen und Strukturen konzentriert, dass sie den Fehler im Ergebnis übersieht (vgl. Ep. D. 8.12, Referenzen). Dies ist ein Beleg dafür, dass sie die arithmetischen Beziehungen ausnutzt, um die Summe zu bestimmen, und nicht auf andere strategische Werkzeuge zum Rechnen zurückgreift, mit denen sie den Fehler vermutlich aufdecken würde (vgl. Ep. D. 8.12, Begriff: Nutzen der Gleichheit durch gegensinniges Verändern der Summanden für das strategische Vorgehen bei der Suche und beim Rechnen als strategisches Werkzeug: gegensinniges Verändern; M_V und M_L).
259
8.1 Rekonstruktion individueller Lernprozesse
Epistemologisches Dreieck 8.12: Miriams weiterführende Deutung II – Miriam beschreibt und erklärt ihr neues strategisches Vorgehen und nutzt die entdeckten arithmetischen Beziehungen zum Rechnen 58, 59, 60 61 Zeichen
Referenzkontext
„Jetzt brauchen wir [die Summe] 16. (zeigt auf die Summe 16 der Aufgabe 13+4=16) Dann würde ich jetzt hier 14 […] da kommt jetzt ne 14 zum Beispiel hin (zeigt dorthin, wo der 1. Summand stehen würde). (zeigt dorthin, wo der 2. Summand stehen würde) Und da eine drei.“ (Z. 39, 48)
Sind das alle? (Impuls: ARBEITSAUFTRAG 1 vor dem Hintergrund MIRIAMS EIGENER ENTDECKUNGEN zur gegensinnigen Veränderung der Summanden als regelmäßiges arithmetisches Muster der ergebnisgleichen Aufgaben; vgl. Ep. D. 8.11)
Die Aufgabe 14+3=16 als noch fehlende Aufgabe mit der Summe 16 und gegensinnig veränderten Summanden um +/‐10 zur ergebnisgleichen Aufgabe 13+4=16.
Beziehungen zwischen Aufgaben (R): • Gleichheit durch gegensinniges Verändern der Summanden Nutzen dieser Aufgabenbeziehungen (L) / (V): Nutzen der Gleichheit durch gegensinniges Verändern der Summanden für das strategische Vorgehen bei der Suche (M_V) und beim Rechnen als Strategisches Werkzeug: gegensinnig verändern (M_L) Begriff
Rekonstruktion der Weiterentwicklung individueller Zugänge und Lösungsprozesse Die vorangegangenen Analysen lassen aus epistemologischer Sicht schlussfolgern, dass sich das Begriff-Wissen beider Mädchen im Zuge der Zusammenarbeit situativ verändert und entwickelt hat (vgl. Ep. D. 8.1–8.12). Stellt man diese Veränderungen – also die rekonstruierten individuellen Lernverläufe – am Modell zum flexiblen Rechnen (vgl. Kap. 3.3) dar, lässt sich normativ zeigen, dass man bezüglich der Veränderung beider Mädchen nicht nur von einer Entwicklung, sondern von einer Weiterentwicklung hinsichtlich flexibler Rechenkompetenzen in den angeregten interaktiv-kooperativen Lernsituationen sprechen kann, wie im Folgenden erläutert wird. Die Abbildungen 8.7 und 8.8 visualisieren – ausgehend von den individuellen Zugängen und Lösungsprozessen aus der ICH-Phase (Abb. 8.7 und 8.8, oben; vgl. auch Abb. 8.3 und 8.5) –, welche Lernverläufe (Weiterentwicklungen) beide Mädchen in der interaktiv-kooperativen Lernsituation zeigten. Dabei wird aus Gründen der Darstellbarkeit bezüglich der weiterentwickelten Zugänge und Lösungsprozesse (Abb. 8.7 und 8.8, unten) bei wiederkehrenden Beobach-
260
8 Auswertung und Interpretation individuell-zieldifferenter Lern- und Interaktionsprozesse
tungen auf die Zugänge und Lösungsprozesse aus der ICH-Phase (Abb. 8.7 und 8.8, oben) verwiesen.
Abbildung 8.7:
Marinas Lernverlauf, visualisiert am Modell zum flexiblen Rechnen (vgl. Kap. 3.3.1) (Weiterentwicklung hinsichtlich MA_R und MA_V)
Wenn man in Betracht zieht, dass die grau gefärbten Felder Anzeichen für flexibles Rechnen sind (vgl. Definitionen in Kap. 3), lässt sich vergleichend zwischen dem oberen und dem unteren Teil der Grafik festhalten, dass bei Marina eine Weiterentwicklung hinsichtlich der Entwicklung flexibler Rechenkompetenzen rekonstruiert werden konnte, denn die Veränderungen sind primär den grauen Feldern zuzuordnen (Abb. 8.7). Das gilt ebenso für ihre Partnerin Miriam, wie die folgende Abbildung 8.8 zeigt:
8.1 Rekonstruktion individueller Lernprozesse
Abbildung 8.8:
261
Miriams Lernverlauf, visualisiert am Modell zum flexiblen Rechnen (vgl. Kap. 3.3.1) (Weiterentwicklung hinsichtlich M_R, M_L und M_V)
Wenn man hier gleichermaßen in Betracht zieht, dass die grau gefärbten Felder Anzeichen für flexibles Rechnen sind (vgl. Definitionen in Kap. 3), lässt sich vergleichend zwischen dem oberen und dem unteren Teil der Grafik festhalten, dass bei Miriam ebenso eine Weiterentwicklung hinsichtlich flexibler Rechenkompetenzen rekonstruiert werden konnte, denn die Veränderungen sind primär den grauen Feldern zuzuordnen (vgl. Abb. 8.8). Dies entspricht dem in Kapitel 7.2 festgelegten Verständnis zur Weiterentwicklung von Lernprozessen: Eine beobachtete Veränderung und Entwicklung bezüglich der Wahrnehmung von Eigenschaften und Beziehungen sowie bezüglich der Nutzung strategischer Werkzeuge (prägnante Anzeichen flexiblen Rechnens, vgl. Kap. 3.3.1) steht für eine Weiterentwicklung in der lokalen Situation,
262
8 Auswertung und Interpretation individuell-zieldifferenter Lern- und Interaktionsprozesse
also für ein Voranschreiten. Somit wird angenommen, dass eine erfolgreiche situative Förderung flexibler Rechenkompetenzen stattgefunden hat. Vergleicht man Abbildung 8.7 mit Abbildung 8.8, stellt man ebenfalls fest, dass die individuellen Zugänge und Lösungsprozesse weiterhin sehr heterogen sind. Wiederum vor dem Hintergrund, dass die grau gefärbten Felder Anzeichen für flexibles Rechnen sind (vgl. Definitionen in Kap. 3), wird deutlich, dass Miriams Lösungsprozesse fortwährend als flexibler eingestuft werden können und sie sich hinsichtlich der betrachteten Referenzen und Lösungswerkzeuge in der interaktiv-kooperativen Lernsituation stärker weiterentwickelt hat. Bei Marina sind jedoch ebenso – angeregt durch die gemeinsame Arbeit mit ihrer Partnerin – erste Anzeichen dafür zu erkennen, dass sie langsam beginnt, sich von ihrem verfahrensorientierten Vorgehen zu lösen. Die rekonstruierten Veränderungen auf der Ebene der Referenzen hinsichtlich des Wahrnehmens von Eigenschaften und Beziehungen von Zahlen und Aufgaben stellen erste bedeutende und grundlegende Kompetenzen für die Entwicklung flexiblen Rechnens dar (vgl. Kap. 3). Bezüglich der in Kapitel 3.2.1 herausgestellten zwei fachlichen Förderschwerpunkte für eine verstehensorientierte Förderung des flexiblen Rechnens, I. Aufbau von umfangreichen Zahlvorstellungen (u. a. Zahleigenschaften und beziehungen (er)kennen), auf deren Basis Beziehungen beim Rechnen genutzt werden können, und II. Entwicklung des Wahrnehmens und Nutzens von Aufgabeneigenschaften und -beziehungen, konnte gezeigt werden, dass sich Marina und Miriam im Hinblick auf beide fachlichen Förderschwerpunkte weiterentwickelten. 8.1.2 Paul und Anne erkennen und nutzen dekadische Analogien Die Kinder PAUL (9 Jahre alt) und ANNE (8 Jahre alt) besuchen zum Erhebungszeitpunkt die zweite Klasse im zweiten Schulhalbjahr. Nach den Aussagen der Klassenlehrerin besteht zwischen den beiden Kindern – wie bei allen teilnehmenden Kinderpaaren (vgl. Kap. 7.1.3, ‚Theoretisches Sample‘) – keine große Freundschaft, jedoch eine harmonische Beziehung, die eine gute Kommunikationsgrundlage darstellt. Dieses zweite Fallbeispiel mit den interagierenden Kindern Paul und Anne wird im weiteren Verlauf weniger ausführlich betrachtet als das erste. Es dient vielmehr dazu, einen Fokus auf die fallvergleichende Analyse zu legen, die eine besondere Rolle für die Annäherung einer theoretischen Sättigung zur lokalen Theoriegenerierung im vorliegenden Forschungsprojekt spielt (vgl. Kap. 7.1.3 und Kap. 7.2.3). Es werden folglich Kinderpaare (Fälle) ausgewählt und analysiert, die verschieden sind, um Vergleiche der Fälle zu ermöglichen und so lokale Theorien zu generieren (Steinke, 2000, S. 330). Damit einher geht die Metho-
8.1 Rekonstruktion individueller Lernprozesse
263
de der analytischen Induktion: Bereits entwickelte Theorien werden anhand weiterer Kinderpaare überprüft und bei neuen Erkenntnissen (Nichtzutreffen der Theorie) weiterentwickelt (vgl. Kap. 7.1.3 und Kap. 7.2.3). Das Fallbeispiel ‚Paul und Anne‘ dient genau zur Darlegung der Weiterentwicklung einer (nichtzutreffenden) Theorie. Das Kinderpaar Paul und Anne unterscheidet sich in folgenden – hier relevanten – Aspekten vom ersten Kinderpaar ‚Marina und Miriam‘: 63 Herkunftsklassen der Kinder: Die Kinderpaare kommen von zwei verschiedenen Grundschulen. Geschlechterverteilung in den Paarkonstellationen: In diesem Fall sind ein Junge und ein Mädchen an der interaktiv-kooperativen Lernsituation beteiligt. Im Fall eins handelte es sich dagegen um zwei Mädchen. Heterogenitätsspanne zwischen den Kindern in den Paarkonstellationen: Nach den Aussagen der Lehrkräfte ist anzunehmen, dass die Heterogenitätsspanne beim zweiten dargestellten Kinderpaar größer ist als beim ersten. Anne ist ein Mädchen mit durchschnittlichen Mathematikleistungen. Bei Paul wurde bereits im Kindergarten sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf im Bereich ‚Lernen‘ festgestellt. Aufgrund der Erfahrungen in den ersten beiden Schuljahren wurde er zum Zeitpunkt der Erhebung hinsichtlich eines sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfs im Bereich ‚Geistige Entwicklung‘ geprüft. Zum Vergleich: Miriam ist ebenfalls ein Mädchen mit durchschnittlichen Mathematikleistungen und arbeitete in Fall Eins mit Marina zusammen, einem Kind mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf im Bereich ‚Lernen‘, ohne vermuteten intensiveren Unterstützungsbedarf. Mathematischer Inhalt: Die beiden Kinder Paul und Anne untersuchen in den dargestellten Szenen die horizontalen Nachbarn und deren Summen, nicht wie das erste Kinderpaar die diagonalen. Die Weiterentwicklungen der individuellen Zugänge und Lösungsprozesse von Paul und Anne konnten hinsichtlich der individuellen Lernverläufe durch komparative Analysen allen bereits rekonstruierten Lernverläufen (beispielhaft dargestellt am Fallbeispiel 1, zusammengefasst in Kap. 8.1.3) zugeordnet werden. In einem Aspekt kam es jedoch zu keiner Bestätigung der bereits entwickelten Theorien (Nichtzutreffen der Theorie), sondern zur Rekonstruktion eines weiteren Lernverlaufes bei Paul, der zu einer neuen Erkenntnis führte (Weiterentwicklung der Theorie zu den ‚typischen Lernverläufen‘). Die Phase in der interaktiv-kooperativen Lernsituation von Paul und Anne, in der es zu dieser Rekonstruktion eines ‚neuen‘ Lernverlaufes kam, wird an 63 Für die Darlegung weiterer Entscheidungen hinsichtlich des theoretischen Samples vgl. Kapitel 7.1.3.
264
8 Auswertung und Interpretation individuell-zieldifferenter Lern- und Interaktionsprozesse
dieser Stelle betrachtet und in Kapitel 8.1.3 als Lernverlauf (4) zusammengefasst. Transkript 8. 4: Paul und Anne untersuchen die horizontalen Nachbarzahlen in der interaktivkooperativen Lernsituation
Paul (PA) Anne (A) Paul und Anne suchen gemeinsam noch fehlende horizontalen Nachbarzahlen und deren Summen. Ihre bisherige Sortierung ist orientiert an der Größe des ersten Summanden:
1
(verschiebt die Doppellupe auf 13 und 14 auf der 20er-Tafel) (…) Das haben wir noch nicht. (nimmt eine leere Aufgabenkarte)
2
(kontrolliert die Vollständigkeit der Aufgaben) 7 plus 8 (deutet auf die Aufgabenkarte 7+8=15) 8 plus 9…
3 4
(notiert 13+14=27)
5
(platziert die Aufgabenkarte 13+14=27 in der Lücke neben der Aufgabenkarte 7+8=15)
(kontrolliert weiter) 9 plus 10 (deutet auf die Aufgabenkarte 9+10=19) 10 plus 11 […]
8.1 Rekonstruktion individueller Lernprozesse
6 7 8 9 10 11 12
265
I: PA, wie hast du das so schnell gerechnet? Also, so wie das hier. (zeigt auf die Aufgabe 3+4=7) I: (Pause) Was meinst du ‚so wie das hier‘? (wiederholt) Also so wie, wie, wie- hier (parallel) Der? (zeigt auf die Aufgabe wie dieser Streifen. (deutet auf die Auf- 3+4=7) gabe 3+4=7) I: Was hat die Aufgabe denn mit der (deutet auf die Aufgabe 13+14=27) zu tun? Wenn- Weil sie (Bezug zu den Aufgaben 3+4 und 13+14…) die gleichen Zehner und- also die gleichen Einer haben. 3 plus 4 ist 7 hast du gerechnet und 10 plus 10 ist 20 deswegen.
Analysen des Transkriptausschnitts 8.4: PAUL (PA) und Anne suchen gemeinsam nach noch fehlende horizontalen Nachbarzahlen und deren Summen. Paul VERMUTET EIGENS die Aufgabe 13+14 als noch fehlende (vgl. Ep. D. 8.13, Zeichen). Im Zuge dessen deutet er die Additionsaufgabe 13+14 als Aufgabe mit dekadischen Analogie-Beziehungen zur bereits gerechneten Aufgabe 3+4=7, mit der Folge, dass die Summe 27 sein muss (vgl. Ep. D. 8.13, Referenzkontext). Paul nutzt nach eigenen Aussagen diese dekadischen Beziehungen, um das Ergebnis 27 auszurechnen: „Also so wie, wie, wie- hier wie dieser Streifen. (deutet auf die Aufgabe 3+4=7) […] Weil sie (Bezug zu den Aufgaben 3+4 und 13+14…) die gleichen Zehner undalso die gleichen Einer haben.“ (vgl. T. 8.4, Z. 9 und 11). Dieser Versuch einer Erklärung seines eigenen Vorgehens sowie die korrekte Schlussfolgerung, dass das Ergebnis 27 ist (vgl. T. 8.4, Z. 3), lassen stellenweises Rechnen auf der Ebene der Lösungswerkzeug vermuten. In der beschriebenen Szene setzt Paul sich zunächst alleine mit seinen Gedanken auseinander. Erst nach Nachfrage der Interviewerin (vgl. T. 8.4, Z. 6 und 10) versucht er sein Vorgehen zu erklären (vgl. T. 8.4; Z. 7, 9, 11). Anne unterstützt ihn darin (vgl. T. 8.4, Z. 12).
266
8 Auswertung und Interpretation individuell-zieldifferenter Lern- und Interaktionsprozesse
Epistemologisches Dreieck 8.13: Pauls Deutung – Paul nutzt dekadische Analogie-Beziehungen zum vorteilhaften Rechnen 58, 59, 60 61 Referenzkontext
Zeichen
„(notiert 13+14=27) […] Also so wie, wie, wie‐ hier wie dieser Streifen. (deutet auf die Aufgabe 3+4=7) […] Weil sie […] die gleichen Einer haben. (Z. 3, 9, 11)
Vermutung: Die Aufgabe 13+14 als noch fehlende horizontale Aufgabe Die Aufgabe 13+14 als Aufgabe mit dekadischen Analogie‐Beziehungen zur Aufgabe 3+4=7, mit der Folge, dass die Summe 27 sein muss.
(Impuls: EIGENE VERMUTUNG im Kontext der Aufgabenstellung und der bisherigen Sortierungen)
Eigenschaften und Beziehungen von Zahlen (R): • Teil‐Ganze‐Beziehungen (Zahlen zerlegen): dekadische Beziehungen (13=3+10 und 14=4+10) Eigenschaften und Beziehungen von Aufgaben (R): • Dekadische Analogie‐Beziehungen: Veränderung beider Summanden um 10 (PA_R) Nutzen dieser Aufgabenbeziehungen (L): Stellenweise Rechnen ((10+10)+(3+4)=27) (PA_L) Begriff
Aus dieser Analyse lässt sich schlussfolgern, dass Paul sich in dieser Szene hinsichtlich der Referenzen (R) und Lösungswerkzeuge (L) weiterentwickelt hat, indem er neue dekadische Analogie-Beziehungen wahrgenommen hat (Veränderung beider Summanden um 10) und diese Beziehungen nun nutzt um vorteilhafter zu rechnen (vgl. Ep. D. 8.13, Begriff; PA_R und PA_L). Dieser Lernverlauf wird im folgenden Kapitel 8.1.3 wieder aufgegriffen. 8.1.3 Zusammenfassende Betrachtung: typische Lernverläufe In den vorangegangenen Kapiteln 8.1.1 und 8.1.2 wurde der Frage nachgegangen, wie sich die individuellen Zugänge und Lösungsprozesse hinsichtlich flexibler Rechenkompetenzen einzelner Kinder aus den vorgeschalteten individuellen Phasen (ICH-Phasen) in den interaktiv-kooperativen Lernsituationen (DUPhasen) weiterentwickelt haben. Der Prozess wurde hier insbesondere aus einer epistemologischen Perspektive betrachtet, um die Veränderungen und Weiterentwicklungen von mathematischen Lernverläufen rekonstruieren zu können. Die Lernverläufe aus den Fallbeispielen stehen exemplarisch für viele andere
267
8.1 Rekonstruktion individueller Lernprozesse
Szenen in allen betrachteten interaktiv-kooperativen Lernsituationen bei verschiedenen Kinderpaaren im Rahmen dieser Untersuchung. Um die Forschungsfrage FF1 (‚Wie entwickeln sich individuelle Zugänge und Lösungsprozesse hinsichtlich flexibler Rechenkompetenzen in den angeregten interaktivkooperativen Lernsituationen weiter?‘) abschließend zu beantworten, fasst Tabelle 8.2 typische Lernverläufe zusammen, die rekonstruiert werden konnten. Die zusammengefassten Ergebnisse sind im Sinne einer komparativen Analyse (analytische Induktion; vgl. Kap. 7.2.3) begründet, indem bereits entwickelte Theorien anhand weiterer Fälle überprüft und bei neuen Erkenntnissen weiterentwickelt wurden (vgl. Kap. 7.2.3; Beispiel Kap. 8.1.2). In der folgenden zusammenfassenden tabellarischen Betrachtung der Lernverläufe werden ausschließlich die prägnanten Anzeichen für das flexible Rechnen (vgl. Kap. 3.3.1) – auf der Referenzebene das Wahrnehmen von Eigenschaften und Beziehungen sowie auf der Ebene der Lösungswerkzeuge die Nutzung strategischer Werkzeuge – in den Blick genommen, da nur diese auf eine Weiterentwicklung im Lernverlauf hinweisen und das Ziel ist, Weiterentwicklungen im Lernprozess hinsichtlich flexibler Rechenkompetenzen zu untersuchen. Die Auswahl wird durch die strategischen Vorgehensweisen bei der Suche nach den Nachbarzahlen und -summen ergänzt, da sie in einem engen Zusammenhang mit der Entwicklung der Lösungswerkzeuge zu stehen scheinen. Tabelle 8.2: Typische Lernverläufe in den interaktiv-kooperativen Lernsituationen
ohne Weiterentwicklung in der interaktiv-kooperativen Lernsituation
Lernverläufe hinsichtlich der… (1)
-
Beschreibung keine Weiterentwicklung in der interaktivkooperativen Lernsituation hinsichtlich der Wahrnehmung neuer arithmetischer Eigenschaften und Beziehungen (Referenzen), hinsichtlich der Vorgehensweise bei der Suche nach den Nachbarzahlen und -summen (strategische Vorgehensweisen) und hinsichtlich der Vorgehensweise zur Bestimmung der Nachbarsummen (Lösungswerkzeuge)
268
8 Auswertung und Interpretation individuell-zieldifferenter Lern- und Interaktionsprozesse
(2)
… Referenzen (Eigenschaften und Beziehungen) (0a) KIND_R
mit Weiterentwicklung in der interaktiv-kooperativen Lernsituation
(3)
(4)
… strategischen Vorgehensweisen (3a) KIND_V
Nutzen bereits bekannter arithmetischer Eigenschaften und Beziehungen (Referenzen) bei der Suche nach den Nachbarzahlen und -summen (strategische Vorgehensweisen)
(3b) KIND_V mit KIND_R
Nutzen neuer arithmetischer Eigenschaften und Beziehungen (Referenzen) bei der Suche nach den Nachbarzahlen und -summen (strategische Vorgehensweisen)
… Lösungswerkzeuge (strategische Werkzeuge) (4a) KIND_L
(4b) KIND_L mit KIND_R (5)
Wahrnehmung neuer arithmetischer Eigenschaften und Beziehungen (Referenzen)
Nutzen bereits bekannter arithmetischer Eigenschaften und Beziehungen (Referenzen) zur Bestimmung der Nachbarsummen (Lösungswerkzeuge) Nutzen neuer arithmetischer Eigenschaften und Beziehungen (Referenzen) zur Bestimmung der Nachbarsummen (Lösungswerkzeuge)
… strategischen Vorgehensweisen in Kombination mit Lösungswerkzeugen (strategische Werkzeuge) (5a) KIND_V & KIND_L
Nutzen bereits bekannter arithmetischer Eigenschaften und Beziehungen (Referenzen) bei der Suche nach den Nachbarzahlen und -summen (strategische Vorgehensweisen) sowie Nutzen dieser zur Bestimmung der Nachbarsummen (Lösungswerkzeuge)
(5b) KIND_V & KIND_L mit KIND_R
Nutzen neuer arithmetischer Eigenschaften und Beziehungen (Referenzen) bei der Suche nach den Nachbarzahlen und -summen (strategische Vorgehensweisen) sowie Nutzen dieser zur Bestimmung der Nachbarsummen (Lösungswerkzeuge)
8.1 Rekonstruktion individueller Lernprozesse
269
Ankerbeispiele aus den Fallbeispielen: Die Generierung der typischen Lernverläufe ging aus den empirischen Analysen in Kapitel 8.1.1 und 8.1.2 hervor. Im Folgenden werden – durch Rückgriff auf die zwei Fallbeispiele – die typischen Lernverläufe anhand von Ankerbeispielen expliziert. Dabei ließen sich die Kinder nicht während des gesamten Interaktionsgeschehens jeweils einer Kategorie zuordnen. Vielmehr können pro Kind verschiedene Lernverläufe rekonstruiert werden, wie im Weiteren deutlich wird. (1) Marina kann inhaltlich nicht mehr folgen (Phase 12): Während für Miriam die Phase 12 des Interaktionsgeschehens sehr produktiv verläuft (vgl. Analysen in Kap. 8.1.1), kann für Marina keine Weiterentwicklung hinsichtlich der Referenzen, der strategischen Vorgehensweise oder der Lösungswerkzeuge rekonstruiert werden. Die sich wiederholenden zustimmenden Einwortäußerungen („Ja“; T. 8.3, Z. 15 und 17) sowie ihre Handlungen (z. B. nimmt die Lupe; legt sie vor die Augen; schaut hindurch, Z. 11) lassen darauf schließen, dass sie abgelenkt ist und dem mathematischen Inhalt der Interaktion nicht mehr folgt. (1) Miriam beschreibt und nutzt bereits bekannte Beziehungen und Eigenschaften von Aufgaben (Phase 8): Diese Phase ist ebenso ein – jedoch etwas anderes – Beispiel für den Lernverlauf (1). Miriam nimmt zwar die Kommutativität zweier Aufgaben wahr und erklärt damit den Vorteil für geschicktes Rechnen (Hilfsaufgaben nutzen), dies sind aber Referenzen und Lösungswerkzeuge, die sie in der vorgeschalteten individuellen Phase schon mehrfach genutzt hat, sodass hier keine Weiterentwicklung stattfindet (vgl. Ep. D. 8.2). (2) Marina nimmt neue Beziehungen von Zahlen und Aufgaben wahr (Phase 9): In der Phase 9 beginnt Marina, Aufgaben nicht mehr ausschließlich isoliert zu betrachten, sondern diese in Beziehung zueinander zu setzen, was entsprechende Einsichten in neue Zahlbeziehungen voraussetzt. Hinsichtlich der Eigenschaften und Beziehungen von Zahlen nimmt sie hier Teil-Ganzes-Beziehungen (dekadische Beziehungen) wahr, die ihr helfen, die Zahl 13 in 3 + 10 zu zerlegen. Dadurch ist sie in der Lage, die strukturgleichen Aufgaben 4 + 3 = 7 und 4 + 13 = 17 in Beziehung zu setzen und diese ebenfalls wahrzunehmen (vgl. Ep. D. 8.8; MArina_R). (3) Marina vermutet auf Basis bereits bekannter Zahleigenschaften, dass die 24 als Summe fehlt (Phase 12): In dieser Phase nutzt Marina die bereits bekannten Eigenschaften zur Folge der natürlichen Zahlen (Zahlwortreihe), um weitere Nachbarzahlen und -summen zu suchen (vgl. Ep. D. 8.9; MArina_V). (3) Miriam entwickelt auf Basis neu entdeckter Beziehungen strategischere Vorgehensweisen (Phase 8 und 9): Miriam nimmt wahr, dass die zwei Aufgaben
270
8 Auswertung und Interpretation individuell-zieldifferenter Lern- und Interaktionsprozesse
mit gleicher Summe immer jeweils eine gerade oder eine ungerade Zahl als 1. Summanden haben, und nutzt dies, um weitere Aufgaben zu finden (vgl. Ep. D. 8.4 und 8.5; Miriam_V mit Miriam _R). (4) Paul nutzt dekadische Analogie-Beziehungen: Paul nimmt die dekadischen Analogien zwischen den Aufgaben 3+4=7 und 13+14 wahr und nutzt diese zur Bestimmung der fehlenden Nachbarsummen (vgl. Ep. D. 8.13; PAul _L mit PAul _R) (5) Miriam nimmt die gegensinnige Veränderung der Summanden +/−10 wahr und nutzt diese, um neue Aufgaben zu finden und zu lösen (Phase 12) (vgl. Ep. D. 8.11 und 8.12; Miriam _V & Miriam _L mit Miriam _R)
Interpretation und Einordnung der Erkenntnisse zur Forschungsfrage FF1 Bei jedem teilnehmenden Kind aus der Stichprobe konnten während der interaktiv-kooperativen Lernsituation verschiedene Lernverläufe der Ausprägungen (2) – (5) rekonstruiert werden. Die Ausprägung (1), bei der es zu keiner Weiterentwicklung kommt, war nur zeitweise in einzelnen Phasen zu erkennen. Das bedeutet, die Kinder ließen sich nicht während des gesamten Interaktionsgeschehens jeweils einer Kategorie zuordnen. Vielmehr konnte ein Lernverlauf hinsichtlich jeweils eines mathematischen Begriffes rekonstruiert werden. Es traten also pro Kind verschiedene Lernverläufe auf. Folglich darf Kategorie (1) auch nicht mit einem Stagnieren gleichgesetzt werden. Vielmehr waren auch jene Phasen, in denen sich die Kinder nicht merklich weiterentwickelten, essenziell für den weiteren Lernprozess, denn teilweise wurde auf zunächst ,passiv Aufgenommenes‘ später im Interaktionsgeschehen zurückgriffen. Dieses Phänomen war vor allem bei den Kindern mit Unterstützungsbedarf ‚Lernen‘ zu beobachten, wie zum Beispiel im Ep. D. 8.8 deutlich wird: In der Szene greift Marina auf Beschreibungen und Erklärungen zu arithmetischen Beziehungen ihrer Partnerin zurück, die sie bis dahin nur passiv aufgenommen hatte. Diese Erkenntnis wird von einer Studie von Hähn (2018) gestützt, die herausstellt, dass kooperative Lernsituationen auch Lernchancen für Kinder mit Unterstützungsbedarf ‚Lernen‘ sind, selbst wenn sie sich nicht einbringen, d. h., dass Lernen auch in stiller Teilhabe stattfindet (Hähn, 2018; vgl. Kap. 1.1.2). Auch wenn bei den dargestellten Lernverläufen nicht zwischen den Ebenen der Zahlen und Aufgaben unterschieden wird, wird deutlich, dass sich die Kinder mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf ‚Lernen‘ – beispielsweise Marina – während der interaktiv-kooperativen Lernsituation primär (jedoch nicht ausschließlich) hinsichtlich der Referenzen auf der Ebene der Zahlen wei-
8.1 Rekonstruktion individueller Lernprozesse
271
terentwickelten und demnach vorwiegend bezüglich des in Kapitel 3.2.1 herausgestellten fachlichen Förderschwerpunkts I (‚Der Aufbau von umfangreichen Zahlvorstellungen, u. a. Zahleigenschaften und -beziehungen (er)kennen, auf deren Basis Beziehungen beim Rechnen genutzt werden können‘). Alle teilnehmenden Kinder mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf haben somit in den Design-Experimenten mit der Wahrnehmung von Zahleigenschaften und -beziehungen bedeutende Kompetenzen gezeigt, die essenziell sind, um sich zunehmend von mechanisch orientierten Rechenverfahren zu lösen. Bezogen auf Rechtsteiner-Merzs Typen von flexiblen Rechnern (vgl. Kap. 3.1.2) entgehen sie so der Gefahr ‚Der mechanische Rechner‘ zu bleiben und sie können sich vom ‚Der Zähler‘ zunehmend zum ‚Der flexible Rechner‘ entwickeln (Rechtsteiner-Merz, 2013, S. 264 ff.). Dabei ist das zunehmende Wahrnehmen von und das Stützen auf numerische Beziehungen unumgänglich auf dem Weg, ein flexibler Rechner zu werden, wohingegen das Stützen auf Zählstrategien und auf erlernte Verfahren in eine ‚Sackgasse’ führt (ebd.). Die Kinder mit durchschnittlichen Mathematikleistungen entwickelten sich hinsichtlich der Referenzen und Lösungswerkzeuge auf der Ebene der Zahlen und Aufgaben weiter, das bedeutet, dass bei ihnen ebenso die Förderung des fachlichen Förderschwerpunktes II (‚Die Entwicklung des Wahrnehmens und Nutzens von Aufgabeneigenschaften und -beziehungen‘) stattgefunden hat. Dieses Phänomen wird bei der vergleichenden Betrachtung der Abbildungen 8.7 und 8.8. auf einem Blick deutlich. Weiterhin entwickelten sich Kinder mit durchschnittlichen Mathematikleistungen meist in mehr Aspekten weiter als ihre Partner. Dieses Phänomen wird ebenso bei der vergleichenden Betrachtung der Abbildungen 8.7 und 8.8. auf einem Blick deutlich. Aus Sicht der Sonderpädagogik ist dies jedoch nicht überraschend, da Kinder mit dem sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf ‚Lernen‘ zwar flexible Rechenkompetenzen entwickeln können, jedoch langsamer lernen als Kinder ohne kognitive Einschränkungen und dabei mehr Zeit, ausreichend Gelegenheiten zum Verstehen, mehrfaches Wiederholen sowie mehr Unterstützung benötigen (vgl. Kap. 3.2.2; Lorenz, 2005, S. 94). Zusammenfassend kann geschlussfolgert werden, dass bei jedem teilnehmenden Kind eine situative Weiterentwicklung individueller und zieldifferenter Zugänge und Lösungsprozesse hinsichtlich flexibler Rechenkompetenzen stattgefunden hat, die etwas über Lernprozessveränderungen in der jeweiligen Situation aussagt, aber nicht mit einem nachhaltigen Lernprozess zu verwechseln sind. Diese Analysen lassen ebenso Rückschlüsse auf das entwickelte LehrLern-Arrangement zu, das sich demnach als geeignet herausstellt, um den Prozess der gegenseitigen Anregung in interaktiv-kooperativen Lernsituationen hinsichtlich des gemeinsamen Lerngegenstandes des flexiblen Rechnens zu unterstützen (für mehr Details vgl. Kap. 9 zur empirischen Auswertung und
272
8 Auswertung und Interpretation individuell-zieldifferenter Lern- und Interaktionsprozesse
Interpretation gegenstandsspezifischer Lehr-Lernprozesse). Die Lernverläufe verliefen dabei sehr heterogen, folglich zieldifferent. Abschließend lässt sich diese Heterogenität hinsichtlich der Weiterentwicklung im Rückbezug auf Kap. 2.3.2 aus interaktionistischer Sicht am Beispiel der Zusammenarbeit von Miriam und Marina wie folgt betrachten: Nach Krummheuer (1984) legen der Erfahrungsreichtum und die individuellen Voraussetzungen (‚Primärrahmung‘) eines Kindes die grundlegenden Deutungsmuster fest, unter denen eine Situation gedeutet wird (Krummheuer, 1984, S. 287). Diese Deutungen wurden zuvor mithilfe des epistemologischen Dreiecks – fokussiert auf mathematische Deutungen – analysiert und dargestellt. Die Analysen zeigen entsprechend Krummheuers Hypothese auf, dass der Erfahrungsreichtum und die individuellen Voraussetzungen der Kinder und somit die mathematischen Deutungen derselben zu deutenden Situationen (hier: Zeichen) in einem inklusiven Setting wie diesem – aufgrund der hohen Heterogenitätsspanne – besonders unterschiedlich ausfallen. Treten die Kinder nun in Interaktion, kommt es zu einem gegenseitigen Austausch dieser heterogenen Situationsdefinitionen. So werden alternative Deutungsmuster erfahren, die den eigenen ähneln, diese ergänzen, erweitern und/oder konträr zu ihnen sind (ebd.). In der Auseinandersetzung mit diesen fremden Deutungen liegt die Chance, eigene Deutungsmuster weiterzuentwickeln. Dabei kommt es aus interaktionistischer Sicht zur Transformation des ‚Primärrahmens‘, was Krummheuer auch ‚Modulation‘ oder ‚Rahmungsmodulation‘ nennt (Krummheuer, 1984, S. 287; vgl. dazu auch Kap. 2.3.2). Dies konnte ebenso in den adaptierten epistemologischen Analysen rekonstruiert werden. So wurden beispielsweise fremde Deutungen zum IMPULS für neue Deutungen (vgl. u. a. Ep. D. 8.7, 8.8 und 8.9), oder fremde Deutungen wurden zum neuen, erklärungsbedürftigen Zeichen und eigens gedeutet (vgl. u. a. Ep. D. 8.3. und 8.10). Kommt es nun zu unterschiedlichen Deutungen und folglich zu einer gemeinsamen Bedeutungsaushandlung in der Interaktion, damit diese nicht abbricht, bedeutet das nicht zwangsläufig, dass die Kinder die Situation und die mathematischen Inhalte in gleicher Weise interpretieren müssen. Vielmehr geht es darum, dass es eine gemeinsame Interaktionsgrundlage gibt (beispielsweise eine gemeinsame Ausdrucksweise oder eine äußere Übereinstimmung der Handlungsschritte), auf der interagiert und einvernehmlich gearbeitet werden kann (Krummheuer, 1984, S. 288 ff.). Im Rückbezug auf das Fallbeispiel waren so auch Marina und Miriam in der Lage, zu interagieren, obwohl sie sehr unterschiedliche Voraussetzungen mitbrachten und in der vorgeschalteten individuellen Phase sehr verschiedene Zugänge und Lösungsprozesse entwickelt hatten. Durch die Auseinandersetzung mit den Deutungen der jeweils anderen auf einer gemeinsamen Interaktionsgrundlage konnten sie, trotz der großen Heterogenitätsspanne, ihre eigenen mathematischen Deutungen zieldifferent weiterentwi-
8.1 Rekonstruktion individueller Lernprozesse
273
ckeln. Aus dieser Perspektive wird deutlich, dass die Lernverläufe eng mit den interaktiven Strukturen, die folgend betrachtet werden, verknüpft sein müssen. Nach der Betrachtung der individuellen Lernverläufe der Kinder während der Interaktion (FF1) werden im folgenden Kapitel 8.2 die interaktiven Strukturen genauer beleuchtet (FF2). Damit einhergehend wird bereits ein erster Bezug zu den individuellen Lernverläufen hergestellt, bevor die Untersuchung des Zusammenhanges zwischen dem Interaktionsgeschehen und der Weiterentwicklung der Lernpfade in Kapitel 8.3 intensiviert wird (FF3).
8.2
Rekonstruktion interaktiver Strukturen
In diesem Kapitel werden die interaktiven Strukturen, die während der interaktiv-kooperativen Lernsituationen des ‚Gemeinsamen Mathematiklernens‘ auftreten, zur Beantwortung der Forschungsfrage FF2 analysiert. (FF2) Welche interaktiven Strukturen lassen sich während interaktivkooperativer Lernsituationen rekonstruieren? Das Ziel besteht darin, die Interaktionsprozesse zu rekonstruieren und zu kategorisieren sowie einen ersten Bezug zu den individuellen Lernverläufen aus Kapitel 8.1 herzustellen. Das angewandte Analysevorgehen, auf dem die Darstellungen in diesem Kapitel basieren, knüpft an die Ausführungen zum interpretativ-epistemologisch orientierten Analysezugang interaktiver Wissenskonstruktion an (für eine detaillierte Darlegung vgl. Kap. 7.2.1 und 7.2.2). Zur Beantwortung der Forschungsfrage FF2 wurden folgende Analyseinstrumente herangezogen: Aspekte der Interaktionsanalyse nach Krummheuer (2010) tragen zu einer Gliederung des Interaktionsgeschehens sowie zu einer ersten Analyse exemplarischer Äußerungen und Handlungen bei (vgl. Kap. 7.2.1 und 7.2.2). Die damit einhergehende Suche nach ‚Interaktiven Schlüsselaktivitäten‘ nach Dekker und Elshout-Mohr (1998) ermöglicht es, potenziell lernförderliche Momente in der Interaktion auszumachen, um die interaktiven Strukturen an diesen Stellen genauer zu untersuchen (vgl. Kap. 7.2.1 und 7.2.2). Die weiterentwickelten Kooperationstypen nach Naujok (2000) ermöglichen eine differenziertere Beschreibung und eine Kategorisierung interaktiver Strukturen (vgl. Kap. 7.2.2, Tab. 7.4). Letztlich trägt die adaptierte epistemologisch orientierte Analyse nach Steinbring (2000; 2015) dazu bei, einen ersten Bezug zwischen den interak-
274
8 Auswertung und Interpretation individuell-zieldifferenter Lern- und Interaktionsprozesse
tiven Strukturen und den individuellen Lernverläufen herzustellen (vgl. Kap. 7.2.2). Dabei bildet der in Kapitel 2 dargelegte zweite Grundbaustein dieser Arbeit – ‚Interaktiv-kooperatives Lernen im inklusiven Mathematikunterricht‘ (Kap. 2) – zusammen mit den Grundannahmen der interpretativen Unterrichtsforschung (Kap. 7.2) die theoretische Grundlage. Während im Kapitel 8.2.1 die Kategorisierung interaktiver Strukturen exemplarisch dargelegt wird, werden diese in Kapitel 8.2.2 in Verbindung mit den weiterentwickelten individuellen Lernprozessen der Kinder aus Kap. 8.1.1 betrachtet. In Kapitel 8.2.3 erfolgen eine zusammenfassende Auswertung und die Darlegung der aufgetretenen typischen Interaktionsmuster. 8.2.1 Kategorisierung interaktiver Strukturen Im Folgenden werden zwei unterschiedliche Muster der Interaktionsstruktur zwischen den Kindern Marina und Miriam (vgl. Kapitel 8.1.1; Phasen 8 und 9) ausführlich beschrieben, um deren Kategorisierung auf Grundlage von Indikatoren exemplarisch darzulegen. Theoretische Grundlage sind dabei die weiterentwickelten Kooperationstypen nach Naujok (2000; Kap. 7.2.2, Tab. 7.4): Die Ausprägungen der drei Aspekte ‚Intensität der Interaktion‘, ‚Themen- bzw. Zielfokussierung‘, und ‚aufgabenbezogene Interaktionsstruktur‘ funkgieren als Indikatoren der vier Kategorien zur Beschreibung und Einordnung des Interaktionsgeschehens (‚parallele Aktivität ohne gem. Ziel‘, ‚parallele Aktivität mit gem. Ziel‘ bzw. ‚arbeitszeilige Kooperation‘, ‚dominante Kooperation‘ und ‚ausgewogene Kooperation‘; vgl. Kap. 7.2.2, Tab. 7.4). Als Nachweise für die Aussagen zu den interaktiven Strukturen werden exemplarische Ausschnitte der Transkripte 8.1 und 8.2 aus dem vorherigen Kapitel integriert und belegende Aspekte fett im Transkript hervorgehoben. (Als Beleg wird ebenso auf Transkriptzeilen verwiesen, die hier nicht erneut abgebildet sind.) Interaktive Strukturen in Phase 8: ‚Dominante Kooperation‘ mit Miriam prädominant Intensität der Interaktion: Bei Betrachtung der interaktiven Strukturen wird durch die abwechselnden Äußerungen und Handlungen (rechte und linke Seite im Transkript 8.1) deutlich, dass die beiden Mädchen fortlaufend wechselseitig handeln. Ebenso kommt es zu einem aufeinander bezogenen Handeln, was durch inhaltliche Bezüge der abwechselnden Äußerungen und Handlungen erkennbar wird. Diese inhaltlichen Bezüge werden beispielsweise durch die Wörter „Nein“ (T. 8.1, Z. 3), „Ja“ und „auch“ (T. 8.1, Z. 4) oder „Aber“ (T. 8.1, Z. 20) explizit signifiziert, die sich direkt auf die vorangegangene Äußerung des jeweils anderen beziehen.
