Rechtsprechungseinheit als Verfassungsauftrag: Dargestellt am Beispiel des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes [1 ed.] 9783428460694, 9783428060696


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German Pages 196 Year 1986

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Rechtsprechungseinheit als Verfassungsauftrag: Dargestellt am Beispiel des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes [1 ed.]
 9783428460694, 9783428060696

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MARTIN SCHUL TE

Rechtsprechungseinheit als Verfassungsauftrag

Mt1NSTERISCHE BEITRXGE ZUR RECHTSWISSENSCHAFT Herausgegeben im Auftrag der Remtswiuen8maftlimen Fakultät der Westfälismen Wilhelms-Universität in Münlter durm die Profes8oren Dr. Han.-Uwe Eridl.en Dr. Helmut Kollholler Dr. Jürgen Welp

Band 20

Rechtsprechungseinheit als Verfassungsauftrag Dargestellt am Beispiel des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes

Von

Dr. Martin Schulte

DUNCKER & HUMBLOT / BERLIN

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Schulte, Martin: Rechtsprechungseinheit als Verfassungsauftrag: dargest. am Beispiel d. Gemeinsamen Senats d. obersten Gerichtshöfe d. Bundes / von Martin Schulte. - Berlin: Duncker und Humblot, 1986. (Münsterische Beiträge zur Rechtswissenschaft; Bd.20) ISBN 3-428-06069-5 NE:GT

06 Alle Rechte vorbehalten

@ 1986 Duncker & Humblot GmbH, Berlln 41

Satz: IBV Satz- und Datentechnik GmbH, Berlln 62 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlln 61 Printed in Germany ISBN 3-t28-06069-5

Vorwort Der Gedanke von der Einheit der Rechtsordnung gehört seit jeher zum Gegenstandsbereich einer auf ihre Voraussetzungen und Implikationen bedachten Rechtswissenschaft. Grund genug, um dieser Problematik mit der vorliegenden Untersuchung in einem Teilbereich des staatlich organisierten Rechtssystems nachzugehen. Gerade im Bereich der höchstrichterlichen Rechtsprechung dürfte dies fast zwanzig Jahre nach der Errichtung des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes mehr denn je gelten. Die Abhandlung hat im Wintersemester 1985/86 der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster als Dissertation vorgelegen. Rechtsprechung und Schrifttum konnten im allgemeinen bis Ende 1985 berücksichtigt werden; in einigen Fällen war es noch möglich, Rechtsprechung und Literatur aus dem Jahre 1986 einzubeziehen. Mein besonderer Dank gilt Herrn Professor Dr. Norbert Achterberg für die Betreuung dieser Arbeit und für die Förderung, die ich während meiner langjährigen Mitarbeit an dem von ihm geleiteten Institut für Öffentliches Recht und Politik erfahren habe. Seine bereits in der Studienzeit beginnenden Wegweisungen haben mir geholfen, den Zugang zum Recht als Wissenschaft zu finden. Herrn Professor Dr. Dr. Werner Krawietz danke ich für seine Bereitschaft zur Übernahme des Zweitgutachtens und für wertvolle Anregungen, welche die Arbeit maßgeblich beeinflußt haben. Dank schulde ich ferner zahlreichen Diskussionen mit Herrn Privatdozent Dr. Dieter Wyduckel, die den Entstehungsgang dieser Arbeit begleitet haben. Den Herausgebern der "Münsterischen Beiträge zur Rechtswissenschaft" danke ich schließlich für die Aufnahme der Arbeit in die Schriftenreihe. Münster, im Juni 1986

M artin Schulte

Inhaltsverzeichnis 15

Einleitung

Erstes Kapitel Ursprünge und Entwicklungstendenzen des Strebens nach Rechts- und Rechtsprechungseinheit I.

Das Streben nach Rechtseinheit und seine Bedeutung für das Gemeinwesen

18

H.

Rechtseinheit und Rechtsprechungseinheit in Deutschland

19

1. Das Streben nach Rechtseinheit im Bereich der Normsetzung

20

2. Das Streben nach einer einheitlichen Gerichtsbarkeit

21

3. Das Streben nach einem einheitlichen Verfahrensrecht

25

Entwicklungstendenzen bezüglich der Wahrung der Rechtsprechungseinheit zwischen verschiedenen Rechtsprechungszweigen . . . . . . . . . .

28

HI.

IV. Die Entstehungsgeschichte des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

32

Zweites Kapitel Die SteUung des Gemeinsamen Senats im Hinblick auf Funktionenordnung und Normstufenbau I.

H.

Integration des Gemeinsamen Senats in die Funktionenordnung

38

1. Der Gerichtsbegriff des Grundgesetzes . . . . .

39

2. "Einheitlicher Gerichtsbegriff" im Grundgesetz?

41

3. Der Gemeinsame Senat- Ein Gericht im Sinne des Grundgesetzes?

43

Integration des Gemeinsamen Senats in den Stufenbau der Rechtsordnung

46

1. Der Stufenbau der Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . .

46

2. Richterliche Rechtsfindung im Stufenbau der Rechtsordnung

48

IH. Die Rechtsgewinnung des Gemeinsamen Senats in ihren Auswirkungen auf das Staatsfunktionensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

1. Die Präjudizienvermutung und ihre Bedeutung für die Rechtsprechung

51

Inhaltsverzeichnis

8

2. Richterliche Rechtsschöpfung und Funktionentrennung a) Der dualistische Gesetzesbegriff b) Der monistische Gesetzesbegriff

56 57

62

Drittes Kapitel Funktionale und organisatorische Grundlagen 1.

Die AufgabensteIlung des Gemeinsamen Senats .

68

II.

Die Zusammensetzung des Gemeinsamen Senats

70

1. Verfassungsrechtliche Vorgaben gemäß Art. 95 GG

70

2. Konkretisierung der Zusammensetzung des Gemeinsamen Senats durch das RsprEinhG . . . . . . . . . . . . . . . .

71

a) Die personelle Besetzung (§ 3 RsprEinhG) b) Die beteiligten Senate (§ 4 RsprEinG) c) "Kompromiß-Judikatur" als Folge der Zusammensetzung des Gemeinsamen Senats? . . . . . . . . . . . . . III. Zuständigkeit und Verfahren des Gemeinsamen Senats

71 73 78 82

1. Die Voraussetzungen einer Anrufung des Gemeinsamen Senats

82

2. Das Ausgleichsverfahren vor dem Gemeinsamen Senat

83

a) Integration der Ausgleichsverfahren vor dem Gemeinsamen Senat in eine Systematik gerichtlicher Ausgleichsverfahren . . . . . . . . . . b) Die Ausgestaltung des Ausgleichsverfahrens vor dem Gemeinsamen Senat nach dem RsprEinhG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Das Ausgleichsverfahren vor dem Gemeinsamen Senat im Lichte des Prozeßrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

84 86 87

Viertes Kapitel Die Begriffe der "Rechtsprechungsabweichung in einer Rechtsfrage" und der "Entscheidung" als Grundlagen des Ausgleichsverfahrens 1.

Die "Rechtsprechungsabweichung" in "einer Rechtsfrage"

92

1. Der Begriff der Rechtsprechungsabweichung

92

2. Rechtsfrage oder Tatfrage? . . . . . . . . .

93

a) Die Funktion einer Trennung von Rechts- und Tatfrage in rechtstheoretischer und rechtsdogmatischer Hinsicht . . . . . . . b) Die Problematik einer Abgrenzung von Rechts- und Tatfrage

II.

93 95

3. Identität der Rechtsfrage . . . . . . . . . . .

100

"Entscheidung" und "Entscheidungsbestandteile"

103

Inhaltsverzeichnis 1. Die Mehrdeutigkeit des Entscheidungsbegriffs a) Die Entscheidung im engeren Sinne . . . . b) Die Entscheidung im weiteren Sinne und ihre Bestandteile 2. Die Bedeutung der Bestandteile einer Entscheidung im weiteren Sinne für das Vorliegen einer Rechtsprechungsabweichung . . . . . . . . . ..

9 104 105 106 111

Fünftes Kapitel Zur Praxis der Anrufung des Gemeinsamen Senats im Falle einer Rechtsprechungsabweichung

1.

Unbewußte Nichtanrufung des Gemeinsamen Senats trotz bestehender Rechtsprechungsabweichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

114

II.

"Umgehungstendenzen" der obersten Gerichtshöfe des Bundes hinsichtlich ihrer Vorlageverpflichtung bei Rechtsprechungsabweichungen

117

1. Beispiele und Methoden der Umgehung des Gemeinsamen Senats

117

a) Das Merkmal der "Entscheidung" . . . . . . . . . . . . . . aa) Der Beigeladene als Rechtsmittelgegner? . . . . . . . . bb) Verfassungsrechtliche Bewertung der §§ 17 Abs. 2 BetrAVG, 186cAbs.2Satz2AFG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Merkmal "Identität der Rechtsfrage" und die Methode des "distinguishing" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Bilanzrückstellungen für Ausgleichsansprüche des Handelsvertreters nach § 89b HGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Nachholung von Verfahrenshandlungen und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Satzungsgewalt der Ärztekammern und kassenärztlicher Vereinigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Der Begriff der politischen Treuepflicht im öffentlichen Dienst ee) Heilung des Mangels der fehlenden Prozeßvollmacht noch im Revisionsverfahren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) "Unverschuldete Fristversäumung" bei der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Gerichtsbarkeitsspezifische Differenzierungen . . . . . . . . . . .. aa) Zu den Konsequenzen etwaiger Mängel bei der Unterzeichnung bestimmender Schriftsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Prozessuale Anforderungen an eine ordnungsgemäße Rechtsmittelschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Zu den Voraussetzungen einseitiger Erledigung der Hauptsache dd) Verfahrensrechtliche Folgen der vertraglichen Aufhebung des Prozeßvergleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Einzelfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Zum Ausscheiden eines Arbeitnehmervertreters aus dem Aufsichtsrat eines Unternehmens . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Zur Verpflichtung der Behörde, nach Ablauf der Frist für die sog. "Untätigkeitsklage" noch sachlich über einen Rechtsbehelf zu entscheiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

117 117 118 119 120 121 123 124 126 128 130 130 131 132 133 135 135 137

Inhaltsverzeichnis

10

ce) Zur Sachentscheidungsbefugnis der Widerspruchsbehörde bei verspätete m Widerspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Zu den Anforderungen an die Ausgestaltung eines Geschäftsverteilungsplanes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

138 139

2. Gründe für die Umgehungen des Gemeinsamen Senats durch die obersten Gerichtshöfe des Bundes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 141 Sechstes Kapitel

Verfassungsrechtliche Konsequenzen der Umgehungen des Gemeinsamen Senats 1.

Grundgesetzliche Anknüpfungspunkte einer verfassungsrechtlichen Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11.

Die Umgehungen des Gemeinsamen Senats im Lichte des Anspruchs auf den gesetzlichen Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 150

147

1. Die Garantie des gesetzlichen Richters: Grundrecht oder grundrechtsähnliches Recht? . . . . . . . . . . . . . . .

150

2. Die Schutzwirkungen des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG im Bereich der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

151

3. Das Erfordernis "willkürlicher" Mißachtung der Vorlagepflicht

154

IH. Das Bundesverfassungsgericht als "Superrevisionsinstanz"

157

Ausblick .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

162

Anhang

170

1.

Gesetz zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Juni 1968 (BGBI.I S. 661) . . . . . . .

170

11.

Statistik der veröffentlichten Entscheidungen des Gemeinsamen Senats (mit Leitsatz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

173

Literaturverzeichnis

175

Sachverzeichnis

193

Abkürzungsverzeichnis a. A.

anderer Ansicht

Abs.

Absatz

AcP

Archiv für die civilistische Praxis

a. F.

alte Fassung

AFG

Arbeitsförderungsgesetz

AGBO

Gesetz zur Regelung des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen

AlIgVR

Allgemeines Verwaltungsrecht

Anm.

Anmerkung

AnwBI.

Anwaltsblatt

AO

Abgabenordnung

AöR

Archiv des öffentlichen Rechts

AP

Arbeitsrechtliche Praxis

ArbGG

Arbeitsgerichtsgesetz

ARSP

Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie

Art.

Artikel

Aufl.

Auflage

AuslG

Ausländergesetz

AVG

Angestelltenversicherungsgesetz

BAG

Bundesarbeitsgericht

BAGE

Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts

BayVBI.

Bayerische Verwaltungsblätter

BB

Der Betriebs-Berater

BBauG

Bundesbaugesetz

BBiG

Berufsbildungsgesetz

Bd.

Band

BEG

Bundesentschädigungsgesetz

BetrAVG

Gesetz zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung

BFH

Bundesfinanzhof

BFHE

Entscheidungen des Bundesfinanzhofs

BGB

Bürgerliches Gesetzbuch

BGBI.

Bundesgesetzblatt

BGH

Bundesgerichtshof

BGHZ

Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen

12

Abkürzungsverzeichnis

BK

Bonner Kommentar

BR-Drucks.

Bundesrats-Drucksache

BSG

Bundessozialgericht

BSGE

Entscheidungen des Bundessozialgerichts

bspw.

beispielsweise

BStBI.

Bundessteuerblatt

BT-Drucks.

Bundestags-Drucksache

BVerfG

Bundesverfassungsgericht

BVerfGE

Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

BVerfGG

Gesetz über das Bundesverfassungsgericht

BVerwG

Bundesverwaltungsgericht

BVerwGE

Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts

bzgl.

bezüglich

bzw.

beziehungsweise

DB

Der Betrieb

ders.

derselbe

d.h.

das heißt

Diss.

Dissertation

DJZ

Deutsche Juristenzeitung

DKP DÖV

Deutsche Kommunistische Partei

DRiG

Deutsches Richtergesetz

DRiZ

Deutsche Richterzeitung

DRZ

Deutsche Rechts-Zeitschrift

DStR

Deutsches Steuerrecht

DSWR

Datenverarbeitung, Steuer, Wirtschaft und Recht

Die Öffentliche Verwaltung

DV

Deutsche Verwaltung (1948--1950, dann Deutsches Verwaltungsblatt)

DVBI.

Deutsches Verwaltungsblatt

DVR

Datenverarbeitung im Recht

ebd.

ebenda

EDV

Elektronische Datenverarbeitung

EGMR

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte

EuGRZ

Europäische Grundrechte-Zeitschrift

EVwPO

Entwurf einer einheitlichen Verwaltungsprozeßordnung

f.

folgende (Seite)

FamRZ

Zeitschrift für das gesamte Familienrecht

FAZ

Frankfurter Allgemeine Zeitung

FDP

Freie Demokratische Partei

ff.

fortfolgende (Seiten)

FGO

Finanzgerichtsordnung

Abkürzungsverzeichnis Fn.

Fußnote

GG

Grundgesetz

GmS-OGB

Gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes

GrdE

Das Grundeigentum

GVG

Gerichtsverfassungsgesetz

HGB

Handelsgesetzbuch

Hrsg., hrsg.

Herausgeber, herausgegeben

insb.

insbesondere

iVm

in Verbindung mit

JA

Juristische Arbeitsblätter

JBI.

Juristische Blätter

JöR

Jahrbuch des öffentlichen Rechts

JR

Juristische Rundschau

JuS

Juristische Schulung

JW

Juristische Wochenschrift

JZ

Juristenzeitung

Kap.

Kapitel

KG

Kammergericht

13

Komm. Teil

Kommentar Teil

LM

Nachschlagewerk des Bundesgerichtshofs, hrsg. v. Lindenmaier, Möhring u. a.

LSG

Landessozialgericht

m.

mit

MDR

Monatsschrift für Deutsches Recht

m.w.N.

mit weiteren Nachweisen

N. F.

Neue Folge

NJW

Neue Juristische Wochenschrift

Nr.

Nummer

n. v.

nicht veröffentlicht

NVwZ

Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht

ÖJZ

Österreichische Juristen-Zeitung

ÖZöR

Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht und Völkerrecht

Rdnr.

Randnummer

RGZ

Entscheidungen des Reichsgerichts

Rpfleger

Der Deutsche Rechtspfleger

RsprEinhG

Gesetz zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes

RVO

Reichsversicherungsordnung

RzW

Rechtsprechung zum Wiedergutmachungsrecht

S.

Seite, Satz

14

Abkürzungsverzeichnis

SGb.

Die Sozialgerichtsbarkeit

SGG

Sozialgerichtsgesetz

Sp.

Spalte

SPD

Sozialdemokratische Partei Deutschlands

Steno Ber.

Stenographischer Bericht

StPO

Strafprozeßordnung

StuWi

Steuer und Wirtschaft

u. a.

unter anderem

u. U. v. VBlBW

von, vom

Verf.

Verfasser

VersR

Versicherungsrecht

VerwArch.

Verwaltungsarchiv

unter Umständen Verwaltungsblätter für Baden-Württemberg

VerwRspr.

Verwaltungsrechtsprechung in Deutschland

VG

Verwaltungsgericht( e)

vgl.

vergleiche

Vorbem.

Vorbemerkung

VSSR

Vierteljahresschrift für Sozialrecht

VVDStRL

Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer

VwGG

Verwaltungsgerichtshofgesetz

VwGO

Verwaltungsgerichtsordnung

VWR

Verwaltungsrecht

VwZG

Verwaltungszustellungsgesetz

Warn

Rechtsprechung des Reichsgerichts, hrsg. v. Warneyer

WBStVwR

Wörterbuch des Deutschen Staats- und Verwaltungsrechts

WM

Wertpapier-Mitteilungen

WRV

Weimarer Reichsverfassung

z. B.

zum Beispiel

ZBR

Zeitschrift für Beamtenrecht

ZfZ

Zeitschrift für Zölle und Verbrauchssteuern

Ziff.

Ziffer

ZIP

Zeitschrift für Wirtschaftsrecht und Insolvenzpraxis

ZPO

Zivilprozeßordnung

ZRP

Zeitschrift für Rechtspolitik

ZZP

Zeitschrift für Zivilprozeß

Einleitung Staatlich organisierte Rechtssysteme der westlichen Welt unterliegen überwiegend einer Binnendifferenzierung in unterschiedliche Teilrechtsgebiete. Für Legislative und Judikative bringt diese Binnendifferenzierung komplexe Gestaltungsprobleme rechtlicher und sozialer Art mit sich. So hat der parlamentarische Gesetzgeber bei der ihm überantworteten Normsetzung in den unterschiedlichen Teilrechtsgebieten einerseits deren Besonderheiten zu beachten und seinen Regelungen zugrunde zu legen, andererseits aber auch um eine möglichst weitgehende Harmonisierung der normativen Ausgestaltung der Teilrechtsgebiete bemüht zu sein. Für eine an den spezifischen Anforderungen der jeweils zu beurteilenden Sachmaterien ausgerichtete Rechtsetzung kann Rechtsvereinheitlichung daher nicht Selbstzweck sein. Vielmehr gilt für sie: Soviel Einheitlichkeit wie möglich, so viele fachspezifische Regelungen wie nötig! Bei Beachtung der fachspezifischen Besonderheiten wird damit jedoch zugleich der Gedanke der Einheitlichkeit der Rechtsordnung bzw. der Rechtseinheit zu einem im Interesse der Gesamtrechtsordnung bestehenden Auftrag an den Gesetzgeber. Damit korrespondiert ein gleichlautender Auftrag an die Rechtsprechung, bei der Norminterpretation fachspezifische Besonderheiten der einzelnen Teilrechtsgebiete zu berücksichtigen, gleichzeitig aber die Einheitlichkeit der Rechtsprechung möglichst weitgehend zu wahren. Rechtsvereinheitlichung bei der Normsetzung und Rechtsprechungseinheit bei der Norminterpretation korrelieren daher miteinander. Einheitlichkeit der Rechtsprechung ist jedoch im Vergleich zur Rechtsvereinheitlichung bei der Normsetzung erheblich schwieriger zu erzielen, bedingt sie doch zumindest schon die präzise Kenntnis divergierender Rechtsauffassungen zwischen den Rechtsprechungsorganen der einzelnen Gerichtsbarkeiten (Arbeits-, Finanz-, Sozial-, Verwaltungs- und Zivilgerichtsbarkeit). Dennoch haben die Rechtsprechungsorgane im Rahmen des ihnen Möglichen und Zumutbaren (z. B. Benutzung von Rechtsprechungskarteien und Einsatz des elektronischen Datenverarbeitungssystems "Juris" zum Auffinden von Rechtsprechungsdivergenzen) ihr Entscheidungsverhalten am Gedanken der Rechtsprechungseinheit zu orientieren. Der Verfassungsrang dieses Gedankens wird seit dem 18. Juni 1968 durch Art. 95 Abs. 3 GG dokumentiert, in dem es heißt: "Zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung ist ein Gemeinsamer Senat der in Abs. 1 genannten Gerichte (Bundesgerichtshof, Bundesverwaltungsgericht, Bundesfinanzhof, Bundesarbeitsgericht und Bundessozialgericht, Hinzufügung des Verf.) zu

16

Einleitung

bilden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz." In Ausführung des Art. 95 Abs. 3 Satz 2 GG ist das Gesetz zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Juni 1968 (BGBI. I S. 661) ergangen. Gegenstand dieser Untersuchung soll der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes l sein. Der an ihn herangetragene Anspruch, die Einheitlichkeit der Rechtsprechung zwischen den obersten Gerichtshöfen des Bundes zu wahren, wird z. B. aus einer Äußerung des Abgeordneten Arndt (SPD) in der 56. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 22. Januar 1959 deutlich, wonach es mit den rechtsstaatlichen Geboten der Rechtseinheit 2, Rechtsgleichheit3 und Rechtssicherheit 4 nicht vereinbar sei, auch nur einen einzigen Widerspruch in der Rechtsprechung zwischen den fünf oberen Bundesgerichten hinzunehmen 5 . Vor dem Hintergrund dieser mit der Einrichtung des Gemeinsamen Senats verbundenen Erwartung erscheint fast zwei Jahrzehnte nach seiner Institutionalisierung eine Bestandsaufnahme seines Wirkens in der Rechtsordnung lohnend. Sie soll Auskunft geben über Anspruch und Wirklichkeit bei der Wahrung der Rechtsprechungseinheit. Im Mittelpunkt der Untersuchung wird deshalb die Bedeutung des Gemeinsamen Senats für die Wahrung der Rechtsprechungseinheit zwischen den obersten Gerichtshöfen des Bundes und die Problematik seiner Akzeptanz durch die obersten Rechtsprechungsorgane der Fachgerichtsbarkeiten stehen. Die Stellung des Gemeinsamen Senats in der Rechtsordnung und die durch ihn beeinflußte Interpretation und Fortentwicklung des geltenden Rechts sollen dabei aber keineswegs vernachlässigt werden. Die Untersuchung will folgenden Weg beschreiten: Zunächst sollen im Rahmen einer rechtshistorischen Betrachtung Ursprünge und Entwicklungstendenzen des Strebens nach Rechts- und Rechtsprechungseinheit nachgezeichnet werden. Besonderes Gewicht wird dabei den Bestrebungen zur Wahrung der Rechtsprechungseinheit zwischen verschiedenen Rechtsprechungszweigen 1 2

3

4

5

Der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes wird nachfolgend der Einfachheit halber als der "Gemeinsame Senat" abgekürzt. Zum Grundsatz der Rechtseinheit siehe sogleich ausführlich 1. Kapitel. Zum Grundsatz der Rechtsgleichheit siehe insbesondere Hesse, Der Gleichheitsgrundsatz im Staatsrecht, AöR Bd. 77 (1951/52), 167ff.; Ipsen, Gleichheit, in: Die Grundrechte, 2. Bd., hrsg. v. F. L. Neumann, H. C. Nipperdey, U. Scheuner, 1954, S. 111ff.; Kaufmann, Die Gleichheit vor dem Gesetz im Sinne des Art. 109 der Reichsverfassung, VVDStRL 3 (1927), 2ff.; Nawiasky, Die Gleichheit vor dem Gesetz im Sinne des Art. 109 der Reichsverfassung, VVDStRL 3 (1927),25 ff.; Zippelius, Allgemeine Staatslehre, § 34 11, S. 329 ff. Zum Grundsatz der Rechtssicherheit siehe insbesondere Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 325ff. m. w. N.; Henkel, Rechtsphilosophie, S. 437ff. m. w. N.; Herschel, Rechtssicherheit und Rechtsklarheit, JZ 1967, 727ff.; Rümelin, Rechtssicherheit, 1924; Wiedemann, Rechtssicherheit - Ein absoluter Wert?, in: Festschrift für Karl Larenz zum 70. Geburtstag, hrsg. v. G. Paulus, U. Diederichsen, C. W. Canaris, München 1973, S. 199ff. Arndt, Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Stenographische Berichte, 3. Wahlperiode (1958/59), Bd. 42, S. 3048 B.

Einleitung

17

zukommen. Im Anschluß daran wird die Entstehungsgeschichte des Gemeinsamen Senats dargestellt (1. Kapitel). Der rechts historischen Betrachtung folgen rechts systematische Überlegungen, die neben der Stellung des Gemeinsamen Senats in der Rechtsordnung, insbesondere im Hinblick auf tragende Ordnungs- und Strukturprinzipien der Verfassung (2. Kapitel), auch Kompetenz- und Organisations aspekte (3. Kapitel) beleuchten. Ausführlicher Behandlung bedarf sodann die Problematik der "Rechtsprechungsabweichung in einer Rechtsfrage" als Anrufungsvoraussetzung des Gemeinsamen Senats (4. Kapitel), um auf der Grundlage der dabei gewonnenen Erkenntnisse zur Praxis der Anrufung des Gemeinsamen Senats durch die obersten Gerichtshöfe des Bundes Stellung nehmen zu können (5. Kapitel). In diesem Zusammenhang soll insbesondere der bislang kaum erörterten Frage nachgegangen werden, ob bei der Anrufung des Gemeinsamen Senats im Falle einer Rechtsprechungsabweichung "Umgehungstendenzen" der obersten Gerichtshöfe hinsichtlich ihrer Vorlageverpflichtung festzustellen sind. Die dabei konstatierten Umgehungen des Gemeinsamen Senats durch die obersten Gerichtshöfe des Bundes geben Anlaß dazu, über verfassungsrechtliche Konsequenzen einer derartigen Vorgehensweise nachzudenken (6. Kapitel). Die festgestellten Umgehungen werden jedoch zugleich auch als Auftrag begriffen, in einem Ausblick Überlegungen zur Behebung der Defizite bei der Wahrung der Rechtsprechungseinheit innerhalb der obersten Fachgerichtsbarkeit anzustellen. Die Untersuchung beschließt ein Anhang, in dem sich neben dem Gesetz zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Juni 1968 eine Korrespondenzliste der veröffentlichten Entscheidungen des Gemeinsamen Senats (mit Leitsatz) befindet.

Erstes Kapitel

Ursprünge und Entwicklungstendenzen des Strebens nach Rechts- und Rechtsprechungseinheit I. Das Streben nach Rechtseinheit und seine Bedeutung für das Gemeinwesen "Jede soziale Gemeinschaft verlangt nach Rechtseinheit"l. Rechtseinheit ist einerseits eine Forderung der Gerechtigkeit, die gleiches Recht für alle verlangt, andererseits aber auch eine Forderung der Rechtssicherheit, weil die Rechtsunterworfenen nur dann erkennen können, welche Entscheidung ein Rechtsfall finden wird und sie ihr Verhalten nur dementsprechend auszurichten vermögen, wenn rechtlich gleichliegende Fälle auch rechtlich gleich entschieden werden. Nicht allein durch die Einheitlichkeit der Gesetzgebung, sondern gerade auch durch die Einheitlichkeit der Gesetzesauslegung und -anwendung wird Rechtseinheit gewährleistet. Der Gedanke der Rechtseinheit ist dabei als Zielbegriff zu verstehen, der dem Interpreten die normative Durchdringung komplexer Rechtsprobleme und beim Auftauchen von Antinomien deren Harmonisierung auferlegt, soweit die methodischen und rechtsstaatlich-normativen Grenzen der Verfassungsinterpretation und der Verfassungskonkretisierung eingehalten werden 2 . Letztlich wird der Grundsatz der Rechtseinheit damit zu einem ordnungs- und friedensstiftenden Element staatlichen Zusammenlebens. Als Ursache des Strebens nach Rechtseinheit wird dabei zum Teil eine metarechtliche, geistig-sittliche Grundhaltung einer jeden Volksgemeinschaft geltend gemacht. Aufgrund dieser erscheine das Streben nach Rechtseinheit nicht nur als notwendige Forderung einer jeden sozialen Gemeinschaft, sondern auch als idealer Ausdruck des Gemeinschaftsbewußtseins eines Volkes. Neben der Sprache binde und festige kaum etwas eine politische Gemeinschaft derart wie die Einheit der Rechtsordnung3 • Die Bedeutung des Strebens nach Rechtseinheit4 werde insbesondere dann deutlich, wenn man sich die integrierende

1 2

3 4

v. Weber, Rechtseinheit und Rechtsprechung, S. 3. Müller, Juristische Methodik, S. 172. Hanack, Ausgleich divergierender Entscheidungen, S. 7 m. w. N. Zum Streben nach Rechtseinheit und seiner Bedeutung siehe aus der Rechtslehre insbesondere v. Gerlach, Rechtseinheit in Deutschland, DRiZ 1979, 308ff.; Getz, Rechtseinheit, 1966; Hanack, ebd., S. 7ff.; Jagusch, Die Wahrung der Rechtseinheit, DRZ 1949, 434ff.; Lauterjung, Einheit der Rechtsprechung, Strafrechtliche Abhandlungen Heft 300, 1932; Rosenberg , Das Reichsgericht und die Rechtseinheit, DJZ 1924, Sp. 260ff.; Schiffer,

11. Rechts- und Rechtsprechungseinheit in Deutschland

19

Kraft vergegenwärtige, die von der Anwendung einheitlichen und auf gleichen Grundsätzen beruhenden Rechts ausgehe. Rechtszersplitterung hingegen werde als Trennung und Hemmung des Zusammengehörigkeitsgefühls einer Volksgemeinschaft empfunden. Die sich zusammengehörig fühlende Gemeinschaft wolle vielmehr auch unter einem Recht stehen. Diese metarechtliche Grundhaltung einer Volksgemeinschaft darf als mögliche Ursache des Strebens nach Rechtseinheit sicher nicht unberücksichtigt bleiben, wenngleich sie in ihrer Bedeutung auch nicht überschätzt werden sollte. Neben ihr sind nämlich reale politische und ökonomische Faktoren von erheblicher Bedeutung. So erleichtert einheitliches Recht den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verkehr zwischen Volksgemeinschaften 5 . Die Entwicklung von Handel, Wirtschaft und Verkehr wird vorangetrieben, wenn das Recht einheitlich gestaltet ist. In diesem Lichte sind auch die Bestrebungen zur Herstellung größerer Einheitlichkeit im Recht Europas zu sehen. Sowohl eine ideelle Grundhaltung, die nach einem "gemeinsamen und geeinten Europa" strebt, als auch handfeste politische und wirtschaftliche Erwägungen legen Rechtsvereinheitlichung nahe und fördern diese 6 • Der Gedanke der Rechtseinheit entfaltet damit nicht nur innerhalb einer Volksgemeinschaft integrierende Kraft, sondern er kann auch zwischen Volksgemeinschaften kooperativ und völkerverständigend wirken. 11. Rechtseinheit und Rechtsprechungseinheit in Deutschland Der Gedanke, eine einheitliche Rechtsordnung zu schaffen, findet sich bereits vor über 1000 Jahren in dem Vorschlag eines fränkischen Prälaten, das fränkische Stammesrecht zum Reichsrecht zu erheben 7 • Trotzdem hat Deutschland erst spät Rechtseinheit erzielen können, denn die im Frankenreich bestehende Einheit der Rechtsordnung zerfiel mit dem Niedergang des

5 6

7

Rechtseinheit, DJZ 1931, Sp. 654ff.; Schräder, Rechtseinheit und richterliche Entscheidungsfreiheit, NJW 1959, 1517ff.; Schwartz, Die Geschichte der privatrechtlichen Kodifikationsbestrebungen in Deutschland und die Entstehungsgeschichte des Entwurfs eines bürgerlichen Gesetzbuchs für das Deutsche Reich, Archiv für Bürgerliches Recht Bd. 1 (1889), 1ff.; Sohm, Die dc:utsche Rechtsentwicklung und die Codifikationsfrage, Zeitschrift für das Privat- und Offentliche Recht der Gegenwart (Grünhuts Zeitschrift) Bd. 1 (1874), 245ff.; v. Weber, Rechtseinheit und Rechtsprechung, S. 3ff.; Zeiler, Ordnung, Sicherheit, Einheit des Rechts, JW 1914, 217ff.; ders., Um Einheit und Sicherheit des Rechts, DRiZ 1925, Sp. 61 ff.; aus rechtstheoretischer Sicht siehe insb. Krawietz, Identität oder Einheit des Rechtssystems? , in: Japanisches und europäisches Rechtsdenken - Versuch einer Synthese philosophischer Grundlagen, hrsg. v. M. Yasaki I A. Troller I J. L1ompart, Rechtstheorie 16 (1985), 233ff. Enneccerusl Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 1. Halbband, § 11 IV, S.44. Zur europäischen Rechtseinheit siehe auch Coing, Die historischen Grundlagen der europäischen Rechtseinheit, in: Jahrbuch der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften E. V. 1973, S. 24ff. Hanack, Ausgleich divergierender Entscheidungen, S. 9 m. w. N.

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1. Kapitel: Streben nach Rechts- und Rechtsprechungseinheit

Reiches 8 • Danach herrschte jahrhundertelang eine Rechtszersplitterung großen Ausmaßes 9 . Auch Rezeption JO und Kodifikation von Landesrechten 11 vermochten diese Entwicklung nur unvollkommen aufzuhalten. Erst die zunehmenden Bedürfnisse der Wirtschaft und das nationale Erlebnis der Freiheitskriege führten zu dem Streben nach Rechtseinheit in Deutschland l2 . Dieses Streben nach Einheit der Rechtsordnung entfaltete seine Wirkungen in mehrfacher Weise. Neben der Rechtseinheit im Bereich der Normsetzung und derjenigen im Bereich des Gerichtswesens wurde Einheit auch auf dem Gebiet des Verfahrensrechts angestrebt. 1. Das Streben nach Rechtseinheit im Bereich der Normsetzung

Im Bereich der Normsetzung entwickelte sich nach der Aufklärung und der Französischen Revolution, aber auch insbesondere als Ergebnis der revolutionären Bewegung von 1848, in den deutschen Einzelstaaten eine Gesetzgebungstätigkeit ungewohnten Ausmaßes. Folge dieser Gesetzgebungs- und Kodifikationsvorhaben war eine weitgehende Zersplitterung des Rechts, da alsbald jeder Einzelstaat sein eigenes Recht geschaffen hatte 13. Dem Ruf nach Rechtsvereinheitlichung wurde zuerst der Deutsche Bund gerecht, der durch den Entwurf und die 1848 erfolgte Verkündung der Allgemeinen Deutschen Wechselordnung zumindest auf dem Gebiet des Handels- und Wechsel rechts für Rechtseinheit sorgte. Diese Allgemeine Deutsche Wechselordnung wurde dann in allen deutschen Ländern durch Landesgesetz eingeführt l 4, später vom Norddeutschen Bund übernommen und 1871 zum Reichsgesetz erklärt l5 . Ebenso trug der 1861 den deutschen Einzelstaaten von der Bundesversammlung vorgelegte Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuches, den die meisten Länder übernahmen, zur Rechtsvereinheitlichung bei. Im Jahre 1871 wurde dieses Gesetz dann sogar auf das gesamte Reichsgebiet ausgedehnt. Maßgeblichen Anteil an der Herstellung der Rechtseinheit im Bereich der Normsetzung hatte schließlich der Norddeutsche Bund, der durch die

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Schröder/v. Künßberg, Rechtsgeschichte, § 50, S. 637ff. Ebd.; Sohm, Di(! deutsche Rechtsentwicklung und die Codifikationsfrage, Zeitschrift für das Privat- und Offentliche Recht der Gegenwart (Grün huts Zeitschrift) Bd. 1 (1874),245 (248ff.). Schröderlv. Künßberg, Rechtsgeschichte, § 66, S. 864ff. Ebd., S. 926ff. Siehe dazu Schwartz, Die Geschichte der privatrechtlichen Kodifikationsbestrebungen in Deutschland und die Entstehungsgeschichte des Entwurfs eines bürgerlichen Gesetzbuchs für das Deutsche Reich, Archiv für Bürgerliches Recht Bd. 1 (1889), 1 ff. v. Ger/ach, Rechtseinheit in Deutschland, DRiZ 1979, 308. Siehe z. B. Gesetz, die Einführung der allgemeinen deutschen Wechselordnung betreffend, vom 25. April 1849, Gesetz- und Verordnungsblatt für das Königreich Sachsen vom Jahre 1849, Nr. 37, S. 68ff. v. Gerlach, Rechtseinheit in Deutschland, DRiZ 1979, 308f.

11. Rechts- und Rechtsprechungseinheit in Deutschland

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1869 erlassene Gewerbeordnung 16 zur Vereinheitlichung des Gewerbewesens und durch das 1871 geschaffene Strafgesetzbuch 17 zur Rechtseinheit auf dem Gebiet des Strafrechts beitrug. Im Bereich des Privatrechts brachte das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) vom 18. 8. 189618 die nach Jahrhunderten der Rechtszersplitterung erstrebte Rechtseinheit. Zwar hatte es schon früher Normen gegeben, die allgemeine Geltung besaßen, aber diese gewohnheitsrechtlichen Regeln und das rezipierte römische Recht - in Gestalt des sog. Gemeinen Rechts - wirkten nur subsidiär. Ursache dafür war der deutschrechtliche Grundsatz "Stadtrecht bricht Landrecht, Landrecht bricht Reichsrecht"19. Außerdem bildete die im 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts einsetzende Kodifikationswelle 20 ein schweres Hindernis zur Schaffung eines einheitlichen deutschen Zivilrechts. Erst die Reichsgründung im Jahre 1871 schuf hierfür eine tragfähige Grundlage, weil die Verfassung des Reichs seit der Novelle von 1873 das Bürgerliche Recht dem Kompetenzbereich der Reichsgesetzgebung zuordnete. Damit war der Weg zur Rechtsvereinheitlichung auch auf dem Gebiet des Privatrechts geebnet. 2. Das Streben nach einer einheitlichen Gerichtsbarkeit

Von Anfang an hat bei dem Streben nach Rechtseinheit in Deutschland die Frage nach einer einheitlichen Gerichtsbarkeit 21 eine wichtige Rolle gespielt. Das Ringen um eine einheitliche deutsche Gerichtsbarkeit ist aufs engste mit zwei Faktoren verknüpft, zum einen mit den Rechtsvereinheitlichungsbestrebungen im Bereich der Normsetzung, zum anderen mit den politischen Entwicklungen des 18. und 19. Jahrhunderts. Eine die Entwicklung der Rechtseinheit im Bereich des Gerichtswesens betreffende Untersuchung muß daher grundsätzlich diese beiden Faktoren mit berücksichtigen.

Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund. Vom 21. 6.1869., Bundes-Gesetzblatt des Norddeutschen Bundes 1869, Nr. 312, S. 245ff. 17 Gesetz, betreffend die Redaktion des Strafgesetzbuchs für den Norddeutschen Bund als Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich. Vom 15. 5. 1871., Reichs-Gesetzblatt 1871, Nr. 651, S. 127ff. 18 Bürgerliches Gesetzbuch. Vom 18. 8. 1896., Reichs-Gesetzblatt 1896, Nr. 2321, S. 195 ff. 19 Palandt/Heinrichs, Bürgerliches Gesetzbuch, Einleitung, I, 1), S. 1. 20 In Bayern: Codex Maximilianus Bavaricus (1756); in Preußen: Das Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten (1794); in Baden: Das Badische Landrecht (1809); in Sachsen: Das Bürgerliche Gesetzbuch für das Königreich Sachsen (1863). 21 Zum Problemkreis "Einheitliche Gerichtsbarkeit" siehe Hanack, Ausgleich divergierender Entscheidungen, S. lOff.; Kern, Einheitliche Gerichtsbarkeit, DRiZ 1956, 214ff.; Lauterjung, Einheit der Rechtsprechung, Strafrechtliche Abhandlungen Heft 300,1932; Marquordt, Von der Einheit der Rechtsprechung, JR 1955, 161ff.; Meier-Scherling, Das Plenum, die Großen Senate und der Gemeinsame Senat, Heymanns Almanach 1977, S. 49ff.; Schiffer, Neue Vorschläge zur Beschleunigung und Vereinheitlichung der Rechtspflege, JW 1914, 2ff.; Schultzenstein, Über die Einheit der Rechtsprechung, ZZP Bd. 18 (1893), 88 ff.; Solbrig, Gerichtsbarkeit, 1919. 16

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1. Kapitel: Streben nach Rechts- und Rechtsprechungseinheit

Schon 1806 tauchen in Deutschland erste Gedanken bezüglich einer einheitlichen obersten Gerichtsbarkeit auf. Sie wird dabei als ein "Mittel zur Festigung des politischen Zusammenhalts"22 angesehen, um nach dem Zerfall des alten Reiches die Zersplitterung Deutschlands in eine Vielzahl juristisch und politisch selbständiger Staaten zu verhindern 23 . Während in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf staatsrechtlichem Terrain die Forderung nach einer einheitlichen Gerichtsbarkeit laut wurde, blieb sie auf dem Gebiet der "ordentlichen Rechtsprechung" fast gänzlich unerörtert24 • Als Ursache dafür müssen mehrere Gesichtspunkte in Betracht gezogen werden. Zum einen waren zur Zeit des Wiener Kongresses weder die ideellen noch die politischen Voraussetzungen zur Schaffung einheitlichen Rechts und damit auch einer einheitlichen Gerichtsbarkeit gegeben. Zum anderen hatten sich die wirtschaftlichen Beziehungen der Einzelstaaten untereinander noch nicht in dem Ausmaß entwickelt, wie dies einige Jahre später der FaII war. Somit war aus wirtschaftlicher Sicht die Notwendigkeit für eine Rechtsvereinheitlichung noch nicht ersichtlich. Zudem dürfen aber ebensowenig Bedeutung und Einfluß wichtiger Staatsmänner und Juristen, wie etwa v. Savigny, übersehen werden. Gerade v. Savigny, der 1814 mit seiner Schrift "Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft"25 den Disput mit Thibaut über die Notwendigkeit einer Kodifikation und Vereinheitlichung des Rechts führte, war maßgeblich daran beteiligt, daß sich das Streben nach Rechtseinheit zu diesem Zeitpunkt nicht durchsetzen konnte 26 . Wenn auch der Deutsche Bund (1815-1866) nur eine sehr lose Gerichtsbarkeit erlangte, so blieben trotzdem die Bemühungen und Bestrebungen zur Vereinheitlichung der Staatsrechtspflege lebendig. Daß sie niemals erlahmten, ist auf die politischen und nationalen Wünsche nach staatlicher Einheit zurückzuführen 27 . Auf dem Gebiet der "ordentlichen Rechtspflege" hingegen mußten sich erst die Bestrebungen zur Vereinheitlichung des materieIIen Rechts und die infolge der industrieIIen Umwälzungen in Wirtschaft und Verkehr hervorgerufenen Strukturveränderungen durchsetzen 28 . Am Ausgangspunkt der danach einsetzenden Entwicklung standen Reformvorschläge aus Bayern, Baden und Sachsen. Ihr Ziel war die Schaffung einer einheitlichen deutschen Gerichtsverfassung mit einem Reichsgericht als letzter Instanz für Fragen des Staats-, Zivil- und Strafrechts29 . Die Reformvorschläge Hanack, Ausgleich divergierender Entscheidungen, S. 11 m. w. N. Solbrig, Gerichtsbarkeit, S. 14f. 24 Ebd., S. 28f. 25 Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 1814. 26 Gmür, Savigny, S. 18ff. 27 Solbrig, Gerichtsbarkeit, S. 51; siehe dort auch zur Bedeutung der Ideen des Nationalismus und Konstitutionalismus für das Streben nach einheitlicher Gerichtsbarkeit. 28 Ebd., S. 82 m. w. N. 29 Hanack, Ausgleich divergierender Entscheidungen, S. 14. 22 23

II. Rechts- und Rechtsprechungseinheit in Deutschland

23

zeigen, daß die beginnende Rechtsvereinheitlichung im Bereich der Normsetzung auch zur Vereinheitlichung der Gerichtsbarkeit drängte, "um eine Verschiedenartigkeit der Auslegung des einheitlichen Rechts in der einzelstaatlichen Rechtsprechung zu verhindern"30. Realisieren konnte diese Bestrebungen jedoch erst der Norddeutsche Bund. Mit dem am 5. 8. 1870 in Leipzig errichteten Bundesoberhandelsgericht, das für die Einheit und Fortbildung des Handelsrechts zu sorgen hatte, leistete er einen wichtigen Beitrag zur Rechtsvereinheitlichung. Seit dem 16. 4. 1871 führte es den Namen Reichsoberhandeisgericht (ROH G), bevor es 1879 im Reichsgericht aufging3!. Die Errichtung des Reichsgerichts am 1. 10. 1879 war der vorläufige Höhepunkt im Streben nach einer einheitlichen Gerichtsbarkeit auf dem Gebiet der "ordentlichen Rechtspflege,m. Seine Gründung ist auf die nach langer Vorbereitung und schweren parlamentarischen Auseinandersetzungen im Reichstag beschlossenen Reichsjustizgesetze 33 zurückzuführen. Dabei brachte insbesondere das Gerichtsverfassungsgesetz die in Deutschland lang ersehnte Rechtseinheit unter Verwirklichung alter rechtsstaatIicher Forderungen, wie etwa der Aufhebung aller Privatgerichtsbarkeit zugunsten staatlicher Gerichte oder der Unabhängigkeit und Selbstverwaltung der Gerichte. Auch die Gewähr der Rechtsprechungseinheit auf dem Gebiet der "ordentlichen Rechtspflege" durch ein Reichsgericht ist unmittelbar mit dem Gerichtsverfassungsgesetz verbunden 34 , als Beispiel soll hier nur § 137 G VG mit seiner Möglichkeit der "Rechtseinheitssenate" (~ Vereinigte Senate) genannt werden. Auf dem Gebiet des Verwaltungsrechts ist in Rudolf von Gneist der wesentliche Initiator einer selbständigen Verwaltungsgerichtsbarkeit zu sehen. Seine Arbeiten trugen dazu bei, daß sich die Forderungen nach einer eigenständigen Verwaltungsgerichtsbarkeit insbesondere gegen die von OUo Bähr vertretene "justizstaatliche" Auffassung durchsetzen konnten, wonach der Rechtsschutz allein durch die "ordentlichen Gerichte" zu erfolgen habe 35 . Trotzdem entwikkelte sich die Verwaltungsgerichtsbarkeit nur sehr langsam. Den Grundstein ihrer Entwicklung legte das badische Gesetz über die Organisation der inneren Verwaltung vom 5. 10. 1863. In der Folgezeit entstanden dann auch in den übrigen deutschen Ländern selbständige Verwaltungsgerichte. Die preußische Verwaltungsgerichtsbarkeit wurde dabei insbesondere durch das am 1. 10. 1875 errichtete Preußische Oberverwaltungsgericht geprägt, das weitgehenden Rechtsschutz in verwaltungsrechtIichen Streitigkeiten gewährte. Daneben be30 Ebd.

Siehe dazu Achterberg, in: BK, Art. 92 Rdnr. 17; Laufs, Die Anfänge einheitlicher höchster Gerichtsbarkeit in Deutschland, JuS 1969, 256 (258f.). 32 Siehe dazu Buschmann, 100 Jahre Gründungstag des Reichsgerichts, NJW 1979, 1966ff. 33 Dazu v. Gerlach, Rechtseinheit in Deutschland, DRiZ 1979, 308ff.; Kissel, 100 Jahre Gerichtsverfassungsgesetz, NJW 1979, 1953 ff. 34 Achterberg, in: BK, Art. 92 Rdnr. 20. 35 Zu den Positionen R. v. Gneists und O. Bährs siehe Weber, Lehre vom Rechtsstaat, 1968. 3!

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1. Kapitel: Streben nach Rechts- und Rechtsprechungseinheit

stand eine Vielzahl von besonderen Verwaltungsgerichten (z. B. Reichskartellgericht, Reichswirtschaftsgericht , Reichsbahngericht )36. An die im Bereich der "ordentlichen Rechtspflege" bereits 1879 erzielten Erfolge hinsichtlich einer einheitlichen Gerichtsbarkeit (Gründung des Reichsgerichts) konnte auf dem Gebiet des Verwaltungsrechts erst unter der Weimarer Reichsverfassung ansatzweise angeknüpft werden. So sah die Weimarer Reichsverfassung unter dem Eindruck wachsender Gesetzgebungs- und Verwaltungsbefugnisse des Staates sowie aus dem Bemühen, der verwaltungsgerichtlichen Vielfalt Einhalt zu gebieten, die Einrichtung eines Reichsverwaltungsgerichtes vor. Dazu kam es jedoch trotz mehrerer Versuche nicht mehr; die am 3. 4. 1941 vollzogene Errichtung eines "Reichsverwaltungsgerichtes" muß vor dem Hintergrund nationalsozialistischer Gewaltherrschaft gesehen werden. Zur Rechtsvereinheitlichung auf der Grundlage und gemessen am Maßstab rechtsstaatlicher Prinzipien konnte das "Reichsverwaltungsgericht", bedingt durch die Festlegung seiner Rechtsanwendung auf die "nationalsozialistische Weltanschauung", nicht beitragen37 • Auf dem Gebiet der Staats- bzw. Verfassungsgerichtsbarkeit38 entwickelten sich im Hinblick auf eine einheitliche Gerichtsbarkeit bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts erste Impulse. So sahen etwa die Wiener Schlußakte vom 15. 5. 1820 und die Deutsche Bundesakte vom 8.6. 1815 sowie die frühkonstitutionellen landständischen Verfassungen einen teilweisen juristischen Verfassungsschutz vor. Sie werden daher auch als "Ursprung der modernen Verfassungsgerichtsbarkeit im eigentlichen Sinne" angesehen 39 . Besonders die Staatsgerichtshöfe der deutschen Mittelstaaten haben - durch ihre institutionelle Verankerung begünstigt - eine bedeutende Rolle bei der Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit gespielt. Nach Ablösung der Monarchie im Jahre 1918 führte die Weimarer Reichsverfassung das Streben nach Rechtseinheit auf dem Gebiet der Verfassungsgerichtsbarkeit fort. Ihren vorläufigen Höhepunkt fand diese Entwicklung schließlich im Staatsgerichtshof des Deutschen Reichs 40 , der am 9. 7. 1921 ins Leben gerufen wurde 41 • 36 37

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Anschütz, Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 107 Anm. 4., S. 438f. Achterberg, in: BK, Art. 92 Rdnr. 36; siehe aber auch ders., Strukturen der Geschichte der Verwaltung, DÖV 1979, 77ff.; ders., Allgemeines Verwaltungsrecht, § 2 Rdnr. 50; Hanack, Ausgleich divergierender Entscheidungen, S. 16; Meyer-Hesemann, MethodenwandeI, S. 96 m. w. N. in Fn. 48. Zur unterschiedlichen Verwendung der Begriffe siehe Stern, Staatsrecht, Bd. II, § 44 III 3, S. 968f.; zu den historischen Grundlagen der Verfassungsgerichtsbarkeit siehe insbesondere Scheuner, Die Überlieferung der deutschen Staatsgerichtsbarkeit im 19. und 20. Jahrhundert, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Festgabe aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, Erster Band. hrsg. v. ehr. Starck, Tübingen 1976, S. 1 ff. Stern, ebd., § 44 III 5, S. 970 m. w. ;'i Vgl. dazu Kelsen, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, VVDStRL 5 (1929) 30ff.; Triepel, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, VVDStRL 5 (1929), 2ft'. Zur Entwicklung der Arbeits-, Sozial- und Finanzgerichtsbarkeit siehe Achterbcrg , in: BK, Art. 92 Rdnr. 26-30.

II. Rechts- und Rechtsprechungseinheit in Deutschland

25

Bei der nach Niederwerfung des nationalsozialistischen Regimes erfolgten Übernahme der Hoheitsgewalt durch die Besatzungsmächte herrschten in der Rechtspflege zunächst Rechtsunsicherheit und Rechtszersplitterung. Doch schon bald setzten Bemühungen ein, die Rechtsprechungseinheit wiederherzustellen. So wurde bereits 1947 in der Britischen Zone ein Oberster Gerichtshof geschaffen. Ein Jahr später entstand für das Vereinigte Wirtschaftsgebiet ein "Deutsches Obergericht", das als Revisionsinstanz alle Zweige der verschiedenen Gerichtsbarkeiten zusammenfaßte. In den Jahren 1950-1954 wurden dann schließlich auf den überkommenen Sachgebieten oberste Bundesgerichte errichtet42 . Mit der Schaffung dieser Gerichte fand das Streben nach einer einheitlichen Gerichtsbarkeit einen ersten erfolgreichen Abschluß. 3. Das Streben nach einem einheitlichen Verfahrensrecht

Eine Untersuchung zur Rechts- und Rechtsprechungseinheit in Deutschland darf jedoch nicht die Vereinheitlichungstendenzen auf dem Gebiet des Verfahrensrechts außer acht lassen. Aufgrund einer Empfehlung des Deutschen Juristentages aus dem Jahre 1860 hatte bereits 1862 der Deutsche Bund den Plan für eine gemeinsame Zivilprozeßordnung gefaßt. Dank der außerordentlichen Anstrengungen des Deutschen und des Norddeutschen Bundes konnte 1879 mit den Reichsjustizgesetzen (Gerichtsverfassungsgesetz, Zivilprozeßordnung, Strafprozeßordnung, Konkursordnung) in weiten Bereichen bereits ein einheitliches Verfahrensrecht erzielt werden. Insbesondere das Gerichtsverfassungsgesetz hatte, neben seiner Bedeutung für die Begründung eines einheitlichen Gerichtswesens, an der Verwirklichung der großen liberalistischen Reformbestrebungen des 19. Jahrhunderts maßgeblichen Anteil. So wurde endgültig das staatliche Gerichtsmonopol anerkannt, der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit verankert und das Volk über die Laienmitwirkung an der Rechtsprechung beteiligt 43 . Schwierig gestaltete sich aber die Verfahrensvereinheitlichung im Bereich des Zivilprozesses. Ursache dafür war der Umstand, daß Deutschland in drei Rechtsgebiete mit unterschiedlichen Prozeßformen zerfiel. Es galt somit aus den Prozeßformen des gemeinen, preußischen und französischen Rechts (in den linksrheinischen Gebieten) eine praktisch brauchbare und der schnellen

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Am 8. 10. 1950 wurde der Bundesgerichtshof, am 21. 10. 1950 der Bundesfinanzhof, am 8. 6.1953 das BundesverwaItungsgericht, am 10. 5. 1954 das Bundesarbeitsgericht und am 11. 9. 1954 das Bundessozialgericht errichtet, dazu auch Achterberg, in: BK, Art. 95 Rdnr. 138ff. ~'. Gerlach, Rechtseinheit in Deutschland, DRiZ 1979, 308 (309f.); siehe dort auch zur Verwirklichung des Grundsatzes der Öffentlichkeit und Mündlichkeit der Gerichtsverhandlung als einer weiteren Forderung des Liberalismus.

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1. Kapitel: Streben nach Rechts- und Rechtsprechungseinheit

sowie sicheren Rechtsfindung entsprechende Synthese zu bilden. Heute läßt sich sagen, daß die Zivilprozeßordnung diese große und schwierige Aufgabe insgesamt zufriedenstellend gelöst hat. In der Zeit nach 1879 blieben das Gerichtsverfassungsgesetz, die Zivilprozeß- und die Strafprozeßordnung zwar in ihren Grundlagen erhalten, erfuhren aber im Laufe der Zeit durch einige Novellen doch manche Wandlungen. Für den Bereich des Privatrechts sind aus der Zeit des Kaiserreichs besonders die Novellen vom 17.5. 1898 zur Anpassung der Reichsjustizgesetze an die Kodifikation des Privatrechts im BGB und HGB zu nennen. Außerdem ist auf den Erlaß des Arbeitsgerichtsgesetzes am 23. 12. 1926 hinzuweisen 44 • Auf dem Gebiet des Gerichtsverfassungsgesetzes und der Strafprozeßordnung erfolgte eine einschneidende Änderung des Verfahrensrechts insbesondere durch die Emminger-Justizreform im Jahre 192445 • Für den Untersuchungsaspekt "Rechts- und Rechtsprechungseinheit in Deutschland" ist jedoch primär das "Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung, der bürgerlichen Rechtspflege, des Strafverfahrens und des Kostenrechts" vom 12. 9. 195046 von Bedeutung. Als wesentliche Aufgabe kam ihm die Beseitigung der nach 1945 eingetretenen Rechtsunsicherheit und Rechtszerspliuerung zu. Dem Gesetz folgten wenige Zeit später vereinheitlichende Kodifikationen auf dem Gebiet der Bundesfinanz-47, B undesverwaltungs- 48, Arbeits- 49 und Sozialgerichtsbarkeit50 . Zu diesen Gesetzeswerken traten schließlich noch 1960 die Verwaltungsgerichtsordnung51 und 1965 die Finanzgerichtsordnung52 hinzu. Mit diesen Kodifikationen war es dem Gesetzgeber gelungen, bei der verfahrensrechtlichen Ausgestaltung der obersten Gerichtsbarkeit im Konsens mit und in der Kontinuität der geschichtlichen Tradition einen wichtigen Beitrag zur Wahrung und Festigung der Rechtsprechungseinheit zu leisten. Dennoch begann schon nach kurzer Zeit erneut die Diskussion um eine weitergehende Vereinheitlichung der Verfahrensordnungen. Aus dem Kreise der Anwalt- und Richterschaft wurde in der Folgezeit eine Angleichung der Verfahrensvor-

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Zur Entstehung einheitlichen Prozeßrechts siehe näher Rosenberg/Schwab, Zivilprozeßrecht, § 5, S. 23 ff. Siehe dazu Peters, Strafprozeß, § 12, S. 68. BGB!. 1950, I, S. 455ff. Gesetz über den Bundesfinanzhof vom 29. Juni 1950, BGB!. 1950, I, S. 257f. Gesetz über das Bundesverwaltungsgericht vom 23.9. 1952, BGB!. 1952, I, S. 625ff. Arbeitsgerichtsgesetz vom 3.9. 1953, BGB!. 1953, I, S. 1267ff. Sozialgerichtsgesetz (SGG) vom 3. 9. 1953, BGB!. 1953, I, S. 1239ff. Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) vom 21. 1. 1960, BGB!. 1960, I, S. 17ff. Finanzgerichtsordnung (FGO) vom 6. 10. 1965, BGB!. 1965, I, S. 1477ff.

11. Rechts- und Rechtsprechungseinheit in Deutschland

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schriften, die weitere Vereinheitlichung der Gerichtsorganisation und eine einheitliche Prozeßordnung gefordert. Im November 1956 appellierte der Bundestag an die Bundesregierung, eine einheitliche Prozeßordnung für alle Gerichtszweige vorzulegen. In diese Richtung gingen auch die Vorschläge der Deutschen Juristentage 1957 und 1962. Teilweise wurde dabei angeregt, zur schrittweisen Verwirklichung dieses Vorhabens zunächst die öffentlich-rechtlichen Gerichtszweige zu vereinheitlichen und in einer Prozeßordnung zusammenzufassen. Dem entsprach der "Speyerer Entwurf" eines Verwaltungsgerichtsgesetzes von 1969. Im November 1968 hatte die Bundesregierung beschlossen, einen Koordinationsausschuß zur Vereinheitlichung der drei öffentlich-rechtlichen Verfahrensordnungen zu berufen. Dieser legte im September 1976 den sog. Kommissionsentwurf vor. Nach umfassender Überarbeitung brachte die Bundesregierung in der 9. Legislaturperiode im Jahre 1982 den Entwurf einer einheitlichen Verwaltungsprozeßordnung (EVwPO) im Bundestag ein. Da es in dieser Legislaturperiode nicht mehr zu einer Verabschiedung des Entwurfes kam, brachte die Bundesregierung die EVwPO in der 10. Legislaturperiode neu ein. Unter dem 31. 5. 1985 hat die Bundesregierung nunmehr die EVwPO dem Bundestag zugeleitet. Die Novelle, der der Bundesrat bereits im April 1983 im wesentlichen zugestimmt hatte, wurde am 26.6. 1985 in erster Lesung beraten und an die Ausschüsse überwiesen 53 . Eine einheitliche Verwaltungsprozeßordnung steht damit noch immer aus. Es bleibt nur die Hoffnung, daß es in dieser Legislaturperiode tatsächlich doch noch - wie beabsichtigt - zu einer endgültigen Verabschiedung der EVwPO durch den Gesetzgeber kommt.

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Zur Diskussion um den Entwurf einer Verwaltungsprozeßordnung siehe ausführlich Kopp, Entlastung der Verwaltungsgerichte und Beschleunigung des Verfahrens nach dem Entwurf einer Verwaltungsprozeßordnung (EVwPO), DVBI. 1982, 613ff.; Laubinger, Ein weiterer Schritt auf dem Wege zur Verwaltungsprozeßordnung, DÖV 1982,895 ff.; Merlen (Hrsg.), Die Vereinheitlichung der Verwaltungsgerichtsgesetze zu einer Verwaltungsprozeßordnung, 1978; Meyer-Ladewig, Die Vereinheitlichung der öffentlich-rechtlichen Prozeßordnungen, in: System des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes, Festschrift für Christian-Friedrich Mengerzum 70. Geburtstag, hrsg. v. H.-U. Erichsen, W. Hoppe, A. v. Mutius, Köln· Berlin· Bonn· München 1985, S. 833ff.; Redeker, Bemerkungen zum Entwurf einer Verwaltungsprozeßordnung aus anwaltlicher Sicht, DVBI. 1982, 805ff.; Schenke, Mehr Rechtsschutz durch eine einheitliche Verwaltungsprozeßordnung?, DÖV 1982, 709ff.; Scholz, Die Verwaltungsprozeßordnung im Gesetzgebungsverfahren, DVBI. 1982, 605ff.; Schrouff, Gut Ding will Weile haben, DRiZ 1985, 362; Sendler, Guter Rechtsschutz und Verfahrensbeschleunigung, DVBI. 1982, 812ff.; Trzaskalik, Die Vereinheitlichung der Verwaltungsprozeßordnungen, NJW 1982, 1553ff.; Ule, Effektiver Rechtsschutz in einer funktionsfähigen Rechtspflege?, DVBI. 1982, 821ff.

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1. Kapitel: Streben nach Rechts- und Rechtsprechungseinheit

III. Entwicklungstendenzen bezüglich der Wahrung der Rechtsprechungseinheit zwischen verschiedenen Rechtsprechungszweigen Gleichsam parallel zu den Bemühungen, die Rechtsprechungseinheit innerhalb einzelner Rechtsprechungszweige durch die Errichtung oberster Gerichte zu wahren, wurde schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Notwendigkeit gesehen, auch die Rechtsprechungseinheit zwischen verschiedenen Rechtsprechungszweigen sicherzustellen. Man erkannte nämlich, daß das Nebeneinander der Rechtsprechung des Reichsgerichts, der Oberlandesgerichte, der obersten Verwaltungsgerichte der Länder und des Reichsfinanzhofs die rechtsstaatlichen Postulate der "Rechtseinheit" und "Rechtssicherheit" erheblich gefährdete 54 • Infolgedessen wurden in der Rechtslehre zahlreiche Vorschläge gemacht, wie die Rechtsprechungseinheit zwischen verschiedenen Rechtsprechungszweigen gewahrt werden könne 55 • Nachfolgend sollen die Entwicklungslinien und -tendenzen dieser Vorschläge dargestellt werden. Bei der Erstellung dieser Entwicklungslinien ist insbesondere der verfassungs- und gerichtsverfassungshistorische Hintergrund zu berücksichtigen. Unter den Vorschlägen zur Wahrung der Rechtsprechungseinheit zwischen verschiedenen Rechtsprechungszweigen sind zwei Kategorien, in denen Entwicklungslinien sichtbar werden, zu trennen. Zum einen handelt es sich um Entwicklungstendenzen hinsichtlich einer Institution zur Wahrung der Rechtsprechungseinheit zwischen verschiedenen Rechtsprechungszweigen , zum anderen um solche bezüglich der Ausgestaltung und des Verfahrens einer derartigen Einrichtung.

Im Rahmen der Frage, ob und gegebenenfalls durch welche Institution die Rechtsprechungseinheit zwischen verschiedenen Rechtsprechungszweigen zu wahren sei, tauchten schon früh, nämlich bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts, drei unterschiedliche Vorschläge auf. Der erste Vorschlag ging dahin, über den obersten Gerichten ein mit Richtern und Vertretern der Rechtslehre besetztes Gesetzesamt (später auch Rechtshof genannt) zu errichten 56 . Dieses Gesetzesamt sollte die Befugnis besitzen, Ge54 55

56

Zeiler, Um Einheit und Sicherheit des Rechts, DRiZ 1925, Sp. 6l. Zu den Einzelheiten der Vorschläge siehe Miebach, Der Gemeinsame Senat, S. 22ff., dessen Erkenntnisse allerdings weitgehend auf die Untersuchungen Münzers zurückgehen, vgl. dazu Münzer, Das Oberste Bundesgericht gemäß Art. 95 GG, S. lff. Zeiler, Ein Reichsamt für Gesetzesauslegung, DRiZ 1910, Sp. 72 ff.; ders., Ein Gerichtshof für bindende Gesetzesauslegung, 1911; ders., Gesetzgebungs- oder Auslegungsgerichtshof, DRiZ 1912, Sp. 726ff., 781 ff.; ders., Eine Umfrage über den Rechtshof, DRiZ 1914, Sp. lOlff.; ders., Auskunfterteilung oder Rechtshof, DRiZ 1917, Sp. 214ff.; ähnlich Thomsen, Gesetzgeberische Bekämpfung neuzeitlicher Delikte, DRiZ 1912, Sp. 89 (96); kritisch dazu Krause, Kein Reichsamt für Gesetzesauslegung, DRiZ 1910, Sp. 314ff.; Meyer, Kein Reichsamt für Gesetzesauslegung, DRiZ 1910, Sp. 316f.

III. Rechtsprechungseinheit zwischen mehreren Gerichtszweigen

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setze allgemeinverbindlich auszulegen. Die Entscheidung des Gesetzesamtes (des Rechtshofes ) konnte nicht etwa nur anläßlich eines Gerichtsverfahrens beantragt werden, sondern es bestand nach dem Entwurf für bestimmte Stellen das Recht, die Entscheidung einer zweifelhaften Rechtsfrage zu verlangen s7 . Verfassungs historisch ist der Vorschlag, ein Gesetzesamt (einen Rechtshof) zu errichten, vor dem Hintergrund der rechtlichen und gesellschaftlichen Entwicklung des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu sehen. Nach Ansicht von Zeile,s8 und anderer Befürworter eines Gesetzesamtes legten mehrere Faktoren die Institutionalisierung einer solchen Einrichtung nahe. Sowohl die gewandelten Aufgaben des Gesetzgebers im 19. Jahrhundert, insbesondere die Regelungsbedürftigkeit zunehmend komplexer werdender Lebensverhältnisse, als auch die Schwerfälligkeit des konstitutionellen und parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens bei der Gestaltung der Lebensverhältnisse wurden zur Begründung des Vorschlags bemüht. Die Kritiker hingegen befürchteten eine Minderung des Zutrauens zur Rechtspflege, wenn man dem höchsten Gericht eine noch höhere Verwaltungseinrichtung voranstelle, die Rechtssätze mit Gesetzeskraft formuliere und diese das höchste Gericht binden würden s9 • Zum anderen werde der "Grundsatz der Unabhängigkeit richterlicher Gewalt berührt, wenn neben dem Gesetz noch eine andere Rechtsgewalt mit bindender Kraft für den Richter erschlossen würde"60. Ganz im Gegensatz zu diesem Vorschlag entstand daher nahezu gleichzeitig eine Auffassung, die die Wahrung der Rechtsprechungseinheit zwischen verschiedenen Rechtsprechungszweigen dem Reichsgericht übertragen wollte 61 . Die Ansicht wurde später dahingehend fortentwickelt, daß ein Senat des Reichsgerichts die Aufgabe übernehmen sollte62 . Grundsätzlich stimmten jedoch die Vorschläge darin überein, daß die Wahrung der Rechtsprechungseinheit zwischen verschiedenen Rechtsprechungszweigen allein vom Reichsgericht überwacht werden müsse.

Nach Ansicht von Zeiler, Ordnung, Sicherheit, Einheit des Rechts, JW 1914, 217f. hatte sogar "jedermann" das Recht. 58 Zu Nachweisen siehe Fn. 56 59 Meyer, Kein Reichsamt für Gesetzesauslegung, DRiZ 1910, Sp. 316. 60 Krause, Kein Reichsamt für Gesetzesauslegung, DRiZ 1910, Sp. 314f. 61 A dickes , Grundlinien durchgreifender Justizreform, DJZ 1906, Sp. 501 (509); Gräber, Rede in der 112. Sitzung der 12. Legislaturperiode des Reichstags am20. 1. 1911, Stenographisehe Berichte des Reichstags, Bd. 263 (1911), S. 4058 B; Mügel, Zur Reform unserer Gerichtsorganisation, DJZ 1906, Sp. 1109 (1114); ebenso später Schiffer, Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des deutschen Rechtswesens nebst Begründung, 1928; Blomeyer/Gerland/Zeiler, Entwurf eines Gesetzes zur Förderung der Rechtssicherheit, D1Z 1931, Sp. 1348ff. in Abkehr von Zeilers Vorschlag aus dem Jahre 1907. 62 Grünhut, Allgemeinverbindliche Richtersprüche, ludicium 1929/30, 138ff., der auf S. 152 sogar von einem "Rechtseinheitssenat" spricht; Huber, Ein Gerichtshof für bindende Gesetzesauslegung, Der Gerichtssaal Bd. 80 (1913), 186 (203f.); Lauterjung, Einheit der Rechtsprechung, Strafrechtliche Abhandlungen Heft 300, S. 93. 57

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1. Kapitel: Streben nach Rechts- und Rechtsprechungseinheit

Die verfassungs- und gerichtsverfassungshistorischen Argumente für diese Auffassung sind vielfältiger Art. Einerseits sollten das Ansehen und die Bedeutung des Reichsgerichts nicht durch ein übergeordnetes Organ oder einen Spruchkörper gemindert werden 63 • Andererseits muß der Gedanke, die Wahrung der Rechtsprechungseinheit dem Reichsgericht oder einem Senat desselben zu übertragen, auch vor dem Hintergrund konkreter politischer und gerichtsverfassungsrechtlicher Entwicklungen gesehen werden. Insbesondere die nach dem 1. Weltkrieg zutage getretene Finanznot mit den daraus resultierenden Sparmaßnahmen, aber auch die Auswirkungen und Einflüsse der Emmingersehen lustizreform von 192464 ließen vielerorts den Gedanken reifen, daß die Wahrung der Rechtsprechungseinheit zwischen verschiedenen Gerichtszweigen auch durchaus effektiv vom Reichsgericht wahrgenommen werden könne. In Anknüpfung an den ersten Vorschlag, die Errichtung eines Gesetzesamtes bzw. eines Rechtshofs, lief die dritte Auffassung ebenfalls auf die Schaffung einer besonderen Institution zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung hinaus. Diesem zuerst von Delius65 vorgetragenen, dann aber auch in anderen Vorschlägen 66 wiederkehrenden Gedanken war jedoch aufgrund der Finanzlage nach dem 1. Weltkrieg und am Ende der Weimarer Republik keine sehr lange Lebensdauer vergönnt. Vielmehr traten mit dem Ausgang der Weimarer Republik die Vorschläge stärker zutage, die die Gewährleistung der Rechtsprechungseinheit dem Reichsgericht oder einem seiner Senate übertragen wollten. Diese Tendenz setzte sich sogar in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft fort 67 • Hieraus wird deutlich, daß nach einer anfänglichen Euphorie hinsichtlich der Schaffung eines Gesetzesamtes (Rechtshofes ) bzw. eines besonderen Gerichts zur Wahrung der Rechtsprechungseinheit schließlich doch die Vorschläge überwogen, die dem Reichsgericht bzw. einem seiner Senate diese Aufgabe übertragen wollten. Insoweit ist der Auffassung Miebachs entgegenzutreten, mit dem Vordringen des Gedankens der Anerkennung verschiedener gleichrangiger Gerichtsbarkeiten sei die Vorstellung entstanden, die Wahrung der Rechtsprechungseinheit nicht dem Reichsgericht, sondern allein einem neu zu

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Simons, Das Reichsgericht, in: Magnus, Die Höchsten Gerichte der Welt, 1929, S. 3 (15). Siehe dazu ausführlich Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, S. 160ff. Delius hält ein "Oberreichsgericht" für erforderlich, zitiert nach Miebach, Der Gemeinsame Senat, S. 30 Fn. 69. Bassermann/Schiffer im Jahre 1913, abgedruckt und begründet in: Schiffer, Neue Vorschläge zur Beschleunigung und Vereinheitlichung der Rechtspflege, JW 1914, 2ff.; Schiffer, Die Deutsche Justiz, S. 253 ff.; ebenso Drews, Grundzüge für ein Reichsgesetz betr. die Einrichtung von Spruchgerichten, DJZ 1920, Sp. 176f.; Entwurf der Reichsregierung zu einem "Gesetz zur Wahrung der Rechtseinheit" (1926), Reichsratdrucksache Nr. 39, zitiert nach Miebach, Der Gemeinsame Senat, S. 34 Fn. 91. So Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, S. 265.