275
8.2 Rekonstruktion interaktiver Strukturen Auszug aus Transkript 8.1:
2 3
4
Marina (MA) # Von 1 bis 20 rechnen kann … #
Miriam (M) # Nein, guck mal. Wenn man hier (zeigt auf die Aufgabe 7 + 18 = 25) - Wenn du 7 plus 18 gleich 25 … Dann guckt man hier (zeigt auf die Aufgabenkarte 18 + 7 = 25) sind 18 plus 7 gleich 25. Das ist die gleiche Aufgabe nur andersherum, ne (schaut Marina an)?
Ja. ... Dass wir hier hinten (zeigt auf die Summen) - Das ist ja auch fast gleich, hier (zeigt nacheinander auf die beiden Summen 23) drei[undzwanzig], dann fehlt die … (zeigt zwischen die Summen 23 und 25).
Zudem sind implizite Bezüge auszumachen, die eine Aussage des Partners inhaltlich aufgreifen (u. a. „6 kann man.“; T. 8.1, Z. 30). Auszug aus Transkript 8.1:
Marina (MA) 29
30 31
Miriam (M) Weil da hm - Weil man die aufteilen kann (zeigt auf die Aufgabe 6 + 17 = 23). Also - aber nicht alle.
6 kann man. Also die kann man zum Beispiel (zeigt auf den ersten Summanden von 6 + 17 = 23) […].
Hinsichtlich der Intensität der Interaktion ist folglich nach der Definition des vorliegenden Forschungsprojektes (vgl. Kap. 7.2.2) eine starke Interaktion zwischen den Kindern zu beobachten. Themen- bzw. Zielfokussierung: Zu Beginn der Phase 8 lesen beide Kinder den Arbeitsauftrag 2 (‚Welche Entdeckungen habt ihr gemacht? Helfen eure Entdeckungen beim geschickten Rechnen?‘), woraufhin sie zwei verschiedene Deutungen mathematischer Muster vornehmen (vgl. Kap. 8.1.1). Anschließend bezieht sich Miriam mit dem „Nein“ in Zeile 3 (T. 8.1, Z. 3) zwar explizit auf Marinas Deutung (T. 8.1, Z. 2), geht jedoch inhaltlich nicht weiter darauf ein. Das Gleiche ist an späterer Stelle (T. 8.1, Z. 4 ff.) erneut zu beobachten. Marina hingegen greift inhaltliche Gedanken und Ideen ihrer Partnerin auf und denkt damit weiter, indem sie sie beispielsweise wie in den folgenden Zeilen 18 und 20 eingrenzt (u. a. T. 8.1, Z. 18 und 20).
276
8 Auswertung und Interpretation individuell-zieldifferenter Lern- und Interaktionsprozesse
Auszug aus Transkript 8.1:
Marina (MA) 17 18 19 20
Miriam (M) […] Hier sind die Ergebnisse immer gleich.
Fast ja. Ja. Aber das hier nicht (zeigt auf die Summe der Aufgabe 7 + 18 = 25).
Folglich ist nach Definition (vgl. Kap. 7.2.2) eine übereinstimmende Themenbzw. Zielfokussierung zwischen den Kindern zu verzeichnen, bei der sich ein Kind an das Ziel des anderen anpasst. In diesem Fall passt sich Marina an Miriam an (M + MA M’), somit ist Miriam prädominant. Aufgabenbezogene Interaktionsstruktur: Obwohl es in Phase 8 zeitweise einen gleichverteilten allgemeinen Redeanteil gibt, ist die fachlich-inhaltliche Interaktion seitens Marina charakterisiert durch inhaltliche Bestätigungen und durch die Akzeptanz von Ideen und Sichtweisen ihrer Partnerin, ohne diese zu hinterfragen. Nämlich ist zu beobachten, dass Marina ihre eigenen Gedanken (beispielsweise, dass die 24 als Summe fehlt) fallen lässt und die Ideen ihrer Partnerin – ohne zu überlegen, im Sinne des „Cumulative Talk“ (Littleton et al., 2005) – vermutlich unreflektiert übernimmt (u. a. T. 8.1, Z. 2 ff. und 4 ff.). Diese unreflektierte Übernahme von Annahmen einer an der Kommunikation beteiligten Person lässt auf eine asymmetrische aufgabenbezogene Interaktionsstruktur schließen (vgl. Kap. 7.2.2). Zusammenfassend weisen die Ausprägungen der drei dargelegten Indikatoren zur Beschreibung und Kategorisierung des Interaktionsgeschehens auf eine ‚Dominante Kooperation‘ mit Miriam prädominant in Phase 8 hin (für die Einordnung vgl. Kap. 7.2.2, Tab. 7.4; i. A. a. die Kooperationstypen nach Naujok, 2000). Interaktive Strukturen in Phase 9: ‚Ausgewogene Kooperation‘ Intensität der Interaktion: Bei der Beurteilung der interaktiven Strukturen wird durch die abwechselnden Äußerungen und Handlungen (rechte und linke Seite im Transkript 8.2) ebenso wie in Transkript 8.1 deutlich, dass die beiden Mädchen fortlaufend wechselseitig handeln. Es kommt zu einem aufeinander bezogenen Handeln, was durch inhaltliche Bezüge der abwechselnden Äußerungen und Handlungen nachweisbar ist. Diese inhaltlichen Bezüge werden auch hier wieder beispielsweise durch die Wörter „Ja“ (T. 8.2; Z. 6, 7, 9, 21, 80), „Nein“ (T. 8.2, Z. 18) oder „Ach so… aber“ (T. 8.2, Z. 19) explizit signifiziert, die sich direkt auf die vorangegangene Äußerung des jeweils anderen beziehen.
277
8.2 Rekonstruktion interaktiver Strukturen Auszug aus Transkript 8.2:
17
Marina (MA) 1, 2 wir brauchen für die Eins noch eins eine (zeigt auf den ersten Summanden der ersten Aufgabenkarte 1 + 12 = 13).
18
19
Miriam (M)
Nein. Das ist doch jetzt hier (deutet auf die Summen der beiden obersten Aufgabenkarten 1 + 12 = 13 und 2 + 11 = 13). Die sind doch beide gleich. Ach so … Aber hier nicht (deutet auf die Summe 15).
20
[...] Ja da sind - da bin ich - da sind wir ja gerade dabei. Jetzt müssen wir [...] noch eine Aufgabe finden, die 15 ergibt, wo hier (deutet auf den ersten Summanden der Aufgabe 2 + 13 = 15) eine ungerade Zahl ist.
Außerdem sind implizite Bezüge auszumachen, die eine Aussage des Partners inhaltlich aufgreifen (u. a. T. 8.2; Z. 9, 18, 19, 20). So auch in Zeile 7, in der Marina beispielsweise vor dem Hintergrund ihres eigenen Lernstandes auf den Inhalt eingeht, über den Miriam spricht, nämlich gerade und ungerade Zahlen (T. 8.2, Z. 7). Auszug aus Transkript 8.2:
Ja hier brauchen wir eine (deutet zwischen 1 + 12 = 13 und 2 + 13 = 15), die man aufteilen kann. […]
6
7
# Ja 2 (deutet auf den ersten Summanden der Aufgaben 2 + 13 = 15) kann man aufteilen, 3 nicht (tippt auf die Aufgabe 3 + 14 = 17). 4 (deutet auf die Aufgabe 4 + 13 = 16), 5 nicht (deutet auf die Aufgabe 5 + 14 = 19), […].
Ebenso verhält es sich in den Zeilen 74–76, in denen sich beide Kinder inhaltlich wechselseitig aufeinander beziehen. Auszug aus Transkript 8.2:
74 75 76
Wir brauchen eine Zahl, die … # # … 17 ergibt. Ja und die eine gerade Zahl vorne hat (deutet auf den ersten Summanden der Aufgabe 3 + 14 = 17). Also einen geraden Einer.
278
8 Auswertung und Interpretation individuell-zieldifferenter Lern- und Interaktionsprozesse
Hinsichtlich der Intensität der Interaktion ist folglich nach der Definition in Kapitel 7.2.2 eine starke Interaktion zwischen den Kindern zu beobachten. Themen- bzw. Zielfokussierung: Die enge inhaltliche Verknüpfung aus den vorangegangenen Transkriptausschnitten zeigt exemplarisch für die Phase 9 auf, dass beide Mädchen fokussiert auf ein gemeinsames Ziel – nämlich das Vervollständigen ihrer Aufgaben – handeln. In diesem Prozess machen beide Mädchen Vorschläge für neue Additionsaufgaben oder für ein neues Vorgehen im Hinblick darauf, die noch fehlenden zu finden (u. a. T. 8.2; Z. 6, 8, 17, 78). In der oben wiedergegebenen Zeile 17 macht beispielsweise Marina einen Vorschlag, auf den ihre Partnerin eingeht (T. 8.2, Z. 17 ff.). Andersherum macht Miriam ebenso Vorschläge, die Marina auf ihrem individuellen Niveau aufgreift (u. a. T. 8.2, Z. 6 ff.). Folglich ist nach der Definition in Kap. 7.2.2 eine übereinstimmende Themen- bzw. Zielfokussierung zwischen den Kindern zu verzeichnen, bei der beide Kinder ein gemeinsames Ziel verfolgen (M + MA (MMA)’). Aufgabenbezogene Interaktionsstruktur: Während der gemeinsamen Suche der beiden Mädchen nach den noch fehlenden Additionsaufgaben wird die Interaktionsstruktur zunehmend symmetrisch. Zu Beginn ist noch eine leichte Prädominanz von Miriam zu beobachten. Sie orientiert sich bei der Suche nach neuen Aufgaben zielstrebig an der Gleichheit der Summen und an ihrer Entdeckung zu den geraden bzw. ungeraden ersten Summanden. Marina versucht Miriams Gedankengängen zu folgen und nimmt ihre Vorschläge an, ohne sie zu hinterfragen. Sie bringt sich allerdings zunehmend selbst mit Vorschlägen ein, die jedoch aufzeigen, dass sie noch Schwierigkeiten hat, die wahrgenommenen arithmetischen Beziehungen zum vorteilhaften Rechnen und Suchen zu nutzen. Miriam geht immer wieder auf Marinas Fehler ein und korrigiert sie, wie die angeführten Transkriptausschnitte (u. a. T. 8.2, Z. 18) belegen. Auszug aus Transkript 8.2:
17
1, 2 wir brauchen für die Eins noch eins eine (zeigt auf den ersten Summanden der ersten Aufgabenkarte 1 + 12 = 13).
18
19
Nein. Das ist doch jetzt hier (deutet auf die Summen der beiden obersten Aufgabenkarten 1 + 12 = 13 und 2 + 11 = 13). Die sind doch beide gleich. Ach so … Aber hier nicht (deutet auf die Summe 15).
Am Ende der Szene scheint auch Miriam die Gleichheit zweier Summen wahrzunehmen und insgesamt den Blick für erste arithmetische Beziehungen zu öffnen. Allgemein ist durchgehend eine gemeinsame aktive Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Ideen zu beobachten, wobei beide Kinder auf ihrem individuellen Niveau denken sowie interagieren und die Äußerungen immer in-
8.2 Rekonstruktion interaktiver Strukturen
279
haltsgebunden und aufeinander bezogen sind. Nach Littleton und Kollegen liegt hier ein ‚Exploratory Talk‘ (Littleton et al., 2005, S. 169 ff.) vor, der auf eine symmetrische aufgabenbezogene Interaktionsstruktur schließen lässt (vgl. Kap. 7.2.2). Littleton und Kollegen schreiben diesem Typ der inhaltlichen und wechselseitigen Verknüpfung von Aussagen in der Interaktion eine besondere Lernförderlichkeit (‚educational value‘) zu, die nicht nur eine Verbesserung der inhaltlichen Partizipation einzelner Kinder in Gruppengesprächen aufweist, sondern damit einhergehend zu einer verbesserten Effektivität der Gruppenarbeit führen kann (ebd.; vgl. Kap. 7.2.2). Zusammenfassend liegt in der Phase 9 belegt an den Ausprägungen der drei dargelegten Indikatoren zur Beschreibung und Kategorisierung des Interaktionsgeschehens eine ‚Ausgewogene Kooperation‘ vor (für die Einordnung vgl. Kap. 7.2.2, Tab. 7.4; i. A. a. die Kooperationstypen nach Naujok, 2000). Während im vorliegenden Kapitel 8.2.1 die Kategorisierung interaktiver Strukturen aufgezeigt wurde, werden diese in Kapitel 8.2.2 in Verbindung mit den individuellen Lernprozessen der Kinder (vgl. Kap. 8.1.1) betrachtet. 8.2.2 Interaktive Lernprozesse In diesem Kapitel wird ein erster Zusammenhang zwischen den interaktiven Strukturen (vgl. Kap. 8.2.1) und den rekonstruierten Lernverläufen der Kinder in der Interaktion (vgl. Kap. 8.1.1) – also den individuellen Lernprozessen – hergestellt. Damit einhergehend wird der Frage nachgegangen, wie die interaktiven Strukturen charakterisiert sind, in denen eine Weiterentwicklung individueller Zugänge und Lösungsprozesse rekonstruiert werden konnte. Die Tabelle 8.3 stellt die Kategorien zur Beschreibung und Einordnung des Interaktionsgeschehens zwischen Marina und Miriam entlang der einzelnen Phasen zusammenfassend dar. (Eine ausführliche Darlegung einer entsprechenden Kategorisierung erfolgte exemplarisch in Kapitel 8.2.1 für die Phasen 8 und 9.) Durch die rechte Spalte der Tabelle werden die interaktiven Strukturen und die rekonstruierten individuellen Lernprozesse der beiden Kinder (vgl. Kap. 8.1.1) in einen ersten Zusammenhang gebracht. Dahingehend soll die Tabelle u. a. verdeutlichen, welches Kind sich in welcher Phase der Interaktion weiterentwickelt hat. Zudem wird die Häufigkeit der unterschiedlichen Interaktionsausprägungen – ‚parallele Aktivitäten ohne gem. Ziel‘, ‚parallele Aktivitäten mit gem. Ziel‘ bzw. ‚arbeitsteilige Kooperation‘, ‚dominante Kooperation‘, die helfend oder prädominant strukturiert sein kann, oder ‚ausgewogene Kooperation‘ – deutlich.
280
8 Auswertung und Interpretation individuell-zieldifferenter Lern- und Interaktionsprozesse
Tabelle 8.3: Kategorisierung des Interaktionsgeschehens entlang der Phasen mit Bezug zu den individuellen Lernprozessen
Phasen des Interaktionsgeschehens (Interaktionseinheiten) Phase 1: Einstieg Phase 2: Vertrautmachen mit dem Arbeitsauftrag Phase 3: Ordnen der eigenen Aufgaben nach der Größe des 1. Summanden Phase 4: Erste Entdeckungen an den eigenen Aufgaben orientiert an der Größe des 1. Summanden Phase 5: Kontrollieren der Vollständigkeit der eigenen Aufgaben Phase 6: Gemeinsames Ordnen aller Aufgaben nach der Größe des 1. Summanden Phase 7: Gemeinsames Kontrollieren und Ergänzen aller Aufgaben orientiert an der Größe des 1. Summanden Phase 8: Neue Entdeckungen u. a. hinsichtlich der Gleichheit je zweier Summen Phase 9: Neues gemeinsames Ergänzen orientiert an der Gleichheit je zweier Summen Phase 10: Kognitiver Konflikt durch die Nachbarsumme 16 Phase 11: Weiteres gemeinsames Ergänzen orientiert an der Gleichheit der Summen
Kategorisierung des Interaktionsgeschehens64 (interaktive Strukturen) Ausgewogene Kooperation Parallele Aktivitäten ohne gemeinsames Ziel Ausgewogene Kooperation Dominante Kooperation (Miriam prädominant) Dominante Kooperation (Miriam prädominant) Ausgewogene Kooperation
Dominante Kooperation (Miriam prädominant)
Ausgewogene Kooperation
Ausgewogene Kooperation
Weiterentwickelte Zugänge und Lösungsprozess65 (Lernprozesse) Miriam_R MArina_R Miriam_R Miriam_V MArina_L MArina_V MArina_R MArina_R MArina_R Miriam_R Miriam _V MArina _R MArina _V MArina _R MArina _R -
Dominante Kooperation (Miriam prädominant)
64 In dieser Tabelle ist die Kategorisierung des Interaktionsgeschehens ohne Darlegung der Indikatoren abgebildet. Eine ausführlichere Tabelle, die die Indikatoren für jede Phasen darlegt, ist im Anhang dieser Arbeit unter ‚Darlegung der Indikatoren zur Tabelle 8.3‘ zu finden. 65 Für die Phasen 8 und 9 wurden diese weiterentwickelten Zugänge und Lösungsprozesse in Kapitel 8.1.1 exemplarisch rekonstruiert.
281
8.2 Rekonstruktion interaktiver Strukturen
Phase 12: Kognitiver Konflikt durch die Nachbarsumme 24
Phase 13: Vervollständigen der Aufgaben Phase 14: Gemeinsames Aufkleben und Festhalten der Entdeckungen
Dominante Kooperation (Miriam prädominant) Dominante Kooperation (Miriam prädominant) Arbeitsteilige Kooperation (parallele Aktivitäten mit dem gemeinsamen Ziel C, alle Aufgaben aufzukleben und die Entdeckungen festzuhalten)
MArina_V Miriam_R Miriam_R Miriam_V Miriam_L -
Der Tabelle 8.3 ist zu entnehmen, dass es in den mittleren Phasen – also im Hauptgeschehen – der Interaktion zu einer Abwechslung zwischen einer ‚ausgewogenen‘ und einer ‚dominanten Kooperation‘ (mit Miriam, dem Kind ohne sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf prädominant) kommt. Weiterentwicklungen individueller Zugänge und Lösungsprozesse konnten ausschließlich während einer ‚ausgewogenen Kooperation‘ und während einer ‚dominanten Kooperation‘ (mit Miriam, dem Kind ohne sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf prädominant) rekonstruiert werden. Deutlich wird aber auch, dass diese beiden Interaktionsmuster nicht zwangsläufig zu einer Weiterentwicklung führen. Die Tabelle 8.3 verdeutlicht exemplarisch, welches Mädchen sich in welcher Phase der Interaktion weiterentwickelt hat. Nicht mehr exemplarisch, sondern allgemein soll im Folgenden auf Grundlage aller Design-Experimente u. a. dargestellt werden, welche interaktive Struktur für welches Kind (mit oder ohne sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf ‚Lernen‘) potenziell lernförderlich ist. 8.2.3 Zusammenfassende Betrachtung: typische Interaktionsmuster Während im Kapitel 8.2.1 die Kategorisierung interaktiver Strukturen exemplarisch dargelegt und diese in Kapitel 8.2.2 beispielhaft mit Lernverläufen der Kinder Miriam und Marina in Verbindung gebracht wurden, erfolgt in diesem Kapitel eine zusammenfassende Auswertung aller Design-Experimente in Form einer vollständigen Darlegung der vier aufgetretenen typischen Interaktionsmuster. Die Tabelle 8.4 zu den typischen Interaktionsmustern während der interaktiv-kooperativen Lernsituationen (i. A. a. die Kooperationstypen nach Naujok, 2000) ist zum Teil aus Kapitel 7.2.2 (Tab. 7.4) bereits bekannt. Sie ist zwar Ergebnis der hier beispielhaft geschilderten Analysen, wurde jedoch im Rahmen der Darlegung der Datenerhebung und -auswertung bereits zuvor als induktivdeduktiv entwickeltes Analyseinstrument vorgestellt. An dieser Stelle wird die
282
8 Auswertung und Interpretation individuell-zieldifferenter Lern- und Interaktionsprozesse
Tabelle durch die ‚interaktiven Lernprozesse‘ ergänzt. Der Aspekt der interaktiven Lernprozesse beschränkt sich ausschließlich auf fachliche Prozesse, also die Weiterentwicklung bezüglich des mathematischen Lerngegenstandes des flexiblen Rechnens. Diese Weiterentwicklung kann entweder nicht vorhanden, eher gering oder eher hoch ausgeprägt sein und wurde wie in Kapitel 8.1 exemplarisch aufgezeigt mithilfe der epistemologisch orientierten Analyse und des in Kapitel 3.3 entwickelten Modells zum flexiblen Rechnen rekonstruiert. Tabelle 8.4:
Vier typische Interaktionsmuster während der interaktiv-kooperativen Lernsituationen (eine Adaption der Kooperationstypen nach Naujok, 2000; für das Original vgl. Tab. 2.1)
Intensität der Interaktion (verbal, nonverbal)
Parallele Aktivitäten ohne gem. Ziel Parallele Aktivitäten mit gem. Ziel
gar nicht – gering
gering
Themen- und Zielfokussierung (aufgabenbezogen: fachlich, materiell, methodisch) different
Aufgabenbezogene Interaktionsstruktur
Lernprozesse (fachlich)
(fachlich) nicht vorhanden nicht vorhanden
potenziell different
symmetrisch A eher gering B eher gering
oder
Arbeitsteilige Kooperation stark
Dominante Kooperation
übereinstimmend
asymmetrisch
B helfend stark
übereinstimmend
asymmetrisch
B prädominant
Ausgewogene Kooperation A/B: A: B:
stark
übereinstimmend
symmetrisch
A eher gering B eher gering A eher gering B eher hoch A eher hoch B eher gering
Kinder, die in Interaktion treten Kind mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf ‚Lernen‘ Kind mit durchschnittlichen Mathematikleistungen
Interpretation und Einordnung der Erkenntnisse zur Forschungsfrage FF2 Bei der Betrachtung der zusammenfassenden Tabelle 8.4 fällt auf, dass sich lediglich während einer ‚dominanten Kooperation‘ mit Prädominanz des stärkeren Kindes und während einer ‚ausgewogenen Kooperation‘ die interaktiven Lernprozesse der beiden am Interaktionsgeschehen beteiligten Kinder merklich
8.2 Rekonstruktion interaktiver Strukturen
283
weiterentwickeln. Ersteres Interaktionsmuster ist besonders für das stärkere Kind des heterogenen Paares, letzteres für das Kind mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf im Bereich ‚Lernen‘ potenziell lernförderlich. Diese Erkenntnis wird im folgenden Kapitel 8.3 detaillierter beleuchtet, indem die in der interaktiv-kooperativen Lernsituation auftretenden Impulse, die zu einer potenziellen Fruchtbarkeit für den mathematisch-inhaltlichen Lernprozess beitragen, genauer untersucht werden. Gemein haben diese beiden fruchtbaren Interaktionsmuster, dass es zu einer starken sowie einer übereinstimmenden und aufgabenbezogenen themen- und zielfokussierten Interaktion (kurz auch aufgabenbezogene Interaktion genannt) kommt. Eine intensive sowie eine aufgabenbezogene Interaktion sind folglich zielführende Aspekte, die sich für die gelingende Anregung interaktivkooperativer Lernsituationen ableiten lassen. Dieses bestätigen auch einige Studien, die im Theorieteil dieser Arbeit vorgestellt wurden. Sie zeigen auf, dass eine erfolgreiche Kommunikation innerhalb interaktiv-kooperativer Lernsituationen im Mathematikunterricht einen entscheidenden Beitrag zur Fruchtbarkeit des Lernens leisten kann und dass die Art und Weise der Interaktion zentral für ein Gelingen und die Anregung interaktiv-kooperativer Lernprozesse ist (u. a. Gersten et al., 2009; Häsel-Weide, 2016a; Stacey & Gooding, 1998; Webb, 1989; vgl. Kap. 2.1.2 ). Bei der ‚dominanten Kooperation mit helfender Ausprägung‘ ist die Interaktion zwar hoch und aufgabenbezogen, jedoch waren keine Lernprozesse zu beobachten. Der Grund dafür ist vermutlich, da das Helfen eher in Form eines ‚Vorsagens‘ und nicht in Form eines ‚Erklärens‘ zu beobachten ist. Um diese Phasen der Interaktion fruchtbar zu gestalten, müsste sie, so ist anzunehmen, anders angeregt werden, beispielsweise durch Lehr-Lern-Arrangements, die auf Helfersysteme, Expertenkinder oder Peer-Tutoring abzielen. Jedoch zeigen Studien auf, dass mathematische Interventionen, in denen Peer Tutoring genutzt wird, weniger erfolgreich sind als vergleichbare Interventionen ohne den Einsatz dieses Ansatzes. Die Forscher schlussfolgern daraus, dass die Rolle der Lehrkraft im Unterricht essenziell ist und nicht durch Peers ersetzt werden kann (vgl. Kroesbergen & van Luit, 2003; Gersten et al., 2009; vgl. Kap. 2.1.2). Letztlich bleiben noch die parallelen Aktivitäten zu betrachten: Die ‚parallelen Aktivitäten mit gem. Ziel‘ bzw. ‚arbeitsteiliger Kooperation‘ sind oftmals als Übergang von der individuellen in die interaktiv-kooperative Phase zu beobachten, in dem sich die Interaktion erst langsam herausbildete oder sie zeigen sich in Aktivitäten wie das gemeinsame, arbeitsteilige Aufkleben, wie die Tabelle 8.3 (Phase 14) am Beispiel belegt. Die Ausprägungen ‚parallele Aktivitäten ohne und mit gem. Ziel‘ zeigen beide gar keine bzw. eine geringe Interaktion. Währenddessen findet keine Weiterentwicklung der Lernverläufe statt. Bei jedem der teilnehmenden heterogenen Kinderpaare aus der Stichprobe konnten während der interaktiv-kooperativen Lernsituation verschiedenen Inter-
284
8 Auswertung und Interpretation individuell-zieldifferenter Lern- und Interaktionsprozesse
aktionsmuster rekonstruiert werden. Zwar nicht dauerhaft, aber phasenweise war bei allen eine ‚dominante Kooperation‘ mit Prädominanz des stärkeren Kindes und eine ‚ausgewogene Kooperation‘ zu beobachten. Diese Ausprägungen sind Anzeichen für potenziell lernförderliche interaktive Strukturen, wie im Vorangegangenen gezeigt werden konnte. Zusammenfassend kann zum Abschluss von Kapitel 8.2 und zur Beantwortung der Forschungsfrage FF2 geschlussfolgert werden, dass sich während der interaktiv-kooperativen Phase bei jedem Kinderpaar unterschiedliche interaktive Strukturen rekonstruieren ließen (vgl. Tab. 8.4), von denen die ‚dominante Kooperation‘ mit Prädominanz des stärkeren Kindes und eine ‚ausgewogene Kooperation‘ zur Anregung individueller Lernprozesse unterschiedlicher Ausprägung beitrugen. Daraus lässt sich ableiten, dass die interaktiv-kooperative Lernsituation – angeregt durch das im Kontext dieser Arbeit entwickelte Lehr-LernArrangement – bei allen Kinderpaaren phasenweise potenziell fruchtbar verlief. ‚Potenziell‘ fruchtbar oder lernförderlich deshalb, weil auch diese beiden Interaktionsmuster keine Garanten für Lernen darstellen. Dass eine gezielte Interaktionsanregung erfolgreich sein kann, aber die Ausprägungen unterschiedlich verlaufen, bestätigt eine Studie von Häsel-Weide (2016b). Sie zeigt für den Anfangsunterricht auf, dass, kooperative gemeinsame Lernsituationen, in denen Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Kompetenzen am gemeinsamen Gegenstand lernen, gelingen können, dass dabei jedoch „nicht jede Lernumgebung für jedes Kinderpaar gleich produktiv“ wirkt (Häsel-Weide, 2016b, S. 369; vgl. Kap. 1.1.2 und Kap. 2.1.3). Nach der Betrachtung der individuellen Lernverläufe der Kinder während der Interaktion (FF1) wurden im Kapitel 8.2 die interaktiven Strukturen genauer beleuchtet und mit Tabelle 8.4 die Forschungsfrage FF2 abschließend beatwortet. Damit einhergehend wurde bereits ein erster Bezug zu den individuellen Lernverläufen hergestellt. Hierbei blieb es jedoch bei einer beschreibenden Darlegung. Im folgenden Kapitel 8.3 wird darüber hinaus die Untersuchung des Zusammenhanges zwischen dem Interaktionsgeschehen und der Weiterentwicklung der Lernpfade intensiviert (FF3).
8.3
‚Produktive Momente‘ in der Interaktion
Im Folgenden wird die zusammenhängende Betrachtung zwischen dem Interaktionsgeschehen und der Weiterentwicklung individueller Zugänge und Lösungsprozesse vertieft. Hierbei geht es über die beschreibende Ebene der vorangegangenen Kapitel hinaus, um (FF3) zu beantworten.
8.3 ‚Produktive Momente‘ in der Interaktion
285
(FF3) Inwiefern gibt es einen Zusammenhang zwischen den interaktiven Strukturen und der Weiterentwicklung individueller Zugänge und Lösungsprozesse? Das Ziel dieses Kapitels besteht darin, die Impulse und Momente im Interaktionsgeschehen auszumachen, die potenziell lernförderlich sind. Das angewandte Analysevorgehen, auf dem die Darstellungen in diesem Kapitel basieren, knüpft an die Ausführungen zum interpretativ-epistemologisch orientierten Analysezugang interaktiver Wissenskonstruktion an (für eine detaillierte Darlegung vgl. Kap. 7.2.1 und 7.2.2). Zur Beantwortung der Forschungsfrage FF3 werden folgende Analyseinstrumente herangezogen: Die Suche nach ‚interaktiven Schlüsselaktivitäten‘ nach Dekker und Elshout-Mohr (1998) ermöglicht es, potenziell lernförderliche Momente in der Interaktion auszumachen, um an diesen Stellen den Zusammenhang zwischen den individuellen Lernverläufen und den interaktiven Strukturen genauer zu untersuchen (vgl. Kap. 7.2.1 und 7.2.2). Die adaptierte Analyse mit Steinbrings (2000, 2015) epistemologischem Dreieck ermöglicht es an diesen Stellen, die in der Interaktion hervorgebrachten und zu deutenden mathematischen Zeichen und die ergänzten IMPULSE genauer zu untersuchen, welche die Kinder zu neuen Deutungen herausfordern können (vgl. Kap. 7.2.2). Während in Kapitel 8.3.1 der Zusammenhang zwischen den individuellen Lernverläufen und den interaktiven Strukturen detaillierter beleuchtet wird, erfolgen in Kapitel 8.3.2 die zusammenfassende Betrachtung und die Darlegung rekonstruierter ‚produktiver Momente‘. 8.3.1 Individuelle Lernprozesse und interaktive Strukturen Am Ende des Kapitels 8.2 wurde festgehalten, dass sich während einer ‚dominanten Kooperation‘ mit Prädominanz des stärkeren Kindes und während einer ‚ausgewogenen Kooperation‘ die Lernprozesse der beiden am Interaktionsgeschehen beteiligten Kinder merklich weiterentwickeln (vgl. Tab 8.4). Ersteres Interaktionsmuster ist besonders für das stärkere Kind des heterogenen Paares, letzteres für das Kind mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf im Bereich ‚Lernen‘ potenziell lernförderlich. Diese Erkenntnis wird im vorliegenden Kapitel detaillierter beleuchtet. Dabei stellt sich besonders die Frage, was genau in der interaktiven Struktur dazu beiträgt, dass diese Lernförderlichkeit positiv beeinflusst wird. Daher werden im Folgenden die in der interaktiv-kooperativen Lernsituation auftretenden Impulse, die einer ‚interaktiven Schlüsselaktivität‘ vorangehen genauer untersucht. Denn wie bereits in Kapitel 7.2.2 ausführlicher erläutert
286
8 Auswertung und Interpretation individuell-zieldifferenter Lern- und Interaktionsprozesse
wurde, sind nach Dekker und Elshout-Mohr (1998) diese ‚interaktiven Schlüsselaktivitäten‘ („key activities“; ebd., S. 305) bedeutsam für erfolgreiches Mathematiklernen in der Interaktion. Sie werden durch die Interaktion auf natürliche Art und Weise angeregt und gehen einher mit ‚mentalen Aktivitäten‘ („mental activities“, ebd., S. 308), wie beispielsweise das Nachdenken oder Reflektieren (vgl. Abb. 8.9). Daher dienen ‚interaktive Schlüsselaktivitäten‘ in dieser Arbeit als Anzeichen für ein lernförderliches Interaktionsgeschehen und als Hinweis auf interaktive Lernprozesse (vgl. Kap. 7.2.2). ‚Interaktive Schlüsselaktivitäten‘,
Impuls in der Interaktion (verbal oder nonverbal), der ein lernförderliches Interaktionsgeschehen auslösen kann.
Abbildung 8.9:
‚Mentale Aktivitäten‘
sind bedeutend für ein lernförderliches Interaktionsgeschehen (vgl. Dekker & ElshoutMohr, 1998, „key activities“) und können auf interaktive Lernprozesse hinweisen (z. B. Wahrnehmen und Nutzen neuer Referenzen (R) oder Reflektieren und Weiterentwickeln von Lösungswerkzeugen (L) und strategischen Vorgehensweisen (V)).
Das Konstrukt des ‚produktiven Momentes‘ zur Betrachtung des Zusammenhangs zwischen Impulsen, ‚interaktiven Schlüsselaktivitäten‘ und der Lernförderlichkeit (i. A. a. Dekker und Elshout-Mohr, 1998)
Die Stellen, an denen in der Interaktion ein Impuls (z. B. eine Äußerung, eine Handlung, ein Aufgabenauftrag oder eine neue Entdeckung) und darauf folgend eine ‚interaktive Schlüsselaktivität‘ auszumachen ist, die mit einer Weiterentwicklung mathematisch-inhaltlicher Lernprozesse einhergeht, werden in der vorliegenden Arbeit als ‚produktive Momente‘ in der Interaktion bezeichnet. Wirkt ein Impuls folglich lernförderlich, dann kann von einem ‚produktiven Moment‘ gesprochen werden. Es wird angenommen, dass an diesen Stellen die Impulse die Lösungs- und Lernprozesse produktiv beeinflussen, indem durch sie beispielsweise eine Konfrontation mit einer fremden Sichtweise, differierende, irritierenden oder unerwarteten Gedanken vorliegt (vgl. auch ‚produktive Irritationen‘ von Nührenbörger & Schwarzkopf, 2013; 2015a; 2015b). Nach Nührenbörger (2010) schafft besonders Leistungsheterogenität unter Kindern – wie sie auch in diesem Projekt vorliegt – „eine Garantie für unterschiedliche Sichtweisen, eine Grundlage für die Konstruktion von Differenzen und ein Potential für kooperative Kommunikation und fundamentales Lernen“ (Nührenbörger 2010, S. 643).
8.3 ‚Produktive Momente‘ in der Interaktion
287
In Anlehnung an dieses Konstrukt des ‚produktiven Momentes‘ werden in der folgenden Tabelle 8.5 die IMPULSE66 in Verbindung mit den interaktiven Schlüsselaktivitäten und Gesichtspunkten der Lernförderlichkeit betrachtet. Die einzelnen Aspekte sind den exemplarischen epistemologischen Analysen aus Kapitel 8.1.1 zu entnehmen und werden an dieser Stelle kurz erläutert: IMPULS – Zeichen: Zu den erklärungsbedürftigen mathematischen Zeichen gehören z. B. Zahlen, Rechenzeichen, Repräsentationen, Veranschaulichungen usw., die in einigen Aspekten in Frage stehen. Ihnen muss daher Bedeutung zugeschrieben werden. Sie regen auf diese Weise zu neuen Deutungen an und werden daher mit den Impulsen in Zusammenhang gebracht. Interaktive Schlüsselaktivität – Referenzkontext: Hierbei handelt es sich um einen partiell bekannten und Erklärung gebenden Referenzkontext. Vor dem Hintergrund geeigneter und verschiedener Referenzkontexte wird das Zeichen individuell gedeutet und ihm wird Bedeutung zugeschrieben. Zusammenhängend damit sind die ‚interaktiven Schlüsselaktivitäten‘ zu beobachten, denn im Kontext ihrer Erklärung gebenden Referenzkontexte zeigen, beschreiben, erklären, begründen, argumentieren und rekonstruieren (nach Dekker und Elshout-Mohr (1998) sind genau das ‚interaktiven Schlüsselaktivitäten‘, vgl. Kap. 7.2.2) die Kinder. (Lernförderlichkeit) – Begriff: Die Vermittlung zwischen Zeichen und Referenzkontext wird durch diese begrifflichen Bedingungen reguliert. Verändern sich diese allgemeinen mathematischen Begriffe und Konzepte und entwickeln sich weiter, wird von einer situativen Weiterentwicklung, also Lernförderlichkeit, gesprochen. Die folgende Tabelle 8.5 setzt nicht nur diese drei Aspekte für das Fallbeispiel 1 von Miriam und Marina in Verbindung. Ebenso werden die Impulse spezifiziert, sodass der Tabelle entnommen werden kann, welche ‚Art‘ von Impuls für welches Kind lernförderlich ist.
66 Die typografischen Hervorhebungen der einzelnen Aspekte sollen zur Strukturierung und Wiedererkennung beitragen. Sie wurden auch schon in vorherigen Analysen verwendet, z. B. in Zusammenhang mit den epistemologischen Analysen.
288
8 Auswertung und Interpretation individuell-zieldifferenter Lern- und Interaktionsprozesse
Tabelle 8.5: Zusammenhang zwischen den Impulsen, den ‚Interaktiven Schlüsselaktivitäten‘ und der Lernförderlichkeit
Interaktive Ep. D.67 IMPULS ... Schlüsselaktivität (Kind) Phase 8: Dominante Kooperation mit Miriam prädominant ... durch den Marina reproduziert und beschreibt das bereits ARBEITSAUFTRAG 2 und thematisierte arithmetiEp. D. sche Muster der ... durch die bisherige 8.1 1. Summanden mit Blick INTERAKTION über (Marina) auf die Position der Sortierungen und Zahlen (Folge der natürEntdeckungen lichen Zahlen). Miriam beschreibt die ... durch den Kommutativität zweier ARBEITSAUFTRAG 2 Ep. D. Aufgaben und erklärt 8.2 damit den Vorteil für (Miriam) geschicktes Rechnen (Hilfsaufgaben nutzen). Marina zeigt die Gleich... durch MIRIAMS BESCHREIBUNGEN und heit einer weiteren SumERKLÄRUNGEN zur me (23) und das arithmeGleichheit der Summe tische Muster der SumEp. D. 25 (vgl. Ep. D. 8.2) men mit Blick auf die 8.3 Position der Zahlen (Marina) (Folge der natürlichen Zahlen).
Ep. D. 8.4 (Miriam)
... durch die FRAGE DER INTERVIEWERIN und ... durch die EIGENEN ENTDECKUNGEN zur Summenkonstanz (vgl. Ep. D. 8.2)
Phase 9: Ausgewogene Kooperation ... durch die EIGENEN DEUTUNGEN in Bezug auf das Muster der Ep. D. ergebnisgleichen Auf8.5 gaben hinsichtlich (Miriam) gerader und ungerader 1. Summanden (vgl. Ep. D. 8.4) und
Miriam beschreibt neue arithmetische Muster der ergebnisgleichen Aufgaben hinsichtlich gerader und ungerader 1. Summanden.
Miriam modifiziert ihr strategisches Vorgehen bei der Suche nach noch fehlenden Aufgaben und erklärt dieses.
67 Vgl. mit den epistemologischen Dreiecken in Kapitel 8.1.1.
(Lernförderlichkeit) (MArina_R) Arithmetisches Muster der 1. Summanden mit Blick auf die Position der Zahlen (Folge der natürlichen Zahlen, Ordinalzahlaspekt) –
(MArina_R) Gleichheit zweier Zahlen (MArina_R) Arithmetisches Muster der Summen mit Blick auf die Position der Zahlen (Ordinalzahlaspekt) (Miriam_R) Muster gerader und ungerader 1. Summanden der ergebnisgleichen Aufgaben
(Miriam_V) Nutzen des Musters gerader und ungerader 1. Summanden der ergebnisgleichen Aufgaben
8.3 ‚Produktive Momente‘ in der Interaktion
Ep. D. 8.6 (Miriam)
Ep. D. 8.7 (Marina)
... durch den ARBEITSAUFTRAG 1 ... durch die EIGENEN DEUTUNGEN hinsichtlich eines strategischen Vorgehens (vgl. Ep. D. 8.5) ... durch MIRIAMS BESCHREIBUNGEN und ERKLÄRUNGEN zu ihrem strategischen Vorgehen, das sich an Gleichheiten zweier Zahlen orientiert (vgl. Ep. D. 8.5 und 8.6) ... durch den ARBEITSAUFTRAG 1 ... durch MIRIAMS VERMUTUNG für die fehlende Aufgabe mit der Summe 17 und
Ep. D. 8.8 (Marina)
... durch MIRIAMS bisherige BESCHREIBUNGEN und ERKLÄRUNGEN zu arithmetischen Beziehungen
Miriam vermutet, überprüft und begründet (argumentiert), dass die Aufgabe 2++ 11 fehlt. Marina modifiziert ihr strategisches Vorgehen ebenso und vermutet eine Additionsaufgabe mit der Zahl Eins als 1. Summanden als noch fehlende Aufgabe.
Marina beschreibt neue Eigenschaften und Beziehungen von Zahlen und (jetzt auch) von Aufgaben.
Phase 12: Dominante Kooperation mit Miriam prädominant ... durch MIRIAMS Marina vermutet fehlerBESCHREIBUNGEN und haft, dass die Summe 24 ERKLÄRUNGEN zu fehlt. Ep. D. 8.9 ihrem strategischen (Marina) Vorgehen orientiert an den Summen (vgl. Ep. D. 8.5 und 8.6) Miriam argumentiert mit ... durch MARINAS Ep. D. 8.10 FEHLERHAFTE neuen arithmetischen (Miriam) VERMUTUNG (vgl. Beziehungen zwischen
289
(Miriam_V) Nutzen des Musters gerader und ungerader 1. Summanden der ergebnisgleichen Aufgaben (MArina_R) Gleichheit zweier Zahlen mit Blick auf die 1. Summanden (MArina_V) Nutzen der Gleichheit zweier Zahlen mit Blick auf die 1. Summanden (MArina_R) Eigenschaften und Beziehungen von Zahlen: Teil-GanzesBeziehungen (Zahlen zerlegen) – dekadische Beziehungen (13 = 3 + 10) (MArina_R) Eigenschaften und Beziehungen von Aufgaben: Dekadische AnalogieBeziehungen – Veränderung eines Summanden um 10, Summe +/−10
(MArina_V) Nutzen des Wissens zur Folge der natürlichen Zahlen, um Ordnungssysteme in Frage zu stellen (Miriam_R) Arithmetisches Muster der Summen mit Blick
290
8 Auswertung und Interpretation individuell-zieldifferenter Lern- und Interaktionsprozesse
Ep. D. 8.11
Ep. D. 8.9)
den Summen (Fokus auf Summen).
... durch ihre EIGENE ARGUMENTATION (vgl. Ep. D. 8.10)
Miriam beschreibt in ihrer Argumentation die gegensinnige Veränderung der Summanden um +/−10 und stellt Bezug zur Auswirkung auf das Ergebnis her (Fokus auf ganzen Aufgaben). Miriam beschreibt und erklärt ihr neues strategisches Vorgehen und nutzt die entdeckten arithmetischen Beziehungen anschließend zum vorteilhaften Rechnen.
(Miriam)
... durch die EIGENEN ENTDECKUNGEN zur Gleichheit durch gegensinniges Verändern der Summanden (vgl. Ep. D. 8.11) Ep. D. 8.12
(Miriam)
auf die Positionen sowie fehlende Positionen der Zahlen (Ordinalzahlaspekt, Verweis auf fehlende Zahlen in der Folge der natürlichen Zahlen) (Miriam_R) Gleichheit durch gegensinniges Verändern der Summanden
(Miriam_V) Nutzen der Gleichheit durch gegensinniges Verändern der Summanden für das strategische Vorgehen bei der Suche nach fehlenden Aufgaben (Miriam_L) Nutzen der Gleichheit durch gegensinniges Verändern der Summanden als strategisches Werkzeug: gegensinniges Verändern
Bei allen in der Tabelle abgebildeten Szenen kann von ‚produktiven Momenten‘ in der Interaktion gesprochen werden, wenn von dem zuvor vorgestellten Konstrukt (s. o.) ausgegangen wird. Die einzige Ausnahme stellt hier die Szene zum Ep. D. 8.2 dar, da in dieser Szene bei Miriam keine Lernförderlichkeit rekonstruiert werden konnte. Die Analysen der Daten aus allen Zyklen belegen eine Regelmäßigkeit im Auftreten der lernförderlichen Impulse, wie in Tabelle 8.5 exemplarisch für die Phasen 8, 9 und 12 aus dem Fallbeispiel 1 (Marina und Miriam) visualisiert ist. Insgesamt zeigt die Tabelle 8.5 auf, wie bestimmte Impulse, ‚interaktive Schlüsselaktivitäten‘ und Lernförderlichkeit zusammenhängen. Die Spezifizierung der Impulse wird im Folgenden aufgegriffen und in Bezug auf lernförderliche ‚produktive Momente‘ näher erläutert. Außerdem werden die Inhalte der Tabelle am Ende dieses Kapitels abschließend zur Beantwortung der Forschungsfrage FF3 herangezogen sowie in Kapitel 10.1. erneut aufgegriffen.
8.3 ‚Produktive Momente‘ in der Interaktion
291
8.3.2 Zusammenfassende Betrachtung: ‚produktive Momente‘ Anhand der angeführten Szenen aus den Fallbeispielen 1 und 2 wurde die Rekonstruktion fünf typischer Lernverläufe (vgl. Kap. 8.1) sowie vier typischer Interaktionsmuster (vgl. Kap. 8.2) erläutert. Daran anknüpfend wurde in Kapitel 8.3.1 ein Zusammenhang zwischen diesen interaktiven Strukturen und den individuellen Lernprozessen aufgezeigt, der im Folgenden zusammenfassend betrachtet wird. In Anbetracht von Tabelle 8.5 kann zwischen drei unterschiedlichen Impulsen in der Interaktion differenziert werden, die bedeutend für ein lernförderliches Interaktionsgeschehen sein können. Wirkt ein Impuls lernförderlich, dann kann im Sinne des Konstruktes (s. o.) auch von einem ‚produktiven Moment‘ gesprochen werden. Es gibt folglich ebenso drei verschiedene Arten ‚produktiver Momente‘: (1) Impulse durch die Lehrkraft oder die Aufgabenstellung, die auf didaktischen Entscheidungen beruhen und durch gezielte Fragen und Aufgabenstellungen unmittelbar bzw. direkt zu neuen Deutungen anregen sollen. Daher werden sie ‚direkt-didaktische Impulse‘ genannt. Auf die epistemologischen Analysen bezogen werden gezielte Fragen und Aufgabenstellungen der Lehrkraft zu erklärungsbedürftigen mathematischen Zeichen, welche die Kinder zu Bedeutungszuschreibungen anregen. Zusammenfassend kann ein ‚produktiver Moment‘ folglich direkt-didaktisch sein (Rekonstruiert z.B. in Ep. D. 8.1, 8.2 und 8.4; vgl. Tab. 8.5). (2) Impulse durch die Struktur des mathematischen Gegenstandes, die zum Tragen kommen, wenn ein Kind selbst diese Strukturen durchschaut und so durch neue Erkenntnisse indirekt zu neuen Deutungen angeregt wird. Diese Impulse beruhen durch die Auswahl des mathematischen Lerngegenstandes ebenfalls auf didaktischen Entscheidungen, regen jedoch nicht unmittelbar zu neuen Deutungen an, da Voraussetzung ist, dass die Kinder diese Strukturen zunächst selbst wahrnehmen. Deswegen wird diese Art von Impuls auch ‚indirekt-didaktischer Impuls‘ genannt. Auf die epistemologischen Analysen bezogen werden demzufolge eigene Referenzkontexte – also eigene Deutungszuschreibungen eines Kindes – zu einem neuen erklärungsbedürftigen mathematischen Zeichen desselben Kindes. Ein ‚produktiver Moment‘ kann folglich indirekt-didaktisch sein (Rekonstruiert z.B. in Ep. D. 8.5, 8.6, 8.11 und 8.12; vgl. Tab. 8.5). (3) Impulse durch die Interaktionshandlung eines anderen Kindes, die im Laufe einer Interaktion wie von selbst aufkommen und den jeweiligen Partner zu neuen Deutungen anregen. Daher werden sie auch ‚interaktive Impulse‘ genannt. Auf die epistemologischen Analysen bezogen werden demzufolge Referenzkontexte eines Kindes – also Deutungen, die nach außen getragen
292
8 Auswertung und Interpretation individuell-zieldifferenter Lern- und Interaktionsprozesse
werden – zu einem neuen erklärungsbedürftigen mathematischen Zeichen des anderen Kindes. Ein ‚produktiver Moment‘ kann folglich interaktiv sein (Rekonstruiert z.B. in Ep. D. 8.3, 8.7 und 8.10; vgl. Tab. 8.5). Das Modell68 in Abbildung 8.10 fasst diese Ergebnisse übersichtlich zusammen (Abb. 8.10 links) und bringt sie in Verbindung mit den ‚interaktiven Schlüsselaktivitäten‘ (Abb. 8.10 rechts). Diese wurden i. A. a. Dekker und Elshout-Mohr (1998) für das vorliegende Forschungsprojekt sinngemäß übersetzt und im Forschungsprozess durch die Design-Experimente bestätigt (vgl. Tab. 8.5, Spalte 3) sowie hinsichtlich des mathematischen Inhaltes des flexiblen Rechnens konkretisiert (vgl. Kap. 7.2.2). ‚Interaktive Schlüsselaktivitäten‘ sind bedeutend für ein lernförderliches Interaktionsgeschehen (vgl. Dekker & Elshout-Mohr, 1998, „key activities“) und können auf interaktive Lernprozesse hinweisen: •
Impuls in der Interaktion (verbal oder nonverbal), der ein lernförderliches Interaktionsgeschehen auslösen kann:
•
‚Mentale Aktivitäten‘
•
Impuls durch die Lehrkraft oder die Aufgabenstellung (direkt‐didaktischer ‚produktiver Moment‘)
•
Impuls durch die Struktur des mathematischen Gegenstandes (indirekt‐didaktischer ‚produktiver Moment‘)
•
Impuls durch die Interaktionshandlung eines anderen Kindes (interaktiver ‚produktiver Moment‘)
Zeigen/ Beschreiben
Erklären/ Begründen
neuer Eigenschaften und Beziehungen (R) neuer strategischer Vorgehensweisen beim Rechnen (L) neuer strategischer Vorgehensweisen beim Suchen (V) neuer Eigenschaften und Beziehungen (R) neuer strategischer Vorgehensweisen beim Rechnen (L) neuer strategischer Vorgehensweisen beim Suchen (V)
•
Argumentieren (Vermuten, Überprüfen, Folgern, Begründen)/ Rechtfertigen mit Hilfe von Eigenschaften und Beziehungen (R) strategischen Vorgehensweisen beim Rechnen (L) strategischen Vorgehensweisen beim Suchen (V)
•
Rekonstruieren/ Modifizieren/ Weiterentwickeln von Eigenschaften und Beziehungen (R) strategischen Vorgehensweisen beim Rechnen (L) strategischen Vorgehensweisen beim Suchen (V)
Abbildung 8.10: Drei unterschiedliche ‚produktive Momente‘: direkt-didaktisch, indirektdidaktisch und interaktiv
68 Für Informationen zu der sukzessiven Entwicklung dieses Modells während der iterativen Design-Experimente und der fortlaufenden Analysen vgl. frühere Veröffentlichungen der Autorin (Korten, 2017a; 2017c).
8.3 ‚Produktive Momente‘ in der Interaktion
293
Interpretation69 und Einordnung der Erkenntnisse zur Forschungsfrage FF3 Rückbeziehend zur Forschungsfrage FF3 (Inwiefern gibt es einen Zusammenhang zwischen den interaktiven Strukturen und der Weiterentwicklung individueller Zugänge und Lösungsprozesse?) lässt sich festhalten, dass es – diesen Ergebnissen zufolge – einen Zusammenhang zwischen den interaktiven Strukturen und der Weiterentwicklung individueller Zugänge und Lösungsprozesse gibt. Durch Impulse, die während des Interaktionsgeschehens auftreten, kann die Weiterentwicklung individueller Zugänge und Lösungsprozesse positiv beeinflusst werden. Sie wirken sich potenziell positiv auf die Lernförderlichkeit des Interaktionsgeschehens aus. Wirkt ein Impuls lernförderlich, dann kann im Sinne des Konstruktes (s. o.) von einem ‚produktiven Moment‘ in der Interaktion gesprochen werden. Den Analysen folgend können drei verschiedene Arten ‚produktiver Momente‘ unterscheiden werden: direkt-didaktische, indirekt-didaktische und interaktive (für Erläuterungen s. o.). Die Impulse entstehen folglich nicht immer aus der Interaktion der beiden Kinder heraus. Vielmehr scheinen ebenso die eigene Auseinandersetzung mit dem mathematischen Lerngegenstand sowie die didaktische Planung und Anregung der Lehrkraft (spontan und verbal oder durch die Aufgabenstellung) eine bedeutende Rolle zu spielen, wie die zweite Spalte der Tabelle 8.5 belegt. (Für eine detaillierte Ausdifferenzierung der Impulse vgl. Abb. 10.1.) Diese gewichtige Rolle der Lehrkraft wird auch in anderen Forschungsarbeiten betont. So schlussfolgern – wie oben bereits erwähnt – Kroesbergen und van Luit (2003) aus den enttäuschenden Ergebnissen zum Peer Tutoring, dass die Rolle der Lehrkraft im Unterricht essenziell ist und nicht durch Peers ersetzt werden kann (vgl. Kap. 2.1.3). Des Weiteren arbeitet Röhr (1995) in einer Studie drei ‚Lenkungstypen‘ kooperationsfördernder Aufgaben heraus, die sich durch den unterschiedlichen Grad der Lenkung durch die Aufgabe an sich, durch die Schüler und durch die Lehrkraft unterscheiden (ebd., S. 78 ff.). In zwei der Lenkungstypen hat die Lehrkraft auch über die Unterrichtsplanung hinaus einen entscheidenden Einfluss darauf, wie die Kinder sich austauschen und miteinander arbeiten (für Erläuterungen vgl. Kap. 2.2.1). Brandt und Nührenbörger (2009a) stellen als einen von drei Aspekten zur Anregung mathematischer Gespräche die struktur-fokussierenden Anregungen seitens der Lehrkraft heraus. Während der Bearbeitung der diskursiven Aufgabenformate zielen struktur-fokussierende Anregungen darauf ab, gemeinsames Lernen zu koordinieren sowie die Entwicklung gemeinsamer mathematischer Denkprozesse zu ermöglichen (Brandt & Nührenbörger, 2009a, S. 29). Gelingt 69 An dieser Stelle findet ausschließlich eine Interpretation bezüglich der Lehrerrolle statt. In Kapitel 10.1. werden die hier herausgearbeiteten Impulse erneut aufgegriffen und hinsichtlich des konkreten Auftretens differenzierter interpretiert.
294
8 Auswertung und Interpretation individuell-zieldifferenter Lern- und Interaktionsprozesse
es der Lehrkraft, durch struktur-fokussierende Anregungen und Impulse die kindlichen mathematischen Gespräche anzuregen und zu konzentrieren, findet eine aufgabenbezogene Interaktion statt, die Voraussetzung für eine Kooperation ist (vgl. Kap 2.2.1). Häsel-Weide (2016a) betont bezüglich der Impulse seitens der Lehrkraft, dass es essenziell ist, „offene Fragen zu stellen und Kindern die Gelegenheit zu geben, ihre Einsichten und Deutungen zu zeigen und argumentativ zu entwickeln“ (Häsel-Weide, 2016a, S. 53; vgl. Kap. 2.2.1). Dieses Lehrerverhalten, das eher auf die Anregung der Interaktionsprozesse zwischen den Beteiligten fokussiert ist – gemessen an den Lernerfolgen der am Interaktionsgeschehen beteiligten Kinder – erfolgreicher, als wenn die Lehrkraft lösungsprozessunterstützend eingreift (Dekker & Elshout-Mohr, 2004, S. 43 f.; Nührenbörger & Steinbring, 2009; diskutiert und zitiert in Häsel-Weide, 2016a, S. 51 ff.). In der vorliegenden Arbeit wurden genau diese offenen Fragen als Impulse aus der Sicht der Lehrkraft in den Design-Experimenten gestellt. Für Beispiele zu konkreten didaktischen Formulierungen vgl. Kapitel 6.2.3, in dem die Design-Elementen des Lehr-Lern-Arrangement dargelegt werden (vgl. Design-Prinzips 5 ‚strukturfokussierende adressatengerechte Impulse‘). Vor dem Hintergrund der bedeutenden Rolle der Lehrkraft stellt sich an dieser Stelle die Frage, wie die Lernförderlichkeit durch eine gelingende didaktische Planung unterstützt werden kann. Und wie ebenso dazu beigetragen werden kann, dass die ‚natürlichen‘ Impulse, die die Kinder sich gegenseitig geben (interaktiven Impulse), durch die Anregung einer regen, aufgabenbezogenen und möglichst symmetrischen Interaktion gezielt herausgefordert werden können (Interaktionsförderlichkeit). Diese beiden zielführenden Aspekte – individuellzieldifferente Lernförderlichkeit und Interaktionsförderlichkeit – lassen sich hinsichtlich des übergeordneten Forschungsinteresses (vgl. (F), Kap. 4.1.1) festhalten und stellen die beiden übergeordneten Ziele dar, die im Zusammenhang mit den Analysen der Lehr-Lernprozesse in Kapitel 9 betrachtet werden. Das folgende Kapitel 9 widmet sich genau diesen formulierten Fragen hinsichtlich einer zielführenden didaktischen Planung und somit dem Entwicklungsinteresse des vorliegenden Forschungsprojektes (vgl. Kap. 4). Es werden die empirische Auswertung und Interpretation gegenstandsspezifischer LehrLernprozesse dargelegt und damit einhergehend untersucht, wie eine entwickelte Lernumgebung die ‚produktiven Momente‘ (vgl. Kap. 8.3) und somit eine lernförderliche interaktiv-kooperative Lernsituation zwischen Kindern mit und ohne sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf gezielt anregen kann. Ziel dabei ist u. a. die Ausschärfung der zuvor theoretisch hergeleiteten DesignPrinzipien (vgl. Kap. 5.1 und Kap. 6.2). In Kapitel 10.1. werden die hier herausgearbeiteten unterschiedlichen lernförderlichen Impulse ebenso erneut aufgegriffen und differenzierter interpretiert.
9 Auswertung und Interpretation gegenstandsspezifischer Lehr-Lernprozesse „Nur durch eine erhöhte Praxis sollten die Wissenschaften auf die äußere Welt wirken; denn eigentlich sind sie alle esoterisch und können nur durch Verbessern irgendeines Tuns exoterisch werden. Alle übrige Teilnahme führt zu nichts.“ (J. W. v. Goethe. Maximen und Reflexionen; zitiert von Wittmann, 1998, S. 330).
Das übergeordnete Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit ist es, zu erforschen, wie interaktiv-kooperative Lernsituationen zwischen Kindern mit und ohne Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung hinsichtlich der individuellen Lernprozesse zum flexiblen Rechnen sowie der interaktiven Strukturen verlaufen (Forschungsebene). Daraus sollen zielführende Gestaltungsmerkmale eines Lehr-Lern-Arrangements zur gelingenden Anregung interaktivkooperativer Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht abgeleitet werden, in denen möglichst alle Beteiligten individuell-zieldifferent lernen (Entwicklungsebene). Das vorangegangene Analysekapitel 8 setzte sich mit den Lern- und Interaktionsprozessen und somit mit dem Schwerpunkt der Forschungsebene auseinander. Das vorliegende Analysekapitel 9 beleuchtet ergänzend – auf Grundlage der empirischen Daten der Design-Experimente (Kap. 7) – den Forschungsschwerpunkt auf Entwicklungsebene: (E) Wie kann ein theoretisch und empirisch fundiertes Lehr-LernArrangement gestaltet sein, um fruchtbare interaktiv-kooperative Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht anzuregen, in denen sich alle Beteiligten bezüglich des flexiblen Rechnens individuell-zieldifferent weiterentwickeln? Welche zielführenden Gestaltungsmerkmale zur gelingenden Anregung interaktiv-kooperativer Lernsituationen lassen sich daraus für den inklusiven Mathematikunterricht ableiten? Der Fokus liegt folglich auf der wissenschaftlichen Analyse, Auswertung und Interpretation gegenstandsspezifischer Lehr-Lernprozesse. Dafür wird die Gestaltung des Lehr-Lern-Arrangements mit Blick auf die Design-Prinzipien und deren Potentiale hinsichtlich der Anregung fruchtbarer interaktiv-kooperativer Lernsituationen zwischen Kindern mit und ohne sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf untersucht.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Korten, Gemeinsame Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht, Dortmunder Beiträge zur Entwicklungund Erforschung des Mathematikunterrichts 44, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30648-9_10
296
9 Auswertung und Interpretation gegenstandsspezifischer Lehr-Lernprozesse
Das Eingangszitat hebt die Verknüpfungen von Wissenschaft und unterrichtlicher Praxis hervor, mit dem Ziel, die Praxis zu „erhöhen“, d. h. zu verbessern. Nur auf diesem Wege kann die Wissenschaft „auf die äußere Welt wirken“ und etwas bewirken (vgl. Eingangszitat des Kapitels). Mit Wittmanns (1998) Worten „[…] kann die spezifische Aufgabe der Mathematikdidaktik nur wahrgenommen werden, wenn die Entwicklung und Erforschung inhaltsbezogener theoretischer Konzepte und praktischer Unterrichtsbeispiele mit dem Ziel einer Verbesserung des realen Unterrichts als Kernbereich in den Mittelpunkt der wissenschaftlichen Arbeit gerückt wird.“ (Wittmann, 1998, S. 330)
Wenn das Ziel wissenschaftlichen Arbeitens die Verbesserung des Unterrichtes ist, muss folglich dessen Wirksamkeit in den Blick genommen werden. Um die Wirksamkeit von unterrichtlichen Lehr-Lernprozessen im Rahmen des entwickelten Lehr-Lern-Arrangements (Entwicklungsebene) untersuchen zu können, müssen diese natürlicherweise in einem engen Zusammenhang mit den angeregten Lern- und Interaktionsprozessen (Forschungsebene) betrachtet werden. (Daher auch ‚Lehr-Lernprozesse‘ und nicht ‚Lehrprozesse‘.) Dass die angeregten unterrichtlichen Prozesse der Schülerinnen und Schüler ein wichtiges Kriterium für die Wirksamkeit bzw. Effektivität eines Lehr-Lern-Arrangements sind, stellt auch Plomp mit der Formulierung „intended outcomes“ heraus: „Design researchers aim at interventions of good quality. An obvious criterion for quality is the effectiveness of the intervention: are the intended outcomes attained?“ (Plomp, 2013, S. 28). Daraus resultiert für das vorliegende Kapitel, dass in den Analysen auf die Ergebnisse des vorangegangenen Kapitels 8 zu den Lern- und Interaktionsprozessen zurückgegriffen wird, um Aussagen über die Wirksamkeit der unterrichtlichen Lehr-Lernprozesse machen zu können. Die Darstellung der Ergebnisse orientiert sich in diesem Kapitel an den drei Forschungsfragen EF1, EF2 und EF3, welche den Entwicklungsschwerpunkt (E) ausdifferenzieren. Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die einzelnen Unterkapitel mit den jeweiligen Bezügen zu den Forschungsfragen. Tabelle 9.1: Überblick der Kapitel mit den jeweiligen Bezügen zu den Forschungsfragen
Kapitel
Forschungsfrage(n)
Kap. 9.1 Theoretisch und empirisch fundierte Design-Prinzipien
(EF1) Welche Design-Prinzipien lassen sich für das Lehr-Lern-Arrangement auf Grundlage der Theorie formulieren?
Kap. 9.2 Gegenstandsreichhaltigkeit: ‚strukturfokussierende Kontexteingrenzung‘, ‚Darstellungswechsel ermöglichen‘
Kap. 9.3 Interaktionsanregung: ‚vorgeschaltete individuelle Phase‘,
(EF2) Wie lassen sich die theoretisch fundierten Design-Prinzipien für das Lehr-LernArrangement durch empirische Erkenntnisse ausschärfen?
9.1 Theoretisch und empirisch fundierte Design-Prinzipien
297
‚extrinsische positive Interdependenz’
Kap. 9.4 Zieldifferente Lernprozess- und Entwicklungsorientierung: ‚Situativität und Allgemeinheit‘, ‚strukturfokussierende adressatengerechte Impulse‘
Kap. 10.2 Konsequenzen für zielführende Gestaltungsmerkmale eines Lehr-LernArrangements zur gelingenden Anregung interaktiv-kooperativer Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht
(EF3) Welche zielführenden Gestaltungsmerkmale zur gelingenden Anregung fruchtbarer interaktiv-kooperativer Lernsituationen lassen sich aus den Erkenntnissen zu EF1, EF2 und F für den inklusiven Mathematikunterricht ableiten?
Kapitel 9.1 greift die allgemeine Definition von Design-Prinzipien (Kap. 4.2.2), die drei aus der Theorie generierten übergeordneten Prinzipien (Kap. 5.1) sowie die sechs empirisch ausgeschärften Design-Prinzipien (Kap. 6.2) – welche bereits zur Entwicklung des Lehr-Lern-Arrangements herangezogen wurden – auf (EF1). Anschließend wird deren empirische Generierung in den drei folgenden Kapiteln 9.2, 9.3 und 9.4 aufgezeigt (EF2). In Teil D (‚Beiträge zur lokalen Theoriebildung‘) werden in Kapitel 10.270 Forschungs- und Entwicklungsebene abschließend zusammenhängend betrachtet. Dabei wird auf die Ergebnisse aus den Kapiteln 8 und 9 zurückgegriffen, um Konsequenzen für potenziell zielführende Gestaltungsmerkmale eines LehrLern-Arrangements zur gelingenden Anregung interaktiv-kooperativer Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht abzuleiten (EF3).
9.1
Theoretisch und empirisch fundierte Design-Prinzipien
Als Grundlage für das gesamte Kapitel 9 wird hier zunächst ein – in Anlehnung an Kapitel 4.2.2 – adaptiertes Modell vorgestellt, welches die Design-Prinzipien als empirisch und theoretisch gestütztes Ziel-Mittel-Wissen interpretiert und darstellt. Anknüpfend daran werden die drei übergeordneten theoretisch fundierten Design-Prinzipien aus Kapitel 5.1 aufgegriffen und zur Beantwortung der Forschungsfrage EF1 herangezogen:
70 Das Kapitel 10.1 wird an dieser Stelle nicht erwähnt, da es inhaltlich dem vorangegangenen Analysekapitel 8 zuzuordnen ist, welches sich mit Lern- und Interaktionsprozessen und somit mit dem Forschungsschwerpunkt auf Forschungsebene auseinandersetzt.
298
9 Auswertung und Interpretation gegenstandsspezifischer Lehr-Lernprozesse
(EF1) Welche Design-Prinzipien lassen sich für das Lehr-LernArrangement auf Grundlage der Theorie formulieren? Anschließend werden die sechs empirisch ausgeschärften Design-Prinzipien genannt, um eine Basis für die folgenden Kapitel 9.2, 9.3 und 9.4 zu schaffen. Diese haben zum Ziel, die empirische Generierung der sechs ausgeschärften Design-Prinzipien mit Hilfe des eingangs vorgestellten Modells zur Beantwortung der Forschungsfrage EF2 aufzuzeigen. Ein adaptiertes Modell zur Darstellung von Design-Prinzipien als empirisch und theoretisch gestütztes Ziel-Mittel-Wissen71 Angesichts der oben genannten Tatsache, dass empirische Forschung und Entwicklungsarbeit nicht separat voneinander betrachtet werden können, wurde für die vorliegende Untersuchung das Dortmunder FUNKEN-Modell (Prediger et al., 2012) gewählt. Dieses gibt eine iterative aufeinander bezogene Gestaltung und Beforschung von Lehr-Lernprozessen vor und legt den Schwerpunkt auf eine lernprozessfokussierende Fachdidaktische Entwicklungsforschung (vgl. Kap. 4.2.2). Dieser Forschungszugang strebt als zentrale Entwicklungsprodukte ein iterativ entwickeltes Lehr-Lern-Arrangement (vgl. Kap. 5 und 6) und überdies die theoretisch und empirisch fundierte Entwicklung von Design-Prinzipien an (Kap. 4.2.2, Abb. 1; Prediger & Link, 2012, S. 30). Bereits in Kapitel 4.2.2 wurden Design-Prinzipien als empirisch und theoretisch gestütztes Ziel-MittelWissen beschrieben: „If you want to design intervention X [for the purpose/function Y in context Z], then you are best advised to give that intervention the characteristics A, B, and C [substantive emphasis], and to do that via procedures K, L, and M [procedural emphasis] because of arguments P, Q, and R.“ (van den Akker, 1999, S. 9)
Bezogen auf das vorliegende Forschungsprojekt kann diese Definition wie folgt interpretiert werden: Der Ausdruck „intervention X“ steht für das entwickelte Lehr-Lern-Arrangement im Kontext der Nachbarzahlen und deren Summen (vgl. Kap. 6). Die „purpose/function Y“ ist demzufolge die angestrebte gezielte Anregung gemeinsamer interaktiv-kooperativer Lernsituationen, in denen Kinder mit und ohne sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf am gemeinsamen 71 Der Entscheidung, diese nähere Erläuterung zu Design-Prinzipien sowie das adaptierte Modell erst an dieser Stelle der Arbeit vorzunehmen, ging folgende bewusste Überlegung voraus: Die Erläuterungen sind inhaltlich eng mit dem Analysevorgehen im vorliegenden Kapitel verbunden, dass sie an dieser Stelle zielführender für das Verständnis des Lesers sind. Zudem waren diese Erläuterungen zuvor nicht bedeutsam; ein grundlegendes Verständnis der Definition und Funktion von DesignPrinzipien (vgl. Kap. 4.2.2) war an vorheriger Stelle der Arbeit ausreichend.
299
9.1 Theoretisch und empirisch fundierte Design-Prinzipien
mathematischen Lerngegenstand des flexiblen Rechnens mit- und voneinander sowie individuell-zieldifferent lernen. Mit dem entwickelten Lehr-LernArrangement werden also zwei übergreifende Ziele verfolgt (vgl. Kap. 5.1): (1) die Anregung interaktiv-kooperativer Lernsituationen (Interaktionsförderlichkeit), in denen (2) individuell-zieldifferentes Lernen am gemeinsamen Lerngegenstand des flexiblen Rechnens ermöglicht wird (individuell-zieldifferente Lernförderlichkeit). Den „context Z“ stellt dabei der mathematische Gegenstand des flexiblen Rechnens im inklusiven Mathematikunterricht der zweiten (zweites Halbjahr) bzw. dritten Klasse (erstes Halbjahr) dar. Dieser Kontext variiert insofern, als an der „intervention X“ unterschiedliche Kinder teilnehmen, die unterschiedliche Lernvoraussetzungen mitbringen. Mit „characteristics A, B, and C [substantive emphasis]“ der Intervention sind die Design-Prinzipien gemeint, die dem Lehr-Lern-Arrangement zugrunde liegen. Die „procedures K, L, and M [procedural emphasis]“ sind die konkreten didaktischen Planungsentscheidungen – auch Design-Elemente genannt –, durch welche die DesignPrinzipien im Lehr-Lern-Arrangement realisiert werden (vgl. dazu Kap. 6.2). Sie sollen zur Zielerreichung von „purpose/function Y“ beitragen. Dabei rechtfertigen die „arguments P, Q, and R“ die Annahme, dass sie dies tatsächlich leisten. Die stützenden Argumente können sowohl theoretischer als auch empirischer Natur sein oder auf anderen praktischen Erfahrungen beruhen (vgl. van den Akker, 1999, S. 9). Anknüpfend an die dargelegte Definition van den Akkers sowie das ergänzende Modell von Prediger (2019) zur logischen Struktur eines Design-Prinzips (um-zu-Struktur oder wenn-dann-Struktur; vgl. Kap. 4.2.2; Abb. 4.2) wird Letzteres für den Zweck der vorliegenden Arbeit zur Beantwortung der Forschungsfragen auf Entwicklungsebene (E) adaptiert (vgl. Abb. 9.1).
DesignPrinzip
realisiert durch ...
DesignElement
um zu ...
Ziel des DesignPrinzips
als Beitrag zum…
Ziel des Lehr-LernArrangements
weil ...
Argumente • theoretisch, literaturgestützt • empirisch, evidenzbasiert
Abbildung 9.1:
Design-Prinzipien als empirisch und theoretisch gestütztes Ziel-Mittel-Wissen (adaptiert von Prediger, 2019, S. 10, vgl. Abb. 4.2; i. A. a. die dargelegte Definition nach van den Akker, 1999, S. 9)
300
9 Auswertung und Interpretation gegenstandsspezifischer Lehr-Lernprozesse
Mit Hilfe des adaptierten Modells können die Design-Prinzipien und deren konkrete Realisierung im Lehr-Lern-Arrangement durch Design-Elemente (Abb. 9.1: oben links) im Sinne eines empirisch und theoretisch gestützten ZielMittel-Wissens dargestellt werden. Die rechte Seite des Modells verdeutlicht, dass das Ziel des Design-Prinzips – welches gleichzeitig repräsentativ für das Ziel des Design-Elementes ist – einen Beitrag zum übergeordneten Ziel des Lehr-Lern-Arrangements leistet bzw. leisten soll (Abb. 9.1: oben rechts). Dieser enge Zusammenhang zwischen Design-Prinzip und Design-Element spiegelt nach Prediger auch das Zusammenspiel/Wechselspiel („interplay“, s. folgendes Zitat) – also die Verzahnung – zwischen Theorie und Praxis widert: „The design principle in its complete structure provides the theoretical background for the functioning of the design: The design elements are practical tools for realizing the design. In this way, design principles and design elements reflect the interplay of theoretical and practical aims.“ (Prediger, 2019, S. 11)
Die stützenden Argumente werden hier unterschieden in theoretische, literaturgestützte Argumente einerseits und empirische, evidenzbasierte Argumente andererseits (Abb. 9.1: unten). Diese Argumente können sich entweder auf die Design-Elemente beziehen – beispielsweise durch empirische Belege zu deren Wirkung – oder das Design-Prinzip selbst stützen. Letzteres bezieht sich meist auf die theoretischen Argumente. Hinsichtlich der Hervorbringung von Argumenten sind folgende Fragen leitend: Welche Wirkungen zeigen bestimmte Design-Elemente in den DesignExperimenten? Wie tragen die Design-Elemente dazu bei, die zwei intendierten übergeordneten Ziele des Lehr-Lern-Arrangements – (1) interaktiv-kooperative Lernsituationen anregen (Interaktionsförderlichkeit), in denen (2) individuell-zieldifferentes Lernen am gemeinsamen Lerngegenstand des flexiblen Rechnens ermöglicht wird (individuell-zieldifferente Lernförderlichkeit) – zu erreichen? Welche theoretischen Argumente liegen dem Design-Element zugrunde und stützen es? Wie lassen sich daraus empirisch und theoretisch gestützte DesignPrinzipien ableiten? Die ersten beiden Fragen beziehen sich ausschließlich auf die empirischen Argumente, wohingegen die dritte Frage ebenso auf die theoretischen Argumente Bezug nimmt. Die theoretischen Argumente nehmen dabei besonders die Bedingungen für den Erfolg in den Blick, die Prediger als „Qualifier: Conditions of success“ (Prediger, 2019, S. 10; vgl. Kap. 4.2.2) bezeichnet. Die letzte Frage
9.1 Theoretisch und empirisch fundierte Design-Prinzipien
301
fasst alle Argumente zusammen, um daraus Aussagen über das Design-Prinzip abzuleiten, welches durch das konkrete Design-Element repräsentiert wird. Ziel der Kapitel 9.2, 9.3 und 9.4 ist es, mit Hilfe des adaptierten Modells die Generierung der Design-Prinzipien des Lehr-Lern-Arrangements ‚Wir erforschen Nachbarzahlen und ihre Summen‘ (vgl. Kap. 6) im Sinne eines empirisch und theoretisch gestützten Ziel-Mittel-Wissens darzulegen und so die Forschungsfrage EF2 zu beantworten. Dazu werden zunächst die drei übergeordneten theoretisch fundierten Design-Prinzipien aus Kapitel 5.1 aufgegriffen und zur Beantwortung der Forschungsfrage EF1 herangezogen. Anschließend schafft die Nennung der sechs empirisch ausgeschärften Design-Prinzipien eine Basis für die folgenden Analysen in Kapitel 9.2, 9.3 und 9.4. Die drei übergeordneten theoretisch fundierten Design-Prinzipien In Kapitel 5.1 wurden aus der Theorie zur Definition vom ‚Gemeinsamen Lernen‘ sowie anknüpfend an bewährte Ansätze zur ‚Integrativen Didaktik‘ (Dewey, 1993; Feuser, 2012b; Wocken, 1998) 72 drei übergeordnete DesignPrinzipien hergeleitet73: Gegenstandsreichhaltigkeit Aufgabenbezogene Interaktionsanregung Zieldifferente Prozess- und Entwicklungsorientierung Das Design-Prinzip der ‚Gegenstandsreichhaltigkeit‘ hat zum Ziel, heterogene Zugänge und barrierefreies Lernen sowie ebenso die Interaktion entlang eines gemeinsamen Lerngegenstands überhaupt erst zu ermöglichen. Es zielt folglich darauf ab, eine allgemein gute Voraussetzung dafür zu schaffen, um die große Heterogenität anzusprechen und die daraus entstehende Vielfalt möglichst als Chance zu nutzen. Es spricht daher beide übergeordneten Ziele – individuellzieldifferente Lernförderlichkeit und Interaktionsförderlichkeit – an. Das Design-Prinzip der ‚aufgabenbezogenen Interaktionsanregung‘ adressiert primär das übergeordnete Ziel der Interaktionsförderlichkeit. Wohingegen das DesignPrinzip der ‚zieldifferenten Prozess- und Entwicklungsorientierung‘ primär das Ziel der individuell-zieldifferenten Lernförderlichkeit (im Folgenden kurz: Lernförderlichkeit) anstrebt. Die aus Kapitel 5.1 in Teilen bereits bekannte Dreiecksanordnung in Abbildung 9.2 unterstreicht den Zusammenhang dieser drei übergeordneten Design72 Vgl. Kapitel 1.1.1 und Kapitel 1.2.2 für eine ausführlichere Darlegung dieser Modelle aus der Integrativen Didaktik. 73 An dieser Stelle werden die theoretisch fundierten Design-Prinzipien lediglich wiederholt genannt. Für deren Herleitung aus der Theorie sowie genauere Erläuterungen zu den einzelnen Prinzipien vgl. Kapitel 5.1.
302
9 Auswertung und Interpretation gegenstandsspezifischer Lehr-Lernprozesse
Prinzipien. Sie beeinflussen sich gegenseitig und sind nicht trennscharf voneinander abgrenzbar. So tragen beispielsweise die Prinzipien der ‚Gegenstandsreichhaltigkeit‘ und der ‚zieldifferenten Prozess- und Entwicklungsorientierung‘ – welche allen Kindern individuelle Lernprozesse und einen Zugang zum mathematischen Inhalt ermöglichen sollen – gleichermaßen sekundär zur ‚aufgabenbezogenen Interaktionsanregung‘ bei, da nur dann erfolgreich aufgabenbezogen über Mathematik kommuniziert werden kann, wenn ein inhaltlicher Zugang gewährleistet ist. Im Gegenzug kann eine anregende mathematische Interaktion wiederum einen entscheidenden Beitrag zur Fruchtbarkeit des Lernens und zur Entwicklung von Lernprozessen leisten, wie empirische Befunde aufzeigen (vgl. Kap. 2.1.2). Einleuchtend ist ebenfalls ein weiterer Zusammenhang zwischen der ‚Gegenstandsreichhaltigkeit‘ und den anderen Design-Prinzipien: Erst ein reichhaltiger und weit aufgefächerter Gegenstand macht zieldifferentes Lernen und Interaktion überhaupt möglich.
Mit‐ und voneinander Lernen im inklusiven Mathematikunterricht
Gegenstandsreichhaltigkeit Inhaltsebene:
Abbildung 9.2:
74
Aus der Theorie hergeleitete übergeordnete Design-Prinzipien zur Anregung des mit- und voneinander Lernens im inklusiven Mathematikunterricht
74 Für Informationen zu der sukzessiven Entwicklung dieses Modells während der iterativen Design-Experimente und der fortlaufenden Analysen vgl. frühere Veröffentlichungen der Autorin (Korten, 2016; 2018b, vollständiges Modell Kap. 10.2, Abb. 10.2).