IH. Rechtsprechungseinheit zwischen mehreren Gerichtszweigen

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schaffenden Gericht zu übertragen 68 • Die historische Entwicklung der Vorschläge auf dem Gebiet der Einheitlichkeit der Rechtsprechung zeigt nämlich keineswegs diese Zwangsläufigkeit, vielmehr handelt es sich um einen offenen Entwicklungsprozeß, bei dem allenfalls einer Übertragung der Aufgabe an das Reichsgericht oder einen Senat des Reichsgerichts ein Übergewicht zukam 69 • Entwicklungslinien lassen sich jedoch nicht nur hinsichtlich der Frage, ob und gegebenenfalls welche Institution für die Rechtsprechungseinheit Sorge tragen sollte, nachzeichnen. Auch im Rahmen der Ausgestaltung und des Verfahrens einer solchen Einrichtung sind nämlich Tendenzen erkennbar. Während die ersten Vorschläge das Antragsrecht bezüglich der Entscheidung einer zweifelhaften Rechtsfrage verschiedenen Stellen, etwa einem Oberlandesgericht, einer höheren Verwaltungsstelle, der Anwaltskammer u. a., zugestanden 7o , wich diese Auffassung im Laufe der Zeit zugunsten eines gerichtsinternen Vorlegungsverfahrens zurück7!. Bei der Frage der Zusammensetzung einer möglichen Institution zur Wahrung der Rechtsprechungseinheit herrschte anfangs die Ansicht vor, daß neben Richtern auch Rechtslehrer vertreten sein müßten72 • Später verlief die Entwicklung in den Vorschlägen jedoch zugunsten 'einer reinen Richterbesetzung73 • Schließlich wurde anfangs die Auffassung vertreten, daß eine Allgemeinverbindlichkeit der Entscheidungen am besten geeignet sei, um zur Wahrung der Rechtsprechungseinheit zwischen verschiedenen Gerichtszweigen beizutragen. Dieser Gedanke trat jedoch im Laufe der Zeit hinter den Vorschlag zurück, denselben Zweck über eine gesetzliche Vorlegungspflicht der Rechtsprechungsorgane zu erreichen74 • Als Fazit läßt sich demnach feststellen: Ein allgemeiner Grundkonsens in dem Sinne, daß Übereinstimmung darin bestanden habe, wie die Rechtsprechungseinheit zwischen verschiedenen Gerichtszweigen am besten zu wahren sei, kann nicht behauptet werden. Sowohl bezüglich der in Betracht kommen68

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Miebach, Der Gemeinsame Senat, S. 42 mit einem Hinweis auf Vorschläge in Fn. 149, wobei er jedoch die historisch nachfolgenden Vorschläge bei der Bewertung des Entwicklungsprozesses außer acht läßt. Siehe dazu die in Fn. 61 und 62 aufgeführten Nachweise. Zeiler, Ein Reichsamt für Gesetzesauslegung, Annalen des Deutschen Reichs 1907, 436 (439). Grünhut, Allgemeinverbindliche Richtersprüche, Judicium 1929/30, 138 (151 L); Huber, Ein Gerichtshof für bindende Gesetzesauslegung, Der Gerichtssaal Bd. 80 (1913), 186 (203f.). Zeiler, Ordnung, Sicherheit, Einheit des Rechts, JW 1914, 217 (218); ders., Um Einheit und Sicherheit des Rechts, DRiZ 1925, 61 (62). Grünhut, Allgemeinverbindliche Richtersprüche, Judicium 1929/30, 138 (152); Lauterjung, Einheit der Rechtsprechung, Strafrechtliche Abhandlungen Heft 300, S. 88. Grünhut, ebd., 15lf.; Huber, Ein Gerichtshoffür bindende Gesetzesauslegung, Der Gerichtssaal Bd. 80 (1913), 186 (204); Lauterjung, ebd.

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1. Kapitel: Streben nach Rechts- und Rechtsprechungseinheit

den Institution als auch hinsichtlich des Verfahrens verlief der Entwicklungsprozeß vielmehr offen. Ein leichtes Übergewicht wird allerdings zugunsten der Wahrung der Rechtsprechungseinheit im Wege eines gerichtsinternen Vorlegungsverfahrens an das Reichsgericht oder einen seiner Senate deutlich.

IV. Die Entstehungsgeschichte des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes Mit der Errichtung des Gemeinsamen Senats hat der Verfassungsgeber die bereits vor Erlaß des Grundgesetzes entwickelten Vorschläge, die Rechtsprechungseinheit durch ein gerichts internes Vorlegungsverfahren zu wahren, aufgegriffen und unter Berücksichtigung der verschiedenen Gerichtsbarkeiten fortentwickelt. Um ein einheitliches und vollständiges Bild über die Entwicklung des Strebens nach Rechts- und Rechtsprechungseinheit in Deutschland zu erhalten, soll im folgenden die Entstehungsgeschichte des Gemeinsamen Senats nachgezeichnet werden. Sowohl bei den Beratungen des Verfassungskonvents auf Herrenchiemsee (10.-23.8.1948)15 als auch bei den Verhandlungen des Parlamentarischen Rats (1.9. 1948-23.5. 1949) wurde deutlich, daß über die Gestaltung der Bundesgerichtsbarkeit nur schwerlich eine Einigung zu erzielen war. Die Meinungsverschiedenheiten betrafen dabei im wesentlichen zwei Fragenkomplexe: Zum einen war unklar, ob ein einheitliches Oberstes Bundesgericht errichtet oder ob verschiedene oberste Bundesfachgerichte gebildet werden sollten, zum anderen stellte sich die Frage, ob die Bundesverfassungsgerichtsbarkeit als Teil der Bundesgerichtsbarkeit von einem Senat eines einheitlichen Obersten Bundesgerichts ausgeübt oder für Verfassungsfragen ein besonderes oberes Bundesgericht geschaffen werden sollte76 • Um den Verhandlungen des Parlamentarischen Rats nicht vorzugreifen, formulierte der Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee bezüglich der zwei Fragenkomplexe einen Entwurf, der für die Gestaltung der Bundesgerichtsbarkeit alle Wege offenließ77. Am 1. 9. 1948 nahm der Parlamentarische Rat seine Arbeit auf. Sie wurde in der Folgezeit im wesentlichen durch eine Denkschrift des Abgeordneten Dr. Strauß gepräges. In dieser Denkschrift sprach sich Dr. Strauß für ein einheitliches Oberstes Bundesgericht aus, das alle das Bundesrecht betreffenden Rechtsfragen grundSätzlicher Art - abgesehen von den der Zu den Einzelheiten der Beratungen des Verfassungskonvents auf Herrenchiemsee siehe Miebach, Der Gemeinsame Senat, S. 44ff. 76 Achterberg, in: BK, Art. 95 Rdnr. 42 77 Beratungen des Verfassungskonvents, Steno Bericht der 1. Sitzung des Unterausschusses III v. 13. 8. 1948, S. 8f.; Bericht, Komm. Teil S. 88,92. 7S Strauß, Die oberste Bundesgerichtsbarkeit, 1949. 75

IV. Entstehungsgeschichte des Gemeinsamen Senats

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Entscheidungskompetenz eines besonderen Verfassungsgerichtshofes unterliegenden "vorwiegend politischen Streitigkeiten" - entscheiden sollte79 • Damit auch wirklich nur grundsätzliche Rechtsfragen zur Entscheidung an dieses Bundesgericht herangetragen würden, schlug Dr. Strauß vor, das Anrufungsverfahren nach dem Grundsatzprinzip zu gestalten. Dies bedeutete für ihn, "daß man das Rechtsmittel an den obersten Gerichtshof nur dann zuläßt, wenn der judex a quo die Zulassung eines Rechtsmittels wegen der grundsätzlichen Bedeutung gestattet"8O.

In der Beratung und Diskussion dieser Vorschläge konnte zwar hinsichtlich der Forderung nach Rechtseinheit unter den höchsten Gerichten Konsens erzielt werden, aber die Ansichten darüber, wie diese Forderung zu erfüllen sei, gingen von Beginn an weit auseinander. Nachdem in der Diskussion über den einzuschlagenden Weg bei der Gestaltung der Bundesgerichtsbarkeit keine Einigung erzielt werden konnte, beauftragte der Ausschuß für Verfassungsgerichtshof und Rechtspflege die Abgeordneten Dr. Strauß und Zinn, als Unterkommission auf der Grundlage der bisherigen Beratungen einen vorläufigen Entwurf auszuarbeiten. Zinn sprach sich dabei für die Schaffung eines Deutschen Bundesgerichts aus, das aus verschiedenen Bundesfachgerichten bestehen sollte. In Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung für die Rechtseinheit oder bei einander widersprechenden Entscheidungen der obersten Bundesgerichtshöfe sollte gegen sonst nicht mehr anfechtbare Entscheidungen ein kleiner Bundessenat angerufen werden können 81 • Der Vorschlag des Abgeordneten Dr. Strauß hingegen sah zur Wahrung der Einheit des Bundesrechts, zur Entscheidung über Fragen des Bundesstaatsrechts und für besondere gesetzlich zugewiesene Fälle die Errichtung eines Obersten Bundesgerichts vor82 • Bedenken gegen diese Vorschläge wurden insbesondere vom Präsidenten des Deutschen Obergerichts in Köln, Dr. Ruscheweyh, und vom Präsidenten des Obersten Gerichtshofes für die Britische Zone, Dr. Wolf!, erhoben. Ihre Einwände gegen die institutionelle Einheit von Oberstem Bundesgericht und Verfassungsgericht entfachten die Diskussion um die Gestaltung der Bundesgerichtsbarkeit aufs neue 83 • Sowohl in den Sitzungen des Ausschusses für Verfassungsgerichtshof und Rechtspflege als auch in den Lesungen des Hauptausschusses traten daraufhin die Meinungsverschiedenheiten erneut offen zutage. Strittig war insbesondere wiederum die Organisationsform eines zu errichten79

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Ebd., S. 10. Ebd., S. 19ff., 23 Siehe dazu ausführlich Achterberg, in: BK, Art. 95 Rdnr. 52. Siehe dazu ebd., Rdnr. 46. Dabei wurde vom Abgeordneten Becker der Vorschlag eines "Vereinigten Senates der Bundesfachgerichte" ins Spiel gebracht; ein Gedanke, der später immer wieder aufgegriffen wurde, Ausschuß für Verfassungsgerichtshof und Rechtspflege, Steno Ber. der 5. Sitzung V. 10. 11. 1948, S. 27.

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1. Kapitel: Streben nach Rechts- und Rechtsprechungseinheit

den obersten Bundesgerichts, nämlich entweder als selbständiges Gericht oder aber als eine Art "Vereinigten Senats" der oberen Bundesgerichte. In dieser Frage rückte der Ausschuß für Verfassungsgerichtshof und Rechtspflege, der zunächst von einem selbständigen Obersten Bundesgericht ausgegangen war, mehr und mehr von seiner Vorstellung ab und näherte sich der Befürwortung eines Gemeinsamen Senats der oberen Bundesgerichte. In dem abschließenden Entwurf zur Gestaltung der Bundesgerichtsbarkeit ließ der Ausschuß dann jedoch alle Möglichkeiten offen. Hinsichtlich der Zuständigkeit des Obersten Bundesgerichts sah der Entwurf die Anrufung des Gerichts vor, wenn die Entscheidung für die Einheitlichkeit der Rechtsprechung der oberen Bundesgerichte von grundSätzlicher Bedeutung sei. Nach ·abschließenden Beratungen im Ausschuß für Verfassungsgerichtshof und Rechtspflege, im Hauptausschuß und im Plenum einigte man sich dann schließlich auf den Wortlaut des Art. 95 GG a. F. (1) Zur Wahrung der Einheit des Bundesrechts wird ein Oberstes Bundesgericht errichtet. (2) Das Oberste Bundesgericht entscheidet in Fällen, deren Entscheidung für die Einheitlichkeit der Rechtsprechung der oberen Bundesgerichte von grundsätzlicher Bedeutung ist. (3) (4) ... Aufgrund eines von der FDP-Fraktion des Deutschen Bundestages am 6.6. 1956 an die Bundesregierung gerichteten Antrages 84 wurde die Diskussion um die Gestaltung der Bundesgerichtsbarkeit, insbesondere der Disput um ein Oberstes Bundesgericht, erneut in Gang gebracht. In der 162. Sitzung des Deutschen Bundestages am 3. 10. 1956 trat die Abgeordnete Lüders (FDP) für die Errichtung eines "Vereinigten Senates" der oberen Bundesgerichte ein85 • Sie griff damit einen Gedanken auf, den bereits 8 Jahre zuvor der Abgeordnete Becker als möglichen Weg zur Wahrung der Rechtseinheit bezeichnet hatte86 • Auch der Abgeordnete Dr. Strauß, ehemals engagiertester Verfechter eines Obersten Bundesgerichts, plädierte für die Schaffung eines" Vereinigten Senats". Nach seiner Ansicht sei dies der praktikabelste Weg, um die Rechtseinheit, Rechtsgleichheit und Rechtssicherheit im Bereich der höchsten Gerichte zu wahren; die Errichtung eines solchen Senats könne jedoch nicht ohne eine Änderung des Textes von Art. 95 GG erfolgen 87 • Der Antrag der FDP-Fraktion wurde sodann an den Ausschuß für Rechtswesen und Verfassungsrecht überwiesen. Neben den Beratungen und dem daraus hervorgehenden Antrag an die Bundesregierung, den Entwurf eines Gesetzes 84 85

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Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 2. Wahlperiode, BT-Drucks. 11/2436. Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 2. Wahlperiode, Steno Ber. S. 9023 D, 9024 A. Siehe dazu Fn. 83. Achterberg, in: BK, Art. 95 Rdnr. 86.

IV. Entstehungsgeschichte des Gemeinsamen Senats

35

zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung vorzulegen, konnten innerhalb der 2. Wahlperiode keine weiteren Ergebnisse bei der Gestaltung der Bundesgerichtsbarkeit erzielt werden. Eine im Oktober 1958 eingereichte Anfrage der SPD- und FDP-Fraktion zum soeben angesprochenen Gesetzentwurf beantwortete die Bundesregierung dahingehend, daß im Bundesjustizministerium eine Referenten-Denkschrift erstellt worden sei, die man dem Bundesverfassungsgericht und den oberen Bundesgerichten zur Stellungnahme zugeleitet habe 88 • In der 56. Sitzung des Deutschen Bundestages am 22. l. 1959 erklärte Bundesjustizminister Schäfter, daß die weiteren Schritte der Bundesregierung maßgeblich von der Stellungnahme des Bundesverfassungsgerichts und der oberen Bundesgerichte abhingen 89 • Aus der Referenten-Denkschrift9O wurde zum einen ersichtlich, daß ein Bedürfnis für die Errichtung eines Obersten Bundesgerichts nicht bestehe91 , zum anderen müsse für eine so bedeutende Entscheidung, wie sie die Schaffung eines Obersten Bundesgerichts oder die Änderung des Art. 95 GG darstelle, die Rechtsprechungsentwicklung weitere 5 Jahre beobachtet werden 92 • Hinsichtlich der Organisationsform einer Institution zur Wahrung der Rechtsprechungseinheit schlug die Referenten-Denkschrift einen Großen bzw. Gemeinsamen Senat der oberen Bundesgerichte vor93 • Dieser solle nur über die von einem oberen Bundesgericht vorgelegte Rechtsfrage entscheiden und damit das vorlegende Gericht im Rahmen des anhängigen Rechtsstreits binden. In seiner Stellungnahme vom 19. 9. 1958 plädierte der Präsident des Bundesgerichtshofes in Übereinstimmung mit der Referenten-Denkschrift dafür, die Entwicklung der Rechtsprechung zunächst weitere 5 Jahre zu beobachten. Unter dem Vorbehalt des Ausbleibens einer großen Justizreform, die an Stelle der oberen Bundesgerichte einen einzigen Gerichtshof setzen sollte, sprach sich der Präsident ferner hinsichtlich der Organisationsform einer Einrichtung zur Wahrung der Rechtsprechungseinheit für einen Großen Senat der oberen Bundesgerichte aus94 •

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Kleine Anfrage der FDP-Fraktion vom 15. 10. 1958, Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 3. Wahlperiode, BT-Drucks. 1111564; Große Anfrage der SPD-Fraktion vom 16. 10. 1958, Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 3. Wahlperiode, BT-Drucks. 1111569; Antwort der Bundesregierung vom 30. 10. 1958, Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 3. Wahlperiode, BT-Drucks. 1111610. Rede des Bundesjustizministers Schäffer, Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 3. Wahlperiode, Steno Ber. S. 3057 A, B; 3058 A, B. Zu dieser siehe im einzelnen Miebach, Der Gemeinsame Senat, S. 69ff. Referenten-Denkschrift, S. 34 Referenten-Denkschrift, S. 18, 34. Referenten-Denkschrift, S. 18, 20, 24. Siehe dazu Achterberg, in: BK, Art. 95 Rdnr. 91.

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1. Kapitel: Streben nach Rechts- und Rechtsprechungseinheit

Erst eineinhalb Jahre später, am 14. 4. 1960, reagierte die Bundesregierung auf die Ergebnisse der Referenten-Denkschrift und der dazu ergangenen Stellungnahmen mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes 95 • Der darin enthaltene Art. 95 Abs. 3 GG sah vor, daß zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung ein Gemeinsamer Senat gebildet werden konnte. Das Nähere sollte ein Bundesgesetz regeln. In dem Entwurf wird der Übergang von einem Obersten Bundesgericht zu einem Gemeinsamen Senat der Bundesgerichte mit den kritischen Stellungnahmen des Bundesverfassungsgerichts und der Präsidenten der oberen Bundesgerichte begründet. Der Bundestag überwies daraufhin den Gesetzentwurf an den Ausschuß für Rechtswesen und Verfassungsrecht96 • Dieser diskutierte ihn und stimmte abschließend der Fassung bezüglich Art. 95 Abs. 1 GG in vollem Umfang, hinsichtlich Abs. 3 unter Ersetzung der "Kann-" durch eine "Ist-Vorschrift" ZU97. Im Plenum des Deutschen Bundestages wurden bei der Beratung über den Gesetzentwurf jedoch neue Einwände erhoben 98 , die eine Annahme des Ausschußantrages, dem Entwurf zuzustimmen, unwahrscheinlich werden ließen. Infolgedessen wurde der Gesetzentwurf an den Ausschuß für Rechtswesen und Verfassungsrecht zurückverwiesen, wo er bis zum Ende der Wahlperiode verblieb. In der 4. Wahlperiode (1961-1965) verstrichen weitere vier Jahre bis die Bundesregierung dem Bundesrat am 8. 2. 1965 einen Gesetzentwurf zur Änderung des Grundgesetzes 99 und einen Gesetzentwurf zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung'der oberen Bundesgerichte 100 übersandte. Darin enthielt Art. 95 Abs. 3 GG erneut eine "Kann-Vorschrift"; ferner entfiel die Beschränkung der Zuständigkeit des Gemeinsamen Senats auf Grundsatzfragen. Der nunmehr zur Meinungsbildung aufgerufene Bundesrat schlug in seiner 279. Sitzung vom 5.3. 1965 vor, den Art. 95 Abs. 3 GG doch wieder in eine "Ist-Vorschrift" umzuwandeln 101. Zu diesem Vorschlag fand sich schließlich auch die Zustimmung der Bundesregierung102 • 95

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BR-Drucks. 108/60; zuvor hatte das Bundesjustizministerium bereits einen unveröffentlichten Entwurf entwickelt, der sich jedoch nicht durchsetzen konnte; siehe dazu und zum Widerstand der Präsidenten der oberen Bundesgerichte gegen den Entwurf Miebach, Der Gemeinsame Senat, S. 74ff. . Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 3. Wahlperiode, BT-Drucks. III/1901. Siehe dazu Schriftlicher Bericht des Rechtsausschusses, Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 3. Wahlperiode, BT-Drucks. 111/2426. Beispielhaft dafür ist die Rede des Abgeordneten Dr. Arndt, Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 3. Wahlperiode, Steno Ber. S. 7952f. BR-Drucks. 60/65 v. 8. 2. 1965. BR-Drucks. 61/65 V. 8. 2. 1965. Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 4. Wahlperiode, BT-Drucks. IV/3363, Anlage 2, S. 5. Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 4. Wahlperiode, BT-Drucks. IV/3363, Anlage 3, S. 6.

IV. Entstehungsgeschichte des Gemeinsamen Senats

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Nach einer erneuten Übersendung der Gesetzentwürfe an den Bundesrat in der 5. Wahlperiode (1965-1969)103 wurden die Entwürfe dann vom Deutschen Bundestag an den Ausschuß für Rechtswesen und Verfassungsrecht überwiesen lO4 • Mit ihrer Rückkehr aus dem Ausschuß begannen die Beratungen des Deutschen BundestageslOS, die am 8. 5. 1968 mit der einstimmigen Annahme der Entwürfe ihr Ende fanden. Am 31. 5. 1968 gab auch der Bundesrat die erforderliche Zustimmung lO6 . Als ,,16. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes" vom 18. 6. 1968107 trat die Grundgesetzänderung am 23. 8. 1968 in Kraft. Das in Deutschland seit langem virulente Streben nach Rechts- und Rechtsprechungseinheit hatte damit, nachdem eine lange und mühsame Wegstrecke mit zahlreichen Vorschlägen zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung zurückgelegt worden war, im Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe seinen Höhepunkt gefunden. Zugleich war dies die Grundlegung des Verfassungsauftrages, im Interesse der rechtsstaatlichen Postulate der Rechtseinheit, Rechtsgleichheit und Rechtssicherheit, Rechtsprechungsdivergenzen zwischen den obersten Gerichtshöfen des Bundes zu vermeiden. Nachdem die Entstehung des Gemeinsamen Senats aus historischer Perspektive, insbesondere seine Entwicklung als Ergebnis eines anhaltenden Strebens nach rechtsstaatsimmanenten Zielsetzungen (Rechtseinheit, Rechtsgleichheit, Rechtssicherheit) nunmehr dargestellt wurde, soll im folgenden seine rechtsdogmatische und rechtstheoretische Stellung in der Rechtsordnung analysiert werden.

103 BR-Drucks. 468/66 und 469/66 vom 3. 11. 1966, in diesen Entwürfen sah die Bundesregie-

rung keine Notwendigkeit, trotz der Kritik des Bundesrates, von ihrer Auffassung abzugehen, die bisherigen oberen Gerichtshöfe als oberste Gerichtshöfe zu bezeichnen, so BRDrucks. 468/66, S. 4. 104 Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 5. Wahlperiode, Steno Ber. S. 5028. 105 Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 5. Wahlperiode, Steno Ber. S. 9184 C. 106 Verhandlungen des Bundesrates, Steno Ber. 1968, S. 121 B, 122 C. 107 BGBI. 1968, I, S. 657.

Zweites Kapitel

Die Stellung des Gemeinsamen Senats im Hinblick auf Funktionenordnung und Normstufenbau Jeder Versuch, die rechtsdogmatische und rechtstheoretische "sedes materiae" einer in der Verfassung mit besonderen Aufgaben ausgestatteten Institution zu klären, muß sich notwendigerweise an den grundlegenden Strukturprinzipien der Rechtsordnung orientieren. Nachfolgend sollen daher insbesondere der Grundsatz der Funktionenordnung und die dieses Prinzip beeinflussende Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung zum Maßstab erhoben werden. Während die Integration in die Funktionenordnung mehr das "statische" Element einer Verankerung des Gemeinsamen Senats im Rechts- und Verfassungssystem der Bundesrepublik Deutschland bildet, wird durch die Einfügung seiner Handlungsstrukturen in das System des Normstufenbaus mehr die "dynamische" Komponente der Einordnung in das Verfassungsgefüge angesprochen. Beiden Aspekten, sowohl der Funktionenordnung als dem tragenden Ordnungsprinzip eines Rechtsstaates l wie auch der Normstufenbaulehre als dem "Strukturphänomen der Rechtsordnung"2 soll daher im folgenden ausführlich Rechnung getragen werden.

I. Integration des Gemeinsamen Senats in die Funktionenordnung Gemäß Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG ist die Ausübung der Staatsgewalt besonderen Organen der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung zugewiesen. Für den Bereich der Rechtsprechung nimmt Art. 92 GG die in Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG getroffene Grundsatzentscheidung der Verfassung zur Funktionentrennung auf und konkretisiert sie3 • In Parallelität zu Art. 20 1 2

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Das Bundesverfassungsgericht spricht vom "tragenden Organisationsprinzip der Verfassung", BVerfGE 3, 225 (247). Achterberg, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 16 Rdnr. 2. So insbesondere Herzog, in: MaunzlDürig, Grundgesetz Kommentar, Art. 92 Rdnr. 2: "Die in Art. 92ff. niedergelegten verfassungsrechtlichen Grundsätze stellen in einem gewissen Sinne die thematische Wiederaufnahme und Konkretisierung der Fundamentalnorm des Art. 2011 Satz 2 dar."; vgl. auch HamannlLenz, Grundgesetz, Art. 92 Anm. A 1, S. 593; Heyde, Die Rechtsprechung, in: Handbuch des Verfassungsrechts, hrsg. v. E. Benda, W. Maihofer, H.-J. Vogel, 1983, S. 1199ff.; Lorenz, Rechtsschutz, S. 191; v. Mangoldt, Grundgesetz, Art. 92 Anm. 3, S. 5OOf.; Meyer, in: v. Münch, Grundgesetz-Kommentar, Art. 92 Rdnr. 3; Stern, Staatsrecht, Bd. 11, § 33 I 2 b), S. 378; zum Verhältnis von

I. Integration des Gemeinsamen Senats in die Funktionenordnung

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Abs. 2 Satz 2 GG, der für die Ausübung der drei Staatsfunktionen besondere Organe vorsieht, überträgt Art. 92 GG die Rechtsprechung den Gerichten 4 • 1. Der Gerichtsbegriff des Grundgesetzes

Eine Integration des Gemeinsamen Senats in die Funktionenordnung und zwar speziell seine Zuordnung zur Judikative setzt daher voraus, daß es sich um ein "Gericht" handelt. Der Begriff des Gerichts wird im Grundgesetz an zahlreichen Stellen verwendet; so taucht er nicht etwa nur in Art. 92,95,96 und 97 GG auf, sondern er findet sich auch in Art. 100 Abs. 1 GG. Die an verschiedenen Stellen des Grundgesetzes und in unterschiedlichem Zusammenhang auftauchende Verwendung des Gerichtsbegriffs hat in der Rechtsprechung und Rechtslehre zu erheblichen Meinungsverschiedenheiten über seinen Bedeutungsgehalt geführt. Nach Ansicht eines Teiles der Rechtsprechung und Rechtslehre kennt das Grundgesetz mehrere, unterschiedliche Gerichtsbegriffe5 , so daß etwa derjenige in Art. 92 und19 Abs. 4 GG sowie der in Art. 100 Abs. 1 GG auseinanderfallen 6 . Dieser Auffassung steht jedoch eine Ansicht gegenüber, die von einem "einheitlichen Gerichtsbegriff" im Grundgesetz ausgehe. Eine am Prinzip dogmatischer Klarheit orientierte Integration des Gemeinsamen Senats in die

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Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG und Art. 92ff. GG siehe ferner Zimmer, Funktion-KompetenzLegitimation, S. 198ff. Zur Unabänderlichkeit der Grundsätze des Art. 92 GG als Folge des Rechtsstaatsprinzips siehe Achterberg, in: BK, Art. 92 Rdnr. 53 m. w. N. BVerfGE 6, 55 (63); 7,1 (5); 18,216 (219); Doerr, Allgemeine Lehren der Gerichtsverfassung, AöR Bd. 41 (1921),53 (55); Geiger, Ergänzende Bemerkungen zur Stellung des Bundesverfassungsgerichts, in: Die Rechtsstellung des Bundesverfassungsgerichts, S. 11 f.; Hamannt Lenz, Grundgesetz, Art. 100 B l., S. 619; Kern, Gerichtsverfassungsrecht, § 4 I 2., S. 27; ders., Rechtspflege, Grundsätzliches und Übersicht, in: AnschützlThoma, Handbuch des Deutschen Staatsrechts, 2. Band, 1932, S. 475 (487); Lechner, BVerfGG, 3. Aufl., § 13 Ziff. 11, Anm. 2), S. 131, in Anlehnung an BVerfGE 6, 55 (63), a. A. allerdings noch Lechner, BVerfGG, § 13 Ziff. 11, Anm. 4, S. 109; Lorenz, Rechtsschutz, S. 191 Fn. 2; Menger, System des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes, S. 52 m. w. N. auf ältere Ausführungen in der Rechtslehre; Miebach, Der Gemeinsame Senat, S. 87 m. w. N.; Wol[[IBacho[, VWR I, § 19 IV a), b), S. 87f. BVerfGE 6, 55 (63); Lorenz, ebd., S. 191 Fn. 2. BVerfGE 4, 74 (92) ~ NJW 1955, 17f.: "Das ärztliche Berufsgericht war ein Gericht auch im Sinne des GG"; 4, 331 (344); Achterberg, in: BK, Art. 92 Rdnr. 237; Bettermann, Die Unabhängigkeit der Gerichte und der gesetzliche Richter, in: Die Grundrechte, 3. Bd., 2. Halbband, hrsg. v. K. A. Bettermann, H. C. Nipperdey, U. Scheuner, 1959, S. 523,634; ders., Die konkrete Normenkontrolle und sonstige Gerichtsvorlagen, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Festgabe aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, Erster Band, Verfassungsgerichtsbarkeit, hrsg. v. Chr. Starck, Tübingen 1976, S. 323 (352); ebenso ders., Das Gerichtsverfassungsrecht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR Bd. 92 (1967), 496 (531 ff.); Maunz, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz Kommentar, Art. 100 Rdnr. 27 m. w. N. in Fn. 5; Stern, Staatsrecht, Bd. 11, § 33 I 3 a), S. 379; § 44 IV 5 b) a), S. 989; Ulsamer, in: Maunz I Schmidt-B1eibtreu I Klein / Ulsamer, Bundesverfassungsgerichtsgesetz Kommentar, § 80 Rdnr. 168 m. w. N.

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2. Kapitel: Stellung des Gemeinsamen Senats im Rechtssystem

Funktionenordnung erfordert daher eine Klärung des Gerichtsbegriffs im Grundgesetz. Für die Bestimmung des Gerichtsbegriffs im Grundgesetz gibt es verschiedene Ansatzpunkte. So ist es einerseits möglich, die Begriffsklärung unter Berücksichtigung "organisationsspezifischer" Aspekte vorzunehmen, während andererseits auch stärker "funktionale" Gesichtspunkte betont werden können. Diejenigen Teile der Rechtslehre, die vornehmlich "organisationsspezifische" Aspekte berücksichtigen, gehen daher auch von einer Unterscheidung des Gerichts im behörden-organisatorischen Sinne (der Gerichtsbehörde ) und dem Gericht im prozessualen Sinne (das erkennende Gericht = der Spruchkörper) aus. Danach stellt sich die Gerichtsbehörde als organisatorische Einheit mehrerer Spruchkörper dar, der in einem bestimmten Gebiet Rechtsprechungsaufgaben anvertraut sind; Spruch körper ist dagegen das den konkreten Einzelfall entscheidende Organ8 • Bezüglich der Organisation der Gerichtsbarkeit besitzt dieser Gerichtsbegriff durchaus seine Berechtigung, da er Bildung und Aufbau der Rechtsprechungsorgane sowie die Verteilung der Aufgaben auf dieselben zu erklären vermag 9 • Sein Erkenntniswert verblaßt jedoch bei dem Versuch, mit seiner Hilfe eine Institution in die Funktionenordnung bzw. das System der Staatsfunktionen zu integrieren. Den Spruchkörper, der den konkreten Fall entscheidet, als Gericht zu bezeichnen besagt insoweit wenig, wenn man sich vergegenwärtigt, daß auch das Verwaltungshandeln zu großen Teilen in der konkreten Einzelfallentscheidung besteht lO • Ein primär "organisationsspezifische" Aspekte berücksichtigender Gerichtsbegriff wird daher den Anforderungen des Grundgesetzes nicht gerecht. Um der Funktionenordnung als dem "tragenden Konstruktionsprinzip der staatlichen Organisation"lJ Rechnung zu tragen, ist daher in der Rechtslehre ein "funktionale" Gesichtspunkte betonender Gerichtsbegriff entwickelt worden J2 • Demzufolge sind Gerichte im Sinne des Grundgesetzes diejenigen besonderen Organe des Staates, die speziell zu dem Zweck geschaffen sind, Aufgaben staatlicher Rechtsprechung wahrzunehmen. Für die Qualifizierung einer Institution als Gericht ist daher ihre wesentliche und spezifische Aufgabe, um derentwillen sie geschaffen wurde, maßgebend. Um als Gericht angesehen zu

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Kern, Gerichtsverfassungsrecht, § 4 I 2, S. 27; Menger, System des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes, S. 52. So auch Stern, Staatsrecht, Bd. 11, § 32 III 1 a), S. 348. Als Beispiel sind etwa die Musterungsausschüsse bei den Kreiswehrersatzämtern zu nennen; zur Kritik an der These, Rechtsprechung sei Streitentscheidung eines Einzelfalls nach Maßgabe der Gesetze, siehe ferner Achterberg, Probleme der Funktionenlehre, S. 98ff. Stern, Staatsrecht, Bd. 11, § 36 III 1, S. 528. Achterberg, in: BK, Art. 92 Rdnr. 237; Bettermann, Die Unabhängigkeit der Gerichte und der gesetzliche Richter, in: Die Grundrechte, 3. Bd., 2. Halbband, hrsg. v. K. A. Bettermann, H. C. Nipperdey, U. Scheuner, 1959, S. 523, 634; Stern, ebd., § 33 I 3 a), S. 379.

1. Integration des Gemeinsamen Senats in die Funktionenordnung

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werden, muß die Hauptfunktion eines Staatsorgans gerade die Rechtsprechung sein 13 . Seine Überzeugungskraft gewinnt dieser Gerichtsbegriff nicht zuletzt auch daraus, daß seine funktionale Betrachtungsweise Kernelemente einer Staatsfunktion auch begrifflich in Übereinstimmung mit dem System der Staatsfunktionen bringt. 2. "Einheitlicher Gerichtsbegritl" im Grundgesetz?

Mit der Befürwortung eines "funktionalen" Gerichtsbegriffs ist jedoch noch nicht die weitere Frage entschieden, ob dem Grundgesetz ein einheitlicher oder unterschiedlicher Gerichtsbegriff zugrunde liegt. Wie bereits angedeutet l4 , stoßen bei dieser Frage in der Rechtsprechung und Rechtslehre zwei gegensätzliche Ansichten aufeinander. Ein unterschiedlicher Gerichtsbegriff wird dem Grundgesetz insbesondere vom Bundesverfassungsgericht entnommen 15 • Nach seiner Ansicht divergieren der dem Art. 19 Abs. 4 GG unterfallende Gerichtsbegriff und derjenige des Art. 100 Abs. 1 GG, weil beide Normen unterschiedlichen Zielen dienen. Art. 19 Abs. 4 GG habe die verfassungsrechtliche und verfassungspolitische Aufgabe, den Rechtsschutz des Staatsbürgers zu gewährleisten, so daß bei der Frage, ob ein Gericht im Sinne dieser Vorschrift vorliege, ein strenger Maßstab angelegt werden müsse. Demgegenüber diene Art. 100 Abs. 1 GG "der Wahrung der Autorität des Gesetzgebers im Verhältnis zur Rechtsprechung und der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zu verfassungsrechtlichen Fragen"16. Dieses Ziel verlange, daß "die Befugnis und Verpflichtung zur Vorlage an das Bundesverfassungsgericht gemäß Art. 100 Abs. 1 GG sich auf alle SpruchsteIlen bezieht, die sachlich unabhängig in einem formell gültigen Gesetz mit den Aufgaben eines Gerichts betraut und als Gerichte bezeichnet sind"17. Für den Anwendungsbereich des Art. 100 Abs. 1 GG muß ein Spruchkörper demnach nicht oie durch das Grundgesetz gestellten materiellen Anforderungen erfüllen. Dieser - im übrigen im krassen Gegensatz zu früheren Äußerungen des Bundesverfassungsgerichts stehenden 18 - Auffassung haben sich Teile der Rechtslehre ziemlich unreflektierend angeschlossen l9 . Gegen die Ansicht des Bundesverfassungsgerichts und eines Teiles der Rechtslehre ist jedoch Widerspruch zu erheben. Schon unter Berücksichtigung

Dies schließt nicht aus, daß das Organ auch noch andere Funktionen erfüllt, siehe dazu Achterberg, ebd. 14 Siehe oben 2. Kap., I., l. 15 BVerfGE 6, 55 (63). 16 BVerfGE 6, 55 (63). 17 BVerfGE 6, 55 (63). 18 BVerfGE 4, 74 (94); 4, 331 (344). 19 Siehe etwa nur Meyer, in: v. Münch, Grundgesetz-Kommentar, Art. 100 Rdnr. 9. 13

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2. Kapitel: Stellung des Gemeinsamen Senats im Rechtssystem

systematischer Aspekte 20 sollten demselben Ausdruck ("Gericht") in zwei Vorschriften (Art. 92, 100 GG) desselben Abschnitts des Grundgesetzes nicht ohne Not zwei unterschiedliche Begriffe unterlegt werden 21 . Noch bedeutender ist aber, daß die Vertreter eines unterschiedlichen Gerichtsbegriffs im Grundgesetz den Zusammenhang zwischen den Artikeln 19 Abs. 4, 92 und 100 Abs. 1 GG verkennen. Ist nämlich der Rechtsweg im Sinne des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG der Weg zu den Gerichten des Art. 92 GG22, so wird ein unterschiedlicher Gerichtsbegriff zweifelhaft. Fraglich erscheint auch die vom Bundesverfassungsgericht vorgenommene Zielbestimmung des Art. 100 Abs. 1 GG. Bettermann widerspricht in diesem Zusammenhang der Behauptung des Bundesverfassungsgerichts, daß Art. 100 Abs. 1 GG lediglich die richterliche Mißachtung der Legislative zu schützen habe und nicht der Verhinderung widersprechender Entscheidungen diene. Als Grund für diese Auffassung führt er an, daß andernfalls Art. 100 Abs. 1 GG nicht nur für nachkonstitutionelle förmliche Gesetze gelten dürfte, sondern seine Anwendung auf alle Normen erstreckt werden müßte, deren Verfassungs- oder Bundesrechtswidrigkeit in Frage steht 23 . Des weiteren sieht Bettermann zur Begründung eines einheitlichen Gerichtsbegriffs im Grundgesetz einen sachlichen Zusammenhang zwischen Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 100 Abs. 1 GG. Nach seiner Meinung sind die Entscheidungen solcher Organe, die als Gericht bezeichnet oder für sachlich unabhängig erklärt worden sind, im Rechtsweg angreifbar. Sollte ein solches Organ z. B. ein Gesetz aus verfassungsrechtlichen Gründen für ungültig halten und deshalb nicht anwenden, so könne der Bürger den Rechtsweg beschreiten. Nachdem die Streitfrage rechtshängig geworden sei, greife der Anwendungsbereich des Art. 100 Abs. 1 GG ein, da diese Vorschrift der Verteilung der Normenkontroll-Kompetenzen innerhalb der "dritten Gewalt" diene, nicht aber derjenigen zwischen der Verwaltung und den Verfassungsgerichten 24 . 20 Vgl. dazu Larenz, Methodenlehre, S. 310ff. 21 Ulsamer, in: Maun:zJSchmidt-BleibtreuiKleinJUlsamer, Bundesverfassungsgerichtsgesetz

Kommentar, § 80 Rdnr. 17; ähnlich Klein, Der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts zur Ehegattenbesteuerung in verfassungsrechtlicher Sicht, DÖV 1957, 567 (569f.); außerdem spricht eine Vermutung für einen einheitlichen Sprachgebrauch des Gesetzgebers, in diesem Sinne schon Bierling, Juristische Prinzipienlehre, Vierter Band, 1911, S. 225f., siehe aber auch Schenke, Rechtsschutz bei Divergenz von Form und Inhalt staatlichen Verwaltungshandelns, VerwArch. Bd. 72 (1981), 185 (198). 22 Ulsamer, ebd. 23 Bettermann, Das Gerichtsverfassungsrecht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR Bd. 92 (1967), 496 (53lf.). Gleicher Ansicht zur Zielsetzung des Art. 100 Abs. 1 GG ist Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rdnr. 686; vgl. auch Maunz, in: Maun:zJDürig, Grundgesetz Kommentar, Art. 100 Rdnr. 3; Stern, in: BK, Art. 100 Rdnr. 36. 24 Bettermann, Die konkrete Normenkontrolle und sonstige Gerichtsvorlagen, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Festgabe aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, Erster Band, Verfassungsgerichtsbarkeit, hrsg. v. ehr. Starck, Tübingen 1976, S. 323 (352).

I. Integration des Gemeinsamen Senats in die Funktionenordnung

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Unter Berücksichtigung des System- und Funktionszusammenhangs zwischen Art. 19 Abs. 4, 92 und 100 Abs. 1 GG ist daher dem Grundgesetz ein "einheitlicher Gerichtsbegriff" in dem Sinne zu entnehmen, daß als "Gericht" diejenigen besonderen Organe des Staates bezeichnet werden, deren Zweckbestimmung in der Wahrnehmung staatlicher Rechtsprechung liegt25 • 3. Der Gemeinsame Senat - Ein Gericht im Sinne des Grundgesetzes? Somit stellt sich nunmehr die Frage, ob der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes ein Gericht im Sinne des Grundgesetzes ist und daher der Judikative zugeordnet werden kann. Zweifel an der Gerichtsqualität des Gemeinsamen Senats könnten sich aus zwei Gründen ergeben: Zum einen bestünde die Möglichkeit - in Parallelität zu ähnlichen Argumentationen bezüglich des Bundesverfassungsgerichts26 - den Rechtsanwendungscharakter der Tätigkeit des Gemeinsamen Senats zu bestreiten, da er sich vornehmlich mit der Auslegung weiter und inhaltlich offener Normen beschäftige27 • Zum anderen könnten sich daraus Bedenken ergeben, daß die Entscheidungen des Gemeinsamen Senats nicht unmittelbar das streitige Rechtsverhältnis beeinflussen, sondern ihnen nur über die Bindung des vorlegenden Gerichts an die Rechtsauffassung des Gemeinsamen Senats "mittelbare" Wirkung zukommt. Hinsichtlich des in der Rechtslehre für möglich erachteten Defizits juristischer Bindung des Gemeinsamen Senats wegen der Weite und Offenheit der von ihm auszulegenden Normen ist festzustellen, daß die Konkretisierung und verbindliche Interpretation abstrakt-genereller Rechtssätze traditionell in den Aufgabenbereich der Gerichte fällt. Als Beispiel dafür kann auf die seit langem existierende, äußerst mühsame und aufwendige "Kärrnerarbeit" der Gerichte im Bereich der Generalklauseln hingewiesen werden 28 . Auch die Grundsätze der Rechtseinheit und Rechtssicherheit fordern gerade von den Rechtsprechungsorganen, weite und offene Normen inhaltlich zu präzisieren, um Orientierungsmaßstäbe für die weitere Rechtsprechung und für die Rechtssubjekte zu setzen. Der Gemeinsame Senat hat sich dieser Aufgabe aufgrund seines Verfassungsauftrages - der Wahrung einer einheitlichen

Achterberg, in: BK, Art. 92 Rdnr. 237; Bettermann, Die Unabhängigkeit der Gerichte und der gesetzliche Richter, in: Die Grundrechte, 3. Bd., 2. Halbband, hrsg. v. K. A. Better-. mann, H. C. Nipperdey, U. Scheuner, 1959, S. 523 (634). 26 Draht, Die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, VVDStRL 9 (1952), 17 (90ff.); weitere Nachweise zu dieser Ansicht bei Schmidt, Rechtscharakter, S. 124ff. 27 Auf diese Möglichkeit weist insbesondere Sachs, Bindung, S. 13 Fn. 20 hin; in diesem Sinne auch Roellecke, Politik und Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 175f. 28 Ebenso Sachs, ebd., S. 13; zur Funktion der Rechtsprechung im Bereich der Generalklauseln siehe auch Larenz, Methodenlehre, S. 214, 276ff. 25

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2. Kapitel: Stellung des Gemeinsamen Senats im Rechtssystem

Rechtsprechung - in besonderem Maße zu stellen 29 . Aus diesen Gründen erscheinen Zweifel an der Gerichtsqualität des Gemeinsamen Senats insoweit unbegründet. Gewichtigere Bedenken hinsichtlich der Gerichtsqualität des Gemeinsamen Senats könnten sich jedoch daraus ergeben, daß seine Entscheidungen nicht unmittelbar das prozeßrechtliche Streitverhältnis beeinflussen, sondern ihnen nur über die Bindung des vorlegenden Gerichts an die Rechtsauffassung des Gemeinsamen Senats30 "mittelbare" Entscheidungsrelevanz zukommt. Wird in dieser Kritik die Notwendigkeit der unmittelbaren Streitentscheidung vorausgesetzt, so ist damit der Begriff der "Rechtsprechung" in seinem Wesen und aufgrund des funktionalen Zusammenhangs3l auch der Begriff des "Gerichts" als solches angesprochen. Noch heute muß der Rechtsprechungsbegriff trotz zahlreicher Lösungsversuche als nicht vollends geklärt angesehen werden. Wichtige Beiträge zur Konkretisierung des Begriffs der Rechtsprechung wurden dabei insbesondere von Thoma und Friesenhahn geleistet. Nach Ansicht von Thoma ist Rechtsprechung der "verselbständigte Ausspruch dessen, was in Anwendung des geltenden Rechts auf einen konkreten Tatbestand rechtens ist'm. Für Friesenhahn besteht Rechtsprechung in der "Tätigkeit eines staatlichen Organs, das als unbeteiligter Dritter mit obrigkeitlicher Gewalt ausspricht, was bei Anwendung der allgemeinen Normen auf den konkreten Tatbestand rechtens ist, um einen Rechtsstreit zu entscheiden,m. Auch in jüngerer Zeit wurden immer wieder

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Dieser Aufgabe ist der Gemeinsame Senat z.B. durch die viel beachtete Entscheidung vom 19. 10. 1971, BVerwGE 35, 69ff. ±:: NJW 1972, 1411ff. (gekürzt) mit Anm. Kloepfer, NJW 1972, 1411f. nachgekommen. Zur Resonanz bzgl. dieser Entscheidung siehe Bachof, Neue Tendenzen in der Rechtsprechung zum Ermessen und zum Beurteilungsspielraum, JZ 1972, 641ff.; Grimm, Grundsatzentscheidung des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe zu § 131 AO, BB 1972, 781ff.; Os wald, Zur Gewerbesteuer des Versicherungsgeneralagenten aus verwaltender Tätigkeit, - Billigkeitserlaß wegen Änderung der Rechtsprechung des BFH (Beschluß des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. 10. 1971) -, VersR 1972, 1099ff.; Redeker, Anm. zum Beschluß des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. 10. 1971, DVBI. 1972, 604ff., DVBI. 1972, 608f.; Rupp, Begriffsjurisprudenz und Rechtsstaat, NJW 1972, 1796. §§ 16, 15 I 1 RsprEinhG. Siehe dazu oben S. 40f. Thoma, Die Funktionen der Staatsgewalt, Grundbegriffe und Grundsätze, in: Anschützl Thoma, Handbuch des Deutschen Staatsrechts, 2. Band, 1932, S. 108 (129); ähnlich Menger, System des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes, S. 46ff., 49. Friesenhahn, Über Begriff und Arten der Rechtsprechung unter besonderer Berücksichtigung der Staatsgerichtsbarkeit nach dem Grundgesetz und den westdeutschen Landesverfassungen, in: Festschrift für Richard Thoma zum 75. Geburtstag, Tübingen 1950, S. 21, 26f.; ähnlich Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, § 1, S. 6 m. w. N. ;Jellinek, Verwaltungsrecht, § 1 I, S. 6; Kern, Rechtspflege, in: AnschützlThoma, Handbuch des Deutschen Staatsrechts, 2. Band, 1932, S. 475; v. Mangoldt, Grundgesetz, Vorbem. Art. 92, 3. a), S. 492.

I. Integration des Gemeinsamen Senats in die Funktionenordnung

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Versuche unternommen, den Rechtsprechungsbegriff zu klären 34 . Geht man davon aus, daß der Begriff dem Grundgesetz zu entnehmen ist, formell die durch die Verfassung vorgegebenen Rechtsweggarantien und Richtervorbehalte umschließt 35 sowie materiell durch das Kriterium der Streitentscheidung gekennzeichnet wird 36 , so stellt sich allerdings die Frage, ob die Entscheidungen des Gemeinsamen Senats streitentscheidenden und damit rechtsprechenden Charakter besitzen. Zur Klärung dieser Frage ist es erforderlich, sich die Wirkung der Entscheidungen des Gemeinsamen Senats zu verdeutlichen. Auf den Vorlegungsbeschluß eines obersten Gerichtshofes, den dieser gemäß § 2 Abs. 1 RsprEinhG zu treffen hat, wenn er in einer Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen obersten Gerichtshofes abweichen will, entscheidet der Gemeinsame Senat mit bindender Wirkung für das vorlegende Gericht die Rechtsfrage (§ 16 RsprEinhG). Das vorlegende Instanzgericht hat somit die Rechtsauffassung des Gemeinsamen Senats bei der Schlichtung seines Rechtsstreites zugrunde zu legen. Der rechtliche Bedeutungsgehalt der Entscheidung des Gemeinsamen Senats wird damit in das instanzgerichtliche Verfahren transponiert. Vergleichbar mit den instanzgerichtlichen Wirkungen einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Falle der konkreten Normenkontrolle wird demnach die Rechtsauffassung des Gemeinsamen Senats zur Grundlage bzw. zum "Bestandteil" des Verfahrens vor dem Instanzgericht 37 • Auch unter Berücksichtigung des Kriteriums der "Streitentscheidung" sind deshalb Zweifel am rechtsprechenden Charakter der Entscheidungen des Gemeinsamen Senats unbegründet. Der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes wird daher sowohl unter Zugrundelegung formeller Kriterien (verfassungskräftige Zuweisung seiner Tätigkeit zur Rechtsprechung durch Art. 95 Abs. 3 GG iVm § 1

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Zu den zahlreichen, auch neueren Versuchen einer Begriffsklärung siehe die sehr anschauliche und instruktive Übersicht bei Achterberg, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 7 Rdnr. 21,58, S. 157ff.; vgl. dazu ferner ders., Probleme der Funktionenlehre, 1970; ders., Der Begriff "Rechtsprechung im materiellen Sinne", in: System des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes, Festschrift für Christian-Friedrich Menger zum 70. Geburtstag, hrsg. v. H.-V. Erichsen, W. Hoppe, A. v. Mutius, Köln· BerIin· Bonn· München 1985, S. 125ff. So BVerfGE 22, 49 (76ff.); in diesem Sinne entnimmt Stern, Staatsrecht, Bd. 11, § 43 I 4 e) ß), S. 898f. bereits aus Art. 95 Abs. 3 GG eine von der Verfassung vorgegebene Zuweisung der Entscheidungen des Gemeinsamen Senats zur "Rechtsprechung"; kritisch zu dieser rein formellen Sicht Bettermann, Das Gerichtsverfassungsrecht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR Bd. 92 (1967), 496 (499), der diese "Additionstechnik" in Frage stellt. Achterberg, in: BK, Art. 92 Rdnr. 111; ebenso die Streitentscheidung betonend Meyer, in: v. Münch, Grundgesetz-Kommentar, Art. 92 Rdnr. 8; a. A. hinsichtlich des Merkmals "Streitentscheidung" Stern, Staatsrecht, Bd. 11, § 43 I 4 b)t S. 897, nach dessen Ansicht für die Kennzeichnung des Begriffs "Rechtsprechung" auch die "verbindliche Rechtsfeststellung" ausreicht. Für diese Auffassung stellt sich das folgende Problem dann freilich nicht. So für den Fall der konkreten Normenkontrolle Achterberg, ebd., Rdnr. 110.

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2. Kapitel: Stellung des Gemeinsamen Senats im Rechtssystem

Abs. 1 RsprEinhG) als auch unter Berücksichtigung materieller Gesichtspunkte (Streitentscheidung) als rechtsprechendes Organ des Staates tätig. Dafür, daß seine eigentliche, wesentliche Aufgabe die der Rechtsprechung ist, gibt sein Verfassungs auftrag - die Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung - beredtes Zeugnis. Der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes ist demnach ein Gericht im Sinne des Grundgesetzes; im System der Staatsfunktionen findet er seinen Platz innerhalb der Judikative.

11. Integration des Gemeinsamen Senats in den Stufenbau der Rechtsordnung Der Versuch, eine von der Verfassung vorgesehene Institution unter Berücksichtigung rechtsdogmatischer wie rechtstheoretischer Aspekte in der Rechtsordnung zu verankern, darf jedoch nicht bei der Integration in die Funktionenordnung haltmachen. Die Einordnung in das positivierte System der Staatsfunktionen entbindet nämlich nicht von der Notwendigkeit einer Einfügung in die tieferliegenden rechtstheoretischen Grundlagen dieser Rechtsordnung. Geht man zudem davon aus, daß einer Rechtsordnung als Summe zusammenhängender Rechtssätze 38 auch eine bestimmte rechtstheoretische Struktur zugrunde liegt, so ist ebenso auszuleuchten, welche Stellung und Funktion eine Institution mit ihren Handlungsstrukturen in ihr wahrnimmt. An dieser Stelle ist auf die Bedeutung der von Achterberg als "Strukturphänomen der Rechtsordnung"39 und von Behrend als "Strukturlehre des Rechtes"4O bezeichneten Stufenbautheorie Adolf Merkls41 einzugehen. 1. Der Stufenbau der Rechtsordnung

Die von Adolf Merkl begründete Theorie des Stufenbaus der Rechtsordnung42 ist Bestandteil der Reinen Rechtslehre 43 • Sie ist das Ergebnis einer 38

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Merkl, Prolegomena einer Theorie des rechtlichen Stufenbaues, in: Gesellschaft· Staat und Recht, Festschrift für Hans Kelsen, hrsg. v. A. Verdross, Wien 1931, S. 252. Achterberg, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 16 Rdnr. 2. Behrend, Untersuchungen, S. 1l. Wegen dieses Beitrags ist Adolf Merkl übrigens von Hans Kelsen ausdrücklich als Mitbegründer der Reinen Rechtslehre anerkannt worden, Kelsen, Adolf Merkl zu seinem siebzigsten Geburtstag am 23. März 1960, ÖZöR Bd. 10 (1959/1960), 313. Kritisch zur Theorie vom Stufenbau der Rechtsordnung Krawietz, Die Lehre vom Stufenbau des Rechts - eine säkularisierte politische Theologie?, in: Rechtssystem und gesellschaftliche Basis bei Hans Kelsen, hrsg. v. W. Krawietzu. H. Schelsky, 1984, S. 255 (26Of., 266f. );ders., Identität oder Einheit des Rechtssystems, in: Japanisches und eQropäisches Rechtsdenken - Versuch einer Synthese philosophischer Grundlagen, hrsg. v. M. Yasaki / A. Troller / J. Llompart, Rechtstheorie 16 (1985), 233 (270ff.); ders., Recht als Regelsystem, S. 133ff., der auf der Basis eines sinnkritischen Rechtsrealismus interessen- bzw. wertungsjuristischer Prägung im Sinne der "Münsterschen Schule der Rechtstheorie" fehlerhafte Deutungen rechtlicher Zusammenhänge sowie "Realitätsverschätzungen der Rechtswirklichkeit bzw. der sozialen Wirklichkeit des Rechts" befürchtet. Insbesondere

11. Integration des Gemeinsamen Senats in den Normstufenbau

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rechtlichen Strukturanalyse, der es vor allem darum geht, "innerhalb der in den Rechtsordnungen gegebenen Fülle von Rechtserscheinungen diejenigen Strukturen und systematischen Zusammenhänge aufzuzeigen, die vom Begriff des Rechts vorgezeichnet sind und damit rechtswesenhaften Charakter aufweisen"44. Nach der Theorie vom Stufenbau der Rechtsordnung und der mit ihr unlösbar verbundenen Merkl-Kelsenschen Stufenlehre ist die Rechtsordnung ein Erzeugungszusammenhang der Rechtsnormen. Diese können auf eine hypothetische Grundnorm als letzten Geltungsgrund zurückgeführt werden. Von dieser Grundnorm leitet sich die Völkerrechtsordnung ab, welche ihrerseits die einzelstaatliche Rechtsordnung delegiert. Aus der Verfassung als oberster Stufe dieser Rechtsordnung entwickeln sich beliebig viele, durch permanente Konkretisierung gekennzeichnete Rechtserzeugungsstufen, die alle Rechtsnormcharakter besitzen. Im Rahmen dieses Rechtserzeugungsprozesses stellt jede Rechtsnorm aufgrund der Regelung des Verfahrens und teilweise auch des Inhalts der zu erzeugenden Norm den Geltungsgrund der erzeugten Norm dar. Hieraus ergibt sich ein Ordnungssystem der einzelnen Rechtserzeugungsstufen 45 • Dennoch führt die Determination der erzeugten durch die erzeugende Norm nicht zu einer "Voll-Determination" der ersteren, sondern dieser bleibt vielmehr eine "autonome Determinante", die eine Regelung nach ihren eigenen Bedürfnissen ermöglicht46 • Die Notwendigkeit einer "autonomen Determinante" erklärt sich aus dem Sinn und Zweck der Normstufen, nämlich der Konkretisierung der vorhergehenden Rechtsnormen durch die nachfolgenden. Das Konkretisierungsbedürfnis ist die Folge der nur begrenzten Prognosefähigkeit des Verfassunggebers, des Gesetzgebers und der weiteren Rechtserzeuger .

sieht er in der Theorie vom Stufenbau die Gefahr einer "Reideologisierung des Rechtsdenkens" angelegt. Gleichwohl bestreitet er keineswegs die theoretischen und pragmatischen Verdienste der Lehre vom Stufenbau des Rechts. 43 Zur Reinen Rechtslehre siehe insbesondere Ketsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., 1960; zur Bedeutung Hans Kelsens und seiner "Reinen Rechtslehre" für die Rechtstheorie und Rechtswissenschaft siehe ferner Ach~erberg, Hans Kelsens Bedeutung in der gegenwärtig.en deutschen Staatsrechtslehre, DÖV 1974, 445ff. = ders., Theorie und Dogmatik des Offentliehen Rechts, Ausgewählte Abhandlungen 1960-1980, S. 51ff.; ders., Kelsen und MauL Zur Verwendbarkeit der Reinen Rechtslehre in relativistischen und dogmatistischen Rechtssystemen, Politik und Kultur 1975, 40ff. = ders., Theorie und Dogmatik des Öffentlichen Rechts, Ausgewählte Abhandlungen 1960-1980, S. 73ff.; ders., Die Reine Rechtslehre in der Staatstheorie der Bundesrepublik Deutschland, in: Der Einfluß der Reinen Rechtslehre auf die Rechtstheorie in verschiedenen Ländern, 1978, S. 7ff.; Behrend, Untersuchungen, S. 49ff.; Dreier, Sein und Sollen. Bemerkungen zur Reinen Rechtslehre Kelsens, in: ders., Recht -Moral-Ideologie, S. 217 ff. ; zur Kritik an der Reinen Rechtslehre siehe Larenz, Methodenlehre, S. 79 Fn. 100 m. w. N. 44 So Behrend, ebd., S. 11. 45 Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 238, 243; Merkt, Prolegomena einer Theorie des rechtlichen Stufenbaues, in: Gesellschaft· Staat und Recht, Festschrift für Hans Kelsen, hrsg. v. A. Verdross, Wien 1931, S. 252, 275. 46 Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 243.

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2. Kapitel: Stellung des Gemeinsamen Senats im Rechtssystem

Diesem Erfordernis entsprechend muß auf jeder Stufe der Rechtserzeugung ein Handlungsspielraum zur Ausfüllung verbleiben 47 . 2. Richterliche Rechtsfindung im Stufen bau der Rechtsordnung

Für die Standortbestimmung der Rechtsprechung im allgemeinen und der des Gemeinsamen Senats im besonderen ist neben der Funktionenordnung ihr Platz im Normstufenbau von wesentlicher Bedeutung. Findet sie im System der Staatsfunktionen ihren horizontalen Standort, so vermittelt der Normstufenbau als das hierarchische System der Rechtsquellen ihre vertikale Position in der Rechtsordnung48 . Geht man auf den Erkenntnissen der Merkl-Kelsenschen Stufenlehre aufbauend davon aus, daß jede Norm niederer Stufe außer dem sie erzeugenden Akt eine Norm höherer Stufe voraussetzt, derzufolge der sie erzeugende Akt als ein Rechtsakt gedeutet werden kann, so wird die ranghöhere Norm dadurch "angewendet", daß ihr gemäß eine rangniedere Norm erzeugt wird. In diesem Sinne ist "Rechtsanwendung zugleich Rechtserzeugung"49. Übertragen auf die Handlungsstrukturen der Rechtsprechungsorgane, insbesondere des Gemeinsamen Senats, bedeutet dies, daß die Funktion der richterlichen Entscheidung keineswegs nur deklaratorischen, sondern ebenso auch konstitutiven Charakter besitzt. Die richterliche Entscheidung ist ein Akt der Rechtserzeugung, insoweit ohne Unterschied zum Gesetz, nur auf der Stufe der Individualisierung bzw. Konkretisierung der generellen Norm 50 ; bei der Normergänzung und bei der Normauslegung wird dies besonders deutlich 51 • Die Rechtsfindung des Gemeinsamen Senats ist demnach durch eine dem Stufenbau der Rechtsordnung zu entnehmende Parallelität von Rechtsanwendung und Rechtserzeugung52 gekennzeichnet 53 •

47 Achterberg, in: BK, Art. 92 Rdnr. 153 m. w. N. 48

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Ebd., Rdnr. 112ff., 152ff. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 240; Merkl, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 15; auf den Zusammenhang von Rechtsanwendung und Rechtserzeugung weist auch Hart, Recht und Moral, S. 32f. hin, m. w. N. auf John Austin; den Zusammenhang von Rechtsanwendung und Rechtserzeugung verkennt Kissel, Im Spannungsfeld zwischen Recht und Politik, FAZ vom 14. 9. 1985, Nr. 213, S. 15. Larenz, Methodenlehre, S. 77f. Achterberg, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 16 Rdnr. 76. Wenn die Rechtslehre vom Rechtsetzungs- bzw. Rechtserzeugungsbestandteil richterlicher Tätigkeit spricht, verwendet sie gewöhnlich den Begriff des "Richterrechts" . Aus der neueren Methodenlehre siehe z. B. Bydlinski, Hauptpositionen zum Richterrecht, JZ 1985, 149ff.; Fikentscher, Methoden des Rechts, Band IV, S. 241ff., 269ff., 313ff.; Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 243ff.; Pawlowski, Methodenlehre, Rdnr. 318ff.,

11. Integration des Gemeinsamen Senats in den Normstufenbau

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An der aus der Merkl-Kelsenschen Stufenlehre resultierenden Parallelität von Rechtsanwendung und Rechtserzeugung im Bereich der Rechtsprechung ist in der Rechtslehre mehrfach Kritik geäußert worden 54 . Neben rechtstheoretischen Angriffen 55 sieht sich die Merkl-Kelsensche Lehre insbesondere dahingehenden Einwänden ausgesetzt, daß sie prinzipiell keinen Unterschied zwischen Gesetzgebung, Rechtsprechung, Verwaltungshandeln und Betätigung der Privatautonomie kenne. Für sie handele es sich in allen Fällen um die Setzung einer rangniederen Norm im Rahmen der ranghöheren. Nach Ansicht von Larenz ist dies zwar eine "durch ihre logische Einfachheit bestechende, den sachlich begründeten Differenzierungen aber in keiner Weise entsprechende Auffassung"56. Larenz geht sogar so weit zu behaupten, daß sich diese Auffassung mit der Funktion der Rechtsprechung im Verfassungsstaat nur schlecht vertrage 57 • Es erscheint allerdings fraglich, ob die gegen die Merkl-Kelsensche Stufenlehre gerichteten Angriffe zu überzeugen vermögen. Zweifel könnten deswegen bestehen, weil die in der Rechtslehre erhobene Kritik das Erkenntnisziel der Theorie vom Stufenbau der Rechtsordnung nur unzureichend und fehlerhaft erfaßt. Wie bereits angedeutet 58 , ist es das Anliegen der Normstufenbau-

561ff., 573ff.; siehe ferner allgemein Achterberg, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 16 Rdnr. 75ff. m. w. N. in Fn. 88; ders., in: BK, Art. 92 Rdnr. 128ff.; ders., Wege der Objektivierung des Rechts, in: Objektivierung des Rechtsdenkens, Gedächtnisschrift für I1mar TammeIo, hrsg. v. W. Krawietz, Th. Mayer-Maly, O. Weinberger, Berlin 1984, S. 211 (217); Esser, Richterrecht, Gerichtsgebrauch und Gewohnheitsrecht, in: Festschrift für Fritz von Hippel zum 70. Geburtstag, hrsg. v. J. Esser und W. Thieme, Tübingen 1967, S. 95 ff.; Hilger, Überlegungen zum Richterrecht, in: Festschrift für Karl Larenz zum 70. Geburtstag, hrsg. v. G. Paulus, U. Diederichsen, C. W. Canaris, München 1973, S. 109ff.; Kruse, Das Richterrecht als Rechtsquelle des innerstaatlichen Rechts, 1971; Less, Vom Wesen und Wert des Richterrechts, 1954; Picker, Richterrecht und Richterrechtsetzung, JZ 1984, 153ff.; Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978; Wannagat, Funktionsspezifische Aspekte sozialgerichtlicher Rechtsfortbildung, in: Festschrift für Marie Luise Hilger und Hermann Stumpf, hrsg. v. Th. Dieterich, F. Gamillscheg, H. Wiedemann, München 1983, S. 687ff.; Zimmermann, Rechtsanwendung als Rechtsfortbildung, 1977. 53 Zu den Konsequenzen dieser Parallelität, insbesondere der möglicherweise erforderlichen Ersetzung der Linearität des Normstufenbaus durch ein kybernetisches Regelkreissystem mit Rückkopplungsmechanismen siehe Achterberg, in: BK, Art. 92 Rdnr. 155; ders., Rechtsnorm und Rechtsverhältnis in demokratietheoretischer Sicht, in: Ideologiekritik und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, hrsg. v. W. Krawietz, E. Topitsch, P. Koller, Berlin 1982, S. 133 (137). 54 Siehe insbesondere Leiminger, Die Problematik der Reinen Rechtslehre, 1967; Rupp, Grundfragen, S. 193f.; siehe ferner Larenz, Methodenlehre, S. 79 m. w. N. 55 Zur Erwiderung dieser beachte Dreier, Sein und Sollen, in: ders., Recht - Moral- Ideologie, S. 217ff., 222ff. 56 Larenz, Methodenlehre, S. 79. 57 Ebd. 58 Siehe dazu 2. Kap., 11., 1.

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2. Kapitel: Stellung des Gemeinsamen Senats im Rechtssystem

lehre, die vom Begriff des Rechts vorgezeichneten und damit "rechtswesenhaften" Strukturen aufzudecken. Besonders deutlich wird dies, wenn man die Normstufenbautheorie als Bestandteil der Reinen Rechtslehre Kelsens begreift, von der er u. a. sagt: "man kann schließlich, gestützt auf eine Vergleichung aller als ,Recht' angesprochenen Phänomene, das Wesen des Rechts überhaupt, seine typische Struktur, und zwar unabhängig von dem wechselnden Inhalt, untersuchen, den das Recht zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten angenommen hat. Das ist die Aufgabe einer allgemeinen, d. h. nicht auf eine besondere Rechtsordnung oder besondere Rechtsnormen beschränkten Rechtslehre ... Eine solche allgemeine Rechtslehre will die Reine Rechtslehre sein"59. Diese Aussagen Kelsens lassen erkennen, wie wichtig für eine Beschäftigung mit der Merkl-Kelsenschen Stufenlehre - dies gilt in besonderem Maße für eine kritische Betrachtung - die Unterscheidung von "rechtswesenhaften" und "rechtsinhaltlichen" Strukturen ist. Von daher muß es als verfehlt bezeichnet werden, wenn man ihr die mangelnde Trennung der Staatsfunktionen oder die Verkennung des Inhalts einer Funktion (etwa der Rechtsprechung) zum Vorwurf macht. Eine solche Unterscheidung bzw. Inhaltsbestimmung der Staatsfunktionen ist nämlich gerade nicht das Erkenntnisziel der Merkl-Kelsenschen Stufenlehre, da es sich dabei nicht um rechtswesenhafte Erscheinungen handelt. Auch Behrend gelangt in seiner Analyse der Merkl-Kelsenschen Stufenlehre zu diesem Ergebnis: "Die Funktionentrennung erscheint im System der Stufenbautheorie somit nicht als rechtswesenhaftes, sondern bloß als ein von der jeweiligen positivrechtlichen Ausgestaltung abhängiges Strukturelement moderner Staats- und Rechtsordnungen ... "60 Die Kritik an den Ergebnissen der Merkl-Kelsenschen Stufenlehre vermag daher nicht zu überzeugen, so daß es zulässig ist, die Rechtsfindung des Gemeinsamen Senats durch eine rechtswesenhafte Parallelität von Rechtsanwendung und Rechtserzeugung gekennzeichnet zu sehen.