9.1 Theoretisch und empirisch fundierte Design-Prinzipien
303
Die sechs ausgeschärften, theoretisch und empirisch fundierten DesignPrinzipien Auf Grundlage der empirischen Daten aus den Design-Experimenten erfolgte eine empirischen Ausschärfung der drei übergeordneten Prinzipien. Im Folgenden werden die sechs empirisch ausgeschärften Design-Prinzipien benannt, bevor in den Kapiteln 9.2, 9.3 und 9.4 ihre jeweilige Generierung dargelegt wird. Dabei lassen sich jeweils zwei einem übergeordneten Prinzip zuordnen: ‚Gegenstandsreichhaltigkeit‘: Design-Prinzip 1) ‚Strukturfokussierende Kontexteingrenzung‘ (DP1) Design-Prinzip 2) ‚Darstellungswechsel ermöglichen‘ (DP2) ‚Aufgabenbezogene Interaktionsanregung‘: Design-Prinzip 3) ‚Vorgeschaltete individuelle Phase‘ (DP3) Design-Prinzip 4) ‚Extrinsische positive Interdependenz‘ (DP4) ‚Zieldifferente Prozess- und Entwicklungsorientierung‘: Design-Prinzip 5) ‚Situativität und Allgemeinheit‘ (DP5) Design-Prinzip 6) ‚Strukturfokussierende adressatengerechte Impulse‘ (DP6) Die Design-Prinzipien DP5 und DP6 sprechen die Ebene der individuellen Lernprozesse bezüglich des gemeinsamen mathematischen Lerngegenstandes an; in der vorliegenden Arbeit also des flexiblen Rechnens. DP3 und DP4 hingegen adressieren die soziale Ebene, durch die mit- und voneinander Lernen am gemeinsamen mathematischen Gegenstand erst ermöglicht wird. DP1 und DP2 beziehen sich direkt auf diesen gemeinsamen mathematischen Lerngegenstand und sind dadurch der Inhaltsebene zuzuordnen (vgl. Abb. 9.2). Diese Zuschreibungen verdeutlichen abermals, dass sowohl die Ebenen als auch folglich die einzelnen Design-Prinzipien eng miteinander verbunden sind und sich gegenseitig beeinflussen (s. o.). Einmal mehr resultiert daraus, dass eine Generierung und Beforschung von Design-Prinzipien nicht losgelöst von den angeregten unterrichtlichen Prozessen und vom mathematischen Inhalt möglich sind. Infolgedessen tragen die Ergebnisse aus Kapitel 8 über die gegenstandsspezifischen Lern- und Interaktionsprozesse der Kinder ebenso zur Beforschung des Lehr-Lern-Arrangements in den folgenden Kapiteln bei. Aufbau der Kapitel 9.2, 9.3 und 9.4 (Design-Prinzipien) In den folgenden Kapiteln 9.2, 9.3 und 9.4 wird die Generierung der sechs ausgeschärften Design-Prinzipien DP1 bis DP6 zur Beantwortung der Forschungsfrage EF2 dargelegt:
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9 Auswertung und Interpretation gegenstandsspezifischer Lehr-Lernprozesse
(EF2) Wie lassen sich die theoretisch fundierten Design-Prinzipien für das Lehr-Lern-Arrangement durch empirische Erkenntnisse ausschärfen? Ziel des Lehr-Lern-Arrangements ist es, fruchtbare interaktiv-kooperative Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht anzuregen, in denen sich alle Beteiligten bezüglich des flexiblen Rechnens individuell-zieldifferent weiterentwickeln. Zur Erforschung des Lehr-Lern-Arrangements mit Blick auf die Ausschärfung der Design-Prinzipien und deren Potentiale hinsichtlich der Lernförderlichkeit (individuell-zieldifferent) und der Interaktionsförderlichkeit (interaktiv-kooperativ) sind daher folgende Fragen leitend: Welche Aspekte des ‚gemeinsamen reichhaltigen Lerngegenstandes‘ schaffen eine allgemein gute Voraussetzung für Zugänglichkeit und barrierefreies, individuell-zieldifferentes Lernen hinsichtlich des flexiblen Rechnens für alle Beteiligten (Lernförderlichkeit) und gleichermaßen für eine mathematische und fruchtbare Interaktion (Interaktionsförderlichkeit)? Welche Aspekte der ‚aufgabenbezogenen Interaktionsanregung‘ ermöglichen eine aufgabenbezogene, aufeinander bezugnehmende und möglichst symmetrische mathematische Interaktion (Interaktionsförderlichkeit), die wiederum potenziell fruchtbar für die individuellen Lernprozesse aller Beteiligten sein kann (Lernförderlichkeit)? Welche Aspekte der ‚zieldifferenten Prozess- und Entwicklungsorientierung‘ ermöglichen entwicklungsorientiertes, individuell-zieldifferentes Lernen hinsichtlich des flexiblen Rechnens für alle (Lernförderlichkeit), das wiederum potenziell förderlich für die Beteiligung an einer mathematischen und fruchtbaren Interaktion sein kann (Interaktionsförderlichkeit)? Mit ‚Aspekten‘ ist in diesem Kontext gemeint, welche ausgeschärften DesignPrinzipien mit welchen intendierten Zielen, realisiert durch welche DesignElemente jeweils zielführend sind. Mit Hilfe des Modells aus Abbildung 9.1. werden die Design-Prinzipien DP1 bis DP6 dargestellt und durch empirische und theoretische Argumente gestützt, um so die Forschungsfrage EF2 zu beantworten. Für die empirischen Argumente werden einzelne exemplarische Szenen aus dem Datenkorpus analysiert, um die empirisch-evidenzbasierten Aussagen über Bedingungen und Wirkungen der jeweiligen Design-Prinzipien zu begründen. Die Szenen belegen stellvertretend für weitere Fälle aus der vorliegenden Untersuchung, dass ein Design-Prinzip die intendierten Ziele einlöst. Hierzu werden u. a. die Analysen über die gegenstandsspezifischen Lern- und Interaktionsprozesse aus Kapitel 8 herangezogen, denn sie sind ein bedeutender Indikator, um Aussagen über die Wirksamkeit einzelner Design-Elemente und demzufolge auch über die jeweiligen Design-Prinzipien zu treffen. Diese exemplarischen Fallanalysen werden an
9.1 Theoretisch und empirisch fundierte Design-Prinzipien
305
einigen Stellen durch gezielte Fallkontrastierungen (vgl. Kap. 7.2.3) ergänzt. Für die theoretischen Argumente wird im folgenden Abschnitt auf die Konsequenzen aus dem Theorieteil A (vgl. Kap. 1, 2 und 3) zurückgegriffen.
9.2
Gegenstandsreichhaltigkeit
In vorherigen Kapiteln wurden theoretische Überlegungen zum übergeordneten Design-Prinzip ‚Gegenstandsreichhaltigkeit‘ vorgestellt, das zum Ziel hat, eine gute Voraussetzung für Zugänglichkeit und barrierefreies, individuellzieldifferentes Lernen für jegliche individuellen Lernvoraussetzungen an einem gemeinsamen Lerngegenstand zu schaffen (vgl. Kap. 5.1 und 9.1). Die Gegenstandsreichhaltigkeit legt eine weitgehende Offenheit der Aufgabenstellungen nahe, da eine Öffnung der Aufgaben – beispielsweise durch Entscheidungsfreiheiten oder Eigenproduktionen – individuelle Zugänge, Entdeckungen und Lösungsprozesse unterschiedlichster Qualität ermöglicht. Im Sinne einer ‚natürlichen Differenzierung‘ und einer ‚individuellen Förderung‘ können die Kinder eigenständig entscheiden, wie sie vorgehen und wie sie ihre Lösungsprozesse und Entdeckungen darstellen (Selter, 1995). Vor dem Hintergrund eines inklusiven Mathematikunterrichtes, in dem mitund voneinander gelernt werden soll, stellt sich diesbezüglich die Frage, ob ein mathematischer und fruchtbarer Austausch ebenso gelingt wie die individuelle Förderung, oder ob das theoretisch hergeleitete Design-Prinzip der ‚Gegenstandsreichhaltigkeit‘ an die besonderen Bedingungen des inklusiven Mathematikunterrichtes angepasst werden muss. In der Betrachtung der Pilotierungsphase und des ersten Erhebungszyklus des vorliegenden Forschungsprojektes zeigt sich, dass die Auswahl eines reichhaltigen Lerngegenstandes und die Ermöglichung differenzierender Zugänge und barrierefreien Lernens nicht ausreicht, um erfolgreiches interaktivkooperatives Lernen zwischen (stark) heterogenen Kindern anzuregen. Das folgende Transkript zeigt das Problem exemplarisch für weitere Fälle auf. Transkript 9.1: Offene Aufgabe – Verwandte, Freunde und Nachbarn mit selbstgewählten Aufgaben
Emilia (EM)
Jana (J)
Verwandte, Freunde und Nachbarn von Aufgaben75 Wähle eine schwere Aufgabe aus und schreibe sie in die Mitte. Deine Aufgabe hat viele Verwandte, Freunde und Nachbarn. Schreibe sie auf. Können sie dir helfen, die schwierige Aufgaben zu lösen? Stellt euch eure Aufgaben vor.
75 In Anlehnung an Hess (2012, S. 170 ff.): „Verwandte, Freunde und Nachbarn von Malaufgaben“.
306
9 Auswertung und Interpretation gegenstandsspezifischer Lehr-Lernprozesse
Erkläre deinem Partner, wie dir die Aufgaben beim Rechnen helfen.
1
Erst du erklären. (schaut auf EMs Aufgaben, während EM spricht)
2
(zeigt auf die Aufgabe 20 – 20) 20 minus 20 (spricht mit leiser Stimme weiter) – Also hilft mir bei (…) – bei der (tippt auf die Aufgabe 20 – 1) 20 minus 1 (…)
3 4
(schaut EM an und nickt ihr zu) Das ist leichter wegen – kann man dann (schaut EM weiter zu) einfach nur einen wegmachen. Einfach nur 19, oder die Tauschaufgabe mit der 19 minus 1. J reagiert weiterhin nicht auf EMs Äußerungen. I verweist auf den Arbeitsauftrag und fragt, ob die Verwandten, Freunde und Nachbarn der Aufgabe 20 – 20 beim Rechnen helfen. Das hilft mir wegen (…) – da einfach, weil Minus ist ja ein bisschen einfach. Da kann man dann einfach wieder die 20 hinschreiben. Da hast du 20, noch einen [weg] – drei weg. (flüstert) (schaut im Raum umher) Wegen (zeigt auf die Aufgabe 20 – 20) – (schaut weiter im Raum umher während Da, weil hier die 20 draufsteht, und da EM spricht) kann man ja rechnen 20 minus 3 (…) (tippt mehrmals auf die Aufgabe 20 – 3) – und 20 minus 1 die ganze Zeit (…) – weil es irgendwie so leicht – also für mich ist. I spricht J an und fragt nach ihren Aufgaben. (schaut J an) (schaut auf Js Aufgaben während J Ich – ich hatte die Aufgabe 3030 plus spricht) 4040, und da hat mir die Aufgabe geholfen 3 plus 4 gleich 7 (…) (schaut weg) (schaut weiter im Raum umher während (…) und 30 plus 30 gleich 60, und 60 J spricht) plus 10 gleich 70 […] Ähm, wenn ich nicht gleich – ähm 3 plus (…) 30 plus – 30 plus 40 ausrechnen kann, dann rechne ich erst bei 30 plus 30 gleich 60, und dann 60 plus 10 gleich 70 (zeigt auf die entsprechenden Aufgaben).
10
11 12
15 16
17 18
9.2 Gegenstandsreichhaltigkeit
307
Abgebildet ist eine kurze Szene aus der Pilotierungsphase des heterogenen Kinderpaares Emilia und Jana, die sich im Kontext einer Lernumgebung zum Thema ‚Verwandte, Freunde und Nachbarn von Aufgaben‘ austauschen. Das Transkript 9.1 verdeutlicht, dass beide Kinder einen individuellen Zugang zur Aufgabe gefunden haben, wie die Arbeitsprodukte aus der vorgeschalteten individuellen Phase aufzeigen. Jedoch sind ihre Deutungen sehr unterschiedlich. EMILIA deutet Verwandte, Freunde und Nachbarn ihrer Aufgabe 20 – 20 als Aufgaben, die ebenfalls die Zahl 20 als Minuend oder Subtrahend76 aufweisen. Sie stellt folglich Beziehungen zwischen einzelnen Zahlen in den Aufgaben her (vgl. Kap. 3.3 zum flexiblen Rechnen). Dass sie sich an der Gleichheit der Zahl 20 orientiert, wird beispielsweise in Zeile 12 deutlich: „Da, weil hier die 20 draufsteht, und da kann man ja rechnen 20 minus 3 […] und 20 minus 1 die ganze Zeit“. Jedoch nimmt sie die operativen Zusammenhänge, die dadurch entstehen, nicht in den Blick. Aus diesem Grund ist sie ebenso nicht in der Lage, zu erläutern, ob bzw. wie die Beziehungen zwischen den Aufgaben beim Rechnen helfen können. JANA hingegen bewegt sich in einem größeren Zahlenraum und nimmt genau diese operativen Beziehungen in den Blick. Sie erläutert, wie ihr leichte Aufgaben helfen, die gewählte Aufgabe 3030 + 4040 = 7070 auszurechnen; sie denkt folglich über strategische Werkzeuge (vgl. Kap. 3.3) nach und erläutert diese ebenfalls. Beispielsweise nutzt sie die dekadischen Analogien zu den Aufgaben 3 + 4 und 30 + 40 und kombiniert diese mit schrittweisem Rechnen und Faktenabruf über Verdopplungsaufgaben (Z. 18: „Ähm, wenn ich nicht gleich […] 30 plus 40 ausrechnen kann, dann rechne ich erst bei 30 plus 30 gleich 60, und dann 60 plus 10 gleich 70“). Den Darstellungen ist zu entnehmen, dass zwar beide Mädchen einen individuellen Zugang zu der Aufgabe finden, es jedoch trotzdem zu keiner anregenden Interaktion kommt. Das Transkript 9.1 lässt zwar vermuten, dass beide zunächst motiviert sind, zusammenzuarbeiten, da sie durch gegenseitiges Auffordern (vgl. Z. 1: „Erst du erklären“), Zuschauen und Nicken (vgl. Z. 2, 3 und Z. 15, 16) Aufmerksamkeit signalisieren. Dieses ist jedoch bei beiden Mädchen von kurzer Dauer: Jana wirkt nach kurzer Zeit desinteressiert und gelangweilt, als Emilia versucht, etwas zu erklären (Z. 11 und 12). Sie reagiert weder auf die Erläuterungen, noch geht sie auf Janas Fehler ein, sodass es zu keiner anregenden Interaktion kommt. Ebenso beginnt Emilia, im Raum umherzuschauen, als Jana
76 Hierbei kommt es zu Fehlern bei den Aufgaben 1 – 20 = 19 und 7 – 20 = 13, da der Subtrahend größer ist als der Minuend. Diese Fehlvorstellung wird an dieser Stelle jedoch nicht weiter analysiert, da das Ziel dieser Analyse ist, die Interaktionsförderung zu betrachten.
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9 Auswertung und Interpretation gegenstandsspezifischer Lehr-Lernprozesse
die operativen Beziehungen zwischen ihren Aufgaben erläutert (Z. 17, 18), da sie – wie zu vermuten ist – Janas Erklärungen inhaltlich nicht folgen kann.77 Die Betrachtung der Szene lässt darauf schließen, dass die individuellen Zugänge der beiden Mädchen so weit auseinandergehen, dass es nicht zu einem sinnstiftenden und fruchtbaren Austausch kommen kann. Einerseits ist Emilia kognitiv nicht in der Lage, Janas Erklärungen zu folgen. Andererseits wirkt Jana desinteressiert und gelangweilt, weil sie vermutlich keinen Nutzen darin sieht, Emilias Aussagen zu folgen und darauf zu reagieren. In dieser Szene zeigt sich schlussfolgernd und exemplarisch für weitere Szenen, dass die Auswahl eines reichhaltigen Gegenstandes nicht ausreicht, um erfolgreiches interaktivkooperatives Lernen zwischen (stark) heterogenen Kindern anzuregen. Bei einer uneingeschränkten ‚Gegenstandsreichhaltigkeit‘ mit einer weitgehenden Offenheit können heterogene Zugänge, wie hier aufgezeigt, (zu) stark auseinander gehen, sodass es keine sinnstiftenden Anknüpfungspunkte für den mathematischen Austausch gibt, von denen alle Beteiligten profitieren. Aus dieser empirischen Erkenntnis aus der Pilotierungsphase und dem ersten Erhebungszyklus wurde u. a. das Design-Prinzip der ‚strukturfokussierenden Kontexteingrenzung‘ (DP1) abgeleitet, in dessen Fokus mathematische Strukturen unabhängig vom Zahlenraum, den Anforderungsniveaus und den Darstellungsebenen stehen. Durch die Verankerung einer solchen ‚strukturfokussierenden Kontexteingrenzung‘ im Lehr-Lern-Arrangement kann eine gute Voraussetzung für eine hohe Zugänglichkeit und barrierefreies Lernen einerseits sowie für die Anregung potenziell fruchtbarer interaktiv-kooperativer Lernsituationen andererseits geschaffen werden. Dies bestätigt sich in den folgenden kontrastierenden Analysen in Kapitel 9.2.1 (s. u.). Des Weiteren stellt sich DP2 ‚Darstellungswechsel ermöglichen‘ innerhalb eines reichhaltigen Gegenstandes als essenziell heraus, um dem in der Szene dargestellten Problem (vgl. T. 9.1) zu begegnen, wie in Kapitel 9.2.2 begründet wird. 9.2.1 ‚Strukturfokussierende Kontexteingrenzung‘ als Voraussetzung Das Design-Prinzip ‚strukturfokussierende Kontexteingrenzung‘ (im Folgenden kurz: DP1) bedeutet, dass innerhalb einer inhaltlich-mathematischen Komplexität der kontextuelle Rahmen eingegrenzt wird und dabei auf übergreifende mathematische Strukturen fokussiert wird, ohne die inhaltlich-mathematische Komplexität einzuschränken. Das intendierte Ziel des DPs1 ist es, einerseits individuell-zieldifferente Zugänge und Lösungsprozesse bezüglich der inhaltlich-mathematischen Komplexität zu ermöglichen und andererseits durch die 77 Die Einschätzungen zu den Lernvoraussetzungen der Kinder beruhen auf Aussagen der Lehrerin und der Sonderpädagogin. Sie wurden aus diagnostischer Sicht im Laufe der Design-Experimente bestätigt.
309
9.2 Gegenstandsreichhaltigkeit
Kontexteingrenzung Anknüpfungspunkte für eine mathematische Interaktion zu schaffen. Auf diese Weise soll das DP1 einen Beitrag zu den zwei übergeordneten intendierten Zielen des Lehr-Lern-Arrangements leisten. Mit Hilfe des Modells in Abbildung 9.1 (‚Design-Prinzipien als empirisch und theoretisch gestütztes Ziel-Mittel-Wissen‘), kann das DP1, realisiert durch die in Kapitel 6.2.1 dargelegten Design-Elemente im Lehr-Lern-Arrangement ‚Wir erforschen Nachbarzahlen und ihre Summen‘, wie folgt dargestellt werden:78 Übergeordnetes Design-Prinzip: ‚Gegenstandsreichhaltigkeit‘ Design-Prinzip 1: Design-Elemente: ‚Strukturfokussierende Fokussierung auf die Kontexteingrenzung‘ Wahrnehmung und Nutzung komplexer Zahl- und Innerhalb einer Aufgabeneigenschaften/ mathematisch-beziehungen: Kontext der inhaltlichen Nachbarzahlen (inhaltlich Komplexität wird der komplex, strukturell kontextuelle Rahmen fokussierend) (vgl. Kap. 3.3) eingegrenzt und dabei Wahrnehmungsfokussierung: auf übergreifende Doppellupe und Aufgabenmathematische Strukturen fokussiert karten (vgl. Kap. 6.2.1)
Ziel des Design-Prinzips : Individuell-zieldifferente Zugänge und Lösungsprozesse innerhalb um zu ... der inhaltlichmathematischen Komplexität ermöglichen. Durch die Kontexteingrenzung Anknüpfungspunkte für eine mathematische Interaktion schaffen.
Ziel des Lehr-LernArrangements: (1) Fruchtbare interaktivkooperative Lernsituationen anregen (Interaktionsförderlichkeit), in denen (2) individuellzieldifferentes Lernen am gemeinsamen Lerngegenstand des flexiblen Rechnens stattfindet (Lernförderlichkeit).
weil ...
Argumente • theoretisch, literaturgestützt • empirisch, evidenzbasiert
Abbildung 9.3:
Das Design-Prinzip DP1 ‚strukturfokussierende Kontexteingrenzung‘ als empirisch und theoretisch gestütztes Ziel-Mittel-Wissen
Für die theoretisch und empirisch fundierte Generierung des Design-Prinzips stellt sich die Frage, inwiefern die Überlegungen zu dem DP1 mit theoretischen und empirischen Argumenten gestützt und abgesichert werden können, um die Realisierung des intendierten Ziels zu belegen. Diesbezüglich ist auf der Ebene der theoretischen Argumente, wie oben bereits erläutert, die folgende Frage leitend: Welche theoretischen Argumente liegen dem Design-Element zugrunde und stützen es? Auf der Ebene der empirischen Argumente stehen folgende 78 Aus Gründen der Darstellbarkeit werden dabei die theoretisch-literaturgestützten sowie die empirisch-evidenzbasierten Argumente nicht im Modell direkt, sondern im Text unter dem jeweiligen Modell erörtert. Hierbei wird hinsichtlich der theoretischliteraturgestützten Argumente zumeist auf eine erneute Angabe der Ursprungsliteratur verzichtet. Die Verweise zu den einzelnen Kapiteln aus dem Theorieteil dieser Arbeit stellen die Bezüge zu dem Ursprung und der Herleitung der einzelnen Aussagen her.
310
9 Auswertung und Interpretation gegenstandsspezifischer Lehr-Lernprozesse
Fragen im Fokus: Welche Wirkungen zeigen die Design-Elemente, die das Design-Prinzip im Lehr-Lern-Arrangement realisieren, in den DesignExperimenten? Wie tragen Design-Prinzip und -Elemente dazu bei, die Ziele des Lehr-Lern-Arrangements zu erreichen? Theoretisch-literaturgestützte Argumente Das Design-Prinzip der ‚strukturfokussierenden Kontexteingrenzung‘ greift die Bedeutsamkeit der Balance zwischen inhaltlicher Komplexität und inhaltlicher Struktur (vgl. Kap. 2.2.2) auf, die besonders für Kinder mit Lernschwierigkeiten essenziell ist, um sie bei der kognitiven Verarbeitung der mathematischen Inhalte nicht zu überfordern (Green & Green, 2005). Gegenstandsreichhaltigkeit bzw. -komplexität darf hier also nicht gleichgesetzt werden mit zu „[o]ffene[n] Lernsituationen [, denn diese] wiederum sind für behinderte Kinder manchmal zu wenig strukturiert, um sie angemessen zu fördern und zu fordern“ (ebd., S. 22). (zu (2))79 Hierin liegt auch der Unterschied zu Ansätzen begründet, die eine Balance zwischen Offenheit und Struktur fordern und meist mit einer Eingrenzung der inhaltlichen Komplexität in unterschiedlicher Ausprägung einhergehen (u. a. Krauthausen & Scherer, 2014, S. 53 ff.)80. Schon eine inhaltliche Begrenzung der Offenheit kann zur Folge haben, dass es zwar Anknüpfungspunkte für einen mathematischen Austausch gibt, jedoch bei den leistungsstärkeren Kindern in den Phasen der Zusammenarbeit kein mathematisch-inhaltlicher Leistungszuwachs zu beobachten ist. Dies war in der Pilotierungsphase beispielsweise bei sogenannten ‚strukturanalogen Aufgaben‘ zu erkennen, bei denen jeweils zwei strukturgleiche Aufgaben auf unterschiedlichen Niveaus von zwei heterogenen Kindern parallel bearbeitet und im Anschluss verglichen wurden (u. a. Nührenbörger & Pust, 2005). Wer welche Aufgabe auf welchem Niveau bearbeitet, wird dabei von der Lehrkraft entschieden. Diese Aufgaben sind zwar meist substantiell, aber mathematisch-inhaltlich sehr begrenzt, um die Interaktion zwischen Kindern zu strukturieren und zu verdichten. Dies führt jedoch gleichzeitig zu einer Begrenzung in dem Denken der Kinder, woraus sich Beschränkungen der individuellen Förderung aller beteiligten Kinder ergeben. Offene Aufgabenstellungen hingegen, die zu einer weitgehenden inhaltlichen Offenheit 79 Die Verweise zu den Nummern (1) und (2) nach den einzelnen theoretischen Argumenten sowie in dem Modell (rechts) stellen Bezüge zu den zwei übergeordneten Zielen des Lehr-Lern-Arrangements her. Die Aspekte mit dem Verweis zu (1) tragen vorrangig zur Interaktionsförderlichkeit bei. Die Aspekte mit dem Verweis zu (2) regen primär die Lernförderlichkeit an. Eine klare Trennung ist hier allerdings nicht immer möglich, da sich alle Aspekte gegenseitig bedingen und überschneiden. 80 Für eine ausführliche Disskussion des Merkmales der ‚Offenheit‘ und für die potenziell verschiedenen Begriffsdefinitionen, die in der Literatur zu finden sind, vgl. Krauthausen und Scherer (2014, S. 47 ff.).
9.2 Gegenstandsreichhaltigkeit
311
beitragen, wie in der oben betrachteten Szene, fordern Kinder heraus, selbst zu entscheiden, welches Niveau und welchen Zugang sie wählen, wie sie vorgehen und wie sie diese Vorgehensweisen und Lösungen mündlich und/oder schriftlich darstellen (u. a. Selter, 1995). Sie bergen jedoch die Gefahr, dass die heterogenen Zugänge (zu) stark auseinandergehen, sodass es keine Anknüpfungspunkte für eine fruchtbare mathematische Interaktion gibt, wie das Transkript 9.1 exemplarisch aufzeigt. (zu (1) & (2)) Allgemein bieten die strukturelle Vielschichtigkeit und Reichhaltigkeit des Lerngegenstandes ‚flexibles Rechnen‘ vor dem Hintergrund des zieldifferenten Lernens im inklusiven Mathematikunterricht die Chance, allen Schülerinnen und Schülern einen Zugang sowie Lösungs- und Entwicklungsprozesse zu ermöglichen (vgl. Konklusion des Kap. 3.3). Forschungsarbeiten zeigen, dass die Wahrnehmung und Nutzung von Zahl- und Aufgabeneigenschaften und beziehungen sowie die Kenntnis, Nutzung und Reflexion strategischer Werkzeuge eine besondere Rolle beim flexiblen Rechnen einnehmen (vgl. Kap. 3.1.2). Daraus ergibt sich eine Vielzahl von Indikatoren, die auf flexible Rechenkompetenzen schließen lassen. Diese wiederum lassen eine Vielzahl von individuellen Ausprägungen zu und bieten so eine große Spannbreite an individuell-zieldifferenten Fördermöglichkeiten (vgl. Kap. 3.1.3). Die dahinter liegenden mathematischen Strukturen, die unabhängig vom Zahlenraum, den Anforderungsniveaus und den Darstellungsebenen sind, erscheinen für eine Fokussierung im Sinne des DPs1 geeignet, da sie inhaltlich reichhaltig und differenzierend, strukturell fokussierend sowie zusammenhängend sind. (zu (2)) Die Design-Elemente der Doppellupe (Schablone) sowie der flexibel handhabbaren Aufgabenkarten haben eine unterstützende Funktion hinsichtlich der Tätigkeiten, die die Wahrnehmung und Nutzung komplexer Zahl- und Aufgabeneigenschaften und -beziehungen – und folglich die Entwicklung flexiblen Rechnens – besonders unterstützen. Hierbei geht es u. a. um Tätigkeiten zum ‚Sehen‘ von Eigenschaften und Beziehungen, um das ‚Sortieren‘, das ‚Strukturieren von Anzahlen und Aufgaben‘ sowie um das ‚gemeinsame Vergleichen und Sortieren‘ (vgl. Kap. 3.2.1). Dieses Angebot an zusätzlicher Orientierung und Struktur durch Schablonen zur Fokussierung oder durch sortierbare Aufgabenkarten trägt besonders für Kinder mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf ‚Lernen‘ wahrnehmungsdifferenzierend zur Förderung flexibler Rechenkompetenzen bei (vgl. Kap. 3.2.1). (zu (2)) Empirisch-evidenzbasierte Argumente Die Analysen in Kapitel 8 beziehen sich auf das im Rahmen der vorliegenden Arbeit iterativ entwickelte Lehr-Lern-Arrangement, das in den letzten beiden Erhebungszyklen das Design-Prinzip der ‚strukturfokussierenden Kontexteingrenzung‘ (DP1) als Gestaltungsmerkmal aufweist. Das DP1 wurde hier realisiert durch den Kontext der Nachbarzahlen und deren Summen sowie die
312
9 Auswertung und Interpretation gegenstandsspezifischer Lehr-Lernprozesse
Doppellupe und die Aufgabenkarten zum Aufschreiben der Additionsaufgaben. Die zwei letztgenannten Design-Elemente sollen eine zusätzliche (Wahrnehmungs-)Fokussierung auf die Eigenschaften und Beziehungen von Zahlen und Aufgaben ermöglichen (s. o.).81 Die Analysen der Design-Experimente (Kap. 8) zeigen exemplarisch auf, dass es im Rahmen des Lehr-Lern-Arrangements bei allen Paaren – jeweils ein Kind mit und ein Kind ohne sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf – zur Fokussierung auf die Wahrnehmung und Nutzung komplexer Zahl- und Aufgabeneigenschaften und -beziehungen im Kontext der Nachbarzahlen und deren Summen kam. Das intendierte Ziel des DPs1 wird damit erreicht. Dies wird dadurch beobachtbar, dass es zu einem mathematischen Austausch über den gemeinsamen Lerngegenstand kommt, an dem sich alle teilnehmenden Kinder in ausgewogenen oder dominanten Phasen der Kooperation ihren individuellen Denk- und Handlungskompetenzen entsprechend beteiligen und Beiträge leisten (vgl. Kap. 8.2.1 und 8.2.2; ‚Ausgewogene Kooperation‘, ‚Dominante Kooperation‘ mit dem stärkeren Kind als prädominant). Zudem belegen die Analysen, dass sich – u. a. angeregt durch den Austausch in den interaktiv-kooperativen Lernsituationen – alle Beteiligten in Bezug auf den mathematischen Lerngegenstand des flexiblen Rechnens auf ihrem individuellen Niveau zieldifferent weiterentwickeln (vgl. Kap. 8.1.1 und 8.1.2 für die epistemologischen Analysen; vgl. 8.1.3 für die typischen Lernverläufe). Diesen Ergebnissen folgend kann einerseits festgehalten werden, dass – entsprechend dem Ziel des DPs1 – individuell-zieldifferente Zugänge und Lösungsprozesse innerhalb der inhaltlich-mathematischen Komplexität im Kontext der Nachbarzahlen ermöglicht wurden. Andererseits bot dieser Kontext auch Anknüpfungspunkte für einen mathematischen Austausch für die sehr heterogenen Kinder. Folglich konnte sowohl die Anregung fruchtbarer interaktivkooperativer Lernsituationen (Interaktionsförderlichkeit) als auch die individuell-zieldifferente Förderung flexibler Rechenkompetenzen (Lernförderlichkeit) beobachtet werden. Diese beiden Aspekte stellen die beiden Ziele des LehrLern-Arrangements dar, welche in allen Paarkonstellationen aus Zyklus 2 und 3 in unterschiedlicher Ausprägung erreicht wurden (vgl. Kap. 8.1). Die eingangs in diesem Kapitel betrachtete Szene aus der Pilotierungsphase (T. 9.1) ist im Vergleich zu den Fällen aus Kapitel 8 in dem Aspekt der ‚strukturfokussierenden Kontexteingrenzung‘ maximal verschieden. Der kontrastierende Vergleich der Fälle lässt vermuten, dass u. a. die Realisierung des DPs1 in den Zyklen 2 und 3 zum Erreichen der initiierten Ziele (s. Abb. 9.3) beigetragen hat. Diese Analysen bilden in ihrer Gesamtheit ein empirisches Argument für die zielführende Wirksamkeit des Design-Prinzips der ‚strukturfokussierenden Kontexteingrenzung‘. 81 Für eine detaillierte Darlegung der Konkretion des Design-Prinzips in Form von Design-Elementen im Lehr-Lern-Arrangement vgl. Kapitel 6.2.
9.2 Gegenstandsreichhaltigkeit
313
Hinsichtlich der Forschungsfrage EF2 lässt sich aus den dargelegten empirischen und theoretischen Argumenten schlussfolgern, dass das ausgeschärfte DP1 ‚strukturfokussierende Kontexteingrenzung‘ eine allgemein gute Voraussetzung dafür schaffen kann, dass im inklusiven Mathematikunterricht eine mathematische und fruchtbare Interaktion entlang eines gemeinsamen Lerngegenstandes in interaktiv-kooperativen Lernsituationen gleichermaßen wie eine individuell-zieldifferente Förderung gelingt. 9.2.2 ‚Darstellungswechsel ermöglichen‘ als Chance Das Design-Prinzip ‚Darstellungswechsel ermöglichen‘ (im Folgenden kurz: DP2) impliziert, dass ein ‚Inbeziehungsetzen‘ verschiedener Darstellungen und Darstellungsebenen ermöglicht wird. Der Darstellungswechsel wird hier folglich in Anlehnung an Kuhnke (2012, 2013) als ein ‚Inbeziehungsetzen‘ verstanden. Er „stellt eine komplexe Tätigkeit dar, nämlich das Wechseln zwischen und das Zuordnen und Vergleichen von unterschiedlichen Darstellungen, was allgemeiner ein Inbeziehungsetzen meint“ (Kuhnke, 2013, S. 33). Je nach Ebene haben Darstellungen unterschiedliche Eigenschaften. „Daher müssen die strukturelle und mathematische Gleichheit und das ineinander Überführen, die Austauschbarkeit und Zusammenhänge zwischen den unterschiedlichen Darstellungen verdeutlicht und erkannt werden“ (ebd., S. 4). Findet der Wechsel zwischen Darstellungen auf einer Ebene statt (Abb. 9.4, graue Doppelpfeile), so spricht man von einem „intramodalen Wechsel“ (ebd., S. 32). Hingegen liegt ein „intermodale[r] Wechsel“ (ebd., S. 32) vor, wenn Darstellungen unterschiedlicher Ebenen in Beziehung gesetzt werden (Abb. 9.4, schwarze Doppelpfeile).
Abbildung 9.4:
‚Inbeziehungsetzen‘ zwischen Darstellungen und Darstellungsebenen (Modell nach Kuhnke, 2013, S. 32)
314
9 Auswertung und Interpretation gegenstandsspezifischer Lehr-Lernprozesse
Das intendierte Ziel des DPs2 ist es, im Sinne der ‚natürlichen Differenzierung‘ individuell-zieldifferente sowie wahrnehmungsdifferenzierende Zugänge zur Aufgabe und zum gemeinsamen Lerngegenstand zu ermöglichen. Ein weiteres Ziel ist es, inhaltliche Anknüpfungspunkte zwischen heterogenen Zugängen und Deutungen zu schaffen, die Kinder mit und ohne sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf vornehmen. Auf diese Weise soll das DP2 einen Beitrag zu den zwei Zielen des Lehr-Lern-Arrangements leisten. Mit Hilfe des Modells in Abbildung 9.1 (‚Design-Prinzipien als empirisch und theoretisch gestütztes Ziel-Mittel-Wissen‘) kann das DP2, realisiert durch die in Kapitel 6.2.1 dargelegten Design-Elemente im Lehr-Lern-Arrangement ‚Wir erforschen Nachbarzahlen und ihre Summen‘, wie folgt dargestellt werden: Übergeordnetes Design-Prinzip: ‚Gegenstandsreichhaltigkeit‘ Design-Elemente: Die Nutzung differenzierender, Design-Prinzip 2: strukturfokussierender ‚Darstellungswechsel und zusammenhängender ermöglichen‘ Darstellungsmittel Das anregen: ‚Inbeziehungsetzen‘ verschiedener Darstellungen und Darstellungsebenen ermöglicht Bilder (ikonisch)
sprachliche Symbole
Ziel des Design-Prinzips: Ziel des Lehr-LernEntwickelte heterogene Arrangements: Zugänge und Deutungen durch (1) Fruchtbare interaktivdas ‚Inbeziehungsetzen‘ kooperative Lernum zu ... verschiedener Darstellungen, in situationen anregen Beziehung setzen und so inhaltliche Anknüpfungspunkte (Interaktionsförderlichkeit), in denen zwischen den heterogenen (2) individuellZugängen und Deutungen zieldifferentes Lernen am schaffen (Funktionen: gemeinsamen Lern‚Interaktionshilfe‘, gegenstand des flexiblen ‚Kommunikationshilfe‘). (vgl. Rechnens stattfindet (Zudem: ‚Rechenhilfe‘ & Kap. 6.2.1) (Lernförderlichkeit). ‚Lernhilfe‘) weil ...
mathematische Symbole (symbolisch)
(verbal‐symbolisch)
Handlungen mit Material (enaktiv)
Argumente • theoretisch, literaturgestützt • empirisch, evidenzbasiert
Abbildung 9.5:
Das Design-Prinzip DP2 ‚Darstellungswechsel ermöglichen‘ als empirisch und theoretisch gestütztes Ziel-Mittel-Wissen
Theoretisch-literaturgestützte Argumente Das Angebot unterschiedlicher Darstellungsmittel erfüllt im inklusiven Mathematikunterricht drei entscheidende Funktionen, die aus der mathematikdidaktischen Literatur bekannt sind (vgl. u. a. Krauthausen, 2018; Schipper, 2009; Wartha & Schulz, 2014): Zum einen sind Darstellungsmittel hinsichtlich der individuell-zieldifferenten Lernprozesse Mittel zum Rechnen und können als Rechenhilfe beim (handelnden) Lösen von Aufgaben dienen. Zum anderen sind sie Mittel zum Aufbau von Zahl- und Operationsvorstellungen und können als Lernhilfe fungieren, denn der Übersetzungsprozess zwischen den verschiedenen Darstellungen fördert den Aufbau von tragfähigen Zahl- und Operationsvorstellungen sowie die Wahrnehmung von Beziehungen zwischen Zahlen und
9.2 Gegenstandsreichhaltigkeit
315
(verwandten) Operationen. Diese beiden Funktionen tragen folglich zur ‚natürlichen Differenzierung‘ bei. Hinsichtlich der Anregung eines produktiven mathematischen Austausches sind Darstellungsmittel ebenso Mittel zum Kommunizieren, Argumentieren und Beweisen, und können daher als Kommunikationshilfe dienen. Unter anderem unterstützen sie die Darstellung eigener Lösungsprozesse, was Kindern helfen kann, sich die eigenen Gedankengänge bewusst zu machen und diese zu veranschaulichen, was wiederum ebenfalls eine Argumentations- und Kommunikationshilfe darstellt (vgl. u. a. Krauthausen, 2018; Schipper, 2009; Wartha & Schulz, 2014). (zu (1) & (2)) Mit Blick auf die Kooperationsförderlichkeit und die Zielgruppe der vorliegenden Forschungsarbeit ist das Angebot unterschiedlicher Darstellungsmittel sowie deren Vernetzung besonders für Kinder mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf ‚Lernen‘ essenziell: Eine kooperationsfördernde Aufgabe muss diesen Kindern eine geringe Einstiegsschwelle sowie materialgestützte, sensorisch vielfältige und handlungsorientierte Arbeitsprozesse ermöglichen, sodass sie sich selbständig und gemäß ihren individuellen Entwicklungsständen mit dem mathematischen Inhalt auseinandersetzen können. Nur auf diese Weise kann es währenddessen oder im Anschluss zu einem mathematischen Gespräch kommen (vgl. Kap. 2.2.2). (zu (1)) Mit Blick auf die individuell-zieldifferente Lernförderlichkeit am gemeinsamen Lerngegenstand des flexiblen Rechnens ist der Einsatz verschiedener Darstellungsmittel und -ebenen fundamental für das eigenaktive Arbeiten, denn für eine Förderung flexibler Rechenkompetenzen sind Aufgaben wichtig, die zum eigenaktiven und handlungsorientierten Forschen über Zahl- und Aufgabeneigenschaften, operative Beziehungen und strategische Werkzeuge anregen (vgl. Kap. 3.2.1). Diese Tätigkeiten – u. a. durch das Material gestützt – und der Austausch darüber sind insbesondere für Kinder mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf ‚Lernen‘ wichtig, um flexible Rechenkompetenzen anzubahnen (vgl. Kap. 3.2.2). (zu (2)) Empirisch-evidenzbasierte Argumente Dem Einsatz unterschiedlicher Darstellungsmittel und der damit zusammenhängenden Anregung des Wechsels zwischen den Darstellungen kommt für interaktiv-kooperative Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht eine weitere entscheidende Funktion zu. Diese ergänzt die Funktionen, die für die theoretisch-literaturgestützten Argumente im ersten Abschnitt erläutert wurden (s. o.). Hinsichtlich der Anregung einer produktiven mathematischen Interaktion kann der Darstellungswechsel als Interaktionshilfe dienen, denn er setzt nicht nur die verschiedenen Darstellungen zueinander in Beziehung, sondern kann dadurch ebenso Bezüge zwischen den unterschiedlichen Zugängen, Deutungen, Lösungen und Produkten unterschiedlicher Kinder herstellen. Dies kann wiederum einen Austausch zwischen Kindern ermöglichen, die Zugänge auf verschie-
316
9 Auswertung und Interpretation gegenstandsspezifischer Lehr-Lernprozesse
denen Ebenen gewählt haben. Der Darstellungswechsel kann also besonders dazu beitragen, (stark) heterogene Zugänge und Deutungen für produktive interaktiv-kooperative Lernsituationen zusammenzubringen und Anknüpfungspunkte zu schaffen. Er dient folglich als Mittel, heterogene Zugänge und Deutungen in Beziehung zu setzen. Die folgenden Transkriptauszüge aus dem Fallbeispiel 2 aus Kapitel 8 zeigen stellvertretend für andere Szenen aus der vorliegenden Untersuchung auf, wie Kinder unterschiedliche Zugänge und Darstellungsmittel wählen und diese verschiedenen Darstellungen und Darstellungsebenen zueinander in Beziehung setzen, wodurch sie – trotz ihrer heterogenen Zugänge und Deutungen – erfolgreich interagieren können. (Bei den folgenden Darstellungen wird der Fokus ausschließlich auf die Funktion ‚Interaktionshilfe‘ gelegt.) Transkript 9.2: Paul und Anne wählen unterschiedliche Zugänge und Darstellungsmittel (Fallbeispiel 2 aus Kap. 8.2)
1 2 3
Paul (PA) Anne (A) I: (wiederholt den Arbeitsauftrag, nachdem die Kinder sich entschieden haben, sich auf die horizontalen Nachbarzahlen zu fokussieren) Sammelt und ordnet. Also. Leg mal deine hier drauf. Hier oben. (deutet auf das Plakat) Hier das. (legt seine Aufgabe 3 + 4 = 7 mit der dazugehörigen ikonischen Darstellung oben auf das Plakat)
4
(legt ihre Aufgabe 9 + 10 = 19 unter 3 + 4 = 7)
Abwechselnd legen die beiden Kinder ihre Aufgaben aus ihrer jeweiligen individuellen vorgeschalteten Phase (ICH-Phase). Paul Bilder (ikonisch)
Paul
Anne mathematische Symbole (symbolisch)
Abbildung 9.6:
Die Verknüpfung der ikonischen und symbolischen Darstellungsebene (i. A. a. das Modell nach Kuhnke, 2013; vgl. Abb. 9.4)
317
9.2 Gegenstandsreichhaltigkeit
In dieser Szene beginnen die beiden Kinder ihre Aufgaben zu sammeln. Wie die Abbildungen im Transkript 9.1 zeigen, haben sie in der ICH-Phase auf unterschiedlichen Darstellungsebenen gearbeitet. Anne hat auf der rein symbolischen Ebene gearbeitet und Paul auf der ikonischen und symbolischen Ebene. In der Zusammenarbeit verknüpft der Darstellungswechsel nicht nur die verschiedenen Darstellungen, sondern ebenso die heterogenen Zugänge (vgl. Abb. 9.6). Er ist folglich ein Mittel, um heterogene Zugänge und Deutungen zueinander in Beziehung zu setzen. Obwohl Paul bei vielen Aufgaben die bildlichen Darstellungen als ‚Rechenhilfe‘ benötigt, ist er durch die Darstellungsvernetzung in der Lage, sich an der Interaktion zu beteiligen und sich mit seinen Aufgabenkarten in die DU-Phase einzubringen (‚Interaktionshilfe‘, ‚Kommunikationshilfe‘). Im gesamten Interview kommt es zwischen den Kindern Anne und Paul zu folgenden Verknüpfungen (vgl. Abb. 9.7; auf eine ausführliche Darlegung weiterer Verknüpfungen durch Transkripte wird aufgrund des begrenzten Umfangs der vorliegenden Arbeit verzichtet): Paul Bilder (ikonisch)
Paul
Paul
sprachliche Symbole (verbal‐symbolisch)
Anne Abbildung 9.7:
Anne
mathematische Symbole (symbolisch)
Paul
Paul & Anne
Inbeziehungsetzen der Ebenen der sprachlichen und der mathematischen Symbole sowie der ikonischen Ebene (i. A. a. das Modell nach Kuhnke, 2013; vgl. Abb. 9.4)
Aus diesen beispielhaften Analysen aus dem Fallbeispiel 2 und den theoretischen Argumenten lässt sich hinsichtlich der Forschungsfrage EF2 schlussfolgern, dass das ausgeschärfte DP2 ‚Darstellungswechsel ermöglichen‘ – im Sinne einer ‚Interaktionshilfe‘ – eine Chance für das ‚Gemeinsame Mathematiklernen‘ darstellt. Neben den bekannten Funktionen von Darstellungsmitteln (‚Rechenhilfe‘, ‚Lernhilfe‘ und ‚Kommunikationshilfe‘; s. o.) kann der Darstellungswechsel zusätzlich ein Mittel sein, um Anknüpfungspunkte zwischen hete-
318
9 Auswertung und Interpretation gegenstandsspezifischer Lehr-Lernprozesse
rogenen Zugängen und Deutungen zu schaffen, sodass eine mathematische und fruchtbare Interaktion ebenso gelingen kann wie die individuelle Förderung.
9.3
Aufgabenbezogene Interaktionsanregung
In den vorherigen Kapiteln wurden theoretische Überlegungen zum übergeordneten Design-Prinzip der ‚aufgabenbezogenen Interaktionsanregung‘ vorgestellt, das zum Ziel hat, neben individuellen Lernsituationen auch interaktivkooperative Lernsituationen gezielt anzuregen, in denen aufgabenbezogen, aufeinander bezugnehmend und möglichst symmetrisch über Mathematik kommuniziert wird und in denen der Austausch möglichst anregend für den Lernprozess aller Beteiligten ist (vgl. Kap. 5.1 und 9.1). Anknüpfend an die Definition des interaktiv-kooperativen Lernens in Kapitel 2.1.1 sollte Interaktionsanregung darauf abzielen, dass die Kinder sich gemeinsam mit einer reichhaltigen Aufgabe auseinandersetzen und dabei möglichst aufgabenbezogen interagieren, dass sie dabei durch Interaktionshandlungen möglichst häufig aufeinander Bezug nehmen, indem sie u. a. eigene Ideen und Entdeckungen äußern und erklären, Fragen stellen, sich gegenseitig helfen, begründen sowie Ideen Anderer hinterfragen und ggf. weiterentwickeln, dass die wechselseitige Beziehungsstruktur in der Interaktion so weit wie möglich symmetrisch ist und unter einer gemeinsamen Zielsetzung stattfindet (Kap. 2.1.1). Vor dem Hintergrund eines inklusiven Mathematikunterrichtes, in dem mit- und voneinander gelernt werden soll, stellt sich die Frage, ob die inhaltliche individuelle Förderung aller am Interaktionsgeschehen Beteiligten ebenso gelingt wie eine aufgabenbezogene Interaktion und was besonders beachtet werden muss, wenn Kinder mit und ohne sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf in einen fruchtbaren Austausch treten sollen. Bei der Betrachtung der Pilotierungsphase und des ersten Erhebungszyklus des vorliegenden Forschungsprojektes zeigt sich, dass allein durch die Schaffung vermeintlich interaktionsfördernder Rahmenbedingungen sowie einer gemeinsamen Aufgabe, die für alle Beteiligten zugänglich ist und zum Austausch über Mathematik einlädt, die Anregung interaktiv-kooperativer Lernsituationen, in denen mit- und voneinander gelernt wird, nicht zwangsläufig gelingt. Die Szene aus dem Eingangsbeispiel der vorliegenden Arbeit zeigte das Problem exemplarisch für weitere Fälle auf (vgl. Kap. 1, T. 1.1). In der Szene begründete RUBEN – ein Kind mit durchschnittlichen Mathematikleistungen – seine Lösung zur Aufgabe mit Hilfe operativer Aufgabenbeziehungen. Sein Partner SVEN – ein Kind mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf ‚Lernen‘ – wäre rein kognitiv durchaus in der Lage, Rubens Begründungen zu verstehen. Jedoch folgt er den Erläuterungen nicht. Dies hat zur
9.3 Aufgabenbezogene Interaktionsanregung
319
Folge, dass es in dieser Situation zu keiner Interaktion über Mathematik kommt und aufgrund dessen kein mit- und voneinander Lernen stattfindet, obwohl die gemeinsame Aufgabe inhaltlich durchaus für einen Austausch über unterschiedliche Zugänge und Lösungen geeignet ist und dieser methodisch explizit angeregt wird. Der Transkriptausschnitt 1.1 in Kapitel 1 zeigt exemplarisch für viele andere Lernsituationen aus der Pilotierungsphase dieser Untersuchung auf, dass kein Austausch über die individuellen Lösungs- und Denkprozesse stattfindet, die zuvor in einer individuellen Phase von beiden Kindern auf der Grundlage individueller Zugänge entwickelt wurden. Aus diesen empirischen Erkenntnissen aus der Pilotierungsphase und dem ersten Erhebungszyklus heraus wurde das übergeordnete Prinzip der ‚aufgabenbezogenen Interaktionsanregung‘ durch zwei konkrete Design-Prinzipien ausgeschärft und ausdifferenziert, um den Austausch im inklusiven Setting anzuregen und möglichst fruchtbar für alle Beteiligten zu gestalten. Die Generierung dieser beiden ausgeschärften Design-Prinzipien, ‚vorgeschaltete individuelle Phase‘ (DP3) und ‚extrinsische positive Interdependenz‘ (DP4), wird in den folgenden beiden Kapiteln 9.3.1 und 9.3.2 dargelegt und begründet. 9.3.1 ‚Vorgeschaltete individuelle Phase‘ als potenziell interaktionsförderliches Merkmal Das Design-Prinzip ‚vorgeschaltete individuelle Phase‘ (im Folgenden kurz: DP3) bedeutet, dass vor der individuell-kooperativen Phase eine individuelle Auseinandersetzung mit dem gemeinsamen mathematischen Inhalt angeregt wird. Ziel dabei ist es, – anknüpfend an die jeweilige Lernausgangslage – allen die Entwicklung individueller Zugänge und Lösungsprozesse zu ermöglichen, die für ein Sich-Einbringen in die Interaktion und folglich für eine aufgabenbezogene und phasenweise symmetrische Interaktion unabdingbar sind. Das SichEinbringen-Können soll in weiterer Folge zur Anerkennung und Wertschätzung beitragen. Das DP3, realisiert durch die in Kapitel 6.2.2 dargelegten Design-Elemente im Lehr-Lern-Arrangement ‚Wir erforschen Nachbarzahlen und ihre Summen‘, kann wie folgt als empirisch und theoretisch gestütztes Ziel-Mittel-Wissen dargestellt werden:
320
9 Auswertung und Interpretation gegenstandsspezifischer Lehr-Lernprozesse
Übergeordnetes Design-Prinzip: ‚Aufgabenbezogene Interaktionsanregung‘ Design-Prinzip 3: ‚Vorgeschaltete individuelle Phase‘ Individuelle Auseinandersetzung mit dem gemeinsamen mathematischen Inhalt vor der individuellkooperativen Phase
Design-Elemente: Methodische Strukturierung mit transparenten Arbeitsschritten: ICH-DU-WIRMethode ICH-Forscherauftrag: substantiell und natürlich-differenziert (vgl. Kap. 6.2.2)
Ziel des Design-Prinzips: Allen – anknüpfend an die jeweilige Lernausgangslage – die Entwicklung um zu ... individueller Zugänge und Lösungsprozesse ermöglichen, die für ein ‚Sich-Einbringen‘ in die Interaktion und für eine aufgabenbezogene und (phasenweise) symmetrische mathematische Interaktion unabdingbar sind.
weil ...
Ziel des Lehr-LernArrangements: (1) Fruchtbare interaktivkooperative Lernsituationen anregen (Interaktionsförderlichkeit), in denen (2) individuellzieldifferentes Lernen am gemeinsamen Lerngegenstand des flexiblen Rechnens stattfindet (Lernförderlichkeit).
Argumente • theoretisch, literaturgestützt • empirisch, evidenzbasiert
Abbildung 9.8:
Das Design-Prinzip DP3 ‚vorgeschaltete individuelle Phase‘ als empirisch und theoretisch gestütztes Ziel-Mittel-Wissen
Theoretisch-literaturgestützte Argumente Eine vorgeschaltete individuelle Phase kann durch verschiedene methodisch strukturierte Interaktionsformen (u. a. ICH-DU-WIR-Methode) realisiert werden. Die in Kapitel 2.1.2 dargestellten Forschungsergebnisse belegen u. a., dass der Einsatz geeigneter methodisch strukturierter Lernformen dazu beigetragen kann, dass sich alle mit ihren individuellen Gedanken einbringen und am Austausch mit ihrem Partner beteiligen (vgl. Kap. 2.1.2). Diese methodische Strukturierung sollte jedoch transparent sein, um besonders lernschwachen Kindern – also auch Kindern mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf ‚Lernen‘ – Orientierung und somit eine gute Voraussetzung für einen gemeinsamen Austausch zu geben (vgl. Kap. 2.1.2). (zu (1)) Des Weiteren wurde aufgrund der Forschungsergebnisse aus Kapitel 2.1.2 vermutet, dass eine Phase der individuellen Auseinandersetzung mit dem Lerngegenstand, bevor die Kinder in den Austausch treten, es ermöglicht, dass sie sich anschließend in die Interaktion einbringen, denn sie entwickeln einen ersten Zugang auf der Basis individueller Lernvoraussetzungen, was bedeutsam für ein Sich-Einbringen und einen mathematisch reichhaltigen Austausch ist. Dieser kann sich wiederum positiv auf die mathematischen Lernleistungen auswirken (vgl. Kap. 2.1.2). (zu (1)) Weitere zuvor diskutierte Forschungsergebnisse stützen den letztgenannten Aspekt und belegen ebenso, dass eine rege aufgabenbezogene Interaktion einen entscheidenden Beitrag zur Fruchtbarkeit des Lernens leisten kann (vgl. Kap.
9.3 Aufgabenbezogene Interaktionsanregung
321
2.1.2). Daraus lässt sich schließen, dass eine Interaktionsförderlichkeit – wie bei dem vorliegenden Design-Prinzip – möglicherweise mit einer potenziellen Lernförderlichkeit einhergeht. (zu (2)) Geht man von einer Interaktionsförderlichkeit durch die ‚vorgeschaltete individuelle Phase‘ aus, kann auch mit Blick auf den gemeinsamen Lerngegenstand des flexiblen Rechnens argumentiert werden: Es wird nicht nur eine aufgabenbezogene Interaktion angeregt, sondern ebenso das Durchdringen des komplexen Lerngegenstandes – die Entwicklung flexibler Rechenkompetenzen – unterstützt, indem der Kreislauf von eigenständigen Konstruktionen, Interaktion, Reflexion und Weiterentwicklung individueller Entdeckungen und Lösungsprozesse ermöglicht wird (vgl. Kap 3.2). Die im Austausch getätigten Äußerungen von Gedanken über Entdeckungen, Lösungsprodukte, -ideen und -wege können dabei ‚Motor‘ der Lernprozesse sein (vgl. Kap. 3.2.3, Abb. 3.4: Modell zur Verknüpfung der individuell-zieldifferenten Lernprozesse und der Interaktion). (zu (2)) Empirisch-evidenzbasierte Argumente Die Forschungsergebnisse aus Kapitel 8.2 beziehen sich auf das im Rahmen der Untersuchung entwickelte Lehr-Lern-Arrangement 82 , das eine ‚vorgeschaltete individuelle Phase‘ als Gestaltungsmerkmal aufweist. Sie zeigen hinsichtlich der Forschungsfrage FF283 auf, dass vier typische Interaktionsmuster während der angeregten interaktiv-kooperativen Lernsituationen auftraten (vgl. Kap. 8.2.3, Tab. 8.4). In der Interaktion eines jeden an der Untersuchung teilnehmenden Kinderpaares konnten alle Interaktionsmuster rekonstruiert werden, wobei die ‚ausgewogene Kooperation‘ und die ‚dominante Kooperation‘ – mit dem Kind mit durchschnittlichen Mathematikleistungen in dominierender Rolle – am häufigsten auftraten (vgl. Kap. 8.2.2). Wie die Tabelle 8.4 (Kap. 8.2.3) aufzeigt, verläuft die Interaktion nach diesen beiden Mustern ‚stark‘ mit einer ‚übereinstimmenden‘ aufgabenbezogenen Themen- bzw. Zielfokussierung. Während der ‚ausgewogenen Kooperation‘ verläuft die Interaktion zusätzlich symmetrisch, was bedeutet, dass sich alle Kinder gleichermaßen einbringen. Bei Betrachtung der letzten Spalte derselben Tabelle, die die Ausprägung der fachlichen Lernprozesse visualisiert, lässt sich festhalten, dass sich bei einem abwechselnd auftretenden Muster ausgewogener und dominanter Kooperation beide beteiligten Kinder weiterentwickeln. Die Anregung interaktiv-kooperativer Lernsituationen, in denen aufgabenbezogen, aufeinander bezugnehmend und möglichst 82 Für eine detaillierte Darlegung der Konkretion des Design-Prinzips in Form von Design-Elementen im Lehr-Lern-Arrangement vgl. Kapitel 6.3. 83 (FF2) Welche interaktiven Strukturen lassen sich während der interaktivkooperativen Lernsituationen rekonstruieren?
322
9 Auswertung und Interpretation gegenstandsspezifischer Lehr-Lernprozesse
symmetrisch über Mathematik kommuniziert wird, ist nach diesen Analysen folglich gelungen. Der letzten Spalte der Tabelle 8.4 (Kap. 8.2.3), die die Ausprägung der fachlichen Lernprozesse visualisiert, ist darüber hinaus zu entnehmen, dass das Ziel der individuell-zieldifferenten Förderung flexibler Rechenkompetenzen ebenso bejaht werden kann, wenn in Betracht gezogen wird, dass ausgewogene und dominante Kooperationen im abwechselnden Muster aufgetreten sind, denn beide Kinder profitieren (vgl. Kap. 8.2.2). Abschließend kann festgehalten werden, dass die empirischen Ergebnisse aus Kapitel 8 die theoretischen Argumente hinsichtlich der Austausch- und Lernförderlichkeit dieser Design-Prinzipien (s. o.) nicht widerlegen, sondern stützen. In der Gesamtheit legen die theoretischen und empirischen Argumente hinsichtlich der Forschungsfrage EF2 die Vermutung nahe, dass das ausgeschärfte Design-Prinzip der ‚vorgeschalteten individuellen Phase‘ dazu beitragen kann, dass Kinder in eine erfolgreiche mathematische und aufgabenbezogene Interaktion treten können, indem sie zunächst Gelegenheit erhalten, sich individuell mit dem Lerngegenstand auseinanderzusetzen, bevor sie in den Austausch treten. Auf diese Weise erhalten alle Lernenden die Chance, anknüpfend an ihre jeweilige Lernausgangslage individuelle Zugänge und Lösungsprozesse zu entwickeln, die für ein späteres Einbringen in die Interaktion und folglich für einen aufgabenbezogenen Austausch unabdingbar sind. 9.3.2 ‚Extrinsische positive Interdependenz‘ als Beitrag zu einer sinnstiftenden Zusammenarbeit Das Design-Prinzip DP4 ‚extrinsische positive Interdependenz ‘ (im Folgenden kurz: DP4) meint, dass eine positive Interdependenz von außen angeregt und didaktisch geplant wird. Ziel ist dabei, die emotionale und inhaltliche Verbundenheit der heterogenen Partner sowie die Anerkennung und Wertschätzung aller an der Interaktion Beteiligten zu ermöglichen. Das DP4, realisiert durch die in Kapitel 6.2.2 dargelegten Design-Elemente im Lehr-Lern-Arrangement ‚Wir erforschen Nachbarzahlen und ihre Summen‘, kann wie folgt als empirisch und theoretisch gestütztes Ziel-Mittel-Wissen dargestellt werden:
323
9.3 Aufgabenbezogene Interaktionsanregung Übergeordnetes Design-Prinzip: ‚Aufgabenbezogene Interaktionsanregung‘ Design-Prinzip 4: Design-Elemente: ‚Extrinsische Zielabhängigkeit durch positive gemeinsames Ziel in der Interdependenz‘ DU-Phase: Alle Nachbarzahlen und ihre Summen durch Zielabhängigkeit auf der 20er-Tafel finden sowie Reihenfolge-Zusätzliche Reihenfolgeund Materialund Materialabhängigkeit abhängigkeit durch Aufgabe in der Von außen angeregte und didaktisch geplante positive Interdependenz
Ziel des Design-Prinzips: Zu einer emotionalen und inhaltlichen Verbundenheit um zu ... heterogener Partner sowie zur Anerkennung und Wertschätzung aller Beteiligten beitragen:
ICH-Phase: Jeder erforscht einen unterschiedlichen Teil der 20er(vgl. Kap. 6.2.2) Tafel weil ...
Ziel des Lehr-LernArrangements: (1) Fruchtbare interaktivkooperative Lernsituationen anregen (InteraktionsVerbundenheits- und Verantwortungsgefühl durch förderlichkeit), in denen gemeinsames Ziel (nur gemeinsam (2) individuellerfolgreich, emotionaler Nutzen, zieldifferentes Lernen am sinnstiftende Zusammenarbeit) gemeinsamen Lerngegenstand des flexiblen Verbundenheit sowie Anerkennung und Wertschätzung Rechnens stattfindet (Lernförderlichkeit). durch die unterschiedlichen Produkte aus der ICH-Phase
Argumente • theoretisch, literaturgestützt • empirisch, evidenzbasiert
Abbildung 9.9:
Das Design-Prinzip DP4 ‚extrinsische positive Interdependenz‘ als empirisch und theoretisch gestütztes Ziel-Mittel-Wissen
Theoretisch-literaturgestützte Argumente Dieses Design-Prinzip greift eines der fünf Basiselemente aus der Konzeption des kooperativen Lernens auf, das in Kapitel 2 bereits vorgestellt wurde: die ‚positive Interdependenz‘ bzw. ‚positive Abhängigkeit‘ (vgl. Kap. 2.1.2). „Positiv wirkende Abhängigkeit ist erreicht, wenn sich alle Mitglieder eines Teams in der Absicht, das gesteckte Ziel zu erreichen miteinander verbunden fühlen […]. Das Team ist letztendlich nur erfolgreich, wenn alle Mitglieder die gestellte Aufgabe erfüllen“ (Green & Green, 2005, S. 30). Hinsichtlich der positiven Interdependenz wird in der Literatur zwischen verschiedenen Typen der Abhängigkeit unterschieden: Positive Ziel-, Belohnungs-, Reihenfolge-, Rollen-, Identitäts-, Simulations-, Material- sowie Umgebungsabhängigkeit (für Erläuterungen vgl. ebd., S. 77 ff.). Folglich können Interdependenzen entweder von außen gezielt didaktisch angeregt werden (z. B. Reihenfolge-, Ziel-, Materialabhängigkeit), oder sie entstehen aus der Zusammenarbeit heraus (z. B. Ziel-, Belohnungs-, Identitätsabhängigkeit). Die ‚positive Interdependenz‘ bzw. ‚positive Abhängigkeit‘ gehört zu den empirisch belegten Merkmalen, die zum erfolgreichen Kooperieren beitragen können (vgl. Kap. 2.1.2). (zu (1)) Empirisch-evidenzbasierte Argumente In den Design-Experimenten der vorliegenden Arbeit hat eine positive Interdependenz nur unter bestimmten Umständen zum erfolgreichen interaktiv-
324
9 Auswertung und Interpretation gegenstandsspezifischer Lehr-Lernprozesse
kooperativen Lernen zwischen den heterogenen Partnern beigetragen. Nur durch eine von außen angeregte extrinsische positive Interdependenz in Form einer Zielabhängigkeit mit zusätzlich unterstützender Material- und Reihenfolgeabhängigkeit gelang es, eine emotionale und inhaltliche Verbundenheit zu schaffen, die die Kinder anregte zu interagieren. Dies sollen die folgenden kontrastierenden Analysen zwischen dem Eingangsbeispiel (vgl. T. 1.1 in Kap. 1) und den Fallbeispielen aus Kapitel 8 aufzeigen. Die Analysen in Kapitel 8 beziehen sich auf das im Rahmen dieses Projektes entwickelte Lehr-Lern-Arrangement, das in den letzten beiden Erhebungszyklen das Design-Prinzip der ‚extrinsischen positiven Interdependenz‘ durch Zielabhängigkeit mit zusätzlich unterstützender Material- und Reihenfolgeabhängigkeit als Gestaltungsmerkmal aufweist (für das Konkrete Design-Element vgl. Abb. 9.10 und Kap. 6.2.2). Diese Analysen zeigen ausführlich auf, dass es im Rahmen des Lehr-Lern-Arrangements zwischen den Kindern mit und ohne sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf ‚Lernen‘ zu einem mathematischen Austausch über den gemeinsamen Gegenstand kommt, an dem sich alle anhand ihrer individuellen Denk- und Handlungskompetenzen beteiligen und Beiträge leisten (vgl. Kap. 8.2). Zudem belegen die Analysen, dass – angeregt durch den Austausch in der interaktiv-kooperativen Lernsituation – sich alle Beteiligten hinsichtlich des flexiblen Rechnens auf ihrem individuellen Niveau weiterentwickeln (vgl. Kap. 8.1 und 8.3). Kontrastierend zu der Analyse der Eingangsszene (vgl. dazu Kap. 1; T. 1.1), die sich auf ein Lehr-Lern-Arrangement ohne die Realisierung des DPs4 durch Zielabhängigkeit bezieht, lässt sich hinsichtlich der Forschungsfrage EF2 schlussfolgern, dass das Design-Prinzip der ‚extrinsischen positiven Interdependenz‘ insofern unterstützend wirkt, als sich alle Beteiligten in der Absicht, das gesteckte Ziel zu erreichen, miteinander verbunden fühlen und einen sinnstiftenden Nutzen darin sehen, zusammenzuarbeiten und in den Austausch zu treten. Das Design-Prinzip unterstützt in dieser Situation folglich den Austausch und wirkt als potenziell interaktionsförderliches Element bei der Gestaltung eines Lehr-Lern-Arrangements, welches fruchtbare interaktiv-kooperative Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht anregen soll. Vor dem Hintergrund der Theorie aus Kapitel 2 (s. o.) lässt sich ableiten, dass die Schaffung einer ‚extrinsischen positiven Interdependenz‘ nicht nur austauschförderlich, sondern ebenso potenziell lernförderlich wirken kann, da sich ein aufgabenbezogener Austausch positiv auf die Lernprozesse auswirken kann. Die Szene im Transkript 9.2 zeigt ferner stellvertretend für weitere Szenen aus der Untersuchung auf, dass die ‚extrinsische positive Interdependenz‘, durch die die Kinder mit unterschiedlichen Aufgaben in die DU-Phase kommen, Anerkennung und Wertschätzung schaffen kann. In der dargestellten Szene sammeln Paul und Anne ihre Karten gemeinsam. Sie sprechen währenddessen über „meine“ und „deine“ Aufgaben (vgl. T. 9.1). Die Wortwahl deutet darauf hin,
9.3 Aufgabenbezogene Interaktionsanregung
325
dass alle Produkte wertgeschätzt werden und beide Kinder Anerkennung erfahren. Ihre Zusammenarbeit ist auf ein gemeinsames Ziel gerichtet, nämlich möglichst alle Aufgaben zu finden. An dieser Stelle lässt sich nur vermuten, dass dieses Ziel die beiden Kinder inhaltlich und emotional verbindet, indem sie einen Nutzen und einen Sinn in der Zusammenarbeit sehen und so zur Interaktion Motiviert werden. Aus diesen dargestellten Erkenntnissen lässt sich hinsichtlich der Forschungsfrage EF2 schlussfolgern, dass das ausgeschärfte Design-Prinzip der ‚extrinsischen positiven Interdependenz‘ ein interaktionsförderliches und als Folge daraus eine potenziell lernförderliches Merkmal für das ‚Gemeinsame Mathematiklernen‘ darstellt, denn es kann dazu beitragen, interaktiv-kooperative Lernsituationen zu ermöglichen, in denen – angeregt durch die emotionale und inhaltliche Vernetzung heterogener Partner – aufgabenbezogen und aufeinander bezugnehmend über Mathematik kommuniziert wird, sodass der Austausch möglichst anregend für den Lernprozess aller Beteiligten sein kann.
9.4
Zieldifferente Lernprozess- und Entwicklungsorientierung
Im vorherigen Kapitel wurden theoretische Überlegungen zum übergeordneten Design-Prinzip der ‚zieldifferenten Prozess- und Entwicklungsorientierung‘ vorgestellt, welches zum Ziel hat, für alle Kinder verschiedener Entwicklungsniveaus entwicklungsorientiertes – also individuelles und zieldifferentes – Lernen zu gewährleisten, auch in interaktiv-kooperativen Phasen (i. A. a. Feuser 2012b und Heimlich 2007, vgl. Kap. 5.1 und 9.1). Vor dem Hintergrund eines inklusiven Mathematikunterrichtes, in dem mitund voneinander gelernt werden soll, stellt sich die Frage, ob eine zieldifferente Lernprozess- und Entwicklungsorientierung in interaktiv-kooperativen Phasen ebenso gelingt wie in Phasen der Individualisierung, oder ob das Design-Prinzip an die besonderen Bedingungen des inklusiven Mathematikunterrichtes angepasst werden muss. In den iterativ durchgeführten Design-Experimenten zeigte sich, dass die folgenden beiden ausgeschärften Design-Prinzipien (vgl. Kap. 9.4.1 und 9.4.2) dazu beitragen, zieldifferentes, entwicklungsorientiertes Lernen auch in interaktiv-kooperativen Phasen zu ermöglichen. 9.4.1 ‚Situativität und Allgemeinheit‘ als potenziell lernförderliches Merkmal Das Design-Prinzip DP5 ‚Situativität und Allgemeinheit‘ (i. A. a. Mayer, 2018; s. u.) meint, dass eine konkret-situative und gleichzeitig zunehmend allgemeine Auseinandersetzung mit der gemeinsamen Aufgabenstellung ermöglicht wird. Ziel dabei ist es, allen Kindern individuell-zieldifferente Zugänge und Deutun-
326
9 Auswertung und Interpretation gegenstandsspezifischer Lehr-Lernprozesse
gen im Kontext der gemeinsamen Aufgabenstellung zu gewähren, sowie deren Weiterentwicklung zu unterstützen. Die individuell-zieldifferenten Zugänge und Deutungen – entlang einer Spannweite zwischen einer Situativität am konkreten Zahlenmaterial bis hin zur allgemeinen Deutung von arithmetischen Eigenschaften und Beziehungen (vgl. Abb. 9.10) – sollen in weiterer Folge dazu beitragen, dass sich alle Kinder in die aufgabenbezogene Interaktion einbringen sowie sich entlang dieser Spannweite entwickeln können. Auf der einen Seite ermöglicht Situativität (von situativ, d. h. die jeweilige konkrete Situation betreffend; vgl. DUDEN online, 2017) eine situative Aufgabenbearbeitung nahe an der Aufgabenstellung. Charakteristisch für diese situativen Zugänge, Deutungen und Lösungsprozesse sind die Nutzung konkreter Materialien und Zahlen sowie das Ausrechnen und Betrachten einzelner Ergebnisse. Nührenbörger (2009b) bezeichnet diese situativen Deutungen, die an konkrete Situationen, Zahlen und Muster gebunden sind, auch als „empirischsituiert“ (ebd., S. 168). Das Lösungsverhalten ist folglich an die Gegebenheiten und Umstände der Situation gebunden, in diesem Fall an die konkreten Aufgabenstellungen in der ICH- und DU-Phase bezüglich der Nachbarzahlen und deren Summen. Diese Situativität lässt ein konkretes Handeln auf unterschiedlichen Darstellungsebenen (enaktiv, ikonisch, symbolisch, sprachlich-symbolisch) und darüber hinaus den Blick auf beispielhafte mathematische Muster und Strukturen zu. Auf der anderen Seite regt die Ermöglichung von Allgemeinheit (von allgemein, d. h. für alle geltend; vgl. DUDEN online, 2017) zum Erkennen, Beschreiben, Begründen, Nutzen und Verallgemeinern von allgemeinen mathematischen Mustern und Strukturen (u. a. Teil-Ganzes-Beziehungen, Analogien, gleich- und gegensinnige Veränderungen, Konstanzgesetz; vgl. Kap. 3.3) an. Charakteristisch für diese allgemeineren Zugänge, Deutungen und Lösungsprozesse ist eine zunehmende Ablösung von konkreten Materialien und Zahlenbeispielen. Die Übergänge von Situativität zu Allgemeinheit sind fließend. Es handelt sich sozusagen um zwei Pole, zwischen denen sich individuelle Zugänge, Deutungen und Lösungsprozesse bewegen können (Abb. 9.10).
Situativität
konkret-situativ konkretes Zahlenmaterial
zunehmend allgemein zunehmendes Ablösen vom konkreten Zahlenmaterial
Allgemeinheit
zunehmend allgemeine Deutungen
Abbildung 9.10: Spannweite zwischen einer Situativität am konkreten Zahlenmaterial bis hin zur allgemeinen Deutung von arithmetischen Eigenschaften und Beziehungen
Das DP5, realisiert durch die in Kapitel 6.2.3 dargelegten Design-Elemente im Lehr-Lern-Arrangement ‚Wir erforschen Nachbarzahlen und ihre Summen‘
327
9.4 Zieldifferente Lernprozess- und Entwicklungsorientierung
kann wie folgt als empirisch und theoretisch gestütztes Ziel-Mittel-Wissen dargestellt werden: Übergeordnetes Design-Prinzip: ‚Zieldifferente Prozess- und Entwicklungsorientierung‘ Design-Prinzip 5: ‚Situativität und Allgemeinheit‘ Ermöglichung einer konkret-situativen und zunehmend- allgemeinen Auseinandersetzung mit der gemeinsamen Aufgabenstellung konkretsituativ
Design-Elemente: Verankerung dieser konkret-situativen (u. a. sammeln, ordnen) und zunehmen allgemeinen (u. a. entdecken, beschreiben, reflektieren, begründen) Bearbeitungsmöglichkeiten in der Aufgabenstellung. (vgl. Kap. 6.2.3) zunehmendallgemein
Ziel des Design-Prinzips: Allen Kindern individuellum zu ... zieldifferente Zugänge und Entwicklungen im Kontext der gemeinsamen Aufgabenstellung ermöglichen, die sich zwischen einer Situativität am konkreten Zahlenmaterial bis hin zu allgemeinen Deutung von arithmetischen Eigenschaften und Beziehungen befinden können. Diese können wiederum dazu beitragen, dass sie sich in die aufgabenbezogene Interaktion einbringen können.
Ziel des Lehr-LernArrangements: (1) Fruchtbare interaktivkooperative Lernsituationen anregen (Interaktionsförderlichkeit), in denen (2) individuellzieldifferentes Lernen am gemeinsamen Lerngegenstand des flexiblen Rechnens stattfindet (Lernförderlichkeit).
weil ...
Argumente • theoretisch, literaturgestützt • empirisch, evidenzbasiert
Abbildung 9.11: Das Design-Prinzip DP5 ‚Situativität und Allgemeinheit‘ als empirisch und theoretisch gestütztes Ziel-Mittel-Wissen
Theoretisch-literaturgestützte Argumente Das Design-Prinzip DP5 greift eine Idee und die Forschungsergebnisse von Mayer (2018) auf, die die ‚Balance zwischen empirischer Situiertheit und relationaler Allgemeinheit‘ als Design-Prinzip im Kontext der Entwicklung eines Gleichheitsverständnisses untersuchte (ebd., u. a. S. 79). In Mayers Überlegungen soll ihr Design-Prinzip anregen, dass die Kinder „über empirische, am Ergebnis verhaftete Deutungen hinausgehen und allgemeine Beziehungen in den Blick nehmen“ (ebd., S. 169). Ihre Ergebnisse zeigen auf, dass eine Balance zwischen empirischer Situiertheit und relationaler Allgemeinheit eine Chance für die Entwicklung eines algebraischen Gleichheitsverständnisses darstellt (ebd., S. 190). Es stellt sich die Frage, ob sich diese positiven Ergebnisse auch auf das flexible Rechnen und die Zusammenarbeit im inklusiven Kontext der vorliegenden Arbeit übertragen lassen. (zu (2)) Empirisch-evidenzbasierte Argumente Die Analysen in Kapitel 8 zeigen auf, dass sich alle an dem Projekt teilnehmenden Kinder vor dem Hintergrund der jeweiligen Lernausgangslage weiterentwickelt haben. Die rekonstruierten ‚Impulse durch die Struktur des mathematischen Gegenstandes‘ (vgl. Kap. 8.3.2), die zu einer Weiterentwicklung im Lern-
328
9 Auswertung und Interpretation gegenstandsspezifischer Lehr-Lernprozesse
prozess führten sowie die unterschiedlichen Lernverläufe (vgl. Kap. 8.1.3) sprechen dafür, dass das DP5 zur Lernförderlichkeit beitragen konnte: Die Lernverläufe liegen entlang der Spannweite zwischen einer Situativität am konkreten Zahlenmaterial bis hin zu einer zunehmenden allgemeinen Deutung von arithmetischen Eigenschaften und Beziehungen und entwickelten sich u. a. durch die Auseinandersetzung mit der Struktur der Sache weiter (für Details vgl. Analysen in Kap. 8.1.3 und Kap. 8.3.2). Aus diesen dargestellten Argumenten lässt sich hinsichtlich der Forschungsfrage EF2 schlussfolgern, dass das ausgeschärfte Design-Prinzip ‚Situativität und Allgemeinheit‘ in dem Kontext der vorliegenden Arbeit zum Gelingen der Anregung interaktiv-kooperativer Lernsituationen beigetragen hat. 9.4.2 ‚Strukturfokussierende adressatengerechte Impulse‘ als potenziell lernförderliche Momente in der Interaktion Das Design-Prinzip DP6 ‚Strukturfokussierende adressatengerechte Impulse‘ (im Folgenden kurz: DP6) meint, dass verbale und/oder nonverbale didaktische Impulse seitens der Lehrkraft situationsangemessen und adressatengerecht sowie auf mathematische Strukturen und Muster fokussierend gegeben werden, indem u. a. zum genauen Hinschauen, Erklären, Hinterfragen, Entdecken und Reflektieren aufgefordert wird. Ziel ist es dabei, seitens der Kinder u. a. mathematische Beschreibungen, Erklärungen, Begründungen und Argumentationen (‚interaktive Schlüsselaktivitäten‘) herauszufordern, die Anzeichen für eine fruchtbare Interaktion und für einen Lernprozess sein können. Das DP5, realisiert durch die in Kapitel 6.2.3 dargelegten Design-Elemente im Lehr-Lern-Arrangement ‚Wir erforschen Nachbarzahlen und ihre Summen‘, kann wie folgt als empirisch und theoretisch gestütztes Ziel-Mittel-Wissen dargestellt werden:
9.4 Zieldifferente Lernprozess- und Entwicklungsorientierung
329
Übergeordnetes Design-Prinzip: ‚Zieldifferente Prozess- und Entwicklungsorientierung‘ Design-Prinzip 6: ‚ Strukturfokussierende adressatengerechte Impulse‘ Didaktische Impulse seitens der Lehrkraft, die situationsangemessen und adressatengerecht sind sowie auf mathematische Strukturen und Muster fokussieren
Design-Elemente: Direkte Impulse durch die Lehrkraft, die u. a. zum genauen Hinschauen, Erklären und Hinterfragen von Eigenschaften und Beziehungen der Zahlen und Aufgaben auffordern. Indirekte Impulse durch Verweis auf die Aufgabenstellung im Kontext der Nachbarzahlen/-summen. (vgl. Kap. 6.2.3)
Ziel des Lehr-LernZiel des Design-Prinzips: Arrangements: ‚Mentale Aktivitäten‘ anregen (u. a. Beginn des Fokussierens, (1) Fruchtbare interaktivum zu ... Nachdenkens und Reflektierens kooperative Lernsituationen anregen sowie das Wecken einer (InteraktionsFragehaltung hinsichtlich der förderlichkeit), in denen Eigenschaften und Beziehungen der Zahlen und (2) individuellAufgaben), auf die ‚interaktive zieldifferentes Lernen am Schlüsselaktivitäten‘ folgen gemeinsamen können, die Anzeichen für eine Lerngegenstand des fruchtbare Interaktion und flexiblen Rechnens einen Lernprozess sein können stattfindet (vgl. Kap. 7.2.2 und 8) (Lernförderlichkeit).
weil ...
Argumente • theoretisch, literaturgestützt • empirisch, evidenzbasiert
Abbildung 9.12: Das Design-Prinzip DP6 ‚strukturfokussierende adressatengerechte Impulse‘ als empirisch und theoretisch gestütztes Ziel-Mittel-Wissen
Theoretisch-literaturgestützte Argumente Ein zentraler Aspekt für die Anregung mathematischer Gespräche sind nach Brandt und Nührenbörger (2009a, 2009b) – neben diskursiven Aufgabenformaten und strukturierten Kooperationsformen – ‚struktur-fokussierende Anregungen‘ (vgl. Kap. 2.2.1). Durch strukturfokussierende, aber offene Fragen wird Kindern die Gelegenheit gegeben, ihre Einsichten und Deutungen zu verbalisieren und argumentativ zu entwickeln. Durch offene Fragen unterstützt dieses Lehrerverhalten eher Verbalisierungen und Interaktionsprozesse und weniger die eigentlichen Lösungsprozesse. Gemessen an den Lernerfolgen der am Interaktionsgeschehen beteiligten Kinder sind einigen Studien zufolge diese offenen, interaktionsprozessunterstützenden Fragen erfolgreicher als das lösungsprozessunterstützende Eingreifen durch die Lehrkraft (vgl. hierzu Kap. 2.2.1). (zu (1) und (2)) Demgegenüber wurde in Bezug auf Kinder mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf ‚Lernen’ herausgestellt, dass es besonders wichtig ist, lösungsprozessunterstützende Impulse zu geben, die zusätzlich den Aufbau metakognitiver Kompetenzen fördern, um zum Nachdenken über mathematische Muster und Strukturen sowie über eigene Denk- und Lösungsprozesse aufzufordern und anzuregen. Denn dies ist Voraussetzung für die Verbalisierung eigener Gedanken und das Einbringen in einen mathematischen Austausch (vgl. Kap. 3.2.1). (zu (1) und (2))
330
9 Auswertung und Interpretation gegenstandsspezifischer Lehr-Lernprozesse
Diesen beiden, teilweise konträren Überlegungen zufolge, müssen Impulse in jedem Fall strukturfokussierend sein, jedoch adressatengerecht eingesetzt werden. Empirisch-evidenzbasierte Argumente Diese theoretische Schlussfolgerung konnte durch die empirischen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit gestützt werden: Den verbalen und nonverbalen ‚strukturfokussierenden adressatengerechten Impulsen‘ seitens der Lehrkraft (vgl. Kap. 6.2.3) kamen bei der Erprobung des Lehr-Lern-Arrangements eine besondere Rolle zu, wenn es darum ging, fruchtbare interaktiv-kooperative Lernsituationen anzuregen. Dieses wird empirisch belegt durch die häufige Rekonstruktion der direkt-didaktischen ‚produktiven Momente‘ die mit einem lernförderlichen Impuls durch die Lehrkraft – entweder durch situatives Eingreifen oder in der Aufgabenstellung verankert – einhergehen. In Kapitel 8.3.2 wurde dieses Ergebnis detailliert erläutert und diskutiert. Die zweite Spalte der Tabelle 8.5 in Kapitel 8.3.2 zeigt auf, dass diesen nonverbalen Impulsen durch die Aufgabenstellung (z. B. Ep. D. 8.1, 8.5 und 8.7) und den verbalen Impulsen durch situatives Eingreifen (z. B. Ep. D. 8.4) eine bedeutende Rolle zukamen. Aus diesen Argumenten lässt sich hinsichtlich der Forschungsfrage EF2 schlussfolgern, dass das ausgeschärfte Design-Prinzip ‚strukturfokussierende adressatengerechte Impulse‘ in dem Kontext der vorliegenden Arbeit zum Gelingen der Anregung interaktiv-kooperativer Lernsituationen beigetragen hat. Bei den in diesem Kapitel dargestellten Ergebnissen handelt es sich um lokale – d. h. auf das entwickelte Lehr-Lern-Arrangement mit den konkreten DesignElementen bezogene – Aussagen über gegenstandsspezifische LehrLernprozesse und deren Interpretation. In Kapitel 10.2 werden, an diese Ergebnisse anschließend, Konsequenzen für potenziell zielführende Gestaltungsmerkmale eines Lehr-Lern-Arrangements in Form von prognostischen Theorieelementen zur Anregung interaktiv-kooperativer Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht formuliert, um die Forschungsfrage EF3 abschließend zu beantworten.