Kelsen, Was ist die Reine Rechtslehre?, in: Demokratie und Rechtsstaat, Festgabe zum 60. Geburtstag von Zaccaria Giacometti (26. September 1953), Zürich 1953, S. 143. 60 Behrend, Untersuchungen, S. 3lf. 59

IH. Auswirkungen auf das Staatsfunktionensystem

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III. Die Rechtsgewinnung des Gemeinsamen Senats in ihren Auswirkungen auf das Staatsfunktionensystem Vor dem Hintergrund der rechtstheoretischen Erkenntnis, daß die Rechtsgewinnung des Gemeinsamen Senats durch eine dem Stufenbau der Rechtsordnung zu entnehmende Parallelität von Rechtsanwendung und Rechtserzeugung gekennzeichnet ist61 , stellt sich zum einen die Frage nach den Auswirkungen seiner Rechtsfindung im eigenen Funktionsbereich. Zum anderen bedarf es der Analyse, inwieweit seine Rechtsgewinnung angrenzende Funktionsbereiche, insbesondere den der Legislative, zu berühren vermag. 1. Die Präjudizienvermutung und ihre Bedeutung für die Rechtsprechung

Richterliche Rechtsfindung sieht sich zwar einerseits ständig variierenden Fallkonstellationen mit unterschiedlichen Rechts- und Tatfragen ausgesetzt, andererseits aber treten immer wieder Entscheidungssituationen auf, in denen die Rechtsfrage, über die zu entscheiden ist, in einem anderen Fall bereits einmal gerichtlich' entschieden wurde. Die Rechtslehre hat für die bereits vorliegende Antwort auf eine solche Rechtsfrage den Begriff des "Präjudizes" geprägt62 • Kriele hat die "Präjudizienvermutung" als' "Prinzip unseres positiven Rechts" bezeichnet63 • Unter dem Rechtsprinzip der "Präjudizienvermutung" versteht er die widerlegliche Rechtsvermutung zugunsten des Präjudizes, d. h., daß letzteres den Richter bindet, jedoch nicht unbedingt, sondern nur mangels guter Gründe für die Abweichung64 • Nachfolgend soll untersucht werden, ob sich positivrechtliche Hinweise für bzw. gegen die Geltung der "Präjudizienvermutung" finden lassen, wobei der Funktion des Art. 95 Abs. 3 GG besondere Bedeutung beizumessen ist. Das dabei gefundene Ergebnis vermag mögli-

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Siehe dazu 2. Kap., H., 2. Zur Bedeutung der "Präjudizien" siehe insb. Badura, Die Bedeutung von Präjudizien im öffentlichen Recht, in: Die Bedeutung von Präjudizien im deutschen und französischen Recht, hrsg. v. U. Blaurock, 1985, S. 49ff.; Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 500ff.; Ermacora, Gedanken zur Präjudizientechnik in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes, in: Im Dienst an Staat und Recht, Internationale Festschrift Erwin Melichar zum 70. Geburtstag, hrsg. v. H. Schäffer iVm K. König und K. Ringhofer, Wien 1983, S. 3ff.; Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 243 ff.; Larenz, Methodenlehre, S. 412ff.; Seuffert, Über Gesetzgebung, Rechtsprechung und Bindungswirkungen, AöR Bd. 104 (1979),169 (173ff.); Vogel, Praxis und Theorie, S. 44ff.; Weller, Die Bedeutung der Präjudizien im Verständnis der deutschen Rechtswissenschaft, 1979. Kriele, ebd., S. 248. Ebd., S. 247; Präjudizien besitzen insoweit .. präsumtive Verbindlichkeit", ebd., S. 243.

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2. Kapitel: Stellung des Gemeinsamen Senats im Rechtssystem

cherweise Aufschluß über die Auswirkungen der Rechtsfindung des Gemeinsamen Senats innerhalb der Judikative zu geben 65 . Das von Kriele maßgeblich begründete Prinzip der "Präjudizienvermutung" einschließlich der darin enthaltenen "präsumtiven Verbindlichkeit" des Präjudizes hat in der Rechtslehre heftige Kritik erfahren. Zwar wird die faktische Bedeutung des Präjudizes für die Rechtsprechung nicht geleugnet66 , ihm aber jegliche Bindungswirkung für die Rechtsfindung des Richters abgesprochen 67 . Einerseits erfolgt dies unter Berufung auf Art. 97 Abs. 1 GG, wonach der Richter allein dem Gesetz unterworfen ist. So hat etwa Blomeyer dazu bemerkt: "Daß der Richter nur dem Gesetz unterworfen ist, schließt die allgemeine Bindung an Präjudizien über die gleiche Rechtsfrage aus ... "68 Andererseits wird von Larenz der Gedanke der materiellen Entscheidungsrichtigkeit bemüht; gegenüber diesem müßten alle Gesichtspunkte, die für eine Befolgung von Präjudizien sprechen, zurücktreten 69 . Larenz wendet sich auch gegen eine "präsumtive Bindung" des Präjudizes, da er als Folgeerscheinung wohl einen "unkritischen Präjudizienkult"70 befürchteCI. Große Teile der Rechtslehre hingegen befürworten eine Bindungswirkung des Präjudizes, wobei zum Teil auch von einer "präsumtiven Verbindlichkeit" ausgegangen wird72 • Die Tatsache, daß der Richter gemäß Art. 97 GG nur an 65 Es ist jedoch ebenso für die Problematik der "Rechtsprechungsabweichung" und die Fest66

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stellung von "Umgehungstendenzen" wichtig; zur ersteren siehe 4. Kap., I., zu letzterem 5. Kap.,II. Larenz, Über die Bindungswirkung von Präjudizien, in: Festschrift für Hans Schima zum 75. Geburtstag, hrsg. v. H. W. Fasching und W. Kralik, Wien 1969, S. 247f.; ders., Methodenlehre, S. 412f. Ders., Über die Bindungswirkung von Präjudizien, in: Festschrift für Hans Schima zum 75. Geburtstag, hrsg. v. H. W. Fasching U11d W. Kralik, Wien 1969, S. 247ff.; ders., Methodenlehre, S. 414, insb. Fn. 152; Seuffert, Uber Gesetzgebung, Rechtsprechung und Bindungswirkungen, AöR Bd. 104 (1979), 169 (174), der jedoch weitgehend unkritisch jegliche Bindungswirkung ablehnt; eher skeptisch gegenüber der "Präjudizienvermutung" ebenfalls Esser, Richterrecht, Gerichtsgebrauch und Gewohnheitsrecht, in: Festschrift für Fritz von Hippel zum 70. Geburtstag, hrsg. v. J. Esser und W. Thieme, Tübingen 1967, S. 95 (121); ders., Vorverständnis, S. 195. Blomeyer, Zivilprozeßrecht, S. 24. Larenz, Methodenlehre, S. 414. Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 510. Larenz, Methodenlehre, S. 414 Fn. 152. SchwabiGottwald, Verfassung und Zivilprozeß, in: Effektiver Rechtsschutz und verfassungsmäßige Ordnung, Die Generalberichte zum VII. Internationalen Kongreß für Prozeßrecht, Würzburg 1983, hrsg. v. W. J. Habscheid, Bielefeld 1983, S. 26 "begrenzte Bindung an Entscheidungen der oberen Gerichte, um abweichende Entscheidungen ... zu verhindern"; in diesem Sinne auch Schellhammer, Zivilprozeß, Rdnr. 817, 831, nach dessen Ansicht das Präjudiz durch die Kraft seiner Argumente von der Richtigkeit einer Rechtsansicht überzeugen kann; im Sinne einer "präsumtiven Verbindlichkeit" des Präjudizes Achterberg, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 16 Rdnr. 77; Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 510; Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 243; ders., Recht und praktische Vernunft, S. 91ff.; Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, S. 36ff., 38.

IH. Auswirkungen auf das Staatsfunktionensystem

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das Gesetz gebunden ist, kann dabei einer Bindungswirkung des Präjudizes nicht entgegenstehen, da die Rechtsvermutung zugunsten des Präjudizes insoweit nur mittelbare Auswirkung der gerichtlichen Entscheidung ist; sie entfaltet keine unmittelbare normative Wirkung gegenüber anderen Rechtsanwendungsorganen 73 • Zudem würde eine strikte und alleinige Bindung des Richters an das Gesetz die Gefahr in sich bergen, zu einem "Subsumtionspositivismus" zu führen, der die heutigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des staatlichen Gemeinwesens mißachten müßte 74 • Auch der Gedanke der materiellen Entscheidungsrichtigkeit und die Gefahr eines "unkritischen Präjudizienkults" können einer begrenzten Bindungswirkung des Präjudizes nicht entgegengehalten werden. Wird seine "präsumtive Verbindlichkeit" dahingehend verstanden, daß sie das Entstehen einer Argumentationslast bewirkt, die den Richter zur materiellrechtlichen Entkräftung des Präjudizes zwingt, um von einer Vorentscheidung abweichen zu können 7S, so bleibt die kritische Prüfung des Präjudizes sicherlich zuvörderst richterliche Pflicht16 • Durch die "präsumtive Verbindlichkeit" wird vielmehr korrespondierend zu einer etwaigen "Befolgungspflicht" auch die "Auseinandersetzungspflicht" des Richters mit den Argumenten der Vorentscheidung gefordert. Diese kritische Überprüfung der eigenen Rechtsauffassung an den Argumenten der Vorentscheidung dient dabei der materiellen Entscheidungsrichtigkeit in größerem Umfang als die Ablehnung jeglicher Bindungswirkung der Präjudizien. Für eine Bindungswirkung des Präjudizes im Sinne präsumtiver Verbindlichkeit sprechen ferner auch positive Hinweise im geltenden Recht. Neben der Tatsache, daß die richterliche Negierung präjudiziell institutionalisierten Rechts als Revisionsgrund angesehen wird77 , kommt insbesondere den gesetzlichen Vorschriften zur Wahrung der Rechtsprechungseinheit besondere Bedeutung ZU78. Dabei erlangt Art. 95 Abs. 3 GG mit der darin niedergelegten Institutionalisierung des Gemeinsamen Senats zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung besonderes Gewicht. Wie bereits erörtert, ist die Einrichtung

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So Achterberg, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 16 Rdnr. 77; in diesen Zusammenhang gehört auch der hier nicht näher zu behandelnde Streit um die Frage, ob dem Präjudiz "Rechtsquellen-" oder "Rechtserkenntnisquellencharakter" zukommt, siehe dazu Bydlinski, ebd., S. 502ff.; Larenz, Methodenlehre, S. 415 Fn. 153 m. w. N. Achterberg, in: BK, Art. 92 Rdnr. 130. Ders., Allgemeines Verwaltungsrecht, § 16 Rdnr. 77; ders., Wege der Objektivierung des Rechts, in: Objektivierung des Rechtsdenkens, Gedächtnisschrift für I1mar Tammelo, hrsg. v. W. Krawietz, Th. Mayer-Maly, O. Weinberger, Berlin 1984, S. 211 (217). Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 510; Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, S. 37. Dazu Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 250. Zu weiteren Sachgründen für die "Präjudizienvermutung" siehe ausführlich ders., Recht und praktische Vernunft, S. 96ff.; der Grundsatz der Rechtssicherheit wird besonders von Wank betont, Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, S. 36f.

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2. Kapitel: Stellung des Gemeinsamen Senats im Rechtssystem

des Gemeinsamen Senats vor dem Hintergrund zu sehen, daß mit ihm den rechtsstaatlichen Grundpostulaten der Rechtseinheit, Rechtsgleichheit und Rechtssicherheit im Bereich der Rechtsprechung Rechnung getragen werden sollte. Zur Erreichung dieser Ziele kann auf eine Koordinierung der Judikative in dem Sinne, widersprüchliche Entscheidungen in derselben Rechtsfrage möglichst zu vermeiden, nicht verzichtet werden. Ohne die Voraussetzung des Prinzips der Präjudizienvermutung - darin ist Kriele79 zuzustimmen - wäre diese mit Art. 95 Abs. 3 GG verbundene Zielsetzung nicht zu erreichen, da der Gedanke - Einheit der Rechtsordnung durch Einheitlichkeit der Rechtsprechung - zumindest eine argumentative Orientierung des Richters an Vorentscheidungen derselben Rechtsfrage bedingt. Über diese Argumentationslast des Richters, die ihn für die Abweichung von einer Vorentscheidung zur Entkräftung des Präjudizes zwingt, geht § 2 Abs. 1 RsprEinhG jedoch noch hinaus, wenn er bestimmt: "Der Gemeinsame Senat entscheidet, wenn ein oberster Gerichtshof in einer Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen obersten Gerichtshofs oder des Gemeinsamen Senats abweichen will. " In diesem Fall liegt die "präsumtive Verbindlichkeit" des Präjudizes nicht nur in dem Entstehen einer Argumentationslast, sondern sie wird dahingehend gesteigert, daß dem abweichungswilligen Gericht die Verwerfung des Präjudizes ausdrücklich untersagt ist80 . Der damit verbundene Vorbehalt der Rechtsfindung in einem besonderen Entscheidungsverfahren läßt für den Bereich der obersten Gerichtshöfe des Bundes eine "gesteigerte präsumtive Verbindlichkeit" ihrer Entscheidungen sichtbar werden. Unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlich aus Art. 97, 98 GG resultierenden Unabhängigkeit der Richter in sachlicher und persönlicher Hinsicht ist damit wohl der Grenzbereich zulässiger, präjudizieller Wirkungen berührt81 • Da andererseits aber die rechtsstaat lichen Grundforderungen nach Einheit der Rechtsordnung und Rechtsprechungseinheit untrennbar miteinander verknüpft sind, überschreitet diese Steigerung der Präjudizienvermutung im Wege der Schaffung eines besonderen Entscheidungsverfahrens noch nicht die Grenze zulässiger, präjudizieller Wirkungen. Lassen sich daher auch dem geltenden Recht positive Hinweise auf die Existenz der Präjudizienvermutung im Sinne "präsumtiver Verbindlichkeit" entnehmen, so dürften damit Zweifel an der Berechtigung und Notwendigkeit präjudizieller Bindung im Bereich der Rechtsprechung behoben sein. .. Unter Zugrundelegung der Auffassung, daß die Präjudizienvermutung ein "Prinzip unseres positiven Rechts" darstellt, erhält der Gemeinsame Senat im

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Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 248. Dies gilt ebenso für die Vorlegungspflichten innerhalb der obersten Gerichtshöfe, § 45 II 1 ArbGG, § 11 III FGO, § 136 I GVG, § 42 SGG, § 11 III VwGO. Insoweit Bedenken andeutend auch Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 249.

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Funktionsbereich "Rechtsprechung" eine besonders exponierte Stellung. Über § 2 Abs. 1 RsprEinhG kommt seinen Entscheidungen eine "gesteigerte präsumtive Verbindlichkeit" zu. Vor dem Hintergrund seiner Funktion als ranghöchstem Rechtsprechungsorgan mit der Aufgabe, Rechtsprechungseinheit zu gewährleisten, erscheint d}es berechtigt. Der Gefahr der Rechtszersplitterung kann wirksam nur begegnet und Rechtsprechungseinheit nur erzielt werden, wenn den Entscheidungen des Gemeinsamen Senats im beschriebenen Umfang präjudizielle Wirkung zuerkannt wird 82 . Unter Zuhilfenahme der Präjudizienvermutung hat die besondere Bedeutung des Gemeinsamen Senats zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung auch im einfachen Gesetzesrecht ihren Niederschlag gefunden. So bestimmt z. B. § 19 AGBG: "Der Verwender, dem die Verwendung einer Bestimmung untersagt worden ist, kann im Wege der Klage nach § 767 ZPO einwenden, daß nachträglich eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs oder des Gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe des Bundes ergangen ist, welche die Verwendung dieser Bestimmung für dieselbe Art von Rechtsgeschäften nicht untersagt, und daß die Zwangsvollstreckung aus dem Urteil gegen ihn in unzumutbarer Weise seinen Geschäftsbetrieb beeinträchtigen würde"83. Daraus wird ersichtlich, daß die präjudizielle Kraft der Entscheidungen des Gemeinsamen Senats bis in Detailregelungen des Privatrechts hineinreicht. Es bleibt demnach festzuhalten: Dem geltenden Recht ist das Prinzip der Präjudizienvermutung keineswegs fremd, es ist vielmehr Bestandteil desselben. Die Bindungswirkung des Präjudizes fördert die Rechtsprechungs- und mit ihr die Rechtseinheit. Den Entscheidungen der obersten Gerichtshöfe des Bundes und insbesondere denen des Gemeinsamen Senats kommt in gesteigertem Umfang präjudizielle Kraft zu. Die Beachtung des Präjudizes im Sinne

82 Anderer Ansicht wohl Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht- Stellung, Verfahren, Ent-

scheidung, JuS 1981,741 ff., 1982, 597ff. (604), der den Gemeinsamen Senat für weithin entbehrlich hält, weil das Bundesverfassungsgericht bereits in hohem Maße zur Wahrung der Rechtsprechungseinheit beitrage; zu Recht kritisch gegenüber dieser Auffassung Schumann, Bundesverfassungsgericht, Grundgesetz und Zivilprozeß, S. 57 Fn. 193; daß das Bundesverfassungsgericht den Gemeinsamen Senat nicht entbehrlich macht, zeigen auch die im 5. Kapitel noch zu behandelnden Umgehungen des Gemeinsamen Senats, da diese einfachgesetzlichen Rechtsfragen wohl kaum vom Bundesverfassungsgericht entschieden werden dürften.

83 Zur Bedeutung der Entscheidung des Gemeinsamen Senats in einem solchen Fall siehe den

Bericht des Rechtsausschusses zum Entwurf eines Gesetzes über die Regelung des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB-Gesetz), BT-Drucks. 7/5422: "Änderung der allgemeinen Rechtsauffassung" . Zur Wahrscheinlichkeit einer Entscheidung des Gemeinsamen Senats im Sinne von § 19 AGBG siehe Hensen, in: Ulmer/Brandner/Hensen, AGB-Gesetz, § 19 Rdnr. 7.

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2. Kapitel: Stellung des Gemeinsamen Senats im Rechtssystem

emer "Auseinandersetzungspflicht" mit ihm ist integraler Bestandteil des Strebens nach Rechtseinheit, Rechtsgleichheit und Rechtssicherheit 84 . 2. Richterliche Rechtsschöpfung und Funktionentrennung Die Entscheidungen sämtlicher Rechtsprechungsorgane, somit auch die des Gemeinsamen Senats, haben jedoch nicht nur Auswirkungen im Funktionsbereich Rechtsprechung. Geht man nämlich, auf den Erkenntnissen der MerklKelsenschen Stufenlehre aufbauend, von einem Rechtserzeugungsbestandteil jeder richterlichen Rechtsfindung und der Rechtsnormqualität des Richterrechts 85 aus, so erhebt sich die Frage, ob richterliche Rechtsschöpfung insoweit nicht einen Übergriff der Judikative in den Bereich der Legislative darstellt. Eine Antwort auf diese Frage kann nur gewonnen werden, wenn die richterliche Rechtsschöpfung am Begriff der Gesetzgebung und damit des Gesetzes gemessen wird. Dabei geht es der vorliegenden Untersuchung allerdings nicht um den Gesetzesbegriff als solchen, sondern lediglich um seine Bedeutung für die Trennung der Staatsfunktionen Rechtsprechung und Gesetzgebung im Rahmen richterlicher Rechtsfindung. Nur insoweit erfordern deshalb die umfangreichen und schwierigen Probleme, die der Gesetzesbegriff aufgrund seiner zentralen Stellung im "Herzen" der verfassungsrechtlichen Kompetenzordnung trotz zahlreicher sorgfältiger Untersuchungen 86 jeweils von neuem aufwirft, in diesem Zusammenhang eine eingehende Erörterung.

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Zu der Frage, inwieweit die "Präjudizienvermutung" unter den obersten Gerichtshöfen des Bundes Beachtung findet, siehe ausführlich 5. Kap., 11. Zum Rechtserzeugungsbestandteil richterlicher Rechtsfindung und zur Rechtsnormqualität des Richterrechts siehe oben 2. Kap., 11., 2. Aus der kaum noch überschaubaren Literatur zum Gesetzesbegriff siehe insb. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 1981; Hansen, Fachliche Weisung und materielles Gesetz, 1971; Huber, Maßnahmegesetz und Rechtsgesetz, 1963; Jesch, Gesetz und Verwaltung, 1968; Kopp, Inhalt und Form der Gesetze, Bd. I, H, 1958; Roe/lecke, Der Begriff des positiven Gesetzes und das Grundgesetz, 1969; Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes, 1970; Zeidler, Maßnahmegesetz und "klassisches Gesetz", 1961; vgl. ferner Achterberg, Probleme der Funktionenlehre, S. 204ff., 225; ders., Kriterien des Gesetzesbegriffs unter dem Grundgesetz, DÖV 1973, 289ff. = ders., Theorie und Dogmatik des Öffentlichen Rechts, Ausgewählte Abhandlungen 1960-1980, S. 295ff.; ders., Allgemeines Verwaltungsrecht, § 16 Rdnr. 24ff.; Bryde, in: v. Münch, Grundgesetz-Kommentar, Art. 76 Rdnr. 2; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rdnr. 502ff.; Karl, Die Grenzen zwischen Rechtsprechung und Gesetzgebung in der Bundesrepublik, S. 64ff.; Magiera, Parlament und Staatsleitung, S. 174ff., 177ff.; Menger, Über Inhalt und Tragweite von Art. 19 Abs. 1 GG, in: ders., Verfassung und Verwaltung in Geschichte und Gegenwart, S. 110ff.; ders., Das Gesetz als Norm und Maßnahme, in: ders., ebd., S. 123ff.; ders., in: BK, Art. 19 Abs. 1 S. 1 Rdnr. 38ff.; Rupp, Grundfragen, S. 19ff., 132ff., 213ff.; Stern, Staatsrecht, Bd. H, § 37 I 4 b, d, S. 568ff., 576f.

111. Auswirkungen auf das Staatsfunktionensystem

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a) Der dualistische GesetzesbegrifT

"Das Wort Gesetz hat in der Rechtswissenschaft eine doppelte Bedeutung, weIche man als die materielle und formelle bezeichnen kann". Diese Aussage Labands 87 gibt die zur Zeit der konstitutionellen Staatsordnung überwiegend vertretene Auffassung zum verfassungsrechtlichen Gesetzesbegriff wieder 88 . Noch heute geht ein großer Teil der Rechtslehre von der Trennung zwischen formellem und materiellem Gesetz aus, wenn er den einer demokratischen Staatsordnung entsprechenden verfassungsrechtlichen Gesetzesbegriff zu umschreiben sucht89 . Unter dem "Gesetz im formellen Sinne" wird dabei jeder Parlamentsakt in Gesetzesform ohne Berücksichtigung seines Inhalts90 verstanden. Im Gegensatz zum Begriff des formellen Gesetzes ist der des materiellen Gesetzes hingegen alles andere als eindeutig. Sein Inhalt konnte zu keiner Zeit von den verschiedenen staatsrechtlichen, staatstheoretischen und politischen Standorten der Vertreter des dualistischen Gesetzesbegriffs getrennt werden. Im wesentlichen lassen sich zu seiner Inhaltsbestimmung, abgesehen von unerheblichen Abweichungen, drei historisch aufeinanderfolgende Begriffsdefinitionen mit bleibender staatsrechtlicher Bedeutung nennen: Die erste Definition des materiellen Gesetzes geht auf Laband und Jellinek zurück. Das materielle Gesetz mit dem Rechtssatz identifizierend wird der Inhalt des letzteren aus dem Zweck des Rechts als "sozialer Schrankenziehung" bestimmt. "Hat ein Gesetz den nächsten Zweck, die Sphäre der freien Thätigkeit von Persönlichkeiten gegeneinander abzugrenzen, ist es der sozialen Schrankenziehung wegen erlassen worden, so enthält es die Anordnung eines Rechtssatzes, ist daher auch ein Gesetz im materiellen Sinne, hat es jedoch irgendeinen anderen Zweck, so ist es kein materielles Gesetz, sondern ein formelles Gesetz ... "91 Die zweite, auf 87 88

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Laband, Staatsrecht, Zweiter Band, S. l. So insb. Anschütz, Kritische Studien, S. 40ff.; ders., Die gegenwärtigen Theorien, S. 20f., 30ff., 160ff.; Jellinek, Gesetz und Verordnung, S. 226ff.; MeyerlAnschütz, Lehrbuch des deutschen Staatsrechts, § 155, S. 637ff.; zum Stand der Funktionenlehre gegen Ende der Monarchie, insbesondere auch zu den Lehrmeinungen bezüglich des Gesetzesbegriffs siehe ausführlich Achterberg, Probleme der Funktionenlehre, S. 8 ff.; ders., Parlamentsrecht, S. 706ff.; Menger, in: BK, Art. 19 Abs. 1 S. 1 Rdnr. 4l. Forsthoff, Lehrbuch des VerwaItungsrechts, § 7, S. 125; v. MangoldtlKlein, Grundgesetz, Bd. 11, Art. 70, Vorbem. 11 3 a, S. 1335,11 7 b, S. 1343; SchuncklDe Clerck, Allgemeines Staatsrecht, S. 72, 287; WolfflBachof, VWR I, § 24 11, S. 114ff. fesch, Gesetz und Verwaltung, S. 9; Laband umschrieb das "Gesetz im formellen Sinne" folgendermaßen: "eine Form, in weIcher der staatliche Wille erklärt wird, gleichviel, was der Inhalt dieses Willens ist", Laband, Staatsrecht, Zweiter Band, S. 57; innerhalb des Terminus "Gesetz im formellen Sinne" war in der Staatsrechtslehre lediglich umstritten, ob formelle Gesetze auch ohne normativen Inhalt, also mit rechtlich irrelevantem Inhalt, ergehen konnten, vgl. dazu Laband, Budgetrecht, S. 6; Jellinek, Gesetz und Verordnung, S. 231 f. Jellinek, ebd., S. 240; in diesem Zusammenhang weist Achterberg zutreffend darauf hin, daß Jellinek als weitere Komponente des materiellen Gesetzesbegriffs die Verbindlichkeit der staatlichen Willensäußerung ansieht, Achterberg, Probleme der Funktionenlehre, S. 21 Fn. 60; ders., Parlamentsrecht, S. 708.

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Anschütz zurückgehende, Begriffsbestimmung nimmt die, insbesondere für den Bereich des Gesetzesvorbehalts bekannte, "Freiheit und Eigentum"-Formel zum Ausgangspunkt ihres Definitionsansatzes. Danach gilt: " ... es ist die Eigenschaft jeden Gesetzes im materiellen Sinne, daß es der persönlichen Freiheit im allgemeinen, dem Eigentum im besonderen Schranken zieht ... Die Grenzlinie, welche jene Formel zieht, trennt nicht gewisse Rechtsnormen von gewissen andern Rechtsnormen, sondern die Rechtsnormen von den NichtRechtsnormen"92. Die dritte Definition des "Gesetzes im materiellen Sinne" ist diejenige, welche heute von den Vertretern eines dualistischen Gesetzesbegriffs am häufigsten verwendet wird. Danach ist das materielle Gesetz als "abstrakt-generelle Rechtsregel"93 zu verstehen 94 . Gemessen am selbstgesetzten Anspruch der Vertreter des dualistischen Gesetzesbegriffs, nämlich einen Maßstab an die Hand zu geben, um die Befugnisse der einzelnen Staatsorgane zu regeln 95 , sind die unterschiedlichen Begriffsbestimmungen des materiellen Gesetzes sowohl im einzelnen als auch in ihrer Gesamtheit schwerwiegenden Bedenken ausgesetzt. So vermag die "Theorie der sozialen Schrankenziehung" schon deshalb nicht zu überzeugen, weil sie, ihrem Verständnis des Staates als "Staatspersönlichkeit"96 gemäß, alle Regelungen im Verhältnis der Bürger zueinander sowie diejenigen zwischen Staat und Bürger zu Rechtssätzen erklärt, währenddessen alle Regelungen im innerstaatlichen Bereich als Nicht-Rechtssätze angesehen werden97 . Diese Aufteilung nach staatlichen Rechtssätzen und staatlichen Nichtrechtssätzen ist rechtstheoretisch unhaltbar98 • Sie kann nur als eine bis heute nicht ganz abgeklungene Ausprägung der konstitutionellen Impermeabilitätstheorie bezeichnet werden 99 . Zum anderen muß sich die "Theorie der sozialen

92

Anschütz, Art. Gesetz, WBStVwR, 2. Bd., S. 214.

93 Dabei bezieht sich die Abstraktheit auf den zu regelnden Sachverhalt, die Generalität auf den angesprochenen Personenkreis, so fesch, Gesetz und Verwaltung, S. 13.

94 Siehe nur Esser, Einführung, S. 125; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 4 Rdnr. 3,

95

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8; Ossenbühl, in: ErichseniMartens, AllgVR, § 7 11, S. 73ff.; Thoma, Die Funktionen der Staatsgewalt, in: AnschützlThoma, Handbuch des Deutschen Staatsrechts, 2. Band, 1932, S. 124f.; Wolff/Bachof, VWR I, § 24 11 c, 1., S. 1I5f., der allerdings Differenzierungen vornimmt. Meyer, Der Begriff des Gesetzes und die rechtliche Natur des Staatshaushaltsetats, Zeitschrift für das Privat- und Öffentliche Recht der Gegenwart (Grünhuts Zeitschrift), Bd. 8 (1881), 1 (25). Dazu Anschütz, Kritische Studien, S. 73f.; fe/linek, Gesetz und Verordnung, S. 192f.; vgl. auch Häfelin, Rechtspersönlichkeit, S. 124-165. Anschütz, ebd., S. 74-76; fellinek, ebd., S. 233. Ebenso Magiera, Parlament und Staatsleitung, S. 199; vgl. auch Schnapp, Dogmatische Überlegungen zu einer Theorie des Organisationsrechts, AöR Bd. 105 (1980), 243 (244f., 261f.). Schnapp, ebd., 243 (245).

III. Auswirkungen auf das Staatsfunktionensystem

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Schrankenziehung" dem Vorwurf der Inkonsequenz 1OO ausgesetzt sehen, wenn sie auch solche Regelungen, die lediglich den innerorganisatorischen Aufbau des Staates festlegen lOl , als Rechtssätze qualifiziert lO2 . Nicht minder geringe Bedenken bestehen jedoch auch gegenüber der "Freiheit und Eigentum-Formel" als Definitionsansatz für einen materiellen Gesetzesbegriff. Sie selbst liefert keine eindeutige Abgrenzung ihrer Schlüsselbegriffe "Freiheit" und "Eigentum"103, kann dies auch wohl nicht leisten, denn aufgrund der diesen Begriffen immanenten Interpretationsweite lO4 läßt sich über sie ebenso trefflich streiten wie über den Rechtsbegriff selbstlOs. Die Spannweite der Interpretationsmöglichkeiten reicht von der restriktiven Beschränkung auf die körperliche Bewegungsfreiheit und das Sacheigentum bis hin zu einer extensiven Sichtweise, bei der sämtliche die allgemeine Handlungsfreiheit bzw. das gesamte Vermögen betreffenden oder berührenden Regelungen erfaßt werden. Gemessen an dem postulierten Anspruch, einen Maßstab an die Hand zu geben, um die Befugnisse der einzelnen Staatsorgane voneinander abgrenzen zu können, vermag daher dieser Definitionsansatz aufgrund seiner mangelnden terminologischen Bestimmtheit ebenfalls nicht zu überzeugen. Auch gegenüber der heute am häufigsten verwendeten Definition des materiellen Gesetzes als abstrakt-generelle Rechtsregel ist kritische Distanz angezeigt. Ihr Grundproblem liegt darin, daß sie zwar den gemeinsamen Wesenszug verschiedener staatlicher Handlungsinstrumente, nämlich den generell-abstrakten Charakter des Gesetzes, der Rechtsverordnung und der Verwaltungsvorschrift, aufzuzeigen vermag, sie aber bei der für eine sinnvolle Kompetenzabgrenzung notwendigen Klärung der strukturalen Unterschiede versagt lO6 . Für 100 Magiera, Parlament und Staatsleitung, S. 199. 101 Beispielsweise Regelungen über das Verhältnis der Staatsorgane zueinander bzw. über die Gerichtsorganisation .

102 Anschütz, Kritische Studien, S. 76-80; fellinek, Gesetz und Verordnung, S. 243f., 261; 103

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vgl. dazu auch Laband, Staatsrecht, Zweiter Band, S. 183-185. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 75; vgl. dazu auch Krebs, Vorbehalt des Gesetzes, S. 17ff. Zur Interpretationsbreite des Freiheit- und Eigentumsbegriffs vgl. Böckenförde, Organisationsgewalt, S. 67f. "Die Abgrenzungsmerkmale bleiben freilich stets irgendwie dem Zufälligen und Kasuistischen verhaftet, weil eben der Begriff selbst keine hinreichend bestimmten oder bestimmbaren Merkmale enthält und damit dem Dafürhalten offensteht" (Fn. 19); Grabitz, Freiheit und Verfassungsrecht, S. 6Off.; fesch, Gesetz und Verwaltung, S. 129ff., 143ff.; siehe zum Freiheitsbegriffferner Haverkate, Rechtsfragen des Leistungsstaates, S. 71 ff. Magiera, Parlament und Staatsleitung, S. 197. Ebd., S. 198f.; zur Kritik an der Definition des materiellen Gesetzes im Sinne eines abstrakt-generellen Rechtssatzes siehe Menger, in: BK, Art. 19 Abs. 1 S. 1 Rdnr. 41, 42 und insb. Rödig, Zum Begriff des Gesetzes in der Rechtswissenschaft, in: Studien zu einer Theorie der Gesetzgebung, hrsg. v. J. Rödig, S. 5 ff., der aus rechtstheoretischer Sicht die Unzulänglichkeit des Kriteriums der Allgemeinheit nachweist; kritisch ebenfalls Wydukkel, Gesetzgebungslehre und Gesetzgebungstechnik. Aktueller Stand und künftige Entwicklungstendenzen, DVBI. 1982, 1175 (1178).

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2. Kapitel: Stellung des Gemeinsamen Senats im Rechtssystem

die Abgrenzung der Funktionsbereiche Gesetzgebung und Rechtsprechung wird dies besonders deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß z. B. die Revisionsgerichte grundsätzlich im Konflikt verschiedener Anforderungen stehen - gerechte Einzelfallentscheidung, Rechtseinheit, Rechtsfortbildung - und sie daher neben der gerechten Entscheidung des Einzelfalls auch eine allgemeinverbindliche, gesetzesgleiche Regel aufstellen sollen, die auf andere Fälle übertragbar ist lO7 • Ist damit bereits deutlich geworden, daß die Kennzeichnung des materiellen Gesetzes als abstrakt-generelle Rechtsregel keine hinreichende Abgrenzung zwischen den Staatsfunktionen Gesetzgebung und Rechtsprechung ermöglicht, so gilt dies auch für die" Theorie der sozialen Schrankenziehung" und die "Freiheit und Eigentum-Formel". Beide Theorien gehen davon aus, daß das materielle Gesetz einer Abgrenzung der Sozialbereiche und damit der sozialen Schrankenziehung zwischen den Staatsbürgern dient. So richtig diese Umschreibung eines Zweckes staatlicher Gesetze auch sein mag, muß andererseits jedoch gesehen werden, daß auch der Richterspruch qualitativ sozialgestaltend wirkt!08. Mit der Ausübung der Staatsfunktion Rechtsprechung durch den Richter ist unweigerlich die Konsequenz verbunden, daß seine Entscheidungen die Rechts- und Sozialverhältnisse einer Gesellschaftsordnung beeinflussen 109 • Inwieweit dabei der mikrosoziologische bzw. gar der makrosoziologische GeseIlschaftsbereich berührt wird, hängt u. a. von der Art der Rechtsstreitigkeit und ihrer Bedeutung im Gemeinwesen ab llO • Eine pauschale Verneinung sozialgestaltenden Handeins der Rechtsprechung ll1 würde demnach das sachimmanente Einwirken des Richterspruchs in den gesellschaftlichen Bereich verkennen. Gegenüber den unterschiedlichen Ansätzen einer Begriffsbestimmung des materiellen Gesetzes bestehen jedoch nicht nur aus rechtsdogmatischer oder rechtstheoretischer Sicht Bedenken. Vielmehr gilt es bei einer Bewertung des dualistischen Gesetzesbegriffs gerade auch dessen historisch-politische Zeitge-

Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, S. 175. Damit soll hingegen keineswegs bezweifelt werden, daß der Richterspruch im allgemeinen einen schwächeren Sozialgestaltungseffekt auslöst als das Gesetz und daß "Sozialgestaltung durch Richterspruch" nicht unbedingt final erfolgt. 109 Achterberg, Rechtsprechungslehre - Desiderat der Wissenschaft, in: ders., Theorie und Dogmatik des Öffentlichen Rechts, Ausgewählte Abhandlungen 1960-1980, S. 178 (194), wo dieser zutreffend feststellt, daß die metajuristischen Komponenten der Rechtsprechung bislang nur unzureichend diskutiert werden; zu letzterem nunmehr ausführlich ders. (Hrsg.), Rechtsprechungslehre. Internationales Symposium Münster 1984, 1986. 110 Insoweit dürften Normenkontrollverfahren und Verfassungsbeschwerden eher den makrosoziologischen Gesellschaftsbereich betreffen. 111 So sieht bspw. Schlüter das "Absehen von sozialgestaltendem Handeln als notwendiges Korrelat der richterlichen Unabhängigkeit", Schlüter, Obiter dictum, S. 22f.

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111. Auswirkungen auf das Staatsfunktionensystem

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bundenheit l12 im Auge zu behalten. Deutlich wird dies, wenn Jellinek schreibt: "Die hervorragendste Bedeutung der Unterscheidung von formellem und materiellem Gesetze liegt aber darin, daß sie allein den Weg weist zu einer Lösung eines der schwierigsten Probleme des constitutionellen Staatsrechts, der Abgrenzung der Competenz der constitutionellen Gesetzgebung von der Verordnungs- und Verfügungsgewalt der Regierung"ll3. Daraus wird ersichtlich, daß die Lehre vom dualistischen Gesetzesbegriff das Produkt staatsrechtlicher wie staatstheoretischer Bestrebungen zur Lösung einer der konstitutionellen Monarchie immanenten, grundsätzlichen Kompetenzabgrenzungsproblematik war 114 • Übertragen auf die historisch-politische Situation der Monarchie stellte die dualistische Gesetzestheorie damit die begriffsjuristische Legitimation des realen machtpolitischen Zustandes im konstitutionellen Staat dar 1l5 • Mit dem Ende der konstitutionellen Monarchie ist diese Funktion der dualistischen Lehre jedoch weggefallen. Die Zeitgebundenheit des materiellen Gesetzesbegriffs läßt ihn zur Lösung der staatsrechtlichen Probleme des modernen, demokratischen und rechtsstaatlich verfaßten Gemeinwesens ungeeignet erscheinen 116 • Er ist in sich fragwürdig und zweifelhaft geworden, woran auch "Wiederbelebungsversuche" aus jüngerer Zeit nichts ändern können l17 • Dieser Befund gibt Anlaß zu der Frage, ob der materielle Gesetzesbegriff bzw. die dualistische Lehre nicht nur in sich fragwürdig, sondern für den demo-

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fesch, Gesetz und Verwaltung, S. 19 "Der materielle Gesetzesbegriff entspringt ... einer ganz speziellen politisch-staatsrechtlichen Situation". fellinek, Gesetz und Verordnung, S. 254. Deutlich in diesem Sinne Magiera, Parlament und Staatsleitung, S. 198 "Letztlich geht es ... um das Problem der Kompetenz zum Erlaß der verbindlichen Regelungen im staatlichen Gemeinwesen."; ebenso fesch, Gesetz und Verwaltung, S. 19; Stern, Staatsrecht, Bd. 11, § 37 I 4 b), S. 569. In diesem Sinne vor allem fesch, ebd., S. 20 "Die Lehre vom formellen und materiellen Gesetz ist somit ein Kind jenes eigentümlichen Spannungsverhältnisses zwischen Staat und Gesellschaft, für das der konstitutionelle Staat des ,monarchischen Prinzips' das getreue juristische Abbild war. Die Gesellschaft war gegen den Staat durch die Mauer des Rechts abgeschirmt. Das Recht regelt die Beziehungen der Bürger untereinander; wollte der Staat in den geschützten Bereich der Gesellschaft eindringen, so mußte er sich dem Recht beugen. Der Staat selbst jedoch war von den Schranken des Rechts frei, in seinem eigenen Gebiet, d. h. innerhalb des Exekutivbereichs galt der Befehl ohne rechtliche Qualität." und Böcken!örde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 131 "Inhalt und Umfang des Gesetzesbegriffes bezeichneten daher das Maß, in dem die Gesellschaft sich den Staat erobert hatte und ihn dirigieren konnte, ... " Den "zeitgebundenen Charakter der spätkonstitutionellen Begriffswelt" betont auch Scheuner, Der Bereich der Regierung, in: Rechtsprobleme in Staat und Kirche, Festschrift für Rudolf Smend zum 70. Geburtstag, 15. Januar 1952, dargebracht von Freunden, Schülern und Kollegen, Göttingen 1952, S. 253 (262f.). Als "Wiederbelebungsversuche" eines materiellen Gesetzesbegriffs sind insbesondere die Untersuchungen von Kopp, Inhalt und Form der Gesetze, Bd. II, S. 596ff. und Magiera, Parlament und Staatsleitung, S. 205 ff. anzusehen. Beide Ansätze führen nicht zu größerer Klarheit; Kopps Begriffsbildung erzeugt eher terminologische Verwirrung ("Gesetz im weitesten, weiteren und engeren Sinne").

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2. Kapitel: Stellung des Gemeinsamen Senats im Rechtssystem

kratischen Rechtsstaat moderner Prägung auch überflüssig geworden ist. Dies wäre dann der Fall, wenn ein formeller bzw. formalisierter Gesetzesbegriff der Verfassungsordnung des Grundgesetzes und insbesondere dem mit ihm verbundenen Staatsfunktionensystem eher entsprechen würde. Diesem Gedanken soll im folgenden nachgegangen werden. b) Der monistische Gesetzesbegriff

Die Überwindung der Dichotomie des Gesetzesbegriffs und damit eines der Dualismen, die für das deutsche, aber auch österreichische Rechtsverständnis 118 in überreichem Maße kennzeichnend sind, ist maßgeblich von Achterberg beeinflußt worden. Ihm gebührt das Verdienst, einen formalisierten, monistischen Gesetzesbegriff auf verfassungsrechtsdogmatisch breiter Grundlage entfaltet zu haben 119. Danach läßt sich der Gesetzesbegriff folgendermaßen umreißen: "Gesetz ist der vom Parlament im Wege des verfassungsgesetzlich hierfür vorgesehenen Verfahrens erlassene Hoheitsakt"120. Wenngleich Stern diesen monistischen, inhaltlich offenen Gesetzesbegriff bereits als "vorherrschende Meinung" in der Rechtslehre bezeichnet l21 , gehört seine verfassungsrechtliche Fundierung dennoch zu den umstrittensten Problemen des Verfassungsrechts. Nur eine Überprüfung sowohl der gegen ihn erhobenen Vorwürfe als auch der für ihn in Ansatz gebrachten Vorzüge, vermag zur Klärung dieses "Schlüsselbegriffs" im Staats- und Verwaltungsrecht beizutragen. In jüngerer Zeit hat insbesondere Magiera am monistischen, inhaltlich offenen Gesetzesbegriff Kritik geäußert 122 • Nach seiner Auffassung lassen sich Form und Inhalt eines Gesetzes nicht voneinander trennen, da nur der Inhalt Auskunft darüber vermitteln könne, ob der Befolgungsanspruch gerechtfertigt

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Dazu Marcie, Das Gesetz, in: Festschrift für Ernst earl Hellbling zum 70. Geburtstag, hrsg. v. H. Lentze und P. Putzer, Salzburg 1971, S. 447 (462ff.). Aehterberg, Kriterien des Gesetzesbegriffs unter dem Grundgesetz, DÖV 1973, 289ff. = ders., Theorie und Dogmatik des Offentlichen Rechts, Ausgewählte Abhandlungen 1960-1980, S. 295ff.; siehe auch ders., Das Parlament im modernen Staat, DVBI. 1974, 693 ff. = ders., Theorie und Dogmatik des Öffentlichen Rechts, Ausgewählte Abhandlungen 1960-1980, S. 318 ff.; im Sinne eines "einheitlichen Gesetzesbegriffs" auch bereits Heller, Gesammelte Schriften, 2. Band, S. 214, 226; zur Sichtweise Hellers siehe ferner Fiedler, Materieller Rechtsstaat und soziale Homogenität, JZ 1984, 201 (208). Aehterberg, Kriterien des Gesetzesbegriffs unter dem Grundgesetz, in: ders., Theorie und Dogmatik des Öffentlichen Rechts, Ausgewählte Abhandlungen 1960-1980, S. 295 (315). Als Strukturebenen zur Herausarbeitung dieses monistischen Gesetzesbegriffs verwendet Aehterberg die Elemente "Regelungsträger" , "Rege1ungsermächtiger", ,.Regelungsinhalt", "Regelungswirkung" , "Rege1ungsadressat", "Regelungsdauer" und "Regelungsverfahren" . Stern, Staatsrecht, Bd. II, § 37 I 4 b), S. 568. Magiera, Parlament und Staatsleitung, S. 188 ff.; kritisch aber auch Müller, Inhalt und Formen der Rechtssetzung, S. 145 Fn. 120, S. 147 Fn. 126, dessen Auffassung, ein formalisierter Gesetzesbegriff sei abzulehnen, weil der Gesetzgeber nicht alles selber regeln könne und sich damit auf das Wichtige konzentrieren müsse (!), jedoch unverständlich bleibt.

IH. Auswirkungen auf das Staatsfunktionensystem

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sei. Der an die Gesetzesform anknüpfende Befolgungsanspruch rechtfertige sich hingegen nur, weil für diese die Vermutung bestehe, einen verfassungsmäßigen Inhalt aufgenommen zu haben 123 • Diese Argumentation Magieras ist jedoch in mehrerer Hinsicht Bedenken ausgesetzt. Zum einen beruht sie methodisch auf der nicht bewiesenen - im Gegenteil durch die gesetzgeberische PraXiS 124 oftmals widerlegten - Vermutung, daß die Gesetzesform grundsätzlich einen bestimmten, verfassungsgemäßen Inhalt aufnimmt. Zum anderen gerät Magiera bei seiner Argumentation in einen Widerspruch, wenn er einerseits die Rechtfertigung eines Befolgungsanspruchs des Gesetzes an den Inhalt desselben knüpft, andererseits jedoch davon ausgeht, daß die Befolgungspflicht bis zur Verwerfung des Gesetzes durch das Bundesverfassungsgericht bestehen bleibt. Ungeachtet dieser methodischen Einwände erscheint es ferner zweifelhaft, ob ein inhaltlich angereicherter Gesetzesbegrifftatsächlich in der Lage ist, die Entwicklung vom Rechtsstaat zum "Unrechtsstaat" zu verhindern 125. Mit der Übertragung dieser Aufgabe an das Gesetz würde ihm über seine Funktion als legalitätsbildendem Faktor im staatlichen Gemeinwesen hinausgehend die Legitimation des modernen Staates 126 auferlegt. Die Geschichte hat jedoch gezeigt, daß weder ein Gesetzesbegriff im Sinne "sozialer Schrankenziehung" noch ein solcher, der den "Eingriff in Freiheit und Eigentum" zum Charakteristikum erhebt, staatspolitische Umwälzungen vom Rechtsstaat zum" U nrechtsstaat" aufhalten konnte. Entscheidend dürfte vielmehr die Bestimmung und Einhaltung der Staatsziele, der verfassungsgestaltenden Grundentscheidungen 127 sowie deren Kontrolle durch eine unabhängige rechtsprechende Gewalt sein. Werden diese "Grundfesten" eines jeden demokratischen Rechtsstaats angetastet, so vermag kein inhaltlicher Gesetzesbegriff der Entwicklung zum "U nrechtsstaat" entgegenzusteuern . Das Hauptargument gegen einen formalisierten, inhaltlich offenen Gesetzesbegriff sieht Magiera jedoch darin, daß eine solche Sichtweise die "Organsouveränität des Parlaments" voraussetze. Diese sei hingegen die Konsequenz des dem konstitutionellen Staate immanenten und von ihm nicht gelösten Gegensatzes zwischen monarchischem und demokratischem Legitimationsprinzip. Nach der Überwindung des monarchischen Prinzips könne demnach im de123 124 125 126

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Magiera, ebd., S. 192. Insoweit beispielhaft nur die Nichtigerklärung des Staatshaftungsgesetzes, BVerfGE 61, 149ff. = NJW 1983, 25ff. Dieser Auffassung ist hingegen Magiera, Parlament und Staatsleitung, S. 192; ähnlich Wadle, Das Ermächtigungsgesetz, JuS 1983, 170 (176). Dazu Achterberg/ Krawietz (Hrsg.), Legitimation des modernen Staates, 1981; zum Problemkreis "Legalität und Legitimität" siehe Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung, 1977; ders., Legalität gegen Legitimität, 1964; Meinck, Weimarer Staatslehre und Nationalsozialismus, S. 119ff.; Schmitt, Legalität und Legitimität, 1932. Ebenso Achterberg, Kriterien des Gesetzesbegriffs unter dem Grundgesetz, DÖV 1973, 289ff. = ders., Theorie und Dogmatik des Öffentlichen Rechts, Ausgewählte Abhandlungen 1960-1980, S. 295 (316).

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2. Kapitel: Stellung des Gemeinsamen Senats im Rechtssystem

mokratischen Verfassungsstaat von einer "Organsouveränität als begrifflichem Überrest verfassungsrechtlich unbewältigter Staatsgewalt"128 nicht mehr ausgegangen werden. Ein solches Verständnis verfassungsrechtlicher Kompetenzzuweisungen und -vermutungen würde vielmehr eine Gefährdung des grundgesetzlichen Kompetenzgefüges heraufbeschwören und dem Gesetzgeber die Verfassungsordnung zur Disposition stellen l29 . Deshalb sei eine aus der "Organsouveränität" hergeleitete Vorrangstellung des Parlaments gegenüber anderen Staatsorganen unter dem Grundgesetz als unzulässig anzusehen 130 . Ein solcher Vorrang des Parlaments gegenüber anderen Staatsorganen stößt jedoch nicht nur auf Widerspruch, sondern hat in großen Teilen der Rechtslehre auch Zustimmung gefunden 131 . Den Kritikern einer "Organsouveränität des Parlaments" ist zuzugeben, daß zur Kennzeichnung des Inter-Organ-Verhältnisses zwischen dem Parlament und anderen Staatsorganen, insbesondere seiner "Rechtsetzungsprärogative"132 , der terminus "Organsouveränität" Mißdeutungen unterliegen könnte, da er Anknüpfungen an Herrschaftsvorstellungen des konstitutionellen Staates ("Staatssouveränität" - "Souveränität des Monarchen") hervorzurufen vermag l33 . Nur so wird auch verständlich, daß die Gegner einer- dem Begriff der "Organsouveränität" vorzuziehenden - "Parlamentsprärogative" zur Begründung ihrer Kritik Vergleiche und Verbindungsli-

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Magiera, Parlament und Staatsleitung, S. 167. Ebd., S. 193. Gegen eine "Organsouveränität des Parlaments" wenden sich ferner Brunner, Kontrolle, S. 144; Krebs, Vorbehaltdes Gesetzes, S. 110; Kräger, Zur Mitwirkung des Bundestages am Haushaltsvollzug, DOV 1973, 439 (441); Meyer, Das parlamentarische Regierungssystem des Grundgesetzes, VVDStRL 33 (1974), S. 69 (102); Scheuner, Verantwortung und Kontrolle in der demokratischen Verfassungsordnung, in: Festschrift für Gebhard Müller, Zum 70. Geburtstag des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, hrsg. v. Th. Ritterspach und W. Geiger, Tübingen 1970, S. 379 (392); Schwan, Zuständigkeitsregelungen, S. 52ff.; Zimmer, Funktion - Kompetenz - Legitimation, S. 338 Fn. 45; zu weiteren Nachweisen siehe Magiera, ebd., S. 170 Fn. 44. Achterberg, Kriterien des Gesetzesbegriffs unter dem Grundgesetz, DÖV 1973, 289ff. = ders., Theorie und Dogmatik des Offentlichen Rechts, Ausgewählte Abhandlungen 1960-1980, S. 295 (316); ders., Das Parlament im modernen Staat, DVBI. 1974, 693ff. = ders., Theorie und Dogmatik des Öffentlichen Rechts, Ausgewählte Abhandlungen 1960-1980, S. 318 (328f.); Friesenhahn, Parlament und Regierung im modernen Staat, VVDStRL 16 (1957), S. 9 (33 Fn. 62); Hansen, Fachliche Weisung, S. 61; Hoffmann, Haushaltsvollzug und Parlament, S. 32;Jesch, Gesetz und Verwaltung, S. 92ff., 99f.; Mußgnug, Der Haushaltsplan als Gesetz, S. 354; vgl. auch Herzog, Allg. Staatslehre, S. 240. Dazu ausführlich Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 60ff.; ferner Haverkate, Rechtsfragen des Leistungsstaats, S. 143. Ebenso jetzt Achterberg, Parlamentsrecht, S. 95, 736 m. Fn. 148, der außerdem an anderer Stelle, ders., Das Parlament im modernen Staat, in: ders., Theorie und Dogmatik des Öffentlichen Rechts, Ausgewählte Abhandlungen 1960-1980, S. 318 (328 Fn. 42) deutlich macht, daß der Begriff der "Organsouveränität des Parlaments" auf einer anderen Ebene als der der "Staatssouveränität" bzw. der" Volkssouveränität" liegt.

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nien zum Staatsverständnis des Konstitutionalismus ziehen 134 • Sämtliche Versuche, den Vertretern einer "Parlamentsprärogative" vorzuwerfen, durch die Übertragung konstitutioneller Staatsauffassungen auf die Verfassungsordnung des Grundgesetzes die demokratische Legitimation aller Staatsgewalt zu verkennen 135 , sind hingegen zum Scheitern verurteilt. Diejenigen nämlich, die sich für einen Vorrang des Parlaments aussprechen, bestreiten weder die demokratische Legitimation der Exekutive noch die der Judikative. Ihre Vorstellung von einer "Parlamentsprärogative" ergibt sich vielmehr aus einer Gesamtschau der grundgesetzlichen Kompetenzzuweisungen und -vermutungen. Ausschlaggebend für die Annahme einer "Prärogative" ist einerseits, daß dem Parlament im Staate nicht nur die Gesetzgebungsfunktion 136 zukommt, sondern es darüber hinaus gegenüber der Exekutive auch noch Kreations- und Kontrollfunktionen wahrnimmt. So wird sein Wesen als Kreationsorgan u. a. in der Wahl des Bundeskanzlers und dessen Abhängigkeit vom parlamentarischen Vertrauen (Art. 68 Abs. 1, 67 GG) deutlich, während seine Kontrollfunktion insbesondere in den haushaltsrechtlichen Kompetenzen zum Ausdruck kommt 137 . Andererseits darf nicht übersehen - allerdings auch keinesfalls überbetont 138 - werden, daß das Parlament die alleinige Befugnis zur Verfassungsänderung besitzt. Wenngleich dieser Kompetenz durch das Rechtsstaats-, Sozialstaats- und Demokratieprinzip sicherlich Grenzen gezogen sind I39 , bleibt doch ein deutliches Übergewicht des Parlaments gegenüber allen anderen Staatsorganen bestehen. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen ist der Auffassung Krieles, dem Parlament die Souveränität abzusprechen, ihm eine Prärogative hingegen zuzubilligen 140, nur ausdrücklich zuzustimmen. Ergibt demnach die Analyse der verfassungsrechtlichen Kompetenzzuweisungen eine "Parlamentsprärogative" verbunden mit derselben im Bereich der Rechtset-

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So insbesondere Magiera, Parlament und Staatsleitung, S. 160ff., 165f.; Zimmer, Funktion - Kompetenz- Legitimation, S. 338 Fn. 45; vgl. dazu auch Kriele, Legitimitätserschütterungen des Verfassungsstaates, in: Fortschritte des Verwaltungsrechts, Festschrift für Hans Julius Wolff zum 75. Geburtstag, hrsg. v. Ch.-F. Menger, S. 89 (93ff.). In .diesem Sinne jedoch Kräger, Zur Mitwirkung des Bundestages am Haushaltsvollzug, DOV 1973, 439 (441); Magiera, ebd., S. 165 ff.; Schwan, Zuständigkeitsregelungen, S. 52. Siehe dazu Eichenberger, Gesetzgebung im Rechtsstaat, VVDStRL 40 (1981), S. 7ff.; Kloepfer, Gesetzgebung im Rechtsstaat, VVDStRL 40 (1981), S. 63 ff.; Novak, Gesetzgebung im Rechtsstaat, VVDStRL 40 (1981), S. 40ff. So BVerfGE 49, 89 (124f.); aus der Rechtslehre zur "Kontrollfunktion" insbesondere Krebs, Kontrolle in staatlichen Entscheidungsprozessen, 1984; Meyn, Kontrolle als Verfassungsprinzip , 1983. Es bleibt die Überprüfbarkeit der Verfassungsänderung durch das Bundesverfassungsgericht (Art. 93 GG), zutreffend insoweit Magiera, Parlament und Staatsleitung, S. 168f. Zu weitgehend daher fesch, Gesetz und Verwaltung, S. 100; die verfassungsgestaltenden Grundentscheidungen (Art. 20 GG) verhindern somit auch, daß dem Gesetzgeber die Verfassungsordnung zur Disposition steht, gegen Magiera, ebd., S. 193; ebenso Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften, S. 201. Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 113 f.

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zung, so dürften von daher keine Einwände gegen einen inhaltlich offenen, formalisierten Gesetzesbegriff bestehen. Konnten damit die in der Rechtslehre bisher vorgetragenen Bedenken und Zweifel entkräftet werden, so sollten ferner die mit dem inhaltlich offenen, monistischen Gesetzesbegriff verbundenen Vorzüge besondere Erwähnung finden. So vermag ein solches Verständnis des Gesetzes z. B. die seit langem bestehenden Schwierigkeiten, besondere Gesetzestypen dem Gesetzesbegriffunterzuordnen (Maßnahmegesetz I41 , Haushaltsgesetz), ohne dogmatische Probleme zu lösen. Die Leistungsfähigkeit der monistischen Gesetzestheorie zeigt sich auch darin, daß sie mit der Klärung des Legislativbereichs zugleich eine Reduzierung der im Exekutivbereich vorhandenen begriffsdefinitorischen Schwierigkeiten (Rechtsnatur von Rechtsverordnungen und Verwaltungsvorschriften) bewirkt l42 . Entscheidende Bedeutung gewinnt außerdem der Umstand, daß allein der inh'altlich offene, monistische Gesetzesbegriff eine eindeutige und überzeugende Abgrenzung der Staatsfunktionen "Rechtsprechung" und "Gesetzgebung" gewährleistet. Da "Richterrecht" nämlich nicht in dem verfassungsrechtlich vorgesehenen Gesetzgebungsverfahren zustande kommt, kann richterliche Rechtsschöpfung - womit die eingangs dieses Abschnitts gestellte Frage beantwortet wird - insoweit auch keinen Übergriff der Judikative in den Kompetenzbereich der Legislative bedeuten l43 • Damit wird die jedem Richterspruch immanente Rechtsetzungskomponente nicht geleugnet und gleichzeitig dem Gesetzgeber sein von Verfassung wegen zugewiesenes Terrain zur Sozialgestaltung im Gemeinwesen belassen. Mit diesem Verfassungsauftrag des Gesetzgebers zur Sozialgestaltung l44 ist ein weiterer Grund für einen formalisierten, inhaltlich offenen Gesetzesbegriff angesprochen; nur er vermag nämlich die Dynamik der Rechts- und Gesellschaftsordnung zu umfassen. Erkennt man zudem die staatliche Steuerungsfunktion des Gesetzes l45 und seine Verwendung als Mittel politischer Dezision sowie die wachsenden Planungs-

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Zum "Maßnahmegesetz" und den mit ihm verbundenen dogmatischen Einordnungsproblemen siehe Krawietz, Zur Kritik am Begriff des Maßnahmegesetzes, DÖV 1969, 127ff.; Menger, Das Gesetz als Norm und Maßnahme, in: ders., Verfassung und Verwaltung in Geschichte und Gegenwart, S. 123ff. Achterberg, Kriterien des Gesetzesbegriffs unter dem Grundgesetz, DÖV 1973, 289ff. = ders., Theorie und Dogmatik des Offentlichen Rechts, Ausgewählte Abhandlungen 1960-1980, S. 295 (317). Ders., in: BK, Art. 92 Rdnr. 133. Zur Grundlegung des Sozialgestaltungsauftrags in der Verfassung Achterberg, Die Verfassung als Sozialgestaltungsplan, in: Recht und Staat im sozialen Wandel, Festschrift für Hans Ulrich Scupin zum 80. Geburtstag, hrsg. v. N. Achterberg, W. Krawietz, D. Wydukkel, Berlin 1983, S. 293 ff. Dazu Wyduckel, Gesetzgebungslehre und Gesetzgebungstechnik, Aktueller Stand und künftige Entwicklungstendenzen, DVBI. 1982, 1175 (1178).

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aufgaben im sozialen Rechtsstaat l46 , so wird deutlich, daß vor dem Hintergrund der verfassungsgestaltenden Grundentscheidungen nur ein formalisiertes Gesetzesverständnis der Aufgabe des Gesetzes als bedürfnisregulierendem Handlungsinstrument gerecht wird. Es bleibt daher festzuhalten: Auf der Grundlage eines monistischen, inhaltlich offenen Gesetzesbegriffs beinhalten die Entscheidungen eines jeden Gerichts im Sinne des Grundgesetzes, trotz des ihnen innewohnenden Rechtserzeugungsbestandteils, keinen Übergriff der Judikative in den Kompetenzbereich der Legislative. Damit wird das im Grundsatz der Funktionenordnung angelegte System grundgesetzlicher Kompetenzzuweisungen und -vermutungen eingehalten. Gleichzeitig bewirkt dies, daß die im Zeichen des demokratischen, föderalistischen, rechts- und sozialstaatlichen Prinzips vom Gesetzgeber par exellence übernommene Funktion der Sozialgestaltung 147 diesem erhalten bleibt und lediglich Ergänzung durch die Rechtsprechungsorgane erfährt.

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147

Zum Verhältnis von "Gesetz und Planung" siehe Lanz, Politische Planung und Parlament, 1977; Vitzthum, Parlament und Planung, 1978; Würtenberger, Staatsrechtliche Probleme politischer Planung, 1979. Stern, Staatsrecht, Bd. I, § 20 IV 4 f a, S. 828.

Drittes Kapitel

Funktionale und organisatorische Grundlagen Nachdem nunmehr die Stellung der Rechtsprechungsorgane im allgemeinen und die des Gemeinsamen Senats im besonderen sowohl in verfassungsdogmatischer (Funktionenordnung) als auch verfassungstheoretischer (Normstufenbau ) Sicht geklärt werden konnten, sollen im folgenden unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Vorgaben das Aufgabengebiet und die Zusammensetzung des Gemeinsamen Senats sowie dessen Zuständigkeitsbereich und das dazugehörige Verfahren untersucht werden. I. Die AufgabensteIlung des Gemeinsamen Senats Gemäß Art. 95 Abs. 3 Satz 1 GG hat der Gemeinsame Senat die Aufgabe, die Einheitlichkeit der Rechtsprechung zu wahren. Insoweit soll er divergierende Entscheidungen der obersten Gerichtshöfe in ein und derselben Rechtsfrage verhindern. Im Gegensatz dazu sah Art. 95 GG a. F. vor, daß das "Oberste Bundesgericht" zur Wahrung der Einheitlichkeit des Bundesrechts beitragen sollte. Aus der unterscpiedlichen Reichweite der AufgabensteIlung in Art. 95 GG a. F. und Art. 95 Abs. 3 Satz 1 GG wird in der Rechtslehre allgemein hergeleitet, daß ein Ausgleichsverfahren vor dem Gemeinsamen Senat auch dann stattzufinden hat, wenn aufgrund des Art. 99 GG die obersten Gerichtshöfe des Bundes zur Anwendung von Landesrecht berufen sind l . Im Rahmen des Geltungsbereichs von Art. 99 GG ist die Frage, ob die Anwendbarkeit von Landesrecht und seine Überprüfung durch die obersten Gerichtshöfe des Bundes - demnach mittelbar auch durch den Gemeinsamen Senat - vom Bundesgesetzgeber angeordnet werden kann, stark umstritten 2 • Zur 1

2

So etwa Achterberg, in: BK, Art. 95 Rdnr. 291; Herzog, in: MaunzlDürig, Grundgesetz Kommentar, Art. 95 Rdnr. 59. Ablehnend insoweit BVerwGE 2, 22 (24); Forster, Revisibles Landesbeamtenrecht, BayVBI. 1957, 279 (280); Friesenhahn, Der Rechtsschutz im öffentlichen Recht nach dem Bonner Grundgesetz, DV 1949, 478 (480); Haas, Landesrecht vor Bundesgerichten?, DVBI. 1957,368 (369); ders., Schlußwort zu Arndt, Adolf, Landesrecht vor Bundesgerichten?, DVBI. 1957, 566f., DVBI. 1957,567; Köhler, Anm. zu BVerwG, JZ 1954, 394, JZ 1954, 394f.; v. Mangoldt, Grundgesetz, IX 3 d), S. 494; Reuß, Revision und Nichtzulassungsbeschwerde zum Bundesverwaltungsgericht, DVBI. 1957,293 (295); Zippelius, Beamten-Landesrecht vor Bundesgerichten, DVBI. 1959, 41ff.; bejahend hingegen BVerfGE 10,285 (292ff.); BGHZ 6,147 (152f.); BAGE 4, 346 (348); Arndt, Landesrecht vor Bundesgerichten?, DVBI. 1957,566 f.; Bettermann, Grundgesetz und Revisibilität, JZ

I. AufgabensteIlung des Gemeinsamen Senats

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Beantwortung dieser Frage vermag ein Rückgriff auf die Entstehungsgeschichte3 des Art. 99 GG kein eindeutiges und zweifelsfreies Ergebnis zu liefern; Befürworter wie Gegner bemühen in gleichem Maße die Historie zur Rechtfertigung ihrer Auffassungen 4 • Die Problematik erfordert daher einen materialen, die verfassungsrechtIichen Wertsetzungen integrierenden Lösungsansatz. Dabei sind sowohl die Entscheidung des Grundgesetzes zugunsten des Föderalismus als tragendem Ordnungsprinzip im Gemeinwesen5 als auch der Gedanke staatlicher Rechtseinheit hinreichend zu berücksichtigen. Für eine die Revisibilität des Landesrechts betreffende "ausschließliche Gesetzgebungskompetenz der Länder" wird häufig Art. 30 GG als Ausdruck des föderalistischen Staatsstrukturprinzips bemüht. Eine solche Sichtweise übersieht jedoch die ebenfalls in der Bestimmung enthaltene Einschränkung "soweit dieses Grundgesetz keine andere Regelung trifft oder zuläßt". Die von den Gegnern dieser Auffassung daraus gezogene Schlußfolgerung, Art. 74 Nr. 1 GG konkretisiere jene Einschränkung zugunsten des Bundesgesetzgebers, bedarf allerdings in gleichem Maße der Relativierung, da der weit gefaßte Anwendungsbereich der Vorschrift (Gerichtsverfassung und gerichtliches Verfahren) nur einer Interpretation im Lichte des bundesstaatIichen Prinzips zugänglich ist 6 • Letzteres hingegen läßt sich nur schwer konturenscharf abgrenzen, weil es dem permanenten verfassungsrechtIichen Wandel unterliegt und als elastisches Staatsstrukturelement durchaus unterschiedliche Konkretisierungen erfahren kann? Deshalb kann die Reichweite des föderalistischen Prinzips nur aus dem "Gesamtgehalt der Verfassung"8, insbesondere den grundgesetzlichen Kompetenzzuweisungen im Staat gewonnen werden. Insoweit gilt es festzuhalten, daß das Grundgesetz eine strenge Trennung der Kompetenzräume von Bund und Ländern nicht kennt, vielmehr z. B. Landes- und Bundesgerichte durch Rechtsmittelzüge miteinander verbunden sind9 • In diesen Zusammenhang gehört auch der Hinweis von Menger, daß die Kompetenzverteilung zwi-

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1958, 235 (236f.); Brenken, Revisibilitätsbestimmung und Rahmenkompetenz, DVBI. 1959,409 (41Off., 413); Menger, Landesrecht vor Bundesgerichten, in: ders., Verfassung und Verwaltung in Geschichte und Gegenwart, S. 149ff. (163ff.); Werthauer, Die Kompetenz der oberen Bundesgerichte zur Anwendung von Landesrecht, NJW 1957, 1387ff. Allgemein zur Entstehungsgeschichte als Auslegungsmittel Sachs, Die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes als Mittel der Verfassungsauslegung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, DVBI. 1984, 73ff. Einerseits Haas, Landesrecht vor Bundesgerichten?, DVBI. 1957,368 (369), andererseits BVerfGE 10, 285 (299f.). Stern, Staatsrecht, Bd. I, § 1911 4., S. 660. In diesem Sinne auch Menger, Landesrecht vor Bundesgerichten, in: ders., Verfassung und Verwaltung in Geschichte und Gegenwart, S. 149 (155). So Bettermann, Grundgesetz und Revisibilität, JZ 1958, 235 (236); Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rdnr. 219. Zippelius, Beamten-Landesrecht vor Bundesgerichten, DVBI. 1959,41 f. BVerfGE 10, 285 (296).

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3. Kapitel: Funktionale und organisatorische Grundlagen

schen Bund und Ländern auf dem Gebiet der Gerichtsbarkeit zwar organisatorisch im Sinne einer bundesstaatlichen Gliederung ausgefallen sei, materiell aber die rechtsprechende Gewalt eine Einheit darstelle lO • Seiner Annahme eines "gesamtstaatlichen Charakters"l1 der Rechtsprechung als Staatsfunktion kann daher nur ausdrücklich zugestimmt werden. Berücksichtigt man zudem die Bedeutung und das Gewicht des Prinzips der Rechtseinheit im staatlichen Gemeinwesen l2 , so wird ersichtlich, daß nur eine extensive Auslegung der Art. 99 13 , 74 Nr. 1,30 GG in Betracht kommt. Zum Aufgabengebiet der obersten Gerichtshöfe des Bundes - mittelbar damit auch zu dem des Gemeinsamen Senats - gehören demnach ebenfalls Materien des Landesrechts, die entweder der Landes- oder der Bundesgesetzgeber für revisibel erklärt hat.