Teil D: Beiträge zur lokalen Theoriebildung Den Abschluss der vorliegenden Arbeit bildet Teil D mit der Darlegung der Beiträge zur lokalen Theoriebildung. Grundlage hierfür sind die vorangegangenen Analysekapitel 8 und 9, in denen die Untersuchungsergebnisse zu den Lernund Interaktionsprozessen (Forschungsebene) sowie zu den Lehr-Lernprozessen und Design-Prinzipien (Entwicklungsebene) dargelegt wurden. In Teil D werden die Ergebnisse beider Ebenen zusammenhängend betrachtet, um abschließend auf das übergeordnete Erkenntnisinteresse (vgl. Kap. 4.1) Bezug zu nehmen. In Kapitel 10 werden dafür die zentralen Ergebnisse zu den in der vorliegenden Arbeit generierten lokalen Theorieelementen zusammengefasst und eingeordnet: Zunächst werden in Kapitel 10.1 lokale Theorien zu ‚Hürden und Verläufen gegenstandsspezifischer individuell-zieldifferenter Lern- und Interaktionsprozesse in interaktiv-kooperativen Lernsituationen‘ thematisiert. Im Anschluss befasst sich Kapitel 10.2 mit lokalen Theorien zu ‚zielführenden Gestaltungsmerkmalen zur Anregung gelingender interaktiv-kooperativer Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht‘. Ziel des Kapitels 10 ist es, die letzte noch offene Forschungsfrage EF3 (‚Welche zielführenden Gestaltungsmerkmale zur gelingenden Anregung fruchtbarer interaktiv-kooperativer Lernsituationen lassen sich aus den Erkenntnissen zu EF1, EF2 und F für den inklusiven Mathematikunterricht ableiten?‘) zu beantworten. Abschließend wird in Kapitel 11 ein Fazit aus den Erkenntnissen dieser Arbeit gezogen und ein Ausblick gegeben. Damit einhergehend werden Grenzen der Untersuchung aufgezeigt (Kap. 11.1) sowie Konsequenzen für die zukünftige mathematikdidaktische Forschung (Kap. 11.2), für den Mathematikunterricht (Kap. 11.3) und für die Lehrerfort- und -weiterbildung (Kap. 11.4) abgeleitet.
10
Zusammenfassung und Einordnung der Ergebnisse „When we give proper weight to local conditions, any generalization is a working hypothesis, not a conclusion.“ (Cronbach, 1975, S. 125; zitiert von Plomp, 2013, S. 22)
Auf Grundlage der empirischen Daten aus den durchgeführten DesignExperimenten und deren wissenschaftlicher Auswertung und Interpretation (Kap. 8 und 9) werden in diesem Kapitel die Beiträge zur Theoriebildung zusammengefasst. Ziel ist dabei die Generierung lokaler Theorien im entwickelnden Sinn, nicht im Sinn einer Hypothesenvalidierung (vgl. Kap. 4.2.2). © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Korten, Gemeinsame Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht, Dortmunder Beiträge zur Entwicklungund Erforschung des Mathematikunterrichts 44, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30648-9_11
332
10 Zusammenfassung und Einordnung der Ergebnisse
Dieses Ziel ist orientiert am Forschungszugang der vorliegenden Studie, dem FUNKEN-Modell (Prediger et al., 2012). Das Modell gibt eine iterative, aufeinander bezogene Gestaltung und Beforschung von Lern- und Lehr-LernProzessen vor und legt den Schwerpunkt auf eine lernprozessfokussierende Fachdidaktische Entwicklungsforschung. Als zentrales Forschungsprodukt werden lokale Theorieelemente zu gegenstandsspezifischen Lern- und LehrLernprozessen angestrebt (vgl. Kap. 4.2.2; Prediger & Link, 2012, S. 30). Empirische Daten, wie die Daten aus den in dieser Studie durchgeführten Design-Experimenten, werden allerdings dann erst zur lokalen Theorie, „wenn es gelingt, die beobachteten Phänomene und Muster von ihrem ganz konkreten Entstehungskontext zu lösen und […] die verallgemeinerbaren Anteile herauszuarbeiten“ (Kelle & Kluge, 1999, hervorgehoben durch Prediger et al., 2012, S. 455). Diese verallgemeinerbaren Anteile wurden bereits in Kapitel 8 und 9 durch die vergleichenden und kontrastierenden Fallanalysen verdeutlicht. Die Theorien bleiben dabei trotzdem lokal, und zwar „im doppelten Sinn, einerseits, weil sie den Entstehungskontext der Fallstudien nie völlig transzendieren [können], andererseits, weil sie ganz bewusst gegenstandsspezifisch bleib[en] und nur begrenzt beanspruch[en], auf andere Lerngegenstände übertragbar zu sein. Diese Kontextbezogenheit der Ergebnisse macht in besonderer Weise deutlich, wieso eine empirische Beforschung von Lernprozessen im Detail nicht im Unterrichtsalltag stattfinden sollte, sondern zunächst die Entwicklung von innovativer Praxis erfordert.“ (Prediger et al., 2012, S. 456)
Die Generierung der lokalen Theorien verläuft dabei – wie bereits erwähnt – in einem entwickelnden Sinn und unterscheidet sich damit von anderen Forschungszugängen, wie beispielsweise quantitativen Forschungsdesigns, deren Ziel die Prüfung von Hypothesen ist. Die Verallgemeinerbarkeit ist in diesem Zusammenhang ein viel diskutiertes Thema (Plomp, 2013, S. 21 ff.). Es besteht jedoch Einigkeit darüber, dass lokale Theorien und auch Design-Prinzipien als Ergebnis von Entwicklungsforschung bzw. Design-Research „powerful“ (ebd., S. 21) sein können, wenn sie in unterschiedlichen Kontexten erfolgreich erprobt und validiert wurden. In diesem Zusammenhang paraphrasiert Plomp (2013) Yin (2003, S. 37) wie folgt: „Design principles [and local instruction theories] must be tested through replications of the findings in a second, third or more cases in various contexts with the purpose that the same results should occur. Once such replications have been made, the results might be accepted for a much larger number of similar contexts, even though further replications have not been performed. This replication logic is the same that underlies the use of experiments and allows experimental scientists to generalize from one experiment ‘to another’: Yin (2003) calls this analytical generalizability.“ (Plomp, 2013, S. 21 f.).
Plomp sowie Yin heben hier noch einmal den Prozess des Verallgemeinerbarkeit durch Replikation der Erkenntnisse in verschiedenen Kontexten hervor, wie er auch in der vorliegenden Untersuchung stattgefunden hat: Die lokalen Theorien zu gegenstandsspezifischen Lern-, Interaktions- und Lehr-Lernprozessen wurden in unterschiedlichen Kontexten bestätigt, indem Fälle vergleichend und
333
10 Zusammenfassung und Einordnung der Ergebnisse
kontrastierend analysiert wurden, die sich in der Zusammensetzung der Kinderpaare hinsichtlich diverser Aspekte unterschieden (u. a. Herkunftsschule, Lernvoraussetzung, Geschlecht; zur Methode vgl. Kap. 4 und 7). Dennoch bleibt jeder Kontext ‚einzigartig‘ und die Theorien daher lokal. Auf genau diesen Aspekt weist das Eingangszitat von Cronbach hin: Wird eine Theorie in verschiedenen Kontexten bestätigt und so verallgemeinert, bleibt sie dennoch stets „a working hypothesis, not a conclusion“ (Cronbach, 1975, S. 125; zitiert von Plomp, 2013, S. 22). Basierend auf diesem Verständnis von Theorien sowie deren Generierung und Verallgemeinerbarkeit werden die hervorgebrachten lokalen Theorien der vorliegenden Arbeit in diesem Kapitel zusammengefasst. Die Darstellung orientiert sich dabei an den Ergebnissen hinsichtlich des übergeordneten Forschungsinteresses F mit den ausdifferenzierten Forschungsfragen FF1, FF2 und FF3 und hinsichtlich des Entwicklungsinteresses E mit den ausdifferenzierten Forschungsfragen EF1, EF2 und EF3. Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über das Kapitel 10 mit den jeweiligen Bezügen zu den Forschungsfragen. Tabelle 10.1:
Überblick des Kapitels 10 mit den jeweiligen Bezügen zu den Forschungsfragen
Kapitel
Forschungsfrage(n)
Beiträge zur lokalen Theoriebildung hinsichtlich des übergeordneten Forschungsinteresses (F)84 der vorliegenden Arbeit: Kap. 10.1 Hürden und Verläufe gegenstandsspezifischer individuell-zieldifferenter Lernund Interaktionsprozesse in interaktivkooperativen Lernsituationen
Konsequenzen aus FF185, FF286 und FF387
84 (F) Wie verlaufen interaktiv-kooperative Lernsituationen zwischen Kindern mit und ohne Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung im Bereich ‚Lernen‘ bezüglich der individuellen Lernprozesse zum flexiblen Rechnen und der interaktiven Strukturen? Welche zielführenden Aspekte lassen sich aus dem Zusammenhang der interaktiven Strukturen und der individuellen Lernprozesse für gelingende interaktivkooperative Lernsituationen ableiten, in denen sich alle Beteiligten bezüglich des flexiblen Rechnens individuell-zieldifferent weiterentwickeln? 85 (FF1) Wie entwickeln sich individuelle Zugänge und Lösungsprozesse hinsichtlich flexibler Rechenkompetenzen in den angeregten interaktiv-kooperativen Lernsituationen weiter? 86 (FF2) Welche interaktiven Strukturen lassen sich während der interaktivkooperativen Lernsituationen rekonstruieren? 87 (FF3) Inwiefern gibt es einen Zusammenhang zwischen den interaktiven Strukturen und der Weiterentwicklung individueller Zugänge und Lösungsprozesse?
334
10 Zusammenfassung und Einordnung der Ergebnisse
Beiträge zur lokalen Theoriebildung hinsichtlich des übergeordneten Entwicklungsinteresses (E)88 der vorliegenden Arbeit: Kap. 10.2 Zielführende Gestaltungsmerkmale zur Anregung gelingender interaktiv-kooperativer Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht
(EF3) Welche zielführenden Gestaltungsmerkmale zur gelingenden Anregung fruchtbarer interaktiv-kooperativer Lernsituationen lassen sich aus den Erkenntnissen zu EF189, EF290 und F für den inklusiven Mathematikunterricht ableiten?
Grundlegendes über lokale Theorieelemente – Funktionen und Strukturen Allgemein können Theorien unterschiedliche Funktionen haben. Sie können etwas unterscheiden/wahrnehmen/kategorisieren, etwas beschreiben, etwas verstehen/erklären, etwas prognostizieren/einen Handlungsrahmen bieten und normieren (Prediger, 2015, S. 651 f.; 2019, S. 7 ff.). Aus diesen Funktionen ergeben sich fünf unterschiedliche Theorieelemente mit jeweils spezifischer Funktion und Struktur, die für die Forschung allgemein bedeutsam sind: Kategorisierende Theorieelemente: Differenziertes Wahrnehmen und Unterscheiden von Phänomenen durch Konstrukte, die eine Sprache sowie entsprechende Werkzeuge bereitstellen (konzeptuelle Struktur; im Wesentlichen Kategorien, Konstrukte, Zusammenhänge) Deskriptive Theorieelemente: Differenziertes Wahrnehmen und Beschreiben von Phänomenen, zumeist auf der Grundlage kategorisierender Theorieelemente (begriffliche Struktur) Erklärende bzw. verstehende Theorieelemente (folgend nur noch erklärende Theorieelemente): Rückschauendes Begreifen/Erklären/Verstehen (UrsacheWirkungsstruktur bzw. Phänomen-Hintergrundstruktur) 88 (E) Wie kann ein theoretisch und empirisch fundiertes Lehr-Lern-Arrangement gestaltet sein, um fruchtbare interaktiv-kooperative Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht anzuregen, in denen sich alle Beteiligten bezüglich des flexiblen Rechnens individuell-zieldifferent weiterentwickeln? Welche zielführenden Gestaltungsmerkmale zur gelingenden Anregung interaktiv-kooperativer Lernsituationen lassen sich daraus für den inklusiven Mathematikunterricht ableiten? 89 (EF1) Welche Design-Prinzipien lassen sich für das Lehr-Lern-Arrangement auf Grundlage der Theorie formulieren? 90 (EF2) Wie lassen sich die theoretisch fundierten Design-Prinzipien für das LehrLern-Arrangement durch empirische Erkenntnisse ausschärfen?
10 Zusammenfassung und Einordnung der Ergebnisse
Prognostische Theorieelemente: Zielerreichendes Handeln Struktur), Vorhersagen von Folgen (Wenn-dann-Struktur)
335 (Um-zu-
Normative Theorieelemente: Festlegen und Begründen von Zielen (Prediger, 2015, S. 652 f., 2019, S. 7 ff.) Die Erläuterungen zu den Funktionen und Strukturen verdeutlichen, dass die kategorisierenden Theorieelemente grundlegend für alle weiteren Theorieelemente sind. Sie stellen Sprache und Werkzeuge bereit, um Phänomene differenziert wahrzunehmen und zu beschreiben, Ziele festzulegen und zu begründen, Erklärungen zu geben sowie Aussagen zum zielerreichenden Handeln zu tätigen (Prediger, 2019, S. 8). In der vorliegenden Untersuchung wurden primär kategorisierende, deskriptive und erklärende Theorieelemente auf Forschungsebene (Kap. 10.1) sowie prognostische Theorieelemente auf Entwicklungsebene (Kap. 10.2) generiert. Ebenso spielten normative Theorieelemente eine zentrale Rolle, wenn beispielsweise festgelegt wurde, welche Ziele erreicht werden sollen und in welchen Begründungszusammenhängen diese stehen (z. B. das Ziel ‚Gemeinsames Mathematiklernen‘ oder Ziele im Kontext des Lehr-Lern-Arrangements). Folgend werden diese hervorgebrachten lokalen Theorien zusammenfassend dargestellt. Dabei werden die normativen Theorieelemente nicht in Gänze, sondern nur an ausgewählten Stellen näher betrachtet, da sie nicht immer empirisch abgesichert sind (Prediger, 2015, S. 652 f.; für eine Erläuterung dieses Aspektes sowie für Informationen zu unterschiedlichen Möglichkeiten der empirischen Absicherung vgl. Prediger, 2015, S. 654 ff.).
10.1 Hürden und Verläufe gegenstandsspezifischer individuellzieldifferenter Lern- und Interaktionsprozesse in interaktiv-kooperativen Lernsituationen Die kategorisierenden, deskriptiven und erklärenden Theorieelemente bezüglich des Forschungsinteresses (F) der vorliegenden Arbeit beziehen sich auf die gegenstandsspezifischen individuell-zieldifferenten Lern- und Interaktionsprozesse (im Folgenden kurz: Lern- und Interaktionsprozesse) in angeregten interaktiv-kooperativen Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht und betrachten insbesondere Hürden und Verläufe des erfolgreichen mit- und voneinander Lernens am gemeinsamen Lerngegenstand des flexiblen Rechnens. Die Betrachtung dieser Hürden und Verläufe wird vor dem Hintergrund vorgenommen, dass ein Ziel dieser Arbeit – und folglich auch des Lehr-LernArrangements – darin besteht, fruchtbare interaktiv-kooperative Lernsituationen anzuregen (Interaktionsförderlichkeit), in denen individuell-zieldifferentes Lernen am gemeinsamen Lerngegenstand des flexiblen Rechnens stattfindet (Lernförderlichkeit).
336
10 Zusammenfassung und Einordnung der Ergebnisse
Bei der Betrachtung dieser Prozesse im Hinblick auf die lokale Theoriegenerierung und vor dem Hintergrund der Forschungsfragen der vorliegenden Untersuchung wurden folgende Fragen beleuchtet: Fragen zur Generierung der kategorisierenden und deskriptiven Theorieelemente zur Beantwortung der Forschungsfrage FF1: In welchen Kategorien lassen sich Lern-/Interaktionsprozesse beschreiben? Welchen typischen Verlauf nehmen die Lern-/Interaktionsprozesse? Welche Hürden tauchen typischerweise auf? Fragen zur Generierung der erklärenden Theorieelemente zur Beantwortung der Forschungsfragen FF2 und FF3: Wie hängen die typischen Verläufe der Lernprozesse mit denen der Interaktionsprozesse zusammen? Wie lassen sich diese Zusammenhänge erklären? Welche Ziele (normative Theorieelemente) lassen sich davon für die Anregung gelingender interaktiv-kooperativer Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht ableiten? Im Folgenden werden diese Fragen beleuchtet, jedoch nicht noch einmal explizit benannt. Ebenso werden nicht alle Theorieelemente in Gänze erläutert, da sie teilweise in den vorherigen Kapiteln 8 und 9 bereits Betrachtung gefunden haben. Vielmehr werden hier Aspekte noch einmal aufgegriffen, die offen blieben, zu diskutieren sind oder zur Einordnung der Ergebnisse in die mathematikdidaktische Forschungslandschaft beitragen. Kategorisierende und deskriptive Theorieelemente zu den Verläufen der Lernund Interaktionsprozesse Die in der vorliegenden Arbeit herausgestellten vier typischen Interaktionsmuster, die während der interaktiv-kooperativen Lernsituationen auftraten, sind einerseits kategorisierendes Theorieelement (zur Darlegung der Kategorien mit den jeweiligen Indikatoren vgl. Kap. 7.2.2 ‚Darlegung der Werkzeuge zur Feinanalyse‘). Sie tragen zur differenzierten Wahrnehmung und Unterscheidung von interaktiven Strukturen während interaktiv-kooperativer Phasen bei. Auf der Grundlage der Sprache und Indikatoren dieser Kategorien können Interaktionsmuster differenziert wahrgenommen und beschrieben werden; sie sind folglich ebenso deskriptives Theorieelement. In Kapitel 8.2.3 wurden diese abgebildet und erläutert. Dabei wurde zwischen folgenden vier typischen Interaktionsmuster unterschieden: ‚parallele Aktivitäten ohne gem. Ziel‘, ‚parallele Aktivitäten mit gem. Ziel‘ bzw. ‚arbeitsteilige Kooperation‘, ‚dominante Kooperation‘ und ‚ausgewogene Kooperation‘. Sie werden in den folgenden Darstellungen wieder aufgegriffen und sollen zur Struktur des vorliegenden Kapitels beitragen.
337
10.1 Hürden und Verläufe individuell-zieldifferenter Lern- und Interaktionsprozesse
Ebenso ist das in Kapitel 3.3 entwickelte Modell zum flexiblen Rechnen ein kategorisierendes Theorieelement, das als Sprache und Werkzeug dient, um die in Kapitel 8.1.3 dargestellten typischen Lernverläufe differenziert wahrzunehmen und zu beschreiben. Diese typischen Lernverläufe, die selber deskriptives Theorieelemente sind, werden hier nicht abermals detailliert aufgegriffen, da sie in Kapitel 8 bereits ausführlich interpretiert und mit anderen Erkenntnissen aus der Forschungslandschaft in Beziehung gesetzt wurden (vgl. hierzu die jeweiligen Abschnitte ‚Interpretation und Einordnung der Erkenntnisse zu den Forschungsfragen FF1, FF2 und FF3‘ in Kap. 8.1, 8.2 und 8.3). Deskriptive Theorieelemente zu Hürden hinsichtlich fruchtbarer Interaktionsprozesse Während des aufgetretenen Interaktionsmusters ‚parallele Aktivitäten ohne gemeinsames Ziel‘ (Kap. 8.2.3) kommt es zu keiner oder nur einer minimalen Interaktion. Infolgedessen ist die Themen- und Zielfokussierung in der Interaktion different, eine aufgabenbezogene Interaktionsstruktur nicht vorhanden, und es kommt zu keinen interaktiven Lernprozessen (Tab. 10.2). Tabelle 10.2:
Interaktionstyp ‚parallele Aktivitäten ohne gemeinsames Ziel‘ (Ausschnitt der Tab. 8.4 in Kap. 8.2.3)91
Intensität der Interaktion (verbal, nonverbal)
Parallele Aktivitäten ohne gem. Ziel
gar nicht – gering
Themen- und Zielfokussierung (aufgabenbezogen: fachlich, materiell, methodisch) different
Aufgabenbezogene Interaktionsstruktur
Lernprozesse (fachlich)
(fachlich) nicht vorhanden nicht vorhanden
Bei der genaueren Betrachtung der Phasen, in denen ‚parallele Aktivitäten ohne gemeinsames Ziel‘ in der Interaktion zu beobachten sind, können zwei typische Hürden herausgestellt werden, die dazu führen, dass es nicht zu mathematischen Interaktionsprozessen zwischen zwei Kindern kommt. Diese lassen sich wie folgt beschreiben: 1. ‚nicht können‘ – Ein Kind ist mathematisch-inhaltlich nicht in der Lage, den Zugängen und Lösungsansätzen des anderen Kindes zu folgen.
91 Legende zu den Tabellen 10.2 und 10.3: A/B: Kinder, die in Interaktion treten A: Kind mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf ‚Lernen’ B: Kind mit durchschnittlichen Mathematikleistungen
338
10 Zusammenfassung und Einordnung der Ergebnisse
2. ‚nicht machen, aber könnten‘ – Ein Kind zeigt keine Motivation, in Interaktion zu treten, obwohl es mathematisch-inhaltlich in der Lage ist, den Zugängen und Lösungsansätzen des anderen Kindes zu folgen. Ausführungen zur Hürde 1 – ‚nicht können‘ am Beispiel von Emilia: Ein Beispiel für diese Hürde zeigt das Transkript 9.1 (Kap. 9.2) auf, das die Kinder Emilia und Jana zeigt, die gemeinsam an einer Aufgabe zu Verwandten, Freunden und Nachbarn mit selbstgewählten Aufgaben arbeiten. Das Transkript 9.1 lässt zwar vermuten, dass beide Mädchen zunächst motiviert sind, zusammenzuarbeiten, da sie durch gegenseitiges Auffordern (vgl. T. 9.1, Z.1: „Erst du erklären“), Zuschauen und Nicken (vgl. T. 9.1, Z. 2, 3 und T. 9, Z. 15, 16) Aufmerksamkeit signalisieren. Auszug aus Transkript 9.1:
Emilia (EM) 1 2
(zeigt auf die Aufgabe 20 – 20) 20 minus 20 (spricht mit leiser Stimme weiter) – Also hilft mir bei (…) – bei der (tippt die Aufgabe 20 – 1) 20 minus 1 (…)
Jana (J) Erst du erklären. (schaut auf EMs Aufgaben, während EM spricht)
(schaut EM an und nickt ihr zu)
3
Dies ist jedoch bei beiden Mädchen von kurzer Dauer: Jana wirkt bereits nach kurzer Zeit desinteressiert als Emilia versucht, etwas zu erklären (T. 9.1, Z. 11 und 12). Sie reagiert weder auf die Erläuterungen, noch geht sie auf Emilias Fehler (T. 9.1, Z. 2, Bild von Emilias Arbeitsblatt) ein, sodass es zu keiner anregenden Interaktion kommt. Auszug aus Transkript 9.1:
Emilia (EM) 11 12
Wegen (zeigt auf die Aufgabe 20 – 20) – Da, weil hier die 20 draufsteht, und da kann man ja rechnen 20 minus 3 (…) (tippt mehrmals auf die Aufgabe 20 – 3) – und 20 minus 1 die ganze Zeit (…) –
Jana (J) (schaut im Raum umher) (schaut weiter im Raum umher, während EM spricht)
10.1 Hürden und Verläufe individuell-zieldifferenter Lern- und Interaktionsprozesse
339
weil es irgendwie so leicht – also für mich ist.
Ebenso beginnt Emilia, im Raum umherzuschauen (T. 9.1, Z. 17, 18), als Jana die operativen Beziehungen zwischen ihren Aufgaben erläutert (T. 9.1, Z. 18), da sie Janas Erklärungen inhaltlich nicht folgen kann. (Diese Einschätzung beruht auf den Aussagen der Lehrerin und der Sonderpädagogin und hat sich im Laufe des Interviews bestätigt.) Auszug aus Transkript 9.1:
17 18
Emilia (EM) (schaut weg) (schaut weiter im Raum umher während J spricht)
Jana (J) (…) und 30 plus 30 gleich 60, und 60 plus 10 gleich 70 […] Ähm, wenn ich nicht gleich – ähm 3 plus (…) 30 plus – 30 plus 40 ausrechnen kann, dann rechne ich erst bei 30 plus 30 gleich 60, und dann 60 plus 10 gleich 70 (zeigt auf die entsprechenden Aufgaben).
Den Erläuterungen ist zu entnehmen, dass beide Mädchen einen individuellen Zugang zu der Aufgabe finden. Diese gehen jedoch weit auseinander, was in den Zeilen 2 und 18 des Transkriptausschnitts zu erkennen ist. Obwohl beide Mädchen einen Zugang zur Aufgabe finden, kommt es zu keinen fruchtbaren mathematischen Interaktionsprozessen über die arithmetischen Beziehungen in ihren Arbeitsprodukten. Die Hürde 1 liegt hier, den Erläuterungen folgend, vermutlich in den sehr heterogenen Zugängen und Lösungsprozessen, die keinen Austausch möglich machen. Für Emilia ist es kognitiv nicht möglich, Janas Gedanken nachzuvollziehen, was vermuten lässt und durch andere Fallanalysen bestätigt werden konnte, dass hierin ihr abwesendes Verhalten zu begründen ist. Sie ist folglich nicht in der Lage, in eine aufgabenbezogene mathematische Interaktion zu treten, da die individuellen Zugänge und Lösungsansätze des Kinderpaares zu weit auseinandergehen. Daher kommt es zu keinem fruchtbaren mathematischen Austausch, der individuell-zieldifferentes Lernen am gemeinsamen Lerngegenstand des flexiblen Rechnens anregen könnte. Hinsichtlich der Hürde 1 kann folglich nicht nur von einem deskriptiven, sondern ebenso von einem erklärenden Theorieelement gesprochen werden, das sich in anderen Fällen auf Seiten
340
10 Zusammenfassung und Einordnung der Ergebnisse
der Kinder mit Unterstützungsbedarf ‚Lernen‘ replizieren ließ und somit bestätigt werden konnte. Für die erfolgreiche Anregung interaktiv-kooperativer Lernsituationen stellt sich hieraus die folgende Frage, die sich primär auf die Lernprozessebene sowie die Ebene des Gegenstandes bezieht: Wie kann allen beteiligten Kindern ein individueller Zugang sowie individuelle Lösungsprozesse ermöglicht werden, die gleichzeitig inhaltliche Anknüpfungspunkte für einen gemeinsamen mathematischen und aufgabenbezogenen Austausch bieten? Ausführungen zur Hürde 2 – ‚nicht machen, aber könnten‘ am Beispiel von Jana und Sven: Im Fall der Hürde 2 ist ein Kinder vor dem Hintergrund der individuellen Zugänge und Lösungsansätze zwar generell in der Lage, in eine aufgabenbezogene mathematische Interaktion zu treten und den Gedanken des anderen Kindes zu folgen, jedoch ist keine Motivation und kein Interesse zu beobachten, dieses zu tun. Daher kommt es auch hier zu keinem fruchtbaren mathematischen Austausch, der individuell-zieldifferentes Lernen am gemeinsamen Lerngegenstand anregen könnte. Dieses trifft beispielsweise auf Jana zu, das Mädchen ohne sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf im Bereich ‚Lernen‘ aus dem vorangegangenen Beispiel. Sie ist kognitiv durchaus in der Lage, Emilia zu folgen. Wie das Transkript zeigt, sind ihre Zugänge viel weiter fortgeschritten (T. 9.1, Z. 18) als die von Emilia. Dennoch scheint sie desinteressiert anstatt zu interagieren als ihre Partnerin ihre Arbeitsprodukte vorstellt, obwohl Jana am Anfang des Transkriptes sogar Motivation zur Zusammenarbeit signalisiert (s o.). Ein weiteres Beispiel für Hürde 2 zeigt das Transkript 1.1 aus dem Eingangsbeispiel (Kap. 1) auf, das die Kinder Ruben und Sven zeigt, die gemeinsam an einer Aufgabe arbeiten. Auch in dieser Szene zeigt sich, dass es zwischen den Jungen zu keiner fruchtbaren Interaktion kommt. Auszug aus Transkript 1.1:
Ruben (R) 0
1
Weil hier (zeigt auf die Aufgabe 1 + 2 = 3) eins plus zwei ja drei ergibt und hier (zeigt auf die Aufgabe 11 + 12 = 23) ist eigentlich genau das Gleiche, nur ein Zehner (guckt S an) ist vor der – vor dem Einer, da muss man eigentlich nur …
Sven (SV)
10.1 Hürden und Verläufe individuell-zieldifferenter Lern- und Interaktionsprozesse
(schaute bis zu diesem Moment auf die Aufgaben, schaut nun nach unten)
2 3 4
341
… da muss man eigentlich nur ze– … (spielt mit einem Stift und lässt ihn geräuschvoll auf den Tisch fallen)
In diesem Fall ist Sven, der Junge mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf im Bereich ‚Lernen‘, derjenige, der Desinteresse und fehlende Motivation zeigt und den Erläuterungen seines Partners nicht folgt (vgl. T 1.1, Z. 2, 4). Nach den Aussagen der Lehrkraft wäre er jedoch durchaus in der Lage, dem mathematischen Inhalt von Rubens Aussagen zu folgen. In einem weiteren Interview zu einem anderen Zeitpunkt bestätigt sich dies. Ebenso ist er in diesem Folgeinterview aber auch in der Lage, sich zu motivieren und tritt in einen inhaltlichen Austausch. Sowohl Jana als auch Sven zeigen in den beiden Beispielen keine Motivation, in Interaktion zu treten, obwohl sie mathematisch-inhaltlich wie sprachlich dazu in der Lage wären. Die beiden Beispiele sowie weitere Fallanalysen zeigen, dass Hürde 2 sowohl bei Kindern mit als auch ohne sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf zu beobachten war. (Hingegen trat Hürde 1 nur auf Seiten der Kinder mit Unterstützungsbedarf auf.) Über die dahinter liegenden Gründe kann auf der Basis der vorliegenden Daten nur spekuliert werden. Es ist anzunehmen, dass sie unterschiedlich sind. In ihnen könnte, wie von außen zu beobachten, fehlende Motivation und Desinteresse aber beispielsweise auch ein ‚Nichtkönnen‘ verankert sein, das nicht – wie bei Hürde 1 – mit fehlenden inhaltlichen, sondern fehlenden prozessbezogenen Kompetenzen begründet werden könnte. Hinsichtlich der Hürden 2 kann daher lediglich von einem deskriptiven Theorieelement gesprochen werde. Die Erklärungen des Verhaltens der Kinder werden im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht expliziter untersucht. Fest steht jedoch, dass Hürde 2, den Erläuterungen folgend, vor allem in der Anregung der Interaktionsprozesse liegt und darin, dass die Kinder in keinen mathematischen Austausch treten. Zieht man in Betracht, dass sie mathematisch-inhaltlich und sprachlich in der Lage wären zu interagieren, ist zu vermuten, dass fehlende Motivation und Desinteresse zumindest einen möglichen Erklärungsansatz darstellen. Für die Anregung interaktiv-kooperativer Lernsituationen ergibt sich hieraus die Frage: Wie kann erreicht werden, dass alle beteiligten Kinder einen Sinn und einen Nutzen darin sehen, aufgabenbezogen zu interagieren und folglich dann auch motiviert sind, dies zu tun? Die beiden beschriebenen Hürden und die daraus abgeleiteten Fragen waren u. a. leitend für die Generierung der Design-Prinzipien (Kap. 9) und der daraus abgeleiteten zielführenden Gestaltungsmerkmale (Kap. 10.2), um den Hürden zu begegnen und eine erfolgreiche Interaktionsanregung zu ermöglichen.
342
10 Zusammenfassung und Einordnung der Ergebnisse
Erklärende Theorieelemente zum Zusammenhang der Verläufe der Lern- und Interaktionsprozesse Betrachtet man die Lern- und Interaktionsprozesse zusammenhängend, so wird deutlich, dass sich nur während einer ‚dominanten Kooperation‘ mit Prädominanz des leistungsmäßig stärkeren Kindes sowie während einer ‚ausgewogenen Kooperation‘ die Lernprozesse der beiden am Interaktionsgeschehen beteiligten Kinder weiterentwickeln, also fruchtbar sein können (Tab. 10.3; für weitere Ausführungen vgl. Kap. 8.2). Tabelle 10.3:
Die fruchtbaren Interaktionstypen ‚dominante Kooperation‘ und ‚ausgewogene Kooperation‘ (Ausschnitt der Tab. 8.4 in Kap. 8.2.3)
Intensität der Interaktion (verbal, nonverbal) stark
Dominante Kooperation
Themen- und Zielfokussierung (aufgabenbezogen: fachlich, materiell, methodisch) übereinstimmend
Aufgabenbezogene Interaktionsstruktur (fachlich) asymmetrisch
B helfend stark
übereinstimmend
asymmetrisch
B prädominant
Ausgewogene Kooperation
stark
übereinstimmend
symmetrisch
Lernprozesse (fachlich) A eher gering B eher gering A eher gering B eher hoch A eher hoch B eher gering
Bei Betrachtung der Tabelle 10.3 scheint es auf den ersten Blick überraschend, dass die ‚dominante Kooperation‘, wenn sie helfend geprägt ist, nicht zu Lernprozessen führen soll. Hinsichtlich der helfenden Rolle des stärkeren Kindes ist in den vorliegenden Daten ein eher punktuelles Helfen, im Sinne des ‚Vorsagens‘ von Ergebnissen und daher kein fundamentales Lernen zu beobachten. Dafür lassen sich zwei mögliche Erklärungen postulieren. Erstens könnten die helfenden Kinder nicht in der Lage sein, die ‚didaktische/pädagogische Rolle‘ zu übernehmen, die z. B. eine Lehrkraft einnimmt (vgl. dazu auch Kap. 8.2). Eine zweite mögliche Erklärung wäre, dass helfende Phasen der Interaktion zwar generell fruchtbar für mathematische Lernprozesse verlaufen können, diese dann aber vermutlich anders angeregt/angeleitet werden müssten, beispielsweise durch explizite Expertenkinder oder die Methode des PeerTutorings. Das im Rahmen dieser Arbeit entwickelte und untersuchte LehrLern-Arrangement zielt hingegen nicht darauf ab, Helfersysteme fruchtbarer und lernförderlich zu gestalten. Die Tabellenausschnitte 10.2 und 10.3 (gesamte Tab. 8.4 findet sich in Kap. 8.2.3) stellen zwar bereits einen Zusammenhang zwischen den Verläufen der Interaktions- und Lernprozesse her, aber erklären diesen noch nicht. Die
10.1 Hürden und Verläufe individuell-zieldifferenter Lern- und Interaktionsprozesse
343
erklärenden Theorieelemente der vorliegenden Arbeit werden primär durch die ‚produktiven Momente‘ abgebildet (Abb. 10.1; vgl. für Informationen zur Generierung sowie für eine erste Diskussion der Ergebnisse Kap. 8.3). ‚Interaktive Schlüsselaktivitäten‘
Impuls in der Interaktion (verbal oder nonverbal), der ein lernförderliches Interaktionsgeschehen auslösen kann:
sind bedeutend für ein lernförderliches Interaktionsgeschehen (vgl. Dekker & Elshout-Mohr, 1998, „key activities“) und können auf interaktive Lernprozesse hinweisen:
Impuls durch die Lehrkraft (direkt‐didaktisch) • Auffordern zum genauen Hinschauen zum Erklären zum Hinterfragen
Impuls durch die Struktur des mathematischen Gegenstandes (indirekt‐didaktisch) • Anregen zum Wahrnehmen von Eigenschaften und Beziehungen zum Nutzen von Eigenschaften und Beziehungen
‚Mentale Aktivitäten‘
Impuls durch die Aufgabenstellung (direkt‐didaktisch) • Auffordern zum Entdecken zum Sortieren zum Reflektieren
•
•
Äußern/ Feststellen fehlerhaft Äußern Vorschlagen Korrigieren
Erklären/ Begründen
neuer Eigenschaften und Beziehungen (R) neuer strategischer Vorgehensweisen beim Rechnen (L) neuer strategischer Vorgehensweisen beim Suchen (V) neuer Eigenschaften und Beziehungen (R) neuer strategischer Vorgehensweisen beim Rechnen (L) neuer strategischer Vorgehensweisen beim Suchen (V)
•
Argumentieren (Vermuten, Überprüfen, Folgern, Begründen)/ Rechtfertigen mit Hilfe von Eigenschaften und Beziehungen (R) strategischen Vorgehensweisen beim Rechnen (L) strategischen Vorgehensweisen beim Suchen (V)
•
Rekonstruieren/ Modifizieren/ Weiterentwickeln von Eigenschaften und Beziehungen (R) strategischen Vorgehensweisen beim Rechnen (L) strategischen Vorgehensweisen beim Suchen (V)
Impuls durch die Interaktionshandlung eines anderen Kindes (interaktiv) • Kritisieren • Beschreiben • Fragen • Erklären • • • •
Zeigen/ Beschreiben
I‐‐‐‐‐‐‐‐ IMPULSGEBER ‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐I I‐‐‐‐‐‐‐‐‐ IMPULSEMPFÄNGER – Lernender ‐‐‐I Abbildung 10.1: ‚Produktive Momente‘
Abbildung 10.1 visualisiert die ‚produktiven Momente‘ erneut und ergänzt die Abbildung 8.10 aus Kapitel 8.3 dahingehend, dass hier die drei unterschiedlichen Arten von Impulsen – direkt-didaktische, indirekt-didaktische und interaktive (vgl. Kap. 8.3.2) – konkretisiert werden. (Die Konkretisierung beruht auf den Ergebnissen aus Kap. 8.3.1, Tab. 8.5.) Die Interpretationen der Ergebnisse am Ende von Kapitel 8 zu den ‚produktiven Momenten‘ und den Konsequenzen für die Lehrerrolle sollen an dieser Stelle durch Interpretationen hinsichtlich des konkreten Auftretens der verschiedenen Impulse (Abb. 10.1 links) ergänzt werden. Hierfür wird rückbeziehend auf Kapitel 8.3.1 und Tabelle 8.5 verwiesen, um die Aussagen zu belegen: Die indirekt-didaktischen Impulse sind besonders für die Kinder ohne sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf lernförderlich, wie die zweite Spalte der Tabelle 8.5 mit der Überschrift ‚IMPULS‘ (Kap. 8.3.1) exemplarisch am Fallbeispiel belegt. Es können bei ihnen also häufig indirekt-didaktische ‚produktive Momente‘ rekonstruiert werden, die durch die eigene Auseinandersetzung mit dem mathematischen Gegenstand hervorgerufen werden (vgl. z. B.