11. Die Zusammensetzung des Gemeinsamen Senats Für die Zusammensetzung des Gemeinsamen Senats sind einerseits die verfassungsrechtlichen Vorgaben gemäß Art. 95 GG, andererseits die konkrete Ausgestaltung seiner personellen Struktur nach dem" Gesetz zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes"14 zu berücksichtigen. Auf dieser Grundlage gilt es sodann, die möglicherweise aus seiner Zusammensetzung herrührenden spezifischen Probleme zu analysieren. 1. Verfassungsrechtliche Vorgaben gemäß Art. 95 GG

Die verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art. 95 GG für die Zusammensetzung des Gemeinsamen Senats beschränken sich im wesentlichen auf drei Aussagen: Zum einen wird aus der systematischen Stellung des Art. 95 Abs. 3 GG (hinter Art. 95 Abs. 2 GG) ersichtlich, daß von Verfassungs wegen für die personelle Besetzung des Gemeinsamen Senats das Richterwahlverfahren 15 nicht einzuhalten ist. Letzteres ist jedoch mittelbar zur Grundlage der Besetzung geworden, da nur Mitglieder der fünf obersten Gerichtshöfe des Bundes in den Gemeinsamen Senat entsendet werden können und diese gemäß Art. 95 Abs. 2 Menger, Landesrecht vor Bundesgerichten, in: ders., Verfassung und Verwaltung in Geschichte und Gegenwart, S. 149 (163). 11 Ebd., S. 164. 12 Dazu Stern, in: BK, Art. 99 Rdnr. 51ff. sowie oben S. 18ff. 13 Zur unterschiedlichen Interpretation des Wortlauts von Art. 99 GG siehe Menger, Landesrecht vor Bundesgerichten, in: ders., Verfassung und Verwaltung in Geschichte und Gegenwart, S. 149 (156ff.); Stern, ebd., Rdnr. 52 m. w. N. 14 Gesetz vom 19. 6. 1968 (BGB\. 1968 I, S. 661). 15 Zum Richterwahlverfahren und seinen verfassungsrechtlichen Problemen immer noch grundlegend Böckenförde, Verfassungsfragen der Richterwahl, 1974; siehe ferner auch Achterberg, in: BK, Art. 95 Rdnr. 247ff. 10

11. Zusammensetzung des Gemeinsamen Senats

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GG aus dem Richterwahlverfahren hervorgehen l6 . Zum anderen geht aus dem Wortlaut des Art. 95 Abs. 3 GG - "der in Abs. 1 genannten Gerichte" - hervor, daß die Beteiligung aller obersten Bundesgerichte am Gemeinsamen Senat völlig gleichberechtigt zu erfolgen hat l7 • Ferner wird aus der soeben angeführten Wortlautpassage des Art. 95 Abs. 3 GG in der Rechtslehre allgemein hergeleitet, daß die Mitglieder des Gemeinsamen Senats in diesem nur nebenamtlich wirken, während ihr Hauptamt in der Richtertätigkeit an einem der fünf obersten Gerichtshöfe des Bundes besteht l8 . Vermögen daher die verfassungsrechtlichen Vorgaben nur wenig Anhaltspunkte für die Zusammensetzung des Gemeinsamen Senats zu liefern, so muß das Hauptaugenmerk auf die konkrete Ausgestaltung durch das "Gesetz zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes" (RsprEinhG) gerichtet werden. 2. Konkretisiemng der Zusammensetzung des Gemeinsamen Senats durch das RsprEinhG a) Die personelle Besetzung (§ 3 RsprEinhG)

Das "Gesetz zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes" hat sich hinsichtlich der Besetzung des Gemeinsamen Senats in § 3 für eine Kombination von ständigen und ad-hoc entsandten Mitgliedern entschieden. Zu den ständigen Mitgliedern zählen die Präsidenten der obersten Gerichtshöfe (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 RsprEinhG), während die Vorsitzenden Richter l9 und je ein weiterer Richter der beteiligten Senate, d. h. des vorlegenden Senats und dessen, von dem der vorlegende abweichen will (§ 4 Abs. 1 Satz 1 RsprEinhG), zu den wechselnden Mitgliedern gehören (§ 3 Abs. 1 Nr. 2, 3 RsprEinhG). Ist der Präsident eines obersten Gerichtshofes zugleich Vorsitzender Richter in einem beteiligten Senat, so wirken außer ihm zwei weitere Richter des beteiligten Senats im Gemeinsamen Senat mit (§ 3 Abs. 2 RsprEinhG). Gegen diese die Mitgliederzahl betreffende variable Besetzung des Gemeinsamen Senats (Beteiligung von 720 , 9 bzw. 11 Richtern) bestehen auch keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Insbesondere liegt kein Verstoß gegen die Vorschriften über den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2

Herzog, in: Maunz I Dürig, Grundgesetz Kommentar, Art. 95 Rdnr. 57; Schmidt-Bleibtreu IKlein, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 95,4. 17 Ebenso Achterberg, in: BK, Art. 95 Rdnr. 309. 18 Ebd.; Herzog, in: Maunz I Dürig, Grundgesetz Kommentar, Art. 95 Rdnr. 55. 19 Amtsbezeichnung nach § 19a Abs. 1 DRiG; früher "Präsident". 20 Für den Fall der Absicht eines Senats von einer Entscheidung des Gemeinsamen Senats abzuweichen. 16

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3. Kapitel: Funktionale und organisatorische Grundlagen

GG) vor, da die Zahl der einzelnen Mitglieder jeweils unter Zugrundelegung objektiver und im voraus bestimmter21 Kriterien ermittelt wird 22 . Für die in § 3 Abs. 1 Nr. 3 RsprEinhG grundsätzlich geregelte Mitwirkung einzelner Richter der beteiligten Senate im Gemeinsamen Senat bleibt die Frage,ob der terminus "Richter" nur Berufsrichter oder auch ehrenamtliche Richter erfaßt. Sollte letzteres der Fall sein, bestünde damit die Möglichkeit, daß z. B. die ehrenamtlichen Richter am Bundesarbeitsgericht und Bundessozialgericht Mitglieder des Gemeinsamen Senats werden könnten. Wenngleich die Mitwirkung ehrenamtlicher Richter in der Rechtsprechung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts deutscher Tradition entspricht23 und als Ausdruck besonderer Volksnähe, der Transparenz richterlicher Rechtsfindung sowie einer gewissen Plausibilitätskontrolle gilt24 , erscheint ihre potentielle Beteiligungsmöglichkeit im Gemeinsamen Senat dennoch verfassungsrechtlichen Bedenken zu unterliegen 25 . Das Grundgesetz geht prinzipiell vom "rechtsgelehrten, rechtswissenschaftlich besonders ausgebildeten und vorgebildeten Berufsrichter"26 aus, verbietet aber andererseits nicht die Mitwirkung ehrenamtlicher Richter bei der Rechtsprechung. Diese generelle Möglichkeit des EinsatDazu ausdrücklich § 3 Abs. 4 RsprEinhG. Den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts bezüglich der Garantie des gesetzlichen Richters, BVerfGE 19, 52 (59ff.), ist damit Genüge getan; ebenso Schmidt-Räntsch, Zur Bildung des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes, DRiZ 1968, 325 (326). 23 Zur historischen Entwicklung der Mitwirkung von Laienrichtern bei der Rechtsprechung Rüggeberg, Zur Funktion der ehrenamtlichen Richter in den öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeiten, VerwArch. Bd. 61 (1970), 189 (198ff. m. w. N.); ferner Bettermann, Gerichtsverfassungsrecht, in: Sozialrechtsprechung, Verantwortung für den sozialen Rechtsstaat, Festschrift zum 25jährigen Bestehen des Bundessozialgerichts, Band 2, hrsg. v. Deutschen Sozialgerichtsverband e. V., Köln· Berlin . Bonn . München 1979, S. 783 (809ff.); Kissel, 100 Jahre Gerichtsverfassungsgesetz, NJW 1979, 1953 (1954); Müller, Das Recht der ehrenamtlichen Richter, in: Sozialrechtsprechung, Verantwortung für den sozialen Rechtsstaat, Festschrift zum 25jährigen Bestehen des Bundessozialgerichts, Band 2, hrsg. v. Deutschen Sozialgerichtsverband e. V., Köln· Berlin . Bonn . München 1979, S. 877ff. 24 Stern, Staatsrecht, Bd. 11, § 43 11 2 b), S. 905; auf die grundsätzliche Berechtigung und Notwendigkeit einer Mitwirkung ehrenamtlicher Richter an der Rechtsprechung soll im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nicht näher eingegangen werden, kritisch etwa Baur, Laienrichter - Heute?, in: Tübinger Festschrift für Eduard Kern, hrsg. v. der Rechtswissenschaftlichen Abteilung der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Tübingen, Tübingen 1968, S. 49ff.; Larenz, Rechtsschutz, S. 219ff.; anders hingegen Cappeleui, Laienrichter - heute?, in: Festschrift für Fritz Baur, hrsg. v. W. Grunsky, R. Stürner, G. Walter und M. Wolf, Tübingen 1981, S. 313ff., der sich für eine verstärkte Mitwirkung von Laienrichtern ausspricht. 25 Grundsätzlich Bedenken gegen die Mitwirkung ehrenamtlicher Richter in den obersten Rechtsprechungsinstanzen äußern Achterberg, in: BK, Art. 92 Rdnr. 289; Maetzel, Prozessuale Fragen zum Verfahren vor dem "Großen Senat", MDR 1966, 453 (454 Fn. 11); die Relevanz dieser Bedenken erhellt sich vor dem Hintergrund, daß nach Angaben des Bundesverfassungsgerichtes, BVerfGE 26, 186 (203), in den Gerichtshöfen des Bundes etwa 1350 (!) ehrenamtliche Richter mitwirken. 26 Stern, Staatsrecht, Bd. 11, § 43 11 2 a), S. 903f. 21

22

11. Zusammensetzung des Gemeinsamen Senats

73

zes ehrenamtlicher Richter in der Rechtsprechung läßt jedoch die Frage unberührt, wie ihre Mitwirkung in der Revisionsinstanz oder gar im Gemeinsamen Senat verfassungsrechtlich zu beurteilen ist. Insoweit gilt es, sich die Aufgaben dieser Rechtsprechungsorgane zu vergegenwärtigen. Gerade in den soeben angesprochenen Senaten geht es im Gegensatz zur Mitwirkung in unteren Rechtsprechungsinstanzen nicht mehr um die aus der Laiensphäre durchaus nachvollziehbare Bewertung tatsächlicher Lebenssachverhalte, sondern einzig und allein um die Entscheidung von Rechtsfragen. Dabei vermag eine unter Umständen noch in kurzer Zeit zu erlernende Subsumtionstechnik nicht weiterzuhelfen, vielmehr bedarf es komplizierter gedanklicher Operationen der Interpretation, Lückenschließung, Rechtskonkretisierung und Rechtsfortbildung 27 . Zur Erfüllung dieser Aufgaben ist nicht etwa der bloße Einsatz menschlichen Rechtsgefühls, sondern detaillierte Rechtskundigkeit und langjährige Schulung in der juristischen Argumentation erforderlich28 . Vor diesem Hintergrund wird deutlich, daß die Mitwirkung im Gemeinsamen Senat, der sich ausschließlich mit der Entscheidung divergierender Rechtsprechungsansichten zu einer Rechtsfrage befaßt (§ 2 Abs. 1 RsprEinhG), den juristisch ausgebildeten Berufsrichter verlangt. Diese Forderung ist jedoch keineswegs allein Ausfluß sachlogischer Erwägungen, sondern der Grundsatz einer Entscheidung reiner Rechtsfragen durch rechtskundige und -gelehrte Richter ist zum Teil auch eine Ausprägung des dem Rechtsstaatsprinzip zu entnehmenden materiellen Gerechtigkeitsgedankens 29 • Mit der hier aufgestellten Forderung deckt sich zudem die Verfassungs- und Rechtsprechungswirklichkeit in der Bundesrepublik Deutschland. An den Entscheidungen des Gemeinsamen Senats hat bislang kein ehrenamtlicher Richter mitgewirkt 30 • b) Die beteiligten Senate (§ 4 RsprEinhG)

Die Zusammensetzung des Gemeinsamen Senats ist - wie oben unter 2. a) bereits dargelegt - von der Zahl der beteiligten Senate abhängig. Um jederzeit eine ordnungsgemäße Besetzung zu gewährleisten, bestimmt § 4 RsprEinhG, welche Senate der obersten Gerichtshöfe als an der Divergenz beteiligt anzusehen sind. Grundsätzlich sind gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 RsprEinhG der vorlegende Senat und der Senat des obersten Gerichtshofes, von dessen Entscheidung der vorlegende Senat abweichen will, am Verfahren vor dem Gemeinsamen Senat beteiligt. Sowohl auf der "Aktivseite" (vorlegender Senat) als auch auf der "Passivseite" (Senat des obersten Gerichtshofs, von dessen Entschei27 28 29

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Ders., ebd., S. 904. Lorenz, Rechtsschutz, S. 220. Dazu etwa BVerfGE 52, 131 (l44f.); Achterberg, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 5 Rdnr. 3ff.; Maunz I Zippelius, Deutsches Staatsrecht, § 12 I 2, 3, S. 87; Stern, Staatsrecht, Bd. I, § 20 1111, S. 781 f. m. w. N. Dies deckt sich auch mit den Vorstellungen des Gesetzgebers, siehe dazu BT-Drucks. V/1450, S. 7.

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3. Kapitel: Funktionale und organisatorische Grundlagen

dung der vorlegende Senat abweichen will) können ferner ein Großer Senat oder die Vereinigten Großen Senate mitwirken (§ 4 Abs. 2 Satz 1, 2 RsprEinhG pi. Formell tritt die Beteiligung eines Senats auf der "Passivseite" dadurch ein, daß der vorlegende Senat die Entscheidung des obersten Gerichtshofs bezeichnet, von der er abzuweichen beabsichtigt (§ 11 Abs. 1 Satz 2 RsprEinhG). Ausnahmen von diesem Grundsatz bilden lediglich die Fälle des § 4 Abs. 1 Satz 2 und 3 RsprEinhG. Gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 RsprEinhG nimmt bei einem Zuständigkeitswechsel hinsichtlich der im Streit befindlichen Rechtsfrage die Stelle des ursprünglich zuständigen Senats der nunmehr zuständige Senat ein. Wurde eine Rechtsfrage bereits durch mehrere Senate eines obersten Gerichtshofs abweichend entschieden, so gilt nach § 4 Abs. 1 Satz 3 RsprEinhG - unabhängig von jeder Bezeichnung durch den vorlegenden Senat - der Senat als beteiligt, der die Rechtsfrage zuletzt entschieden hat, es sei denn die Geschäftsordnung des Präsidiums bestimmt etwas anderes 32 • Problematisch ist dabei der maßgebliche Zeitpunkt für die Erlangung der "Beteiligtenstellung" eines Senats. Nach Ansicht von Wallis' kommen theoretisch in Frage: die letzte Entscheidung vor dem Beschluß des Gemeinsamen Senats, die letzte Entscheidung vor dem Eingang des Vorlage beschlusses beim Gemeinsamen Senat und die letzte Entscheidung vor Abfassung des Vorlagebeschlusses33 . Die Wahl der ersten Alternative müßte notwendigerweise bedeuten, daß die Zusammensetzung des Gemeinsamen Senats bis zum Beginn seiner Beschlußsitzung in der Schwebe bleiben würde. Neben praktischen und prozeßökonomischen Gesichtspunkten erscheint diese Auffassung auch aus rechtsstaatlichen Gründen - Unsicherheit der Verfahrensbeteiligten über die endgültige Zusammensetzung des die Rechtsfrage entscheidenden Gerichts untragbar34 • Eine Entscheidung im Sinne der zweiten Alternative müßte einer Zeitspanne, nämlich der von der Abfassung des Vorlage beschlusses bis zum Eingang desselben beim Gemeinsamen Senat, Bedeutung beimessen, die für den richterlichen Vorlagebeschluß ohne jede Relevanz war. Für die Einbeziehung dieses Zeitraums sind auch keine anderen sachlich gerechtfertigten Gründe ersichtlich. Nur die dritte Alternative - das Abstellen auf die letzte Entscheidung vor Abfassung des Vorlagebeschlusses - wird dem Umstand gerecht, daß letzterer als auslösender Faktor für ein Ausgleichsverfahren vor dem Gemeinsamen Senat anzusehen ist 35 • Diese Auffassung findet auch im Wort-

31

32 33 34 35

Zu den unterschiedlichen Möglichkeiten ihrer Beteiligung siehe Miebach, Der Gemeinsame Senat, S. 90ff.; Schmidt-Räntsch, Zur Bildung des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes, DRiZ 1968, 325 (327 Fn. 17). Zum Vorsitz im Gemeinsamen Senat siehe § 5 RsprEinhG. v. Wallis, Der Gemeinsame Senat und die Selbstbindung des Revisionsgerichts, StuWi 1973, 193 (194). Ebd. Ebd.

11. Zusammensetzung des Gemeinsamen Senats

75

laut des § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 RsprEinhG ihre Stütze. Wenn dort in Satz 2 die Pflicht begründet wird, im Vorlagebeschluß die Entscheidung des obersten Gerichtshofs zu bezeichnen, von der der vorlegende Senat abweichen möchte, so mag diese Bezeichnung für die Zusammensetzung des Gemeinsamen Senats zwar nicht notwendig bindend sein36 , aber sie liefert doch ein gewichtiges Indiz dafür, daß grundsätzlich mit dem Vorlage beschluß das Ausgleichsverfahren vor dem Gemeinsamen Senat in Gang gebracht wird (§ 11 Abs. 1 Satz 1 RsprEinhG)37 und die zu diesem Zeitpunkt bestehende rechtliche Kontroverse dort ausgetragen werden soll. Bei einer Entscheidung im Sinne der ersten oder zweiten Alternative würde zudem § 11 Abs. 1 Satz 2 RsprEinhG bedeutungslos, da eine nach dem Vorlage beschluß ergehende Entscheidung die Zusammensetzung des Gemeinsamen Senats ohne weiteres ändern könnte. Somit vermag von den genannten drei Alternativen lediglich die zuletzt erörterte die Gewähr für ein umsichtig und ordnungsgemäß durchgeführtes Ausgleichsverfahren zu bieten. Besondere Schwierigkeiten bei der Zusammensetzung des Gemeinsamen Senats bereitet die Frage nach der Beteiligung am Ausgleichsverfahren, wenn ein Senat von Entscheidungen mehrerer Senate verschiedener oberster Gerichtshöfe abweichen möchte. Während der Gemeinsame Senat selbst in zwei Entscheidungen die Auffassung vertreten hat, daß in diesem Falle außer dem anrufenden Senat nur der Senat beteiligt ist, der von allen divergierenden Senaten die Rechtsfrage als letzter entschieden hat 38 , geht ein Teil der Rechtslehre davon aus, daß alle Senate, von deren Entscheidung inhaltlich abgewichen werden soll, als Verfahrensbeteiligte zu betrachten sind 39 . Sowohl für den Analogieschluß des Gemeinsamen Senats aus § 4 Abs. 1 Satz 3 RsprEinhG als auch für den Umkehrschluß der Rechtslehre aus derselben Vorschrift lassen sich gute Gründe anführen. Die Rechtslehre kann sich bei ihrer Argumentation in erster Linie auf die Entstehungsgeschichte des RsprEinhG stützen 40 . Bei der genetischen Auslegung gilt es jedoch zu bedenken, daß sie bei der Ermittlung des "objektivierten Willens des Normgebers"41 immer nur ein Auslegungskriterium im Kanon der

36 Siehe dazu oben S. 74f. 37 VgJ. auch BT-Drucks. V11450, S. 9. 38 GmS-OGB, BGHZ 60, 392 (394f.); GmS-OGB, BGHZ 75,340 (341 f.); ebenso unter Be39 40 41

zugnahme auf die Entscheidungen des Gemeinsamen Senats v. Wallis, Der Gemeinsame Senat und die Selbstbindung des Revisionsgerichts, StuWi 1973, 193 (194f.). Grunsky, Anmerkung zu GmS-OGB, SGb. 1973, 439ff. (~BGHZ6O, 392ff.), SGb. 1973, 441 f.; Miebach, Der Gemeinsame Senat, S. 93. BT-Drucks. V/1450, S. 8. Achterberg, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 17 Rdnr. 8; ders., Wege der Objektivierung des Rechts, in: Objektivierung des Rechtsdenkens, Gedächtnisschrift für I1mar TammeIo, hrsg. v. W. Krawietz, Th. Mayer-Maly, O. Weinberger, Berlin 1984, S. 211 (223); beispielhaft für die Position der Rechtsprechung BVerfGE 1,299 (312) "Maßgebend für die Ausle-

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3. Kapitel: Funktionale und organisatorische Grundlagen

unterschiedlichen Interpretationsmethoden darstellt. Außerdem sind die historische und die genetische Methode grundsätzlich bloß subsidiär anwendbar, d. h. ihre Heranziehung ist nur insoweit zulässig, als sie eine bereits nach anderen Interpretationskriterien gewonnene Auslegung zu stützen vermögen 42 • Entscheidend ist daher, in welche Richtung die Ergebnisse der übrigen Interpretationsmethoden43 weisen. Allein eine teleologische Betrachtung, d. h. eine Orientierung am Sinn und Zweck des Ausgleichsverfahrens vor dem Gemeinsamen Senat, kann zur Klärung der Streitfrage beitragen. Diese Analyse ist notwendigerweise in den bereits mehrfach betonten Zusammenhang von Rechtseinheit und Rechtssicherheit einzubinden. Beiden Postulaten sollte bei der Problemlösung im Bereich des Rechtsprechungsdivergenzausgleichs zwischen den obersten Gerichtshöfen des Bundes in angemessener Weise Rechnung getragen werden. So weist Grunsky darauf hin, daß die mangelnde Berücksichtigung eines oder mehrerer Senate, welche die umstrittene Rechtsfrage ebenfalls bereits einmal entschieden haben, eine Gefahr für die Kontinuität der Rechtsprechung des Gemeinsamen Senats bedeute. Anstelle der Provokation eines weiteren Vorlagebeschlusses in derselben Rechtsfrage 44 könnte nach seiner Ansicht durch die Einbeziehung aller Senate zukünftiges Konfliktpotential aufgrund ausführlichen Diskurses im Gemeinsamen Senat wirksam abgeschöpft werden45 • Auf der anderen Seite darf jedoch auch die Argumentation des Gemeinsamen Senats nicht übersehen werden, der eine Gefahr für die Kontinuität seiner Rechtsprechung darin sieht, daß unter Umständen 10 nicht-ständige Richter46 gegen die Stimmen der ständigen Mitglieder eine Entscheidung herbeiführen könnten, die in dieser Weise später nicht aufrechtzuerhalten wäre 47 . Mag damit bisher der Eindruck entstanden sein, daß beide Positionen zu einer Gefahr für gung einer Gesetzesvorschrift ist der in dieser zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers, so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den diese hineingestellt ist. Nicht entscheidend ist dagegen die subjektive Vorstellung der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe oder einzelner ihrer Mitglieder über die Bedeutung der Bestimmung." 42 BVerfGE 1, 299 (312) "Der Entstehungsgeschichte einer Vorschrift kommt für deren Auslegung nur insofern Bedeutung zu, als sie die Richtigkeit einer ... Auslegung bestätigt oder Zweifel behebt, die auf dem angegebenen Weg allein nicht ausgeräumt werden können. "; aus der Rechtslehre Achterberg, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 17 Rdnr. 15. 43 Zum Methodenkanon siehe BVerfGE 11, 126 (130); aus der Rechtslehre Achterberg, ebd., § 17 Rdnr. 1ff.; Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 436ff. 44 Fall der Abweichungsabsicht eines nichtberücksichtigten Senats von der Entscheidung des Gemeinsamen Senats. 45 Grunsky, Anmerkung zu GmS-OGB, SGb. 1973, 439ff. (~BGHZ60, 392ff.), SGb. 1973, 441 (442). 46 10 nicht-ständige Richter würden dann im Gemeinsamen Senat mitwirken, wenn z. B. je ein Senat eines obersten Gerichtshofes dieselbe Rechtsfrage entschieden hat und ein Senat von der Auffassung der vier anderen abweichen möchte. 47 GmS-OGB, BGHZ 60,392 (394f.).

11. Zusammensetzung des Gemeinsamen Senats

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die Einheitlichkeit der Rechtsprechung des Gemeinsamen Senats werden können, so handelt es sich dennoch nicht um eine Entscheidung zwischen Skylla und Charybdis. Vielmehr läßt sich bei genauerer Betrachtung die argumentative Überzeugungskraft der in der Rechtslehre vertretenen Auffassung erheblich entkräften. Grundsätzlich gilt es festzuhalten, daß der Gesetzgeber durchaus die Möglichkeit erkannt hat, nicht in jedem Fall sämtliche mit der Rechtsfrage bereits einmal befaßten Senate am Ausgleichsverfahren beteiligen zu können. Zumindest auch deshalb hat er zur Wahrung ihrer Interessen die Präsidenten der obersten Gerichtshöfe zu ständigen Mitgliedern des Gemeinsamen Senats ernannt. Bei dieser in erster Linie der Interessenwahrung, im weiteren Sinne aber zugleich der "materiellen Entscheidungsrichtigkeit" dienenden Regelung hat es der Gesetzgeber jedoch nicht bewenden lassen. Vielmehr ist mit dem § 12 RsprEinhG eine Vorschrift geschaffen worden, die in verstärktem Maße und in sachgerechter Weise allen Senaten der obersten Gerichtshöfe des Bundes eine Stellungnahme zu der umstrittenen Rechtsfrage ermöglicht. So teilen gemäß § 12 Abs. 1 Satz 2 RsprEinhG die obersten Gerichtshöfe dem Gemeinsamen Senat mit, ob, mit welchem Ergebnis und mit welcher Begründung sie die streitige Rechtsfrage bisher entschieden haben. Ferner kann nach § 12 Abs. 2 Satz 3 RsprEinhG jederzeit ein oberster Gerichtshof dem Gemeinsamen Senat eine Äußerung seines zuständigen Senats zu der Rechtsfrage vorlegen. Damit besitzt jeder Senat - auch der nicht unmittelbar beteiligte - die Chance, seine rechtliche Beurteilung der Streitfrage in das Ausgleichsverfahren einzubringen. Die präjudizielle Wirkung seiner Entscheidung führt dann zu der bereits erörterten "präsumtiven Verbindlichkeit"48 in dem Sinne, daß eine Argumentationslast entsteht, die die Richter des Gemeinsamen Senats zur Entkräftung des Präjudizes zwingt, wenn sie von der Vorentscheidung abweichen wollen. Bei Ausnutzung der gesetzlichen Möglichkeiten fehlt daher der Auffassung eines Senats, bei der Entscheidung der Rechtsfrage übergangen worden zu sein, jede Berechtigung49 . Letztendlich darf auch nicht außer acht bleiben, daß eine Beteiligung aller Senate, die eine bestimmte Rechtsfrage bereits einmal entschieden haben, eine erhebliche Erhöhung der Mitgliederzahl des Gemeinsamen Senats (z. B. 13 oder gar 15 Richter) mit sich bringen würde. Insoweit wären die durch zu große Kollegialorgane hervorgerufenen und im Bereich der Verwaltung bereits festgestellten Effektivitätsverluste zu befürchten. Wenn daher auch die Auffassungen der Rechtslehre und des Gemeinsamen Senats in ihrer Absicht, die Rechts- und Rechtsprechungseinheit zu wahren, 48

Siehe dazu oben 2. Kap., 111., 1.

49 Außerdem erscheint die Ansicht Grunskys, die mangelnde Beteiligung eines Senats provo-

ziere einen neuerlichen Vorlagebeschluß, schon deshalb zweifelhaft, weil auch er nicht auszuschließen vermag, daß trotz seiner Beteiligung ein Senat dieselbe Rechtsfrage erneut vor den Gemeinsamen Senat bringen kann. Die Bindungswirkung der Entscheidung erfaßt nach § 16 RsprEinhG nämlich nur den "erkennenden Senat" in der "vorliegenden Sache".

78

3. Kapitel: Funktionale und organisatorische Grundlagen

übereinstimmen mögen, so verkennt erstere trotz alledem die neben einer direkten Beteiligung am Ausgleichsverfahren gesetzlich vorgesehenen Einwirkungsmöglichkeiten eines Senats auf die Entscheidungsfindung des Gemeinsamen Senats. Da eine solche Sichtweise zudem die Gefahr in sich birgt, die Beständigkeit der Rechtsprechung des Gemeinsamen Senats zu vermindern, wird sie auch der Forderung nach Rechtssicherheit im staatlichen Gemeinwesen nicht gerecht. Demgegenüber entspricht die Auffassung des Gemeinsamen Senats bei den eingangs genannten Zielsetzungen, nämlich sowohl der Rechtseinheit als auch der Rechtssicherheit. Unter Ausnutzung der gesetzlich festgelegten Einwirkungsmöglichkeiten (§ 12 RsprEinhG) kann sie dazu beitragen, den Gedanken der Rechtseinheit zu verwirklichen und durch eine Begrenzung der am Ausgleichsverfahren beteiligten Senate zugleich die Kontinuität der Rechtsprechung des Gemeinsamen Senats zu gewährleisten. Im Wege des Analogieschlusses aus § 4 Abs. 1 Satz 3 RsprEinhG gilt daher für den Fall, daß ein Senat von den Entscheidungen mehrerer Senate verschiedener oberster Gerichtshöfe abweichen möchte, nur der Senat als beteiligt, der von allen divergierenden Senaten die Rechtsfrage als zeitlich letzter vor Abfassung des Vorlagebeschlusses5o entschieden hat. c) "Kompromiß-Judikatur" als Folge der Zusammensetzung des Gemeinsamen Senats?

Ausgehend von den in den §§ 3, 4 RsprEinhG getroffenen Regelungen über die Zusammensetzung des Gemeinsamen Senats ist in der Rechtslehre der Vorwurf erhoben worden, daß damit der Weg zu einer sog. "Kompromiß-Judikatur" vorgezeichnet sei. So berge die soeben beschriebene Art der Zusammensetzung die Gefahr in sich, daß die den Konfliktstoff bildende Frage gerade von den sachlich am wenigsten informierten Senatsmitgliedern entschieden werde und daß diese aus Kollegialitätsgründen überwiegend zu Vermittlungstheorien gelangten51 oder aus Gründen des internen Ausgleichs "die erste Runde an den einen Senat und dafür die zweite Runde an den anderen gehe"52. Analysiert man die bisherige Rechtsprechung des Gemeinsamen Senats unter diesem Gesichtspunkt, so findet die Befürchtung einer Tendenz zur "Kompromiß-Judikatur" keine nachhaltige Bestärkung. Zuzugeben ist allerdings, daß gerade die ersten bei den Entscheidungen eine derartige Vermutung durchaus nahegelegt haben. So entschied sich der Gemeinsame Senat in der Kontroverse zwischen dem Bundesgerichtshof und dem Bundesverwaltungsgericht, ob durch § 9 Abs. 1 Satz 2 des Gesetzes über Fernmeldeanlagen (FAG) vom 14.1. 1928- auch nach 50 51

52

Zur Erheblichkeit des Zeitpunkts "Abfassung des Vorlagebeschlusses" siehe oben S. 74f. Herzog, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz Kommentar, Art. 95 Rdnr. 60 Fn. 2. Kloepfer, Anmerkung zu GmS-OGB 3170, NJW 1972, 141lff., NJW 1972, 1411 (1412).

11. Zusammensetzung des Gemeinsamen Senats

79

Inkrafttreten des § 40 VwGO - für die dort bezeichneten Rechtsstreitigkeiten der Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten eröffnet werde, zwar grundsätzlich im Sinne des Bundesgerichtshofs, d. h. für die Eröffnung des ordentlichen Rechtsweges 53 . Andererseits aber sprach er sich in der Beantwortung einer vom vorlegenden Senat (Bundesgerichtshof) nicht gestellten Frage (!) - entgegen dem Bundesgerichtshof - für die Rechtsauffassung des Bundesverwaltungsgerichts aus, wonach nicht nur der Streit über den Grund, sondern auch über die Höhe der Gebühren im ordentlichen Rechtsweg zu entscheiden sei54 . Insoweit erscheint die zu diesem Zeitpunkt in der Rechtslehre aufgekommene Vermutung, Anlaß einer solchen Stellungnahme könne neben Praktikabilitätsgesichtspunkten auch das Suchen nach einer vermittelnden Position zwischen dem Bundesgerichtshof und dem Bundesverwaltungsgericht gewesen sein 55 , sicherlich nicht unberechtigt. Die Befürchtung, der Gemeinsame Senat könne den eingeschlagenen Weg der sog. "Kompromiß-Judikatur" weiter beschreiten, wurde durch die zweite Entscheidung vom 19. 10. 1971 56 nachhaltig bestärkt. Bei diesem - in der Rechtslehre sehr unterschiedlich aufgenommenen, aber noch heute bedeutsamen 57 - Beschluß ging es zum einen darum, ob die Auslegung des Begriffs "unbillig" in § 131 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung durch die Behörde in vollem Umfang gerichtlich nachprüfbar sei. Zum anderen wurde für den Fall der Verneinung dieser Frage darüber gestritten, ob es innerhalb eines der Behörde zukommenden Beurteilungsspielraumes liege, die Heranziehung eines Versicherungsgeneralagenten mit gemischter Tätigkeit zur Gewerbesteuer mit den aus verwaltender Tätigkeit erwirtschafteten Erträgen für die Jahre vor 1962 nicht als unbillig im Sinne des § 131 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung anzusehen. Die Entscheidung dieser zwischen dem Bundesverwaltungsgericht und dem Bundesfinanzhof bestehenden Kontroverse durch den Gemeinsamen Senat fiel

53 54

55 56 57

GmS-OGB, BGHZ 56, 395ff. GmS-OGB, BGHZ 56, 395 (399f.). Kloepfer, Anmerkung zu GmS-OGB 1170, OVBI. 1971, 619ff.; OVBI. 1971, 62l. GmS-OGB, JZ 1972, 655ff.; ~ NJW 1972, 1411ff. Hinsichtlich der Aufnahme der Entscheidung des Gemeinsamen Senats in der Rechtslehre siehe Bachof, Neue Tendenzen in der Rechtsprechung zum Ermessen und zum Beurteilungsspielraum, JZ 1972, 641ff.; Grimm, Grundsatzentscheidung des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe zu § 131 AO, BB 1972, 781ff.; Kloepfer, Anmerkung zu GmS-OGB 3170, NJW 1972, 1411 ff., NJW 1972, 1411 f.; Os wald, Zur Gewerbesteuer des Versicherungsgeneralagenten aus verwaltender Tätigkeit, - Billigkeitserlaß wegen Änderung der Rechtsprechung des BFH (Beschluß des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. 10. 1971) -, VersR 1972, 1099ff.; Redeker, Anmerkung zu GmS-OGB 3170, OVBI. 1972, 604ff., OVBI. 1972, 608f.; Rupp, Begriffsjurisprudenz und Rechtsstaat, NJW 1972, 1976; zur Thematik ferner Kloepfer, "Unbilligkeit" nach § 131 AO als Rechtsfrage vor dem Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes. Zum Vorlage beschluß des BVerwG vom 13. 2. 1970, StuWi 1971, 277ff.; Kübler, "Unbilligkeit" gemäß § 131 AO und die Anrufung des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes, OB 1971, 303ff.

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3. Kapitel: Funktionale und organisatorische Grundlagen

äußerst gegensätzlich 58 und disharmonisch 59 aus. So beantwortete er die erste Frage im Ansatz ermessensfreundlich dahingehend, daß die Entscheidung der Behörde gemäß § 131 Abs. 1 Satz 1 AO darüber, ob die Einziehung der Steuer nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre, von den Gerichten nach den für die Überprüfung behördlicher Ermessensentscheidungen geltenden Grundsätzen zu prüfen sei60 • Demgegenüber vertrat der Gemeinsame Senat hinsichtlich der zweiten Frage eine stark ermessenshemmende Lösung im Sinne einer rigorosen Ermessensreduzierung61 • Diese - durch die Suche nach einer vermittelnden Position zwischen dem Bundesfinanzhof und dem Bundesverwaltungsgericht zumindest mitbestimmte - Disharmonie der Entscheidung wäre sogar durchaus vermeidbar gewesen, wenn sich der Gemeinsame Senat bei der Beantwortung der Vorlagefragen von der Entscheidungserheblichkeit derselben hätte leiten lassen. Insoweit wäre bei einer Verneinung der zweiten Frage eine Antwort auf die erste überflüssig geworden62 . Durch eine Orientierung an der Entscheidungserheblichkeit hätte der Gemeinsame Senat somit dem Eindruck, er beschreite weiter den Weg der sog. "Kompromiß-Judikatur", wirksam begegnen können. Diese Chance ließ er ein zweites Mal ungenutzt.

Bachof, ebd., 645 "Seine in der Sache richtige Erkenntnis zur ersten Vorlagefrage gibt der Gemeinsame Senat leider mit seinen Ausführungen zur zweiten Frage weitgehend preis." 59 Kloepfer, Anmerkung zu GmS-OGB 3/70, NJW 1972, 1411ff., NJW 1972, 1411 (1412). 60 Interessant sind insoweit jed()ch die auch bei der Einnahme dieses Standpunkts sichtbar werdenden" vermittelnden" Außerungen des Gemeinsamen Senats "Da jedoch jedes Verwaltungsermessen in der Regel an der Grenze der Unbilligkeit endet ... ergibt sich auch bei Qualifizierung des § 131 AO als Ermessensvorschrift eine weitgehende Nachprüfbarkeit., ... macht es ... vom Ergebnis her keinen bedeutsamen Unterschied, ob der Rechtsschutz dadurch erlangt wird, daß die VG zwar von einer Ermessensentscheidung ausgehen, diese aber auf ihre Vereinbarkeit mit den Grundsätzen der Billigkeit überprüfen, oder dadurch, daß die Gerichte zwar von einer Rechtsentscheidung ausgehen, zur Vermeidung einer ,uferlosen' Kontrolle der Verwaltung sich aber auf eine ,taktvolle und behutsame Rechtskontrolle' beschränken ... Berühren sich somit im Ergebnis die verschiedenen Auffassungen, so verdient doch die von der reinen Ermessensentscheidung den Vorzug, weil sie die Gerichte nicht dazu zwingt, im Rahmen des § 131 AO, der einen der Verwaltung eigenen Funktionsbereich bestimmt, an die Stelle der Exekutive zu treten und statt ihrer zu entscheiden", GmS-OGB, JZ 1972, 655 (656f.). 61 "Unter diesen Umständen kann es nicht mehr in dem von den Grundsätzen der Billigkeit gleichermaßen bestimmten wie ausgefüllten Rahmen des nach § 131 Abs. 1 Satz 1 AO auszuübenden Ermessens liegen, wenn einzelne Gemeinden einen Gewerbesteuererlaß für die Zeit vor 1962 ablehnen. Denn die Freiheit der Ermessensentscheidung findet ihre Grenze an den übergeordneten Grundsätzen der Steuergerechtigkeit und der Gleichmäßigkeit der Besteuerung. Es kann bei einer Entscheidung nach § 131 Abs. 1 Satz 1 AO keinen an den Grundsätzen der Billigkeit orientierten Ermessensspielraum im Sinne der Ausführungen dieser Entscheidung des Gemeinsamen Senats geben, der es zuließe, bei sachlich gleichen Tatbeständen die Einziehung der Umsatzsteuer und bei einem Teil der Gemeinden auch der Gewerbesteuer als unbillig zu beurteilen, bei anderen Gemeinden dagegen die Einziehung der Gewerbesteuer noch mit den Grundsätzen der Billigkeit in Einklang zu bringen. Eine derartige Differenzierung kann nicht mehr als sachgerecht anerkannt werden", GmS-OGB, JZ 1972, 655 (657f.). 62 Ebenso Kloepfer, Anmerkung zu GmS-OGB 3/70, NJW 1972, 141lff., NJW 1972, 1411 (1412). 58

11. Zusammensetzung des Gemeinsamen Senats

81

Nach diesen ersten bei den Entscheidungen des Gemeinsamen Senats gab lediglich noch sein Beschluß vom 9. 11. 197663 Anlaß dazu, vom Aufleben der Gefahr einer "Kompromiß-Judikatur" zu sprechen. In der dem Rechtsstreit inhärenten Auseinandersetzung zwischen dem Bundesfinanzhof auf der einen Seite und dem Bundessozialgericht, Bundesgerichtshof sowie Bundesverwaltungsgericht auf der anderen Seite hatte der Gemeinsame Senat darüber zu entscheiden, ob der gemäß § 3 Abs. 3 VwZG iVm § 195 Abs. 2 ZPO vorgeschriebene Datumsvermerk auf der zuzustellenden Sendung für die Wirksamkeit der Zustellung wesentlich sei. Während er im Ergebnis der Rechtsauffassung des Bundesfinanzhofs folgte, daß im Ausgangsverfahren die Revisionsfrist nicht in Gang gesetzt worden sei, fiel die Begründung im Hinblick auf die ihm unterstellte Neigung zu Vermittlungslösungen sehr interessant aus. Nach Ansicht des Gemeinsamen Senats war für die Entscheidung des Rechtsstreits die Frage, ob die Zustellung im oben beschriebenen Sinne wirksam oder unwirksam sei, unerheblich, da sich das Ergebnis bereits als Folge des § 9 VwZG darstelle 64 . Überraschenderweise trat er trotzdem ausdrücklich den Rechtsauffassungen des Reichsgerichts, des Bundessozialgerichts, des Bundesgerichtshofs und des Bundesverwaltungsgerichts bei, wonach eine Zustellung nicht deshalb unwirksam sei, weil der Tag der Zustellung auf der Sendung fehle 65 • Wenn der Gemeinsame Senat sich zu dieser für die Entscheidung des anhängigen Rechtsstreits überflüssigen Stellungnahme hinreißen ließ, kann dies nur als Versuch gedeutet werden, den Rechtsansichten der genannten obersten Gerichtshöfe zumindest in der Grundsatzfrage entgegenkommen zu wollen. Aus den hier analysierten Entscheidungen des Gemeinsamen Senats den Schluß zu ziehen, seine Rechtsprechung erweise sich als eine "Kompromiß-Judikatur", erscheint jedoch nicht gerechtfertigt, da diesen eine überwiegende Zahl von Beschlüssen gegenübersteht, in denen er sich rechtlich klar und eindeutig entweder im Sinne des vorlegenden Senats oder desjenigen von dem abgewichen werden sollte, entschieden hat 66 • Insbesondere gilt es zu beachten, GmS-OGB 2/75, BGHZ 67, 355ff. GmS-OGB, BGHZ 67, 355 (358). 65 GmS-OGB, BGHZ 67,355 (357). 66 Eine Entscheidung der Rechtsfrage im Sinne des vorlegenden Senats traf der Gemeinsame Senat in GmS-OGB 2173, NJW 1974, 2087f.; siehe dazu Ruland, Beschluß des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 4. 6. 1974, GmS-OGB 2173, JuS 1975,260 f.; Schroeter, Streitigkeiten um Arbeitgeberzuschuß nach § 405 RVO gehören vor die Sozialgerichte, Die Ersatzkasse 1974, 480ff.; GmS-OGB 2174, RzW 1975, 263f.; siehe dazu Schwarz, Grenze der Wortinterpretation: die Verfassung, RzW 1975, 257ff.; GmSOGB 1182, BVerwGE 66, 377ff.; GmS-OGB 1183, NJW 1984, 1027f.; im Sinne des Senats, von dem abgewichen werden sollte, entschied sich der Gemeinsame Senat in GmS-OGB 2171, BGHZ59, 396ff.; GmS-OGB 1/72, BGHZ60, 392ff.; siehe dazu Gräber, Keine Bindung mehr des Revisionsgerichts an seine im ersten Rechtsgang vertretene Ansicht?, DStR 1973, 449ff.; v. Wallis, Der Gemeinsame Senat und die Selbstbindung des Revisionsgerichts, StuWi 1973, 193ff.; GmS-OGB 1/75, NJW 1976, 1682ff.; GmS-OGB 1/78, BGHZ 75, 40ff.; GmS-OGB 2182, NJW 1983, 2070ff.; GmS-OGB 2/83, NJW 1984, 2149f.; GmSOGB 1185. 63

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3. Kapitel: Funktionale und organisatorische Grundlagen

daß es sich bei den Entscheidungen, die im wesentlichen den Anlaß zu dem in der Rechtslehre erhobenen Vorwurf gaben, um seine ersten beiden Beschlüsse handelte. Wie jede andere neu geschaffene Institution dürfte der Gemeinsame Senat insoweit wohl mit typischen, nur schwer vermeidbaren Anfangsschwierigkeiten zu ringen gehabt haben, deren Ursachen sicher nicht zuletzt in seiner Zusammensetzung lagen.

III. Zuständigkeit und Verfahren des Gemeinsamen Senats Art. 95 Abs. 3 GG läßt die Ausgestaltung der Zuständigkeiten des Gemeinsamen Senats und die Regelung des vor diesem stattfindenden Verfahrens offen. Diese Lücke ist durch das "Gesetz zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes" mit den §§ 2 und 10-17 RsprEinhG geschlossen worden. Den in diesem Zusammenhang auftretenden Fragen und Problemen soll im folgenden nachgegangen werden. 1. Die Voraussetzungen einer Anrufung des Gemeinsamen Senats Betrachtet man die in § 2 RsprEinhG für den Gemeinsamen Senat getroffenen Zuständigkeits regelungen , so ist dieser gemäß § 2 Abs. 1, 1. Alt. RsprEinhG zur Entscheidung berufen, wenn ein oberster Gerichtshof - genauer gesagt der erkennende Senat eines solchen67 - in einer Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen obersten Gerichtshofs abweichen will. Im Falle der Doppeldivergenz68 nach § 2 Abs. 2, 1. Alt. RsprEinhG entscheidet der Gemeinsame Senat allerdings erst, wenn der nach den Gerichtsverfassungsoder Verfahrensgesetzen primär anzurufende Große Senat oder die Vereinigten Großen Senate eines obersten Gerichtshofs von der Entscheidung eines anderen obersten Gerichtshofs abweichen wollen. Die Entscheidungskompetenz des Gemeinsamen Senats ist insoweit eine subsidiäre, da Voraussetzung seines Tätigwerdens die nach Schlichtung der Innendivergenz fortbestehende Außendivergenz ist 69 •

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Dies ergibt sich aus den §§ 3, 4 RsprEinhG; ebenso Achterberg, in: BK, Art. 95 Rdnr. 317. Das Merkmal der Doppeldivergenz setzt sich aus den Fällen der Innendivergenz- ein Senat beabsichtigt, von einern anderen Senat des eigenen Gerichtshofs abzuweichen - und der Außendivergenz - ein Senat beabsichtigt, von einern Senat eines anderen obersten Gerichtshofs abzuweichen - zusammen; siehe dazu auch Bettermann, Gerichtsverfassungsrecht, in: Sozialrechtsprechung, Verantwortung für den sozialen Rechtsstaat, Festschrift zum 25jährigen Bestehen des Bundessozialgerichts, Band 2, hrsg. v. Deutschen Sozialgerichtsverband e. V., Köln· Berlin· Bonn· München 1979, S. 783 (798); Schmidt-Räntsch, Zur Bildung des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes, DRiZ 1968, 325 (328). Achterberg, in: BK, Art. 95 Rdnr. 329; Schmidt-Räntsch, ebd., 328.

III. Zuständigkeit und Verfahren des Gemeinsamen Senats

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Nach § 2 Abs. 1,2. Alt. RsprEinhG ist die Anrufung des Gemeinsamen Senats auch erforderlich, wenn ein oberster Gerichtshof von einer von ihm selbst früher eingeholten70 Entscheidung des Gemeinsamen Senats abweichen will. Gemäß § 2 Abs. 2,2. Alt. RsprEinhG gilt gleiches auch für die Fälle, daß der nach den Gerichtsverfassungs- oder Verfahrensgesetzen primär anzurufende Große Senat oder die Vereinigten Großen Senate eines obersten Gerichtshofs von einer Entscheidung des Gemeinsamen Senats abweichen wollen. Um das mit dem RsprEinhG verfolgte Ziel der Wahrung einer einheitlichen Rechtsprechung zu erreichen, entscheidet der Gemeinsame Senat ferner auch dann, wenn ein oberster Gerichtshof in einer Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen obersten Gerichtshofs aus einer Zeit abweichen will, in der dieser noch die Bezeichnung "oberes Bundesgericht" trug7l . 2. Das Ausgleichsverfahren vor dem Gemeinsamen Senat

Das vor dem Gemeinsamen Senat stattfindende Verfahren hat - wie soeben erläutert - die Schlichtung der aus einer Rechtsfrage resultierenden Kontroverse zwischen einem Senat eines obersten Gerichtshofs und dem Senat eines anderen obersten Gerichtshofs oder dem Gemeinsamen Senat zum Gegenstand. Für Verfahren dieser Art ist in der Rechtslehre der Begriff des Ausgleichsverfahrens geprägt worden 72 • Definieren läßt sich dieses als ein "gesetzlich vorgeschriebenes Verfahren, das mehrere sich widersprechende Rechtsauffassungen über dieselbe Rechtsfrage zwischen verschiedenen Rechtsprechungskörpern 73 durch einen dritten oder einen dieser Rechtsprechungskörper mittels einer für den vorlegenden Rechtsprechungskörper verbindlichen Entscheidung ausgleicht"74. Etwas einfacher und dabei vor allem nicht minder zutreffend ist der von Hanack gewählte Definitionsansatz, wonach es sich bei Ausgleichsverfahren um "die eine Verhinderung oder Beseitigung divergierender Entscheidungen - sei es durch Vorlegungen, sei es durch Rechtsmittelzulassungen - bezweckenden Verfahren"75 handelt. Letztere Definition gibt zudem bereits einen Hinweis auf die sogleich zu erörternden unterschiedlichen Arten von Ausgleichsverfahren und deren Zielsetzungen. 70 Dazu Achterberg, ebd., Rdnr. 327.

GmS-OGB 3170, BGHZ58, 399f.; a. A.lediglich Mattem, Anmerkung zu BFH, BB 1969, 1297, BB 1969, 1337 (1338f.), der jedoch das mit dem RsprEinhG beabsichtigte Ziel in seiner Argumentation völlig außer acht läßt. 72 Hanack, Ausgleich divergierender Entscheidungen, S. 1, 205ff.; Miebach, Der Gemeinsame Senat, S. 110. 73 Der Begriff "Rechtsprechungskörper" wird dabei als Synonym für die verschiedenen Kammern bzw. Senate eines Gerichts verwendet. Es gilt allerdings zu beachten, daß es sich bei diesen "Rechtsprechungskörpern" in einem funktionalen Sinne (siehe dazu oben 2. Kap., 1., 1.) um Gerichte im Sinne des Grundgesetzes handelt. 74 Miebach, Der Gemeinsame Senat, S. 110. 75 Hanack, Ausgleich divergierender Entscheidungen, S. 1 Fn. 1. 71

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3. Kapitel: Funktionale und organisatorische Grundlagen a) Integration der Ausgleichsverfahren vor dem Gemeinsamen Senat in eine Systematik gerichtlicher Ausgleichsverfahren

Ausgleichsverfahren können grundsätzlich unter Berücksichtigung verschiedener Kriterien einer Systematisierung zugeführt werden. Während in der Rechtslehre teilweise eine Unterscheidung danach getroffen wird, ob es sich um Ausgleichsverfahren zwischen Rechtsprechungskörpern eines Gerichts oder mehrerer Gerichte handelt 76 , soll nachfolgend schwerpunktmäßig darauf abgestellt werden, inwieweit Ausgleichsverfahren zwischen Rechtsprechungsorganen derselben Instanz 77 oder verschiedener Instanzen78 stattfinden. Dabei soll jedoch auch der in der Rechtslehre vorgefundene Systematisierungsansatz im Auge behalten und auf der Grundlage der vor dem Gemeinsamen Senat ablaufenden Verfahren kritisch hinterfragt werden. Ordnet man daher die Entscheidungszuständigkeiten des Gemeinsamen Senats nach § 2 Abs. 1, 1. Alt.; Abs. 2, 1. Alt. RsprEinhG entsprechend der in der Rechtslehre entwickelten Systematik ein, so handelt es sich dabei um Ausgleichsverfahren zwischen Rechtsprechungskörpern mehrerer Gerichte. Im Sinne des hier gewählten Systematisierungsansatzes liegen Ausgleichsverfahren zwischen Rechtsprechungsorganen derselben Instanz vor. Versucht man hingegen die Entscheidungszuständigkeit des Gemeinsamen Senats gemäß § 2 Abs. 1, 2. Alt.; Abs. 2, 2. Alt. RsprEinhG entsprechend der in der Rechtslehre entwickelten Systematik einzuordnen, so führt dies zu erheblichen Schwierigkeiten, da weder der typische Fall eines Ausgleichsverfahrens zwischen Rechtsprechungskörpern eines Gerichts noch der eines solchen Verfahrens zwischen Rechtsprechungskörpern mehrerer Gerichte gegeben ist. Eine Lösung dieses Problems wird darin gesucht, daß es sich im Rahmen des § 2 Abs. 1,2. Alt.; Abs. 2, 2. Alt. RsprEinhG um Ausgleichsverfahren zwischen einem Rechtsprechungskörper eines Gerichts und einem Rechtsprechungskörper mehrerer Gerichte handele 79 . Diese Sichtweise gibt jedoch Anlaß zu Bedenken. Zum einen wird es dem Wesen des Gemeinsamen Senats und der Bindungswirkung seiner Entscheidungen für die obersten Gerichtshöfe des Bundes nur schwerlich gerecht, ihn als R&chtsprechungskörper und damit als Teil der obersten Gerichtshöfe anzusehen 8o . Zum anderen ist der Gemeinsame Senat aber auch nicht ein über den obersten Gerichtshöfen des Bundes stehendes, sie gleichsam überwölbendes, Rechtsprechungsorgan im Sinne einer "höheren

76 77 78 79 80

So Miebach, Der Gemeinsame Senat, S. 110ff. Beispielhaft dafür § 136 Abs. 1,2 GVG; § 11 Abs. 3 VwGO. Beispielhaft dafür § 121 Abs. 2, 2 Alt. GVG. Miebach, Der Gemeinsame Senat, S. 119, 12lf. Dies gilt um so mehr deshalb, weil Miebach ansonsten den Begriff des Rechtsprechungskörpers als Synonym für die verschiedenen Kammern bzw. Senate eines Gerichts im organisatorischen Sinne verwendet, ebd., S. 88, IlOff.

HI. Zuständigkeit und Verfahren des Gemeinsamen Senats

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Instanz"81. Vielmehr dürfte er als eine gleichrangige "Sonderinstanz" zum Ausgleich von Rechtsprechungsdivergenzen zu begreifen sein 82 . Im Sinne des hier gewählten Systematisierungsansatzes liegt daher in den Fällen des § 2 Abs. 1,2. Alt.; Abs. 2, 2. Alt. RsprEinhG ein Ausgleichsverfahren zwischen Rechtsprechungsorganen derselben Instanz vor83 . Bei den Ausgleichsverfahren vor dem Gemeinsamen Senat handelt es sich demnach stets um solche Verfahren zwischen Rechtsprechungsorganen derselben Instanz. Gerichtliche Ausgleichsverfahren lassen sich jedoch nicht nur "organisatorisch" in solche zwischen Rechtsprechungskörpern eines oder mehrerer Gerichte bzw. solche zwischen Rechtsprechungsorganen derselben oder verschiedener Instanzen unterteilen, sondern sie sind insbesondere auch einer "funktionalen" Systematisierung zugänglich.

In diesem Sinne können sie entweder die Beseitigung oder die Verhinderung sich widersprechender Entscheidungen zum Ziele haben 84 • Ausgleichsverfahren zur Beseitigung sich widersprechender Entscheidungen finden dabei deswegen statt, weil das entscheidende Gericht, das von der Entscheidung eines anderen Gerichts abgewichen ist, ein Rechtsmittel zugelassen hat und dieses von einer Partei eingelegt wurde 85 oder weil die Einlegung eines Rechtsmittels auch ohne besondere Gestattung des abweichenden Gerichts zulässig war und durch eine Partei erfolgte 86 . Bei den vor dem Gemeinsamen Senat stattfinden-

81 Achterberg, in: BK, Art. 95 Rdnr. 324; a. A. Behn, Zur Praxis der Anrufung des "Gemein-

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samen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes" zur Wahrung der Rechtseinheit, dargestellt am Beispiel der Divergenzen zu den Fragen des verspäteten Widerspruchs, Die Rentenversicherung 1980, 145 (146). Achterberg, ebd.; nach Ansicht von Herzog, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz Kommentar, Art. 95 Rdnr. 19 ist der Gemeinsame Senat sogar "Bundesorgan"; entgegen der Auffassung Miebachs tendiert Herzog dahin, den Gemeinsamen Senat nicht nur als Rechtsprechungskörper, sondern als Bundesgericht anzusehen, dazu Herzog, ebd., Rdnr. 1: "Aussagen zum Kreis der verfassungsrechtlich zugelassenen Bundesgerichte auf der Ebene unterhalb der Verfassungsgerichtsbarkeit treffen Art. 95 I und Art. 96 I, H, IV, darüber hinaus in gewissem Sinne auch Art. 95 III und Art. 96 V." Durch den hier gewählten Systematisierungsansatz werden zudem terminologische Ungereimtheiten vermieden, die dann entstehen, wenn Begriffe wie "Rechtsprechungskörper" Verwendung finden, obwohl es sich dabei im funktionalen Sinne um Rechtsprechungsorgane, d. h. Gerichte, handelt. Achterberg, in: BK, Art. 95 Rdnr. 323; Miebach, Der Gemeinsame Senat, S. 110f.; steht das Funktionsverständnis gerichtlicher Ausgleichsverfahren zur Diskussion, so soll ein Hinweis auf den engen, inneren Zusammenhang zwischen Divergenzausgleichsverfahren und richterlicher Rechtsfortbildung nicht fehlen. Mit der Vorlageverpflichtung bei Feststellung einer Divergenz wird insoweit der Konflikt zwischen Rechtsfortbildung und Rechtsanwendungsgleichheit gelöst, siehe dazu näher Burmeister, Vorlagen an das Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 Abs. 3 GG, in: Landesverfassungsgerichtsbarkeit, Teilband 11, hrsg. v. eh. Starck und K. Stern, S. 399 (404f.); siehe ferner auch Baur, Der Gedanke der "Einheitlichkeit der Rechtsprechung" im geltenden Prozeßrecht, JZ 1953, 326ff. Beispielhaft dafür § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO. Beispielhaft dafür § 72 Abs. 2 Nr. 2 ArbGG.

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3. Kapitel: Funktionale und organisatorische Grundlagen

den Ausgleichsverfahren nach § 2 RsprEinhG handelt es sich stets um solche zur Verhinderung sich widersprechender Entscheidungen. Die Einschaltung des Gemeinsamen Senats erfolgt daher grundsätzlich "präventiv", um eine Beeinträchtigung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung zu vermeiden. b) Die Ausgestaltung des Ausgleichsverfahrens vor dem Gemeinsamen Senat nach dem RsprEinhG

Das Ausgleichsverfahren vor dem Gemeinsamen Senat ist vergleichbar mit dem vor den Großen- bzw. Vereinigten Großen Senaten als Inzidentverfahren über eine Rechtsfrage konzipiert (§ 15 Abs. 1 Satz 1 RsprEinhG). Der Gemeinsame Senat ist insbesondere keine Rechtsmittelinstanz. Dies wird schon daran deutlich, daß nur der erkennende Senat eines obersten Gerichtshofs und nicht etwa auch die Parteien des Rechtsstreits oder die sonst am Verfahren Beteiligten 87 zur Einleitung des Ausgleichsverfahrens befugt sind. Wird daher allein durch den Voriegungsbeschluß des erkennenden Senats das Verfahren nach § 11 Abs. 1 Satz 1 RsprEinhG eingeleitet, besitzt der Gemeinsame Senat demzufolge auch nicht selbst die Befugnis, zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung, Verfahren an sich zu ziehen (Evokationsrecht)811. Nach § 12 Abs. 1 Satz 1 RsprEinhG gibt der Vorsitzende des Gemeinsamen Senats89 den obersten Gerichtshöfen von dem Vorlegungsbeschluß Kenntnis. Diese werden dadurch verpflichtet, dem Gemeinsamen Senat mitzuteilen, ob, mit welchem Ergebnis und mit welcher Begründung sie die streitige Rechtsfrage bisher entschieden haben und welche damit zusammenhängenden Rechtsfragen zur Entscheidung anstehen (§ 12 Abs. 1 Satz 2 RsprEinhG). Darüber hinaus kann der Gemeinsame Senat auch einen obersten Gerichtshof ersuchen, seine Auffassung zu einer für die Entscheidung erheblichen Rechtsfrage darzulegen (§ 12 Abs. 2 Satz 2 RsprEinhG). Sinn und Zweck dieser Unterrichtungs- und Informationsmöglichkeit des Gemeinsamen Senats ist es, zur Wahrung der Rechtseinheit und Rechtssicherheit die streitige Rechtsfrage auf möglichst breiter Grundlage sachgerecht zu entscheiden. Eine Entscheidung der streitigen Rechtsfrage durch den Gemeinsamen Senat wird entbehrlich, wenn der Senat, von dessen Entscheidung abgewichen werden soll, seine Rechtsauffassung aufgibt (§ 14 RsprEinhG). Im Interesse der Rechtssicherheit wird dabei jedoch verlangt, daß der Senat seine Rechtsauffassung durch förmlichen Beschluß aufgibt. Zudem reicht es auch nicht aus,

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Als "Beteiligte" des Verfahrens kommen der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof, der Oberbundesanwalt beim Bundesverwaitungsgericht, der Bundesdisziplinaranwalt und der Bundeswehrdisziplinaranwalt in Betracht; zur Art und Weise ihrer Beteiligung siehe § 13 RsprEinhG. Schmidt-Räntsch, Zur Bildung des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes, DRiZ 1968, 325 (328). Zum Vorsitz im Gemeinsamen Senat siehe § 5 RsprEinhG.

IH. Zuständigkeit und Verfahren des Gemeinsamen Senats

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daß er an seiner früheren Entscheidung nicht mehr festhält, sondern er muß sich der Rechtsauffassung des vorlegenden Senats anschließen. Diese Regelung ist nur zu begrüßen, da jede andere Verfahrensweise eine Gefährdung der Rechtsprechungseinheit mit sich bringen würde 9O • Hält der Senat, von dessen Entscheidung abgewichen werden soll, an dieser fest, so entscheidet der Gemeinsame Senat regelmäßig aufgrund mündlicher Verhandlung - mit Einverständnis der Beteiligten auch ohne eine solche - die Rechtsfrage 91 • Für das Ergebnis seiner Entscheidung der Rechtsfrage ist die Mehrheit der Stimmen seiner Mitglieder ausschlaggebend. Entsprechend der Regelung für die Großen bzw. Vereinigten Großen Senate ist die Entscheidung des Gemeinsamen Senats in der vorliegenden Sache für den erkennenden Senat bindend (§ 16 RsprEinhG)92. Da sie auf die Prozeßparteien keine direkten Auswirkungen hat, ist sie für diese auch nicht unmittelbar mit der Verfassungsbeschwerde angreifbar93 . Als Konsequenz des Umstandes, daß das Ausgleichsverfahren vor dem Gemeinsamen Senat vornehmlich der Wahrung der Rechtsprechungseinheit und nicht in erster Linie dem Interesse der Parteien dient, werden Gerichtskosten nicht erhoben (§ 17 Abs. 1 RsprEinhG)94. c) Das Ausgleichsverfahren vor dem Gemeinsamen Senat im Lichte des Prozeßrechts

Eine Untersuchung, die den Charakter und die Funktion des Ausgleichsverfahrens vor dem Gemeinsamen Senat vollständig und zutreffend erfassen will, darf sich nicht mit einer Integration desselben in eine Systematik gerichtlicher Ausgleichsverfahren sowie einer Darstellung der konkreten Verfahrensausgestaltung begnügen. Vielmehr gilt es, der oftmals übersehenen verfahrensrechtlichen Tragweite und der häufig verkannten prozessualen Funktion des Ausgleichsverfahrens vor dem Gemeinsamen Senat besondere Beachtung zu schenken95 . Stellt man sich dieser Aufgabe, so führt das Verfassungsrecht auf

Zu den Gefahren von "Vereinbarungen" über das Vorliegen einer Divergenz, etwa in dem Sinne "der Senat halte zwar an seiner Auffassung fest, sehe sich aber mit ihr nicht im Widerspruch zu der beabsichtigten Entscheidung des anfragenden Senats", siehe Hanack, Ausgleich divergierender Entscheidungen, S. 305f. 91 § 15 Abs. 1 RsprEinhG. 92 Zu mittelbaren Bindungswirkungen der Entscheidung des Gemeinsamen Senats siehe § 18 RsprEinhG; zur Berufungs- oder Revisionszulassung wegen Abweichung von einer Entscheidung des Gemeinsamen Senats siehe auch Behn, Internationalprivatrechtliche Vorfragen in der sozialgerichtlichen Praxis, VSSR Bd. 7 (1979), 315 (337ff.). 93 Achterberg, in: BK, Art. 95 Rdnr. 334. 94 Schmidt-Räntsch, Zur Bildung des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes, DRiZ 1968, 325 (329). 95 Die verfahrensrechtliche Tragweite und die prozessuale Funktion des Ausgleichsverfahrens vor dem Gemeinsamen Senat wird z. B. von Miebach, Der Gemeinsame Senat, 1971, nicht hinreichend berücksichtigt; siehe dazu auch Maetzel, Buchbesprechung zu Miebach, Der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes, Berlin 1971, DVBI. 1972, 90

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3. Kapitel: Funktionale und organisatorische Grundlagen

prozeßrechtliche Postulate, die für jedes gerichtliche Ausgleichsverfahren, in besonderem Maße jedoch für das vor dem Gemeinsamen Senat, Bedeutung besitzen. In erster Linie verlangt das Verfassungsrecht insoweit eine tatbestandlich abgrenzbare Bestimmung der Voraussetzungen, unter denen hinsichtlich der streitigen Rechtsfrage ein Zuständigkeitsübergang auf den Gemeinsamen Senat stattzufinden hat 96 . Diese als Ausfluß des Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 3 GG) und des grund gesetzlich garantierten Anspruchs auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG)97 anzusehende Forderung gewährleistet, daß sowohl für die mit der streitigen Rechtsfrage befaßten Richter als auch für die übrigen Prozeßbeteiligten voraussehbar ist, wann der anhängige Rechtsstreit in ein "Zwischenverfahren" übergehen muß. Mit der im § 2 Abs. 1, 2 RsprEinhG enthaltenen Verpflichtung, bei Feststellung einer "Divergenz" bzw. "Rechtsprechungsabweichung"98 an den Gemeinsamen Senat vorzulegen, ist diesem verfassungsrechtlich geprägten, prozessualen Gebot entsprochen worden. Daß § 2 Abs. 1,2 RsprEinhG von einer Vorlagepflicht und nicht etwa nur einer "Vorlagemöglichkeit"99 ausgeht, wird auch dem im Grundgesetz vorgezeichneten Bild des Richters und der Stellung der Rechtsprechung in der Funktionenordnung gerecht!oo. Das Grundgesetz sieht nämlich in der Verantwortlichkeit des Richters für die von ihm zu treffenden Entscheidungen das Korrelat seiner richterlichen Unabhängigkeit. Außerdem soll der Richter nicht selbst darüber entscheiden können, ob er in einem bestimmten Fall zur Rechtsanwendung verpflichtet ist. Allein das Gesetz vermag die Grenzen zu ziehen, innerhalb derer der Richter zur Entscheidung der Rechts- oder Tatfrage berechtigt, aber auch verpflichtet ist. In der Bindung der Rechtsprechung an Gesetz und Recht nach Art. 20 Abs. 3 GG findet dies seinen Ausdruck. Eine weitere verfassungsrechtlich begründete, prozessuale Forderung ist darin zu sehen, daß der grundgesetzlich garantierte Anspruch auf den "gesetzlichen Richter" auch im Ausgleichsverfahren vor dem Gemeinsamen Senat gewährleistet wird. Mit den §§ 3, 4 RsprEinhG wird diesem Erfordernis Genüge 434; zutreffend insoweit die Hinweise dess., Prozessuale Fragen zum Verfahren vor dem "Großen Senat", MDR 1966, 453; ders., Bemerkungen zum Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe, MDR 1968, 797 (799f.). 96 So Maetzel, Bemerkungen zum Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe, MDR 1968, 797 (799). 97 Zu der Frage, ob es sich bei dem Anspruch auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) um ein "Grundrecht" oder ein "grundrechtsähnliches Recht" handelt, siehe unten 6. Kap., 11., 1. 98 Zu dem schwierigen Problem der Feststellung einer "Rechtsprechungsabweichung" siehe sogleich 4. Kap. 99 Lediglich eine Vorlagemöglichkeit besteht in den Fällen der sog. "Grundsatzvorlage", siehe etwa § 11 Abs. 4 VwGO. )00 So Maetzel, Bemerkungen zum Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe, MDR 1968, 797 (799).

IU. Zuständigkeit und Verfahren des Gemeinsamen Senats

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getan. Daß der Gemeinsame Senat dabei nicht mit einer bestimmten Zahl von Mitgliedern besetzt ist, kann als unbedenklich gelten, da seine konkrete Besetzung im Einzelfall jedenfalls nicht auf einem voluntativen Akt beruht. Die Zahl seiner Mitglieder ergibt sich vielmehr aufgrund allgemeiner, an objektiven Kriterien ausgerichteter Regeln 101. Neben der Sicherung des "gesetzlichen Richters" muß im Ausgleichsverfahren vor dem Gemeinsamen Senat auch der Verfassungsgrundsatz des "rechtlichen Gehörs" (Art. 103 Abs. 1 GG) Beachtung finden lO2 • Gerade in den letzten Jahren ist die Rüge einer Verletzung dieses Grundsatzes vermehrt zum Gegenstand bundesverfassungsgerichtlicher Entscheidungen geworden 103. Den darin vom Bundesverfassungsgericht an die Gewährleistung des Grundsatzes "rechtlichen Gehörs" geknüpften Anforderungen wird nicht nur durch die grundsätzlich erfolgende mündliche Verhandlung Rechnung getragen, sondern auch dadurch, daß den Prozeßbeteiligten alle eingehenden Stellungnahmen und Äußerungen, z. B. anderer oberster Gerichtshöfe als der beteiligten, mitzuteilen sind (§ 12 Abs. 3 RsprEinhG). Auf diese Weise wird verhindert, daß Ausgleichsverfahren vor dem Gemeinsamen Senat, die zwar primär der Wahrung der Rechtsprechungseinheit dienen, ohne Berücksichtigung legitimer Interessen der Prozeßbeteiligten "auf deren Rücken"104 ausgetragen werden. Auch wenn gerichtliche Ausgleichsverfahren demnach vorrangig eine einheitliche

101 Die wechselnde, aber aufgrund der §§ 3, 4 RsprEinhG feststehende Zahl von Mitgliedern

des Gemeinsamen Senats ist dadurch bedingt, daß nur in dieser Weise eine sachgemäße, die Interessen der beteiligten Gerichtshöfe berücksichtigende Entscheidung getroffen werden kann. Dies gilt um so mehr als die Entscheidung des Gemeinsamen Senats für alle obersten Gerichtshöfe Maßgeblichkeit besitzt; zu den Anforderungen des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG im Bereich der Rechtsprechung siehe allgemein Kunig, in: v. Münch, Grundgesetz-Kommentar, Art. 101 Rdnr. 32ff., 36ff.; Maunz, in: Maunz I Dürig, Grundgesetz Kommentar, Art. 101 Rdnr. 42ff.; Schmidt-BleibtreuIKlein, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 101 Rdnr. 11. 102 Maetzel, Bemerkungen zum Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe, MDR 1968, 797 (800); Müller, Anhörung der Verfahrensbeteiligten bei Vorlage einer Rechtsfrage, NJW 1957, 1016f.; a. A. Dürig, in: MaunzlDürig, Grundgesetz Kommentar, Art. 103 Rdnr. 87, dessen Argument, bei Ausgleichsverfahren handele es sich um einen "gerichtsinternen Vorgang", nur schwerlich überzeugen dürfte, da die Entscheidung der streitigen Rechtsfrage für die Pro:zeßparteien oftmals von elementarer Bedeutung ist und sie deshalb nicht allein auf die Außerungsmöglichkeit im Ausgangsrechtsstreit verwiesen werden sollten; die Auseinandersetzung darüber, ob den Prozeßparteien auch im Ausgleichsverfahren "rechtliches Gehör" zu gewähren ist, wird jedoch für Verfahren vor dem Gemeinsamen Senat durch § 15 Abs. 1 RsprEinhG erheblich entschärft. 103 Siehe nur BVerfGE 62, 216ff.; 249ff.; 320ff.; 334ff.; 347ff.; 392ff.; 63, 45ff.; 64, 135ff.; 203 ff.; 225 ff.; zu möglichen Ursachen dieser Entwicklung siehe Feuchthafen, Der Verfassungsgrundsatz des rechtlichen Gehörs und seine Ausgestaltung im Verwaltungsverfahren, DVBI. 1984.170, insb. Fn. 5; siehe ferner auch Kopp, Das rechtliche Gehör in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR Bd. 106 (1981), 604ff.; Lerche, Zum "Anspruch aufrechtliches Gehör", ZZP Bd. 78 (1965), 1ff.; Rüping, in: BK, Art. 103 Abs. 1 Rdnr. 1 ff. 104 Maetzel, Bemerkungen zum Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe, MDR 1968, 797 (800).