344
10 Zusammenfassung und Einordnung der Ergebnisse
Ep. D. 8.6, 8.11, 8.12). Das ist vor dem Hintergrund, dass das Interaktionsmuster ‚dominante Kooperation‘ für diese Kinder besonders lernförderlich ist, nicht überraschend (vgl. Ergebnisse zu FF2 aus Kap. .2). In diesen Phasen setzten sie sich intensiv und meist alleine mit dem mathematischen Lerngegenstand auseinander, nehmen neue arithmetische Eigenschaften und Beziehungen wahr und/oder nutzen diese (vgl. indirekt-didaktische Impuls in Abb. 10.1). Das bedeutete jedoch nicht, dass die Interaktion mit dem Partnerkind für sie daher nicht produktiv ist. Vielmehr belegt beispielsweise Ep. D. 8.10 (Tab. 8.5), dass es in der Interaktion Anregungen gibt, die dieser tieferen Auseinandersetzung voraus gehen. In dieser beispielhaften Phase der Interaktion fordert die ‚fehlerhafte Äußerung‘ des anderen Kindes (vgl. interaktiver Impuls in Abb. 10.1) zum Argumentieren auf. Dass Fehler produktive Aspekte in der Zusammenarbeit zwischen Kindern sind, belegen ebenso diverse andere Studien, wie beispielsweise die von Götze (2014), Häsel-Weide (2016a, 2017) oder Röhr (1995). Alle Forscherinnen fanden unabhängig voneinander heraus, dass ‚Fehler‘, die in der Interaktion von den Kindern geäußert werden, positive Effekte haben können, indem sie beispielsweise Strukturen mathematischer Muster hervorheben und so zu produktiven Lernprozessen führen oder indem sie sich durch die ‚Thematisierung von Fehlern‘ produktiv auf den weiteren Verlauf des Interaktionsprozesses auswirken und diesen verdichten (Götze, 2014, S. 105 ff.; Häsel-Weide, 2017). Götze (2014) nennt das ‚Thematisierung von Fehlern‘ daher auch ‚lernprozessauslösendes Gesprächsmerkmal‘ oder ‚auslösenden Moment‘ (ebd., S. 105 ff.). (Für weitere Informationen zu den Studien vgl. Kapitel 2.1.3 der vorliegenden Arbeit.) Für die Kinder mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf im Bereich ‚Lernen‘ sind hingegen die interaktiven Impulse – also die interaktiven ‚produktiven Momente‘ – von besonderer Bedeutung, wie ebenso die zweite Spalte der Tabelle 8.5 mit der Überschrift ‚IMPULS‘ (Kap. 8.3.1) belegt. Die Beschreibungen, Erklärungen und Begründungen der Partnerkinder regen die Kinder mit Unterstützungsbedarf zum Nachdenken, Überdenken und Reflektieren an (vgl. interaktiver Impuls in Abb. 10.1). Das erklärt wiederum, warum auch die passiven Phasen, in denen sich die Kinder nicht am Interaktionsgeschehen beteiligten, aber vermutlich trotzdem die Beschreibungen, Erklärungen und Begründungen der Partnerkinder (zumindest in Teilen) passiv aufnahmen, Lernchancen darstellen (vgl. Ergebnisse zu FF1 aus Kap 8.1.1). Die direkt-didaktischen ‚produktiven Momente‘, in denen die Lehrkraft die Kinder verbal oder nonverbal auffordert (vgl. direkt-didaktischer Impuls in Abb. 10.1), treten bei allen Kindern verhältnismäßig häufig auf und scheinen daher von besonderer Bedeutung zu sein. Diese tragende Rolle der Lehrkraft wurde bereits in Kapitel 8.3.2 diskutiert. Hinsichtlich der ‚produktiven Momente‘ ist abschließend festzuhalten, dass vermutlich an diesen lernförderlichen Stellen in der Interaktion durch die be-
10.1 Hürden und Verläufe individuell-zieldifferenter Lern- und Interaktionsprozesse
345
schriebenen Impulse eine Konfrontation mit etwas Fremden, Irritierenden oder Unerwarteten stattfindet (vgl. auch ‚produktive Irritationen‘ von Nührenbörger & Schwarzkopf, 2013; 2015b; 2015a) und zur Weiterentwicklung beiträgt. Ein Aspekt, der in diesem Kontext jedoch noch unklar bleibt und durch die Weiterentwicklung der hier dargelegten Theorien weiterer Erklärungen bedarf, sind die ‚mentalen Aktivitäten‘ (vgl. Abb. 10.1 Mitte), die in der vorliegenden Arbeit nicht detaillierter untersucht wurden. Auch Nührenbörgers und Schwarzkopfs Konzeption der ‚produktiven Irritationen‘ (Nührenbörger & Schwarzkopf, 2013; 2015b; 2015a) erklären die ‚mentalen Aktivitäten‘ nur im Ansatz. Weitere Fragen, die in diesem Zusammenhang gestellt werden müssen, sind etwa: Was passiert während der mentalen Prozesse? Wie hängen die Impulse mit den mentalen Prozessen und diese wiederum mit den ‚interaktiven Schüsselaktivitäten‘ – also den Lernprozessen der Lernenden – zusammen? Lösen bestimmte Impulse bestimmte Prozesse aus? Dies sind Fragen, die im Rahmen weiterer Forschung noch der Klärung bedürfen. Sie werden im Ausblick dieser Arbeit noch einmal aufgegriffen, wenn es darum geht, Konsequenzen für die mathematikdidaktische Forschung abzuleiten. Normative Theorieelemente als Konsequenz aus den kategorisierenden, deskriptiven und erklärenden Theorieelementen Von den dargestellten kategorisierenden, deskriptiven und erklärenden Theorieelementen lassen sich normative Theorieelemente hinsichtlich der Ziele ableiten, die dazu beitragen können, fruchtbare interaktiv-kooperative Lernsituationen anzuregen (Interaktionsförderlichkeit), in denen individuell-zieldifferentes Lernen am gemeinsamen Lerngegenstand des flexiblen Rechnens stattfindet (Lernförderlichkeit). Im übergeordneten Forschungsinteresse dieser Arbeit werden diese generierten normativen Theorieelemente auch ‚zielführende Aspekte‘ genannt (vgl. Kap. 4.1.2). Aus den dargestellten Hürden ergaben sich zwei Fragen (s. o.), aus denen folgende zwei Ziele (normative Theorieelemente) abgeleitet werden können: Den beteiligten Kindern sollen über individuelle Zugänge und Lösungsprozesse hinaus gleichzeitig inhaltlichen Anknüpfungspunkte für eine gemeinsame mathematische und aufgabenbezogene Interaktion ermöglicht werden. Den beteiligten Kindern soll ermöglicht werden, einen Sinn/Nutzen in der Interaktion mit dem Partnerkind zu sehen, der sie zur Zusammenarbeit motivieren soll. Mit der Frage der Sinnstiftung befasst sich auch das Projekt KOSIMA, ein fachdidaktisches Forschungs- und Entwicklungsprojekt (Hußmann, Leuders, Barzel & Prediger, 2011). Es befasst sich u. a. mit didaktischen Strukturelementen, die zu einer Sinnstiftung im Mathematikunterricht beitragen, und begegnet damit der Herausforderung, den „Unterricht so zu gestalten, dass sich Schüle-
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10 Zusammenfassung und Einordnung der Ergebnisse
rinnen und Schülern der Sinn ihres mathematischen Tuns erschließt“ (Leuders, Hußmann, Barzel, & Prediger, 2011, S. 2). In der vorliegenden Arbeit geht es ebenso um die Frage der Sinnstiftung, jedoch eher hinsichtlich der Interaktion. Die Frage ist also, welche didaktischen Strukturelemente dazu beitragen können, dass die Kinder einen Sinn in der Interaktion sehen. Es geht hierbei also weniger um den Sinn des mathematischen Tuns, sondern vielmehr darum, ein Verbundenheits- und Verantwortungsgefühl zu schaffen, sodass die Kinder einen Sinn/Nutzen in der Zusammenarbeit sehen. Weitere normative Theorieelemente, die als Konsequenz aus den kategorisierenden, deskriptiven und erklärenden Theorieelementen abgeleitet werden können, sind die folgenden: Es soll eine ‚dominante Kooperation‘ mit Prädominanz des stärkeren Kindes und eine ‚ausgewogene Kooperation‘ angestrebt werden, denn diese konnten als potenziell fruchtbar herausgestellt werden. Hingegen verläuft eine helfend geprägte Interaktion meist nicht fruchtbar (s. o.). Es sollte eine möglichst starke, aufgabenbezogene und symmetrisch verlaufende Interaktion angeregt werden, denn in Folge der Interaktionsmuster finden potenziell Lernprozesse statt. Diese normativen Theorieelemente hinsichtlich der oben formulierten Ziele – Interaktionsförderlichkeit und Lernförderlichkeit – stehen im direkten Bezug mit den prognostischen Theorieelementen (Kap. 10.2), die im Rahmen dieser Forschungsarbeit auf der Entwicklungsebene (E) anzusiedeln sind. Diese hier noch nicht betrachteten prognostischen Theorieelemente auf der Entwicklungsebene (E) beziehen sich auf Lehr-Lernprozesse mit dem intendierten Ziel, fruchtbare interaktiv-kooperative Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht anzuregen. Dazu wurden bereits in Kapitel 9 die DesignElemente des entwickelten Lehr-Lern-Arrangements detailliert dargelegt. Diese Ergebnisse werden in Kapitel 10.2 erneut aufgegriffen und im Gesamtkontext dieses Projektes betrachtet, mit dem Ziel, prognostische Theorieelemente abzuleiten.
10.2 Zielführende Gestaltungsmerkmale zur Anregung gelingender interaktiv-kooperativer Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht Die Betrachtung zielführender Gestaltungsmerkmale zur gelingenden Anregung fruchtbarer interaktiv-kooperativer Lernsituationen ermöglicht eine abschließende zusammenhängende Betrachtung, wie aus der Forschungsfrage EF3 hervorgeht. Folgend ist es das Ziel dieses Kapitels, die letzte offene Forschungsfra-
10.2 Zielführende Gestaltungsmerkmale
347
ge auf Entwicklungsebene EF3 zu beantworten, mit dem Ziel, prognostische Theorieelemente abzuleiten92. (EF3) Welche zielführenden Gestaltungsmerkmale zur gelingenden Anregung fruchtbarer interaktiv-kooperativer Lernsituationen lassen sich aus den Erkenntnissen zu EF1, EF2 und F für den inklusiven Mathematikunterricht ableiten? (vgl. Kap. 4.1.1) Diese Forschungsfrage greift die Ergebnisse aus Kapitel 9 (E) und Kapitel 8 (F) erneut auf. In Kapitel 9 ging es primär um folgende Fragen, die sich konkret auf die Erprobung der gewählten Design-Elemente für das Lehr-Lern-Arrangement ‚Wir erforschen Nachbarzahlen und ihre Summen‘ bezogen: Welche Wirkungen zeigen bestimmte Design-Elemente in den DesignExperimenten? Wie tragen die Design-Elemente dazu bei, die zwei intendierten übergeordneten Ziele des Lehr-Lern-Arrangements – Interaktionsförderlichkeit und individuell-zieldifferente Lernförderlichkeit hinsichtlich des flexiblen Rechnens – zu erreichen? Welche theoretischen Argumente liegen dem Design-Element zugrunde und stützen es? Wie lassen sich daraus empirisch und theoretisch gestützte DesignPrinzipien ableiten? Vor dem Hintergrund dieser Fragen wurden anhand von Einzelfällen DesignPrinzipien generiert, die in weiteren Kontexten mit weiteren Fällen (anderen Kinderpaaren, die sich in einigen Aspekten voneinander unterschieden) erprobt und bestätigt wurden. Diese Prinzipien beziehen sich auf die konkrete Realisierung der Design-Elemente aus dem im Kontext dieser Forschungsarbeit entwickelten Lehr-Lern-Arrangement. Im hier vorliegenden Kapitel soll nun die folgende weiterführende Frage zur Generierung prognostischer Theorieelemente betrachtet werden: Wie lassen sich aus den Ergebnissen zu den obigen Fragen zielführende Gestaltungsmerkmale in Form von prognostischen Theorieelementen (Umzu-Struktur) formulieren?
92 In einigen Veröffentlichungen werde die prognostischen Theorieelemente von präskriptiven Theorieelementen unterschieden. In der vorliegenden Arbeit fallen diese präskriptive Theorieelemente jedoch, i. A. a. Prediger (2019), unter die prognostischen, denn die beiden Kategorien sind für Design-Research eher eine Frage der Formulierung als unterschiedlicher Natur.
348
10 Zusammenfassung und Einordnung der Ergebnisse
Design-Prinzipien als zielführende Gestaltungsmerkmale für die gelingende Anregung fruchtbarer interaktiv-kooperativer Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht Durch weiterführende vergleichende Fallanalysen konnten verallgemeinerbare Anteile der sechs Design-Prinzipien (vgl. Kap. 9) herausgearbeitet werden, deren Zielführung (Interaktionsförderlichkeit und Lernförderlichkeit) in unterschiedlichen Fällen und verschiedenen Kontexten bestätigt werden konnte. Diese werden daher folgend auch zielführende Gestaltungsmerkmale genannt. Obwohl diese sechs zielführenden Gestaltungsmerkmale in einer gegenstandsspezifischen Untersuchung zum flexiblen Rechnen generiert wurden, ist anzunehmen, dass eine Übertragbarkeit der gegenstandsspezifischen Erkenntnisse auf den inklusiven Mathematikunterricht möglich ist. Diese Annahme folgt daraus, dass mit der Interaktionsförderlichkeit und der allgemeinen individuell-zieldifferenten Lernförderlichkeit Prozessziele und keine konkreten mathematisch-inhaltlichen Ziele verfolgt werden. Diese verallgemeinerbaren Anteile spiegeln sich in den Definitionen bzw. Erläuterungen im folgenden Abschnitt (s. Kästen) wider, indem sie durch eine Um-Zu-Struktur als prognostisches Theorieelement formuliert werden. Die zielführenden Gestaltungsmerkmale bzw. die Design-Prinzipien mit verallgemeinerbaren Anteilen sind wie folgt charakterisiert: Zwei der insgesamt sechs Design-Prinzipien (dunkelgrau) sind jeweils einem übergeordnetem Design-Prinzip (‚Gegenstandsreichhaltigkeit‘, ‚Aufgabenbezogene Interaktionsanregung‘ oder ‚Zieldifferente Prozess- und Entwicklungsorientierung‘) zugeordnet (vgl. Kap. 6.2). Je zwei der insgesamt sechs Design-Prinzipien sind der sozialen Ebene, der Inhalts- und der Lernprozessebene zuzuordnen (vgl. Kap. 9.1). Alle Ebenen und auch alle Design-Prinzipien bedingen sich gegenseitig und sind nicht getrennt voneinander zu betrachten (vgl. Kap. 9.1). Sie sind in der Gesamtheit potenziell interaktionsförderlich (Anregung fruchtbarer interaktiv-kooperativer Lernsituationen) sowie potenziell lernförderlich (individuell-zieldifferentes Lernen am gemeinsamen Lerngegenstand des flexiblen Rechnens) und tragen folglich zum ‚Gemeinsamen Mathematiklernen‘ (vgl. Definition Kap. 1.1.3), also zum mit- und voneinander Lernen im inklusiven Mathematikunterricht bei (vgl. Kap. 9.2, 9.3, 9.4).
349
10.2 Zielführende Gestaltungsmerkmale
Mit‐ und voneinander Lernen im inklusiven Mathematikunterricht
‚Darstellungswechsel ermöglichen‘ ‚Strukturfokussierende Kontexteingrenzung‘
Gegenstandsreichhaltigkeit Inhaltsebene:
Abbildung 10.2: Zielführende Gestaltungsmerkmale eines Lehr-Lern-Arrangements zur gelingenden Anregung fruchtbarer interaktiv-kooperativer Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht (Korten, 2018b)
Definitionen und Ziele der zielführenden Gestaltungsmerkmale: Mit der folgenden zusammenfassenden Darlegung der zielführenden Gestaltungsmerkmale wird die (noch letzte offene) Forschungsfrage EF3 abschließend beantwortet. Die folgenden Formulierungen enthalten durch die Um-Zu-Struktur das intendierte Ziel des jeweiligen Gestaltungsmerkmales. Sie stellen die prognostischen Theorieelemente der vorliegenden Forschungsarbeit dar. ‚Strukturfokussierende Kontexteingrenzung‘ Innerhalb einer mathematisch-inhaltlichen Komplexität wird der kontextuelle Rahmen eingegrenzt und dabei auf übergreifende mathematische Strukturen fokussiert, um einerseits individuell-zieldifferente Zugänge und Lösungsprozesse innerhalb der mathematischen Komplexität ermöglichen zu können und andererseits durch die Kontexteingrenzung inhaltliche Anknüpfungspunkte für eine mathematische Interaktion schaffen zu können.
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10 Zusammenfassung und Einordnung der Ergebnisse
‚Darstellungswechsel ermöglichen‘ Das ‚Inbeziehungsetzen‘ verschiedener Darstellungen und Darstellungsebenen (Darstellungswechsel) wird ermöglicht, um inhaltliche Anknüpfungspunkte zwischen heterogenen Zugängen und Deutungen schaffen zu können. Der Darstellungswechsel ist also u. a. Mittel, um heterogene Zugänge und Deutungen in Beziehung zu setzen und kann – neben den Funktionen als ‚Rechenhilfe‘, ‚Lernhilfe‘ und ‚Kommunikationshilfe‘ – ebenso die Funktion einer ‚Interaktionshilfe‘ erfüllen. ‚Vorgeschaltete individuelle Phase‘ Vor der interaktiv-kooperativen Phase wird eine individuelle Auseinandersetzung mit dem gemeinsamen mathematischen Inhalt angeregt, um – anknüpfend an die jeweilige Lernausgangslage – allen die Entwicklung individueller Zugänge und Lösungsprozesse ermöglichen zu können, die für ein Sich-Einbringen in die Interaktion und folglich für eine aufgabenbezogene und phasenweise symmetrische Interaktion unabdingbar sind. Das Sich-Einbringen-Können kann in weiterer Folge zur Anerkennung und Wertschätzung beitragen. ‚Extrinsische positive Interdependenz‘ Es wird durch ein gemeinsames transparentes Ziel von außen, das nur gemeinsam erreicht werden kann, eine didaktisch geplante positive Interdependenz angeregt, um zu einer emotionalen und inhaltlichen Verbundenheit heterogener Partner beitragen zu können. Diese Verbundenheit kann dazu führen, einen emotionalen Nutzen und eine Sinnstiftung in der Interaktion zu sehen und infolgedessen intrinsische Motivation zur Zusammenarbeit zu entwickeln. In der Zusammenarbeit ein gemeinsames Ziel zu verfolgen, kann wiederum zur Anerkennung und Wertschätzung der beteiligten Kinder beitragen.
10.2 Zielführende Gestaltungsmerkmale
351
‚Situativität und Allgemeinheit‘ Eine konkret-situative und gleichzeitig zunehmend allgemeine Auseinandersetzung mit der gemeinsamen Aufgabenstellung wird ermöglicht, um allen Kindern individuell-zieldifferente Zugänge und Deutungen im Kontext der gemeinsamen Aufgabenstellung gewähren zu können. Die individuell-zieldifferenten Zugänge und Deutungen – entlang einer Spannweite zwischen einer Situativität am konkreten Zahlenmaterial bis hin zur allgemeinen Deutung von arithmetischen Eigenschaften und Beziehungen – können in weiterer Folge dazu beitragen, dass sich alle Kinder in die aufgabenbezogene Interaktion einbringen sowie sich entlang dieser Spannweite weiterentwickeln. ‚Strukturfokussierende adressatengerechte Impulse‘ Verbale oder nonverbale didaktische Impulse seitens der Lehrkraft werden situationsangemessen und adressatengerecht sowie auf mathematische Strukturen und Muster fokussierend gegeben, indem u. a. zum genauen Hinschauen, Erklären, Hinterfragen, Entdecken und Reflektieren aufgefordert wird, um seitens der Kinder u. a. mathematische Beschreibungen, Erklärungen, Begründungen und Argumentationen (‚interaktive Schlüsselaktivitäten‘) herauszufordern, die Anzeichen für eine fruchtbare Interaktion und für einen Lernprozess sein können. Abschließend ist hervorzuheben, dass die zielführenden Gestaltungsmerkmale lediglich potenziell förderliche Merkmale darstellen: Die damit zusammenhängenden prognostischen Theorieelemente beschreiben keine Kausalzusammenhänge, sondern stellen lediglich Potentiale für ein zielerreichendes Handeln dar. Walter (2018) nutzt den Ausdruck ‚Potentiale‘ auch im Kontext mit sich „unter Umständen positiv auswirkende[n] Gestaltungsaspekte[n]“, die ebenfalls nur durch eine adäquate Einbettung eine Chance für den Mathematikunterricht darstellen können (Walter, 2018, S. 30). Er bezieht sich dabei zwar auf die konkreten Gestaltungsmerkmale digitaler Medien, jedoch lässt sich der Gedanke, dass die didaktische Umsetzung im Unterricht ein essenzieller Aspekt ist, ebenso auf die hier diskutierten zielführenden Gestaltungsmerkmale übertragen. Das heißt schlussfolgernd, dass die Realisierung dieser zielführenden Gestaltungsmerkmale in einem Lehr-Lern-Arrangement zur erfolgreichen Anregung fruchtbarer
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10 Zusammenfassung und Einordnung der Ergebnisse
interaktiv-kooperativer Lernsituationen (Interaktionsförderlichkeit), in denen bei allen Beteiligten individuell-zieldifferentes Lernen am gemeinsamen Lerngegenstand des flexiblen Rechnens stattfindet (Lernförderlichkeit), beitragen kann, aber nicht muss. Silver und Herbst beschreiben Design-Prinzipien in diesem Sinne als „proposed solution to a problem“ bzw. als „tool which can [hervorgehoben durch Korten] help design new practices“ (Silver & Herbst 2007, S. 59).
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Fazit und Ausblick
In der vorliegenden Arbeit wurde sich mit der Frage beschäftigt, wie interaktivkooperative Lernsituationen zwischen Kindern mit und ohne Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung im Bereich ‚Lernen‘ bezüglich der individuellzieldifferenten Lernprozesse zum flexiblen Rechnen und der interaktiven Strukturen verlaufen, um daraus mögliche zielführende Gestaltungsprinzipien für die gelingende Anregung interaktiv-kooperativer Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht abzuleiten. Zu diesem Zweck wurde ein Lehr-LernArrangement entwickelt, das in drei Zyklen iterativer Design-Experimente analysiert, beforscht und weiterentwickelt wurde. Die mathematikdidaktische Relevanz der vorliegenden Arbeit ist einerseits mit der überschaubaren Forschungslandschaft zu begründen, in der sich bisher nur in einer geringen Anzahl an Studien mit der konkreten Gestaltung inklusiven Mathematikunterrichtes sowie der Erforschung der angeregten unterrichtlichen Prozesse entlang eines mathematischen Lerngegenstandes befasst wurde. Andererseits wurde ein empirisch belegtes Problem aus der täglichen Schulpraxis adressiert: Die fehlende Anregung gemeinsamer interaktiv-kooperativer Lernsituationen – besonders in der Arithmetik –, in denen ein inhaltsbezogener Austausch über einen gemeinsamen Lerngegenstand mit heterogenen Partnern stattfindet und in denen mit- und voneinander gelernt werden kann. Anknüpfend daran wurde sich in der vorliegenden Untersuchung mit Forschungsfragen (s. u.) auf der Ebene der Forschung mit dem Ziel des Verstehens der Lern- und Interaktionsprozesse in angeregten interaktiv-kooperativen Lernsituationen sowie auf der Ebene der Entwicklung zur Verbesserung der gezielten Anregung gelingender interaktiv-kooperativer Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht befasst. In Teil A wurden dafür zunächst die inhaltlich- und forschungsmethodischtheoretischen Grundlagen dargelegt. In Kapitel 1 wurde der thematische Rahmen der vorliegenden Arbeit vorgegeben, indem die grundlegenden Begriffe ‚Integration‘, ‚Inklusion‘, ‚Gemeinsames (Mathematik-)Lernen‘ sowie ‚Heterogenität‘ geklärt und deren jeweilige Bedeutung für das vorliegende Forschungsprojekt abgeleitet wurden. Damit einhergehend erfolgte die Darstellung des relevanten Forschungsstandes und der bestehenden Forschungslücke zum inklusiven (Mathematik-)Unterricht. Als Chance und zugleich Herausforderung für das ‚Gemeinsame Mathematiklernen‘ wurde am Ende des Kapitels herausgestellt, dass die wissenschaftlich fundierte Vorarbeit der allgemeinen Mathematikdidaktik zu nutzen und zu modifizieren ist, indem sie mit Erkenntnissen aus der Sonderpädagogik des Lernens und mit der Integrations- / Inklusionsfor-
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Korten, Gemeinsame Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht, Dortmunder Beiträge zur Entwicklungund Erforschung des Mathematikunterrichts 44, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30648-9_12
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11 Fazit und Ausblick
schung ergänzt wird. Als besonders inklusionsrelevant wurden die drei Aspekte guten Mathematikunterrichtes – ‚Umgang mit Heterogenität’, ‚natürliche Differenzierung’ sowie ‚Material- und Handlungsorientierung’ – hervorgehoben, um der erhöhten Heterogenität zu begegnen. In diesem einleitenden Kapitel wurden ferner zwei wesentliche Aspekte ‚Gemeinsamen Mathematiklernens‘ herausgestellt: interaktiv-kooperatives und individuell-zieldifferentes Lernen. Gefordert wurde eine durchgängige Balance dieser beiden Aspekte sowohl in der Gestaltung des Unterrichts durch variierende Lernsituationen (Wocken, 1998) als auch innerhalb gezielt angeregter interaktiv-kooperativer Lernsituationen. Somit wird in diesen jedem Kind die Chance gegeben, sich auf dem jeweiligen individuellen Lern- und Entwicklungsniveau weiterzuentwickeln. Aus diesen zwei wesentlichen Aspekten ‚Gemeinsamen Mathematiklernens‘ ergaben sich zwei theoretische Grundsteine, die in den beiden nachfolgenden Kapiteln 2 und 3 behandelt wurden. In Kapitel 2 (Interaktiv-kooperatives Lernen im inklusiven Mathematikunterricht) wurden zunächst Begriffe, grundlegende Konzepte und Forschungsergebnisse zum interaktiv-kooperativen Lernen sowie zu Interaktionsprozessen im interaktiv-kooperativ strukturierten (Mathematik-)Unterricht beleuchtet. Danach wurde die Anregung interaktiv-kooperativen Lernens diskutiert und mit dem individuell-zieldifferenten Lernen in Zusammenhang gebracht. Abschließend wurde die Entwicklung mathematischer Lernprozesse in der Interaktion thematisiert, um die lerntheoretischen Annahmen hinsichtlich der vorliegenden Studie grundlegend zu klären. Im Zuge dessen wurde die mathematische Lernprozessentwicklung in der Interaktion aus interaktionistischer und epistemologischer Perspektive dargelegt. Mit dem in diesem Kapitel herausgearbeiteten Rahmen zum ersten theoretischen Grundstein wurde eine wesentliche Grundlage einerseits für die Entwicklung des Lehr-Lern-Arrangements und andererseits für die späteren Analysen gelegt. So wurden hier vorgestellte theoretische Modelle an späterer Stelle wieder aufgegriffen, für die vorliegende Arbeit weiterentwickelt und als Analyseinstrument genutzt. Kapitel 3 (Individuell-zieldifferentes Lernen am gemeinsamen Lerngegenstand des flexiblen Rechnens) wurde zur Komplettierung des Theorieteils strukturähnlich aufgebaut. Es wurden ebenso zunächst Begriffe und grundlegende Modelle sowie Forschungsergebnisse und Indikatoren zum gemeinsamen Lerngenstand des flexiblen Rechnens betrachtet, bevor dessen individuellzieldifferente Förderung diskutiert und mit der sozialen Interaktion in Zusammenhang gebracht wurde. Abschließend wurde auf Basis der betrachteten Theorie die Entwicklung eines Modells zum flexiblen Rechnen dargelegt. Es diente im späteren Verlauf der Arbeit zur Analyse und Darstellung individuellzieldifferenter Lernverläufe, um Lösungs- und Lernprozesse rekonstruieren zu können. Mit dem in diesem Kapitel entstandenen Rahmen zum zweiten theoreti-
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schen Grundstein wurde ebenso eine bedeutende Grundlage für die Entwicklung des Lehr-Lern-Arrangements und die Analysen gelegt. Die Verbindung zwischen der inhaltlich-theoretischen Grundlegung und der empirischen Untersuchung stellt das Kapitel 4 dar, in dem Überlegungen zum Design der Studie vorgestellt wurden. Hierfür wurden zunächst das Erkenntnisinteresse und die Forschungsfragen auf Forschungsebene (Ziel: Verstehen der Lern- und Interaktionsprozesse) und Entwicklungsebene (Ziel: Verbesserung der gezielten Anregung gelingender interaktiv-kooperativer Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht) aus den inhaltlich-theoretischen Grundlagen hergeleitet. Nachfolgend wurde der forschungsmethodische Zugang – in Anlehnung an die Fachdidaktische Entwicklungsforschung nach dem Dortmunder FUNKEN-Modell (Prediger et al., 2012) – begründet und erläutert. Mit dem gewählten Forschungszugang wurden Forschungs- und Entwicklungsprodukte hervorgebracht: In Teil B (Kapitel 5 und 6) der vorliegenden Arbeit wurde das Entwicklungsprodukt – ein theoretisch und empirisch fundiertes Lehr-Lern-Arrangement – vorgestellt. Dieses hat zum Ziel, interaktivkooperative Lernsituationen zwischen Kindern mit und ohne sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf ‚Lernen‘, in denen individuell-zieldifferent am gemeinsamen Gegenstand des flexiblen Rechnens gelernt wird, gezielt anzuregen. Mathematisch-inhaltliches Ziel ist folglich die individuell-zieldifferente Förderung des flexiblen Rechnens im Verlauf der Interaktion des mit- und voneinander Lernens. Im Mittelpunkt stand hierbei die Frage, inwiefern die interaktiv-kooperativen Lernsituationen anregend für die Weiterentwicklung flexibler Rechenkompetenzen beider beteiligten Kinder sein können. Damit einhergehend wurden in Kapitel 5 – auf Grundlage der Kapitel 1 bis 3 – theoretisch fundierte Unterrichtsdesignentscheidungen bezüglich der Design-Prinzipien, der inhaltlichen Schwerpunktlegung und der interaktiv-kooperativen Lernsituationen dargestellt und begründet. Darauf aufbauend wurden in Kapitel 6 die theoretischen Überlegungen durch empirisch weiterentwickelte Unterrichtsdesignentscheidungen ergänzt und konkretisiert. Das Lehr-Lern-Arrangement ‚Wir erforschen Nachbarzahlen und ihre Summen‘ sowie die zugrundeliegenden DesignPrinzipien und deren Konkretion wurden dafür im Detail beschrieben und begründet. Dieses theoretisch und (zunehmend) empirisch fundierte Lehr-LernArrangement stellte den Gegenstand für die Durchführung iterativer DesignExperimente dar, deren Analyse und Auswertung Schwerpunkt des Teils C der vorliegenden Arbeit ist. Insgesamt 14 heterogene Kinderpaare aus einer zweiten (zweites Halbjahr) bzw. einer dritten Klasse (erstes Halbjahr) nahmen an den Design-Experimenten teil. Ein Paar bestand jeweils aus einem Kind mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf im Bereich ‚Lernen’ und einem mit durchschnittlichen Schulleistungen. Die qualitative Auswertung der in den Design-Experimenten erhobenen Daten wurde auf Grundlage von Videos und
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Transkriptionsausschnitten vorgenommen. Dieser Datenkorpus bildete sowohl die Handlungen als auch die Äußerungen der Kinder ab, die ‚Objekt der Beobachtung’ und ‚Informationsträger’ waren (vgl. Kapitel 7). Im Folgenden werden die zentralen Ergebnisse der qualitativen Analysen aus Kapitel 8, Kapitel 9 und Kapitel 10 hinsichtlich der Forschungsfragen zusammengefasst. So sollen die Grenzen der Untersuchung offengelegt (Kap. 11.1) und wesentliche Konsequenzen für die weitere mathematikdidaktische Forschung (Kap. 11.2), die Unterrichtspraxis (Kap. 11.3) sowie die Lehrerfort- und -weiterbildung (Kap. 11.4) abgeleitet werden. Ergebnisse auf Forschungsebene Entlang der in Kapitel 4 dargelegten zwei Forschungsschwerpunkte auf Forschungs- (F) und Entwicklungsebene (E) sowie der daraus hergeleiteten ausdifferenzierten sechs Forschungsfragen (F1, F2, F3, E1, E2, E3) werden im Folgenden die zentralen Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung resümiert und Konsequenzen abgeleitet. Hierzu werden zunächst die Ergebnisse auf Forschungsebene dargelegt, bevor auf die Forschungsfragen auf Entwicklungsebene eingegangen wird. (F) Wie verlaufen interaktiv-kooperative Lernsituationen zwischen Kindern mit und ohne Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung im Bereich ‚Lernen’ bezüglich der individuellen Lernprozesse zum flexiblen Rechnen und der interaktiven Strukturen? Welche zielführenden Aspekte lassen sich aus dem Zusammenhang der interaktiven Strukturen und der individuellen Lernprozesse für gelingende interaktiv-kooperative Lernsituationen ableiten, in denen sich alle Beteiligten bezüglich des flexiblen Rechnens individuell-zieldifferent weiterentwickeln? Ziel dieses Forschungsschwerpunktes auf Forschungsebene war es, zum Verstehen der Lern- und Interaktionsprozesse in angeregten interaktiv-kooperativen Lernsituationen entlang eines gemeinsamen mathematischen Lerngegenstandes beizutragen. Dies geschah mit Blick auf die Verbesserung der gezielten Anregung gelingender interaktiv-kooperativer Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht. Aus der Ausdifferenzierung dieses Forschungsschwerpunktes resultierten drei Forschungsfragen (F1, F2, F3), die im Folgenden zusammenfassend beantwortet werden. (FF1) Wie entwickeln sich individuelle Zugänge und Lösungsprozesse hinsichtlich flexibler Rechenkompetenzen in den angeregten interaktivkooperativen Lernsituationen weiter?
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Zur Beantwortung der Forschungsfrage FF1 wurden die Daten aus den DesignExperimenten mit Hilfe des entwickelten Modells zum flexiblen Rechnen analysiert. Die Analysen ergaben, dass bei jedem teilnehmenden Kind eine Weiterentwicklung der individuellen Zugänge und Lösungsprozesse hinsichtlich flexibler Rechenkompetenzen stattgefunden hat. Es konnte also in den interaktivkooperativen Lernsituationen bei jedem Kind eine situative Weiterentwicklung rekonstruiert werden, die etwas über dessen Lernprozessveränderungen in der jeweiligen Situation aussagt, aber nicht mit einem nachhaltigen Lernprozess zu verwechseln ist. Insgesamt waren die Entwicklungen sehr individuell ausgeprägt, was dafür spricht, dass zieldifferentes Lernen stattgefunden hat. Bei der genaueren Betrachtung der Weiterentwicklungen konnten – durch die fallvergleichenden Analysen – phasenweise typische Lernverläufe, nachfolgend bezeichnet mit (1) - (5), herausgestellt werden, die jeweils auch in Kombination aufgetreten sind. Es konnte hierbei unterschieden werden zwischen Phasen, in denen (1) kein beobachteter Lernverlauf stattgefunden hat, und Phasen, in denen Lernverläufe hinsichtlich der (2) Referenzen (Wahrnehmung neuer Eigenschaften und Beziehungen von Zahlen und Aufgaben), (3) strategischen Vorgehensweisen bei der Aufgabenbearbeitung (Suche nach Nachbarzahlen und -summen) (4) Lösungswerkzeuge (Nutzung neuer strategischer Werkzeuge beim Lösen einer Additionsaufgabe) und (5) strategischen Vorgehensweisen in Kombination mit neuen Lösungswerkzeugen (neue strategische Vorgehensweisen bei der Suche nach Nachbarzahlen sowie -summen und Nutzung neuer strategischer Werkzeuge beim Lösen einer Additionsaufgabe) zu beobachten waren. Dabei ließen sich die Kinder nicht während des gesamten Interaktionsgeschehens jeweils einer Kategorie zuordnen. Vielmehr konnte ein Lernverlauf hinsichtlich jeweils eines mathematischen Begriffes rekonstruiert werden. So konnten bei jedem Kind während der interaktiv-kooperativen Lernsituation verschiedene Lernverläufe ausgemacht werden. Folglich darf Kategorie (1) nicht mit einem Stagnieren im Lernprozess und in der Interaktion gleichgesetzt werden. Vielmehr waren auch jene Phasen, in denen sich die Kinder nicht merklich weiterentwickelten, essenziell für den weiteren Lernprozess, denn teilweise wurde auf zunächst ,passiv Aufgenommenes‘ später zurückgriffen. Dieses Phänomen war vor allem bei den Kindern mit Unterstützungsbedarf ‚Lernen‘ zu beobachten. Folglich zeigte sich, dass passive Phasen, in denen sich Kinder nicht am Interaktionsgeschehen beteiligen, ‚vorübergehend‘ sind und ebenso Lernchancen darstellen wie aktive Phasen.
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Ferner wurde im Hinblick auf Forschungsfrage FF1 deutlich, dass sich die Kinder mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf während der interaktivkooperativen Lernsituation primär (aber nicht ausschließlich) hinsichtlich der Referenzen auf der Ebene der Zahlen und demnach vorwiegend bezüglich des in Kapitel 3.2.1 herausgestellten fachlichen Förderschwerpunkts I (‚Der Aufbau von umfangreichen Zahlvorstellungen, u. a. Zahleigenschaften und –beziehungen (er)kennen, auf deren Basis Beziehungen beim Rechnen genutzt werden können‘) weiterentwickelten. Die Kinder mit durchschnittlichen Mathematikleistungen hingegen entwickelten sich meist hinsichtlich der Referenzen und Lösungswerkzeuge auf den Ebenen der Zahlen und Aufgaben weiter, das bedeutet, dass bei ihnen ebenso die Förderung des fachlichen Förderschwerpunktes II (‚Die Entwicklung des Wahrnehmens und Nutzens von Aufgabeneigenschaften und -beziehungen‘) stattgefunden hat. Außerdem entwickelten sie sich meist in mehr Aspekten weiter als ihre Partner. Dies ist aus Sicht der Sonderpädagogik jedoch nicht überraschend, da Kinder mit Unterstützungsbedarf ‚Lernen‘ zwar flexible Rechenkompetenzen entwickeln können, jedoch langsamer lernen als Kinder ohne kognitive Einschränkungen und dabei mehr Zeit, ausreichend Gelegenheiten zum Verstehen, mehrfaches Wiederholen sowie mehr Unterstützung benötigen. Aus interaktionistischer Sicht konnte hinsichtlich der Weiterentwicklungen festgehalten werden, dass mathematische Deutungen derselben zu deutenden Situationen in einem inklusiven Setting wie diesem – aufgrund der hohen Heterogenitätsspanne – sehr unterschiedlich ausfielen. Durch die Zusammenarbeit mit dem Partner konnten alternative Deutungsmuster erfahren werden, die den eigenen ähneln, diese ergänzen, erweitern und/oder konträr zu ihnen waren. In der Auseinandersetzung mit diesen lag die Chance, eigene Deutungsmuster weiterzuentwickeln, wie in den epistemologischen Analysen rekonstruiert werden konnte. So wurden beispielsweise fremde Deutungen zum Impuls für neue Deutungen oder fremde Deutungen zum neuen, erklärungsbedürftigen Zeichen und eigens gedeutet. Abschließend ist festzuhalten, dass sich in allen teilnehmenden Paarkonstellationen jeweils beide Kinder – vermutlich angeregt durch die gemeinsame Arbeit im Kontext des entwickelten Lehr-Lern-Arrangements – vor dem Hintergrund der jeweils individuellen Lernvoraussetzungen zieldifferent weiterentwickeln konnten: Einige entwickelten dabei erste grundlegende Kompetenzen für die Entwicklung flexiblen Rechnens, andere nutzten und verallgemeinerten bereits arithmetische Rechengesetze. Mit Letztgenanntem soll die Spannbreite der Zieldifferenz angedeutet werden. (Diese Ergebnisse zu FF1 entstammen dem Kapitel 8.1.)
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(FF2) Welche interaktiven Strukturen lassen sich während der interaktivkooperativen Lernsituationen rekonstruieren? Zur Beantwortung der Forschungsfrage FF2 wurde das Interaktionsgeschehen untersucht, in dem die zuvor dargestellten Weiterentwicklungen stattfanden. Dabei ließen sich vier typische Interaktionsmuster rekonstruieren, die während der interaktiv-kooperativen Lernsituationen auftraten. Sie können als ‚parallele Aktivitäten ohne gem. Ziel‘, ‚parallele Aktivitäten mit gem. Ziel‘ bzw. ‚arbeitsteilige Kooperation‘, ‚dominante Kooperation‘, die helfend oder prädominant strukturiert sein kann, und ‚ausgewogene Kooperation‘ beschrieben werden. Diese vier Muster unterscheiden sich hinsichtlich der Intensität der Interaktion, der Themen- und Zielfokussierung, der aufgabenbezogenen Interaktionsstruktur sowie hinsichtlich der fachlichen Lernprozesse, die in der Interaktion zu beobachten sind. Der letztgenannte Aspekt stellt den Zusammenhang mit den unter FF1 betrachteten Lernverläufen her, deren Weiterentwicklung nur während einer ‚dominanten Kooperation mit Prädominanz' des stärkeren Kindes und während einer ‚ausgewogenen Kooperation’ beobachtet werden konnte. Dabei war das zuerst genannte Interaktionsmuster primär für das stärkere Kind des heterogenen Paares, letztgenanntes insbesondere für das Kind mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf im Bereich ‚Lernen‘ potenziell lernförderlich. In allen teilnehmenden Paarkonstellationen konnten – nicht dauerhaft, jedoch phasenweise – diese potenziell lernförderlichen Interaktionsmuster wahrgenommen werden. Daraus lässt sich ableiten, dass die interaktiv-kooperative Lernsituation – angeregt durch das im Kontext dieser Arbeit entwickelte LehrLern-Arrangement – bei allen Kinderpaaren phasenweise potenziell fruchtbar verlief – ,potenziell fruchtbar‘ bzw. , potenziell lernförderlich‘ deshalb, weil auch diese beiden Interaktionsmuster keine Garanten für Lernen darstellen. Gesichert festhalten lässt sich jedoch, dass eine Lernförderlichkeit nur dann besteht, wenn es zu einer intensiven sowie aufgabenbezogenen themen- und zielfokussierten Interaktion (kurz auch aufgabenbezogene Interaktion genannt) kommt, denn das sind die Merkmale, die die potenziell lernförderlichen Interaktionsmuster teilen. ‚Parallele Aktivitäten ohne und mit gem. Ziel‘ zeigen gar keine bzw. eine geringe Interaktion. Währenddessen fand keine Weiterentwicklung der Lernverläufe statt. Eine intensive sowie eine aufgabenbezogene Interaktion sind folglich zielführende Aspekte, die sich für die gelingende Anregung interaktiv-kooperativer Lernsituationen ableiten lassen.