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3. Kapitel: Funktionale und organisatorische Grundlagen

Rechtsprechung gewährleisten sollen, entbindet dieser Umstand nicht von der Beachtung des Verfassungsgrundsatzes "rechtlichen Gehörs". Wie jedes gerichtliche Verfahren müssen die Ausgleichsverfahren vor dem Gemeinsamen Senat schließlich auch dem "Gebot der Effektivität des gerichtlichen Rechtsschutzes"105 entsprechen. Dieses aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) herzuleitende Gebot besagt, daß die gesetzlich den Gerichten zugewiesenen Aufgaben von diesen auch innerhalb eines angemessenen Zeitraums zu erfüllen sind. Daß Gerichtsverfahren von übermäßig langer Dauer die Effektivität des Rechtsschutzes beeinträchtigen, ist in der Rechtslehre anerkannt lO6 und vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bereits mehrfach festgestellt worden lO7 • Unterzieht man die Ausgleichsverfahren vor dem Gemeinsamen Senat einer dahingehenden Prüfung, so läßt sich feststellen, daß vom Zeitpunkt des Vorlagebeschlusses bis zur Entscheidung der Rechtsfrage im Durchschnitt etwa 13 Monate vergehen lO8 • Ob hierin für Ausgleichsverfahren eine übermäßig lange Verfahrensdauer zu sehen ist, kann nicht pauschalierend beantwortet werden. Einerseits gilt es zu berücksichtigen, daß Verfahren, die sich in der Revisionsinstanz befinden, grundsätzlich bereits mehrere Jahre anhängig sind und daher das Hinzutreten eines weiteren Jahres bis zur endgültigen Entscheidung eine zumindest nicht unerhebliche Verlängerung des Verfahrens darstellt. Andererseits sollte jedoch auch die Bedeutung der streitigen Rechtsfrage für die Wahrung der Rechtsprechungseinheit, aber 105 Zur Entwicklung dieses Gebots in der Rechtsprechung siehe BVerfGE 24,367 (401); 51,

150 (156); BVerfG, NJW 1980,1511; 1565f.; BGH, NJW 1979, 43ff.; aus der Rechtslehre siehe insbesondere Dütz, Rechtsstaatlicher Gerichtsschutz, S. 115 ff.; Finkeinburg, Das Gebot der Effektivität des Rechtsschutzes in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, in: Verwaltungsrecht zwischen Freiheit, Teilhabe und Bindung, Festgabe aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Bundesverwaltungsgerichts, hrsg. v. O. Bachof, L. Heigl, K. Redeker, München 1978, S. 169ff.; Lorenz, Der grundrechtliche Anspruch auf effektiven Rechtsschutz, AöR Bd. 105 (1980), 623ff.; Schumann, Bundesverfassungsgericht, Grundgesetz und Zivilprozeß, S. 25ff. m. w. N. 106 Kloepfer, Verfahrensdauer und Verfassungsrecht, JZ 1979, 209 (211 f.); Schumann, ebd., S.28. 107 EGMR, EuGRZ 1978, 406ff.; ferner Bleckmann, Europäische Kommission für Menschenrechte - Rechtsprechungsbericht 1979 Nr. 62-140, EuGRZ 1981,114 (117 Nr. 81); ders., Europäische Kommission für Menschenrechte - Rechtsprechungsbericht 1980 Nr. 38-147, EuGRZ 1982, 304 (309 Nr. 82-86); ders., Europäische Kommission für Menschenrechte - Rechtsprechungsbericht 1981 Nr. 1-84, EuGRZ 1982, 536 (549ff. Nr. 76-80). 108 Entscheidung des Gern. Senats, Datum des Vorlagebeschlusses (vorlegendes Gericht) GmS-OGB 1170 v. 15.3.1971,23. 1. 1970 (BGH) - GmS-OGB 3170 v. 19. 10. 1971, 13. 2. 1970 (BVerwG) - GmS-OGB 2/71 v. 6. 7. 1972,17.5.1971 (BGH) - GmS-OGB 1172 v. 6.2. 1973, 17. 1. 1972 (BFH) - GmS-OGB 2/73 v. 4. 6. 1974,22.6. 1973 (BSG) - GmSOGB 2/74 v. 6. 5. 1975,7.2. 1974 (BGH) - GmS-OGB 1175 v. 16. 3. 1976, 10. 12. 1974 (BSG)- GmS-OGB 2/75 v. 9.11. 1976,4.6.1975 (BFH)-GmS-OGB 1I78v. 30. 4.1979, 27.6.1978 (BSG)- GmS-OGB 1182 v. 25.11.1982,11. 2.1982 (BAG) - GmS-OGB 2/82 v. 27. 1. 1983,17.3. 1982 (BAG) - GmS-OGB 1183 v. 24.10.1983,20.1. 1983 (BSG)GmS-OGB 2/83 v. 17. 4. 1984, 28. 6. 1983 (BVerwG); GmS-OGB 1/85 v. 10. 4. 1986, 12. 3. 1985 (BSG).

III. Zuständigkeit und Verfahren des Gemeinsamen Senats

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auch für die Interessen der Prozeßparteien lO9 , im Auge behalten werden. Unter Abwägung dieser zwangsläufig miteinander kollidierenden öffentlichen wie privaten Interessen dürfte es gerechtfertigt erscheinen, den Zeitraum von 13 Monaten für die Durchführung eines Ausgleichsverfahrens vor dem Gemeinsamen Senat als noch sachgerecht und akzeptabel zu bezeichnen. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, daß die Verfahrensdauer gerade in den letzten Ausgleichsverfahren erheblich gesunken ist 110. Dennoch erscheint der in der Rechtslehre entwickelte Vorschlag begrüßenswert, zur weiteren Beschleunigung der Verfahren vor dem Gemeinsamen Senat eine schriftliche Beschlußfassung im Umlaufverfahren einzuführen 111. Durch diese Maßnahme würde ohne Beeinträchtigung der Gründlichkeit der Rechtsprüfung durch den Gemeinsamen Senat - das Gebot der "Effektivität des Rechtsschutzes" in noch stärkerem Maße Beachtung finden. Etwaige Reformansätze im Bereich des Rechtsprechungsdivergenzausgleichs ll2 unter den obersten Gerichtshöfen sollten diesen Gedanken daher durchaus aufgreifen. Festzuhalten bleibt damit, daß die Ausgleichsverfahren vor dem Gemeinsamen Senat in weiten Bereichen durch verfassungsrechtlich begründete, prozeßrechtliche Postulate geprägt werden. Ihnen soll auch in den nachfolgenden Kapiteln besondere Beachtung geschenkt werden. Dabei werden speziell die erheblichen Schwierigkeiten der Rechtspraxis im Umgang mit dem Begriff der "Rechtsprechungsabweichung" als "tatbestandlich abgrenzbarer Bestimmung der Voraussetzungen des Zuständigkeitsüberganges" einer genauen Analyse bedürfen. Sollten sich dabei unbewußte oder bewußte Mißachtungen der Vorlage pflicht bei Vorliegen einer Rechtsprechungsabweichung feststellen lassen, so würde dies insbesondere zu der Frage führen, inwieweit darin eine Verletzung des grundgesetzlich garantierten Anspruchs auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) zu sehen ist.

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Beispielhaft für die Bedeutung der Entscheidungen des Gemeinsamen Senats im Hinblick auf die Interessen der Prozeßparteien nur GmS-OGB 1/83 v. 24. 10. 1983, NJW 1984, 1027 f., wo die Entscheidung des Gemeinsamen Senats mittelbar über die Gewährung oder Versagung einer Hinterbliebenenrente nach § 42 AVG - sog. Geschiedenenrente entschied. Siehe dazu oben Fn. 108. Späth, Der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes, BB 1977, 153 (157); ebenso v. Mutius, Wechselwirkungen der Rechtsprechung der Obersten Gerichtshöfe des Bundes auf dem Gebiet des Sozialrechts, in: Entwicklung des Sozialrechts. Aufgabe der Rechtsprechung, Festgabe aus Anlaß des 100jährigen Bestehens der sozialgerichtlichen Rechtsprechung, hrsg. v. Deutschen Sozialrechtsverband e. V., Köln· Berlin . Bonn . München 1984, S. 651 (679). Zu der Notwendigkeit, aber auch zu den Schwierigkeiten einer Reform des Rechtsprechungsdivergenzausgleichs zwischen den obersten Gerichtshöfen des Bundes siehe insb. S. 162ff.

Viertes Kapitel

Die Begriffe der "Rechtsprechungsabweichung in einer Rechtsfrage" und der "Entscheidung" als Grundlagen des Ausgleichsverfahrens I. Die "Rechtsprechungsabweichung" in "einer Rechtsfrage" Mit den Begriffen der "Rechtsprechungsabweichung in einer Rechtsfrage" sind nahezu vollständig! die Voraussetzungen umschrieben, unter denen hinsichtlich der Entscheidungskompetenz ein Zuständigkeitsübergang auf den Gemeinsamen Senat stattzufinden hat. Im folgenden sollen die einzelnen Elemente dieser Anrufungsvoraussetzung des Gemeinsamen Senats näher analysiert werden. Dabei wird zuerst der Begriff der Rechtsprechungsabweichung zu klären sein. Sodann gilt es, die notwendige Abgrenzung zwischen Rechts- und Tatfragen zu treffen, da der Gemeinsame Senat nur erstere entscheiden soll. Schließlich ist auch noch das Merkmal der "Identität der Rechtsfrage" zu untersuchen, weil nur eine Rechtsprechungsabweichung in "derselben Rechtsfrage" eine Anrufung des Gemeinsamen Senats rechtfertigt. 1. Der Begriff der Rechtsprechungsabweichung

Im Rahmen gerichtlicher Ausgleichsverfahren zur Verhinderung sich widersprechender Entscheidungen ist der Begriff der Rechtsprechungsabweichung von wesentlicher Bedeutung, da er die Durchführung eines Ausgleichsverfahrens erforderlich macht. Anstelle des termini "Rechtsprechungsabweichung" ist in der Rechtslehre anfangs der Begriff der "Divergenz" verwendet worden 2 • Wortlaut und Bedeutung des § 2 Abs. 1 RsprEinhG legen es jedoch nahe, grundsätzlich am Begriff der Rechtsprechungsabweichung festzuhalten. Eine "Divergenz" bzw. "Rechtsprechungsabweichung" im Sinne des § 2 Abs. 1 RsprEinhG liegt nämlich dann vor, wenn ein Rechtsprechungsorgan eine Entscheidung trifft, bei der es in einer Rechtsfrage von der Entscheidung eines Rechtsprechungsorgans eines anderen obersten Gerichtshofs oder des Ge-

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Auf das Merkmal der Rechtsprechungsabweichung von einer "Entscheidung" eines anderen obersten Gerichtshofs oder des Gemeinsamen Senats wird noch ausführlich einzugehen sein, siehe dazu unten 4. Kap., H. So z. B. Baur, Der Gedanke der "Einheitlichkeit der Rechtsprechung" im geltenden Prozeßrecht, JZ 1953, 326f.; Hanack, Ausgleich divergierender Entscheidungen, S. 68; Holtkotten, in: BK, Art. 95 (Erstbearbeitung) H 2.

I. Rechtsprechungsabweichung in einer Rechtsfrage

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meinsamen Senats abweichen will. Aus dieser Definition wird deutlich, daß das Wesen des § 2 Abs. 1 RsprEinhG nicht allein durch eine Divergenz, was im Wortsinn das Auseinandergehen bzw. -streben von Meinungen bedeutet, erfaßt wird, sondern daß als entscheidendes Merkmal der Wille des Rechtsprechungsorgans hinzukommen muß, in seiner Entscheidung der Rechtsfrage von der des Rechtsprechungsorgans eines anderen obersten Gerichtshofs oder des Gemeinsamen Senats abzuweichen 3 • Mit dieser abstrakten Klärung des Begriffs der Rechtsprechungsabweichung ist jedoch noch nicht die weitere wichtige Frage beantwortet, wann im konkreten Einzelfall eine solche Rechtsprechungsabweichung vorliegt. Dafür bedarf es insbesondere der Entscheidung, ob lediglich unterschiedliche rationes decidendi oder auch unterschiedliche obiter dicta zur Annahme einer Rechtsprechungsabweichung führen. Dem soll an späterer Stelle4 noch ausführlich nachgegangen werden. 2. Rechtsfrage oder Tatfrage?

Mit der gerade auch für Ausgleichsverfahren nach § 2 Abs. 1 RsprEinhG bedeutsamen Abgrenzung zwischen einer Rechtsfrage und einer Tatfrage wird eines der umstrittensten Probleme des Prozeßrechts aufgegriffen. Um die Relevanz dieser Unterscheidung von Rechts- und Tatfrage zutreffend zu erfassen, soll- vor dem Versuch einer Begriffsabgrenzung - die Funktion der Trennung von Rechts- und Tatfrage sowohl in rechtstheoretischer als auch in rechtsdogmatischer Hinsicht analysiert werden. a) Die Funktion einer Trennung von Rechts- und Tatfrage in rechtstheoretischer und rechtsdogmatischer Hinsicht

Unter rechtstheoretischem Aspekt ist die Problematik des Verhältnisses von Rechts- und Tatfrage zugleich auch immer eine solche des Verhältnisses von Norm und Wirklichkeit oder Normativität und Faktizität. Insoweit kommt besonders der "Reinen Rechtslehre" Merkls und Kelsens das Verdienst zu, über die Trennung von sozialer Seins-Struktur und rechtlicher Sollens-Ordnung zur Präzisierung des äußerst schwierigen und umstrittenen Verhältnisses von Rechts- und Tatfrage beigetragen zu haben 5 . Wenn ihr dabei teilweise vorgeworfen wird, aufgrund ihres normativen Systemkonzepts der Rechtswirklichkeit bzw. der Faktizität des gesellschaftlichen Seins nicht gerecht zu werden 6 , so 3 4

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Ebenso Miebach, Der Gemeinsame Senat, S. 122 Fn. 564; in diesem Sinne auch BGH, NJW 1969, 237, der vom "Abweichungsfall" spricht. Siehe dazu unten 4. Kap., 11., 2. Krawietz, Recht als Regelsystem, S. 130. So Fechner, Ideologische Elemente in positivistischen Rechtsanschauungen, dargestellt an Hans Kelsens "Reiner Rechtslehre", in: Sein und Sollen im Erfahrungsbereich des Rechts, ARSP N. F. Nr. 6 (1970), Beiheft, 199 (208t.); Larenz. Methodenlehre, S. 69ff.

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4. Kapitel: Grundlagen des Ausgleichsverfahrens

liegt dem eine verengte Betrachtungsweise der "Reinen Rechtslehre" und ihrer Aussagen zugrunde. Die auf jeder Rechtserzeugungsstufe anzutreffende autonome Determinante7 macht nämlich deutlich, "daß Merkl und Kelsen das Recht gerade nicht als ein gegenüber dem Bereich des Seins hermetisch abgeschlossenes System normativer Rechtsakte verstehen, sondern die Strukturen des Rechts in ihrer Offenheit und notwendigen Interdependenz mit dem Seinsbereich sehen"8. Damit ist jedoch nicht etwa nur eine zu nutzende oder zu vernachlässigende Möglichkeit für die Integration metarechtlicher Postulate in die Rechtsanwendung eröffnet, sondern es sollte eine Verpflichtung angenommen werden, auf der Grundlage einer normativen Betrachtung des Rechts die Offenheit des Rechtssystems zum Bereich der Faktizität zu erkennen und damit bei der Rechtsanwendung die tatsächlich wirksamen Beziehungen zwischen dem rechtlichen Normengefüge und der sozialen Seins-Struktur zu berücksichtigen 9 • Erkennt man demnach den grundSätzlichen Zusammenhang von Normativität und Faktizität bei der Rechtsanwendung, so erhellt sich auch die rechtstheoretische Funktion einer Trennung von Rechts- und Tatfrage. Sie besteht darin, in juristischen Entscheidungsverfahren (z. B. Gerichtsverfahren) "eine wechselseitige Steuerung normativer und faktischer Entscheidungsprämissen" zu gewährleisten lO , wobei jedoch die notwendige Korrelierung von Rechts- und Tatfragen juristischer Dezision im Einzelfall vorbehalten bleibt 11 . Die Unterscheidung von Rechts- und Tatfrage ist jedoch nicht nur unter rechtstheoretischen Aspekten, sondern gerade auch aus rechtsdogmatischer Sicht von wesentlicher Bedeutung, da sie auf den unterschiedlichsten Ebenen das gesamte Prozeßrecht durchzieht. So spielt die Abgrenzung von Rechts- und Tatfrage bereits bei der Zulässigkeit einer Klage, speziell der Feststellungsklage nach § 256 Abs. 1 ZPO, bzw. auch nach § 43 Abs. 1 VwGO, eine gewichtige Rolle. Wenn nach diesen Vorschriften nur auf die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses geklagt werden kann, so bedeutet dies, daß Feststellungsklagen weder abstrakte Rechtsfragen noch bloße Tatsachenfeststellungen zum

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Zum Begriff der "autonomen Determinante" siehe oben 2. Kap., 11., 1. Behrend, Untersuchungen, S. 96. Dies geschieht beispielsweise durch die "Münstersche Schule der Rechtstheorie" , die sich auf der Grundlage eines sinnkritischen, normativen Rechtsrealismus um die rechts- und systemtheoretische Durchleuchtung der in einer Gesellschaft wirksamen rechtlichen Systemstrukturen bemüht, siehe zum Ganzen ausführlich Krawietz, Recht als Regelsystem, S. 132f., 153ff., 178f. Ebd., S. 41 Fn. 95; Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S. 71f. Krawietz, ebd.; ders., Zur Korrelation von Rechtsfrage und Tatfrage in der Rechtsanwendung. Strukturprobleme im Theoriedesign einer möglichen Rechtsprechungslehre, in: Rechtsprechungslehre. Internationales Symposium Münster 1984, hrsg. v. N. Achterberg, Köln· Berlin . Bonn . München 1986, S. 517ff.

I. Rechtsprechungsabweichung in einer Rechtsfrage

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Gegenstand haben können l2 . Auch der Verhandlungsgrundsatz des Prozeßrechts setzt die Unterscheidung von Rechts- und Tatfrage voraus, da der Richter letztere aufgrund des Parteivorbringens zu beurteilen hat, während er erstere unter Einsatz seiner eigenen Rechts- und Gesetzeskenntnis entscheidet 13 • Nach § 286 Abs. 1 ZPO sind ferner nur "tatsächliche Behauptungen" Gegenstand des Beweises, woraus eindeutig zu entnehmen ist, daß Rechtsfragen grundsätzlich 14 nicht des Beweises fähig und bedürftig sind. Die aus rechtsdogmatischer Sicht vielleicht wichtigste Bedeutung besitzt die Trennung von Rechts- und Tatfrage für die Möglichkeit der Prozeßparteien, ein Urteil mit dem Rechtsmittel der Revision anzugreifen. Nach § 549 Abs. 1 ZPO und ebenso nach § 337 Abs. 1 StPO kann die Revision nur darauf gestützt werden, daß eine Gesetzesverletzung gerügt wird. Gemäß § 550 ZPO liegt eine solche vor, wenn eine Rechtsnorm nicht oder nicht richtig angewendet worden ist. Bei dieser Prüfung ist das Revisionsgericht grundsätzlich durch die Feststellung des Berufungsgerichts, eine "tatsächliche Behauptung" sei wahr oder nicht wahr, gebunden. Es hat daher nur die Rechtsfrage und nicht die Tatfrage zu entscheiden l5 . Aus alledem wird ersichtlich, weIche wesentliche Bedeutung einer Abgrenzung von Rechts- und Tatfrage gerade aus rechtsdogmatischer Sicht zukommt. b) Die Problematik einer Abgrenzung von Rechts- und Tatfrage

Die Unterscheidung zwischen einer Rechtsfrage und einer Tatfrage gehört nicht nur zu den schwierigsten, sondern auch zu den in der Rechtslehre umstrittensten Problemen des Prozeßrechts und der juristischen Methodenlehre. Unternimmt man den Versuch einer Kategorisierung der in der Rechtslehre vertretenen Ansichten, so müssen zwei unterschiedliche Lösungsansätze auseinandergehalten werden. Es handelt sich dabei zum einen um die Anhänger der sog. "teleologischen Methode"16, zum anderen um die der sog. "begrifflichen Methode"17.

Scheuerle, Beiträge zum Problem der Trennung von Tat- und Rechtsfrage, AcP Bd. 157 (1958/1959), 1 (5). 13 Larenz, Methodenlehre, S. 294f. 14 Eine Ausnahme bildet § 293 ZPO. 15 Siehe dazu auch Scheuerle, Beiträge zum Problem der Trennung von Tat- und Rechtsfrage, AcP Bd. 157 (1958/1959), 1 (4). 16 In diesem Sinne z. B. Hanack, Ausgleich divergierender Entscheidungen, S. 141ff.; Kuchinke, Grenzen der Nachprüfbarkeit tatrichterlicher Würdigung und Feststellungen in der Revisionsinstanz, 1964; Miebach, Der Gemeinsame Senat, S. 129f.; Schwinge, Grundlagen, S. 53ff.; Wamser, Die Revisibilität unbestimmter Begriffe, S. 34ff.; ZällerlSchneider, Zivilprozeßordnung, § 550 Rdnr. 1. 17 So etwa Engisch, Logische Studien, S. 92ff.; Jesch, Unbestimmter Rechtsbegriff und Ermessen in rechtstheoretischer und verfassungsrechtlicher Sicht, AöR Bd. 82 (1957), 163 (201 f.); Larenz, Methodenlehre, S. 294; Mitsopoulos, Die Unterscheidung zwischen Tatfrage und Rechtsfrage im Kassationsverfahren, ZZP Bd. 81 (1968),251 (253ff., 267, 270);

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4. Kapitel: Grundlagen des Ausgleichsverfahrens

Die Vertreter der sog. "teleologischen Methode" gehen davon aus, daß eine überzeugende Abgrenzung von Rechts- und Tatfrage nur dann erzielt werden kann, wenn bei einem Unterscheidungsversuch der "Zweckgedanke der Trennung im jeweiligen Anwendungsgebiet"18 mitberücksichtigt wird. Ausgehend von der Funktion der Revisionsgerichte, Verhaltensmaßregeln für den Staatsbürger herauszuarbeiten und Richtlinien für die Untergerichte aufzustellen, sind für sie nur solche Fragen revisibel, die typische, rechtsgrundsätzliche Verstöße betreffen bzw. denen Richtliniencharakter innewohnt (Rechtsfragen). Als irrevisibel gelten danach diejenigen Fragen, die sich auf das konkrete Tatmaterial beziehen und keine über den Einzelfall hinausreichende Bedeutung besitzen (Tatfragen)19. Gegen eine solche Unterscheidung von Rechts- und Tatfrage bestehen jedoch schwerwiegende Bedenken. So erfassen die Vertreter der sog. "teleologischen Methode" bei ihrem Abgrenzungsversuch die Funktion der Revisionsgerichte nur unzureichend. Ohne Zweifel gehört es zur Hauptaufgabe dieser Gerichte, mit ihren Entscheidungen das Streben nach Rechtseinheit zu fördern und bereits erzielte Rechtseinheit zu bewahren, aber ebenso obliegt ihnen im Interesse der Prozeßparteien als "Rechtsuchende" auch die Pflicht, materielle Entscheidungsrichtigkeit zu gewährleisten. Wenn daher offensichtliche materielle Mängel einer Vorentscheidung nur deswegen nicht korrigiert werden könnten, weil ihre Behebung ohne Bedeutung für die Rechtseinheit wäre oder ihnen kein Richtliniencharakter zukommen würde, so müßte dies zwangsläufig dazu führen, eine bedeutende Aufgabe der Revisionsgerichte - wenn auch nicht die wichtigste - zu vernachlässigen. Zudem kann die mit der Revision bezweckte Gewährleistung einer einheitlichen Rechtsprechung auch ohne die Vernachlässigung materieller Entscheidungsrichtigkeit erzielt werden, indem die revisionsgerichtliche Rechtsprechung die richtige Konkretisierung und Anwendung eines jeden unbestimmten Begriffs ständig kontrolliert20 . Eine Beschränkung der rechtlichen Überprüfbarkeit im Sinne der "teleologischen Methode" würde ferner aber auch wohl kaum mit der Ausgestaltung der Revision als Parteirechtsmittel zu vereinbaren sein 21 . Nierwetberg, Die Unterscheidung von Tatfrage und Rechtsfrage, JZ 1983, 237 (240); ähnlich Henke, Die Tatfrage, S. 138ff.; ders., Rechtsfrage oder Tatfrage - eine Frage ohne Antwort?, ZZP Bd. 81 (1968), 196 (217ff.); Sonderfälle bilden Gottwald, Die Revisionsinstanz als Tatsacheninstanz, 1975; Scheuerle, Beiträge zum Problem der Trennung von Tatund Rechtsfrage, AcP Bd. 157 (1958/1959),1 ff.; Schlüchter, Mittlerfunktion der Präjudizien, S. 41. 18 Hanack, Ausgleich divergierender Entscheidungen, S. 143. 19 In diesem Sinne grundlegend Schwinge, Grundlagen, S. 49; im Anschluß an Schwinge ebenso Hanack, ebd., S. 141; Miebach, Der Gemeinsame Senat, S. 130; Wamser, Die Revisibilität unbestimmter Begriffe, S. 43. 20 Mitsopoulos, Die Unterscheidung zwischen Tat- und Rechtsfrage im Kassationsverfahren, ZZP Bd. 81 (1968), 251 (257). 21 Gottwald, Die Revisionsinstanz als Tatsacheninstanz, S. 177.

I. Rechtsprechungsabweichung in einer Rechtsfrage

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Auch die Fortentwicklung und Überarbeitung der "teleologischen Methode" durch Kuchinke vermag die soeben erhobenen Bedenken nicht zu entkräften. Auf der Grundlage der "teleologischen Methode" glaubt er im Hinblick auf die "besonderen Aufgaben der Revisionsinstanz" verschiedene Elemente aus der Summe der richterlichen Feststellungen als irrevisibel bezeichnen zu können 22 . Die Abgrenzung der revisiblen von den nichtrevisiblen Schlußfolgerungen habe dabei nach der "Relevanz der Entscheidung"23 zu erfolgen. Die von ihm entwickelten Richtlinien zur Feststellung der Relevanz bzw. Irrelevanz einer Entscheidung sind jedoch derart unbestimmt und mehrdeutig ("Förderung der Begriffsbildung"24, "Typizität eines Sachverhalts"25, "Prägnanzbereich eines Begriffs"26, "Irrationalität einer Bewertung"27), daß eine sichere Abgrenzung zwischen Rechts- und Tatfrage offenbleibt28 . Aufgrund der Vernachlässigung materiell-rechtlicher und methodischer Grundfragen wird daher ein teleologischer Ansatz den Anforderungen an eine hinreichend präzise und sichere Unterscheidung von Rechts- und Tatfrage nicht gerecht. Das Augenmerk ist somit darauf gerichtet, ob dies die "begriffliche Methode" zu leisten vermag. Ihre Vertreter sehen dabei grundsätzlich die Frage, "was tatsächlich geschehen ist"29 bzw. die Feststellung, "ob es wirklich so war"30 als Tatfrage an, während die Einordnung des Geschehens gemäß den Kriterien der Rechtsordnung3 ! als Rechtsfrage bezeichnet wird. Nierwetberg konkretisiert den Begriff der Tatfrage sogar noch dahingehend, daß es bei diesem nicht um einen Vergleich von Begriffen gehe, sondern allein darum, "zu konstatieren, ob der im ,Sachverhalt als Aussage' verwendete Begriff durch die fragliche Situation, also durch den ,Sachverhalt als Geschehen', ,erfüllt' ist oder nicht,m. Der in einem konkreten Rechtsstreit in Frage stehende Begriff muß demnach zu einer unmittelbaren Konfrontation mit der ,Faktizität' geeignet sein, um als Tatfrage angesehen werden zu können 33 . Letzteres zeigt besonders deutlich die enge Verbindung zwischen der Abgrenzung von Rechts- und Tatfrage einerseits und dem allgemeinen erkenntnistheoretischen Problem der

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Kuchinke, Grenzen der Nachprüfbarkeit, S. 117. Ebd., S. 119f. Ebd., S. 132. Ebd., S. 129, 133. Ebd., S. 133. Ebd., S. 138. Ebenso Gottwald, Die Revisionsinstanz als Tatsacheninstanz, S. 178f.; Henke, Die Tatfrage, S. 53. 29 Larenz, Methodenlehre, S. 294. 30 Nierwetberg, Die Unterscheidung von Tatfrage und Rechtsfrage, JZ 1983, 237 (240). 3! Larenz, Methodenlehre, S. 294. 32 Nierwetberg, Die Unterscheidung von Tatfrage und Rechtsfrage, JZ 1983,237 (240). 33 Ebd.

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4. Kapitel: Grundlagen des Ausgleichsverfahrens

Unterscheidung von Sein und Sollen bzw. Seins- und Sollensurteil andererseits34 • Insoweit hat die "Reine Rechtslehre" Kelsens mit ihrer grundsätzlichen Trennung von Normativität und Faktizität zumindest für die Vertreter der "begrifflichen Methode" einer Abgrenzung von Rechts- und Tatfrage einen Weg gewiesen, der seine Wurzeln überdies bereits im griechischen Denken findet 35 . Hinsichtlich der von den Vertretern der "begrifflichen Methode" vorgenommeneIl Abgrenzung zwischen einer Rechts- und Tatfrage als Unterscheidung der Feststellung des tatsächlichen Geschehens (Tatfrage ) und der Einordnung desselben gemäß den Kriterien der Rechtsordnung (Rechtsfrage) ist in der Rechtslehre Widerspruch erhoben worden. Er bezieht sich im wesentlichen darauf, daß zwischen Rechts- und Tatfrage eine wechselseitige Beeinflussung stattfinde36 • So seien bei der Feststellung des Sachverhaltes auch rechtliche Gesichtspunkte von Bedeutung37 • Außerdem erscheine eine begriffliche Abgrenzung schon deshalb als höchst zweifelhaft38 , weil jedes Erfassen eines Sachverhalts durch Sprache eine Subsumtion unter Begriffe erfordere, die als Rechtsbegriffe interpretierbar seien und Wertungen enthielten 39 • Bevor diesen Bedenken gegenüber der "begrifflichen Methode" Rechnung getragen werden soll, ist einem von Schwinge erhobenen Einwand entgegenzutreten, wonach schließlich nicht jede Rechtsfrage Revisibilität besitze, da es auch "individuelle" Rechtsfragen gebe, denen keine "grundsätzliche" Bedeutung zukomme 4O • Sein Einwand vermag den Abgrenzungsversuch zwischen Rechts- und Tatfrage auf der Grundlage der "begrifflichen Methode" nicht zu entkräften, da er sich mit ihm argumentativ überhaupt nicht auseinandersetzt. Vielmehr versucht Schwinge lediglich im Gewande einer Kritik an der "begrifflichen Methode" seine dahingehende Abgrenzung, ob es sich um eine Frage des

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Mitsopoulos, Die Unterscheidung zwischen Tat- und Rechtsfrage im Kassationsverfahren, ZZP Bd. 81 (1968), 251 (270). Siehe dazu Aristoteles, Rhetorik, Buch I, 1. Kapitel, 1354" 6: "Überdies ist es offenkundig, daß der Prozessierende nichts anderes zu tun hat, als zu zeigen, daß der zur Verhandlung stehende Sachverhalt existiert bzw. nicht existiert oder geschehen bzw. nicht geschehen ist; ob er aber groß oder klein, gerecht oder ungerecht ist, das muß doch, sofern es der Gesetzgeber nicht klar festgelegt hat, der Richter selbst erkennen und nicht von den streitenden Parteien lernen." Schwinge, Grundlagen, S. 52. Ebd., Wamser, Die Revisibilität unbestimmter Begriffe, S. 39. Siehe demgegenüber Nierwetberg, Die Unterscheidung von Tatfrage und Rechtsfrage, JZ 1983, 237: " ... darf sich eine als Wissenschaft auftretende Rechtsdogmatik nicht mit dem ,Resultat' zufriedengeben, daß grundlegende Rechtsfragen nur kasuistisch oder doch allenfalls ,teleologisch', keinesfalls aber ,begrifflich' geklärt werden könnten. Vom Standpunkt einer rechtswissenschaftlichen Dogmatik gilt vielmehr der Satz, daß Phänomene, die ,begrifflich' nicht geklärt werden, überhaupt nicht geklärt sind, denn wissenschaftliche Klärung ist - auch bei der Wahl eines teleologischen Ansatzes - ohne die Verwendung einer einigermaßen präzisen Begrifflichkeit ausgeschlossen." Zöllner/Schneider, Zivilprozeßordnung, § 550 Rdnr. 1 m. w. N. Schwinge, Grundlagen, S. 53.

1. Rechtsprechungsabweichung in einer Rechtsfrage

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Einzelfalls oder um eine solche von grundsätzlicher Bedeutung handele, - allerdings ohne jede Begründung - als einzig richtige und überzeugende Unterscheidung darzustellen. Kann damit zu den fundierteren Bedenken in der Rechtslehre zurückgekehrt werden, so ist dem Einwand, eine begriffliche Abgrenzung zwischen Rechtsund Tatfrage sei bereits deshalb zweifelhaft, weil das Erfassen eines Sachverhalts durch Sprache eine Subsumtion unter Rechtsbegriffe bedeute, entgegenzuhalten, daß die Sprache keineswegs nur "Rechtsbegriffe" , sondern auch "Sachverhaltsbegriffe" kennt. Zwischen ihnen läßt sich zwar eine Synonymität, nicht aber eine völlige Inhaltsgleichheit feststellen, so daß dem System der Rechtsbegriffe durchaus ein solches der natürlichen Begriffe oder Sachverhaltsbegriffe gegenübergestellt werden kann41 • Auch Schwinges Hinweis, daß rechtliche Gesichtspunkte bei der Feststellung des Sachverhalts stets von Bedeutung seien, steht einer begrifflichen Abgrenzung von Rechts- und Tatfrage nicht entgegen. Seine Beurteilung der Rechtsgewinnung durch den Richter ist zwar insoweit zutreffend als dieser, um möglichst effektiv und rationell zu arbeiten, von vornherein den Prozeßstoff ordnet, wobei er unwichtige Fakten eliminiert und die rechtlich relevanten Gesichtspunkte stets auf den sich herausschälenden Sachverhalt bezieht. Aus dieser praktischen Vorgehensweise, die bereits die Prozeßökonomie empfiehlt, darf jedoch nicht auf die begriffliche Untrennbarkeit von Tatsachenfeststellungen und rechtlicher Einordnung des Geschehens geschlossen werden 42 • Die gegen den Versuch einer begrifflichen Abgrenzung von Rechts- und Tatfrage gerichteten Einwände vermögen daher insgesamt nicht zu überzeugen. Konnte damit festgestellt werden, daß die "teleologische Methode" einer Trennung von Rechts- und Tatfrage den Bedürfnissen der Rechtspraxis (mangelnde Bestimmtheit) und den Interessen der Prozeßparteien (Vernachlässigung der materiellen Entscheidungsrichtigkeit) nur schwerlich gerecht wird, die "begriffliche Methode" hingegen diese Anforderungen eher erfüllt, so soll dennoch keineswegs geleugnet werden, daß auch sie in einigen Grenzfällen Unterscheidungsschwierigkeiten nicht vollends zu verhindern vermag43 • Anstatt deshalb aber den im Prinzip zutreffenden Ansatz einer begrifflichen Abgrenzung von Rechts- und Tatfrage zugunsten der "teleologischen Methode" aufzugeben, sollte vielmehr die Möglichkeit zur Fortentwicklung der "begrifflichen Methode" in den problematischen Grenzfällen genutzt werden.

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Henke, Rechtsfrage oder Tatfrage - eine Frage ohne Antwort?, ZZP Bd. 81 (1968), 196 (213f.). Ebd., 196 (211). Siehe dazu auch Larenz, Methodenlehre, S. 296 mit dem Beispiel des "ruhestörenden Lärms".

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4. Kapitel: Grundlagen des Ausgleichsverfahrens

Zur Unterscheidung von Rechts- und Tatfrage ist daher die "begriffliche Methode" zu wählen. Als Tatfrage gilt die "Feststellung des tatsächlichen Geschehens", während die "Einordnung dieses Geschehens gemäß den Kriterien der Rechtsordnung" als Rechtsfrage zu bezeichnen ist. 3. Identität der Rechtsfrage

Zu der ohnehin bereits äußerst schwierigen Abgrenzung von Rechts- und Tatfrage tritt im Ausgleichsverfahren vor dem Gemeinsamen Senat noch eine weitere Schwierigkeit hinzu. Gemäß § 2 Abs. 1 RsprEinhG liegt eine zur Vorlage an den Gemeinsamen Senat verpflichtende Rechtsprechungsabweichung nämlich nur dann vor, wenn ein oberster Gerichtshof in "einer" bzw. "derselben" Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen obersten Gerichtshofs abweichen will. Die Bestimmung des Begriffs "derselben Rechtsfrage", die für den Ausgleich von Rechtsprechungsdivergenzen zwischen den obersten Gerichtshöfen des Bundes44 von wesentlicher Bedeutung ist, rückt damit in den Mittelpunkt der Betrachtung45. Als in der Rechtsprechung und Rechtslehre unbestritten gilt, daß "eine" Rechtsfrage jedenfalls dann vorliegt, wenn zwei oberste Gerichtshöfe des Bundes aus derselben Norm desselben Gesetzes unterschiedliche Antworten auf die gestellte Rechtsfrage herleiten. Im Streit befindet sich jedoch, ob eine Identität der Rechtsfrage auch dann anzunehmen ist, wenn die unterschiedlich beantwortete Frage in zwei verschiedenen Normen desselben Gesetzes oder gar in zwei verschiedenen Gesetzen niedergelegt ist 46 . Während das Bundesverwaltungsgericht 47 insoweit der bereits früher vom Reichsgericht 48 vertretenen Ansicht folgt, daß in diesen Fällen eine Identität der Rechtsfrage nicht angenommen werden könne und damit auch keine Vorlageverpflichtung entstehe, hat sich der Bundesgerichtshof in seiner grundlegenden Entscheidung vom 30. 3. 1953 der gegenteiligen Auffassung angeschlossen, wonach eine Vorlageverpflichtung nicht nur bei unterschiedlicher Auslegung derselben Gesetzesbestimmung besteht, sondern auch dann, wenn der gleiche Rechtsgrundsatz, mag er auch in mehreren Gesetzesbestimmungen seinen Niederschlag gefunden ha44

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Die Bestimmung des Begriffs "derselben Rechtsfrage" ist jedoch auch für die Ausgleichsverfahren innerhalb eines obersten Gerichtshofs von Bedeutung, z. B. Vorlagepflicht an den Großen Senat des Bundesverwaltungsgerichts nach § 11 Abs. 3 VwGO. Das Verdienst, richtungsweisende Untersuchungen zur Bestimmung des Begriffs "derselben Rechtsfrage" vorgenommen zu haben, kommt dabei insb. Hanack zu, Hanack, Ausgleich divergierender Entscheidungen, S. 151 ff.; die Untersuchung von Miebach, Der Gemeinsame Senat, S. 129 ff., basiert weitgehend auf den Überlegungen Hanacks zur Bestimmung der Identität der Rechtsfrage. Durch eine umständliche und unübersichtliche Systematik verkompliziert sie jedoch die überzeugende und zugleich instruktive Analyse Hanacks. Siehe dazu ausführlich Hanack, ebd., S. 152ff. BVerwG, NJW 1960, 979f.; BVerwGE 30, 225 (231). RGZ 45, 23 (27f.); 64, 10 (11 f.); 68, 309 (310); 130, 106ff.

I. Rechtsprechungsabweichung in einer Rechtsfrage

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ben, von zwei Rechtsprechungsorganen unterschiedlich aufgefaßt und gehandhabt wird 49 • Daß die vom Bundesgerichtshof vertretene Auffassung den Vorzug verdient, ergibt sich aus dem die gesamte Rechtsordnung durchziehenden Gedanken der Rechtseinheit 50 . Weder Rechtsnorm noch Gesetz sind danach einer isolierten Betrachtungsweise zugänglich, sondern sie müssen stets in engem Zusammenhang mit der Gesamtrechtsordnung gesehen werden, um die vielfältigen Verbindungslinien zwischen den einzelnen Normen und Gesetzen zu erkennen. Ein Rechtsgedanke kann daher durchaus in verschiedenen Bestimmungen Eingang finden 51 • Vermag demzufolge eine Identität der Rechtsfrage auch dann vorzuliegen, wenn die von zwei Rechtsprechungsorganen divergierend beantwortete Frage sich auf verschiedene Normen desselben Gesetzes oder gar verschiedener Gesetze bezieht, so bereitet in der Rechtspraxis die konkrete Feststellung, ob eine solche Identität wirklich gegeben ist, erhebliche Schwierigkeiten. Eine präzise Feststellung "derselben Rechtsfrage", die zugleich dem Grundsatz staatlicher Rechtseinheit in ausreichendem Maße Rechnung trägt, muß auf den Regelungsgehalt der betreffenden Vorschriften zurückgreifen. Ergibt die Auslegung der verglichenen Normen oder Gesetze, daß in ihnen derselbe Rechtsgedanke oder Rechtsgrundsatz enthalten ist, so liegt eine Identität der Rechtsfrage vor. Daraus wird bereits ersichtlich, daß die konkrete Feststellung, ob wirklich "eine" Rechtsfrage gegeben ist, weitgehend eine Sache des Einzelfalls bleibt. Sie zwingt den Richter zu einem sorgfältigen Vergleich der betreffenden gesetzlichen Regelungen und zu einer exakten Würdigung ihrer Auslegung in früheren Entscheidungen anderer Rechtsprechungsorgane 52 • Exemplarisch zeigt sich damit auch an dieser Stelle die Richtigkeit der bereits näher erläuterten Auffassung, die Präjudizienvermutung und die mit ihr einhergehende "präsumtive Verbindlichkeit" richterlicher Entscheidungen als "Prinzip unseres positiven Rechts" anzusehen 53 . In direktem Zusammenhang mit der soeben erörterten Problematik, ob eine Identität der Rechtsfrage auch dann anzunehmen ist, wenn die divergierend beantwortete Frage sich auf verschiedene Normen desselben Gesetzes oder gar auf verschiedene Gesetze bezieht, steht die Frage nach der Bedeutung von Gesetzesänderungen für die Bestimmung "derselben Rechtsfrage". Der Begriff

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BGHZ 9, 179 (181). Hanack, Ausgleich divergierender Entscheidungen, S. 154; zur Bedeutung des Gedankens der Rechtseinheit siehe auch oben S. 18ff.; ferner Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rdnr. 18. Hanack, ebd., S. 155; Schlüchter, Mittlerfunktion der Präjudizien, S. 42. Ebd., S. 157f., der zur Verdeutlichung der Schwierigkeiten bei der Feststellung, ob "eine" Rechtsfrage vorliegt, eine sorgfältige und instruktive Einzelfallanalyse zahlreicher höchstrichterlicher Entscheidungen vornimmt (S. 158ff.). Siehe dazu bereits ausführlich oben 2. Kap., III., 1.

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4. Kapitel: Grundlagen des Ausgleichsverfahrens

der Gesetzesänderung soll dabei nicht nur Gesetzesnovellen, sondern in einem weiteren Sinne auch die Aufhebung von Normen und die Auswechselung ganzer Normenkomplexe umfassen. So stellt sich in der Rechtspraxis das sehr schwierige Problem, ob "dieselbe Rechtsfrage" überhaupt vorliegen kann, wenn sich ein Rechtsprechungsorgan in seiner Entscheidung mit einer Rechtsauffassung auseinandersetzt, die ein anderes Gericht zu einer später allerdings aufgehobenen Gesetzesbestimmung vertreten hat. Während das Reichsgericht auf der Grundlage eines stark formalisierten Standpunktes eine Identität von Rechtsfragen zu "geltendem" Recht und solchen zu "altem" Recht schlichtweg verneinte, ist diese Auffassung in der neueren Rechtslehre einer differenzierten Betrachtungsweise gewichen 54 . Danach kommt es nicht entscheidend auf den formalen Akt der Aufhebung oder Veränderung einer Gesetzesbestimmung an, sondern allein darauf, ob mit der formalen Gesetzesänderung auch eine inhaltliche, d. h. materiell-rechtliche, einhergeht. Ist dies nicht der Fall, so daß der Regelungsgehalt der betreffenden Norm unberührt bleibt, besteht daher auch durchaus die Möglichkeit einer Identität der Rechtsfragen. Diese Sichtweise trägt insbesondere dem Umstand Rechnung, daß nicht jede Gesetzesänderung notwendigerweise die in einzelnen Normen enthaltenen Rechtsgedanken inhaltlich berühren muß. In diesem Sinne bewirken rein formale Korrekturen gesetzestechnischer Art, wie z. B. eine neue Paragraphierung, noch keine inhaltliche Änderung55 • Demnach bleibt daher auch bei Gesetzesänderungen grundSätzlich Raum für die Annahme einer Identität der Rechtsfragen 56 • Stets bedarf es dazu jedoch einer genauen Prüfung des Einzelfalls und seiner maßgeblichen Umstände. Schwierigkeiten bei der Feststellung "derselben Rechtsfrage" ergeben sich jedoch nicht nur hinsichtlich der Beurteilung verschiedener Gesetzesbestimmungen. Stand insoweit bisher hauptsächlich das "richterliche Entscheidungsergebnis" im Mittelpunkt der Untersuchung, so stellt sich daneben die weitere Frage, ob und inwieweit gegebenenfalls eine Identität der Rechtsfragen bereits im "richterlichen Entscheidungsprozeß" von Bedeutung ist. Dem "richterlichen Entscheidungs- bzw. Rechtsgewinnungsprozeß" sollen dabei alle auf die Erzielung eines Entscheidungsergebnisses gerichteten Überlegungen (z. B. logischer, hermeneutischer57 oder argumentationstheoretischer Art) angehöHanack, Ausgleich divergierender Entscheidungen, S. 165 ff.; Miebach, Der Gemeinsame Senat, S. 145 ff. 55 Hanack, ebd., S. 167f., der sich dort auch mit dem Problem beschäftigt, inwieweit "Neukodifikationen" Auswirkungen auf die Annahme einer Identität der Rechtsfragen haben können (S. 169ff.). 56 Ebenso BGHZ 19, 355 (356f.). 57 Zum Einfluß der Hermeneutik auf die richterliche Rechtsgewinnung siehe z. B. Achterberg, Rechtsprechungslehre - Desiderat der Wissenschaft, in: ders., Theorie und Dogmatik des Öffentlichen Rechts, Ausgewählte Abhandlungen 196(}..1980, Berlin 1980, S. 178 (181). 54

I. Rechtsprechungsabweichung in einer Rechtsfrage

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ren 58 . In der Rechtslehre sind diese gedanklichen Erkenntnisse des Richters bei der Rechtsgewinnung vereinzelt als "allgemeine Zwischensätze" bezeichnet worden 59 • Eine solche Bezeichnung ist jedoch zu sehr einem zivilrechtlichen Subsumtionsideal verhaftet, das bei bestimmten Denkvorgängen zur Lösung verfassungsrechtlicher Probleme mangels entsprechenden "Obersatzes" versagt60 • Um daher die richterliche Rechtsgewinnung nicht etwa auf rein logische Argumentationsschritte zu verkürzen und auf diese Weise andere Bestimmungsfaktoren bei der Entscheidungsfindung unberücksichtigt zu lassen, erscheint es sinnvoller von den "dem Entscheidungsergebnis vorangehenden und in den Urteilsgründen niedergelegten Erkenntnissen des Richters" zu sprechen. Geht man davon aus, daß in diesen zum Entscheidungsergebnis führenden und im Urteil auch niedergelegten Gedanken identische Rechtsfragen auftreten können61 , so ist damit noch nicht die Frage beantwortet, inwieweit, d. h. in welchem Umfang, das Vorliegen "derselben Rechtsfrage" zur Einleitung eines Ausgleichsverfahrens zwingt. So ist es durchaus möglich, daß identische Rechtsfragen sowohl in "tragenden Entscheidungsgründen"62 als auch in beiläufigen - gelegentlich sogar für das Entscheidungsergebnis entbehrlichen - Erläuterungen 63 auftreten. Das dadurch aufgeworfene Problem, in welchem Umfang "dieselbe Rechtsfrage" für die Durchführung eines Ausgleichsverfahrens von Bedeutung ist, stellt sich jedoch nicht mehr als ein solches dar, das die "Identität der Rechtsfragen" betrifft. Vielmehr geht es dabei bereits um die nachfolgend zu behandelnde Relevanz der einzelnen Entscheidungsbestandteile für den Ausgleich von Rechtsprechungsabweichungen. 11. "Entscheidung" und "Entscheidungsbestandteile" Für die Einleitung eines Ausgleichsverfahrens vor dem Gemeinsamen Senat sind neben dem Erfordernis der "Rechtsprechungsabweichung in einer Rechtsfrage" die Begriffe der "Entscheidung" und der "Entscheidungsbestandteile" von wesentlicher Bedeutung. Eine zur Vorlage an den Gemeinsamen Senat

Daß diese dem Entscheidungsergebnis gedanklich vorangehenden Überlegungen des Richters selbst wiederum als "Entscheidungsergebnisse im weiteren Sinne" gedeutet werden könnten, soll damit nicht bezweifelt werden. 59 Hanack, Ausgleich divergierender Entscheidungen, S. 105ff., 173ff. 60 Siehe dazu Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 52. 61 In diesem Sinne auch Hanack, Ausgleich divergierender Entscheidungen, S. 173f. 62 Zur Bedeutung der "tragenden Entscheidungsgründe" siehe S. 107ff. 63 Zur Bedeutung dieser - auch als "obiter dicta" bezeichneten - Entscheidungsgründe siehe ebd. 58

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4. Kapitel: Grundlagen des Ausgleichsverfahrens

verpflichtende Rechtsprechungsabweichung liegt nämlich nur dann vor, wenn ein oberster Gerichtshof in einer "Entscheidung" von der "Entscheidung" eines anderen obersten Gerichtshofs64 abweichen will. Deshalb bedarf es einer Klärung der Frage, wann eine Entscheidung eines obersten Gerichtshofs vorliegt und welche Bedeutung den einzelnen Entscheidungsbestandteilen für die Annahme einer Rechtsprechungsabweichung zukommt. Am Ende dieser Untersuchung soll anstelle der bisher abstrakt gehaltenen Definition 65 eine eindeutige und in der gerichtlichen Praxis anwendungssichere Konkretisierung des Begriffs der Rechtsprechungsabweichung stehen. 1. Die Mehrdeutigkeit des EntscheidungsbegrifTs

Der Begriff der Entscheidung ist seit jeher Untersuchungsgegenstand der verschiedensten Wissenschaftsdisziplinen. Dies gilt für die Mathematik in gleichem Maße wie für die Philosophie und Soziologie. In der Rechtswissenschaft existiert mit der Entscheidungstheorie seit geraumer Zeit eine eigenständige Spezialdisziplin66 . Neuerdings ist mit der von Achterberg begründeten Rechtsprechungslehre eine weitere Wissenschaftsdisziplin im Entstehen begriffen, die sich zum Ziel gesetzt hat - ohne Verkürzung auf die Rechtsdogmatik - das metajuristische Umfeld richterlichen Entscheidungsverhaltens auszuleuchtenY Im Bereich der Rechtsdogmatik wird der juristische Begriff der Entscheidung üblicherweise vom Prozeßrecht geprägt. In diesem Zusammenhang ist auch seine Verwendung in § 2 Abs. 1 RsprEinhG zu sehen, wobei allerdings darauf hinzuweisen ist, daß die im folgenden vorzunehmende notwendige Kon-

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Zum Erfordernis des Abweichens in und von einer Entscheidung eines obersten Gerichtshofs als Voraussetzung einer zur Vorlage an den Gemeinsamen Senat zwingenden Rechtsprechungsabweichung siehe Hanack, Ausgleich divergierender Entscheidungen, S. 205. Siehe dazu oben 4. Kap., 1., 1. Zum Begriff der Entscheidung aus der Sicht der Entscheidungstheorie siehe insb. Kilian, Juristische Entscheidung, S. 11 f., 109 ff.; Schlink, Inwieweit sind juristische Entscheidungen mit entscheidungstheoretischen Modellen theoretisch zu erfassen und praktisch zu bewältigen?, in: Rechtstheorie als Grundlagenwissenschaft der Rechtswissenschaft, hrsg. v. H. Albert, N. Luhmann, W. Maihofer, O. Weinberger, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Band II, Düsseldorf 1972, 322 ff.; ders., Probleme und Ansätze einer Entscheidungstheorie der richterlichen Innovation, in: Rechtlicher Wandel durch richterliche Entscheidung, hrsg. v. J. Harenburg, A. Podlech, B. Schlink, Darmstadt 1980, 13ff.; Wälde, Entscheidungstheoretische Perspektiven für die Rechtsanwendung, Rechtstheorie 6 (1975),205 ff., vgl. ferner auch Luhmann, Funktionale Methode und juristische Entscheidung, AöR Bd. 94 (1969), 1 ff.; zum Begriff der Entscheidung siehe neuerdings auch Krebs, Kontrolle, S. 27ff. Der Grundstein zur Begründung einer Rechtsprechungslehre findet sich bei Achterberg, Rechtsprechungslehre - Desiderat der Wissenschaft, in: ders., Theorie und Dogmatik des Öffentlichen Rechts, Ausgewählte Abhandlungen 1960-1980, Berlin 1980, S. 178ff.; siehe nunmehr aber auch ders. (Hrsg.), Internationales Symposium "Rechtsprechungslehre" Münster 1984, 1986.

11. Entscheidung und Entscheidungsbestandteile

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kretisierung68 des rechtsdogmatisch mehrdeutigen Begriffs der Entscheidung69 auf die im Rahmen der Rechtsprechungslehre gewonnenen rechtstheoretischen Erkenntnisse nicht verzichten kann. a) Die Entscheidung im engeren Sinne

Bei dem Versuch, den Begriff der juristischen Entscheidung eindeutig und abgrenzungssicher zu bestimmen, wird sehr schnell seine rechtsdogmatische Mehrdeutigkeit ersichtlich. So kennt das Prozeßrecht den Begriff mit durchaus unterschiedlichen Inhalten und Bedeutungen. Wird beispielsweise der bei Gericht anhängige Rechtsstreit im Einzelfall durch Urteil oder Beschluß beendet, so spricht das Gesetz von einer Entscheidung (§ 160 Abs. 3 Nr. 6 ZPO). Auch die in der Urteilsformel enthaltene Rechtsfeststellung gilt als Entscheidung im Rechtssinne. Davon zu trennen ist jedoch wiederum die Rechtsfeststellung, die unter Berücksichtigung und Einbeziehung der Urteilsgründe als Entscheidung über den Streitgegenstand in Rechtskraft erwächst (vgl. z. B. § 121 VwGO)1°. Vor dem Hintergrund dieser Bedeutungsvielfalt des Entscheidungsbegriffs stellt sich nunmehr die Frage, welcher Inhalt ihm im Rahmen des § 2 Abs. 1 RsprEinhG zukommt. Dazu bedarf es eines Rückgriffs auf den Sinn und Zweck des Gesetzes zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes. Die Intention des Gesetzgebers bei Erlaß dieses Gesetzes ging primär dahin, in einer Rechtsfrage unterschiedliche Rechtsauffassungen zwischen den obersten Gerichtshöfen des Bundes zu verhindern. Zu diesem Zweck sollte ein Gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe einen Ausgleich der divergierenden Rechtsansichten herbeiführen und die anstehende Rechtsfrage für das vorlegende Gericht verbindlich beantworten. Legt man der Auslegung des in § 2 Abs. 1 RsprEinhG enthaltenen Entscheidungsbegriffs diesen teleologischen Gehalt zugrunde, so dürfte mit der Entscheidung die als Antwort auf eine gestellte Rechtsfrage erscheinende Rechtsauffassung eines obersten Gerichtshofs gemeint sein. Nach Ansicht von Maetzel läßt sich diese Definition des Begriffs der Entscheidung im Sinne des

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Im Gegensatz zu der von Miebach, Der Gemeinsame Senat, S. 153ff., 155 Fn. 676, geäußerten Auffassung ist die Frage, wann eine Entscheidung vorliegt, abschließend und eingehend zu behandeln. Daß es sich dabei um eine Frage handelt, die alle Ausgleichsverfahren betrifft, entbindet nicht von der Notwendigkeit einer sorgfältigen Analyse.

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Auf die Mehrdeutigkeit des Begriffs der Entscheidung weist zutreffend Maetzel hin, Maetzel, Buchbesprechung zu Miebach, Der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes, Berlin 1971, DVBI. 1972,434.

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Ein praktisches Beispiel dazu findet sich bei Maetzel, ebd.: Bei einem Aufhebungsurteil nach § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO erwächst die Feststellung der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes und der darauf beruhenden Rechtsbeeinträchtigung des Klägers in Rechtskraft.

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4. Kapitel: Grundlagen des Ausgleichsverfahrens

RsprEinhG veranschaulichen, wenn man davon ausgeht, "daß ein bestimmter auf den »Fall« zugeschnittener Rechtssatz so formuliert wurde, daß die Antwort nur noch »ja« oder »Nein« lauten kann". In der Bejahung oder Verneinung liege dann die Antwort auf die gestellte Rechtsfrage und zugleich die sie betreffende Entscheidung. Um eine Abweichung handele es sich daher, wenn ein Rechtsprechungsorgan »ja« sagen wolle, wo ein anderes »nein« gesagt habe oder umgekehrt7 1• Wenngleich diese Darstellung auch die Problematik, den Entscheidungsbegriff im Sinne des RsprEinhG festzulegen, ein wenig vereinfacht, so wird sie doch im wesentlichen den hinter dem Gesetz zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung stehenden Grundgedanken gerecht. Versteht man daher unter einer Entscheidung im Sinne des RsprEinhG die als Antwort auf eine gestellte Rechtsfrage erscheinende Rechtsauffassung eines obersten Gerichtshofs, so gilt es zu erkennen, daß diese niemals isoliert oder kontextlos erfolgt, sondern sie sich vielmehr regelmäßig in einem den Rechtsstreit beendenden Urteil oder Beschluß findet. Da in der herkömmlichen rechtsdogmatischen Terminologie auch Urteile und Beschlüsse als Entscheidungen bezeichnet werden 72 , soll im folgenden zur Kennzeichnung derjenigen im Sinne des RsprEinhG von "Entscheidungen im engeren Sinne" gesprochen werden. Der Kreis der - im einzelnen sogleich noch näher zu bestimmenden - Entschließungen eines obersten Rechtsprechungsorgans, die Entscheidungen im engeren Sinne enthalten (bspw. Urteile und Beschlüsse), wird demgegenüber "Entscheidungen im weiteren Sinne" genannt werden. b) Die Entscheidung im weiteren Sinne und ihre Bestandteile

Das Spektrum der Entschließungen eines obersten Rechtsprechungsorgans, die Entscheidungen im engeren Sinne enthalten können, ist theoretisch äußerst weitreichend. Durch den Wortlaut des § 2 Abs. 1 RsprEinhG erfährt es in der Praxis jedoch bereits insoweit eine wesentliche Einschränkung als nur Entscheidungen eines obersten Gerichtshofs zur Vorlage an den Gemeinsamen Senat zwingen können. Aus diesem Grunde scheiden Verfügungen des Vorsitzenden oder des Berichterstatters eines Senats aus dem Kreis der Entscheidungen im weiteren Sinne aus, es sei denn, daß sie die verbindliche Meinung des Rechtsprechungsorgans wiedergeben und damit dem Gerichtshof als solchen zugerechnet werden können. Dasselbe gilt auch für gutachterliche Stellungnahmen eines obersten Gerichtshofs, bei denen allgemein ein Bedürfnis nach Di-

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Ebd. Siehe dazu oben S. 105.

11. Entscheidung und Entscheidungsbestandteile

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vergenzausgleich abgelehnt wird73 . Als die wohl wichtigsten und in der gerichtlichen Praxis bedeutendsten Entscheidungen im weiteren Sinne sind Urteile und Beschlüsse74 eines obersten Rechtsprechungsorgans anzusehen. Damit soll nicht in Abrede gestellt werden, daß auch Verfügungen der oben genannten Art zum Kreis der Entscheidungen im weiteren Sinne zählen, jedoch werden sie in der Bedeutung für den Ausgleich von Rechtsprechungsabweichungen zwischen den obersten Gerichtshöfen des Bundes von den Urteilen und Beschlüssen eindeutig verdrängt. Wenn deshalb die Untersuchung der Bestandteile einer Entscheidung im weiteren Sinne auch hauptsächlich auf Urteile und Beschlüsse bezogen wird, so entspringt dies lediglich der praktischen Relevanz dieser Entschließungsformen für die Rechtsprechung. Eine Übertragung der Gedanken auf Verfügungen im obigen Sinne ist damit keineswegs ausgeschlossen. Bei der Frage, welche Bestandteile sich in den von Rechtsprechungsorganen getroffenen Entscheidungen im weiteren Sinne (Urteile, Beschlüsse) finden, trennt die Rechtslehre, falls sie dieses im deutschen Schrifttum eher vernachlässigte Problem75 überhaupt thematisiert, in der Regel zwischen den sogenannten ration es decidendi und den obiter dicta 76 . Zur Begriffserklärung und -präzisierung werden daher auch häufig Anleihen im anglo-amerikanischen Rechtskreis vorgenommen, wo die Trennung der rationes decidendi und der obiter dicta in der Tat eine gewichtige Rolle spielt. Sie bildet dort eine zentrale Frage des Präjudizienrechts ("case law") und hat demzufolge auch zu einem kaum noch überschaub aren Schrifttum geführt77 • Hanack, Ausgleich divergierender Entscheidungen, S. 205f.; Miebach, Der Gemeinsame Senat, S. 153f. 74 Bei den Beschlüssen handelt es sich insb. um solche, bei denen der Beschluß die einzig mögliche Entscheidung des Rechtsstreits bildet bzw. um solche mit verfahrensabschließendem Charakter; zu weiteren Beispielen für diese Beschlußformen siehe insb. Miebach, ebd., S. 154 Fn. 673 und 674. 75 Eine positive Ausnahme bildet insoweit die eingehende Behandlung des Problems bei Schlüter, Obiter dictum, S. 77ff.; vgl. aber auch noch Ebsen, Das Bundesverfassungsgericht als Element gesellschaftlicher Sclbstregulierung, S. 102ff.; Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, S. 253ff. 76 Siehe dazu Fikentscher, Methoden des Rechts, Band 11, S. 86ff.; Hanack, Ausgleich divergierender Entscheidungen, S. 243 ff.; Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 282ff.; Miebach, Der Gemeinsame Senat, S. 157ff.; bisweilen werden jedoch nicht nur rationes decidendi und obiter dicta unterschieden, sondern als weiterer Bestandteil einer Entscheidung wird auch noch die Gruppe der "nicht tragenden Gründe" genannt, so z. B. Miebach, Der Gemeinsame Senat, S. 161; zu dieser Unterscheidung siehe auch Achterberg, in: BK, Art. 95 Rdnr. 291, der mit Recht darauf hinweist, daß es sich bei der Gruppe der "nicht tragenden Gründe" in Wirklichkeit um rationes decidendi handelt und daher kein Anlaß besteht, von der üblichen Zweiteilung abzuweichen; andere wiederum unterscheiden neben notwendigen und entbehrlichen Entscheidungsgründen noch "nützliche" Rechtsausführungen, so bspw. Köbl, Obiter dicta - Ansätze einer Rechtfertigung, JZ 1976, 752f., die für ihre Auffassung allerdings jede Begründung vermissen läßt. 77 Ausführliche Nachweise zur Problembehandlung im anglo-amerikanischen und im angelsächsischen Schrifttum finden sich bei Fikentscher, ebd., S. 86ff., insb. S. 90 Fn. 206; Kriele, ebd., S. 284f.; Schlüchter, Mittlerfunktion der Präjudizien, S. 83ff.; Schlüter, Obiter dictum, S. 80 Fn. 14. 73

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4. Kapitel: Grundlagen des Ausgleichsverfahrens

Vor einer bedingungslosen Übertragung der im anglo-amerikanischen und im angelsächsischen Rechtskreis gewonnenen Erkenntnisse auf die deutsche Rechtsdogmatik ist jedoch mit gutem Grund zu warnen. Wenngleich die in diesen Rechtskreisen erzielten Forschungsergebnisse auch wichtige Hinweise für die der Trennung von ratio decidendi und obiter dictum in der deutschen Rechtsdogmatik zukommenden Aufgaben zu geben vermögen, so gilt es doch zu erkennen, daß diesen Begriffen im anglo-amerikanischen und im angelsächsischen Rechtskreis eine grundlegend andere Funktion erwächst. Dort dienen sie primär dazu, die Grenzen der Präjudizienbindung des den konkreten Rechtsstreit entscheidenden Richters zu bestimmen 78. Demgegenüber kennt die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland zwar eine präsumtive Verbindlichkeit des Präjudizes im Sinne einer Argumentationslast des Richters, der von einer Vorentscheidung in derselben Rechtsfrage abweichen wiIF9, aber keine rechtliche Bindung des Richters an das Präjudiz. Dieser Unterschied zum anglo-amerikanischen bzw. angelsächsischen Rechtskreis steht einer vorbehaltlosen Übertragung der dort gewonnenen Erkenntnisse auf die deutsche Rechtsdogmatik entgegen. Diejenigen Untersuchungen in der deutschen Rechtslehre, die eine solche vorbehaltlose Übertragung der Erkenntnisse vermeiden, aber dennoch eine Begriffsbestimmung der rationes decidendi und der obiter dicta versuchen, unterlassen hingegen in der Regel eine notwendige Reflexion darüber, ob diesen Begriffen im jeweiligen Sinnzusammenhang vielleicht eine unterschiedliche und wenn ja welche Bedeutung zukommt. Eine Ausnahme hiervon bildet die Studie Schlüters, dem das Verdienst gebührt, die unterschiedliche Bedeutung der Begriffe ratio decidendi und obiter dictum im jeweiligen Sinnzusammenhang herausgearbeitet zu haben 80 • Unter Betonung der erheblichen Schwierigkeiten, die der Rechtslehre mit der Konkretisierung dieser sehr unscharfen Begriffe aufgegeben sind, unterscheidet er im wesentlichen zwei Bedeutungsebenen, auf denen die Begriffe ratio decidendi und obiter dictum verschiedene Inhalte entfalten und deshalb nicht miteinander vertauscht werden dürfen. Zum einen werde zur Gewährleistung eines rational nachprüfbaren Begründungszusammenhangs von Rechtsprechungsentscheidungen im weiteren Sinne eine Trennung zwischen den rechtlich notwendigen Rechtsausführungen und den entbehrlichen vorgenommen 81 ; zum anderen gelte es für die Vorlageverpflich-

Schlüter, ebd., S. 81ff. Siehe dazu oben 2. Kap., 111., 1. 80 Schlüter, Obiter dictum, S. 77ff.; ihm zustimmend Wolf, Buchbesprechung zu Schlüter, Das Obiter dictum, München 1973, Der Staat 1975, 437 (438). 81 Zur Bedeutung von ratio decidendi und obiter dictum in diesem Zusammenhang näher Schlüter, ebd., S. 105 ff., der den syllogistischen Dreischritt (Obersatz, Untersatz, Schlußsatz) als unentbehrliches Mittel für die Begründung richterlicher Entscheidungen ansieht.

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11. Entscheidung und Entscheidungsbestandteile

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tung im Rahmen gerichtlicher Ausgleichsverfahren tragende und nicht tragende Entscheidungsgründe auseinanderzuhalten 82 . Da sich die vorliegende Untersuchung eine Analyse des Ausgleichs von Rechtsprechungsabweichungen zwischen den obersten Gerichtshöfen des Bundes zum Ziel gesetzt hat, gilt ihr Augenmerk der Bedeutung von ratio decidendi und obiter dictum für gerichtliche Ausgleichsverfahren. Greift man dabei die von Schlüter gewählte Differenzierung auf, so lassen sich als tragende Gründe (rationes decidendi) diejenigen Rechtsansichten bezeichnen, mit denen das Rechtsprechungsorgan die Entscheidung des konkreten Rechtsstreits erkennbar absichern und untermauern wollte. Zu den nicht tragenden Gründen (obiter dicta) zählen dann die richterlichen Entscheidungsaussagen, von denen sich das Rechtsprechungsorgan bei der Lösung des konkreten Rechtsstreits erkennbar nicht hat leiten lassen, die es vielmehr ohne jeden Fallbezug in seine Entscheidungsgründe aufnahm 83 • Diese auf gerichtliche Ausgleichsverfahren bezogene Auslegung der Begriffe ratio decidendi und obiter dictum findet jedoch in der Rechtslehre nicht ungeteilte Zustimmung. Bisweilen werden die termini nämlich in dem Sinne verwendet, daß sie auch im Ausgleichsverfahren nur die rechtlich notwendigen bzw. entbehrlichen Ausführungen eines Rechtsprechungsorgans umfassen. Ganz im Sinne der "conditio sine qua non-Formel" strafrechtlicher Provenienz liegt danach ein tragender Entscheidungsgrund nur dann vor, wenn der Wegfall der Rechtsansicht nicht vorgestellt werden könnte, ohne daß das Entscheidungsergebnis entfiele84 • Vor dem Hintergrund der richterlichen Aufgabe als fall bezogener Entscheidung eines konkreten Rechtsstreits vermag diese Auffassung allerdings nicht zu überzeugen. Deutlich wird dies etwa am Beispiel der Hilfsbegründung im Urteil: Das Gericht hält einen Anspruch des Klägers aus § 823 Abs. 1 BGB mangels rechtswidrigen Handeins des Beklagten für nicht gegeben. Um dem Kläger das Risiko der Rechtsmitteleinlegung vor Augen zu führen, trifft es zusätzlich die Aussage, daß den Beklagten außerdem aus tatsächlichen Gründen kein Verschulden treffe. Obwohl nur das erste Argument zur Begründung des Ent-

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Ebd., S. 42,78. Ebd.; mißverständlich und der Wirklichkeit in der Rechtspraxis geradezu diametral entgegenstehend die Definition der obiter dicta bei SteinlJonaslGrunsky, Kommentar zur Zivilprozeßordnung, Bd. 11, § 546, VI 2 b), wo obiter dicta als die Ausführungen eines Bundesgerichtshofs bezeichnet werden, mit denen dieser erkennbar die Praxis nicht beeinflussen wollte (I). In diesem Sinne ausdrücklich Miebach, Der Gemeinsame Senat, S. 164, dem jedoch insoweit gedankliche Inkonsequenz vorgehalten werden muß, als er letztlich auch solche "gedanklichen Bindeglieder (oder Entscheidungsbestandteile ), die zur Einzelfall- oder Rechtsfrageentscheidung beitragen" zu den rationes decidendi zählt, siehe auch insb. S. 165 Fn. 733; vgl. ferner auch Geiger, Die Grenzen der Bindung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen (§ 31 Abs. 1 BVerfGG), NJW 1954. 1057 (1060).

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4. Kapitel: Grundlagen des Ausgleichsverfahrens

scheidungsergebnisses logisch notwendig ist, trägt auch die Hilfsbegründung zur endgültigen Beilegung des Rechtsstreits bei. Auch sie entspringt der dem Richter vom Grundgesetz gestellten Aufgabe und erfolgt fallbezogen. Daher dürfte nichts entgegenstehen, die nachrangige Begründung des Gerichts ebenfalls als tragenden Entscheidungsgrund anzusehen. Daß der Rekurs auf die Notwendigkeit des Entscheidungsgrundes als wesentliches Merkmal einer ratio decidendi versagt, zeigt ferner folgende Überlegung: Wenn der Richter seine zusprechende Entscheidung auf eine Rechtsansicht stützt, obwohl aus dem Sachverhalt ersichtlich wird, daß das Ergebnis auch durch andere Anspruchsgrundlagen gerechtfertigt wäre, so war die gewählte Anspruchsgrundlage nicht unbedingt logisch notwendig, da das Entscheidungsergebnis ebenfalls über eine der anderen Anspruchsgrundlagen zu erzielen gewesen wäre. Die Notwendigkeitsformel vermag daher solche Fälle nicht zu lösen, in denen mehr als eine Anspruchsgrundlage zur Begründung des Entscheidungsergebnisses in Betracht kommt 85 • Ohne an dieser Stelle weitere Beispiele für die Schwächen der Notwendigkeitsformel anführen zu können s6 , dürfte doch deutlich geworden sein, daß nicht unbedingt notwendige Rechtsansichten durchaus eine Entscheidung tragen können, während andererseits nicht jeder notwendige Entscheidungsgrund als tragend bezeichnet werden kann S?

Im Rahmen gerichtlicher Ausgleichsverfahren sollte deshalb dar an festgehalten werden, diejenigen Rechtsansichten als tragende Gründe zu bezeichnen, mit denen das Rechtsprechungsorgan die Entscheidung des konkreten Rechtsstreits erkennbar absichern und untermauern wollte. Nicht tragende Gründe sind die richterlichen Entscheidungsaussagen, von denen sich das Gericht bei der Schlichtung des konkreten Rechtsstreits erkennbar nicht hat leiten lassen, die es vielmehr ohne jeden Fallbezug in seine Entscheidungsgründe aufgenommen hat. Mit der Bestimmung der tragenden und nicht tragenden Gründe einer Entscheidung im weiteren Sinne ist jedoch für das Problem der Vorlagepflicht an den Gemeinsamen Senat bei Rechtsprechungsabweichung in derselben Rechtsfrage erst die vorletzte Frage beantwortet. Es bleibt noch zu klären, welche Bedeutung den einzelnen Entscheidungsbestandteilen für das Vorliegen einer Rechtsprechungsabweichung zukommt, d. h. ob lediglich Divergenzen in ration es decidendi oder auch solche in obiter dicta ein Ausgleichsverfahren vor dem Gemeinsamen Senat erzwingen.

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86 S?

Schräder, Der tragende Rechtsgrund einer Entscheidung. Zur Abgrenzung von ratio decidendi und obiter dictum, MDR 1960, 809f.; in diesem Sinne auch Schlüter, Obiter dictum, S. 78f. Siehe dazu Schräder, ebd., 810ff. Ebenso Schlüter, Obiter dictum, S. 78, der ausdrücklich die Argumentation Schräders unterstützt.

11. Entscheidung und Entscheidungsbestandteile

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2. Die Bedeutung der Bestandteile einer Entscheidung im weiteren Sinne für das Vorliegen einer Rechtsprechungsabweichung

Rechtsprechungsabweichungen können nach der soeben getroffenen Unterscheidung sowohl in rationes decidendi als auch in obiter dicta auftreten. Die Frage, ob Rechtsprechungsabweichungen in nicht tragenden Gründen ein Ausgleichsverfahren erzwingen, wird vom überwiegenden Teil der Rechtsprechung88 und Rechtslehre 89 verneint. Demgegenüber wird im Schrifttum aber auch die Ansicht vertreten, daß sämtliche Divergenzen in den Entscheidungsgründen eines Urteils oder Beschlusses -losgelöst von ihrer Zugehörigkeit zu tragenden oder nicht tragenden Gründen - die Durchführung eines Ausgleichsverfahrens verlangen 90 . Unabhängig von der grundsätzlichen Einschätzung des Wertes nicht tragender Gründe 91 , bedarf es daher der Beantwortung dieser Streitfrage. Die wohl als Mindermeinung im Schrifttum zu bezeichnende Ansicht, nach der sämtliche Rechtsprechungsabweichungen - solche in tragenden wie in nicht tragenden Gründen - zum Ausgleich zu bringen sind, kann für sich beanspruchen, zumindest vom theoretischen Ansatz her die Einheitlichkeit der Recht88

89 90

91

Siehe aus der Rechtsprechung etwa BGH, NJW 1954,1933; KG, NJW 1958, 1827 (1828); BGH, NJW 1960, 1621; BVerwGE 16, 273 (276f.); zu weiteren Nachweisen siehe Schlüter, ebd., S. 42 Fn. 19. Miebach, Der Gemeinsame Senat, S. l70f.; Schlüter, ebd., S. 42ff. BeUermann, Anm. zu BVerwG, DVBI. 1982,951 ff., DVBI. 1982,954 (955); Hanack, Ausgleich divergierender Entscheidungen, S. 247ff.; SteinlJonas/Grunsky, Kommentar zur Zivilprozeßordnung, Bd. 11, § 546, VI 2 b). Eine positive Einschätzung des Wertes nicht tragender Gründe wird insb. deutlich bei Fischer, Das obiter dictum - aus revisionsrichterlicher Sicht -, in: Festschrift für Otto Mühl zum 70. Geburtstag, 10. Oktober 1981, hrsg. v. J. Damrau, A. Kraft, W. Fürst, Stuttgart· Berlin . Köln· Mainz 1981, S. 139ft.; Köbl, Obiter Dicta - Ansätze einer Rechtfertigung, JZ 1976, 752 (754ft.); ablehnend gegenüber obiter dicta hingegen Schlüter, Obiter dictum, S. 105 ff.; soweit Köbl für ihre positive Einschätzung des Wertes nicht tragender Gründe auf die mangelnde Fähigkeit der parlamentarischen Gesetzgebung, mit der sozialen Entwicklung Schritt zu halten, hinweist und sie infolgedessen unter den "heutigen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen" ein Bedürfnis nach "fallübergreifender und fallantizipierender richterlicher Rechtsschöpfung" zu erkennen glaubt, ist dem allerdings entschieden zu widersprechen. Den ohne Zweifel bestehenden Schwierigkeiten der parlamentarischen Gesetzgebung bei der normativen Gestaltung einer zunehmend komplexer werdenden Gesellschaftsordnung darf nicht auf dem Wege einer gezielten Usurpation quasi legislatorischer Befugnisse durch die Rechtsprechung begegnet werden. Vielmehr gilt es, die Bestrebungen der Gesetzgebungslehre zu intensivieren, um über eine verbesserte Gesetzgebung zu besseren Gesetzen zu gelangen und damit zu verhindern, daß unzulängliche Gesetze erst im richterlichen Rechtsgewinnungsprozeß einer vernünftigen und praktikablen Auslegung zugeführt werden; vgl. dazu Wyduckel, Gesetzgebungslehre und Gesetzgebungstechnik. Aktueller Stand und künftige Entwicklungstendenzen, DVBI. 1982, 1175 (1179); siehe in diesem Zusammenhang aber auch Ipsen, Rechtsprechung im Grenzbereich zur Gesetzgebung, in: Rechtsprechungslehre. Internationales Symposium Münster 1984, hrsg. v. N. Achterberg, Köln· Berlin . Bonn . München 1986, S. 435 ff.; Öhlinger / Stelzer, Rechtsprechung aus der Sicht der Gesetzgebungslehre, in: Rechtsprechungslehre. Internationales Symposium Münster 1984, hrsg. v. N. Achterberg, Köln· Berlin . Bonn . München 1986, S. 409ff.

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4. Kapitel: Grundlagen des Ausgleichsverfahrens

sprechung nachhaltig zu wahren. Daß der Grundsatz der Rechtseinheit auch nicht etwa nur bei Divergenzen in den tragenden Entscheidungsgründen, sondern ebenso bei solchen Abweichungen in nicht tragenden Gründen gefährdet ist, kann kaum bestritten werden. Sieht man daher die Rechts- und Rechtsprechungseinheit als einen derart überragenden Verfassungsgrundsatz an, so ist die Betrachtung der gesamten Entscheidungsgründe als potentiell ausgleichspflichtige Rechtsausführungen gedanklich konsequent. Andererseits stellt sich jedoch die Frage, ob der verfassunggebende Gesetzgeber durch die Einrichtung des Gemeinsamen Senats der Rechtsprechungseinheit tatsächlich einen derartigen, überragenden Stellenwert einräumen wollte. Der in diesem Sinne zu interpretierenden Argumentation Hanacks, mit der Schaffung spezieller Ausgleichsverfahren sei eine umfassende Wahrung der Rechtsprechungseinheit bezweckt, wäre wohl nur dann Folge zu leisten, wenn sich belegen ließe, daß die von den Rechtsprechungsorganen neben dem Divergenzausgleich ebenfalls zu realisierenden Ziele (z. B. gesetzmäßige und gerechte Streitentscheidung in angemessener Zeit) hinter diesem deutlich zurücktreten müßten. Gegenüber einer solchen Sichtweise ist in der Rechtslehre insbesondere eingewandt worden, daß der Gesetzgeber mit den Bereichen, die ein Ausgleichsverfahren zur Vermeidung von Rechtsprechungsabweichungen kennen, keineswegs alle richterlichen Entscheidungen erfaßt habe, woraus sein Wille ersichtlich werde, in einigen Bereichen durchaus auf einen Ausgleich von Rechtsprechungsabweichungen zu verzichten. Unter Berücksichtigung dieses Umstandes sei es deshalb auch keineswegs zwingend, dem Gesetzgeber in den Fällen institutionalisierter Ausgleichsverfahren die Absicht umfassenden Divergenzausgleichs zu unterstellen 92 . Diese Auffassung wird auch noch durch die Materialien zum "Gesetz zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. 6. 1968" gestützt. Die dort zur Begründung der Erforderlichkeit des Gemeinsamen Senats aufgeführten Beispiele bestehender Rechtsprechungsabweichungen zwischen den obersten Gerichtshöfen des Bundes betrafen ausnahmslos Rechtsansichten, die in tragenden Gründen niedergelegt waren und damit zur Stützung der Entscheidung des jeweiligen Rechtsstreits gedient hatten. Wären auch obiter dicta als ausgleichspflichtig betrachtet worden, so hätte die Aufstellung bestehender Rechtsprechungsabweichungen zwischen den obersten Gerichtshöfen des Bundes erheblich umfangreicher ausfallen müssen 93 . Gegen die Auffassung, Rechtsprechungsabweichungen in nicht tragenden Gründen ebenfalls einem Ausgleichsverfahren zu unterwerfen, spricht letztlich aber auch, daß dies eine übermäßige Belastung der ohnehin bereits hinreichend ausgelasteten obersten Gerichtshöfe zur Folge hätte und damit zumindest die konkrete Gefahr der Funk92

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Schlüler, Obiter dictum, S. 44. Ebd.

11. Entscheidung und Entscheidungsbestandteile

113

tionsunfähigkeit dieser Rechtsprechungsorgane bestünde94 . Rechtsprechungsabweichungen in nicht tragenden Gründen erzwingen daher kein Ausgleichsverfahren vor dem Gemeinsamen Senat. Die Rechtsprechungseinheit kann und sollte insoweit nicht gewahrt werden. Als Gesamtergebnis zum Problemkreis der Vorlagepflicht an den Gemeinsamen Senat bei einer Rechtsprechungsabweichung in derselben Rechtsfrage ist demnach festzuhalten: Eine zur Anrufung des Gemeinsamen Senats zwingende Rechtsprechungsabweichung liegt dann vor, wenn ein oberster Gerichtshof des Bundes in den tragenden Gründen einer Entscheidung im weiteren Sinne dieselbe von einem anderen obersten Gerichtshof oder vom Gemeinsamen Senat an gleicher Stelle entschiedene Rechtsfrage abweichend beantworten möchte. Damit dürfte eine eindeutige und für die gerichtliche Praxis eigentlich anwendungssichere Konkretisierung des Begriffs der Rechtsprechungsabweichung vorliegen, so daß nunmehr untersucht werden kann, ob die obersten Gerichtshöfe des Bundes im Falle einer beabsichtigten Rechtsprechungsabweichung tatsächlich ihrer Vorlagepflicht nachkommen oder sich unter Umständen unbewußte, vielleicht aber auch bewußte Umgehungen des Gemeinsamen Senats feststellen lassen.

94

Ebenso Baumgärtei, Anm. zu BAG AP Nr. 31 zu § 72 ArbGG 1953- Divergenzrevision-; Lauterjung, Einheit der Rechtsprechung, S. 62; Schlüter, ebd.

Fünftes Kapitel

Zur Praxis der Anrufung des Gemeinsamen Senats im Falle einer Rechtsprechungsabweichung Wenngleich auch soeben eine eindeutige und in der gerichtlichen Praxis eigentlich anwendungssichere Definition des Begriffs der Rechtsprechungsabweichung entwickelt werden konnte, so wollen die nachfolgenden Überlegungen keineswegs die Schwierigkeiten leugnen, die mit der Feststellung einer solchen Rechtsprechungsabweichung im Einzelfall verbunden sein können. Insoweit wird § 2 RsprEinhG bisweilen von den obersten Rechtsprechungsorganen sicherlich eine auch Details beachtende, tiefschürfende Interpretation der Entscheidungen anderer oberster Gerichtshöfe verlangen. Damit sollten sie sich allerdings nicht vor eine neue und bisher ungewohnte Aufgabe gestellt sehen, da ihnen Überlegungen und Interpretationen dieser Art als Konsequenz der präsumtiven Verbindlichkeit des Präjudizes 1 bekannt sein müßten. I. Unbewußte Nichtanrufung des Gemeinsamen Senats trotz bestehender Rechtsprechungsabweichung Selbst bei strikter Beachtung dieser Interpretationsanforderungen sind unbewußte Nichtanrufungen des Gemeinsamen Senats trotz bestehender Rechtsprechungsabweichung wohl nicht gänzlich zu vermeiden. Deutlich wird dies etwa am Beispiel einer vom Gemeinsamen Senat in jüngerer Zeit entschiedenen Rechtsfrage, die dahinging, ob im Falle der Verwerfung eines Rechtsmittels durch Prozeßurteil - trotz gerichtlicher Fristsetzung war keine Vollmacht vorgelegt worden (§ 67 Abs. 3 VwGO) - der Mangel der nicht nachgewiesenen Vollmacht im Revisionsverfahren rückwirkend gemäß § 173 VwGO iVm § 89 Abs. 2 ZPO geheilt werden kann2 • In diesem Zusammenhang entschied sich das Bundessozialgericht am 24.3. 1971- etwa drei Monate nachdem der Bundesgerichtshof die Rechtsfrage ausdrücklich verneint hatte 3 - genau entgegengesetzt, indem es die Heilung in einem solchen Fall als prozeßrechtlich zu-

1 2 3

Zur präsumtiven Verbindlichkeit des Präjudizes siehe ausführlich oben 2. Kap., 111., 1. GmS-OGB 2/83, NJW 1984, 2149f. BGH, LM Nr. 3 zu § 80 Abs. 1 ZPO.

I. Unbewußte Nichtanrufung des Gemeinsamen Senats

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lässig und keineswegs ungewöhnlich bezeichnete4 • Die Tatsache, daß das Bundessozialgericht die Entscheidung des Bundesgerichtshofs überhaupt nicht erwähnt, legt die Vermutung nahe, daß ihm im Entscheidungszeitpunkt die entgegenstehende Beantwortung der Rechtsfrage durch den Bundesgerichtshof noch nicht bekannt war5 . Somit mußten erst 12 Jahre vergehen, bis die bezeichnete Rechtsfrage schließlich auf Vorlage des Bundesverwaltungsgerichts zur Entscheidung an den Gemeinsamen Senat gelangte. Es ist dabei offensichtlich, daß derartige unbewußte Nichtanrufungen des Gemeinsamen Senats trotz bestehender Rechtsprechungsabweichung in hohem Maße die Rechts- und Rechtsprechungseinheit gefährden. Berücksichtigt man zudem, daß die oben genannte Rechtsprechungsabweichung sicherlich nur einen Beispielsfall unter vielen darstellt, so wird die Notwendigkeit deutlich, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln gegen diesen Befund anzugehen. Ausgangspunkt für alle weiteren Überlegungen, wie sich solche unbewußten Abweichungen in der Zukunft verhindern lassen, muß dabei die Feststellung sein, daß es dem einzelnen Richter eines obersten Rechtsprechungsorgans unter dem Druck des Geschäftsanfalls bei den obersten Gerichtshöfen mittlerweile nicht mehr möglich ist, die Rechtsprechung der "Nachbargerichtshöfe" vollständig zu überblicken und bei der eigenen Entscheidungsfindung zu berücksichtigen. Will man dennoch unbewußte Nichtanrufungen des Gemeinsamen Senats trotz bestehender Rechtsprechungsabweichung vermeiden, so dürfte sich dieses Ziel nur dann erreichen lassen, wenn die mit der Einführung elektronischer Rechtsdokumentationen und juristischer Informationssysteme eröffneten Möglichkeiten vergegenwärtigt und stärker genutzt werden. Insoweit gilt es insbesondere auf die zu Beginn der siebziger Jahre erstmals zum Einsatz gebrachten juristischen Informationssysteme wie "Juris" und die "Sozialrechtsdokumentation" - einem "Juris"-Teilprojekt - hinzuweisen 6 . Wenn-

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BSG, MDR 1971,614 (615). Kempen, Entscheidungserläuterung zu GmS-OGB 2183, JA 1984,604 (605); dies gilt auch für die in gleicher Sache ergangene Entscheidung des Bundesfinanzhofs vom 1. 4. 1971, BFHE 102, 442ff., der allerdings die entgegenstehende Rechtsauffassung des Bundesarbeitsgerichts in dessen Entscheidung vom 18. 12. 1964 (BAG, NJW 1965, 1041 f.) erkennt, dennoch aber eine Vorlage an den Gemeinsamen Senat für nicht notwendig erachtet, siehe dazu ausführlich unten 11., 1., b), ee). Zum Informationssystem "Juris" siehe ausführlich Baltzer, Gerichtsverfahren und elektronische Datenverarbeitung in der Bundesrepublik Deutschland, ZZP Bd. 89 (1976), 406 (419ff.); Fabry/Warnstädt, Das Juristische Informationssystem JURIS, DSWR 1976, 138ff.; Heußner, Das Juristische Informationssystem des Bundes unter besonderer Berücksichtigung des Teilprojekts Sozialrechtsdokumentation, DVR 5 (1976), 125 ff.; Löden/ Stewen, Das Juristische Informationssystem JURIS, VerwArch. Bd. 75 (1984), 393 ff. ; Reinermann/ Umbreit, Information und Dokumentation für Staat und Verwaltung, Verw Arch. Bd. 72 (1981), 125ff.; zur "Sozialrechtsdokumentation" siehe insbesondere Baltzer, Die automatisierte Sozialrechtsdokumentation des Bundessozialgerichts, in: Sozialrechtsprechung, Verantwortung für den sozialen Rechtsstaat, Festschrift zum 25jährigen Bestehen des Bundessozialgerichts, hrsg. v. Deutschen Sozialgerichtsverband e. V., Köln· Berlin . Bonn . München 1979, Band 2, S. 1125 ff. ; H eußner, ebd. ; zum Problemkreis elektronische

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5. Kapitel: Zur Praxis der Anrufung des Gemeinsamen Senats

gleich diesen anfangs sicherlich ein beträchtliches Maß an Skepsis? entgegengebracht wurde, so läßt sich aber jedenfalls heute kaum noch bezweifeln, daß sie einen wesentlichen Unterstützungsfaktor richterlicher Entscheidungsfindung bilden 8 • Daß die Bedeutung des Informationssystems "Juris" zudem keineswegs auf den Bereich der Rechtsprechung begrenzt ist, zeigt die Kabinettsentscheidung der Bundesregierung vom 18. 7. 1984, die einen weiteren Ausbau des Datenbankangebotes und eine Erweiterung des Benutzerkreises vorsieht. Für das hier interessierende Problem der Vermeidung unbewußter Nichtvorlagen an den Gemeinsamen Senat erhält "Juris" aufgrund seiner spezifischen Zugriffsmöglichkeiten auf die Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes einen besonderen Stellenwert. Die Möglichkeit, wahlweise einzelne Suchwörter oder auch Normen in das Informationssystem einzugeben, eröffnet dem Benutzer einen exakten Zugriff auf die zu bestimmten Rechtsfragen bzw. Rechtsgebieten bisher ergangene und dokumentarisch erfaßte Judikatur. Der im Juli 1984 beschlossene Ausbau von "Juris" sieht außerdem eine Steigerung der Aktualität des Datenbankangebotes vor. Dazu soll - beim Bundesfinanzhof geschieht dies bereits heute - bei allen obersten Gerichtshöfen von der durch die EDV-Technologie mittlerweile gebotenen Möglichkeit Gebrauch gemacht werden, durch den Einsatz von Textautomaten und Datensammelsystemen gerichtliche Entscheidungen für den Geschäftsbetrieb herzustellen und zugleich einen Datenträger für die "Juris"-Datenbank zu erzeugen9 . Gerade diese zuletzt genannte Maßnahme könnte einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, mit Hilfe von "Juris" unbewußten Rechtsprechungsabweichungen zwischen den obersten Gerichtshöfen des Bundes entgegenzuwirken. Diese technischen Anstrengungen und Innovationen müssen jedoch ohne Erfolg bleiben, wenn nicht gleichsam mit ihnen einhergehend durch Informations- und Überzeugungs arbeit die Bereitschaft der Richter verstärkt wird, im Vorfeld der Entscheidungsfindung "Juris" zu benutzen. Sollte diese Bereitschaft zur Arbeit mit "Juris" jedoch erzielt werden können, so wäre damit ein wichtiger Schritt auf dem Wege getan, unbewußte Nichtvorlagen an den Gemeinsamen Senat trotz bestehender Rechtsprechungsabweichung zu vermeiden.

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Datenverarbeitung und richterliche Rechtsfindung vgl. allgemein Frohn, Subsumtion - Information - Kommunikation, ARSP Vol. LXX (1984), 204ff.; Rollinger, Das erweiterte juristische Informationssystem, DVR 6 (1977), 211ff. Zur Skepsis gegenüber den Möglichkeiten der elektronischen Datenverarbeitung siehe Baltzer, Die automatische Sozialrechtsdokumentation des Bundessozialgerichts, ebd., S. 1125 (1128). Siehe dazu etwa VolkmannlRichter, Die wissenschaftlich-technischen Hilfen der höchstrichterlichen Rechtsprechung im Sozialrecht, in: Entwicklung des Sozialrechts. Aufgabe der Rechtsprechung, Festgabe aus Anlaß des 100jährigen Bestehens der sozialgerichtlichen Rechtsprechung, hrsg. v. Deutschen Sozialrechtsverband e. V., Köln· Berlin· Bonn· München 1984, S. 813ff. LödenlStewen, Das Juristische Informationssystem JURIS, VerwArch. Bd. 75 (1984), 393 (403).

11. Umgehungstendenzen der obersten Gerichtshöfe des Bundes

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11. "Umgehungstendenzen" der obersten Gerichtshöfe des Bundes hinsichtlich ihrer Vorlageverpflichtung bei Rechtsprechungsabweichungen Aufgrund sich kreuzender oder zeitlich zumindest dicht beieinander liegender Entscheidungen der obersten Gerichtshöfe des Bundes können Fälle unbewußter Nichtanrufung des Gemeinsamen Senats trotz bestehender Rechtsprechungsabweichung durchaus auftreten. Demgegenüber sollte man eigentlich annehmen dürfen, daß bei Beachtung der genannten Interpretations- und Argumentationsanforderungen an die Rechtsprechungsorgane jedenfalls bewußte Nichtanrufungen oder andere Umgehungen des Gemeinsamen Senats trotz bestehender Rechtsprechungsabweichung nicht feststellbar wären. Ob dieser Vermutung eine realistische Einschätzung der Rechtswirklichkeit zugrunde liegt, soll die nachfolgende Rechtsprechungsanalyse erweisen. Dabei werden ausgehend von den Wesensmerkmalen des Begriffs der Rechtsprechungsabweichung zahlreiche - notwendigerweise immer noch ausgewählte Entscheidungen der obersten Gerichtshöfe des Bundes vornehmlich auf den Gebieten des Verwaltungs- und Zivilprozeßrechts, aber auch des materiellen Staats- und Verwaltungsrechts untersucht, die sich mit einer etwaigen Vorlageverpflichtung an den Gemeinsamen Senat beschäftigen. 1. Beispiele und Methoden der Umgehung des Gemeinsamen Senats a) Das Merkmal der "Entscheidung"

Gemäß § 2 RsprEinhG besteht eine Vorlageverpflichtung an den Gemeinsamen Senat nur dann, wenn in derselben Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen obersten Gerichtshofs des Bundes oder des Gemeinsamen Senats abgewichen werden soll. An diesem Punkt setzen zwei Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts mit ihrer auf die VorJageverpflichtung bezogenen Argumentation an. aa) Der Beigeladene als Rechtsmittelgegner?

In seiner Entscheidung vom 10. Oktober 1975]() stand der 7. Senat des Bundesverwaltungsgerichts vor der Frage, ob der Beigeladene im gerichtlichen Verfahren als "Rechtsmittelgegner" anzusehen sei oder nicht. Mit Beschluß vom 10. Dezember 1974 hatte der Große Senat des Bundessozialgerichts dem Gemeinsamen Senat die Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt, ob bei der Einlegung einer Sprungrevision auch ein Beigeladener Rechtsmittelgegner im 10

BVerwG, NJW 1976, 1420.

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5. Kapitel: Zur Praxis der Anrufung des Gemeinsamen Senats

Sinne der §§ 134 Abs. 1 VwGO, 161 Abs. 1 SGG sei, wenn das erstinstanzliche Urteil zu seinen Gunsten erging. Das Bundessozialgericht wollte dabei offenbar den Beigeladenen als Rechtsmittelgegner betrachten, sah sich an dieser Sichtweise jedoch durch eine entgegenstehende Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 29. August 1963 11 gehindert und entschied sich deshalb für die Vorlegung der Rechtsfrage. Der 7. Senat des Bundesverwaltungsgerichts erwähnte in seinem Urteil vom 10. Oktober 1975 zwar den Vorlegungsbeschluß des Bundessozialgerichts, hielt aber dennoch an der Rechtsauffassung innerhalb des Bundesverwaltungsgerichts fest; eine im Sinne des § 2 Abs. 1 RsprEinhG erhebliche Abweichung von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts lag nach seiner Auffassung nicht vor, weil ein Voriegungsbeschluß gemäß § 11 Abs. 1 RsprEinhG keine Entscheidung nach § 2 Abs. 1 dieses Gesetzes darstelle 12 . Wie oben bereits erläutert 13 besteht in der Rechtsprechung und Rechtslehre Einigkeit darüber, daß der prozessuale Begriff der Entscheidung in den einzelnen Gerichtszweigen grundsätzlich Urteile und Beschlüsse umfaßt. Daß diese Auslegung des Entscheidungsbegriffs dem 7. Senat des Bundesverwaltungsgerichts bekannt war, darf vorausgesetzt werden. Wenn er dennoch ohne jeden Anhaltspunkt im Wortlaut und entgegen dem Sinn und Zweck des Gesetzes zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes - dieser verlangt sicherlich auch, während der Dauer eines beim Gemeinsamen Senat anhängigen Verfahrens gleichgelagerte Streitfälle nicht divergierend zu entscheiden 14 - eine einschränkende Auslegung des Entscheidungsbegriffs vornimmt, so vermag dies nicht zu überzeugen. Ohne Verstoß gegen seine Vorlegungspflicht an den Gemeinsamen Senat hätte der 7. Senat des Bundesverwaltungsgerichts jedenfalls, wenn er an seiner Rechtsauffassung festhalten wollte, seine Entscheidung bis zur Klärung der Rechtsfrage durch den Gemeinsamen Senat aussetzen müssen 15 . bb) Verfassungsrechtliche Bewertung der §§ 17 Abs. 2 BetrAVG, 186 c Abs. 2 Satz 2 AFG Mit genau der gleichen Begründung, die den 7. Senat des Bundesverwaltungsgerichts in seiner Entscheidung vom 10. Oktober 1975 bewogen hatte, eine Vorlegungspflicht an den Gemeinsamen Senat zu verneinen, lehnte auch der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts - sogar unter ausdrücklicher BeBVerwGE 16, 273 (275). BVerwG, NJW 1976, 1420. 13 Siehe dazu oben S. 105. 14 Ansonsten könnte ein Rechtsuchender u. U. das Opfer der Rechtsauffassung eines obersten Gerichtshofs werden, die nach Ansicht des Gemeinsamen Senats nicht zu billigen ist. 15 Ebenso Späth, Der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes, BB 1977, 153 (156f.). 11

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11. Umgehungs tendenzen der obersten Gerichtshöfe des Bundes

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zugnahme auf die Entscheidung des 7. Senats - in seiner Entscheidung vom 10. Dezember 1981 eine Vorlage an den Gemeinsamen Senat ab l6 . In einem Vorlagebeschluß an das Bundesverfassungsgericht gemäß Art. 100 Abs. 1 GG hatte nämlich das Bundessozialgericht die Auffassung vertreten, daß § 186 c Abs. 2 Satz 2 AFG - eine Vorschrift, die die Beitragspflicht zur Insolvenzsicherung der Arbeitnehmer eines Unternehmens und die Konkursunfähigkeit bestimmter Körperschaften, Stiftungen und Anstalten des öffentlichen Rechts betrifft verfassungswidrig sei. Demgegenüber stellte sich das Bundesverwaltungsgericht in seiner Entscheidung vom 10. Dezember 1981 auf den Standpunkt, daß § 17 Abs. 2 BetrAVG - eine zu § 186 c Abs. 2 Satz 2 AFG wortgleiche Vorschrift - keinen verfassungsrechtlichen Bedenken unterliege; eine Anrufung des Gemeinsamen Senats in dieser Rechtsfrage war nach Ansicht des 3. Senats des Bundesverwaltungsgerichts jedoch nicht erforderlich, da es sich "nur" um eine Abweichung von einem Vorlage beschluß eines anderen obersten Gerichtshofs handele. Auf diesem Wege gelang es dem Bundesverwaltungsgericht allerdings nicht nur eine Anrufung des Gemeinsamen Senats zu vermeiden, sondern der 3. Senat entging damit auch gleichzeitig der Gefahr, nach Vorlegung der Rechtsfrage an den Gemeinsamen Senat u. U. durch dessen Entscheidung zu einer Anrufung des Bundesverfassungsgerichts gezwungen zu werden. Daß dieses Handeln aber nicht ohne Auswirkungen auf die Grundsätze der Rechtseinheit und Rechtsgleichheit geblieben wäre, wenn das Bundesverfassungsgericht den § 186 c Abs. 2 Satz 2 AFG als verfassungswidrig verworfen hätte 17 , sollte dabei jedoch klar und deutlich gesehen werden. b) Das Merkmal "Identität der Rechtsfrage" und die Methode des "distinguishing"

Für einen obersten Gerichtshof des Bundes wird seine Vorlageverpflichtung an den Gemeinsamen Senat - wie bereits dargestellt - jedoch nicht allein dadurch begründet, daß er von der Entscheidung eines anderen obersten Gerichtshofs abweichen möchte. Es muß vielmehr noch der Umstand hinzukommen, daß die Abweichung sich auf dieselbe Rechtsfrage bezieht. Dieses Merkmal der "Identität der Rechtsfrage" ist Ansatzpunkt für zahlreiche Entscheidungen oberster Gerichtshöfe des Bundes, mit denen diese eine Vorlegungspflicht an den Gemeinsamen Senat verneinen. Ob sich auch insoweit - wie bereits beim Merkmal der "Entscheidung" - Umgehungen des Gemeinsamen Senats feststellen lassen, soll nachfolgend analysiert werden.

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BVerwGE 64, 248 (263f.). Mit seinem Beschluß vom 13. 12. 1983, NJW 1984, 2401 ff., hat das Bundesverfassungsgericht jedoch diese mittelbaren Folgewirkungen einer Umgehung des Gemeinsamen Senats verhindert.

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5. Kapitel: Zur Praxis der Anrufung des Gemeinsamen Senats

aa) Bilanzrückstellungen für Ausgleichsansprüche des Handelsvertreters nach § 89 b HGB

In den Jahren 1969 und 1971 mußte der Bundesfinanzhof in mehreren Entscheidungen zum Problemkreis der Bilanzrückstellungen für Ausgleichsansprüche des Handelsvertreters nach § 89 b HGB Stellung nehmen. In den Urteilen vom 24. Juni 1969 und 28. April 1971 vertrat der 1. Senat des Bundesfinanzhofs diesbezüglich die Ansicht, daß eine Rückstellung für den künftigen Ausgleichsanspruch eines Handelsvertreters handelsrechtlich jedenfalls nicht geboten sei l8 . Unter dem 26. Mai 1971 trat der4. Senat des Bundesfinanzhofs dieser Rechtsauffassung ausdrücklich bei l9 . In den Entscheidungen vom 24. Juni 1969 und 28. April 1971 setzte sich der 1. Senat des Bundesfinanzhofs auch mit der Frage auseinander, ob seine Rechtsauffassung vielleicht derjenigen des Bundesgerichtshofs widerspreche und deshalb eine Vorlage an den Gemeinsamen Senat erzwinge. Eine solche Rechtsprechungsabweichung im Sinne des § 2 Abs. 1 RsprEinhG verneinte der 1. Senat jedoch mit der Begründung, daß der Bundesgerichtshofin seiner Entscheidung vom 11. Juli 1966 die Bilanzrückstellung für den Ausgleichsanspruch eines Handelsvertreters lediglich für zulässig, nicht aber für geboten erklärt habe; er - der 1. Senat des Bundesfinanzhofsvertrete hingegen nur, daß eine solche Rückstellung für nicht geboten erachtet werde 20 • Nicht nur unter materiellrechtlichen Gesichtspunkten sind die Entscheidungen des 1. Senats des Bundesfinanzhofs - insbesondere sein Urteil vom 24. Juni 1969 - heftig kritisiert worden. So ist dem 1. Senat von Teilen der Rechtslehre mehrfach der Vorwurf gemacht worden, unter Mißachtung seiner Vorlagepflicht an den Gemeinsamen Senat eine von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs abweichende Rechtsauffassung vertreten zu haben21 . Die erforderliche Anrufung des Gemeinsamen Senats habe er nur dadurch umgehen können, daß er zwar implizit, nicht aber expressis verbis die handelsrechtliche Rückstellungsfähigkeit des Ausgleichsanspruchs eines Handelsvertreters entgegen der Rechtsauffassung des Bundesgerichtshofs verneint habe 22 • Analysiert man die bereits genannten Entscheidungen des 1. Senats des Bundesfi-

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BFH, BStBI. 196911,581 (583f.); BFH, OB 1971, 1601 (1602). BFH, OB 1971,2045. BFH, BStBI. 196911,581 (583f.). BährlMunkert, Die Unhaltbarkeit der Argumentation des BFH zur Behandlung künftiger Ausgleichsverpflichtungen gegenüber Handelsvertretern in Handels- und Steuerbilanz, Die Wirtschaftsprüfung 1970, 469 (474f. m. w. N.), die sogar von einem .,Rösselsprung" des Bundesfinanzhofs sprechen; Os wald, Ausgleichsansprüche des Handelsvertreters, Der Steuerberater 1972, 27 (28f. m. w. N.). BährlMunkert, ebd., 469 (474); auf die sich diametral gegenüberstehenden Rechtsauffassungen des Bundesgerichtshofs und des Bundesfinanzhofs verweist auch Kropff, in: Geßler/HefermehlJEckhardtiKropff, Aktiengesetz, Kommentar, Band III (§§ 148-178), § 152 Rdnr. 61 m. w. N.

11. Umgehungstendenzen der obersten Gerichtshöfe des Bundes

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nanzhofs unter diesem Aspekt, so erweist sich der in der Rechtslehre gewonnene Eindruck als durchaus zutreffend. Dies wird insbesondere deutlich, wenn es zu Beginn der Entscheidungsgründe heißt: "Der Senat hält an der Auffassung fest, daß der Unternehmer für die Pflicht zur Zahlung eines Ausgleichs an den Handelsvertreter nach § 89 b HGB vor Beendigung des Vertragsverhältnisses keine Rückstellung bilden darf"23, während dann jedoch an anderer Stelle zur Vermeidung einer Kollision mit der Rechtsauffassung des Bundesgerichtshofs erklärt wird: "Aus all diesen Gründen kommt der Senat zu dem Ergebnis, daß eine Rückstellung für den künftigen Ausgleichsanspruch des Handelsvertreters handelsrechtlich jedenfalls nicht geboten ist"24 bzw. "Handelsrechtlich bemerkt der Senat nur, daß die Rückstellung zum Ausgleich nach § 89 b HGB wegen ausreichender wirtschaftlicher Verknüpfung mit der Zeit vor Beendigung des Vertrages jedenfalls nicht geboten ist"25. Obwohl sich der Senat demnach implizit schon dahingehend festgelegt hatte, Rückstellungen für Ausgleichsansprüche eines Handelsvertreters als unzulässig zu betrachten26 , wollte er offensichtlich die Unzulässigkeit eines derartigen Verhaltens handelsrechtlich nicht deutlich aussprechen. Daß er die Frage in Wirklichkeit aber zugunsten der Unzulässigkeit einer Rückstellungsbildung entschieden hatte, ist den Entscheidungen in der Rechtslehre übereinstimmend entnommen worden 27 • Die ausdrückliche Einschränkung seiner Stellungnahme in dem Sinne, daß handelsrechtlich lediglich keine Verpflichtung zur Bilanzrückstellung für Ausgleichsansprüche eines Handelsvertreters bestehe, bildete dabei nur den Versuch, die wahre Kontroverse mit dem Bundesgerichtshof zu verdecken. Sie diente damit allein dem Zweck, die erforderliche Anrufung des Gemeinsamen Senats zu vermeiden. bb) Nachholung von Verfahrenshandlungen und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand

Ein besonders eklatanter Fall der Umgehung des Gemeinsamen Senats findet sich in der Entscheidung des Großen Senats des Bundesverwaltungsgerichts vom 30. November 197028 . Es ging dabei um die Frage, ob es nach der Versäumung sowohl der Revisions- als auch der Revisionsbegründungsfrist der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand entgegensteht, wenn innerhalb der An23 BFH, BStBI. 196911,581 (582); inhaltlich übereinstimmend damit auch BFH, OB 1971, 1601.

24 BFH, BStBI. 1969 11, 581 (583). 25 BFH, OB 1971, 1601 (1602). 26

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BährlMunkert, Die Unhaltbarkeit der Argumentation des BFH zur Behandlung künftiger Ausgleichsverpflichtungen gegenüber Handelsvertretern in Handels- und Steuerbilanz, Die Wirtschaftsprüfung 1970,469 (474 m. w. N.). Siehe dazu Kropf!, in: Geßler/Hefermehl/EckhardtiKropff, Aktiengesetz, Kommentar, Band III (§§ 148-178), § 152 Rdnr. 61 m. w. N. BYerwG, OYBI. 1971, 402ff.

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5. Kapitel: Zur Praxis der Anrufung des Gemeinsamen Senats

tragsfrist als versäumte Rechtshandlung nur die Einlegung der Revision, nicht aber auch die Revisionsbegründung nachgeholt wird. Der Große Senat des Bundesverwaltungsgerichts entschied die ihm gestellte Rechtsfrage dahingehend, daß bei Versäumung der Revisionseinlegungsfrist mit dem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand als versäumte Rechtshandlung nur die Einlegung der Revision und nicht auch die Revisionsbegründung nachzuholen sei 29 . Er erkannte weiter, bei Versäumung der Revisionsfrist beginne die Frist zur Begründung der Revision erst mit der Zustellung des die Wiedereinsetzung gewährenden Beschlusses3o . Demgegenüber hatte der 11. Senat des Bundessozialgerichts in seinem Urteil vom 29. Oktober 1958 zu den §§ 67,164 SGG erklärt, daß die Revisionsbegründungsfrist mit der Einlegung der nachgeholten Revision und nicht erst mit der Zustellung des Wiedereinsetzungsbeschlusses zu laufen beginne3l . Das Bestehen gegensätzlicher Rechtsauffassungen zwischen den beiden obersten Gerichtshöfen vermochte auch der Große Senat des Bundesverwal~ tungsgerichts nicht zu leugnen 32 . Die damit eigentlich unumgängliche Vorlage der kontrovers behandelten Rechtsfrage an den Gemeinsamen Senat lehnte der Große Senat des Bundesverwaltungsgerichts jedoch - wie von Mutius zutreffend bemerkt - mit folgendem "Iapidaren Hinweis"33 ab: "Ein Fall der ,Abweichung' ... ist nicht gegeben, wenn die abweichende Rechtsauffassung eine in mehreren Gesetzen in gleicher Weise auftauchende Rechtsfrage betrifft, die abweichende Entscheidung aber, wie hier, zu einem anderen Gesetz ergangen ist"34. Daß diesem Hinweis jegliche Überzeugungskraft fehlt, dürfte unmittelbar ersichtlich sein. Würde man nämlich dieser Rechtsauffassung zustimmen, so wäre der Gemeinsame Senat praktisch zur Bedeutungslosigkeit verurteilt. Seine Errichtung konnte nur dann einen Sinn haben, wenn es gerade nicht darauf ankommen sollte, ob die jeweiligen möglicherweise divergierenden Entscheidungen zu unterschiedlichen Gesetzen ergehen, weil dies bei verschiedenen Gerichtsbarkeiten in der Regel der Fall sein würde. Sinn und Zweck des

29 BVerwG, DVBl. 1971,402 (403).

BVerwG, ebd. BSGE 8, 207f. 32 BVerwG, DVBl. 1971,402 (403). 33 v. Mutius, Wechselwirkungen der Rechtsprechung der Obersten Gerichtshöfe des Bundes auf dem Gebiet des Sozialrechts, in: Entwicklung des Sozialrechts. Aufgabe der Rechtsprechung, Festgabe aus Anlaß des 100jährigen Bestehens der sozialgerichtlichen Rechtsprechung, hrsg. v. Deutschen Sozialrechtsverband e. V., Köln· Berlin . Bonn . München 1984, S. 651 (671). 34 BVerwG, DVBl. 1971, 402 (404); siehe demgegenüber aber BFH, BStBl. 1971 11,274 (275); vgl. dazu auch Boetius, Zur Entscheidungsdivergenz als Voraussetzung für die Anrufung der Großen Senate und des Gemeinsamen Senats, DStR 1971, 656 (657); die hierin zum Ausdruck kommende Rechtsauffassung des Bundesverwaltungsgerichts ist erst mit der Entscheidung des Gemeinsamen Senats vom 6. Februar 1973, GmS-OGB 1172, BGHZ 60, 392 (394) endgültig als unzutreffend verworfen worden. 30 31

11. Umgehungstendenzen der obersten Gerichtshöfe des Bundes

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Art. 95 Abs. 3 GG und des RsprEinhG war und ist es daher, "die Einheitlichkeit von Rechtsordnung und Rechtspflege ungeachtet spezialgesetzlicher Konkretisierung zu wahren"35. Angesichts dieser Umstände läßt sich die Argumentation des Großen Senats des Bundesverwaltungsgerichts nur als offensichtliche Mißachtung der Voraussetzungen für eine Vorlage der Rechtsfrage an den Gemeinsamen Senat verstehen. ce) Satzungsgewalt der Ärztekammern und kassenärztlicher Vereinigungen

Auf einen Fall der "stillschweigenden Abweichung" zweier oberster Gerichtshöfevoneinander hat jüngst von Mutius hingewiesen 36 . Im Urteil vom 15. September 1977 vertrat der 6. Senat des Bundessozialgerichts die Auffassung, daß die kassenärztliche Vereinigung den kassenärztlichen Not- und Bereitschaftsdienst aufgrund ihres Auftrages zur Sicherstellung der ärztlichen Versorgung der Versicherten im Rahmen ihrer Satzungsautonomie selbständig regeln könne 37 . Demgegenüber hatte der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts in einer Entscheidung vom 12. Dezember 1972 - unter Bezugnahme auf den sog. Facharztbeschluß des Bundesverfassungsgerichts38 - festgestellt, daß die Heranziehung eines Arztes zum allgemeinen ärztlichen Notfalldienst nicht ausschließlich der Satzungsgewalt der Ärztekammer überlassen werden dürfe, sondern den Gesetzgeber zumindest in den Grundzügen eine Regelungspflicht treffe 39 . Das Bundessozialgericht nahm zwar die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zur Kenntnis, glaubte aber den sich aufdrängenden Widerspruch wie folgt verneinen zu können: "Zwischen der Heranziehung von Kassenärzten und Nichtkassenärzten zum Not- und Bereitschaftsdienst besteht vor allem insofern ein grundlegender Unterschied, als sich die Kassenärzte mit der- von ihnen beantragten - Zulassung zur Kassenpraxis freiwillig einer Reihe von Einschränkungen ihrer ärztlichen Berufsausübung unterworfen haben, die mit der Einbeziehung in ein öffentlichrechtliches Versorgungssystem notwendig verbunden sind (vgl. § 368 a IV RVO). Zu diesen, der Berufsausübung im kassenärztlichen Bereich ,immanenten' Einschränkungen gehört auch die Pflicht zur Teilnahme am Notfalldienst, ohne den eine ausreichende kassenärztliche Ver-

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v. Mutius, Wechselwirkungen der Rechtsprechung der Obersten Gerichtshöfe des Bundes auf dem Gebiet des Sozialrechts, in: Entwicklung des Sozialrechts. Aufgabe der Rechtsprechung, Festgabe aus Anlaß des 100jährigen Bestehens der sozialgerichtlichen Rechtsprechung, hrsg. v. Deutschen Sozialrechtsverband e. V., Köln· Berlin . Bonn . München 1984, S. 651 (671). Ebd., S. 651 (672). BSG, NJW 1978, 1213 (1214). BVerfGE 33, 125ff. BVerwG, NJW 1973, 576f.

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5. Kapitel: Zur Praxis der Anrufung des Gemeinsamen Senats

sorgung der Versicherten nicht gewährleistet ist. Mit der Heranziehung zum Notfalldienst werden daher den Kassenärzten nicht neue Pflichten auferlegt, was bei der Heranziehung eines Nichtkassenarztes durch die Ärztekammer zweifelhaft sein mag; vielmehr wird lediglich die in der Kassenzulassung enthaltene ,Sozialbindung' der ärztlichen Berufsausübung näher konkretisiert"40. Wenn von Mutius die vom Bundessozialgericht benannten Unterschiede als "konstruiert" bezeichnet, weil damit eine an sich erforderliche Vorlage an den Gemeinsamen Senat vermieden werden sollte, so kann dem nur nachdrücklich zugestimmt werden. In der Tat zeigt eine gen aue Betrachtung der bei den Urteile, daß die entscheidende Grundfrage identisch ist, nämlich die nach der Einschränkbarkeit von Grundrechten durch Satzungsgewalt ohne parlamentarisch-gesetzliche Ermächtigung. Einer Auseinandersetzung mit diesem wichtigen Grundrechtsproblem ist das Bundessozialgericht ausgewichen, um die sich u. U. ergebende Notwendigkeit zur Vorlage der Rechtsfrage an den Gemeinsamen Senat auszuschließen. dd) Der Begriff der politischen Treuepflicht im öffentlichen Dienst

Für einen aufmerksamen Betrachter der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur politischen Treuepflicht im öffentlichen Dienst ist ohne weiteres erkennbar, daß sich seit mehreren Jahren die Standpunkte des Bundesarbeitsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts nahezu unversöhnlich gegenüberstehen. Während das Bundesarbeitsgericht bei den Anforderungen an die Verfassungstreuepflicht einen eher "liberalen" Kurs fährt 41 , hat das Bundesverwaltungsgericht in seiner jüngeren Rechtsprechung den schon bisher eingeschlagenen "restriktiven" Kurs konsequent beibehalten42 . Mit der Frage, ob die Rechtsauffassung des Bundesarbeitsgerichts vielleicht zur Anrufung des Gemeinsamen Senats Anlaß geben könnte, hat sich das Bundesverwaltungsgericht jedoch - soweit ersichtlich - erstmalig im sog. "Meister-Urteil" vom 10. Mai 1984 auseinandergesetzt. In klarem Gegensatz zum Bundesarbeitsgericht, das der Mitgliedschaft in der DKP und überregionaler Tätigkeit im Bezirksoder Landesvorstand der Partei lediglich die Wirkung eines Indizes für die Verletzung der politischen Treuepflicht beimißt43 , geht das Bundesverwaltungsgericht im "Meister-Urteil" davon aus, daß Mitgliedschaft und Aktivitäten der

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BSG, NJW 1978, 1213 (1214).

41 Siehe insbesondere BAG, NJW 1983, 1812 (1813f. m. w. N.); ferner auch BAG, NJW 1983, 779ff.

42 Aus der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sind insoweit das "Peter-Urteil" vom 29. Oktober 1981, DVBI. 1983, 81ff. und das "Meister-Urteil" vom 10. Mai 1984, ZBR 1984, 270ff. zu nennen. 43 BAG, NJW 1983, 1812 (11\13).

11. Umgehungstendenzen der obersten Gerichtshöfe des Bundes

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benannten Art bereits eine Verletzung der Verfassungstreuepflicht darstellen 44 • Wenn es die Anrufung des Gemeinsamen Senats dennoch für entbehrlich hält, so wird dies wie folgt begründet: Die vom Bundesarbeitsgericht "zu entscheidende Rechtsfrage war allein die, ob Aktivitäten in der DKP für sich genommen die ernste Besorgnis an der künftigen Einhaltung der Verfassungstreuepflicht des Bewerbers auslösen. Das hängt von einer prognostischen Beurteilung der Persönlichkeit des Bewerbers ab (BVerfGE 39, 334 [353]). Hier geht es dagegen um die disziplinarrechtliche Würdigung solcher von einem Lebenszeitbeamten entfalteten Aktivitäten als Verstoß gegen die beamtenrechtliche Treuepflicht und damit als Dienstvergehen45 ." Einer näheren Überprüfung hält die vom Bundesverwaltungsgericht entwikkelte Begründung zur Nichtanrufung des Gemeinsamen Senats jedoch nicht stand. Sie erscheint vielmehr nur als untauglicher Versuch, den in Wirklichkeit identischen Streitpunkt zu verdecken. Sowohl für die ex-ante Betrachtung des Bundesarbeitsgerichts (Übernahme eines Bewerbers in den öffentlichen Dienst) als auch für die ex-post Betrachtung des Bundesverwaltungsgerichts (Entlassung eines Beamten oder Angestellten aus dem öffentlichen Dienst) stellt sich nämlich die übereinstimmende Rechtsfrage, ob die Mitgliedschaft in der DKP und die Tätigkeit im Bezirks- oder Landesvorstand der Partei lediglich als Indiz oder bereits als Verletzung der politischen Treuepflicht anzusehen sind. Der Umstand, daß sich der Inhalt der politischen Treuepflicht und derjenige der disziplinär zu ahndenden Treuepflichtverletzung nicht völlig decken zu letzterem gehört ein Minimum an Gewicht und Evidenz der Pflichtverletzung46 -, ändert nichts daran, daß ein bestimmtes Verhalten vor der Übernahme in den öffentlichen Dienst durch das Bundesarbeitsgericht eine andere Bewertung erfährt als dasselbe Verhalten nach Übernahme in den öffentlichen Dienst durch das Bundesverwaltungsgericht. Gerade vor dem Hintergrund der vom Bundesverwaltungsgericht auch zitierten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Mai 1975, in der dieses betont, daß ein Interesse daran besteht, die Übernahme eines Bewerbers in den öffentlichen Dienst zu verhindern, der nach erfolgter Übernahme den Anforderungen der politischen Treuepflicht nicht gerecht wird und deshalb aus dem Dienst entfernt werden müßte 47 , bleibt es unverständlich, wenn das Bundesverwaltungsgericht eine Rechtsprechungsabweichung verneint, weil es bei seiner Entscheidung nicht um die Prognose künftigen Verhaltens, sondern um die Bewertung gegenwärtiger Umstände gehe.

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BVerwG, BVerwG, BVerfGE BVerfGE

ZBR 1984, 270 (27lf.). ZBR 1984,270 (272). 39, 334 (350). 39,334 (352); vgl. auch Battis, Bundesbeamtengesetz, § 7, 3., d), aa), S. 64.

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5. Kapitel: Zur Praxis der Anrufung des Gemeinsamen Senats

Mit der soeben erwähnten Differenzierung, die das Bundesverwaltungsgericht als Rechtfertigung für die Nichtanrufung des Gemeinsamen Senats geltend macht, ist zugleich eine spezifische - in der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht selten Anwendung findende - Methode zur Umgehung von Ausgleichsinstanzen angesprochen. Es handelt sich dabei um die dem anglo-amerikanischen Rechtskreis entstammende Argumentationsfigur des "distinguishing"48. Im englischen Recht wird darunter seit jeher das Aufzeigen rechtserheblicher Unterschiede zwischen zwei Fällen verstanden. Dieses "distinguishing on the fact" wird dort notwendig, wenn der Richter in seiner Entscheidung einem Präzedenzfall oder auch der in einer gesetzlichen Regelung enthaltenen Norm nicht folgen will. Trotz der Tatsache, daß diese Argumentationsfigur ihre Rechtfertigung allein aus den Besonderheiten des anglo-amerikanischen Fallrechtssystems erfährt, hat das "distinguishing" seit geraumer Zeit auch auf dem Kontinent seinen Einzug gehalten. Die in der höchstrichterlichen Rechtsprechung der Bundesrepublik Deutschland festzustellende Neigung zum "distinguishing" findet ihre Ursache primär in einer überaus starken Beharrungsintensität der Rechtsprechungsorgane im Hinblick auf eine einmal begonnene ludikatur49• Damit wird zwangsläufig die Verlockung zum Unterscheiden von Sachverhaltselementen größer, wenn ein Rechtsprechungsorgan dennoch von einer Vorentscheidung abweichen will 5o • Daß dieses "distinguishing" nicht zuletzt auch dazu dienen kann, das Vorliegen einer Rechtsprechungsabweichung im Sinne des § 2 RsprEinhG und damit die Verpflichtung zur Anrufung des Gemeinsamen Senats zu verneinen, sollen zwei weitere ausgewählte Beispiele zeigen. ee) Heilung des Mangels der fehlenden Prozeßvollmacht noch im Revisionsverfahren?

Die Frage, ob der Mangel der fehlenden Prozeßvollmacht auch noch im Revisionsverfahren geheilt werden kann, zählt zu dem kleinen Kreis der Probleme, die bereits einmal von allen obersten Gerichtshöfen des Bundes erörtert 48 Zum "distinguishing" ausführlich Fikentscher, Methoden des Rechts, Band 11, S. 95ff.;

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Schlüchter, Mittlerfunktion der Präjudizien, S. 94ff.; vgl. auch Schumann, Bundesverfassungsgericht, Grundgesetz und Zivilprozeß, S. 57f. Fn. 194; auf die Tatsache, daß die Methode des "distinguishing" gerade dazu benutzt wird, um eine Ausgleichsinstanz nicht anrufen zu müssen, weist Beisse hin, Beisse, Von der Aufgabe des Großen Senats, in: Der Bundesfinanzhof und seine Rechtsprechung. Grundfragen - Grundlagen, Festschrift für Hugo von Wallis zum 75. Geburtstag am 12. April 1985, hrsg. v. F. Klein und K. Vogel, Bonn 1985, S. 45 (52): "Es gibt zwei Kunstgriffe, die Anrufung zu vermeiden. Der eine besteht darin, daß ein anderer Sachverhalt konstatiert wird. Ein feiner Unterschied in der Fallgestaltung erweist sich als rechtserheblich. " Mayer-Maly, Rechtswissenschaft, S. 39, mit Hinweis auf eine beispielhafte Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 15. 2. 1962, BAGE 12,278 (284): "Wenn in einer Rechtsfrage für die eine wie für eine andere Antwort gute Gründe sprechen, so soll ein oberes Bundesgericht, das die Frage bereits in einer früheren Entscheidung in dem einen Sinne beantwortet hat, von seiner Rechtsprechung nicht abweichen." Ebd.

11. Umgehungstendenzen der obersten Gerichtshöfe des Bundes

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worden sind51 . Mittlerweile hat auch der Gemeinsame Senat auf Vorlage des Bundesverwaltungsgerichts zu dieser Frage Stellung genommen 52 . Seine Anrufung hätte jedoch nicht erst aufgrund der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 28. Juni 198353 erfolgen dürfen, sondern schon der Bundesfinanzhof hätte in seinem Urteil vom 1. April 1971 54 wegen der entgegenstehenden Rechtsauffassung des Bundesarbeitsgerichts (Urteil vom 18. Dezember 1964)55 den Gemeinsamen Senat anrufen können und müssen. Um seiner Vorlageverpflichtung an den Gemeinsamen Senat zu entgehen, hat sich der Bundesfinanzhof der soeben beschriebenen Methode des "distinguishing" bedient. Im Unterschied zu dem vom Bundesarbeitsgericht entschiedenen Fall sei nämlich der von ihm - dem Bundesfinanzhof - zu beurteilende "Sachverhalt ein anderer"56. Dies wird im wesentlichen darauf gestützt, daß das Bundesarbeitsgericht darüber habe entscheiden müssen, ob die Prozeßführung eines vollmachtlosen Vertreters einer rückwirkenden Genehmigung im Revisionsverfahren zugänglich sei, während er - der Bundesfinanzhof - zu klären habe, ob die nachträgliche Vollmachtserteilung im Revisionsverfahren den Mangel der wegen fehlender Vollmacht unzulässigen Klageerhebung heilen könne 57 . Bei genauerer Betrachtung dieser von den beiden obersten Gerichtshöfen des Bundes entschiedenen Rechtsfragen wird jedoch unschwer erkennbar, daß sich hinter ihnen jeweils die übereinstimmende Rechtsfrage verbirgt, ob der Mangel der fehlenden Prozeßvollmacht auch noch im Revisionsverfahren geheilt werden kann. Daß sich der Bundesfinanzhof dessen bewußt war, zeigt deutlich die Unsicherheit, mit der er seine weitere Argumentation fortsetzt. Auf der Grundlage seines Standpunktes wird jedenfalls die relativierende Feststellung nicht verständlich, daß das Bundesarbeitsgericht zumindest die Frage offen gelassen habe, "ob es nicht anders entschieden hätte, wenn der im Termin aufgetretene prozessual vollmachtlose Vertreter schon damals jedenfalls bürgerlich-rechtlich bevollmächtigt gewesen und dies nachträglich nachgewiesen worden wäre"58. Noch deutlicher wird das Unbehagen des Bundesfinanzhofs bei der Verneinung "derselben Rechtsfrage" im Wege des "distinguishing",

51 Bejaht wird die Frage vom BFH, BFHE 102, 442 (444); BSG, MDR 1971, 614f.; BVerwG, 52 53 54 55 56 57 58

NJW 1984, 318; verneint vom BAG, NJW 1965, 104lf.; BGH, MDR 1971, 483; siehe dazu auch Schumann, Kann die Vollmacht im finanzgerichtlichen Verfahren noch im Revisionsverfahren mit heilender Wirkung nachgereicht werden?, DStR 1973, 109ff. GmS-OGB 2183, NJW 1984, 2149f. BVerwG, NJW 1984, 318. BFH, BFHE 102,442 (445f.). BAG, NJW 1965, 1041f. BFH, BFHE 102, 442 (446). BFH, BFHE 102,442 (445f.). BFH, BFHE 102, 442 (446).

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5. Kapitel: Zur Praxis der Anrufung des Gemeinsamen Senats

wenn er unmittelbar nach der Feststellung, daß seiner Entscheidung ein anderer Sachverhalt zugrunde liege, erklärt, eine Divergenz zum Urteil des Bundesarbeitsgerichts sei jedenfalls nicht so eindeutig erkennbar, daß eine Anrufung des Gemeinsamen Senats erforderlich wäre. Die Anrufung sei vielmehr nur bei eindeutiger Abweichung zulässig, die bloße Möglichkeit einer Divergenz genüge nicht 59 . Daß die vom Bundesarbeitsgericht getroffene Entscheidung tatsächlich dieselbe Rechtsfrage betraf, hat mittelbar nunmehr auch der Gemeinsame Senat bestätigt. Wenn dieser sich zur Begründung seiner Entscheidung vom 17. 4. 1984, mit der er eine Heilungsmöglichkeit des Mangels der fehlenden Prozeßvollmacht im Revisionsverfahren verneint, ausdrücklich auf die Argumentation in der benannten Bundesarbeitsgerichtsentscheidung stützt6O , so dürfte diese wohl kaum einen anderen Sachverhalt oder eine andere Rechtsfrage betreffen. ff) "Unverschuldete Fristversäumung" bei der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand

Auf Vorlage des 12. Senats des Bundessozialgerichts hatte sich der Große Senat des Bundessozialgerichts im Jahre 1974 mit einer Frage aus dem die obersten Gerichtshöfe des Bundes häufiger beschäftigenden Problembereich der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu befassen. Dem Großen Senat lag dabei die Rechtsfrage zur Entscheidung vor, ob ein Berufungskläger, der entgegen dem Gesetz (§ 151 SGG) und entgegen der ordnungsgemäß erteilten Rechtsmittelbelehrung die Berufungsschrift nicht an das Landessozialgericht, sondern an das Sozialgericht gesandt hatte, deshalb "ohne Verschulden" an der Einhaltung der Berufungsfrist verhindert gewesen (§ 67 Abs. 1 SGG) war, weil durch die Weiterleitung der Berufungsschrift vom Sozialgericht an das Landessozialgericht die Berufungsfrist versäumt wurde 61 • Er beantwortete diese Frage dahingehend, daß einem Rechtsmittelkläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 67 Abs. 1 SGG auch dann gewährt werden könne, wenn eine Rechtsmittelschrift trotz ordnungsgemäßer Rechtsmittelbelehrung nicht an das zuständige Gericht, sondern an eine unzuständige Stelle übersandt worden sei und die Rechtsmittelschrift infolge pflichtwidrigen Verhaltens dieser Stelle erst nach Ablauf der Rechtsmittelfrist beim zuständigen Gericht eingehe. Dies gelte allerdings nur unter der Einschränkung, daß es sich bei dem Rechtsmittelkläger um eine natürliche Person handele 62 •

59 60 61 62

Ebd. GmS-OGB 2/83, NJW 1984, 2149 (2150). BSG, BSGE 38, 248 (249). BSG, BSGE 38, 248 (262).

11. Umgehungstendenzen der obersten Gerichtshöfe des Bundes

129

Diese Einschränkung ist - wie auch der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts in einer Entscheidung vom 25. November 197763 feststellt - offensichtlich aus dem Grunde erfolgt, um damit dem Vorwurf einer Abweichung von der Entscheidung des Bundesfinanzhofs vom 12. Januar 196864 zu begegnen. Dort war dieser davon ausgegangen, der Rechtsmittelkläger- im Falle des Bundesfinanzhofs ein Finanzamt - könne zur Entschuldigung der versäumten Revisionsfrist nicht geltend machen, daß es dem unrichtig benannten Adressaten bei schnellerer Bearbeitung des Vorgangs möglich gewesen wäre, die Sache noch rechtzeitig an die richtige Stelle weiterzuleiten. Um sich nicht in Widerspruch zu dieser Rechtsauffassung des Bundesfinanzhofs zu begeben, argumentiert der Große Senat dahingehend, seiner Entscheidung liege ein Sachverhalt zugrunde, in dem eine natürliche Person Rechtsmittelkläger sei, während das Urteil des Bundesfinanzhofs einen Sachverhalt betreffe, in dem eine juristische Person als Rechtsmittelkläger auftrete 65 . Bei der damit dem Bundesfinanzhof unterstellten Differenzierung, daß seine Rechtsauffassung ausschließlich auf juristische Personen bezogen gewesen sei, handelt es sich um eine nicht belegte und wohl auch nicht zu belegende Behauptung. Ihr steht der klare, keine Beschränkung auf juristische Personen zu entnehmende Wortlaut der Entscheidung des Bundesfinanzhofs entgegen: "Wer den BFH als falschen Empfänger benennt, setzt sich der Gefahr aus, daß die Revisionsschrift statt an das FG an den BFH gelangt und von dort nicht rechtzeitig an das zuständige FG als richtigen Empfänger weitergeleitet wird. Wer das Risiko unrichtiger Adressierung schuldhaft übernimmt, kann zu seiner Entschuldigung auch nicht geltend machen, daß der unrichtige Adressat bei schnellerer Bearbeitung des Vorgangs die Sache noch rechtzeitig an die richtige Stelle hätte weiterleiten können"66. Das angesichts dieses eindeutigen Wortlauts nur als bewußte Umgehung des Gemeinsamen Senats zu deutende Verhalten des Großen Senats des Bundessozialgerichts hat auch in der bereits benannten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts herbe Kritik erfahren: "Der Gr. S. BSG hat die Auffassung vertreten, daß er ... nicht von der Rechtsprechung der anderen obersten Gerichtshöfe abweiche und deshalb nicht genötigt sei, den Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes anzurufen ... In den Gründen seiner Entscheidung führt er dazu aus ... , der entscheidende Unterschied [zum Urteil des Bundesfinanzhofs vom 12. Januar 1968, Einfügung des Verf.] bestehe darin, daß Rechtsmittelkläger vor dem Bundesfinanzhof ein Finanzamt gewesen sei, während sich die Rechtsauffassung des Gr. S. ,ausdrücklich auf natürliche Personen als Rechtsmittelkläger beschränkt'. Es besteht keine Notwendigkeit, hier den sich mannigfach aufdrängenden Zweifeln BVerwG, BVerwGE 55, 61 (69). BFH, BFHE 90, 395f. 65 BSG, BSGE 38, 248 (265). 66 BFH, BFHE 90, 395 (396). 63

64

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5. Kapitel: Zur Praxis der Anrufung des Gemeinsamen Senats

nachzugehen. Das gilt zunächst für die Frage, ob die gesetzliche Regelung der Wiedereinsetzung bei Anwendung anerkannter Auslegungsgrundsätze und prozessualer Grundsätze es überhaupt gestattet, an eine schuldhafte Fristversäumnis unterschiedliche Rechtsfolgen bei natürlichen Personen einerseits, juristischen Personen andererseits zu knüpfen ... ; weiter, ob nicht jedenfalls der Entscheidung des Bundesfinanzhofs eine solche Differenzierung fremd und dies durch die gewählte Wortfassung ... entgegen der Auffassung des Gr. S. BSG auch ,deutlich erkennbar' ist 67 ." Die Entscheidung des Großen Senats des Bundessozialgerichts vom 10. Dezember 1974 muß demnach als ein weiteres Beispiel dafür angesehen werden, wie oberste Gerichtshöfe des Bundes durch das Unterscheiden von Sachverhaltselementen, also im Wege des "distinguishing", versuchen, einer Anrufung des Gemeinsamen Senats zu entgehen. c) Gerichtsbarkeitsspezifische Differenzierungen

Eine weitere Methode der obersten Gerichtshöfe des Bundes zur Umgehung des Gemeinsamen Senats ist neben dem bewußten und gezielten "distinguishing" in den Hinweisen auf gerichtsbarkeitsspezifische Differenzierungen zu sehen. Derartige "Besonderheiten einzelner Gerichtsbarkeitszweige und ihrer Verfahrensordnungen " sollen nach Auffassung der obersten Gerichtshöfe trotz Identität der Rechtsfrage eine Vorlage an den Gemeinsamen Senat entbehrlich machen und damit zugleich ihre Kompetenz zur letztverbindlichen Eigenentscheidung begründen. Einige, notwendigerweise wiederum ausgewählte Beispiele aus der Rechtsprechungspraxis mögen diese Vorgehensweise veranschaulichen. aa) Zu den Konsequenzen etwaiger Mängel bei der Unterzeichnung bestimmender Schriftsätze

Mit Beschluß vom 5. November 1973 hat der Große Senat des Bundesfinanzhofs zum Ausdruck gebracht, daß nach seiner Ansicht dem Erfordernis der schriftlichen Revisionsbegriindung im Sinne des § 120 Abs. 1 FGO auch dann Genüge getan ist, wenn zwar nicht das die eigentliche Begründung enthaltene Schreiben, wohl aber das mit diesem Schriftstück zusammen beim Bundesfinanzhof eingegangene Anschreiben von einem dazu Berechtigten handschriftlich unterzeichnet ist68 • Der dieser Rechtsauffassung diametral entgegenstehende Beschluß des Bundesgerichtshofs vom 4. April 1973, in dem grundsätzlich die Unterzeichnung eines bestimmenden Schriftsatzes durch einen dazu Berechtigten verlangt wird69 , erfährt in der Entscheidung des Bundesfinanz67

68 69

BVerwG, BVerwGE 55, 61 (69). BFH, BFHE 111, 278 (285), wo au~h noch darauf hingewiesen wird, daß es sich erkennbar nicht um den Entwurf einer RevisionsbegTÜndungsschrift handeln darf. BGH, VersR 1973, 636f.

11. Umgehungstendenzen der obersten Gerichtshöfe des Bundes

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hofs eine ausführliche Erörterung. Eine Vorlage der streitigen Rechtsfrage an den Gemeinsamen Senat wird letztlich aber mit der Begründung abgelehnt: "Angesichts der ... dargelegten unterschiedlichen Gestaltung der Verfahrensordnungen und der sich daraus ergebenden unterschiedlichen Formstrenge in den verschiedenen Rechtszweigen müssen - wie auch der BGH in der Entscheidung vom 4. April 1973 ... ausgeführt hat - Mängel bei der Unterzeichnung bestimmender Schriftsätze nach den verschiedenen Prozeßordnungen nicht unbedingt einheitlich beurteilt werden"70. Die vom Bundesfinanzhof zur Stützung seiner Rechtsauffassung herangezogene Entscheidung des Bundesgerichtshofs verweist dabei ihrerseits wiederum auf eine weitere Entscheidung des Bundesfinanzhofs vom 29. August 196971 , wobei der BGH gerichtsbarkeitsspezifische Differenzierungen vorträgt, um die Nichtanrufung des Gemeinsamen Senats trotz identischer Rechtsfrage zu rechtfertigen: " ... ist zwar zuzugeben, daß der BFH ... und das LSG Celle ... in ähnlich gelagerten Fällen eine Unterschrift des bestimmenden Schriftsatzes für entbehrlich gehalten haben. Wie der BFH indessen zutreffend ausgeführt hat, kann angesichts der unterschiedlichen Ausgestaltung des Verfahrens in den verschiedenen Gerichtszweigen die Frage, ob ein bestimmender Schriftsatz unterzeichnet sein muß, nicht für alle Gerichtszweige einheitlich beantwortet werden"72. bb) Prozessuale Anforderungen an eine ordnungsgemäße Rechtsmittelschrift

Ein weiteres Beispiel dafür, weIche Bedeutung den "Besonderheiten eines Gerichtszweiges und seiner Verfahrensordnung" für die Entscheidung über eine Anrufung oder Nichtanrufung des Gemeinsamen Senats zukommen kann, bildet ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 4. Dezember 1975. Unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die "Besonderheiten des arbeitsgerichtlichen Verfahrens" rechtfertigt das Bundesarbeitsgericht in dieser Entscheidung, daß es im Gegensatz zum Bundesgerichtshof für die Rechtswirksamkeit der Berufungseinlegung fordert, in der Berufungsschrift die ladungsfähige Anschrift des Berufungsbeklagten oder seines Prozeßbevollmächtigten zu nennen. Aufgrund der "Besonderheiten des arbeitsgerichtlichen Verfahrens" sei es daher auch entbehrlich, die vom Bundesgerichtshof für den Zivilprozeß der ordentlichen Gerichtsbarkeit abweichend beantwortete Rechtsfrage dem Gemeinsamen Senat zur Entscheidung vorzulegen 73 . Der Bundesgerichtshof hatte dagegen seinerseits in dem benannten Urteil vom 25. September 1975 74 ebenfalls auf die

70 71 72 73 74

BFH, BFHE 111, 278 (285f.). BFH, BStBI. 197011,89 (91). BGH, VersR 1973, 636. BAG, BAGE 27, 351 (356f.). BGH, NJW 1976, 108 (109).