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Bei der ‚dominanten Kooperation mit helfender Ausprägung‘ ist die Interaktion zwar hoch und aufgabenbezogen, jedoch waren keine Lernprozesse zu beobachten, da das Helfen eher in Form eines ‚Vorsagens‘ und nicht in Form eines ‚Erklärens‘ zu beobachten war. Um diese Phasen der Interaktion fruchtbar zu gestalten, müssten sie vermutlich anders angeleitet/angeregt werden, beispielsweise durch Lehr-Lern-Arrangements, die auf Helfersysteme, Expertenkinder oder Peer-Tutoring abzielen. Die Phasen mit ‚parallelen Aktivitäten mit gem. Ziel‘ bzw. ‚arbeitsteiliger Kooperation‘ waren oftmals als Übergang von der individuellen in die interaktiv-kooperative Phase zu beobachten, in dem sich die Interaktion erst langsam herausbildete. Des Weiteren zeigten sich in dieser Interaktionsstruktur oft Aktivitäten wie das gemeinsame, arbeitsteilige Aufkleben oder das (Aus-)Sortieren der eigenen Aufgaben, die aus der vorgeschalteten individuellen Phase mitgebracht worden waren. In den Phasen mit ‚parallelen Aktivitäten ohne gem. Ziel‘, in denen es – ausgenommen von ein paar (meist nonverbalen) Interaktionen wie Blickwechsel oder Betrachten der Aufgaben des jeweils anderen – zu keiner Interaktion kam, konnten zwei Hürden ausgemacht werden, die zur Folge hatten, dass die Kinder nicht in Interaktion miteinander traten. Diese wurden vor dem Hintergrund der heterogenen Zugänge und Lösungsansätze bezüglich der Aufgabenstellung wie folgt beschrieben: 1. ‚nicht können‘ – Ein Kind ist mathematisch-inhaltlich nicht in der Lage, den Zugängen und Lösungsansätzen des anderen Kindes zu folgen. 2. ‚nicht machen, aber könnten‘ – Ein Kind zeigt keine Motivation, in Interaktion zu treten, obwohl es mathematisch-inhaltlich in der Lage ist, den Zugängen und Lösungsansätzen des anderen Kindes zu folgen. Ersteres bezog sich ausschließlich auf die Kinder mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf, die nicht in der Lage waren, am Interaktionsgeschehen teilzunehmen, wenn die individuell entwickelten Zugänge und Lösungsansätze hinsichtlich der Aufgabenstellung zu weit auseinander gingen und keine inhaltlichen Anknüpfungspunkte – aus interaktionistischer Sicht kein Arbeitsinterim – hergestellt werden konnten. Letzteres betraf sowohl Kinder mit als auch ohne sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf. Bei ihnen war keine Motivation und kein Interesse zu beobachten, in Interaktion zu treten, sogar dann nicht, wenn der Partner sie dazu aufforderte. Es ist anzunehmen, dass die Gründe dafür unterschiedlich sind. In ihnen könnte, wie von außen zu beobachten, fehlende Motivation und fehlendes Interesse aber beispielsweise auch ein ‚Nichtkönnen‘ verankert sein, das nicht – wie bei Hürde 1 – mit fehlenden inhaltlichen, sondern fehlenden prozessbezogenen Kompetenzen begründet werden könnte. Die verschiedenen Gründe wurden im Rahmen der vorliegenden Arbeit jedoch nicht expliziter untersucht.
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Aus diesen beiden Hürden ergaben sich zwei weitere zielführende Aspekte für die Anregung gelingender interaktiv-kooperativer Lernsituationen, die später leitend für die Zielsetzung der Design-Prinzipien waren: Erstens müssen über individuelle Zugänge und Lösungsprozesse hinaus inhaltliche Anknüpfungspunkte für eine gemeinsame mathematische und aufgabenbezogene Interaktion ermöglicht werden. Zweitens muss den beteiligten Kindern ermöglicht werden, einen Sinn und Nutzen in der Interaktion mit dem Partnerkind zu sehen, damit die Motivation zur Zusammenarbeit unterstützt wird. (Diese Ergebnisse zu FF2 entstammen den Kapiteln 8.2 und 10.1.) (FF3) Inwiefern gibt es einen Zusammenhang zwischen den interaktiven Strukturen und der Weiterentwicklung individueller Zugänge und Lösungsprozesse? Der beschreibende Zusammenhang zwischen den interaktiven Strukturen sowie der Weiterentwicklung individueller Zugänge und Lösungsprozesse wurde bereits unter FF2 dargelegt. Es konnten jedoch ebenso erklärende Zusammenhänge aufgezeigt werden. Das in Kapitel 8.3 entwickelte Konstrukt des ‚produktiven Momentes‘ im Interaktionsgeschehen half dabei, der Frage nachzugehen, was genau in dem Interaktionsgeschehen dazu beitragen bzw. auslösen kann, dass sich die individuellen Zugänge und Lösungsprozesse weiterentwickeln. In dem Konstrukt besteht ein ‚produktiver Moment‘ aus einem auslösenden Impuls (eine Äußerung, Handlung, ein Aufgabenauftrag oder eine neue Entdeckung), auf den eine ‚interaktive Schlüsselaktivität‘ (i. a. A. Dekker & Elshout-Mohr, 1998; „key activities“) folgt. In den Design-Experimenten konnten folgende ‚interaktive Schlüsselaktivitäten‘ beobachtet werden, die bedeutend für ein lernförderliches Interaktionsgeschehen waren und mit den rekonstruierten typischen Lernverläufen (s. o.) einher gingen: Zeigen / Beschreiben, Erklären / Begründen, Argumentieren (Vermuten, Überprüfen, Folgern, Begründen) / Rechtfertigen und Rekonstruieren / Modifizieren / Weiterentwickeln. Zwischen dem beobachtbaren Impuls und den beobachtbaren ‚interaktiven Schlüsselaktivitäten‘ finden ‚mentale Aktivitäten‘ statt, die sich nicht nach außen zeigen. Sie sind daher schwer zu operationalisieren und wurden in der vorliegenden Studie auch nicht genauer betrachtet. Bei der Untersuchung der auslösenden Impulse konnten drei unterschiedliche Impulse herausgestellt werden. Die Impulse wirkten sich potenziell positiv auf die Lernförderlichkeit des Interaktionsgeschehens aus. Wirkt ein Impuls lernförderlich, dann kann im Sinne des Konstruktes (s. o.) auch von einem ‚pro-
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duktiven Moment‘ gesprochen werden. Es gibt folglich ebenso drei verschiedene Arten ‚produktiver Momente‘: Impuls durch die Lehrkraft (u. a. Auffordern zum genauen Hinschauen, Erklären, Hinterfragen) oder die Aufgabenstellung (u. a. Auffordern zum Entdecken, Sortieren und Reflektieren) – direkt-didaktischer ‚produktiver Moment‘ Impuls durch die Struktur des mathematischen Gegenstandes (u. a. Anregen zum Wahrnehmen von Eigenschaften und Beziehungen sowie zum Nutzen von Eigenschaften und Beziehungen) – indirekt-didaktischer ‚produktiver Moment‘ Impuls durch die Interaktionshandlung eines anderen Kindes (u. a. Beschreiben, Erklären, fehlerhaft Äußern, Fragen, Vorschlagen) – interaktiver ‚produktiver Moment‘ Die direkt-didaktischen ‚produktiven Momente‘ heben die besondere Rolle der Lehrkraft hervor, die diese durch eine gute Aufgabenstellung sowie spontane Handlungen und Äußerungen im Unterrichtsgeschehen hinsichtlich der Lernförderlichkeit spielt. Sie ist also neben den beiden an der interaktivkooperativen Lernsituation beteiligten Kindern auch als direkte/r Interaktionspartner/in hervorzuheben. Dieser direkt-didaktische ‚produktive Moment‘ steht in einem engen Zusammenhang mit dem zielführenden Gestaltungsmerkmal ‚strukturfokussierende adressatengerechte Impulse‘ (s. u.). Mit dem zweiten Impuls wurde die eigene Auseinandersetzung mit dem mathematischen Lerngegenstand in den Mittelpunkt gestellt. Wirkt dieser produktiv, wird er auch als indirekt-didaktischer ‚produktiver Moment‘ bezeichnet, da die Lehrkraft ebenso Einfluss auf ihn hat, denn sie spezifiziert und strukturiert den mathematischen Lerngegenstand in der Unterrichtsvorbereitung. Somit kann sie indirekt Einfluss nehmen. Inwiefern die Strukturierung und die Darbietung dessen in einer geeigneten Aufgabenstellung von den Kindern jedoch wahrgenommen wird (bzw. wahrgenommen werden kann), sodass tatsächlich ein Impuls entsteht, der lernförderlich wirkt, kann nicht beeinflusst werden. Wie diese Impulse aber wirken können (wenn sie wirken), wurde durch das Auftreten des Lernverlaufs (5) deutlich (s. o.): Die Weiterentwicklung der Lösungswerkzeuge ging häufig mit der Weiterentwicklung der strategischen Vorgehensweisen einher, weil zunehmend strategischere Vorgehensweisen neue mathematische Strukturen besser wahrnehmbar machten. Auf Grundlage dieser neu wahrgenommenen Strukturen (auslösender Impuls) konnten die Lösungswerkzeuge weiterentwickelt werden. Die letztgenannten Impulse sind gänzlich abhängig von den interagierenden Kindern und der Interaktion, die zwischen diesen stattfindet. Wie unter FF2 bereits herausgestellt wurde, ist eine starke und aufgabenbezogene Interaktion dabei potenziell lernförderlich. Daraus konnte geschlussfolgert werden, dass
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Aufgaben und Methoden zum Ziel haben müssen, eine möglichst starke und aufgabenbezogene Interaktion anzuregen und allen Beteiligten ein SichEinbringen zu ermöglichen. Allgemein konnte gezeigt werden, dass die indirekt-didaktischen Impulse besonders für die Kinder ohne sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf lernförderlich waren. Es konnten bei ihnen also häufig indirekt-didaktische ‚produktive Momente‘ rekonstruiert werden. Das ist vor dem Hintergrund, dass das Interaktionsmuster ‚dominante Kooperation‘ für diese Kinder besonders lernförderlich war, nicht überraschend. In diesen Phasen setzten sie sich intensiv und meist alleine mit dem mathematischen Lerngegenstand auseinander. Das bedeutete jedoch nicht, dass die Interaktion mit dem Partnerkind für sie daher nicht produktiv war. Vielmehr gab es meist in der Interaktion Anregungen, die dieser tieferen Auseinandersetzung voraus gingen. Beispielsweise durch fehlerhafte Vermutungen des anderen Kindes (interaktiver Impuls), die zum Argumentieren aufforderten. Für die Kinder mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf im Bereich ‚Lernen‘ waren hingegen die interaktiven Impulse von besonderer Bedeutung. Die Beschreibungen, Erklärungen und Begründungen der Partnerkinder regten die Kinder mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf zum Nachdenken, Überdenken und Reflektieren eigener Deutungen an. Das erklärte wiederum, warum auch die passiven Phasen, in denen sich die Kinder nicht am Interaktionsgeschehen beteiligten, aber vermutlich trotzdem die Beschreibungen, Erklärungen und Begründungen der Partnerkinder (zumindest in Teilen) passiv aufnahmen, Lernchancen darstellten. Die direkt-didaktischen ‚produktiven Momente‘ traten bei beiden Kindern verhältnismäßig häufig auf und scheinen daher von besonderer Bedeutung zu sein. Das hebt einmal mehr die tragende Rolle der Lehrkraft hervor. Aus diesen Erkenntnissen zu den potenziell lernförderlichen Impulsen und ‚produktiven Momenten‘ im Interaktionsgeschehen ergaben sich – zusätzlich zu der Forderung nach einer möglichst intensiven und aufgabenbezogenen Interaktion – weitere zielführende Aspekte für die Anregung gelingender interaktivkooperativer Lernsituationen: Die auffordernden Impulse der Lehrkraft, die geeignete Auswahl einer herausfordernden Aufgabenstellung sowie die Strukturierung und strukturfokussierende Darbietung eines Lerngegenstandes, der zum Wahrnehmen von Eigenschaften und Beziehungen sowie zum Nutzen von Eigenschaften und Beziehungen anregt. Diese drei Aspekte waren ebenso leitend für die Zielsetzung der nachfolgend dargestellten Design-Prinzipien und zur Entwicklung des Lehr-Lern-Arrangements. (Diese Ergebnisse zu FF3 entstammen den Kapiteln 8.3 und 10.1.)
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Ergebnisse auf Entwicklungsebene (E) Wie kann ein theoretisch und empirisch fundiertes Lehr-Lern-Arrangement gestaltet sein, um fruchtbare interaktiv-kooperative Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht anzuregen, in denen sich alle Beteiligten bezüglich des flexiblen Rechnens individuell-zieldifferent weiterentwickeln? Welche zielführenden Gestaltungsmerkmale zur gelingenden Anregung interaktiv-kooperativer Lernsituationen lassen sich daraus für den inklusiven Mathematikunterricht ableiten? Ziel dieses Forschungsschwerpunktes auf Entwicklungsebene war es, zur Verbesserung der gezielten Anregung gelingender interaktiv-kooperativer Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht beizutragen. Dies geschah mit Rückblick auf die Ergebnisse der Forschungsebene, indem die Lern- und Interaktionsprozesse wesentliche Indikatoren für das Gelingen der angeregten interaktiv-kooperativen Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht darstellten. Außerdem konnten von den Ergebnissen zu FF1-FF3 Merkmale in Form von zielführenden Aspekten für die gelingende Anregung interaktivkooperativer Lernsituationen abgeleitet werden (s. o.). Aus der Ausdifferenzierung dieses Schwerpunktes resultierten drei Forschungsfragen auf Entwicklungsebene (E1, E2, E3), die im Folgenden zusammenfassend beantwortet werden. (EF1) Welche Design-Prinzipien lassen sich für das Lehr-Lern-Arrangement auf Grundlage der Theorie formulieren? Auf Grundlage der Theorie ließen sich – anknüpfend an die Definition vom ‚Gemeinsamen (Mathematik-)Lernen‘, die individuell-zieldifferentes und gleichzeitig interaktiv-kooperatives Lernen fordert, sowie anknüpfend an bewährte Ansätze zur ‚Integrativen Didaktik’ – drei übergeordnete DesignPrinzipien für ein Lehr-Lern-Arrangement formulieren. Diese sollen dazu beitragen, interaktiv-kooperative Lernsituationen anzuregen (Interaktionsförderlichkeit), in denen individuell-zieldifferentes Lernen am gemeinsamen Lerngegenstand des flexiblen Rechnens stattfindet (Lernförderlichkeit): ‚Gegenstandsreichhaltigkeit‘, ‚Aufgabenbezogene Interaktionsanregung‘, ‚Zieldifferente Prozess- und Entwicklungsorientierung‘. (EF2) Wie lassen sich die theoretisch fundierten Design-Prinzipien für das Lehr-Lern-Arrangement durch empirische Erkenntnisse ausschärfen?
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Auf Grundlage der zielführenden Aspekte, die sich aus den Analysen auf Forschungsebene (F) ergaben, konnte vor dem Hintergrund des theoretischen Rahmens aus Kapitel 1-3 der vorliegenden Arbeit eine erste empirische Ausschärfung der übergeordneten Design-Prinzipien in sechs konkrete Design-Prinzipen vorgenommen werden. Diese wurden durch Design-Elemente im Lehr-LernArrangement ‚Wir erforschen Nachbezahlen und ihre Summen‘ realisiert, erprobt und zunächst durch Einzelfallanalysen im Rahmen von EF2 weiter ausgeschärft. Durch weiterführende vergleichende Fallanalysen konnten verallgemeinerbare Anteile dieser sechs ausgeschärften Design-Prinzipien herausgearbeitet werden, deren Zielführung (Interaktionsförderlichkeit und Lernförderlichkeit) in unterschiedlichen Fällen und verschiedenen Kontexten bestätigt werden konnte. Diese wurden daher folgend auch zielführende Gestaltungsmerkmale genannt (s. EF3). (EF3) Welche zielführenden Gestaltungsmerkmale zur gelingenden Anregung fruchtbarer interaktiv-kooperativer Lernsituationen lassen sich aus den Erkenntnissen zu EF1, EF2 und F für den inklusiven Mathematikunterricht ableiten? Bei der Entwicklung eines Lehr-Lern-Arrangements, das – im Kontext eines inklusiven Mathematikunterrichtes mit Kindern mit und ohne sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf ‚Lernen‘ – zum Ziel hat, fruchtbare interaktivkooperative Lernsituationen (Interaktionsförderlichkeit) anzuregen, in denen individuell-zieldifferentes Lernen am gemeinsamen Lerngegenstand (Lernförderlichkeit) stattfindet, wurden folgende sechs zielführende Gestaltungsmerkmale identifiziert, die zum Gelingen beitragen können: 1. ‚Strukturfokussierende Kontexteingrenzung’, um inhaltliche Anknüpfungspunkte zu schaffen 2. ‚Darstellungswechsel ermöglichen‘, als Mittel, um heterogene Zugänge und Deutungen miteinander in Beziehung zu setzen 3. ‚Vorgeschaltete individuelle Phase‘, um ein Sich-Einbringen-Können sowie Anerkennung und Wertschätzung aller zu unterstützen 4. ‚Extrinsische positive Interdependenz‘, um eine emotionale und inhaltliche Verbundenheit zwischen heterogenen Partnern anzuregen 5. ‚Situativität und Allgemeinheit‘, um individuell-zieldifferente Zugänge und Deutungen im Kontext derselben Aufgabe zu ermöglichen 6. ‚Strukturfokussierende adressatengerechte Impulse‘, um zu einem für alle Beteiligten fruchtbaren Interaktionsgeschehen beizutragen Gestaltungsmerkmale 1 und 2 sind dem übergeordneten Design-Prinzip ,Gegenstandsreichhaltigkeit‘ zuzuordnen und beziehen sich auf die Inhaltsebene. Sie tragen dazu bei, dass über individuelle Zugänge und Lösungsprozesse hinaus
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gleichzeitig inhaltliche Anknüpfungspunkte für eine gemeinsame mathematische und aufgabenbezogene Interaktion ermöglicht werden (rückblickend auf Hürde 1, s. o.). Gestaltungsmerkmale 3 und 4 hingegen sind eher der sozialen Ebene und der ‚Aufgabenbezogenen Interaktionsanregung‘ zuzuordnen. Sie sind primär potenziell interaktionsförderlich, wobei eine starke und aufgabenbezogene Interaktion wiederum lernförderlich sein kann. Sie können eine inhaltliche Verbundenheit zwischen den Partnern schaffen und ihnen das Sich-Einbringen-Können ermöglichen. Ferner kann die ‚extrinsische positive Interdependenz‘ durch eine emotionale Verbundenheit dazu anregen, einen Sinn und Nutzen in der Interaktion mit dem Partnerkind zu sehen (emotionaler Nutzen, sinnstiftende Zusammenarbeit), der sie zur Zusammenarbeit motivieren kann (rückblickend auf Hürde 2, s. o.). In weiterer Folge können beide Gestaltungsmerkmale durch die Ermöglichung des Sich-Einbringens zur Anerkennung und Wertschätzung der beteiligten Kinder beitragen. Gestaltungsmerkmale 5 und 6 sind der ‚Zieldifferenten Prozess- und Entwicklungsorientierung‘ zuzuordnen und bewegen sich damit auf Lernprozessebene. Sie sind primär potenziell lernförderlich, wobei die Sicherstellung eines individuellen Zuganges zur Aufgabe, was zu einer Lernförderlichkeit gehört, wiederum dazu beiträgt, dass sich die Kinder vor dem Hintergrund ihrer individuellen Lernvoraussetzungen in die Interaktion einbringen können. In weiterer Folge kann dies zu einer fruchtbaren Interaktion beitragen, an der sich alle Kinder mittels ihrer individuellen Denk- und Handlungskompetenzen beteiligen und auf der Basis ihrer individuellen Lernausgangslage weiterentwickeln. Obwohl diese sechs zielführenden Gestaltungsmerkmale in einer gegenstandsspezifischen Untersuchung zum flexiblen Rechnen generiert wurden, ist anzunehmen, dass eine Übertragbarkeit der gegenstandsspezifischen Erkenntnisse auf den inklusiven Mathematikunterricht möglich ist. Diese Annahme folgt daraus, dass mit der Interaktionsförderlichkeit und der allgemeinen individuell-zieldifferenten Lernförderlichkeit Prozessziele und keine konkreten mathematisch-inhaltlichen Ziele verfolgt wurden. Diese Vermutung ist jedoch in weiteren Forschungsprojekten mit dem Fokus auf andere reichhaltige gemeinsame Lerngegenstände zu überprüfen. (Die Ergebnisse auf Entwicklungsebene E entstammen den Kapiteln 9.2, 9.3, 9.4 und 10.2.) Rückblickend zeigen die Analysen auf Forschungs- und Entwicklungsebene, dass ‚Gemeinsames Mathematiklernen‘ und ein mit- und voneinander Lernen im inklusiven Mathematikunterricht (auch im Bereich der Arithmetik) möglich sind. Durch die gezielte Anregung gemeinsamer Lernsituationen konnte ein interaktiv-kooperatives und gleichzeitig individuell-zieldifferentes Lernen am gemeinsamen Lerngegenstand ermöglicht werden. Die sechs zielführenden Gestaltungsmerkmale konnten im Kontext des Lehr-Lern-Arrangements der Untersuchung ‚Wir erforschen Nachbarzahlen und ihre Summen‘ zum Gelingen
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beitragen. Durch sie wurden interaktiv-kooperative Lernsituationen angeregt, in denen sich alle Beteiligten hinsichtlich des flexiblen Rechnens individuellzieldifferent weiterentwickeln konnten. Bezieht man diese Erkenntnisse zurück auf die überschaubare Forschungslandschaft und auf das empirisch belegte Problem aus der täglichen Schulpraxis hinsichtlich der Anregung ‚Gemeinsamen Mathematiklernens‘, dann kann festgehalten werden, dass ein kleiner Beitrag zur Schließung der Forschungslücke geleistet werden konnte.
11.1 Grenzen der Untersuchung Wie jede Studie weist auch die vorliegende Studie Grenzen auf. Allgemein führten forschungsmethodische Entscheidungen sowie die Rahmentheorien, die der Untersuchung zugrunde gelegt wurden, dazu, dass die Daten unter einer bestimmten theoretischen Fokussierung leitend durch die theoretische Rahmung und den Forschungsansatz des Dortmunder FUNKEN-Modells erhoben, analysiert und interpretiert wurden. Alternative Fokussierungen wären denkbar und würden möglicherweise zu anderen Ergebnissen als die dargestellten kommen. Neben der theoretischen Fokussierung hat ebenso eine inhaltliche Fokussierung stattgefunden. So wurden beispielsweise nur Kinder mit dem sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf ‚Lernen‘ in die Studie integriert und andere Unterstützungsbedarfe zunächst einmal nicht betrachtet, um das Projekt überschaubar zu halten. Inwiefern eine Übertragbarkeit der Ergebnisse auf einen inklusiven Mathematikunterricht mit Kindern weiterer sonderpädagogischer Unterstützungsbedarfe möglich ist, bleibt zu untersuchen. Für das vorliegende Projekt wurden die Daten in Laborsettings erhoben, um zunächst eine erfolgreiche Erprobung im überschaubaren Rahmen sicherzustellen, bevor eine Erprobung im Klassenunterricht erfolgt. Außerdem wurde dadurch eine lernprozessfokussierende Forschung ermöglicht. Auch wenn in den Laborsettings die Komplexität einer Partnerarbeitsphase in einem Klassenzimmer nachgestellt wurde, handelte es sich dennoch um eine isolierte Situation mit wenigen Störfaktoren und besonderem Charakter, sodass die Ergebnisse möglicherweise nicht eins zu eins auf ein Klassensetting zu übertragen sind. Des Weiteren bleiben die Theorieelemente, die im Rahmen dieses Forschungsprojektes generiert wurden, auch nach mehrfacher Bestätigung in weiteren unterschiedlichen Fällen lokal – einerseits weil der Entstehungskontext und die Erhebungsbedingungen der Fallstudie nie komplett transzendiert werden können, andererseits sind sie ganz bewusst gegenstandsspezifisch (lernprozessfokussierende Forschung), wodurch eine Übertragbarkeit auf andere Lerngegenstände eingeschränkt anzunehmen und zu überprüfen ist. Ferner ist die generelle Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse der vorliegenden Studie eingeschränkt. Analysiert wurden Fallbeispiele, die exemplarische Prozesse aufzeigen. Durch die Heterogenität der Kinder und die unterschiedli-
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chen Hintergründe der jeweiligen Herkunftsklassen war eine generelle Verallgemeinerbarkeit im Sinne einer empirisch-statistischen Theoriebildung in diesem Projekt nicht zu erreichen. Dennoch wurde durch die analytische Induktion im Sinne einer komparativen und kontrastierenden Fallanalyse die Theoriegenerierung begründet, indem bereits entwickelte Theorien anhand weiterer Fälle überprüft und bei neuen Erkenntnissen weiterentwickelt wurden. Hierdurch konnte eine theoretische Sättigung zumindest angenähert werden.
11.2 Konsequenzen für die weitere mathematikdidaktische Forschung Anhand der hier beschriebenen Ergebnisse und Grenzen können die nachfolgend aufgezeigten Konsequenzen für die weitere mathematikdidaktische Forschung abgeleitet werden. Konsequenzen für die weitere mathematikdidaktische Forschung aus den Grenzen der Untersuchung Aus den zuvor dargelegten Grenzen der vorliegenden Untersuchung sind direkte Konsequenzen für die weitere mathematikdidaktische Forschung abzuleiten. Nach der erfolgreichen Erprobung des Lehr-Lern-Arrangements im Laborsetting ist dieses nun im Klassenunterricht zu erproben und zu erforschen. Des Weiteren ist das lokale Theoriewissen durch Anschlussstudien in neuen Kontexten weiter zu verallgemeinern, um den Geltungsanspruch der Verallgemeinerbarkeit anzustreben. Die Verallgemeinerbarkeit kann durch theoretische Replizierbarkeit bei kontrastierenden Bedingungen gestützt werden. Das bedeutet, dass das Lehr-Lern-Arrangement mit den zielführenden Gestaltungsmerkmalen in weiteren Kontexten erprobt werden sollten, wie es beispielsweise durch ein ausgeweitetes theoretisches Sample zu realisieren ist, indem Kinder mit weiteren sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfen (z. B. ‚Sprache‘, ‚Sehen‘ und ‚Geistige Entwicklung‘) integriert werden. Ebenso sollten die zielführenden Gestaltungsmerkmale unabhängig vom Lehr-Lern-Arrangement in weiteren Kontexten erprobt werden, um deren Zielführung für den inklusiven Mathematikunterricht zu bestätigen. Sie könnten im Rahmen eines anderen Lehr-Lern-Arrangements zum flexiblen Rechnen, in Zusammenhang mit einem anderen gemeinsamen Lerngegenstand und ebenso mit anderen Lernern (andere sonderpädagogische Unterstützungsbedarfe, andere Klassenstufen) erprobt werden. Konsequenzen für die weitere mathematikdidaktische Forschung aus den Ergebnissen der Untersuchung Ebenso können aus den zuvor dargestellten Ergebnissen Konsequenzen für die weitere Forschung abgeleitet werden.
11.2 Konsequenzen für die weitere mathematikdidaktische Forschung
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Auf Forschungsebene des vorliegenden Projektes lag der Fokus auf der Weiterentwicklung inhaltsbezogener mathematischer Kompetenzen sowie deren Zusammenhang mit Interaktionsprozessen. Besonders interessant wäre es jedoch ebenso, die Weiterentwicklung prozessbezogener mathematischer Kompetenzen oder soziale und affektive Aspekte gezielter zu untersuchen. Diesbezüglich könnte auch die Frage geklärt werden, in welchem Zusammenhang sie mit den inhaltsbezogenen Lernprozessen stehen. Die Hürde 2 (s. o.) ließ bereits vermuten, dass affektive und motivationale Aspekte eine bedeutende Rolle spielen. Diese Hürde 2 (s. o.) müsste ferner näher untersucht werden. Woran liegt es konkret, dass ein Kind keine Motivation zeigt, in Interaktion zu treten, obwohl es mathematisch-inhaltlich in der Lage wäre, den Zugängen und Lösungsansätzen des Partnerkindes zu folgen? Auch hier besteht vermutlich ein enger Zusammenhang mit sozialen und kommunikativen Kompetenzen. Außerdem wurde von ‚mentalen Aktivitäten‘ gesprochen, die in ‚produktiven Momenten‘ von den Impulsen ausgelöst werden und in der vorliegenden Untersuchung nicht weiter betrachtet wurden. Was dort genau passiert, bleibt in Anschlussprojekten zu operationalisieren und zu erforschen. Im Hinblick auf die Entwicklung der Unterrichtspraxis wäre es ebenso von Bedeutung, die Impulse weiterführend zu untersuchen. Die Fragen, welche Impulse inwiefern lernwirksam sind und warum einige lernwirksamer sind als andere, erscheinen dabei besonders interessant, weil deren Beantwortung Informationen für eine erfolgreiche Unterrichtsgestaltung liefern können. Als weitere bedeutende Frage hinsichtlich der Impulse gilt es herauszufinden, inwiefern und wie sich die interaktiven Impulse zwischen Lernern effektiver anregen lassen, denn sie stellen eine Chance für die Umsetzung eines inklusiven Mathematikunterrichts dar, in dem Verschiedenheit zur Lernchance wird. Gelingt es, diese effektiver anzuregen, kann Lernen in Interaktion mit anderen auf ganz natürliche Weise stattfinden. Das entspricht einerseits dem ‚natürlichen‘ Lernen im Alltag und andererseits gibt es der Lehrkraft mehr Freiraum im Unterricht, da ihre didaktischen Impulse nicht mehr so einen großen Stellenwert einnehmen und sie sich mehr aus dem Unterrichtsgeschehen zurückziehen könnte, um beispielsweise einzelne Kinder zu fördern. Ebenso ließen sich anhand dieser detaillierteren Ergebnisse zu den Impulsen nähere Aussagen darüber treffen, welche konkreten mathematischen, mathematik-didaktischen, allgemein-didaktischen, ‚sonderpädagogik-didaktischen‘ und ‚inklusions-didaktischen‘ Kompetenzen eine Lehrkraft mitbringen muss, um erfolgreich im inklusiven Mathematikunterricht lehren zu können. Daraus könnten wiederum Konsequenzen für die Lehreraus- und -weiterbildung abgeleitet werden (s. u.).
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11 Fazit und Ausblick
11.3 Konsequenzen für den Mathematikunterricht Anhand der hier beschriebenen Ergebnisse können ebenso Konsequenzen für den inklusiven Mathematikunterricht abgeleitet werden, die an dieser Stelle zusammenfassend beschrieben werden. Zunächst wurde mit der Untersuchung exemplarisch aufgezeigt, dass individuell-zieldifferentes Lernen am gemeinsamen Lerngegenstand und gleichzeitig interaktiv-kooperatives Lernen gelingen können. ‚Gemeinsames Mathematiklernen‘ im inklusiven Mathematikunterricht ist also generell möglich, auch oder sogar im Bereich der Arithmetik und sollte daher zunehmend angestrebt werden. Das Lehr-Lern-Arrangement mit den sechs grundlegenden zielführenden Gestaltungsmerkmalen ermöglichte es, individuell-zieldifferentes Lernen am gemeinsamen Lerngegenstand des flexiblen Rechnens und gleichzeitig interaktivkooperatives Lernen anzuregen. Es bietet eine Chance für die Unterrichtspraxis, das mit- und voneinander Lernen zwischen Kindern mit und ohne sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf anzuregen. Die Interaktionsmuster zeigten auf, dass es ‚normal‘ ist, dass während einer Zusammenarbeit nicht durchgängig kooperiert wird. Außerdem scheinen auch stille passive Phasen zu einem späteren Zeitpunkt fruchtbar. Diese Ergebnisse sollen Mut machen, klein anzufangen und den Drang zum Perfektionismus abzulegen. Aus den Ergebnissen zu den verschiedenen Impulsen lassen sich ferner folgende Konsequenzen für die Praxis ableiten: Die Lehrkraft nimmt eine zentrale Rolle im Unterricht ein – einerseits durch spontan-situatives unterstützendes Handeln im Unterrichtsgeschehen, andererseits durch geplante Unterstützungs- und Strukturierungsmaßnahmen hinsichtlich des gemeinsamen Lerngegenstandes sowie durch die Auswahl und Formulierung der Aufgabenstellung. Ebenso ist es bedeutend, die interaktiven Impulse, die nicht von der Lehrkraft ausgehen, in der Planung zu berücksichtigen und folglich zum Ziel zu haben, eine starke und aufgabenbezogene Interaktion anzuregen. Weitere Informationen darüber zu erhalten, wie das gelingen kann, ist besonders relevant, denn dies entlastet die Lehrkraft im Unterrichtsalltag und unterstützt das ‚natürliche‘ Lernen durch die Vielfalt in der Interaktion (s. auch Kap. 11.2 „Konsequenzen für die weitere mathematikdidaktische Forschung“).
11.4 Konsequenzen für die Lehrerfort- und -weiterbildung Die Gesamtheit der hier neu gewonnenen Erkenntnisse sollte Anwendung in der Lehrerausbildung und -fortbildung finden, um (angehende) Lehrkräfte anhand eines Positivbeispiels dahingehend zu informieren und zu sensibilisieren, DASS und WIE ‚Gemeinsames Mathematiklernen‘ im Sinne der Inklusion stattfinden kann. Darin besteht die Möglichkeit, Barrieren abzubauen und Chancen aufzuzeigen.
Schlussbemerkung Zu Beginn der vorliegenden Arbeit wurde an einem Beispiel aus der Pilotierungsphase aufgezeigt, dass trotz der vermeintlich guten Rahmenbedingungen kein mit- und voneinander Lernen der beiden Kinder Ruben und Sven – ein Junge ohne und ein Junge mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf ‚Lernen‘ – stattgefunden hat. Das im vorliegenden Forschungsprojekt iterativ entwickelte Lehr-Lern-Arrangement ermöglichte letztendlich auch Sven, der im Anfangsbeispiel nicht motiviert war, in Interaktion zu treten, obwohl er aus mathematisch-inhaltlicher Sicht dazu in der Lage gewesen wäre, die Erklärungen seines Partners zu verstehen (Hürde 2: ‚nicht machen, aber könnten‘), erfolgreich zu interagieren. Angeregt durch das entwickelte Lehr-Lern-Arrangement und die darin realisierten zielführenden Gestaltungsprinzipien konnte er mit seinem Partnerkind gemeinsam lernen. In diesem Sinne bleibt zum Abschluss dieser Arbeit festzuhalten, dass ‚Gemeinsames Mathematiklernen‘ in der Grundschule entsprechend des Inklusionsgedankens möglich ist und gelingen kann. Die zielführenden Gestaltungsprinzipien können Orientierung geben und ein Weg sein, das mit- und voneinander Lernen im inklusiven Mathematikunterricht anzuregen, die Heterogenität in den Klassen als Chance anzunehmen und von dieser Vielfalt zu profitieren. „Wer Inklusion will, sucht Wege, wer sie nicht will, sucht Begründungen.“ (Hubert Hüppe)93
93 Dieses sagte Hubert Hüppe (2011) – deutscher Politiker und von 2009 bis 2013 Beauftragter der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen – in einer Pressemitteilung vom 07.03.2011 zur Integration behinderter Menschen anlässlich des bevorstehenden Starts der Kampagne „Deutschland wird inklusiv – wir sind dabei!“. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Korten, Gemeinsame Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht, Dortmunder Beiträge zur Entwicklungund Erforschung des Mathematikunterrichts 44, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30648-9_13
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Anhang94 Transkriptionsregeln (kursiv in Klammern)
Handlungen Angaben zur Art des Sprechens; z. B.: (flüstert), (laut) weitere Anmerkung zur Beschreibung des Geschehens
#
unterbrochenes Wort, unterbrochener Satz, hierbei befinden sich die Raute sowohl am Ende der unterbrochenen Rede als auch zu Beginn des Weitersprechens
-
der Sprecher unterbricht sich selbst es entsteht ein Bruch im Satzbau; z.B.: Dass man - zum Beispiel
(…)
deutliche Pause im Redefluss, kürzer als 5 Sekunden; z.B.: Jetzt müssen wir (...) noch eine Aufgabe finden.
(10 sec.)
bei längeren Pausen ist deren Dauer angegeben
...
abgebrochenes Wort, abgebrochener Satz; z.B.: Dann fehlt die …
?
Anhebung der Stimme am Satzende
.
Absenkung der Stimme am Satzende
Hier
Wörter, die abweichend von der üblichen Akzentuierung besonders betont gesprochen sind, werden durch Unterstreichung hervorgehoben; z. B.: Hier sind die Ergebnisse immer gleich
hm / hmm / ähm
überlegend, unsicher; z. B.: Weil da hm - Weil man die aufteilen kann
mhm
zustimmend und zur Kenntnis nehmend
mm
verneinend, ablehnend
[eckige Klammern]
unverständlicher Beitrag in eckigen Klammern, bei dem eine Vermutung über den Inhalt besteht; z.B.: drei[undzwanzig] Auslassungen, von Geschehnissen (z. B. das Leuten der Schulglocke oder eine Person, die den Raum betritt), die nicht bedeutend für die Analyse unter dem gewählten Schwerpunkt sind
[…]
94 Bei Interesse an weiteren Informationen, Transkripten und Auswertungen (z. B. an den Grobanalysen oder am digitalen Anhang) wende man sich an die Autorin. Ebenso wende man sich an die Autorin für größere (und farbige) Abbildungen der Analysen der vorliegenden Arbeit (z. B. der epistemologischen Dreiecke aus Kap. 8). © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Korten, Gemeinsame Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht, Dortmunder Beiträge zur Entwicklungund Erforschung des Mathematikunterrichts 44, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30648-9
392
Anhang
Die einzelnen Beiträge (verbal und/oder non-verbal) sind durchnummeriert. Der Satzbau orientiert sich am gesprochenen Wort. Die Satzzeichen werden nach syntaktischen Regeln gesetzt. Ausnahme: endet ein Aussagesatz mit einem Zahlwort so wird auf ein abschließendes Satzzeichen verzichtet, um Verwechslungen zwischen Kardinal- und Ordinalzahlwörtern auszuschließen. Die beteiligten Personen werden wie folgt gekennzeichnet: I Interviewerin X Kind ohne sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf (erster Anfangsbuchstabe) XY Kind ohne sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf ‚Lernen‘ (ersten beiden Anfangsbuchstaben)
393
Anhang
Darlegung der Indikatoren zur Tabelle 8.3 Ergänzung zur Tabelle 8.3: Ausführliche Beschreibung und Kategorisierung des Interaktionsgeschehens entlang der Phasen mit Darlegung der Indikatoren
Phasen des Interaktionsgeschehens (Interaktionseinheiten)
Ausprägung der Indikatoren mit resultierender Kategorisierung des Interaktionsgeschehens (interaktive Strukturen)
Weiterentwickelte Zugänge und Lösungsprozess (interaktive Lernprozesse)
Phase 1: Einstieg Phase 2: Vertrautmachen mit dem Arbeitsauftrag
Intensität der Interaktion: stark Themen-/Zielfokussierung: übereinstimmend mit M + MA (MMA)’ Aufgabenbezogene Interaktionsstruktur: symmetrisch Ausgewogene Kooperation Phase 3: Ordnen der Intensität der Interaktion: gering eigenen Aufgaben nach Themen-/Zielfokussierung: different mit der Größe des M’ ≈ MA’ Aufgabenbezogene Interaktionsstruktur: 1. Summanden symmetrisch Parallele Aktivitäten ohne gem. Ziel Phase 4: Erste Entdeckun- Intensität der Interaktion: stark gen an den eigenen AufThemen-/Zielfokussierung: übereingaben orientiert an der stimmend mit M + MA M’ ≈ MA’ Aufgabenbezogene Interaktionsstruktur: Größe des 1. Summansymmetrisch den Ausgewogene Kooperation Phase 5: Kontrollieren der Intensität der Interaktion: stark Vollständigkeit der eigeThemen-/Zielfokussierung: übereinstimnen Aufgaben mend mit M + MA M’ Aufgabenbezogene Interaktionsstruktur: asymmetrisch Dominante Kooperation (M prädominant) Intensität der Interaktion: stark Phase 6: Gemeinsames Ordnen aller Aufgaben Themen-/Zielfokussierung: übereinnach der Größe des 1. stimmend mit M + MA M’ Aufgabenbezogene Interaktionsstruktur: Summanden asymmetrisch Dominante Kooperation (M prädominant) Phase 7: Gemeinsames Intensität der Interaktion: stark Kontrollieren und Ergän- Themen-/Zielfokussierung: übereinzen aller Aufgaben orien- stimmend mit M + MA (MMA)’ tiert an der Größe des 1. Aufgabenbezogene Interaktionsstruktur: symmetrisch Summanden Ausgewogene Kooperation
-
-
Miriam_R MArina_R Miriam_R
-
-
Miriam_V MArina_L MArina_V
394
Anhang
Phase 8: Neue Entdeckungen u. a. hinsichtlich der Gleichheit je zweier Summen
Intensität der Interaktion: stark Themen-/Zielfokussierung: übereinstimmend mit M + MA M’ Aufgabenbezogene Interaktionsstruktur: asymmetrisch Dominante Kooperation (M prädominant) Phase 9: Neues gemeinIntensität der Interaktion: stark sames Ergänzen orientiert Themen-/Zielfokussierung: übereinan der Gleichheit je stimmend, zuerst mit M + MA M’, dann M + MA (MMA)’ zweier Summen Aufgabenbezogene Interaktionsstruktur: zunehmend symmetrisch
MArina_R MArina_R MArina_R Miriam_R
Miriam_V MArina_R MArina_V MArina_R MArina_R
Ausgewogene Kooperation
Phase 10: Kognitiver Konflikt durch die Nachbarsumme 16
Phase 11: Weiteres gemeinsames Ergänzen orientiert an der Gleichheit der Summen
Phase 12: Kognitiver Konflikt durch die Nachbarsumme 24
Phase 13: Vervollständigen der Aufgaben
Phase 14: Gemeinsames Aufkleben und Festhalten der Entdeckungen
Intensität der Interaktion: stark Themen-/Zielfokussierung: übereinstimmend mit M + MA (MMA)’ Aufgabenbezogene Interaktionsstruktur: symmetrisch Ausgewogene Kooperation Intensität der Interaktion: stark Themen-/Zielfokussierung: übereinstimmend mit M + MA M’ Aufgabenbezogene Interaktionsstruktur: asymmetrisch Dominante Kooperation (M prädominant) Intensität der Interaktion: stark Themen-/Zielfokussierung: übereinstimmend mit M + MA M’ Aufgabenbezogene Interaktionsstruktur: asymmetrisch Dominante Kooperation (M prädominant) Intensität der Interaktion: stark Themen-/Zielfokussierung: übereinstimmend mit M + MA M’ Aufgabenbezogene Interaktionsstruktur: asymmetrisch Dominante Kooperation (M prädominant) Intensität der Interaktion: gering Themen-/Zielfokussierung: potentiell different mit M M’ C und MA MA’ C Aufgabenbezogene Interaktionsstruktur: symmetrisch Arbeitsteilige Kooperation (parallele Aktivitäten mit dem gem. Ziel C: Aufgaben aufkleben und Entdeckungen festhalten)
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MArina_V Miriam_R Miriam_R Miriam_V Miriam_L
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