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5. Kapitel: Zur Praxis der Anrufung des Gemeinsamen Senats

"Besonderheiten des arbeitsgerichtlichen Verfahrens" verwiesen, um damit eine zur Vorlage an den Gemeinsamen Senat zwingende Rechtsprechungsabweichung von einer weiteren Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 9. Dezember 197475 zu vermeiden. Daraus wird erneut ersichtlich, in welchem Umfang die obersten Gerichtshöfe des Bundes wechselseitig gerichtsbarkeitsspezifische Differenzierungen zur Abgrenzung von Parallelentscheidungen geltend machen und darin eine zulässige Einschränkung ihrer Vorlageverpflichtung an den Gemeinsamen Senat gemäß § 2 RsprEinhG sehen. ce) Zu den Voraussetzungen einseitiger Erledigung der Hauptsache

Die Frage, unter welchen Voraussetzungen im Falle der einseitigen Erledigungserklärung des Klägers von einer wirksamen Hauptsacheerledigung auszugehen ist, wird - worauf der Bundesfinanzhof bereits in seinem Urteil vom 19. Mai 1976 zutreffenderweise hingewiesen hat76 - in der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes nicht einheitlich beurteilt. Während die wirksame Hauptsacheerledigung nach Auffassung des Bundesgerichtshofs eine vor Eintritt des erledigenden Ereignisses zulässige und begründete Klage verlange 7 , geht das Bundesverwaltungsgericht davon aus, daß Voraussetzung einer Erledigung der Hauptsache allein der Eintritt eines objektiv das Begehren des Klägers erledigenden Ereignisses ist. Auf die vorherige Zulässigkeit oder Begründetheit der Klage kommt es nach seiner Meinung nicht an 78 • Im Gegensatz zum Bundesgerichtshof, der die abweichende Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts offensichtlich ignoriert79 , setzt sich das Bundesverwaltungsgericht jedoch zumindest mit der entgegenstehenden Rechtsauffassung des Bundesgerichtshofs auseinander, wenngleich es dennoch letztlich eine Vorlage der Rechtsfrage, unter welchen Voraussetzungen im Falle einseitiger Erledigungserklärung des Klägers von einer wirksamen Hauptsacheerledigung auszugehen ist, an den Gemeinsamen Senat für nicht notwendig erachtet. Zur Begründung der Nichtanrufung des Gemeinsamen Senats greift auch das Bundesverwaltungsgericht sinngemäß den Gedanken der gerichtsbarkeitsspezifischen Differenzierungen auf, indem es auf "wesentliche Unterschiede

75

76

71 78 79

BAG, NJW 1975, 1429, wo dieses übrigens unter Hinweis auf die "Besonderheiten des arbeitsgerichtlichen Verfahrens" von einer zeitlich noch älteren Entscheidung des Bundesgerichtshofs abweicht, ohne allerdings überhaupt eine etwaige Vorlageverpflichtung an den Gemeinsamen Senat zu thematisieren; vgl. dazu im einzelnen auch Späth, Der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes, BB 1977, 153 (155). BFH, NJW 1977, 80. BGH,NJWI981,990m. w. N.;NJWI981,686m. w. N.;NIWI969,237;WMI968,697 (699). BVerwG, Buchholz40 § 2 AuslG Nr. 17, 103 (105); vgl. zum ganzen auch Zöllner/Vollkommer, ZivilprozeBordnung, § 91 a Rdnr. 3 m. w. N. BGH, NJW 1981, 990; NIW 1981, 686.

11. Umgehungstendenzen der obersten Gerichtshöfe des Bundes

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der Gesetzeslage" hinweist und ferner feststellt, daß die im Verwaltungsprozeß geltenden Grundsätze "nicht notwendig auch im Zivilprozeß anwendbar" sein müßten 80 • dd) Verfahrensrechtliche Folgen der vertraglichen Aufhebung des Prozeßvergleichs

Als letztes Beispiel dafür, daß die obersten Gerichtshöfe des Bundes gerichtsbarkeitsspezifische Besonderheiten geltend machen, um damit ihre auf identische Rechtsfragen bezogene Vorlagepflicht an den Gemeinsamen Senat einzuschränken, soll eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 5. August 1982 dienen 81 . Darin hatte sich das Bundesarbeitsgericht mit der Frage auseinanderzusetzen, welche verfahrensrechtlichen Folgen eintreten, wenn ein Prozeßvergleich infolge seiner vertraglichen Aufhebung durch die an ihm beteiligten Parteien unwirksam wird. Der 2. Senat hielt insoweit an der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts fest, wonach die vertragliche Aufhebung eines Prozeßvergleichs durch die Parteien dessen prozeßbeendende Wirkung beseitigt und demgemäß der Rechtsstreit fortzusetzen ist82 • In seiner Urteilsbegründung erörtert das Gericht in aller Ausführlichkeit die eindeutig entgegenstehenden Rechtsauffassungen des Bundesgerichtshofs 83 , des Bundessozialgerichts 84 und des Bundesverwaltungsgerichts85 , die im benannten Falle den bisherigen Prozeß für beendet erklären und die Parteien auf ein neues Verfahren verweisen; eine Anrufung des Gemeinsamen Senats hält der 2. Senat des Bundesarbeitsgerichts jedoch nicht für erforderlich: "Rechtsprechung des BGH ... sowie des BSG ... und des BVerwG ... nötigt den Senat nicht zur Vorlage dieser Sache an den Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes gemäß § 2 I, 11 I RsprEinhG. Der Senat hat seine Ansicht aus den Besonderheiten des arbeitsgerichtlichen Verfahrens hergeleitet. Sie gebieten es im Hinblick auf den Beschleunigungsgrundsatz, den prozeßwirtschaftlichen Gesichtspunkten, die generell für die Fortsetzung des bisherigen Verfahrens sprechen und auch vom BGH als Auslegungskriterium anerkannt werden, das entscheidende Gewicht für die Beantwortung der Rechtsfrage beizumessen, ob die vertragliche Aufhebung eines Prozeßvergleichs auch dessen prozeßbeendende Wirkung beseitigt. Insoweit sind die Verhältnisse in der Arbeitsgerichtsbarkeit und in der ordentlichen Gerichtsbarkeit sowie in der Sozial- und Verwaltungsgerichtsbarkeit unterschiedlich "86. 80 81 82 83

84 85 86

BVerwG, Buchholz 40 § 2 AuslG Nr. 17, 103 (106). BAG, NJW 1983, 2212ff. BAG, NJW 1983,2212 (2213f.). BGH, NJW 1964, 1524 (1525). BSG, NJW 1963, 2292f. BVerwG, DÖV 1962, 423f. BAG, NJW 1983, 2212 (2215).

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5. Kapitel: Zur Praxis der Anrufung des Gemeinsamen Senats

Die soeben dargestellten Entscheidungen sind Ausdruck einer deutlich festzustellenden Tendenz der obersten Gerichtshöfe des Bundes unter Hinweis auf gerichtsbarkeitsspezifische Differenzierungen ihre Vorlagepflicht an den Gemeinsamen Senat einzuschränken. Die Anzahl der Beispiele ließe sich ohne Schwierigkeiten vermehren, so daß die hier genannten Entscheidungen lediglich einen repräsentativen Ausschnitt aus dem Gesamtspektrum eines spezifischen Rechtsprechungsverhaltens bilden. Dennoch bieten sie bereits hinreichenden Anlaß dafür, ein derartiges Rechtsprechungsverhalten der obersten Gerichtshöfe des Bundes unter Berücksichtigung ihrer aus § 2 RsprEinhG resultierenden Vorlageverpflichtung an den Gemeinsamen Senat entschieden zu kritisieren. Dabei stellt sich vor allem die Frage, mit welcher Berechtigung die obersten Gerichtshöfe des Bundes die in § 2 RsprEinhG benannten Vorlegungsvoraussetzungen um ein zusätzliches, ungeschriebenes Merkmal erweitern. Jedenfalls gibt der Wortlaut des § 2 RsprEinhG in keiner Weise Veranlassung dazu, ihre Vorlagepflicht auf die Fälle zu beschränken, in denen ein oberster Gerichtshof des Bundes in derselben Rechtsfrage aus Gründen, die nicht in den Besonderheiten einer Gerichtsbarkeit oder ihrer Verfahrensordnung zu suchen sind, von der Entscheidung eines anderen obersten Gerichtshofs abweichen möchte. Auch eine genetische Interpretation 87 des § 2 RsprEinhG könnte aber kaum dazu führen, das soeben beschriebene Rechtsprechungsverhalten überzeugend zu legitimieren. Abgesehen davon, daß die genetische Interpretation neben den anderen Auslegungsmethoden nur ein Auslegungskriterium darstellt 88 , kann der Begründung des Gesetzentwurfs zum RsprEinhG kein eindeutiger, die Vorlegungsvoraussetzungen des § 2 RsprEinhG einschränkender Aussageinhalt entnommen werden, wenn es dort heißt: "In Einzelfällen beruhte die unterschiedliche Würdigung des Lebenstatbestandes auf den Besonderheiten der Rechtsgebiete, für die die einzelnen oberen Bundesgerichte zuständig waren ... ; von einer materiellen Divergenz wird in solchen Fällen nicht immer gesprochen werden können"89. Von ausschlaggebender Bedeutung ist eine teleologische Interpretation des § 2 RsprEinhG. Sinn und Zweck der in dieser Vorschrift normierten Vorlegungspflicht gehen erkennbar dahin, durch Anrufung des Gemeinsamen Senats mögliche Rechtsprechungsdivergenzen zwischen den obersten Gerichtshöfen des Bundes zu verhindern. Diese der Rechtsprechungseinheit dienende Funktion des Gemeinsamen Senats würde jedoch für weite Bereiche im Keime erstickt, wenn die obersten Gerichtshöfe des Bundes das Recht besäßen, bei identischen Rechtsfragen unter Hinweis auf gerichtsbarkeitsspezifische Besonderheiten 87 Zur genetischen Interpretation als Auslegungsmethode Achterberg, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 17 Rdnr. 14f.

88 Ebd., Rdnr. 14 Fn. 15. 89 BT-Drucks. Vl1450, S. 5.

11. Umgehungstendenzen der obersten Gerichtshöfe des Bundes

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ohne Anrufung des Gemeinsamen Senats von der Entscheidung eines anderen obersten Gerichtshofs abzuweichen. Zur letztverbindlichen Entscheidung, ob die Besonderheiten einer Gerichtsbarkeit oder ihrer Verfahrensordnung eine konkrete Rechtsprechungsabweichung in einer Rechtsfrage gestatten, ist nämlich gerade der Gemeinsame Senat berufen. Anderenfalls würde unter dem Vorwand gerichtsbarkeitsspezifischer Besonderheiten einer Umgehung des Gemeinsamen Senats durch die obersten Gerichtshöfe des Bundes Vorschub geleistet. Da diese sowohl vom Wortlaut als auch vom Sinn und Zweck des § 2 RsprEinhG gedeckte Argumentation für die obersten Gerichtshöfe des Bundes auch erkennbar gewesen sein dürfte, kann ihnen in den oben dargestellten Fällen der Vorwurf eines zumindest leichtfertigen Umgangs mit ihrer Vorlegungspflicht an den Gemeinsamen Senat nicht erspart werden 9O • d) Einzelfälle

Als Abschluß der bisher durchgeführten Rechtsprechungsanalyse zu den Umgehungstendenzen bezüglich des Gemeinsamen Senats sollen nunmehr noch einige besonders gelagerte Einzelfälle aus der Entscheidungspraxis der obersten Gerichtshöfe des Bundes dargestellt werden. Im Hinblick auf das bereits festgestellte Umgehungsverhalten entziehen sich diese Beispiele zwar jeder Methodisierung, sie verdeutlichen aber in besonderem Maße die Vielgestaltigkeit der Begründungsversuche, mit denen die obersten Gerichtshöfe des Bundes eine an sich gebotene Vorlage an den Gemeinsamen Senat glauben vermeiden zu können. aa) Zum Ausscheiden eines Arbeitnehmervertreters aus dem Aufsichtsrat eines Unternehmens

In seiner Entscheidung vom 31. Januar 1969 hatte sich der 1. Senat des Bundesarbeitsgerichts mit der Rechtswirksamkeit einer Wahlausschreibensbestimmung zu befassen, wonach Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat eines Unternehmens, die aus den Betrieben dieses Unternehmens kamen, ihr Aufsichtsratmandat mit dem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst verloren. Um eine zur Vorlage an den Gemeinsamen Senat zwingende Rechtsprechungsabweichung von einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs zu vermeiden, wählte das Bundesarbeitsgericht folgende Begründung: "Der Tatbestand in dem von dem Bundesgerichtshof entschiedenen Fall ist somit ein anderer als der, der im vorliegenden Fall gegeben ist. Es liegt deshalb ein zur Anrufung des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes nötigender Fall der Divergenz nicht vor. Jedenfalls ist eine Divergenz nicht so eindeutig erkennbar, daß eine Anrufung des Gemeinsamen Senats erforderlich wäre. Eine solche Anrufung

90

In diesem Sinne wohl auch Späth, Der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes, BB 1977, 153 (ISS, 157).

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5. Kapitel: Zur Praxis der Anrufung des Gemeinsamen Senats

setzt voraus, daß eine eindeutige Abweichung vorliegt; die bloße Möglichkeit des Vorliegens einer Divergenz genügt nicht. Das Institut des Gemeinsamen Senats dient dem Zweck, die Rechtseinheit zu sichern. Dabei darf aber der Grundsatz der Prozeßökonomie nicht aus dem Auge verloren werden. Die Prozeßparteien wie auch die Beteiligten eines Beschlußverfahrens haben ein berechtigtes Interesse an einer baldigen Entscheidung. Soll dieses Interesse gegenüber dem Interesse an der Rechtseinheit zurücktreten, so muß der Fall schon so liegen, daß das Interesse an der Rechtseinheit völlig eindeutig tangiert ist. Eine andere Wertung würden die Rechtsgenossen nicht verstehen; sie würde, statt zum Rechtsfrieden zu führen, nur Unruhe schaffen und die Rechtsgemeinschaft belasten. Das Interesse an der Rechtseinheit steht aber dann nicht völlig eindeutig in Frage, wenn - wie hier - allenfalls die Möglichkeit nicht auszuschließen ist, daß eine Divergenz vorliegt"91. Diese Argumentation des Bundesarbeitsgerichts hat in der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes innerhalb kurzer Zeit Gefolgschaft gefunden 92 • Dennoch vermag sie vor dem Hintergrund der dem RsprEinhG zugrunde liegenden Wertungen nicht zu überzeugen; sie stellt sich vielmehr als Umgehung des Gemeinsamen Senats und Wegbereiter weiterer Umgehungen dar. Zum einen läßt sich die Ergänzung der Vorlegungsvoraussetzungen des § 2 RsprEinhG um das Erfordernis der "eindeutig erkennbaren Divergenz" bzw. der "eindeutigen Abweichung"93 in keiner Weise nachvollziehen, da die anerkannten Methoden der Rechtsnormauslegung 94 eine derartige Einschränkung der Vorlagepflicht nicht legitimieren können. Zum anderen bleibt es unverständlich, daß dem Bundesarbeitsgericht offensichtlich keine Bedenken gekommen sind, ob für die Präzisierung der benannten termini (eindeutig erkennbare Divergenz, eindeutige Abweichung) überhaupt ein sicherer Anwendungsmaßstab gefunden werden könne. Ein beträchtliches Maß an Rechtsunsicherheit, das mit dem Erlaß des RsprEinhG sicher nicht beabsichtigt war, wurde damit von vornherein in Kauf genommen. Schließlich kann dem 1. Senat des Bundes arbeitsgerichts auch nicht die Frage erspart werden, ob dem von ihm erwähnten "Verständnis der Rechtsgenossen" und dem "Rechtsfrieden" eine "baldige Entscheidung" wohl mehr entspricht als eine im Einzelfall gerechte. Dies gilt um so mehr, wenn man sich die von einer Entscheidung des Gemeinsamen Senats ausgehenden mittelbaren, oftmals erheblichen Auswirkungen auf die Klagebegehren der Prozeßparteien verdeutlicht. Insgesamt bleibt daher je-

91 BAG, BAGE 21, 313 (317). 92

Siehe dazu etwa nur BFH, BFHE 102, 442 (446); BSG, BSGE, 38, 248 (263).

93 Dabei handelt es sich neben den "gerichtsbarkeitsspezifischen Besonderheiten" um die

zweite Einschränkung der Vorlagepflicht gemäß § 2 RsprEinhG, siehe dazu oben 5. Kap., H., 1., c). 94 Zu den Methoden der Rechtsnormauslegung und -ergänzung ausführlich Achlerberg, Allgemeines Verwaltungsrecht. § 17.

H. Umgehungstendenzen der obersten Gerichtshöfe des Bundes

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denfalls festzuhalten, daß über die Merkmale der "eindeutig erkennbaren Divergenz" bzw. der "eindeutigen Abweichung" erneut einer Umgehung des ohnehin eher selten angerufenen 95 Gemeinsamen Senats Vorschub geleistet wird. bb) Zur Verpflichtung der Behörde, nach Ablauf der Frist für die sog. "Untätigkeitsklage" noch sachlich über einen Rechtsbehelf zu entscheiden

Während das Bundesverwaltungsgericht in ständiger Rechtsprechung zu dem inzwischen aufgehobenen § 76 VwG096 davon ausging, nach Ablauf der Jahresfrist dieser Vorschrift sei die Behörde nicht mehr verpflichtet, einen Rechtsbehelf noch sachlich zu bescheiden97 , trat der Bundesfinanzhof für den Bereich der Finanzgerichtsordnung dieser Auffassung in seinem Urteil vom 28. Oktober 1975 ausdrücklich entgegen 98 . Gleichwohl hat er die Anrufung des Gemeinsamen Senats zu dieser Rechtsfrage für nicht erforderlich gehalten. Neben den als "Einschränkungskriterium" der Vorlagepflicht gemäß § 2 RsprEinhG bereits bekannten "Besonderheiten der Finanzgerichtsbarkeit"99, führt er insoweit zusätzlich aus: " ... die vom BVerwG vertretene Auffassung ist nicht unmittelbar aus dem Gesetz abzuleiten, sondern im Wege der Auslegung entwickelt worden, während die hier vertretene Auffassung auf dem eindeutigen Wortlaut des § 248 AO beruht"loo. Diese Begründung kann einer näheren Überprüfung jedoch in keiner Weise standhalten. Denn warum es einen qualitativen Unterschied bedeutet, ob die Entscheidung einer Rechtsfrage unmittelbar aus dem Wortlaut einer Vorschrift oder im Wege ihrer Auslegung gewonnen wird, dürfte der Bundesfinanzhof kaum erklären können. Durchaus zu Recht stellt Späth daher auch die Frage, welche sonstige Divergenz wenn nicht die in der Auslegung von - sachlich nicht unterschiedlichen - Verfahrensvorschriften wohl den klassischen Fall der Vorlagepflicht an den Gemeinsamen Senat darstellen solle lOl . Damit drängt sich er-

95 Zur Praxis der Anrufung des Gemeinsamen Senats seit seiner Gründung im Jahre 1968 96

siehe die im Anhang befindliche Statistik der bisher ergangenen Entscheidungen.

§ 76 VwGO wurde durch das Gesetz zur Änderung verwaltungsprozessualer Vorschriften

vom 24. August 1976 (BGBI. I S. 2437) aufgehoben.

97 BVerwG, BVerwGE 28,305 (308f.); BVerwG, DVBI. 1976,78 (79 m. w. N.). 98 99

100

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BFH, BFHE 117,210 (214). Abgesehen davon, daß die "Besonderheiten einer Gerichtsbarkeit oder ihrer Verfahrensordnung" - wie oben S. 134f. bereits dargelegt - kein die Vorlagepflicht der obersten Gerichtshöfe gemäß § 2 RsprEinhG berechtigterweise einschränkendes Kriterium darstellen, äußert Späth nicht ohne Grund erhebliche Bedenken gegenüber den vom Bundesfinanzhof angeführten Unterschieden zwischen den beiden Verfahrensarten, Späth. Der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes, BB 1977, 153 (155f.). BFH, BFHE 117, 210 (214). Späth, Der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes, BB 1977, 153 (156).

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5. Kapitel: Zur Praxis der Anrufung des Gemeinsamen Senats

neut der Eindruck auf, daß der Bundesfinanzhof zu diesem offensichtlich unhaltbaren Begründungsversuch nur gegriffen hat, um eine Vorlage der Rechtsfrage an den Gemeinsamen Senat zu vermeiden. cc) Zur Sachentscheidungsbefugnis der Widerspruchsbehärde bei verspätetem Widerspruch

Einen weiteren Fall, in dem ein oberster Gerichtshof des Bundes die an sich gebotene Anrufung des Gemeinsamen Senats unter Zuhilfenahme eines teils fehlerhaften, teils jedenfalls fragwürdigen Begründungsversuchs unterließ, bildet das Urteil des 11. Senats des Bundessozialgerichts vom 15. September 1978 102 • Dabei neigte das Gericht in dieser Entscheidung offenbar dazu, in Übereinstimmung mit der Berufungsinstanz (LSG Baden-Württemberg) anzunehmen, daß eine Widerspruchsbehörde nach verspätetem Widerspruch durch eine sachliche Entscheidung über den Widerspruch nicht mehr den Weg zur sachlichen Nachprüfung des Erstbescheides im Rechtsstreit eröffnen könne. Um aber eine Abweichung von dem in ständiger Rechtsprechung diese Rechtsfrage bejahenden Bundesverwaitungsgericht 103 zu vermeiden, ließ das Bundessozialgericht letztlich diese Frage offen und bediente sich insoweit methodisch folgender Doppelbegründung: " ... sieht der Senat hier keinen triftigen Anlaß, die vom LSG verneinte, vom BVerwG dagegen wiederholt bejahte ... Frage zu entscheiden, ob eine Widerspruchsstelle nach verspätetem Widerspruch durch eine sachliche Entscheidung über den Widerspruch erneut den Klageweg oder genauer den Weg zur sachlichen Nachprüfung des Erstbescheides im Rechtsstreit eröffnen kann. Der Senat verkennt nicht, daß das LSG die Revision gerade zur Klärung dieser Frage zugelassen hat; er muß jedoch bedenken, daß, wenn man dem LSG folgen wollte, gegebenenfalls der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes zu einem Problem angerufen werden müßte, das bisher in der Sozialgerichtsbarkeit, soweit bekannt, kaum mal eine Rolle gespielt hat. Andererseits ergibt der feststehende Sachverhalt jedoch, daß die Klage in der Sache auch dann keinen Erfolg haben kann, wenn dem Bescheid ... noch keine sachliche Bindungswirkung zuzuschreiben ist. Der Senat macht daher von dem jedem Gericht zustehenden Recht Gebrauch, unter mehreren möglichen sachlichen Abweisungsgründen denjenigen Grund auszuwählen, aus dem nach seiner Ansicht jedenfalls die Klage scheitern muß; ... "104 Diese Argumentation des 11. Senats des Bundessozialgerichts muß Widerspruch hervorrufen. Abgesehen davon, daß der Senat mit seinem zweiten Be-

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BSG, Breithaupt 1979,756 (757f.). BVerwG, BVerwGE 15, 306 (310); 28, 305 (308); DVBI. 1964, 190; DVBI. 1965,89 (90); DVBI. 1972,423 (424). BSG, Breithaupt 1979, 756 (757f.).

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gründungsansatz - Festlegung auf einen Grund, aus dem die Klage jedenfalls scheitern muß - in äußerst fragwürdiger Art und Weise die ihm obliegende Aufgabe als Revisionsgericht in starkem und der Rechtseinheit nicht dienlichem Maße zurückdrängt 105 , handelt es sich bei dem ersten Argument, mit dem das Bundessozialge~icht glaubt, die Anrufung des Gemeinsamen Senats vermeiden zu können, um einen für den 11. Senat als solchen auch erkennbaren, offensichtlich rechtsfehlerhaften Begründungsversuch. Bei seiner Argumentation, daß der Senat, wenn er dem Landessozialgericht folgen wollte, gegebenenfalls den Gemeinsamen Senat zu einem Problem anrufen müßte, das bisher in der Sozialgerichtsbarkeit kaum mal eine Rolle gespielt habe, läßt das Bundessozialgericht völlig außer acht, daß Sinn und Zweck der Anrufungspflicht des Gemeinsamen Senats gemäß § 2 RsprEinhG nicht darin bestehen sollen, spezielle Probleme der Sozialgerichtsbarkeit, also eines Gerichtszweiges, zu lösen. Die Errichtung des Gemeinsamen Senats erfolgte vielmehr im Dienste der Gesamtrechtsordnung. Der dieser zugrunde liegende Gedanke der Einheit der Rechtsordnung steht für künftige Fälle auch dann in Frage, wenn ein (prozessuales) Problem in dem einen Gerichtszweig eine größere, im anderen eine eher geringere Bedeutung besitzt, dort aber eine Rechtsprechungsabweichung hervorruft lO6 . Daß dieser Gedankengang dem 11. Senat des Bundessozialgerichts bei seiner Entscheidungsfindung nicht bewußt gewesen sein sollte, kann kaum angenommen werden, so daß ein weiteres Mal von einer bewußten Umgehung des Gemeinsamen Senats ausgegangen werden muß. dd) Zu den Anforderungen an die Ausgestaltung eines Geschäftsverteilungsplanes

Als letztes, zugleich aber auch auffälligstes Beispiel einer Umgehung des Gemeinsamen Senats muß an dieser Stelle eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 8. Februar 1983 genannt werden. Das Gericht vertritt darin in offenem, von ihm auch erkannten Gegensatz zum Bundesarbeitsgericht die Rechtsauffassung, daß ein Geschäftsverteilungsplan, der eine Zuteilung nach der zeitlichen Reihenfolge der Eingänge vorsieht, für gleichzeitig eingehende Sachen zusätzlicher, kontrollierbarer Zuteilungskriterien bedarf, die einen bestimmenden Einfluß der Geschäftsstelle auf die Verteilung gleichzeitig eingehender Sachen ausschließen lO7 • Eine Vorlage an den Gemeinsamen Senat wegen der vom Bundesarbeitsgericht vertretenen Rechtsansicht, daß es einer zusätzli~ ehen Regelung für die Verteilung gleichzeitig eingehender Sachen nicht be-

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Siehe dazu insb. Behn, Zur Praxis der Anrufung des "Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes" zur Wahrung der Rechtseinheit, dargestellt am Beispiel der Divergenzen zu den Fragen des verspäteten Widerspruchs, Die Rentenversicherung 1980, 145 (154f.). Ebenso ausdrücklich das., ebd. BVerwG, NJW 1983,2154.

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5. Kapitel: Zur Praxis der Anrufung des Gemeinsamen Senats

dürfe, wenn diese in der Hand vertrauenswürdiger Beamter liege 108 , hält das Bundesverwaltungsgericht gleichwohl nicht für notwendig, "da der erkennende Senat in Übereinstimmung mit dem 3. Senat des BVerwG der zeitlich jüngeren Entscheidung des BGH und den darin unter Auseinandersetzung mit dem Urteil des BAG gewonnenen neue ren Erkenntnissen folgt. Unter diesen Umständen wird es gegebenenfalls Sache des 1. Senats des BAG sein, den Gemeinsamen Senat zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung anzurufen, sofern er an seiner bisherigen Ansicht festhalten möchte. Der erkennende Senat hält sich hierzu nicht für verpflichtet"109. Daß diese Argumentation des Bundesverwaltungsgerichts zur Verneinung seiner Vorlagepflicht an den Gemeinsamen Senat dem Sinn und Zweck des RsprEinhG diametral zuwiderläuft, dürfte ernstlich kaum bezweifelt werden. Mit der Wahrung der Rechtsprechungseinheit zwischen den obersten Gerichtshöfen des Bundes ist es nämlich schlechterdings unvereinbar, wenn der 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts "sehenden Auges" von einer entgegenstehenden Vorentscheidung des Bundesarbeitsgerichts abweicht und dabei zur Rechtfertigung der Nichtanrufung des Gemeinsamen Senats lediglich ohne jede weitere Begründung vorträgt, der Argumentation des Bundesgerichtshofs und des 3. Senats des Bundesverwaltungsgerichts zu folgen, die sich bereits mit der Rechtsauffassung des Bundesarbeitsgerichts auseinandergesetzt hätten. Daß der Bundesgerichtshof im Zeitpunkt seiner Entscheidung über eine etwaige Vorlagepflicht gar nicht nachzudenken brauchte - der Gemeinsame Senat war nämlich noch nicht gegründet - und der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts dies trotz der Existenz des Gemeinsamen Senats aus welchen Gründen auch immer nicht tat, wird dabei vom 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts überhaupt nicht erwähnt. Eine überzeugende Begründung dafür, warum der 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts den Gemeinsamen Senat nicht anruft, obwohl die Vorlegungsvoraussetzungen des § 2 RsprEinhG erfüllt sind, liefert schließlich auch nicht der lapidare Hinweis, daß es gegebenenfalls Sache des Bundesarbeitsgerichts sein werde, den Gemeinsamen Senat zum Ausgleich der bestehenden Rechtsprechungsabweichung einzuschalten. Darin liegt allein der unzulässige Versuch, die eigene, im Entscheidungszeitpunkt bestehende Vorlegungspflicht auf einen anderen obersten Gerichtshof zu verlagern, um damit zugleich sich selbst der Anrufungspflicht des Gemeinsamen Senats zu entziehen. Da ein solches Vorgehen vom RsprEinhG sicherlich nicht gedeckt wird und dies dem 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts auch bekannt gewesen sein dürfte, kann ihm der Vorwurf nicht erspart werden, den Gemeinsamen Senat bewußt umgangen zu haben. Im Rahmen der vorangegangenen Rechtsprechungsanalyse ließen sich durchaus noch weitere Beispiele für Umgehungen des Gemeinsamen Senats 108

BAG, NJW 1961, 1740 (1742f.).

109 BVerwG, NJW 1983,2154.

11. Umgehungstendenzen der obersten Gerichtshöfe des Bundes

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durch die obersten Gerichtshöfe des Bundes nennen 11O • Die dargestellten Entscheidungen bilden insoweit nur die "Spitze eines Eisberges". Sie zeigen aber sehr deutlich, daß die obersten Gerichtshöfe zum Teil aufgrund leichtfertigen (fahrlässigen) Umgangs mit ihrer Vorlegungspflicht gemäß § 2 RsprEinhG, zum Teil in bewußter Mißachtung der dort normierten Vorlegungsvoraussetzungen den Gemeinsamen Senat umgehen 111 . Bevor deshalb untersucht werden soll, ob und gegebenenfalls welche verfassungsrechtlichen Konsequenzen sich aus diesem Rechtsprechungsverhalten ergeben, muß noch der Frage nachgegangen werden, worin die wesentlichen Gründe für die festgestellten Umgehungen des Gemeinsamen Senats zu sehen sind. 2. Gründe für die Umgehungen des Gemeinsamen Senats durch die obersten Gerichtshöfe des Bundes

Der Versuch, die wesentlichen Ursachen für die Umgehungen des Gemeinsamen Senats durch die obersten Gerichtshöfe des Bundes festzusteHen, begegnet deshalb Schwierigkeiten, weil für den hier angesprochenen Problembereich des Divergenzausgleichs zwischen den Rechtsprechungsorganen gesicherte empirische Untersuchungen mit wissenschaftlichem Anspruch fehlen l12 • Er110

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Vgl. zu weiteren Umgehungen des Gemeinsamen Senats etwa BFH, BFHE 130, 12 (16), der für die Nichtanrufung des Gemeinsamen Senats das in der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes häufig in Anspruch genommene Kriterium der "gerichtsbarkeitsspezifischen Differenzierungen" geltend macht, siehe dazu auch Jaekel, Klagefrist bei Klageänderung durch Beklagtenwechsel, DÖV 1985, 479 (484), der dem Bundesfinanzhof vorwirft, entgegen den Bestimmungen des RsprEinhG den Gemeinsamen Senat nicht angerufen zu haben; BSG, SGb. 1981,547 (549), siehe dazu insb. Broß. Anmerkungzu BSG, SGb. 1981,547, SGb. 1981,549 (55lf.) und Schulin. Der öffentlich-rechtliche Vertrag vor einer Bewährungsprobe, JZ 1986, 476 (478), die dem BSG ausdrücklich eine Umgehung des Gemeinsamen Senats vorwerfen; BSG, BSGE 53, 284 (286f.) zur Geltung der "reformatio in peius" im Widerspruchsverfahren: Das Bundessozialgericht weicht in dieser Entscheidung offen von der Rechtsauffassung des Bundesverwaltungsgerichts ab, ohne überhaupt die Frage nach einer etwaigen Vorlage an den Gemeinsamen Senat zu erörtern; zumindest zweifelhaft auch BFH. NJW 1985, 2103 (2104) f= BFHE 143, 383 (390), der für die Nichtanrufung des Gemeinsamen Senats in einem entgegenstehenden Beschluß des Bundesverwaltungsgerichts keine "Entscheidung" im Sinne des § 2 RsprEinhG sieht: "Der Beschluß des Bundesverwaltungsgerichts vom 24. Mai 1984 III C 12.82 geht zwar von der unmittelbaren Wirkung nicht umgesetzter Richtlinien aus. Es handelt sich aber um ein Vorabentscheidungsersuchen an den Europäischen Gerichtshof und nicht um eine das beschließende Gericht selbst bindende Endentscheidung, die allein zur Einleitung des Verfahrens gemäß §§ 2, 11 des Gesetzes zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der Obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 12. Juni 1968 (BGBI. I 1968, 661) berechtigen und verpflichten würde." Bewußte Umgehungen des Gemeinsamen Senats werden besonders in den oben unter 1., d., aa)-dd) dargestellten Beispielen deutlich, ferner aber auch in den unter 1., b), bb), cc), ff) genannten Fällen; unterschiedlich motivierte Umgehungen lassen sich bereits für die Plenarentscheidungen des Reichsgerichts gemäß § 137 (136) GVG feststellen, dazu ausführlich Hanack, Ausgleich divergierender Entscheidungen, S. 26ff., insb. S. 29 m. w. N. Ebenso v. Mutius, Wechselwirkungen der Rechtsprechung der Obersten Gerichtshöfe des Bundes auf dem Gebiet des Sozialrechts, in: Entwicklung des Sozialrechts. Aufgabe der Rechtsprechung, Festgabe aus Anlaß des l00jährigen Bestehens der sozialgerichtIichen Rechtsprechung, hrsg. v. Deutschen Sozialrechtsverband e. V., Köln' Berlin . Bonn . München 1984, S. 651 (676).

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5. Kapitel: Zur Praxis der Anrufung des Gemeinsamen Senats

freulicherweise beschreitet die in den 60er Jahren begonnene Justizforschung jedoch gerade in jüngerer Zeit neue Wege, die zu der berechtigten Hoffnung Anlaß geben, daß das insoweit bestehende Defizit rechtstatsächlicher Forschung in den nächsten Jahren erfolgreich ausgeglichen werden kann. Dabei ist in erster Linie an die vom Bundesministerium der Justiz in verstärktem Maße geförderte und auch von ihm selbst betriebene "empirische Rechtsforschung" zu denken, mit der ein anfangs lediglich personenbezogener Forschungsansatz nunmehr dahingehend erweitert wird, daß gerade auch das gerichtliche Verfahren im Hinblick auf seine Funktion und Effizienz grundlegende rechtstatsächliche Untersuchungen erfährt 1l3 • Wesentliche Bedeutung dürfte ferner der erst jüngst von Achterberg begründeten "Rechtsprechungslehre" zukommen l14 . Diese neue Wissenschaftsdisziplin, die es sich u. a. zum Ziel gesetzt hat, unter Einbeziehung der Rechtstatsachenforschung Empfehlungen für organisatorische und prozedurale Verbesserungen im Bereich der Judikative zu erarbeiten, wird sich dabei mit Sicherheit auch empirischen Untersuchungen auf dem Gebiet des Divergenzausgleichs zwischen den Rechtsprechungsorganen zuwenden. Angesichts des derzeitigen Forschungsstandes müssen daher an dieser Stelle einige Andeutungen genügen, die in der Zukunft noch der rechtstatsächlichen Verifizierung und Konkretisierung bedürfen. Die Ursachen für die häufigen Umgehungen des Gemeinsamen Senats durch die obersten Gerichtshöfe des Bundes dürften im wesentlichen auf zwei Ebenen zu suchen sein, nämlich einerseits auf der Ebene der Gesetzgebung, andererseits auf der der Rechtsprechung selbst. So hat es der Gesetzgeber in der Vergangenheit versäumt, durch eine gezielte Veränderung der Rahmenbedingungen richterlicher Rechtsfindung dazu beizutragen, die obersten Gerichtshöfe des Bundes verstärkt zu Wechselwirkungen zu zwingen, die eine Umgehung des Gemeinsamen Senats zumindest erschwert hätten. Unter den Begriff der Wechselwirkungen fallen dabei "alle formellen und informellen Informationen zwischen den Gerichtsbarkeiten ... , die gewollt oder ungewollt im Rahmen richterlicher Entscheidungsfindung (= Informationsverarbeitungsprozeß) aufweiche Weise auch immer Berücksichti-

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Zu den Aktivitäten des Bundesministeriums der Justiz auf dem Gebiet der Rechtstatsachenforschung siehe insb. Strempel, Zur Rechtstatsachenforschung in der Bundesrepublik Deutschland, Recht und Politik 17 (1981), 180ff.; ders., "Alternativen in der Ziviljustiz", DRiZ 1983, 86ff.; das., Rechtstatsachenforschung und Rechtspolitik, ZRP 1984, 195ff.; ders., Empirische Rechtsforschung. Entwicklung und Beitrag für die Rechtspolitik, in: Festschrift für Rudolf Wassermann zum sechzigsten Geburtstag, hrsg. v. eh. Broda, E. Deutsch, H.-L. Schreiber, H.-J. Vogel, Neuwied und Darmstadt 1985, S. 223 ff.; vgl. ferner aber auch PlettlZiegert (Hrsg.), Empirische Rechtsforschung zwischen Wissenschaft und Politik, 1984. Siehe dazu Achterberg (Hrsg.), Rechtsprechungslehre. Internationales Symposium Münster 1984, 1986; vgl. aber auch bereits ders., Rechtsprechungslehre - Desiderat der Wissenschaft, in: ders., Theorie und Dogmatik des Öffentlichen Rechts, Ausgewählte Abhandlungen 1960-1980, Berlin 1980, S. 178ff.

11. Umgehungstendenzen der obersten Gerichtshöfe des Bundes

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gung finden"115. Solche Wechselwirkungen hätten z. B. durch die Verabschiedung des bereits seit mehreren Jahren diskutierten, aber noch immer nicht inkraftgetretenen Entwurfs einer Verwaltungsprozeßordnung erzielt werden können 1l6 . Zum anderen wird dem Gesetzgeber im Hinblick auf den Gemeinsamen Senat vorgeworfen, sinnvolle Schritte zu einer effektiveren Handhabung dieser Ausgleichsinstanz für Rechtsprechungsabweichungen nicht vorgenommen zu haben. So schlagen etwa Späth und v. Mutius für die Entscheidungsfindung des Gemeinsamen Senats anstelle der mündlichen Verhandlung gemäß § 15 Abs. 1 RsprEinhG eine schriftliche Beschlußfassung im Umlaufverfahren vor, weil damit ein wesentlicher Beweggrund für die Umgehung des Gemeinsamen Senats - die durch seine Anrufung bedingte Verlängerung des Rechtsstreits - nicht unbeträchtlich entschärft werde 117 . Wenngleich daher auch der Gesetzgeber in gewissem Umfang die Umgehungstendenzen der obersten Gerichtshöfe des Bundes im Hinblick auf den Gemeinsamen Senat zu verantworten hat, so dürften die tieferen Ursachen eines derartigen Verhaltens jedoch größtenteils auf der Ebene der Rechtsprechung zu suchen sein. Sie hätte es selbst in der Hand gehabt, die Wechselwirkungen zwischen den obersten Gerichtshöfen zu intensivieren und die gegenseitige Rechtsprechung stärker zu beachten. Daß sie das nicht tat, sondern vielmehr versuchte, ihrer Rechtsauffassung entgegenstehende Entscheidungen anderer oberster Gerichtshöfe mit mehr oder weniger "gekünstelten" Begründungsversuchen aus dem eigenen Entscheidungsprozeß zu verdrängen, um dav. Mutius, Wechselwirkungen der Rechtsprechung der Obersten Gerichtshöfe des Bundes auf dem Gebiet des Sozialrechts, in: Entwicklung des Sozialrechts. Aufgabe der Rechtsprechung, Festgabe aus Anlaß des l00jährigen Bestehens der sozialgerichtlichen Rechtsprechung, hrsg. v. Deutschen Sozialrechtsverband e. V., Köln· Berlin· Bonn· München 1984, S. 651 (654). 116 Zur Diskussion um den Entwurf einer Verwaltungsprozeßordnung siehe etwa Kopp, Entlastung der Verwaltungsgerichte und Beschleunigung des Verfahrens nach dem Entwurf einer Verwaltungsprozeßordnung (EVwPO), DVBI. 1982, 613ff.; Laubinger, Ein weiterer Schritt auf dem Wege zur Verwaltungsprozeßordnung, DÖV 1982, 895ff.; Merten (Hrsg.), Die Vereinheitlichung der Verwaltungsgerichtsgesetze zu einer Verwaltungsprozeßordnung, 1978; Meyer-Ladewig, Die Vereinheitlichung der öffentlich-rechtlichen Prozeßordnungen, in: System des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes, Festschrift für Christian-Friedrich Menger zum 70. Geburtstag, hrsg. v. H.-U. Erichsen, W. Hoppe, A. v. Mutius, Köln· Berlin . Bonn . München 1985, S. 833ff.; Redeker, Bemerkungen zum Entwurf einer Verwaltungsprozeßordnung aus anwaltlicher Sicht, DVBI. 1982, 805ff.; Schenke, Mehr Rechtsschutz durch eine einheitliche Verwaltungsprozeßordnung?, DÖV 1982, 709ff.; Scholz, Die Verwaltungsprozeßordnung im Gesetzgebungsverfahren, DVBI. 1982, 605ff.; Sendler, Guter Rechtsschutz und Verfahrensbeschleunigung, DVBI. 1982, 812 ff.; Trzaskalik, Die Vereinheitlichung der Verwaltungsprozeßordnungen, NJW 1982, 1553ff.; Ule, Effektiver Rechtsschutz in einer funktionsfähigen Rechtspflege?, DVBI. 1982, 821 ff. 117 Späth, Der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes, BB 1977, 153 (157); v. Mutius, Wechselwirkungen der Rechtsprechung der Obersten Gerichtshöfe des Bundes auf dem Gebiet des Sozialrechts, in: Entwicklung des Sozialrechts. Aufgabe der Rechtsprechung, Festgabe aus Anlaß des l00jährigen Bestehens der sozialgerichtlichen Rechtsprechung, hrsg. v. Deutschen Sozialrechtsverband e. V., Köln· Berlin . Bonn . München 1984, S. 651 (679). 115

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5. Kapitel: Zur Praxis der Anrufung des Gemeinsamen Senats

mit der Anrufung des Gemeinsamen Senats zu entgehen, dürfte mehrere Ursachen haben. Zum einen wird in der Rechtslehre wohl nicht ohne Grund die Vermutung geäußert, eine mögliche Ursache der Umgehungen könne ein in den obersten Gerichtshöfen des Bundes vorherrschendes Prestigedenken sein 1l8 , das die Anrufung des Gemeinsamen Senats aufgrund der damit verbundenen Einschränkung der eigenen Entscheidungskompetenz und einer möglichen Verwerfung der eigenen Rechtsauffassung durch das Plenum als Prestigeverlust betrachtet. Im gegenwärtigen Zeitpunkt kann allerdings noch keine endgültige Bestätigung dieser Vermutung erfolgen, da insoweit noch gesicherte empirische Erkenntnisse fehlen. Zum anderen wird man als einen weiteren Grund für die Umgehungen des Gemeinsamen Senats berücksichtigen müssen, daß alle Rechtsprechungsorgane, insbesondere aber letztinstanzliche Fachgerichte, legitimerweise daran interessiert sein werden, die bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten möglichst schnell zu einer für die Prozeßbeteiligten verbindlichen Entscheidung zu führen 119 • Für die obersten Gerichtshöfe des Bundes als letztinstanzliche Fachgerichte gilt dies in besonderem Maße, da die zu ihnen gelangenden Rechtsstreitigkeiten in der Regel bereits eine Verfahrensdauer von ca. 5 Jahren mit sich bringen. Dieses Bestreben der obersten Gerichtshöfe, den anhängigen Rechtsstreit möglichst schnell rechtsverbindlich zu entscheiden, wird - wie bereits festgestellt 120 - durch die Anrufung des Gemeinsamen Senats zumindest nicht unerheblich beeinträchtigt. Außerdem darf auch nicht übersehen werden, daß die Vorlage einer Rechtsfrage an den Gemeinsamen Senat für die Richter der obersten Gerichtshöfe des Bundes zu einem beträchtlichen Mehraufwand an Zeit und Arbeitskraft 121 führt. Der wesentliche Beweggrund für den keineswegs auf die Anrufung des Gemeinsamen Senats beschränkten "horror pleni" in den obersten Gerichtshöfen des Bundes 122 dürfte jedoch tiefer liegen. Divergieren etwa das Bundesverwal-

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In diesem Sinne Späth, Der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes, BB 1977, 153 (157). v. Mutius, Wechselwirkungen der Rechtsprechung der Obersten Gerichtshöfe des Bundes auf dem Gebiet des Sozialrechts, in: Entwicklung des Sozialrechts. Aufgabe der Rechtsprechung, Festgabe aus Anlaß des lOOjährigen Bestehens der sozialgerichtlichen Rechtsprechung, hrsg. v. Deutschen Sozialrechtsverband e. V., Köln· Berlin . Bonn . München 1984, S. 651 (679); Späth, ebd. Zur Verfahrensdauer vom Voriegungsbeschluß eines obersten Gerichtshofs bis zur Entscheidung der Rechtsfrage durch den Gemeinsamen Senat siehe oben 3. Kap. Fn. 108. Zu dem zusätzlichen Arbeitsaufwand einer Anrufung des Gemeinsamen Senats siehe z. B. die sich aus den §§ 11 Abs. 1 Satz 2, 12 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 RsprEinhG ergebenden Pflichten der obersten Gerichtshöfe des Bundes. Zum "horror pleni" hinsichtlich der Großen Senate der einzelnen Gerichtshöfe siehe exemplarisch nur Dieterich, Methodische Bemerkungen zu den Aussperrungsurteilen des Bundesarbeitsgerichts vom 16. Juni 1980, in: Festschrift für Wilhelm Hersehe! zum 85.

11. Umgehungstendenzen der obersten Gerichtshöfe des Bundes

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tungsgericht und der Bundesfinanzhof in einer abgabenrechtlichen Frage 123 , so kann dies aufgrund der sich aus § 3 RsprEinhG ergebenden Zusammensetzung des Gemeinsamen Senats letztlich dazu führen, daß bei der Entscheidung der Rechtsfrage im Plenum u. U. die Rechtsauffassung derjenigen Repräsentanten der obersten Gerichtshöfe den Ausschlag gibt, die auf dem betreffenden Rechtsgebiet nicht sachverständig sind 124. Dies gilt heute mehr denn je, weil die steigende Komplexität der unterschiedlichen Rechtsmaterien es notwendigerweise mit sich bringt, daß auch die Richter der obersten Gerichtshöfe des Bundes in zunehmendem Maße zu Spezialisten auf den ihnen zugewiesenen Rechtsgebieten werden. Berücksichtigt man jedoch andererseits die relativ große Zahl der Umgehungen des Gemeinsamen Senats in prozeßrechtlichen Fragen, die in allen materiellrechtlich verschieden gelagerten Gerichtszweigen in gleicher Weise auftreten, so verbleibt als Gesamteindruck ein heterogenes, durchaus ambivalentes Beziehungsgeflecht unterschiedlicher Ursachen für die Umgehungstendenzen in der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe zurück.

Geburtstag, hrsg. v. P. Hanau, G. Müller, H. Wiedemann, O. Wlotzke iVm dem Deutschen Arbeitsgerichtsverband e. V. München 1982, S. 37 (48): "Der Große Senat entscheidet nur über ihm vorgelegte Rechtsfragen, die zwangsläufig recht abstrakt formuliert sind; ... Daraus ergibt sich für den Großen Senat die Notwendigkeit zu weit gespannten Erwägungen und zur gleichsam institutionalisierten Produktion von obiter dicta. Die Gründe seiner Entscheidungen erstarren sofort zu zahllosen bindenden Aussagen, von denen kein Senat in der Zukunft abweichen kann, ohne wiederum den Großen Senat anrufen zu müssen. Dessen Stellungnahme erzeugt - wie ein normativer Zauberlehrling - unabsehbare neue Bindungen usw. usw. Ein Senat, der Neuland betritt und seine Rechtsprechung für Korrekturen offenhalten will, muß das bedenken. "; ferner Schumann, Bundesverfassungsgericht, Grundgesetz und Zivilprozeß, S. 57f. Fn. 194; zum "horror pleni" hinsichtlich der Plenarentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts gemäß § 16 BVerfGG siehe Klein, Verfassungsprozeßrecht - Versuch einer Systematik an Hand der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts -, AöR Bd. 108 (1983), 410, 561 (615); Schumann, Keine Präklusion im Beschwerdeverfahren: Das Bundesverfassungsgericht als Bundesgerichtshof, NJW 1982, 1609 (1611). 123 Zu einer Rechtsprechungsabweichung zwischen dem Bundesverwaitungsgericht und dem Bundesfinanzhof in einer abgabenrechtlichen Frage kann es kommen, weil das Bundesverwaitungsgericht auch steuerrechtliche Fragen auf dem Gebiet des Landes- und Gemeinderechts entscheidet. 124 Im Beispielsfall etwa die Rechtsauffassung der Präsidenten des Bundesgerichtshofs, des Bundesarbeitsgerichts und des Bundessozialgerichts; siehe dazu ausführlich Werner, Organisationsrechtliche Fragen der Bundesgerichtsbarkeit, in: Zur Problematik der höchstrichterlichen Entscheidung, hrsg. v. G. Roellecke, Darmstadt 1982, S. 211 (229f.); ferner SarstedtlHamm, Die Revision in Strafsachen, Rdnr. 58 im Hinblick auf die Großen Senate des Bundesgerichtshofs; bezüglich des Großen Senats beim Bundesfinanzhof ausdrücklich in diesem Sinne Beisse, Von der Aufgabe des Großen Senats, in: Der Bundesfinanzhof und seine Rechtsprechung Grundfragen - Grundlagen, Festschrift für Hugo von Wallis zum 75. Geburtstag am 12. April 1985, hrsg. v. F. Klein und K. Vogel, Bonn 1985, S. 45 (52): "Indes besteht bei den Fachsenaten herkömmlich ein "horror pleni" , wie man beim Reichsgericht sagte. Diese Abneigung nährt sich vor allem aus der Selbsteinschätzung der Senate hinsichtlich ihrer Sachkompetenz und aus dem entsprechenden Mißtrauen dagegen, die Entscheidung einem Gremium zu übertragen, in welchem auch Mitglieder fachfremder Senate mitwirken."

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5. Kapitel: Zur Praxis der Anrufung des Gemeinsamen Senats

Nachdem damit die Umgehungen des Gemeinsamen Senats durch die obersten Gerichtshöfe des Bundes und die einzelnen Ursachen dieses Verhaltens der Rechtsprechungsorgane dargestellt werden konnten, ist es nunmehr möglich, sich der Frage nach den verfassungsrechtlichen Konsequenzen der bisherigen Feststellungen zuzuwenden.

Sechstes Kapitel

Verfassungsrechtliche Konsequenzen der Umgehungen des Gemeinsamen Senats I. Grundgesetzliche Anknüpfungspunkte einer verfassungsrechtlichen Bewertung Am Anfang einer Beschäftigung mit den verfassungsrechtlichen Konsequenzen der Umgehungen des Gemeinsamen Senats hat die Frage zu stehen, welche grundgesetzlichen Anknüpfungspunkte für eine verfassungsrechtliche Bewertung dieses Rechtsprechungsverhaltens überhaupt in Betracht kommen. Dabei erfolgt in der Rechtslehre bisweilen eine direkte oder indirekte Bezugnahme auf die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG1. Ein solcher Rückgriff auf die Vorschrift des Art. 19 Abs. 4 GG im Falle einer Mißachtung der Vorlegungsvoraussetzungen des § 2 RsprEinhG vermag einer näheren Überprüfung jedoch nicht standzuhalten. Zwar gehen Sinn und Zweck der Rechtsschutzgarantie dahin, einen möglichst lückenlosen und effektiven gerichtlichen Schutz des einzelnen gegen Verletzungen seiner Rechtssphäre durch Eingriffe der öffentlichen Gewalt zu gewährleisten 2, aber der für Art. 19 Abs. 4 GG zentrale Begriff der öffentlichen Gewalt umfaßt - abgesehen von Gerichts- und Justizverwaltungsakten 3 - nicht die richterliche Gewalt 4 • Diese fast ausnahmslos anerkannte Einschränkung der Rechtsschutzgarantie 5 wird allgemein durch die bekannte Formel "Art. 19 Abs. 4 GG gewährt Schutz durch den Richter, nicht v. Mutius, Wechselwirkungen der Rechtsprechung der Obersten Gerichtshöfe des Bundes auf dem Gebiet des Sozialrechts, in: Entwicklung des Sozialrechts. Aufgabe der Rechtsprechung, Festgabe aus Anlaß des l00jährigen Bestehens der sozialgerichtlichen Rechtsprechung, hrsg. v. Deutschen Sozialrechtsverband e. V., Köln' Berlin . Bonn . München 1984, S. 651 (675); Späth, Der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes, BB 1977, 153 (157). 2 BVerfGE 8, 274 (326); 25, 352 (365); 35, 382 (402ff.); 40, 272 (275); 41, 323 (326); 42,128 (130); 49, 252 (256f.); Schmidt-BleibtreuIKlein, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 19 Rdnr. 16 m. w. N. 3 Siehe dazu Schenke, in: BK, Art. 19 Abs. 4, Rdnr. 278; Schmidt-Aßmann, in: MaunzlDürig, Grundgesetz Kommentar, Art. 19 Abs. 4 Rdnr. 102, 103. 4 BVerfGE 4,74 (96); 11,263 (265); 22, 106 (110); 25, 352 (365); 49, 329 (340); BVerfG, DVBI. 1983, 1236 (1237); Schmidt-Aßmann, ebd., Rdnr. 96 m. w. N. in Fn. 115; differen. zierend Schenke, ebd., Rdnr. 275, nach dessen Ansicht der Begriff der öffentlichen Gewalt in Art. 19 Abs. 4 GG zwar die Rechtsprechung umfaßt, eine teleologische Reduktion dieser Vorschrift aber deren Herausnahme aus der Rechtsschutzgarantie fordere. 5 A. A. insb. Larenz, Rechtsschutz, S. 241 ff.; weitere Nachweise zu Vertretern dieser Ansicht bei Schenke, ebd., Rdnr. 275. 1

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6. Kapitel: Verfassungsrechtliche Konsequenzen

gegen den Richter"6 zum Ausdruck gebracht. Rechtsdogmatisch läßt sich diese Einschränkung der Rechtsweggarantie vor allem damit rechtfertigen, daß man andernfalls zu einem die Rechtskraft ausschließenden "Rechtsschutz ad infinitum"7 käme, der sich mit dem im Rechtsstaatsprinzip angelegten Grundsatz der Rechtssicherheit nicht vereinbaren ließe. Rechtspolitisch erscheint die Ausgrenzung der richterlichen Gewalt aus dem Begriff der öffentlichen Gewalt in Art. 19 Abs. 4GG schon deshalb durchaus vertretbar, weil mit der Einbeziehung der Judikative in den Anwendungsbereich des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG zusätzlicher Rechtsschutz gewährt wird R• Wenn eine derartige Einschränkung der Rechtsschutzgarantie allerdings teilweise damit begründet wird, den Rechtsprechungsorganen sei innerhalb der Funktionenordnung grundsätzlich ein Vertrauensvorschuß zuzubilligen9 , so erscheint dies vor dem Hintergrund der bisherigen Feststellungen lO und der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts zu grundrechtsrelevanten Verfahrensverstößen der GerichteIl in hohem Maße fraglich. Die bewußte Mißachtung rechtsprechungsinterner Vorlagepflichten wird in der Rechtslehre vereinzelt auch als eine Verletzung des verfassungsrechtlich garantierten Grundsatzes rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) betrachtet 12 • Eine derartige Argumentation gibt jedoch Anlaß zu Bedenken, weil sie die Schutzrichtung des Art. 103 Abs. 1 GG verkennt und seinen in letzter Zeit ohnehin expandierenden Anwendungsbereich 13 zusätzlich ungerechtfertigt erweitert. Sinn und Zweck des Art. 103 Abs. 1 GG gehen dahin, den Anspruch der Beteiligten eines Rechtsstreits zu gewährleisten, in einem anhängigen Gerichtsverfahren zu den entscheidungserheblichen Rechts- und Tatfragen 14 Stellung nehmen zu können 15. 6 7

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BVerfGE 49, 329 (340); BVerfG, DVBI. 1983, 1236 (1237); Schmidt-Aßmann, in: Maunzl Dürig, Grundgesetz Kommentar, Art. 19 Abs. 4 Rdnr. 96. Schenke, in: BK, Art. 19 Abs. 4 Rdnr. 275. Schmidt-Aßmann, in: MaunzlDürig, Grundgesetz Kommentar, Art. 19 Abs. 4 Rdnr. 96. Ebd. Siehe dazu nur die im 5. Kapitel, H. festgestellten leichtfertigen, häufig sogar bewußten Umgehungen des Gemeinsamen Senats; gegenüber einem "Vertrauensvorschuß der Rechtsprechung" ebenfalls ablehnend Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 319. Siehe z. B. nur BVerfGE 45,360 (362); vgl. ferner Schumann, Bundesverfassungsgericht, Grundgesetz und Zivilprozeß, S. 21 ff. Os wald, Ausgleichsansprüche des Handelsvertreters, Der Steuerberater 1972, 27 (29). Siehe dazu bereits oben 3. Kapitel, 111., 2., c) Fn. 103; ferner Schumann, Bundesverfassungsgericht, Grundgesetz und Zivilprozeß, S. 21 m. w. N. in Fn. 74, insbesondere auf die ständig zunehmende Judikatur des Bundesverfassungsgerichts in diesem Bereich; vgl. auch Kopp, Das Rechtliche Gehör in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR Bd. 106 (1981), 604ff. Das rechtliche Gehör um faßt nach heute wohl überwiegender Meinung neben der Möglichkeit, Tatsächliches vorzutragen, auch die Stellungnahme der Prozeßparteien zu Rechtsfragen; in diesem Sinne z. B. BVerfG, BVerfGE 55,1 (5f.): "Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs dient nicht nur der Abklärung der tatsächlichen Grundlage der Entscheidung, sondern auch der Achtung der Würde des Menschen, der in einer so schwerwiegenden Lage, wie ein Prozeß sie für gewöhnlich darstellt, die Möglichkeit haben muß, sich mit tatsächli-

I. Grundgesetzliehe Anknüpfungspunkte

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Ebensowenig wie Art. 103 Abs. 1 GG - durch die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes auch belegt l6 - ein Justizgewährungsanspruch (Erster Zugang zum Gericht)l? oder gar ein Anspruch auf eine zweite Entscheidungsinstanz l8 entnommen werden kann, erscheint es auch nicht zulässig, aus der verfassungsrechtlichen Gewährleistung rechtlichen Gehörs vor Gericht einen Anspruch auf Eröffnung bzw. Durchführung eines Divergenzausgleichsverfahrens abzuleiten. Art. 103 Abs. 1 GG entfaltet seine Wirkungen vielmehr einerseits im anhängigen Ausgangsverfahren, indem er den Prozeßparteien dort die Möglichkeit bietet, die Einschaltung des Gemeinsamen Senats anzuregen oder etwaige Bedenken des Gerichts hinsichtlich seiner Anrufung zu entkräften. Andererseits ist dem Anspruch auf rechtliches Gehör im Ausgleichsverfahren selbst wie dies etwa § 15 Abs. 1 RsprEinhG vorsieht - Rechnung zu tragen 19. Art. 103 Abs. 1 GG sollte aber nicht als "Brücke" für den Übergang vom Ausgangsverfahren in ein Divergenzausgleichsverfahren angesehen werden. Für den weitaus überwiegenden Teil der Rechtslehre liegt das verfassungsrechtliche "Gravitationszentrum" einer fahrlässigen oder bewußten Umgehung des Gemeinsamen Senats jedoch in der möglichen Verletzung des grundgesetzlich garantierten Anspruchs auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG)20. Deshalb soll dem Gewährleistungsgehalt dieser Verfassungsnorm nachfolgend besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden.

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chen und rechtlichen (Hervorhebung vom Verf.) Argumenten zu behaupten."; ebenso Dürig, in: MaunzlDürig, Grundgesetz Kommentar, Art. 103 Abs. I Rdnr. 33-37; Kopp, ebd., 604 (622fL); Rüping, in: BK, Art. 103 Abs. I Rdnr. 42-44. Dürig, ebd., Rdnr. 88; Rüping, ebd., Rdnr. 13; Wassermann, Kommentierung zu Art. 103, in: Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (Alternativkommentar), hrsg. v. R. Wassermann, Band 2, Art. 21-146, Rdnr. 13. Dütz, Rechtsstaatlicher Gerichtsschutz, S. 78f. Die Ableitung eines Justizgewährungsanspruchs aus Art. 103 Abs. 1 GG wird insb. abgelehnt von Lorenz, Rechtsschutz, S. 238; Rüping, in: BK, Art. 103 Abs. 1 Rdnr. 13; Wassermann, Kommentierung zu Art. 103, in: Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (Alternativkommentar), hrsg. v. R. Wassermann, Band 2, Art. 21-146, Rdnr. 13; a. A. aber dezidiert Baur, Der Anspruch auf rechtliches Gehör, AcP Bd. 153 (1954), 393fL, auch in ders., Beiträge zur Gerichtsverfassung und zum Zivilprozeßrecht, hrsg. v. W. Grunsky, R. Stürner, G. Walter, M. Wolf, Tübingen 1983, S. 84ff.; Fechner, Kostenrisiko und Rechtswegsperre - Steht der Rechtsweg offen?, JZ 1969, 349; zur neueren Entwicklung in dieser Frage, insbesondere zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts siehe Kopp, Das Rechtliche Gehör in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR Bd. 106 (1981), 604 (609 m. w. N. in Fn. 26, 620f.). BVerfGE 54, 143; 49, 329 (343); 42, 243 (248); 42, 252 (254); Dürig, in: MaunzlDürig, Grundgesetz Kommentar, Art. 103 Abs. 1 Rdnr. 89; Kopp, ebd., 604 (609). Rüping, in: BK, Art. 103 Abs. 1 Rdnr. 43,44. Achterberg, in: BK, Art. 95 Rdnr. 320; Maunz, in: MaunzlDürig, Grundgesetz Kommentar, Art. 101 Rdnr. 54; v. Mutius, Wechselwirkungen der Rechtsprechung der Obersten Gerichtshöfe des Bundes auf dem Gebiet des Sozialrechts, in: Entwicklung des Sozialrechts. Aufgabe der Rechtsprechung, Festgabe aus Anlaß des 100jährigen Bestehens der sozialgerichtlichen Rechtsprechung, hrsg. v. Deutschen Sozialrechtsverband e. V., Köln· Berlin . Bonn . München 1984, S. 651 (675); Os wald, Ausgleichsansprüche des Handelsver-

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6. Kapitel: Verfassungsrechtliche Konsequenzen

11. Die Umgehungen des Gemeinsamen Senats im Lichte des Anspruchs auf den gesetzlichen Richter 1. Die Garantie des gesetzlichen Richters: Grundrecht oder grundrechtsähnliches Recht?

Noch immer herrscht in der Rechtsprechung und Rechtslehre keine Einigkeit darüber, ob Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ein echtes Grundrecht2 1 oder ein grundrechtsähnliches Recht 22 verkörpert. Ohne an dieser Stelle nochmals auf den bereits mehrfach in ausführlicher Weise dargestellten Meinungsstreit 23 näher einzugehen, soll allerdings festgestellt werden, daß es sich bei dem Anspruch aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG um ein grundrechtsähnliches Recht handelt. Dem steht weder eine positive Formulierung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG entgegen, die zu der Aussage "Jedermann hat ein Recht auf den gesetzlichen Richter" führt2 4 , noch eine dahingehende Argumentation, daß diese Verfas-

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treters, Der Steuerberater 1972, 27 (29f.); Späth, Der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes, BB 1977, 153 (157); hinsichtlich etwaiger Umgehungen der Großen Senate der obersten Gerichtshöfe Kissel, Gerichtsverfassungsgesetz Kommentar, § 121 Rdnr. 24; Rüthers, Wer kann das Arbeitskampfrecht regeln?, FAZ vom 31. 8. 1985, Nr. 201, S. 13; Saiger, Kommentierung zu § 121 GVG, in: Karlsruher Kommentar zur Strafprozeßordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz, hrsg. v. G. Pfeiffer, Rdnr. 41 a; Schäfer, Kommentierung zu § 121 GVG, in: Löwe-Rosenberg, Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, Großkommentar, Fünfter Band, Rdnr. 73. In diesem Sinne aus der Rechtsprechung BVerfGE 14, 156 (161); 28, 314 (323) "prozessuales Grundrecht"; aus der Rechtslehre insb. Arndt, Rechtsprechende Gewalt und Strafkompetenz, in: Festgabe für Carlo Schmid zum 65. Geburtstag, hrsg. v. Th. Eschenburg, Th. Heuss, G.-A. Zinn, Tübingen 1962, S. 5 (32); Bettermann, Die Unabhängigkeit der Gerichte und der gesetzliche Richter, in: Die Grundrechte, 3. Bd., 2. Halbband, hrsg. v. K. A. Bettermann, H. C. Nipperdey, U. Scheuner, 1959,523 (556f.); Henkel, Der gesetzliche Richter, Diss. Göttingen 1968, S. 7; Marx, Der gesetzliche Richter im Sinne von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz, Diss. Köln 1967, S. 148; Scupin, Der gesetzliche Richter im Bonner Grundgesetz, Diss. Tübingen 1963, S. 87f. In diesem Sinne aus der Rechtsprechung BVerfG, NJW 1982, 2173 (2174); BVerwG, NVwZ 1984, 235; aus der Rechtslehre Maunz, in: MaunzlDürig, Grundgesetz Kommentar, Art. 101 Rdnr. 6; Stern, Staatsrecht, Bd. II, § 43 II 5. d) a), S. 916; vgl. zum Problemkreis ferner Gottschalk, Das Recht auf den gesetzlichen Richter- Artikel 101 Absatz 1 Satz 2 GG - in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der oberen Bundesgerichte unter Berücksichtigung des Schrifttums, Diss. Köln 1965; Kunigk, in: v. Münch, Grundgesetz-Kommentar, Art. 101 Rdnr. 4; Wipfelder, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, VBIBW 1982, 33ff. Siehe dazu etwa Henkel, Der gesetzliche Richter, Diss. Göttingen 1968, S. 6f.; Scupin, Der gesetzliche Richter im Bonner Grundgesetz, Diss. Tübingen 1963, S. 86ff. Beuermann, Die Unabhängigkeit der Gerichte und der gesetzliche Richter, in: Die Grundrechte, 3. Bd., 2. Halbband, hrsg. v. K. A. Bettermann, H. C. Nipperdey, U. Scheuner, 1959, S. 523 (556); Scupin, ebd., S. 88.

11. Der Anspruch auf den gesetzlichen Richter

151

sungsnorm den Bürger vor Eingriffen des Staates in seinen Freiheitsbereich schütze, mittelbar der Grundrechtsdurchsetzung diene und eine enge Verbindung zum Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG aufweise 25 . Ersteres bildet einzig und allein einen Hinweis darauf, daß der Anspruch auf den gesetzlichen Richter ein subjektiv öffentliches Recht darstellt. Eine weitergehende Bedeutung kann der positiven Formulierung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG jedenfalls ohne zusätzliche Begründung nicht zukommen. Auch der zweite Einwand greift nicht durch, da der Umstand, daß eine Verfassungsnorm mittelbar der Grundrechtsdurchsetzung dient und einen Bezug zu speziellen Grundrechten aufweist, noch nicht als Beweis für ihren Grundrechtscharakter angesehen werden kann. Vor diesem Hintergrund und angesichts des eindeutigen Wortlauts des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG26 ist einer Deutung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG als grundrechtsähnliches Recht der Vorzug zu geben. 2. Die Schutzwirkungen des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG im Bereich der Rechtsprechung Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG vermittelt nicht nur jedem Rechtsuchenden einen individuellen Anspruch auf den gesetzlichen Richter, sondern er enthält in der Form einer institutionellen Garantie zugleich eine objektivrechtliche Komponente, welche die "Festlegung des oder der für jedes gerichtliche Verfahren zur Entscheidung berufenen Richter durch Gesetz verlangt, um jede andere Einwirkung auf die Bestimmung des Spruch körpers auszuschließen,m. In dieser subjektiv- und objektivrechtlichen Ausprägung bindet Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG neben der Exekutive und der Legislative auch die Judikative. Deren Bindung hat Bedeutung sowohl für den Bereich der Rechtsprechung selbst 28 als auch für gerichtsorganisatorische Maßnahmen 29 . In dem hier allein interessierenden Bereich der rechtsprechenden Tätigkeit kann der gesetzliche Richter durch die fehlerhafte Anwendung verfahrensrechtlicher Bestimmungen entzogen werden. Als solche kommen z. B. die unberechtigte Zurückweisung eines Richterablehnungsgesuches 3O , die Nichtbescheidung eines Prozeßantrages31

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Bettermann, ebd., S. 523 (556f.); Henkel, Der gesetzliche Richter, Diss. Göttingen 1968, S.7. Auf die vom Wortlaut des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG gebotene Deutung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verweist mit Recht Maunz, in: Maunz I Dürig, Grundgesetz Kommentar, Art. 101 Rdnr. 6. Stern, Staatsrecht, Bd. 11, § 43 11 5. d) a), S. 916. Dazu Wipfelder, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, VBIBW 1982,33 (35ff.); vgl. auch Kunigk, in: v. Münch, Grundgesetz-Kommentar, Art. 101 Rdnr. 32, 33; Maunz, in: Maunz I Dürig, Grundgesetz Kommentar, Art. 101 Rdnr. 42ff. Kunigk, ebd., Rdnr. 36ff.; Wipfelder, ebd., 33 (37ff.). BVerfGE 31,145 (164). BVerfGE 13, 132 (144).

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6. Kapitel: Verfassungsrechtliche Konsequenzen

oder gar die Nichtbearbeitung bestimmter Verfahren 32 ("formelle Justizverweigerung") in Betracht. Ob der Anspruch des Rechtsuchenden auf den gesetzlichen Richter auch dadurch verletzt werden kann, daß ein oberster Gerichtshof des Bundes den Gemeinsamen Senat nicht anruft, die Vorlage der Rechtsfrage an das Plenum aber gleichwohl geboten war, hat das Bundesverfassungsgericht bislang noch nicht entschieden. Der beim Bundesverfassungsgericht gemäß § 93 a Nr. 2 BVerfGG eingerichtete Dreier- bzw. Vorprüfungsausschuß ließ die Frage, ob durch die Weigerung eines obersten Gerichtshofs des Bundes, den Gemeinsamen Senat anzurufen, das Recht der Prozeßbeteiligten aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG überhaupt verletzt werden kann, in einer Entscheidung vom 21. März 1969 zunächst ausdrücklich offen33 . Mit Beschluß vom 20. Februar 1985 hat er jedoch nunmehr eindeutig zu dieser Frage Stellung bezogen. Er bringt darin zum Ausdruck, daß der Gemeinsame Senat bei Divergenzen im Sinne des § 2 RsprEinhG als gesetzlicher Richter der Prozeßbeteiligten anzusehen ist34 • Diese bisher nicht expressis verbis geäußerte Rechtsauffassung wird auch durch die vom Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung vertretene Ansicht nahegelegt, wonach jemandem der gesetzliche Richter auch dadurch entzogen werden kann, daß ein Gericht die Pflicht zur Vorlage an ein anderes Gericht außer acht läßt 35 . Dies gilt in gleicher Weise, wenn das Gericht, dem vorzulegen ist, lediglich über eine konkrete Rechtsfrage zu entscheiden hat 36 . Daß es sich bei dem Gemeinsamen Senat um ein Gericht im Sinne des Grundgesetzes handelt, konnte bereits festgestellt werden 3? Den gemäß § 2 RsprEinhG zum Ausgleich von Rechtsprechungsabweichungen berufenen Gemeinsamen Senat als gesetzlichen Richter iSd. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG anzusehen, steht aber auch in Übereinstimmung mit der allgemein gebräuchlichen Definition des gesetzlichen Richters. Als solcher wird derjenige Richter bezeichnet, "der aufgrund der gesetzlichen Vorschriften über die Abgrenzung der einzelnen Gerichtszweige und der Vorschriften über die sachliche und örtliche Zuständigkeit eines Gerichts sowie aufgrund der innerhalb eines Gerichts unter den dort tätigen Richtern getroffenen Geschäftsverteilung im Einzelfall zur Entscheidung eines bestimmten Rechtsstreits zuständig ist 38 •

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BVerfGE 3, 359 (364); ebenso Kern, Der gesetzliche Richter, S. 203f. Beschluß vom 21. März 1969 - 1 BvR 569/68 -, S. 2 (n. v.). BVerfG (Vorprüfungsausschuß), DVBI. 1985, 566 (567). BVerfGE 3, 359 (363f.); 9, 213 (215); 13, 132 (143); 17,99 (104); 18,441 (447); 19,38 (43); 23,288 (319); 29, 166 (172); 31, 145 (17lf.); 42, 237 (241); 45, 142 (181); ebenso BayVerfGH, NJW 1985, 2894 (2895). BVerfGE 19, 38 (43 m. w. N.). Siehe dazu oben 2. Kap., 1., 3. Heyde, Die Rechtsprechung, in: Handbuch des Verfassungsrechts, hrsg. v. E. Benda, W. Maihofer, H.-J. Vogel, 1983, S. 1199 (1223).

H. Der Anspruch auf den gesetzlichen Richter

153

Im Falle einer Rechtsprechungsabweichung (§ 2 RsprEinhG) ist der Gemeinsame Senat nämlich zur Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits in der konkreten Einzelfrage berufen und an dieser Entscheidung über § 16 RsprEinhG beteiligt, weil seine Beantwortung der Rechtsfrage das vorlegende Gericht des Ausgangsrechtsstreits unmittelbar bindet39 • Einer solchen Sichtweise, die eine Verletzung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG durch die Rechtsprechung selbst für möglich hält und den Gemeinsamen Senat als gesetzlichen Richter im Sinne dieser Vorschrift betrachtet, steht auch nicht die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes entgegen 40 • Den seinerzeitigen Beratungen kann jedenfalls kein dahingehender Hinweis entnommen werden, daß der Schutzbereich des Anspruchs auf den gesetzlichen Richter nur sachfremde Eingriffe der Exekutive und der Legislative umfassen sollte. Lediglich die historische Entwicklung dieses Grundsatzes 41 könnte Anlaß dafür sein, den Schutzbereich des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG derart zu verengen, weil etwa Art. 105 WRV nur vor Eingriffen der Verwaltung, der Landes- und Reichsgesetzgebung schützte 42 . Dem hat das Bundesverfassungsgericht jedoch schon frühzeitig widersprochen 43 , da es die Möglichkeit erkannte, daß ein Rechtsprechungsorgan durch die Verschiebung der gesetzlich vorgesehenen Zuständigkeit oder durch die sog. "formelle Justizverweigerung" den Prozeßparteien Nachteil zufügen kann. Die bereits zuvor festgestellten Umgehungen des Gemeinsamen Senats durch die obersten Gerichtshöfe des Bundes belegen die Berechtigung dieser Vermutungen des Bundesverfassungsgerichts. Von daher erscheint es gerechtfertigt, in den Schutzbereich des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG auch die Abwehr sachfremder Eingriffe durch die Rechtsprechung einzubeziehen.

Als gesetzlichen Richter iSd. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG betrachten den Gemeinsamen Senat auch Achterberg, in: BK, Art. 95 Rdnr. 320; Broß, Anmerkung zu BSG, SGb. 1981, 547, SGb. 1981,549 (552); v. Mutius, Wechselwirkungen der Rechtsprechung der Obersten Gerichtshöfe des Bundes auf dem Gebiet des Sozialrechts, in: Entwicklung des Sozialrechts. Aufgabe der Rechtsprechung, Festgabe aus Anlaß des 100jährigen Bestehens der sozialgerichtlichen Rechtsprechung, hrsg. v. Deutschen Sozialrechtsverband e. V., Köln· Berlin . Bonn . München 1984, S. 651 (675); Späth, Der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes, BB 1977, 153 (157); für die Großen Senate ausdrücklich in diesem Sinne Rüthers, Sonderarbeitskampfrecht der Presse?, NJW 1984, 201; Schlüchter, Mittlerfunktion der Präjudizien, S. 39 f. 40 So aber Doehring, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, S. 380. 41 Zur historischen Entwicklung des Anspruchs auf den gesetzlichen Richter siehe ausführlich Kern, Der gesetzliche Richter, S. Ilff., für Deutschland insb. S. 45 ff. 42 Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, Art. 105 Anm. 1. 43 BVerfGE 3, 359 (364); wenn Bettermann dem Bundesverfassungsgericht vorwirft, seine Auffassung nicht zu begründen, sondern lediglich apodiktische Behauptungen aufzustellen, so trifft ihn dieser Vorwurf in gleichem Maße, zumal er sich bei seiner Argumentation auch noch eines sinnentstellenden Zitats aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bedient, Bettermann, Der gesetzliche Richter in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR Bd. 94 (1969), 263 (287f.).

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6. Kapitel: Verfassungsrechtliche Konsequenzen

In ständiger Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht jedoch stets darauf hingewiesen, daß nicht jede fehlerhafte Anwendung verfahrensrechtIieher Bestimmungen eine Verletzung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG bedeute 44 , sondern daß es des Hinzutretens besonderer Umstände bedürfe, um in einer konkreten Rechtsprechungsentscheidung einen Entzug des gesetzlichen Richters zu sehen. 3. Das Erfordernis "willkürlicher" Mißachtung der VoriagepOicht Zur Begründung einer Verletzung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG durch Mißachtung der einem Rechtsprechungsorgan obliegenden Vorlagepflicht verlangt das Bundesverfassungsgericht eine "willkürlich unrichtige" Anwendung entsprechender Verfahrensvorschriften. Einen solchen Verstoß lehnt es daher ab, wenn die Nichtvorlage allein auf einem sog. "error in procedendo" beruht45 • Die dogmatische Begründung für diese Differenzierung liegt zum einen darin, daß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG "nur" eine Ausprägung des im Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG) enthaltenen Willkürverbots darstellt46 , zum anderen in der Funktion des Bundesverfassungsgerichts, dessen Aufgabe nicht die Kontrolle einfachen Rechts, sondern "spezifischen" Verfassungsrechts ist47 • Der vom Bundesverfassungsgericht getroffenen Unterscheidung zwischen einem willkürlichen und einem rechtsirrtümlichen Verfahrensfehler haben Bettermann und Papier dezidiert widersprochen 48 . Nach ihrer Ansicht entbehrt die gewählte Differenzierung jeder Grundlage; ein Verfassungsverstoß liege vielmehr nur dann vor, wenn Rechtsprechungsorgane eine wegen Unvereinbarkeit mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG oder mit sonstigen Verfassungsrechtssätzen nichtige Zuständigkeitsnorm anwenden oder einer interpretationsfähigen Zuständigkeitsnorm einen dem Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG widersprechenden Sinn bei-

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Siehe dazu die Nachweise in Fn. 35. BVerfGE 3, 359 (365); 17,99 (104); 19,38 (42f.); 29,198 (207); ebenso BayVerfGH, NJW 1985, 2894 (2895). Kunigk, in: v. Münch, Grundgesetz-Kommentar, Art. 101 Rdnr. 33; Wipfelder, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, VBIBW 1982, 33 (36). BVerfGE 15, 245 (247); Kunigk, ebd.; vgl. dazu aber auch Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 318. Bettermann, Der gesetzliche Richter in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR Bd. 94 (1969), 263 (280ff., 288); Papier, "Spezifisches Verfassungsrecht" und "einfaches Recht" als Argumentationsformel des Bundesverfassungsgerichts, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Festgabe aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, hrsg. v. eh. Starck, Erster Band, Verfassungsgerichtsbarkeit, Tübingen 1976, S. 432 (454ff., 456).

H. Der Anspruch auf den gesetzlichen Richter

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legen 49 • Die Fragwürdigkeit dieser Argumentation zeigt sich bereits anhand der zweiten Fallgruppe ihrer Definition. Soll danach ein Verfassungsverstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nur dann vorliegen, wenn ein Gericht einer interpretationsfähigen Zuständigkeitsnorm einen dem Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG widersprechenden Sinn beilegt, so handelt es sich dabei nicht um die Begründung der Voraussetzungen eines Verfassungsverstoßes, sondern allein um einen definitorischen Zirkelschluß. Außerdem führt die von Bettermann und Papiervertretene Auffassung dazu, daß die fehlerhafte Auslegung und Anwendung gültiger Rechtsnormen - unabhängig vom Motiv und der Begründung fehlerhafter Rechtsanwendung - grundsätzlich keinen Verfassungsverstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG darstellen 50 • Zumindest den obersten Gerichtshöfen des Bundes, die instantieIl keiner weiteren Kontrolle mehr unterworfen sind, wird damit ein nicht zu billigender Freiraum bei der Entscheidungsfindung gewährt 51 • Geht man demnach von der Differenzierung des Bundesverfassungsgerichts zwischen willkürlichen und rechtsirrtümlichen Verfahrensfehlern aus, so kommt es für die Annahme eines Verfassungsverstoßes wegen Mißachtung der gesetzlich normierten Vorlagepflicht eines Rechtsprechungsorgans entsfheidend auf die inhaltliche Konkretisierung des Willkürbegriffs an. Der Begriff der Willkür läßt sich inhaltlich nur schwer konkretisieren; formale Kriterien, die einer Begriffsbildung dienlich sein könnten, fehlen. Wie Leibholz einmal festgestellt hat, lebt der WiIIkürbegriff "im Raum des geschichtlich Wandelbaren"52. Ungeachtet dieser Schwierigkeiten haben sich Bundesverfassungsgericht und Rechtslehre der Aufgabe angenommen, den Begriff der Willkür zu präzisieren. Dabei wird heute allgemein davon ausgegangen, daß die Feststellung willkürlichen HandeIns der Rechtsprechungsorgane nicht auf der Grundlage ihrer subjektiven Beweggründe zu erfolgen hat 53 , sondern daß vielmehr objektive Maßstäbe anzulegen sind54 . Dem steht auch nicht entgegen, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG stets in Verbindung mit dem im Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG enthaltenen Willkürverbot sehen zu

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Papier, ebd., S. 432 (456). Ebd.; kritisch dazu auch Schuppert, Zur Nachprüfung gerichtlicher Entscheidungen durch das Bundesverfassungsgericht, AöR Bd. 103 (1978), 43 (53ff.). Dies wird auch von Bettermann erkannt, ohne daraus allerdings Konsequenzen zu ziehen, Bettermann, Der gesetzliche Richter in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR Bd. 94 (1969), 263 (287). Leibholz, Die Gleichheit vor dem Gesetz und das Bonner Grundgesetz, DVBI. 1951, 193 (196); vgl. zum Begriff der Willkür auch Scupin, Der gesetzliche Richter im Bonner Grundgesetz, Diss. Tübingen 1963, S. 50ff.; Stein wedel, "Spezifisches Verfassungsrecht" und "einfaches Recht", S. 39 ff. Kunigk, in: v. Münch, Grundgesetz-Kommentar, Art. 101 Rdnr. 34; Maunz, in: Maunz! Dürig, Grundgesetz Kommentar, Art. 101 Rdnr. 52. Henkel, Der gesetzliche Richter, Diss. Göttingen 1968, S. 95ff.; Kunigk, ebd.; Maunz, ebd.; Rinck, Gesetzlicher Richter, Ausnahmegericht und Willkürverbot, NJW 1964,1649 (1652).

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6. Kapitel: Verfassungsrechtliche Konsequenzen

müssen. Hinsichtlich einer Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG durch eine Gerichtsentscheidung 55 hat das Bundesverfassungsgericht nämlich erst jüngst darauf hingewiesen, daß die verfassungsgerichtliche Feststellung willkürlichen HandeIns keinen subjektiven Schuldvorwurf enthalte, sondern in einem objektiven Sinne zu verstehen sei. Nicht subjektive Willkür führe zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit, entscheidend sei vielmehr die tatsächliche und eindeutige Unangemessenheit einer Maßnahme im Verhältnis zu der tatsächlichen Situation, derer sie Herr werden solle 56 . Unter Zugrundelegung dieses objektiven Maßstabs kann danach von Willkür nur dann die Rede sein, "wenn die Entscheidung sich bei der Anwendung und Auslegung von Zuständigkeitsnormen, zu denen in einem weiteren Sinne auch Vorschriften über die Vorlage an ein anderes Gericht gehören, so weit von dem diese Normen beherrschenden Grundsatz des gesetzlichen Richters entfernt, daß die Gerichtsentscheidung nicht mehr zu rechtfertigen ist"57. In etwas anderer Form, inhaltlich aber gleichbedeutend, hat das Bundesverfassungsgericht dies auch darin zum Ausdruck gebracht, daß die Anwendung des Verfahrensrechts auf "unsachlichen"58, nicht mehr zu rechtfertigenden Erwägungen 59 beruhen müsse, die Entscheidung keinen Bezug zu dem gesetzlich vorgegebenen Maßstab aufweisen dürfe 60 oder sich derart weit von der auszulegenden Norm entferne, daß sich der Schluß aufdränge, auf sachfremden Erwägungen zu beruhen 61 • Soweit man aufgrund dieser vom Bundesverfassungsgericht getroffenen Prä; zisierungen des Begriffs der Willkür eigentlich annehmen sollte, daß damit je~ denfalls besonders eklatante, auf nicht mehr zu rechtfertigenden Erwägungen beruhende oder objektiv unter keinem Gesichtspunkt vertretbare Mißachtungen einer Ausgleichsinstanz verfassungsrechtlich sanktioniert würden, deckt sich diese Vermutung allerdings nicht mit der Rechtswirklichkeit. In der Praxis haben der Ansatz des Bundesverfassungsgerichts, zwischen willkürlichen und rechtsirrtümlichen Verfahrensfehlern zu trennen, und die Konkretisierungen des Willkürbegriffs nämlich dazu geführt, kaum eine Rechtsprechungsentscheidung als Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG zu werten 62 • Aus dem 55 Zur Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG durch Gerichtsentscheidungen vgl. allgemein Kra-

mer, Objektive Willkür von Gerichtsentscheidungen - BVerfGE 57, 39 und 58, 163, JuS 1984, 601 ff. 56 BVerfG, NJW 1983, 809. 57 BVerfGE 29, 198 (207). 58 BVerfGE 29, 166 (173). 59 BVerfGE 29,45 (49); NJW 1983,671. 60 BVerfGE 6, 45 (53). 61 BVerfGE 19,38 (43); 67, 90 (94) in bezug auf Willkür im Sinne des Art. 3 Abs. 1 GG. 62 Kunigk, in: v. Münch, Grundgesetz-Kommentar, Art. 101 Rdnr. 33; Oswald, Ausgleichsansprüche des Handelsvertreters, Der Steuerberater 1972,27 (30); in diese Richtung gehende Befürchtungen auch bei Schiller, Unterlassene Vorlagepflicht nach Art. 177 III

IH. Das Bundesverfassungsgericht als "Superrevisionsinstanz"

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Bereich der gesetzlich normierten Vorlageverpflichtungen innerhalb der Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht z. B. bisher erst in einem einzigen Fall die Voraussetzungen einer willkürlichen Mißachtung der Vorlagepflicht bejaht63 • Zu Recht haben daher Niemöller/Schuppert von einem "weitmaschigen Maßstab" gesprochen 64 • Faßt man vor diesem Hintergrund zumindest einige der oben bereits festgestellten Umgehungen des Gemeinsamen Senats durch die obersten Gerichtshöfe des Bundes und deren teilweise "nicht mehr zu rechtfertigenden" bzw. "objektiv nicht vertretbaren" Begründungsversuche für eine Nichtvorlage ins Auge, so erscheint es dringend notwendig, vor einer weiteren Aufweichung der Kontrolldichte im Bereich der Vorlagepflichtverletzungen zu warnen. Damit soll keineswegs einer ausufernden Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts bei der Anwendung verfahrensrechtlicher Vorschriften durch die obersten Gerichtshöfe des Bundes das Wort geredet werden; ein solcher Vorschlag würde ohne Zweifel der vom Grundgesetz dem Bundesverfassungsgericht übertragenen Aufgabenzuweisung widersprechen. Es erscheint aber geboten, daß das Bundesverfassungsgericht seinen objektiven Maßstab bei der Feststellung willkürlichen Handeins der Rechtsprechungsorgane deutlicher als bisher hervorhebt und gegebenenfalls auch konsequent zur Anwendung bringt. Andernfalls könnte unter den Rechtsprechungsorganen der Eindruck entstehen, daß die Toleranzschwelle des Bundesverfassungsgerichts bei Vorlagepflichtverletzungen in der Regel kaum zu überschreiten sei. Einer solchen aus rechtsstaatlicher Sicht bedenklichen Entwicklung sollte das Bundesverfassungsgericht im Einzelfall entschlossen begegnen. III. Das Bundesverfassungsgericht als "Superrevisionsinstanz"

Bewußte Umgehungen des Gemeinsamen Senats durch die obersten Gerichtshöfe des Bundes erweisen sich daher durchaus als verfassungsrechtlich relevante Verletzungen des grundrechtsähnlichen Rechts auf den gesetzlichen Richter. Die damit im Einzelfall verbundene Weiterreichung der Frage, ob tatsächlich eine Rechtsprechungsabweichung vorliegt, an das Bundesverfassungsgericht wird dabei keineswegs übersehen. In der Rechtslehre hat dies vielmehr dazu geführt, auf die Problematik des Bundesverfassungsgerichts als "Superre-

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EWGV an den EuGH als Verletzung des Anspruchs auf den gesetzlichen Richter, NJW 1983, 2736 (2738). BVerfGE 42, 237 (241f.). NiemöllerlSchuppert, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Strafverfahrensrecht, AöR Bd. 107 (19R2), 3R7 (421).

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6. Kapitel: Verfassungsrechtliche Konsequenzen

visionsinstanz" oder als "Supergericht für Fragen der Rechtsprechungseinheit"65 hinzuweisen. Das Bundesverfassungsgericht lehnt es in ständiger Rechtsprechung ab, die Rolle einer "Superrevisionsinstanz" gegenüber den obersten Fachgerichten einzunehmen66 . Es hat diesbezüglich ausdrücklich erklärt: "Die Gestaltung des Verfahrens, die Feststellung und Würdigung des Tatbestandes, die Auslegung des einfachen Rechts und seine Anwendung auf den einzelnen Fall sind allein Sache der dafür allgemein zuständigen Gerichte und der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen; ... "67 Die Rechtslehre ist dem im wesentlichen gefolgt 68 , teilweise werden der Kontrollfunktion des Bundesverfassungsgerichts gegenüber den Fachgerichten sogar noch engere Grenzen gezogen 69 . Der generellen Zurückhaltung des Bundesverfassungsgerichts bei der Überprüfung fachgerichtlicher Urteile ist im Ergebnis zuzustimmen70 . Soweit dabei allerdings materiell gestützte Begründungsversuche unternommen werden, die z. B. zwischen "direkten" und "indirekten" Verfassungsverletzungen unterscheiden7! oder wie das Bundesverfassungsgericht auf die Figur der Verletzung

Achterberg, in: BK, Art. 95 Rdnr. 321. Siehe etwa BVerfGE 18, 85 (92f.); 30,173 (196f.); 32, 311 (316); 43,130 (135); zu weiteren Nachweisen auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts siehe Ossenbühl, Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, in: Hamburg . Deutschland . Europa, Beiträge zum deutschen und europäischen Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsrecht, Festschrift für Hans Peter Ipsen zum siebzigsten Geburtstag, hrsg. v. R. Stödter und W. Thieme, Tübingen 1977, S. 129 (132). 67 BVerfGE 18, 85 (92). 68 Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 313ff.; Burmeister, Das Bundesverfassungsgericht als Revisionsinstanz, DVBI. 1969,605 ff.; Ossenbühl, Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, in: Hamburg . Deutschland· Europa, Beiträge zum deutschen und europäischen Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsrecht, Festschrift für Hans Peter Ipsen zum siebzigsten Geburtstag, hrsg. v. R. Stödter und W. Thieme, Tübingen 1977, S. 129ff.; Papier, "Spezifisches Verfassungsrecht" und "einfaches Recht" als Argumentationsformel des Bundesverfassungsgerichts, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Festgabe aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, hrsg. v. Ch. Starck, Erster Band, Verfassungsgerichtsbarkeit, Tübingen 1976, S. 432 (454ff.); ausführlich Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 134ff.; Schuppert, Zur Nachprüfung gerichtlicher Entscheidungen durch das Bundesverfassungsgericht, AöR Bd. 103 (1978), 43ff.; Stein wedel, "Spezifisches Verfassungsrecht" und "einfaches Recht", S. 58,94 f.; Zuck, Die Stellung des Bundesverfassungsgerichts im Verfassungsgefüge, DVBI. 1979,383 (387f.); weitergehend wohl nur Pelka, Die Verletzung des Grundrechts der freien Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. I GG) durch einen rechtswidrigen Steuerbescheid, DVBI. 1970, 887 (890f.). 69 So Klein, Öffentliche und private Freiheit. Zur Auslegung des Grundrechts der Meinungsfreiheit, Der Staat Bd. 10 (1971), 145 (172). 70 Ebenso Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 318. 71 Papier, "Spezifisches Verfassungsrecht" und "einfaches Recht" als Argumentationsformel des Bundesverfassungsgerichts, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Festgabe aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, hrsg. v. Ch. Starck, Erster Band, Verfassungsgerichtsbarkeit, Tübingen 1976, S. 432 (450ff.).

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III. Das Bundesverfassungsgericht als "Superrevisionsinstanz"

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"spezifischen Verfassungsrechts" zurückgreifen 72, vermögen diese letztlich nicht zu überzeugen. Für die Betroffenen eines Strafprozesses dürfte es nämlich kaum einsichtig sein, daß fehlerhafte Strafurteile das Grundrecht aus Art. 2 GG nur "indirekt" verletzen oder daß es sich insoweit nicht um die Verletzung "spezifischen Verfassungsrechts" handele. Besteht daher einerseits keine Rechtfertigung dafür, die Rechtsprechungsorgane im Wege der Verfassungsreduktion aus ihrer umfassenden Verantwortung vor der Verfassung zu entlassen, wäre andererseits aber eine ausnahmslose Überprüfungsbefugnis und -verpflichtung des Bundesverfassungsgerichts im Hinblick auf richterliche Urteile mit der im Grundgesetz niedergelegten Organisation und Kompetenzverteilung innerhalb der Rechtsprechung unvereinbar73 , so könnte die von Bryde befürwortete Orientierung an der "Aufgabenverteilung bei der Verfassungsverwirklichung" den richtigen Weg weisen 74 • Eine nähere Betrachtung der Aufgabenverteilung unter den staatlichen Rechtsprechungsorganen zeigt, daß keineswegs allein das Bundesverfassungsgericht mit dem Schutz des Bürgers vor Verfassungsverletzungen durch die öffentliche Gewalt befaßt ist. Auch die Fachgerichte besitzen insoweit ein Prüfungsrecht und eine Prüfungspflicht; lediglich das Verwerfungsmonopol kommt über Art. 100 GG dem Bundesverfassungsgericht zu. Neben dieser "Aufgabenparallelität" zwischen dem Bundesverfassungsgericht> und den Fachgerichten besteht aber auch eine wichtige "Aufgabentrennung". Danach werden Verfassungs- bzw. Grundrechtsverletzungen, welche die Rechtsprechungsorgane durch eigene fehlerhafte Entscheidungen verursachen, grundsätzlich über den Instanzenzug und das Rechtsmittelsystem innerhalb der Fachgerichtsbarkeit korrigiert7 5 • Demgegenüber obliegt allein dem Bundesverfassungsgericht die Ahndung solcher Verfassungsverletzungen, die ihren Grund gerade in der fehlerhaften Interpretation des Verfassungsrechts haben 76 • Diese vom Grundsatz her begrüßenswerte Aufgabenabgrenzung gegenüber der Fachgerichtsbarkeit hat das Bundesverfassungsgericht jedoch gerade im Bereich der sog. "Prozeßgrundrechte" (Art. 101, 103, 104 und 19 Abs. 4 GG)

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Beispielhaft BVerfGE 43, 130 (135); zu weiteren Nachweisen auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts siehe Ossenbühl, Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, in: Hamburg . Deutschland· Europa, Beiträge zum deutschen und europäischen Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsrecht, Festschrift für Hans Peter Ipsen zum siebzigsten Geburtstag, hrsg. v. R. Stödter und W. Thieme, Tübingen 1977, S. 129 (132 Fn. 6). Zur diesbezüglichen Diskussion im Parlamentarischen Rat siehe v. Doemming/Füßlein/ Matz, Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, JöR N. F. Bd. 1 (1951), 1 (671 f.). Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 316. Bettermann, Der Schutz der Grundrechte in der ordentlichen Gerichtsbarkeit, in: Die Grundrechte, 3. Bd.,2. Halbband, hrsg. v. K. A. Bettermann, H. C. Nipperdey, U. Scheuner, 1959, S. 779 (780L). Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 318.

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6. Kapitel: Verfassungsrechtliche Konsequenzen

mehrfach selbst durchbrochen. Wenngleich es die "Gestaltung des Verfahrens" - wie bereits erläutert - allein fachgerichtlicher Kontrolle unterstellt, erfolgen dennoch intensive und bis in prozessuale Details reichende Überprüfungen. Vor diesem Hintergrund geht es sicherlich nicht fehl, wenn das Bundesverfassungsgericht bisweilen als "Superrevisionsinstanz in Prozeßsachen" bezeichnet wird 77 . Das Kontrollverhalten des Bundesverfassungsgerichts im Bereich der "Prozeßgrundrechte" hat daher in der Rechtslehre auch heftige Kritik erfahren 78 • Ihre Berechtigung erscheint jedoch zweifelhaft. Die in der Rechtslehre geäußerte Kritik verkennt den nicht zu unterschätzenden Zusammenhang zwischen dem Ergebnis gerichtlicher Verfahren und .dem Grundrechtsschutz durch einfachgesetzliche Rechtsanwendung. Die erwünschte Akzeptanz fachgerichtlicher Entscheidungen durch die Prozeßparteien 79 kann nämlich nur dann erzielt werden, wenn die vom Grundgesetz aufgestellten Mindeststandards für die Gestaltung gerichtlicher Verfahren auch tatsächlich eingehalten werden. Zu diesen Mindeststandards zählt der Anspruch auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) ebenso wie der auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG). Außerdem berücksichtigt die Kritik nicht hinreichend die Funktion, in der das Bundesverfassungsgericht bei der Überprüfung fachgerichtlicher Entscheidungen am Maßstab der "Prozeßgrundrechte" tätig wird. Dabei geht es "nicht um die Kontrolle von Kontrolleuren, sondern die Gerichte sind selbst primäre Grundrechtsgegner"8o. Mit Recht weist Bryde daher zur Berechtigung der Funktion des Bundesverfassungsge-

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Ebd.; zur Entwicklung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in diesem Bereich Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 147fL Burmeister, Das Bundesverfassungsgericht als Revisionsinstanz, DVBI. 1969,605 (607ff.); Papier, "Spezifisches Verfassungsrecht" und "einfaches Recht" als Argumentationsformel des Bundesverfassungsgerichts, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Festgabe aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, hrsg. v. eh. Starck, Erster Band, Verfassungsgerichtsbarkeit, Tübingen 1976, S. 432 (455fL); Zuck, Die Stellung des Bundesverfassungsgerichts im Verfassungsgefüge, DVBI. 1979,383 (388); differenzierend aber Ossenbühl, Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, in: Hamburg· Deutschland· Europa, Beiträge zum deutschen und europäischen Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsrecht, Festschrift für Hans Peter Ipsen zum siebzigsten Geburtstag, hrsg. v. R. Stödter und W. Thieme, Tübingen 1977, S. 129 (135 [f.): "Wo Fachjudikatur und Gesetzgeber bei der Grundrechtsverwirklichung - aus welchen Gründen auch immer - versagen, wird man dem Bundesverfassungsgericht - wenn auch mit dogmatischen Skrupeln - gleichsam eine grundrechtsbewahrende und grundrechtsverwirklichende Notkompetenz konzedieren müssen, die man jedoch nicht generalisieren, d. h. in dieser Extensität allgemein auf die Kontrolle fachgerichtlicher Urteile übertragen kann" (S. 141). Zur Akzeptanz gerichtlicher Entscheidungen siehe Achterberg, Rechtsprechung als Staatsfunktion, Rechtsprechungslehre als Wissenschaftsdisziplin, in: Rechtsprechungslehre. Internationales Symposium Münster 1984, hrsg. v. dems., Köln· Berlin· Bonn· München 1986, S. 3 (17L), auch in DVBI. 1984, 1093 (1099); sowie Mock, Diskussionsbeitrag zu: Achterberg, Rechtsprechung als Staatsfunktion, Rechtsprechungslehre als Wissenschaftsdisziplin, in: Rechtsprechungslehre. Internationales Symposium Münster 1984, hrsg. v. N. Achterberg, Köln· Berlin . Bonn . München 1986, S. 27L Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 319.

111. Das Bund,:swrlassungsgericht als "Superrevisionsinstanz"

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richts als "Superrevisionsinstanz in Prozeßsachen" auf dessen Einzelfall-Judikatur hin, die deutlich zeige, "wie wenig die Gerichte einen Vertrauensvorschuß verdienen, wenn es nicht um die Kontrolle anderer Staatsorgane, sondern ihr eigenes Verhalten geht"81. Die hier festgestellten Umgehungen des Gemeinsamen Senats durch die obersten Gerichtshöfe des Bundes sind ein weiterer Beweis für die Richtigkeit dieser Bewertung. Sie unterstreichen zugleich das Erfordernis, die Wahrung der "Prozeßgrundrechte" im Bereich der Rechtsprechung unter die Aufsicht des Bundesverfassungsgerichts zu stellen. Nur in diesem, aber auch gerade in diesem Bereich besitzt das Bundesverfassungsgericht als "Superrevisionsinstanz in Prozeßsachen" seine Berechtigung82 .

81 Ebd. 82 Für einen Teilbereich, nämlich für Endentscheidungen der Rechtsprechungsorgane, sieht

sogar Zuck, der im übrigen die gänzliche Abschaffung der Urteilsverfassungsbeschwerde vorschlägt, ein Bedürfnis für die Funktion des Bundesverfassungsgerichts als "Superrevisionsinstanz in Prozeßsachen", Zuck, Die Stellung des Bundesverfassungsgerichts im Verfassungsgefüge, DVBI. 1979,383 (388); vgl. insoweit aber auch Ossenbühl, Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, in: Hamburg . Deutschland· Europa, Beiträge zum deutschen und europäischen Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsrecht, Festschrift für Hans Peter Ipsen zum siebzigsten Geburtstag, hrsg. v. R. Stödter und W. Thieme, Tübingen 1977, S. 129 (141): "Das Bundesverfassungsgericht hat allen gegenüber die verfassungsrechtliche Pflicht, Grundrechte auszulegen, zu konkretisieren und vor allem durchzusetzen. Wie sehr auch die Fachgerichte auf diese Anleitung, Wegweisung und Korrektur durch das Bundesverfassungsgericht angewiesen sind, zeigt die bisherige Praxis deutlich. Grenzüberschreitungen des Bundesverfassungsgerichts in den ausschließlichen Kontrollbereich der Fachgerichte wiegen demgegenüber gering. Solange man sie nur mit dem Mittel des völligen oder doch eines zu weitgehenden Rückzugs des Bundesverfassungsgerichts aus der Fachrechtsprechung vermeiden kann, ist der Preis für eine glattere Dogmatik zu hoch,"

Ausblick Die vorstehende Analyse zur Praxis der Anrufung des Gemeinsamen Senats im Falle einer Rechtsprechungsabweichung hat zu dem Ergebnis geführt, daß die obersten Gerichtshöfe des Bundes häufig versuchen, unter Zuhilfenahme rechtlich nicht überzeugender Begründungsversuche eine an sich gebotene Vorlage bestimmter Rechtsfragen an den Gemeinsamen Senat zu vermeiden. Die im Rahmen dieser Untersuchung ausführlich dargestellten Beispiele einer Umgehung des Gemeinsamen Senats bilden dabei - worauf mit Nachdruck hinzuweisen ist - nur die "Spitze eines Eisberges" bewußt nicht zum Ausgleich gebrachter Rechtsprechungsabweichungen. Berücksichtigt man zudem, daß dieses Rechtsprechungsverhalten keineswegs auf die Anrufung des Gemeinsamen Senats begrenzt ist, sondern gleichermaßen auch die Einschaltung der Großen Senate innerhalb einer Gerichtsbarkeit betrifft! , so werden erhebliche Defizite bei der Wahrung der Rechts- und Rechtsprechungseinheit deutlich. Diese Entwicklung wiegt nicht zuletzt deshalb um so schwerer als die Umgehungen des Gemeinsamen Senats - gleiches muß auch für Umgehungen der Großen Senate gelten - teilweise eklatante Verfassungsverstöße darstellen, indem den Prozeßparteien durch die bewußte Mißachtung der Vorlagepflicht an den Gemeinsamen Senat der gesetzliche Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) entzogen wird 2 • Die festgestellten Umgehungstendenzen der obersten Gerichtshöfe des Bundes bei der Anrufung rechtsprechungsinterner Ausgleichsinstanzen geben deshalb zum einen wegen der durch sie hervorgerufenen Beeinträchtigung der Rechtsprechungseinheit, zum anderen aber auch aufgrund der verfassungsrechtlichen Relevanz eines derartigen Verhaltens Anlaß dazu, nachfolgend einige Überlegungen auf mögliche Maßnahmen zur Wiederherstellung der Rechtsprechungseinheit und damit zugleich der materiellen Einzelfallgerechtigkeit zu verwenden. Derartige Überlegungen haben von zwei Prämissen auszugehen, mit denen zugleich die Extrempositionen im Hinblick auf die Problematik der Rechtsprechungseinheit beschrieben werden. Zum einen besteht trotz der großen Zahl bewußter oder unbewußter Nichtanrufungen des Gemeinsamen Senats sowie !

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Siehe dazu insb. Beisse, Von der Aufgabe des Großen Senats, in: Der Bundesfinanzhof und seine Rechtsprechung Grundfragen - Grundlagen. Festschrift für Hugo von Wallis zum 75. Geburtstag am 12. April 1985. hrsg. v. F. Klein und K. Vogel, Bonn 1985, S. 45 (52); Rüthers, Wer kann das Arbeitskampfrecht regeln?, FAZ vom 31. 8. 1985, NT. 201, S. 13. In diesem Sinne auch Rüthers, ebd.

Ausblick

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stillschweigender oder offener Rechtsprechungsabweichungen zwischen den obersten Gerichtshöfen des Bundes kein Bedürfnis für ein Oberstes Bundesgericht. Abgesehen von dem mit der Errichtung eines Obersten Bundesgerichts notwendigerweise verbundenen Personal- und Kostenaufwand, hat der Gemeinsame Senat in den Fällen seiner Anrufung durch einen obersten Gerichtshof die ihm vom Grundgesetz und RsprEinhG übertragenen Aufgaben durchaus zufriedenstellend gelöst. Nach gewissen Anlaufschwierigkeiten - bei neu geschaffenen Institutionen keineswegs atypisch - hat sich der Gemeinsame Senat als eine für die Wahrung der Rechts- und Rechtsprechungseinheit in jeder Hinsicht wichtige und nützliche Einrichtung erwiesen. Dies zeigen nicht zuletzt einige seiner jüngeren Entscheidungen, die gerade für das Verwaltungs- und Verwaltungsprozeßrecht von hoher Bedeutung sind und in diesem Bereich für Rechtseinheit, Rechtsgleichheit und Rechtssicherheit sorgen 3 . Mit diesen Feststellungen ist auch die Verbindung zur zweiten - der Errichtung eines Obersten Bundesgerichts diametral entgegenstehenden - Extremposition hergestellt, die angesichts der zahlreichen Umgehungen des Gemeinsamen Senats den völligen Verzicht auf diese Ausgleichsinstanz für Rechtsprechungsdivergenzen vorschlagen könnte. Wenngleich die festgestellten Umgehungen ohne Zweifel erhebliche Defizite bei der Wahrung der Rechtsprechungseinheit deutlich werden lassen, so darf dies jedoch nicht Anlaß dafür sein, sich resignativ mit der völligen Aufgabe des rechtsstaatsimmanenten Prinzips der Rechtsprechungseinheit abzufinden. Die dargestellten Beispiele belegen vielmehr im Gegenteil die Notwendigkeit des Gemeinsamen Senats für den Ausgleich unerträglicher Rechtsprechungsdivergenzen zwischen den obersten Gerichtshöfen des Bundes. Dies gilt sowohl im Interesse der Gesamtrechtsordnung als auch im Interesse des einzelnen Rechtsschutzsuchenden. Vor dem Hintergrund dieser Prämissen käme als eine mögliche Maßnahme zur Wiederherstellung der Rechtsprechungseinheit zwischen den obersten Gerichtshöfen in Betracht, dem Gemeinsamen Senat ein sog. Evokationsrecht 4 zuzubilligen. Ein solches Evokationsrecht würde ihm die Befugnis verleihen, eine Rechtsstreitigkeit an sich zu ziehen, in der nach seiner Meinung ein oberster Gerichtshof des Bundes von einem anderen in derselben Rechtsfrage abweicht. Sodann würde er die entscheidungserhebliche Rechtsfrage mit Bindungswirkung gegenüber dem obersten Gerichtshof beantworten. Dem Gemeinsamen Senat ein Evokationsrecht zu verleihen erscheint jedoch schon deshalb wenig sinnvoll, weil es ihn - im Gegensatz zu den §§ 3, 4 RsprEinhG - als ständige, aus einem festen Richterkollegium bestehende Ausgleichsinstanz voraussetzen würde. Damit bedürfte es aber praktisch wieder seiner Konzep-

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Siehe etwa GmS-OGB 1183, NJW 1984, 1027f.; GmS-OGB 2/83, NJW 1984, 2149f. Dazu Schmidt-Räntsch, Zur Bildung des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes, DRiZ 1968, 325 (328).

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tion in der Form eines Obersten Bundesgerichts. Außerdem spricht gegen ein derartiges Evokationsrecht, daß sein Beitrag zur Wiederherstellung der Rechtsprechungseinheit zwischen den obersten Gerichtshöfen letztlich wohl gering sein dürfte. Wenn nämlich unter den obersten Rechtsprechungsorganen - wie bereits festgestellt - die Neigung zur Vermeidung von Rechtsprechungsdivergenzen eine Ausgleichsinstanz anzurufen, ohnehin nur wenig ausgeprägt ist, dürfte eine erhebliche Vermutung dafür sprechen, daß die Richter eines Gemeinsamen Senats mit Evokationsrecht von dieser Befugnis auch nur äußerst selten Gebrauch machen würden. Ferner könnte daran gedacht werden, zur Aufdeckung unbewußter wie bewußter Rechtsprechungsabweichungen einen "Generalanwalt für Rechtsprechungsdivergenzen"5 oder ein "Evidenzbüro" einzurichten. Bei letzterem würde es sich um eine im europäischen Rechtskreis keineswegs unbekannte Institution handeln. So hat etwa der österreichische Gesetzgeber im Jahre 1963 nach langer Diskussion ein solches Evidenzbüro geschaffen 6 • Gemäß § 17 VwGG obliegt diesem Büro die karteimäßige Registrierung der Erkenntnisse (Urteile) und Beschlüsse des Verwaltungsgerichtshofs, des Verfassungsgerichtshofs und des Obersten Gerichtshofs sowie des in Betracht kommenden Schrifttums. Der Leiter des Büros hat im Falle von Rechtsprechungsdivergenzen dem Präsidenten des Verwaltungsgerichtshofs zu berichten, der bei Wahrung der richterlichen Unabhängigkeit auf eine möglichst einheitliche Rechtsprechung Bedacht nehmen soll; rechtliche Möglichkeiten zur Vermeidung von Rechtsprechungsdivergenzen hat der Präsident des Verwaltungsgerichtshofs jedoch nicht. Abgesehen davon, daß jede außerhalb der Rechtsprechung liegende Überwachung und Beeinflussung ihres Entscheidungsverhaltens bereits durch das mit der grundgesetzlichen Funktionenordnung aufs engste verbundene Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit begrenzt wird, würde die einem Generalanwalt oder einem Evidenzbüro übertragene Aufgabe, die Entscheidungen aller Senate der fünf obersten Gerichtshöfe des Bundes auf Rechtsprechungsabweichungen zu überprüfen, letztlich wohl kaum zu bewältigen sein. Zudem be-

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Ebd. Zur Diskussion in Österreich siehe Adler, Das Problem der divergierenden Rechtsprechung der drei höchsten österreichischen Gerichtshöfe, 1959; Ermacora, RechtsschutzProbleme, JBI. 1960, 8ft; Klecatsky, Die Beseitigul)g von Widersprüchen in Entscheidungen der Höchstgerichte, OJZ 1962, 365 ff.; Novak, Divergenzen in der Rechtsprechung der Gerichtshöfe des Öffentlichen Rechts - ein unbewältigtes Problem, in: Auf dem Weg zur Menschenwürde und Gerechtigkeit, Festschrift für Hans R. Klecatsky, Zweiter Teilband, Dargeboten zum 60. Lebensjahr von L. Adamovich und P. Pernthaler, Wien 1980, S. 655ff.; Oberndorfer, Die österreichische Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 53, 218f., 237f.; Werner, Organisationsrechtliche Fragen der Bundesgerichtsbarkeit, in: Zur Problematik der höchstrichterlichen Entscheidung, hrsg. v. G. Roellecke, Darmstadt 1982, S. 211 (230); Wiener Juristische Gesellschaft (Hrsg.), Differenzen in der Rechtsprechung der drei höchsten österreichischen Gerichtshöfe, 1958.

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dürfte es eines unverhältnismäßig hohen Personal- und Kostenaufwandes, um die notwendigen Grundvoraussetzungen für eine effektive Arbeit dieser Institution zu schaffen. Unberücksichtigt bliebe dabei sogar noch, daß der Nutzen einer solchen Einrichtung für die Wiederherstellung der Rechtsprechungseinheit zwischen den obersten Gerichtshöfen des Bundes maßgeblich vom zielbezogenen Engagement und Interesse der jeweiligen Institutionen abhängig wäre. Eine diesbezügliche Prognose läßt sich nicht treffen. Erscheint daher aus den genannten Gründen die Errichtung neuer Institutionen (Generalanwalt für Rechtsprechungsdivergenzen, Evidenzbüro) zur Wiederherstellung der Rechtsprechungseinheit zwischen den obersten Gerichtshöfen des Bundes ebensowenig sinnvoll wie das weitere Vertrauen darauf, diese Defizite durch rechtsprechungsinterne Maßnahmen (Evokationsrecht) auszugleichen, so drängt sich die Frage auf, ob nicht die Prozeßparteien einen wesentlichen Beitrag zur Erreichung des angestrebten Ziels leisten könnten. Ihr originäres Interesse an einem für sie günstigen Prozeßausgang legt es nahe, daß sie ihr Augenmerk ganz besonders auf bewußte oder unbewußte Rechtsprechungsabweichungen richten, um über eine Entscheidung des Gemeinsamen Senats zum Prozeßerfolg zu kommen. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, daß dieses verständliche Interesse der Prozeßparteien gerade in der Revisionsinstanz dem Gebot der Effektivität des Rechtsschutzes zuwiderlaufen kann. Reformüberlegungen, die sich zur Wiederherstellung der Rechtsprechungseinheit zwischen den obersten Gerichtshöfen des Bundes auf die Prozeßparteien stützen, haben dies zu berücksichtigen. Insoweit käme z. B. in Betracht, den Prozeßparteien die Befugnis zu verleihen, während des Revisionsverfahrens vor einem obersten Gerichtshof eine beabsichtigte Rechtsprechungsabweichung des Senats unter Mißachtung seiner Vorlagepflicht an den Gemeinsamen Senat bei diesem selbst oder etwa einem "Präsidentenrat" - bestehend aus den Präsidenten der obersten Gerichtshöfe des Bundes - zu rügen. Aus mehreren Gründen erscheint dieser Weg zur Wiederherstellung der Rechtsprechungseinheit jedoch verfehlt. So würde eine derartige "Nichtvorlagerüge" der Prozeßparteien voraussetzen, daß sich der oberste Gerichtshof hinsichtlich der streitigen, u. U. eine Abweichung begründenden Rechtsfrage bereits vor der Entscheidungsverkündung materiell-rechtlich festlegen müßte, weil andernfalls auch für den Ausgang des konkreten Rechtsstreits irrelevante Fragen an den Gemeinsamen Senat gelangen würden. Probleme brächte das Verfahren einer "Nichtvorlagerüge" vor Entscheidungsverkündung aber vor allem dann mit sich, wenn ein oberster Gerichtshof den Antrag einer Prozeßpartei, den Gemeinsamen Senat anzurufen, dahingehend bescheiden würde, daß für den Ausgang des anhängigen Rechtsstreits die Beantwortung der Rechtsfrage durch den Gemeinsamen Senat nicht erforderlich sei, weil es auf die konkrete Rechtsfrage nicht ankomme. Die Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit wäre dem Gemeinsamen Senat verwehrt, so daß er die im Streit befindliche Rechtsfrage allenfalls hypothetisch für den Fall beantwor-

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ten könnte, daß sie sich im nachhinein doch als entscheidungserheblich erweisen sollte. Ferner wäre zu befürchten, daß eine derartige "Nichtvorlagerüge" zu einer restriktiven Handhabung des Rechtsgesprächs führen könnte, weil die Richter zur Vermeidung eines solchen Parteiantrages u. U. übermäßige Zurückhaltung bei der Erörterung von Rechtsfragen üben würden. Entscheidend spricht gegen eine "Nichtvorlagerüge" vor Entscheidungsverkündung aber, daß mit ihr eine Aussetzung des Verfahrens 7 jedenfalls bis zur Entscheidung über die "Nichtvorlagerüge"8, u. U. gar bis zur Beantwortung der Rechtsfrage durch den Gemeinsamen Senat verbunden sein müßte. Die damit einhergehende nicht unbeträchtliche Verlängerung der Prozeßdauer stünde im Widerspruch zum Gebot des effektiven Rechtsschutzes, das immer auch Rechtsschutz in angemessener Zeit bedeutet. Eine weitere Maßnahme zur Wiederherstellung der Rechtsprechungseinheit zwischen den obersten Gerichtshöfen des Bundes könnte darin zu sehen sein, den Prozeßparteien gegen die Revisionsentscheidung eines obersten Gerichtshofs eine "Nichtvorlagebeschwerde" zu gewähren. Innerhalb der VerwaItungsgerichtsbarkeit wird diese Möglichkeit seit geraumer Zeit im Zusammenhang mit der Vorlegungspflicht der Oberverwaltungsgerichte an das Bundesverwaltungsgericht gemäß § 47 Abs. 5 VwGO diskutiert9 • Erst jüngst haben Redekerlv. Oertzen nachdrücklich darauf hingewiesen, daß das Bundesverwaltungsgericht seinem Auftrag, die Einheitlichkeit der Rechtsordnung zu sichern, nicht mehr nachkommen könne, wenn die OberverwaItungsgerichte auch dann nicht vorlegen würden, wenn an sich eine Vorlage geboten sei lO • In Überein7

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Insoweit besteht durchaus eine gewisse Parallele zur derzeit diskutierten Problematik einer Aussetzung von Steuer- bzw. Spendenstrafverfahren wegen befürchteter, widerstreitender Entscheidungen zwischen Finanz- und Strafgerichten, siehe dazu BVerfG, NJW 1985, 1950; Isensee, Aussetzung des Steuerstrafverfahrens - rechtsstaatliche Ermessensdirektiven, NJW 1985, 1007ff.; Kohlmann, Aussetzung des Steuerstrafverfahrens gemäß § 396 AO und prozessuale Fürsorgepflicht, in: Festschrift für Ulrich Klug zum 70. Geburtstag, Bd. 11, Strafrecht Prozeßrecht Kriminologie Strafvollzugsrecht, hrsg. v. G. Kohlmann, Köln 1983, S. 507ff. Dies für den Fall, daß nach Auffassung des Gemeinsamen Senats nicht "dieselbe Rechtsfrage" vorliegt und deshalb die "Nichtvorlagerüge" zurückzuweisen ist. Siehe dazu etwa BVerwG, NVwZ 1984, 235 (236); Johlen, Anwaltstag diskutiert Erfahrung.en mit der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle, NVwZ 1985, 477f.; Schlichter, Uberlegungen zur Einführung einer Nichtvorlagebeschwerde im Normenkontrollverfahren, NJW 1985, 2446ff.; Sendler, Zum Instanzenzug in der Verwaltungsgerichtsbarkeit, DVBI. 1982, 157 (162 m. w. N. in Fn. 28); Stich, Zur Notwendigkeit einer Nichtvorlagebeschwerde bei Normenkontrollentscheidungen in Bundesbaurechtssachen, DVBI. 1982, 173 (179); ders., Erfordernis einer Nichtvorlagebeschwerde bei Normenkontrollentscheidungen in Bundesbaurechtssachen, in: System des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes, Festschrift für Christian-Friedrich Menger zum 70. Geburtstag, hrsg. v. H.-U. Erichsen, W. Hoppe, A. v. Mutius, Köln· Berlin . Bonn . München 1985, S. 847 ff. , mit einem aufschlußreichen Beispiel einer Umgehung des Bundesverwaltungsgerichts durch das OVG Berlin, S. 848 ff.; Stüer, Erfahrungen mit der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle - eine Zwischenbilanz -, DVBI. 1985,469 (481 mit zahlreichen Nachweisen auf die Rechtsprechung der Oberverwaltungsgerichte in Fn. 150). Redekerlv. Oertzen, Verwaltungsgerichtsordnung Kommentar, 8. Aufl., 1985, S. V Vorwort.

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stimmung mit einem immer größer werdenden Teil der Rechtslehre fordern sie daher, § 47 Abs. 5 VwGO durch die Einführung einer "Nichtvorlagebeschwerde" zu ergänzenlI. Zwar besteht zwischen der Vorlagepflicht der Oberverwaltungsgerichte gemäß § 47 Abs. 5 VwGO und derjenigen der obersten Gerichtshöfe des Bundes nach § 2 RsprEinhG insoweit ein Unterschied, als diese sich auf Revisionsentscheidungen eines Rechtsprechungsorgans bezieht, während jene erstinstanzliche Entscheidungen eines Gerichts betrifft, gegen die de lege lata kein Rechtsmittel gegeben ist l2 . Dies dürfte aber kein Hindernis dafür sein, die Einführung einer "Nichtvorlagebeschwerde" mit allen Vor- und Nachteilen für das Rechtssystem auch im Hinblick auf die oberste Fachgerichtsbarkeit zu diskutieren. Eine solche "Nichtvorlagebeschwerde" könnte inhaltlich derart ausgestaltet sein, daß die Endurteile eines obersten Gerichtshofs nicht schon mit ihrer Verkündung rechtskräftig würden, sondern, daß der Eintritt der Rechtskraft vom Vorhanden sein oder Fehlen weiterer Umstände abhinge. Danach würden Urteile eines obersten Gerichtshofs des Bundes erst rechtskräftig, wenn eine "Nichtvorlagebeschwerde" nicht innerhalb bestimmter Frist erhoben oder die "Nichtvorlagebeschwerde" vom Gemeinsamen Senat bzw. einem "Präsidentenrat" mangels Identität der Rechtsfrage zurückgewiesen würde. Würde der Gemeinsame Senat aufgrund der "Nichtvorlagebeschwerde" materiell über die im Streit befindliche Rechtsfrage entscheiden, so käme es erst dann zum Eintritt der Rechtskraft, wenn er die Rechtsauffassung des abgewichenen obersten Gerichtshofs bestätigen sollte oder andernfalls nach Aufhebung des nicht rechtskräftigen Urteils und erneuter Entscheidung des Rechtsstreits durch den obersten Gerichtshof auf der Grundlage der Rechtsauffassung des Gemeinsamen Senats. Die Ausgestaltung der "Nichtvorlagebeschwerde" in diesem Sinne erscheint jedoch aus zwei Gründen wenig sinnvoll. Zum einen würde der Gemeinsame Senat damit nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch zu einer vierten Instanz im Rechtsschutzssystem, zum anderen würde eine derart konzipierte "Nichtvorlagebeschwerde" eine erhebliche Schwächung der Effektivität des Rechtsschutzes mit sich bringen, weil nach der Entscheidung eines obersten Gerichtshofs immer noch mehrere Monate bis zur Rechtskraft des Urteils vergehen könnten. Wenngleich der Rechtsprechungseinheit ohne Zweifel große Bedeutung im Rechtssystem zukommt, so dürfte diese Maßnahme zu ihrer Wiederherstellung doch in einem unversöhnlichen und nicht zu billigenden Widerspruch zur Effektivität des Rechtsschutzes stehen. Wesentlich interessengerechter und praktikabler erscheint es demgegenüber, die erfolgreiche "Nichtvorlagebeschwerde" mit einer Rechtskraftdurch-

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Ebd., § 47 Rdnr. 31. Zu letzterem BVerwG, NVwZ 1985, 235 (236).

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brechung zu versehen. Über die Zulässigkeit der "Nichtvorlagebeschwerde" (Identität der Rechtsfrage) könnte der Gemeinsame Senat 13 oder der bereits angesprochene "Präsidentenrat" entscheiden. Begründet wäre sie, wenn der Gemeinsame Senat auf die "Nichtvorlagebeschwerde" einer Prozeßpartei eine die Entscheidung eines obersten Gerichtshofs tragende Rechtsfrage abweichend beantwortet l4 . Als Rechtsfolge käme eine die Rechtskraft durchbrechende Wiederaufnahme des Verfahrens 15 vor dem obersten Gerichtshof des Bundes in Betracht. Da ein Mißbrauch der "Nichtvorlagebeschwerde" durch die Prozeßparteien auch bei dieser Ausgestaltung nicht gänzlich ausgeschlossen werden kann, wäre u. U. daran zu denken, diesbezüglich einige begleitende Vorkehrungsmaßnahmen zu treffen. So könnte etwa eine Regelung vorgesehen werden, die dem Gemeinsamen Senat das Recht gäbe, eine "Nichtvorlagebeschwerde" als offensichtlich unzulässig zurückzuweisen l6 . Außerdem dürfte in Parallelität zu § 34 Abs. 5 BVerfGG die Erhebung einer Mißbrauchsgebühr im Falle offensichtlich unzulässiger Anrufung des Gemeinsamen Senats zumindest für erwägenswert gehalten werden. Für eine in diesem Sinne erfolgende Konzeption der "Nichtvorlagebeschwerde" spricht in erster Linie, daß sie wesentlich dazu beitragen könnte, die in Gefahr geratene Einheitlichkeit der Rechtsprechung zwischen den obersten Gerichtshöfen des Bundes wiederherzustellen. Da letztere offensichtlich in nur geringem Maße daran interessiert sind, den Ausgleich von Rechtsprechungsabweichungen durch Vorlage an den Gemeinsamen Senat zu fördern, würde diese Aufgabe von den im unmittelbaren Eigeninteresse handelnden Prozeßparteien wahrgenommen. Ihr originäres Interesse an einem für sie günstigen Prozeßausgang könnte dabei eine Reaktivierung bzw. Intensivierung der Inanspruchnahme des Gemeinsamen Senats zum Ausgleich bestehender Rechtsprechungsdivergenzen bewirken. Dies käme zudem nicht nur der Rechtsprechungseinheit, sondern auch der materiellen Einzelfallgerechtigkeit zugute. Daß dabei außerdem die Effektivität des Rechtsschutzes nicht beeinträchtigt

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In diesem Falle müßten die an der angefochtenen Entscheidung beteiligten Richter im Gemeinsamen Senat durch unbeteiligte Stellvertreter des Senats ersetzt werden. Zur Vereinfachung des Verfahrens vor dem Gemeinsamen Senat könnte - ohne dabei die Gründlichkeit der Rechtsprüfung und die Qualität seiner Entscheidungen zu beeinträchtigen - eine schriftliche Beschlußfassung im Umlaufverfahren vorgesehen werden, ebenso v. Mutius, Wechselwirkungen der Rechtsprechung der Obersten Gerichtshöfe des Bundes auf dem Gebiet des Sozialrechts, in: Entwicklung des Sozialrechts. Aufgabe der Rechtsprechung, Festgabe aus Anlaß des lOOjährigen Bestehens der sozialgerichtlichen Rechtsprechung, hrsg. v. Deutschen Sozialrechtsverband e. V., Köln· Berlin . Bonn . München 1984, S. 651 (679). Soweit für die Wiederaufnahme des Verfahrens gemäß den §§ 578--591 ZPO schwere oder schwerste Verfahrensmängel gefordert werden, dürfte dies auch im Falle einer begründeten Nichtvorlagebeschwerde der Fall sein. Eine Zurückweisung der Nichtvorlagebeschwerde als offensichtlich unzulässig käme in Betracht, wenn für die Prozeßpartei eindeutig erkennbar war, daß es an einer Identität der Rechtsfrage fehlte.

Ausblick

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wird, läßt diese Form der "Nichtvorlagebeschwerde" als jedenfalls durchaus diskussionswürdige Maßnahme zur Wiederherstellung der Rechtsprechungseinheit zwischen den obersten Gerichtshöfen des Bundes erscheinen. Diese Diskussion in Gang zu bringen und fortzuführen, darf in der Zukunft nicht allein Aufgabe der Rechtswissenschaft sein. Vielmehr ist auch der parlamentarische Gesetzgeber aufgerufen, sich intensiv mit den Problemen bei der Wahrung der Rechtsprechungseinheit zu befassen. Im Rahmen der von ihm angestrebten Reform des Rechtsschutzsystems vermag die bislang erkennbare, überwiegende Konzentration seiner Bemühungen auf eine Effektivierung des Rechtsschutzes nicht zu überzeugen. Daneben bedarf es nämlich gleichermaßen des Nachdenkens über Mittel und Wege zur Behebung der festgestellten Defizite bei der Wahrung der Rechtsprechungseinheit 17 • Für die Rechtswissenschaft eröffnet sich hier ein noch weitgehend unbestelltes Feld.

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Der im Entstehen begriffenen Rechtsprechungslehre, die sich gerade auch zum Ziel gesetzt hat, organisatorische und prozedurale Defizite im Bereich der Judikative zu beheben, dürfte dabei wesentliche Bedeutung zukommen; siehe dazu Achterberg, (Hrsg.), Rechtsprechungslehre. Internationales Symposium Münster 1984, 1986.

Anhang I. Gesetz zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Juni 1968 (BGBI. I S. 661) Der Bundestag hat das folgende Gesetz beschlossen:

Erster Abschnitt. Gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe § 1. Bildung des Gemeinsamen Senats. (1) Zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der in Artikel 95 Abs. 1 des Grundgesetzes genannten obersten Gerichtshöfe des Bundes wird ein Gemeinsamer Senat dieser obersten Gerichtshöfe gebildet.

(2) Der Gemeinsame Senat hat seinen Sitz in Karlsruhe. § 2. Zuständigkeit. (1) Der Gemeinsame Senat entscheidet, wenn ein oberster Gerichtshof

in einer Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen obersten Gerichtshofs oder des Gemeinsamen Senats abweichen will.

(2) Sind nach den Gerichtsverfassungs- oder Verfahrensgesetzen der Große Senat oder die Vereinigten Großen Senate eines obersten Gerichtshofs anzurufen, so entscheidet der Gemeinsame Senat erst, wenn der Große Senat oder die Vereinigten Großen Senate von der Entscheidung eines anderen obersten Gerichtshofs oder des Gemeinsamen Senats abweichen wollen. § 3. Zusammensetzung. (1) Der Gemeinsame Senat besteht aus 1. den Präsidenten der obersten Gerichtshöfe, 2. den Präsidenten" der beteiligten Senate und 3. je einem weiteren Richter der beteiligten Senate.

(2) Führt der Präsident eines obersten Gerichtshofs den Vorsitz in einem beteiligten Senat, so wirken außer ihm zwei weitere Richter des beteiligten Senats in dem Gemeinsamen Senat mit.

(3) Bei Verhinderung des Präsidenten eines obersten Gerichtshofs tritt sein Vertreter im Großen Senat, bei Verhinderung des Präsidenten" eines beteiligten Senats sein Vertreter im Vorsitz an seine Stelle. (4) Die zu entsendenden Richter (Absatz 1 Nr. 3 und Absatz 2) und ihre Vertreter werden von den Präsidien der obersten Gerichtshöfe für die Dauer von zwei Geschäftsjahren bestimmt. Die Amtsbezeichnung lautet jetzt" Vorsitzender Richter"; vgl. § 19 a Deutsches Richtergesetz. § 4. Beteiligte Senate. (1) 'Beteiligt sind der vorlegende Senat und der Senat des obersten Gerichtshofs, von dessen Entscheidung der vorlegende Senat abweichen will. 21st der Senat des anderen obersten Gerichtshofs bei Eingang des Vorlegungsbeschlusses für die Rechtsfrage nicht mehr zuständig, so tritt der nach der Geschäftsverteilung nunmehr zuständige Senat an seine Stelle. 3Haben mehrere Senate des anderen obersten Gerichtshofs über die Rechtsfrage abweichend entschieden, so ist der Senat beteiligt, der als letzter entschieden hat, sofern nach der Geschäftsverteilung nicht ein anderer Senat bestimmt ist. a

I. Gesetz zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung

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(2) lWird die Rechtsfrage von dem Großen Senat eines obersten Gerichtshofs vorgelegt oder will der vorlegende Senat von der Entscheidung des Großen Senats eines anderen obersten Gerichtshofs abweichen. so ist der Große Senat der beteiligte Senat. 2Entsprechendes gilt für die Vereinigten Großen Senate eines obersten Gerichtshofs. § 5. Vorsitz. IDen Vorsitz führt der lebensälteste Präsident der nichtbeteiligten obersten Gerichtshöfe. 2Er wird bei der Leitung der mündlichen Verhandlung sowie der Beratung und Abstimmung durch den lebens ältesten der anwesenden Präsidenten der anderen obersten Gerichtshöfe. bei den übrigen Geschäften des Vorsitzenden durch seinen Vertreter im Großen Senat vertreten. § 6. Abstimmung. Der Gemeinsame Senat entscheidet mit der Mehrheit der Stimmen seiner Mitglieder. § 7. Vorrang der Amtsgeschäfte im Gemeinsamen Senat. Die Tätigkeit im Gemeinsamen Senat geht der Tätigkeit an dem obersten Gerichtshof vor. § 8. Geschäftsstelle. IFür den Gemeinsamen Senat wird eine Geschäftsstelle eingerichtet. lDas Nähere bestimmt der Bundesminister der Justiz. § 9. Rechts- und Amtshilfe. Alle Gerichte und Verwaltungsbehörden leisten dem Gemeinsamen Senat Rechts- und Amtshilfe.

Zweiter Abschnitt. Verfahrensvorschriften § 10. Grundsatz. Soweit in den §§ 11 bis 17 nichts anderes bestimmt ist, gelten für das Verfahren vor dem Gemeinsamen Senat die Vorschriften für das Verfahren vor dem vorlegenden Senat entsprechend. § 11. Vorlegungsverfahren. (1) IDas Verfahren vor dem Gemeinsamen Senat wird durch einen Vorlegungsbeschluß eingeleitet. lIn diesem ist die Entscheidung des obersten Gerichtshofs, von der der vorlegende Senat abweichen will, zu bezeichnen. 3Der Beschluß ist zu begründen und den am Verfahren Beteiligten zuzustellen.

(2) IDie Senate, die Großen Senate oder die Vereinigten Großen Senate der obersten Gerichtshöfe holen die Entscheidung des Gemeinsamen Senats unmittelbar ein. 2Gleichzeitig ist das Verfahren vor dem vorlegenden Senat auszusetzen. § 12. Stellungnahmen der obersten Gerichtshöfe. (1) IDer Vorsitzende des Gemeinsamen Senats gibt den obersten Gerichtshöfen von dem Vorlegungsbeschluß Kenntnis. lDie obersten Gerichtshöfe teilen dem Gemeinsamen Senat mit, ob, mit welchem Ergebnis und mit welcher Begründung sie die streitige Rechtsfrage bisher entschieden haben und welche damit zusammenhängenden Rechtsfragen zur Entscheidung anstehen.

(2) IDer Gemeinsame Senat kann einen obersten Gerichtshof ersuchen, seine Auffassung zu einer für die Entscheidung erheblichen Rechtsfrage darzulegen. 2Der ersuchte oberste Gerichtshof legt eine Äußerung des Senats vor, der nach der Geschäftsverteilung zur Entscheidung über die streitige Rechtsfrage zuständig ist oder, wenn nach der Geschäftsverteilung kein bestimmter Senat zuständig ist, vom Präsidium bestimmt wird. 3Auch ohne Ersuchen kann ein oberster Gerichtshof dem Gemeinsamen Senat eine Äußerung seines zuständigen Senats zu der Rechtsfrage vorlegen.

(3) Der Vorsitzende des Gemeinsamen Senats teilt die eingegangenen Äußerungen den am Verfahren Beteiligten mit. § 13. Beteiligte am Verfahren. (1) IDie am Verfahren vor dem vorlegenden Senat Beteiligten sind auch am Verfahren vor dem Gemeinsamen Senat beteiligt. 2Sie sind in dem Vorlegungsbeschluß zu bezeichnen.

(2) 1Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof kann sich am Verfahren auch betei-

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Anhang

ligen, wenn er nach den für einen beteiligten Senat geltenden Verfahrensvorschriften berechtigt ist, am Verfahren mitzuwirken. 2Der Vorsitzende des Gemeinsamen Senats gibt dem Generalbundesanwalt von solchen Verfahren Kenntnis. (3) IDer Vorsitzende des Gemeinsamen Senats soll dem Generalbundesanwalt, auch wenn er am Verfahren nicht beteiligt ist, Gelegenheit zur Äußerung geben, wenn die vorgelegte Rechtsfrage für das Rechtsgebiet, für das der Generalbundesanwalt zuständig ist, Bedeutung hat. 2Die Äußerung ist den am Verfahren Beteiligten mitzuteilen. (4) Die Absätze 2 und 3 gelten für den Oberbundesanwalt beim Bundesverwaltungsgericht, den Bundesdisziplinaranwalt und den Bundeswehrdisziplinaranwalt entsprechend. § 14. Aufgabe der früheren Rechtsprechung. ISchließt sich der Senat des obersten Gerichtshofs, von dessen Entscheidung abgewichen werden soll, innerhalb eines Monats durch Beschluß der Rechtsauffassung des vorlegenden Senats an, so ist das Verfahren einzustellen. 2Die Frist beginnt mit dem Eingang des Vorlegungsbeschlusses bei dem obersten Gerichtshof, von dessen Entscheidung abgewichen werden soll. 3Sie kann von dem Vorsitzenden des Gemeinsamen Senats verlängert werden. § 15. Gegenstand der Entscheidung. (1) IDer Gemeinsame Senat entscheidet auf Grund mündlicher Verhandlung nur über die Rechtsfrage. 2Mit Einverständnis der Beteiligten kann der Gemeinsame Senat ohne mündliche Verhandlung entscheiden. 3Findet keine mündliche Verhandlung statt, so ist vor der Entscheidung den am Verfahren Beteiligten Gelegenheit zur Äußerung zu geben.

(2) Die Entscheidung ist zu begründen und den Beteiligten zuzustellen. § 16. Wirkung der Entscheidung. Die Entscheidung des Gemeinsamen Senats ist in der vor-

liegenden Sache für das erkennende Gericht bindend.

§ 17. Kosten. (I) Das Verfahren vor dem Gemeinsamen Senat ist kostenfrei.

(2) Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet. Dritter Abschnitt. Schlußl'orschriften § 18. Erweiterung der Revisions- und Vorlegungsgründe. (1) IHat ein Gericht die Revision oder die Rechtsbeschwerde zuzulassen, wenn es von einer Entscheidung eines obersten Gerichtshofs abweicht, so ist die Revision oder die Rechtsbeschwerde auch zuzulassen, wenn das Gericht von einer Entscheidung des Gemeinsamen Senats abweicht. 2Findet die Revision oder die Rechtsbeschwerde an einen obersten Gerichtshof bei einer Abweichung von dessen Entscheidung ohne Zulassung statt, so ist die Revision oder Rechtsbeschwerde auch bei einer Abweichung von einer Entscheidung des Gemeinsamen Senats zulässig.

(2) Hat ein Gericht eine Sache einem obersten Gerichtshof vorzulegen, wenn es von dessen Entscheidung abweichen will, so hat das Gericht die Sache dem obersten Gerichtshof auch vorzulegen, wenn es von einer Entscheidung des Gemeinsamen Senats abweichen will. §§ 19, 20 b (Änderungsvorschri[ten)

§ 21. Änderung von Bezeichnungen. Soweit in anderen Gesetzen und in Verordnungen die Bezeichnung "oberes Bundesgericht" verwendet wird, tritt an ihre Stelle die Bezeichnung "oberster Gerichtshof des Bundes". b § 19 enthält Änderungen des Richterwahlgesetzes, § 20 enthält eine Änderung der Bundesrechtsanwaltsordnung. § 22. Berlin-Klausel. Dieses Gesetz gilt nach Maßgabe des § 13 Abs. 1 des Dritten Überleitungsgesetzes vom 4. Januar 1952 (Bundesgesetzbl. I S. I) auch im Land Berlin.'

Entscheidungsstatistik C

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In Berlin übernommen durch Gesetz vom 11. 7. 1968 (GVBI. S. 920).

§ 23. Inkrafttreten. Dieses Gesetz tritt am ersten Tag des auf die Verkündung d folgenden Kalendermonats in Kraft. d Verkündet am 25. 6. 1968.

11. Statistik der veröffentlichten Entscheidungen des Gemeinsamen Senats (mit Leitsatz) 1. GmS-OGB 1170 vom 15. März 1971: ,,§ 9 Abs. 1 Satz 2 des Gesetzes über Fernmeldeanlagen vom 14. Januar 1928 (RGBI I 8) eröffnet auch nach Inkrafttreten des § 40 VwGO hinsichtlich des Grundes und der Höhe der Gebühren den Rechtsweg vor den ordentlichen Gerichten." veröffentlicht in: BGHZ 56, 395 ~ NJW 1971, 1606 ~ JZ 1975, 524 ~ WM 1971, 1053 ~ DVBI. 1971, 619 ~ DRiZ 1971, 316 ~ DÖV 1971, 605 ~ JuS 1971,547 ~ Warn 1971, 455 ~ VerwRspr 22, 918 2. GmS-OGB 3170 vom 19. Oktober 1971: "Die Entscheidung der Behörde gemäß § 131 Abs. 1 Satz 1 AO darüber, ob die Einziehung der Steuer nach Lage des einzelnen Falles unbillig wi,ire, ist von den Gerichten na